Sie fragte ihn nicht, wohin er wollte. Fuchs blickte ihn an, als wüsste sie es seit Langem. So war es schon immer gewesen. Sie kannte ihn besser als er sich selbst. Aber Jacob sah ihr an, dass sie es müde war, Angst um ihn zu haben. Und der Zorn war zurück. Sie hatte ihm weder das Lerchenwasser vergeben noch die Tatsache, dass er ohne sie in die Festung gegangen war. Und nun würde er sie wieder zurücklassen. Gib endlich auf!, sagten ihre Augen.
Wie, Fuchs?
Jacob richtete sich auf.
Der Zug wuchs und fraß die Wiesen und Felder in sich hinein. Fuchs sah ihm entgegen, als säße der Tod selbst darin.
Zehn Stunden bis nach Vena. Und dann, Jacob? Er wusste nicht einmal, wann genau die Hochzeit war. Aber er wollte nicht denken. Seine Gedanken waren aus Jade.
Er stolperte die Anhöhe hinunter. Valiant rief ihm entgeistert nach, aber Jacob blickte sich nicht um. Die Luft füllte sich mit Rauch und dem Lärm des Zuges. Er rannte schneller, klammerte sich an Eisen, fand Halt auf einem Trittbrett.
Zehn Stunden. Zeit zu schlafen und alles zu vergessen. Bis auf das, was die Rote Fee ihm über ihre dunkle Schwester verraten hatte.
43
HUND UND WOLF
Tramwagen, Kutschen, Karren, Reiter. Fabrikarbeiter, Bettler und Bürger. Dienstmädchen in gestärkten Schürzen, Soldaten und Zwerge, die sich von ihren menschlichen Dienern durch das Gedränge tragen ließen. Jacob hatte die Straßen von Vena noch nie so überlaufen gesehen, und er brauchte fast eine Stunde vom Bahnhof zu dem Hotel, in dem er immer abstieg, wenn er in die Hauptstadt kam. Die Zimmer hatten mehr mit der Schatzkammer eines Blaubarts gemein als mit den kargen Kammern in Chanutes Gasthaus, aber Jacob gefiel es, ab und zu in einem Himmelbett zu schlafen. Außerdem bezahlte er eins der Zimmermädchen dafür, dass sie immer ein paar frische Kleider für ihn bereithielt, die selbst für eine Audienz im Palast gut genug waren. Das Mädchen verzog keine Miene, als er ihm seine mit Blut und Schmutz bedeckten Kleider gab. Sie war solche Flecken von ihm gewohnt.
Die Glocken der Stadt schlugen zwölf, als Jacob sich auf den Weg zum Palast machte. An vielen Hauswänden waren Anti-Goyl-Parolen auf die Plakate mit dem Foto des Brautpaars geschmiert. Sie wetteiferten mit den pompösen Schlagzeilen, die die Zeitungsverkäufer an jeder Ecke verkündeten: Ewiger Frieden ... Historisches Ereignis ... Zwei mächtige Reiche ... Unsere Völker ... Dieselbe Vorliebe für große Worte auf beiden Seiten des Spiegels.
Jacob hatte dem Hoffotografen, der das Brautpaar verewigt hatte, vor einem Jahr selbst Modell gestanden. Der Mann verstand sein Handwerk, aber die Prinzessin machte es ihm nicht leicht. Die Schönheit, zu der die Feenlilie Amalie von Austrien verholfen hatte, war kalt wie Porzellan, und ihr Gesicht war auch im echten Leben so ausdruckslos wie auf den Plakaten. Ihr Bräutigam dagegen sah selbst auf den Fotos aus wie steingewordenes Feuer.
Die Menschenmenge vor dem Palast war so groß, dass Jacob Mühe hatte, sich zu dem schmiedeeisernen Tor durchzudrängen. Die kaiserlichen Garden richteten die Bajonette auf ihn, sobald er davor stehen blieb, doch zum Glück entdeckte er unter einem der Federbuschhelme ein Gesicht, das er kannte: Justus Kronsberg, jüngster Sohn eines Landadligen. Seine Familie verdankte ihren Reichtum der Tatsache, dass in den Wiesen seines Vaters Schwärme der Elfen lebten, deren Garn und Glas so viele Kleider am Hof schmückten.
Die Kaiserin ließ für die kaiserliche Garde nur Soldaten zu, die mindestens zwei Meter groß waren, und der jüngste Kronsberg-Sohn war keine Ausnahme. Justus Kronsberg überragte Jacob um einen halben Kopf, den Helm nicht mitgerechnet, aber sein spärlicher Schnurrbart verbarg nicht, dass er immer noch das Gesicht eines Kindes hatte.
Jacob hatte einen von Justus' Brüdern vor Jahren vor einer Hexe beschützt, die sehr verärgert darüber gewesen war, dass er ihre Tochter zurückgewiesen hatte. Der Vater sandte ihm zum Dank immer noch jedes Jahr so viel Elfenglas, dass es Knöpfe für all seine Kleider lieferte. Dass es vor Stilzen und Däumlingen schützte, hatte sich allerdings nicht bewahrheitet.
»Jacob Reckless!« Der jüngste Kronsberg sprach den weichen Dialekt, den man in den Dörfern nahe der Hauptstadt hörte. »Mir hat erst gestern jemand erzählt, die Goyl hätten dich erschlagen.«
»Tatsächlich?«
Jacob griff sich unwillkürlich an die Brust. Der Mottenabdruck färbte ihm immer noch die Haut.
»Wo haben sie den Bräutigam einquartiert?«, fragte er, als Kronsberg ihm das Tor öffnete. »Im Nordflügel?«
Die anderen Wachen musterten ihn misstrauisch.
»Wo sonst?« Kronsberg senkte die Stimme. »Kommst du von einem Auftrag zurück? Ich habe gehört, dass die Kaiserin dreißig Goldtaler auf einen Wünschsack ausgesetzt hat, seit der Krumme König sich damit brüstet, einen zu besitzen.«
Ein Wünschsack. Chanute besaß einen. Jacob war dabei gewesen, als er ihn einem Stilz gestohlen hatte. Aber selbst Chanute war nicht so gewissenlos, ein solches Ding in die Hände einer Kaiserin zu geben. Man musste nur den Namen eines Feindes nennen und der Sack ließ ihn spurlos verschwinden. Der Krumme König hatte sich auf die Art angeblich schon Hunderter von Männern entledigt.
Jacob blickte hinauf zu dem Balkon, auf dem die Kaiserin am nächsten Tag ihren Untertanen das Brautpaar präsentieren würde.
»Nein, wegen des Wünschsacks bin ich nicht hier«, sagte er. »Ich bringe ein Geschenk für die Braut. Grüß deinen Bruder und deinen Vater von mir.«
Justus Kronsberg war sichtlich enttäuscht, nicht mehr zu erfahren, aber das Tor zum ersten Palasthof öffnete er Jacob trotzdem. Schließlich verdankte sein Bruder ihm, dass er keine Kröte am Grund irgendeines Brunnens war oder, was viele Hexen inzwischen bevorzugten, eine Fußmatte oder ein Tablett für ihr Teegeschirr.
Es war drei Monate her, dass Jacob zuletzt im Palast gewesen war. Er hatte in den Wunderkammern der Kaiserin eine Zaubernuss auf ihre Echtheit geprüft. Die weiten Höfe nahmen sich im Vergleich zu dem, was er in der Goylfestung gesehen hatte, fast bescheiden aus, und die Gebäude, die sie umgaben, schienen trotz ihrer Kristallbalkone und vergoldeten Dachfirste schlicht im Vergleich zu dem hängenden Palast. Aber die Pracht im Inneren war immer noch beeindruckend.
Die austrischen Kaiser hatten besonders im Nordflügel an nichts gespart. Schließlich war er erbaut worden, um ihren Gästen den Reichtum und die Macht des Kaiserreichs zu demonstrieren. An den Säulen der Eingangshalle rankten Früchte und Blüten aus Gold. Der Fußboden war aus weißem Marmor - auch von Mosaiken verstanden die Goyl mehr als ihre Feinde -, und die Wände waren bemalt mit Austriens Sehenswürdigkeiten, den höchsten Bergen, ältesten Städten, schönsten Schlössern. Die Ruine, die den Spiegel beherbergte, war noch in alter Pracht abgebildet, und Schwanstein war ein Märchenidyll zu ihren Füßen. Weder Straßen noch Eisenbahngleise durchzogen die gemalten Hügel. Stattdessen wimmelten sie von all dem, was die Vorfahren der Kaiserin mit Leidenschaft gejagt hatten: Riesen und Hexen, Wassermänner und Loreley, Einhörner und Menschenfresser.
Entlang der Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, hingen weniger friedliche Bilder. Der Vater der Kaiserin hatte sie malen lassen: See- und Landschlachten, Sommer- und Winterschlachten, Schlachten gegen seinen Bruder in Lothringen, den Vetter in Albion, rebellische Zwerge und die Wolfsfürsten im Osten. Jeder Gast, wo immer er herkam, fand mit Sicherheit ein Gemälde, das seine Heimat im Krieg mit dem Kaiserreich zeigte. Und natürlich gehörte er immer zu den Verlierern. Nur die Goyl waren die Treppen hinaufgestiegen, ohne ihre Vorfahren auf einem gemalten Schlachtfeld untergehen zu sehen, denn seit sie sich Schlachten mit den Menschen lieferten, waren ohne Ausnahme sie die Sieger gewesen.
Die beiden Wachen, die Jacob auf der Treppe entgegenkamen, hielten ihn nicht an, obwohl er bewaffnet war, und der Diener, der ihnen nachhuschte, nickte ihm ehrerbietig zu. Jeder im Nordflügel kannte Jacob Reckless, denn Therese von Austrien ließ ihn gern rufen, damit er wichtige Gäste durch ihre Wunderkammern führte und ihnen wahre und unwahre Geschichten über die dort ausgestellten Schätze erzählte.
Die Goyl waren im zweiten und prächtigsten Stock untergebracht. Jacob sah ihre Posten, sobald er in den ersten Korridor spähte. Sie blickten zu ihm herüber, aber Jacob tat, als bemerkte er sie nicht, und wandte sich nach links, wo gleich neben der Treppe ein Saal lag, in dem die Kaiserin ihr Interesse am Rest der Welt demonstrierte, indem sie die Reiseandenken ihrer Familie ausstellte.
Der Saal war leer, wie Jacob gehofft hatte. Die Goyl waren nicht an der Trollfellkappe interessiert, die der Urgroßvater der Kaiserin aus Jetland heimgebracht hatte, oder an Leprechaunstiefeln aus Albion, und was immer in den Büchern, die die Wände säumten, über ihresgleichen stand, war sicher nicht schmeichelhaft.
Der Nordflügel war weit entfernt von den Gemächern, in denen die Kaiserin residierte, was ihren Gästen die Illusion gab, unbeobachtet zu sein. Aber hinter den Wänden gab es ein Netz von Geheimgängen, mit dem sich jedes Zimmer beobachten und in einigen Fällen sogar betreten ließ. Jacob hatte der Tochter eines Botschafters auf die Art ein paar nächtliche Besuche abgestattet. Man betrat die Gänge durch getarnte Türen und eine davon verbarg sich hinter einem kaiserlichen Reiseandenken aus Lothringen. Der Vorhang war bestickt mit Perlen, wie man sie im Magen von Däumlingen fand, und die Tür, die der schwere Stoff verbarg, sah aus wie ein Teil der Holztäfelung.
Jacob stolperte über den Kadaver einer Ratte, als er den dunklen Gang dahinter betrat. Die Kaiserin ließ sie regelmäßig vergiften, aber die Nager liebten ihre Geheimgänge. In die Wände waren alle drei Meter Gucklöcher von der Größe eines Daumennagels eingelassen, die auf der anderen Seite durch Stuckornamente oder falsche Spiegel getarnt waren. Im ersten Raum, in den Jacob blickte, staubte ein Kammermädchen die Möbel ab. Im zweiten und dritten hatten die Goyl provisorische Büros eingerichtet, und Jacob hielt unwillkürlich den Atem an, als er Hentzau hinter einem der Tische sitzen sah. Aber er war nicht seinetwegen gekommen.
Es war stickig in den dunklen Gängen und die Enge ließ das Herz schneller schlagen. Das Singen einer Zofe drang durch die dünnen Wände und das Klirren von Geschirr, aber Jacob schaltete hastig die Taschenlampe aus, als er plötzlich direkt vor sich ein Husten hörte. Natürlich. Therese von Austrien ließ all ihre Gäste belauschen. Warum sollte es bei ihrem größten Feind anders sein, auch wenn sie ihm ihre Tochter zur Frau gab?
Eine Gaslampe leuchtete vor ihm auf. Sie beschien einen Mann, der so blass war, als verbrächte er sein ganzes Leben in den lichtlosen Gängen. Jacob verbarg sich mit angehaltenem Atem in der Dunkelheit, bis der kaiserliche Spion an ihm vorbeigeschlurft und durch die getarnte Tür verschwunden war. Falls er ging, um Ablösung zu holen, blieb nicht viel Zeit.
Der Spion hatte den Raum beobachtet, nach dem Jacob gesucht hatte. Er erkannte die Stimme der Dunklen Fee, bevor er sie durch das winzige Loch sah. Nur ein paar Kerzen beleuchteten das Zimmer dahinter. Die Vorhänge waren zugezogen, aber das Sonnenlicht sickerte unter dem blassgoldenen Brokat hervor, und sie stand vor einem der verhängten Fenster, als wollte sie ihren Geliebten vor dem Licht beschützen. Ihre Haut leuchtete selbst in dem abgedunkelten Raum wie fleischgewordenes Mondlicht. Sieh sie nicht an, Jacob.
Der König der Goyl stand an der Tür. Feuer im Dunkeln. Jacob glaubte, seine Ungeduld selbst hinter der Wand zu spüren.
