ERSTES BUCH DIE ANKUNFT

MARS-HABITAT: SOL 1

»Wir sind wieder da, Großvater«, sagte Jamie Waterman leise. »Wir sind zum Mars zurückgekehrt.«

Jamie stand im Innern des kuppelförmigen Habitats neben der Reihe leerer Ausrüstungsschränke gleich bei der Luftschleuse und nahm die kleine Steinskulptur von dem Bord, wo sie sechs Jahre lang gewartet hatte: ein winziger, pechschwarzer Obsidian in der Totemform eines zusammengekauerten Bären. Eine Miniaturpfeilspitze aus Türkis mit einer kleinen weißen Adlerfeder darauf war mit einem Lederband auf seinen Rücken gebunden. Jamie hielt den Navajo-Fetisch in der behandschuhten Hand.

»Was ist das?«, fragte Stacy Deschurowa.

Jamie hörte ihre kräftige, muntere Stimme in seinen Helmlautsprechern. Keines der acht Mitglieder der zweiten Marsexpedition hatte schon den Raumanzug ausgezogen; sie hatten nicht einmal das Helmvisier hochgeklappt. Sie standen in einem groben Halbkreis vor der Innenluke der Luftschleuse, acht gesichtslose Männer und Frauen in klobigen, hartschaligen Raumanzügen.

»Ein Navajo-Fetisch«, antwortete Jamie. »Mächtiger Zauber.«

Dex Trumball schlurfte unbeholfen zu Jamie. Seine dicken Stiefel stapften schwer über den Kunststofffußboden des Habitats.

»Hast du das von der Erde mitgebracht?«, fragte Trumball beinahe anklagend.

»Bei der ersten Expedition«, sagte Jamie. »Ich hab's hier gelassen, damit es den Ort während unserer Abwesenheit beschützt.«

Trumballs Gesicht war hinter der getönten Sichtscheibe seines Helms verborgen, aber sein Ton ließ keinen Zweifel daran, was er davon hielt. »Richtig starke Medizin, hm?«

Jamie unterdrückte einen Anflug von Ärger. »Ganz recht«, sagte er und zwang sich, mit ruhiger, gelassener Stimme zu sprechen. »Die Kuppel ist noch da, nicht wahr? Sechs Jahre, und sie steht noch und wartet darauf, dass wir sie wieder bewohnen.«

Possum Craig sagte mit seinem ausdruckslosen, näselnden texanischen Akzent: »Pumpen wir erst mal 'n bisschen atembaren Sauerstoff hier rein, bevor wir uns gegenseitig auf die Schulter klopfen.«

»Sechs Jahre«, murmelte Trumbull. »So lange liegt das Ding schon hier.«

Sechs Jahre.

Selbst die Entdeckung von Leben, das sich verzweifelt an die Felsen tief unten im Grand Canyon des Mars klammerte, hatte diese Rückkehr zum Roten Planeten nicht leicht oder einfach gemacht. Es hatte sechs Jahre gedauert, die Menschen, die Ausrüstung und — am allerwichtigsten — das Geld zusammenzubekommen, um diese zweite Marsexpedition zu realisieren.

Zu seiner Überraschung und seinem Ärger hatte Jamie Waterman mit jedem Molekül Kraft und Geschick, das er besaß, um einen Platz bei der zweiten Expedition kämpfen müssen. Aber wie es schien, war der Fetisch seines Großvaters wirklich mächtig gewesen: Nun war er doch noch zum Mars zurückgekehrt.

Nach fünf Monaten im All zwischen den beiden Welten, nach einer Woche im Orbit um den Mars, nach dem Flammenritt durch die dünne, von ihrem feurigen Abstieg bis zur Weißglut aufgeheizten Marsatmosphäre waren Jamie Waterman und die anderen sieben Mitglieder der Expedition schließlich auf den rostroten, sandigen Boden des Mars hinausgetreten.

Fünf Männer und drei Frauen, alle in unförmige Raumanzüge gehüllt, die ihnen das Aussehen tapsiger, auf die Hinterbeine aufgerichteter Schildkröten verliehen. Sämtliche Anzüge waren weiß, mit farbkodierten Streifen an den Ärmeln, damit man den jeweiligen Träger leicht identifizieren konnte. Jamies drei Streifen waren feuerwehrrot.

Das von der ersten Expedition zurückgelassene Habitat sah unverändert aus. Die Kuppel war noch aufgeblasen und schien die sechsjährige Wartezeit unversehrt überstanden zu haben.

Als Erstes stapften die Forscher zur Luftschleuse der Kuppel und gingen hinein. Nachdem sie sich im leeren Innern kurz umgeschaut hatten, widmeten sie sich ihren jeweiligen Aufgaben und überprüften das Lebenserhaltungssystem. Falls die Kuppel unbrauchbar war, würden sie während der gesamten anderthalb Jahre ihres Aufenthalts auf dem Mars in dem Raumschiffmodul wohnen müssen, mit dem sie zum Roten Planeten geflogen und auf ihm gelandet waren. Keiner von ihnen wollte das. Fünf Monate in dieser Blechdose waren mehr als genug gewesen.

Die Kuppel war intakt, ihre Lebenserhaltungsanlage funktionierte hinlänglich, und der Atomkraftgenerator lieferte noch genug Strom für das Habitat.

Ich wusste, dass es so sein würde, sagte sich Jamie. Der Mars ist eine sanfte Welt. Er will uns keinen Schaden zufügen.

Craig und Tomas Rodriguez, der von der NASA gestellte Astronaut, warfen den Sauerstoffgenerator an. Nach sechs Jahren Untätigkeit machte er zunächst Mucken, aber dann bekamen sie ihn schließlich in Gang, und er begann, atembaren Sauerstoff aus der Marsatmosphäre zu gewinnen und mit dem Stickstoff zu mischen, der die Kuppel in den vergangenen sechs Jahren prall gefüllt hatte.

Die übrigen Forscher gingen hinaus und bauten die Videokameras und Virtual-Reality-Geräte auf, mit denen sie ihre Ankunft auf dem Mars aufzeichnen und die Nachricht zur Erde übermitteln wollten. Mit dem Steinfetisch in der Oberschenkeltasche seines Raumanzugs erinnerte Jamie sich an den politischen Aufruhr, den er verursacht hatte, als die erste Expedition den Boden des Mars betreten und er ein paar Worte auf Navajo gesagt hatte, statt die von der Presseabteilung der NASA für ihn ausgearbeitete steife, formelle Ansprache zu halten.

Und er erinnerte sich an noch etwas: an die alte Felsenbehausung in einer Nische hoch oben in der steil aufragenden Felswand des Grand Canyon, die er gesehen hatte. Aber er wagte nicht, das den anderen gegenüber zu erwähnen.

Noch nicht.

HOUSTON: DAS ERSTE TREFFEN

Jamies erste Begegnung mit dem Wissenschaftlerteam der Expedition hatte in einem engen, kleinen, fensterlosen Konferenzraum im Johnson Space Center der NASA in der Nähe von Houston stattgefunden. Die beiden Frauen und drei Männer waren aus Tausenden von Kandidaten ausgesucht worden; ihre Namen hatte man vor ein paar Wochen bekannt gegeben. Jamie selbst war erst vor zwei Tagen zu ihrem Leiter ernannt worden.

»Ich weiß, was Sie durchmachen«, sagte Jamie zu den fünfen.

Nun lernte er die vier Wissenschaftler und die Ärztin der Expedition zum ersten Mal persönlich kennen. Während der Monate ihres Trainings, in denen Jamie um seinen Platz im Team der zweiten Marsexpedition gekämpft hatte, hatte er mit jedem von ihnen per E-mail korrespondiert und per Bildtelefon gesprochen, aber er war noch nie im gleichen Raum mit ihnen gewesen.

Jetzt stand er ein wenig nervös am Kopfende des schmalen Konferenztisches und kam sich wie ein Ausbilder vor, der ein hoch begabtes Studentenquintett vor sich hatte: jünger, selbstbewusster, sogar qualifizierter als er. Die vier Wissenschaftler saßen an dem wackligen, rechteckigen Tisch und sahen ihn an. Die Ärztin und Psychologin, eine exotisch aussehende Hindu-Frau mit bitterschokoladebrauner Haut und straff nach hinten gekämmtem, mitternachtsschwarzem Haar saß am Fußende des Tisches.

Sie trugen alle den korallenrosa Missionsoverall mit dem über der Brusttasche befestigten Namensschild. Die Ärztin, V.J. Shektar, hatte ein buntes Halstuch umgelegt. Sie betrachtete Jamie mit großen, kohlschwarzen Mandelaugen.

Keiner der anderen hatte die Standarduniform mit irgendwelchen Zusätzen versehen, außer C. Dexter Trumball, auf dessen Schultern Tuchabzeichen genäht waren: eines zeigte das Mikroskop- und-Teleskop-Logo des Internationalen Universitätskonsortiums, das andere das fliegende T von Trumball Industries.

»Wir werden mehr als drei Jahre lang zusammenleben«, fuhr Jamie fort, »wenn man Ihre restliche Trainingszeit und die Mission selbst mit einrechnet. Ich fand, es war höchste Zeit, dass wir einander kennen lernen.«

Jamie hatte hart darum gekämpft, bei der zweiten Expedition dabei sein zu dürfen. Er wäre froh gewesen, wenn man ihn als Wissenschaftler ins Missionsteam aufgenommen hätte. Stattdessen konnte er nur mit einsteigen, indem er die Aufgaben des Missionsleiters übernahm.

»Sie sagten unser Training«, unterbrach ihn der Geophysiker, Dexter Trumball. »Trainieren Sie nicht auch für die Mission?«

Mit seinen dunklen Locken und den lebhaften, strahlenden Augen — blaugrün wie das Meer — sah Trumball auf verwegene Weise gut aus, fast wie ein Filmstar. Er lehnte bequem in seinem gepolsterten Stuhl und trug ein schiefes kleines Grinsen irgendwo im Grenzbereich zwischen Selbstvertrauen und Großspurigkeit zur Schau. Er war nicht größer als Jamie, aber viel schlanker: ein gelenkiger, anmutiger Tänzerkörper gegenüber Jamies kräftigerer, stämmigerer Statur. Überdies war er zehn Jahre jünger als Jamie und der Sohn des Mannes, der die Finanzierungskampagne für die Expedition in die Wege geleitet hatte.

»Natürlich trainiere ich auch«, antwortete Jamie rasch. »Aber vieles von dem, was Sie gerade durchmachen — das Trainingsprogramm in der Antarktis zum Beispiel —, habe ich schon bei der ersten Expedition hinter mich gebracht.«

»Oh«, sagte Trumball. »Schon alles erlebt und gesehen, hm?«

Jamie nickte knapp. »So ungefähr.«

»Aber das ist über sechs Jahre her«, sagte Mitsuo Fuchida. Der Biologe war so schmal wie die Klinge eines Schwerts, sein Gesicht eine Skulptur aus Kanten und Flächen.

»Wenn Sie ein Computer wären«, fügte er hinzu, wobei sich seine beilscharfen Züge zu einem ganz leisen Lächeln verzogen, »gäbe es inzwischen schon eine komplette neue Generation.«

Jamie zwang sich, das Lächeln zu erwidern. »Ich werde gerade aufgerüstet«, versicherte er ihnen. »Ich absolviere noch mal die ganzen Leistungstests und lade all die brandneuen Programme in meinen Langzeitspeicher. Keine Angst, ich werde weder abstürzen noch einen Bytelock erleiden.«

Die anderen lachten höflich.

Fuchida senkte den Kopf. »War nur ein Scherz«, meinte er verlegen.

»Schon in Ordnung«, sagte Jamie. Jetzt war sein Lächeln echt.

»Also, ich weiß ja nich, wie's mit euch is«, meldete sich der untersetzte Geochemiker mit dem traurigen Gesicht — sein Name war Peter J. Craig, wie Jamie wusste — zu Wort, »aber ich bin verdammt froh, dass wir 'nen erfahrenen Mann bei uns haben.«

Craig hatte eine Knollennase und Hängebacken mit dunklen Bartstoppeln.

»Ich sag euch«, fuhr er fort, »ich war 'n Haufen Jahre draußen im Gelände, und echte Erfahrung lässt sich durch nix ersetzen. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir Dr. Waterman als Vorreiter bei unsrem Rodeo dabei haben.«

Bevor jemand noch etwas sagen konnte, breitete Jamie die Arme aus und sagte: »Hören Sie, ich bin heute Nachmittag nicht hergekommen, um über mich zu sprechen. Ich wollte Sie nur alle persönlich kennen lernen und gewissermaßen guten Tag sagen. In den nächsten paar Wochen werden wir einzeln und in kleinen Gruppen miteinander reden.«

Sie nickten alle.

»Sie sind die Besten der Besten«, fuhr Jamie fort. »Man hat Ihnen gegenüber Tausenden von Mitbewerbern den Vorzug gegeben. Ihre Vorschläge für Forschungsprojekte sind sehr eindrucksvoll; ich habe sie alle aufmerksam durchgelesen, und mir gefällt sehr, was ich gesehen habe.«

»Was ist mit den kooperativen Forschungen?«, fragte Trumball.

Während ihres Aufenthalts auf dem Mars würde jeder der vier Wissenschaftler Dutzende von Experimenten und Messungen unter Leitung von Forschern auf der Erde durchführen. Das war die einzige Möglichkeit gewesen, sich die volle Kooperation — und finanzielle Unterstützung — der großen Universitäten zu sichern.

»Ich weiß, dass sie die Zeit einschränken werden, die Ihnen für Ihre eigene Arbeit zur Verfügung steht«, sagte Jamie, »aber sie sind Bestandteil des Missionsplans, und wir alle werden sie durchführen müssen.«

»Sie auch?«

»Selbstverständlich. Ich werde doch auf dem Mars nicht nur am Schreibtisch sitzen.«

Das brachte sie zum Grinsen.

»Hören Sie: Wenn Sie mit der Zeitplanung in Schwierigkeiten geraten oder die Anforderungen von der Erde problematisch werden, sagen Sie's mir. Dazu bin ich da. Es ist meine Aufgabe, Konflikte auszuräumen.«

»Wer hat Vorrang?«, fragte Craig. »Ich meine, wenn's drauf ankommt, ob ich meinen eigenen Kram mache oder das, was irgend so 'n Fachbereichsleiter von der Uni in Kuhfurzenhausen will, wo geht's dann längs?«

Jamie sah ihn einen Moment lang schweigend an und überlegte. Das ist ein Test, erkannte er. Sie wollen herausfinden, woran sie bei mir sind.

»Das werden wir von Fall zu Fall entscheiden müssen«, erklärte er Craig. »Aber ich persönlich bin der Ansicht, dass im Konfliktfall der Mann auf dem Mars Vorrang hat.«

Craig nickte zustimmend. Damit war er einverstanden.

Jamie schaute von einem zum anderen. Keine der beiden Frauen hatte ein Wort gesagt. Shektar war die Ärztin, deshalb überraschte es ihn nicht, dass sie nichts zu sagen hatte. Aber Trudy Hall war Zellbiologin und sollte eigentlich einen Beitrag zu der Diskussion leisten.

Hall sah für Jamie wie ein kleiner Spatz aus. Sie war winzig; ihr dichtes, gelocktes braunes Haar war kurz geschnitten, ihr Overall bis auf ihr Namensschild völlig schmucklos. Wache graublaue Augen, sah Jamie. Sie hatte die hagere, schlanke Figur einer Marathonläuferin und eine perfekt geformte Nase, für die andere Frauen beim Schönheitschirurgen viel Geld hingelegt hätten.

»Irgendwelche Fragen?« Jamie sah sie direkt an.

Hall schien Luft zu holen, dann sagte sie: »Ja, eine.«

»Und die wäre?«

Sie schaute zu den anderen, dann beugte sie sich ein wenig vor und fragte in einem weichen, schnurrenden Yorkshire-Dialekt: »Wie ist es auf dem Mars? Ich meine, wie ist es wirklich, wenn man dort ist?«

Die anderen rückten auf ihren Stühlen ein kleines Stück nach vorn, sogar Trumball, und Jamie wusste, dass sie prima miteinander auskommen würden. Während der nächsten zwei Stunden erzählte er ihnen vom Mars.

ANKUNFTSZEREMONIE: SOL 1

Sie waren nur Minuten nach Anbruch der lokalen Morgendämmerung gelandet, damit sie so viel Tageslicht wie möglich für die Entladung des L/AV — des Abstiegs- und Aufstiegsfahrzeugs — und die Wiederinbetriebnahme ihres Habitats hatten. Und sie mussten etwas Zeit für die Übertragung einer Landezeremonie zur Erde einplanen.

Es war vereinbart worden, dass die Forscher zunächst überprüfen sollten, ob die alte Kuppel noch bewohnbar war; erst danach würden sie das Ritual durchführen, sich den wartenden Zuschauermilliarden auf der Erde zu präsentieren.

Natürlich hatte die Kosmonautin Anastasia Deschurowa im Moment des Bodenkontakts dem Kontrollzentrum in Tarawa mitgeteilt, dass sie sicher gelandet waren. Die Instrumente ihres L/AVs übermittelten diese Information automatisch zur Erde, aber zum ersten Mal, seit Jamie Stacy kennen gelernt hatte, strahlte das breite, unbewegte Gesicht der Russin vor Freude, als sie die Nachricht verkündete, die von jeder Fernsehstation der Erde ausgestrahlt wurde: »Touchdown! Die Menschheit ist zum Mars zurückgekehrt!«

Hundert Millionen Kilometer entfernt waren die Flugkontrolleure auf dem Pazifikatoll Tarawa in Jubelrufe und Freudengeschrei ausgebrochen, hatten einander umarmt und vor Erleichterung und Aufregung getanzt.

Jamie blinzelte sich Schweiß aus den Augen, als sie zu acht vor den Videokameras mit ihren marsdünnen Stativen Aufstellung nahmen, die Trumball und Rodriguez aufgebaut hatten. Über das Tastenfeld an seinem Handgelenk schaltete er die Lüfter des Anzugs auf Maximalleistung und hörte, wie ihr Insektengesumm höher wurde. Seltsam, dass er auf einer Welt ins Schwitzen geriet, auf der die Temperatur fast immer unter dem Gefrierpunkt lag. An übermäßiger Anstrengung kann's nicht liegen, dachte Jamie. Muss nervöse Anspannung sein. Am liebsten hätte er sein Visier geöffnet und sich die Augen gewischt, aber er wusste, dass ihm dann wegen des jämmerlich niedrigen marsianischen Luftdrucks sofort das Blut aus den Lungen gebrodelt wäre.

Später würde Dex Trumball mit den Zuschauern auf der Erde eine Virtual-Reality-Tour machen und ihnen den Landeplatz zeigen, während die anderen die Traktoren herausholten und das Raumfahrzeug entluden. Zunächst jedoch nahmen sie alle acht an der Ankunftszeremonie teil.

Als Missionsleiter oblag es Jamie, die erste Rede vor der Kamera zu halten. Es würde fast eine Viertelstunde dauern, bis seine Worte den Abgrund zwischen den beiden Welten durchquert hatten. Zwischen Mars und Erde gab es keine Gespräche, sondern nur in entgegengesetzte Richtungen laufende Monologe.

Vor sechs Jahren hatte er als letztes Mitglied der Expedition sprechen dürfen und einfach den alten Navajo-Gruß von sich gegeben: »Ya'aa'tey.« Es ist gut.

Nun war er jedoch Missionsleiter, und da erwartete man mehr von ihm.

Zumindest gab es bei dieser zweiten Expedition kein derart strenges Kontrollsystem wie bei der ersten damals. Statt der beinahe militärischen Hierarchie, die von den Geldgeberstaaten der ersten Marsexpedition eingesetzt worden war, hatte Jamie eine entspanntere, kollegialere Organisation von Gleichrangigen aufgebaut. Die zwei Astronauten und sechs Wissenschaftler lebten und arbeiteten als harmonisches Team zusammen — jedenfalls meistens.

»Bist du bereit?« Trumballs Stimme summte in Jamies Helmlautsprechern.

Jamie nickte, dann wurde ihm klar, dass niemand die Geste sehen konnte. »Bereiter geht's nicht«, sagte er, als er vor die handgroßen Videokameras trat. Trumball, der hinter den zierlichen Stativen stand, gab ihm mit dem Finger das Startzeichen.

Jamie hob die Hand und sagte: »Grüße vom Planeten Mars. Die zweite Marsexpedition ist wie geplant am Standort des von der ersten Expedition zurückgelassenen Habitats gelandet.«

Er drehte sich ein kleines Stück und zeigte in die ungefähre Richtung der Kuppel. »Wie Sie sehen, ist es in ausgezeichnetem Zustand, und wir freuen und schon darauf, die nächsten anderthalb Jahre darin zu verbringen.

Dr. Trumball wird Sie gleich auf eine Virtual-RealityTour durch das Gelände mitnehmen«, fuhr er fort. »Zunächst möchte ich jedoch dem Internationalen Universitätskonsortium, der Space Transportation Association und den Steuerzahlern der Vereinigten Staaten, Australiens, Japans, der Europäischen Gemeinschaft und des Inselstaats Kiribati für die Bereitstellung der finanziellen Mittel danken, die diese Expedition ermöglicht haben.«

Sie hatten vor Wochen Lose gezogen, um die Reihenfolge der Auftritte festzulegen. Als nächste trat Vijay Shektar in ihrem anonymen, unförmigen Raumanzug vor die Kamera; sie war nur an den hellgrünen Ringen an den Armen zu erkennen.

»Ich grüße euch alle auf der Erde, besonders die Bewohner Australiens«, sagte sie mit unverkennbar australischem Akzent. Ihre Stimme strafte ihre Herkunft Lügen: Shektar war hinduistischer Abstammung, mit dunkler Haut und großen, schwarzen Onyxaugen, aber sie war in Melbourne geboren und aufgewachsen. Sie war eine hervorragende Ärztin und Psychologin, die auch das Biologenteam unterstützen würde.

Nach Shektars kleiner Rede überbrachte Mitsuo Fuchida, einer der beiden Biologen der Expedition, seinen Gruß: zuerst auf Japanisch, dann auf Englisch.

Dex Trumball mit seinen königsblauen Armbändern folgte.

»… und ich möchte den Luftfahrtunternehmen danken, die uns so viel Ausrüstung gespendet und so viel Personal zur Verfügung gestellt haben«, sagte er nach den zeremoniellen Grußworten, »sowie den fast fünfzig Universitäten in aller Welt, die einen Beitrag zu dieser Expedition geleistet haben. Ohne ihre finanzielle, materielle und personelle Unterstützung stünden wir jetzt nicht hier auf dem Mars.«

Jamie rümpfte ein wenig die Nase. Ich hätte damit rechnen müssen, dass Dex Werbung einflicht. Er ist mehr daran interessiert, mit dieser Expedition Geld zu machen, als wissenschaftlich zu arbeiten.

»Und einen ganz besonderen Dank an meinen Vater, Darryl C. Trumball, dessen Energie, Weitsicht und Großzügigkeit von zentraler Bedeutung für das Zustandekommen dieser Expedition waren und uns alle inspiriert haben.«

Jamie und Dex hatten während der ganzen fünf Monate ihres Fluges zum Mars über die Ziele der Expedition diskutiert, anfangs höflich wie zwei wohlerzogene Akademiker, aber mit den langen Monaten ihrer Reise durch den Raum waren die ideologischen Differenzen unvermeidlich zu lautstarken Streitereien eskaliert; zwischen ihnen hatte sich richtig böses Blut entwickelt. Ich werde das ausbügeln müssen, sagte sich Jamie. Wir dürfen einander nicht weiter so anblaffen. Wir müssen als Team zusammenarbeiten können.

Finde das Gleichgewicht, flüsterte der Navajo in ihm. Finde den Weg, der zur Harmonie führt. Nur Harmonie kann dich zur Schönheit bringen.

Sein vernunftgeleitetes Ich stimmte zu, aber er schäumte noch immer über Trumballs ungenierte Unterstellung, dass die Expedition darauf ausgerichtet sein sollte, Gewinn zu erzielen.

Als Letzte trat Trudy Hall, die englische Zellbiologin, vor die Kamera.

»Ich habe diese Ansprache monatelang geprobt«, sagte sie mit vor Aufregung schriller Stimme, »aber jetzt, wo wir hier sind — tja, ich kann nur sagen: Mannomann! Dann ist 'n ganz schöner Hammer! Packen wir's an!«

Jamie lachte in seinem Helm insgeheim in sich hinein. So viel zur typischen Gelassenheit der Engländer, dachte er.

Als die kurze Zeremonie vorbei war, stellte Trumball die Kameras um, während die meisten anderen auf die Frachtluke des Raumfahrzeugs zusteuerten, um mit dem Entladen zu beginnen. Niemand sieht uns bei der Arbeit, dachte Jamie. Wie wir im Schweiße unseres Angesichts die Ausrüstung und den Proviant entladen, ist für die Medien und die Leute daheim nicht glamourös genug. Sie wollen Dramatik und Nervenkitzel — einfach nur dabei zuzusehen, wie wir die Vorräte vom L/AV zur Kuppel schleppen, ist ihnen nicht spannend genug.

Er drehte sich um und schaute in die Marslandschaft hinaus. Früher haben wir gedacht, sie wäre tot. Trocken, kalt und unfruchtbar. Aber jetzt wissen wir's besser. Er kniff die Augen zusammen und glaubte für einen Moment, das Navajo-Land in New Mexico vor sich zu sehen, wohin sein Großvater ihn so oft mitgenommen hatte. Vor vielen Sommern. Vor einem ganzen Leben, in einer anderen Welt. Jenes Land war ihm auch trocken und tot erschienen. Dennoch lebte und gedieh das Volk dort, in einem harten, rauhen Land.

Die Marslandschaft war von einer unheimlichen Schönheit. Sie brachte eine Saite in Jamie zum Klingen, diese rote Welt. Es war eine sanfte Landschaft, öde und leer, aber für ihn hatte sie etwas Freundliches und Verlockendes. Jamie sah, dass die im Schatten liegenden Flanken der Felsen und Dünen von einem leichten, pulvrigen Weiß überzogen waren, das funkelte und blinkte und verschwand, wo die vor kurzem aufgegangene Sonne sie berührte.

Ich bin daheim, dachte er. Nach sechs Jahren bin ich dorthin zurückgekommen, wohin ich gehöre.

»Was ist das für ein weißes Zeug?«

Jamie hörte Vijay Shektars ein wenig neugierige, rauchige Katzenstimme in seinem Helmlautsprecher. Er drehte den Kopf, aber der Helm versperrte ihm die Sicht; er musste den ganzen Körper drehen, um sie neben ihm stehen zu sehen.

»Raureif«, antwortete Jamie.

»Raureif?«

»Der Wasserdampf in der Atmosphäre friert auf dem Boden und den Felsen aus.«

»Aber wir haben Frühling, oder?« Ihre Stimme klang leicht verwirrt und unsicher.

Jamie nickte. »Das stimmt. Der Sommer kommt erst in vier Monaten.«

»Aber Raureif und Frost gibt es doch erst im Herbst, nicht im Frühling«, sagte sie.

Jamie lächelte. »Auf der Erde. Hier sind wir auf dem Mars.«

»Oh.« Sie schien einen Moment lang darüber nachzudenken, dann sagte sie in einem fröhlichen, singenden Tonfall: »Können wir eine Schneeballschlacht machen?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Das Eis lässt sich nicht pressen. Es ist nicht feucht genug; nicht genug Wasserstoffbindung.«

»Ich verstehe nicht.«

»Es ist wie sehr trockener, sehr pulvriger Schnee. Viel trockener und pulvriger als jeder Schnee auf der Erde.« Jamie fragte sich, ob sie in Australien jemals Ski gelaufen war. Vielleicht in Neuseeland, dachte er. Da haben sie gute Wintersportgebiete.

»Dann kann man also keine Schneebälle machen«, sagte Shektar. Sie klang enttäuscht.

Jamie hob den Arm, zeigte zum Horizont und antwortete: »Vor langer Zeit konnte man's. Hier gab es mal ein Meer … oder zumindest einen größeren See. Höchstwahrscheinlich so ähnlich wie der Golf von Mexiko: ziemlich flach und warm von der Sonne.«

»Wirklich?«

»Aber ja. Siehst du die Terrassierung? Die muschelförmigen Vertiefungen?«

»Die stammen von einem Meer?«

Jamie nickte im Innern seines Helms. »Es ist gegen den Hang des Tharsis-Buckels ein ganzes Stück westlich von hier geplätschert. Wir stehen wahrscheinlich im ehemaligen Küstenbereich. Kann sein, dass es unter unseren Füßen fossile Muscheln gibt.«

»Und wie sähen marsianische Muscheln wohl aus?«, fragte Dex Trumball scharf. »Woran würde man hier eine Versteinerung erkennen? Die Formen wären ganz anders als auf der Erde.«

Jamie drehte sich um und sah in ungefähr hundert Meter Entfernung Dex' Raumanzug mit den königsblauen Armbändern. Dex hatte sie auf ihrer Anzug-zu-Anzug-Frequenz belauscht.

»Es gibt ja schließlich die Bilateral-Symmetrie.« Jamie versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen.

Trumball lachte.

»Irgendwas mit Beinen wäre ganz hilfreich«, setzte Vijay hinzu.

Dex kam mit großen Sätzen über den eisenroten Sand auf sie zu, einen Probenbehälter aus Kunststoff in der behandschuhten Hand. »Aber dieses Zeug über das Meer ist gut. Das könnte ich bei meiner VR-Tour benutzen. Zwei, drei Stunden am Computer, und ich könnte den Zuschauern daheim sogar eine visuelle Simulation zeigen

Dex versprühte jugendliche Begeisterung und Energie. Jamie war eindeutig verstimmt.

Der Geophysiker kam mit Zweimeterschritten die kleine felsige Anhöhe zu Jamie und Vijay herauf.

»Es ist Raureif, stimmt. Seht euch das an! Kommt mit, ich will ein paar Proben sammeln, bevor die Sonne alles verdunsten lässt.« Er schwenkte den isolierten Probenbehälter.

Ohne auf Jamie zu warten, machte sich Dex auf den Weg zu den mit Eis überzogenen Dünen hinunter.

Jamie schaltete über das Tastenfeld an seiner linken Manschette auf die Basisfrequenz des Anzugfunks. »Waterman an Basis. Shektar, Trumball und ich gehen ins Dünenfeld runter.«

Stacy Deschurowas Stimme klang ein wenig verärgert, als sie antwortete. »Dann seid ihr außerhalb des Bereichs der Kameras, Jamie.«

»Verstanden«, sagte Jamie. »Wir werden nicht länger als als eine halbe Stunde unterwegs sein, und wir bleiben in Gehweite.«

Deschurowa gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Seufzer und einem Schnauben lag. »Verstanden. Maximal eine halbe Stunde in Gehweite.«

Als ältere der beiden Astronauten war Deschurowa für die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften zuständig. Sie war hauptsächlich im Kommunikationszentrum der Kuppel postiert, wo sie jeden, der draußen arbeitete, mittels der um die Kuppel herum aufgebauten Überwachungskameras beobachtete.

Ich kann verstehen, dass sie genervt ist, dachte Jamie. Wir sollten eigentlich bei der Kuppel sein und mithelfen, die Ausrüstung und die Nahrungsmittel zu verstauen, statt in der Gegend herumzulaufen. Die anderen ließen die beiden kleinen Traktoren zwischen ihrem L/AV und der Kuppel dahinrumpeln.

Dennoch kehrte er der Arbeit den Rücken und ging langsam neben Vijay her, bereit, ihr die Hand zu reichen, falls sie über einen der überall herumliegenden Steine stolperte. Er musterte das Gelände mit den Augen des Geologen. Das ist unter Garantie ein sehr alter Impaktkrater, sagte er sich im Stillen. Der Verwitterungsprozess auf dem Mars dauert Äonen, und der Rand ist fast bis zum Sandboden herunter erodiert. Muss ein heftiger Schlag gewesen sein, nach der Größe des Beckens zu urteilen. Beziehungsweise nach der Größe dessen, was davon übrig ist.

Trumball lag bereits im Schatten auf den Knien und schabte die zerbrechliche, papierdünne Eisschicht vorsichtig in ein offenes Probengefäß.

»Es ist tatsächlich Wassereis«, sagte er über die Anzug-zu-Anzug-Frequenz, während sie auf ihn zukamen. »Garantiert von der gleichen Isotopenzusammensetzung wie das Eis am Nordpol. Das Zeug sublimiert da oben zu Dampf, und die Atmosphäre trägt es zum Äquator runter.«

Vijay zeigte mit einem behandschuhten Finger hin. »Es schmilzt, wo die Sonne darauf fällt.«

»Es sublimiert«, sagte Trumball, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. »Es schmilzt nicht, es sublimiert.«

»Wird von Eis zu Gas«, erklärte Jamie, »ohne flüssige Phase dazwischen.«

»Ich verstehe«, erwiderte sie.

»Die Atmosphäre ist so dünn, dass flüssiges Wasser sofort verdunstet.«

»Ja, ich weiß«, sagte sie mit einer leichten Schärfe im Ton.

Trumball verschloss das Gefäß und steckte es in den Probenbehälter. »Das wird uns helfen, definitive Erkenntnisse über die globale Zirkulation der Atmosphäre zu gewinnen.«

»Ist dieses Wasser auch mit Kohlensäure versetzt?«

Trumball schloss die Kunststoffbox und erhob sich. »Klar. Genau wie das Wasser aus der Permafrostschicht im Boden. Marsianisches Perrier, mit Kohlendioxid drin.«

Jamie gab das Startzeichen für die Rückkehr zur Basis. Er fühlte sich aus dem Gespräch ausgeschlossen, wusste aber nicht, wie er sich einbringen sollte, ohne den Eindruck zu erwecken, dass er mit dem jüngeren Mann konkurrierte.

»Das Leben hat hier dieselben Bedürfnisse wie auf der Erde«, sagte Vijay.

»Wieso auch nicht?«, erwiderte Trumball und wedelte mit der freien Hand. »Im Grunde ist es überall gleich: DNA, Proteine — dasselbe auf beiden Planeten.«

»Aber es gibt Unterschiede«, sagte Jamie. »Die marsianische DNS hat dieselbe Doppelhelix-Struktur wie unsere, aber die Basenpaare bestehen aus anderen chemischen Stoffen.«

»Ja, klar. Und in marsianischen Proteinen gibt's ein paar andere Aminosäuren. Aber Wasser brauchen sie trotzdem.«

Sie hatten den Kamm des Randfelsens erreicht. Jamie konnte die Kamera auf dem hohen, dünnen Mast sehen, die zu ihnen herüberspähte.

Widerstrebend sagte er: »Wir sollten uns ein bisschen beeilen, damit wir den anderen noch beim Ausladen helfen können.«

Shektar antwortete: »Ja, finde ich auch.«

Jamie konnte Trumballs Gesicht hinter der stark getönten Sichtscheibe von dessen Helm nicht sehen, aber er hörte den jüngeren Mann lachen.

Trumball hob seine Box hoch und sagte: »Tja, ein paar von uns haben was Wichtiges zu tun. Viel Spaß beim Stauer spielen.«

Und er ging mit großen Schritten über den mit Steinen übersäten Boden zur Basis zurück und ließ Jamie und Shektar auf dem Rand des alten Kraters stehen.

VIRTUELLE TOUR: SOL 1

Später an diesem Nachmittag steckte der immer noch aufgeregte C. Dexter Trumball die beiden miniaturisierten VR-Kameras in die Slots direkt über seinem Visier. Sie machten die Bewegungen seiner Augen mit, wenn die Elektronik richtig funktionierte. Mit ihnen und den molekulardünnen Datenhandschuhen, die er bereits über die Handschuhe seines Raumanzugs gefummelt hatte, würde er den Millionen Zuschauern auf der Erde alles zeigen können, was er selbst sah oder berührte.

Er schaute sich kurz zu den anderen um, die jetzt Frachtcontainer und sperrige Behälter durch die Luftschleuse der Kuppel schleppten. Sie würden den Rest des Tages damit verbringen, Geräte aufzubauen und die Kuppel bewohnbar zu machen. Trumballs Job war es, die Menschen daheim zu unterhalten, die einen finanziellen Beitrag zu dieser Expedition leisteten.

Die erste Expedition zum Mars war von mehreren Staaten durchgeführt worden und hatte annähernd eine Viertelbillion Dollar gekostet. Diese zweite Expedition wurde größtenteils aus privaten Quellen finanziert und kostete weniger als ein Zehntel dieser Summe.

Nun waren in den sechs Jahren zwischen den beiden Missionen natürlich die Clipperships entwickelt worden, wiederverwendbare Raumfahrzeuge, mit denen die Kosten des Flugs in den Orbit von ein paar tausend Dollar pro Pfund auf ein paar hundert sanken. Die Masterson Corporation und die anderen großen Luftfahrtunternehmen hatten der Marsexpedition Dutzende von Flügen in den Erdorbit spendiert; das war gute Reklame für sie und ihre neuen Clipperships.

Und Dex' Vater hatte sogar an der Spitze der Kampagne gestanden, mit der das Geld für die Expedition aufgetrieben worden war. Der ältere Trumball hatte persönlich fast eine halbe Milliarde Dollar aus seiner Privatschatulle gespendet und dann weitere Milliardäre beschwatzt, moralisch unter Druck gesetzt oder auf andere Weise bewogen, ebenfalls einen Beitrag zu leisten.

Aber der wahre Grund für die geringeren Kosten war, dass diese zweite Expedition sich von dem ernähren würde, was sie auf dem Mars vorfand. Statt jedes Gramm Wasser, Sauerstoff und Brennstoff von der Erde zum Mars mitzunehmen, hatten sie automatisierte Anlagen vorausgeschickt, die auf dem Mars landen und Wasser, Sauerstoff und Brennstoff aus der Atmosphäre und dem Erdreich des Planeten erzeugen sollten. Dex Trumball taufte das Verfahren »Plan Z«, nach dem Ingenieur, der vor Jahrzehnten bahnbrechende Arbeit für das Konzept geleistet hatte: Robert Zubrin.

Dennoch war die Expedition trotz Plan Z auf Probleme gestoßen, noch bevor das erste Modul von der Erde abhob.

Atomraketen würden die Reisezeit zwischen der Erde und dem Mars fast halbieren, aber in den Vereinigten Staaten und Europa gab es immer noch so viele Kontroversen über den Einsatz eines Nuklearantriebs, dass die Expeditionsplaner das Hauptstartgelände in den Inselstaat Kiribati mitten im Pazifik verlegt hatten. Die Nukleartriebwerke wurden von dort mit Clipperships in den Orbit gebracht und dann mit den aus den Vereinigten Staaten und Russland ins All transportierten Wohn- und Ausrüstungsmodulen kombiniert. AntiAtomkraft-Demonstranten durften nicht näher als dreihundert Kilometer an das Startgelände auf der Insel heran.

Kiribati verlangte als Preis für diese Gefälligkeit, dass das Kontrollzentrum der Mission in seiner Hauptstadt Tarawa eingerichtet wurde. Pete Connors, der altgediente Astronaut der ersten Expedition, und die anderen Kontrolleure hatten nicht das mindeste dagegen, auf das Atoll mit seinem milden Klima umzuziehen. Und Kiribatis hervorragende Hotels und Touristeneinrichtungen standen mit einem Mal im Mittelpunkt der globalen Aufmerksamkeit. Und der entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen.

Das größte Problem war die Auswahl der Mannschaft gewesen, die zum Mars fliegen sollte. Das Wissenschaftlerteam sollte nur aus zwei Biologen und zwei Geologen bestehen, und die Konkurrenz unter eifrigen, ernsthaften jungen Wissenschaftlern war äußerst heftig. Dex fragte sich manchmal, ob man ihn auch als einen der Geologen ausgewählt hätte, wenn sein Vater nicht so generös gewesen wäre. Ist doch egal, beantwortete er sich diese Frage immer selbst. Ich bin im Team, und die anderen können meinetwegen vor Wut unter der Decke kreiseln.

Trumball schnitt eine Grimasse, als er die VR-Elektronik mit seinem Headup-Display überprüfte. Das Diagnostik-Display flimmerte über seine Sichtscheibe. Alles funktionierte, bis auf die verdammten Handschuhe. Ihr Icon blinkte ihn rot an.

Das erste Gesetz der Technik: Wenn etwas nicht funktioniert, tritt dagegen. Während er an den haarfeinen Glasfaserdrähten ruckelte, die die Handschuhe mit dem Sender auf seinem Tornistergerät verbanden, sagte sich Trumball erneut, dass er der Einzige im Team war, der etwas von den ökonomischen Aspekten dieser Mission verstand. Und die entschieden darüber, was sich machen ließ und was nicht.

Waterman und die anderen Wissenschaftler schweben immer in höheren Regionen, dachte er. Sie sind hier, um wissenschaftliche Arbeit zu machen. Sie wollen ihre Neugier in Nobelpreise verwandeln. Ja, aber wenn niemand die verdammten Rechnungen bezahlen würde, säßen sie immer noch auf irgendeinem Campus auf der Erde und schlügen sich die Nächte mit Internet-Chats über den Mars um die Ohren.

Zum Teufel, ich will auch gute wissenschaftliche Arbeit machen. Aber der Punkt ist, dass jemand all das bezahlen muss. Sie blicken auf mich herab, weil ich der einzige Realist in dem ganzen Haufen bin.

Das Handschuh-Icon in seinem HUD wurde endlich grün. Die Virtual-Reality-Tour konnte beginnen.

Trumball löschte das Display von seiner Sichtscheibe und gab dann auf dem Tastenfeld an seinem Handgelenk die Radiofrequenz des Kontrollzentrums in Tarawa ein. Es würde achtundzwanzig Minuten dauern, bis sein Signal die Erde erreichte und ihre Bestätigung samt Startzeichen zu ihm zurückkehrte. Er verbrachte die Zeit mit der Planung der Route, die er bei diesem kleinen Reisebericht nehmen würde.

»Mission Control an Trumball«, kam endlich Connors sonore Baritonstimme über hundert Millionen Kilometer. »Sie können mit der VR-Tour beginnen. Wir haben sechzehn Komma neun Millionen Teilnehmer online, und wenn wir Ihre Startzeit durchgeben, werden sich noch mehr einloggen.«

Wir kommen mit Leichtigkeit auf zwanzig Millionen, dachte Trumball zufrieden. Bei zehn Dollar pro Kopf haben wir damit schon fast die Hälfte der Kosten unserer Bodenausrüstung wieder drin. Wir werden bei dieser Expedition schwarze Zahlen schreiben!

Die Ziemans — Vater, Mutter, neunjähriger Sohn und fünfjährige Tochter — saßen im Unterhaltungszimmer ihres Vorstadthauses in Kansas City vor dem Bildschirm, der die ganze Wand einnahm.

Nur eine Ecke des Bildschirms war aktiviert: Ein Schwarzer erklärte mit ernster Miene, dass die Übertragung vom Mars vierzehn Minuten brauchte, um die Distanz zwischen den beiden Planeten zu überwinden, obwohl das Signal mit Lichtgeschwindigkeit reiste, »die dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde beträgt«, wie er betonte.

Der Neunjährige schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Es sind zweihundertneunundneunzigtausendsiebenhundertneunzig Kilometer pro Sekunde«, verbesserte er gewissenhaft.

»Schsch!«, zischte seine Schwester.

»Setzt eure Helme auf«, sagte ihr Vater. »In ein paar Sekunden geht's los.«

Alle vier setzten die Plastikhelme mit den gepolsterten Kopfhörern und herunterklappbaren Visieren auf, steckten die Finger in die angeschlossenen Datenhandschuhe — die Mutter half ihrer Tochter, der Junge machte es stolz allein — und klappten dann die Visiere herunter, als der Mann auf dem Bildschirm ihnen erklärte, die Tour werde gleich beginnen.

Die Stimme des Mannes zählte rückwärts: »Drei … zwo … eins …«

Und sie waren auf dem Mars!

Sie schauten auf eine rote, mit Steinen übersäte Ebene hinaus; eine rötliche, staubige Wüste erstreckte sich, so weit das Auge reichte; rostfarbene Felsbrocken waren über das kahle, sanft gewellte Land verstreut wie von einem achtlosen Kind liegen gelassenes Spielzeug. Der unebene Horizont schien viel zu nah zu sein. Der Himmel hatte die Farbe von hellem Karamell. Kleine, vom Wind geformte Dünen erhoben sich in präzisen Reihen, und an einigen größeren Felsen häufte sich der rötliche Sand. In der Ferne ragte eine Art Tafelberg über dem Horizont auf.

»Das hier ist unser Landeplatz«, vernahmen sie Dexter Trumballs Stimme. »Wir befinden uns in den westlichsten Ausläufern einer Region namens Lunae Planum — Ebene des Mondes. Damals in der alten Zeit haben die Astronomen der marsianischen Geographie bizarre Namen gegeben.«

Der Bildausschnitt veränderte sich, als Trumball sich langsam umdrehte. Sie sahen die Kuppel des Habitats.

»Dort werden wir die nächsten anderthalb Jahre wohnen. Morgen führe ich Sie im Innern herum. Im Moment sind die anderen Mitglieder der Expedition noch dabei, alles in Ordnung zu bringen; Sie wissen schon, Großreinemachen und so. Morgen werden wir aber einen Rundgang durch die Kuppel machen können, dann zeige ich Ihnen, wie es dort aussieht.«

Keiner der Ziemans sagte ein Wort. Überall im Land, überall auf der Welt saßen die Menschen da und sahen sich fasziniert und überwältigt die Bilder vom Mars an.

»Hören Sie dieses leise Wispern?«, fragte Trumball. »Das ist der Wind. Er weht mit ungefähr dreißig Knoten. Auf der Erde wäre das ein waschechter Sturm, aber hier auf dem Mars ist die Luft so dünn, dass er nicht einmal den Staub vom Boden aufwirbelt. Sehen Sie?«

Sie spürten, wie ihre rechte Hand in einem Beutel am Bein des hartschaligen Raumanzugs herumtastete. »Jetzt schauen Sie sich das an«, sagte Trumball.

Sie zogen einen rot-weißen Hufeisenmagneten aus dem Spielwarenladen hervor.

»Der Sand hier auf dem Mars ist reich an Eisenerzen«, erklärte Trumball, »deshalb können wir mit diesem Magneten …«

Sie hockten sich in dem klobigen Anzug mühsam hin und schrieben mit dem Magneten die Buchstaben M-A-R-S in den Sand, während Trumball erläuterte: »Sehen Sie, wir brauchen den Sand nicht zu berühren. Der Magnet stößt das Eisen in den Körnchen ab.«

»Ich will meinen Namen schreiben!«, rief die Tochter der Ziemans.

»Halt die Klappe!«, blaffte ihr Bruder.

Beide Eltern brachten sie mit einem »Pst!« zum Schweigen.

