KAPITEL 2
In dem Tristran zum Mann heranwächst und ein überstürztes Versprechen ablegt

Jahre vergingen. Der nächste Feenmarkt auf der anderen Seite der Mauer wurde termingerecht abgehalten. Der achtjährige Tristran Thorn nahm nicht daran teil, sondern wurde zu sehr weit entfernten Verwandten geschickt, in ein Dorf, das einen ganzen Tagesritt entfernt war.

Doch seine kleine Schwester Louisa, die sechs Monate jünger war, durfte zum Markt. Das machte dem Jungen schwer zu schaffen, ebenso wie die Tatsache, daß Louisa vom Markt eine mit Lichtsprenkeln gefüllte Glaskugel mitbrachte, die im Zwielicht glitzerte und funkelte und ihr Schlafzimmer im Farmhaus in ein warmes, sanftes Licht tauchte. Tristran hingegen kehrte mit heftigen Masern zurück.

Kurz danach bekam die Farmkatze drei Junge: zwei waren schwarz-weiß wie ihre Mutter, das dritte aber war winzig, hatte ein bläulich schimmerndes Fell und Augen, die je nach Laune des Tierchens ihre Farbe veränderten, von Grün zu Gold zu Lachsfarben, Purpur und Lila.

Dieses Kätzchen bekam Tristran geschenkt, als Trost dafür, daß er den Markt verpaßt hatte. Die blaue Katze wuchs langsam und war das süßeste Tier der Welt; bis sie eines Abends ungeduldig das Haus zu durchstreifen begann; sie maunzte und funkelte mit den Augen, die jetzt purpurrot waren wie Fingerhut. Als Tristrans Vater dann nach einem anstrengenden Tag auf dem Feld zurückkehrte, jaulte die Katze auf, rannte aus der Tür und verschwand in der hereinbrechenden Dämmerung.

Die Wachen am Mauerdurchgang waren für die Menschen gedacht, nicht für Katzen, und so sah Tristran, der inzwischen zwölf Jahre alt war, die blaue Katze nie mehr. Eine Zeitlang war er untröstlich. Eines Abends kam sein Vater zu ihm ins Schlafzimmer und setzte sich ans Fußende seines Betts. »Jenseits der Mauer wird es ihr bessergehen«, meinte er barsch. »Da ist sie unter ihresgleichen. Du solltest es dir nicht so zu Herzen nehmen, Junge.«

Seine Mutter sagte nichts zu dem Vorfall, aber sie sprach ohnehin wenig mit ihm, ganz gleich, um welches Thema es sich handelte. Bisweilen blickte Tristran auf und sah, wie seine Mutter ihn anstarrte, als wollte sie irgendein Geheimnis aus seinem Gesicht erraten.

Wenn er mit seiner Schwester morgens in die Dorfschule wanderte, stichelte oder quälte sie ihn wegen verschiedener anderer Dinge, beispielsweise wegen der Form seiner Ohren (das rechte Ohr lag flach am Kopf an und lief spitz zu, das linke nicht) und wegen der albernen Geschichten, die er von sich gab: Einmal erzählte er ihr, die kleinen Wölkchen, die sich bei Sonnenuntergang am Horizont scharten, seien Schafe. Da half es auch nichts mehr, daß er später behauptete, er habe nur gemeint, sie erinnerten ihn an Schafe, weil sie so weich und flauschig aussahen. Louisa lachte und neckte und stichelte gnadenlos, aber was noch schlimmer war: Sie erzählte es anderen Kindern und stiftete ihre Freunde dazu an, leise »mäh« zu rufen, wenn Tristran vorbeiging. Louisa liebte es, andere zu etwas anzustiften, und sie trieb ihren Bruder gelegentlich zur Weißglut.

Doch die Dorfschule war eine gute Schule. Unter der Leitung der Direktorin Mrs. Cherry lernte Tristran Thorn das Bruchrechnen und alles über Längen- und Breitengrade; er konnte auf französisch nach dem Stift der Tante des Gärtners fragen und sogar nach dem seiner eigenen Tante; er konnte die Könige und Königinnen von England von Wilhelm dem Eroberer, 1066, bis Victoria, 1837, aufsagen. Er lernte lesen, und seine Handschrift war wie gestochen. Zwar kamen nur selten Reisende durchs Dorf, aber hin und wieder tauchte ein Hausierer auf, der Groschenhefte über grausige Morde, schicksalhafte Begegnungen, Schreckenstaten und erstaunliche Gefängnisausbrüche verkaufte. Die meisten Hausierer jedoch verkauften Notenblätter, zwei Stück für einen Penny. Manche Familien erwarben sie und versammelten sich am Klavier, um Lieder wie »Kirschen so reif« oder »Im Garten meines Vaters« zu singen.

