Auch ich… verurteile die Ansicht jener als falsch und verdammungswürdig, die Jupiter, Saturn und dem Mond Bewohner zuschreiben und mit ›Bewohnern‹ Tiere wie unsere und Menschen im Besonderen meinen… Wenn wir auch nur mit geringster Wahrscheinlichkeit glauben könnten, dass es Lebewesen und Pflanzen auf dem Mond oder einem Planeten gäbe, die nicht nur von den irdischen Lebewesen und Pflanzen sich unterscheiden, sondern so andersartig sind, wie wir es uns in den kühnsten Träumen nicht vorstellen könnten, würde ich für meinen Teil dies weder bestätigen noch bestreiten wollen. Jedoch würde ich die Entscheidung weiseren Männern, als ich einer bin, überlassen.
Kontrollierter Wahnsinn, beschloss Eberly. Das ist es, kontrollierter Wahnsinn.
Gleich nach der Ernennung zum stellvertretenden Leiter des Habitats hatte Eberly die Wahlkampfzentrale aus seinem Apartment in ein leer stehendes Lagerhaus in Cairo verlegt. Es war groß genug, um die wachsende Anzahl von Wahlkampfhelfern und die noch schneller wachsende Zahl an Geräten und Kommunikationsausrüstung unterzubringen.
Er besuchte die Zentrale aber nur selten und zog es vor, sich vom Fußvolk fern zu halten. Je weniger sie mich zu sehen bekommen, sagte er sich, desto mehr werden sie meine seltenen Besuche bei ihnen zu schätzen wissen.
Am Abend vor dem Wahltag fand einer jener seltenen Besuche statt. Und wie zu erwarten war, wurde Eberly von den vielen Dutzend Wahlkampfhelfern umschwärmt, kaum, dass er durch die große Doppeltür des Lagerhauses gekommen war. Sie schauten ihn strahlend an, vor allem die Frauen.
Er ließ sich zwischen den provisorischen Arbeitsbänken herumführen und schüttelte jedem einzelnen Wahlkampfhelfer die Hand. Dazu setzte er sein liebenswürdigstes Lächeln auf. Er versicherte ihnen, dass die bevorstehende Wahl ein überragender Triumph für sie wäre. Sie erwiderten sein Lächeln und pflichteten ihm bei, dass ›wir nicht verlieren können‹ und zeigten sich zuversichtlich, ›dass Sie morgen um diese Zeit der erste Mann im Habitat sind‹.
Schließlich löste Eberly sich aus der Menge und wurde von Morgenthau ins kleine Privatbüro geleitet, das in einer entlegenen Ecke des Lagerhauses abgeteilt worden war. Er hatte verlangt, das Büro mit massiven Wänden zu umgeben, die bis zur Decke reichten und nicht nur mit schulterhohen Trennwänden. Außerdem sollten die Wände schalldicht sein.
Vyborg saß im Büro am Schreibtisch, als Morgenthau die Tür hinter Eberly schloss; Kananga saß auf dem Stuhl vor einer Bank mit Rechnerkonsolen. Beide Männer erhoben sich.
»Es läuft gut«, sagte Vyborg, als Eberly zum Schreibtisch ging.
»Na toll«, sagte er schroff. »Was ist mit Holly? Habt ihr sie schon gefunden?«
»Noch nicht«, erwiderte Kananga.
»Die Suche läuft nun schon seit zwei Wochen!«
»Das Habitat ist sehr groß, und mir steht nur eine begrenzte Anzahl von Leuten zur Verfügung.«
»Ich will, dass sie gefasst wird.«
»Das wird sie auch. Ich lasse alle Orte überwachen, an denen sie sich Nahrung beschaffen könnte. Wir werden sie früher oder später finden.«
»Sie muss getötet werden«, sagte Vyborg.
Eberly runzelte bei diesen Worten die Stirn und sagte sich: Sie geben sich zwar alle als Gläubige aus, aber sie reden über Mord, als sei das ein Kavaliersdelikt. Und mich wollen sie zum Komplizen bei ihren Verbrechen machen. Dann haben sie mich erst richtig in der Hand.
»Was, wenn sie sich an einem öffentlichen Ort stellt?«, fragte Morgenthau. »Sie ist vielleicht schlau genug, in der Mittagszeit in der Cafeteria aufzutauchen und sich freiwillig zu stellen.«
Eberly schauderte bei dieser Vorstellung. »Wenn sie redet, ist vielleicht alles verloren, wofür wir gearbeitet haben.«
»Aber sie ist doch neutralisiert«, wandte Vyborg ein.
»Ich habe dafür gesorgt, dass jeder sie für eine gefährliche Irre hält.«
Eberly schüttelte den Kopf und sagte: »Egal, was die Leute glauben — wenn sie beschließt, in der Öffentlichkeit auszupacken, könnte sich das negativ auf das Wahlergebnis auswirken. Vielleicht würde Urbain dann die Wahl gewinnen oder sogar Timoschenko.«
»Dann ist heute Abend also die kritische Zeit«, sagte Morgenthau. »Morgen um diese Zeit ist die Wahl bereits gelaufen.«
»Ich will, dass sie noch heute gefunden wird.«
»Es wäre gut«, sagte Vyborg fast im Flüsterton, »wenn sie tot aufgefunden würde.«
Kananga nickte. »Ich werde den ganzen Sicherheitsdienst auf sie ansetzen.«
»Hat sie irgendwelche Verbündete?«, fragte Eberly. »Irgendwelche Freunde, die sie um Hilfe bitten könnte?«
»Sie hat Dr. Cardenas angerufen«, sagte Vyborg.
»Das war aber schon vor zwei Wochen«, sagte Morgenthau.
»Und auch nur einmal«, ergänzte Kananga. »Der Anruf war allerdings zu kurz, als dass wir sie zu orten vermocht hätten.«
»Cardenas?« Eberly wusste plötzlich, wie sie Holly kriegen würden. »Sie hat die Nanotech-Expertin angerufen?«
»Ja.«
Morgenthau sah das Funkeln in seinen Augen. »Glauben Sie…?«
»Eine Nanobot-Bedrohung«, sagte Eberly. »Lancieren Sie die Nachricht, dass Holly vielleicht gefährliche Nano-Maschinen besitzt«, befahl er Vyborg. »Stellen Sie es so dar, als ob sie eine Bedrohung für das gesamte Habitat sei. Eine Nano-Seuche! Dann wird jedermann im Habitat nach ihr Ausschau halten. Kananga, es werden sage und schreibe zehntausend Leute nach ihr suchen!«
Der Ruander lachte erfreut. Vyborg nickte und schlurfte zum Kommunikationsgerät auf dem Schreibtisch. Während er ein Nachrichtenbulletin diktierte, wandte Eberly sich an Morgenthau.
»So viel zu unserer Flüchtigen. Wie lauten die aktuellen Wahlkampfprognosen?«
Er erwartete, dass sie ihm eine rosige Prognose für die Wahl stellte. Stattdessen verflog ihr Lächeln, und ihr pausbäckiges Gesicht wurde von Zweifel verdüstert.
»Mit diesem Ingenieur, Timoschenko, haben wir vielleicht ein Frankenstein-Monster erschaffen«, sagte Morgenthau und drehte sich zur Computerbank um.
Sie rief die aktuellen Vorhersagen auf, und eine bunte Grafik erschien an der kahlen Bürowand.
»Die blaue Kurve markiert Ihre aktuellen Umfragewerte«, sagte Morgenthau, »die rote Urbains und die gelbe die von Timoschenko.«
»Wir liegen doch klar in Führung«, sagte Eberly.
»Ja, aber es gibt einen Besorgnis erregenden Trend.« Die Grafik veränderte sich, wobei die Kurven abflachten beziehungsweise anstiegen. »Falls Timoschenkos Leute für Urbain stimmen, könnte er Sie schlagen.«
»Wieso sollten sie das tun?«
Morgenthau zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wieso, aber es geschieht. Urbain hat schon fast zwanzig Prozent der Wähler gewonnen, die noch vor ein paar Tagen fest in Timoschenkos Lager standen.«
»Nach Ihren Analysen«, sagte Eberly.
»Die auf umfangreichen Meinungsumfragen basieren, die unsere Wahlkampfhelfer durchgeführt haben.« Sie deutete auf die Tür. »Vielleicht sehe ich auch nur zu schwarz, aber es wäre durchaus möglich, dass Urbain Timoschenko so viele Stimmen abnimmt, dass er morgen gewinnt.«
Eberly starrte auf die Grafik, als ob er in der Lage wäre, die Zahlen durch schiere Willenskraft zu ändern. Er ließ sich äußerlich nichts anmerken und versuchte den Zorn zu verbergen, der ihn aufwühlte. Ich könnte verlieren! Und wo wäre ich dann? Man würde mich wieder ins Gefängnis werfen, sagte er sich erschrocken.
Er hörte kaum Morgenthaus Stimme. »Blasen Sie die Wahl ab. Sie sind nun der stellvertretende Leiter des Habitats. Wilmot ist ausgeschaltet. Brechen Sie die Wahl ab und ermächtigen Sie sich selbst zur Regierungsbildung.«
»Soll ich vielleicht drei Viertel der Population gegen mich aufbringen?«, knurrte Eberly sie an.
»In diesem Fall«, sagte Kananga, »hätten Sie doch den perfekten Anlass, um das Kriegsrecht zu verhängen.«
»Dann hätten wir alles unter Kontrolle«, pflichtete Morgenthau ihm bei. »Ich habe mir die Pläne für Neuronalsonden von der Erde schicken lassen. Nach der Verhängung des Kriegsrechts könnten wir die Störenfriede verhaften und ihnen die Kontrollsonden implantieren. Das war doch von Anfang an unser Ziel.«
Nur dass die Leute mich dann hassen würden, sagte Eberly sich. Sie würden sich gegen mich verschwören. Ihr ganzes Sinnen und Trachten wäre darauf gerichtet, mich zu stürzen.
»Nein«, sagte er. »Ich will diese Leute nicht mit Gewalt regieren oder sie in willenlose Zombies verwandeln.«
»Sie brauchten auch gar keine neuronalen Implantate«, sagte Kananga und richte sich zu seiner vollen Größe auf. »Ich würde schon dafür sorgen, dass sie Ihnen gehorchen.«
Und mich von dir abhängig machen, antwortete Eberly stumm. Ich will, dass diese Leute mich respektieren, dass sie mir aus Bewunderung und Respekt folgen. Sie sollen mich so lieben, wie diese Wahlkampfhelfer mich lieben.
»Nein«, wiederholte er. »Ich muss diese Wahl legal gewinnen. Ich will, dass die Leute mich frei wählen. Sonst würde es nichts als Unruhe und Widerstand gegen meine Herrschaft geben.«
Morgenthau wirkte ernsthaft besorgt. »Wenn Sie die Wahl aber verlieren? Was dann?«
»Ich werde sie nicht verlieren.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«
»Die Veranstaltung heute Abend. Ich werde sie auf meine Seite ziehen. Ich werde Timoschenkos Unterstützer von Urbain auf meine Seite ziehen.«
»Und wie?«
»Das werden Sie schon sehen.«
Obwohl die Furcht ihr ständiger Begleiter war, genoss Holly das Exil fast. Es ist wie ein Campingurlaub, sagte sie sich. Nicht dass sie sich von ihrem ersten Leben auf der Erde an Camping zu erinnern vermochte. Und doch fühlte sie sich seltsam frei, losgelöst von allen Menschen und allen Pflichten. Sie konnte tun, wozu sie gerade Lust hatte. Sie wusste, dass es viele Freiflächen an der Oberseite des Habitats gab; zwei ganze Dörfer waren für eine wachsende Bevölkerung reserviert worden. Und wenn sie es überdrüssig wurde, durch die Tunnels zu streifen, konnte sie immer zu den Gärten und Farmen hinaufsteigen und auf dem weichen, warmen Boden ungestört schlafen.
Soweit sie es zu sagen vermochte, wurde sie von niemandem beobachtet und auch von niemandem verfolgt. Sie hatte aus dem Vorratsraum der Cafeteria diesen einen Anruf an Kris getätigt, und erwartungsgemäß hatte innerhalb weniger Minuten ein Trupp von Kanangas Sicherheitsleuten die Örtlichkeit gestürmt. Holly hatte sie unter der fast geschlossenen Falltür im hinteren Bereich des Vorratsraums beobachtet. Flachländer, sagte sie sich. Die Vorstellung liegt ihnen völlig fern, dass jemand unter der Erde leben könnte. Und es gibt hier unten eine Million Tunnelkilometer, sagte sie sich. Sie würden mich auch in ein paar Jahren nicht finden.
Doch das Bewusstsein, dass Kananga Don Diego ermordet hatte, steckte in ihrem Bewusstsein wie kalter Stahl. Und Malcolm ist auch irgendwie darin verwickelt. Sie wusste zwar nicht, wie und weshalb, aber sie wusste, dass sie weder Malcolm noch sonst jemandem trauen durfte. Nun ja, Kris kannst du schon noch trauen, sagte sie sich. Aber ich würde Kris damit nur in Schwierigkeiten bringen. Sie haben Don Diego ermordet, und Kananga hat versucht, mich zu töten. Ob sie auch versuchen würden, Kris zu ermorden, wenn sie glauben, dass sie mir hilft? Ganz bestimmt, sagte sie sich.
Während die Tage vergingen, wurde Holly sich jedoch bewusst, dass sie auf diese Art nichts erreichte. Okay, es war ganz lustig, sich in den Tunnels zu verstecken und von den Farmen zu leben und so. Aber wie lang willst du noch so weitermachen? Du darfst sie damit nicht davonkommen lassen, sagte sie sich. Und die Wahl steht kurz bevor. Wenn Malcolm erst einmal zum Leiter des Habitats gewählt wurde, werden die Dinge sich eher noch zum Schlechteren als zum Besseren wenden.
Du musst sie irgendwie festnageln, sagte sie sich. Kananga, diese Vettel Morgenthau und die kleine Schlange Vyborg. Ja, und auch Malcolm. Aber wie? Du schaffst das nicht allein. Du brauchst jemanden… aber wen?
Und dann kam ihr die Erleuchtung. Natürlich! Professor Wilmot. Er ist der Leiter des Habitats. Jedenfalls, bis die Wahl vorbei ist. Wenn ich ihm sage, was hier läuft, wird er schon wissen, was zu tun ist.
Meine Güte, sagte sie sich. Die Wahl ist schon morgen! Ich muss den Professor heute noch aufsuchen.
Gaeta wurde auf der einen Seite von Kris Cardenas und auf der anderen von Fritz von Helmholtz flankiert. Berkowitz saß links neben Fritz. Nadia Wunderly stand vor ihnen und hantierte mit einem Laserpointer. Wir hätten Schutzbrillen anlegen sollen, sagte Gaeta sich. Sie wird noch jemandem mit diesem Ding die Augen ausbrennen, wenn sie nicht aufpasst.
Wunderly hielt es vor Aufregung kaum am Boden.
»Dies ist die Echtzeit-Position der Eiskugel«, sagte sie und zeigte mit dem Laser auf den Computerbildschirm. »Genau auf dem richtigen Kurs fürs Eingefangenwerden.«
Gaeta sah Saturn träge in der dunklen Unendlichkeit des Raums treiben, bekränzt von den glänzenden Ringen. Ein grünes Oval markierte die aktuelle Position des Habitats, das eine Umlaufbahn außerhalb der Ringe ansteuerte. Das rote Pünktchen des Laserpointers war auf einen Lichtfleck fokussiert, der noch weiter vom Planeten entfernt war als das Habitat.
»Folgendes wird sich innerhalb der nächsten vier Tage ereignen«, sagte Wunderly.
Sie sahen, dass das Habitat wie geplant langsam in eine Umlaufbahn ging. Die Eiskugel flog am Planeten vorbei und verschwand fast aus dem Bild, wurde dann aber durch die Gravitation des Saturn zurückgeholt. Die Eiskugel flog erneut dicht an den Ringen vorbei und verschwand hinter dem Planeten. Dann wurde sie erneut angezogen und flog in einer noch engeren Kurve an ihm vorbei.
»Nun geht's los«, sagte Wunderly atemlos.
Die Eiskugel drang von oben in den breiten, hellen B-Ring ein, kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein und umkreiste erneut den mächtigen Körper des Planeten. Als sie wieder auftauchte, war sie schon deutlich langsamer. Gaeta sah, wie sie erneut in den B-Ring eintauchte — so sanft wie eine Ente, die auf einem Teich landet.
»Und nun kommt's«, sagte Wunderly und schaltete auf Standbild. »Saturn bekommt mitten im B-Ring einen neuen Mond. Das ist ein bisher einmaliger Anblick.«
»Wow«, stieß Berkowitz hervor. »Jedes Netzwerk wird das Einfangereignis übertragen wollen.« Er beugte sich an Fritz vorbei und sagte zu Gaeta: »Was für eine Kulisse für Ihren Stunt!«
Gaeta grinste breit.
»Wie wird sich das auf die Ringe auswirken?«, fragte Cardenas.
Wunderly zuckte die Achseln. »Der Himmelskörper ist zu klein, um größere Auswirkungen zu haben. Er hat nur einen Durchmesser von acht Kilometern. Ein Winzling.«
»Aber er wird die Partikel im Ring doch ganz schön durcheinander wirbeln, oder?«, fragte Fritz.
Sie nickte. »Ja schon, aber es wird die Ring-Dynamik nicht wesentlich beeinflussen. Es werden keine Änderungen in der Cassini-Teilung oder etwas Derartiges auftreten. Ich habe die Simulationen durchgeführt; stärkere Effekte werden nur räumlich begrenzt auftreten.«
»Dann wollen wir also dort sein, wenn es geschieht«, sagte Gaeta.
»Nein!«, sagten Wunderly und Cardenas im Chor.
»Das wäre zu gefährlich«, ergänzte Cardenas.
»Der Ansicht bin ich auch«, sagte Wunderly. »Du solltest ein paar Tage warten, bis sich alles wieder beruhigt hat.«
»Es kann nichts schaden, ein wenig zu warten«, stimmte Berkowitz zu. »Aber nicht länger als zwei Tage. Wir wollen die Sache durchziehen, solange Saturn und die Ringe noch im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen.«
Gaeta schaute auf Fritz, der intensiv die vor ihnen hängende dreidimensionale Abbildung studierte.
»Was meinst du, Fritz?«
»Es wäre gefährlich, aber noch im Rahmen unserer Möglichkeiten. Der Anzug müsste es jedenfalls aushalten. Und es würde uns spektakuläre Aufnahmen bescheren.«
Wunderly sagte: »Ich glaube nicht…«
»Wäre es denn nicht eine Hilfe für dich«, unterbrach Gaeta sie, »Echtzeit-Aufnahmen vom Einfangen innerhalb des Rings zu bekommen?«
»Ich schaffe das auch mit ein paar ferngesteuerten Kameras«, sagte sie. »Ihr braucht nicht für die Wissenschaft das Leben aufs Spiel zu setzen.«
»Trotzdem…«
»Nein, Manny«, sagte Cardenas mit Nachdruck. »Du tust das, was Nadia sagt. Es hat doch keinen Sinn, Selbstmord zu begehen. Wenn du noch ein paar Tage wartest, wird der Stunt deshalb nicht weniger spektakulär.«
»Ich glaube, sie haben Recht«, stimmte Fritz ihnen mit einem düsteren Blick zu.
»Du willst wirklich noch warten?«, fragte Gaeta seinen Cheftechniker.
»Es hat keinen Sinn, den Anzug zu zerstören.«
Gaeta grinste ihn an und zuckte die Achseln. Er schaute Cardenas ins Gesicht und sagte: »Gut, wir werden einen Tag warten.«
»Werden die Ringe sich in dieser Zeit wieder beruhigt haben?«, fragte Cardenas.
»Mit zwei Tagen wären wir auf der sicheren Seite«, sagte Wunderly.
»Ein Tag wäre günstiger«, sagte Berkowitz. »Unter dem Aspekt der Publikumswirksamkeit.«
»Einen Tag«, sagte Gaeta. Ich darf Kris nicht die Koordination dieses Stunts überlassen, sagte er sich. Ich darf nicht zulassen, dass ihre Bedenken meine Arbeit beeinträchtigen.
»Also einen Tag«, stimmte Cardenas zögerlich zu und stand auf. »Ich werde nun zur großen Wahlkampfveranstaltung gehen. Will sonst noch jemand das Feuerwerk sehen?«
»Ich habe noch zu arbeiten«, sagte Wunderly.
Gaeta blieb noch sitzen. »Nadia, wenn du den Pointer nicht mehr brauchst, würdest du ihn bitte ausschalten?«, sagte er sanft.
Erst nachdem sie das getan hatte, stand Gaeta auf und ging mit Cardenas zur Tür.
Gaeta spazierte mit Cardenas die Straße entlang.
»Bist du dir sicher, dass du kein zu großes Risiko damit eingehst, den Stunt an dem Tag durchzuführen, nachdem der neue Mond eingefangen wurde?«, fragte sie.
Er sah die Besorgnis in ihrem Gesicht. »Kris, ich gehe grundsätzlich keine unkalkulierbaren Risiken ein.«
»Bei einer solchen Gelegenheit hast du dir auch schon die Nase gebrochen.«
»Ich bin mit dem Zinken gegen das Helmvisier gestoßen, als der Schlitten gegen einen Felsbrocken prallte«, sagte er mit einem Grinsen. »Das hätte mir auch im Bad passieren können.«
»Dein Bad ist auf dem Mars?«
Sein Grinsen verflog. »Du weißt schon, wie ich das meine.«
»Und du weißt, wie ich es meine«, erwiderte sie ernst.
»Ich werde das schon unbeschadet überstehen, Kris. Fritz würde niemals zulassen, dass ich den Anzug aufs Spiel setze.«
Sie sagte nichts mehr. Mein Gott, sagte Gaeta sich, ich kann mir doch nicht über sie und ihre Ängste den Kopf zerbrechen, während ich dort draußen bin. Ich muss mich darauf konzentrieren, den Job zu erledigen und kann mich nicht darum kümmern, was sie denkt. Der sicherste Weg, sich umzubringen, ist nämlich der, sich von seiner Aufgabe ablenken zu lassen.
Sie gingen schweigend die sanft ansteigende Straße zum Apartmentgebäude entlang, in dem sich ihre Quartiere befanden. Durch die Lücken zwischen den Gebäuden zur Linken sah Gaeta, wie sich bereits eine Menge am Seeufer versammelte, wo die große Wahlkampfveranstaltung stattfinden sollte. Eberly erwartet mich dort, erinnerte er sich.
»Vielleicht sollten wir noch auf einen Imbiss in die Cafeteria gehen«, sagte er zu Cardenas, »bevor wir auf die Veranstaltung gehen.«
»Ich habe noch etwas zu essen im Kühlschrank. Du kannst dich daran gütlich tun, während ich mich umziehe.«
Gaeta nickte und lächelte. Frauen müssen sich zu jeder Gelegenheit umziehen. Dann wurde er sich bewusst, dass er mit einem Pullover und einer engen Jeans bekleidet war. Ich werde mit Eberly auf der Plattform stehen, sagte er sich. Aber zum Teufel, das ist gut genug. Schließlich bin ich ein Stuntman und kein Videostar.
Raoul Tavalera saß auf der Treppe des Apartmentgebäudes. Er ließ den Kopf hängen und schaute noch morbider drein als sonst. Er stand langsam auf, als er Cardenas und Gaeta auf dem Pfad auf sich zukommen sah. Gaeta glaubte zu sehen, dass der Mann vor Schmerz zusammenzuckte.
»Raoul«, sagte Cardenas erstaunt. »Was machen Sie denn hier?«
»Man hat das Labor geschlossen«, sagte er.
»Was?«
»Ungefähr vor einer Stunde. Vier Riesenbabies von der Sicherheit sind mit ihren verdammten Schlagstöcken reingeplatzt und haben mir gesagt, dass ich den Laden dichtmachen solle. Dann haben sie alles abgeschlossen. Zwei sind noch da und bewachen die Tür.«
Cardenas verspürte eine Aufwallung von Zorn. »Das Labor ist geschlossen! Wieso? Auf wessen Anordnung?«
Tavalera rieb sich die Seite und antwortete: »Das hatte ich auch gefragt, aber sie haben mir nicht geantwortet. Sie haben mir nur einen Schlag in die Rippen versetzt und mich rausgeschmissen.«
Cardenas ging durch die Eingangstür, riss den Palmtop aus der Tasche und stieg die Treppe hinauf. »Professor Wilmot«, blaffte sie das Telefon an.
Gaeta und Tavalera folgten ihr die Treppe hinauf ins Wohnzimmer ihres Apartments. Tavalera schaute düster. Gaeta sagte sich, dass er sich eigentlich auch in Kris' Schlafzimmer umziehen könne; seine Garderobe war fast gleichmäßig auf ihren und seinen Kleiderschrank verteilt.
Cardenas projizierte Wilmots von grauen Haaren umrahmtes Gesicht auf die andere Wand des Wohnzimmers.
»Professor«, sagte sie ohne eine Begrüßung, »jemand von der Sicherheit hat mein Labor geschlossen.«
Wilmot wirkte erschrocken. »Wirklich?«
»Ich will den Grund dafür wissen — und weshalb das geschehen ist, ohne mich vorher zu informieren.«
Wilmot strich sich mit dem Finger über den Schnurrbart. Er schaute schmerzlich und verlegen. »Ähem… ich schlage vor, dass Sie sich in dieser Angelegenheit an den stellvertretenden Direktor wenden.«
»An den stellvertretenden Direktor?«
»Dr. Eberly.«
»Seit wann ist der denn autorisiert, mein Labor zu schließen?«
»Da werden Sie leider ihn fragen müssen. Außerdem weiß ich nichts davon. Nicht das Geringste.«
»Aber Sie können ihm doch sagen, dass er mein Labor wieder öffnen lassen soll!«, schrie Cardenas. »Sie können ihm sagen, dass er seine Wachhunde zurückpfeifen soll.«
Wilmot lief langsam rot an und sagte: »Ich glaube wirklich, dass Sie direkt mit ihm sprechen sollten.«
»Aber…«
»Es ist seine Party. Ich kann nichts für Sie tun.«
Wilmots Abbildung verschwand plötzlich. Cardenas starrte mit offenem Mund in die Luft. »Er hat einfach aufgelegt!«
»Ich schätze, du wirst Eberly anrufen müssen«, sagte Gaeta.
Wutentbrannt wies Cardenas das Telefon an, eine Verbindung zu Eberly herzustellen. Stattdessen erschien Morgenthaus Konterfei.
»Dr. Eberly ist damit beschäftigt, seine Ansprache für die heute Abend stattfindende Versammlung vorzubereiten«, sagte sie aalglatt. »Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«
»Sie können die Sicherheitsleute zurückrufen, die an meinem Labor postiert wurden, und mich wieder an die Arbeit gehen lassen«, blaffte Cardenas. »Und zwar sofort.«
»Das wird sich leider nicht machen lassen«, sagte Morgenthau ungerührt. »Wir werden mit einer gefährlichen Situation konfrontiert. Es gibt eine Flüchtige, und wir haben Grund zu der Annahme, dass sie vielleicht in Ihr Labor einbricht und Nanobots freisetzt, die alle Bewohner des Habitats gefährden könnten.«
»Eine Flüchtige? Sie meinen wohl Holly?«
»Sie ist psychotisch. Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie einen Menschen umgebracht hat. Und wir wissen, dass sie Oberst Kananga angegriffen hat.«
»Holly? Sie soll jemanden angegriffen haben?«
»Holly ist doch noch nie gewalttätig geworden«, sagte Gaeta. »Was, zum Teufel, geht hier eigentlich vor?«
Morgenthaus Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. »Anscheinend hat Miss Lane aus irgendeinem Grund ihr Medikament abgesetzt. Sie ist in einem labilen Zustand. Ich kann Ihnen ihr Dossier schicken, wenn Sie einen Beweis für ihre Verfassung brauchen.«
»Tun Sie das«, sagte Cardenas schroff.
»Das werde ich.«
»Aber ich weiß immer noch nicht, was das nun mit meinem Labor zu tun hat«, sagte Cardenas.
Morgenthau seufzte wie eine Lehrerin, die sich mit einem zurückgebliebenen Kind abmüht. »Wir wissen, dass sie ein gutes Verhältnis zu Ihnen hatte, Dr. Cardenas. Wir dürfen aber nicht das Risiko eingehen, dass sie in Ihr Labor gelangt und gefährliche Nanobots freisetzt. Das würde…«
»Es gibt überhaupt keine gefährlichen Nanobots in meinem Labor!« Cardenas explodierte förmlich. »Und selbst wenn es welche gäbe, müsste man sie nur mit ultraviolettem Licht bestrahlen, und schon wären sie deaktiviert.«
»Ich weiß wohl, dass das für Sie so einfach ist«, sagte Morgenthau geduldig. »Doch für den Rest von uns stellen Nano-Maschinen eine gefährliche Bedrohung dar, die alles Leben in diesem Habitat auslöschen könnten. Folglich müssen wir äußerst vorsichtig im Umgang mit ihnen sein.«
Cardenas kochte vor Wut. »Aber begreifen Sie denn nicht, dass…«, hob sie an.
»Es tut mir Leid«, sagte Morgenthau ungerührt. »Das Thema ist erledigt. Ihr Labor bleibt solange geschlossen, bis Holly Lane in Gewahrsam ist.«
Gaeta sah, dass Cardenas außer sich war vor Zorn. Sogar Tavalera, der normalerweise einen passiven und düsteren Eindruck machte, schaute finster auf die Stelle, wo Morgenthaus Abbildung sich befunden hatte.
»Holly ist nicht verrückt«, murmelte Tavalera.
»Ich glaube das auch nicht«, sagte Cardenas.
»Morgenthau glaubt es aber«, sagte Gaeta dezidiert. »Und Eberly und wohl auch der Rest der Führungsriege.«
Cardenas schüttelte zornig den Kopf. »Und Wilmot rührt keinen Finger in dieser Sache.«
»Die Sache ist ernst, Kris«, sagte Gaeta. »Holly soll angeblich jemanden umgebracht haben.«
»Wen denn?«, fragte Tavalera.
»Die einzige Person, die kürzlich gestorben ist, war Diego Romero«, sagte Cardenas auf dem Weg in die Küche. »Er ist ertrunken.«
»Und Holly soll das getan haben?«, sagte Tavalera.
Cardenas antwortete nicht. Sie ging um die Arbeitsplatte der Küche und holte Päckchen aus dem Gefrierschrank.
Gaeta sah, dass die Nachrichtenlampe des Telefons auf ihrem Schreibtisch blinkte. »Ein Anruf für dich, Kris.«
»Würdest du ihn bitte für mich entgegennehmen?«
Es war Hollys Dossier. Es wurde an die Wand des Wohnzimmers projiziert, und die drei studierten es.
»Sie hat eine bipolare Depression und ist manisch depressiv«, sagte Gaeta.
»Aber das bedeutet noch lang nicht, dass sie gewalttätig ist«, sagte Cardenas.
Tavalera schaute säuerlich. »Das glaube ich nicht. Das sieht ihr gar nicht ähnlich.«
Cardenas schaute ihn für einen Moment an und sagte dann: »Ich glaube es auch nicht.«
»Wäre es möglich, dass jemand ihr Dossier gefälscht hat«, fragte Gaeta. »Um sie zu verladen.«
»Es gäbe eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte Cardenas. Sie wies das Telefon an, Hollys Dossier in den Akten des Hauptquartiers der Neuen Moralität in Atlanta ausfindig zu machen.
»Das wird mindestens eine Stunde dauern«, sagte Gaeta.
»Dann sollten wir etwas essen, während wir warten«, schlug Cardenas vor.
»Wollen wir zur Versammlung gehen?«, fragte Gaeta.
»Erst wenn wir Hollys Dossier von der Erde erhalten haben«, erwiderte Cardenas.