Trumball steckte den Magneten wieder ein, bückte sich und hob einen handtellergroßen Stein auf. Die Zuschauer fühlten sein Gewicht und seine Festigkeit in ihrer behandschuhten Hand.

»Die Felsbrocken, die hier überall herumliegen, wurden aus dem Boden gerissen«, erklärte Trumball, während er sich aufrichtete. »Einige könnten von Vulkanausbrüchen stammen, aber die meisten sind beim Einschlag von Meteoriten weggesprengt worden. Der Mars ist nämlich viel näher am Asteroidengürtel als die Erde und wird darum viel häufiger von Meteoriten getroffen.«

Sie schienen von der Kuppel wegzugehen, hin zu einem hausgroßen Felsblock. Roter Sand häufte sich an einer Seite.

»Sie sehen da draußen ein Sanddünenfeld«, sagte Trumball, und sie sahen, wie seine behandschuhte Hand hinzeigte. »Die Dünen müssen ziemlich stabil sein, weil sie bei der Landung der ersten Expedition vor sechs Jahren auch schon da waren.«

Die zeigende Hand schwenkte vor dem lohfarbenen Himmel. »Dort drüben steigt das Land allmählich an, wie Sie sehen. Das ist der Ostrand des Tharsis-Buckels, auf dem die großen Vulkane liegen. Pavonis Mons ist ungefähr sechshundert Kilometer von uns entfernt, fast genau im Westen.«

Das Bild verschob sich erneut so schnell, dass manchen Zuschauern ein bisschen schwindlig wurde. »Im Süden sind die Badlands, Noctis Labyrinthus, und ungefähr sechshundert Kilometer südöstlich von hier liegt Tithonium Chasma, das westliche Ende des großen Grand Canyon. Dort hat die erste Expedition die Marsflechte gefunden.«

Trumball drehte sich erneut um und ging zu einem kleinen Traktor, der fast wie ein Dünenbuggy aussah, nur dass die Räder dünn waren und elastisch wirkten. Er war ganz offen, ohne Kabine; die Sitze waren von einem Käfig aus außerordentlich dünnen Metallstangen umgeben.

Die Zuschauer sahen sich auf den Fahrersitz rutschen. Der Sohn der Ziemans murmelte: »Voll cool!«

»Ich möchte Ihnen unseren Reserve-Treibstoffgenerator zeigen«, sagte Trumball, als er den Motor des Traktors anwarf. Er tuckerte wie ein Diesel, aber in der dünnen Marsluft klang das Geräusch merkwürdig hoch. »Er befindet sich ungefähr zwei Klicks — Kilometer — von der Kuppel entfernt. Steht schon seit über zwei Jahren da draußen, gewinnt Kohlendioxid aus der Luft und Wasser aus dem Permafrost im Boden und erzeugt Methan für uns. Methan ist ein natürliches Gas; es ist der Kraftstoff, den wir für unsere Boden-Rover benutzen werden.«

Bevor er mit dem Traktor losfuhr, drehte Trumball sich um und beugte sich ein wenig über den Rand des Fahrzeugs. »Schauen Sie sich die Stiefelabdrücke an«, sagte er. »Menschliche Abdrücke im roten Sand des Mars. Hier ist noch nie ein Mensch gegangen, jedenfalls nicht genau an dieser Stelle. Vielleicht werden Sie eines Tages Ihre Spuren auf dem Mars hinterlassen.«

»Yah!«, jubelte der Neunjährige.

Trumball fuhr mit den achtundzwanzig Millionen zahlenden Zuschauern (und deren Freunden und Familienangehörigen) langsam zum Treibstoffgenerator.

»Macht nicht viel her«, gab er zu, »aber für uns ist er ein sehr wichtiger Ausrüstungsgegenstand. Sogar ein so wichtiger, dass wir noch einen zweiten mitgebracht haben.«

Als sie bei dem gedrungenen, zylindrischen Modul eintrafen, stieg Trumball vom Traktor und legte eine behandschuhte Hand auf die glatte, gebogene Metallverkleidung des Generators.

»Spüren Sie die Vibration?« Dutzende Millionen spürten sie. »Der Generator tuckert vor sich hin und erzeugt Brennstoff für uns. Er produziert auch Trinkwasser für uns.«

»Ich hab Durst«, jammerte die Fünfjährige.

Trumball führte sie um das automatische Modul herum, fand den Hauptwasserhahn und goss ein bisschen Wasser in einen Metallbecher, den er mitgebracht hatte.

»Das ist Marswasser«, sagte er und hielt den Becher hoch. »Es stammt aus der Permafrostschicht unter der Oberfläche und ist mit Kohlendioxid versetzt, so ähnlich wie Sprudel. Aber man kann es trinken — sobald wir die Verunreinigungen herausgefiltert haben.«

Während er sprach, verkochte das Wasser, und der Becher war wieder knochentrocken.

»Die Marsluft ist so dünn, dass das Wasser kocht, obwohl die Temperatur unter dem Gefrierpunkt liegt«, erklärte Trumball. »Aber der springende Punkt ist: Unter unseren Füßen gibt es ein Meer aus Wasser, das seit Abermillionen Jahren gefroren ist. Genug Wasser, um eines Tages Abermillionen Menschen zu versorgen.«

»Das wusste ich gar nicht«, sagte Mrs. Zieman leise.

Genau nach einer Stunde sagte Trumball: »So, das war's für heute. Ich muss jetzt Schluss machen. Morgen zeige ich Ihnen die Kuppel. In ein paar Tagen bricht ein Team mit einem der Boden-Rover zum Grand Canyon auf. Später fliegen dann zwei Leute mit dem Raketenflugzeug zu den Schildvulkanen. Und mit den unbemannten Schwebegleitern werden wir noch größere Entfernungen überwinden. Wenn alles gut geht, schicken wir sie zum Landeplatz der alten Viking I und vielleicht noch weiter nach Norden, bis zum Rand der Eiskappe.«

Währenddessen starrten die Zuschauer in die marsianische Szenerie hinaus.

»Aber das liegt alles noch in der Zukunft«, schloss Trumball. »Jetzt sage ich erst einmal Auf Wiedersehen vom Mars. Danke, dass Sie bei uns waren.«

Die Ziemans saßen noch eine ganze Weile reglos da, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich nahmen sie widerstrebend die Helme ab.

»Ich will zum Mars«, verkündete der Neunjährige. »Wenn ich groß bin, werde ich Wissenschaftler und fliege zum Mars.«

»Ich auch!«, setzte seine Schwester hinzu.

ESSENSZEIT: SOL 1

Jamie fand seine alte Kabine unverändert vor; es sah darin noch genauso aus wie vor sechs Jahren. Die Liege mit den dünnen Marsschwerkraft-Beinen wartete auf ihn. Die Plastikkombination aus Schreibtisch und Kleiderschrank stand leer da, so, wie er sie zurückgelassen hatte.

Alles ist in funktionsfähigem Zustand, staunte er. Bei ihrer Abreise hatten sie die Kuppel mit Stickstoff gefüllt. Jetzt bestand die Luft aus einem Gemisch von Stickstoff und Sauerstoff wie auf der Erde, sodass sie sich in Hemdsärmeln oder weniger in der Kuppel aufhalten konnten.

Während der ersten Expedition waren sie von einem Meteoritenschwarm getroffen worden, fast mikroskopisch kleinen Steinchen, die die Kuppel an mehreren Stellen durchschlagen und sogar den Helm von Jamies Raumanzug gestreift hatten. Die Chancen für so etwas stünden eins zu einer Billion, hatten ihnen die Astronomen auf der Erde erklärt. Jamie nickte; er hoffte, dass diese Relation gleich geblieben war.

Jemand hatte die Lautsprecheranlage eingeschaltet und ließ ein beruhigendes klassisches Klavierstück laufen. Beethoven, dachte Jamie. Er erinnerte sich, dass die Kosmonauten bei der ersten Expedition Tschaikowski und andere russische Komponisten gespielt hatten.

Trotzdem kam ihm die Kuppel auf subtile Weise verändert vor. Ihr Neuwagengeruch war verschwunden. Die erste Expedition hatte sie nur fünfundvierzig Tage bewohnt, aber das hatte gereicht, um sie ihres Glanzes zu berauben. Er fühlte sich in ihr zwar zu Hause, das schon, aber nicht auf die gleiche Weise wie in seiner Erinnerung.

»Klos funktionier'n nich.«

Jamie drehte sich um und sah Possum Craig im Eingang stehen, einen düsteren Ausdruck auf dem Hängebacken-Gesicht. Die Falttür war offen geblieben, sodass Craig nicht hatte anklopfen müssen.

»Beide Klos?«, fragte Jamie.

Craig nickte verdrossen. »'scheinlich is die Wasserleitung verstopft. Oder eingefroren.«

Offiziell war Craig Geochemiker. Man hatte ihn von einer texanischen Ölgesellschaft rekrutiert und ihm die Verantwortung für die Bohranlage übertragen. Die Biologen vertraten die Theorie, das marsianische Leben gedeihe im Untergrund, vielleicht Kilometer tief im Boden, und die Flechte, die sie im Oberflächengestein gefunden hatten, sei nur ein Fortsatz dieser unterirdischen Ökologie, die sie ›plutonische Biosphäre‹ nannten.

Inoffiziell war Craig der Handwerker der Expedition. Es gab kein Werkzeug, mit dem er nicht fachmännisch hantieren konnte. Er war Klempner, Elektriker und Faktotum in einem. Binnen einer Woche nach ihrem Start zum Mars hatte Trumball angefangen, ihn ›Wiley J. Coyote‹ zu nennen, nachdem Craig geschickt einen defekten Computerbildschirm repariert hatte, und zwar mit wenig mehr als einem Schraubenzieher und einer Pinzette aus der medizinischen Ausrüstung.

Craig zog den neuen Namen dem üblichen ›Possum‹ vor, einer alten, von den Ölfeldern stammenden Anspielung auf seine überdimensionale Nase.

»Du glaubst, sie ist eingefroren?« Jamie durchquerte sein Abteil mit zwei Schritten und ging an Craig vorbei in den offenen Bereich der Kuppel hinaus.

»Höchstwahrscheinlich. Wir hätten sie sofort eingraben sollen.«

»Und das Wiederaufbereitungssystem ist noch nicht in Betrieb.«

»Ich könnte die Leitung unter Überdruck setzen, aber ich will nich das Risiko eingehen, das Rohr kaputtzumachen. So 'n Schlamassel können wir echt nich gebrauchen, nich schon gleich in der ersten Nacht.«

Stacy Deschurowa kam zu ihnen, zwei besorgte Furchen zwischen den dicken Augenbrauen. Ihr Haar war sandbraun; sie trug es in einem kurzen Pagenschnitt, der aussah, als hätte sie sich eine Schüssel aufgesetzt und alles, was darunter hervorschaute, eigenhändig abgeschnitten.

»Hat Possum dir erzählt, was los ist?«, fragte sie düster.

Jamie nickte. Jenseits des offenen Bereichs, bei der Reihe von Spinden neben der Luftschleuse, fädelte Rodriguez die Arme ins Oberteil seines Raumanzugs ein, wie er sah.

»Geht Tomas raus?«

»Die chemischen Toiletten sind im Lander. Er holt sie für heute Nacht hier herein.«

»Es ist schon dunkel draußen.« Das hieß, die Temperatur sank drastisch ab.

»Wir brauchen Toiletten«, sagte Deschurowa in entschiedenem Ton. Sie war fast immer düster und ernst, eine eindrucksvolle und sehr tüchtige Frau, deren einschüchterndes Äußeres einen ausgeprägten, trockenen Humor verbarg. Aber im Moment war ihr nicht nach Spaßen zumute. »Toiletten sind sehr wichtig.«

»Wer geht mit Tomas?«, fragte Jamie. Die Sicherheitsvorschriften untersagten es, dass jemand allein hinausging, selbst wenn es ein von der NASA ausgebildeter Astronaut war.

»Ich«, sagte Craig ohne große Begeisterung.

Deschurowa schüttelte den Kopf. »Nein, ich gehe mit.«

»Du nicht, Stacy«, entgegnete Jamie. »Nach Möglichkeit sollten nicht beide Astronauten zugleich draußen sein.«

Craig ging zu den Spinden. Nach einer kurzen Pause sagte Stacy: »Ich helfe ihnen, die Anzüge durchzuchecken.«

»Ist gut«, sagte Jamie.

Während er allein vor seiner Kabine zurückblieb, sah Jamie, dass sich die beiden anderen Frauen, Hall und Shektar, am Tisch in der Messe leise unterhielten. Trumball und Fuchida waren nirgends zu sehen; wahrscheinlich steckten sie in einem der Labors. Er ging wieder in sein Abteil, zog die Tür zu und startete seinen Laptop. Wird Zeit, dass ich meinen Bericht nach Tarawa schicke, sagte er sich und überlegte hin und her, ob das Toilettenproblem so wichtig war, dass er es erwähnen musste.

Wenn die Nachrichtenmedien rausfinden, dass unsere Klos nicht funktionieren, werden sie die nächsten zwei Wochen nichts anderes mehr bringen, sagte er sich.

Bei der Planung der Expedition hatte Jamie von Anfang an darauf bestanden, dass das ganze Team gemeinsam zu Abend essen sollte, wann immer es möglich war. Alle Bewohner der Kuppel mussten sich zur Abendmahlzeit einfinden; nur wer gerade auf Exkursion war, durfte fehlen. Einmal am Tag brauchten sie eine Gelegenheit, sich zu treffen, beiläufig und informell über die tägliche Arbeit zu sprechen, sich zu entspannen und der Geselligkeit zu frönen.

Nachdem die chemischen Toiletten in die Kuppel gebracht und in den beiden Waschräumen aufgestellt worden waren, wusch sich jeder mit Wasser aus dem mitgebrachten Vorrat, und dann versammelten sie sich in der Messe. Jamie fing an, die kleinen Tische zu einem großen zusammenzurücken; Fuchida kam sofort herüber und half ihm. Dann stellten sie sich alle an der Mikrowelle an und wärmten Fertigmahlzeiten aus ihren persönlichen Vorräten auf.

»Das war ein ereignisreicher Tag«, sagte Jamie, sobald sie alle Platz genommen hatten.

»Morgen wird's besser«, meinte Trudy Hall. Diesen Spruch hatte sie auf der Reise von der Erde hierher fast täglich von sich gegeben. Diesmal lag eine forcierte, beinahe verzweifelte Fröhlichkeit in ihrem Ton, die bewirkte, dass Jamie sich Gedanken über sie machte.

»Aber nur, wenn die Toiletten funktionieren«, fügte Stacy Deschurowa hinzu. Die gedrungene, grobknochige Russin saß direkt neben Hall, dem zierlichen, kleinen Spatz aus England.

»Das werden sie«, sagte Trumball zuversichtlich. Dann wandte er sich an Craig: »Oder, Wiley?«

»Klar, klar«, sagte Craig. Es klang wie »Chlor, Chlor«.

Rodriguez blickte von seinen Tamales mit gebackenen Bohnen auf. »Das will ich hoffen«, sagte er.

Jamie wollte von dem Thema wegkommen. »Dex«, rief er, »wie steht's mit dem Reserve-Wassergenerator? Werden wir ihn herholen müssen?«

Trumball saß Jamie direkt gegenüber. Jamie hatte absichtlich einen Platz mitten am Tisch gewählt. Er wollte nicht den Anschein erwecken, als beanspruche er den Platz am Kopfende. Trumball hatte den Stuhl auf der anderen Seite genommen.

Der Reserve-Wassergenerator war vor zwei Jahren mit derselben Trägerrakete hergeflogen worden wie der Methan-Treibstoffgenerator. Das unbemannte und ausschließlich computergesteuerte Landefahrzeug hatte über zwei Kilometer von der Kuppel entfernt aufgesetzt.

Bevor Trumball antworten konnte, sagte Craig: »Is doch nur 'n Reservegerät. Den Hauptgenerator haben wir selber mitgebracht'«

»Ich weiß«, sagte Jamie. »Aber was ist, wenn der Hauptgenerator mal eine Panne hat? Ist es klug, das Reservegerät für unsere Wasserversorgung zwei Klicks entfernt stehen zu lassen?«

Trumball kaute nachdenklich auf einem Bissen Roastbeef herum und antwortete dann: »Wir haben drei Möglichkeiten. Entweder wir legen eine Rohrleitung zum Reservegerät, oder wir laden das Modul irgendwo drauf und schleppen es mit einem der Traktoren näher an die Basis heran.«

»Und die dritte Möglichkeit?«, fragte Deschurowa.

Mit einem lausbübischen Grinsen sagte Trumball: »Wir gehen jedes Mal zu Fuß hin, wenn der Hauptgenerator den Geist aufgibt.«

Die meisten am Tisch lachten höflich.

»Haben wir genug Rohre, um diese Entfernung zu überbrücken?«, fragte Jamie.

Trumball nickte. »Jede Menge.«

»Ich glaub nich, dass es so 'ne gute Idee is, 'ne Rohrleitung da raus zu verlegen«, sagte Craig. »Die friert uns jede Nacht ein, wenn wir sie nich ganz tief eingraben, noch unter die Permafrost-Grenze.«

Trumball zuckte gleichgültig die Achseln. »Dann müssen wir das Ding eben herholen.«

Craig nickte zustimmend.

Beim Plan Z war nur ein einziges Problem aufgetreten: Die vorausgeschickten Module ließen sich nicht präzise genug an die richtige Stelle steuern. Wegen der Kommunikationsverzögerung zwischen Erde und Mars konnten die Landungen der unbemannten Module von Tarawa aus nicht in Echtzeit kontrolliert werden. Bei einer Entfernung von hundert Millionen Klicks war ein Zwei-Kilometer-Radius praktisch schon ein Treffer ins Schwarze, aber für die Bedürfnisse der Forscher reichte das trotzdem nicht.

»In Ordnung«, sagte Jamie langsam. »Morgen werden wir als Erstes das Reservegerät näher zu uns heranholen.«

»Und dann brechen wir zum Canyon auf«, meinte Trumball.

»Possum fängt an, nach Kernproben zu bohren«, sagte Jamie.

»Ich bringe den Garten aus dem Schiff in seine Kuppel«, sagte Fuchida mit einem glücklichen Lächeln.

»Während wir zum Canyon fahren«, beharrte Trumball.

»Während wir zum Canyon fahren«, gab Jamie nach.

Trumball nickte, anscheinend zufrieden.

»Wir haben eine große Aufgabe vor uns«, wandte sich Jamie an sie alle. »Wir werden anderthalb Jahre hier leben. Im Schiff ist es uns gelungen, Nahrungsmittel anzubauen; jetzt müssen wir wirklich anfangen, von dem zu leben, was dieser Planet hergibt — die Nahrungsmittel anbauen, die wir brauchen, und unsere Luft sowie unseren Brennstoff aus lokalen Ressourcen erzeugen. Wir müssen so autark wie möglich werden.«

Sie nickten alle.

»Der Mars wird uns auf die Probe stellen«, sagte Fuchida leise.

»Wie bitte?«

Der japanische Biologe schien überrascht zu sein, dass jemand seine Bemerkung gehört hatte. »Ich meinte nur, dass der Mars jeden von uns herausfordern wird.«

Jamie nickte. »Ja, er wird uns herausfordern … und uns Chancen bieten.«

»Macht euch nichts vor«, entgegnete Fuchida. »Jeder von uns wird vom Mars auf die Probe gestellt werden. Unsere Kraft, unsere Intelligenz, unser Charakter — alles wird von dieser fremden Welt geprüft werden.«

»Wir acht gegen den Mars«, murmelte Stacy Deschurowa.

Dex Trumball sagte: »So wie die Sieben gegen Theben.«

»Die was?«, fragte Rodriguez.

»Das ist ein uraltes griechisches Stück«, antwortete Trumball. »Von Euripides.«

»Von Alschylos«, verbesserte Fuchida.

Dex funkelte ihn an. »Euripides.«

»Euripides hat Die Phönizierinnen geschrieben«, sagte Fuchida selbstsicher. »Sieben gegen Theben ist von Alschylos.«

Jamie unterbrach ihren Disput. »Nein, nicht wir acht gegen den Mars. Wir sind hier, damit wir lernen, mit dem Mars zu leben. Und damit wir den anderen, die nach uns kommen, beibringen können, wie man hier lebt.«

»Ganz genau«, sagte Possum Craig leise.

Trumball gab ihm in diesem Punkt mit einem Nicken Recht und bohrte dann weiter: »Also, wann verlegen wir unsere Operationsbasis ins Canyon-Gebiet?«

Diese Diskussion hatten sie während des Fluges monatelang immer wieder geführt. Auf dem Boden des Grand Canyon war Leben gefunden worden; weshalb richteten sie die Expeditionsbasis nicht dort ein?

Jamie unterdrückte eine Aufwallung von Ärger. »Es wäre nicht sinnvoll, unsere Basis zu verlegen. Wir können zum Canyon fahren und in dem Gebiet nach einem geeigneten Standort für eine Nebenbasis suchen, wenn das nächste Team kommt.«

»Falls ein nächstes Team kommt«, murrte Trumball.

»Dies wird nicht die letzte Expedition zum Mars sein«, sagte Jamie in bestimmtem Ton. »Wir sind Bestandteil eines langfristig angelegten Programms …«

»Nicht, wenn wir nur rumdödeln und nichts zuwege bringen.«

Jamie merkte, wie es in ihm zu brodeln begann. »Wir sind hier, um verschiedene Ziele zu erreichen. Diese Basis ist gut gelegen und funktioniert bestens.«

»Bis auf die Toiletten«, warf Deschurowa ein. Sie sagte es mit einem komischen Grinsen, aber niemand lachte.

»Es würde einen Monat oder länger dauern, dieses Lager zu verlegen«, fuhr Jamie verkniffen fort. »Und wenn wir zum Canyon umziehen, entfernen wir uns von den Vulkanen.«

»Hör mal«, sagte Trumball und beugte sich ungeduldig vor, »die Vulkane interessieren mich genauso wie dich. Ich bin schließlich Geophysiker.«

Bevor Jamie etwas erwidern konnte, fuhr Dex fort: »Aber die Leute, die das Geld für diese Expedition aufgebracht haben, wollen Resultate sehen. Sie können es alle gar nicht erwarten zu erfahren, was es mit dieser Flechte auf sich hat. Die Vulkane sind erloschen! Setzen wir doch mal die richtigen Prioritäten, Herrgott noch mal!«

»Wer sagt, dass die Vulkane erloschen sind?«, fauchte Fuchida. »Das wissen wir nicht!«

Jamie holte Luft. »Unsere Prioritäten sind vor über zwei Jahren festgelegt worden, und unsere Finanziers waren mit ihnen einverstanden. Wir sind nicht hier, um ihnen eine Show zu liefern. Wir sind hier, um nach Möglichkeit herauszufinden, wie weit verbreitet das Leben auf diesem Planeten ist.«

Trumball sank in seinen Stuhl zurück. Sein Lächeln war fast schon ein höhnisches Grinsen. »Nach Möglichkeit«, äffte er Jamie nach.

Trudy Hall ergriff das Wort. »Ich möchte natürlich in den Canyon hinunter und die Flechte studieren«, sagte sie mit ihrem weichen Yorkshire-Akzent. »Aber ich will auch nachsehen, ob es woanders Leben gibt: die Vulkane, Possums Bohrkerne, die Eiskappe oben — wir haben eine ganze Welt zu erforschen.«

Bevor Trumball widersprechen konnte, sagte Jamie: »Hör zu, Dex … ihr alle: Wir werden anderthalb Jahre hier sein. Wir müssen die Entscheidung über eine Verlegung der Basis nicht heute treffen.«

»Schon gar nicht, wenn die Toiletten nicht funktionieren«, meldete sich Deschurowa.

»Heißt das, du ziehst in Erwägung, die Basis später zu verlegen?«, hakte Trumball eifrig nach.

Jamie hatte die ganze Angelegenheit satt. Er nickte. »Ich werde es in Erwägung ziehen, je nachdem, was wir im Canyon und anderswo finden.«

Trumballs erwartungsvolles Grinsen verblasste. »Du klingst wie ein Vater, der zu seinem Kind sagt: ›Mal sehen.‹ Es bedeutet nein, aber man will nicht drüber diskutieren.«

»Ich bin nicht dein Daddy, Dex.«

Trumball schnaubte. »So viel steht fest.«

»Als eure pflichtbewusste Ärztin«, sagte Vijay Shektar mit einem strahlenden Lächeln auf dem dunkelhäutigen Gesicht, »bin ich befugt, euch zum gegenwärtigen Anlass eine gewisse Menge eines feierlichen Stimulans zu verschreiben.«

»Medizinischer Alkohol?« Stacy Deschurowas ernstes Gesicht hellte sich auf.

»Nein, australischer Champagner«, erwiderte Shektar. »Ich habe zwei Flaschen mitgebracht.«

»Ich habe einen ausgezeichneten Scotch Whisky«, sagte Fuchida begeistert.

»Zum Teufel«, sagte Craig, »ich hatte nur 'ne Buddel Fusel mit.«

Jamie lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Vijay hatte den Streit entschärft, erkannte er. Sie war eine ziemlich gute Psychologin. Er erinnerte sich an den ersten Abend bei der ersten Expedition. Da Alkohol oder Drogen nach den damaligen Missionsvorschriften streng verboten gewesen waren, hatte jeder ein paar Fläschchen unter seine persönlichen Sachen geschmuggelt — jeder außer Jamie, der so spät ins Team aufgenommen worden war, dass er nicht einmal die Zeit gehabt hatte, an Alkohol zu denken.

Auch diesmal hatte er keinen dabei. Ich hätte welchen mitnehmen sollen, tadelte er sich. Das war ein Fehler.

Und natürlich fragte Trumball über den Tisch hinweg: »Und was hat unser verehrter Chef zur Party mitgebracht?«

Jamie zwang sich zu einem Lächeln. Er spreizte die Hände. »Nichts. Tut mir Leid.«

»Nich mal 'n Sechserpack Bier?«, fragte Craig.

»Nicht mal eine Prise Peyote?«, setzte Trumball hinzu.

Jamie schüttelte nur den Kopf. Ihm fiel ein, dass sogar der mürrische Wosnesenski, der als Leiter des Bodenteams beinahe schon paranoid sicherheitsbewusst gewesen war, an jenem ersten Abend eine Flasche Wodka auf den Tisch gestellt hatte.

Jamie stand auf, und ihr fröhliches Geplauder verebbte.

»Okay, dann feiert mal schön. Ihr habt es verdient. Aber nur heute Abend. Ab morgen früh kein Alkohol mehr, bis wir sicher auf dem Heimweg sind.«

»Korrekt!«, sagte Deschurowa, und sie eilten alle in ihre Kabinen und zu ihren geheimen Vorräten.

Jamie blieb noch auf einen Schluck von Shektars Champagner und zog sich dann in seine Unterkunft zurück. Er arbeitete an seinem Tagesbericht und studierte die Pläne für die Traverse zum Canyon, wo die erste Expedition ein Rover-Fahrzeug zurückgelassen hatte, das in einem Krater voller trügerischem Sand versunken war.

Es fiel ihm schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, während die anderen aus vollem Halse Limericks zur Melodie von Cielito Lindo sangen.

»Ay, ay, ay, ay,

Deine Mutter streicht um die Kaserne!

Drum sing mir 'nen neuen Vers,

noch derber als der letzte Vers,

dreh mich im Kreis herum, Willy.«

Stacy Deschurowas Stimme — ein voller, klarer Sopran — übertönte alle anderen. Sie hätte Opernstar werden können, erkannte Jamie. Madame Butterfly. Eine stämmige, mürrische Madame Butterfly.

Die Limericks wurden immer schlüpfriger, darunter einer, der, wie Trumball lauthals verkündete, von keinem Geringerem als Isaac Asimov stammte:

»Eine Hure aus South Carolina

spannte Saiten über ihre Vagina.

War ein Schwanz schön dick,

klang ein stinknormaler Fick

wie Bachs Duo für Flöte und Violina.«

Dann erhob sich Shektars unverkennbare Aussie-Stimme über das Gebrabbel: »Kennt einer von euch ›Der kleine Stromer‹?«

Stille. Jamie spürte, wie sie alle den benebelten Kopf schüttelten.

Mit einem volltönenden Mezzosopran begann Shektar:

»Der kleine Stromer stromert

lustig dahin am Strand

den Rucksack auf der Schulter

den Pimmel in der Hand …«

Brüllendes Gelächter. Das Lied ging immer weiter und wurde immer schlimmer. Jamie fragte sich, ob sie am nächsten Morgen überhaupt arbeitsfähig sein würden.

TAGEBUCHEINTRAGUNG

Endlich haben wir's geschafft: Wir sind unten, nachdem wir fünf Monate in dieser Sardinenbüchse eingepfercht waren. Noch ein Tag in diesem Metallsarg, und ich hätte angefangen zu schreien. Die Kuppel ist größer, geräumiger. Aber sie ist merkwürdig. Sie hat nicht den richtigen Geruch. Ich weiß, dass hier irgendwas nicht stimmt. Die Kuppel riecht schlecht.

ABEND: SOL 1

Jamie wartete, bis endlich Stille einkehrte, dann zog er sich aus und schlüpfte in Jockey-Shorts und ein T-Shirt aus seinem Kleidersack.

Ich sollte meine Klamotten auspacken und ordentlich verstauen, sagte er sich. Aber er war körperlich und seelisch erschöpft und so müde, dass er nur noch auf seine Liege niedersinken konnte. Ich stehe morgen ganz früh auf und tue es.

Er hatte seinen Laptop ans Stromnetz der Kuppel angeschlossen und neben die Liege gestellt, wo er gut an die Tastatur herankam. Er stieß auf eine Nachrichtensendung von der Erde, und ihm wurde klar, dass alles, was er sah und hörte, eine Viertelstunde zuvor von einem Satelliten ausgestrahlt worden war.

Die meisten großen Nachrichten- und Entertainment-Networks auf der Erde waren gern bereit gewesen, ihre Sendungen gebührenfrei zum Mars auszustrahlen. Die Expeditionsplaner hatten bereitwillig die Kosten für die Einrichtung der erforderlichen Sendeanlagen bezahlt; eine Verbindung mit der Heimat war wichtig für das seelische Wohlbefinden der Forscher, selbst wenn sie rein elektronischer Natur war.

Jamie sah sie alle acht in ihren hartschaligen Raumanzügen mit den leeren Gesichtern auf dem roten Sand des Mars stehen und ihre kleinen Reden halten. Dann folgten Szenen mit Schulkindern, die sich die Landezeremonie ansahen. Die zweite Marslandung lockte keine gewaltigen Scharen feiernder Menschen mehr an, wie die erste damals.

Jamie streckte sich wieder auf seiner Liege aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Na ja, das ist wohl auch ganz natürlich. Beim ersten Mal ist es für die Öffentlichkeit aufregend. Die zweite Landung sieht weitgehend genauso aus wie die erste. Für die Leute daheim wird es erst wieder aufregend, wenn wir in echte Schwierigkeiten geraten.

Oder wenn wir Spuren intelligenten Lebens …

Jemand klopfte an seine Tür.

Beinahe verärgert über die Störung, rief Jamie: »Wer ist da?«

»Vijay.«

Jamie schwang die Beine von der Liege und stand auf. »Augenblick.« Er griff sich seinen abgelegten Overall und schlüpfte hinein. Während er den Klettverschluss vorne zudrückte, ging er zur Tür und entriegelte sie.

»Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte er.

Sie hatte den Overall, den sie sonst immer trug, gegen einen unförmigen, weiten, knubbeligen Rollkragenpullover und eine formlose, ausgebeulte Hose eingetauscht. Man kann nicht gerade behaupten, dass sie ihren Körper zur Schau stellt, dachte Jamie, aber sie mag leuchtende Farben. Der Pullover war korallenrot, die Hose sonnengelb.

»Nein, alles okay.« Sie hielt einen verschlossenen Plastikbeutel hoch. »Bloß der Vitaminlieferservice, Kamerad.«

»Oh.« Jamie nahm ihr den Beutel ab.

»Deine Ergänzungspräparate für diese Woche«, sagte sie. Während des gesamten Fluges zum Mars hatte Shektar die Vitaminpräparate jedem Mitglied der Expedition stets persönlich ausgehändigt.

»Gut.«

»Wir wollen ja nicht, dass du Skorbut kriegst«, sagte sie beinahe schelmisch. Genau das war dem gesamten Bodenteam der ersten Expedition passiert, als dessen Vorrat an Vitaminpräparaten verdorben war.

»Nein«, pflichtete Jamie ihr bei, »einmal reicht.«

»Hast du Zeit für einen Schlummertrunk, oder willst du schon schlafen gehen?«

Er hätte beinahe geschnaubt. »Nach eurem Besäufnis gerade eben willst du noch einen Schlummertrunk?«

»Orangensaft, Jamie. Blutzucker.«

»Ich dachte eher, du bräuchtest Aspirin.«

»Keine Sorge«, sagte sie und ging zur Kombüse voran. »So viel hab ich noch längst nicht intus.«

Die Kuppel war jetzt nur noch matt erleuchtet; da die Trennwände der privaten Abteile nur zweieinhalb Meter hoch waren, wurde die Beleuchtung bei Nacht gedämpft.

»Wo hast du diese Lieder gelernt?«, fragte er, während er ihr durch den halbdunklen Raum folgte.

»Die Vorteile einer Collegeausbildung.«

»Tolle Ausbildung.«

Vijay sah ihn neugierig an. »Hast du dich auf dem College nie betrunken und unanständige Lieder gesungen?«

»Nein, ich glaube nicht«, sagte Jamie und dachte an die vielen im Vollrausch herumtorkelnden Navajos, die er gesehen hatte.

»Du brauchst nicht so missbilligend dreinzuschauen«, sagte sie mit einem Lächeln.

»Tu ich das? Ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Du machst ein Gesicht wie eine aufgeschlitzte Schlange.«

»Wie eine was

»Ich meine, es ist ja nicht so, als ob wir komplett von der Rolle gewesen wären. Niemand hat sich auf mich gestürzt.«

Sie hat weder einen in der Krone noch einen Kater, merkte Jamie. Sie ist die Expeditionspsychologin und unsere Ärztin. Diese kleine Visite ist nicht persönlicher, sondern beruflicher Natur. Sie will mir auf den Zahn fühlen.

Er fragte sich, ob sie Parfüm aufgelegt hatte. Ein leichter, blumiger Duft kitzelte ihn in der Nase. Vielleicht will sie mit Parfüm den Körpergeruch überdecken. Ohne das Wasser aus dem Aufbereiter hatten sie nach ihrem langen Tag voller anstrengender körperlicher Arbeit auf eine Dusche verzichten müssen.

»Ich wünschte, jemand hätte Bier mitgebracht«, sagte Shektar, als sie einen Spritzer Orangensaft aus dem Spender zapfte. Sobald die Wasserleitung wieder frei war, würden sie Pulverkonzentrat mit Trinkwasser mischen und den kostbaren abgepackten Proviant für Notfälle aufbewahren.

»Wozu willst du Bier, wenn du doch Champagner hattest?«, fragte Jamie.

Sie zuckte die Achseln, und die Bewegung erregte ihn trotz des unförmigen Pullovers. »Aussie-Bier ist viel besser als Aussie-Schampus«, sagte sie.

Jamie hätte gern heißen Kakao getrunken, begnügte sich aber mit einem Teebeutel und einem Spritzer heißen Wassers.

»Hoher Rang hat seine Vorrechte«, meinte Shektar, als sie sich an den Tisch setzten.

Jamie blinzelte sie verwirrt an.

»Du hast dir was von unserer Wasserreserve genommen«, erklärte sie.

»Ach so. Wir nehmen den Generator ja morgen in Betrieb. Das Wasser wird schon nicht knapp werden.«

Sie lehnte sich so entspannt in ihrem Stuhl zurück, als wären sie in einem Cafe um die Ecke. »Und wenn doch, müssen wir zur Erde zurück, oder?«

»Nein.«

»Du bist sehr zuversichtlich.«

Jamie zwang sich, sie anzulächeln. »Ist das ein Psychotest?«

Sie lächelte zurück. »Nein, eigentlich nicht. Ich hab nur eine Gelegenheit gesucht, ein paar Minuten unter vier Augen mit dir zu sprechen. Auf dem Schiff war das schwer.«

»Hier ist es einfacher.«

»Ja. Viel mehr Platz in der Kuppel.«

»Und?«

Shektar trank einen Schluck Saft und stellte ihren Plastikbecher dann auf den Tisch. Sie beugte sich ein wenig näher zu Jamie und sagte: »Zwischen Dex und dir wird's bald knallen, wenn du nicht aufpasst.«

Darum geht es also, dachte Jamie. Laut erwiderte er: »Nein, wird es nicht. Dafür werde ich schon sorgen.«

»Wie willst du's denn verhindern?«

Jamie zögerte, dann antwortete er: »Ich werde nicht die Beherrschung verlieren. Ich verstehe, was in ihm vorgeht, aber ich werde nicht zulassen, dass es mir Probleme bereitet.«

»Es bereitet dir ja jetzt schon Probleme. Das sieht doch ein Blinder.«

»Hör zu«, sagte Jamie, »ich weiß, dass Dex' Vater eine zentrale Rolle bei der Finanzierungskampagne für diese Expedition gespielt hat. Aber jetzt sind wir weit weg von Daddy. Dex wird das schon noch begreifen, und zwar ganz von selbst. Hier auf dem Mars ist es völlig unwichtig, wen man zum Vater hat oder was auf der Erde geschehen ist. Hier auf dem Mars zählt nur eins, nämlich was man kann, was man zuwege bringt.«

»Hübsche Theorie, aber …«

»Ich werde nicht zulassen, dass er mir zu sehr auf die Nerven geht«, beharrte Jamie und verhinderte mit einer bewussten Anstrengung, dass sich seine Hände zu Fäusten ballten. »Unsere Arbeit hier ist zu wichtig, als dass wir sie von persönlichen Querelen stören lassen dürften.«

»Glaubst du wirklich, du kannst anderthalb Jahre hier leben, ohne dass es eine irgendwie geartete Konfrontation gibt?« Shektars Miene war vollkommen ernst; sie sah Jamie unverwandt in die Augen.

»Ja«, sagte er. Er konnte den Blick nicht von diesen Augen abwenden: so tief und dunkel, leuchtend und ernst. Ihr mitternachtsschwarzes Haar war nach hinten gekämmt und im Nacken festgesteckt. Jamie fragte sich, was sie tun würde, wenn er dort hinlangte und es löste, sodass es ihr locker um die Schultern fiel. Ihm wurde bewusst, dass er seit fast einem Jahr nicht mehr mit einer Frau geschlafen hatte.

Shektar schien etwas zu spüren. Sie wandte den Blick einen Moment lang ab.

»Das krieg ich schon hin«, versicherte ihr Jamie und bemühte sich, seiner Stimme einen lockeren, entspannten Klang zu verleihen. »Ich lasse nicht zu, dass er mich in Rage bringt.«

»Der stoische Indianer, was?«, sagte sie ohne Humor. »Auch wenn deine Feinde dich auf dem Scheiterhaufen verbrennen, du gibst keinen Mucks von dir.«

Jamie packte sie an ihrem schmalen Handgelenk. »Niemand verbrennt mich, und niemand wird hier sterben. Wir werden diesen Planeten so umfassend wie möglich erforschen, und Dex muss einfach lernen, dass er ein Mitglied des Teams ist und nicht der Missionsleiter.«

»Er ist ein Alphamännchen, weißt du. Genau wie du.«

»Was soll das heißen?«

Shektar schaute ihm wieder in die Augen. »Ihr seid beide geborene Anführer. Ihr müsst beide der Leithammel sein. Das ist geradezu ein Rezept für Probleme. Vielleicht sogar für eine Katastrophe.«

Jamie war genervt, beinahe verärgert. »Warum habt ihr Psychologen dann zugelassen, dass wir beide an dieser Mission teilnehmen?«, fragte er.

»Weil Dex schlau genug war, es zu verbergen«, antwortete sie. »Er wusste, wonach die Psychologen mit ihren Tests suchten, und hat sie alle an der Nase rumgeführt.«

»Dich auch?«

»Mich auch«, gab sie zu. »Erst als ihr beiden euch auf dem Herflug in die Haare gekriegt habt, wurde mir klar, was für einen Fehler wir gemacht haben.«

»Du meinst, ich habe das gleiche psychologische Profil wie er?«

»Ihr seid beide Alphamännchen, das ist so klar wie Kloßbrühe. Ihr seid natürliche Konkurrenten.«

Jamie schüttelte den Kopf, eher erstaunt als ungläubig.

Sie missdeutete die Geste. »Schau dir dein eigenes Verhalten bei der ersten Expedition an. Du hast die Macht an dich gerissen, oder nicht? Du hast den russischen Kosmonauten — den eigentlichen Leiter des Bodenteams — untergebuttert und sogar den Missionsleiter dazu gebracht, dich zum Grand Canyon fahren zu lassen, stimmt's?«

»Nun … ja …«

Sehr ernst sagte sie: »Das ist Alphamännchen-Verhalten, Jamie. Typisch Leithammel. Herr im Haus. Kleiner König.«

»Und du meinst, Dex ist genau wie ich?«

»Dasselbe Profil. In vieler Hinsicht eine andere Persönlichkeit, aber ihn reiten dieselben Teufel wie dich.«

Jamie stieß die Luft aus. Dann fragte er: »Hast du ihm das auch erzählt?«

»Noch nicht. Ich wollte zuerst mit dir sprechen.«

»Glaubst du, es nützt was, mit ihm zu reden?«

»Nein. Offen gesagt, glaub ich das nicht.«

»Hm.«

»Er kann seine grundlegende Persönlichkeit ebenso wenig ändern wie du. Man kann kein anderer Mensch werden. Ich habe das Thema nur aus einem einzigen Grund dir gegenüber zur Sprache gebracht, nämlich weil du der Missionsleiter bist, und ich fand, dass du wissen solltest, was dir bevorsteht.«

»Was uns allen bevorsteht«, sagte Jamie.

»Richtig«, stimmte Shektar zu. »Wir sitzen alle im selben Kanu, nicht wahr?«

Jamie ließ sich das eine Weile schweigend durch den Kopf gehen. Shektar beobachtete ihn reglos, ohne ihm ihr Handgelenk zu entwinden.

»Okay«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht, ob es viel bringt, wenn man Dex darauf anspricht.«

»Es könnte seinen Konkurrenzdrang verstärken. Ihn anspornen, sich noch mehr ins Zeug zu legen.«

»Dann lass es bleiben«, sagte Jamie rasch. »Überlass es mir, die Sache zu regeln.«

Sie löste sich sanft aus seinem Griff. »Ich werde versuchen, dir zu helfen, so gut ich kann, Jamie.«

Er grinste kläglich. »Vielleicht könntest du ihm ein paar Kilo Tranquilizer in seinen Vitaminvorrat schmuggeln.«

Sie lächelte zurück. »Tut mir Leid, dass ich dich schon gleich in der ersten Nacht damit behellige, aber ich fand, du solltest lieber so bald wie möglich Bescheid wissen.«

»Ganz recht. Danke.«

Sie trank ihren restlichen Orangensaft mit ein paar großen Schlucken aus, sagte dann gute Nacht und machte sich auf den Weg zu ihrer Unterkunft.

Jamie saß allein in der matten Nachtbeleuchtung. Der Kuppelbau wurde von einem elektrischen Strom verdunkelt, der den Kunststoff polarisierte, damit die Wärme im Innern nicht in die eisige Nacht entwich. Alle anderen schliefen oder waren zumindest in ihren Quartieren.

Jamie schaute Shektar nach, und ihm wurde erneut bewusst, dass Sex früher oder später zu einem Problem werden würde. Sie konnte sechs Mäntel tragen, und es würde trotzdem nichts nützen, so viel war klar. Das Gleiche galt für die anderen Frauen. Wenn man Monat für Monat so eng mit ihnen zusammenlebte … vielleicht wird sie anfangen müssen, uns Triebdämpfer ins Essen zu mischen.

Während des fünfmonatigen Fluges zum Mars hatte es keine Probleme gegeben, was Sex betraf; wenn jemand mit jemand anderem ins Bett gegangen war, so hatten sie es heimlich getan, außer in einer Nacht. In der war Dex mit von der Partie gewesen, wie Jamie wusste. War Vijay seine Partnerin gewesen? Er hatte nie gefragt, hatte es eigentlich auch gar nicht wissen wollen.

Jamie erinnerte sich an Dr. Lis zaghafte kleine Lektion vor sechs Jahren:

»Wir haben alle einen gesunden Geschlechtstrieb«, hatte der Leiter der ersten Expedition gesagt. »Wir werden nahezu zwei Jahre zusammenleben. Als Ihr Expeditionskommandant erwarte ich, dass Sie sich entsprechend benehmen. Wie erwachsene Menschen, nicht wie kindliche Affen.«

Guter Rat, dachte Jamie. Benehmt euch wie Erwachsene. Toller Rat.

Vijay und Dex. Eine Sache für eine Nacht, sagte er sich. Hat nichts zu bedeuten. Jedenfalls nicht viel. Warum warnt sie mich dann vor ihm? Was treibt sie für ein Spiel?

Er saß lange Zeit an dem Tisch in der Messe, lauschte dem Tuckern und Summen der Geräte, die sie auf dem Boden des Mars am Leben erhielten, und wartete darauf, dass die vertrauten Geräusche ihn beruhigten, ihm bestätigten, dass alles normal war.

Es funktionierte nicht. Jamie lehnte sich zurück und spähte in die Schatten der Kuppel hinauf, versuchte, nichts von alledem an sich herankommen zu lassen. Finde das Gleichgewicht, befahl er sich. Finde den Weg. Er schloss die Augen und verlangsamte bewusst seine Atmung. Dann hörte er es. Das leise Heulen des Windes draußen, der sanft über die Plastikblase aus einer anderen Welt strich.

Hörst du das, Großvater?, fragte er stumm. Das ist der Atem des Mars, die Stimme der roten Welt. Es ist eine sanfte Welt, Großvater. Sie heißt uns willkommen.

Hier auf dem Mars haben wir nichts zu befürchten, dachte Jamie. Wir haben die richtige Ausrüstung, wir können uns schützen und hier leben und arbeiten. Der Mars will uns nichts Böses. So lange wir nichts Törichtes tun, wird der Mars gut zu uns sein.

Die echten Gefahren sind diejenigen, die wir in uns tragen: Neid, Ehrgeiz, Eifersucht, Furcht, Habgier und Hass. Wir tragen es alles in uns, verschlossen in unseren Herzen. Selbst hier auf dem Mars haben wir uns nicht verändert. Es ist alles hier bei uns, weil wir es selbst mitgebracht haben.

Über dem Seufzen des kalten Nachtwinds glaubte er das wahnsinnige Gelächter von Cojote, dem Listenreichen, zu hören.