So verstrichen die Tage, die Wochen und auch die Jahre. Im Alter von vierzehn Jahren erfuhr Tristran, was es mit dem Sex auf sich hatte – eine Entwicklung, die durch schmutzige Witze, geflüsterte Geheimnisse, anzügliche Balladen und durch eine vage Ahnung vorangetrieben wurde. Als er fünfzehn war, verletzte er sich den Arm, weil er vor Mr. Thomas Foresters Haus von einem Apfelbaum stürzte, genauer gesagt von dem Apfelbaum vor Miss Victoria Foresters Schlafzimmer. Zu seinem eigenen Leidwesen hatte Tristran lediglich einen kurzen, rosarot schimmernden, jedoch äußerst faszinierenden Blick auf Victoria erhascht. Das Mädchen war so alt wie seine Schwester und ohne Zweifel das schönste Mädchen im Umkreis von hundert Meilen.

Als Victoria siebzehn war – und Tristran ebenfalls –, war Tristran sicher, daß es höchstwahrscheinlich auf den ganzen Britischen Inseln, wenn nicht sogar der ganzen Welt, kein schöneres Mädchen gab, und er hätte seine Überzeugung jederzeit auch unter Einsatz körperlicher Gewalt gegen Andersdenkende verteidigt. Allerdings hätte man in Wall wohl kaum jemanden gefunden, der ihm in dieser Sache widersprach, denn Victoria verdrehte vielen Männern den Kopf und brach vermutlich manch einem das Herz.

Sie hatte die grauen Augen und das herzförmige Gesicht ihrer Mutter und die kastanienbraunen Locken ihres Vaters. Ihre Lippen waren rot, der Mund makellos geformt; ihre Wangen erröteten lieblich, wenn sie sprach. Sie hatte eine helle Haut und war absolut entzückend. Als sie sechzehn war, hatte sie sich heftig mit ihrer Mutter gestritten, denn sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, im Wirtshaus Zur siebenten Elster als Bedienungshilfe zu arbeiten. »Ich habe mit Mr. Bromios gesprochen«, erklärte sie ihrer Mutter. »Er hat nichts dagegen einzuwenden.«

»Mr. Bromios’ Meinung interessiert mich nicht«, erwiderte ihre Mutter, die ehemalige Bridget Comfrey. »Auf alle Fälle ist das kein angemessener Beruf für eine junge Dame.«

Fasziniert verfolgte das Dorf Wall die Auseinandersetzung, und jeder fragte sich, wer von beiden sich durchsetzen würde. Kein vernünftiger Mensch machte sich Bridget Comfrey zur Feindin, denn sie hatte ein Mundwerk, das, wie man im Dorf sagte, die Farbe von einem Scheunentor ätzen und die Rinde von einer Eiche schälen konnte. Im Dorf gab es niemanden, der Bridget Forester absichtlich verärgerte, und manche meinten sogar, eher würde man die Mauer zum Laufen bringen, als daß Bridget Comfrey sich umstimmen ließe.

Victoria Forester jedoch war es gewohnt, ihren Kopf durchzusetzen, und wenn alles andere scheiterte, konnte sie immer noch an ihren Vater appellieren, der sich stets auf ihre Seite schlug. Aber diesmal erlebte Victoria eine Überraschung, denn ihr Vater stellte sich hinter ihre Mutter und vertrat wie diese die Meinung, es sei unter der Würde einer wohlerzogenen jungen Dame, an der Bar der Elster zu arbeiten. Thomas Forester sprach ein Machtwort, und damit war die Sache vom Tisch.

Jeder Junge im Dorf war in Victoria Forester verliebt, und selbst manch gesetzter, glücklich verheirateter Gentleman mit grauen Sprenkeln im Bart musterte sie mit wohlwollendem Interesse, wenn er ihr auf der Straße begegnete. Dann verwandelte er sich für ein paar Augenblicke wieder in einen jungen Mann im Frühling seines Lebens und setzte seinen Weg mit federnden, beschwingten Schritten fort.

»Es heißt, sogar Mister Monday gehört zu deinen Verehrern«, sagte Louisa Thorn eines schönen Nachmittags im Mai unter den Apfelbäumen.

Fünf weitere Mädchen saßen unter oder in den Ästen des ältesten Apfelbaums, dessen dicker Stamm sich gut zum Anlehnen eignete. Sooft der Maiwind blies, schwebten rosa Blüten herab wie Schneeflocken und ließen sich auf Haar und Röcken der Mädchen nieder, während die Nachmittagssonne, die durch die Blätter schien, die Umgebung mit grünen, silbernen und goldenen Sprenkeln übersäte.

