DER ÜBERLEBENDE SURVIVOR

Schon seit mehr als einer Stunde galt Conways Aufmerksamkeit gleichzeitig der interstellaren Leere jenseits der Direktsichtluke und dem Bildschirm, der mit optischen Sensoren verbunden war und auf dem die nähere Umgebung des Weltraums alles andere als leer dargestellt wurde. Mit jeder verstreichenden Minute fühlte sich Conway niedergeschlagener. Die Offiziere, die auf dem Kommandodeck der Rhabwar um ihn herumstanden, strahlten eine nervöse, aber unhörbare Unruhe aus, denn sie wußten, daß der ranghöchste medizinische Offizier an Bord das Kommando hatte, wenn sich ihr Schiff am Schauplatz einer Katastrophe befand.

„Nur ein Überlebender“, sagte Conway ausdruckslos.

„Bei unseren bisherigen Einsätzen hatten wir eben Glück, Doktor“, gab Fletcher vom Platz des Captains aus zu bedenken. „Meistens entdeckt ein Ambulanzschiff überhaupt keine Überlebenden mehr. Stellen Sie sich doch nur mal vor, was hier passiert sein muß.“

Conway gab darauf keine Antwort, schließlich dachte er schon seit einer Stunde an kaum etwas anderes.

Bei einem Interstellarschiff unbekannter Herkunft und der dreifachen Masse des Ambulanzschiffs war eine folgenschwere Funktionsstörung aufgetreten, durch die es in fein zerteilte und weit verstreute Wrackstücke zerrissen worden war. Die Analyse der Temperatur und der auseinanderstrebenden Bewegung der einzelnen Trümmerteile ergab, daß die Wrackstücke vor knapp sieben Stunden, als das Alarmsignal automatisch ausgelöst worden war, auf keinen Fall gemeinsam im Zentrum einer Nuklearexplosion gewesen sein konnten, weil sie dafür inzwischen viel zu kalt waren. Das Schiff mußte also ganz offensichtlich einen seiner Hyperraumantriebsgeneratoren verloren haben, und augenscheinlich war auch die Schiffskonstruktion nicht weit genug entwickelt gewesen, so daß

die Insassen bei diesem Unfall bis auf eine Ausnahme keine Überlebenschance gehabt hatten.

Wie Conway wußte, wurden auf einem Föderationsschiff die synchronisierten Hyperraumantriebsgeneratoren automatisch abgeschaltet, sobald einer von ihnen plötzlich ausfiel, und das betreffende Schiff tauchte dann wie in Abrahams Schoß im Normalraum irgendwo zwischen den Sternen wieder auf. Da es mit dem Normalantrieb zumeist aber nicht mehr bis nach Hause fliegen konnte, trieb es dort hilflos umher, bis die Besatzung entweder den defekten Generator repariert hatte oder Hilfe kam. Früher hatten diese Sicherheitsabschaltungen allerdings hin und wieder versagt oder waren erst zu spät ausgelöst worden. In solch einem Fall war dann ein Teil des Schiffs für den Bruchteil einer Sekunde mit Hyperraumgeschwindigkeit weitergeflogen, während der Rest mit einem Schlag auf weit unter Lichtgeschwindigkeit abgebremst worden war. Die daraus resultierenden Folgen für diese ersten Hyperraumschiffe waren, gelinde gesagt, verheerend gewesen.

„Die Spezies des Überlebenden hat mit Hyperraumareisen anscheinend noch relativ wenig Erfahrung“, folgerte Conway, „sonst wäre das Schiff wohl nach dem Prinzip der Modulbauweise konstruiert worden. Wie wir aus langer Erfahrung wissen, handelt es sich dabei um die einzige Konstruktionsform, die wenigstens einem Teil der Schiffsbesatzung das Überleben sichert, wenn eine plötzliche Synchronisationsstörung der Hyperraumgeneratoren das Schiff auseinanderreißt. Ich verstehe allerdings nicht, warum der Teil mit dem Überlebenden nicht genauso wie der Rest in Stücke zerrissen worden ist.“

Der Captain mußte sichtlich seine Ungeduld unterdrücken, als er antwortete: „Ach Doktor, Sie waren doch viel zu sehr damit beschäftigt, den Überlebenden vor dem völligen Entweichen der Luft aus der Kabine zu bewahren, um ihm neben all den anderen schon vorhandenen Problemen wenigstens einen Druckabfall zu ersparen, als daß Sie sich um die Schiffskonstruktion Gedanken hätten machen können. Bei diesem kabinenähnlichen Container handelte es sich um eine separate Einheit mit unbekannter Verwendung. Er war außenbords am Hauptrumpf befestigt und mit dem Schiff durch eine kurze Einstiegsröhre und eine Luftschleuse verbunden. Die Kabine wurde einfach komplett abgerissen. Das Wesen hatte ein Mordsglück.“ Er deutete auf die Displays der weitreichenden Sensoren und fuhr fort: „Aber jetzt wissen wir wenigstens, daß es keine weiteren Überlebenden gibt, weil die übriggebliebenen Wrackteile dazu viel zu klein sind. Offen gesagt, Doktor, vergeuden wir hier nur unsere Zeit.“

„Der Meinung bin ich auch“, stimmte ihm Conway geistesabwesend zu.

„Gut“, sagte Fletcher lebhaft. „Maschinenraum, bereiten Sie sich auf einen Sprung in fünf..“

„Einen Augenblick noch, Captain“, unterbrach ihn Conway leise. „Ich war noch nicht fertig. Ich will hier draußen ein Aufklärungsschiff haben, wenn möglich sogar mehr als eins, um die Wrackteile nach persönlichen Gegenständen, Photographien, Bildern oder Skulpturen abzusuchen, eben nach allem, was zur Rekonstruktion der Kultur und Umweltbedingungen des Überlebenden beitragen könnte. Bitten Sie das Föderationsarchiv um sämtliche Informationen über eine intelligente Lebensform der physiologischen Klassifikation EGCL. Die Kontaktspezialisten werden diese Informationen so schnell wie möglich haben wollen, da es sich hierbei um eine für uns völlig unbekannte Spezies handelt. Und sollte unser Patient am Leben bleiben, wird das Orbit Hospital diese Informationen sozusagen schon vorgestern benötigen.

Senden Sie den Funkspruch mit dem Dringlichkeitscode für medizinischen Erstkontakt, und nehmen Sie dann sofort Kurs auf die Heimat. Ich bin auf dem Unfalldeck.“

Als Conway in den schwerelosen Hauptverbindungsschacht stieg und sich mittschiffs zum Unfalldeck zog, bereitete der Funkoffizier der Rhabwar, Haslam, bereits die Übermittlung der Nachricht vor. Conway unterbrach den Weg kurz durch einen Abstecher in seine Kabine, wo er den schweren Raumanzug ablegte, den er seit der Bergung getragen hatte. Er fühlte sich, als könnte er jeden einzelnen Muskel und Knochen im Körper spüren — die Bergung des Überlebenden und dessen Transport zur Rhabwar hatten viel Kraft gekostet. Die darauffolgende dreistündige Notoperation und eine weitere Stunde konzentrierten Stillsitzens im Kontrollraum hatten ihm den Rest gegeben. Kein Wunder also, daß sein Körper steif wie ein Brett war.

Versuch bloß, an irgendwas anderes zu denken, ermahnte sich Conway selbst. Zur Entspannung der Muskeln machte er kurz ein paar Körperübungen, doch der dumpfe, nicht zu ortende Schmerz blieb. Verärgert fragte er sich, ob er allmählich zum Hypochonder wurde.

„Subraumfunkübertragung in fünf Sekunden“, sagte die gedämpfte Stimme von Lieutenant Haslam aus dem Kabinenlautsprecher. „Bereiten Sie sich auf die üblichen Schwankungen in den Beleuchtungs- und künstlichen Schwerkraftsystemen vor.“

Als die Kabinenbeleuchtung flackerte und das Deck unter den Füßen zu rucken schien, war Conway schließlich gezwungen, sich anderen Gedanken zuzuwenden — insbesondere den Problemen, die bei der Übertragung von Nachrichten über interstellare Entfernungen auftraten, gegen die das Senden eines Notsignals ein vergleichsweise einfaches Verfahren war.

So, wie man nur eine Methode kannte, schneller als Licht zu reisen, gab es auch nur ein Verfahren, Hilfe herbeizurufen, wenn ein Schiff durch einen Unfall oder technischen Defekt zwischen den Sternen gestrandet war. Der mit festem Leitstrahl arbeitende Subraumfunk konnte unter Notfallbedingungen nur selten eingesetzt werden, da er durch dazwischenliegende Sternkörper Störungen ausgesetzt war und überdies Unmengen von Schilfsenergie benötigte — Energie, die ein in Not geratenes Schiff zumeist gar nicht mehr aufbringen konnte. Doch eine relativ simple ’Notsignalbake’ brauchte keine Nachrichten zu übermitteln — sie war einfach ein nuklearbetriebenes Gerät, das ein Peilsignal sendete, einen Hilferuf im Subraum, der immer wieder sämtliche verwendbaren Funkfrequenzen durchlief, bis er einige Stunden später verstummte. Und in diesem Fall war der Ruf mitten in einer Wolke aus Wrackteilen verstummt, zwischen denen sich ein Überlebender befunden hatte, der sich wirklichsehr glücklich schätzen konnte, überhaupt noch am Leben zu sein.

Wenn man allerdings das Ausmaß der Verletzungen des Wesens bedenkt, kann man eigentlich kaum noch von Glück sprechen, ging es Conway durch den Kopf. Er schüttelte diese für ihn untypisch düsteren Gedanken schnell wieder ab und begab sich nach unten auf das Unfalldeck, um den Zustand des Patienten zu überprüfen.

Der Überlebende war ein warmblütiger Sauerstoffatmer von annähernd doppeltem Körpergewicht eines erwachsenen Terrestriers und physiologisch als EGCL klassifiziert worden. Optisch glich er einer riesigen Schnecke mit hohem, kegelförmigem Haus, das um die Spitze herum durchlöchert war, wo sich auch die vier ausstreckbaren Augen befanden. Am unteren Rand dieses Panzers waren im gleichen Abstand wie die Löcher in der Spitze acht dreieckige Schlitze, aus denen die Greiforgane heraushingen. Der Panzer ruhte auf einem dicken, runden Muskelballen, der das Fortbewegungssystem des EGCL darstellte. Um den Rand des Ballens herum befand sich eine Anzahl von fleischigen Fortsätzen, Vertiefungen und Schlitzen, die mit den Nahrungsaufnahme-, Atmungs-, Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorganen sowie mit Fühlern verbunden waren, die nicht der visuellen Wahrnehmung dienten. Nachdem man die vom Überlebenden benötigten Schwerkraft- und Atmosphärebedingungen abgeschätzt hatte, war die Gravitation mit Rücksicht auf den ernsthaft geschwächten Zustand und zur Unterstützung der Herztätigkeit des Patienten verringert worden. Gleichzeitig hatte man den Druck erhöht, damit die Blutung nicht durch die Auswirkungen eines Druckabfalls vergrößert werden konnte.

Während Conway neben der Drucktragbahre stand und auf den schrecklich zugerichteten EGCL hinabblickte, kamen die Pathologin Murchison und Oberschwester Naydrad hinzu. Es handelte sich dabei um dieselbe Bahre, mit der man den Verletzten schon aus dem Wrack geborgen hatte, und die bald noch einmal für den Transport des EGCL ins Hospital eingesetzt werden würde, da der Patient keiner unnötigen Bewegung ausgesetzt werden sollte. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Transporten bestand darin, daß man den Patienten für den zweiten zurechtgemacht hatte.

Trotz seiner beträchtlichen Erfahrung mit Raumunfallopfern aller Gestalten, Größen und physiologischen Klassifikationen zuckte Conway noch immer unwillkürlich zusammen, wenn er daran dachte, was sie am Unglücksort vorgefunden hatten. Zu dem Zeitpunkt als sie die Kabine entdeckten, in der sich der EGCL befand, drehte sie sich mit rasender Geschwindigkeit um die eigene Achse. Das Unfallopfer im Innern war bereits viele Stunden lang wie wild hin- und hergeworfen worden und hatte dabei mit seinem massiven Körper die Einrichtungs- und Ausrüstungsgegenstände zerstört, bevor es endlich unter einigen dieser von ihm verursachten Trümmer in einer Ecke steckengeblieben war.

Bei diesem Vorgang hatte der Rückenpanzer drei Brüche davongetragen, von denen einer so tief eingedrückt war, daß auch das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen worden war. Obendrein fehlte ein Auge, und zwei der dünnen Greiftentakel waren von scharfkantigen Hindernissen gewaltsam abgetrennt worden. Diese Glieder hatte man aber aus dem Wrack bergen können und für ein mögliches Wiederannähen eingefroren. Zudem befanden sich zahlreiche Stich- und Schnittwunden im Ballen am unteren Rand des Panzers.

Außer einer Notoperation, um den Druck auf das Gehirn zu beheben und der Eindämmung der stärksten Blutungen mit Klammern und provisorischen Nähten sowie einer Unterstützung der Atmung, indem man der noch unbeschädigten Lunge durch Druck Sauerstoff zuführte, konnte man für den Patienten nur sehr wenig tun. Mit Gewißheit gab es an Bord der Rhabwar keine Möglichkeit, die Schädelverletzung zu operieren, denn schon die Bemühungen, das Ausmaß dieser Schädigung zu erfassen, führten lediglich zu widersprüchlichen Ergebnissen zwischen der Biosensorenanalyse und Dr. Priliclas empathisch erlangten Erkenntnissen. Den Sensoren zufolge hatte die Gehirntätigkeit praktisch aufgehört, während der Empath auf das Gegenteil beharrte — soweit der ängstliche, schüchterne und zurückhaltende Prilicla überhaupt auf etwas beharren konnte.