DOSSIER: JAMES FOX WATERMAN

Es war ein Schock für Jamie, als ihm klar wurde, dass er nicht zu den Kandidaten für die zweite Marsexpedition gehörte.

Drei Jahre lang war er in der internationalen Wissenschaftlergemeinde eine Art Berühmtheit gewesen: der Mann, der darauf bestanden hatte, die Valles Marineris zu erforschen. Der Mann, dessen störrische Entschlossenheit zur Entdeckung von Leben auf dem Mars geführt hatte.

Er hatte Joanna Brumado geheiratet, eine der beiden Biologinnen und eigentlichen Entdeckerinnen. Joanna und ihre Kollegin, Ilona Malater, hatten gemeinsam einen speziellen Nobelpreis für ihre Entdeckung bekommen. Jamie reiste mit seiner brasilianischen Braut zu Konferenzen in aller Welt, oftmals begleitet von ihrem Vater, Alberto Brumado, dem zum Aktivisten gewordenen Astronomen, der sein Leben damit verbracht hatte, die Staaten und Konzerne der Welt zur Finanzierung einer bemannten Expedition zum Roten Planeten zu bewegen.

Die Ehe war von Anfang an ein Fehler gewesen. Geboren aus der erzwungenen Intimität der langen Jahre des Trainings und der eigentlichen Expedition zum Mars, ging sie praktisch schon in dem Moment in die Brüche, als Jamie und Joanna in der prachtvollen alten Candelaria-Kirche in Rio de Janeiro den Treueschwur ablegten. Jamie war eine Berühmtheit in Wissenschaftlerkreisen, aber Joanna war ein internationaler Star, ein Liebling der Medien, die Frau, die Leben auf dem Mars entdeckt hatte; wo immer sie auftauchte, hefteten sich sofort die Paparazzi an ihre Fersen.

Sie drifteten auseinander, obwohl sie zusammen reisten. Und Jamie hatte von Anfang an gewusst, dass Joannas Welt sich in Wirklichkeit um ihren Vater drehte. Alberto Brumado, der netteste, freundlichste Mann der Welt, war immer noch der einzige Mann, den seine Tochter verehrte. Sie war trotz ihrer heimlichen Ängste zum Mars geflogen, weil er schon zu alt dafür war. Sie hatte trotz ihrer heimlichen Zweifel geheiratet, weil er sie vor seinem Tod unter der Haube sehen wollte.

Er starb viel zu früh, dahingerafft während eines freiwilligen Einsatzes bei einer Ebola-Epidemie, die Sao Paulo dezimierte, trotz einer multinationalen Eingreiftruppe ärztlicher Helfer.

Nachdem ihr Vater tot war, ihr Starruhm jedoch durch die Tragödie noch heller erstrahlte, stellte Joana zum ersten Mal in ihrem Leben fest, dass sie von nun an ihren eigenen Interessen folgen wollte. Sie genoss das Scheinwerferlicht; Jamie nicht. Sie wollte ihre Freiheit; Jamie stimmte wie betäubt zu. Etwa zur gleichen Zeit entdeckte er, dass er bei der Aufstellung der Kandidaten für die Rückkehrexpedition übergangen wurde.

»Sie sind seit drei Jahren aus dem Geschäft«, sagte Pater DiNardo. Seine von Natur aus leise Stimme war noch sanfter als sonst. »In den letzten drei Jahren haben Sie an Konferenzen teilgenommen und Interviews gegeben, statt Forschung zu treiben.«

Jamie war zu dem jesuitischen Geologen gegangen, sobald ihm klar wurde, dass er nicht in die Planung für die zweite Expedition einbezogen war. Sie saßen in einem kleinen Büro im Vatikan; Jamie kauerte nervös in einem reich verzierten hölzernen Sessel aus der Hochrenaissance, DiNardo hockte hinter einem modernen Schreibtisch aus glänzendem Rosenholz.

Ohne seine klerikale Tracht hätte DiNardo wie ein Rausschmeißer in einer billigen Kaschemme ausgesehen: Er war gebaut wie ein Hydrant, klein und breit; sein Kopf war kahl geschoren, sein dunkles Kinn von Bartstoppeln übersät.

»Ich habe mich über die Ergebnisse der diversen Studien auf dem Laufenden gehalten«, protestierte Jamie.

DiNardo ließ ein mitfühlendes Lächeln sehen. »Oh ja, gewiss. Aber Sie haben keins dieser Resultate selbst erzielt. Sie haben andere die Arbeit tun lassen. Drei Jahre sind eine sehr lange Zeit.«

Der Priester war ursprünglich zum Chefgeologen der ersten Expedition auserkoren gewesen; eine plötzliche Gallenblasenkolik hatte ihn aus dem Verkehr gezogen. Dank nahezu skandalöser politischer Machenschaften war Jamie an seine Stelle gerückt.

»Ich muss dorthin zurück«, sagte Jamie leise. »Ich muss.«

DiNardo schwieg.

Jamie schaute ihm in die ruhigen braunen Augen. »Niemand will nach der Felsenbehausung suchen. Das sollte höchste Priorität für uns haben.«

Der Pater seufzte geduldig. »Ich möchte Ihnen einen freundschaftlichen Rat geben«, sagte er mit einer Andeutung weicher italienischer Vokale am Ende seiner Worte. »Je öfter Sie die Felsenbehausung erwähnen, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass man Sie ins Missionsteam aufnimmt.«

»Aber sie ist da! Ich habe sie gesehen!«

»Sie haben eine Felsenformation gesehen, die viele Kilometer von Ihnen entfernt war. Sie glauben, es könnte ein künstliches Gebilde gewesen sein. Niemand sonst glaubt, dass es etwas anderes als eine natürliche Formation ist.«

»Ich habe Videoaufnahmen gemacht«, beharrte Jamie.

»Und wir haben Ihr Video alle sehr aufmerksam studiert. Ich selbst habe es mit dem Computer bearbeiten lassen, um die Bildqualität zu verbessern. Die Formation scheint eine Art Mauer in einer Nische in der Felswand zu sein. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie künstlich ist.«

»Deshalb müssen wir dorthin zurück, um herauszufinden, worum es sich wirklich handelt!«

DiNardo schüttelte traurig den Kopf. »Wollen Sie bei der zweiten Expedition dabei sein oder nicht?«

»Natürlich!«

»Dann hören Sie auf, von Ihrer Felsenbehausung zu reden. Sie machen sich damit nur lächerlich und erwecken den Anschein, als wären Sie ein Fanatiker. Halten Sie den Mund, und ich werde tun, was ich kann, um Ihnen einen Platz bei der Mission zu verschaffen.«

Jamie starrte den Priester lange an. Seine Gedanken rasten. Er kann nicht akzeptieren, dass es möglicherweise intelligentes Leben auf dem Mars gegeben hat. Niemand von ihnen will über diese Möglichkeit nachdenken. Die Flechte hat sie überrascht, aber die Vorstellung, dass es dort intelligentes Leben gegeben haben könnte, ist einfach zu viel für sie. Mit einer einfachen Lebensform auf dem Mars können sie fertig werden, aber vor den größeren Möglichkeiten verschließen sie lieber die Augen.

Warum?, fragte sich Jamie.

Die Antwort lautete: Sie haben Angst.

Li Chengdu war mittlerweile sehr zufrieden mit seinem Leben. Seine Ernennung zum Missionsleiter der ersten Marsexpedition war ein politischer Kompromiss gewesen. In Singapur als Sohn chinesischer Eltern zur Welt gekommen, gehörte der anerkannte Atmosphärenphysiker keinem klar definierten politischen Lager an. Als Missionsleiter war er in der Umlaufbahn um den Mars geblieben und hatte mit einer Mischung aus Furcht und Neugier beobachtet, wie Jamie Waterman das Kommando über die Wissenschaftler und Astronauten des Bodenteams an sich gerissen und die Expedition nach seinen Vorstellungen umorganisiert hatte. Waterman hatte außerordentliches Glück gehabt: Dank seiner Beharrlichkeit hatten sie lebende Organismen auf dem Grund des Grand Canyon gefunden.

Und Li Chengdu war nach ihrer Rückkehr vom Mars ans Institute of Advanced Study in Princeton berufen worden. Eine angemessene Belohnung für seine Führungsrolle und seine Geduld, fand er — und für Watermans Glück.

Jetzt ging ein älterer, umsichtigerer Waterman neben ihm her durch den Wald außerhalb des Institutscampus mit seinen roten Ziegelbauten.

Der blasse, hagere Li, dem nur ein knapper Zentimeter an zwei Metern fehlte, ragte hoch über Jamie auf, und seine langen Beine fraßen den Waldweg in solchem Tempo, dass Jamie fast in Laufschritt verfallen musste.

»Ich bin derselben Meinung wie Pater DiNardo«, sagte Li, während sie durch den Wald gingen. Der Herbst ließ die Bäume in leuchtenden Farben erstrahlen; rote, goldene und kastanienbraune Blätter bedeckten den Boden wie ein bunter Teppich, der unter ihren Schritten knisterte und raschelte.

»Dass ich die Felsenbehausung nicht erwähnen sollte«, sagte Jamie.

»Ja. Wozu mehr Anlass zu Kontroversen geben als unbedingt nötig? Ihr Ziel ist es, bei der zweiten Expedition dabei zu sein, nicht über die Wahrscheinlichkeit intelligenter Marsianer zu diskutieren.«

»Falls es sie gegeben hat, sind sie bestimmt vor langer Zeit ausgestorben.« Jamie geriet ein wenig ins Schnaufen, während er sich abmühte, mit Li Schritt zu halten. Der Navajo in ihm dachte: Falls es sie gegeben hat, sind sie vielleicht in eine reichere, blauere Welt ausgewandert.

Li hob eine langfingrige Hand zu einer Geste, die ihm bedeutete, still zu sein. »Nur Geduld. Sie werden anderthalb Jahre auf dem Mars sein. Da haben Sie genug Zeit, den Ort erneut aufzusuchen — falls Sie ihn finden können.«

»Mit verbundenen Augen«, fauchte Jamie.

Der Chinese schaute auf den spannungsgeladenen jüngeren Mann mit dem bronzenen Gesicht hinunter und lächelte leise.

»Geduld ist eine Tugend«, sagte er.

»Werden Sie mich für die Expedition empfehlen?«, fragte Jamie.

»Sie haben keine Ahnung, was Sie da verlangen. Es wird nur acht Plätze auf dieser Expedition geben. Und nur zwei Geologen.«

»Ich weiß. Jeder würde einen Mord begehen, um dabei sein zu können«, sagte Jamie.

»Noch schlimmer. Sie waren schon auf dem Mars. Die jüngeren Wissenschaftler schimpfen, dass es nicht fair wäre, jemanden, der bereits dort war, noch einmal hinfliegen zu lassen.«

»Nicht fair? Das ist doch kein Spiel!«

»Ganz meiner Meinung. Aber wenn die jungen Leute das Auswahlkomitee dazu bringen, jeden abzulehnen, der schon auf dem Mars war, steigen die Chancen, dass einer von ihnen das Rennen macht.«

»Himmelherrgott«, knurrte Jamie. »Letztendlich geht es doch immer um Politik.«

»Immer«, bestätigte Li.

Sie gingen eine Weile schweigend durch die fallenden Blätter. Die Nachmittagssonne war warm, aber Jamie spürte eine Kälte in seinem Innern.

Endlich sagte Li: »Ich werde Ihre Aufnahme ins Expeditionsteam befürworten, aber nicht als Geologe.«

Jamie blinzelte ihn verdutzt an.

»Der Versuch, einen der Geologenplätze zu bekommen, würde zu viele Animositäten auslösen«, erklärte Li.

»Als was dann?«

»Als Missionsleiter natürlich. Dann wäre Ihre Erfahrung mit der ersten Expedition ein Pluspunkt und kein Manko.«

Alles, was Jamie darauf einfiel, war: »Oh.«

Li lächelte erneut, wie die Edamer Katze. »Schließlich waren Sie schon beim ersten Mal de facto Missionsleiter, nicht wahr?«

Jamie war kein Politiker, aber er war klug genug, den Mund zu halten. Es gab keine Möglichkeit, diese Fangfrage zu beantworten, ohne ins Fettnäpfchen zu treten.

Li war entzückt. Es wäre eine köstliche Ironie, wenn Waterman dieselbe Position bekäme, mit der er selbst sich bei der ersten Expedition herumgeschlagen hatte. Soll dieser rote Mann ruhig auch die Erfahrung machen, wie belastend die Verantwortung ist. Soll er ruhig spüren, was für ein Stress es ist, wenn jüngere Männer sein Urteilsvermögen und seine Geduld strapazieren, so wie er meine strapaziert hat.

Das ist deiner nicht würdig, tadelte sich Li stumm. So sollte sich ein erleuchteter Mensch nicht benehmen. Dennoch nickte er innerlich, voller Genugtuung, dass das kosmische Rad eine Drehung vollenden würde.

Es gab noch jemanden, den Jamie aufsuchen musste, bevor ihm der Posten des Missionsleiters sicher war: Darryl C. Trumball.

Jamie fröstelte unwillkürlich, als er in Trumballs geräumiges Büro in der obersten Etage des höchsten Hochhauses im Bostoner Finanzdistrikt geführt wurde. Es war kalt in dem Raum, beinahe schmerzhaft kalt. Und das lag nicht nur daran, dass die Klimaanlage auf eine eisige Temperatur eingestellt war. Die ganze Dekoration des Büros war winterlich: nackte Wände in blassem Grau, kein Gemälde, keine Fotografie, nicht einmal eine Blume als belebendes Element in all der Trostlosigkeit. Nur ausladende Fenster in einer Ecke mit Blick auf die City von Boston tief unten.

Trumball saß hager und hartäugig hinter einem flughafengroßen Schreibtisch aus handpoliertem Ebenholz. Sein kahlrasierter, im Licht eines winzigen, in die hohe Decke eingelassenen Scheinwerfers glänzender Schädel hatte fast etwas von einem Totenkopf. Dex war in Hemdsärmeln, hatte aber eine exakt gebundene kastanienbraune Krawatte um den Hals. Eine graue Weste war stramm über das Seidenhemd geknöpft. Er sah so hart und scharfkantig aus wie Feuerstein. Jamie fragte sich, ob Dex in dreißig Jahren wohl auch so aussehen würde.

»Setzen Sie sich, machen Sie sich's bequem«, sagte er und deutete auf einen der großen, burgunderroten Ledersessel vor dem Schreibtisch.

Während Jamie Platz nahm, erinnerte er sich an seinen Großvater, der immer minutenlang stumm dasaß, wenn er jemanden traf, den er noch nicht kannte; er taxierte sein Gegenüber, versuchte einzuschätzen, wes Geistes Kind es war. Aber Trumball war kein geduldiger Mensch. »Sie wollen also Missionsleiter werden«, sagte er.

Jamie nickte. In Wahrheit wollte er zum Mars zurück und würde jede Position, jeden Job akzeptieren, wenn er nur mit von der Partie sein konnte.

»Das ist eine ziemlich große Verantwortung«, meinte Trumball.

»Dr. Li hat mich für die Position empfohlen«, sagte Jamie langsam. »Er war der Missionsleiter der ersten Expedition.«

»Ich weiß, ich weiß.« Trumball kippte in seinem schweren Schreibtischsessel nach hinten und legte die Spitzen seiner langen, manikürten Finger aneinander.

Er wartete darauf, dass Jamie etwas sagte. Als dieser schwieg, fuhr er fort: »Das wird ein völlig anderer Trip werden, Dr. Waterman. Ein völlig anderer. Wir fliegen nicht nur um der edlen Wissenschaft willen hin, nein, Sir. Wir werden mit dem Mars Geld verdienen!«

»Das hoffe ich«, erwiderte Jamie.

Trumball verstummte für einen Moment. Seine harten grauen Augen musterten Jamie. »Sie haben doch nichts dagegen, dass jemand einen ehrlichen Dollar macht, oder?«

»Nicht, wenn es uns hilft, den Mars zu erforschen.«

»Das wird es, das wird es.«

»Dann bin ich dafür.«

»War nicht leicht, das Geld für diesen Trip zusammenzukriegen. Ich musste mich höllisch ins Zeug legen.«

Jamie merkte, dass der Mann auf ein Kompliment wartete. »Sie haben hervorragende Arbeit geleistet«, sagte er.

Trumball trommelte einen Moment lang mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Mein Sohn wird einer der Wissenschaftler sein, wissen Sie.«

»Ja, ich habe ihn kennen gelernt. Er ist Geophysiker.«

»Ganz recht. Aber er hat auch eine Nase fürs Geschäft. Haben Sie eine Nase fürs Geschäft, Dr. Waterman?«

Die Frage verblüffte Jamie. »Ich weiß es nicht«, antwortete er ehrlich.

Trumball schaute verstimmt, beinahe verärgert drein. Aber er sagte: »Na, egal. Dex wird sich schon um die geschäftliche Seite der Sache kümmern, machen Sie sich da mal keine Sorgen.«

Jamie dachte, dass der Mann eigentlich ein Selbstgespräch führte.

»Tja, Sie haben ja wohl die besten Qualifikationen für den Job«, meinte Trumball unwirsch.

»Ich werde gut auf Ihren Sohn aufpassen«, sagte Jamie.

Aus Trumballs Miene sprach echte Überraschung. »Gut auf ihn …! Ha! Teufel noch mal, Dex wird schon auf sich selbst aufpassen. Wehe, wenn nicht! Sorgen Sie nur dafür, dass alles gut geht. Das ist Ihr Job.«

Jamie dachte: Niemand kann garantieren, dass alles gut gehen wird. Nicht, wenn wir hundert Millionen Kilometer weit weg sind. Aber er sagte nichts. Er erhob sich aus seinem Sessel, als Trumball aufstand, und schüttelte ihm über den massiven Schreibtisch hinweg die kalte, trockene Hand.

Und verließ Boston mit seiner Ernennung zum Missionsleiter in der Tasche.

GEWÄCHSHAUS: SOL 6

»In erster Linie kommt es natürlich darauf an, jede Kontamination zu vermeiden«, sagte Trudy Hall.

»Ja«, pflichtete ihr Mitsuo Fuchida bei, »wir wollen ja nicht versehentlich irdische Mikroben auf dem Mars einführen.«

Jamie nickte. Er ging mit den beiden Biologen zwischen langen Kästen mit weitgehend blattlosen Pflanzen entlang. Der Gewächshausgarten war endlich eingerichtet worden, in seiner eigenen Kuppel, die durch eine Luftschleuse mit ihrem Habitat verbunden war. Die beiden Kuppeln waren genau gleich groß, obwohl erst ein kleiner Teil der Bodenfläche des Gartens genutzt wurde. Er ist auf Zuwachs angelegt, sagte sich Jamie. Für diejenigen, die nach uns kommen.

Die normale, erdähnliche Atmosphäre im Garten unterschied sich nicht von jener in der Hauptkuppel, aber der Druck war geringfügig höher, damit keine Luft von draußen in den Garten eindrang.

»Außerdem muss man auch an die Rückkontamination denken«, sagte Hall und zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. »Wir dürfen nicht zulassen, dass marsianische Organismen uns infizieren.«

»Oder unsere künftigen Nahrungsmittel«, setzte Fuchida hinzu.

Der Gewächshausgarten diente einem doppelten Zweck. Die langen Reihen hydroponischer Pflanzen sollten die Nahrungsmittel der Expedition liefern: Sojabohnen, Kartoffeln, Blattgemüse, grüne Bohnen, Zwiebeln, Erbsen, Auberginen, Melonen und Erdbeeren. Dazu wurden sie mit nährstoffreichem Brauchwasser versorgt, das die Pflanzen selbst mit Hilfe eigens kultivierter Filterbakterien aufbereiteten.

Unter Einsatz ultrastarker Vollspektrum-Lampen statt des natürlichen Sonnenlichts wollte Fuchida irgendwann sogar Weizen züchten.

»Sieht gut aus«, sagte Jamie.

»Es ist gut«, erwiderte Hall sehr ernst. Fuchida schien gleichermaßen stolz auf den Garten zu sein.

Hall fuhr fort: »Mitsuo und ich erwägen, den Kohlendioxid-Teildruck in dieser Kuppel zu erhöhen.«

»Um das Wachstum der Pflanzen zu beschleunigen«, sagte Fuchida.

Jamie ließ den Blick über die Reihen von Sämlingen schweifen. »Heißt das, wir können hier drin nicht mehr atmen?«

»Man braucht keinen Raumanzug, nur eine Sauerstoffmaske«, erklärte Hall.

»Aber wir haben keine Masken.«

Fuchida erlaubte sich ein ganz leises Lächeln, das seine ernste Fassade durchbrach. »Zur medizinischen Ausrüstung gehören vier Sauerstoffmasken. Die könnten wir benutzen.«

Bevor er darauf antworten konnte, hörte Jamie, wie sich die Luke der Luftschleuse mit einem seufzenden Laut öffnete. Er drehte sich um und sah Dex Trumball heraustreten.

»Hier bist du«, sagte Trumball zu Jamie. Während er mit großen Schritten den Gang zwischen den Pflanzenreihen entlangging, fuhr er fort: »Ich hab gerade gehört, dass du uns auf der ersten Traverse begleitest. Stimmt das?«

Als Missionsleiter wäre Jamies Platz eigentlich im Basislager gewesen. Aber das Ziel der ersten Überland-Traverse der Expedition hieß Tithonium Chasma, wo die Flechte gefunden worden war, und Jamie hatte keineswegs die Absicht, in der Kuppel zu bleiben, während die anderen im Gelände unterwegs waren.

»Willst du wirklich mitkommen?«, fragte Trumball. Sein Gesichtsausdruck lag irgendwo zwischen Belustigung und Ärger.

Durch die offene Luke hörte Jamie einen Country-and-Western-Song, klagende Gitarren und näselnde Sehnsucht.

Er nickte ernst. »Und ob.«

Grinsend machte Trumball eine ausladende Handbewegung. »Und diesen ganzen Luxus hier aufgeben?«

»Ich bin ein halber Navajo«, entgegnete Jamie und zwang sich, Dex' Grinsen zu erwidern. »Ich bin hart im Nehmen.«

In der Basis war endlich alles in Ordnung. Sämtliche Systeme funktionierten hinlänglich, sogar die Toiletten. Possum Craig war mit dem Bohrgerät draußen und wühlte sich jeden Tag tiefer ins marsianische Erdreich, auf der Suche nach Bakterienproben aus der ›plutonischen Biosphäre‹ die es nach der Theorie von Biologen auf der Erde geben sollte.

Der Reserve-Wassergenerator stand nunmehr keine fünfzig Meter von der Kuppel entfernt; die Rohrleitungen zu den Hauptgeräten wie auch zu den Reservemaschinen waren unterirdisch verlegt und gut isoliert worden. Nachdem Fuchida und Hall nun den Hydrokulturgarten vom Schiff herübergeholt hatten, stand wieder rein vegetarische Kost aus »eigenem Anbau« auf ihrem Speiseplan, wie schon während des langen Fluges von der Erde.

Es gab auch zwei Treibstoffgeneratoren. Der erste war den Forschern vorausgeschickt worden und stand immer noch über zwei Kilometer entfernt. Jamie hatte die Lage mit den beiden Astronauten und Craig erörtert und daraufhin beschlossen, ihn weiterhin als Reservegerät einzusetzen und ansonsten den Generator, den sie selbst mitgebracht hatten, als primäre Energiequelle zu benutzen.

Trumball blieb so nahe vor Jamie stehen, dass sich ihre Nasen beinahe berührten, stemmte die Fäuste in die Hüften und legte den Kopf ein wenig schief. »Dann sind wir also zu dritt: du, ich und Trudy. Zwei Geowissenschaftler und eine Biologin.«

»Und Stacy.«

»Unsere Fahrerin.«

Die Sicherheitsvorschriften verlangten, dass bei jeder Exkursion einer der Astronauten des Teams dabei sein musste, bis sich die Wissenschaftler allesamt als geschulte Fahrer qualifizierten.

»Ich übernehme eine Doppelfunktion als ihr Ersatzmann; schließlich habe ich Erfahrung mit der Fahrerei auf dem Mars.«

»Hast du bestimmt zu Hause im Reservat gelernt.«

Mit einem knappen Nicken antwortete Jamie: »Ja, das hat viel Ähnlichkeit mit dem Mars. Wo hast du fahren gelernt?«

»In Boston«, sagte Trumball. »Wenn man in Boston fahren kann, kann man's überall.«

Die gesamte Oberfläche des Mars wurde jetzt von drei stationären, also immer über einem festen Punkt auf dem Boden stehenden Kommunikationssatelliten über dem Äquator abgedeckt. Einer der beiden winzigen Monde des Mars, Deimos — nicht größer als Manhattan Island —, kreiste fast in derselben Höhe wie sie. Seine geringe Anziehungskraft würde die Komsats irgendwann aus ihrem exakten Orbit holen, aber den Berechnungen zufolge sollten die Satelliten mindestens für die Dauer des Aufenthalts der Forscher auf dem Mars stabil sein. Deshalb beunruhigte es Jamie nicht, dass er als Missionsleiter eine Woche lang von der Basis abwesend sein würde. Über die ortsfesten Komsats konnte er mit dem Lager und der Erde Verbindung halten.

Als er für den zehn Meter langen Weg zu dem wartenden Rover in seinen Raumanzug stieg, sah er, wie Vijay Shektar durch die Innenluke der Schleuse trat und den Helm abnahm. Sie schüttelte die Haare aus und lächelte ihn an.

»Ich habe sämtliche Vorräte doppelt überprüft«, sagte sie. »Alles in bester Ordnung.«

»Dann haben wir grünes Licht für die Exkursion.«

»Ja.«

Sie setzte sich neben ihn auf die Bank, die an den Spinden für die Raumanzüge entlanglief, und begann mit einem Seufzen, ihre Handschuhe auszuziehen.

»Der verdammte Anzug scheuert mir den rechten Ellbogen auf«, beschwerte sie sich.

»Pack ein Schaumgummipolster auf die Stelle«, schlug Jamie vor. Auch wenn der Anzug noch so gut passte, es gab immer irgendeine Unannehmlichkeit. Sein eigener Anzug fühlte sich ungeheuer steif an. Schnell laufen würde er damit garantiert nicht können.

Jamie war bereits in das Unterteil des Anzugs und die Stiefel geschlüpft, der schwierigste Teil des Ankleidens. Jetzt stand er auf und ging zu dem wartenden Oberteil hinüber.

»Ist, als würde man eine Ritterrüstung anlegen, was?«, sagte Shektar.

»Und dann auf in den Kampf mit den Drachen.«

»Drachen? Das wär mal was Neues!«

»Echte Drachen«, sagte Jamie. »Unwissenheit, das Unbekannte.«

»Ah. Ja, echte Drachen, stimmt.«

»Und Angst.«

»Angst? Hast du Angst?«

»Nicht davor, rauszugehen«, erklärte Jamie hastig. »Nicht vor dem Mars. Diese Welt ist vielleicht gefährlich, aber bösartig ist sie nicht.«

Sie saß da, umhüllt von dem hartschaligen Anzug wie eine Frau, die gerade von einem metallenen Monster verschlungen wurde, und lächelte Jamie neugierig an.

»Wovor hast du dann Angst?«

»Ich gar keine — aber andere schon. Angst davor, Dinge zu finden, die sie durcheinander bringen.«

»Zum Beispiel Leben?«

»Zum Beispiel intelligentes Leben«, sagte Jamie.

Jetzt verstand sie. Ihre Miene hellte sich auf. »Deshalb wolltest du unbedingt mit auf diese Traverse. Deine Felsenbehausung.«

Jamie nickte ernst.

»Meinst du wirklich, du findest sie?«

»Ich könnte zu Fuß hingehen, wenn es sein müsste.«

»Und du glaubst tatsächlich, es ist ein Artefakt, ein Bauwerk intelligenter Marsianer?«

Dex Trumball kam durch die Luke der Luftschleuse herein und schob sein Visier hoch. »Wir sind alle startklar, sobald der Missionsleiter sich an Bord begibt.«

»Zwei Minuten«, sagte Jamie. Dann setzte er mit einem Blick in Vijays fragende Augen hinzu: »Wir werden es ziemlich bald rausfinden, nicht?«

ERSTE TRAVERSE: SOL 6

Zur Expeditionsausrüstung gehörten zwei große, segmentierte Rover-Fahrzeuge für Überland-Traversen. Die Rover waren genau die gleichen wie diejenigen, die bei der ersten Expedition benutzt worden waren: zwei Trios zylindrischer Aluminiummodule auf federnden Rädern mit lockerer Aufhängung, die über ziemlich große Felsen krabbeln konnten, ohne dass das Fahrzeug dabei umstürzte. Sie bedeuteten eine erhebliche finanzielle Einsparung für die Expedition: Die Kosten für ihre Entwicklung und die Tests waren bereits ins Budget der ersten Expedition eingegangen, sodass die zweite Expedition nur zwei weitere hatte bauen lassen müssen.

Eins der zylindrischen Module war der Treibstofftank. Er war so groß, dass das Fahrzeug zwei Wochen oder länger draußen im Gelände bleiben konnte. Das mittlere Segment enthielt für gewöhnlich Ausrüstungsgegenstände und Vorräte, konnte aber zu einem kleinen mobilen Labor umgerüstet werden, wenn es erforderlich war. Das vorderste und größte der drei Segmente hatte ungefähr die Ausmaße eines Stadtbusses. Darin herrschte Normaldruck wie in einem Raumschiff, sodass man sich dort in Hemdsärmeln aufhalten konnte. Am hinteren Ende, wo es mit dem zweiten Modul verbunden war, befand sich eine Luftschleuse. Das vordere Ende war eine knollige, transparente Kanzel, die dem gesamten Gebilde eine gewisse Ähnlichkeit mit einer riesigen Metallraupe verlieh. Jeder Rover war so gebaut, dass vier Personen einigermaßen bequem darin Platz fanden, aber im Notfall ließ sich das gesamte achtköpfige Forscherteam hineinquetschen.

Obwohl Jamie in dem schwerfälligen Raumanzug steckte und unbequem auf dem rechten Sitz im Cockpit des Rovers hockte, fühlte er sich frei. Er betrachtete die an ihm vorbeiziehende Marslandschaft mit einer Art Doppelblick: Sein trainiertes Geologenauge katalogisierte die Geländeformen, die Felsblöcke, Krater und vom Wind geformten Sanddünen; der Navajo tiefer in seinem Innern erkannte ein Territorium, das einst die Heimat des Volkes gewesen sein mochte.

Was für eine Ähnlichkeit mit dem Wüsten-Homeland des Volkes, dachte er. Rostiger Sand und rote Felsen, steil aufragende Tafelberge weiter weg am Horizont. Er rechnete beinahe damit, Fußabdrücke dort draußen zu sehen, die Spur seiner Ahnen.

Unsinn, spottete der Weiße in ihm. Im Umkreis von hundert Millionen Kilometern gibt es keinen einzigen Grashalm. Die Temperatur da draußen liegt unter dem Gefrierpunkt, und heute Nacht wird sie auf unter siebzig Grad minus absinken. Man kann die Luft nicht atmen.

Trotzdem hatte Jamie das Gefühl, heimgekehrt zu sein.

Und vor ihnen, eingebaut in eine Spalte in der mächtigen Steilwand des Grand Canyon, warteten die Ruinen einer alten Stadt. Jamie war sich dessen sicher. Ganz gleich, was die anderen sagten, ganz gleich, worauf sein rationales Ich beharrte, er wusste es in seinem Herzen: Was er bei der ersten Expedition gesehen hatte, war von intelligenten Wesen erbaut worden.

»Dreißig Klicks«, sagte Stacy Deschurowa. Sie saß neben Jamie auf dem Fahrersitz und war ebenfalls in einen klobigen Raumanzug gehüllt, hatte aber keinen Helm auf. Mit ihrem schmutzigblonden Pagenschnitt sah sie aus wie eine stämmige Holländerin, die bei lebendigem Leibe von einem Roboter verschluckt wurde.

Jamie nickte und stemmte sich unbeholfen vom Sitz hoch. Er musste sich ein wenig bücken, um aus dem knolligen, verglasten Cockpit zu kommen, ohne mit dem Helm an der Decke zu scheuern. Er stapfte an Trudy Hall vorbei, die in ihrem braunen Overall im mittleren Bereich des Rovermoduls saß. Sie lächelte zu ihm hinauf.

Der Rover wurde langsamer und hielt dann an. Jamie spürte es kaum; Deschurowa war eine ausgezeichnete Fahrerin. Trumball stand an der Luke der Luftschleuse und hielt schon eine der Bakenstangen in der Hand. Jamie nahm sie ihm wortlos ab. Später würde Dex sich anziehen und die Außenarbeit machen, aber Jamie wollte als Erster hinausgehen.

»Checkliste«, sagte Trumball, als er Jamie die Bake reichte.

Jamie nickte und klappte das Visier seines Helms herunter. Trumball ging die Sicherheitscheckliste rasch, aber gründlich durch und vergewisserte sich, dass Jamies Anzug korrekt verschlossen war und dass seine ganze Ausrüstung richtig funktionierte.

»Okay, Kumpel«, sagte er und klopfte Jamie hinten auf den Helm. Die Isolierung des Helms dämpfte seine Stimme.

»Ich gehe jetzt in die Luftschleuse«, sprach Jamie in das Mikrofon, das zwischen dem unteren Rand des Visiers und dem Halsring in den Helm eingebaut war.

»Verstanden«, hörte er Deschurowas Stimme. »Warte einen Moment. Ich habe Gelb fürs UV.«

In der Decke der Luftschleuse saß eine Batterie ultravioletter Lampen, die sich automatisch einschaltete, wenn die Luft aus der Schleuse gepumpt wurde. Das UV-Licht sollte das Äußere der Raumanzüge sterilisieren und alle an der Oberfläche haftenden Mikroben töten, damit die Forscher die Welt draußen nicht mit mikroskopischem Leben von der Erde kontaminierten. Das UV-Licht sollte auch eine etwaige Rückkontamination an den Anzügen abtöten, wenn die Forscher in den Rover zurückkamen.

»Reserve ist grün«, ertönte Deschurowas muntere Stimme in Jamies Helmlautsprechern. »Ich überprüfe das Hauptsystem, während du draußen bist.«

»Okay. Betrete jetzt die Luftschleuse.«

Die Luftschleuse war nicht größer als eine Telefonzelle; ein Mensch im Raumanzug passte nur so gerade eben hinein. Jamie umklammerte die kurze, dicke Stange der geologisch-meteorologischen Bake mit einer behandschuhten Hand und drückte mit der anderen auf die Kontrolltaste neben der Außenluke. Er hörte die Pumpe tuckernd zum Leben erwachen, während das Licht an der Kontrolltafel von Grün zu Bernsteingelb wechselte.

Das Pumpgeräusch und das leise Zischen der Luft verebbten zu Nichts, obwohl Jamie die Vibration der Pumpe durch die dicken Sohlen seiner Stiefel nach wie vor spüren konnte. Kurz darauf war auch das vorbei, und das Licht an der Kontrolltafel wurde rot. In der Luftschleuse herrschte nun ein Vakuum. Das ultraviolette Licht war für seine Augen natürlich unsichtbar, obwohl er glaubte, dass es die roten Streifen an seinen Ärmeln leicht fluoreszieren ließ.

Jamie drückte kräftig auf die Kontrolltaste, und die Außenluke glitt auf. Er stieg vorsichtig über die metallene Sprosse hinunter und trat auf den roten Sand des Mars hinaus. Er wusste, das es Unsinn war, aber hier draußen, wo er ganz allein war, fühlte er sich frei und glücklich. Die kahlen roten Sandebenen des Mars erstreckten sich überall um ihn herum bis zu einem zerklüfteten, sanft gewellten Horizont, der fast schon unangenehm nah wirkte. Der Rand der Welt. Der Anfang der Unendlichkeit. Am Horizont war der Himmel von einem gelblichen Braun, das langsam in Blau überging, als er den Blick zu der kleinen, merkwürdig matten Sonne hob.

»Ziemlich großer Krater zur Linken«, sprach er ins Helmmikrofon. »Sieht jung aus, neues Gestein längs des Randes.«

Sie folgten der Route, die er bei dem improvisierten Ausflug zum Grand Canyon vor sechs Jahren genommen hatte. Bei jener Exkursion, auf der sie beinahe alle ums Leben gekommen wären. Bei der sie eine lebende marsianische Flechte am Grund von Tithonium Chasma entdeckt hatten. Jamie hatte halbwegs damit gerechnet, Reste der Radspuren von jener Fahrt zu sehen, aber der vom Wind aufgewehte Sand hatte sie vollständig überdeckt. Damals, vor sechs Jahren, hatten sie sich nicht die Mühe gemacht, Baken entlang des Weges aufzustellen; dazu hatten sie es zu eilig gehabt. Jetzt holte Jamie dieses Versäumnis nach.

Er zog die Stange aus, verlängerte sie auf ihre vollen zwei Meter und rammte sie dann fest in das rote, staubige Erdreich. Kein ›Erdreich‹, rief er sich ins Gedächtnis. Regolith. Erdreich ist von Lebewesen durchsetzt: Würmern, Käfern, Bakterien. Dieser rostige Eisensand des Mars enthielt keine Spur von Leben. Er war mit Peroxiden versetzt, wie pulverförmiges Bleichmittel. Als die ersten Robotersonden die ersten Proben des Oberflächenmaterials gesammelt und nicht einmal Spuren organischer Moleküle darin entdeckt hatten, waren die Hoffnungen, auf dem Mars Leben zu finden, abrupt gesunken.

Jamie lächelte in seinem Helm in sich hinein, während er das spitze Ende der Bake tiefer in den Boden schraubte. Der Mars hat sie alle überrascht, dachte er. Wir haben Leben gefunden. Was für neue Überraschungen hat er uns diesmal zu bieten?

Vielleicht gab es unter der Peroxid Schicht Kolonien von Bakterien, die nie das Sonnenlicht erblickt hatten, Bakterien, die sich mit Hilfe von Wasser aus dem Permafrost von Gestein ernährten. Auf der Erde hatten die Geologen zu ihrer Verblüffung solche Bakterien tief im Erdboden gefunden. Possum Craig bohrte nach ähnlichen marsianischen Organismen.

Jamie schwitzte, als er die Stange endlich so fest im Boden verankert hatte, dass er mit seiner Arbeit zufrieden war. Er klappte die Solarpaneele am oberen Ende auf und schaltete dann den Funksender der Bake ein.

Sing dein Lied, sagte Jamie stumm zu der Bake. Ein Totem für die Wissenschaftler, erkannte er. Die in die dünne Stange eingebauten Instrumente würden unablässig Bodenerschütterungen, den Wärmestrom aus dem Innern des Planeten, die Lufttemperatur, die Windgeschwindigkeit und die Feuchtigkeit messen. Von den über hundert Baken, die sie im Verlauf der ersten Expedition aufgestellt hatten, funktionierten sechs Jahre später noch mehr als dreißig. Jamie wollte diejenigen suchen, die ausgefallen waren, und nachsehen, was mit ihnen passiert war.

Aber nicht jetzt, sagte er sich. Nicht heute. Er ging zum Rover zurück und stieg zur offenen Schleusenluke hinauf.

Er drehte sich um und schaute noch einmal auf die von Geröll übersäte Landschaft hinaus, bevor er die Luke schloss. Dieser neu aussehende Krater lockte ihn, aber er wusste, dass sie keine Zeit für ihn hatten. Noch nicht.

Jamie schaute auf den Mars hinaus. Kahl, fast luftlos, kälter als Sibirien, Grönland und sogar der Südpol. Dennoch sah er für ihn immer noch so aus, als wäre er seine Heimat.

TAGEBUCHEINTRAGUNG

Keiner meiner Kameraden scheint zu begreifen, in welcher Gefahr wir schweben. Dies ist eine fremde Welt, und unser einziger Schutz ist eine dünne Hülle aus Kunststoff oder Metall. Wenn diese Hülle durchbrochen wird, und sei es nur von einem winzigen Nadelstich, werden wir alle qualvoll sterben. Es war töricht von mir, hierher zu kommen, aber die anderen sind noch törichter. Sie sind eine Fingernagelbreite vom Tod entfernt, aber sie handeln, als wüssten sie es nicht. Oder als wäre es ihnen egal. Diese Narren!

NACHT: SOL 6/7

»Eigentlich«, sagte Trudy Hall, »ist wissenschaftliche Arbeit meistens todlangweilig.«

Sie saßen alle vier auf den unteren Liegen in der mittleren Sektion des Moduls um den schmalen Klapptisch, mit den Überresten ihres Abendessens in den Plastikschalen vor sich. Die beiden Frauen saßen auf einer Seite des Tisches, Trumball und Jamie auf der anderen.

»Fast jede Arbeit ist langweilig«, sagte Trumball und griff nach seinem Glas Wasser. »Als Junge hab ich bei meinem alten Herrn im Büro gearbeitet. Langweiliger geht's nicht!«

»Das sagt man ja auch über die Fliegerei bei der Luftwaffe«, setzte Stacy Deschurowa mit unbewegter Miene hinzu. »Endlose Stunden der Langeweile, und zwischendurch mal Momente puren Entsetzens.«

Sie lachten alle.

»Ich weiß, dass wir viel schneller sein könnten, wenn wir die Baken nicht aufstellen müssten«, sagte Jamie, »aber es ist wichtig, dass sie …«

»Ach, nun sei doch nicht so ernst!« Hall wirkte überrascht. »Ich habe mich nicht beklagt, sondern nur ein philosophisches Argument vorgebracht.«

»Die Engländer sind ja immer sehr tiefschürfend«, sagte Trumball und grinste sie über den Tisch hinweg an. »Die haben's wirklich total mit Philosophie und so.«

»Kann mal wohl sagen«, stimmte Hall zu.

Jamie zeigte den beiden ein Lächeln.

»Wir sind gut vorangekommen«, meinte Deschurowa. »Morgen bei Sonnenuntergang werden wir in Schlagweite des Canyonrands sein.«

»Wir könnten bis zum Rand kommen, wenn wir die Abstände zwischen den Baken ein bisschen vergrößern würden«, schlug Trumball vor. »Sagen wir, fünfzig Klicks statt dreißig.«

Jamie merkte, wie sich seine Augenbrauen ein wenig zusammenzogen. »Dreißig Klicks heißt, dass wir ungefähr einmal pro Stunde anhalten.«

Trumball drehte sich auf der Liege zu Jamie um. Sein Grinsen war wissend und selbstsicher. »Ja, aber wenn wir den Abstand auf anderthalb Stunden ausdehnen, könnten wir morgen sechs bis sieben Stopps einsparen. Ich hab's im Computer durchgerechnet. Wir kämen viel, viel schneller voran.«

Halls Miene wurde nachdenklich. »Was für Auswirkungen hätte das auf den Datenstrom?«

Trumball zuckte die Achseln. »Keine großen. Wir haben die dreißig Klicks ziemlich willkürlich gewählt, stimmt's? Ein Stopp pro Stunde, und die Höchstgeschwindigkeit des Rovers ist nicht viel höher als dreißig Stundenkilometer.«

»Und wenn wir die Baken nun im Abstand von fünfzig Klicks aufstellen — kriegt ihr dann noch die Daten, die ihr haben wollt?«, fragte Hall.

Jamie musterte ihr Gesicht jenseits des schmalen Tisches. Ihre graublauen Augen waren auf Trumball gerichtet. Ihr Kinn war ein bisschen spitz und ihre Gesichtsknochen waren fast wie die eines Models geformt. Auf der Erde war sie Läuferin gewesen; selbst auf dem langen Flug zum Mars war sie in ihrer Freizeit stundenlang durch den Außenkorridor des Raumschiffs gejoggt.

Trumball wedelte mit der Hand. »Klar. Dreißig Klicks, fünfzig Klicks, wo ist da der Unterschied?« Er sah Hall an, warf Jamie jedoch einen raschen Seitenblick zu.

Jamie holte Luft, um einen Moment Zeit zum Nachdenken zu haben, dann sagte er: »Vielleicht hast du Recht, Dex. Wenn wir den Abstand zwischen den Baken ein bisschen vergrößern, kann das nicht allzu viel schaden.« Trumball machte einen Moment lang große Augen.

Rasch fügte er hinzu: »Und wir wären schneller beim Canyon.«

Jamie nickte. »Warum nicht? Guter Vorschlag.« Trumballs Grinsen wirkte eher triumphierend als dankbar.

Während die anderen der Reihe nach in den Waschraum gingen und ihre Schlafoveralls anzogen, ging Jamie nach vorn ins Cockpit und setzte sich mit der Basiskuppel in Verbindung.

Tomas Rodriguez' massiges Gesicht mit den dunklen Augen füllte den Bildschirm am Armaturenbrett. Während Jamie seinen Abendbericht herunterspulte, den Rodriguez nach Tarawa weiterleiten würde, dachte ein Teil von ihm über die Hautfarben der Expeditionsmitglieder nach. Es hatte keinen bewussten Versuch gegeben, eine rassische, nationale oder auch nur geschlechtliche Ausgewogenheit herzustellen, aber die Farbpalette reichte dennoch von Trudy Halls Elfenbein über Rodriguez' Olivbraun bis zu Vijay Shektars annäherndem Ebenholzschwarz. Ich schätze, ich liege irgendwo zwischen Tomas und Vijay, dachte er.

Jamie hatte die Exkursionsteams so zusammengestellt, dass immer zwei Frauen in jedem Team waren. Er wusste, dass er übermäßig vorsichtig, ja sogar prüde war, aber er dachte, die Frauen würden sich mit einer zweiten Frau an Bord besser fühlen, als wenn sie mit mehreren Männern allein wären.

Darum war Vijay nun mit Fuchida, Craig und Rodriguez allein in der Kuppel, wie er wusste, aber er glaubte, dass Vijay auf sich selbst aufpassen konnte. Fuchida würde kein Problem sein, und Craig würde sich höchstwahrscheinlich wie ein gutmütiger Onkel benehmen. Rodriguez hatte einen gewissen Testosteronspiegel, aber er wirkte nicht so aggressiv, dass er Jamie Kopfzerbrechen bereitet hätte.

Trotzdem wollte er Vijay sehen, mit ihr sprechen.

Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, fragte er: »Ist Vijay noch wach?«

»Glaub schon«, sagte Rodriguez. »Momentchen, ich hole sie.«

Es gab keine Sprechanlage in der Basiskuppel, sondern nur ein ausschließlich für Notfälle reserviertes Lautsprechernetz für Durchsagen. Rodriguez stand einfach von der Kommunikationskonsole auf und ging zu Shektars Kabine. Jamie wartete, den Blick auf den leeren Bildschirm gerichtet. Kurz darauf war Rodriguez wieder da.

