ZWEITES BUCH

Vor etwa drei Jahren schrieb ich, dass ich zu meiner großen Überraschung festgestellt hätte, dass der Saturn ein Dreierkörper sei: Das heißt, er ist ein Verbund aus drei Sternen, die in einer geraden Linie parallel zur Ekliptik angeordnet sind, wobei das Zentralgestirn viel größer ist als die anderen. Ich hielt sie zunächst für reglos, denn als ich sie zum ersten Mal sah, schienen sie sich fast zu berühren, und so verharrten sie auch für fast zwei Jahre ohne die geringste Veränderung. Es bestand deshalb Grund zu der Annahme, dass sie in Bezug zueinander starr seien, denn selbst eine einzige Bogensekunde (eine Bewegung, die unvergleichlich kleiner ist als selbst die in den größten Umlaufbahnen) hätte sich in dieser Zeit bemerkbar gemacht, indem diese Sterne sich entweder getrennt hätten oder ganz zusammengeführt worden wären. Deshalb stellte ich die Beobachtung des Saturn für über zwei Jahre ein. In den letzten Tagen nahm ich sie jedoch wieder auf und stellte fest, dass der Saturn allein war — ohne die gewohnten flankierenden Sterne und so kugelrund und klar umrissen wie der Jupiter. Wie soll man diese seltsame Wandlung nun erklären? Dass die beiden kleineren Sterne verzehrt worden sind, in der Art von Sonnenflecken? Hat der Saturn seine Kinder verschlungen? Oder war es doch nur eine Illusion und ein Streich, den die Linsen meiner Teleskope mir die ganze Zeit gespielt hatten — und nicht nur mir, sondern auch vielen anderen, die den Saturn mit mir beobachtet haben? Vielleicht ist der Tag gekommen, an dem wieder ein Funke Hoffnung in jenen aufflackert, die von den Tatsachen geleitet werden, nachdem sie all meine Beobachtungen als Luftschlösser entlarvt und ad absurdum geführt haben!

GALILEO GALILEI, Briefe über Sonnenflecken • Dezember 1612

Eine Vision vom Saturn

Manny Gaetas verwittertes Gesicht erschien auf Hollys Computerbildschirm.

»Hi«, sagte er grinsend. »Wann lässt du denn den Griffel fallen?«

Er rief sie einmal wöchentlich an — so pünktlich, als ob er es auf dem Kalender angekreuzt hätte. Holly nahm seine Anrufe aber nicht entgegen. Sie hatte keine Lust, ihr Leben zu komplizieren. Seit Don Diegos Tod hatte Holly sich in die Arbeit gestürzt, die Namensgebungs-Wettbewerbe vorangetrieben und das Büro trotz Morgenthaus absoluter Pflichtvergessenheit am Laufen gehalten. Nachts zerbrach sie sich den Kopf über Don Diego, ging immer wieder den Autopsiebericht durch und ließ vorm geistigen Auge jedes Detail der Szene im Graben Revue passieren, als sie die Leiche des alten Manns gefunden hatte. Holly war davon überzeugt, dass es sich nicht um einen Unfall handelte. Ein Unfall war ausgeschlossen. Es gibt keinerlei Anzeichen für ein körperliches Trauma: Sein Herz war gesund, er hatte keinen Schlaganfall, und er hatte nicht einmal eine Beule am Kopf oder eine Quetschung am Körper. Aber er war ertrunken. Wie? Weshalb?

Sie traf sich kaum noch mit anderen Leuten, außer hin und wieder mit Kris Cardenas. Sie aßen alle paar Tage zu Mittag. Holly bat Kris, Don Diegos Krankenakte noch einmal gemeinsam durchzugehen. Cardenas überprüfte sie und sagte Holly dann, dass sie nichts Verdächtiges finden könne.

»Sie müssen sich damit abfinden, dass Menschen sterben, Holly«, sagte Cardenas ihr beim Mittagessen in der gut besuchten Cafeteria. »Es geschieht zwar nicht oft, aber es kommt vor. Die Menschen sind eben sterblich.«

»Es ergibt aber keinen Sinn«, widersprach Holly.

»Geben Sie es auf, Holly«, sagte Cardenas sanft. »Er war ein liebenswürdiger alter Mann, aber nun ist er tot, und Sie werden ihn auch nicht wieder lebendig machen.«

»Jemand hat ihn getötet.«

Cardenas machte große Augen. »Mord?«

Holly nickte. Sie wusste, dass sie sich unsterblich blamierte, aber sie konnte einfach nicht anders.

»Ich glaube, Sie müssen sich das aus dem Kopf schlagen, Kindchen«, sagte Cardenas. »Sonst werden Sie noch… nun, Sie werden sonst noch paranoid.«

»Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass er mal eben so die Böschung hinuntergegangen ist, den Kopf ins Wasser getaucht hat und dabei ertrunken ist.«

»Vergessen Sie es, Holly. Sie vergeuden damit nur Ihre Zeit und Energie. Gehen Sie mal aus und machen sich einen schönen Abend. Machen Sie sich davon frei und denken mal wieder an sich.«

Holly sah, dass Cardenas es ernst meinte. »Mama Kris«, murmelte sie. Und lächelte.

»Es muss doch viele junge Männer geben, die sich freuen würden, mit Ihnen auszugehen«, sagte Cardenas.

»Manny Gaeta hat mich angerufen«, sagte Holly im Versuch, Don Diego aus dem Kopf zu verbannen.

»Na bitte. Er ist doch ein Prachtkerl.«

Holly nickte.

»Mögen Sie ihn denn?«

»Ich bin schon mit ihm im Bett gewesen«, platzte Holly heraus.

»Wirklich?«

»In der Nacht, als er den verwundeten Astronauten gerettet hat.«

»Ach ja«, sagte Cardenas. Sie erinnerte sich wieder.

»Er muss förmlich in Hochstimmung gewesen sein. Voll gepumpt mit Adrenalin.«

»Anscheinend.«

»Und mit Testosteron.«

Holly musste lachen. »Davon reichlich.«

»Und er hat Sie angerufen?«

»Ja, schon. Aber ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich würde ihn zwar nicht fragen, aber falls ich mit ihm ausgehe, wird er vielleicht erwarten, dass ich wieder mit ihm ins Bett gehe.«

Cardenas schaute auf ihren Salat. »Es kann Ihnen doch egal sein, was er erwartet«, sagte sie dann. »Sie essen mit ihm zu Abend, und das war's dann. Sie dürfen ihm nur keine falschen Signale geben.«

»Signale?«

»Seien Sie verbindlich, aber nicht zu entgegenkommend.«

»Ich weiß nicht, ob das funktionieren würde«, sagte Holly unsicher.

»Treffen Sie sich mit ihm im Restaurant. Halten Sie sich nur an öffentlichen Orten auf. Und gehen Sie allein nach Hause.«

»Das wäre wohl am besten.«

»Es sei denn, Sie wollen doch wieder mit ihm ins Bett gehen.«

»Das will ich nicht! Eigentlich nicht. Ich will, dass er mich mag, aber auch nicht zu sehr.«

Mit einem Kopfschütteln stach Cardenas die Gabel in den Salat. »Männer haben kein Gespür für Zwischentöne, Holly. Sie müssen ihnen die Regeln von vornherein klarmachen. Sonst haben Sie ein Problem.«

»Schauen Sie«, sagte Holly leicht verwirrt, »eigentlich will ich von Malcolm beachtet werden. Ich meine, ich habe mich überhaupt nur seinetwegen für dieses Habitat angemeldet, aber ich habe ihn in den letzten Monaten kaum gesehen und Manny ist wirklich ein ganz Lieber, aber ich will mich nicht mit ihm einlassen und…« Ihr gingen die Worte aus.

»Malcolm?«, fragte Cardenas. »Sie meinen Dr. Eberly?«

»Ja, den Leiter der Human Resources.«

Cardenas schien beeindruckt. »Sie interessieren sich für ihn.«

»Aber er interessiert sich nicht für mich.« Holly war plötzlich den Tränen nahe.

»Ist das nicht immer so?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«

Cardenas ließ den Blick durch die rappelvolle Cafeteria schweifen und erteilte ihr dann den Rat: »Vergnügen Sie sich nach Herzenslust mit dem Stuntman. Wieso denn nicht?«

»Sie meinen, das wird Malcolm eifersüchtig machen?«

»Nein«, erwiderte Cardenas mit einem Schnaufen, das fast schon ein Grunzen war. »Ich glaube nicht, dass er davon überhaupt Notiz nehmen würde. Aber wieso sollten Sie denn keinen Spaß haben? Manny scheint doch ein netter Kerl zu sein.«

»Sicher.«

»Dann vergnügen Sie sich mit ihm, solange Sie noch die Gelegenheit dazu haben. Er wird zur Erde zurückfliegen, sobald er seinen Auftrag erledigt hat. Dann brauchen Sie sich auch keine Sorgen wegen einer langfristigen Beziehung zu machen.«

»Ich will aber eine langfristige Beziehung«, entfuhr es Holly zu ihrem eigenen Erstaunen. »Ich meine, vielleicht nicht im Moment«, fügte sie sofort hinzu, »und wohl auch nicht mit Manny, aber irgendwann schon.«

»Mit Eberly?«

»Ja!«

Cardenas schüttelte den Kopf. »Dann viel Glück, Kindchen.«


Nadia Wunderly hatte strenge Diät gehalten, regelmäßig Sport getrieben und auf diese Art vier Kilo verloren. Die unermüdliche Arbeit an ihrem Forschungsprojekt hatte sich gleichfalls ausgezahlt: Dr. Urbain hatte die Untersuchung der Saturnringe genehmigt. Wunderly wusste aber, dass die Zustimmung unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs stand; sie war nämlich die einzige Wissenschaftlerin an Bord, die sich für die Ringe interessierte. Urbain selbst und alle anderen waren auf den Titan fixiert.

Sie war in Urbains Büro und beantragte einen Assistenten sowie Zeit am großen Teleskop des Habitats.

»Ich schaffe das alles nicht allein«, sagte sie auf der heiklen Gratwanderung zwischen einem Hilfeersuchen und dem Eingeständnis der Niederlage. »Eigentlich werden für mein Projekt sogar zwei Assistenten benötigt, wenn Sie sich erinnern.«

»Ich erinnere mich sehr gut«, sagte Urbain steif. »Aber wir haben einfach nicht genug Personal.«

Der Leiter der Abteilung ›Planetenwissenschaft‹ saß angespannt hinterm Schreibtisch, als sei er eine Barrikade gegen anstürmende Revolutionäre. Und dabei wollte Wunderly doch nur ein wenig Hilfe.

»Das Hauptteleskop ist komplett für die Beobachtung des Titan reserviert«, fuhr Urbain fort, als verkündete er ein Todesurteil. »Dies ist eine Gelegenheit, die wir unbedingt nutzen müssen.«

»Aber die Ringe sind doch…«

»Zweitrangig«, sagte Urbain.

»Ich wollte eigentlich ›einzigartig‹ sagen«, ergänzte Wunderly ihren Satz.

»Das gilt auch für die Lebensformen auf Titan.«

Sie fragte sich, wie sie ihn wohl überzeugen könnte. »Ich brauchte gar nicht viel Zeit am Teleskop. Nur eine Stunde oder so täglich, um…«

»Eine Stunde?« Urbain wirkte geschockt; ihm sträubten sich schier die sorgfältig gestutzten, dunklen Barthaare. »Unmöglich.«

»Aber wir sollten die Zeit während des Anflugs auf den Planeten nutzen, um Langzeit-Studien zur Ringdynamik durchzuführen. Es wäre ein sträfliches Versäumnis, das nicht zu tun.«

Urbain strich sich nervös übers pomadig zurückgekämmte Haar und sagte: »Dr. Wunderly, dieses Habitat wird für viele Jahre im Orbit um den Saturn stehen. Im Grunde für immer. Sie werden noch reichlich Gelegenheit haben, die Dynamik Ihrer Ringe zu studieren.«

Er sprach diese letzten Worte fast spöttisch aus. Wunderly wusste, dass die anderen Wissenschaftler sie hinter ihrem Rücken als ›Herrin der Ringe‹ bezeichneten.

Sie zog die Trumpfkarte. »Ich dachte, wenn wir die Ringe während des mehrmonatigen Anflugs studieren und eine synoptische Studie erstellen — eine gründliche —, könnten wir die Ergebnisse veröffentlichen, bevor wir in eine Umlaufbahn um den Saturn gehen und bevor die Universitäts-Teams herkommen, um unsere Forschungsarbeit zu übernehmen. Wobei Sie natürlich namentlich als Forschungsleiter erwähnt würden.«

Doch anstatt nach dem Köder zu schnappen, den sie ihm hinhielt, versteifte Urbain sich nur noch mehr bei der Erwähnung der Universitäts-Teams, die ihn überflüssig machen würden.

»Jede Ressource, die mir zur Verfügung steht«, sagte er sichtlich zitternd, mit aschfahlem Gesicht und mit leiser, harter Stimme, »wird für das Studium des Titan verwendet. Alle Mitarbeiter meines Stabs machen Überstunden und arbeiten Tag und Nacht, um die Rover fertig zu stellen, die wir auf die Oberfläche hinunterschicken werden. Dieser Mond trägt Leben! Einzigartige Lebensformen. Sie sind die einzige Mitarbeiterin meines Stabs, die nicht an Titan arbeitet — Sie und Ihre wertvollen Ringe! Sie dürfen sie in Ruhe studieren. Geben Sie sich damit zufrieden und behelligen Sie mich nie wieder mit Forderungen, die ich nicht erfüllen kann.«

Wunderly war sich der kaum verhohlenen Drohung bewusst. Ich soll ihn in Ruhe lassen, oder er vergattert mich zur Arbeit an Titan wie alle anderen.

Sie stand schwerfällig auf. Sie fühlte sich besiegt, leer und hilflos. Und zornig. Der Mann ist vollkommen auf den übermächtigen Titan fixiert, grämte sie sich, als sie Urbains Büro verließ. Er ist so engstirnig, dass er mit beiden Augen durch ein Schlüsselloch gucken könnte.


Exakt um 17:00 Uhr klopfte Gaeta einmal an den Rahmen von Hollys offener Tür und betrat ihr Büro.

»Schluss für heute«, verkündete er. »Komm mit, ich will dir etwas zeigen.«

Trotz des inneren Aufruhrs lachte Holly und sagte dem Computer, dass sie Feierabend machte. Die holografische Abbildung blinkte einmal und erlosch.

»Worum geht's denn?«, fragte Holly, während sie sich von ihm aus dem Gebäude führen ließ.

»Ich sagte mir, du würdest vielleicht gern mal einen Blick auf unseren Bestimmungsort werfen«, sagte Gaeta.

»Saturn?«

»Ja. Man erkennt ihn mittlerweile mit dem bloßen Auge als Scheibe.«

»Wirklich?«

Er lachte. »Dachte ich's mir doch. Du hast ihn noch nicht gesehen, stimmt's?«

»Seit einiger Zeit schon nicht mehr«, sagte Holly.

Er hatte schon zwei Elektrofahrräder vor dem Gebäude bereitgestellt. Holly folgte ihm, und sie fuhren den verschlungenen Pfad durch den Park entlang, durch den Obstgarten und das Ackerland in Richtung des Endstücks. Sie stellten die Fahrräder im Ständer am Ende des Weges ab und beschritten dann einen schmalen Fußweg, der zwischen blühenden Büschen und ein paar Bäumen aufwärts führte.

»Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen«, murmelte Gaeta.

»Woran?«

»An die künstliche Schwerkraft hier drin. Wir gehen eine Steigung hinauf, aber es hat dennoch den Anschein, als ob wir einen Abhang hinuntergingen.«

»›Die spininduzierte Gravitation des Habitats‹«, zitierte Holly gouvernantenhaft aus dem Orientierungs-Handbuch, »›nimmt mit der Annäherung an die Mittellinie des Habitats ab.‹ Genau das tun wir gerade.«

»Ach so«, sagte er. Es klang aber nicht sehr überzeugt.

Schließlich kamen sie zu einem kleinen Gebäude mit einer einzigen Tür, an der stand: ZUM BUGBEOBACHTUNGSPOSTEN. Im Innern führte eine schwach beleuchtete Metalltreppe nach unten. Während sie mit den Softboots leise die Stahlstufen hinuntergingen, hatte Holly auch das Gefühl, aufwärts anstatt abwärts zu gehen.

»Wir sind nicht mehr in Oz«, murmelte Gaeta, während sie im zwielichtigen Treppenhaus hinabstiegen. Seine Stimme hallte leise von den Metallwänden wider.

»Oz?«, fragte Holly.

»Das ist eine alte Geschichte. Ich werde dafür sorgen, dass das Video von der Erde zu dir überspielt wird.«

Holly hatte keine Ahnung, wovon er eigentlich sprach. Dann endete die Treppe, und sie gingen einen schmalen Gang entlang, einen Tunnel, der an der Decke und den Wänden von Rohrleitungen und Kabelsträngen gesäumt wurde. Obwohl der Tunnel gerade und eben anmutete, hatten sie das Gefühl, eine Steigung zu erklimmen. Schließlich erreichten sie ein Schott mit der Aufschrift BUGBEOBACHTUNGSPOSTEN: VORSICHT BEIM EINTRETEN. Gaeta tippte auf die Schaltfläche am Eingang, und das Schott öffnete sich mit einem Seufzer.

›Vorsicht bitte‹, sagte eine Stimmaufzeichnung. ›Sie betreten einen rotierenden Raum. Bitte seien Sie vorsichtig.‹

Eine offene Kammer befand sich auf der anderen Seite des Schotts. Wände, Boden und Decke waren weich gepolstert.

Gaeta lachte, als sie eintraten. »Großartig. Nun hat man mich in eine Gummizelle gesteckt.«

›Rotation wird eingeleitet‹ meldete die Stimme.

Holly fühlte sich plötzlich leicht, fast benommen.

»Es ist wie eine Fahrt in einer Achterbahn«, sagte Gaeta und fasste Holly um die Hüfte.

›Zehn Sekunden bis zur Öffnung der Luke. Vorsicht bitte.‹

Die gepolsterte Wand, der sie gegenüberstanden, glitt auf, und Gaeta, der Holly noch immer um die Hüfte gepackt hielt, zog sie hindurch. Holly schnappte nach Luft und vergaß das weiche Gefühl in den Knien. Eine Million Sterne waren in ihrem Blickfeld verstreut: Stecknadelköpfe aus grellem Licht — die Augen des Himmels schauten sie an.

»Kosmisch«, sagte sie atemlos.

»Das ist eine treffende Bezeichnung dafür«, sagte Gaeta mit gedämpfter Stimme.

Dann merkte Holly, dass schon jemand in der trübe erleuchteten Kuppel war. Die Person hatte ihnen den Rücken zugewandt und schaute zu den Sternen hinaus. Sie wirkte klein und korpulent; die Farbe der Igelfrisur war im Zwielicht schwer zu bestimmen. Holly sagte sich, dass es vielleicht Rot war.

Die Frau regte sich, als ob sie aus einer Trance erwachte, drehte sich etwas um und sagte: »Hi.«

»Hallo«, erwiderte Holly genauso leise. Es war wie in einer Kirche — niemand hob die Stimme.

»Der Raum rotiert gegen die Drehrichtung des Habitats«, sagte Gaeta leise. »Man kann also etwas ins Auge fassen, ohne dass es sich um einen dreht.«

Holly wusste das bereits aus den Orientierungsvideos, doch spielte das im Moment keine Rolle. Der Anblick des vor ihr ausgebreiteten Universums verdrängte alles andere aus dem Bewusstsein. So viele Sterne!, sagte sie sich. Millionen und Abermillionen. Rote Sterne, blaue Sterne, große helle Sterne und kleine trübe.

Gaeta beugte sich über ihre Schulter. »Dieser blaue Stern dort. Das ist die Erde«, sagte er und wies in die entsprechende Richtung.

»Und der helle gelbe?«

»Jupiter.«

»Und wo ist der Saturn?«, fragte sie.

Die andere Frau zeigte zum unteren Rand des großen gewölbten Fensters. »Dort.«

Holly schaute auf einen hellen rosigen Stern. Nein, kein Stern; sie sah, dass es sich um eine Scheibe handelte, die an den Polen abgeplattet war.

Dann machte es bei ihr ›klick‹. »Wo sind die Ringe? Ich sehe keine Ringe!«

Ringwelt

Die Frau lächelte Holly an. »Galilei ist es genauso wie Ihnen ergangen. Die verdammten Ringe sind ihm abhanden gekommen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Holly und ließ den Blick von der rosigen Scheibe des Planeten zu dem runden Eulengesicht der Frau schweifen, die halb verborgen im Schatten der trübe beleuchteten Beobachtungskuppel stand.

Die Frau lächelte — irgendwie traurig, wie Holly fand. »Galilei war der Erste«, sagte sie, »der feststellte, dass es mit dem Saturn eine besondere Bewandtnis hatte. Das war 1609, 1610, so um den Dreh. Sein putziges kleines Teleskop vermochte die Ringe nicht aufzulösen; alles, was er zu sehen glaubte, waren zwei Sterne, die an beiden Seiten der Saturnscheibe hingen. Er hielt sie für zwei große Monde.«

»Und dann verschwanden sie?«, fragte Holly.

»Ja, richtig. Er stellte die Beobachtung des Saturns für eine Weile ein, und als er damit fortfuhr — so um 1612 —, waren die Monde nicht mehr da.«

»Was ist denn mit ihnen passiert?«

»Sie sind natürlich nicht verschwunden. Sie waren noch immer da. Alle fünfzehn Jahre nimmt der Saturn aufgrund seiner Neigung nämlich eine Position ein, wo die Ringe einem irdischen Beobachter den Rand zukehren. Sie sind so verdammt dünn, dass sie scheinbar verschwinden. Dann sind sie mit einem schwachen Fernrohr nicht mehr zu sehen. Auch nicht mit manchen großen Teleskopen.«

»Dann schauen wir im Moment also auf ihre Kante«, sagte Gaeta.

»Das stimmt. Der arme Galilei. Er wusste nicht, was da vorging. Muss schier verrückt geworden sein.«

Holly starrte auf die Scheibe des Saturn, als ob sie die Ringe wieder herbeizaubern könnte.

»Man sieht sie aber in den Teleskopen drüben in der Astronomie-Kuppel«, sagte die Frau. Sie schien noch etwas ergänzen zu wollen, hielt aber inne.

»Sind Sie Astronomin?«, fragte Holly.

»Sozusagen. Nadia Wunderly ist mein Name.« Sie streckte die Hand aus — Finger gespreizt und Daumen hoch. Holly ergriff die Hand und stellte sich und Gaeta vor. Wunderly schüttelte auch ihm die Hand; sie hatte einen ernsten Ausdruck, als ob die Begegnung mit anderen Menschen ein Ritual sei, das korrekt ablaufen musste.

»Wie ist das zu verstehen, dass Sie ›sozusagen‹ eine Astronomin seien?«, fragte Gaeta.

Wunderlys Gesicht wurde noch verdrießlicher. »Ich gehöre zum Team ›Planetenwissenschaften‹«, erläuterte sie, »aber dort sind hauptsächlich Astrobiologen zugange. Sie sind alle aus dem Häuschen wegen Titan.«

»Sie nicht?«

»Nee. Ich interessiere mich für die Saturnringe. Von Haus aus bin ich eigentlich Physikerin mit dem Schwerpunkt Strömungsdynamik.«

Nach einer Stunde waren sie alle in Hollys Apartment und plünderten die Reste im Kühlschrank. Wunderly erklärte ihnen derweil, dass man sich die Saturnringe als eine Flüssigkeit vorstellen könne, wobei jeder Eisbrocken in den Ringen als ein Teilchen in dieser dynamischen, stetig sich verändernden Flüssigkeit wirkte.

»Also rasen die Eisflocken wie auf einer Rennstrecke um den Saturn«, sagte Wunderly und beschrieb einen zittrigen Kreis mit dem Sellerie, den sie in der Hand hielt. »Dabei kollidieren sie wie die Leute, die sich in der Tokioter U-Bahn zusammendrängen.«

»Die ganze Zeit?«

»Die ganze Zeit«, erwiderte Wunderly und biss ein Stück Sellerie ab.

Holly stand auf der anderen Seite der Arbeitsplatte, die die Küche abteilte und wartete darauf, dass die Mikrowelle ein Tiefkühlgericht erhitzte. »Außerdem werden sie von diesen kleinen Monden umkreist?«

»Richtig. Wie Hütehunde. Die Monde verhindern, dass die Ringe ausfransen und sich vermischen.«

Gaeta, der es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht und eine Schüssel Chips auf den Waschbrettbauch gestellt hatte, schien tief in Gedanken versunken.

»Und dann gibt es da noch die Speichen«, fuhr Wunderly fort. »Magnetfelder, die die kleineren Eisflocken in der Schwebe halten.« Sie simulierte mit der freien Hand eine senkrechte schlangenartige Wellenbewegung.

»Also knallen sie alle ineinander«, mutmaßte Holly. In dem Moment piepte endlich die Mikrowelle.

»Allerdings sind nicht alle Partikel kleine Flocken. Ein paar sind so groß wie Häuser. Und die Monde durchmessen natürlich ein paar Kilometer.«

»Klingt verwirrend«, sagte Holly und trug das Tablett mit dem dampfenden heißen Gericht ins Wohnzimmer. Dann stellte sie es vor Wunderly auf den Kaffeetisch.

»Klingt gefährlich«, sagte Gaeta und brachte sich in eine aufrechte Position.

»Es ist nur gefährlich, wenn man die Nase 'reinsteckt«, sagte Wunderly. »Deshalb will ich die Ringe auch aus der Ferne studieren.«

»Es ist noch niemand dort gewesen, was?«, fragte er.

»Bei den Ringen? Wir haben schon automatisierte Sonden dorthin geschickt — angefangen mit der alten Cassini vor fast einem Jahrhundert.«

Gaeta setzte sich nun richtig hin; seine Augen funkelten in zunehmender Aufregung. »Ist eine von diesen Sonden auch durch die Ringe geflogen? Ich meine von oben nach unten?«

Wunderly stocherte mit dem dicken Ende des Selleriestrunks auf dem Teller herum. »Sie meinen, durch die Ringebene?«

»Ja, genau.«

Holly setzte sich neben Gaeta aufs Sofa.

»Es wurden natürlich Sonden durch die Lücken zwischen den Ringen geschickt. Aber nicht durch einen Ring selbst. Das wäre viel zu gefährlich gewesen. Die Sonde wäre dabei abgeschmirgelt und zu Schrott geworden. Als ob man sie durch den Wolf gedreht hätte.«

»Manny, du denkst doch nicht etwa daran, das zu tun?«, sagte Holly.

Er drehte sich grinsend zu ihr um. »Das wäre ein Wahnsinns-Stunt, chiquita.«

»Stunt?« Wunderly schaute verwirrt.

»Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt«, erklärte Gaeta ihr. »Ich gehe dorthin, wo noch kein Mensch zuvor gewesen ist. Je gefährlicher, desto besser.«

»Alles in Maßen«, sagte Holly.

Er lachte nur.

Nun dämmerte es Wunderly. »Sie sind doch derjenige, der den Olympus Mons bestiegen hat! Ich habe das Video gesehen.«

»Das war ich. Und dann bin ich auf Skiern den halben Berg heruntergefahren«, sagte Gaeta mit Stolz in der Stimme.

»Ja, aber Sie können doch nicht im freien Fall durch die Saturnringe fliegen.«

»Wieso nicht?«

»Das wäre lebensgefährlich.«

»Bei einem Stunt begibt man sich immer in Lebensgefahr. Deshalb schauen die Leute auch zu.«

»Sie zahlen Eintritt, um zu sehen, ob man getötet wird.«

Er lachte. »Wie bei den römischen Gladiatoren. Nur dass ich niemanden töten muss. Ich riskiere nur den eigenen Hals.«

»Aber nicht in den Ringen«, sagte Wunderly. »Das wäre Selbstmord.«

»Vielleicht«, sagte Gaeta nachdenklich. »Vielleicht auch nicht.«

Holly wollte ihn von dieser Idee abbringen, bevor sie sich in ihm festsetzte. »Manny…«

»Ich meine, Wilmot und die Wissenschaftsfritzen wollen nicht, dass ich den Titan betrete. Vielleicht wären die Ringe sogar ein noch besserer Stunt. So etwas wie sie gibt es kein zweites Mal im ganzen Sonnensystem.«

»Alle großen Planeten haben doch Ringe«, sagte Holly. »Jupiter, Uranus und Neptun.«

»Ja, aber das sind nur so mickrige kleine Dinger. Pobrecitos.«

»Die eigentliche Frage ist doch«, sagte Wunderly mit funkelnden Augen, »wieso der Saturn ein so prächtiges Ring-Ensemble hat, während die anderen Riesenplaneten nur solche Kümmerlinge haben.«

Gaeta schaute zu Holly und wieder zu Wunderly. Er zuckte die Achseln.

»Ich meine«, fuhr Wunderly fort, »man sollte annehmen, je größer ein Planet ist, desto größer ist auch sein Ring-System. Richtig? Wie kommt es dann, dass der Saturn einen größeren hat als der Jupiter? Zumal diese Ringe nicht starr, sondern dynamisch sind. Teilchen fallen die ganze Zeit auf den Planeten — Teilchen, die ständig von den Monden abgeschliffen werden. Wieso ist das Ringsystem des Saturn so groß? Haben wir nur das Glück, den Saturn exakt zur richtigen Zeit zu sehen, da das Ringsystem groß und aktiv ist? Das glaube ich aber nicht. Irgendetwas ist anders beim Saturn. Etwas Grundlegendes.«

»Und das wäre?«, fragte Holly. »Was macht den Saturn zu etwas Besonderem?«

»WDG«, sagte Wunderly.

»Was?«, fragten Holly und Gaeta gleichzeitig.

»Weiß Der Geier«, erwiderte Wunderly mit einem Grinsen. »Aber ich beabsichtige es herauszufinden.«

Wunderly sprach länger als eine Stunde über die Ringe und wurde mit jedem Wort enthusiastischer. Als Gaeta in Erwägung zog, die Ringe zu durchfliegen, warnte Wunderly vor der Gefahr. »Ich sage Ihnen, das ist unmöglich. Sie würden dabei umkommen«, sagte sie. Was den Stunt für Gaeta nur noch interessanter machte.

Schließlich ging sie, aber nicht, bevor Gaeta ihr das Versprechen abgenommen hatte, ihm alle Videos und die anderen Daten zu zeigen, die sie angehäuft hatte. Er sagte ihr, dass er seinen Cheftechniker mitbringen würde, damit der auch einen Blick darauf werfen könne.

Holly brachte Wunderly noch zur Tür, und nachdem sie sie geschlossen und sich wieder zu Gaeta umgedreht hatte, sah sie, dass sie nun allein waren und er übers ganze Gesicht grinste. Lass dich nicht mit ihm ein, sagte sie sich. Er wird sich früher oder später umbringen. Wahrscheinlich früher.

Und doch ging sie zum Sofa, setzte sich neben ihn und lehnte den Kopf an seine starke, muskulöse Schulter. Und nach ein paar Minuten küssten sie sich, entledigten sich der Kleider. Er trug sie wie eine Eroberung ins Schlafzimmer, und sie dachte gar nicht an Malcolm Eberly. Fast nicht.

317 Tage bis zur Ankunft

Wilmot fühlte sich wie ein genervter Schulmeister, der sich einer Schar unbotmäßiger Schüler gegenübersieht.

»Eine Schlägerei?«, blaffte er sie erzürnt an. »Ihr beide habt euch wirklich geprügelt?«

Die beiden jungen Männer, die vor seinem Schreibtisch standen, schauten belämmert. Einer der beiden hatte eine kleine blauschwarze Schwellung unterm linken Auge. Er hatte rote Haare und rosige Wangen — ein Ire, vermutete Wilmot. Der andere war größer und hatte schokoladenbraune Haut; seine Oberlippe war blutverkrustet. Keiner von beiden sagte ein Wort.

»Und was war der Grund für diesen Streit?«

Die beiden blieben stumm.

»Nun?«, fragte Wilmot. »Raus damit! Weshalb habt ihr euch geschlagen?«

»Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit wegen des Namens für Dorf B«, murmelte der mit dem blauen Auge.

»Eine Meinungsverschiedenheit?«

»Er wollte das Dorf Killarney nennen«, sagte der andere.

»Das ist ein guter Name«, sagte sein Widersacher. »Der da fand ihn aber doof.«

»Und das hat zu Handgreiflichkeiten geführt? Eine Meinungsverschiedenheit wegen der Namensgebung für das Dorf? Was, um Himmels willen, hattet ihr denn intus?«

Alkoholische Getränke wurden in der Cafeteria, wo der Zwischenfall stattgefunden hatte, zwar nicht verkauft, doch die zwei Restaurants des Habitats schenkten Schnaps, Wein und ein selbst gebrautes Bier aus, das von einer der Farmen geliefert wurde.

»Es ist meine Schuld«, sagte der mit der blutigen Nase. »Ich hatte mir im Nemo einen Drink genehmigt, bevor ich in die Cafeteria gegangen bin.«

Wilmot schaute sie beide grimmig an. »Muss ich denn ein totales Alkoholverbot verhängen? Wollt ihr, dass ich das tue?«

Die beiden schüttelten den Kopf. Wilmot studierte ihren zerknirschten Gesichtsausdruck. Wenigstens zeigen sie die gebührende Reue, sagte er sich. Ein Logistikanalytiker und ein Kommunikationstechniker, die sich wie Schuljungen kloppten.

Mit dem finstersten Blick, den er aufzusetzen vermochte, sagte Wilmot: »Noch ein derartiges Vorkommnis, und ich werde eure persönlichen Alkoholprivilegien streichen. Und euch zur Wiederaufbereitungsanlage strafversetzen.«

Der mit dem blauen Auge drehte sich etwas zum anderen um und reichte ihm die Hand. »Es tut mir Leid, Kumpel.«

Sein ehemaliger Gegner ergriff die Hand und drückte sie kräftig. »Ja. Mir auch.«

»Verschwindet von hier, ihr beiden«, knurrte Wilmot. »Und benehmt euch nie wieder so idiotisch.«

Der Kommunikationstechniker eilte von Wilmots Büro zu seinem Quartier, wo er sich mit einem feuchten Waschlappen das eingetrocknete Blut von der Lippe wischte. Dann rief er Oberst Kananga an.