»Mister Monday«, meinte Victoria Forester verächtlich, »ist mindestens fünfundvierzig.« Sie verzog das Gesicht, um zu verdeutlichen, wie alt jemand mit fünfundvierzig Jahren aus der Perspektive einer Siebzehnjährigen ist.

»Außerdem war er auch schon verheiratet«, warf Louisas Cousine Cecilia Hempstock ein. »Ich würde keinen Mann heiraten wollen, der schon mal verheiratet war. Das ist ja, als würde jemand anderes mein eigenes Pony zureiten«, fügte sie hinzu.

»Ich finde, genau das ist der einzige Vorteil eines Witwers«, entgegnete Amelia Robinson. »Daß eine andere schon die Ecken und Kanten abgeschliffen, ihn handzahm gemacht hat, wenn man so will. Außerdem könnte ich mir vorstellen, daß er in seinem gesetzten Alter bestimmte Gelüste ausgelebt und befriedigt hat, was einem sicherlich so manche Demütigung erspart.«

Unterdrücktes Gekicher erhob sich inmitten der Apfelblüten.

»Trotzdem«, meldete sich jetzt Lucy Pippin zögernd zu Wort, »trotzdem wäre es doch schön, in einem großen Haus zu wohnen und einen Vierspänner zu besitzen, so daß man in der Saison nach London reisen kann oder nach Bath zur Kur oder nach Brighton ans Meer, das wöge doch auf, daß Mister Monday schon fünfundvierzig ist.«

Die anderen Mädchen kreischten und bewarfen Lucy aus vollen Händen mit Apfelblüten, und keine kreischte lauter und warf mehr Blüten als Victoria Forester.


* * *


Mit siebzehn Jahren befand sich Tristran Thorn, der nur sechs Monate älter war als Victoria, auf halbem Wege vom Knaben zum Mann und empfand beide Rollen als gleichermaßen unbehaglich. Irgendwie schien er hauptsächlich aus Ellbogen und Adamsapfel zu bestehen. Sein Haar hatte die Farbe von nassem Stroh, stand widerspenstig vom Kopf ab und ließ sich nicht bändigen, so sehr er sich auch mit Wasser und Kamm abmühte.

Noch dazu war er schrecklich schüchtern, was er wie viele schüchterne Menschen damit zu kompensieren versuchte, indem er sich zur falschen Zeit zu sehr in den Mittelpunkt spielte. Meist jedoch war Tristran ganz zufrieden – oder jedenfalls so zufrieden wie ein Siebzehnjähriger es sein kann, dem die Welt noch offen steht. Und wenn er auf den Feldern oder an dem riesigen Schreibtisch im Hinterzimmer von Monday und Brown, dem Dorfladen, seinen Träumen nachhing, malte er sich aus, wie er mit der Eisenbahn nach London oder Liverpool fuhr oder in einem Dampfschiff über den Atlantik nach Amerika reiste und dort bei den Wilden in der Neuen Welt sein Glück machte.

Doch zu Zeiten, in denen der Wind von jenseits der Mauer blies und den Geruch von Minze, Thymian und roten Korinthen mit sich brachte, erblickte man seltsame Farben in den Kaminfeuern des Dorfes. Dann funktionierten die simpelsten Dinge nicht mehr, vom Streichholz bis hin zu den Schiebern an den Laternen.

An solchen Tagen waren Tristran Thorns Träume geprägt von seltsamen Phantasien voller Schuldgefühle, von Streifzügen durch den Wald, von Abenteuern, in denen er Prinzessinnen aus Palästen befreite, von Rittern und Trollen und Meerjungfrauen. Wenn diese Stimmung über ihn kam, schlüpfte er aus dem Haus, legte sich ins kühle Gras der Wiese und starrte hinauf in den Himmel.

Kaum jemand von uns hat je die Sterne so gesehen wie jene Menschen damals – unsere Städte und Dörfer verströmen viel zuviel Licht in die Nacht –, aber von Wall aus waren die Sterne am Himmel verteilt wie Welten oder Ideen, wie die Bäume im Wald oder die Blätter am Baum. Tristran starrte in die Dunkelheit des Himmels, bis er keinen Gedanken mehr im Kopf hatte, und dann ging er wieder ins Bett und schlief wie ein Toter.

Er war ein schlaksiges Energiebündel, ein Pulverfaß, das nur darauf wartete, daß jemand oder etwas die Zündschnur in Brand setzte; aber niemand tat es, und so half er an den Wochenenden und abends seinem Vater auf der Farm, und tagsüber arbeitete er als Lehrling bei Mr. Brown von Monday und Brown.