Während Holly auf die Abendnachrichten wartete, nahm sie ein Abendessen zu sich. Es bestand aus frischem Obst aus dem Garten und einer Packung Gebäck aus dem unterirdischen Lagerhaus, in dem die Delikatessen lagerten, die von der Erde geliefert wurden.
Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden des Versorgungs- Tunnels, der unter dem Garten verlief. Sie hatte vor, später zum Habitat-Ende zu gehen und im Freien unter den Bäumen zu schlafen — im Schutz der blühenden Sträucher, die dort üppig wuchsen. Don Diego hätte diesen Bereich mit seiner unorganisierten Rauheit geliebt, sagte sie sich: ein Flecken Wildnis in dieser durchgestylten Ökologie.
Der Telefonmonitor an der gegenüberliegenden Wand zeigte ein Unterrichtsvideo, das von der Erde übertragen wurde: Es handelte von Dinosauriern und den von Kometen importierten Mikroben, die sie ausgerottet hatten. Holly sagte sich, dass sie kein Risiko einging, wenn sie sich das Programm anschaute. Nur wenn sie einen Anruf tätigte, wäre man der Lage, sie zu lokalisieren.
Sie futterte gerade die Plätzchen, als das Programm zu Ende vor. Ein Dreiklang kündigte die Abendnachrichten an.
Holly machte große Augen, als der Nachrichtensprecher meldete, dass sie nicht nur eine Flüchtige sei, sondern auch eine gemeingefährliche Irre, die in Verbindung mit dem Ertrinken von Don Diego gesucht wurde und die vielleicht versuchen würde, eine Nano-Pest im Habitat auszulösen.
»Ihr Bastarde!«, rief Holly und sprang auf.
Dann brachten die Nachrichten ein aufgezeichnetes Interview mit Malcolm Eberly, der als stellvertretender Direktor des Habitats vorgestellt wurde. Mit überzeugend gespielter Besorgnis sagte Eberly:
»Ja, Miss Lane hat in der Personalabteilung gearbeitet, als ich sie noch geleitet hatte. Sie machte damals einen ganz normalen Eindruck, doch wenn sie ihre Medikamente absetzt, wird sie anscheinend… nun, gewalttätig.«
»Du hast verdammt Recht, dass ich gewalttätig bin«, kreischte Holly. »Warte nur, bis ich dir die Faust in deine verlogene Visage schlage!«
Mit einer himmelblauen Bluse und einer Hose bekleidet kam Cardenas ins Wohnzimmer zurück, wo Gaeta und Tavalera sich unterhielten.
»Ist ihr Dossier schon von Atlanta gekommen?«, fragte Cardenas.
Gaeta schüttelte den Kopf. »Deine Botschaft erreicht wahrscheinlich gerade erst die Erde. Wir sind weit von zu Hause entfernt, Kris.«
Tavalera erhob sich. »Die Versammlung beginnt in einer halben Stunde.«
»Setzen Sie sich, Raoul«, sagte Cardenas. »Ich will erst Hollys Dossier sehen, bevor wir gehen.«
»Dann verpassen wir…«
»Die Kandidaten werden ihr abschließendes Statement frühestens in einer Stunde machen«, sagte Gaeta. »Wir verpassen höchstens eine Menge Krach: die einmarschierenden Bands und den ganzen Kram.«
Tavalera setzte sich wieder aufs Sofa und sagte: »Ich mache mir Sorgen wegen Holly. Diese Halbaffen von der Sicherheit können ziemlich grob sein.«
»Wo sie wohl steckt?«, fragte Cardenas sich laut, ging zum Sofa und setzte sich neben Tavalera.
»Ich wette, ich weiß, wo sie ist«, sagte Gaeta auf dem Armstuhl, der vom Sofa aus gesehen auf der anderen Seite des Kaffeetischs stand.
»Und wo?«
»In den Tunnels. Sie hatte früher schon gern die Tunnels erkundet, die unter dem Habitat verlaufen.«
»Tunnels?«
»Sie müssen eine Länge von hundert Kilometern haben. Vielleicht noch mehr. Dort unten würden sie sie nie finden. Und sie kennt jeden Zentimeter; sie hat alles mental abgespeichert.«
»Und wie sollen wir sie dann finden?«, fragte Cardenas.
»Ich werde sie suchen«, sagte Tavalera und stand auf.
Gaeta packte ihn am Handgelenk. »Raoul, die Tunnels sind einfach zu lang, um sie alle zu durchsuchen. Du wirst sie nie finden. Und schon gar nicht, wenn sie nicht gefunden werden will.«
Tavalera befreite sich aus seinem Griff. »Es ist auf jeden Fall besser, als hier herumzusitzen und gar nichts zu tun«, sagte er.
»Wenn Sie sie finden«, sagte Cardenas, »dann bringen Sie sie hierher. Wir werden für ihre Sicherheit sorgen, bis die ganze Sache sich aufgeklärt hat.«
»Ja, gut.«
Nachdem Tavalera gegangen war, hatten Cardenas und Gaeta nichts weiter zu tun. Also schauten sie die Nachrichten, die zeigten, wie die Menge auf dem Versammlungsplatz am See immer größer wurde. Die Rednertribüne war noch leer, doch dafür paradierten ein paar kleine Bands durch die Menschenmenge, um die Leute mit ihrem Sound in Stimmung zu bringen. Sie stellte fest, dass viele leere Stühle im Gras verteilt waren.
»Wir werden keine Schwierigkeiten haben, einen Platz zu finden«, murmelte Cardenas.
Gaeta erhob sich aus dem Armstuhl und setzte sich neben Cardenas auf das Sofa. Sie schauten sich auf Tuchfühlung das Video an. Trotz ihrer Verliebtheit sagte Cardenas sich, dass Gaeta in einer, spätestens in zwei Wochen seine Sachen packen und sich anschicken würde, das Habitat zu verlassen. Sein Ionentriebwerks-Schiff war bestimmt schon auf dem Weg hierher, sagte sie sich. Soll ich mit ihm gehen? Würde er das überhaupt wollen?
Das Telefon klingelte. Cardenas rief die Botschaft auf den Monitor auf. Es war das Dossier von Susan Lane aus den Akten des Hauptquartiers der Neuen Moralität in Atlanta.
»Sie haben die falsche Lane erwischt«, sagte Gaeta.
Doch dann erschien das unverkennbare Konterfei von Holly.
»Sie muss ihren Namen geändert haben«, sagte Cardenas.
»Ist das etwa ein Zeichen für Instabilität?«
Sie lasen das Dossier durch und ließen jedes Wort und jede Statistik auf sich wirken.
»Geistige und emotionale Probleme werden aber nicht erwähnt«, sagte Gaeta.
»Auch keine Medikation.«
»Die Hundesöhne haben ihr Dossier gefälscht. Sie wollen sie verladen.«
Cardenas speicherte die gesamte Datei in ihrem Palmtop ab. Dann sprang sie auf.
»Wir werden zur Versammlung gehen und Eberly damit konfrontieren«, sagte sie.
»In Ordnung«, sagte Gaeta.
Als er jedoch die Eingangstür aufschob, standen vier stämmige Männer und Frauen in den pechschwarzen Gewändern des Sicherheitsdienstes im Gang. Sie hatten kurze schwarze Knüppel am Koppelgürtel hängen.
»Oberst Kananga möchte mit Ihnen sprechen«, sagte eine der Frauen, die die Anführerin zu sein schien. »Nach der Versammlung. Er bittet Sie hier zu bleiben, bis er zu Ihnen kommt.«
Wortlos schob Cardenas die Tür zu und ging zum Sofa zurück.
»Sie müssen über alles Bescheid wissen«, sagte Gaeta.
»Sie haben das Apartment verwanzt«, sagte Cardenas und ließ sich wieder aufs Sofa fallen. »Sie hören jedes Wort, das wir sagen. Und sie wissen jetzt auch über Hollys Dossier aus Atlanta Bescheid.«
»Dann wissen sie auch, dass Tavalera in den Tunnels nach ihr sucht«, sagte Gaeta mit einem Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht.
Inmitten der sie umschwärmenden Leute war ein Gespräch kaum möglich. Eberly und Morgenthau gingen nebeneinander den Pfad entlang, der zum Veranstaltungsort am See führte. Vyborg war dicht hinter ihnen, und Kananga und zwei seiner kräftigsten Männer gingen voran und bahnten ihnen einen Weg durch die dichte Menschenmenge, die den Pfad säumte. Die Leute riefen, lächelten und versuchten Eberly die Hand zu schütteln, ihn zu berühren und ein Lächeln von ihm zu erhaschen.
Er hätte ihnen gern die Hände geschüttelt, ihnen ein Lächeln geschenkt und sich in ihrer Verehrung gesonnt. Stattdessen ignorierte er sie, während er mit Morgenthau sprach.
»Sie ist in den Tunnels?«, rief er übers Stimmengewirr der Menge.
Morgenthau nickte und schnaufte, obwohl sie in der Menge kaum schneller als im Schneckentempo vorankamen.
»Cardenas' Assistent sucht in den Tunnels nach ihr«, schrie sie Eberly ins Ohr.
»Ich hoffe nur, dass er mehr Erfolg hat als Kanangas Affen.«
»Was?«
»Nichts«, sagte er lauter. »Schon gut.«
»Wir haben Cardenas und den Stuntman unter Hausarrest gestellt. Sie haben Hollys ursprüngliches Dossier.«
Das ließ bei Eberly die Alarmglocken schrillen. »Wie sind sie denn daran gekommen?«
»Sie haben es aus Atlanta. Die Neue Moralität hat anscheinend über jeden an Bord des Habitats ein Dossier angelegt.«
»Ich hätte diese Datei auch frisieren sollen«, sagte Eberly und rang frustriert die Hände.
»Dafür ist es nun zu spät.«
»Die Sache läuft allmählich aus dem Ruder. Wir können Gaeta und Cardenas nicht einsperren. Ich habe Gaetas Stunt schließlich als Wahlkampf-Höhepunkt gepusht.«
»Vyborg hielt es fürs Beste, sie bis zu der Wahl morgen Abend aus dem Verkehr zu ziehen.«
Eberly schaute über die Schulter. Vyborg. Dieser griesgrämige kleine Troll ist die Ursache des ganzen Ärgers, sagte er sich. Wenn ich erst einmal fest im Sattel sitze, werde ich mich seiner entledigen. Aber die kleine Schlange weiß zu viel über mich, sagte er sich dann. Die einzige Art, ihn loszuwerden, ist, ihn für immer zum Schweigen zu bringen.
Eine Blaskapelle kam mit Umptata-umptata auf sie zu, nahm die kleine Gruppe in die Mitte und eskortierte sie zur Rednertribüne. Es waren Amateurmusiker, die mit Spielfreude wettmachten, was ihnen an Talent fehlte. Sie tröteten so laut, dass Eberly keinen klaren Gedanken zu fassen vermochte.
Urbain und Timoschenko saßen bereits auf der Bühne, wie er beim Näherkommen sah. Die Menge jubelte laut und hatte sich schon fast in Ekstase gesteigert. Wilmot war nirgends zu sehen. Gut. Er bleibt in seiner Unterkunft, wie ich es befohlen habe. Ich will, dass diese Leute mich als ihren Anführer betrachten und niemanden sonst.
Er erklomm die Stufen und nahm auf dem Stuhl zwischen Timoschenko und Urbain Platz. Die vielen kleinen Bands vereinigten sich vor der Bühne zu einem großen Orchester und boten eine schwache Interpretation von Now Let Us Fraise Famous Men dar. Eberly fragte sich, wie die Frauen des Habitats diesen sexistischen Affront wohl aufnahmen. Die Band war aber so schlecht, dass es darauf auch nicht mehr ankam, sagte er sich.
Schließlich verstummte die Katzenmusik, und die Menge fiel in ein erwartungsvolles Schweigen. Eberly sah, dass dreitausend Bewohner des Habitats im Gras standen und ihn anschauten. Es war die größte Wahlkampfveranstaltung bisher, und doch war Eberly enttäuscht und fühlte sich zurückgesetzt. Siebzig Prozent der Bevölkerung ist die Wahl so egal, dass sie nicht zur Veranstaltung erschienen sind. Siebzig Prozent! Sie sitzen zu Hause, legen die Hände in den Schoß und beschweren sich dann aber, wenn die Regierung Dinge tut, die ihnen nicht behagen. Die Narren verdienen, was auch immer sie bekommen.
Die Leute setzten sich auf die Stühle, die für sie aufgestellt worden waren. Eberly sah, dass viele Stühle leer blieben. Ehe das Publikum wieder unruhig wurde, erhob er sich langsam und trat ans Podium.
»Die Sache ist mir irgendwie peinlich«, sagte er, während er das Mikrofon am Gewand befestigte. »Professor Wilmot kann heute Abend nämlich nicht bei uns sein und hat mich deshalb gebeten, an seiner Stelle als Moderator zu fungieren.«
»Das muss dir doch nicht peinlich sein!«, ertönte eine Frauenstimme irgendwo in der Menge.
Eberly schaute mit einem strahlenden Lächeln in ihre ungefähre Richtung und fuhr fort: »Wie Sie vielleicht schon wissen, wollen wir Sie heute Abend nicht mit langatmigen Ausführungen langweilen. Jeder Kandidat wird ein kurzes, fünfminütiges Statement abgeben, das seine Position in Bezug auf die wichtigsten Themen zusammenfasst. Nach diesen Statements werden Sie dann Gelegenheit haben, den Kandidaten Fragen zu stellen.«
Er hielt für eine Sekunde inne und fuhr dann fort: »Die Reihenfolge der Redner für diesen Abend wurde ausgelost, und ich darf anfangen. Allerdings glaube ich, dass es zu viel des Guten wäre, wenn ich der Moderator und der erste Redner wäre; also werde ich die Reihenfolge, in der die Kandidaten ihre Statements abgeben, ändern und als Letzter sprechen.«
Es herrschte Totenstille im Publikum. Eberly drehte sich leicht zu Urbain um und dann wieder zur Menge. »Unser erster Redner wird deshalb Dr. Edouard Urbain sein, unser Chef-Wissenschaftler. Dr. Urbain hat eine eindrucksvolle Karriere…« Holly schaute im Tunnel die Übertragung der Veranstaltung an. Professor Wilmot ist nicht da, sagte sie sich. Ich frage mich, wieso.
Dann wurde sie sich bewusst, dass dies die Gelegenheit war, zu Wilmot zu gelangen, ohne von Kananga oder sonst jemandem daran gehindert zu werden. Holly stand auf. Sie hatte die Augen noch immer auf dem Bildschirm und sah, dass fast alle auf der Veranstaltung waren. Ich wette, dass Wilmot in seinem Quartier ist. Ich könnte mich dort 'reinschleichen und ihm sagen, was hier vorgeht.
Sie schaltete den Wandbildschirm ab und ging zielstrebig durch den Tunnel in Richtung Athen, wo sich Wilmots Unterkunft befand.
Nach ein paar Minuten bog sie indes in einen Nebentunnel ab, durch die Instandhaltungs-Roboter zwischen den Haupt- Versorgungstunnels wechselten. Es hat keinen Sinn, schnurstracks aufs Dorf zuzumarschieren, sagte sie sich. Mach lieber einen Umweg und halte Ausschau nach Wachen, die vielleicht hier Streife gehen.
Deshalb verfehlte Raoul Tavalera sie, der von Athen kommend auf der Suche nach ihr durch den Versorgungstunnel ging.
Urbain und Timoschenko nutzten ihre fünf Minuten, um noch einmal die Positionen zu bekräftigen, die sie schon im bisherigen Verlauf des Wahlkampfs vertreten hatten. Urbain betonte, dass wissenschaftliche Forschung der eigentliche Zweck des Habitats sei, sein raison d'кtre, und dass mit ihm als Leiter des Habitats die Erforschung von Saturn und Titan ein großer Erfolg werden würde. Timoschenko hatte zum Teil Eberlys ursprüngliche Position aufgegriffen, dass die Wissenschaftler keine abgehobene Elite werden dürften, der alle anderen im Habitat zu dienen hätten. Eberly hatte den Eindruck, dass Timoschenko stärkeren und längeren Applaus erhielt als Urbain.
Als Timoschenko sich setzte, stand Eberly auf und ging langsam zum Podium. Ob Morgenthau Recht hat, fragte er sich. Ob Urbains Wähler zu Timoschenko wechsein? Ob die Ingenieure den Schulterschluss mit den Wissenschaftlern suchen?
Das macht keinen Unterschied, sagte Eberly sich, als er die Kanten des Podiums packte. Es wird Zeit, einen Keil zwischen sie zu treiben. Es wird Zeit, die überwältigende Mehrheit der Stimmen auf mich zu vereinigen.
»Es wird Zeit«, sagte er zum Publikum, »den letzten Redner vorzustellen. Ich bin in der ungewohnten Situation, mich selbst vorstellen zu müssen.«
Vereinzeltes Gelächter ertönte in der Menge.
»Also darf ich ohne Übertreibung sagen, dass hier jemand ist, der nicht mehr vorgestellt werden muss: Ich!«
Das Publikum lachte. Vyborg und ein paar seiner Leute applaudierten, und der Großteil der Menge schloss sich ihnen an. Eberly stand am Podium und sog ihre Verehrung förmlich ein — ob echt oder gespielt spielte für ihn keine Rolle, solange die Leute da unten so funktionierten, wie er es wollte.
»Dieses Habitat ist mehr als ein Spielplatz für Wissenschaftler«, sagte Eberly, nachdem sie sich wieder beruhigt hatten. »Es ist mehr als eine wissenschaftliche Expedition. Es ist unsere Heimat: eure und meine. Und doch wollen sie uns sagen, wie wir zu leben haben und dass wir ihnen zu dienen hätten.
Sie halten es für selbstverständlich, dass wir eine strenge Bevölkerungskontrolle betreiben, obwohl dieses Habitat mit Leichtigkeit das Zehnfache der gegenwärtigen Population beherbergen und ernähren könnte.
Aber wie können wir uns eine wachsende Bevölkerung überhaupt leisten? Unsere Ökologie und Ökonomie sind starr und geschlossen. In ihren Plänen für unsere Zukunft ist kein Raum für Bevölkerungswachstum, für Babies.
Ich habe einen anderen Plan. Ich weiß, wie wir leben und wachsen und glücklich sein können. Ich weiß, wie jeder Einzelne von euch reich werden kann!«
Eberly spürte das aufkeimende Interesse der Menge. Er hob den Arm und sagte:
»Um den Saturn kreist der größte Schatz im Sonnensystem: Billionen Tonnen von Wasser. Wasser! Was würden Selene und die anderen Städte auf dem Mond wohl für eine unerschöpfliche Wasserversorgung zahlen? Was würden die Mineure und Prospektoren im Asteroidengürtel zahlen? Mehr als Gold, mehr als Diamanten und Perlen ist Wasser die wertvollste Ressource im Sonnensystem! Und wir sitzen auf so viel Wasser, dass wir alle reicher sein werden als Krösus.«
»Nein!«, schrie Nadia Wunderly und sprang inmitten des Publikums auf. »Das können Sie nicht tun! Das dürfen Sie nicht tun!«
Eberly sah, wie eine kleine, pummelige Frau mit stachligem rotem Haar sich einen Weg durch die Menge bahnte.
»Sie dürfen die Ring-Partikel nicht absaugen!«, rief sie, während die Leute ihr eine Gasse freimachten. »Sie werden die Ringe ruinieren! Sie werden sie zerstören!«
Eberly gebot der Menge mit erhobener Hand zu schweigen und sagte trocken: »Wie es scheint, sind wir nun beim Frage- und Antwort-Teil dieser abendlichen Veranstaltung angelangt.«
Nachdem sie sich durch die Menge gekämpft und den Rand der Plattform erreicht hatte, blieb Wunderly stehen. Auf einmal wirkte sie verlegen und unsicher. Sie lief rot an und schaute sich um.
Eberly schaute lächelnd auf sie hinunter. »Wenn die anderen Kandidaten keine Einwände haben, würde ich diese junge Frau hier gern aufs Podium bitten, damit sie uns ihre Ansicht darlegen kann.«
Das Publikum applaudierte: lauwarm, aber es war immerhin Applaus. Eberly warf einen Blick auf Urbain und Timoschenko, die hinter ihm saßen. Urbain wirkte unsicher, beinahe verwirrt.
Timoschenko saß mit über der Brust verschränkten Armen da und hatte einen Ausdruck irgendwo zwischen Langeweile und Abscheu in seinem dunklen Gesicht.
»Kommen Sie herauf«, sagte Eberly. »Kommen Sie her und sagen Sie uns allen Ihre Meinung.«
Wunderly zögerte für einen Moment. Dann erklomm sie mit grimmigem Gesicht und entschlossen zusammengepressten Lippen die Stufen zur Plattform und ging ans Podium.
Während Eberly ein Mikrofon am Revers ihres Gewands befestigte, sagte sie ernst: »Sie können die Ringe nicht ausbeuten…«
Eberly brachte sie mit erhobenem Finger zum Schweigen. »Einen Moment noch. Würden Sie uns bitte erst Ihren Namen nennen. Und Ihre Tätigkeit.«
Sie schluckte, ließ den Blick übers Publikum schweifen und sagte: »Dr. Nadia Wunderly. Ich gehöre zum Fachbereich Planeten Wissenschaften.«
»Eine Wissenschaftlerin.« Dachte ich mir schon, sagte Eberly sich. Nun habe ich die Gelegenheit, den Wählern zu zeigen, wie egozentrisch die Wissenschaftler sind, wie rechthaberisch sie sind und dass sie sich keinen Deut um den Rest von uns scheren.
»Das stimmt, ich bin eine Planetenwissenschaftlerin. Und Sie können die Ringe nicht abbauen. Sie würden sie zerstören. Ich weiß wohl, dass sie groß wirken, aber wenn Sie alle Ring- Partikel zusammennehmen, würden sie einen Eiskörper mit einem Durchmesser von nicht einmal hundert Kilometern bilden.«
»Möchten Sie sich an dieser Diskussion beteiligen, Dr. Urbain?«, wandte Eberly sich an Urbain.
Der Quebecer erhob sich von seinem Stuhl und ging zum Podium. Timoschenko saß mit noch immer über der Brust verschränkten Armen reglos da und schaute finster.
»Die Ringe sind fragil«, sagte Wunderly ernst. »Wenn man ihnen tonnenweise Partikel entzieht, werden sie vielleicht zerbrechen.«
»Dr. Urbain, stimmt das?«, fragte Eberly.
Urbains Gesicht verfinsterte sich für einen Moment. Dann zupfte er sich am Bart und erwiderte: »Ja, natürlich, wenn man den Ringen ständig Partikel entzieht, wird man sie irgendwann destabilisieren. Das ist offensichtlich.«
»Wie viele Tonnen Eispartikel können wir den Ringen denn entziehen, ohne sie zu destabilisieren.«
Urbain schaute auf Wunderly und zuckte unschlüssig die Achseln. »Das weiß niemand.«
»Ich könnte es ausrechnen«, sagte Wunderly.
»Wie viele Tonnen Eis enthalten die Ringe überhaupt?«, fragte Eberly.
»Etwas mehr als fünfmal-zehn-hoch-siebzehn-Tonnen«, sagte Wunderly, bevor Urbain zu antworten vermochte.
»Fünfmal…« Eberly setzte ein verwirrtes Gesicht auf. »Für mich hört sich das nach ziemlich viel an.«
»Das ist eine Fünf mit siebzehn Nullen«, sagte Urbain.
»Fünfhundert Billiarden Tonnen«, sagte Wunderly.
Eberly gab sich erstaunt. »Und da machen Sie sich Sorgen, wenn wir jährlich ein paar hundert Tonnen davon abzweigen?«
Spöttisches Gelächter wurde in der Menge laut.
»Aber wir wissen nicht, welche Auswirkungen das auf die Ringdynamik hätte«, sagte Wunderly fast flehentlich.
»Sie sprechen von ein paar hundert Tonnen pro Jahr, aber dabei wird es nicht bleiben«, fügte Urbain dezidiert hinzu.
»Ja, aber es sind doch fünfhundert Billiarden Tonnen vorhanden«, sagte Eberly.
»Und früher war ganz Kanada einmal mit Wald bedeckt«, sagte Urbain mit bebenden Nasenflügeln. »Wo sind die Bäume nun? Einst wimmelte es in den Weltmeeren von Fischen. Und nun stirbt selbst das Plankton aus. Einst waren die Dschungel Afrikas die Heimat der großen Menschenaffen. Und heute leben die einzigen noch existierenden Schimpansen und Gorillas in Zoos.«
Eberly wandte sich ans Publikum und sagte mit sonorer und autoritärer Stimme: »Nun seht ihr, weshalb es den Wissenschaftlern nicht erlaubt sein darf, dieses Habitat zu leiten. Ihnen liegen Menschenaffen mehr am Herzen als die Menschen selbst. Sie wollen uns fünfhundert Billiarden Tonnen Wassereis vorenthalten, wo schon ein winziger Bruchteil dieses Wassers uns alle reich machen würde.«
»Aber wir wissen noch nicht genug über die Ringe«, platzte Wunderly heraus. »Ab einem gewissen Punkt würde die Dynamik der Ringe vielleicht so beeinträchtigt, dass sie auf den Planeten stürzen!«
»Und was würde dann mit den lebendigen Organismen unter den Wolken geschehen?«, fügte Urbain hinzu. »Das wäre eine unvorstellbare Umweltkatastrophe. Ein Planeten- Genozid!«
Eberly schüttelte den Kopf. »Indem man vielleicht hundert Tonnen von fünfhundert Billiarden wegnimmt.«
»Ja«, sagte Urbain schroff. »Ich werde das nicht erlauben. Zumal die internationale Astronauten-Behörde das gar nicht zulassen würde.«
»Und wer will uns daran hindern?«, erwiderte Eberly genauso schroff. »Wir sind eine unabhängige Körperschaff. Wir müssen uns weder dem Diktat der IAA noch einer anderen irdischen Autorität beugen.
Ich werde eine Regierung bilden, die von allen irdischen Zwängen unabhängig ist«, sagte er ans Publikum gewandt. »Wie Selene. Wie die Bergbau-Siedlungen im Asteroiden- Gürtel. Wir werden unsere eigenen Herren sein! Das verspreche ich euch!«
Das Publikum brüllte seine Zustimmung heraus. Urbain schüttelte konsterniert den Kopf. Und Wunderly brach in Tränen aus.
Anstatt seiner üblichen Abendunterhaltung verfolgte Wilmot diesmal die Abschlusskundgebung. Eberly ist ein Schwadroneur, nichts anderes, sagte er sich. Die Ringe ausbeuten und alle reich machen. Eine großartige Idee. In ökologischer Hinsicht wäre das wohl unklug, aber die kurzfristigen Profite werden die Angst vor langfristigen Problemen in den Hintergrund schieben.
Die Wissenschaftler sind damit natürlich nicht einverstanden. Aber was können sie schon tun? Eberly hat die Wahl im Sack. Timoschenkos Leute werden mit der Brieftasche abstimmen und Eberly wählen. Und ich wette, auch ein großer Teil der Wissenschaftler.
Er lehnte sich in seinem komfortablen Polstersessel zurück und sah, wie die Leute die Plattform stürmten und Eberly auf ihren Schultern davontrugen. Urbain, Timoschenko und diese bedauernswerte kleine, rothaarige Frau blieben wie verlassene Kinder zurück.
Holly wusste, dass der Versorgungstunnel, der direkt ins Apartmentgebäude führte, in dem Professor Wilmot lebte, keinen anderen Ausgang hatte. Seit sie untergetaucht war, hatte sie sich im Schutz der Nacht in Bürogebäude geschlichen und die sanitären Einrichtungen benutzt. Sie hatte sich sogar im Haupt-Lagerhaus neue Kleidung beschafft, ohne entdeckt zu werden. Nun würde sie jedoch das Risiko eingehen müssen, das Dorf zu betreten und im Blickfeld der Überwachungskameras an den Laternenpfählen durch die Straßen von Athen zu laufen.
Wie soll ich das schaffen, ohne gesehen zu werden, fragte sie sich, während sie durch den Tunnel ging. Ich brauche eine Tarnung.
Oder ich muss ein Ablehnungsmanöver inszenieren, sagte sie sich. Sie blieb stehen, setzte sich auf den Boden und dachte angestrengt nach.
Tavalera ging kilometerweit durch den Haupt- Versorgungstunnel, der von Athen ausgehend unter den Gärten und Farmen bis zum Ende des Habitats führte. Keine Spur von Holly.
Er kam an einem kompakten, kleinen Wartungsroboter vorbei, der mit einem zornig summenden Staubsauger einen kleinen Bereich des Metallbodens bearbeitete.
Tavalera blieb stehen und betrachtete den kompakten, kastenförmigen Roboter. Aus seiner Zeit in der INST wusste er, dass die Roboter durch diese Tunnels patrouillierten — sie waren darauf programmiert, eventuelle Freisetzungen zu beseitigen und Menschen um Hilfe zu rufen, falls sie auf irgend etwas stießen, das ihre begrenzten Möglichkeiten überstieg. Tavalera erkannte, dass es mit dieser Stelle eine gewisse Bewandtnis hatte, obwohl er weder Schmutz noch Olschmiere sah. Waren es vielleicht Krümel gewesen? War es möglich, dass Holly hier Rast gemacht und etwas gegessen hatte?
Er ließ in beiden Richtungen den Blick durch den Tunnel schweifen. Nachdem der Roboter sich vergewissert hatte, dass der Abschnitt wieder sauber war, rollte er in Richtung des Habitat-Endes davon. Er wich Tavalera geschickt aus und ließ die Sensoren spielen, um sich davon zu überzeugen, dass ihm wirklich nichts entgangen war.
»Holly!« rief Tavalera in der Hoffnung, dass sie nah genug war, um ihn zu hören.
Die unter Hausarrest stehenden Cardenas und Gaeta saßen nebeneinander auf dem Sofa und verfolgten in der Enge ihres Apartments die Veranstaltung.
»Die Ringe ausbeuten?«, fragte Cardenas atemlos. »Nadia wird bei diesem Ansinnen einen Anfall bekommen.«
Gaeta stieß ein Grunzen aus. »Ich nicht. Vielleicht hat er gar nicht mal so Unrecht. Zehn hoch siebzehn ist schließlich eine sehr große Zahl.«
»Trotzdem…«, murmelte Cardenas.
»Du kennst den Preis für eine Tonne Wasser?«
»Ich weiß, dass es wertvoller ist als Gold«, sagte Cardenas, »aber das liegt nur daran, dass der Goldpreis total verfallen ist, seit die Felsenratten die Asteroiden ausbeuten.«
»Die Ringe abbauen.« Gaeta kratzte sich am Kinn. »Könnte funktionieren.«
»Und was werden wir wegen Holly unternehmen«, fragte Cardenas mit einer plötzlichen Schärfe in der Stimme.
»Wir können nicht viel tun, nicht wahr?«, sagte Gaeta. »Wir sitzen hier fest.«
»Jedenfalls im Moment.«
»So?«
»Wir haben immer noch das Telefon«, sagte Cardenas.
»Und wen willst du anrufen?«
»Wer könnte uns helfen? Und Holly?«
»Quien sabe?«
»Was ist denn mit Professor Wilmot?«
»Er war nicht auf der Veranstaltung«, sagte Gaeta.