»Du verlangst, dass ich an ein Märchen glaube.« Jedes Wort füllte den Raum. Seine Stimme verriet seine Stärke - und die Fähigkeit, sie in Zaum zu halten. »Ich gebe zu, es amüsiert mich, dass all die es tun, die verlangen, dass wir zurück unter die Erde kriechen. Aber erwarte nicht, dass ich so naiv bin. Kein Mann kann mir nur durch die Farbe seiner Haut verschaffen, was die beste Armee nicht erkämpfen kann. Ich bin nicht unbesiegbar und kein Jadegoyl wird mich dazu machen. Selbst diese Hochzeit wird mir nur für eine Weile Frieden geben.«
Die Fee wollte etwas erwidern, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Es gibt Aufstände im Norden, und im Osten haben wir nur Ruhe, weil sie sich lieber gegenseitig erschlagen. Im Westen nimmt der Krumme König meine Bestechungsgelder und rüstet hinter meinem Rücken auf, von seinem Vetter auf der Insel ganz zu schweigen. Den Onyxgoyl gefällt meine Hautfarbe nicht. Meine Munitionsfabriken produzieren nicht so schnell, wie meine Soldaten schießen. Die Lazarette sind überfüllt und die Partisanen haben zwei meiner wichtigsten Schienenwege gesprengt. Soweit ich mich erinnere, ist in den Märchen, die meine Mutter erzählt hat, von alldem nicht die Rede. Lass das Volk an den Jadegoyl und an Glückssteine glauben. Aber die Welt ist inzwischen aus Eisen gemacht.«
Er legte die Hand auf die Klinke und musterte die Goldbeschläge, die das Türblatt schmückten. »Sie machen schöne Dinge«, murmelte er. »Ich frage mich nur, warum sie so besessen von Gold sind. Silber ist so viel schöner.«
»Versprich, dass er an deiner Seite bleibt.« Die Fee streckte die Hand aus und alles Gold in dem dunklen Raum überzog sich mit Silber. »Selbst, wenn du ihr das Jawort gibst. Bitte!«
»Er ist ein Menschengoyl! Selbst die Jade lässt meine Offiziere diese Tatsache nicht übersehen. Und er ist unerfahrener als jeder andere meiner Leibwächter.«
»Er hat sie trotzdem alle geschlagen! Versprich es.«
Er liebte sie. Jacob sah es auf seinem Gesicht. So sehr, dass es ihm Angst machte.
»Ich muss gehen.« Er wandte sich um, aber als er die Tür öffnen wollte, gehorchte sie ihm nicht. »Lass das!«, fuhr er die Fee an.
Sie ließ die Hand sinken und die Tür sprang auf. »Versprich es«, sagte sie noch einmal. »Bitte!« Doch ihr Geliebter ging, ohne zu antworten, und sie war allein. Jetzt, Jacob!
Er tastete nach einer geheimen Tür, aber seine Finger fanden nichts als eine hölzerne Wand, und die Fee ging auf die Tür zu, durch die ihr Geliebter sie verlassen hatte. Nun mach schon, Jacob. Noch ist sie allein. Draußen wird es Wachen geben! Vielleicht konnte er die Wand eintreten. Und dann? Schon der Lärm würde ein Dutzend Goyl herbeirufen. Jacob stand immer noch in dem engen Gang und wusste nicht, was er tun sollte, als ein Goylsoldat zu der Fee in das dunkle Zimmer trat. Jadehaut.
Es war das erste Mal, dass Jacob seinen Bruder in der grauen Uniform sah. Will trug sie, als hätte er nie etwas anderes getragen. Nichts an ihm erinnerte noch daran, dass er ein Mensch gewesen war. Vielleicht waren seine Lippen im Vergleich zu denen der Goyl etwas voller und sein Haar etwas feiner, aber selbst der Körper seines Bruders sprach eine andere Sprache. Und er blickte die Fee an, als wäre sie Anfang und Ende der Welt.
»Ich habe gehört, dass du Kami'ens besten Leibwächter entwaffnet hast.« Sie strich Will übers Gesicht. Das Gesicht, das ihr Zauber in Jade verwandelt hatte.
»Er ist nicht halb so gut, wie er denkt.«
Sein Bruder hatte nie so geklungen. Will war nie auf einen Kampf aus gewesen oder darauf, seine Kräfte mit jemandem zu messen. Nicht einmal mit seinem Bruder.
Die Dunkle Fee lächelte, als Will die Finger fast zärtlich um den Säbelgriff schloss.
Finger aus Stein.
Ich werde dich für ihn bezahlen lassen, dachte Jacob, während er in Hass und hilflosem Schmerz ertrank. Und deine Schwester hat den Preis festgesetzt.
Den Spion hatte er vollkommen vergessen. Der Mann riss entsetzt die Augen auf, als seine Lampe Jacobs Gestalt aus der Dunkelheit löste. Jacob schlug ihm die Taschenlampe gegen die Schläfe und fing den zusammensackenden Körper auf, aber eine der mageren Schultern streifte die Holzwand, und die Gaslampe fiel zu Boden, bevor Jacob sie auffangen konnte.
»Was war das?«, hörte er die Fee fragen.
Jacob löschte die Lampe und hielt den Atem an.
Schritte.
Er tastete nach der Pistole, bis ihm einfiel, wer da auf die Holzwand zukam.
Will trat sie ein, als wäre sie aus Pappmaschee, und Jacob wartete nicht ab, bis sein Bruder sich durch das zersplitterte Holz zwängte. Er stolperte zurück zu der getarnten Tür, während die Dunkle Fee nach den Wachen rief.
Bleib stehen, Jacob. Aber nichts hatte ihm je so viel Angst gemacht wie die Schritte, die ihm folgten. Will sah in der Dunkelheit sicher ebenso gut wie Fuchs. Und er war bewaffnet.
Mach, dass du aus der Dunkelheit kommst, Jacob. Da ist er im Vorteil. Jacob riss den Vorhang herunter, als er durch die getarnte Tür ins Freie stolperte.
Das plötzliche Licht blendete Will. Er hob schützend den Arm vors Gesicht und Jacob schlug ihm den Säbel aus der Hand.
»Lass den Säbel liegen, Will!«
Er richtete die Pistole auf ihn. Will bückte sich trotzdem. Jacob versuchte, ihm den Säbel aus der Hand zu treten, doch diesmal war sein Bruder schneller. Er wird dich töten, Jacob'. Schießt Aber er konnte nicht. Es war immer noch dasselbe Gesicht, auch wenn es aus Jade war.
»Will, ich bin es!«
Will stieß ihm den Kopf ins Gesicht. Das Blut lief Jacob aus der Nase, und er schlug den Säbel seines Bruders nur mit knapper Not zur Seite, bevor ihm die Klinge die Brust aufschlitzte. Wills nächster Hieb schnitt ihm den Unterarm auf. Er kämpfte wie ein Goyl, ohne zu zögern, kalt und präzise, jede Furcht gelöscht von ihrem Zorn. »Ich habe gehört, dass du Kami'ens besten Leibwächter entwaffnet hast.«
»Er ist nicht so gut, wie er denkt.« Noch ein Hieb. Wehr dich, Jacob.
Klinge auf Klinge, geschliffenes Metall statt der Spielzeugwaffen, mit denen sie sich als Kinder geschlagen hatten. So lange her. Über ihnen fing sich das Sonnenlicht in den Glasblüten eines Kronleuchters, und der Teppich trug das Muster der Hexen, auf dem sie den Frühling herbei tanzten. Will rang nach Atem. Sie keuchten beide so laut, dass sie die kaiserlichen Garden erst bemerkten, als sie die langen Flinten auf sie richteten. Will wich vor den weißen Uniformen zurück, und Jacob stellte sich unwillkürlich schützend vor ihn, so wie er es immer getan hatte. Aber sein Bruder brauchte seine Hilfe nicht. Auch die Goyl hatten sie gefunden. Sie kamen aus der getarnten Tür. Graue Uniformen hinter ihnen, weiße vor ihnen. Will senkte den Säbel erst, als einer der Goyl ihm mit scharfer Stimme den Befehl gab.
Brüder.
»Dieser Mann hat versucht, in die Gemächer des Königs einzudringen!«
Ihr Offizier war ein Onyxgoyl und beherrschte die Sprache des Kaiserreichs fast akzentfrei. Will ließ Jacob nicht aus den Augen, während er an seine Seite trat. Immer noch dasselbe Gesicht, und doch so wenig das seines Bruders, wie ein Hund einem Wolf glich. Jacob wandte ihm den Rücken zu. Er ertrug es nicht mehr, ihn anzusehen.
»Jacob Reckless.« Er hielt den Garden den Säbel hin. »Ich muss mit der Kaiserin sprechen.«
Der Gardist, der den Säbel entgegennahm, raunte dem Offizier etwas zu. Vielleicht hing auf irgendeinem Korridor noch das Porträt, das die Kaiserin von Jacob hatte malen lassen, nachdem er ihr den Gläsernen Schuh gebracht hatte.
Will blickte Jacob nach, als die Garden ihn abführten. Vergiss, dass du einen Bruder hattest, Jacob. Er hat es auch vergessen.
44
DIE KAISERIN
Es war lange her, dass Jacob im Audienzsaal der Kaiserin gestanden hatte. Selbst wenn er oder Chanute etwas abgeliefert hatten, wonach sie seit Jahren suchen ließ, war es meist nur einer ihrer Zwerge gewesen, der die Bezahlung ausgehandelt oder ihnen einen neuen Auftrag erteilt hatte. Die Kaiserin gewährte bloß dann eine persönliche Audienz, wenn die Aufgabe sich, wie beim Gläsernen Schuh oder dem Tischleindeckdich, als besonders gefährlich herausgestellt hatte und die Geschichte, die man ihr erzählen konnte, ausreichend Blut und Todesangst enthielt. Therese von Austrien hätte eine gute Schatzjägerin abgegeben, wäre sie nicht als Tochter eines Kaisers geboren worden.
Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, als die Garden Jacob hereinbrachten. Die Seide ihres Kleides war bestickt mit Elfenglas und es war ebenso goldgelb wie die Rosen auf ihrem Schreibtisch. Ihre Schönheit war Legende, doch Krieg und Niederlage hatten sich ihr ins Gesicht geschrieben. Die Linien auf der Stirn waren schärfer, die Schatten unter den Augen dunkler, und ihr Blick war noch etwas kühler geworden.
Einer ihrer Generäle und drei Minister standen vor den Fenstern, durch die man auf die Dächer und Türme der Stadt blickte und auf die Berge, die die Goyl bereits erobert hatten. Den Adjutanten, der neben der Büste des vorletzten Kaisers lehnte, erkannte Jacob erst, als er sich umwandte. Donnersmarck. Er hatte Jacob auf drei Expeditionen für die Kaiserin begleitet. Zwei davon waren erfolgreich gewesen und hatten Jacob sehr viel Geld und Donnersmarck einen Orden eingebracht. Sie waren Freunde, aber der Blick, den er Jacob zuwarf, verriet nichts davon. An seiner weißen Uniform steckten ein paar Orden mehr als bei ihrer letzten Begegnung, und als er zu dem General trat, sah Jacob, dass er das linke Bein nachzog. Verglichen mit dem Krieg war die Schatzsuche ein harmloses Vergnügen.
»Unerlaubtes Eindringen in den Palast. Bedrohung meiner Gäste. Einen meiner Spione bewusstlos geschlagen.« Die Kaiserin legte den Federhalter zur Seite und winkte den Zwerg zu sich, der neben ihrem Schreibtisch stand. Er ließ Jacob nicht aus den Augen, während er ihr den Stuhl zurückzog. Die Zwerge der austrischen Kaiser hatten im Lauf der Jahrhunderte schon mehr als ein Dutzend Mordanschläge verhindert, und Therese von Austrien hatte mindestens drei von ihnen stets an ihrer Seite. Angeblich nahmen sie es sogar mit Rieslingen auf.
Auberon, der Favorit der Kaiserin, zupfte ihr das Kleid zurecht, bevor sie hinter dem Schreibtisch hervortrat. Sie war immer noch schlank wie ein junges Mädchen.
»Was soll das, Jacob? Hattest du nicht den Auftrag, ein Stundenglas zu finden? Stattdessen duellierst du dich in meinem Palast mit dem Leibwächter meines künftigen Schwiegersohns.«
Jacob beugte den Kopf. Sie mochte es nicht, wenn man ihr in die Augen sah. »Ich hatte keine Wahl. Er hat mich angegriffen und ich habe mich gewehrt.« Sein Unterarm blutete immer noch. Die neue Handschrift seines Bruders.
»Liefert ihn aus, Euer Majestät«, sagte einer der Minister. »Oder noch besser: Lasst ihn erschießen, um Euren Friedenswillen zu beweisen.«
»Unsinn«, erwiderte die Kaiserin gereizt. »Als ob mich dieser Krieg nicht schon genug gekostet hat. Er ist der beste Schatzsucher, den ich habe! Er ist sogar besser als Chanute.«
Sie trat so dicht an Jacob heran, dass er ihr Parfüm roch. Angeblich ließ sie Zaubermohn hineinmischen. Wer den Duft allzu tief einatmete, tat, was immer man verlangte - und hielt es für den eigenen Entschluss.
»Hat dich jemand bezahlt?«, fragte sie. »Jemand, dem dieser Frieden nicht gefällt? Richte ihm etwas aus: Mir gefällt er auch nicht.«
»Majestät!« Die Minister blickten so alarmiert zur Tür, als lauschten die Goyl daran.
»Oh, seid still!«, fuhr die Kaiserin sie an. »Ich bezahle mit meiner Tochter für diesen Frieden.«
Jacob blickte zu Donnersmarck, aber der mied seinen Blick.
»Es hat mich niemand bezahlt«, sagte er. »Und es hat nichts mit Eurem Frieden zu tun. Ich bin wegen der Fee hier.«
Das Gesicht der Kaiserin wurde fast so ausdruckslos wie das ihrer Tochter.
»Die Fee?«
Sie gab sich Mühe, gleichgültig zu klingen, aber ihre Stimme verriet sie. Hass und Abscheu. Jacob hörte beides heraus. Und Ärger. Ärger darüber, dass sie die Fee fürchtete.
»Was willst du von ihr?«
»Verschafft mir fünf Minuten mit ihr allein. Ihr werdet es nicht bereuen. Oder gefällt es Eurer Tochter, dass ihr Bräutigam seine dunkle Geliebte mitgebracht hat?«
Vorsicht, Jacob. Doch er war zu verzweifelt, um vorsichtig zu sein. Sie hatte ihm seinen Bruder gestohlen. Und er wollte ihn zurück.
Die Kaiserin wechselte einen Blick mit ihrem General.
»Genauso respektlos wie sein Lehrmeister«, sagte sie. »Chanute hat in demselben impertinenten Ton mit meinem Vater gesprochen.«
»Fünf Minuten nur«, wiederholte Jacob. »Ihr Fluch hat Euch den Sieg gekostet! Und Tausende von Untertanen!« Sie sah ihn nachdenklich an.
»Majestät!«, sagte der General - und verstummte, als sie ihm einen warnenden Blick zuwarf. Sie wandte sich um und kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück.
»Du kommst zu spät«, sagte sie über die Schulter zu Jacob. »Ich habe den Vertrag schon unterzeichnet. Richtet den Goyl aus, dass er Elfenstaub eingeatmet hatte«, befahl sie, während eine der Garden nach Jacobs Arm griff. »Bringt ihn zum Tor und gebt Befehl, ihn nicht wieder einzulassen.«
»Und, Jacob«, rief sie, als die Zwerge die Türen öffneten, »vergiss das Stundenglas. Ich will einen Wünschsack.«
45
VERGANGENE ZEITEN
Jacob wusste nicht, wie er zum Hotel zurückfand. In jedem Schaufenster, an dem er vorbeikam, glaubte er das hassverzerrte Gesicht seines Bruders zu sehen, und jede Frau, die ihm entgegenkam, verwandelte sich in die Dunkle Fee.