»Sie sitzt am Computer und unterhält sich mit Dex, wie's scheint.«

Jamie drehte sich auf dem Sitz im Cockpit um, und da hockte Dex tatsächlich auf seiner oberen Liege, über seinen Laptop gebeugt, den Widerschein des Bildschirms auf seinem grinsenden, jungen, hübschen Gesicht.

NACHT: SOL 7/8

»Jetzt kommt der schwierige Teil«, warnte Jamie.

Nachdem Deschurowa bereits den ganzen Tag gefahren war, steuerte sie nun den Rover auf dem stetig ansteigenden Gelände vorsichtig voran, umfuhr Felsblöcke von der Größe von Automobilen und schaltete herunter, als die Steigung stärker wurde.

Rechts von ihnen streifte die untergehende Sonne fast schon den zerklüfteten Horizont. Ihr blasser, rötlicher Schein fiel schräg ins Cockpit und warf lange Schatten auf den felsigen Boden. Die letzte Geo/Met-Bake des Tages war bereits vor zwei Stunden aufgestellt worden. Nur noch ein kleines Stück, dann hatten sie den größten Canyon im Sonnensystem erreicht.

»Der Rand kommt ganz plötzlich«, warnte Jamie fast im Flüsterton.

»Ich habe die Simulationen geflogen«, sagte Deschurowa ausdruckslos, ohne den Blick vom langsam vorbeiziehenden Boden zu nehmen.

»Entschuldigung«, murmelte Jamie.

Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Copiloten reden einem immer drein«, sagte sie mit unbeteiligter Miene.

Jame erhob sich halb aus seinem Sitz. »Ich glaube …«

»Ja.«

»Da ist er!«

Deschurowa trat so sanft auf die Bremse, dass Jamie kaum nach vorn geworfen wurde. Er saß da und starrte in die gigantische Schlucht hinab. Der Atem entwich aus seinen Lungen.

Da war er.

»Oora …«, sagte Stacy leise und gedehnt. Ihre Stimme war dumpf vor Ehrfurcht.

Sie schauten über den Rand des Grand Canyon, eines Spalts in der Welt, der so lang war wie die Strecke zwischen New York und San Francisco, über fünf Kilometer tief und so breit, dass man die andere Seite nicht sehen konnte. Der Boden fiel einfach jäh und ohne Vorwarnung ab. Tief, tief unten, in größerer Tiefe als die meisten Meeresböden auf der Erde, lag der Grund des Canyons, der sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte. Kein Nebelfetzen nahm ihnen die Sicht; sie konnten jede Einzelheit deutlich erkennen, soweit es die ungeheuren Entfernungen erlaubten.

»Kommt her und schaut euch das an!«, rief Deschurowa über die Schulter nach hinten.

»Sind wir da?«, fragte Trudy Hall, während sie und Trumball sich ins Cockpit drängten und hinter den Sitzen niederkauerten, um durch die Windschutzscheibe hinauszuschauen.

»Phantastisch«, flüsterte Hall.

Jamie warf einen Blick zu Trumball hinauf. Endlich war Dex einmal sprachlos; von Staunen überwältigt, blickte er auf das majestätische Tithonium Chasma hinaus.

Führe mich auf den rechten Weg, Großvater, betete Jamie stumm. Führe mich zur Harmonie, denn nur sie kann meinem Herzen Frieden bringen. Lass mich die Wahrheit finden, die in all dem liegt, und lass mich in Schönheit gehen.

Trumball fand endlich die Stimme wieder. »Ich sehe den Erdrutsch nicht, den ihr damals runtergefahren seid.«

»Er ist ein paar Klicks rechts von uns.« Jamie war sich dessen so sicher wie seines eigenen Namens.

Trumball, der hinter Jamies Sitz kniete, grunzte. »Indianerscout kennt Territorium, hm?«

Jamie blickte scharf zu ihm auf. »Da kannst du deinen Arsch drauf verwetten.«

Deschurowa tippte mit einem Finger auf die elektronische Karte an der Kontrolltafel. »Jamie hat Recht. Hier sind wir, und dort« — ihre Fingerspitze fuhr zu einem blinkenden grünen Punkt auf der Karte — »wollen wir hin.«

»Schaffen wir das noch, bevor es dunkel wird?«, fragte Hall.

»Nein.« Deschurowa schüttelte den Kopf. »Die Sonne steht schon am Horizont.«

»Trotzdem haben wir noch eine halbe Stunde bis zum Einbruch der Dunkelheit«, meinte Trumball.

Deschurowa drehte sich auf ihrem Sitz halb zu ihm um. »Willst du dich im Dunkeln am Rand dieser Steilwand entlangtasten? Ich nicht.«

»So dunkel wird's nicht sein, jedenfalls nicht gleich. Und du hast doch die Scheinwerfer, Herrgott noch mal.«

Deschurowa bekam einen störrischen Zug um ihr breites Kinn. »Das ist nicht das Batmobil, und ich bin kein Shroomer.«

Trumball runzelte verwirrt die Stirn. Jamie grinste innerlich. Er hatte lange genug mit den Astronauten zu tun gehabt, um zu wissen, dass ›Shroomer‹ die Kurzform für ›Mushroomer‹ war, jemanden mit der intellektuellen Kapazität eines Pilzes.

»Ich finde trotzdem …«

Jamie schnitt Trumball das Wort ab. »Wenn es um die Sicherheit geht, haben die Astronauten das letzte Wort, Dex. So lautet die Vorschrift.«

»Und wir halten uns immer an die Vorschriften, nicht?«, murrte Trumball.

Hall versuchte, die Situation zu entschärfen. »Wenn wir nur eine runde halbe Stunde bis dorthin brauchen, warum warten wir dann nicht bis morgen? Das macht doch nicht so viel aus, oder?«

Trumball grinste sie an, aber es wirkte halbherzig. »Ja, ich glaube, du hast Recht. Was soll's.«

Er stand auf und ging zu der winzigen Kombüse im hinteren Teil des Moduls. Widerwillig, dachte Jamie. »Ich fang schon mal mit dem Abendessen an«, rief er über die Schulter.

Hall folgte ihm und half ihm, die Packungen mit ihren Fertigmahlzeiten aus dem Gefrierschrank zu holen und in die Mikrowelle zu packen.

»Ich stelle noch eine Bake auf«, wandte sich Jamie an Deschurowa und erhob sich von seinem Sitz.

»Das heißt, ich muss auch in den Raumanzug steigen«, sagte sie mit einem Seufzen.

»Wir können die Vorschriften ein bisschen freier auslegen. Ich werde nur ein paar Minuten draußen sein.«

Der Blick ihrer saphirblauen Augen zuckte zu Trumball. »Die Vorschriften freier auslegen? Was meinst du, wie er das finden wird?«

Bevor Jamie antworten konnte, setzte Deschurowa hinzu: »Außerdem würde ich gern für einen Moment hier rauskommen.«

Also gingen sie beide nach hinten zu den Raumanzügen, die bei der Luftschleuse untergebracht waren, und zogen sich an, während Trumball und Hall den Tisch ausklappten und mit ihrer Mahlzeit begannen.

»Wartet mit dem Nachtisch auf uns«, rief Deschurowa fröhlich.

»Ist gut«, sagte Hall.

Sie überprüften gegenseitig ihre Anzüge, dann nahm Jamie eine der Baken und betrat die Luftschleuse. Als er die Stange draußen zu voller Länge ausgezogen und ihr spitzes Ende in den Boden gerammt hatte, kam Deschurowa durch die Außenluke zu ihm heraus.

»Diese verdammte UV-Anlage macht immer noch Mucken«, beschwerte sie sich.

Jamie, der mit der Stange kämpfte, sagte: »Vielleicht sollten wir die ganzen Kabel bis zur Konsole durchchecken. Um den Fehler zu finden.«

»Tja, ich glaube, uns wird nichts anderes übrig bleiben«, sagte Deschurowa. Dann fügte sie hinzu: »Man hätte die Stangen mit einem motorisierten Bohrer ausstatten sollen.«

Jamie bückte sich und grunzte vor Anstrengung, als er die Stange tiefer in den Boden drehte. »Muskelkraft ist billiger.«

Er richtete sich auf und schaltete seine Anzugbelüftung höher. Er spürte, wie ihm Schweiß an den Rippen herunterlief.

»Ich glaube, das reicht«, sagte er.

»Du hast das Licht nicht eingeschaltet«, erwiderte Deschurowa.

»Moment. Ich will sehen, ob …«

»Die Sonne ist untergegangen. Wir müssen wieder rein.«

»Gleich.«

»Was ist?«

Jamie wandte sich von dem schwachen, rosaroten Leuchten an jener Stelle ab, wo die Sonne hinter den zerklüfteten Horizont gesunken war. Der Himmel im Osten war schwarz und leer.

»Warte, bis deine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, Stacy.«

»Wenn du die Erde sehen willst, die ist nicht …«

»Nein«, flüsterte er. »Warte.«

»Worauf?«

Jamie sah sie. Schimmernde, geisterhafte Lichtbänder flackerten in spektralen Rosaund Weißtönen über den Himmel.

»Ein Nordlicht!«, stieß Deschurowa hervor.

»Die Himmelstänzer«, sagte Jamie leise, mehr zu sich selbst als zu ihr.

»Das muss von einer Sonneneruption kommen … irgendeine Störung …«

»Nein«, hörte Jamie sich sagen. »Die Magnetosphäre des Mars ist so schwach, dass der Sonnenwind überall auf dem Planeten die oberen Atmosphärenschichten trifft. Die Lichter erscheinen fast jeden Abend, gleich nach Sonnenuntergang. Sie verschwinden aber ziemlich rasch wieder.«

Der Navajo in ihm sagte: Die Himmelstänzer sind hier, Großvater. Ich sehe sie. Ich verstehe sie. Sie bringen deinen Geist zu mir, Großvater. Es ist gut, dass du hier bei mir bist. Es bringt Kraft und Schönheit.

Die Alten lehrten, dass das Volk einst in einer roten Welt lebte, lange bevor es in die Wüste kam, in der es nun lebt. Cojote, der ewig Listenreiche, verursachte eine gewaltige Flut, die alle getötet hätte, wenn es ihnen nicht gelungen wäre, sicher zur blauen Welt zu gelangen.

TRANSIT

Es half alles nichts, Jamie hatte die Kabinen im Marsraumschiff immer klein, eng und erstickend gefunden.

Er wusste, dass sein Abteil sogar ein bisschen größer war als das Quartier, das er im Schiff der ersten Expedition bewohnt hatte, aber damals war das Raumfahrzeug mit einer geräumigen Messe ausgestattet gewesen, in der alle zwölf Wissenschaftler und Astronauten an Bord Platz fanden. Und es hatte auch ein Beobachtungszentrum gegeben, einen Raum, in dem Jamie zumindest für kurze Zeit ganz für sich allein sein konnte.

Das Schiff der zweiten Expedition war kreisförmig angelegt. Jedes der acht Abteile hatte die Form eines Tortenstücks, und alle waren genau gleich groß. Außen herum verlief ein Korridor, von dem sämtliche Kabinen abgingen. Er diente auch als Trudy Halls Laufstrecke. Während der ganzen fünf Monate des Fluges zum Mars wurde Jamie allmorgendlich von ihrem unbarmherzigen, dumpfen Stampfen geweckt, immer rundherum, eine ganze Stunde lang.

In jeder Kabine führte die Tür am breiten Ende des Tortenkeils auf den Korridor hinaus. Die Tür am schmalen Ende führte zu einem der zwei Waschräume des Schiffes; die drei Frauen teilten sich einen Waschraum, die fünf Männer den anderen.

Aussichtsfenster gab es nicht. An einer Wand jedes Wohnabteils hatten die Konstrukteure des Schiffs einen flachen Bildschirm angebracht, ein elektronisches ›Fenster‹, das Bilder von draußen oder Videos zeigen konnte, ganz nach Lust und Laune des Bewohners. Man konnte es auch als Computermonitor benutzen.

Ihr zylindrisches Raumschiff kreiste am Ende eines fünf Kilometer langen Raumseils aus mikroskopisch kleinen Röhrchen aus Buckyballs, künstlich erzeugten Kohlenstoffmolekülen, die wie geodätische Kugeln geformt waren. Die Buckyball-Seile waren widerstandsfähig, leicht und geschmeidig und hatten eine größere Reißfestigkeit als die stärksten Metalllegierungen. Am anderen Ende des Raumseils befand sich das Atomraketensystem mit seinem Strahlungsschild. Die beiden Module rotierten um ihr gemeinsames Zentrum und vermittelten den Forschern dadurch ein Gefühl von Schwerkraft: ein volles terrestrisches Ge, als sie die Umlaufbahn um die Erde verließen, das langsam bis zum Drittel-Ge des Mars absank, während sie den Abgrund zwischen den Planeten durchquerten. Somit würden die Forscher an die Marsschwerkraft gewöhnt sein, wenn sie landeten.

Trotz des elektronischen Fensters fühlte sich Jamie wie ein eingesperrtes Tier, wie ein Sträfling im Gefängnis. Im Raumschiff war es nie ganz still; Pumpen tuckerten, Lüfter summten, Computer piepsten. Er hörte es, wenn sich Leute drei, vier Abteile weiter unterhielten. Jeden Tag klang Trudy Halls endloses Joggen im Außenkorridor wie eine chinesische Wasserfolter, wenn sie unablässig in ihrem exakten Trab dahinstampfte.

Jamie verbrachte so wenig Zeit wie möglich in seiner Unterkunft. Er zog die Kombüse in der Ebene darüber vor. Sie war immerhin groß genug, dass sie alle acht Platz darin fanden, obwohl es dann ziemlich eng wurde. Da oben stießen sie buchstäblich immer zusammen. Auf das »Guten Morgen« folgte unweigerlich ein »Entschuldigung, tut mir Leid«. Die Kombüse fungierte auch als Besprechungsraum. Einen anderen Raum gab es nicht. Ihr Raumschiff war unter dem Gesichtspunkt der Kostenminimierung und nicht des maximalen Komforts für die Mannschaft konstruiert worden.

Trotz der Enge, oder vielleicht gerade wegen ihr, war jedermann extrem höflich. Meistens. Niemand beklagte sich über Körpergeruch oder abgedroschene Witze. Niemand spielte Disks oder Videos ab, ohne einen Ohrstöpsel zu benutzen, außer wenn alle zuhören oder zusehen wollten. Wenn sich zwei zusammentaten, um miteinander zu schlafen, hielten sie den Mund, sowohl während des Akts als auch hinterher. Meistens.

Dennoch gab es Spannungen. Possum Craig wurde ein bisschen wegen seiner Nase aufgezogen, aber Jamies Ansicht nach war er empfindlich, was seinen Status als Handwerker des Teams betraf. Er war ein ausgebildeter Wissenschaftler, wie Jamie wusste, hatte aber immer nur bei Erdölfirmen statt an Universitäten gearbeitet. Die anderen Wissenschaftler blickten unbewusst auf ihn herab.

Vijay Shektar schien permanent auf der Hut vor sexuellen Annäherungsversuchen zu sein. Bei ihrer ersten Begegnung war sie Jamie wie eine attraktive junge Frau erschienen, aber nach dem monatelangen Eingepferchtsein im Raumschaff nahm sie für ihn allmählich die Züge einer jener sinnlichen Tänzerinnen in den Schnitzereien an der Fassade eines Hindu-Tempels an. Den anderen Männern ging es offenbar genauso, aber mit ihrer scharfen Aussie-Zunge machte sie jeden Mann zur Schnecke, der es bei ihr versuchte. Es dauerte mehrere Wochen, bis Tomas Rodriguez sich endlich geschlagen gab.

Fuchida war für Jamie schwerer zu ergründen. Er war stets außerordentlich höflich und schien sich in den beengten Räumlichkeiten absolut wohlzufühlen, aber sein Blick wirkte traurig und melancholisch, als sehnte er sich nach einem unwiederbringlich verlorenen Paradies. Jamie fragte sich, was den japanischen Biologen derart beschäftigte: War es etwas in seiner Vergangenheit, das ihm zusetzte, oder machte er sich Sorgen über Dinge, die noch in der Zukunft lagen?

Die andere Biologin, Trudy Hall, wirkte sehr distanziert; sie war intelligent und fast immer freundlich, aber keineswegs kontaktfreudig. Sie ging ihrer eigenen Wege und verbrachte ihre Zeit größtenteils mit Arbeit, meistens mit Fuchida zusammen.

Anastasia Deschurowa war das genaue Gegenteil: Stacy wirkte düster, missmutig und abweisend, aber wenn man mit ihr sprach, kam sie aus sich heraus und erwies sich als freundliche, sympathische, überaus tüchtige Frau. Sie war starkknochig und um die Mitte herum eher füllig; ihre Bewegungen waren langsam, ihre Reflexe jedoch blitzschnell. Bei einem obligatorischen Trainingsprogramm in den Badlands von Dakota hatte Jamie gesehen, wie sie mit bloßer Hand eine Feldmaus gefangen hatte, die schnuppernd in ihr Zelt gekommen war. Dann hatte sie das zu Tode erschrockene Nagetier ins Gestrüpp hinausgetragen und freigelassen.

Mit mehr als einem Dutzend Weltraumflügen für die Russen war Deschurowa die Ranghöhere der beiden Astronauten des Teams; außerdem war sie Jamies Stellvertreterin. Zusammen mit Rodriguez und im Verlauf der Wochen auch mehr und mehr mit Craig wartete sie die Ausrüstung und führte auf Geheiß der Astronomen auf der Erde die astronomischen Experimente durch.

Falls sich Rodriguez in seinem Machismo bedroht fühlte, weil er ihr unterstellt war, so ließ er es sich nicht anmerken. Tomas schien ein liebenswürdiger, unbeschwerter Bursche zu sein, obwohl Jamie sich fragte, wie lange er auf so engem Raum mit den drei Frauen zusammenleben konnte, ohne dass es Probleme gab.

Dex Trumball irritierte Jamie am meisten. Dex mit seinem großspurigen, attraktiven Grinsen und seinen geschliffenen Manieren. Ein junger Mann aus reicher Familie, der in seinem ganzen Leben noch nie um etwas hatte kämpfen müssen. Sein Vater war eine treibende Kraft bei der Finanzierung dieser Expedition gewesen, aber Dex wäre ohnehin ins Team aufgenommen worden, weil er ein so guter Geophsyiker war. Immerhin — abgeschlossenes Studium in Yale, Promotion in Berkeley, dazu brillante Arbeit über die lunaren Mascons.

Die mehrmonatige Reise zum Mars verlief weitgehend reibungslos, bis auf einen Abbruch aller Verbindungen, als sich die Hauptantenne in Reaktion auf einen fehlerhaften Computerbefehl von der Erde wegdrehte. Deschurowa und Rodriguez versuchten einen ganzen Tag lang mit jedem Programmierungstrick, den sie kannten, die Antenne zu entriegeln, aber vergeblich. Schließlich mussten die Russin und Craig in ihre Anzüge steigen und eine EVA unternehmen, um das Steuersystem der Antenne von Hand auszubauen. Anschließend programmierten sie es im Raumschiff, gingen dann erneut hinaus und setzten es wieder ein. Nichts und niemand hatte einen Schaden davongetragen, aber alle waren nervös, bis die Verbindung mit dem Kontrollzentrum in Tarawa wieder stand.

Jamie fiel allerdings auf, dass Trudy Hall aschgrau vor Anspannung war. Als er sich bei Vijay nach ihr erkundigte, erklärte ihm Shektar, sie habe der Biologin ein Beruhigungsmittel gegeben.

Das einzige andere Vorkommnis war eine Sonneneruption, in deren Folge sie dreiundfünfzig Stunden im abgeschirmten Sturmkeller des Raumfahrzeugs verbringen mussten. Trudy hatte vor Angst hyperventiliert, aber ansonsten überstanden es alle unversehrt. Trudy bekam eine Menge spöttische Bemerkungen darüber zu hören, dass sie sich eine Kotztüte vors Gesicht halten und fast zwanzig Minuten hineinatmen musste.

Dann hörte Jamie eines Nachts, als er sich zum Schlafengehen fertig machte — sie hatten etwa die Hälfte der Strecke zum Mars geschafft —, gedämpftes Lachen aus dem Abteil nebenan. Dex' Kabine.

»Was hat er denn jemals getan?«, kam Trumballs Stimme durch die dünne Trennwand zwischen ihren Abteilen. Sie klang anklagend, fast zornig. »Ich meine, worin besteht denn eigentlich sein Beitrag auf dem Gebiet der Geologie?«

Die Stimme, die ihm antwortete, war so leise und gedämpft, dass Jamie nicht mitbekam, was sie sagte. Er konnte auch nicht erkennen, wer da sprach. Es klang wie die Stimme einer Frau, fand er.

»Ich will dir sagen, was für wissenschaftliche Beiträge unser großen Indianerhäuptling geleistet hat«, fuhr Trumball fort, laut und deutlich. »Gar keine. Null. Nada.«

Er spricht von mir, erkannte Jamie.

Die Frau sagte etwas; vom Ton her klang es wie ein Einwand.

»Oh ja, klar, er hat die erste Expedition dazu gebracht, zum Grand Canyon zu fahren, und da haben sie die Flechte gefunden. Aber die Entdeckung hat nicht er gemacht, das waren die Biologinnen. Mag ja sein, dass er eine von ihnen geheiratet hat, aber nicht mal das hat er richtig hingekriegt.«

Die Frau sprach wieder, noch leiser.

»Wenn er keine Rothaut wäre, hätten sie ihn nicht zum Missionsleiter ernannt, das kannst du mir glauben«, beharrte Trumball. »Seine wissenschaftlichen Leistungen sind gleich null. Das war eine rein politische Entscheidung, mehr nicht.«

Trumball fuhr noch eine Weile fort, aber leiser; seine Worte waren jetzt zu gedämpft, als dass Jamie sie verstehen konnte.

Jamie sank auf seine Liege nieder. Er fühlte sich leer, ausgelaugt, besiegt. Trumball hat Recht, erkannte er. Meine fachlichen Leistungen waren nicht gerade überragend. Ich bin nur durch pures Glück ins Team der ersten Expedition gekommen, und jetzt bin ich Missionsleiter, weil ich alle Hebel in Bewegung gesetzt habe.

Er versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht. Denken die anderen genauso über mich? Dulden sie mich nur, weil ich bei der ersten Expedition dabei war? Oder weil ich älter bin als sie alle?

Dann hörte er die Frau kichern. Dex brachte sie mit einem »Pst!« zum Schweigen. Jamie bemühte sich, nicht zu lauschen, drehte sich auf seiner Liege um und drückte sich das schmale Plastikkissen auf den Kopf. Eine Weile blieb es still. Dann ein leises Stöhnen, fast ein Schluchzen. Jamie schloss die Augen ganz fest und versuchte durch reine Willenskraft, auch seine Ohren zu verschließen. Sie stöhnte erneut, diesmal lauter. So ging es eine Stunde lang weiter, wie es ihm vorkam.

Jamie konnte nicht mit Sicherheit sagen, wer die Frau bei Dex war, aber es klang für ihn, als wäre es Vijay.

Es dauerte mehrere Tage, bis er ihr wieder in die Augen schauen konnte. Bis er überhaupt wieder einen der anderen ansehen konnte, ohne sich zu fragen, was in dessen Kopf vorging.

Trumball konnte er jedoch gar nicht mehr ansehen. Bis zu dem Abend, an dem der Konflikt zwischen Dex und ihm zu einem offenen Streit eskalierte.

Fuchida und Hall hielten den übrigen Wissenschaftlern einen Vortrag über die neuesten Erkenntnisse, die man auf der Erde gewonnen hatte. Alle drängten sich auf den Bänken, die den langen Tisch in der Kombüse säumten. Auf den Bildschirmen am gekrümmten Schott waren Mikroaufnahmen der von der ersten Expedition zur Erde mitgebrachten marsianischen Flechtenproben zu sehen.

»Wir wussten schon vor dem Start«, sagte Trudy Hall, die am Kopfende des Tisches stand, »dass die Marsflechte in mehrerer Hinsicht erstaunliche Ähnlichkeit mit irdischen Flechten hat, sich in manchen Punkten aber auch eindeutig von ihnen unterscheidet.

Wie irdische Flechten besteht sie aus Kolonien von Algen- und Pilzgewächsen, die in einer symbiotischen Beziehung zusammenleben, die …«

»Ohne das heilige Sakrament der Ehe?«, witzelte Trumball.

Unbeirrt erwiderte Hall: »Sie reproduzieren sich ungeschlechtlich.«

»Wie frustrierend.«

»Woher willst du das wissen, wenn du's noch nie versucht hast?«

Jamie stützte die Unterarme auf den Tisch und bat leise: »Kommen wir bitte zum Thema zurück.«

Hall nickte und fuhr fort: »Das Interessanteste ist, dass sich in ihren Zellkernen Doppelstrang-Moleküle finden, die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit unserer DNS haben.«

»Ihre genetische Programmierung«, übernahm Fuchida, während er aufstand und sich neben Hall stellte, »scheint unserem genetischen Code sehr ähnlich zu sein.«

Er zeigte auf die Computergrafik einer gewundenen Doppelhelix. »Ihre Gene setzen sich aus vier Basenpaaren zusammen, genau wie unsere.«

Jamie glaubte, ein leises Zittern in Fuchidas Stimme zu hören. Aufregung, die er zu unterdrücken versuchte?

»Du meinst, wir sind mit ihnen verwandt?«, fragte Shektar mit großen Augen und in ehrfürchtigem Ton.

»Nicht unbedingt«, antwortete Fuchida und hob ganz leicht die Hand. »Ihre Basenpaare sind anders zusammengesetzt. Unsere bestehen aus Adenin, Zytosin, Guanin und Thymin. Die marsianischen Basen sind erstaunlich ähnlich in ihrer Funktion, aber von anderer chemischer Zusammensetzung. Sie haben bis jetzt noch keine formellen Namen bekommen. Man nennt sie einfach Mars eins, Mars zwei, Mars drei und …«

»Lass mich raten«, unterbrach ihn Trumball. »Mars vier?«

Fuchida machte eine winzige Verbeugung. »Ja, Mars vier.«

»Na so was, is ja beinahe poetisch«, murmelte Possum Craig.

Während Fuchida und Hall abwechselnd zeigten, wie die marsianische DNS arbeitete, begannen Jamies Gedanken abzuschweifen. Dasselbe System zur Weitergabe der genetischen Informationen von einer Generation zur nächsten, aber eine andere chemische Struktur. Sind wir verwandt? Könnte das irdische Leben auf dem Mars entstanden sein? Oder umgekehrt?

Die anderen diskutierten bereits über denselben Punkt, stellte er fest.

»Is garantiert vom Mars zur Erde gekommen«, beharrte Craig störrisch. »Andersrum geht's nich.«

»Warum nicht?«, fragte Shektar.

»Schwerkraft«, antwortete Trumball. »Es ist viel leichter, einen marsianischen Felsbrocken abzusprengen und in Richtung Erde taumeln zu lassen, als ein Stück von der Erde abzusprengen und es zum Mars zu befördern.«

»Und der Mars ist viel näher am Asteroidengürtel«, meldete sich Rodriguez am Fußende des Tisches zu Wort. »Er wird viel öfter von Meteoriten getroffen als die Erde.«

»Ja, natürlich«, sagte Hall.

»Bei Meteoriteneinschlägen werden marsianische Felsbrocken ins All geschleudert«, fuhr Rodriguez beharrlich fort. »Manche dieser Steinklumpen kommen der Erde so nahe, dass unser Schwerefeld sie erfasst und zum Erdboden runterzieht.«

Sie stürzten sich in eine allgemeine Debatte über die Chancen, dass das Leben auf dem Mars und das auf der Erde irgendwie verwandt sein könnten. Jamie hörte nur mit halbem Ohr zu. Er sann über die Verbindungen zwischen dem Leben auf der Erde und dem Mars nach. Er vergaß Dex und dessen abfällige Bemerkungen, vergaß seine Befürchtungen, was die anderen über ihn denken mochten. Vor seinem geistigen Auge sah er die Felsenbehausung im Grand Canyon des Mars und weitere wie sie, überall in der südwestlichen Wüste.

Tief im Innern spürte er, dass es eine Beziehung gab, es musste sie geben; zwei Welten, die einander nahe genug waren, um Brüder zu sein, und die beide Leben trugen. Sie mussten miteinander verwandt sein. Irgendwann und irgendwie hatte das Leben sowohl die rote Welt als auch die blaue besiedelt. Wie lange mochte das her sein? Wie war es geschehen?

Um das herauszufinden, sind wir hier, antwortete sein rationales Ich.

»Die einheimischen Lebensformen müssten natürlich alle geschützt werden«, sagte Trumball gerade. »Vorausgesetzt, es gibt mehr als eine.«

Jamie wandte seine volle Aufmerksamkeit abrupt ihrer Diskussion zu. »Das ist doch ziemlich abwegig«, meinte Hall, »findest du nicht?«

»Nicht abwegiger, als Leben auf dem Planeten zu finden.« Trumball lehnte sich auf der Bank zurück, bis er mit den Schultern an dem gekrümmten Schott ruhte.

Shektar starrte ihn an. »Glaubst du wirklich, wir könnten die Umwelt des gesamten Planeten verändern?«

»Ihn so erdähnlich machen, dass Menschen ohne Raumanzüge rumlaufen können?« Rodriguez schaute ausgesprochen ungläubig drein.

»Warum nicht?«, gab Trumball lässig zurück. »In der Permafrostschicht gibt's massenhaft Wasser. Das wärmen wir auf, pumpen es hoch und heizen dadurch die Atmosphäre auf. Wir setzen siderophile Bakterien ein. Besäen die Atmosphäre mit blaugrünen Algen, die das Kohlendioxid in der Luft aufsaugen, und schon haben wir eine atembare Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre.«

»In hunderttausend Jahren oder so«, meinte Hall.

»Nun sei doch nicht so phantasielos«, knurrte Trumball. »Es gibt Studien, die zeigen, dass sich das Ganze in einem Zeitraum von ein, zwei Jahrhunderten bewerkstelligen lässt.«

Jamie sah das schiefe, selbstsichere Grinsen auf Trumballs Gesicht und erinnerte sich an sein höhnisches Worin besteht denn eigentlich sein Beitrag zum Gebiet der Geologie?

»Und was passiert mit den einheimischen Lebensformen?«, fragte er ruhig.

»Wie gesagt, die müssen geschützt werden.«

»Mal angenommen, das wär alles machbar«, sagte Craig, »wer soll das finanzieren?«

Trumballs großspuriges Grinsen wurde breiter. »Das ist das Schöne daran. Das Projekt finanziert sich selbst.«

»Wie denn?«

»Kolonisierung.«

»Kolonisierung?«, fragten mehrere Stimmen.

»Klar, warum nicht? Touristen waren doch auch ganz scharf darauf, in dieses Orbitalhotel zu fliegen, oder? Und die Mondbasis baut Einrichtungen für Pensionäre. Warum sollten wir den Mars nicht kolonisieren?«

»Sehr teure Angelegenheit, meinst du nicht?«, sagte Deschurowa.

Jamie merkte, dass etwas wie weiß glühende Lava in seinen Gedärmen zu brodeln begann.

Trumball verschränkte lässig die Finger hinter dem Kopf. »Also, ihr solltet wirklich mal den Kopf aus dem Sand ziehen. Es gibt schon jetzt einen Haufen Leute, die für einen Trip zum Mars bezahlen würden. Und wenn es zehn Millionen Dollar pro Person kostet — was ist das schon für den Generaldirektor von Masterson Aerospace oder den Chef von Yamagata Heavy Industries? Oder für irgendeinen Fernsehstar? Und der Preis wird sinken, sobald wir hier auf dem Mars Anlagen zum Wiederauftanken und zum Anbau von Nahrungsmitteln errichten.«

»Damit man dauerhafte Kolonien auf dem Mars bauen kann«, sagte Rodriguez leise.

»Klar«, wiederholte Dex. »Warum nicht?«

»Guter Gott«, murmelte Hall.

»Die Großkonzerne werden die Führungsrolle übernehmen«, fuhr Trumball fort, »und die Tourismusindustrie wird mit beiden Füßen zugleich reinspringen. Ferien auf dem Mars! Besuchen Sie den Grand Canyon! Besteigen Sie den höchsten Berg im Sonnensystem!«

»Warum nicht gleich mit Skiern runterfahren?«, murmelte Deschurowa.

»Schnee könnten wir auch machen, klar!«

»Aber Touristen bleiben nicht lange …«

»Schon richtig, aber das wird erst der Anfang sein«, gab Dex mit wachsendem Enthusiasmus zurück. »Wir werden Touristeneinrichtungen bauen müssen, stimmt's? Ich sag's euch, das ist die erste Keimzelle von dauerhaften Kolonien.«

»Nein«, sagte Jamie.

Trumball drehte sich langsam zu ihm um, immer noch mit dem schiefen Grinsen auf seinem hübschen Gesicht. »War mir klar, dass du das nicht gut finden würdest.«

»Der Mars wird weder ein Urlaubsort für Touristen noch eine Kolonie werden.«

»Wetten?«

»Ich halte das für totalen Unsinn«, sagte Hall mit einem Schnauben.

»So hat dein Großvater auch über Flitterwochen im Orbit gedacht«, schoss Trumball zurück, »aber jetzt fliegen die Leute zu diesem Zweck dorthin, oder?«

»Das, wovon du da redest«, sagte Deschurowa, »die Umwandlung des ganzen Planeten — das nennt man Terraformen, richtig?«

»Terraformen, stimmt.« Trumball nickte.

Jamie versuchte, die Wut zu bezähmen, die in ihm kochte. »Du willst also den ganzen Planeten verändern, ihn zu einer zweiten Erde machen.«

»Das ist die Grundidee. Damit reduzieren wir die Gefahren für die Besucher. Dann können wir dauerhafte Siedlungen auf dem Mars bauen. Städte, Kolonien.«

»Genau wie die Europäer in Amerika«, sagte Jamie.

Trumball lachte schallend. »Ich wusste, dass dir das gegen den Strich gehen würde. Kulturell bedingte Vorurteile und so weiter.«

»Und du willst die Flechte in ein Reservat stecken, wo die Besucher sie begaffen können.«

Trumballs Grinsen verblasste nicht im mindesten. »Also, nun flipp mal nicht aus, Das ist das kommende Ding. Und du hast mehr als sonst jemand hier dazu beigetragen, es zu ermöglichen.«

»Ach tatsächlich?«

»Aber ja«, sagte Trumball. »Du warst doch derjenige, der bei der ersten Expedition auf die Fahrt zum Grand Canyon gedrängt hat, oder nicht? Ohne dich hätte man die Flechte nie gefunden.«

Jamie fühlte sich plötzlich aus dem Gleichgewicht. Lob von Trumball hätte er als Letztes erwartet.

»Und du hast sogar einen ziemlichen Wirbel um eine Felsenbehausung gemacht, stimmt's?«, fuhr Dex fort. »Also, das wäre doch eine Wahnsinns-Touristenattraktion! Ein echtes marsianisches Dorf. Glaub mir, die Leute würden ein Vermögen dafür bezahlen, es zu sehen.«

»Nicht, solange ich lebe«, sagte Jamie mit aller eisernen Härte, die er in sich spürte.

»Du wirst es nicht verhindern können, Chief«, sagte Trumball genauso stahlhart. »Es ist unvermeidlich. Wir kommen, wir sehen, wir erobern.«

»Nicht, solange ich lebe«, wiederholte Jamie. Dann fügte er hinzu: »Und auch nicht, solange du lebst.«

»Ach nein? Was wollen wir wetten, dass bei der nächsten Expedition zum Mars schon Touristen dabei sind? Nur ein paar stinkreiche alte Fürze, denen es nichts ausmacht, ein paar Millionen hinzublättern, um sich zu beweisen, was für knallharte Typen sie sind. Aber sie werden kommen.«

»Journalisten vielleicht«, meinte Fuchida leise.

»Und den Mars kaputtmachen, so wie die Europäer alles kaputtgemacht haben, worauf sie ihren Fuß gesetzt haben«, sagte Jamie.

»Was heißt kaputtgemacht?«, konterte Trumball. »Wenn deine hochverehrten amerikanischen Ureinwohner sich durchgesetzt hätten, würdest du jetzt nicht zum Mars fliegen. Du würdest noch Büffel jagen und Decken weben.«

Jamie stand auf. Er war so wütend, dass er befürchtete, er könnte die Beherrschung verlieren.

Er zeigte mit dem Finger auf Trumball, als würde er eine Pistole auf ihn richten. »Niemand wird den Mars versauen, Dex. Weder du noch sonst jemand. Das schwöre ich dir.«

Dex grinste träge. »Wie willst du uns denn daran hindern, Chief?«

Darauf hatte Jamie keine Antwort.

MORGEN: SOL 3

Jamie stand allein in der uralten Stadt. Die heiße Sonne am klaren goldenen Himmel war so hell, dass ihr greller Widerschein auf den Alabastergebäuden ihm schmerzhaft in die Augen stach. Es war ein gutes Gefühl, die Sonnenwärme auf der nackten Haut zu spüren. Nichts rührte sich in der verlassenen, stillen Stadt, aber sie war so schön wie an dem Tag, als die Erbauer ihre Arbeit beendet hatten.

Während Jamie barfuß den Platz im Zentrum überquerte, fragte er sich, wo die Menschen sein mochten, die diesen wundervollen Ort erschaffen hatten. Links und rechts von ihm standen die kannelierten Säulen prächtiger Tempel. Vor ihm erhob sich ein Palast, dessen Stufen bis in den Himmel reichten.

Wohin sind sie alle verschwunden?, fragte er sich.

Auf einmal wurde die friedliche Stille vom Getöse Tausender Menschen zerbrochen, die sich von allen Seiten auf den Platz ergossen; in nicht enden wollenden Scharen strömten sie herbei, Männer, Frauen und Kinder mit kurzen Hosen, T-Shirts und Baseballkappen, die mit ihren Fotoapparaten knipsten, was ihnen vor die Linse kam, Burger mit Fritten mampften und Saft aus Plastikbechern tranken.

Einige der Leute kannte er. Er sah eine schöne dunkelhäutige Frau in einem smaragdgrünen Tanga, die lang ausgestreckt auf einem der hohen Tempelsimse lag; sie sonnte sich, allein und abseits des Menschengewühls, in dem er immer wieder angerempelt wurde.

Der Lärm von Hammerschlägen und Motorsägen ließ die Luft erzittern; Baukräne ragten in den Himmel, während immer mehr Menschen in die alte, zum Untergang verurteilte Stadt drängten.

Ein hagerer Mann mit harten Augen und kahlrasiertem Schädel dirigierte die Menge; jedes Mal, wenn er irgendwohin zeigte, hasteten Leute dorthin.

»Ihr geht dort rüber zu dem Tempel. Schaut euch die Wandbilder gut an, bevor wir ihn abreißen und mit nach Hause nehmen. Die anderen können einstweilen in dem neuen Fast-Food-Laden, den wir gerade bauen, einen Imbiss zu sich nehmen.«

Der Mann blickte in Jamies Richtung und schien ihn zu erkennen. »Du hast hier nichts zu suchen!«, rief er wütend. »Was machst du außerhalb deines Reservats?«

Jamie erkannte den Mann. Es war Darryl C. Trumball. Und direkt hinter ihm stand sein Sohn, Dex, mit einem blasierten Grinsen im Gesicht.

Jamie schlug abrupt die Augen auf. Er schwitzte, und seine Beine hatten sich im Bettlaken verheddert. Ein paar Zentimeter über ihm war die obere Liege des Rovers, die unter Dex Trumballs Gewicht ein wenig durchhing. Jenseits des Durchgangs schliefen die beiden Frauen.

Er blinzelte und rieb sich die Augen. Er hatte geträumt, aber er konnte sich nicht mehr an den ganzen Traum erinnern. Etwas mit Menschenmassen in grellbunten Sporthemden und Badeanzügen, die über das kahle Antlitz des Mars ausschwärmten und tonnenweise leere Bierdosen und Fast-Food-Styroporpackungen in der rostroten Landschaft zurückließen. Ein verstörender Traum, dessen zentraler Bedeutungsgehalt ins Nichts entglitt, als Jamie sich die Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen versuchte.

Trumball war in dem Traum vorgekommen. Und Vijay Shektar, die einen knappen Bikini statt des Expeditionsoveralls trug.

Jamie schüttelte den Kopf, um die Überreste des Traums loszuwerden, und schlüpfte dann leise aus seiner unteren Koje, ohne Dex zu stören. Er warf einen verstohlenen Blick auf den jüngeren Mann; Trumballs Gesicht war friedvoll und entspannt. Keine Albträume für ihn. Auf der anderen Seite des schmalen Gangs lag Stacy Deschurowa mit dem Gesicht zur Wand; sie hatte die Knie angezogen und sich zusammengekuschelt. Auf der oberen Liege lag Trudy Hall auf dem Rücken, die Stirn leicht gerunzelt. Jamie verspürte fast so etwas wie Schuldbewusstsein, weil er sie im Schlaf betrachtete. Seelendieb, dachte er. Lass sie ihre Träume allein träumen.

Er nahm seinen zerknitterten Overall und tappte zum Waschraum. Als er wieder herauskam, waren die anderen drei allesamt wach, saßen auf den Rändern ihrer Liegen, gähnten und rieben sich den Schlaf aus den Augen.

Jamie ging nach vorn ins Cockpit und zog den Thermovorhang von der Windschutzscheibe zurück.

Und stieß einen Laut der Überraschung aus.

Der Nebel. Er hatte den Nebel vergessen, der manchmal von der Talsohle aufstieg. Jetzt, wo die Sonne erst knapp über dem östlichen Horizont stand, war das Tal von perlgrauem Dunst erfüllt, der in der morgendlichen Brise sanft wogte, wie die leise dahinplätschernden Wellen eines friedlichen Meeres, wie der leichte, rhythmische Atem einer Welt.

»Kommt her und schaut euch das an!«, rief er zu den anderen nach hinten.

Trumball war im Waschraum, aber die beiden Frauen tappten barfuß zum Cockpit.

»Oohh«, hauchte Trudy Hall. »Ist das schön

Stacy Deschurowa nickte und fuhr sich mit einer Hand durch das strähnige blonde Haar. »Schön ist es, das stimmt. Aber wie wollen wir da durchkommen?«

Die aufgehende Sonne brannte den Nebel weg, und Jamie erinnerte sich, dass es damals, als er den Canyon zum ersten Mal gesehen hatte, genauso gewesen war.

Nachdem sie gefrühstückt und die Motoren des Rovers gestartet hatten, machte Deschurowa sich keine Sorgen mehr, dass sie in den Nebel hineinfahren mussten.

»Bis wir da sind, hat die Sonne ihn vollständig weggebrannt«, sagte sie, während sie am Rand des Canyons entlangfuhr.

»Da ist er«, rief Jamie und zeigte hin. Sein ausgestreckter Finger stieß beinahe an die gewölbte Windschutzscheibe des Rovers.

»Ich sehe ihn«, sagte Deschurowa.

Der Erdrutsch war noch da. Jamie hatte es gewusst. Mehrere tausend Millionen Tonnen abgesackten Erdreichs verschwinden nicht einfach im Lauf von sechs Jahren, aber er verspürte einen Kitzel der Erleichterung und der Erregung, dass er noch da war, wie eine von den Göttern für sie vorbereitete Rampe, über die sie zum Grund des Canyons hinabfahren konnten.

Ein Schatten huschte über sie hinweg, und sie blickten beide nach oben. Einer der Schwebegleiter, den Rodriguez vom Basislager aus steuerte; mit seinen Kameras und seinem Radar erkundete er das Terrain vor ihnen. Jamie schaltete das Kamerabild des Schwebegleiters auf den Bildschirm an der Kontrolltafel des Rovers. Die Rampe sah noch genauso aus wie damals. Er kniff die Augen fest zusammen und versuchte, die Spuren zu erkennen, die ihre Fahrzeuge beim ersten Mal hinterlassen hatten. Aber die unermüdlichen Winde des Mars hatten sie ausgelöscht, hatten sie mit feinem, stark eisenhaltigem Sand aufgefüllt.

»Gib mir das Radarbild«, befahl Deschurowa. Die Radardaten konnten ihnen Aufschluss über die Bodenbeschaffenheit geben. Bei der ersten Expedition hatten sie einen Rover verloren, weil er in einem alten Krater voller trügerischem, feinem Staub stecken geblieben war, der das halbe Fahrzeug wie Treibsand verschluckt hatte. Jamie wusste, dass er immer noch dort war, bis zur Hälfte im Staubteich versunken. Wenn wir ihn herausziehen könnten, hätten wir ein zusätzliches Fahrzeug, mit dem wir arbeiten könnten. Jamie tat die Idee mit einem Kopfschütteln ab. Wir sind hier, um die Flechte unten am Boden des Canyons zu studieren, nicht, um alte Ausrüstungsgegenstände zu bergen.

»Vorsichtig jetzt«, murmelte Jamie, als Deschurowa den Rover zentimeterweise über den Canyonrand bugsierte. Sie schaute starr nach vorn, den steilen Hang hinunter, obwohl ihr Blick alle paar Sekunden zum Radarschirm zuckte, wie der einer unerfahrenen Pianistin, die zwischen ihren Noten und der Tastatur hin und her schaut.

»Nur die Ruhe«, flüsterte Deschurowa halb zu sich selbst.

Jamie spürte die Erschütterung, mit der jeder Rädersatz über den Randfelsen holperte. Er starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen und fühlte sich beinahe wie in einem Flugzeug, das zum Sturzflug ansetzte. Deschurowa war übers Lenkrad gebeugt und hielt es mit beiden Händen umklammert. Ihre Knöchel waren nicht weiß, wie Jamie sah, aber ihr Griff war auch alles andere als locker.

»Schaut euch das an!«, ertönte Trumballs aufgeregte, beinahe schon ängstliche Stimme hinter Jamies Sitz. »Als säße man in einem manövrierunfähigen U-Boot, das mit der Nase voran in die Tiefe sackt!«

»Kein besonders schöner Vergleich«, bemerkte Trudy Hall. Jamie warf den beiden über die Schulter hinweg einen Blick zu. Trumball sah aufgeregt aus, wie ein Junge, der gleich einen Bungeesprung von einer hohen Brücke machen würde. Hall wirkte kühl, fuhr sich aber immer wieder mit der Zunge über die Lippen. Nach einer kurzen, angespannten Stille richtete Deschurowa sich aus ihrer verkrampften Haltung auf und grinste. »Kinderspiel.« Die anderen entspannten sich alle drei. Dass Jamie den Atem angehalten hatte, merkte er erst, als er ihn mit einem großen Seufzer der Erleichterung ausstieß.

»Die einzige gefährliche Stelle, auf die wir gestoßen sind, war dieser mit Staub gefüllte Krater«, sagte er, als hätte Deschurowa das nicht schon tausendmal gehört. »Obwohl es andere gefährliche Stellen geben könnte, an denen wir vielleicht bloß zufällig vorbeigefahren sind«, setzte er hinzu.