»Ich habe in der Cafeteria eine Schlägerei angefangen«, sagte er zu Kanangas Abbildung auf dem Telefonmonitor.

»Ich habe über meine Kanäle schon davon erfahren«, sagte der Ruander. »Was hat Wilmot deswegen zu Ihnen gesagt?«

»Nicht viel. Er wirkte eher verwirrt als zornig.«

Kananga nickte.

»Was soll ich als Nächstes tun?«

»Im Moment gar nichts. Versehen Sie nur Ihre Pflicht und verhalten sich so, als ob nichts passiert wäre. Ich werde Ihnen schon Bescheid sagen, wenn es so weit ist.«

»Yessir.«


Bei einer Population, die Menschen vieler Glaubensrichtungen umfasste, gab es im Habitat keinen ›Sonntag‹. Deshalb wurde der Tag, an dem die Abstimmung der Phase Eins der Namensgebungs-Wettbewerbe stattfinden sollte, als allgemeiner Feiertag ausgerufen.

Malcolm Eberly saß im Wohnzimmer und verfolgte mit säuerlicher Miene die Nachrichtensendung auf dem Hologrammprojektor. Das Bild zeigte das Wahllokal in Dorf A. Leute betraten die Räumlichkeiten, gaben ihre Stimme ab und gingen wieder. Es war in etwa so spannend, wie Gras beim Wachsen zuzuschauen.

Ruth Morgenthau versuchte ihn aufzuheitern. »Die Wahlbeteiligung ist höher, als mein Stab prognostiziert hat. Es sieht so aus, als ob mindestens vierzig Prozent der Bevölkerung zur Wahl ginge.«

»Begeisterung ist den Leuten aber nicht anzumerken«, knurrte Eberly.

Sammi Vyborg, der an der anderen Seite des Kaffeetischs saß, hob die knochigen Schultern. »In dieser Phase haben wir auch noch keine Begeisterung erwartet. Sie entscheiden schließlich erst über die Kategorien der Namen und noch nicht über die Namen selbst.«

Eberly schaute ihn missbilligend an. »Ich will, dass die Leute in Wallung geraten. Ich will, dass sie sich streiten, dass sie aufeinander losgehen. Ich will, dass Wilmots Autorität in Frage gestellt wird.«

»Das wird schon noch kommen«, versicherte Kananga. Er hatte sich auf dem Sofa zurückgelehnt und die langen Arme auf der Lehne ausgestreckt. »Wir testen verschiedene Ansätze.«

Der Anflug eines Stirnrunzelns erschien bei Eberly. »Ich hörte von der Schlägerei in der Cafeteria.«

»Vorm nächsten Wahltag können wir auch einen Aufstand inszenieren, wenn Sie wollen.«

»Das ist nicht gerade die Art von Begeisterung, die wir brauchen«, sagte Eberly.

»Ein Aufstand wäre gut«, sagte Vyborg. »Dann könnten wir nämlich eingreifen und ihn niederschlagen.«

»Und Sie könnten sich als der Mann profilieren, der dem Habitat Ruhe und Ordnung beschert hat«, sagte Morgenthau und lächelte Eberly an.

»Vielleicht«, sagte er fast sehnsüchtig. »Ich wünschte nur…«

»Sie wünschten, alle würden Ihnen zuhören und zu Füßen liegen«, unterbrach Morgenthau ihn.

»Wenn ich ihr Anführer sein soll, ist es wichtig, dass sie mir vertrauen und mich mögen.«

»Sie werden Sie lieben«, sagte Vyborg mit vor Sarkasmus triefender Stimme, »wenn Sie erst einmal die Macht haben, über Leben und Tod zu entscheiden.«


Am Ende des Wahltags saß Holly am Schreibtisch und zählte die abgegebenen Stimmen aus. Die Wähler hatten sich dafür entschieden, die Dörfer nach Städten auf der Erde zu benennen. Alleinstehende Gebäude würden nach berühmten Persönlichkeiten benannt. Die Farmen, Gartenanlagen und andere offene Flächen sollten nach irdischen Naturwundern oder Gestalten aus der Mythologie benannt werden: Diese Wahl war so knapp ausgegangen, dass man keinen eindeutigen Sieger zu ermitteln vermochte.

Das Telefon meldete einen Anruf von Morgenthau, und Holly wies den Computer an, den Anruf entgegenzunehmen. Morgenthaus Gesicht tauchte neben den Statistiken auf.

»Haben Sie die Ergebnisse?«

»Ja, alles ausgezählt«, sagte Holly mit einem Kopfnicken.

»Dann senden Sie mir die Zahlen.«

Holly warf einen Blick auf die Datenleiste des Telefons unter dem Bild des Anrufers und sah, dass Morgenthau von Eberlys Apartment aus anrief. Sie ärgerte sich darüber, dass Morgenthau bei Malcolm war und dass er sie nicht auch eingeladen hatte. Dann muss ich mich eben selbst einladen, sagte sie sich.

»Ich muss sie zuerst an Professor Wilmot schicken«, sagte sie. »Das ist der Dienstweg.«

»Schicken Sie sie auch gleich zu mir«, sagte Morgenthau.

»Wenn ich das tue«, erwiderte Holly, »wird mein Verstoß gegen den Dienstweg elektronisch registriert. Aber ich könnte Ihnen persönlich ein Exemplar vorbeibringen«, fuhr Holly fort, ehe Morgenthau die Stirn zu runzeln vermochte.

Zuerst erschien ein wissender Ausdruck in Morgenthaus teigigem Gesicht, und dann erschien ihr Grübchenlächeln: »Sehr gut, Holly. Das ist eine gute Idee. Bringen Sie mir die Ergebnisse. Ich bin in Dr. Eberlys Quartier.«

»Ich werde sofort da sein«, sagte Holly.

Holly hatte Eberlys Apartment kaum betreten, als sie auch schon die Spannung spürte, die in der Luft lag; der Raum war mit Emotionen schier geladen. Morgenthau, Vyborg und Kananga waren da: Holly bezeichnete sie insgeheim als das Nilpferd, die Schlange und den Panther, aber diese tierischen Attribute waren mitnichten humorvoll gemeint. Vor allem Kananga machte sie nervös mit seinem Blick — wie eine Raubkatze, die ihre Beute verfolgte.

Eberly war nirgends zu sehen, doch bevor Holly sich noch nach ihm zu erkundigen vermochte, betrat er den Raum und lächelte sie an. Die Spannung, die sie spürte, löste sich auf wie ein Morgennebel im warmen Sonnenlicht.

»Holly«, sagte er und kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Es ist schon eine halbe Ewigkeit her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«

»Mal…«, hob sie an und korrigierte sich dann. »Dr. Eberly. Ich freue mich, Sie wieder zu sehen.«

»Holly hat uns die Wahlergebnisse gebracht«, sagte Morgenthau.

»Schön«, erwiderte Eberly. »Das haben Sie gut gemacht, Holly.«

Holly zog den Palmtop aus der Tasche ihres Gewands und projizierte die Auszählungsergebnisse auf eine der kahlen Wände des Wohnzimmers. Sie sah, dass Malcolm überhaupt keine persönlichen Gegenstände im Apartment hatte. Es mutete genauso leer und kahl wie sein Büro an.

Dann studierten die fünf stundenlang die Wahlergebnisse und pflückten sie auseinander wie Pathologen, die einen Leichnam sezierten, um festzustellen, was die betreffende Person vom Leben zum Tode befördert hatte.

Kananga verschwand für eine Weile in der Küche und stellte dann zu Hollys Überraschung ein Tablett mit belegten Broten und Getränken auf die Arbeitsplatte, die die Küche vom Wohnzimmer trennte. Eberly verbiss sich förmlich in die Statistik und versuchte die Wahlergebnisse nach Alter, Beruf und Ausbildung zu analysieren. Er wollte bis hinunter zum einzelnen Wähler wissen, wer weshalb wofür gestimmt hatte.

Vyborg hing das aufgeknöpfte Gewand lose um die schmalen Schultern. Er rieb sich die Augen und nahm ein Sandwich vom Tablett.

»Die Wissenschaftler haben mehr oder weniger ›en bloc‹ abgestimmt«, sagte er und wedelte mit dem Sandwich in der Hand herum. »Das ist erstaunlich.«

»Wieso sind Sie erstaunt?«, fragte Morgenthau. Sie hatte ein Sandwich angebissen und es dann auf dem Kaffeetisch liegen lassen. Holly fragte sich, wie sie ihre Körperfülle bewahrte, wenn sie so wenig aß.

»Wissenschaftler sind Streithammel«, sagte Vyborg. »Sie streiten sich immer wegen irgendetwas.«

»Über wissenschaftliche Themen«, sagte Eberly. »Aber ihre Interessen sind andere. Sie haben ›en bloc‹ gewählt, weil sie alle die gleichen Interessen und Standpunkte haben.«

»Das könnte ein Problem werden«, sagte Kananga.

Eberly schaute wissend. »Glaube ich nicht. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.«

Holly verfolgte fasziniert ihre Überlegungen und ließ den Blick von einem zum andern wandern, während sie die Wahlergebnisse mit chirurgischer Präzision analysierten. Sie wurde sich bewusst, dass Morgenthau die Umfrage so konzipiert hatte, dass sie auch Angaben zur Abteilung enthielt, in der der Wähler arbeitete und zur beruflichen Tätigkeit des Wählers. Wenn an der Wahl etwas geheim war, sagte Holly sich, dann waren es die Namen der Wähler. Im Übrigen enthielt jede Wahlurne genügend Informationen für eine detaillierte statistische Analyse.

»Wir werden ein Gegengewicht gegen sie brauchen«, sagte Vyborg mit vollem Mund.

»Gegen die Wissenschaftler?«, fragte Kananga.

»Ja«, sagte Eberly unwirsch. »Das ist bereits veranlasst worden.«

Morgenthau schaute Holly wieder mit diesem wissenden Blick an. »Was ist eigentlich mit Ihrem Bekannten, diesem Stuntman?«

Holly blinzelte überrascht. »Manny Gaeta?«

»Ja«, sagte Morgenthau. »Er hatte doch Probleme mit den Wissenschaftlern, oder?«

»Er will zur Titanoberfläche hinunter, aber sie wollen das erst erlauben, wenn…«

»Die Titanoberfläche?«, unterbrach Eberly sie. »Wieso gerade dorthin?«

»Er vollführt spektakuläre Stunts und verkauft dann die VR-Rechte an die Netze«, erläuterte Holly.

»Auf der Erde ist er äußerst populär«, führte Morgenthau aus. »Ein umjubelter Videostar.«

»Ein Stuntman«, sagte Vyborg spöttisch.

»Und er liegt mit den Wissenschaftlern im Clinch?«, fragte Eberly.

»Sie befürchten, dass er die Lebensformen auf dem Titan kontaminieren würde«, sagte Holly. »Dr. Cardenas versucht, ihm zu helfen…«

»Cardenas?«, fragte Vyborg schroff. »Die Nanotech-Expertin?«

»Richtig.«

»Wie gut kennen Sie diesen Stuntman eigentlich?«, fragte Eberly.

Holly verspürte einen Gewissensbiss. »Wir sind gute Freunde«, sagte sie schnell.

»Ich möchte ihn kennen lernen«, sagte Eberly. »Holly. arrangieren Sie es als einen gesellschaftlichen Anlass. Ich möchte mit Ihnen beiden zu Abend essen. Laden Sie Cardenas auch ein. Dann wären wir zu viert.«

Holly versuchte die Emotionen zu unterdrücken, die gegen sie anbrandeten. Mein Gott, sagte sie sich, nun komme ich endlich zu einem Abendessen mit Malcolm, aber ich soll ausgerechnet den Typen mitbringen, mit dem ich schlafe!

312 Tage bis zur Ankunft

Von den zwei Restaurants im Habitat war das ›Nemo‹ quasi das Szene-Restaurant. Wo das Bistro klein und ruhig war und die meisten Tische ohnehin auf die Wiese ausgelagert waren, protzte das ›Nemo‹ mit einem gediegenen Ambiente. Das im Stil eines Unterseeboots eingerichtete Restaurant hatte gewölbte kahle Metallwände und große Bullaugen, die spektakuläre holografische Unterwasserszenen zeigten. Der Inhaber, ein ehemaliger Restaurateur aus Singapur, der wegen seines öffentlich bekundeten Atheismus verurteilt worden war, hatte einen Großteil seines Privatvermögens ins Restaurant investiert. »Wenn ich schon den weiten Flug zum Saturn mache«, sagte er zu seinen versammelten Kindern, Enkelkindern und entfernteren Verwandten, »kann ich die Zeit auch sinnvoll nutzen.« Sie waren gar nicht froh darüber, dass das Familienoberhaupt die Erde verließ — und den Großteil ihres Erbes mitnahm.

Holly war ausgesprochen nervös, als sie dem Robotkellner zum Vierertisch folgte, der für sie reserviert war. Gaeta hatte ihr angeboten, sie bei sich zu Hause abzuholen, aber sie hielt es für besser, wenn sie sich erst im Restaurant trafen. Sie erschien als Erste am Treffpunkt, exakt um zwanzig Uhr. Der kompakte kleine Roboter blieb stehen und meldete: »Ihr Tisch, Miss.« Holly fragte sich, woher der Automat wusste, dass sie ein ›Fräulein‹ und keine ›Frau‹ war. Ob er die Daten der Erkennungsmarke ausgelesen hatte?

Sie setzte sich auf den Stuhl, von dem aus sie freien Blick auf den Eingang hatte. Das Restaurant war nicht einmal zur Hälfte besetzt.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte der Roboter. Die synthetische Stimme war warm und tief. »Wir haben eine ausgezeichnete Bar und eine umfangreiche Weinkarte.«

Holly wusste, dass das im besten Fall eine Übertreibung war. »Nein danke«, sagte sie. Der Roboter trollte sich.

Eberly erschien im Eingang, dicht gefolgt von Kris Cardenas. Sie trug ein knielanges geblümtes Sommerkleid aus einem leichten Stoff. Holly kam sich plötzlich schäbig vor in ihrem Gewand und den Leggins — der türkisfarbene Schal, den sie um die Hüfte geknotet hatte, riss das auch nicht heraus.

Sie stand auf, als die beiden näher kamen. Zuerst war keiner von beiden sich bewusst, dass sie denselben Tisch ansteuerten, doch dann fiel bei Eberly der Groschen, und er zog für Cardenas galant den Stuhl zurück. Als Holly die beiden einander vorstellte, hoffte sie inständig, dass Manny nicht kommen würde. Vielleicht ist er verhindert und führt einen Test durch oder so. Sie schenkte dem Gespräch zwischen Eberly und Cardenas kaum Aufmerksamkeit.

Dann erschien Gaeta doch. Er trug ein hautenges Netzhemd und Jeans. Keine Erkennungsmarke. Keinen Schmuck außer dem Ohrstecker. Er hatte es nicht nötig, sich herauszuputzen. Köpfe drehten sich, als er vor dem Robotkellner zu ihrem Tisch ging.

Vom flauen Gefühl im Magen abgesehen schien das Essen problemlos über die Bühne zu gehen. Gaeta kannte Cardenas natürlich, und Eberly erwies sich als ein charmanter Gastgeber. Die Konversation war ungezwungen, zumindest am Anfang: Sie sprachen über die kürzlich erfolgte Abstimmung und Gaetas Heldentaten.

»Durch die Wolken der Venus zu fliegen«, sagte Eberly bewundernd beim Aperitif. »Das muss großen Mut erfordert haben.«

Gaeta lächelte ihn beinahe scheu an. »Sie wissen doch, was man über Stuntmen so sagt: Mehr Glück als Verstand.«

Eberly lachte. »Trotzdem müssen viel Glück und Verstand dazugehören.«

Gaeta nickte zustimmend und widmete sich dem Krabben-Cocktail.

Als die Vorspeisen serviert wurden, drehte das Gespräch sich um Gaetas Absicht, auf die Oberfläche des Titan hinabzusteigen.

»Wenn Kris Urbain und seine Kontaminations-Spinner davon überzeugen kann, dass ich ihre chingado Bazillen schon nicht ausradieren werde«, nörgelte Gaeta.

Cardenas schaute ihn missbilligend an.

»Verzeihen Sie mein Französisch«, nuschelte er.

»Ich dachte, das sei Spanisch«, sagte Holly.

Eberly lenkte die Unterhaltung geschickt zu Urbain und seinen Wissenschaftlern zurück.

Gaeta äußerte sein Unverständnis über die Befürchtung, der Titan würde kontaminiert werden, während Cardenas die ausgesprochenen Ängste vor Amok laufenden Nanobots ebenfalls mit einem Kopfschütteln quittierte.

»Ich weiß natürlich, woher sie kommen«, sagte sie, »aber man könnte fast glauben, ich wollte Frankensteins Monster züchten — bei dem engen Korsett aus Sicherheitsmaßnahmen, in das ich geschnürt werde.«

»Sie waren übervorsichtig?«, fragte Eberly.

»Wie ein Damenkränzchen.«

»Manny, trägst du dich noch mit dem Gedanken, durch die Ringe zu fliegen?«, fragte Holly.

»Ich habe nichts mehr von dieser Nadia gehört«, sagte er mit einem Kopf schütteln. »Sie sagte, dass sie sich damit befassen wolle.«

»Ich werde sie anrufen«, sagte Holly. »Vielleicht hat sie es nur vergessen.«

Es wurde gerade der Nachtisch serviert, als Eberly einen Vorschlag machte. »Vielleicht vermag ich Ihnen wegen Dr. LJrbain zu helfen. Ich habe direkten Zugang zu Professor Wilmot und kann mich bei ihm dafür einsetzen, dass Sie die Titanoberfläche betreten dürfen.«

Er wandte sich Cardenas zu. »Und dafür, dass ein paar der Beschränkungen für Ihr Nanotech-Labor aufgehoben werden.«

»Es sind aber gar nicht mal die Beschränkungen«, sagte Kris ernst. »Damit kann ich leben. Ich weiß, wovor die Menschen Angst haben und muss ihnen bis zu einem gewissen Punkt sogar Recht geben.«

»Wo liegt dann Ihr Problem?«, fragte Eberly.

»Schlicht und einfach Arbeitskräfte«, sagte Cardenas. »Ich bin ganz allein im Labor. Ich habe schon versucht, Assistenten anzuwerben, aber keiner von den jüngeren Wissenschaftlern will irgendwie mit Nanotechnik in Berührung kommen.«

»Hat die Abteilung Human Resources Ihnen denn nicht zu helfen vermocht?«, fragte Eberly mit einem Seitenblick auf Holly.

Cardenas schien dieser Gedanke zu verwundern. »Ich habe Urbain gefragt«, sagte sie. »Was ich brauche, sind zwei Laborassistenten. Junge Leute mit einer wissenschaftlichen Grundausbildung. Aber die Wissenschaftler sind förmlich geflohen, als ich sie um Hilfe bat.«

»Ich verstehe«, murmelte Eberly.

»Damals auf der Erde«, sagte Cardenas lächelnd, »in der Steinzeit, haben die Professoren Hochschulabsolventen in die Labors gestellt. Sklavenarbeit — billig und reichlich zu haben.«

Eberly legte die Finger aufeinander. »Leider haben wir nicht viele Hochschulabsolventen unter uns und noch weniger Studenten. Zumal jeder einen Arbeitsauftrag hat; das war eine der Voraussetzungen, um überhaupt ins Habitat aufgenommen zu werden.«

»Wir haben keine unbeschäftigten Studenten«, sagte Holly.

»Das war mir von vornherein klar«, sagte Cardenas. »Aber ich hoffte, es würde mir wenigstens gelingen, ein paar jüngere Leute von Urbains Stab zu bewegen, mir zur Hand zu gehen.«

»Das würde er nicht zulassen«, mutmaßte Eberly.

Cardenas' Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Er lässt mich nicht mehr mit ihnen sprechen. Und er hat sie so unter Druck gesetzt, dass sie sogar meine Gesellschaft meiden. Ich bin geächtet.«

Eberly wandte sich an Holly und legte ihr die Hand aufs Handgelenk. »Holly, wir müssen in dieser Angelegenheit etwas tun.«

»Wenn Sie das für richtig halten, Malcolm«, sagte sie nach einem kurzen Blick auf Gaeta.

»Das halte ich für richtig«, sagte er, wieder an Cardenas gewandt.

Damit war das Essen beendet, und die vier traten hinaus ins nächtliche Zwielicht. Holly schlug das Herz bis zum Hals. Was geschieht nun?

»Holly, wieso gehen wir nicht in Ihr Büro und schauen, was wir tun können, um Dr. Cardenas zu helfen?«, sagte Eberly.

Sie nickte. »Wenn ich weiß, welche Qualifikationsprofile Sie brauchen, Kris, könnte ich Ihnen eine Liste möglicher Kandidaten zusammenstellen.«

»Ich schicke Ihnen die Anforderungen, sobald ich zu Hause bin«, sagte Cardenas.

»Ich begleite Sie nach Hause, Kris«, sagte Gaeta. »Es liegt auf meinem Weg.«

Holly stand wie erstarrt da, als Gaeta und Cardenas sich verabschiedeten und den Pfad entlanggingen, der zu ihren Unterkünften führte.

Eberly musste sie an der Schulter berühren, um sie aus der Starre zu lösen.

»Wir haben zu arbeiten, Holly«, sagte er.

Aber sie schaute unverwandt Cardenas und Gaeta nach, die Seite an Seite den trübe beleuchteten Weg entlanggingen. Cardenas drehte sich um und schaute über die Schulter auf Holly, so als ob sie sagen wollte: Keine Sorge, es wird schon nichts passieren. Jedenfalls hoffte Holly, dass sie das ausdrücken wollte.

Sie ist doch meine Freundin, sagte Holly sich. Sie weiß, dass Manny und ich zusammen sind. Sie würde nie etwas mit ihm anfangen. Es war schließlich seine Idee, sie nach Hause zu begleiten. Sie wird keine Annäherungsversuche von ihm zulassen.

Trotzdem musste Eberly sie erneut auffordern: »Holly, kommen Sie. Wir haben zu arbeiten.«

Der zweite Wahlgang

Eberly hielt sich zugute, nie ein zweites Mal den gleichen Fehler zu machen. Die erste öffentliche Ansprache, die er gehalten hatte, war ganz passabel gewesen, in den Augen von Morgenthau und Vyborg jedoch ein völliger Fehlschlag. Es hatten sich nicht sehr viele Zuhörer in der Cafeteria eingefunden, und trotz der zunehmenden Resonanz auf seine Rede hatten sie klar gemacht, dass sie die ganze Sache im besten Fall als eine Art lehrreiche Erfahrung ansahen.

Er beschloss, sich das zunutze zu machen.

Wo Phase Eins der Namensgebungs-Kampagne nun abgeschlossen war und die Kategorien für jede Art von Merkmal im Habitat in der ersten Abstimmung definiert worden waren, bereitete Eberly sich gründlich auf seinen zweiten Auftritt in der Öffentlichkeit vor.

Man kann es unmöglich allen recht machen, sagte er sich, aber es ist möglich, die Leute in kleine einheitliche Gruppen zu unterteilen und herauszufinden, was jede Gruppe sich wünscht. Und dann verspricht man es ihr. Teile und herrsche: ein Strategem so alt wie die Zivilisation selbst, vielleicht sogar noch älter. Und Eberly lernte es zu nutzen. Erfreut, fast überrascht stellte er fest, wie leicht es doch war, sich die natürliche Abneigung zwischen dem Stuntman und Urbains wissenschaftlichem Kader zunutze zu machen.

Über mehrere Wochen hatte Vyborg auf Eberlys Anweisung hin den Bekanntheitsgrad des Stuntmans im Habitat erhöht. Mit Videos und Nachrichten-Clips, die Gaeta zur aufregenden Heldengestalt stilisierten: der Bezwinger des Olympus Mons auf dem Mars, der Mann, der durchs Mare Imbrium auf dem Mond gewandert war. Darüber hinaus hob Vyborg auf die wissenschaftlichen Informationen ab, die Gaeta bei seinen Stunts ›en passant‹ gewonnen hatte. Und nun wollte er als erster Mensch den Fuß auf die geheimnisvolle, abweisende Oberfläche von Titan setzen. Würden die Wissenschaftler ihm das erlauben? Die Menschen werden früher oder später ohnehin auf dem Titan landen. Wieso sollte man diesem furchtlosen Helden dann nicht gestatten, das Risiko einzugehen, das er so bereitwillig eingehen wollte? Auf Eberlys Anweisung wurde jedoch kein Wort über Dr. Cardenas und ihre Versuche verlautet, Nanobots zur Lösung des Kontaminationsproblems zu produzieren.

Kanangas Leute waren behilflich, die Öffentlichkeit zu spalten. Es war geradezu lächerlich einfach, die Menschen gegeneinander auszuspielen. Eberly selbst kam auf die Idee, mit Videos über irdische Sportveranstaltungen Fan-Clubs zu organisieren, verschworene Gemeinschaften, die Wetten auf ›ihre‹ Teams abschlossen und jedes Spiel in einer Mischung aus trunkener Aggressivität und Überschwang verfolgten. Als Wilmot und die Abteilungsleiter den Konsum von Alkohol, sogar von Bier zu reglementieren versuchten, trafen die Fans sich eben in Privatquartieren. Es wurde ein schwunghafter Handel mit Schwarzgebranntem aufgezogen, und es kam nicht selten zu Ausschreitungen, wenn zwei Fan-Clubs aufeinander trafen.

Morgenthau sorgte dafür, dass Eberly über die besonderen Interessen jeder Gruppe in Kenntnis gesetzt wurde. Die Maschinenführer beschwerten sich darüber, dass sie ohne triftigen Grund in eine niedrigere Lohngruppe eingestuft wurden als die Laboranten. Eine Gruppe von Farmern wollte die Anbaufläche vergrößern und tropische Früchte züchten, die Wilmots Abteilungsleiter verboten hatten: Weil sie nämlich mehr Wasser und ein großes Treibhaus benötigten, um ein wärmeres und feuchteres Klima als im übrigen Habitat zu schaffen. Und es herrschte eine tiefe Rivalität zwischen den Fans zweier Football-Teams, die wie auf der Erde die Weltmeisterschaft anstrebten. Der Konflikt drohte so ernst zu werden, dass selbst Kananga zur Mäßigung riet.

Und bei alledem war Holly Eberly eine unschätzbare Hilfe. Sie leitete die Abteilung Human Resources und versorgte Eberly getreulich mit den Statistiken, die er für die Analyse der unterschiedlichen Gruppendynamiken benötigte. Sie arbeitete fleißig und zuverlässig, ohne eine Ahnung zu haben, dass die Brüche in der sozialen Struktur des Habitats von Eberlys Clique systematisch vertieft wurden.

»Wir müssen irgendetwas tun, um die Leute wieder zusammenzubringen«, sagte sie Eberly immer wieder. »Wir müssen einen Weg finden, den Zusammenhalt wiederherzustellen.«

Wilmot beobachtete den wachsenden Unfrieden mit einer Mischung aus Faszination und Furcht. Die fein austarierte Gesellschaft, die eigens für dieses Habitat konstruiert worden war, zeigte erste Auflösungserscheinungen. Sie verlor den Zusammenhalt. Die Leute schlossen sich zu Stämmen und sogar zu Clans zusammen. Als Anthropologe war er von diesem Verhalten fasziniert. Als Leiter der Expedition befürchtete er jedoch, dass das zunehmende Chaos zu Gewalt, vielleicht sogar zu Mord und Totschlag führen würde. Dennoch widerstand er dem Drang, einzugreifen oder die Leute mit neuen Bestimmungen und Verordnungen zu knebeln. Lass das Experiment weiterlaufen, sagte er sich. Lass sie ihre kleinen Spiele spielen. Das Endergebnis wird mehr zählen als ein paar Menschenleben; letztlich könnte es sogar wichtiger sein als der Erfolg oder Misserfolg der Mission selbst.

»Sie müssen irgendetwas tun, Malcolm!«, drängte Holly Eberly schließlich. »Sie sind der Einzige, der eine Vision hat, wie man alle wieder zusammenbringt.«

Er ließ es geschehen, dass Morgenthau Hollys zunehmend dringlichere Bitten durch ähnliche Vorschläge ihrerseits ergänzte. Schließlich sagte er ihnen, sie sollten eine Veranstaltung organisieren.

»Ich werde zu ihnen sprechen und mein Bestes versuchen«, sagte er.

Holly arbeitete täglich sechzehn bis achtzehn Stunden, um eine Veranstaltung zu organisieren, die wirklich jeden im Habitat mobilisieren würde. Sie sollte im weitläufigen Park am See außerhalb des Dorfs A stattfinden. Sie sorgte dafür, dass die Cafeteria und beide Restaurants an jenem Tag um 18:00 Uhr schlossen; niemand würde etwas zu essen bekommen, bis Eberly seine Rede gehalten hatte.

Auf Morgenthaus Anregung hin organisierte Holly Paraden. Die Fan-Clubs waren gern bereit, mit Wimpeln in den Farben der jeweiligen Clubs einen Aufmarsch im Park zu veranstalten. Die Musiker stellten Bands zusammen und waren sogar damit einverstanden, ein Konzert zu geben, anstatt sich in einer Kakophonie zu überbieten. Die Farmer formierten sich auch zu einer Marschkolonne, der es jedoch völlig an Disziplin fehlte. Die anderen Arbeiter formierten sich ebenfalls nach Zünften.

Als die Musik dann spielte und die Leute marschierten, erschienen trotzdem nur ein paar Tausend Zuschauer. Der Großteil der Bevölkerung blieb zu Hause. Holly tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie die Veranstaltung im Fernsehen anschauten. Hoffte sie zumindest.

Dennoch bildeten ungefähr dreitausend Leute auch ein beachtliches Publikum. Eberly schaute froh, als sie sich vor der Orchestermuschel versammelten, auf deren Bühne er stand. Er verfolgte ihren Einmarsch und lächelte in die Runde.

Morgenthau schien auch erfreut. Holly hörte, wie sie Eberly etwas ins Ohr sagte: »Diese Minderheit ist groß genug, um uns die Macht zu verschaffen, die wir brauchen, Malcolm. Diejenigen, die zu Hause geblieben sind, werden von der Flut fortgerissen, wenn die Zeit kommt.«

Es herrschte eine Atmosphäre wie bei einem altmodischen Picknick. Musik spielte. Leute marschierten ein und traten dann vor der Bühne der Orchestermuschel an, die sich an einem Ende des Parks befand.

Manuel Gaeta war der erste Sprecher. Morgenthau stellte ihn vor, und er erklomm unter dem Jubel und den Pfiffen der Menge langsam die Stufen zur Bühne.

Er sorgte mit einer Geste für Ruhe und schaute grinsend auf ein Meer erwartungsvoller Gesichter. »Ich bin kein begnadeter Redner«, hob er an. »Ich habe in meinem Leben schon viele Fährnisse gemeistert, aber ich glaube, dieser Auftritt ist die schwierigste Prüfung.«

Das trug ihm einen Lacherfolg ein.

»Im Grunde habe ich auch nicht viel zu sagen. Ich hoffe, dass es mir gelingt, auf die Oberfläche des Titan hinabzusteigen, und wenn ich das tue, mochte ich die Mission euch widmen, den Bewohnern dieses Habitats.«

Die Leute grölten beifällig. Holly saß neben Eberly an einer Seite der Bühne. Sie ließ den Blick über die Menge schweifen und hielt Ausschau nach den Gesichtern ihr bekannter Wissenschaftler. Sie machte nur ein paar aus. Weder Dr. Urbain noch Professor Wilmot befanden sich in der Menge.

»Meine eigentliche Aufgabe«,, fuhr Gaeta fort, »besteht darin, die Hauptperson des heutigen Abends vorzustellen. Ich glaube, ihr alle kennt ihn. Malcolm Eberly ist der Leiter der Abteilung Human Resources und der Einzige in der Führungsriege des Habitats, der bereit ist, mir zu helfen. Und ich glaube auch, dass er uns allen helfen kann.«

Gaeta drehte sich um und wies auf Eberly, der sich wie choreographiert vom Stuhl erhob und zum Podium ging. Der Beifall der Menge war spärlich.

»Danke, Manny«, sagte Eberly, beide Hände fest am Rednerpult. Er ließ den Blick über die Menge schweifen und sagte: »Und ich danke euch, jedem Einzelnen von euch, dass er heute Abend zu dieser Veranstaltung gekommen ist.«

Er holte Luft und senkte den Kopf — fast wie im Gebet. Die Menge verstummte und schaute erwartungsvoll.

»Wir stehen vor einer ungeheuer schwierigen Aufgabe«, sagte Eberly. »Wir müssen uns neuen und nie gekannten Gefahren stellen, während wir weiter in den unerforschten Raum vorstoßen als je ein Mensch vor uns.«

Holly war von seinem Tonfall beeindruckt. Sie sah, dass er auf der Bühne ein völlig anderer Mensch war: Die Augen blitzten, und die Stimme war so tief, sonor und kündete von einer solchen Selbstsicherheit, wie sie es noch nie bei ihm gehört hatte.

»Bald werden wir den Saturn erreichen. Bald wird unsere eigentliche Arbeit beginnen. Bevor wir jedoch anfangen können, haben wir die Pflicht, eine neue Ordnung und eine neue Gesellschaft zu erschaffen — und eine neue Regierung, die unsere Interessen vertritt und sich dafür einsetzt, dass alle unsere Ziele verwirklicht werden.

Der erste Schritt bei der Errichtung dieser neuen Ordnung ist die Namensgebung. Wir haben die Gelegenheit, ja sogar die Pflicht, die Namen auszuwählen, durch die unsere Gemeinschaft bekannt wird. Diese Aufgabe mag trivial erscheinen, aber das ist sie nicht. Sie ist von größter Bedeutung.

Doch was sehen wir allerorten? Statt Einigkeit herrscht Zwietracht. Statt klarer Vorgaben herrschen Verwirrung und Hader. Wir sind uneins und schwach, wo wir einig und stark sein müssten.«

Holly hörte mit zunehmender Faszination zu und spürte, wie sie in sein Geflecht aus Worten eingewickelt wurde. Das ist der Wahnsinn, sagte sie sich. Diese Tausende von Leuten fressen Malcolm förmlich aus der Hand.