Es konnte nicht vorbei sein. Er würde sie finden. Bei der Hochzeit. Am Bahnhof, wenn sie mit ihrem frisch verheirateten Geliebten in seinen onyxschwarzen Zug stieg. Oder in dem hängenden Palast, trotz ihrer Schlangen.
Jacob war nicht mehr sicher, was ihn inzwischen antrieb: der Wunsch nach Rache, die Hoffnung, Will doch noch zurückzubekommen, oder einfach nur sein verletzter Stolz.
In der Eingangshalle des Hotels warteten zwischen Koffern und umherhastenden Pagen die frisch eingetroffenen Gäste. Sie alle kamen zur Hochzeit. Sogar ein paar Goyl waren darunter. Sie zogen mehr Blicke auf sich als die jüngste Schwester der Kaiserin. Sie war ohne ihren fürstlichen Ehemann aus dem Osten angereist und trug schwarzen Pelz, als wäre sie in Trauer wegen der Heirat ihrer Nichte.
Die Hochzeit würde am nächsten Morgen stattfinden, so viel wusste Jacob inzwischen. In der Kathedrale, in der auch Therese von Austrien getraut worden war und vor ihr ihr Vater.
Das Zimmermädchen hatte ihm die Kleider geflickt und gewaschen, und Jacob trug sie unter dem Arm, als er sein Zimmer aufschloss. Er ließ sie fallen, sobald er den Mann vor dem Fenster stehen sah, aber Donnersmarck wandte sich um, bevor er die Pistole zog. Seine Uniform war so makellos weiß, als wollte sie vergessen machen, dass Schlamm und Blut die Farben eines Soldaten waren.
»Gibt es irgendeinen Raum, in den der Adjutant der Kaiserin nicht hineinkommt?«, fragte Jacob, während er die Kleider aufhob und die Tür hinter sich schloss.
»Das Geheimzimmer eines Blaubarts. Dort helfen deine Talente immer noch besser als die Uniform.«
Donnersmarck hinkte auf Jacob zu.
»Was hast du mit der Dunklen Fee zu schaffen?«
Sie hatten sich fast ein Jahr nicht gesehen, aber gemeinsam einem Blaubart zu entkommen oder nach dem Haar eines Teufels zu suchen, knüpft ein Band, das nicht so leicht zerreißt. Jacob hatte mit Donnersmarck all das und noch einiges mehr überstanden. Nach dem Teufelshaar hatten sie vergebens gesucht, aber Donnersmarck hatte Jacob den Braunen Wolf vom Leib gehalten, der den Gläsernen Schuh bewacht hatte, und Jacob hatte ihn davor bewahrt, von einem Knüppelausdemsack erschlagen zu werden.
»Was ist mit deinem Bein passiert?«
Donnersmarck blieb vor ihm stehen.
»Was denkst du? Wir hatten Krieg.«
Unter dem Fenster lärmten die Droschken. Pferde wieherten, Kutscher fluchten. Nicht so viel anders als die andere Welt. Aber über einem Strauß Rosen, der auf dem Nachttisch neben dem Bett stand, schwirrten zwei hummelgroße Elfen. Viele Hotels setzten sie in den Zimmern aus, weil ihr Staub zu guten Träumen verhalf.
»Ich bin mit einer Frage hier. Du kannst dir sicher vorstellen, in wessen Auftrag ich sie stelle.«
Donnersmarck scheuchte eine Fliege von seiner weißen Uniform.
»Wenn du die fünf Minuten bekämst, würde der König der Goyl danach immer noch eine Geliebte haben?«
Jacob brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, was er gehört hatte.
»Nein«, antwortete er schließlich. »Er würde sie nie wiedersehen.«
Donnersmarck musterte ihn, als wollte er ihm von der Stirn lesen, was er vorhatte. Schließlich wies er auf Jacobs Hals.
»Du trägst das Medaillon nicht mehr. Hast du mit ihrer roten Schwester Frieden geschlossen?«
»Ja. Und sie hat mir verraten, was die Dunkle verletzlich macht.«
Donnersmarck rückte sich den Säbel zurecht. Er war ein sehr guter Fechter, aber das steife Bein hatte das vermutlich geändert.
»Du schließt Frieden mit der einen Schwester, um der anderen den Krieg zu erklären. So ist es immer mit dem Frieden, oder? Immer gegen jemanden, immer schon die Saat legend für den nächsten Krieg.«
Er hinkte zum Bett.
»Dann bleibt nur noch das Warum. Ich weiß, dass dir dieser Krieg egal ist. Also, wofür willst du es riskieren, von der Dunklen Fee getötet zu werden?«
»Der Jadegoyl, der ihren König bewacht, ist mein Bruder.«
Die Worte schienen es endgültig zur Wahrheit zu machen.
Donnersmarck rieb sich das verletzte Bein. »Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast. Aber wenn ich es mir genau überlege - es gibt vermutlich viel, was ich über dich nicht weiß.«
Er sah zum Fenster. »Ohne die Fee hätten wir diesen Krieg gewonnen.«
Nein, das hättet ihr nicht, dachte Jacob. Weil ihr König mehr vom Krieg versteht als ihr alle. Weil mein Vater ihm gezeigt hat, wie man bessere Flinten baut. Weil sie die Zwerge zu ihren Verbündeten gemacht haben. Und weil ihr ihren Zorn seit Jahrhunderten schürt.
Donnersmarck wusste all das auch. Aber es war so viel bequemer, der Fee die Schuld zu geben. Er stand auf und trat wieder ans Fenster.
»Sie geht jeden Abend nach Sonnenuntergang in die kaiserlichen Gärten. Kami'en lässt sie vorher durchsuchen, aber seine Männer sind nicht allzu gründlich. Sie wissen, dass ihr niemand etwas anhaben kann.«
Er wandte sich um.
»Was, wenn deinem Bruder nichts helfen kann? Was, wenn er einer von ihnen bleibt?«
»Einer von ihnen ist bald mit der Tochter deiner Kaiserin verheiratet.«
Darauf erwiderte Donnersmarck nichts. Draußen auf dem Flur waren Stimmen zu hören. Donnersmarck wartete, bis sie verklangen.
»Sobald es dunkel wird, schick ich dir zwei meiner Männer. Sie werden dich in die Gärten bringen.«
Er hinkte an Jacob vorbei, aber an der Tür blieb er noch einmal stehen. »Habe ich dir den je gezeigt?« Er strich über einen der Orden an seiner Jacke, einen Stern mit dem Siegel der Kaiserin in der Mitte. »Sie haben ihn mir verliehen, nachdem wir den Gläsernen Schuh gefunden hatten. Nachdem DU ihn gefunden hattest.«
Er blickte Jacob an.
»Ich bin in meiner Uniform hier. Ich hoffe, du weißt, was das heißt. Aber ich betrachte mich auch als deinen Freund, obwohl ich weiß, dass du das Wort nicht gern benutzt. Was immer du über die Dunkle Fee weißt ... Es ist Selbstmord, was du vorhast. Ich weiß, du bist ihrer Schwester davongelaufen und hast es überlebt. Aber diese Fee ist anders. Sie ist gefährlicher als alles, was dir je begegnet ist. Geh lieber den Wünschsack suchen oder den Baum des Lebens. Das Feuerpferd, einen Menschenschwanas auch immer. Schick mich zurück zum Palast mit der Antwort, dass du es dir überlegt hast. Schließ Frieden. So, wie wir alle es tun sollten.«
Jacob sah eine Warnung in seinem Blick. Und eine Bitte.
Aber er schüttelte den Kopf.
»Ich werde hier sein, wenn es dunkel wird.«
»Natürlich wirst du das«, sagte Donnersmarck.
Und schob sich aus der Tür.
46
DIE DUNKLE SCHWESTER
Es war seit einer Stunde dunkel, aber auf dem Flur vor Jacobs Zimmer blieb es still, und er befürchtete schon, dass Donnersmarck ihn vor sich selbst beschützen wollte, als es endlich an seiner Tür klopfte. Aber es standen keine kaiserlichen Soldaten davor, sondern eine Frau.
Jacob erkannte Fuchs erst kaum. Sie trug einen schwarzen Mantel über ihrem Kleid und hatte sich das Haar hochgesteckt.
»Clara wollte deinen Bruder noch ein letztes Mal sehen.« Ihre Stimme klang nicht nach erleuchteten Straßen, sondern nach Wald und dem Fell der Füchsin. »Sie hat den Zwerg überredet, dass er morgen mit ihr auf die Hochzeit geht.«
Sie strich sich über den Mantel. »Es sieht so lächerlich aus, oder?«
Jacob zog sie ins Zimmer und schloss die Tür. »Warum hast du es Clara nicht ausgeredet?«
»Warum sollte ich?«
Er zuckte zusammen, als sie seinen verletzten Arm berührte.
»Was ist passiert?«
»Nichts.«
»Clara sagt, du willst die Dunkle Fee finden. Jacob?« Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. So schmale Hände, immer noch wie die eines Mädchens. »Ist das wahr?«
Ihre braunen Augen blickten ihm ins Herz. Fuchs spürte immer, wenn er log, aber diesmal musste er es schaffen, sie zu täuschen, oder sie würde ihm folgen, und Jacob wusste, er konnte sich viel verzeihen, aber nicht, dass sie seinetwegen verloren ging -
»Stimmt. Das hatte ich vor«, sagte er. »Aber ich habe Will gesehen. Du hattest recht. Es ist vorbei.« Glaub mir, Fuchs. Bitte.
Diesmal waren es Donnersmarcks Männer. Es klopfte erneut.
»Jacob Reckless?« Die zwei Soldaten, die vor der Tür standen, waren kaum älter als Will.
Jacob zog Fuchs mit sich hinaus auf den Korridor. »Ich geh mich mit Donnersmarck betrinken. Wenn du morgen mit Clara zu der Hochzeit gehen willst, bitte. Aber ich werde den ersten Zug nach Schwanstein nehmen.«
Ihre Augen wanderten von ihm zu den Soldaten. Und die Dunkle Fee war sicher schon in den kaiserlichen Gärten.
Sie glaubte ihm nicht. Jacob sah es in ihrem Gesicht. Wie auch? Niemand kannte ihn besser. Nicht einmal er selbst. Sie sah so verletzlich aus in den Menschenkleidern, aber sie würde ihm nachkommen. Was immer er sagte.
Fuchs sprach kein Wort, als sie den Soldaten zum Aufzug folgten. Sie war immer noch aufgebracht wegen des Lerchenwassers. Und gleich würde sie noch zorniger sein.
»Du siehst kein bisschen lächerlich aus in dem Mantel«, sagte er, als sie vor dem Aufzug stehen blieben. »Du siehst sehr schön aus. Aber ich wünschte, du wärst nicht gekommen.«
»Sie darf mir nicht folgen«, sagte er zu den Soldaten. »Einer von euch muss bei ihr bleiben.«
Fuchs versuchte, sich zu verwandeln, doch Jacob griff nach ihrem Arm. Haut auf Haut, das hielt das Fell zurück. Sie versuchte sich verzweifelt zu befreien, aber Jacob ließ sie nicht los und drückte einem der Soldaten seinen Zimmerschlüssel in die Hand. Er war breit wie ein Schrank, trotz seines Kindergesichts, und würde sie hoffentlich gut bewachen.
»Sorg dafür, dass sie mein Zimmer nicht vor morgen früh verlässt«, wies er ihn an. »Und pass auf. Sie ist eine Gestaltwandlerin.«
Der Soldat sah nicht sonderlich glücklich aus über den Auftrag, aber er nickte und griff nach Fuchs' Arm. Die Verzweiflung in ihrem Blick tat weh, doch schon der bloße Gedanke, sie zu verlieren, schmerzte mehr.
»Sie wird dich töten!«
Ihre Augen ertranken in Wut und Tränen.
»Vielleicht«, sagte Jacob. »Aber es macht es nicht besser, wenn sie dasselbe auch mit dir tut.«
Der Soldat zog sie zum Zimmer zurück. Sie sträubte sich, wie die Füchsin es getan hätte, und vor der Tür riss sie sich fast los.
»Jacob! Geh nicht!«
Er hörte ihre Stimme noch, als der Aufzug unten in der Eingangshalle hielt, und für einen Moment wollte er tatsächlich wieder hinauffahren, nur um ihr die Wut und die Angst vom Gesicht zu wischen.
Der andere Soldat war sichtlich erleichtert, dass Jacob nicht ihn auserwählt hatte, auf Fuchs aufzupassen, und Jacob erfuhr auf dem Weg zum Palast, dass er aus einem Dorf im Süden kam, das Soldatenleben immer noch aufregend fand und ganz offensichtlich keine Ahnung hatte, wen Jacob in den kaiserlichen Gärten zu treffen hoffte.
Das große Tor auf der Rückseite des Palastes wurde nur einmal im Jahr für das Volk geöffnet. Sein Führer brauchte eine Ewigkeit, bis er das Schloss endlich aufbekam, und Jacob vermisste einmal mehr den magischen Schlüssel und all die anderen Dinge, die er in der Goylfestung verloren hatte. Der Soldat legte die Kette wieder vor, sobald Jacob sich durch das Tor geschoben hatte, aber er blieb mit dem Rücken dazu auf dem Gehsteig stehen. Schließlich würde Donnersmarck wissen wollen, ob Jacob auch wieder herausgekommen war.
Von ferne hörte man die Geräusche der Stadt, Kutschen und Pferde, Betrunkene, Straßenverkäufer und die Rufe der Nachtwächter. Aber hinter den Gartenmauern rauschten die Brunnen der Kaiserin, und in den Bäumen sangen die künstlichen Nachtigallen, die Therese zu ihrem letzten Geburtstag von einer ihrer Schwestern bekommen hatte. Im Palast brannte hinter einigen Fenstern noch Licht, doch auf den Baikonen und Treppen war es gespenstisch still für den Vorabend einer kaiserlichen Hochzeit, und Jacob versuchte, sich nicht zu fragen, wo Will gerade war.
Es war eine kalte Nacht, und seine Stiefel hinterließen dunkle Spuren auf den raureifweißen Rasenflächen, aber das Gras verschluckte das Geräusch seiner Schritte weit besser als die kiesbestreuten Wege. Jacob hielt nicht Ausschau nach den Spuren der Dunklen Fee. Er wusste, wohin sie gegangen war. Im Herzen der kaiserlichen Gärten lag ein Teich, dessen Oberfläche so dicht mit Lilien bedeckt war wie der See der Feen, und wie dort beugten sich Weiden über das dunkle Wasser.
