Was ist das für eine Welt?, fragte ihr Gesicht, als sie sich zu Jacob umsah. Wenn Fell zu Haut oder Haut zu Stein werden kann, was bleibt dann? Angst. Fassungslosigkeit. Und Verzauberung. Es war alles in ihrem Blick zu finden. Sie trat auf Fuchs zu und strich sich dabei über die eigenen Arme, als fühlte sie dort auch schon einen Ansatz von Fell.
»Wo ist Will?«, fragte Jacob.
Clara wies auf den Turm neben dem Tor. »Er ist schon mehr als eine Stunde dort oben. Er hat kein Wort gesprochen, seit er sie gesehen hat.«
Sie wussten beide, von wem sie sprach.
Die Rosen wucherten nirgendwo dichter als an den runden Mauern des Turmes. Ihre Blüten waren so dunkelrot, dass die Nacht sie fast schwarz färbte, und ihr Duft hing so süß und schwer in der kalten Luft, als spürten sie den Herbst nicht.
Jacob ahnte schon, was er unter dem Turmdach finden würde, bevor er die enge Wendeltreppe hinaufstieg. Die Ranken krallten sich in seine Kleider, und er musste die Stiefel immer wieder aus den dornigen Schlingen befreien, doch schließlich stand er vor dem Raum, in dem vor fast zweihundert Jahren eine Fee ihr Geburtstagsgeschenk überbracht hatte.
Das Spinnrad stand neben einem schmalen Bett, das nie für eine Prinzessin gedacht gewesen war. Der Körper, der immer noch darauf schlief, war bedeckt mit Rosenblättern. Der Fluch der Fee hatte ihn in all den Jahren nicht altern lassen, aber die Haut war wie Pergament und fast so vergilbt wie das Kleid, das die Prinzessin seit zwei Jahrhunderten trug. Die Perlen, mit denen es bestickt war, schimmerten immer noch weiß, aber die Spitze, die es säumte, war inzwischen ebenso braun wie die Blütenblätter, die die Seide bedeckten.
Will stand an dem einzigen Fenster, als wäre der Prinz doch noch gekommen. Jacobs Schritte ließen ihn herumfahren. Der Stein färbte ihm nun auch die Stirn, und das Blau seiner Augen ertrank im Gold. Die Plünderer hatten ihnen das Wertvollste gestohlen, was sie hatten. Zeit.
»Kein >und wenn sie nicht gestorben sind<«, sagte Will mit einem Blick auf die Prinzessin. »Und das hier war auch ein Feenfluch.« Er lehnte sich gegen die Mauer. »Geht es dir besser?«
»Ja«, log Jacob. »Was ist mit dir?«
Will antwortete nicht sofort. Und als er es schließlich tat, klang seine Stimme so glatt und kühl wie seine neue Haut.
»Mein Gesicht fühlt sich an wie polierter Stein. Die Nacht wird mit jedem Tag heller, und ich konnte dich hören, lange bevor du auf der Treppe warst. Ich spüre es inzwischen nicht nur auf der Haut.« Er hielt inne und rieb sich die Schläfen. »Es ist auch in mir.«
Will trat auf das Bett zu und starrte auf den mumifizierten Körper.
»Ich hatte alles vergessen. Dich. Clara. Mich selbst. Ich wollte nur noch zu ihnen reiten.«
Jacob suchte nach Worten, aber er fand nicht eines.
»Ist es das, was passiert? Sag mir die Wahrheit.« Will blickte ihn an. »Ich werde nicht nur aussehen wie sie. Ich werde sein wie sie, oder?«
Jacob hatte die Lügen auf der Zunge, all das >Unsinn, Will, alles wird gut<, aber er brachte sie nicht mehr über die Lippen. Der Blick seines Bruders ließ es nicht zu.
»Willst du wissen, wie sie sind?« Will pflückte der Prinzessin ein Rosenblatt aus dem strohigen Haar. »Sie sind zornig. Ihr Zorn bricht in dir aus wie eine Flamme. Aber sie sind auch der Stein. Sie spüren ihn in der Erde und hören ihn unter sich atmen.«
Er betrachtete die schwarzen Nägel an seiner Hand.
»Sie sind Dunkelheit«, sagte er leise. »Und Hitze. Und der rote Mond ist ihre Sonne.«
Jacob schauderte, als er den Stein in seiner Stimme hörte.
Sag etwas, Jacob. Irgendetwas. Es war so still in der dunklen Kammer.
»Du wirst nicht werden wie sie«, sagte er. »Weil ich es verhindern werde.«
»Wie?« Da war er wieder, dieser Blick, der plötzlich älter war als er. »Ist es wahr, was du den Plünderern erzählt hast? Du bringst mich zu einer anderen Fee?«
»Ja.«
»Ist sie so gefährlich wie die, die das hier getan hat?« Will berührte das pergamentene Gesicht der Prinzessin. »Sieh aus dem Fenster. In den Dornen hängen Tote. Glaubst du, ich will, dass du meinetwegen so endest?«
Aber Wills Blick strafte seine Worte Lügen. Hilf mir, Jacob, sagte er. Hilf mir.
Jacob zog ihn von der Toten fort.
»Die Fee, zu der ich dich bringe, ist anders«, sagte er. Ist sie das, Jacob?, flüsterte es in ihm, aber er beachtete es nicht. Er legte alle Hoffnung, die er hatte, in seine Stimme. Und all die Zuversicht, die sein Bruder hören wollte: »Sie wird uns helfen, Will! Ich verspreche es dir.«
Es funktionierte immer noch. Die Hoffnung säte sich auf Wills Gesicht ebenso leicht aus wie der Zorn. Brüder. Der ältere und der jüngere. Unverändert.
15
WEICHES FLEISCH
Der Dreifinger mit dem Metzgergesicht redete als Erster. Menschen machten so gern die falschen Männer zu ihren Anführern. Hentzau konnte seine Feigheit so deutlich sehen wie das wässrige Blau seiner Augen. Aber immerhin hatte er ihnen ein paar interessante Dinge erzählt, die die Motte Hentzau nicht gezeigt hatte.
Der Jadegoyl war nicht allein. Es war ein Mädchen bei ihm, doch was wichtiger war: Er hatte offenbar einen Bruder, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihm die Jade wieder auszutreiben. Wenn der Dreifinger die Wahrheit sagte, wollte er den Jadegoyl zu der Roten Fee bringen.
Kein dummer Gedanke. Sie verabscheute ihre dunkle Schwester ebenso wie die anderen Feen. Aber Hentzau war sicher, dass sie ihren Fluch nicht würde brechen können. Die Dunkle Fee war so viel mächtiger als sie alle.
Kein Goyl hatte die Insel, auf der sie lebten, je gesehen, geschweige denn betreten. Die Dunkle Fee hütete die Geheimnisse ihrer Schwestern, auch wenn sie sie verstoßen hatten, und jeder wusste, dass man nur zu ihnen kam, wenn sie es wollten.
»Wie will er sie finden?«
»Das hat er nicht gesagt!«, stammelte der Dreifinger.
Hentzau nickte der einzigen Soldatin zu, die er dabeihatte. Es bereitete ihm kein Vergnügen, Menschenfleisch zu schlagen. Er konnte sie töten, aber er mied es, sie anzufassen. Nesser hatte damit kein Problem.
Sie trat dem Dreifinger mitten ins Gesicht und Hentzau warf ihr einen warnenden Blick zu. Ihre Schwester war von Menschen erschlagen worden, deshalb übertrieb sie es schnell. Für einen Moment erwiderte Nesser seinen Blick voll Trotz, doch dann senkte sie den Kopf. Ihnen allen klebte der Hass inzwischen wie Schleim auf der Haut.
»Er hat es nicht gesagt!«, stammelte der Dreifinger. »Ich schwör's.«
Sein Fleisch war blass und weich wie das einer Schnecke. Hentzau wandte sich angeekelt ab. Er war sicher, dass sie ihnen alles verraten hatten, was sie wussten, und nur ihretwegen war ihm der Jadegoyl entkommen.
»Erschießt sie«, sagte er und trat nach draußen.
Die Schüsse klangen seltsam in der Stille. Wie etwas, das nicht in diese Welt gehörte. Flinten, Dampfmaschinen, Züge - Hentzau kam all das immer noch unnatürlich vor. Er wurde alt, das war es. Das viele Sonnenlicht hatte seine Augen getrübt, und sein Gehör war durch all den Schlachtenlärm so schlecht, dass Nesser die Stimme hob, wenn sie mit ihm sprach. Kami'en tat, als fiele es ihm nicht auf. Er wusste, dass Hentzau in seinem Dienst alt geworden war. Aber die Dunkle Fee würde dafür sorgen, dass alle anderen es bemerkten, wenn sie erst erfuhr, dass ihm der Jadegoyl ein paar Plünderern wegen entkommen war.
Hentzau sah ihn immer noch vor sich: das Gesicht halb Goyl, halb Mensch, die Haut durchzogen von dem heiligsten Stein, den sie kannten. Er war es nicht. Er konnte es nicht sein. Er war so unecht wie einer der Holzfetische, die Betrüger mit Blattgold überzogen, um sie alten Frauen als massives Gold zu verkaufen. »Seht her, der Jadegoyl ist erschienen, um den König unbesiegbar zu machen. Schneidet nur nicht zu tief, sonst findet ihr Menschenfleisch.« Ja, das war es. Nichts als ein weiterer Versuch der Fee, sich unentbehrlich zu machen.
Hentzau starrte in die aufziehende Nacht und selbst die Dunkelheit verwandelte sich in Jade.
Aber was, wenn du dich irrst, Hentzau? Was, wenn er der echte ist? Was, wenn das Schicksal deines Königs an ihm hängt? Und er hatte ihn entkommen lassen.
Als der Fährtenleser endlich zurückkam, sahen ihm selbst Hentzaus getrübte Augen an, dass er die Spur verloren hatte. Früher hätte er ihn dafür auf der Stelle getötet, aber Hentzau hatte gelernt, den Zorn zu zügeln, der in ihnen allen schlief auch wenn er sich nicht halb so gut darauf verstand wie Kami'en. Das Einzige, was ihm nun blieb, war der Hinweis auf die Feen. Was hieß, dass er seinen Stolz wieder einmal herunterschlucken und einen Boten an die Dunkle Fee schicken musste, um sie nach dem Weg zu fragen. Diese Aussicht schmerzte mehr als die kalte Nacht.
»Du wirst die Spur für mich finden!«, fuhr er den Fährtensucher an. »Sobald es hell wird. Drei Pferde und ein Fuchs. Das kann doch nicht so schwer sein!«
Er fragte sich gerade, wen er zu der Fee schicken sollte, als Nesser zögernd auf ihn zutrat. Sie war gerade erst dreizehn Jahre alt. Goyl waren längst ausgewachsen in diesem Alter, aber die meisten kamen frühestens mit vierzehn zur Armee. Nesser war weder besonders geschickt mit dem Säbel noch eine gute Schützin, doch sie machte beide Schwächen mit ihrem Mut mehr als wett. In ihrem Alter kannte man keine Furcht und hielt sich auch ohne Feenblut in den Adern für unsterblich. Hentzau erinnerte sich noch gut an das Gefühl.
»Kommandant?«
Er liebte die Ehrfurcht in ihrer jungen Stimme. Sie war das beste Gegengift gegen die Selbstzweifel, die die Dunkle Fee in ihm säte.
»Was?«
»Ich weiß, wie man zu den Feen kommt. Nicht auf die Insel aber zu dem Tal, von dem aus man zu ihr gelangt.«
»Tatsächlich?« Hentzau ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie ihm das Herz erleichterte. Er hatte eine Schwäche für das Mädchen und war deshalb umso strenger mit ihr. Nessers Haut glich wie die seine braunem Jaspis, aber wie bei allen Goylfrauen war sie mit Amethyst durchsetzt.
»Ich gehörte zu der Eskorte, die die Dunkle Fee auf Wunsch des Königs begleitet, wenn sie auf Reisen geht. Ich war dabei, als sie zum letzten Mal zu ihrer Schwester geritten ist. Sie hat uns am Eingang des Tals zurückgelassen, aber ...«
Das war zu gut, um wahr zu sein. Er musste nicht um Hilfe betteln, und niemand würde erfahren, dass der Jadegoyl ihm entkommen war. Hentzau ballte die Hand zur Faust. Aber er wahrte ein unbewegtes Gesicht.
»Gut«, sagte er nur in betont gelangweiltem Ton. »Sag dem Fährtensucher, dass du uns von nun an führst. Aber wehe, du verirrst dich.«
»Bestimmt nicht, Kommandant.« Nessers goldene Augen schimmerten vor Zuversicht, als sie davonhastete.
Hentzau aber starrte die unbefestigte Straße hinunter, auf der der Jadegoyl entkommen war. Einer der Plünderer hatte behauptet, dass der Bruder verwundet war, und sie mussten rasten, um zu schlafen. Hentzau kam tagelang ohne Schlaf aus. Er würde sie schon erwarten.
16
NIEMALS
Es war noch dunkel, als Jacob sie wieder aufbrechen ließ. Er hätte dringend Schlaf gebraucht, aber selbst Fuchs konnte ihn nicht überreden, länger zu rasten, und Clara musste zugeben, dass sie froh war, von all den schlafenden Toten fortzukommen.
Es war eine klare Nacht. Samtenes Schwarz, mit Sternen gespickt. Bäume und Hügel wie Scherenschnitte, und neben ihr Will, scheinbar so nah. So vertraut und so fremd.