Monday und Brown war der Dorfladen. Zwar führte er ein gewisses Sortiment an Gebrauchsgegenständen und Lebensmitteln, aber ein Teil des Geschäfts wurde über Bestellisten abgewickelt: Die Dorfbewohner gaben Mr. Brown eine Liste der Dinge, die sie brauchten, von Fleischkonserven bis zum Desinfektionsbad für Schafe, von Fischmessern bis zu Kaminkacheln. Anschließend wurde dann im Laden eine Liste von allem erstellt, was benötigt wurde, und Mr. Brown fuhr in einem von zwei schweren Zugpferden gezogenen Wagen zur nächsten Bezirksstadt. Nach einigen Tagen kehrte er zurück, den Wagen hoch beladen mit Waren jeglicher Art.

Es war ein kalter, windiger Tag Ende Oktober, einer, an dem es zwar dauernd nach Regen aussah, aber dennoch trocken blieb. Am Spätnachmittag spazierte Victoria Forester in den Laden und machte mit der kleinen Klingel auf dem Ladentisch auf sich aufmerksam.

Als sie Tristran Thorn aus dem Hinterzimmer auftauchen sah, wirkte sie ein klein wenig enttäuscht. »Guten Tag, Miss Forester.«

Mit einem verkniffenen Lächeln reichte sie Tristran die Liste, auf der in der präzisen Handschrift ihrer Mutter geschrieben stand:


1/2 Pfund Sago

10 Dosen Sardinen

1 Flasche Pilz-Sauce

5 Pfund Reis

1 Becher Goldsirup

2 Pfund Korinthen

1 Flasche Koschenille

1 Pfund Gerstenzucker

1 Packung Rowntrees Elect

Kakao für einen Shilling

3 Dosen Oakey’s Messerpolitur

1/2 Lot Brunswick Black

1 Päckchen Swinborne’s Fischleim

1 Flasche Möbelpolitur

1 Bratenlöffel

1 Soßensieb für neun Pennys

1 Küchentretleiter


Tristran las die Liste durch und überlegte fieberhaft, worüber er ein Gespräch beginnen konnte.

Schließlich hörte er sich sagen: »Dann gibt’s bestimmt bald leckeren Reispudding, Miss Forester.« Sobald die Worte über seine Lippen gekommen waren, wußte er, daß er das Falsche gesagt hatte. Victoria schürzte ihre perfekten Lippen, blinzelte mit ihren grauen Augen und antwortete: »Ja, Tristran. Wir werden Reispudding essen.«

Dann lächelte sie ihn an und fuhr fort: »Meine Mutter sagt, daß Reispudding, in ausreichender Menge gegessen, Erkältungen, Fieber und andere herbstliche Beschwerden abwenden hilft.«

»Meine Mutter schwört auf Tapiocapudding«, gestand Tristran.

Er spießte die Liste auf den dafür vorgesehenen Metalldorn. »Die meisten Waren können wir morgen früh liefern, der Rest wird nachgereicht, sobald Mr. Monday zurück ist, Anfang nächster Woche.«

In diesem Moment fuhr ein Windstoß durchs Dorf, so heftig, daß die Fensterscheiben rappelten und die Wetterhähne sich drehten, bis sie Norden nicht mehr von Westen und Süden nicht mehr von Osten unterscheiden konnten.

Das Feuer, das im Kamin von Monday und Brown brannte, zischte und flackerte in einem Wirbel von Grün und Rot, durchsetzt von Silberfunken, wie man sie im Kaminfeuer leicht selbst erzeugen kann, wenn man eine Handvoll Eisenspäne hineinwirft.

Der Wind kam aus dem Feenland, von Osten, und Tristran fand in sich plötzlich einen Mut, von dem er nicht gewußt hatte, daß er ihn besaß. »Wißt Ihr, Miss Forester, in ein paar Minuten habe ich Feierabend«, sagte er. »Vielleicht könnte ich Euch ein Stück nach Hause begleiten. Es ist kein großer Umweg für mich.« Dann wartete er, das Herz pochte ihm bis zum Hals, während Victoria Forester ihn mit ihren grauen Augen amüsiert anstarrte. Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, antwortete sie: »Ja, gern.«

Tristran eilte in den Salon und informierte Mr. Brown, er gehe jetzt nach Hause. Mr. Brown knurrte, wenn auch recht gutmütig, und erwiderte, als er noch jung gewesen sei, habe er nicht nur bis spät abends arbeiten und den Laden abschließen, sondern auch auf dem Boden unter der Ladentheke schlafen müssen, mit seinem Mantel als Kissen.