Die Fee stand am Ufer und das Licht der Sterne haftete an ihrem Haar. Die zwei Monde liebkosten ihr die Haut, und Jacob spürte, wie sein Hass in ihrer Schönheit ertrank. Aber die Erinnerung an Wills versteinertes Gesicht brachte ihn schnell zurück.
Sie fuhr herum, als sie seine Schritte hörte, und er schlug den schwarzen Mantel zurück, damit das weiße Hemd darunter sichtbar wurde, wie ihre Schwester es ihm geraten hatte. »Weiß wie Schnee. Rot wie Blut. Schwarz wie Ebenholz.« Eine Farbe fehlte noch.
Die Dunkle Fee löste mit einem raschen Griff ihr Haar und ihre Motten schwärmten auf ihn zu. Aber Jacob zog sich das Messer schon über den Arm und wischte das Blut auf das weiße Hemd. Die Motten taumelten zurück, als hätte er ihnen die Flügel verbrannt.
»Weiß, rot, schwarz ...«, sagte er, während er die Messerklinge am Ärmel abstrich. »Schneewittchenfarben. So hat mein Bruder sie immer genannt. Er mochte das Märchen sehr. Aber wer hätte gedacht, dass sie so mächtig sind?«
»Woher weißt du von den drei Farben?« Die Fee machte einen Schritt zurück.
»Deine Schwester hat sie mir verraten.«
»Sie verrät dir unsere Geheimnisse als Dank dafür, dass du sie verlassen hast?«
Sieh sie nicht an, Jacob. Sie ist zu schön.
Die Fee streifte die Schuhe ab und trat näher ans Wasser. Jacob spürte ihre Macht so deutlich wie die Kälte der Nacht.
»Offenbar ist das, was du getan hast, schwerer zu verzeihen«, sagte er.
»Ja, sie sind immer noch empört darüber, dass ich fortgegangen bin.« Sie lachte leise und die Motten schlüpften ihr zurück ins Haar. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, was meine Schwester damit zu gewinnen glaubt, dass sie dir von den drei Farben erzählt. Als ob ich die Motten brauchte, um dich zu töten.«
Sie trat zurück, bis das Wasser des Teichs sich über ihren nackten Füßen schloss, und die Nacht begann zu flirren, als verwandelte die Luft selbst sich in schwarzes Wasser.
Jacob spürte, wie ihm das Atmen schwer wurde.
»Ich will meinen Bruder zurück.«
»Warum? Ich habe ihn nur zu dem gemacht, der er immer sein sollte.« Die Fee strich sich das lange Haar zurück. »Weißt du, was ich glaube? Meine Schwester ist immer noch zu verliebt in dich, um dich selbst zu töten. Also hat sie dich zu mir geschickt!«
Er fühlte, wie ihre Schönheit ihn alles vergessen ließ, den Hass, der ihn hergebracht hatte, die Liebe zu seinem Bruder und sich selbst.
Sieh sie nicht an, Jacob!
Er umklammerte seinen verletzten Arm, damit der Schmerz ihn schützte. Der Schmerz vom Schwert seines Bruders. Er drückte so fest zu, dass ihm Blut über die Hand rann, und sah erneut Wills hassverzerrtes Gesicht. Sein verlorener Bruder.
Die Dunkle Fee trat auf ihn zu.
Ja. Komm näher.
»Bist du wirklich so arrogant zu glauben, dass du herkommen und mir Forderungen stellen kannst?«, sagte sie und blieb dicht vor ihm stehen. »Denkst du, weil eine Fee dir nicht widerstehen konnte, ist es um uns alle geschehen?«
»Nein. Das ist es nicht«, sagte Jacob.
Ihre Augen weiteten sich, als er nach ihrem weißen Arm griff. Die Nacht spann sich ihm wie Spinnweben um den Mund, aber er sprach ihren Namen aus, bevor sie ihm die Zunge lähmen konnte.
Sie stieß ihn zurück und hob die Hände, als könnte sie die verhängnisvollen Silben noch abwehren. Doch ihre Finger verwandelten sich schon in Zweige und ihre Füße trieben Wurzeln. Ihr Haar wurde zu Blättern, ihre Haut zu Rinde, und ihr Aufschrei klang wie der Wind im Laub einer Weide.
»Es ist ein schöner Name«, sagte Jacob, während er zwischen die herabhängenden Zweige trat. »Zu schade, dass man ihn nur in eurem Reich aussprechen darf. Hast du ihn je deinem Liebhaber verraten?«
Die Weide ächzte, und ihr Stamm beugte sich über den Teich, als weinte sie herab auf ihr Spiegelbild.
»Du hast meinem Bruder eine Haut aus Stein gegeben. Ich gebe dir eine aus Rinde. Das klingt nach einem fairen Handel, oder?« Jacob schloss den Mantel über dem blutverschmierten Hemd. »Ich werde Will jetzt suchen gehen. Und wenn seine Haut immer noch aus Jade ist, komme ich zurück und lege Feuer an deine Wurzeln.«
Jacob konnte nicht sagen, woher ihre Stimme kam. Vielleicht war sie nur in seinem Kopf, aber er hörte sie so deutlich, als flüsterte sie ihm jedes Wort ins Ohr: »Lass mich frei und ich gebe deinem Bruder seine Menschenhaut zurück.«
»Deine Schwester hat mir gesagt, dass du das versprechen wirst. Und dass ich dir nicht glauben soll.«
»Bring ihn zu mir und ich beweise es dir!«
»Deine Schwester hat mir geraten, noch etwas anderes zu tun.« Jacob griff in die Zweige und pflückte eine Handvoll der silbrigen Blätter.
Die Weide seufzte, als er sie in sein Taschentuch einschlug.
»Ich sollte diese Blätter deiner Schwester bringen«, sagte Jacob. »Aber ich glaube, ich werde sie behalten und gegen die Haut meines Bruders eintauschen.«
Der Teich war ein Spiegel aus Silber, und die Hand, mit der er den Arm der Fee berührt hatte, fühlte sich an wie erfroren.
»Ich bringe ihn zu dir«, sagte er. »Noch heute Nacht.«
Aber durch das Laub der Weide lief ein Schauder.
»Nein!«, flüsterten die Blätter. »Kami'en braucht ihn! Er muss an seiner Seite bleiben, bis die Hochzeit vorbei ist.«
»Warum?«
»Versprich es, oder ich werde dir nicht helfen.« Jacob hörte ihre Stimme auch noch, als der Teich längst hinter den Hecken verschwunden war. »Versprich es!« Immer wieder.
47
DIE WUNDERKAMMERN DER KAISERIN
Ich bringe ihn zu dir. Aber wie? Jacob stand bestimmt eine Stunde hinter den Stallungen, die zwischen den Gärten und dem Palast lagen, und starrte zu den Fenstern des Nordflügels hinauf. Dort brannte immer noch Lichterzenlicht, wie es Goylaugen gefiel -, und einmal glaubte er, den König hinter einem der Fenster stehen zu sehen. Er wartete auf seine Geliebte. Am Vorabend seiner Hochzeit.
Ich bringe ihn zu dir. Aber wie, Jacob?
Es war ein Kinderspielzeug, das ihm die Antwort gab.
Ein schmutziger Ball, der zwischen den Eimern lag, mit denen die Knechte die Pferde tränkten. Natürlich, Jacob. Der Goldene Ball.
Er selbst hatte ihn vor drei Jahren an die Kaiserin verkauft. Der Ball war einer ihrer liebsten Schätze und lag in ihren Wunderkammern. Aber kein Wächter würde Jacob noch einmal in den Palast lassen und den Schwindschleim hatten die Goyl ihm abgenommen.
Es kostete ihn eine weitere Stunde, eine der Schnecken zu finden, die den Schleim produzierten. Die kaiserlichen Gärtner töteten alle, die sie fanden, aber schließlich entdeckte Jacob zwei unter dem moosbedeckten Rand eines Brunnens. Ihre Häuser wurden schon wieder sichtbar, und ihr Schleim wirkte, sobald er ihn unter die Nase strich. Es war nicht viel, aber für ein, zwei Stunden würde es reichen.
Vor dem Eingang, den die Lieferanten und Dienstboten benutzten, lehnte nur ein Wächter an der Mauer, und Jacob gelang es, sich an ihm vorbeizuschleichen, ohne ihn aus dem Halbschlaf zu wecken.
In den Küchen und Wäschekammern wurde selbst nachts gearbeitet, und eine der müden Mägde blieb erschrocken stehen, als seine unsichtbare Schulter sie streifte. Aber schon bald kam er zu den Treppen, die fort von den Dienern und hinauf zu den Herren führten. Er spürte, wie seine Haut taub wurde, weil er den Schleim erst vor ein paar Tagen benutzt hatte, doch zum Glück setzte noch keine Lähmung ein.
Die Wunderkammern lagen im Südflügel, dem jüngsten Teil des Palastes. Die sechs Säle, die sie inzwischen einnahmen, waren mit Lapislazuli verkleidet, weil es von diesem Stein hieß, dass er die magische Potenz der ausgestellten Artefakte schwächte. Die kaiserliche Familie hatte schon immer Geschmack an den Zaubergegenständen dieser Welt gefunden und versucht, so viele wie möglich in ihren Besitz zu bringen. Aber erst der Vater der jetzigen Kaiserin hatte es zum Gesetz gemacht, dass Gegenstände, Tiere und Menschen mit magischen Eigenschaften den Behörden zu melden waren. Schließlich war es nicht leicht, in einer Welt zu regieren, in der Bettler von einem Goldbaum zu Fürsten gemacht wurden und sprechende Tiere Waldarbeitern rebellische Weisheiten zuflüsterten.
Vor den vergoldeten Türen standen keine Wachen. Der Großvater der Kaiserin hatte einen Schmied mit der Herstellung beauftragt, der sein Handwerk von einer Hexe gelernt hatte. In die Bäume, die auf den Türblättern ihre goldenen Zweige spreizten, waren die Zweige von Hexenbäumen eingelassen, und wer die Türen öffnete, ohne ihr Geheimnis zu kennen, wurde von den Zweigen aufgespießt. Sie schnellten heraus wie Lanzen, sobald man die Klinken berührte, und zielten, wie die Bäume im Schwarzen Wald, zuerst nach den Augen. Aber Jacob kannte das Geheimnis, wie man sie unbeschadet öffnete.
Er trat dicht an die Türen heran, ohne die Klinken zu berühren. Zwischen den geschmiedeten Blättern hatte der Schmied einen Specht verborgen. Sein Gefieder färbte sich bunt wie die Federn eines lebenden Vogels, sobald Jacob auf das Gold hauchte, und die Türen schwangen so lautlos auf, als hätte ein Windstoß sie geöffnet.
Die Wunderkammern von Austrien.
Der erste Saal war zum Großteil mit Zaubertieren gefüllt, die zur Jagdbeute der kaiserlichen Familie verkommen waren. Als Jacob an den Vitrinen vorbeischritt, die die ausgestopften Körper vor Staub und Motten schützten, schienen ihm ihre glasgefüllten Blicke zu folgen. Ein Einhorn. Geflügelte Hasen. Ein Brauner Wolf. Menschenschwäne. Zauberkrähen. Sprechende Pferde. Natürlich gab es auch eine Füchsin. Sie war nicht so zartgliedrig wie Fuchs, aber Jacob ertrug es trotzdem nicht, sie anzusehen.
Die zweite Kammer enthielt Artefakte, die von Hexen stammten. Die Wunderkammern machten keinen Unterschied zwischen Heilerinnen und Kinderfresserinnen. Messer, die Fleisch von Menschenknochen gelöst hatten, lagen neben einer Nadel, die mit einem Stich Wunden heilte, und Eulenfedern, die Blinde wieder sehen ließen. Es gab zwei der Besen, auf denen die Hexen so schnell und hoch wie Vögel flogen, und Lebkuchen von den tödlichen Häusern ihrer kinderfressenden Schwestern.
In den Vitrinen der dritten Kammer waren Nymphen- und Wassermannschuppen ausgestellt, die einem, wenn man sie unter die Zunge legte, erlaubten, sehr tief und lange zu tauchen. Aber es waren auch Drachenschuppen in jeder Größe und Farbe zu finden. In fast jedem Winkel dieser Welt gab es Gerüchte über angeblich noch lebende Exemplare. Jacob selbst hatte hoch im Norden schon Schatten am Himmel gesehen, die verdächtig dem mumifizierten Körper glichen, der in der vierten Kammer ausgestellt war. Allein der Schwanz nahm fast eine halbe Wand ein, und die gewaltigen Zähne und Klauen machten Jacob fast dankbar dafür, dass die kaiserliche Familie seine Art ausgerottet hatte.
Der Goldene Ball, nach dem er suchte, lag in der fünften Kammer auf einem Kissen aus schwarzem Samt. Jacob hatte ihn in einer Wassermannhöhle neben der entführten Tochter eines Bäckers gefunden. Er war kaum größer als ein Hühnerei, und die Beschreibung, die auf den Samt geheftet war, klang fast wie das Märchen, das in der anderen Welt von einem Goldenen Ball erzählte:
Ursprünglich Lieblingsspielzeug der jüngsten Tochter Leopolds des Gutmütigen, mit dem sie ihren Bräutigam (später Wenzeslaus der Zweite) fand und von einem Frosch-Fluch befreite.
Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Der Ball war eine Falle. Jeder, der ihn auffing, wurde in sein Inneres gezogen und erst wieder freigelassen, wenn man das Gold polierte.
Jacob brach die Vitrine mit dem Messer auf und war für einen Moment versucht, noch ein paar andere Dinge mitzunehmen, die die Truhe in Chanutes Gasthaus hätten auffüllen können, doch die Kaiserin würde über den Ball verärgert genug sein. Jacob schob ihn gerade in die Manteltasche, als in der ersten Kammer die Gaslichter aufflammten. Sein Körper begann schon wieder sichtbar zu werden, und er verbarg sich hastig hinter einer Vitrine, in der ein abgetragener Siebenmeilenstiefel aus Salamanderleder stand, den Chanute dem Vater der Kaiserin verkauft hatte (der zweite stand in der Wunderkammer des Königs von Albion). Schritte hallten durch die Säle, und schließlich hörte Jacob, wie jemand sich an den Vitrinen zu schaffen machte. Aber er konnte nicht sehen, wer es war, und wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst, seine Schritte würden ihn verraten. Wer immer es war, er blieb nicht lange. Das Licht erlosch, die schweren Türen fielen zu und Jacob war wieder allein in der Dunkelheit.
Ihm war speiübel von dem Schleim, aber er konnte es nicht lassen, an den Vitrinen entlangzugehen, um herauszufinden, weswegen der andere nächtliche Besucher gekommen war. Die Heilende Hexennadel fehlte, zwei Drachenkrallen, die angeblich vor Verletzung schützten, und ein Stück Wassermannhaut, dem man dieselbe Wirkung zuschrieb. Jacob konnte sich keinen Reim darauf machen, und schließlich gab er sich mit der Erklärung zufrieden, dass die Kaiserin dem Bräutigam ein paar magische Dinge zur Hochzeit schenken wollte, um sicherzustellen, dass er nicht schon bald von einem weniger friedensbereiten Goyl ersetzt wurde.
