ERSTES BUCH

Aus dem gleichen Grunde habe ich auch beschlossen, nichts über den Saturn zu vermelden außerdem, was ich bereits beobachtet und dargelegt habe — als da wären zwei kleine Sterne, die ihn berühren, einer im Osten und einer im Westen, bei denen bisher keine Veränderung festgestellt wurde und auch für die Zukunft keine erwartet wird, außer irgendeines höchst fremdartigen Ereignisses fernab jeder Bewegung, die uns bekannt oder auch nur vorstellbar für uns ist. Was jedoch die Beobachtung betrifft… dass der Saturn zuweilen länglich sei und manchmal von zwei Sternen an den Flanken begleitet werde, so mögen Eure Exzellenz versichert sein, dass dies entweder der Unzulänglichkeit des Fernrohrs oder dem Auge des Betrachters geschuldet ist… Ich, der ich ihn tausendmal zu verschiedenen Zeiten mit einem vortrefflichen Instrument beobachtet habe, vermag Euch zu versichern, dass keine wie auch immer geartete Veränderung festzustellen ist. Und auf der Grundlage der Kenntnisse aller anderen Sternenbewegungen vermögen wir zu sagen, dass nach menschlichem Ermessen auch niemals eine solche Veränderung auftreten wird. Wenn die Bewegung dieser Sterne nämlich derjenigen anderer Sterne gleichen würde, hätten sie sich längst vom Körper des Saturns gelöst oder mit ihm sich vereinigt — selbst wenn diese Bewegung tausendmal langsamer wäre als die aller anderen Sterne, die übers Firmament wandern.

GALILEO GALILEI, Briefe über Sonnenflecken • 4. Mai 1612

Selene: Hauptquartier der Astro Corporation

Pancho Lane runzelte die Stirn und warf ihrer Schwester einen Blick zu. »Er heißt nicht einmal mehr Malcolm Eberly. Er hat seinen Namen geändert.«

Susan lächelte wissend. »Na und. Was macht das denn für einen Unterschied?«

»Er wurde in Omaha, Nebraska, als Max Erlenmeyer geboren«, sagte Pancho streng. »'84 ist er in Linz wegen Betrugs festgenommen worden, versuchte dann aus Österreich zu fliehen und…«

»Das ist mir schnurz! Das ist doch Schnee von gestern! Er hat sich geändert. Er ist nicht mehr derselbe, der er damals war.«

»Du wirst trotzdem nicht gehen.«

»Werde ich doch«, beharrte Susan und runzelte nun ihrerseits die Stirn. »Ich werde fliegen, und du kannst mich nicht daran hindern!«

»Ich bin dein gesetzlicher Vormund, Susie.«

»Ach was! Das interessiert mich nicht die Bohne. Ich bin doch schon fast fünfzig Jahre alt.«

Dabei sah Susan Lane nicht viel älter aus als zwanzig. Sie war gestorben, als sie noch ein Teenager war — getötet durch eine tödliche Injektion, die Pancho selbst ihr in den bis auf Haut und Knochen abgemagerten Arm gespritzt hatte. Dann war die klinisch tote Susan in flüssigem Stickstoff eingefroren worden, um auf den Tag zu warten, da die medizinische Wissenschaft den Krebs zu heilen vermochte, der den jungen Körper verwüstete. Pancho hatte ihren Tiefkühl-Sarg zum Mond gebracht, als sie die Stelle als Astronautin für die Astro Manufacturing Corporation antrat. Irgendwann war Pancho in den Vorstand von Astro aufgestiegen und schließlich zur Vorstandsvorsitzenden avanciert. Und derweil wartete Susan in ihrem Bad aus flüssigem Stickstoff — wartete darauf, bis Pancho sicher war, dass man sie wieder zum Leben zu erwecken vermochte.

Es dauerte über zwanzig Jahre. Und nachdem Susan wieder belebt und vom Krebs geheilt worden war, der ihren jungen Körper zerfressen hatte, glich ihr Bewusstsein einem unbeschriebenen Blatt. Pancho hatte damit gerechnet; aus dem Kälteschlaf erweckte Menschen hatten normalerweise fast alle neuronalen Verbindungen im zerebralen Kortex verloren. Sogar Saito Yamagata, der mächtige Gründer der Yamagata Corporation, war fast mit dem Bewusstsein eines Neugeborenen aus dem Kälteschlaf erwacht.

Also hatte Pancho ihre Schwester — ein Kleinkind im Körper eines Teenagers — gefüttert, gebadet und ihr wieder beigebracht, die Toilette zu benutzen. Und sie hatte die besten Neurophysiologen nach Selene geholt, damit sie dem Gehirn ihrer Schwester mit Injektionen, Gedächtnisenzymen und RNA wieder auf die Sprünge halfen. Sie zog sogar eine Nanotherapie in Erwägung, verwarf diese Idee dann aber wieder; Nanotechnik war in Selene zwar zugelassen, aber nur unter strengen Auflagen. Zumal die Experten es selbst für unwahrscheinlich hielten, dass Susan mit Hilfe von Nanomaschinen die verlorene Erinnerung zurückerhalten würde. Das waren schwierige Jahre, doch allmählich entwickelte sich eine junge Erwachsene, eine Frau, die wie die Susie aussah, an die Pancho sich erinnerte — nur dass ihre Persönlichkeit, ihre Einstellung und ihr Bewusstsein sich grundlegend verändert hatten. Susan erinnerte sich nicht mehr an ihr früheres Leben, doch dank der ihr verabreichten Neuro- Booster hatte sie nun ein annähernd fotografisches Gedächtnis: Wenn sie einmal etwas sah oder hörte, vergaß sie es nicht mehr. Sie vermochte sich mit einer solchen Präzision an Einzelheiten zu erinnern, dass Pancho schier schwindlig wurde.

Nun saßen die Schwestern sich gegenüber und funkelten sich an. Pancho auf der dick gepolsterten, burgunderroten Kunstledercouch in der Ecke ihres großzügigen Büros, und Susan saß angespannt auf der Kante des niedrigen Stuhls auf der anderen Seite des geschwungenen Kaffeetischs aus Mondglas. Die Ellbogen hatte sie auf die Knie gestützt.

Sie sahen sich so ähnlich, dass man sie sofort als Schwestern identifizierte. Beide waren groß und schlank, hatten lange Beine und Arme und schlanke, athletische Körper. Panchos Haut war etwas dunkler, als habe sie sich in einem Sonnenstudio gebräunt, Susans eine Nuance heller. Pancho hatte ihr Kraushaar raspelkurz geschnitten und mit modischen grauen Klecksen gefärbt. Susans braunes Haar war durch eine Spezialbehandlung lang und füllig geworden; sie trug es nach der neuesten Mode schulterlang. Bei der Kleidung ging sie auch mit der Mode: Sie trug ein bodenlanges Seidenkleid mit kleinen Gewichten in den Säumen, damit der Rock in der geringen Mondschwerkraft auch richtig durchhing. Pancho hingegen war mit einem nüchternen anthrazitfarbenen Geschäftsanzug bekleidet, bestehend aus einer maßgeschneiderten Strickjacke und Schlaghosen über bequemen Mond-Softboots. Dazu trug sie dezenten Schmuck im Ohr und ums Handgelenk. Susan hingegen trug überhaupt keinen Schmuck außer einer Tätowierung auf der Stirn, bei der es sich um eine Stilisierung von Saturn, des Ringplaneten handelte.

»Pancho, du kannst mich nicht aufhalten«, brach Susan das zähe Schweigen. »Ich werde fliegen.«

»Aber… Die ganze Strecke bis zum Saturn? Mit einer Gruppe politischer Flüchtlinge?«

»Sie sind keine Exilanten!«

»Komm schon, Susan, die Hälfte der Regierung auf der Erde lösen die Internierungslager schon wieder auf.«

Susan versteifte sich. »Diese fundamentalistischen Regime, über die du dich ständig beklagst, wollen die Ungläubigen und Dissidenten dazu bewegen, sich freiwillig für die Saturn- Expedition zu melden. Sie ermutigen sie, anstatt sie zu deportieren.«

»Sie wollen sich nur die Störenfriede vom Hals schaffen«, sagte Pancho.

»Das sind keine Störenfriede! Sie sind Freidenker und Idealisten. Männer und Frauen, die mit den Zuständen auf der Erde nicht einverstanden sind, und die bereit sind, ein neues Leben zu beginnen.«

»Nonkonformisten und Unzufriedene«, murmelte Pancho.

»Das Habitat wird von den besten und intelligentesten Menschen der Erde bevölkert werden«, sagte Susan patzig.

»Ja, das hättest du wohl gern.«

»Ich weiß es. Und ich werde einer von ihnen sein.«

»Mein Gott, Susan, der Saturn ist zehnmal so weit von der Sonne entfernt wie wir.«

»Was soll's?«, sagte Susan und setzte wieder dieses provokante Grinsen auf. »Du bist doch auch als Erster zum Asteroiden-Gürtel geflogen, richtig?«

»Ja, aber…«

»Und du bist sogar zur Jupiterstation geflogen, nicht wahr?«

Pancho nickte stumm.

»Und ich werde eben zum Saturn fliegen. Außerdem bin ich nicht allein. Wir werden zehntausend sein! Das heißt, falls Malcolm in der Lage ist, die wahren Störenfriede auszusondern und gute Arbeiter zu rekrutieren. Ich werde ihm bei den Vorstellungsgesprächen helfen.«

»Dabei solltest du es auch bewenden lassen«, grummelte Pancho.

Susans Lächeln nahm einen leicht verschmitzten Ausdruck an. »Er ist ein perfekter Gentleman, verdammt.«

»Da soll ich mir doch auf 'ner gottverdammten Harley 'nen Wolf reiten«, grollte Pancho. Da hab ich mich nun fast dreißig verdammte Jahre in die Chefetage der Firma hochgearbeitet, aber zehn Minuten mit Susie genügen für einen Rückfall in den alten Texasslang, sagte sie sich.

»Das ist eine großartige Sache, Pancho«, sagte Susan ernst. »Im Grunde handelt es sich nämlich um eine Mission. Wir werden uns auf eine Fünfjahres-Mission begeben, um das Saturn-System zu erforschen. Wissenschaftler, Ingenieure, Farmer, eine autarke Gemeinschaft!«

Pancho sah, dass ihre Schwester richtig aufgeregt war. Wie ein Kind auf dem Weg zum Vergnügungspark. Verdammt!, sagte sie sich. Susie hat den Körper einer Erwachsenen, aber den Verstand eines Teenagers. Sie wird dort draußen in einen Schlamassel geraten, wenn ich nicht da bin, um sie zu beschützen.

»Gib dir einen Ruck, Panch«, sagte Susan leise durch gesenkte Wimpern. »Sag mir bitte, dass du mir nicht böse bist.«

»Ich bin dir nicht böse«, sagte Pancho wahrheitsgemäß. »Ich mache mir nur Sorgen um dich. Du bist dort draußen doch ganz allein.«

»Mit zehntausend anderen!«

»Aber ohne eine große Schwester.«

Susan sagte erst nichts. Dann beugte sie sich über den Kaffeetisch und nahm Panchos Hand. »Aber Pancho, begreifst du es denn nicht? Deshalb tue ich es gerade! Das ist genau der Grund, weshalb ich es tun muss! Ich muss es allein schaffen. Ich kann nicht mehr so weiterleben — wie ein kleines Mädchen, dem von dir alles abgenommen wird! Ich muss endlich auf eigenen Füßen stehen!«

Pancho ließ sich aufs Sofa zurücksinken und murmelte: »Ja, ich glaube, dass du Recht hast. Ich glaube, ich wusste es schon die ganze Zeit. Es ist nur so… Ich mache mir eben Sorgen um dich, Susie.«

»Ich werde es schon schaffen, Pancho. Du wirst sehen!«

»Ich will's hoffen.«

Erfreut sprang Susan auf und ging zur Tür.

»Du wirst schon sehen«, wiederholte sie. »Das wird eine tolle Sache werden! Kosmisch!«

Pancho seufzte und stand auch auf.

»Ach, übrigens«, rief Susan über die Schulter, als sie die Bürotür öffnete. »Ich werde meinen Namen ändern. Ich mag nicht mehr Susan heißen. Von nun an ist mein Name Holly.«

Und dann schlüpfte sie durch die Tür, bevor Pancho noch etwas zu sagen vermochte.

»Holly«, murmelte Pancho in Richtung der geschlossenen Tür. Wie, um alles in der Welt, ist sie bloß darauf gekommen, fragte sie sich. Wieso will sie unbedingt ihren Namen ändern?

Pancho schüttelte den Kopf und befahl dem Telefon, sie mit ihrem Sicherheitschef zu verbinden. Als sein markantes, kantiges Gesicht in der Luft überm Schreibtisch erschienen, sagte sie:

»Wendell, ich brauche jemanden, der dieses gottverdammte Habitat zum Saturn fliegt und ein Auge auf meine Schwester hat — aber so, dass sie es nicht merkt.«

»Wird sofort erledigt«, erwiderte der Sicherheitschef. Dann wandte er den Blick kurz ab und sagte: »Ähem… heute Abend werde ich…«

»Nix mit heute Abend«, sagte Pancho schroff. »Sie werden jemanden in diesem Habitat platzieren. Aber jemanden, der gut ist! Kümmern Sie sich sofort darum.«

»Jawohl!«, sagte Panchos Sicherheitschef.

Mondorbit: Habitat Goddard

Malcolm Eberly versuchte die Panik zu unterdrücken, die noch immer in ihm tobte wie ein sturmgepeitschtes Meer. Zusammen mit den fünfzehn anderen Abteilungsleitern stand er stocksteif am Haupteingang des Habitats.

Der Flug von der Erde hierher war eine Qual für ihn gewesen. Seit dem Augenblick, als der Raumclipper in den Erdorbit gegangen und das Gefühl der Schwerkraft auf null geschrumpft war, hatte Eberly geradezu einen Todeskampf gegen den Schrecken der Schwerelosigkeit geführt. Auf dem gepolsterten Sitz angegurtet hatte er mit der ganzen Kraft des Willens gegen den überwältigenden Drang ankämpfen müssen, sich zu übergeben. Ich werde nicht schlappmachen, sagte er sich mit zusammengebissenen Zähnen. Kreidebleich und in kalten Schweiß gebadet schwor er sich, dass er sich vor den anderen keine Blöße geben würde.

Sich vom Sitz zu erheben, nachdem der Raumclipper die Transfer-Rakete erreicht hatte, war ein schierer Kraftakt. Eberly schaute starr geradeaus, hatte die Fäuste geballt und die Augen zu Schlitzen verengt. Unter den fröhlichen Anweisungen der Flugbegleiter folgte er dem auf und nieder hopsenden Overall der Frau vor sich und hangelte sich an den Sitzen den Gang entlang, bis er durch die Luke ins Transfer- Schiff glitt. Dies alles spielte sich in Schwerelosigkeit ab, und er würgte, als ob die Eingeweide ihm zum Hals herausquellen wollten.

Niemand sonst wirkte so angeschlagen wie er. Die anderen — fünfzehn Männer und Frauen, alle Abteilungsleiter wie er —, plapperten und lachten fröhlich und führten sogar Selbstversuche durch, indem sie vom Klett-Bodenbelag der Passagierkabine emporschwebten. Schon beim bloßen Anblick drehte Eberly sich schier der Magen um.

Aber er hielt noch immer die Galle zurück, die im Schlund brannte. Ich werde nicht schlappmachen, sagte er sich immer wieder. Ich werde die Stellung halten. Ein Mann vermag alles zu erreichen, was er sich vorgenommen hat, wenn er die Kraft und den Willen dazu hat.

Dann schnallte er sich auf einem Sitz in der Transfer-Rakete an und starrte stur nach vorn, als das Schiff die Triebwerke zündete und den Flug zum Mondorbit begann. Der Schub war zwar nur schwach, vermittelte aber zumindest ein gewisses Gefühl der Schwere. Wenn auch bloß für ein paar Sekunden. Die Triebwerke verstummten, und er hatte wieder das Gefühl, zu fallen — endlos zu fallen. Die anderen unterhielten sich angeregt. Ein paar von ihnen prahlten sogar damit, wie oft sie schon im Weltraum gewesen wären.

Natürlich!, sagte Eberly sich. Sie haben das alle schon einmal erlebt. Sie kennen dieses beschissene Gefühl schon, und nun macht es ihnen nichts mehr aus. Sie stammen alle aus gut situierten Familien, sind reiche und verwöhnte Kinder, die sich noch nie im Leben um irgendetwas Sorgen zu machen brauchten. Ich bin hier der Einzige, der noch nie die Erde verlassen hat, der Einzige, der für seinen Lebensunterhalt kämpfen musste, der Einzige, der Hunger, Krankheit und Angst kennt.

Ich muss das hier aushalten. Ich muss! Sonst werden sie mich wieder zurückschicken, und ich werde in einer verdammten Gefängniszelle krepieren.

Mit einer schieren Willensanstrengung überstand Eberly die Stunden in der Schwerelosigkeit. Als die Frau auf dem Sitz neben ihm das Gespräch mit ihm suchte, reagierte er kurz angebunden auf ihre blödsinnigen Bemerkungen und bemühte sich verzweifelt, sich nicht anmerken zu lassen, wie lausig es ihm ging.

Er rang sich ein Lächeln ab und hoffte, dass sie nicht den kalten Schweiß sah, der auf seiner Oberlippe perlte. Er spürte, dass das billige, dünne Hemd, das er trug, durchgeschwitzt war. Nach einer Weile verstummte sie und richtete die Aufmerksamkeit auf den Bildschirm, der in die Rückenlehne des Vordersitzes integriert war.

Eberly konzentrierte sich ebenfalls auf die Bilder. Der Bildschirm zeigte das Habitat, einen plumpen Zylinder, der wie ein von einem abgezogenen Bautrupp zurückgelassenes Rohr in der Leere des Raums hing. Doch je näher sie kamen, desto mehr nahm das Habitat Gestalt an. Eberly sah, dass es langsam rotierte; er wusste, dass der Spin ein Gefühl von Schwerkraft im Innern des Zylinders verursachte. Zahlen gingen ihm durch den Kopf: Das Habitat hatte eine Länge von zwanzig Kilometern und einen Durchmesser von vier Kilometern. Es drehte sich alle fünfundvierzig Sekunden einmal um die eigene Achse, wodurch eine Zentrifugalkraft entstand, die der normalen Erdenschwere entsprach.

Er war plötzlich so aufgeregt, dass er fast das Gefühl der Übelkeit vergaß. Nun sah er auch die großen Fenster, die über die ganze Länge des riesigen Zylinders verliefen. Und dann kam auch der Mond ins Bild und leuchte die Szene hell aus. Aus der Nähe betrachtet war der Mond hässlich, vernarbt und mit unzähligen Kratern übersät. Eberly wusste indes, dass einer der größten Krater den Stadtstaat Selene beherbergte.

Schnell wurde das Habitat so groß, dass es alles andere ausblendete. Im ersten Moment befürchtete Eberly schon, dass sie mit ihm kollidierten, obwohl der Verstand ihm sagte, dass die Piloten des Schiffs alles unter Kontrolle hatten. Er sah die Sonnenspiegel, die sich an die Rundungen des Zylinders schmiegten. Und es wuchsen Stiele und Knubbel aus der Hülle des Habitats wie Warzen an einer Gurke. Er wusste, dass sie zum Teil Beobachtungskuppeln waren. Bei anderen Auswüchsen handelte es sich um Andock-Ports, Schubdüsen und Luftschleusen.

»Hier spricht der Kapitän«, ertönte die Stimme einer Frau aus den Lautsprechern, die über jedem Monitor eingelassen waren. »Wir sind in einen Orbit um das Habitat gegangen. In drei Minuten werden wir andocken. Sie werden einen oder zwei Rucke spüren — kein Grund zur Sorge.«

Und doch erschraken die Passagiere, als der Ruck sie durchfuhr. Eberly umklammerte in Erwartung eines weiteren Stoßes die Sitzlehnen. Aber es passierte nichts mehr. Außer…

Der Magen hatte sich beruhigt! Das Gefühl der Übelkeit war verschwunden. Die Gravitation war zurückgekehrt, und er fühlte sich wieder ganz normal. Nein, sogar besser als normal. Er drehte sich zu der Frau um, die neben ihm saß, und musterte kurz ihr Gesicht. Es war ein rundes, fast pausbäckiges Gesicht mit großen dunklen Mandelaugen und lockigem schwarzem Haar. Sie hatte einen glatten, dunklen Teint. Eberly vermutete, dass sie aus dem Mittelmeerraum stammte — vielleicht Griechin, Spanierin oder Italienerin. Er lächelte sie kurz an.

»Da sitzen wir nun schon seit über sechs Stunden nebeneinander, und ich habe mich Ihnen noch nicht einmal vorgestellt. Ich heiße Malcolm Eberly.«

Sie erwiderte das Lächeln. »Ja, das sehe ich.« Sie tippte aufs Namensschild, das an ihre Bluse angesteckt war und sagte: »Ich bin Andrea Maronella. Ich gehöre zum Agrotech-Team.«

Eine Bäuerin, sagte Eberly sich. Eine Landpomeranze. »Ich bin der Leiter der Abteilung Human Resources«, erwiderte er mit einem noch breiteren Lächeln.

»Wie schön.«

Bevor er noch etwas zu sagen vermochte, forderte die Flugbegleiterin sie auf, sich loszuschnallen und zur Schleuse zu gehen. Eberly löste den Sicherheitsgurt und erhob sich. Er war froh, sein altes Gewicht zurückerlangt zu haben, und vermochte es kaum zu erwarten, einen Blick ins Habitat zu werfen. Die Panik, gegen die er angekämpft hatte, verflog. Ich habe es geschafft!, frohlockte er innerlich. Ich habe die Angst ausgehalten und sie besiegt.

Er ließ Maronella den Vortritt beim Betreten des Gangs und folgte ihr dann zur Schleuse. Die sechzehn Männer und Frauen passierten der Reihe nach die Schleuse und betraten eine Kammer aus kahlen Metallwänden. Ein älterer Mann stand neben der Innenschleuse; er war groß und korpulent, hatte dichtes grau metallisches Haar und einen buschigen Bart von derselben Farbe. Er hatte ein wettergegerbtes Gesicht und vom jahrelangen Schielen in die Sonne Falten in den Augenwinkeln. Er trug eine abgeschabte Weste aus Wildleder und zerknitterte beige Jeans. Zwei jüngere, mit Overalls bekleidete Männer standen dicht hinter ihm — offensichtlich irgendwelche Untergebene.

»Willkommen im Habitat Goddard«, sagte er mit einem warmen Lächeln. »Ich bin Professor James Wilmot. Die meisten von Ihnen kennen mich bereits, und was die anderen betrifft, so freue ich mich darauf, Sie kennen zu lernen und mit Ihnen unsere Zukunft zu erörtern. Doch zunächst lassen Sie uns einen Blick auf die Welt werfen, die wir mindestens für die nächsten fünf Jahre bewohnen werden.«

Anschließend betätigte einer der jungen Männer hinter ihm die Tastatur in der Wand neben der Schleuse, und die schwere Stahltür schwang langsam nach innen. Eberly spürte einen warmen Lufthauch im Gesicht, wie die zärtliche Berührung seiner Mutter, an die er sich schwach erinnerte.

Die Gruppe der sechzehn Abteilungsleiter ging durch die Schleuse. Hier bin ich nun, sagte Eberly sich und fühlte eine erneute Aufwallung von Panik. Es gibt kein Zurück mehr. Dies ist die Neue Welt, in der ich leben soll. Dieser riesige Zylinder, diese Maschine. Man hat mich ins Exil geschickt. Sie schicken mich bis zum Saturn. So weit weg wie nur möglich. Ich werde die Erde nie mehr wiedersehen.

Er war einer der Letzten in der Reihe. Als er die offene Luke erreichte und hindurchging, hörte er die erstaunten Ausrufe der anderen. Und dann sah er auch den Grund dafür.

In alle Richtungen um ihn herum erstreckte sich eine grüne Landschaft, die in warmes Sonnenlicht getaucht war. Sanfte, mit Gras bewachsene Hügel, Baumgruppen und kleine mäandernde Flüsse verschwanden in der diesigen Ferne. Die Gruppe stand auf dem sanften Abhang eines Hügels, von wo aus sie einen freien Blick aufs weitläufige Innere des Habitats hatte. Dichte Büsche aus leuchtend roten Hibiskusblüten und lavendel-farbenem Oleander säumten einen gewundenen Pfad, der zu einer Gruppe niedriger weißer Gebäude führte. Sie leuchteten im Sonnenlicht, das durch die langen Fenster hereinströmte.

Ein mediterranes Dorf, sagte Eberly sich, das terrassenförmig an der Flanke eines mit Gras bewachsenen Hügels angelegt worden war und einen schimmernden blauen See überschaute. Eine idyllische Mittelmeerlandschaft wie aus einem Reiseprospekt. In der Ferne machte er etwas aus, das wie Ackerland aussah: rechteckige kleine Felder, die erst kürzlich gepflügt worden zu sein schienen, und weitere Ansammlungen weiß getünchter Gebäude. Einen Horizont gab es nicht. Stattdessen wölbte das Land sich einfach auf, Hügel und Gräser und Bäume und noch mehr kleine Dörfer mit ihren gepflasterten Straßen und funkelnden Flüssen — es wölbte sich auf beiden Seiten auf, bis er den Kopf in den Nacken legte und über sich noch mehr von der sorgfältig und liebevoll gestalteten Landschaft sah.

»Atemberaubend«, flüsterte Maronella.

»Faszinierend«, sagte ein anderer.

Eine jungfräuliche Welt, sagte Eberly sich, unberührt von Krieg, Hungersnot und Hass. Unberührt von allen menschlichen Regungen. Sie wartet nur darauf, geformt und beherrscht zu werden. Vielleicht würde es hier doch nicht so schlimm sein.

»Das muss doch Unsummen verschlungen haben«, sagte ein junger Mann mit kräftiger, geschäftsmäßiger Stimme. »Wie hat das Konsortium das Geld überhaupt aufzubringen vermocht?«

Professor Wilmot lächelte und fasste sich an den Bart. »Das Habitat stammt aus einer Konkursmasse. Die früheren Besitzer sind beim Versuch, es in ein Altersheim umzuwandeln, Bankrott gegangen.«

»Wer zieht denn heute überhaupt noch in ein Altersheim?«

»Genau deshalb sind sie ja Bankrott gegangen«, erwiderte Wilmot.

»Trotzdem… Die Kosten…«

»Das Internationale Universitäts-Konsortium ist auch nicht ganz mittellos«, sagte Wilmot. »Und wir haben auch viele Ehemalige, die sehr großzügig sind, wenn man sie nur richtig anspricht.«

»Sie meinen, wenn man nur lang genug versucht, ihnen den Arm auszureißen«, witzelte eine Frau. Die anderen lachten, und sogar Wilmot gestattete sich ein Lächeln.

»So sieht es also aus«, sagte der Professor. »Dies wird für die nächsten fünf Jahre Ihr Zuhause sein, und für viele von Ihnen sogar noch länger.«

»Und wann kommen die anderen?«

»Zunächst muss der Personalausschuss geeignete Bewerber auswählen. Nachdem sie die abschließenden körperlichen und psychologischen Eignungstests durchlaufen haben, werden sie an Bord kommen. Ungefähr zwei Drittel der verfügbaren Stellen haben wir bereits besetzt, und wir können uns vor Bewerbern kaum retten.«

Die anderen stellten weitere Fragen, die Wilmot geduldig beantwortete. Eberly filterte die Stimmen aus der bewussten Wahrnehmung aus. Er ließ den Blick durch das riesige Habitat schweifen und genoss diesen Moment der Entdeckung, die Ankunft in einer neuen Welt. Zehntausend, mehr dürfen sich uns nicht anschließen. Doch in diesem Habitat hätten leicht hunderttausend Menschen Platz. Sogar eine Million!

Er dachte an die ärmlichen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war: acht, zehn, sogar zwölf Leute in einem Raum. Und dann die gnadenlose Disziplin der Klosterschulen. Und das Gefängnis.

Zehntausend Menschen, sinnierte er. Sie werden hier ein Leben im Luxus führen. Sie werden wie Könige leben!

Er lächelte. Nein, sagte er sich. Es wird hier nur einen König geben. Einen Herrn. Dies wird mein Königreich sein, und jeder darin wird sich meinem Willen beugen müssen.

Wien: Gefängnis Schönbrunn

Über ein Jahr, bevor er vom Habitat Goddard überhaupt Kenntnis erlangt hatte, war Malcolm Eberly plötzlich aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem er noch nicht einmal die Hälfte seiner Strafe wegen Betrugs und Untreue verbüßt hatte.

Der weitläufige alte Palast von Schönbrunn war nach den Flüchtlings-Aufständen, durch die ein großer Teil von Wien und dessen Umgebung verwüstet worden waren, in ein Gefängnis umgewandelt worden. Als Eberly erfahren hatte, dass er die Haftzeit in Schönbrunn absitzen würde, hatte er noch Hoffnung gehegt: Wenigstens handelte es sich nicht um ein schmutziges Staatsgefängnis, wo Gewohnheitsverbrecher einsaßen. Doch wurde er schnell eines Besseren belehrt: Ein Gefängnis ist und bleibt nun einmal ein Gefängnis, in dem Verbrecher und Perverse einsitzen. Schmerz und Demütigung waren ständige Gefahren, Furcht sein ständiger Begleiter.

Der Morgen hatte begonnen wie immer: Eberly wurde vom durchdringenden Signal einer Trillerpfeife aus dem Schlaf gerissen. Er schwang sich von der oberen Koje herunter und wartete stumm, während seine drei Zellengenossen das Waschbecken und die Toilette benutzen. Er hatte sich an den Gestank der Zelle gewöhnt und schon zu Beginn der Haft gelernt, dass Beschwerden nur mit Schlägen quittiert wurden — entweder von den Wärtern oder den Zellengenossen.

Es existierte eine Hierarchie unter den Gefangenen. Diejenigen, die mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung standen, führten die Hackordnung an. Mördern, sogar jenen armen Teufeln, die aus Leidenschaft töteten, wurde mehr Respekt entgegengebracht als Dieben oder Kidnappern. Kleine Gauner, zu denen Eberly gehörte, waren am unteren Ende der Hierarchie angesiedelt und mussten Handlangerdienste für ihre ›Vorgesetzten‹ verrichten, ob sie wollten oder nicht.

Zum Glück war Eberly in eine Zelle verlegt worden, deren Capo ein früherer Kfz-Mechaniker aus Kalabrien war, den man wegen Bandenkriminalität, Terrorismus, Banküberfällen und Mord schuldig gesprochen hatte. Obwohl kaum des Lesens und Schreibens kundig, war der Kalabrier der geborene Organisator: Er führte seinen Gefängnistrakt wie ein mittelalterliches Lehen, schlichtete Streit und setzte eine brachiale Art von Gerechtigkeit durch — und das so effizient, dass die Wachen ihm gestatteten, den Frieden unter den Häftlingen auf seine Art und Weise zu bewahren. Irgendwann erkannte der Capo, dass er jemanden brauchte, der einen Computer bedienen konnte, um den Kontakt zu seiner Familie in ihrem Bergdorf und zu den versprengten Mitgliedern seiner Bande aufrechtzuerhalten, die sich noch immer in den Hügeln versteckten. Also wurde Eberly sein Sekretär, und ab diesem Zeitpunkt durfte ihn niemand mehr behelligen.

Es war die geisttötende Routine jedes langen, öden Tags, die Eberly seelisch krank machte. Seit er unter dem Schutz des Kalabriers stand, hatte er in körperlicher Hinsicht keine Probleme mehr, doch die triste Monotonie der Zelle, des Essens, der Gestank, die stupiden Unterhaltungen der anderen Gefangenen — Tag für Tag, Woche für Woche — drohten ihn um den Verstand zu bringen. Er versuchte sich durch tägliche Besuche in der Gefängnisbücherei geistig zu beschäftigen. Dort durfte er den streng überwachten Computer benutzen, um wenigstens eine virtuelle Verbindung zur Außenwelt herzustellen. Die meisten Unterhaltungs-Websites wurden entweder zensiert oder waren gar nicht erst zugänglich, doch die Gefängnisleitung gestattete — ermutigte sogar — den Besuch von Bildungs-Websites. In seiner Verzweiflung meldete Eberly sich für einen Kurs nach dem andern an, schloss ihn in der Regel viel schneller ab als vorgesehen und eilte dann zum nächsten.

Anfangs belegte er alle Kurse, die gerade angeboten wurden: Renaissance-Malerei, Transaktions-Psychologie, Kläranlagen- Technik, Goethes Dichtkunst. Er spielte dabei überhaupt keine Rolle, um welches Thema es sich handelte; Hauptsache, er war beschäftigt und vermochte für ein paar Stunden am Tag dem Gefängnis zu entfliehen, auch wenn es nur über den Computer geschah.

Allmählich entwickelte er jedoch eine Vorliebe fürs Studium der Geschichte und Politik. Schließlich bewarb er sich um einen Studienplatz an der Fern-Universität von Edinburgh.

Zu seiner großen Überraschung holte an einem Morgen wie jedem anderen der Gefängnisdirektor ihn aus der Reihe, als er und seine Zellengenossen zum Speisesaal schlurften, um ihr lauwarmes Frühstück einzunehmen.

Der bartstoppelige und humorlose Rittmeister tippte Eberly mit dem Knüppel auf die Schulter und sagte: »Mir folgen.«

»Wieso ich? Was ist denn los?«, platzte Eberly ebenso erstaunt wie erschrocken heraus.

Der Rittmeister hielt Eberly den Gummiknüppel unter die Nase und befingerte den Spannungsregler. »In der Reihe wird nicht gesprochen! Und nun folgen Sie mir.«

Die anderen Sträflinge marschierten schweigend weiter. Die Köpfe hatten sie nach vorn gerichtet, doch ihre Blicke wanderten heimlich zu Eberly und zum Rittmeister. Dann schauten sie wieder nach vorn. Eberly wusste, wie der Knüppel sich mit einer vollen Ladung anfühlte. Also senkte er den Kopf und folgte dem Rittmeister fügsam aus dem Speisesaal.

Der Rittmeister führte ihn in einen kleinen, mit Möbeln voll gestellten Raum im Verwaltungstrakt, wo der Gefängnisdirektor und andere Vollzugsbeamte ihre Büros hatten. Der Raum hatte nur ein Fenster, das noch dazu fest geschlossen und so schmutzig war, dass das Licht der Morgensonne es kaum zu durchdringen vermochte. Ein rechteckiger Tisch füllte fast den ganzen Raum aus; die Tischplatte war verschrammt und matt. Zwei Männer in teuer wirkenden Geschäftsanzügen saßen am Tisch, wobei die Stühle fast an den kahlen grauen Wänden schrammten.

»Hinsetzen«, sagte der Rittmeister und wies mit dem Knüppel auf den Stuhl am Fuß des Tisches. Eberly setzte sich vorsichtig hin, wobei er sich fragte, was das alles wohl zu bedeuten habe und ob er sein Frühstück verpassen würde. Der Rittmeister trat hinaus auf den Flur und schloss leise die Tür.

»Sie sind Malone Eberly?«, fragte der Mann am Kopfende des Tisches. Er war rundlich und hatte ein teigiges Gesicht mit rosigen Wangen. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Eberly mutete er wie ein Schwein an.

»Ja, der bin ich«, erwiderte Eberly. »Sir«, fügte er rasch hinzu.

»Geboren als Max Erlenmeyer, wenn unsere Informationen richtig sind«, sagte der Mann zur Rechten. Er machte einen gediegenen Eindruck in seinem eleganten dunkelblauen Anzug und mit dem glatten silbergrauen Haar. Eberly vermochte ihn sich gut in einem zweireihigen Blazer und mit einer Schiffermütze auf der Brücke einer Jacht vorzustellen.

»Ich hatte meinen Namen offiziell bei der Meldebehörde ändern lassen, als…«

»Das ist eine Lüge«, sagte der im dunkelblauen Anzug so beiläufig, als ob er um ein Glas Wasser ersucht hätte. Dem Akzent nach zu urteilen war ein Engländer, befand Eberly. Dieser Umstand mochte ihm vielleicht noch von Nutzen sein.

»Aber…«

»Das spielt aber auch keine Rolle«, sagte der andere. »Wenn Sie Eberly genannt werden wollen, dann werden wir Sie eben so nennen. In Ordnung?«

Eberly nickte konsterniert.

»Wie würde es ihnen wohl gefallen, aus dem Gefängnis entlassen zu werden?«, fragte das Schweinsgesicht.

Eberly merkte, dass er große Augen machte. Doch er brachte sich schnell wieder unter Kontrolle und fragte: »Was hätte ich denn zu tun, um freigelassen zu werden?«

»Nicht viel«, sagte der Elegante. »Sie müssten nur zum Planeten Saturn fliegen.«

Allmählich ließen sie die Katze aus dem Sack. Der Dicke kam vom Hauptquartier der Neuen Moralität in Atlanta, der multinationalen fundamentalistischen Organisation, bei der Eberly seinerzeit in Amerika aufgewachsen war.

»Wir waren sehr enttäuscht, als Sie aus unserem Kloster in Nebraska geflohen sind und eine Verbrecherlaufbahn eingeschlagen haben«, sagte er mit einem echten Ausdruck von Trauer im pausbäckigen Gesicht.

»Ich habe keine Verbrecherlaufbahn eingeschlagen«, widersprach Eberly. »Ich habe nur einmal einen Fehler gemacht, für den ich nun die Konsequenzen zu tragen habe.«

Der Elegante lächelte wissend. »Richtig, für diesen Fehler büßen Sie nun. Und wir sind gekommen, um ihnen eine zweite Chance zu bieten.«

Er sagte, dass er Katholik sei, der mit den europäischen Heiligen Jüngern an einer Reihe von Sozialprogrammen arbeite. »Von denen Sie eins sind.«

»Ich?«, fragte Eberly. Er war noch immer verwirrt. »Ich verstehe nicht.«

»Es ist eigentlich ganz einfach«, sagte das Schweinsgesicht und faltete die Patschhände andächtig auf den Tisch. »Das Internationale Universitäts-Konsortium organisiert eine Expedition zum Planeten Saturn.«

»Zehntausend Leute in einem autarken Habitat«, merkte der andere an.

»Zehntausend so genannte Intellektuelle«, sagte das Schweinsgesicht mit offensichtlich angeekeltem Gesichtsausdruck. »Sie dienen als Hilfskräfte für einen Kader von Wissenschaftlern, der den Planeten Saturn erforschen möchte.«

Der andere warf seinem Kollegen einen missbilligenden Blick zu und sagte: »Viele Regierungen gestatten bestimmten Personen das Verlassen der Erde. Sie sind sogar froh, dass sie sie loswerden.«

»Und sie sind natürlich alle Säkularisten«, ergänzte das Schweinsgesicht.

»Natürlich«, sagte Eberly.

»Wir wissen, dass viele Menschen dem Leben entfliehen wollen, das sie derzeit führen«, konstatierte der Dicke. »Sie sind nämlich nicht bereit, sich der nötigen Disziplin zu unterwerfen, die wir von der Neuen Moralität ihnen auferlegen.«

»Das Gleiche gilt für Großbritannien und Europa«, sagte der Elegante. »Die Heiligen Jünger haben die Städte gereinigt, den Menschen Moral und Ordnung gebracht, die Hungernden gespeist und Arbeit für diejenigen gefunden, deren Arbeitsplätze von den Treibhaus-Fluten fortgerissen worden waren.«

Das Schweinsgesicht nickte.

»Trotzdem gibt es noch immer viele Leute, die behaupten, dass wir ihre Freiheitsrechte beschneiden würden. Ihre Freiheitsrechte! War es doch gerade diese Libertinage und Freizügigkeit, die fast zum Zusammenbruch der Zivilisation geführt hätte.«

»Aber die Flut«, sagte Eberly. »Der Treibhauseffekt, der Terror und die ganzen Umweltkatastrophen.«

»Die Heimsuchungen eines zürnenden Gottes«, sagte das Schweinsgesicht ungerührt. »Eine Warnung, dass wir auf Seinen Weg zurückkehren müssen.«

»Was wir im Großen und Ganzen auch getan haben«, warf der Elegante ein. »Sogar im gottverdammten Nahen Osten hat das Schwert des Islam wahre Wunder bewirkt.«

»Und nun diese Mission zum Saturn…«

»Die von gottlosen Säkularisten durchgeführt wird…«

»…durch die zehntausend Menschen vom richtigen Weg abzukommen versuchen.«

»Wir dürfen das nicht zulassen.«

»Zu ihrem eigenen Besten.«

»Natürlich.«

»Natürlich«, pflichtete Eberly ihm pflichtschuldig bei. »Aber ich wüsste nicht, was das mit mir zu tun hat«, fügte er hinzu.

»Wir wollen, dass Sie sich ihnen anschließen.«

»Und den ganzen Flug zum Planeten Saturn mitmachen?«, stieß Eberly hervor.

»Exakt«, erwiderte der Elegante.

»Sie werden unser Mann im Habitat sein. Wir werden Sie als Leiter der Abteilung Human Resources einschleusen.«

»Damit Sie Einfluss darauf haben, wer zur Teilnahme an der Mission zugelassen wird.«

»Natürlich nur unter unserer Aufsicht«, merkte das Schweinsgesicht an.

»Als Leiter der Abteilung Human Resources? Dazu sind Sie in der Lage?«

»Wir haben so unsere Mittel und Wege«, sagte der Elegante lächelnd.

»Ihre eigentliche Aufgabe wird aber darin bestehen, eine gottesfürchtige Regierung im Habitat zu etablieren«, sagte das Schweinsgesicht. »Wir dürfen nämlich nicht zulassen, dass die Säkularisten das Leben dieser zehntausend Seelen beherrschen!«

»Wir müssen verhindern, dass dieses Habitat zu einem Sündenpfuhl wird«, sagte sein Begleiter.

»Eine begrenzte, abgeschlossene Umgebung wie diese muss wie ein Unternehmen oder eine Regierung funktionieren. Andernfalls wird sie sich selbst zerstören, wie die Menschen hier auf der Erde es schon mit so vielen Städten getan haben.«

»Sie sind noch zu jung, um sich an die Hungeraufstände zu erinnern.«

»Ich erinnere mich noch an die Kämpfe in St. Louis«, sagte Eberly und schauderte innerlich. »Ich erinnere mich an den Hunger. Daran, wie meine Schwester während des Bio-Kriegs an Entkräftung gestorben ist.«

»Wir wollen nicht, dass dies auch diesen armen Seelen widerfährt, die zum Saturn aufbrechen«, sagte der Dicke mit gefalteten Händen.

»Ob sie sich dessen nun bewusst sind oder nicht«, sagte der andere, »sie werden die Art von Disziplin und Ordnung brauchen, die nur wir ihnen zu geben vermögen.«

»Und wir zählen auf Sie, dass Sie sie auf den rechten Weg führen.«

»Aber was soll ich allein überhaupt ausrichten?«, sagte Eberly.

»Sie werden Unterstützung bekommen. Wir werden einen kleinen, aber ergebenen Kader von gleich gesinnten Menschen ins Habitat einschleusen.«

»Und ich soll ihr Anführer sein?«

»Ja. Sie verfügen über die entsprechenden Fertigkeiten; das haben wir Ihrem Lebenslauf entnommen. Mit Gottes Hilfe werden Sie das Schicksal dieser zehntausend Seelen in die richtigen Bahnen lenken.«

»Werden Sie es tun?«, fragte der Elegante gespannt. »Wollen Sie diese Verantwortung übernehmen?«

Eberly musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um ihnen nicht ins Gesicht zu lachen. Zum Saturn fliegen oder im Knast verrotten, sagte er sich. Den Anführer geben und eine Regierung bilden oder noch weitere neun Jahre in dieser stinkenden Zelle verbringen.

»Ja«, sagte er mit ruhiger Entschlossenheit. »Mit Gottes Hilfe nehme ich diese Verantwortung auf mich.«

Die beiden Männer lächelten sich zu; doch Eberly sagte sich, zu dem Zeitpunkt, wo das Habitat den Saturn erreicht hatte, wären er und alle anderen längst dem Zugriff dieser scheinheiligen Fundamentalisten entzogen.

»Sollte es Ihnen jedoch nicht gelingen, unsere Ziele zu verwirklichen«, sagte das Schweinsgesicht, »werden wir natürlich dafür sorgen, dass Sie hierher zurückgebracht werden und den Rest der Strafe verbüßen.«

»Wir könnten Ihnen auch noch ein paar Straftaten anhängen, die die Haftdauer verlängern würden«, fügte der andere zynisch hinzu und kam sich dabei offenbar wie ein ganz toller Hecht vor. »Ihr Lebenslauf weist nämlich eine ganze Latte von Vorstrafen auf, wie wir wissen.«

45 Tage vor dem Start

James Coleraine Wilmot war der Sohn eines Peer of the Empire, ein Baron, der nach der irischen Wiedervereinigung Nordirland verlassen hatte, wo seine Familie seit über fünfhundert Jahren gelebt hatte.

Aber er verspürte keine Bitterkeit. Seine Familie war nie reich gewesen; seit fast einem Dutzend Generationen hatte sie versucht, durch Schafzucht ein Dasein in ärmlicher Würde zu fristen. Wilmot hatte indessen nicht das geringste Interesse an Tierzucht. Seine Leidenschaft galt dem Studium des Tiers im Menschen. James Coleraine Wilmot war Anthropologe. Er war außerdem ein perfekter Verwalter und ein geschickter Kämpfer auf den stillen und dennoch wilden Schlachtfeldern des akademischen Betriebs. Er hatte das Gefühl, dass seine Ernennung als Leiter dieses zusammengewürfelten Haufens von Menschen auf der Mission zum fernen Saturn die Krönung seiner Laufbahn darstellte, ein sorgfältig kontrolliertes Forschungsprogramm am lebenden Objekt, ein Experiment auf einem Feld, auf dem man noch nie zuvor Experimente durchzuführen vermocht hatte.

Eine geschlossene, strikt begrenzte Gemeinschaft in einer autarken Ökologie und einer geschlossenen Ökonomie. Jedes Merkmal ihrer physikalischen Existenz war unter Kontrolle. Menschen aus Europa, Nord- und Südamerika, Asien und Afrika. Überwiegend Freidenker, Menschen, die unter den Restriktionen ihrer Heimatgesellschaften litten, die von religiösen Eiferern regiert wurden. Und natürlich die Wissenschaftler. Der offizielle Zweck dieser Mission war die wissenschaftliche Erforschung des Planeten Saturn und dessen großen Mondes Titan.

Wilmot wusste es aber besser. Er kannte den eigentlichen Zweck dieses Flugs zum Saturn und den Grund, weshalb die Sponsoren im Hintergrund wollten, dass ihre finanziellen Zuwendungen geheim gehalten wurden.

Die Chinesen hatten es wie immer abgelehnt, sich am Experiment zu beteiligen; sie waren Isolationisten bis ins Mark und blieben lieber unter sich. Doch sonst waren die meisten ethnischen und religiösen Gruppen repräsentiert. Welche Art von Gesellschaft diese Leute wohl hervorbringen würden? Ein Feldversuch in Anthropologie! Wilmot geriet beim Gedanken daran schier in Verzückung. Obwohl der Zweck hinter diesem Experiment, der wahre Grund für diesen Flug zum Saturn, ihn zutiefst beunruhigte. Aber er verdrängte diese Überlegungen und begnügte sich damit, sich auf die Zukunftsaussichten zu freuen.

Sein Büro war ein Spiegelbild des Mannes. Er hatte es wie sein Büro in Cambridge einzurichten versucht. Er hatte den großen Schreibtisch mit den klaren Konturen im dänischen Stil mitgebracht und den eleganten Stuhl mit der ergonomischen Rückenlehne, außerdem die Bücherregale und den kleinen runden Konferenztisch mit den vier minimalistischen Stühlen. Das ganz in Weiß gehaltene Mobiliar war hell und zweckmäßig und doch warm und behaglich. Selbst der Teppich, der fast den gesamten Fußboden bedeckte, stammte aus dem irdischen Büro. Schließlich werde ich hier mehr als fünf Jahre lang leben und arbeiten, sagte Wilmot sich. Da will ich es wenigstens schön gemütlich haben.

Die einzige Neuerung im Büro war der Gästestuhl — auch im dänischen Stil, aber mit einem glänzenden Chromgestell und weichen, karamellfarbenen Lederbezügen.

Manuel Gaeta saß auf dieser Garnitur und wirkte viel entspannter, als Wilmot selbst sich fühlte. Der dritte Mann im Raum war Edouard Urbain, Chef-Wissenschaftler des Habitats: Ein kleiner, schlanker Mann mit einem dunklen Bart, dessen schütteres Haupthaar straff zurückgekämmt war. Er saß auf einem dieser filigran wirkenden Stühle am Konferenztisch in der Ecke. Urbain war Wilmot nicht gerade sympathisch; er hielt den Mann für einen typischen, ziemlich cholerischen Franzosen, obwohl Urbain in Quebec geboren und aufgewachsen war.

»Wie ich sehe, sind Sie körperlich und geistig fit«, sagte Wilmot zu Gaeta und wies auf den Wandbildschirm, der die Testergebnisse des Mannes zeigte. »Mehr noch als fit; Sie sind geradezu ein Prachtexemplar.«

Gaeta grinste zufrieden. »Das bringt der Job eben so mit sich.«

Seine Stimme war leise, fast musikalisch. Er war von kleinem Wuchs, aber kräftig gebaut und stämmig. Unter dem weißen T-Shirt zeichneten sich starke Muskeln ab. Ein schönes Gesicht hatte er allerdings nicht: Die Nase war offensichtlich gebrochen, vielleicht sogar mehr als einmal; und der massive Kiefer verlieh ihm irgendwie das Aussehen einer Bulldogge. Doch die tief in den Höhlen liegenden dunklen Augen schauten freundlich, und er hatte ein entwaffnendes Lächeln.

»Ich muss Ihnen sagen, Mr. Gaeta, dass…«

»Manuel«, unterbrach der jüngere Mann ihn. »Bitte nennen Sie mich doch Manuel.«

Wilmot war durch dieses Angebot leicht irritiert. Er zog es nämlich vor, zumindest eine gewisse Distanz zu wahren. Und obwohl er feststellte, dass Gaeta durchaus imstande schien, ein ordentliches Englisch zu sprechen, sprach dieser seinen Namen mit einem deutlichen romanischen Einschlag aus. Wilmot warf einen Blick auf Urbain, dessen einzige Reaktion indes darin bestand, eine Augenbraue zu heben.

»Na gut«, sagte Wilmot. »Aber ich muss Ihnen trotzdem sagen, Mister… ähem… Manuel, dass es Ihnen entgegen dem Kalkül Ihrer Sponsoren nicht möglich sein wird, die Oberfläche des Titan zu betreten.«

Das tat Gaetas Lächeln freilich keinen Abbruch. »Die Astro Corporation hat fünfhundert Millionen Internationale Dollar in mich investiert, um diesen Flug durchzuführen. Und Ihr Universitäts-Konsortium hat dem Geschäft immerhin zugestimmt.«

Urbain brach das Schweigen fast explosiv. »Nein! Das ist unmöglich! Es ist niemandem erlaubt, die Oberfläche des Titan zu betreten. Das wäre nämlich eine Verletzung aller Prinzipien, die wir vertreten.«

»Hier muss ein Missverständnis vorliegen«, sagte Wilmot in ruhigerem Ton. »Bisher hat noch niemand die Oberfläche von Titan betreten, und…«

»Verzeihung«, sagte Gaeta, »aber genau darum geht es ja. Wenn schon jemand auf Titan gewesen wäre, gäbe es für mich keinen Grund mehr, diesen Stunt durchzuführen.«

»Stunt?«, fragte Wilmot missbilligend.

»Ich habe die Ausrüstung«, fuhr Gaeta fort. »Sie ist komplett getestet worden. Meine Crew kommt morgen an Bord. Alles, worum ich Sie bitte, ist ein Platz, an dem ich die Ausrüstung aufzubauen und auszuprüfen vermag. Alles andere haben wir schon vorbereitet.«

Urbain schüttelte heftig den Kopf. »Es werden nur ferngesteuerte Sonden zur Oberfläche von Titan geschickt. Keine Menschen!«

»Bei allem Respekt, Sir«, sagte Gaeta mit immer noch leiser und freundlicher Stimme, »Sie denken wie ein Wissenschaftler.«

»Ja, natürlich. Wie denn sonst?«

»Schauen Sie, ich bin in der Show-Branche, nicht in der Wissenschaft tätig. Ich werde dafür bezahlt, riskante Stunts durchzuführen, wie zum Beispiel durch die Wolken des Jupiter zu gleiten und mit Skiern den Olympus Mons auf dem Mars herunterzufahren.«

»Stunts«, murmelte Wilmot.

»Genau, Stunts. Die Leute zahlen viel Geld dafür, an meinen Stunts teilzuhaben. Deshalb die VR-Ausrüstung.«

»Die Spannung der virtuellen Realität. Ein Surrogat- Erlebnis.«

»Ein billiges Vergnügen, stimmt. Damit macht man aber das große Geld. Meine Investoren werden schon nach den ersten zehn Sekunden, die ich in den VR-Netzwerken bin, ihre erste halbe Milliarde verdienen.«

»Sie riskieren Ihr Leben, damit andere Leute mit einer VR-Ausrüstung auf einen Abenteuer-Trip gehen können«, sagt Urbain fast anklagend.

Falls Gaeta überhaupt eine Reaktion zeigte, bestand sie darin, dass sein Lächeln noch breiter wurde. »Der Trick ist der, die Risiken zu beherrschen. Die Bedingungen zu erkunden und die erforderliche Ausrüstung zu kaufen oder zu entwickeln. Man bezeichnet mich zwar als Teufelskerl, aber ich bin kein Narr.«

»Und Sie wollen als erster Mensch die Oberfläche des Titan betreten«, sagte Wilmot.

»Das sollte nicht allzu schwer sein. Sie werden sowieso dorthin fliegen, also fliegen wir bei euch mit. Der Titan hat eine Atmosphäre und eine ganz ordentliche Schwerkraft. Und die Strahlungswerte sind nicht annähernd so hoch wie auf dem Jupiter.«

»Und Kontamination?«, fragte Urbain.