»Dann ist er wahrscheinlich zu Hause.«
Cardenas befahl dem Telefon, den Professor anzurufen. Es kam zwar kein Bild, doch Wilmots kultivierte Stimme sagte: »Ich kann im Moment leider nicht mit Ihnen sprechen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«
Bevor Gaeta sich zu äußern vermochte, sagte Cardenas: »Professor, hier spricht Kris Cardenas. Ich mache mir Sorgen wegen Holly Lane. Ich war so frei, mir ihr Dossier von der Erde kommen zu lassen, und es entspricht nicht dem Dossier, von dem Eberly behauptet, dass es ihres sei. Es gibt keinerlei Hinweise auf eine mentale Störung oder emotionale Instabilität. Hier stimmt ganz offensichtlich etwas nicht, und ich würde das gern so bald wie möglich mit Ihnen besprechen.«
»Unter der Voraussetzung, dass Eberly uns wieder freilässt«, sagte Gaeta, nachdem die Gesprächslampe des Telefons erloschen war.
»Er kann uns nicht ewig hier gefangen halten«, erwiderte Cardenas gepresst.
»Im Moment sitzen wir auf jeden Fall hinter Schloss und Riegel.«
»Was können wir tun?«, fragte sie sich laut.
Gaeta griff nach ihr. »Du kennst doch den berühmten Ausspruch.«
Sie ließ sich von ihm in den Arm nehmen. »Nein, wie lautet er denn?«
Er grinste. »Wenn man dir eine Zitrone gibt, presse sie aus.«
Sie dachte an die Wanzen, die Eberlys Leute im Apartment platziert haben mussten. »Sie lassen uns wahrscheinlich mit Kameras überwachen.«
Er grinste schelmisch. »Dann wollen wir ihnen doch etwas bieten.«
Cardenas schüttelte den Kopf. »O nein. Wir können aber unter der Decke bleiben. Ich glaube nicht, dass sie hier auch Wärmesensoren installiert haben.«
Holly gelangte ins Verwaltungsgebäude und huschte durch die leeren Korridore in ihr Büro. Weil es dort kein Fenster gab, ging sie in Morgenthaus Büro und schaute auf die Straße hinaus. Leer. Die Leute sind entweder auf der Veranstaltung oder verfolgen sie von zu Hause aus, sagte sie sich. Hoffte sie jedenfalls.
Aber da sind immer noch die Sicherheits-Affen, die die Überwachungskameras im Blick haben. Und noch schlimmer, sie wusste, dass Computer darauf programmiert waren, alle besonderen Vorkommnisse zu melden, die die Kameras erfassten. Ich wette, dass mein Steckbrief auf der Liste dieser besonderen Vorkommnisse steht. Menschen können abgelenkt oder sogar bestochen werden; die verdammten Computer aber sind unbestechlich.
Ich muss ein Ablenkungsmanöver starten. Die Computer werde ich damit nicht täuschen, aber die Sicherheitsleute beschäftigen.
Ein Ablenkungsmanöver.
Holly schloss die Augen und rief sich die Schaltungen des Sicherheitssystems des Habitats in Erinnerung, die sie abgespeichert hatte. Für ein paar Minuten saß sie an Morgenthaus Schreibtisch und hatte das Gesicht zu einer konzentrierten Grimasse verzerrt. Schließlich lächelte sie. Sie aktivierte Morgenthaus Computer, gab den Zugangs-Code für das Brandschutzsystem ein und wies den Computer an, ein Ablenkungsmanöver für sie zu inszenieren.
Tavalera schlurfte müde durch den Tunnel zurück, durch den er gekommen war. Zumindest war er sich ziemlich sicher, dass es derselbe Tunnel war. In der Nähe des Habitat-Endes, wo mehrere Tunnels zusammenliefen, hatte er nämlich ein paar Kurven beschrieben.
Nach wie vor keine Spur von Holly. Vielleicht haben die Affen von der Sicherheit sie erwischt. Er spürte Ärger in sich aufwallen. Zorn, Frustration und Furcht wüteten in ihm. Verstärkt durch den dumpfen Schmerz in der Seite, wo sie ihn mit den Knüppeln geschlagen hatten.
Die Bastarde, sagte er sich. Holly hat doch niemandem etwas getan. Wieso sind sie überhaupt hinter ihr her? Wo könnte sie sein? Ist sie in Sicherheit? Haben sie sie schon erwischt? Wo steckt sie nur?
Er blieb stehen und schaute sich im schwach beleuchteten Tunnel um. Rohrleitungen und Kabelstränge verliefen an der Decke und an beiden Wänden.
»Mein Gott«, murmelte er. »Wo, zum Teufel, bin ich hier?«
Die Beobachtung der Überwachungskameras war eine leichte Übung. Gee Archer saß mit dem Rücken zur Doppelreihe der Überwachungsmonitore, während er mit einem Stift an die Zähne klopfte und seinen nächsten Zug plante.
»Schläfst du?«, fragte Yoko Chiyoda mit einem kessen Grinsen.
»Ich überlege«, sagte Archer.
»Da scheint es kaum einen Unterschied zu geben.«
Sie war eine große Frau mit einem massigen Körper und dicken Gliedmaßen, die durch jahrelanges Kampfsport- Training ziemlich muskulös waren. Archer war schlank, fast zerbrechlich und hatte zurückgekämmtes blondes Haar und sanfte rehbraune Augen. Der Bildschirm zwischen ihnen zeigte die Schlachtformationen der russischen und japanischen Flotte in der Straße von Tsuschima im Mai 1905. Nur um Archer zu ärgern, hatte sie die russische Seite gewählt und brachte ihm trotzdem eine vernichtende Niederlage nach der andern bei.
»Gib mir noch eine Minute«, nuschelte Archer.
»Aber du hast doch schon…«
Mehrere Dinge ereigneten sich gleichzeitig. Die Sprinkleranlage der Decke besprühte sie mit Wasser. Die Interkom-Lautsprecher plärrten: › Feuer. Das Gebäude sofort evakuieren‹. Archer sprang auf, wobei er sich schmerzhaft den Kopf am Tisch stieß. Chiyoda stand auch auf und spie das eiskalte Wasser aus, das auf ihr Gesicht herabregnete. Sie packte Archer an der Hand und zerrte ihn humpelnd zur Tür.
Einer der nun unbeobachteten Uberwachungsmonitore zeigte eine einsame Frau, die schnell die leere Straße in Athen entlangging, die vom Verwaltungsgebäude zum Komplex der Apartmentgebäude weiter oben auf dem Hügel führte. ›Es besteht eine dreiundneunzigprozentige Übereinstimmung zwischen der Person im Erfassungsbereich der Kamera und der flüchtigen Holly Lane‹, sagte die synthetische Stimme des Sicherheits-Computers. ›Sofort die Sicherheitszentrale benachrichtigen, um die entsprechenden Maßnahmen zur Ergreifung der flüchtigen Holly Lane zu treffen. Sie wird gesucht wegen…‹
Doch weder Archer noch Chiyoda hörten den Sicherheits- Computer. Sie waren schon fast aus dem Gebäude. Klitschnass rannten sie blindlings weiter, um dem Feuer zu entkommen, das einzig und allein in den Schaltkreisen des Sicherheits- Computers brannte.
Computer sind ja so schlau, sagte Holly sich und zugleich so doof. Ein Mensch hätte erst einmal nachgeschaut, ob es wirklich im Gebäude brannte. Einen Computer muss man nur entsprechend instruieren, und schon gibt er Feueralarm, auch wenn's gar nicht brennt. Grinsend eilte sie die Treppe zum Apartmentgebäude hinauf und gab den Sicherheitscode ein. Die Tür öffnete sich seufzend, und sie trat ein. Nun befand sie sich außerhalb des Erfassungsbereichs der Überwachungskameras und stieg die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo Wilmots Apartment war.
Und lief den beiden Sicherheitsbeamten in die Arme, die vor Wilmots Tür auf dem Flur standen.
»Es darf niemand zu Professor Wilmot«, sagte der erste.
»Aber ich…«
»He!«, rief die zweite Wache. Erkenntnis dämmerte in ihrem Gesicht. »Sie sind doch Holly Lane, nicht wahr?«
Holly wandte sich zur Flucht, aber die Wache packte sie am Arm. Sie wollte ihr einen Schlag versetzen, doch dann fiel die zweite Wache ihr in den Arm, während sie noch ausholte.
»Geben Sie auf. Wir wollen Ihnen nicht wehtun.«
Holly sah ein, dass es keinen Sinn hatte. Sie entspannte sich und schaute sie finster an.
Die erste Wache schlug so fest gegen Wilmots Tür, dass sie im Rahmen klapperte, während die zweite Wache aufgeregt in ihren Palmtop sprach:
»Wir haben sie! Holly Lane. Die Flüchtige. Sie ist hier vor Wilmots Quartier.«
»Ausgezeichnet«, ertönte eine blecherne Stimme. »Halten Sie sie dort fest, bis wir eintreffen.«
Wilmot öffnete die Tür. Er trug einen flauschigen blauen Morgenmantel, den er fest um die Hüfte verknotet hatte. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er Holly im Griff der Wache sah.
»Sie haben Besuch, Professor«, sagte die Wache und stieß Holly am verblüfften alten Mann vorbei in sein Wohnzimmer. Dann schob sie die Tür wieder zu.
»Ich sollte mich wohl nicht über Ihr Erscheinen wundern«, sagte Wilmot. »Das einzig Erstaunliche ist, dass es Ihnen gelungen ist, sich den Sicherheitsleuten so lang zu entziehen.«
»Leider nicht lang genug«, sagte Holly ziemlich zerknirscht.
»Setzen Sie sich erst einmal. Wir können es uns genauso gut bequem machen. Möchten Sie etwas? Vielleicht einen Sherry?«
»Nein danke.« Holly setzte sich auf die Kante eines der beiden identischen Armstühle. Sie warf einen Blick auf die verschlossene Tür. Es führt kein anderer Weg hinaus, sagte sie sich. Wilmot ließ sich mit einem schmerzlichen Seufzer auf den anderen Armstuhl sinken.
»Was führt Sie überhaupt zu mir?«, fragte er.
»Ich wollte Sie um Ihre Hilfe bitten«, sagte Holly. »Oberst Kananga hat Don Diego ermordet, und nun ist er auch hinter mir her.«
»Diego Romero? Ich dachte, sein Tod sei ein Unfall gewesen.«
»Es war Mord«, sagte Holly. »Kananga hat es getan. Und er hat auch versucht, mich zu töten, nachdem ich es herausgefunden hatte.«
»Eberly steckt auch mit drin, nicht wahr?«
»Sie wissen es schon?«, fragte Holly erstaunt.
»Er hat ein Dossier veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass Sie geisteskrank seien«, sagte Wilmot mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.
Holly unterdrückte die Wut und Bekümmerung, die in ihr aufstiegen. »Ja. Malcolm deckt Kananga.«
»Vorhin hat Dr. Cardenas mir Ihr Dossier von der Erde geschickt. Eberly hat ein paar Lügen über Sie fabriziert.«
»Dann werden Sie mir also helfen?«
Wilmot schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dass ich nicht einmal mir selbst zu helfen vermag. Er hat mich hier einsperren lassen.«
»Eingesperrt? Sie? Wie konnte er das nur tun? Ich meine, Sie sind doch…«
»Das ist eine lange und traurige Geschichte«, sagte Wilmot matt.
»Und nun hat er mich auch erwischt«, sagte Holly. »Ja, das hat er leider.«
Eberly runzelte die Stirn, als Kananga die letzten Gratulanten aus seinem Apartment scheuchte. Er hatte seinen Triumph auf der Veranstaltung genossen. Und in der Verehrung der Menge gebadet. Sie hatten ihn auf Schultern getragen! Einen solchen Moment hatte Eberly noch nie zuvor erlebt.
Wo es nun auf Mitternacht zuging, schob Kananga die letzte verzückte junge Frau unsanft in den Korridor hinaus und schloss die Eingangstür des Apartments. Morgenthau saß auf dem Sofa und räumte die Kanapees auf einem der Tabletts ab, die im Raum abgestellt waren.
Vyborg saß vor einer dreidimensionalen Übertragung der Nachrichten-Sendung, die bereits eine Aufzeichnung von Eberlys kurzer Debatte mit der rothaarigen Wissenschaftlerin brachte.
»Sie haben die Leute auf Ihrer Seite«, sagte Vyborg. »Sie wollen alle reich werden. Jedenfalls die meisten von ihnen.«
»Das war ein brillantes Manöver«, pflichtete Morgenthau ihm bei.
»Stellt das Ding ab«, sagte Kananga schroff, der noch immer an der Tür lehnte. »Wir haben sie gefunden.«
Eine plötzliche Aufwallung von Furcht dämpfte das Hochgefühl, das Eberly verspürt hatte. »Sie gefunden? Holly?«
»Ja«, sagte Kananga mit einem finsteren Lächeln. »Sie hat versucht, sich in Professor Wilmots Unterkunft zu schleichen. Wollte ihn wohl um Hilfe bitten.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Immer noch dort. Meine Leute haben das Apartment abgesperrt. Ich sagte ihnen, dass sie Wilmots Telefon stilllegen sollten.«
»Was haben Sie mit ihr vor?«, fragte Morgenthau.
Die Euphorie wich aus Eberly wie Wasser, das gurgelnd im Abfluss verschwand. Morgenthau hatte Kananga gefragt, nicht ihn.
»Wir werden sie eliminieren müssen.«
»Das ist aber nicht so einfach«, sagte Vyborg. »Wenn sie bei Wilmot ist, könnt ihr nicht einfach so reinspazieren und ihr das Genick brechen.«
»Sie kann aber auf der Flucht umkommen«, sagte Kananga.
»Und wie sollte sie fliehen?«
Kananga dachte für einen Moment nach. »Vielleicht entkommt sie den Wachen und erreicht eine Luftschleuse«, sagte er dann. »Sie zieht einen Raumanzug an und will nach draußen, um sich vor uns zu verstecken. Doch der Anzug ist schadhaft, oder vielleicht hat sie ihn auch nicht richtig geschlossen.«
Morgenthau nickte.
»Armes Mädchen«, sagte Kananga und breitete die Hände in einer Geste des fait accompli aus. »Sie gerät in Panik und verunglückt tödlich.«
»Sie war schließlich psychisch gestört«, sagte Vyborg mit einem fiesen Keckem.
Die drei wandten sich Eberly zu. Die Sache gerät außer Kontrolle, sagte er sich. Sie wollen mich zum Komplizen bei ihren Morden machen. Sie wollen mich zwingen, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Damit sie mich für alle Zeit in der Hand haben.
Und wenn ich ab morgen der gewählte Regierungschef bin, werden sie nach wie vor Macht über mich haben. Ich werde eine Galionsfigur sein, eine Marionette, die an ihren Fäden tanzt. Sie werden die Macht ausüben, nicht ich.
Kananga öffnete die Tür. Eberly sah, dass der Korridor nun leer war. Es war auch schon spät. Alle seine Verehrer waren nach Hause gegangen.
»Sollen wir sie holen?«, fragte Kananga.
»Ich werde gehen«, sagte Eberly und versuchte fester und beherrschter zu klingen, als er sich eigentlich fühlte. »Und zwar allein.«
Kanangas Augen verengten sich. »Allein?«
»Allein. Es wäre doch glaubhafter, wenn sie mir entkommt anstatt zweien Ihrer Killer, nicht wahr?«
»Er hat Recht«, sagte Vyborg, bevor Kananga etwas erwidern konnte. »Wir müssen dafür sorgen, dass die Geschichte so plausibel wie möglich ist.«
Morgenthau musterte Eberly gründlich. »Diese junge Frau ist eine definitive Bedrohung für uns alle. Ob wir sie mögen oder nicht — sie muss eliminiert werden. Für einen höheren Zweck.«
»Ich verstehe«, sagte Eberly.
»Gut«, erwiderte Morgenthau.
Kananga wirkte indes nicht so zufrieden. Er wollte die Sache offensichtlich selbst in die Hand nehmen. Eberly richtete sich zu seiner vollen Größe auf und ging zur Tür. Er musste aufschauen, um Kananga in die Augen zu sehen. Der Ruander versuchte seinem Blick standzuhalten, aber nach ein paar Sekunden gab er die Tür frei. Eberly ging an ihm vorbei und trat auf den Gang hinaus. Er wagte es nicht, zurückzuschauen und ging den Gang entlang zur Eingangstür.
Kananga stand im Eingang des Apartments und schaute ihm nach. »Glaubt ihr, ob er die Power hat, die Sache durchzuziehen?«, murmelte er.
Morgenthau wuchtete sich vom Sofa hoch. »Geben Sie ihm ein paar Minuten. Dann gehen Sie zu Wilmots Gebäude und ziehen die Wachen vor seiner Tür ab. Warten Sie, bis er und das Mädchen das Gebäude verlassen haben. Wenn Eberly sie herausbringt, können Sie und die Wache zugreifen.«
»Gut«, sagte Vyborg. »So wird er wenigstens nicht Zeuge ihrer Ermordung.«
Morgenthau warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Er ist darin verwickelt. Wir alle sind darin verwickelt. Ich will sichergehen, dass das Mädchen kein Problem mehr für uns darstellt.«
Holly kam aus Wilmots Bad und setzte sich müde aufs Sofa. Der Digitaluhr zufolge war es nach Mitternacht.
»Mein Telefon funktioniert auch nicht mehr«, grummelte der Professor. »Sie wollen uns wirklich in Isolationshaft halten.«
»Was wird nun geschehen?«, fragte sie.
»Das liegt im Schoß der Götter«, erwiderte Wilmot mit einem Seufzer, das fast schon ein Schnauben war. »Oder vielmehr in Eberlys und seiner Clique.«
»Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, mit Kris Cardenas zu sprechen.«
»Dr. Cardenas wohnt auch in diesem Gebäude, nicht wahr?«
»Ja.«
Wilmot schaute zur Tür. »Bei diesen zwei Wachen vor der Tür glaube ich nicht, dass es uns gelingen wird, zu ihr zu gelangen.«
»Vermutlich nicht.« Holly genoss es, auf dem Sofa zu sitzen. Es war kuschelweich.
»Es ist schon ziemlich spät«, sagte der Professor. »Ich gehe nun zu Bett. Sie können auf dem Sofa schlafen, wenn Sie möchten.«
Holly nickte. Wilmot erhob sich vom Armstuhl und ging langsam ins Schlafzimmer.
An der Schlafzimmertür blieb er stehen. »Sie wissen, wo das Bad ist. Falls Sie irgendetwas brauchen, klopfen Sie einfach.«
»Danke«, sagte Holly und unterdrückte ein Gähnen.
Wilmot ging ins Schlafzimmer und schloss die Tür. Holly streckte sich auf dem Sofa aus und fiel trotz allem in einen traumlosen Schlaf, gleich, nachdem sie die Augen geschlossen hatte.
Eberlys Gedanken jagten sich, während er langsam den Pfad entlangging, der von seinem zu Wilmots Apartmentgebäude führte.
Die Wahl beginnt schon in ein paar Stunden, sagte er sich. In ungefähr zwölf Stunden werde ich Chef der neuen Regierung sein. Dann werde ich das Sagen haben.
Aber was nützt mir das, wenn Kananga und die anderen ihre Morde wie ein Damoklesschwert über mir schweben lassen? Sie werden mich beherrschen! Ich muss nach ihrer Pfeife tanzen! Ich werde nur eine Galionsfigur sein. Sie werden die wahre Macht haben.
Es ist zum Heulen. Da habe ich mich nun all die Monate abgerackert, geplant und gearbeitet, und nun, wo der Preis zum Greifen nah ist, wollen sie mir ihn vorenthalten. Aber so ist es immer schon gewesen; jedes Mal, wenn Sicherheit, Erfolg und Glück zum Greifen nah schienen, ist mir jemand in die Quere gekommen, jemand in einer Machtposition, der mir den Fuß in den Nacken setzte und mich wieder in den Schmutz trat.
Was kann ich tun? Was kann ich bloß tun? Sie haben mich in diese Lage gebracht und werden mich nicht mehr vom Haken lassen.
Während er den Weg zu Wilmots Gebäude entlangging, sah er, dass eine von Kanangas Wachen vor der Tür stand und auf ihn wartete.
Natürlich, sagte Eberly sich. Kananga hat schon mit ihm gesprochen und ihm gesagt, dass ich käme. Kananga und die anderen sind mir wahrscheinlich gefolgt.
Und dann hatte er eine Idee. Er blieb ein Dutzend Meter vor der schwarz gekleideten Wache stehen. Die Eingebung war so machtvoll, so brillant und so vollkommen, dass ein anderer auf die Knie gesunken wäre und welchem Gott auch immer gedankt hätte, an den er glaubte. Eberly hatte indes keinen Gott. Er grinste nur wie ein Honigkuchenpferd. Die Knie waren immer noch etwas weich, doch er ging direkt auf die Wache zu, die die Eingangstür für ihn öffnete. Ohne ein Wort zu sagen oder dem Mann auch nur zuzunicken, ging Eberly an ihm vorbei und erklomm die Stufen zu Professor Wilmots Apartment.
Das Klopfen an der Tür riss Holly aus dem Schlaf. Sie setzte sich ruckartig auf und war sofort in Alarmbereitschaft.
»Holly, ich bin es«, ertönte die gedämpfte Stimme auf der anderen Seite der Tür. »Malcolm.«
Sie erhob sich vom Sofa und ging zur Tür. Sie schob sie auf und sah Eberly. Und nur eine Wache auf dem Gang.
»Sie können nun gehen«, sagte Eberly zur Wache. »Ich übernehme hier.«
Die Wache entbot ihm einen lässigen militärischen Gruß und ging zur Treppe.
»Holly, es tut mir Leid, dass es dazu kommen musste«, sagte Eberly, als er das Wohnzimmer betrat und sich umschaute. »Wo ist Professor Wilmot?«
»Er schläft«, erwiderte sie. »Ich werde ihn holen.«
Wilmot kam ins Zimmer. Er trug schon wieder diesen flauschigen Morgenmantel. Ansonsten machte er einen ganz normalen und hellwachen Eindruck. Das Haar war akkurat gescheitelt. Auf seinem Gesicht lag jedoch ein Ausdruck, den Holly noch nie zuvor bei dem alten Mann gesehen hatte: Skepsis, Sorge, beinahe Furcht.
»Darf ich mich setzen?«, fragte Eberly höflich.
»Tun Sie sich nur keinen Zwang an«, sagte Wilmot gereizt. »Sie können doch sowieso tun und lassen, was Sie wollen.«
Doch anstatt sich zu setzen, nahm Eberly eine längliche schwarze Kiste aus der Tasche seines Gewands und schwenkte sie im Kreis durch den Raum. Dann schwenkte er sie auf und ab, von der Decke zum Boden und wieder zurück.
»Was tun Sie denn da?«, fragte Holly.
»Ungeziefer vernichten«, sagte Eberly. »Ich sorge dafür, dass unsere Unterhaltung von niemandem sonst mitgehört wird.«
»Sie haben meine Unterkunft verwanzen lassen, nicht wahr?«, fragte Wilmot verärgert.
»Das war Vyborgs Werk«, log Eberly, »nicht meins.«
»Tatsächlich.«
»Ich will die ganze Sache klären, bevor noch weitere Gewalttaten verübt werden«, sagte Eberly und setzte sich auf einen der beiden Armstühle.
»Ich auch«, sagte Holly.
Wilmot setzte sich langsam auf den Armstuhl gegenüber Eberly. Holly ging zum Sofa. Sie nahm darauf Platz und zog die Füße unter den Körper; sie fühlte sich beinahe wie ein Mäuschen, das sich so winzig und unsichtbar wie möglich machen wollte.
»Sie sind in Gefahr, Holly. Kananga will Sie exekutieren.«
»Und was gedenken Sie dagegen zu unternehmen?«, fragte Wilmot.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, erwiderte Eberly.
»Meine Hilfe? Was erwarten Sie denn von mir?«
»In etwa achtzehn Stunden werde ich zum Chef der neuen Regierung gewählt worden sein«, sagte Eberly. »Bis dahin sind Sie noch immer der Vorsteher dieser Gemeinschaft, Sir.«
»Ich stehe unter Hausarrest und werde mit einem Skandal bedroht«, grummelte Wilmot. »Welche Möglichkeiten habe ich da noch?«
»Wenn Sie diesen Wachen befehlen, wegzutreten, würden sie Ihnen gehorchen.«
»Würden Sie?«
Eberly nickte. »Ja, vorausgesetzt, ich bestätige Ihren Befehl.«
»Ich verstehe.«
Holly schaute von Eberly zu Wilmot und wieder zurück. Skandal, fragte sie sich. Hausarrest? Was geht zwischen diesen beiden denn vor?
»Kananga hat Don Diego getötet, nicht wahr?«, sagte sie zu Eberly.
»Ja.«
»Und nun will er auch mich töten.«
»Das stimmt.«
»Wie wollen Sie ihn daran hindern?«
»Indem ich ihn festnehmen lasse«, sagte Eberly, ohne zu zögern. Aber sein Gesichtsausdruck verriet Besorgnis und Zweifel.
»Angenommen, er ist nicht gewillt, sich festnehmen zu lassen?«, sagte Wilmot. »Er ist schließlich der Leiter des Sicherheitsdienstes.«
»An dieser Stelle kommen Sie ins Spiel, Sir. Sie haben noch immer die legale Macht und die moralische Autorität, den Sicherheitsdienst zu leiten.«
»Von wegen moralische Autorität«, murmelte Wilmot.
»Wir werden auch Morgenthau und Vyborg verhaften lassen müssen. Sie waren Komplizen bei Kanangas Verbrechen.«
»Das ist leichter gesagt als getan. Falls Kananga sich widersetzt, bin ich ziemlich sicher, dass die meisten Sicherheitsleute seinem Befehl folgen würden und nicht meinem.«
»Aber der Sicherheitsdienst besteht doch nur aus etwa drei Dutzend Männern und Frauen«, sagte Holly.
»Dann käme ein Dutzend auf jeden von uns«, sagte Wilmot.
»Ja«, sagte Holly. »Aber es gibt noch weitere zehntausend Männer und Frauen in diesem Habitat.«
Kananga schaute auf die Armbanduhr und dann hinauf zum Apartmentgebäude. Er hatte schon seit fast einer Stunde mit einem halben Dutzend seiner besten Leute auf der Straße ausgeharrt.
»Ich glaube nicht, dass sie noch rauskommen wird, Sir«, sagte die Einsatzleiterin.
»Wir könnten reingehen und sie holen.«
»Nein«, blaffte Kananga sie an. »Warten Sie noch.«
Er riss den Palmtop aus der Tasche des Gewands und rief Eberly an.
»Was ist los?«, fragte er unwirsch, als Eberlys Gesicht auf dem winzigen Monitor erschien.
»Miss Lane wird vorläufig hier in Professor Wilmots Quartier bleiben«, sagte Eberly ungerührt.
»Was? Das kommt nicht in Frage.«
»Sie wird hier bleiben, bis die Wahl beendet ist. Wir wollen doch nicht, dass jemand die Wahl stört.«
»Ich sehe aber keinen Grund, weshalb…«
»Mein Entschluss steht fest«, sagte Eberly schroff. »Sie können Wachen um das Haus postieren. Sie wird nirgendwo hingehen.«
Sein Bild verschwand, und Kananga starrte zornig auf einen dunklen Bildschirm.
»Und was tun wir nun?«, fragte die Einsatzleiterin.
Kananga schaute sie finster an. »Sie bleiben hier. Und wenn sie das Gebäude zu verlassen versucht, nehmen Sie sie fest.«
»Und Sie, Sir?«
»Ich will versuchen, ein paar Stunden zu schlafen«, sagte er und entfernte sich in Richtung seines Quartiers.
Das Telefon weckte Kris Cardenas. Schlaftrunken setzte sie sich auf und rief: »Kein Bild.« Ihr Blick fiel auf Gaeta, der selig neben ihr schlummerte, und sie sagte sich, dass der Mann wahrscheinlich auch den Weltuntergang verschlafen würde.
Hollys Gesicht erschien am Fußende des Bettes. »Kris, sind Sie da?«
»Holly!« rief Cardenas. »Wo sind Sie?«
»Ich bin in Professor Wilmots Apartment über Ihnen. Können Sie sofort herkommen?«
Cardenas sah, dass es ein paar Minuten nach sieben war. »Da stehen zwei Sicherheitsleute vor meiner Tür, Holly. Sie werden nicht…«
»Das ist schon in Ordnung. Sie werden Sie durchlassen. Professor Wilmot hat schon mit ihnen gesprochen.«
Oswaldo Yaňez wachte in bester Laune auf. Er hörte seine Frau in der Küche das Frühstück zubereiten. Er duschte, putzte die Zähne und zog sich mit einem fröhlichen Pfeifen an.
Das Frühstück erwartete ihn schon auf dem Küchentisch; es dampfte und sah überhaupt recht lecker aus. Er küsste seine Frau flüchtig auf die Stirn und sagte: »Vor dem Essen muss ich noch eine staatsbürgerliche Pflicht erfüllen.«
Er setzte sich Estela gegenüber an den Tisch und aktivierte den Computer per Sprachbefehl.
»Wen wirst du denn wählen?«, fragte sie.
»Die geheime Wahl ist mir heilig, mein Schatz«, erwiderte er grinsend.
»Ich habe Eberly gewählt. Er scheint mir kompetenter als die anderen zu sein.«
Yanez klappte die Kinnlade herunter. »Du hast schon gewählt?«
»Natürlich, gleich, nachdem ich aufgewacht bin.«
Yanez' gute Laune wurde förmlich aus ihm herausgesogen. Er hatte als Erster seine Stimme abgeben wollen. Es war unfair von seiner Frau, ihm zuvorzukommen.
Dann seufzte er entsagungsvoll. Wenigstens hat sie für den richtigen Kandidaten gestimmt.
»Sind Sie in Ordnung?«, fragte Cardenas, nachdem sie Wilmots Apartment betreten hatte. Gaeta folgte ihr auf dem Fuß; er schaut etwas verwirrt.
»Mir geht es gut«, sagte Holly. »Sie kennen alle hier Anwesenden, oder?«, wandte sie sich an Eberly und Wilmot.
»Natürlich.«
Gaeta musterte Eberly mit einem kämpferischen Blick. »Was hat das zu bedeuten, dass Sie uns in diesem Apartment versammeln? Was ist eigentlich los?«
»Wir versuchen, Miss Lane den Hals zu retten«, sagte Eberly.
»Ja«, bestätigte Wilmot. »Wir wollen Gewaltanwendung vermeiden, doch dazu müssen ganz bestimmte Maßnahmen getroffen werden.«
Holly sagte ihnen, was sie geplant hatte und was sie von ihnen erwartete.
Cardenas blinzelte, nachdem sie erst einmal begriffen hatte, worum es ging. »Posse comitatus?«, fragte sie ungläubig. »Ein Aufgebot?«
Gaeta stieß ein nervöses Lachen aus. »Heilige Mutter Gottes, meinst du vielleicht ein Aufgebot wie in den alten Western?«
»Das wird nicht funktionieren«, sagte Cardenas. »Diese Leute sind zu individualistisch, als dass sie ein Aufgebot stellen würden, nur weil Sie es verlangen. Sie werden wissen wollen, aus welchem Grund und wie die Aktion ablaufen soll. Befehle werden sie von Ihnen jedenfalls nicht entgegennehmen.«
»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht«, sagte Wilmot.
Eberly lächelte jedoch. »Sie werden es tun. Ich muss nur ein wenig Überzeugungsarbeit leisten.«
Nach ein paar Stunden Schlaf stürmte Kananga in Eberlys Apartment. »Was machen Sie denn für Sachen? Wir waren uns doch einig, dass diese Lane in meinen Gewahrsam überstellt wird.«
Eberly saß mit verquollenen Augen am Schreibtisch und registrierte die ersten Wahlergebnisse. »Ich habe die Nacht durchgemacht und mich mit Ihrem Problem befasst«, sagte er.