Als die goldenen Türen wieder hinter ihm zufielen, war Jacob bereits so übel, dass er sich fast übergab. Er hatte Krämpfe - die ersten Vorboten der Lähmung, die der Schleim auslösen konnte -, und die Palastkorridore nahmen kein Ende. Jacob beschloss, ihnen zurück in die Gärten zu folgen. Die Mauern, die sie von der Straße trennten, waren hoch, doch das Rapunzelseil ließ ihn auch diesmal nicht im Stich. Wenigstens eine nützliche Sache, die ihm geblieben war.
Donnersmarcks Mann stand immer noch vor dem Tor, aber er bemerkte Jacob nicht, als er sich davonstahl. Sein Körper war noch schemenhaft wie der eines Geistes, und ein Nachtwächter, der seine Runden in den nächtlichen Straßen zog, ließ bei seinem Anblick vor Schreck die Laterne fallen.
Zum Glück war er wieder sichtbar genug, als er das Hotel erreichte. Jeder Schritt war mühsam und seine Finger wollten sich kaum noch krümmen. Er schaffte es gerade noch in den Aufzug, und erst als er vor seinem Zimmer stand, fiel ihm Fuchs ein.
Er musste so laut gegen die Tür klopfen, dass zwei Gäste die Köpfe aus ihren Zimmern steckten, bevor der Soldat endlich öffnete. Jacob stolperte an ihm vorbei und übergab sich im Badezimmer. Fuchs war nirgends zu sehen.
»Wo ist sie?«, fragte Jacob, als er wieder aus dem Badezimmer kam. Er musste sich gegen die Wand lehnen, damit ihm die Knie nicht nachgaben.
»Ich habe sie in den Schrank gesperrt!« Der Soldat hielt ihm anklagend seine mit einem blutigen Taschentuch umwickelte Hand hin. »Sie hat mich gebissen!«
Jacob schob ihn auf den Korridor hinaus. »Richte Donnersmarck aus, dass erledigt ist, was ich versprochen habe.«
Er lehnte sich erschöpft gegen die Tür. Eine der Elfen, die immer noch in dem Zimmer herumschwirrten, hinterließ ihren silbrigen Staub auf seiner Schulter. Süße Träume, Jacob.
Fuchs trug ihr Fell und entblößte die Zähne, als er den Schrank öffnete. Falls sie erleichtert war, ihn zu sehen, verbarg sie es gut.
»War das die Fee?«, fragte sie nur beim Anblick seines blutverschmierten Hemdes und beobachtete mit unbewegtem Gesicht, wie er vergebens versuchte, es auszuziehen. Seine Finger waren inzwischen steif wie Holz.
»Ich rieche Schwindschleim.« Fuchs leckte sich das Fell, als spürte sie immer noch, wo der Soldat sie zu packen versucht hatte.
Jacob setzte sich aufs Bett, solange er es noch konnte. Seine Knie wurden auch schon steif.
»Hilf mir, Fuchs. Ich muss morgen auf die Hochzeit und ich kann mich kaum noch bewegen.«
Sie musterte ihn so lange, dass Jacob dachte, sie hätte das Sprechen verlernt.
»Ein fester Biss könnte dir vielleicht helfen«, sagte sie schließlich. »Und ich gebe zu, es würde mir ein Vergnügen sein. Aber vorher verrätst du mir, was du vorhast.«
48
HOCHZEITSPLÄNE
Das erste Morgenrot zeigte sich über den Dächern der Stadt und die Kaiserin hatte nicht geschlafen.
Sie hatte gewartet, Stunde um Stunde, aber als endlich einer der Zwerge Donnersmarck in ihr Audienzzimmer führte, verbarg ihr Gesicht all das Warten und Hoffen hinter einer Maske aus Puder.
»Er hat es getan. Kami'en lässt bereits nach ihr suchen, aber falls Jacob die Wahrheit sagt, werden sie sie nicht finden.«
Donnersmark schien nicht sehr glücklich über die Nachricht, die er brachte, doch Thereses Herz schlug schneller, denn es war die Nachricht, auf die sie gehofft hatte.
»Gut.« Sie strich sich über das straff zurückgesteckte Haar. Es wurde grau, aber sie ließ es färben. Golden wie das ihrer Tochter. Sie würde sie behalten. Ebenso wie ihren Thron. Und ihren Stolz.
»Gib die vorbereiteten Befehle.«
Donnersmarck senkte den Kopf, wie immer, wenn er von einem Befehl wenig hielt. »Was?«
»Ihr könnt ihren König töten, aber seine Armeen stehen immer noch kaum zwanzig Meilen entfernt.«
»Sie sind verloren ohne Kami'en und die Fee.«
»Einer der Onyxgoyl wird ihn ersetzen.«
»Und Frieden machen! Die Onyxgoyl wollen nur unter der Erde herrschen.« Sie hörte selbst, wie ungeduldig ihre Stimme klang. Sie wollte nicht denken, sie wollte handeln. Bevor die Gelegenheit verstrich.
»Aber ihre unterirdischen Städte sind überfüllt. Und sein Volk wird Rache wollen. Sie vergöttern ihren König!«
Er war so störrisch. Und er war den Krieg leid. Aber keiner war klüger als er. Und unbestechlicher.
»Ich sage es nicht noch einmal. Gib die vorbereiteten Befehle!«
Sie winkte dem jüngsten ihrer Zwerge. »Bring mein Frühstück. Ich bin hungrig.«
Der Zwerg huschte davon und Donnersmarck hatte sich immer noch nicht gerührt.
»Was ist mit seinem Bruder?«
»Was soll mit ihm sein? Er ist der Leibwächter des Königs. Also erwarte ich, dass er mit ihm sterben wird. Hast du die Dinge für meine Tochter?«
Donnersmarck legte alles auf den Tisch, an dem sie als Kind oft gesessen und ihrem Vater dabei zugesehen hatte, wie er Verträge und Todesurteile besiegelte. Inzwischen trug sie den Siegelring.
Eine Heilende Nadel, eine Drachenkralle und eine Wassermannhaut. Therese von Austrien trat an den Tisch und strich über die mattgrünen Schuppen, die einmal die Hand eines Wassermanns bedeckt hatten.
»Lass die Kralle und die Haut ins Brautkleid meiner Tochter einnähen«, befahl sie der Zofe, die wartend neben der Tür stand. »Und die Nadel gebt dem Arzt, der sich in der Sakristei bereithalten wird.«
Donnersmarck reichte ihr eine weitere Kralle.
»Die ist für Euch.«
Er salutierte und wandte sich um.
»Was ist mit Jacob? Hast du ihn verhaften lassen?«
Donnersmarck blieb stehen, als hätte sie ihm eine Leiche in den Weg geworfen. Aber als er sich umdrehte, war sein Gesicht ebenso ausdruckslos wie das ihre.
»Der Soldat, der vor dem Tor auf ihn gewartet hat, sagt, er ist nicht wieder herausgekommen. Im Palast haben wir ihn auch nicht gefunden.«
»Und? Habt ihr sein Hotel überwacht?«
Er blickte ihr in die Augen, aber sie konnte seinen Blick nicht lesen.
»Ja. Er ist nicht dort.«
Die Kaiserin strich über die Drachenkralk in ihrer Hand.
»Finde ihn. Du weißt, wie er ist. Du kannst ihn wieder freilassen, sobald die Hochzeit vorbei ist.«
»Für seinen Bruder wird das zu spät sein.«
»Es ist schon jetzt zu spät für ihn. Er ist ein Goyl.«
Der Zwerg kam mit ihrem Frühstück zurück. Draußen wurde es hell und die Nacht hatte die Dunlde Fee mit sich genommen. Zeit, sich zurückzuholen, was ihr Zauber ihr gestohlen hatte. Wer wollte Frieden, wenn man siegen konnte?
49
EINER VON IHNEN
Will versuchte, nicht zuzuhören. Er war der Schatten des Königs und Schatten waren taub und stumm. Doch Hentzau sprach so laut, dass man ihn nur schwer überhören konnte.
»Ohne die Fee kann ich Euch nicht schützen. Die zusätzlichen Truppen, die ich angefordert habe, können nicht vor heute Nacht hier sein, und die Kaiserin weiß das!«
Kami'en knöpfte sich die Jacke zu: kein Frack für den Bräutigam, nur die dunkelgraue Uniform. Seine zweite Haut. Darin hatte er sie geschlagen. Darin würde er eine von ihnen heiraten. Der erste Goyl, der eine Menschenfrau nahm.
»Eure Majestät. Es sieht ihr nicht ähnlich, ohne ein Wort zu verschwinden!« Aus Hentzaus Stimme klang etwas, das Will dort noch nie gehört hatte. Angst.
»Im Gegenteil. Es sieht ihr sehr ähnlich.« Der König ließ sich von Will den Säbel reichen. »Sie hasst unsere Sitte, sich mehrere Frauen zu nehmen. Auch wenn ich ihr oft genug erklärt habe, dass sie ebenso das Recht hat, andere Männer zu haben.«
Er schnallte sich den Säbel an den silberbeschlagenen Gürtel und trat vor den Spiegel, der neben dem Fenster hing. Das schimmernde Glas erinnerte Will an etwas. Nur an was?
»Vermutlich hat sie es von Anfang an so geplant und dich deshalb den Jadegoyl für mich suchen lassen. Und falls sie recht behält«, setzte der König mit einem Blick auf Will hinzu, »brauche ich eh nur ihn in meiner Nähe, um sicher zu sein.«
»Weich nicht von seiner Seite.« Die Fee hatte es so oft gesagt, dass Will die Worte in seinen Träumen hörte. »Selbst wenn er dich fortschickt, gehorch ihm nicht!«
Sie war so schön. Aber Hentzau verabscheute sie. Trotzdem hatte er Will auf ihren Befehl hin trainiert - manchmal so hart, als wollte er ihn töten. Zum Glück heilte Goylhaut schnell und die Angst hatte ihn nur zu einem besseren Kämpfer gemacht. Erst gestern hatte er Hentzau den Säbel aus der Hand geschlagen. »Was habe ich dir gesagt?«, hatte die Fee ihm zugeraunt. »Du bist zum Schutzengel geboren. Vielleicht lasse ich dir eines Tages Flügel wachsen.«
»Aber was war ich vorher?«, hatte Will gefragt.
»Seit wann fragt der Schmetterling nach der Raupe?«, hatte sie zurückgefragt. »Er vergisst sie. Und liebt, was er ist.«
Und ja, das tat er. Will liebte die Unempfindlichkeit seiner Haut und die Kraft und Unermüdlichkeit seiner Glieder, die alle Goyl den Weichhäuten so überlegen machten - auch wenn er wusste, dass er aus ihrem Fleisch erschaffen worden war. Er warf sich immer noch vor, dass er den einen hatte entkommen lassen, der wie eine Ratte hinter den Wänden des Königs gesteckt hatte. Will konnte sein Gesicht nicht vergessen: die grauen goldlosen Augen, das spinnwebfeine, dunkle Haar, die weiche Haut, die all ihre Schwachheit verriet ... Er strich sich schaudernd über die jadeglatte Hand.
»Die Wahrheit ist, dass du diesen Frieden nicht willst.« Der König klang gereizt und Hentzau senkte den Kopf wie ein alter Wolf vor dem Führer des Rudels. »Du würdest sie am liebsten alle erschlagen. Jeden Einzelnen von ihnen. Männer, Frauen und Kinder.«
»Richtig«, erwiderte Hentzau heiser. »Solange auch nur einer von ihnen lebt, werden sie dasselbe mit uns machen wollen. Verschiebt die Hochzeit um einen Tag. Bis Verstärkung eintrifft.«
Kami'en zog sich die Handschuhe über die Klauen. Sie waren aus dem Leder der Schlangen genäht, die so tief unter der Erde hausten, dass selbst den Goyl auf der Jagd nach ihnen fast die Haut schmolz. Die Fee hatte Will von den Schlangen erzählt. Sie hatte ihm so vieles beschrieben: die Straße der Toten, die Wasserfälle aus Sandstein, unterirdische Seen und Blütenfelder aus Amethyst. Er konnte es nicht erwarten, all diese Wunder endlich mit eigenen Augen zu sehen.
Der König griff nach seinem Helm und strich über die Echsenstacheln, die ihn schmückten. Den Menschen Federbüsche, den Goyl Echsenstacheln. »Du weißt genau, was sie sagen würden: Der Goyl fürchtet uns, weil er sich nicht hinter dem Rock seiner Geliebten verstecken kann. Und: Wir haben immer gewusst, dass er diesen Krieg nur ihretwegen gewonnen hat.«
Hentzau schwieg.
»Siehst du? Du weißt, dass ich recht habe.« Der König wandte ihm den Rücken zu, und Will senkte hastig den Kopf, als er auf ihn zutrat.
»Ich war bei ihr, als sie von dir geträumt hat«, sagte er. »Ich habe dein Gesicht in ihren Augen gesehen. Wie kann man träumen, was noch nicht geschehen, und einen Mann sehen, dem man nie begegnet ist? Oder hat sie dich herbeigeträumt? Hat sie all das Steinerne Fleisch nur gesät, um dich zu ernten?«
Will schloss die Finger um den Säbelknauf. »Ich glaube, etwas in uns kennt die Antworten, Euer Majestät«, sagte er. »Aber es gibt keine Worte für sie. Ich werde Euch nicht enttäuschen. Das ist alles, was ich weiß. Ich schwöre es.«
Der König sah sich zu Hentzau um.
»Hör dir das an. Mein Jadeschatten ist doch nicht stumm. Hast du ihm neben dem Kämpfen endlich auch das Sprechen beigebracht?« Er lächelte Will zu. »Was hat sie zu dir gesagt? Dass du selbst beim Jawort an meiner Seite stehen sollst?«
Will spürte Hentzaus milchigen Blick wie Raureif auf der Haut.
»Hat sie es so gesagt?«, wiederholte der König. Will nickte.