„Keine Körperregung und keine Änderung des Krankheitsbilds, seitdem du weggegangen bist“, sagte Murchison leise und kam damit Conways Frage zuvor. „Allerdings bin ich darüber überhaupt nicht glücklich“, fügte sie mit besorgter Miene hinzu.

„Und ich bin sogar das Gegenteil von glücklich, Doktor“, schloß sich Oberschwester Naydrad an, und ihr Fell sträubte sich und wogte wie in einem starken Wind. „Meiner Meinung nach ist der Patient klinisch tot, und wir sorgen lediglich dafür, daß Thornnastor ein frischeres Exemplar zum Sezieren erhält als sonst üblich.

Bei allem Respekt, aber Doktor Prilicla sagt häufig durchaus unzutreffende Sachen, nur um die Leute in seiner Umgebung zufriedenzustellen“, fuhr die Kelgianerin fort. „Außerdem hat er bei dem Patienten Schmerzen als vorherrschende emotionale Ausstrahlung festgestellt. Wie Sie sich bestimmt erinnern können, war das Gefühl so stark, daß Prilicla gleich nach Abschluß der Operation um sofortige Beurlaubung bat. Meiner Meinung nach ist dieser Patient zu keiner geistigen Reflexion mehr fähig und hat, jedenfalls nach Priliclas Reaktion zu urteilen, obendrein auch noch ungeheure Schmerzen. Ihnen ist doch wohl klar, was Sie zu tun haben, oder etwa nicht?“

„Naydrad!“ begann Conway wütend, verstummte dann aber. Murchison und die Oberschwester hatten exakt die gleiche Meinung geäußert. Der Unterschied bestand lediglich darin, daß die Kelgianerin wie der Rest ihrer Spezies überhaupt kein Taktgefühl besaß.

Conway starrte einen Augenblick lang das zwei Meter lange, raupenähnliche Wesen an, dessen dichtes, silbriges Fell sich in ständiger wellenförmiger Bewegung befand. Diese Bewegung war bei Kelgianern vollkommen unwillkürlich und wurde durch Reaktionen auf innere und äußere Reize ausgelöst. Mit seiner Fähigkeit zu emotionalem Ausdruck ergänzte der Pelz den Sprechapparat, dem es an einer gewissen Flexibilität des Tonfalls mangelte. Doch durch die Bewegungsmuster des Fells wurde sofort jedem Kelgianer klar, wie sein Partner über das jeweilige Gesprächsthema dachte. Aus diesem Grund konnten diese Wesen also immer offen aussprechen, was sie meinten, und deshalb waren ihnen Begriffe wie Diplomatie, Taktgefühl oder Lügen vollkommen fremd. Conway seufzte.

Er versuchte, seine eigenen Zweifel bezüglich dieses Falls zu verbergen, indem er mit fester Stimme sagte: „Thornnastor setzt viel lieber ein lebendiges Exemplar zusammen, als daß er ein totes seziert. Außerdem haben sich Priliclas empathische Fähigkeiten in einer ganzen Anzahl von Fällen als weit zuverlässiger erwiesen als medizinische Meßgeräte. Schon deshalb können wir uns gar nicht absolut sicher sein, daß es sich hier um einen hoffnungslosen Fall handelt. Und solange wir noch nicht im Hospital sind, bin allein ich für die Behandlung verantwortlich.

Außerdem sollten wir uns bezüglich des Patienten nicht zu emotional verhalten“, fügte er hinzu. „Erstens ist das ziemlich unprofessionell und zweitens sieht euch das überhaupt nicht ähnlich.“

Naydrad, deren Fell sich verärgert sträubte, gab einen Laut von sich, den Conways Translator erst gar nicht registrierte, und Murchison entgegnete: „Du hast natürlich recht. Wir haben es schon mit viel schlimmeren Fällen zu tun gehabt. Ich weiß auch nicht, warum ich mir ausgerechnet bei diesem so viele Gedanken mache. Vielleicht werde ich einfach alt.“

„Der Beginn von Senilität könnte zwar durchaus eine Erklärung für solch ein untypisches Verhalten sein, aber für mich gilt das nicht“, teilte die Kelgianerin in ihrer direkten Art mit.

Murchisons Gesicht lief rot an. „Die Oberschwester darf solche Sachen zwar sagen, aber wehe dir, wenn du dich ihrer Ansicht anschließt, mein lieber Doktor!“ sagte sie böse.

Conway mußte plötzlich lachen und erwiderte: „Immer mit der Ruhe, meine Liebe. Nicht einmal im Traum würde ich daran denken, einem solch offensichtlichen Fehlschluß zuzustimmen. So, wenn ihr glaubt, alles zu haben, was Thorny für unseren Freund hier braucht, solltet ihr euch erst mal ein bißchen Ruhe gönnen. Wir werden in etwa sechs Stunden wieder aus dem Hyperraum auftauchen. Falls ihr nicht schlafen könnt, versucht bitte, euch nicht allzu viele Sorgen um den Verwundeten zu machen, sonst quält ihr nur Prilicla.“

Murchison nickte und verließ hinter Naydrad das Unfalldeck. Conway, der sich noch immer eher wie ein leicht erkrankter Patient fühlte als wie ein diensthabender Arzt, schaltete das akustische Warnsystem an, das sofort jede Änderung des gesundheitlichen Zustands des EGCL signalisieren würde. Dann legte er sich auf eine in der Nähe stehende Bahre und schloß die Augen.

Da weder die Klassifikation der Terrestrier als DBDG noch die der Kelgianer als DBLF für die Fähigkeit bekannt war, völlige Kontrolle über den eigenen Verstand ausüben zu können, wurde bald offensichtlich, daß sich Murchison und Naydrad wider besseres Wissen um den Patienten Sorgen gemacht hatten und ihre emotionalen Ausstrahlungen für Prilicla entsprechend unangenehm gewesen waren. Mit noch immer geschlossenen Augen lauschte Conway den leicht pochenden und saugenden Geräuschen, die sich ihm an der Decke entlang langsam näherten und schließlich über seinem Kopf verstummten. Darauf folgte ein Schwall tiefer Triller und melodischer Schnalzlaute, die vom Translator als „Entschuldigen Sie, mein Freund, haben Sie etwa geschlafen?“ übersetzt wurden.

„Sie wissen doch genau, daß ich nicht geschlafen hab“, antwortete Conway und öffnete die Augen, um den über ihn an der Decke hängenden Prilicla anzublicken, der unkontrolliert zitterte, da er nun der emotionalen Ausstrahlung Conways und des Patienten ausgesetzt war.

Dr. Prilicla gehörte zur physiologischen Klassifikation GLNO, einer sechsbeinigen, insektenartigen Lebensform mit einem Ektoskelett und zwei schillernden, nicht ganz verkümmerten Flügelpaaren. Diese Wesen besaßen hochentwickelte empathische Fähigkeiten. Nur auf seinem Heimatplaneten Cinruss, auf dem die Atmosphäre sehr dicht war und weniger als ein Achtel der Erdanziehungskraft herrschte, hatte eine Insektenspezies zu solcher Größe heranwachsen und mit der Zeit Intelligenz und eine fortschrittlicheZivilisation entwickeln können.

Doch sowohl im Orbit Hospital als auch auf der Rhabwar befand sich Prilicla den größten Teil seines Arbeitstags in echter Todesgefahr. Außerhalb seiner Unterkunft mußte er überall Schwerkraftneutralisatoren, sogenannte G-Gürtel, tragen, weil er unter dem Druck der Anziehungskraft, den die Mehrheit seiner Kollegen für normal hielt, regelrecht zermalmt worden wäre. Und wenn sich Prilicla mit irgend jemandem unterhielt, begab er sich sofort außer Reichweite seines Gegenübers, denn schon durch eine einzige gedankenlose Bewegung eines Arms oder Tentakels seines Gesprächspartners hätte ihm ein Bein abgerissen oder gar sein ganzer zerbrechlicher Körper zerstört werden können.

Natürlich wollte niemand Prilicla auf irgendeine Weise mutwillig verletzen, denn dazu war er bei allen viel zu beliebt. Durch seine empathischen Fähigkeiten war der kleine Cinrussker dazu gezwungen, zu allen freundlich zu sein und stets die passenden Worte zu finden, um die emotionale Ausstrahlung der Wesen in seiner näheren Umgebung für sich selbst so angenehm wie möglich zu gestalten. Ganz anders verhielt es sich, wenn ihn seine dienstlichen Pflichten dazu zwangen, sich Schmerzempfindungen und heftigen Emotionen eines Patienten oder den ungewollt unangenehmen Gefühlen seiner Kollegen auszusetzen.

„Sie sollten doch eigentlich schlafen, Prilicla“, sagte Conway besorgt. „Oder sind für Sie die von Murchison und Naydrad ausgestrahlten Emotionen zu heftig?“

„Nein, mein Freund“, antwortete der Empath schüchtern. „Die emotionale Ausstrahlung der beiden stört mich nicht mehr als die der restlichen Besatzung. Ich bin gekommen, weil ich mit Ihnen sprechen muß.“

„Gut!“ entgegnete Conway. „Sie hatten ja einige brauchbare Ideen für die Behandlung unseres.“

„Ich möchte mit Ihnen über mich selbst sprechen“, sagte Prilicla, wobei er eine für ihn grobe Unhöflichkeit beging, indem er seinen Gesprächspartner mitten im Satz unterbrach, ohne sich dafür vorher entschuldigt zu haben. Wegen Conways starker Gefühlsreaktion zitterten sein Körper und die feingliedrigen Beine einen Moment lang wie Espenlaub, dann fügte er hinzu: „Beherrschen Sie doch bitte Ihre Emotionen, mein Freund.“

Seit Conways Beförderung zum Chefarzt war Prilicla nicht nur sein Kollege gewesen, der ihm bei praktisch jedem wichtigen Fall als Assistent unschätzbar wertvolle Dienste geleistet hatte, er war ihm auch zum Freund geworden. Deshalb fiel es ihm jetzt schwer, sich gegenüber dem kleinen Cinrussker rational zu verhalten. Seine plötzliche Besorgnis und uneingestandene Angst vor dem möglichen Verlust eines engen Freunds würden diesem Freund allerdings kein Stück weiterhelfen, sondern ihm nur noch größere Beschwerden bereiten. Also bemühte sich Conway hartnäckig, in Prilicla lediglich einen Patienten zu sehen, nichts weiter als einen Patienten, und schließlich legte sich das Zittern des Empathen allmählich.

„Was haben wir denn für ein Problem?“ fragte Conway in der althergebrachten Weise seiner ärztlichen Zunft.

„Das weiß ich nicht“, antwortete der Cinrussker. „Mit so etwas hab ich bisher noch keinerlei Erfahrung gemacht, und es gibt auch nirgends Beispiele dafür, daß sich jemals irgendein Mitglied meiner Spezies in so einer Verfassung befünden hat. Ich bin ziemlich verwirrt und hab Angst, mein Freund.“

„Irgendwelche Symptome?“ fragte Conway. „Empathische Überempfindlichkeit“, erwiderte Prilicla. „Die emotionale Ausstrahlung von Ihnen, dem übrigen medizinischen Team und der Besatzung ist ungewöhnlich stark. Ich kann von hier aus ganz deutlich die Emotionen von Lieutenant Chen und dem Rest der Besatzung im Maschinenraum spüren, die trotz der Entfernung kaum oder sogar überhaupt nicht abgeschwächt sind. Wegen des relativ erfolglosen Rettungsversuchs waren zwar gedämpfte Gefühle der Trauer und Enttäuschung zu erwarten, aber jetzt nehme ich die Empfindungen der Besatzung mit einer schockierenden Intensität wahr. Wir haben es zwar schon früher mit solchen Tragödien zu tun gehabt, mein Freund, aber eine solch heftige emotionale Reaktion auf die körperliche Verfassung eines uns völlig fremden Wesens ist einfach. einfach.“

„Nun ja, der Patient tut uns eben allen sehr leid“, unterbrach ihn Conway behutsam, „vielleicht mehr als gewöhnlich. Und da wir alle dasselbe für ihn empfinden, summieren sich unsere Gefühle. Also kann man gar nichts anderes erwarten, als daß ein für Emotionen empfänglichen Wesen wie Sie diese Gefühle sehr viel stärker wahrnimmt. Vielleicht erklärt das Ihre relative Überempfindlichkeit.“

Der Empath zitterte vor Anstrengung, die ihn der Widerspruch kostete, und entgegnete: „Nein, mein Freund. Die Verfassung und die emotionale Ausstrahlung des EGCL, so unangenehm letztere auch ist, sind gar nicht das Problem. Es ist die ganz normale, alltägliche Ausstrahlung aller anderen: die kleinen unbedeutenden Verlegenheiten, die Wutausbrüche, die merkwürdigen Emotionen, die ihr Terrestrier als Humor und dergleichen bezeichnet. Ich werde von all dem mit solch einer Stärke erfaßt, daß ich kaum noch in der Lage bin, klar zu denken.“

„Ich verstehe“, erwiderte Conway automatisch, obwohl er überhaupt nichts verstand. „Gibt es, abgesehen von der Überempfndlichkeit, noch andere Symptome?“

„Einige nicht genau lokalisierbare Beschwerden in den Gliedern und im unteren Brustkorb“, antwortete Prilicla. „Ich hab die Stellen zwar mit meinem Scanner überprüft, konnte aber keine Gefäßverstopfungen oder sonstige Abnormitäten entdecken.“

Conway hatte schon nach seinem eigenen Taschen-Scanner gegriffen, sich dann aber eines Besseren besonnen. Ohne ein im Kopf gespeichertes cinrusskisches Physiologieband würde er sowieso nur eine vage Vorstellung davon haben, wonach er überhaupt suchen sollte. Im übrigen war Prilicla selbst ein erstklassiger Diagnostiker und Chirurg, und wenn der Empath sagte, daß er keinerlei Abnormitäten entdecken konnte, dann reichte Conway das.