»Mit meinem Problem? Mann, das ist auch Ihr Problem. Ich will, dass sie mir sofort überstellt wird.«
»Das wird sie schon«, sagte Eberly ungerührt. »Regen Sie sich nicht auf.«
»Wo ist sie überhaupt? Wieso ist sie nicht in meinen Händen?«
»Sie ist in Wilmots Apartment«, sagte Eberly und versuchte die Spannung zu kontrollieren, die sich in ihm aufbaute. »Sie wird nirgendwo hingehen.«
»Was geht hier eigentlich vor? Was spielen Sie für ein Spiel?« Kananga dräute über Eberly wie eine dunkle Gewitterwolke.
»Warten Sie, bis alle Wahlergebnisse vorliegen«, sagte Eberly und wies mit dem Finger auf die schnell sich ändernden Zahlen. »Wenn ich erst einmal der offizielle Leiter dieses Habitats bin, werde ich mit echter Macht ausgestattet sein.«
Kananga musterte ihn argwöhnisch.
In der Hoffnung, dass er den Ruander wenigstens halbwegs überzeugen konnte, erhob Eberly sich vom Schreibtischstuhl. »Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen, ich brauche etwas Schlaf.«
»Jetzt? Obwohl die Wahl noch andauert?«
»Ich vermag nichts mehr zu tun, um die Wahlen noch zu beeinflussen. Es liegt nun alles im Schoß der Götter.«
Trotz seiner Verärgerung lächelte Kananga. »Passen Sie nur auf, dass Morgenthau Ihre heidnischen Sprüche nicht zu Ohren kommen.«
Eberly erwiderte das Lächeln gezwungen. »Ich muss etwas schlafen. Es würde nämlich einen sehr schlechten Eindruck machen, wenn der neu gewählte Leiter dieses Habitats sein Amt unausgeschlafen und mit verquollenen Augen antritt.«
Edouard Urbain verfolgte die letzten Minuten der Wahl in der Abgeschiedenheit seines Privatquartiers mit einer eigentümlichen Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung. Eberly hatte klar gewonnen, das stand am frühen Nachmittag schon fest. Urbain wartete jedoch bis zur Beendigung der Wahl um 17:00 Uhr, bevor er schließlich die Tatsache akzeptierte, dass er nicht der Leiter des Habitats sein würde.
Er lächelte beinahe. Nun kann ich mich endlich wieder meiner Arbeit widmen, sagte er sich, und werde nicht mehr von diesem politischen Affentheater abgelenkt.
Dennoch war er den Tränen nahe. Eine neuerliche Zurücksetzung. Mein Leben lang bin ich vom Spitzenplatz fern gehalten worden. Mein Leben lang hat man mir gesagt, dass ich nicht gut genug für die Nummer eins sei. Sogar Jeanne-Marie hat sich am Ende gegen mich gewandt.
Aber das ist noch nicht alles, wurde er sich bewusst. Nun muss ich mich mit diesem verrückten Stuntman und dem Ansinnen auseinander setzen, auf der Titanoberfläche zu landen. Eberly wird die Forderung natürlich unterstützen. Ich werde die IAA bitten müssen, Eberly mitzuteilen, dass sie es nicht erlauben wird. Damit werde ich mich vor der ganzen Welt bloßstellen — ich bin nicht mal Manns genug, einen simpel gestrickten Abenteurer daran zu hindern, eine jungfräuliche neue Welt zu verseuchen.
Mit Tränen in den Augen wies er das Telefon an, eine Verbindung zu Eberly herzustellen. Ich muss ihm gratulieren und meine Niederlage eingestehen, sagte er sich. Eine erneute Niederlage. Und es wird wohl auch nicht die letzte gewesen sein.
Ilja Timoschenko hingegen hatte kein Problem damit, dem Sieger zu gratulieren. Er saß in einem Schwarm seiner Anhänger — hauptsächlich Ingenieure und Techniker — an der Bar im Bistro und rief Eberly über den Palmtop an.
»Ich freue mich über Ihren Sieg«, sagte er zu Eberlys lächelndem Bild. »Nun lassen Sie uns diesen Blecheimer in einen Orbit um den Saturn schaffen.«
Eberly lachte. »Ja, unbedingt. Wir alle zählen auf Sie, dass Sie und die Techniker uns morgen in den Orbit bringen.«
Während Eberlys Anhänger seinen Sieg mit einem spontan anberaumten Picknick am See feierten, war Holly noch immer in Wilmots Apartment und benutzte seinen Computer, um die Personalakten des Habitats zu durchsuchen. Es dauerte zwar ein paar Stunden, doch schließlich hatte sie eine Liste von fünfzig Männern und Frauen zusammengestellt, von denen sie glaubte, dass sie mit ihnen ein Aufgebot bilden könnte.
Als sie die Liste an Eberlys Quartier sandte, fragte sie sich jedoch, ob das wirklich eine so gute Idee war. Ob die Leute, die sie ausgewählt hatte, überhaupt bereit wären, ein Aufgebot zu bilden? Es war schwer, Eigenschaften wie Loyalität und Verantwortungsbewusstsein aus dem schriftlichen Dossier einer Person zu ersehen. Die meisten Leute an Bord des Habitats waren alles andere als Establishment-Typen. Sie waren auch keine Tunichtgute, wie Pancho sie bezeichnet hatte, aber sie waren definitiv Freidenker und Individualisten und nicht bereit, sich Disziplin auferlegen zu lassen.
Ich hoffe nur, dass das funktioniert, sagte Holly sich. Sie wurde sich bewusst, dass ihr Leben davon abhing.
Die Siegesfeier artete aus. Ein paar von Eberlys Anhängern hatten gekühlte Partyfässer mit selbst gebrautem Bier zum Picknick am Seeufer mitgebracht, und nun wurden die Leute immer lauter und begannen schließlich zu randalieren. Sie lachten sich über jeden Schwachsinn scheckig, schütteten sich gegenseitig Bier über den Kopf und wankten in voller Montur in den See, wobei sie angeschickert kicherten.
Normalerweise hätte Eberly sich in der Verehrung seiner Anhänger gesonnt. Er trank keinen Alkohol, und es wagte auch niemand, ihn mit Bier oder sonst etwas zu übergießen. Dennoch hätte Eberly jede Millisekunde des stundenlangen Picknicks genossen — wäre er sich nicht bewusst gewesen, was ihn nach dem Ende der Party erwartete.
Trotz des Lächelns, das er aufgesetzt hatte, wusste er, dass er sich mit Kananga würde auseinander setzen müssen, und das würde alles andere als angenehm werden. Vielleicht sogar gefährlich.
Morgenthau machte indes einen recht fröhlichen Eindruck, trotz der zotigen Scherze der angetrunkenen Menge. Eberly stellte fest, dass selbst die kleine Schlange Vyborg sich angeregt mit ein paar der jungen Frauen unterhielt, die sich um ihn scharten und ihn anhimmelten. Manchen Menschen steigt die Macht zu Kopf; anderen fährt sie in den Schwanz.
Morgenthau bahnte sich mit einer Plastiktasse in der Hand einen Weg durch eine Traube der Gratulanten, die Eberly umlagerte. Sicher etwas Alkoholfreies, sagte Eberly sich. Wahrscheinlich Limonade. Die Menge teilte sich vor ihr. Zollen sie ihr wirklich Respekt, fragte Eberly sich, oder sehen sie nur, dass sie dieses frivole Treiben mit grenzenlosem Abscheu betrachtet.
»Genießen Sie Ihren Triumph?«, fragte sie Eberly leise, nachdem die anderen außer Hörweite waren. Ein wissendes Lächeln hinterließ Grübchen in ihrem breiten Gesicht.
Er nickte nüchtern. Während des ganzen Picknicks hatte er nichts Stärkeres getrunken als Eistee.
»Nun beginnt die eigentliche Arbeit«, sagte sie mit noch leiserer Stimme. »Nun bringen wir diese Leute unter unsere Kontrolle.«
Eberly nickte erneut, diesmal aber weniger begeistert. Er wusste nämlich, worauf sie anspielte: dass auch er unter Kontrolle wäre. Unter ihrer Kontrolle. Ich habe die ganze Arbeit gemacht, und sie glaubt, sie wäre die wahre Machthaberin.
Er fragte sich, ob Wilmot und Holly sich als stark genug erweisen würden, ihm zu helfen.
Am nächsten Morgen drängten fünfzig verwirrte Männer und Frauen sich im größten Konferenzraum des Verwaltungsgebäudes.
Holly verließ in Begleitung von Gaeta und Cardenas Wilmots Quartier und ging vorher noch in ihr Apartment, um zu duschen und sich umzuziehen. Sie sahen, dass Kanangas Sicherheitsleute ihnen in einiger Entfernung folgten. Sie blieben auf Distanz, verfolgten aber jede ihrer Bewegungen und holten über ihre Palmtops Anweisungen von Kananga ein. Holly wurde dabei an Videos erinnert, in denen sie gesehen hatte, wie Hyänen eine Gazellenherde verfolgten und darauf warteten, dass ein schwaches Tier zusammenbrach, damit sie sich darüber hermachen konnten.
Eberly traf sie an der Pforte des Gebäudes, und dann gingen sie zusammen an den Büros der Human-Resources-Abteilung, wo Morgenthau eigentlich hätte sein sollen, vorbei zum Konferenzraum.
Es gab dort nicht genug Stühle für alle Anwesenden, so dass die meisten Leute, die Holly ausgesucht hatte, stehen mussten. Es war heiß und stickig durch die Ausdünstungen der vielen Körper auf engstem Raum. Und die Leute waren offensichtlich ungehalten.
»Worum geht's überhaupt?«, wollte einer der Männer wissen, als Eberly zur Tür hereinkam.
»Ja, weshalb haben Sie uns eigentlich herbestellt?«
»Wir werden doch nicht das Einschwenken in den Orbit verpassen, oder? Es soll in ein paar Stunden stattfinden.«
Eberly machte mit beiden Händen eine beschwichtigende Geste, bahnte sich einen Weg durch die Gruppe und ging zum Kopfende des Tisches. Holly, die noch immer von Gaeta und Cardenas flankiert wurde, wartete an der Tür.
»He, ist das nicht die Flüchtige?«, sagte jemand und wies auf Holly.
»Die Sicherheitsleute suchen sie.«
»Sie muss sich selbst gestellt haben.«
Holly sagte nichts, aber es machte ihr Angst, dass man sie für eine Flüchtige hielt — für eine Kriminelle, die den Behörden übergeben werden musste.
»Was will sie hier?«
»Vielleicht hat Eberly sie dazu überredet, sich zu stellen.«
»Aber wieso sind wir denn hier? Was will er von uns?«
Allmählich richteten aller Blicke sich auf Eberly, der schweigend hinter dem leeren Stuhl am Kopfende des Tisches stand. Er hielt die Stuhllehne gepackt und wartete darauf, dass sie ihre Gespräche beendeten.
»Ich habe Sie hergebeten, weil ich Ihre Hilfe brauche«, sagte er schließlich. »Miss Lane ist fälschlich bezichtigt worden. Oberst Kananga ist derjenige, der festgenommen werden müsste.«
»Kananga?«
»Aber er ist doch der Leiter des Sicherheitsdienstes!«
»Genau aus diesem Grund brauche ich Sie«, sagte Eberly. »Ich möchte, dass Sie ein Komitee bilden, ein Aufgebot. Wir werden in Kanangas Büro gehen und ihn verhaften.«
»Ich?«
»Wir?«
»Den Chef der Sicherheit verhaften?«
»Das ist doch ein Scherz, oder?«
»Und was ist mit dem Rest des Sicherheitsdienstes? Glauben Sie etwa, diese Schläger würden einfach daneben stehen und zulassen, dass wir ihren Boss festnehmen?«
»Fünfzig von Ihnen müssten genug sein, um die Wachen daran zu hindern, sich einzumischen«, sagte Eberly. »Schließlich sind sie nur mit Knüppeln bewaffnet.«
»Ich habe gehört, dass sie alle Kampfsport-Experten sein sollen.«
»Ich wüsste nicht, was ich damit zu tun habe. Sie sind doch jetzt der Verwaltungschef. Dann kümmern Sie sich gefälligst auch darum.«
»In meiner Eigenschaft als Verwaltungschef verpflichte ich Sie…«
»Zum Teufel! Ich lass' mir doch nicht die Fresse polieren, nur weil Sie mit Ihrem Sicherheitschef nicht zurecht kommen. Suchen Sie sich ein paar andere Deppen, die für Sie die Drecksarbeit erledigen!«
»Zumal Sie noch kein Verwaltungschef sind, jedenfalls nicht offiziell«, sagte einer der Frauen. »Nicht, bis Professor Wilmot Sie vereidigt hat.«
»Aber ich brauche Sie, um Kananga festzunehmen«, flehte Eberly sie an. »Das ist Ihre staatsbürgerliche Pflicht!«
»Von wegen staatsbürgerliche Pflicht! Sie wollten doch Anführer dieser Gemeinschaft sein. Dann tun Sie gefälligst Ihre Pflicht. Aber mich lassen Sie da raus.«
»Mach's doch selber«, brüllte ein aggressiver Mann mit hochrotem Kopf. »Wir haben doch nicht den ganzen Flug zum Saturn gemacht, um Ihnen bei der Errichtung einer Diktatur zu helfen.«
»Aber…«
Sie wandten sich von Eberly ab und gingen grummelnd und murmelnd an Holly vorbei durch die Tür.
»Wartet doch«, rief Eberly vergeblich.
Kaum jemand hielt auch nur inne. Sie hatten es plötzlich alle eilig, den Konferenzraum zu verlassen, wobei die meisten es vermieden, Holly in die Augen zu schauen.
Eberly stand am Kopfende des Tisches und beobachtete den Auszug. Morgenthau hat alle Büros verwanzen lassen, wurde er sich bewusst. Kananga wird Bescheid wissen, bevor der Letzte den Raum verlassen hat.
Ohne um Politik sich zu scheren, ohne um menschliches Trachten und Streben sich zu kümmern, ohne von den Ängsten und Hoffnungen der zehntausend Leute an Bord des Habitats zu wissen, fiel Goddard im Griff von Saturns starker Gravitationsquelle dem Ringplaneten entgegen und glitt in den vorgesehenen Orbit direkt außerhalb des Ringsystems.
Eine halbe Million Kilometer entfernt ging ein zerklüfteter, eisbedeckter Gesteinsbrocken von der halben Größe des Habitats ebenfalls in einen Orbit, der ihn auf einen Kollisionskurs mit Saturns hellstem und größtem Ring führte.
In der winzigen Kommandozentrale, die dennoch mit allem Notwendigen bestückt war, schaute Timoschenko finster auf die Daten, die der Computerbildschirm ihm präsentierte.
»Die Staubdichte ist höher als prognostiziert«, sagte er.
Captain Nicholson nickte; sie hatte den Blick auf ihre Bildschirme gerichtet. »Aber es besteht kein Grund zur Sorge.«
»Der Staub verursacht einen Abrieb der Hülle.«
»Noch innerhalb der zulässigen Grenzwerte. Wenn wir erst einmal in der Umlaufbahn sind, werden wir mit dem Staub fliegen, und der Abrieb wird sich verringern.«
Timoschenko sah, dass der Navigator und der Erste Offizier trotz der Versicherungen des Captain mehr als nur ein wenig besorgt wirkten.
»Wenn der Abrieb einen Bruch in einem der supraleitenden Drähte verursacht«, sagte der Erste Offizier, »dann könnte das zum Zusammenbruch des Strahlenschutzschirms führen.«
Der Captain schwenkte auf dem Stuhl zu ihm herum. Sie war eine zierliche Frau, aber wenn sie das kantige Kinn so wie jetzt vorgeschoben hatte, dann war nicht mit ihr zu spaßen.
»Und was soll ich Ihrer Ansicht nach dagegen tun, Mr. Perkins? Wir befinden uns im freien Fall. Erwarten Sie vielleicht von mir, den Rückwärtsgang einzulegen und die Gravitationsquelle des Saturns zu verlassen?«
»Äh… nein, Ma'am. Ich wollte nur…«
»Sie tun einfach nur Ihre Pflicht und hören auf zu jammern wie ein altes Weib. Wir haben die Abriebrate schon vor dem Ausscheren aus dem Mondorbit berechnet, nicht wahr? Der Schirm wird nicht beschädigt werden.«
Der Erste Offizier senkte den Kopf und starrte auf den Computermonitor, als ob sein Leben davon abhinge.
»Und Sie«, wandte sie sich an den Navigator, »behalten diese anfliegende Eiskugel im Auge. Falls uns überhaupt Gefahr droht, dann von ihr.«
»Sie folgt der prognostizierten Flugbahn mit einer minimalen Abweichung«, sagte der Navigator.
»Sie beobachten sie trotzdem«, sagte Captain Nichol-son schroff. »Und wenn die Astronomen noch so viele Prognosen erstellen — wenn dieses Ding uns erwischt, sind wir erledigt.«
Timoschenko grinste säuerlich. Sie ist ein beinhartes altes Weib. Trotzdem werde ich sie vermissen, wenn sie uns verlässt.
Wenn sie und die beiden anderen uns verlassen, werde ich das dienstälteste Besatzungsmitglied sein, wurde er sich dann bewusst. Das dienstälteste und das einzige.
»Er hat uns gelinkt«, zischte Vyborg. »Der Hund hat uns gelinkt.«
Kananga, der die Echtzeit-Übertragung von Eberlys gescheiterter Versammlung für sein improvisiertes Aufgebot verfolgte, lachte laut. »Nein«, sagte der Ruander. »Er hat versucht, uns zu linken. Aber es hat nicht geklappt.«
Sie befanden sich in Morgenthaus Büro. Sie saß am Schreibtisch und schaltete die Übertragung der Spionage- Kamera ab. Dann beugte sie sich auf dem knarrenden Stuhl vor. »Wie verfahren wir nun mit ihm?«, fragte sie.
»Er ist ein Verräter«, insistierte Vyborg. »Ein opportunistischer Wendehals, der seine eigene Mutter für ein paar Silberlinge verkaufen würde.«
»Der Ansicht bin ich auch«, sagte Morgenthau mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. »Aber was sollen wir nun mit ihm tun?«
»Dafür haben wir doch die Luftschleusen«, sagte Kananga lächelnd. »Für ihn und das Mädchen.«
»Und Cardenas?«, fragte Morgenthau. »Und der Stuntman? Und Wilmot und alle anderen, die gegen uns sind?«
Kananga wollte schon zustimmend nicken, bis er sich ihrer Worte bewusst wurde. Er rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Wir können nicht jeden exekutieren, der nicht auf unserer Linie liegt«, sagte Vyborg. »Leider.«
»Ja«, sagte Kananga. »Selbst meine besten Leute werden irgendwo eine Grenze ziehen.«
»Dann müssen wir sie eben kontrollieren, anstatt sie zu exekutieren«, sagte Morgenthau.
»Aber wie sollen wir Eberly jetzt noch kontrollieren? In ein paar Stunden wird er als Leiter dieser Gemeinschaft eingesetzt werden.«
»Das hat gar nichts zu sagen«, versicherte Morgenthau. »Sie haben doch gesehen, wie diese Leute auf sein Hilfeersuchen reagiert haben. Die Querulanten und Freidenker an Bord des Habitats werden keinen Finger rühren, um ihm gegen uns zu helfen.«
»Sie haben ihn aber gewählt.«
»Ja, und nun erwarten sie von ihm, dass er den Laden schmeißt, ohne sie zu belästigen. Sie wollen nicht mit den Pflichten eines Staatsbürgers behelligt werden.«
»Aha«, sagte Kananga. »Ich verstehe.«
»Solange wir die Leute in Ruhe lassen, werden sie uns bei unseren Plänen auch freie Hand lassen.«
»Dann hat Eberly also den Titel, aber wir sorgen dafür, dass er keine Macht hat.«
»Exakt. Er wird nach unserer Pfeife tanzen müssen. Er hat gar nichts zu melden.«
»Und Wilmot?«
»Den haben wir schon abserviert.«
»Cardenas? Und der Stuntman?«, fragte Vyborg.
»Der Stuntman wird uns nach seiner Show verlassen. Er wird mit dem Schiff zurückfliegen, das die Wissenschaftler von der Erde herbringt.«
»Cardenas«, wiederholte Vyborg. »Ich will sie nicht hier haben. Sie und ihre Nano-Maschinen.«
»Und diese Lane«, sagte Kananga und fasste sich an die Backe, wo ihn ihr Tritt getroffen hatte. »Sie muss aus dem Weg geräumt werden. Und zwar für immer.«
»Man könnte sie wegen Romeros Ermordung exekutieren«, sagte Morgenthau.
»Es wäre aber besser, wenn sie bei einem Fluchtversuch umkommt«, sagte Kananga.
»Ja, das stimmt wohl.«
»Und was ist mit Cardenas?«, insistierte Vyborg.
Morgenthau sog die Luft ein. »Ich mag sie auch nicht. Sie könnte uns noch Scherereien machen.«
Dann hellte ihr Gesicht sich plötzlich auf. »Nanotechnik! Angenommen, wir finden heraus, dass Dr. Cardenas im Labor gefährliche Nanobots zusammenbraut?«
»Das tut sie aber nicht.«
»Aber die Leute werden es glauben. Vor allem dann, wenn wir ihnen erzählen, dass Romero durch Nanomaschinen den Tod fand.«
Trotz ihrer Kenntnisse der Himmelsmechanik und trotz der Versicherungen, die sie Timoschenko und den anderen beiden Männern ihrer kleinen Besatzung geben hatte, wurde Captain Nicholson immer nervöser, je mehr der Countdown sich dem Ende näherte.
Die Bildschirme zeigten alle das gewohnt langweilige Bild. Sie schienen auf dem richtigen Kurs zu sein. Der Abrieb durch den Staub war zwar ein Ärgernis, lag aber nur knapp oberhalb der prognostizierten Höchstwerte. Die anfliegende Eiskugel folgte auch ihrer vorhergesagten Bahn — im sicheren Abstand von zweihunderttausend Kilometern vom Habitat.
Und dennoch…
»Dreißig Sekunden bis zum Einschwenken in den Orbit«, sagte die Computerstimme.
Das weiß ich auch, erwiderte Nicholson stumm. Ich kann die Uhr selbst ablesen, du Blecheimer.
»Die Abriebrate steigt«, rief Timoschenko.
Der Captain sah, dass der Wert noch immer im zulässigen Bereich lag. Trotzdem war es Besorgnis erregend, auch wenn sie das Gegenteil behauptet hatte.
»Zehn Sekunden«, sagte der Computer. »Neun… acht…«
Nicholson schaute von den Monitoren auf. Die drei Männer waren über ihre Konsolen gebeugt und wirkten genauso angespannt wie sie.
Was, wenn eine Panne auftritt, fragte sie sich. Was soll ich dann tun? Könnte man dann überhaupt noch etwas tun?
»Drei… zwei… eins. Einschwenken in den Orbit.«
Der Navigator schaute von der Konsole auf; das besorgte Stirnrunzeln wich einem breiten Grinsen. »Das war's. Wir sind im Orbit. Mit einer kleinen Abweichung.«
»Die Abriebrate nimmt schnell ab«, rief Timoschenko.
Nicholson gestattete sich ein verkniffenes Lächeln. »Glückwunsch, meine Herren. Wir sind nun Saturnmond Nummer einundvierzig.«
Dann erhob sie sich von ihrem Sitz, wobei sie bemerkte, dass die durchgeschwitzte Bluse ihr am Rücken klebte. Sie warf die Arme in die Luft und stieß ein wildes, schrilles ›JUHUU!‹ aus.
Wie die meisten anderen Bewohner des Habitats verfolgte Manuel Gaeta das letzte Orbitalmanöver auf Video. Mit Kris Cardenas neben sich.
»Es ist wirklich ein großartiger Anblick, nicht wahr?«, murmelte sie und schaute aufs Bild des Saturns mit den vielen farbigen Bändern, die um den Planeten wirbelten. Die über dem Äquator aufgehängten Ringe leuchteten hell im Licht der fernen Sonne und warfen einen tiefen Schatten aufs Antlitz des Planeten.
Die Ringe neigten sich vor ihren Augen, fast als ob sie dem sich nähernden Habitat entgegenkommen wollten — mit jeder Sekunde wurden sie schmaler und verkürzten sich perspektivisch, bis sie nur noch eine Messerklinge waren, die in den gewölbten Körper des Saturns schnitt.
Über der Abbildung des Planeten wurde ein Schriftzug eingeblendet: STABILER ORBIT ERREICHT. »Das war's«, sagte Gaeta. Er drehte sich um und gab Cardenas einen Schmatz auf den Mund.
»Das sollten wir feiern«, sagte Cardenas. Übermäßig begeistert schien sie aber nicht.
»Gleich nach Eberlys Amtseinführung wird es eine Riesen- Fete geben«, sagte Gaeta ebenso trübsinnig.
»Ich bin nicht in der Stimmung, auszugehen.«
»Ich weiß. Diese Sicherheits-Affen sind genauso angenehm wie Hämorrhoiden. Ich schütte mir ein paar Biere rein und verpasse den beiden eins.«
»Nein, das wirst du nicht«, sagte Cardenas bestimmt. »Kein Alkohol für dich. Morgen werden wir zu den Ringen fliegen.«
»Ja. Morgen.«
Keiner von ihnen sprach es aus. Aber sie wussten beide, dass Gaeta nach dem Stunt ins Ringsystem des Saturns das Habitat verlassen und zur Erde zurückkehren würde.
»Sie muss eliminiert werden«, sagte Morgenthau bestimmt. »Und diese Cardenas auch.«
Eberly führte neben ihr die Prozession an, die sich über den zentralen Weg von Athen zum Seeufer hinunterzog, wo die Zeremonie zur Amtseinführung stattfinden würde. Hinter ihnen gingen in gebührendem Abstand von ein paar Schritten Kananga und Vyborg, der neben dem großen, schlanken langgliedrigen Ruander wie Quasimodo anmutete. Und hinter ihnen marschierten wiederum ein paar hundert ihrer Anhänger. Obwohl alle Angehörigen des Sicherheitsdiensts und der Kommunikations- und Personal-Abteilung aufgefordert worden waren, der Amtseinführung beizuwohnen, hatte gerade mal die Hälfte der Belegschaft sich bequemt, zu erscheinen.
»Eliminieren?«, sagte Eberly schroff und versuchte die Furcht zu verbergen, vor der er innerlich zitterte. »Sie können jemanden von Cardenas' Format doch nicht einfach so eliminieren. Dann werden Ermittler von der Erde mit Ionentriebwerks-Schiffen herfliegen und der Sache auf den Grund gehen.«
Morgenthau schaute ihn von der Seite an. »Dann eben neutralisieren. Ich will jedenfalls nicht, dass sie hier an diesen fluchwürdigen Nano-Maschinen arbeitet.«
»Sie wollen?«, sagte Eberly, ohne den Schritt zu verlangsamen. »Seit wann geben Sie denn hier die Befehle?«
»Von Anfang an. Und dass Sie das nur nicht vergessen.«
»Ich bin derjenige, der ins Amt eingeführt wird«, sagte Eberly mit einer Verve, die eigentlich gar nicht echt war. »Ich werde als Anführer dieser Gemeinschaft eingesetzt.«
»Sie tun trotzdem, was ich Ihnen sage«, sagte Morgenthau mit leidenschaftsloser und harter Stimme. »Wir wissen, dass Sie versucht haben, uns zu hintergehen. Sie und Ihr Aufgebot.« Sie lachte sarkastisch.
»Das war ein notwendiges taktisches Manöver. Ich hatte doch nie die Absicht…«
»Fügen Sie Ihrem Sündenregister nicht noch eine weitere Lüge hinzu. Ich müsste nur einen Anruf nach Amsterdam tätigen, um Sie aus diesem Habitat entfernen und wieder in Ihre Gefängniszelle in Wien verfrachten zu lassen.«
Eberly verkniff sich die Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Sie hatten nun das Naherholungsgebiet am Seeufer erreicht, wo hunderte Stühle in ordentlichen Reihen vor der Orchestermuschel aufgestellt worden waren. Einige Dutzend Leute hatten bereits Platz genommen. Professor Wilmot saß allein oben auf der Bühne und machte einen müden bis gelangweilten Eindruck. Die Musiker, die sich an einer Seite der Bühne versammelt hatten, nahmen ihre Instrumente und formierten sich zu einem mehr oder weniger ordentlichen Haufen.
Eberly blieb hinter der letzten Reihe der überwiegend leeren Stühle stehen. Alles lief genau nach Plan. Dies war der Moment, auf den er seit jenem Gespräch im Gefängnis Schönbrunn hingearbeitet hatte. Er hatte diese Amtseinführungs-Zeremonie bis ins kleinste Detail geplant. Das Einzige, worauf er keinen Einfluss hatte, war die erschreckende Gleichgültigkeit der Habitat-Bevölkerung. Das und Morgenthaus zunehmend feindselige Haltung ihm gegenüber. Es stimmt alles bis ins Detail, sagte Eberly sich, aber der Tag ist trotzdem im Eimer.
»Sie müssen drei Schritte hinter mir gehen«, wandte er sich an Morgenthau.
»Natürlich«, sagte sie mit einem wissenden Lächeln. »Ich verstehe es sehr wohl, die Rolle des gehorsamen Frauchens zu spielen.«
Eberly holte tief Luft. So wird das endlos weiter gehen, wurde er sich bewusst. Sie wird mir das Leben zur Hölle machen.
Dennoch setzte er ein Lächeln auf und richte sich zu seiner ganzen Größe auf. Er blieb hinter der letzten Reihe der Stühle stehen, bis er Blickkontakt mit dem Bandleader herstellte. Eberly nickte und ging den breiten Gang zwischen den leeren Stühlen entlang. Zwischen dem zweiten und dritten Schritt stimmte die Band eine halbherzige Interpretation von ›Hail to the Chief‹ an.
Holly verfolgte die Amtseinführungs-Zeremonie von ihrem Apartment aus; sie war zutiefst verunsichert, was die Zukunft wohl für sie bereithalten würde. Malcolm hatte versucht, Kananga an die Wand zu spielen und hatte nichts erreicht. Was wird er tun, nachdem er offiziell ins Amt eingeführt wurde?
Was wird Kananga tun?
Holly kam zu dem Schluss, dass sie nicht warten durfte, bis andere über ihr Schicksal entschieden. Sie schnappte sich ein paar Kleidungsstücke, stopfte sie in eine Sporttasche und ging zur Apartmenttür. Ich sollte mich lieber an einem sicheren Ort verstecken, sagte sie sich, bis ich genau weiß, was sie vorhaben.
Das Telefon summte. Sie stellte die Tasche ab und holte den Palmtop heraus.
Raoul Tavaleras Gesicht erschien auf dem winzigen Monitor. Er wirkte erschöpft und derangiert.
»Holly? Bist du in Ordnung?«
»Mir geht es gut, Raoul«, erwiderte sie mit einem Kopfnicken. »Aber ich kann jetzt wirklich nicht mit dir sprechen.«
»Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Ach…« Holly wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war wirklich gerührt. »Raoul, du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Ich kann schon auf mich selbst aufpassen.«
»Schon wieder dieser Kananga und seine Schläger?«
Sie zögerte. »Du solltest dich da raushalten, Raoul. Du könntest sonst große Schwierigkeiten bekommen.«
Selbst auf dem winzigen Bildschirm sah sie sein entschlossen vorgeschobenes Kinn. »Wenn du in Schwierigkeiten bist, werde ich dir helfen.«
Wie sollte sie ihn nur loswerden, ohne seine Gefühle zu verletzen? »Raoul, du bist wirklich ein feiner Kerl«, platzte Holly heraus. »Aber ich muss nun gehen. Bis später.«
Sie schaltete das Telefon aus und steckte es ein. Dann hob sie die Tasche auf und verließ das Apartment. Ich will ihm nicht schaden, sagte sich. Er soll nicht auch noch in diesen Schlamassel hineingezogen werden.