»Wir sind die Auserwählten«, sagte er. »Wir wenigen, wir wenigen Auserwählten — wir, die durch menschliche Tatkraft und menschliche Würde im entferntesten Außenposten der Zivilisation Einzug halten werden. Wir, die wir mit dem Banner der Menschlichkeit gegen die kalten und feindlichen Kräfte der Natur antreten werden, wir, die wir dem ganzen Universum zeigen werden, dass wir einen sicheren Hafen für uns zu bauen und aus eigener Kraft ein Paradies zu schaffen vermögen.

Die Namensgebung ist nur der erste Schritt bei dieser Mission. Wir müssen auch eine neue Regierung bilden und die Führer wählen, die uns dabei helfen werden, die neue Gesellschaft zu erschaffen, die wir anstreben.

Statt Rivalität brauchen wir Zusammenarbeit. Statt Zwietracht brauchen wir Einigkeit. Statt Schwäche brauchen wir Stärke. Möge jeder Mann und jede Frau hier dazu beitragen, dass diese Gesellschaft stark und einig ist. Ihr solltet nicht fragen, welchen Nutzen ihr als Einzelne daraus zieht. Ihr solltet stattdessen fragen, welchen Beitrag ihr zu leisten vermögt, um eine freie und blühende neue Ordnung zu schaffen. Wir können mit eigenen Händen ein Paradies schaffen! Wollt ihr dabei mithelfen?«

»Ja!«, brüllten die Leute. Sie klatschten, jubelten und pfiffen. Eberly stand mit gesenktem Kopf am Rednerpult und sog ihre Verehrung auf wie eine Blume, die in Sonnenlicht badete.

Dann richtete Eberly sich auf dem Podium auf, und die Menge verstummte. Langsam hob Eberly den Kopf und ließ den Blick über die Menge schweifen. Ein fast glückseliges Lächeln spielte um seine Lippen.

»Jeder von euch — jeder Mann und jede Frau — muss sich der Einheit und Zusammenarbeit verpflichten, die wir für die Errichtung der neuen Ordnung brauchen. Ich möchte nun, dass jeder von euch seinen Nächsten an der Hand fasst. Freund oder Fremder, Mann oder Frau: Nehmt eure Nachbarn an der Hand und schwört, dass wir gemeinsam an der Schaffung unserer neuen Welt arbeiten werden.«

Ein Raunen ging durch die Menge; die Leute drehten die Köpfe und schlurften mit den Füßen. Dann drehten die Leute nach anfänglichem Zögern sich zueinander um und fassten sich an den Händen. Holly sah, dass immer mehr Leute sich an der Hand nahmen und für einen Moment ihre Differenzen vergaßen. Viele weinten sogar. Holly wurde sich bewusst, dass Malcolm der einzige Mensch im gesamten Habitat war, der die Leute so zusammenzuschweißen vermochte.

Sie war stolz darauf, diesem großen Mann dabei geholfen zu haben, diesen Moment der Einigkeit zu erreichen — diese machtvolle Demonstration von Freundschaft und Liebe.

Mitteilung mit höchster Priorität

An: Prof. Dr. E. Urbain Habitat Goddard

Von: H.H. Haddix Vorstandsvorsitzender der IAA

Betreff: Kontaminationsrisiko Titan


Als Reaktion auf Ihre Anfrage hat der Vorstand eine sorgfältige Folgenabschätzung bezüglich der menschlichen Exploration des Saturnmondes Titan durchgeführt. Nach einer Prüfung durch den Astrobiologischen und Planetenschutz- Ausschuss der Internationalen Astronautenbehörde ist einstimmig entschieden worden, dass eine menschliche Exkursion zur Oberfläche von Titan strengstens verboten wird.

Der Schutz der eingeborenen Lebensformen des Titan hat Vorrang vor allen anderen Zielen, einschließlich der wissenschaftlichen Forschung. Die robotische Exploration der Titanoberfläche wird erlaubt, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die geltenden Dekontaminations- Prozeduren für den Planetenschutz strikt eingehalten werden.

H. Harvey Haddix

Vorstandsvorsitzender der IAA Rev. Calypso J. C. Abernathy Imprimatur

288 Tage bis zur Ankunft

Ruth Morgenthau hasste diese Spaziergänge in der Natur, auf denen Eberly bestand. Er ist total paranoid, sagte sie sich, während sie widerwillig den Pfad entlang trottete, der von Dorf A zu den Gärten führte. Er befürchtet, dass irgend jemand sein Apartment verwanzt hat, so wie wir es mit allen anderen gemacht haben.

Aber es heißt gar nicht mehr Dorf A, erinnerte sie sich. Es heißt nun Athen. Und der Garten trägt die offizielle Bezeichnung ›Refugium des Heiligen Franz von Assisk‹. Morgenthau hätte fast gekichert. Was für ein Name! Wie sie sich gezofft hatten — sie, Vyborg und Kananga. Selbst der sonst so gemäßigte und zurückhaltende Jaansen hatte die Stimme erhoben, als es um die Benennung der verschiedenen Laborgebäude des Habitats ging.

Die monatelange Kampagne für die Benennung der Ortschaften, Gebäude und Landmarken des Habitats war im Grunde genommen eine Farce gewesen. Jede Stimme hatte einen Streufaktor, der fast größer war als die Anzahl der abgegebenen Stimmen. Jeder im Habitat hatte eine eigene Meinung zur Namensgebung, so dass es kaum zwei einheitliche Stimmen gab. Es war ein einziges Chaos, für das Eberly eine großartige Lösung parat hatte.

»Weil die Wähler keine eindeutigen Ergebnisse produziert haben«, sagte er dem inneren Kreis seiner Vertrauten, »werden wir die Entscheidung selbst treffen müssen.«

Also stritten die vier sich: Kananga bestand darauf, dass afrikanische Namen die gleiche Quote wie europäische und asiatische bekamen, Vyborg plädierte für Namen, die starke psychologische Konnotationen in der Bevölkerung hatten und Jaansen versuchte — manchmal hartnäckig — eine Liste mit Namen berühmter Wissenschaftler durchzusetzen. Eberly hatte sich aus dem Streit herausgehalten und ihn mit kaltem Abscheu verfolgt. Überhaupt ließ die ganze Sache Morgenthau kalt; es war ihr piepegal, welche Namen ausgewählt wurden, solange sie nicht allzu säkular waren. Ihre Zustimmung, den biologischen Komplex nach Charles Darwin zu benennen, hatte sie natürlich verweigert.

Am Ende schlichtete Eberly die meisten Streitigkeiten. Und wenn keine Einigung möglich war, traf eben er die Entscheidung. Wenn eine Auseinandersetzung gar zu lang dauerte, schritt er ein und sagte den Beteiligten, dass sie sich nicht wie Kinder benehmen sollten. Morgenthau beobachtete ihn jedoch aufmerksam, und er wusste das auch.

Dorf A erhielt einen europäischen Namen, und Dorf B ging an die Asiaten: Bangkok. Aus Dorf C wurde Cairo, aus D wurde Delhi und E wurde auf den Namen Entebbe getauft. Die Amerikaner — Norden und Süden — beklagten sich bitterlich, doch Eberly brachte sie mit der feierlichen Verkündung zum Schweigen, dass dies die Namen seien, für die die Bewohner des Habitats sich entschieden hatten. Dann wies er noch darauf hin, dass die Amerikaner auch nur eine Minderheit in der Bevölkerung des Habitats seien.

Weil es sich um eine geheime Abstimmung handelte, ließ Eberly keine erneute Auszählung der Stimmen zu. In einer effektvollen Demonstration scheinbarer Unparteilichkeit erklärte er alle Stimmen für ungültig — »damit niemand sie zu manipulieren oder in Zukunft damit Zwietracht zu säen vermag«, verkündete er.

Ein paar Leute murrten zwar, doch im Großen und Ganzen akzeptierten die Menschen die Namen, für die die Wähler sich angeblich entschieden hatten. Eberly sorgte dafür, dass viele Gebäude und Landmarken mit angloamerikanischen und lateinamerikanischen Namen versehen wurden, um es auch allen recht zu machen.

Morgenthau fand, dass es eine Meisterleistung war. Und doch spürte sie einen Anflug von Besorgnis. Vielleicht war Eberly zu stark, zu sehr auf seine eigenen Belange bedacht und zu machthungrig. Wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs, erinnerte sie sich. Wir streben Macht nicht für uns an, sondern für die Erlösung dieser zehntausend verlorenen Seelen. Sie fragte sich, ob Eberly auch dieser Überzeugung war. Eigentlich war sie sich ziemlich sicher, dass das nicht der Fall war. Allerdings hatten höhere Autoritäten als sie Eberly als Anführer dieser Mission auserwählt. Sie hatte die Aufgabe, ihn zu unterstützen — und darauf zu achten, dass er nicht zu weit von dem Pfad abwich, den die Neue Moralität und die Heiligen Jünger ihm vorgeschrieben hatten.

Also ging Morgenthau neben ihm den Washington-Carver- Weg entlang, der von Athen zum St.-Franciscus-Garten führte und noch weiter über die flache Hügelkette mit dem unstimmigen Namen Andenhügel bis zum Farmland der Region Ohio. Sie hoffte inständig, dass Eberly nicht auf die Idee käme, den ganzen Weg bis nach Kalifornien zu gehen, die offene Region am Abschluss des Habitats. Die Füße taten ihr jetzt schon weh.

»Sie sind so still heute«, sagte Eberly, während sie den verschlungenen gepflasterten Pfad entlanggingen. Das waren aber auch die ersten Worte, die er seit geraumer Zeit gesprochen hatte.

Morgenthau spürte Schweißperlen auf der Stirn. »Ich bin nur froh, dass man sich endlich auf die Namen geeinigt hat«, sagte sie. »Sie haben das meisterhaft, geradezu brillant geregelt.«

Er gestattete sich ein sarkastisches Lächeln. »Aber nur unter der Voraussetzung, dass das wirkliche Wahlergebnis annulliert wurde.«

»Hundertprozentig«, versicherte sie.

»Und dass niemand außerhalb unseres inneren Kreises weiß, wie die Namen ausgewählt wurden.«

»Kein Einziger.«

»Auch Holly nicht? Sie ist ein helles Köpfchen, müssen Sie wissen.«

Morgenthau bestätigte mit einem Kopfnicken. »Sie fragte, weshalb die Stimmen annulliert würden. Nachdem ich ihr aber gesagt hatte, dass es Ihre Entscheidung war, hat sie es akzeptiert.«

Eberly nickte. »Früher oder später werde ich mit ihr wohl ins Bett steigen müssen. Das wird ihre Loyalität festigen.«

Morgenthau schaute ihn schockiert und mit offenem Mund an. »Sie ist auch so schon loyal genug. Es besteht keine Notwendigkeit…«

Er fiel ihr ins Wort. »Unsere nächsten Schritte werden ihr immer weniger gefallen. Ich werde eine persönliche Verbundenheit mit ihr herstellen müssen. Sonst wird sie vielleicht noch widerspenstig oder lehnt sich sogar gegen uns auf.«

»Aber mit ihr ins Bett gehen. Das ist sündig!«

»Es ist für eine gottgefällige Sache. Wir müssen alle bereit sein, Opfer zu bringen.«

Sie hörte den Sarkasmus in seiner Stimme. »Wenigstens ist sie recht attraktiv.«

»Jedoch etwas zu dunkel für meinen Geschmack«, sagte Eberly so beiläufig, als ob er über seine modischen oder kulinarischen Vorlieben spräche. »Ich bevorzuge Blondinen mit einer volleren Figur.«

Morgenthau spürte, dass sie errötete. Und doch… Ob er nur mit mir spielt, fragte sie sich. Ob er mir auf den Zahn fühlt? Sie hatte jedenfalls keine Lust, dieses Thema zu vertiefen. Sie machte sich keine Illusionen wegen ihrer Reize und hatte auch keine besonderen Vorlieben.

»Sie haben mich doch nicht zu diesem Spaziergang eingeladen, um mit mir Ihre Liebesdinge zu erörtern, nicht wahr?«

»Nein«, erwiderte er ernst. »Wohl kaum.«

»Was dann?«

Ohne den gemächlichen Schritt zu ändern, schaute Eberly zu den Laternenpfählen und den dort montierten Miniatur- Kameras hoch. Dann ließ er den Blick über das grüne und mit Blumen übersäte Parkland schweifen, das sich um sie herum ausdehnte.

»Büros können zu leicht verwanzt werden. Es gibt immer neugierige Augen und Ohren.«

Das leuchtete ihr ein. »Und so sieht es aus, als ob wir uns nur etwas Bewegung verschafften.«

Er nickte. »Genau.«

Morgenthau war sich bewusst, dass ihr gemeinsamer Spaziergang womöglich Anlass zu Spekulationen bot — obwohl kaum jemand annehmen würde, dass sie sich für Eberly interessierte oder in körperlicher Hinsicht anziehend auf ihn wirkte. Sie wirkte auf gar keinen Mann anziehend, davon abgesehen. Morgenthau wusste, dass jeder sie für einen kleinen, ungepflegten und übergewichtigen Trampel hielt. Niemand fühlt sich durch mich bedroht. Wenn die wüssten!

»Früher oder später werden wir uns mit Wilmot anlegen müssen«, sagte Eberly, wobei er noch immer Ausschau nach Lauschern hielt. »Vyborg löchert mich ständig mit der Forderung, Berkowitz zu entfernen und ihn als Leiter der Kommunikationsabteilung einzusetzen. Ich habe entschieden, dass der Weg zu Berkowitz über Wilmot führt.«

»Über Wilmot?«

»Berkowitz ist ein unauffälliger ehemaliger Netzwerk- Manager. Er scheint keine offensichtlichen Laster zu haben. Jedoch führt er die Kommunikationsabteilung an einer so langen Leine, dass Vyborg der eigentliche Leiter der ganzen Abteilung ist.«

»Sammi will aber die Verantwortung und den Titel«, sagte Morgenthau. »Ich kenne ihn. Er will den Respekt und die Macht.«

»Ja. Und er ist sehr ungeduldig. Wenn das, was er mit dem alten Romero gemacht hat, jemals aufgedeckt wird…«

»Es würde nicht auf Sie zurückfallen«, versicherte sie ihm. »Das ist ausgeschlossen.«

»Vielleicht. Trotzdem sollte Berkowitz entfernt werden.«

»Und zu diesem Zweck wollen Sie über Wilmot gehen?«, fragte Morgenthau.

»Das ist natürlich nicht der einzige Grund«, fuhr Eberly fort. »Wilmot glaubt, dass er das Habitat im Griff hätte. Es wird der Tag kommen, wo ich ihn eines Besseren belehren muss.«

»Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Menschen von einem gottlosen Säkularisten regiert werden«, echauffierte Morgenthau sich.

»Ich brauche Munition, ein Pfund, mit dem ich Wilmot gegenüber zu wuchern vermag.«

»Ein Zuckerbrot oder eine Peitsche?«, fragte Morgenthau.

»Entweder oder. Nach Möglichkeit beides.«

»Wir brauchen jemanden, der seine persönlichen Dateien und Telefongespräche kontrolliert.«

Eberly nickte. »Das muss unter völliger Geheimhaltung stattfinden. Nicht einmal Vyborg darf wissen, dass wir in Wilmots Dateien stöbern.«

»Wer soll das sonst übernehmen?«

»Sie«, sagte Eberly so dezidiert, dass kein Spielraum für Widerspruch blieb. Morgenthau sank das Herz; sie sah lange, öde Nächte vor sich, in denen sie die Telefongespräche und Unterhaltungsvideos des Professors sondierte.

Sie schwieg und dachte angestrengt nach, während sie langsam den Weg entlanggingen.

»Nun?«, fragte Eberly.

»Das dürfte sehr langweilig werden. Er ist doch nur ein ältlicher Akademiker. Ich bezweifle, dass sich bei ihm etwas Brauchbares finden wird.«

Eberly zögerte keinen Sekundenbruchteil. »Dann werden wir eben etwas nachhelfen müssen. Obwohl ich es vorziehen würde, eine Schwäche von ihm zu finden, die er wirklich hat. Falsche Anschuldigungen in die Welt zu setzen könnte sich als Bumerang erweisen.«

»Lassen Sie mich mit Vyborg darüber sprechen.«

»Nein«, sagte Eberly schroff. »Das bleibt unter uns. Es darf niemand sonst eingeweiht werden. Jedenfalls nicht im Moment.«

»Ja«, sagte sie zögerlich. »Ich verstehe.«

Die ganze lange Zeit auf dem Rückweg zu ihren Büros in Athen fragte Morgenthau sich, wie es um Eberlys Engagement für ihre Sache bestellt war. Es geht ihm lediglich um die Erfüllung seines persönlichen Machtstrebens, sagte sie sich.

Aber er hat das Charisma, um sich zum Führer dieser zehntausend Leute aufzuschwingen. Ich werde mich mit ihm arrangieren müssen. Wilmot ist durch und durch ein gottloser Säkularist: ein Atheist oder bestenfalls ein Agnostiker. Es wird doch etwas geben, womit man ihn drankriegen kann. Ich muss etwas finden, das ihm das Genick bricht.

287 Tage bis zur Ankunft

»Ich habe nicht mit ihm geschlafen, wenn es Sie beruhigt«, sagte Kris Cardenas.

Holly schaute in ihre kornblumenblauen Augen und befand, dass Kris die Wahrheit sagte. Sie verbrachte zwar jede Menge Zeit mit Manny Gaeta, aber sie beharrte darauf, dass es rein dienstlich sei. Auf der anderen Seite hatte Manny Holly seit jenem Abend, als er Kris nach Hause begleitet hatte, sie nicht mehr um eine Verabredung gebeten oder im Büro bei ihr vorbeigeschaut, ja sie nicht einmal mehr angerufen.

Und Malcolm war so kühl und distanziert wie immer. Rein dienstlich, alles rein dienstlich. Von einem Liebesleben kann nicht die Rede sein, sagte Holly sich.

»Ich sage Ihnen die Wahrheit, Holly«, versicherte Cardenas in einer Fehldeutung von Hollys Schweigen.

»Ich weiß, Kris«, sagte sie, wobei sie eher verwirrt als unglücklich war. »Im Grunde würde ich es Ihnen auch nicht übel nehmen, wenn Sie es getan hätten. Er ist nun mal ein Don Juan.«

Die beiden Frauen saßen bei einem späten Mittagessen in der fast leeren Cafeteria; die übrigen Gäste waren längst wieder gegangen.

Cardenas beugte sich zu Holly hinüber. »Er hat mich überhaupt nicht angemacht«, vertraute sie ihr an. »Wenn Sie sich nicht für ihn interessierten, wäre ich irgendwie enttäuscht. Ich meine, in Kalenderjahren bin ich zwar viel älter als er, aber ich bin doch nicht abstoßend hässlich, oder?«

Holly kicherte. »Kris, wenn Sie interessiert sind, dann lassen Sie sich nicht abhalten Ich erhebe keine Ansprüche auf ihn.«

»Natürlich tun Sie das.«

»Nein, eigentlich nicht. Ich glaube sogar, dass ich ohne ihn besser dran bin.«

Cardenas hob ungläubig eine Augenbraue.

»Wirklich«, sagte Holly und fragte sich zugleich, ob sie auch das Richtige tat. »Sein Interesse an mir war rein körperlich.«

»Viele Beziehungen fangen so an.«

»Diese ist jedenfalls vorbei. Zumal es auch gar keine richtige Beziehung war. Es war nie eine.« Holly wunderte sich darüber, dass dieses Eingeständnis nicht schmerzte. Zumindest nicht sehr.

Cardenas zuckte die Achseln. »Das ist ohnehin müßig. Meine Beziehung zu ihm ist rein dienstlich.«

»Wahrscheinlich traut er sich nur nicht bei Ihnen.«

Cardenas lachte. »Das wird's wohl sein.«

»Sicher.«

»Ist auch egal«, sagte sie und machte eine Handbewegung, als ob sie ein lästiges Insekt verscheuchte. »Sie sagten, dass Sie möglicherweise einen Laborassistenten für mich hätten?«

»Vielleicht«, sagte Holly. »Ich habe das Thema noch nicht mit ihm besprochen. Aber er verfügt über ein paar Qualifikationen, die für Sie relevant sind. Ein Abschluss als Ingenieur…«

»In welchem Bereich?«

»Elektromechanik.«

»Wann hat er ihn gemacht?«

Holly zog den Palmtop aus der Tasche. Raoul Tavaleras dreidimensionale Abbildung erschien überm Tisch, zusammen mit den Eintragungen und Zahlen in seinem Dossier.

Cardenas überflog die Daten. »In welcher Abteilung ist er beschäftigt?«

»In der Instandhaltung«, erwiderte Holly. »Aber er ist dort nur ›Gast‹; offiziell gehört er zu überhaupt keiner Abteilung. Er ist der Astronaut, den Manny aufgefischt hat.«

»Aha.« Sie ging das Dossier erneut durch — diesmal aber langsamer. »Dann wird er nur so lange bei uns bleiben, bis Manny seinen Kram packt und abfliegt.«

»Vermutlich. Aber er ist abkömmlich, und Sie sagten, dass Sie sofort Hilfe brauchen.«

»Bettler dürfen nicht wählerisch sein«, pflichtete Cardenas ihr bei. »Ich werde mit ihm sprechen müssen. Aber ist er überhaupt bereit, mit mir zu arbeiten?«

»Er weiß noch gar nichts von seinem Glück. Aber ich kann für Sie ein Treffen arrangieren.«

»In Ordnung.«

»In meinem Büro, okay?«

»Das wäre wahrscheinlich besser, als ihn ins Labor zu bestellen«, sagte Cardenas nach kurzer Überlegung. »Sonst befürchtet er vielleicht noch, von Nanobots infiziert zu werden.«


Tavalera nahm mit argwöhnischem Blick vor Hollys Schreibtisch Platz. Dafür war er pünktlich erschienen, was sie wiederum für ein gutes Zeichen hielt. Sie hatte ihn gebeten, eine Viertelstunde vor dem Termin bei Cardenas in ihr Büro zu kommen.

»Was hat das alles überhaupt zu bedeuten?«, fragte er beinahe mürrisch.

»Ein neuer Auftrag«, sagte Holly fröhlich.

»Ich hab' schon eine Arbeit — in der Instandhaltung.«

»Und gefällt sie Ihnen?«

»Machen Sie Witze?«, fragte er grimmig.

Holly rang sich ein Lächeln für ihn ab. »Ich hätte mir auch Sorgen um Sie gemacht, wenn Sie ›ja‹ gesagt hätten.«

»Was haben Sie also für mich?«

»Eine Stelle im wissenschaftlichen Labor. Sie werden dort bestimmt die Gelegenheit haben, Ihre Kenntnisse als Ingenieur anzuwenden.«

»Ich dachte, die Wissenschaftsstellen seien schon alle besetzt. Das haben Sie mir jedenfalls gesagt, als ich an Bord kam.«

»Das sind sie auch. Diese Stelle ist nämlich bei Dr. Cardenas im Nanotech-Labor zu besetzen.«

Seine Augen weiteten sich kurz. Holly sah förmlich, wie das Räderwerk in seinem Kopf sich in Bewegung setzte.

»Nanotech«, murmelte er dann.

Holly nickte. »Ich weiß, dass manche Leute tierische Angst vor Nanotechnik haben.«

»Ja.«

»Sie auch?«

»Ja, irgendwie schon«, sagte Tavalera nach einem Moment. »Hab' ich wohl.«

»Sie wären auch verrückt, wenn Sie keine Angst davor hätten«, pflichtete Holly ihm bei. »Dr. Cardenas ist aber eine Koryphäe. Sie würden mit der Besten auf diesem Gebiet zusammenarbeiten. Und es würde sich kosmisch gut in Ihrem Lebenslauf machen, müssen Sie wissen.«

»Den Teufel würde es. Ich werde mich hüten, auf der Erde damit hausieren zu gehen, dass ich mich Nanobots auch nur auf eine Million Lichtjahre genähert hätte.«

»Sie müssen den Job auch nicht annehmen, wenn Sie nicht wollen«, sagte Holly. »Wir werden Sie zu nichts zwingen. Sie dürfen auch weiterhin in der Instandhaltung bleiben.«

»Verbindlichen Dank«, knurrte er.

Er war noch immer unschlüssig, als Cardenas eintraf. Sie schien sich über ihn aber auch nicht im Klaren zu sein.

»Mr. Tavalera, ich kann nicht mit jemandem arbeiten, der sich vor einer Umgebung mit Nanomaschinen fürchtet.«

»Ich fürchte mich nicht vor ihnen. Ich fürchte mich nur davor, dass ich nicht wieder nach Hause darf, wenn man herausfindet, dass ich mit Ihnen zusammengearbeitet habe.«

»Verlangen Sie einfach eine komplette Untersuchung«, sagte Cardenas. »Dann wird man schon feststellen, dass Sie keine Nanobots im Körper haben.«

»Ja«, sagte er widerstrebend. »Vielleicht.«

»Wir müssten die Zusammenarbeit mit Dr. Cardenas auch gar nicht in Ihrer Akte erwähnen«, sagte Holly. »Die irdischen Behörden werden nur erfahren, dass Sie während des Aufenthalts im Habitat in der Instandhaltung gearbeitet haben.«

»Wären Sie dazu in der Lage?« Sogar Cardenas schaute ungläubig.

»In besonderen Fällen wäre ich dazu in der Lage«, sagte Holly und fragte sich zugleich, wie sie Morgenthau daran hindern könnte, ihre fleischige Nase in Tavaleras offizielles Dossier zu stecken.

»Das würden Sie für mich tun?«, fragte Tavalera.

»Sicher würde ich das tun«, sagte Holly.

Er war noch nicht ganz überzeugt, doch dann drehte er sich plötzlich zu Cardenas um und sagte: »Ich schätze, wenn Sie Mist machen und Killer-Nanos freisetzen, würde sowieso die ganze Belegschaft des Habitats dran glauben müssen. Da kann ich genauso gut mit Ihnen zusammenarbeiten. Ist auf alle Fälle besser als die Wartung von landwirtschaftlichem Gerät.«

Cardenas schaute Holly an und brach in Gelächter aus. »Sie sprühen geradezu vor Begeisterung, Mr. Tavalera.«

Auf seinem Pferdegesicht erschien ein verkniffenes Grinsen. »Stimmt, der bin ich: Mr. Begeisterung.«

»Mal ernsthaft«, sagte Holly zu ihm, »wollen Sie nun mit Dr. Cardenas zusammenarbeiten oder nicht?«

»Ich werde es tun. Wieso auch nicht? Was habe ich denn schon zu verlieren?«

»Sind Sie mit ihm einverstanden?«, wandte Holly sich an Cardenas.

Cardenas lächelte ihren neuen Assistenten an und sagte: »Na ja — wir werden uns schon irgendwie zusammenraufen.«

Sie erhob sich, und Tavalera folgte ihrem Beispiel mit einem schüchternen Lächeln. Er sieht gleich viel besser aus, wenn er lächelt, sagte Holly sich.

Cardenas streckte die Hand aus. »Willkommen im Nanolab, Mr. Tavalera.«

Seine langfingrige Hand umschloss die ihre. »Raoul«, sagte er. »Ich heiße Raoul.«

»Ich sehe Sie morgen um acht im Nanolabor«, sagte Cardenas.

»Achthundert. In Ordnung. Ich werde da sein.«

Cardenas ging. Tavalera verharrte noch für einen Moment unsicher vor Hollys Schreibtisch. »Danke«, sagte er dann.

»Da nada«., erwiderte Holly.

»Sie werden mir diesen Gefallen wirklich tun und die Sache nicht in meinem Dossier erwähnen?«

»Bestimmt.«

Er zappelte noch für eine Weile herum und sagte dann: »Äh… ob Sie heute mit mir zu Abend essen wollen? Ich meine, ich wollte mich dafür erkenntlich zeigen, was Sie für mich getan haben…«

Holly unterbrach ihn, bevor er es noch vermasselte. »Ich würde mich freuen, mit Ihnen zu Abend zu essen, Raoul.«


Zwei Wocher, später lud Cardenas Edouard Urbain ins Labor ein, um ihm zu zeigen, welche Fortschritte sie bei der Dekontamination von Gaetas Anzug gemacht hatte. Tavalera saß an der Hauptkonsole, die an der dem Eingangsbereich entgegen gesetzten Wand aufgestellt war.

»Vergessen Sie nicht, Raoul«, sagte Cardenas, »dass wir Dr. Urbain gegenüber ehrlich sein wollen. Wir haben nichts zu verbergen.«

Er nickte, und ein leises Lächeln spielte über sein Gesicht. »Ich habe auch nichts zu verbergen, weil ich von nichts weiß.«

Cardenas lächelte ihn an. »Sie lernen schnell, Raoul. Ich bin sehr beeindruckt von Ihnen.« Er hat viel mehr auf dem Kasten, als ich es ihm zugetraut hätte, sagte sie sich. Vielleicht haben ein paar Verabredungen mit Holly dazu geführt, dass er sich hier wohier fühlt.

Als der Chef Wissenschaftler mit zehnminütiger Verspätung zur Tür hereinkam, wirkte er so angespannt und wachsam wie jemand, der sich in ein Minenfeld vorwagt. Cardenas versuchte ihn zu beruhigen, indem sie ihm das kleine, peinlich saubere Labor zeigte.

»Das ist der Montagebereich«, sagte sie und deutete auf zwei quaderförmige Gebilde aus Edelstahl, die auf einer Laborbank ruhten. Die Vorderseiten der Behälter waren mit Skalen und Reglern übersät. »Die Nanomaschinen-Prototypen werden hier drin montiert…« — sie patschte auf einen der brotkastengroßen Behälter —, »und dann reproduzieren die Prototypen sich dort.«

Urbain hielt einen gebührenden Sicherheitsabstand vom Apparat ein. Und als Cardenas den Deckel eines Behälters anhob, zuckte er tatsächlich zusammen.

Cardenas musste sich beherrschen, dem Mann das nicht mit einem Stirnrunzeln zu vergelten. »Dr. Urbain, hier gibt es nichts, was Ihnen oder sonst jemandem schaden könnte.«

Das beruhigte Urbain nicht im Geringsten. »Vom Kopf her verstehe ich es. Trotzdem… ich bin nervös. Verzeihung, aber ich vermag es nicht zu ändern.«

Sie lächelte geduldig. »Ich verstehe. Na denn, kommen Sie bitte mit zur Hauptkonsole.«

Für über eine Stunde zeigte Cardenas Urbain, wie Nanomaschinen konstruiert und gebaut wurden. Wie sie sich strikt gemäß voreingestellter Anweisungen reproduzierten.

»Das sind Maschinen«, wurde sie nicht müde zu betonen. »Sie mutieren nicht. Sie vermehren sich auch nicht unkontrolliert. Und sie werden durch eine Dosis weichen ultravioletten Lichts deaktiviert. Im Grunde sind sie empfindlich.«

Während Tavalera das Rasterkraftmikroskop von der Hauptkonsole aus bediente, zeigte Cardenas Urbain, wie die von ihr konstruierten Nanomaschinen die kontaminierenden Moleküle an der Außenseite von Gaetas Anzug in harmloses Kohlendioxid, Wasserdampf und Stickoxide aufspalteten.

»Der Anzug wird in fünf Minuten perfekt sauber«, sagte sie und wies auf das Bild, das von der Konsole projiziert wurde. »Die Rückstände gasen aus und verflüchtigen sich.«

Anscheinend neugierig beugte Urbain sich über Tavaleras Schulter und betrachtete aufmerksam die Daten und Bilder. »Alle organischen Stoffe werden entfernt?«

Cardenas nickte und sagte: »Bis auf die molekulare Ebene hinunter werden sie spurlos getilgt.«

»Und die Nanobots selbst?«

»Wir deaktivieren sie mit einer UV-Dosis.«

»Aber sie haften noch immer an der Anzugoberfläche. Sind sie in der Lage, sich selbst zu reaktivieren?«

»Nein«, sagte Cardenas. »Wenn sie einmal deaktiviert sind — aus die Maus. Sie zerfallen.«

Urbain richtete sich langsam wieder auf.

»Wie Sie sehen, sind wir durchaus imstande, den Anzug zu dekontaminieren«, sagte Cardenas.

»Nicht nur den Anzug«, sagte Urbain und schaute an ihr vorbei. »Dieser Prozess könnte für die Dekontaminierung jeden Ausrüstungsgegenstands angewandt werden, den wir auf die Titanoberfläche hinunterschicken.«

»Ja, das wäre möglich«, pflichtete Cardenas ihm bei.

Zum ersten Mal, seit Urbain das Nanotech-Labor betreten hatte, lächelte er.

273 Tage bis zur Ankunft

»Dieser Berkowitz muss verschwinden!«, verlangte Eberly. Wilmot sank auf seinem bequemen Bürostuhl zusammen; er war überrascht von der Vehemenz, mit der der Leiter der Abteilung Human Resources sein Ansinnen vortrug.

»Was gibt Ihnen eigentlich das Recht, sich in die Arbeit der Kommunikationsabteilung einzumischen?«, fragte er leise.

Eberly hatte sich in die Sache hineingesteigert. Seit Wochen hatte Vyborg ihn unter Druck gesetzt und gedroht, auf eigene Faust zu handeln, wenn Eberly Berkowitz nicht entfernen konnte oder wollte. Vyborg wollte partout Leiter der Kommunikationsabteilung werden, und das Ende seines ohnehin kurzen Geduldsfadens war nun erreicht. »Entweder Sie lassen ihn entfernen, oder ich werde mich selbst darum kümmern«, sagte der zornige kleine Mann. »In ein paar Monaten werden wir in eine Umlaufbahn um den Saturn gehen. Ich will Berkowitz bis dahin aus dem Weg haben. Je eher, desto besser!«

Eberly wusste, dass dies ein Machtkampf war. Vyborg würde sich nicht gegen ihn stellen, sofern er nicht den Eindruck bekam, dass Eberly ihn bewusst hinhielt. Wenn ich ihm nicht Berkowitz' Kopf bringe, sagte Eberly sich, wird Vyborg den Glauben an mich verlieren und mir den Gehorsam verweigern. Also hatte er gar keine andere Wahl, als sich mit Wilmot anzulegen.

Morgenthau hatte nichts gefunden, was er gegen Wilmot hätte verwenden können. Obwohl sie schwor, dass sie jeden Abend getreulich seine Telefonate und Computer-Dateien durchforstete, hatte sie nichts Brauchbares gefunden.