„Außerdem sind Cinrussker nur während ihrer Kindheit für Krankheiten anfällig“, fuhr Prilicla fort. „Die Erwachsenen haben zwar hin und wieder Beschwerden, die aber keine körperlichen Ursachen haben. Wie bei psychischen Störungen nicht anders zu erwarten ist, treten die Symptome in den verschiedensten Formen auf, von denen einige auch Ähnlichkeit mit meinen gegenwärtigen.“

„Unsinn, Sie werden doch nicht geisteskrank!“ unterbrach ihn Conway. Aber so sicher, wie er sich eben angehört hatte, war er sich gar nicht, und mit einigem Unbehagen mußte er feststellen, daß Prilicla über seine Empfindungen genau Bescheid wußte und erneut heftig zu zittern begann.

„Die naheliegendste Vorgehens weise wäre natürlich, Sie mit einer kräftigen Beruhigungsspritze zu desensibilisieren“, sagte Conway vor, wobei er sich bemühte, die kühle Gelassenheit zurückzuerlangen. „Das wissen Sie genausogut wie ich. Aber Sie sind ein zu guter Arzt, als daß sie sich selbst ein Medikament verabreichen würden, daß zwar indiziert ist, aber — wie uns beiden klar ist — lediglich die Symptome bekämpft. Wichtiger ist es also, zuerst etwas gegen die Krankheit selbst zu unternehmen, wie zum Beispiel mit mir darüber zu reden. Hab ich recht?“

„Ja, da haben Sie recht, mein Freund.“

„Also gut“, fuhr Conway lebhaft fort. „Ihnen ist bestimmt klar, daß wir vor unserer Rückkehr zum Orbit Hospital nichts zur Heilung des Leidens unternehmen können. Bis dahin werden wir die Symptome mit starken Beruhigungsmitteln bekämpfen müssen. Ich möchte, daß Sie vollkommen bewußtlos gestellt werden. Bis wir die Lösung Ihres kleinen Problems gefunden haben, sind Sie natürlich von allen medizinischen Pflichten entbunden.“

Als Conway den kleinen Empathen sanft in eine mit Schwerkraftneutralisatoren ausgerüstete Drucktragbahre hob, deren Gurte aufgrund der Erfordernisse der unglaublich feingliedrigen cinrusskischen Spezies samtweich waren, konnte er die Bedenken des Cinrusskers fast spüren. Aber schließlich sagte Prilicla endlich etwas.

„Mein Freund“, begann er schwach. „Sie wissen, daß ich der einzige medizinisch geschulte Empath des gesamten Krankenhauspersonals bin. An unserem Patienten wird eine umfassende und komplizierte Schädeloperation vorgenommen werden. Wenn ich schon wegen meines gesundheitlichen Zustands nicht direkt an der Operation teilnehmen kann, dann will ich wenigstens in einem angrenzenden Krankenzimmer behandelt werden, von dem aus mir mit dieser abnormen Überempfindlichkeit eine bessere Überwachung der unbewußten emotionalen Ausstrahlung des EGCL möglich ist.

Sie wissen genausogut wie ich, daß eine Gehirnoperation bei einer bislang unbekannten Lebensform zum großen Teil nur der Forschung nutzt und obendrein äußerst riskant ist“, fuhr Prilicla fort. „Doch dank meiner empathischen Fähigkeiten kann ich spüren, wann ein chirurgischer Eingriff in irgendeinem Operationsgebiet richtig oder falsch ist. Nur weil ich selbst zum Patienten geworden bin, hab ich noch lange nichts von meinen Fähigkeiten als diagnostischer Empath verloren. Und aus diesem Grund müssen Sie mir versprechen, mein Freund, mich in größtmöglicher Nähe zum Patienten unterzubringen und mich sofort wieder ins volle Bewußtsein zurückzuholen, sobald die Operation im Gang ist.“

„Nun, ich.“, stammelte Conway.

„Wie Ihnen bekannt sein dürfte, bin ich zwar kein Telepath“, fuhr Prilicla mit so schwacher Stimme fort, daß Conway den Translator lauter stellen mußte, um ihn überhaupt noch wahrnehmen zu können, „aber über Ihre Emotionen weiß ich jederzeit Bescheid — das sage ich nur, falls Sie vorhaben sollten, Ihr Versprechen nicht zu halten.“

Eine solch direkte Art hatte Conway bei dem normalerweise äußerst zurückhaltenden Prilicla noch nie erlebt. Dann dachte er darüber nach, worum ihn der Empath gerade gebeten hatte — der Cinrussker wollte sich in seinem überempfindlichen Zustand allen Ernstes der emotionalen Tortur einer langwierigen Operation aussetzen, bei der man aufgrund der eigenartigen physiologischen Klassifikation und des Stoffwechsels des EGCL nicht einmal für eine anhaltende Wirkung der Narkosemittel garantieren konnte. Für einen Augenblick verlor Conway die mühsam bewahrte sachliche Distanz und fühlte sich wie jeder besorgte Freund oder Verwandte, der am Bett eines Patienten Wache hielt, dessen Schicksal ungewiß war.

Erneut zitterte Prilicla unter den Gurten der Bahre, doch das Beruhigungsmittel wirkte allmählich, und schon bald lag der Empath in tiefer Bewußtlosigkeit. Conways Emotionen für ihn konnten ihm nun nichts mehr anhaben.

„Hier Anmeldezentrale“, meldete sich eine ausdruckslose Translatorstimme aus dem Hauptlautsprecher des Kommandodecks. „Identifizieren Sie sich bitte. Geben Sie an, ob Sie Patient, Besucher oder Mitarbeiter sind, und teilen Sie Ihre physiologische Klassifikation mit. Falls Sie dies allerdings aufgrund körperlicher Verletzungen, geistiger Verwirrung oder Unkenntnis des Klassifikationssystems nicht tun können, stellen Sie bitte Sichtkontakt her.“

Conway räusperte sich und berichtete in forschem Ton: „Ambulanzschiff Rhabwar, Chefarzt Doktor Conway. An Bord befinden sich Mitarbeiter und zwei Patienten, alle warmblütige Sauerstoffatmer. Die Klassifikationen der Mitarbeiter lauten: terrestrische DBDGs, ein cinrusskischer GLNO und eine kelgianische DBLF. Zwei Patienten. Der eine ist ein EGCL unbekannter Herkunft, Unfallopfer aus einem Raumschiffswrack im Gesundheitszustand neun, der zweite ist der dem Mitarbeiterstab angehörende GLNO im Gesundheitszustand drei. Wir brauchen für den.“

„Prilicla?“

„Ja, Prilicla“, bestätigte Conway. „Wir brauchen für den EGCL einen OP mit entsprechenden Umweltbedingungen sowie Einrichtungen zur intensiven postoperativen Betreuung, da wir sofort nach unserer Ankunft mit der Behandlung beginnen müssen. Außerdem benötigen wir eine benachbarte Unterkunft für den GLNO, auf dessen empathische Fähigkeiten wir während der Operation möglicherweise nicht verzichten können. Geht das in Ordnung?“

Einige Minuten lang herrschte Stille, dann entgegnete dieAnmeldezentrale: „Nehmen Sie Einlaßschleuse neun auf Ebene eins sechs drei, Rhabwar. Ihr Flugverkehrscode ist höchste Priorität rot eins. Ungefähre Ankunftszeit?“

Fletcher blickte zum Astronavigator hinüber, und Lieutenant Dodds antwortete: „In zwei Stunden sieben Minuten, Sir.“

„Warten Sie“, bat die Anmeldezentrale.

Es gab eine erneute, diesmal viel längere Pause, bevor die Stimme wieder erklang. „Diagnostiker Thornnastor möchte so bald wie möglich mit Ihnen und Pathologin Murchison über den Gesundheitszustand und das Stoffwechseldiagramm des Patienten sprechen. Chefarzt Doktor Edanelt ist Thornnastor als OP-Assistent zugewiesen worden. Beide Ärzte benötigen Informationen über Art und Ausmaß der Verletzungen des EGCL und bitten Sie, Ihnen unverzüglich Scannerbilder von der äußeren und inneren Beschaffenheit des Körpers zu übermitteln. Bis zum Erhalt anderslautender Instruktionen sind Sie selbst für den cinrusskischen Patienten verantwortlich. Chefpsychologe O’Mara will sich mit Ihnen so schnell wie möglich über Prilicla unterhalten.“

Die zwei Stunden und sieben Minuten bis zum Hospital versprachen sehr arbeitsreich zu werden.

Auf dem Frontbildschirm der Rhabwar wuchs das Hospital vor dem stellaren Hintergrund von einem verschwommenen Lichtfleck rasch zu einem immer größeren Gebilde heran, bis es den gesamten Weltraum wie ein riesiger, zylindrischer Weihnachtsbaum auszufüllen schien. Die meisten der zigtausend Fenster waren fast durchgehend hell erleuchtet, wobei die Beleuchtung in den verrücktesten Farbkombinationen und unterschiedlichsten Stärken ausfiel, um den jeweiligen Ansprüchen der Sehorgane der Patienten und Mitarbeiter gerecht zu werden.

Wenige Minuten nach dem Andocken der Rhabwar an Schleuse neun hatte man den EGCL und Prilicla in den Operationssaal drei beziehungsweise auf das Krankenzimmer sieben auf Ebene einhundertdreiundsechzig gebracht. Conway war mit dieser Ebene nicht mehr richtig vertraut, denn die einst auf ihr gelegenen Unterkünfte der FROB-, FGLI- und ELNT-Ärzte hatten sich noch im Umbau befunden, als er zum Dienst auf dem Ambulanzschiff abkommandiert worden war. Die hudlarischen, tralthanischen und melfanischen Ärzte verfügten nun über geräumigere Quartiere, und aus ihren alten Wohnungen war inzwischen die Notaufnahme- und Behandlungsebene für warmblütige Sauerstoffatmer geworden. Die umgebaute Ebene verfügte jetzt über eigene Operationssäle, Intensiv-, Beobachtungs- und Genesungsstationen sowie über eine Diätküche, die die Hauptnahrungsmittel jeder bekannten warmblütigen Spezies der Sauerstoffatmer zubereiten konnte.

Als Naydrad und Conway gerade den verunglückten EGCL von der mit Lebenserhaltungs- und Biosensorsystemen ausgerüsteten Bahre in den ebenso ausgestatteten Operationssaal verlegten, trafen Thornnastor und Edanelt ein.

Daß man Chefarzt Dr. Edanelt für diesen Fall ausgewählt hatte, war nicht nur eine selbstverständliche, sondern fast zwangsläufige Entscheidung gewesen. Der krabbenähnliche Melfaner galt nicht nur als einer der besten Chirurgen des Hospitals, der ständig vier Physiologiebänder gespeichert hatte und Gerüchten zufolge kurz vor der Beförderung zum Diagnostiker stand, sondern kam auch mit seiner physiologischen Klassifikation ELNT von allen Lebensformen des medizinischen Personals der Spezies des überlebenden EGCL wahrscheinlich am nächsten — ein äußerst wichtiger Faktor, wenn kein Physiologieband über den zu behandelnden Patienten zur Verfügung stand. Thornnastor, der elefantenartige leitende Diagnostiker der Pathologie, hatte dagegen keinerlei körperliche Gemeinsamkeiten mit dem Patienten, außer daß er die gleiche Luft atmete.

Obwohl er ein FGLI von Traltha war und als solcher einer der körperlich größeren intelligenten Spezies angehörte, war Thornnastor alles andere als ein Chirurg mit nur durchschnittlichen Fähigkeiten. Doch bei diesem Fall bestand seine Hauptaufgabe darin, rasch die Physiologie und den Stoffwechsel des Überlebenden zu untersuchen und unter Anwendung seiner großen Erfahrung auf dem Gebiet der ET-Pathologie und mit den seiner Abteilung zur Verfügung stehenden Möglichkeiten die benötigten Medikamente herzustellen — wozu sichere Betäubungs-, Gerinnungs- und Geweberegenerationsmittel gehören würden.

Conway hatte den Fall mit Edanelt bereits kurz nach dessen Erscheinen im OP in allen Einzelheiten besprochen, genauso wie dies Murchison mit ihrem Chef Thornnastor getan hatte. Der Chefdiagnostiker wußte, daß sich ihre Bemühungen zuerst auf die Behebung der gröberen Verletzungen richten mußten. Erst danach konnte man mit der äußerst heiklen, gefährlichen und vielleicht sogar unmöglichen Operation beginnen, mit der der Druck auf das Gehirn und die von der stark eingedrückten Panzerfraktur hervorgerufenen Verletzungen des Gehirns und der benachbarten Organe behoben werden sollte. In dieser Phase würde man zur Überwachung der Operation die Hilfe von Prilicla und seinen äußerst feinfühligen und präzisen empathischen Fähigkeiten brauchen, um dem EGCL ein zukünftiges Dahinvegetieren als geistiger Krüppel zu ersparen.