»So ist's richtig«, sagte Trumball. »Man muss die Sache positiv sehen.«

»Ach, halt den Mund, Dex«, sagte Hall verärgert. Sie klappte den Notsitz hinter Jamie herunter und ließ sich darauf nieder, um ihre langsame Abfahrt zur Talsohle etliche Kilometer voraus zu verfolgen. Trumball ging wieder zum rückwärtigen Ende des Moduls.

»Willst du dir das nicht anschauen?«, rief Hall zu ihm nach hinten.

»Nicht bloß anschauen«, rief er zurück. »Ich möchte sicherstellen, dass es in die VR-Datenbasis aufgenommen wird. Die Leute daheim flippen aus, wenn sie das sehen!«

»Wird alles aufgezeichnet«, sagte Deschurowa.

»Will's nur überprüfen«, erwiderte Trumball. »Jawoll. Jedes Pixelchen kommt rein, live und in Farbe. Fehlt nur noch, dass Tars Tarkas da draußen steht und uns begrüßt.«

»Tars Tarkas?«, fragte Jamie.

»Ein knapp fünf Meter großer, grüner, vierarmiger Marsianer«, erklärte Hall mit sichtlichem Abscheu. »Aus irgend so einem wüsten SF-Schmöker, den Dex in seiner vergeudeten Jugend gelesen haben muss.«

»Klingt, als hättest du ihn auch gelesen, Verehrteste«, sagte Trumball, während er wieder nach vorn ins Cockpit kletterte.

Hall erwiderte: »Du bist nicht der Einzige mit einer vergeudeten Jugend, Dex.«

Trumball nahm auf dem anderen Notsitz Platz, und sie verstummten alle für eine Weile. Jamie bot Deschurowa an, sie am Steuer abzulösen, aber sie schüttelte den Kopf.

»Ich will nicht anhalten. Außerdem ist es nicht so schlimm, wie ich dachte.«

Jamie nickte, dann wurde ihm klar, dass er vor sechs fahren am Steuer gesessen hatte, als der Rover in die Sandfalle gepflügt war. Natürlich waren sie alle elend krank gewesen vom Skorbut, aber trotzdem, er hatte das Fahrzeug gelenkt, er hatte sie in diese schlimme Lage gebracht.

»Schaut!«, rief Trumball. »Ich sehe ihn!«

»Der alte Rover«, sagte Jamie.

Er sah wie eine riesige metallene Raupe aus, die sich in den Boden zu graben versuchte. Das vordere Modul steckte bis zur Hälfte im Sand. An der linken Seite hatte sich vom Wind angewehter Staub aufgehäuft; die rechte Seite war helles, nacktes, vielleicht sogar blank gescheuertes Aluminium.

»Er ist also noch da«, sagte Hall.

Trumball lachte. »Wieso, hast du gedacht, jemand hätte ihn mitgenommen?«

»Wohl kaum.«

»Vielleicht sollten wir's tun«, sagte er.

»Was?«

»Den alten Rover mitnehmen.«

Jamie warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Was meinst du, großer Häuptling?«, fragte Trumball. »Wenn wir ihn aus dieser Sandfalle rausziehen könnten, hätten wir einen zusätzlichen Rover zum Spielen.«

»Wir brauchen keinen zusätzlichen Rover«, sagte Jamie.

Deschurowa war noch langsamer geworden, während sie in einigem Abstand zu dem trügerischen, mit Sand gefüllten Krater vorsichtig um den Bereich herummanövrierte. Sie sahen alle den schwachen Umriss des Kraters und die kleinen Sandkämme darin, wie kleine Wellen in einem Teich. Jamie war zu krank und zu erschöpft gewesen, um sie zu bemerken, als er den Rover in die Sandfalle gelenkt hatte.

»Klar könnten wir einen zusätzlichen Rover brauchen«, sagte Trumball in von Enthusiasmus befeuertem Ton.

»Wir haben nur acht Leute hier, Dex«, sagte Jamie. »Und nur drei qualifizierte Fahrer. Wir …«

»Wenn du einen Rover fahren kannst«, fiel ihm Trumball ins Wort, »dann kann ich's garantiert auch. Wir haben alle in den Simulatoren geübt.«

»Die Exkursionen sind in allen Einzelheiten geplant, Dex. Wozu brauchen wir einen weiteren Rover?«

Trumballs Grinsen war strahlend. »Um uns den Pathfinder zu holen.«

»Den Pathfinder?«, entfuhr es Jamie und Deschurowa wie aus einem Munde.

»Na klar! Der steht bei der Sagan-Station, drüben im Ares Vallis. Und der kleine Sojourner-Buggy auch!«

»Das sind über tausend Kilometer, Dex«, sagte Deschurowa.

»Eher viertausend«, gab Trumball zu, »von unserem Basislager aus.«

Sie fuhren langsam an dem alten Rover vorbei, krochen über den festeren Boden dahin, dort, wo Jamie gegangen, getaumelt, gekrochen war, um eine Sicherheitsleine zu den Russen zu bringen, die gekommen waren, um sie zu retten.

»Wir könnten doch zumindest mal anhalten und nachsehen, ob die alte Karre noch zu benutzen ist«, drängte Trumball.

Mit einem Blick zu Deschurowa, die den Rover noch mehr abbremste, fragte Jamie: »Wozu? Wie willst du nach Ares Vallis kommen, selbst wenn wir den Rover bergen?«

Mit einem noch breiteren Grinsen sagte Trumball: »Also, ich habe folgenden Plan. Falls der alte Rover zu benutzen ist, fahren wir ihn zur Basis zurück. Oder schleppen ihn höchstwahrscheinlich hin.«

»Wir sollen ihn schleppen?«, brummelte Trudy Hall.

Trumball beachtete sie nicht. »Dann reparieren Wiley und ich alles, was repariert werden muss, bis er wieder voll funktioniersfähig ist.«

Stacy Deschurowa fragte lakonisch: »Würden Sie von diesem Mann einen Gebrauchtwagen kaufen?«

»Dann fahre ich damit zur Sagan-Station und hole mir die Pathfinder-Sonde und den Sojourner.«

»Aber wozu?«, wollte Hall wissen.

Trumball bedachte sie mit einem mitleidigen Blick. »Hast du eine Ahnung, wie viel ein Museum für dieses Material zahlen würde? Das Luft- und Raumfahrtmuseum in Washington, beispielsweise?«

»Nicht viel«, sagte Deschurowa. »Denk daran, das ist eine staatliche Einrichtung.«

»Okay, was ist mit Disney? Oder einem dieser Casinos in Las Vegas? Oder irgendwelchen großen Unterhaltungskomplexen in Japan oder Europa?«

»Mit wie viel rechnest du denn?«, fragte Hall.

Statt direkt darauf zu antworten, erwiderte Trumball: »Eins kann ich euch sagen, es wird ein Haufen Geld sein. Für wie viel ist dieses Bild von Picasso letztes Jahr über den Tisch gegangen? Fünfzig Milliönchen? Und das war nur ein Stück Leinwand mit ein paar draufgeschmierten Farben. Wir sprechen von einer kompletten Raumsonde, die auf dem Mars gewesen ist, verdammt noch mal!«

»Glaubst du wirklich …?«

»Das wird einen richtigen Run auslösen«, behauptete Trumball eifrig. »Die ganzen großen Player werden sich voll reinschmeißen. Die Disney-Manager. Die Trumps und Yamagatas und wer nicht alles. Die treiben den Preis in Nullkommanichts auf eine Milliarde hoch.«

»Aber das Ding gehört dir doch gar nicht«, wandte Hall ein. »Es ist Eigentum der NASA, oder nicht? Oder der amerikanischen Regierung.«

Trumball wackelte mit dem Kopf. »Nee! Ich hab's nachgeschlagen. Es gibt das Bergungsgesetz …«

»Das bezieht sich auf gesunkene Schiffe«, sagte Hall.

»Oder auf Schätze«, fügte Deschurowa hinzu.

»Es bezieht sich auf Sachen, die verloren oder aufgegeben worden sind«, erwiderte Trumball in bestimmtem Ton. »Gilt im Weltraum genau wie auf der Erde. Dieser Typ — wie hieß der gleich noch? Gunn, oder? Der hat den ersten Vanguard-Satelliten geborgen, glaube ich. So was in der Art. Es ist Bergungsgut.«

»Das heißt, wenn man's sich schnappen kann, gehört es einem?«, fragte Hall.

»Jawoll«, erwiderte Trumball forsch.

Jamie sah, dass sie an dem halb begrabenen Rover vorbeigefahren waren. Der Boden des Canyons war jetzt nur noch ein paar Klicks entfernt; er war immer noch in Nebelranken gehüllt, die jedoch allmählich dünner wurden. Der Gedanke, die alte Pathfinder-Sonde von ihrem Landeplatz wegzuholen, beunruhigte Jamie tief unterhalb der rationalen Ebene. Es hatte etwas von einem Sakrileg, von der Entweihung eines heiligen Ortes.

Aber er hielt den Mund, weil er wusste, dass seine Stimme sonst von Zorn erfüllt sein würde.

Stacy Deschurowa schwieg jedoch nicht. »Selbst wenn wir mal annehmen, du hast Recht, Dex — keiner dieser Rover hat eine Reichweite von achttausend Klicks hin und zurück.«

»Das weiß ich«, sagte Trumball herablassend. »Ich bin ja nicht gehirnamputiert. Wir fliegen den Reserve-Treibstoffgenerator nach Ares Vallis, dann kann der Rover dort aufgetankt werden, wenn er ankommt.«

»Fliegen den … das ist verrückt!«

»Vorher müssen wir noch den Reserve-Wasseraufbereiter wieder auf den Treibstoffgenerator setzen«, fügte Dex hinzu.

»Noch verrückter.«

»Der Treibstoffgenerator steht nur zwei Klicks von der Basis entfernt, als Ersatzgerät für den Notfall, nicht wahr? Und da der Garten jetzt funktioniert, brauchen wir den zusätzlichen Wasseraufbereiter nicht. Also, warum führen wir sie nicht einer nützlichen Verwendung zu?«

»Wie willst du ihn denn hinfliegen?«, wollte Stacy wissen.

»Die Abstiegstriebwerke haben genug Schub, um ihn auf eine ballistische Flugbahn zu bringen. Ich habe die Zahlen x-mal überprüft. Es wird funktionieren.«

»Den Reserve-Treibstoffgenerator zum Ares Vallis fliegen«, murmelte Deschurowa. »Wahnsinn.«

»Ich kann dir die Computerauswertung zeigen«, sagte Trumball gelassen.

»Diese Abstiegstriebwerke sind nicht für mehrfachen Gebrauch gedacht«, erklärte Deschurowa. »Sie haben nicht genug Schub …«

Trumball wackelte mit dem erhobenen Finger. »Ich hab das alles schon vor Monaten beim Hersteller ausgecheckt, Stacy Baby. Man kann sie problemlos ein halbes Dutzend Mal zünden. Und wenn sie's schaffen, den Vogel weich landen zu lassen, dann kriegen sie ihn auch wieder hoch. Hier geht's ja nicht um den Orbit, sondern nur um einen kleinen Hüpfer über die Wüste.«

»Wenn es nicht funktioniert …«

»… verlieren wir im schlimmsten Fall den Reserve-Treibstoffgenerator. Im besten Fall holen wir uns eine Raumsonde im Wert von einer Milliarde Dollar, die wir bei Sotheby's versteigern können.«

Jamie saß da und ließ Stacy und Dex diskutieren. Ich will mich da nicht einmischen, sagte er sich. Aber er wusste, dass letzten Endes und unausweichlich er derjenige sein würde, der die eigentliche Entscheidung treffen musste.

Trudy Hall zog eine ironische Grimasse. »Warum holen wir uns nicht auch noch einen der ursprünglichen Viking-Lander, wenn wir schon mal dabei sind?«

»Zu groß«, antwortete Trumball nüchtern. »Pathfinder ist klein genug, dass wir ihn mitnehmen können. Die Vikings sind große Kästen.«

»Es gibt noch ein halbes Dutzend weiterer Lander, die überall auf dem Planeten verstreut sind«, sagte Deschurowa.

Trumball nickte. »Die meisten sind zu groß oder zu weit weg. Außerdem: Wenn wir zu viele alte Raumsonden mit nach Hause nehmen, sinkt ihr Wert. Man muss die Sache schon ein bisschen clever anfangen, Kinder.«

Er denkt schon lange darüber nach, erkannte Jamie. Hat Computerauswertungen durchgeführt. Dex tut nichts, ohne vorher alles genauestens zu planen.

Sie ließen den alten Rover hinter sich zurück. Der Nebel auf dem Boden des Canyons löste sich auf.

Trumball tippte Jamie auf die Schulter. »Na, großer Häuptling, was meinst du dazu?«

Jamie verzog das Gesicht wegen Trumballs ethnischer Stichelei, sagte aber nur: »Ich denke, deine Idee wird bis zur nächsten Expedition warten müssen, Dex.«

»Hab ich mir gedacht, dass du so was in der Art sagen würdest«, erwiderte Trumball.

Jamie hatte erwartet, dass er mürrisch und ungehalten auf seine Ablehnung reagieren würde. Stattdessen sah Trumball aus wie ein junger Mann, der noch ein Ass im Ärmel hatte.

»Wie wär's mit einer Abmachung«, schlug er vor, und sein Lächeln wurde listig. »Ich hole mir den Pathfinder, und du kannst auf die Suche nach deinen Felsenbehausungen gehen.«

DOSSIER: C. DEXTER TRUMBALL

Ganz egal, wie gut er seine Sache machte, ganz egal, was er erreichte, Dex Trumball konnte seinen kalten, gleichgültigen Vater nie zufrieden stellen.

Darryl C. Trumball war ein Selfmademan, wie er allen und jedem lauthals erklärte. In einer von Dex' frühesten Erinnerungen drängte sein Vater einen amerikanischen Senator bei einer Hausparty in die Ecke und erklärte ihm mit ruhiger Beharrlichkeit, wobei er ihm bei jedem einzelnen Wort auf die Schulter klopfte: »Ich habe mit nichts weiter angefangen als mit meinen bloßen Händen und meinem Gehirn, und ich habe ein Vermögen gemacht.«

In Wahrheit hatte der alte Mann mit einer mageren Erbschaft angefangen: einer heruntergekommenen Autowerkstatt, die am Rande des Bankrotts stand, als Dex' Großvater bei seinem vierten Bier in der Eckkneipe einen Herzschlag bekam und starb. Dex war damals noch ein Baby gewesen, ein Einzelkind. Seine Mutter war hübsch, zerbrechlich und untüchtig gewesen — und völlig außerstande, sich gegenüber ihrem gnadenlos zielstrebigen Ehemann zu behaupten. Dex' Vater, schmal wie eine Messerklinge, schnell und agil, hatte mit einem Leichtathletik-Stipendium das College of the Holy Cross besucht, jedoch ohne einen Abschluss zu machen; stattdessen hatte er das Familiengeschäft übernehmen müssen. Sein Traum, am Boston College Jura zu studieren, wie man es ihm in Aussicht gestellt hatte, zerschlug sich, und ihm blieben nur Verbitterung und Missgunst.

Und eine eisige, unerbittliche Energie.

Darryl C. Trumball lernte rasch, dass Geschäft von Politik abhängt. Obwohl die Autowerkstatt praktisch wertlos war, konnte der Grund und Boden, auf dem sie stand, extrem wertvoll werden, wenn es gelang, darauf luxuriöse Eigentumswohnungen für die höheren Angestellten aus Bostons Finanzdistrikt zu errichten. Er drängte mit aller Macht darauf, dass ein neuer Bebauungsplan für das alte Viertel erstellt wurde, dann verkaufte er die Werkstatt und das Haus seiner Mutter für eine beträchtliche Summe.

Als Dex so weit war, dass er aufs College gehen konnte, war sein Vater sehr reich und in der Finanzwelt für seine kaltblütige Skrupellosigkeit bekannt. Geld war ihm wichtig, und er verbrachte jede wache Stunde damit, nach der Vermehrung seines Reichtums zu streben. Als Dex Interesse an Wissenschaft zum Ausdruck brachte, schnaubte der ältere Trumball verächtlich:

»Auf die Art wirst du deinen Lebensunterhalt nie selbst bestreiten können! Als ich in deinem Alter war, hab ich schon für deine Großmutter, deine beiden Tanten, deine Mutter und dich gesorgt.«

Dex hörte gehorsam zu und schrieb sich trotzdem in Yale ein, um dort Physik zu studieren. Mit seinen Noten an der High School (und dem Geld seines Vaters) wäre er in Harvard und einem halben Dutzend anderer Renommieruniversitäten angenommen worden, aber Dex entschied sich für Yale. New Haven war so nah an Boston, dass er leicht nach Hause kommen konnte, aber auch so weit entfernt, dass er von der frostigen Gegenwart seines Vaters befreit war.

Dex hatte die Schule immer lächerlich leicht gefunden. Während andere über Lehrbüchern brüteten und in Prüfungen schwitzten, bewältigte Dex mit seinem beinahe fotografischen Gedächtnis und seinem Geschick, den Lehrern genau das zu sagen, was sie hören wollten, alles spielend. Seine Beziehungen zu seinen Altersgenossen waren weitgehend genauso: Sie taten fast immer, was er wollte. Dex hatte die brillanten Ideen und seine Freunde den Ärger, wenn sie sie ausführten. Aber sie beklagten sich nie; sie bewunderten seinen Elan und waren dankbar, wenn er sie überhaupt zur Kenntnis nahm.

Mit Sex hatte er ebenso wenig Probleme, obwohl der Campus vielerorts von Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung aufgeladen war. Dex konnte sich die Frauen aussuchen: Je intelligenter sie waren, desto mehr schienen sie im zeitweiligen Sonnenschein seiner Zuneigung zu baden. Und auch sie beklagten sich hinterher nie.

Physik war nichts für Dex, aber er fühlte sich zur Geophysik hingezogen: der Erforschung der Erde, ihres Inneren und ihrer Atmosphäre. Er bekam fast immer nur die besten Noten. An der Uni war er in allem der Beste, vom Fernsehsender bis zur Tennismannschaft. Aber sein Vater war nie zufrieden.

»Ein gebildeter Gammler, das bist du«, höhnte er. »Ich werde dich mein Leben lang unterstützen müssen, und auch noch nach meinem Tod.«

Womit Dex durchaus einverstanden war. Aber tief im Innern sehnte er sich danach, wenigstens einmal ein beifälliges Wort von seinem Vater zu hören. Er wünschte sich inständig, der herzlose alte Mann würde ihn anlächeln.

Eine Vorstellung im Planetarium veränderte sein Leben ein für alle Mal. Dex ging mit seinen Freundinnen gern ins Planetarium. Es war billig, es bewirkte, dass die jungen Frauen von seiner Ernsthaftigkeit und Intelligenz beeindruckt waren, und es war der dunkelste Ort in der Stadt. Wirklich höchst romantisch, mit der Pracht des gestirnten Himmels über einem in der hintersten Reihe zu sitzen.

In einer dieser Vorstellungen ging es um den Planeten Mars. Nach etlichen Fehlschlägen war ein unbemanntes Raumschiff mit echten Proben marsianischen Gesteins und Erdreichs zu einem Labor in der Erdumlaufbahn zurückgekehrt. Jetzt sprach man davon, Forscher zum Mars zu schicken. Auf einmal hörte Dex auf, an der jungen Frau herumzufummeln, und setzte sich kerzengerade hin.

»Es gibt mehr als nur einen Planeten zu erforschen!«, sagte er laut, was ihm einen zischelnden »Pst!«-Chor und dem Mädchen, mit dem er zusammen war, die totale Demütigung bescherte.

Dex verbrachte jenen Sommer an der Universität von Nevada, wo er einen Spezialkurs in Geologie belegte. Im folgenden Sommer nahm er an einem Seminar über planetare Geologie in Berkeley teil. Als die erste Marsexpedition triumphierend mit Proben lebender marsianischer Organismen zurückkehrte, hatte Dex Abschlüsse in Yale und Berkeley in der Tasche. Er ging für ein halbes Jahr in die ewig vor sich hinsiechende Mondbasis-Siedlung, um dort vor Ort über die massiven Meteoriten zu forschen, die tief unter dem Mare Nubium und dem Mare Imbrium begraben lagen.

Zum großen Verdruss seines Vaters.

»Ich zahle dem Staat ein Vermögen an Steuern für diesen Raumfahrt-Kram«, beklagte sich der alte Mann bitter. »Wozu soll das denn gut sein, verdammt noch mal?«

Dex' Vater war jetzt ein Immobilien-Tycoon, der die Finger in mehreren in New England beheimateten Banken hatte und geschäftliche Interessen in Europa, Asien und Lateinamerika verfolgte. Mit seinen weit verstreuten Partnern unterhielt er satellitengestützte elektronische Verbindungen, und er pachtete sogar Raum in einer Orbitalfabrik, die ultrareine Arzneimittel herstellte.

Dex schenkte seinem Vater ein strahlendes Lächeln. »Sei nicht so phantasielos, Dad. Bei der nächsten Expedition zum Mars will ich dabei sein.«

Sein Vater starrte ihn kalt an. »Wann fängst du endlich an, Geld in die Familie zu bringen, statt es wie Wasser zu verschwenden?«

Dex fühlte sich herausgefordert; und da er seinem Vater gefallen und wenigstens einmal dessen Anerkennung gewinnen wollte, platzte er heraus: »Wir könnten mit dem Mars Geld verdienen.«

Sein Vater fixierte ihn mit einem eisigen, ungläubigen Ausdruck in den steinharten Augen.

»Wirklich, ganz im Ernst«, sagte Dex und suchte nach etwas, was den alten Mann überzeugen würde. »Außerdem würdest du damit deinen Namen in die Geschichte einschreiben, Dad. Der Mann, der uns zum Mars zurückgeführt hat. Es wäre ein Denkmal für dich.«

Der Gedanke an ein Denkmal schien Darryl C. Trumball kalt zu lassen. Dennoch fragte er: »Du glaubst, wir könnten mit einer Expedition zum Mars Geld verdienen?«

Dex nickte eifrig. »Ganz recht.«

»Wie?«

In diesem Moment begann Dex, eine von privaten Geldgebern finanzierte Expedition zum Mars zu planen. Natürlich wanderten auch eine Menge Steuergelder in den Topf, aber nachdem er das Interesse seines profitorientierten Vaters gewonnen und erreicht hatte, dass dieser sich mit seinem ganzen Elan für die Sache einsetzte, kamen die Mittel für die zweite Marsexpedition hauptsächlich aus privaten Quellen. Dex war entschlossen, dafür zu sorgen, dass die Expedition Gewinn abwarf. Er wollte das Lob seines Vaters, nur dieses eine Mal. Dann konnte er dem alten Mann sagen, es würde ihn nicht im mindesten kratzen, wenn ihm ein Blutgefäß im Hirn platzte und er tot umfiel.

VORMITTAG: SOL 8

»Die Felsenbehausung?«, fragte Jamie.

Mit einem wissenden Grinsen sagte Trumball gelassen: »Klar. Du willst die Felsenbehausung aufspüren, die du gesehen zu haben glaubst, und ich will mir die Pathfinder-Sonde holen. Eine Hand wäscht die andere.«

Jamie warf Stacy Deschurowa, die neben ihm auf dem Fahrersitz saß, einen raschen Blick zu. Der Rover war fast am Fuß des Erdrutsches angelangt. Das morgendliche Sonnenlicht hatte den Boden des Canyons erreicht und den Nebel vertrieben.

»Ich habe von deinen Felsenbehausungen gehört«, sagte Trudy Hall hinter Jamie ganz leise, als wäre das ein brisantes Thema.

»Es ist nur eine«, verbesserte Jamie, »und es ist nicht meine Felsenbehausung.«

»Aber du bist der Einzige, der glaubt, dass es sich um ein Artefakt handelt«, betonte Trumball.

»Sie steht nicht auf dem Missionsplan.« Halls Stimme war immer noch gedämpft, fast ängstlich.

»Der Plan lässt uns eine Menge Spielraum«, erklärte Jamie.

»Jedenfalls genug, um den alten Rover zu bergen und uns den Pathfinder zu holen«, sagte Trumball munter.

»Vielleicht.«

»Warum nicht? Wir könnten die alte Karre auf dem Rückweg aus dem Sand ziehen.«

Jamie nickte langsam. Seine Gedanken rasten. Ich bin der Missionsleiter, sagte er sich. Ich kann eine Exkursion zu der Felsenbehausung ansetzen, wann immer ich es für richtig halte. Ich brauche weder seine Erlaubnis noch seine Mitarbeit. Ich muss ihm diesen verrückten Ausflug zum Pathfinder nicht erlauben. Ich muss ihn nicht bestechen, um zu tun, was ich will.

Dennoch hörte er sich sagen: »Auf dem Rückweg zur Basis halten wir bei dem alten Rover an und untersuchen ihn, Dex.«

»Prima!«

»Das heißt nicht, dass wir noch mehr tun«, warnte ihn Jamie. »So weit stimme ich mit dir überein: Wir sollten nachsehen, ob der alte Rover noch zu benutzen ist.«

»Ist er bestimmt.«

»Weil du es so willst?«

»Weil es so ist«, sagte Dex mit der felsenfesten Gewissheit eines kleinen Jungen, der noch an den Weihnachtsmann glaubt.

Drei Tage lang studierte Trudy Hall die Flechte, die unmittelbar unter der Gesteinsoberfläche am Fuß der Steilwand des Canyons lebte. Drei Tage und drei Nächte.

Hall wollte die Organismen in ihrem natürlichen Habitat studieren, insbesondere ihre Tag- und-Nacht-Zyklen. Da sie die Flechte deshalb nicht stören durfte, arbeitete sie hauptsächlich mit Fernerkundungssensoren. Sie machte Fotos, brachte Thermometer an, um permanent die Außen- und Innentemperatur des Gesteins aufzuzeichnen, nahm Proben von den Marsluft-Mikrometern in der Flechte und überwachte mit Infrarotkameras den Wärmestrom aus Steinen mit und ohne Flechten. Am zweiten Tag begann sie, direktere Untersuchungen an einigen Flechten vorzunehmen: Mit Jamies Hilfe führte sie Sonden in mehrere Steine ein, um chemische Mengenverhältnisse zu messen.

Trumball sammelte unterdessen Gesteinsproben, holte oberflächennahe Kerne herauf (ohne irgendwo auf Permafrost zu stoßen) und begann mit der detaillierten geologischen Kartierung des Gebiets. Und er stellte natürlich ein halbes Dutzend Geo/Met-Baken entlang eines sorgfältig abgesteckten Pfades auf, der parallel zur Felswand verlief. Jamie half ihm. Dex ließ ein paar Sprüche darüber vom Stapel, dass der Missionsleiter als sein Assistent fungierte. Jamie überging sie kommentarlos.

»Wir müssen uns Proben aus der Felswand selbst besorgen«, erklärte er Jamie am zweiten Abend ihres Aufenthalts im Canyon. »Und Baken darin anbringen.«

Jamie nickte zustimmend. Sie standen im Innern des Rovers, direkt bei der Luftschleuse, und saugten mit schnurlosen Handsaugern den Staub von ihren Anzügen. Der marsianische Staub roch so stechend nach Ozon, dass einem die Augen tränten, wenn er nicht sofort entfernt wurde.

»Immer noch kein Permafrost?«, fragte Jamie über das Heulen des Staubsaugers hinweg.

»Keine Spur. Muss tiefer unter der Oberfläche sein. Hier unten ist es ein paar Grad wärmer, weißt du.«

»Aber die Wärmestrommessungen …«

»Ja, ich weiß«, unterbrach ihn Trumball und bückte sich, um seine Stiefel zu reinigen. »Der Wärmestrom aus dem Innern ist hier schwächer als oben.«

»Trotzdem kein Permafrost.«

»Er muss tiefer unten sein.«

Jamie schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Wie kann die Flechte hier leben, wenn weniger Wärme aus dem Innern heraufkommt und das Wasser weiter entfernt ist?«

Trudy Hall, die auf ihrer Liege saß, ihren Laptop auf den ausgestreckten Beinen, rief ihnen zu: »Hört euch meinen Vortrag nach dem Abendessen an, der wird all eure Fragen beantworten.« Dann machte sie ein nachdenkliches Gesicht und fügte hinzu: »Na ja, zumindest einige.«

Halls improvisierter Vortrag begann, nachdem sie die Überreste ihres Abendessens in den Wiederaufbereitungseimer geworfen und den Klapptisch saubergewischt hatten. Jamie holte sich seine zweite Tasse heißen Kaffee und setzte sich dann auf seine Liege. Dex, der neben ihm saß, trank langsam und bedächtig einen Becher Fruchtsaft. Die oberen Liegen waren noch an die gekrümmte Wand geklappt. Stacy Deschurowa war vorn im Cockpit und überprüfte das Diagnosesystem des Rovers, eine lästige Pflicht, der sie sich jeden Abend unterzog.

Hall stellte ihren Laptop auf den Tisch und zeigte den beiden Männern mit Hilfe von Fotos und Grafiken auf dessen Bildschirm, dass die Flechte ihre Wärmeenergie vom Sonnenlicht bezog, das tagsüber die Steine erwärmte — »auf bis zu zwölf Grad Celsius bei direkter Sonneneinstrahlung«, berichtete sie.

»Dann sind sie also nicht auf den Wärmestrom aus dem Boden angewiesen«, sagte Jamie.

»Ganz und gar nicht.«

»Deshalb also …«

»Und nicht nur das«, fuhr sie fort. »Sie sorgen sogar dafür, dass ihre Temperatur immer höher ist als die Umgebungstemperatur!«

»Wie bitte?«

Mit vor Aufregung leuchtenden Augen erklärte Hall den beiden Männern: »Das Gestein, das Flechten enthält, ist sechs bis zwölf Grad wärmer als das Gestein ohne Flechten.«

»Wie machen sie das?«, fragte Trumball.

»Die Flechten speichern Wärme, als wenn sie Warmblüter wären!«

»Aber es sind Pflanzen, keine Tiere«, wandte Jamie ein.

Hall wedelte mit der Hand. »Ich meine natürlich nicht, dass sie wirklich Warmblüter sind. Aber irgendwie schaffen sie es, eine höhere Temperatur beizubehalten als die flechtenfreien Steine. Sie speichern tatsächlich Wärme! Das ist einmalig!«

»Bist du sicher?«

»Wie viel Kälte können sie denn vertragen?«, fragte Trumball.

Hall hob die schmalen Schultern. »Sie existieren schon weiß Gott wie lange. Und die nächtlichen Tiefsttemperaturen liegen weit unter hundert Grad minus.«

»Was ist mit Staubstürmen?«, wollte Jamie wissen.

»Was soll damit sein?«, gab sie zurück.

»Na ja, das Gestein kann manchmal tagelang oder vielleicht sogar noch länger von Staub bedeckt sein …«

»Ah, ich verstehe.« Hall nickte kurz. »Die Flechte muss imstande sein, so eine Abdeckung zu überleben.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich weiß nicht, wie eine Staubschicht die Gesteinstemperatur beeinflussen würde. Ist der Staub ein thermischer Isolator oder würde solares Infrarotlicht ohne größere Absorption durchgehen?«

Jamie und Trumball schüttelten beide den Kopf. Hall gab über die Tastatur ihres Laptops eine Anmerkung ein. »Damit müssen wir uns noch genauer befassen, nicht wahr?«

»Wenn die Flechte ihr Wasser aus der Feuchtigkeit in der Atmosphäre bezieht«, sagte Trumball, »dann würde sie doch austrocknen, wenn sie mehrere Tage mit Staub bedeckt wäre, oder?«

»Offenbar nicht«, erwiderte Hall. »Sonst wäre sie ja schon längst ausgestorben.«

Jamie sagte: »Dann kann sie eine Weile ohne jede Wasserzufuhr überleben.«

»Anscheinend. Sofern sie nicht Wasser aus einer anderen Quelle bekommt.«

»Zum Beispiel?«

Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Dex, du sagtest, du hättest keinen Permafrost im Boden gefunden, ist das richtig?«

»Noch nicht«, antwortete Trumball. »Er könnte tiefer liegen, als ich mit meiner Sonde komme.«

»Hast du die Feuchtigkeit des Erdreichs geprüft?«

Trumball, der neben Jamie auf der Liege saß, hing schlaff an der gekrümmten Wand des Rovers. »Gehört zum automatischen Analyseprogramm. Bisher liegt der Ha-zwei-oh-Gehalt unter der Messgrenze.«

»Die Flechten müssen sozusagen überwintern können«, meinte Jamie. »Wenn sie kein Wasser kriegen, müssen sie imstande sein, ihren Stoffwechselprozess zu verlangsamen und abzuwarten.«

»So machen sie's auf der Erde«, pflichtete Hall ihm bei.

Trumballs Augen leuchteten auf. »Wahrscheinlich gibt's Hydrate im Gestein. Die Flechten können sie vielleicht chemisch aufspalten und ihr Wasser benutzen!«

»Hat jemand …?«

Jamie schnitt Hall das Wort ab. »Es gibt Hydrate im Gestein«, sagte er, mehr zu Trumball als zu Trudy. »Das haben wir auf dem Rückweg von der ersten Expedition festgestellt. Nicht im Gestein oben auf dem Lunae Planum, aber die Steine, die wir hier unten im Canyon gesammelt hatten, enthielten definitiv Hydrate.«

»Wassermoleküle, die in den Silikaten des Gesteins gebunden sind«, sagte Trumball. »Ja.«

Auf der anderen Seite des Tisches setzte Trudy Hall sich aufrechter hin. »Wir müssen feststellen, ob die Flechte Wasser aus den Hydraten extrahieren kann«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte ein wenig vor Eifer.

Sie und Trumball stürzten sich in einen lebhaften Dialog darüber, wie man die Flechte testen könnte. Jamie sah die Aufregung in ihren Gesichtern, hörte die Leidenschaft in ihren Stimmen.

»Wir müssen Proben ziehen und sie zur Basis mitnehmen«, sagte Hall. »Ich habe hier nicht die Geräte für solche Untersuchungen.«

»Nehmen wir ganze Steine und bewahren wir sie in Probenkästen außerhalb des Rovers auf«, empfahl Trumball. »Wir sollten kein Risiko eingehen, sie zu kontaminieren.«

»Richtig. Aber wo können wir sie unterbringen?«

Trumball stand von der Liege auf, ging um den Tisch herum und setzte sich neben sie. Sie beugten sich über den Bildschirm des Laptops; ihre Köpfe berührten sich fast. Stacy Deschurowa kam aus dem Cockpit zurück und warf einen Blick auf die beiden, die miteinander schwatzten und auf der Tastatur des Laptops herumtippten.

»Was ist los?«, fragte sie Jamie.

»Sie versuchen rauszufinden, wo sie außen am Rover ein paar Probenkästen für die Rückfahrt aufhängen können.«

»Außen? Sucht es euch aus. An der Außenhaut gibt's alle paar Meter Befestigungspunkte.«

Nachdem dieses Problem gelöst war, schlüpfte Deschurowa an Jamie vorbei in Richtung Waschraum. Jamie saß allein auf seiner Liege und fühlte sich ausgeschlossen. Sie sind so aufgeregt wegen dieser Sache, dass sie alles andere vergessen, sagte er sich.

Dann blickte Hall vom Bildschirm auf und sagte: »Ist euch eigentlich klar, was das bedeutet? Das mit der Wärmespeicherfähigkeit der Flechte, meine ich.«

Trumball schaute einen Moment lang verwirrt drein.

Jamie begann zu überlegen: Wenn die Steine mit Flechten wärmer sind als die Steine ohne, dann heißt das …

»Wir könnten sie per Satellit kartieren!«, rief Trumball.

»Genau«, rief Trudy. »Die Infrarotsensoren in den Satelliten können Temperaturanomalien am Boden aufspüren …«

»Und die wärmeren Stellen werden die sein, wo die Flechten leben«, beendete Jamie ihren Satz.

»He, auf diese Weise könnten wir innerhalb von ein paar Stunden eine vollständige Karte des ganzen Planeten kriegen«, sagte Trumball. »Die uns genau zeigt, wo es Flechtenkolonien gibt!«

»Länger als ein paar Stunden wird es schon dauern«, dämpfte Jamie ihre Begeisterung. »Wir brauchen mehrere Überflüge, um sicherzustellen, dass die Daten zuverlässig sind, und wir müssen sie für jedes Gebiet mehrfach erheben, um die Temperaturunterschiede festzustellen.«

»Können die Satellitensensoren einen Unterschied von etwa sechs Grad messen?«, fragte Hall.

»Na klar«, sagte Trumball. »Mit Leichtigkeit.«

»Bodentemperaturen, meine ich.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass das kein Problem sein wird, Trudy«, sagte Jamie. »Die Atmosphäre absorbiert nicht viel; sie ist so dünn, dass die Bodenwärme direkt in den Weltraum entweicht. Deshalb wird es jede Nacht so kalt, ganz gleich, wie hoch die Temperatur tagsüber war.«

Sie nickte nachdenklich. »Fünf oder sechs Grad also. Wenn die Satelliten fähig sind, einen so geringen Unterschied zu messen, können wir den ganzen Planeten kartieren und sehen, wo es Flechtenkolonien gibt.«

»Oder andere Lebensformen«, meinte Trumball.

»Bisher haben wir keine gefunden«, sagte sie.

»Das kommt noch«, antwortete Trumball zuversichtlich.

»Hoffentlich.«

»Holen wir uns mal die technischen Daten der Satellitensensoren auf den Bildschirm«, sagte Trumball. »Dann werden wir ja sehen, ob die Infrarotscanner deine Temperaturunterschiede messen können.«

Hall nickte eifrig, und Trumball zog den Laptop zu sich herüber und begann, auf der Tastatur herumzutippen. Jamie stand auf und ging nach vorn ins Cockpit. Wird Zeit, dass ich mich mit der Basis in Verbindung setze und den abendlichen Bericht durchgebe, dachte er.

ABEND: SOL 10

Vijay Shektar hatte gerade Dienst an der Kommunikationskonsole. Sie lächelte Jamie an. »Na, wie sieht's aus, Kamerad?«

»Sehr gut.« Jamie berichtete von ihrer Hypothese über die Flechte, die Wasser aus dem Innern ihres Wirtsgesteins saugte, und die Möglichkeit, den ganzen Planeten nach Flechtenkolonien abzutasten.

»Das ist ja großartig, Jamie«, sagte Shektar mit einem fröhlichen Lächeln.

»Trudy ist wirklich auf Draht«, sagte er. »Sie ist auf dem besten Wege zum Nobelpreis.«

»Schön für sie«, erwiderte Vijay ein bisschen abwesend, wie Jamie fand.

Dann verblasste ihr Lächeln, und sie fragte mit leiserer Stimme: »Wie läuft's zwischen dir und Dex?«

Jamie dachte an den vorletzten Abend, als er mit ihr hatte sprechen wollen, sie jedoch mit Trumball gechattet hatte.

Ohne sich etwas anmerken zu lassen, antwortete er: »Nicht schlecht. Er will den alten Rover bergen.«

»Ja, das hab ich in deinem gestrigen Bericht gelesen.«

»Und zu diesem Zweck hat er versucht, mich zu bestechen.«

»Dich zu bestechen?«

Jamie berichtete ihr von dem Vorschlag mit der Felsenbehausung.

Shektar sagte: »Aber das wolltest du doch ohnehin tun, oder?«

Er musste es zugeben. »Ich hatte es jedenfalls vor. Aber jetzt, wo Dex es offen angesprochen hat, bin ich irgendwie froh drüber.«

»Das ist gut.«

»Äh … du hast doch neulich abends mit ihm gesprochen, nicht?«

Ihr dunkelhäutiges Gesicht zeigte keine Spur von Überraschung. Ihre Onyx-Augen flackerten nicht. »Ich versuche, alle paar Tage mit jedem Mitglied des Teams zu sprechen, Jamie. Das gehört zu meinem Job.«

»Ich verstehe«, sagte er.

Sie lächelte. »Ja, natürlich.«

Auf einmal fühlte Jamie sich unwohl. Er hätte am liebsten stundenlang mit Vijay gesprochen, hätte gern über Gott und die Welt mit ihr geredet, nicht nur über die sachlichen Aspekte der Expedition. Aber er spürte, dass sie mehr darüber wusste als er selbst, was in ihm vorging.

»Wie steht's bei euch?«, hörte er sich fragen. »Alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens«, sagte Vijay. »Possums Bohrer hat die Zweihundert-Meter-Marke erreicht, und er holt jetzt die ersten Bakterienproben herauf. Er und Mitsuo untersuchen sie. Die beiden nehmen die ganze Laborausrüstung in Beschlag.«

»Lebende Bakterien?«

»Ja. Die Biologen auf der Erde tanzen auf der Straße, wenn man die beiden so reden hört.«

»Warum, zum Teufel, haben die mir nichts davon erzählt?«

Sie machte ein überraschtes Gesicht. »Ich dachte, das hätten sie. Heute Morgen haben sie gerade die erste Probe raufgeholt. Ich dachte, sie hätten dir sofort einen Bericht geschickt.«

Jamie holte tief Luft. »Vielleicht ist er in meiner Mail. Ich hab heute Abend noch gar nicht nachgesehen.«

»Bestimmt ist er drin.«

Ohne die Verbindung mit Shektar zu unterbrechen, holte er sich die Liste der eingegangenen Nachrichten auf den Bildschirm. Ja, da waren zwei von Fuchida, nur ein paar Minuten nacheinander abgeschickt, vor knapp drei Stunden.

Ich sollte mir meine Mail ansehen, bevor ich die Basis anrufe, ermahnte sich Jamie. Er merkte, dass er sich töricht benommen hatte, weil er sich so sehr gewünscht hatte, mit Vijay zu sprechen, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, vorher einen Blick in seinen Posteingang zu werfen.

»Mitsuo meint, die Vulkane wären vielleicht noch bessere Stellen für eine unterirdische Ökologie«, sagte sie. »Er kann es gar nicht erwarten, mit seiner Exkursion loszulegen.«

Jamie seufzte. »Das Gefühl kenne ich.«

»Geht's dir gut?«

Beinahe überrascht von ihrer simplen Frage, antwortete Jamie: »Klar, alles in Ordnung.«

»Du bist nicht müde oder vielleicht ein bisschen reizbar, vor allem abends?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Nein, nichts dergleichen.«

»Wie ist es beim Aufwachen morgens? Irgendwelche Anzeichen von Niedergeschlagenheit?«

»Wovon redest du?« Er erinnerte sich daran, wie es ihm bei der ersten Expedition gegangen war, als Vitaminmangel zu Skorbut geführt hatte. Machte sich Vijay deswegen Sorgen?

Aber sie antwortete: »Vom Jetlag.«

»Jetlag?«

Shektar nickte ganz ernst. »Der Marstag ist über eine halbe Stunde länger als der Erdentag. Hier in der Basis haben einige Leute Schwierigkeiten gehabt, ihre innere Uhr darauf umzustellen.«

Jamie war sofort alarmiert. »Wer? Wie ernst ist es?«

»Es ist nicht ernst«, erwiderte Shektar. »Kein Grund zur Sorge. Und ich werde deshalb nicht die ärztliche Schweigepflicht verletzen.«

»Aber wenn es sich auf die Arbeit der Betreffenden auswirkt …«

»Bis jetzt ist das nicht der Fall, und ich bezweifle, dass es so weit kommen wird. Sie passen sich an; nur ein bisschen langsam, das ist alles.«

Jamie gab sich alle Mühe, sie nicht finster anzusehen. Daran hätten wir denken sollen, tadelte er sich. Wir haben die Schwerkraftanpassung durchgeführt, aber niemand hat an die Anpassung an die unterschiedliche Tageslänge gedacht.

»Mach nicht so ein Gesicht, Jamie«, sagte Vijay. Sie lächelte wieder. »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.«

»Bist du sicher?«

»Ja, ich bin absolut und vollkommen sicher.« Dann wurde ihr Lächeln schalkhaft. »Jedenfalls ziemlich.«

Sie unterhielten sich ein wenig über Biorhythmen und natürliche Zyklen. Jamie genoss es, mit ihr zu plaudern; er merkte, dass die Anspannungen des Tages sich allmählich von ihm lösten. Ihm fiel auf, wie weiß ihre Zähne in dem dunklen Gesicht glänzten. Ihre Haut wirkte glatt und weich. Wie gern würde er ihr Gesicht, ihre Schultern streicheln …

»Wo wir gerade von Biorhythmen sprechen«, sagte Vijay, »ich habe den Harem-Effekt im Auge behalten.«

Das machte seinen Phantasien ein Ende. »Den was

»Den Harem-Effekt«, sagte sie. »Die Tendenz zusammenlebender Frauen, ihren Menstruationszyklus zu synchronisieren.«

Davon will ich nichts hören, dachte Jamie. Aber er hörte sich fragen: »Ist das hier bei … euch der Fall?«

Shektar nickte. Ihr Blick war neckisch. »Ja, in der Tat, Kamerad. Ich habe vor kurzem mit Stacy gesprochen. Wir sind alle nicht mehr als drei Tage auseinander.«

»Der Harem-Effekt«, murmelte er.

»Ein Element der generellen Boshaftigkeit der Natur«, sagte sie.

»Ach wirklich?«

»Wir machen das nicht absichtlich, Jamie. Wir können unsere Zyklen nicht kontrollieren, jedenfalls nicht ohne Hormontherapie, und soweit ich weiß, nimmt keine von uns die Pille.«

Jamie dachte, vielleicht solltet ihr das tun, und fragte sich dann, warum sie es nicht taten. Weil sie nicht sexuell aktiv sein wollten?

»Wir haben uns vor dem Abflug von der Erde bereit erklärt, auf die Pille zu verzichten«, erklärte Shektar. »Wir sind alle drei freiwillige Teilnehmerinnen eines medizinischen Experiments über den Harem-Effekt.«

»Wirst du eine Abhandlung darüber schreiben?«

»Nach unserer Rückkehr, ja. Publizieren oder krepieren, du weißt schon.«

Jamie konnte nicht erkennen, ob sie es ernst meinte oder ob sie ihn triezen wollte.

»Falls eine von uns glaubt, sie hätte Anlass dazu«, fuhr sie fort, »kann sie natürlich eine ›Pille danach‹ nehmen. Von denen habe ich einen ordentlichen Vorrat dabei.«

Jamie hörte sich fragen: »Hat schon jemand …?«

Ihr Lächeln wurde strahlend. »Ärztliche Schweigepflicht, Jamie. Meine Lippen sind versiegelt.«

Er seufzte frustriert. Es klang eher wie ein Knurren.

