»Verschwindet!«, rief sie mit tränenerstickter Stimme. »Und richtet Eurer Herrin aus, dass er nie mehr zu ihr zurückkommt!« Sie beugte sich über Jacob. »Hab ich es dir nicht gesagt?«, flüsterte sie ihm zu. »Geh nicht zurück zu den Feen! Diesmal wird es dich töten!«

Eine weitere Motte ließ sich auf dem reglosem Körper nieder. Mehr und mehr flatterten zwischen den Bäumen hervor. Sie ließen sich nieder wie Blüten, die aus Jacobs zerschossenem Fleisch sprossen.

Fuchs versuchte, die Motten fortzuscheuchen, aber es waren einfach zu viele, und schließlich gab sie auf und sah zu, wie sie Jacob mit ihren Flügeln zudeckten, als wollte die Rote Fee ihn noch im Tod für sich beanspruchen.

Clara kniete sich an ihre Seite und schlang die Arme um sie.

»Wir müssen ihn begraben.«

Fuchs befreite sich aus ihrer Umarmung und presste das Gesicht gegen Jacobs Brust. Begraben.

»Ich mach das.« Der Zwerg hatte sich tatsächlich näher getraut. Er hob die Flinte auf, die Jacob hatte fallen lassen, und schlug den Lauf mit der bloßen Hand so mühelos flach, als wäre das Metall Kuchenteig.

»Was für eine Verschwendung!«, brummte er, während er die Flinte zum Blatt einer Schaufel umformte. »Ein Kilo roter Mondstein, und keiner wird es sich verdienen!«

Der Zwerg hob das Grab so mühelos aus, als hätte er schon viele gegraben. Fuchs aber saß da, die Arme um Clara geschlungen, und blickte auf Jacobs stilles Gesicht. Die Motten bedeckten ihn immer noch wie ein Leichentuch, als der Zwerg seine Schaufel ins Gras warf und sich die Erde von den Fingern wischte.

»Gut, hinein mit ihm«, sagte er und beugte sich über Jacob, »aber vorher sehen wir nach, was er in den Taschen hat. Warum sollten wir seine schönen Goldtaler in der Erde verrotten lassen.«

Fuchs' Fell kam auf der Stelle zurück.

»Rühr ihn nicht an!«, fauchte sie und schnappte nach Valiants gierigen Fingern.

Beiß ihn, Fuchs. Beiß, so fest du kannst. Vielleicht lindert das den Schmerz.

Der Zwerg versuchte, sie mit der Flinte abzuwehren, doch Fuchs zerriss ihm die Jacke und sprang nach seiner Kehle, bis Clara ihr ins Fell griff und sie zurückzerrte.

»Fuchs, lass ihn!«, flüsterte sie und drückte ihren zitternden Körper an sich. »Er hat recht. Wir werden Geld brauchen. Und Jacobs Waffen, den Kompass ... Alles, was er bei sich hatte.«

»Wozu?«

»Um Will zu finden.« Wovon redete sie?

Hinter ihnen stieß der Zwerg ein ungläubiges Lachen aus. »Will? Es gibt keinen Will mehr.«

Aber Clara beugte sich über Jacob und schob die Hand in seine Manteltasche. »Wir geben dir alles, was er bei sich hatte, wenn du uns hilfst, seinen Bruder zu finden. Er hätte es so gewollt.«

Sie zog das Taschentuch aus Jacobs Manteltasche und zwei Goldtaler fielen ihm auf die Brust. Die Motten wirbelten auf wie Herbstlaub, in das der Wind fuhr.

»Seltsam, wie wenig ähnlich sie sich sahen«, sagte Clara, während sie Jacob das dunkle Haar aus der Stirn strich. »Hast du Geschwister, Fuchs?«

»Drei Brüder.«

Fuchs rieb den Kopf an Jacobs lebloser Hand. Eine letzte Motte erhob sich von seiner Brust und sie fuhr zurück. Durch den reglosen Körper lief ein Schaudern. Die Lippen rangen nach Atem und seine Hände griffen in das kurze Gras.

Jacob!

Fuchs sprang ihn so ungestüm an, dass er aufstöhnte.

Kein Grab. Keine feuchte Erde auf seinem Gesicht! Sie biss ihn ins Kinn und in die Wangen. Oh, sie wollte ihn auffressen vor Liebe.

»Fuchs! Was soll das?« Jacob hielt sie fest und setzte sich auf.

Clara wich vor ihm zurück wie vor einem Geist und der Zwerg ließ die Flinte fallen.

Aber Jacob saß nur da und musterte sein blutiges Hemd. »Wessen Blut ist das?«

»Deins!« Fuchs schmiegte sich an seine Brust, um seinen Herzschlag zu spüren. »Der Goyl hat dich erschossen!«

Er blickte sie ungläubig an. Dann knöpfte er sich das blutgetränkte Hemd auf. Aber über seinem Herzen war statt einer Wunde nur der blassrote Abdruck einer Motte zu sehen.

»Du warst tot, Jacob.« Clara kämpfte mit den Worten, als müsste ihre Zunge nach jeder Silbe suchen. »Tot.«

Jacob berührte den Abdruck auf seiner Brust. Er war immer noch nicht ganz zurück. Fuchs sah es ihm an. Aber plötzlich blickte er sich suchend um.

»Wo ist Will?«

Er kam mühsam auf die Füße, als er den Zwerg hinter sich stehen sah.

Valiant schenkte ihm sein breitestes Lächeln. »Diese Fee muss wirklich einen Narren an dir gefressen haben. Ich habe gehört, dass sie ihre Geliebten vom Tod zurückbringen, aber dass sie es auch für die tun, die ihnen davonlaufen ...« Er schüttelte den Kopf und hob die verformte Flinte auf.

»Wo ist mein Bruder?« Jacob machte drohend einen Schritt auf den Zwerg zu, aber Valiant brachte sich mit einem Satz über das leere Grab in Sicherheit.

»Langsam, langsam!«, rief er und hielt Jacob drohend die Flinte entgegen. »Wie soll ich dir das verraten, wenn du mir vorher den Hals umdrehst?«

Clara schob Jacob das Taschentuch und die zwei Taler zurück in die Tasche. »Es tut mir leid. Ich wusste nicht, wie ich Will ohne ihn finden soll.« Sie verbarg das Gesicht an seiner Schulter. »Ich dachte, ich hätte euch beide verloren.«

Jacob strich ihr tröstend übers Haar, aber er ließ Valiant nicht aus den Augen. »Keine Sorge. Wir finden Will. Ich verspreche es dir. Dafür brauchen wir den Zwerg nicht.«

»Ach nein?« Valiant brach den verbogenen Lauf der Flinte ab wie einen morschen Ast. »Sie bringen deinen Bruder in die Königsfestung. Der letzte Mensch, der sich dort eingeschlichen hat, war ein kaiserlicher Spion. Sie haben ihn in Bernstein gegossen. Du kannst ihn gleich neben dem Haupttor besichtigen. Abscheulicher Anblick.«

Jacob hob seine Pistole auf und schob sie in den Gürtel. »Aber du weißt natürlich trotzdem einen Weg hinein.«

Valiant verzog den Mund zu einem so selbstzufriedenen Lächeln, dass Fuchs die Zähne bleckte. »Sicher.«

Jacob musterte den Zwerg wie eine giftige Schlange.

»Wie viel?«

Valiant bog die abgebrochene Flinte zurecht. »Dieser Goldbaum, den du letztes Jahr der Kaiserin verkauft hast ... Es heißt, sie hat dir einen Ableger überlassen.«

Zum Glück bemerkte er den Blick nicht, den Fuchs Jacob zuwarf. Der Baum wuchs hinter der Ruine, zwischen den niedergebrannten Ställen, und bisher war das einzige Gold, das er regnete, sein übel riechender Blütenstaub. Aber Jacob brachte trotzdem ein empörtes Gesicht zustande.

»Das ist ein unverschämter Preis.«

»Angemessen.« Valiants Augen leuchteten, als spürte er das Gold schon auf die Schultern prasseln. »Und die Füchsin muss mir den Baum selbst dann zeigen, wenn du nicht lebend aus der Festung zurückkommst. Darauf will ich dein Ehrenwort.«

»Ehrenwort?« Fuchs ließ ein Knurren hören. »Es wundert mich, dass deine Zunge bei dem Wort keine Blasen bekommt!«

Der Zwerg schenkte ihr ein verächtliches Lächeln. Und Jacob streckte ihm die Hand hin.

»Gib ihm dein Wort, Fuchs«, sagte er. »Was immer passiert, ich bin sicher, er wird sich den Baum verdient haben.«


31


DUNKLES GLAS


Ohne die Pferde dauerte es Stunden, bis sie endlich eine Straße erreichten, die aus dem Tal hinauf in die Berge führte, und Jacob musste Valiant auf dem Rücken tragen, damit er sie nicht zusätzlich aufhielt. Ein Bauer nahm sie schließlich auf seinem Karren mit in den nächsten Ort, wo Jacob zwei neue Pferde und einen Esel für den Zwerg kaufte. Die Pferde waren nicht allzu schnell, aber sie waren die steilen Bergpfade gewohnt, und Jacob hielt erst an, als die Dunkelheit sie immer öfter vom Weg abkommen ließ.

Er fand einen Platz unter einem Felsvorsprung, der Schutz vor dem kalten Wind bot, und Valiant schnarchte schon bald so laut, als läge er in einem der weichen Betten, für die die Gasthäuser der Zwerge berühmt waren. Fuchs huschte davon, um zu jagen, und Jacob riet Clara, sich hinter den Pferden schlafen zu legen, damit ihre Wärme sie schützte. Er selbst aber zündete sich mit dem trockenen Holz, das er zwischen den Felsen fand, ein Feuer an und versuchte, etwas von dem Frieden wiederzufinden, den er auf der Insel gefühlt hatte. Er ertappte sich immer wieder dabei, dass er über das getrocknete Blut auf seinem Hemd strich, doch alles, woran er sich erinnerte, war Wills anklagender Blick, nachdem die Rose ihn gestochen hatte, und dann Fuchs, die ihm erleichtert die Schnauze ins Gesicht stieß. Dazwischen war nichts, nur eine Ahnung von Schmerz und Dunkelheit. Und sein Bruder war fort.

»Wenn du aufwachst, ist alles vorbei. Ich verspreche es.«

Wie, Jacob? Selbst wenn der Zwerg ihn nicht wieder verriet und er die Dunkle Fee in der Festung fand. Wie sollte er ihr nah genug kommen, um sie zu berühren oder gar auszusprechen, was ihre Schwester ihm verraten hatte, bevor sie ihn tötete?

Denk nicht, Jacob. Tu es einfach.

Er brannte vor Ungeduld, als hätte der Tod seine alte Unrast nur schlimmer gemacht. Er wollte den Zwerg wachrütteln, weiterreiten.

Weiter, Jacob. Immer weiter. So, wie du es seit Jahren tust. Der Wind fuhr in das Feuer und er knöpfte sich den Mantel über dem blutigen Hemd zu. »Jacob?«

Clara stand hinter ihm. Sie hatte sich eine der Pferdedecken um die Schultern gelegt, und es fiel ihm auf, dass ihr Haar länger geworden war.

