VIERTES BUCH DIE ENTSCHEIDUNG

Hört die weisen Worte der Alten. Cojote ist der Listenreiche, der dem Volk Leiden beschert. Aber manchmal hilft er ihm auch. Niemand kann ganz und gar schlecht sein. Oder ganz und gar gut.

NACHMITTAG: SOL 342

»Ein Ding von Schönheit is 'n Glück für immer«, sagte Wiley Craig. In seinem Ton lag echte Anerkennung.

Die Ummantelung des Gartens neben der neuen Kuppel war endlich fertig, eine rechteckige Konstruktion aus Glasbausteinen, ausschließlich aus Stoffen erbaut, die im Marssand vorhanden waren. Craig und Rodriguez standen neben der großen Parabolschüssel des Solarspiegels, der ihnen die Hitze für den Brennofen geliefert hatte, und bewunderten ihr Werk.

Rodriguez nickte in seinem Helm. »Wir haben sie auch in Rekordzeit fertig gestellt.«

Craig lachte. »Na, war ja nich so 'n toller Rekord, den wir da zu schlagen hatten, Tom. Und dazu kommt, dass während der Bauarbeiten niemand verletzt worden is.«

Rodriguez bewegte seine zernarbte Hand im Handschuh und murmelte: »Ja, das stimmt.«

Die neue Kuppel stand zusammen mit ihrem Garten-Gewächshaus am Rand der Steilwand des Canyons. Vier Buckyball-Seile liefen an der Nische mit dem uralten Gebäude vorbei nach unten, bis zum Boden der Schlucht.

Hall und Fuchida waren dort unten und studierten die Flechte im Gestein, während ein neuer Bohrer vor sich hintuckerte und in der Tiefe lebende Bakterien aus dem Bereich unter der Permafrostschicht heraufholte.

Die neue Kuppel war mit der unbemannten Nachschubmission von der Erde gekommen, zusammen mit einem flexiblen Zugangstunnel, der sich per Fernsteuerung mit der Luftschleuse eines Rovers verbinden ließ, und zwar entweder aus dem Innern der Kuppel oder aus dem Innern des Rovers heraus. Nun konnten die Forscher den Weg vom Rover zur Kuppel und umgekehrt ohne Raumanzug zurücklegen.

Der Nachschub-Lander hatte auch einen ähnlichen Tunnel für die alte Kuppel mitgebracht, die noch immer an ihrem ursprünglichen Platz auf Lunae Planum stand. Deschurowa und Fuchida montierten ihn gerade an die Luftschleuse.

Im Verlauf der letzten sechs Monate hatten die Forscher die Verbreitung der Flechte über das gesamte Antlitz des Mars kartiert. Fuchida war erneut zum Olympus Mons geflogen, um noch mehr Proben der Ares olympicus-Bakterien zu sammeln, und hatte dann — mit fast schon delirösem Entzücken — ähnliche Arten steinfressender Bakterien in zwei weiteren Tharsis-Schildvulkanen entdeckt.

Deschurowa hatte trotz ihrer brennenden Sehnsucht, wieder einmal in die Luft zu kommen, nur bei einem dieser Flüge mit Fuchida am Steuerknüppel gesessen. Die Pflichten der Missionsleiterin lasteten schwer auf ihr, aber sie konnte ihre Liebe zum Fliegen nicht ganz überwinden. »Mit dem Rang sind immerhin einige Privilegien verbunden«, sagte sie in bestimmtem Ton, als sie ihre Entscheidung bekannt gab, das Raketenflugzeug zu fliegen.

Fuchida organisierte sämtliche Exkursionen zu den Vulkanen und führte sie auch selber durch. Trudy Hall war eigentlich für die Hälfte davon eingeteilt, aber die beiden Biologen erklärten, Trudy wolle sich lieber mit der Flechte auf dem Boden des Canyons beschäftigen und Fuchida die Vulkane überlassen.

Als Dex Trudy damit aufzog, dass sie wohl Angst vorm Fliegen hätte, sprang ihr Tomas bei. »Glaubst du etwa, es ist nicht Furcht einflößend, an diesem Seil vier Kilometer rauf und runter zu fahren? Mann, ich fühl mich erheblich sicherer, wenn ich in irgendwas sitze, das wenigstens Flügel hat.«

Stacy arbeitete einen präzisen Arbeitsplan für alle acht aus. Dieser Plan sah vor, dass Jamie in der neuen Kuppel am Canyon blieb, während Stacy selbst die meiste Zeit in der alten Basis auf Lunae Planum verbrachte. Jamie staunte darüber, wie sie es schaffte, Vijay fern zu halten, wenn er und Dex am selben Ort waren. Er sah Vijay, wenn Dex nicht da war, und er wusste, dass sie Dex sah, wenn er nicht da war.

Jamie hatte nicht mehr mit Vijay geschlafen, seit er von seinem Posten als Missionsleiter zurückgetreten war. Er sagte sich immer wieder, dass sie mit Dex auch nicht schlief. Er gab sich alle Mühe, es zu glauben, und meistens gelang es ihm auch. Aber es gab Momente, wenn Dex mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht von einer Fahrt zur alten Kuppel zurückkehrte, da brannte Jamie innerlich.

Trotzdem verstand er sich gut mit Dex. Wenn Vijay nicht da war, arbeiteten und aßen sie Seite an Seite. Sie stellten Vermutungen über das marsianische Bauwerk und die Marsianer selbst an. Und sie machten sich Gedanken über den Tag, an dem Dex' Vater eintreffen würde, um seine kommerziellen Operationen in Angriff zu nehmen.

»Warum bringen wir das IUK nicht dazu, dieses Gebiet zu beanspruchen?«, schlug Dex eines Abends vor, als sie beide über zwei Bechern Kaffee in der Messe der neuen Kuppel hockten.

Jamie wandte sich über Connors an Dr. Li und über Li an den Vorstandsvorsitzenden des IUK.

Walter Laurences normalerweise stets gelassene Miene wirkte gequält, als er schließlich auf Jamies flehende Botschaften antwortete. Jamie wartete bis spät in der Nacht, ehe er Laurences Botschaft öffnete; in der Kuppel war es still, die Beleuchtung war gedämpft, die meisten anderen schliefen bereits.

Selbst auf dem Bildschirm von Jamies Laptop machte der Direktor des Internationalen Universitätskonsortiums einen aufgeregten, unglücklichen Eindruck.

»Dr. Waterman«, begann er steif, und seine erdbraunen Augen schauten etwas zu weit nach unten, auf sein Bild auf dem Monitor statt in die Kamera darüber, »der gesamte IUK-Vorstand hat ihre Bitte sehr ausführlich erwogen.«

Jamie sah schweigend zu, wie Laurence sich durch ein langes, verschlungenes Sortiment von Ausreden wand. Der Mann fuhr sich immer wieder mit einer Hand durch seine dichte, silberne Mähne, als wäre er in großen Nöten.

»Also, langer Rede kurzer Sinn«, schloss Laurence endlich, »der Vorstand ist der Ansicht, dass es unangebracht wäre, wenn das IUK das Nutzungsrecht für irgendeinen Teil des Mars beanspruchen würde — ebenso wie für irgendeinen anderen Himmelskörper im Sonnensystem. Wir haben uns der wissenschaftlichen Forschung verschrieben, nicht der Grundstückserschließung.«

Als Jamie zu Dex' Kabine ging, kam ihm der schon entgegen.

»Hast du Laurences Antwort gesehen?«, fragte Jamie überflüssigerweise.

»Hat so viel Rückgrat wie ein Schleimpilz, der Kerl«, grollte Dex. »Er und sein ganzer verdammter Vorstand.«

»Sie werden es nicht riskieren, sich den Zorn deines Vaters zuzuziehen.«

»Nein«, stimmte Dex zu. »Geld regiert eben die Welt.«

»Wir haben nur noch dreißig Tage, bis die Unterstützungsmission startet.«

»Mit dem lieben alten Dad an Bord.«

Sie gingen zusammen durch die halbdunkle Kuppel zur Messe. »Kommt dein Vater wirklich mit?«

»Er hat alle Tests bestanden. Hat mir ein Video geschickt — Dad im Raumanzug, wie er im großen Wassertank in Huntsville Notfallprozeduren übt.«

»Ja, ja, Geld regiert die Welt«, knurrte Jamie.

Während der ganzen letzten sechs Monate hatte Fuchida sich Jamie geschnappt, wann immer es möglich war, um ihn davon zu überzeugen, dass einer der Forscher absichtlich ihre Ausrüstung sabotierte.

Das defekte Radlager des Rovers, den Stacy gefahren hatte, war zum Zankapfel geworden. Mitsuo untersuchte es und behauptete, er sähe Hinweise darauf, dass jemand sich daran zu schaffen gemacht habe.

»Siehst du diese Kratzer hier an der Dichtung, die versagt hat?« Der Biologe zeigte sie ihm. »Das war Absicht! Jemand hat die Dichtung zielbewusst aufgestemmt, damit Staub eindringen konnte und das Lager sich festfraß.«

Jamie schaute sich das Radlager in Mitsuos Hand genau an. Er sah die Kratzer, musste dem Biologen aber sagen, dass man nicht erkennen konnte, ob sie durch eine absichtliche Beschädigung entstanden waren.

»Wie denn sonst?«, wollte Fuchida wissen.

»Durch Staubpartikel«, meinte Jamie. »Oder vielleicht durch Steinchen, die von dem Rad aufgewirbelt worden sind.«

Der Biologe schüttelte störrisch den Kopf.

»Ich könnte Wiley bitten, sich das Lager mal anzuschauen«, sagte Jamie. »Mal sehen, was er meint.«

»Bringt nichts, wenn er der Saboteur ist«, erwiderte Fuchida deprimiert.

Jedes Mal, wenn ein Gerät nicht funktionierte oder wenn es einen kleinen Unfall gab, wenn einer der Forscher stolperte oder sich auf irgendeine Weise eine Blessur zuzog, fügte Fuchida es der Liste der ›Indizien‹ hinzu, die er sammelte. Mindestens einmal pro Woche rief er Jamie an, meistens nachts, wenn alle anderen schliefen — und selbst dann wirkte er heimlichtuerisch, misstrauisch und argwöhnisch.

Schließlich blieb Jamie nichts anderes übrig, als ihm zu erklären: »Mitsuo, du wirst allmählich paranoid, was diese Sache betrifft.«

Überraschenderweise stimmte der Biologe ihm zu. »Ich weiß«, sagte er mit leiser, angespannter Stimme. »Ich frage mich langsam, ob ich verrückt werde. Warum bin ich der Einzige, der sieht, was hier vorgeht?«

Jamie versuchte, es von der leichten Seite zu nehmen. »Vielleicht bist du schlauer als alle anderen.«

»Oder verrückter«, gab Fuchida zu.

Durchaus möglich, dachte Jamie.

TAGEBUCHEINTRAGUNG

Nichts klappt richtig. Was ich auch tue, sie ignorieren es. Ich weiß, dass sie mich beobachten, aber sie wollen es nicht zugeben. Sie wollen nicht zu mir kommen und es mir ins Gesicht sagen. Hinter meinem Rücken reden sie natürlich über mich. Oder vielmehr, sie flüstern. Ich höre sie flüstern, wenn sie glauben, dass ich nicht zuhöre, sie nicht beobachte. Ich werde drastische Schritte unternehmen müssen. Die armen, fehlgeleiteten Narren! Sehen sie nicht, dass ich ihnen das Leben retten will? ]e länger wir hier auf dem Mars bleiben, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir alle sterben. Da ist es besser, einen oder zwei von ihnen zu töten und die übrigen zu retten. Wir müssen weg von hier! Zurück zur Erde, wo wir in Sicherheit sind. Lieber ein paar opfern und die anderen retten.

MORGEN: SOL 358

Jamie erwachte langsam. Die Überreste eines verstörenden Traums schwanden aus seinem Bewusstsein wie eine Fata Morgana, die sich auflöste, als er sie zu erreichen versuchte. Irgendwas über die Marsianer, dachte er, obwohl er sich undeutlich erinnerte, dass Fuchida in seinem Traum vorgekommen war; er hatte verzweifelt versucht, ihm etwas zu erzählen, jedoch kein Wort herausbekommen.

Ein Mini-Albtraum, entschied Jamie, als er sich rasch duschte und rasierte. Du musst den äußeren Schein wahren, sagte er sich, während er sich mit dem Elektrorasierer übers Kinn fuhr. Das Summen des Geräts klang matt, tiefer als normal. Die Batterien mussten aufgeladen werden. Das lenkte seine Gedanken auf den Atomgenerator, der einen vollen Kilometer von der Kuppel entfernt vergraben war. Zu Hause hatten die Leute noch immer einen Horror vor der Atomkraft. Hier könnten wir nicht ohne sie auskommen.

Hier ist dein Zuhause, Jamie, hörte er seinen Großvater flüstern. Jene andere Welt ist nichts für dich. Diese hier schon.

»Für eine Weile, Großvater«, antwortete Jamie mit einem kaum hörbaren Flüstern. »Nur bis Trumball kommt, um sie uns wegzunehmen.«

Er schlüpfte in seinen Overall und setzte sich niedergeschlagen auf seinen Schreibtischstuhl. Wir machen einfach routinemäßig weiter, sagte er sich. Die Aufregung ist verflogen. Jetzt sammeln wir nur noch Datenbröckchen wie ein Haufen Studenten, führen die Arbeitsabläufe durch, die die Professoren auf der Erde für uns festgelegt haben.

Seit Monaten hatten sie nichts Neues mehr entdeckt. Das leere, stille Bauwerk in der Felswand behielt seine Geheimnisse hartnäckig für sich, gab nichts preis. Abgesehen davon, dass allein schon seine Existenz so viel erzählte.

Was wissen wir, fragte sich Jamie zum tausendsten Mal in dieser Woche.

Wir wissen, dass es auf dem Mars Leben gibt: Flechten in einigen Steinen an der Oberfläche und Bakterien tief unter dem Regolith.

Wir wissen, dass hier einmal intelligente Marsianer gelebt und dieses Bauwerk in der Felswand errichtet haben.

Wir wissen, dass sie nicht mehr existieren.

Wir sind ziemlich sicher, dass sie vor ungefähr fünfundsechzig Millionen Jahren von einem oder mehreren Meteoriteneinschlägen ausgelöscht wurden.

Und das wär's. Sie hatten eine Schrift entwickelt. Vielleicht verstanden sie sogar, was ihnen widerfuhr.

Aber wir konnten nirgends auf dem ganzen Planeten auch nur ein einziges weiteres Gebäude finden. Wir können ihre Schrift nicht lesen und werden sie wahrscheinlich auch nie lesen können.

Weshalb suchen wir also mechanisch weiter den Planeten ab und stochern in der Nische herum, in der das Bauwerk steht? Wir haben weder die Geräte noch die Leute, um mehr zu finden. Wir wissen nicht einmal die elementarsten Dinge, um herausbekommen zu können, wer oder was sie waren. Sie könnten den ganzen Planeten mit ihren Städten und Farmen überzogen haben, aber nach fünfundsechzig Millionen Jahren ist nichts mehr von ihnen übrig, sie sind verschwunden, von Staub bedeckt oder selbst zu Staub geworden.

Wir verschwenden hier unsere Zeit, gestand Jamie sich ein. Selbst die VR-Shows, die wir zur Erde ausstrahlen, haben ihren Reiz verloren; das Publikum hat sich auf Schulen und Museen reduziert. Wir könnten genauso gut einpacken und heimfliegen.

Dann sah er Trumball, seine Hotelbauer und die Touristen, die er zum Mars bringen wollte. Bulldozer, Busse und Einkaufszentren, in denen man Marsianerpuppen aus Plastik erstehen konnte.

Grimmig wandte er sich seinem Laptop zu und schaltete ihn ein, um sich noch einmal den Arbeitsplan für diesen Tag anzusehen.

Stattdessen blickte ihm Pete Connors' schokoladebraunes, fröhlich grinsendes Gesicht vom Bildschirm entgegen.

»Herzlichen Glückwunsch! Eure Landung auf dem Mars liegt heute genau dreihundertfünfundsechzig Tage zurück. Ihr seid jetzt ein volles Jahr auf dem Planeten. Ein echter Meilenstein, Jungs.«

Jamie sah Connors' Bild verständnislos an. Wir haben erst Sol dreihundertachtundfünfzig, sah er an der Datumszeile unten auf dem Bildschirm.

Dann lächelte er knapp, trotz seiner lustlosen Stimmung. Natürlich, sagte er sich. Dreihundertfünfundsechzig Erdentage, nicht Marstage. Ein volles Erdenjahr.

Ihm war nicht nach Feiern zumute.

In der Hauptkuppel war Vijay mit den Gedanken ebenfalls beim Kalender.

»Es ist wirklich eine Leistung«, sagte sie zu Stacy, »und die sollten wir irgendwie feiern.«

Die beiden Frauen befanden sich in Vijays telefonzellengroßem Krankenrevier. Deschurowa war bis auf BH und Höschen ausgezogen. Sie hatte eine Blutdruckmanschette um den linken Arm, und sechs medizinische Sensorpflaster klebten vorn und hinten auf ihrem kräftigen Brustkasten.

»In welcher Form?«, fragte sie wachsam. Als Kosmonautin misstraute sie Ärzten, besonders solchen, die obendrein noch Psychiater waren. Es war ihr Job, Gründe zu finden, um Flieger am Boden festzuhalten, dachte Deschurowa.

»Ich weiß nicht genau«, erwiderte Vijay, scheinbar ohne die latente Feindseligkeit ihrer Patientin zu bemerken. »Die Gruppe ist ja jetzt auf die beiden Kuppeln aufgeteilt, da ist es schwierig, alle zu einer ordentlichen Fete zusammenzubringen.«

»Kein Alkohol«, sagte Deschurowa klipp und klar.

»Ich meinte kein Besäufnis«, verbesserte sich Vijay rasch, ein Auge auf den Monitoren. Deschurowa schien so weit gesund zu sein; Blutdruck ein bisschen niedriger als sonst, aber durchaus noch innerhalb akzeptabler Grenzen.

»Was dann?«

Vijay zuckte die Achseln und wickelte die Manschette vom fleischigen Oberarm der Kosmonautin. Deschurowa zog mit der freien Hand die Sensoren ab.