Ihr folgten nur zwei Sicherheitsleute, als sie den Pfad entlangging: ein massiger Mann und eine schlanke Frau, die entweder hispanischer oder orientalischer Abstammung war; Holly vermochte das bei der Entfernung, in der sie ihr folgten, nicht zu sagen. Beide trugen schwarze Gewänder und Hosen, mit denen sie vorm Hintergrund der weißen Gebäude des Dorfs wie Tintenkleckse auf einem Schneefeld wirkten.
Sie grinste. Ich hänge diese beiden Clowns ab, sobald ich in den Tunnels verschwinde.
Den dritten Sicherheitsagenten, der ihr weit vorausging, bemerkte sie allerdings nicht. Aber sie entging ihm nicht. Hollys gesamte Garderobe war mit einem monomolekularen Geruchsstoff besprüht worden, der die Agenten in die Lage versetzte, sie wie Bluthunde zu verfolgen.
»Du verpasst noch die Amtseinführung«, sagte Gaeta.
Cardenas zuckte die Achseln. »Dann verpasse ich sie eben.«
Gaetas massiver Panzeranzug stand wie eine groteske Statue mitten in der Werkstatt. Die Kammer war mit dem Hintergrundsummen elektrischer Ausrüstung erfüllt und der stummen Konzentration der Spezialisten, die ihre Arbeit verrichteten. Fritz und zwei seiner Techniker benutzten den Laufkran, um den klobigen Anzug langsam in eine waagrechte Position zu bringen und auf den achträdrigen Transportwagen zu verladen. Für Cardenas sah es so aus, als ob eine Statue vom Sockel geholt würde. Ein dritter Techniker war in den Anzug gekrochen: Cardenas sah einen hellbraunen Haarschopf durch die offene Luke an der Rückseite. An einer Konsole an der Wand der Werkstatt saß Nadia Wunderly und verfolge die Flugbahn des eisbedeckten Asteroiden, der sich im letzten Anflug auf den Hauptring befand, bevor er in eine Umlaufbahn um den Saturn gehen würde. Berkowitz tigerte nervös von einem zum anderen und zeichnete alles mit seiner Digicam auf.
Gaeta ging zum Diagnoserechner und beugte sich darüber. Konzentriert studierte er die Reihen der grün leuchtenden Lampen.
Er will mich wirklich verlassen, sagte Cardenas sich. Ich sollte überhaupt nicht hier sein. Ich sollte ihn nicht ablenken. Er sollte sich ausschließlich auf seinen Job konzentrieren.
Und doch blieb sie und trat unbehaglich von einem Fuß auf den andern, während die Männer um sie herum ihre Aufgaben erledigten, bevor sie den Anzug zur Luftschleuse brachten. Von dort würde man ihn an Bord des Raumboots schaffen, das Manny zu den Ringen bringen würde.
Während Gaeta ihnen dabei zusah, wie sie den Anzug sachte absenkten, wurde Cardenas sich bewusst, dass dieses Gehäuse für die nächsten zwei Tage seine Heimat sein würde. Er wird darin leben müssen, darin arbeiten… und vielleicht darin sterben.
Aufhören!, befahl sie sich. Was soll der Quatsch. Er hat so schon genug Sorgen, ohne dass du ihn auch noch mit deinen belästigst.
Es bedurfte einer enormen Willensanstrengung, doch schließlich hörte Cardenas sich sagen: »Manny, ich gehe am besten wieder in mein Apartment. Ich…« Sie verstummte, berührte seine starke, muskulöse Schulter und küsste ihn leicht auf den Mund. »Wir sehen uns nach deiner Rückkehr«, sagte sie.
Er nickte mit einem todernsten Gesichtsausdruck. »In zwei Tagen.«
»Viel Glück«, sagte sie und vermochte kaum die Hand von seiner Schulter zu nehmen.
»Kein Grund zur Sorge«, sagte er und rang sich ein kleines Lächeln für sie ab. »Das wird ein Spaziergang werden.«
»Viel Glück«, wiederholte sie. Dann wandte sie sich rasch von ihm ab und ging zur Werkstatttür. Ihre Gedanken überschlugen sich. Er wird es schon schaffen. Er hat schon gefährlichere Stunts als diesen überstanden. Er weiß, was er tut. Fritz wird schon nicht zulassen, dass er unnötige Risiken eingeht. Er wird in zwei Tagen zurück sein. In zwei Tagen wird alles vorbei sein, und er ist wieder in Sicherheit.
Ja, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Und dann wird er das Habitat verlassen, zur Erde zurückfliegen und dich für immer verlassen.
»Deshalb«, fuhr Professor Wilmot fort, »erkläre ich gemäß den Gründungsstatuten dieser Gemeinschaft, dass die neue Verfassung geltendes Recht dieses Habitats wird. Außerdem erkläre ich, dass Sie, Malcolm Eberly, nachdem Sie in freier Wahl ordnungsgemäß von der Bevölkerung gewählt wurden, nun offiziell der neue Verwaltungschef dieses Habitats sind.«
Die paar hundert Leute, die auf den im Gras verteilten Stühlen saßen, sprangen auf und applaudierten. Die Band stimmte ›Happy Days Are Here Again‹ an. Wilmot drückte Eberly schlaff die Hand und nuschelte: »Glückwunsch.«
Eberly hielt sich an den Seiten des Podiums fest und ließ den Blick über das spärliche Publikum schweifen. Da saß Morgenthau in der ersten Reihe und musterte ihn wie eine Lehrerin, die darauf wartete, dass ihr Schüler die Rede vorlas, die zu schreiben sie ihn genötigt hatte. Kananga und Vyborg saßen hinter ihr.
Eberly hatte eine Antrittsrede verfasst, die er aus den Worten Churchills, Kennedys, der beiden Roosevelts und Shakespeares abgekupfert hatte.
Er schaute auf die Anfangszeilen, die auf dem Monitor des Podiums abgebildet wurden. Mit einem Kopfschütteln, das für jeden im Publikum sichtbar war, schaute er dann auf und sagte: »Nun ist nicht die Zeit für politische Reden. Wir sind sicher am Ziel angekommen. Mögen jene von uns, die Gläubige sind, Gott danken. Seien wir alle uns bewusst, dass morgen die eigentliche Arbeit beginnt. Ich beabsichtige, bei der Weltregierung eine Petition einzureichen und sie zu bitten, uns als eigenständige und unabhängige Nation anzuerkennen — genauso wie Selene und Ceres bereits anerkannt wurden.«
Im ersten Moment herrschte erstauntes Schweigen, und dann sprangen alle auf und applaudierten begeistert. Alle außer Morgenthau, Kananga und Vyborg.
Raoul Tavalera verfolgte das Einschwenken in den Orbit und Eberlys Antrittsrede von seinem Apartment aus, ohne die Übertragung jedoch richtig wahrzunehmen. Er dachte an Holly. Sie war in Gefahr, und sie brauchte Hilfe. Als er ihr seine Hilfe angeboten hatte, hatte sie sie jedoch rundweg abgelehnt.
Die Geschichte meines Lebens, sagte er sich missmutig. Niemand legt Wert auf mich. Kein Schwein interessiert sich für mich. Ein Niemand, der bin ich.
Er wunderte sich über den starken Schmerz, den er verspürte. Holly war nett zu ihm gewesen — mehr als nur nett —, seitdem er an Bord des Habitats gekommen war. Er erinnerte sich an ihre Verabredungen. Das Abendessen im Bistro und einmal sogar im Restaurant Nemo. Das Picknick draußen am Habitat-Ende, wo sie mir vom alten Don Diego erzählt hat. Sie mag mich, sagte er sich. Ich weiß, dass sie mich mag. Aber wieso will sie mich dann nicht bei sich haben? Warum nicht?
Er wollte sie wieder anrufen, doch das Kommunikations- System sagte, ihr Telefon sei abgeschaltet worden. Abgeschaltet? Wieso das? Dann traf ihn die Erkenntnis. Sie ist schon wieder auf der Flucht. Sie will sich vor Kananga und seinen Schergen verstecken. Deshalb hat sie auch das Telefon deaktiviert, damit man sie nicht aufspüren kann.
Langsam erhob Tavalera sich vom Stuhl, auf dem er fast den ganzen Tag gesessen hatte. Holly ist in Gefahr, und sie braucht Hilfe, ob sie das nun einsieht oder nicht. Meine Hilfe. Ich muss sie finden, ihr helfen und ihr beweisen, dass sie in dieser Lage nicht allein ist.
Zum ersten Mal in seinem Leben fasste Raoul Tavalera den Entschluss, dass er handeln musste — ungeachtet aller Konsequenzen. Es wird Zeit, dass ich jemand werde, sagte er sich. Ich muss Holly finden, bevor Kanangas Paviane es tun.
Konzentrier dich, sagte Gaeta sich. Vergiss alles außer dem Auftrag, den du durchführen musst. Vergiss Kris, vergiss überhaupt alles andere — außer dass du diesen Stunt durchführen musst.
Er stand an der inneren Luke der Luftschleuse, umgeben von Fritz, Berkowitz und Timoschenko, der das Raumboot zu den Ringen fliegen würde. Die anderen Techniker waren hinter ihm und prüften den Anzug ein letztes Mal aus.
Berkowitz hatte Microcams an den Wänden um die Luftschleuse installiert, in der Luftschleusenkammer und sogar am Stirnband, das sein modisch gelocktes und braun getöntes Haar bändigte.
»Was ist das denn für ein Gefühl, wenn man als erster Mensch einen Durchgang durch die Sarurnringe wagt?«, fragte Berkowitz, dem es vor Aufregung fast die Sprache verschlug.
»Nicht jetzt, Zeke«, sagte Gaeta. »Muss mich auf die Arbeit konzentrieren.«
Fritz trat mit einem strengen Ausdruck zwischen sie. »Er kann jetzt keine Interviews geben.«
»Schon gut«, sagte Berkowitz verständnisvoll, obwohl die Enttäuschung ihm ins Gesicht geschrieben stand. »Wir werden nur die Vorbereitungen dokumentarisch aufzeichnen und die Interviews später darüber legen.«
Gaeta wandte sich an Timoschenko: »Dort draußen gibt es nur dich und mich.«
»Keine Sorge«, sagte Timoschenko ernst. »Ich bringe dich zum B-Ring, fliege dann durch die Cassini-Teilung und hole dich auf der anderen Seite der Ringebene wieder ab.«
Gaeta nickte. »Richtig.«
»Der Anzug ist durchgecheckt und einsatzbereit«, sagte einer der Techniker.
»Irgendwelche Probleme?«, fragte Gaeta.
»Die Zange am rechten Arm ist etwas unbeweglich. Wenn wir noch ein paar Stunden Zeit hätten, würde ich sie noch einmal ausbauen und gängig machen.«
»Du wirst die Zange sowieso nicht brauchen«, warf Fritz ein.
»Sie funktioniert schon«, sagte der Techniker. »Nur nicht so gut, wie sie es eigentlich sollte.«
Wenn es gut genug für Fritz ist, ist es in Ordnung, sagte Gaeta sich.
»Ich werde sie noch einmal überprüfen«, sagte Fritz.
Gaeta nickte lächelnd. Damit hatte er schon gerechnet. Es gab in seiner Welt drei Qualitätskriterien: durchschnittlich, überdurchschnittlich — und Fritz. Das scharfe Auge und die hohen Qualitätsansprüche seines Cheftechnikers hatten Gaeta mehr als einmal das Leben gerettet.
Nach nicht einmal einer halben Stunde hatte Holly die Verfolger in den Tunnels abgehängt. Sie war durch eine Zugangsluke geschlüpft, eine Leiter hinabgeklettert und dann leichtfüßig den unteren Tunnel entlanggelaufen, bis sie zum großen Ventil an der Wasserlinie kam. Holly wusste, dass diese Rohrleitung eine Reserveleitung war und nur dann benutzt wurde, wenn die Hauptleitung wegen einer Inspektion oder Reparatur abgesperrt wurde. Also gab sie die Code-Kombination ins elektronische Schloss der Luke ein und kroch in das dunkle Rohr. Dann schloss sie geräuschlos die Luke hinter sich.
Sie vermochte sich in der Röhre nicht aufzurichten und nicht einmal zu knien. Sie rutschte fast von selbst auf dem Bauch entlang. Die Röhre war trocken, und die glatte Plastikauskleidung war eine gute Rutschbahn. Das einzige Problem bestand darin, in der Dunkelheit die Entfernung abzuschätzen; deshalb benutzte sie einen Punktstrahler, um die Luken auszumachen. Holly kannte die Abstände zwischen den Luken auf den Zentimeter genau. Nachdem sie einen halben Kilometer gekrochen war, hielt sie an und öffnete eins der Lunchpakete, die sie mitgenommen hatte.
Während sie im trüben Schein der Taschenlampe das Sandwich mampfte, fühlte sie sich fast wie eine Maus in ihrem Bau. Sie wusste, dass dort draußen große Katzen lauerten. Aber hier bin ich sicher. Es sei denn, jemand kommt auf die Idee, diese Reserveleitung zu fluten. Dann werde ich eine ersoffene Maus sein.
Die beiden schwarz gekleideten Sicherheitsleute standen unsicher im Tunnel und ließen den Blick an den Rohrleitungen und Kabelsträngen entlang schweifen.
»Sie ist uns entwischt«, sagte der eine zum dritten Verfolger, der einen grauen Jogginganzug trug. Er war groß, langgliedrig und hatte kein Gramm Fett zu viel. Er sah aus wie ein Athlet, der jeden Tag hart trainierte.
Er hielt den Geruchsdetektor in der Hand — ein längliches Kästchen in der gleichen Farbe wie sein Jogginganzug.
»Sie ist definitiv aus dieser Richtung gekommen«, sagte er.
»Aber wohin ist sie verschwunden?«, fragte die Frau.
»Das ist nicht mehr euer Problem. Ich übernehme nun. Ihr könnt zurückgehen und dem Boss Meldung machen.«
Sie hatten es aber nicht eilig zu gehen; nicht etwa, weil sie so diensteifrig gewesen wären, sondern weil sie keine Lust hatten, Kananga mit leeren Händen unter die Augen zu treten.
»Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?«, fragte der Mann.
Der grau gekleidete Scout lächelte nur und hielt den elektronischen Detektor hoch. »Ich habe jede Hilfe, die ich brauche.«
Gaeta war zuvor schon im Raumboot gewesen. Fritz hatte darauf bestanden, dass der Stuntman sich mit dem Raumfahrzeug vertraut machte, das ihn vom Habitat zu den Ringen befördern würde. Manny hatte festgestellt, dass das Boot sich kaum von den vielen Dutzend anderen unterschied, die er bereits gesehen hatte: zweckmäßig, spartanisch und auf Effizienz, nicht auf Komfort ausgelegt. Das Cockpit bestand aus zwei Sitzen, die in die Flugsteuerungskonsolen hineinragten. Dahinter gab es einen winzigen ›Aufenthaltsraum‹ mit einer Vakuum-Toilette, die gleich rechts neben dem Gefrierfach und dem Mikrowellenofen in die Wand eingelassen war. Das Waschbecken befand sich auch dort. Zwei Netzschlafsäcke hingen an der gegenüberliegenden Wand.
Die Ladebucht war mit Druck beaufschlagt. Während Timoschenko die Systeme des Raumfahrzeugs also zum letzten Mal ausprüfte, schlüpfte Gaeta durch die Luke und kontrollierte den Anzug.
Er füllte die Ladebucht fast ganz aus, wobei der Helm das Oberlicht verdeckte. Gaeta schaute zum Helmvisier hoch. Manche Leute schauderten, wenn sie den Anzug zum ersten Mal sahen. Gaeta hatte jedoch immer das Gefühl, als ob er seinem Zwillingsbruder begegnete. Gemeinsam waren sie viel mehr als die Summe der einzelnen Teile: der Anzug eine leere Hülle, der Mensch ein hilfloser Schwächling. Doch zusammen — zusammen haben wir schon großartige Leistungen vollbracht, nicht wahr? Gaeta hob den Arm und tätschelte den Oberarm des Anzugs. Er stellte fest, dass ein paar Dellen, die der Simulationstest in der gepanzerten Brust des Anzugs hinterlassen hatte, noch nicht ausgebeult worden waren. Er schüttelte den Kopf und sagte sich, dass er das bei Fritz würde reklamieren müssen. Er hätte dich besser behandeln müssen, sagte Gaeta zum Anzug.
»Start in fünf Minuten«, drang Timoschenkos Stimme durch die offene Cockpitluke. »Du musst dich angurten.«
Gaeta nickte. Mit einem letzten Blick auf den Anzug drehte er sich um und ging ins Cockpit zurück, um die Reise durch die Ringe des Saturns anzutreten.
Kris Cardenas versuchte sich in den letzten Stunden vor Gaetas Start irgendwie zu beschäftigen. Eberly hatte das Nano-Labor wieder freigegeben; also war sie dorthin gegangen, wo sie wirkliche Arbeit zu erledigen hatte. Es war jedenfalls besser, als im Apartment zu hocken und die Tränen zu unterdrücken wie ein hilfloses Weibchen, das brav zu Hause wartete, während ihr Mann in die Schlacht zog.
Missbilligend stellte sie fest, dass Tavalera nicht an der Arbeit war; dann sagte sie sich jedoch, dass er wahrscheinlich noch nichts wusste von der Öffnung des Labors. Sie versuchte ihn telefonisch zu erreichen, aber das Kommunikationssystem vermochte ihn nicht zu finden, und sein Palmtop war ausgeschaltet.
Das sieht Raoul aber gar nicht ähnlich, sagte sie sich. Er ist doch sonst so zuverlässig.
Sie spielte mit dem Gedanken, Reparatur-Nanos für Urbains Titan-Landefahrzeug zu konstruieren; dann legte sie es ad acta und wandte sich dem Video zu.
»Dies ist das Raumboot«, sagte Zeke Berkowitz mit einer Stimme auf dem schmalen Grat zwischen überzeugter Selbstsicherheit und überschwänglicher Begeisterung. »In genau fünfzehn Sekunden wird es vom Habitat ablegen und die Reise antreten, die Manuel Gaeta in die Ringe des Saturns bringt.«
Cardenas sah das Habitat aus der Außenperspektive. Sie wusste, dass Berkowitz' Sendung an alle Mediennetzwerke auf der Erde übertragen wurde, und sie hörte, wie die Computerstimme die letzten Sekunden herunterzählte.
»Drei… zwei… eins… Start.«
Das Raumboot löste sich von der weiten, gewölbten Oberfläche des Habitats — es wirkte wie ein kantiger metallener Floh, der von einem Elefanten sprang. Vorm Hintergrund des irisierenden Glühens des vielfarbigen Saturns stieg das Raumboot auf, drehte sich langsam und verschwand dann aus dem Blickfeld.
»Manuel Gaeta ist unterwegs«, verkündete Berkowitz gewichtig. »Er wird als erster Mensch die mysteriösen und faszinierenden Saturnringe durchqueren.«
»Auf Wiedersehen, Manny«, flüsterte Cardenas in der sicheren Überzeugung, ihn nie wieder zu sehen.
Obwohl sie wusste, dass sie in der Reserve-Pipeline völlig sicher war, verspürte Holly doch zunehmendes Unbehagen. Vor dem geistigen Auge sah sie, wie irgendein Wartungs- Ingenieur beiläufig den Hauptwasserfluss des Habitats von der Primär-Pipeline zur Reserve-Rohrleitung umleitete.
Dieser Routinevorgang würde tödliche Konsequenzen für sie haben: Eine schäumende Wasserwand würde durch die Röhre auf sie zuschießen, gegen sie anbranden und mit unwiderstehlicher Wucht mitreißen — sie würde von den Fluten umhergewirbelt und ertrinken.
Was soll der Blödsinn, rügte sie sich. Du machst dich nur selbst verrückt wie ein kleines Kind, das sich vor Ungeheuern unterm Bett fürchtet. Dennoch lauschte sie, während sie durch die trockene Pipeline kroch, nach dem Rauschen von Wasser und tastete mit den Fingerspitzen nach der leichtesten Erschütterung der Röhre. Zumal die Rohrleitung doch nicht so trocken war: Hier und da sagten feuchte Stellen und sogar Pfützen ihr, dass vor nicht allzu langer Zeit hier Wasser durchgeflossen war.
Ursprünglich hatte sie in der Pipeline bleiben wollen, bis sie am Habitat-Ende eine große U-Kurve beschrieb. Vielleicht würde sie doch früher aussteigen. Sie verspürte nämlich das Bedürfnis, wieder aufrecht zu stehen und sich zu recken und zu strecken. Also rutschte sie weiter durch die Pipeline, wobei die Angst vorm Ertrinken ständig an ihr nagte.
Der Scout erreichte mit Leichtigkeit die Luke, durch die Holly in die Pipeline eingestiegen war. Der elektronische Detektor folgte der Geruchsspur, die sie hinterlassen hatte, ohne Probleme. Mein braver Bluthund, sagte er sich mit einem schiefen Lächeln.
Nun musste er eine Entscheidung treffen. Soll ich in die Rohrleitung gehen und ihr folgen oder draußen bleiben? Er beschloss, draußen zu bleiben. Er käme schneller voran, wenn er ging, als wenn er durch die dunkle Rohrleitung kröche. Sie muss früher oder später herauskommen, und wenn sie das tut, wird das Spürgerät mir sagen, durch welche Luke sie ausgestiegen ist.
Aber welche Richtung hat sie eingeschlagen? Er wusste, dass sie sich von der Ortschaft entfernte und in Richtung des Habitat-Endes bewegte. Ich werde diesem Vektor folgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie umgekehrt ist und wieder zur Ortschaft zurückgeht, ist ziemlich gering. Trotzdem rief er Kananga an. Er schilderte ihm die Situation und riet ihm, ein paar Leute an den Pipeline-Luken in der Nähe der Ortschaft zu postieren.
»Ich werde etwas ganz anderes tun«, sagte Kananga mit einem sardonischen Grinsen. »Ich werde die Instandhaltung anweisen, den Hauptwasserfluss in diese Rohrleitung umzuleiten. Dann wird sie herausgespült.«
Tavalera fuhr mit dem Fahrrad auf dem Pfad, der sich durch die Obstgärten und das Ackerland zog, zum Habitat-Ende. Er ließ das Rad am Ende des Pfads stehen und folgte dem Gehweg, der durch den Wald am Ende des Habitats führte. Es war ein merkwürdiges Gefühl: Er sah, dass er eine leichte Steigung erklomm und hatte dennoch das Gefühl, bergab zu gehen; die Gravitation nahm mit jedem Schritt spürbar ab.
Schließlich erreichte er die Stelle im Wald, wo er und Holly einmal gepicknickt hatten. Ich kann nicht das ganze Habitat nach dir absuchen, Holly, sagte er sich. Also musst du zu mir kommen.
Tavalera setzte sich auf den Boden und wartete darauf, dass sie auftauchte. Das war nach seinem Dafürhalten die beste Vorgehensweise.
Gaeta verspürte die gleiche Aufregung, die ihn immer befiel, wenn er im Anzug eingeschlossen war, wenn alle Systeme eingeschaltet waren und funktionierten. Aber es war nicht nur Aufregung. Was er verspürte, war ein Gefühl der Macht. Der Anzug verlieh ihm die Kraft eines Halbgottes. Der Anzug schützte ihn vor den Gefahren, mit denen das Universum ihn bedrohte. Er fühlte sich praktisch unverletzlich und unbesiegbar. Wenn du dich weiter dieser Illusion hingibst, wirst du am Ende tot sein, ermahnte er sich. Atme tief durch und mach dich an die Arbeit. Und vergiss nicht, dass es verdammt gefährlich ist dort draußen.
Trotzdem fühlte er sich wie Superman.
»Wir nähern uns dem Eintrittspunkt«, ertönte Timoschenkos rauhe Stimme im Helm-Kopfhörer.
Gaeta nickte. »Der Anzug ist geschlossen. Öffne die Ladeluke.«
»Öffne Luke.«
Gaeta hatte diese Prozedur schon viele Male durchlaufen. Er verspürte immer einen Nervenkitzel, wenn die Luke aufglitt und er ins Universum mit der endlosen schwarzen Leere und den unzähligen leuchtenden Sternen schaute. Diesmal war es jedoch etwas anderes.
Als die Luke sich öffnete, wurde die Ladebucht mit Licht geflutet — mit blendendem, gleißendem Licht. Gaeta schaute auf ein schier endloses, strahlend weißes Feld: so weit das Auge reichte, war nichts außer glitzerndem, funkelndem Licht. Es war wie der Blick auf einen mächtigen Gletscher oder ein Schneefeld, das sich bis in die Unendlichkeit erstreckte.
Nein, sagte er sich, es ist wie der Anblick einer ganzen Welt aus Diamanten: aus funkelnden Diamanten. Und sie sind nicht nur weiß; sie leuchten und schimmern wie Diamanten, wie Milliarden heller, wunderschöner Edelsteine, die von einem Ende des Universums bis zum anderen verstreut sind.
»Jesus Cristo«, murmelte er atemlos.
»Was war das?«, fragte Timoschenko.
»Ich steige aus«, sagte Gaeta.
»Das Flugbahn-Programm ist einsatzbereit?«
Gaeta rief das Flugbahn-Programm mit einem Sprachbefehl auf. Es projizierte die bunten Kurven aufs Innere des Helmvisiers.
»Einsatzbereit.«
»Fertig für Ausstieg in acht Sekunden. Sieben…«
Gaeta musste sich mit einer Willensanstrengung auf die vor ihm liegende Aufgabe konzentrieren. Sein Blick schweifte immer wieder übers endlose Feld aus gleißenden Edelsteinen, das sich vor ihm ausbreitete.
Das sind nur Eisflocken, sagte er sich. Nichts anderes als Staubflocken mit einem Eisüberzug.
Ja, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Und Diamanten sind nichts anderes als Kohlenstoff. Und die Mona Lisa ist auch nichts anderes als ein paar Farbkleckse auf einem Stück Leinwand.
»…eins …null …Start«, sagte Timoschenko.
Der Mastercomputer des Anzugs zündete das Schubtriebwerk im Rückentornister, und Gaeta spürte, wie er sanft aus der Ladebucht geschoben wurde. Nun schaute er nach unten aufs endlose Feld funkelnder Edelsteine und schwebte auf sie zu.
Wie schön, sagte er sich. Wie unglaublich schön!
»Sag etwas!«, ertönte Berkowitz Stimme, die per Relais- Schaltung aus dem Habitat übertragen wurde. »Sprich ein paar Worte für die Nachwelt.«
Gaeta leckte sich die Lippen. »Dies ist ein unglaublich schöner Anblick — der schönste, den ich jemals gesehen habe. Es ist… es ist… einfach unbeschreiblich. Mit Worten vermag man das überhaupt nicht auszudrücken.«
Für ein paar Minuten schwebte Gaeta über der Ringebene, wobei der Computer ihn automatisch auf der vorprogrammierten Flugbahn hielt. Er wusste, dass die Helm- Kameras alles aufnahmen, so dass er im Moment nicht viel zu tun hatte. Er staunte nur über den überwältigenden Glanz, der ihn umgab.
»Es ist wie im Märchen«, sagte er, wobei er sich kaum bewusst war, dass er laut sprach. »Ein Feld aus Diamanten. Eine ganze Welt aus Diamanten ist unter mir ausgebreitet. Ich fühle mich wie Sindbad der Seefahrer und Marco Polo und Ali Baba in einer Person.«
»Das ist großartig«, ertönte Berkowitz' Stimme. »Echt großartig.«
»Bist du schon von irgendwelchen Partikeln getroffen worden?«, fragte Fritz.
»Nein, jedenfalls von keinen, die die Sensoren erfasst hätten«, erwiderte Gaeta. »Ich stehe noch zu hoch über dem Ring.« Guter, alter Fritz, sagte er sich. Er versucht mich in die Wirklichkeit zurückzuholen.
Gaeta verspürte erneut einen sanften Schub im Rücken und näherte sich weiter dem Ring. In ein paar Minuten würde er ihn durchfliegen. Das wäre der gefährliche Teil des Stunts: zwischen all diesen kleinen und großen Brocken hindurch zu fliegen, während sie in ihrem Orbit um den Planeten rasen.
Nun sah er auch, dass der Ring keine massive Schicht war. Er bestand eindeutig aus vielen einzelnen Ringen, die vor seinen Augen sich verflochten und wieder voneinander lösten. Er sah Sterne durch den Ring und die Wölbung des mächtigen Saturn mit seinen bunten Wolkenbändern.
»Wie ein Zyklon in den südlichen Breiten«, berichtete er.
»Das ist jetzt egal«, sagte Fritz. »Konzentriere dich auf die Ringe.«
»Ja, Massa.«
»Was ist mit den Speichen?« Das war Wunderly, deren Stimme vor lauter Überschwang vibrierte. »Ich sehe sie im Blickfeld deiner Kameras. Eine nähert sich dir.«
Gaeta erkannte dunklere Stellen im Ring, die sich kräuselten, wie wenn Fans im Stadion eine Welle machten.
»Ja, sie bewegt sich in meine Richtung«, sagte er.
Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass das Gebilde wie eine Wolke aus dunkleren Staubteilchen aussah, die von der Ringebene aufstieg und neben der helleren Materie des Hauptkörpers des Rings her flog. Und er näherte sich ihr mit einer recht hohen Geschwindigkeit.
»Ich werde in sie hinein fliegen«, sagte er.
»Warte«, sagte Fritz. »Wir wollen sie erst einmal untersuchen.«
»Sie fliegt an mir vorbei; ich werde sie verfehlen.«
»Es wird noch weitere geben.«
Gaeta wollte aber nicht warten, bis wieder eine Speiche vorbeikam. Er zog den rechten Arm aus dem Anzugsärmel und gab einen Manöverbefehl für das Navigations-Programm ein.
»Auf geht's«, sagte er, als der Anzug in den Sturzflug ging und die sich annähernde Wolke anvisierte.
Fritz murmelte irgendetwas auf Deutsch.
»Es ist Staub«, sagte Gaeta. »Eine graue Substanz, aber die Partikel sind nicht mit Eis überzogen.«
»Korrigiere den Anflug-Vektor«, sagte Fritz schroff. »Stürz dich nicht kopfüber in die Wolke.«
»Ich will sie nur streifen«, sagte Gaeta. Er hatte nun richtig Spaß an der Sache. »Sie scheint nicht dick genug zu sein, um Probleme zu verursachen. Ich vermag sogar hindurch zu sehen.«
»Sag mir, ob sie…«, sagte Wunderly. Dann ging ihre Stimme in statischem Rauschen unter.
»Sag es noch mal«, rief Gaeta. »Ich habe dich nicht verstanden.«
Keine Antwort außer statischem Rauschen. Gaeta touchierte die am Ring entlang jagende Wolke. Er führte einen System- Check durch, und die Anzeigen auf dem Helmvisier zeigten, dass alles im grünen Bereich war — einschließlich des Funkgeräts.
Also keine Interferenzen, sagte er sich. Irgendetwas in der Staubwolke stört die Funkverbindung.
Die Wolke stob an ihm vorbei; sie umkreiste den Ring viel schneller als Gaeta mit seinem gemütlichen Tempo.
»…sprengt die Skala!«, rief Wunderly aufgeregt. »Das beweist, dass die Speichen durch elektromagnetische Wechselwirkung angetrieben werden.«
»Ich höre dich wieder«, sagte Gaeta. »Was auch immer den Funkverkehr gestört hat, es ist verschwunden.«
»Es sind die Speichen!«, sagte Wunderly. »Wir haben soeben bewiesen, dass sie von starken elektromagnetischen Feldern angetrieben werden!«
»Und dass sie die Funkverbindung stören«, fügte Fritz trocken hinzu.
»Die anderen Anzugssysteme sind nicht beeinträchtigt worden«, sagte Gaeta.
»Der Anzug ist auch stark abgeschirmt«, sagte Fritz.
»Ja.« Gaeta sah, dass er sich den Ring-Partikeln nun ziemlich schnell näherte. Als ob ich in ein Meer aus Diamanten eintauchte, sagte er sich mit einem glücklichen Lachen.