»Wie geht es dir?« Aus ihrer Stimme klang immer noch das ungläubige Staunen darüber, dass er am Leben war.

»Gut«, gab er zurück. »Willst du meinen Puls fühlen, um dich zu überzeugen?«

Sie musste lächeln, aber die Sorge in ihrem Blick blieb.

Über ihnen schrie eine Eule. In der Spiegelwelt hielt man sie für die Seelen toter Hexen. Clara kniete sich neben ihn auf die kalte Erde und hielt die Hände über die wärmenden Flammen.

»Glaubst du immer noch, dass du Will helfen kannst?«

Sie sah furchtbar müde aus.

»Ja«, sagte er. »Aber glaub mir, mehr willst du nicht wissen. Es würde dir nur Angst machen.«

Sie blickte ihn an. Ihre Augen waren so blau wie die seines Bruders. Bevor sie im Gold ertrunken waren.

»Hast du Will deshalb nicht gesagt, wozu er die Rose pflücken sollte?« Der Wind wehte ihr ein paar Funken ins Haar. »Ich glaube, dein Bruder weiß mehr über Angst als du.«

Worte. Nichts weiter. Aber sie machten dunkles Glas aus der Nacht und Jacob sah sein eigenes Gesicht darin.

»Ich weiß, warum du hier bist.« Clara sprach mit so abwesender Stimme, als spräche sie nicht über ihn, sondern über sich selbst. »Diese Welt macht dir nicht halb so viel Angst wie die andere. Du hast hier nichts und niemanden zu verlieren, außer Fuchs, und die macht sich mehr Sorgen um dich als du um sie. Alles, was wirklich Angst macht, hast du hinter dem Spiegel gelassen. Aber dann ist Will hergekommen und hat alles mitgebracht.«

Sie richtete sich wieder auf und wischte sich die Erde von den Knien.

»Was immer du vorhast, bitte pass auf dich auf. Du machst nichts wieder gut, indem du dich für Will umbringen lässt. Aber falls es einen anderen Weg gibt, irgendeinen Weg, ihn wieder zu dem zu machen, der er war, lass mich dabei helfen! Auch wenn du denkst, dass es mir Angst machen wird. Du bist nicht der Einzige, der ihn nicht verlieren will. Und wozu sonst bin ich noch hier?«

Clara ließ ihn allein, bevor er ihr antworten konnte. Und Jacob wünschte sie weit fort. Und war froh, dass sie da war. Und sah sein Gesicht in dem dunklen Glas der Nacht. Unverzerrt. Wie sie es gemalt hatte.


32


DER FLUSS


Sie brauchten noch vier Tage, um das Gebirge zu erreichen, das die Goyl ihre Heimat nannten. Frostige Tage und kalte Nächte. Zu viel Regen und feuchte Kleider. Eines der Pferde verlor ein Eisen, und der Schmied, zu dem sie es brachten, erzählte Clara von einem Blaubart, der im nächsten Ort drei Mädchen, kaum älter als sie, von ihren Vätern gekauft und in seinem Schloss getötet hatte. Clara lauschte ihm mit ausdruckslosem Gesicht, aber Jacob las ihr von der Stirn, dass sie ihre eigene Geschichte inzwischen für fast ebenso finster hielt.

»Was macht sie noch hier?«, fragte Valiant ihn irgendwann mit gesenkter Stimme, als Clara am Morgen vor Müdigkeit kaum auf ihr Pferd kam. »Was treibt ihr Menschen nur mit euren Frauen? Sie gehört in ein Haus. Schöne Kleider, Diener, Kuchen, ein weiches Bett, das ist es, was sie braucht.«

»Und einen Zwerg zum Ehemann und ein goldenes Schloss vor der Tür, zu dem du den Schlüssel hast«, gab Jacob zurück.

»Warum nicht?«, erwiderte Valiant - und schenkte Clara sein umwerfendstes Lächeln.

Die Nächte waren so kalt, dass sie in Gasthöfen übernachteten. Clara teilte sich das Bett mit Fuchs, während Jacob neben dem schnarchenden Zwerg lag, aber er schlief nicht nur deshalb unruhig. In seinen Träumen erstickten ihn rote Motten, und wenn er schweißgebadet aus dem Schlaf fuhr, schmeckte er das eigene Blut im Mund.


Am Abend des vierten Tages sahen sie die Türme, die die Goyl entlang ihrer Grenzen bauten. Schlank wie Tropfsteinsäulen, mit faserigen Mauern und Fenstern aus Onyx, aber Valiant kannte einen Weg durch die Berge, der sie umging.

Früher waren die Goyl in diesem Landstrich nur ein Schrecken von vielen gewesen, den man in einem Atemzug mit Menschenfressern und Braunen Wölfen nannte. Aber ihr schlimmstes Verbrechen war schon immer gewesen, dass sie allzu menschlich aussahen. Sie waren die verabscheuten Zwillinge. Die steinernen Vettern, die im Dunkeln hausten. Nirgendwo hatte man sie gnadenloser gejagt als in den Bergen, aus denen sie stammten, und die Goyl zahlten inzwischen mit gleicher Münze zurück. Ihre Herrschaft war nirgends mitleidloser als in ihrer alten Heimat.

Valiant mied die Straßen, die ihre Truppen benutzten, aber trotzdem gerieten sie immer wieder in ihre Patrouillen. Der Zwerg stellte Jacob und Clara als reiche Klienten vor, die beabsichtigten, nah der Königsfestung eine Glasfabrik zu bauen. Jacob hatte Clara einen der mit Goldfäden bestickten Röcke gekauft, die die wohlhabenderen Frauen in dieser Gegend trugen, und seine eigenen Kleider gegen die eines Kaufmanns eingetauscht. Er erkannte sich selbst kaum in dem Mantel mit dem pelzbesetzten Kragen und den weichen grauen Hosen, und für Clara war das Reiten in dem weiten Rock noch mühsamer, aber die Goyl winkten sie jedes Mal durch, wenn Valiant seine Geschichte erzählte.

An einem Abend, der nach Schnee roch, erreichten sie endlich den Fluss, hinter dem die Königsfestung lag. Die Fähre legte in Blenheim ab, einem Ort, den die Goyl schon vor Jahren eingenommen hatten. Fast die Hälfte der Häuser hatte zugemauerte Fenster. Die Besatzer hatten viele Straßen überdacht, um sich vor dem Tageslicht zu schützen, und hinter der Hafenmauer gab es einen bewachten Einstieg, der zeigte, dass Blenheim inzwischen auch ein unterirdisches Viertel hatte.

Während Fuchs zwischen den Häusern verschwand, um eines der mageren Hühner zu fangen, die auf dem Kopfsteinpflaster herumpickten, ging Jacob mit Valiant und Clara hinunter zum Fluss. Der Abendhimmel spiegelte sich in dem trüben Wasser und am anderen Ufer klaffte in der Bergflanke ein quadratisches Tor.

»Ist das der Eingang zur Festung?«, fragte Jacob den Zwerg. Aber Valiant schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist nur eine der Städte, die sie überirdisch angelegt haben. Die Festung liegt weiter landeinwärts und so tief unter der Erde, dass du in ihr das Atmen verlernst.«

Jacob band die Pferde an und ging mit Clara zum Anleger hinunter. Der Fährmann spannte schon die Kette vor. Er war fast so hässlich wie die Trolle im Norden, die vor ihrem eigenen Spiegelbild erschraken, und sein Boot hatte schon bessere Tage gesehen. Der flache Rumpf war mit Metall beschlagen, und der Fährmann verzog den Mund zu einem verächtlichen Lächeln, als Jacob ihn fragte, ob er sie noch vor der Nacht übersetzen konnte.

»Dieser Fluss ist kein gastlicher Ort, wenn es dunkel wird.« Er sprach so laut, als wollte er auch am anderen Ufer zu hören sein. »Und ab morgen ist die Überfahrt verboten, weil der gekrönte Goyl sein Nest verlässt, um zu seiner Hochzeit zu fahren.«

»Hochzeit?«

Jacob warf Valiant einen fragenden Blick zu, aber der Zwerg zuckte die Schultern.

»Wo seid ihr gewesen?«, höhnte der Fährmann. »Eure Kaiserin kauft sich Frieden von den Steingesichtern, indem sie dem König ihre Tochter gibt. Morgen werden sie wie Termiten aus ihren Löchern schwärmen, und der Goyl wird in seinem Teufelszug nach Vena fahren, um die schönste aller Prinzessinnen mit sich unter die Erde zu nehmen.«

»Reist die Fee mit ihm?«, fragte Jacob.

Valiant warf ihm einen neugierigen Blick zu.

Aber der Fährmann zuckte nur die Schultern. »Sicher. Der Goyl geht nirgendwohin ohne sie. Nicht mal zur Hochzeit mit einer anderen.«

Und wieder läuft dir die Zeit davon, Jacob.

Er schob die Hand in die Tasche. »Hast du heute einen Goyloffizier übergesetzt?«

»Was?« Der Fährmann hielt die Hand ans Ohr.

»Einen Goyloffizier. Jaspishaut, ein Auge fast blind. Er hatte einen Gefangenen dabei.«

Der Fährmann blickte hinüber zu dem Goylposten, der hinter der Mauer Wache stand, aber er war weit entfernt und kehrte ihnen den Rücken zu. »Wieso? Bist du einer von denen, die sie immer noch jagen?« Der Fährmann sprach immer noch so laut, dass Jacob dem Posten einen besorgten Blick zuwarf. »Sein Gefangener könnte dir viel Geld einbringen. Er hatte eine Farbe, die ich noch bei keinem von ihnen gesehen habe.«

Jacob hätte ihm zu gern in sein hässliches Gesicht geschlagen. Stattdessen zog er einen Goldtaler aus dem Taschentuch.

»Du bekommst einen zweiten am anderen Ufer, wenn du uns noch heute übersetzt.«

Der Fährmann starrte begierig auf den Taler, aber Valiant griff nach Jacobs Arm und zog ihn zur Seite.

»Lass uns bis morgen warten!«, zischte er ihm zu. »Es wird schon dunkel und der Fluss wimmelt von Loreley.«

Loreley. Jacob blickte über das träge dahinfließende Wasser. Seine Großmutter hatte manchmal ein Lied mit demselben Namen gesungen. Der Text hatte ihn als Kind schaudern lassen, aber die Geschichten, die man in dieser Welt von den Loreley erzählte, waren noch wesentlich finsterer.

Trotzdem.

Er hatte keine Wahl.

»Keine Sorge!« Der Fährmann streckte ihm die schwielige Hand hin. »Wir werden sie schon nicht wecken!«

Aber als Jacob den Goldtaler hineinfallen ließ, griff er in die ausgebeulten Taschen und drückte ihm und Valiant Wachspfropfen in die Hand. Sie sahen aus, als hätten sie schon in vielen Ohren gesteckt.

»Nur zur Vorsicht. Man kann ja nie wissen.«

»Ihr braucht keine!« Er schenkte Clara ein verschlagenes Lächeln. »Die Loreley haben es nur auf Männer abgesehen.«

Fuchs tauchte erst auf, als sie die Pferde schon auf die Fähre führten. Sie zupfte sich ein paar Federn aus dem Fell, bevor sie auf das flache Boot sprang. Die Pferde waren unruhig, aber der Fährmann schob den Goldtaler in seine Tasche und löste die Seile.