Ich schaffe es auch ohne ihre Hilfe, sagte Eberly sich, als er einen Termin mit dem Verwaltungschef vereinbarte. Ein Mann vermag alles zu erreichen, wenn er vom Willen zum Erfolg beseelt ist.

Wie er jedoch vor Wilmots Schreibtisch saß und sah, wie die stahlgrauen Augen des Professors ihn kühl musterten, fragte Eberly sich, wer von ihnen den stärkeren Willen hatte.

»Ihre Position als Leiter der Human Resources gibt Ihnen mitnichten das Recht, sich in die Belange anderer Abteilungen einzumischen, oder?«, sagte Wilmot.

»Das ist keine Einmischung«, sagte Eberly unwirsch. »Es ist eine Angelegenheit von hoher Dringlichkeit.«

Mit dem Namensgebungs-Wettbewerb und der folgenden Wahl hatte er einen großen Erfolg erzielt, sagte Wilmot sich. Diese Veranstaltung, die er draußen im Park organisiert hatte, war ein spektakuläres Ereignis. Das ist ihm zu Kopf gestiegen. Er glaubt, er habe schon alle Abteilungen im Sack und will mich nun als Leiter des gesamten Habitats ablösen. Na warte, Bürschchen, ich werde dir schon zeigen, wo Barthel den Most holt.

»Dringlichkeit?«, fragte er bemüht ruhig und sachlich. »In welcher Hinsicht?«

»Berkowitz ist inkompetent. Wir beide wissen das.«

»Ach ja? Und ich dachte, in der Kommunikationsabteilung sei alles in Butter.«

»Weil Dr. Vyborg die ganze Arbeit macht«, sagte Eberly.

»Vyborg. Dieses kleine Kriechtier.«

Eberly verkniff sich eine patzige Erwiderung. Er will mich nur provozieren, wurde er sich bewusst. Dieser alte Mann will mich dazu verleiten, im Zorn einen Fehler zu machen.

Er holte tief Luft und sagte in einem ruhigeren Ton: »Vyborg ist ein sehr fähiger Mann. Er leitet de facto die Kommunikationsabteilung, während Berkowitz sich auf seinen Lorbeeren ausruht und Däumchen dreht.«

»Genauso wie Ms. Morgenthau Ihr Büro leitet, könnte man meinen«, sagte Wilmot mit dem Anflug eines Lächelns.

Eberly erwiderte das Lächeln. Du wirst mich nicht aus der Fassung bringen, sagte er sich. Ich werde dir nicht in die Falle gehen.

»Vyborg ist ehrgeizig«, sagte er. »Er hat mich um Hilfe gebeten. Er ist frustriert und hat das Gefühl, dass sein Engagement nicht gewürdigt wird.«

»Wieso kommt er dann nicht zu mir? Sie können doch nichts für ihn tun.«

»Ich habe ihm versprochen, Ihnen seine Situation zu schildern«, sagte Eberly. »Vyborg scheut davor zurück, Berkowitz zu übergehen und sich direkt an Sie zu wenden. Er befürchtet, dass Berkowitz ihm einen Strick daraus drehen würde.«

»Wirklich?«

»Berkowitz ist eine Drohne, und wir beide wissen das. Vyborg erledigt die ganze Arbeit für ihn. «

»Solang in der Kommunikationsabteilung alles glatt geht, habe ich keine Veranlassung, Berkowitz von seinem Posten zu entfernen. Bei dieser Diskussion geht es eigentlich um die Management-Methoden dieses Mannes. Seinen Untergebenen mag er vielleicht wie eine Drohne erscheinen, aber solange die Abteilung reibungslos funktioniert, macht er seinen Job richtig — jedenfalls, was mich betrifft.«

Eberly lehnte sich zurück und zermarterte sich das Hirn. Das ist eine Prüfung, wurde er sich bewusst. Wilmot stellt mich auf die Probe. Er spielt mit mir. Wie soll ich ihm begegnen? Wie bringe ich ihn nur dazu, meine Forderung zu erfüllen?

Wilmot studierte derweil Eberlys Gesicht. Was hat er überhaupt mit der Kommunikationsabteilung zu schaffen? Hegt er einen persönlichen Groll gegen Berkowitz? Oder eine persönliche Beziehung mit Vyborg? Ich wünschte, der alte Diego Romero würde noch unter uns weilen; er hat bis zu seinem Tod die verschiedenen Gruppen in der Abteilung integriert.

Schließlich wartete Eberly mit einer neuen Variante auf. »Wenn es Ihnen nicht möglich ist, Berkowitz zu entfernen, könnten Sie ihn doch vielleicht befördern?«

»Ihn befördern?«, fragte Wilmot mit einem Stirnrunzeln.

Eberly beugte sich auf dem Stuhl vor. »Anscheinend wird dieser Gaeta doch die Erlaubnis bekommen, zur Oberfläche von Titan hinabzusteigen.«

»Dieser Stuntman?«

»Ja. Dr. Cardenas hat Urbain davon überzeugt, dass sie Gaetas Anzug gründlich zu dekontaminieren vermag. Damit ist er imstande, auf der Oberfläche von Titan zu landen, ohne den dortigen Lebensformen zu schaden.«

»Davon hat Urbain mir aber noch nichts gesagt«, sagte Wilmot in scharfem Ton.

Eberly musste ein triumphierendes Keckem unterdrücken. Du sitzt in deinem Büro und erwartest, dass die Leute zu dir kommen, verspottete er Wilmot insgeheim. Das wirkliche Leben in diesem Habitat findet außerhalb deines Büros statt, und du bekommst fast nichts davon mit.

»Sind Sie sicher, dass Urbain diesen… diesen Stunt genehmigt hat?«, fragte Wilmot.

»Die Genehmigung ist noch nicht offiziell, aber Cardenas hat sich bereits mit ihm geeinigt.«

Wilmot nickte. »Urbain wird mich informieren, wenn er die offizielle Genehmigung erteilt.«

»Wieso fragen Sie Berkowitz nicht, ob er sich nicht als PR- Manager Gaetas Team anschließen will?«

»Aha. Ich verstehe.«

»Ich glaube, Berkowitz würde sich darüber freuen«, fuhr Eberly fort.

»Und während er seinen Spezialauftrag ausführt, kann Ihr Freund Vyborg die Kommunikationsabteilung leiten.«

»Man könnte ihm den Titel eines Amtierenden Abteilungsleiters verleihen«, sagte Eberly.

»Sehr schön. Und was passiert, wenn Gaeta den Stunt absolviert hat und Berkowitz wieder frei wird?«

Eberly zuckte die Achseln. »Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist.« Wenn Gaeta seinen Stunt durchgeführt hat, wird bereits die neue Verfassung in Kraft sein, sagte er sich, und ich werde der gewählte Führer dieses Habitats sein. Berkowitz, Vyborg und auch du, alter Mann, werdet euch meinem Willen beugen müssen.

Beim Verlassen von Wilmots Büro schwand jedoch seine Zufriedenheit. Er hat mit mir gespielt, wurde Eberly sich bewusst, wie eine Katze, die mit einer Maus spielt. Wie ein Puppenspieler an den Schnüren zieht. Er lässt mir meinen Willen wegen Berkowitz, weil er das die ganze Zeit schon vorhatte; er wollte mich nur ein wenig zappeln lassen. Berkowitz ist ihm völlig egal. Er spielt sein eigenes Spiel.

Ich muss ihn unter Kontrolle bekommen, sagte Eberly sich. Ich muss einen Weg finden, dem erhabenen und mächtigen Professor Wilmot meinen Willen aufzuzwingen. Ich will, dass er mir aus der Hand frisst.

Wann findet Morgenthau endlich etwas Brauchbares? Es muss doch irgendetwas in Wilmots Leben geben, das man gegen ihn verwenden kann. Ich muss Morgenthau sagen, dass sie noch härter arbeiten soll. Sie soll sich auf seine Dateien konzentrieren, seine Telefongespräche, auf alles, was er sagt und tut — auf jeden Atemzug, den er tut. Ich muss ihn in den Griff bekommen. Das ist unbedingt erforderlich. Wenn ich hier der Herr werden will, muss Wilmot auf die eine oder andere Art vor mir auf den Knien rutschen.


Holly sah Raoul Tavalera allein in der Cafeteria sitzen. Er war über ein üppiges Mittagessen gebeugt. Sie trug ihr Tablett zu seinem Tisch.

»Hätten Sie gern etwas Gesellschaft?«, fragte sie.

Er schaute zu ihr auf und lächelte sie an.

»Sicher«, sagte er. »Setzen Sie sich doch.«

Seit Tavalera im Nanotech-Labor arbeitete, hatte er sie mindestens einmal pro Woche zum Abendessen eingeladen. Holly genoss seine Gesellschaft, obwohl er zu starken Stimmungsschwankungen neigte. Sie versuchte, ihre Verabredungen so unbeschwert und locker wie möglich zu gestalten. Bisher hatte er sich nur getraut, ihr einen Gutenachtkuss auf die Wange zu geben. Sie fragte sich, wann er ihr wohl eindeutigere Avancen machen würde. Und was sie tun würde, wenn er es versuchte.

»Wie läuft's im Nanolab?«, fragte Holly, als sie ihren Salat und den Eistee vom Tablett nahm.

»Alles klar.«

»Dr. Cardenas behandelt Sie anständig?«

Er nickte begeistert. »Man kommt sehr gut mit ihr aus. Ich lerne eine Menge.«

»Das ist schön.«

»Obwohl mir das alles nichts mehr bringt, nachdem ich zur Erde zurückgekehrt bin.«

Im ersten Moment wusste Holly nicht, wie er das meinte. Dann erinnerte sie sich. »Ach ja, Nanotechnik ist auf der Erde verboten.«

Tavalera nickte. »Ich werde wahrscheinlich in Quarantäne gesteckt, bis man sich sicher ist, dass ich keine Nanobots in mir habe.«

»Es gibt doch ein Nanotech-Labor in Selene.«

»Ich will aber nicht unter der Mondoberfläche leben. Ich will nach Hause.«

Sie erzählten sich von ihrer Heimat: Holly von Selene und Tavalera vom hügeligen New Jersey, wo er aufgewachsen war.

»Ein großer Teil des Staats wurde überflutet, als die Klimakatastrophe eintrat. Die ganzen Ferienorte an der Küste… die Leute führen nun Tauchgänge in den Apartment- Häusern durch.«

»Dieses Problem hätten Sie in Selene nicht«, sagte Holly.

Tavalera grinste sie an. »Ja. Der nächste Teich ist vierhunderttausend Kilometer entfernt.«

»Wir haben aber ein Schwimmbad in der Grand Plaza!«

»Affenge… äh, tolle Sache.«

Holly ignorierte den Fauxpas, den er sich fast geleistet hätte, und fuhr fort: »Es hat olympische Ausmaße. Und bis zu dreißig Meter hohe Sprungtürme.«

»Keine zehn Pferde würden mich dorthin bringen«, sagte Tavalera kopfschüttelnd. »Niedrige Schwerkraft hin oder her.«

Er will einfach nur nach Hause, erkannte Holly. Er will heim. Das Bewusstsein stimmte sie traurig, dass sie kein Zuhause hatte, zu dem sie zurückkehren konnte. Dies ist mein Zuhause, sagte sie sich. Dieses Habitat. Für immer.

266 Tage bis zur Ankunft

Wenn es schon getan werden muss, sagte Wilmot sich, dann sollte man es schnell hinter sich bringen.

Das war ein Diktum, das er in seiner langen akademischen Laufbahn schon oft zu seinem Vorteil beherzigt hatte. Oft verknüpfte er es auch mit einem von Churchills alten Aphorismen: Wenn man schon jemanden töten muss, kostet es nichts, höflich zu sein.

Also lud er Gaeta und Zeke Berkowitz in der Privatsphäre seines Apartments zum Abendessen ein. Berkowitz war natürlich ein alter Freund, und zu Wilmots Freude erschien er genau pünktlich — noch vor dem Stuntman.

Als Wilmot dem Nachrichtendirektor einen ordentlichen Whisky einschenkte, grinste Berkowitz ihn an und sagte launig: »Muss wohl eine ziemlich schlechte Nachricht sein, wenn der erste Drink schon so groß ausfällt.«

Wilmot lächelte leicht verlegen und reichte Berkowitz das Glas. »Du steckst noch immer die Nase überall rein, was, Zeke?«

Berkowitz zuckte die Achseln. »Ich wäre ein lausiger Nachrichtenmann, wenn ich nicht wüsste, was Sache ist.«

Wilmot schenkte sich ein noch volleres Glas ein.

»Es geht das Gerücht um«, sagte Berkowitz, der noch immer an der kleinen Bar des Apartments stand, »dass ich die Karriereleiter hinauffallen soll.«

»Leider ja«, bestätigte Wilmot mit einem knappen Nicken.

Bevor Berkowitz nachzuhaken vermochte, hörten sie ein Klopfen an der Tür. »Das wird Gaeta sein«, sagte Wilmot und ging zur Tür.

Gaeta trug ein Arbeitshemd aus Twill und Jeans — die formellste Kleidung, die er besaß. Der Stuntman schaute ernst, fast missmutig, als Wilmot ihn Berkowitz vorstellte und ihn fragte, was er trinken wollte.

»Bier, falls Sie welches haben«, sagte Gaeta mit unverändert ernster Miene.

»Wäre Ihnen Boss Ale recht?«, fragte Wilmot.

Nun musste Gaeta doch grinsen. »Das wäre mir sehr recht, danke.«

Wilmot bedeutete seinen beiden Gästen, in den Sesseln im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Nachdem sie es sich bequem gemacht hatten, sagte er zu Gaeta: »Ich habe Sie hergebeten, weil ich Ihnen Zeke als Vollzeit-Mitarbeiter für die Öffentlichkeitsarbeit überstellen möchte.«

Berkowitz nickte wissend. Der Stuntman wirkte indes überrascht.

Als Wilmot das Tablett mit dem Abendessen an den Tisch trug, schienen die beiden Männer aber schon miteinander übereingekommen zu sein.

»Wenn Urbain oder die IAA oder wer auch immer mich daran hindern wollen, auf Titan zu landen, werde ich eben durch die Ringe fliegen«, sagte Gaeta.

Berkowitz beschrieb mit der Gabel eine spiralförmige Bewegung. »Durch die Ringe? Wahnsinn. Das wäre eine Sensation.«

»Glauben Sie, dass Sie mir etwas Sendezeit verschaffen könnten?«

»Selbst ein hirntoter Archivar wäre in der Lage, Ihnen dafür Sendezeit zu verschaffen. Ich meine, jeder hat die Aufnahmen der automatisierten Sonden gesehen, die zur Titan-Oberfläche hinuntergeschickt wurden. Faszinierende Bilder, gewiss, aber der Reiz des Neuen ist nun verflogen. Bei den Ringen ist aber noch niemand gewesen.«

»Es hat aber auch noch kein Mensch einen Fuß auf Titan gesetzt«, sagte Wilmot.

»Ich weiß. Aber die Ringe! Die Leute werden sich die Finger danach lecken. Ich könnte jetzt schon eine Auktion starten und genug Geld zusammenbekommen, um Ihre ganze Crew und noch ein paar Leute zu bezahlen.«

Gaeta lehnte sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck im Sessel zurück. Wilmot sah, dass Berkowitz so glücklich war wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. Der Professor verspürte Erleichterung. Nun kann ich Eberly und dieser Kreatur Vyborg geben, was sie wollen, ohne irgend jemandes Gefühle zu verletzen. Eine Situation, von der beide Seiten profitieren. Umso besser. Pancho Lane spürte förmlich, wie ihr Gesicht sich zu einem Stirnrunzeln verzog, als sie Manuel Gaetas Mitteilung an sie las.

»Selbst wenn ich nicht zum Titan komme, sollte dieser Stunt zu den Ringen Sie für den Trip entschädigen — mit Zins und Zinseszins.«

Ja, aber was ist mit meiner Schwester, fragte Pancho sich stumm.

Gaeta schwadronierte über seine möglichen Stunts, während Pancho wutentbrannt am Schreibtisch saß. Was ist mit Susie, fragte sie sich. Ich meine natürlich Holly.

»Ihrer Schwester geht es gut, Ms. Lane«, sagte Gaeta schließlich. »Sie ist eine sehr aufgeweckte junge Frau. Sehr intelligent. Und noch dazu sehr attraktiv. Sie hat viele Freunde gewonnen und scheint sich hier sehr wohl zu fühlen. Sie brauchen sich keine Sorgen um sie zu machen.«

Bei seinem ›und noch dazu sehr attraktiv‹ wurde Pancho jedoch hellhörig. Gaeta eilte nämlich ein gewisser Ruf voraus. Ein stattlicher Kerl, das musste Pancho schon zugeben. Ich würde ihn nicht von der Bettkante stoßen. Ob er es mit meiner Schwester treibt?

Pancho seufzte. Und wenn, könnte ich auch kaum etwas daran ändern. Ich hoffe nur, dass Susie es genießt. Und wehe, er verletzt sie. Falls er das tut, wird das sein letzter Stunt sein. Der allerletzte.


Professor Wilmot wippte leicht auf dem Bürostuhl und diktierte den Statusbericht für Atlanta.

»Es ist interessant, die unterschiedlichen Motivationen dieser Leute zu beobachten. Eberly scheint es weniger um Macht als um Verehrung zu gehen, so habe ich den Eindruck. Der Mann will vom Volk angebetet werden. Ich bin mir aber nicht sicher, was Vyborg will; bisher habe ich mich nicht zu überwinden vermocht, ihm persönlich gegenüberzutreten. Und Berkowitz ist froh, dass er der Verantwortung für die Leitung der Kommunikationsabteilung enthoben wurde. Er ist zu seinen Ursprüngen als aktiver Nachrichtenmann zurückgekehrt. Ich weiß zwar, dass es gewisse Reibungen zwischen ihm und Gaetas Technik-Crew gibt, aber das ist verständlich. Völlig normal.

Gaeta ist auf seine Art ein faszinierender Typ. Er will bei diesen Stunts, die er durchführt, wirklich sein Leben aufs Spiel setzen. Er genießt es geradezu. Das bringt ihm natürlich auch Geld und Ruhm ein, aber ich glaube, dass er es auch so tun würde — des bloßen Adrenalinstoßes wegen, den er dabei verspürt. Auf eine seltsame Art und Weise ist er wie ein Wissenschaftler. Nur dass Wissenschaftler den intellektuellen Triumph genießen, als Erster ein neues Phänomen entdeckt zu haben, während dieser Stuntman das sinnliche Erlebnis genießt, als Erster am Schauplatz zu sein.«

205 Tage bis zur Ankunft

Holly verbrachte die Nächte allein in ihrem Apartment und rief Programme über Gerichtsmedizin auf der Erde auf. Sie erinnerte sich mit brillanter Klarheit, wie Don Diegos verkrümmter Körper ausgesehen hatte, als sie ihn mit dem Kopf im Wasser im Bewässerungskanal entdeckt hatte. Sie erinnerte sich an jede Einzelheit der Autopsie: Keine Herzattacke, kein tödlicher Schlaganfall, überhaupt nichts Ungewöhnliches außer dem Umstand, dass die Handballen etwas aufgeschürft zu sein schienen und die Lunge voll Wasser war.

Wodurch sind seine Hände aufgeraut worden, fragte Llolly sich und befand, dass es der Betonboden des Kanals gewesen sein musste. Dann suchte sie nach einem Grund, weshalb die Hände lädiert waren. Schließlich gelangte sie zum Schluss, dass er versucht hatte, den Kopf aus dem Wasser zu heben und sich bei diesem Versuch die Handballen aufgeschürft hatte.

Wieso hatte er dann aber nicht aufzustehen vermocht, wenn er es so angestrengt versucht hatte? Weil etwas — oder jemand — ihm den Kopf ins Wasser gedrückt hatte. Man hatte ihn ertränkt. Ermordet.

Nun wollte Holly sich nicht mehr nur auf ihr Gedächtnis verlassen, wenn es auch noch so gut war. Sie rief den Autopsiebericht auf und studierte ihn ein paar Nächte hintereinander. Keinerlei Anzeichen von Gewalteinwirkung. Nur die Abschürfungen an den Händen.

Es war nicht viel, was sie hatte. Doch Holly verfolgte diesen einen Hinweis wie ein Spürhund. Sie hielt es für einen Hinweis. Sie war davon überzeugt, dass Don Diego ermordet worden war.

Aber wieso? Und von wem?

Sie schloss die Augen und ließ die Szene erneut Revue passieren, als sie die Leiche des alten Manns gefunden hatte. Keine Spuren eines Kampfs. Keine Besonderheiten auf der zum Kanal hinunterführenden Böschung außer Fußspuren. Abdrücke von Stiefeln, genauer gesagt.


Professor Wilmot verbrachte die Abende wie immer mit der Betrachtung von Videofilmen. Wenn er sich in seinen Lieblingssessel setzte, mit der Rechten genießerisch das Whiskyglas schwenkte und sich seine Sadomaso-Pornos zu Gemüte führte, vergaß er das Habitat und alle Probleme. Wenn eine Szene besonders abstoßend war, verspürte er manchmal den Anflug eines Schuldgefühls. Aber das verflog bald wieder. Das ist alles nur gestellt, sagte er sich. Man würde solche Videos doch nicht produzieren, wenn es keinen Markt für sie gäbe. Ich bin schließlich nicht der Einzige, der so etwas goutiert.

Er hatte die Kollektion, die er an Bord des Habitats mitgebracht hatte, schon zweimal angesehen und die Lieblings-Videos noch öfter. Wochenlang spielte er mit dem Gedanken, Nachschub von der Erde anzufordern. Es werden doch laufend neue Streifen gedreht, sagte er sich. Neue Gesichter. Neue junge Körper.

Es war allerdings riskant, einen Lieferanten auf der Erde anzurufen und neue Videos zu bestellen. Selbst wenn er die Bestellung über einen Mittelsmann in Selene abwickelte, würde man die Anrufe zum Habitat zurückverfolgen können. Aber es leben hier zehntausend Menschen, sagte er sich. Wie sollte man auf die Idee kommen, dass ausgerechnet ich es bin und nicht irgendein Farmarbeiter? Zumal ich mit Sicherheit nicht der Einzige an Bord bin, der einen ähnlichen Geschmack hat und solche Bestellungen tätigt.

Nachdem er nun wochenlang mit sich gerungen und immer dieselben alten Videos geschaut hatte, schickte er über die aus einem gebündelten Laser bestehende Kommunikations- Verbindung des Habitats eine Order an die Erde ab. Sie war natürlich codiert. Es wird schon niemand etwas merken, sagte Wilmot sich. Wer sollte auch die Kommunikations- Verbindung anzapfen? Es ist ja nicht so, dass ich meinen persönlichen Telefonanschluss benutzt hätte. Es müsste schon jemand sämtliche aus- und eingehenden Nachrichten abfangen, um meine kleine Bestellung zu finden. Wer wäre wohl so fanatisch?

87 Tage bis zur Ankunft

»Es ist wirklich bemerkenswert«, sagte Wilmot zu seinem Computer. »Sie haben eine Verfassung ausgearbeitet und bereiten Wahlen vor. Zu dem Zeitpunkt, wenn wir in eine Umlaufbahn um den Saturn gehen, werden sie bereit sein, die Macht auf die neue Regierung zu übertragen.«

Der Computer verschlüsselte die Worte automatisch für die Übertragung zur Erde: zum Hauptquartier der Neuen Moralität in Atlanta, den heimlichen Sponsoren der Saturn- Mission. Wilmot war der Einzige an Bord des Habitats, der wusste, aus welcher Quelle sein Experiment finanziert wurde, und er hatte auch vor, dieses Geheimnis zu bewahren. Die Berichte für Atlanta waren privat, codiert und wurden über das automatisierte Lasersystern abgestrahlt anstatt über die regulären Kommunikationsverbindungen des Habitats.

»Dieser Eberly hat sich eine Art Hausmacht geschaffen«, fuhr Wilmot fort, »womit ich im Grunde gerechnet hatte. Die Wissenschaftler haben sich zu einer politischen Gegenmacht formiert, die von Dr. Urbain angeführt wird. Offen gesagt scheint Urbain sich mehr für die Befriedigung seiner persönlichen Eitelkeit zu interessieren als für Politik, aber die Technikfritzen scheinen ihn dennoch als Anführer zu akzeptieren.

Sogar die Ingenieure haben eine Art Block gebildet. Ihr Anführer ist ein russischer Exilant namens Timoschenko. Er behauptet zwar, dass er mit Politik nichts am Hut habe. Trotzdem hat er sich von den Ingenieuren als Kandidat für die Position des Verwaltungschefs nominieren lassen. Ich bezweifle aber, ehrlich gesagt, dass er auch nur den Hauch einer Chance hat.

Wohl gibt es hier und da ein paar Reibereien, doch im Großen und Ganzen sind die politischen Kampagnen ohne die üblichen Unflätigkeiten und Streitigkeiten abgelaufen — was außergewöhnlich anmutet, wenn man bedenkt, dass der Großteil unserer Population aus Dissidenten und Freidenkern besteht, die sich auf der Erde in die Bredouille gebracht haben. Meines Erachtens liegt das aber daran, dass der größte Teil der Bevölkerung sich keinen Deut um diese politische Kampagne schert. Die meisten Leute stehen ihrer eigenen Regierung völlig gleichgültig gegenüber. Wie sie überhaupt bestrebt sind, sich jeglicher Verpflichtung zu entziehen.«

Wilmot lehnte sich auf dem gemütlichen Bürostuhl zurück und las sich den Entwurf noch einmal durch, der über den Schreibtisch projiziert wurde. Zufrieden mit seinem Werk fuhr er fort:

»In drei Wochen werden die allgemeinen Wahlen stattfinden, durch die die neue Verfassung in Kraft tritt und in der die Personen gewählt werden, die die neue Regierung stellen sollen. Eberly ist der absolute Favorit. Ich werde ihn als neuen Verwaltungschef einsetzen und mich mit der zeremoniellen Präsidentenrolle begnügen müssen. Ich vermute, dass Eberly Urbain die Position eines ›Frühstücksdirektors‹ zuerkennen wird: vielleicht Vize- Verwaltungschef oder so etwas in der Art. Ich habe aber keine Ahnung, wie er mit dem Ingenieur Timoschenko verfahren wird.

Ein paar Leute aus Eberlys Umgebung lassen es zunehmend am gebührenden Respekt mir gegenüber fehlen. Er hat sich mit Hofschranzen umgeben, die sich für ziemlich wichtig halten, zum Beispiel mit diesem Vyborg, der nun die Kommunikationsabteilung leitet. Ich weiß auch, dass diese Morgenthau eine hohe Charge bei den Heiligen Jüngern ist. Es ist mir aber ein Rätsel, weshalb sie sich freiwillig zu dieser Mission gemeldet hat. Und dann dieser Kananga! Er macht einem richtig Angst.« So gab Wilmot einen ausführlichen Kommentar zu jedem bedeutenden Akteur bei den anstehenden Wahlen im Habitat ab. Bestimmt wäre er viel vorsichtiger mit seinen Äußerungen gewesen, wenn er gewusst hätte, dass jedes seiner Worte von Molekularfilm- Mikrofonen aufgefangen und für Eberly aufgezeichnet wurde.


Am späten Nachmittag war es ruhig in der Cafeteria. Sie war fast leer, nachdem die Leute mit dem Mittagessen fertig waren und der Ansturm zum Abendessen noch nicht eingesetzt hatte. Manuel Gaeta saß mit drei anderen an einem Tisch in der Nähe des Holofensters, aus dem man auf einen stillen See in den Rockies schaute: Ein Bild von der fernen Erde und lang vor den Folgen des Treibhauseffekts aufgenommen, der Millionen Menschen aus den überfluteten Städten vertrieben und sie gezwungen hatte, in solchen Regionen Zuflucht zu suchen.

Von den vier Leuten, die sich über den Resten ihres Mittagessens angelegentlich unterhielten, war Gaeta der Einzige, der halbwegs heiter schaute.

»Wir können es schaffen«, sagte Gaeta mit Nachdruck.

»Es wäre aber verdammt gefährlich, Manny«, sagte Kris Cardenas.

Nadia Wunderly nickte zustimmend. »Es wäre, als ob man an einem aus Maschinengewehren feuernden Erschießungs- Kommando vorbeiginge.«

Gaeta zuckte unbekümmert die Achseln. »Dann muss ich den Kugeln eben ausweichen. Was meinen Sie, Fritz?«, wandte er sich an von Helmholtz.

Von Helmholtz blickte ihn kalt an. »Haben wir denn nicht mit unserem eigentlichen Auftrag schon genug zu tun?«

»Wir werden die Titan-Aktion starten«, sagte Gaeta, »wenn wir die Erlaubnis der Wissenschaftler haben. Aber wieso sollten wir nicht ein paar Pirouetten durch die Ringe drehen, solange wir noch hier draußen sind?«

»Weil Sie dabei umkommen könnten«, sagte von Helmholtz schroff.

Gaeta machte eine Handbewegung, als ob der den Nagel auf den Kopf getroffen hätte. »Genau deshalb schauen die Leute doch zu. Fritz. Sie warten nur darauf, dass es mich erwischt.«

»Und noch schlimmer, Sie würden den Anzug ruinieren.«

Gaeta lachte nur.

»Es besteht wirklich die Gefahr, dass Sie dabei umkommen«, sagte Wunderiy.

»Nicht, wenn Sie die richtigen Durchgangspunkte in den Ringen für mich aussuchen. Punkte mit möglichst wenig großen Brocken.«

»Dazu müsste ich die Ringe für Monate aus nächster Nähe studieren, Manny«, sagte Wunderly seufzend. »Vielleicht sogar für Jahre.«

»Wir haben doch noch ein paar Wochen, bevor wir in eine Umlaufbahn um den Saturn gehen. Wäre das nicht genug?«

»Ich brauchte die gesamte verfügbare Rechenkapazität, um aussagefähige Berechnungen durchzuführen«, sagte sie. »Und dann brauchte ich noch Zeit an den großen Teleskopen, doch an die lässt Urbain mich nicht ran.«

Von Helmholtz schaute überrascht. »Er erlaubt es Ihnen nicht, die Teleskope in der Astronomiekapsel zu benutzen?«

Wunderly schüttelte den Kopf. »Urbain gewährt mir gar keinen Zugang zu den großen Teleskopen. Sie sind ständig auf Titan gerichtet.«

»Alle?«

»Alle«, sagte Wunderly.

»Vielleicht lässt er doch mit sich reden und erlaubt es Ihnen, eins zu benutzen«, sagte Gaeta.

»Wird er nicht. Ich habe ihn schon mehr als einmal gefragt. Zumal ich viel Rechenzeit brauchte.«

»Vielleicht könnte jemand anders ihn fragen«, sagte Gaeta.

»Und wer?«, fragte Cardenas.

»Wilmot. Oder wenn nicht er, dann kann vielleicht Eberly etwas deichsein.«

Sie schüttelte erneut den Kopf. »Urbain würde Eberly gar nicht anhören. Er würde nicht einmal mit ihm sprechen. Sie treten bei den Wahlen gegeneinander an, schon vergessen?« Eberly saß derweil angespannt im Wohnzimmer seines Apartments, das er zur Wahlkampfzentrale umfunktioniert hatte. Eine Reihe von Computern füllte den Platz aus, wo zuvor das Sofa gestanden hatte. Jeder Rechner zeichnete ununterbrochen die Unterhaltungen an jedem öffentlichen Platz im Habitat und noch in ein paar Privatwohnungen und Büros auf — einschließlich Wilmots und Urbains.

»Ich mag diese Verfassung nicht«, sagte Morgenthau. »Sie hat mir nie gefallen, und sie gefällt mir immer weniger, je näher der Zeitpunkt ihrer Umsetzung rückt.«

Eberly saß auf dem Polsterstuhl am anderen Ende des ovalen Tisches und musterte ihr fleischiges Gesicht. Ihr übliches Lächeln war verschwunden; sie war todernst.

»Wieso haben Sie Ihre Bedenken nicht geäußert, als wir sie aufsetzten?«, fragte er ungnädig.

»Ich glaubte, Vyborg und Jaansen würden ordentlich Rabatz machen, bis Sie dann verlangten, dass sie mit dem Streit aufhören sollten.«

»Ich habe es Ihnen doch schon x-mal erklärt«, sagte Eberly mit wachsender Ungeduld. »Solang die Notstands-Klausel in der Verfassung in Kraft ist, ist der ganze Rest irrelevant.«

»Es gefällt mir trotzdem nicht«, sagte Morgenthau trotzig.

Eberly glaubte zu wissen, wo das Problem lag. Morgenthau war keine Kämpfernatur; sie war eine Agentin, die zu dem angeblichen Zweck im Habitat platziert worden war, ihn zu unterstützen. In Wirklichkeit sollte sie ihn jedoch beobachten und an die Heiligen Jünger berichten. Jemand an der Spitze der Hierarchie musste die neue Verfassung überprüft und befunden haben, dass sie nicht mit den hohen moralischen Ansprüchen der Jünger konform ging. Sie würde mich normalerweise nie so angehen, sagte sich Eberly. Sie muss von ihren Vorgesetzten auf der Erde unter Druck gesetzt werden.

»Es ist ohnehin zu spät, sie noch zu ändern«, sagte er in einem bemüht ruhigen Ton. »Die Leute stimmen in drei Wochen darüber ab.«

»Sie könnten sie doch mit der Begründung zurückziehen, dass wir noch mehr Zeit für die endgültige Version brauchten«, sagte Morgenthau.

»Sie zurückziehen?« Trotz aller Selbstbeherrschung schrie Eberly die Worte beinahe heraus. »Das würde auch bedeuten, dass wir die Wahl verschieben müssten.«

Morgenthau sagte nichts.

Wie bringe ich sie wieder auf meine Seite, fragte Eberly sich. Wie vermag ich sie davon zu überzeugen, dass sie besser damit fahren würde, meine Befehle zu befolgen anstatt die schwachsinnigen Artweisungen dieser frömmelnden Sesselfurzer von der Erde?

Er beugte sich auf dem Stuhl vor und lehnte sich halb über den Tisch. »Hören Sie mir zu«, sagte er. »In drei Wochen werden die Leute wählen. Sie werden diese Verfassung aus denselben Gründen annehmen, weshalb Sie ihr misstrauen: weil sie ihnen nämlich persönliche Freiheit und eine liberale Regierung verspricht.«

»Ohne Regeln für Geburtenkontrolle. Ohne jede moralische Norm.«

»Das kommt später, nachdem die Verfassung angenommen und wir in Amt und Würden sind.«

Morgenthau schien alles andere als überzeugt.