Conways Anwesenheit war nicht länger erforderlich, deshalb würde es sinnvoller für ihn sein, sich mit O’Mara über Priliclas Gesundheitszustand zu unterhalten.

Als er sich entschuldigte und den OP verließ, winkte Edanelt zum Abschied mit einer seiner krebsähnlichen Scheren, die er mit einem schnelltrocknenden Plastikfilm besprühte, den melfanische Ärzte Handschuhen vorzogen. Thornnastors vier Augen hingegen blickten auf den Patienten, auf Murchison und auf zwei verschiedene Gegenstände seiner Ausrüstung, so daß er Conway nicht hinausgehen sah.

Im Flur blieb Conway einen Moment lang stehen, um über den schnellsten Weg zum Büro des Chefpsychologen nachzudenken. Wie er wußte, gehörten die drei Ebenen über seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort zum Bereich der chloratmenden Illensaner — wäre ihm das nicht bekannt gewesen, dann hätten ihn die über den Luftschleusen zwischen den Ebenen angebrachten Warnungen vor Vergiftungsgefahr darüber aufgeklärt. Von den unter ihm liegenden Ebenen ging jedoch keine Verseuchungsgefahr aus, da die beiden oberen davon mit den sauerstoffatmenden MSVK- und LSVO-Lebensformen belegt waren, dieein Viertel der normalen Erdanziehungskraft benötigten und Ähnlichkeit mit dünnen, dreifüßigen Störchen hatten. Unter den beiden Ebenen dieser Spezies befanden sich die wassergefüllten Stationen der Chalder, denen sich schließlich ein Stockwerk tiefer die erste nichtmedizinische Behandlungsebene anschloß, auf der O’Maras Abteilung lag.

Auf seinem Weg nach unten zwitscherte ihm eine Gruppe MSVK-Ärzte vom Planeten Nallajim einen Gruß zu und um ein Haar wäre ihm ein Patient gegen die Brust geflogen, der sich schon auf dem Weg der Besserung befand, kurz bevor er die Schleuse zur AUGL-Abteilung erreicht hatte. Für den nun vor ihm liegenden Abschnitt mußte er einen leichten Schutzanzug anlegen und durch die gewaltigen Becken schwimmen, in denen die bis zu zwölf Meter langen wasseratmenden Wesen von Chalderescol II schwerfällig wie gepanzerte Krokodile durch ihre warme, grüne Welt trieben. Von seinem Anzug tröpfelte noch immer chalderisches Wasser, als er nur fünfundzwanzig Minuten später in O’Maras Büro eintraf.

Major O’Mara deutete auf ein zur Bequemlichkeit von DBLFs konstruiertes Sitzmöbel und sagte griesgrämig: „Höchstwahrscheinlich waren Sie in Ihrer Eigenschaft als Arzt wieder einmal viel zu beschäftigt, um sich mit mir in Verbindung zu setzen, Doktor. Verschwenden wir also erst gar keine Zeit mit Entschuldigungen, sondern berichten Sie mir gleich von Doktor Prilicla.“

Conway wand sich vorsichtig in den Kelgianerstuhl hinein und beschrieb umfassend den Gesundheitszustand des Cinrusskers, und zwar vom ersten Auftreten der Krankheitssymptome bis hin zu dem Punkt, an dem nur noch eine Behandlung mit Beruhigungsmitteln angezeigt gewesen war, wobei er auch auf die äußeren Begleitumstände zu sprechen kam. Während Conways Bericht blieben die zerfurchten Gesichtszüge des Chefpsychologen vollkommen reglos, und in seinen Augen, die einen so scharf analytischen Verstand enthüllten, daß O’Mara das besaß, was man fast als telepathische Fähigkeiten bezeichnen konnte, war genausowenig zu lesen.

Als Chefpsychologe des größten Hospitals der Föderation mit vielfachen Umweltbedingungen war er für das geistige Wohlbefinden eines Mitarbeiterstabs verantwortlich, der sich aus mehreren tausend Wesen zusammensetzte, die wiederum mehr als sechzig verschiedenen Spezies angehörten. Obwohl er innerhalb des Monitorkorps nur den Rang eines Majors bekleidete — den man ihm sowieso lediglich aus administrativen Gründen verliehen hatte —, waren seine Machtbefugnisse innerhalb des Hospitals nur schwer einzugrenzen. Für ihn waren die Mitarbeiter, ganz unabhängig von ihrer Position, die eigentlichen Patienten. Eine seiner wichtigsten Aufgaben war sicherzustellen, daß jedem einzelnen der in ihrer Vielfalt oft seltsamen und geradezu exotisch anmutenden Patienten im Hospital der für ihn am besten geeignete Arzt zugeteilt wurde und auf keiner Seite xenophobische Komplikationen auftraten.

Zudem war er für die medizinische Elite des Hospitals, die Diagnostiker, verantwortlich. Nach O’Maras eigenen Angaben war das hohe Niveau der psychischen Stabilität innerhalb des bunten Haufens der häufig hochsensiblen Mitarbeiter allein darauf zurückzuführen, daß sie schlichtweg viel zuviel Angst vor ihm hatten, um durchzudrehen.

O’Mara beobachtete Conway bis zum Ende seiner Ausführungen genau und sagte dann: „Ihr Bericht klingt zwar einleuchtend und prägnant und ist womöglich auch zutreffend, Doktor, aber Sie sind schließlich ein enger Freund des Patienten. Deshalb besteht durchaus die Möglichkeit, daß Ihr Urteilsvermögen getrübt ist und Sie übertreiben. Außerdem sind Sie kein Psychologe, sondern Arzt und Chirurg für ETs, der allerdings offenbar bereits zu dem Schluß gekommen ist, daß dieser Fall von meiner Abteilung behandelt werden sollte. Verstehen Sie mein Problem? Beschreiben Sie mir bitte Ihre Emotionen während des gesamten Einsatzes, und zwar vom Zeitpunkt der Bergung an bis jetzt. Aber zuerst sollte ich Sie vielleicht fragen, ob Sie sich überhaupt selbst einigermaßen wohl fühlen.“

Alles, was Conway in diesem Augenblick fühlte, war ein starker Anstieg des Blutdrucks.

„Seien Sie dabei so objektiv wie möglich“, fügte O’Mara hinzu.

Conway holte tief Luft und atmete sie durch die Nase langsam wieder aus. „Nach unserer sehr schnellen Reaktion auf das Notsignal hin herrschte ein allgemeines Gefühl der Niedergeschlagenheit, da wir lediglich einen Überlebenden retten konnten, der zudem kaum noch am Leben war. Aber Sie verfolgen da eine falsche Spur, Major. Meiner Überzeugung nach teilten nämlich alle auf dem Schiff dieses Gefühl, aber das war bei weitem nicht so stark, daß man damit die überempfindlichen Reaktionen des Cinrusskers erklären könnte. Schließlich hat Prilicla sogar die emotionale Ausstrahlung von Besatzungsmitgliedern wahrgenommen, die sich am anderen Ende des Schiffs befanden, und zwar mit einer erschreckenden Stärke. Dabei ist das eine Entfernung, aus der normalerweise überhaupt keine Emotionen wahrzunehmen sind. Außerdem war mein Bericht weder von rührseliger Sentimentalität geprägt, noch hab ich die Symptome übertrieben dargestellt. Im Moment fühle ich mich so wie immer in diesem verfluchten Büro, also ziemlich.“

„Immer objektiv bleiben, bitte! Denken Sie daran“, unterbrach ihn O’Mara trocken.

„Ich hab ja gar nicht versucht, die diagnostische Arbeit für Sie zu erledigen, aber die Symptome sprechen nun einmal dafür, daß es tatsächlich ein psychologisches Problem gibt“, fuhr Conway fort, wobei seine Stimme wieder den normalen Gesprächston annahm. „Vielleicht als Folge einer bislang unbekannten Krankheit, einer Organstörung oder eines gestörten Gleichgewichts der Drüsenfunktionen. Ebenso könnte der Gesundheitszustand aber auch eine rein psychologische Ursache haben. Jedenfalls ist das eine Möglichkeit, die man nicht einfach.“

„Möglich ist alles, Doktor“, unterbrach ihn,0’Mara ungehalten. „Seien Sie doch bitte präzise. Was wollen Sie für Ihren Freund tun, und was genau soll ich für ihn tun?“

„Zweierlei“, antwortete Conway. „Zum einen möchte ich, daß Sie selbst noch einmal Priliclas Gesundheitszustand überprüfen.“

„Wie Sie wissen, tu ich das sowieso“, warf O’Mara ein.

„…und mir zum anderen das GLNO-Physiologieband geben“, fuhr Conway fort, „damit ich die nichtpsychologischen Ursachen des Problems entweder bestätigt finde oder ganz ausschließen kann.“

O’Mara schwieg einen Augenblick lang. Sein Gesicht blieb zwar weiterhin so ausdruckslos wie ein Basaltklotz, aber seine Augen verrieten echte Besorgnis. „Sie hatten zwar schon früher Schulungsbänder im Kopf gespeichert und wissen, was Sie erwartet, aber das GLNO-Band ist. ahm. anders. Sie würden sich tatsächlich wie ein todunglücklicher Cinrussker fühlen. Schließlich sind Sie kein Diagnostiker, Conway, jedenfalls noch nicht. Besser, Sie denken noch einmal darüber nach.“

Wie Conway aus eigener Erfahrung wußte, waren die Physiologiebänder irgendwo zwischen den Kategorien ’zweischneidiges Schwert’ und ’notwendiges Übel’ anzusiedeln. Während chirurgisches Können auf persönlicher Begabung, Übung und Erfahrung basierte, konnte man von keinem der Ärzte erwarten, sich in einem Hospital, in dem Wesen der verschiedenartigsten Spezies behandelt wurden, alle notwendigen physiologischen Daten der Patienten zu merken. Diese fast unvorstellbare Datenmenge, die für eine angemessene Behandlung erforderlich war, wurde mittels Schulungsbändern weitergegeben, die nichts anderes waren als die Aufzeichnung der Gehirnströme von medizinischen Kapazitäten der jeweils betreffenden Spezies. Wenn zum Beispiel ein terrestrischer Arzt einen kelgianischen Patienten medizinisch zu versorgen hatte, speicherte er bis zum Abschluß der Behandlung eins der DBLF-Schulungsbänder im Gehirn und ließ es anschließend wieder löschen. Für den betreffenden Arzt selbst war das allerdings alles andere als ein Vergnügen, egal, ob er das Band für eine mehrmonatige Weiterbildung von Mitarbeitern im Kopf speicherte oder lediglich für die Dauer einer einzigen Operation an einem Angehörigen einer anderen Spezies.

Sie konnten sich allenfalls damit trösten, daß es Diagnostikern noch schlechter erging als ihnen.

Ein Diagnostiker gehörte der geistigen Elite des Orbit Hospitals an. Er war eines jener seltenen Wesen, deren Psyche und Verstand als ausreichend stabil erachtet wurden, permanent bis zu zehn Bänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, medizinische Grundlagenforschung zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu diagnostizieren und zu behandeln. Im Hospital gab es das geflügelte Wort — das angeblich vom Chefpsychologen selbst stammte —, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden wollte, schon von vornherein verrückt sein mußte.

Denn mit einem Schulungsband wurden einem nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingeimpft, sondern auch die gesamte Persönlichkeit und das komplette Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen einst besessen hatte. Praktisch setzte sich ein Diagnostiker somit freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus, zumal die fremden Persönlichkeiten, die seinen Geist scheinbar mit ihm teilten, so vollkommen verschieden waren, daß sie häufig nicht einmal dasselbe logische System anwandten. Darüber hinaus waren diese medizinischen Kapazitäten trotz ihrer führenden Rolle auf dem Gebiet der Heilkunst nur allzuoft äußerst schlechtgelaunte, unangenehme und häufig sogar aggressive Zeitgenossen.

Das alles galt natürlich nicht für das GLNO-Band, wie Conway wußte. Immerhin waren Cinrussker die schüchternsten, freundlichsten und liebenswertesten Geschöpfe, die man sich vorstellen konnte.

„Ich hab darüber nachgedacht, und ich bleibe dabei“, sagte Conway schließlich.

O’Mara nickte und sprach in sein Tischgerät. „Carrington? Chefarzt Conway erhält die Erlaubnis für das GLNO-Band, muß sich aber nach dem Löschen einer einstündigen Nachbehandlung mit Beruhigungsmitteln unterziehen, um die Eindrücke zu verarbeiten. Ich begebe mich jetzt in die Notaufnahme auf Ebene eins sechs drei.“ — plötzlich grinste er Conway an — „…und werde dort versuchen, den Ärzten keine guten Ratschläge zu geben.“

Als Conway erwachte, sah er ein riesiges, rosafarbenes Gesicht wie einen Ballon über sich hängen. Instinktiv versuchte er, an der Wand neben seiner Couch hochzukrabbeln, falls der gewaltig große und enorm muskulöse Körper, auf dem sich dieses Gesicht befand, auf ihn fallen und zu Tode quetschen würde. Aber als die Gesichtszüge Besorgnis verrieten, der dazugehörige Kopf zurückgezogen wurde und sich der schlanke terrestrische Körper in der grünen Uniform aufrichtete, änderte sich Conways geistiger Blickwinkel plötzlich.