»Wir brauchen irgendwas«, sagte Vijay. »Die Moral sinkt allmählich auf einen Tiefstand. In den letzten Monaten haben wir immer nur gearbeitet, gearbeitet, gearbeitet. Es ist überhaupt nichts Aufregendes passiert. Das ist nicht gut für unsere seelische Verfassung.«

»Trudy und Tom scheinen glücklich zu sein.« Deschurowa stand vom Untersuchungstisch auf und griff nach ihrem Overall.

»Wenn sie zusammen sind, ja«, stimmte Vijay zu. »Aber wenn nicht, bläst Tommy schon öfters mal Trübsal.«

Stacy schüttelte den Kopf. »Ich kann den Arbeitsplan ja nicht an ihre Affäre anpassen.«

»Nein, natürlich nicht. Und offen gesagt, ich glaube, Trudy ist dankbar, wenn Tommy nicht ständig um sie herum ist.«

»Du meinst, sie liebt Tom nicht?«

»Liebe hat sehr wenig damit zu tun«, sagte Vijay, und ihr Gesicht wurde ernst. »Tommy mag ja total verrückt nach ihr sein, aber sie …« Vijay verstummte.

»Ja? Was?«

»Ich bin nicht sicher«, sagte Vijay mit gequälter Miene. »Trudy mag Tom natürlich. Sogar sehr. Aber ich glaube nicht, dass man das Liebe nennen kann, bei keinem der beiden.«

»Ist das deine professionelle Meinung?«, fragte Deschurowa und drückte den Klettverschluss des Overalls zu.

»Nicht unbedingt.«

Stacy tippte Vijay mit einem schweren, dicken Finger auf die Schulter. »Oder ist es vielleicht eine Projektion, wie ihr Psychologen das nennt?«

»Eine Projektion?«

»Du kannst dich nicht auf Jamie festlegen, also glaubst du, dass Trudy dasselbe Problem hat.«

»Ich kann mich nicht …?« Vijays dunkle Augen blitzten auf, dann wandte sie den Blick von Deschurowa ab.

Mit einem grimmigen Lächeln sagte Deschurowa: »Dex und Jamie sind beide in der zweiten Kuppel. Ich glaube, es ist gut, dich von ihnen fern zu halten. Keine Party.«

Und damit marschierte sie aus dem Krankenrevier.

Statt einer Party brachte Deschurowa alle acht Forscher beim Abendessen auf elektronische Weise zusammen. Sie stellte ein Bildtelefon ans Ende des Tisches in der Messe von Kuppel Eins und befahl Jamie, in Kuppel Zwei dasselbe zu tun.

»Möge dieser Meilenstein im Zeichen von Einheit und Kameradschaft stehen«, sagte sie vom Kopfende ihres Tisches aus und hob ein Glas Grapefruitsaft.

»Einheit und Kameradschaft«, wiederholte Jamie am Kopfende seines Tisches.

Doch als er einen Blick auf die drei anderen warf, die bei ihm waren, wurde Jamie klar, dass der Toast jedes Inhalts entbehrte. Fuchida hatte den Verdacht, dass einer ihrer Kameraden ein wahnsinniger Saboteur war, und Rodriguez ließ den Kopf hängen, weil er jetzt gern bei Trudy gewesen wäre.

Als er Dex ansah, dachte Jamie, dass er sich im letzten Jahr sehr verändert hatte. Besonders seit wir das Gebäude gefunden haben, sagte er sich. Aber was seinen Vater betrifft, ist er innerlich zerrissen. Und tief drin, dort, wo es drauf ankommt, will er den Mars nach wie vor in ein profitables Unternehmen verwandeln.

Einheit und Kameradschaft, wiederholte Jamie stumm. Wer's glaubt, wird selig.

Nach dem Essen ging Jamie ins Kommunikationszentrum, vor allem, um von den anderen wegzukommen. Aber es sollte nicht sein. Er hatte kaum angefangen, das Arbeitsprogramm für den nächsten Tag noch einmal durchzugehen, als Fuchida eintrat und sich wortlos den zweiten Stuhl heranzog.

»Was ist los, Mitsuo?«, fragte er und fürchtete die Antwort.

Fuchida zog eine Minidisk aus der Brusttasche seines Overalls.

»Ich glaube, ich weiß, wer unser Saboteur ist«, sagte er beinahe im Flüsterton.

Unwillkürlich fragte Jamie: »Wer denn?«

Fuchida hielt ihm die Scheibe hin. »Sieh dir das an.«

Jamie schob sie in den Laufwerksschacht des Computers. »Was ist das?«

»Ich habe jeden so genannten ›Unfall‹ mit unseren jeweiligen Aufgaben zum entsprechenden Zeitpunkt korreliert«, sagte der Biologe.

Jamie sah ein verwirrendes Diagramm auf dem Computerbildschirm: Acht gezackte Linien in acht verschiedenen Farben marschierten über einen Gitternetz-Hintergrund.

»Sieht wie die Alpen aus«, brummte Jamie.

Fuchida beugte sich näher heran und fuhr die hellblaue Linie auf dem Schaubild nach. »Jede Linie stellt einen von uns dar. Das hier bin ich.« Sein Finger bewegte sich zu der roten Linie. »Das bist du.«

»Und die Achsen?«

»Die Abszisse ist die Zeitachse; die Ordinate zeigt die Position jedes Einzelnen. Siehst du? Hier bist du bei der ersten Exkursion zum Canyon, mit Dex, Trudy und Stacy.«

Jamie nickte. »Okay.«

»Und jetzt …« Fuchida beugte sich vor und tippte auf eine Taste. An einem halben Dutzend Stellen am unteren Rand des Schaubilds begannen rote Pfeile zu blinken.

»Die Pfeile stehen für die Zeitpunkte, an denen ›Unfälle‹ geschehen sind. Hier« — er berührte den Bildschirm — »wurde beispielsweise die Gartenkuppel durchlöchert.«

»Okay«, wiederholte Jamie.

Ein paar weitere Tastendrücke, dann sagte Fuchida: »So, jetzt habe ich alles Überflüssige entfernt.«

Jamie sah, dass die meisten Linien aus dem Schaubild verschwunden waren. Aber die roten Pfeile blinkten immer noch anklagend.

»Beachte bitte, dass nur eine Person zum Zeitpunkt und am Ort jedes einzelnen ›Unfalls‹ anwesend war.«

»Die gelbe Linie«, sagte Jamie.

»Genau!«

»Und wen stellt sie dar?«

»Stacy.«

»Stacy?« Jamie hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand mit einem Schlag die Luft aus den Lungen getrieben. »Soll das heißen, Stacy ist die Saboteurin?«

Mit einer Handbewegung zum Bildschirm sagte Fuchida: »Die Tatsachen sprechen für sich.«

Jamie sagte nichts, aber seine Gedanken rasten. Es kann nicht Stacy sein. Mitsuo muss sich irren. Er hat nur ein paar halbgare Statistiken zusammengeschmissen …

Fuchida unterbrach seinen Gedankengang. »Stacy war allein im Kommunikationszentrum, als die Gartenkuppel beschädigt wurde. Wir anderen waren in unseren Kabinen, erinnerst du dich?«

»Ja, aber …«

»Sie war allein im Rover, als das Radlager kaputtging.«

»Sie war auch nicht annähernd in der Nähe des Brennofens, als Tomas sich die Hand verbrannt hat.«

»Stimmt, aber sie hat am Brennofen gearbeitet, unmittelbar bevor Rodriguez sie abgelöst hat.«

»Es kann nicht Stacy sein«, beharrte Jamie. »Verdammt, Mitsuo, wir wissen nicht mal, ob es überhaupt einen Saboteur gibt. Diese Unfälle sind wahrscheinlich bloß Zufälle.«

Fuchida schüttelte ernst den Kopf.

»Nun mal langsam, Mitsuo«, sagte Jamie. »Was ist mit deinem eigenen Unfall? Auf dem Olympus Mons. Hat Stacy dir vielleicht den Knöchel verrenkt?«

Der Biologe sah Jamie an wie ein vom Vortrag eines Schülers enttäuschter Lehrer. »Einige Unfälle waren wirklich bloß Zufälle«, sagte er geduldig. Seine Stimme war so leise, dass er fast schon zischte.

»Und wieso können die anderen dann nicht auch Zufälle sein?«

»Es sind zu viele!«, beharrte Fuchida. »Ich habe eine statistische Analyse durchgeführt und sie mit Aufzeichnungen anderer Expeditionen verglichen.«

»Es hat erst eine Expedition zum Mars gegeben.«

»Nein, nein, Expeditionen in die Antarktis, Tiefseemissionen, Trecks durch die Sahara und so. Unsere Unfallquote ist doppelt so hoch wie normal!«

Jamie holte bewusst tief Luft. Bleib ruhig, sagte er sich. Geh rational an die Sache heran.

»In Ordnung, Mitsuo«, sagte er leise. »Ich weiß die Arbeit zu schätzen, die du in diese Sache gesteckt hast, aber ich kann einfach nicht glauben, dass Stacy oder sonst jemand von uns die Ausrüstung zu sabotieren versucht.«

Fuchida setzte zu einer Erwiderung an, aber Jamie schnitt ihm das Wort ab. »Warum? Warum sollte jemand die Gartenkuppel durchlöchern oder den SolarBrennofen manipulieren? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Genau das meine ich ja«, flüsterte Fuchida eindringlich. »Diese Person denkt nicht rational. Sie ist wahnsinnig.«

»Aber würde eine Wahnsinnige nicht auch noch andere Symptome zeigen?«

Fuchida spreizte die Hände. »Ich weiß es nicht.«

»Ohne echte Beweise können wir niemanden beschuldigen«, sagte Jamie.

»Und meine statistische Analyse ist kein echter Beweis?«

»Würde sie vor Gericht standhalten?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Jamie.

»Ich soll morgen zur Kuppel Eins zurückfahren«, erklärte Fuchida. »Wenn Stacy merkt, dass ich sie verdächtige, könnte sie versuchen, einen weiteren ›Unfall‹ für mich zu arrangieren.«

»Das kann ich nicht glauben«, wehrte Jamie ab.

»Ich würde es vorziehen, hier zu bleiben und ihr aus dem Weg zu gehen«, sagte Mitsuo steif.

Jamie überlegte rasch. Wenn Mitsuo hier bleibt, muss Dex mit Tomas zur Kuppel Eins zurück, denn Tomas holt Trudy dort ab. Das heißt, Dex wird für die nächsten vier Wochen mit Vijay zusammen sein.

»Mir wäre es lieber, du würdest fahren, wie geplant«, sagte Jamie.

»Du könntest an meiner Stelle fahren«, erwiderte Fuchida.

Dann könnte ich bei Vijay sein, dachte er. Aber er hörte sich antworten: »Nein, Mitsuo, das geht nicht. Mein Platz ist hier.«

»Ich will nicht mit Stacy zusammen in der Kuppel sein«, sagte Fuchida in entschiedenem Ton.

Jamie sah dem Biologen aufmerksam ins Gesicht und stellte fest, dass Fuchida weder wütend noch aufgeregt war; er schien Angst zu haben.

»In Ordnung«, gab Jamie seufzend nach. »Ich schicke Dex zurück.«

Er fragte sich, ob sie nicht allesamt rapide wahnsinnig wurden.

NACHT: SOL 359

Merkwürdig, dachte Jamie, als er seinen Overall abstreifte, wir sind nur zu zweit in der Kuppel, und doch haben wir den ganzen Tag über kaum ein Dutzend Worte miteinander gesprochen.

Dex und Tommy gondelten zurück zur Kuppel Eins. Dort würde der Astronaut Trudy abholen und sie zum Canyon bringen. Rodriguez pfiff auf der ganzen Strecke vor sich hin und grinste wie eine Katze, die an Kanarienvögel denkt.

Bald haben wir eine richtige Straße zwischen den beiden Kuppeln ausgefahren, sagte sich Jamie. Wie die Furchen, die die Conestoga-Wagons in der Prärie hinterlassen haben.

Er hatte Fuchida nach der Abfahrt des Rovers nicht bewusst gemieden, und keiner von ihnen war in den Raumanzug gestiegen, um draußen zu arbeiten, aber irgendwie schienen er und der Biologe sich fast den ganzen Tag über an entgegengesetzten Enden der Kuppel aufzuhalten. Sie hatten sogar zu unterschiedlichen Zeiten gegessen, jeder allein in der Messe.

Ich bin wütend auf ihn, erkannte Jamie. Ich bin sauer, dass er mich gezwungen hat, Dex zur Kuppel Eins zu schicken. Er und seine paranoiden Anschuldigungen! Stacy ist keine Saboteurin und sie ist auch keine Neurotikerin. Wahrscheinlich ist sie psychisch stabiler als wir alle zusammen.

Aber wer ist dann verantwortlich für diese Unfälle, fragte sich Jamie. Niemand, kam die sofortige Antwort. Es sind eben einfach Unfälle.

Trotzdem … Jamie erwog, die Sache mit Vijay zu besprechen. Sie ist unsere Psychologin, sie sollte darüber Bescheid wissen. Dennoch zögerte er. Fuchida hatte ihm das alles streng vertraulich erzählt; wenn er Vijay darüber informierte, wäre das ein Vertrauensbruch gegenüber dem Biologen.

Was ist wichtiger, fragte sich Jamie stumm. Mitsuos Paranoia geheim zu halten, oder die geistige Gesundheit der ganzen Expedition zu schützen?

Er wusste, wie die Antwort lauten sollte. Doch als er Vijay anrief, tat er das nicht, um die Expedition zu schützen, und er wusste es. Er rief sie an, weil er ihr Gesicht sehen, ihre Stimme hören wollte. Weil sie für die nächsten vier Wochen mit Dex zusammen sein würde und er eine Tagesreise von ihnen entfernt war.

Sie war wach. Ihr offenes Haar hing ihr lose um die Schultern. Die nackt waren. Sie war offenkundig in ihrer Kabine und bereitete sich darauf vor, schlafen zu gehen. Als sie sah, dass es Jamie war, lächelte sie warm vom Bildschirm seines Laptops herab.

»Hi, Kamerad«, sagte sie fröhlich. »Was machen die Bremsen?«

»Bremsen?«

»Insekten.«

»Hier gibt's keine Bremsen.«

»Eins der schönen Dinge, für die wir dankbar sein sollten, hm?«

Sie schien sich wirklich zu freuen, mit ihm zu sprechen, dachte Jamie. Dann wurde ihm klar, dass er sie wie ein Schuljunge angrinsen musste. Aber er spürte, wie sein Grinsen erlosch, als er sich an den Grund seines Anrufs erinnerte.

»Ich glaube, ich habe hier ein ziemlich unangenehmes Problem«, sagte Jamie und senkte die Stimme.

»Oh? Was Ernstes?«

»Sag du's mir.« Er schilderte ihr rasch Fuchidas Benehmen, ohne jedoch den Namen des Biologen zu nennen.

Vijay hörte aufmerksam zu. Als Jamie geendet hatte, sagte sie: »Du redest doch nicht von Dex, oder?«

»Nein«, gab er zu und schüttelte leicht den Kopf.

»Und Tommy ist es garantiert auch nicht.«

Jamie schwieg.

»Bleiben nur noch du und Mitsuo.«

»Ist es wichtig, wer es ist?«

»Natürlich ist das wichtig«, sagte sie. »Und da es dir so widerstrebt, einen Namen zu nennen, muss ich annehmen, dass es Mitsuo ist.«

»So viel zum Thema ›Bewahren von Geheimnissen‹« murmelte Jamie.

»Wie macht er sich so? In seiner Arbeit, meine ich.«

»Gut. So gut wie immer.«

»Warum ist er diesmal nicht mitgefahren? Er hätte doch eigentlich hierher zurückkommen müssen, oder?«

Jamie holte Luft. »Er wollte nicht mit Stacy zusammen sein. Er hat Angst, sie könnte irgendwas anstellen oder so.«

»Hm.« Vijay zog die Augenbrauen zusammen. »Interessant.«

»Und?«

Vijay schien ganz in Gedanken zu sein.

»Was soll ich seinetwegen unternehmen?«, fragte Jamie.

Ihre dunklen Augen richteten sich wieder auf Jamie. »Da kannst du nicht viel tun, Er ist nicht übergeschnappt. Und ich bezweifle, dass er gefährlich ist, außer …« Sie verstummte.

»Außer?«, hakte Jamie nach.

Vijay biss sich sekundenlang auf die Lippe, dann antwortete sie: »Außer er hat diese Unfälle selbst verursacht und projiziert die Schuld nun auf Stacy.«

Jamie war wie betäubt.

»Ich glaube nicht, dass es so ist«, fügte Vijay rasch hinzu. »Es war nur so ein Gedanke.«

»Toller Gedanke.«

»Was meinst du zu all dem? Bist du überzeugt, dass diese Unfälle wirklich zufällig passiert sind?«

»War ich, aber jetzt … ich weil? es einfach nicht.«

»Ich verstehe.«

»Ich werde auch langsam paranoid«, sagte Jamie.

»Nicht ungewöhnlich unter diesen Umständen. Jeder verdächtigt jeden.«

»Was soll ich tun?«, fragte Jamie erneut.

Vijay hob die nackten Schultern. »Du kannst nicht viel tun, Jamie. Behalte ihn im Auge. Hör ihm verständnisvoll zu. Muntere ihn auf. Ich werde einen Grund finden, zu euch zu kommen und mit ihm zu reden.«

»Okay. Gut.«

»Tut mir Leid, mehr hab ich dir im Moment nicht zu bieten, Kamerad.«

»Es ist schon eine Erleichterung, einfach nur mit dir darüber sprechen zu können.«

Sie lächelte erneut, aber jetzt lag eine Spur Traurigkeit darin. »Ja, es ist schön, mit dir zu sprechen, das finde ich auch.«

Er wollte ihr sagen, dass er sie vermisste, wollte ihr sagen, dass er ihre Wärme, ihren Trost brauchte, dass ihm ein Leben ohne sie öde und leer erschien. Aber es gelang ihm nicht, die Worte zu formen. Stattdessen sagte er einfach nur: »Danke, Vijay.«

Sie schien ebenfalls nicht die richtigen Worte zu finden. Eine ganze Weile sahen sie sich gegenseitig über ihre Bildschirme an.