»Wie ich schon mehr als einmal erklärt habe«, sagte Eberly im Bemühen, sich unter Kontrolle zu halten, »wenn ich erst einmal an der Macht bin, werde ich den Notstand ausrufen und all diese liberalen Gesetze aufheben, die Sie stören.«

»Wie können Sie den Notstand ausrufen, wenn doch alle mit der Verfassung zufrieden sind?«

»Wir brauchen irgendeine Krise. Ich werde mir schon was einfallen lassen.«

»Sie wurden aus dem Gefängnis entlassen und in diesem Habitat platziert, um eine strenge und gottesfürchtige Regierung zu bilden«, sagte Morgenthau mit versteinertem Gesicht. »Sie halten Ihren Teil der Vereinbarung nicht ein.«

»Das ist nicht wahr!«, protestierte er. Und im Innern wimmerte eine panische Stimme: Sie können mich doch nicht wieder ins Gefängnis stecken. Das können sie nicht tun! »Wir müssen nur eine Krise inszenieren«, sagte er. »Dann werden Kananga und sein Sicherheitsteam zuschlagen.«

»So einfach wird das nicht laufen«, sagte Morgenthau. »Je mehr Macht Sie Kananga geben, desto gieriger wird er. Ich traue ihm nicht.«

»Ich auch nicht«, gestand Eberly. Ich traue niemandem, fügte er stumm hinzu.

»Und dann ist da noch diese Cardenas, die mit Nano- Maschinen arbeitet. Sie sind die Saat des Teufels, und doch erlauben Sie ihr, mitten unter uns mit diesem Teufelswerk fortzufahren.«

»Nur so lange, bis ich an der Macht bin«, sagte Eberly.

»Sie muss verschwinden. Sorgen Sie dafür.«

Eberly nickte verdrießlich, und plötzlich stand die Lösung für seine Probleme mit der gleißenden Helligkeit einer Offenbarung vor seinem geistigen Auge. Ja, sagte er sich. Das ist die Lösung für alles!

Er rang sich für die noch immer schmollende Morgenthau ein Lächeln ab und tätschelte ihr Knorpelknie. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich werde mich schon um alles kümmern.«

Ihr Stirnrunzeln milderte sich etwas ab und wich einem Ausdruck der Neugier.

»Vertrauen Sie mir«, sagte Eberly mit einem noch breiteren Grinsen.

Laboratorium Lavoisier

Kris Cardenas fragte sich, wieso Urbain sie um ein Treffen gebeten hatte. Aber nicht in seinem Büro, nicht einmal in der Astronomie-Kapsel, wo die großen Teleskope stationiert waren. Sondern hier im Wissenschaftsgebäude, in seinem Hauptlabor, das nach dem Begründer der modernen Chemie benannt worden war: nach dem Franzosen Antoine Laurent Lavoisier, der im achtzehnten Jahrhundert gelebt hatte.

Cardenas' eigenes Labor (benannt nach dem amerikanischen Physiker Richard P. Feynman) befand sich in einem anderen Gebäude auf dem Hügel, wo Athen errichtet war — so weit wie möglich von den anderen Labors entfernt. Als sie den gepflasterten Pfad entlangging, der sich an den niedrigen, weiß getünchten Apartmenthäusern und Geschäften der Ortschaft vorbeischlängelte, spürte Cardenas wieder den alten Zorn wegen der unbegründeten Furcht vor der Nanotechnik in sich aufkeimen.

Beherrsch dich, sagte sie sich. Konzentriere dich auf das Wesentliche. Vergiss nicht, dass Lavoisier während der Französischen Revolution enthauptet wurde. Man muss sich doch ständig mit irgendwelchen Idioten und Halbaffen herumschlagen.

Also setzte sie ein strahlendes Lächeln auf, als sie den Laborkomplex betrat und Edouard Urbain im Eingang seines Labors stehen sah. Er erwartete sie bereits. Und er machte einen nervösen Eindruck. Nein, sagte Cardenas sich. Nicht nervös. Aufgeregt. Erwartungsvoll. Beinahe wie ein kleiner Junge, der vorm Weihnachtsbaum stand und es kaum erwarten konnte, endlich die Geschenke auszupacken.

»Dr. Cardenas!«, begrüßte Urbain sie. »Ich freue mich über Ihr Kommen.«

»Und ich freue mich über Ihre Einladung«, erwiderte sie.

Er führte sie ins Labor. Cardenas war etwas größer als Urbain; ihr flachsblondes Haar und die strahlend blauen Augen standen in scharfem Kontrast zu seinem dunklen, zurückgekämmten Haar und den rehbraunen Augen.

Das Labor nahm zwei Stockwerke ein: Die kahle Metalldecke war zugleich das Dach des Gebäudes. Eine große Trennwand stand direkt hinterm Eingang und verstellte den Blick auf den eigentlichen Laborbereich. Der Ort mutete Cardenas wie ein Flugzeughangar oder ein leeres Lagerhaus an. Mit einer kleinen Geste führte Urbain Cardenas an der Trennwand entlang.

»Ich wollte Ihnen das hier zeigen«, sagte er mit einem freudigen Tremolo. Sie dachte schon, dass sein Schnurrbart jeden Moment zu zittern anfinge. »Ich bin sehr stolz auf unsere Leistung.«

Sie erreichten das Ende des Schirms. Mit Verve bog Urbain um die Ecke und deutete auf ein massives Objekt, das mitten im Labor stand.

Das Erste, was Cardenas auffiel, war, dass das Labor ausgeräumt und der Fußboden gefegt war. Kein Papierfetzen und keine Werkzeuge waren zu sehen. Keine Kabel schlängelten sich über den Boden oder hingen von der Decke herab. Er hat das Labor aufgepeppt, sagte Cardenas sich. Es sieht aus wie ein alter Ausstellungsraum für Autos.

»Hier ist es«, sagte Urbain glühend vor Stolz. »Titan Alpha.«

Cardenas identifizierte es als ein Raumschiff: Über zwei Meter groß, fast drei, schätzte sie. Es stand auf einem Kettenfahrgestell wie ein altmodischer Panzer. Wuchtig. Silbergrau. Titan, vermutete sie. Der längliche Korpus war mit Vorsprüngen gespickt.

»Es ist komplett hier gebaut worden«, sagte Urbain fast im Flüsterton. »Es existierte noch nicht, als wir die Erde verließen. Nicht einmal ansatzweise. Meine Leute und ich haben es konstruiert.«

Dann wurde Cardenas sich bewusst, dass ein halbes Dutzend Männer und Frauen an der Rückwand standen. Wie Schüler, die man dort hatte antreten lassen und zum Stillschweigen vergattert hatte.

»Sie wollen damit auf der Titanoberfläche landen«, sagte Cardenas.

»Natürlich nicht selbst«, sagte Urbain. »Alpha wird vielmehr vom Habitat aus ferngesteuert. Es handelt sich um ein mobiles Labor, das die Oberfläche von Titan für uns erkunden wird.«

»Ach so.«

Urbain schnippte mit den Fingern, und ein Techniker auf der anderen Seite des Labors wirbelte herum und tippte Befehle in eine schreibtischgroße Konsole. Das Raumschiff bewegt sich. Ein lautes elektrisches Summen erfüllte das Labor, und zwei lange dünne Arme klappten an einer Seite des Rumpfs aus. Pinzettenartige Greifer öffneten und schlossen sich. Cardenas wich instinktiv einen Schritt zurück.

Urbain lachte. »Keine Angst. Es tut Ihnen nichts. Diese Greifer vermögen die empfindlichsten biologischen Proben zu handhaben, ohne sie zu beschädigen.«

»Es ist… sehr eindrucksvoll.«

»Nicht wahr? Alpha ist mit einer kompletten Sensoren-Palette ausgestattet. Es kann Proben nehmen, sie in luftdichten Kapseln deponieren und zwecks Analyse zum Habitat zurückschicken.«

»Wird das Schiff nach beendeter Mission zurückkehren?«

»Nein. Nie. Es bleibt auf Titan. Wir werden Brennstoff und Ersatzteile für die Sensoren dorthin schicken.«

»Hat es denn keinen Nuklearantrieb?«, fragte Cardenas.

»Natürlich! Der Brennstoff ist für die Raketen, die die Proben zurückbringen.«

»Ich verstehe.«

Urbain seufzte zufrieden. »Ich habe leider nicht so viel Zeit ins Projekt investieren können, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich werde von dieser politischen Kampagne in Anspruch genommen, müssen Sie wissen.«

Cardenas nickte. »Und doch haben Sie es geschafft. Das ist wirklich eine große Leistung.«

»Ohne meine Leute hätte ich es nicht geschafft.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir das gezeigt haben«, sagte Cardenas. Insgeheim befürchtete sie aber, dass Urbain dem Raumschiff den Befehl geben würde, über den Boden des Labors zu rollen.

Sie ging langsam in Richtung der Tür. Urbain holte sie mit zwei Schritten ein.

»Ich wollte aber nicht nur mit meiner neusten Errungenschaft prahlen«, sagte er mit einem etwas weniger enthusiastischen Ausdruck. »Ich möchte Sie auch um einen Gefallen bitten.«

»Einen Gefallen?«, fragte Cardenas, während sie an der Trennwand entlangging. Das massive Raumschiff vermittelte ihr ein Gefühl der Bedrückung, ja sogar der Bedrohung.

Urbain zögerte, als würde er sich schwer tun, die richtigen Worte zu finden. »Es betrifft Alphas Fähigkeit zur Selbstreparatur.«

Cardenas schaute ihn streng an.

»Ich frage mich«, sagte Urbain, als sie sich am Ende der Trennwand umdrehten, »ob Nanomaschinen in der Lage wären, Alpha auch auf der Titanoberfläche zu reparieren.«

Cardenas nickte nachdenklich. Da liegt also der Hase im Pfeffer. Sie haben alle eine Heidenangst vor Nanobots, bis sie auf ein Problem stoßen, das von Nanomaschinen gelöst werden könnte.

»Ich meine«, fuhr Urbain fort, »Sie haben doch selbst Nanomaschinen im Körper, stimmt's? Sie reparieren ständig das Gewebe, nicht wahr?«

»Und Sie hätten gern ein Nanotech-Immunsystem in Ihr Raumschiff eingebaut«, sagte Cardenas mit einem leisen Lachen der Erleichterung.

»Nanomaschinen, die fähig wären, kontinuierlich Defekte und Schäden an der Ausrüstung zu beheben.«

»Oder Verschleiß«, ergänzte Cardenas.

»Ja! Exakt!«

Sie blieb an der offenen Tür stehen und überlegte schnell. »Das würde aber einige Zeit dauern, Dr. Urbain. Wann wollen Sie das Raumschiff zum Titan schicken?«

»Sobald wir in eine Umlaufbahn um den Saturn gegangen sind. Höchstens ein paar Tage später.«

»Ich werde auf keinen Fall in der Lage sein, so schnell einen Satz therapeutischer Nanos zu konstruieren.«

»Aber vielleicht könnten Sie gleich mit der Produktion beginnen und sie zu Alpha schicken, wenn das Schiff schon auf Titan ist.«

»Vielleicht«, räumte Cardenas ein.

»Werden Sie die Möglichkeit in Betracht ziehen?«, fragte er erwartungsvoll.

Cardenas sah in seinen Augen, dass er diese seine Maschine beinahe wie ein menschliches Wesen betrachtete, wie eine Frau, die er liebte und begehrte und vor allen Unbilden schützen wollte. Ein Dr. Frankenstein mit Herz, sagte sie sich voller Unbehagen angesichts der von ihm erschaffenen Kreatur. Dann schoss ihr eine schmerzliche Erinnerung durch den Kopf. Wie oft hat man dich schon Frankenstein genannt, fragte sie sich.

»Können sie es schaffen?«, fragte Urbain nachdrücklich.

»Ich will es versuchen.«

»Gut! Ausgezeichnet!«

»Unter einer Bedingung«, fügte sie hinzu.

Seine Brauen wölbten sich bis zum zurückweichenden Haaransatz. »Bedingung? Wenn Sie von mir verlangen, dass… dass ich diesem Stuntman erlaube, die Oberfläche zu betreten…«

»Aber wir haben die Dekontaminationsprozeduren doch schon ein paarmal getestet«, sagte Cardenas. »Ich habe Ihnen die Berichte geschickt.«

»Tests in der Luftschleuse. Ja, ich habe Ihre Berichte überflogen.«

»Dann wissen Sie auch, dass wir in der Lage sind, seinen Anzug zu Ihrer Zufriedenheit zu reinigen.« Plötzlich hatte Cardenas eine Eingebung. »Und Ihr Raumschiff könnten wir auf die gleiche Art dekontaminieren.«

»Alpha kann normal dekontaminiert werden.«

»Ja, aber wenn Sie Nanomaschinen verwenden, müssen Sie das Schiff nicht so hohen Strahlungsdosen aussetzen. Würde man damit nicht die elektronischen Systeme schonen?«

Urbain setzte zu einer Erwiderung an und hielt wieder inne. »Ja. Auf jeden Fall«, sagte er dann.

»Ich wäre in der Lage, das in ein paar Tagen für Sie zu arrangieren. Und wenn wir dann im Saturnorbit sind, werde ich Ihr Raumschiff so gründlich dekontaminieren, dass es wieder so rein ist wie frisch gefallener Schnee.«

»Deshalb bin ich aber trotzdem nicht in der Lage, dem Stuntman eine Genehmigung für das Betreten der Oberfläche zu erteilen. Die IAA hat das untersagt. Mir sind die Hände gebunden.«

Übertreibe es nicht, sagte Cardenas sich. Immerhin hast du schon einen Fuß in der Tür. Lass es fürs Erste dabei bewenden.

Dennoch hörte sie sich sagen: »Es gäbe da noch etwas.«

Urbains Brauen gingen wieder nach oben.

»Es ist eher eine Kleinigkeit…«

»Worum geht's?«

»Eine von Ihren Mitarbeiterinnen, Dr. Wunderly…«

»Wunderly?«

»Sie braucht etwas Zeit an einem Teleskop, um die Ringe zu studieren.«

»Unmöglich. Ich habe ihr schon gesagt…«

»Es ist Ihnen doch sicher möglich, etwas Zeit an den Teleskopen für sie zu erübrigen«, sagte Cardenas. Es klang eher wie eine Feststellung als eine Bitte. »Schließlieh wollen Sie doch in ein paar Wochen mit Ihrem Raumschiff die Titanoberfläche erforschen, nicht wahr?«

Urbain zögerte. »Ja, das stimmt wohl.«

»Und Sie wollen es von Nanomaschinen in Schuss halten lassen.«

Ihm war deutlich anzusehen, dass er Cardenas' implizite Drohung verstand. »Ich verstehe. Ja. Also gut, ich werde versuchen, für Wunderly etwas Zeit an einem der Teleskope freizuschaufeln, damit sie ihre verdammten Ringe studieren kann.«

»Schön«, sagte Cardenas. »Und ich werde versuchen, einen Satz Nanomaschinen zu konstruieren, die Ihr Raumschiff automatisch instand halten, solange es auf Titan ist.«

»Und Alpha zu dekontaminieren«, erinnerte Urbain sie.

Cardenas bestätigte mit einem Kopfnicken und ging zur Tür. Dann drehte sie sich noch einmal um. »Wie läuft übrigens die Wahlkampagne?«

Urbain holte tief Luft, als ob er vom plötzlichen Themenwechsel überrascht wäre. Dann zuckte er die Achseln. »Sie nimmt einfach zu viel Zeit in Anspruch. Ich muss Reden halten und Positionspapiere zu allen möglichen Themen erarbeiten — von der medizinischen Versorgung bis zum Abfallrecycling. Hinz und Kunz meinen, mich mit dummen Fragen nerven und zu allem ihren Senf geben zu müssen.«

»Das nennt man wohl Politik«, sagte Cardenas mit einem leisen Lachen.

»Und ich befürchte, wenn ich erst einmal gewählt worden bin, wird es noch schlimmer werden.«

»Sie rechnen mit einem Sieg?«

»Natürlich. Dies ist schließlich eine wissenschaftliche Mission, nicht wahr? Der Zweck unseres Flugs zum Saturn ist rein wissenschaftlich.«

»Aber die Wissenschaftler machen nur einen kleinen Teil der Population aus«, gab Cardenas zu bedenken.

»Ja, natürlich. Aber die anderen werden trotzdem für mich stimmen. Das ist die einzige logische Wahl, die sie treffen können. Eberly ist der einzige Gegenkandidat, und er hat keinen wissenschaftlichen Hintergrund.«

»Und was ist mit dem Ingenieur, Timoschenko?«

Urbain zog eine Schnute. »Er ist ein Nichts. Ein Popanz. Die Ingenieure und Techniker werden mit überwältigender Mehrheit für mich stimmen.«

Cardenas verkniff sich die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Es bringt nichts, dem Mann seine Illusionen zu rauben, sagte sie sich. Am Wahltag wird er eine herbe Ernüchterung erfahren. Sie wird sein Ego verletzen; doch auf lange Sicht wird er wahrscheinlich froh sein, dass er aus der Politik ausgestiegen ist und sich voll auf diese Kiste namens Alpha konzentrieren kann.

45 Tage bis zur Ankunft

Die drei Frauen trafen sich zum Frühstück in der Cafeteria; sie waren so früh dran, dass der Saal erst zur Hälfte besetzt war. Holly hatte den Eindruck, dass das Lokal an diesem Morgen irgendwie anders wirkte — ruhig und gedämpft, als ob die Leute, die sich an der Essensausgabe anstellten, noch nicht ganz wach wären.

Sie sah Kris und Nadia Wunderly schon an einem Tisch setzen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und ein fröhliches Grinsen im Gesicht.

Holly stellte ihr Tablett mit Melonenscheiben, Frühstücksflocken, Sojamilch und Malzkaffee ab und setzte sich hin.

Wunderly schaute fröhlich; ihre großen grauen Augen funkelten. »Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, dass Sie mir Zeit am Teleskop verschafft haben.

Sie müssten einmal die Dynamik dieser Ringe sehen! Es ist… Es ist…«

Cardenas lachte leise. »Ihnen fehlen die Worte?«

Wunderly schaute etwas verlegen. »Ich würde Ihnen gern die Bilder zeigen, die ich gemacht habe. Ihnen auch, Holly«, sagte Wunderly an sie gewandt.

Holly lächelte sie an. »Sicher. Ich würde sie auch gern sehen.«

»Es ist mir nach wie vor ein Rätsel, wie Sie Urbain dazu bewogen haben, mich ans Teleskop zu lassen«, sagte Wunderly zu Cardenas.

»Mit List und Tücke«, sagte Cardenas noch immer grinsend. »Und mit einer Prise Erpressung.«

»Auf jeden Fall scheint es geklappt zu haben«, sagte Holly.

Wunderly steckte den Löffel in ihre Schüssel mit Soja- Joghurt. »Dank Ihnen, Kris, vermag ich Manny nun mit allen Daten zu versorgen, die er benötigt.«

Holly stülpte sich schier der Magen um. »Manny?«

»Er will im Sturzflug durch die Ringe«, erklärte Wunderly. »Doch ohne meine Hilfe wird er es nicht schaffen.«

»Ich habe Manny schon seit Wochen nicht mehr gesehen«, sagte Holly und schaute über den Tisch auf Cardenas. »Wie geht es ihm denn?«

»Blendend«, antwortete Wunderly.

Cardenas wirkte überrascht. »Wo Sie es sagen, ich habe ihn auch schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen — zuletzt beim abschließenden Test der Dekontaminations-Nanos.«

Wunderly ließ den Blick zwischen Holly und Cardenas hin und her schweifen. »Ich sehe ihn fast jeden Tag«, sagte sie. Etwas selbstgefällig, sagte Holly sich.

»Sehen Sie ihn auch nachts?«, fragte Cardenas und führte die Teetasse zum Mund.

»Sicher«, sagte Wunderly. »Manchmal.«

Überaus selbstgefällig, fand Holly.

»Er ist ziemlich gut, nicht wahr?«, sagte Cardenas.

Wunderly nickte erfreut.

Plötzlich wurde Holly heilhörig. »Kris, sind Sie mit Manny bis zum Äußersten gegangen?«, platzte sie heraus.

Cardenas wurde rot. Sie nickte hinter der Teetasse und sagte kleinlaut: »Ein paarmal. Aber Sie sagten doch, dass Sie nichts dagegen hätten. Erinnern Sie sich?«

»Ich habe auch nichts dagegen«, insistierte Holly. Der innere Aufruhr strafte sie jedoch Lügen.

Wunderlys Eulenaugen wurden noch größer als sonst. »Sie meinen, er hat mit Ihnen beiden geschlafen?« Cardenas stellte die Teetasse ab. »Zum Schlafen sind wir eigentlich kaum gekommen.«

Holly brach in Gelächter aus, und der Schmerz im Innern verschwand. »Er ist wirklich ein Hengst.«

Wunderly schien aber verletzt. »Sie beide…«, flüsterte sie. Das war keine Frage mehr.

Cardenas beugte sich über den Tisch und berührte Wunderlys Hand. »Er ist eben ein Mann, Nadia. Es bedeutet ihm gar nichts. Nur Spaß an der Freud'. Entspannung.«

»Aber ich dachte…«

»Nicht denken, Kind. Einfach genießen. Er wird bald zur Erde zurückfliegen. Haben Sie Spaß, solange Sie können.«

»Gather yc rosebuds«, zitierte Holly und fragte sich zugleich, woher sie diese Liedzeile hatte.

Wunderly rang sich ein Lächeln ab und sagte: »Sie haben wohl Recht. Aber trotzdem…«

»Passen Sie nur auf, dass Sie nicht schwanger werden.«

»Das wird mir schon nicht passieren!«

»Er hat mit mir geschlafen, als er die Hilfe der Verwaltung brauchte«, sagte Holly nachdenklich. »Und er hat mit Ihnen geschlafen, Kris, als er herausfand, dass Sie ihm mit den Nanobots behilflich sein könnten.«

»Und nun schläft er mit mir«, stimmte Wunderly ein, »weil ich ihm bei den Ringen helfen kann.«

»Dieser Hundesohn«, sagte Cardenas. Aber sie grinste breit.

»Sie wissen, wie man eine Frau bezeichnet, die so etwas tut«, sagte Wunderly.

Holly wusste nicht, ob sie nun verärgert, belustigt oder peinlich berührt sein sollte.

»Es ist nur gut, dass er uns bald verlässt«, sagte Cardenas. »Sonst würde er noch umgebracht werden.«

»Geschähe ihm ganz recht, dem Mistkerl«, sagte Wunderly mit einem Anflug von Zorn.

»Das ist eben seine Masche«, sagte Cardenas.

»Nadia, wollen Sie sich weiterhin mit ihm einlassen?«, fragte Holly.

»Nie und nimmer! Jetzt nicht mehr.«

»Wieso denn nicht?«, fragte Cardenas. »Wenn Sie gern mit ihm zusammen sind, wieso nicht?«

»Aber er ist… es ist… es ist nicht richtig.«

»Lassen Sie sich von der Neuen Moralität doch nicht den Spaß verderben«, sagte Cardenas mit einem Kopfschütteln. »Es ist nicht schlimm, nur so zum Spaß Sex zu haben — solange man weiß, dass es nur Spaß ist und nicht mehr. Und dass man sich schützen muss.«

Aber wie schützt man sein Herz, fragte Holly sich. Wie kommt man damit zurecht, dass man sich einem Mann hingibt und der dann einfach verschwindet und die Nächste besteigt? Noch dazu eine Freundin, um Himmels willen.

Wunderly nickte leicht, aber sie wirkte genauso wenig überzeugt, wie Holly sich fühlte.

»Es ist nicht mehr so wie in den alten Zeiten«, fuhr Cardenas fort, »als man sich wegen Aids und anderen Geschlechtskrankheiten Sorgen machen musste.«

»Ich habe im Geschichtsunterricht von Aids gehört«, sagte Wunderly. »Das muss schrecklich gewesen sein.«

»Sie müssen nur aufpassen, dass Sie nicht schwanger werden.«

»Das werde ich nicht. Das geht doch auch gar nicht. Die Bestimmungen des Habitats lassen das überhaupt nicht zu.«

Cardenas grinste nicht mehr. »Ich erinnere mich noch an die Zeit, bevor Sie beide auf der Welt waren, als religiöse Fundamentalisten gegen jegliche Abtreibung protestierten. Überhaupt gegen jede Art von Familienplanung.«

»Wirklich?«, fragte Holly erstaunt.

»Ja. Erst als sie ihre starre ›Recht-auf-Leben‹-Position aufgaben, erlangte die Neue Moralität echte politische Macht. Und als die Katholiken einen amerikanischen Papst bekamen, rückte sogar der Vatikan von seiner starren Haltung ab.«

Für eine Weile schwiegen die drei Frauen. In der Cafeteria wurde es lebendig. Es kamen immer mehr Leute herein. Sie stellten sich in angeregte Gespräche vertieft und mit klapperndem Geschirr an, nahmen ihr Frühstück ein und gingen dann zur Arbeit.

Wunderly schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich muss einen Fortschrittsbericht für Urbain erstellen.«

»Und Manny?«, fragte Cardenas.

Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Er kann… sehr anziehend sein, wissen Sie.«

»Verführerisch«, sagte Cardenas.

»Charmant«, ergänzte Holly. »Wie eine Schlange.«

Wunderly schüttelte nur den Kopf und ging davon. Das halb verzehrte Frühstück ließ sie auf dem Tisch zurück.

»Was glauben Sie, wird sie tun?«, fragte Holly.

»Sie wird mit ihm ins Bett gehen, sich aber mies dabei fühlen«, sagte Cardenas mit einem leisen Lachen.

»Das ist echt brutal.«

»Ja.«

»Würden Sie noch einmal mit ihm ins Bett gehen?«

Cardenas schaute sie argwöhnisch an. »Würden Sie?«

Hollys Lippen kräuselten sich zu einem zerknirschten Lächeln. »Nur, wenn er mich bitten würde.«

Sie beide lachten.

»Dieser Hundesohn glaubt wirklich, jede anbaggern und ungeschoren davonkommen zu können«, sagte Cardenas. »Wenn das nur gut geht.«

»Ich frage mich, ob sonst noch jemand ungeschoren davongekommen ist«, sagte Holly plötzlich ernst und mit leiser Stimme.

»Noch so ein Frauenheld, der sein Unwesen treibt?«

»Nein. Viel schlimmer.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Holly.«

»Don Diego geht mir nicht aus dem Kopf.«

»Sie sind immer noch an dieser Sache dran?«

»Die Ermittlungen haben nichts Ungewöhnliches ergeben.«

»Nur dass er ertrunken ist.«

»Aber wie ist er ertrunken?«, fragte Holly. »Wie ist es möglich, dass jemand in ein paar Zentimeter tiefes Wasser fällt und ertrinkt?«

»Er war schließlich schon alt«, sagte Cardenas.

»Aber er war bei guter Gesundheit. Man hat bei ihm keine Anzeichen für ein Herzversagen oder einen Schlaganfall gefunden.«

»Sie glauben, jemand habe ihn ins Wasser gestoßen und ertränkt?«

Holly ließ die Szene, die sie an jenem Tag gesehen hatte, in allen Details Revue passieren. »Ich weiß nicht. Vielleicht.«

»Aber wer? Und wieso?«

Holly zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich wünschte, ich wüsste es.«

Wahlkampfreden

Die politische Debatte fand im Freilichttheater des Habitats statt, einer großen Betonmuschel, die mit ihrer eleganten Wölbung die Schallwellen bündelte, die auf der Bühne erzeugt wurden und in die Sitzreihen abstrahlte, die im Gras aufgestellt waren.

Das ist eine recht große Menge, sagte Eberly sich, als er den Blick über die Zuhörer schweifen ließ. Es müssen mehr als tausend Leute sein, und noch viel mehr Video-Zuschauer.

Drei Meter zu seiner Linken saß Edouard Urbain auf der Bühne; er wirkte elegant, aber auch steif in seinem altmodischen taubengrauen Anzug und mit einem himmelblauen Stehkragenhemd. Neben ihm saß Timoschenko, der einen griesgrämigen Eindruck machte; er trug einen grauen Overall, um die Verbundenheit mit seinem Berufsstand zu demonstrieren. Eberly mutete er eher wie ein Hausmeister an. Eberly selbst trug ein anthrazitfarbenes Gewand und eine bequeme Hose in einem etwas helleren Grau — gemäß der Kleiderordnung, die er selbst erlassen hatte.

Wilmot stand in seinem obligatorischen Tweed-Jacket und der formlosen Hose am Podium und erläuterte die Regeln der Debatte.

»…jeder Kandidat beginnt mit einer fünfminütigen Zusammenfassung seiner Position. Dann gibt es noch einmal fünf Minuten für eine Gegenrede. Anschließend wird das Gremium sich den Fragen der Zuhörer stellen.«

Eberly musste ein Grinsen unterdrücken. Vyborg und Kananga hatten das Publikum nämlich mit ein paar Dutzend Anhängern ›unterwandert‹. Die würden dann solche Fragen stellen, dass sie und Eberly sich die Bälle sozusagen gegenseitig zuspielten. Er hatte nicht die Absieht, Urbain oder Timoschenko länger als unbedingt nötig zu Wort kommen zu lassen.

»Ich möchte Ihnen nun Dr. Edouard Urbain vorstellen, den Leiter unserer Wissenschafts-Abteilung«, sagte Wilmot und las Urbains Lebenslauf vom Display auf dem Podium ab.

Gähnend langweilig, sagte Eberly sich. Wen interessiert es schon, welche akademischen Ehren er in Quebec erworben hat?

Dann erhob Urbain sich und ging von spärlichem Applaus begleitet zum Podium. Es sind nur ein paar Wissenschaftler im Publikum, sagte Eberly sich. Umso besser. Dann fiel ihm auf, das Urbain leicht hinkte. Seltsam, dass mir das nicht schon früher aufgefallen ist. Hat er sich das erst vor kurzem zugezogen oder hatte er immer schon leicht gehinkt? Eberly ließ den Blick übers Publikum schweifen und erkannte ein paar von seinen Leuten, einschließlich Holly und des Stuntmans Gaeta, die in der ersten Reihe saßen. Gut. Wie ich es angeordnet habe.

Urbain räusperte sich und sagte: »Wie Sie wissen, bin ich kein Politiker. Aber ich bin ein guter Administrator. Die Leitung von über einhundert höchst individualistischen Wissenschaftlern und ihrer Assistenten ist in etwa damit zu vergleichen, ein Rudel Katzen darauf zu dressieren, im Gleichschritt zu marschieren.«

Er hielt inne und wartete auf Gelächter. Aber nur vereinzeltes Gekicher wurde im Publikum laut.

Mit einem leicht pikierten Gesichtsausdruck fuhr Urbain fort: »Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen zeige, wie ich die wissenschaftlichen Programme dieses Habitats leite. In dieser ersten Abbildung sehen wir…«

AVs! Eberly vermochte nur mit Mühe einen Jubelruf zu unterdrücken. Er zeigt audiovisuelle Darstellungen, als ob dies eine wissenschaftliche Konferenz wäre. Die Zuhörer werden dabei einschlafen!


Holly fühlte sich in Gaetas unmittelbarer Nähe unwohl, doch Eberly hatte ihr gesagt, dass sie den Stuntman zur Versammlung mitbringen solle, und diese Anweisung hatte sie auch befolgt.

Gaeta hatte sein charmantestes Lächeln aufgesetzt, als Holly ihn anrief. »Ich soll mit dir zur Versammlung gehen? Ich mache mir aber nicht viel daraus, Reden zuzuhören.«

»Dr. Eberly hat aber ausdrücklich um deine Anwesenheit ersucht«, hatte Holly in der Sicherheit ihres Büros zu seinem Bild gesagt. »Du würdest ihm damit einen Gefallen tun.«

»Eberly, hä?« Gaeta ließ sich das für einen Moment durch den Kopf gehen. »In Ordnung, wieso nicht? Dann können wir anschließend zusammen zu Abend essen. Okay?«

Obwohl Holly inzwischen wusste, was Gaeta für ein Schürzenjäger war, wollte sie zustimmen. Dennoch sagte sie: »Ich bin sicher, dass Dr. Eberly gern mit dir zu Abend essen würde.«

»Nein, ich dachte dabei eher an dich, Holly.«

»Ich glaube aber nicht, dass ich Zeit haben werde.«

»Wieso nicht?«

Weil du mit jeder Erau vögelst, von der du Hilfe erwartest, hätte sie am liebsten gesagt. Weil du mich nur als ein Betthäschen betrachtest und weil du ein unsensibler Macho bist. Weil ich will, dass du etwas für mich empfindest und es dir nur darum geht, mich flach zu legen.

Doch dann hörte sie sich sagen: »Ja, vielleicht. Wir werden sehen.«


Von seinem Platz auf der Bühne aus sah Eberly Urbains audiovisuelle Bilder, die überm Rednerpodium in der Luft hingen, in einer bizarren perspektivischen Verkürzung. Urbain erläuterte sie in einem drögen, leidenschaftslosen Monolog.

Ein Organigramm. Dann ein paar flüchtige Teleskop- Abbildungen vom Titan, die eine verschwommen orangefarbene Sphäre zeigten. Urbain erläuterte mit einem Laserpointer Details, die Eberly nicht im Geringsten interessierten. Und den Rest des Publikums wohl auch nicht, sagte Eberly sich.

»Und nun das letzte Hologramm«, sagte Urbain. Eberly wollte ihm schon erleichtert Beifall spenden.

Was da in drei Dimensionen über der Bühne erschien, sah aus wie ein silbergrauer Panzer.

»Dies ist Alpha«, sagte Urbain, wobei Stolz in seiner Stimme mitschwang. »Es wird auf der Oberfläche des Titan landen und eine gründliche Untersuchung dieser Welt vornehmen, die in Echtzeit von meinem wissenschaftlichen Team und meinem technischen Stab kontrolliert wird.«

Der Panzer setzte sich auf seinen Ketten in Bewegung und rollte umher; dabei fuhr er mechanische Arme aus, die in Zangen und schaufelartigen Auswüchsen endete. Urbain trat an die Seite des Podiums und betrachtete die Maschine. Dabei wirkte er wie ein stolzer Vater, der liebevoll die ersten Gehversuche seines Kindes verfolgt.