Tristran beteuerte, er sei sich bewußt, daß er wirklich ein Glückspilz war, und wünschte Mr. Brown eine gute Nacht. Dann nahm er seinen Mantel vom Garderobenständer und seinen neuen Bowler von der Hutablage und trat hinaus auf die Straße, wo Victoria Forester ihn erwartete.

Während sie nebeneinander hergingen, wurde aus der Herbstdämmerung dunkle Nacht. Tristran konnte den fernen Winter in der Luft riechen – eine Mischung aus Nachtnebel und frischer Dunkelheit und dem Duft gefallener Blätter.

Sie schlugen den gewundenen Pfad zur Forester-Farm ein; die Mondsichel hing weiß am Himmel, und die Sterne funkelten in der Dunkelheit über ihnen.

»Victoria?« sagte Tristran nach einer Weile.

»Ja, Tristran«, antwortete Victoria, die den größten Teil des Weges etwas geistesabwesend gewirkt hatte.

»Würdest du es unverschämt von mir finden, wenn ich dich küsse?« fragte Tristran.

»Ja«, antwortete Victoria unmißverständlich und kühl. »Sehr unverschämt.«

»Aha«, sagte Tristran.

Schweigend gingen sie den Dyties Hill empor; auf dem Gipfel wandten sie sich um und sahen unter sich das Dorf Wall liegen, schimmernd im Schein der Lampen und Kerzen, der durch die Fenster drang, warmes, gelbes Licht, das ihnen einladend zuwinkte. Über ihnen leuchteten Myriaden von Sternen, die funkelten und glitzerten und blitzten, kalt und fern und zahlreicher, als die menschlichen Sinne zu begreifen imstande waren.

Tristran nahm Victorias kleine Hand in die seine. Victoria zog sie nicht zurück.

»Hast du das gesehen?« fragte sie, über die Landschaft blickend.

»Nein, ich habe nichts gesehen«, erwiderte Tristran. »Ich habe dich angesehen.«

Victoria lächelte im Mondschein.

»Du bist die schönste Frau auf der ganzen Welt«, sagte Tristran aus tiefstem Herzen.

»Ach du«, gab Victoria zurück, aber ihre Stimme klang sanft.

»Was hast du denn gesehen?« fragte Tristran.

»Eine Sternschnuppe«, antwortete Victoria. »Ich glaube, die sind um diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich.«

»Vicky, küßt du mich?«

»Nein.«

»Als wir jünger waren, hast du mich geküßt. Unter der Schwureiche, an deinem fünfzehnten Geburtstag. Und letztes Jahr am Maitag, hinter dem Kuhstall deines Vaters.«

»Damals war ich ein anderer Mensch«, erklärte sie. »Jetzt werde ich dich nicht küssen, Tristran Thorn.«

»Wenn du mich nicht küssen willst, heiratest du mich dann wenigstens?« fragte Tristran.

Schweigen senkte sich über den Hügel, nur das Flüstern des Oktoberwinds war zu hören. Dann durchbrach ein Laut, der wie eine helle Glocke klang, die Stille: Das schönste Mädchen der gesamten Britischen Inseln lachte herzlich.

»Dich heiraten?« wiederholte sie ungläubig. »Warum in aller Welt sollte ich dich heiraten, Tristran Thorn? Was hast du mir denn schon zu bieten?«

»Was ich dir zu bieten habe? Ich würde für dich nach Indien reisen und dir die Stoßzähne von Elefanten bringen, Perlen so groß wie dein Daumen und Rubine so groß wie Zaunkönigeier.

Ich würde für dich nach Afrika gehen und dir Diamanten bringen, so groß wie Krickettbälle. Ich würde für dich die Quelle des Nils finden und nach dir benennen.

Ich würde für dich nach Amerika fahren – bis nach San Francisco, zu den Goldfeldern, und ich würde nicht eher zurückkommen, als bis ich dein Gewicht in Gold zusammen hätte. Das würde ich dir dann zu Füßen legen.

Ich würde auch ins ferne Nordland aufbrechen, wenn du es wolltest, und die mächtigen Eisbären töten, um dir ihre Pelze zu schenken.«

»Ich finde, das klang alles recht gut«, meinte Victoria Forester, »bis auf die Stelle mit dem Eisbärentöten. Doch wie dem auch sei, kleiner Ladenjunge und Farmersohn; ich werde dich nicht küssen, und ich werde dich auch nicht heiraten.«

Tristrans Augen blitzten im Mondlicht. »Ich würde für dich nach China reisen und dem Piratenkönig seine riesige Dschunke wegnehmen und zu dir bringen, beladen mit Jade, Seide und Opium.