Endlich sagte Vijay: »Nacht, Jamie.«

»Gute Nacht.«

Ihre Bild erlosch. Der Bildschirm wurde dunkel. Jamie zog seine Unterwäsche aus und streckte sich auf seiner Liege aus. Er grinste in die Schatten der abgedunkelten Kuppel hinauf.

Sie kommt her! Sie wird schon eine Ausrede dafür finden. Ich sollte Mitsuo dankbar sein.

Sein letzter Gedanke, bevor er einschlief, galt ihren nackten Schultern. Hatte sie überhaupt etwas angehabt, als sie miteinander gesprochen hatten? War sie vielleicht ganz nackt gewesen?

Fuchidas Laune schien sich zu bessern, als Trudy sich zu ihm gesellte. Die beiden Biologen fingen sofort an, miteinander zu schwatzen, als sie durch den Zugangstunnel kam. Am nächsten Morgen fuhren sie an den Buckyball-Seilen zum Boden des Canyons hinunter, um gemeinsam an den Flechten zu arbeiten.

Auch Tomas war augenscheinlich besserer Dinge. Er und Trudy teilten ganz offen das Bett, ohne dass jemand dumme Fragen stellte. Jamie musste zugeben, dass Trudy alles freundlicher aussehen ließ. Wenn sie nur nicht jeden Morgen vor Tagesanbruch ihre unablässigen Joggingrunden in der Kuppel gedreht hätte.

Die einzigen negativen Töne kamen von Dex. Er rief Jamie jeden Tag an, um über den Fortschritt der Vorbereitungen für die nächste Expedition zu berichten.

»Der liebe alte Dad hat seine ärztlichen Untersuchungen überstanden«, sagte Dex traurig. »Sein Blutdruck war vollkommen normal. Gott weiß, welchen Medikamenten-Cocktail er vorher eingenommen hat.«

Am nächsten Tag berichtete Dex: »Mein alter Herr hat mir 'ne Nachricht geschickt. Es ging um unseren Versuch, das IUK dazu zu bewegen, Anspruch auf unser Territorium auf dem Mars zu erheben. Er hat so gelassen und kühl wie ein Gletscher hinter seinem verdammten großen Schreibtisch gehockt und mir erklärt, wenn ich so 'ne Nummer noch mal abzöge, würde er mich enterben.«

»Oh nein«, stöhnte Jamie.

Dex' Grinsen war wild. »Als ob ich sein verdammtes Geld brauchte. Ich kann mir meinen Lehrstuhl an den Unis nach Belieben aussuchen, wenn ich nach Hause komme.«

Jamie warnte ihn sanft: »Das Gehalt eines Professors ist nicht ganz dasselbe wie die Art Geld, die du gewohnt bist, Dex.«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung sagte Dex: »Ich weiß, wie man Geld macht, Kumpel. Hab meinem Vater mein Leben lang dabei zugesehen. Soll er mich ruhig aus seinem Testament streichen! Ist mir scheißegal! Ich werd ihm zeigen, dass ich verdammt gut ohne ihn und sein Geld leben kann!«

Na klar doch, antwortete Jamie stumm. Laut sagte er zu Dex: »Schneid dir nicht ins eigene Fleisch …«

»Blödsinn!«, fauchte Dex. »Er versucht mir die Eier abzuschneiden. Dem werd ich's zeigen!«

Erst Stunden später wurde Jamie bewusst, dass es ihm kein Kopfzerbrechen mehr bereitete, ob Dex und Vijay wieder etwas miteinander anfangen würden. Vor ein paar Monaten hätte ihn eine solche Erkenntnis sehr glücklich gemacht, aber jetzt beunruhigte ihn vor allem die Sache mit Dex' Vater, der herkommen wollte, um diesen Teil des Mars für seine geschäftlichen Pläne zu beanspruchen.

Er fragte sich, warum er sich keine Sorgen mehr wegen Vijay und Dex machte. Es lag nicht daran, dass Vijay ihm gleichgültig war. Er machte sich mehr aus ihr, als er ihr gegenüber zugeben konnte. Aber hier auf dem Mars waren all diese persönlichen Beziehungen verworren. Sie hat Recht, wenn sie verhindert, dass es zu ernst wird. Was zwischen uns ist, werden wir erst dann wirklich klären können, wenn wir zur Erde zurückkehren, sagte sich Jamie. Falls überhaupt.

Jetzt ist es zunächst einmal wichtig, ja sogar unbedingt notwendig, Darryl C. Trumball daran zu hindern, dem Mars das anzutun, was seine Vorväter den amerikanischen Ureinwohnern angetan haben.

Jamies Großvater kam erneut zu ihm, in einem Traum.

Aber nicht gleich. Jamies Traum begann in dem nackten, kalten, verlassenen Felsenbauwerk. Er ging mit langsamen, zielstrebigen Schritten durch all die stummen, leeren Kammern, wie er es nun schon seit vielen Monaten jeden Tag tat. Diesmal trug er jedoch keinen Raumanzug, sondern nur seinen fadenscheinigen, abgenutzten Overall.

Er berührte die Wände, strich mit den Fingerspitzen über die anmutigen, gebogenen Linien der in die Steine geritzten Schrift. Er spürte die Sonnenwärme, die von den geheimnisvollen Symbolen ausging.

Außer ihm war niemand da. Er drehte sich um und verließ den aufgegebenen Tempel, dann kletterte er langsam die schmalen, steilen Stufen hinunter, die so mühsam in die zerklüftete Felswand gehauen worden waren. Unten am Grund des Canyons, wo der Fluss friedlich durch üppige, blühende Felder strömte, wartete das Dorf auf ihn.

Die Angehörigen des Volkes waren da, lebendig und vital wie er selbst, aber sie schenkten ihm keine Aufmerksamkeit. Sie gingen ihren Verrichtungen nach; Männer versammelten sich auf dem zentralen Platz, unterhielten sich und zeigten zu einem fernen Horizont, einem Rendezvous mit der Zukunft. Frauen saßen auf ihren Türschwellen und flochten Körbe, während ihre Kinder lärmend herumliefen und spielten. Überall ertönte Gelächter, alles war von der Wärme des Lebens erfüllt.

Sie waren real, und er war ein blasser Geist, nahezu unsichtbar für sie. Er kannte ihre Gesichter, die robusten, breitwangigen Gesichter seiner Ahnen. Ihre dunklen Haare und noch dunkleren Augen. Er suchte seinen Großvater, fand ihn aber nicht.

Dann ein Durcheinander am anderen Ende des Dorfes. Ein Tumult. Leute blieben wie festgewurzelt stehen und blickten die lange Straße hinunter. Männer liefen mit finsteren Gesichtern, aus denen Zorn oder vielleicht auch Furcht sprach, auf den Lärrn zu.

Fremde waren dort, bleiche Männer auf schnaubenden, aufstampfenden Pferden. Jamie erkannte einen von ihnen: Es war Darryl C. Trumball. Er rief Befehle und deutete mit einer Hand hierhin und dorthin, während er mit der anderen sein bockendes, wieherndes Pferd im Zaum hielt.

Dann trat Großvater Al aus der Menge hervor. Er trug seinen besten Anzug, dunkelbau, mit einer türkis-silbernen Bolo am offenen Kragen seines steifen weißen Hemdes. Ohne Hut schritt er auf Trumball zu.

»Sie dürfen nicht hierher kommen«, sagte Großvater Al mit der kräftigsten Stimme, die Jamie je im Leben gehört hatte. »Gehen Sie!«

Trumball blies sich auf. »Wir übernehmen dies alles. Um euch wird man sich kümmern, keine Angst. Ich werde dafür sorgen, dass ihr geschützt werdet.«

»Wir wollen Ihren Schutz nicht«, sagte Al. »Wir brauchen ihn nicht.«

»Ihr müsst verschwinden«, beharrte Trumball.

Großvater Al drehte sich ein wenig und winkte Jamie zu sich. »Nein, wir bleiben. Sie sind derjenige, der verschwinden muss. Jamie, zeig ihm das Papier.«

Jamie merkte, dass er mit der rechten Hand eine Schriftrolle umklammerte. Er trat auf Trumball zu, der immer noch auf seinem ungeduldigen Pferd saß.

Und wachte auf.

MORGEN: SOL 363

Jamie setzte sich auf seiner Liege auf. Er war hellwach und fühlte sich stark und erfrischt. Das ist es, sagte er sich. Das muss ich tun.

Er wusste nicht, ob er ein Dankgebet gen Himmel schicken oder einen wilden Jubelschrei ausstoßen sollte, und entschied sich dann gegen beides. Stattdessen fuhr er seinen Laptop hoch und rief Fete Connors in Tarawa an.

Es dauerte fast den ganzen Tag, aber schließlich bekam Jamie die richtige Adresse und schickte seine Botschaft ab. Dann musste er auf die Antwort warten. Er dachte an die Sommer zurück, die er bei seinem Großvater in New Mexico verbracht hatte; damals hatte Al ihn ein paarmal zu den Pueblos im Reservat mitgenommen, wo er Decken und Keramikartikel kaufte, um sie in seinem Laden in Santa Fe an die Touristen zu verhökern.

Durchaus möglich, dass es mehrere Tage dauert, erkannte Jamie. Sie werden mir nicht sofort antworten.

Zu seiner Überraschung wartete die Antwort jedoch schon auf ihn, als er am nächsten Morgen den Computer einschaltete. Seine Finger zitterten ein wenig, als er die Botschaft aufrief.

Der Präsident der Navajo Nation lächelte vom Bildschirm herab. »Ya'aa'tey«, sagte er. Er war erstaunlich pummelig, aber seine Augen strahlten und tanzten, als wäre es ihm eine Freude, mit Jamie zu sprechen, selbst in der von der Entfernung zwischen den beiden Welten erzwungenen, zeitversetzten Weise.

»Ihre Botschaft hat mich überrascht«, fuhr er fort, »aber auch sehr gefreut. Ich kannte Ihren Großvater, und ich habe Sie damals im Fernsehen gesehen, als Sie zum ersten Mal auf dem Mars gelandet sind. Hoffentlich habe ich irgendwann einmal Gelegenheit, persönlich mit Ihnen zu sprechen.«

Dann wurde er ernster. Das Lächeln verblasste etwas, verschwand aber nicht ganz. »Ihr Vorschlag ist wirklich ein Knüller. Er gefällt mir, aber die Entscheidung liegt nicht bei mir allein. Ich habe schon eine Ratssitzung einberufen, und unsere Anwälte werden die Sache natürlich noch prüfen müssen. Aber ich finde die Idee gut, und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um sie durchzubringen.«

Er zögerte, dann sagte er noch ernster: »Sie übertragen uns da eine große Verantwortung. Ich weiß nicht, ob wir ihr gewachsen sind.« Dann kehrte sein Lächeln mit voller Strahlkraft zurück. »Aber ich würde es jedenfalls gern versuchen!«

Jamie hörte sich den Rest der Botschaft an, dann schickte er zur Bestätigung ein kurzes »Mr. President, danke für Ihre guten Worte. Ich warte auf die offizielle Antwort der Nation. Noch einmal vielen Dank.«

Anschließend rief er Dex Trumball an.

Dex saß gerade beim Frühstück, als Stacy Deschurowa ihn ins Kommunikationszentrum rief. Er glitt auf den leeren Stuhl neben ihr und sah Jamies gleichmütiges, ernstes Gesicht auf dem Bildschirm. Neben ihm ließ Stacy das Logistik-Bestandsverzeichnis über den Monitor laufen und überprüfte ihre Vorräte.

»Was gibt's, Chief?«, fragte Dex lässig.

Jamie sagte: »Ich habe den Mars der Navajo Nation angeboten.«

Dex wäre beinahe vom Stuhl gefallen. »Du hast was getan?«

»Ich habe den Präsidenten der Navajo Nation gefragt, ob sein Volk formell die Nutzungsrechte für alle Gebiete auf dem Mars beanspruchen möchte, die wir bisher erforscht haben.«

»Aber die sind doch in Arizona!«

»Ich bin hier«, sagte Jamie mit fester Stimme. »Ich vertrete die Navajo Nation.«

»Heilige Scheiße«, murmelte Dex.

Stacy hatte ihren Bildschirm eingefroren. Sie starrte Dex und Jamie an.

»Ich sehe das so«, sagte Jamie, »wenn die Navajos Anspruch auf die Nutzung dieses Landes erheben, kriegt dein Vater es nicht in die Hände.«

»Das stimmt.« Ein Grinsen bahnte sich seinen Weg auf Dex' Gesicht. »Er müsste hier sein, müsste körperlich anwesend sein, um die Nutzungsrechte zu beanspruchen.«

»Und wir sind schon hier. Ich werde also den Anspruch anmelden, sobald ich vom Navajo-Rat grünes Licht bekomme.«

»Mannomann, das haut mich echt vom Hocker«, sagte Dex lachend. »Mein alter Herr wird 'nen Schlaganfall kriegen! Die Indianer stehlen dem weißen Mann das Land! Wozu!«

Jamie fragte: »Glaubst du, das hält deinen Vater wirklich auf?«

»Er kommt nicht mehr an das Bauwerk in der Felswand ran, auch nicht an die Hauptkuppel und die Vulkane, die Mitsuo erforscht hat — ja, er wird sich nirgends geschäftlich niederlassen können, wo wir schon gewesen sind.«

»Dann bleibt ihm noch eine Menge vom Mars übrig.«

»Ja, aber wir haben die Filetstücke! Oder vielmehr, deine Rothaut-Kumpels haben sie.«

»Dann könnte es funktionieren.«

»Ja, klar«, sagte Dex und wurde wieder nüchtern. »Gibt da nur ein Problem.«

»Welches?«

»Von der Finanzierung der nächsten Expedition können wir uns verabschieden.«

Dex war zu aufgeregt, um irgendeine nützliche Arbeit zu machen. Er ging ins Geologielabor, verbrachte seine Zeit jedoch damit, hektische Botschaften zur Erde zu schicken; er setzte sich mit Anwälten und Professoren für internationales Recht in Verbindung. Nach mehreren Stunden sah Wiley Craig schließlich von der Wärmestromkarte auf, an der er gerade arbeitete, und schüttelte den Kopf.

»He, Kumpel, was immer du da machst, aufm Arbeitsplan steht das nich.«

Dex blickte vom Computerbildschirm auf. »Ich sammle Informationen, Wiley.«

»Aber garantiert nich über Geologie.«

»Nein, da hast du verdammt Recht.« Dex erhob sich vom Hocker und ging zur Labortür. »Ich muss rüber zur zweiten Kuppel. Muss mit Jamie von Angesicht zu Angesicht sprechen.«

Wiley schüttelte nur den Kopf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Tja«, brummelte er, »irgendeiner muss die Arbeit ja machen.«

Stacy war nicht überrascht, dass Dex zu Jamie in Kuppel Zwei wollte. Aber sie zeigte trotzdem wenig Verständnis dafür.

»Du hast hier zu tun«, sagte sie streng. Sie stand wie ein unüberwindlicher Linebacker in der Mitte des Kommunikationszentrums. »Laut Arbeitsprogramm …«

»Soll ich zu Fuß zum Canyon gehen?«, fuhr Dex auf. »Ich muss da hin, Stacy. Die Finanzierung der nächsten Expedition ist wichtig, Himmel noch mal!«

Sie stemmte ihre fleischigen Fäuste in die Hüften. »Willst du da drüben am Canyon zehn Milliarden Dollar auftreiben?«

Dex schenkte ihr ein jungenhaftes Grinsen. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber wir werden garantiert zehn Milliarden verlieren, wenn wir keinen Weg finden, um meinen Vater rumzukommen.«

Deschurowa schnaubte verächtlich. Bevor sie jedoch etwas erwidern konnte, steckte Vijay den Kopf zum offenen Eingang des Kommunikationszentrums herein.

»Hab ich mich verhört, oder hast du gerade gesagt, du wolltest mit einem Rover zur Kuppel Zwei rüber?«, fragte sie. »Ich möchte auch da hin.«

»Wie bitte? Warum?«, wollte Deschurowa wissen.

»Ich muss die Leute dort untersuchen«, antwortete Vijay. »Und psychologische Profile anlegen.«

Die Kosmonautin verdrehte die Augen zum Himmel. »Vielleicht sollten wir alle hinfahren und diese Kuppel endgültig aufgeben.«

»Sag ich ja schon seit Monaten«, erwiderte Dex mit spitzbübischem Grinsen.

»Dann fahrt doch!«, rief Deschurowa abrupt. »Vergesst eure Arbeit und gondelt fröhlich durch die Weltgeschichte.«

»Nun sei nicht sauer, Stacy«, sagte Dex beruhigend. »Wenn es nicht wirklich wichtig wäre, würde ich es nicht tun, das weißt du.«

»Ich weiß, dass du deinen Kopf immer durchsetzt. Fahrt! Nehmt den alten Rover. Lasst mir wenigstens eine der neuen Maschinen da.«

Die Nacht brach herein, bevor sie auch nur ein Viertel des Weges zur Kuppel Zwei zurückgelegt hatten, aber Dex fuhr trotz der Dunkelheit weiter — langsam zwar, aber sie kamen dennoch voran.

Im Scheinwerferlicht des Rovers sah Vijay, die neben ihm im Cockpit des Rovers saß, die deutlich erkennbaren Radspuren auf dem staubbedeckten Boden.

»Du folgst dem ausgefahrenen Weg«, sagte sie.

»Ja. Macht die Sache leichter Man weiß, dass man nicht auf irgendwelche großen Felsen oder Krater stoßen wird.«

»Wird Jamies Idee wirklich funktionieren?«, fragte Vijay und drehte sich ein wenig auf dem Sitz, um Dex direkt anzusehen. »Meinst du, er kann deinen Vater daran hindern, sich diese Region unter den Nagel zu reißen?«

»Sieht so aus«, sagte Dex und schaute nach vorn. »Aber die andere Seite der Medaille ist, dass mein Vater nicht mehr als Motor der Finanzierungskampagne für die nächste Expedition zur Verfügung stehen wird.«

Vijay dachte einen Moment lang darüber nach, dann sagte sie: »Dann wirst du seinen Platz einnehmen müssen.«

»Was?« Dex sah sie mit großen Augen verblüfft an.

»Wenn dein Vater das Geld für die nächste Expedition nicht auftreibt, wirst du's tun müssen.«

Er trat auf die Bremspedale und brachte den Rover zum Stehen. Langsam und methodisch schaltete er die Fahrmotoren ab.