Gaeta zog die Augenbrauen hoch. »Kontamination?«

»Es gibt Leben auf dem Titan. Es ist zwar nur mikroskopisch klein: einzellige bakterielle Lebewesen. Aber es sind Lebewesen, und wir müssen jede Kontamination vermeiden. Das ist unsere erste Pflicht.«

Gaeta entspannte sich wieder. »Ach so. Ich werde einen gepanzerten Raumanzug tragen. Sie können ihn abschrubben und mich in ultraviolettem Licht baden, wenn ich zurück bin. Das tötet alles Kroppzeug ab, das vielleicht noch am Anzug klebt.«

Urbain schüttelte den Kopf noch heftiger. »Nein, nein und nochmals nein. Sie verstehen nicht. Wir machen uns wahrlich keine Sorgen, dass Mikroben Sie kontaminieren. Unsere Sorge ist vielmehr, dass Sie vielleicht sie kontaminieren.«

»Hä?«

»Es existiert eine einzigartige Ökologie auf dem Titan«, sagte Urbain. Seine blauen Augen funkelten, und der Bart sträubte sich schier. »Wir dürfen nicht das geringste Risiko eingehen, sie zu kontaminieren.«

»Aber das sind doch nur Bakterien!«

Urbain klappte die Kinnlade herunter. Er schaute aus wie ein Strenggläubiger, der soeben eine Blasphemie vernommen hat.

»Einzigartige Organismen«, stellte Wilmot klar. »Sie dürfen nicht beeinträchtigt werden.«

»Aber es sind doch schon Sonden auf dem Titan gelandet«, wandte Urbain ein, »jede Menge Sonden sogar!«

»Jede Einzelne wurde aber so gründlich desinfiziert, wie es nach dem Stand der Wissenschaft nur möglich war«, sagte Urbain. »Sie waren Dosen von Gammastrahlung ausgesetzt, die fast die elektronischen Schaltkreise zerstört hätten. Und ein paar von ihnen wurden während des Dekontaminations- Vorgangs wirklich außer Funktion gesetzt.«

Gaeta zuckte die Achseln. »Gut, dann dekontaminieren Sie meinen Anzug eben auf die gleiche Art.«

»Wenn Sie drinstecken?«, fragte Wilmot in ruhigem Ton.

»Wie — wenn ich drinstecke?«

»Weil Sie, wenn Sie in den Anzug steigen, einen ganzen Zoo von mikrobieller Flora und Fauna an den äußeren Teilen des Anzugs hinterlassen, die Sie berühren: Schweiß, Fett und wer weiß was nicht alles. Schon ein Fingerabdruck, ein Atemhauch könnte genug terrestrische Mikroben freisetzen, um Titans gesamte Ökologie zu verwüsten.«

»Ich müsste also im Anzug bleiben, wenn ihr ihn mit Gammastrahlen bombardiert?«

Wilmot nickte. »Nur so werden wir Ihnen gestatten, die Oberfläche von Titan zu betreten«, sagte Urbain ungerührt.

38 Tage vor dem Start

Ein Lächeln steht ihm wirklich gut, sagte Susan sich. Nur ist er leider immer so ernst.

Malcolm Eberly blickte konzentriert auf die dreidimensionale Abbildung, die mitten in der Luft über seinem Schreibtisch schwebte. Susan mutete er wie ein kalifornischer Surfer-Typ an, doch nur vom Hals aufwärts. Das blonde Haar hatte er nach der neuesten Mode kurz geschnitten. Er hatte hohe Wangenknochen und ein kräftiges Kinn. Eine fein geschwungene Nase und funkelnde blaue Augen von der Farbe eines Gletschersees. Und ein bezauberndes Lächeln, das er leider allzu selten zeigte.

Sie hatte sich zurückgelehnt, um ihm ihre Vorzüge zu präsentieren: Sie war mit dem schlichten Gewand und der Hose bekleidet, die ihm so gut gefiel, hatte das Haar in den Naturzustand zurückversetzt und die widerspenstigen Locken abgeschnitten. Die Verzierung an der Stirn hatte sie auch beseitigt und trug nun gar keinen Schmuck mehr außer den kleinen Ohrsteckern aus Asteroiden-Diamant.

Doch nichts von alledem hatte er bisher zur Kenntnis genommen.

»Wir müssen die Kriterien der Auswahlverfahren verschärfen«, sagte er, ohne vom Display aufzuschauen. Er hatte eine tiefe, sonore Stimme und sprach ein amerikanisches Englisch, das jedoch von einem kultivierten britischen Akzent überlagert wurde.

»Schauen Sie.« Eberly betätigte die Fernbedienung, und das Display rotierte über dem Schreibtisch, so dass Susan die dreidimensionale Grafik anschauen konnte. Das Büro war klein und spartanisch: Das Mobiliar bestand nur aus Eberlys grauem Metallschreibtisch und dem harten kleinen Plastikstuhl, auf dem Susan saß. Es hingen keine Bilder an den Wänden. Eberlys Schreibtisch war akkurat aufgeräumt.

Sie beugte sich auf dem unbequemen, knarrenden Stuhl nach vorn und betrachtete die Reihe der bunten Zickzacklinien, welche die vor ihren Augen schwebende Grafik durchzogen. Die Konfiguration war noch genau die gleiche, an die sie sich vom Vortag erinnerte, bevor sie Feierabend gemacht hatte.

»In den zwei Wochen, die Sie bereits im Human-Resources-Büro arbeiten«, sagte Eberly, »haben die erfolgreichen Rekrutierungen um fast dreißig Prozent zugenommen. Sie leisten anscheinend mehr als das ganze restliche Personal zusammengenommen.«

Das liegt nur daran, dass ich Eindruck bei dir schinden will, sagte sie sich. Sie hatte aber nicht den Nerv, ihm das ins Gesicht zu sagen; sie vermochte sich lediglich ein Lächeln abzuringen.

Er lächelte jedoch nicht, sondern sagte: »Leider handelt es sich bei zu vielen der neuen Rekruten um verurteilte politische Dissidenten und Unruhestifter. Wenn sie schon auf der Erde für Unruhe gesorgt haben, dann werden sie es wahrscheinlich auch hier tun.«

Ihr Lächeln verflog. »Aber ist denn das nicht auch ein Zweck dieser Mission?«, fragte sie. »Wir fliegen zum Saturn, um den Menschen eine neue Chance zu geben, damit sie ein neues Leben anfangen können.«

»Aber es muss alles im Rahmen bleiben, Holly. Alles in Maßen. Wir wollen hier keine notorischen Querulanten und Aufsässigen. Dann könnten wir genauso gut noch Terroristen ins Habitat aufnehmen.«

»Habe ich denn wirklich so schlechte Arbeit geleistet?«

Sie erwartete, dass er sie beruhigte und ihr sagte, dass sie ihre Arbeit gut machte. Stattdessen stand Eberly auf und ging um den Schreibtisch herum.

»Kommen Sie, wir gehen nach draußen und machen einen kleinen Spaziergang.«

Sie sprang auf. Sie war ein kleines Stück größer als er. Von den Schultern abwärts war Eberly schlank, geradezu dürr. Dünne Ärmchen, eine Hühnerbrust und sogar schon ein Bauchansatz, sagte sie sich. Er muss Sport treiben, diagnostizierte sie. Er sitzt zu lange im Büro. Ich muss ihn dazu motivieren, an die frische Luft oder ins Fitness-Center zu gehen und etwas für sich zu tun.

Aber sie folgte ihm schweigend durch den Korridor, der an den anderen Verwaltungsbüros des Habitats vorbeiführte und durch die Tür am Ende des Gangs.

Heller Sonnenschein fiel durch die langen Fenster. Bunte Schmetterlinge flatterten zwischen den Hyazinthen, vielfarbigen Tulpen und blutroten Mohnblumen, die den Pfad säumten. Sie gingen schweigend den Pfad entlang, der neben der Ansammlung niedriger weißer Gebäude verlief und sich den Hügel hinunterzog, auf dem das Dorf errichtet worden war. Der gepflasterte Pfad zog sich um den See am Fuß des Hügels herum und führte auf eine grüne Wiese. Ein Radfahrer überholte sie, der im Freilauf das sanfte Gefälle hinunterrollte. Junge Laubbäume tauchten den Pfad in gesprenkelten Schatten. Susan hörte in den Büschen Insekten summen und Vögel zwitschern. Eine komplette Ökologie, die sorgfältig eingerichtet und gewartet wurde. Beim Anblick der Wiese und der Gruppen größerer Bäume, die weiter entfernt den sanft geschwungenen Pfad säumten, vermochte sie kaum zu glauben, dass sie sich im Innern eines riesigen, von Menschenhand geschaffenen Zylinders befanden, der ein paar Hundert Kilometer über der Mondoberfläche im Weltraum hing. Bis sie nach oben schaute und sah, dass das Land über ihr wie eine geschlossene Kuppel sich wölbte.

»Holly?«

Ihre Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Eberly. »Ich… es tut mir Leid«, stammelte sie verlegen. »Ich war wohl in Gedanken.«

Er nickte, als ob er ihre Entschuldigung annähme. »Ja, ich habe schon ganz vergessen, wie schön es hier ist. Sie haben völlig Recht; niemand von uns sollte das als selbstverständlich betrachten.«

»Was hatten Sie noch gesagt?«, fragte sie.

»Es war nicht so wichtig.« Er hob den Arm und machte eine dramatisch ausladende Geste. »Das hier ist wichtig, Holly. Diese Welt, die ihr für euch erschaffen werdet.«

Mein Name ist nun Holly, erinnerte sie sich. Wenn du dich an alles andere erinnerst, was du erlebst, kannst du dich auch an einen neuen Namen erinnern, verdammt.

Dennoch fragte sie: »Wieso wollten Sie, dass ich meinen Namen ändere?«

Eberly neigte nachdenklich den Kopf. »Ich habe jedem neuen Rekruten vorschlagen, seinen Namen zu ändern. Sie betreten eine neue Welt und beginnen ein neues Leben. Da ist ein neuer Name doch nur folgerichtig, meinen Sie nicht auch?«

»Na klar! Sicher.«

»Trotzdem«, seufzte er, »befolgen nur sehr wenige meinen Vorschlag. Sie klammern sich an die Vergangenheit.«

»Es ist wie eine Taufe, nicht wahr?«, sagte Holly.

Er schaute sie an, und sie sah etwas wie Respekt in seinen stechenden blauen Augen. »Ja, wie eine Taufe. Wie eine Wiedergeburt. Der Beginn eines neuen Lebens.«

»Das wird dann schon mein drittes Leben sein«, sagte sie zu ihm.

Eberly nickte.

»An mein erstes Leben erinnere ich mich gar nicht«, sagte Holly. »In der Erinnerung fängt mein Leben erst vor sieben Jahren an.«

»Nein«, sagte Eberly bestimmt. »Ihr Leben begann vor zwei Wochen, als Sie hier ankamen.«

»Ja sicher, richtig.«

»Und deshalb haben Sie auch ihren Namen geändert, nicht wahr?«

»Richtig«, wiederholte sie. Er nimmt alles so verdammt ernst, sagte sie sich. Ich wünschte, ich könnte ihm einmal ein Lächeln entlocken.

Eberly blieb stehen und drehte sich langsam im Kreis. Dabei nahm er die Welt in sich auf, die sich um sie herum erstreckte und über ihren Köpfen zu einer Kuppel wölbte.

»Ich wurde in ärmlichsten Verhältnissen geboren«, sagte er mit leiser Stimme, die beinahe ein Flüstern war. »Ich war eine Frühgeburt, und die Ärzte räumten mir kaum eine Überlebenschance ein. Mein Vater verließ uns, als ich noch ein Baby war, und meine Mutter ließ sich dann mit einem mexikanischen Wanderarbeiter ein. Er wünschte mir den Tod. Ohne die Neue Moralität wäre ich kein halbes Jahr alt geworden. Sie brachten mich in ihr Krankenhaus und ermöglichten mir eine Schulbildung. Sie haben meinen Körper und meine Seele gerettet.«

»Das freut mich für Sie«, sagte Holly.

»Die Neue Moralität hat Amerika gerettet«, legte Eberly dar. »Als durch den Treibhaus-Effekt die Küstengebiete überflutet wurden und die Hungeraufstände ausbrachen, war es die Neue Moralität, die Ordnung und Sitte in unser Leben zurückgebracht hat.«

»Ich erinnere mich nicht an die Staaten«, sagte sie. »Nur an Selene. An sonst nichts.«

»Sie scheinen allerdings keine Schwierigkeiten zu haben, sich an alles zu erinnern, was seitdem geschehen ist. Ich habe noch niemanden mit einem so präzisen Gedächtnis gesehen.«

»Das liegt nur an den RNA-Behandlungen, denen ich unterzogen wurde«, erwiderte Holly mit einem beiläufigen Achselzucken.

»Ach ja, natürlich.« Er ging langsam weiter. »Also, Holly, da wären wir nun. Wir beide. Und noch zehntausend andere.«

»Neuntausendneunhundertachtundneunzig«, korrigierte sie ihn mit einem verschmitzten Lächeln.

Er neigte in Anerkennung ihrer Rechenkünste leicht den Kopf. Er wirkte völlig ernst und hatte ihren Humor überhaupt nicht erkannt.

»Sie haben die einmalige Gelegenheit, hier eine neue Welt zu erschaffen«, sagte Eberly. »Eine vollständig neue, reine Welt. Sie sind die glücklichsten Menschen aller Zeiten.«

»Sie aber auch«, sagte sie.

Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich bin nur ein Mann. Ihr seid zehntausend — minus eins, natürlich. Ihr seid diejenigen, die diese neue Welt erschaffen werden. Es liegt an euch, sie nach euren Vorstellungen zu formen. Ich bin schon völlig zufrieden damit, hier unter euch zu sein und euch mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen.«

Holly schaute ihn mit einem Gefühl großer Bewunderung an. »Aber Malcolm, Sie müssen uns dabei helfen, diese neue Welt aufzubauen. Wir werden Ihre Visionen brauchen, Ihre…« — sie suchte nach einem passenden Wort… »Ihre Hingabe.«

»Ich werde natürlich alles tun, was ich vermag«, sagte er. Und zum ersten Mal lächelte er.

Holly verspürte Erregung.

»Aber Sie müssen auch Ihr Bestes geben«, fügte er hinzu. »Ich erwarte von Ihnen die gleiche Hingabe und den Einsatz, den ich selbst bringe. Nichts weniger, Holly.«

Sie nickte stumm.

»Sie müssen sich der Arbeit, die wir verrichten, mit größter Hingabe widmen«, sagte Eberly. »Und ohne Kompromisse.«

»Das will ich tun«, versicherte Holly. »Eigentlich tue ich es sogar jetzt schon.«

»Alle Bereiche Ihres Lebens müssen unserer Arbeit untergeordnet werden«, insistierte er. »Sie werden keine Zeit für Lustbarkeiten haben. Auch nicht für romantische Verstrickungen.«

»Ich habe keine romantischen Verstrickungen, Malcolm«, sagte sie kleinlaut. Ich wünschte aber, ich hätte welche, sagte sie sich. Mit dir.

»Ich auch nicht«, sagte er. »Die vor uns liegende Aufgabe ist zu wichtig, als dass sie durch persönliche Belange beeinträchtigt werden dürfte.«

»Ich verstehe, Malcolm«, sagte Holly. »Voll und ganz.«

»Gut. Das freut mich.«

Zuckerbrot und Peitsche — so halte ich sie unter Kontrolle, sagte Eberly sich. Zuckerbrot und Peitsche.

Zwei Stunden vor dem Start

Eberly stellte sich mit dem Rücken zum gewölbten Fenster der Beobachtungskuppel. Hinter den dicken Quarzscheiben führten die Sterne einen langsamen Tanz auf, während das riesige Habitat sich träge um die eigene Achse drehte. Dann schob der Mond sich ins Blickfeld — so nah, dass man die glasierten Startrampen des Raumhafens Armstrong sah, die von jahrzehntelangem Raketenfeuer geschwärzt waren, die Zwillingskuppeln von Selenes zwei unterirdischen öffentlichen Plätzen und die riesige Baugrube, wo Arbeiter eine dritte Plaza errichteten. Ein paar Leute behaupteten sogar, einzelne Zugmaschinen zu sehen und die Seilbahn, die zu vorgeschobenen Siedlungen wie Hell Crater und dem Observatorium auf der Rückseite des Monds führten.

Eberly vermied es, nach draußen zu schauen. Beim Anblick des in ständiger Bewegung befindlichen Mondes, der Sterne und des Universums überkam ihn Übelkeit. Deshalb drehte er der Szenerie den Rücken zu. Zumal seine Arbeit, seine Zukunft und sein Schicksal im Innern des Habitats lagen und nicht dort draußen.

Vor ihm stand eine kleine, korpulente Frau, mit einem farbenfrohen Gewand in allen Nuancen des Rot- und Orange-Spektrums über einer weiten beigefarbenen Hose bekleidet. Ihr schien der Blick durchs Fenster nichts auszumachen. Funkelnde Ringe zierten fast alle ihre Finger, und noch mehr Schmuck zierte Handgelenke, Ohrläppchen und das Doppelkinn. Ruth Morgenthau gehörte zum kleinen Kader, den die Heiligen Jünger ins Habitat eingeschleust hatten. Sie war nicht etwa zu dieser Reise ohne Wiederkehr zum Saturn gezwungen worden, wie Eberly wusste; vielmehr hatte sie sich freiwillig gemeldet.

Neben ihr stand ein dünner, kleiner und griesgrämiger Mann, der eine schäbige schwarze Kunstlederjacke trug.

»Malcolm«, sagte Morgenthau und machte eine Geste mit plumper Hand, »darf ich Ihnen Dr. Sammi Vyborg vorstellen.« Sie wandte sich halb um. »Dr. Vyborg, Malcolm Eberly.«

»Ich bin sehr erfreut, Sie kennen zu lernen, Sir«, sagte Vyborg mit schnarrender, nasaler Stimme. Sein Gesicht war kaum mehr als ein Totenkopf mit einer Hautbespannung. Hasenzähne. Schmale Augenschlitze.

Eberly ergriff kurz die ausgestreckte Hand. »Doktor in welchem Fachgebiet?«, fragte er.

»Pädagogik. An der Universität Wittenberg.«

Die Andeutung eines Lächelns erschien in Eberlys Gesicht. »Hamlets Universität.«

Vyborg grinste und zeigte dabei die Zähne. »Ja, wenn man Shakespeare glauben will. Allerdings wird der Däne nicht im Archiv der Universität aufgeführt. Ich habe selbst nachgeschaut.«

»Die Aufzeichnungen datieren so weit zurück?«, fragte Morgenthau.

»Sie sind natürlich sehr lückenhaft.«

»Ich bin nicht an der Vergangenheit interessiert«, sagte Eberly. »Ich arbeite an der Zukunft.«

Vyborg nickte. »Das ist mir schon klar.«

Eberly schaute Morgenthau missbilligend an. »Ich habe Dr. Vyborg erklärt«, beeilte sie sich zu sagen, »dass unsere Aufgabe in der Übernahme der Verwaltung des Habitats besteht, nachdem wir gestartet sind.«

»Was in zwei Stunden der Fall sein wird«, merkte Vyborg an.

Eberly richtete den Blick auf den kleinen Mann und sagte: »Ich habe es arrangiert, dass Sie einen hohen Posten in der Kommunikations-Abteilung bekommen. Wären Sie auch in der Lage, die ganze Abteilung zu leiten, falls und wenn ich sie damit beauftragte?«

»In der Abteilung gibt es noch zwei prominente Personen über mir«, erwiderte Vyborg. »Sie sind aber beide keine Gläubigen.«

»Ich kenne das Organigramm!«, sagte Eberly schroff. »Ich habe es selbst erstellt. Mir blieb nichts anders übrig, als diese beiden Säkularisten über Ihnen zu akzeptieren, aber Sie sind derjenige, den ich für die Leitung der Abteilung vorgesehen habe. Wären Sie dieser Aufgabe gewachsen?«

»Natürlich«, antwortete Vyborg, ohne zu zögern. »Was wird aber aus meinen Vorgesetzten?«

»Ihr könnt sie nicht wieder nach Hause schicken, wenn wir einmal gestartet sind«, merkte Morgenthau an. Ein Lächeln zauberte Grübchen in ihre Wangen.

»Ich werde mich schon um sie kümmern«, versicherte Eberly nachdrücklich, »wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Fürs Erste will ich nur wissen, ob ich mich auf Sie verlassen kann.«

»Das können Sie«, sagte Vyborg.

»Auf Sie muss uneingeschränkt Verlass sein. Ich will unbedingte Loyalität.«

»Die werden Sie auch bekommen«, sagte Vyborg dezidiert. »Aber nur, falls es Ihnen gelingt, mich zum Leiter der Kommunikationsabteilung zu machen«, fügte er lächelnd hinzu.

»Auf jeden Fall.«

Morgenthau lächelte; sie war froh, dass diese beiden Männer in der Lage waren, zusammenzuarbeiten und der Sache zu dienen, der sie ihr Leben gewidmet hatte.


Holly wurde nervös. Sie hatte überall nach Malcolm gesucht, von seinem spartanischen kleinen Büro bis zu den anderen Hasenkästen in der Human-Resources-Abteilung, dann den Gang entlang in den anderen Abteilungen des Verwaltungsgebäudes. Aber nirgends eine Spur von ihm.

Er wird noch den Start verpassen!, sagte sie sich immer wieder. Sie hatte nämlich alles ganz genau geplant. Sie wollte mit Malcolm zum Seeufer am Rand des Dorfes gehen. Professor Wilmot und seine Assistenten hatten mehr als ein Dutzend Stellen im Habitat eingerichtet, wo die Leute sich versammeln und die Start-Feierlichkeiten auf großen, im Freien aufgestellten Bildschirmen verfolgen konnten. Das Seeufer war die beste Stelle, sagte Holly sich — landschaftlich am schönsten und den Büros am nächsten gelegen.

Doch Malcolm war nirgends zu finden. Wo mochte er wohl stecken? Was machte er nur? Er wird noch alles versäumen! Die Leute strömten auf den Pfaden zu den Treffpunkten, wo die großen Bildschirme aufgestellt waren: Paare und größere Gruppen, die angeregt plauderten und ihr grüßend zunickten. Holly ignorierte sie allesamt und suchte weiter nach Eberly.

Und dann sah sie ihn auf dem Pfad, der aus dem Wald herausführte — in Begleitung dieser übergewichtigen Morgenthau. Holly runzelte die Stirn. Er verbringt ziemlich viel Zeit mit ihr, sagte sie sich. Als sie jedoch näher kamen, erschien ein Lächeln in Hollys Gesicht: Morgenthau schnaufte wie eine Lokomotive, während sie mit dem zügig ausschreitenden Malcolm Schritt zu halten versuchte. Geschieht ihr Recht, sagte Holly sich, als sie den Pfad entlangging, um sie abzufangen und mit Malcolm zum Seeufer zu gehen. Sie wollte ihn an ihrer Seite haben, wenn das Habitat zum langen Flug zum Saturn aufbrach. Keinen anderen, sagte sie sich. Er soll bei mir sein.


Pancho Lane setzte sich im Bett auf und schaute betrübt auf die holografische Darstellung des im Weltraum hängenden Habitats Goddard. Es schien, als ob eine Hälfte ihres Schlafzimmers verschwunden und der Dunkelheit des Weltraums gewichen sei, wobei ein kleines, langsam sich drehendes Habitat in der Mitte der Szene schwebte. Der pockennarbige, leuchtende Mond wanderte ins Blickfeld. Pancho erkannte die Laser-Boje, die den Gipfel von Mt. Yeager markierte — direkt oberhalb von Selene, nicht allzu weit von ihrem Schlafzimmer entfernt.

Sie tut es wirklich, sagte Pancho sich verdrießlich. Sie macht sich wirklich in diesem zusammengedengelten Blecheimer vom Acker, nur um sich so weit wie möglich von mir zu entfernen. Ich habe ihr das Leben gerettet, habe mir den Arsch aufgerissen, um ihre Arztrechnungen zu bezahlen, die Kryonik und den ganzen Kram. Ich habe sie wie ein Baby gefüttert, ihr die einfachsten Verrichtungen wieder beigebracht und ihr den verschissenen Hintern abgewischt. Und nun macht sie sich auf ins schwarze Unbekannte. Das nenne ich Dankbarkeit. Das ist wahre Schwesternliebe.

Dennoch verspürte sie keinen echten Zorn. Sie wusste, dass Susie sich von ihr lösen und ein eigenes Leben beginnen musste. Sie muss unabhängig werden. Jedes Kind muss früher oder später auf eigenen Füßen stehen. Teufel, ich habe doch genauso gehandelt, als Susie noch ein Kind war.

Nein — sie war keine Susie mehr, erinnerte sie sich. Sie nennt sich nun Holly. Daran muss ich denken, wenn ich sie anrufe. Holly.

Falls sie in Schwierigkeiten gerät, werde ich ein Rettungsschiff aussenden, um sie nach Hause zu holen. Sie muss nur einen Ton sagen. Ich werde selbst zu ihr fliegen, wenn es sein muss.

Die holografische Abbildung von Goddard verblasste und wich einem lebensgroßen Bild von Professor Wilmot. Pancho, die vom Bett aus zuschaute, hatte den Eindruck, als ob der Kopf und die Schultern des Mannes mitten im Schlafzimmer schwebten.

»Heute begeben wir uns auf eine einmalige Entdeckungs- und Forschungsreise«, hob Wilmot langsam mit sonorer Stimme an.

»Bla, bla, bla«, murmelte Pancho. Sie stellte den Ton mit einem Sprachbefehl ab und befahl dem Telefon, sie mit ihrem Sicherheitschef zu verbinden. Ich hoffe nur, dass Wendell eine kompetente Person abgestellt hat, ein Auge auf mein Schwesterherz zu halten. Wenn nicht, werde ich ihm einen kräftigen Tritt in den Arsch geben, egal wie gut er im Bett ist.


»Vyborg ist eine Bereicherung für unseren Kader«, sagte Morgenthau, während sie neben Eberly zum Dorf am See zurückwatschelte.

Eberly berührte einen leuchtenden Königsschmetterling, der ihm vorwitzig vorm Gesicht herumflatterte. »Er ist ehrgeizig, das steht schon mal fest.«

»Ehrgeiz ist doch nichts Schlimmes«, sagte Morgenthau. »Solang er Befehle ausführt.«

»Das wird er, da bin ich mir sicher.«

Innerlich hatte Eberly seine Zweifel. Aber ich muss eben mit dem verfügbaren Material arbeiten, sagte er sich. Morgenthau hat praktisch keine Ambitionen und kein Bedürfnis, im Rampenlicht zu stehen. Das macht sie zum perfekten Handlanger. Mit Vyborg ist das etwas anderes. Ich werde gut auf ihn aufpassen müssen. Und auf meinen Rücken.

»Information ist der Schlüssel zur Macht«, sagte er zu Morgenthau. »Mit Vyborg in der Kommunikation werden wir Zugang zu allen Überwachungskameras im Habitat haben.«

»Und er könnte uns auch dabei helfen, die Telefone anzuzapfen«, ergänzte Morgenthau.

»Ich will mehr. Ich will, dass in jedem Apartment Überwachungskameras installiert werden. Natürlich geheim.«

»In jedem Apartment? Das ist… eine gewaltige Aufgabe.«

»Dann finden Sie einen Weg, sie zu lösen«, sagte Eberly schroff.


Holly versuchte nicht zu rennen, denn so aufgeregt wollte sie nun auch wieder nicht erscheinen; doch je näher sie Eberly und Morgenthau kam, desto schneller ging sie.

Sie fragte sich, wieso Malcolm überhaupt die Gesellschaft von Morgenthau gesucht hatte. Sie macht doch wirklich nicht viel her. Holly kicherte innerlich. Nein, eigentlich macht sie zu viel her. Sie ist ausstaffiert, als ob sie auf eine Punker-Party gehen wollte. Sie wäre auch ganz hübsch, wenn sie mal so zwanzig bis dreißig Kilo abnehmen würde.

Eberly schaute auf und erkannte sie.

»Malcolm!«, rief Holly und verlangsamte den Schritt. »Kommen Sie! Die Zeremonie hat schon angefangen. Sie werden noch alles verpassen!«

»Dann werde ich es eben verpassen«, sagte Eberly kurz angebunden. »Ich habe zu tun. Ich kann meine Zeit nicht mit irgendwelchen Zeremonien verschwenden.«

Sprach's und ging an ihr vorbei, die Morgenthau im Schlepptau. Holly stand mit offenem Mund da und kämpfte verzweifelt gegen die Tränen an.

Start

Kaum jemand an Bord der Goddard wusste von der ›Brücke‹. Das Navigations- und Kontrollzentrum des riesigen Habitats war nämlich in einer kompakten Kapsel untergebracht, die an der Außenseite des mächtigen Zylinders angeflanscht war — wie ein Pilz auf einem langsam rotierenden Baumstamm.

Captain Nicholson trug den Titel ehrenhalber. Sie hatte schon Raumschiffe zum Asteroiden-Gürtel geflogen und einmal sogar einen Verband von drei Schiffen auf einer Versorgungsmission für die wissenschaftlichen Stützpunkte auf dem Mars befehligt.

Von der vierköpfigen Besatzung, die im Navigations- und Kontrollzentrum arbeitete, wollten Nicholson, ihr erster Offizier und der Navigator zur Erde zurückkehren, sobald sie die Goddard in einen Orbit um den Saturn gebracht hatten. Nur der System-Ingenieur, Ilja Timoschenko, hatte sich für die volle Dauer der Mission verpflichtet. Timoschenko rechnete auch nicht damit, die Erde jemals wiederzusehen.

Samantha Nicholson sah nicht aus wie ein typischer Raumschiffkapitän. Sie war eine kleine Frau, die ihr Haar hatte silbergrau werden lassen. Sie stammte von einer langen Linie von Großreedern ab und war die Erste ihrer Familie, die dem Lockruf des Weltraums und nicht des Meeres folgte. Ihr Vater enterbte sie wegen ihrer Eigenwilligkeit und Unabhängigkeit, und ihre Mutter weinte bitterlich, als sie die Erde verließ. Nicholson tröstete ihre Mutter und sagte ihrem Vater, dass sie das Familienvermögen weder brauchte noch wollte. Sie kehrte nie mehr zur Erde zurück, und Selene wurde ihre zweite Heimat.

Timoschenko bewunderte die Kapitänin. Nicholson war fähig, intelligent und schaltete sich bei Auseinandersetzungen als ›ehrlicher Makler‹ ein. Und wenn es darauf ankam, vermochte sie die Besatzung mit einer Sprache zur Raison zu bringen, bei der ihre Mutter wohl in Ohnmacht gefallen wäre.

»X minus dreißig Sekunden«, sagte die synthetische Stimme des Computers.

Timoschenko warf einen Blick auf seine Konsole. Alle Lampen und Symbole leuchteten grün.

»Zündung der Triebwerke auf mein Kommando«, sagte Captain Nicholson gelassen.

»Roger«, erwiderte der erste Offizier.

Normalerweise hätte Timoschenko sich darüber mokiert, dass sie auf menschlicher Kontrolle bestand. Die vier Besatzungsmitglieder wussten nämlich ganz genau, dass die Computer das Antriebssystem überwachten. Dieses träge, überdimensionale Abflussrohr würde exakt im richtigen Moment aus dem Mondorbit ausscheren, auch wenn keiner von ihnen auf der Brücke wäre. Der Käpt'n pflegte jedoch die alten Traditionen, und sogar Timoschenko — der sonst immer so verdrießlich und spöttisch war wie ein hochmütiger Universitätsprofessor —, respektierte die Entscheidung der alten Dame.

Der Computer sagte: »Zündung in fünf Sekunden, vier… drei… zwei…«

»Triebwerke zünden«, sagte der Käpt'n.

Timoschenko grinste, als seine Konsole zeigte, dass der Computerbefehl und die menschliche Handlung gleichzeitig stattfanden.

Die Triebwerke feuerten. Die Goddard scherte aus dem Mondorbit aus und schwenkte auf die lange Flugbahn zum Planeten Saturn ein.


Selbst mit Duncan-Drive-Fusionstriebwerken flitzt ein so massives Objekt wie das Habitat Goddard nicht durchs Sonnensystem, wie Passagierfähren und sogar automatisierte Erzfrachter es zu tun pflegen.

Das liegt zum Teil an der schieren Masse. Mit über hunderttausend Tonnen entspricht das Habitat einer ganzen Flotte interplanetarer Raumschiffe. Um dem Habitat auch nur eine Beschleunigung von einem Zehntel Ge zu verleihen, wäre ein enormer Schub erforderlich, was wiederum einen exzessiven Brennstoffverbrauch zur Folge hätte.

Das größte Problem ist jedoch die rotationsinduzierte Schwerkraft im Innern des Habitats. Eine Beschleunigung durch Raketenschub würde die Welt im Innern des Zylinders durcheinander wirbeln. Anstatt nur einen sanften, erdähnlichen Zug nach ›unten‹ zu verspüren, würden die Bewohner auch in Richtung des Raketenschubs beschleunigt werden. Dadurch würde das Leben im Habitat erschwert, wenn nicht unmöglich werden.

Die Bewohner hätten das Gefühl, ständig bergauf oder bergab zu gehen, obwohl sie auf einem normal wirkenden flachen Boden gingen.

Also entfernte die Goddard sich mit einer gemächlichen Beschleunigung vom Mond, mit einem winzigen Bruchteil eines Ge. Die zehntausend Bewohner spürten die Kraft der Beschleunigung überhaupt nicht, doch von den Antriebs-Ingenieuren des Habitats wurde sie sorgfältig überwacht.

Es würde vierzehn Monate dauern, um in die Nähe des Jupiter zu kommen. Dort würde die Goddard Fusionsbrennstoffe nachtanken: Mit automatisierten Schöpfbaggern, die von der Raumstation im Orbit um den riesigen Planeten betrieben wurden, würden Wasserstoff- und Heliumisotope aus Jupiters tiefer, turbulenter Atmosphäre geschöpft werden. Außerdem würde Jupiters starke Gravitation dem Habitat beim Vorbeiflug eine zusätzliche Beschleunigung verleihen.

Elf Monate nach dem Erreichen des Jupiter würde die Goddard schließlich in einen Orbit um den Saturn gehen. Zu diesem Zeitpunkt, mehr als zwei Jahre nach dem Aufbruch aus dem Erde/Mond-System, rechnete der Anthropologe James Wilmot damit, dass die Subjekte seines Experiments bereit wären, das politische System und die persönlichen Bindungen einer neuen Gesellschaft zu schaffen. Er fragte sich, welche Form diese Gesellschaft wohl annehmen würde. Malcolm Eberly wusste es bereits.

Drei Tage nach dem Start

Der große Vorteil, einen Wissenschaftler mit der Leitung des Habitats zu beauftragen, sagte Eberly sich, ist der, dass Wissenschaftler so vertrauensvoll naiv sind. Ehrlichkeit ist das konstituierende Element ihrer Arbeit, wodurch sie sich auch im Alltagsleben ehrlich verhalten. Was sie wiederum zu der Annahme verleitet, dass auch ihre Mitmenschen ehrlich seien.

Eberly lachte laut, als er die Pläne für den Tag Revue passieren ließ. Es wird Zeit, Bewegung in die Sache zu bringen. Wo wir nun unterwegs sind, wird es Zeit, dass diese Leute mich als ihren natürlichen Anführer betrachten.

Und wer wäre besser geeignet, den Anfang zu machen als Holly, sagte er sich. Meine Neugeborene. Sie schmollte, seit er sie bei der Start-Zeremonie einfach hatte abblitzen lassen. Er sah, dass unter den Nachrichten, die an diesem Morgen eingegangen waren, auch eine von ihr war; und sie hatte ihn auch schon zweimal angerufen. Gut, sagte er sich — Zeit, sie wieder zum Lächeln zu bringen.

Er wies das Telefon an, sie zu lokalisieren. Die holografische Abbildung, die überm Schreibtisch erschien, zeigte ihm, dass sie in ihrem Büro bei der Arbeit war.

Als sie Eberlys Gesicht erkannte, erschien bei ihr ein Ausdruck der Hoffnung und frohen Erwartung.

»Holly, würden Sie bitte in mein Büro kommen, falls Sie einen Moment Zeit haben?«, fragte er leutselig.

»Ich werde SAL da sein!«, sagte sie.

SAL?, fragte Eberly sich, als ihr Bild verblasste. Was soll — ach so! Schneller als Licht. Der für sie typische Slang.

Er hörte, wie sie leise und zaghaft an seine Tür klopfte.

Lass sie warten, sagte er sich. Nur so lang, dass ein leichtes Unbehagen sie beschleicht. Er spürte förmlich, wie sie unbehaglich draußen vor der Tür stand.

»Herein«, sagte er, als sie erneut klopfte.

Holly schmollte nicht mehr, als sie Eberlys Büro betrat. Sie wirkte vielmehr besorgt, beinahe ängstlich.

Eberly stand auf und wies auf den Stuhl vorm Schreibtisch. »Bitte setzen Sie sich, Holly.«

Sie setzte sich auf die Stuhlkante wie ein scheuer Vogel, der bereit war, beim geringsten Anzeichen von Gefahr aufzufliegen. Eberly nahm auch wieder Platz und musterte sie für eine Weile stumm. Holly war mit einem moosgrünen Gewand über Leggins von einem etwas helleren Grün bekleidet. Sie trug keine Ringe oder sonstigen Schmuck außer den Ohrsteckern. Diamanten, wie er sah. Seit der Asteroidengürtel für den Bergbau erschlossen worden war, waren Edelsteine normale Gebrauchsgüter geworden. Wenigstens hat sie dieses blöde Zeichen auf der Stirn entfernt, sagte Eberly sich. Sie ist wirklich recht attraktiv. Manche Männer finden dunkle Haut exotisch. Ihre Figur haut einen zwar nicht gerade vom Hocker, aber sie hat schöne lange Beine. Ob ich sie mit jemandem verkuppeln sollte? Nein, beschloss er. Fürs Erste soll sie ausschließlich auf mich fixiert sein.

Er bedachte sie mit einem sparsamen Lächeln. »Ich habe Sie verletzt, nicht wahr?«

Holly machte vor Erstaunen große Augen.

»Das war nicht meine Absicht. Manchmal gehe ich so in meiner Arbeit auf, dass ich ganz vergesse, die Menschen um mich herum könnten auch Gefühle haben. Es tut mir wirklich Leid«, sagte er. »Das war taktlos von mir.«

Ihr Gesicht erhellte sich, als ob die Sonne aufgegangen wäre. »Ich sollte nicht so ein Mimöschen sein, Malcolm. Aber es hat mich einfach überkommen. Ich wollte bei der Feier an Ihrer Seite sein und…«

»Und ich habe Sie enttäuscht.«

»Nein!«, sagte sie wie aus der Pistole geschossen. »Es war mein Fehler. Ich hätte es besser wissen müssen. Es tut mir Leid. Ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten.«

Eberly lehnte sich auf seinem komfortablen Stuhl zurück und bedachte sie mit einem gütigen, väterlichen Lächeln. Wie leicht sie doch zu lenken ist, sagte er sich. Nun bittet sie mich sogar noch um Verzeihung.

»Ich meine«, plapperte Holly weiter, »ich weiß, dass Sie viel zu tun haben und die Verantwortung für die Menschen des ganzen Habitats und all das und ich hätte Ihnen von vornherein nicht zumuten dürfen, sich die Zeit zu nehmen und mit mir in der Gegend 'rumzustehen, um sich die alberne Feier anzuschauen wie ein Schuljunge beim Schulfest oder irgendetwas in der Art…«

Ihre Stimme wurde immer leiser wie ein Spielzeug, dessen Batterien schlapp machten.

Eberly ersetzte das Lächeln durch einen Ausdruck der Bekümmerung. »Schon gut, Holly. Die Sache hat sich bereits erledigt. Vergessen wir es.«

Sie nickte glücklich.

»Ich hätte einen Auftrag für Sie, falls Sie Zeit haben, sich damit zu befassen.«

»Die Zeit werde ich mir nehmen!«

»Wunderbar.« Er lächelte wieder — dieses frohe, dankbare Lächeln.

»Und was ist das für ein Auftrag?«

Er rief den Grundriss des Habitats auf und projizierte ihn auf die kahle Wand. Holly sah die Dörfer, die Parks, landwirtschaftlichen Anbaugebiete und Gärten, die Büros, Werkstätten und Fabrikkomplexe, alles schön ordentlich angeordnet und durch Pfade für Fußgänger und Elektrofahrräder miteinander verbunden.

»Dies ist unsere neue Heimat«, sagte Eberly. »In der wir für mindestens fünf Jahre leben werden. Manche von uns — viele von uns — werden gar den Rest ihres Lebens hier verbringen.«

Holly nickte zustimmend.

»Aber wir haben noch für nichts einen Namen gefunden. Nichts außer den technischen Bezeichnungen. Wir können unsere Heimatorte aber nicht einfach › Ortschaft A‹, ›Ortschaft B‹ und so weiter nennen.«

»Ich verstehe«, murmelte Holly.

»Die Gärten sollten eigene Namen bekommen. Die Hügel und die Wälder — einfach alles. Wer will denn schon im ›Einzelhandels-Komplex Numero Drei‹ einkaufen gehen?«

»Ja schon, aber wie sollen wir denn für alles Namen finden?«

»Ich werde es nicht tun«, sagte Eberly. »Und Sie auch nicht. Dies ist eine Aufgabe, die von den Bewohnern des Habitats erledigt werden muss. Die Leute müssen die Namen selbst aussuchen.«

»Aber wie…«

»In einem Wettbewerb«, antwortete er, bevor sie die Frage noch ausformuliert hatte. »Oder vielmehr in einer Serie von Wettbewerben. Die Bewohner einer jeden Siedlung werden einen Wettbewerb veranstalten, um ihrem Ort einen Namen zu geben. Die Arbeiter einer Fabrik werden einen Wettbewerb veranstalten, um ihrer Fabrik einen Namen zu geben. Das wird die Aufmerksamkeit der Menschen beanspruchen und sie für Monate beschäftigen.«

»Kosmisch«, sagte Holly atemlos.

»Ich brauche jemanden, um die Regeln auszuarbeiten und jeden einzelnen Wettbewerb zu organisieren. Wollen Sie das für mich tun?«

»Logisch!«

Eberly gestattete sich ein leises Lachen angesichts ihrer Begeisterung. »Später werden Sie Komitees bilden müssen«, fuhr er fort, »um die vorgeschlagenen Namen zu bewerten und die Stimmen auszuzählen.«

»Super!« Er sah, dass Holly vor Vorfreude fast zitterte.

»Gut. Ich möchte, dass Sie dieser Sache absoluten Vorrang einräumen. Aber sprechen Sie mit niemandem darüber, bis wir so weit sind, es der Öffentlichkeit mitzuteilen. Ich will nicht, dass hiervon etwas vorzeitig nach außen dringt.«

»Ich werde es für mich behalten«, versprach Holly.

»Schön.« Eberly lehnte sich zufrieden auf dem Stuhl zurück. Dann schaute er sie prüfend an und sagte: »Ich habe festgestellt, dass Sie mich ein paarmal angerufen haben. Worüber wollten Sie denn mit mir sprechen?«

Holly blinzelte, als ob sie plötzlich aus einem Traum gerissen worden wäre. »Sie sprechen? Ach so. Es ist eigentlich nichts Besonderes. Nur ein paar Kleinigkeiten, keine große Sache.«

Eberly beugte sich leicht nach vorn und sagte sich, dass ihre ständigen Anrufe ein mühsam kaschierter Versuch waren, sich mit ihm zu treffen. Er legte die Arme auf den Schreibtisch. »Worum geht es dann?«

Holly zog besorgt die Augenbrauen hoch und sagte: »Nun… ich hatte Routineüberprüfungen der Lebensläufe der letzten Personal-Tranche laufen lassen, die an Bord gekommen war. Und in ein paar Fällen bin ich auf Unstimmigkeiten gestoßen.«

» Unstimmigkeiten? «

Sie nickte heftig. »Referenzen, die nicht bestätigt werden. Oder unvollständige Angaben.«

»Etwas Gravierendes?«, fragte er.

»Ruth Morgenthau, zum Beispiel. Sie hat in der Rubrik ›Berufserfahrung‹ ihrer Bewerbung nur eine Position eingetragen.«

»Wirklich?«

»Und noch dazu eine verdammt gute«, gestand Holly. »Leiterin des Verwaltungsdiensts für das Amsterdamer Büro der Heiligen Jünger.«

Eberly lächelte verhalten. »Das ist recht eindrucksvoll, meinen Sie nicht?«

»Ja schon, aber es ist nur eine Angabe, und auf dem Formular werden mindestens drei verlangt.«

»Ich würde mir deswegen keine Sorgen machen.«

Sie nickte. »OK, kein Problem. Aber es gibt da noch jemanden — er führt Referenzen von ein paar Universitäten an, nur dass ich in den Archiven keinerlei Hinweise auf ihn finde.«

»Falsche Referenzen?« Nun verspürte Eberly doch einen Anflug von Besorgnis. »Um wen handelt es sich?«

Holly zog einen Palmtop aus der Tasche ihres Gewands und richtete ihn auf die Wand, die derjenigen gegenüberlag, die den Grundriss des Habitats zeigte. Sie schaute um Erlaubnis heischend auf Eberly. Er nickte knapp.

Ein Human-Resources-Dossier erschien an der Wand. Eberly runzelte die Stirn, als er den Namen und das dazugehörige Bild sah: Sammi Vyborg.

Holly ging zum Abschnitt ›Referenzen‹ des Lebenslaufs und markierte die Namen von fünf Universitätsprofessoren.

»Nach allem, was ich in Erfahrung gebracht habe, war er nie an einer dieser Universitäten eingeschrieben«, sagte sie.

Eberly lehnte sich auf dem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Er versuchte, sein großes Unbehagen zu kaschieren und dachte angestrengt nach. »Haben Sie schon einen dieser Professoren kontaktiert?«

»Noch nicht. Ich wollte erst einmal mit Ihnen sprechen, bevor ich weitere Schritte unternehme.«

»Gut. Danke, dass Sie mir das zur Kenntnis gebracht haben.«

»Ich könnte alle Professoren befragen. Aber was sollen wir mit Vyborg machen, wenn sie seine Angaben nicht bestätigen?«

Eberly spreizte die Hände. »Dann dürfen wir den Mann natürlich nicht auf dem Posten belassen, der ihm zugewiesen worden ist. Falls er seine Referenzen wirklich gefälscht hat.«

»Wir könnten ihn zur Erde zurückschicken, wenn wir beim Jupiter auftanken«, sagte Holly nachdenklich. »Aber was sollen wir bis dahin mit ihm machen? Ihn zur Arbeit auf den Farmen einsetzen oder etwas in der Art?«

»Oder etwas in der Art«, sagte Eberly vage.

»Okay. Ich werde dann die…«

»Nein«, sagte er scharf. »Ich werde mich mit diesen Professoren in Verbindung setzen. Mit jedem einzelnen von ihnen. Ich werde es selbst tun.«

»Aber Sie haben doch schon so viel zu tun.«

»Das liegt aber in meiner Verantwortung, Holly. Außerdem werden sie wahrscheinlich viel eher bereit sein, auf eine Anfrage des Leiters der Human Resources zu reagieren als auf eine von seinen Assistenten.«

Ihre Miene verdüsterte sich kurz, doch dann hellte sie sich schnell wieder auf. »Ja, da ist etwas dran.«

»Außerdem werden Sie vollauf damit beschäftigt sein, die Wettbewerbe zu arrangieren.«

Da musste sie grinsen.

»Ich werde mich also selbst darum kümmern«, wiederholte Eberly.

»Es ist trotzdem nicht fair«, murmelte sie. »Es tut mir Leid, dass ich es Ihnen überhaupt gesagt habe. Ich hätte mich darum kümmern sollen, ohne Sie damit zu behelligen.«

»Nein, Holly. Dies ist etwas, über das Sie mich auf jeden Fall hätten informieren müssen. Sie haben genau richtig gehandelt.«

»Ok«, sagte sie und erhob sich langsam. »Wenn Sie meinen. Trotzdem…«

»Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben«, sagte Eberly. »Sie haben gute Arbeit geleistet.«

»Danke!«, sagte sie strahlend.

»Ich bin sicher, dass es sich nur um einen Fehler oder ein Missverständnis handelt, das sich irgendwo auf dem Dienstweg eingeschlichen hat. Ich kenne Vyborg persönlich. Er ist ein guter Mann.«

»Ach! Ich wusste nicht…«

»Umso mehr Grund, diese Sache gründlich aufzuklären«, sagte Eberly ernst. »Es darf hier keine Günstlingswirtschaft einreißen.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Ich danke Ihnen, Holly«, sagte er noch einmal.

Sie ging langsam zur Tür, als ob sie den Abschied von ihm noch etwas hinauszögern wollte. Er lächelte sie an, und dann verließ sie schließlich sein Büro und schloss leise die Tür.

Eberly starrte aufs Dossier auf dem Wandbildschirm; die falschen Referenzen waren noch immer markiert.

Idiot, fluchte er stumm, Vyborg hatte doch überhaupt keine Veranlassung gehabt, seinen Lebenslauf zu frisieren. Sein Ego war indes stärker gewesen als der Verstand.

Allerdings, sagte Eberly sich, spielt er mir durch einen solchen Fehler auch in die Hände. Dadurch wird er nämlich erpressbar. Soll mir nur recht sein.

Dann werde ich die Akte mal korrigieren. Und Eberly diktierte die exzellenten Beurteilungen von jedem der Universitätsprofessoren, die unter der Rubrik ›Lebenslauf ‹ erscheinen würden, in den Computer.

28 Tage nach dem Start

»Kommen Sie«, sagte Manuel Gaeta, »es muss doch einen Weg geben. Es gibt immer einen Weg, Fritz.«

Friedrich Johann von Helmholtz erhob sich von den Knien und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Trotz des eindrucksvollen Namens war er ein kleiner und schlanker, fast zerbrechlich wirkender Mann. Und der beste Techniker im Sonnensystem, jedenfalls was Gaeta betraf. Im Moment ›knirschte es jedoch im Getriebe‹ was das Einvernehmen zwischen ihnen betraf.

Fritz' Kopf mit dem Bürstenhaarschnitt reichte Gaeta kaum bis zu den Schultern. Wie er neben dem muskulösen Stuntman stand, mutete der Techniker fast wie ein dürres Kind an. Und beide wirkten wiederum klein gegenüber dem wuchtigen, cermetbeschichteten Raumanzug, der leer in der Mitte der Ausrüstungsbucht stand.

»Natürlich gibt es einen Weg«, sagte Fritz in präzise artikuliertem Englisch. »Sie steigen in den Anzug. Wir versiegeln ihn. Dann durchlaufen wir die Sterilisierungs- Prozedur, auf der Professor Wilmot und Urbain bestehen — einschließlich der Röntgenstrahlen-Dusche. Und dann sind Sie tot.«

Gaeta räusperte sich vernehmlich.

Fritz stand neben dem leeren Anzug; die Arme hatte er resolut vor der schmächtigen Brust verschränkt.

»Mein Gott, Fritz«, murmelte Gaeta, »diese Astro-Corp-Bonzen haben mir eine halbe Milliarde dafür gezahlt, dass ich als erster Mensch den Fuß auf den Titan setze. Wissen Sie, was sie mit mir anstellen werden, wenn ich es nicht tue? Wenn ich es nicht mal versuche, weil ein paar ängstliche Wissenschaftler sich übertriebene Sorgen wegen ein paar Bakterien machen?«

»Ich könnte mir vorstellen, dass sie die halbe Milliarde zurückfordern werden«, erwiderte Fritz gleichmütig.

»Von der wir aber schon einen großen Batzen ausgegeben haben.«

Fritz zuckte die Achseln.

»Sie werden mir die Hölle heiß machen«, sagte Gaeta und runzelte besorgt die Stirn. »Außerdem wird mich niemand mehr für einen Stunt engagieren. Dann bin ich erledigt.«

»Oder tot«, sagte Fritz mit vollem Ernst.

»Sie sind wirklich eine große Hilfe, amigo.«

»Ich bin Techniker. Und nicht Ihr Finanzberater oder Ihr Leibwächter.«

»Sie sind un fregado, eine seelenlose Maschine, genau das sind Sie.«

»Indem Sie mich beleidigen, wird Ihr Problem auch nicht gelöst.«

»Na und? Sie lösen mein Problem doch eh nicht — niemand löst mein Problem!«

Fritz schürzte für einen Moment die Lippen, was darauf hindeute, dass er nachdachte. »Vielleicht… nein, das würde wahrscheinlich nicht funktionieren.«

»Vielleicht was?«, fragte Gaeta.

Fritz hob die Hand, tätschelte den klobigen Anzug am gepanzerten Oberarm und sagte nachdenklich: »Das Problem ist, Sie in den Anzug zu stecken, nachdem er sterilisiert wurde — ohne ihn dabei zu kontaminieren.«

»Ja. Richtig.«

»Vielleicht wäre es möglich, Sie in einer Art sterilen Hülle zu verpacken. In einer Plastikhülle, die bereits dekontaminiert wurde.«

»Meinen Sie?«

Fritz neigte den Kopf auf die Seite und sagte: »Nur dass wir dann das Problem hätten, Sie in der Hülle zu versiegeln, ohne sie zu kontaminieren.«

»Das gleiche Problem, als wenn ich gleich in den maldito Anzug steigen würde.« Gaeta stieß eine Kanonade spanischer Flüche aus.

»Wenn wir es aber außerhalb des Habitats im Weltraum tun würden«, sagte Fritz langsam, als ob er seine Gedanken während des Sprechens sortierte, »dann würden vielleicht zwischen dem ultravioletten Fluss der Außenumgebung und dem harten Vakuum die Kontaminarionsanforderungen erfüllt werden.«

Gaetas dunkle Brauen schossen in die Höhe. »Glauben Sie?«

Fritz zuckte erneut die Achseln. »Lassen Sie mich ein paar Zahlen durch den Computer schicken. Dann werde ich mit Urbains Planetenschutz-Team sprechen.«

Gaeta grinste und klopfte Fritz so herzhaft auf die Schulter, dass der kleine Mann ins Wanken geriet. »Ich wusste doch, dass Sie es schaffen würden, amigo! Ich wusste es.«

142 Tage nach dem Start

Eberly hatte für über zwei Stunden gelangweilt dagesessen, während alle sechzehn Abteilungsleiter des Habitats ihre langen, drögen Wochenberichte herunterleierten. Wilmot hatte auf diesen wöchentlichen Besprechungen bestanden; Eberly hielt sie freilich für sinnlos und überflüssig. Es ging Wilmot doch nur darum, sich wichtig zu machen, sagte er sich.

Es bestand überhaupt keine Veranlassung, zwei bis drei Stunden in diesem engen Konferenzraum zuzubringen. Jeder Abteilungsleiter hätte seinen oder ihren Bericht auch elektronisch an Wilmot zu übermitteln vermocht. Aber nein, der alte Mann musste am Kopfende des Tisches thronen und so tun, als ob er wirklich etwas leisten würde.