Die Fähre trieb auf den Fluss hinaus. Hinter ihnen lösten sich die Häuser von Blenheim in der Dämmerung auf und das einzige Geräusch in der abendlichen Stille war das Schlagen des Wassers gegen den Fährenrumpf. Das andere Ufer kam langsam näher und der Fährmann zwinkerte Jacob zuversichtlich zu. Aber die Pferde waren immer noch unruhig und Fuchs stand mit aufgestellten Ohren da.

Eine Stimme wehte über den Fluss.

Zuerst klang sie wie die eines Vogels, doch dann immer mehr wie die einer Frau. Die Stimme kam von einem Felsen, der links von ihnen aus dem Wasser ragte, so grau, als wäre die Dämmerung zu Stein geworden. Eine Gestalt löste sich davon und glitt in den Fluss. Eine zweite folgte. Sie kamen von überall.

Valiant stieß einen Fluch aus. »Was habe ich dir gesagt?«, fuhr er Jacob an. »Schneller!«, rief er dem Fährmann zu. »Nun mach schon.«

Aber der schien weder den Zwerg noch die Stimmen zu hören, die immer lockender über das Wasser klangen. Erst als Jacob ihm die Hand auf die Schulter legte, fuhr er herum.

»Schwerhörig! Der verschlagene Hund ist fast so taub wie ein toter Fisch!«, schrie Valiant und stopfte sich hastig die Wachspfropfen in die Ohren.

Der Fährmann zuckte nur die Achseln und klammerte sich fest an sein Ruder, und Jacob fragte sich, wie oft er schon ohne seine Passagiere zurückgekommen war, während er sich das schmutzige Wachs in die Ohren schob.

Die Pferde scheuten. Er konnte sie kaum bändigen. Das letzte Tageslicht schwand, und das andere Ufer kam so langsam näher, als triebe das Wasser sie wieder zurück. Clara trat dicht an seine Seite, und Fuchs stellte sich schützend vor ihn, obwohl sich ihr das Fell vor Angst sträubte. Die Stimmen wurden so laut, dass Jacob sie trotz der Pfropfen hörte. Sie lockten ihn zum Wasser. Clara zog ihn von der Reling zurück, aber der Gesang drang ihm durch die Haut wie süßes Gift. Köpfe tauchten aus den Wellen auf. Haar trieb wie Schilf auf dem Wasser, und als Clara ihn für einen Augenblick losließ, um sich selbst die Hände auf die schmerzenden Ohren zu pressen, spürte Jacob, dass seine Finger nach den schützenden Pfropfen griffen und sie über Bord warfen.

Die singenden Stimmen schnitten ihm wie honigtriefende Messer ins Hirn. Clara versuchte erneut, ihn festzuhalten, als er auf den Fährenrand zutaumelte, aber Jacob stieß sie so unsanft zurück, dass sie gegen den Fährmann stolperte.

Wo waren sie? Er beugte sich über das Wasser. Zuerst sah er nur sein eigenes Spiegelbild, doch plötzlich verschmolz es mit einem Gesicht. Es glich dem einer Frau, aber es war nasenlos, mit Augen aus Silber und Fangzähnen, die sich über die blassgrünen Lippen schoben. Arme streckten sich aus dem Fluss und Finger krallten sich um Jacobs Handgelenk. Eine andere Hand griff ihm ins Haar. Wasser schwappte über den Fährenrand. Sie waren überall, streckten die Arme nach ihm aus, die fischigen Leiber halb aus dem Wasser gestemmt, die Zähne gebleckt. Loreley. So viel schlimmer als das Lied. Die Wirklichkeit war immer schlimmer.

Fuchs biss fest in einen der schuppigen Arme, die Jacob gepackt hielten, doch die anderen Loreley zerrten ihn über die Reling. Er verlor den Halt, sosehr er sich auch wehrte, aber plötzlich hörte er einen Schuss, und eine der Nixen versank mit zerschossener Stirn in dem trüben Wasser.

Clara stand hinter ihm und hielt die Pistole, die er ihr gegeben hatte. Sie erschoss eine weitere Loreley, die versuchte, den Zwerg ins Wasser zu zerren. Der Fährmann tötete zwei mit einem Messer, und Jacob selbst erschoss eine, die die Krallen in Fuchs' Fell geschlagen hatte. Als die toten Leiber davontrieben, wichen die anderen Loreley zurück und machten sich über ihresgleichen her.

Clara ließ bei dem Anblick die Pistole fallen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen, während Jacob und Valiant die scheuenden Pferde einfingen und der Fährmann das wild schlingernde Boot auf den Anleger zusteuerte. Die Loreley schrien ihnen wütend nach, aber ihre Stimmen klangen nur noch wie ein Schwarm keifender Möwen.

Sie schrien auch noch, als sie die Pferde ans Ufer führten. Und der Fährmann trat Jacob in den Weg und hielt ihm die Hand hin. Valiant stieß ihn dafür so grob zurück, dass er fast in den Fluss stolperte.

»Ach, das mit dem zweiten Taler hast du also gehört!«, fuhr er ihn an. »Wie wär's, wenn du uns den ersten zurückgibst, oder lässt du dich immer dafür bezahlen, dass du den Loreley ihr Abendessen besorgst?«

»Was wollt ihr, ich hab euch übergesetzt!«, gab der Fährmann zurück. »Die verfluchte Fee hat sie ausgesetzt. Soll ich mir dadurch das Geschäft ruinieren lassen? Und abgemacht ist abgemacht.«

»Schon gut«, sagte Jacob und zog einen weiteren Taler aus der Tasche. Sie waren am anderen Ufer, das war alles, was zählte. »Gibt es sonst noch was, wovor wir uns besser in Acht nehmen sollten?«

Valiant folgte dem Taler mit den Augen, bis er in den schmutzigen Taschen des Fährmanns verschwand.

»Hat der Zwerg euch von den Drachen erzählt? Sie sind rot wie das Feuer, das sie speien, und wenn sie über den Bergen kreisen, brennen tagelang die Hänge.«

»Ja, die Geschichte hab ich auch schon gehört.« Valiant warf Jacob einen vielsagenden Blick zu. »Aber erzählt ihr euren Kindern nicht auch, dass an diesem Ufer noch Riesen hausen? Abergläubisches Geschwätz.« Der Zwerg senkte die Stimme. »Soll ich dir sagen, wo es tatsächlich Drachen gibt?«

Der Fährmann beugte sich neugierig zu ihm hinunter.

»Ich hab ihn mit eigenen Augen gesehen!«, rief Valiant ihm in das schwerhörige Ohr. »In seinem Knochennest, nur zwei Meilen flussaufwärts, aber er war grün, und aus seinem hässlichen Maul hing ein Bein, das genauso mager wie deine war! Beim Teufel und all seinen goldenen Haaren, hab ich mir gesagt, ich möchte nicht in Blenheim leben, sollte es dem Biest eines Tages einfallen, den Fluss abwärtszufliegen!«

Die Augen des Fährmanns wurden so groß wie Jacobs Goldtaler. »Zwei Meilen?« Er blickte besorgt den Fluss hinauf.

»Ja, vielleicht war es auch etwas weniger!« Valiant ließ ihm die schmutzigen Ohrenpfropfen in die Hand fallen. »Viel Spaß auf der Rückfahrt.«

»Keine schlechte Geschichte!«, flüsterte Jacob, als der Zwerg sich auf seinen Esel schwang. »Aber was sagst du, wenn ich dir erzähle, dass ich wirklich mal einen Drachen gesehen habe?«

»Dass du ein Lügner bist«, gab Valiant mit gesenkter Stimme zurück.

Hinter ihnen schrien immer noch die Loreley, und Jacob bemerkte die Klauenspuren an Claras Arm, als er ihr aufs Pferd half. Trotzdem fand sich in ihren Augen kein Vorwurf, dass er sie zu der Überfahrt gedrängt hatte.

»Was riechst du?«, fragte er Fuchs.

»Goyl«, antwortete sie. »Nichts als Goyl. Als wäre die Luft aus ihnen gemacht.«


33


SO MÜDE


Will wollte schlafen. Nur schlafen und das Blut vergessen, all das Blut auf Jacobs Brust. Er spürte die Zeit nicht mehr, ebenso wenig wie er die eigene Haut spürte oder das eigene Herz. Sein toter Bruder. Das war das einzige Bild, was den Weg in seine Träume fand. Und die Stimmen. Die eine rau. Die andere wie Wasser. Kühles, dunkles Wasser.

»Mach die Augen auf«, sagte sie. Aber er konnte nicht. Er konnte nur schlafen. Auch wenn das hieß, all das Blut zu sehen. Eine Hand strich ihm übers Gesicht. Nicht steinern, sondern weich und kühl.

»Wach auf, Will.«

Aber er wollte erst wieder aufwachen, wenn er zurück war: in der anderen Welt, wo das Blut auf Jacobs Brust ebenso nur ein Traum sein würde wie die Jadehaut und der Fremde, der sich in ihm regte.

»Er war bei Eurer Roten Schwester.«

Die Stimme des Mörders. Will wollte ihm mit seinen neuen Krallen die Jaspishaut aufschlitzen und ihn ebenso reglos daliegen sehen wie Jacob. Aber der Schlaf hielt ihn gefangen und lähmte ihm die Glieder besser als jede Fessel.

»Wann?« Zorn. Will spürte ihn wie ein Messer aus Eis. »Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«

»Wie? Ihr habt mir nicht verraten, wie man an den Einhörnern vorbeikommt!« Hass. Wie Feuer gegen das Eis. »Ihr seid mächtiger als Eure Schwester. Macht einfach rückgängig, was sie mit ihm getan hat.«

»Es ist ein Dornenzauber! Niemand kann ihn rückgängig machen. Ich habe gesehen, dass er ein Mädchen bei sich hatte. Wo ist sie?«

»Ich hatte keinen Befehl, sie herzubringen.«

Das Mädchen. Wie hatte sie ausgesehen? Will wusste es nicht mehr. Das Blut hatte ihr Gesicht fortgewaschen.

»Bring sie mir! Das Leben deines Königs hängt davon ab.«

Will spürte die Finger wieder auf dem Gesicht. So weich und kühl.

»Ein Schild aus Jade. Aus dem Fleisch seiner Feinde.« Ihre Stimme strich ihm über die Haut. »Meine Träume lügen nie.«


34

LERCHENWASSER


Für eine Weile rührte sie Valiant sehr zielstrebig durch die Nacht. Doch als die Hänge um sie her immer schroffer wurden und die Straße, der sie vom Fluss aus gefolgt waren, sich in Schotter und Dornendickicht verlor, zügelte der Zwerg den Esel und blickte sich ratlos um.

»Was?«, fragte Jacob und ritt an seine Seite. »Sag nicht, du hast dich jetzt schon verirrt.«

»Als ich das letzte Mal hier war, war es helllichter Tag!«, gab Valiant gereizt zurück. »Wie soll man einen verborgenen Eingang finden, wenn es dunkler ist als im Hintern eines Riesen? Er muss ganz in der Nähe sein!