»Ich werd's tun müssen«, sagte er leise.

»Wer sonst?«

Dex wirkte geistesabwesend, als sie nach hinten in die Kombüse gingen und ihr Abendessen in die Mikrowelle stellten. Sie aßen in fast völligem Schweigen. Vijay sah, dass Dex mit den Gedanken hundert Millionen Kilometer weit weg war.

»Das Problem ist«, sagte er, als sie den Tisch abräumten, »ich hab mich noch nie gegen meinen Vater durchgesetzt. Ich musste immer alles so machen, wie er es wollte — außer wenn ich ihn beschwatzen konnte, sodass er glaubte, was ich wollte, sei von vornherein seine Idee gewesen.«

»Jetzt wirst du dich gegen ihn durchsetzen müssen«, sagte Vijay.

Dex nickte bedächtig. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Meinst du nicht, es wird langsam Zeit, dass du's rausfindest?«

Sie standen beim Spülbecken in der Kombüse, zwischen der Mikrowelle und den Gestellen mit den Raumanzügen. Dex packte Vijay direkt über dem Ellbogen am Arm und zog sie an sich.

Sie legte ihm die flache Hand auf die Brust. »Nein, Dex.«

»Nein?«

»Es gibt bestimmt mehrere Millionen Frauen, die auf deine Rückkehr zur Erde warten. Du wirst jede Menge Auswahl haben.«

»Das kommt später«, sagte er. »Jetzt ist jetzt.«

»Leider nicht.«

Er stieß die Luft aus. »Jamie, hm?«

»Jamie«, gab sie zu.

»Er ist ein Glückspilz.«

Jetzt seufzte sie. »Ich wünschte, er wüsste es.«

Dex sah sie verwirrt an.

»Er ist in den Mars verliebt«, erklärte Vijay. »Ich muss mit diesem ganzen verdammten Planeten konkurrieren.«

PRESSEKONFERENZ

Darryl C. Trumball war es nicht gewohnt, im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Er zog es vor, im Hintergrund zu bleiben und seine Handlanger und Marionetten vorzuschicken.

Doch als erster ›normaler‹ Mensch, der zum Mars fliegen würde, war er eine Berühmtheit geworden. Jetzt, knappe vier Tage, bevor die Unterstützungsmission von Cape Canaveral starten sollte, saß er an einem langen Tisch mit vier jungen Archäologen und zwei Astronauten und schaute auf ein Meer von Journalisten und Fotografen hinaus, die den Hörsaal bis zum Bersten füllten.

Wie seine Teamgefährten trug Trumball einen korallenroten Overall mit dem schicken Logo der zweiten Marsexpedition über dem Herzen. Er war natürlich älter als alle anderen, fast älter als jeweils zwei von ihnen zusammen. Aber er war schlank und hart und fit. Niemand kannte die Angst, die ihm das Blut gefrieren ließ; niemand hörte, wie laut sein Herz in der Brust pochte, wenn er daran dachte, dass er wirklich in diese fliegende Bombe steigen und damit bis zu dem fernen, eisigen, gefährlichen Mars fliegen würde.

»Warum heißt diese Mission nicht die dritte Expedition?«, rief ein Reporter von der Tür her.

»Das ist eine Unterstützungsmission für die zweite Expedition«, erklärte der ältere Astronaut, ein alter Hase, wenn es darum ging, hirnlose Fragen abzuwimmeln.

»Wir werden insbesondere das alte Gebäude erforschen, das in der Felswand des Grand Canyon des Mars entdeckt worden ist«, sagte der Chefarchäologe, ganze vierzig Jahre alt.

»Was ist mit der dritten Expedition?«, fragte ein anderer Reporter.

»Wird es eine dritte Expedition geben?«

Alle am Tisch wandten sich Trumball zu. »Ja«, versicherte er ihnen forsch. »Es wird eine dritte Marsexpedition geben.«

»Wann?«

»Wie bald?«

»Wir arbeiten gerade die Einzelheiten aus«, sagte Trumball.

»Was ist mit anders gearteten Flügen zum Mars?«, fragte eine Frau. »Wann werden wir dort Urlaub machen können?«

Ein leises Gekicher ging durch die Pressemeute.

Aber Trumball beantwortete die vorher abgesprochene Frage. »Deshalb fliege ich mit den Wissenschaftlern dorthin. Ich will der Welt zeigen, dass normale Menschen zum Mars fliegen, mit eigenen Augen die Schönheiten der verschwundenen marsianischen Zivilisation sehen und ihren Fuß dorthin setzen können, wohin ihn die Marsianer gesetzt haben, dass sie den Gipfel des höchsten Berges im Sonnensystem erreichen und den längsten, breitesten und tiefsten aller Grand Canyons erforschen können.«

Mehrere Archäologen machten ein bestürztes Gesicht, aber keiner wagte es, Trumball zu widersprechen.

»Warum Sie, Sir?«, fragte ein kahlköpfiger, stattlicher Journalist aus der letzten Reihe des Hörsaals. »Warum müssen Sie selbst hinfliegen? Könnte man nicht jemand weniger … äh … Prominenten an Ihrer Stelle hinschicken?«

Trumball lächelte geduldig. »Sie meinen, warum ein alter Furz wie ich dort hinfliegen will?«

Alle lachten.

»Ich möchte zeigen, dass selbst jemand meines Alters die Reise problemlos überstehen und sogar genießen kann.« Er hielt inne, sorgte damit dafür, dass die Presseleute gespannt auf seine nächsten Worte warteten, und fuhr dann fort: »Aber denken Sie daran, es sind schon ältere Männer als ich ins All geflogen, angefangen mit Senator Glenn vor nahezu vierzig Jahren.«

»Aber bis zum Mars?«

»Ja«, sagte Trumball, ohne dass sein Lächeln auch nur einen Millimeter verrutschte. »Bis zum Mars. Ich werde der erste von Millionen normaler Männer und Frauen sein, die dorthin fliegen.«

Außerdem, fügte er stumm hinzu, gibt es da oben Geld zu verdienen, und ich werde, verdammt noch mal, dafür sorgen, dass mir niemand die Tour vermasselt.

NACHMITTAG: SOL 568

Jamie hing gerade im Klettergeschirr und schabte Gesteinsproben von der Felswand, als die Botschaft durchkam.

»Du hast's geschafft!«, tönte Dex' Stimme triumphierend aus seinen Helmlautsprechern. »Hör dir das an!«

Es war die Botschaft des Präsidenten der Navajo Nation, die Botschaft, auf die er gewartet hatte. Jamie wünschte, er könnte das Gesicht des Mannes sehen, aber allein schon dessen Worte bewirkten, dass ihm vor Stolz und Dankbarkeit ganz heiß wurde.

»Das Navajo-Volk akzeptiert die Verantwortung, die mit der Beanspruchung der Nutzungsrechte an den von der zweiten Marsexpedition erforschten Gebieten des Mars verbunden ist«, sagte der Präsident langsam, als läse er es von einem vorbereiteten Skript ab. »Wir haben die Absicht, diese Gebiete im Namen aller Völker der Erde treuhänderisch zu verwalten und die behutsame wissenschaftliche Erforschung des Planeten Mars und all seiner Lebensformen in Vergangenheit und Gegenwart voranzutreiben.

Wir erkennen an, dass Dr. James Waterman, dessen Vater ein reinblütiger Navajo war, der Repräsentant unseres Volkes auf dem Mars ist, während dieser Anspruch offiziell bei der Internationalen Raumfahrtbehörde angemeldet wird.«

Es kam noch mehr, und Jamie hörte sich geduldig alles an, während er zwei Kilometer über dem Grund des Canyons baumelte. Aber er hörte nur mit einem Bruchteil seiner Aufmerksamkeit zu, weil eine Stimme in seinem Kopf sagte: Du hast es geschafft. Jetzt kann Trumball keinen Anspruch auf die Nutzung dieses Landes erheben. Jetzt wird es weder ihm noch den Bodenspekulanten oder Rohstoffausbeutern in die gierigen Hände fallen. Wir können den Mars sauber halten und ihn der wissenschaftlichen Forschung bewahren.

Gleich im Anschluss an die Botschaft des Präsidenten meldete Dex sich wieder und schnatterte: »Ich wünschte, ich könnte das Gesicht meines Vaters sehen, wenn er das hört. Er wird an die Decke gehen! Er steht schon in voller Montur in den Startlöchern, und jetzt ist alles umsonst. Er kriegt hier kein Bein auf den Boden! Ich wette …«

Jamie schaltete den Anzugfunk ab. Er hing in seliger Stille im Geschirr, schwankte leicht am Seil und hörte nichts als das leise Pochen seines Pulsschlags und das schwache Surren der Anzugbelüftung.

Er stemmte beide Füße gegen die Felswand, stieß sich mit aller Kraft ab und ließ einen wilden Jubelschrei reiner Freude ertönen, während er an dem Seil Schwindel erregend hin und her schwang.

Nur vier Journalisten erschienen bei der Pressekonferenz des Navajo-Präsidenten, aber seine Ankündigung, die Navajo Nation — vertreten durch Jamie Waterman — beanspruche die Nutzungsrechte am Mars, zischte mit Lichtgeschwindigkeit durch die Nachrichtenmedien.

Am nächsten Morgen wurde das Büro des Präsidenten am Window Rock von einem Heer von TV-Fans und Reportern belagert. Schlagzeilen in aller Welt plärrten:


INDIANER BEANSPRUCHEN MARS

NAVAJO NATION ÜBERNIMMT ROTEN PLANETEN

RACHE FÜR CUSTER: INDIANER ÜBERFALLEN TRUMBALL ENTERPRISES

NAVAJOS REISSEN AUSSERIRDISCHES RESERVAT AN SICH


Man sah der Vorsitzenden der Internationalen Raumfahrtbehörde an, dass ihr ausgesprochen unbehaglich zumute war. Darry C. Trumball hatte sie mit seinem Privatjet nach Boston einfliegen lassen, sie im besten Hotel am Hafen untergebracht und seine persönliche Limousine samt Fahrer geschickt, um sie in sein Büro zu bringen.

Trotzdem war sie offensichtlich nervös und fühlte sich unwohl, als sie vor Trumballs massivem Schreibtisch saß, eine spindeldürre Frau mit ergrauendem Haar, deren harte Züge bezeugten, dass sie gewaltige Widerstände überwunden hatte, um zu der Position aufzusteigen, die sie jetzt innehatte.

Jetlag, sagte sich Trumball. Sie spürt noch den Jetlag vom Herflug. Aber in Wahrheit glaubte er das nicht; sie wirkte missvergnügt, beinahe wütend darüber, dass sie zu ihm gerufen worden war.

»Falls Ihr Interesse dem Antrag der Navajos gilt«, sagte sie ohne jede Einleitung außer einem sehr kühlen ›Guten Morgen‹, »so scheint er juristisch vollkommen korrekt formuliert und durchaus begründet zu sein.«

Trumball sank in seinen hohen ledernen Schreibtischsessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich soll in zwei Tagen mit der Unterstützungsmission starten«, sagte er milde. »Wenn dieser Navajo-Anspruch begründet ist, hat das für mich keinen Sinn mehr.«

»Ich wüsste nicht, was mit ihrem Anspruch nicht in Ordnung sein sollte«, erwiderte die Vorsitzende der IRB. Trumball hatte Schwierigkeiten, ihren Akzent einzuordnen. Deutsch vielleicht. Er hatte keine Ahnung von ihrer Herkunft. Er hatte seinem Personal nur befohlen, die Chefin der IRB in sein Büro zu schaffen.

»Dann wird man ihren Anspruch also anerkennen?«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Der gesamte Ausschuss muss zusammentreten und den Antrag formell billigen, aber ich sehe da kein Problem. Wir sind an internationales Recht und an die Verträge gebunden, die seit neunzehnhundertsiebenundsechzig von den verschiedenen Staaten ratifiziert wurden.«

»Ich verstehe«, sagte Trumball.

»Ich würde vorschlagen«, sagte sie steif, »Sie streichen Ihre Reisepläne und treten Ihren Platz auf dem Flug zum Mars an einen weiteren Archäologen ab.«

Trumball nickte. »Ja, mir scheint, das wäre klug.«

Ein langes Schweigen dehnte sich zwischen ihnen. Sie wartet darauf, dass ich ihr meine Interessen finanziell schmackhafter mache. Oder dass ich Drohungen ausstoße. Sie unter Druck setze. Er musterte ihr schmales, bleiches Gesicht und sah echte Feindseligkeit. Sie kann mich nicht leiden. Sie mag keine amerikanischen Milliardäre, die ihren Einfluss geltend machen. Aber sie mag mein Geld. Deshalb hat sie sich bereit erklärt, zu mir zu kommen.

»Mr. Trumball«, sagte sie schließlich mit ein wenig heiserer Stimme.

»Ja?«

»Ich weiß, dass Sie über diesen Verlauf der Dinge enttäuscht sind.«

Er nickte zustimmend.

»Aber ich hoffe, das wird keine Auswirkungen auf Ihren Beitrag zur dritten Expedition haben.«

»Wieso denn nicht?«, fuhr er auf.

»Weil die Erforschung des Mars wichtiger ist als … als … Ihre Pläne, Geld zu machen.«

Da. Jetzt war es heraus. Sie war eine verfluchte Sozialistin, genau wie all die anderen Bürokraten.

Aber er achtete darauf, dass seine Stimme ruhig und vernünftig klang, als er erwiderte: »Wichtiger für Sie, Madam. Nicht für mich.«

Sie schaute ihm direkt ins Gesicht. »Soll das heißen, Sie werden keinen Beitrag zur Finanzierung der dritten Expedition leisten, wenn wir den Navajos gestatten, Nutzungsrechte zu beanspruchen?«

»Genau das soll es heißen.«

»Aber wie ich Ihnen bereits erklärt habe, haben wir in dieser Sache keine Wahl. Ihr Anspruch ist rechtsgültig, und wir müssen das akzeptieren.«

»Dann müssen Sie sich Ihr Geld woanders suchen«, sagte Trumball.

Die Vorsitzende der IRB sprang auf. »Genau das hatte ich von jemandem wie Ihnen erwartet!«

Trumball stand ebenfalls auf. Langsam. »Dann habe ich Sie ja nicht enttäuscht. Das freut mich.« Er zeigte zur Tür. »Einen schönen Tag noch.«

Sobald sie draußen war, setzte er sich wieder und drehte den Sessel herum, sodass er auf die City und den Hafen von Boston tief unter sich hinausschauen konnte.

Ich sollte dem Indianer nicht die Schuld daran geben. Waterman wäre niemals von allein auf diese Idee gekommen. Dex steckt dahinter. Dex hat mich von einem ganzen Planeten vertrieben. Der kleine Hurensohn hat mich in die Eier getreten.

Seltsamerweise lächelte er.

Jamie blieb so lange draußen, wie es irgend ging, sammelte Proben von den Schichten an der Felswand, fuhr ganz hinunter zum Boden des Canyons, um Trudy und Mitsuo zu helfen, ging allein durch das stille, leere marsianische Gebäude. Aber schließlich musste er doch wieder in die Kuppel zurück. Die Felswand war bereits dunkel und verschattet, als die Sonne zum westlichen Horizont sank. Fuchida und Hall fuhren auf dem Weg zur Kuppel an der Felsennische vorbei nach oben. Vijay, die an der Kommunikationskonsole saß, erklärte ihm, die Sonne gehe gleich unter, und er müsse zurückkommen.

Sobald Jamie durch die Innenluke der Luftschleuse trat, sah er, dass Dex vor Begeisterung geradezu durch die Kuppel hüpfte.

»Die Hälfte aller Nachrichtenmedien der Welt will mit dir sprechen, Kumpel«, krähte er, kaum dass Jamie den Helm abgenommen hatte. »Die drehen alle durch da unten!«

»Irgendeine Nachricht von deinem Vater?«

»Nein. Aber Pete Connors hat sich gemeldet und erzählt, dass der liebe alte Dad seinen Flug abgesagt hat.«

Als er den Oberkörper aus dem Oberteil des Raumanzugs wand, sah Jamie, dass Vijay auf sie zugeeilt kam.

»Das heißt, er wird nichts zur Finanzierung der nächsten Expedition beitragen, nicht wahr?«, sagte Jamie.

»Wen interessiert's?«, fauchte Dex. »Ich werde mich darum kümmern, sobald wir wieder zu Hause sind.«

Vijay wirkte aufgeregt und besorgt. »Kommt ins Kommunikationszentrum, schnell!«, rief sie, beinahe nach Luft ringend. »Es hat einen Unfall gegeben!«

ABEND: SOL 368

Stacy Deschurowas fleischiges Gesicht war dreckverschmiert und schweißglänzend. Sie schaute grimmig und wütend drein.

»Vollständiger Ausfall des Hauptstromsystems«, erklärte sie Jamie. »Wir haben auf die Brennstoffzellen umgeschaltet, aber selbst wenn wir alles bis auf die Notfallstufe herunterfahren, werden wir die Nacht nicht überstehen.«

»Was ist passiert?«, fragte Jamie.

Stacy schüttelte den Kopf. »Die ganze Anlage hat sich abgeschaltet. Das Notsystem ist sofort angesprungen, aber wenn wir das Hauptsystem nicht vor Einbruch der Dunkelheit wieder in Gang kriegen, werden wir … Moment. Hier ist Possum … äh … Wiley.«

Jamie saß an der Hauptkommunikationskonsole, Vijay neben ihm. Trudy, Mitsuo, Dex und Tomas drängten sich hinter ihnen.

Craigs Hängebackengesicht sah noch düsterer aus als das von Deschurowa, als er auf den Stuhl neben der Kosmonautin sackte.

»Der Atomreaktor is im Arsch«, berichtete er. »Kann sein, dass mein Raumanzug 'ne ordentliche Dosis Strahlung abgekriegt hat.«

»Was?«

»Irgend so 'n Dreckskerl hat 'n Loch zum Atomgenerator runter gegraben und Säure drübergegossen«, sagte Craig und schaute drein, als könnte er seine eigenen Worte kaum glauben.

Fuchida, der hinter Jamie stand, zischte: »Sabotage.«

Jamies Stimme klang hohl, als er sagte: »Du meinst, einer von euch beiden hat absichtlich …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken; er bekam sie nicht heraus.