Clara sah zu ihm hinüber, und er lächelte ihr zu, als ihre Augen sich trafen. Aber es war nur ein Schatten des Lächelns, das sie kannte. Es war immer so einfach gewesen, ein Lächeln von ihm zu bekommen. Will gewährte Liebe so leicht. Und es war so leicht, ihn zurückzulieben. Nichts war jemals so leicht gewesen. Sie wollte ihn nicht verlieren. Aber die Welt, die sie umgab, flüsterte: Er gehört mir. Und sie ritten nur immer tiefer und tiefer in sie hinein - als müssten sie ihr Herz finden, damit sie Will wieder freigab. Lass ihn gehen.
Clara wollte es ihr in das finstere Gesicht schreien. Lass ihn gehen!
Aber die Welt hinter dem Spiegel griff auch schon nach ihr. Clara glaubte, ihre dunklen Finger auf der Haut zu spüren.
»Was willst du hier?«, flüsterte die fremde Nacht ihr zu. »Welche Haut soll ich dir geben? Willst du ein Fell? Willst du Stein?«
»Nein!«, flüsterte Clara zurück. »Ich werde dein Herz finden und du wirst ihn mir zurückgeben.«
Aber sie fühlte bereits, wie ihr die neue Haut wuchs. So weich. Viel zu weich. Und wie die dunklen Finger ihr in das eigene Herz griffen.
Sie hatte solche Angst.
17
EIN FÜHRER ZU DEN FEEN
Es stimmte, was man über die Feen erzählte. Niemand kam zu ihnen, wenn sie es nicht wollten. Das war nicht anders gewesen, als Jacob vor drei Jahren zum ersten Mal nach ihnen gesucht hatte - und schon damals hatte es nur einen Weg gegeben, sie trotzdem zu finden. Man musste den richtigen Zwerg bestechen. Es gab viele Zwerge, die sich damit brüsteten, mit den Feen zu handeln, und voll Stolz ihre Lilien im Familienwappen führten. Die meisten hatten Jacob verstaubte Ahnengeschichten erzählt und am Ende zugegeben, dass das letzte Familienmitglied, das eine Fee zu Gesicht bekommen hatte, seit mehr als hundert Jahren tot war. Aber schließlich hatte einer der Zwerge am kaiserlichen Hof den Namen Evenaugh Valiant genannt.
Die Kaiserin hatte damals ein Vermögen in Gold als Belohnung für denjenigen ausgesetzt, der ihr eine Lilie vom See der Feen brachte, denn ihr Duft hatte den Ruf, aus hässlichen schöne Mädchen zu machen, und der Prinzgemahl hatte sich sehr enttäuscht über das Aussehen seiner einzigen Tochter geäußert. Kurz darauf war er bei einem Jagdunfall umgekommen, der, wie böse Zungen behaupteten, von seiner Frau arrangiert worden war. Aber da die Kaiserin vom Geschmack ihres Mannes schon immer mehr gehalten hatte als von ihm selbst, hatte sie die Belohnung für die Lilie nicht zurückgezogen, und Jacob, der zu der Zeit schon ohne Chanute arbeitete, hatte sich auf den Weg zu Evenaugh Valiant gemacht.
Es war nicht schwer gewesen, den Zwerg zu finden, und für eine stattliche Anzahl von Goldtalern hatte er Jacob tatsächlich zu dem Tal geführt, in dem sich die Insel der Feen verbarg. Nur von ihren Wächtern hatte er ihm nichts erzählt - und Jacob hätte den Ausflug fast mit dem Leben bezahlt. Valiant aber hatte der Kaiserin die Lilie verkauft, die aus ihrer Tochter Amalie eine gefeierte Schönheit machte, und war seither einer ihrer Hoflieferanten.
Jacob hatte sich oft ausgemalt, seine Rechnung mit dem Zwerg zu begleichen, doch nach seiner Rückkehr von den Feen war ihm nicht nach Rache zumute gewesen. Das kaiserliche Gold hatte er sich mit einem anderen Auftrag verdient, und schließlich hatte er die Erinnerung an Evenaugh Valiant ebenso verdrängt wie die an die Insel, auf der er so glücklich gewesen war, dass er sich dort fast selbst vergessen hatte. Und? Was lehrt dich das, Jacob Reckless?, dachte er, als zwischen Hecken und Feldern die ersten Zwergenhäuser auftauchten. Dass Rache meist keine gute Idee ist. Trotzdem schlug sein Herz etwas schneller bei dem Gedanken, den Zwerg wiederzusehen.
Inzwischen verbarg auch die Kapuze den Stein auf Wills Gesicht nicht mehr, und Jacob beschloss, ihn und Clara mit Fuchs zurückzulassen, während er nach Terpevas ritt, was in der Sprache ihrer Bewohner nichts weiter als Zwergenstadt hieß. Fuchs fand in einem Waldstück eine Höhle, die von Schäfern als Unterschlupf benutzt wurde, und Will folgte Jacob hinein, als könnte er es nicht erwarten, endlich dem Tageslicht zu entkommen. Sein Gesicht zeigte nur auf der rechten Wange noch Menschenhaut, und Jacob fiel es mit jedem Tag schwerer, ihn anzusehen. Das Schlimmste waren die Augen. Sie ertranken inzwischen beide im Gold, und Jacob musste immer stärker gegen die Furcht ankämpfen, dass er das Rennen gegen die Zeit bereits verloren hatte. Manchmal erwiderte Will seinen Blick, als hätte er vergessen, wer er war, und Jacob kam es vor, als sähe er die Vergangenheit, die sie teilten, in den Augen seines Bruders verlöschen.
Clara war ihnen nicht in die Höhle gefolgt. Als Jacob mit Fuchs zurück zu den Pferden kam, stand sie so verloren zwischen den Bäumen, dass er sie in den Männerkleidern, die sie immer noch trug, einen Augenblick lang für einen der Jungen hielt, die man in dieser Welt überall auf den Straßen fand, elternlos und auf der Suche nach Arbeit. Das Herbstgras, das zwischen den Bäumen wuchs, hatte dieselbe Farbe wie ihr Haar, und man sah ihr die andere Welt immer weniger an. Die Erinnerung an die Straßen und Häuser, in denen sie beide groß geworden waren, an das Licht und den Lärm und das Mädchen, das sie dort gewesen war, all das war verblasst, weit fort. Aus der Gegenwart wurde so schnell Vergangenheit und plötzlich trug die Zukunft fremde Kleider. »Will bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Sie sprach es nicht als Frage aus. Sie sah den Dingen ins Gesicht, auch wenn sie ihr Angst machten. Jacob mochte das an ihr.
»Du brauchst einen Arzt«, sagte sie, als er sich auf die Stute schwang und dabei vor Schmerz das Gesicht verzog. All die Blüten, Blätter und Wurzeln, die Fuchs ihr gezeigt hatte, linderten die Entzündung in seiner Schulter nicht, und inzwischen ließ die Wunde ihn fiebern.
»Sie hat recht«, sagte Fuchs. »Geh zu einem von den Zwergendoktoren. Sie sind angeblich besser als die Leibärzte der Kaiserin.«
»Ja, wenn man ein Zwerg ist. Bei Menschenpatienten haben sie nur den Ehrgeiz, sie um ihr Geld und dann ins Grab zu bringen. Zwerge haben keine sehr hohe Meinung von uns«, setzte er hinzu, als er Claras fragenden Blick sah, »das gilt selbst für die, die der Kaiserin dienen. Nichts verschafft einem Zwerg mehr Ansehen unter seinesgleichen, als einen Menschen auszunehmen.«
»Aber du kennst trotzdem einen, dem du trauen kannst?« Clara sah ihn besorgt an.
Fuchs ließ ein verächtliches Knurren hören. »Unsinn! Dem Zwerg, zu dem er will, kann man noch weniger trauen als den anderen!« Sie strich um Clara herum, als suchte sie eine Verbündete. »Frag ihn, woher er die Narben auf dem Rücken hat.«
»Das ist lange her.«
»Und? Warum sollte er sich geändert haben?« Der Ärger in Fuchs' Stimme übertönte nicht die Furcht darin und Clara blickte noch besorgter.
»Warum nimmst du nicht wenigstens Fuchs mit?«
Für diesen Vorschlag strich ihr die Füchsin nur noch zärtlicher um die Beine. Sie suchte Claras Gesellschaft und nahm für sie sogar immer häufiger Menschengestalt an.
Jacob wendete das Pferd.
»Nein. Fuchs bleibt hier«, sagte er, und Fuchs senkte den Kopf, ohne zu protestieren. Sie wusste ebenso gut wie er, dass weder Will noch Clara diese Welt gut genug verstanden, um in ihr allein zurechtzukommen.
Als Jacob sich an der nächsten Wegbiegung umsah, saß sie immer noch neben Clara und blickte ihm nach. Sein Bruder hatte nicht einmal gefragt, wohin er ritt. Er versteckte sich vor dem Tag.
18
SPRECHENDER STEIN
Will hörte den Stein. Er hörte ihn so deutlich wie sein eigenes Atmen. Die Töne drangen aus den Höhlenwänden, dem schartigen Grund unter seinen Füßen und der Felsendecke über ihm. Schwingungen, auf die sein Körper antwortete, als wäre er aus ihnen gemacht. Er hatte keinen Namen mehr, nur die neue Haut, die ihn kühl und schützend umgab, die neue Kraft in seinen Muskeln und den Schmerz in den Augen, wenn er in die Sonne blickte.
Er strich mit den Händen über den Fels und las das Alter des Steins aus den Falten, die er schlug. Sie flüsterten ihm zu, was sich unter der unscheinbar grauen Oberfläche verbarg: gestreifter Achat, blassweißer Mondstein, goldgelber Zitrin und schwarzer Onyx. Sie formten Bilder: von unterirdischen Städten, versteinertem Wasser, mattem Licht, das sich in Fenstern aus Malachit spiegelte ... »Will?«
Er wandte sich um und der Fels schwieg.
Eine Frau stand im Eingang der Höhle. Das Sonnenlicht haftete an ihrem Haar, als wäre sie daraus gemacht.
Clara. Ihr Gesicht brachte die Erinnerung an eine andere Welt, wo Stein nur Mauern und tote Straßen bedeutet hatte.
»Hast du Hunger? Fuchs hat ein Kaninchen gefangen und mir gezeigt, wie man Feuer macht.«
Sie trat auf ihn zu und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände, so weiche Hände, so farblos im Vergleich zu dem Grün, das seine Haut durchzog. Ihre Berührung ließ ihn schaudern, doch Will versuchte, es zu verbergen. Er liebte sie. Oder?
Wenn nur ihre Haut nicht so weich und blass gewesen wäre.
»Hörst du etwas?«, fragte er.
Sie sah ihn verständnislos an.
»Schon gut«, sagte er und küsste sie, um zu vergessen, dass er sich plötzlich danach sehnte, Amethyst in ihrer Haut zu finden. Ihre Lippen riefen Erinnerungen wach: an ein Haus, hoch wie ein Turm, und Nächte, die nicht das Gold in seinen Augen, sondern künstliches Licht erhellte ...
»Ich liebe dich, Will.« Sie flüsterte die Worte, als versuchte sie, damit den Stein zu bannen. Aber der Fels flüsterte lauter, und Will wollte den Namen vergessen, den sie ihm gab.
Ich liebe dich auch, wollte er sagen, weil er wusste, dass er es schon oft gesagt hatte. Aber er war nicht mehr sicher, was es bedeutete und ob man es fühlen konnte mit einem Herzen aus Stein.
»Es wird alles gut«, flüsterte sie und strich ihm übers Gesicht, als wollte sie sein altes Fleisch unter der neuen Haut ertasten. »Jacob wird bald zurück sein.«
Jacob. Noch ein Name. Es klebte Schmerz daran, und er erinnerte sich, dass er diesen Namen allzu oft ins Leere gerufen hatte. Leere Zimmer. Leere Tage.
Jacob. Clara. Will.
Er wollte sie alle vergessen.
Er stieß die weichen Hände fort.
»Nicht«, sagte er. »Fass mich nicht an.«
Wie sie ihn ansah. Schmerz. Liebe. Vorwurf. Er hatte all das schon auf einem anderen Gesicht gesehen. Es war wohl das seiner Mutter gewesen. Zu viel Schmerz. Zu viel Liebe. Er wollte all das nicht mehr. Er wollte den Stein, kühl und fest. So anders als all die Weichheit und das Nachgeben, all die Verletzlichkeit und das tränenreiche Fleisch.
Will kehrte ihr den Rücken zu. »Geh«, sagte er. »Geh endlich.«
Und hörte wieder den Felsen zu. Ließ sie Bilder malen. Und zu Stein machen, was weich in ihm war.
19
VALIANT
Terpevas war die größte Zwergenstadt und mehr als zwölfhundert Jahre alt, wenn man ihren Archiven Glauben schenkte. Aber die Werbeschilder, die an den Stadtmauern Bier, Augengläser und Matratzenpatente anpriesen, machten jedem Besucher auf der Stelle klar, dass niemand die modernen Zeiten ernster nahm als die Zwerge. Sie waren mürrisch, traditionsbewusst, erfinderisch, und ihre Handelsposten fanden sich in jedem Winkel der Spiegelwelt, obwohl sie den meisten ihrer Kunden kaum bis zur Hüfte reichten. Außerdem hatten sie einen erstklassigen Ruf als Spione.