Jacob stieg vom Pferd und drückte ihm die Taschenlampe in die Hand. »Hier!«, sagte er. »Finde ihn. Und wenn möglich, noch diese Nacht.«

Der Zwerg ließ den Strahl der Lampe ungläubig durch die Dunkelheit tasten. »Was ist das? Ein Feenzauber?«

»So ähnlich«, gab Jacob zurück.

Valiant leuchtete einen Hang hinab, der sich zu ihrer Linken im Dickicht verlor. »Ich könnte schwören, dass es da unten ist.«

Fuchs blickte ihm misstrauisch nach, als er hinunterstiefelte.

»Geh mit ihm«, sagte Jacob. »Sonst geht er noch verloren.«

Fuchs war nicht begeistert von der Aufgabe, aber schließlich huschte sie dem Zwerg hinterher.

Clara stieg vom Pferd und band es an den nächsten Baum. Die Goldfäden auf ihrem Rock schimmerten im Mondlicht noch stärker. Jacob pflückte ein paar Eichenblätter und gab sie ihr.

»Reib sie zwischen den Händen und streich über die Stickerei.«

Clara gehorchte und die Fäden verblassten unter ihren Fingern, als hätte sie das Gold von dem blauen Stoff gewischt.

»Elfengarn«, sagte Jacob. »Wunderschön. Aber jeder Goyl würde dich schon auf Meilen Entfernung sehen.«

Clara fuhr sich durch das verräterisch helle Haar, als wollte sie es ebenso umfärben wie das Kleid.

»Du willst allein in die Festung gehen.«

»Ja.«

»Du wärst tot, wenn du auf dem Fluss allein gewesen wärst! Lass mich mitkommen. Bitte.«

Aber Jacob schüttelte den Kopf. »Es ist zu gefährlich. Will ist verloren, wenn dir etwas passiert. Er wird dich bald wesentlich mehr brauchen als mich.«

»Wieso?« Es war so kalt, dass der Atem ihr weiß vor den Lippen hing.

»Du wirst ihn aufwecken müssen.«

»Aufwecken?«

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie begriff. »Die Rose ...«, flüsterte sie.


Und der Prinz beugte sich über sie und weckte sie mit einem Kuss.


Über ihnen standen die Sicheln der zwei Monde so schmal am schwarzen Himmel, als wären sie in der Nacht verhungert.

»Wieso glaubst du, dass ich ihn wecken kann? Dein Bruder liebt mich nicht mehr!« Sie gab sich Mühe, den Schmerz in ihrer Stimme zu verbergen.

Jacob zog den Mantel aus, der ihn wie einen reichen Händler hatte aussehen lassen. Die einzigen Menschen in der Festung waren Sklaven und sie trugen bestimmt keinen Pelzbesatz am Kragen.

»Aber du liebst ihn«, sagte er. »Das muss reichen.« Clara stand da und schwieg.

»Was, wenn nicht?«, sagte sie schließlich. »Was, wenn es nicht reicht?«

Er musste ihr nicht antworten. Sie erinnerten sich beide an das Schloss und die Toten unter den Blättern.

»Wie lange hat es gedauert, bis Will dich gefragt hat, ob du mit ihm ausgehst?« Jacob schlüpfte in seinen alten Mantel.

Die Erinnerung wischte Clara die Angst vom Gesicht. »Zwei Wochen. Ich dachte, er fragt nie. Dabei haben wir uns jeden Tag im Krankenhaus gesehen, wenn er eure Mutter besucht hat.«

»Zwei Wochen? Das ist schnell für Will.« Hinter ihnen raschelte es, und Jacob griff nach der Pistole, aber es war nur ein Dachs, der sich seinen Weg durch die Büsche suchte. »Wo ist er mit dir hingegangen?«

»Ins Krankenhauscafe. Kein sonderlich romantischer Ort.« Clara lächelte. »Er hat mir von einem angefahrenen Hund erzählt, den er gefunden hat. Bei unserer nächsten Verabredung hat er ihn mitgebracht.«

Jacob ertappte sich dabei, dass er Will um den Ausdruck auf ihrem Gesicht beneidete.

»Lass uns Wasser suchen«, sagte er und band die Pferde los.

Neben dem Tümpel, den sie fanden, stand ein verlassener Karren. Die Räder versanken im Uferschlamm und ein Reiher hatte auf der morschen Ladefläche sein Nest gebaut. Die Pferde senkten gierig die Nüstern ins Wasser, und Valiants Esel watete bis zu den Knien hinein, aber als Clara auch davon trinken wollte, zog Jacob sie zurück.

»Wassermänner«, sagte er. »Der Karren hat wahrscheinlich irgendeinem Bauernmädchen gehört. Sie holen sich zu gern eine Menschenbraut. Und in dieser Gegend warten sie bestimmt schon lange auf Beute.«

Jacob glaubte, den Wassermann seufzen zu hören, als Clara von dem Tümpel zurückwich. Sie waren ziemlich abscheulich, aber sie fraßen ihre Opfer nicht wie die Loreley. Sie schleppten die Mädchen in Höhlen, in denen sie atmen konnten, fütterten sie und brachten ihnen Geschenke. Muscheln, Flussperlen, den Schmuck Ertrunkener ... Jacob hatte eine Zeit lang für die verzweifelten Eltern solcher Verschleppter gearbeitet. Er hatte drei Mädchen zurück ans Tageslicht gebracht, arme verstörte Dinger, die nie ganz aus den dunklen Höhlen zurückkehrten, in denen sie Monate zwischen Perlen und Fischgräten die schleimigen Küsse eines verliebten Wassermanns hatten ertragen müssen. Einmal hatten die Eltern die Bezahlung verweigert, weil sie ihre Tochter nicht wiedererkannt hatten.

Jacob ließ die Pferde weitertrinken und machte sich auf die Suche nach dem Bach, der den Tümpel speiste. Er fand ihn schon bald, ein schmales Rinnsal, das aus einem nahen Felsspalt floss. Jacob fischte die welken Blätter von der Oberfläche und Clara füllte sich die Hände mit dem eiskalten Wasser. Es schmeckte erdig und frisch, und Jacob sah die Vögel erst, nachdem er und Clara schon getrunken hatten. Zwei tote Lerchen, die aneinandergepresst zwischen den feuchten Steinen klemmten. Er spuckte aus und zerrte Clara auf die Füße.

»Was ist?«, fragte sie erschrocken.

Ihre Haut roch nach Herbst und nach dem Wind. Nein, Jacob. Aber es war schon zu spät. Clara wich nicht zurück, als er sie an sich zog. Er griff ihr ins Haar, küsste ihren Mund und spürte ihr Herz ebenso heftig schlagen wie seines. Den Lerchen zerplatzten die winzigen Herzen von der Raserei, daher der Name: Lerchenwasser. Unverdächtig, kühl und klar, aber ein Schluck, und man war verloren. Lass sie los, Jacob. Aber er küsste sie weiter, während Clara nicht Wills, sondern seinen Namen flüsterte. »Jacob!«

Frau oder Füchsin. Für einen Moment schien Fuchs beides. Doch es war die Füchsin, die ihn biss, so fest, dass er Clara losließ, auch wenn alles in ihm sie weiter halten wollte.

Clara stolperte zurück und fuhr sich über den Mund, als könnte sie seine Küsse fortwischen.

»Sieh einer an!« Valiant richtete die Taschenlampe auf sie beide und bedachte Jacob mit einem schmutzigen Lächeln. »Heißt das, wir vergessen deinen Bruder?«

Fuchs sah ihn an, als hätte er sie getreten. Mensch und Tier, Füchsin und Frau. Sie schien immer noch beides zugleich, doch sie war ganz Fuchs, als sie an den Bach lief und die leblosen Vögel musterte.

»Seid wann bist du so dumm, Lerchenwasser zu trinken?«

»Verdammt. Es war dunkel, Fuchs.« Das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals.

»Lerchenwasser?« Clara strich sich mit zitternden Händen das Haar zurück. Sie blickte ihn nicht an.

»Ja. Abscheulich.« Valiant schenkte ihr ein übertrieben mitfühlendes Lächeln. »Man fällt über das hässlichste Mädchen her, wenn man davon trinkt. Bei Zwergen wirkt es kaum. Aber leider«, setzte er mit einem hämischen Blick in Jacobs Richtung hinzu, »war nicht ich, sondern er zur Stelle.«

»Wie lange wirkt es?« Claras Stimme war kaum hörbar.

»Manche behaupten, dass die Wirkung nach einem Anfall verfliegt. Aber es gibt auch die Ansicht, dass sie Monate anhält.

Und die Hexen -«, Valiant lächelte Jacob anzüglich zu, »die Hexen glauben, dass es nur zum Vorschein bringt, was eh schon da ist.«

»Du scheinst ja alles über Lerchenwasser zu wissen. Ziehst du es auf Flaschen und handelst damit?«, fuhr Jacob den Zwerg an.

Valiant zuckte bedauernd die Achseln. »Leider hält es sich nicht. Und die Wirkung ist zu unberechenbar. Eine Schande. Kannst du dir vorstellen, welche Geschäfte man damit machen könnte?«

Jacob spürte Claras Blick, aber sie wandte den Kopf ab, sobald er ihn erwiderte. Er fühlte ihre Haut noch unter den Fingern. Hör auf, Jacob.

»Habt ihr den Eingang gefunden?«, fragte er Fuchs.

»Ja.« Sie wandte ihm den Rücken zu. »Er riecht nach Tod.«

»Ach was.« Valiant winkte verächtlich ab. »Es ist ein natürlicher Tunnel, der auf eine ihrer unterirdischen Straßen stößt. Die meisten lassen sie inzwischen bewachen, aber dieser ist ziemlich sicher.«

»Ziemlich?« Jacob glaubte, die Narben auf seinem Rücken zu spüren. »Woher weißt du von ihm?«

Valiant verdrehte die Augen über so viel Misstrauen. »Ihr König hat den Verkauf einiger Halbedelsteine verboten, die sehr gefragt sind. Aber einige seiner Untertanen sind zum Glück ebenso an einem gesunden Handel interessiert wie ich.«

»Ich sage, er riecht nach Tod.« Fuchs' Stimme klang noch heiserer als üblich.

»Ihr könnt es auch gern mit dem Haupteingang versuchen!«, sagte Valiant spöttisch. »Vielleicht ist Jacob Reckless ja der einzige Mensch, der in die Königsfestung der Goyl spaziert, ohne in Bernstein gegossen zu werden.«

Clara verbarg die Hände hinter dem Rücken, als könnte sie so vergessen, wen sie berührt hatten.

Jacob mied es, sie anzusehen. Er lud die Pistole nach und nahm ein paar Dinge aus den Satteltaschen: das Fernrohr, die Schnupftabakdose, das Fläschchen aus grünem Glas und Chanutes Messer. Dann füllte er sich die Manteltaschen mit Munition.

Fuchs saß unter den Büschen. Sie duckte sich, sobald er auf sie zutrat, wie damals, als er sie in der Falle gefunden hatte.