Craig schüttelte den Kopf. »Nee, das war keiner von uns. Jedenfalls nich notwendigerweise. Das Loch muss schon vor 'ner Woche oder länger gegraben worden sein. Mindestens so lange sickert die verdammte Säure schon in den Generator. Musste sich ja ers'ma durch den Schutzmantel fressen, bevor sie echten Schaden anrichten konnte.«

Im Kommunikationszentrum trat absolute Stille ein. Selbst das Summen der Geräte wirkte gedämpft.

»Aber eins sag ich euch«, fuhr Craig finster fort. »Es war garantiert Absicht.«

Eine ganze Weile sagte niemand ein Wort. Jamies Gedanken rasten. Ein Saboteur. Wir haben einen Saboteur unter uns. Einen Irren. Oder eine Irre.

»In Ordnung«, sagte er langsam. »Steigt in den Rover und kommt so schnell her, wie ihr könnt.«

»Ich muss hier alle Systeme abschalten«, sagte Stacy.

Dex streckte den Kopf zwischen Jamie und Vijay durch. »Lade die Computerdaten runter. Ich glaube, wir haben alles bis zu diesem Nachmittag, aber lade trotzdem das ganze Zeug runter, nur zur Sicherheit.«

»Ja. Natürlich.«

Rodriguez beugte sich über Jamies Schulter. »Wir sollten Tarawa Bescheid sagen, dass wir einen Reserve-Atomgenerator brauchen.«

»Wir fluten die Kuppel mit Stickstoff«, sagte Stacy. »Hat keinen Sinn zu riskieren, dass hier ein Feuer ausbricht, während wir weg sind.«

»Wartet noch damit«, sagte Jamie. »Können wir die Kuppel nicht mit Strom aus dem L/AV betreiben?«

»Ja, vielleicht. Wir könnten die Brennstoffzellen des Landers benutzen. Aber es wird ein paar Tage dauern, ihn mit dem Treibstoffgenerator zu verbinden und die Rohre unterirdisch zu verlegen.«

Deschurowa bemerkte: »Wir hätten gleich eine große Solaranlage bauen sollen, als wir gelandet sind. So eine wie in der Mondbasis.«

Jamie schnitt eine Grimasse. »Hätten wir machen sollen.«

»Das steht auf dem Plan für die dritte Expedition, oder?«, fragte Craig.

»Stimmt, aber das wird uns jetzt nichts nützen«, gab Jamie zu. »Okay, ladet die Computerdaten runter, reinigt die Kuppel von Sauerstoff und kommt her. Wir werden uns überlegen, wie …«

»Was ist mit dem Garten?«, stieß Trudy hervor.

Deschurowa runzelte die Stirn. Craig wedelte hilflos mit der Hand. »Deine Pflanzen werden 'ne Weile auf sich selbst aufpassen müssen, Trudy.«

»Bis wir zurückkommen und das Stromsystem des L/AV so umrüsten, dass wir die Kuppel mit Strom versorgen können«, sagte Rodriguez.

Hall schien den Tränen nahe zu sein. »Was für ein Scheiß«, sagte sie leise. »Was für ein elender Scheiß.«

Das Abendessen war eine triste Angelegenheit. Jamie spürte das Misstrauen und die Furcht, die so dick über dem Tisch in der Messe hingen, dass sie alle Gespräche erstickten.

Einer von uns ist verrückt, dachte er immer wieder. So sehr er sich auch bemühte, den Gedanken zu verdrängen, die Worte formten sich stets von Neuem in seinem Kopf. Einer von uns hat vorsätzlich den Atomgenerator bei Kuppel Eins sabotiert.

Er schaute reihum in die Gesichter am Tisch, während alle bedrückt in ihren Mahlzeiten herumstocherten: Vijay, Dex, Tomas, Trudy, Mitsuo. Das Problem war, dass er sich keinen von ihnen als Wahnsinnigen vorstellen konnte, als Irren, der absichtlich ihre Ausrüstung zerstörte, als potenziellen Killer.

Ja, so war es, erkannte er. Ein Killer. Ein Mörder. Der Versuch, die Gartenkuppel zu zerstören, Ausrüstungsgegenstände zu beschädigen, den Atomreaktor außer Betrieb zu setzen — all das könnte zur Folge haben, dass Menschen sterben. Wir haben einen mutmaßlichen Mörder unter uns.

Obwohl niemand viel aß, schien keiner als Erster vom Tisch aufstehen zu wollen. Sie blieben alle sitzen, unterhielten sich halbherzig, und in ihren Gesichtern standen unübersehbar ihre Angst und das Misstrauen, das diese Expedition ebenso sicher zerstören konnte wie ein Mord.

»Okay«, sagte Jamie so laut, dass sie alle aufschreckten. »Okay«, wiederholte er leiser. »Einer von uns hat den Atomgenerator bei Kuppel Eins kaputtgemacht. Möchte jemand vielleicht ein Geständnis ablegen?«

Sie starrten ihn mit offenem Mund an, dann drehten sie langsam den Kopf, um ihre Kameraden anzuschauen.

Jamie hatte nicht erwartet, dass sich jemand freiwillig melden würde. »Wer es auch sein mag, es steht offenbar so gut wie fest, dass er oder sie krank ist. Geisteskrank oder psychisch krank …«

»Wäre nicht das erste Mal«, sagte Vijay, die Jamie gegenübersaß.

»Was meinst du damit?«

»Bei Polarexpeditionen«, erklärte sie. »Auf Atom-UBooten, die monatelang unter Wasser geblieben sind. Irgendwer läuft Amok oder — noch schlimmer — dreht still und heimlich durch.«

»Und was passiert dann?«, fragte Dex. Er saß zwischen Jamie und Mitsuo.

»Meistens geht es damit los, dass der oder die Betreffende sich selbst verletzt, sich selbst Wunden zufügt«, antwortete Vijay. »Dann eskaliert die Sache, und es werden Geräte beschädigt und Dinge zerstört. Wenn man es nicht rechtzeitig stoppt, kann es zu Gewalttätigkeiten, ja sogar zu Mord führen.«

»Du bist der Doktor, Vijay«, sagte Jamie. »Ist jemand mit einer Verletzung zu dir gekommen, die er oder sie sich selbst beigebracht haben könnte?«

Sie dachte einen Moment lang darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Nur die üblichen Schnitt- und Schürfwunden. Oh, da war Tommys verbrannte Hand, aber ich bezweifle, dass er das selbst gemacht hat.«

»Garantiert nicht!«, sagte Rodriguez entrüstet.

Jamie sagte: »Ohne Namen zu nennen: Gibt es irgendwas Verdächtiges in einem unserer psychologischen Profile?«

»Nein, mir fällt nichts ein. Natürlich haben wir alle einen kleinen Sprung in der Schüssel, weil wir hier sind, aber abgesehen davon: nein.«

»Was ist mit deinem psychologischen Profil?«, fragte Trudy und zwang sich zu einem Lächeln, um zu zeigen, dass sie es nicht böse meinte.

»Ich hab genauso viele Schrauben locker wie ihr alle.« Vijay erwiderte das Lächeln. »Aber das besagt rein gar nichts, oder?«

»Wer kommt denn an Säure ran, die so stark ist, dass sie sich sogar durch den Schutzmantel des Atomgenerators frisst?«, fragte Rodriguez.

»Jeder von uns«, erwiderte Dex.

Zum ersten Mal ergriff Fuchida das Wort. »Ich habe detaillierte Fotos der Löcher, die während des Sturms in die Gartenkuppel gebohrt worden sind. Ich habe nachgemessen, auf welcher Höhe sie sich befinden, und könnte das mit der Größe und Armlänge von uns allen vergleichen.«

»Klingt ziemlich fragwürdig, finde ich«, sagte Jamie.

Fuchida nickte unglücklich. »Ja, es wäre alles andere als schlüssig. Ich klammere mich an einen Strohhalm.«

»Wir bräuchten hier einen Sherlock Holmes«, witzelte Dex. »Oder zumindest Hercule Poirot.«

»Miss Marple«, sagte Trudy Hall.

»Ellery Queen.«

»Herrgott«, sagte Rodriguez, »ich würde mich schon mit Inspektor Clouseau begnügen.«

Alle brachen in Gelächter aus.

Zumindest hat sich die Spannung gelöst, dachte Jamie. Jedenfalls ein bisschen.

Er sorgte mit einer beidhändigen Geste für Ruhe. »Okay, wir haben keinen Detektiv, und wir haben kein Geständnis. Also werden wir Folgendes tun.«

Sie drehten sich alle erwartungsvoll zu ihm um.

»Von jetzt an geht niemand mehr allein irgendwohin. Wir arbeiten in Teams von mindestens zwei Personen. Wenn wir nicht rauskriegen, wer uns sabotiert, können wir den Täter oder die Täterin zumindest daran hindern, noch mehr Schaden anzurichten.«

»Ich gehe mit Trudy«, rief Tomas sofort. »Ich werde sie nicht aus den Augen lassen!« Er grinste wölfisch.

Jamie zog die Augenbrauen hoch, fuhr jedoch fort: »Das heißt, zwei von uns sitzen die ganze Nacht über an der Kommunikationskonsole. Einer macht an der Konsole selbst Dienst, der andere bewacht die Kuppel und sorgt dafür, dass niemand durch die Gegend schleicht, wenn er oder sie eigentlich schlafen sollte.«

»Ich tue mich mit Vijay zusammen«, erbot sich Dex. »Wir können das Kommunikationszentrum übernehmen.«

Jamie schaute Vijay an und sah, dass sie seinen Blick erwiderte. »Nein, Dex, wenn du nichts dagegen hast, würde ich es vorziehen, wenn du dich mit Mitsuo zusammentätest. Ihr beiden könnt die erste Schicht übernehmen, dann lösen Vijay und ich euch um zwei Uhr ab.«

Dex zögerte nur einen Sekundenbruchteil, dann grinste er und zuckte die Achseln. »Okay, meinetwegen.«

Vijay starrte Jamie weiterhin an.

TAGEBUCHEINTRAGUNG

Nichts, was ich tue, läuft wie geplant. Es hat über eine Woche gedauert, bis der Atomgenerator ausgefallen ist. Statt abzufliegen, kommen sie nun alle hierher. Ich muss etwas noch Schlimmeres tun. Etwas, das sie ZWINGT, den Heimflug anzutreten, von diesem gottverlassenen Ort zu verschwinden und dorthin zurückzukehren, wohin wir gehören. Aber was kann ich tun? Vielleicht Feuer. Feuer reinigt alles. Feuer vertreibt das Böse. Schließlich haben sie Feuer benutzt, um die bösen Geister aus den Hexen zu vertreiben, oder nicht? Feuer ist genau das, was ich jetzt brauche.

TARAWA: SOL 372

»In den alten Zeiten«, sagte Pete Connors, »wurde jedes einzelne Ausrüstungsstück auf Bestellung angefertigt. Jedes Fahrzeug, jeder Sensor, jede Mutter und jede Schraube wurde speziell für das Projekt hergestellt. Deshalb war die Weltraumforschung so teuer.«

Der Flugkontrolleur ging mit zwei Reportern am Strand spazieren und gab ihnen Hintergrundinformationen über den bevorstehenden Start. Rechts von ihnen donnerte die Brandung gegen das Riff des Atolls, und dahinter erstreckte sich der blaue Pazifik, so weit das Auge reichte, unter einem balsamischen Himmel, der mit weißen Wolken-Wattebäuschen getüpfelt war. Links von ihnen stand der gedrungene, konische Rumpf einer Clippership-Rakete an der Startrampe, umhüllt von einem stählernen Spinnennetz von Gerüsten, auf denen geschäftige Techniker herumwimmelten.

»Es ist immer noch nicht billig«, sagte die Reporterin mit erhobener Stimme, um sich trotz des frischen Windes und der fernen Brandung Gehör zu verschaffen. Der Wind und die Feuchtigkeit hatten ihr kastanienbraunes Haar verwuschelt. Trotz der warmen Sonne trug sie noch immer eine Hose und eine langärmelige Bluse.

Connors schenkte ihr ein Zahnpastalächeln. »Nein, das stimmt. Aber es ist erheblich besser als früher. Ist jetzt um ein Vielfaches billiger.«

Der Reporter — er war noch jung, aber sein Bauchansatz war nicht zu übersehen, und sein Haar lichtete sich bereits — schaute ernst und ein wenig finster drein. »Ja, aber ganz gleich, wie Sie's formulieren, die Nachschubmission startet nicht planmäßig. Also, wann ist es denn nun so weit?«

»Wir haben jetzt nächsten Montag ins Auge gefasst«, antwortete Connors unverzüglich. »Könnte ein Nachtstart werden, wir wissen es noch nicht genau.«

»Aber das Startfenster …«

»Da sind wir ziemlich flexibel. Mit der zusätzlichen speziellen Schubkraft des Nuklearantriebs können wir das Startfenster erheblich erweitern.«

Die Frau bat sie, einen Moment stehen zu bleiben. Sie zog die Schuhe aus, schüttelte den Sand heraus und stopfte sie in ihren geräumigen Rucksack.

Der Reporter fragte: »Reicht denn eine Woche, um das Raumschiff mit allem Nötigen auszustatten?«

»Sie meinen den Reserve-Stromgenerator?« Connors nickte eifrig. »Da zahlt sich unsere Logistik-Strategie aus. Seit dem eigentlichen Start vor über einem Jahr haben wir Ersatzgeräte auf Lager. Der Reservegenerator ist auf dem Weg aus den Staaten hierher, und wir haben schon einen neuen bestellt, um unseren Lagerbestand an Ersatzgeräten wieder aufzufüllen.«

»Rechnen Sie damit, dass der Atomgenerator noch mal ausfällt?«, fragte die Frau.

Connors setzte sein breitestes Lächeln auf. »Nein. Aber wir haben auch nicht damit gerechnet, dass uns derjenige, der ausgefallen ist, im Stich lassen würde.« Von den mehreren hundert Männern und Frauen, die auf Tarawa für die zweite Marsexpedition arbeiteten, wussten nur fünf — darunter Connors —, dass der Atomkraftgenerator sabotiert worden war. Und er hatte keineswegs vor, diese Zahl auf sechs oder sieben anwachsen zu lassen.

»Dann werden Sie also am Montag starten können?«

»Sieht so aus«, erwiderte er und nickte. »Und falls es sich noch ein paar Tage verzögert, wäre das auch kein Problem.«

»Und der Flug zum Mars wird fünf Monate dauern.«

»Richtig. Sie werden ungefähr drei Wochen vor dem Abflug der ursprünglichen acht vom Mars landen.«

»Was ist mit den Wissenschaftlern?«, fragte die Frau. »Wie kommen die mit diesem Aufschub klar?«

»Sie können es natürlich kaum erwarten, endlich loszufliegen«, gab Connors zu. Dann breitete er die Arme aus und machte eine ausholende Geste, die den Strand, die Lagune und den atemberaubenden Himmel umfasste. »Aber es bricht ihnen auch nicht gerade das Herz, dass sie noch eine Woche hier warten müssen.«

Beide Reporter lachten.

NACHT: SOL 375

»Hi«, sagte Rodriguez. »Das A-Team meldet sich zur Wachablösung.«

Ohne sich zu ihm umzudrehen, zeigte Stacy Deschurowa auf die Ziffern der Digitaluhr auf dem Hauptbildschirm an der Kommunikationskonsole. »Du bist zu früh dran.« Auf der Uhr war es ein Uhr achtundfünfzig.

»Ich konnte nicht schlafen«, sagte Trudy Hall.

Deschurowa blickte auf und sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Du meinst, dieser Flegel mit seinem übermäßig starken Sexualtrieb wollte dich nicht schlafen lassen.«

Rodriguez hob die Hände. »He, gib nicht mir die Schuld. Ich kann nichts dafür.«

Wiley Craig stand langsam von dem Stuhl neben Stacy auf. »Also, ich kann schlafen, das schwör ich euch. Kann kaum noch die Augen offen halten.«

»Geh schon«, sagte Rodriguez. »Wir übernehmen jetzt.«

Deschurowa hatte Jamies Idee, dass niemand allein arbeiten sollte, eifrig unterstützt, nachdem sie und Craig in Kuppel Zwei eingetroffen waren. Die Arbeit ging dadurch erheblich langsamer vonstatten, aber in den letzten sieben Sols hatte es keine »Unfälle« mehr gegeben.

Deschurowa erhob sich von ihrem Stuhl. Er knarrte hörbar.

»Hoffentlich war das der Stuhl und nich du«, witzelte Craig.

Sie versuchte, ihn zornig anzufunkeln, musste aber schließlich grinsen, wie die anderen auch. Sie und Craig machten sich auf den Weg zu ihren Kabinen, während Rodriguez an der Kommunikationskonsole Platz nahm.

»Behalt die beiden im Auge«, flüsterte er Trudy über die Schulter hinweg zu. »Vergewissere dich, dass sie zu ihren Unterkünften gehen.«

Jamie lag hellwach auf seiner Liege, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Diese Expedition wird zu einem Fiasko, dachte er. Wegen dieses Saboteurs, wer immer es sein mag, geht die Arbeit nur noch im Schneckentempo voran. Obwohl wir in den letzten ein, zwei Monaten ja nun auch nicht gerade sonderlich viel erreicht haben.

Er starrte in die Schatten der Kuppel hinauf. Nicht einmal dem seufzenden Nachtwind gelang es, ihn zu beruhigen und seine Sorgen zu dämpfen.

Na ja, wenn die Archäologen erst mal hier sind, können sie in dem Bauwerk rumschnüffeln, und wir können wieder unseren ursprünglichen Aufgaben nachgehen. Es gibt einen ganzen Planeten zu erforschen. Gott weiß wie viele andere Felsenbehausungen wir finden werden, sobald wir anfangen, aktiv nach ihnen zu suchen.

Er hörte langsame Schritte durch die Kuppel tappen. Leise erhob sich Jamie von seiner Liege und ging zur Tür der Kabine. Sie war fast ganz geschlossen, aber nicht verriegelt, sodass er sie lautlos einen Spaltbreit aufschieben konnte.

Er sah Wiley Craig auf dem Weg zu seiner Kabine müde vorbeischlurfen. Stacy muss schon schlafen gegangen sein, dachte er.