Der Verkehr vor den Toren von Terpevas war fast ebenso dicht wie auf der anderen Seite des Spiegels. Doch hier lärmten Karren, Kutschen und Reiter auf grauem Kopfsteinpflaster. Die Kundschaft kam aus allen Himmelsrichtungen. Der Krieg hatte für die Zwerge die Geschäfte nur belebt. Sie handelten schon lange mit den Goyl und der steinerne König hatte viele von ihnen zu seinen Hauptlieferanten gemacht. Auch Evenaugh Valiant, der Zwerg, den Jacob in Terpevas zu finden hoffte, handelte seit Jahren mit den Goyl, getreu seinem Motto, sich immer rechtzeitig auf die Seite der Gewinner zu schlagen.
Bleibt nur zu hoffen, dass der verschlagene kleine Bastard noch lebt!, dachte Jacob, während er die Stute an Kutschen und Einspännern vorbei auf das südliche Stadttor zutrieb. Schließlich war es sehr gut möglich, dass irgendein betrogener Kunde Valiant inzwischen erschlagen hatte.
Um den Posten neben dem Tor in die Augen zu sehen, hätten sich mindestens drei Zwerge aufeinanderstellen müssen. Sie heuerten für ihre Stadttore nur Wachen an, die ihre Abstammung von den ausgestorbenen Riesen nachweisen konnten. Die Rieslinge, wie sie genannt wurden, waren als Söldner und Wächter sehr begehrt, obwohl sie den Ruf hatten, nicht besonders schlau zu sein, und die Zwerge zahlten so gut, dass die Riesenabkömmlinge sich dafür sogar in die altmodischen Uniformen zwängten, die die Armee ihrer Dienstherren trug. Nicht einmal die kaiserliche Kavallerie trug noch Helme, die mit Schwanenfedern geschmückt waren, aber die Zwerge dekorierten die modernen Zeiten gern mit den Uniformen der Vergangenheit.
Jacob ritt hinter zwei Goyl an den Rieslingen vorbei. Der eine hatte Mondstein-, der andere Onyxhaut. Sie waren nicht anders gekleidet als die menschlichen Fabrikanten, deren Kutsche die Rieslinge hinter ihnen durch das Tor winkten, aber unter ihren langschößigen Jacken zeichneten sich Pistolengriffe ab. Die weiten Kragen waren mit Jade und Mondstein bestickt, und die dunklen Brillen, mit denen sie ihre lichtscheuen Augen schützten, waren aus so dünnem Onyx, wie kein Mensch ihn hätte schleifen können.
Die beiden Goyl ignorierten den Abscheu, den ihr Anblick bei den menschlichen Besuchern der Zwergenstadt hervorrief. Ihre Gesichter sagten es deutlich: Diese Welt gehörte ihnen. Ihr König hatte sie wie eine reife Frucht gepflückt, und die, die sie noch vor wenigen Jahren wie Tiere gejagt hatten, begruben ihre Soldaten in Massengräbern und bettelten um Frieden.
Der Onyxhäutige nahm die Brille ab und blickte sich um. Sein goldgetränkter Blick glich so sehr dem von Will, dass Jacob das Pferd zügelte und ihm nachstarrte, bis ihn das ärgerliche Schimpfen einer Zwergenfrau, deren winzigen Kindern er den Weg versperrte, wieder zu sich brachte.
Zwergenstadt, geschrumpfte Welt.
Jacob gab die Stute in einem der Mietställe hinter der Mauer ab. Die Hauptstraßen von Terpevas waren breit wie Menschengassen, doch abseits davon konnte die Stadt nicht verhehlen, dass ihre Bewohner kaum größer als sechsjährige Kinder waren, und einige Gassen waren so eng, dass Jacob selbst zu Fuß kaum hindurchpasste. Die Städte der Spiegelwelt wuchsen wie Fungus und Terpevas war keine Ausnahme. Der Rauch der zahllosen Kohleöfen schwärzte Fenster und Mauern, und der Gestank, der in der kalten Herbstluft hing, kam nicht von welkem Laub, auch wenn die Kanalisation der Zwerge besser war als die der Kaiserin. Mit jedem Jahr, das Jacob in ihr verbrachte, schien die Welt hinter dem Spiegel sich mehr anzustrengen, ihrer Schwester auf der anderen Seite gleich zu werden.
Jacob konnte kaum ein Straßenschild lesen, weil er das Zwergen-Alphabet nur bruchstückhaft beherrschte, und schon bald hatte er sich hoffnungslos verirrt. Als er sich den Kopf zum dritten Mal am selben Friseurladen-Schild stieß, hielt er einen Botenjungen an und fragte ihn nach dem Haus von Evenaugh Valiant, Im- und Exporthändler für Raritäten jeder Art. Der Junge reichte ihm kaum bis an die Knie, aber er blickte auf der Stelle freundlicher zu ihm hoch, als Jacob zwei Kupfertaler in seine winzige Hand zählte. Der Knirps huschte so schnell davon, dass Jacob ihm in den belebten Gassen kaum folgen konnte, doch schließlich machte er vor dem Hauseingang halt, durch den Jacob sich vor drei Jahren schon einmal gezwängt hatte.
Valiants Name stand in goldenen Lettern auf der milchigen Scheibe, und Jacob musste sich, wie damals, tief ducken, um durch den Türrahmen zu passen. Evenaugh Valiants Vorzimmer war gerade so hoch, dass Menschen aufrecht darin stehen konnten. Die Wände schmückten Fotos seiner bedeutendsten Kunden. Inzwischen ließ man sich auch hinter dem Spiegel nicht mehr malen, sondern fotografieren, und nichts demonstrierte Valiants Geschäftssinn besser als die Tatsache, dass das Bild der Kaiserin neben dem eines Goyloffiziers hing. Die Rahmen waren aus Mondsilber, und von der Decke hing eine Lampe, die mit den Glashaaren eines Flaschengeists besetzt war, was den Zwerg ein Vermögen gekostet haben musste. Alles zeugte von gut gehenden Geschäften. Es gab sogar zwei Sekretäre statt der grimmigen Zwergin, die Jacob bei seinem letzten Besuch empfangen hatte.
Der kleinere hob nicht mal den Kopf, als Jacob vor seinem kaum kniehohen Schreibtisch stehen blieb, und der zweite musterte ihn mit der üblichen Verachtung, mit der Zwerge allen Menschen begegneten, auch wenn sie mit ihnen Geschäfte machten.
Jacob schenkte ihm sein freundlichstes Lächeln. »Ich nehme an, Herr Valiant handelt immer noch mit den Feen?«
»Allerdings. Aber Mottenkokons können wir zurzeit nicht liefern.« Die Stimme des Sekretärs war, wie bei vielen Zwergen, erstaunlich tief. »Versuchen Sie es in drei Monaten noch mal.«
Damit wandte er sich wieder seinen Papieren zu. Doch sein Kopf fuhr hoch, als Jacob mit einem sachten Klicken die Pistole spannte.
»Ich bin nicht wegen Mottenkokons hier. Darf ich Sie beide in den Schrank da bitten?«
Zwerge sind berüchtigt für ihre Körperstärke, aber die zwei waren äußerst schmächtige Exemplare, und Valiant zahlte ihnen offenbar nicht genug, um sich von irgendeinem dahergelaufenen Menschen erschießen zu lassen. Sie ließen sich ohne Widerstand in den Schrank sperren, und er sah stabil genug aus, um sicherzustellen, dass sie während Jacobs Unterhaltung mit ihrem Arbeitgeber nicht die Zwergenpolizei riefen.
Das Wappen, das auf Valiants Bürotür prangte, zeigte über der Feenlilie das Wappentier der Valiants: einen Dachs auf einem Berg von Goldtalern. Die Tür, an der es hing, war aus Rosenholz, einem Material, das nicht nur für seinen hohen Preis, sondern auch für seine Schalldichte bekannt war, wodurch Valiant nichts von den Geschehnissen in seinem Vorzimmer mitbekommen hatte.
Er saß hinter einem Menschenschreibtisch, dessen Beine er hatte kürzen lassen, und paffte mit geschlossenen Augen eine Zigarre, die sich selbst im Mund eines Rieslings nicht klein ausgenommen hätte. Evenaugh Valiant hatte sich den Bart abrasiert, wie es bei den Zwergen neuerdings Mode war. Die Augenbrauen, buschig wie die all seiner Artgenossen, waren sorgfältig getrimmt, und sein maßgeschneiderter Anzug war aus Samt, einem Stoff, den Zwerge über alles schätzten. Jacob hätte ihn zu gern aus seinem Wolfsledersessel gepflückt und aus dem Fenster dahinter geworfen, aber die Erinnerung an Wills versteinerndes Gesicht hielt ihn zurück.
»Ich hatte doch gesagt, keine Störung, Banster!« Der Zwerg seufzte, ohne die Augen zu öffnen. »Geht es schon wieder um den Kunden, der den ausgestopften Wassermann reklamiert hat?«
Er war fetter geworden. Und älter. Das krause rote Haar wurde bereits grau, früh für einen Zwerg. Die meisten wurden mindestens hundert, und Valiant war erst an die sechzig - falls er nicht auch log, was sein Alter betraf.
»Nein, wegen eines ausgestopften Wassermanns bin ich eigentlich nicht hier«, sagte Jacob und richtete die Pistole auf den kraushaarigen Kopf. »Aber ich habe vor drei Jahren für etwas bezahlt, das ich nicht bekommen habe.«
Valiant verschluckte sich fast an seiner Zigarre und starrte Jacob so entgeistert an, wie man es mit einem Besucher tat, den man einer Herde angreifender Einhörner überlassen hatte.
»Jacob Reckless!«, stieß er hervor.
»Sieh an, du erinnerst dich an meinen Namen.«
Der Zwerg ließ die Zigarre fallen und fuhr mit der Hand unter den Schreibtisch, aber er zog die kurzen Finger mit einem Aufschrei zurück, als Jacob ihm mit dem Säbel den maßgeschneiderten Ärmel aufschlitzte.
»Pass auf, was du tust!«, sagte Jacob. »Du brauchst nicht beide Arme, um mich zu den Feen zu bringen. Du brauchst auch deine Ohren und deine Nase nicht. Hände hinter den Kopf. Na, mach schon!«
Valiant gehorchte - und verzog den Mund zu einem allzu breiten Lächeln.
»Jacob!«, säuselte er. »Was soll das? Ich wusste natürlich, dass du nicht tot bist. Schließlich hat man die Geschichte überall gehört. Jacob Reckless, der glückliche Sterbliche, der ein Jahr der Gefangene der Roten Fee war. Jedes männliche Wesen in diesem Land, ob Zwerg, Mensch oder Goyl, vergeht vor Neid bei der bloßen Vorstellung. Und gib zu: Wem verdankst du dieses Glück? Evenaugh Valiant! Hätte ich dich vor ihren Einhörnern gewarnt, dann hätten sie dich bestimmt in eine Distel oder irgendeinen Fisch verwandelt wie andere ungeladene Besucher. Aber nicht einmal die Rote Fee kann einem Mann widerstehen, der hilflos in seinem Blut liegt!«
Die Dreistigkeit dieser Argumentation musste selbst Jacob bewundern.
»Erzähl schon!«, raunte Valiant ihm ohne jeden Ansatz von Schuldbewusstsein über den viel zu großen Schreibtisch zu. »Wie war sie? Und wie hast du es angestellt, ihr wieder davonzulaufen?«
Jacob packte den Zwerg zur Antwort an seinem maßgeschneiderten Kragen und zog ihn hinter dem Schreibtisch hervor. »Hier ist mein Angebot: Ich werde dich nicht erschießen und dafür führst du mich noch einmal in ihr Tal. Aber diesmal zeigst du mir, wie man an den Einhörnern vorbeikommt.«
»Was?« Valiant versuchte, sich loszumachen, aber die Pistole stimmte ihn schnell um. »Das ist ein Ritt von mindestens zwei Tagen!«, zeterte er. »Ich kann hier nicht so einfach alles stehen und liegen lassen!«
Jacob stieß ihn zur Antwort nur unsanft auf die Tür zu.
Im Vorraum flüsterten die zwei Sekretäre im Schrank. Valiant warf einen ärgerlichen Blick in ihre Richtung und pflückte seinen Hut vom Kleiderhaken neben der Tür.
»Meine Preise sind in den letzten drei Jahren enorm gestiegen«, sagte er.
»Ich werde dich am Leben lassen«, gab Jacob zurück. »Damit bist du fürstlich bezahlt.«
Valiant schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln, während er sich den Hut vor der verglasten Eingangstür zurechtrückte. Wie viele Zwerge hatte er eine Leidenschaft für Zylinder, die seiner Größe ein paar Handbreit hinzufügten.
»Es scheint dir sehr wichtig zu sein, zu deiner verflossenen Geliebten zurückzukommen«, schnurrte er. »Und der Preis steigt mit der Verzweiflung des Kunden.«
Jacob setzte ihm zur Antwort die Mündung der Pistole an den Hut. »Verlass dich drauf«, sagte er. »Dieser Kunde ist verzweifelt genug, um dich jederzeit zu erschießen.«
20
ZU VIEL
Fuchs roch goldenen Abscheu, steingewordenen Ekel, erfrorene Liebe. Der Eingang der Höhle atmete sie aus, und das Fell sträubte sich ihr, als sie Claras Spur davor im Gras fand. Sie war mehr gestolpert als gelaufen, und die Spur führte auf die Bäume zu, die hinter der Höhle wuchsen. Fuchs hatte gehört, wie Jacob Clara vor ihnen gewarnt hatte, aber sie war darauf zugehastet, als wäre ihr bedrohlicher Schatten genau das, was sie suchte.
Ihr Geruch war derselbe, den Fuchs roch, wenn sie ihr Fell ablegte. Mädchen. Frau. So viel verwundbarer. Stark und schwach zugleich. Herz, das keine Schale kannte.