»Nehmt euch vor den Goylpatrouillen in Acht«, sagte er. »Am besten versteckt ihr euch zwischen den Felsen. Wenn ich bis morgen Abend nicht zurück bin, bringst du sie zu der Ruine.«

Sie. Er traute sich nicht mal mehr, ihren Namen auszusprechen.

»Ich will nicht bei ihr bleiben.«

»Bitte, Fuchs.«

»Du wirst nicht zurückkommen. Diesmal nicht.«

Sie entblößte die Zähne, aber sie biss nicht zu. In ihren Bissen war immer Liebe zu spüren gewesen.

»Reckless.« Der Zwerg stieß ihm ungeduldig den Flintengriff in den Rücken. »Ich dachte, du hättest es eilig.«

Valiant hatte die Flinte zu einer abenteuerlichen Waffe umgeformt. Es gab Gerüchte, dass Metall unter Zwergenhänden sogar Wurzeln trieb.

Jacob richtete sich auf.

Clara stand immer noch am Bach. Sie wandte sich ab, als er auf sie zutrat, aber Jacob zog sie mit sich. Fort von dem Zwerg. Fort von Fuchs und ihrem Zorn. »Sieh mich an.«

Sie wollte sich losmachen, aber er hielt sie fest, auch wenn das sein Herz gleich wieder schneller schlagen ließ. »Es bedeutet nichts, Clara. Gar nichts!« Ihre Augen waren dunkel vor Scham.

»Du liebst Will, hörst du? Wenn du das vergisst, können wir ihm nicht helfen. Niemand kann ihm dann helfen.«

Sie nickte, aber Jacob sah in ihrem Blick denselben Wahnsinn, den er selbst noch spürte. Wie lange wirkt es?

»Du wolltest wissen, was ich vorhabe.« Er griff nach ihrer Hand. »Ich muss die Dunkle Fee finden und sie zwingen, Will seine Haut zurückzugeben.«

Er sah den Schreck in ihren Augen und legte ihr warnend den Finger auf die Lippen. »Fuchs darf nichts davon erfahren«, flüsterte er ihr zu. »Sonst kommt sie mir nach. Aber ich schwöre es dir: Ich werde die Fee finden. Du wirst Will wecken. Und alles wird gut.«

Er wollte sie halten. Er hatte nie etwas mehr gewollt. Jacob blickte nicht zurück, als er Valiant in die Nacht folgte. Und Fuchs kam ihm nicht nach.


35


IM SCHOSS DER ERDE


Fuchs hatte recht. Die Höhle, zu der Valiant Jacob führte, roch nach Tod, und man brauchte nicht die feine Nase einer Füchsin, um ihn zu wittern. Ein Blick, und Jacob wusste, wer darin hauste.

Der Boden war übersät mit Knochen. Menschenfresser lebten zwischen den Resten ihrer Mahlzeiten und ihr Name täuschte. Sie fraßen sich auch an Goyl- und Zwergenfleisch satt. Zwischen den Knochen lagen die Dinge, die die Opfer sichtbar machten: eine Taschenuhr, der zerfetzte Ärmel eines Kleides, ein Kinderschuh - bestürzend klein -, ein Notizbuch mit getrocknetem Blut auf den Seiten. Für einen Moment wollte Jacob umdrehen, um Clara zu warnen, doch der Zwerg zog ihn weiter.

»Keine Sorge«, zischte Valiant ihm zu. »Die Goyl haben alle Menschenfresser in dieser Gegend längst erschlagen. Aber den Tunnel haben sie zum Glück nicht gefunden.«

Der Spalt in der Höhlenwand, durch den er verschwand, war für einen Zwerg mehr als weit genug, aber Jacob musste sich hindurchzwängen. Der Tunnel dahinter war so niedrig, dass er auf den ersten Metern kaum aufrecht gehen konnte, und führte schon bald tückisch steil in die Tiefe. Jacob fiel in dem engen Gang das Atmen schwer, und er war sehr erleichtert, als sie endlich auf eine der unterirdischen Straßen stießen, die die Festungen der Goyl miteinander verbanden. Sie war breit wie eine Menschenstraße und mit phosphoreszierenden Steinen gepflastert, die im Schein der Taschenlampe ein mattes Licht abgaben. Jacob glaubte, in der Ferne Maschinen zu hören und ein Summen wie von Wespen über einer Wiese voll Fallobst.

»Was ist das?«, fragte er den Zwerg mit gesenkter Stimme.

»Insekten, die die Abwässer der Goyl klären. Ihre Städte riechen wesentlich besser als unsere.« Valiant zog einen Stift aus der Jacke. »Bück dich! Zeit für dein Sklavenzeichen! P für Prussan«, raunte er, während er Jacob den Goyl-Buchstaben auf die Stirn malte. »Das ist der Name deines Besitzers, falls man dich fragt. Prussan ist ein Händler, mit dem ich Geschäfte mache. Allerdings sind seine Sklaven wesentlich sauberer als du und tragen ganz bestimmt keinen Waffengürtel. Du solltest ihn besser mir geben.«

»Nein danke«, raunte Jacob und knöpfte den Mantel über dem Gürtel zu. »Falls sie mich anhalten, will ich mich bestimmt nicht auf dich verlassen müssen.«

Die nächste Straße, auf die sie stießen, war so breit wie die Alleen der kaiserlichen Hauptstadt, aber diese wurde nicht von Bäumen, sondern von Felswänden gesäumt, und als Valiant den Strahl der Taschenlampe an ihnen entlangwandern ließ, schälten sich Gesichter aus der Dunkelheit. Jacob hatte es immer für ein Märchen gehalten, dass die Goyl ihre Helden ehrten, indem sie die Mauern ihrer Festungen aus ihren Köpfen bauten. Aber offenbar hatte die Geschichte, wie alle Märchen, einen dunklen und sehr wahren Kern. Hunderte von Toten starrten auf sie herab. Tausende. Kopf an Kopf, wie groteske Steine. Die Gesichter blieben, wie bei allen Goyl, im Tod unverändert, nur die erloschenen Augen waren durch Goldtopas ersetzt worden.

Valiant blieb nicht lange auf der Allee der Toten. Stattdessen nahm er Tunnel, die sich schmal wie Bergstraßen abwärtswanden, tiefer und tiefer unter die Erde. Jacob sah immer öfter Licht am Ende eines Seitentunnels oder spürte den Lärm von Motoren wie ein Vibrieren auf der Haut. Ein paarmal hallte ihnen das Geräusch von Hufschlag oder Wagenrädern entgegen, aber zum Glück taten sich entlang der Straßen immer wieder lichtlose Höhlen auf, wo sie sich in einem Dickicht von Stalagmiten oder hinter Vorhängen aus Tropfstein verstecken konnten.

Das Tropfen des Wassers war überall zu hören, stetig und unentrinnbar, und um sie herum verbargen sich die Wunder, die es in Jahrtausenden geformt hatte, in der Dunkelheit: kalkweiße Kaskaden aus Stein, die wie gefrorenes Wasser von den Wänden schäumten, Wälder aus Sandsteinnadeln, die über ihnen von den Decken hingen, und Blumen aus Kristall, die in der Finsternis blühten. In vielen Höhlen war kaum eine Spur von den Goyl zu entdecken, außer einem geraden Pfad, der durch das Steindickicht führte, oder ein paar Tunneln, die sich quadratisch in einer Felswand öffneten. Andere zeigten Steinfassaden und Mosaiken, die aus älteren Zeiten zu stammen schienen - Ruinen zwischen den Säulen, die der Stein hatte wachsen lassen.

Es schien Jacob, als wären sie schon Tage durch diese unterirdische Welt geirrt, als sich vor ihnen eine Höhle öffnete, auf deren Grund ein See schimmerte. An den Wänden wuchsen Pflanzen, die keine Sonne brauchten, und über das Wasser spannte sich eine endlose Brücke, die kaum mehr als ein mit Eisen verstärkter Felsbogen war. Jeder Schritt darauf hallte verräterisch laut durch die weite Höhle und scheuchte Schwärme von Fledermäusen auf, die von der Decke hingen.

Sie hatten die Brücke erst zur Hälfte überquert, als Valiant so abrupt stehen blieb, dass Jacob in ihn hineinstolperte. Der Tote, dessen Körper ihnen den Weg versperrte, war kein Goyl, sondern ein Mensch. Auf seine Stirn war das Zeichen des Königs tätowiert und an Brust und Kehle klafften Bisswunden.

»Einer der Kriegsgefangenen, die sie als Sklaven nutzen.« Valiant starrte besorgt hinauf zur Höhlendecke.

Jacob zog die Pistole. »Was hat ihn getötet?«

Der Zwerg leuchtete mit der Taschenlampe zwischen die Stalaktiten, die über ihnen von der Decke hingen.

»Die Wächter«, raunte er. »Sie züchten sie als Wachhunde für die äußeren Tunnel und Straßen. Sie regen sich nur, wenn sie etwas anderes als Goyl wittern. Aber auf dieser Route hatte ich noch nie Ärger mit ihnen! Warte!«

Valiant ließ einen unterdrückten Fluch hören, als der Strahl der Taschenlampe eine Reihe beunruhigend großer Löcher zwischen den Stalaktiten fand.

Ein Zwitschern hallte durch die Stille. Scharf wie ein Warnruf.

»Renn!« Der Zwerg sprang über den Toten und zerrte Jacob mit sich.

Die Luft war plötzlich erfüllt vom Flattern ledriger Flügel. Die Wächter der Goyl stießen wie Raubvögel zwischen den Stalaktiten hervor: bleiche, menschenähnliche Kreaturen, mit Flügeln, die in scharfen Klauen endeten. Ihre Augen waren milchig weiß wie die von Blinden, doch offenbar wiesen ihre Ohren ihnen zuverlässig den Weg.

Jacob tötete zwei im Flug, und Valiant erschoss einen, der sich mit den Flügeln in Jacobs Rücken krallte, aber über ihnen krochen schon drei weitere aus den Löchern. Der eine versuchte, Jacob die Pistole zu entreißen. Er stieß ihm den Ellbogen in das blasse Gesicht und hieb ihm mit dem Säbel einen Flügel ab. Das Geschöpf schrie so schrill auf, dass Jacob fürchtete, es würde Dutzende von ihnen herbeirufen, doch zu ihrem Glück schien nicht jedes der Löcher bewohnt.

Die Wächter waren plumpe Angreifer, aber am Ende der Brücke gelang es einem von ihnen, den Zwerg zu Boden zu reißen. Er bleckte die Zähne schon nach Valiants Kehle, als Jacob ihm den Säbel zwischen die Flügel stieß. Sein Gesicht glich aus der Nähe dem eines menschlichen Embryos. Selbst der Körper hatte etwas Kindliches, und Jacob wurde so übel, als hätte er noch nie getötet.

Sie retteten sich mit zerbissenen Schultern und Armen in den nächsten Tunnel, aber keine der Wunden war allzu tief, und Valiant war zu aufgebracht, um sich über das Jod zu wundern, das Jacob ihm auf die Bisse träufelte.