Für eine Gemeinschaft von zehntausend angeblichen Störenfrieden war das Habitat eigentlich ganz störungsfrei zum Saturn unterwegs. Der größte Teil der Population war noch relativ jung und voller Energie. Eberly hatte mit Hollys engagierter Hilfe alle wirklichen Unruhestifter aussortiert, die sich für einen Platz im Habitat beworben hatten. Diejenigen, die er akzeptiert hatte, waren auf die eine oder andere Art mit den restriktiven Strukturen der hoch organisierten Gesellschaften auf der Erde in Konflikt gekommen: Sie waren unzufrieden mit dem ihnen zugewiesenen Arbeitsplatz, ärgerten sich über die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch die örtlichen Behörden und waren auch nicht bereit, den Bescheid einer genetischen Prüfungskommission bezüglich des Antrags auf die Geburt eines Kindes zu akzeptieren.

Manche hatten sogar versucht, auf friedlichem Weg eine Änderung des politischen Systems zu erreichen — jedoch ohne Erfolg. Also waren sie nun hier im Habitat Goddard, einer von Menschen erschaffen Welt, in der es reichlich Platz für Wachstum gab. Sie drehten der Erde den Rücken zu und waren bereit, auf der lächerlichen Suche nach persönlicher Freiheit bis zum Saturn zu reisen.

Der Trick ist, sagte Eberly sich, als der Leiter der Instandhaltung sich über triviale Probleme ausließ, ihnen die Illusion persönlicher Freiheit zu vermitteln, ohne ihnen diese Freiheit jedoch zu gewähren. Sie müssen mich als Garanten der Freiheit und Hoffnungsträger betrachten. Sie müssen mich als unverzichtbaren Anführer akzeptieren.

Es wird Zeit, diesen Prozess einzuleiten, beschloss er, als der Chef der INST sich endlich setzte. Sofort.

Zuvor musste er aber noch den Bericht des Sicherheitsdirektors abwarten. Leo Kananga war eine eindrucksvolle Gestalt: ein großer, tiefschwarzer Ruander, der darauf bestand, als ›Oberst‹ tituliert zu werden — sein Rang in der ruandischen Polizei, bevor er sich freiwillig für die Saturn-Mission gemeldet hatte. Er hatte den Kopf kahl geschoren und war ganz in Schwarz gekleidet, wodurch er noch größer wirkte. Trotz des eindrucksvollen Auftritts hatte er jedoch wenig Neues zu berichten; es gab keine besonderen Vorkommnisse. Nur ein paar Rangeleien in der Cafeteria, normalerweise zwischen jungen Männern, die in einer hormonellen Aufwallung jungen Frauen imponieren wollten. Und eine Rauferei bei einem Fußballspiel in einem der Parks.

»Hooligans«, sagte Kananga grimmig. »Manchmal haben wir sogar den Fall, dass es nach der Übertragung bedeutender Sportveranstaltungen von der Erde zu Ausschreitungen kommt.«

»Vielleicht sollten wir solche Übertragungen gar nicht mehr zulassen«, schlug eine der Frauen vor.

Der Sicherheitschef schaute sie mit einem mitleidigen Lächeln an. »Das müssen Sie nur versuchen, und es gibt einen richtigen Aufstand.«

Großer Gott, sagte Eberly sich, sie werden das noch für die nächste halbe Stunde durchkauen. Und wirklich meldeten sich nun noch weitere Personen zu Wort. Wilmot saß stumm am Kopfende des Tisches; er beobachtete, hörte zu und fasste sich manchmal an den Bart.

Welche von diesen Figuren wird mir gegenüber wohl loyal sein?, fragte Eberly sich. Und wen werde ich austauschen müssen? Sein Blick fiel sofort auf Berkowitz, den übergewichtigen Leiter der Kommunikations-Abteilung. Ich habe Vyborg seine Stelle versprochen, sagte Eberly sich. Zumal Berkowitz mir gegenüber nie loyal wäre; wie sollte ich einem Juden vertrauen, der sein ganzes Leben in der Medienbranche verbracht hat.

Schließlich flaute der Sturm im Wasserglas wegen der Hooligans ab. Natürlich ohne eine Entscheidung. Bei dieser Art von Diskussion kommt nie ein Ergebnis heraus, sagte Eberly sich, nur heiße Luft. Trotzdem sollte ich die Hooligans im Hinterkopf behalten. Vielleicht könnten sie mir noch einmal nützlich werden.

Wilmot strich sich über den Bart und sagte: »Damit liegen die Berichte der Abteilungen alle vor. Gibt es noch unerledigte Punkte, mit denen wir uns befassen müssen?«

Niemand regte sich, nur dass ein paar Leute auf die Tür zu schielen schienen, durch die man den Konferenzraum verlassen konnte.

»Noch irgendwelche Fragen? Wenn nicht…«

»Ich hätte noch einen Vorschlag, Sir«, sagte Eberly und hob die Hand.

Aller Blicke richteten sich auf ihn.

»Schießen Sie los«, sagte Wilmot mit einem Ausdruck leichter Überraschung.

»Ich finde, wir sollten in Erwägung ziehen, die Kleidung zu vereinheitlichen.«

»Vereinheitlichen?«

»Sie meinen, alle sollten Uniformen tragen?«

Eberly lächelte sie geduldig an. »Nein, keine Uniformen. Natürlich nicht. Aber ich habe festgestellt, dass große Unterschiede in Kleidungsstil eine gewisse… nun, Reibung verursachen. Wir erheben den Anspruch, dass alle Menschen hier gleich seien, und doch protzen ein paar Leute mit teurer Kleidung. Und mit Schmuck.«

»Das ist doch jedem selbst überlassen«, sagte Andrea Maronella. Sie selbst trug eine kastanienfarbene Bluse und einen dunkelgrünen Rock, wie Eberly feststellte, dazu Schmuck in Form von ein paar Armbändern, Ohrringen und einer Perlenhalskette.

»Es führt sehr wohl zu Reibungen«, wiederholte Eberly. »Zum Beispiel bei diesen Sport-Fans. Sie tragen die Farben ihrer Lieblingsmannschaft, nicht wahr?«

Oberst Kananga nickte.

Und nun meldete ausgerechnet Berkowitz sich zu Wort: »Wissen Sie, manche Leute im Büro sind angezogen wie Top-Manager, während die Techniker zum Teil aussehen, als ob sie aus der Gosse kämen.«

Alle lachten.

»Aber haben sie nicht das Recht, sich so zu kleiden, wie sie wollen?«, erwiderte Maronella. »Solange die Arbeit nicht darunter leidet.«

»Ihre Arbeit leidet darunter«, sagte Eberly dezidiert, »wenn es zu Neid und Missgunst führt.«

»Diese Hooligans tragen die Farben ihres Teams doch nur, um die Fans anderer Mannschaften zu provozieren«, sagte Kananga.

»Wenn wir Vorgaben für eine Kleiderordnung machten«, sagte Eberly sachlich und ruhig, »wäre das in meinen Augen eine große Hilfe. Keine verbindlichen Vorschriften, nur Richtlinien dafür, was als angemessen gilt.«

»Wir könnten Beratungsstellen einrichten«, sagte der Leiter des medizinischen Dienstes, ein Psychologe.

»Und eine Typberatung anbieten.«

Sie befassten sich noch für über eine halbe Stunde mit dem Thema. Dann brachte Wilmot es zur Abstimmung, und das Gremium beschloss, Richtlinien für eine freiwillige Kleiderordnung am Arbeitsplatz zu erlassen. Eberly dankte ihnen höflich für diese Entscheidung.

Das war der erste Schritt, sagte er sich.

Memorandum

An: das gesamte Personal

Von: Malcolm Eberly Abteilungsleiter Human Resources

Betreff: Kleiderordnung


Im Bemühen, die Spannungen zu verringern, die auf Grund unterschiedlicher Bekleidung entstehen, wird die folgende Kleiderordnung vorgeschlagen. Diese Kleiderordnung ist nicht verbindlich, jedoch wird die freiwillige Befolgung helfen, Reibungen zu verhindern, die durch Unterschiede in Kleidungsstil, Preis, Accessoires etc. entstehen.

1. Das gesamte Personal ist verpflichtet, Namensschilder an der Kleidung zu befestigen. Diese Schilder tragen den Namen, die berufliche Position, ein Foto jüngeren Datums sowie elektronisch gespeicherte Hintergrunddaten aus dem Dossier, das in der Human-Resources-Abteilung gespeichert ist. Im Notfall erleichtern diese Daten dem medizinischen und/oder Rettungsdienst die Arbeit.

2. Die vorgeschlagene Kleiderordnung sieht folgenderm aus:

a. Büroarbeiter sollten ein Gewand und eine Hose in gedeckten Farben tragen, wobei persönliche Verzierungen (z. B. Schmuck, Tätowierung, Haarteile etc.) auf ein Minimum zu beschränken sind.

b. Laborarbeiter sollten sich wie in (a) kleiden, wobei sie in Abhängigkeit von ihrem Aufgabengebiet Schutzkleidung, Schutzbrillen etc. tragen müssen.

c. Fabrikarbeiter…

Selene: Hauptquartier der Astro Corporation

Pancho ging im Büro umher, während sie sprach; sie war frustriert, weil keine Rückmeldung von der Person kam, an die sie ihre Mitteilung richtete. Die Kommunikation im Raum außerhalb des Erde/Mond-Systems war fast immer eine einseitige Angelegenheit. Obwohl Nachrichten mit Lichtgeschwindigkeit durch den Weltraum flitzen, waren die Entfernungen zum Mars, zum Asteroidengürtel und darüber hinaus einfach zu groß, als dass ein Echtzeit-Gespräch von Angesicht zu Angesicht möglich gewesen wäre.

Also sprach Pancho unverdrossen weiter und hoffte, dass Kris Cardenas so schnell wie möglich antworten würde.

»Ich weiß, dass das viel verlangt ist, Dr. Cardenas«, sagte sie. »Sie haben viele Jahre auf Ceres verbracht und sich dort eine neue Existenz aufgebaut. Jedoch ist dieser Flug zum Saturn auch für Sie eine Chance, sich etwas komplett Neues aufzubauen. Man wird froh sein, über ihre Expertise zu verfügen — darauf können Sie sich verlassen. Es gibt sicher unzählige Möglichkeiten, wie Sie mit Ihren Kenntnissen der Nanotechnik den Leuten helfen werden.«

Durch die Macht der Gewohnheit schaute Pancho zu der Abbildung hinauf, die mitten in ihrem Büro schwebte. Doch anstelle von Kris Cardenas' Gesicht zeigte sie nur ihre eigenen, gestochen scharfe Worte.

»Ich werde Ihnen aus eigener Tasche sämtliche Kosten erstatten und noch einen großen Bonus drauflegen«, fuhr Pancho fort. »Ich werde den großzügigen Ausbau Ihres Habitats auf Ceres finanzieren. Sie ist meine kleine Schwester, Kris, und sie braucht jemanden, der auf sie aufpasst. Ich kann es selbst nicht tun; deshalb hoffe ich, dass Sie dazu bereit sind. Werden Sie das für mich tun? Nur für ein Jahr oder so, nur so lang, bis meine Schwester auf eigenen Füßen stehen kann, ohne Dummheiten zu machen. Werden Sie mir dabei helfen, Kris? Es soll Ihr Schaden nicht sein, und ich würde das außerordentlich zu schätzen wissen.«

Pancho wurde sich bewusst, dass sie praktisch bettelte. Geradezu winselte. Was soll's?, fragte sie sich. Hier geht es schließlich um Susie.

Doch dann atmete sie durch und sagte mit fester Stimme: »Bitte melden Sie sich in dieser Angelegenheit, sobald es Ihnen möglich ist, Kris. Es ist wirklich wichtig für mich.«


In ihrem behaglichen Quartier im Habitat Chrysallis, das sich im Orbit um den Asteroiden Ceres befand, betrachtete Kris Cardenas aufmerksam Panchos besorgtes Gesicht, während die Vorstandsvorsitzende der Astro Corporation im luxuriös möblierten Büro auf und ab ging. Cardenas bemerkte die Anspannung in Panchos schlankem Körper, in jeder Geste und in jedem Wort, das sie sprach.

Ich schulde ihr überhaupt nichts, sagte Cardenas sich. Wieso sollte ich hier meine Zelte abbrechen und auf dieser verrückten Expedition zum Saturn mitfliegen?

Dennoch verspürte sie wider Willen Neugierde. Vielleicht wird es wieder einmal Zeit für eine Veränderung in meinem Leben. Vielleicht habe ich lang genug Buße getan.

Trotz ihres kalendarischen Alters schien Dr. Kristin Cardenas von ihrem Äußeren her irgendwo in den Dreißigern zu sein. Sie war eine hübsche, strohblonde Frau mit den Schultern einer Schwimmerin, einem starken, athletischen Körper und klaren kornblumenblauen Augen. Das lag daran, dass es in ihrem Körper von Nanomaschinen nur so wimmelte — virengroße Geräte, die wie ein variables zielgerichtetes Immunsystem wirkten, das eindringende Viren zerstörte und Ablagerungen, die in den Blutgefäßen sich bildeten, Atom für Atom abbauten und das Gewebe regenerierten, das durch Traumata und Alterung beschädigt war.

Cardenas hatte für ihre Forschung in der Nanotechnik den Nobelpreis erhalten, bevor es den fundamentalistischen Regimes der Erde gelungen war, alle Arten der Nanotech-Anwendung auf dem Planeten zu verbieten. Sie hatte ihre Arbeit jahrelang in Selene fortgeführt und der Mond-Nation geholfen, ihren kurzen, praktisch unblutigen Krieg gegen die frühere Weltregierung zu gewinnen. Weil sie sich aber selbst Nanomaschinen injiziert hatte, war ihr die Rückkehr zur Erde verwehrt — selbst für einen kurzen Besuch. Sie hatte ihren Ehemann und die Kinder verloren, weil sie es nicht wagten, nach Selene zu reisen und damit das Risiko einzugehen, mit ihr von der Erde verbannt zu werden. Cardenas grämte sich bitterlich wegen der kurzsichtigen Einstellung der ›Flachländer‹, die sie ihre Kinder und Enkelkinder gekostet hatte. Aufgrund dieser Verbitterung hatte sie sogar einen Mord begangen. Sie hatte es zugelassen, dass ihre Kenntnisse der Nanotechnik für die Sabotage eines Raumschiffs missbraucht wurden, was den Tod des Industriellen Dan Randolph zur Folge gehabt hatte.

Die Regierung von Selene hatte sie aus ihrem eigenen Nanotech-Labor ausgesperrt. Sie war zur Bergbau-Station auf Ceres im Asteroiden-Gürtel geflogen, wo sie für viele Jahre blieb; zuerst als Ärztin und schließlich als Mitglied des Regierungsgremiums von Ceres. Tätige Reue. Sie half bei der Errichtung der Bergbau-Niederlassung auf Ceres, und seit der Flucht von Selene hatte sie sich geweigert, irgendwelche Nanotech-Arbeiten durchzuführen.

Mache ich vielleicht einen Fehler?, fragte sie sich nun.

Sollte ich mich doch für einen Platz bei der Saturn-Expedition bewerben? Würden sie mich überhaupt nehmen, wenn ich mich bewerben würde?

Cardenas schaute auf Panchos vergrößertes Bild, das auf dem Wandbildschirm erstarrt war und beschloss, es zu versuchen. Es wird Zeit, ein neues Leben in einer neuen Welt zu beginnen, sagte sie sich. Zeit für einen Neubeginn.


Als sie Cardenas' Anfrage erhielt, verließ Holly sofort ihren Platz am Schreibtisch und rannte los, um Eberly zu suchen. Er befand sich in der Cafeteria des Bürokomplexes. Er saß dort mit Morgenthau und einem spindeldürren Mann, dessen Hautfarbe noch dunkler war als ihre: Es war das purpurne Schwarz des echten Afrikaners. Sie waren in eine angeregte Diskussion vertieft und hatten die Köpfe wie Verschwörer zusammengesteckt.

Holly lief zu ihrem Tisch und blieb neben Eberlys Ellbogen stehen. Keiner von ihnen nahm Notiz von ihr. Sie setzten das Gespräch fort und sprachen dabei so leise, dass Holly ihre Worte über dem Stimmengewirr, das von den kahlen Wänden der gut besuchten Cafeteria widerhallte, nicht zu verstehen vermochte.

Sie wartete eine Weile, wobei sie ziemlich ungeduldig herumzappelte. Dann wurde es ihr zu bunt: »Entschuldigung! Malcolm, ich unterbreche Sie höchst ungern, aber…«

Eberly schaute ungehalten zu ihr auf; es lag deutliche Verärgerung in seinem stechenden Blick.

»Es tut mir Leid, Malcolm, aber es ist wichtig.«

Er holte Luft und sagte dann: »Was ist denn so wichtig, dass Sie mich mitten in einem Gespräch stören?«

»Dr. Cardenas möchte sich uns anschließen!«

»Cardenas?«, fragte Morgenthau.

»Kristin Cardenas«, sagte Holly mit freudigem Grinsen. »Die Nanotech-Expertin. Sie hat den Nobelpreis gewonnen! Und sie will mit uns kommen!«

Eberly schien nicht übermäßig erfreut. »Brauchen wir überhaupt einen Experten in Nanotechnik?«

»Das ist ein gefährliches Feld«, sagte der schwarze Mann mit einer erstaunlich hohen Tenorstimme. Der Schädel war kahl rasiert, aber er hatte einen Kinnbart.

»Nanotechnik ist auf der Erde verboten«, pflichtete Morgenthau ihm bei. »Unheilig«, fügte sie gemurmelt hinzu.

Holly wunderte sich über ihre Zurückhaltung. »Nanotech könnte wirklich hilfreich für uns sein. Wir könnten zum Beispiel die meisten Instandhaltungsarbeiten im Habitat von Nanomaschinen verrichten lassen. Und was die Gesundheit betrifft, so könnten Nanomaschinen…«

Eberly gebot ihr mit erhobenem Finger, zu schweigen. »Nanomaschinen sind auf der Erde verboten, weil sie Amok laufen und alles auf ihrem Weg vernichten könnten.«

»Und alles in Grau verwandeln«, murmelte Morgenthau.

»Aber nur, wenn sie entsprechend programmiert werden«, erwiderte Holly. »Diese Flachländer auf der Erde haben Angst davor, dass Terroristen oder Verrückte mit Nanomaschinen Unheil anrichten.«

Morgenthau schaute sie wütend an, sagte aber nichts.

»Sollten wir uns darüber nicht auch Sorgen machen?«, fragte Eberly mit sanfter Stimme.

»Wir haben jeden an Bord gründlich überprüft«, sagte Holly. »Wir haben hier keine gewalttätigen Individuen. Und auch keine Fanatiker.«

»Wie können wir uns da so sicher sein?« Morgenthau war offensichtlich nicht überzeugt.

»Bei sachgerechter Anwendung«, sagte der schwarze Mann nachdenklich und schaute auf Eberly, »könnten Nanomaschinen durchaus eine große Hilfe für uns sein.«

Eberly schaute ihn für eine Weile an. »Glauben Sie wirklich?«

»Ja, das glaube ich.«

»Ich frage mich nur, ob Dr. Cardenas bereit wäre, zu unseren Bedingungen zu arbeiten«, sinnierte Eberly.

»Wir können sie doch fragen und es herausfinden«, sagte Holly. »Sie ist zurzeit auf Ceres. Wir könnten sie dort abholen, wenn wir durch den Gürtel fliegen. Ich habe den Flugplan kontrolliert; wir werden im Abstand von einem Tagesflug an Ceres vorbeikommen. Sie könnte doch in einem Schiff mit Fusionsantrieb zu uns fliegen, kein Problem. Ich könnte meine Schwester bitten, einen Flugplan für sie zu erstellen, hundert Pro.«

Eberly strich sich übers Kinn. »Wir haben zwar schon eine vollständige Besatzung, aber ich glaube, für jemanden von Dr. Cardenas' Kaliber haben wir immer Platz.«

»Falls Wilmot zustimmt«, sagte Morgenthau.

»Wilmot«, sagte Eberly fast spöttisch. »Ich treffe die Entscheidungen im Personalbereich, nicht Wilmot.«

»Aber bei einer Sache wie dieser…«

»Ich werde mich darum kümmern«, insistierte er. An Holly gewandt sagte er: »Sagen Sie Dr. Cardenas, dass ich dies gern mit ihr persönlich besprechen würde.«

»Kosmisch!«, platzte Holly heraus.

Sie wollte sich gerade umdrehen und zum Personalbüro zurückgehen, als Eberly sie am Handgelenk festhielt.

»Oberst Kananga haben Sie noch nicht kennen gelernt, nicht wahr?«

Der schwarze Mann stand auf wie ein zusammengelegtes Stativ, das nun ausgeklappt wurde. Er war fast zwei Meter groß, einen ganzen Kopf größer als Holly.

»Unser Sicherheitschef, Oberst Leo Kananga aus Ruanda«, sagte Eberly. »Holly Lane aus Selene.«

Kananga streckte die Hand aus. Holly ergriff sie. Seine langen Finger fühlten sich kalt und trocken an. Sein Griff war kraftvoll, fast schmerzhaft.

Kananga lächelte sie an, aber es war keine Wärme darin. Eher das Gegenteil. Holly lief es eiskalt den Rücken hinunter. Es war wie der Anblick eines Totenkopfes.

145 Tage nach dem Start

Als sie die Treppe zum Dachstuhl des Verwaltungsgebäudes erklomm, fragte Holly sich, wieso Eberly sie ausgerechnet ins Dachgeschoss zitiert hatte. Sie trat durch die Metalltür und hielt Ausschau nach ihm. Es war aber niemand außer ihr hier. Sie näherte sich der Dachkante bis auf zwei Schritte und drehte sich im Kreis. Sie war allein.

Er ist doch sonst immer so pünktlich, sagte sie sich. Wieso ist er denn jetzt nicht hier?

Dann wurde sie sich bewusst, dass sie über eine Minute zu früh dran war, und sie entspannte sich etwas. Er wird schon noch kommen, sagte sie sich, pünktlich auf die Sekunde.

Beim Blick aus dem zweiten Stock sah Holly die anderen flachen Gebäude des Dorfes weiß im Sonnenlicht leuchten. Der lange Schlitz des Sonnenfensters über ihr war so grell, dass sie nur einen kurzen Blick darauf zu werfen vermochte. Und selbst dann brannte ihr das Nachglühen noch in den Augen.

Es ist alles in Ordnung, sagte Holly sich. Das Habitat funktioniert reibungslos, und jeder tut seine Arbeit, die ihm zugewiesen wurde. Vor ein paar Tagen gab es zwar Probleme mit einem der Sonnenspiegel, aber die Wartungs-Crew ist in Raumanzügen ausgestiegen und hat ihn repariert. Nun drehte er sich wieder ordnungsgemäß und sorgte dafür, dass Sonnenlicht durch die langen Fenster strömte, während das Habitat sich um seine Achse drehte.

Wir brauchen Sonnenlicht wie die Luft zum Atmen, sagte Holly sich. Wo auch immer wir hingehen, wie weit auch immer von der Erde wir uns entfernen, menschliche Wesen brauchen Sonnenschein. Es ist mehr als schlichte Biologie, mehr als das Bedürfnis nach Grünpflanzen am Anfang der Nahrungskette. Sonnenlicht macht uns glücklich und vertreibt Depressionen. Muss schrecklich sein auf der Erde, wenn es bewölkt und stürmisch ist und sie die Sonne tagelang nicht sehen. Kein Wunder, dass die Flachländer leicht verrückt sind.

Sie schaute wieder auf die Uhr. Er wird schon kommen, sagte sie sich. Er ist bisher immer pünktlich gewesen. Aber wieso hat er mich gerade hierher bestellt? Nur wir beide. Sie verspürte einen Anflug nervöser Erregung. Nur wir beide. Vielleicht empfindet er das für mich, was ich auch für ihn empfinde. Vielleicht nur ein bisschen, aber…

»Da sind Sie ja schon.«

Sie wirbelte herum und richtete den Blick auf Eberly, der über den rutschsicheren Bodenbelag des Dachbodens langsam auf sie zukam. Er ist wirklich stattlich, sagte sie sich. So voller Energie. Aber er solle sich besser kleiden, sagte Holly sich beim Anblick der labbrigen grauen Hose und des noch dunkleren formlosen Gewandes, das ihm eine Nummer oder so zu groß um die Schultern hing.

»Ich wollte mich einmal außerhalb des Büros mit Ihnen unterhalten«, sagte er und blieb eine Armlänge von ihr entfernt stehen.

»Sicher, Malcom.« Sie musste sich mit einer bewussten Anstrengung davon abhalten, nervös die Hände zu kneten. »Es gibt dort unten zu viele Zuhörer«, fuhr fort, »und was ich zu sagen habe, ist nur für Sie bestimmt.«

»Worum geht es denn?«, fragte sie zitternd.

Er schaute über die Schulter, als rechnete er damit, dass sich jemand hinter ihm versteckt hatte.

Dann drehte er sich wieder zu Holly um und sagte: »Ihren Berichten entnehme ich, dass Sie bereit sind, die Wettbewerbe für die Namensgebung zu starten.«

Es ist dienstlich, stellte Holly desillusioniert fest. Er will nur über dienstliche Belange reden.

»Sie sind doch so weit, nicht wahr?«, fragte er, ohne ihre plötzliche Niedergeschlagenheit überhaupt zu bemerken.

»Ja«, entgegnete sie und sagte sich zugleich, alles rein dienstlich. Ich bedeute ihm überhaupt nichts.

»Sie haben die Regeln für die Wettbewerbe vollständig ausgearbeitet?«

Holly nickte. »Es war eigentlich ganz einfach. Und ich glaube, dass die Komitees für die Auswertung der einzelnen Wettbewerbe durchs Losverfahren bestimmt werden sollten. Das dürfte wohl die beste Methode sein.«

»Ich bin einverstanden«, sagte Eberly. »Sie haben gute Arbeit geleistet.«

»Danke, Malcolm«, sagte sie verdrießlich.

»Ich werde noch Wilmots Genehmigung einholen müssen, und dann können wir die Wettbewerbe starten. Ich müsste in der Lage sein, sie innerhalb von ein paar Tagen anzukündigen.«

»Schön.«

Sein Gesicht wurde ernst. »Aber da gäbe es noch etwas, Holly.«

»Was denn?«

Er holte geräuschvoll Luft. »Ich möchte nicht, dass Sie das als eine Rüge auffassen…«

»Eine Rüge? Was habe ich denn getan?«, fragte sie ihn in plötzlicher Besorgnis.

Er berührte sie mit einem ausgestreckten Finger an der Schulter. »Keine Sorge. Das ist keine Rüge.«

»Aber… was dann?«

»Sie und ich arbeiten nun schon seit einigen Monaten zusammen, und im Großen und Ganzen ist Ihre Arbeit ausgezeichnet.«

Sie wusste, dass nun die schlechte Nachricht kam. Sie versuchte, sich keine Verzagtheit oder Angst anmerken zu lassen.

»Etwas wäre da aber doch noch.«

»Worum handelt es sich denn, Malcolm? Sagen Sie es mir, und ich werde es abstellen.«

Er zog die Mundwinkel leicht hoch. »Holly, ich habe nichts dagegen, dass Sie mich mit Vornamen anreden, wenn wir allein sind«, sagte er leise, »doch in der Gegenwart anderer Leute ist mir das zu vertraulich. Sie sollten mich Dr. Eberly nennen.«

»Oh.« Holly wusste aus Eberlys Dossier, dass er nur einen Ehrendoktor hatte. Er war ihm von einem kleinen Internet-College verliehen worden, das Studiengänge in Sprachen und Rhetorik anbot.

»Als ich Sie vor ein paar Tagen Oberst Kananga vorstellte«, fuhr er fort, »war es völlig unangemessen, dass Sie mich mit meinem Vornamen angeredet haben.«

»Es tut mir Leid«, sagte sie kleinlaut. »Ich wusste nicht…«

Er klopfte ihr mit väterlicher Geste auf die Schulter. »Ich weiß. Ich verstehe schon. Ich würde auch gar nicht so darauf herumreiten, wenn für Leute wie Kananga, Morgenthau und andere Respekt nicht so wichtig wäre.«

»Ich wollte nicht respektlos erscheinen, Mal — ich meine, Dr. Eberly.«

»Sie dürfen mich auch weiterhin Malcolm nennen, wenn wir allein sind. Doch in Anwesenheit einer dritten Person wäre es besser, wenn Sie die Formalitäten beachten würden.«

»Sicher«, sagte Holly. »Kein Problem.«

»Gut. Und nun sollten wir besser wieder an die Arbeit gehen.«

Er drehte sich um und ging zur Tür, die ins Gebäude zurückführte. Holly trottete hinter ihm her.

»Noch einmal zu Dr. Cardenas«, sagte sie.

»Ja?«, erwiderte er, ohne sich umzudrehen oder auch nur den Schritt zu verlangsamen.

»Sie hat sich bereit erklärt, gemäß unserer Richtlinien zu arbeiten. Sie wird bei unserer Annäherung an Ceres zu uns stoßen. Es ist alles arrangiert.«

»Gut«, sagte Eberly ohne jede Regung. »Nun müssen wir nur noch die Bestimmungen abfassen, die für ihre Arbeit gelten werden.«

»Wir werden dafür Professor Wilmots Genehmigung brauchen, nicht wahr?«

Er grinste. »Ja, das werden wir. Es sei denn…«

Holly wartete darauf, dass er den Satz zu Ende brachte. Stattdessen riss Eberly die Tür auf und ging die Metalltreppe hinunter in sein Büro.


Zwei Tage später saß Eberly am leeren Schreibtisch und musterte das Gesicht von Hai Jaansen, dem Chefingenieur des Habitats.

Ruth Morgenthau saß neben Jaansen. Sie wirkte besorgt. Sie trug eins ihrer bunten Gewänder und so viel Schmuck, dass fast das ganze Habitat Schlagseite bekam, sagte Eberly sich. Sie schert sich einen feuchten Kehricht um die Kleiderordnung, stellte er fest. Sie geht mit ihrer Unabhängigkeit hausieren und lässt mich wie einen Trottel dastehen. Aber er unterdrückte den Ausdruck des Ärgers, während er Jaansen beobachtete.

Der Mann sieht überhaupt nicht wie ein Ingenieur aus, sagte Eberly sich. Jaansen war einer dieser blassen, blonden Norweger; selbst die Wimpern waren so hell, dass sie fast unsichtbar waren. Er machte mit seinen rosigen Wangen einen gesunden und gepflegten Eindruck, und anstelle des Ingenieur-Overalls, den Eberly erwartet hatte, trug Jaansen ein gestärktes altmodisches Hemd mit einem offenen Kragen und eine schokoladenbraune Hose mit scharfen Bügelfalten. Die einzige Konzession an seinen Berufsstand, die Eberly sah, war das rechteckige, schwarze, handtellergroße Datenverarbeitungsgerät, das er riskant kippelig auf dem Bein liegen hatte. Jaansen berührte es hin und wieder mit dem Finger der linken Hand, als wolle er sich vergewissern, dass es immer noch da war.

»Nanotechnik ist ein zweischneidiges Schwert«, sagte er irgendwie großspurig — jedenfalls kam es Eberly so vor. »Sie ist überaus vielseitig, birgt andererseits auch große Risiken.«

»Das Problem des grauen Breis«, murmelte Morgenthau.

Jaansen nickte. Er hatte ein kantiges stoisches Gesicht. Eberly mutmaßte, dass der Mann nur sehr wenig Phantasie hatte; er war ein wandelndes Fachbuch, doch jenseits seiner technischen Expertise hat er keinerlei Interessen, keinerlei Kenntnisse und keinerlei Ambitionen. Gut!, sagte Eberly sich.

»Der graue Brei ist eine Sache«, erwiderte Jaansen. »Nanoroboter sind auch schon darauf programmiert worden, Proteine zu zerstören. Sie Molekül für Molekül auseinander zu nehmen.«

»Davon habe ich schon gehört«, sagte Eberly.

»Wir bestehen aus Eiweißen. Und Nanoroboter können als Killer programmiert werden. Dies ist eine reale Gefahr in einer geschlossenen Ökologie, wie es dieses Habitat darstellt. Sie könnten es in weniger als einem Tag vollständig vernichten.«

»Nein! In weniger als einem Tag?«, stieß Morgenthau ungläubig hervor.

Jaansen hob die schmalen Schultern. »In sie umgebendem Material vermögen sie sich binnen Sekunden zu reproduzieren und vermehren sich schneller als Krankheitserreger. Deshalb sind sie normalerweise auch darauf programmiert, durch Nah-UV defunktioniert zu werden.«

»Defunktioniert?«, fragte Eberly.

»Nah-UV?«, hakte Morgenthau nach.

»Defunktioniert, deaktiviert, zerstört, gekillt, gestoppt. Nahultraviolettes Licht ist weicher — äh, nicht so energiereich — wie ultraviolettes Licht mit kürzerer Wellenlänge. Deshalb vermag man mit Nah-UV Nanobots zu stoppen, ohne Menschen zu schaden. Sie bekommen höchstens eine leichte Sonnenbräune«, sagte er mit einem Grinsen.

Eberly legte die Finger aufeinander. »Dann ist es also möglich, Nanomaschinen zu kontrollieren.«

»Wenn man seeehr vorsichtig ist«, erwiderte Jaansen.

»Aber die Risiken sind trotzdem beängstigend«, sagte Morgenthau.

Jaansen zuckte erneut die Achseln. »Vielleicht. Aber betrachten sie die EVA, die wir vor ein paar Tagen an den Sonnenspiegeln durchführen mussten. Nanomaschinen hätten wir einfach in die Spiegelmotoren einzuschleusen vermocht, und sie hätten sie repariert, ohne dass jemand nach draußen hätte gehen müssen.«

»Dann könnten sie wirklich sehr hilfreich sein«, sagte Eberly.

»Ja, sicher. Sie wären für alle Wartungsaufgaben äußerst hilfreich«, erwiderte Jaansen. »Sie würden mir die Arbeit sehr erleichtern. Wenn sie streng kontrolliert werden«, fügte er hinzu, bevor einer der beiden anderen Bedenken zu äußern zu vermochte. »Das ist das eigentliche Problem: Sie unter Kontrolle zu halten.«

»Wäre es auch möglich, sie so gut zu kontrollieren, dass sie nur das tun, worauf sie programmiert sind — ohne dass sie Amok laufen?«, fragte Morgenthau.

»Ja, klar. Aber man muss seeehr vorsichtig sein bei der Programmierung. Es ist wie eins dieser alten Märchen, wo man drei Wünsche frei hat und die Wünsche unangenehme Nebenwirkungen haben.«

»Wir werden Dr. Kristin Cardenas mit der Leitung der Nanotech-Gruppe beauftragen«, sagte Eberly.

Jaansens hellblonde Brauen hoben sich respektvoll um ein paar Zentimeter. »Cardenas? Sie ist hier?«

»Sie wird hier sein, in ein paar Monaten.«

»Das ist gut. Das ist sogar sehr gut.«

»Dann wäre das geklärt«, sagte Eberly. »Sie werden zusammen mit Cardenas Bestimmungen für die Handhabung von Nanomaschinen ausarbeiten.«

Jaansen nickte begeistert. »Es wird mir ein Vergnügen sein.«

»Mir gefällt es trotzdem nicht«, sagte Morgenthau mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. »Es ist einfach zu gefährlich.«

»Nicht, wenn es uns gelingt, sie unter Kontrolle zu halten«, sagte Eberly.

Jaansen erhob sich. »Wie ich schon sagte, es ist ein zweischneidiges Schwert. Cardenas ist aber die Top-Expertin. Wir können froh sein, sie bei uns zu haben.«

»Das gefällt mir nicht«, sagte Morgenthau, nachdem der Ingenieur verschwunden war. »Nanomaschinen sind gefährlich… böse.«

»Sie sind Werkzeuge«, erwiderte Eberly. »Werkzeuge, die uns noch nützlich sein könnten.«

»Aber…«

»Kein aber!«, sagte Eberly ziemlich schroff. »Mein Entschluss steht fest. Dr. Cardenas wird uns willkommen sein, solange sie gemäß unserer Bestimmungen arbeitet.«

»Ich werde das erst mit meinen Vorgesetzten in Amsterdam besprechen müssen«, sagte Morgenthau mit einem skeptischen, fast ängstlichen Blick.

Eberly schaute sie finster an. »Die Heiligen Jünger haben mich damit beauftragt, die Dinge hier in die Hand zu nehmen. Ich werde mir nicht von einem Komitee aus alten Knackern auf der Erde dreinreden lassen.«

»Diese alten Knacker haben mich damit beauftragt, Sie zu unterstützen«, sagte Morgenthau. »Und besonders darauf zu achten, dass Sie nicht vom rechten Weg abkommen.«

Eberly lehnte sich auf dem Bürosruhl zurück. So ist das also. Sie ist der Kanal nach Amsterdam. Sie ist hier, um mich zu kontrollieren.

»Wie dem auch sei, ich habe mich entschieden«, sagte er bemüht ruhig zu Morgenthau. »Dr. Cardenas wird in drei Monaten zu uns stoßen, und weder Amsterdam noch Atlanta oder sonst jemand vermag irgendetwas daran zu ändern.«

Sie wirkte alles andere als erfreut. »Sie werden immer noch Wilmot davon überzeugen müssen, dass er Ihnen den Einsatz von Nanotechnik im Habitat erlaubt.«

Eberly schaute sie für einen Moment stumm an. »Ja, dann werde ich das mal tun«, sagte er.

Vertraulicher Bericht

NUR ZUR EINSICHTNAHME


An: M. Eberly

Von: Dr. Morgenthau

Betreff: Überwachung der Wohnquartiere


Ich habe das Problem der Installation von Überwachungskameras in allen Wohnräumen des Habitats mit H. Jaansen vom Engineering erörtert. Er informierte mich darüber, dass Mikrokameras, die nicht größer als ein Stecknadelkopf sind, für die Sonden entwickelt worden seien, die Planetenwissenschaftler zum Titan schicken wollen. Solche Kameras werden auch von der medizinischen Abteilung für Internistische Untersuchungen verwendet. Sie können mit den bestehenden Anlagen in großer Stückzahl hergestellt werden.

Jaansen schlägt vor, dass die medizinische Abteilung ein Programm auflegt, jedes Apartment im Habitat mit einem Breitband-Desinfektionsmittel oder Aerosol-Antibiotikum einzusprühen, und zwar unter dem Vorwand, den Ausbruch von durch die Luft übertragenen Krankheiten zu verhindern. Die Kameras würden während der Sprüh-Prozedur in jedem Apartment installiert werden.

Dieses Programm wird die Mitarbeit von nachgeordnetem Personal aus den Abteilungen Medizin, Instandhaltung, Engineering und Sicherheit erfordern. Darüber hinaus ist ein signifikanter Zeitraum für die Durchführung zu veranschlagen.

Falls Sie in der Lage sind, geeignetes Personal für dieses Programm zu rekrutieren, schlage ich vor, dass wir so bald wie möglich mit der Aktion ›Sprüh und Späh‹ beginnen.

Außerdem hat Vyborg erfolgreich das Kommunikationsnetz angezapft und zeichnet nun routinemäßig Telefongespräche und die Programmierung der Videos auf, die die Leute sich zu Hause anschauen. Die Masse der Daten ist enorm, wie Sie sich sicher vorstellen können. Vyborg benötigt nun noch Angaben von Ihnen, wer auf einer regelmäßigen Basis überwacht werden soll. Er wird außerdem Personal und/oder automatisierte Ausrüstung brauchen, um besagte Überwachung durchzuführen.

268 Tage nach dem Start

»Und hier bauen wir den größten Teil des Obstes an«, sagte Holly, während sie und Kris Cardenas gemächlich durch die langen, geraden Baumreihen des Obstgartens spazierten: Orangen zur Linken, Zitronen zur Rechten. Grapefruit und Limonen hatten sie bereits hinter sich, und sie näherten sich nun Äpfeln, Birnen und Pfirsichen. Die Bäume standen Spalier wie bei einer Militärparade.

Cardenas war am Tag zuvor im Habitat angekommen. Nun schien sie baff. »Ich habe seit so vielen Jahren keinen Baum mehr gesehen…« Sie drehte sich mit erhobenem Kopf um und lachte. »Keinen einzigen Baum, seit ich Selene verlassen habe, und ihr habt hier gleich einen ganzen Wald! Es ist fast wie in Kalifornien!«

»Es gibt wohl keine Bäume auf Ceres?«, fragte Holly.

»Keinen einzigen«, erwiderte Cardenas mit einem glücklichen Lächeln auf ihrem jugendlichen Gesicht. »Nur in hydroponischen Tanks.«

»Wir haben auch hydroponische Farmen«, sagte Holly, »als Rückversicherung für den Fall, dass einmal eine Missernte eintritt.«

»Und Bienen!«, rief Cardenas. »Das sind doch Bienen?«

»Na klar. Wir brauchen sie, um die Bäume zu bestäuben. Die Stöcke befinden sich in diesen weißen Kisten dort drüben.« Holly deutete auf eine Ansammlung rechteckiger weißer Kästen, die zwischen den Bäumen standen. »Würden Sie es für möglich halten«, fragte sie lachend, »dass eins meiner größten Probleme darin bestand, ein paar Imker zu finden.«

Cardenas schaute mit diesen strahlend blauen Augen zu ihr auf. »Wissen Sie, man weiß überhaupt nicht, wie sehr man offene Räume und Bäume und… sogar Gras vermisst, um Himmels willen. Nicht, bis man so etwas wie das hier wieder sieht.«

Sie gingen durch den Obstgarten in Richtung der Farmen jenseits der Bäume. Eberly hatte Holly mit der Aufgabe betraut, Dr. Cardenas im Habitat herumzuführen. Er nannte es Orientierung; Holly nannte es Spaß.

Während sie die ordentlich ausgerichteten Baumreihen entlanggingen, hörte sie zur Linken eine dünne, zitternde Stimme. Einen Gesang.

»Wer ist das denn?« fragte Cardenas sich laut.

Holly schlüpfte unter den tief hängenden Ästen eines jungen Pfirsichbaums hindurch und bahnte sich einen Weg zum Rand des Obstgartens, dicht gefolgt von Cardenas.

Der Garten endete an einer irdenen Böschung, die zum Bewässerungskanal hinunterführte. Wasser floss gemächlich durch die trichterförmigen Betonwände des Kanals. Vor sich sahen sie einen einzelnen Mann, der einen Arm voll Reisig und Buschwerk schleppte und in einer hohen, kratzigen Stimme sang. Spanisch, sagte Holly sich. Es klingt wie ein spanisches Volkslied.

»Hallo«, rief Cardenas dem Mann zu.

Er ließ die Last fallen und schielte sie im Sonnenlicht des späten Nachmittags an. Holly sah, dass er schon älter war. Nein, er war wirklich alt. Er hatte einen mageren, vom Alter gebeugten Leib, dürre Arme, schütteres, weißes Haar, das wie ein Heiligenschein vom Kopf abstand, und einen struppigen schlohweißen Bart. Sie hatte noch nie zuvor einen wirklich alten Menschen gesehen. Er trug ein schmutziges Hemd, das ursprünglich einmal weiß gewesen war — die Ärmel hatte er hochgekrempelt —, und eine formlose, ausgebeulte Bluejeans.

»Holal«, rief er zurück.

Die beiden Frauen gingen auf ihn zu. »Wir haben Sie singen hören«, sagte Holly.

»Das war ein schönes Lied«, fügte Cardenas hinzu.

»Danke«, sagte der Mann. »Ich heiße Diego Alejandro Ignacio Romero. Meine Freunde nennen mich Don Diego, wegen meines Alters. Aber ich bin kein Adliger.«

Die Frauen stellten sich auch vor. »Sie müssen für die Instandhaltungs-Abteilung arbeiten, nicht wahr?«, fragte Holly dann.

Don Diego lächelte und zeigte perfekte Zähne. »Ich bin in der Kommunikations-Abteilung beschäftigt. Auf der Erde lehrte ich Geschichte. Oder versuchte es zumindest.«

»Und was machen Sie dann hier?«

»Der Kirche haben meine Studien der Gegenreformation und der Inquisition nicht gefallen.«

»Nein, ich meine, wieso Sie hier draußen am Kanal arbeiten.«

»Ach das? Das ist mein Hobby. Ich versuche, eine kleine Wildnis zu schaffen.«

Er deutete den Kanal entlang, und Holly sah, dass Büsche und kleine Bäume halsbrecherisch an der Böschung aus festgestampfter Erde angepflanzt worden waren. Und dann hatte jemand hier noch ein paar recht große Felsbrocken verstreut.

»Eine Wildnis?«

»Ja«, sagte Don Diego. »Dieses Habitat ist zu künstlich und zu steril. Die Menschen brauchen ein natürlicheres Ambiente als Baumreihen, die exakt in einem Abstand von zweieinhalb Metern voneinander angepflanzt wurden.«

Cardenas lachte. »Ein Naturlehrpfad.«

»Si. Ja, ein Naturlehrpfad. Leider von Menschenhand geschaffen, weil die Natur ein Fremder an diesem Ort ist.«

»Wieso haben Sie sich überhaupt für diese Mission gemeldet?«, fragte Cardenas.

Don Diego zog ein kariertes Taschentuch aus der Hemdtasche und wischte sich die Stirn ab. »Natürlich, um beim Aufbau einer neuen Welt mitzuhelfen. Und vielleicht all diejenigen zu unterrichten, die ein Interesse an Geschichte haben — falls man mir das gestattet.«

»Die Lehrtätigkeit hat Ihnen gefallen?«

»Ich war Professor für lateinamerikanische Geschichte an der Universität von Mexiko, bis ich gegen meinen Willen emeritierte.«

»Wie alt sind Sie eigentlich«, fragte Holly spontan.

Er musterte sie für einen Moment und lächelte dann. »Sie haben noch nicht allzu viele alte Leute wie mich gesehen, nicht wahr?«

Holly schüttelte den Kopf.

»Ich zähle siebenundneunzig Lenze. In vier Monaten werden es achtundneunzig.«

»Sie könnten sich doch einer Verjüngungs-Behandlung unterziehen…«, sagte Cardenas.

»Nein«, erwiderte er leutselig. »Das ist nichts für mich. Ich möchte in Würde alt werden, aber ich will den Tod auch nicht bis in alle Ewigkeit hinausschieben.«

»Sie wollen sterben?«, platzte Holly heraus.

»Nicht unbedingt. Ich achte schon auf meine Gesundheit. Ich habe mir Injektionen verabreichen lassen, um dritte Zähne zu züchten. Und weitere Injektionen, um die Knorpel in den Gelenken zu regenerieren.«

»Sie unterziehen sich Ihrer Verjüngungs-Behandlung also Schritt für Schritt, anstatt alles auf einmal machen zu lassen«, sagte Cardenas mit einem Lächeln.

Er dachte einen Moment lang darüber nach. »Vielleicht«, sagte er dann. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich zum Narren gemacht habe.«

»Weiß die Instandhaltungs-Abteilung eigentlich, was Sie hier tun?«, fragte Holly.

Zum ersten Mal wirkte Don Diego ängstlich. »Äh… noch nicht«, sagte er zögernd.

»Ich habe die Wasserströmung im Kanal nicht gestört«, fügte er hinzu, bevor Holly noch etwas zu sagen vermochte. »Falls ich überhaupt etwas verändert habe, so glaube ich, dass ich diesen Bereich schöner, natürlicher und lauschiger gestaltet habe.«

Cardenas schaute auf das Ensemble von Büschen und Steinen, dann über die Kante der Böschung zu den geraden Reihen der Obstbäume. Schließlich schaute sie wieder in die rot geränderten Augen des alten Manns.

»Ich stimme Ihnen zu«, sagte sie. »Sie haben den Bereich hier verschönert.«

»Sie werden das doch nicht der Instandhaltungs-Abteilung melden?«, fragte Don Diego.

Cardenas schaute Holly an.

»Ich werde es ihnen natürlich selbst sagen«, sagte er, »wenn ich mit diesem Abschnitt des Kanals fertig bin.«

Holly grinste ihn an. »Nein, wir werden niemandem etwas sagen.«

Cardenas pflichtete ihr mit einem Kopfnicken bei.

»Dürfen wir ab und zu hier vorbeischauen und Ihnen zur Hand gehen?«, fragte Holly.

»Natürlich! Ich freue mich immer über die Gesellschaft schöner Frauen.«


Keine drei Kilometer von ihnen entfernt folgten Malcolm Eberly und Professor Wilmot einem mit einem Laborkittel bekleideten technischen Manager durch eine der kleinen, hoch automatisierten Fabriken, die die synthetischen Lebensmittel des Habitats produzierten. In diesem Werk wurden die Medikamente hergestellt, die die Population des Habitats zur Gesunderhaltung brauchte sowie das tierische Eiweiß, das sie für eine ausgewogene Ernährung benötigte. Die beiden Männer inspizierten die Reihen der Maschinen, die die Medikamente und Lebensmittel produzierten: Es handelte sich um schulterhohe Edelstahl-Bottiche, die im Licht der Deckenbeleuchtung glänzen. In der Fabrik herrschte fast völlige Stille; das einzige Geräusch außer ihren Stimmen war das Hintergrundsummen der Maschinen.

»…müssen verhindern, dass hier Infektionskrankheiten ausbrechen«, sagte der Werksleiter, während er die beiden Männer an der Reihe der Maschinen entlang führte. »In einer geschlossenen Ökologie wie dieser könnte schon ein Schnupfen gefährlich werden.«

Eberly wandte sich Wilmot zu, der neben ihm ging. »Dies ist einer der Gründe, weshalb ich Dr. Cardenas' Bewerbung akzeptiert habe. Mit ihrem Wissen in der Nanotechnik…«

»Sie hätten erst mich fragen sollen«, sagte Wilmot scharf. Er blieb mitten auf dem Gang stehen und fixierte Eberly mit einem strengen Blick.

Eberly hielt auch an und schaute auf den Werksleiter, der sich taub stellte, während er langsam an der Reihe der summenden Maschinen entlangging.

»Aber Professor«, sagte Eberly beschwichtigend, »ich hatte Ihnen doch ein Memorandum geschickt. Weil Sie nicht antworteten, habe ich Ihr stillschweigendes Einverständnis vorausgesetzt, Dr. Cardenas an Bord zu nehmen.«

»Sie hätten zu mir kommen und das mit mir persönlich besprechen müssen«, sagte Wilmot. »Das hätte ich schon von Ihnen erwartet.«

»Sie haben mich doch mit der Leitung des Personalwesens beauftragt. Ich dachte, dass Sie sich freuen würden, Dr. Cardenas bei uns zu haben.«

»Überlassen Sie das Denken den Pferden; die haben größere Köpfe.«

Der Werksleiter, ein ausdruckslos schauender Techniker in einem langen hellblauen Laborkittel, räusperte sich und sagte: »Ähem… der Rest der Maschinen sieht im Grunde genauso aus wie diese hier. Wir sind in der Lage, sie so zu programmieren, dass sie alle erforderliehen Medikamente aus den Rohstoffen produzieren, die von den chemischen Labors angeliefert werden.«

»Danke«, sagte Wilmot und entließ den Mann mit einer Bewegung seiner fleischigen Hand.

Der Manager entfernte sich hurtig und ließ Eberly allein mit dem Professor zurück. Soweit Eberly es zu sagen vermochte, stellte der Manager die ganze menschliche Belegschaft in der Fabrik dar.

Er schaute zu Wilmot auf. Der Professor war viel größer als Eberly — ein richtiger Hüne. Und er schien definitiv nicht erfreut.

»Sie sind nicht damit einverstanden, dass Dr. Cardenas sich uns angeschlossen hat?«, fragte Eberly mit einer Stimme, von der er hoffte, dass sie ein angemessen reuiges Winseln war.

Wilmot öffnete den Mund, schloss ihn wieder und fingerte für einen Moment am Bart herum, bevor er erwiderte: »Nein, ich weiß nicht, ob ich ihrer Bewerbung stattgegeben hätte.«

»Aber sie ist doch schon hier«, sagte Eberly. »Sie ist gestern Morgen von Ceres angekommen.«

»Ich weiß. Sie haben Ihre Befugnisse überschritten, indem Sie sie eingeladen haben, Dr. Eberly.«

»Aber ich habe sie doch gar nicht eingeladen! Sie bat um die Erlaubnis, sich uns anschließen zu dürfen.«

»Dennoch hätten Sie die Angelegenheit mit mir besprechen müssen. Und zwar sofort. Ich trage hier die Verantwortung, und ich muss die von mir getroffenen Entscheidungen dem Vorstand des Universitäts-Konsortiums auf der Erde gegenüber rechtfertigen.«

»Ich weiß, aber…«

»Sie wissen es, aber Sie haben die Bestimmungen trotzdem missachtet«, zischte Wilmot. »Sie haben eigenmächtig gehandelt.«

»Ich wollte Ihnen doch nur eine Freude machen«, blökte Eberly.

»Dieses Habitat muss auf der Grundlage fester Regeln betrieben werden«, sagte Wilmot mit genauso leiser Stimme wie Eberly, aber viel energischer. »Wir dürfen hier keine Anarchie einreißen lassen! Wir haben eine Reihe von Bestimmungen, die von den besten Köpfen formuliert wurden, über die das Konsortium verfügte. Wir werden uns an diese Bestimmungen halten, bis wir den Saturn erreichen und die Leute die Regierungsform wählen, die sie wünschen. Ist das klar?«

»Jawohl, Sir. Völlig klar.«

Wilmot holte tief Luft. »Wenn wir erst einmal in einen Orbit um den Saturn gegangen sind«, fuhr er etwas gnädiger fort, »dürfen die Leute sich eine Verfassung geben und Volksvertreter wählen — ihre eigene Regierung bilden. Solang wir uns jedoch im Transit befinden, werden wir die Bestimmungen beachten, die vom Konsortium vorgegeben wurden. Niemand wird von diesen Bestimmungen abweichen. Niemand!«

»Ich glaubte, Sie würden sich freuen, Dr. Cardenas bei uns zu haben.«

Wilmot kraulte schon wieder den Bart. »Nanotechnik«, murmelte er. »Eine heikle Sache, das.«

Eberly wurde sich bewusst, dass der Professor eigentlich gar nicht zornig war. Er war vielmehr besorgt, vielleicht auch ängstlich. Eberly fiel ein Stein vom Herzen, und er musste sich ein Lächeln verkneifen.

»Ja«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Nanotechnik. In einer geschlossenen Umgebung wie der unseren…« Er brach ab.

Wilmot nahm wieder die Parade der stummen Maschinen ab. »Mir ist durchaus bewusst, dass Nanomaschinen eine große Hilfe für uns sein können. Und ich weiß auch, dass Dr. Cardenas die führende Expertin auf diesem Gebiet ist. Trotzdem…«

»Wenn Sie sie nicht hier haben wollen, kann ich sie auch wieder nach Ceres zurückschicken«, schlug Eberly nach kurzer Überlegung vor.