Der Geruch sprach von all dem, was Fuchs fürchtete und wovor das Fell sie schützte. Claras hastige Schritte schrieben es auf die dunkle Erde, und Fuchs musste nicht ihre Nase fragen, warum Clara so schnell lief. Sie selbst hatte schon versucht, dem Schmerz davonzulaufen.
Die Haselnusssträucher und wilden Apfelbäume waren harmlos, aber zwischen ihnen ragten Stämme aus dem Dickicht, deren Rinde so stachlig wie die Hülle einer Kastanie war. Vogelbäume. Das Licht der Sonne zerlief unter ihnen in finsterem Braun und Clara war einem von ihnen geradewegs in die holzigen Klauen gestolpert.
Sie schrie nach Jacob, aber der war weit fort. Der Baum hatte ihr die Wurzeln um Knöchel und Arme geschlungen, und auf ihrem Körper landeten seine gefiederten Diener, die Federn so weiß wie frisch gefallener Schnee, Vögel mit spitzen Schnäbeln und Augen, die ihnen wie rote Beeren im Kopf saßen.
Fuchs fuhr zwischen sie mit gebleckten Zähnen, taub für ihr wütendes Geschrei, und packte einen der Vögel im Sprung, bevor er sich hinauf in die schützenden Zweige retten konnte. Sie spürte sein Herz zwischen ihren Kiefern rasen, aber sie biss nicht zu, sondern hielt nur fest, ganz fest, bis der Baum Clara mit einem zornigen Ächzen losließ.
Die Wurzeln lösten sich wie Schlangen von ihren zitternden Gliedern, und als Clara taumelnd auf die Füße kam, glitten sie schon zurück unter die herbstbraunen Blätter, wo sie auf das nächste Opfer warten würden. Die anderen Vögel schimpften aus den Zweigen auf Fuchs herab, geisterhaft weiß zwischen all dem vergilbten Laub, aber sie hielt ihre Beute gepackt und ließ erst los, als Clara an ihre Seite stolperte. Ihr Gesicht war so weiß wie die Federn, die ihr an den Kleidern hafteten, und Fuchs roch nicht nur die Todesangst, die ihr Körper immer noch atmete, sondern auch den Schmerz in ihrem Herzen wie eine frische Wunde.
Sie sprachen kaum ein Wort auf dem Weg zurück zur Höhle. Clara blieb irgendwann stehen, als könnte sie nicht weitergehen, aber schließlich tat sie es doch. Als sie die Höhle erreichten, blickte sie auf den dunklen Eingang, als hoffte sie, Will dort zu sehen, doch dann setzte sie sich neben den Pferden ins Gras und kehrte ihr den Rücken zu. Bis auf ein paar kleine Wunden an Hals und Knöcheln war sie unverletzt, aber Fuchs sah ihr an, dass sie sich schämte - für ihr schmerzendes Herz und dafür, dass sie fortgelaufen war.
Fuchs wollte nicht, dass sie fortging. Sie wechselte die Gestalt und schlang die Arme um sie, und Clara presste ihr Gesicht in das pelzige Kleid, das dem Fell der Füchsin glich.
»Er liebt mich nicht mehr, Fuchs.«
»Er liebt niemanden mehr«, flüsterte Fuchs zurück. »Weil er vergisst, wer er ist.«
Wer wusste besser als sie, wie sich das anfühlte? Eine andere Haut, ein anderes Ich. Aber das Fell der Füchsin war weich und warm. Und der Stein war so hart und kühl.
Clara blickte zur Höhle hinüber. Fuchs zupfte ihr eine Feder aus dem Haar.
»Bitte bleib!«, flüsterte sie ihr zu. »Jacob wird ihm helfen. Du wirst sehen.«
Wenn er nur erst zurück wäre.
21
SEINES BRUDERS HÜTER
Als Jacob auf die Höhle zuritt, kam Fuchs ihm entgegen, aber Will und Clara waren nirgends zu sehen.
»Sieh an. Die räudige Füchsin läuft dir immer noch nach?«, spottete Valiant, als Jacob ihn vom Pferd hob. Er hatte ihn mit einer Silberkette gefesselt, dem einzigen Metall, das Zwerge nicht wie Zwirn zerrissen.
Jacob hätte sich nicht gewundert, wenn Fuchs Valiants Bemerkung mit einem Biss beantwortet hätte, aber sie schien den Zwerg gar nicht zu sehen. Irgendetwas war geschehen. Ihr Fell war gesträubt und an ihrem Rücken hafteten ein paar weiße Federn.
»Du musst mit deinem Bruder reden«, sagte sie, während Jacob Valiant an den nächsten Baum band.
»Wieso?« Er warf einen besorgten Blick zu der Höhle, in der Will sich verbarg, aber Fuchs wies zu den Pferden. Clara schlief dort im Schatten einer Buche. Ihr Hemd war zerrissen und Jacob sah Blut an ihrem Hals.
»Sie haben sich gestritten«, sagte Fuchs. »Er weiß nicht mehr, was er tut!«
Der Stein ist schneller als du, Jacob.
Jacob fand Will im dunkelsten Winkel der Höhle. Er saß auf dem Boden, den Rücken gegen den Fels gelehnt.
Vertauschte Rollen, Jacob. Sonst war immer er es gewesen, der etwas ausgefressen und in der Dunkelheit gesessen hatte, in seinem Zimmer, in der Wäschekammer, im Büro seines Vaters. »Jacob? Wo bist du?«
»Was hast du nun wieder angestellt?« Immer Jacob. Aber nicht Will. Niemals Will.
Die Augen seines Bruders schimmerten wie Münzgold in der Dunkelheit.
»Was hast du zu Clara gesagt?«
Will blickte auf seine Finger und ballte die Faust.
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Unsinn!«
Will war nie ein guter Lügner gewesen.
»Du warst es, der sie mitnehmen wollte! Oder erinnerst du dich daran auch nicht mehr?« Hör auf, Jacob. Aber seine Schulter schmerzte, und er war es leid, auf seinen Bruder aufzupassen.
»Bekämpf es!«, fuhr er Will an. »Du kannst dich nicht immer darauf verlassen, dass ich es für dich tue!«
Will richtete sich langsam auf. Seine Bewegungen waren kraftvoller geworden, und es war lange her, dass er Jacob kaum bis zur Schulter gereicht hatte.
»Verlassen, auf dich?«, sagte er. »Das hab ich mir schon mit fünf abgewöhnt. Unsere Mutter hat leider etwas länger gebraucht. Und ich durfte mir jahrelang nachts ihr Weinen anhören.«
Brüder.
Es war, als stünden sie wieder in der Wohnung. Auf dem weiten Flur mit all den leeren Zimmern und dem dunklen Fleck auf der Tapete, wo das Foto ihres Vaters gehangen hatte.
»Seit wann macht es Sinn, sich auf jemand zu verlassen, der nie da ist?« Wills Stimme teilte die Splitter fast beiläufig aus, aber sie waren scharf. »Du hast vieles mit ihm gemeinsam. Nicht nur das Aussehen.«
Er musterte Jacob, als vergliche er sein Gesicht mit dem ihres Vaters.
»Keine Sorge, ich bekämpfe es«, sagte er. »Schließlich ist es meine Haut, nicht deine. Und ich bin immer noch hier, oder? Tue, was du sagst. Reite dir nach. Schlucke die Angst herunter.«
Valiants Stimme drang zu ihnen herein. Er versuchte, Fuchs zu überreden, ihn von der Silberkette zu befreien.
Will nickte nach draußen. »Ist das der Führer, von dem du erzählt hast?«
»Ja.« Jacob zwang sich, den Fremden anzusehen, der aussah wie sein Bruder.
Will trat auf den Höhleneingang zu und hielt die Hand vor die Augen, als das Tageslicht sein Gesicht fand.
»Es tut mir leid, was ich zu Clara gesagt habe«, sagte er. »Ich werde mit ihr reden.«
Dann trat er nach draußen. Und Jacob stand in der Dunkelheit und spürte die Splitter. Als hätte Will den Spiegel zerschlagen.
22
TRÄUME
Es war Nacht, aber die Dunkle Fee schlief nicht. Die Nacht war zu schön, um sie zu verschlafen. Den Menschengoyl sah sie trotzdem. Inzwischen träumte sie von ihm, egal, ob sie wach war oder schlief. Ihr Fluch hatte schon einen Großteil seiner Haut in Jade verwandelt. Jade. Grün wie das Leben selbst. Steingewordener Überfluss. Herzstein, gesät von der Herzlosen. Er würde so viel schöner sein, wenn die Jade erst all die Menschenhaut ersetzt hatte und er zu dem wurde, was die Farbe seiner Haut versprach. Zukunft, in der Vergangenheit beschlossen. All die Dinge, die versteckt waren in den Falten der Zeit. Nur die Träume wussten von ihnen, und sie verrieten ihr so viel mehr als jedem Goyl oder Menschen, vielleicht, weil Zeit nichts bedeutete, wenn man unsterblich war.
Sie hätte in dem Schloss mit den zugemauerten Fenstern bleiben und dort auf Nachricht von Hentzau warten sollen. Aber Kami'en wollte zurück in die Berge, in denen er geboren worden war, in seine Festung unter der Erde. Er sehnte sich nach der Tiefe, so wie sie sich nach dem Nachthimmel sehnte oder nach weißen Lilien, die auf dem Wasser trieben - auch wenn sie sich immer noch einzureden versuchte, dass Liebe allein satt machte.
Das Zugfenster zeigte ihr nur ihr eigenes Spiegelbild: ein blasser Spuk auf dem Glas, hinter dem die Welt viel zu schnell vorbeiglitt. Kami'en wusste, dass sie sich in Zügen fast ebenso unwohl fühlte wie unter der Erde. Also hatte er die Wände ihres Wagens mit Bildern schmücken lassen: Blüten aus Rubin und Blätter aus Malachit, ein Himmel aus Lapislazuli, Hügel aus Jade, und aus Mondstein die schimmernde Oberfläche eines Sees. Das war wohl Liebe, oder?
Die Steinbilder waren schön, wunderschön, und jedes Mal, wenn sie es nicht mehr ertrug, Hügel und Felder vorbeihuschen zu sehen, als lösten sie sich auf im Gewand der Zeit, fuhr sie mit den Fingern über die steinernen Blüten. Aber der Lärm des Zuges schmerzte in ihren Ohren, und das Metall, das sie umgab, ließ ihr Feenfleisch frösteln.
Ja. Er liebte sie. Aber das Puppengesicht würde er trotzdem heiraten, die Menschenprinzessin mit den blanken Augen und der Schönheit, die sie nur den Lilien der Feen verdankte. Amalie. Ihr Name klang ebenso farblos wie ihr Gesicht. Wie gern sie sie getötet hätte. Ein vergifteter Kamm, ein Kleid, das sich in ihr Fleisch fraß, wenn sie sich darin vor ihren goldenen Spiegeln drehte. Wie sie schreien und sich die Haut zerkratzen würde, die so viel weicher als die ihres Bräutigams war.
Die Fee lehnte die Stirn gegen die kühle Scheibe. Sie verstand nicht, woher die Eifersucht kam. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass Kami'en eine andere Frau nahm. Kein Goyl liebte nur einmal. Niemand liebte nur einmal ... Zuallerletzt eine Fee.
Die Dunkle Fee kannte alle Geschichten über ihresgleichen: dass, wer eine von ihnen liebte, dem Wahnsinn verfiel, und dass sie ebenso wenig ein Herz wie einen Vater oder eine Mutter hatten. Wenigstens das war wahr. Sie presste sich die Hand zwischen die Brüste. Kein Herz. Also woher kam die Liebe, die sie fühlte?
Draußen schwammen die Sterne wie Blüten auf dem nachtschwarzen Wasser eines Flusses. Die Goyl fürchteten das Wasser, obwohl es ihre Höhlen schuf und sein Tropfen in ihren Städten ebenso selbstverständlich zu hören war wie das Geräusch des Windes über der Erde. Sie fürchteten es so sehr, dass das Meer Kami'ens Eroberungen eine Grenze setzte und ihn vom Fliegen träumen ließ. Aber Flügel konnte sie ihm ebenso wenig geben wie Kinder. Sie war aus dem Wasser geboren worden, das er so sehr fürchtete, und all die Worte, die ihnen so viel bedeuteten - Schwester, Bruder, Tochter, Sohn -, bedeuteten ihr nichts.
Kinder konnte das Puppengesicht ihm ebenso wenig schenken wie sie - es sei denn, er wollte eines der verkrüppelten Monster zeugen, die einige Menschenfrauen seinen Soldaten geboren hatten. »Wie oft soll ich es dir noch sagen? Mir liegt nichts an ihr, aber ich brauche diesen Frieden.« Er glaubte sich selbst jedes Wort, aber sie kannte ihn besser. Er wollte Frieden, aber noch mehr gelüstete es ihn nach Menschenhaut und danach, eine von ihnen zu seiner Frau zu machen. Seine Neugier auf alles Menschliche ängstigte sie inzwischen ebenso sehr wie sein Volk.
Woher kam die Liebe? Woraus war sie gemacht? Aus Stein wie er? Aus Wasser wie sie?
Es war nur ein Spiel gewesen, als sie sich auf die Suche nach ihm gemacht hatte. Ein Spiel mit dem Spielzeug, das ihre Träume ihr gezeigt hatten. Der Goyl, der die Welt in Scherben schlug und Regeln missachtete wie sie. Die Feen spielten nicht mehr mit der Welt. Die letzte, die es getan hatte, trug eine Haut aus Rinde. Sie hatte ihre Motten trotzdem ausgeschickt, nach Kami'en zu suchen. Das Zelt, in dem sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte nach Blut gerochen und dem Tod, den sie nicht verstand, und sie hatte immer noch alles für ein Spiel gehalten. Hatte ihm die Welt versprochen. Sein Fleisch im Fleisch seiner Feinde. Und zu spät gespürt, was er in ihr säte. Liebe. Schlimmstes aller Gifte.