»Ich hoffe, dieser Goldbaum trägt viele Jahre«, knurrte er, während Jacob ihm die Hand verband, »oder du hast jetzt schon Schulden bei mir!«

Draußen kreisten immer noch zwei Wächter über der Brücke. Sie flogen ihnen nicht nach, aber der Kampf mit ihnen war so anstrengend gewesen, dass Jacob das Atmen nur noch schwerer fiel, und die dunklen Straßen wollten einfach nicht enden. Er fragte sich gerade erschöpft, ob der Zwerg am Ende doch wieder ein schmutziges Spiel spielte, als der Tunnel vor ihnen eine Biegung machte und sich am Ende abrupt in Licht auflöste.

»Da ist es!«, raunte Valiant ihm zu. »Das Nest der Bestien oder die Höhle der Löwen, je nachdem, auf wessen Seite du stehst.«

Die Höhle, in deren Felswand der Tunnel sich öffnete, hatte so gewaltige Ausmaße, dass Jacob nicht erkennen konnte, wo sie endete. Unzählige Lampen verbreiteten das spärliche Licht, das Goylaugen behagte, aber sie schienen von Elektrizität statt von Gas betrieben und beleuchteten eine Stadt, die aussah, als hätte der Stein selbst sie hervorgebracht. Häuser, Türme und Paläste wuchsen vom Boden der Höhle und an ihren Wänden hinauf wie die Waben eines Wespennestes, und Dutzende eiserner Brücken spannten sich über das Häusermeer, als sei es ein Leichtes, Eisen durch die Luft zu bauen. Ihre Pfeiler wuchsen wie Bäume zwischen den Dächern empor, und einige wurden wie mittelalterliche Brücken in der anderen Welt von Häusern gesäumt, schwebende Gassen unter einem Himmel aus Sandstein. Sie glichen dem eisernen Netz einer Spinne, aber Jacobs Blick wanderte höher, hinauf zu der Höhlendecke, von der drei gigantische Stalaktiten hingen. Der größte war gespickt mit Türmen aus Kristall, die wie Speere nach unten wiesen, und seine Mauern leuchteten, als wären sie mit dem Mondlicht der oberen Welt getränkt.

»Ist das der Palast?«, raunte Jacob dem Zwerg zu. »Kein Wunder, dass sie nicht allzu beeindruckt von unseren Bauten sind. Und wann haben sie diese Brücken gebaut?«

»Was weiß ich?«, gab Valiant mit gesenkter Stimme zurück. »Goylgeschichte wird an Zwergenschulen nicht gelehrt. Der Palast ist angeblich mehr als siebenhundert Jahre alt, aber ihr König plant eine modernere Version, weil er ihn zu altmodisch findet. Die zwei Stalaktiten daneben sind Militärbaracken und Gefängnisse.« Der Zwerg grinste Jacob verschlagen zu. »Willst du, dass ich für dich herausfinde, in welchem dein Bruder steckt? Deine Goldtaler machen sicher auch Goylzungen gesprächig. Aber natürlich kostet das auch für mich extra.«

Als Jacob ihm zur Antwort zwei Goldtaler in die Hand drückte, konnte Valiant sich nicht beherrschen. Er reckte sich hoch und schob Jacob die kurzen Finger in die Manteltasche.

»Nichts!«, murmelte er. »Gar nichts! Ist es der Mantel? Nein, bei dem anderen hat es auch funktioniert! Wachsen sie dir zwischen den Fingern?«

»Genau«, antwortete Jacob und zog die Hand des Zwergs aus der Tasche, bevor sie sich um das Taschentuch schloss.

»Irgendwann komm ich drauf!«, knurrte der Zwerg, während er das Gold in seinen samtenen Taschen verschwinden ließ. »Und jetzt: Kopf runter. Gesenkter Blick. Du bist ein Sklave.«

Die Gassen, die das Häusermeer an den Höhlenwänden durchzogen, waren für Menschen noch unzugänglicher als die Straßen von Terpevas. Oft ging es so steil hinauf, dass Jacobs Füße hilflos abrutschten und er Halt an einem Türrahmen oder Fenstersims suchen musste. Valiant dagegen bewegte sich in ihnen fast so zügig wie ein Goyl. Die Haut der Menschen, denen sie begegneten, war grau vom Mangel an Sonnenlicht, und vielen war der Buchstabe ihres Besitzers in die Stirn gebrannt. Sie beachteten Jacob ebenso wenig wie die Goyl, die ihnen in dem dämmrigen Häuserlabyrinth entgegenkamen. Der Zwerg an seiner Seite schien tatsächlich Erklärung genug, und Valiant genoss es, ihn mit all dem zu beladen, was er in den Geschäften erstand, in denen er verschwand, um etwas über Wills Aufenthaltsort zu erfahren.

»Treffer!«, raunte er endlich, nach dem er Jacob fast eine halbe Stunde vor der Werkstatt eines Juweliers hatte warten lassen. »Gute und schlechte Nachrichten. Die gute ist: Ich habe erfahren, was wir wissen wollen. Der Adjutant des Königs hat einen Gefangenen in die Festung gebracht, nachdem ihn angeblich die Dunkle Fee selbst hat suchen lassen. Bestimmt ist das unser Jaspis-Freund. Aber noch hat sich nicht herumgesprochen, dass sein Gefangener eine Haut aus Jade hat.«

»Und was ist die schlechte Nachricht?«

»Er ist im Palast, in den Quartieren der Fee, und in einen tiefen Schlaf gefallen, aus dem ihn keiner wecken kann. Ich nehme an, du weißt, was es damit auf sich hat?«

»Ja.« Jacob blickte hinauf zu dem großen Stalaktiten.

»Vergiss es!«, raunte der Zwerg ihm zu. »Dein Bruder könnte sich ebenso gut in Luft aufgelöst haben. Die Zimmer der Fee sind in der äußersten Spitze. Du müsstest dich durch den ganzen Palast kämpfen. Nicht einmal du bist verrückt genug, das zu versuchen.«

Jacob musterte die dunklen Fenster in der schimmernden Steinfassade.

»Kannst du eine Audienz bei dem Offizier bekommen, mit dem du handelst?«

»Und dann?« Valiant schüttelte spöttisch den Kopf. »Den Sklaven im Palast wird das Zeichen des Königs auf die Stirn gebrannt. Selbst wenn deine brüderliche Liebe groß genug ist, dir das zuzulegen - keinem von ihnen ist erlaubt, die obersten Quartiere zu verlassen.«

»Was ist mit einer der Brücken?«

»Was soll damit sein?«

Zwei von ihnen waren mit dem Palast verbunden. Die eine war eine Eisenbahnbrücke, die in einem Tunnel im obersten Teil verschwand. Die zweite war eine der Häuserbrücken und auf halber Höhe mit dem Stalaktiten verankert. Dort, wo sie auf den Palast traf, war sie unbebaut und gab den Blick frei auf sein onyxschwarzes Tor und eine Phalanx von Wachtposten.

»Der Ausdruck auf deinem Gesicht gefällt mir nicht!«, knurrte Valiant.

Jacob beachtete ihn nicht. Er musterte die eisernen Streben, die die Häuserbrücke trugen. Auf die Entfernung sahen sie so aus, als wären sie nachträglich angebracht worden, um eine alte Steinkonstruktion zu stützen. Sie krallten sich wie Metallklauen in die Seite des hängenden Palastes.

Jacob suchte Deckung in einem Hauseingang und richtete das Fernglas auf den Stalaktiten. »Die Fenster sind nicht vergittert«, flüsterte er.

»Warum sollten sie vergittert sein?«, raunte Valiant zurück. »Nur Vögel und Fledermäuse kommen in ihre Nähe. Aber offenbar hältst du dich ja für eines von beiden.«

Eine Schar Kinder drängte an der Gasse vorbei. Jacob hatte nie zuvor ein Goylkind gesehen, und für einen verrückten Augenblick glaubte er, in einem der Jungen seinen Bruder zu erkennen. Als sie vorbei waren, starrte Valiant immer noch hinauf zu der Brücke.

»Warte!«, zischte er. »Jetzt weiß ich, was du vorhast! Das ist Selbstmord!«

Jacob schob das Fernrohr zurück in die Manteltasche. »Wenn du den Goldbaum willst, bring mich zu der Brücke.«

Er würde Will finden. Auch wenn er sein Mädchen geküsst hatte.


36


DER FALSCHE NAME


»Fuchs?« Da. Sie rief sie schon wieder. Und Fuchs stellte sich vor, wie der Wassermann sie in den Tümpel zerrte. Wie die Wölfe ihr die Haut zerbissen. Oder der Zwerg sie auf einem Sklavenmarkt verkaufte. Die Rote Fee hatte Fuchs nie so fühlen lassen. Oder die Hexe, in deren Hütte Jacob vor Jahren fast jede Nacht verschwunden war. Oder die Zofe der Kaiserin, deren süßliches Parfüm sie wochenlang an seinen Kleidern gerochen hatte. »Fuchs? Wo bist du?«

Sei still!

Fuchs duckte sich unter den Büschen und wusste nicht mehr, ob sie Haut oder Fell hatte. Sie wollte ihr Fell nicht mehr. Sie wollte Haut und Lippen, die er küssen konnte, so, wie er Claras Lippen geküsst hatte. Sie sah sie in seinen Armen. Immer wieder. Jacob.

Was war das nur? Dieses Sehnen, das in ihr riss und schmerzte wie Hunger oder Durst. Nicht Liebe. Liebe war warm und weich wie ein Bett aus Laub. Aber das hier war dunkel wie die Schatten unter einem Giftbusch - und hungrig.

So hungrig.

Es musste einen anderen Namen haben. Es konnte nicht dasselbe Wort für Leben und Tod geben, denselben Namen für Sonne und Mond.

Jacob. Selbst sein Name schmeckte plötzlich anders. Und Fuchs spürte, wie der kalte Wind ihr wieder über Menschenhaut strich.

»Fuchs?« Clara kniete sich vor ihr in das feuchte Moos.

Ihr Haar war wie Gold. Fuchs' Haar war immer rot, rot wie das Fell der Füchsin. Sie konnte sich nicht erinnern, ob es jemals anders gewesen war.

Sie stieß Clara zur Seite und richtete sich auf. Es tat gut, genauso groß zu sein wie sie.

»Fuchs.« Clara versuchte, sie festzuhalten, als sie sich an ihr vorbeischob. »Ich weiß nicht mal deinen Namen. Deinen wirklichen Namen.«

Wirklich? Was war wirklich an ihm? Und was ging er sie an? Nicht einmal Jacob kannte ihren Menschennamen. »Celeste, wasch dir die Hände. Kämm dir das Haar.«

»Und? Spürst du es noch?« Fuchs starrte ihr in die blauen Augen. Jacob konnte einem in die Augen sehen und dabei lügen. Er war sehr gut darin, doch der Füchsin konnte selbst er nichts vormachen.

Clara wandte den Blick ab, aber Fuchs roch, was sie fühlte: all die Angst und die Scham.

»Hast du je Lerchenwasser getrunken?«

»Nein«, antwortete Fuchs verächtlich. »Keine Füchsin wäre so dumm.« Auch wenn das eine Lüge war.

Clara blickte zum Bach. Die toten Lerchen klemmten immer noch zwischen den Steinen. Clara. Ihr Name klang nach Glas und kühlem Wasser, und Fuchs hatte sie sehr gemocht - bis sie Jacob geküsst hatte.

Es tat immer noch weh.