Wilmot, der in der ersten Reihe gesessen hatte, erklomm die Stufen zur Bühne und trat ans Podium.

»Eine sehr beeindruckende Vorführung, Dr. Urbain, aber Ihre fünf Minuten sind leider um«, sagte er mit einer Stimme, die durchs am Revers angebrachte Mikrofon so verstärkt wurde, dass jeder ihn hörte.

Ein enttäuschter Ausdruck erschien in Urbains Gesicht, doch er schaltete sofort den handflächengroßen Projektor aus und wandte sich mit einem Lächeln ans Publikum.

»Ich danke Ihnen für Ihre Geduld«, sagte er, wandte sich ab und nahm wieder seinen Platz zu Eberlys Linken ein. Niemand spendete ihm Beifall.

»Und hier ist Mr. Ilja Timoschenko vom Konstruktions- Büro«, sagte Wilmot am Podium. »Mr. Timoschenko wurde in Orel in Russland geboren und hat einen Hochschulabschluss als Elektroingenieur…«

Eberly blendete Wilmots Kommentare aus und beobachtete die Menge. Es waren viele Männer und Frauen darunter, die mit grauen Overalls bekleidet waren. Mein Gott, sagte er sich, das sieht aus wie eine Uniform. Und fast die Hälfte der Anwesenden trägt graue Overalls!

Timoschenko trottete zum Podium, bedankte sich mit einem Nicken bei Wilmot und richtete den Blick auf die Zuhörer. Er versuchte zu lächeln, doch bei seinem griesgrämigen Gesicht geriet es eher zu einer Grimasse.

»Ich werde keine fünf Minuten brauchen«, sagte er mit rauer, heiserer Stimme. »Meine Botschaft ist ganz einfach. Dr. Urbain sagt, dass Sie für ihn stimmen sollten, weil er Wissenschaftler sei. Und Dr. Eberly wird Ihnen sagen, dass Sie für ihn stimmen sollten, weil er kein Wissenschaftler sei.«

Ein paar Leute lachten.

»Ich bitte Sie nun, für mich zu stimmen, weil ich ein einfacher Werktätiger bin wie die meisten von Ihnen. Ich bin kein Abteilungsleiter. Ich bin überhaupt kein Chef. Aber ich weiß, wie man Menschen dazu bringt, dass sie zusammenarbeiten, und ich bin einer von Ihnen. Ich werde Ihre Interessen vertreten, weil ich einer von Ihnen bin. Denken Sie daran, wenn Sie Ihre Stimme abgeben. Vielen Dank.«

Er wandte sich ab und ging an seinen Platz zurück. Kein Applaus. Das Publikum war zu überrascht von der Prägnanz seines Vortrags.

Wilmot schien im ersten Moment konsterniert, doch dann erhob er sich und ging zielstrebig zum Podium.

»Danke, Mr. Timoschenko«, sagte Wilmot und schaute über die Schulter zu dem Ingenieur. Dann drehte er sich wieder zum Publikum und sagte: »Ich finde, dass Mr. Timoschenko einen kräftigen Applaus verdient hat — wenn schon aus keinem anderen Grund, dann wenigstens der Kürze seiner Ansprache wegen.«

Wilmot klatschte in die fleischigen Hände, und die Menge schloss sich ihm an. Eberly fand jedoch, dass der Applaus mechanisch war, und er hielt auch nicht lange an.

»Unser letzter Kandidat«, sagte Wilmot, »ist Dr. Malcolm Eberly, Leiter der Abteilung Human Resources und federführend bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung, über die wir am Wahltag abstimmen werden.«

Ohne eine weitere Erläuterung drehte er sich halb zu Eberly um und sagte nur: »Dr. Eberly.«

Ein paar Dutzend Leute, die im Publikum verteilt waren, erhoben sich und applaudierten vernehmlich, als Eberly aufstand und aufs Podium trat. Andere schauten sich um, erhoben sich ebenfalls langsam, beinahe zögerlich von den Plätzen und klatschten. Als Eberly die Seiten des Podiums packte, hatte sich bereits die Hälfte des Publikums erhoben und applaudierte ihm. Schafe, sagte Eberly sich. Die meisten Menschen sind im Grunde dumme Schafe. Sogar Wilmot war aufgestanden und klatschte der Höflichkeit halber mit.

Eberly gebot mit einer Geste Ruhe, und alle setzen sich wieder hin.

»Ich sollte wohl darauf hinweisen, dass ich auch kein Politiker bin«, hob er an. »Zumindest war ich keiner, bis ich in dieses Habitat gekommen bin.

Wenn es jedoch etwas gibt, das ich während unserer monatelangen gemeinsamen Reise gelernt habe, dann ist es dies: Unsere Gesellschaft darf nicht in Klassen gespalten werden. Wir müssen vereint sein. Sonst werden wir im Chaos versinken.«

Eberly drehte sich leicht um und warf einen Blick auf Urbain. Dann wandte er sich wieder seinen Zuhörern zu und fragte: »Wollt ihr denn in Wissenschaftler und Nicht-Wissenschaftler unterteilt werden? Wollt ihr, dass eine kleine, selbstverliebte Elite eure Regierung stellt? Woher leiten diese Wissenschaftler ihren Führungsanspruch überhaupt ab? Wieso solltet Ihr von einer elitären Gruppe Befehle entgegennehmen, die ihre eigenen Ziele und Bedürfnisse über die euren stellt?«

Das Publikum geriet in Wallung.

»Haben die Wissenschaftler etwa bei der Ausarbeitung der Verfassung mitgeholfen, über die ihr abstimmen werdet?«, fragte Eberly mit leicht erhobener Stimme. »Nein. Es war kein einziger Wissenschaftler in der Verfassungsgebenden Versammlung anwesend. Sie waren nämlich viel zu sehr mit ihren Experimenten und Beobachtungen beschäftigt, um sich mit unseren Lebensumständen zu befassen.«

»Aber wir wurden doch gar nicht gefragt…«, wandte Urbain ein.

Wilmot drehte Urbain das Mikrofon ab. »Gegenrede erst nach Darlegung der Position«, sagte er bestimmt.

Urbain lief rot an.

Eberly unterdrückte ein zufriedenes Grinsen und sagte: »Die neue Regierung wird einen repräsentativen Querschnitt unserer Bevölkerung darstellen. Nicht nur Wissenschaftler. Nicht nur Ingenieure und Techniker. Wir brauchen auch die Fabrikarbeiter und Farmer, die Büroangestellten und Wartungstechniker, Fleischer und Bäcker und andere Handwerker. Jedermann soll daher die Möglichkeit haben, in der neuen Regierung mitzuarbeiten. Jedermann sollte an der Ausübung von Autorität und der Verantwortung der Macht beteiligt werden. Nicht nur eine kleine Gruppe von Spezialisten. Alle miteinander.«

Die Leute standen auf, brüllten ihre Zustimmung heraus und applaudierten begeistert. Eberly lächelte ihnen herzlich zu.

Wilmot erhob sich und versuchte sie mit einer Geste zur Ruhe zu bringen. »Ihr Beifall beschneidet Dr. Eberlys Redezeit«, schrie er über das Klatschen.

Der Applaus ebbte ab, und die Leute setzen sich wieder.

Eberly senkte für einen Moment den Kopf und wartete darauf, dass sie sich wieder voll auf ihn konzentrierten. Dann fuhr er fort.

»Ich will Ihnen sagen, was wir noch in unserer neuen Regierung brauchen. Eine Person an ihrer Spitze, die weiß, dass wir vereint sein müssen und dass wir niemals zulassen dürfen, dass eine elitäre Gruppe Macht über den Rest von uns erlangt. Wir brauchen einen Führer, der die Menschen versteht, einen Führer, der unermüdlich fürs Gemeinwohl arbeitet und nicht nur für die Wissenschaftler.«

»Verdammt richtig!«, ertönte eine Stimme im Publikum.

»Wollt ihr euch etwa von einer elitären Gruppe von Spezialisten ihren Willen aufzwingen lassen?«, fragte Eberly.

»Nein!«, antworteten mehrere Stimmen.

»Wollt ihr eine Regierung, die für alle da ist?«

»Ja!«

»Wollt ihr einen Führer, der die Wissenschaftler kontrolliert und für euer Wohl arbeitet?«

»Ja! Ja!«, riefen sie. Und Eberly sah, dass seine eigenen Leute nur ein kleiner Teil derjenigen waren, die aufstanden und ihm applaudierten.

Er ließ sie jubeln und pfeifen, bis Wilmot ans Podium trat und verkündete, dass seine fünf Minuten um seien.

Eberly ging zufrieden an seinen Platz zurück und stellte erfreut fest, dass Urbain verdrießlich, fast ärgerlich wirkte und Timoschenkos Miene noch griesgrämiger war als sonst.

Frage und Antwort

Urbain verteidigte mühsam seine Position und betonte die Wichtigkeit der wissenschaftlichen Mission des Habitats, wobei er zugleich bestritt, dass er die Bedürfnisse der Wissenschaftler über die der anderen zu stellen gedachte. Je mehr er das jedoch dementierte, sagte Eberly sich, desto stärker wurde die Tatsache im Bewusstsein des Publikums verankert, dass er die Wissenschaftler als eine höhere Kaste betrachtete.

Timoschenko ging damit hausieren, dass er ein einfacher und gewöhnlicher Werktätiger sei, der die Bedürfnisse des gemeinen Volks kannte. Eberly stellte zufrieden fest, dass keiner der beiden anderen Kandidaten ihn angriff.

Als Eberly schließlich an der Reihe war, seine Position zu verteidigen, ging er langsam zum Podium und sagte:

»Wir haben eine Wahl, die mich an die drei Bären in der Geschichte von Goldlöckchen erinnert. Der eine Kandidat hat zu wenig Verwaltungserfahrung. Er erzählt euch, dass er ein ganz gewöhnlicher Mensch sei. Das ist wohl wahr, doch als Führer dieser großartigen Gesellschaft, die wir zu errichten trachten, brauchen wir jemanden, der eben nicht gewöhnlich ist; wir brauchen jemanden mit Erfahrung, Mut und überragenden Fähigkeiten.«

Er hielt für einen Moment inne und sagte dann: »Der andere Kandidat hat wiederum zu viel Verwaltungserfahrung. Er ist schon so lang mit der Aufsicht von Wissenschaftlern beschäftigt, dass er jedes Gespür für die Bedürfnisse der normalen Menschen verloren hat. Grafiken, Gleichungen und technische Gimmicks, mit denen wir die Oberfläche von Titan erkunden wollen, haben nun einmal nichts mit unseren Bedürfnissen und unserer Zukunft in diesem Habitat zu tun.«

Das trug ihm eine Runde Beifall ein. Eberly stand mit leicht gesenktem Kopf am Podium und sog die Verehrung förmlich ein.

Schließlich erhob Wilmot sich und sagte: »Nun wollen wir den hier Anwesenden und Fernsehzuschauern die Gelegenheit geben, Fragen zu stellen.«

Eberly richtete die Aufmerksamkeit auf den Professor.

Wilmot hat ihm nicht gesagt, dass die Leute auch die Möglichkeit haben würden, ihre Fragen von zu Hause aus zu stellen, und Vyborg hatte ihn nicht einmal auf diese Möglichkeit hingewiesen. Wir haben nicht jedem Einwohner eine vorbereitete Fragenliste vorgelegt, sagte er sich. Die Menge ist präpariert, aber nicht die Zuschauer zu Hause.


»Was er sagt, ergibt durchaus Sinn«, sagte Gaeta zu Holly, als sie wieder Platz nahmen. »Ich meine, Urbain ist strikt dagegen, mich auf Titan landen zu lassen, obwohl Kris ihm bewiesen hat, dass sie meinen Anzug mit Nanobots zu reinigen vermag.«

Holly nickte und sagte: »Wieso stellst du ihm dann keine diesbezügliche Frage?«

Gaeta schaute sie an und nickte. »Das ist eine gute Idee!«


Die Fragen wurden allesamt an Eberly gerichtet. Die Leute, die Vyborg in der Menge platziert hatte, dominierten das Frage- und Antwortspiel, und selbst diejenigen, die nicht präpariert waren, richteten ihre Fragen an Eberly und nicht an Urbain oder Timoschenko. Eberly stand am Podium und ignorierte seine ein paar Meter entfernt sitzenden Opponenten. Wilmot standen neben ihm und wählte aus den Leuten, die im Publikum die Hand hoben und den Anrufen, die auf seinem Palmtop eingingen, die Fragesteller aus.

Die Fragen waren alle so vorhersehbar, sagte Eberly sich mit einiger Erleichterung. Selbst die Leute, die von zu Hause aus anriefen, stellten die immergleichen dummen Fragen, die er im Schlaf zu beantworten vermochte.

»Ja, ich werde alle Anträge für Babies berücksichtigen. Ich glaube, dass wir ein maßvolles Bevölkerungswachstum zulassen können.«

»Nein, ich werde keiner religiösen Gruppe erlauben, die Regierung zu kontrollieren.« Er sah, dass bei dieser Antwort bei Morgenthau ein Wangenmuskel zuckte, doch war dies die verabredete Antwort. »Wir müssen erst durch Wahlen an die Macht kommen«, hatte er ihr immer wieder gesagt, »bevor wir auch nur andeutungsweise unsere wahren Pläne offenbaren dürfen.«

»Natürlich werde ich mich persönlich um die Bedürfnisse der Farmer kümmern«, sagte er zu einem Anrufer, der sich weigerte, seine Identität preisgegeben. »Ohne die Farmen würden wir schließlich verhungern.«

Er sah, dass Manuel Gaeta, der Stuntman, sich erhob und fragte: »Werden Sie mir gestatten, auf der Oberfläche von Titan zu landen?«

Jedermann kannte Gaeta — sein verwittertes Gesicht war inzwischen zum Markenzeichen geworden. Die Aufmerksamkeit aller Theaterbesucher richte sich auf ihn.

Eberly musste lächeln. »Wenn Sie die Wissenschaftler davon überzeugen können, dass Sie die Lebensformen auf Titan nicht kontaminieren, sehe ich keinen Grund, Sie an Ihrer Mission zu hindern.«

Wilmot drehte sich um und bedeutete Urbain, aufs Podium zu kommen. »Dr. Urbain, welche Meinung vertreten Sie denn in dieser Sache?«

Urbain strich sich mit einer Hand das Haar zurück und sagte, ohne zu zögern: »Die Gefahr einer Kontaminierung der mikrobiellen Organismen auf dem Titan ist viel zu groß, um in absehbarer Zeit eine menschliche Erkundung dieser Welt zu erlauben. Zumal wir in dieser Angelegenheit ohnehin keine Wahl haben. Die IAA hat jede menschliche Intervention auf der Titanoberfläche untersagt.«

»Aber Dr. Cardenas hat Ihnen doch gezeigt, dass sie in der Lage ist, meinen Anzug zu reinigen.«

Wilmot wandte sich ans Publikum: »Mr. Gaeta meint damit die Arbeit von Dr. Kristin Cardenas. Sie hat Nanomaschinen entwickelt, die vielleicht in Lage sind, Mr. Gaetas Raumanzug zu dekontaminieren.«

»Die Dekontamination scheint ausreichend zu sein«, konzedierte Urbain, »aber der Schein trügt gelegentlich. Außerdem sollten wir nicht das Risiko eingehen, dass Nanomaschinen die Ökologie des Titan infizieren.«

Eberly schob Urbain mit sanfter Gewalt vom Podium weg und ließ den Blick übers Meer der Gesichter schweifen, die zu ihm aufschauten. »Dies ist ein gutes Beispiel dafür, weshalb wir es den Wissenschaftlern nicht erlauben dürfen, die Regierung zu kontrollieren. Wieso sollte man es diesem Mann verwehren, zu seinem Abenteuer aufzubrechen, wenn es doch erwiesen ist, dass er den Mikroben dort unten keinen Schaden zufügt?«

»Das ist überhaupt nicht erwiesen!«

»Dr. Cardenas sagt es aber«, widersprach Eberly.

»Aber nicht zu meiner Zufriedenheit«, sagte Urbain schroff.

»Ihre Zufriedenheit!«, rief Eberly. »In anderen Worten, Sie treffen die Entscheidung, und alle anderen haben sie gefälligst zu befolgen — sogar eine Nobelpreisträgerin wie Dr. Cardenas.«

»Dies ist eine Entscheidung, die ich zu treffen habe«, insistierte Urbain.

»Haben Sie denn nicht gesagt, dass der Internationale Astronauten-Verband die Entscheidung schon getroffen hätte?«

»Ja, das stimmt natürlich«, stammelte Urbain, »aber ich könnte diese Entscheidung umstoßen, wenn es nötig wäre. Schließlich bin ich hier der wissenschaftliche Leiter.«

»Sie wollen ein Diktator sein!«, rief Eberly mit gespieltem Entsetzen.

Wilmot ging dazwischen. »Warten Sie einen Moment. Es gibt da noch eine andere Frage. Was ist mit den Gefahren der Nanotechnik?«

»Nanotechnik ist ein Werkzeug«, sagte Urbain. »Ein Werkzeug, mit dem man sehr sorgfältig umgehen muss — aber trotzdem nicht mehr als ein Werkzeug.«

Das überraschte Eberly. »Ja, da stimme ich Ihnen zu.« Mehr fiel ihm dazu nicht ein.

Timoschenko stand von seinem Stuhl auf. »Warten Sie. Die Nanotechnik ist gefährlich. Die Nanobots könnten außer Kontrolle geraten…«

»Bullshit!«, schrie jemand im Publikum. Kris Cardenas sprang auf; sie war kreidebleich vor Zorn. »Nennen Sie mir auch nur ein Beispiel, wo Nanomaschinen außer Kontrolle geraten wären. In Selene und den anderen Mondsiedlungen werden schon seit Jahrzehnten Nanobots eingesetzt, ohne dass es Probleme gegeben hätte. Es hat sich kein einziger Zwischenfall ereignet.«

Timoschenko schaute sie grimmig an. »Als die Mondbasis noch nicht Selene hieß, haben Nanobots aber ein paar Leute getötet.«

»Das war vorsätzlicher Mord. Da könnten Sie genauso gut alle Hämmer verbieten, weil sie in der Vergangenheit dazu benutzt wurden, Menschen den Schädel einzuschlagen.«

Wilmot breitete in einer beschwichtigenden Geste die Hände aus. »Niemand will die Nanotechnik verbieten«, sagte er. »Dr. Cardenas ist die im ganzen Sonnensystem anerkannte Expertin auf diesem Gebiet, und wir haben uns mit dem Einsatz von Nanomaschinen einverstanden erklärt — unter Einhaltung strengster Sicherheitsvorschriften.«

Bevor einer der beiden anderen Kandidaten etwas zu sagen vermochte, schaltete Eberly sich ein. »Die Nanotechnik kann sehr nützlich für uns sein, und ich habe volles Vertrauen in Dr. Cardenas' Fähigkeit, Nanomaschinen sicher zu entwickeln.«

»Ich auch«, sagte Urbain.

Alle wandten sich Timoschenko zu. Er verzog das Gesicht und sagte dann: »Bei allem Respekt für die allseits bewunderte Dr. Cardenas glaube ich, dass Nanomaschinen in einer geschlossenen Umgebung wie der unseren eine große Gefahr darstellen. Sie sollten geächtet werden.«

Eberly nutzte die Gunst des Augenblicks. »Die meisten von uns sind wegen der Gesetze und Vorschriften, die uns in unserem früheren Leben gängelten, in diesem Habitat«, sagte er. »Die meisten von uns sind gut ausgebildet, haben ein großes Wissen und sind aufgeschlossen für neue Ideen und Entwicklungen. Wir haben alle unter Regierungen gelitten, die unsere Freiheit beeinträchtigten.«

Er sah, dass ein paar Leute zustimmend nickten.

»Nun gut«, wandte er sich ans Publikum, »wer von euch würde es befürworten, die Nanotechnik zu ächten?«

Die Leute zögerten und sahen sich an. Ein paar Hände gingen hoch. Aber nur wenige. Kris Cardenas schaute sich um, lächelte und setzte sich wieder.

Eberly nickte zufrieden. »Da haben Sie's«, sagte er an Timoschenko gewandt. »Vox populi, vox dei.«

20 Tage bis zur Ankunft

Holly erkannte, dass es keinen Sinn hatte, nach dem Ende der Debatte das Gespräch mit Malcolm so suchen. Er wurde sofort von Verehrern umschwärmt, einschließlich Morgenthau und diesem dunklen kleinen Mann, Vyborg.

Kris Cardenas bahnte sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht einen Weg durch die sich auflösende Menge. »Ich glaube, dass wir Sie vielleicht doch noch auf den Titan runterbringen können«, sagte sie zu Gaeta.

Er erwiderte ihr Grinsen. »Vielleicht. Falls Eberly die Wahl gewinnt.«

Holly fühlte sich plötzlich wie das fünfte Rad am Wagen, als sie zwischen Kris und Manny stand. Die Menge löste sich auf, und die Leute gingen in kleinen Gruppen aus drei oder vier Personen nach Hause oder in eins der Restaurants.

Eberly kam von einem Schwarm Gratulanten und Günstlingen begleitet die Bühne herunter. Als er an Holly vorbeiging, nickte er ihr lächelnd zu, lud sie aber nicht ein, sich der Gruppe anzuschließen.

»Komm schon, Holly, wir begleiten dich nach Hause«, sagte Gaeta, bevor sie sich wegen Eberlys Missachtung zu grämen vermochte.

Holly schaute Cardenas überrascht an. Die wölbte eine Braue, als ob sie Holly daran erinnern wollte, was sie über das Lotterleben des Stuntmans erfahren hatte.

Holly erwiderte das Nicken, und dann gingen die drei durchs Gras und den Pfad am Seeufer entlang auf Athen zu.

»Ich habe Nadia gar nicht gesehen«, sagte Cardenas, während sie die Steigung zum Apartmentgebäude erklommen.

»Sie ist vielleicht bei der Arbeit«, sagte Gaeta. »Urbain hat ihr nun doch Zeit am Teleskop gegeben; seitdem ist sie ständig oben im Observatorium.«

»Ich dachte, sie würde mit dir kommen«, sagte Holly.

»Mit mir?« Sein Erstaunen war echt.

Holly ließ es dabei bewenden. Sie erreichten Cardenas' Haus und verabschiedeten sich von ihr; dann ging Gaeta mit Holly zum Nebengebäude, wo ihr Apartment war.

»Du triffst dich in letzter Zeit oft mit Nadia, nicht wahr?«, fragte sie.

Gaeta nickte. »Falls dieser Titan-Stunt in die Hose geht, muss ich etwas tun, um die Investoren bei Laune zu halten. Sie ist mir dabei behilflich, den Sturzflug durch die Ringe zu planen.«

»Sicher.«

Schließlich dämmerte das Licht der Erkenntnis auf Gaetas Gesicht. »Oh«, sagte er. »Sie hat es dir gesagt, nicht wahr?«

»Ja, sie ist darauf zu sprechen gekommen«, erwiderte Holly kühl.

Sie erreichten den Eingang des Apartmentgebäudes. Als Gaeta dort stehen blieb, wechselte die Beleuchtung des Habitats gerade vom Abend- in den Nacht-Modus. Sein Gesicht wurde in Schatten getaucht, aber Holiy entging sein Unbehagen nicht.

»Okay«, gestand er, »es ist passiert.«

»Und zwar mehr als einmal.«

Er grinste verlegen. »Mein Gott, du hörst dich an wie ein Priester, der einem die Beichte abnimmt: ›Wie oft hast du gesündigt?‹«

»Das ist nicht lustig, Manny.«

»Du hast unser Zusammensein doch auch nicht ernst genommen, oder?«

»Nein, allzu ernst habe ich es wohl nicht genommen«, sagte sie nach kurzer Überlegung — obwohl das nicht ganz stimmte.

»Ich meine, ich weiß, dass ich auf dich aufpassen sollte, aber… es ist nun einmal passiert.«

»Dir passiert wohl so einiges.«

»Dir scheint es damals aber gefallen zu haben«, sagte er leise.

Holly wurde sich erst jetzt bewusst, was er gerade gesagt hatte. »Was meinst du damit, du solltest auf mich aufpassen?«

Er holte tief Luft. »Das ist der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin, Holly. Deine Schwester wollte, dass ich ein Auge auf dich habe.«

Ihre Kinnlade klappte herunter. »Pancho? Panch hat dich angeheuert?«

Gaeta trat von einem Fuß auf den andern wie ein kleiner Junge, der bei einer Missetat ertappt worden war und sagte: »Ganz so einfach ist es nicht, Holly. Angeheuert hat sie mich in diesem Sinn nicht.«

»Sie glaubte, ich brauchte einen Leibwächter«, sagte Holly grummelnd. »Meine große Schwester hat mir nicht zugetraut, dass ich allein zurechtkomme.«

»Ich musste irgendwie die Finanzierung für den Titan-Stunt klar machen«, versuchte er ihr zu erklären, »und dann hat dieser Typ von der Astro Corporation mir ein Angebot gemacht.«

Plötzlich brandete die Absurdität der ganzen Sache wie eine Welle eiskalten Wassers gegen Holly an. Sie brach in Gelächter aus.

»Was ist denn so lustig?«, fragte Gaeta perplex.

»Du bist lustig. Und meine große Schwester. Sie hat dich angeheuert, um mich zu beschützen, und du gehst mit mir ins Bett. Mein Leibwächter. Wenn sie das herausfindet, wird sie das Bedürfnis haben, dich zu kastrieren.«

»Sie wollte, dass ich dich von Eberly fern halte, und das habe ich auch getan.«

Hollys Lachen erstarb wie ein Licht, das ausgeknipst wurde. »Pancho hat dich angeheuert — um mich von Malcolm fern zu halten?«

Er nickte verlegen.

»Und deshalb bist du mit mir ins Bett gegangen?«

»Nein! Das war nicht geplant. Du… ich… es ist einfach…«

»Einfach so passiert. Ich weiß schon.«

»Ich wollte dich doch nicht verletzen.«

»Den Teufel wolltest du«, sagte Holly schroff. »Und dann machst du dich davon und vögelst Kris und dann Nadia. Du kannst von Glück sagen, wenn du noch lange genug lebst, um den Titan zu erreichen.«

»O Gott. Weiß Kris über alles Bescheid?«

»Kris? Sicher weiß sie es. Nadia auch.«

»Dann bin ich also bei ihr diskreditiert, was?«

»Bei Nadia?«

»Bei Kris.«

»Wieso fragt du sie nicht selbst?«

Im Zwielicht war es schwer, den Ausdruck in Gaetas Gesicht zu erkennen, aber der Tonfall seiner Stimme war deutlich genug: »Weil ich… mierda! Ich habe Kris wirklich gern.«

»Mehr als Nadia?«

»Mehr als sonst jemanden. Ich habe wohl ihre Gefühle verletzt, nicht wahr? Nun wird sie mich sicher hassen.«

Holly vermochte der Gelegenheit nicht zu widerstehen. »Ich glaube nicht, dass sie dich hasst. Sie wird aber sicher ein paar Nanobots konstruieren, die mit Vorliebe Hoden verspeisen, doch sonst glaube ich nicht, dass sie böse auf dich ist.«

»Ich kann es ihr nicht einmal verdenken«, nuschelte Gaeta. Dann wandte er sich ab und ging mit hängendem Kopf zu seiner Unterkunft. Holly hatte fast Mitleid mit ihm. Aber nur fast.

Jeder versucht, mich von Malcolm fern zu halten, sagte Holly sich, als sie sich zum Schlafengehen auszog. Pancho, Manny, Morgenthau — alle wollen sie verhindern, dass Malcolm und ich zusammenkommen.

Als sie sich ins Bett legte und das Licht ausschaltete, fragte sie sich, ob sie Malcolm noch immer so liebte wie an jenem Tag, als sie an Bord des Habitats gekommen war. Er ist so distanziert und nimmt keine Notiz mehr von mir. Er scheint fast vergessen zu haben, dass es mich überhaupt gibt. Andererseits hat er auch so viel zu tun. Dieser Politikkram nimmt seine ganze Zeit in Anspruch. Als wir uns zum ersten Mal begegneten und die Reise in diesem Habitat antraten, war es noch ganz anders. Damals konnte ich ihn immer sehen, und er hatte mich auch gern — ich weiß, dass er mich gern hatte.

Aber wie kann er mich jetzt noch gern haben oder auch nur an mich denken, wenn er mich nie sieht? Er ist immer von Morgenthau und dieser Schlange Vyborg umgeben. Und von diesem schrecklichen Kananga.

Wie soll ich an ihnen vorbeikommen? Wie schaffe ich es, mit Malcolm allein zu sein, auch wenn es nur für ein paar Minuten wäre?

Ihre Gedanken schweiften zu ihrer Schwester ab. Sie hat Manny angeheuert. Sie zahlt ihm Geld dafür, mich von Malcolm fern zu halten. Er hat es für Geld mit mir getrieben, dieser dreckige… Holly suchte nach der männlichen Entsprechung für das Wort ›Hure‹.

Sie lag im Bett und starrte in die Dunkelheit. Pancho will mich also von Malcolm fern halten, sagte sie sich. Aber ich werde es dir schon zeigen. Ich werde zu Malcolm durchkommen. Ich werde am Nilpferd und der Schlange und sogar an Kananga, dem Panther, vorbeikommen.

Und plötzlich ging ihr ein helles Licht auf, und sie wusste, wie sie das bewerkstelligen würde.

Mitternacht — erster Akt

Holly stieg aus dem Bett und kleidete sich schnell an. Sie musste keinen Routenplaner befragen, um zu wissen, wo Eberlys Quartier war; sie hatte die komplette Landkarte des Habitats gespeichert, jeden Quadratzentimeter, jedes Apartment und Labor, jede Werkstatt und Luftschleuse und sogar das Labyrinth der unter der Oberfläche verlaufenden Tunnel und Schächte.

Trotzdem zögerte sie, bevor sie das Apartment verließ. Die Uhr zeigte drei Minuten vor Mitternacht an, aber sie sagte sich, dass sich wahrscheinlich noch immer eine Menge von Verehrern und Gratulanten in Eberlys Unterkunft versammelt hatten. Warte besser noch etwas. Warte, bis alle gegangen sind.

Also ging sie erst einmal in ihr Büro und legte die Überwachungs-Kamera auf ihren Computer, die Eberlys Haus kontrollierte. Tatsächlich herrschte dort noch Hochbetrieb. Sein Apartment muss gerammelt voll sein, sagte Holly sich.

Schläfrig verfolgte sie, wie die Menge sich langsam zerstreute. Dann schlief sie ein und schreckte irgendwann aus dem Schlaf. Die Digitaluhr zeigte 2:34 Uhr an. Das Apartmentgebäude lag nun dunkel und still. Er schläft wahrscheinlich schon, sagte Holly sich. Für eine Weile war sie unschlüssig, ob sie ihn aufwecken sollte. Er arbeitet so hart, sagte sie sich; er braucht seinen Schlaf.

Andererseits wirst du ihn so nie allein sprechen, sagte Holly sich. Sie wies das Telefon an, Eberly anzurufen.

›Sie sind mit dem Quartier von Dr. Malcolm Eberly verbunden‹, sagte der Anrufbeantworter. ›Hinterlassen Sie bitte ihren Namen; Dr. Eberly wird Sie dann zurückrufen.‹

So wird das nichts, sagte Holly sich. Sie erhob sich vom Bürostuhl und machte sich auf den Weg zu seinem Apartment.

Der Haupteingang des Gebäudes war mit einem Sicherheitsschloss versehen, das aber kein Hindernis für Holly darstellte. Sie hatte schon vor langer Zeit alle möglichen Kombinationen gespeichert und tippte die Zahlen nun ein. Die Tür ging auf. Als sie die Treppe hinaufging, schoss ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Vielleicht ist er gar nicht allein! Vielleicht ist jemand bei ihm.

Ich sollte mir einfach Klarheit verschaffen, sagte sich Holly mit einem Kopfschütteln. Sie ging den Flur entlang, der nur vom Glühen der fluoreszierenden Namensschilder an den Türen erleuchtet wurde. Eberlys Apartment war am Ende des Korridors gelegen.

Sie atmete durch und klopfte an die Tür. Keine Reaktion. Holly schlug mit der flachen Hand dagegen; sie befürchtete zwar, dass das Geräusch die Nachbarn wecken würde, aber sie war entschlossen, Eberly aufzusuchen.

Sie hörte hinter der Tür jemanden husten. Dann ertönte Eberlys gedämpfte Stimme: »Wer da?«

»Holly«, sagte sie und stellte sich direkt vor den Türspion.

Eberly schob die Tür zurück. Er hatte sich in einen dunklen Morgenmantel gekleidet, und das Haar war leicht zerzaust.

»Es gibt auch eine Klingel«, sagte er ungehalten.

»Ich muss Sie sprechen«, sagte sie. »Es ist dringend.«

Als ob er sich wieder seiner Umgangsformen entsinnen würde, bedeutete Eberly ihr, ins Wohnzimmer zu gehen. Mit einem Fingerschnippen schaltete er die indirekte Deckenbeleuchtung an. Nun sah Holly, dass der Morgenmantel kastanienfarben war. Und er selbst war barfuß.

»Was gibt's, Holly? Was ist denn los?«

»Es tut mir Leid, Sie um diese Zeit zu stören, Malcolm, aber ich komme sonst nicht an Morgenthau und Ihren anderen Assistenten vorbei und ich brauche Ihre Hilfe und dies war die einzige Möglichkeit, allein mit Ihnen zu sprechen.«

Er lächelte verhalten und strich sich das Haar zurück. »In Ordnung. Nun sprechen Sie mich also. Wo liegt das Problem?«

»Diego Romero. Er wurde ermordet.«

»Ermordet?« Eberly schien weiche Knie zu bekommen. Er ließ sich aufs Sofa sinken.