Lieutenant Carrington, einer von O’Maras Assistenten, sagte: „Sachte, Doktor! Setzen Sie sich erst mal langsam auf, und stellen Sie sich dann hin. Konzentrieren Sie sich darauf, Ihre beiden Füße auf den Boden zu setzen, und zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, warum Sie keine sechs cinrusskischen Beine haben.“

Conway legte den Weg zum OP auf Ebene 163 recht schnell zurück, obwohl er um unzählige Wesen, die viel kleiner waren als er, einen großen Bogen machen mußte, da sie der cinrusskische Teil seines Gehirns für groß und gefährlich hielt. Von Murchison erfuhr er, daß sich O’Mara gerade bei Prilicla im Krankenzimmer befand, nachdem er vorher im OP vorbeigeschaut hatte, weil er mit Thornnastor und Edanelt über die grundsätzlichen physiologischen Eigenschaften, die wahrscheinlichen Umweltbedingungen und Evolutionseinfüsse des EGCL sprechen wollte. Aber für ein ausgiebiges Gespräch waren die beiden Ärzte viel zu beschäftigt gewesen. Mit Conway würden sie genausowenig sprechen können, und der Grund dafür war offensichtlich: Die Operation des EGCL war zu einem Notfall geworden, der in einer zwar unbekannten, wahrscheinlich aber sehr kurzen Frist erledigt werden mußte.

Wie Murchison Conway leise zwischen den von Thornnastor hervorgeknurrten Anweisungen erklärte, hätte sich der Zustand des EGCL plötzlich und überraschend verschlechtert, als vor über einer Stunde die Splitter des eingedrückten Rückenpanzers aus dem Gehirn entfernt worden waren. Die Entdeckung dieser Veränderung verdankte man Prilicla, den man zwar aufgrund seines Zustands von allen Teilen der Operation ausgeschlossen hatte, der aber trotzdem weiterhin wie ein Arzt handelte, indem er nach wie vor seine schon fast abnorm gesteigerten empathischen Fähigkeiten einsetzte. Prilicla hatte sich nämlich gegenüber der diensthabenden Schwester auf Zimmer sieben als Vorgesetzter aufgespielt und sie in den OP geschickt. Dort mußte sie auf sein Geheiß hin von seinen empathisch erlangten Erkenntnissen berichten und den bescheidenen Vorschlag unterbreiten, er könne Thornnastor und Edanelt bei der Operation assistieren, wenn man die einzelnen Schritte des chirurgischen Eingriffs auf den Bildschirm von Zimmer sieben legen würde.

Der Grund für die Verschlechterung des Zustands war, daß bei der Behebung des von der eingedrückten Fraktur verursachten Drucks eine Anzahl großer Blutgefäße im Gehirnbereich geplatzt war. Die beiden Chirurgen mußten gezwungenermaßen auf Priliclas Wunsch eingehen, denn ohne die Überwachung des Bewußtseinszustands des Patienten durch den Empathen hatten sie keine Möglichkeit festzustellen, ob sich die komplizierte, gefährliche und notgedrungen eilige Operation auf den Gehirnbereich positiv oder negativ auswirkte oder nichts von beiden.

„Wie stehen die Chancen?“ murmelte Conway. Doch bevor Murchison antworten konnte, bog sich eins von Thornnastors Augen nach hinten über den Kopf und blickte von oben auf Conway herab.

„Wenn dieser Patient nicht innerhalb der nächsten dreißig Minuten einer starken Gehirnblutung erliegt“, berichtete der Diagnostiker mürrisch, „dann stirbt er wahrscheinlich irgendwann an degenerativen Abbauerscheinungen, die mit extrem hohem Alter verbunden sind. Und jetzt hören Sie bitte auf, meine Assistentin abzulenken, und kümmern sich um Ihren eigenen Patienten, Conway!“

Auf dem Weg zu Zimmer sieben fragte sich Conway kurz, wie die emotionale Empfänglichkeit des Empathen bei der schwachen Ausstrahlung des bewußtlosen EGCL überhaupt funktionieren konnte, ohne daß letztere von den Gefühlen der Dutzenden von Wesen in der näheren Umgebung überlagert wurde, die allesamt bei vollem Bewußtsein waren. Vielleicht lag das an Priliclas neuer Überempfindlichkeit, aber im Hinterkopf hegte Conway starke Zweifel, die auf die Existenz einer ganz anderen Erklärung hindeuteten.

O’Mara war noch immer im Krankenzimmer und hielt sich wegen der an null Ge grenzenden Schwerkraft mit einer Hand an einem Regal mit Überwachungsgeräten fest, während er zusammen mit Prilicla die Vorgänge im Operationssaal beobachtete.

„Conway, hören Sie auf damit!“ wies ihn O’Mara scharf zurecht.

Conway hatte zwar versucht, keine Reaktion zu zeigen, als er den Empathen in diesem Zustand erblickte, aber sein Gehirn befand sich nun einmal zur Hälfte im Besitz eines Cinrusskers, der einer Spezies angehörte, die anerkanntermaßen die feinfühligste und teilnahmsvollste intelligente Lebensform war, die man in der Föderation kannte. Dieser GLNO mußte nun das schwere Leid eines Artgenossen mit ansehen, während Conways eigene Gedanken obendrein Mitleid mit einem Freund empfanden, und beiden Hälften seines Gehirns gemeinsam fiel es natürlich äußerst schwer, kühle und sachliche Distanz zu bewahren.

„Tut mir wirklich aufrichtig leid“, entschuldigte er sich etwas übertrieben.

„Ich weiß, daß es Ihnen leid tut, mein Freund“, erwiderte Prilicla und drehte sich zu ihm herum. „Sie hätten das Band nicht im Gehirn speichern sollen.“

„Er ist davor gewarnt worden“, sagte O’Mara in schroffem Ton, aber seine Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Conway gehörte jetzt einer empathischen Spezies an — sämtliche Erinnerungen und Erfahrungen seines Lebens als GLNO waren die eines normal gesunden und durchschnittlich glücklichen Empathen — aber im selben Augenblick war er kein Empath mehr. Er konnte Prilicla zwar sehen, hören und berühren, doch fehlte ihm die Fähigkeit, mittels der er die Gefühle des Empathen teilen konnte, die Fähigkeit, die auf subtile Weise jedes einzelne Wort, jede Geste und Miene ausschmückte. Aus diesem Grund war es für Cinrussker ein ungetrübtes Vergnügen, wenn sie sich in Sichtweite voneinander befanden. Er konnte sich zwar daran erinnern, empathischen Kontakt erlebt und diese Fähigkeit sein ganzes Leben lang besessen zu haben, plötzlich kam er sich aber fast wie ein Taubstummer vor. Daß er Priliclas emotionale Ausstrahlung so stark zu spüren glaubte, war nichts als ein Produkt seiner Phantasie: Es war Sympathie, nicht Empathie.

Conways terrestrisches Gehirn besaß die empathischen Fähigkeiten nicht, und es erwarb sie auch nicht dadurch, daß es sich den früheren Besitz dieser Fähigkeiten immer wieder in Erinnerung rief. Aber es waren ja auch noch andere Erinnerungen vorhanden, zum Beispiel an seine lebenslange Erfahrung als cinrusskischer Arzt, und diese konnte er gebrauchen.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, Doktor Prilicla, würde ich Sie jetzt gerne untersuchen“, sagte er mit fast förmlicher Gelassenheit.

„Aber natürlich, mein Freund.“ Priliclas unkontrollierbares Zittern hatte sich zu einem gleichmäßigen, stetigen Beben verringert, ein Anzeichen dafür, daß Conway seine emotionale Ausstrahlung inzwischen unter Kontrolle hatte. „Mittlerweile gibt es noch mehr Symptome, die mir starke Beschwerden verursachen, Doktor.“

„Das sehe ich“, entgegnete Conway, während er einen der unglaublich zarten Flügel Priliclas behutsam beiseite schob und seinen Scanner auf den Brustkorb des Empathen setzte. „Beschreiben Sie mir diese Symptome bitte.“

In den zwei Stunden, seit Conway ihn zuletzt gesehen hatte, waren an Prilicla Veränderungen festzustellen, die einzeln zwar kaum merklich, insgesamt aber um so einschneidender waren. Die großen, dreilidrigen Augen hatten ihre normale Lebhaftigkeit und Konzentration auf eigentümliche Weise vollkommen eingebüßt. Die fein strukturierte Verstärkung der Flügelhäutchen war weich und schrumpelig geworden, wodurch das durchsichtige und schillernde Häutchen unansehnliche Runzeln und Falten warf. Die vier kleinen, traumhaft präzisen Greiforgane des Empathen, durch die er eines Tages eigentlich einer der glänzendsten Chirurgen des Hospitals hätte werden müssen, zitterten, obwohl sie durch die Gurte fest zusammengedrückt wurden. Kurz, der von Prilicla vermittelte Gesamteindruck war der eines alten und schwerkranken GLNO.

Die von Prilicla geschilderten Symptome wie auch die Befunde der weiteren Untersuchung verwirrten Conways cinrusskischen Teil seines Gehirns genauso wie den terrestrischen. Beide Teile waren sich aber absolut sicher, daß Prilicla kurz vor dem Tod stand — und in diesem Punkt basierte die Übereinstimmung auf der persönlichen Erfahrung des Urhebers des GLNO-Bands auf der einen und auf Conways über viele Jahre hinweg im Orbit Hospital erworbenen Kenntnissen auf der anderen Seite.

Das Zittern des Empathen verstärkte sich schlagartig, wurde aber wieder schwächer, als sich Conway erneut zu sachlicher Distanz zwang und beherrscht feststellte: „Ich kann keinerlei Deformationen, Verstopfungen, Verletzungen oder Infektionen als Ursache der von Ihnen beschriebenen Symptome feststellen. Genausowenig kann ich irgendeinen Grund für die Atembeschwerden entdecken, die Sie gehabt haben. Wie mir mein cinrusskisches Alter ego mitteilt, tritt bei Ihrer Spezies in jugendlichem Alter zwar ein gewisses Maß an Überempfindlichkeit auf, aber das läßt sich natürlich nicht im entferntesten mit der von Ihnen geschilderten Heftigkeit vergleichen. Am ehesten kommt für mich eine Beeinträchtigung des zentralen Nervensystems in Betracht, die allerdings nicht durch Krankheitserreger oder Gifte hervorgerufen wurde.“

„Sie glauben, das ist psychosomatisch?“ fragte O’Mara scharf, wobei er energisch mit einem Finger in Richtung Prilicla zeigte. „Das da?“

„Diese Möglichkeit würde ich zumindest nicht ausschließen, so lieb mir das auch wäre“, antwortete Conway ruhig, und an Prilicla gewandt sagte er: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihren Fall gern mit O’Mara vor der Tür diskutieren.“

„Selbstverständlich, mein Freund“, entgegnete der Empath. Durch das ununterbrochene Zittern schien der zarte Körper regelrecht auseinanderzufalten. „Aber lassen Sie bitte das Cinrusskerband so bald wie möglich wieder löschen. Ihr gesteigertes Maß an Besorgnis und Sympathie hilft nämlich keinem von uns beiden. Und bedenken Sie, mein Freund, der Urheber Ihres Bands war auf Cinruss einmal eine große medizinische Kapazität. Allerdings kann ich in aller Bescheidenheit behaupten, daß ich vor meinem Dienstantritt im Orbit Hospital und durch die Vorbereitung auf meine hiesige Arbeit auf diesem Gebiet ein ähnlich hohes Ansehen erlangt hatte.

In der medizinischen Geschichte unserer Spezies gibt es nichts, das diesem Zustand auch nur im entferntesten ähnelt, und auch in der Symptomatologie ist absolut kein Präzedenzfall bekannt. Ich kann natürlich nicht vollkommen objektiv sein, wenn es darum geht, daß mein Gesundheitszustand womöglich keine körperlichen Ursachen hat, aber ich war schon immer ein glückliches und sehr ausgeglichenes Wesen und weder als Kind noch als Jugendlicher oder Erwachsener geistig verwirrt. Freund O’Mara hat ja mein Psychogramm und wird das bestätigen können. Ich hoffe, diese eigenartigen Symptome klingen ebenso schnell wieder ab, wie sie aufgetreten sind.“

„Vielleicht könnte Thornnastor…“, begann Conway.

„Schon der Gedanke daran, daß sich mir dieser. dieser Koloß in der Absicht nähert, mich zu untersuchen, würde mich zu einer sofortigen Kündigung veranlassen. Außerdem ist Thornnastor sowieso beschäftigt. Freund Edanelt, seien Sie vorsichtig!“

Prilicla hatte seine Aufmerksamkeit plötzlich wieder dem Bildschirm zugewandt und fuhr fort: „Selbst wenn Sie nur kurz auf diese Stelle drücken, nehmen die unbewußten Emotionen des EGCL schon merklich ab. Deshalb schlage ich vor, Sie nähern sich diesem Nervenstrang von vorne durch die Öffnung in der.“

Conway hörte den Rest nicht mehr, denn O’Mara hatte ihn einfach am Arm vorsichtig aus dem Zimmer nach draußen gezogen, was bei der dort herrschenden geringen Schwerkraft keine Kunst war.