Als er zu seiner Liege zurückkehrte, wünschte Jamie zum millionsten Mal, dass Vijay hier bei ihm wäre. Nicht jetzt, befahl er sich. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas. Ich muss rausfinden, wer der Wahnsinnige ist. Er wird noch jemanden umbringen, wenn wir ihn nicht bald erwischen!

Auf der Digitaluhr war es neun Minuten nach drei, als Rodriguez sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und das logistische Inventarprogramm schloss.

»Bis zur Landung der Nachschubmission kommen wir klar«, dachte er laut.

»Werden sie hier oder bei Kuppel Eins landen?«, fragte Trudy. Der Bildschirm vor ihr zeigte eine Mikroaufnahme der tief unter der Oberfläche lebenden Bakterien.

»Hier«, sagte er. »Hat keinen Sinn, bei Eins zu landen, da ist ja niemand.«

»Ich möchte wissen, wie es im Garten aussieht«, sinnierte Trudy, ohne den Blick von ihrem Bildschirm zu nehmen.

Rodriguez zuckte die Achseln. »Die Pflanzen müssten eigentlich noch 'ne Weile durchhalten. Kein Ungeziefer, kein Unkraut, nichts, was ihnen Probleme bereiten würde. Stacy sagt, sie hat den Batteriestrom angelassen; also wird die Heizung verhindern, dass sie nachts erfrieren. Wenn wir zurückkommen, bevor die Batterien den Geist aufgeben, können die Pflanzen es schaffen.«

Trudy nickte. Sie sah die Spiegelung ihres Gesichts auf dem Bildschirm. Blass, verhärmt, besorgt.

»Die Nährstoffpumpen auch?« Sie fand selbst, dass ihre Stimme klein und schwach klang. Ängstlich.

»Ja, die Pumpen auch. Aber wir müssen dorthin zurück und das Stromsystem des L/AV mit dem Treibstoffgenerator verbinden.«

Sie schaute zu ihm hinüber und lächelte. »Meldest du dich freiwillig?«

Rodriguez grinste. »Klar, warum nicht? Harte körperliche Arbeit liegt bei uns in der Familie.«

Trudy drehte sich wieder zum Bildschirm und dachte: Nein, das kann ich nicht zulassen. Es wäre nicht richtig-Fast eine halbe Stunde später stand sie auf und streckte sich. »Ich hol mir einen Kaffee. Willst du auch?«

»Ja. Wird mir helfen, wach zu bleiben.« Trudy ging mit raschen, leisen Schritten in die Kombüse. Sie füllte zwei Becher mit heißem Kaffee. In einen davon tat sie mehrere der Schlaftabletten, die Vijay ihr aufgrund ihrer Klagen über Schwierigkeiten beim Einschlafen gegeben hatte.

»Die sind sehr leicht«, hatte Vijay gesagt. »Wenn's damit nicht klappt, sag mir Bescheid, dann versuchen wir was anderes.«

Trudy hatte die Tabletten ausprobiert, und sie hatten wunderbar funktioniert. Eine kleine Pille, und sie schlief traumlos. Aber wie viele würde man brauchen, um Tommy einschlafen zu lassen? Drei schienen die richtige Menge zu sein.

Und tatsächlich, eine halbe Stunde später wurden Rodriguez' Augen glasig.

»Herrje«, murmelte er mit belegter Stimme, »ich kann die Augen nicht offen halten.«

»Macht doch nichts«, sagte Trudy sanft. »Ruh dich ein paar Minuten aus. Ich komme schon allein zurecht.«

»Bist du sicher?«

»Natürlich. Wenn irgendwas los ist, wecke ich dich.«

»Sollte eigentlich nicht …« Seine Worte gingen in einem gewaltigen Gähnen unter.

»Schlaf, mein Schatz«, redete Trudy ihm sanft zu. »Schlaf ein.«

Dex Trumball erwachte aus einem bösen Traum. Er war wieder sieben oder acht Jahre alt und bat seinen Vater inständig, zu einem Baseballspiel auf dem Sportplatz der Schule zu kommen und ihm zuzuschauen. Sein Vater verwandelte sich in ein Gewitter, in furchteinflößende Blitze und einen kalten, windgepeitschten, sintflutartigen Regen, der den Platz sumpfig machte, die Schule überflutete und alle Autos auf dem Parkplatz in einen riesigen Strudel hinabtrug, einen Strudel, der Dex und all seine Mannschaftskameraden in sich hineinzog, hinab in kalte, nasse Dunkelheit.

Er schoss auf seiner Liege hoch, in Schweiß gebadet.

Verdammt! Ich habe immer noch Angst vor dem alten Mann.

Eine Weile saß er nur da, lauschte seinem laut schlagenden Herzen und wartete darauf, dass sein keuchender Atem sich wieder normalisierte.

Ich werde mit all dem Schluss machen, sagte er sich. Ich werde mich ihm gegenüber behaupten, wenn ich zurückkomme. Ich werde dich in deinem eigenen Spiel schlagen, Pop.

Ja, sagte er sich. Aber erst musst du mal die Nacht hinter dich bringen, ohne dir in die Hose zu machen.

Er schlug das verschwitzte, zerknitterte Laken zurück und stand auf. Er zog den Overall an, der über dem Schreibtischstuhl hing, und tappte barfuß zur Toilette.

Es wird nicht leicht werden, sagte sich Dex. Dad wird mich bis aufs Messer bekämpfen. Er ist wütend wegen Jamies Navajo-Aktion. Hat bestimmt die Hälfte aller Anwälte in Nordamerika darauf angesetzt, ihren Anspruch für ungültig erklären zu lassen.

Als er die Toilette verließ, sah er Trudy Hall aus dem Kommunikationszentrum kommen.

Er setzte ein Grinsen auf und winkte ihr zu. Sie schien überrascht, ihn zu sehen.

Sie gingen beide zur Kombüse.

»Du solltest nicht in der Kuppel rumwandern«, schimpfte Hall in einem scharfen Flüsterton.

»Ich musste mal kurz wohin«, gab Dex genauso leise zurück.

»Na, da warst du ja nun. Jetzt geh wieder in deine Kabine.«

Überrascht von der Schärfe in ihrem Ton warf Dex ihr einen spöttischen Salut zu. »Ich habe meine Pflicht getan, Käpt'n Bligh, und kehre jetzt in mein Logis zurück.«

Trudy lächelte nicht. Dex fand, dass sie eher verärgert als belustigt wirkte.

Auf dem Rückweg zu seiner Kabine warf er einen raschen Blick durch die offene Tür ins Kommunikationszentrum. Rodriguez war über die Konsole gebeugt, sein Kopf lag auf den verschränkten Armen.

Das kann doch wohl nicht wahr sein, dachte Dex. Tommy macht ein Nickerchen. Kein Wunder, dass Trudy so sauer ist. Er sollte nicht mitkriegen, dass ihr Freund pennte.

Trudy klopfte das Herz bis zum Hals, während sie heimlich von der Toilette aus beobachtete, wie Dex zu seiner Kabine zurückkehrte und hineinging. Sie rührte sich nicht von der Stelle, bis sie seine Falttür zugleiten sah und das leise Klicken des Riegels hörte.

Es wäre so einfach gewesen, wenn sie den Garten nur mit einer Kunststoffhülle ummantelt hätten, wie ursprünglich geplant. Dann hätte sie nur den Kunststoff durchlöchern und die subarktische marsianische Nachtluft ihr tödliches Werk tun lassen können. Aber diese Möglichkeit hatte sie selbst zunichte gemacht, als sie die Schutzhülle der Gartenkuppel während des Staubsturms durchlöchert hatte.

Jetzt war der Garten von festen Glasmauern geschützt. Die konnte sie höchstens mit einem der Traktoren zerbrechen, und selbst dann würde sie so lange dazu brauchen, dass die anderen herauskommen und sie aufhalten würden, bevor sie fertig war.

Nein, sagte sich Trudy, Feuer ist genau das Richtige. Feuer reinigt. Ein Feuer wird ihnen die Augen öffnen, und dann sehen sie endlich, an was für einem seidenen Faden unser Leben hier hängt, wie nah wir bei jedem Atemzug dem Tode sind. Ein Feuer wird uns nach Hause bringen, dorthin, wo wir in Sicherheit sind, wo es warm ist und wir nachts hinausgehen, zu den Sternen hinaufschauen und Wolken vorbeijagen sehen können, ohne uns Sorgen machen zu müssen, der Anzug könnte versagen, der Staub könnte einen erwischen oder man könnte bei einem Ausfall der Heizung erfrieren.

Trotz Fuchidas Warnungen und Jamies Vorsichtsmaßnahmen war es lächerlich einfach gewesen, genug Methan in den Garten zu schmuggeln. Man zapfte einfach welches vom Treibstoffgenerator ab, wenn man draußen war, und brachte es in Probenbehältern in den Garten. In den gut isolierten Behältern blieb es flüssig — nicht für immer, aber lange genug. Zwei Ausflüge haben gereicht, dachte Trudy. Jetzt ist genug Methan da, um ein Feuer anzuzünden. Ein wunderbares, reinigendes Feuer.

Sie tat einen tiefen schmerzhaften Atemzug, dann ging sie zum Kommunikationszentrum zurück und rief das Diagramm der Rohrleitungen für die Versorgung des Gartens auf. Während sie die Befehlsliste über den Bildschirm des Computers neben dem schnarchenden Rodriguez laufen ließ, blickte sie liebevoll auf Tomas hinab. Das tue ich für dich, mein Schatz, damit wir heil und gesund zur Erde zurückkehren und wieder ein normales Leben führen können.

Sie fand die Befehlssequenz, die die Nährlösungszufuhr in die Pflanzenkästen im Garten abschaltete, und vergaß auch nicht, als erstes den akustischen Alarm auszuschalten, damit keine warnenden Pieptöne durch die stille, schlafende Kuppel hallten. Dann unterbrach sie die Nährlösungszufuhr zu den Pflanzen. Sie wollte, dass die Kästen trocken waren, wenn sie Feuer legte.

TAGESANBRUCH: SOL 376

Trudy sah sich den Start der Nachschubmission auf dem Hauptbildschirm im Kommunikationszentrum an, wobei sie den Ton über den Ohrstöpsel des Headsets laufen ließ, um Rodriguez, der immer noch friedlich neben ihr schlief, nicht zu wecken. Die Rakete hob in einem tosenden Flammenmeer und dicken, wogenden Dampfwolken von Tarawa ab.

Dann wandte sie sich dem Monitor des Garten-Überwachungssystems zu. Grelle rote Lichter blinkten am oberen Rand. Die Kästen für die Nährlösung waren trocken, warnten die Sensoren. SOFORTMASSNAHME ERFORDERLICH blinkte in grellen Neonlettern am unteren Rand des Bildschirms.

Sofortmaßnahme, dachte Trudy. Ja.

Sie schaltete die Deckenlampen im Garten ein. Die Pflanzen sahen bereits welk aus. Aber das Aussehen konnte täuschen, wie sie wusste.

Sie verließ das Kommunikationszentrum und ging mit raschen Schritten zur offenen Luke der Luftschleuse zum Garten-Gewächshaus hinüber. Die Kuppel und das Gewächshaus waren nicht mit einer normalen Luftschleuse verbunden, sondern durch einen Cermet-Tunnel, der sich nun über ihr wölbte. Die zweite Luke war geschlossen, aber Trudy konnte sie mühelos von Hand öffnen.

Fünfzig Kastenreihen erstreckten sich vor ihr, erhellt von den Neonröhren an der Decke, fünfzig Reihen grüner Lebewesen, die bald sterben würden.

Sie schleppte ihre Probenbehälter mit flüssigem Methan zu den nächsten Kästen. Mehrere Tage lang hatte sie hin und her überlegt, wie sie das Feuer anzünden sollte. Es gab weder Streichhölzer noch Feuerzeuge im Inventar. Jamie und alle anderen hatten sich für so schlau gehalten, weil sie damit verhinderten, dass jemand in der Kuppel ein offenes Feuer entfachte, aber sie war schlauer gewesen. Ein simpler elektrischer Funke reichte. Sie musste nur eins der Kabel durchschneiden, die an den Kästen entlangliefen, und dann das Methan entzünden.

Es war nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte, aber endlich hatte Trudy den Probenbehälter geöffnet, und das Methan darin verkochte zu unsichtbarem Gas. Mit nur geringfügig zitternden Händen führte sie die zwei blanken Enden des durchtrennten, Strom führenden Kabels aneinander. Pass bloß auf, dass du dir nicht selbst einen elektrischen Schlag versetzt, warnte sie sich.

Das Gas entzündete sich fauchend zu einer gewaltigen Flamme, die Trudy schmerzhaft gegen den Kasten auf der anderen Seite des Gangs warf. Die Hitze versengte ihr das Gesicht, und sie hob schützend die Arme. Sie krabbelte zu den anderen beiden Probenbehältern hinüber und machte sich daran, sie ebenfalls zu öffnen. Die Flammen schienen über die Decke des Gewächshauses hinwegzugreifen und zu ihr herabzutauchen. Sie schrie laut auf.

Das schrille Kreischen des Rauchalarms riss Jamie aus dem Schlaf. »Was, zum Teufel …?« Er war sofort wach, aber das Blöken des Alarms ließ ihn einen Moment lang vor Furcht und Verwirrung erstarren.

Der Rauchalarm war bisher erst ein einziges Mal ausgelöst worden, als Craig ein paar Abfälle verbrannte. Sie hatten darüber gesprochen, den Detektor abzuschalten, aber Tarawa hatte auf der Einhaltung der Sicherheitsvorschriften bestanden.

Jamie zog seinen Overall im Laufen an und eilte halb hüpfend, halb rennend in den offenen Bereich der Kuppel hinaus. Schmutziggrauer Rauch quoll aus der Gewächshausluke. Er stürzte zum Kommunikationszentrum und stieß mit Rodriguez zusammen, der herausgetaumelt kam.

Das Kreischen des Alarms weckte Rodriguez aus seinem drogeninduzierten Schlaf. Adrenalin schoss ihm durch die Adern, als er die blinkenden roten Lichter auf dem Monitor sah.

»Trudy!«, rief er. »Trudy!«

Er stemmte sich vom Stuhl hoch und taumelte, immer noch nicht ganz bei sich, zur Tür des Kommunikationszentrums.

Jamie packte Rodriguez an den Schultern und fragte: »Was ist passiert?«

»Keine Ahnung«, antwortete der Astronaut mit schwerer Zunge. »Trudy …«

»Heilige Mutter Gottes!«, brüllte Dex hinter ihm. »Im Gewächshaus brennt's!«

»Trudy ist da drin«, presste Rodriguez hervor.

Als Jamie sich zu dem verräucherten Durchgang umwandte, sah er, dass alle anderen quer durch die Kuppel auf ihn zugerannt kamen.

»Stacy, übernimm das Kommunikationszentrum«, rief er und setzte sich in Richtung Luke in Bewegung.

Rodriguez schüttelte sich und lief ihm nach; Dex folgte ihm dichtauf. Jamie hörte Craig schreien: »Macht die gottverdammten Luken dicht und lasst die Luft da drin ab!«

»Nein«, brüllte Rodriguez. »Trudy ist da drin!«

Jamie kam bis zur Luke, aber die Hitze und der dicke schwarze Rauch trieben ihn zurück; er hustete und rieb sich die Augen. Rodriguez drängte sich an ihm vorbei und stürzte sich durch die Luke.

»Warte!«, brüllte Jamie, aber es war zu spät. Rodriguez verschwand im Rauch.

»Hier, nimm das.« Jamie drehte sich um und sah, dass es Vijay war. Sie gab ihm eine Sauerstoffmaske.

»Schnelle Reaktion«, sagte er und zog sich das Plastikding über Mund und Nase.

Vijay klatschte ihm den kleinen Sauerstoffbehälter auf den Rücken und befestigte ihn mit Klettband.

»Fertig«, rief sie über das Prasseln der Flammen hinweg. Der kalte, metallische Geruch des Sauerstoffs stieg Jamie in die Nase.

»Macht die Luke hinter mir zu«, sagte er.

»Nein!«, entfuhr es Vijay.

»Macht sie zu!«, befahl er.

»Ich mach's«, sagte Dex. »Klopf einfach, wenn ich sie wieder aufmachen soll.«

Mit einem Nicken tauchte Jamie durch die Luke. Sofort begannen ihm die Augen zu tränen. Im Tunnel war es heiß; es kam ihm vor, als würde er in einen Hochofen hineingehen.

Mit zusammengekniffenen Augen, sich vor den Flammen duckend, die ihm entgegen schlugen, rückte Jamie langsam vor. Dann fühlte er, wie sich von hinten ein Schwall Wasser über ihn ergoss.

Dex schloss zu ihm auf und grinste ihn durch die Plastikmaske an. Er hielt eine tropfende Kiste in beiden Händen, in der Wasser schwappte.

»Fuchidas Idee«, sagte er.

Jamie nickte. »Mach dich auch nass.«

Durch die offene Luke sah Jamie, dass das Gewächshaus ein Meer aus Flammen und rußigem Rauch war. Da drin kann nichts leben, heulte eine Stimme in seinem Kopf. Da drin ist nichts mehr am Leben.

Aber Jamie arbeitete sich Schritt für Schritt weiter voran. Er spürte die Hitze der Flammen auf seinem Gesicht. Dex blieb an seiner Seite.

Direkt bei der zweiten Luke sah er zwei ausgestreckt daliegende Körper: Rodriguez auf Trudy, beide rußgeschwärzt und voller Brandblasen.

Dex übergoss sie mit seinem restlichen Wasser, warf die Kiste dann weg, bückte sich und half Jamie, das verletzte Paar durch die Luke herauszuziehen.

»Sag ihnen, sie sollen die Innenluke schließen!«, befahl Jamie. Dex drehte sich um und eilte durch den Tunnel zurück. Jamie stellte sich vor, dass die Wände glühend heiß sein mussten.

Die Luke schwang zu, und die beißende, sengende Hitze blieb dahinter zurück. Jamie sank zu Boden. Durch den dünnen Stoff seines Overalls fühlten sich die Bodenplatten warm an. Der Rauch begann sich zu verziehen. Dex, Mitsuo und Wiley erschienen.

»Sind sie tot?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Jamie. »Ich glaube, zumindest Tomas atmet noch.«

Behutsam hoben sie die verbrannten Körper hoch und trugen sie in die Hauptkuppel. Sobald die Männer sie auf den Boden gelegt hatten, begann Vijay, mit einer winzigen chirurgischen Schere ihre Overalls aufzuschneiden. Rodriguez stöhnte; seine Beine bewegten sich ein wenig.