Ich würde nach Australien gehen, auf die andere Seite der Erde, und dir… Hmm, ja, was würde ich dir bringen?« In Gedanken ging er die Groschenromane durch, die er gelesen hatte, und versuchte sich krampfhaft daran zu erinnern, ob einer der Helden in Australien gewesen war. »Ein Känguruh«, rief er schließlich. »Und Opale«, fügte er hinzu. Er war ziemlich sicher, daß es in Australien Opale gab.

Victoria Forester drückte seine Hand. »Und was sollte ich mit einem Känguruh anfangen?« fragte sie. »Jetzt müssen wir aber weiter, sonst fragen sich meine Eltern, wo ich so lange bleibe, und ziehen womöglich falsche Schlüsse. Denn ich habe dich nicht geküßt, Tristran Thorn.«

»Küß mich«, flehte er. »Ich würde alles für dich tun, jeden Berg würde ich erklimmen, jeden Fluß durchwaten, jede Wüste durchqueren.«

Mit einer Handbewegung umschloß er das Dorf Wall unter ihnen und den Nachthimmel über ihnen. Im Sternbild des Orion, tief am östlichen Horizont, blitzte ein Stern, funkelte und fiel.

»Für einen Kuß und das Versprechen deiner Hand«, verkündete Tristran, »würde ich dir diesen Stern bringen.«

Er fröstelte. Sein Mantel war dünn, und es war klar, daß aus dem Kuß nichts werden würde, was ihn ziemlich ratlos machte. Die Helden in den Groschenromanen und Schundheften hatten nie Probleme, wenn es ums Küssen ging.

»Dann tu das«, sagte Victoria. »Und wenn du es tust, dann willige ich ein.«

»Was?« fragte Tristran.

»Wenn du mir den Stern bringst«, antwortete Victoria, »den Stern, der gerade vom Himmel gefallen ist – keinen anderen! – , dann werde ich dich küssen. Vielleicht noch mehr. Jetzt brauchst du also nicht nach Australien zu gehen, auch nicht nach Afrika oder ins ferne China.«

»Was?« fragte Tristran noch einmal.

Abermals lachte Victoria, entzog ihm ihre Hand und schickte sich an, den Hügel zur Farm ihres Vaters hinunterzulaufen.

Tristran rannte, um sie einzuholen. »Meinst du das ernst?« fragte er.

»Ich meine es genauso ernst wie du dein ganzes hochgestochenes Geschwätz von Rubinen und Gold und Opium«, erwiderte sie. »Was ist eigentlich Opium?«

»Eine Zutat im Hustensaft«, sagte Tristran. »So was wie Eukalyptus.«

»Klingt nicht sonderlich romantisch«, meinte Victoria Forester. »Aber solltest du dich nicht allmählich auf den Weg machen, mir meinen Stern zu holen? Er ist im Osten herabgefallen, da drüben.« Wieder lachte sie glockenhell. »Du dummer Ladenjunge. Du kannst doch bestenfalls dafür sorgen, daß wir die Zutaten für unseren Reispudding bekommen.«

»Und wenn ich dir den Stern bringe?« fragte Tristran leichthin. »Was würdest du mir dafür geben? Einen Kuß? Deine Hand zum Eheversprechen?«

»Alles, was du willst«, antwortete Victoria leichthin.

»Schwörst du das?« vergewisserte sich Tristran.

Unterdessen befanden sie sich nur noch hundert Meter vom Farmhaus der Foresters entfernt. Lampenlicht ergoß sich aus den Fenstern, gelb und orange.

»Selbstverständlich«, sagte Victoria und lächelte.

Der Weg zur Farm war von den Hufen der Pferde, Kühe, Schafe und den Pfoten der Hunde aufgewühlt und schlammig. Aber Tristran Thorn kniete sich in den Schmutz, ohne auf seinen Mantel und die Hose aus gutem Wollstoff zu achten. »Na schön«, sagte er.

Jetzt blies der Wind aus dem Osten.

»Hier verlasse ich dich, meine Herzensdame«, sagte Tristran Thorn, »denn ich habe dringende Geschäfte drüben im Osten zu erledigen.« Damit stand er auf, Schlamm und Dreck an Knien und Mantel, verneigte sich vor ihr und lüftete seinen Bowlerhut. Victoria lachte von Herzen über den mageren Ladenjungen, und ihr Lachen folgte ihm den Hügel hinab und in die Ferne.


Tristran Thorn rannte den ganzen Weg nach Hause. Dornen griffen nach seinen Kleidern, und ein Ast schlug ihm den Hut vom Kopf.

Atemlos und zerzaust stolperte er in die Küche des Hauses auf den westlichen Wiesen.