»Dann wird es so sein.« Kami'en drehte sich zu Hentzau um. »Lass anspannen. Der König der Goyl nimmt sich eine Menschenfrau.«
50
DIE SCHÖNE UND DAS BIEST
Hochzeit. Eine Tochter als Bezahlung und ein weißes Kleid, um darunter all die blutigen Schlachtfelder zu verstecken. Die Kirchenfenster färbten das Morgenlicht blau, grün, rot und golden, und Jacob stand hinter einer der blumengeschmückten Säulen und beobachtete, wie die Bankreihen der Kathedrale sich füllten. Er trug die Uniform der kaiserlichen Garden. Der Soldat, dem er sie abgenommen hatte, lag fest verschnürt in einer Seitengasse hinter der Kathedrale, und zwischen ihren Säulen standen so viele Gardisten, dass ein fremdes Gesicht niemandem auffiel. In ihren Uniformen waren sie weiße Flecken in dem Farbenmeer, das mit den Gästen hereinschwemmte. Die Goyl dagegen sahen aus, als hätten die Steine der Kathedrale Menschenform angenommen. Die kühle Luft in der großen Kirche behagte ihnen sicher nicht, aber das Dämmerlicht, das auch Tausende tropfender Kerzen nicht vertreiben konnten, schien wie für sie gemacht. Will würde seine Augen nicht hinter Onyxglas verbergen müssen, um seine neue Rolle zu spielen. Der Jadegoyl. Dein Bruder, Jacob.
Er tastete nach dem Goldenen Ball in seiner Tasche. Nicht, bevor die Hochzeit vorbei ist. Es würde schwer sein, so lange zu warten. Jacob hatte seit drei Nächten kaum geschlafen, und sein Arm schmerzte von dem Biss, mit dem Fuchs ihm das Schwindschleim-Gift aus den Adern getrieben hatte.
Warten ...
Er sah Valiant mit Fuchs und Clara den Mittelgang hinunterkommen. Der Zwerg hatte sich rasiert, und selbst die kaiserlichen Minister, die sich in den ersten Bankreihen drängten, waren nicht besser gekleidet als er. Fuchs blickte sich suchend um, und ihr Gesicht hellte sich auf, als sie Jacob zwischen den Säulen entdeckte. Doch im nächsten Moment war die Sorge zurück. Fuchs hielt nichts von seinem Plan. Wie auch? Er selbst hielt nicht viel davon, aber dies war seine letzte Chance. Folgte Will dem König und seiner Braut erst wieder in die unterirdische Festung, würde die Dunkle Fee nie beweisen können, ob sie imstande war, ihren eigenen Fluch zu brechen.
Draußen wurde es laut. Es klang, als wäre der Wind in die Menge gefahren, die seit Stunden vor der Kathedrale wartete.
Sie kamen. Endlich.
Goyl, Zwerge und Menschen, sie alle drehten sich um und starrten zu dem mit Blumen umkränzten Eingangsportal.
Der Bräutigam. Er nahm die schwarzen Brillengläser ab und blieb für einen Moment in der Tür stehen. Ein Murmeln erhob sich, als Will neben ihm erschien. Karneol und Jade. Sie schienen so sehr füreinander gemacht, dass selbst Jacob sich daran erinnern musste, dass sein Bruder nicht immer ein Gesicht aus Stein gehabt hatte.
Mit Will waren es sechs Leibwächter, die Kami'en folgten. Und Hentzau.
Auf der Empore hob die Orgel an und die Goyl schritten auf den Altar zu. Bestimmt spürten sie den Hass, der ihnen entgegenschlug, trotz der steinernen Haut, aber der Bräutigam blickte so gelassen drein, als befände er sich in seinem hängenden Palast und nicht in der Hauptstadt seiner Feinde.
Will ging so dicht an Clara und Fuchs vorbei, dass sie ihn hätten berühren können, und Claras Gesicht wurde starr vor Schmerz. Fuchs legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter.
Der Bräutigam hatte die Stufen vor dem Altar gerade erreicht, als die Kaiserin erschien. Ihr elfenbeinfarbenes Kleid hätte selbst der Braut alle Ehre gemacht. Die vier Zwerge, die ihre Schleppe trugen, beachteten den Bräutigam mit keinem Blick, aber die Kaiserin lächelte ihm wohlwollend zu, bevor sie die Stufen hinaufstieg und hinter dem Gitter aus geschnitzten Rosen Platz nahm, das links vom Altar die kaiserliche Loge umgab. Therese von Austrien war schon immer eine sehr begabte Schauspielerin gewesen.
Als Nächstes musste die Braut erscheinen.
Es war einmal eine Königin, die hatte einen Krieg verloren. Aber sie hatte eine Tochter.
Selbst die Orgel konnte das Geschrei nicht übertönen, das Amalies Ankunft ankündigte. Was immer die Menge, die die Straßen säumte, über den Bräutigam dachte, die Hochzeit einer Kaisertochter war trotzdem ein Anlass, zu jubeln und von besseren Zeiten zu träumen.
Die Prinzessin trug das puppenschöne Gesicht, das die Lilie der Feen ihr verschafft hatte, wie eine Maske, aber trotzdem glaubte Jacob auf den perfekten Zügen so etwas wie Freude zu entdecken. Ihre Augen hingen an dem steinernen Bräutigam, als hätte nicht ihre Mutter, sondern sie selbst ihn ausgewählt.
Kami'en erwartete sie mit einem Lächeln. Will stand immer noch direkt neben ihm. Er muss an seiner Seite bleiben, bis die Hochzeit vorbei ist... Geh schneller, wollte Jacob der Prinzessin zurufen. Bringt es hinter euch. Aber der höchste General ihrer Mutter führte die Braut zum Altar und er hatte es ganz offensichtlich nicht eilig.
Jacob blickte zur Kaiserin hinüber. Vier ihrer Garden umringten die Loge. Außerdem waren die Zwerge bei ihr - und ihr Adjutant. Donnersmarck flüsterte der Kaiserin etwas zu und blickte zur Orgelempore hinauf. Aber Jacob begriff immer noch nicht. Blind und taub, Jacob.
Die Prinzessin hatte kaum ein Dutzend Schritte gemacht, als der erste Schuss fiel. Er kam von einem verdeckten Schützen auf der Orgelempore und galt dem König, aber Will stieß ihn rechtzeitig zur Seite. Der zweite Schuss verfehlte Will selbst nur knapp. Der dritte traf Hentzau. Und die Dunkle Fee fesselte eine Haut aus Weidenrinde in den kaiserlichen Gärten. Gut gemacht, Jacob. Sie haben dich benutzt wie einen abgerichteten Hund.
Die Kaiserin hatte ihre Attentatspläne vor ihrer Tochter offenbar ebenso geheim gehalten wie vor ihren Ministern, die verzweifelt Schutz hinter der dünnen Holzverkleidung ihrer Bänke suchten. Die Prinzessin stand da und starrte fassungslos zu ihrer Mutter hinauf. Der General, der sie hereingeführt hatte, wollte sie mit sich zerren, doch sie wurden beide mitgerissen von den schreienden Gästen, die aus den Bänken drängten. Wo wollten sie hin? Das Eingangsportal war längst verriegelt. Offensichtlich hoffte die Kaiserin, sich bei dieser Hochzeit nicht nur vom König der Goyl, sondern auch von ein paar unliebsamen Untertanen zu befreien.
Fuchs und Clara waren nirgends zu sehen, ebenso wenig wie Valiant, aber Will stand immer noch schützend vor dem König. Die Leibwächter hatten einen Ring aus grauen Uniformen um Kami'en geschlossen. Die anderen Goyl versuchten, sich zu ihnen vorzukämpfen, doch sie fielen unter den Schüssen der Kaiserlichen wie Hasen, die ein Bauer auf seinem Stoppelfeld schoss.
Und du hast ihnen die Fee aus dem Weg geräumt, Jacob. Er kämpfte sich zu den Altarstufen vor, aber als er sie erreichte, sprang ihn einer der kaiserlichen Zwerge an. Jacob stieß ihm den Ellbogen in das bärtige Gesicht. Schreie, Schüsse, Blut auf Seide und Marmorfliesen. Die Kaiserlichen waren überall. Trotzdem schlugen die Goyl sich gut. Und Will und der König waren immer noch unverletzt, wie auch immer das möglich war. Es hieß, dass die Goyl ihre Haut vor Kämpfen zusätzlich durch Hitze und den Verzehr einer Pflanze härteten, die sie eigens dafür züchteten. Offenbar hatten sie ähnliche Vorkehrungen auch für die Hochzeit ihres Königs getroffen. Selbst Hentzau war wieder auf den Beinen. Doch auf jeden seiner Männer kamen mehr als zehn Kaiserliche.
Jacob schloss die Finger um den Goldenen Ball, aber es war unmöglich, ihn gezielt zu werfen. Will war umgeben von weißen Uniformen, und Jacob konnte kaum den Arm heben, ohne dass einer der Kämpfenden gegen ihn stolperte. Sie waren verloren. Sie alle. Will. Clara. Fuchs.
Ein weiterer Goyl fiel. Der nächste war Hentzau. Und schließlich stand nur noch Will vor dem König. Zwei Kaiserliche griffen Kami'en gemeinsam an. Will tötete sie beide, obwohl der eine ihm den Säbel tief in die Schulter stieß. Kami'en braucht ihn. Die Fee hatte es gewusst. Der Jadegoyl. Das Schild für ihren Geliebten. Sein Bruder.
Wills Uniform war feucht von Goyl- und Menschenblut, und der König kämpfte Rücken an Rücken mit ihm, aber sie waren umzingelt von weißen Uniformen. Bald würde auch die Goylhaut ihnen nicht mehr helfen.
Tu etwas, Jacob. Irgendetwas!
Jacob sah Fuchsfell zwischen den Bänken und Valiant, der auf dem Gang schützend vor einer geduckten Gestalt stand. Clara. Er konnte nicht erkennen, ob sie noch am Leben war. Gleich neben ihnen kämpfte ein Goyl gegen vier Kaiserliche. Und Therese von Austrien saß hinter den geschnitzten Rosen und wartete auf den Tod ihres Feindes.
Jacob kämpfte sich die Stufen hinauf. Donnersmarck stand immer noch neben der Kaiserin. Ihre Augen fanden sich. Ich habe dich gewarnt, sagte sein Blick.
Will wehrte drei Kaiserliche gleichzeitig ab. Das Blut lief ihm übers Gesicht. Blasses Goylblut.
Tu etwas, Jacob.
Ein Kaiserlicher stolperte gegen ihn, als er nach dem Taschentuch griff, und die Weidenblätter fielen einem der vielen Toten auf die Brust. Goyl und Menschen.
Auf wessen Seite stehst du, Jacob?
Aber er konnte nicht mehr an Seiten denken, nur an seinen Bruder. Und Fuchs. Und Clara. Er schaffte es, dem Toten die Blätter von der Brust zu klauben, und schrie den Namen der Fee in den Kampflärm.
Die Rinde schälte sich noch von ihren Armen, als sie plötzlich am Fuß der Altarstufen erschien, und ihr langes Haar war durchsetzt mit Weidenlaub. Sie hob die Hände, und Ranken aus Glas wuchsen um Will und ihren Geliebten. Sie ließen Kugeln und Säbel abprallen wie Spielzeug. Jacob sah, wie sein Bruder zusammenbrach und der König ihn in seinen Armen auffing. Die Dunkle Fee aber begann zu wachsen wie eine Flamme, in die der Wind führ, und aus ihrem Haar schwärmten die Motten, Tausende schwarzer Leiber, die sich auf Menschen- und Zwergenhaut setzten, wo immer sie sie fanden.
Die Kaiserin versuchte, mit ihren Zwergen zu fliehen. Aber sie brachen ebenso wie ihre Garden unter dem Angriff der Motten zusammen und schließlich fanden sie auch ihre Haut.
Menschenhaut. Fuchs trug ihr Fell, aber wo war Clara?
Jacob kam auf die Füße und sprang über die Toten und Verwundeten, deren Schreie und Stöhnen das Kirchenschiff füllten. Er stolperte die Altarstufen hinunter. Fuchs stand über Claras zusammengesunkener Gestalt und schnappte verzweifelt nach den Motten. Valiant lag neben ihr.
Die Fee loderte immer noch wie eine Flamme. Jacob schloss die Finger fester um die Blätter und stolperte an ihr vorbei. Sie wandte sich zu ihm um, als spürte sie den Druck seiner Finger auf der Haut.
»Ruf sie zurück!«, schrie er, während er neben Clara und Valiant auf die Knie fiel.
Der Zwerg regte sich noch, aber Clara war bleich wie der Tod. Weiß, rot, schwarz. Jacob scheuchte die Motten fort, die auf ihrer Haut saßen, und ließ die Blätter los, um sich die weiße Uniformjacke auszuziehen. Es war genug Blut darauf, um das Rot zu liefern, aber wo sollte er das Schwarz hernehmen? Die Motten ließen sich auf ihm nieder, als er die Jacke schützend über Clara legte. Mit letzter Kraft zerrte er einem Toten das schwarze Tuch vom Hals und schlang es ihr um den Arm. Flatternde Flügel und Stacheln, die sich wie Splitter ins Fleisch bohrten. Sie säten Taubheit, die nach Tod schmeckte. Jacob brach neben dem Zwerg zusammen und spürte Pfoten, die sich auf seine Brust stemmten.
»Fuchs!« Er brachte kaum noch einen Laut über die Lippen. Sie scheuchte ihm die Motten vom Gesicht, aber es waren zu viele.
»Weiß, rot, schwarz«, stammelte er, aber natürlich verstand sie nicht, wovon er sprach. Die Blätter ... Er tastete auf dem Boden nach ihnen, aber seine Finger waren wie Blei.
»Genug!«
Nur ein Wort, aber es kam von dem Einzigen, den die Dunkle Fee in ihrer Wut noch hörte. Die Stimme des Königs ließ die Motten aufwirbeln. Selbst das Gift in Jacobs Adern schien sich aufzulösen, bis nichts blieb außer bleierner Müdigkeit. Die Fee wurde wieder zur Frau und all ihr Schrecken verschwand unter ihrer Schönheit wie ein Messer in der Scheide.
Valiant rollte sich stöhnend auf die Seite, aber Clara rührte sich immer noch nicht. Sie schlug erst die Augen auf, als Jacob sich über sie beugte. Er wandte das Gesicht ab, damit sie nicht sah, wie erleichtert er war. Doch ihr Blick suchte ohnehin nur nach seinem Bruder.
Will war wieder auf den Füßen. Er stand hinter den Glasranken der Fee. Sie wurden zu Wasser, sobald Kami'en auf sie zutrat, und zerflossen auf den Fliesen, als wollten sie das Blut von den Altarstufen waschen.
Die Motten ließen sich auf den Körpern der toten und verwundeten Goyl nieder, und viele von ihnen begannen sich wieder zu regen, während die Dunkle Fee ihren Geliebten umarmte und ihm das blasse Blut vom Gesicht wischte.
Will zerrte die Kaiserin auf die Füße und schlug einen ihrer Zwerge nieder, als er sich ihm taumelnd in den Weg stellte. Drei andere Goyl trieben die Überlebenden aus den Bänken. Jacob sah sich suchend nach den Weidenblättern um, aber einer der Goyl zerrte ihn hoch und stieß ihn und Clara auf die Altarstufen zu. Fuchs huschte ihnen nach. Ihr Fell war immer noch das schützendste Kleid. Auch Valiant war wieder auf den Füßen und in einer der hintersten Bankreihen erhob sich eine schmale Gestalt. Weiße Seide, gesprenkelt mit Blut, und ein Puppengesicht, das trotz der Angst immer noch einer Maske glich.