Holly setzte sich auf den Stuhl, der ihm am nächsten stand und sagte: »Ich bin mir sicher. Es war kein Unfall. Er versuchte, sich aus dem Wasser zu stemmen und jemand hat ihn hinuntergedrückt.«

Eberly schluckte sichtlich und fragte dann: »Haben Sie dafür Beweise?«

»Ich habe Indizien. Die Abschürfungen an seinen Händen. Er kann sie sich nur so zugezogen haben.« Sie ließ die Szene noch einmal Revue passieren und fügte hinzu: »Und es gab Fußspuren im Schmutz — Abdrücke von einer weiteren Person.«

»Aber wer hätte diesen netten alten Mann denn umbringen sollen? Wieso hätte irgend jemand ihn ermorden sollen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Holly. »Deshalb brauche ich ja Ihre Hilfe. Man sollte eine Untersuchung durchführen.«

Er saß für einen Moment schweigend da und dachte offensichtlich angestrengt nach. »Holly, dies ist ein Fall für die Sicherheitsabteilung. Sie sollten Ihre Indizien dort melden.«

»Sicherheitsabteilung? Also Kananga, nicht wahr?«

»Ja, er leitet die Sicherheitsabteilung.«

»Ich glaube nicht, dass er mich ernst nehmen würde«, sagte Holly händeringend. »Er… er würde meine Indizien nicht für ausreichend halten, um eine Untersuchung in die Wege zu leiten.«

Eberly lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Oberst Kananga ist ein erfahrener Polizist. Er wird schon wissen, was zu tun ist.«

»Malcolm, er macht mir Angst«, gestand sie.

Er sagte zunächst nichts und schaute Holly mit diesen strahlend blauen Augen an. Dann lächelte er freundlich. »Holly, möchten Sie, dass ich Sie zu Kananga begleite?«

Ihr Herz verkrampfte sich in der Brust. »Würden Sie das wirklich für mich tun?«

»Natürlich würde ich das für Sie tun, Holly.«

»Großartig. Kosmisch!«

Eberlys Lächeln wurde noch herzlicher. »Ich werde Kananga gleich morgen früh anrufen.« Sein Blick wanderte zur Digitaluhr an der Wand. »Das ist ja schon in ein paar Stunden.«

Sie sprang auf. »Meine Güte, es tut mir furchtbar Leid, dass ich Sie zu dieser nächtlichen Stunde belästigt habe, Malcolm. Es ist nur so, dass ich sonst nicht zu Ihnen durchkomme, weil Sie immer von so vielen Menschen umgeben sind, und…«

Eberly erhob sich und drückte sanft ihre Schulter. »Ich weiß. Ich habe immer so viel Arbeit. Zu viel Arbeit. Aber für Sie nehme ich mir immer Zeit, Holly. Rufen Sie mich einfach hier in meiner Unterkunft an. Hinterlassen sie eine Nachricht, und ich werde Sie zurückrufen und einen privaten Termin mit Ihnen vereinbaren.«

Ihr fehlten die Worte. »Kosmisch« war das Einzige, was sie hervorzubringen vermochte.

Eberly brachte sie zur Tür. »Ich möchte nicht, dass Sie sich wegen irgend etwas Sorgen machen, Holly. Wir werden morgen mit Kananga reden. Und wenn Sie in Zukunft mit mir sprechen möchten, hinterlassen Sie einfach eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter.«

»Das werde ich tun, Malcolm. Das werde ich ganz bestimmt tun.«

Als sie beschwingt nach Hause ging, sagte Holly sich, wie sehr Pancho sich doch geirrt hatte und wie dumm sie gewesen war. Malcolm hätte mich in sein Bett ziehen können, und ich wäre reingesprungen wie ein liebestolles Kaninchen, sagte sie sich. Aber Malcolm ist viel zu sehr Gentleman, um auch nur daran zu denken. Und der Typ, den Panch angeheuert hat, um mich zu beschützen, vögelt mich, wenn ihm gerade danach ist. Ein schöner Leibwächter.

Mitternacht — zweiter Akt

Manuel Gaeta ging auch noch nicht zu Bett. Als er seine Unterkunft erreichte, hatte er sich zu dem Entschluss durchgerungen, Kris Cardenas anzurufen und ihr alles zu gestehen.

»Darf ich dich aufsuchen, Kris? Ich muss dich sprechen«, sagte er zu ihrem Bild, das in der Mitte seines Einraum- Apartments schwebte. Sie trug noch immer die Hose und Bluse, die sie früher am Abend angehabt hatte. Dann wurde Gaeta sich bewusst, dass sie gar nicht in ihrem Apartment war; der Anruf war zu ihrem Labor weitergeleitet worden.

Cardenas schaute leicht verwirrt. »Sicher, Manny. Und wann?«

»Jetzt gleich.«

»Jetzt gleich?« Sie schien erst einmal darüber nachdenken zu müssen. »In Ordnung, komm rüber ins Labor. Ich warte dort auf dich.«

»Super!«

Auf halbem Weg erinnerte Gaeta sich an Hollys Witz über die Hoden fressenden Nanobots, die Kris angeblich entwickeln würde. Er lachte stumm. He, Mann, sagte er sich, du lebst mit der Gefahr. Dieses Leben hast du dir selbst ausgesucht.

Cardenas lachte indes nicht, als sie die verschlossene Tür zu ihrem Labor öffnete. Trotz der späten Stunde schaute sie noch immer wie aus dem Ei gepellt aus, wirkte aber todernst.

»Was hast du denn auf dem Herzen, Manny?« fragte sie und führte ihn an einer Reihe von Labortischen und blitzblanker Ausrüstung aus Kunststoff und Metall vorbei.

»Dich«, sagte er.

Cardenas setzte sich auf einen hohen Drehstuhl und wies Gaeta einen harten, unbequemen Stuhl zu. Er zog es jedoch vor, stehen zu bleiben.

»Dann denkst du also…« — sie schaute auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand — »um halb eins in der Früh nur an mich.«

Gaeta verschränkte die Arme über der Brust. »Komm schon, Kris, lass den Quatsch. Holly sagte mir, dass du über sie und über Nadia Bescheid wüsstest.«

»Ich kann mir vorstellen, dass du bei deinen Kumpels mit deinen Trophäen hausieren gehst.«

»Ich habe niemandem auch nur ein Wort gesagt. Du bist in der gleichen Umgebung wie ich aufgewachsen und hast gelernt, den Mund zu halten.«

Sie musterte ihn mit einem Ausdruck des Unglaubens. Aber da war noch etwas anderes, sagte er sich. Neugier? Vielleicht sogar Bedauern?

»Du sollst nur wissen«, sagte er, »dass du der einzige Mensch bist, der mir etwas bedeutet. Du bist der Einzige, den ich nicht verlieren will.«

Das traf sie unvorbereitet. »Du beliebst zu scherzen!«

»Das ist kein Scherz, Kris«, sagte er. »Das habe ich in meinem ganzen Leben noch zu niemandem gesagt. Ich glaube, dass ich dich liebe.«

Cardenas setzte zu einer Antwort an; dann schloss sie den Mund wieder und presste die Lippen zusammen.

»Das ist mein voller Ernst«, sagte Gaeta. »Das habe ich bisher noch zu niemandem gesagt.«

»Ich hätte nicht geglaubt, dass das jemals noch jemand zu mir sagen würde«, erwiderte sie schließlich so leise, dass er sie kaum hörte.


Ruth Morgenthau wäre lieber ins Bett gegangen, aber sie hatte den Auftrag, Videos anzuschauen und aufgezeichnete Telefongespräche abzuhören. Eberly wollte unbedingt Ergebnisse sehen, und sie war entschlossen, das gesamte Material durchzugehen, das Vyborg über die Kommunikation von Professor Wilmot zusammengestellt hatte. Also setzte sie sich in ihren gemütlichen Liegesessel und widerstand dem Drang, ihn umzulegen und einzuschlafen. Ich habe schon zu viel auflaufen lassen, sagte sie sich. Ich muss den ganzen Kram abarbeiten, sonst nimmt es noch überhand.

Eigentlich könnte Vyborg das doch übernehmen, sagte sie sich, während die Zeit träge verstrich. Er hat schließlich die Wanzen angebracht, und seine Leute haben die Kameras in Wilmots Unterkunft und Büro installiert. Wieso wühlt er sich nicht durch diesen Mist? Aber sie wusste die Antwort schon: Falls Vyborg etwas fand, würde er sich bei Eberly profilieren. Morgenthau schüttelte gewichtig den Kopf. Nein, so geht das nicht. Wenn irgend jemand Wilmot zu Fall bringt, dann muss ich es sein. Eberly muss sehen, dass ich es getan habe. Kein anderer außer mir.

Sie machte sich Sorgen wegen Eberlys Engagement für ihre Sache. Ihm scheint es wichtiger zu sein, seine Eitelkeit zu pflegen, als sich für die Belange der Heiligen Jünger einzusetzen. Gewiss, er ist Amerikaner, und die sind schließlich alle narzisstische Individualisten, aber er unterliegt dennoch den Geboten ihrer Neuen Moralität.

Noch ein Grund, die Sache selbst zu erledigen, sagte sie sich. Wenn ich ihm etwas bringe, das er gegen Wilmot verwenden kann, wird Eberly sehen, dass er mich braucht. Vyborg und dieser Mörder Kananga sind zwar in mancherlei Hinsicht nützlich für ihn, aber ich muss ihm klar machen, dass er von mir abhängig ist. Ein Wort von mir könnte ihn ins Gefängnis zurückschicken, aber er behandelt mich wie eine seiner Untergebenen. Andrerseits ist er clever genug, um zu wissen, dass ich das niemals tun würde. Wenn ich ihn abschieße, würde das nämlich das Ende der ganzen Mission bedeuten. Dann würden Urbain oder dieser bärbeißige Russe zum Anführer des Habitats gewählt, und ich hätte auf der ganzen Linie versagt.

Eberly respektiert meine Fähigkeiten nicht. Er hält mich für faul und inkompetent. Nun gut, wenn ich ihm Wilmot ans Messer liefere, wird er seine Meinung über mich schon ändern müssen.

Morgenthau betete still um Hilfe und Erfolg. Lass mich etwas finden, das wir gegen Wilmot verwenden können, betete sie. Zum größeren Ruhme Gottes, lass mich einen Weg finden, den Professor in die Knie zu zwingen.

Erhört wurde ihr Flehen aber erst, nachdem sie Wilmot stundenlang an seinem Schreibtisch observiert, seine Telefongespräche belauscht und die Berichte gelesen hatte, bevor er sie verschlüsselt an die Erde sandte. Jeden Abend schaute der Professor sich stundenlang Videos an. Morgenthau spulte sie im schnellen Vorlauf vor. Sie vermochte sie aus der Perspektive der Kamera, die in der Decke von Wilmots Wohnzimmer installiert war, nicht klar zu sehen, und den Ton vermochte sie auch nicht zu hören, weil Wilmot sich nämlich einen Ohrhörer ins Ohr gestöpselt hatte. Stundenlang schaute er sich diese Videos an.

Und stundenlang sichtete Morgenthau die Videos auf der Suche nach etwas Greifbarem, Sündigem oder Illegalem oder auch nur Peinlichem — irgend etwas, mit dem man Professor Wilmot kompromittieren konnte.

Zu Tode gelangweilt und übermüdet gähnte Morgenthau und rieb sich die Augen unter den schweren Lidern. Ich kann nicht länger wach bleiben, sagte sie sich. Genug ist genug.

Sie schaltete den Monitor aus, der den noch immer gebannt auf seine Unterhaltungsvideos starrenden Wilmot zeigte, und wollte sich schon aus dem Liegesessel erheben. Dann fiel ihr jedoch ein, dass sie noch überprüfen musste, ob Wilmot irgendwelche Nachrichten vom Habitat zur Erde gesendet hatte. Sie wusste, dass er jede Woche einen verschlüsselten Report an irgendeine Stelle in Atlanta schickte. Mit einem kryptischen Inhalt — auch nachdem der Computer die Berichte entschlüsselt hatte. Es war schon seltsam, dass der Unbekannte, dem Wilmot berichtete, in derselben Stadt residierte wie das Hauptquartier der Neuen Moralität. Morgenthau tat das mit einem Achselzucken als bloßen Zufall ab.

Im Halbschlaf rief sie die Datei mit den versandten Nachrichten auf. Außer dem üblichen kurzen Bericht für Atlanta gab es diesmal eine noch kürzere Mitteilung an irgendeine Adresse in Kopenhagen. Und er hatte sie auch nicht über die übliche Funkverbindung gesandt, sondern über eine gebündelte Laserstrecke.

Plötzlich war Morgenthau wieder hellwach und wählte die gleiche Nummer in Kopenhagen an, um den Empfänger von Wilmots Botschaft ausfindig zu machen.


»Sie weiß Bescheid?«, fragte Vyborg entsetzt.

»Sie hat zumindest einen Verdacht«, erwiderte Eberly, der zwischen Vyborg und Kananga den gewundenen Pfad entlangging.

Für einen flüchtigen Beobachter schienen die drei Männer einen gemütlichen Spaziergang auf dem von Blumen gesäumten Pfad unterhalb von Athen zu machen. Spätmorgendliches Sonnenlicht strömte durch die Sonnenfenster des Habitats. Bienen summten zwischen den Hyazinthen und Stockrosen, und Schmetterlinge flatterten umher. Der kleine, dürre Vyborg ging leicht vornüber gebeugt und schaute grimmig wie jemand, der gerade etwas Ekliges verschluckt hatte. Selbst der große, majestätische Kananga auf Eberlys anderer Seite schaute etwas besorgt.

»Und sie hat Sie um Hilfe gebeten«, sagte Kananga.

Eberly nickte bedächtig. »Ich habe ihr angeboten, sie in Ihr Büro zu begleiten.«

»Nicht im Büro«, sagte Kananga. »Es gibt dort zu viele neugierige Augen. Wir werden uns an einem verschwiegenen Ort treffen müssen.«

»Und wo?«, fragte Eberly.

»Wie war's am Ort des Verbrechens?«, schlug Vyborg vor.

Kananga lächelte strahlend. »Perfekt.«

Eberly schaute von einem zum andern. Sie wollen mich in ihre kriminellen Machenschaften verstricken, wurde er sich bewusst. Sie wollen mich zum Komplizen bei einem weiteren Mord machen. Aber welche Alternative hätte ich? Wie kann ich mich da raushalten?

»Ich sage ihr, dass wir uns an dem Ort treffen werden, wo der alte Mann gestorben ist — aber ich werde selbst nicht dort erscheinen«, sagte er.

»Dafür werde ich da sein«, sagte Kananga.

»Sie muss aber auf Nimmerwiedersehen verschwinden«, sagte Eberly. »Für noch einen Toten wird uns keine plausible Ausrede mehr einfallen.«

»In einem so großen Habitat wie diesem muss es doch ein paar tausend Örtlichkeiten geben, wohin sie verschwunden sein kann«, sagte Vyborg.

»Ich will nicht, dass ihre Leiche gefunden wird«, wiederholte Eberly.

»Das wird sie auch nicht«, sagte Kananga. »Wozu gibt es schließlich Luftschleusen.« Er schaute an Eberly vorbei auf Vyborg. »Du wirst es doch schaffen, die AufZeichnungen der Luftschleusen-Überwachungskamera zu löschen, oder?«

Vyborg nickte. »Ich werde sie durch unverfängliches Bildmaterial ersetzen.«

»Gut«, sagte Kananga.

Eberly holte tief Luft. »Sehr gut. Wann soll es über die Bühne gehen?«

»Je eher, desto besser.«

»Also heute Nachmittag.«

»Vierzehnhundert Uhr«, schlug Kananga vor.

»Wir sollten es früher erledigen«, sagte Vyborg, »wenn die meisten Leute beim Mittagessen sind.«

»Ja«, pflichtete Kananga ihm bei. »Sagen wir zwölf- hundertdreißig.«

»Gut.«

Vyborg lächelte erleichtert.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Eberly.

»Aber es muss getan werden.«

»Ich weiß. Deshalb helfe ich euch ja.«

»Uns helfen?«, fragte Vyborg. »Was tun Sie denn schon, um uns zu helfen? Der Oberst hier tut, was getan werden muss. Sie sitzen doch nur in Ihrem Büro und verschaffen sich dadurch ein Alibi.«

Eberly schaute kalt auf Vyborg hinab. »Ich will Ihnen sagen, weshalb ich im Büro sitze: Ich werde Holly Lanes Dossier frisieren. Und zwar dahingehend, dass sie emotional instabil ist und sogar schon einen Selbstmordversuch hinter sich hat.«

Kananga lachte laut. »Eine sehr gute Idee. Dann wird ihr Verschwinden keinen Verdacht erwecken.«

»Sorgt nur dafür, dass ihre Leiche nicht gefunden wird«, sagte Eberly schroff.

»Das wird sie schon nicht«, sagte Kananga, »es sei denn, es würde jemand in einen Raumanzug steigen und ein paar Millionen Kubikkilometer Weltraum absuchen wollen.«

19 Tage bis zur Ankunft

Holly und Eberly gingen an den ordentlichen Baumreihen des Gartens vorbei zu der Stelle am Bewässerungskanal, wo sie Don Diego gefunden hatte. Holly brauchte weder eine Karte noch einen Routenplaner; sie erinnerte sich noch genau an den Ort.

»Was hat Kananga denn herausgefunden?«, fragte sie.

Eberly hob die hängenden Schultern. »Ich weiß nicht. Er sagte, er wolle nicht am Telefon darüber sprechen.«

»Muss etwas Wichtiges sein«, sagte sie und beschleunigte ihre Schritte.

»Muss es wohl.« Eberly berührte den Palmtop in der Brusttasche des Gewands. Er wartete auf einen Anruf von Vyborg, der ihm einen Vorwand lieferte, Holly zu verlassen und ins Büro zurückzugehen. Wieso ruft er nicht an? Will er etwa dafür sorgen, dass ich persönlich in diese Sache verwickelt werde? Will er mich zum Zeugen von Hollys Ermordung machen? Zum Komplizen?

Holly fiel seine Nervosität nicht auf. »Ich frage mich, worum es sich wohl handelt?«

»Worum es sich wobei handelt?«, fragte Eberly mit wachsender Ungeduld.

»Um das, was Kananga gefunden hat.«

Deinen Tod, erwiderte er stumm. Er wird dich töten und mich daran teilhaben lassen.

»Warten Sie«, sagte Eberly und fasste Holly am Arm.

»Was ist denn, Malcolm?«

Er blieb stehen und spürte, wie kalter Schweiß über der Oberlippe und auf der Stirn perlte und am Körper hinunterlief. Ich kann das nicht tun, sagte er sich. Ich darf nicht zulassen, dass sie mich so tief in diese Sache hineinziehen.

»Holly, ich…« Was sollte er sagen? Wie soll ich aus dieser Sache herauskommen, ohne ihr alles zu sagen?

Sein Palmtop summte. Fast ekstatisch vor Erleichterung fischte Eberly ihn aus der Tasche des Gewands und klappte ihn auf.

Statt Vyborgs dunklem, griesgrämigem Gesicht erschien jedoch Morgenthau auf dem winzigen Monitor. Sie lächelte breit. »Ich habe was gefunden«, sagte sie ohne Umschweife. »Seine Unterhaltungsvideos. Sie sind…«

»Ich bin mit Holly draußen im Garten«, unterbrach er sie in einem gekünstelten Kasernenhofton, der dicht unterhalb der Schwelle zum Brüllen lag. »Was haben Sie herausgefunden? «

Morgenthau schaute im ersten Moment pikiert, schien sich dann aber einen Reim darauf zu machen. »Es handelt sich um einen wichtigen Durchbruch«, sagte sie. »Zu kompliziert, um es am Telefon zu besprechen. Ich muss es Ihnen in allen Einzelheiten zeigen, damit Sie sie mit Professor Wilmot erörtern können.«

»Ist es denn dringend?«, fragte er.

»O ja, sogar sehr dringend.« Morgenthau verstand den imaginären Wink mit dem Zaunpfahl. »Ich schlage vor, dass Sie sofort in mein Büro kommen. Die Sache kann nicht warten.«

»Also gut«, sagte er scharf. »Wir treffen uns in Ihrem Büro.«

Er schaltete den Palmtop aus und schaute zu Holly auf. »Ich muss leider umkehren. Treffen Sie sich schon einmal mit Kananga. Ich werde so bald wie möglich nachkommen.«

Holly war offensichtlich enttäuscht, aber sie nickte verständnisvoll. Wortlos machte Eberly kehrt und ging schnell zum Dorf zurück, wobei er beschwingt zwischen den Bäumen hindurchschritt. Verwirrt drehte Holly sich um und ging zum Bewässerungskanal weiter. Dann wurde sie sich bewusst, dass sie Kananga allein gegenübertreten würde. Die Aussicht gefiel ihr zwar nicht, aber sie wollte unbedingt herausfinden, was der Sicherheitschef über Don Diegos Tod in Erfahrung gebracht hatte.

Nein, nicht über seinen Tod, sagte Holly sich. Über seine Ermordung.


Manuel Gaeta fühlte sich unbehaglich — was ihm in seinem bisherigen Leben noch nicht allzu oft passiert war. Während er den Gang entlang zu Nadia Wunderlys kleinem Büro ging, war er nervös wie ein Teenager vor seiner ersten Verabredung. Wie ein kleiner Junge, der zur Beichte geht.

Die Tür mit der Aufschrift PLANETENWISSENSCHAFTEN stand weit offen. Der Bereich dahinter war ein Labyrinth aus schulterhohen Trennwänden, zwischen denen Wissenschaftler und ihre Assistenten konzentriert arbeiteten. Gaeta war schon oft genug hier gewesen, um den Weg zu kennen, doch an diesem Morgen war er so verwirrt und orientierungslos, dass er sich durchfragen musste. Alle schienen zu wissen, wer er war, und wiesen ihm lächelnd den richtigen Weg. Er hatte den Eindruck, dass die Frauen besonders warmherzig lächelten.

Dafür ist jetzt keine Zeit, rief er sich zur Ordnung.

Gaeta fühlte sich irgendwie wie eine Maus im Labyrinth eines Psychologen; schließlich erreichte er Wunderlys winziges Büro, das im hintersten Winkel des Raums gelegen war.

»Guten Morgen, Manny«, sagte sie und schaute kaum auf, als er am Eingang stehen blieb.

»Hi«, sagte er so fröhlich, wie es ihm nur möglich war. »Hast du die Ergebnisse für mich?«

Sie nickte ernst. Unaufgefordert setzte Gaeta sich auf den wackeligen kleinen Plastikstuhl an der Seite des Schreibtischs. Suma friadad, sagte er sich. Eine Eiseskälte hier drin.

Wunderly projizierte eine Reihe von Tabellen auf die Trennwand, die zugleich die Rückwand des Büros bildete. »Das sind die Frequenzen der Teilchen im hellsten Gürtel, dem B-Ring, mit einer Größe von über zehn Zentimetern«, sagte sie mit einer monotonen Stimme, die so emotionslos klang wie eine Maschine. »Und hier sind die Ableitung, die sie…«

»Ich kann es dir nicht verdenken, dass du sauer auf mich bist«, unterbrach er sie.

Sie blinzelte langsam, geradezu feierlich mit den großen grauen Augen.

»Ich weiß, dass du und Kris euch unterhalten habt.«

»Auch mit Holly.«

Er gestand es mit einem Achselzucken und einem schrägen jungenhaften Lächeln ein. »Ja, auch mit Holly.«

»Und weiß Gott mit wem sonst noch.«

»Moment mal«, sagte er und hob beschwichtigend die Hand. »Die Sache ist doch so schon schlimm genug. Da muss man sie nicht noch unnötig aufbauschen.«

»Ich will nicht darüber sprechen«, sagte Wunderly.

»Ich möchte mich bei dir entschuldigen.«

Sie schaute ihn für einen Moment finster an. »Ich will nicht darüber sprechen«, wiederholte sie. »Nie wieder.«

»Aber ich…«

»Nie wieder, Manny!« Ihre Augen blitzten. Er wurde sich bewusst, dass sie es ernst meinte.

Wunderly holte tief Luft und sagte: »Unsere Beziehung ist von nun an rein geschäftsmäßig. Du willst einen Sturzflug durch die Ringe machen, und ich will die Ringe einer breiten Öffentlichkeit präsentieren. Wir werden bei dieser Sache rein beruflich zusammenarbeiten. Keine persönlichen Momente. Verstanden?«

»Verstanden«, sagte er matt.

»Mit etwas Glück bekomme ich einen Batzen Fördergeld, um die Ringe zu studieren, und du brichst dir den Hals.«

Gaeta grinste sie an, obwohl ihm eigentlich nicht danach war. »Mit etwas Glück«, sagte er.


Holly ging zur Stelle im Bewässerungskanal, wo Don Diego ermordet worden war. Als sie die Böschung hinabging, hielt sie Ausschau nach Kananga. Er war nirgendwo zu sehen.

Er ist nicht da, sagte sie sich. Was geht hier vor?

Dann sah sie seine große, schlanke Gestalt vielleicht hundert Meter entfernt auf der Böschung auf sie warten. Wie immer war er ganz in Schwarz gekleidet: das Gewand, die Hose, die Stiefel — alles kohlrabenschwarz.

»Hallo«, rief sie.

Kananga kam auf sie zu.

»Das ist die Stelle, genau hier«, rief Holly. »Dort bei den Pfirsichbäumen.«

»Sind Sie sicher«, rief Kananga zurück.

»Ich erinnere mich an jede Einzelheit.«

Er blieb eine Armlänge von ihr entfernt stehen. »Sie haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis.«

»Ein fotografisches«, sagte Holly und versuchte ihre Nervosität angesichts des über ihr dräuenden Kananga zu verbergen. Sie sah, dass die Abdrücke, die seine Stiefel im Schmutz hinterließen, mit denen am Ort des Verbrechens identisch waren.

»Und an dieser Stelle« — er streckte den Arm aus und wies in die entsprechende Richtung — »haben Sie wohl die Leiche des alten Manns gefunden.«

Holly deutete etwas mehr nach links. »Dort drüben. Dort war es.«

»Ich verstehe.« Er packte Holly. Eine große Hand presste er ihr aufs Gesicht und hielt ihr die Nase und den Mund zu, während er den anderen Arm um ihre Hüfte schlang und ihr die Arme an den Körper drückte. Dann hob er sie hoch.

Kampf oder Flucht

Ich bekomme keine Luft mehr! Kananga hatte Holly seine Pranke aufs Gesicht gepresst und drohte sie zu ersticken. Sie zappelte mit den Beinen und versuchte ihn zu treten, doch die in weichen Stiefeln steckenden Füße prallten harmlos an seinen langen, muskulösen Beinen ab.

Kananga drückte Holly die Arme gegen die Hüften und trug sie zum Kanal hinunter. Sie schnappte verzweifelt nach Luft, aber seine Hand umklammerte sie immer stärker wie eine Schraubzwinge.

Holly strich mit der rechten Hand über Kanangas Hose. Ohne bewusste Überlegung tastete sie nach seinen Genitalien, packte sie und drückte mit aller Kraft zu. Er jaulte auf und ließ sie fallen. Holly landete auf den Zehenballen und wirbelte zu ihm herum. Kananga hatte sich zusammengekrümmt, und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Sie trat ihn mit aller Kraft, die sie aufzubringen vermochte, an die Schläfe.

Kananga ging zu Boden. Meine Güte, sagte Holly sich. Ich muss auf der Erde ein Kampfsporttraining absolviert haben. Kananga richtete sich stöhnend auf den Knien auf. Holly versetzt ihm noch einen Tritt, dann ließ sie von ihm ab. So schnell sie konnte rannte sie die schräge Betonwand des Bewässerungskanals entlang, wobei sie zum Teil durchs Wasser lief und versuchte, sich möglichst schnell möglichst weit von Kananga zu entfernen.


Als Eberly das Verwaltungsgebäude erreichte, war seine Nervosität zum größten Teil verflogen. Kananga hat sie getötet. Das geht auf seine Kappe, nicht auf meine. Niemand weiß, dass ich ihm Holly zugeführt habe. Nicht einmal Morgenthau weiß es. Falls Kananga erwischt wird, werde ich alles bestreiten.

Er betrat die Human-Resources-Abteilung und ging an den vier klerikalen Gestalten vorbei, die an Schreibtischen saßen. Die Tür zu Morgenthaus Büro war geschlossen; er schob sie auf, ohne vorher anzuklopfen.

Sie schaute verärgert vom Schreibtisch auf. Als sie aber sah, dass Eberly die Störung verursacht hatte, setzte sie ein Lächeln für ihn auf.

Er schaute sich um, bevor er die Tür wieder zuschob und sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch setzte. Das war einmal mein Büro, sagte er sich und stellte fest, dass Morgenthau die Wände mit Holo-Kopien von Monets Kirchengemälden verziert hatte.

»Sie haben etwas über Wilmot herausgefunden?«, fragte er ohne eine Begrüßung. Er musste Morgenthau zu verstehen geben, wer hier der Häuptling war. Sonst würde sie vielleicht noch ihre Verbindung zu den Heiligen Jüngern spielen lassen und versuchen, ihm Vorschriften zu machen.

»Etwas, das ihn vernichten kann«, sagte Morgenthau mit einem diabolischen Grinsen.

Eberly zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. »Wirklich?«

»Wirklich.« Morgenthau projizierte eine Liste von Titeln auf eine freie Stelle an der Wand. Jedem Titel war ein Bild beigefügt.

Eberly starrte mit offenem Mund auf die Bilder.

»So ein Schmutz«, sagte Morgenthau. »Er schaut diese ekelhaften Videos jeden Abend an, bevor er zu Bett geht.«

»Sind Sie sicher?«

Sie nickte mit grimmigem Gesicht. »Jeden Abend. Ich habe alle Kamera-Aufzeichnungen.«

Eberly brach in Gelächter aus. »Wir haben ihn!«, krähte er. »Wir haben Wilmot in der Hand.« Und dann ballte er die Hände so fest zur Faust, dass es schmerzte.


»Ich habe vielleicht eine Prellung.« Kananga hatte sich auf dem Sofa in Vyborgs Apartment ausgestreckt und ließ die langen Beine über den Rand des Möbels baumeln. Er hatte hämmernde Kopfschmerzen, und das Gesicht war stark angeschwollen.

Vyborg brachte dem Oberst ein nasses Handtuch. Er musste sich auf die Lippen beißen, um den verdammten Idioten nicht lauthals zu verfluchen. Lässt sich von einem kleinen Mädchen zusammenschlagen und sie entwischen! Nun weiß sie doch mit Sicherheit, dass Rivera ermordet wurde. Er sagte aber nichts. In der miesen Stimmung, in der Kananga ist, kommt er vielleicht noch auf die Idee, mich zu erwürgen, wenn ich ihm sage, was ich wirklich von ihm halte.

»Wohin ist sie verschwunden? Wo ist sie jetzt?«, fragte Vyborg mit leiser, zischender Stimme. »Das ist im Moment die dringlichste Frage.«

»Du musst Eberly Bescheid sagen.«

»Muss ich das? Wieso nicht du? Du bist doch derjenige, der sie hat entkommen lassen.«

»Du sagst es ihm«, sagte Kananga mit einem harten und entschlossenen Gesichtsausdruck.

Vyborg versuchte nicht mehr, den Zorn und die Abscheu zu verbergen, die er verspürte. Er stieß angewidert die Luft aus und rief: »Telefon! Verbinde mich mit Dr. Eberly, wo auch immer er ist. Notfall-Priorität.«

Innerhalb von zehn Sekunden erschien Eberlys Gesicht in der Luft überm Kaffeetisch. Er lächelte glücklich. Vyborg sah sofort, dass er in Morgenthaus Büro war.

»Ich freue mich, dass Sie anrufen«, sagte Eberly. »Ich habe nämlich wichtige Neuigkeiten für euch beide.«

»Ich habe leider auch Neuigkeiten«, sagte Vyborg. »Schlechte Neuigkeiten.«

Eberlys Lächeln verflog. Morgenthau hinter ihm wirkte plötzlich besorgt.

Es hat keinen Sinn, es hinauszuzögern, beschloss Vyborg. Sag ihm, was Sache ist. »Holly Lane ist entkommen.«

»Entkommen? Wie meinen Sie das?«

»Anscheinend ist sie eine Kampfsport-Expertin. Sie ist unserem guten Obersten hier entkommen«, sagte Vyborg mit einer Geste in Richtung Kananga, der noch immer fix und fertig auf dem Sofa lag, »und wir haben keine Ahnung, wo sie steckt.«

Eberly starrte auf die dreidimensionale Abbildung, die die Hälfte von Morgenthaus Büro ausfüllte: Vyborg stand angespannt und offensichtlich zornig da, während Kananga auf dem Sofa lag und sich ein nasses Handtuch auf die Stirn drückte.

Dann warf er einen Blick auf Morgenthau, deren Ausdruck langsam von Verwirrung zu Verstehen wechselte. Sie setzt das Puzzle zusammen, wurde Eberly sich bewusst. Nun weiß sie, dass ich in den Mordanschlag auf Holly verwickelt bin.

Eberly schüttelte sich in einer Mischung aus Wut und Furcht. »Ich will euch beide in fünf Minuten in meinem Apartment sehen«, brachte er mühsam hervor.


Holly rannte blindlings den Kanal entlang, bis die Lunge von der Anstrengung schmerzte. Sie blieb stehen, bückte sich und schnaufte schwer. Sie schaute sich um, doch es war niemand hinter ihr. Er verfolgt mich nicht, sagte sie sich erleichtert. Er ist wahrscheinlich bewusstlos nach dem Tritt, den ich ihm versetzt habe. Meine Güte, vielleicht ist er sogar tot. Sie richtete sich auf und ging die Böschung hinauf in den schattigen Garten. Geschieht ihm recht, sagte sie sich. Er hat schließlich versucht, mich umzubringen. Er muss auch Don Diego umgebracht haben. Okay, sagte sie sich. Kananga hat Don Diego getötet. Aber wieso? Sie hatte keine Ahnung. Wem soll ich es sagen? Malcolm?

Dann wurde sie sich jedoch bewusst, dass Malcolm sie zu diesem Treffen mit Kananga hierher gelotst hatte. Er hatte es überhaupt erst vorgeschlagen. Malcolm wusste, was hier vorging. Er ist ein Teil davon — wovon auch immer —, sagte sie sich.

Ihr war zum Weinen zumute. Malcolm ist in die Ermordung von Don Diego verstrickt. Und er wollte, dass Kananga mich ermordet!

Wem vermochte sie überhaupt noch zu trauen? An wen vermochte sie sich zu wenden? Ich kann auch nicht in mein Apartment zurück — da warten sie vielleicht schon auf mich. Kris! Ich werde Kris anrufen. Oder vielleicht Manny. Sie dachte darüber nach, während sie zwischen den Apfelbäumen am anderen Ende des Gartens hindurchlief. Vor ihr lagen die Reihen der Beerensträucher und dahinter der Abschluss des Habitats.