Ruf das Fell zurück, Fuchs. Aber sie konnte nicht. Sie wollte ihre Haut fühlen, ihre Hände und die Lippen, mit denen man küssen konnte. Fuchs wandte Clara den Rücken zu, aus Angst, ihr Menschengesicht könnte all das verraten. Sie wusste nicht mal genau, wie es aussah. War es hübsch oder hässlich? Ihre Mutter war hübsch gewesen, aber ihr Vater hatte sie trotzdem geschlagen. Oder gerade deshalb.

»Warum bist du lieber ein Fuchs?« Die Nacht färbte Clara die Augen schwarz. »Ist die Welt so leichter zu verstehen?«

»Füchse versuchen nicht, sie zu verstehen.«

Clara strich sich über die Arme, als fühlte sie Jacobs Hände immer noch dort. Und Fuchs sah, dass sie sich auch ein Fell wünschte.


37


DIE FENSTER DER DUNKLEN FEE


Schlachter, Schneider, Bäcker, Juweliere. Die Brücke, die auf den hängenden Palast zuführte, war eine Einkaufsstraße in schwindelerregender Höhe, in deren Ladenfenstern Edelsteine neben Echsenfleisch und schwarzblättrigem Kohl schimmerten, der ohne Sonne wuchs. Brot und Früchte aus den oberirdischen Provinzen lagen neben getrockneten Käfern, die bei den Goyl als Delikatesse galten. Doch das Einzige, was Jacob interessierte, war der Palast am Ende der Ladenfronten.

Wie ein Kronleuchter aus Sandstein hing er von der Höhlendecke. Jacob schwindelte, als er sich zwischen zwei Läden über die Brückenbrüstung beugte und hinuntersah. Tief unter ihm endete der Stalaktit in einer Krone aus Kristallen, die schimmernde Spitze ins Nichts gestreckt.

»Welches sind die Fenster der Dunklen Fee?«

»Die aus Malachit.« Valiant sah sich nervös um.

Es waren viele Soldaten auf der Brücke, nicht nur als Wachen vor den Palasttoren, sondern auch in der Menge, die an den Läden vorbeischlenderte. Viele der Goylfrauen trugen Kleider, die mit dem Stein bestickt waren, dem ihre Haut glich. Er war zu so hauchdünnen Schuppen geschliffen, dass der Stoff wie Schlangenhaut schimmerte, und Jacob ertappte sich dabei, dass er sich fragte, wie Clara in einem solchen Kleid aussehen würde. Wie lange wirkt es?

Die Fenster der Fee klafften wie grüne Augen in dem hellen Sandstein. Die Eisenträger der Brücke waren kaum zwanzig Meter darüber in der Mauer verankert, aber die Palastfassade war spiegelglatt und bot im Gegensatz zu den anderen Stalaktiten keinen Halt zum Klettern.

Trotzdem. Er musste es versuchen.

Valiant murmelte hinter ihm etwas über die Beschränktheit des menschlichen Verstandes, aber Jacob zog die Schnupftabakdose aus der Tasche. Darin war einer der praktischsten magischen Gegenstände, die er je gefunden hatte: ein sehr langes goldenes Haar. Der Zwerg verstummte, als Jacob begann, es zwischen den Fingern zu zwirbeln. Das Haar trieb Faser um Faser, fein wie die Fäden einer Spinne. Schon bald war es so dick wie Jacobs Mittelfinger und fester als jedes Seil in dieser oder der anderen Welt.

Aber nicht nur seine Festigkeit machte es so nützlich. Es hatte noch andere, weit wunderbarere Eigenschaften. Das Seil wuchs zu jeder Länge, die man brauchte, und machte sich genau dort fest, wohin man blickte, wenn man es warf.

»Ein Rapunzelhaar. Nicht dumm!«, raunte Valiant, als Jacob das Seil in die Hand nahm und hinunter zu den grünen Fenstern blickte. »Aber das wird dir nicht gegen die Wachen helfen! Sie werden dich so deutlich sehen wie einen Käfer, der ihnen übers Gesicht kriecht!«

Zur Antwort zog Jacob das Fläschchen aus grünem Glas aus der Tasche. Er hatte es einem Stilz gestohlen, und es war gefüllt mit dem Schleim einer Schnecke, der für ein paar Stunden unsichtbar machte. Die Raubschnecken, die ihn produzierten, schlichen sich dank dieses Hilfsmittels sehr erfolgreich an alles heran, was ihnen schmeckte, und Stilze und Däumlinge züchteten sie, um ebenso unsichtbar auf die Jagd zu gehen. Man strich sich den Schleim unter die Nase - eine sehr unappetitliche Prozedur, auch wenn er geruchlos war -, aber er wirkte auf der Stelle. Das einzige Problem war, dass er stundenlange Übelkeit zur Folge hatte und Lähmungen hervorrief, wenn man ihn allzu oft benutzte.

»Schwindschleim und Rapunzelhaar.« Jacob hörte eine Spur von Bewunderung in der Stimme des Zwergs. »Ich gebe zu, du bist bestens ausgerüstet. Trotzdem. Ich will wissen, wo dein Goldbaum wächst, bevor du dort hinuntersteigst.«

Aber Jacob rieb sich schon den Schleim unter die Nase.

»O nein«, sagte er. »Was, wenn du mir wieder irgendetwas verschwiegen hast und da unten schon die Wachen auf mich warten?

Das Seil trägt nur einen, also kannst du hierbleiben, aber falls die Wachen Alarm schlagen, sorg besser für Ablenkung, oder du kannst deinen Goldbaum vergessen.«

Er schwang sich über die Brückenbrüstung, bevor der Zwerg protestieren konnte. Der Schleim ließ seinen Körper bereits verschwinden, und als Jacob sich zu den Eisenträgern hinunterhangelte, sah er die eigenen Hände nicht mehr. Er klammerte sich an eine der Streben und warf das Seil. Es wand sich durch die Luft, als schwämme es durch Wasser, bis es sich an einem Sims zwischen den Malachitfenstern festmachte.

Und was, wenn du Will tatsächlich dahinter findest, Jacob? Selbst wenn du den Fluch der Dunklen Fee brichst - er schläft! Wie willst du ihn aus der Festung schaffen?'Er wusste die Antwort nicht. Er wusste nur, dass er es versuchen musste. Und dass er Claras Lippen immer noch auf den eigenen spürte.

Es kletterte sich leicht an Rapunzelhaar. Das Seil schmiegte sich in seine Hände und Jacob versuchte, die Tiefe unter sich zu vergessen. Alles wird gut. Der Stalaktit wuchs ihm entgegen, sehnig wie ein Muskel aus Stein. Er spürte die Übelkeit, die der Schwindschleim brachte. Nur ein paar Meter noch, Jacob. Sieh nicht nach unten. Vergiss die Tiefe.

Er klammerte sich an das straff gespannte Seil und kletterte weiter, bis seine unsichtbaren Hände endlich die glatte Mauer berührten. Seine Füße fanden Halt auf dem Sims, und er schöpfte für einen Moment Atem, während er sich gegen den kühlen Stein presste. Links und rechts von ihm schimmerten die Fenster der Fee wie erstarrtes Wasser. Was nun, Jacob? Willst du sie einschlagen? Das würde sämtliche Wachen herbeirufen.

Er zog Chanutes Messer aus dem Gürtel und setzte die Klinge an das Glas. Die mit Mondstein eingefassten Löcher bemerkte er erst, als die Schlange herausschoss. Mondstein, so blass wie ihre Schuppen oder die Haut ihrer Herrin. Sie wand sich Jacob um den Hals, bevor er begriff, wie ihm geschah. Er versuchte, ihr das Messer in den Leib zu stoßen, aber sie umschlang ihn so unerbittlich, dass seine Finger den Messerknauf losließen und sich nur noch verzweifelt in den schuppigen Körper krallten. Seine Füße rutschten ab, und er hing so hilflos über dem Abgrund wie ein gefangener Vogel, um den Hals die würgende Schlange. Zwei weitere krochen aus einem Loch neben ihm und schlangen sich um seine Brust und seine Beine. Jacob rang nach Luft, aber er konnte nicht mehr atmen, und das Letzte, was er sah, war das Goldene Seil, das sich von dem Sims löste und über ihm in der Dunkelheit verschwand.


38


GEFUNDEN UND VERLOREN


Sandsteinmauern und eine vergitterte Tür. Ein Stiefel aus Echsenleder, der ihm in die Seite trat. Graue Uniformen, umgeben von dem roten Nebel, der ihm den Kopf füllte. Aber wenigstens waren die Schlangen fort und er konnte atmen. Der Zwerg hatte ihn wieder verkauft. Das war der einzige Gedanke, der in dem Nebel existierte. Wo hatte er es getan? In einem der Läden, vor denen du wie ein Schaf gewartet hast, Jacob?

Er wollte sich aufsetzen, doch sie hatten ihm die Hände gefesselt, und sein Hals schmerzte so sehr, dass er Schwierigkeiten hatte zu schlucken.

»Wer hat dich von den Toten zurückgeholt? Ihre Schwester?«

Der Jaspisgoyl löste sich aus der Dunkelheit.

»Ich habe der Fee nicht geglaubt, dass du noch lebst. Schließlich war es ein guter Schuss.« Er sprach den Dialekt des Kaiserreichs mit schwerem Akzent. »Es war ihre Idee, verbreiten zu lassen, dass dein Bruder bei ihr ist, und du bist ihr wie eine Fliege ins Netz gegangen. Dein Pech, dass die Schlangen selbst Schwindschleim nicht täuscht. Aber du hast dich wesentlich geschickter angestellt als die beiden Onyxgoyl, die zu den Räumen des Königs hinunterklettern wollten. Wir mussten ihre Reste von den Dächern der Stadt kratzen.«

Jacob stemmte den Rücken gegen die Mauer und schaffte es, sich aufzusetzen. Die Zelle, in die sie ihn geworfen hatten, unterschied sich in nichts von den Zellen in Menschengefängnissen: dieselben Gitter, dieselben verzweifelten Kritzeleien an den Wänden.

»Wo ist mein Bruder?« Seine Stimme war so heiser, dass er sich kaum selbst verstand, und ihm war übel von dem Schleim. Der Goyl antwortete ihm nicht.

»Wo hast du das Mädchen gelassen?«, fragte er stattdessen.

Er sprach sicher nicht von Fuchs. Aber was wollten sie von Clara? Was denkst du, Jacob? Dein Bruder schläft. Und sie können ihn nicht wecken. Das sind gute Nachrichten, oder?

Und dass Valiant Clara nicht auch verraten hatte, bewies wohl, dass der Zwerg tatsächlich eine Schwäche für sie hatte.

Also. Stell dich dumm, Jacob.

»Was für ein Mädchen?« Die Frage brachte ihm einen Tritt in den Magen ein, der ihm fast ebenso die Luft nahm wie die Schlange. Der Soldat, der zutrat, war eine Frau. Ihr Gesicht kam Jacob bekannt vor. Natürlich, er hatte sie bei den Einhörnern aus dem Sattel geschossen. Es würde ihr eine Freude sein, ihn weiter zu treten. Aber der Jaspisgoyl hielt sie zurück.