Wilmot wirkte schockiert. »Sie rauswerfen? Das können wir doch nicht tun! Wir haben sie bereits akzeptiert. Das heißt, Sie haben es getan, aber Sie taten es im Namen unserer Gemeinschaft, und nun müssen wir auch zu unserem Wort stehen.«

»Da haben Sie wohl Recht«, pflichtete Eberly ihm kleinlaut bei.

Wilmot ging weiter; er schien entschlossen, die Reihe der Maschinen ganz abzuschreiten, obwohl eine wie die andere aussah und niemand mehr da war, der ihnen irgendwelche Erläuterungen zu geben vermocht hätte.

»Dann geben wir ihr doch einfach die Anweisung, keine Nanotech-Arbeiten durchzuführen«, sagte Eberly, der Mühe hatte, dem Professor mit seinen raumgreifenden Schritten zu folgen. »Soviel ich weiß, hat sie auf Ceres als medizinische Pflegekraft gearbeitet.«

Der Professor warf Eberly von oben herab einen grimmigen Blick zu. »Das können wir nicht tun! Sie ist schließlich eine Nobelpreisträgerin, um Gottes willen! Da können wir sie doch nicht bei der Medikamentenausgabe einsetzen.«

»Aber die Nanotechnik birgt Risiken…«

»Und sie hat ihre Vorteile. Wir werden ihre Arbeit sehr gründlich kontrollieren müssen. Ich will ›narrensichere‹ Sicherheitsleute vor ihrem Labor. Absolut narrensicher!«

»Ja, natürlich«, erwiderte Eberly nachdenklich. Der einzige Narr hier bist du, Professor. Du fürchtest dich doch vor der Nanotechnik, und trotzdem willst du sie hier im Habitat zulassen, weil du es einfach nicht übers Herz bringst, Cardenas nach Ceres zurückzuschicken.

Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte dem Professor ins Gesicht gelacht.

Dann wechselte er das Thema. »Sir, hatten Sie wohl schon Gelegenheit, sich mit dem Vorschlag für die Benennung der verschiedenen Teile des Habitats zu befassen?«

»Dieser blöde Wettbewerb?«, fragte Wilmot barsch.

»Eigentlich eine Reihe von Wettbewerben. Die Psychologen glauben, dass es der allgemeinen geistigen Gesundheit förderlich wäre…«

»Die Psychologen befürworten diese Idee?«

Im Bewusstsein, dass Wilmot den Vorschlag bestenfalls flüchtig überflogen hatte, fuhr Eberly fort: »Die Politikwissenschaftler auf der Erde, die wir konsultiert haben, glauben, dass solche Wettbewerbe dazu beitragen könnten, den Gruppenzusammenhalt zu fördern.«

»Hmpf«, grummelte Wilmot. »Was Sie nicht sagen.«

»Alles, was jetzt noch fehlt, ist Ihre Zustimmung zu diesem Vorschlag, Sir«, drängte Eberly ihn subtil. »Dann könnten Sie ihn der Öffentlichkeit präsentieren.«

»Nein, nein«, sagte der Professor. »Sie werden die Ankündigung übernehmen. Es war schließlich Ihre Idee.«

»Ich?«, fragte Eberly mit aller Unschuld, die er aufzubieten vermochte.

»Ja, natürlich. Ich will damit nicht behelligt werden. Sie kündigen die Wettbewerbe an. Totaler Quatsch, wenn Sie mich fragen, aber wenn all diese Berater ihn befürworten, dann will ich Ihnen nicht im Wege stehen.«

Eberly vermochte seinen Triumph kaum zu verbergen. Am liebsten hätte einen Luftsprung gemacht und einen Jubelruf ausgestoßen. Statt dessen schritt er neben Professor Wilmot gemessen die Reihe der Maschinen ab. Er hat mich wegen Cardenas auf den Senkel gestellt und hatte nun das Gefühl, mir bei den Wettbewerben entgegenkommen zu müssen. Wie herrlich vorhersehbar er doch ist.


»So viel bin ich schon seit Jahren nicht mehr gegangen«, sagte Kris Cardenas mit einem leichten Schnaufen. »Ich fühle mich richtig beschwingt.«

Holly lächelte. »Das ist die Schwerkraft. Wir nähern uns der Mittellinie, zu der hin die Schwerkraft abnimmt.«

Sie hatten Don Diego am Bewässerungskanal zurückgelassen und waren über die gepflügten Äcker gegangen; dann hatten sie die grasbewachsenen Hügel an der Peripherie des Habitats erklommen. Cardenas setzte sich an eine junge Ulme gelehnt ins Gras. Einer der Ökologen des Habitats hatte die Ulme in einem persönlichen Kreuzzug vor der Vernichtung bewahrt, die ihr auf der Erde gedroht hätte.

Cardenas stieß die Luft aus. »Uff! Zum Glück bin ich regelmäßig in die Zentrifuge von Ceres gestiegen. Die Mini-Schwerkraft kann verführerisch sein.«

»Sie sind gut in Form«, sagte Holly und setzte sich neben sie.

»Sie aber auch.«

Das Habitat erstreckte sich vor ihnen als eine grüne, umgestülpte Welt — wie ein riesiger Tunnel, der mit einem Landschaftsrelief ausgekleidet und hier und da mit kleinen Spielzeugdörfern besetzt war.

»Was halten Sie denn von diesem verrückten alten Mann?«, fragte Holly.

Cardenas ließ den Blick über die perfekte Landschaft des Habitats schweifen: Alles war an seinem Platz, alles war so ordentlich und sauber, dass es fast schon unmenschlich wirkte. Es erinnerte sie an die Schaufensterauslagen, die sie in ihrer Kindheit gesehen hatte.

»Ich glaube, wir könnten noch mehr Verrückte wie ihn gebrauchen«, sagte sie.

»Vielleicht«, entgegnete Holly. Sie war sich da nicht so sicher.

Sie saßen für eine Weile stumm da, jede in ihre eigenen Gedanken versunken.

»Ich habe Ihre Bio gelesen«, sagte Holly schließlich. »Ich hätte erwartet, dass Sie viel älter aussehen.«

Cardenas reagierte zwar nicht ungehalten, aber sie sah Holly von der Seite an. »Wenn Sie meine Bio gelesen haben, dann wissen Sie auch, wieso ich jünger aussehe, als ich in Wirklichkeit bin. Und wieso ich auf Ceres gelebt habe.«

Holly ignorierte die Spannung in ihrer Stimme und fragte: »Was glauben Sie, wie alt ich eigentlich bin?«

Nach zehn Minuten waren sie dicke Freunde: zwei Frauen, deren Körper viel jünger waren als ihr kalendarisches Alter.

Krankenstation

Der Mann lag mit pfeifendem Atem auf der Pritsche; die Augen waren fast zugeschwollen.

Der junge Arzt wirkte völlig ratlos. »Was ist bloß los mit ihm?«

»Ich weiß nicht!«, sagte die Frau, die ihn eingeliefert hatte. Sie war der Hysterie nahe. »Wir hatten draußen im Park einen Spaziergang gemacht, und urplötzlich ist er zusammengebrochen!«

Der Arzt beugte sich über den Patienten und fragte: »Wissen Sie, was Ihnen zugestoßen ist?«

Der Mann versuchte zu sprechen, hustete schmerzhaft und schüttelte dann in Verneinung der Frage den Kopf.

Beim Blick auf die Bildschirme, die die Wand der Notaufnahme säumten, sah der Arzt, dass es sich weder um einen Herz — noch um einen Schlaganfall handelte. Panik wallte in ihm auf: Nicht einmal der Diagnose-Computer wusste, was los war! Der Krankenpfleger, der an der anderen Seite der Pritsche stand, wirkte genauso verwirrt und ängstlich, wie er sich fühlte.

Die Oberschwester drängte sich an der Frau vorbei und betrat den Raum. »Ziehen Sie ihm das Hemd aus«, sagte sie.

Der Arzt war zu verwirrt und besorgt, um sich mit ihr darüber zu streiten, wer hier die Anweisungen gab. Und wenn die Gerüchte, die in der Krankenstation kursierten, auch nur annähernd der Wahrheit entsprachen, hatte diese resolute Afro-Amerikanerin viele Jahre in der Friedenstruppe gedient. Sie hatte eine Reputation, die ihm Angst machte.

Mithilfe des Krankenpflegers zogen sie dem Mann das Hemd aus. Der Oberkörper und die Arme des Patienten waren mit roten Quaddeln übersät. Die Haut fühlte sich heiß an.

»Insektenstiche?«, fragte der Arzt.

Die Oberschwester wandte sich der Frau zu, die sie mit großen Augen und vorm Gesicht geballten Fäusten anstarrte.

»Im Park spazieren gegangen?«, fragte sie.

Die Frau nickte.

»Anaphylaktischer Schock«, sagte die Schwester nüchtern. »Epinephrin.«

Der Arzt starrte sie mit offenem Mund an. »Wie soll er denn…«

»Epinephrin! Sofort! Er ist von einer Biene gestochen worden!«

»Epinephrin! Sofort!«, raunzte der Arzt den Pfleger an.

Die Oberschwester zog ein Vergrößerungsglas aus einem Schlitz in der Wand des Raums, klappte die Halterung aus und suchte den Körper des Patienten ab. Der Arzt verstand den Wink und nahm das Vergrößerungsglas. Schon nach ein paar Sekunden fand er den Widerhaken des Bienenstachels, der sich direkt oberhalb des Handgelenks in den Unterarm des Patienten gebohrt hatte. Mit einer Pinzette zog er den Stachel vorsichtig heraus. Mein Gott, bin ich gut, sagte er sich.

Als er aufschaute, war die Oberschwester verschwunden, und der Patient atmete schon wieder leichter.

»Ich habe noch nie einen Bienenstich gesehen«, gestand er der Frau, die auch schon wieder viel besser aussah. »Ich hatte meine Praxis mitten in Chicago.«

Die Frau nickte und rang sich sogar ein Lächeln ab. »Er muss eine Allergie haben.«

»Muss er wohl«, pflichtete der Arzt ihr bei.

Der Krankenpfleger löste die ID-Marke des Patienten vom Hemd, das sie auf den Boden geworfen hatten, und schob sie ins Computerterminal. Der Name des Mannes, sein Beruf und die komplette Krankengeschichte erschienen auf dem Bildschirm. Allergien wurden nicht erwähnt, obwohl er an Asthma Bronchiale litt. Der Arzt sah, dass der Patient in Kairo aufgewachsen und Rechtsanwalt gewesen war, bevor er mit dem Schwert des Islam in Konflikt geriet und lieber den Gang ins unbegrenzte Exil angetreten hatte, anstatt eine fünfzigjährige Haftstrafe wegen politischer Agitation zu verbüßen. An Bord des Habitats hatte er dann in der Buchhaltung gearbeitet.

»Ein Rechtsanwalt?«, grummelte der Krankenpfleger, nachdem der Patient sich wieder so weit erholt hatte, dass er mit seiner Freundin nach Hause zu gehen vermochte. »Von mir aus hätte er die Stimme nicht so schnell wiederfinden müssen.«

269 Tage nach dem Start

Als Holly am nächsten Morgen in ihrem winzigen Büro erschien, hatte sie schon eine Nachricht von Eberly auf dem Computerbildschirm. Sie setzte sich gar nicht erst an den Schreibtisch, sondern ging gleich in sein Büro. Die Tür stand offen; er saß am Schreibtisch und war in ein Gespräch mit einem jungen asiatischen Paar vertieft. Sie zögerte. Eberly schaute zu ihr auf und nickte kurz; also blieb sie am Eingang stehen und hörte zu.

»Wir haben die Bestimmungen und ihren tieferen Sinn schon verstanden«, sagte der junge Mann in kalifornischem Englisch. Holly sah, dass er angespannt war und steif auf der Stuhlkante saß.

»Es ist meine Schuld«, sagte die Frau. Sie beugte sich nach vorn und packte mit beiden Händen die Kante von Eberlys Schreibtisch. »Ich habe mich nicht ausreichend geschützt.«

Eberly lehnte sich auf dem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Die Bestimmungen sind eindeutig«, sagte er sanft. »Sie werden nicht um eine Abtreibung herumkommen.«

Die Gesichtszüge des Manns entgleisten. »Aber… es ist doch nur ein Einzelfall. Könnten Sie nicht vielleicht eine Ausnahme machen?«

»Wenn ich bei Ihnen eine Ausnahme machen würde«, sagte Eberly, »könnten andere das auch für sich beanspruchen, nicht wahr?«

»Ja. Ich verstehe.«

Eberly spreizte in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände. »Wir leben in einer beschränkten Ökologie. Wir dürfen die Population nicht vergrößern. Erst wenn wir den Saturn erreichen und zeigen, dass wir auch eine größere Anzahl von Menschen zu ernähren vermögen, wird überhaupt irgend jemand wieder Kinder bekommen dürfen.«

»Dann muss ich also abtreiben lassen?«, fragte die Frau mit zitternder Stimme.

»Oder wir setzen Sie ab, wenn wir am Jupiter auftanken, und Sie fliegen zur Erde zurück.«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Wir können uns die Transportkosten nicht leisten. Alles was wir hatten, haben wir in dieses Habitat investiert.«

»Haben sie religiöse Bedenken wegen der Abtreibung?«, fragte Eberly.

»Nein«, antwortete der Mann so schnell, dass Holly sich darüber wunderte.

»Gäbe es noch eine andere Möglichkeit?«, fragte — bettelte — die Frau.

Eberly legte wieder die Fingerspitzen aneinander und tippte sich ans Kinn. Das junge Paar beugte sich unbewusst nach vorn und wartete auf ein Wort der Hoffnung.

»Vielleicht…«

»Ja?«, sagten sie unisono.

»Vielleicht wäre es möglich, die befruchtete Zygote zu entnehmen und einzufrieren — und sie zu lagern, bis darüber entschieden ist, ob wir unsere Population vergrößern können.«

Einfrieren! Holly schauderte bei dieser Vorstellung. Und doch war so ihr Leben gerettet worden. Nein, sagte sie sich. Dadurch war es ihr ermöglicht worden, ein neues Leben zu beginnen, nachdem ihr altes mit dem Tod geendet hatte.

»Dann kann die Zygote wieder in die Gebärmutter eingepflanzt werden«, sagte Eberly. »Sie werden ein ganz normales Baby bekommen; Sie müssten nur ein paar Jahre warten.«

Er lächelte sie fröhlich an. Sie schauten sich an und dann wieder ihn.

»Wäre das wirklich zu machen?«, fragte der junge Mann.

»Es würde zwar eine Sondergenehmigung erfordern«, sagte Eberly, »aber ich kann das für Sie arrangieren.«

»Würden Sie das für uns tun?«

Er zögerte nur für einen Sekundenbruchteil. Dann lächelte er wieder und sagte: »Ja. Natürlich. Ich werde mich für Sie darum kümmern.«

Sie waren ihm unendlich dankbar. Es dauerte einige Minuten des Händeschüttelns und der Verbeugungen, bevor es Eberly gelang, sie aus dem Büro hinauszukomplimentieren. Sie nahmen nicht einmal Notiz von Holly, die noch immer an der Tür stand, während sie sich mit dankbaren Verbeugungen verabschiedeten.

»Das war sehr nobel von Ihnen, Malcolm«, sagte Holly, als sie zum Stuhl ging, auf dem die Frau gesessen hatte.

»Geburtenkontrolle«, murmelte er, als er um den Tisch ging und sich setzte. »Ich habe es arrangiert, dass dies in die Zuständigkeit der Human-Resources-Abteilung fällt. Die Ökologen wollten es zwar an sich ziehen, aber ich habe das so gedeichselt.«

Holly nickte.

»Diese beiden werden mir gegenüber nun für immer loyal sein«, sagte Eberly und wies grinsend auf die noch immer offene Tür. »Oder zumindest so lang, bis ihr Kind ein Teenager ist.«

Holly fand das nicht lustig. »Sie wollten mich sprechen?«, sagte sie.

»Ja«, sagte er und schnippte mit den Fingern — das Signal für den Computer, hochzufahren.

Holly wartete stumm, während die Abbildung über Eberlys Schreibtisch Gestalt annahm. Es war eine Art Liste. Weil das Hologramm ihm zugewandt war, sah sie es nur von hinten. Sie saß da und wartete, während er die Liste studierte. Das Büro wirkte klein und kahl und irgendwie auch kalt.

Dann schaute er von der Abbildung auf und richtete den Blick direkt auf sie. Holly hatte das Gefühl, dass diese laserblauen Augen sich bis in ihre Seele bohrten.

»In diesem Büro stehen ein paar Veränderungen an«, sagte er ohne eine Einleitung und ohne sie zu fragen, wie es ihr denn ginge. Genauso wenig, wie ihm auffiel, dass sie ein schlichtes himmelblaues Gewand über der Hose trug und kein einziges Accessoire außer dem Namensschild — genauso wie die Kleiderordnung es vorschrieb.

»Veränderungen? «

»Ja«, sagte Eberly. »Ich bin nicht mehr in der Lage, den Routinebetrieb dieses Büros zu leiten. Ich werde vollauf damit beschäftigt sein, die Regierung des Habitats zu organisieren.«

»Regierung? Aber ich dachte…«

»Holly«, sagte er und beugte sich auf dem Bürostuhl leicht nach vorn, auf sie zu. Sie neigte sich auch gleich ihm entgegen. »Holly, wir haben hier zehntausend Männer und Frauen. Sie müssen eine Stimme bei der Wahl der Regierung ihres Vertrauens haben. Und ihrer Führer.«

»Sie meinen die Regierung, die wir bilden werden, sobald wir den Saturn erreicht haben«, sagte Holly.

Eberly schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass wir warten sollten, bis wir den Saturnorbit erreichen. Die Leute sollen sich jetzt schon für eine Regierung entscheiden dürfen. Wozu noch warten?«

»Aber ich dachte, solange wir im Transit zum Saturn wären, müssten wir…«

»Die vom Konsortium erlassenen Bestimmungen befolgen«, vollendete Eberly den Satz für sie.

»Ja«, sagte Holly.

»Aber wieso?«, fragte er nachdrücklich. »Wieso sollten wir uns denn Bestimmungen unterwerfen, die von einer Gruppe alter Universitätsprofessoren erlassen wurden, die noch dazu auf der Erde zurückgeblieben sind? Mit welchem Recht wollen sie uns zur Befolgung ihrer Regeln zwingen?«

Holly dachte einen Moment lang darüber nach. »Wir haben es so vereinbart.«

»Dann wird es eben Zeit, diese Vereinbarung zu kündigen. Was für einen Unterschied macht es, ob wir es nun tun oder warten, bis wir den Saturn erreichen?«

Sie sagte sich, dass es durchaus einen Unterschied machte. Wieso die Sache überstürzen?

»Wir sollten nicht zulassen, dass arrogante alte Männer uns sagen, was wir zu tun und zu lassen haben«, sagte Eberly mit Verve. Holly sah, dass er dunkelrot anlief.

»Vielleicht nicht«, pflichtete sie ihm halbherzig bei.

»Natürlich nicht«, sagte er. »Die Leute müssen das für sich selbst entscheiden.«

»Wahrscheinlich.«

»Diese Wettbewerbe, die Sie zu dem Zweck organisieren, Namen für die Ortschaften und für alles andere zu finden, sind Teil meines Plans«, vertraute er ihr an.

Das überraschte sie. »Ihr Plan?«

»Ja. Im Grunde sind diese Wettbewerbe kaum mehr als triviale Unterhaltung für die Massen. Aber sie dienen einem größeren Zweck.«

»Ich verstehe«, sagte Holly. »Die Menschen bei den Wettbewerben abstimmen zu lassen, soll eine Art Übung sein, nicht wahr? Damit werden die Leute darauf vorbereitet, für die Regierung zu stimmen, wenn die Zeit kommt.«

Eberly schaute sie mit einem strahlenden Lächeln an. »Sie sind wirklich intelligent, Holly. Blitz gescheit.«

Sie spürte, dass sie heiße Wangen bekam.

»Während Sie die Wettbewerbe organisieren«, sagte er mit neuerlichem Ernst, »muss ich meine ganze Energie darauf verwenden, eine Verfassung für die Leute auszuarbeiten.«

»Wenn Sie vollauf damit beschäftigt sind, diese neue Verfassung und all das auszuarbeiten, wer soll dann dieses Büro hier leiten?«

»Sie werden das tun.«

Holly schluckte. »Ich?«

Er lächelte angesichts ihrer Überraschung. »Natürlich Sie. Wer denn sonst?«

»Aber ich kann doch nicht die Leitung übernehmen«, quiekte sie. »Ich bin doch nur eine Assistentin, eine graue Büro-Maus…«

Eberlys Lächeln wurde noch breiter. »Holly, sind Sie nicht meine Assistentin? Sie könnten für diese Aufgabe doch gar nicht besser qualifiziert sein.«

Vor Freude wäre sie am liebsten Rad schlagend durchs Büro getobt. »Aber… glauben Sie denn, dass Herr Professor Wilmot meiner Ernennung zum Direktor zustimmen wird?«

Das Lächeln verschwand. »Wilmot«, murmelte er. »Nein, er wäre definitiv nicht damit einverstanden, dass eine so junge Mitarbeiterin wie Sie zum Direktor ernannt wird. Er ist ein richtiger Paragraphenreiter.«

Holly betrachtete sein Gesicht und wartete auf einen Hoffnungsschimmer.

»Ich möchte aber, dass Sie dieses Büro leiten, Holly«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie dieser Aufgabe gewachsen sind.«

»Ich werde mein Bestes geben.«

»Natürlich werden Sie das. Weil ich Sie offiziell aber nicht zum Direktor ernennen kann, muss ich jemand anderes einsetzen, der die Rolle des Direktors spielt. Einen so genannten Frühstücksdirektor. Um Wilmot keinen Grund zur Beanstandung zu geben.«

»Einen Frühstücksdirektor? Wen denn?«

»Ruth Morgenthau ist die ideale Besetzung für diese Rolle. Sie arbeitet derzeit im Verwaltungsbüro. Wenn ich sie hierher versetzen lasse, wird Wilmot nichts dagegen haben.«

Morgenthau, sagte Holly sich. Deshalb hat er also so viel Zeit mit ihr verbracht.

»Sie ist ziemlich faul, müssen Sie wissen«, sagte er mit einem hämischen Grinsen. »Und ziemlich eitel. Wir setzen sie an diesen Schreibtisch, wo sie Ihnen nicht im Weg ist. Und dann werden Sie die Abteilung leiten.«

»Würde sie sich überhaupt darauf einlassen?«

»Sie wird die Gelegenheit sofort beim Schopf ergreifen«, erwiderte er mit einem Kopfnicken. »Mehr Prestige und weniger Arbeit. Sie wird es lieben.«

»Ich verstehe.« Holly versuchte sein Grinsen zu erwidern, aber es geriet ihr zu einer Grimasse.

Er beugte sich über den Schreibtisch und hob ihr Kinn an, so dass er ihr in die Augen schauen konnte. »Es hängt nun alles von Ihnen ab, Holly. Wollen Sie diese Verantwortung übernehmen? Wollen Sie das für mich tun?«

Eine Woge von Emotionen schlug über Holly zusammen: Dankbarkeit, Loyalität, das Bedürfnis, Malcolm Eberly zu Gefallen zu sein, eine Sehnsucht, dass er sie liebte.

»Ja«, sagte sie atemlos. »Ich werde alles für Sie tun, Malcolm.«

Er lächelte entwaffnend. Und sagte sich, dass Morgenthau damit glücklich sein müsste: die Insignien der Autorität, eine ganze Abteilung, über die sie zu herrschen vermochte. Damit müsste sie so beschäftigt sein, um meine Kreise nicht zu stören.

Namen sind Schall und Rauch

An: alle Bewohner

Von: M. Eberly, Abteilungsleiter Human Resources

Betreff: Namensgebungs-Wettbewerbe


Sie, die Bewohner dieses Habitats, werden über die Namensgebung für die fünf Ortschaften, die verschiedenen Arbeitsbereiche und die natürlichen Bereiche (Farmen, Gärten, Waldgebiete, Seen etc.) entscheiden, indem Sie an Wettbewerben zur Auswahl dieser Namen teilnehmen.

Die Bewohner eines jeden Ortes werden einen Namen für das Dorf auswählen, in dem sie leben. Die Arbeiter in jeder Fabrik, Verarbeitungsanlage, Farm, Aquakultur-Komplex etc. werden die Namen für diese Zentren auswählen. Falls gewünscht, können auch einzelne Gebäude mit Namen versehen werden.

Jeder Wettbewerb wird aus drei Phasen bestehen. In der ersten Phase werden alle Bürger über die Kategorien abstimmen, aus denen die Namen anschließend ausgewählt werden. So werden die Bewohner zum Beispiel entscheiden, ob sie die Dörfer nach Nationalhelden, Städten auf der Erde, berühmten Künstlern und Wissenschaftlern etc. auswählen.

In der zweiten Phase werden spezifischen Namen aus jeder ausgewählten Kategorie nominiert und diskutiert. Die Namensliste für jedes spezifische Objekt wird in geheimer Abstimmung auf fünf Positionen verkürzt.

In der dritten und letzten Phase werden — wieder in geheimer Abstimmung — die endgültigen Namen aus der verkürzten Liste ausgewählt.

Die Human-Resources-Abteilung wird die Einzelwettbewerbe organisieren. Die Human-Resources-Abteilung kann auch Gremien aus Bürgern einsetzen, die als Juroren, Forscher oder je nach Bedarf in anderen Eigenschaften fungieren.

Eine öffentliche Veranstaltung wird am Donnerstag um 22:00 Uhr in der Cafeteria anberaumt, um dieses Projekt zu erörtern. Die Teilnahme möglichst aller Bewohner an dieser Veranstaltung ist erwünscht.

Memorandum

An: das gesamte Personal des Habitats

Von: R. Morgenthau, amtierende Leiterin der Abteilung Human Resources

Thema: medizinische Prophylaxe


Als proaktive Maßnahme zur Vorbeugung gegen den Ausbruch von durch die Luft übertragenen Infektionskrankheiten werden die Wohnquartiere aller Personen innerhalb der nächsten vier Wochen mit einem desinfizierenden Sprüh-Antibiotikum behandelt werden.

Jede Person wird darüber informiert werden, wann ihr beziehungsweise sein Gebäude behandelt wird. Diese Behandlung erfolgt während der normalen Arbeitszeit; es ist weder erforderlich noch wünschenswert, dass Sie sich während der Sprüh-Prozedur in Ihren Quartieren aufhalten.

Die erste Wahlkampfveranstaltung

Obwohl es im Habitat zwei Restaurants mit Bedienung gab, aßen fast alle Leute jeden Tag in der großen und lauten Cafeteria. Die Restaurants waren klein und intim und wurden von oftmals angefeindeten Unternehmern betrieben, die die Lebensmittel direkt von den Leuten bezogen, die die Farmen und Fisch-Tanks bewirtschaften. Wie die für die Ernährung zuständigen Funktionäre von Selene schon gelernt hatten, produzierte Aquakultur mehr Protein pro Einheit zugeführter Energie, als dies bei Nutztieren wie Rindern und Schweinen möglich war. Vorm Verlassen der Erde/Mond-Region hatten ein paar Farmer vorgeschlagen, Kaninchen und Geflügel für die Fleischversorgung mitzunehmen. Wilmot hatte dieses Ansinnen strikt zurückgewiesen und wahre Horrorgeschichten aus Australien erzählt, wo entlaufene Kaninchen zu einer regelrechten Landplage geworden wären, und von den Krankheiten, die zusammengepferchte Vögel verursachten.

Also bezogen die Bewohner des Habitats ihr Eiweiß von Fischen, Fröschen, Soja-Derivativen und den synthetischen Produkten der Nahrungsmittelfabrik, die im Volksmund als ›Mampfburger‹ bezeichnet wurden. Wenn die Leute sich nicht in ihren Quartieren eine Mahlzeit zubereiteten, aßen sie normalerweise in der Cafeteria.

Die Cafeteria war der größte umbaute Raum im Habitat und diente zwischen den Mahlzeiten oft als provisorisches Theater und Veranstaltungshalle. Nachdem das Habitat den Asteroiden-Gürtel verlassen hatte und zur zweiten Etappe des Flugs aufgebrochen war, die es zum Jupiter bringen würde, hatte Eberly hier eine öffentliche Versammlung anberaumt.

Die Veranstaltung war für 22:00 Uhr vorgesehen, und es waren immer noch ein paar Leute beim Abendessen, als Eberlys Team — einschließlich Holly — sich anschickte, die Tische und Stühle auf eine Seite des großen Raums zu stellen, um Platz für die erwarteten Zuhörer zu schaffen.

Eberly stand mit einem ungeduldigen Stirnrunzeln an der Rückwand des Raums, neben der kleinen Bühne, auf der er die Rede halten wollte. Er sah, wie das Personal der Cafeteria und ihre Roboter Warmhalteplatten und Vitrinen, klapperndes Geschirr und klirrende Gläser wegräumten. Dass sich eine große Menge versammelte, sah er jedoch nicht.

Ruth Morgenthau überflog das spärliche Publikum. »Alle Leute aus meiner Abteilung sind hier«, sagte sie.

»Aber sonst nicht viele«, sagte Sammi Vyborg.

Oberst Kananga lächelte verkniffen. »Es wird alles auf Video aufgezeichnet. Ich werde die Namen und Dossiers aller Anwesenden kommen lassen.«

»Ich will die Namen derjenigen, die nicht hier sind«, grummelte Eberly.

»Ein simples Rechenexempel« sagte Kananga. Und er grinste, als ob er einen tollen Witz gerissen hätte.

Nachdem die letzten Gäste gegangen und ihre Tische aus dem Weg geräumt worden waren, wuchtete Morgenthau sich die drei Stufen zur Rednertribüne hinauf und gebot mit ausgebreiteten Armen Schweigen. Das gedämpfte Summen der vielen Einzelgespräche in der Menge brach langsam ab, und jeder wandte sich ihr erwartungsvoll zu.

Holly war am Haupteingang positioniert worden, der zum zentralen Dorfplatz hinausging. Eberly hatte ihr gesagt, dass ihre Aufgabe darin bestünde, Passanten zum Eintritt zu animieren und alle Anwesenden davon abzuhalten, zu gehen. Er hatte ihr zwei große, muskulöse junge Männer von der Sicherheitsabteilung zur Seite gestellt, um sie bei der zweiten Aufgabe zu unterstützen. Sie war enttäuscht, dass nur so wenige Leute zu Eberlys Ansprache erschienen waren. Es stand an diesem Abend keine öffentliche Unterhaltung auf dem Plan; dafür hatte sie bei der Terminierung seines Auftritts schon gesorgt.

Wenigstens erschien noch Dr. Cardenas; sie grüßte Holly herzlich, als sie durch die offene Tür kam. Aber wo sind die anderen denn alle?, fragte Holly sich.

Trotzdem lächelte Morgenthau dem Publikum jovial zu, als ob die Cafeteria bis zum Bersten voll wäre. Sie dankte den Leuten für ihr Kommen und versprach ihnen dann einen Abend ›von der größten Bedeutung, seit wir diese lange Reise in eine lichte und glorreiche Zukunft angetreten haben‹.

Holly betrachtete die Gesichter der Zuschauer. Falls überhaupt, wirkten sie neugierig; von Enthusiasmus für eine glorreiche Zukunft waren sie jedenfalls kaum beseelt.

Dann betrat Eberly die Bühne und ging ans Podium. Er nickte Morgenthau knapp zu, die lächelnd in den hinteren Bereich der Bühne ging.

Wieso verlässt sie die Bühne denn nicht?, fragte Holly sich. Sie lenkt die Aufmerksamkeit der Leute von Malcolm ab.

Für eine Weile stand Eberly einfach am Podium, wobei er sich an den Seiten festhielt und das Publikum in kaltem Schweigen anstarrte. Die Menge wurde langsam unruhig. Holly hörte Gemurmel.

Schließlich hob Eberly an zu sprechen. »Jeder von Ihnen hat eine Ankündigung über die Serie von Wettbewerben erhalten, die zum Zweck der Namensgebung iür die Ortschaften und sonstige natürliche und architektonische Infrastruktur dieses Habitats stattfinden.«

»Ich habe keine Ankündigung erhalten«, ertönte der grummelnde Bass eines Manns aus dem Publikum. Kananga wies mit finsterem Blick auf ihn; zwei kräftige junge, schwarz gekleidete Männer näherten sich dem Mann.

Trotzdem lächelte Eberly den Zwischenrufer an. »Die Ankündigung ist in Ihrer Mail. Überprüfen Sie einfach Ihren Computer; ich verspreche Ihnen, dass sie da ist.«

Der Mann wirkte erschrocken wegen der zwei Sicherheitsleute, die ihn in ihren schwarzen Overalls in die Mitte genommen hatten.

»Dies ist Ihr Habitat«, fuhr Eberly fort. »Sie haben das Recht, nach Ihrem Gusto Namen für die natürlichen und von Menschenhand geschaffenen Merkmale auszuwählen. Außerdem werden diese Wettbewerbe Ihnen Spaß machen! Ich verspreche Ihnen, dass Sie Ihre Freude daran haben werden.«

Die Leute schauten sich an und murmelten sich etwas zu. Ein paar drehten sich um und gingen zur Tür.

»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Eberly.

Die Menge scherte sich freilich nicht darum, sondern zeigte Auflösungserscheinungen. »Ich weiß nicht, was Sie hier darstellen«, sagte eine Frau mit so lauter Stimme, dass jeder sie zu hören vermochte, »aber ich muss morgen früh raus.« Noch mehr Leute setzten sich in Richtung der Tür in Bewegung.

»Hören Sie mir zu!«, rief Eberly. Seine Stimme war auf einmal tiefer, stärker und fordernder. »Sie sind die wichtigsten Leute in diesem Habitat. Drehen Sie Ihrer eigenen Zukunft nicht den Rücken zu!«

Das Gemurmel erstarb. Sie drehten sich wieder zu Eberly um, und alle Blicke richteten sich auf ihn.

»Die anderen«, sagte Eberly mit einer so kraftvollen Stimme, wie Holly sie noch nie gehört hatte, »diejenigen, die zu bequem sind oder zu ängstlich oder die den Termin für diese Veranstaltung versäumt haben, werden Sie noch beneiden. Denn Sie sind diejenigen, die weise genug, stark genug und tapfer genug sind, um die Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Sie wissen, dass dies Ihr Habitat, Ihre Gemeinschaft ist und dass sie von niemandem außer von Ihnen selbst kontrolliert werden darf.«

»Richtig!«, rief jemand.

Holly starrte auf Eberly; sie war sich bewusst, dass jeder in der Menge nun das Gleiche tat: Sie lauschten wie gebannt dieser volltönenden Stimme und der faszinierenden Botschaft, die sie transportierte.

Sie wäre fast in die Luft gegangen, als jemand ihr auf die Schulter tippte.

»He, ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Holly sah einen lächelnden, kräftig gebauten jungen Mann mit einem Bulldoggen-Gesicht. Er hatte dunkle Augen und noch dunkleres Haar.

»Was ist denn hier los?«, fragte er leise wie ein Souffleur.

Holly deutete auf die Bühne und sagte im gleichen Flüsterton: »Dr. Eberly hält eine Ansprache.«

»Eberly? Wo ist er denn?«

Sie schüttelte den Kopf und legte einen Finger auf die Lippen; dann bedeutete sie ihm, in die Cafeteria zu kommen und zuzuhören. Lächelnd ging der Mann an ihr vorbei, gesellte sich zu den anderen und verschränkte die kräftigen Arme vor der Brust.

»Wieso sollten Sie Vorschriften befolgen«, sagte Eberly gerade, »die Hunderte Millionen Kilometer entfernt erlassen und von alten Männern verfasst wurden, die nichts von den Bedingungen wissen, mit denen Sie konfrontiert werden? Was wissen sie denn schon von den Problemen, die Sie jeden Tag bewältigen müssen? Das kümmert sie doch gar nicht. Es wird Zeit, dass Sie Ihre eigene Regierung bilden und Ihre eigenen Anführer wählen.«

Jemand klatschte. Die anderen Leute schlossen sich ihm an, applaudierten und stießen Jubelrufe aus. Holly klatschte auch Beifall und bemerkte zugleich, dass der Neuankömmling die Arme weiter verschränkt hielt.

Bald hatte Eberly sie so weit, dass sie ihm fast bei jedem Satz, den er sprach, tosenden Applaus spendeten. Die Menge verschmolz zu einem einzigen Lebewesen: Zu einem Tier mit vielen Köpfen und Händen und Leibern, aber nur mit einem Bewusstsein — und dieses Bewusstsein war ausschließlich auf Eberlys Botschaft fokussiert.

»Es liegt nur an euch, diese neue Welt zu erschaffen«, sagte er ihnen. »Ihr werdet die Führer von morgen sein.«

Sie applaudierten, stampften mit den Füßen auf und pfiffen. Holly glaubte schon, dass sie die Plattform stürmen und Eberly auf den Schultern davontragen würden.

Der Neuankömmling drehte sich zu ihr um. »Er weiß, wie er sie zu nehmen hat, nicht wahr?«, schrie er durch den stürmischen Beifall.

»Er ist einfach wundervoll«, schrie Holly zurück und klatschte aus Leibeskräften in die Hände.

Eberly lächelte strahlend und bedankte sich beim Publikum.

Schließlich trat er von der Plattform herunter und wurde sofort von begeisterten Leuten umringt. Der Rest der Menge löste sich langsam auf und verließ das Gebäude.

»Bin ich schon zu spät dran, oder gibt es noch etwas zu essen?«, fragte der Neuankömmling Holly.

»Die Cafeteria macht erst morgen wieder auf«, sagte Holly. »Aber Sie können sich etwas aus den Automaten holen«, fügte sie hinzu und zeigte auf die Verkaufsautomaten.

Er rümpfte die Stupsnase. »Labbrige Sandwiches und Rülps-Cola.«

Holly kicherte. »Oder sie gehen in ein Restaurant. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie bis Mitternacht geöffnet haben.«

»Ja«, sagte er, »dann werde ich das wohl tun.«

Die letzten Leute gingen — in Grüppchen von zwei oder drei Leuten, die sich über Eberlys Ansprache unterhielten.

Kris Cardenas blieb neben Holly stehen. »Ich gehe auf einen Imbiss ins Bistro 'rüber. Wollt ihr beiden mich nicht begleiten?«

»Wieso begleitet ihr beiden mich nicht?«, fragte der Neuankömmling.

Holly schaute auf Cardenas. Sie kannte den Mann vom Sehen, aber sie erinnerte sich weder an seinen Namen noch an seinen Beruf.

Er spürte ihre Irritation und sagte: »Mein Name ist Manuel Gaeta. Ich gehöre nicht zur regulären Besatzung, sondern ich bin…«

»Sie sind der Stuntman«, platzte Holly heraus. Nun erinnerte sie sich wieder.

Gaeta lächelte fast scheu. »Meine PR-Berater sagen, ich sei ein Abenteuer-Spezialist.«

»Sie sind doch derjenige, der auf die Oberfläche von Titan hinabsteigen will.«

Er nickte. »Falls Professor Wilmot mich überhaupt gehen lässt.«

»Wieso, um alles in der Welt, sollte jemand die Oberfläche von Titan betreten wollen?«, fragte Cardenas.

Gaeta grinste sie an. »Weil sie nun einmal da ist. Und weil noch niemand es getan hat.«

Sprach's, nahm die beiden Frauen am Arm — je eine an einer Seite — und brach zum Bistro auf, das mitten im Dorf gelegen war.

Professor Wilmots Labor

James Coleraine Wilmot folgte fast jeden Abend einer lieb gewonnenen Routine. Der eingefleischte Junggeselle aß normalerweise früh mit Freunden und Kollegen zu Abend und zog sich dann in sein Quartier zurück, wo er sich für ein paar Stunden bei einem guten Glas Whisky Geschichts-Videos anschaute.

Er hatte gewusst, dass Eberly an diesem Abend irgendeine Rede halten wollte, aber er hatte sich durch dieses Wissen nicht von seiner allabendlichen Routine abbringen lassen. Eberly führte die Human-Resources-Abteilung ordentlich, sagte Wilmot sich — das folgerte er zumindest daraus, dass niemand ihm Beschwerden über die Abteilung zur Kenntnis brachte. Er hatte zwar seine Befugnisse überschritten, indem er es dieser Nanotech-Frau erlaubte, sich ohne Wilmots Genehmigung der Gemeinschaft anzuschließen, aber das war kein besonderes Problem. Wenn der Mann eine Rede halten will, was soll's?

Deshalb war er leicht vergrätzt, als mitten in einem seiner Lieblings-Videos, Geheimnisse der Sternenkammer, das Telefon klingelte. Beim Blick aufs Display des Telefons sah er, dass ein kleiner Assistent anrief. Mit einem echauffierten Schnaufen blendete Wilmot die holografische Abbildung aus und öffnete den Telefon-Kanal.

Bernard Isaacs' Gesicht erschien in der Luft: Das runde, pausbäckige und von dichtem Lockenhaar gekrönte Gesicht schien gerötet — entweder vor Aufregung oder vielleicht auch vor Sorge.

»Haben Sie seine Rede gehört?«, fragte Isaacs dringlich.

»Wessen Rede? Meinen Sie Eberly und seine blöden Wettbewerbe?«

»Es geht um mehr als nur um Wettbewerbe. Er will die Protokolle zerreißen und eine neue Verfassung aufsetzen, eine neue Regierung bilden!«

Wilmot nickte und fragte sich, wo das Problem lag. »Ja, ich weiß, wenn wir den Saturn erreichen. So sieht unser Plan das…«

»Nein!«, unterbrach Isaacs ihn. »Jetzt schon! Er sagt ihnen, dass sie es jetzt schon tun sollten.«

»Wem sagt er das?«

»Jedem, der ihm zuhört!«

»Das geht nicht«, sagte Wilmot seelenruhig. »Alle haben die Vereinbarung unterzeichnet, sich an unsere Protokolle zu halten, bis wir mit dem Habitat in einen sicheren Orbit um den Saturn gegangen sind.«

»Aber er will es jetzt schon tun!«, wiederholte Isaacs, wobei seine Stimme sich um eine halbe Oktave hob.

Wilmot hob die Hand. »Das ist nicht möglich, und er weiß das auch.«

»Aber…«

»Ich werde mich einmal mit ihm unterhalten müssen und sehen, was er eigentlich vorhat. Möglicherweise haben Sie seine Absicht missverstanden.«

Isaacs schob stur das runde Kinn vor. »Ich werde Ihnen eine Videoaufnahme seiner Rede schickten. Dann sehen Sie selbst, was er vorhat.«

»Tun Sie das«, sagte Wilmot. »Vielen Dank, dass Sie mich informiert haben.«

Er unterbrach die Telefonverbindung und sah, wie die rote Aufnahme-Lampe aufleuchtete. Isaacs sendete Eberlys Ansprache. Wilmot runzelte die Stirn. Isaacs ist eigentlich nicht der Typ, der sich grundlos aufregt; zumindest ist er es bisher nicht gewesen. Was ihn wohl so beunruhigt hat?

Wilmot beschloss, sich Eberlys Ansprache anzuschauen. Aber nicht, bevor er das Video zu Ende gesehen hatte, das zeigte, mit welchen Mitteln Heinrich VIII. Geständnisse von seinen Untertanen erzwang.


Zwei Stunden später — nachdem er sich Eberlys Rede ein paarmal angeschaut und sich noch einen ordentlichen Whisky eingeschenkt hatte — lehnte Wilmot sich in seinem Lieblingssessel zurück. Ein eigentümliches Lächeln spielte um die Mundwinkel.

Nun geht es endlich los, sagte er sich. Das Experiment wird interessant. Anfangs befürchtete ich, dass sie alle Anarchisten und Unruhestifter wären, doch bisher haben sie sich ganz manierlich benommen und keinerlei Anzeichen von Rebellion oder Unbotmäßigkeit an den Tag gelegt. Wahrscheinlich gewöhnen sich schon alle an ihre neue Welt und passen sich ans Leben im Habitat an. Ich vermute, dass die meisten es noch nie so gut gehabt haben. Aber dieser Eberly will sie ein wenig aufstacheln. Sehr gut.

Faszinierend. Eberly erlässt diese doofe Kleiderordnung, und niemand beschwert sich darüber. Die Leute ignorieren sie entweder oder verzieren ihre Kleidung mit Schals und Schärpen. Sie werden sich nicht an der Nase herumführen lassen, das steht schon mal fest.

Aber Eberly will sie anscheinend kontrollieren. Ich frage mich, was ihn dazu bewogen hat. Höchstwahrscheinlich war es die kleine Rüge, die ich ihm wegen dieser Cardenas erteilt habe. Anstatt sich der Autorität zu beugen oder zu schmollen, wird er nun zum Agitator. Faszinierend. Stellt sich weiter die Frage, was die Bevölkerung tun wird? Er hat zwar nur eine kleine Zuhörerschaft gehabt, doch morgen früh bei Arbeitsbeginn wird das ganze Habitat über seine Rede Bescheid wissen. Wie werden die Leute wohl reagieren?

Und noch wichtiger, wie soll ich darauf reagieren, fragte er sich. Seinem Treiben ein Ende bereiten? Oder mich auf sein Spiel einlassen?

Wilmot schüttelte den Kopf. Weder noch, beschloss er. Ich darf dieses Experiment nicht durch Vorurteile beeinflussen. Aber es ist auch nicht leicht, sich herauszuhalten. Ich kann nicht einfach verschwinden; ich muss eine Rolle spielen. Aber ich darf auch nicht zulassen, dass der Alltagsbetrieb dadurch beeinträchtigt wird.

Natürlich kennt keiner von ihnen den wirklichen Zweck dieser Mission, sagte er sich. Sie ahnen nicht einmal, worum es sich handelt. Und ich muss dafür sorgen, dass es so bleibt. Wenn jemand auch nur den geringsten Verdacht schöpft, würde es das Experiment stark verfälschen. Ich muss bei den Formulierungen im Bericht für Atlanta sehr vorsichtig sein. Es hätte gerade noch gefehlt, dass ein Schnüffler in der Kommunikations-Abteilung herausfindet, was hier wirklich vorgeht.

Er erhob sich aus dem Sessel, wobei er sich darüber wunderte, wie steif er war, und ging ins Schlafzimmer. Ich werde mich streng ans Drehbuch halten, beschloss er. Die vereinbarten Protokolle werden konsequent befolgt. Dies dürfte Eberly einen so großen Widerstand entgegensetzen, dass er zum nächsten Zug gezwungen wird. Ich frage mich, wie er wohl aussehen wird.


Eberly schüttelte seine Bewunderer schließlich ab und ging in Begleitung von Morgenthau, Vyborg und Kananga zu seinem Quartier.

»Sie haben mich geliebt!«, rief er, als sie sich in seinem spartanischen Apartment befanden. »Habt ihr gesehen, wie sie auf mich reagiert haben? Sie haben mir geradezu aus der Hand gefressen!«

»Es war brillant«, sagte Vyborg beflissen.

Morgenthau war weniger begeistert. »Es war ein guter Anfang, aber eben erst ein Anfang.«

»Wie meinen?«, fragte Eberly mit einem deutlichen Ausdruck der Enttäuschung im Gesicht.

Morgenthau setzte sich schwer auf die einzige Sitzgelegenheit im Raum. »Es waren nicht viele Leute da. Keine dreihundert.«

Vyborg pflichtete ihr sofort bei. »Weniger als drei Prozent der gesamten Population.«

»Aber sie waren bei mir«, sagte Eberly. »Ich habe es gespürt.«

»Drei Prozent sind immerhin schon ein Anfang«, sagte Morgenthau und schaute zu ihm auf.

»Was ist aber mit den anderen siebenundneunzig Prozent«, fragte Kananga.

Sie zuckte die Achseln. »Es ist schon so, wie Malcolm in seiner Rede sagte. Sie sind zu bequem und zu gleichgültig, als dass man sie motivieren könnte. Falls es uns gelingt, eine aktive Minderheit zu gewinnen und zu halten, können wir die Mehrheit am kollektiven Nasenring herumführen.«

»Wie wird wohl Wilmots Reaktion ausfallen?«, fragte Vyborg.

»Das werden wir noch früh genug erfahren«, sagte Eberly.

Ein verschmitzter Ausdruck erschien in Morgenthaus Mondgesicht. »Angenommen, er ignoriert uns einfach?«

»Das ist unmöglich«, sagte Vyborg unwirsch. »Wir haben seine Autorität direkt herausgefordert.«

»Aber angenommen, er ist sich seiner Position so sicher, dass er uns einfach ignoriert?«, insistierte Morgenthau.

»Dann werden wir eben solange einen draufsatteln«, sagte Eberly, »bis er mich einfach nicht mehr ignorieren kann.« Er hieb mit der Faust in die offene Handfläche.

Kananga sagte nichts, aber die Lippen kräuselten sich in einem verstohlenen Lächeln.


Holly, Cardenas und Manuel Gaeta waren die letzten Besucher im Bistro. Die menschliche Bedienung war schon nach Hause gegangen, und es standen nur noch die Servierroboter an der Küchentür. Sie warteten darauf, dass die Leute gingen, sodass sie den letzten Tisch abzuwischen und den Boden zu putzen vermochten.

»…Ihr größtes Problem ist die Kontamination?«, fragte Cardenas den Stuntman.

Gaeta warf einen Blick aufs Tablett, das die Bedienung auf ihrem Tisch zurückgelassen hatte: Es lagen nur noch Krümel darauf. Mit dem Essen waren sie längst fertig.

»Richtig, Kontamination«, sagte Gaeta und unterdrückte ein Gähnen. »Wilmot und die anderen Pfeifen haben Angst, dass ich den Mikroben auf der Oberfläche etwas antun könnte.«

»Das ist ein wichtiger Aspekt«, sagte Holly.

»Ja, stimmt.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass ich eine Lösung für Ihr Problem habe«, sagte Cardenas.

Gaeta machte große Augen. »Und wie?«

»Ich könnte Nanomaschinen darauf programmieren, alle Rückstände von Schweiß und anderen organischen Substanzen, die Sie mit dem Raumanzug einschleppen, aufzuspalten. Sie werden den Anzug reinigen und die organischen Substanzen in Kohlendioxid und Wasserdampf umwandeln. Kein Schweiß.«

»Buchstäblich!«, betonte Holly das Wortspiel.

Gaeta fand das nicht zum Lachen. »Diese Nanomaschinen… ist das die Art, die auch als Gobblers bezeichnet wird?«

»Ja, manche Leute bezeichnen sie so«, erwiderte Cardenas steif.

»Dann können sie einen auch töten, nicht wahr?«

Holly verlagerte ihre Aufmerksamkeit von Gaetas dunklem, skeptischem Gesicht zu Cardenas, die plötzlich zugeknöpft wirkte.

Für eine Weile sagte Cardenas nichts. »Ja, man vermag Gobblers darauf zu programmieren, Eiweiß zu zersetzen. Oder jede beliebige organische Substanz aus Kohlenstoff-Ketten.«

»Dann ist das also ziemlich riskant, nicht wahr?«, fragte er.

Holly sah, dass Cardenas sich beherrschen musste, um nicht die Contenance zu verlieren. »Wenn Sie erst einmal im Anzug stecken, kann er von außen mit Nanomaschinen besprüht werden. Wir vermögen zu berechnen, wie lang es dauert, alle organischen Substanzen auf dem Anzug zu zerstören. Und dann bestrahlen wir den Anzug fürs Doppelte oder Dreifache dieser Zeit mit weichem UV-Licht. Dadurch werden die Nanomaschinen deaktiviert.«

»Deaktiviert?«, fragte Gaeta. »Sie meinen wohl getötet?«

»Das sind Maschinen, Manny«, sagte sie. »Sie sind nicht lebendig und können deshalb auch nicht getötet werden.«

»Aber werden sie nicht später zurückkommen und sich wieder an organischen Stoffen gütlich tun?«

»Nein, wir werden sie alle abwaschen. Und wenn sie erst einmal deaktiviert sind, erwachen sie auch nicht mehr zum Leben. Es ist so, als ob man einen Motor oder ein Spielzeug auseinander nehmen würde. Die Einzelteile setzen sich nicht von selbst wieder zusammen.«

Gaeta nickte. Aber Holly hatte nicht den Eindruck, dass er wirklich überzeugt war.

Am Morgen danach

»Was sagst du denn zu seiner Rede von gestern Abend?«

Ilja Timoschenko schaute von seiner Konsole in der Navigations- und Kontrollkapsel der Goddard auf. Im Moment gab es wenig Arbeit für sie; das Habitat flog auf einem Kurs durchs Sonnensystem, den selbst Isaac Newton mit hinreichender Genauigkeit zu berechnen vermocht hätte. Die Fusionstriebwerke schnurrten wie Nähmaschinen — kleine, von Menschenhand geschaffene Sonnen, die Wasserstoffionen in Helium verwandelten und mit der so erzeugten Energie das Habitat antrieben. Timoschenko, der wie immer von der öden Routine seiner Schicht gelangweilt war, hatte in einem Tagtraum von den Möglichkeiten eines Fusionsantriebs geschwärmt, der Helium in Kohlenstoff und Sauerstoff umwandelte. Das tun nämlich die Sterne, wenn ihnen der Wasserstoff ausgeht; sie verbrennen dann das gesammelte Helium. Der durch die Heliumfusion entstehende Kohlenstoff und Sauerstoff wären ebenfalls wertvolle Ressourcen, wurde er sich bewusst.

Aber Farabi, der Navigator mit dieser Piepsstimme, will mir unbedingt ein Gespräch über Politik aufzwingen, sagte Timoschenko sich verdrießlich.

»Welche Rede?«, murmelte er. Die beiden Männer waren allein auf der Brücke. Captain Nicholson hatte befohlen, dass immer jeweils zwei Leute im Kontroll-Zentrum sein sollten — ungeachtet der Tatsache, dass eigentlich der Computer den ganzen Laden in Schwung hielt. Wir Menschen sind hier überflüssig, sagte Timoschenko sich oft. Aber der Captain bestand darauf, und die drei Untergebenen gehorchten.

»Eberlys Ansprache«, sagte Farabi. »Gestern Abend in der Cafeteria. Ich glaubte, dich dort gesehen zu haben.«

»Ich war nicht da«, sagte Timoschenko. »Du musst mich mit jemandem verwechselt haben.«

»Du warst es aber. Ich habe dich doch gesehen.«

Timoschenko schaute den Mann grimmig an. Farabi gab sich als Araber aus, als jemand aus dieser Wüstenei, die die Welt einstmals mit Öl versorgt hatte. Er war klein und drahtig, hatte haselnussbraune Haut und eine formidable Hakennase. Timoschenko mutete er eher wie einer der Juden aus den Ruinen Israels an, die sich vor den echten Arabern versteckten. Timoschenko selbst war ein waschechter Russe — kaum größer als Farabi, aber mit einem stämmigen, muskulösen Körper und einem Schopf aus widerspenstigem kastanienfarbenem Haar.