»Was ist denn so lustig?«, fragte Fritz unwirsch.
»Ich sagte mir gerade, ich hätte einen großen Eimer mitnehmen sollen, um ein paar von diesen Diamanten einzusammeln.«
»Das sind keine Diamanten. Das sind mit Eis überzogene Staubpartikel.«
»Die Partikel in den Speichen sehen aber nicht so aus, als ob sie mit Eis überzogen wären.«
»Das ist eine Nuss, die Dr. Wunderly knacken soll. Für dich geht es jetzt nur darum, den Geschwindigkeits-Vektor so zu justieren, dass er sich dem der Ring-Partikel möglichst weit annähert. Das wird Einschlags- und Abrieb-Probleme minimieren.«
Gaeta wusste zwar, dass das alles im automatisierten Navigationsprogramm gespeichert war. Dennoch glich er die Annäherungsgeschwindigkeit an die Fluggeschwindigkeit der Partikel an und sah, dass er den Anflug noch geringfügig zu verlangsamen vermochte. Dadurch werde ich mehr Zeit im Ring selbst haben, sagte er sich. Gut.
Dann sah er einen größeren, funkelnden Eisbrocken langsam durch den Ring taumeln.
»He, siehst du diesen Brocken? Er ist so groß wie ein Haus.«
»Halte dich von ihm fern!«, wies Fritz ihn an.
»Kannst du nah genug herangehen, um seine genaue Größe zu messen?«, fragte Wunderly.
Gaeta lachte wieder. »Was denn nun. Wegbleiben oder näher heran. Entscheidet euch mal, Leute!«
Während Holly auf allen vieren durch die Pipeline kroch, patschte sie mit der rechten Hand in eine kleine Pfütze, und im gleichen Moment spürte sie in der linken Hand eine schwache Vibration, die sich an der gekrümmten Innenwand der Rohrleitung fortpflanzte.
Sie erstarrte und lauschte. Wenn ich das Rauschen von Wasser höre, ist es ohnehin zu spät, sagte sie sich dann.
Sie war vor ungefähr fünf Minuten an einer Luke vorbeigekommen. Das bedeutete, dass es bis zur nächsten Luke noch einmal knapp fünf Minuten wären. Aus welcher Richtung kommt das Wasser, fragte sie sich. Ist egal, gab sie sich die Antwort selbst. Du musst deinen Hintern hier raus bewegen. Sofort!
Sie kroch hastig weiter wie eine Maus in ihrem Bau, so schnell sie Hände und Füße trugen. Irgendwo hinter sich hörte sie ein Rumoren und hielt es zunächst für einen Streich, den die Einbildung ihr spielte — bis sie das unverkennbare Beben von Wasser spürte, das durch die Rohrleitung rauschte. Als sie die Luke erreichte, hörte sie die Flut direkt hinter sich heranrasen. Mit zitternden Fingern öffnete sie die Luke, kroch aus der Rohrleitung und schlug die Luke zu. Die Flutwelle rauschte vorbei, und es spritzte noch Wasser durch die Luke, bevor sie sie richtig zu schließen vermochte.
Das war knapp!
Hollys Beine versagten den Dienst. Sie sank auf den Metallboden des Tunnels und setzte sich in die Pfütze unter der Luke.
Sie wussten, dass ich in der Röhre war, sagte sie sich. Sie wussten es und wollten mich ersäufen.
Der Scout lief mit schnellen Schritten neben der Pipeline durch den Tunnel. Er hörte, wie das Wasser hindurch floss, doch als der vorsichtige Mann, der er war, lief er weiter — in der Hoffnung, dass seine Beute rechtzeitig ausgestiegen war. Geh kein Risiko ein und gib der Beute keine Chance, zu entkommen.
Er war ein Äthiopier, der einmal davon geträumt hatte, olympisches Gold im Marathonlauf zu gewinnen, bis die olympischen Spiele auf unbestimmte Zeit ausgesetzt wurden. Er hielt sich, seine Eltern und seine jüngeren Geschwister mit dem dürftigen Gehalt eines Polizisten am Leben. Selbst das wurde ihm jedoch genommen, als ein Verwandter eines Politikers aus der Hauptstadt seine Stelle und sein Gehalt bekam. Mit der Aussicht zu verhungern, nahm er eine Stelle im Saturn-Habitat an: unter der Bedingung, dass sein Gehalt jeden Monat an seine Eltern ausgezahlt wurde. An Bord hatte er sich dann mit Oberst Kananga angefreundet und einen ruhigen Posten in der Sicherheitsabteilung bekommen.
Diese Verfolgung was der erste wichtige Auftrag, den er für den Oberst ausführte, nachdem er monatelang nur routinemäßige Sicherheitspatrouillen in einem Habitat durchgeführt hatte, in dem es kein wirkliches Verbrechen gab — nur verzogene, eigenwillige Söhne und Töchter der Reichen, die sich wie Kinder aufführten, die partout nicht erwachsen werden wollten.
Er hatte nicht vor, bei diesem Auftrag zu versagen. Er wollte Oberst Kananga eine Freude machen.
»Ich gerate unter Beschuss«, sagte Gaeta.
Er stand noch immer ziemlich hoch über dem Ring, doch Staubteilchen trafen bereits den Anzug, wie die Sensoren an der Außenhülle meldeten. Kein Problem, sagte Gaeta sich. Noch nicht. In ein paar Minuten wird es schlimmer werden.
Es war schwierig, die Entfernung zu schätzen. Er schaute hinab auf ein weites Feld aus weißem, gleißendem Licht, als ob er in einem Ballon zu einem riesigen Gletscher absteigen würde. Aber der Ring war nicht massiv; er bestand aus Milliarden und Abermilliarden Teilchen, als ob alle funkelnden Murmeln des Universums sich dort versammelt hätten. Der häusergroße Eisbrocken war taumelnd an ihm vorbei geflogen und kollidierte nun mit den kleineren Partikeln, die ihn umschwärmten — sie stoben auseinander.
»Dein Geschwindigkeits-Vektor ist gut«, sagte Fritz mit ruhiger und zuversichtlich klingender Stimme. »Die Einschlag-Energie dürfte minimal sein.«
»Ja«, pflichtete Gaeta ihm bei und driftete immer tiefer zum riesigen Meer aus funkelnden Teilchen. »Ich spüre auch noch nichts.«
»Wir erhalten gerade die Größenschätzungen für die Teilchen«, sagte Wunderly. »Sie scheinen im Moment nicht größer als ein paar Millimeter.« Sie klang enttäuscht.
»Soll ich nach größeren Brocken suchen?«
»Du hältst dich an die geplante Flugbahn«, sagte Fritz brüsk. »Kein Abenteuer, bitte.«
Gaeta lachte. Keine Abenteuer. Und, wie zum Teufel, nennst du das hier?
Wunderly meldete sich wieder. »Der neue Mond ist in einen permanenten Orbit gegangen.«
»Kann ich von hier aus nicht sehen.«
»Ja, er ist auf der anderen Seite des Planeten. Ich erhalte Bilder vom Minisat im polaren Orbit.«
Die Teilchen wurden nun wesentlich dicker. Gaeta hatte das Gefühl, als ob er langsam in einem Schneesturm versänke: Glitzernde Schneeflocken wirbelten um ihn herum und tanzten in einem unsichtbaren Wind. Sie schienen sich etwas von ihm zu entfernen und ihm Platz zu schaffen.
»Ich weiß, das ist verrückt«, sagte er, »aber es sieht so aus, als ob die Flocken sich von mir entfernen würden.«
Er spürte förmlich, wie Fritz den Kopf schüttelte. »Das sieht aus deiner Perspektive nur so aus. Sie bewegen sich auf eigenen Umlaufbahnen um den Saturn, wie du es auch tust.«
»Vielleicht, aber ich könnte schwören, dass sie Abstand zu mir halten.«
»Versuch doch mal, ein paar von ihnen zu schnappen«, sagte Wunderly.
Gaeta bearbeitete die Tastatur und schob die Arme wieder in die Ärmel des Anzugs. »Ich habe die Probenbox geöffnet, aber ich glaube nicht, dass sie sich darin verirren.«
Er hörte Fritz' glucksendes Lachen. »Glaubst du etwa, sie würden dir aus dem Weg gehen? Vielleicht können sie dich nicht riechen.«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Kumpel. Es ist, als ob…« Gaeta verstummte, als plötzlich eine rote Warnlampe an der Innenseite des Helmvisiers aufleuchtete. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder.
»Ich habe ein rotes Licht«, sagte er.
»Die Sensoren sind deaktiviert«, sagte Fritz. Seine Stimme war plötzlich brüchig und angespannt. »Kein akutes Problem.«
Gaeta überflog die Helm-Anzeigen und sah, dass etliche Sensoren an der Außenhaut des Anzugs sich abgeschaltet hatten. Zwei am Rückentornister und zwei weitere am linken Bein. Er wusste, dass es unmöglich war, die Beine aus dem Innern des Anzugs sehen, aber er versuchte es trotzdem.
Alles, was er durchs Visier zu sehen vermochte, waren die Stiefelspitzen. Sie schienen vereist zu sein.
Er hob beide Arme und sah, dass sie auch mit einer dünnen Eisschicht bedeckt waren. Und er sah, wie beide Arme immer mehr vereisten.
»He! Ich vereise. Sie packen mich in Eis.«
»Das sollte nicht passieren«, sagte Wunderly. Sie klang beinahe verärgert.
»Es interessiert mich einen Scheiß, was passieren sollte. Diese kleinen cabrуns packen mich in Eis!«
Immer mehr rote Lampen leuchteten am Visier auf. Einer nach dem andern schalteten die Sensoren an der Außenhaut des Anzugs sich ab. Schockgefrostet.
»Kannst du noch Arme und Beine bewegen?«, fragte Fritz.
Gaeta versuchte es. »Ja. Die Gelenke sind zwar etwas steif, aber sie… oh, oh.« Nun lagerten die Eispartikel sich auch schon am Helmvisier ab.
»Was ist los?«
»Sie sind auch schon auf dem Visier«, sagte Gaeta. Er starrte eher fasziniert als ängstlich auf die Partikel. Die kleinen fregados kriechen übers Visier, wurde er sich bewusst.
»Sie bewegen sich«, meldete er. »Sie kriechen über das Visier!«
»Wie sollen sie denn kriechen«, sagte Wunderly.
»Sag ihnen das mal!«, antwortete Gaeta. »Sie überziehen das Visier. Den ganzen Anzug! Sie packen mich in Eis!«
»Das ist unmöglich.«
»Ja, sicher.«
Was auch immer sie waren, die kleinen Partikel krochen übers Helmvisier. Er sah es. Es wurden immer mehr, und sie bedeckten einen immer größeren Abschnitt des Visiers. Nach wenigen Minuten vermochte Gaeta gar nichts mehr zu sehen. Der Anzug war vollständig mit einer Eisschicht überzogen.
Wunderly saß in ihrem winzigen Büro. Sie hatte zwei Bildschirme auf dem Schreibtisch stehen: Auf dem einen versuchte sie Gaeta zu beobachten, und den neuen Mond, der sich mit dem Hauptring vereinigt hatte, auf dem Monitor daneben.
Alles, was sie von Gaeta bekam, waren die Daten von den internen Sensoren des Anzugs und seine aufgeregte Meldung, dass die Eispartikel den Anzug umschlossen. Sie können sich doch gar nicht bewegen, sagte sie sich. Sie sind nicht lebendig, also auch nicht beweglich. Sie sind nur mit Eis überzogene Staubflocken.
Aber wie kommt es dann, dass sie Mannys Anzug überziehen? Elektromagnetische Anziehung? Temperatur- Differenzial?
Sie zog immer phantastischere Möglichkeiten in Erwägung, während sie abwesend zum spektrographischen Sensor des Minisatelliten schaltete, der den gerade erst angekommenen Mond auf der anderen Seite des Rings beobachtete. Wunderly schaute mit einem Stirnrunzeln auf die Anzeige. Da stimmt etwas nicht. Sie rief die früheren Daten des Spektrographen auf. Der kleine Mond bestand definitiv aus Eis, war aber von einer dunklen kohlenstoffartigen Substanz durchzogen. Dennoch zeigte das Echtzeit-Spektrogramm viel weniger Kohlenstoff an: Ihm zufolge bestand der Mond praktisch nur aus Eis. Was geschieht mit dem Kohlenstoff?
Neugierig geworden schaltete sie zur optischen Anzeige des Minisat zurück. Und ließ sich atemlos auf den Stuhl zurücksinken.
Der Mond befand sich in der Mitte dessen, was wie ein Mahlstrom aussah. Ein Whirlpool aus Eisflocken stob um den Mond wie eine große Familie, die ein lang vermisstes Familienmitglied umschwärmte.
»Allmächtiger Gott, sie sind lebendig!«, rief Wunderly und sprang vom Stuhl auf. »Sie sind lebendig!« Gaeta wusste aus langer Erfahrung, dass Panik der schlimmste Feind war. Obwohl das Helmvisier nun mit einer so dicken Eisschicht überzogen war, dass er nichts mehr zu sehen vermochte, bewahrte er die Ruhe und kontrollierte die Anzugssysteme. Lebenserhaltung in Ordnung, Energie in Ordnung, Kommunikation im grünen Bereich, Antrieb funktionsfähig. Es besteht noch kein Anlass, auf den roten Knopf zu drücken.
»Versuch, das Eis vom Visier abzuwischen«, ertönte Fritz' Stimme genauso ruhig und methodisch.
»Das habe ich schon versucht«, sagte er und hob den linken Arm, um noch einmal übers Helmvisier zu wischen. Der Arm fühlte sich steifer an als noch vor ein paar Augenblicken. »Sie setzen sich sofort wieder fest.«
Während er sprach, fuhr Gaeta mit der Zange des linken Arms übers Helmvisier. Sie kratzte immerhin so viel Eis ab, dass er sah, wie weitere Partikel auf ihn zuflogen. Innerhalb von Sekunden war das Helmvisier wieder zugefroren.
»Das ist nicht lustig«, sagte er. »Sie fallen wie ein Heuschreckenschwarm ein. Es ist, als ob sie lebendig wären. Ich sehe sie übers Helmvisier kriechen.«
»Sie sind lebendig!«, rief Wunderly mit vor Aufregung schriller Stimme. »Steck ein paar in die Probenbox!«
»Vielleicht wollen sie mich in ihre Probenbox stecken«, erwiderte Gaeta trocken.
Er fragte sich, wie dick die Eisschicht noch werden musste, bis die Antennen blockierten und die Kommunikation unterbrochen wurde. Ich werde hier tiefgekühlt wie eine Weihnachtsgans, und ihr geht es nur darum, Proben zu Studienzwecken zu bekommen. Er überprüfte die Temperatur im Anzug. Der Wert war normal, obwohl Gaeta das Gefühl hatte, dass es etwas kühler war als vorher. Alles nur Einbildung, sagte er sich. Klarer Fall.
»Ich glaube, ich sollte vielleicht die Düsen zünden und von hier verschwinden«, sagte er zu Fritz.
»Noch nicht!«, rief Wunderly. »Versuch erst noch ein paar Proben zu nehmen!«
»Die Anzugsfunktionen sind nicht beeinträchtigt«, sagte Fritz mit eisiger Ruhe.
»Noch nicht«, pflichtete Gaeta ihm bei. »Aber was für einen chingado Zweck hätte es, blind wie eine Fledermaus und mit einem Eisüberzug hier draußen rumzuhängen?«
»Könntest du nicht wenigstens warten, bis der Minisat auf deine Seite des Planeten kommt, damit ich spektrographische Messungen des Eises durchführen kann, von dem du überzogen bist?«, fragte Wunderly.
»Wie lang wird das dauern?«, fragte Fritz.
Es trat eine Pause ein. »Elf Stunden siebenundzwanzig Minuten«, antwortete Wunderly dann mit viel leiserer Stimme.
»Der Anzug ist für eine achtundvierzigstündige Exkursion ausgelegt«, sagte Fritz. »Wenn die Eisschicht aber dicker wird, werden vielleicht die Kommunikations- und Antriebsfunktion beeinträchtigt.«
»Bei mir ist im Moment noch alles klar, Fritz«, sagte Gaeta, bevor Wunderly etwas erwidern konnte. »Lassen wir uns überraschen.«
Berkowitz meldete sich. »Das ist der Wahnsinn, Leute, aber deine Anzugskameras sind vereist. Wir bekommen nur noch eine Tonübertragung von dir, Manny. Wenn wir Bilder vom Minisat bekämen, wäre das der Hammer.«
Gaeta nickte im Helm. Und wenn ich getötet werde, werden die Einschaltquoten sogar noch mehr steigen, sagte er sich sardonisch.
Holly war reichlich mitgenommen, nachdem sie beinahe ertrunken wäre, und das Bewusstsein, dass Kanangas Leute sie irgendwie verfolgten, verbesserte ihre Befindlichkeit nicht gerade. Sie ging so schnell sie konnte zum Tunnel-Ende, erklomm die zur Oberfläche hinaufführende Metallleiter und stieß die Luke auf, die als ein kleiner Felsbrocken getarnt war. Sie befand sich am Habitat-Ende; sie hielt für einen Moment inne und sog tief die Luft ein. Sie roch frisch und würzig. Das ganze Habitat breitete sich vor ihr aus — grün, weit und offen.
Sie schloss die Luke, klappte den Plastikfelsen wieder herunter und ging durchs federnde grüne Gras auf das Wäldchen aus Ulmen und Ahornbäumen zu, die weiter oben in Richtung der Mittellinie wuchsen.
Es war schon jemand da, wie sie bei der Annäherung an den Wald erkannte. Er lag ausgestreckt auf dem mit Moos bewachsenen Boden zwischen den Bäumen.
Holly erstarrte und fühlte sich wie ein Reh, das einen Wolf erspähte. Aber der Mann — sie hatte jedenfalls den Eindruck, dass es ein Mann war — schien zu schlafen, bewusstlos zu sein oder sogar tot. Er trug auch nicht die schwarze Montur der Sicherheitsabteilung, sondern einen beigefarbenen Overall.
Vorsichtig näherte Holly sich dem Mann so weit, dass sie sein Gesicht erkannte. Das ist doch Raoul, sagte sie sich. Was tut er hier draußen? Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Arbeitet er etwa für Kananga? Gehört er womöglich zum Suchtrupp?
Dann wurde sie sich bewusst, dass sie im Freien stand und eine perfekte Zielscheibe für jeden im Umkreis von einem Kilometer oder mehr abgab. Raoul würde doch nicht zu Kananga überlaufen, sagte sich. Er ist ein Freund.
Sie ging zu ihm hin und fühlte sich etwas sicherer, als sie im Schatten der Bäume war.
Tavalera regte sich, als sie sich ihm näherte, blinzelte und setzte sich so abrupt auf, dass Holly erschrak.
Er blinzelte wieder und rieb sich die Augen. »Holly? Bist du das, oder träume ich?«
Sie lächelte warmherzig. »Ich bin's, Raoul. Was machst du denn so weit hier draußen?«
»Ich habe dich gesucht«, sagte er und stand auf. »Ich muss wohl eingenickt sein. Ein schöner Späher, was?« Er grinste verlegen.
»Du bringst dich nur in Schwierigkeiten, Raoul. Kanangas Leute verfolgen mich. Ich versuche, ihnen immer eine Nasenlänge voraus zu sein.«
Tavalera holte tief Luft. »Ich weiß. Ich bin hier, um dir zu helfen.«
Holly sagte sich, wenn Raoul sie gut genug kannte, um hier am Habitat-Ende auf sie zu warten, dann mussten Kanangas Leute ihre Gewohnheiten auch ermittelt haben.
»Wir müssen uns ein Versteck suchen«, sagte sie. »Einen sicheren Ort.«
»Dafür ist es zu spät«, sagte eine Stimme.
Sie drehten sich um und sahen einen großen, schlanken Mann mit schokoladenbrauner Haut. In der Hand hatte er das kleine elektronische Spürgerät.
»Oberst Kananga möchte Sie sprechen, Miss Lane«, sagte er mit leiser Stimme, die überhaupt nicht bedrohlich wirkte.
»Ich möchte aber nicht Oberst Kananga sprechen«, sagte Holly.
»Das ist schlecht. Ich muss leider darauf bestehen, dass Sie mit mir kommen.«
Tavalera stellte sich vor Holly. »Lauf, Holly«, sagte er. »Ich werde ihn aufhalten.«
Der schwarze Mann lächelte. Er wies auf ein Trio schwarz gekleideter Leute, die hinter den Bäumen auf sie zukamen und sagte: »Es muss keine Gewalt ausgeübt werden. Und es gibt auch keine Fluchtmöglichkeit.«
Wunderly vermochte kaum an sich zu halten. Sie zappelte auf dem Stuhl herum, als sie sah, wie die Ring-Partikel über den neuen Mond schwärmten.
Das ist Nahrung für sie, sagte sie sich, als sie von der optischen zur Infrarot- und dann zur spektrographischen Darstellung schaltete. Sie wünschte, der Minisat hätte noch Platz für Ultraviolett- und Gammastrahlen-Sensoren gehabt.
Was wir brauchten, ist eine Aktivlasersonde, sagte sie sich und widersprach sich dann sofort: Aber sie würde die Partikel vielleicht töten. Partikel? Nein, das sind lebendige Wesen. Eis- Kreaturen, die bei Temperaturen von minus zweihundert Grad Celsius und noch tiefer überleben. Extremophile, die in einer Niedertemperatur-Umgebung gedeihen.
Das Geheimnis der Saturn-Ringe ist gelöst, sagte sie sich. Die Ringe sind nicht eine passive Ansammlung von Eisflocken. Sie bestehen aus aktiven, lebendigen Wesen! Sie fangen alles ein, was in ihren Bereich eindringt und nehmen es auseinander. Asteroiden und kleine Eisbrocken — das ist ihre Nahrung. Auf diese Art unterhält Saturn sein Ringsystem. Es ist lebendig.
Schau'n wir mal, sagte sie sich. Saturn hat zweiundvierzig uns bekannte Monde. Jedes Mal, wenn ein Asteroid oder ein Eisbrocken aus dem Kuiper-Gürtel ins Ringsystem eindringt, fressen diese Kreaturen ihn auf. Die Ringe verlieren ständig Partikel, die von den Saturnwolken angesaugt werden. Aber die Ringe erneuern sich ständig, indem sie die anfliegenden Monde verschlingen, die von ihnen angezogen werden.
Plötzlich schaute sie von den Bildschirmen auf. Manny! Sie werden auch versuchen, Mannys Anzug aufzufressen. Sie könnten ihn töten!
»Manny!«, schrie sie ins Funkgerät. »Verschwinde von dort! Sofort! Bevor sie sich durch den Anzug fressen!«
»Ich weiß nicht, ob er uns hört«, erwiderte Fritz mit eisiger Stimme. »Ich habe seit einer halben Stunde keinen Kontakt mehr mit ihm. Die Antennen müssen inzwischen so stark vereist sein, dass sie nicht mehr funktionieren.«
Holly sah, wie die drei schwarz gekleideten Gestalten sich über die mit Gras bewachsene Anhöhe dem Wäldchen näherten, wo sie und Tavalera mit dem äthiopischen Scout standen. Er hatte das Funkgerät am Ohr und nickte unbewusst, während er Befehle entgegennahm.
»Oberst Kananga ist unterwegs«, sagte er schließlich. »Er will Sie an der zentralen Luftschleuse am Habitat-Ende treffen.«
Tavalera warf sich plötzlich auf den Scout und schrie: »Lauf, Holly!« Dann kämpfte er mit dem Äthiopier.
Die beiden Männer gingen in einem Knäuel aus Armen und Beinen zu Boden. Holly zögerte für einen Moment — gerade lang genug, um zu sehen, dass Raoul kein Kämpfer war. Der Äthiopier überwand die Überraschung schnell, schüttelte Tavalera vom Rücken ab und stand wieder auf. Bevor er noch zu reagieren vermochte, versetzte Holly dem Scout einen Tritt in die Rippen, der ihn wieder zu Boden schickte. Tavalera stand auf und packte sie an der Hand.
Ein Laserstrahl warf Raoul um. Tavalera packte das Bein mit beiden Händen und wälzte sich schmerzerfüllt auf dem Boden. »Scheiße! Wieder ins selbe Bein!«
Holly blieb wie angewurzelt stehen. Raouls Bein blutete zwar nicht stark, aber mitten im Oberschenkel war ein kleines schwarzes Loch.
Der Äthiopier rappelte sich auf, während die drei anderen Sicherheitsleute über die Anhöhe auf sie zu gerannt kamen.
»Wie haben Sie denn die Waffen ins Habitat geschafft?«, fragte Holly und kniete neben dem sich windenden und fluchenden Tavalera nieder.
»Schneidwerkzeuge«, grunzte Tavalera mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Sie müssen Laser-Werkzeuge zu Schusswaffen umfunktioniert haben.«
Der Anführer der drei Ankömmlinge verschaffte sich einen Überblick über die Lage. »Gute Arbeit«, sagte er zum Äthiopier. »Hebt den da auf und nehmt ihn mit«, bedeutete er den zwei Untergebenen.
Sie packten Tavalera unsanft und zogen ihn hoch.
»Kommen Sie«, sagte der Anführer zu Holly. »Oberst Kananga will Sie an der zentralen Luftschleuse sprechen.«
Die größte Sorge bereitete Gaeta indes, dass er von der Kommunikation mit Fritz abgeschnitten war. Mit dem Anzug schien noch alles in Ordnung zu sein, obwohl die Innentemperatur um fast drei Grad gesunken war.
Gaeta dachte über mögliche Alternativen nach, während er in Eis gepackt wie eine tiefgekühlte Mumie durchs All trieb. Wunderly glaubt, die Eispartikel seien lebendig. Vielleicht hat sie Recht. Sie haben auf jeden Fall den Eindruck gemacht, als ob sie übers Helmvisier gekrochen wären. Dann versuchen sie vielleicht, mich und den Anzug aufzufressen. Ob Cermet und Organometalle überhaupt genießbar für sie sind? Meine Güte, ich hoffe nicht!
Und ich soll noch einmal elf Stunden warten, damit sie ein Video von mir bekommen? Bis dahin bin ich wahrscheinlich längst tot.
Wenn ich jetzt aber den Abflug mache, wird es überhaupt keine Bilder für die Netze geben.
Es ist schon komisch, wie das Bewusstsein arbeitet, sagte er sich. Auf was für Gedanken das Gehirn in dieser mierda kommt? Derjenige, der kämpft und davonkommt, überlebt nur, um am nächsten Tag wieder zu kämpfen. Diese Ringe existieren schon seit Tausenden von Jahren, oder, was wahrscheinlicher ist, seit Millionen Jahren. So schnell werden sie nicht verschwinden. Ich kann jederzeit zurückkommen. Mit einer besseren Vorbereitung und einer besseren Ausrüstung. Und einer besseren Bildübertragung.
Das gab für ihn den Ausschlag. Gaeta zog den rechten Arm aus dem Ärmel und programmierte die Schubdüsen. Ich werde blind fliegen, wurde er sich bewusst. Er hatte jedes Gefühl dafür verloren, wo er sich relativ zum Habitat oder zu Timoschenko befand, der im Raumboot auf ihn wartete. Das Navigations-Programm des Anzugs war nun nutzlos. Lass es ganz ruhig angehen. Es kommt nun vor allem darauf an, aus diesem Blizzard zu verschwinden. Aber gib nicht so viel Stoff, dass es dich gleich bis nach Alpha Centauri verschlägt.
Er drückte die Taste, die die Schubdüsen aktivierte. Nichts geschah.
Eberly hatte Professor Wilmots altes Büro bezogen, wo er nun offiziell der Verwaltungschef des Habitats war. Seine erste Amtshandlung bestand darin, Wilmots altes, wuchtiges Mobiliar zum Sperrmüll zu geben und es durch filigranes, modernistisches Chrom und Kunststoff zu ersetzen, die so behandelt waren, dass sie wie Teakholz aussahen.
Er hatte kaum am glänzenden Schreibtisch Platz genommen, als Morgenthau die Tür zu seinem Büro aufschob und unaufgefordert eintrat. Sie war mit einem extravaganten Kaftan in allen Farben des Regenbogens bekleidet und ließ mit einem selbstgefälligen, selbstzufriedenen Lächeln, das fast schon ein Schmunzeln war, den Blick über die kahlen Wände des Büros schweifen.
»Sie brauchen noch ein paar Bilder an den Wänden«, sagte sie. »Ich werde dafür sorgen, dass Sie ein paar Holo-Fenster bekommen, die man programmieren kann…«
»Ich kann mein Büro selbst einrichten«, sagte Eberly schroff.
Sie verzog keine Miene. »Seien Sie doch nicht gleich so gereizt. Wo Sie nun die Macht haben, sollten Sie sich auch mit den Insignien der Macht umgeben. Symbole sind wichtig. Fragen Sie Vyborg, der weiß alles über die Bedeutung des Symbolismus.«
»Ich habe zu tun«, blaffte Eberly.
»Sie müssen sich mit Kananga treffen.«
Eberly schüttelte den Kopf. »Das steht nicht in meinem Terminkalender.«
»Er erwartet Sie an der zentralen Luftschleuse draußen am Habitat-Ende.«
»Ich werde nicht…«
»Er hat Holly in Gewahrsam. Er will, dass Sie ihrer Verhandlung beiwohnen. Und ihrer Hinrichtung.«
Gaeta prüfte seine Optionen: Er sah nichts im vom Eis ummantelten Anzug, die Funkantennen waren blockiert und die Temperatur im Anzug fiel. Die Schubdüsen funktionieren nicht, sagte er sich, und ich weiß nicht warum. Die auf die Innenseite des Helmvisiers projizierte Diagnose-Anzeige meldete, dass das Antriebssystem voll einsatzbereit war.
»Zum Teufel mit den Ingenieuren«, murmelte er. »Sie haben alles durchgecheckt, aber es funktioniert trotzdem nichts.«
Auf die Anzugsdiagnostik konnte er also nichts geben. Gaeta wusste, dass Fritz den Fehler sicher finden würde. Er kennt alle Details. Er hat sogar die Positionsdaten, die im Navigationsprogramm gespeichert sind; und alles, was ich habe, ist eine nicht funktionierende Funkverbindung.
Gaeta hatte aber noch einen Trumpf. Wenn der nicht sticht, werde ich ein Tiefkühlgericht für diese chingado Eis-Wanzen abgeben, sagte er sich. Das unter Federspannung stehende Kabel aus Buckminster-Fulleren durchstieß den Eispanzer und rollte sich wie eine Peitsche zur vollen Länge von hundert Metern aus. Gaeta spürte die Vibrationen im Anzug wie das leise Summen eines Elektrorasierers.
»Fritz! Hörst du mich?«, rief er.
»Manny!«, ertönte Fritz' Stimme. »Wie ist die Lage? Die Diagnosedaten hier sind uneinheitlich.«
»Anzugsantennen vereist«, erwiderte Gaeta, wobei er automatisch in den abgehackten, Zeit sparenden Slang der Piloten und Fluglotsen fiel. »Schubdüsen zünden nicht.«
»Lebenserhaltung?«
»Funktioniert noch. Die Schubdüsen, Mann. Ich muss von hier verschwinden.«
»Hast du es schon mit dem Notaggregat versucht?«
»Natürlich habe ich es mit dem Notaggregat versucht! Es sieht so aus, als ob alles eingefroren wäre.«
»Dreh die Anzugsheizung hoch«, ertönte Wunderlys Stimme.
»Die Heizung?«
»Dreh sie so hoch, dass du es gerade noch aushältst«, sagte sie. »Die Eis-Wanzen mögen wahrscheinlich keine hohen Temperaturen.«
»Wahrscheinlich ist mir auch keine große Hilfe«, sagte Gaeta.