»Du solltest öfter Menschenkleider tragen.«
Augen aus Gold. Lippen aus Feuer. Er sah nicht müde aus, obwohl er seit Tagen kaum geschlafen hatte.
Das Kleid der Fee raschelte, als sie sich zu ihm umdrehte. Menschenfrauen kleideten sich wie Blumen, Schichten aus Blättern um einen sterblichen, rottenden Kern. Sie hatte sich das Kleid nach einem der Gemälde schneidern lassen, die in dem Schloss des toten Generals gehangen hatten. Kami'en hatte es oft so gedankenverloren betrachtet, als zeigte es eine Welt, nach der er suchte. Der Stoff hätte für zehn Kleider gereicht, aber sie liebte das Rascheln der Seide und ihre kühle Glätte auf der Haut. »Keine Nachricht von Hentzau?«
Als ob sie die Antwort nicht wüsste. Aber warum hatten auch ihre Motten den, den sie suchte, immer noch nicht gefunden? Sie sah ihn doch so deutlich. Als müsste sie nur die Hand ausstrecken, um seine Jadehaut unter den Fingern zu spüren.
»Hentzau wird ihn finden. Falls es ihn gibt.« Kami'en trat hinter sie. Er zweifelte an dem, was sie in ihren Träumen sah, aber nicht an seinem Jaspisschatten.
Hentzau. Noch jemand, den sie zu gern getötet hätte. Aber seinen Tod hätte Kami'en ihr noch weniger verziehen als den seiner künftigen Braut. Er hatte seine eigenen Brüder getötet, wie die Goyl es oft taten, doch Hentzau war ihm näher als ein Bruder. Vielleicht sogar näher als sie.
Auf dem Zugfenster verschmolzen ihre Spiegelbilder miteinander. Sie atmete immer noch schneller, wenn er neben ihr stand. Woher kommt die Liebe?
»Vergiss den Jadegoyl und deine Träume«, flüsterte er und löste ihr das Haar. »Ich schenke dir neue. Sag mir nur, welche.«
Sie hatte Kami'en nie erzählt, dass sie auch ihn zuerst in ihren Träumen gefunden hatte. Es hätte ihm nicht gefallen. Weder Menschen noch Goyl lebten lange genug, um zu begreifen, dass das Gestern ebenso aus dem Morgen geboren wurde wie das Morgen aus dem Gestern.
23
IN DER FALLE
Jacob war es, als ritte er in seine eigene Vergangenheit, als sie die Schlucht erreichten, durch die er schon einmal ins Tal der Feen gekommen war. Drei Jahre sind eine lange Zeit, aber alles schien unverändert: der Bach, der am Grund der Schlucht floss, die Fichten, die sich in die Hänge krallten, die Stille zwischen den Felsen ... Nur seine Schulter erinnerte ihn daran, dass seither viel geschehen war. Sie schmerzte, als nähte der Schneider sich tatsächlich Kleider aus seiner Haut.
Valiant saß vor ihm auf dem Pferd und blickte sich immer wieder zu ihm um.
»Oh, du siehst wirklich schlimm aus, Reckless!«, stellte er nicht zum ersten Mal mit unverhohlener Schadenfreude fest. »Und das arme Mädchen starrt schon wieder zu dir herüber. Bestimmt hat sie Angst, dass du vom Pferd fällst, bevor ihr Liebster seine Haut zurückhat. Aber keine Sorge. Wenn du tot und dein Bruder ein Goyl ist, werd ich sie trösten. Ich hab eine Schwäche für Menschenfrauen.«
So ging das, seit sie aufgebrochen waren, aber Jacob war zu betäubt vom Fieber, um etwas zu erwidern. Selbst Wills Worte in der Höhle drangen nicht mehr durch den Schmerz und er sehnte sich nach der heilenden Luft der Feen inzwischen ebenso sehr für sich wie für seinen Bruder.
Es ist nicht mehr weit, Jacob. Du musst nur noch durch die Schlucht und dann bist du in ihrem Tal.
Clara ritt gleich hinter ihm. Will trieb sein Pferd ab und zu an ihre Seite, als wollte er sie vergessen lassen, was in der Höhle geschehen war, und auf Claras Gesicht kämpfte die Liebe mit der Angst. Aber sie ritt weiter.
Wie er selbst. Und Will.
Und der Zwerg konnte sie alle immer noch betrügen.
Die Sonne stand bereits tief und zwischen den Felsen wuchsen die Schatten. Der schäumende Bach, an dem sie entlangritten, war so dunkel, als schwemmte er die Nacht in die Schlucht, und sie waren noch nicht weit gekommen, als Will plötzlich das Pferd zügelte.
»Was ist los?«, fragte Valiant beunruhigt. »Es sind Goyl hier.« Aus Wills Stimme war nicht die Spur von Zweifel zu hören. »Sie sind ganz in der Nähe.«
»Goyl?« Valiant warf Jacob einen hämischen Blick zu. »Bestens. Ich verstehe mich sehr gut mit ihnen.«
Jacob presste ihm die Hand auf den Mund. Er ließ der Stute die Zügel gehen und lauschte, aber das Rauschen des Baches übertönte alle anderen Geräusche. »Tut so, als tränktet ihr die Pferde«, flüsterte er den anderen zu.
»Ich rieche sie auch«, zischte Fuchs. »Sie sind vor uns.«
»Aber warum verstecken sie sich?« Will schauderte wie ein Tier, das sein Rudel wittert.
Valiant musterte ihn, als sähe er ihn zum ersten Mal - und drehte sich so abrupt zu Jacob um, dass er fast vom Pferd rutschte. »Du verschlagener Hund!«, raunte er ihm zu. »Welche Farbe hat der Stein in seiner Haut? Grün, stimmt's?«
»Und?«
»Und? Verkauf mich nicht für dumm! Es ist Jade. Ein Kilo roten Mondstein haben die Goyl auf ihn ausgesetzt. Dein Bruder, dass ich nicht lache!« Der Zwerg zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Du hast ihn gefunden, wie den Gläsernen Schuh und das Tischleindeckdich. Aber was zum Teufel willst du mit ihm bei den Feen?«
Jade.
Jacob starrte auf Wills blassgrüne Haut. Natürlich hatte er die Geschichten gehört. Der Goylkönig und sein unbezwingbarer Leibwächter. Chanute hatte mal davon geträumt, ihn zu finden und an die Kaiserin zu verkaufen. Aber niemand konnte allen Ernstes glauben, dass sein Bruder der Jadegoyl war.
Am Ende der Schlucht sah man schon das nebelverhangene Tal. So nah.
»Lass ihn uns zu einer ihrer Festungen bringen und die Belohnung teilen!«, zischte Valiant ihm zu. »Wenn sie ihn hier in der Schlucht fangen, werden sie uns nichts für ihn geben!«
Jacob beachtete ihn nicht. Er sah, wie Will schauderte.
»Kennst du noch einen anderen Weg in das Tal?«, fragte er den Zwerg.
»Sicher«, gab Valiant hämisch zurück. »Wenn du glaubst, dass dein sogenannter Bruder Zeit für Umwege hat ... Von dir ganz zu schweigen!«
Will blickte sich um, rastlos wie ein gefangenes Tier.
Clara trieb ihr Pferd an Jacobs Seite. »Bring ihn weg von hier!«, flüsterte sie ihm zu. »Bitte.«
Aber was dann?
Ein paar Meter weiter wuchs eine Gruppe Kiefern vor den Felsen. Unter ihren Zweigen war es so dunkel, dass Jacob selbst auf so kurze Entfernung nicht sehen konnte, was darunterlag.
Er beugte sich zu Will hinüber und griff nach seinem Arm. »Reite mir zu den Kiefern dort nach«, raunte er ihm zu. »Und steig ab, wenn ich es tue!«
Es war Zeit, Verstecken zu spielen. Verstecken und verkleiden.
Will zögerte, aber schließlich nahm er die Zügel auf und ritt ihm nach.
Die Schatten unter den Kiefern waren schwarz wie Ruß. Dunkelheit, die, wenn sie Glück hatten, selbst Goylaugen blind machte.
»Erinnerst du dich, wie wir uns als Kinder geprügelt haben?«, raunte Jacob Will zu, bevor er sich vor den Bäumen aus dem Sattel schwang.
»Du hast mich immer gewinnen lassen.«
»So machen wir es jetzt auch.«
Fuchs huschte an seine Seite. »Was hast du vor?«
»Egal, was passiert«, flüsterte er ihr zu. »Ich will, dass du bei Will bleibst. Versprich es mir. Wenn du es nicht tust, sind wir alle tot.«
Will stieg vom Pferd.
»Ich will, dass du dich wehrst, Will«, raunte Jacob ihm zu. »Und sorg dafür, dass es echt aussieht. Wir müssen unter den Bäumen da enden.«
Dann schlug er seinem Bruder ohne Vorwarnung die Faust ins Gesicht.
Das Gold in Wills Augen fing sofort Feuer.
Er schlug so fest zurück, dass Jacob auf die Knie fiel. Haut aus Stein und ein Zorn, den er auf dem Gesicht seines Bruders noch nie gesehen hatte.
Vielleicht doch kein so guter Plan, Jacob.
24
DIE JÄGER
Hentzau hatte die Schlucht bei Morgengrauen erreicht. Die Einhörner, die in dem nebligen Tal grasten, ließen wenig Zweifel daran, dass Nesser sie an den richtigen Ort geführt hatte. Aber inzwischen stand die Sonne tief, und Hentzau begann sich zu fragen, ob der Jadegoyl am Ende doch von seinem Bruder erschossen worden war, als Nesser zum Eingang der Schlucht wies.
Sie hatten ein Mädchen und einen Fuchs dabei, wie der Dreifinger gesagt hatte, und sie hatten sich einen Zwerg gefangen. Nicht dumm. Selbst Nesser wusste nicht, wie man an den Einhörnern vorbeikam, aber Hentzau hatte von dem Gerücht gehört, dass einige Zwerge das Geheimnis kannten. Wie auch immer - er hatte keinen Ehrgeiz, der erste Goyl zu sein, der die verhexte Feeninsel sah. Lieber ritt er durch ein Dutzend Schwarzer Wälder oder schlief bei den Blinden Schlangen, die unter der Erde hausten. Nein. Er würde sich den Jadegoyl holen, bevor er sich hinter den Einhörnern verstecken konnte.
»Kommandant, sie schlagen sich!« Nesser klang erstaunt.
Was hatte sie erwartet? Der Zorn kam mit der steinernen Haut wie das Gold in den Augen. Und gegen wen richtete er sich zuerst? Gegen den Bruder. Ja, schlag ihn tot!, dachte Hentzau, während er den Jadegoyl durch sein Fernrohr musterte. Vielleicht hast du das schon oft gewollt, aber er war immer der Ältere, immer der Stärkere. Du wirst sehen: Der Zorn der Goyl macht all das wett.
Der Ältere kämpfte nicht schlecht, aber er hatte keine Chance.
Da. Er fiel auf die Knie. Das Mädchen lief auf den Jadegoyl zu und zerrte ihn zurück, aber er riss sich los, und als sein Bruder versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, trat er ihm so fest gegen die Brust, dass er unter die Kiefern stolperte. Die schwarzen Zweige verschluckten sie beide, und Hentzau wollte gerade den Befehl geben hinunterzureiten, als der Jadegoyl wieder zwischen den Bäumen auftauchte.
Er scheute das Licht der Sonne schon und zog sich die Kapuze tief übers Gesicht, als er auf sein Pferd zuging. Er war durch den Kampf etwas unsicher auf den Beinen, aber er würde bald merken, dass sein neues Fleisch sehr viel schneller heilte als sein altes.
»Lass aufsitzen!«, raunte Hentzau Nesser zu. »Wir fangen uns ein Märchen.«
25
DER KÖDER
Felsen. Büsche. Wo konnten sie versteckt sein? Wie willst du das wissen, Jacob? Du bist kein Goyl. Vielleicht hättest du deinen Bruder fragen sollen.
Er zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und zwang das Pferd, langsam zu gehen. Woher hatten sie gewusst, dass sie durch die Schlucht kommen würden? Nicht jetzt, Jacob.
Er wusste nicht, was mehr schmerzte, die Schulter oder sein Gesicht. Menschenfleisch war schrecklich weich, wenn es auf Jadeknöchel traf. Für ein paar Augenblicke hatte er tatsächlich geglaubt, Will würde ihn totschlagen - und er war immer noch nicht sicher, wie viel von der Wut, die er in den Schlägen gespürt hatte, nicht die der Goyl, sondern die seines Bruders gewesen war.
Er trieb Wills Pferd durch den schäumenden Bach. Wasser stob ihm auf die fieberheiße Haut. Die Hufschläge hallten durch die Schlucht, und Jacob fragte sich schon, ob Will nicht doch nur das eigene steinerne Fleisch gewittert hatte, als sich links von ihm etwas zwischen den Felsen regte.
Jetzt. Er ließ dem Pferd die Zügel gehen. Es war ein brauner Wallach, nicht so schnell wie die Stute, aber ausdauernd, und Jacob war ein sehr guter Reiter.
Natürlich versuchten sie, ihm den Weg abzuschneiden. Aber wie er gehofft hatte, scheuten ihre Pferde auf dem Geröll, und der Braune preschte an ihnen vorbei und galoppierte hinaus in das nebelverhangene Tal. Erinnerungen sprangen Jacob an, als hätten sie zwischen den Bergen auf ihn gewartet. Glück und Liebe, Angst und Tod.