Es war die Politik, die ihn ins Exil ins neuerdings unabhängige Sibirien verschlagen hatte. Seine Ingenieurskarriere, die bevorstehende Hochzeit, die Sippe, in der sich sogar noch Helden der Sowjetunion fanden — alles passe, weil er nicht den Mund zu halten vermochte, wenn er einmal mit dem Trinken angefangen hatte. Also hatten sie ihm eine Frau untergejubelt, die ihn anschließend der Vergewaltigung bezichtigte, und so war er nun zum Saturn unterwegs — dank der Regierung und dieser Bande von bigotten Halleluja-Sängern, aus denen die Regierung bestand.

»Ich war nicht da«, dementierte er, obwohl es eine Lüge war. »Ich interessiere mich überhaupt nicht für Politik.«

Farabi schaute ihn ungläubig an. »Wie du meinst«, sagte er leise.

Timoschenko richtete die Aufmerksamkeit auf die leuchtenden Symbole, die über seine Konsole verteilt waren. Wieso können Menschen sich nicht so vorhersehbar verhalten wie Maschinen?, fragte er sich. Wieso machen die Leute nicht einfach ihre Arbeit und lassen mich in Ruhe?

»Ich glaube schon«, sagte Farabi, der an der nächsten Konsole saß, »dass Eberly ein paar interessante Fragen gestellt hat. Wir sollten an der Verwaltung des Habitats beteiligt werden. Es ist schließlich unsere Heimat, nicht wahr?«

Timoschenko wischte sich den Schweiß von der Stirn und unterdrückte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Das ist keine Heimat, wollte er sagen, sondern ein Gefängnis. Egal, wie bequem es ist, es ist ein Gefängnis, und ich werde für den Rest meines Lebens darin eingesperrt sein, während du die Freiheit hast, zur Erde zurückzukehren, nachdem wir den Saturn erreicht haben.

»Ich interessiere mich nicht für Politik«, sagte er stattdessen nur.

»Vielleicht solltest du dich dafür interessieren.«

»Politiker.« Er spie das Wort förmlich aus. »Sie sind doch alle gleich. Sie wollen nur den Chef spielen und dich nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Ich will mit ihnen nichts zu tun haben.«


Nadia Wunderly war einer der wenigen Menschen im Habitat, die Eberlys Empfehlung gefolgt waren und ihren Namen geändert hatten. Ihre Eltern, bodenständige Milchbauern aus New Hampshire, hatten sie auf den Namen Jane getauft, aber sie war immer der Ansicht gewesen, dass dieser biedere Name nicht zu der Abenteurerin passte, die sie im Geiste war. Während der ganzen Schulzeit hatte ihr das Etikett ›Biedere Jane‹ angehängt; sie hasste diesen Namen, obwohl sie beim Blick in den Spiegel schon zugeben musste, dass sie recht bieder wirkte. Sie hatte eine Neigung zur Dicklichkeit, der sie nur durch gnadenlosen Sport und asketisches Fasten entgegenzuwirken vermochte. Das Gesicht war auch rund, doch ihre großen grauen Augen hielt sie für attraktiv. Eulenaugen, sagte sie sich und erinnerte sich daran, dass die Göttin Athene auch Eulenaugen gehabt hatte.

Wunderly experimentierte mit immer neuen Frisuren, um ihr dünnes, glattes Mäusehaar aufzupeppen. Als sie als Mitglied des Wissenschafts-Teams an Bord des Habitats kam, färbte sie sich das Haar sofort feuerrot und setzte sich das Ziel, bis zum Erreichen des Saturns zehn Kilo abzunehmen. Dann änderte sie noch ihren Namen in die rauchige, exotisch klingende Nadia.

Während sie in den Morgennachrichten die Aufzeichnung von Eberlys Rede anschaute, fragte sie sich, was der Mann eigentlich vorhatte. Wir haben doch schon eine Regierung, oder?, fragte sie sich, während sie ihre Frühstücksflocken in Sojamilch löffelte. Und wir alle wissen doch, weshalb wir zum Saturn fliegen: um den Planeten und seine Monde zu studieren, die Lebensformen und die Ringe. Diese wunderschönen Ringe. Dies ist eine rein wissenschaftliche Mission. Begreift Eberly das denn nicht?

Sie kleidete sich mit dem korrekten Gewand und der Hose und schnappte sich eins der Elektro-Fahrräder, die in den Ständern am Eingang des Wohngebäudes standen. Sie war spät dran, sagte sie sich und holte deshalb das Letzte aus dem lautlosen Elektromotor des Zweirads raus, während sie auf dem gewundenen Pfad zu den Wissenschafts-Büros auf dem Hügel fuhr. Auf dem Rückweg werde ich aber in die Pedale treten, sagte sie sich. Dadurch lade ich die Batterie auf und verbrenne gleichzeitig noch ein paar Kalorien.

Nadia grüßte alle, während sie durch die Korridore zu ihrem Arbeitsplatz eilte. Dabei handelte es sich um eine Kammer, die kaum groß genug war, um einen Schreibtisch, Stuhl und ein paar Aktenregale darin unterzubringen. Sie sah Dr. Urbain vorbeieilen; er war zu schnell wieder weg, als dass sie mit ihm Blickkontakt herzustellen vermocht hätte. Später, sagte sie sich. Wenn ich das Konzept ausgearbeitet habe, werde ich es ihm zeigen.

Sie begab sich an die Ausarbeitung des Projekts. Urbain verlangte von jedem Wissenschaftler seines Stabes einen umfassend dokumentierten Forschungsplan. Die anderen brannten darauf, Titan und die dort lebenden Organismen zu studieren. Sie wetteiferten miteinander wie graduierte Studenten, die eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern versuchten. Damit hatte Nadia kein Problem. Sie interessierte sich ausschließlich für diese phantastischen Ringe. Und sie hatte sie alle für sich. Der Rest der Belegschaft war auf Titan fixiert und überließ die Ringe ihr allein.

Es kann überhaupt nichts schief gehen, sagte Nadia sich. Ich bin die Einzige. Ich habe sie alle für mich.

Sie rief die aktuellen Teleskopbilder von den Ringen auf und war bald in die Betrachtung ihrer geheimnisvollen, ästhetischen Dynamik versunken. Wie sind diese Stränge nur geflochten worden?, fragte sie sich. Wie kommt es, dass diese Speichen manchmal erscheinen und dann wieder verschwinden? Und vor allem, wieso hat der Saturn überhaupt so schöne Ringe? Sie können nicht sehr alt sein, denn ihre Teilchen fallen innerhalb von ein paar Millionen Jahren auf den Planeten. Wie kommt es, dass sie sich uns so darbieten? Wie kommen wir zu diesem Glück? Wie kommt es, dass Jupiter und die anderen Gasriesen kleine dunkle Ringe haben, die man kaum sieht, während Saturn von diesem großartigen Reif umspannt wird? Was macht den Saturn so besonders?

Die Stunden vergingen, während sie die Ringe in ihrem komplexen, geradezu hypnotischen Ballett betrachtete. Sie vergaß die anderen Wissenschaftler, die um Urbains Gunst buhlten. Sie vergaß den Entwurf, den sie fertig stellen musste. Sie vergaß Eberly und seine Rede und überhaupt alles um sich herum — so groß war die Faszination, die die glühenden, verlockenden Ringe des Saturn auf sie ausübten.


Oswaldo Yaňez vermochte an nichts anderes mehr als an Eberlys Rede zu denken. Er löcherte andere Ärzte auf der Krankenstation, hielt Krankenschwestern auf ihrer Runde an, um sie nach ihrer Meinung zu fragen und diskutierte mit jedem Patienten, den er an diesem Morgen sah, über die Rede.

Er tippte einem Mechaniker, der über Rückenschmerzen klagte, auf die Brust und sprach in höchsten Tönen von Eberlys Ideen.

»Der Mann hat absolut Recht«, insistierte er. »Er ist ein Genie. Es bedarf auch eines wirklichen Genies, um durch die ganzen Details zum Kern der Sache vorzustoßen.«

Sein Patient zuckte leicht zusammen, als er sich auf dem Behandlungstisch aufsetzte. »Geben Sie mir einfach eine Spritze, Doc, und lassen Sie mich wieder an die Arbeit gehen«, erwiderte er.

Den ganzen Morgen textete Yanez in seinem lebhaften, schnellen Englisch mit spanischem Akzent alle und jeden zu, der in seine Hörweite kam. Er war ein runder kleiner Mann mit einem runden, fröhlichen Koboldgesicht, das ein sehr reges Mienenspiel hatte — vor allem dann, wenn er sich so für ein Thema begeisterte wie für Eberlys Rede.

Yanez war weder ein politischer Exilant noch ein Rebell oder ein verurteilter Straftäter. Er war Idealist. Er hatte sich von der Schulmedizin in Buenos Aires abgewandt, weil er glaubte, dass das Verbot des therapeutischen Klonens auf überholten religiösen Überzeugungen beruhte und die eindeutigen Beweise für den medizinischen Nutzen ignorierte, den die Regeneration von durch Krankheit oder Trauma beschädigtem Gewebe zeitigte. Die Ärztekammer hatte ihn vor die Wahl gestellt: Entweder nahm er an der Saturn-Mission teil, oder er blieb in Buenos Aires und bekam die Approbation entzogen. Yaňez fiel die Entscheidung nicht schwer: Eine neue, sauberere Welt war auf jeden Fall dem langsamen geistigen Tod vorzuziehen, der ihn unweigerlich ereilen würde, wenn er blieb. Er bat nur darum, dass seine Frau ihn begleiten dürfe. Sie war ziemlich erstaunt, als er ihr die Nachricht verkündete.

Und nun hatten Eberlys kühne Worte es ihm angetan. »Wir sollten die Kontrolle über dieses Habitat übernehmen«, wiederholte er den lieben langen Tag. »Wir sollten unsere eigene Regierung bilden und diese neue Welt so gestalten, wie sie gestaltet werden sollte. Und Eberly ist eindeutig der richtige Mann, um uns zu führen.«

284 Tage nach dem Start

Professor Wilmot lehnte sich auf dem Bürostuhl zurück und genoss den Komfort der Lederpolsterung. Das Holo-Fenster zur Linken zeigte eine dreidimensionale Abbildung der felsigen Küste, wo der River Bann sich in den kalten und turbulenten North Channel ergoss. Es war, als ob er auf dem alten Familiensitz aus dem Fenster geschaut hätte. Merkwürdig, sagte er sich, ich vermisse die alte Heimat immer nur dann, wenn ich solche Szenen betrachte. Aus der Ferne sieht man wohl alles durch eine rosarote Brille.

Das Telefon summte und meldete: »Dr. Eberly möchte Sie sprechen, Sir.«

Wilmot seufzte schwer und blendete die Ansicht seiner alten Heimat aus. Willkommen in der Realität, sagte er sich und befahl dem Bürocomputer, die Tür vom Vorzimmer zu öffnen.

Malcolm Eberly trat ein. Er wurde von einer jungen Assistentin begleitet, einer langbeinigen, dunkelhäutigen, jungen Frau. Sie trug ein lindgrünes Gewand, das ihre schlanken Beine gut zur Geltung brachte. Sie hatte keine Accessoires außer einem Namensschild. Sie ist bloß ein naives kleines Dummchen für ihn. Wilmot lächelte beinahe. Wenn du glaubst, du könntest mich mit ihr kirre machen, mein Junge, dann bist du schief gewickelt.

»Kommen Sie herein! Setzen Sie sich«, sagte Wilmot mit einem jovialen Lächeln. »Gut, dass Sie so rasch gekommen sind.«

Eberly war mit einem himmelblauen Gewand und einer taubengrauen Hose bekleidet. Wilmot stellte mit seinem geschulten Blick fest, dass er Schulterpolster trug.

»Wenn der Vorsitzende des Verwaltungsrates ruft«, sagte Eberly laut, »tut man gut daran, sofort zu kommen.«

Wilmot nickte wohlwollend und sagte: »Es ist schön, Sie wieder zu sehen, Miss Lane.«

Im ersten Moment schaute sie überrascht und lächelte dann erfreut, weil der Verwaltungschef sich an ihren Namen erinnerte. Dabei vergaß sie allerdings, dass er auf dem Namensschild über der linken Brust prangte.

»Ich habe mir die Ansprache angeschaut, die Sie gestern Abend gehalten haben«, sagte Wilmot zu Eberly. »Sehr beeindruckend.«

Eberly verschränkte die Hände wie zum Gebet. »Es freut mich, dass Sie das so sehen.«

»Ihnen ist aber schon klar, dass wir nicht befugt sind, Änderungen an den Durchführungsbestimmungen vorzunehmen, bevor wir nicht den Saturnorbit erreicht haben.«

»Ich wüsste nicht, weshalb wir noch warten sollten«, sagte Eberly mit einem leichten Kopfschütteln.

»Ich auch nicht«, sagte Wilmot. »Aber die Bestimmungen sind nun einmal in Kraft, und wir alle waren damit einverstanden, sie zu befolgen. Sagen Sie, wieso haben Sie es eigentlich so eilig, die Dinge zu ändern?«, fragte Wilmot, bevor Eberly zu antworten vermochte. »Gibt es vielleicht irgendwelche Probleme, von denen ich nichts weiß?«

Eberly schürzte die Lippen und tippte mit den Fingern dagegen. Er will Zeit schinden, erkannte Wilmot.

»Die Vorschriften sind zu starr«, antworte Eberly schließlich. »Sie bieten den Leuten keine Flexibilität. Sie wurden von Verwaltungsfachleuten und Akademikern verfasst…«

»Wie ich einer bin«, warf Wilmot mit einem humorvollen Lächeln ein.

»Ich wollte sagen, Verwaltungsfachleute und Akademiker, die auf der Erde geblieben sind; politische Theoretiker, die die Erde noch nie verlassen haben und es auch nicht vorhaben.«

Wilmot beugte sich auf dem Stuhl vor und schaute auf die junge Frau. »Miss Lane, haben Sie das Gefühl, dass unsere bestehenden Protokolle Sie einengen?«

Konsterniert machte sie große Augen und schaute dann Eberly an.

»Miss Lane?«, wiederholte Wilmot. »Engen wir Sie ein?«

»Ich bin noch nie auf der Erde gewesen«, erwiderte Holly langsam und bedächtig. »Zumindest erinnere ich mich nicht an mein dortiges Leben. Soweit ich weiß, habe ich mein ganzes Leben in Selene verbracht. Und nun natürlich hier im Habitat. Das Leben in Selene war…« — sie suchte nach dem passenden Wort — »nun, in mancherlei Hinsicht leichter. Ich meine, wenn ein Problem auftrat, vermochte man immer ein Regierungsgremium um Hilfe zu bitten. Wie zum Beispiel bei der monatlichen Wasserzuteilung oder wenn es darum ging, ein größeres Quartier zu bekommen.«

»Und wir haben keine solchen Petitions-Gremien«, sagte Wilmot leise.

»Nein, haben wir nicht«, erwiderte Holly. »Alles ist zementiert. Da sind die Regeln und sonst nichts. Ende der Geschichte.«

Wilmot befingerte nachdenklich den Bart.

»Das eigentliche Problem«, platzte Eberly heraus, »ist, dass diese Bestimmungen von Leuten erlassen wurden, die in einer Welt leben, die streng kontrolliert werden muss. Sie sind alle der gleichen grundlegenden Überzeugung, dass die Gesellschaft hierarchisch sein und von oben kontrolliert werden müsse.«

Wilmot freute sich, dass die Diskussion sich nun auf sein Interessengebiet verlagerte. »Werden denn nicht alle Gesellschaften von oben kontrolliert? Selbst die so genannten Demokratien werden von einer kleinen Elite regiert; der einzige Unterschied ist lediglich, dass eine Demokratie ihre Elite ohne Blutvergießen auszuwechseln und der breiten Öffentlichkeit die Illusion zu vermitteln vermag, dass eine wesentliche Veränderung stattgefunden habe.«

»Es gibt zu viele Kontrollen«, wiederholte Eberly. »Auf der Erde, deren Bevölkerung trotz der Erderwärmung und aller anderen Umweltkatastrophen auf über zehn Milliarden angestiegen ist, ist strenge Kontrolle absolut notwendig. Aber dies ist eben nicht die Erde.«

Wilmot heuchelte Erstaunen. »Glauben Sie denn nicht, dass wir auch unsere Bevölkerungszahl regulieren müssen? Sehen Sie denn nicht die Notwendigkeit, unsere Ressourcen entsprechend unserer Fähigkeit zu nutzen, sie zu ersetzen? Wir leben in einer sehr begrenzten Umgebung, wie Sie wissen.«

Eberly musste sich offensichtlich beherrschen, um seine Ungeduld zu zügeln. »Dieses Habitat könnte das Zehnfache der existierenden Population ernähren und beherbergen. Wieso müssen wir uns so verhalten, als ob wir am Rand einer Hungersnot stünden?«

»Weil wir bald am Rand einer Hungersnot stehen werden, wenn wir die Größe der Population nicht kontrollieren«, erwiderte Wilmot milde.

Eberly schüttelte heftig den Kopf. »Sie nehmen an, dass wir eine geschlossene Ökologie seien und dass uns nichts zur Verfügung stünde außer dem, was wir für uns selbst produzieren.«

»Entspricht das denn nicht der Wahrheit?«, fragte Wilmot.

»Nein! Wir können Handel treiben: mit den Asteroiden-Mineuren, mit den Basen auf dem Mars und im Jupiterorbit und sogar mit Selene.«

»Und womit sollten wir wohl Handel treiben?«, fragte Wilmot. »Was hätten wir denn anzubieten?«

Eberly lächelte, als ob er nun eine Trumpfkarte zöge. »Wir werden die wertvollste Ressource überhaupt haben: Wasser.«

Wilmot zog die Augenbrauen hoch. »Wasser?«

»Der Saturn ist doch von massiven Ringen umgeben, die aus Eisbrocken bestehen. Wassereis. Wir könnten die Wasserlieferanten fürs ganze Sonnensystem werden, sobald wir den Saturn erreichen.«

»Wasser«, wiederholte Wilmot fast im Flüsterton.

»Wasser«, bekräftigte Eberly. »Und Fusionsbrennstoffe. Sobald wir im Saturnorbit sind, wird es uns billiger kommen, Fusionsbrennstoffe aus der Atmosphäre des Planeten zu schöpfen, als sie dem Jupiter abzuzapfen.«

»Aber wir werden dann auch doppelt so weit von der Erde entfernt sein…«

»Ich habe die Analyse bereits von Experten durchführen lassen«, sagte Eberly fast selbstgefällig. »Sie können die Zahlen selbst überprüfen. Wenn wir erst mal im Saturnorbit sind, sind wir nicht mehr auf Jupiter angewiesen!«

»Erstaunlich«, murmelte Wilmot und schaute angestrengt nachdenkend zur Deckenverkleidung hoch. »Doch selbst wenn dieser Vorschlag durchführbar wäre«, sagte er, »würden wir warten müssen, bis wir den Saturn erreicht haben, nicht wahr?«

»Ja, natürlich.«

»Dann hat es also auch keinen Zweck, zwischenzeitlich eine Änderung unseres Regierungssystems anzustreben, nicht wahr?«

Eberly legte die Hände auf die Schenkel und gab zu bedenken: »Die Leute sollten bereit sein, zur Tat zu schreiten, sobald wir den Saturn erreichen. Wieso sollten sie noch länger warten? Sie sollten die Freiheit haben, die ihnen genehme Regierungsform zu wählen, die Form, von der sie am meisten profitieren. Und zwar jetzt, während wir noch im Transit sind, damit die neue Regierung etabliert ist, wenn wir unser Ziel erreichen.«

Mit dir als Führer, fügte Wilmot stumm hinzu. Das ist es doch, worum es dir geht, Freundchen? Das ist ein ganz banales Machtspiel. Faszinierend.

»Ihre Idee entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität«, sagte er zu Eberly.

»Finden Sie?«, platzte Holly heraus.

Wilmot lächelte sie an und sagte: »Wieso verständigen wir uns nicht auf Folgendes: Sie nehmen die Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Angriff. Führen Sie Umfragen in der Bevölkerung durch und ermitteln Sie, welche Art der Regierung favorisiert wird. Machen Sie sich gleich an die Arbeit.«

»Wir werden die Menschen befragen müssen, verschiedene Konzepte einer Verfassung ausarbeiten, Kandidaten aufstellen…«

»Ja, ja«, sagte Wilmot. »Erledigen Sie das nebenher, während Sie die Namensgebungs-Wettbewerbe durchführen. Aber es wird keine Änderung der Durchführungsbestimmungen geben, bis wir uns im Orbit um Saturn eingerichtet haben. Ist das klar? Nutzen Sie die restliche Zeit im Transit, um Ihre neue Regierung zu bilden, aber die Amtseinführung wird erst stattfinden, wenn wir unseren Bestimmungsort erreicht haben.«

Eberly dachte für einen Moment mit gesenktem Blick nach. Dann schaute er Wilmot direkt an und sagte: »Ja, damit bin ich einverstanden.«

»Gut«, sagte Wilmot, erhob sich und streckte die Hand über den Schreibtisch aus. »Dann sind wir uns also einig.«

Eberly und Holly standen auch auf und schüttelten Wilmot die Hand. Als sie sein Büro verließen, ließ Wilmot sich wieder auf den Stuhl sinken und sagte sich, dass er diese Besprechung protokollieren und schnellstmöglich nach Atlanta schicken lassen sollte.

Datenbank

Das ist der schönste Anblick im ganzen Sonnensystem: Saturn und seine glühenden, wunderschönen Ringe.

Sie spannen sich wie eine Brücke aus Licht über den Äquator des Planeten, umkreisen die ob ihrer Masse abgeplattete Sphäre des Planeten und schweben der Schwerkraft zum Trotz über ihm.

In seiner Eigenschaft als zweitgrößter Planet unseres Sonnensystems ist Saturn etwas kleiner als Jupiter, aber auf seiner Umlaufbahn entfernt er sich doppelt so weit von der Sonne wie Jupiter. Wie Jupiter ist auch Saturn ein Gasriese, der fast ausschließlich aus den leichtesten Elementen besteht: Wasserstoff und Helium. Wären wir in der Lage, ein Schwimmbecken von der fast zehnfachen Größe der Erde zu bauen, würde Saturn darin schwimmen: Der Planet hat nämlich eine etwas geringere Dichte als Wasser.

Beim Anflug auf den Saturn wirbeln die fahl gelben und beigefarbenen Wolken des Planeten über eine Scheibe, die durch die hohe Drehgeschwindigkeit sichtlich abgeflacht ist. Ein Saturn-Tag dauert gerade einmal zehn Stunden und neununddreißig Minuten. Für die Ahnen war der Saturn der am weitesten entfernte Planet, den sie zu sehen vermochten, und zugleich derjenige, der seine Bahn am Himmel am langsamsten zog. Mit der zehnfachen Entfernung der Erde von der Sonne braucht Saturn neunundzwanzig Komma vier sechs Erdenjahre, um die Sonne einmal zu umkreisen.

Es ist das Ringsystem, das Saturn seine geheimnisvolle Schönheit verleiht. Jupiter und die äußeren Welten wie Uranus und Neptun sind von schmalen, kaum sichtbaren Ringen umgeben. Saturn hat jedoch breite Bänder aus Ringen, die hell leuchten und den Planeten umspannen. Sie hängen in der Leere wie riesige Heiligenscheine.

Als Galilei sein primitives Teleskop zum ersten Mal auf den Saturn richtete, glaubte er einen Dreifach-Planeten zu sehen: Die kleinen Linsen vermochten die Ringe nicht aufzulösen; für ihn muteten sie wie eigentümliche Ohren an, die aus beiden Seiten des Planeten sprossen. Er schrieb an Johannes Keppler einen codierten Brief, den nur der Empfänger selbst zu lesen vermochte. »Ich habe festgestellt, dass der höchste Planet ein Dreifach-Körper ist«, schrieb Galilei in einem Anagramm. Keppler verstand ihn jedoch falsch und glaubte, Galilei wollte ihm sagen, dass er zwei Marsmonde entdeckt habe.

Später entdeckten Astronomen mit verbesserten Teleskopen dann diese unglaublichen Ringe. Bis zum heutigen Tag ist der Saturn eins der ersten Objekte, das Amateur-Astronomen ins Visier nehmen. Der Anblick des beringten Planeten nötigt dem Betrachter immer Bewunderung ab und entlockt ihm entsagungsvolle Seufzer.

Die ästhetisch schönen Ringe des Saturn bestehen aus Partikeln aus Eis und vereistem Staub. Während die meisten dieser Teilchen nicht größer sind als Staubkörner, erreichen manche jedoch die Größe von Häusern. Die Ringe haben einen Durchmesser von ungefähr vierhunderttausend Kilometern und sind dabei nicht viel dicker als hundert Meter. Von der Proportion her sind sie nicht dicker als ein Taschentuch auf einem Fußballfeld.

Die gesamte Masse der Ringe entspricht der eines Eisplanetoiden mit einem Durchmesser von nicht mehr als hundert Kilometern. Es handelt sich dabei entweder um die Überreste von einem oder mehreren Monden, die dem Planeten zu nahe kamen und von den gravitationalen Gezeitenkräften zerbröselt wurden oder um übrig gebliebene Materie aus der Zeit der Planetenentstehung, die sich wegen der unmittelbaren Nähe des Saturn nie zu einem eigenständigen Himmelskörper zusammenklumpte.

Die Ringe sind dynamisch. Hunderte Millionen Partikel umkreisen den mächtigen Planeten, wobei sie laufend kollidieren, voneinander abprallen und in noch kleinere Fragmente zerbrechen — es geht dort zu wie auf einer überfüllten Autobahn mit lauter betrunkenen Autofahrern.

Die Dynamik der Ringe ist faszinierend. Lücken klaffen zwischen den großen Ringen, leere Räume, die durch die Anziehungskraft der über dreißig Saturnmonde geschaffen werden. Die Ringe werden von kleinen ›Hirtenmonden‹ begleitet, von kleinen Satelliten, die unmittelbar außer- und innerhalb eines jeden Rings kreisen und sie durch ihren minimalen gravitationalen Einfluss anscheinend in Position halten. Die Ringe sind quasi autark: In dem Maß, wie der Planet Partikel ansaugt, werden durch die Kollisionen mit den herumwirbelnden Teilchen ständig neue Partikel von den Hirtenmonden abgesplittert. Auf der Bahn um den Planeten unterliegen diese kleinen Satelliten einem Dauer-Bombardement durch den Schauer winziger Eispartikel, durch den sie hindurch fliegen und ›abgeschmirgelt‹ werden.

Die Hauptringe bestehen eigentlich aus Hunderten dünner Ringe, die miteinander verwoben zu sein scheinen. Von Raumfahrzeugen gemachte Fotos mit langer Belichtungsdauer zeigen geheimnisvolle Speichen, die die größten Ringe durchbohren: Muster aus Licht und Dunkelheit, die ebenso unerklärlich wie faszinierend sind. Vielleicht lädt die starke Magnetosphäre des Saturn die Staubpartikel elektrisch auf und versetzt sie dann in Bewegung, wodurch dieser Speichen-Effekt auftritt.

Der Planet selbst gibt dem wissbegierigen Forscher von der Erde nach wie vor Rätsel auf. Wie der massivere Jupiter wird Saturn von innen erhitzt, wobei der Kern aus Gesteinsschmelze unter dem Druck der Riesenwelt, die auf ihm lastet, siedet. Jedoch ist der Saturn kleiner als Jupiter, weiter von der Sonne entfernt und deshalb kälter. Wo der Jupiter eine blühende Biosphäre aus fliegenden Organismen in seiner dicken Wasserstoff-Atmosphäre beherbergt und eine sogar noch komplexere Ökologie schwimmender Lebewesen im tiefen, den Planeten umspannenden Ozean, scheint es auf dem Saturn kein Leben zu geben außer den kälteadaptierten Mikroben, die sich in der oberen Wolkenschicht tummeln.

»Der Saturn ist eine Sackgasse, was multizelluläres Leben betrifft«, verkündete ein enttäuschter Astrobiologe, nachdem die ersten Sonden den riesigen Ozean untersucht hatten, der unter den ewigen Wolken der beringten Welt brodelt, »gerade oberhalb der Schwelle der Bewohnbarkeit für etwas Komplexeres als einzellige Organismen.

Nur ein bisschen wärmer, und wir hätten ein Duplikat von Jupiter gehabt«, fügte er melancholisch hinzu.

Unter den Milliarden von Eispartikeln, aus denen die Ringe bestehen, haben Robotsonden präbiologische und chemische Aktivitäten entdeckt, aber Indizien für lebende Organismen sind bisher noch nicht gefunden worden.

Saturns großer Mond, Titan, ist indes ein ganz anderer Fall. Dort existiert nämlich eine reichhaltige Ökologie aus kohlenwasserstoffbasierten Mikroben, wodurch Titan für die Erschließung oder industrielle Nutzung von vornherein ausscheidet. Niemand außer Wissenschaftlern darf sich Titan überhaupt nähern, und selbst sie dürfen nichts anderes auf die Oberfläche hinunterschicken als gründlich sterilisierte Robotsonden.

Die wissenschaftliche Gemeinschaft und die internationale Astronauten-Behörde stimmen darin überein, dass Menschen Titans Ökologie nicht der Bedrohung durch Kontamination aussetzen dürfen.

Andere stimmen damit jedoch nicht überein.

Abteilungsinternes Memorandum

An: das Personal der Abteilung Human Resources

Von: R. Morgenthau, Amtierende Direktorin

Betreff: Gebetskreise


Mehrere Mitarbeiter haben um eine Klarstellung gebeten, wie die Abteilung die Frage von Gebetskreisen handhabt. Obwohl die Habitatsbestimmungen solche Veranstaltungen während der Arbeitszeit nicht ausdrücklich vorsehen, sind sie durch besagte Bestimmungen andererseits auch nicht untersagt.

Deshalb wird die Abteilung diese Angelegenheit so handhaben, dass die HR-Mitarbeiter während der Arbeitszeit Gebetskreise abhalten dürfen — vorausgesetzt, dass solche Veranstaltungen vorher mit der Amtierenden Direktorin abgestimmt werden und dass solche Veranstaltungen eine Dauer von nicht mehr als dreißig (30) Minuten haben.


Die Teilnahme der Belegschaft an den Gebetskreisen ist ausdrücklich erwünscht. Die Abteilung Human Resources wird außerdem alle anderen Abteilungen ermutigen, in dieser Angelegenheit ähnlich zu verfahren. Diejenigen, die gegen Gebetskreise sich aussprechen, sind offensichtlich bestrebt, ihre säkularistischen Ansichten der allgemeinen Population dieses Habitats aufzuzwingen.

Zeit, Gezeiten und Titan

Edouard Urbain stellte sich vor, am Strand von Titans Kohlenwasserstoff-Meer zu stehen.

Titan ist größer als der Planet Merkur — eine kalte und dunkle Welt, die ungefähr zehnmal weiter von der Sonne entfernt ist als die Erde. Die Wolken und der Dunst von Titans dichter, trüber Atmosphäre filtern das Sonnenlicht zu einem fahlen, schwachen Schimmer.

Urbain sah sich auf einem Eis-Vorsprung stehen und durchs Helmvisier des Raumanzugs aufs schwarze, brodelnde Meer schauen, das über das zerklüftete Eisfeld unter ihm schwappte. In der Ferne zog ein rußiger ›Schneesturm‹ auf, eine Wand aus schwarzen Kohlenwasserstoffflocken, die beim Näherkommen den Horizont ausblendete.

Dann hellte die öde, gefrorene Landschaft sich plötzlich auf. Er schaute nach oben, und ihm stockte der Atem. Die Wolkendecke war für einen Moment aufgerissen, und er sah den Saturn hoch am Himmel: Der majestätische Himmelskörper war zehnmal größer als der Vollmond auf der Erde, und die Ringe glichen der Klinge eines Skalpells, das mitten durch den extravagant gestreiften Körper des Planeten schnitt. Es gab keinen schöneren Anblick im ganzen Sonnensystem, sagte er sich.

Nun setzte die Flut ein. Unter dem Zug der gewaltigen Gravitationskraft des Saturn geriet das Kohlenwasserstoffmeer zu einer schäumenden Flutwelle, die schnell über die zerklüftete Eislandschaft wanderte — ein kriechendes Schleim- Monster, das alles auf seinem Weg verschluckte, häusergroße Eisbrocken zudeckte und den gefrorenen Boden mit zischendem, blubberndem schwarzem Öl bedeckte, das die Welt von einem Horizont zum andern überflutete. Bald würde die Flut sogar den Vorsprung überschwemmen, auf dem Urbain stand, und sich über den halben Titan ausbreiten, bevor sie wieder zurückschwappte.

Eines Tages werde ich an diesem Meer stehen, sagte Urbain sich. Ich werde mit wissenschaftlicher Ausrüstung anrücken und in der schwarzen, öligen Flüssigkeit nach lebenden Organismen suchen. Eines Tages.

Seufzend schaute er sich beim Wiedereintritt in die Realität in seinem engen, kleinen Büro um. Er wusste, dass niemand die Oberfläche des Titan betreten würde — auf viele Jahre hinaus nicht.

Dann fiel sein Blick auf die dreidimensionale Abbildung des Landegeräts, das über seinem Schreibtisch schwebte. Es wirkte plump und träge, doch für Urbain war es ein Symbol für pragmatische Eleganz. Du wirst auf die Oberfläche des Titan hinabsteigen, meine Schöne, sagte er stumm zu der Projektion.

Die Konstruktion des Landegeräts war im Grunde ein Kinderspiel gewesen, wurde er sich bewusst. Es war unter seiner gründlichen Aufsicht von seinen Ingenieuren und Technikern gebaut worden. Dieser Teil war wirklich recht einfach gewesen.

Die eigentliche Herausforderung bestand darin, dieses Habitat zum Saturn zu bringen und in einer Umlaufbahn um den Ringplaneten zu stationieren, so dass Urbain und seine Wissenschaftler das Landegerät in Echtzeit zu steuern vermochten.

Die Zeit hatte frühere Versuche zunichte gemacht, eine Fernerkundung des Titan durchzuführen. Es dauerte mehr als eine Stunde, ein Signal von der Erde zum Saturn zu senden, selbst wenn die beiden Planeten sich am nächsten standen. Ferngesteuerte Sonden scheiterten ungeachtet der technischen Raffinesse an dieser Zeitverzögerung. Für Jahrzehnte hatten Wissenschaftler auf der Erde frustriert mit den Zähnen geknirscht, während eine Sonde nach der anderen in Bodenspalten fiel oder von öligem schwarzem Schnee überzogen wurde, nur weil es Stunden dauerte, bis die menschlichen Controller ihnen die entsprechenden Anweisungen zu geben vermochten.

Das war einmal, sagte Urbain sich. Nun werden wir das Landegerät aus einer Entfernung von ein paar Lichtsekunden kontrollieren. Notfalls können wir auch einen Befehlsstand im Orbit um Titan selbst platzieren und die Reaktionszeit auf weniger als eine Sekunde reduzieren.

Aber er wusste auch, dass kein Mensch den Fuß auf den Titan setzen würde. Nicht für viele Jahre. Der Gedanke betrübte ihn zutiefst. Er wollte selbst über diese kalte, dunkle Oberfläche aus schwarzem Eis stapfen. Im tiefsten Innern wollte Edouard Urbain der erste Mensch sein, der die Oberfläche des Titan betrat.

317 Tage nach dem Start

»Meine Güte, hier unten sieht es aus wie in einem Filmstudio.«

Holly führte Manuel Gaeta durch den Versorgungstunnel, der unterm Dorf verlief. Deckenlampen schalteten sich automatisch ein, während sie durch den Tunnel gingen, und erloschen wieder, als sie vorbei waren. Die Wände waren mit Kabelbäumen, Rohrleitungen, Ventilen, Steuerpulten und im Abstand von hundert Metern mit Bildtelefonen gesäumt. An der Decke verliefen Rohrleitungen mit Farbcodes: Blau für Trinkwasser, Gelb für Abwasser, das zur Kläranlage floss, und Rot für Warmwasser, das den Wärmeaustauschern außen am Habitat zugeführt wurde. Der Tunnel hallte wider vom Summen der Pumpen und elektrischen Ausrüstung. Holly spürte die Vibrationen der metallenen Bodenplatten durch die Sohlen der Soft-Boots.

»Was ist ein Filmstudio?«, fragte sie.

»Wo man Videos dreht«, erwiderte Gaeta und ließ den Blick über die Rohrleitungen schweifen. »Wenn man eine Szene im alten Rom spielen will, baut man eine Kulisse, die so aussieht wie das alte Rom, müssen Sie wissen.«

»Ach ja. Ich verstehe. Aber warum sieht das hier wie ein Filmstudio aus?«

Er grinste. »Schauen Sie einmal auf die Rückseite einer Kulisse. Sie ist nur eine Fassade, normalerweise aus Plastik. Beim Blick hinter die Kulissen sieht man, dass sie mit Balken und Gerüsten gestützt werden.«

»Und dieser Ort erinnert sie daran?«, fragte sie verwirrt.

»Quasi«, erwiderte er. »Ich meine, ein paar Dutzend Meter über unseren Köpfen ist das Dorf…«

»Nein, wir sind schon unterm Dorf durch«, berichtigte Holly ihn. »Wir befinden uns nun unterm Park und gehen in Richtung der Farmen.«

»Wie auch immer. An der Oberfläche wirkt alles so real, aber hier unten sieht man, dass es nur eine Attrappe ist.«

»Ist es nicht!«, sagte sie nachdrücklich. »Es ist so real wie irgend möglich. Sie essen doch die Lebensmittel, die wir auf den Farmen anbauen, oder? Sie schlafen in einem Apartment im Dorf. Wie real sollte es denn noch sein?«

Gaeta hob beschwichtigend die Hände. »He, nur mit der Ruhe. Nehmen Sie das nicht gleich persönlich. Ich wollte damit nur sagen, dass das ganze Habitat ein künstliches Gebilde ist. Es sieht zwar aus wie ein reales Dorf und reale Farmen und all das, aber wenn man hier unten ist, sieht man doch, dass es sich um eine große Maschine handelt.«

»Ja, stimmt«, sagte Holly. »Das ist allgemein bekannt.«

Sie gingen für eine Weile schweigend weiter, wobei die Deckenbeleuchtung bei ihrer Passage im Wechsel sich ein- und ausschaltete. Wie von Zauberhand, sagte Holly sich. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie eigentlich im Büro bei der Arbeit hätte sein müssen. Aber es macht Spaß, die Tunnels zu erkunden, sagte sie sich. Man kann schließlich nicht immer nur arbeiten. Ab und zu will man auch ein wenig Spaß haben.

Der Tunnel gabelte sich vor ihnen, und in einer Wand tat sich ein anderer Tunnel auf, der ihren auf einer unteren Ebene kreuzte.

»Diese Richtung«, sagte Holly und schwang ein Bein übers Geländer.

»Dort hinunter?«, fragte Gaeta.

»Sicher.« Sie flankte übers Metallgeländer, packte die unterste Strebe und baumelte dort für einen Moment. Dann ließ sie sich vier Meter tief auf den Metallboden des unteren Tunnels fallen.

»Kommen Sie«, rief Holly zu Gaeta herauf. »Es ist eine Abkürzung zu den Farmen.«

Er beugte sich mit skeptischem Blick übers Geländer. Dann kletterte er langsam und methodisch über die Reling und ließ sich neben ihr auf den Boden fallen, wobei er leicht auf den Zehenballen landete.

»Für einen Stuntman sind Sie aber recht zimperlich«, frozzelte sie.

»So bleibt ein Stuntman an einem Stück«, erwiderte er grinsend. »Es gibt alte Stuntmen und kühne Stuntmen, aber es gibt keine kühnen alten Stuntmen.«

Holly lachte verstehend.

»Wie weit ist es noch bis zu den Farmen?«, fragte Gaeta.

»Nicht mehr weit.«

»Wie weit?«

Sie runzelte die Stirn und antwortete: »Weniger als drei Kilometer.«

»Sind Sie sicher?«

»Ich habe mir alle Tunnel eingeprägt«, sagte Holly.

»Alle? Jeden einzelnen? Jeden Kilometer?«

»Jeden Zentimeter.«

Er lachte. »Alles im Kopf gespeichert, was?«, sagte er und tippte sich an die Schläfe.

Holly zog den Palmtop aus der Tasche des Gewands und drückte mit dem Daumen die Positions-Taste. Auf dem Bildschirm erschien eine schematische Darstellung der Tunnel, die sich unter der künstlichen Landschaft des Habitats hindurchschlängelten; ein blinkender roter Cursor markierte ihren Standort.

Gaeta schaute ihr über die Schulter auf den Bildschirm. Sie spürte seinen warmen Atem im Nacken und fühlte seine Körperwärme.

»Unglaublich«, sagte er ehrfurchtsvoll. »Sie haben Recht.«

»Ich habe es Ihnen doch gesagt, oder? Ich habe mir den ganzen Grundriss des Habitats eingeprägt. Jeden einzelnen Zentimeter.«

Gaeta legte sich die Hand aufs Herz und machte eine leichte Verbeugung. »Perdone mi, Senorita. Ich bitte um Verzeihung, dass ich an Ihnen gezweifelt habe.«

»Da nada«, sagte Holly, womit ihre Spanischkenntnisse aber auch schon erschöpft waren. Sie schwor sich, irgendwann die Sprache gründlicher zu lernen.

Ihr Abenteuer hatte vor der Mittagspause begonnen, als Gaeta in Hollys Büro gekommen war und um eine Genehmigung für eine Exkursion außerhalb des Habitats ersucht hatte.

»Muss den Anzug testen«, erklärte er. »Wir haben schon ein halbes Dutzend Änderungen daran vorgenommen und müssen ihn nun im harten Vakuum testen.«

Holly schaute vom Bürostuhl zu ihm auf und bemerkte, dass seine Augen die dunkelsten waren, die sie jemals gesehen hatte.

»Da müssen Sie sich an die Sicherheitsabteilung wenden«, sagte sie. »Dies ist die Personalabteilung.«

Gaeta zuckte leicht die Achseln. »Ja, ich weiß, aber ich sagte mir, dass Sie mir vielleicht helfen könnten. Ich kenne niemanden in der Sicherheitsabteilung, und wir beide haben uns zumindest schon kennen gelernt.«

Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass das eine Lüge war. Oder vielleicht ein Vorwand, um mich zu sehen?, fragte Holly sich. Ohne lang zu überlegen, rief sie im Sicherheitsbüro an und vereinbarte einen Gesprächstermin für Gaeta.

Dann lud er sie zum Mittagessen ein, und sie unterhielten sich über seinen Plan, auf die Oberfläche des Titan abzusteigen, und das Leben im Habitat; und ehe sie es sich versah, erzählte Holly ihm ihre Lebensgeschichte — oder zumindest den Teil, an den sie sich erinnerte.

»Nehmen wir uns den Nachmittag doch frei«, schlug er plötzlich vor.

Holly nahm einen Schluck Kaffee und sagte sich, dass auf dem Schreibtisch zu viel Arbeit auf sie wartete; auf der anderen Seite war Manny nicht unattraktiv, und wenn er lächelte, leuchteten diese dunklen Augen auf wie Kerzen auf einer Geburtstagstorte.

»Und was sollen wir tun?«, fragte sie.

Er breitete die Hände aus und grinste sie an. »Nichts. Einfach nur herumhängen. Für ein paar Stunden einmal gar nichts tun.«

»Ich hätte eine bessere Idee«, sagte Holly und stellte die Kaffeetasse mit einem leisen Klirren ab.

»Welche denn?«, fragte er.

»Wir gehen auf eine Erkundungstour«, sagte Holly.

Also führte sie ihn zu einer Einstiegsluke, die in die Rückseite des Verwaltungsgebäudes eingelassen war, und dann die Metallleiter hinunter in den Versorgungstunnel.

»Wie der Abstieg zu den Morlocks«, murmelte er, als sie die Leiter hinunter kletterten.

»Ohrlocks?«, fragte Holly verständnislos.

Gaeta lachte nur.

Während sie durch den Tunnel gingen, sich unterhielten, sich umschauten und Entdeckungen machten, wurde Holly sich bewusst, dass sie mit diesem Mann allein war und niemand wusste, wo sie war. Was soll ich tun, wenn er sich an mich ranmacht?, fragte sie sich. Und ein anderer Teil ihres Bewusstseins fragte, was soll ich machen, wenn er sich nicht an dich ranmacht?

Er ist schon ein Hengst, sagte Holly sich, während sie durch den Tunnel marschierten. Er war nicht viel größer als sie, aber kräftig und muskulös. Sie hatte unter dem wachsamen Blick ihrer Schwester noch nie die Gelegenheit zu sexuellen Experimenten gehabt — obwohl sie nach dem zu urteilen, was Pancho ihr erzählt hatte, schon in der Schule etliche ›Spielgefährten‹ und sogar ernsthafte Liebschaften gehabt hatte. Das war aber gewesen, bevor sie gestorben war.

Soll ich Malcolm ein bisschen eifersüchtig machen?, fragte sie sich. Er beachtet mich gar nicht. Vielleicht wird er Notiz von mir nehmen, wenn er sieht, dass ich mich mit diesem Prachtkerl treffe. Vielleicht…

»Wie gut kennen Sie eigentlich Dr. Cardenas?«, fragte Gaeta, als sie an einer Tunnelgabelung anhielten.

Holly zögerte für einen Moment und rief das mental abgespeicherte Tunnel-Netzwerk auf. »In dieser Richtung«, sagte sie mit einem Fingerzeig, »geht es zu den Farmen. Und in dieser Richtung zu den Fabriken.«

Er kratzte sich am Kinn. »Wir müssen dann den ganzen Weg zum Dorf zurückgehen?«

»Sicher. Es sind nur ein paar Kilometer.«

»Gibt es denn kein Transportmittel?«

Holly lachte. »Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, dass Sie schon müde sind!«

»Nee, eigentlich nicht. Ich sagte mir nur, dass es langsam Abendessenszeit wird und dass ich vorher noch duschen und mich umziehen sollte, wissen Sie.«

Holly spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Versuchte er vielleicht, mich in sein Apartment zu locken?

»Ich bin mit Dr. Cardenas zum Abendessen verabredet«, erklärte er, »und ich will einen guten Eindruck bei ihr machen.«

Hollys Gesicht verdüsterte sich. »Mit Dr. Cardenas?«

Er musste ihre Enttäuschung bemerkt haben. Sie wurde sich bewusst, dass sogar ein Blinder sie gesehen hätte.

»Es geht bei diesem Gespräch darum, dass sie Nanoroboter programmieren will, um meinen Anzug zu dekontaminieren«, erklärte er. »Sie ist so sehr damit beschäftigt, ihr Labor einzurichten, dass ich nur beim Abendessen die Möglichkeit habe, mich mit ihr zu unterhalten.«

»Aha.«

»Es ist rein dienstlich.«

»Ja. Ich verstehe.«

Gaeta warf ihr einen verschmitzten Lausbubenblick zu. »Möchten Sie mitkommen? Oder bringen Sie doch einen Freund mit; dann wären wir zwei Pärchen.«

Plötzlich wurde Holly sich bewusst, dass sie gar keinen Freund hatte, den sie zu dieser Verabredung mitbringen könnte. Sie hatte wohl viele Bekannte, aber die meisten von ihnen waren Kollegen aus dem Büro. Seit der Ankunft im Habitat hatte sie ihr ganzes Denken und Handeln auf Eberly ausgerichtet. Bis zu diesem Tag, als Gaeta in ihrem Büro erschienen war.

Und nun das.

»Nein«, sagte sie mit fester Stimme. »Aber trotzdem danke. Ich habe noch viel nachzuarbeiten.«

Er nickte zerknirscht. »Ich habe Sie von ihrer Arbeit abgehalten, was?«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Holly. »Es war ein schöner Nachmittag.«

Sie machte im Tunnel kehrt und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Gaeta holte sie schnell ein.

»Vielleicht möchten Sie morgen mit mir zu Abend essen?«, schlug er vor.

Hollys Miene hellte sich wieder auf. »Morgen? Sicher, wieso nicht.«

»Großartig«, sagte er und lächelte sie an.


Im Apartment angekommen zog Gaeta sich aus, duschte und befand, dass der Epilationseffekt noch so weit vorhielt, dass eine Rasur im Moment nicht erforderlich war. Während er sich mit einem Auge auf die Digitaluhr neben dem Bett ankleidete, wies er das Telefon an, eine Nachricht an Wendell Sloane in Selene zu schicken. »Mr. Sloane«, sagte er leicht unbehaglich wegen der formalen Anrede. »Status-Bericht betreffend Ms. Lane. Keine besonderen Vorkommnisse. Sie arbeitet noch immer in der Personalabteilung. Sie scheint keinerlei persönliche Bindungen zu haben; keinen festen Freund und auch sonst ein kaum ausgeprägtes Sozialleben. Ich habe heute mit ihr zu Mittag gegessen. Sie ist wirklich eine patente junge Dame: Sehr intelligent und sehr engagiert. Sie scheint mit ihrer Arbeit hier im Habitat glücklich zu sein. Sagen Sie ihrer Schwester, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht, was sie betrifft. Aber ich werde sie wunschgemäß trotzdem im Auge behalten. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass es hier keine Probleme gibt.«

Das müsste die Großkopferten in Selene für eine Weile zufrieden stellen. Ohne ihre Unterstützung wird dieser ganze Titan-Stunt den Bach runtergehen. Die Astro Corporation war nämlich der größte Geldgeber für Manuel Gaeta und sein Team.


Sammi Vyborg saß steif am Schreibtisch und schaute durch die offene Tür des winzigen Büros ins größere Büro auf der anderen Seite des Gangs. Es gehörte seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Diego Romero.

Vyborg schaute auf die Digitaluhr in der Ecke des Schreibtischs, die unablässig Zahlen abspulte. Es ist doch jeden Tag das Gleiche, sagte Vyborg sich missmutig. Den Morgen bringt er damit zu, Betriebsamkeit vorzutäuschen, und dann macht er den ganzen Nachmittag blau. Ich sitze hier vor einem Berg Arbeit, und er macht sich nachmittags einen schönen Lenz. Er ist der zweite Mann in der Abteilung und arbeitet nur halbtags — wenn's hoch kommt.

Mach dich nicht verrückt, ermahnte Vyborg sich. Mach dich locker. Es wird Zeit, diesen inkompetenten, faulen Hund gegen den Direktor auszuspielen. Mit ein bisschen Glück bringe ich sie beide zu Fall.

Romero trat auf den Gang hinaus und schloss die Bürotür hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er, dass Vyborg ihn beobachtete.

»Buenos tardes«, sagte er mit einem Lächeln und einer leichten Verbeugung.

Vyborg erwiderte das Lächeln säuerlich.

Als Romero gegangen war, stand Vyborg vom Schreibtisch auf und ging den Gang entlang zum Büro des Leiters der Kommunikations-Abteilung, Zeke Berkowitz. Er klopfte einmal an die halb offene Tür, sodass sie in der Schiene klapperte.

»Herein«, rief Berkowitz. Als Vyborg die Tür aufschob und ins Büro trat, lächelte Berkowitz und sagte: »Ach, Sammi. Was kann ich für Sie tun?«

Leutselig war die treffende Bezeichnung für Berkowitz. Der Mann schaute auf eine lange und erfolgreiche Karriere im Videonachrichten-Business zurück — zuerst als Lokalreporter, dann als Moderator und schließlich als globaler Manager. Er hatte sich nie Feinde gemacht, obwohl im Haifischbecken der Medien viele Leute versucht hatten, an seinem Stuhl zu sägen, ihn durch hinterhältige Intrigen zu Fall zu bringen und ihn sogar zum Rücktritt zu zwingen. Er hatte all das mit einem Lächeln und einem feinsinnigen Spruch über christliche Nächstenliebe überlebt, garniert mit selbstironischem jüdischem Humor.

Als er dann das vorgeschriebene Rentenalter erreicht hatte, wechselte der noch immer jugendliche Berkowitz in den akademischen Bereich und führte eine neue Generation angehender Journalisten und Public Relations-Experten in die harte Realität der Kommunikationsbranche ein. Es war auf einer internationalen Konferenz gewesen, wo er James Wilmot kennen gelernt hatte, den berühmten Anthropologen; die beiden Männer waren sofort Freunde geworden, obwohl sie auf verschiedenen Seiten des Atlantiks lebten und arbeiteten. Jahre später hatte Wilmot Berkowitz angeboten, als Leiter der Kommunikationsabteilung im Weltraum-Habitat zu fungieren, das zum Saturn fliegen sollte. Berkowitz — der nach einer fünfzigjährigen glücklichen Ehe kürzlich zum Witwer geworden war — hatte die Gelegenheit ergriffen, die Erinnerung an das gemeinsame Leben so weit wie möglich hinter sich zu lassen.

Nun lehnte der stattliche, sonnengebräunte und etwas mollige Mann sich auf dem Bürostuhl zurück. Eine Reihe von Hologrammen an der Wand hinter ihm zeigte ihn bei Tennisturnieren und auf Golfplätzen. Er lächelte den düster und verkniffen dreinblickenden Vyborg warmherzig an.

»Was gibt es denn, Sammi?«, fragte Berkowitz jovial. »Sie schauen aus, als ob Sie eine Kröte geschluckt hätten.«

Vyborg nahm auf dem Stuhl vor Berkowitz' Schreibtisch Platz und legte los: »Es gefällt mir überhaupt nicht, Ihnen das zur Kenntnis zu bringen…«

»Aber Sie werden es trotzdem tun. Muss wichtig sein.«

»Das ist es.«

»In Ordnung. Raus damit.«

»Es geht um Romero.«

»Der alte Don Diego? Was passt Ihnen denn nicht an ihm?«

Vyborg zögerte gerade so lang, um Berkowitz zu zeigen, dass ihm das, was er tat, widerstrebte. »Es fällt mir sehr schwer, das zu sagen, weil der Mann immerhin mein direkter Vorgesetzter ist, aber… Nun, er bekommt es einfach nicht geregelt.«

»Ist nicht wahr.«

»Doch. Er verbringt nur einen halben Tag im Büro und ist dann verschwunden. Wie soll er da seine Arbeit schaffen?«

»Dafür haben wir doch Sie, Sammi.«

»Was?«, entfuhr es Vyborg.

Berkowitz setzte sein liebenswertestes Lächeln auf, verschränkte die Hände wie zum Gebet auf dem Schreibtisch und sagte: »Diego Romero ist ein wunderbarer alter Mann, ein großer Lehrer, der eine außergewöhnliche Karriere hinter sich hat.«

»Hinter sich hat«, wiederholte Vyborg.