Die Prinzessin trat mit unsicherem Schritt auf den Mittelgang hinaus. Ihr Schleier war zerrissen. Sie raffte ihr Kleid, um über den Körper des Generals zu steigen, der sie in die Kirche geführt hatte, und ging wie eine Schlafwandlerin auf den Altar zu, die lange Schleppe feucht und schwer von Blut.
Ihr Bräutigam blickte ihr entgegen, als wägte er ab, ob er sie selbst töten oder dieses Vergnügen der Dunklen Fee überlassen sollte. Der Zorn der Goyl. Bei ihrem König war er ein kaltes Feuer.
»Bring mir einen von ihren Priestern«, befahl er Will. »Irgendeiner ist bestimmt noch am Leben.«
Die Kaiserin sah ihn ungläubig an. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, aber einer ihrer Zwerge taumelte an ihre Seite und stützte sie.
»Was?«, fragte Kami'en und trat auf sie zu, den Säbel in der Hand. »Ihr habt versucht, mich umzubringen. Ändert das etwas an unserer Vereinbarung?«
Er blickte hinab auf seine Braut, die immer noch am Fuß der Treppe stand.
»Nein«, antwortete Amalie mit stockender Stimme. »Es ändert nichts. Aber der Preis ist immer noch Frieden.«
Ihre Mutter wollte protestieren, aber ein Blick von Kami'en ließ sie verstummen.
»Frieden?«, wiederholte er und musterte seine toten Männer, die die Motten nicht ins Leben zurückgebracht hatten. »Ich glaube, ich habe vergessen, was das Wort bedeutet. Aber ich mache es dir zum Hochzeitsgeschenk, dass ich dich und deine Mutter am Leben lasse.«
Der Priester, den Will aus der Sakristei zerrte, stolperte über die Toten. Das Gesicht der Dunklen Fee war weißer als das Kleid der Braut, als die Prinzessin die Stufen zum Altar hinaufstieg. Und Kami'en, König der Goyl, gab Amalie von Austrien das Jawort.
51
BRING IHN ZU MIR
Als die Braut aus der Kathedrale trat, war ihr Kleid mit Blüten bedeckt. Die Fee hatte aus dem Blut der Goyl weiße und aus dem der Menschen rote Rosen gemacht. Auf der Uniform des Bräutigams hatten sich die Flecken in Rubine und Mondstein verwandelt und die wartende Menge jubelte. Vielleicht fragten sich einige, wieso dem Paar so wenige Gäste folgten. Oder sie bemerkten die Angst auf den Gesichtern. Aber der Lärm auf den Straßen hatte die Schüsse in der Kathedrale übertönt, die Toten schwiegen, und der König der Goyl stieg mit seiner Menschenbraut in die goldene Kutsche, in der vor langer Zeit auch schon Amalies Urgroßmutter zu ihrer Hochzeit gefahren war.
Eine endlose Reihe von Kutschen wartete vor der Kathedrale, und die Dunkle Fee blieb wie eine Drohung auf der Treppe stehen, während die überlebenden Goyl ein Spalier bildeten, aus dem es kein Entrinnen gab. Nicht einer der Kaiserlichen, die die wartende Menge bewachten, begriff, dass die Kutschen sich vor ihren Augen mit Geiseln füllten. Und dass eine davon ihre Kaiserin war.
Sie schwankte, als Donnersmarck ihr in die Kutsche half. Er hatte das Blutbad ebenso überlebt wie zwei ihrer Zwerge. Einer von ihnen war Auberon, ihr Favorit. Er konnte kaum gehen und sein bärtiges Gesicht war verquollen vom Gift der Motten. Jacob wusste nur zu gut, wie der Zwerg sich fühlte. Er selbst war immer noch wie betäubt. Clara ging es nicht besser, und Valiant stolperte über die eigenen Füße, während sie die Treppe vor der Kathedrale hinunterstiegen. Jacob trug Fuchs auf dem Arm, damit die Goyl sie nicht fortscheuchten. Sie waren Geiseln und menschliche Dekoration, tarnendes Geleit für den Geliebten der Fee, dessen Truppen kaum einen Tagesmarsch entfernt standen.
Was hast du getan, Jacob?
Er hatte seinen Bruder beschützt. Und Will lebte. Mit einer Haut aus Jade, doch er lebte, und Jacob bereute nur eins: dass er die Weidenblätter verloren hatte und mit ihnen jede Hoffnung, sich und die anderen vor der Dunklen Fee zu schützen. Sie sah Jacob nach, als er Clara mit Fuchs in die Kutsche folgte. Ihr Zorn brannte ihm immer noch auf der Haut und er hatte sich nun auch die Kaiserin und mit ihr die halbe Spiegelwelt zum Feind gemacht. Alles, um seinen Bruder zu retten.
Bevor sie losfuhren, kletterte zu jedem Kutscher ein Goyl auf den Bock. Sie stießen die Kutscher herunter, sobald sie eine der Brücken erreichten, die aus der Stadt führten. Die Gardisten, die das Brautpaar eskortierten, versuchten sie aufzuhalten, aber die Dunkle Fee ließ ihre Motten los, und die Goyl lenkten die Kutschen über die Brücke, die ein Vorfahre der Braut erbaut hatte, und von dort in eine der Straßen am anderen Flussufer.
Ein Dutzend Kutschen, vierzig Soldaten. Eine Fee, die ihren Geliebten beschützte. Eine Prinzessin, die zwischen Leichen geheiratet hatte. Und ein König, der seiner Feindin getraut und von ihr betrogen worden war. Er würde sich dafür rächen. Aber Jacob wiederholte sich immer wieder nur eins, während Valiant sich dafür verfluchte, dass er es für eine gute Idee gehalten hatte, auf eine kaiserliche Hochzeit zu gehen: Dein Bruder ist am Leben, Jacob. Nichts anderes zählt.
Am Himmel trieben dunkle Wolken, als die Kutschen durch ein Tor fuhren, hinter dem eine Ansammlung schmuckloser Gebäude einen weiten Hof umstand. Jeder in Vena kannte die alte Munitionsfabrik - und mied sie. Die Fabrik war verlassen, seit der Fluss vor ein paar Jahren über die Ufer getreten war und die Gebäude mit Wasser und stinkendem Schlamm gefüllt hatte. Während der letzten Choleraepidemie waren viele Kranke zum Sterben hergebracht worden, aber die Goyl beunruhigte das nicht. Sie waren gegen die meisten Menschenkrankheiten immun.
»Was haben sie vor?«, flüsterte Clara, als die Kutschen zwischen den roten Mauern anhielten.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Jacob.
Aber Valiant stieg auf die Kutschbank und lugte auf den verlassenen Hof hinaus. »Ich hab da so eine Idee«, knurrte er.
Will war der Erste, der aus der goldenen Kutsche stieg. Dann folgten der König und seine Braut, während die Goyl die Geiseln aus den anderen Kutschen zerrten. Einer von ihnen stieß die Kaiserin zurück, als sie versuchte, zu ihrer Tochter zu kommen, und Donnersmarck zog sie schützend an seine Seite. Die Dunkle Fee aber trat in die Mitte des Hofes und musterte die leeren Gebäude. Sie würde ihren Geliebten nicht noch einmal in einen Hinterhalt stolpern lassen. Fünf Motten lösten sich von ihrem Kleid und flogen auf die leeren Gebäude zu. Lautlose Spione. Geflügelter Tod.
Die Goyl aber blickten ihren König an. Vierzig Soldaten, knapp dem Tod entkommen, auf dem Gebiet ihrer Feinde. Was nun?, fragten ihre Gesichter. Sie verbargen ihre Angst nur mühsam unter ihrem hilflosen Zorn. Kami'en winkte einen von ihnen zu sich. Er hatte die Alabasterhaut ihrer Spione.
»Prüft, ob der Tunnel sicher ist.« Der König klang gelassen. Falls er Angst hatte, verbarg er sie besser als seine Soldaten.
»Ich verwette meinen Goldbaum darauf, dass ich weiß, wo sie hinwollen!«, raunte Valiant, als der Alabastergoyl zwischen den verlassenen Gebäuden verschwand. »Einer unserer dümmsten Minister hat vor Jahren zwei Tunnel nach Vena bauen lassen, weil er nicht an die Zukunft der Eisenbahn glaubte. Einer sollte diese Fabrik beliefern. Es gibt Gerüchte, dass die Goyl ihn mit ihrer westlichsten Festung verbunden haben und ihre Spione ihn benutzen.«
Ein Tunnel. Es geht wieder unter die Erde, Jacob. Falls sie die Geiseln nicht vorher erschossen.
Die Goyl trieben sie zusammen, und Jacob bückte sich nach Fuchs, damit sie zwischen all den panischen Menschenfüßen nicht verloren ging, doch einer der Soldaten packte ihn und zerrte ihn grob zwischen den anderen hervor. Jaspis und Amethyst. Nesser. Jacob erinnerte sich noch gut daran, wie sie ihm die Skorpione auf die Brust gesetzt hatte. Fuchs wollte ihm nach, aber Clara nahm sie hastig auf den Arm, als die Goyl die Pistole auf sie richtete.
»Hentzau ist mehr tot als lebendig!«, zischte sie Jacob zu, während sie ihn mit sich zerrte. »Wieso lebst du immer noch?«
Sie stieß ihn über den Hof, vorbei an dem König, der mit Will neben den Kutschen stand und sich mit den zwei Offizieren besprach, die das Massaker überlebt hatten. Den Goyl blieb nicht viel Zeit. Bestimmt waren die Toten in der Kathedrale inzwischen entdeckt worden.
Die Dunkle Fee stand am Fuß der Treppe, die zum Fluss hinunterfuhrte. Der steinerne Arm eines Anlegers ragte ins Wasser, auf dem der Abfall der Stadt wie eine schmutzige Haut trieb. Aber die Fee blickte hinein, als sähe sie die Lilien, zwischen denen sie geboren worden war. Sie wird dich töten, Jacob.
»Lass mich mit ihm allein, Nesser«, sagte sie.
Die Goyl zögerte, aber schließlich warf sie Jacob einen hasserfüllten Blick zu und stieg die Treppe wieder hinauf.
Die Fee strich sich über den weißen Arm. Jacob sah Spuren von Baumrinde daran. »Du hast hoch gespielt und verloren.«
»Mein Bruder hat verloren«, gab Jacob zurück.
Er war so müde. Wie würde sie ihn töten? Mit ihren Motten? Durch irgendeinen Fluch?
Die Dunkle Fee blickte hinauf zu Will. Er stand immer noch neben Kami'en. Sie schienen mehr denn je zusammenzugehören.
»Er war alles, was ich erhofft habe«, sagte sie. »Sieh ihn an. All das Steinerne Fleisch. Nur für ihn gesät.« Sie strich über die Rinde an ihrem Arm.
»Ich werde ihn dir zurückgeben«, sagte sie. »Unter einer Bedingung. Bring ihn weit, weit fort, so weit, dass ich ihn nicht finden kann. Denn sonst werde ich ihn töten.«
Jacob konnte nicht glauben, was er hörte. Er träumte. Das war es. Irgendein Fiebertraum. Wahrscheinlich lag er immer noch in der Kathedrale und ihre Motten stießen ihm Gift unter die Haut.
»Warum?« Selbst das eine Wort brachte er kaum über die Zunge.
Warum fragst du, Jacob? Warum willst du wissen, ob es ein Traum ist? Wenn ja, dann ist es ein guter. Sie gibt dir deinen Bruder zurück.
Die Fee antwortete ihm ohnehin nicht.
»Bring ihn in das Gebäude neben dem Tor«, sagte sie und wandte sich wieder dem Wasser zu. »Aber beeil dich. Und nimm dich vor Kami'en in Acht. Er wird seinen Schatten nicht gern verlieren.«
Jaspis, Onyx, Mondstein. Jacob verfluchte seine Menschenhaut, während er mit gesenktem Kopf den Hof überquerte. Von den überlebenden Goyl wusste bestimmt kaum einer, dass sie ihm ihr Entkommen verdankten. Zum Glück bewachten die meisten die Geiseln oder kümmerten sich um die Verwundeten, und Jacob erreichte die Kutschen, ohne dass man ihn anhielt.
Kami'en stand immer noch mit seinen Offizieren zusammen, doch der Alabastergoyl war noch nicht zurück. Die Prinzessin trat auf ihren Ehemann zu und redete auf ihn ein, bis er sie ungeduldig mit sich zog. Will folgte dem König mit den Augen, aber er ging ihm nicht nach.
Jetzt, Jacob.
Wills Hand führ an den Säbel, sobald er zwischen den Kutschen hervortrat.
Wollen wir Fangen spielen, Will?
Sein Bruder stieß zwei Goyl aus dem Weg und begann zu rennen. Seine Wunden schienen ihn kaum zu behindern. Nicht zu schnell, Jacob. Lass ihn näher kommen, so, wie du es getan hast, als ihr noch Kinder wart. Zurück zwischen die Kutschen. An der Baracke vorbei, in die sie die Geiseln gesperrt hatten. Das nächste Gebäude war das neben dem Tor. Jacob stieß die Tür auf. Ein dunkler Flur mit vernagelten Fenstern. Die Lichtflecken auf dem schmutzigen Fußboden sahen aus wie verschüttete Milch. Im nächsten Raum standen noch die Betten für die Choleraopfer. Jacob versteckte sich hinter der offenen Tür. Wie damals.
Will führ herum, als er die Tür hinter ihm zuschlug, und für einen Atemzug zeigte sein Gesicht dieselbe Überraschung wie früher, wenn Jacob sich im Park hinter einem Baum versteckt hatte. Aber nichts in seinem Blick deutete darauf hin, dass er ihn erkannte. Der Fremde mit dem Gesicht seines Bruders. Den Goldenen Ball fing Will trotzdem. Die Hände hatten ihr eigenes Gedächtnis. Fang schon, Will! Der Ball verschluckte ihn wie der Frosch die Fliege und auf dem Hof blickte der steinerne König sich vergebens nach seinem Schatten um.
Jacob hob den Ball auf und setzte sich auf eines der Betten. Sein eigenes Gesicht blickte ihm aus dem Gold entgegen, verzerrt wie im Spiegel seines Vaters. Er konnte nicht sagen, was ihn an Clara denken ließ - vielleicht war es der Krankenhausgeruch, der immer noch zwischen den Mauern hing, so anders und doch derselbe wie in der anderen Welt -, aber für einen Moment, nur einen kurzen Moment, ertappte er sich dabei, dass er sich ausmalte, wie es wäre, den Goldenen Ball einfach zu vergessen. Oder ihn in die Truhe in Chanutes Gasthaus zu legen.