Die Einhörner hoben die Köpfe. Natürlich waren sie nicht weiß. Warum wurden die Dinge in der Welt, aus der er kam, so gern weiß gefärbt? Ihr Fell war braun, scheckig grau und fahlgelb wie die Herbstsonne, die über ihnen im Nebel trieb. Sie beobachteten ihn, aber noch schickte sich keines zum Angriff an.
Jacob blickte sich zu seinen Verfolgern um.
Es waren fünf. Den Offizier erkannte er sofort. Es war derselbe, der die Goyl bei der Scheune angeführt hatte. Seine jaspisbraune Stirn war zersplissen, als hätte jemand versucht, sie zu spalten, und eins der goldenen Augen war so trüb wie Milch. Sie folgten ihnen also tatsächlich.
Jacob beugte sich über den Pferdehals. Dem Wallach sanken die Hufe tief ein in dem feuchten Gras, aber zum Glück wurde er kaum langsamer.
Reite, Jacob. Lock sie fort, bevor dein Bruder sich ihnen womöglich anschließt.
Die Goyl kamen näher, aber sie schossen nicht. Natürlich nicht. Wenn sie Will wirklich für den Jadegoyl hielten, wollten sie ihn lebend.
Eines der Einhörner wieherte. Bleibt, wo ihr seid!
Ein Blick über die Schulter. Die Goyl hatten sich getrennt. Sie versuchten, ihn einzukreisen. Die Wunde schmerzte so sehr, dass Jacob alles vor den Augen schwamm, und für einen Moment glaubte er, in der Zeit zurückzufallen, und er sah sich wieder mit durchbohrtem Rücken im Gras liegen.
Schneller. Er musste schneller sein. Aber der Wallach atmete schwer, und die Goyl ritten längst nicht mehr die halb blinden Pferde, die sie unter der Erde züchteten. Einer kam ihm schon bedrohlich nahe. Es war der Offizier. Jacob wandte das Gesicht ab, aber die Kapuze rutschte ihm vom Kopf, als er gerade danach greifen wollte.
Die Verblüffung auf dem Jaspis-Gesicht verwandelte sich in Wut, dieselbe Wut, die Jacob im Gesicht seines Bruders gesehen hatte.
Das Spiel war vorbei.
Wo war Will? Jacob warf einen gehetzten Blick zurück. Der Goyloffizier sah in dieselbe Richtung. Sein Bruder galoppierte, den Zwerg vor sich, auf die Einhörner zu. Will ritt Claras Pferd und hatte ihr die Stute überlassen.
Neben ihr bewegte sich das Gras, als striche der Wind darüber. Fuchs. Fast so schnell wie die Pferde auf ihren Pfoten.
Jacob zog die Pistole, aber die linke Hand gehorchte ihm kaum noch, und mit der rechten war er ein wesentlich schlechterer Schütze. Trotzdem schoss er zwei Goyl aus dem Sattel, als sie auf Will zuhielten. Der Milchäugige legte auf ihn an, das Jaspisgesicht starr vor Hass. Die Wut ließ ihn vergessen, welchen Bruder er jagen sollte, doch sein Pferd stolperte in dem hohen Gras, und die Kugel ging fehl.
Schneller, Jacob. Er konnte sich kaum noch im Sattel halten, aber Will hatte die Einhörner fast erreicht, und Jacob betete, dass der Zwerg ihnen dieses Mal die Wahrheit gesagt hatte. Nun reite schont, dachte er verzweifelt, als Will plötzlich langsamer wurde. Doch sein Bruder zügelte das Pferd, und Jacob wusste, dass es nicht aus Sorge um ihn geschah. Will wandte sich im Sattel um und starrte die Goyl an, wie er es auf dem verlassenen Hof getan hatte.
Auch der Milchäugige hatte sich inzwischen wieder daran erinnert, wen er jagen sollte. Jacob legte auf ihn an, aber sein Schuss streifte ihn nur. Verdammte rechte Hand.
Und Will wendete das Pferd.
Jacob schrie seinen Namen.
Einer der Goyl hatte Will fast erreicht. Es war eine Frau. Amethyst in dunklem Jaspis. Sie zog den Säbel, als Clara ihr Pferd schützend vor Will trieb, aber Jacobs Kugel war schneller. Der Milchäugige schrie heiser auf, als die Goyl fiel, und trieb sein Pferd nur noch härter auf Jacobs Bruder zu. Bloß ein paar Meter noch. Der Zwerg starrte den Goyl entsetzt an. Doch Clara griff Will in die Zügel, und das Pferd, das sie so oft geritten hatte, gehorchte ihr, als sie es mit sich auf die Einhörner zuzog.
Die Herde hatte die Jagd so unbeteiligt beobachtet wie Menschen einen Schwarm streitender Spatzen. Jacob vergaß zu atmen, als Clara auf sie zuritt, doch diesmal hatte der Zwerg tatsächlich die Wahrheit gesagt. Die Einhörner ließen Clara und seinen Bruder passieren.
Erst als die Goyl sich ihnen näherten, griffen sie an.
Schrilles Wiehern erfüllte das Tal, schlagende Hufe, bäumende Körper. Jacob hörte Schüsse. Vergiss die Goyl, Jacob. Folge deinem Bruder!
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er auf die aufgebrachte Herde zuritt. Er glaubte zu spüren, wie die Einhörner ihm erneut den Rücken aufrissen und das eigene Blut ihm warm über die Haut rann. Nicht diesmal, Jacob. Tu, was der Zwerg gesagt hat: »Es ist ganz einfach. Schließ die Augen und haltet sie geschlossen, oder sie spießen euch auf wie Fallobst.«
Ein Horn streifte seinen Schenkel. Nüstern schnaubten ihm ins Ohr und die kalte Luft roch nach Pferd und Hirsch zugleich. Jacob, lass die Augen zu. Das Meer der struppigen Leiber nahm einfach kein Ende. Sein linker Arm war wie tot und er klammerte sich mit dem rechten an den Hals des Pferdes. Doch plötzlich hörte er statt schnaubender Nüstern den Wind in tausend Blättern, das Schlagen von Wasser und raschelndes Schilf.
Jacob öffnete die Augen und es war wie damals.
Alles war verschwunden. Die Goyl, die Einhörner, das neblige Tal. Stattdessen spiegelte sich der Abendhimmel in einem See. Auf dem Wasser trieben die Lilien, die ihn vor drei Jahren hergebracht hatten. Die Blätter der Weiden, die am Ufer standen, waren so grün, als wären sie gerade erst aus den Zweigen getrieben, und in der Ferne schwamm auf den Wellen die Insel, von der niemand zurückkam. Bis auf dich, Jacob.
Die warme Luft liebkoste seine Haut, und der Schmerz in seiner Schulter verebbte wie das Wasser, das an das schilfgesäumte Ufer schlug.
Er ließ sich von dem erschöpften Pferd rutschen. Clara und Fuchs liefen auf ihn zu. Nur Will stand am Seeufer und starrte zu der Insel hinüber. Er schien unverwundet, aber als er sich zu Jacob umwandte, war sein Blick aus Feuer, und die Jade war nur noch gefleckt von ein paar letzten Resten Menschenhaut.
»Da wären wir also. Zufrieden?« Valiant stand zwischen den Weiden und zupfte sich die Einhornhaare von den Ärmeln.
»Wer hat dir die Kette abgenommen?« Jacob versuchte, den Zwerg zu packen, aber Valiant wich ihm behände aus.
»Frauenherzen sind zum Glück so viel mitfühlender als der Stein, der dir in der Brust schlägt«, schnurrte er, während Clara verlegen Jacobs Blick erwiderte. »Und? Was regst du dich auf? Wir sind quitt! Aber die Einhörner haben mir den Hut zertrampelt.« Der Zwerg fuhr sich anklagend über das unbedeckte Haar. »Wenigstens den Schaden könntest du mir bezahlen!«
»Quitt? Willst du die Narben auf meinem Rücken sehen?« Jacob tastete über seine Schulter. Sie fühlte sich so unversehrt an, als hätte er nie gegen den Schneider gekämpft. »Mach, dass du fortkommst«, sagte er zu dem Zwerg. »Bevor ich dich doch noch erschieße.«
»Ach ja?« Valiant warf einen spöttischen Blick auf die Insel, die in der aufziehenden Dämmerung verschwamm. »Ich bin sicher, dein Name steht eher auf einem Grabstein als meiner. Gnädigste?«, sagte er und wandte sich zu Clara um. »Ihr solltet mit mir kommen. Das hier kann nur böse enden. Habt Ihr je von Schneewittchen gehört, der Menschenfrau, die mit ein paar Zwergenbrüdern gelebt hat, bevor sie sich mit einem Vorfahren der Kaiserin einließ? Sie ist kreuzunglücklich mit ihm geworden und ist ihm schließlich davongelaufen. Mit einem Zwerg!«
»Tatsächlich?« Clara schien nicht wirklich gehört zu haben, was der Zwerg ihr erzählt hatte.
Sie trat an das Ufer des blütenbedeckten Sees, als hätte sie alles vergessen, selbst Will, der nur ein paar Schritte entfernt von ihr stand. Zwischen den Weiden wuchsen Glockenblumen, dunkelblau wie der Abendhimmel, und als Clara eine von ihnen pflückte, gab die Blüte ein leises Klingen von sich. Es wischte ihr all die Angst und Traurigkeit vom Gesicht. Valiant ließ ein entnervtes Stöhnen hören.
»Feenzauber!«, murmelte er verächtlich. »Ich denke, ich empfehle mich besser.«
»Warte!«, sagte Jacob. »Es lag immer ein Boot am Ufer. Wo ist es?«
Aber als er sich umdrehte, war der Zwerg schon zwischen den Bäumen verschwunden - und Will starrte sein Spiegelbild auf den Wellen an. Jacob warfeinen Stein in das dunkle Wasser, doch das Abbild seines Bruders war schnell zurück, verzerrt und nur umso bedrohlicher.
»Ich hätte dich in der Schlucht fast erschlagen.« Wills Stimme klang inzwischen so rau, dass sie kaum noch von der eines Goyl zu unterscheiden war. »Sieh mich an! Egal, was du hier zu finden hoffst, es ist zu spät für mich. Gib es endlich zu.«
Clara blickte zu ihnen herüber. Der Feenzauber haftete ihr wie Pollenstaub auf der Haut. Nur Will schien ihn nicht zu spüren. Wo ist dein Bruder, Jacob? Wo hast du ihn gelassen?Das Rauschen der Blätter klang wie die Stimme ihrer Mutter.
Will wich vor Jacob zurück, als hätte er Angst, ihn wieder zu schlagen.
»Lass mich zu ihnen gehen.«
Hinter den Bäumen versank die Sonne. Ihr Licht trieb wie schmelzendes Gold auf den Wellen und die Feenlilien öffneten die Knospen und hießen die Nacht willkommen.
Jacob zog Will vom Wasser fort.
»Du wartest hier am Ufer auf mich«, sagte er. »Rühr dich nicht von der Stelle. Ich bin bald zurück, ich verspreche es.«
Die Füchsin presste sich gegen seine Beine und blickte mit gesträubtem Fell zu der Insel hinüber.
»Worauf wartest du, Fuchs?«, sagte Jacob. »Such das Boot.«
26
DIE ROTE FEE
Fuchs fand das Boot. Und diesmal bat sie Jacob nicht, sie mitzunehmen. Aber als er hineinstieg, biss sie ihn so fest in die Hand, dass ihm das Blut über die Finger rann.
»Damit du mich nicht vergisst!«, schnappte sie, und in ihren Augen war die Angst, dass er auch diesmal, wie vor drei Jahren, verloren gehen würde.
Die Feen hatten Fuchs fortgescheucht, nachdem sie Jacob halb tot in ihrem Wald gefunden hatten, und sie war bei dem Versuch, ihm auf die Insel zu folgen, fast ertrunken. Trotzdem hatte sie auf ihn gewartet, ein ganzes Jahr, während er sie und alles andere vergessen hatte. Nun saß sie wieder da, das Fell geschwärzt von der aufziehenden Nacht, selbst als er schon weit auf den See hinausgerudert war. Auch Clara stand zwischen den Weiden und diesmal blickte sogar Will ihm nach.
Es ist zu spät für mich. Selbst die Wellen, die gegen das schmale Boot schlugen, schienen es seinem Bruder nachzusprechen. Aber wer sollte den Fluch der Dunklen Fee besser brechen können als ihre Schwester? Jacob fasste nach dem Medaillon. Das Blütenblatt darin hatte er an dem Tag gepflückt, an dem er Miranda verlassen hatte. Es machte ihn für sie so unsichtbar, als hätte er mit der Liebe auch den Körper abgelegt, der sie geliebt hatte. Nichts als ein Blütenblatt. Sie selbst hatte ihm verraten, dass er sich so vor ihr verbergen konnte. Wenn sie liebten, verrieten sie all ihre Geheimnisse im Schlaf. Man musste nur die richtige Frage stellen.
Zum Glück machte das Blatt ihn auch für die anderen Feen unsichtbar. Jacob sah vier von ihnen im Wasser stehen, als er das Boot am Ufer der Insel im Schilf versteckte. Ihr langes Haar trieb auf den Wellen, als hätte die Nacht selbst es gesponnen, aber Miranda war nicht bei ihnen. Eine von ihnen blickte in seine Richtung, und Jacob war dankbar für den Blütenteppich, der seine Schritte fast so lautlos machte wie die von Fuchs. Er hatte gesehen, wie sie Männer in Disteln oder Fische verwandelten. Die Blüten waren blau wie die Glockenblume, die Clara gepflückt hatte, und auch das Medaillon konnte Jacob nicht gegen die Erinnerungen schützen, die ihr Duft heraufbeschwor. Vorsicht, Jacob! Er presste die Finger auf den blutigen Abdruck, den Fuchs' Zähne auf seinem Handrücken hinterlassen hatten.