Auf einmal wechselte Shektar das Thema. »Du hast seit deiner Abreise von der Basis keine medizinische Diagnose mehr machen lassen, weißt du.«

»Ich brauche keine …«

»Du hast die Vorschriften gebilligt, Jamie. Wir haben uns alle bereit erklärt, uns an sie zu halten.«

»Ja, ich weiß.«

»Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass du körperlich und seelisch gesund bleibst.« Sie war jetzt vollkommen ernst. »Aber das kann ich nicht, wenn du nicht kooperierst.«

»Haben die anderen …?«

»Dex und Trudy waren sehr kooperativ. Stacy hat die typische Abneigung der Astronauten gegen Ärzte, aber sie hat gestern eine Diagnose machen lassen. Ich habe die Daten hier.«

»Ich würde mich lieber von dir persönlich untersuchen lassen als von dieser blöden Maschine«, entfuhr es ihm.

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich?«

Jamie verfluchte sich für seine Dummheit. »Ich wollte damit nur sagen, dass …«

Aber Vijay lächelte schon wieder. »Ich untersuche dich gern, wenn du zurückkommst. Aber für den Augenblick ist die Diagnosemaschine leider der Gipfel der Romantik.«

»Romantik?«

Sie lachte. »Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht durcheinander bringen. Ist nur mein bösartiger Humor.«

Er zwang sich, ihr Lächeln zu erwidern. Mit begrenztem Erfolg. »Ich bin nicht durcheinander. Ist schon in Ordnung.«

»Ja, das sehe ich.«

Jamie versuchte, das Gespräch wieder in den Griff zu bekommen. »Ich muss mit Tomas sprechen.«

»Jetzt?«

»Bevor ich mich verabschiede.«

»Möchtest du deinen formellen Bericht abliefern?«

»Ich möchte, dass er einen der Schwebegleiter darauf programmiert, einen Erkundungsflug zu der Felsenbehausung durchzuführen.«

MORGEN: SOL 11

Trotz der ganzen Staubsaugerei wirkten die Anzüge allmählich schmutzig und gebraucht, stellte Jamie fest. Die einstmals glänzend weißen Stiefel und Unterteile hatten jetzt einen leicht rötlichen Ton. Die Handsauger entfernten offenbar nicht den ganzen Staub. Ihm fiel wieder ein, wie fleckig und gebraucht die Anzüge bei der ersten Expedition schon nach ein paar Wochen ausgesehen hatten.

»Hier ist das Gerät«, sagte Dex Trumball und reichte Jamie den Helm. Das Visier war bereits geschlossen; die VR-Kameras befanden sich knapp über Augenhöhe. Stacy Deschurowa hatte das Modul mit der Virtual-Reality-Elektronik in den Tornister von Jamies Anzug gepackt.

»Okay.« Jamie setzte den Helm vorsichtig auf und verschloss den Halsring. »Sobald ich die VR-Handschuhe anhabe, bin ich bereit für meine große Chance im Showbiz.«

Trumball war ganz sachlich. »Mach immer schön langsam. Keine plötzlichen Bewegungen. Du willst doch nicht, dass den Zuschauern zu Hause schwindlig wird.«

Deschurowa hatte bereits ihren Raumanzug an. Ihr Visier war hochgeklappt, und sie war bereit, Jamie zu überprüfen, bevor er durch die Luftschleuse hinausging. Jamie hörte ihre Stimmen gedämpft durch seinen gepolsterten Helm. Dann kam Deschurowa über die Helmlautsprecher: »Funkcheck.«

»Laut und klar, Stacy.«

»Dann hast du grünes Licht für die Exkursion.«

Jamie stapfte unbeholfen in die Luftschleuse und setzte den Pumpzyklus in Gang. Wir könnten ein paar Proben mit hineinnehmen, dachte er. Solange sie in Probenbehältern eingeschlossen sind, kann nichts passieren. Die Behälter sind isoliert und das UV-Licht kommt nicht durch. Aber dann dachte er: Wozu ein Risiko eingehen? Lassen wir sie draußen; in ihrer natürlichen Umgebung sind sie besser aufgehoben.

Das Lämpchen an der Anzeigetafel sprang auf Rot. Jamie drückte mit einem behandschuhten Daumen auf den Knopf, der die Außenluke öffnete. Dann trat er wieder einmal auf den roten Sand des Mars hinaus.

Der Boden war von Stiefelabdrücken übersät. Jamie entfernte sich ein Dutzend Schritte vom Rover und schaute dann an der gigantischen Steilwand hinauf, die sich in beiden Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Da der Helm des hartschaligen Raumanzugs sein Blickfeld begrenzte, konnte er den oberen Rand der Felswand nicht sehen, auch wenn er sich so weit wie möglich nach hinten bog.

Ihm stockte der Atem, als ihm wieder einmal klar wurde, dass er sich auf einem anderen Himmelskörper befand, einem großartigen, markanten neuen Planeten mit einer ganzen Welt voller Überraschungen und Rätsel, die sie entdecken und lösen konnten. Er spürte, wie die Wärme der Morgensonne in die am Boden verstreuten Steine und die über sein Blickfeld hinaus aufragende massive Felswand drang.

Hier gab es einmal einen Fluss, dachte Jamie. Einen gewaltigen, reißenden Strom, der häusergroße Felsbrocken mit sich getragen hat. Aber wann? Vor wie langer Zeit? Und was ist aus ihm geworden?

Die Felsenbehausung ist keine fünfzig Klicks von hier, sagte er sich. Wir könnten hinfahren, sie uns rasch ansehen und noch vor Sonnenuntergang wieder hier sein.

Er drehte sich um und ließ den Blick über den Boden des Canyons schweifen. Die Felswände auf der anderen Seite waren hinter dem Horizont, außer Sichtweite. Der Horizont selbst wirkte zu nah, beunruhigend nah, und so scharf, als wäre der Rand der Welt mit dem Rasiermesser gezogen. Ein ganzer Planet, den es zu erforschen galt. Eine ganze Welt. Wenn es hier draußen wirklich eine Felsenbehausung gibt, wie viele andere werden wir dann noch finden?

Aber die Stimme der Pflicht antwortete: Nicht heute. Du kannst dich nicht auf die Suche nach deiner Felsenbehausung machen. Nicht auf dieser Mission. Du würdest die Treibstoffreserve des Rovers angreifen und ein unnötiges Risiko eingehen.

Nur Geduld, riet er sich. Erst soll der Schwebegleiter einen Erkundungsflug über das Gebiet machen. Dann kannst du eine spezielle Exkursion dorthin planen.

Falls die Kameras des Schwebegleiters etwas zeigen, das eine genauere Untersuchung lohnt.

»Kann es losgehen mit deiner Viertelstunde des Ruhms?« Stacy Deschurowas Stimme in den Helmlautsprechern riss Jamie aus seinen Gedanken.

Als er sich wieder zum Rover umdrehte, sah er sie in ihrem Raumanzug an der Luftschleuse stehen, mit leicht rosa gefleckten Stiefeln und Beinen. Aber die gelben Streifen an den Ärmeln waren noch immer so hell und makellos wie Butterblumen.

»Ich denke schon«, sagte er.

»Tarawa ist bereit für deine Übertragung«, sagte sie. »Pete Connors sitzt an der Kommunikationskonsole.«

»Auf welcher Frequenz ist er?«

»Zwei.«

Jamie holte tief Luft, während er auf dem Tastenfeld am Handgelenk seine Eingabe vornahm. Es wäre schön, mit Pete zu reden, dachte er. Einen netten, langen, freundlichen Plausch zu halten. Aber Jamie wusste, dass die Entfernung diese Hoffnung zunichte machte. Es würde fast eine Viertelstunde dauern, bis seine Worte die Erde erreichten, und noch einmal so lange, bis Connors' Antwort bei ihm eintraf. Allein die Begrüßung könnte schon den halben Vormittag dauern, wusste Jamie.

Widerstrebend sprach er in sein Mikrofon: »Willkommen auf dem Mars, diesmal auf dem Grund des Grand Canyon. Heute werden wir Ihnen echte Marsianer zeigen …«

Fulvio A. DiNardo, S.J., saß in seiner Einzimmerwohnung in der obersten Etage eines ehemaligen Renaissance-Palazzos. Von dem stattlichen alten Gebäude aus hatte man einen guten Blick auf den reich verzierten Brunnen in der Mitte der Piazza Navona. Vor Hunderten von Jahren hatte es als römisches Heim für die lärmende Familie eines reichen Kaufmanns gedient, der mit edlen Metallen handelte; in den letzten zweihundert Jahren hatte es ein Dutzend marmorverkleidete Wohnungen beherbergt, die lukrative Mieten für die entfernten Nachfahren jener Familie abwarfen.

Pater DiNardo stammte aus einer sehr reichen Familie, obwohl man zu seiner Ehre sagen musste, dass er seine jesuitischen Gelübde ernst nahm und ein bescheidenes Leben führte. Geologie war seine Leidenschaft, sein einziges Laster. Er brannte darauf zu verstehen, wie Gott diese Erde und die anderen von ihm nach Gutdünken erschaffenen Welten konstruiert hatte.

Aus dem hervorragenden Studenten mit von Anfang an blendenden Erfolgsaussichten war schließlich ein Geologe von Weltrang geworden, ein nahe liegender Kandidat für einen Platz bei der ersten Mission zum Mars. Er bemühte sich um größtmögliche Demut, was das betraf, aber innerlich strahlte er vor Stolz bei dem Gedanken, dass er in eine andere Welt vorangehen würde. Die Sünde des Stolzes zog ihre Strafe nach sich: eine Gallenblasenkolik, die operativ behandelt werden musste und ihn aus dem Team der ersten Marsexpedition katapultierte. Jetzt saß er in seiner kleinen, aber gut ausgestatteten Wohnung, einen Virtual-Reality-Helm auf dem Kopf und Datenhandschuhe an den Händen mit den dicken Fingern, und erlebte den Mars mittels einer elektronischen Illusion.

Er sah die Steine, die Jamie Waterman sah, hob sie hoch und inspizierte eingehend ihre zernarbte, raue Oberfläche. Er untersuchte die gelblichen Flecken an einigen dieser Steine, wo die Marsflechte ein paar Millimeter unter der Oberfläche lebte. Er fühlte die Festigkeit des kompakten, elektronisch verstärkten Mikroskops, das Waterman in einer Hand hielt, als er sich niederkniete, um einen genauen Blick auf die außerirdische Flechte zu werfen.

»Diese dunklen Stellen an der Oberfläche der Flechte«, hörte er Watermans Stimme, »sind in Wahrheit Fenster, die Licht durch die Außenhaut des Organismus eindringen lassen.«

DiNardo nickte verstehend.

»Bei Nacht schließen sie sich, wie Augen«, fuhr Waterman fort, »damit die innere Wärme des Organismus nicht durch die Fenster wieder in die Atmosphäre entweicht.«

Natürlich, dachte DiNardo. Eine wunderbare Anpassung.

Durch Jamie Watermans Sinne schlurfte der Jesuit an der Felswand entlang, untersuchte Steine und hinterließ Stiefelspuren im rostigen Sand.

Zu seiner Überraschung merkte Jamie, dass ihm die Arbeit als Führer Spaß machte. Vielleicht hätte ich doch Lehrer werden sollen, dachte er, während er langsam an der Felswand entlangging und sein Publikum auf die unterschiedlich gefärbten Gesteinsschichten hinwies: eisendunkelrot, ocker, hellbraun, sogar ein paar Extrusionen blassen, gelblichen Gesteins.

»Diese Schichten sind allem Anschein nach über einen langen Zeitraum hinweg entstanden, höchstwahrscheinlich im Verlauf von mehreren Milliarden Jahren. Sie erzählen uns möglicherweise, dass es hier einmal ein Meer gab oder zumindest einen sehr großen See, der dieses Material Schicht um Schicht abgelagert hat.«

Er kam zu einem hausgroßen Felsblock, der offensichtlich aus einiger Höhe auf den Boden des Canyons gestürzt war.

»Problem: Wie alt sind diese Steine?«, fragte Jamie rhetorisch, während er mit behandschuhten Fingern über die seltsam glatte Oberfläche des Felsblocks strich. »Bevor wir lernten, Gestein mit Hilfe des radioaktiven Zerfalls zu datieren, beurteilten die Geologen sein Alter danach, wie tief eine Schicht unter der Oberfläche lag. Heutzutage …«

Während er erklärte, wie die radioaktive Datierung funktionierte und wie Geologen das Alter von Gesteinen nach dem Verhältnis der radioaktiven Elemente darin schätzten, bestieg Jamie den Felsblock, kletterte Spalten in dessen Wand hinauf, bis er oben auf dem großen Stein stand.

»Wie Sie sehen«, begann er keuchend. Dann hielt er inne. Auf seinem Visier blinkte mit einem Mal eine Kaskade roter Lichter. Die Datenhandschuhe, die mit den Augenbewegungen synchronisierten Kameras, die gesamte VR-Ausrüstung war außer Betrieb, funktionierte nicht mehr.

Jamie murmelte Flüche.

Überall auf der Welt brach bei den Menschen, die zusammen mit Jamie verzückt Tithonium Chasma erforschten, auf einmal die Verbindung zusammen. Ihre Displays wurden dunkel. Bevor sie den Helm abnehmen konnten, erschien das ernste, dunkle Gesicht des ehemaligen Astronauten Pete Connors vor ihnen.

»Wir haben den VR-Kontakt mit Dr. Waterman verloren«, sagte Connors. Seine Stimme war ernst, aber nicht nervös. »All unsere Datenleitungen hier sagen uns, dass Dr. Watermans Lebenserhaltungssystem noch funktioniert; er ist nicht in Gefahr. Aber die Virtual-RealityVerbindung ist aufgrund einer technischen Störung abgebrochen.«

Pater DiNardo nahm langsam den Helm ab.

Ich war auf dem Mars, sagte er sich. Wenigstens das hat Gott mir gewährt. Ich sollte dankbar sein. Ich hoffe, mit Waterman ist alles in Ordnung, und er ist wirklich nicht in Gefahr. Ich werde für seine Sicherheit beten.

Doch als DiNardo sich mit einer müden Hand über den rasierten Schädel fuhr, standen ihm trotzdem Tränen der Trauer und der Verbitterung in den Augen. Ich hätte der Mann auf dem Mars sein sollen. Ich hätte dort sein sollen.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

NEW YORK CITY

»Also, wo stehen wir in dieser Sache?«, fragte Roger Newell.

Zwei andere Männer und drei Frauen saßen um den Konferenztisch im Hauptquartier von Allied News. Ihre Kleidung war leger: Pullover, Chino-Hosen und Jeans, nirgends eine Krawatte oder ein Jackett. Newell legte großen Wert darauf, dass im Büro eine lockere Atmosphäre herrschte. Nachrichten zu sammeln und zu senden war ein Beruf, in dem man ohnehin unter Hochdruck stand; es hatte keinen Sinn, den Stress mit albernen Kleidungsvorschriften noch zu verschärfen.

»Da oben ist alles in Ordnung«, sagte der hagere, träge junge Mann, der links von ihm saß. »Sie sind nicht in Gefahr. Nur die VR-Ausrüstung ist ihnen abgestunken.«

Newell unterdrückte ein Grinsen.

Eine der Frauen — rundlich, übergewichtig, teigiges Gesicht — sagte in lebhaftem, bissigem Ton: »Nach den Umfrageergebnissen von heute früh rangiert die Marsexpedition hinter der Tierrechtskonferenz und dem Streik der Obstpflücker in Florida auf dem dritten Platz.«

»Die alte Geschichte«, sagte die erheblich jüngere Frau neben ihr. Sie strahlte Ehrgeiz aus, von ihren modisch ausrasierten blonden Schläfen bis zu ihren Stiletto-Absätzen. »Es interessiert die Leute einen feuchten Dreck, was die auf dem Mars treiben, außer wenn sie in Schwierigkeiten geraten.«

»Und wenn ihre VR-Ausrüstung kaputtgeht, sind das keine Schwierigkeiten?«

»Jedenfalls nicht genug.«

»Die Boulevardmagazine sehen das anders«, sagte der Mann zu Newells Rechten. »Habt ihr da gestern Abend mal reingeschaut? Drei Sendungen hintereinander darüber, wie im Untergrund lebende Marsianer mittels psychischer Kräfte die Ausrüstung der Expedition zerstören.«

Die Frau mit dem teigigen Gesicht lachte. »Letzte Woche haben sie behauptet, die Marsianer würden sich unseren Leuten zeigen und ihnen das Heilmittel für Krebs geben.«

Sie kicherten alle, sogar Newell.

Aber dann sagte er: »Dass ihre Ausrüstung den Geist aufgibt, fesselt unsere Zuschauer also nicht, hm?«

»Nee. Die Leute wollen 'ne waschechte Katastrophe.«

»Lebensgefahr.«

»Feuersbrünste und Blut.«

»In Ordnung«, sagte Newell und hob beide Hände. Das muntere Geplauder verstummte sofort.

Er lächelte sie an. »Sie kriegen ihre Virtual-Reality-Sendungen also nicht zu ihren Abonnenten, richtig?«

»Nicht, bis sie die Ausrüstung repariert haben.«

»Ihre Abonnenten müssen also zu uns umschalten, um ihre Neuigkeiten über den Mars zu erfahren, stimmt's?«

»Oder zur Konkurrenz.«

»Und was machen wir? Wir können nicht jeden Abend zehn bis fünfzehn Sekunden darauf verwenden, unserem Publikum zu erzählen, dass auf dem Mars nichts passiert ist.«

»Wir könnten eine kurze Wissenschaftsreportage bringen«, sagte die übergewichtige Frau.

Alle stöhnten. Mit Wissenschaftsreportagen verlor man Zuschauer, daran glaubten sie alle felsenfest. Wissenschaft war langweilig. Mit Wissenschaftsreportagen reichte man das Publikum quasi auf direktem Wege an die Konkurrenz weiter.

»Wollen wir den Mars einfach ganz ignorieren?«

Die älteste Frau am Tisch — sie musste mindestens schon auf die Vierzig zugehen — tippte sich mit einem Zeigefinger ans Kinn. »Ich weiß noch …«

»Was denn?«, fragte Newell.

»Etwas, das sie uns in der Schule gezeigt haben … da war ich — nein! Es war in dem Kurs über Mediengeschichte, den ich vor ein paar Jahren besucht habe.«

»Was denn?«, wiederholte Newell einigermaßen genervt.

»Cronkite hat das gemacht! Ja, so war's.«

»Was denn?«, riefen die anderen im Chor.

»Es gab da irgendeine Krise. Geiseln oder so. Hat sich über ein Jahr hingezogen. Am Ende jeder Sendung hat Cronkite gesagt: ›Das ist der vierundfünfzigste Tag‹, wovon auch immer.«

»So eine Art Countdown?«

»Eher eine Erinnerung. Ein Kalender, sozusagen.«

Newell legte den Kopf schief, ein Zeichen, dass er überlegte. Die anderen blieben stumm.

»Das gefällt mir«, sagte er schließlich. »Am Ende der Abendnachrichten wird der Anchor ab jetzt immer sagen: ›Das ist der vierundfünfzigste Tag, den unsere Forscher auf dem Mars sind.‹«

»Je nachdem, wie die richtige Zahl lautet.«

»Natürlich.«

»An der Formulierung muss noch gefeilt werden, finde ich.«

»Dafür haben wir Autoren«, sagte Newell ein bisschen verstimmt.

»Auf diese Weise erinnern wir das Publikum daran, dass diese Leute noch auf dem Mars sind.«

»Aber wir verschwenden keine Sendezeit mit einer Wissenschaftsstory.«

»Außer, wenn ihnen was zustößt.«

»Oh, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, springen wir mit beiden Füßen zugleich rein«, versprach Newell. »Geht doch nichts über echte Gefahr, um die Quoten in die Höhe zu treiben.«

BOSTON

Darryl C. Trumball war viel zu beschäftigt gewesen, um sich die letzte Virtual-Reality-Übertragung vom Mars zu Gemüte zu führen. Er hatte sich die ersten zwei angesehen, die sein Sohn an den ersten beiden Tagen nach ihrer Ankunft auf dem Planeten durchgeführt hatte. Das reichte.

Natürlich hielt er sich auf dem Laufenden, was die Einkünfte aus den VR-Übertragungen betraf. Die ersten beiden Sendungen hatten etwas mehr als zwanzig Millionen Zuschauer gehabt. Zwanzig Millionen zahlende Zuschauer — zehn Dollar pro Kopf — hatten den Forschern am Tag ihrer Landung auf dem Mars und am darauf folgenden Tag zugesehen, als Dex eine Führung durch die Kuppel veranstaltet hatte, in der sie für die nächsten anderthalb Jahre leben würden.

Und dann war die Zuschauerzahl rasch auf ungefähr drei Millionen geschrumpft. Wer wollte die Steine auf dem Mars schon zweimal oder öfter sehen, außer Schulkinder und spinnerte Weltraumfans? Aber drei Millionen waren ganz ordentlich: Sie brachten der Expedition pro Sendung dreißig Millionen Dollar ein.

Natürlich bezahlten nicht alle ihre zehn Dollar, wie Trumball sehr wohl wusste. Es kostete zehn Dollar pro Empfangsgerät, nicht zehn Dollar pro Kopf. Eine Schulklasse von dreißig Kindern bezahlte nur zehn Dollar. Eine Familie konnte ihre zehn Dollar hinlegen und all ihre Verwandten zuschauen lassen. Bars voller Betrunkener zahlten ihren Zehner, und das war's. Trumball kochte bei dem Gedanken, aber es gab keine praktikable Möglichkeit, dieses Nassauern zu unterbinden.

Jetzt war die VR-Ausrüstung ausgefallen. Dieser verdammte Indianer hatte irgendwas kaputtgemacht, als er draußen auf so einem verdammten Felsen herumgeturnt war.

Die sollen bloß zusehen, dass sie das schleunigst repariert kriegen, schimpfte Trumball. Wir verlieren dreißig Millionen Dollar pro Sendung.

NACHMITTAG: SOL 15

»Da ist er!«, rief Dex Trumball.

Jamie saß auf dem Beifahrersitz, während Stacy Deschurowa den Rover die sanfte Steigung des alten Erdrutschs hinauflenkte.

»Dachtest du, er wäre inzwischen weggefahren?«, fragte Trudy Hall fröhlich. Sie saß auf dem Notsitz hinter Jamie, Trumball auf dem Klappsitz hinter Deschurowa.

Jamie gab etwas auf der Kommunikationskonsole ein, und Mitsuo Fuchidas Gesicht erschien auf dem kleinen Monitor an der Kontrolltafel.

»Wir nähern uns dem alten Rover«, berichtete Jamie. »Wir werden Halt machen und ihn untersuchen.«

»Ich verstehe«, sagte Fuchida.

»Wie sieht's bei euch aus?«

Mit einer fast unmerklichen Verbeugung antwortete der Biologe: »Rodriguez und Craig reparieren das Bohrgerät. Vijay ist …«

»Sie reparieren den Bohrer?«, unterbrach ihn Jamie. »Was ist damit?«

Fuchida zwinkerte zweimal rasch hintereinander. »Die Hydraulikleitung zum Bohrkopf ist über Nacht eingefroren. Possum glaubt, dass das elektrische Heizsystem ausgefallen ist.«

»Wie schlimm ist es?«

Ein leichtes Zucken der schmalen Schultern. »Ich weiß es nicht. Possum schien nicht besonders aufgeregt zu sein.«

Jamie ließ sich in seinen Sitz zurücksinken. »Sag ihm bitte, er soll mich bei Gelegenheit anrufen.«

»Ja, mache ich. Wahrscheinlich schafft er es aber erst nach Einbruch der Dunkelheit.«

»Das ist schon okay. Bis dahin sind wir wohl sowieso draußen und überprüfen den alten Rover.«

Fuchida nickte und sagte dann: »Aus Boston sind noch ein halbes Dutzend Nachfragen nach dem VR-System gekommen.«

»Was immer daran kaputt ist«, sagte Dex hinter Jamie, »ich kann's jedenfalls nicht reparieren. Das muss warten, bis wir zur Kuppel zurückkommen.«

»Vielleicht könnte Possum von hier aus mit euch daran arbeiten«, schlug Fuchida vor.

»Die wissenschaftlichen Aufgaben haben Vorrang«, sagte Jamie. »Wir haben nicht viel Zeit, uns mit dem Unterhaltungssystem zu beschäftigen.«

Fuchida zog die Augenbrauen hoch. »Mr. Trumball in Boston ist sehr hartnäckig.«

»Ich schicke ihm heute Abend eine Nachricht«, sagte Dex. »Ich beruhige ihn schon.«

Jamie drehte sich zu Dex um. »Danke.«

Dex zuckte die Achseln.

Jamie wandte sich wieder dem Bildschirm zu und wartete darauf, dass Fuchida noch etwas sagte, doch als der Biologe weiterhin schwieg, merkte er, dass er fragen musste: »Was ist mit Vijay? Was macht sie?« Er merkte auch, dass seine Gefühle dabei zwischen Gereiztheit und Verlegenheit changierten.

Fuchida antwortete, als wäre es eine Routinefrage. »Sie hat fast den ganzen Tag über die Verbindung mit Tarawa gehalten. Im Moment sieht sie sich noch einmal unsere medizinischen Unterlagen an, glaube ich.«

»Irgendwelche Probleme?«

»Nicht dass ich wüsste. Wir scheinen alle recht gesund zu sein, auch wenn einige von uns ein oder zwei Kilo abgenommen haben.«

»Was kann man bei dieser vegetarischen Kost aus dem Garten schon anderes erwarten?«, mischte sich Trumball ein.

Fuchida lächelte. »Was ist, magst du keine Soja-Derivate? Die Gartenfrüchte ergeben eine vollkommen ausgewogene Diät.«

»Ja, klar«, sagte Dex. »Sojaburger aus der Mikrowelle und Auberginen.«

Das Lächeln des Biologen wurde breiter. »Keine Steaks auf dem Mars, mein Freund.«

Trumball beugte sich zwischen den Sitzen von Jamie und Deschurowa vor. »Und auch kein Sushi, Kumpel.«

»Oh, Fische könnten wir züchten«, gab Fuchida zurück. »Ich schreibe gerade einen Vorschlag, den Garten um Fischtanks zu ergänzen.«

»Genau das, was wir brauchen«, sagte Trumball forsch-fröhlich, »Fischkacke in unserer Wasserversorgung.«

Jamie warf ihm über die Schulter hinweg einen Blick zu und schaute dann wieder auf den Bildschirm. »Okay, wir werden mindestens bis zum Einbruch der Dunkelheit bei dem alten Rover sein. Vielleicht verbringen wir dort auch die Nacht.«

»Verstanden«, sagte Fuchida wieder ganz sachlich. »Ich werde Possum sagen, dass er dich anrufen soll, wenn er kommt.«

»Ich würde mir gern das Bildmaterial des Schwebegleiters ansehen, sobald Tomas es rüberschicken kann«, sagte Jamie.

Fuchida machte für einen ganz kurzen Moment große Augen. »Er hat es gestern Abend schon geschickt. Es müsste in deinem Posteingang sein.«

Überrascht sagte Jamie: »Ich schau mal nach … Moment.«

Er schaltete vom Bild des Biologen auf eine Liste der eingegangenen Nachrichten um. Tatsächlich, da war eine von Rodriguez mit dem Titel »Bildmaterial«: Mehrere Dutzend Gigabytes.

Jamie holte Fuchida wieder auf den Schirm. »Jawoll, alles klar, es ist da. Ich schau's mir heute Abend an. Sag Tomas schönen Dank, bitte.«

»Mache ich«, sagte Fuchida.

Nachdem Jamie die Verbindung beendet hatte, sagte Trumball leise: »Nicht in die Mail geguckt, hm? Vielleicht solltest du Rodriguez vorschlagen, Rauchsignale zu geben.«

Jamie drehte sich nicht zu Dex um. Er sah das blasierte Grinsen in dessen Gesicht auch so vor sich. Und er wollte nicht, dass Dex den Ärger in seinem sah.

Das war dumm, schimpfte er mit sich. Richtig dämlich. Du hättest gestern Abend einen Blick in deinen Posteingang werfen sollen. Den Fehler hast du jetzt schon zum zweiten Mal gemacht. Was ihn am meisten ärgerte, war nicht, dass er versäumt hatte, in seine Mail zu schauen, sondern dass Trumball und alle anderen es mitbekommen hatten.

»Wie nah willst du ran?«, fragte Deschurowa.

Jamie blickte auf und sah durch die Windschutzscheibe, dass sie keine hundert Meter von dem alten, aufgegebenen Rover entfernt waren.

»So nah, dass wir ein Abschleppseil anbringen können«, sagte er und fügte dann hinzu: »Aber pass auf, dass wir auf festem Boden bleiben.«

»Keine Angst«, erwiderte sie. »Ich will nicht, dass wir in dem Staub stecken bleiben.«

»Man kann den Rand des alten Kraters sehen«, sagte Trumball und zeigte mit ausgestrecktem Arm zwischen Deschurowa und Jamie hindurch. »Dürfte kein Problem sein.«

Es stimmte tatsächlich, stellte Jamie fest. Der phantomhafte Umriss des alten Kraters war ziemlich leicht zu erkennen, wenn man wusste, wonach man Ausschau halten musste. Das Oval des Kraters war von dunklem Gestein gesäumt, das sich ein paar Zentimeter über den Rest des ansteigenden Bodens erhob. Im Innern des Kraters formte der Staub winzige Dünen, wie kleine Wellen, die über einen Teich liefen.

Ich hätte sie sehen müssen, als ich den Rover gefahren habe, sagte sich Jamie. Ich hätte den Krater erkennen und drum herum fahren müssen. Kein Geologe sollte etwas so gottverdammt Offensichtliches übersehen, nicht einmal, wenn er krank und erschöpft ist.

Er schaute sich um. Der Gesichtsausdruck Trumballs kam ihm beinahe hämisch vor.

Während Deschurowa den Rover vorsichtig ans hintere Ende des alten Fahrzeugs heranbugsierte, langte sie mit der rechten Hand nach unten und schaltete den Laser-Entfernungsmesser ein.

»Lies ihn für mich ab, Jamie, ja?«

»Dreißig Meter«, sagte er, den Blick auf die grünen, digitalen Leuchtziffern gerichtet. »Achtundzwanzig … fünfundzwanzig …«

»Zehn Meter okay?«

»Prima«, antwortete Trumball.

»Jamie?«

»Prima«, sagte er.

Sie bremste den Rover noch mehr ab, während Jamie ausrief: »Neunzehn Meter … siebzehn …«

Bei genau zehn Metern stoppte Deschurowa den Rover. Das runde Heck des alten Fahrzeugs lag direkt vor ihnen, vom sechsjährigen Ansturm windgepeitschter eisenhaltiger Staubpartikel bis aufs glänzende Metall abgescheuert.

»Kinderspiel«, sagte Deschurowa und stellte die Fahrmotoren ab. Dann setzte sie hinzu: »Bis jetzt.«

Jamie, Trumball und Deschurowa stiegen nacheinander in ihre Raumanzüge, gingen durch die Luftschleuse hinaus und ließen Trudy Hall im Rover zurück. Im Notfall konnte sie die Basis anrufen und Hilfe herbeiholen. Als ob die Hilfe noch rechtzeitig kommen würde, dachte Jamie. Trotzdem verlangten die Sicherheitsvorschriften, dass zumindest eine Person immer im Rover blieb. Schlimmstenfalls würde Trudy allein zur Basis zurückfahren müssen. Sie gingen um das hintere Ende des Rovers herum.

»Auf dieser Seite hat sich der Sand angehäuft«, sagte Deschurowa. In Jamies Helmlautsprechern klang ihre Stimme ruhig, beinahe klinisch nüchtern.

»Ist ziemlich weich, das Zeug«, sagte Jamie. »Wie Staubflocken. Conners und ich konnten es wegschaufeln, nachdem wir auf dem Boden des Canyons in einen Sandsturm geraten waren.«

Trumball steckte eine beschuhte Hand in die Verwehung. »Staubflocken ist richtig. Schaut!« Er warf eine Hand voll Sand in die Luft; der Sand trieb wie Pulver dahin und sank in der geringen marsianischen Schwerkraft langsam zu Boden.

»Wir könnten darauf Ski fahren«, meinte Trumball. »He, das wäre doch was für die Touristen! Auf dem Mars Ski fahren!«

Er lachte, während Jamie mit den Zähnen knirschte. Meint er das ernst, fragte sich Jamie, oder will er mich nur auf die Palme bringen?

»Die Solarpaneele sind staubverkrustet«, bemerkte Deschurowa.

Jamie hob den Blick zum Dach der Segmente des Rovers und sah, dass sie Recht hatte. »Der Wind hat den Sand auf die Paneele geweht, ihn aber nicht wieder weggeblasen.«

Trumball sagte: »Das Zeug ist auch verdammt scharfkantig. Hat die Paneele wahrscheinlich gründlich zerkratzt.«

»Kommt hier rüber«, sagte Deschurowa. »Die Luke ist auf der Leeseite.«

Jamie folgte ihr, den Blick auf ihre Stiefelabdrücke im Boden gerichtet. Hier war er fest, aber ein paar Meter weiter war der Rand des Kraters.

Deschurowa drückte auf den Bedienungsknopf der Luke. »Tut sich nichts.«

»Wenn die Solarpaneele nicht mehr funktionieren, haben die Batterien bestimmt schon vor Jahren den Geist aufgegeben«, meinte Trumball.

»Dann müssen wir sie eben von Hand aufmachen«, brummelte Deschurowa und zog einen schmalen, schnurlosen Akkuschrauber aus dem Werkzeug-Set, das sich in die Oberschenkeltasche ihres Anzugs schmiegte.

Jamie sah zu, wie sie die Verkleidung über der manuellen Steuerung entfernte. Der scharfkantige Staub und die Zeit hatten die Schrauben festgesetzt, und sie ließen sich nicht bewegen. Deschurowa begann leise auf Russisch zu fluchen, während der elektrische Schraubenzieher immer wieder aufjaulte. Jamie hörte ihr Gemurmel in seinen Helmlautsprechern und befürchtete, sie könnte sich mit dem Schrauber den Handschuh zerreißen, wenn sie abrutschte. Ein Riss in den Handschuhen des Raumanzugs wäre weitaus schlimmer als ein abgeschürfter Knöchel.

Der elektrische Schraubenzieher bekam die erste Schraube schließlich los, und Deschurowas leise Flüche verstummten. Die anderen Schrauben ließen sich viel leichter lösen.

»Ist immer so«, sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. »Die erste, die man sich aussucht, geht immer am schwersten.«

Das Rad, mit dem man die Luke von Hand öffnen konnte, saß noch fester. Deschurowa konnte es nicht bewegen. Trumball griff eilfertig zu, und zusammen zerrten die beiden ächzend daran herum, bis die Luftschleuse schließlich einen Spaltbreit aufging. Dann ließ es sich leichter drehen, und die Tür glitt ganz auf.

»Okay, Jamie«, sagte Deschurowa keuchend. »Nach dir.«

»Du bleibst draußen, Stacy«, ermahnte er sie, »bis wir uns drinnen umgesehen haben.«

»Geht klar, Chief«, sagte sie.

Jamie fragte sich, ob sie Trumballs Spitznamen für ihn unbewusst oder mit Absicht verwendete. Er zwängte einen Stiefel auf die mittlere Sprosse der kurzen Leiter und hielt sich mit beiden Händen an den Rändern der offenen Luke fest. Dann zog er sich in die Schleuse, wobei er ganz nebenbei feststellte, dass die Gewöhnung an die Drittelschwerkraft des Mars ihre Nachteile hatte: Es kostete ihn echte Anstrengung, sich samt Anzug und Tornister hochzuhieven.

Die manuelle Steuerung für die Innenluke befand sich direkt unter der elektrischen Kontrolltafel. Anfangs klemmte sie genauso, aber dann gelang es Jamie, das Rad zu drehen, und die Innenluke ließ sich langsam aufkurbeln.

»Okay, ich gehe rein«, sagte er.

»Ich auch«, sagte Trumball. Jamie hörte ihn ächzen, als er sich in die Luftschleuse hievte, und grinste heimlich, dass Dex sich beim Hochklettern genauso anstrengen musste wie er.

Im Innern herrschte ein wüstes Durcheinander. Sie hatten alle vier Skorbut gehabt, als die Russen ihnen zu Hilfe gekommen waren. Sie hatten den Rover verlassen, ohne einen Gedanken ans Aufräumen zu verschwenden. Die Laken auf den Liegen waren zerknittert, so wie sie sie zurückgelassen hatten. Jamie fand, dass sie immer noch verschwitzt aussahen, obwohl er wusste, dass alle Feuchtigkeit schon vor Jahren verdunstet sein musste.

Er hörte Trumball hinter sich. »Hier ist es also passiert.« Die Stimme des jüngeren Mannes war weicher als sonst.

Jamie drehte sich um und sah ihn an. Dex spähte durch die Schleuse ins mittlere Segment des Rovers, das in ein mobiles Biologielabor umgewandelt worden war.

»Hier haben Brumado und Malater die Flechte entdeckt«, sagte Trumball, fast so, als sähe er einen heiligen Schrein vor sich.

»Das stimmt«, sagte Jamie. Die Erinnerung kam zurück, und er sah Joanna, die ängstliche, schöne Joanna mit ihren großen dunklen Augen und dem Gesicht eines einsamen, verletzlichen Straßenkindes. Die Kindfrau, in die er sich verliebt hatte. Die Tochter von Alberto Brumado, die er geheiratet hatte. Die Frau, die endlich erwachsen geworden war und ihn verlassen hatte.

Sie hat mich nie geliebt, dachte Jamie zum millionsten Mal. Vielleicht hat sie's anfangs geglaubt, aber sie hat mich nie geliebt. War ich wirklich verliebt in sie? Er schüttelte in seinem Helm den Kopf und dachte: Wie auch immer, du hast die ganze Sache jedenfalls gründlich vermasselt.

»Mann, was die Museen bezahlen würden, um dieses Teil in die Finger zu kriegen«, sagte Trumball, und die Ehrfucht in seiner Stimme wich der Erregung.

Jamie setzte zu einer scharfen Erwiderung an, fing sich aber gerade noch rechtzeitig. Dieses Teil ist viel zu schwer, als dass wir es zur Erde mitnehmen könnten, sagte er sich. Die Aufstiegssektion des L/AV könnte es unmöglich tragen.

Als läse er Jamies Gedanken, fuhr Trumball fort: »Wir machen ein Ausstellungsstück für die Besucher draus. Vielleicht parken wir ihn wieder unten auf dem Boden des Canyons, wo die Entdeckung gemacht wurde, und karren die Touristen mit Bussen hin.«

Vor Jamies geistigem Auge erstand ein Bild der Navajo-Frauen, die auf den Gehwegen am zentralen Platz von Santa Fe ihre Decken ausbreiteten, um den Touristen Schmuck zu verhökern.

»Alles in Ordnung?«, fragte Stacy Deschurowas Stimme in ihren Helmlautsprechern.

»Wir sind drin«, berichtete Jamie. »Keine Probleme.«

»Ich komme rein«, sagte sie. »Wir müssen die elektrischen Systeme durchchecken.«

»Gut.«

Fast eine Stunde später verkündete Deschurowa, was sie bereits gewusst hatten. »So tot wie ein Dinosaurier«, sagte sie vom Fahrersitz aus.

Jamie, der hinter ihr stand und auf die leeren Monitore und leblosen Instrumente der Kontrolltafel schaute, nickte in seinem Helm. Was hast du erwartet, fragte er sich. Er steht seit sechs Jahren hier draußen, jede Nacht hundert Grad minus, die Solarpaneele von Staub bedeckt. Die Batterien müssen innerhalb von ein paar Tagen oder höchstens einer Woche leer gewesen sein. Die Brennstoffzellen sind hinüber, der Wasserstoff ist diffundiert.

»Wir werden ihn abschleppen müssen«, meinte Trumball.

»Wenn wir können«, sagte Jamie.

»Warum nicht?«

Jamie wollte die Achseln zucken, aber der hartschalige Anzug verhinderte es. »Wir müssen's einfach ausprobieren.«

»Okay«, sagte Deschurowa. »Machen wir uns an die Arbeit, bevor die Sonne untergeht.«

SONNENUNTERGANG: SOL 15

Jamie verspürte immer noch einen leichten, unbehaglichen Schauder, wenn er zur Sonne hinaufblickte; sie war merkwürdig klein und geschrumpft, ein sichtbares Zeichen dafür, wie weit entfernt von zu Hause sie waren.

Jetzt streifte die ferne Sonne fast schon den unregelmäßigen Horizont, ein starres, warnendes rotes Auge an einem glühenden, kupferfarbenen Himmel. Jamie musste in dem schwerfälligen Raumanzug den ganzen Körper drehen, um in die andere Richtung zu schauen. Dort war der Himmel dunkel, und ein paar Sterne glänzten bereits hell. Die Erde war nun ein Abendstern, wie er wusste, aber er hatte keine Zeit, sie zu suchen oder auf die Polarlichter zu warten.

Als die Schatten der Abenddämmerung über die Felswände auf sie zukrochen, zogen sie ein Buckyball.Seil von der Trommel der Winde, die aus der Nase ihres Rovers ragte, zu einem Befestigungshaken am Heck des alten Gefährts, dann gingen sie nacheinander in ihr eigenes Fahrzeug zurück. Sie brauchten eine weitere halbe Stunde, um den Staub abzusaugen, obwohl keiner von ihnen aus seinem Anzug stieg.

Deschurowa schob das Visier hoch und stapfte zum Cockpit. Trudy Hall saß auf dem rechten Sitz. In ihrem Overall wirkte sie klein, beinahe elfenhaft.

Stacy warf einen Blick auf die Instrumente und startete die Radmotoren. Jamie und Dex standen hinter den beiden Frauen. Beide Männer hatten ihre Visiere hochgeschoben und die Handschuhe ausgezogen.

»Bist du sicher, dass die Räder im Leerlauf sind?«, fragte Trumball.

Jamie nickte in seinem Helm. »Alle Räder mit Antrieb werden auf Leerlauf gestellt, sobald die Motoren aus sind, außer wenn man absichtlich einen Gang einlegt.«

»Oder sie mit ›Parken‹ arretiert«, fügte Dex hinzu.

»Sie sind nicht arretiert«, beharrte Jamie. »Ich war dabei: Wir haben die Räder nicht arretiert, als wir in den Staub gefallen sind. Ganz im Gegenteil, wir haben versucht, rückwärts aus dem Krater zu fahren.«

»Dann sind sie vielleicht noch im Rückwärtsgang.«

»Sie sind im Leerlauf«, sagte Jamie fest.

Trumballs Blick glitt von Jamie zu Deschurowa, die mit dem Rücken zu ihnen auf dem Fahrersitz saß. »Ich wünschte jedenfalls, wir hätten die Radeinstellungen überprüfen können«, brummte er.

»Geht nicht«, sagte Stacy von ihrem Sitz aus. »Dazu hätten wir eine Stromleitung zu dem alten Rover legen und das elektrische System hochfahren müssen.«

»Vielleicht sollten wir das tun«, meinte Trumball.

»Probieren wir erst mal, ob wir uns die Mühe sparen und ihn so rausziehen können«, schlug Jamie vor.

»Ich spule das Seil auf«, sagte Deschurowa leise und startete die Fahrmotoren. Jamie konnte ihren Kopf nicht sehen, nur das Oberteil ihres glänzenden weißen Helms.

»Ganz vorsichtig jetzt«, sagte Trumball.

»Halt den Mund, Dex!«, fauchte sie. »Ich weiß, was ich tue.«

Dex verstummte. Neben ihm starrte Jamie geradeaus auf das gekrümmte Heck des alten Rovers, das zehn Meter vor der Windschutzscheibe aufragte.

Die Motoren heulten auf, als Deschurowa langsam mit dem Rover zurücksetzte. Das Seil spannte sich.

»Komm schon, komm schon, mein Süßer«, redete Deschurowa dem alten Rover sanft zu, so leise, dass Jamie es kaum hören konnte. Dann verfiel sie ins Russische, ein sanftes, zärtliches Gurren.

Jamie, der hinter Trudys Sitz stand, staunte über die kühle, freundliche, beinahe mütterliche Sanftheit von Stacys eindringlichem Geflüster. Ist das dieselbe Frau, die noch vor ein paar Stunden wie ein Motorradrocker über einen Schraubenzieher geflucht hat?

Der Rover schwankte leicht, und Jamie hielt sich an der Rücklehne von Halls Sitz fest. Die Fahrmotoren heulten lauter. Jamie fand, dass es verbrannt roch.

»Komm schon, Baby«, gurrte Deschurowa.

Trumball sagte leise: »Er rührt sich nicht …«

Der Rover schaukelte erneut, und Jamie streckte die freie Hand aus, um sich an Trumball festzuhalten. Dex grapschte unbeholfen nach Jamies Arm, kippte in seinem Anzug nach hinten und wäre beinahe umgefallen.

»Da kommt er!«, rief Deschurowa.

Das abgerundete Ende des alten Rovers rollte in Zeitlupe auf sie zu, wurde größer und größer.

»Festhalten!«

Das Heck das alten Fahrzeugs prallte so heftig auf die Windentrommel an der Nase ihres Rovers, dass Jamie gegen das hintere Schott des Cockpits taumelte. Beide Fahrzeuge blieben stehen.

Einen langen Moment sagte keiner von ihnen ein Wort. Dann kicherte Trudy Hall und erklärte: »Schleudertrauma! Wo ist der nächste Anwalt?«

Sie lachten alle zittrig.

»Die Räder des alten Vogels waren wohl doch im Leerlauf«, gab Trumball zu.

»Ja, scheint mir auch so«, sagte Deschurowa.

Jamie sah, dass sie die Räder ihres Rovers in der Parkstellung arretierte, bevor sie sich vom Fahrersitz hochstemmte.

»Ich muss mal«, verkündete sie fröhlich.

Beim Abendessen überlegten sie, wie sie den alten Rover am besten zum Rand des Canyons hinaufschleppen konnten. Die beiden Frauen saßen wie üblich auf der einen unteren Liege, Jamie und Trumball auf der anderen.

»Warum nehmen wir ihn nicht gleich mit zur Basis?«, drängte Trumball.

»Würde ein Loch in unsere Treibstoffreserve reißen«, sagte Deschurowa und sah Jamie über den Klapptisch hinweg an.

»Aber nur ein kleines«, entgegnete Trumball.

Jamie sagte: »Sofern es um die Sicherheit geht, ist es deine Entscheidung, Stacy. Ich muss genau wissen, wie viel von unserem Treibstoff fürs Abschleppen draufgehen würde.«

»Ich kann dir eine Schätzung geben, aber wie hoch unser Verbrauch mit dem Ding im Schlepptau genau wäre, weiß ich nicht.«

»Dann eben eine möglichst exakte Schätzung«, sagte Jamie.