„Das war ein erstklassiger Rat von Prilicla“, sagte der Chefpsychologe, als sie sich ein Stück von der Station entfernt hatten. „Lassen Sie uns das Band löschen und das Problem unseres kleinen Freunds auf dem Weg in mein Büro besprechen, Doktor.“

Conway schüttelte entschieden den Kopf. „Nicht jetzt. Prilicla hat da drinnen alles gesagt, was man über den Fall sagen kann. Unumstößliche Tatsache ist, daß die Cinrussker nicht gerade zu den robustesten Spezies der Föderation gehören. Aus welchem Grund auch immer besitzen sie überhaupt keine Widerstandskraft und haben ebensowenig Kraftreserven, um den Auswirkungen irgendeiner Verletzung oder Krankheit über einen längeren Zeitraum zu widerstehen. Wir wissen doch alle — ich persönlich genauso wie mein Alter ego und vermutlich auch Sie —, daß Prilicla innerhalb weniger, vielleicht höchstens zehn Stunden sterben wird, wenn man ihn nicht schleunigst behandelt und von den Symptomen befreit.“

Der Major nickte.

„Solange Sie selbst keine bessere Idee haben — und ich würde es diesmal wirklich begrüßen, wenn Sie eine hätten —, werde ich weiterhin mit dem Cinrusskerband im Kopf herumlaufen“, fuhr er grimmig fort. „Es hat zwar bisher nicht viel geholfen, aber ich will ohne jede Beschränkung nachdenken können und keine gehirnakrobatischen Tricks anwenden müssen, nur um in der Gegenwart meines Patienten zu starke Emotionen zu vermeiden. An diesem Fall ist irgend etwas äußerst merkwürdig, irgend etwas, das ich übersehe.

Also, ich mach jetzt einen Spaziergang“, schloß Conway plötzlich. „Ich geh nicht weit weg. Gerade so weit, daß ich, wie ich hoffe, nicht mehr in Reichweite von Priliclas empathischen Fähigkeiten bin.“

O’Mara nickte erneut und entfernte sich ohne ein Wort.

Conway zog einen leichten Schutzanzug an und begab sich drei Ebenen nach oben in die Abteilung, die den stacheligen, membranösen und chloratmenden Illensanern vorbehalten war, die man als PVSJs bezeichnete. Die Bewohner von Illensa stellten nach terrestrischen Maßstäben keine besonders gesellige Spezies dar, deshalb hoffte Conway, die neblig gelben Stationen und Korridore ohne Unterbrechung durchqueren zu können, während er mit seinem Problem kämpfte. Aber genau das Gegenteil trat ein.

Chefarzt Dr. Gilvesh, der erst vor ein paar Monaten zusammen mit Conway eine Operation an einem dwerlanischen DBPK durchgeführt hatte, war heute auf für ihn untypische Weise nach Geselligkeit zumute und wollte gern mit seinem Chefarztkollegen fachsimpeln. Die beiden Ärzte trafen sich auf einem schmalen Korridor, der zur Apotheke auf dieser Ebene führte, und Conway hatte keine Möglichkeit, sich einem Gespräch zu entziehen.

Gilvesh hatte Probleme. Es sei einer dieser Tage, berichtete der illensanische Arzt, an denen sämtliche Patienten ein ungeheures Maß an Aufmerksamkeit und vollkommen unnötige Mengen von Schmerzlinderungsmitteln verlangten, deren Verabreichung persönliche Überwachung erforderte. Die rangniedrigeren Ärzte und der Schwesternstab standen deshalb natürlich unter Druck, und ganz offensichtlich herrschte ein ungewöhnlich hohes Ausmaß verbaler Überreaktionen und schlechter Laune vor. Gilvesh rechtfertigte und entschuldigte sich im voraus für jegliche scheinbare Unhöflichkeit, mit der seine Mitarbeiter solch einem wichtigen Chefarzt wie Conway bei seinem Besuch begegnen könnten. Er habe mehrere Fälle, so beteuerte Gilvesh, die bestimmt Conways Interesse erregen würden. Vor allem brauchte er aber seinen Rat.

Genauso wie alle anderen Ärzte, die man für den Dienst in einem Hospital mit vielfältigen Umweltbedingungen ausgebildet hatte, verfügte auch Conway über eingehende Grundlagenkenntnisse auf den Gebieten der Physiologie und des Metabolismus von Extraterrestriern. Ebenso waren ihm die geläufigeren Krankheiten sämtlicher Spezies bekannt, die Mitglieder der Föderation waren. Für eine genaue Untersuchung und Diagnose der PVSJ-Patienten brauchte er allerdings unbedingt ein illensanisches Physiologieband, und das wußte Gilvesh genausogut wie er. Folglich schien der illensanische Chefarzt derart über den gegenwärtigen Zustand seiner Patienten beunruhigt zu sein, daß er sich umgehend die Meinung eines Vertreters einer anderen Spezies einholen wollte.

Da durch das Cinrusskerband und die große Besorgnis um Prilicla sein analytisches Urteilsvermögen stark getrübt war, konnte Conway nur wenig mehr tun, _als aufmunternde Worte von sich zu geben, während Gilvesh ihm einige Patienten vorführte, die an verschiedensten illensanischen Krankheiten litten, unter anderem an einem schmerzenden Darmtrakt und einer optisch dramatischen und zweifelsohne unangenehmen Pilzinfektion, die sämtliche acht spatelförmigen Gliedmaßen befallen hatte.

Doch obwohl sämtliche Patienten ernsthaft erkrankt waren, befand sich keiner von ihnen in einem kritischen Zustand, und die erhöhten Dosen schmerzstillender Medikamente, die Gilvesh ihnen gegen sein besseres Wissen verabreicht hatte, schienen den gewünschten Erfolg zu erzielen, wenn auch nur langsam. Conway fand eine Entschuldigung, um diese unglaublich betriebsame Station so schnell wie möglich verlassen zu können, und machte sich dann auf den Weg zu den sehr viel ruhigeren MSVK- und LSVO-Ebenen.

Dazu mußte er erneut die Ebene einhundertdreiundsechzig durchqueren und nutzte diese Gelegenheit, um sich über den Zustand des EGCL zu informieren. Murchison gähnte ihm ins Gesicht und berichtete, daß die Operation gut verlaufe und Prilicla mit der emotionalen Ausstrahlung des Patienten zufrieden sei. Seinen empathischen Freund suchte Conway nicht auf.

Allerdings mußte er feststellen, daß auch die Ebenen mit geringer Schwerkraft einen dieser Tage hatten, und er wurde prompt in weitere Konsultationen verwickelt. Solche an ihn herangetragenen Bitten konnte er auch nur schlecht ausschlagen, denn er war nun einmal Conway, der terrestrische Chefarzt, der im ganzen Hospital für seine manchmal zwar unkonventionellen, letztendlich aber wirkungsvollen Diagnose- und Behandlungsmethoden bekannt war. Da sein cinrusskischer Gehirnpartner vom Temperament und Körperbau her mit den zerbrechlichen, vogelartigen und gegenüber größeren Lebensformen äußerst zurückhaltenden LSVOs und MSVKs von Euril beziehungsweise Nallajim mehr Ähnlichkeit hatte als mit den stacheligen Illensanern, konnte er hier wenigstens manchen nützlichen, wenn auch konventionellen Rat geben.

Aber für das Problem, das er am dringendsten beseitigen wollte, konnte er weder eine konventionelle noch eine unkonventionelle Lösung finden.

Und dieses Problem hieß Prilicla.

Conway überlegte, ob er sich in seine Unterkunft begeben sollte, wo er sich entspannen und in aller Ruhe nachdenken könnte. Aber bis zu seinem Quartier am anderen Ende des Hospitals lag ein gut einstündiger Weg vor ihm. Außerdem wollte er in der Nähe bleiben, falls sich Priliclas Zustand, der sowieso schon fast kritisch war, plötzlich noch mehr verschlechtern sollte. Also ließ er sich lieber weiterhin von nallajimischen Patienten ihre Krankheitssymptome beschreiben. Dabei empfand er eine seltsame Traurigkeit, weil die cinrusskische Hälfte seines Gehirns zwar einerseits wußte, daß die Kranken litten, fühlten und in den verschiedensten Schattierungen Emotionen ausstrahlten, das geistige Rüstzeug des Menschen aber andererseits nicht in der Lage war, diese emotionale Ausstrahlung zu empfangen. Es war, als ob zwischen ihm und den Patienten eine Glasplatte stehen würde, durch die man nur sehen und hören konnte.

Aber drang nicht dennoch etwas mehr hindurch? Er hatte durchaus ein wenig von den Schmerzen der illensanischen Patienten gespürt, wie er nun auch bis zu einem gewissen Grad die Leiden der Eurilen und Nallajims um sich herum nachempfand. Oder verleitete ihn lediglich das GLNO-Band zu glauben, er sei ein Empath?

Eine Glasplatte, dachte er plötzlich. In seinem Hinterkopf kam ihm langsam eine Idee. Er bemühte sich, sie ans Licht zu zerren, sie Gestalt annehmen zu lassen. Glas. Irgend etwas mit Glas oder den Eigenschaften von Glas?

„Entschuldigen Sie mich bitte, Kytili“, sagte er zum nallajimischen Arzt, der sich gerade laut den Kopf über einen vollkommen atypischen Fall zerbrach, der eigentlich ein sehr leicht zu behandelndes und schmerzloses Leiden haben sollte. „Ich muß ganz dringend zu O’Mara.“

Da der Chefpsychologe wegen einiger Probleme auf die Ebene der Chloratmer gerufen worden war, die Conway erst vor kurzem verlassen hatte, löschte Carrington das GLNO-Band aus seinem Kopf. Als O’Maras Chefassistent war Carrington ein hochqualifizierter Psychologe. Er musterte einen Moment lang Conways Gesichtsausdruck und fragte ihn, ob er ihm helfen könne.

Conway schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte den Major nur etwas fragen. Er hätte wahrscheinlich sowieso nein gesagt. Kann ich mal den Kommunikator benutzen?“

Wenige Sekunden später flammte auf dem Bildschirm das Gesicht von Captain Fletcher auf, der sich rasch mit den Worten meldete: „Rhabwar, Kommandodeck.“

„Captain“, begann Conway, „ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Falls Sie damit einverstanden sind, mir diesen Gefallen zu tun, werden Sie selbstverständlich für keine der Auswirkungen verantwortlich gemacht werden können, weil es sich um eine rein medizinische Angelegenheit handelt und Sie auf meine Anordnung hin tätig werden.

Es gibt nämlich eine Möglichkeit, wie ich Prilicla vielleicht helfen könnte“, fuhr Conway fort und beschrieb dem Captain seinen Plan. Als er fertig war, machte Fletcher ein ernstes Gesicht.

„Ich bin mir über Priliclas Zustand durchaus im klaren, Doktor“, erwiderte der Captain. „Naydrad ist so oft zwischen Schiff und Krankenzimmer hin- und hergependelt, daß sich schon allmählich der Bordtunnel abnutzt. Und bei jeder Rückkehr berichtet sie uns über jeden Fortschritt, den der Empath gemacht oder vielmehr nicht gemacht hat. Nebenbei bemerkt, gibt es keinen Grund, warum wir uns über unsere jeweiligen Verantwortlichkeitsbereiche streiten sollten. Offensichtlich möchten Sie das Schiff für einen unerlaubten Einsatz benutzen und halten die Einzelheiten geheim, damit die Vorwürfe, die durch die Ergebnisse zukünftiger Untersuchungen an mir hängen bleiben könnten, möglichst gering bleiben. Sie kürzen die Sache zwar wieder einmal ab, Doktor, aber in diesem Fall hab ich dafür vollstes Verständnis und bin mit sämtlichen Anweisungen, die sie mir geben wollen, einverstanden.“

Fletcher hielt inne, und zum erstenmal, seit Conway den Mann kannte, wurde der kalte, unbewegte, fast verächtliche Gesichtsausdruck des Captains weicher, und selbst seine Stimme verlor ihren sonst geradezu ärgerlich pedantischen Ton. „Ich nehme an, Sie befehlen mir, mit der Rhabwar nach Cinruss zu fliegen“, fuhr er fort, „damit unser kleiner Freund wenigstens im Kreis seiner Artgenossen sterben kann.“

Bevor Conway antworten konnte, hatte ihn Fletcher bereits mit Naydrad auf dem Unfalldeck verbunden.

Ein halbe Stunde später hoben die kelgianische Oberschwester und Conway den mittlerweile fast völlig bewußtlosen und inzwischen nur noch leicht zitternden Prilicla aus dem Stützgeschirr und legten ihn auf eine Elektrobahre. Im Korridor, der zu Schleuse neun führte, stellte ihnen keiner der medizinischen Mitarbeiter wegen ihrer Aktion eine Frage, und wenn doch irgend jemand so aussah, klopfte Conway nervös auf das Gehäuse seines Translators und tat so, als ob dieser nicht funktionierte. Aber als sie den Eingang zum Zimmer des EGCL passierten, kam gerade Murchison heraus und stellte sich sofort vor die Bahre.

„Wo willst du Prilicla hinbringen?“ fragte sie, wobei sie äußerst müde und auf für sie untypische Weise zornig klang, so daß der Empath schwach zitterte.