»Er ist eigentlich nur deshalb in dieser Abteilung, weil Wilmot ihn in diesem Habitat haben wollte und irgendwo unterbringen musste. Also arbeitet er nun bei uns.«

»Aber er arbeitet gar nicht«, sagte Vyborg unwirsch. »Er sitzt fast nie an seinem Schreibtisch.«

»Das ist schon in Ordnung, Sammi. Ich habe ihm nicht viel aufgegeben. Ich verlasse mich darauf, dass Sie die Arbeit erledigen. Lassen Sie Don Diego in Ruhe; er wird für dieses Habitat noch sehr wertvoll sein — als ein Dozent.«

»Ein Dozent?«, sagte Vyborg atemlos. »Man hat ihn in Mexiko gefeuert, weil er nicht autorisierten Müll gelehrt hat. Wollen Sie etwa zulassen, dass er seine Blasphemien hier verbreitet?«

Das tat Berkowitz' Lächeln nicht den geringsten Abbruch. »Gedankenfreiheit ist nicht blasphemisch, Sammi. Er ist ein großartiger Dozent.«

»Ja, und er lehrt den Rest der Büro-Belegschaft, wie man ohne etwas zu tun über die Runden kommt«, murmelte Vyborg.

»Wenn Sie irgendwelche Unregelmäßigkeiten in dieser Abteilung bemerken, informieren Sie mich sofort darüber. Pronto. Don Diego ist aber ein Sonderfall. Lassen Sie ihn in Ruhe.«

Vyborg erkannte, dass er verloren hatte. Er nickte und erhob sich vom Stuhl. »Ich verstehe. Es tut mir Leid, Sie belästigt zu haben.«

»Sie haben mich nicht belästigt«, sagte Berkowitz großmütig. »Meine Bürotür steht Ihnen immer offen, Sammi.«

Vyborg schaute sich im Büro des Direktors um. Es war viel größer als seins. Es hatte sogar ein Fenster, das auf den Park und den dahinter liegenden schimmernden See hinausging. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging hinaus; ich werde sie beide irgendwie loswerden müssen, sagte er sich.

Als er sich wieder in seinem Büro befand, hatte Vyborgs Laune sich wieder beträchtlich gebessert. Berkowitz wollte Don Diego erlauben, häretisches Gedankengut zu verbreiten, sagte er sich. Dadurch wird Berkowitz genauso schuldig wie der alte Mann selbst. Vielleicht kann ich beide mit einem Streich erledigen.

Doch als er sich wieder an den Schreibtisch setzte, trübte seine Stimmung sich erneut ein. Das heißt, dass ich warten muss, bis wir den Saturn erreicht haben. Das dauert mir aber zu lang. Ich kann nicht monatelang oder gar über ein Jahr warten. Ich muss sie sofort loswerden.

318 Tage nach dem Start

Als Holly am nächsten Morgen in ihr Büro kam, hatte sie bereits eine Nachricht auf dem Computerbildschirm: KOMMEN SIE SOFORT ZU MIR. MORGENTHAU.

Holly grämte sich noch immer, Ruth Morgenthau an Eberlys Schreibtisch sitzen zu sehen. Obwohl es nun schon fast zwei Monate her war, seit Eberly das Büro verlassen hatte, erwartete Holly noch immer, Malcolm dort zu sehen. Als sie die Tür zum Büro des Direktors öffnete, saß allerdings Morgenthau hinterm Schreibtisch. Ihr teigiges Gesicht war düster und ausdruckslos.

»Wo waren Sie gestern Nachmittag?«, fragte Morgenthau barsch, bevor Holly sich noch zu setzen vermochte.

Holly versteifte sich. »Ich habe mir den Nachmittag frei genommen. Ich habe die Arbeit abends zu Hause erledigt.«

»Waren Sie krank?«, fragte Morgenthau.

Holly sagte sich, dass sie mit einer simplen Lüge diese Unterhaltung zu beenden vermochte. »Nein«, erwiderte sie stattdessen. »Ich… ich musste einfach mal für eine Weile aus dem Büro 'raus; das ist alles.«

»Finden Sie, dass Sie zu hart arbeiten?«

»Mir gefällt meine Arbeit.«

Morgenthau trommelte mit ihren Wurstfingern auf der Schreibtischplatte herum. Trotz der verabredeten Kleiderordnung prangten Diamantringe an den Fingern der Frau, und ihr Gewand leuchtete in allen Farben des Regenbogens. Holly bemerkte, dass der Schreibtisch mit Papieren übersät war. Malcolm indes war immer sehr auf Ordnung bedacht gewesen.

»Bitte setzen Sie sich doch, Holly«, sagte Morgenthau.

Holly nahm einen der Stühle vorm Schreibtisch. Ärger keimte in ihr auf. Ich habe das Recht, einen Nachmittag frei zu nehmen, wenn ich das will, sagte sie sich. Ich leite schließlich dieses verdammte Büro. Ich mache die ganze Arbeit. Ich kann gehen und ein wenig Spaß haben, wenn ich will. Aber sie sagte nichts und setzte sich brav hin.

Morgenthau schaute sie für eine Weile an und sagte dann: »Sie wissen, und ich weiß, dass eigentlich Sie dieses Büro leiten. Ich bin nur eine Galionsfigur für Malcolm, während Sie die eigentliche Arbeit tun.«

Holly hätte ihr fast von ganzem Herzen beigepflichtet, hielt aber an sich.

»Ich habe aber nichts gegen dieses Arrangement«, fuhr Morgenthau fort. »Ich finde es sogar recht befriedigend.«

Holly nickte skeptisch und rechnete mit noch Schlimmerem.

»Aber«, sagte Morgenthau, »Sie müssen mich nicht mit der Nase darauf stoßen. Sie müssen mir zumindest nach außen hin den Respekt für meine Position erweisen.«

»Aber das tue ich doch!«

»Gestern haben Sie es jedenfalls nicht getan. Es steht Ihnen nicht zu, sich den Nachmittag frei zu nehmen, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Im Grunde müssten Sie mich sogar um Erlaubnis fragen, aber ich will mal nicht gar so kleinlich sein. Aber wie sieht das denn aus, wenn jemand wie Professor Wilmot eine Auskunft von mir haben möchte und ich ihm sage, meine Assistentin wird die Information beschaffen, aber meine Assistentin ist überhaupt nicht an ihrem Schreibtisch? Sie ist nicht einmal im Büro? Und ich weiß auch nicht, wo sie ist?«

»Sie hätten mich doch anrufen können. Ich habe immer meinen Pieper dabei.«

»Sie müssen mich jederzeit über ihren Aufenthaltsort informieren. Ich will Sie nicht erst suchen müssen.«

Holly wurde immer ärgerlicher. »Sie mögen mich nicht besonders, nicht wahr?«

Im ersten Moment wirkte Morgenthau überrascht, beinahe erschrocken. »Sie sind keine Gläubige«, gestand sie dann. »Und noch schlimmer, sie sind eine Wiedergeborene. Ich finde das…« — sie suchte nach dem passenden Wort — »degoutant. Beinahe sündig.«

»Das war auch nicht meine Entscheidung. Meine Schwester hat sie getroffen, als ich so krank war, dass ich nicht wusste, wie mir geschah.«

»Trotzdem. Sie haben versucht, Gottes Urteil über Sie zu revidieren. Sie haben versucht, dem Tod von der Schippe zu springen.«

»Würden Sie das denn nicht versuchen?«

»Nein! Wenn Gott mich zu sich ruft, dann werde ich mit Freude gehen.«

Je eher, desto besser, sagte Holly sich.

»Aber meine religiösen Überzeugungen stehen hier auch nicht zur Debatte. Ich will, dass Sie mich jederzeit über Ihren Aufenthaltsort informieren.«

»Ich verstehe«, erwiderte Holly und unterdrückte ihren Zorn.

Morgenthau setzte wieder dieses Lächeln auf, das Holly irgendwie gezwungen anmutete, und fügte hinzu: »Natürlich nur während der Bürozeiten. Was Sie nach Dienstschluss tun, müssen Sie selbstverständlich mit Ihrem Gewissen vereinbaren.«

»Selbstverständlich.«

»Sofern es nicht Doktor Eberly betrifft.«

Das ist es also!, sagte Holly sich. Sie ist sauer, weil sie mein Interesse an Malcolm bemerkt hat. Vielleicht weiß sie mehr als ich. Vielleicht sieht sie, dass Malcolm sich auch für mich interessiert!

»Dr. Eberly ist viel zu beschäftigt für irgendwelche persönlichen Engagements, Holly. Sie müssen aufhören, ihn abzulenken.«

Sie versucht ihn zu schützen. Sie stellt sich zwischen Malcolm und mich.

Holly erhob sich. »Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass ich den Nachmittag frei nehmen wollte«, sagte sie kalt. »Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Gut!« Morgenthau klatschte so laut in die Hände, dass Holly erschrak. »Wo wir das nun geklärt hätten — ich werde heute den ganzen Tag nicht im Büro sein. Sie übernehmen die Vertretung.«

»Wo werden Sie denn sein?«, fragte Holly überrascht über den plötzlichen Wechsel der Tonart.

Morgenthau lachte leise und wedelte mit dem Finger in der Luft. »Nein, nein, ich muss Ihnen nicht sagen, wohin ich gehe. Ich bin schließlich Abteilungsleiterin. Ich kann kommen und gehen, wie es mir beliebt.«

»Ja, stimmt. Sicher.«

»Aber nur zu Ihrer Information«, sagte Morgenthau und stemmte sich schnaufend vom Bürostuhl hoch, »ich werde den ganzen Tag mit Malcolm verbringen. Wir werden ein paar Entwürfe für die neue Verfassung erörtern.«


Eberly trank Kräutertee, während Vyborg und Jaansen leise, aber leidenschaftlich diskutierten. Kananga war von dieser Unterhaltung offensichtlich gelangweilt, während Morgenthau sie schweigend verfolgte und dabei Pralinen futterte.

Kananga ist ein Mann der Tat, sagte Eberly sich. Er ist kein tiefgründiger Denker, was aber auch nur von Vorteil ist. Er gibt ein nützliches Werkzeug ab. Morgenthau ist da schon anders. Sie sitzt nur stumm wie eine Sphinx da und beobachtet alles. Was wohl in ihrem Kopf vorgeht? Was wird sie von den hiesigen Vorgängen nach Amsterdam berichten? Vermutlich alles.

»Wenn man den Leuten all diese persönlichen Freiheiten zugesteht«, sagte — beziehungsweise zischte — Vyborg, »wird das Resultat Chaos sein. Anarchie.«

»Die meisten Bewohner sind doch in dieses Habitat gegangen, um repressiven Regimes zu entfliehen. Wenn ihre persönliche Freiheit nicht garantiert wird, dann werden sie die ganze Verfassung ablehnen.« Jaansen lehnte sich auf dem Sofa zurück und lächelte, als ob er die Diskussion schon für sich entschieden hätte.

»Persönliche Freiheit«, spie Vyborg förmlich aus. »Das ist genau die Art von Freizügigkeit, die fast zum Zusammenbruch der Zivilisation geführt hätte. Wenn da nicht die Neue Moralität gewesen wäre…«

»Und die Heiligen Jünger«, warf Morgenthau ein. »Und das Schwert des Islam«, fügte sie mit einem Blick auf Kananga hinzu.

Jaansen schaute sie und Vyborg mit einem Stirnrunzeln an. »Was auch immer Sie davon halten, diese Leute werden keine Verfassung akzeptieren, die nicht ihre historischen Rechte garantiert. Sie sind nur deswegen hier, weil sie der Restriktionen auf der Erde überdrüssig waren.«

Vyborg war da anderer Ansicht. Er führte die Debatte fort.

Der am Ende des Kaffeetischs sitzende Eberly sagte sich, dass Vyborg, der auf dem besten Lehnstuhl des Raums saß und die storchenartigen Beine unter sich angezogen hatte, wie eine zusammengerollte Schlange aussah: dünn, klein, dunkelhäutig und mit bedrohlich glitzernden Augen. Jaansen war das genaue Gegenteil: ruhig, hellhäutig und so stoisch wie ein Gletscher. Und er hatte noch immer diesen verdammten Palmtop in der Hand und spielte damit herum wie mit einem Voodoo-Requisit.

»In einer geschlossenen Ökologie wie dieser dürfen wir keine Wirrköpfe und Unruhestifter dulden«, schaltete Kananga sich ein. »Wir sollten sie ohne Raumanzug aus der Luftschleuse stoßen!«

Morgenthau lachte. »Mein lieber Oberst, wie können wir uns auf Luftschleusen-Justiz verlegen, wenn das Gesetz jedem Bürger einen ordentlichen Prozess für jedes Vergehen garantiert, das er vielleicht begeht?«

»Meine Rede!«, rief Vyborg und schaute Jaansen ins Gesicht. »Wir haben hier keinen Platz für eine Kuscheljustiz.«

Morgenthau schürzte die Lippen und sagte: »Es gäbe vielleicht noch eine andere Möglichkeit.«

»Und welche?«

»Ich habe gehört, dass Wissenschaftler auf der Erde damit experimentieren, Menschen elektronische Sonden in den Schädel einzupflanzen. Sie verbinden die Sonden mit dem Gehirn…«

»Bioelektronik«, sagte Jaansen.

»Ja«, pflichtete Morgenthau ihm bei. »Indem diese Sonden mit verschiedenen Gehirn-Zentren verbunden werden, vermag man das Verhalten einer Person zu kontrollieren und zum Beispiel kriminellen Verhaltensweisen vorzubeugen.«

»Na und?«, fragte Vyborg missmutig.

»Vielleicht können wir solche Sonden verwenden, um auch hier das Verhalten zu kontrollieren«, sagte Morgenthau.

»Den Leuten Sonden ins Gehirn einpflanzen, um ihr Verhalten zu kontrollieren?« Jaansen schauderte.

»Das könnte funktionieren«, sagte Morgenthau.

»Sie würden der Operation aber zustimmen müssen«, gab Vyborg zu bedenken.

»Nicht, wenn sie einer Straftat überführt wären«, wandte Kananga ein.

»Auf jeden Fall wäre es eine Möglichkeit, die Leute zu kontrollieren«, sagte Morgenthau.

»Die Bevölkerung würde dem nie zustimmen«, erwiderte Jaansen und schüttelte den Kopf. »Die Leute sind schließlich nicht blöd. Sie würden der Regierung nie eine solche Macht über sich einräumen.«

»Wir müssten es ihnen doch nicht sagen«, wandte Kananga ein. »Sondern es einfach tun.«

Es entspann sich eine Diskussion, die zunehmend hitzig wurde. Eberly schaute nur zu, hörte zu und süffelte Tee, während sie sich beinahe in die Haare gerieten.

»Dürfte ich wohl einen Vorschlag machen?«, fragte er dann. Er sprach nur leise, aber aller Blicke richteten sich sofort auf ihn.

»Selbst in so genannten Demokratien auf der Erde haben die desolaten Zustände, die durch den Klimakollaps verursacht wurden, zu autoritären Regierungen geführt. Selbst in den Vereinigten Staaten herrscht die Neue Moralität mit eiserner Faust über die meisten Großstädte.«

»Genau aus diesem Grund haben die meisten dieser Leute sich auch diesem Habitat angeschlossen«, legte Jaansen dar. »Weil sie in Freiheit leben wollen.«

»Mit der Illusion von Freiheit«, murmelte Kananga.

»Säkularisten«, grummelte Morgenthau. »Renitente und Ungläubige. Agnostiker und ausgesprochene Atheisten.«

»Im Grunde stimme ich mit Ihnen überein«, sagte Jaansen und ließ den Palmtop zwischen den Händen hin- und herwandern. »Ich bin auch ein Gläubiger. Ich erkenne durchaus die Notwendigkeit einer straffen Kontrolle der Menschen. Aber diese Säkularisten sind keine Dummköpfe. Viele von ihnen sind Wissenschaftler. Und noch mehr sind Ingenieure und Techniker. Ich will damit sagen, wenn wir eine Verfassung vorlegen, die die beanspruchten Freiheitsrechte nicht garantiert, werden sie sie ablehnen.«

»Aber nicht, wenn wir die Stimmen auszählen«, sagte Morgenthau mit einem koketten Zwinkern.

»Lassen Sie die Scherze«, entgegnete Jaansen.

»Das ist alles schon vorgekommen«, sagte sie kichernd.

Eberly stieß einen langen Seufzer aus. Wieder richteten sich alle Blicke auf ihn.

»Niemand von Ihnen hat ein Verständnis für historische Zusammenhänge«, sagte er. »Sonst wüssten Sie nämlich, dass dieses Problem früher schon aufgetreten ist und auch pragmatisch gelöst wurde.«

»Gelöst?«, fragte Vyborg. »Wie denn?«

Eberly lächelte im Bewusstsein des größeren Wissens und sagte: »Vor über hundert Jahren war Russland Teil eines staatlichen Gebildes, das als die Union sozialistischer Sowjetrepubliken bezeichnet wurde.«

»Das weiß ich auch«, sagte Vyborg säuerlich.

»Sowjetrussland hatte eine Verfassung, die die liberalste auf der ganzen Welt war. Sie garantierte jedem Bürger Freiheit und Gleichheit. Und doch war die Regierung eine der repressivsten weltweit.«

»Wie haben sie das denn hingekriegt?«, fragte Jaan-sen interessiert.

»Das war ganz einfach«, erwiderte Eberly. »Inmitten all dieser hehren Verfassungsgrundsätze von wegen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen gab es nämlich eine klitzekleine Klausel, die besagte, dass die Verfassung im Falle eines Notstands zeitweilig außer Kraft gesetzt werden könne.«

»Ein Notstand«, sinnierte Kananga.

»Zeitweilig«, sagte Vyborg.

Eberly nickte. »Es hat auch ganz gut funktioniert. Die Sowjetunion befand sich in einem dauernden Belagerungszustand, und die Regierung herrschte durch Schrecken und Desinformation. Es funktionierte beinahe für ein dreiviertel Jahrhundert, bis die Sowjetregierung unter dem Druck der westlichen Welt, insbesondere der alten Vereinigten Staaten zusammenbrach.«

»Nur dass wir keinen äußeren Feind haben, auf den wir uns berufen könnten«, sagte Vyborg.

Eberly breitete die Hände aus. »Dann geben wir den Leuten eben die beste, gütigste und freiheitlichste Verfassung, die sie je gesehen haben. Aber wir werden dafür sorgen, dass diese Notstands-Klausel eingebaut wird.«

Morgenthau lachte herzhaft. »Und wenn die Verfassung dann in Kraft ist, müssen wir nur noch einen Notstand ausfindig machen.«

»Oder einen konstruieren«, ergänzte Vyborg.

Nun lächelte sogar Jaansen. »Und wenn jemand protestiert…«

»Stecken wir ihm eine neuronale Sonde ins Gehirn«, sagte Morgenthau, »und verwandeln ihn in einen Muster-Bürger.«

»Ein Modell-Zombie«, murmelte Jaansen.

»Oder noch besser«, sagte Kananga grinsend, »wir schmeißen ihn aus der Luftschleuse.«

Drei Tage vor dem Jupiter-Swingby

Eberly beauftragte Jaansen, sein Apartment mindestens einmal die Woche auf Wanzen zu überprüfen.

»Meinen Sie wirklich, dass Wilmot Ihnen nachspioniert?«, fragte der große, blasse Norweger, während er mit einem elektronischen Detektor in der Hand durchs Schlafzimmer ging.

»Ich würde das jedenfalls tun, wenn ich an seiner Stelle wäre«, sagte Eberly.

»Haben Sie sein Büro denn verwanzt?«, fragte Jaansen mit einem Lächeln.

»Natürlich.«

»In drei Tagen fliegen wir am Jupiter vorbei«, sagte Jaansen. »Das ist ein Meilenstein.«

Eberly pflichtete ihm mit einem knappen Kopfnicken bei. »Ich interessiere mich aber mehr dafür, was innerhalb als außerhalb des Habitats geschieht.«

»Wir werden neuen Brennstoff bunkern«, sagte Jaansen, ganz der Ingenieur. »Ohne ihn werden wir den Saturn nicht erreichen.«

»Ich habe andere Dinge im Kopf. Wichtigere Dinge.«

»Zum Beispiel?«

»Die bevorstehenden Wahlen.«

»Sie sind sauber«, verkündete Jaansen und schaltete den Detektor aus. »Keine Kameras, keine Mikrofone und kein Spannungsabfall bis hinunter in den Mikrovolt-Bereich. Hier ist nichts, was nicht hierher gehört.«

»Gut.« Eberly begleitete ihn ins Wohnzimmer zurück und bedeutete ihm, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

»Früher oder später müssen wir die Leute dazu bringen, über eine neue Verfassung und neue Anführer abzustimmen«, sagte Eberly und setzte sich in den Sessel.

Jaansen nickte, steckte den Detektor in die Tasche und zog den unvermeidlichen Palmtop aus einer anderen.

»Ich mache mir Gedanken über die Wahlen«, sagte Eberly.

»Bis dahin ist es noch eine lange Zeit.«

»Aber nicht einmal mehr ein Jahr. Wir müssen uns schon darauf vorbereiten.«

Jaansen nickte und spielte mit dem Palmtop herum.

»Die Wissenschaftler werden für jemanden aus ihren Reihen stimmen, wahrscheinlich für Urbain.«

Wieder ein Kopfnicken von Jaansen.

»Sie stellen einen großen Stimmenblock dar.«

»Aber keine Mehrheit.«

»An sich nicht«, sagte Eberly. »Aber angenommen, die Ingenieure und Techniker stimmen genauso ab wie sie.«

Erkenntnis dämmerte in Jaansens Gesicht. »Das wäre dann freilich eine Mehrheit. Sogar eine große Mehrheit.«

»Deshalb müssen wir irgendwie einen Keil zwischen die Ingenieure und Techniker auf der einen Seite und die Wissenschaftler auf der anderen Seite treiben«, sagte Eberly.

»Und wie sollen wir das anstellen?«

Eberly lächelte. »Ich werde Ihnen erklären, wie ich mir das vorstelle.«

Edouard Urbain versuchte das Zittern zu unterdrücken, das ihn beim Blick aus dem Beobachtungsfenster befiel. Der riesige Planet Jupiter, der vor ein paar Wochen noch nicht mehr als ein heller Stern gewesen war, zeichnete sich nun auch für das bloße Auge als deutlich sichtbare Scheibe ab. Sie war an den Polen deutlich abgeplattet und wurde von Wolkenbändern in gedeckten Farben umspannt, die sich um den Umfang dieser großen Welt schwangen. Vier kleine Sterne flankierten die Scheibe: die Monde, die Galilei mit seinem ersten Teleskop entdeckt hatte.

Urbain wusste, dass die Forschungsstation Thomas Gold sich in einem engen Orbit dicht oberhalb dieser bunten Wolken bewegte. Ich könnte auch dort sein, sagte er sich zum tausendsten Mal. Ich selbst hätte die Teams leiten können, die die Lebensformen auf Europa und Jupiter studieren. Stattdessen bin ich hier in dieser glorifizierten Arche eingesperrt, zusammen mit Renegaten und Verrückten wie diesem Gaeta.

Er wusste, dass es Einbildung war, doch Jupiter schien sich vor seinen Augen aufzublähen. Nein, so nah sind wir nun auch wieder noch nicht, sagte Urbain sich. In drei Tagen erst werden wir den Planeten in seiner ganzen Pracht vor uns haben.

Der Stab der Wissenschaftler und ihre Ausrüstung im Habitat Goddard waren viel kleiner, als Urbain gehofft hatte. Das Universitäts-Konsortium war nämlich nicht bereit, seine besten Leute auf eine jahrelange Reise zum Saturn zu entsenden. Sollten sie etwa Däumchen drehen, während das Habitat in Schleichfahrt zu diesem fernen Planeten unterwegs war? Kommt nicht in Frage. Das Gesicht des Chefwissenschaftlers des Konsortiums erschien in voller, schmerzlicher Schärfe vor Urbains geistigem Auge:

»Wir können doch nicht unsere besten Leute für ein paar Jahre auf Eis legen, Edouard. Sie fliegen mit einem Rumpf-Team zum Saturn. Wenn Sie in einen Orbit um den Planeten gegangen sind, werden wir unsere Top-Forscher in einem Schiff mit Ionentriebwerk zu Ihnen hochschicken, so dass sie in zwei Monaten bei Ihnen sind.«

Diese Schmach brannte noch immer in Urbains Herzen. Ich gehöre also nicht zu ihren besten Leuten. Ich habe mein Leben lang auf dem Mars und auf dem Mond gearbeitet, drei Jahre im Orbit um dieses Höllenloch von Venus verbracht, habe mein Leben der Planetenwissenschaft gewidmet — und dann traut man mir nur zu, Kindermädchen für ein Rumpf-Team aus Wissenschaftlern zu spielen, die auch nur zweite Garnitur sind.

Das schmerzte. Es schmerzte heftig. Zumal seine Frau sich geweigert hatte, mit ihm zu kommen; stattdessen hatte sie die Scheidung verlangt. Sie hatte ihm seit Jahren gesagt, dass es töricht von ihm sei, die politischen Aspekte seiner Karriere zu ignorieren.

»Such dir Freunde«, hatte Jearvne-Marie ihm immer wieder gesagt. »Stell dich gut mit denjenigen, die etwas für dich tun können.«

Doch dazu war er nicht in der Lage. Das war einfach nicht sein Stil. Er hatte gute und solide Arbeit geleistet; nicht unbedingt auf dem Niveau, auf dem man Nobelpreise gewinnt, aber es waren trotzdem wichtige Beiträge gewesen. Und nun dies. Das Ende der Straße. Zum Saturn verbannt. Ich werde im Rentenalter sein, wenn ich endlich aus diesem Habitat herauskomme.

Ich hätte mehr auf Jean-Marie hören sollen. Ich hätte ihren Rat befolgen sollen. Ich hätte auch dem Berater der Neuen Moralität größere Aufmerksamkeit schenken sollen. Sie ziehen nämlich die Strippen hinter den Kulissen. Mittelmäßige Gläubige werden befördert, während kompetente Forscher wie ich auf keinen grünen Zweig kommen.

Ein vergeudetes Leben, sagte er sich.

Und doch flammte beim Blick auf Jupiter, der wie eine Leuchtboje in den dunklen Tiefen des Alls hing, wieder die alte Neugier in ihm auf. Es gibt dort draußen ein ganzes Universum, das der Erforschung harrt! Welten über Welten! Ich werde zwar nicht in der Lage sein, Jupiter und seine Monde zu studieren, aber ich werde vor allen anderen den Saturn erreichen. Ich werde die ersten Echtzeit-Sonden auf Titans Oberfläche hinunterschicken.

Er dachte an das Kettenfahrzeug, das seine Leute gerade bauten. Es wird auf der Oberfläche von Titan kreuzen und in ein paar Wochen mehr Daten über diese Welt sammeln, als sämtliche Wissenschaftler auf der Erde während ihres ganzen Lebens anzuhäufen vermocht hatten. Bevor die jungen und dynamischen Nachwuchskräfte die Ionentriebwerks-Schiffe auch nur besteigen, werde ich schon Daten von Titan senden. Und von der Wolkenschicht des Saturn. Und von den Eisringen.

Vielleicht wird mein Leben doch nicht vergeudet sein, sagte Edouard Urbain sich. Vielleicht werde ich diesmal einen Volltreffer landen. Vielleicht werde ich doch noch einen Nobelpreis einheimsen.

Vielleicht, sagte er sich, wird sogar Jeanne-Marie zu mir zurückkehren.


In der Werkstatt, wo er und sein Team arbeiteten, führte Manuel Gaeta Kris Cardenas um seinen EVA-Anzug herum. Von Helmholtz und seine vier Techniker standen an den Bänken, die zwei Wände des Raums säumten; sie beobachteten, wie ihr Chef und die Nanotech-Expertin langsam um den schweren und klobigen Anzug herumgingen und ihn inspizierten, als handele es sich um eine neue Garderobe für Frankensteins Monster.

Sie war mit einem Köfferchen im Labor erschienen, das sie neben der Tür auf den Boden gestellt hatte, als Gaeta zu ihrer Begrüßung erschienen war. Die Techniker hielten sich davon fern.

Nun schauten sie und Gaeta zum Anzug auf, dessen Kopf- und Schulterpartie sie überragte. Sie glänzte im Licht der Deckenbeleuchtung.

»Was für ein Ungetüm«, murmelte Cardenas. Mit dem Helm und den Gelenk-Armen erinnerte der Anzug sie an eine mittelalterliche Ritterrüstung.

»Er muss so groß sein«, sagte Gaeta, während sie langsam um den Anzug herumgingen. »Steckt nämlich viel Ausrüstung drin.«

»Vielleicht auch noch Platz für eine Bar«, witzelte sie.

»Nee«, erwiderte Gaeta mit einem verschmitzten Grinsen. »Es ist nur so viel Platz, dass ich mich reinquetschen kann. Der Rest ist ausgefüllt mit Sensoren, Kameras, VR-Transmittern, Servomotoren für die Bewegung der Arme und Beine, Strahlenschutz, Lebenserhaltungs-Systemen…«

»Systeme? Plural?«

»Aber sicher. Redundante Systeme müssen sein. Wenn eins ausfällt, springt das nächste ein.«

Cardenas schaute aufs glänzende Finish des Anzugs. »Ist das Cermet?«

»Zum Teil«, sagte Gaeta. »Er besteht außerdem aus vielen Organometallen. Und er hat Halbleiter-Oberflächen, die von Borosilikaten und Buckminsterfulleren geschützt werden.«

»Und wie zieht man ihn an?«

Er führte sie zur Rückseite des Anzugs. »Man steigt durch die Luke ein.«

»Wie der Eingriff in eine altmodische lange Unterhose!«, sagte Cardenas lachend.

Gaeta neigte den Kopf auf die Seite. »So habe ich das zwar noch nie gesehen, aber wo Sie es nun sagen — ja, sie haben Recht. So in der Art.«

»Würden Sie mir zeigen, wie man dort einsteigt?«, fragte Cardenas wieder sachlicher.

»Sicher. Sie möchten hinein? In Ordnung, ich werde Ihnen dabei helfen.«

Cardenas schüttelte den Kopf. »Nein. Sie steigen ein.« Mit einem Kopfnicken wies sie in Richtung des Köfferchens, das sie an der Tür zurückgelassen hatte. »Dann werde ich nämlich Proben von den Rückständen nehmen, die Sie an der Außenseite hinterlassen haben.«

»Proben?«

»Wenn Sie Nanomaschinen haben wollen, die spezifisch auf die Beseitigung Ihrer Rückstände programmiert sind, muss ich genau wissen, woraus sie bestehen — bis hinunter auf die molekulare Ebene.«

Gaeta nickte verstehend. »In Ordnung. He, Fritz, ich muss in den Anzug!«, rief er von Helmholtz zu.

Von Helmholtz und die vier Techniker gingen zum Anzug. Der Cheftechniker hielt inne und fragte: »Dr. Cardenas, brauchen Sie vielleicht Ihren Koffer?«

»Ja, den werde ich brauchen. Danke.«

Er brachte Cardenas das Köfferchen, während zwei der Techniker die Luke des Anzugs öffneten und die anderen zwei die Kontroll-Computer hochfuhren, die an der anderen Seite des Labors standen.

»Sie wollen aussteigen, wenn wir Jupiter passieren?«, fragte Cardenas Gaeta, während von Helmholtz ihr den Koffer gab.

»Ja. Ein paar Millionen VR-Zuschauer werden das Erlebnis des Vorbeiflugs am Jupiter mit uns teilen. Das wird vielleicht ein Spaß.«

»Den Jupiter-Swingby auf einem Weltraumspaziergang beobachten. Das würde ich selbst gern erleben«, sagte Cardenas.

Die Techniker entriegelten die Luke an der Rückseite des Anzugs, und Gaeta ging zu ihnen hinüber. »Sicher, wieso nicht?«, sagte er über die Schulter zu Cardenas. »Fritz, du bist doch fähig, eine VR-Ausrüstung zu improvisieren, nicht wahr?«

»Es wäre mir eine Ehre«, sagte von Helmholtz. Cardenas vermochte indes nicht zu sagen, ob das nun sein Ernst oder Sarkasmus war.

Sie schaute zu, wie Gaeta ein Bein über den Rand der Luke hob, sich an beiden Seiten festhielt und das andere Bein nachzog. Sein Kopf verschwand in der Dunkelheit im Innern des Anzugs.

Sie hörte einen dumpfen Schlag, gefolgt von einer Serie gedämpfter spanischer Flüche.

»Ist ziemlich eng da drin«, sagte einer der Techniker und grinste sie an.

»Ok, ich bin drin«, rief Gaeta. Die Techniker schlossen die Luke und verriegelten sie.

Cardenas ging zur Vorderseite des Anzugs und musste den Kopf in den Nacken legen, um Gaetas Gesicht durchs stark getönte Helmvisier zu sehen.

Der rechte Arm des Anzugs setzte sich mit dem Summen und Surren der Servomotoren in Bewegung.

»Hallo, Chris«, ertönte Gaetas verstärkte Stimme, und er winkte ihr zu. »Wollen wir ein Tänzchen wagen?«

Aber sie hatte sich schon auf den Boden gekniet und öffnete den Koffer, der ihre Analyse-Werkzeuge enthielt. Von wegen Tänzchen.

Zwei Tage vor dem Jupiter-Standby

Die Cafeteria war vom Lärm klirrenden Bestecks und vieler Unterhaltungen erfüllt. Ilja Timoschenko verzichtete darauf, sich an den langen Schlangen vor den verschiedenen Theken anzustellen und komponierte sich lieber ein Menü aus den Verkaufsautomaten. Er hatte ein ›Mampfburger‹-Sandwich und eine Schüssel mit dampfender Suppe auf dem Tablett; damit stand er nun vorm Getränkeautomaten.

»Die Qual der Wahl, was?«

Timoschenko drehte den Kopf und sah, dass Jaansen, einer der Top-Ingenieure, neben ihm stand — groß, schlank und so blass wie die Mitternachtssonne.

Ohne ein Wort schob Timoschenko den Plastikbecher unter die Cola-Düse und drückte auf die Taste. Dann ging er weg und suchte nach einem Tisch, an dem noch niemand saß. Als er das Tablett abstellte, kam jedoch auch schon Jaansen mit einem Salat und einem Glas Milch zu seinem Tisch.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte Jaansen und stellte schon das spartanische Mittagessen auf den Tisch. »Ich muss mit Ihnen sprechen.«

»Worüber?«, fragte Timoschenko. Jaansen war einer der Chefs und stand ein paar Sprossen über ihm auf der Leiter.

»Politik«, sagte Jaansen, zog einen Stuhl unterm Tisch hervor und setzte sich.

Mit einem Mal war Timoschenko der Appetit vergangen. »Ich interessiere mich überhaupt nicht für Politik«, sagte er.

»Früher hatten Sie sich aber dafür interessiert. Sie waren sogar ein engagierter Aktivist.«

»Sie sehen ja, wohin mich das gebracht hat.«

Jaansen machte eine vage Handbewegung. »Aber hier ist es doch gar nicht so schlimm, oder? Wenn Sie schon ins Exil gehen müssen, dann ist dieser Ort besser als die meisten anderen.«

»Sind Sie auch ins Exil geschickt worden?«, fragte Timoschenko spontan.

»Nein, ich bin freiwillig hierher gekommen. Für mich ist das eine Gelegenheit, eine große Engineering-Operation zu leiten.«

»Den Chef zu markieren, meinen Sie wohl.«

»Sie könnten auch ein Chef sein«, sagte Jaansen. »Sogar der oberste Chef von allen.«

Timoschenko schaute ihn finster an.

»Ich meine das wirklich so, Ilja. Sie könnten sich für das Amt des Verwaltungschefs bewerben, sobald die neue Verfassung in Kraft getreten ist.«

»Sie machen wohl Witze.«

»Das ist mein voller Ernst. Sie könnten kandidieren, und Sie hätten gute Aussichten auf den Sieg. Alle Ingenieure und Techniker würden für Sie stimmen. Das ist ein großer Stimmenblock.«

»Und weshalb sollten sie wohl für mich stimmen?«

»Weil Sie einer von uns sind. Alle kennen und respektieren Sie.«

Timoschenko grunzte verächtlich. »Ich habe kaum Freunde. Es kennt mich auch kaum jemand, und diejenigen, die mich kennen, mögen mich nicht besonders. Und ich kann es ihnen nicht einmal verdenken.«

Jaansen ließ aber nicht locker. Er zog den Palmtop aus der Tasche seiner Kutte und gab Zahlen ein, während er sprach.

»Politik ist im Grunde nichts anderes als Arithmetik«, sagte er und tippte fleißig Zahlen ein. »Sie werden von Ihren Kollegen viel mehr respektiert, als Sie glauben. Sie werden eher für sie als für Urbain stimmen, und…«

»Urbain? Er bewirbt sich um ein öffentliches Amt?«

»Natürlich. Er ist schließlich Leiter der Wissenschaftsabteilung, nicht wahr? Die Wissenschaftler glauben, dass ihnen dieses Habitat gehöre. Sie glauben, wir alle müssten ihnen zu Diensten sein. Natürlich wird er kandidieren. Und er wird auch gewinnen, sofern es Ihnen nicht gelingt, die Ingenieure und Techniker hinter sich zu versammeln.«

Timoschenko schüttelte den Kopf. »Ich interessiere mich nicht für Politik«, wiederholte er. Aber er blieb trotzdem sitzen, hörte Jaansen zu und schaute zu, wie er die Zahlen in den Palmtop tippte.


Eine halbe Stunde später, auf der anderen Seite der vollen und lauten Cafeteria, schickte Edouard Urbain sich an, die Mahlzeit zu beenden und ins Büro zurückzugehen. Die kalte Kartoffelsuppe war ein fader Aufguss einer Vichyssoise. Er hatte keine anständige Mahlzeit mehr genossen, seit er Montreal verlassen hatte. Wilmot hat natürlich kein Gespür für eine gute Küche. Wenn ich erst einmal Verwaltungschef bin, werde ich schon dafür sorgen, dass die Köche ihr Handwerk erlernen.

Es gab tausend Dinge zu tun: Der Bau des Rovers war ins Stocken geraten, der Jupiter-Swingby stand kurz bevor, und dieser Eberly wollte eine Verfassung für das Habitat ausarbeiten und sich selbst zum Verwaltungschef aufschwingen.

Unmöglich!, sagte Urbain sich, während er die fade Suppe löffelte. Dies ist eine wissenschaftliche Mission, und dieses Habitat dient einzig und allein der Wissenschaft. Folglich muss ein Wissenschaftler den Regierungschef stellen.

»Sind Sie auch schon so aufgeregt wie ich?«

Urbain schreckte auf. Er schaute hoch und sah, wie der Chefingenieur, der Norweger Jaansen, ihn freundlich anlächelte. Widerwillig bedeute Urbain ihm, auf dem leeren Stuhl an der anderen Seite des Tisches Platz zu nehmen.

»Aufgeregt?«, fragte er, als Jaansen den angebotenen Stuhl nahm.

»Wegen des Jupiter-Swingby.«

»Ach so. Ja, ich glaube schon«, murmelte Urbain, während er den Rest der Suppe löffelte. Dann bemerkte er, dass Jaansen kein Essen auf dem Tisch stehen hatte. »Essen Sie denn nicht zu Mittag?«

»Ich habe schon gegessen«, sagte der Ingenieur. »Ich wollte gerade gehen, als ich Sie allein hier sitzen sah.«

Urbain hätte es eigentlich vorgezogen, allein zu essen. Aber er sagte nichts und griff nach der Teetasse. In den Restaurants wurde eine Art Wein ausgeschenkt. In der Cafeteria aber nicht.

»Ich vermag an gar nichts anders mehr zu denken als an den Swingby«, sagte Jaansen. »Und an die Betankungs-Prozedur. Ich habe alle Punkte des Ablaufs ein Dutzend Mal gecheckt, aber ich werde trotzdem das Gefühl nicht los, dass ich irgendetwas vergessen habe.«

»Dafür haben wir schließlich Checklisten«, sagte Urbain unwirsch.

Jaansen lächelte. »Ja, ich weiß. Aber trotzdem…«

Urbain trank den Tee aus. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen«, sagte er und schickte sich an, aufzustehen.

Jaansen berührte ihn am Ärmel. »Haben Sie noch eine Minute? Etwas hätte ich gern noch mit Ihnen besprochen.«

»Ich muss ins Labor zurück.«

Jaansen nickte; die eisblauen Augen mit den hellblonden Wimpern schauten enttäuscht. »Ich verstehe.«

»Eine Minute, sagen Sie?«, gestand Urbain ihm unter dem Einfluss eines plötzlichen Schuldgefühls zu.

»Vielleicht auch zwei.«

»Was gibt es denn?«, fragte Urbain. Er beugte sich vor, nahm das Tablett vom Stuhl und stellte das Geschirr drauf.

»Ich brauche Ihre Hilfe. Ihre Anleitung.«

»In welcher Angelegenheit?«

Der Ingenieur schaute sich fast verstohlen um, bevor er erwiderte: »Sie wissen doch, dass der Leiter der Human Resources ein Komitee bildet, um eine neue Verfassung für uns auszuarbeiten.«

»Ja, davon habe ich gehört.«

»Und sobald die Verfassung in Kraft getreten ist, sollen wir eine Regierung wählen.«

Worauf will er eigentlich hinaus?, fragte Urbain sich und nickte.

»Ich vermute, dass Sie diese Regierung leiten wollen«, sagte Jaansen.

»Ach was. Will ich das?«

»Sind Sie bereit, ein solches Opfer zu bringen?«, fragte Jaansen mit ernstem Blick. »Das wird eine große Verantwortung sein.«

Urbain wollte etwas sagen; doch dann hielt er inne und formulierte die Worte im Geiste vor, bevor er antwortete: »Ich habe schon ernsthaft darüber nachgedacht. Das ist eine große Verantwortung, da haben Sie völlig Recht. Weil dies jedoch eine wissenschaftliche Mission ist, muss sie auch von einem Wissenschaftler geleitet werden. Als Chef-Wissenschaftler habe ich eigentlich keine andere Wahl. Ich muss die Verantwortung übernehmen.«

»Vorausgesetzt, die Leute wählen Sie überhaupt«, sagte Jaansen.

»Natürlich werden sie mich wählen! Wen sollten sie denn sonst wählen?«

Einen Tag vor dem Jupiter-Swingby

»Und wo werden Sie sein, wenn wir den Jupiter passieren?«, fragte Don Diego.

Holly schaute vom Stachelbeerstrauch auf, den sie an der Böschung anpflanzte. »Im Büro«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich muss ab und zu auch ein wenig arbeiten.«

Der alte Mann wischte sich mit der Rückseite der behandschuhten Hand den Schweiß von der Stirn. »Halten Sie das, was wir hier tun, etwa nicht für Arbeit?«

»Das ist Vergnügen. Ich meine, es ist schon körperliche Arbeit. Aber es ist trotzdem Vergnügen. Wenn ich ›Arbeit‹ sage, dann meine ich damit die Tätigkeit, für die ich angestellt wurde.«

»Sie scheinen aber jeden Tag hier draußen Zeit mit mir zu verbringen«, sagte Don Diego, während sie an einem widerspenstigen spiraligen Stahlkabel zog, das halb im Boden vergraben war.

»Ich bin gerne hier draußen.« Holly wurde sich bewusst, dass sie eigentlich lieber im Freien als im Büro war. Sie genoss es, mit diesem älteren Mann zu arbeiten und zu reden, mit diesem seriösen und zugleich unbekümmerten Mann, der ein so guter Zuhörer war und von dem sie so viel zu lernen vermochte.

»Vorsicht«, sagte Holly, als er das widerspenstige Kabel aus der Erde zu ziehen versuchte. »Es ist vielleicht mit irgendetwas Wichtigem verbunden.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nur Schrott, den die Bautrupps zurückgelassen haben. Anstatt den Bereich zu säubern, wofür sie schließlich auch bezahlt wurden, haben sie die Abfälle die Böschung hinuntergeworfen, wo sie glaubten, dass niemand sie sehen würde.«

Holly ging zu ihm hinüber und half ihm. Gemeinsam zogen sie das wellige Kabel aus dem Boden. Richtig, es war mit nichts verbunden. Nur Schrott, der vom Bau des Habitats übrig geblieben war.

»Vielleicht sollten wir Aufräumtrupps organisieren, die alle Kanäle und Böschungen absuchen«, sagte Holly sich laut. »Auf diese Weise könnten wir vielleicht noch ein paar brauchbare Materialien gewinnen.«

»Ich mache mir mehr Sorgen wegen der Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Stahl rostet, und der Rost sickert in die Trinkwasser-Reservoirs.«

»Das Wasser wird doch in der Kläranlage gereinigt«, sagte Holly.

Er nickte skeptisch. »Ich mache mir trotzdem Sorgen.«

Holly widmete sich wieder dem Stachelbeerstrauch. Sie drückte die frische Erde um den Strauch fest, richtete sich langsam wieder auf und verschränkte die Hände auf dem Rücken.

»Genug für heute«, sagte sie und schaute zum langen Sonnenfenster hinauf. Es lag schon im Halbschatten. »Abendessenszeit.«

»Gestatten Sie, dass ich Sie zum Abendessen in meiner Hazienda einlade?«, fragte Don Diego und zog sich die fleckigen, schmutzigen Handschuhe aus.

Holly lächelte. Sie wusste, dass seine Hazienda ein Einzimmer-Apartment war — etwa mit der gleichen Größe und dem Schnitt wie ihr eigenes.

»Wieso soll ich heute Abend nicht etwas kochen?«, schlug sie vor.

Er wirkte im ersten Moment verlegen und sagte dann: »Sie sind ein Mensch mit vielen Talenten, Holly, aber ich glaube, ich bin doch ein besserer Koch als Sie.«

»Zeigen Sie mir, wie man Chili zubereitet?«, fragte sie begierig.

»Natürlich. Aus Soja und Pintobohnen«, erwiderte er. »Ich werde Ihnen sogar zeigen, wie man die Bohnen so zubereitet, dass sie nicht blähen.«


»Bekomme ich denn nie mehr was zu essen?«, beklagte Manny Gaeta sich. »Die Cafeteria hat wahrscheinlich schon wieder geschlossen.«

»Dann spielt es eh keine Rolle mehr, nicht wahr«, sagte Fritz von Helmholtz unwirsch.

Im Panzeranzug stand Gaeta einen guten halben Meter über den Deckplatten. Er schaute durchs stark getönte Visier des Helms auf von Helmholtz hinab.

»Cabrön«, murmelte Gaeta. Fritz ist mir manchmal so sympathisch wie Hämorrhoiden, sagte er sich.

Von Helmholtz schaute von seinem Palmtop auf und blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. »Wir müssen zuerst noch den Vakuum-Test durchführen.«

»Es ist verdammt heiß hier drin. Ich schwitze.«

»Dann schalte die Kühlung ein«, sagte von Helmholtz ungerührt.

»Ich will die Batterien nicht unnötig belasten.«

»Die laden wir über Nacht wieder auf.«

Gaeta wusste, dass er den Test einfach abzubrechen vermochte, indem er den Anzug herunterfuhr und die Luke öffnete. Er steckte nun schon seit Stunden in diesem Kokon und hatte fast jede Prozedur durchlaufen, die sie brauchen würden, um den Vorbeiflug am Jupiter aufzuzeichnen. Gaeta war müde, verschwitzt und fühlte sich unwohl.

Aber er wusste, dass Fritz Recht hatte. Du musst alles überprüfen. Vergewissere dich, ob auch alles funktioniert. Nicht dass du eine böse Überraschung erlebst, wenn du draußen bist.

»In Ordnung, Vakuum-Test«, murmelte er und überflog die Weihnachtsbaumbeleuchtung der Kontrolllampen, die in den Helmkragen eingelassen waren. Alles im grünen Bereich außer zwei gelben Lampen: eine schlappe Batterie und ein Lüfter, der zu langsam lief. Vielleicht ist das der Grund dafür, weshalb es hier drin so verdammt heiß ist, sagte er sich.

Fritz stand an der großen Überwachungs-Konsole und studierte den Diagnosebildschirm. »Dieser Lüfter wird ausgetauscht werden müssen«, sprach er ins Mikrofon.

Einer der Techniker nickte missmutig. »Die Verabredung zum Abendessen hat sich damit erledigt«, grummelte er.

Fritz richtete sich auf und drehte sich zu Gaeta um. »Komm, meine kleine Sylphe. Zur Luftschleuse Nummer vierzehn.«

Gaeta setzt sich in Bewegung. Der Anzug fühlte sich trotz der Servomotoren, die die Arm- und Beinbewegungen erleichterten, starr an. »Ich fühle mich hier drin wie ein Zinnsoldat«, sagte er Fritz. »Ölkännchen! Ölkännchen!«

Fritz verzog keine Miene. »Die Lager sind selbst schmierend. Wenn der Anzug bewegt wird, schleifen die Gelenke sich mit der Zeit ein.«

»Ja, sicher.«

Gaeta folgte Fritz zur Doppeltür des Labors. Einer der Techniker öffnete sie ihnen. Zu seiner Überraschung sah Gaeta Holly Lane draußen auf dem Gang stehen. Sie machte große Augen, als sie den Anzug auf sich zustapfen sah.

Er bewegte langsam den Arm und krümmte die Finger in einer mechanischen Bewegung. »Hallo, Holly«, rief er.

»Manny? Stecken Sie da drin?«

»Ja.«

Sie präsentierte ihm einen kleinen Plastikbeutel. »Ich habe ihnen etwas Chili mitgebracht. Selbst gemacht.«

»Wir haben im Moment keine Zeit zum Essen«, sagte von Helmholtz. »Wir sind sehr beschäftigt.«

»Kommen Sie doch mit, Holly«, rief Gaeta. »Wir gehen zur Luftschleuse vierzehn runter.« Er setzte den schweren Gang durch den Korridor fort.

»Sie wollen jetzt schon nach draußen gehen?«, fragte Holly und machte ihm hastig den Weg frei.

»Nee. Die Sicherheits-Jungs haben meine EVA gestrichen. Sie wollen gleich eine ganze Truppe rausschicken, um die Brennstofftanks in Empfang zu nehmen, die vom Jupiter kommen. Ich bleibe in der Schleuse, während sie geöffnet wird, um den Leuten nicht im Weg zu sein. Wir werden den Vorbeiflug am Jupiter morgen aufnehmen; das ist nämlich der Zeitpunkt der größten Annäherung.«

»Darf ich dabei zuschauen?«

»Sicher«, sagte Gaeta und freute sich über das nervöse Zucken in Fritz' rechter Wange. »Kommen Sie nur mit.«

Tanker Graham

»He, Tavalera, pass gut auf, wir beginnen nun mit dem Rendezvous-Manöver.«

Raoul Tavalera murmelte eine Obszönität. Ich weiß auch, dass wir mit dem verdammten Rendezvous-Manöver beginnen, entgegnete er dem Skipper stumm. Wieso, zum Teufel, sind wir wohl sonst hier draußen?

Die Graham war kaum mehr als ein Paar leistungsstarker Fusionstriebwerke und eine Wohnkapsel, die die zweiköpfige Besatzung beherbergte: den herben Skipper und Tavalera, der die Tage zählte, bis er sein soziales Jahr beendet hatte und wieder in seine Heimat New Jersey zurückkehren konnte. Er schwor sich, nach der Rückkehr den Boden zu küssen und die Oberfläche des Planeten Erde nimmermehr zu verlassen.

Die kleine Graham hatte drei riesige, mit Wasserstoff- und Helium-Isotopen gefüllte Kugeln im Schlepp, mit denen die Fusionstriebwerke beschickt werden sollten. Die Kugeln würden bald ans näher kommende Habitat angeflanscht werden; nachdem dieser Auftrag dann erledigt war, würden die Graham und ihre zweiköpfige Besatzung in die relative Sicherheit und Behaglichkeit der Station Gold zurückkehren, die sich im Orbit um den Jupiter befand.

Der Skipper hatte sich auf dem Kommandantensitz angeschnallt; ihr hässliches, teigiges Gesicht verschwand fast völlig unter dem Sensor-Helm. Alles, was Tavalera von ihr sah, war ihr fieses Pferdegebiss und der versiffte Overall, den sie trug, seit sie die Raumstation vor vier Tagen verlassen hatten.

Als Tavalera zum ersten Mal zum Jupiter gekommen war, hatte er sich über die Aussicht gefreut, in die Wolken von Jupiter einzutauchen. Vor seinem geistigen Auge lief eine waghalsige Operation ab, bei der er in die obere Schicht von Jupiters wirbelnden Wolken eintauchte und Isotope aus der abgrundtiefen Atmosphäre des Planeten schöpfte. Riskant und aufregend. Und lebensnotwendig.

Fusionsbrennstoff vom Jupiter versorgte nämlich die Kraftwerke und Nuklearraketen der Zivilisation im ganzen Sonnensystem, von der Erde bis hin zum Asteroidengürtel und darüber hinaus.

Damals hatte Tavalera sich noch ein aufregendes Leben vorgestellt, wo er spannende Missionen in Jupiters Wolken durchführte und von Schwärmen von Groupies angeschmachtet wurde. Die Realität war stinklangweilig. Die spektakulären Tauchgänge in die wirbelnden Wolken wurden von robotischen Raumfahrzeugen erledigt, die aus der Sicherheit der Station Gold ferngesteuert wurden. Tavaleras einzige Flugmission bestand in routinemäßigen Shuttleflügen und darin, Brennstofftanks zu Schiffen aus der Erde-Mond-Region oder dem Gürtel zu transportieren. Und die Frauen an Bord der Station suchten sich die Männer nach dem Kriterium des Ranges aus, was bedeutete, dass Tavalera — ein popeliger Ingenieur, der sein soziales Jahr ableistete — ziemlich weit unten auf der ›Wunschliste‹ stand. Außerdem, sagte er sich griesgrämig, waren die meisten Frauen eh hässlich, und die paar hübschen waren wahrscheinlich lesbisch.

Er begann die Missionen zu zählen, zählte die Tage und Stunden und Minuten, bis er endlich entlassen wurde und nach Hause fliegen durfte. Diese Mission war besonders langweilig gewesen: Vier geschlagene Tage lang schleppte er drei große Brennstoffbehälter zu einem Rendezvous-Punkt mit dem näher kommenden Habitat, das zum Saturn unterwegs war. Tavalera war schon seit vier Tagen nicht mehr aus dem Overall herausgekommen und sah dementsprechend aus. Der Skipper hat ihn deswegen gefrotzelt und gefragt, ob er denn nicht mit den Kleidern unter die Dusche gehen wolle. Schlampe!, sagte er sich.