»Wie siehst du denn aus!« rief seine Mutter. »Also wirklich! Das ist doch nicht zu glauben!«

Tristran lächelte sie nur an.

»Tristran?« fragte sein Vater, der mit fünfunddreißig Jahren immer noch mittelgroß und sommersprossig war, auch wenn sich in seine nußbraunen Locken mehr als nur ein paar Silberhaare eingeschlichen hatten. »Deine Mutter spricht mit dir, hast du sie nicht gehört?«

»Entschuldigt, Vater, Mutter«, sagte Tristran, »aber ich werde das Dorf noch heute abend verlassen. Ich werde einige Zeit weg sein.«

»Das ist doch albern und dumm!« meinte Daisy Thorn. »So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört.«

Doch Dunstan Thorn sah den Blick in den Augen seines Sohnes. »Laß mich mit ihm reden«, sagte er zu seiner Frau. Sie sah ihn scharf an, nickte aber dann. »Nun gut«, sagte sie. »Aber wer soll den Mantel des Jungen flicken? Das möchte ich gern wissen.« Damit eilte sie aus der Küche.

Das Küchenfeuer sprühte Silberfunken und schimmerte grün und violett. »Wohin willst du gehen?« fragte Dunstan.

»Nach Osten«, antwortete sein Sohn.

Nach Osten. Dunstan nickte. Es gab zwei Arten von Osten – nach Osten ins benachbarte Land, durch den Wald, und nach Osten auf die andere Seite der Mauer. Dunstan Thorn brauchte nicht zu fragen, welchen Osten sein Sohn meinte.

»Wirst du zurückkommen?« fragte der Vater.

Tristran grinste breit. »Selbstverständlich«, antwortete er.

»Nun, dann ist es in Ordnung«, sagte sein Vater. Er kratzte sich an der Nase. »Hast du dir schon überlegt, wie du durch die Mauer kommen willst?«

Tristran schüttelte den Kopf. »Ich finde schon eine Möglichkeit«, meinte er. »Wenn nötig, kämpfe ich mich an den Wachen vorbei.«

»Nein, du wirst nichts derartiges tun«, widersprach sein Vater. »Wie würde dir das gefallen, wenn du Wachdienst hättest, oder ich? Ich will nicht, daß jemand verletzt wird.« Erneut kratzte er sich an der Nase. »Geh und pack eine Tasche zusammen, gib deiner Mutter einen Abschiedskuß, und dann begleite ich dich hinunter ins Dorf.«

Also packte Tristran seine Siebensachen. Seine Mutter brachte ihm sechs reife rote Äpfel und ein Bauernbrot und einen runden weißen Bauernkäse; die Sachen legte er obenauf in die Tasche, küßte seine Mutter auf die Wangen und sagte ihr Lebewohl. Dann wanderte er mit seinem Vater ins Dorf.

Als Tristran sechzehn geworden war, hatte er zum ersten Mal Wache geschoben. Damals hatte man ihm nur eine einzige Anweisung gegeben: Der Wachposten sollte nach Möglichkeit niemanden aus dem Dorf durch die Öffnung in der Mauer lassen. Sollte dies den beiden Wachen einmal nicht möglich sein, müßten sie Hilfe aus dem Dorf herbeiholen.

Unterwegs überlegte Tristran, was sein Vater wohl vorhatte. Vielleicht konnten sie zusammen die Wache überwältigen. Vielleicht würde sein Vater sie irgendwie ablenken, so daß Tristran ungehindert durchschlüpfen konnte. Vielleicht…

Bis sie das Dorf durchquert hatten und an der Maueröffnung ankamen, hatte Tristran in Gedanken jede Möglichkeit durchgespielt, außer der, die schließlich Wirklichkeit wurde.

An diesem Abend hatten Harold Crutchbeck und Mr. Bromios Wachdienst. Harold Crutchbeck war der Sohn des Müllers, ein stämmiger junger Mann, ein paar Jahre älter als Tristran. Mr. Bromios hatte schwarze, lockige Haare, seine Augen waren grün, beim Lächeln blitzten weiße Zähne, und er roch nach Trauben und Traubensaft, nach Gerste und Hopfen.

Dunstan Thorn ging zu Mr. Bromios, der dastand und mit den Füßen stampfte, um sie warm zu halten.

»Guten Abend, Mister Bromios. Guten Abend, Harold«, sagte Dunstan.

»Guten Abend, Mister Thorn«, antwortete Harold.