Nicht Manny, beschloss sie. Ich werde nicht wie ein hilfloses, kleines Mädchen, das den großen, starken Helden um Schutz bittet, zu ihm laufen. Außerdem würde er mir wahrscheinlich nicht glauben. Anders als Kris. Kris wird mir glauben. Aber — soll ich sie überhaupt in diese Sache verwickeln?

Sie ging weiter zum Ende des Habitats und sondierte die Optionen. Dabei stellte sie fest, dass sie nicht viele Optionen hatte. Falls Eberly dazugehört — wozu auch immer —, dann heißt das, dass Morgenthau und diese Schlange Vyborg auch dazugehören.

Im Ulmenhain am Ende des Habitats setzte Holly sich müde ins Gras und versuchte nachzudenken. Wie sie den Blick über die grüne Landschaft schweifen ließ, wirkte das Habitat genauso wie an dem Tag, als sie und Kris Cardenas hier Rast gemacht hatten. Aber es war nichts mehr wie zuvor, sagte Holly sich mit einem plötzlichen Gefühl der Leere. Ihre ganze Welt lag in Scherben. Ich wünschte, Pancho wäre hier, gestand sie sich ein. Pancho wüsste, was zu tun ist.

Holly holte den Palmtop aus der Tasche und betrachtete ihn. Es hat keinen Sinn, Pancho anzurufen; es würde fast eine Stunde dauern, bis die Nachricht sie erreichte. Und was sollte ich ihr überhaupt sagen? Hilfe, jemand versucht mich zu ermorden? Was würde das bringen?

Kris. Ich werde Kris anrufen. »Kris Cardenas«, sagte sie zum Palmtop.

Doch es tat sich nichts. Holly sah, dass der Monitor dunkel blieb. Das Gerät funktionierte nicht.

Sie haben mein Telefon deaktiviert! Wieso, fragte sie sich und gab sich auch gleich selbst die Antwort: Weil sie wollen, dass ich einen Festnetzanschluss benutze, damit sie mich lokalisieren können. Sie sind hinter mir her! Sie wollen mich aufspüren und aus dem Verkehr ziehen.

Zum ersten Mal hatte Holly richtig Angst.

Nanotech-Laboratorium

»Wir werden am darauf folgenden Tag fliegen, nachdem wir in eine Umlaufbahn um den Saturn gegangen sind«, sagte Gaeta.

Kris Cardenas, die in ihrem kleinen Büro am Schreibtisch saß, wirkte alles andere als erfreut. »Wieso denn schon so früh? Wieso warten wir nicht noch etwas und sammeln erst noch ein paar Daten?«

Gaeta lächelte sie an. »Es geht hier nicht um die Wissenschaft, Kris, sondern ums Showgeschäft. Wenn wir sofort loslegen, bekommen wir viel mehr Aufmerksamkeit und ein viel größeres Publikum. Wenn wir warten, bis diese chingado Wissenschaftler alle gewünschten Daten gesammelt haben, sind wir alt und grau, und kein Schwein wird sich mehr dafür interessieren.«

Ihre kornblumenblauen Augen funkelten. »Ich bin auch einer von diesen chingado Wissenschaftlern, Manny.«

Gaeta schürzte die Lippen und antwortete: »Du wärst eine chingada, die weibliche Form. Aber das bist du nicht. Das ist nämlich keine nette Bezeichnung, und du bist doch eine so nette Person.«

Cardenas war nicht amüsiert. »Ist es denn nicht schon gefährlich genug, ohne dass du dich gleich nach unserer Ankunft am Saturn in dieses Abenteuer stürzt?«

»Kris, ich liebe dich, aber ich glaube nicht, dass du mein Geschäft je verstehen wirst. Je gefährlicher, desto besser.«

»Bis du dich irgendwann selbst umbringst.«

»Ich werde mich schon nicht umbringen. Fritz wird das nicht zulassen. Es würde nämlich den verdammten Anzug ruinieren. Er würde mich umbringen, wenn ich das täte.«

Nun musste Cardenas doch lachen.

Raoul Tavalera steckte den Kopf über die Trennwand des Büros. »Ich mache jetzt Feierabend. Okay?«

»In Ordnung, Raoul«, sagte Cardenas.

Ein unsicherer Ausdruck umwölkte Tavaleras langes Gesicht. »Haben Sie heute Nachmittag schon von Holly gehört?«

»Nein.«

»Sie sagte, dass sie mich anrufen würde. Wir wollten zusammen zu Abend essen. Aber ich habe den ganzen Tag noch nichts von ihr gehört. Und sie geht auch nicht ans Telefon.«

»Ich dachte, wir würden heute Abend ins Nemo gehen, Kris«, sagte Gaeta, bevor Cardenas etwas zu erwidern vermochte.

»Soll mir recht sein. Ich habe auch nichts von Holly gehört, Raoul«, wandte sie sich wieder an Tavalera.

»Komisch«, sagte er. »Das sieht ihr gar nicht ähnlich, nicht anzurufen, obwohl sie es zugesagt hat.«

»Das ist wirklich seltsam«, pflichtete Cardenas ihm bei.

»Aber egal«, sagte Tavalera. »Ich mache jetzt Schluss. Der Hauptrechner arbeitet noch an den Assemblern für Dr. Urbain.«

Sie nickte. »Ich weiß. Schalten Sie noch die UV-Lampen an, bevor Sie gehen, in Ordnung?«

»Ja.«


»Also, wo ist sie?«, fragte Eberly.

Kananga setzte sich auf Vyborgs Sofa auf. Er hatte das nasse Handtuch weggelegt, aber die linke Wange war noch immer leicht geschwollen. »Ich habe alle meine Leute auf sie angesetzt. Wir werden sie bald haben.«

Eberly ging an Vyborg vorbei, der auf dem Lehnstuhl an der anderen Seite des Kaffeetischs saß. »Wir müssen sie finden. Und zum Schweigen bringen.«

»Das werden wir«, sagte Kananga.

»Sie kann nicht weit sein«, gab Vyborg zu bedenken. »Das Habitat ist zwar groß, aber so groß nun auch wieder nicht.«

Eberly schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. Seine Gedanken jagten sich. Sie haben mich da hineingezogen. Nun bin ich in ihr Verbrechen verwickelt. Ob ich will oder nicht. Diese verdammten Idioten; sie schaffen es nicht einmal, auf eine Frau aufzupassen, eine junge Frau, die fast noch ein Kind ist. Er schaute Kananga finster an, während er im Raum umherstiefelte. Oder vielleicht sind sie doch schlauer, als ich dachte. Vielleicht haben sie das alles genau so geplant, um mich da hineinzuziehen. Den Mord an dem alten Mann kann ich jedenfalls nicht mehr wie ein Damoklesschwert über ihnen schweben lassen.

Er blieb abrupt stehen und wies mit dem Finger auf Kananga. »Ich will, dass sie zu mir gebracht wird, sobald ihr sie gefunden habt. Haben Sie das verstanden? Keine Gewalt mehr. Ich werde mich um sie kümmern.«

Kananga zog die Brauen zusammen, so dass sie einen Strich bildeten. »Was haben Sie denn vor?«

»Das ist meine Sache. Ich regle das auf meine Art.«

»Sie kann mich aber des Mordes bezichtigen«, sagte Kananga.

»Und der Körperverletzung, vielleicht sogar eines Mordversuchs«, sagte Vyborg. »Auf jeden Fall aber der versuchten Vergewaltigung.«

»Sie« — Eberly wies auf Vyborg — »lassen jedes Telefon im Habitat überwachen. Ich will wissen, von wo aus sie anruft, wen sie anruft und was sie sagt.«

Vyborg nickte und erhob sich vom Stuhl.

Eberly ging zur Tür.

»Wohin gehen Sie?«, fragte Kananga.

»Zu Wilmot. Wenn wir diese Frau erwischen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass er uns nicht in die Quere kommt.«


Holly schlüpfte durch die Luke und stieg die Metallleiter zum Versorgungstunnel hinunter, der sich durch die gesamte Länge des Habitats zog. Vielleicht werden sie hier unten nicht nach mir suchen, sagte sie sich. Und selbst wenn sie es tun, kann ich mich tagelang in diesem Labyrinth verstecken. Solang es sein muss. Wie Jean Valjean in der Kanalisation. Während sie im stillen, schwach beleuchteten Tunnel entlangging, versuchte sie sich daran zu erinnern, wann sie Lt's Miserables gelesen hatte. Pancho hatte ihr jede Menge alten Kram zu lesen gegeben, nachdem sie aus dem Kryonik-Tank wieder auferstanden war. Panch nannte das Literatur. Das meiste davon war ziemlich langweilig. Jedoch erinnerte Holly sich lebendig an die Szene in der Kanalisation, die unter den Straßen von Paris verlief. Habe ich es vielleicht als Video gesehen, fragte sie sich. Vielleicht bevor ich gestorben bin? Sie schüttelte verwirrt den Kopf und sagte sich dankbar, dass die Tunnels des Habitats trocken waren und es keine Ratten gab. Holly sog prüfend die Luft ein und roch nichts. Vielleicht etwas Staub und ein leichter Hauch von Maschinenöl oder etwas in der Art. Wasser gluckerte in manchen Röhren. Sie hörte das allgegenwärtige Summen elektrischer Ausrüstung.

Die automatische Beleuchtung des Tunnels schaltete sich bei ihrer Annäherung an und erlosch wieder, nachdem sie den jeweiligen Abschnitt passiert hat. Dann sah sie ein Wandtelefon.

Ich könnte Kris anrufen, sagte sie sich. Oder Manny. Er würde mir helfen. Er würde Kananga windelweich prügeln.

Doch sie verharrte vorm Telefon. Kananga ist der Chef der Sicherheitsabteilung. Er hat die ganze verdammte Sicherheitstruppe unter seinem Kommando. Und Malcolm macht gemeinsame Sache mit ihm. Wenn man sich bei ihnen nach mir erkundigt, könnten sie alles Mögliche erzählen: dass ich im Gefängnis wäre oder etwas in der Art. Meine Güte! Sie könnten sogar behaupten, dass ich Don Diego ermordet hätte!

Und wenn ich Kris oder sonst jemanden anrufe, würde ich sie auch gefährden. Holly spürte Panik in sich aufsteigen. Was soll ich nur tun? Was kann ich überhaupt tun?

Sie lehnte sich gegen die Metallwand des Tunnels und rutschte an ihr auf den Boden. Am besten tust du erstmal gar nichts, sagte sie sich. Du bist hier in Sicherheit, jedenfalls fürs Erste. Niemand weiß, wo du bist. Du kannst hier unten bleiben, bis du weißt, wie es weiter gehen soll.

Oder bis du verhungert bist. Sie ließ in beiden Richtungen den Blick durch den Tunnel schweifen. Er war dunkel. Gut. Falls jemand sie verfolgte, würde sie Licht sehen.

Ich brauche etwas zu essen. Ich hatte für heute Abend eine Verabredung mit Raoul. Er wird glauben, dass ich ihn versetzt hätte.

Sie stand wieder auf. Tut mir Leid, Raoul, entschuldigte sie sich stumm. Dann grinste sie. Wo gibt's was zu essen. Holly schloss kurz die Augen und rief das Tunnel-System vorm geistigen Auge auf. Die Lebensmittelfabriken befanden sich in der Nähe dieses Tunnels. Wenn ich aber die Abkürzung nehme und in Richtung Athen zurückgehe, gelange ich unter die Vorratsräume der Cafeteria. Dort gibt es jede Menge zu essen.

Also brach sie in diese Richtung auf.

18 Tage und sechs Stunden bis zur Ankunft

»Was ist denn so wichtig, dass Sie mich beim Essen stören müssen?«, fragte Wilmot gereizt.

Eberly lächelte. Die letzten zwei Stunden hatte er damit verbracht, Morgenthaus Aufzeichnungen von Wilmots abendlichen Aktivitäten zu sichten. Morgenthau hatte die Art der Unterhaltung, die der Professor bevorzugte, abstoßend gefunden, doch Eberly war von der Mischung aus Erotik und Gewalt fasziniert, die in den Videos gezeigt wurde. Nun stand er in Wilmots Wohnzimmer und schaute den Professor an, der missbilligend die Stirn gerunzelt hatte.

»Wir haben ein ernstes Problem, Professor, mit dem wir uns befassen müssen«, sagte Eberly.

»Und das wäre?«

»Eine Mitarbeiterin der Abteilung Human Resources ist verschwunden. Ich habe Grund zu der Annahme, dass sie ein psychisches Problem hat.«

»Was?« Wilmot schien entsetzt. »Um wen handelt es sich?«

»Holly Lane. Sie haben sie bereits kennen gelernt.«

»Habe ich das?«

Eberly registrierte in aller Deutlichkeit, dass Wilmot ihm noch immer keinen Stuhl angeboten hatte. Die beiden Männer standen sich kaum einen Meter im Eingangsbereich von Wilmots Apartment gegenüber. Innerlich freute Eberly sich. Er wusste nämlich, dass er den Professor von seiner allabendlichen Unterhaltung abhielt.

»Ich befürchte, dass es zum Teil auch meine Schuld ist«, sagte Eberly und versucht zerknirscht zu klingen. »Ich hatte sie die ganze Zeit geschützt. Nun ist sie aber doch zusammengebrochen.«

Wilmot schaute verwirrt und mehr als nur ein wenig verärgert.

Eberly fischte seinen Palmtop-Computer aus der Kutte und projizierte Hollys Dossier an die Wand über Wilmots Sofa.

Der Professor erkannte Hollys Gesicht. »Mit ihr sind Sie doch vor einiger Zeit hierher gekommen.«

»Ja.« Eberly schüttelte betrübt den Kopf. »Wie Sie sehen, hat sie seit längerer Zeit psychische Probleme.« Er hatte Stunden darauf verwandt, Hollys Dossier gründlich zu frisieren. »Solang sie ihre Medikamente einnimmt, wirkt sie völlig normal. Wenn sie sie jedoch absetzt…«

Wilmot studierte das Dossier kurz und fragte: »Wieso sollte sie ihre Medikamente absetzen?«

»Es hat mit diesem Diego Romero zu tun. Holly war vom Tod des alten Mannes wie besessen. Sie redete sich ein, dass man ihn ermordet hätte.«

»Ermordet?«

»Das ist natürlich Unsinn. Heute Nachmittag hat sie aber Oberst Kananga angegriffen. Sie versuchte ihn zu töten, und zwar genau an derselben Stelle, wo der alte Mann zu Tode kam.«

»Großer Gott! Und wo ist sie nun?«

»Verschwunden — wie ich Ihnen bereits sagte. Kananga hat eine Suchaktion nach ihr gestartet.«

Wilmot nickte zufrieden. »Sehr gut. Es sieht so aus, dass Kananga zur Abwechslung mal das Richtige tut. Aber wieso behelligen Sie mich damit?«

»Weil ich möchte, dass Sie mich zum stellvertretenden Leiter des Habitats ernennen.«

»Zum Stellvertreter? Ich brauche keinen Stellvertreter.«

»Ich glaube doch. Sie werden mich zum stellvertretenden Leiter ernennen und dann von der Leitung des Habitats zurücktreten.«

»Ich soll zurücktreten? Und meinen Posten an Sie abtreten? Das ist ja lächerlich!«

»Das ist mitnichten lächerlich«, sagte Eberly leise. »Sie werden zurücktreten, und ich werde Ihre Amtsgeschäfte fortführen.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage!«

»Nach Ihrem Rücktritt«, fuhr Eberly fort, »können Sie dann den ganzen Tag Ihre schmutzigen Videos anschauen und nicht nur abends.«

Wilmot wankte einen Schritt zurück. Die Farbe wich ihm aus dem Gesicht.

»Dieses Habitat braucht eine starke Führung«, sagte Eberly. »Vor allem angesichts der bevorstehenden Wahlen und der Ankunft am Saturn. Sie haben Ihre Arbeit ganz gut gemacht, Professor. Nun ist es an der Zeit, dass sie einem anderen Platz machen.«

»Und Ihnen alles übergeben? Niemals!«

Eberly zuckte die Achseln. »In diesem Fall werden wir Ihre speziellen Vorlieben der gesamten Population des Habitats bekannt machen müssen.«

»Wir? Wen meinen Sie damit?«

»Wir wollen Sie nicht kompromittieren, Professor. Treten Sie einfach zurück und übergeben Sie mir die Kontrolle, und niemand wird je von Ihrer kleinen perversen Neigung erfahren.«

Wilmot ließ sich sprachlos auf den nächsten Stuhl sinken.


Kris Cardenas lag im Bett und ging der Frage nach, ob sie wieder einmal ihr Leben verpfuschte. Wofür werde ich mich diesmal entscheiden, fragte sie sich: für ein hartherziges Weib oder eine romantische Idiotin?

Ihre Beziehung mit Gaeta hatte als leidenschaftliche Affäre begonnen. Nachdem Holly sich zurückgezogen hatte, hatte sie sich von Manny ins Bett ziehen lassen; sie hatte seit Jahrzehnten nicht mehr so viel Spaß gehabt. Doch dann hatte sie die Sache mit Nadia herausgefunden. Es war nicht etwa so, dass Gaeta ihr untreu geworden wäre; sie hatten sich gegenseitig nichts versprochen außer purer Lust. Aber der Gedanke, dass Manny die Frauen auf diese Art benutzte — dass er mit einer Frau schlief, deren Hilfe er brauchte, und dann zur nächsten ging, das ärgerte sie. Und dann kam seine plötzliche Liebeserklärung. Wahre Liebe! Cardenas hätte fast laut gelacht bei der Vorstellung. Aber was auch immer es war, sie war überglücklich. In meinem Alter, sagte sie sich und unterdrückte ein Kichern. Ein Hoch auf die Nanotechnik!

Als sie sich jedoch zu ihrem Liebsten umdrehte, kehrte Ernüchterung bei ihr ein. Er wird sich noch umbringen, befürchtete sie. Es ist sein Job, immer größere Risiken einzugehen. Cardenas hasste die Öffentlichkeit, das sensationsgeile Publikum, das Manny zu immer riskanteren Stunts antrieb, bis er schließlich den Stunt versuchen würde, der ihn umbrachte.

Er lag auf dem Rücken und schlummerte selig; das verwitterte, markante Gesicht wirkte entspannt, beinahe jungenhaft. Cardenas studierte die kleinen Narben an der Braue und am Kinn und die angebrochen wirkende Nase.

Dann rief sie sich selbst zur Ordnung. Werde jetzt nur nicht weich. Selbst wenn er diesen Stunt durch die Ringe überlebt, wird er dich hinterher verlassen. Und was machst du dann? Ihm nachlaufen wie ein ältliches Groupie?

Gaeta öffnete die Augen, drehte sich zu ihr um und lächelte. Cardenas schmolz förmlich dahin.

»Wie spät ist es?«, nuschelte er und hob den Kopf gerade so hoch, dass er die Digitaluhr sah.

»Mitten in der Nacht«, flüsterte Cardenas. »Schlaf weiter.«

»Heute findet der große Test statt«, sagte er. »Die Schneeballschlacht.«

»Aber jetzt noch nicht. Schlaf weiter.«

»Nee. Jetzt bin ich wach.«

Cardenas streckte die Hand nach ihm aus. »Was du nicht sagst«, sagte sie mit einem verschmitzten Grinsen.

Das Telefon summte.

»Mierda«, stöhnte er.

»Nur Ton«, sagte Cardenas zum Telefon.

Hollys Gesicht nahm am Fußende des Betts Gestalt an. »Kann nicht lang reden. Wollte Ihnen nur sagen, dass Kananga mich umbringen wollte und ich auf der Flucht bin. Ich melde mich später wieder, wenn ich kann.«

Ihr Bild verschwand, und die beiden starrten ins Leere.

Schneeballschlacht

»Aufpassen!«, blaffte Fritz.

Manny blinzelte im massiven Anzug. Fritz hatte Recht — seine Gedanken waren abgeschweift. Das ist das Gefährliche bei diesen Liebesgeschichten; es fällt einem schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Wir werden in ein paar Tagen den Saturn erreichen, und ich werde durch die Ringe fliegen. Wenn genug Profit dabei 'rausspringt, dann zum Teufel mit Titan und Urbain und diesen verkrampften cositas. Ich werde das Geld einsacken und nach Hause gehen.

Mit Kris? Ob sie mit mir kommen wird? Ob ich den Mut aufbringe, sie zu fragen? Er lachte beinahe: Ich bin der furchtloseste Stuntman im ganzen Sonnensystem und habe eine Heidenangst davor, dass sie mich abblitzen lässt. Wo sind deine cojones, harter Mann?

Er schreckte durch Schläge gegen den Anzug auf. Fritz schlug, so hoch er kam, mit der flachen Hand gegen die gepanzerte Brust des Anzugs.

»Hallo. Eingeschlafen?«, rief Fritz.

»Ich bin wach!«, sagte Gaeta.

»Dieser Tage verbringst du zu viel Zeit im Bett, und trotzdem schläfst du zu wenig.«

»Ich bin doch wach«, wiederholte Gaeta quengelig.

Aus dem Innern des Anzugs sah Fritz aus wie ein kleiner Junge, der finster zu ihm aufblickte — er reichte Gaeta nicht einmal bis zur Schulter. Zusammen mit den vier anderen Technikern standen sie in einem abgeriegelten Abschnitt des Korridors. Er führte zu einer der großen Luftschleusen des Habitats, die groß genug waren, um große Ausrüstungsgegenstände durchzuschleusen. Gaeta war dort hineinmarschiert und hatte sich auf Fritz' Geheiß mit dem Rücken zur Luftschleusenluke gestellt. Nun sah er dort, wo der Korridor abgesperrt worden war, ein halbes Dutzend Ventilatoren, die die Techniker dort aufgestellt hatten. Drei Techniker schleppten schwere Wasserkanister herbei und stellten sie auf präzise markierten Punkten auf den rechteckigen Metallplatten des Korridorbodens ab. Neben jedem Ventilator stand eine dunkle Metallröhre, die von einer kupferfarbenen Spule umhüllt war und Gaeta wie eine Kreuzung zwischen einem Laborgerät und einer Schrotflinte anmutete. Der vierte Techniker lud sie mit Kugellagerkugeln.

»Diese Simulation wird nur ein paar Sekunden dauern«, sagte Fritz, »aber sie soll dir schon einmal ein Gefühl dafür vermitteln, was dich im Ring erwartet.«

»Das weiß ich doch alles schon, Fritz«, sagte Gaeta ungeduldig. »Bringen wir's hinter uns.«

»Das Wasser wird zu Eiskristallen gefrieren, und die Ventilatoren werden dich damit anblasen«, fuhr Fritz so ungerührt fort, als habe er kein einziges Wort gehört. »Die elektromagnetischen Kanonen werden die Kugeln auf eine Geschwindigkeit von annähernd anderthalb Mach beschleunigen, um größere Eisbrocken des Rings zu simulieren.«

»Und ich stehe hier rum und kriege alles ab«, sagte Gaeta.

»Ich gehe nicht davon aus, dass der Anzug perforiert werden wird«, sagte Fritz.

»Die Selbstabdichtung schließt alle eventuellen Lecks.«

»Provisorisch.«

»Lang genug für diesen Test.«

»Aber nicht lang genug, um dir das Leben zu retten, wenn du draußen in den Ringen bist.«

»Deshalb führen wir diese Simulation doch gerade durch, um zu sehen, ob der Anzug standhält. Fangen wir endlich an.« Fritz schaute mit offenem Mund zu ihm auf, wobei sein Gesichtsausdruck zwischen Unzufriedenheit und Besorgnis changierte.

»Komm schon, Fritz«, drängte Gaeta ihn. »Bringen wir es hinter uns.«

Mit einem Kopfschütteln führte Fritz die anderen Techniker durch die luftdichte Tür, die den Abschluss des Korridors bildete. Gaeta sah, wie sie sich schloss.

»Ich pumpe nun die Kammer aus«, ertönte Fritz' Stimme im Helmlautsprecher.

»Dann pump mal schön«, sagte Gaeta.

Der einzige Aspekt des Flugs durch Saturns B-Ring, den dieser Test nicht zu simulieren vermochte, war die Schwerelosigkeit. Gaeta hielt das aber auch nicht für wichtig; schließlich hatte er sich schon oft in der Schwerelosigkeit bewegt, so dass das kein Problem für ihn war.

Es war jedoch etwas anderes, in einem apokalyptischen Blizzard zu stehen und mit überschallschnellen Kugeln beschossen zu werden. Wie vor einem Erschießungskommando. Ja, sagte er sich, aber ich stecke in einem gepanzerten Anzug. Wie Superman. Die Kugeln werden einfach von mir abprallen. Hoffte er zumindest.


James Coleraine Wilmot saß allein in seinem Wohnzimmer und starrte in die Unendlichkeit. Ich bin ruiniert. Über meine eigene Dummheit gestolpert.

Er seufzte schwer. Ich könnte ihn bekämpfen. Die meisten Leute sind nur deshalb in diesem Habitat, weil sie die Gesetze und Verordnungen der Regierung nicht mehr ertrugen, die sie strangulierten. Na schön, ich habe einen ziemlich bizarren Geschmack, was meine Unterhaltung angeht. Ich könnte mich aber zu psychologischer Beratung oder sogar zu einer Psychotherapie bereit erklären. Ich muss nicht vor diesem rotzigen Eberly und seiner Clique zu Kreuze kriechen. Nicht, wenn ich es nicht selbst will.

Er dachte darüber nach. Eben — nicht, wenn ich es nicht selbst will. Wieso sollte ich mich aber den Peinlichkeiten und Belastungen einer öffentlichen Entlarvung aussetzen und mich zum Gespött der Leute machen? Ich müsste mich gegen Anschuldigungen verteidigen, mich entschuldigen und um Verständnis bitten. Nein, dem werde ich mich nicht aussetzen. Das kann ich nicht.

Vielleicht ist es auch besser so. Nun muss ich wenigstens nicht mehr so tun, als ob ich Kontrolle ausüben und Verantwortung tragen würde. Das Experiment läuft nun völlig frei von möglichen Eingriffen ab. Ich werde Atlanta davon in Kenntnis setzen müssen.

Er zögerte und runzelte die Stirn. Eberly beobachtet jede meiner Bewegungen und hört alle meine Gespräche ab. Selbst in der Privatsphäre meines Quartiers. Er wird mich auch jetzt beobachten.

Was soll ich tun? Nichts. Absolut nichts. Atlanta wird Eberlys Machtspiel schon früh genug auf die Schliche kommen. Sie müssen etliche Spione in die Population eingeschleust haben.


Holly hatte sich stundenlang den Kopf darüber zerbrochen, ob sie Kris anrufen sollte. Schließlich beschloss sie, es von einem Telefon an der Oberfläche aus zu tun. Sie wollte vermeiden, dass Kananga oder sonst jemand erfuhr, dass die Tunnel ihr als Versteck dienten. So erklomm sie also, kurz bevor die Sonnenfenster des Habitats sich für den ›Sonnenaufgang‹ öffneten, die Leiter, die in den Vorratsraum der Cafeteria führte. Sie hörte, dass Leute in der Küche direkt über ihr zugange waren: Töpfe schepperten und Worte wurden gewechselt. Ein Roboter rollte aus der Küche zu ihr herunter und an ihr vorbei. Er fuhr zu einem Regal und holte mit den Greifarmen einen Karton mit Obstkonserven heraus. Dann vollführte er eine exakte Hundertachtzig-Grad-Wende, rollte wieder an ihr vorbei und durch die Doppeltür in die Küche.

Holly ging auf Zehenspitzen zum Wandtelefon in der Nähe der Küchentür und setzte einen kurzen Anruf an Kris ab. Irgend jemand muss wissen, dass ich am Leben bin und von Kananga gejagt werde, sagte sie sich.

Nachdem sie Kris ihre Botschaft übermittelt hatte, ging sie zur Falltür zurück, stieg die Leiter hinunter und rannte fast einen Kilometern durch den Haupttunnel, bevor sie sich keuchend auf den Boden fallen ließ.

Du hohles Hirn, sagte sie sich. Du warst im Vorratsraum und hast dir nicht einmal etwas zu essen besorgt. Wie kann man nur so blöd sein!

Der Magen pflichtete ihr mit einem Knurren bei.


»Sie hat angerufen?«, fragte Kananga wie elektrisiert. »Wann? Von wo aus?«

Seine Adjutantin, die das schwarze Gewand und die Hose trug, die Kananga seinen Sicherheitsleuten vorgeschrieben hatte, erwiderte: »Aus dem Vorratsraum der Cafeteria, Sir. Etwa vor einer Stunde.«

»Vor einer Stunde?«, knurrte Kananga und erhob sich von seinem Stuhl.

Die Frau warf einen Blick auf ihren Palmtop. »Genau vor zweiundfünfzig Minuten, Sir.«

»Und das sagen sie mir erst jetzt?«

»Wir hatten zu diesem Zeitpunkt nur eine Rumpfbesatzung, Sir. Sie vermochte nicht jedes Telefon im Habitat in Echtzeit zu überwachen. Es ist…«

»Ich will, dass sofort ein automatisiertes Programm implementiert wird. Verwenden Sie ihren Stimmabdruck als Auslöser für einen automatischen Alarm. Unverzüglich!«

»Yessir.«

»Diese Frau ist eine gefährliche Psychopathin. Sie muss ergriffen werden, bevor sie noch jemanden tötet!«

Die Adjutantin hastete aus Kanangas Büro und entzog sich seinem zürnenden Blick.

Er setzte sich wieder hin. Die Cafeteria. Natürlich. Sie muss schließlich etwas essen. Wir werden einfach Teams in der Cafeteria und den Restaurants stationieren. Früher oder später wird sie einen Ort aufsuchen müssen, wo es etwas zu essen gibt. Und wenn sie dort auftaucht, sitzt sie in der Falle.


Gaeta war noch nie in einem Blizzard gewesen und hatte auch noch nie versucht, sich durch Schneeverwehungen zu kämpfen, während ein eisiger Wind ihm entgegenwehte und ihm spitze Eiskörner ins Gesicht prasselten.

Für eine halbe Minute hielt er den schlimmsten Sturm aus, den Fritz' Genie zu entfachen vermochte. Eiskristalle stoben um ihn herum und hüllten ihn in einen gleißenden weißen Wirbel. Dazu wurde er mit Stahlkugeln beschossen, die so laut gegen den gepanzerten Anzug knallten, dass ihm rasch bewusst wurde, das würde er nicht aushalten. Die größte Sorge bereitete ihm indes das Helmvisier. Er wusste zwar, dass es kugelsicher war, aber bis zu welchem Kaliber? Es war, als ob er mit einem Maschinengewehr beharkt wurde, das überschall-schnelle Edelstahlkugeln verschoss.

Aber er hielt es aus. Er hielt sich auf den Füßen und machte sogar ein paar Schritte in Richtung der Quelle, hinein ins blendende Weiß, das gegen ihn anbrandete. Das Donnern der Kugein war aber so laut, dass er Probleme hatte, Fritz' Countdown im Helmlautsprecher zu hören.

Er vermochte nicht mehr zu tun, als dazustehen und es über sich ergehen zu lassen. Und auf die beleuchteten Displays zu schauen, die über die Innenseite des Visiers verteilt waren. Jedes verdammte Licht war grün, und jeder Monitor zeigte ihm, dass der Anzug normal funktionierte. Ups! Ein gelbes Licht ging an. Nichts von Belang, wie er sah; bei einem Kniegelenk hatte die Schmierung ausgesetzt. Die Reserve- Schmierung setzte ein, und das Licht wechselte wieder auf Grün.

Der Lärm war ohrenbetäubend. Als ob ein riesiger Schwarm verrückter Spechte den Anzug attackierte. Wieso, zum Teufel, setze ich mich diesem Mist überhaupt aus, fragte Gaeta sich. Wieso verbringe ich mein Leben damit, mich derart malträtierten zu lassen? Wieso nehme ich nicht das Geld, das ich bei dieser Aktion verdiene, und höre damit auf, solange noch alles an mir dran ist.

Die klassische Antwort ertönte in seinem Kopf: was denn — sich vom Showbiz verabschieden? Er lachte laut.

Und dann war es vorbei. So plötzlich, wie es angefangen hatte, hörte es auch wieder auf. Gaeta stand im Innern des schweren Anzugs; die Ohren klingelten noch vom schweren Beschuss.

»Worüber lachst du denn?«, fragte Fritz.

»Ich lache der Gefahr ins Gesicht, Fritz«, erwiderte Gaeta grinsend. Liest du denn nicht meine Pressemitteilungen? Ich glaube, du hast diese Überschrift selbst verfasst.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, um diesen Abschnitt des Korridors wieder mit Luft zu beaufschlagen, damit Gaeta den Anzug verlassen konnte.

Fritz inspizierte den klobigen Anzug penibel und suchte jeden Quadratzentimeter mit einem Vergrößerungsglas ab.

»Eingedellt, aber nicht perforiert«, lautete Fritz' Befund.

»Dann können wir also weitermachen wie geplant.«

»Ja, das können wir wohl.«

Gaetas Palmtop summte. Er öffnete ihn und sah Nadia Wunderlys Gesicht auf dem winzigen Monitor.

»Falls du dir Sorgen wegen des Tests machst…«

»Nein, gar nicht!«, sagte sie. Sie war vor Aufregung schier aus dem Häuschen. »Ich musst dir unbedingt etwas sagen!«

»Was denn?«

»Es wird ein Einfang-Ereignis eintreten!«, schrie Wunderly beinahe. »Drei Tage, nachdem wir in den Orbit gegangen sind, wird Saturn einen Asteroiden aus dem Kuiper-Gürtel einfangen.«

»Was? Was meinst du? Noch mal von vorn, aber etwas langsamer.«

»Manny, ein kleiner eisbedeckter Gesteinsbrocken nähert sich dem Saturn aus den Tiefen des Kuiper-Gürtels jenseits von Pluto. Er ist bereits im Einzugsbereich des Planeten. Ich habe die Berechnungen angestellt. Er wird mitten im A-Ring in den Orbit um Saturn gehen! Drei Tage, nachdem wir außerhalb der Ringe in eine Umlaufbahn gegangen sind!«

»Drei Tage?«, fragte Fritz und schaute über Gaetas Schulter auf Wunderlys ekstatisches Gesicht.

»Ja! Wenn ihr eure Exkursion um drei Tage verschiebt, könntet ihr direkt am Ort des Geschehens sein!«

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