Alles, was er nun zu tun hatte, war still zu sitzen und die Anzeigen auf der Steuerkonsole zu beobachten, während der Skipper die drei großen Tanks zum anfliegenden Habitat manövrierte. Es war eine schwierige Mission gewesen; sie hatten den meisten Brennstoff der Graham schon dafür verbraucht, über den Nordpol des Jupiter aufzusteigen, um sich der fünfzig Millionen Elektronenvolt-Synchrotron-Strahlung zu entziehen, die um den Äquator des Planeten tobte. Dann hatten sie sich weiter als auf allen bisherigen Missionen vom Jupiter entfernen müssen — ganze zwanzig Planetendurchmesser in Richtung der Sonne —, bis sie die große Magnetosphäre des Planeten mit der starken Strahlung verlassen hatten. In der der Sonne abgewandten Richtung erstreckte der Schweif der Magnetosphäre sich fast bis zur Umlaufbahn des Saturn.

Der Hauptbildschirm zeigte das Habitat in einer Falschfarben-Infrarotdarstellung. Tavalera schaute zum Beobachtungsfenster auf und sah die Goddard von trübem Sonnenlicht eingerahmt, das vom langen röhrenförmigen Körper reflektiert wurde. Für ihn hatte das Habitat die Anmutung eines Abflussrohrstücks, das lautlos durch den leeren Raum trieb.

»Löse Tank Nummer eins«, sagte der Skipper mechanisch.

Tavalera sah, dass die Freigabelampe grün aufleuchtete. Er vergrößerte die Darstellung auf dem Bildschirm und sah eine Armada von Technikern in Raumanzügen und Einmann-Raumgleitern am anderen Ende des Habitats hin und her wuseln: Sie warteten darauf, den Kugeltank abzufangen und ans fliegende Abflussrohr anzuflanschen.

Bei Tank Eins lief alles reibungslos, wie auch bei Tank Zwei.

»Oh, oh«, sagte der Skipper plötzlich.

Tavaleras Herz krampfte sich in der Brust zusammen. Es gab Probleme.

»Tank Drei hängt«, sagte sie ruhig. »Du wirst rausgehen und ihn losmachen müssen.«

Vor dieser Eventualität hatte Tavalera sich schon die ganze Zeit gefürchtet. Er hatte keine Probleme damit, in einem Schiff durchs Vakuum des Raums zu fliegen, nicht einmal in einer so winzigen Kiste wie der Graham. Aber mit nichts anderem als einem dünnen Raumanzug dort draußen zu sein — das machte ihm wirklich Angst.

Der Skipper klappte das Helmvisier hoch. »Was ist los, Sonnyboy; hast du mich nicht verstanden?«, fragte sie schroff. »Steig in einen Anzug! Wir müssen den Tank lösen, bevor dieses verdammte Habitat außerhalb unserer Reichweite ist.«

Wir, sagte Tavalera sich. Sie sagt, ›wir‹ müssten die Panne beheben. Aber sie meint nur mich. Sie selbst bleibt schön hier drin.

Widerwillig löste er den Gurt, stieß sich vom Sitz ab und schwebte in den rückwärtigen Bereich des Moduls, wo die Raumanzüge aufbewahrt wurden. Es dauerte nur etwa zwanzig Minuten, in den Anzug zu steigen und die Schläuche anzuschließen, doch der Art und Weise nach zu urteilen, wie der Skipper ihn verfluchte, schien es Stunden zu dauern. Schließlich kam sie zu ihm herüber und prüfte ihn aus; sie machte das aber so fahrig, dass Tavalera wusste, dass sie geschludert haben musste. Dann schob sie ihn zur Luftschleuse.

»Mach schon, du Lahmarsch.«


Gaeta war hungrig, müde, verschwitzt und überhaupt nicht gut drauf, während er darauf wartete, dass die Techniker die innere Luke der Luftschleuse öffneten.

Wie er sie aus dem Innern des gepanzerten Anzugs betrachtete, fragte er sich, wieso die idiotas tarugas so lang brauchten, nur um die richtigen Zahlen in die an der Wand montierte Tastatur der Luftschleuse einzugeben.

Fritz legte die Hand auf den Ohrhörer und murmelte etwas ins Mikrofon.

»Wieso dauert das so lang?«, fragte Gaeta ungehalten.

»Sicherheitsanweisung«, sagte Fritz. »Sie haben ein Team auf einer EVA und wollen sichergehen, dass sie nicht in der Nähe der Luftschleuse sind, wenn wir sie öffnen.«

»Maldito. Ich will doch gar nicht nach draußen, ich will nur in der offenen Luftschleuse stehen. Hast du ihnen das denn nicht gesagt?«

»Sie wissen…« Fritz neigte den Kopf und legte wieder die Hand auf den Ohrhörer. »Wiederholen Sie das noch mal?« Er hörte zu, nickte und schaute zu Gaeta auf. »Noch fünf Minuten. Dann können wir die Luftschleuse evakuieren.«

»Fünf Minuten«, grummelte Gaeta.

Holly trat vor ihn; sie wirkte wie eine kleine Elfe, als sie zum Helm visier aufschaute.

»Besteht irgendeine Möglichkeit, dir das Chili zukommen zu lassen?«, fragte sie mit einem Lächeln. »Du musst doch schon am Verhungern sein da drin.«

Er erwiderte ihr Grinsen und fragte sich, in welchem Maß sie sein Gesicht durchs stark getönte Visier überhaupt zu sehen vermochte. Er dankte ihr stumm für den Gefallen, den sie ihm — unwissentlich — getan hatte. Gaeta hatte nämlich schon seit über einem Jahr versucht, einen Flug im Habitat mit dem Ziel Saturn zu ergattern. Dann hatte Wendell ihn aus dem Hauptquartier der Astro Corporation angerufen, und in weniger als zwei Wochen war alles arrangiert worden. Er hatte nicht mehr zu tun, als ein Auge auf dieses dürre Mädchen zu halten, was überhaupt kein Problem war. Und als Gaeta nun auf Holly hinabschaute, wurde er sich bewusst, dass sie gar nicht dürr war; sie war schlank, geschmeidig und noch dazu verdammt attraktiv. Una guapa chiquita.

»Ich bin wirklich schon am Verhungern«, sagte er zu Holly, »aber ich darf diese Blechbüchse erst dann wieder öffnen, wenn der Test gelaufen ist, den wir durchführen wollen.«

Sie nickte leicht verdrießlich.

Plötzlich verscheuchte Fritz sie mit einem Winken von Gaeta und sagte den Technikern, dass sie die innere Luke öffnen sollten.

»Ich dachte, du hättest fünf Minuten gesagt«, sagte Gaeta ebenso ungehalten wie überrascht.

»Fünf Minuten, bis wir die äußere Luke öffnen dürfen«, sagte Fritz nervös, während einer der Techniker den Code der Luke eingab. »Wir wollen uns jetzt schon darauf vorbereiten. Ich habe auch noch nichts zu Abend gegessen.«

Gaeta lachte, als die schwere Luke sich einen Spalt weit öffnete. Zwei Techniker zogen sie ganz auf. Der klobige Anzug passte nämlich nur durch die große Frachtluke der Luftschleuse. Der Anzug hatte keine beweglichen Teile außer den Gelenken für die Arme und Beine. Der darin eingesperrte Gaeta hatte das Gefühl, einen Panzer zu fahren.

Er erhaschte einen Blick auf Holly, die an der Seite stand und gespannt zuschaute, während er über die Schwelle der Luke stapfte und mit den gestiefelten Füßen im Innern der Luftschleuse zum Stehen kam.

»Schließe die innere Luke«, ertönte Fritz' spröde Stimme im Helmlautsprecher.

»Bestätige Schließen der inneren Luke«, sagte Gaeta.

Sie waren nun alle aus seinem Blickfeld verschwunden. An der Wand links neben sich sah er die Schaltfläehe der Luftschleuse mit den roten und grünen Kontrolllampen. Das Licht wurde gedämpft, als die innere Luke sich schloss, und eine der roten Lampen wechselte über Gelb zu Grün.

Gaeta war allein in der kahlen Kammer eingesperrt, wie ein Roboter in einer metallenen Gebärmutter. Er spürte einen Druck auf der Blase, doch den spürte er immer, wenn er nervös war. Das würde sich wieder legen. Und das wäre auch besser so, sagte er sich; wir haben nämlich darauf verzichtet, einen Katheter zu legen.

»Auspumpen«, sagte Fritz.

»Auspumpen«, wiederholte er.

Er hörte die Pumpen nicht, die die Luft aus der Kammer absaugten, und spürte nicht einmal die Vibrationen durch die dicken Sohlen der Anzugstiefel. Wie oft habe ich schon in diesem Anzug gesteckt, sagte Gaeta sich. Das erste Mal bei der Wanderung durchs Mare Imbrium. Dann beim Sturz in die Wolkendecke der Venus. Und beim Eintauchen in die Jupiteratmosphäre. Vielleicht ein Dutzend Testläufe für jeden Stunt. Insgesamt fast fünfzigmal. Ich fühle mich hier drin fast schon wie zu Hause.

»Öffne Außenluke in dreißig Sekunden«, sagte Fritz.

»Öffnung in dreißig.«

»Mach aber keine Dummheiten.«

Gaeta schüttelte den Kopf im Helm. Mach dir nicht ins Hemd, Fritz, sagte er sich. »Ich werde wie eine Statue hier stehen bleiben«, versprach er. »Keine Tricks.«

»Zehn… neun…«

Trotzdem würde es mir gefallen, sagte Gaeta sich, mal kurz nach draußen zu gehen und ein bisschen rumzudüsen. Vielleicht einen Kreis ums Habitat fliegen. Wir müssen den Anzugs-Antrieb früher oder später ohnehin testen.

»Drei… zwei…«

Fritz würde durchdrehen, sagte Gaeta sich mit einem stummen Lachen.

»Null.«

Die Außenluke glitt langsam auf. Zuerst sah er nichts als schwarze Leere, doch dann passte die Polarisierung des Visiers sich an, und die Sterne erschienen. Tausende von Sternen. Millionen. Helle kleine Lichtpunkte perforierten die Leere dort draußen wie funkelnde Diamanten, die auf einem Tuch aus schwarzer Seide ausgestreut waren. Und an einer Seite floss der leuchtende Strom der Milchstraße, ein verschlungener Pfad, der sich glühend durch den Himmel zog — geheimnisvoll und verlockend.

Gaeta war kein religiöser Mensch, doch jedes Mal, wenn er die Majestät der wirklichen Welt sah, bekam er feuchte Augen und murmelte die immer gleiche Lobeshymne: »Die Erde ist des Herrn, und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.«

Rendezvous mit Hindernissen

Wie ein Hummer, der über den Meeresboden kroch, hangelte Tavalera sich am steifen Kabel aus Buckminsterfulleren entlang, das die Graham mit der Brennstoffkugel verband. Als er den Tank erreicht hatte, kletterte er vorsichtig die Sprossen hinauf, die in die Metallkugel eingelassen waren. Als er das Verbindungsstück erreichte, schlang er eine Leine um die nächste Sprosse, die aus der gewölbten Oberfläche des Tanks ragte. Er hatte Bedenken, ohne durch eine Leine gesichert zu sein im leeren Raum zu arbeiten, aber die Anzugsleinen waren zu kurz, um die Entfernung zwischen der Luftschleuse der Graham und dem Verbindungsstück am Brennstofftank zu überbrücken. Als er sicher vertaut war, beugte er sich so weit nach vorn, wie das im Raumanzug möglich war, und versuchte die Verbindung, die sich der Entriegelung widersetzte, mit der Helmlampe anzustrahlen.

Jedes Mal, wenn er eine EVA absolvieren musste, rechnete er damit, zu erfrieren und im eisigen Vakuum des Raums zu erstarren. Und jedes Mal war er dann wieder überrascht, dass es im Anzug so warm wurde. Fünf Minuten hier draußen, und ich schmore wie im Kochtopf eines Kannibalen, sagte er sich missmutig. Er blinzelte den Schweiß aus den Augen und verfluchte sich, weil er vergessen hatte, ein Stirnband anzulegen.

»Und?« Die Stimme des Skippers drang noch gehässiger als sonst aus dem Helmlautsprecher.

»Ich suche die Stelle, wo es hängt«, sagte Tavalera. »Gib mir noch ein paar Minuten.«

»Richte die Kamera drauf, dass ich auch was sehe.«

Ich würde dir die Kamera am liebsten in deinen knochigen Hintern schieben, grummelte Tavalera stumm. Er tat jedoch wie geheißen, löste die Minicam vom Ausrüstungsgürtel und ließ sie im Schlitz in der linken Anzugschulter einrasten. Das Licht der Kamera und der Helmlampe verschmolzen miteinander.

Tavalera schüttelte den Kopf und sagte: »Ich weiß nicht, wo es hängt. Aus meiner Sicht ist alles in Ordnung.«

Der Skipper murmelte etwas, das zu leise war, als dass er es verstanden hätte. »Überprüfe den Empfänger«, sagte sie dann.

Tavalera überprüfte stattdessen die Sicherheitsleine. Er war nämlich nicht darauf erpicht, vom Brennstofftank abzudriften und im interplanetaren Raum zu verschwinden. Es waren zwar viele Leute vom Habitat draußen, aber er vermochte sich nicht darauf zu verlassen, dass sie ihn rechtzeitig erreichen würden. Oder es auch nur versuchen würden.

»Und?«, ertönte es noch gereizter.

»Ich arbeite daran«, schnauzte er zurück.

Der Empfänger hatte den Selbsttest beendet: Die Batterie war fast geladen, und das Gerät empfing das Steuersignal vom Schiff.

»Muss ein mechanisches Problem sein«, sagte Tavalera.

»Versuch es mit der Überbrückung.«

»Das nützt nichts, wenn es sich um ein mechanisches Problem handelt.«

»Versuch es mit der Überbrückung«, wiederholte der Skipper.

Tavalera schnaufte ärgerlich und fragte sich, wie viel Strahlung er pro Sekunde wohl abbekam; dann tippte er den Überbrückungsbefehl in die kleine Tastatur des Empfängers, was mit den Handschuhen des Raumanzugs gar nicht so leicht zu bewerkstelligen war.

»Hat keinen Zweck«, meldete er.

»Ich sehe es auch«, sagte der Skipper. »Es muss an der Mechanik liegen.«

»Stimmt.« Das habe ich dir doch gesagt, du taube Nuss, fügte er stumm hinzu.

»Wenn wir es nicht in vierzehn Minuten geschafft haben, werden wir das Rendezvous verpassen. Das Habitat wird dann zu weit von uns entfernt sein.«

Und dann können wir heimgehen, sagte Tavalera sich. Soll doch jemand anders den verdammten Tank zu diesen Pappnasen fliegen. Wer, zum Teufel, hat ihnen überhaupt gesagt, dass sie zum Saturn fliegen sollen?

»Du wirst ihn manuell lösen müssen«, sagte der Skipper.

»Na toll.«

»Mach schon!«

Er sah, dass es unmöglich war, die Metallklinke mit den Händen zu öffnen. Sie bestand aus massivem Asteroiden-Aluminium, war eine robuste Ausführung und ließ sich nur mit dem richtigen elektronischen Befehl entriegeln. Wenn sie sich nämlich zu leicht öffnete, gab sie den Tank vielleicht vorzeitig frei oder verursachte sogar eine Kollision.

»Durchtrenn sie!«, sagte der Skipper. »Nimm den Laser!«

Tavalera schaute zur Graham auf, die vielleicht hundert Meter vom Kugeltank entfernt war. Für ihn schien sie aber tausend Kilometer weit entfernt. Durch die transparente Blase des Besatzungsmoduls sah er den Skipper auf dem Kommandantensitz thronen; ihre Gesichtszüge vermochte er jedoch nicht zu erkennen. Ist auch besser so, sagte er sich. Im Vergleich zu ihr sieht selbst eine Vogelscheuche noch gut aus.

»Mach schon«, drängte der Skipper, »die Uhr läuft.«

Er zog den Hand-Laser aus dem Ausrüstungsgürtel und fragte sich, ob er überhaupt stark genug war, um die Aluminiumklinke zu durchdringen. Wahrscheinlich saugt er mir nur die Anzugbatterien leer, und ich ersticke dann hier draußen. Aber das wird sie wohl nicht jucken.

»Mach schon!«

»Ich mach' ja schon«, schrie er zurück. Er entsicherte den Laser und führte ihn bis auf einen Zentimeter an die widerspenstige Klinke heran.

Er verzog das Gesicht und betätigte den Abzug. Die störrische Klinke sprühte Funken.


Der an der Luftschleuse stehende Gaeta schaute ins Universum hinaus und widerstand dem Drang, eine Runde zu fliegen.

»Alle Systeme im grünen Bereich«, sagte Fritz ihm. »Noch vier Minuten bis zum Testende.«

Vier Minuten, sagte Gaeta sich. Ich wette, ich könnte in vier Minuten einmal ums Habitat herumfliegen.

Während er den Blick schweifen ließ, sah er zwei große Kugeltanks in sein Blickfeld driften; ein paar Gestalten in Raumanzügen kletterten auf ihnen herum. Die Brennstofftanks, sagte er sich. Ich sollte den Leuten lieber nicht ins Gehege kommen. Männer bei der Arbeit. Und Frauen.

Und dann wanderte Jupiter durch die Drehung des Habitats ins Bild — eine entfernte große Kugel, mit blassen Farben gemasert und an den Polen abgeflacht wie ein Strandball, auf dem ein Kind saß. Und dann erschien noch eine Kugel, weiter entfernt als die anderen — oder vielleicht war sie kleiner.

Noch ein Brennstofftank? Gaeta erinnerte sich, dass jemand gesagt hatte, es seien insgesamt drei. Ein kleines Raumschiff schwebte in der Nähe des Tanks. Wahrscheinlich das Transportschiff, sagte er sich. Dann sah er, dass der Tank Funken sprühte. Was, zum Teufel, machen die da?

»Drei Minuten«, ertönte Fritz' monotone Stimme. Er klang gelangweilt.

Gaeta grinste. Ich hab' genug Saft im Antriebstank, um bis zu diesem Abflussrohr zu fliegen, sagte er sich. Spätestens dann wäre Fritz wohl nicht mehr gelangweilt!

»Worüber lachst du denn?«

Gaeta wurde sich bewusst, dass er vernehmlich gelacht haben musste, und Fritz hatte es empfangen. »Lachen? Wer, ich?«

»Nein, der Mann im Mond«, erwiderte Fritz. »Worüber hast du gelacht?«

»Über gar nichts«, sagte Gaeta und sagte sich zugleich, was für ein Spaß es wäre, aus der Schleuse zu springen und einen Rundflug ums Habitat zu machen.


»Und?«, fragte der Skipper gereizter als je zuvor.

Tavalera schaltete den Laser aus und schaute auf die Klinke. Der Strahl hatte sie zur Hälfte durchtrennt.

»Gib mir noch ein paar Minuten«, sagte er.

»Mach schon voran. Das Fenster schließt sich in weniger als zehn Minuten.«

Tavalera nickte im Kugelhelm und schaltete wieder den Laser ein. Gleißende Funken stoben.

»Wieso die Verzögerung?«, ertönte eine Männerstimme im Lautsprecher.

Wahrscheinlich der Boss der Habitats-Besatzung, der auf den dritten Brennstofftank wartet, sagte Tavalera sich.

»Wir haben ein Problem mit dem Entriegelungsmechanismus des Tanks«, antwortete der Skipper. »Wir arbeiten dran. Wir werden ihn in ein paar Minuten zu euch schicken.«

Ihre Stimme war honigsüß im Vergleich zu dem Ton, den sie ihm gegenüber anschlug, sagte er sich.

»Der Befestigungspunkt dreht sich aus der Position«, sagte die Stimme gereizt. »Und meiner Besatzung läuft die Zeit davon. Einen so langen Kontakt hatten wir nicht eingeplant.«

»Ich werde den Anflugwinkel anpassen«, sagte der Skipper angespannt. »Das sollte kein Problem sein.«

»Die Zeit drängt.«

»Ja, ja, nur mit der Ruhe. Wir arbeiten dran.«

Wir, sagte Tavalera sich missmutig.

»Tavalera«, schrie der Skipper ihn so laut an, dass er zusammenzuckte. »Erledige das endlich!«

»Ich bin fast durch«, sagte er und drehte sich, damit sie sah, dass die Klinke fast schon durchschnitten war.

Dann ging der Laser aus.

»Was ist denn jetzt wieder los?«, keifte sie.

»Weiß nicht«, murmelte Tavalera und schüttelte das nutzlose kleine Werkzeug. »Ich glaube, der Kondensator muss wieder aufgeladen werden.«

»Brich sie durch!«

»Hä?«

»Die Klinke, du Volltrottel! Sie ist doch fast schon durchtrennt. Brich sie ab! Sofort!«

Ohne weitere Überlegung ließ Tavalera den Laser los und packte die Metallklinke mit beiden behandschuhten Händen. Sie gab aber keinen Millimeter nach.

»Brich sie ab!«, schrie der Skipper ihn an. »Mach schon!«

Verzweifelt packte Tavalera den Laser mit einer Hand, während er mit der anderen die Klinke gepackt hielt. Vielleicht hat der Kondensator doch noch etwas Power, sagte er sich und betätigte den Abzug.

Es geschah alles so plötzlich, dass er keine Chance hatte, es zu verhindern. Der Laser feuerte eine Salve von Pikosekunden-Pulsen. Dann hatte Tavalera die Klinke in der Hand und verlor das Gleichgewicht. Er taumelte und ließ den Laser los. Der wirbelte zum Ende der Leine, wurde abrupt abgebremst und schnellte wieder zu Tavalera zurück.

Dabei wurde noch eine Salve von Pulsen abgefeuert, die ihn ins Bein trafen.

Er schrie schmerzerfüllt auf. Der Brennstofftank riss sich von der Graham los und driftete ab in den Raum.

»Verdammt! Er entfernt sich von uns!«, rief der Boss der Habitat-Besatzung.

»Ich kann ihn nicht stoppen«, schrie der Skipper zurück.

Tavalera war das egal. Der Schmerz, der ihm durchs Bein schoss, war so stark, dass er fast die Besinnung verlor. Er wusste, dass er sterben würde — die Frage war nur, ob er eher verbluten oder ersticken würde, während die Luft aus dem Anzug entwich.

Rettung

Gaeta hatte nichts anderes zu tun, als in der Luftschleuse zu stehen und darauf zu warten, dass Fritz ihn übers Ende des Tests informierte. Also tippte er auf die Tastatur am Ärmel des Anzugs, um den Gesprächen der Crew zu lauschen, die die Brennstofftanks am Habitat anflanschte.

Offenbar gab es Probleme mit dem dritten Tank — er war noch immer draußen beim Transportschiff, und jemand machte sich mit einem Laser-Schweißbrenner daran zu schaffen.

»…verdammter Idiot«, hörte er die keifende Stimme einer Frau, »…wie, zum Teufel, hast du nur den Anzug beschädigt?«

»Ich brauche Hilfe!« ertönte eine ängstliche Stimme. »Ich blute.«

Bluten?, fragte Gaeta sich. Beschädigter Anzug?

Dann sagte eine dritte — männliche — Stimme ebenso verärgert wie besorgt: »Der Tank ist vom Kurs abgekommen! Wir kommen nicht an ihn ran!«

»Ich kann auch nichts machen«, jammerte die Frau. »Er hat es vermasselt.«

»Helft mir«, rief die Stimme des Verwundeten.

»Wir können dich nicht erreichen, verdammt!«, belferte der Mann. »Du driftest in Gegenrichtung ab und bist fast schon außerhalb unserer Reichweite.«

»Ich sterbe…«

»Das hast du deiner eigenen Dummheit zu verdanken«, kreischte die Frau.

Gaeta schaltete wieder auf die Interkom-Frequenz um und sprach ins Helmmikrofon: »Schalte alle Kameras an, Fritz.«

»Was? Was hast du denn vor?«

»Schalte die Kameras an,, verdammt!«, blaffte Gaeta und stürzte sich aus der Luftschleuse. Das ist ein Job für Superman, sagte er sich.

Die Triebwerke des Anzugs zündeten schon beim ersten Versuch, und Gaeta sah, dass er in der Grabesstille des leeren Raumes auf den vagabundierenden Brennstofftank zuflog. Doch im Helmlautsprecher herrschte alles andere als Stille.

»Komm zurück!«, schrie Fritz. »Du kannst…«

Gaeta wechselte einfach von der Interkom-Frequenz zur hektischen Kommunikation der anderen.

»…können, verdammt noch mal, nichts machen«, sagte der Chef der Besatzung.

»Er wird dort draußen umkommen!«, sagte die verzweifelte Frau.

Der Verwundete selbst meldete sich nicht mehr.

»Dranbleiben«, sagte Gaeta ins Mikrofon. »Ich werde ihn zurückholen.«

»Wer, zum Teufel, ist das denn?«

»Manuel Gaeta«, stellte er sich vor. »Ich bin zu dem Verletzten unterwegs. Seht ihr mich?«

»Ja!«, sagten der Besatzungs-Chef und die Frau im Chor.

Der Brennstofftank wurde größer. Mein Gott, was für ein Brocken, sagte Gaeta sich. Trotz allem musste er lachen. Huevos tremendos.

»Wie ist sein Name?«, fragte Gaeta, während er auf den Brennstofftank zuflog.

»Was?«

»Wer hat das gefragt?«

»Der Name der verletzten Person. Wie ist ihr Name?«

»Tavalera«, erwiderte die Frau. »Raoul Tavalera.«

Ein Chicano, sagte Gaeta sich. »He, Raoul, habla Espanol?«, rief er.

Keine Antwort.

»Raoul!«, schrie Gaeta. »Raoul Tavalera! Wo bist du? Bist du in Ordnung?«

»Ich bin… hier.« Die Stimme klang sehr schwach. »Aber nicht mehr lange.«

»Halte durch, Mann«, sagte Gaeta. Der Brennstofftank füllte bereits den größten Teil des Blickfelds aus und raste wie eine riesige runde Metall-Welt auf ihn zu. »Dein Anzug hat sich wahrscheinlich selbst abgedichtet und auch die Blutung gestillt.«

Nichts.

»Wo bist du verletzt, Mann?«, fragte Gaeta, während er den Anflug verzögerte und sich für die Landung auf der riesigen Kugel vorbereitete.

»Am Bein…«

»Ach, das ist nicht so schlimm. Du kommst schon wieder in Ordnung.«

»He, Gajetta oder wie auch immer du heißt«, unterbrach der Chef der Besatzung ihn. »Ich hole meine Leute rein, um den Sauerstoffvorrat zu ergänzen und schicke dann noch ein paar Gleiter raus, um den Tank abzufangen.«

»Was ist mit Tavalera?«, fragte die Frau unwirsch.

Gaeta driftete um die Wölbung des Tanks und hielt nach dem Verletzten Ausschau. »Ich sehe ihn«, rief er. »Ich werde mich um ihn kümmern.«

Tavalera trieb, von der Leine gehalten, ein paar Meter über der Oberfläche des Tanks. Gaeta sah, dass sein linkes Bein von drei kleinen Brandlöchern perforiert war.

Sonst schien der Hartschalenanzug unbeschädigt; die Sicherheits-Manschette musste das Bein wie vorgesehen abgedichtet haben.

Gaeta löste Tavaleras Leine und hängte sie in seinen Panzeranzug ein. Dann machte er sich mit dem verletzten Astronauten in den Armen auf dem Rückweg zur Luftschleuse des Habitats.

»Hörst du mich, Mann?«, fragte er Tavalera und klopfte ihm auf den Kugelhelm.

Tavalera schlug die Augen auf. »Wer, zum Teufel, bist du?«, fragte er benommen.

Gaeta grinste. »Dein Schutzengel, Mann. Ich bin dein verdammter Schutzengel.«


Holly beobachtete die ganze Aktion auf Fritz' tragbarem Monitor. Sie verfolgte mit den anderen Technikern, wie Gaeta mit dem schlaffen Astronauten in den mächtigen Armen des Panzeranzugs zur Luftschleuse zurückkehrte.

Er hat ihn gerettet, sagte Holly sich mit klopfendem Herzen. Er hat diesem Mann das Leben gerettet.

Während die Techniker die Luftschleuse mit Luft füllten, lief Holly zum Wandtelefon an der Innenluke und rief einen Rettungssanitäter. Selbst auf dem handtellergroßen Display des Telefons war das Erstaunen im Gesicht des Sanitäters deutlich zu erkennen, aber er versprach, in weniger als fünf Minuten ein Team zur Luftschleuse zu schicken.

Die innere Luke öffnete sich mit einem Seufzen, und Gaeta ging hindurch, den verletzten Astronauten im Arm.

»Hast du alles aufgenommen?«, fragte Gaeta, wobei seine Stimme vom Anzug zu einem Dröhnen verstärkt wurde. »Waren die Kameras alle an?«

»Ja, ja«, sagte Fritz. Er klang ungehalten. »Du wirst schon auf allen Nachrichtenkanälen erscheinen, nur keine Sorge.«

Drei Sanitäter in weißen Overalls kamen durch den Gang zur Luftschleuse geeilt, gefolgt von einer selbst fahrenden Trage und einer Art Rettungswagen. Sie zogen dem Verletzten schnell den Helm aus, klatschten ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht, schälten ihn aus dem Anzug und stachen ihm eine Kanüle in den Arm. Dann transportierten sie ihn zur Krankenstation im Dorf ab.

Holly wandte sich an Gaeta, der noch immer im massiven Anzug steckte.

»Du hast ihm das Leben gerettet«, sagte sie und schaute zu ihm auf. Sie vermochte sein Gesicht durchs stark getönte Visier kaum zu erkennen.

»Er hat für eine schöne Publicity gesorgt«, sagte Fritz mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.

»Er hat sein Leben riskiert, um einen Menschen in Not zu retten«, entgegnete Holly.

»Ja, er hat sein Leben riskiert«, sagte Fritz mit einem beinahe empörten Schnaufen. »Und er hat auch den Anzug riskiert, der 'zig Millionen wert ist.« Er schaute zu Gaeta auf und fügte hinzu: »Einen Draufgänger finden wir immer wieder; den Anzug zu ersetzen wäre aber nicht so leicht. Oder so billig.«

Gaeta lachte; es klang wie Donner, der von den Metallwänden des Korridors widerhallte. »Komm schon, Fritz, gehen wir in die Werkstatt, damit ich endlich aus dieser Blechbüchse rauskomme.«

Holly ging neben Gaeta her, die Tupperdose mit dem Chili in der Hand. Es war inzwischen eiskalt. Gaeta stapfte durch den Gang wie ein martialischer Roboter in einem schlechten Video, auf der anderen Seite flankiert von Fritz. Die Techniker liefen hinterher.

Schließlich erreichten sie die Werkstatt, und die Techniker öffneten die Luke im Rücken des Anzugs. Gaeta kroch heraus, richtete sich auf und streckte befreit die Arme über den Kopf. Holly hörte Wirbel knacken.

»Verdammt, tut das gut«, sagte er lächelnd.

Sie trat näher an ihn heran und sah, dass seine Kleidung völlig durchgeschwitzt war. Er roch wie alte Käsesocken.

Gaeta sah ihren Gesichtsausdruck. »Ich sollte wohl erst mal duschen, was?«

Fritz grollte ihm noch immer. »Ein Weltraumspaziergang war nicht eingeplant. Du hättest das nicht tun dürfen. Was, wenn die Antriebseinheit versagt hätte? Sie war noch nicht für die Flugzulassung getestet.«

Gaeta grinste ihn an. »Fritz, jetzt ist sie getestet. Es hat alles bestens funktioniert. Sei doch nicht so ein miesepetriger fregado. Außerdem hätte ich den Mann dort draußen doch nicht seinem Schicksal überlassen können.«

»Trotzdem hattest du kein Recht…«

»Lass gut sein, Fritz. Es ist vorbei, und dem wertvollen Anzug ist auch nichts passiert.« Dann sagte er an Holly gewandt: »Warte noch ein paar Minuten, Mädchen. Ich muss erst mal duschen und frische Klamotten anziehen.«

Er ging ins Bad am hinteren Ende der Werkstatt und pfiff dabei — ziemlich falsch — eine Melodie. Holly sah, dass die Techniker sich dem Anzug widmeten, die Systeme überprüften und sie der Reihe nach abschalteten.

Gaeta kam zurück — er trug einen frischen Overall, und das nasse Haar war zurückgekämmt.

»Wo gehen wir essen?«, fragte er. »Ich bin schon am Verhungern.«

Fritz warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Die Restaurants haben alle schon geschlossen. Wir werden in unseren Quartieren essen müssen.«

Holly hob die Tupperdose hoch. »Ich habe noch Chili, aber es muss erst wieder aufgewärmt werden.«

»Chili! Lecker!«, sagte Gaeta.

»Es reicht aber nicht für uns alle«, sagte Holly mit einem Blick auf Fritz und die anderen Techniker.

Gaeta fasste sie am Arm und ging mit ihr zur Tür des Labors. »Aber für uns beide reicht es doch, oder? Diese Clowns sollen selbst sehen, wie sie zu ihrem Abendessen kommen.«

Holly ließ sich von ihm auf den Gang hinausführen, ohne sich noch einmal zu den anderen umzudrehen. Das werde ich Malcolm melden müssen!, sagte sie sich.


Charles Nicolas war ein rundlicher, kinnloser, kleiner Mann, der das Talent hatte, selbst in einem legeren Hemd und einer bequemen Hose korrekt gekleidet zu wirken. Als Leiter der Nachtschicht im Kommunikations-Büro hatte er Gaetas Heldentat fasziniert mitverfolgt.

Seine Assistentin, Elinor, war auch seine Frau. Sie war etwas größer als er, viel dünner und beherrschte die Kunst, in C A — Klamotten wie ein Dior-Model zu wirken. Sie verbrachten jeden wachen Augenblick zusammen und schliefen natürlich auch im selben Bett. Wo Charles jedoch von Gaetas Leistung bei der Rettung des Astronauten schwärmte, war Elinor skeptischer.

»Vielleicht haben sie die ganze Sache auch inszeniert«, sagte sie in ihrer piepsigen und dennoch sexy Stimme zu ihrem Mann.

Charles spielte das Video erneut ab. »Inszeniert? Wie hätten sie das denn inszenieren sollen? Es war ein Unfall. Der Junge hätte dabei umkommen können.«

»Sie hätten es schon vor Wochen zu inszenieren vermocht. Als PR-Maßnahme.«

»Es hat aber niemand zugeschaut außer uns und der EVA-Crew.«

»Aber sie haben alles auf einem Speicherchip, nicht wahr? Sie werden es zu den Sendern auf der Erde übertragen.«

Charles schüttelte den Kopf. »Dazu brauchten sie eine Genehmigung. Sie werden Vyborg fragen müssen; er ist für die Pressemitteilungen zuständig.«

»Er wird es genehmigen«, sagte Elinor. »Sie müssen ihn nur fragen. Er liebt die Öffentlichkeit.«

»Professor Wilmot aber nicht.«

»Dann fragen sie Wilmot erst gar nicht. Sie wenden sich an Vyborg, und er wird es genehmigen und Wilmot einfach übergehen.«

»Meinst du?«

»Ich wette einen Fünfer mit dir«, erwiderte Elinor.

Charles sagte nichts. Elinor hatte wahrscheinlich Recht. Das hatte sie meistens. So auch in diesem Fall: Es erfolgte ein Anruf von jemandem namens von Helmholtz, der sich als Gaetas Cheftechniker identifizierte und um die Erlaubnis bat, das Video von der Rettung an die Erde und nach Selene zu übertragen. Charles leitete die Anfrage auf Vyborgs Privatleitung um. In weniger als zehn Minuten rief Vyborg zurück und erteilte die Erlaubnis.

»Du schuldest mir einen Fünfer«, sagte Elinor und grinste kess.

»Ich wette nicht«, sagte er.

»Das macht keinen Unterschied«, sagte sie. »Das ist ein moralischer Sieg für mich.«

Er versuchte, das Thema zu wechseln. »Hast du dich schon entschieden, wie wir unser Dorf nennen sollen?«

»Jedenfalls nicht Dorf C«, sagte sie.

»Ich finde, wir sollten es nach einer bedeutenden literarischen Figur benennen. Vielleicht Cervantes. Oder Shakespeare.«

»Wusstest du schon, dass beide im selben Jahr gestorben sind?«

»Nein.«

»Doch. 1616. Du kannst es nachschauen.«

»Ich glaube es trotzdem nicht.«

»Willst du fünf Piepen wetten?«

»Darauf wette ich«, sagt Charles und streckte die Hand aus.

Sie gaben sich die Hand drauf, und Elinor sagte sich: Wir sind nun schon über zehn Jahre verheiratet, und er hat immer noch nicht geschnallt, dass ich nur sichere Wetten eingehe. Sie lächelte ihren Mann voller Sympathie an. Das liebe ich so an ihm — unter anderem.


Holly und Gaeta gingen langsam den sanft ansteigenden Pfad entlang, der zu ihrem Apartmentgebäude führte. Es war schon weit nach Mitternacht; das Habitat befand sich im Nacht-Modus. Die Sonnenfenster waren geschlossen, und es war dunkel bis auf die Laternen, die auf schlanken Pfählen den Pfad säumten, und den erleuchteten Fenstern in ein paar Wohnquartieren.

»Schau mal zu den Sternen hoch«, sagte Gaeta und blieb mitten auf dem Pfad stehen.

»Das sind keine Sterne«, sagte Holly, »sondern Lichter vom Hochland.«

»Diese dort drüben sehen wie Blütenblätter aus«, sagte er und wies nach oben. »Ich glaube, ich werde sie das ›Sternbild der Blumen‹ nennen.«

Sie kicherte. »Das sind doch nur Lichter, Manny. Schau, diese schlangenförmigen Linien dort oben…« — sie zeigte auf die entsprechende Stelle — »sind die Radwege zwischen der Lebensmittel-Fabrik und Dorf C, und das Dorf selbst…«

»Sieht aus wie ein riesiger Tintenfisch, nicht wahr? Schau, das ist der Körper, und dort sind die langen Tentakel.«

Sie stellte sich in der Dunkelheit so dicht neben ihn, dass sie seine Körperwärme spürte.

»Und was ist das wohl für ein Sternbild?«, fragte sie und deutete auf die parallelen Lichterketten, die einen Obstgarten markierten.

»Schau'n wir mal«, murmelte er. »Wie wär's mit dem Sternbild Tic-Tac-Toe?«

Sie mussten beide lachen, und plötzlich lag sie in seinen Armen, und er küsste sie. Meine Güte, sagte Holly sich, worauf lasse ich mich da nur ein?


»Er hat den Mann hierher gebracht?«, fragte Eberly.

Eberly stand am Spülbecken und hatte eine Schüssel voll Frühstücksflocken in der Hand. Kananga war unangemeldet hereingeplatzt; er hatte nur einmal laut an die Tür des Apartments geklopft und war dann eingetreten, ohne ein ›Herein‹ abzuwarten. Eberly war sicher, dass er die Türen abgeschlossen hatte, bevor er sich gestern zur Nachtruhe begeben hatte. Wie hatte Kananga sie geöffnet? Eberly erinnerte sich, dass der Mann auf der Erde Polizeibeamter gewesen war. Er muss eine gewisse Routine darin entwickelt haben, verschlossene Türen zu überwinden und in die Wohnungen anderer Leute einzudringen.

Kananga nickte nur. »Er liegt im Krankenhaus. Die Beinverletzungen waren anscheinend nicht besonders schlimm. Der Laser hatte das Fleisch beim Beschuss verschmort, sodass es kaum blutete. Das eigentliche Problem war der Schock.«

»Wie lang muss er im Hospital bleiben?«, fragte Eberly und ließ abwesend Haferflocken in eine Plastikschüssel rieseln. »Wir sollten ihn so bald wie möglich zur Jupiterstation zurückschicken.«

»Dafür ist es schon zu spät«, sagte Kananga. Er stand auf der anderen Seite der Küchenzunge, die als Barriere zwischen der Küche und dem Wohnzimmer diente. »Wir haben uns schon zu weit vom Jupiter entfernt, als dass sie noch ein Raumschiff schicken könnten, um ihn abzuholen. Sie brauchten ein Spezialschiff mit Ionentriebwerk, aber die Belegschaft der Station ist nicht bereit, nur wegen ihm eins anzufordern.«

»Das bedeutet, wir haben diesen Mann nun am Hals?«

Kananga nickte. »Das medizinische Personal hält ihn unter Quarantäne, bis sie mit Sicherheit wissen, dass er keine Schadstoffe im Blut hat.«

»Aber er kann nicht hier bleiben! Das Habitat ist doch kein Obdachlosenasyl!«

»Wünschen Sie, dass ich ihn aus einer Luftschleuse werfe?«

Eberly starrte den Oberst an. Die Frage sollte offenbar ein Scherz sein, aber in seinem dunklen ernsten Gesicht war nicht die Spur eines Lächelns.

»Lassen Sie diese Scherze«, sagte Eberly.

»Dann wird er also hier bleiben. Allerdings weiß er es noch nicht. Jemand wird ihm die Nachricht überbringen müssen. Sie wird ihm wahrscheinlich nicht gefallen.«

Eberly stellte die Schüssel mit dem Frühstück auf die Arbeitsplatte und ging ins Wohnzimmer.

»Ich werde sie von Holly überbringen lassen. Oder von Morgenthau; sie ist schließlich die amtierende Leiterin der Abteilung Human Resources. Wir werden ihn irgendwie in die Population des Habitats integrieren müssen.«

»Das wird ihm nicht gefallen«, wiederholte Kananga. »Er hätte in ein paar Wochen zur Erde zurückkehren sollen.«

»Er wird bleiben müssen, es sei denn, er kann es sich leisten, sich von einem Ionentriebwerks-Schiff abholen zu lassen.«

»Er wird erwarten, dass wir das erledigen.«

»Das ist in unserem Budget nicht vorgesehen«, sagte Eberly mit einem Kopfschütteln. »Wilmot würde das Geld nicht bewilligen. Er wäre dazu auch gar nicht imstande. Für so etwas ist einfach kein Geld da.«

»Vielleicht könnte ein Nachrichtensender als Sponsor auftreten«, regte Kananga an. »Die Rettung war immerhin die Sensation in den Morgennachrichten.«

»Vielleicht. Ich werde Vyborg bitten, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.« Eberly hielt inne und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Andrerseits könnten wir die ganze Sache vielleicht zu unserem Vorteil nutzen.«

»Und wie?«

»Ich weiß es noch nicht. Aber es muss doch einen Weg geben, davon zu profitieren. Wir haben schließlich einen echten Helden in unserer Mitte, diesen Stuntman Gaeta.«

»Er ist ein Außenseiter. Er wird zur Erde zurückkehren, nachdem er seinen Auftrag ausgeführt hat.«

»Zur Erde zurückkehren? jemand schickt ein Schiff für ihn?« Kananga wirkte erstaunt ob dieser Vorstellung. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Vielleicht kann er den Flüchtling mit zurücknehmen.«

»Vielleicht. Doch in der Zwischenzeit sollten wir nach einer Möglichkeit suchen, ihn zu benutzen. Am besten alle beide.«

»Und wie?«, fragte Kananga erneut.

»Helden sind immer wertvoll«, erwiderte Eberly, »wenn man sie zu manipulieren vermag. Ich muss nach einem Weg suchen, Gaeta für unsere Zwecke einzuspannen.«

Kananga zuckte die Achseln. »Einen Trost haben wir immerhin.«

Eberly schaute ihn durchdringend an. »Wie meinen Sie das?«

»Es wird nicht wieder vorkommen. Wir werden keine Flüchtlinge mehr an Bord nehmen. Die Jupiterstation war der letzte Außenposten der Menschen. So weit draußen gibt es niemanden mehr außer uns.«

Sprach's, drehte sich um und verließ das Apartment. Eberly wurde sich bewusst, dass er Recht hatte. Sie hatten nun schon eine größere Entfernung von der Erde zurückgelegt als je ein Mensch zuvor. Sie hatten die Grenzen des erforschten Raums hinter sich gelassen und stießen ins Unbekannte vor.

Mit einem Stirnrunzeln kontrollierte Eberly die Vordertür. Sie war gut verschlossen. Und doch war Kananga gekommen und gegangen, als ob sie weit offen gestanden hätte.

425 Tage nach dem Start

Holly wachte langsam aus etwas auf, das ein Traum gewesen zu sein schien.

Manny war natürlich weg. Er war gegangen, nachdem sie es hier in ihrem Bett miteinander getrieben hatten. Er hatte sie im Liebestaumel benommen und erschöpft zurückgelassen; sie spürte noch die Wärme durch die Berührungen seiner Hände, der Küsse und seines Körpers, der sich an sie geschmiegt hatte.

Sie schaute lächelnd zur Decke empor. Dann kicherte sie. Ich muss Don Diego unbedingt sagen, was für ein tolles Chili er da gekocht hat. Ein richtiges Aphrodisiakum.

Ein Blick auf die Digitaluhr auf dem Nachttisch sagte ihr, dass sie eigentlich aufstehen, duschen, sich ankleiden und ins Büro gehen müsse. Trotzdem blieb sie in Gedanken versunken auf den zerknitterten, verschwitzten Laken liegen.

Doch dann schoss ihr etwas durch den Kopf und riss sie aus ihren Nachbetrachtungen. Malcolm! Was, wenn er es herausfindet? Ich wollte ihn doch nur eifersüchtig machen und seine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Nun wird er mich hassen!

Das Telefon summte.

»Kein Bild«, sagte Holly scharf. »Antworten.«

Malcolms Gesicht erschien in der Luft überm Fußende des Bettes. Sie stieß einen stummen Schrei aus. Er weiß Bescheid!

Er hat es herausgefunden! Holly setzte sich ruckartig auf und krallte die Finger in die Laken, obwohl sie wusste, dass Eberly sie nicht sehen konnte. Schuldgefühle schlugen in Wellen über ihr zusammen und löschten alle anderen Empfindungen aus.

»Holly, sind Sie da?«, fragte Eberly und schielte leicht, als ob dadurch ihr Bild in seinem Apartment sich manifestieren würde.

»Ja, Malcolm«, sagte sie bemüht ruhig. »Ich… bin heute Morgen etwas spät dran.«

»Noch mal zu diesem Mann, den Gaeta gestern Abend an Bord des Habitats gebracht hat«, sagte Eberly und ignorierte das Zittern in ihrer Stimme. »Er wird so lange im Habitat bleiben, bis jemand sich bereit erklärt, ein Schiff zu schicken und ihn abzuholen.«

Er weiß es nicht!, sagte sie sich; sie war so erleichtert, dass sie fast wieder in die Kissen gesunken wäre. Mit Mühe und Not vermochte sie Eberlys Projektion mit einem »Ja?« zu antworten.

»Ich möchte, dass Sie ihn befragen, sobald die Sanitäter die Quarantäne aufgehoben haben. Wir brauchen ein vollständiges Dossier über ihn.«

Er weiß es nicht, sagte sie sich erneut. Es ist alles in Ordnung. Er weiß nichts davon. »Ich verstehe. Natürlich.«

»Gut. Veranlassen Sie gleich alles.«

Hollys Verstand begann wieder zu arbeiten. »Haben Sie Morgenthau schon Bescheid gesagt?«, fragte sie.

Seine Brauen zogen sich etwas zusammen. »Sagen Sie ihr Bescheid.«

Sie nickte. »Alles klar. Gut. Ich werde sie informieren. Sie will nämlich über alles informiert werden, müssen Sie wissen.«

»Sie werden sich darum kümmern«, sagte er beinahe schroff.

»Geht klar.«

Nun schien er doch die Zurückhaltung in ihrer Stimme zu bemerken. »Holly, wäre es Ihnen lieber, wenn ich mit Morgenthau spreche?«

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Ach, Malcolm, ich will Sie damit doch nicht behelligen.« Innerlich war sie jedoch schier aus dem Häuschen. Ihm liegt etwas an mir! Ihm liegt wirklich etwas an mir!

»Ich werde sie anrufen«, sagte er und lächelte sie an. »Wenn Sie dann im Büro sind, wird sie schon Bescheid wissen.«

»Danke, Malcolm!«

»Keine Ursache«, sagte er. Dann brach er die Verbindung ab, und der Bildschirm wurde dunkel.

Holly blieb im Bett sitzen. Sie fühlte sich plötzlich elend, weil sie mit einem anderen Mann geschlafen hatte, und hatte schreckliche Angst, dass Malcolm es herausfinden könnte.


Als Ruth Morgenthau an jenem Morgen im Büro erschien, saß sie Sammi Vyborg schon vor ihrem Schreibtisch sitzen und auf sie warten.

»Ich dachte, Sie würden den Vorbeiflug am Jupiter beobachten«, sagte sie, ging um den Schreibtisch herum und sank schwer auf den gepolsterten Stuhl.

Vyborg beugte sich nach vorn. »Durch die Heldentat dieses Stuntmans ist der Vorbeiflug vergleichsweise zu einer Bagatelle geworden. Jeder Sender bringt das Video.«

»Ja?«, fragte Morgenthau. »Wieso sind Sie dann hier? Wenn es um den Flüchtling geht«, sagte sie hochnäsig, »darüber habe ich schon mit Eberly gesprochen. Er will, dass Holly…«

»Es geht nicht um den Flüchtling«, sagte Vyborg kühl.

Sie musterte ihn eingehend. Sein schmales Totenkopf-Gesicht wirkte durch den unterdrückten Zorn noch grimmiger als sonst.

»Worum geht es dann?«

»Eberly hat mir versprochen, mich zum Leiter der Kommunikations-Abteilung zu machen. Aber er unternimmt nichts in dieser Richtung.«

»Solche Dinge brauchen Zeit, Sammi«, beschwichtigte Morgenthau ihn. »Das wissen Sie doch. Sie müssen Geduld haben.«

»Er hat bisher noch keinen Finger gerührt«, insistierte Vyborg.

»Geduld, Sammi. Geduld.«

Seltsamerweise lächelte Vyborg. Morgenthau mutete es wie das Lächeln einer Klapperschlange an, die auf ihr Opfer zuglitt.

»Ich habe einmal einen Zeichentrickfilm gesehen«, sagte er, »wo zwei Geier im Geäst eines Baums saßen. ›Nur Geduld, du Arsch, ich werde jemanden killen, sagte der eine zum andern.«

Morgenthau spürte, wie sie bei Vyborgs rüder Diktion rote Wangen bekam. »Und wen würden Sie gern killen?«

»Natürlich die beiden Leute, die zwischen mir und der Leitung der Kommunikationsabteilung stehen.«

»Ich würde davon abraten…«

»Keiner von beiden ist ein Gläubiger. Der Abteilungsleiter ist ein Jude — nicht dass er die Gebote seiner Religion befolgen würde. Der andere ist ein alter Knacker von einem Mexikaner, der mehr Zeit mit Gärtnern als im Büro verbringt. Ihn loszuwerden dürfte kein Problem sein.«

»Sie dürfen aber nichts unternehmen, ohne zuvor Eberlys Genehmigung einzuholen.«

»Spielen Sie keine Spielchen mit mir. Wir beide wissen doch, dass Eberly nichts anderes als eine Schießbudenfigur ist. Sie sind hier die eigentliche Autorität.«

»Unterschätzen Sie Eberly nicht. Er vermag gut mit Menschen umzugehen. Er ist ein charismatischer Charakter. Ich will nicht, dass Sie überstürzt handeln.«

»Ja, ja. Aber ich glaube an den alten Spruch ›hilf dir selbst, dann hilft dir Gott‹. Ich habe das Warten satt. Es wird Zeit, zur Tat zu schreiten.«

Morgenthau schürzte missbilligend die Lippen. Aber sie sagte nichts.


Holly duschte, frisierte sich und kleidete sich an. Und bevor sie das Apartment verließ, rief sie noch Morgenthau an.

»Dr. Eberly möchte, dass ich den Neuankömmling befrage«, sagte sie zur Projektion Morgenthaus. »Ich habe mich in der Medizinischen Abteilung erkundigt; die Quarantäne wird heute Morgen aufgehoben. Ich werde also gleich dorthin gehen und nicht erst ins Büro.«

Holly formulierte den Satz wie eine Absichtserklärung — weder als Frage noch als Bitte um Erlaubnis. Eberlys Name an sich war schon die Genehmigung.

Morgenthau schien das genauso zu sehen. »Eberly hat mich vorhin schon angerufen und mir Bescheid gesagt. Ich danke Ihnen trotzdem, dass Sie mich informiert haben, Holly. Ich sehe Sie im Büro, wenn Sie vom Krankenhaus zurückkommen.«


Raoul Tavalera saß im winzigen Solarium des Hospitals, unter einer Glaskuppel auf dem Dach des Gebäudes. Obwohl es schon Vormittag war und Licht durch die Sonnenfenster des Habitats strömte, kam Holly es so vor, als ob es ein etwas trüber Tag sei. Das Sonnenlicht wirkte schwach, als ob es durch eine dünne Wolkenschicht gefiltert würde. Wir sind fünfmal weiter von der Sonne entfernt als die Erde, sagte sie sich. Natürlich ist das Sonnenlicht schwächer.

Tavalera war mit einem schlecht sitzenden grauen Overall bekleidet. Sein Pferdegesicht hatte einen verdrießlichen, beinahe depressiven Ausdruck. Er stand nicht vom Stuhl auf, als Holly ihm gegenübertrat und sich vorstellte. Sie trug eine maßgeschneiderte rosefarbene Bluse über einer grauen Hose — Bürokleidung.

»Ich bin von der Abteilung Human Resources«, sagte Holly, nachdem sie sich einen Stuhl herangezogen und neben Tavalera gesetzt hatte. Er traf keine Anstalten, ihr zu helfen. Sie rang sich ein Lächeln für ihn ab und eröffnete ihm: »Ich bin hier, um mir Ihre komplette Lebensgeschichte anzuhören.«

Er erwiderte das Lächeln nicht. »Ist das wahr? Soll ich für ein verdammtes Jahr oder noch länger hier festsitzen?«

»Ja, sofern niemand ein Schiff schickt, um Sie abzuholen, werden Sie uns leider auf dem ganzen Weg bis zum Saturn begleiten müssen.«

»Wer, zum Teufel, sollte denn ein Schiff schicken, um mich abzuholen?«, murmelte er. »Ich bin nur ein popeliger Ingenieur, ein verdammter Arbeitssklave, mehr nicht.«

Holly holte Luft. »Mr. Tavalera, ich bin zwar auch keine Heilige, aber ich würde es begrüßen, wenn Sie sich einer etwas gewählteren Ausdrucksweise befleißigten.«

Er schaute sie von der Seite an. »Eine Gläubige?«

»Eigentlich nicht. Ich bin keine Kirchgängerin.«

»Die verd… äh, ich meine, es war die Neue Moralität, die mich überhaupt erst hierher geschickt hat. Ich musste einen zweijährigen Zivildienst leisten. Hatte keine andere Wahl.«

»Ich verstehe.«

»Wirklich? Ich hatte nur noch ein paar Wochen, und dann hätte man mich nach Hause gebracht. Und nun fliege ich zum verd… zum Saturn, um Himmels willen!«

Holly wies auf den Panoramablick übers Dorf und die liebliche grüne Landschaft des Habitats. »Es gibt schlimmere Orte, wissen Sie. Vielleicht wird es Ihnen hier sogar gefallen.«

»Ich habe auf der Erde Familie. Freunde. Ich wollte mein Leben wieder auf die Reihe bringen…« Seine Stimme erstarb. Holly sah, dass er sich beherrschen musste, um nicht auszuflippen.