Schon bald sah er das erste der Netze, die die Motten der Feen zwischen die Bäume spannen. Zelte, dünn wie Libellenhaut, in denen es selbst bei Tag so dunkel blieb, als hätte die Nacht sich zwischen ihnen verfangen. Die Feen schliefen nur in ihnen, wenn die Sonne am Himmel stand, aber Jacob wusste keinen besseren Ort, an dem er auf Miranda warten konnte.
Die Rote Fee. Unter diesem Namen hatte er zuerst von ihr gehört. Ein betrunkener Söldner hatte ihm von einem Freund erzählt, den sie auf die Insel gelockt und der sich nach seiner Rückkehr aus Sehnsucht nach ihr ertränkt hatte. Jeder kannte solche Geschichten über die Feen, obwohl die wenigsten sie je zu Gesicht bekamen. Manche hielten ihre Insel für das Reich der Toten, aber die Feen wussten nichts von Menschentod und Menschenzeit. Miranda nannte die Dunkle Fee nur deshalb Schwester, weil sie am selben Tag aus dem See gestiegen war. Wie sollte sie also verstehen, was er dabei empfand, dass seinem Bruder eine Haut aus Stein wuchs?
Das Zelt zwischen den Bäumen, das ein Jahr lang Anfang und Ende seiner Welt gewesen war, heftete sich an Jacobs Kleider, als er sich einen Weg durch die gesponnenen Wände suchte. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit, und er wich überrascht zurück, als er eine schlafende Gestalt auf dem Bett aus Moos sah, auf dem er selbst so oft gelegen hatte.
Sie war unverändert. Natürlich. Sie alterten nicht. Ihre Haut war blasser als die Lilien draußen auf dem See und ihr Haar so dunkel wie die Nacht, die sie liebte. Nachts waren auch ihre Augen schwarz, aber bei Tag wurden sie blau wie der Himmel oder grün wie das Wasser des Sees, wenn das Laub der Weiden sich darin spiegelte. So schön. Zu schön für Menschenaugen. Nicht berührt von der Zeit und dem Welken, das sie brachte. Doch irgendwann sehnte sich ein Mann danach, dieselbe Sterblichkeit, die er im eigenen Fleisch fühlte, auch in der Haut zu spüren, über die er strich.
Jacob zog das Medaillon unter dem Hemd hervor und löste es von der Kette an seinem Hals. Miranda regte sich, sobald er es neben sie legte, und Jacob trat einen Schritt zurück, als sie im Traum seinen Namen flüsterte. Es war kein guter Traum und schließlich schreckte sie auf und öffnete die Augen.
So schön. Jacob tastete nach den Bissspuren auf seiner Hand.
»Seit wann verschläfst du die Nacht?«
Für einen Moment schien sie zu glauben, dass er nur der Traum war, der sie geweckt hatte. Aber dann sah sie das Medaillon neben sich liegen. Sie öffnete es und nahm das Blütenblatt heraus.
»So also hast du dich vor mir versteckt.« Jacob war nicht sicher, was er auf ihrem Gesicht sah. Freude. Zorn. Liebe. Hass. Vielleicht von allem etwas. »Wer hat es dir verraten?«
»Du selbst.«
Ihre Motten schwärmten ihm ins Gesicht, als er einen Schritt auf sie zumachte.
»Du musst mir helfen, Miranda.«
Sie stand auf und wischte sich das Moos von der Haut.
»Ich habe die Nächte verschlafen, weil sie mich zu sehr an dich erinnerten. Aber das ist lange her. Nun ist es nur noch eine schlechte Angewohnheit.«
Ihre Motten färbten die Nacht mit ihren Flügeln rot.
»Ich sehe, du bist nicht allein gekommen«, sagte sie, während sie das Lilienblatt zwischen den Fingern zerrieb. »Und du hast einen Goyl hergebracht.«
»Er ist mein Bruder.« Diesmal ließen die Motten Jacob gewähren, als er auf sie zutrat. »Es ist ein Feenfluch, Miranda.«
»Aber du kommst zur falschen Fee.«
»Du musst einen Weg kennen, ihn aufzuheben!«
Sie schien aus den Schatten gemacht, die sie umgaben, dem Mondlicht und dem Nachttau auf den Blättern. Er war so glücklich gewesen, als es nichts sonst gegeben hatte. Aber es gab so viel anderes.
»Meine Schwester gehört nicht mehr zu uns.« Miranda wandte ihm den Rücken zu. »Sie hat uns für den Goyl verraten.«
»Dann hilf mir!«
Jacob streckte die Hand nach ihr aus, aber sie stieß sie zurück. »Warum sollte ich?«
»Ich musste fort. Ich konnte nicht für alle Ewigkeit hierbleiben!«
»Das hat meine Schwester auch gesagt. Aber Feen gehen nicht fort. Wir gehören dem Ort, der uns geboren hat. Du wusstest das ebenso gut wie sie.«
So schön. Die Erinnerungen spannen ein Netz in die Dunkelheit, in dem sie sich beide verfingen.
»Hilf ihm, Miranda. Bitte!«
Sie hob die Hand und fuhr ihm mit den Fingern über die Lippen.
»Küss mich.«
Es war, als küsste er die Nacht oder den Wind. Ihre Motten zerstachen ihm die Haut, und was er verloren hatte, schmeckte wie Asche in seinem Mund. Als er sie losließ, glaubte er in ihrem Blick für einen Moment sein eigenes Ende zu sehen.
Draußen bellte eine Füchsin. Fuchs behauptete immer, dass sie spürte, wenn er in Gefahr war.
Miranda wandte ihm den Rücken zu.
»Es gibt nur ein Mittel gegen diesen Fluch.«
»Was ist es?«
»Du musst meine Schwester vernichten.« Jacobs Herz setzte aus, nur für einen Schlag, aber er spürte die eigene Furcht wie Schweiß auf der Haut. Die Dunkle Fee.
»Sie verwandelt ihre Feinde in den Wein, den sie trinkt, oder in das Eisen, aus dem ihr Liehhaber Brücken baut.«
Selbst Chanutes Stimme klang heiser vor Angst, wenn er über sie sprach.
»Man kann sie nicht töten«, sagte er. »Ebenso wenig wie dich.«
»Für eine Fee gibt es schlimmere Dinge als den Tod.« Für einen Moment glich ihre Schönheit einer giftigen Blüte. »Wie viel Zeit bleibt deinem Bruder noch?«
»Zwei, vielleicht drei Tage.«
Stimmen drangen durch die Dunkelheit. Die anderen Feen. Jacob hatte nie herausgefunden, wie viele von ihnen es gab.
Miranda blickte auf das Bett, als erinnerte sie sich an die Zeit, in der sie es geteilt hatten. »Meine Schwester ist bei ihrem Geliebten, in der Hauptfestung der Goyl.«
Bis dorthin war es ein Ritt von mehr als sechs Tagen.
Das würde zu spät sein. Viel zu spät.
Jacob war nicht sicher, was er stärker empfand: Verzweiflung oder Erleichterung.
Miranda streckte die Hand aus. Eine ihrer Motten ließ sich darauf nieder.
»Du kannst immer noch rechtzeitig dort sein.« Die Motte spreizte die Flügel. »Wenn ich Zeit für dich gewinne.« Fuchs begann erneut zu bellen.
»Eine von uns hat einmal eine Prinzessin verflucht, an ihrem fünfzehnten Geburtstag zu sterben. Aber wir haben den Fluch aufgehalten. Durch einen tiefen Schlaf.«
Jacob sah das stille Schloss vor sich, eingehüllt in Dornen, und die reglose Gestalt in der Turmkammer.
»Sie ist trotzdem gestorben«, sagte er, »weil niemand sie geweckt hat.«
Miranda zuckte die Schultern. »Ich lasse deinen Bruder schlafen. Du musst dafür sorgen, dass er geweckt wird. Aber erst, nachdem du die Macht meiner Schwester gebrochen hast.«
Die Motte auf ihrer Hand putzte sich die Flügel.
»Das Mädchen, das bei euch ist: Sie gehört zu deinem Bruder, oder?«
Miranda fuhr mit dem nackten Fuß über den Boden und das Mondlicht zeichnete Claras Gesicht darauf.
»Ja«, sagte Jacob - und fühlte etwas, das er nicht verstand.
»Liebt sie ihn?«
»Ja. Ich denke schon.«
»Gut. Denn sonst wird er sich zu Tode schlafen.« Miranda wischte das Bild aus Mondlicht fort. »Bist du meiner Schwester je begegnet?«
Jacob schüttelte den Kopf. Er hatte unscharfe Fotos gesehen, ein gezeichnetes Porträt in einer Zeitung - die dämonische Geliebte, die Feenhexe, die Stein in Menschenfleisch wachsen ließ.
»Sie ist die Schönste von uns.« Miranda strich ihm übers Gesicht, als wollte sie sich an die Liebe erinnern, die sie gefühlt hatte. »Sieh sie nicht zu lange an«, sagte sie leise. »Und was immer sie verspricht - du musst genau das tun, was ich dir sage, oder dein Bruder ist verloren.«
Fuchs' Bellen drang wieder durch die Nacht. Es geht mir gut, Fuchs, dachte Jacob. Alles wird gut. Auch wenn er noch nicht verstand, wie.
Er griff nach Mirandas Hand. Sechs Finger, weißer als die Blüten draußen auf dem See. Sie ließ zu, dass er sie noch einmal küsste.
»Was, wenn ich als Preis für meine Hilfe verlange, dass du zurückkommst?«, flüsterte sie. »Würdest du es tun?«
»Verlangst du es?«, fragte er. Auch wenn er die Antwort fürchtete.
Sie lächelte.
»Nein«, sagte sie. »Mein Preis wird bezahlt, wenn du meine Schwester zerstörst.«
27
SO WEIT FORT
Will hatte den Blick noch nicht ein Mal von der Insel gewendet. Es tat Clara weh, die Furcht auf seinem Gesicht zu sehen - Furcht vor sich selbst, vor dem, was Jacob auf der Insel erfahren würde, aber vor allem davor, dass sein Bruder nicht zurückkommen und er allein bleiben würde mit der Haut aus Stein.
Er hatte sie vergessen. Aber Clara ging trotzdem zu ihm. Der Stein konnte den, den sie geliebt hatte, immer noch nicht völlig verbergen, und er war so allein.
»Jacob kommt bald zurück, Will. Ganz bestimmt.«
Er drehte sich nicht um.
»Bei Jacob weiß man nie, wann er zurückkommt«, sagte er nur. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Sie waren beide da: der Fremde aus der Höhle, dessen Kälte sie immer noch wie Gift auf der Zunge schmeckte, und der andere, der vor dem Zimmer seiner Mutter auf dem Krankenhauskorridor gestanden und ihr jedes Mal, wenn sie vorbeiging, zugelächelt hatte. Will. Sie vermisste ihn so sehr.
»Er wird zurückkommen«, sagte sie. »Ich weiß es. Und er wird einen Weg finden. Er liebt dich. Auch wenn er nicht besonders gut darin ist, es zu zeigen.«
Aber Will schüttelte den Kopf.
»Du kennst meinen Bruder nicht«, sagte er und kehrte dem See den Rücken zu, als wäre er es leid, sein Spiegelbild zu sehen. »Jacob hatte sich noch nie damit abfinden können, dass manche Geschichten kein gutes Ende nehmen. Oder dass Dinge und Menschen verloren gehen ...«
Er wandte das Gesicht ab, als erinnerte er sich an die Jade. Aber Clara sah sie nicht. Es war immer noch das Gesicht, das sie liebte. Der Mund, den sie so oft geküsst hatte. Selbst die Augen waren noch die seinen, trotz des Goldes. Aber als sie die Hand nach ihm ausstreckte, schauderte er, wie er es in der Höhle getan hatte, und die Nacht war wie ein schwarzer Fluss zwischen ihnen.
Will zog die Pistole, die Jacob ihm gegeben hatte, unter dem Mantel hervor.
»Hier, nimm«, sagte er. »Du wirst sie vielleicht brauchen, falls Jacob nicht zurückkommt und ich morgen deinen Namen nicht mehr weiß. Falls du ihn töten musst - den anderen mit dem Steingesicht -, sag dir einfach, dass er dasselbe mit mir getan hat.«
Sie wollte zurückweichen, aber Will hielt sie fest und drückte ihr die Pistole in die Hand. Er vermied es, ihre Haut zu berühren, aber er fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar.
»Es tut mir so leid!«, flüsterte er.
Dann ging er an ihr vorbei und verschwand unter den Weiden. Und Clara stand da und starrte die Pistole an. Bis sie an den See trat und sie in das dunkle Wasser warf.
28
NUR EINE ROSE
Jacob blieb die ganze Nacht. Auch wenn sie nach Asche schmeckte. Er löste schwarzes Haar aus der Dunkelheit und suchte nach Trost auf Mirandas weißer Haut. Erlaubte seinen Fingern, sich zu erinnern, und seinem Verstand, zu vergessen. Draußen lachten und flüsterten die anderen Feen, und Jacob fragte sich, ob Miranda ihn beschützen würde, falls sie ihn entdeckten. Aber es war ihm gleich. Alles war ihm gleich in dieser Nacht. Kein Morgen. Kein Gestern. Keine Brüder und Väter. Nur dunkles Haar und weiße Haut und rote Flügel, die etwas in die Nacht schrieben, das er nicht verstand.