Stacy kam aus dem Kommunikationszentrum. Sie war völlig ruhig, hatte alles im Griff. »Das Feuer ist aus. Ich habe die Luft aus dem Gewächshaus abgepumpt, sobald die Innenluke zu war.«

»Sie sind beide am Leben«, verkündete Vijay. »Bringen wir sie ins Krankenrevier. Nein, da ist nur ein Bett drin. Bringt Trudy ins Krankenrevier, die hat's schlimmer erwischt. Schafft Tommy in seine Kabine.«

Jamie, Dex und Mitsuo trugen den Astronauten; sein Overall war am ganzen Oberkörper verbrannt, die Haut war geschwärzt und nässte. Stacy und Wiley nahmen Trudy, während Vijay zum Krankenrevier vorauslief.

Nachdem sie Rodriguez auf seine Liege verfrachtet hatten, merkte Jamie, dass ihm die Knie weich wurden. Dex legte ihm einen Arm um die Schultern und sagte leise: »Komm mit, Kumpel, du hast dir 'n Gläschen O-Saft verdient.«

Als sie müde am Tisch in der Messe saßen, sah Jamie, dass Fuchida in der Nähe stand und ihn ernst ansah.

»Du hattest Recht, Mitsuo«, sagte er matt.

»Ich wünschte, es wäre nicht so«, erwiderte der Biologe kopfschüttelnd.

»Wer von den beiden war's denn?«, fragte Dex, während er Jamie einen Becher Saft reichte und sich schwer auf den Stuhl neben ihm fallen ließ.

Jamie lehnte sich zurück und schaute in die Schatten der Kuppel hinauf. Es roch nach Rauch. Und Schweiß. Und Angst.

»Das ist nicht wichtig«, sagte er.

»Nein?«

Er zuckte die Achseln. »Nein. Das Wichtige ist, dass diese Expedition ruiniert ist. Wir können nicht länger hier bleiben. Es ist zu viel Schaden angerichtet worden. Wir müssen unsere Sachen packen und uns auf den Rückflug zur Erde machen.«

MORGEN: SOL 376

Jamie hatte Pete Connors noch nie so ernst gesehen. »Es ist wirklich ein totales Schlamassel«, sagte der Flugkontrolleur. »Ihr habt Glück, dass ihr noch am Leben seid. Sie berufen eine Sondersitzung des IUK-Ausschusses ein; die werden die Sache garantiert als Unfall hinstellen wollen und sich irgendein Lügenmärchen zurechtbasteln. Niemand will der Öffentlichkeit erzählen, dass einer von euch ein Irrer ist.«

Jamie nickte, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Draußen vor dem Kommunikationszentrum nahmen die anderen mechanisch ihr Frühstück ein.

»Tolles Timing übrigens«, fuhr Connors fort. »Die Nachschubmission hat genau elf Minuten, bevor eure Nachricht einging, die Triebwerke zum Einschuss in die Übergangsbahn gezündet. Sie sind auf dem Weg zum Mars. Werden an Sol fünfhundertzweiundzwanzig da sein, in fünf Monaten. Sie glauben, dass sie ein paar Wochen mit euch zusammen verbringen können, um sich einzurichten und zu orientieren. Jetzt werden sie allein landen und arbeiten müssen.«

Connors redete immer weiter, eher um etwas zu sagen, um das Gefühl zu haben, dass er etwas tat, als aus irgendeinem anderen Grund, dachte Jamie. Diese Katastrophe hat ihn fast ebenso hart getroffen wie uns.

»Ihr müsst rausbekommen, wer von den beiden es getan hat, wer der Verrückte ist. Wir werden nichts verlauten lassen, macht euch deswegen keine Sorgen. Niemand hier will zugeben, dass einer von unseren eigenen Leuten die Expedition sabotiert hat. Aber wir müssen es wissen, wir müssen uns das psychologische Profil und den Hintergrund anschauen. Für die Zukunft, um sicherzustellen, dass so jemand gar nicht mehr in die engere Auswahl für zukünftige Missionen kommt.«

Für zukünftige Missionen?, dachte Jamie. Wird es zukünftige Missionen geben? Sie werden es nicht ewig geheim halten können. Früher oder später wird jemand die Geschichte durchsickern lassen. Er sah schon die Schlagzeilen vor sich: Wissenschaftlerin verliert auf dem Mars den Verstand, versucht Expedition auszulöschen.

»Wenn ihr mich fragt«, fuhr Connors fort, »ich denke, es war Hall. Ich kann nicht glauben, dass ein Astronaut, ein Flieger, dermaßen durchdreht. Es war nicht Rodriguez; darauf würde ich meinen Kopf verwetten.«

Jamie nickte stumm und zustimmend.

Nachdem Connors sich verabschiedet hatte, stand Jamie auf und ging zur Gewächshausluke. Falls jemand bemerkte, dass er das Kommunikationszentrum unbeaufsichtigt verließ, so sagte er kein Wort.

Er stieß die Innenluke auf und betrat das Gewächshaus. Nichts hatte sich verändert. Die Pflanzen waren zu Asche verbrannt, die Kästen nur noch verdrehte, verbogene Metallgebilde. Die Glasbausteine der Decke und einer Wand waren verrußt, der Boden mit verbranntem Schutt übersät. In der Luft hing ein beißender, leicht muffiger Geruch, den Jamie seit seiner Kindheit nicht mehr gerochen hatte, als er sich in dem unbenutzten Kamin seines Elternhauses versteckt hatte. Nichts war nass. Nichts tropfte. Im ganzen Gewächshaus war kein Laut zu hören, es war so still wie der Tod. Ein Schlamassel. Ein schreckliches, sinnloses Schlamassel.

Als er schließlich aus dem Gewächshaus kam und trübselig zur Messe ging, saßen die anderen drei Männer noch bedrückt am Tisch. In der Luft hing nach wie vor ein leichter Brandgeruch. Einbildung, sagte er sich. Aber vielleicht auch nicht.

»Stacy ist im Krankenrevier und hilft Vijay, Trudys Verbände zu wechseln«, sagte Dex ungefragt.

»Wie geht's den beiden?«, fragte Jamie.

Craig wackelte mit der Hand. »Trudy hat Verbrennungen zweiten Grades, überall oberhalb der Taille. Sieht ziemlich übel aus.«

»Auch im Gesicht?«

»Ja.«

»Und Tomas?«

»Hauptsächlich Hände und Arme. Schultern. Als hätte er versucht, Trudy rauszuschleifen, als der Rauch ihn erledigt hat.«

»Geschieht ihm recht, wenn er im Dienst schläft«, knurrte Dex.

»Tomas? Er hat geschlafen?«

»So gegen drei Uhr früh hat er an der Konsole ein Nickerchen gemacht«, sagte Dex wütend. »Ich hab ihn gesehen.«

»Rodriguez? Nein«, sagte Fuchida und schüttelte den Kopf.

»Aber ich hab's doch gesehen.«

»Dann muss Trudy ihn betäubt haben«, beharrte der Biologe. »Ich kenne Tom. Er würde niemals im Dienst schlafen.«

»Dann hat Trudy also das Feuer gelegt?«, fragte Jamie rhetorisch.

»Und während des Sturms Löcher in die Gartenkuppel gebohrt«, sagte Fuchida mit fester Stimme. »Und die anderen ›Unfälle‹ gehen auch auf ihr Konto.«

Jamie machte ein paar Schritte zum Schrank mit den Nahrungsmitteln, um sich etwas zum Frühstück zu holen, merkte dann aber, dass er gar keinen Appetit hatte. Er drehte sich dann zu den anderen um. »Kommt, holen wir die Videokameras und dokumentieren wir den Schaden. Tarawa wird das Bildmaterial brauchen.«

Craig und Fuchida standen vom Tisch auf und gingen davon. Dex stand ebenfalls auf, blieb jedoch stehen, während die anderen beiden sich entfernten.

»Was ist los, Dex?«, fragte Jamie.

»Wir machen Schluss hier?«

Jamie nickte. »Sobald wir mit der Schadensermittlung fertig sind, machen wir uns auf den Rückweg zur Kuppel Eins und starten zur Erde.«

»Wir fliegen nach Hause, mit eingeklemmtem Schwanz.«

»Uns bleibt kaum was anderes übrig«, sagte Jamie. »Kein Hauptstromgenerator in Kuppel Eins; kein Garten hier. Zwei Leute schlimm verletzt, eine davon eine Wahnsinnige. Diese Expedition ist gescheitert.«

Dex schaute genauso grimmig drein wie Connors vorhin. Oder noch grimmiger.

»Das Problem ist«, sagte er langsam, »wenn wir abfliegen, vermasseln wir damit den Navajos ihren Anspruch auf dieses Gebiet.«

Ein Blitz der Angst zuckte durch Jamies Nerven. »Was soll das heißen?«

Sehr sanft, wie ein Arzt, der dem Hinterbliebenen die Nachricht vom Tod des geliebten Menschen beibringt, sagte Dex: »Man muss sich auf dem betreffenden Grund und Boden befinden, um einen gesetzmäßigen Anspruch auf die Nutzungsrechte aufrechtzuerhalten. Sobald wir abfliegen, kann jedermann Anspruch auf dieses Gebiet erheben.«

Jamie wurde es flau im Magen. »Aber wir müssen abfliegen. Ein Unfall …«

»Spielt keine Rolle«, sagte Dex. »Ich hab das Gesetz, die Verträge und alle internationalen Vereinbarungen studiert. Wenn du dieses Gebiet verlässt, geht dein Rechtsanspruch den Bach runter.«

Jamie sank auf den nächsten Stuhl.

»Tut mir Leid«, sagte Dex leise.

»Aber deinem Vater nicht«, murmelte Jamie.

»Nein, verdammt. Der wird hocherfreut sein.«

Trudy Halls Hände, Arme, Gesicht, ihr ganzer Oberkörper war von einem antiseptischen Sprühverband bedeckt. Ihre Augen waren bedeckt, ein Atemschlauch führte in ihre Nasenlöcher. Wo ihr Mund sein sollte, war ein schmaler Schlitz. Die Überreste ihrer Haare sahen aus wie die versengten Stoppelfedern eines schlimm verbrannten Hühnchens.

Die medizinischen Monitoren an einer Seite des engen kleinen Krankenreviers summten jedoch alle friedlich vor sich hin. Blutdruck, Herzschlag und die meisten anderen Indikatoren waren stabil. Ihr Atem ging rauh, aber das war nicht anders zu erwarten, nachdem sie die vom Feuer erhitzte Luft eingeatmet hatte.

»Hat sie überhaupt schon das Bewusstsein wiedererlangt?«, fragte Jamie im Flüsterton.

Vijay stand auf der anderen Seite des Bettes und hängte einen neuen Beutel Salzlösung an den Tropf.

»Nur kurz«, antwortete sie. Ihre Stimme war etwas lauter als seine. »Ich habe ihr starke Beruhigungsmittel gegeben, weißt du. Sonst hätte sie große Schmerzen.«

»Ich muss mit ihr reden«, sagte er.

»Da wirst du dich noch eine Weile gedulden müssen, Kamerad.«

»Und Tomas?«

»Der ist in viel besserer Verfassung«, sagte Vijay und gestattete sich ein winziges Lächeln. »Mit dem kannst du so viel reden, wie du willst.«

Rodriguez lag in seiner Kabine auf dem Bauch, den Kopf und die Schultern auf einen kleinen Berg von Kissen gestützt. Jamie erkannte sie: Es waren Matratzen aus einem der Rover, fest aufgerollt und mit Klebeband umwickelt.

»Ich konnte einfach die Augen nicht offen halten«, erklärte er Jamie, und aus seiner Miene sprachen Schuldgefühl und Verwirrung. »Ist mir noch nie passiert. Ich konnte einfach die Augen nicht offen halten.«

»Trudy hat dir Schlaftabletten in den Kaffee getan«, sagte Jamie. Er hatte sich den Schreibtischstuhl in der Kabine zum Rand der Liege gezogen. »Vijay hat mir erzählt, dass sie Tabletten bekommen hat …«

»Ich hab nie gesehen, dass sie welche genommen hat«, stieß Rodriguez hervor.

Jamie zuckte die Achseln. »Anscheinend hat sie die Pillen gesammelt, um sie dir zu geben.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie so was tun würde.«

»Sie ist psychisch krank«, sagte Jamie. »Gar keine Frage.«

»Ja, vermutlich.«

»Der Rauchalarm hat dich aufgeweckt?«

Rodriguez nickte und zuckte zusammen. Sein Rücken muss ihm höllisch wehtun, dachte Jamie.

»Ja. Weißt du, ich hab mich gefühlt, als wär ich betäubt worden. Konnte mich zuerst gar nicht schnell bewegen, alles kam mir ganz langsam vor, als wär ich völlig benebelt.«

»Trudy war nicht im Kommunikationszentrum?«

»Nein. Ich hab den Rauch aus der Gewächshausluke kommen sehen. Nirgends eine Spur von ihr, deshalb bin ich rein, um nachzuschauen, ob sie im Gewächshaus gefangen war. Und da war sie.«

Da war sie, dachte Jamie. Ein armer, verängstiger kleiner Spatz, bei dem es irgendwann ausgehakt hatte. Warum? Was war in ihr geschehen, dass sie derart übergeschnappt war?

Eine andere Stimme in seinem Kopf höhnte: Was spielt das schon für eine Rolle? Sie hat diese Expedition zugrunde gerichtet und den Mars Trumball und seinen Weltenzerstörern ausgeliefert.

NACHT: SOL 388

Sie kehrten zur Kuppel Eins zurück, entmutigt, müde, eine traurige Prozession geschlagener Männer und Frauen. Trudy musste getragen werden; Rodriguez konnte mit Müh und Not laufen. Jamie und Dex stützten ihn.

Nachdem Craig und Deschurowa die Stromversorgung der Kuppel über die Brennstoffzellen des L/AV sichergestellt hatten, gingen sie zum Treibstoffgenerator hinaus, um ihn an die Brennstoffzellen anzuschließen.

Fuchida stand kopfschüttelnd in der Mitte der Kuppel. »Der Mars hat uns besiegt«, sagte er leise.

Jamie unterdrückte den Drang, ihm einen Fausthieb zu versetzen. »Das war nicht der Mars«, fuhr er ihn an. »Wir haben uns selbst besiegt.«

Stunden später half Jamie Vijay bei der Überprüfung der medizinischen Ausrüstung, indem er das tatsächlich vorhandene Material auf den Borden des Krankenreviers mit den Angaben im Computer verglich. Die Nachschubmission brachte eine neue Fracht medizinischer Vorräte mit, aber sie mussten vor ihrem Abflug sicherstellen, dass das Computerverzeichnis korrekt war.

»Erinnerst du dich noch an unsere erste Nacht hier?«, fragte Jamie. »An die Feier?«

»Ich weiß noch, dass du dich in deiner Unterkunft versteckt hast, während wir anderen gefeiert haben«, antwortete Vijay.

»Ich erinnere mich auch an andere Nächte«, sagte Jamie. Er saß an ihrem winzigen Schreibtisch, das Bestandsverzeichnis auf dem Computerbildschirm vor sich.

Sie wandte sich von dem offenen Schränkchen ab und sah ihn an. »Ich auch«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Sie waren schön.«

Vijay nickte, dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

Jamie merkte, dass er sich nicht auf das Bestandsverzeichnis konzentrieren konnte. Er musste ständig an Trumball und die Navajo Nation denken und daran, dass diese Expedition so ein Desaster gewesen war, obwohl sie das marsianische Bauwerk gefunden hatten und es überall auf dem Mars ähnliche Bauwerke geben musste, ja sogar Überreste von Städten, unmöglich, dass auf einer ganzen ehemals von intelligenten Wesen bevölkerten Welt nur dieses eine Gebäude übrig geblieben sein sollte, er musste daran denken, wie sehr er Vijay begehrte, die so nah bei ihm stand, dass er die Hände nach ihr ausstrecken und sie in die Arme nehmen konnte, die aber dennoch Meilen, ja, Lichtjahre entfernt war, weil er sie aus seinem Leben vertrieben und kein Recht, keine Hoffnung, nicht einmal den Hauch einer Chance hatte, sie wieder zurückzugewinnen.

»Ich fliege nicht mit«, hörte er sich sagen. Seine Stimme klang so verdammt beherrscht, sie verriet keine Spur von Gefühl.

Vijay schloss das Schränkchen. Als sie sich umdrehte, waren ihre leuchtenden Mitternachtsaugen traurig. »Ich weiß.«

Das gab ihm einen Ruck. »Woher? Ich wusste es ja selbst bis eben noch nicht.«

Sie lächelte zerknirscht. »Denk daran, ich bin hier die Psychologin. Und ich kenne dich. Als Dex dir erzählt hatte, dass der Anspruch der Navajos verfallen würde, wenn wir alle weggingen, wusste ich, dass du hier bleiben würdest.«

»Dann hast du es früher gewusst als ich.«

»Nein«, sagte Vijay kopfschüttelnd. »Du hast es da auch schon gewusst, aber du musstest erst all die logischen Schritte vollziehen. Du musstest es überdenken und dich selbst überzeugen, dass du hier vier Monate oder länger ganz auf dich allein gestellt überleben könntest.«

Er nickte widerstrebend. »Ich schätze, du hast Recht.«

»Dann bist du also zu dem Schluss gekommen, dass du's schaffen kannst?«

»Ich glaube schon. Ich wüsste nicht, warum nicht.«

»Ganz allein?«

Nicht, wenn du bei mir bleibst, hätte er am liebsten gesagt, aber er wusste, dass er das nicht von ihr verlangen konnte. Es war seine Sache, mehr als vier Monate lang den Hals auf dem Mars zu riskieren; er konnte sie nicht bitten, dieses Risiko mit ihm zu teilen. Es bedeutete zu viel, es gab zu viele Komplikationen.