»Sie können ihnen doch Mitteilungen schicken. Und wir könnten hier eine sinnvolle Arbeit für Sie suchen. Sie werden das Leben hier genießen, wollen wir wetten?«

Tavalera schaute sie finster an.

»Ich weiß, dass es Ihnen wie eine schreckliche Katastrophe vorkommen muss«, sagte Holly so sachlich wie nur möglich, »aber Sie sind nun einmal hier und sollten versuchen, das Beste daraus zu machen.«

»Sie haben leicht reden«, sagte Tavalera.

»Wir werden Ihnen auf jede nur erdenkliche Art helfen, solange Sie hier sind.«

»Wir?«

»Die Leute hier im Habitat. Die Human-Resources-Abteilung.«

»Schließt das auch Sie mit ein?«

»Ja, ich gehöre auch zur Abteilung Human Resources«, erwiderte Holly mit einem Nicken.

Tavaleras Miene schien sich etwas aufzuhellen. Aber nur ein bisschen.


Eberly schritt gemächlich den Pfad entlang, der am Seeufer verlief. Morgenthau war an seiner Seite.

»Es ist gut, einmal im Freien zu sein«, sagte er. »Ohne neugierige Blicke und gespitzte Ohren.«

»Man spioniert Ihnen nach?«, fragte Morgenthau. Sie wusste, dass es ein Leichtes war, moleküldünne Mikrofone an Wände und Decken zu sprühen. Und tropfengroße Kameras konnte man fast überall installieren.

»Wahrscheinlich nicht. Wilmot vermag sich in seiner Naivität nicht einmal vorzustellen, was wir tun. Aber es ist das Beste, sich gegen alle Eventualitäten zu wappnen, meinen Sie nicht auch?«

»Wir haben ein Problem mit Vyborg«, sagte sie, als ob sie eine Ankündigung machte.

»Er ist ungeduldig, ich weiß.«

»Er ist mehr als nur ungeduldig«, sagte Morgenthau. »Er plant eine Gewalttat.«

»Gewalttat?« Eberly verspürte ein flaues Gefühl im Magen. »Wie meinen Sie das?«

»Er ist nicht gewillt, darauf zu warten, dass Sie die beiden Männer über ihm in der Kommunikations-Abteilung absetzen«, sagte Morgenthau gelassen. »Er plant, gegen Sie vorzugehen.«

»Dieser krumme Hund! Er wird alles vermasseln«, knurrte Eberly und kämpfte gegen die aufsteigende Furcht an. Wie vermag ich ihn aufzuhalten?, fragte er sich. Wie vermag ich ihn daran zu hindern, ohne schwach und unentschlossen zu wirken? Ich will ihre Loyalität, aber wenn ich versuche, sie zu bremsen und aufzuhalten, werden sie ohne mich weitermachen. Und was wird dann aus mir? Wenn wir den Saturn erreichen, werden sie mich zur Erde zurückschicken. Wieder ins Gefängnis!

»Ich sage Ihnen, er wird Gewalt anwenden«, sagte Morgenthau dringlich.

Eberly musste sich mit einer Willensanstrengung daran hindern, die Hände zu ringen. »Was soll ich tun? Wie soll ich ihn aufhalten?«

Morgenthau lächelte viel sagend. »Halten Sie ihn nicht auf.«

»Was?«

»Lassen Sie ihn gewähren. Sorgen Sie nur dafür, dass man das, was auch immer er tut, nicht zu uns zurückzuverfolgen vermag.«

Eberly starrte sie an und versuchte sich einen Reim auf ihre Worte zu machen.

Morgenthau ging weiter, als ob sie auf einer Promenade entlang schlenderte. »Wir wollen, dass Vyborg die Leitung der Kommunikations-Abteilung übernimmt. Wenn er bereit ist, einen Schritt in diese Richtung zu tun, wieso sollte man ihn stoppen?«, fragte sie.

»Was, wenn er ein Verbrechen begeht? Was, wenn er erwischt, gefasst und inhaftiert wird?«

»Deshalb dürfen wir uns mit ihm auch nicht in Verbindung bringen lassen — erst dann, wenn er Erfolg gehabt hat.«

»Falls er aber scheitert…«

»Falls er Erfolg hat, ist er einen Schritt näher an unserem Ziel. Falls er aber scheitert, vermögen wir guten Gewissens zu sagen, dass wir damit nichts zu tun hatten.«

»Angenommen, er schafft es nicht«, sagte Eberly, »und er wird erwischt und belastet mich?«

»Dann haben Sie saubere Hände und ein reines Herz«, sagte Morgenthau honigsüß. »Ich bin sicher, dass es Ihnen mit Ihrer Überredungskunst gelingen wird, Wilmot und der ganzen Bevölkerung plausibel zu machen, dass man Sie zu Unrecht beschuldigt hat. Weil es nämlich die Wahrheit ist.«

Eberly ging schweigend weiter, und Morgenthau hielt mit ihm Schritt. Sie will, dass Vyborg losschlägt. Es würde ihr nicht einmal etwas ausmachen, wenn er einen Mord beginge. Wieso?, fragte er sich. Und gab sich auch gleich die Antwort: weil Vyborg dann durch sie erpressbar wäre. Und ich auch. Sie toleriert mich als Aushängeschild, weil ich Leute organisieren und auf unsere Seite ziehen kann. Aber sie ist die graue Eminenz. Sie hat hier die eigentliche Macht.

Interkonfessionelle Kapelle

Angesichts von zehntausend Seelen im Habitat und nur einer kleinen Kapelle, in der man Andacht halten konnte, sollte man meinen, dass dieses Gotteshaus Tag und Nacht überfüllt wäre, sagte Ruth Morgenthau sich, als sie in der ersten Reihe niederkniete. Aber nein, es ist leer außer mir.

Kalter Zorn erfüllte sie. Zehntausend Menschen und keiner liebt Gott genug, um hier zum Gebet niederzuknien. Nur ich. Ich bin die Einzige hier.

Nicht ganz, sagte eine innere Stimme streng. Gott ist auch hier. Verneige dich zum Gebet. Bekenne deine Sünden und bitte deinen Schöpfer um Vergebung.

Also betete Morgenthau.

Sie hatte zu Gott gefunden — oder vielmehr hatte Gott sie gefunden —, als sie eine dürre vierzehnjährige Prostituierte in den schmutzigen Gassen Nürnbergs gewesen und einem allzu frühen Tod durch Unterernährung, Krankheit und Drogenmissbrauch entgegengeeilt war. Die Heiligen Jünger hatten sie gerettet, ihren Leib geheilt und ihre Seele gereinigt.

Doch der Hunger war geblieben. Sie wurde sich aber rechtzeitig bewusst, dass der Hunger Teufelswerk war, der heimtückische, unausweichliche Hunger, durch den sie der ewigen Verdammnis anheim fallen würde, wenn sie nicht jeden wachen Moment dem Dienst Gottes widmete. Sie betete um Erlösung, für die Kraft, dieses ständige, quälende Bedürfnis zu überwinden. Oft betete sie auch für den Tod, denn sie glaubte, nur der Tod würde ihrer Seelenqual ein Ende setzen. Sie versagte sich die Gesellschaft von Frauen und schlief allein in einer spartanischen Mönchszelle, um der Versuchung aus dem Weg zu gehen und den quälenden Hunger zu unterdrücken.

Und dann fand sie einen Ersatz, die lässliche Sünde, die den verbotenen Hunger sublimierte: Macht. Durch das Arbeiten mit Männern, indem sie praktisch jeden wachen Moment von den Männern umgeben war, die sie verabscheute und fürchtete, lernte sie schließlich ihre Machtspiele zu spielen. Sie ließ sich bewusst gehen, um körperlich unattraktiv zu wirken. Aber sie feilte am Verstand und den Instinkten. Sie stieg in der Hierarchie der Heiligen Jünger auf. Niemand ahnte etwas von ihrem unterdrückten Verlangen. Männer und Frauen gleichermaßen respektierten ihre wachsende Macht.

Als man sie schließlich bat, an der Saturn-Mission teilzunehmen, sagte sie freudig zu.

»Wir haben jemanden ausgewählt, um eine gottesfürchtige Regierung im Weltraum-Habitat zu organisieren«, sagte ihr Vorgesetzter, »aber er ist nicht der Zuverlässigsten einer. Er behauptet zwar, ein Gläubiger zu sein, aber bei seinem Sündenregister kommen mir doch Zweifel an seinem Glauben.«

Morgenthau nickte. »Ich verstehe«, sagte sie. Und sie verstand wirklich. Das war nämlich die Gelegenheit zur Machtausübung, zur Herrschaft über zehntausend Männer und Frauen. Eine große Chance. Aber auch eine schreckliche Versuchung.

Also kniete sie allein in der kleinen Kapelle des Habitats und betete flehentlich um eine Handreichung. Und um Macht. Macht war gut, und Macht im Dienste Gottes war ein absoluter Segen. Sie hielt den Hunger im Zaum. Sie beschwichtigte die Teufel, die in ihr tobten.

Morgenthau betete um Seelenfrieden, um Demut und um Verständnis des Weges, den sie nach Gottes Willen gehen sollte. Doch vor allem betete sie um Macht.

335 Tage bis zur Ankunft

Holly war verlegen, als sie Gaeta nach zwei Tagen wieder sah. Sie hatte einen guten dienstlichen Grund, ihn anzurufen, doch anstatt ihn zu sich ins Büro zu bitten, lud sie ihn zum Mittagessen ein. Er war einverstanden; allerdings unter der Bedingung, dass sie sich im Bistro und nicht in der Cafeteria trafen. Holly zögerte und fragte sich, ob er es dort vielleicht romantischer fand.

»Keine Sorge, ich lade dich ein«, sagte er.

Holly lachte, obwohl ihr gar nicht danach zumute war, und verabredete sich mit ihm im Bistro.

Trotzdem wurde sie immer nervöser, als es auf Mittag zuging. Wir haben eine Nacht zusammen verbracht, und er hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Ich rufe ihn wegen einer dienstlichen Angelegenheit an, aber er will im Bistro zu Mittag essen, weil es dort gemütlicher und das Essen besser ist und vielleicht glaubt er, wir würden anschließend zu mir gehen und miteinander schlafen. Was aber auch keine Katastrophe wäre, sagte sie sich und grinste trotz des Schuldgefühls. Aber ich darf mich weder mit ihm noch mit sonst jemandem einlassen, weil Malcolm der Mann ist, den ich wirklich will.

›Ist das wirklich wahr?‹, fragte eine leise Stimme in ihrem Kopf. ›Malcolm hat noch nicht einmal deine Hand gehalten. Liebst du ihn wirklich?‹

Ja, sagte sie so schnell, dass erst gar kein Zweifel aufkommen konnte. Die Stimme meldete sich nicht mehr.

Gaeta saß schon an einem Tisch, als Holly das Bistro erreichte. Er sprang förmlich auf, und ein strahlendes Lächeln erschien auf seinem runzligen Gesicht.

Das Bistro war so winzig, dass die meisten Tische draußen im Gras standen. Dass es regnete, war im Habitat nicht zu befürchten, und der einzige Wind war die leichte Brise, die von den großen Umwälzpumpen an den Enden des Habitats erzeugt wurde. Unterm Boden verlegte Schläuche bewässerten je nach Erfordernis die Wiesen und Felder, ohne Wasser in die Luft zu sprühen. Sensoren regelten den Feuchtigkeits- und Nährstoffgehalt des Bodens. Es gab weder Fliegen noch sonstiges umherschwirrendes Getier im Habitat, obwohl Holly wusste, dass der Boden von Ameisen, Würmern und den mikroskopischen Lebewesen wimmelte, die sterilen, toten Regolith vom Mond in fruchtbaren Humus verwandelten.

»Entschuldige die Verspätung«, sagte Holly und setzte sich auf den Stuhl, den Gaeta für sie freigehalten hatte.

»Nur fünf Minuten«, sagte er und nahm auch wieder Platz.

»Manchmal kommt man kaum aus dem Büro 'raus. Es gibt immer irgendetwas zu tun.«

Der flachköpfige Servier-Roboter kam an ihren Tisch gerollt; die Speise- und Weinkarte wurden auf der Touchscreen angezeigt. Sie trafen ihre Wahl, und der Roboter bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch ins Restaurant zurück.

»Wir konzipieren gerade eine schöne kleine Doku über die Rettung«, sagte Gaeta. »Sie bekommt einen vorderen Platz bei den Nachrichtensendern. Sie übertrifft jetzt schon die Einschaltquoten für den Vorbeiflug am Jupiter.«

»Das ist ja großartig.«

Der Roboter kam mit ihren Drinks zum Tisch zurückgerollt. »Weshalb möchtest du mich nun sprechen?«, fragte Gaeta, als er Holly ihr mit einer Frostschicht überzogenes Cola-Glas reichte. Er wirkt vorsichtig, beinahe skeptisch, sagte Holly sich.

»Ich muss mit dir über Tavalera sprechen — den Typen, den du gerettet hast«, sagte sie.

»Wie? Er will einen Anteil?«

Das wunderte Holly »Nein. Daran denkt er wahrscheinlich nicht einmal. Er will einfach nur nach Hause.«

»Zurück zur Erde?«

»Richtig.«

Gaeta zuckte die Achseln. »Er kann von mir aus bei uns mitfliegen, wenn wir euch verlassen.«

»Genau darum wollte ich dich bitten.«

»Sicher. Kein Problem. Fritz wird das nicht gefallen, aber der Typ ist Ingenieur, nicht wahr? Also kann er als Reserve-Techie mitfliegen. Dann ist Fritz auch wieder zufrieden.«

Holly wurde sich bewusst, dass sie sich plötzlich nichts mehr zu sagen hatten. Außer allem.


Sammi Vyborg ließ das Mittagessen ausfallen. Er blieb im Büro und verfolgte Don Diego mit den Überwachungskameras, die überall im Habitat installiert waren. Kananga hatte ihm den Code der Sicherheitsabteilung für den Zugang zu den Kameras gegeben.

Der alte Mann hatte den Morgen wie immer im Büro zugebracht und die Routinevorgänge abgearbeitet, mit denen er sich als stellvertretender Leiter der Kommunikationsabteilung befassen musste. Dann war er gegangen und hatte sich in sein Apartment zurückgezogen. Über die Kameras auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes sah Vyborg Romero den Weg zum Apartmentgebäude entlanggehen. Er ging langsam, als ob er alle Zeit dieser Welt hätte. Nach ein paar Minuten kam er wieder zum Vorschein. Er war nun mit einem alten, verschlissenen Arbeitsanzug bekleidet und steuerte auf den Wald jenseits des Dorfs zu — auch wie gehabt.

Den Zugang zu den Kameras in Romeros Apartment hatte Morgenthau ihm jedoch verwehrt.

»Das sind sensitive Daten«, hatte sie gesagt. »Nur mir und einem sehr kleinen Kader eingeschworener Gläubiger ist es gestattet, diese Aufzeichnungen zu sehen. Außerdem«, sagte sie mit einem spöttischen Lächeln, »wollen wir doch niemandes Privatsphäre verletzen, oder?«

Also musste der frustrierte Vyborg sich über die Außenkameras ein Bild machen.

Ungeduldig schaltete er von einer Kamera zur andem und behielt Romero im holografischen Blick, bis der alte Mann auf der zum Bewässerungskanal hin abfallenden Böschung verschwand. Es gab dort keine Kameras. Vyborg wusste aber, dass er allein dort draußen war — außer dieser jungen Frau aus Morgenthaus Abteilung, die ihm hin und wieder zur Hand ging. Ich werde Morgenthau veranlassen, sie an dem Tag zu beschäftigen, wenn ich zuschlage. Das sollte ein Leichtes sein. Aber wie soll ich den alten Mann beseitigen? Es muss wie ein Unfall aussehen.

Vyborg löschte den Bildschirm. Dann schloss er die Augen und sann über das Problem nach. Kananga, sagte er sich. Kananga wird wissen, was zu tun ist. Dieser Auftrag wird ihm bestimmt Spaß machen.


Eberly schaute wie ein Kunstliebhaber, der einen Rembrandt bewundert, auf das über dem Schreibtisch schwebende Dokument.

Sie ist perfekt, sagte er sich und lehnte sich zurück. Eine Verfassung, gegen die unmöglich jemand zu stimmen vermochte. Jede hochgestochene Floskel aus der Geschichte, die von der Freiheit des Menschen kündete, war im Dokument enthalten. Und diese winzige Klausel, die tief im ganzen verbalen Dickicht versteckt war und es der Regierung erlaubte, alle Bürgerrechte für die Dauer eines Notstands außer Kraft zu setzen.

Es wird Zeit, sie den Leuten zu präsentieren. Sollen sie die Feinheiten erörtern und den Wortlaut Paragraph für Paragraph, Satz für Satz, zerpflücken. Sollen sie die nächsten Monate damit zubringen, das Dokument auseinander zu nehmen und wieder zusammen zu setzen. Sollen sie ausgiebig diskutieren und sich die Köpfe heiß reden. Am Ende werden sie sich auf etwas einigen, das dieser Vorlage sehr nahe kommt. Und ich werde dafür sorgen, dass die Notstandsklausel unverändert übernommen wird.

Er faltete andächtig die Hände und führte sie an die Lippen. Da wird Morgenthau sich aber freuen. Ich werde den uneingeschränkten Rückhalt der Neuen Moralität, der Heiligen Jünger und aller anderen Gläubigen genießen, die in der Bevölkerung verstreut sind. Sie werden für diese Verfassung stimmen. Sie werden einen massiven Stimmenblock bilden, auf den ich zählen kann. Falls überhaupt, werden sie den Text noch restriktiver fassen wollen, als er ohnehin schon ist. Ich vermag mir jetzt schon vorzustellen, wie Wilmot, Urbain und der Rest der Wissenschaftler sich mit den Gläubigen in die Haare kriegen! Das wird bestimmt lustig. Das Unterhaltungsprogramm für die nächsten Wochen steht schon fest.

Wenn die Verfassung dann in Kraft getreten ist, wird auch die Zeit kommen, die neuen Führer des Habitats zu wählen. Nein, Führer im Plural ist falsch. Es kann hier nur einen Führer geben, und der bin ich.

Und wenn ich gewählt worden bin, werde ich erst einmal eine Säuberungsaktion durchführen. Dann werden alte Rechnungen beglichen, und ich sorge dafür, dass Morgenthau und diese Spinner von der Neuen Moralität vor mir im Staub kriechen.


Während sie zum Büro zurückging, wusste Holly nicht, ob sie Enttäuschung oder Erleichterung verspürte. Sie verspürte beides. Und sie war verwirrt.

Das Essen mit Manny war angenehm, sogar vergnüglich gewesen. Er hat auch nicht gefragt, ob wir zu mir gehen wollten. Wieso eigentlich nicht?, fragte sie sich. Er war warmherzig und freundlich, aber es schien, ais ob ihr kürzliches intimes Zusammensein nie stattgefunden hätte. Als ob er an Gedächtnisschwund oder so etwas litte. Einfach aus seinem Speicher gelöscht.

Sind alle Männer so? Hat es ihm denn überhaupt nichts bedeutet? Sie wurde sich bewusst, dass es ihr jedenfalls viel bedeutet hatte. Aber da war noch Malcolm. Vielleicht ist es auch besser, dass Manny sich eigentlich gar nicht für mich interessiert. Er hatte nur ein Abenteuer mit mir, das ist alles. Ich sollte es nicht so ernst nehmen. Aber er war so…

Sie spürte, dass sie den Tränen nahe war.

Vielleicht sollte ich mit Don Diego darüber sprechen, sagte sie sich. Dann schüttelte sie den Kopf. Damit kann ich ihm doch nicht kommen. Ich würde dastehen wie ein dummes Schulmädchen oder noch schlimmer. Aber ich muss mit jemandem darüber sprechen. Ich brauche einen Freund, und er ist der einzige wahre Freund, den ich habe.


Kananga lauschte Vyborg, ohne ein Wort zu sagen, ohne ein Kopfnicken oder eine sonstige Geste — und er schien nicht einmal zu blinzeln. Er ging im trüben Abendlicht neben Vyborg her, sein kahl geschorener Schädel glänzte im Schein der Lampen am Wegesrand, und hörte so konzentriert zu, dass Vyborg sich schon fragte, ob der Mann vielleicht die Sprache verloren hätte.

»Was glauben Sie, was wir in dieser Sache tun können?«, fragte Vyborg schließlich.

»Wieso kommen Sie mit diesem Problem überhaupt zu mir?«, fragte Kananga seinerseits.

Vyborg schaute ihn finster an. »Weil Sie ein Mann der Tat sind. Weil Sie ohne mich nicht an Bord dieses Habitats wären. Ich habe die Friedenstruppe davon überzeugt, Sie auswandern zu lassen. Sonst hätte man Sie wegen Genozids vor Gericht gestellt.«

Kanangas dunkles Gesicht blieb unbewegt. Aber die alte Wut wallte wieder in ihm auf. Genozid! Die Hutus haben uns zu Tausenden abgeschlachtet, und niemand hat auch nur einen Finger gerührt. Und als wir dann die Macht ergriffen und es den Hutu mit gleicher Münze heimzahlten, kamen die Friedenstruppen mit ihren Satelliten-Kameras und Laserwaffen. Sie haben uns verhaftet und vors Internationale Kriegsverbrechertribunal gestellt.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Vyborg — in Verkennung der Wut in Kanangas Augen — in einem etwas moderateren Ton. »Niemand sonst vermag das für mich zu tun. Helfen Sie mir, diesen alten Mann loszuwerden. Bitte.«

Der große, schlanke Ruander holte tief Luft. »Da gäbe es aber ein Problem«, sagte er und wies auf einen der Laternenpfähle, die den Weg säumten, auf dem sie gingen.

Vyborg begriff sofort. »Die Kameras.«

Kananga nickte bedächtig. »Morgenthau hat sogar Kameras in den Apartments installieren lassen.«

»Ja, ich weiß.«

»Wenn wir aber etwas in seinem Apartment unternehmen, bin ich sicher, dass wir Morgenthau dazu bewegen könnten, das Video zurückzuhalten.«

»Dann könnten wir ihn also unauffällig im Apartment um die Ecke bringen«, sagte Vyborg hoffnungsvoll.

»Aber was sollen wir hinterher mit der Leiche machen?« Kananga legte eine kaum wahrnehmbare Betonung auf das Wort ›wir‹, aber Vyborg hörte es dennoch und zog die richtigen Schlüsse daraus.

»Es muss wie ein Unfall aussehen. Oder wie ein natürlicher Tod. Er ist schließlich ein alter Mann.«

»In einer ausgezeichneten gesundheitlichen Verfassung. Ich habe seine Krankenakte überprüft.«

»Menschen sterben trotzdem«, blaffte Vyborg.

»Ja, vor allem, wenn sie Sterbehilfe bekommen«, sagte Kananga mit einem heiseren Kichern.

»Wollen Sie mir nun helfen oder nicht?«, fragte Vyborg, der zunehmend ungehalten wurde.

Kananga schwieg für eine so lange Zeit, dass Vyborg schon mit einer Ablehnung rechnete. Schließlich sagte er jedoch: »Es gibt keine Überwachungskameras unten in den Kanälen, wo er so viel Zeit verbringt, nicht wahr?«

Das stimmt, sagte Vyborg sich.

328 Tage bis zur Ankunft

Alle Abteilungsleiter hatten sich um den ovalen Konferenztisch versammelt. Wilmot saß an einer Seite in der Mitte, flankiert von Urbain und der rundgesichtigen dunkelhaarigen Andrea Maronella, der Leiterin der Agro-Gruppe. Eberly, der Wilmot genau gegenübersaß, betrachtete die Frau nach wie vor als ›Landpomeranze‹.

Einer nach dem andern referierten die Abteilungsleiter eine Kurzfassung der Wochenberichte. Eberly war schier zu Tode gelangweilt. Wieso zeichnet Wilmot nicht eine dieser Besprechungen auf und spielt sie jede Woche wieder ab?, fragte er sich. Damit würden wir alle ein paar Stunden Zeit sparen, und im Ergebnis käme es fast aufs Gleiche 'raus.

»Das war's dann wohl«, sagte Wilmot, nachdem der letzte Redner verstummt war. »Liegt noch etwas an?«

»Raoul Tavalera hat eine Stelle in der Instandhaltungsabteilung angenommen«, sagte Eberly. »Dem Vernehmen nach ist er nun mit Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten beschäftigt.«

Tamiko O'Malley, der kleine japanische Leiter der INST, nickte bestätigend. »Er ist ein brauchbarer Techniker. Obwohl er so schnell wie möglich wieder zur Erde zurückkehren will.«

Wilmot richtete den Blick wieder auf Eberly. »Wie sieht es damit aus, Dr. Eberlv?«

»Wir wollen es so einrichten, dass er mit dem Video-Team zurückfliegt, wenn die Exkursion zum Titan beendet ist.«

Urbain schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Sie werden nicht die Erlaubnis bekommen, auf dem Titan zu landen. Niemals!«

»Der Teamleiter geht aber davon aus, dass es ihm erlaubt wird…«

»Niemals!«, wiederholte Urbain noch heftiger.

Wilmot legte dem Wissenschaftler beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Ich dachte, Dr. Cardenas wollte ihm bei der Lösung des Kontaminationsproblems helfen.«

»Mit Nanomaschinen?«, blaffte Urbain. »Das glaube ich erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe. Nicht eher.«

»Es wird aber schwierig werden, ihm die Genehmigung zu verweigern. Ich meine, dieser Gaeta ist ein Medien-Held. Er hat diesen verletzten Astronauten gerettet. Deshalb genießt er ein hohes Ansehen im ganzen Habitat.«

»Wir müssen eine Vorführung von Dr. Cardenas' Nanomaschinen arrangieren«, sagte Wilmot, bevor Urbain etwas zu erwidern vermochte. »Eine Vorführung, die unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen stattfindet. Ich will nicht das geringste Risiko eingehen, dass Nanobots in diesem Habitat Amok laufen.«

Urbain nickte gequält lächelnd. »Null-Risiko«, murmelte er, und sein Lächeln verriet Eberly, dass er wusste, Null-Risiko war ein Ding der Unmöglichkeit.

»Gut«, sagte Urbain. »Sind wir nun fertig?«

Ein paar Abteilungsleiter schoben die Stühle zurück. Doch dann räusperte Eberly sich laut und verkündete: »Es gäbe da noch etwas, wenn's recht ist.«

Wilmot, der sich schon halb vom Stuhl erhoben hatte, ließ sich wieder darauf fallen. Er schaute alles andere als erfreut. »Was gibt's denn noch?«, fragte er pikiert.

»Mein Komitee hat einen Entwurf für eine Verfassung ausgearbeitet. Ich habe ihn durchgesehen, und ich halte die Zeit nun für gekommen, diesen Entwurf der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und ihn zur Abstimmung zu stellen.«

Etwas wie Argwohn flackerte kurz in Wilmots Augen auf.

»Sie haben doch schon diese ganze Diskussion um die Namensgebung inszeniert. Wollen Sie etwa schon wieder eine Debatte anzetteln?«

Doch Wilmot fasste sich mit einem Finger an den Bart und sagte: »Ich möchte Ihren Entwurf erst einmal sehen. Dann werden wir ihn von den Abteilungsleitern begutachten lassen. Anschließend werden wir ihn der Öffentlichkeit vorstellen.«

»Schön«, sagte Eberly mit einem gefälligen Lächeln. Genau das hatte er nämlich von Wilmot erwartet.


Holly erhob sich vom Schreibtisch und ging zu Morgenthaus Tür. In ihrer Vorstellung war dies nicht mehr Eberlys Büro; sie hatte Eberly seit Wochen schon nicht mehr gesehen, außer bei flüchtigen Begegnungen, bei denen immer auch andere Leute zugegen waren. Er macht sich nichts aus mir, redete sie sich ein und hoffte zugleich verzweifelt, dass das nicht stimmte. Sie fragte sich, was sie tun musste, dass sie ihm so viel bedeutete wie er ihr.

Sie klopfte an die Tür, und Morgenthau rief »Herein.«

Holly schob die Tür halb auf und sagte: »Ich werde für den Rest des Tages nicht im Büro sein. Ich will zu…«

Morgenthau wirkte besorgt, beinahe erschrocken. »Holly, ich wollte es Ihnen schon früher sagen, aber es ist mir eben erst wieder eingefallen. Ich möchte, dass Sie Dr. Cardenas' Dossier auf den neusten Stand bringen.«

»Auf den neusten Stand? Ich dachte, wir hätten schon eine komplette Akte über sie.«

Morgenthau tippte auf den Palmtop-Computer, der auf dem Schreibtisch stand. Cardenas' Akte und ihr Bild erschienen überm Computer. Morgenthau scrollte die Datei so schnell, dass die Worte vor Hollys Augen verschwammen. Das war aber auch egal, denn Holly hatte die komplette Datei schon einmal gelesen und sich jedes einzelne Wort gemerkt.

»Hier. Da ist eine Lücke im Lebenslauf. Sie hat für ein paar Jahre das Nanolab auf Selene geleitet und dann plötzlich gekündigt. Ein paar Monate später ist sie nach Ceres gegangen, aber sie hat sich dort nicht mehr mit Nanotechnik befasst, soweit es aus den Aufzeichnungen hervorgeht. Ich möchte, dass Sie das mit ihr klären.«

»So kosmisch scheint das aber nicht zu sein, oder?«, sagte Holly.

»Meine liebe Holly«, sagte Morgenthau mit einem sich verhärtenden Gesichtsausdruck, »alles über Nanotechnik ist wichtig. Aus irgendeinem Grund hatte die Cardenas einen Karriereknick. Sie hat die Nanotech-Arbeit für ein paar Jahre ruhen lassen und will ihre Forschungen nun wieder aufnehmen — hier bei uns. Wieso? Was hat sie vor?«

»Okay«, sagte Holly. »Ich werde sie anrufen.«

»Laden Sie sie zum Mittagessen ein. Wenn sie ablehnt, gehen Sie in ihr Labor und verlassen es nicht eher, bis sie sich Ihnen gegenüber erklärt hat.«

»So wie Sie das sagen, könnte man glauben, es handele sich um eine polizeiliche Vernehmung.«

»Vielleicht sollte man tatsächlich eine durchführen.«

Holly fragte sich, wieso Morgenthau sich so echauffierte, und sagte: »Ich werde sie anrufen, bevor ich gehe.«

»Sofort, Holly«, sagte Morgenthau und hob einen Wurstfinger. »Ich will, dass das sofort erledigt wird. Essen Sie heute mit ihr zu Mittag. Ich möchte, dass Sie mir gleich morgen früh über diesen Punkt in Cardenas' Dossier berichten.«

Hollys erster Impuls war, Morgenthau zu empfehlen, ohne Raumanzug aus einer Luftschleuse zu springen. Doch dann wurde sie sich bewusst, dass die Frau noch nie so auf etwas gedrungen hatte. Das macht ihr wirklich zu schaffen, sagte Holly sich. Vielleicht ist dieser Nanotech-Kram doch gefährlicher, als ich dachte.


Don Diego richtete sich langsam und unter Schmerzen auf. Der Rücken ist meine Schwachstelle, sagte er sich und massierte sich das Kreuz. Falls es uns jemals gelingen sollte, den menschlichen Körper neu zu konstruieren, wird man den Schwerpunkt auf die Verbesserung des Rückens legen müssen.

Er marschierte langsam und bedächtig auf der Böschung des Kanals entlang. Der Schmerz strahlte vom Steißbein aus, an das er schlecht herankam. Er seufzte. Wenigstens ist dieser Abschnitt fast fertig, sagte er sich. Er hielt inne und betrachtete die blühenden Sträucher, die sich an die Böschung klammerten. Vielleicht ein paar Kakteen im nächsten Abschnitt, sagte er sich. Ich frage mich nur, ob es im Habitat überhaupt einen Kaktus gibt?

Er hatte eigentlich mit Hollys Erscheinen gerechnet; sie hatte sich für diesen Nachmittag angesagt. Er wollte ihr zeigen, wie dieses Stückchen Wildnis sich entwickelte.

Jemand trat hinter einem Baum oben am Rand des Grabens hervor und kam den Abhang herab auf ihn zu. Ein großer, schlanker Schwarzer mit einem kahl rasierten Schädel und einem strichförmigen Bart, der die Konturen des Kiefers nachzeichnete. Er wird sich die blank geputzten Stiefel dreckig machen, sagte Don Diego sich.

»Guten Tag«, rief er dem Fremden auf Englisch zu. »Was führt Sie denn an diesen stillen Ort?«

Der Fremde lächelte freundlich. »Sie sind Diego Romero von der Kommunikations-Abteilung?«

»Der bin ich«, sagte Don Diego. Der Mann muss aus dem Büro sein, sagte er sich. Jemand musste sich wegen seines ständigen Fehlens beschwert haben. Oder…

»Sind Sie von der Instandhaltungsabteilung?«, fragte er etwas besorgt.

Der schwarze Mann kam näher. Er lächelte noch immer. »Nein, in dieser Hinsicht haben Sie nichts zu befürchten.«


Wie befohlen aß Holly mit Kris Cardenas im Bistro zu Mittag. Aber es lief nicht gut.

»Ich weiß, dass ich neugierig wirke«, sagte sie wie um Entschuldigung heischend, »aber meine Chefin macht sich Sorgen wegen der Nanotechnik, und da ist eine Lücke in Ihrem Lebenslauf…«

Cardenas legte die Gabel hin und nahm einen Schluck Limonade. Dann ließ sie den Blick über die auf dem Rasen verstreuten Tische schweifen, von denen die meisten leer waren, dann richtete sie den Blick wieder in Hollys Richtung. Ihre strahlend blauen Augen schauten traurig, nicht verärgert; sie schienen an Holly vorbei in eine schmerzliche Vergangenheit zu blicken.

»Ich will nicht, dass jemand etwas davon erfährt«, sagte sie. »Ich werde es Ihnen erzählen, aber nur wenn Sie mir versprechen, es für sich zu behalten.«

Holly wollte schon zustimmen, doch dann sagte sie: »Ich werde aber meiner Chefin darüber berichten müssen.«

Cardenas schüttelte den Kopf. »Dann vergessen Sie es. Ich würde es Ihnen sagen, Holly, aber ich will nicht, dass es allgemein publik wird. Wenn Sie es Ihrer Chefin sagen, wird man mir nicht erlauben, hier Nanotech-Arbeiten durchzuführen.«

»Wieso denn nicht?«

»Weil ich Beihilfe zum Mord geleistet habe«, sagte Cardenas unverblümt.

Holly spürte, wie ihr die Kinnlade herunterklappte.

»Ich habe es zwar nicht vorsätzlich getan«, erklärte Cardenas. »Aber es war trotzdem schlimm genug.«

Als ob ein emotionaler Damm gebrochen wäre, erzählte Cardenas Holly die ganze Geschichte. Dass sie wegen der Nanobots, die sich in ihrem Körper tummelten, nach Selene verbannt worden war und nicht mehr zur Erde zurückkehren durfte. Dass ihr Mann sich geweigert hatte, sie auf dem Mond zu besuchen, dass ihre Kinder sich gegen sie gewandt hatten und dass sie ihre Enkelkinder nie gesehen hatte. Die Wut. Die Schmerzen und Tränen und der heiße Zorn auf die Narren und selbstzufriedenen Ignoranten, die die Angst der Menschen vor der Nanotechnik instrumentalisierten, um ihr Leben zu zerstören.

Sie erzählte Holly von Martin Humphries' Angebot. »Er sagte, er brächte mich zur Erde zurück, wenn ich ihm dabei helfen würde, das Raumschiff eines Konkurrenten zu sabotieren. Er war, weiß Gott, reich genug, um alles zu kaufen. Ich glaubte, er würde mir helfen. Ich hatte keine Ahnung, dass die Beschädigung eines Raumschiffs den Tod eines Menschen zur Folge haben sollte. Also ließ ich mich von Humphries kaufen, und sein größter Konkurrent starb, als das Raumschiff eine Panne hatte.«

»Dann sind Sie also niemals wieder zur Erde zurückgekehrt? Haben Ihre Familie nie wieder gesehen?«, fragte Holly mit leiser Stimme.

»Nie«, sagte Cardenas. »Als ich hörte, dass Dan Randolph wegen meiner Komplizenschaft gestorben war, habe ich gegenüber der Regierung von Selene ausgepackt. Ich habe sogar versucht, Selbstmord zu begehen, aber das hat nicht geklappt. Zur Strafe wurde ich aus Selenes Nanotech-Labor ausgeschlossen. Also ging ich nach Ceres, einem Vorposten im All, und arbeitete jahrelang mit den Felsenratten. Keine Nanotech-Arbeit. Ich schwor, nie wieder Nanotech-Forschung zu betreiben.«

»Aber nun wollen Sie wieder damit anfangen. Und zwar hier.«

Cardenas nickte. Sie wahrte zwar die Contenance, machte aber ein Gesicht, als ob sie von der Last der ganzen Welt niedergedrückt würde. »Ich habe beschlossen, dass ich nun genug gebüßt habe. Ich kann euch hier eine Hilfe sein. Ich will noch mal ein neues Leben beginnen.«

»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, murmelte Holly.

»Wir beide sind Seelenverwandte.«

»Gut möglich.«

Cardenas musterte sie mit diesen strahlend blauen Augen. »Was werden Sie Ihrer Vorgesetzten also sagen?«

Hollys Entschluss stand bereits fest. »Nichts«, sagte sie. »Ich werde ihr nur sagen, dass Sie aus freien Stücken nach Ceres gegangen seien, um mit den Felsenratten zu arbeiten. Das ist schließlich nicht einmal gelogen, nicht wahr?«

Zum ersten Mal lächelte Cardenas. »Nein, das ist nicht gelogen. Es ist zwar auch nicht die Wahrheit — zumindest nicht die ganze Wahrheit. Aber es ist auch keine Lüge.«


Lächelnd ging Kananga auf Don Diego zu und blieb auf Armlänge entfernt vor ihm stehen. »Nein, ich bin nicht von der Instandhaltungsabteilung«, wiederholte er. »Ich habe vor, die Instandhaltungsabteilung von meiner Arbeit hier zu informieren«, sagte Don Diego, »aber ich habe noch nicht…«

Mit der Schnelligkeit eines springenden Leoparden schlug Kananga dem alten Mann voll auf den Solarplexus. Don Diego brach ohne einen Laut zusammen.

Kananga fing den alten Mann auf und hob ihn mühelos hoch. Keine Schleifspuren, sagte er sich. Keine Spuren am Tatort hinterlassen.

Er trug den keuchenden und benommenen Don Diego die Böschung hinab zum Betonbett des Kanals. Der alte Mann hustete und stöhnte; er schlenkerte schwach mit den Beinen und schlug mit flatternden Lidern die Augen auf.

Kananga kniete sich hin und drückte sein Gesicht in den Kanal. Dabei drückte er vorsichtig, fast zärtlich gegen den Hinterkopf, um ihn unter Wasser zu halten. Don Diego stieß noch ein paar Luftblasen aus, zappelte schwach und erschlaffte dann. Das aufgewühlte Wasser floss wieder ruhig dahin. Kananga hielt Don Diego weiter unter Wasser gedrückt und zählte langsam bis hundert. Dann ließ er ihn los.

Zufrieden mit der grausigen Verrichtung stand Kananga auf. Nicht schlecht, sagte er sich und schaute sich um. Keine Furchen im Erdboden, keine Schleif spuren auf dem Beton, keinerlei Anzeichen eines Kampfes.

Niemand wird es je erfahren.

323 Tage bis zur Ankunft

Holly entdeckte die Leiche. Sie hatte Cardenas im Bistro zurückgelassen und war zum Kanal gegangen, wo Don Diego gearbeitet hatte. Zuerst sah sie keine Spur von ihm. Dann erspähte sie seinen Körper am unteren Rand der Böschung, halb im Wasser.

Sie schrie nicht. Sie weinte nicht einmal, als sie sich Stunden später in der Abgeschiedenheit ihrer Unterkunft befand — lange nachdem sie die Leiche des alten Manns aus dem Kanal gezogen und das medizinische Notfall-Team ihn für tot erklärt hatte.

Sie träumte in dieser Nacht von dem Vater, an den sie sich nicht zu erinnern vermochte. Manchmal erschien er ihr im Traum als Don Diego; manchmal war er eine schemenhafte gesichtslose männliche Gestalt, groß und fast schon bedrohlich. Einmal drehte der Mann ohne Gesicht ihr den Rücken zu, und sie war wieder ein kleines Kind, das gerade erst laufen lernte. Pancho war im Traum auch irgendwie präsent, doch am meisten wünschte Holly sich, dass ihr Vater sich umdrehte, damit sie sein Gesicht zu sehen vermochte. Sie wollte ihn rufen, doch kein Laut entrang sich der Kehle. Sie streckte die Hand nach dem Mann aus, und als er sich schließlich doch zu ihr umdrehte, sah sie Malcolm Eberly mit kaltem Blick auf sie herunterschauen.

Holly schreckte aus dem Schlaf und setzte sich im Bett auf; der verstörende Traum löste sich langsam auf wie eine Wolke an einem Sommertag. Sie duschte und kleidete sich schnell an, ließ das Frühstück ausfallen und ging direkt zum kleinen Krankenhaus des Habitats. Sie wollte mit dem Arzt sprechen, der Don Diegos Leiche untersucht hatte. Sie wusste, dass sie eigentlich Morgenthau anrufen und ihr sagen sollte, dass sie später zur Arbeit käme, aber die Mühe machte sie sich nicht.

Im Krankenhaus war es still. Es herrschte eine ruhige, gelassene Atmosphäre. Die Belegschaft des Habitats war im Großen und Ganzen in einer guten körperlichen Verfassung und machte trotz des kalendarischen Alters einen jugendlichen Eindruck. Die größten medizinischen Probleme waren Unfälle und psychische Erkrankungen. Und der plötzliche Tod eines achtundneunzigjährigen Mannes, sagte Holly sich.

Dr. Yanez' gewohnheitsmäßiges fröhliches Lächeln verschwand, als Holly ihn nach der Ursache von Don Diegos Tod befragte.

»Sehr bedauerlich«, sagte er. »Sehr traurig. Er war ein wunderbarer Mensch. Wir hatten viele lange Gespräche miteinander geführt.«

Er fasste Holly sanft am Ellbogen und führte sie zur Tür, die zum Garten im Innenhof des Krankenhauses führte.

»Ich will Sie aber nicht von der Arbeit abhalten«, sagte Holly.

»Es gibt heute nicht viel zu tun«, sagte er. »Unsere Leute sind geradezu widerlich gesund.«

Er führte Holly aus dem zweistöckigen Krankenhausgebäude hinaus und um den sorgfältig angelegten Blumengarten im Innenhof herum. Holly sagte sich, dass Don Diego dem Garten eine wildere, ursprünglichere Anmutung verliehen hätte.

Yanez schob die Hände in die Taschen des weißen Kittels und sagte: »Don Diegos Tod gibt mir irgendwie Rätsel auf. Er muss gestolpert und ins Wasser gefallen und ertrunken sein.«

»Wieso ist er einfach nicht wieder aufgestanden?«, fragte Holly.

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er mit dem Kopf aufgeschlagen. Er ist vielleicht ohnmächtig geworden — zu niedriger Blutdruck oder ein leichter Schlaganfall. Er war immerhin schon hoch betagt.«

»Gab es Anzeichen eines Schlaganfalls?«

»Nein, aber ein leichter Schlaganfall hinterlässt auch keine Spuren, die auf den ersten Blick sichtbar wären. Wir müssen gezielt danach suchen, und selbst dann würden wir vielleicht nichts finden. Wir sind hier schließlich nicht in New York oder Tokio, müssen Sie wissen. Wir haben keine entsprechend qualifizierten Pathologen.«

»Ich verstehe.«

»Es ist eine große Tragödie. Ein großer Verlust.«

»Sie sind sich aber sicher, dass es ein Unfall war?«, fragte Holly.

Yanez wirkte im ersten Moment erschrocken. »Ja. Natürlich. Was sollte es sonst sein?«

»Ich weiß nicht.«

Der Arzt schaute zu Holly auf. »Er war mein Freund. Wenn Fremdeinwirkungen als Todesursache vorgelegen hätten, dann wäre ich darauf gestoßen, das versichere ich Ihnen. Es war ein Unfall. Unglücklich und bedauerlich. Aber eben nur ein Unfall, nicht mehr.«

Je mehr der Doktor dies beteuerte, desto stärker wurden jedoch Hollys Zweifel, dass es sich wirklich um einen Unfall gehandelt hatte. Aber das ist doch verrückt, sagte sie sich. Was sollte es sonst sein außer einem Unfall? Wer hätte Don Diego denn umbringen sollen?

Trotzdem hörte sie sich fragen: »Dürfte ich einmal den Autopsiebericht sehen?«

»Er besteht überwiegend aus medizinischer Terminologie«, sagte Yaňez. »Und Fotos von der Leiche.«

»Ich habe gar keine Fotos von Don Diego«, sagte Holly. »Kein Andenken.«

»Die Bilder eines toten Menschen sind aber nicht sehr erbaulich.«

»Das ist mir egal. Ich würde sie gern sehen.«

Der Doktor seufzte schwer. »Na schön. Ich werde Ihnen den Zugangscode geben, und dann können Sie Einsicht in die kompletten Aufzeichnungen nehmen.«

»Danke«, sagte Holly.

»Da nada«, erwiderte Yanez automatisch.


Eberly vermochte seine Wut kaum zu zügeln. Er stand mit rotem Kopf hinter dem Schreibtisch in seinem Apartment und knurrte Vyborg und Kananga an. »Mord!«, zeterte Eberly. »Ihr konntet es nicht abwarten, bis ich den alten Mann entfernt hatte. Also habt ihr euch entschlossen, ihn zu ermorden.«

»Es weiß doch niemand davon«, flüsterte Vyborg. »Er ist begraben und vergessen.«

»Ich weiß aber davon!«, blaffte Eberly. »Es ist meine Pflicht, dieses Verbrechen Wilmot zu melden. Was wollt ihr machen, wenn ich das versuche? Mich auch umbringen?«

»Nein, niemals«, sagte Kananga.

»Mörder. Meine engsten Freunde und Mitarbeiter sind Mörder.«

»Er war schließlich kein wahrer Gläubiger«, sagte Vyborg. »Nur ein gestrauchelter Katholik.«

»Und das rechtfertigt einen Mord?«

»Ich dachte, es sei auch in Ihrem Sinne, den alten Knacker loszuwerden«, sagte Kananga. »Das hat Sammi mir jedenfalls so gesagt.«

»Sie waren doch damit einverstanden, dass er beseitigt werden sollte«, verteidigte Vyborg sich. »Ich dachte, dass…«

»Sie dachten! Sie hatten beschlossen, auf eigene Faust zu handeln, ohne sich mit mir abzusprechen. Ohne sich zu fragen, wie Ihre Aktion sich auf meinen Master-Plan auswirken würde. Sie sollen nicht denken. Ich will, dass Sie meine Befehle befolgen. Sie sollen gehorchen!«

»Ja, wir haben verstanden«, sagte Vyborg, »aber…«

»Kein aber!«, schrie Eberly. »Entweder gehören Sie zu meinem Team oder nicht. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Entweder Sie befolgen meine Befehle aufs Wort, oder wir sind geschiedene Leute.«

Kananga schaute Vyborg an. Ich brauche ihnen nicht zu sagen, dass ich sie sofort Wilmot melden werde, falls sie mich im Stich lassen, sagte Eberly sich. Das ist den beiden völlig klar.

»Nun?«, sagte er. »Treffen Sie Ihre Wahl.«

»Ich werde natürlich bei Ihnen bleiben«, sagte Vyborg. »Es tut mir Leid, dass ich so… voreilig gehandelt habe.«

»Und Sie, Oberst?«

Kananga fiel es offensichtlich schwer, klein beizugeben, doch dann schluckte er sichtlich und sagte: »Ich stehe jederzeit zu Ihren Diensten, Sir.«

Eberly gestattete sich ein sparsames Lächeln. »Also gut. Vergessen wir den Vorfall. Vyborg, ich will, dass Sie sich in Geduld üben und abwarten, bis ich Berkowitz auf meine Art beseitige.«

»Das werde ich.«

»Sobald das bewerkstelligt ist, werden Sie die völlige Kontrolle über die Kommunikationsabteilung übernehmen. Und Sie, mein lieber Oberst«, sagte er an Kananga gewandt, »werden mein Sicherheitschef sein, sobald wir die neue Regierung stellen.«

Kananga setzte zu einer Erwiderung an, doch Eberly fügte hinzu: »Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass Sie meine Befehle befolgen und keine Extratouren machen.«

Kananga verkniff sich eine Entgegnung und nickte brav.

Dann ließ Eberly sie wegtreten. Sie gingen mürrisch zur Tür und verließen sein Apartment. Eberly ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Kopf — und Bauch — waren in Aufruhr. So schlimm ist es nun auch wieder nicht, sagte er sich. Niemand stellt in Frage, dass der Tod des alten Mannes ein Unfall war. Und ich habe nun eine Handhabe gegen Vyborg und Kananga, wodurch ich sie noch enger an mich binde. Unbedingte Loyalität auf der Grundlage von Angst. Er rieb sich den schmerzenden Bauch. Und Morgenthau hat mich auf die gleiche Art im Griff. Ich reite auf einem Tiger, auf einem ganzen Rudel Tiger, und der einzige Schutz vorm Gefressenwerden besteht darin, ihnen das zu geben, was sie wollen.

Er lehnte sich auf dem Bürostuhl zurück und versuchte die Schmerzen im Bauch mit schierer Willenskraft zu unterdrücken. Wie soll ich Berkowitz loswerden?, fragte er sich. Möglichst ohne einen weiteren Mord.


An wen soll ich mich wenden?, fragte Holly sich immer wieder. Und die Antwort war immer die gleiche: Malcolm. Sprich mit Malcolm darüber.

Aber ich komme nicht an Malcolm heran, ohne Morgenthau über den Weg zu laufen. Sie schirmt ihn vor mir ab wie eine Bulldogge. Holly hatte Morgenthau ein paar Voicemails geschickt und ihn um ein privates Gespräch gebeten, nur um sich von Morgenthau sagen zu lassen, dass Eberly im Moment zu beschäftigt sei, um mit ihr zu sprechen.

»Alles, was Sie mit Eberly zu besprechen haben, können Sie auch mir sagen«, sagte Morgenthau.

»Es ist… äh, persönlich«, wich Holly aus.

Missbilligung blitzte in Morgenthaus Augen auf, die jedoch schnell einem verschmitzten, fast schon lüsternen Ausdruck wich. »Meine Liebe, er ist viel zu beschäftigt für persönliche Engagements. Und viel zu wichtig, als dass er sich von so etwas ablenken lassen dürfte.«

»Aber ich will doch nicht…«

»Vielleicht, nachdem die neue Regierung gebildet wurde — vielleicht wird er dann Zeit für ein Privatleben haben. Aber nicht eher.«

Holly fügte sich. »Okay, ich hab' verstanden.«

»Wie geht es eigentlich mit den Wettbewerben voran?«, fragte Morgenthau leutselig. »Wann treten wir in Phase Zwei ein?«

Holly war erstaunt, dass Morgenthau nicht nach Cardenas' Dossier gefragt hatte — und erfreut, dass der ebenso kurze wie lückenhafte Nachtrag zu Cardenas' Akte ihrer Chefin offensichtlich genügte. Also berichtete sie, welchen Fortschritt sie hinsichtlich der Wettbewerbe schon gemacht hatte, mit denen die Merkmale des Habitats benannt werden sollten.


Professor Wilmot studierte die Grafiken, die vor seinen Augen schwebten.

»Erstaunlich«, murmelte er. »Wirklich erstaunlich.« Ungeachtet aller Anstrengungen, die er und sein Stab darauf verwandt hatten, im Habitat dem Protokoll Geltung zu verschaffen, das vorm Start von der Erde in Kraft getreten war, wurde es von den Leuten zunehmend ignoriert. Er stellte jedoch fest, dass die Abweichungen geringfügig waren — im Wesentlichen kosmetisch. Manche Frauen hatten ihre Kleidung mit selbst genähten Applikationen und aufgebügelten Dekors verziert, von denen viele unverhohlen sexueller Natur waren. Diese Mode schien sich trotz Eberlys empfohlener Kleiderordnung einer immer größeren Beliebtheit zu erfreuen. Und die ersten Männer zogen schon nach. Wilmot grunzte. Ein jugendliches Erscheinungsbild wird angestrebt, auch wenn die ›jugendlichen‹ schon ›alte Knacker‹ sind.

Und dann war da noch dieser Namensgebungs-Wettbewerb, bei dem es darum ging, jedes Gebäude und jedes Gebüsch im Habitat zu benennen. Unglaublich, wie viel Zeit und Energie darin investiert wurden. Dem Vernehmen nach war es in der Cafeteria wegen der Namensgebung schon zu Wortgefechten und sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen. Vielleicht sollte ich die Alkoholvorräte unter Verschluss halten, sagte Wilmot sich. Dann schüttelte er den Kopf. Sie würden in den Labors einfach Schwarzgebrannten herstellen. Wenigstens scheint der Drogenkonsum sich in Grenzen zu halten — es sei denn, das Krankenhauspersonal meldet die Fälle von Drogenmissbrauch nicht. Vielleicht sind sie die größten Drogenkonsumenten. Er seufzte. Aber solange es sich nicht auf ihre Arbeit auswirkt, hat es keinen Sinn, jeder Droge nachzuspüren, die die Leute sich für die Freizeit synthetisieren.

Wilmot stellte fest, dass auch persönliche Veränderungen stattfanden. Die Leute wechselten den Arbeitsplatz und sogar zwischen den Abteilungen. Dieser Eberly von der Human-Resources-Abteilung legt bei den Veränderungen ein zu hohes Tempo vor, sagte Wilmot sich. Aber er beschloss, nicht einzugreifen. Soll das Experiment sich ungestört entfalten. Misch dich nicht ein. Die Laborratten haben ein paar interessante Tricks drauf. Ich frage mich, was sie tun werden, wenn wir erst einmal den Saturn erreichen.

Dann formulierte sein Bewusstsein eine neue Frage. Ich wüsste gern, was man in Atlanta von alledem hält. Sollte ich ihnen auch über diese Details berichten? Er nickte. Ich werde es tun müssen. Ich bin mir sicher, dass sie auch aus anderen Quellen Berichte erhalten. Bei dem Geld, das sie investiert hat, muss die Neue Moralität ein ganzes Rudel Informanten ins Habitat eingeschleust haben.

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