„Auf die Rhabwar“, antwortete Conway so gelassen, wie er konnte. „Wie geht’s dem EGCL?“

Murchison blickte auf den Empathen und versuchte sichtlich, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, als sie erwiderte: „Alles in allem sehr gut. Sein Zustand ist stabil. Eine Oberschwester befindet sich in ständiger Bereitschaft. Edanelt ruht sich nebenan aus und ist sofort einsatzbereit, falls etwas schiefgehen sollte. Aber eigentlich erwarten wir keine Schwierigkeiten. Genaugenommen rechnen wir sogar damit, daß der EGCL ziemlich bald sein Bewußtsein zurückerlangt. Thornnastor ist wieder in die Pathologie gegangen, um sich mit den Ergebnissen der Tests zu befassen, die wir an Prilicla durchgeführt haben. Das ist übrigens auch der Grund, warum du Prilicla nicht aus seinem.“

„Thornnastor kann Prilicla nicht heilen“, unterbrach Conway Murchison energisch. Er blickte von ihr zur Bahre und fuhr in ruhigerem Ton fort: „Aber ich kann deine Hilfe gebrauchen. Glaubst du, daß du dich noch einmal ein paar Stunden auf den Beinen halten kannst? Bitte, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“

Kaum waren sie mit Prilicla auf dem Unfalldeck der Rhabwar eingetroffen, war Conway auch schon über den Kommunikator mit Fletcher verbunden. „Captain, fliegen Sie bitte schnell aus der Schleuse raus. Und machen Sie die Planetenlandefähre fertig.“

„Die Planetenlandefähre?“ begann Fletcher und fuhr dann fort: „Wir haben bis jetzt noch nicht einmal abgelegt, geschweige denn Sprungdistanz erreicht, und Sie machen sich schon Gedanken über die Landung auf Cinruss. Sind Sie sich überhaupt sicher, daß Sie wissen, was.“

„Ich bin mir über gar nichts sicher, Captain“, unterbrach ihn Conway. „Fliegen Sie aus der Schleuse raus, aber halten Sie sich bereit, kurzfristig und auch noch innerhalb der Sprungdistanz die Geschwindigkeit zu drosseln.“

Ohne zu antworten, brach Fletcher das Gespräch ab, und ein paar Sekunden später konnte man durch die Direktsichtluke der Rhabwar die gewaltige Metallwand des Hospitals kleiner werden sehen. Die Fluggeschwindigkeit wurde bis zur in unmittelbarer Hospitalnähe erlaubten Grenze gesteigert, bis der dem Schiff nächstgelegene Teil des gigantischen Gebäudes erst einen, dann zwei Kilometer entfernt war. Doch im Moment war niemand an dieser Aussicht interessiert, denn Conways gesamte Aufmerksamkeit galt Prilicla, und Murchison und Naydrad beobachteten ihn dabei.

„Vorhin hast du noch behauptet, daß selbst Thornnastor nicht in der Lage ist, Prilicla zu heilen“, sagte die Pathologin auf einmal. „Warum hast du das gesagt?“

„Weil Prilicla überhaupt nichts gefehlt hat“, antwortete Conway trocken. Er beachtete Murchisons vor Erstaunen weit aufgerissenen Mundnicht und ebensowenig Naydrads heftig wogendes Fell und fragte den Empathen: „Ist es nicht so, mein kleiner Freund?“

„Ich glaube schon, mein Freund“, entgegnete Prilicla, der zum erstenmal sprach, seit sie an Bord gekommen waren. „Mir fehlt jetzt ganz bestimmt nichts mehr. Aber ich bin noch ziemlich verwirrt.“

„Ach, Sie sind verwirrt?“ rief Murchison, verstummte aber gleich wieder, weil Conway erneut am Kommunikator war.

„Captain“, sagte er, „kehren Sie sofort wieder zur Schleuse neun zurück! Wir wollen noch einen Patienten aufnehmen. Schalten Sie die gesamte Außenbeleuchtung ein, und überhören Sie die Flugverkehrsanweisungen einfach. Und stellen Sie mich bitte zu Ebene eins sechs drei durch, zum Genesungsraum des EGCL. Schnell!“

„Gut“, erwiderte der Captain gleichgültig, „aber dafür wünsche ich eine Erklärung.“

„Sie bekommen schon noch eine.“, begann Conway, brach aber den Beschwichtigungsversuch ab, als plötzlich auf dem Bildschirm statt der finsteren Gesichtszüge des Captains der Genesungsraum mit der diensthabenden Schwester, einer Kelgianerin, zu sehen war, die sich neben dem EGCL wie ein pelziges Fragezeichen zusammengerollt hatte. Ihr Bericht über den Zustand des Patienten war knapp, präzise und — zumindest für Conway — erschreckend.

Er unterbrach den Kontakt und schaltete zum Captain zurück. Entschuldigend sagte er: „Wir haben nicht mehr viel Zeit, deshalb möchte ich Sie bitten zuzuhören, während ich den anderen die Situation oder das, was ich dafür halte, zu erklären versuche. Ich hatte ursprünglich vor, die Landefähre mit ferngesteuerten medizinischen Geräten auszustatten und sie als eine Art Isolationsstation zu benutzen, aber dafür ist keine Zeit mehr. Der EGCL wacht auf. Im Hospital kann jetzt jeden Moment die Hölle losbrechen.“

Schnell erklärte er seine Theorie über den EGCL und den Gedankengang, aus dem er sie entwickelt hatte, und daß sie durch Priliclas ansonsten unerklärliche Rettung bewiesen worden war.

„Was mich daran stört, ist, daß ich Prilicla noch einmal der gleichen emotionalen Tortur aussetzen muß“, schloß Conway grimmig.

Bei der Erinnerung an den Schmerz zitterten die Glieder des Empathen, doch er erwiderte: „Da ich jetzt weiß, daß es sich dabei nur um einen vorübergehenden Zustand handelt, kann ich mich damit abfinden, mein Freund.“

Aber der Abtransport des EGCL war nicht so einfach zu bewerkstelligen wie die vorhergehende Entführung Priliclas. Denn die diensthabende kelgianische Schwester war durchaus zum Streiten aufgelegt, und es bedurfte Naydrads gesamter Überredungskunst und der vereinten Überzeugungskraft der hohen Dienstgrade von Murchison und Conway, damit sie endlich das tat, was man von ihr verlangte. Und obwohl Conway vorher alle Beteiligten vor dem gewarnt hatte, was passieren könnte, wenn sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hielten, mußte er bei der Auseinandersetzung zwischen den beiden kelgianischen Schwestern hilflos mit ansehen, wie ihr Fell zitterte und wogte, wie sich Murchisons Gesichtsausdruck plötzlich, fast manisch veränderte und alle Beteiligten emotional überreagierten. Als die Drucktragbahre für eine Verlegung des Patienten auf die Rhabwar fast fertig war, hatte es bereits solche Tumulte gegeben, daß bestimmt irgend jemand diesen Vorfall mitbekommen hatte und melden würde. Und genau das wollte Conway nicht.

Der Patient kam zu sich. Um die Angelegenheit auf korrekte Weise zu erledigen, blieb keine Zeit mehr, auch für lange und wiederholte Erklärungen nicht. Doch auf einmal sah sich Conway dazu gezwungen, Zeit zu finden, denn plötzlich befanden sich sowohl Edanelt als auch O’Mara im Zimmer. Der Chefpsychologe war der erste, der das Wort an ihn richtete.

„Conway! Was, zum Teufel, machen Sie da eigentlich mit dem Patienten?“

„Ich kidnappe ihn!“ gab Conway spöttisch zurück und fuhr rasch fort: „Tut mir leid, Sir, wir reagieren im Moment alle etwas zu heftig. Wir können gar nichts dagegen machen, außer uns immer wieder anzustrengen, gelassen zu bleiben. Ach, Edanelt, würden Sie mir wohl helfen, das Lebenserhaltungssystem des EGCL zur Bahre zu bringen? Wir haben nicht mehr viel Zeit, deshalb muß ich Ihnen alles erklären, während wir weiterarbeiten.“

Der melfanische Chefarzt war einen Moment lang völlig verdutzt, seine sechs krabbenartigen Beine klopften auf den Boden und spiegelten so seine Unentschlossenheit wider. Dann erwiderte er: „Also gut, Conway. Aber wenn mich Ihre Erklärung nicht zufriedenstellen sollte, dann bleibt der Patient hier.“

„Einverstanden“, entgegnete Conway. Er blickte O’Mara an, dessen Gesicht Anzeichen eines plötzlich steigenden Blutdrucks verriet und fuhr fort: „Sie hatten schon von Anfang an die richtige Idee, O’Mara, aber dieBeteiligten waren für ein Gespräch mit Ihnen alle viel zu: beschäftigt. Eigentlich hätte mir die Idee auch kommen müssen, wenn mich das GLNO-Band und meine Sorge um Prilicla nicht so abgelenkt hätten, daß ich nicht einmal mehr.“

„Lassen Sie die Schmeicheleien und die Entschuldigungen beiseite, und kommen Sie zur Sache“, unterbrach ihn O’Mara energisch.

Conway half Murchison und Naydrad, den EGCL auf die Bahre zu heben, während Edanelt und die andere Schwester den Sitz der Biosensoren überprüften. Ohne aufzublicken fuhr Conway fort: „Wann immer wir einer neuen intelligenten Spezies begegnen, sollten wir uns zuerst die Frage stellen, wie sie es geschafft hat, Intelligenz zu entwickeln. Nur die dominante Lebensform eines Planeten hat die Möglichkeit, die Sicherheit und die Muße, sich zu einer Zivilisation zu entwickeln, die zu interstellaren Raumflügen fähig ist.“

Zuerst hatte sich Conway nicht vorstellen können, wie die Spezies des EGCL zur Herrschaft über ihren Planeten aufgestiegen war und sich den Weg bis an die Spitze des Evolutionsbaums hatte erkämpfen können. Ihr Körper besaß keine Angriffswaffen, und mit dem schlangenähnlichen, der Fortbewegung dienenden Muskelschurz erreichten sie nicht genügend Geschwindigkeit, um natürlichen Feinden entkommen zu können. Zwar stellte das riesige Schneckengehäuse so etwas wie einen Schutz dar, denn er schirmte lebenswichtige innere Organe ab, aber dafür erhob sich dieser knöcherne Panzer bis hoch über den Körper, machte ihn damit oberlastig und gleichzeitig zur leichten Beute für jedes räuberische Lebewesen, das ihn nur umzukippen brauchte, um an die weiche Unterseite heranzukommen. Außerdem waren die Greiforgane der EGCLs zwar biegsam und geschickt, aber zur wirksamen Abschreckung viel zu kurz und nicht muskulös genug. Auf ihrem Heimatplaneten hätten die EGCLs eigentlich zu den Verlierern der Natur gehören müssen. Da sie aber das Gegenteil waren, mußte es dafür auch einen Grund geben.

Wie Conway weiter erklärte, sei er erst allmählich daraufgekommen, und zwar als er über die Stationen der Chloratmer und die Ebenen mit geringer Schwerkraft gegangen war. Auf jeder dieser Stationen lagen Patienten mit bekannten und richtig diagnostizierten Krankheiten, die aber atypische Symptome aufwiesen, zumindest wurde dies von den Betroffenen behauptet. Die Nachfrage nach schmerzstillenden Medikamenten stellte alles bisher Dagewesene in den Schatten. Körperliche Zustände, die eigentlich nur ein geringes Maß an Beschwerden hätten verursachen dürfen, schienen schwere Schmerzen hervorzurufen. Auch Conway selbst verspürte zu diesem Zeitpunkt ein wenig von dieser Schmerzen, schrieb das jedoch einer Kombination aus Einbildung und dem Effekt des Cinrusskerbands zu.

Seine Ansicht, daß es sich bei den Schwierigkeiten um ein psychosomatisches Problem handeln müsse, weil der allgemeine Zustand der Patienten zu weit verbreitet war, hatte er bereits für richtig und bewiesen gehalten, dann aber noch einmal darüber nachgedacht.

Bei der Rückkehr vom Unglücksort mit dem einzigen überlebenden EGCL waren sie alle wegen der Erfolglosigkeit ihres Einsatzes und auch, weil Prilicla Grund zur Sorge gab, verständlicherweise recht niedergeschlagen gewesen. Aber rückblickend hatten sie irgendwie falsch, ja geradezu stümperhaft reagiert. Die Besatzung der Rhabwar hatte dieVorfälle viel zu stark empfunden, hatte übermäßige Reaktionen gezeigt und auf jeweils ganz individuelle Art dieselbe Überempfindlichkeit entwickelt, von der Prilicla und später auch Mitarbeiter und Patienten auf den Ebenen der Illensaner und Nallajims befallen worden waren. Conway hatte es schließlich selbst gespürt: die dumpfen Bauchschmerzen, die Beschwerden in Händen und Fingern und die Übererregbarkeit in Situationen, die keinerlei Anlaß dazu gaben. Mit zunehmender Entfernung wurden diese Auswirkungen aber schwächer. Denn als er O’Maras Büro zur Speicherung und später zum Löschen des GLNO-Bands aufsuchte, fühlte er sich eigentlich ganz normal und unbekümmert — mit Ausnahme der ganz gewöhnlichen Besorgnis um einen aktuellen Fall, die verständlicherweise etwas größer war als sonst, da es sich bei dem Patienten um Prilicla handelte.

Den EGCL hatte er bei Thornnastor und Edanelt in allerbesten Händen gewähnt, und da er sich dessen ganz sicher gewesen war, hatte er sich auch keine weiteren Gedanken darum gemacht.