»Früher oder später werden wir den Rover ja doch in der Basis haben wollen«, fuhr Trumball fort. »Also können wir ihn auch gleich mitnehmen.«

»Falls wir's können«, sagte Jamie.

»Klar. Aber ich gehe jede Wette ein, dass wir das ohne große Probleme schaffen.«

»Wir werden sehen.«

»Ja, Daddy«, spöttelte Dex.

Nach dem Abendessen räumten sie den Tisch weg und klappten die oberen Liegen herunter. Trumball begab sich in den Waschraum, und die beiden Frauen gingen zusammen ins Cockpit. Jamie hockte sich im Schneidersitz auf seine Liege, klappte seinen Laptop auf und setzte sich mit der Basis in Verbindung. Rodriguez war am Kommunikationspult.

»Hast du das Bildmaterial gekriegt, das ich dir gestern Abend geschickt habe?«, fragte er mit einem besorgten Ausdruck in dem fleischigen Gesicht.

»Ja, ich hatte nur noch keine Gelegenheit, es mir anzuschauen.«

»Gibt nicht viel zu sehen. Der Schwebegleiter eignet sich nicht so gut für die Art Daten, die du haben wollest.«

Jamie zuckte die Achseln. »Was anderes haben wir im Moment aber nicht.«

»Ja, das stimmt.«

Er ging mit Rodriguez den Tagesbericht durch. Possum Craig hatte das Bohrgerät wieder zum Laufen gebracht. Fuchida plante seine Exkursion zum Olympus Mons. Rodriguez selbst begann mit der Montage des bemannten Raketenflugzeugs, das ihn und den Biologen zum Gipfel des höchsten Berges im Sonnensystem bringen würde.

Jamie hörte zu, sah sich die Bestandsverzeichnisse an, die über seinen Bildschirm flimmerten, und wartete geduldig, bis er sich schließlich fragen hörte: »Und was hat Shektar gemacht?«

»Vijay? Die kümmert sich um Fuchidas Garten und um die Tierchen, die Possum mit seinem Bohrer raufholt. Willst du sie sprechen?«

»Klar. Ja.«

Trumball kam vom Waschraum zurück und beugte sich tief genug herunter, um Jamie anzugrinsen. »Bleib nicht zu lange auf, Chief. Großer Tag morgen.«

»Ja, ja, schon gut«, sagte Jamie. Er griff nach dem Headset, das zum Laptop gehörte, steckte sich den Stöpsel ins Ohr und zog den Mikrofonarm herunter, bis das Stiftmikro beinahe seine Lippen berührte.

Als Trumball sich auf die obere Liege schwang, wich Rodriguez' Gesicht auf dem Bildschirm dem von Vijay Shektar. Sie schien zu glänzen, als wäre ihre Haut eingeölt worden. Jamie dachte wieder, was für ein Vergnügen es wäre, sie mit Duftölen zu massieren.

Sie lächelte und plauderte ganz unverkrampft, beantwortete Jamies Fragen über die eisenfressenden Bakterien, die Craigs Bohrgerät jetzt aus etlichen Kilometern Tiefe heraufholte.

»Sie sind magnetisch aktiv«, berichtete sie. »Sie richten sich an Magnetfeldern aus.«

»Muss an dem Eisen liegen, das sie aufnehmen«, vermutete Jamie.

»Ja, aber was für einen Vorteil haben sie davon? Das Magnetfeld des Mars ist so schwach, dass ich nicht verstehe, wie ihnen das beim Überleben hilft.«

»Vielleicht tut es das gar nicht«, sagte Jamie. »Vielleicht ist es bloß Zufall.«

Sie machte ein skeptisches Gesicht.

»Kann auch sein, dass der Mars früher ein viel stärkeres Magnetfeld hatte«, meinte er, »und dass es sich mit der Zeit abgeschwächt hat.«

»Das wäre möglich«, sagte Vijay nachdenklich. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Sie vermehren sich ganz ordentlich in der Kultur. Sie teilen sich im Schnitt jede Stunde.«

»Unter Umweltbedingungen?«

»Mitsuo hat eine spezielle Hochdruckbox für sie gebaut«, antwortete sie. »Man muss sie in totaler Dunkelheit halten. Licht tötet sie.«

»Was ist mit Wärme?«

Ihre Augen blitzten. »Oh ja, sie sind termophil. Bei sechsundzwanzig Grad schalten sie von Zellteilung auf Konjugation um. Du solltest sie sehen, Jamie. Die eifrigen kleinen Kerlchen paaren sich wie die Kaninchen!«

»Genau das, was wir brauchen«, sagte Jamie leise. »Sexbesessene Bakterien.«

»Sie sind halt wie die meisten Männer«, sagte Vijay mit einem strahlenden Lächeln. »Sie tun es nur im Dunkeln — und unter großem Druck.«

»Wie die meisten australischen Männer, meinst du«, sagte er.

»Gilt auch für manche Yanks.«

Darauf hatte er keine Antwort.

Immer noch lächelnd, fragte Vijay: »Und wie läuft's bei euch?«

Jamie war dankbar für den Themenwechsel. Er kehrte in die sicheren Gefilde der Arbeit zurück, die sie gerade machten. Als er ihr erzählte, wie sie den alten Rover aus dem Sand gezogen hatten, kam ihm der Gedanke, dass diese höchst begehrenswerte Frau die Expedition zugrunde richten konnte, wenn ihr der Sinn danach stand.

Er erinnerte sich an Ilona Malater, die selbst ernannte Sextherapeuten der ersten Expedition. Sie hatte Spannungen ausgelöst, die nahezu unerträglich geworden waren, besonders bei den Russen.

Vijay war anders. Jünger zum Beispiel. Und sie schien immer über irgendeinen geheimen, internen Witz zu lachen. Sie gab zu, einen bösartigen Humor zu besitzen, aber Jamie spürte, dass sie professionell genug war, ihn — und ihre anderen Leidenschaften — im Zaum zu halten.

Das will ich ihr auch geraten haben, sagte er sich.

Dann fragte eine Stimme in seinem Kopf: Und wenn sie's nicht tut? Was machst du dann?

BILDMATERIAL

Tomas Rodriguez trommelte im Rhythmus zu den Trompeten und Geigen der Mariachi-CD, die er gerade hörte, mit den Fingern geistesabwesend auf die Tischplatte, während er mit zusammengekniffenen Augen konzentriert auf den Bildschirm des Computers starrte und den Kamerabildern des Schwebegleiters irgendetwas Gescheites zu entnehmen versuchte.

Es war weit nach Mitternacht. Er saß allein im Geologielabor der Kuppel, umgeben von Borden voller roter, zernarbter Steine und Kunststoffbehälter mit rostrotem Erdreich. In der Kuppel war es dunkel und still, und er hatte die Musik ganz leise gedreht; sie war gerade laut genug, um ihm Gesellschaft zu leisten, während alle anderen schliefen. Rodriguez wünschte sich sehnlichst, zu sehen, was Jamie Waterman gesehen zu haben glaubte: ein künstliches Gebilde, das in eine Nische im oberen Drittel der steilen, zerklüfteten nördlichen Felswand von Tithonium Chasma hineingebaut war. Er gab sich alle Mühe, es zu sehen.

Das Bild auf dem Schirm zeigte die Nische, eine dunkle Spalte in der massiven Felswand unter einem vorgewölbten Felsüberhang. Wegen des Überhangs lag die Nische im Schatten, obwohl die Sonne auf die Felswand schien. Das Flugzeug eignet sich nicht für so was, dachte Rodriguez, während er zusah, wie die Nische immer größer wurde und dann aus dem Bild glitt, als der Schwebegleiter abdrehte und aus dem Canyon emporstieg.

Mit einem geduldigen Seufzer ging er zum Anfang der Sequenz zurück, ließ sie ein weiteres Mal ablaufen, diesmal langsamer, und schaute noch aufmerksamer hin. Der Gleiter flog fast frontal auf die Felswand zu, seine nach vorn gerichteten Kameras hatten die Nische direkt im Visier. Rodriguez' Finger flogen über die Tastatur des Computers und schalteten auf höchste Helligkeitsstufe. Die Felswand wurde nahezu weiß, aber das Innere der Nische blieb aufreizend undeutlich.

Er hieb mit dem dicken Zeigefinger auf eine Taste und fror das Bild ein. Ja, da war etwas drin, eine Gesteinsformation, die heller war als der Rest. Und es sah so aus, als würde sie annähernd parallel zum Rand der Nische verlaufen. Ziemlich gerade.

Eine Mauer? Rodriguez stieß den angehaltenen Atem aus. Quien sabe?

»Ist das Jamies Dorf?«

Beim Klang ihrer Stimme schreckte er hoch. Rodriguez wirbelte auf seinem kleinen fahrbaren Stuhl herum und sah Vijay Shektar im Eingang der Laborkabine stehen, einen Plastikbecher in jeder Hand. Sie trug einen Overall, wie alle anderen auch. Aber der Klettverschluss vorne stand ein paar Zentimeter weit offen — weit genug, dass er es bemerkte. Mein lieber Mann, sie ist wirklich sexy, dachte Tomas.

»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte sie. »Dachte, heißer Tee würde vielleicht helfen.«

Tomas sah, dass die beiden Becher ein bisschen dampften. Und ihm wurde bewusst, dass Vijays Stimme, wenn sie so leise sprach, ein kehliges, erotisches Schnurren war.

»Ich hab die Musik gehört. Mexikanisch, oder?«, sagte sie und betrat das Labor. »Ich dachte, du hättest vielleicht auch gern ein Tässchen.«

Er nahm den Becher und wollte sich bedanken, merkte aber, dass ihm die Worte im Hals stecken blieben. Wie ein kleiner dummer Junge, dachte er. Er holte Luft und sagte dann vorsichtig: »Mexikanisch, ganz recht. Mariachi. Das Gegenstück zu Country and Western.«

»Wirklich?«

Er nickte. »Ja. Das gleiche Zeug: Ich hab dich geliebt, aber du hast mich verlassen. Mein Herz ist gebrochen, weil du mir untreu warst.«

»Und meinen Pickup mitgenommen hast«, fügte sie hinzu.

»Und meinen Hund.«

Vijay lachte. Dann sagte sie: »Irgendwer hat mir mal erklärt, das sei Musik für Verlierer.«

Rodriguez zuckte die Achseln. »Mir gefällt's.«

»Ist das Jamies Dorf?«, fragte sie erneut. Sie blieb stehen und schaute an ihm vorbei auf den Bildschirm.

Der Becher Tee in seiner Hand war heiß. Er seufzte. »Das ist kein Dorf.«

»Bist du sicher?«

»Ziemlich.«

Er hatte das Gefühl, dass der Tee noch zu heiß war, um ihn zu trinken, aber sie führte den Becher zum Mund und trank ohne Bedenken. Vorsichtig nahm er einen kleinen Schluck. Das Zeug war kochend heiß. Tomas unterdrückte einen Schmerzensschrei und stellte den Becher aufs Pult.

»Hol dir einen Stuhl«, sagte er und fragte sich, ob seine Zunge Blasen werfen würde, »dann zeig ich dir, was wir haben.«

Vijay nahm auf dem anderen kleinen fahrbaren Stuhl des Labors Platz. »Du bist noch reichlich spät auf.«

»Du auch.«

Sie zuckte die Achseln, und die Bewegung erregte ihn. »Ich schlafe ziemlich wenig. Schon seit jeher.«

»Mhm.«

»Aber was ist mit dir? Brauchst du nicht deinen Schlaf? Du solltest dich wirklich schonen. Morgen früh musst du wieder hellwach und topfit sein.«

Den Expeditionsvorschriften zufolge trug Rodriguez während Jamies und Stacy Deschurowas Abwesenheit die Verantwortung in der Kuppel. Er war der zweite Astronaut, und deshalb hatte er das Kommando, wenn die erste Astronautin und der Missionsleiter fort waren. Nicht dass die Wissenschaftler solchen Protokollfragen auch nur die geringste Beachtung schenkten. Sie würden seinen Befehlen höchstens dann Folge leisten, wenn es einen Notfall gab, glaubte Rodriguez. Vielleicht nicht einmal dann.

»Mir geht's gut«, sagte er und dachte, dass er mehr als bereit wäre, auf der Stelle ins Bett zu gehen, wenn sie mitkäme.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu. »Du glaubst also nicht, dass es ein Dorf oder irgendwas Künstliches ist?«

Sie hatte Parfüm aufgelegt, da war er sicher. Ein schwacher, aber irgendwie femininer Duft. Es kostete ihn einige Anstrengung, seine Hände bei sich zu behalten und sie nicht in die Arme zu nehmen. Widerstrebend drehte Tomas sich wieder zum Bildschirm um und fand die Kraft, »Sieh selbst!« zu sagen.

Die nächste halbe Stunde studierten sie das Bildmaterial des Schwebegleiters: Infrarot, Radar, Falschfarben, selbst den kurzen Datenburst aus dem Gas-Chromatographen, der ihnen nur Informationen über die Zusammensetzung der Luft im Canyon gab.

Sie saß neben ihm, so nah, dass ihre Schultern sich beinahe berührten. Tomas spürte, wie sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Oberlippe bildete.

Vijay seufzte erregend. »Da stehen jedenfalls keine Schilder mit der Aufschrift ›Willkommen, Erdlinge‹, stimmt's?«

Macht sie das absichtlich?, fragte sich Tomas. Weiß sie, wie das auf Männer wirkt?

»Wenn es jemand anders als Jamie wäre, würde ich sagen, wir verschwenden unsere Zeit«, erklärte er ihr.

»Aber bei Jamie ist das was anderes?«

»Er ist der Expeditionsleiter«, sagte Rodriguez. »Und er war schon mal hier.«

»Und deswegen hat er Recht?«

Er überlegte einen Augenblick. »Nein. Aber es bedeutet, dass wir uns mehr anstrengen als sonst, seiner Ahnung nachzugehen.«

Vijay schaute ihm direkt in die Augen. »Wie sehr würdest du dich für Jamie anstrengen?«

»Für Jamie? Wie meinst du das?«

»Angenommen, Jamie würde dich bitten, mit ihm in dieses Gebiet zu fahren, um in der Nische rumzustöbern und nachzusehen, was wirklich drin ist. Würdest du mitfahren?«

»Ja. Klar.«

»Weil er der Expeditionsleiter ist?«

Rodriguez zögerte. »Wahrscheinlich. Aber … ich würde wohl auch mitfahren wollen, wenn er nicht der Boss wäre.«

»Warum?«

Er merkte, wie sich seine Stirn in Falten legte. Das ist ein Psychotest, erkannte er. Darum geht es ihr also. Sie macht das nur, um ihren gottverdammten Psychoreport über mich auszufüllen.

»Ich mag Jamie«, sagte er. »Ich vertraue ihm. Ich glaube, wenn er mich bäte, mit ihm zum Canyon zu fahren, wäre ich irgendwie geschmeichelt.«

Vijay nickte. »Er ist liebenswert, nicht?«

»Ja.«

»Aber was das Dorf betrifft, irrt er sich.« Sie sagte es leise, mit echter Traurigkeit in der Stimme.

»Du magst ihn auch, stimmt's?«

Vijay Shektar starrte auf das Monitorbild der verschatteten Nische hoch oben in der Felswand und antwortete sehr leise: »Ja, ich mag ihn auch.«

Abrupt drehte Rodriguez sich zum Computer um und schaltete ihn aus. Das Bild der Felsennische erlosch. Der Schirm wurde dunkel.

»Du hast Recht«, sagte er beinahe zornig. »Es ist spät. Ich sollte lieber ein bisschen schlafen.«

Shektar erhob sich von ihrem Stuhl. »Ja, ich glaube, das sollte ich auch.«

Rodriguez stand auf und bemerkte zum ersten Mal, wie klein sie in Wirklichkeit war. Geradezu winzig. Wie eine kleine Puppe. Mit Kurven. Ich könnte sie mit einer Hand hochheben.

Sie blickte zu ihm auf und sagte: »Tut mir Leid, dass ich dich gestört habe, Tom. Schlaf gut.«

Sie drehte sich um, ging zur Tür und ließ Rodriguez allein im Geologielabor stehen.

Sie mag Jamie, sagte er sich. Sie mag ihn, nicht mich. Ich bin nur einer ihrer Patienten, eins ihrer gottverdammten Studienobjekte. Tut ihr Leid, dass sie mich gestört hat. Von wegen. Sie weiß verdammt genau, welche Wirkung sie auf mich hat. Es macht sie an, mich schwitzen zu sehen.

Mit Wunschphantasien von ihr im Kopf schlief er ein.

MITTAG: SOL 18

Als die Kuppel ihres Basislagers endlich über dem rostroten Horizont auftauchte, hörte Jamie innerlich die Musik von Peter und der Wolf: den klimaktischen Marsch, zu dessen Klängen Peter den gefangenen Wolf zum Haus seines Großvaters zurückbringt.

Sie schleppten den alten Rover hinter sich her, eine triumphale Rückkehr ins Basislager mit einem zusätzlichen Ausrüstungsstück für ihr Inventar.

Sofern Possum Craig und die beiden Astronauten ihn instand setzen konnten.

Jamie fuhr den Rover, Trumball saß rechts neben ihm. Stacy Deschurowa machte eine wohlverdiente Pause, nachdem sie praktisch den ganzen Rückweg vom Canyon am Steuer gesessen hatte. Trudy Hall war bereits hinten an der Luftschleuse und zwängte sich in den Anzug, um ihre Flechtenproben ins Labor der Kuppel zu tragen.

Wir sollten einen Zugangstunnel bauen, dachte Jamie, damit wir von der Luke des Rovers ins Innere der Kuppel gelangen können, ohne uns in die verdammten Raumanzüge quetschen zu müssen.

»Weißt du, was wir bräuchten?«, fragte Trumball, einen Fuß lässig auf die Kontrolltafel gestellt. Ohne Jamies Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Einen flexiblen Tunnel. Du weißt schon, so was wie die Fluggastbrücken auf Flughäfen. Dann …«

Die Klänge des Triumphmarschs verstummten. Jamie erinnerte sich, dass es in der Wissenschaft nicht darauf ankommt, wer als Erster die Idee gehabt hat, sondern darauf, wer sie als Erster publiziert.

Mit einem halbherzigen Lächeln sagte er: »Das ist eine gute Idee, Dex. Ein Zugangstunnel wäre überaus sinnvoll.«

In Trumballs Augen blitzte freudige Überraschung auf, aber er unterdrückte sie rasch.

Den ganzen Nachmittag über untersuchte Jamie zusammen mit Possum den alten Rover. Es war eng darin, weil sie beide ihre Raumanzüge trugen. Über Helmlautsprecher hörte Jamie Craig seufzen und stöhnen wie einen Handwerker aus der Nachbarschaft, der herauszufinden versucht, wie viel er verlangen kann, ohne den Job loszuwerden.

»Brennstoffzellen sind total hinüber«, brummte Craig. Und dann etwas später: »Batterien sind auch im Arsch.«

Sie gingen wieder hinaus und stiegen die in die Flanke des vorderen Moduls eingebaute Leiter hinauf, um die Solarpaneele zu inspizieren. Craigs ernster Ton wurde geradezu düster. »Aus den Brüdern hier kriegt man nich mal mehr 'nen feuchten Furz raus.«

Als sie wieder in der Kuppel waren und sich aus ihren Anzügen geschält hatten, war Jamie bereit, den Rover komplett abzuschreiben.

Aber Craig rieb sich mit einer Hand das stoppelige Kinn und sagte: »Tja, großer Chef, wenn der Bohrer weiter brav is und die Scheiße auch sonst unterm Deckel bleibt, krieg ich ihn in einer Woche wieder hin, schätz ich mal.«

Überrascht entfuhr es Jamie: »In einer Woche?«

»Paar Tage mehr oder weniger.«

»Wirklich?« Jamie setzte sich auf die Bank, die sich an den Spinden für die Raumanzüge entlangzog.

Craig nickte weise und pflanzte einen Fuß auf die Bank, gleich neben Jamie. »Im Großen und Ganzen isser in Ordnung. Ersatzbatterien und zusätzliche Solarpaneele hamwer im Lagerbestand.«

»Genug …?«

»Muss das Inventar im Computer durchchecken und die Scheißdinger dann in der Ladebucht finden. Aber es müsste eigentlich klargehen.«

»Prima!«

»Die Brennstoffzellen sind wirklich das Letzte«, beklagte sich Craig. »Alte Dinger, die noch mit Wasserstoff und Sauerstoff laufen. Da werden wir wohl 'n bisschen Wasser aus dem Reserveaufbereiter elektrolytisch zerlegen müssen.«

Die Brennstoffzellen der neueren Rover arbeiteten mit Methan und Sauerstoff, wie Jamie wusste.

»Schon komisch«, fuhr Craig fort. »Ich hab mir eher Sorgen wegen Schäden an der Windschutzscheibe gemacht … Du weißt schon, Schrammen oder sogar kleine Risse von den Sandstürmen. Aber den vorderen Teil hatteste ja fein säuberlich in den Sand eingebuddelt, drum is mit der Windschutzscheibe alles okay.«

Jamie stand ein bisschen wacklig auf. »Ich hätte nie geglaubt …«

»Für den Elektrokram hamwer Reservematerial«, fuhr Craig fort. »Aber wenn die Windschutzscheibe im Eimer gewesen wär, dann — Adios.«

Als Jamie einen Blick ins Kommunikationszentrum warf, sah er Rodriguez mit mürrischer Miene an der Konsole sitzen. Und ihm fiel auf, dass der junge Astronaut sich offenbar einen Schnurrbart wachsen lassen wollte; auf seiner Oberlippe sprossen ein paar kurze, dunkle Haare.

»Què tal, Tomas?«

Rodriguez blickte beinahe schuldbewusst zu ihm auf. »Probleme, Mann.«

»Was ist denn los?« Jamie zog sich den anderen fahrbaren Stuhl heran und setzte sich neben ihn.

»Ich hab den Kontakt zu Nummer zwei verloren.«

»Dem Schwebegleiter?« Jamie fühlte eine dunkle Vorahnung in seinen Eingeweiden.

Rodriguez nickte unglücklich. »Hab versucht, den Kontakt wieder herzustellen. Nichts zu machen.«

»Wo war der Gleiter?«

»Erkundungsflug über Olympus Mons.«

Der unbemannte Schwebegleiter kartierte den riesigen Vulkan für Fuchidas bevorstehende Mission zu dessen Gipfel.

»Was ist passiert?«

Der Astronaut schüttelte den Kopf. »Ich hab mir die Flugdaten angesehen. Während des Aufstiegs ist er bei zirka zwanzigtausend Meter in irgendeine Turbulenz geraten, aber dann hat's wieder aufgehört.«

Olympus Mons war annähernd dreißigtausend Meter hoch, mehr als dreimal so hoch wie der Mount Everest.

»Vielleicht war's die Windscherung«, meinte Rodriguez, »aber in der Höhe ist die Luft so dünn, dass das eigentlich kein Problem sein dürfte.«

»Wie lange ist der Kontakt zu dem Gleiter schon abgerissen?«

Rodriguez warf einen raschen Blick auf die Digitaluhr an der Kommunikationskonsole. »Dreiundfünfzig, vierundfünfzig Minuten.«

Jamie stieß den Atem aus. »Na ja, wenigstens haben wir noch Nummer eins und einen Ersatzgleiter im Lagerbestand.«

»Aber nur den einen.«

»Wir werden ihn benutzen müssen, wenn Nummer zwei abgestürzt ist.«

»Ja, ich weiß. Aber ich will den Reservegleiter erst zum Berg schicken, wenn ich rausgefunden habe, was mit Nummer zwei schief gelaufen ist.«

Jamie stand auf. Er schaute noch einmal in Rodriguez' trübsinniges Gesicht hinunter, legte ihm dann die Hand auf die stämmige Schulter und drückte sie.

»Mach dir keine Vorwürfe deswegen, Tomas. Es ist nicht deine Schuld.«

Der Astronaut schüttelte traurig den Kopf. »Woher willst du das wissen?«

Zum ersten Mal seit fast zwei Wochen saßen alle acht Forscher beim Abendessen zusammen. Trumball monopolisierte die Unterhaltung mit seinen Plänen zur Bergung der Pathfinder-Sonde und des kleinen Sojourner-Rovers im Ares Vallis. Zwischen Rodriguez und ihm entbrannte eine hitzige Diskussion über die Zuverlässigkeit der Landetriebwerke des Reserve-Treibstoffgenerators.

»Ist mir egal, was die Computersimulationen sagen«, erklärte Rodriguez mit ungewohnter Heftigkeit. »Du riskierst deinen Hals auf der Basis von Annahmen, die irgendein Ingenieur ins Simulationsprogramm eingegeben hat.«

Jamie wusste, dass der Astronaut noch immer vom Verlust des unbemannten Schwebegleiters schockiert war.

»Du meinst«, verbesserte Trudy Hall, »auf der Basis der Annahmen irgendeines Programmierers, die auf den Annahmen des Ingenieurs basieren.«

»Die alle beide für das Unternehmen arbeiten, das die Raketentriebwerke gebaut hat«, ergänzte Stacy Deschurowa.

»Nun hört aber auf«, protestierte Trumball. »Es gibt ja schließlich Testdaten, Herrgott noch mal. Die haben diese Triebwerke Dutzende Male gestartet.«

Jamie ließ sie diskutieren. Soll Tomas ruhig ein bisschen Dampf wegen dem Gleiter ablassen. Er macht sich Vorwürfe, weil er ihn verloren hat, oder zumindest, weil er nicht rausfinden konnte, was mit ihm passiert ist. Soll er ruhig diskutieren und mit Nachdruck darauf hinweisen, wie wichtig Sicherheit und Vorsicht sind. Das wird uns allen nützen.

Jamie hatte beschlossen, die Entscheidung über den Lufttransport des Reservegenerators Pete Connors und den Raketenexperten auf der Erde zu überlassen. Trumball würde nur dann nach Ares Vallis fahren, wenn die Spitzenfachleute auf dem Gebiet zustimmten, dass der Generator zuverlässig dorthin geflogen werden konnte, wo sie ihn für die Exkursion benötigten. Aber Dex schien jeden Aspekt bedacht zu haben. Er arbeitet schon lange an diesem Plan, dachte Jamie. Wahrscheinlich hat er schon vor unserem Abflug von der Erde damit angefangen. Er ist wirklich geschickt. Ein sehr cleverer Bursche.

Vijay Shektar saß Jamie gegenüber. Sie war ebenso stumm wie er. Ihr Blick ruhte auf Trumball, der seine Idee vehement gegen die vereinte Skepsis von Possum Craig und den beiden Astronauten verteidigte.

Craigs Einstellung amüsierte Jamie. Er murmelte dunkel: »Murphys Gesetz, Dex: Wenn irgendwas schief gehen kann, dann geht's auch schief. Und dann biste verdammt weit von jeder Hilfe entfernt.«

Trumball ließ sich von solchen Warnungen nicht im Mindesten beirren.

Jamie erkannte jedoch, dass Craig den heiklen Punkt genau getroffen hatte. Den Expeditionsvorschriften zufolge durfte keine Exkursion so weit von der Basis wegführen, dass ein Hilfsteam einen gestrandeten Rover nicht erreichen konnte. Falls Trumball draußen im Ares Vallis in Schwierigkeiten geriet, würde es keine Möglichkeit geben, ihn zu retten, außer wenn Stacy oder Rodriguez mit dem Raketenflugzeug hinfliegen konnten. Selbst dann konnte das Flugzeug nur jeweils zwei Personen transportieren. Wir müssten also zwei Rettungsflüge unternehmen. Riskant, dachte Jamie. Sehr riskant, aber es dürfte gerade eben reichen, um den Sicherheitsvorschriften zu genügen. Jamie nickte vor sich hin und erkannte erneut, dass Dex jeden Aspekt dieses Trips zum Ares Vallis berücksichtigt hatte.

Er richtete den Blick wieder auf Vijay, die Trumball immer noch mit einem kleinen amüsierten Lächeln auf den Lippen beobachtete.

Wenn Dex seinen Arsch riskieren will, meinetwegen, dachte Jamie. Dann fiel ihm wieder ein, dass Dex nicht allein fahren würde. Schade, dachte er. Und hatte sofort ein schlechtes Gewissen.

ABEND: SOL 18

»… also, so sieht der Plan aus, Dad«, sprach Dex Trumball in das Stiftmikro, das ein paar Millimeter vor seinen Lippen hing. »Du kannst schon mal anfangen, Gebote für Gerätschaften einzuholen, die über ein Vierteljahrhundert auf dem Mars gestanden haben! Dürften wohl ein paar Megabucks dabei rausspringen, hm?«

Trumball saß in seiner Unterkunft auf der Liege, den Laptop auf den Knien, Ohrstöpsel und Mikrofon mit dem Gerät verbunden. Nicht dass er Angst hatte, jemand könnte mithören, obwohl die Trennwände der Kabinen natürlich nicht bis zur Decke der Kuppel reichten. Er rechnete auch nicht mit einer sofortigen Antwort seines Vaters; die Entfernung zur Erde verhinderte das. Außerdem kannte er seinen Dad; der alte Mann würde die Sache eine Weile durchdenken wollen, bevor er seinem Sohn antwortete.

Dex war ziemlich überzeugt, dass sein Vater von seiner Idee beeindruckt sein würde. Die Rückholung des Pathfinders und des kleinen Sojourner-Rovers würde ein Meisterstück sein. Er sah geradezu vor sich, wie sich die Museen und Unterhaltungsmogule in aller Welt mit ihren Geboten überschlugen. Das wird Dad garantiert gefallen, sagte er sich. Es bringt Kohle aufs Konto.

Darryl C. Trumball war in seinem Büro und telefonierte mit dem Leiter seiner Londoner Niederlassung. Die Immobilienpreise in Osteuropa waren erneut im Sturzflug begriffen, und Trumball senior sah, dass ihn wieder einmal eine Gelegenheit anlachte. Billig kaufen, teuer verkaufen: Das war sein Leben lang seine Devise gewesen. Er hatte damit noch nie Schiffbruch erlitten.

Eine Wand von Trumballs Büro bestand aus einem riesigen Fenster mit einem überwältigenden Ausblick auf den Hafen von Boston. Er konnte die Masten von Old Ironsides an dessen Pier in Charleston ausmachen. Trumball testete damit an jedem klaren Tag seine Sehkraft. Die Wand gegenüber war eine Smartscreen, die Panoramabilder von allem zeigen konnte, was er zu sehen wünschte. Er hatte seinen Angestellten die Videos vom Mars vorgeführt, die sein Sohn ihm persönlich geschickt hatte. Sie waren alle gebührend beeindruckt gewesen.

Im Moment war der größte Teil des Wandbildschirms leer; nur das glatte, gut aussehende Gesicht des Leiters der Londoner Niederlassung war in einer Ecke zu sehen.

»Die Franzosen versuchen leider nach Kräften, uns Schwierigkeiten zu machen«, sagte der Leiter der Londoner Niederlassung trübselig.

»Auf welche Weise?«, fragte Trumball.

Der Mann war das Inbild eines gediegenen Angehörigen der britischen Oberschicht: silbernes Haar, gestutzter Schnurrbart, Jackett aus der Savile Row. »Sie haben irgendwelche ziemlich überholten Vorschriften der Europäischen Union bezüglich der Steuersätze für Immobilien ausgegraben …«

Während der Londoner sprach, begann das Licht an der Telefonkonsole auf Trumballs Schreibtisch zu blinken. Er drückte mit dem eleganten Füllfederhalter darauf, den er nervös zwischen den Fingern hin und her gedreht hatte. Auf dem kleinen Display der Konsole erschien der Text: PERSÖNLICHE NACHRICHT VON IHREM SOHN.

»… deshalb fürchte ich, dass wir die Franzmänner entweder irgendwie ablenken oder uns damit abfinden müssen, eine zusätzliche Steuer auf jede …«

»Ich rufe Sie wegen dieser Angelegenheit noch mal zurück«, sagte Trumball abrupt.

Der Engländer machte ein überraschtes Gesicht.

»Mir ist gerade etwas Privates dazwischengekommen. Mein Sohn. Er ist bei der Marsexpedition, wissen Sie.«

»Ich hoffe, es gibt keine Probleme.«

»Das bezweifle ich. Ich melde mich wieder. Überlegen Sie in der Zwischenzeit, ob wir die Franzosen nicht irgendwie beschwatzen können, die Dinge so zu sehen wie wir.« Beschwatzen war Trumballs Ausdruck für Bestechung.

Der Engländer schaute skeptisch drein, sagte jedoch: »Ich werde das prüfen.«

»Gut.«

Trumball löschte den Wandbildschirm und rief dann die Nachricht seines Sohnes auf. Dex' Gesicht ragte riesengroß über ihm auf. Trumball justierte das Bild rasch auf normale Größe.

»Dad, ich hab das Geschäft des Jahrhunderts für dich«, begann Dex. Er grinste wie eine Katze, die gerade einen Kanarienvogel verspeist hatte.

Trumball hörte sich den Plan seines Sohnes zur Bergung der alten Gerätschaften an. Er fand, dass der Junge dünner wirkte als sonst. Wenn seine Mutter das sah, würde sie einen hysterischen Anfall bekommen und ihm sagen wollen, dass er mehr essen und ja seine Vitaminpräparate nehmen sollte.

Doch als Dex die Details seines Planes abspulte, vergaß er das physische Erscheinungsbild seines Sohnes sehr rasch. Bei Gott, dachte Trumball. Da hat der Junge wirklich mal eine gute Idee gehabt. Ein Dutzend Anrufe, und ich hätte ein Dutzend Bieter für diesen alten Schrott. Mehr wäre nicht nötig. Vielleicht nicht mal so viele. Letztendlich würde es Hunderte von Bietern aus jedem Winkel des Globus geben.

Dann kam ihm ein neuer Gedanke. Wie wär's, wenn wir die Sachen den Franzosen anböten? Die müssen doch irgendein Wissenschaftsmuseum haben, das sie gern hätte. Oder das Pariser Disneyland!

Er lachte laut auf. Beschwatzen wir die Franzosen mit diesem alten Haufen Raumschrott, damit sie sich bei dem Osteuropageschäft nicht quer stellen. Das würde bestimmt funktionieren! Wenn ich das den Leuten in der Londoner Niederlassung erzähle. Denen zeige, wer der Mann ist, der ihre Probleme lösen kann. Ihnen sage, dass ich eigentlich ihre Jahresprämien kriegen müsste!

Er spielte Dex' Nachricht noch einmal von vorn ab und rief dann seinen hauseigenen Wissenschaftsberater an, einen Physiker vom MIT, den er auf Honorarbasis beschäftigte. Anschließend führte er noch zwei weitere Telefonate. Eines mit dem Generaldirektor des Unternehmens, das die Landetriebwerke für die Trägerrakete des Treibstoffgenerators hergestellt hatte, das andere mit den Leuten im Kontrollzentrum in Tarawa. Es war bereits dunkel, als er genug Informationen hatte, um seine Entscheidung zu treffen. Erst dann schickte er seinem Sohn auf dem Mars eine Nachricht.

Am nächsten Morgen hatte Dex reichlich zu tun. Er katalogisierte die aus Tithonium Chasma mitgebrachten Gesteins- und Bodenproben und testete ausgewählte Steine darauf, ob sie Hydrate enthielten. Wie ein Chirurg, der einen Tumor seziert, schnitt er mehrere Steine mit einer Diamantsäge auf und trennte so dünne Scheiben heraus, dass er hindurchschauen konnte.

Wie jeder Chirurg hatte er eine Assistentin, die ihm zu Hand ging: Trudy Hall, deren Interesse am Wassergehalt der Steine ebenso groß war wie seines. Sie verbrachten den ganzen Tag im Geologielabor und untersuchten die Steine mit dem Gaschromatographen und Massenspektrometer. Das Gerät verwandelte eine mikroskopische Menge der Gesteinsprobe mit einem Energieblitz seines winzigen Lasers zu Dampf und trennte diesen anschließend in seine molekularen Bestandteile auf. Am Ende des Tages waren sie beide müde, und ihnen taten alle Knochen weh, weil sie sich lange Stunden ununterbrochen über Laborgeräte gebeugt hatten. Dennoch hüpfte Trudy beinahe, als sie das Geologielabor verließen und sich auf den Weg zur Messe machten. Dex grinste von einem Ohr zum anderen.

»Ihr beiden seht ja glücklicher aus als Flitterwöchner«, sagte Possum Craig, der von der Werkbank aufblickte, wo er das störrische Ventil einer Luftpumpe reparierte.

»Worauf du dich verlassen kannst, Wiley«, sagte Trumball mit einem Zwinkern. »Wenn sie kochen könnte, würde ich sie heiraten.«

»Ich kann kochen«, gab Hall schlagfertig zurück, »aber ich bin noch viel zu jung, um ans Heiraten zu denken.«

Jamie Waterman kam mit einer Spur Neugier in seinem gleichmütigen Gesicht quer durch die Kuppel auf sie zu.

»Was gefunden?«, fragte er und gesellte sich zu Trumball und Hall, die zum Heißwasserbehälter gingen.

»Doch, ja«, sagte Trudy. »Sogar eine ganze Menge.«

Auf Jamies Gesicht erschien ein verwirrtes Lächeln. »Und, wollt ihr uns davon erzählen?«

»Ich finde, wir sollten damit bis zum Abendessen warten«, sagte Trumball, immer noch mit breitem Grinsen, »wenn alle ums Lagerfeuer versammelt sind.«

»Wie wär's mit einer kleinen Vorschau?«, fragte Jamie.

Trumball sah Trudy Hall an. »Sollen wir's ihm sagen?«

Sie sah Jamie an und wandte sich dann wieder an Dex. »Na ja, er ist immerhin der Chef.«

»Schon, aber …«

Jamie verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun mal los, ihr zwei! Was habt ihr rausgefunden?«

»Ganz einfach«, antwortete Trudy, die vor Aufregung beinahe übersprudelte. »Die Steine, die Hydrate enthalten, tragen auch Flechten. Die trockenen Steine haben keine Flechten.«

»Die Flechte muss die Hydrate spüren können«, sagte Trumball. »Sie kann die Anwesenheit von Wasser irgendwie riechen, selbst wenn es nicht flüssig ist.«

»Selbst wenn es chemisch in die molekulare Struktur des Gesteins eingebunden ist!«, fügte Hall hinzu.

Sie hatten den Heißwasserspender erreicht, aber keiner von ihnen griff nach einem Becher.

Jamie fragte langsam: »Seid ihr euch da sicher?«

»Jede Probe, die wir untersucht haben«, erwiderte Dex. »Hydrate und Flechte zusammen; keine Hydrate, keine Flechte.«

Kopfschüttelnd sagte Jamie: »Nein, ich meine, dass die Flechten Wasser spüren.«

»Wie lässt sich das sonst erklären?«, fragte Hall.

»Nun, vielleicht sterben die Flechten, die sich in Gestein ohne Hydrate anzusiedeln versuchen, einfach an Wassermangel ab.«

Trudy machte ein langes Gesicht. »Oh.«

»Also Moment mal«, sagte Trumball. »Das wäre eine Möglichkeit, okay, aber das heißt nicht …«

»Ockhams Skalpell, Dex«, sagte Hall niedergeschlagen.

»Wie?«

»Ockhams Skalpell«, wiederholte sie. »Wenn es zwei mögliche Erklärungen für ein Phänomen gibt, ist die einfachere für gewöhnlich die zutreffende.«

»Das heißt nicht, dass er Recht hat«, sagte Trumball beinahe streitsüchtig.

»Doch, ich fürchte schon«, sagte Trudy. Ihre Stimme war nur noch ein Wispern. »Wir waren so begeistert über die Hydratfunde, dass wir die auf der Hand liegende Erklärung übersehen haben.«

Trumball sah sie mit finsterer Miene an und wandte sich dann an Jamie. »Ich finde trotzdem, dass wir uns die Sache genauer anschauen sollten. Vielleicht kann die Flechte wirklich Hydrate im Gestein spüren.«

»Vielleicht«, gab Jamie zu. »Aber solltet ihr eure Zeit nicht lieber auf die Frage verwenden, wie sie die Wassermoleküle aus dem Gestein löst? Das ist ein echtes Problem.«

Halls Gesicht hellte sich wieder auf. »Ja, das ist das Problem, nicht wahr? Was für eine unglaubliche Anpassungsleistung!«

Jamie nickte und ging davon. Erst als er hinter der geschlossenen Tür seiner Kabine in Sicherheit war, erlaubte er sich ein Lächeln, dass er Dex' Ballon hatte platzen lassen.

Während des Abendessens erstatteten Trudy und Dex dem ganzen Team ausführlich Bericht darüber, was sie an diesem Tag getan hatten. Alle waren sich einig, dass Jamies Erklärung für das Fehlen von Flechten in wasserlosem Gestein wahrscheinlicher war: Flechten, die sich in trockenem Gestein anzusiedeln versuchten, starben an Wassermangel. Trumball trat zähneknirschend für die Idee ein, dass die Flechte irgendwie die Hydrate spüren konnte, aber seine Versuche waren halbherzig und gingen bald in dem aufgeregten Palaver darüber unter, wie die Organismen wohl nutzbares Wasser aus den Hydraten extrahierten.

Fünfzehn verschiedene Theorien kamen in ebenso vielen Minuten auf den Tisch; alle trugen ihre Ideen vor, kaum dass sie ihnen eingefallen waren. Alle außer Rodriguez, der in missmutigem Schweigen dasaß, wie Jamie bemerkte. Er gibt sich immer noch die Schuld am Verlust des Schwebegleiters, dachte er. Wie kann ich ihn da herausholen?

Possum Craig hatte auch eine Theorie über die Flechte: »Ich glaub, die kleinen Racker ham alle 'n Diplom in Chemie und bau'n winzige Chemielabors in den Steinen.«

Die anderen johlten und stöhnten.

»Nein, wartet«, sagte Trudy Hall, als das Gelächter erstarb. Sie saß Craig gegenüber und schaute ihm direkt in die Augen. »Possum hat im Grunde absolut Recht.«

Am Tisch wurde es still.

»Wenn die Flechten tatsächlich nutzbares Wasser aus den Hydraten extrahieren, müssen sie ausgezeichnete Chemiker sein und über eine außergewöhnliche chemische Ausrüstung verfügen.«

Mitsuo Fuchida, der am Ende des Tisches saß, ergriff das Wort. »Da kommt mir gerade ein Gedanke: Was passiert mit den Lichenoiden, wenn sie das gesamte Wasser in einem gegebenen Stein verbraucht haben?«

Alle drehten sich zu ihm um.

Fuchida fuhr fort: »Ein einzelner Stein enthält nur eine begrenzte Menge Wasser, nicht wahr? Was machen die Lichenoiden also, wenn sie das ganze Wasser im Stein aufgebraucht haben?«

»Sie werden wohl an Austrocknung sterben«, sagte Hall widerstrebend.

»Aber vorher werden sie sich bestimmt vermehren und ihre Samen zu anderen Steinen schicken«, meinte Vijay Shektar.

»Vielleicht gehen sie in ein Sporenstadium über«, schlug Trumball vor, »und warten, bis eine andere Wasserquelle verfügbar wird.«

»Wir haben keine Sporen gesehen.«

»Ihr habt auch nicht nach welchen gesucht.«

»Das stimmt«, gab Hall zu.

»Augenblick mal«, sagte Jamie. »Da stellt sich eine bedeutsame Frage, nicht? Es gib nur eine begrenzte Menge hydrathaltiger Steine. Was passiert, wenn die Flechten alle trockengelegt haben?«

»Vielleicht sind die Steine ohne Hydrate von den Flechten schon früher leergesaugt worden«, sagte Trumball.

Hall schüttelte den Kopf. »So etwas würde Jahrtausende dauern … äonenlang, um Himmels willen.«

»Das is der Zeitrahmen für planetare Entwicklungen«, sagte Craig. »Wie schon der alte Carl Sagan gesagt hat: Abermilliarden von Jahren.«

»Es ist auch der Zeitrahmen für die evolutionäre Entwicklung von Lebensformen«, fügte Fuchida hinzu.

»Jesus und alle Heiligen«, sagte Trumball leise. »Es ist genau, wie Lowell gesagt hat — dieser Planet stirbt.«

»Lowell … war das der mit den Kanälen?«, fragte Stacy Deschurowa.

Mit einem Nicken erwiderte Trumball: »Er glaubte, Kanäle gesehen zu haben, und behauptete, der Mars sei von intelligenten Wesen bewohnt, die ums Überleben kämpften.«

»Tun wir das nicht alle?«, witzelte Trudy.

»Was?«

»Ums Überleben kämpfen.«

»Nein, im Ernst«, sagte Trumball. »Lowells Kanäle resultierten aus Ermüdungserscheinungen der Augen und optischen Täuschungen. Aber sein zentraler Gedanke war, dass der Mars seine Luft und sein Wasser verlor, dass der ganze Planet starb …«

Trudy Hall sagte mit gedämpfter Stimme: »Und genau das zeigen unsere Forschungsergebnisse.«

»Die Flechten kämpfen ums Überleben«, sagte Jamie, »aber ihnen gehen die notwendigen Ressourcen aus.«

»Sie verbrauchen die Hydrate im Gestein.«

»Und sterben langsam ab.«

»Aber sie sterben.«

»Oder gehen in ein Sporenstadium über«, rief Trumball ihnen ins Gedächtnis. »Vorübergehende Einstellung aller Lebensfunktionen. Sie warten auf bessere Bedingungen, unter denen sie wieder zum Leben erwachen können.«

»Wie lange können sie das durchhalten?«, fragte Craig.

Fuchida sagte: »Auf der Erde sind schon Sporen aus der Zeit der Dinosaurier wieder belebt worden.«

»Also Millionen Jahre.«

»Dutzende Millionen.«

»Sporen haben sogar auf dem Mond überlebt«, erklärte Deschurowa. »Trotz Vakuum und harter Strahlung.«

»Lunare Sporen?«, fragte Trumball.

»Sporen, die wir mitgebracht hatten, ohne es zu wissen«, antwortete die Kosmonautin. »Sie warteten in der alten Apollo-Abstiegsstufe, als wir über vierzig Jahre später dorthin kamen.«

»Haben sie die Mondfähre nicht dekontaminiert, bevor sie zum Mond geflogen sind?«

»Doch, natürlich, aber das hat nicht alle Bazillen umgebracht. Die sind sehr zäh.«

Craig schnaubte verächtlich. »Da fragt man sich, was wir so alles mit uns rumschleppen, nich?«

»Der entscheidende Punkt ist doch folgender«, sagte Jamie. »Die Flechte deutet offenbar darauf hin, dass der Mars früher einmal viel reicher an Leben war. Und dass er jetzt stirbt.«

Sie nickten alle zustimmend. Jamie dachte: Ja, der Mars stirbt. Früher hat es hier Leben in Hülle und Fülle gegeben. Früher hat es hier intelligente Marsianer gegeben, die ihre Städte in die Felswände gebaut haben. Ich weiß es! Ich muss hinfahren und es beweisen.