Was ist los mit dir, Jacob? Wirkt das Lerchenwasser immer noch? Oder hast du Angst, dass dein Bruder, selbst wenn die Fee ihr Versprechen hält, für immer der Fremde bleiben wird, dem der Hass auf dich das Gesicht entstellt?
Die Fee erschien so unvermittelt in der Tür, als hätte er sie mit seinen Gedanken herbeigerufen.
»Sieh an«, sagte sie und musterte den Goldenen Ball in Jacobs Händen. »Ich habe das Mädchen gekannt, das mit diesem Ball gespielt hat, lange bevor du oder dein Bruder geboren wart. Sie hat nicht nur einen Bräutigam damit gefangen, sondern auch ihre ältere Schwester und sie zehn Jahre nicht wieder hinausgelassen.«
Ihr Kleid wischte über den staubigen Boden, als sie auf Jacob zutrat.
Er zögerte, doch schließlich legte er ihr den Ball in die Hand. »Zu schade«, sagte sie, während sie ihn an die Lippen hob.
»Dein Bruder ist so viel schöner mit einer Haut aus Jade.« Dann hauchte sie auf die schimmernde Oberfläche, bis das Gold beschlug, und gab Jacob den Ball zurück.
»Was?«, fragte sie, als er sie zweifelnd ansah. »Du traust der falschen Fee.«
Sie trat so nah an ihn heran, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spürte.
»Hat meine Schwester dir gesagt, dass jeder Mensch, der meinen Namen ausspricht, des Todes ist? Er wird langsam kommen, wie es zur Rache einer Unsterblichen passt. Vielleicht bleibt dir noch ein Jahr, aber du wirst ihn schon bald spüren. Ich zeig ihn dir.«
Sie legte ihm die Hand auf die Brust und Jacob spürte einen stechenden Schmerz über dem Herzen. Blut sickerte ihm durchs Hemd, und als er es aufriss, sah er, dass die Motte auf seiner Haut zum Leben erwacht war. Jacob packte ihren angeschwollenen Leib, aber sie hatte die Krallen so tief in sein Fleisch geschlagen, dass es sich anfühlte, als risse er sich das eigene Herz aus der Brust.
»Man sagt, für Menschen fühlt die Liebe sich an wie der Tod«, sagte die Fee. »Ist das wahr?«
Sie zerdrückte die Motte auf Jacobs Brust und es blieb erneut nichts als ein Abdruck auf seiner Haut.
»Lass deinen Bruder heraus, sobald das Gold nicht mehr beschlagen ist«, sagte sie. »Es wartet eine Kutsche am Tor für dich und die, die mit dir gekommen sind. Aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Bring ihn so weit fort von mir, wie du kannst.«
52
UND WENN SIE NICHT GESTORBEN SIND
Der Turm und die verbrannten Mauern. Die frischen Spuren der Wölfe. Es schien, als wären sie eben erst aufgebrochen. Aber die Räder der Kutsche versanken in frisch gefallenem Schnee, als Jacob die Pferde zwischen den Bäumen anhielt.
Fuchs sprang aus der Kutsche und leckte sich das kalte Weiß von den Pfoten, während Jacob vom Kutschbock stieg und den Goldenen Ball aus der Tasche zog. Die Oberfläche war kaum noch beschlagen und der bewölkte Morgenhimmel spiegelte sich darin. Jacob hatte den Ball unterwegs so oft angesehen, dass Fuchs vermutlich längst erriet, was sich darin verbarg. Doch Clara hatte er noch nichts gesagt.
Sie hatten zwei Tage zurück zu der Ruine gebraucht, und an der letzten Kutschstation hatten die Pferdeknechte ihnen erzählt, dass die Goyl die Hochzeit ihres Königs in ein Massaker verwandelt und die Kaiserin verschleppt hatten. Mehr wusste niemand.
Fuchs wälzte sich im Schnee, als wollte sie sich die letzten Wochen vom Fell waschen, und Clara stand da und blickte hinauf zu dem Turm. Der Atem hing ihr weiß vorm Mund, und sie schauderte in dem Kleid, das Valiant ihr für die Hochzeit gekauft hatte. Die blassblaue Seide war zerrissen und schmutzig, aber ihr Gesicht erinnerte Jacob immer noch an feuchte Federn, auch wenn darauf nur die Sehnsucht nach seinem Bruder zu finden war.
»Eine Ruine?« Valiant kletterte aus der Kutsche und blickte sich entgeistert um. »Was soll das?«, fuhr er Jacob an. »Wo ist mein Baum?«
Ein Heinzel löste sich aus den Schatten und sammelte hastig ein paar Eicheln aus dem Schnee. »Fuchs, zeig ihm den Baum.«
Valiant stiefelte der Füchsin so eilig hinterher, dass er fast über die eigenen Beine stolperte. Clara sah ihnen nicht nach.
Es schien so lange her, dass Jacob sie zum ersten Mal zwischen den Säulen hatte stehen sehen.
»Du willst, dass ich zurückgehe, oder?« Sie blickte ihn an, wie nur sie es tat. »Sag es ruhig. Ich werde Will nicht wiedersehen. Du kannst es nicht ändern. Ich weiß, du hast alles versucht.«
Jacob griff nach ihrer Hand und legte den Ball hinein. Die Oberfläche war makellos blank, und das Gold schimmerte, als hätte die Sonne selbst es gemacht.
Du traust der falschen Fee.
»Du musst ihn polieren«, sagte er. »Bis du dich so deutlich darin siehst wie in einem Spiegel.«
Dann ließ er sie allein und trat zwischen die verfallenen Mauern. Will würde Claras Gesicht zuerst sehen wollen. Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Falls die Dunkle Fee ihn nicht ebenso betrogen hatte wie ihre Schwester.
Jacob schob den Efeu zur Seite, der vor der Tür des Turmes wuchs, und blickte an den verrußten Mauern empor. Er erinnerte sich daran, wie er zum ersten Mal aus der Höhe herabgeklettert war, an einem Seil, das er im Zimmer seines Vaters gefunden hatte. Wo sonst?
Die Haut über seinem Herzen schmerzte immer noch und er spürte den Abdruck der Motte wie ein Brandmal unter dem Hemd. Du hast bezahlt, Jacob, aber was hast du dafür bekommen?
Er hörte, wie Clara leise aufschrie. Und eine andere Stimme ihren Namen sagte. Wills Stimme hatte schon lange nicht mehr so weich geklungen.
Jacob hörte sie flüstern. Lachen.
Er lehnte den Rücken gegen die Mauer, schwarz vom Ruß, feucht von der Kälte, die sich zwischen den Steinen fing.
Es war vorbei. Diese Fee hatte ihr Versprechen gehalten. Jacob wusste es, bevor er den Efeu wieder auseinanderschob. Bevor er Will neben Clara stehen sah. Der Stein war fort und die Augen seines Bruders waren blau. Nichts als blau. Nun geh schon, Jacob.
Will ließ Claras Hände los und blickte ihn fassungslos an, als Jacob zwischen den verschneiten Mauern hervortrat. Aber es war kein Zorn auf dem Gesicht seines Bruders zu finden. Kein Hass. Der jadehäutige Fremde war fort. Obwohl Will immer noch die graue Uniform trug.
Er kam auf Jacob zu, den Blick auf seine Brust geheftet, als sähe er dort immer noch das Blut vom Schuss des Goyl, und umarmte ihn so fest, wie er es zuletzt als Kind getan hatte.
»Ich dachte, du bist tot. Ich wusste, es kann nicht wahr sein!«
Will.
Er trat zurück und musterte Jacob erneut, als müsste er sich vergewissern, dass ihm wirklich nichts fehlte.
»Wie hast du es geschafft?« Er schob den grauen Uniformärmel hoch und strich sich über die weiche Haut. »Es ist fort!«
Er wandte sich zu Clara um. »Ich hab es dir gesagt. Jacob schafft es. Ich weiß nicht, wie. Aber so war es schon immer.«
»Ich weiß.« Clara lächelte. Und Jacob sah in dem Blick, den sie ihm zuwarf, alles, was geschehen war.
Will führ sich über die Schulter, wo der Säbel den grauen Stoff aufgeschlitzt hatte. Wusste er, dass die Flecken darauf von seinem Blut stammten? Nein. Wie auch? Es war blass wie Goylblut gewesen.
Er hatte seinen Bruder zurück.
»Erzählt mir alles.« Will griff nach Claras Hand.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Jacob. Und er würde sie Will nie erzählen.
Es war einmal ein Junge, der zog aus, das Fürchten zu lernen.
Für einen Moment glaubte Jacob, eine Spur von Gold in den Augen seines Bruders zu sehen, aber wahrscheinlich fing sich nur die Morgensonne in seinen Pupillen. »Bring ihn fort, weit, weit fort.«
»Seht euch das an! Ich bin reicher als die Kaiserin! Ach was! Reicher als der König von Albion!« Vergoldetes Haar. Vergoldete Schultern. Selbst Jacob erkannte Valiant kaum, als er hinter der Ruine hervorstolperte. Das Gold klebte an ihm wie der stinkende Blütenpollen, mit dem der Baum Jacob überschüttet hatte.
Der Zwerg lief an Will vorbei, ohne ihn auch nur zu bemerken.
»Gut, ich gestehe es!«, rief er Jacob zu. »Ich war sicher, du betrügst mich. Aber für diese Bezahlung bringe ich dich gleich noch mal in die Goylfestung! Was denkst du? Wird es dem Baum schaden, wenn ich ihn ausgrabe?«
Fuchs tauchte hinter dem Zwerg auf. Selbst ihr hingen ein paar Goldflocken im Fell. Aber sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie Will sah.
Was sagst du, Fuchs? Riecht er immer noch wie sie?
Will klaubte einen kleinen Klumpen Gold aus dem Schnee, den der Zwerg sich aus den Haaren gewischt hatte.
Valiant hatte ihn immer noch nicht bemerkt. Er bemerkte gar nichts. »Nein. Nein, ich grabe ihn aus!«, stieß er hervor. »Was weiß ich? Womöglich schüttelt ihr ihm das ganze Gold aus den Ästen, wenn ich ihn hierlasse! Nein!«
Er fiel fast über Fuchs, als er wieder davonhastete, und Will stand da und wischte den Schnee von dem winzigen Klumpen in seiner Hand.
»Bring ihn weit, weit fort, so weit, dass ich ihn nicht finden kann.«
Clara warf Jacob einen besorgten Blick zu.
»Komm, Will«, sagte sie. »Lass uns nach Hause gehen.« Sie griff nach seiner Hand, aber Will strich sich über den Arm, als spürte er unter der Haut erneut die Jade wachsen.
Bring ihn fort, Jacob.
»Clara hat recht, Will«, sagte er und griff nach seinem Arm. »Komm.« Und Will folgte ihm, auch wenn er sich umsah, als hätte er etwas verloren.
Fuchs kam ihnen bis zum Turm nach, doch sie blieb vor der Türöffnung stehen.
»Ich bin gleich zurück!«, sagte Jacob, während Clara ihr zum Abschied übers Fell strich. »Pass auf, dass der Zwerg das Gold aufsammelt, bevor die Raben kommen.«
Zaubergold zog sie in Schwärmen an und das Krächzen von Goldraben konnte einen den Verstand kosten. Fuchs nickte, aber sie wandte sich nur zögernd um, und der besorgte Blick, den sie zurückwarf, galt Clara und nicht Will. Sie hatte das Lerchenwasser immer noch nicht vergessen. Wann würde er es vergessen? Wenn sie fort sind, Jacob.
Er kletterte als Erster die Strickleiter hinauf. In dem Turmzimmer lag zwischen den Eichelschalen ein toter Heinzel. Wahrscheinlich hatte der Stilz ihn getötet. Jacob schob den kleinen Körper unter ein paar Blätter, bevor er Clara heraufhalf.
Der Spiegel fing sie alle in seinem Glas, aber es war Will, der darauf zutrat und sein Abbild wie das eines Fremden musterte. Clara trat an seine Seite und griff nach seiner Hand, doch Jacob wich zurück, bis das dunkle Glas ihn nicht mehr fand. Will sah ihn fragend an.
»Du kommst nicht mit uns?«
Es war nicht alles vergessen. Jacob sah es auf Wills Gesicht. Aber er hatte seinen Bruder zurück. Vielleicht mehr als je zuvor.
»Nein«, sagte er. »Ich kann Fuchs schlecht allein lassen, oder?«
Will blickte ihn an. Was sah er? Einen dunklen Korridor? Einen Säbel in seiner Hand ...
»Weißt du, wann du zurückkommst?« Jacob lächelte. Geh schon, Will.
»So weit fort, dass ich ihn nicht finden kann.« Aber Will ließ Clara stehen und kam zu ihm zurück. »Danke, Bruder«, flüsterte er Jacob zu, während er ihn umarmte.
Dann wandte er sich um - und blieb noch einmal stehen. »Bist du ihm je begegnet?«, fragte er.
Jacob glaubte zu spüren, wie Hentzaus goldener Blick in seinem Gesicht das seines Vaters fand. »Nein«, antwortete er. »Nein, nie.«
Will nickte, und Clara griff nach seiner Hand, aber es war Jacob, den sie anblickte, als sein Bruder die Hand auf den Spiegel presste.
Dann waren sie fort und Jacob stand da und sah nur sich selbst in dem unebenen Glas. Sich selbst und die Erinnerung an einen anderen.
Fuchs wartete dort, wo er sie verlassen hatte.
»Was war der Preis?«, fragte sie, während sie ihm zu der Kutsche folgte.
»Der Preis wofür?«
Jacob schirrte die Pferde ab. Er würde sie Chanute für das Packpferd überlassen, das er verloren hatte. Und er konnte nur hoffen, dass die Goyl die Stute gut behandeln würden.
»Was war der Preis für deinen Bruder?« Fuchs wechselte die Gestalt.
Sie trug wieder ihr eigenes Kleid. Es passte so viel besser zu ihr als die Kleider, die sie in der Stadt getragen hatte. »Vergiss es. Er ist schon bezahlt.«
»Womit?«
Sie kannte ihn einfach zu gut.
»Ich sag doch. Er ist bezahlt. Was treibt der Zwerg?«
Fuchs blickte dorthin, wo die Ställe lagen. »Sammelt sein Gold auf. Er wird Tage dafür brauchen. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut, dass der Baum ihn mit seinem stinkenden Pollen bedeckt.«
Sie blickte zum Himmel. Es begann wieder zu schneien. »Wir sollten nach Süden gehen.«
»Vielleicht.«
Jacob schob die Hand unters Hemd und tastete nach dem Abdruck der Motte. Vielleicht bleibt dir noch ein Jahr.
Und? Ein Jahr war eine lange Zeit und in dieser Welt gab es für alles eine Medizin. Er musste sie nur finden.