„Aber dann hab ich angefangen, über seine Verletzungen nachzudenken und auch darüber, wie ich mich zunächst auf dem Schiff und später auf den drei Ebenen ober und unterhalb des EGCL-Operationssaals gefühlt hatte. Als ich mich im Hospital befand und mir das GLNO-Band zusetzte, war ich zwar ein Empath ohne empathische Fähigkeiten, konnte aber trotzdem verschiedene Dinge wie Emotionen, Schmerzen und Beschwerden wahrnehmen, die nicht von mir selbst stammten. Ich hab geglaubt, ich würde wegen meiner Erschöpfung und dem Streß, unter dem ich zu der Zeit stand, die Schmerzen der Patienten mitempfinden. Aber dann ist mir eingefallen: Wenn man die Art der Beschwerden, an denen der EGCL litt, von den Symptomen der Ärzte und Patienten auf diesen sechs Ebenen subtrahierte und die Stärke der Beschwerden auf das gewöhnliche Maß reduzierte, wären das Verhalten und die Reaktionen der betroffenen Patienten und Mitarbeiter plötzlich wieder auf das normale Maß reduziert. Das wiederum deutete anscheinend auf.“

„Auf einen Empathen hin!“ unterbrach ihn O’Mara. „Wie Prilicla.“

„Nicht wie Prilicla“, berichtigte ihn Conway entschieden. „Obwohl es durchaus möglich ist, daß die noch nicht intelligenten Vorfahren dieser beiden Spezies ganz ähnliche empathische Fähigkeiten besessen haben.“

Doch die prähistorische Welt der EGCLs mußte ein sehr viel gefährlicherer Planet als Cinruss gewesen sein, erklärte Conway weiter, und ihnen hatte auf jeden Fall die Fähigkeit der Cinrussker gefehlt, sich vor Gefahren buchstäblich im Flug davonzumachen. In solch einer grausamen Umwelt boten empathische Fähigkeiten jedoch nur einen geringen Vorteil — nämlich den eines äußerst unangenehmen Frühwarnsystems, und aus genau diesem Grund war die Fähigkeit, Emotionen zu empfangen, später verlorengegangen. Inzwischen nahmen die EGCLs wahrscheinlich nicht einmal mehr die emotionale Ausstrahlung ihrer eigenen Artgenossen wahr.

Statt dessen hatten sie sich zu organischen Sendern, Reflektoren, Fokussierern und Verstärkern ihrer eigenen und der Emotionen von Lebewesen in ihrer näheren Umgebung entwickelt. Alles deutete darauf hin, daß diese Fähigkeit inzwischen eine Entwicklungsstufe erreicht hatte, auf der die EGCLs keine Kontrolle mehr über diese Vorgänge hatten.

„Stellen Sie sich nur einmal vor, was das für eine Verteidigungswaffe darstellt!“ erklärte Conway weiter, während man mittlerweile die Biosensoren und das Lebenserhaltungssystem für den EGCL zur Bahre gebracht hatte, die somit abfahrbereit war. „Wenn ein räuberisches Lebewesen einen EGCL anzugreifen versucht, werden die Wut und der Hunger auf sein Opfer zusammen mit der Furcht und dem Schmerz, der bei einer eventuellen Verletzung oder Verwundung seiner Jagdbeute auftritt, zunächst verstärkt und dann zurückgeworfen, schlagen dem Angreifer also, bildlich gesprochen, mitten ins Gesicht. Über den Grad der Verstärkung kann ich natürlich nur Spekulationen anstellen. Aber die Wirkung auf das räuberische Lebewesen dürfte, erst recht wenn sich noch weitere Raubtiere mit gleichermaßen verstärkten Emotionen in der Nähe aufhalten, gelinde gesagt, entmutigend und zudem sehr verwirrend sein. Sie könnte vielleicht sogar zur Folge haben, daß sich die Jäger gegenseitig angreifen.

Wir kennen ja bereits die Wirkung eines tief bewußtlosen EGCL auf die Patienten und Mitarbeiter, die sich drei Ebenen über und unter ihm befinden“, fuhr Conway grimmig fort. „Jetzt kommt dieser EGCL wieder zu Bewußtsein, und ich hab keine Ahnung, was gleich passiert oder wie weitreichend die Folgen sind. Wir müssen ihn unbedingt hier rausbringen, bevor die Patienten des Hospitals nicht nur ihre eigenen Schmerzen, sondern auch noch die des EGCL empfinden, und das in einem zwar unbekannten, auf jeden Fall aber verstärkten Ausmaß. Außerdem werden sie ihre Krankenpfleger in ständig wachsende Verwirrung und Panik stürzen, weil auch diese wiederum die reflektierten Schmerzen wahrnehmen.“

Er brach ab und versuchte, der eigenen wachsenden Panik Herr zu werden. Dann sagte er scharf: „Wir müssen den EGCL auf der Stelle aus dem Hospital schaffen, ohne weitere Verzögerungen und Diskussionen.“

Im Verlauf von Conways Erläuterungen hatte sich die anfängliche Zornesröte in O’Maras Gesicht immer mehr verflüchtigt, und es sah jetzt aschfahl und blutleer aus.

„Vergeuden Sie bloß keine kostbare Zeit mehr mit langen Reden, Doktor“, sagte er. „Ich werde Sie begleiten. Weitere Verzögerungen oder Diskussionen wird es nicht mehr geben.“

Als sie das Unfalldeck der Rhabwar erreichten, war der EGCL noch immer nicht bei vollem Bewußtsein, und Prilicla machte die von dem Patienten verstärkte und zurückgeworfene emotionale Ausstrahlung seiner näheren Umgebung wieder schwer zu schaffen. Diese Beschwerden verringerten sich allerdings mit wachsender Entfernung der Rhabwar von den Mitarbeitern und Patienten im Hospital deutlich, berichtete ihnen den Empath, und der erwachende EGCL strahlte wegen der kurz zuvor operierten Stellen sowieso nur noch ein relativ geringes Maß an Unbehagen aus — das hätte Prilicla ihnen gar nicht zu sagen brauchen, denn sie konnten es alle deutlich an sich selbst spüren.

„Ich hab mir die Schwierigkeiten bei der Verständigung mit diesen Wesen durch den Kopf gehen lassen“, sagte O’Mara nachdenklich. „Selbst wenn die EGCLs ohne Ausnahme Hochleistungssender sowie Reflektoren von emotionalen Ausstrahlungen sind, ist ihnen das vielleicht selbst gar nicht bewußt. Womöglich wissen sie nur, daß sie einen automatischen, nicht materiellen Schutz vor jedem besitzen, der ihnen etwas antun will. Die Aufgabe, Gespräche mit ihnen aufzunehmen, wird wahrscheinlich nicht leicht sein und zudem eine langwierige Angelegenheit werden, es sei denn, wir gehen von falschen Grundvoraussetzungen aus und haben.“

„Meine erste Idee war, den EGCL allein in die mit ferngesteuerten medizinischen Geräten ausgerüstete Landefähre zu verfrachten“, unterbrach ihn Conway. „Aber dann hab ich mir überlegt, daß ein Arzt, ein Freiwilliger, bei ihm sein sollte.“

„Ich will lieber erst gar nicht fragen, wer das wohl sein soll“, unterbrach ihn O’Mara trocken und lächelte, als Conways Verlegenheit vom EGCL regelrecht abprallte und auf alle anderen Anwesenden zurückgeworfen wurde.

„…denn falls es jemals einen Fall gegeben hat, der eine Isolation des Patienten erfordert, dann diesen“, schloß Conway.

Der Chefpsychologe nickte. „Was ich gerade sagen wollte, war, daß wir uns vielleicht völlig vertan haben. Sicherlich könnten wir niemals EGCLs in einem Hospital behandeln, in dem die in der Umgebung dieses Wesens liegenden Patienten Schmerzen haben, selbst wenn es sich dabei nur um leichte Beschwerden handeln sollte. Aber die Situation hier auf dem Schiff ist gar nicht mal so schlecht. Ich hab zwar an den gleichen Stellen Beschwerden, an denen auch der EGCL verletzt ist, aber keine, mit denen ich nicht fertig werden könnte. Außerdem strahlen Sie alle Besorgnis um den Patienten aus, und auch das ist trotz der Verstärkung nicht einmal sonderlich unangenehm. Es scheint, als ob der Patient einem nichts allzu Unangenehmes zurückwerfen kann, wenn man ihm gegenüber keine bösen Absichten hegt. Das ist erstaunlich. Meine Gefühle sind genauso wie immer, nur noch intensiver.“

„Aber er kommt allmählich zu Bewußtsein“, protestierte Conway. „Langsam müßte eine Verstärkung der.“ „Es gibt keine“, fiel O’Mara ein. „Das ist doch ganz klar, Conway. Könnte es vielleicht daher kommen, weil der Patient wieder zu Bewußtsein kommt? Denken Sie mal darüber nach. Genau, Doktor, wir spüren jetzt alle, wie Sie innerlich ’ich hab’s!’ rufen.“

„Natürlich!“ rief Conway und machte eine Pause, weil seine Freude und Aufregung, die Antwort gefunden zu haben, durch den EGCL verstärkt wurden und Priliclas Flügel in eine Folge von langsamen, wogenden Wellenbewegungen versetzten, die die unbändige Freude eines Cinrusskers verrieten. Durch diese Gefühle wurden sogar die Schmerzen des Patienten kompensiert, die Conway und alle anderen Anwesenden mitempfunden hatten. Conway dachte: Du meine Güte! Welche verrückten Erfahrungen werden die Kontaktspezialisten wohl noch mit dieser Spezies machen?

Laut sagte er: „Der Vorgang des Reflektierens und Verstärkens der Emotionen anderer Lebewesen in ihrer näheren Umgebung, ob sie ihnen nun feindlich gesinnt sind oder nicht, ist ein Schutzmechanismus, der natürlich die höchste Wirksamkeit erreicht, wenn der EGCL hilflos, ungeschützt oder bewußtlos ist. Mit der Rückkehr des Bewußtseins scheint sich die Wirkung zwar zu verringern, aber die empathischen Reflexionen bleiben dennoch stark. Als Folge davon erlangt jedes Lebewesen in der Nähe eines EGCLs empathische Fähigkeiten, die denen von Prilicla nicht unähnlich sind. Die EGCLs selbst sind allerdings inzwischen für ihre gegenseitige emotionale Ausstrahlung unempfindlich, weil sie nur als Sender funktionieren.

Wie Prilicla zu sein“, fuhr er fort, indem er zum Empathen hinüberblickte, „ist sicherlich ein etwas zweischneidiges Vergnügen, aber der EGCL wäre auf wirklich amüsanten Parties für uns alle ein ausgesprochen angenehmer Gast.“

„Hier Kommandodeck“, unterbrach ihn die Stimme des Captains. „Ich hab ein paar Informationen über die Spezies Ihres Patienten einholen können. Die Föderationsarchive haben dem Hospital eine Nachricht übermittelt, die besagt, daß diese Spezies — deren Angehörige sich selbst Duwetz nennen — schon kurz vor der Entstehung der Galaktischen Föderation von einem hudlarischen Forschungsschiff kontaktiert worden ist. Man erhielt damals zwar genügend Informationen, um den Grundwortschatz der Duwetzsprache in die modernen Übersetzungscomputer einzuprogrammieren, aber wegen ernsthafter psychologischer Probleme der Besatzung brach man dann trotzdem den Kontakt ab. Man hat uns den Rat gegeben, mit äußerster Vorsicht vorzugehen.“

„Der Patient ist jetzt wach!“ sagte Prilicla plötzlich.

Conway ging näher an den EGCL heran und bemühte sich um erfreuliche und beruhigende Gedanken. Mit Erleichterung stellte er fest, daß die Biosensoren und die angeschlossenen Monitore einen zwar geschwächten, aber durchaus stabilen körperlichen Zustand anzeigten. Die in Mitleidenschaft gezogene Lunge arbeitete wieder befriedigend und die Bandagen, durch die man die zwei wieder zusammengefügten Gliedmaßen bewegungslos hielt, saßen fest und an der richtigen Stelle. Die zahlreichen Nähte am Muskelschurz und am Fortbewegungsballen unterhalb des Panzers entsprachen völlig Thornnastors und Edanelts hohen Ansprüchen, genauso wie die geschickt angebrachten Klammern, die an den ehemaligen Bruchstellen im Panzer in ordentlichen Reihen glitzerten. Trotz der schmerzstillenden Medikamente, die von Thornnastor für den speziellen Stoffwechsel des Patienten hergestellt worden waren, hatte der EGCL zwar noch immer erhebliche Beschwerden, aber Schmerz war nicht das vorherrschende Gefühl, das er jetzt ausstrahlte, und von Furcht oder Feindseligkeit konnte man auch nichts spüren.

Zwei seiner drei übriggebliebenen Augen wandten sich den Anwesenden zu, um sie zu betrachten, während sich das dritte auf die Sichtluke richtete, hinter dem das Orbit Hospital im galaktischen Sektor zwölf, das jetzt fast acht Kilometer entfernt war, wie ein riesiges, surrealistisches Schmuckstück in der interstellaren Dunkelheit strahlte. Die Emotionen, von denen sie allesamt so stark durchdrungen wurden, daß sie entweder zitterten, den Atem anhielten oder ein wogendes Fell bekamen, waren Neugier und Staunen.

„Ich bin zwar kein Organklempner wie Sie“, sagte O’Mara in barschem Ton, „aber ich würde trotzdem sagen, die Prognosen für diesen Fall stehen überaus günstig.“

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