»Versuch es wenigstens«, befahl Fritz ihm.
Gaeta wusste, dass die elektrische Energie des Anzugs aus einem thermionischen Konverter kam: Die Heizung hatte auf jeden Fall genug Saft.
»Okay«, sagte er widerstrebend. »Ich gehe in den Sauna- Modus.«
Holly machte sich mehr Sorgen um Tavaleras Bein als um ihre eigene Zukunft. Zwei schwarz gekleidete Sicherheits-Leute schleiften Raoul den Hang hinauf zur zentralen Luftschleuse. Er schien einen Schock zu haben; das Gesicht war kreidebleich, und er knirschte mit den Zähnen. Es war dumm gewesen von ihm, mir helfen zu wollen, sagte Holly sich. Dumm, aber mutig.
Mit dem Äthiopier an der Spitze erklommen sie die sanfte Steigung und spürten die eigentümliche Abnahme der Schwerkraft, als sie sich der Mittellinie des Habitats näherten. Holly fragte sich, ob sie den irritierenden Schwund der Schwerkraft vielleicht als Waffe einsetzen könnte, aber sie und der verwundete Tavalera hätten dann vier von Kanangas Leuten gegenüber gestanden. Sie durfte Raoul nicht in ihren Fängen lassen, egal was geschehen würde.
»Wieso bringt ihr uns dorthin?«, fragte Holly.
»Wir befolgen nur unsere Befehle«, sagte der stämmige Anführer des Sicherheits-Teams.
»Befehle? Wessen Befehle?«
»Oberst Kanangas. Er will sich in der zentralen Luftschleuse mit Ihnen unterhalten.«
Eberly war überhaupt nicht erfreut, aber er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als Morgenthau zu dieser Besprechung mit Kananga zu begleiten. Was soll ich sonst tun, fragte er sich. Ich bin doch nicht mehr als eine Galionsfigur. Sie hat die eigentliche Macht, sie und Kananga und diese Natter Vyborg. Ohne ihn und seinen krankhaften Ehrgeiz wäre das alles nicht passiert. Ich habe die Macht für sie gewonnen, nicht für mich.
Widerwillig folgte er Morgenthau zum Fahrradständer vorm Verwaltungsgebäude und stieg auf eins der Zweiräder mit Elektroantrieb. Von hinten sah Morgenthau aus wie ein Nilpferd auf einem Fahrrad. Er bemerkte, dass sie nicht einmal auf ebener Strecke in die Pedale trat; stattdessen überließ sie es dem lautlosen kleinen Elektromotor, sie zu befördern. Ich hoffe nur, dass der Akku leer ist, wenn wir die Steigung erreichen, sagte Eberly sich boshafterweise.
Aber sie schaffte den ganzen Weg bis zum Habitat-Ende und zur Luke, die zur zentralen Luftschleuse führte.
Eberly folgte ihr brav. Sie ließen die Fahrräder im Ständer an der Luke stehen und betraten den kalten, trübe beleuchteten Stahltunnel.
Als die Luke sich hinter ihnen schloss, schaute Eberly über die Schulter zurück wie ein Häftling, der einen letzten Blick nach draußen wirft, bevor die Gefängnistore sich hinter ihm schließen. Er sah eine kleine Gruppe von Leuten, die die Steigung zur Luke erklommen. Drei von ihnen trugen die schwarzen Gewänder der Sicherheitskräfte. Die große, schlanke Gestalt in ihrer Mitte sah wie Holly aus. Den Mann in einer beigefarbenen Montur, der vor den anderen herhinkte, erkannte er aber nicht.
Dann schloss die Luke sich, und Eberly spürte, wie die Kälte des kühlen Stahltunnels ihm ins Gebein drang.
»Kommen Sie«, sagte Morgenthau. »Kananga wartet an der Schleuse auf uns. Vyborg ist auch da.«
Eberly folgte ihr wie ein widerspenstiger kleiner Junge, der zur Schule geschleppt wird, und fragte sich, was er zu tun vermochte.
Gaeta vertrieb mit einem Blinzeln den Schweiß aus den Augen. Er hatte die Notantenne eingeholt und sie noch zweimal ausgefahren. Jedes Mal hatte er etwa fünf Minuten einer klaren, deutlichen Kommunikation herausgeschunden, bevor die Eis-Kreaturen die Antenne wieder mit einer so dicken Eisschicht ummantelt hatten, dass die Verbindung abbrach.
Die Helmvisier-Anzeigen wurden mit Gelb gesprenkelt, als er elektrische Energie von den Anzugsensoren und sogar von den Servomotoren abzog, die Arme und Beine bewegten, und zur Heizung umleitete. Die Arme vermochte er selbst mit Hilfe der sich abmühenden Servomotoren kaum noch zu bewegen. Gott weiß, wie dick die Eisschicht schon ist.
Das Problem ist, dass die Anzugshaut eine zu gute Wärmeisolierung hat, sagte er sich. Der Anzug ist darauf ausgelegt, Wärme zu speichern und nicht etwa nach draußen abzugeben.
Das brachte ihn auf eine Idee. Es war zwar gewagt, aber es war eine Idee. Wie lang vermag ich im Vakuum zu atmen, fragte er sich. Das war eine Art Russisches Roulette, das Astronauten, Stuntmen und andere Verrückte hin und wieder spielten: Vakuum-Atmen. Man öffnet den Anzug und hält den Atem an. Der Trick dabei ist, den Anzug rechtzeitig wieder zu schließen, bevor man erstickt oder einem die Augen durch den Unterdruck aus den Höhlen quellen. Viele Leute hatten schon einen Rekordversuch unternommen; die meisten von ihnen waren tot. Er erinnerte sich, dass Pancho Lane gut in diesem Spiel gewesen war; damals, als sie noch Astronautin gewesen war.
Die eigentliche Frage lautet, sagte Gaeta sich: Wie viel Luft enthält der Anzug? Und wie schnell wird sie wohl entweichen, wenn ich eine Klappe öffne, zum Beispiel die im Ärmel?
Er wünschte, er hätte das mit Fritz abzuklären vermocht, doch nun funktionierte nicht einmal mehr die Notantenne; als er sie zuletzt benutzt hatte, war sie so stark vereist, dass er sie nicht mehr einzuholen vermochte.
Du bist auf dich allein gestellt, muchacho. Stell selbst Berechnungen an und handle auf eigene Faust. Es hilft dir niemand mehr.
Kananga wirkte ruhig und zufrieden; der große Mann stand lächelnd vor der inneren Luke der Luftschleuse. Es war eine übergroße Luke — breit und hoch genug, um sperrige Kisten mit Maschinen und andere Fracht aufzunehmen, aber auch Personen in Raumanzügen. Vyborg zappelte nervös herum. Er wollte die Sache offenbar möglichst schnell hinter sich bringen, sagte Eberly sich.
Auf der anderen Seite der stählernen Kammer stand Holly. Sie versuchte trotzig zu schauen, vermochte ihre Angst dennoch nicht zu verbergen. Ein junger Mann, den er als Raoul Tavalera identifizierte, lag mit schmerz- und wutverzerrtem Gesicht vor ihr. Eberly erinnerte sich, dass er der Astronaut war, den sie bei der Brennstoffaufnahme am Jupiter gerettet hatten. Der äthiopische Scout und die drei Sicherheitsleute standen etwas entfernt im Tunnel und versperrten den Fluchtweg.
»Ich freue mich«, sagte Kananga, »dass unser neuer Verwaltungschef sich für eine Weile von seinen vielen Pflichten freimachen konnte, um dieser Verhandlung beizuwohnen.«
»Verhandlung?«, fragte Eberly barsch.
»Jawohl. Ich möchte, dass Sie als Vorsitzender Richter fungieren.«
Eberly schaute unbehaglich auf Holly und wandte den Blick schnell wieder ab.
»Gegen wen wird überhaupt verhandelt? Wie lautet die Anklage?«
»Holly Lane wird des Mordes an Diego Romero angeklagt«, sagte Kananga mit ausgestrecktem Finger.
»Das ist doch Bullshit!«, rief Tavalera.
Kananga ging auf den verwundeten jungen Mann zu und trat ihm in die Rippen. Die Luft wurde Tavalera mit einem schmerzlichen Grunzen aus der Lunge gepresst. Holly ballte die Fäuste; Kananga drehte sich zu ihr um und versetzte ihr einen fiesen Schlag mit dem Handrücken, sodass die Lippe aufplatzte. Sie taumelte ein paar Schritte zurück.
»Dieses Gericht duldet keine Ausbrüche«, sagte Kananga streng zu Tavalera, der nach Luft schnappte und sich krümmte. »Weil Sie der Angeklagten geholfen haben, werden Sie mit ihr angeklagt.«
»Wenn ich hier schon Richter sein soll«, sagte Eberly, »dann werde ich auch bestimmen, wer sprechen darf und wer nicht.«
»Natürlich«, sagte Kananga mit einer ironischen Verbeugung.
»Ich nehme an, dass Sie der Ankläger sind«, sagte Eberly zum Ruander.
Kananga nickte knapp.
»Und wer ist der Verteidiger?«
»Die Angeklagten werden sich selbst verteidigen«, antwortete Morgenthau.
»Und die Geschworenen?«
»Morgenthau und ich werden als Geschworene fungieren«, sagte Vyborg.
Ein Militärgericht, sagte Eberly sich düster. Sie machen mich zu ihrem Komplizen. Ich würde mich nie darauf herausreden können, nicht an Hollys Exekution beteiligt gewesen zu sein; dafür haben sie schon gesorgt.
Ich kann höchstens darauf hinwirken, dass diese Farce von einer Gerichtsverhandlung nach gewissen Regeln abläuft. Das Urteil steht aber schon so fest wie die Angst in Hollys Augen.
Er seufzte tief und wünschte sich, er wäre woanders. Egal wo, sagte er sich, nur nicht wieder in meiner alten Gefängniszelle in Wien.
»Gut«, sagte er schließlich und wich Hollys Blick aus. »Die Verhandlung ist eröffnet.«
Mit Hilfe des internen Anzugscomputers führte Gaeta ein paar überschlägige Berechnungen durch. Die Temperatur sank weiter, obwohl er die Heizung voll aufgedreht hatte. Du musst eine Lösung finden, solange es noch halbwegs warm im Anzug ist. Sonst ist es zu spät.
Er traf eine Entscheidung. Gaeta zog beide Arme aus den Anzugsärmeln. Die Beine aus den Anzugsbeinen zu ziehen war schon schwieriger. Hätte diesen Yogakurs mitmachen sollen, den sie letztes Jahr angeboten hatten, sagte er sich, während er versuchte, ein Bein herauszuziehen und es unter dem Gesäß zu falten. Mit dem anderen Bein war es noch schwieriger; Gaeta japste vor Schmerz, als irgend etwas an der Rückseite des Schenkels riss. Er fluchte in einer Mischung aus Spanisch und Englisch, und schließlich gelang es ihm, auch das andere Bein in den Torso des Anzugs zu ziehen. Er schnaufte wegen der Anstrengung und verspürte einen pulsierenden Schmerz im Bein. Dann saß er in der Karikatur eines Lotussitzes im Torso des Anzugs.
»In Ordnung«, sagte er sich. Nun wollen wir mal sehen, wie lang du Vakuum atmen kannst.
»Ich habe Don Diego nicht getötet«, sagte Holly und wischte sich das Blut von der aufgeplatzten Lippe. Mit der anderen Hand wie sie auf Kananga. »Er hat es getan. Er hat es mir gegenüber sogar zugeben.«
»Haben Sie irgendwelche Zeugen dafür?«, fragte Eberly im Versuch, Zeit zu schinden. Er wusste aber nicht wieso. Er wusste schließlich, dass es hoffnungslos war. Kananga würde Holly des Mordes ›überführen‹ und sie zusammen mit Tavalera exekutieren. Luftschleusen-Justiz.
Holly schüttelte matt den Kopf.
»Sie lügt natürlich«, sagte Kananga. »Sie war nämlich die Letzte, die mit Romero zusammen war. Sie behauptet, sie habe die Leiche entdeckt. Ich sage, sie hat den alten Mann ermordet.«
»Aber wieso hätte ich das tun sollen?«, platzte Holly heraus. »Er war doch mein Freund. Ich hätte ihm doch nie etwas angetan.«
»Vielleicht ist er zudringlich geworden«, suggerierte Eberly. Das war ein Griff nach dem Strohhalm. »Vielleicht haben Sie ihn in Notwehr getötet. Oder vielleicht war es sogar ein Unfall.«
»Unsinn«, murmelte Morgenthau, die neben Vyborg stand.
»Sie sind eine Geschworene«, sagte Eberly. »Sie dürfen keinen Kommentar abgeben.«
»Sie ist schuldig«, blaffte Vyborg. »Wir können uns die Beweisaufnahme sparen.«
Wenn ich die Wärme aus dem Anzug entweichen lasse, verjage ich sie vielleicht, sagte Gaeta sich. Und wenn nicht, bin ich sowieso tot. Was habe ich also zu verlieren?
Er nickte im vereisten Helm. Dann tu es auch. Worauf wartest du noch?
Er programmierte das Steuergerät in der Anzugsbrust um, damit es die Zugangsluken in den Anzugsärmeln und -beinen öffnete. Die vier Tasten glühten vor seinen Augen. Die vier Finger der rechten Hand schwebten über ihnen.
Tu es!, befahl er sich.
Gaeta schloss fest die Augen und atmete heftig aus, um die Lunge möglichst vollständig zu entleeren; dann stach er mit den Fingern auf die Tasten.
Und zählte: tausendeins, tausendzwei, tausenddrei…
Vorm geistigen Auge sah er, was geschah. Die warme Anzugsluft strömte aus den offenen Zugangsluken. Eine plötzliche Hitzewelle würde gegen die Eis-Kreaturen anbranden. Vielleicht würde sie sie töten. Auf jeden Fall müsste sie ihnen Unbehagen verursachen.
…tausendacht, tausendneun…
Gaeta verspürte ein Knacken in den Ohren. Er vermochte die Luft nicht viel länger anzuhalten. Er wagte es auch nicht, die Augen wieder zu öffnen. Er erinnerte sich an Geschichten von Leuten, die durch die jähe Dekompression geplatzt waren. Das Blut und die Eingeweide werden im ganzen Anzug umherspritzen, sagte er sich.
…tausendzwölf, tausend…
Er hieb wieder auf die Tasten und hörte, wie die Zugangsluken zuschlugen. Er öffnete die Augen einen Spalt weit, aktivierte die Luftsteuerung und hörte, wie die Luft aus dem Reservetank in den Anzug zischte und ihn wieder auffüllte.
Doch das Helmvisier war immer noch vollständig vereist. Vor lauter Verzweiflung hieb er wieder auf die Taste für die Schubdüsen.
Es war, als ob ein Böller unter seinem Hintern gezündet worden wäre. Der Schub der Düsen setzte völlig unerwartet ein. Er jaulte in einer Mischung aus Überraschung, Freude und Schmerz auf, als der Anzug sich in Bewegung setzte. Er flog blind, aber wenigstens flog er.
Morgenthau und Vyborg mussten sich nicht einmal anschauen, um sich auf ein Urteil zu verständigen.
»Schuldig«, sagte Morgenthau.
»Schuldig im Sinne der Anklage«, sagte Vyborg. »Und Ihr Komplize auch.«
»Komplize«, platzte Tavalera heraus.
Kananga versetzte ihm wieder einen Tritt.
»Die Geschworenen haben Sie schuldig gesprochen«, sagte Eberly zu Holly. »Möchten Sie noch etwas sagen?«
»Jede Menge«, spie Holly förmlich aus. »Aber nichts, was euch gefallen würde.«
Morgenthau trat vor Holly. Sie zog einen Palmtop aus dem grellbunten Kaftan und sagte: »Es gäbe da noch etwas, das ich gern hören würde. Ich will ein Geständnis, dass Sie und Ihr Freund hier zusammen mit Dr. Cardenas an der Entwicklung von Killer-Nanobots gearbeitet haben.«
»Das ist nicht wahr!«, sagte Holly.
»Ich sage auch nicht, dass es wahr sein muss«, erwiderte Morgenthau mit einem verschlagenen Lächeln auf den Lippen. »Ich will es nur von Ihnen hören.«
»Da können Sie lange warten.«
»Das gilt auch für mich«, sagte Tavalera.
Kananga schaute auf den verwundeten und malträtierten Ingenieur hinab und drehte sich dann wieder zu Holly um. »Ich glaube, ich kann sie überzeugen«, sagte er mit einem wölfischen Grinsen.
Er trat Holly in den Leib, sodass sie sich krümmte. »Das ist für den Tritt ins Gesicht, den Sie mir versetzt haben«, sagte er und fasste sich ans Kinn. »Das war aber nur eine Anzahlung.«
Fritz hatte seit Stunden angespannt an der Haupt- Steuerkonsole gesessen, ohne etwas zu sagen oder sich auch nur zu rühren. Die anderen Techniker schlichen auf Zehenspitzen um ihn herum. Weil die Verbindung zu Gaeta unterbrochen war, vermochten sie nichts anderes zu tun als zu warten. Die Missionszeituhr auf Fritz' Konsole zeigte, dass Gaeta noch immer für über dreißig Stunden Luft hatte, aber sie hatten keine Ahnung, in welchem Zustand er war.
Nadia Wunderly kam in die Werkstatt und spürte sofort, dass eine Stimmung wie bei einem Begräbnis herrschte.
»Was ist mit ihm?«, fragte sie den nächsten Techniker flüsternd.
Der Mann zuckte die Achseln.
Sie ging zu Fritz. »Haben Sie schon irgend etwas von ihm gehört?«
Fritz schaute mit verquollenen Augen zu ihr auf. »Seit zwei Stunden nicht mehr.«
»Oh.«
»Sind diese Eisflocken wirklich lebendig?«, fragte Fritz.
»Ich glaube schon«, sagte sie mit Betonung auf ich. »Wir werden aber noch ein paar Proben nehmen und ein paar Untersuchungen durchführen müssen, bis wir eine endgültige Bestätigung haben.«
»Sie fressen den neuen Mond wirklich auf?«
Wunderly nickte verdrießlich. »Sie schwärmen über die gesamte Oberfläche. Ich habe die Instrumente darauf programmiert, Messungen vorzunehmen, aber es wird einige Zeit dauern, bis wir eine Abnahme des Monddurchmessers feststellen werden.«
»Ich verstehe. Dann haben Sie also eine große Entdeckung gemacht.«
»Ich wünschte, ich hätte das gewusst, bevor Manny nach draußen gegangen ist…«
»He, Fritz!«, drang es knisternd aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. »Hörst du mich?«
»Manny!« Fritz sprang auf. »Manny, du lebst!«
»Ja, aber ich weiß nicht, wie lang noch.«
Timoschenko, der allein im Cockpit des Raumboots saß, hatte der Unterhaltung zwischen Gaeta und den Technikern gelauscht und war dann in Niedergeschlagenheit verfallen, als Gaeta verstummt war. Dann haben die Wissenschaftler also eine große Entdeckung gemacht, sagte er sich. Sie werden Preise einheimsen und mit Champagner anstoßen, und Gaeta wird schmählich vergessen.
Das ist der Lauf der Welt. Die Großkopfeten klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, während der kleine Mann einsam stirbt, sagte er sich. Vielleicht wird man noch ein paar Video-Dokumentationen über Gaeta bringen: der tollkühne Stuntman, der in den Ringen des Saturns gestorben ist. Doch in ein paar Wochen wird kein Hahn mehr nach ihm krähen.
Timoschenko hatte das Raumboot so programmiert, dass es die Cassini-Teilung zwischen dem A- und B-Ring durchstoßen und in eine Position gehen würde, wo Gaeta gemäß der Programmierung unterhalb der Ringebene herauskommen sollte. Er wusste aber, dass der Stuntman nicht an dieser Stelle herauskommen würde — nicht nach dem, was mit ihm geschehen war. Wahrscheinlich würde Gaeta überhaupt nicht mehr herauskommen, doch Timoschenko wartete trotzdem an der vereinbarten Stelle.
»He, Fritz! Hörst du mich?«
»Manny!«, platzte Fritz heraus. »Du lebst!«
Der Klang von Gaetas Stimme elektrisierte Timoschenko. Er schaute durchs Cockpitfenster auf die schimmernde Weite der Saturnringe; sie waren so hell, dass es ihm schier die Tränen in die Augen trieb. Dann setzte der Verstand wieder ein, und er überprüfte die Radarbilder. Da war ein Objekt von der Größe eines Menschen, der wie eine Gewehrkugel aus den Ringen herausgeschleudert wurde.
»Gaeta!«, schrie Timoschenko ins Mikrofon, »ich komme dich holen!«
Gaeta brauchte ein paar Sekunden, um sich vom Schock der plötzlichen Schubdüsen-Zündung zu erholen. Er hatte keine Kontrolle darüber; er hieb verzweifelt auf die Tasten, doch die Rakete feuerte einfach weiter, bis ihr der Brennstoff ausging und sie stotternd verstummte. Erst dann versuchte Gaeta, eine Verbindung herzustellen. Er hörte Fritz' Stimme im Lautsprecher. Dem Cheftechniker schien es vor Überraschung und Freude förmlich die Sprache verschlagen zu haben; ein so seltener Vorgang, dass Gaeta lachen musste. Der alte cabrуn hat sich Sorgen um mich gemacht!
»In welcher Verfassung bist du?«, fragte Fritz wieder in seiner normalen professionellen Nüchternheit. »Die diagnostischen Daten, die wir erhalten, sind noch immer ziemlich uneinheitlich.«
Gaeta sah Eispartikel vom Helmvisier wegfliegen und sagte: »Ich bin in Ordnung, außer dass ich nicht weiß, wohin, zum Teufel, ich fliege. Wie sind meine Position und der Vektor?«
»Wir arbeiten daran. Dein Triebwerk ist anscheinend ausgebrannt.«
»Richtig. Ich habe keine Möglichkeit mehr, zu bremsen oder den Kurs zu ändern.«
»Keine Sorge«, ertönte Timoschenkos Stimme. »Ich habe dich auf dem Radar. Ich bin schon auf Rendezvous-Kurs.«
»Super«, sagte Gaeta. Das Helmvisier war nun wieder fast eisfrei. Er sah noch eine kleine Eisflocke, die umherirrte wie eine mit Amphetamin gedopte Ameise und schließlich verschwand.
»Und tschüss, amigito«, sagte Gaeta zu dem Partikel. »Nichts für ungut. Ich hoffe, du kommst wohlbehalten wieder nach Hause, kleiner Freund.«
Schmerz! Holly hatte noch nie zuvor einen so fürchterlichen Schmerz verspürt. Hätte es nicht einmal im Traum für möglich gehalten. Kananga schlug sie wieder in die Nieren, und ein neuer Schmerz explodierte in ihr — ein brennender, unerträglicher Schmerz, der alle anderen Sinneseindrücke auslöschte.
»Eine einfache Aussage«, sagte Morgenthau und beugte sich über sie. »Nur einen einzigen Satz. Sagen Sie uns, dass Sie Cardenas geholfen haben, Killer-Nanobots zu entwickeln.« Sie hielt Holly den Palmtop unter die Nase. Holly vermochte kaum zu atmen. »Nein«, grunzte sie durch geschwollene und blutige Lippen.
Kananga drückte ihr das Knie in den Rücken und drehte ihr brutal den Arm um. Holly schrie auf.
»Es kann nur noch schlimmer werden«, zischte Kananga ihr ins Ohr. »Es wird immer schlimmer werden, bis du tust, was wir wollen.«
Holly hörte, wie Eberly mit kläglicher, flehender Stimme sagte: »Sie werden sie umbringen. Um Gottes willen, lassen Sie sie in Ruhe.«
»Sie rufen Gott an?«, sagte Morgenthau zornig. »Welche Blasphemie.«
»Sie bringen sie um!«
»Sie wird sowieso sterben«, sagte Kananga.
»Nehmen Sie sich doch den anderen vor«, flehte Eberly. »Gönnen Sie ihr eine Pause.«
»Er ist schon wieder bewusstlos. Holly ist viel zäher, nicht wahr, Holly?« Kananga packte sie am Haar und riss Hollys Kopf so brutal zurück, dass sie glaubte, das Genick würde brechen.
»Wenn wir neuronale Controller hätten«, sagte Vyborg, »würde sie uns alles sagen, was wir hören wollen.«
»Wir haben aber nicht die entsprechende Ausrüstung«, sagte Morgenthau. Sie seufzte schwer. »Brechen Sie ihr die Finger, Einen nach dem andern.«
Timoschenko brachte das kleine Raumboot auf eine Flugbahn, auf der es sich dem herumwirbelnden Gaeta schnell näherte.
»Ich komme von dir aus gesehen aus vier Uhr auf dich zu«, rief er. »Wirst du es schaffen, in die Ladebucht zu klettern, wenn ich bis auf ein paar Meter an dich herangekommen bin?«
»Ich weiß nicht«, antworte Gaeta skeptisch. »Habe keinen Treibstoff für den Antrieb mehr. Nur noch die Kaltgas- Mikrosteuertriebwerke; damit kann ich mich höchstens noch um die Längsachse drehen.«
»Das ist nicht so gut.« Timoschenko schaute durchs Cockpitfenster. Er sah die winzigen Konturen eines Menschen vorm Hintergrund der großen, hell leuchtenden Saturnringe.
»Au«, rief Gaeta.
»Was ist denn los?« Das war Fritz' Stimme.
»Mir ist ein Muskel gerissen, als ich die Beine aus dem Anzugsbein gezogen habe«, antwortete Gaeta. »Nun will ich sie wieder hineinstecken, und es schmerzt höllisch.«
»Wenn das dein größtes Problem ist«, sagte Fritz, »dann hast du wirklich keinen Grund zur Klage.«
Bei dieser coolen Bemerkung des Technikers musste Timoschenko lachen. Wie ein Zahnarzt, der sagt, es würde gar nicht wehtun, sagte er sich. Der Zahnarzt selbst spürt keinen Schmerz.
»Ich werde es kaum schaffen, an Bord des Raumboots zu kommen«, sagte Gaeta. »Ich fliege durch die Gegend wie ein abgefuckter Meteor. Ich habe keinen Antrieb und keinen Brennstoff zum Manövrieren mehr.«
»Keine Sorge«, sagte Timoschenko. »Ich werde dich aufsammeln. Ich fange dich auf, wie ein Artist auf dem Hochtrapez seinen Partner mitten in der Luft auffängt. Wie ein Balletttänzer, der die Ballerina im Scheitelpunkt des Sprungs auffängt. So in der Art.« Er wünschte sich, dass er so zuversichtlich gewesen wäre, wie er sich anhörte.
Holly lag zusammengekrümmt auf dem Stahlboden der Luftschleusenkammer. Sie war wieder bewusstlos.
»Sie simuliert nur«, sagte Morgenthau.
»Um Gottes willen, lasst sie in Ruhe«, bettelte Eberly »Werft sie aus der Luftschleuse, wenn es unbedingt sein muss, aber hört endlich mit dieser Folter auf. Das ist ja widerlich!«
»Wir haben auch genug Aufzeichnungen von ihrer Stimme, um eine Aussage gegen Cardenas zu synthetisieren«, sagte Vyborg.
»Ich will aber sichergehen«, sagte Morgenthau. »Ich will es aus ihrem Mund hören.«
Kananga stupste Tavaleras reglosen Körper mit der Stiefelspitze an. »Ich fürchte, dass bei ihm ein paar Rippen gebrochen sind. Er hat wahrscheinlich starke innere Blutungen. Vielleicht ist auch ein Lungenflügel perforiert.«
Morgenthau stemmte die Fäuste in die breiten Hüften: Sie bot ein Bild finsterer Entschlossenheit in ihrem albernen, knallbunten Kaftan.
»Wecken Sie sie auf«, befahl Morgenthau. »Ich will sie die Worte sagen hören. Dann können Sie sie loswerden.«
»Hundert Meter und näher kommend.« Timoschenkos Stimme in Gaetas Kopfhörer klang ruhig und professionell.
Gaeta sah das anfliegende Raumboot nicht durchs Helmvisier; also verbrauchte er einen Spritzer Brennstoff für die Minidüse, um sich etwas zu drehen. Und da war es. Es näherte sich schnell, und die plumpe Form mutete Gaeta so schön an wie eine Rennjacht. Die Ladeluke stand einladend offen.
»Du siehst verdammt gut aus, amigo«, sagte Gaeta.
»Ich gleiche meinen Geschwindigkeits-Vektor mit deinem ab«, erwiderte Timoschenko.
»Dein Brennstoffvorrat ist im kritischen Bereich«, ertönte Fritz' Stimme. »Es wäre besser, wenn du die zentrale Luftschleuse am Habitat-Ende anfliegst, anstatt zur Haupt- Luftschleuse zurückzukehren.«
»Ist die auch groß genug, dass ich mich im Anzug durchquetschen kann?«, fragte Gaeta.
»Ja«, sagte Fritz. »Flieg die zentrale Luftschleuse an.«
»Lass mich doch erst mal an Bord gehen, Mann«, sagte Gaeta.
Timoschenko nickte zustimmend. Er soll erst sicher an Bord kommen. Dann werden wir die Luftschleuse ansteuern, die am leichtesten zu erreichen ist.
Routiniert gab er Steuerbefehle in den Computer ein und manövrierte das Raumboot näher an Gaeta heran. Timoschenko wusste, wenn er die Zeit gehabt hätte, wäre er in der Lage gewesen, das Rendezvous-Problem in den Computer des Raumboots einzugeben und alles automatisch ablaufen zu lassen. Doch dafür war eben keine Zeit mehr. Er musste Gaeta manuell reinbringen. Er lächelte fast angesichts der Ironie des Vorgangs. Der Computer vermochte das Problem in einer Mikrosekunde zu lösen, aber es würde zu lang dauern, das Problem in den Computer einzugeben.
Es war unmöglich, die Geschwindigkeit der beiden Objekte exakt anzugleichen. Er musste die Entfernung zu Gaeta verringern und das Raumboot auf einer Flugbahn halten, die Gaetas Bahn in dem Punkt mit der kleinstmöglichen Geschwindigkeitsdifferenz schnitt. Timoschenko wischte sich den Schweiß aus den Augen, während er aufs Radarbild starrte. Zehn Meter trennten sie noch voneinander. Acht. Sechs.
Gaeta sah, wie die Ladeluke langsam näher kam. Komm schon, Kumpel, sagte er sich. Bring das Boot her. Bring es her. Er wünschte sich, er hätte noch einen Tropfen Brennstoff in der Antriebseinheit — selbst der winzige Schub-Impuls hätte die Lücke zwischen ihm und der Ladeluke geschlossen.
»Bin gleich da.« Timoschenkos Stimme klang angespannt und spröde.
Gaeta hob die Arme und versuchte den Rand der Luke zu fassen. Weniger als ein Meter trennten die Fingerspitzen von der Sicherheit.
»Mach dich bereit«, sagte Timoschenko.
»Ich bin bereit.«
Die Luke schoss plötzlich auf Gaeta zu und umfing ihn. Er flog so schnell in die Ladebucht hinein, dass er mit dem Hinterkopf gegen die Innenseite des Helms schlug.
»Willkommen an Bord«, sagte Timoschenko. Gaeta spürte förmlich das breite Grinsen auf seinem Gesicht.
»War etwas ungemütlich, aber trotzdem danke, amigo.«
»Gott sei Dank«, hörten sie Fritz atemlos sagen.
Fritz und drei andere Techniker eilten in Begleitung von Wunderly und Berkowitz zum Habitat-Ende, um Gaeta und Timoschenko in Empfang zu nehmen, wenn sie anlegten. Zu Fritz' Erstaunen hielt der pummelige Berkowitz mit ihm mit, während sie auf dem Weg zum Habitat-Ende wie verrückt in die Pedale traten. Auch Wunderly war nicht weit hinter ihm; die Techniker waren auf dem Fahrradweg jedoch deutlich zurückgefallen.