Daher nickte er nur knapp und sagte: »Ganz allein, ja.«

»Nur du und der Mars, hm?«

Er zuckte die Achseln. »Es dürfte kein gar so großes Problem sein. Der Garten hier ist in Ordnung. Die ganzen Geräte funktionieren. Ich werde nicht verhungern, und mir wird auch nicht die Luft ausgehen.«

»Du willst zu dem Bauwerk fahren und noch ein bisschen rumstöbern, stimmt's?«

»Nein«, sagte Jamie fest. »Ich bleibe hier und hole einen Teil der geologischen Arbeiten nach, die seit Monaten liegen geblieben sind.« Dann setzte er hinzu: »Und ich werde versuchen, ein paar Solarzellen aus hiesigen Rohstoffen herzustellen. Es wäre eine große Hilfe, wenn wir genug Strom aus Sonnenlicht erzeugen könnten, um die ganze Kuppel damit zu betreiben.«

»Allein«, wiederholte sie.

Er zögerte nur einen winzigen Sekundenbruchteil, dann sagte er: »Allein.«

Vijays Gesicht war eine ausdruckslose Maske, als sie die Hand zu Jamie ausstreckte. »Na, dann komm. Du solltest es den anderen mitteilen.«

Die anderen versammelten sich in der Messe zu ihrem letzten Abendessen auf dem Mars — alle außer Trudy, die noch ans Bett gefesselt war. Die Verbrennungen in ihrem Gesicht würden kosmetische Operationen erfordern, und obwohl Rodriguez ihr immer wieder versicherte, dass alles gut werden würde, war sie in tiefe Depressionen versunken.

Rodriguez gab sich alle Mühe, sie aufzuheitern; er zog jedes Mal eine große Show ab, wenn er einen Verband loswerden konnte. Stacy, Jamie und sogar Mitsuo hatten stundenlang bei Trudy gesessen und ihr versichert, dass ihr seelischer Zusammenbruch nicht an die Öffentlichkeit gelangen werde, dass es weder Anklagen noch Vorwürfe geben werde. Diese Versicherungen schienen ihre Depressionen aber nur zu verstärken.

Vijay stellte ein Essenstablett für Trudy zusammen, während die anderen herumwuselten und ihre Auswahl trafen, ohne sich um die von den Ernäherungswissenschaftlern ausgearbeiteten Speisepläne zu kümmern.

»Was werde ich froh sein, wenn ich wieder ein echtes Steak zu sehen bekomme«, sagte Fuchida ganz ernst.

»Mit echtem Bier«, witzelte Rodriguez.

Wortlos machte sich Vijay mit dem Tablett auf den Weg zu Trudys Unterkunft. Hinter sich hörte sie Jamie verkünden: »Ich fliege nicht mit euch. Ich bleibe hier.«

Sie schob Trudys Tür auf, trat ein und knallte sie wieder zu.

Trudy saß aufrecht da; ihr Rücken war so weit verheilt, dass sie ihn an ein wassergefülltes Plastikkissen lehnen konnte. Als Vijay das Ding aus dem medizinischen Vorrat geholt hatte, war ihr durch den Kopf gegangen, dass sie sich nach demselben Prinzip Wasserbetten hätten machen können. Toller Zeitpunkt für solche Überlegungen, hatte sie sich über sich selbst geärgert.

»Wie geht's dir?«, fragte Vijay munter.

»Fliegen wir morgen ab?«, fragte Trudy. Sie hatte keine Verbände mehr im Gesicht; ihre Haut war wund und rosa. Wenn sie auf der Erde eintrafen, würde sie narbig und spröde sein. Augenbrauen und Wimpern waren verschwunden. Sie hat Glück, dass sie noch sehen kann, dachte Vijay und fragte sich dann, was für ein Glück es war, in den Spiegel schauen zu können, wenn man ein so schrecklich verbranntes Gesicht hatte.

»Ja.« Vijay sorgte dafür, dass ihre Stimme weiterhin unbeschwert und fröhlich klang. »Morgen.«

Trudy schaute auf das Tablett hinab, das Vijay ihr auf den Schoß gestellt hatte. Endlich sagte sie leise: »Ich hab ein furchtbares Schlamassel angerichtet, nicht wahr?«

Vijay antwortete sanft: »Das kann man wohl sagen.«

»Ich hätte Tommy töten können. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich ihn in Gefahr bringen würde.«

Vijay hätte am liebsten gesagt, dass Trudy sie alle in Gefahr gebracht hatte, aber sie hielt ihre Zunge im Zaum. Trudy Hall würde ein wunderbares Thema für einen psychologischen Forschungsbericht abgeben, dachte sie. Ich werde auf dem Rückflug fünf Monate Zeit haben, sie zu studieren, ihre Motive zu ergründen …

»Ich liebe ihn«, sagte Trudy mit Tränen in den Augen. »Ich wollte ihn zur Erde zurückbringen, wo er in Sicherheit sein würde, wo wir alle in Sicherheit sein würden.«

»Ich verstehe.«

Trudy blickte wütend zu ihr hoch. »Wirklich? Wie kannst du? Woher willst du wissen, wie es ist, einen Mann so zu lieben, dass man bereit wäre, für ihn zu sterben?«

Vijay war so verblüfft, dass ihr keine Antwort einfiel.

»Oh, es tut mir Leid«, platzte Trudy heraus. »Es tut mir so schrecklich Leid. Ich habe alles dermaßen vermasselt. Tommy wird mich nicht mal ansehen wollen, wenn wir nach Hause kommen. Ich liebe ihn so, und er wird mich nicht mal ansehen wollen.«

Auf einmal war Vijay zum Heulen zumute.

»Du kannst nicht allein hier bleiben«, sagte Deschurowa klipp und klar, als Jamie den fünfen, die am Tisch in der Messe versammelt waren, seinen Entschluss mitteilte.

»Klar kann ich das.« Jamie versuchte, es simpel und ganz banal klingen zu lassen.

»Wird nich leicht sein«, meinte Craig, »selbst wenn du vier Monate lang hier drin hockst und fernsiehst.«

»Auf mich wartet ein Haufen Arbeit«, sagte Jamie. »Allein mit der Sichtung der Daten, die ihr auf eurer Exkursion zum Ares Vallis angehäuft habt, hätte ich schon vier Monate und länger zu tun.«

»Und du willst versuchen, Solarzellen zu bauen?«, fragte Dex.

»Aus den Grundstoffen im Boden, ja.«

»Einer von uns sollte bei dir bleiben«, meinte Fuchida.

»Nein«, erwiderte Jamie, »das ist nicht nötig. Ich könnte keinen von euch bitten, dieses Opfer zu bringen. Ihr fliegt heim! Ich komme hier schon klar.«

»Mitsuo hat Recht«, sagte Rodriguez. »Jemand sollte bei dir bleiben.«

»Das ist nicht nötig«, wiederholte Jamie.

»Du bleibst nicht wegen der Wissenschaft hier«, sagte Stacy beinahe anklagend.

»Nein«, gab Jamie zu, »das stimmt.«

Dex wirkte fasziniert und erfreut. »Du bleibst hier, damit du den Anspruch der Navajos aufrechterhalten kannst.«

»So ist es.«

»Hab ich mir gedacht.«

»Ich muss das tun«, sagte Jamie.

»Mhm. Tja, ich muss auch so einiges tun.«

»Zum Beispiel?«

»Also, mein Plan ist folgender«, sagte Dex mit seinem alten großspurigen Grinsen. »Sobald ich wieder auf der Erde bin, gründe ich eine Stiftung, eine gemeinnützige Organisation, die sich speziell der Erforschung des Mars widmet. Ich werde sie Mars Research Foundation nennen, glaube ich.«

Jamie sah ihn verdutzt an.

»Dadurch werden wir ständig und kontinuierlich Geld aufbringen können und müssen nicht mehr für jede einzelne Expedition mit dem Hut in der Hand rumgehen. Wir werden die Erforschung des Mars auf eine solide finanzielle Grundlage stellen und die Leute dazu bringen, kontinuierlich zu spenden, als würden sie Aktien oder Anleihen erwerben.«

»Aber sie werden keinen Gewinn damit machen«, wandte Fuchida ein.

Dex' Augen tanzten. »Nein, aber sie können ihre Spenden von der Steuer absetzen. Wird eine nette kleine Steuererleichterung für sie bedeuten.«

Jamies Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Du hast schon lange darüber nachgedacht, stimmt's?«

Dex grinste zurück. »Ungefähr so lange wie du darüber, allein hier zu bleiben.«

»Wird deine Stiftung mit der Navajo Nation zusammenarbeiten?«

»Und ob. Vielleicht richten wir die Zentrale in Arizona oder in New Mexico ein, im Navajo-Reservat.«

Jamie nickte vergnügt. Der Gedanke, dass Dex im Reservat sitzen würde, gefiel ihm.

»Okay, Kumpel«, sagte Dex und streckte die Hand aus, »du hältst hier die Stellung, und ich gehe gleich nach unserer Landung zum Navajo-Präsidenten.«

»Nicht zu deinem Vater?«, fragte Jamie und ergriff Dex' Hand.

Dex lachte. »Ja, okay, ich glaube, ich sollte die Sache mit Dad lieber früher als später austragen.«

Als sie einander so gegenüberstanden, Hand in Hand, schaute Jamie dem jüngeren Mann in die Augen. Er sah keine Spur von Furcht oder Feindseligkeit. Dex ist hier auf dem Mars erwachsen geworden. Er ist jetzt ein ausgewachsener Mann und kein verzogenes Kind mehr.

Auf einmal zog Dex Jamie impulsiv an sich und legte ihm die freie Hand um die Schultern. Jamie tat das Gleiche und klopfte Dex auf den Rücken, als wäre dieser der jüngere Bruder, den er nie gehabt hatte.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Dex sehr leise. »Ich regle die Angelegenheit mit meinem Dad und arbeite mit deinen Navajos zusammen. Du wirst den Mars nicht verlieren.«

Als sie sich aus ihrer Umarmung lösten, schüttelte Deschurowa störrisch den Kopf. »Es ist gefährlich für einen Einzelnen, hier allein zu sein. Wenn es einen Notfall gibt …«

»Er wird nicht allein sein.«

Jamie drehte sich um und sah, wie Vijay entschlossen auf den Tisch zusteuerte.

»Ich bleibe auch hier«, sagte sie.

»Aber das geht nicht!«, platzte Jamie heraus.

Sehr sanft erwiderte sie: »Ich bin nicht darum gebeten worden, das stimmt. Aber ich bleibe bei dir, Kamerad.«

»Was ist mit Trudy? Sie braucht …«

Vijay kam auf ihn zu, während sie antwortete: »Stacy und Tommy sind beide ausreichend zu Sanitätern ausgebildet, um sich auf dem Rückflug um sie zu kümmern. Sie erholt sich recht gut, mach dir da mal keine Gedanken. Wenn es Probleme gibt, können sie Rat von der Erde einholen, so wie ich's auch tun würde.«

»Du willst bleiben?« Jamie hatte Angst, dies alles könnte ein Traum sein, eine Halluzination.

Sie stand keine Armeslänge von ihm entfernt und schaute ihm direkt in die Augen. »Ja, ich will.«

Jeder andere Gedanke entschwand aus Jamies Bewusstsein. Er zog sie in die Arme und küsste sie leidenschaftlich. Sie erwiderte seinen Kuss, während die anderen wie vom Donner gerührt dasaßen, bis jemand einen leisen, langen, anerkennenden Pfiff ausstieß.

MITTAG: SOL 389

»Fünf Sekunden«, kam Deschurowas angespannte Stimme knisternd aus Jamies Helmlautsprechern. »Vier …«

Er und Vijay standen draußen vor der Kuppel und hielten sich an den behandschuhten Händen, den Blick auf das L/AV gerichtet, das fast einen vollen Kilometer entfernt stand.

»… zwei … eins …« Die obere Hälfte des gedrungenen Raumfahrzeugs sprang mit einem plötzlichen Donnerschlag in die Höhe, der Staub und Steine über den kahlen roten Boden schleuderte. Jamie zuckte unwillkürlich zusammen. Er legte den Kopf in den Nacken, als das Aufstiegsfahrzeug höher und höher in den wolkenlosen, pinkfarbenen Himmel stieg, bis das Brüllen seiner Raketentriebwerke zu einem dünnen, gedämpften Grollen verklang und dann ganz verstummte.

»Weg sind sie«, sagte Vijay. Es klang beinahe triumphierend.

Jamie folgte dem hellen Fleck, bis der obere Rand seines Visiers ihm die Sicht nahm. Stacy, Dex und die anderen waren mitsamt der Pathfinder-Sonde und Trudy Halls Problemen auf dem Rückweg zur Erde.

Er drehte sich zu Vijay um. Bevor er etwas sagen konnte, kam ihre heitere Stimme aus seinen Helmlautsprechern. »Tja, jetzt sind nur noch wir beide da, Kamerad.«

Er war nicht so guter Dinge. Ich bin jetzt verantwortlich für ihr Leben. Sie vertraut mir, und ich muss mich ihres Vertrauens würdig erweisen.

»Wir sind jetzt Marsianer, oder?«, fragte Vijay.

»Noch nicht«, erwiderte er. »Wir sind immer noch Gäste, Besucher. Wir müssen immer noch in diesen Anzügen herumlaufen. Wir müssen den Mars immer noch so respektieren, wie er ist.«

»Wird das immer so sein?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Jamie. »Immer ist eine lange Zeit. Vielleicht irgendwann, wenn wir klüger sind … viel klüger als jetzt. Vielleicht können unsere Enkelkinder einmal auf dem Mars und mit dem Mars leben. Oder deren Enkelkinder. Wer weiß.«

Als sie sich auf den Rückweg zur Luftschleuse der Kuppel machten, fragte Vijay: »Werden wir den Mars so schützen können, wie du es willst? Ich meine, werden wir Leute wie Dex' Vater daran hindern können, alles zu zerstören?«

Gegen sein besseres Wissen versuchte Jamie, in dem hartschaligen Raumanzug die Achseln zu zucken. Ohne Erfolg. »Wir können es nur versuchen, Vijay. Das IUK bestreitet den Anspruch der Navajos, aber es sieht so aus, als würde die Raumfahrtbehörde ihn als rechtmäßig und bindend anerkennen.«

Er hörte sie lachen. »Das Navajo-Reservat ist jetzt größer als die Vereinigten Staaten, stimmt's?«

»Wenn man den ganzen Mars mit einrechnet, ja. Aber er gehört nicht zum Reservat, er ist …«

»Nimm das doch nicht so ernst!«

»Aber es ist ernst«, sagte er. »Ich hoffe, es wird Navajo-Kinder motivieren, sich mit dem Mars zu beschäftigen, Naturwissenschaften und Astronautik zu studieren und …«

»Und Marsianer zu werden?«

Er atmete tief ein. »Ja, vielleicht. Irgendwann. Eines Tages.«

Sie blieben an der Luftschleuse stehen, drehten sich beide um, ohne ein Wort zu wechseln, und ließen den Blick über die rote, mit Steinen übersäte Landschaft schweifen.

»Wenn es uns doch nur möglich gewesen wäre, sie kennen zu lernen, mit ihnen zu reden …«

»Die Marsianer?«

»Ja. Wir können nicht mal die Inschriften lesen, die sie hinterlassen haben.«

»Sie haben uns ihre Botschaft übermittelt, Vijay. Die Botschaft, auf die es ankommt. Sie haben existiert. Auf dieser Welt haben intelligente Wesen gelebt. Es muss noch weitere geben, dort draußen, unter den Sternen. Wir sind nicht allein.«

Sie seufzte schwer. »Aber hier auf dem Mars ist für die nächsten vier Monate niemand außer uns beiden.«

»Ja.«

»Wir haben eine ganze Welt für uns allein.«

»Mir gefällt es hier sehr«, sagte Jamie.

»Es ist friedlich«, erwiderte sie. »Das muss ich zugeben.«

»Dex wird alle Hände voll zu tun haben, wenn er zurückkommt. Sein Vater wird ihn bis aufs Messer bekämpfen.«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Vijay zuversichtlich. »Sein Dad wird schon nicht so viel Ärger machen. Dex wird den alten Mann auf seine Seite ziehen.«

»Glaubst du?«

»Mit seinem Charme kann er eine Schlange aus dem Gebüsch locken, wenn er will.«

Jamie schwieg.

»Und selbst wenn nicht«, fuhr Vijay fort, »mit seiner Stiftung wird Dex genug Geld für eine neue Expedition auftreiben.«

»Sie wird keinen Gewinn abwerfen«, zweifelte Jamie.

»Meinst du nicht? Dex schwebt da irgendwas mit Virtual-Reality-Touren auf dem Mars vor, weißt du. Sehen, fühlen, hören … das umfassende Marserlebnis, ohne dass man die Unbequemlichkeit auf sich nehmen müsste, sein Heim zu verlassen. Außerdem will er Marsgestein verkaufen und solche Sachen.«

Jamie knirschte unwillkürlich mit den Zähnen.

»Auf die eine oder andere Weise wird er schon Geld machen, keine Sorge.«

»Und es in die weitere Erforschung stecken?«

»Du wirst ja sehen.«

Die Sonne stand hoch am Himmel. Die sanften Winde des Mars strichen raunend über die leere, sanft gewellte Ebene. Jamie sah die Steine, die verwitterten Ränder alter Krater und in der Ferne die Dünen, präzise aufgereiht wie Soldaten bei der Parade. Er senkte den Blick, suchte nach den Fußabdrücken der vor langer Zeit ausgestorbenen Marsianer und sah stattdessen ihre eigenen Stiefelabdrücke und die Stollenspuren ihrer Traktoren und Rover im roten Staub.

Er schaute wieder zum Horizont und stellte sich seinen Großvater Al dort draußen vor, wie er ihnen zulächelte. Hierher hat unser Weg geführt, Großvater, sagte Jamie stumm. Wir sind jetzt zu Hause.

»Liebst du mich?«, fragte Vijay.

Noch vor einem Tag hätte die Frage Jamie verblüfft. Aber jetzt wusste er es. Jetzt war kein Zweifel mehr in ihm, kein Konflikt.

»Ja«, sagte er unzweideutig. »Ich liebe dich, Vijay.«

Dann fragte sie: »Liebst du mich mehr als den Mars?«

Er hörte das Lächeln in ihrer Stimme. Er zögerte, dann antwortete er: »Das ist etwas ganz anderes.«

Sie lachte entzückt. »Gut! Ich hätte dir nicht geglaubt, wenn du ja gesagt hättest.«

Vijay nahm seine Hand und sie drehten sich wieder zur Luftschleuse um, bereit für ihre erste Nacht allein auf dem Mars.

Загрузка...