Doch als selbst das Zelt sie nicht mehr vor dem Tag schützen konnte, begann der Biss auf seiner Hand zu schmerzen, und alles war zurück: die Angst, der Stein, das Gold in Wills Augen - und die Hoffnung, dass er doch noch einen Weg gefunden hatte, all dem ein Ende zu machen.
Miranda fragte nicht, ob er zurückkommen würde. Bevor er ging, ließ sie ihn nur wiederholen, was sie ihm über ihre dunkle Schwester verraten hatte. Wort für Wort.
Bruder. Schwester.
Die Lilien schlossen sich schon vor dem ersten Morgenlicht und Jacob sah auf dem Weg zum Boot keine andere Fee. Aber der Schaum, der draußen auf dem See trieb, kündigte an, dass das Wasser bald eine weitere gebären würde.
Will war nirgends zu sehen, als Jacob auf das andere Ufer zuruderte, aber Clara schlief zwischen den Weiden. Sie schreckte auf, als er das Boot an Land schob. Nach der Schönheit der Feen glich sie einer Wiesenblume in einem Strauß von Lilien. Doch sie schien weder ihre schmutzigen Kleider noch das Laub in ihrem Haar zu bemerken. Alles, was Jacob auf Claras Gesicht sah, war die Erleichterung darüber, dass er zurück war - und die Angst um seinen Bruder. »Dein Bruder wird sie brauchen. Und du auch.« Fuchs hatte wieder einmal recht gehabt. Sie hatte immer recht. Und diesmal hatte er zum Glück auf sie gehört.
Sie kam mit so gesträubtem Fell unter den Weidenzweigen hervor, als wüsste sie genau, warum er erst jetzt zurückkam.
»Das war eine lange Nacht«, sagte sie mürrisch. »Ich habe mir schon die Fische daraufhin angesehen, ob einer von ihnen dir ähnlich sieht.«
»Ich bin zurück, oder?«, antwortete Jacob. »Und sie wird ihm helfen.«
»Warum?«
»Warum? Was weiß ich? Weil sie es kann. Weil sie ihre Schwester nicht mag. Es ist mir gleich. Solange sie es nur tut!«
Fuchs sah zu der Insel hinüber, die Augen schmal vor Misstrauen. Aber Clara wirkte so erleichtert, dass alle Müdigkeit von ihrem Gesicht verschwand.
»Wann?«, fragte sie.
»Bald.«
Fuchs las Jacob vom Gesicht, dass das nicht alles war, doch sie schwieg. Sie roch, dass ihr die ganze Wahrheit nicht gefallen würde. Clara aber war viel zu glücklich, um das zu bemerken.
»Fuchs dachte, du hättest uns vergessen.« Will trat zwischen den Weiden hervor, und Jacob hatte für einen Moment Angst, dass er zu lange auf der Insel geblieben war. Die Jade war dunkler geworden und verschmolz mit dem Grün der Bäume, als hätte die Welt hinter dem Spiegel seinen Bruder endgültig zu einem Teil von sich gemacht. Sie hatte ihre Saat in Will gelegt, wie eine Schlupfwespe im Körper einer Raupe, und starrte Jacob mit goldenen Augen an, seinen Bruder zwischen den Zähnen. Aber er würde ihn befreien, mit derselben Waffe, die sie gegen ihn benutzt hatte: mit den Worten einer Fee.
»Wir müssen eine Rose finden«, sagte Jacob.
»Eine Rose? Das ist alles?« Das Jadegesicht war undurchdringlich. So vertraut und fremd zugleich.
»Ja. Sie wächst nicht weit von hier.« Und dann wirst du schlafen, Bruder, und ich muss die Dunkle Fee finden.
»Du kannst es nicht einfach verschwinden lassen.« Wie Will ihn ansah. Als erinnerte er sich an nichts mehr - und doch an alles, was sie je entzweit hatte.
»Warum nicht?«, gab Jacob zurück. »Ich habe gewusst, dass sie dir helfen kann. Tu einfach nur, was ich dir sage, und alles wird gut.«
Fuchs ließ ihn nicht aus den Augen.
Was hast du vor, Jacob Reckless?, fragte ihr Blick. Du hast Angst.
Und, Fuchs?, wollte er antworten. Das ist schließlich ein vertrautes Gefühl.
29
INS HERZ
Sie ritten am Seeufer entlang nach Norden. Die Zeit ertrank in Blütenduft und dem Licht, das sich auf dem Wasser brach, und Clara war zum ersten Mal bereit, dieser Welt all die Furcht und Finsternis zu vergeben. Alles würde gut werden. Alles.
Aber Jacob kehrte dem See bald den Rücken zu. Die Pferde versanken in Brombeeren und Farn und über ihnen färbten sich die Blätter gelb. Ein kühler Wind strich durch die Zweige, und Clara konnte hinter den Stämmen plötzlich wieder das Tal sehen, in dem die Einhörner grasten. Sie waren so weit entfernt, dass sie kaum zu sehen waren in dem Nebel, der immer noch zwischen den Bergen hing. Doch ihre Toten lagen zu Claras Füßen.
Ihre Skelette waren überall, Moos und Gras zwischen den Rippen, Spinnennetze in den leeren Augenhöhlen, die weißen Hörner noch auf der knochigen Stirn. Ein Friedhof der Einhörner. Vielleicht kamen sie zum Sterben unter die Bäume, weil es im Schutz der Zweige leichter fiel. Oder weil sie im Tod die Nähe der Feen suchten. Ranken mit weißen Blüten schlangen sich durch die Knochen, wie ein letzter Gruß, den sie ihren Wächtern geschickt hatten.
Jacob stieg vom Pferd und ging auf eins der Skelette zu. Eine rote Rose trieb ihm aus der Brust.
»Will, komm her.« Jacob winkte seinen Bruder an seine Seite.
Fuchs lief zwischen die Bäume und spähte hinüber zu den Einhörnern. Sie hob die Schnauze misstrauisch in den Wind.
»Es riecht nach Goyl.«
»Und? Will steht gleich hinter dir.« Jacob kehrte dem Tal den Rücken zu. »Pflück die Rose, Will.«
Will streckte die Hand aus und zog sie zurück. Er blickte auf seine versteinerten Finger. Dann sah er sich zu Clara um, als suchte er in ihrem Gesicht nach dem, der er einmal gewesen war.
Bitte, Will. Sie sprach es nicht aus, aber sie dachte es. Wieder und wieder. Tu, was dein Bruder sagt! Und zwischen all dem Blühen und dem Tod sah Will sie für einen kostbaren Moment so an, wie er es früher getan hatte. Alles wird gut.
Clara hörte den holzigen Stiel brechen, als er die Rose pflückte. Einer der Dornen stach ihn in den Finger, und Will betrachtete überrascht das bernsteinblasse Blut, das ihm aus der Jadehaut drang. Er ließ die Rose fallen und strich sich über die Stirn.
»Was ist das?«, stammelte er und sah seinen Bruder an. »Was hast du getan?«
Clara streckte die Hand nach ihm aus, aber Will wich vor ihr zurück. Er stolperte über eins der Skelette. Die Knochen brachen unter seinen Stiefeln wie morsches Holz.
»Will, hör zu!« Jacob griff nach seinem Arm. »Du musst schlafen. Ich brauche Zeit! Wenn du aufwachst, ist alles vorbei. Ich verspreche es.«
Aber Will stieß ihn so heftig zurück, dass Jacob unter den schützenden Bäumen hervor und hinaus in das offene Tal stolperte. In der Ferne hoben die Einhörner die Köpfe.
»Jacob!«, bellte Fuchs. »Komm zurück unter die Bäume!«
Jacob sah sich um. Das Bild prägte sich Clara für alle Zeit ein. Sein Blick zurück. Und dann der Schuss.
So scharf. Wie zersplitterndes Holz.
Die Kugel traf Jacob in die Brust.
Fuchs schrie auf, als er in das gelbe Gras fiel. Will rannte zu ihm, bevor Clara ihn aufhalten konnte. Er warf sich neben seinem Bruder auf die Knie und rief seinen Namen, aber Jacob rührte sich nicht. Blut sickerte durch sein Hemd, direkt über dem Herzen.
Der Goyl tauchte aus dem Nebel auf wie ein böser Traum, die Flinte noch in der Hand. Er hinkte, und neben ihm ging einer seiner Soldaten, das Mädchen, auf das Jacob geschossen hatte, als es Clara mit dem Säbel angegriffen hatte. Die Uniform, die sie trug, war feucht von ihrem farblosen Blut.
Fuchs sprang ihnen mit gebleckten Zähnen entgegen, aber der Goyl stieß sie nur mit dem Stiefel zur Seite, und Fuchs wechselte die Gestalt, als hätte der Schmerz ihr das Fell gestohlen. Sie duckte sich schluchzend ins Gras und Clara schlang schützend die Arme um sie.
Will kam auf die Füße, das Gesicht verzerrt vor Zorn. Er wollte nach der Flinte greifen, die Jacob hatte fallen lassen, aber er schwankte wie betäubt, und der Goyl packte ihn und setzte ihm sein Gewehr an den Kopf.
»Ganz ruhig«, sagte er, während das Mädchen die Pistole auf Clara richtete. »Ich hatte eine Rechnung mit deinem Bruder offen, aber dir werden wir kein Haar krümmen.«
Fuchs machte sich von Clara los und zerrte Jacob die Pistole aus dem Gürtel, aber die Goyl trat sie ihr aus der Hand. Und Will stand da und starrte auf seinen Bruder herab.
»Sieh ihn dir an, Nesser«, sagte der Goyl und zwang Wills Gesicht grob in seine Richtung. »Es ist tatsächlich Jade, die ihm wächst.«
Will versuchte, ihm den Kopf ins Gesicht zu stoßen, aber er war immer noch wie betäubt, und der Goyl lachte.
»Ja, du bist einer von uns«, sagte er. »Auch wenn du es noch nicht wahrhaben willst. Fessle ihm die Hände!«, befahl er dem Goylmädchen. Dann trat er auf Jacob zu und musterte ihn wie ein Jäger die erlegte Beute.
»Das Gesicht kommt mir bekannt vor«, sagte er. »Wie ist sein Name?«
Will antwortete ihm nicht.
»Was soll's«, sagte der Goyl und wandte sich um. »Ihr Weichhäute seht alle gleich aus. Fang ihre Pferde ein«, befahl er dem Mädchen und stieß Will auf Jacobs Stute zu.
»Wo bringt ihr ihn hin?« Clara erkannte ihre eigene Stimme kaum.
Der Goyl drehte sich nicht um.
»Vergiss ihn!«, sagte er über die Schulter. »So, wie er dich vergessen wird.«
30
EIN LEICHENTUCH AUS ROTEN LEIBERN
Die Schusswunde sah so viel harmloser aus als die Wunden, die die Einhörner gerissen hatten. Aber damals hatte Jacob noch geatmet und Fuchs hatte seinen flachen Puls gespürt.
Nun war er einfach nur still.
So viel Schmerz. Sie wollte sich die Zähne ins eigene Fleisch schlagen, nur um ihn nicht mehr zu spüren. Das Fell wollte nicht zurückkommen und sie fühlte sich so schutzlos und verloren wie ein ausgesetztes Kind.
Clara kauerte neben ihr im Gras, die Arme um die Knie geschlungen. Sie vergoss keine Träne. Sie saß einfach nur da, als hätte ihr jemand das Herz herausgeschnitten.
Clara sah den Zwerg zuerst. Er stiefelte mit so unschuldigem Gesicht auf sie zu, als hätten sie ihn beim Pilzesammeln überrascht, aber nur ein Zwerg konnte den Goyl verraten haben, dass der Friedhof der Einhörner der einzige Ausgang des Feenreichs war.
Fuchs wischte sich die Tränen aus den Augen und tastete in dem feuchten Gras nach Jacobs Pistole.
»Halt, halt! Was soll das?«, schrie Valiant, als sie auf ihn anlegte, und duckte sich hastig hinter den nächsten Busch. »Konnte ich wissen, dass sie ihn gleich erschießen? Ich dachte, sie hätten es nur auf seinen Bruder abgesehen!«
Clara kam auf die Füße.
»Erschieß ihn, Fuchs«, sagte sie. »Wenn du es nicht machst, tue ich es.«
»Wartet!«, zeterte der Zwerg. »Sie haben mich auf dem Rückweg zur Schlucht gefangen! Was hätte ich tun sollen? Mich auch umbringen lassen?«
»Und? Warum bist du noch hier?«, fuhr Fuchs ihn an. »Vorm Heimweg ein bisschen Leichen fleddern?«
»Was für eine Unterstellung! Ich bin hier, um euch zu retten!«, gab der Zwerg mit ehrlicher Entrüstung zurück. »Zwei Mädchen, ganz allein und verlassen ...«
»... so verlassen, dass wir für die Hilfe sicher bezahlen werden?«
Das Schweigen, das ihr antwortete, war verräterisch, und Fuchs hob erneut die Pistole. Wenn nur all die Tränen nicht gewesen wären. Sie ließen alles verschwimmen, das neblige Tal, den Busch, hinter dem der verräterische Zwerg kauerte - und Jacobs stilles Gesicht. »Fuchs!«
Clara griff nach ihrem Arm. Eine rote Motte hatte sich auf Jacobs zerschossener Brust niedergelassen. Eine zweite setzte sich auf seine Stirn.
Fuchs ließ die Pistole fallen.