»Guten Abend, Dunstan«, antwortete Mr. Bromios. »Ich hoffe, es geht Euch gut?«

Dunstan bestätigte, es gehe ihm gut, und die beiden Männer unterhielten sich eine Weile übers Wetter, stellten einhellig fest, es sehe schlecht aus für die Bauern und würde, der Menge der Beeren an Stechpalmen und Eibe nach zu urteilen, wohl einen langen harten Winter geben.

Tristran hörte zu und fühlte sich immer verwirrter und enttäuschter, aber er biß sich auf die Lippen und schwieg.

Endlich sagte sein Vater: »Mr. Bromios, Harold – ich denke, ihr kennt beide meinen Sohn Tristran?« Nervös lüftete Tristran seinen Bowler.

Doch was nun folgte, verstand er überhaupt nicht.

»Ich nehme an, ihr wißt beide, wo er hergekommen ist«, fuhr Dunstan Thorn fort.

Mr. Bromios nickte stumm.

Harold Crutchbeck meinte, er habe Gerüchte gehört, aber darauf solle man ja nie allzuviel geben.

»Nun, diese Gerüchte entsprechen der Wahrheit«, erklärte Dunstan. »Und jetzt ist es Zeit für ihn zurückzukehren.«

»Es gibt da einen Stern…«, mischte Tristran sich ein, aber sein Vater bedeutete ihm zu schweigen.

Mr. Bromios rieb sich das Kinn und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Nun gut«, sagte er, wandte sich zu Harold um und sprach so leise mit ihm, daß Tristran ihn nicht verstehen konnte.

Als er fertig war, drückte Dunstan seinem Sohn etwas Kaltes in die Hand.

»Zieh deiner Wege, Junge. Geh und hole deinen Stern. Möge Gott dich behüten und all seine Engel mit dir sein.«

Da traten Mr. Bromios und Harold Crutchbeck, die Wachen an der Mauer, beiseite, um Tristran durchzulassen.

Tristran ging durch die Öffnung in der Steinmauer und hinaus auf die Wiese auf der anderen Seite.

Zögernd drehte er sich noch einmal zu den drei Männern um, die in der Mauerlücke standen, und fragte sich, warum sie ihn wohl durchgelassen hatten.

Doch dann zog Tristran Thorn los und stieg, in der einen Hand die Tasche, in der anderen den Gegenstand, den sein Vater ihm zugesteckt hatte, den Hügel hinauf, zum Wald.


* * *


Während er dahinschritt, wurde die Nachtkühle immer weniger streng, und als er auf dem Gipfel des bewaldeten Hügels ankam, entdeckte Tristran zu seiner Überraschung, daß der Mond durch eine Lücke in den Bäumen hell auf ihn herabschien – dabei war er doch eine Stunde zuvor untergegangen und noch dazu als schmale Silbersichel! Dagegen war der Mond, der nun auf ihn herunterschien, ein riesiger, goldener Erntemond; rund und voll schien er mit kräftigem Licht.

Der kalte Gegenstand in seiner Hand bimmelte – ein kristallenes Klimpern wie die Glocken einer winzigen Glaskathedrale. Er öffnete die Hand und hielt ihn ins Mondlicht.

Es war ein Schneeglöckchen, ganz aus Glas.

Ein warmer Wind strich über Tristrans Gesicht: Er roch nach Pfefferminz, Johannisbeerblättern und roten, reifen Pflaumen. Auf einmal wurde Tristran Thorn sich der Tragweite dessen bewußt, was er getan hatte. Er war unterwegs ins Feenland, auf der Suche nach einer Sternschnuppe, ohne die geringste Ahnung, wie er den Stern finden oder wie er während dieses Unterfangens für sich und seine Sicherheit sorgen sollte. Er blickte zurück und meinte, die Lichter von Wall hinter sich ausmachen zu können, unstet und schimmernd wie in aufsteigender Hitze, aber dennoch freundlich und einladend.

Er wußte, wenn er umkehren würde und zurückginge, würde ihn niemand deshalb verachten – weder sein Vater noch seine Mutter, ja, selbst Victoria Forester würde ihn das nächste Mal wahrscheinlich nur anlächeln und ihn wie üblich »Ladenjunge« nennen. Vielleicht würde sie noch hinzufügen, daß Sternschnuppen meist sehr schwer zu finden sind.

Einen Augenblick hielt Tristran inne.

Er dachte an Victorias Lippen, an den Klang ihres Lachens. Entschlossen straffte er die Schultern und steckte das Schneeglöckchen ins oberste Knopfloch seines Mantels, den er jetzt offen trug. Zu unwissend, um Angst zu empfinden, und zu jung für heilige Scheu, durchwanderte Tristran Thorn die Wiesen und Felder, die wir bereits kennen…

… und marschierte immer tiefer hinein ins Feenland.

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