Dex Trumball sah Jamies Gesichtsausdruck und wusste genau, was im Kopf des Indianers vorging. Er errichtet ein theoretisches Kartenhaus, um sich zu beweisen, dass es keine Fata Morgana war, was er in dieser Nische im Canyon gesehen hat, sondern ein von intelligenten Marsianern erbautes Gebilde.

Dex behielt seine Meinung jedoch für sich und hielt bis zum Ende der Diskussion bei Tisch durch; die anderen kamen bald vom Hundertsten ins Tausendste, wiederholten sich, überlegten laut und stellten wilde Vermutungen an, nur um sich reden zu hören. Er blieb die ganze Zeit sitzen, weil er die fröhlich debattierende Runde nicht als Erster verlassen wollte. Schließlich tippte Jamie jedoch auf seine Armbanduhr und schlug vor, dass sie den Tisch abräumten und schlafen gingen.

Dex lächelte innerlich. Er sagt immer »geht schlafen«. Nie »geht ins Bett«. Ich möchte wissen, wie lange es her ist, dass er mit jemandem im Bett war. Zum Teufel, es ist schon bei mir viel zu lange her, und er führt sich auf wie ein heiliger Mann der Navajos. Er ist wirklich ein Heiliger, unser edler Führer: Sankt Jamie vom Mars.

Dex lachte in sich hinein und ging in seine Unterkunft. Er schaltete den Laptop ein. Dad müsste meine letzte Nachricht inzwischen beantwortet haben. Tatsächlich, da war eine Botschaft von seinem Vater. Und auch eine von Mom. Viel länger als die von Dad. Dex ignorierte die Nachricht seiner Mutter und holte das hagere, strenge Gesicht seines Vaters auf den Bildschirm. Er sieht aus wie eine Eisskulptur, dachte Dex: kalt und hart, unmenschlich. Dad war offenbar in seinem Büro. Durch das Fenster hinter dem Schreibtisch sah Dex die Skyline von Boston.

»Dex, ich finde es eine gute Idee, die alte Pathfinder-Sonde zu bergen. Ich habe schon ein paar ausgewählte Persönlichkeiten kontaktiert und ihren Speichelfluss aktiviert. Wir könnten bei diesem Geschäft ein ganz anständiges Sümmchen einstreichen.«

Sag: Gute Arbeit, Dex, dachte er. Oder: Ich bin stolz auf dich, mein Junge.

Aber der Alte fuhr fort: »Mir ist allerdings klar, dass dein Plan nicht ungefährlich ist. Ich habe mich mit den Leuten unterhalten, die sich mit diesen Dingen auskennen, und sie sagen mir, es sei zwar technisch machbar, aber riskant. Wenn etwas schief geht, bestehen nur sehr geringe Aussichten auf Hilfe.«

Das stimmt, Dad, antwortete er stumm. Du sagst doch immer, ich hätte noch nie meinen Arsch riskiert, bei gar nichts. Ich hätte es immer leicht gehabt. Jetzt werde ich dir mal zeigen, wie sehr du dich in mir irrst.

»Aus diesem Grund will ich sicherstellen, dass diejenigen Personen für diese Mission ausgewählt werden, die für den Erfolg und die Sicherheit der Expedition am unwichtigsten sind. Sorg dafür, dass Dr. Waterman diesen mexikanischen Astronauten losschickt, Rodriguez. Und den Texaner, wie heißt er noch gleich … Craig, stimmt's? Die werden sich gut verstehen, und wenn ihnen was zustößt, ist das kein so großer Verlust.«

Dex starrte mit großen Augen auf den kleinen Bildschirm. »Du hast doch keinen blassen Schimmer, Dad«, sagte er leise. »Du hast doch nicht die mindeste Ahnung.«

Aber sein Vater sagte: »Du darfst unter gar keinen Umständen an dieser Mission teilnehmen. Hörst du, Dex? Ich verbiete es dir ausdrücklich. Du bleibst dort, wo du in Sicherheit bist. Sollen die anderen die Arbeit machen; du heimst dann den Ruhm ein.«

MORGEN: SOL 21

»Drei Wochen auf dem Mars«, sagte Vijay Shektar. »Wir sollten heute Abend feiern.«

Jamie saß auf einem Hocker mit spindeldürren Beinen in Shektars Krankenrevier. Das Oberteil seines Overalls war heruntergezogen, und er hatte eine Manschette zum Messen des Blutdrucks um den linken Unterarm und ein halbes Dutzend medizinische Sensorpflaster auf Brust und Rücken.

»Die erste Expedition ist vierundfünzig Sols geblieben«, sagte er. »Warten wir, bis wir ihren Rekord gebrochen haben.«

»Du bist ein Spielverderber, Jamie.« Vijay schnitt ein Gesicht, irgendwo zwischen einem Schmollen und einem Grinsen.

»Oder noch besser, warten wir, bis wir etwas mehr zu feiern haben als ein Kalenderdatum.«

Vijay warf einen Blick auf die Monitore, auf denen Jamies Blutdruck, Puls, Temperatur und Haut-PH-Wert angezeigt wurden. Als sie wieder zu Jamie schaute, tanzten ihre Augen.

»Nun«, sagte sie, »Weihnachten steht vor der Tür — auf der Erde.«

»Schön. Wir können Weihnachten feiern.«

»Ohne Baum.«

»Wir machen uns einen aus Aluminium. Oder aus Plastik.«

Sie begann, die Sensorscheiben abzuziehen. »Du bist langweilig gesund, Kamerad. Nur deine Hautfarbe ist nicht so gut. Du solltest dich öfter mal unter die Höhensonne legen.«

»Ich könnte ohne Raumanzug in die Luftschleuse gehen«, schlug er grinsend vor, während er den Overall wieder hochzog und einen Arm in den Ärmel fummelte.

»Das UV-Licht da drin ist ein bisschen zu stark fürs Braunwerden.«

»Hätte nie gedacht, dass jemand mit meiner Hautfarbe Höhensonne brauchen würde«, sagte Jamie.

»Und was ist mit mir?«

»Du hast eine Dauerbräune.«

»Ja, das ist mir auch aufgefallen, als ich zum ersten Mal in eine Drogerie gegangen bin und hautfarbenes Pflaster kaufen wollte.«

Jamie musterte sie eingehend. In ihrer Miene war keine Spur von Boshaftigkeit. Ganz im Gegenteil.

»Du bist ja heute Morgen so gut gelaunt«, sagte er und drückte den Klettverschluss vorn an seinem Overall zu.

»Und du bist sachlich und nüchtern, wie immer.«

»Das ist mein Job.«

»Du solltest dir mal ein bisschen Entspannung gönnen«, sagte sie. »Du weißt schon: Arbeit macht das Leben süß, Faulheit stärkt die Glieder.«

Jamie überlegte rasch. »Wie wär's mit einem Spaziergang?«

»Draußen?«

»Wo sonst?«

»Trudy joggt jeden Tag in der Kuppel. Sie hat sich eine regelrechte Route zurechtgelegt.«

»Nein«, sagte Jamie. »Ich meine draußen.«

»Denkst du, wir sollten?«

»Ich hab heute Nachmittag ein bisschen Zeit, kurz vor dem Abendessen. Willst du mit mir spazieren gehen?«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Du bist bestimmt seit dem Tag, an dem wir gelandet sind, nicht mehr draußen gewesen«, sagte Jamie leichthin.

»Oh nein, das stimmt nicht. Dex und ich sind ein paar Mal rausgegangen. Aber seit er so mit der Planung dieser Exkursion zum Ares Vallis beschäftigt ist, natürlich nicht mehr.«

»Natürlich nicht«, erwiderte Jamie. Das war ein echter Dämpfer gewesen.

Vijay kicherte. »Dex wollte mich überzeugen, dass wir zu zweit in einen Raumanzug passen.«

»Ach wirklich?«, knurrte Jamie.

Sie grinste ihn breit an. »Was meinst du, Jamie? Du bist ein bisschen kräftiger als Dex. Glaubst du, wir beide könnten uns in einen Anzug kuscheln?«

Jamie wusste nicht, was er sagen sollte, bis ihm ein alter Spruch eines Kommilitonen an der Uni einfiel. »Du solltest deinen Mund keinen Scheck ausstellen lassen, Vijay, den dein Körper nicht einlösen kann.«

Nun war ausnahmsweise einmal sie sprachlos.

Jamie grinste. »Sechzehn Uhr. Wir treffen uns bei den Spinden. Okay?«

Sie salutierte militärisch. »Aye-aye, Sir.«

Dex Trumball schäumte noch immer vor Wut über den Befehl seines Vaters. Die Planung der Exkursion zum Ares Vallis verschlang immer mehr Zeit, vor allem jetzt, wo sie das Lenksystem für die Trägerrakete des Treibstoffgenerators testeten. Jamie hatte eine einschneidende Änderung in Dex' und Craigs Arbeitsplänen genehmigt, sodass sie ihre Zeit nun weitgehend auf die Vorbereitung der Exkursion verwenden konnten; allerdings mussten sie dafür einen großen Teil ihrer regulären Arbeit aufschieben, unter anderem auch die stratigraphischen Untersuchungen, die so wichtig für das Verständnis der Zeiträume waren, in denen die geologischen Kräfte auf dem Mars ihr Werk verrichteten.

Jamie übernahm einen Teil dieser Arbeit, da er Geologe war. Er konnte versuchen, die Bedeutung der verschiedenen Gesteinsschichten zu analysieren und den Zeitpunkt ihrer Ablagerung festzustellen. Aber Dex wusste, dass er das eigentlich selbst machen sollte; er vernachlässigte seine eigene Arbeit — und Jamie ließ es zu. Na klar, dachte er. Wenn jemand sich über die Vernachlässigung der geologischen Arbeit beklagt, kann er mir die Schuld in die Schuhe schieben.

Dex hatte niemandem etwas davon erzählt, dass sein Vater ihm verboten hatte, auf die Exkursion zu gehen. Er hatte die widerwärtige Botschaft seines Vaters sofort gelöscht und sich in den Hauptcomputer der Expedition gehackt, um sich zu vergewissern, dass keine Kopie in den Unterlagen war. Er will nicht, dass ich fahre, knurrte Dex in sich hinein, während er auf das Display des Steuercomputers starrte. Possum Craig war draußen und brachte einen Satz Sensoren an der Trägerrakete an, sodass sie wissenschaftlichen Nutzen aus dem bevorstehenden Flug zur Xanthe-Terra-Region östlich vom Lunae Planum ziehen konnten. Stacy Deschurowa würde den Flug von der Basiskuppel aus steuern. Dex arbeitete mit ihr daran, sämtliche Flugparameter festzulegen.

Er will nicht, dass ich fahre, weil er glaubt, dass ich's vermassle. Er vertraut mir nicht. Ich bin auf dem Mars, verdammt noch mal, und er vertraut mir immer noch nicht! Selbst wenn alles bestens läuft und wir die alten Geräte hierher bringen, ohne dass es Probleme gibt, könnte er dann immer noch behaupten, ich hätte es ja nicht getan, ich hätte nicht den Grips oder den Mumm gehabt, loszufahren und sie zu holen.

Zur Hölle mit dir, Pop! Ich fahre. Und du kannst rein gar nichts dagegen tun. Ich fahre persönlich hin und zeige dir, dass ich's schaffe. Bevor du's erfährst, mein lieber Daddy, bin ich schon unterwegs. Deine Verbote kannst du dir sonst wo hin stecken, du alter Furzer. Du schreibst mir nichts mehr vor. Ganz gleich, was du sagst oder tust, hier draußen mache ich, was ich will.

»Hast du nicht gesagt, du hättest frei?« Vijays Stimme in Jamies Helmlautsprechern klang ein wenig belustigt.

Die beiden gingen zu dem Raketenflugzeug, das Rodriguez in den letzten Wochen zusammengebaut hatte. Wie die ferngesteuerten Schwebegleiter bestand es aus einer hauchdünnen Kunststoffhaut, die sich über einen Cerplast-Rahmen aus Keramik und Kunststoff spannte. Jamie fand, dass es wie ein überdimensionales Modellflugzeug aus einer Art Küchenfolie mit einem merkwürdig gebogenen sechsflügeligen Propeller an der Nase aussah.

Aber es war groß genug, um zwei Personen zu transportieren. Geradezu riesig im Vergleich zu den unbemannten Schwebegleitern. Rodriguez sagte, es sei nur ein Treibstofftank mit Flügeln. Die weit gespannten Tragflächen krümmten sich an den Spitzen nach unten.

Das Cockpit, nicht mehr als eine durchsichtige Blase am vorderen Ende, wirkte winzig. Den an der Nahtstelle von Flügelwurzeln und Rumpf angebrachten Raketentriebwerken traute man gar nicht zu, dass sie das Ding vom Boden hochbrachten, so klein waren sie.

Das Flugzeug sollte seine Raketentriebwerke zum Starten verwenden, aber sobald es eine gewisse Höhe erreicht hatte, würde es mit dem Propeller fliegen. Auf die Oberseiten der Tragflächen aufgesprühte Solarzellen würden den Strom für den Elektromotor liefern. In der Marsatmosphäre gab es zu wenig Sauerstoff für ein Düsentriebwerk; die Raketen waren der Hauptmuskel des Flugzeugs, die Solarzellen seine sekundäre Energiequelle.

»Für mich ist das Freizeit«, erwiderte Jamie. »Wir könnten Tomas hallo sagen, wenn wir schon mal hier sind, meinst du nicht?«

»Überall um uns herum ist der Mars, und da gehst du zufällig gerade in diese Richtung«, konterte sie.

Ihr koboldhaft neckischer Ton entging ihm keineswegs. Statt sich auf ein Geplänkel mit ihr einzulassen, rief Jamie Rodriguez zu: »Hola, Tomas! Què pasa?«

Der Astronaut kniete in seinem Raumanzug unter einer Flügelspitze des Flugzeugs. Seine beschuhten Hände steckten in einer offenen Wartungsklappe in der Triebwerksverkleidung. Man konnte nicht erkennen, ob er im Helm den Kopf drehte, aber seine besorgte Stimme kam aus ihren Helmlautsprechern: »Tengo um probleina con esta maldita … äh, Einspritzdüse.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Shektar.

»Wo liegt das Problem?«, fragte Jamie auf Englisch.

Er hörte Rodriguez glucksen. »Schön, dass du auf Englisch umschaltest, Mann. Ich glaub nicht, dass mein Spanisch gut genug ist, um mich über Gelenke mit gasdynamischer Schmierung und Tieftemperatur-Zündsysteme auszulassen.«

Rodriguez schien seinen Katzenjammer über den Verlust des unbemannten Schwebegleiters überwunden zu haben. Jamie hatte ihn aufmerksam beobachtet, weil er wusste, dass Tomas Fuchida mit dem bemannten Flugzeug in dasselbe Gebiet bringen sollte, in dem der Schwebegleiter verloren gegangen war. Der Astronaut hatte alle Anstrengungen unternommen, den Verlust des unbemannten Gleiters aufzuklären, aber je näher sein eigener Flug rückte, desto weniger schien er sich für die Absturzursache zu interessieren.

Jamie und Rodriguez plauderten eine Weile im Techniker-Kauderwelsch; Shektar verstand kein Wort von dem, was sie sagten.

Schließlich fragte Jamie: »Also, was ist — wird es fliegen, Orville?«

Rodriguez lachte. »Es wird, Wilbur. Und wenn ich die verdammten widerspenstigen Treibstoffpumpen mit meinem eigenen Blut schmieren muss.«

Jamie erkannte, dass Rodriguez es trotz seines lockeren Tonfalls vollkommen ernst meinte. Er würde diesen Vogel fliegen, mit Fuchida als Passagier. Wenn etwas schief ging, war es um ihn geschehen.

Und um mich auch, erkannte Jamie. Ich muss ihnen das endgültige Okay für den Flug geben. Es spielt überhaupt keine Rolle, wie viele Techniker auf der Erde seine Arbeit noch mal nachprüfen und für gut befinden. Die endgültige Verantwortung trage ich. Ist Tomas seelisch bereit für diese Mission? Vielleicht sollte ich mit Vijay darüber sprechen.

Ihm fiel etwas ein, das Conners ihm damals während des Trainings erzählt hatte, noch vor der ersten Expedition.

»Siehe die primitive Schildkröte«, hatte der Astronaut zitiert. »Sie kommt nur voran, wenn sie den Kopf herausstreckt und damit den Hals riskiert.«

Pilotenweisheit. Astronautenhumor. Aber Jamie wusste, dass es stimmte. Wenn wir hundertprozentige Sicherheit wollten, säßen wir noch in unseren vier Wänden auf der Erde. Zum Teufel, wir würden noch in Höhlen leben und hätten zu große Angst, um Feuer zu machen.

»Mir ist ein Spaziergang draußen auf dem Land versprochen worden«, erinnerte ihn Skektar.

»In Ordnung«, sagte er rasch. »Bleib dran, Tomas.«

»Was hab ich sonst schon zu tun?«

Jamie und Vijay umrundeten das hohe, weit ausladende Schwanzende des Flugzeugs und gingen auf die untergehende Sonne zu. Sie schalteten ihren Anzugfunk von der allgemeinen Kommunikationsfrequenz auf eine andere, die es ihnen erlaubte, sich zu unterhalten, ohne Rodriguez oder jemand anderen in der Kuppel zu stören, der die allgemeine Frequenz vielleicht gerade überwachte.

»Mit Tommy scheint jetzt wieder alles in Ordnung zu sein«, sagte Vijay übergangslos.

Überrascht erwiderte Jamie: »Hat er dir von seinen Problemen erzählt?«

»Der? Nie im Leben, Kamerad.«

»Woher weißt du dann …?«

»Ich wäre eine tolle Psychologin, wenn mir nicht aufgefallen wäre, wie geknickt er dreingeschaut hat, oder?« Shektars Stimme klang ein wenig amüsiert. »Ich meine, der arme Kerl ist ja wie Falschgeld durch die Gegend gelaufen.«

»Er hat sich für den Absturz des Gleiters verantwortlich gefühlt.«

»Er ist drüber weg.«

»Mit deiner Hilfe?«

Ein oder zwei Herzschläge lang antwortete sie nicht. Dann: »Oh, ich hab ihn ein paar Mal strahlend angelächelt und ihm auf die Schulter geklopft. Schien ihn ein bisschen aufzumuntern.«

»Wird er fliegen können?«

»Wäre sogar das Beste für ihn«, gab sie zurück. »Wenn du ihn jetzt von der Mission abziehen würdest, wäre er am Boden zerstört.«

Jamie nickte in seinem Helm und fragte sich, wie viel von diesen Maßnahmen zur Hebung der Moral Eingang in Vijays offizielle Unterlagen fand.

Sie entfernten sich langsam von der Kuppel, gingen über den mit Steinen übersäten roten Sand.

»Oh Gott, das ist ja noch öder als das Outback«, meinte Vijay leise.

»Aber schön«, sagte Jamie.

»Das findest du schön?« Ungläubigkeit sprach aus ihrem Ton.

»Du vergleichst es mit der Erde, mit einem Ort, den du kennst oder vielleicht sogar liebst.«

»Dagegen ist Coober Pedy der Garten Eden.«

Jamie schüttelte den Kopf. »Zieh keine Vergleiche. Das ist eine andere Welt, Vijay. Nimm sie so, wie sie ist. Betrachte sie mit neuen Augen.«

Noch während er das sagte, erkannte Jamie, dass er selbst die marsianische Landschaft instinktiv mit der felsigen Einöde des Navajo-Reservats verglich. Befolge deinen eigenen Rat, dachte er. Betrachte sie mit neuen Augen.

Und er sah Schönheit. Die Welt vor ihren Augen war eine Sinfonie der Rottöne: Überall lagen rostfarbene Felsbrocken herum, sanfte Dünen in Ocker und Kastanienbraun erstreckten sich bis zum hügeligen, unebenen Horizont, der Himmel war von einem zarten Rosa, das sich über ihnen zu Blau verdunkelte. Eine leise Brise strich über sie hinweg; er hörte ihr freundliches Raunen durch seinen Helm. Es war richtig, harmonisch, eine ausgewogene Welt ohne Druck, lärmende Menschenmengen, riesenhafte Gebäude oder verkehrsreiche Straßen.

Ohne Menschen, erkannte er. Vielleicht sollten wir nicht in übervölkerten Städten leben. Vielleicht sollten wir in kleinen Familien leben, in kleinen Gruppen mit viel freiem Raum um uns herum.

»Weißt du«, sagte Vijay langsam, »es ist wirklich irgendwie schön, auf gewisse Weise. Friedlich.«

Ja, dachte Jamie. Friedlich. Aber wenn Dex seinen Willen bekommt, dann werden hier Touristen durchtrampeln und Bauunternehmer Städte bauen, und ein Heer von Ingenieuren wird überall herumwuseln, um all das zu ändern und ein zweites Phoenix, Tokio oder New York daraus zu machen.

»Natürlich ist es hier nur friedlich, weil wir nicht aus diesen Anzügen herauskönnen«, fuhr Vijay fort. »Es ist schön, weil wir hier eigentlich nicht leben können, wir können nur zu Besuch kommen.«

»Der Mars duldet uns«, sagte Jamie. »Solange wir seine Welt respektieren.«

»Im Grunde sind wir gar nicht auf dem Mars, nicht wahr? Ich meine, wir können den Wind nicht spüren und nicht barfuß über den Sand laufen.«

»Nein. Wir sind Besucher. Gäste.«

Sie trat näher zu ihm, und Jamie versuchte, ihr den Arm um die Schultern zu legen. In den überdimensionalen hartschaligen Anzügen mit den klobigen Tornistergeräten war das jedoch unmöglich.

Stattdessen fasste er sie am Arm und führte sie wortlos auf den Kamm einer niedrigen, bogenförmigen Felsenkette. Die Spätnachmittagssonne warf ihre langen Schatten über die kahlen Sanddünen, die in symmetrischer Anordnung bis zu dem beunruhigend nahen Horizont marschierten. Das Sonnenlicht enthielt keine Wärme; ohne die schützenden Anzüge, die sie umhüllten, wären sie schnell erfroren. Und ohne die Luft aus den Tanks in ihren Tornistern wären sie noch schneller erstickt.

Dennoch brachte sie mit ihrer unheimlichen Schönheit eine Saite in Jamie zum Klingen, diese rote Welt. Es war eine sanfte Landschaft, kahl und leer, aber irgendwie freundlich und verlockend. Was ist jenseits des nächsten Hügels, fragte er sich. Und hinter dem Horizont?

Dennoch blieb er stehen.

»Warum bleibst du stehen?«, fragte sie. »Gehen wir zu diesen Dünen hinüber.«

Jamie berührte mit der einen Hand ihre Schulter und zeigte mit der anderen nach hinten. »Wir wären außerhalb des Kamerabereichs.«

Hinter ihnen ragte eine der auf Masten montierten Überwachungskameras gerade eben noch über den Horizont. Ihre nebeneinander herlaufenden Stiefelabdrücke waren in dem eisenhaltigen Sand deutlich zu sehen. Sie werden bis zum nächsten großen Sturm erhalten bleiben, sagte sich Jamie. Der sanfte Wind, der hier weht, hat nicht genug Kraft, um die rostigen Sandkörner zu bewegen.

»Gehen wir eine Weile auf diesem Kamm entlang«, sagte er zu Vijay. »Es ist noch früh, wir haben Zeit.«

»Gern.«

»Wir können aber nicht sehr lange draußen bleiben«, schränkte er ein. »Sobald die Sonne untergeht, wird es rasch dunkel.«

»Stacy hat mir erzählt, dass du ihr die Polarlichter gezeigt hast.«

»Ja, das stimmt.«

Nachdem sie ein paar Minuten lang stumm dahingegangen waren, blieb Jamie stehen und drehte sich ganz herum. Im Osten wurde der Himmel bereits dunkel, obwohl die Sonne noch nicht ganz den welligen westlichen Horizont berührte.

Jamie dachte: Dort müsste … ja! Da ist er!

Er berührte Vijay an der Schulter und zeigte mit der anderen Hand hin. »Schau, da oben.«

»Wo? Was ist — ein Flugzeug!«

»Nein«, korrigierte sie Jamie, »das ist Phobos, der nähere Mond.«

Ein heller Funken bewegte sich dort oben zielstrebig dahin, ohne zu blinken, ohne Eile, zog über den dunkelnden Himmel, als wäre er in einer eigenen Mission unterwegs.

»Er ist so klein, dass man ihn nicht als Scheibe sehen kann«, erklärte Jamie, »und so nah an dem Planeten, dass er sich wie ein künstlicher Satellit in einer niedrigen Umlaufbahn von Osten nach Westen bewegt.«

»Ich sehe einen Stern«, sagte sie und zeigte hin.

»Wahrscheinlich Deimos, der größere Mond.« Jamie folgte ihrem ausgestreckten Arm mit dem Blick und erkannte, dass er sich irrte. Er merkte, wie ihm der Atem entwich.

»Das ist die Erde«, sagte er. Oder flüsterte er vielmehr.

»Die Erde?«

Jamie nickte in seinem Helm. »Groß und blau. Das ist die Erde. Für die nächsten paar Monate ist sie hier der Abendstern.«

»Die Erde.« Vijays Stimme klang dumpf vor Staunen.

Stacy Deschurowas Stimme zerstörte den Zauber des Augenblicks. »Basis an Waterman. Die Sonne ist am Horizont. Macht euch auf den Rückweg.«

Er drehte sich um und sah, dass die Sonne tatsächlich die fernen Hügel berührte. »Okay«, sagte er widerstrebend. »Wir kommen.«

Sicherheitsvorschriften. Trotz der Helmlampen war es nicht erlaubt, nachts draußen herumzulaufen; das wäre auch ziemlich unklug gewesen, sofern es keinen dringenden Grund dafür gab. Trotzdem hätte Jamie es genossen, zumindest für ein paar Minuten mit Vijay und dem funkelnden Nachthimmel des Mars allein zu sein.

»Keine Polarlichter heute, tut mir Leid«, sagte er bedauernd.

»Stacy ist eifersüchtig.«

»Nein, sie hält sich nur an die Vorschriften.«

»Tja … danke für den Spaziergang«, sagte sie, als sie den Rückweg antraten.

»Freut mich, dass es dir gefallen hat«, sagte er.

»Ich sollte öfter mal rausgehen. Ich war zu lange in dieser Kuppel eingepfercht.«

»Macht es dir nichts aus, in einen Anzug eingepfercht zu sein?«

»Eigentlich nicht. Dir?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ich fühle mich hier draußen irgendwie frei, beinahe so, als könnte ich den Anzug ausziehen und zum Horizont laufen.«

»Wirklich?«

Die plötzliche Veränderung ihres Tonfalls alarmierte Jamie. »Oh-oh. Das hätte ich der Psychologin des Teams gegenüber nicht zugeben dürfen, wie?«

Sie lachte. »Keine Sorge. Es bleibt unter uns.«

Jamie wusste es besser. Er versuchte, es auf die leichte Schulter zu nehmen. »Ich habe keine richtigen Wahnvorstellungen, weißt du.«

»Noch nicht«, gab sie neckisch zurück.

»Ich hab mich schon gefragt, wozu wir bei dieser Mission eine Psychologin brauchten«, sagte er. »Auf der ersten Expedition sind wir prima ohne eine ausgekommen.«

»Ihr braucht eine Psychologin, weil ihr alle an der Grenze zum Wahnsinn seid«, gab Vijay zurück.

»Zum Wahnsinn?«

»Wer, wenn nicht ein Wahnsinniger, würde Millionen von Kilometern zu dieser eisigen Wüste fliegen? Ich könnte einen Forschungsbericht über jeden Teilnehmer dieser Mission schreiben. Jeden einzelnen.«

»Auch über die Frauen?«

»Ja«, antwortete sie gelassen. »Auch über mich. Manchmal denke ich, ich muss die Verrückteste von uns allen sein.«

»Du?« Er war ehrlich überrascht.

»Ja, ich.«

»Aber du bist so ausgeglichen. Immer guter Dinge und so.«

Sie seufzte. »Irgendwann muss ich dir mal meine Lebensgeschichte erzählen.«

»Jederzeit.«

»Mittlerweile habe ich den Eindruck«, sagte sie, und ihr Ton war jetzt völlig ernst, »dass du ganz gut mit Dex klarkommst.«

»Dex ist gar nicht so schlimm … solange er kriegt, was er will.«

»Er ist ein sehr ehrgeiziger junger Mann und absolut daran gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen. Je mehr du ihm nachgibst, desto mehr Forderungen wird er an dich stellen.«

Und welche Forderungen stellt er an dich? wollte Jamie fragen. Aber er verdrängte es und sagte stattdessen: »Als Missionsleiter habe ich die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass keine persönlichen Konflikte entstehen, die sich störend auf die Arbeit der Expedition auswirken.«

»Das ist Unfug, Jamie. Weder du noch sonst jemand kann persönliche Konflikte verhindern. Du hast vier sehr intelligente, hoch motivierte und total individualistische Wissenschaftler unter deiner Fuchtel. Nicht zu vergessen die beiden Astronauten, die ebenfalls ihre Macken haben.«

»Und auch die Ärztin und Psychologin der Expedition.«

»Die auch«, gab Vijay zu.

»Und dir zufolge sind wir alle Beinahe-Irre.«

»Wir leben unter extrem belastenden Bedingungen«, konterte sie. »Wir sind Millionen Kilometer von zu Hause entfernt, Jamie.«

»Wir sind alle dazu ausgebildet, damit fertigzuwerden.«

»Mag sein, aber es wird trotzdem Konflikte geben«, fuhr sie todernst fort. »Du wirst nicht ständig jedermann beschwichtigen können.«

Sie gingen einige Minuten in unbehaglichem Schweigen dahin und passierten dabei das Flugzeug, an dem Rodriguez gearbeitet hatte. Nichts von ihm zu sehen; er muss schon drin sein, dachte Jamie.

»Tja«, sagte er lahm, »die ersten drei Wochen haben wir ja recht gut überstanden.«

Die Sonne tauchte jetzt hinter die Hügel. Sie befanden sich im Schatten. Die Dämmerung war nur kurz, wenn kein neuer Sandsturm die Luft mit Partikeln füllte, die das erlöschende Sonnenlicht streuten. Die Krümmung der Kuppel zeichnete sich gerade eben über dem Rand des Hügels vor ihnen ab. Auf dem Weg zur Luftschleuse drehte Jamie sich um und warf einen letzten Blick auf die rote Welt.

»Ich bin sehr gern hier.« Die Worte überraschten ihn. Er hatte nicht gewusst, was er sagen würde, bis sie ihm von den Lippen purzelten.

Vijay folgte seinem Blick über die Gesteinstrümmer, die über die rostige Landschaft verstreut waren, und die vom Wind geformten Dünen, die darauf warteten, dass der nächste große Sandsturm sie neu strukturierte.

»Es ist so kahl«, sagte sie. »So kalt und trostlos.«

»Ich fühle mich hier wie zu Hause.«

»Das ist doch kein Zuhause, Jamie. Es ist eine sehr fremde Welt, die dich im Bruchteil einer Sekunde töten könnte.«

Er richtete den Blick einen Moment lang auf ihre vom Raumanzug umhüllte Gestalt. »Der Mars ist eine sanfte Welt, Vijay. Er will uns nichts Böses.«

»Warte ab, bis dir die Luft in deinem Anzug ausgeht.«

Er versuchte, die Achseln zu zucken. »Ja, das stimmt natürlich.«

»Jedes Geschöpf will überleben«, sagte sie. »Irgendwann macht sich die Realität bemerkbar. Sie setzt unseren Träumen Grenzen.«

»Mag sein.«

Sie stapften zur schützenden Zuflucht zurück. Jamie sah, wie der runde Buckel der Kuppel bei jedem Schritt ein kleines Stück höher über den Horizont stieg. Er spürte ein gewisses Widerstreben; er wusste, er würde eigentlich lieber über das Dünenfeld gehen, hinaus ins Unbekannte, über das Antlitz dieser roten Welt.

»Du warst mit Joanna Brumado verheiratet, nicht wahr?«

Überrascht von ihrer Frage, antwortete Jamie: »Es hat nicht funktioniert.«

»Gibst du dir die Schuld daran?«, fragte Vijay.

Er blieb stehen, sodass sie ebenfalls stehen bleiben und sich zu ihm umdrehen musste.

»Arbeitest du gerade wieder an meinem psychologischen Profil?«, fragte er kalt.

»Schon möglich.«

»Wenn das so ist: Nein, ich gebe mir nicht die Schuld an der Scheidung. Ich gebe niemandem die Schuld. Es hat einfach nicht geklappt, das ist alles.«

»Ich verstehe.«

»Scheidung in gegenseitigem Einvernehmen. Niemand hat Schuld.«

»Ja.«

Jamie fragte sich, warum er so wütend war. »Ich verstehe nicht, was meine Ehe mit meiner Arbeitsleistung hier zu tun hat. Zum Teufel, die Ehe hat nicht mal drei Jahre gehalten.«

»Tut mir Leid, dass ich gefragt habe«, sagte Vijay. »Ich wusste nicht, dass dich das derart aufwühlen würde.«

»Ich bin nicht aufgewühlt!«

»Nein, das sehe ich.«

TAGEBUCHEINTRAGUNG

Was wirklich schmerzt, ist, dass sie mich nicht respektieren. Sie dulden mich in ihrem Kreis, aber hinter meinem Rücken lachen sie über mich. Ich bin so gut wie jeder von ihnen, aber sie halten mich alle für zweitklassig oder schlimmer. Alle. Ohne Ausnahme.

ABEND: SOL 21

Jamie trank gemächlich eine Tasse dünnen Kaffee. Er war beinahe zufrieden.

»Viertausend Kilometer«, sagte Vijay. »Niemand hat bisher auch nur die Hälfte dieser Distanz geschafft.«

Sie saß als Einzige noch mit Jamie am Tisch in der Messe. Das Abendessen war vorbei, der Tisch abgeräumt, bis auf ihr Geschirr. Rodriguez und Fuchida waren ins Biologielabor abgezogen, während Trumball, Craig und Deschurowa ins Geologielabor gegangen waren. Sie planten zwei Exkursionen: eine fast viertausend Kilometer weite Fahrt zum Ares Vallis und einen Flug zum höchsten Berg im Sonnensystem. Hall hatte die letzte Schicht im Kommunikationszentrum übernommen, bevor sie alle schlafen gingen.

»Ich glaube, der Ausflug zum Olympus Mons wird bei den Medien größere Aufmerksamkeit erregen«, sagte Jamie.

»Dex ist aber so begeistert über die Bergung der alten Pathfinder-Sonde. Glaubst du, die Medien werden auch begeistert sein?«

Er zuckte die Achseln. »Vermutlich, wenn die beiden erst mal dort sind. Aber Dex und Possum werden etliche Wochen durch die Gegend fahren. Ziemlich langweilig.«

»Außer wenn sie in Schwierigkeiten geraten.«

»Ja«, sagte Jamie. »Das stimmt natürlich.«

Er war ein wenig überrascht gewesen, als die technischen Leiter in Tarawa ihre Zustimmung zu der Fernexkursion gegeben hatten. Gott weiß, was für einen Druck Trumball und die anderen Finanziers auf sie ausgeübt haben, dachte Jamie. Muss ziemlich heftig gewesen sein.

»Glaubst du wirklich, dass der Flug zum Vulkan die Aufmerksamkeit die Medien mehr fesseln wird?«, fragte Vijay.

»Es ist nicht ganz das Gleiche wie die Erstbesteigung des Mount Everest«, erwiderte er, »aber es dürfte eine Menge Interesse erregen.«

Sie schien darüber nachzudenken, bevor sie ihm zustimmte. »Wenn das Virtual-Reality-Gerät funktioniert, können Millionen Menschen mit dabei sein.«

Die VR-Ausrüstung machte seit über einer Woche Mucken.

»Ich hätte nicht auf diesen Felsblock klettern sollen«, gab Jamie zu. »Dabei hab ich wohl irgendwas lose gerüttelt.«

»Das ist der Terminus technicus dafür«, sagte Vijay mit einem Grinsen.

Possum Craig hatte sich das VR-Gerät kurz angesehen und keinen erkennbaren Defekt gefunden. Dennoch funktionierte die Ausrüstung jetzt nur noch sporadisch; eine Weile ging alles gut, dann stellte sie unversehens den Betrieb ein.

»Ich wünschte, Possum hätte mehr Zeit«, sagte Jamie. »Tarawa macht mir Druck, weil es nur noch so wenige VR-Übertragungen gibt.«

»Dex sagt, wir verlieren Geld. Er meint, wir verdienen nicht so viel, wie wir könnten, wenn die VR-Sendungen glatt gingen.«

Jamie nickte düster. »Ich habe ein halbes Dutzend Botschaften von Dex' Vater bekommen. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen.«

»Dürfte ich mir die wohl mal anschauen?«, fragte sie.

Jamie merkte, wie er die Augenbrauen hochzog. »Trumballs Botschaften an mich?«

»Es könnte mir helfen, Dex zu verstehen«, erklärte sie. »Wenn ich sehe, was für einen Vater er hat.«

Jamie überlegte kurz, dann sagte er: »Okay, komm mit.«

Er stand auf und machte sich auf den Weg zum Kommunikationszentrum. Vijay ging neben ihm her. Als sie sich dem Geologielabor näherten, hörten sie die leidenschaftlichen Stimmen von Dex und Stacy, die hitzig diskutierten. Dann unterbrach Craig die beiden mit seinem ruhigen, näselnden texanischen Akzent. »Ihr beiden kriegt euch völlig umsons' in die Haare. Is doch egal, welche Stelle ihr als Landeplatz für den Treibstoffgenerator aussucht, der wird sowieso nicht genau da landen, darauf könnt ihr eur'n Arsch verwetten.«

Jamie warf einen Blick hinein, als sie an der offenen Labortür vorbeikamen. Dex funkelte Possum an, aber Stacys ausgeprägte, grobe Züge wirkten gleichmütig und emotionslos.

»Er hat Recht, Dex«, sagte die Kosmonautin. »Ich kann den Vogel genau da landen, wo du ihn haben willst, aber ich wette, dass exakt an der Stelle ein Haufen großer, blöder Felsbrocken rumliegt und wir ihn zu einem ebeneren Gebiet umdirigieren müssen.«

»Aber wir haben doch die Satellitenbilder von dem Gelände«, beharrte Dex.

»Ja, mit 'ner Auflösung von einem Meter«, knurrte Craig. »Hast du 'ne Ahnung, was ein metergroßer Stein mit den Landebeinen deiner Treibstoffmühle anstellen kann?«

Vijay lachte leise. »Es ist schwer, mit Possum zu diskutieren. Er macht den Mund erst auf, wenn er die Fakten kennt.«

»Wenn er bloß rausfinden könnte, was mit dem VR-Gerät los ist«, sagte Jamie.

»Wie steht's mit dem Ersatzgerät?«

»Das nimmt Mitsuo mit auf die Exkursion zum Olympus Mons.«

»Oh. Natürlich.«

Sie gingen durch die offene Tür ins Kommunikationszentrum. Obwohl die Trennwände nur zweieinhalb Meter hoch waren, kam der Raum Jamie wärmer vor als jeder andere in der Kuppel. Vielleicht liegt es daran, dass die Geräte permanent laufen und Wärme abgeben, dachte er. Aber das Lebenserhaltungssystem lief auch immer, und in jenem Teil der Kuppel fand er es nicht so warm. Mit einem unmerklichen Achselzucken sagte er sich: Es ist nur Einbildung. Spielt sich alles bloß in deinem Kopf ab.

Trudy saß an der Hauptkonsole und wippte im Rhythmus der urtümlichen Rockmusik aus dem Kopfhörer, den sie aufgesetzt hatte. Jamie hörte den schweren, dumpfen Beat trotz ihres Kopfhörers.

Sie drehte sich um und nahm das Headset ab. Ein Schwall schrillen Lärms ergoss sich ins Kommunikationszentrum; Trudy stellte die Musik rasch aus.

»Wie hast du uns reinkommen hören?«, fragte Jamie ungläubig.

»Hab ich nicht«, sagte Hall, »aber ihr seid ja keine Vampire, oder?«

»Hm?«

Sie reckte einen Daumen zum Monitor. »Ich hab eure Spiegelbilder auf dem Bildschirm gesehen.«

»Oh.«

»Ich bin hier fertig.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl. »Alles unter Dach und Fach für die Nacht.«

»Du solltest dieses Zeug wirklich nicht so laut hören«, sagte Vijay ziemlich ernst. »Es kann dein Gehör schädigen.«

»Was?« Trudy legte eine Hand ans Ohr, als wäre sie taub. Beide Frauen lachten, und Trudy ging mit einem unbekümmerten »Danke« zur Tür.

Als Trudy mit federnden Schritten das Kommunikationszentrum verließ, kam sie an dem gedrungenen, kastenartigen Immersionstisch vorbei. Ich sollte mir mehr Zeit dafür nehmen, meine eigene Tour zu der Felsenbehausung zu planen, sagte sich Jamie. Ich sollte mir so viel Zeit dafür nehmen, wie Dex sie sich für seine schwachsinnige Exkursion zum Ares Vallis nimmt, aber statt meine eigene Exkursion zu planen, habe ich die Stratigraphiearbeit am Hals, die er eigentlich machen sollte.

Beinahe müde ließ er sich auf einem der Drehstühle nieder und holte die Botschaften des älteren Trumball auf einen der Bildschirme. Vijay setzte sich neben ihn und schaute stumm auf den alten Mann, der eisig seine Forderungen stellte. Bisher waren sechs Botschaften eingegangen, keine unter zwölf Minuten lang.

»… das ist eine absolut inakzeptable Situation, Waterman«, sagte Darryl C. Trumball. »Absolut inakzeptabel! Jede VR-Übertragung bringt uns über dreißig Millionen Dollar ein. Dreißig Millionen Dollar! So viel Geld pissen Sie in die Siele, weil Sie und Ihr Haufen brillanter Wissenschaftler außerstande sind, dafür zu sorgen, dass ein simples elektronisches Gerät anständig funktioniert!«

Vijay saß während aller sechs immer giftiger werdenden Tiraden Trumballs wortlos da. Als die letzte zu Ende war, sagte sie: »Du meine Güte!«

Jamie löschte den Bildschirm. »Ich bin froh, dass hundert Millionen Kilometer zwischen uns liegen.«

»Damit hat Dex sich sein Leben lang rumschlagen müssen«, sagte sie leise. »Kein Wunder, dass er so besessen ist.«

Jamie sagte nichts. Sie macht sich keine Gedanken darüber, womit ich mich abgeben muss; sie denkt an Dex.

»Wie willst du ihn besänftigen?«, fragte Vijay.

Jamie sagte: »Nichts wird ihn besänftigen, bis wir die VR-Übertragungen wieder aufnehmen. Ich hab daran gedacht, die Reserveausrüstung einzusetzen, aber Mitsuo wird sie am Olympus Mons brauchen, und ich will nicht riskieren, dass sie vorher kaputtgeht.«

»Das ist wohl richtig.« Vijay nickte nachdenklich. »Und Possum kann dieses Gerät nicht reparieren?«

»Er hat es sich angesehen, aber er findet nicht raus, was damit los ist. Er nennt es die Technikerhölle: Alles ist in Ordnung, aber nichts funktioniert.«

Zwei winzige Furchen bildeten sich zwischen Vijays Augenbrauen. Sie sah aus, als versuchte sie, die Situation zu klären, indem sie konzentriert darüber nachdachte.

»Der Fehler muss im Computer des VR-Systems liegen«, sagte Jamie. »Die Kameras und Datenhandschuhe scheinen in Ordnung zu sein.«

»Können wir einen anderen Computer …?«

»Nein, er ist fest ins System eingebaut.«

Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Dann hast du ein Problem, Kamerad.«

»Es ist ein Ärgernis«, sagte Jamie, »kein Problem. Ich kann mich nicht allzu sehr darüber aufregen, auch wenn Dex' Dad deswegen einen Schlaganfall kriegt.«

Sie sah ihn neugierig an. »Also, ich würde mich jedenfalls aufregen, wenn jemand so auf mich losginge wie er auf dich.«

Jamie lächelte. »Was will er denn machen, mich etwa feuern?«

»So gesehen, hast du natürlich Recht.« Sie erwiderte sein Lächeln.

»Manche Dinge sind wichtig, andere nicht. Man muss einen Weg finden, der es einem ermöglicht, sich mit den wichtigen Dingen zu befassen.«

»Und die anderen ignorieren?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht ignorieren. Nur dafür sorgen, dass das richtige Verhältnis gewahrt bleibt.«

Vijays Blick veränderte sich ein wenig. »Weißt du, Jamie, du bist vielleicht der normalste Mensch, den ich kenne.«

»Ich dachte, wir wären alle verrückt.«

»Oh, das sind wir auch«, sagte sie und stand auf. »Ganz ohne Zweifel. Aber für einen Irren bist du ziemlich ausgeglichen.«

Er stand neben ihr auf und bemerkte erneut, dass sie ihm kaum bis zu den Schultern reichte. »Magst du ausgeglichene Männer?«

Sie legte den Kopf schief, als würde sie nachdenken. »Eigentlich finde ich die Verrückten interessanter.«

»Ist das eine persönliche oder berufliche Einstellung?«

»Ein bisschen von beidem, glaube ich.«

Ohne zu überlegen, ohne auch nur zu wissen, was er tun würde, legte Jamie ihr die Arme um die Taille, zog sie an sich und küsste sie.

Vijay verweilte ein paar atemlose Momente in seinen Armen, dann löste sie sich sanft von ihm.

»Ich finde, wir sollten nicht …«

»Bin ich dir etwa nicht verrückt genug?«

Sie trat einen Schritt von ihm zurück. »Das ist es nicht, Jamie. Es liegt nicht an dir, nicht daran, wer oder was du bist. Es liegt an … an diesem Ort hier. Wir sind hundert Millionen Kilometer von zu Hause entfernt, verdammt noch mal. Was wir hier tun, was wir empfinden … das sind nicht wirklich wir. Es sind Einsamkeit und Angst.«

»Ich bin nicht einsam, und ich habe keine Angst«, sagte Jamie leise. »Mir gefällt es hier.«

»Dann bist du wirklich der Verrückteste von uns allen«, flüsterte Vijay. Sie drehte sich um und floh aus dem Kommunikationszentrum.

Jamie stand allein da und dachte: Unter ihren Scherzen und Späßen hat sie Angst. Sie hat Angst vor dem Mars. Sie hat Angst, dass ihre Empfindungen nicht echt sind, dass sie nur eine Reaktion auf unsere Anwesenheit hier sind.

Er fragte sich, ob sie Dex gegenüber wohl auch so empfand. Empfindet sie Dex gegenüber genauso?

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