Er wartete ungeduldig an der Schleuse der zentralen Luftschleuse am Habitat-Ende auf sie und sagte sich: Ich werde dafür sorgen müssen, dass sie wesentlich mehr Sport treiben. Beim Anblick der schnaufenden und schwitzenden Figuren schüttelte er den Kopf. Sie haben sich in richtige Schlaffis verwandelt, seit wir an Bord des Habitats sind. Flankiert von Wunderly und dem schnaufenden Berkowitz und gefolgt von den Technikern marschierte Fritz durch den stählernen Tunnel, der zur Luftschleuse führte. Sie gelangten bis zur Kammer, die der inneren Luke der Luftschleuse vorgelagert war. Dort wurden sie von einem Trio schwarz gekleideter Sicherheitsleute angehalten.
»Dieser Bereich ist gesperrt«, sagte der Anführer der Wache.
»Gesperrt?«, blaffte Fritz. »Was soll das heißen? Ein Raumboot wird in ein paar Minuten an dieser Luftschleuse anlegen.«
Die Wache zückte den Schlagstock. »Sie können dort nicht hinein. Ich habe meine Anweisungen.«
Der Schrei einer Frau hallte von den Stahlwänden wider und ließ Fritz das Blut in den Adern gefrieren. »Was, zum Teufel, geht da drin vor?«, fragte er nachdrücklich.
Als Timoschenko das Raumboot zur Luftschleuse des Habitat- Endes steuerte, rief er Gaeta in der Ladebucht zu: »Willst aus dem Anzug steigen? Ich kann nach hinten kommen und dir helfen.«
»Das geht nicht«, sagte Gaeta. »Ich habe einen Muskelriss im Oberschenkel. Mir werden gleich ein paar Leute beim Aussteigen helfen müssen.«
Timoschenko zuckte die Achseln. »In Ordnung. Wir werden die Luftschleuse in weniger als zehn Minuten erreichen.«
Als sie das Habitat jedoch erreichten und Timoschenko mit der Ladeluke an der äußeren Luftschleusenluke andocken wollte, erschien die Meldung ZUGANG ZUR LUFTSCHLEUSE VERWEIGERT auf dem Monitor.
»Zugang verweigert?«, knurrte Timoschenko. »Welcher blöde Hund hat denn die Luftschleuse gesperrt?«
»Versuch es mit dem Notfall-Überrangbefehl«, riet Gaeta ihm.
Timoschenkos Finger huschten schon über die Tastatur. »Sehr gut, es funktioniert.«
Er erhob sich vom Cockpitsitz und schlüpfte durch die Luke in die Ladebucht. Er schaute auf Gaeta im massiven Anzug und grinste. »Wenigstens kann ich das Habitat hemdsärmlig betreten.«
»Ehrlich gesagt, amigo, so wie mein fregado Bein sich anfühlt, könnte ich ohne diesen Anzug keinen Meter ohne fremde Hilfe gehen.«
In einem Nebel aus Höllenqualen zwang Holly sich, sich auf einen einzigen Gedanken zu konzentrieren. Gib ihnen nicht, was sie wollen. Du darfst ihnen Kris nicht ans Messer liefern. Ich bin schon tot, aber ich werde nicht zulassen, dass sie Kris auch noch töten.
Ein Auge war vollkommen zugeschwollen, das andere zu einem Schlitz. Sie spürte heißen Atem im Ohr. »Das ist noch gar nichts, Holly«, flüsterte Morgenthau mit schwerer Stimme. »Wenn du glaubst, du hättest Schmerzen verspürt, ist das noch gar nichts im Vergleich zu dem, was du jetzt gleich spüren wirst. Bisher haben wir dich nur geschlagen. Wenn du nicht redest, werden wir dir die Därme herausreißen.«
Holly konzentrierte sich auf den Schmerz und versuchte, mit ihm die Angst aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Sie werden mich sowieso töten; was auch immer sie sagt, sie werden mich töten. Aller Schmerz der Welt wird daran nichts ändern.
»Die Luftschleuse öffnet sich!«, rief jemand.
»Unmöglich. Ich habe doch befohlen…«
»Schauen Sie doch auf die Anzeige.« Das hörte sich wie Eberlys Stimme an. »Die Außenluke öffnet sich.«
Im Innern des klobigen Anzugs sah Gaeta, wie die Lampen an der Innenwand der Luftschleuse von Rot über Gelb auf Grün wechselten. Mein Gott, sagte er sich, was bin ich froh, wenn ich aus diesem Anzug rauskomme. Ich muss schon zum Himmel stinken.
Die innere Luke glitt langsam auf. Gaeta erwartete, Fritz und die Techniker zu sehen. Stattdessen erblickte er eine Gruppe von Fremden. Im ersten Moment war er verwirrt. Dann erkannte er Eberly. Und diese anderen…
Dann sah er zwei Gestalten auf dem Boden liegen. Blutig. Verletzt. Allmächtiger Gott! Das ist doch Holly!
»Was, zum Teufel, geht hier vor?«, fragte er empört.
Gaetas Stimme hallte wie ein Donnerschlag in der stählernen Kammer.
»Sie wollen Holly töten!«, platzte Eberly heraus.
Morgenthau wirbelte zu Eberly herum und zischte: »Verräter!«
Kananga trat vor den mächtigen Anzug — im Vergleich zu ihm wirkte er noch dünner als sonst. »Das geht Sie nichts an. Verschwinden Sie von hier.«
»Sie bringen Holly um!«, wiederholte Eberly noch verzweifelter.
»Wache! Schafft diesen Narren weg«, rief Kananga in den Tunnel hinein.
Die drei Sicherheitsleute kamen angerannt und blieben beim Anblick von Gaetas Anzug, der wie ein Ungeheuer vor ihnen dräute, wie angewurzelt stehen.
»Erschießt ihn!«, befahl Kananga. »Tötet ihn!«
Gaeta sah, wie die drei Wachen Laser-Schneidwerkzeuge aus dem Gürtel zogen. Hinter ihnen näherten sich Fritz und die anderen. Er richtete den Blick auf Holly, die rücklings auf dem Boden lag; ihr Gesicht war blutig geschlagen und angeschwollen, ein Arm stand in einem grotesken Winkel vom Körper ab und die Finger der einen Hand waren blutverkrustet.
Die Wachen feuerten mit den Lasern auf ihn. Sie wollen mich umbringen, wurde Gaeta sich bewusst, den die ganze Szene total irreal anmutete. Diese Hundesöhne!
Die drei dünnen roten Laserstrahlen trafen auf die Brustpanzerung des Anzugs und wurden dort aufgefächert. Mit einem Knurren, das der Anzug wie Artilleriefeuer verstärkte, wischte Gaeta Kananga beiseite und stapfte auf die drei Wachen zu. Einer von ihnen hatte noch die Nerven, aufs Helmvisier zu zielen, doch das stark getönte Visier absorbierte den Laserimpuls zum größten Teil; Gaeta verspürte ein brennendes Stechen in der rechten Wange wie die Verbrennung durch einen Stromschlag.
Er prallte auf die Sicherheitsleute, erwischte einen der Männer mit dem Handrücken des durch Servomotoren verstärkten Arms und schleuderte ihn gegen die Wand. Dann schlug er der Frau den Laser aus der Hand und zerquetschte ihn mit der Zange der rechten Hand. Sie wandten sich zur Flucht und rannten an Fritz und seinen Begleitern vorbei, die mit offenem Mund dastanden. Die Wache, die Gaeta erwischt hatte, lag verkrümmt auf dem Boden. Sie war bewusstlos oder tot, doch das interessierte ihn nicht.
Er wandte sich Kananga zu, der ihn mit großen Augen anstarrte.
»Du wolltest Holly töten«, sagte Gaeta mit grollender Stimme. »Du wolltest sie totschlagen.«
»Warte!«, rief Kananga und wich zurück, wobei er beide Hände hochhielt. »Ich wollte sie nicht…«
Gaeta packte ihn, hob ihn hoch und trug ihn durch die offene Luke der Luftschleuse. Mit dem anderen Arm hieb er auf die Luftschleusen-Steuerung. Die Luke glitt zu. Kananga wand sich im erbarmungslosen Griff der Zange; er rang nach Luft und zerrte vergeblich mit beiden Händen an den Cermet- Klauen.
»Wir werden ein Spielchen spielen«, knurrte Gaeta ihn an. »Wir wollen mal sehen, wie lang du Vakuum atmen kannst.«
Die Luftschleuse wurde evakuiert. Gaeta hielt die Zange der linken Hand fest gegen die Steuerung gedrückt, sodass man die Luke von außen nicht öffnen konnte. Er hielt Kananga so hoch, dass er sein Gesicht sah, als die Augen des Ruanders entsetzt aus den Höhlen quollen und in einem Schauer aus Blut explodierten.
Professor Wilmot saß mit strengem Gesichtsausdruck am Schreibtisch und wünschte sich sehnlich, ein Whiskyglas in der Hand zu halten. Ein ordentlicher Drink war genau das, was er nun gebraucht hätte. Aber er musste die Rolle einer Autoritätsperson spielen, und das erforderte absolute Nüchternheit.
Vor dem Schreibtisch saßen Eberly, Morgenthau, Vyborg, Gaeta und Dr. Cardenas.
»Sie haben mich dazu gezwungen«, winselte Eberly. »Kananga hat den alten Mann ermordet, und sie haben mich gezwungen, Stillschweigen darüber zu bewahren.«
Morgenthau warf ihm einen ebenso hochmütigen wie angewiderten Blick zu. Vyborg machte einen lethargischen, beinahe katatonischen Eindruck.
»Sie hat damit gedroht, mich wieder ins Gefängnis zu stecken, wenn ich nicht täte, was sie wollte«, fuhr Eberly fort und wies auf Morgenthau.
»Das Gefängnis wäre noch viel zu gut für dich«, sagte Morgenthau gehässig.
Über eine Stunde lang hatte Wilmot versucht, sich ein Bild von den Vorkommnissen in der Luftschleuse zu machen. Zum Teil war der Hintergrund ihm schon bekannt. Gaeta hatte unumwunden zugegeben, Kananga getötet zu haben; Cardenas bezeichnete das als Hinrichtung. Wilmot war zum Hospital gegangen und von Holly Lanes Anblick entsetzt gewesen: Ihr Gesicht war fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt, der Arm ausgekugelt und die Finger methodisch gebrochen. Und Ta-valera war in einer noch schlimmeren Verfassung — die gebrochenen Rippen hatten beide Lungenflügel perforiert. Dr. Cardenas hatte die Initiative ergriffen: Nachdem sie erfahren hatte, was ihnen zugestoßen war, war sie sofort ins Hospital geeilt und pumpte beide mit therapeutischen Nano- Maschinen voll — mit Assemblern, wie sie sie nannte. Die Maschinen, die sie aus ihrem eigenen Körper abzog, waren darauf programmiert, beschädigtes Gewebe, gebrochene Knochen und gerissene Blutgefäße zu reparieren.
Wilmot ging mit Cardenas konform. Die Tötung des Ruanders war eine Hinrichtung.
»Oberst Kananga hat Diego Romero ermordet?«, fragte Wilmot.
Eberly nickte. »Er hat Kananga damit beauftragt«, sagte er und wies mit dem Daumen auf Vyborg. »Er wollte unbedingt die Kommunikationsabteilung leiten.«
Vyborg sagte nichts; seine Augen flackerten nur kurz bei Eberlys Anklage. Wilmot erinnerte sich, dass Eberly darauf bestanden hatte, Berkowitz aus der Abteilung zu entfernen.
»Und das alles war Teil Ihres Plans, die Kontrolle über die Regierung des Habitats zu übernehmen«, fragte er. Er vermochte es noch immer kaum zu glauben.
»Das war mein Plan«, stellte Morgenthau richtig. »Dieser Wurm war lediglich Mittel zum Zweck.«
»Aber er ist doch ins Amt des Verwaltungschefs gewählt worden«, sagte Wilmot mit einem ungläubigen Kopfschütteln. »Sie sind in einer freien Wahl an die Macht gelangt. Wozu dann die Gewalt?«
»Wir wollten keine demokratische Regierung haben«, antworte Morgenthau, bevor Eberly etwas sagen konnte. »Das war nur Taktik, ein erster Schritt zur Erlangung der absoluten Macht.«
»Absolute Macht.« Wilmot sank auf dem Stuhl zusammen. »Begreifen Sie nicht, wie instabil eine solche Regierung wäre? Sie hätten sie wenige Stunden nach Amtsantritt selbst zerstört.«
»Wegen seiner Schwäche«, sagte Morgenthau und deutete wieder auf Eberly.
»Und diese barbarische Folter von Miss Lane? Was wollten Sie damit erreichen?«
»Wir mussten alle Spuren von Nanotechnik im Habitat beseitigen«, sagte Morgenthau heftig. »Nanomaschinen sind Teufelswerk. Wir dürfen sie hier nicht dulden!«
»Das ist doch idiotisch«, sagte Cardenas zornig. »Wenn Sie das wirklich glauben, müssen Sie einen Sprung in der Schüssel haben.«
»Nanotechnik ist böse«, bekräftigte Morgenthau. »Sie sind böse!«
Cardenas schaute die Frau finster an. »Wie kann jemand nur so verblödet sein? So selbstgerecht und verbohrt, dass er bereit ist, Menschen zu quälen und zu töten?«
Morgenthau erwiderte ihren Blick. »Nanotechnik ist böse«, wiederholte sie. »Sie werden früher oder später für Ihre Sünden bezahlen.«
Wilmot hatte selbst Vorbehalte gegen Nanotechnik, aber diese Morgenthau war wirklich eine Fanatikerin, sagte er sich.
Er wandte sich wieder an Eberly. »Und Sie haben einfach dabeigestanden und zugelassen, dass sie das arme Mädchen folterten.«
»Ich habe versucht, sie davon abzuhalten«, blökte Eberly. »Was hätte ich denn tun sollen?«
Wilmot atmete tief durch. Er sehnte sich mehr denn je nach einem Whisky. Schwieriges Fahrwasser. Sie haben noch immer diese blöden Unterhaltungsvideos, mit denen sie mir an den Karren fahren können.
»In Ordnung«, sagte er. »Ich werde Folgendes tun: Ms. Morgenthau und Dr. Vyborg werden mit dem Schiff, das die Wissenschaftler herbringt, zur Erde zurückkehren.«
»Wir werden aber nicht zur Erde zurückkehren«, sagte Morgenthau.
»Doch, genau das werden Sie tun. Sie beide werden aus dem Habitat verbannt. Auf Lebenszeit.«
»Verbannt?« Zum ersten Mal schaute Morgenthau besorgt. »Das können Sie nicht tun. Dazu sind Sie überhaupt nicht autorisiert.«
»Aber ich«, sagte Eberly mit einem Lächeln. »Ich finde, dass Exil die perfekte Lösung ist. Gehen Sie zu ihren Freunden bei den Heiligen Jüngern zurück. Dann werden Sie schon sehen, wie sie einen Misserfolg belohnen.«
Morgenthaus Augen schleuderten Blitze. »Das können Sie mir doch nicht antun!«
»Ich bin der rechtmäßig gewählte Verwaltungschef dieser Gemeinschaft«, sagte Eberly. Er genoss den Moment sichtlich. »Es liegt durchaus in meinem Ermessen, Sie beide zu verbannen.«
Vyborg erwachte schließlich aus der Trance; plötzlich schaute er entsetzt und ängstlich. Wilmot konzentrierte sich jedoch auf Eberly. Kann ich ein Bündnis mit diesem Mann eingehen?, fragte er sich. Kann ich darauf vertrauen, dass er die Regierung ordnungsgemäß führt?
»Ja, Sie sind offiziell der Regierungschef«, pflichtete Wilmot ihm zögerlich bei. »Aber wir werden trotzdem einen Weg finden müssen, die gesamte Bevölkerung an der Regierungsverantwortung zu beteiligen.«
»Allgemeine Dienstpflicht«, sagte Cardenas. »Das wird in Selene und manchen Ländern auf der Erde so gehandhabt und scheint auch recht gut zu funktionieren.«
Wilmot kannte das Konzept. »Es wird von jedem Bürger verlangt, dass er mindestens für ein Jahr Dienst an der Allgemeinheit verrichtet?«, fragte er voller Skepsis. »Glauben Sie auch nur für einen Moment, dass ein solches Konzept hier funktionieren würde?«
»Einen Versuch wäre es wert«, erwiderte Cardenas.
»Die Leute hier werden sich nie darauf einlassen«, sagte Wilmot. »Man wird Sie auslachen.«
»Ich wäre auch dafür«, sagte Gaeta. »Mir erscheint es durchaus sinnvoll, jeden einzubeziehen.«
Wilmot hob eine Augenbraue. »Was spielt das denn für Sie für eine Rolle? Sie werden doch mit dem Schiff abfliegen, das die Wissenschaftler herbringt.«
»Nein, das werde ich nicht«, sagte Gaeta mit Nachdruck. Er drehte sich zu Cardenas um und wirkte plötzlich schüchtern, geradezu kleinlaut. »Ich meine, ich — äh… ich will nicht gehen. Ich will hier bleiben. Ein Bürger werden.«
»Und den Stuntman an den Nagel hängen?«, fragte Cardenas offensichtlich überrascht.
Er nickte feierlich. »Es wird Zeit, dass ich Schluss damit mache. Außerdem kann ich Wunderly bei der Erforschung der Ringe helfen. Und vielleicht irgendwann auf der Oberfläche von Titan landen und Urbain und den anderen Wissenschaftlern helfen.«
Cardenas warf sich ihm an den Hals und gab ihm einen dicken Kuss. Wilmot wollte schon die Stirn runzeln, musste stattdessen aber lächeln.
Urbain und Wunderly saßen im Büro des Chef- Wissenschaftlers und schauten sich die Aufzeichnung von der Ankunft des neuen Mondes im Hauptring an. Sie sahen, wie die hellen Eis-Partikel des Rings den Neuankömmling umschwärmten und die dunkle unregelmäßige Form mit glitzerndem Eis überzogen.
»Bemerkenswert«, murmelte Urbain. Diesen Begriff hatte er bisher jedes Mal verwendet, wenn er sich das Video angeschaut hatte. »Sie verhalten sich wie Lebewesen.«
»Sie sind Lebewesen«, sagte Wunderly. »Davon bin ich überzeugt.«
Urbain nickte und fuhr sich automatisch übers Haar. »Das ist ein zu großer Sprung, Nadia. Es stimmt wohl, dass die Partikel dynamisch sind; das ist offensichtlich. Aber lebendig? Es liegt noch viel Arbeit vor uns, bevor wir zweifelsfrei behaupten können, dass es sich um Lebewesen handelt.«
Wunderly grinste ihn an. Er hat wir gesagt, sagte sie sich. Er ist nun auf meiner Seite.
»Es haben sich schon viele Wissenschaftler gegen Ihre Interpretation ausgesprochen«, sagte Urbain. »Sie wollen einfach nicht glauben, dass die Ring-Partikel lebendig sind.«
»Dann werden wir ihnen eben stichhaltige Beweise vorlegen müssen«, sagte Wunderly.
»Das wird dann Ihre Aufgabe sein«, sagte Urbain. »Was mich betrifft, so werde ich mit dem Schiff zur Erde zurückkehren, das die anderen Wissenschaftler herbringt.«
Wunderly war geschockt. »Zur Erde zurückkehren! Aber…«
»Ich habe mir das sehr gründlich überlegt«, sagte Urbain mit erhobenem Finger. »Sie brauchen einen Mentor auf der Erde — jemanden, der Ihre Beweise präsentiert und Ihre Sache gegenüber den Skeptikern vertritt.«
»Aber ich dachte, Sie würden hier bleiben.«
»Und bei den Neuen die zweite Geige spielen?« Urbain rang sich ein Lächeln ab, und sie erkannte den Schmerz dahinter. »Nein, ich kehre zur Erde zurück. Es ist mir nie gelungen, meine eigene Karriere zu befördern, aber ich glaube, dass ich um so mehr für Sie tun kann. Für Sie und Ihre Ring- Lebewesen werde ich sogar zum Löwen!«
Wunderly wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste aber, dass jeder junge Wissenschaftler mit unorthodoxen neuen Ideen einen Mentor brauchte. Selbst Darwin brauchte Huxley.
»Zumal mein Lebensmittelpunkt auf der Erde ist«, fuhr Urbain fort. »In Paris. Vielleicht… vielleicht vermag ich sie so zu beeindrucken, dass sie zu mir zurückkommt.«
»Ich bin sicher, dass Ihnen das gelingen wird«, sagte Wunderly sanft.
»Dann steht mein Entschluss also fest. Ich kehre zur Erde zurück. Sie werden die Arbeit an den Ringen leiten.«
»Ich soll sie leiten…?«
Er grinste breit. »Ich habe Sie befördert. Im Team, das von der Erde kommt, sind nur drei Forscher, die sich für die Ringe interessieren — und sie haben gerade erst ihr Diplom gemacht. Ich habe Sie zur Leiterin der Ringdynamik-Studien ernannt. Die Neuen werden für Sie arbeiten.«
Wunderly musste an sich halten, um den Mann nicht zu umarmen.
Holly setzte sich im Krankenhausbett auf. Sie krümmte die Finger der rechten Hand und hielt die Hand vors Gesicht.
»Fast so gut wie neu«, sagte sie.
Cardenas nickte zufrieden. »Warten Sie noch ein paar Tage. Nano-Maschinen können auch nicht zaubern.«
Gaeta saß neben Cardenas; die beiden hockten auf kleinen Plastikstühlen fast in Tuchfühlung.
»Ich werde auch Nanos benutzen, wenn ich das nächste Mal in die Ringe gehe«, sagte er.
»Sogar Urbain verliert die Angst vor Nanomaschinen«, sagte Cardenas. »Er ist heute Morgen ins Labor gekommen und kein einziges Mal zusammengezuckt!«
Alle drei lachten.
Dann wurde Holly ernst. »Manny, ich möchte dir danken, dass du mir das Leben gerettet hast. Kananga hätte mich sonst getötet.«
Sein Gesicht verhärtete sich. »Ich habe es ihm zu leicht gemacht. Damals im barrio hätten wir mit ihm das Gleiche gemacht, was er dir und Raoul angetan hat. Und dann hätten wir ihn von einer Autobahnbrücke geworfen.«
»Ihr sprecht von mir?«
Tavalera fuhr im Rollstuhl in Hollys Zimmer und blieb an der anderen Seite des Bettes stehen.
»Ich wollte gerade zu Ihnen rüberkommen«, sagte Cardenas. »Was macht die Lunge?«
»Sie macht sich. Die Ärzte haben mich heute Morgen untersucht. Sie waren überrascht, dass ich solche Fortschritte mache.«
»Die Regeneration des Lungengewebes wird noch ein paar Tage dauern«, sagte Cardenas. »Bei den Rippen war es einfacher.«
Tavalera nickte. »Es ist schon komisch. Ich scheine fast zu spüren, wie diese kleinen Roboter in mir werkeln.«
»Das ist reine Einbildung.«
»Dann muss ich aber eine lebhafte Phantasie haben«, sagte er.
»Raoul«, sagte Holly, »ich rechne es dir hoch an, dass du mich beschützen wolltest.«
Er wurde rot. »Leider war ich dir keine sehr große Hilfe.«
»Du hast es immerhin versucht«, sagte Holly. »Als ich wirklich Hilfe brauchte, warst du da und hast mir helfen wollen.«
»Und ich habe eine Ladung Nanobots im Körper, die als Beweis dienen.«
Cardenas begriff, was er damit sagen wollte. »Keine Sorge, in ein paar Tagen werde ich sie wieder aus Ihnen entfernen, und Sie können nach Hause zurückkehren. Sie werden keine einzige Nano-Maschine mehr im Leib haben, wenn Sie die Erde erreichen.«
»Du wirst aber allein zurückkehren müssen, amigo«, sagte Gaeta. »Ich werde für immer hier bleiben.« Und er legte Cardenas den Arm um die Schulter.
Holly sah das Leuchten in Cardenas' Augen. »Und was ist mit den Technikern?«, fragte sie. »Werden sie auch hier bleiben?«
»Nee«, sagte Gaeta mit einem Kopfschütteln. »Fritz will zur Erde zurückkehren und einen neuen pendejo suchen, den er zu einem Medienstar aufbauen kann. Aber den Anzug werde ich behalten. Dieses Baby gehört mir.«
Tavalera schaute angespannt. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht.«
»Worüber?«, fragte Holly.
»Hier zu bleiben.«
»Wirklich?«, fragte Holly und machte große Augen.
»Ja. Irgendwie. Ich meine… so schlecht ist es hier gar nicht. In diesem Habitat, meine ich. Ich frage mich, Dr. Cardenas, ob ich weiter in Ihrem Labor arbeiten könnte? Als Ihr Assistent?«
»Ich brauche Ihre Hilfe, Raoul«, antwortete Cardenas wie aus der Pistole geschossen. »Ich hatte mich schon gefragt, was ich ohne Sie anfangen soll.«
»Dann bleibe ich«, sagte Tavalera und schaute Holly an.
Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Nicht zu fest, Raoul«, sagte sie, als er sie ergriff. »Sie ist noch ziemlich empfindlich.«
Er grinste und ließ ihre Hand in seiner liegen.
Cardenas stand auf. »Ich habe zu arbeiten. Ich werde heute Nachmittag noch mal bei euch beiden vorbeischauen. Komm, Manny.«
Gaeta lehnte sich auf dem knarrenden Stuhl zurück. »Wohin soll ich denn gehen? Ich bin doch im Ruhestand, nicht wahr?«
Cardenas packte ihn am Kragen. »Komm endlich, Manny. Ich werde schon noch etwas für dich finden.«
Er ließ sich von ihr hochziehen. »Na, wenn du es sagst…«
Sie gingen. Holly legte sich wieder hin. Tavalera hielt noch immer sanft ihre Hand.
»Du bleibst doch nicht etwa wegen mir, oder«, fragte sie ihn.
»Nein, nicht…« Er hielt inne. »Doch. Ich bleibe wegen dir«, sagte er fast trotzig. »Das ist die Wahrheit.«
Holly lächelte ihn an. »Gut. Das wollte ich nur hören.«
Er erwiderte ihr Lächeln.
»Telefon!«, rief Holly. »Verbinde mich mit Pancho Lane im Hauptquartier der Astro Corporation in Selene.«
Tavalera ließ ihre Hand los und wollte vom Bett wegrollen.
»Geh nicht, Raoul«, sagte Holly. »Ich möchte, dass du meine Schwester kennen lernst.«
Professor Wilmot saß in seinem Lieblingssessel und schwenkte vorsichtig das Whiskyglas, das er in der rechten Hand hielt. Obwohl sein Blick auf den Bericht gerichtet war, den der diktierte, ging er in Wirklichkeit weit über die Worte hinaus, die vor ihm in der Luft hingen. Er ließ die Ereignisse der letzten Tage Revue passieren und versuchte den weiteren Gang der Ereignisse vorherzusehen.
Er saß lange Zeit allein da, schwenkte langsam den Whisky und fragte sich, was er seinen Vorgesetzten auf der Erde sagen sollte — wie er ihnen erklären sollte, was mit dem großen Experiment schief gelaufen war.
»Im Grunde ist überhaupt nichts schief gelaufen«, sagte er dann. »Mit dem Experiment sollte die Überlebensfähigkeit einer geschlossenen Gesellschaft getestet werden sowie die Fähigkeit, ein funktionsfähiges Gesellschaftssystem zu entwickeln. Leider entsprach das Gesellschaftssystem, das sich herauskristallisierte, nicht unseren Erwartungen und Wünschen. Es basierte vielmehr auf Gewalt und Täuschung und hätte in ein strenges, restriktives und autoritäres Regime gemündet. Auf der anderen Seite sind solche Systeme von Natur aus instabil, wie die Ereignisse der letzten Tage gezeigt haben.«
Er saß für eine Weile in Gedanken versunken da. Dann trank er einen Schluck Whisky und fuhr fort: »Wir treten in eine neue Phase des Experiments ein, den Versuch, eine funktionsfähige demokratische Regierung zu etablieren. Die Frage lautet nun, sind die Leute dieser Gemeinschaft zu faul oder zu selbstsüchtig, um sich die Mühe zu machen, sich selbst zu regieren? Sind sie nicht mehr als verzogene Kinder, die letztlich eine autoritäre Regierung brauchen, die die Dinge für sie regelt? Die Zeit wird es weisen.«
Er dachte an Cardenas' Vorschlag einer allgemeinen Dienstpflicht: dass von jedem Bürger verlangt wurde, eine gewisse Zeit lang einen Dienst an der Allgemeinheit abzuleisten. Anderenorts hat das schon funktioniert, sagte Wilmot sich. Vielleicht wird es auch hier funktionieren. Aber er hatte seine Zweifel.
Er nahm einen größeren Schluck Whisky und diktierte dann den letzten Abschnitt seines Berichts an die Leiter der Neuen Moralität in Atlanta.
»Sie haben den größten Teil der Finanzierung für diese Expedition übernommen, mit der erforscht werden sollte, ob eine ähnliche Auswahl von Personen als Population einer Mission zu einem anderen Stern dienen könnte — auf einer Mission, die viele Generationen dauern würde. Aufgrund der Ergebnisse der ersten zwei Jahre dieses Experiment muss ich schließen, dass wir einfach noch nicht genug wissen, wie menschliche Gesellschaften sich unter einer solchen Belastung verhalten, um ein definitives Urteil abgeben zu können.
Meine persönliche Meinung ist jedoch, dass wir noch nicht so weit sind, eine interstellare Mission zu planen. Wir verfügen noch nicht einmal ansatzweise über das Verständnis, das wir brauchten, um eine genetisch lebensfähige menschliche Population auf einen Weltraumflug zu schicken, der viele Generationen dauern wird.
Das ist sicher ein enttäuschender Befund, aber er kommt wohl kaum überraschend. Dies ist schließlich das erste Mal, dass eine künstlich erzeugte menschliche Gesellschaft so weit von der Erde entfernt auf sich allein gestellt ist. Wir müssen noch viel lernen.«
Er leerte das Whiskyglas und machte dann noch eine optimistische Anmerkung: »Auf der anderen Seite hat diese Gruppe zänkischer, unruhiger und dabei sehr intelligenter Männer und Frauen ein paar signifikante Erfolge erzielt. Wir haben es bis zum Saturn geschafft. Wir haben es vermieden, einer autoritären Regierung in die Falle zu gehen. Wir haben möglicherweise eine neue Lebensform in den Ringen des Saturns gefunden. Wir schicken uns an, den Titan mit Oberflächen-Sonden zu erforschen und es später eventuell mit einer menschlichen Präsenz auf der Oberfläche dieser Welt zu versuchen.
Ihnen von der Neuen Moralität wird vielleicht nicht alles gefallen, was wir erreicht haben, und Sie werden vielleicht auch nicht mit allem einverstanden sein, was wir noch vorhaben — einschließlich des Einsatzes von Nanotechnik, wo immer es sinnvoll ist. Aber Sie können sich damit trösten, dass Ihre großzügige Finanzierung dabei geholfen hat, einen neuen menschlichen Außenposten zu etablieren, der doppelt so weit von der Erde entfernt ist wie die Jupiterstation: ein Außenposten, der als Ausgangspunkt für die Erforschung des Saturn, seiner Ringe und seiner Monde dienen wird.«
Wilmot lächelte angesichts der Ironie der ganzen Sache. »Sie haben dem Rest der menschlichen Rasse sehr konkret und anschaulich gezeigt, wie man die Grenzen der Erde überwindet. Aus diesem Grund wird Ihnen, ungeachtet dessen, was Sie denken oder was Sie glauben mögen, der ewige Dank kommender Generationen gewiss sein.«