»Lass das, Nesser«, sagte er. »So dauert es bei ihm Stunden.«

Jacob hatte von ihren Skorpionen gehört.

Nesser ließ sich den ersten fast zärtlich über die steinernen Finger kriechen, bevor sie ihn Jacob auf die Brust setzte. Der Skorpion war farblos und kaum länger als Jacobs Daumen, doch die Scheren glänzten silbrig wie Metall.

»Auf Goylhaut richten sie nicht viel an«, sagte der Jaspisgoyl, als der Skorpion Jacob unters Hemd kroch, »aber eure Haut ist so viel weicher. Also noch mal: Wo ist das Mädchen?«

Der Skorpion grub ihm die Zangen in die Brust, als wollte er ihn bei lebendigem Leibe fressen. Aber Jacob verbiss sich die Schreie, bis er ihm den Stachel ins Fleisch stieß. Das Gift goss ihm Feuer unter die Haut und ließ ihn keuchen vor Angst und Schmerz.

»Wo ist das Mädchen?«

Die Goyl setzte ihm drei weitere Skorpione auf die Brust.

»Wo ist das Mädchen?« Immer wieder dieselbe Frage. Aber Will würde schlafen, solang er es ihnen nicht verriet, und Jacob schrie sich heiser vor Schmerz und wünschte sich Jadehaut. Er fragte sich, ob das Gift wenigstens das Lerchenwasser verbrennen würde, bevor er endlich das Bewusstsein verlor.

Als Jacob aufwachte, konnte er sich nicht erinnern, ob er den Goyl gesagt hatte, was sie wissen wollten. Er war in einer anderen Zelle, durch deren Fenster man den hängenden Palast sah. Sein ganzer Körper schmerzte, als hätte er sich die Haut verbrüht, und sein Waffengürtel war ebenso fort wie alles, was er in den Taschen gehabt hatte, aber zum Glück hatten sie ihm wenigstens das Taschentuch gelassen. Glück, Jacob? Was sollen dir nun ein paar Goldtaler nützen? Goylsoldaten waren berüchtigt für ihre Unbestechlichkeit.

Er schaffte es, auf die Knie zu kommen. Seine Zelle war nur durch ein Gitter von der nächsten getrennt, und als er durch die Stäbe blickte, vergaß er seine Schmerzen.

Will.

Jacob stemmte die Schulter gegen die Wand und schaffte es, sich aufzurichten. Sein Bruder lag da wie tot, aber er atmete, und an Stirn und Wangen waren immer noch Spuren von Menschenhaut zu sehen. Die Rote Fee hatte ihr Versprechen erfüllt und die Zeit angehalten.

Draußen auf dem Korridor näherten sich Schritte, und Jacob wich an das Gitter zurück, hinter dem sein Bruder schlief. Der Jaspisgoyl kam mit zwei Wächtern den Gang hinunter. Hentzau. Inzwischen kannte Jacob seinen Namen - und als er sah, wen sie hinter ihm herzerrten, wollte er den Kopf gegen die Stäbe schlagen.

Er hatte ihnen gesagt, was sie wissen wollten.

Clara hatte eine blutige Schramme auf der Stirn und ihre Augen waren weit vor Angst. Wo ist Fuchs?, wollte Jacob sie fragen, aber sie bemerkte ihn gar nicht. Sie sah nur seinen Bruder.

Hentzau stieß sie zu Will in die Zelle. Clara machte einen Schritt auf ihn zu und blieb wie verloren stehen, als hätte sie sich daran erinnert, dass sie erst vor ein paar Stunden den anderen Bruder geküsst hatte.

»Clara.«

Sie drehte sich zu ihm um. Jacob sah so viel auf ihrem Gesicht: Erschrecken, Sorge, Verzweiflung, ... Scham.

Sie trat zu ihm ans Gitter und strich über die Würgemale an seinem Hals. »Was haben sie mit dir gemacht?«, flüsterte sie.

»Es ist nichts. Wo ist Fuchs?«

»Sie haben sie auch gefangen.«

Sie griff nach seiner Hand, als die Goyl vor den Zellen Haltung annahmen. Selbst Hentzau straffte die Schultern, auch wenn er es deutlich widerstrebend tat, und Jacob wusste sofort, wer die Frau war, die den Gang hinunterkam.

Das Haar der Dunklen Fee war heller als das ihrer Schwester, aber Jacob fragte sich nicht, wie sie zu ihrem Namen kam. Er spürte ihre Dunkelheit wie einen Schatten auf der Haut, doch sein Herz schlug nicht vor Angst schneller.

Du musst sie nicht mehr finden, Jacob. Sie kommt zu dir!

Clara wich zurück, als die Fee in Wills Zelle trat, aber Jacob schloss die Finger um die Gitter, die ihn von ihr trennten. Komm näher! Na, komm schon!, dachte er. Eine Berührung nur und die drei Silben, die ihre Schwester ihm verraten hatte. Doch das Gitter machte die Fee so unerreichbar, als läge sie im Bett ihres königlichen Liebhabers. Ihre Haut schien aus Perlen gemacht, und ihre Schönheit ließ sogar die ihrer Schwester verblassen.

Sie musterte Clara mit der Abneigung, die ihresgleichen für alle Menschenfrauen empfanden.

»Liebst du ihn?« Sie strich Will über das schlafende Gesicht. »Nun sag schon.«

Als Clara zurückwich, wurde ihr eigener Schatten lebendig und legte ihr schwarze Finger um die Knöchel.

»Antworte ihr, Clara«, sagte Jacob.

»Ja!«, stammelte sie. »Ja, ich liebe ihn.«

Ihr Schatten wurde erneut nichts als ein Schatten und die Fee lächelte.

»Gut. Dann willst du doch sicher, dass er aufwacht. Du musst ihn nur küssen.«

Clara blickte sich Hilfe suchend zu Jacob um.

Nein!, wollte er sagen. Tu es nicht! Aber seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Seine Lippen waren so taub, als hätte die Fee sie ihm versiegelt, und er konnte nur hilflos zusehen, wie sie nach Claras Arm griff und sie sanft an Wills Seite zog.

»Sieh ihn dir an!«, sagte sie. »Wenn du ihn nicht weckst, wird er für immer so daliegen, weder tot noch lebendig, bis selbst die Seele in seinem verwelkten Körper zu Staub geworden ist.«

Clara wollte sich abwenden, aber die Fee hielt sie fest.

»Ist das Liebe?«, hörte Jacob sie flüstern. »Ihn so zu verraten, nur weil seine Haut nicht mehr so weich ist wie deine? Lass ihn gehen.«

Clara hob die Hand und fuhr Will über das versteinerte Gesicht.

Die Fee ließ ihren Arm los und trat mit einem Lächeln zurück.

»Leg all deine Liebe in den Kuss!«, sagte sie. »Du wirst sehen. Sie stirbt nicht so leicht, wie du denkst.«

Und Clara schloss die Augen, als wollte sie Wills versteinertes Gesicht vergessen, und küsste ihn.


39


AUFGEWACHT


Für einen Moment hoffte Jacob wider besseres Wissen, dass es immer noch sein Bruder war, der sich aufsetzte. Aber Claras Gesicht verriet ihm die Wahrheit. Sie wich vor Will zurück, und der Blick, den sie Jacob zuwarf, war so verzweifelt, dass er für einen Augenblick den eigenen Schmerz vergaß. Sein Bruder war fort.

Jede Spur von Menschenhaut war verschwunden. Will war nichts als atmender Stein. Der vertraute Körper in Jade gefasst wie ein totes Insekt in Bernstein.

Goyl.

Will erhob sich von der Bank aus Sandstein, auf der er gelegen hatte, und beachtete weder Jacob noch Clara. Sein Blick suchte nur ein Gesicht: das der Fee, und Jacob fühlte, wie der Schmerz all die schützenden Schichten zerbrach, die er so viele Jahre um sein Herz gelegt hatte. Es war wieder so schutzlos, wie er es als Kind im leeren Zimmer seines Vaters gespürt hatte. Und wie damals gab es keinen Trost. Nur Liebe. Und Schmerz.

»Will?« Clara flüsterte den Namen seines Bruders, als wäre es der eines Toten. Sie machte einen Schritt auf Will zu, aber die Dunkle Fee trat ihr in den Weg.

»Lass ihn gehen«, sagte sie.

Die Wachen öffneten die Zellentür und die Fee zog Will mit sich.

»Komm«, sagte sie zu ihm. »Es wird Zeit aufzuwachen. Du hast viel zu lange geschlafen.«

Clara sah ihnen nach, bis sie auf dem dunklen Korridor verschwunden waren. Dann wandte sie sich zu Jacob um. Vorwürfe, Verzweiflung, Schuld. Sie machten ihre Augen dunkler als die der Fee. Was habe ich getan?, fragten sie. Warum hast du es nicht verhindert? Hattest du nicht versprochen, ihn zu beschützen? Aber vielleicht las er auch nur seine eigenen Gedanken in ihrem Blick.

»Sollen wir den hier erschießen?«, fragte eine der Wachen und wies mit der Flinte auf ihn.

Hentzau zog die Pistole, die sie Jacob abgenommen hatten, aus dem Gürtel. Er öffnete das Kugellager und betrachtete es wie den Kern einer fremden Frucht.

»Das ist eine interessante Pistole. Wo hast du sie her?«

Jacob wandte ihm den Rücken zu. Schieß schon, dachte er.

Die Zelle, der Goyl, der hängende Palast. Alles um ihn herum schien unwirklich. Die Feen und verwunschenen Wälder, die Füchsin, die ein Mädchen war - alles nichts als die Fieberträume eines Zwölfjährigen. Jacob sah sich wieder in der Zimmertür seines Vaters stehen und Will neugierig an ihm vorbeistarren, auf die staubigen Flugzeugmodelle, die alten Revolver. Und den Spiegel.

»Dreh dich um.« Hentzaus Stimme klang ungeduldig. Ihr Zorn war so leicht zu wecken. Er brannte gleich unter ihrer steinernen Haut.

Jacob gehorchte trotzdem nicht. Und hörte den Goyl lachen. »Dieselbe Arroganz.«.

»Dein Bruder sieht ihm nicht ähnlich. Deshalb habe ich erst nicht begriffen, wieso dein Gesicht mir so bekannt vorkam. Du hast dieselben Augen, denselben Mund. Aber dein Vater konnte seine Angst nicht halb so gut verbergen wie du.«

Jacob drehte sich um. Du bist so ein Idiot, Jacob Reckless.

»Die Goyl haben die besseren Ingenieure.« Wie oft hatte er den Satz schon hinter dem Spiegel gehört - ob in Schwanstein oder als Seufzer von Offizieren der Kaiserin - und sich nie etwas dabei gedacht.

Den Vater gefunden, den Bruder verloren. »Wo ist er?«, fragte er.

Hentzau hob die Augenbrauen. »Ich hoffte, das könntest du mir sagen. Wir haben ihn vor fünf Jahren in Blenheim gefangen. Er sollte dort eine Brücke bauen, weil die Bewohner es leid waren, von den Loreley gefressen zu werden. Der Fluss wimmelte schon damals von ihnen, auch wenn gern erzählt wird, dass die Fee sie ausgesetzt hat. John Reckless, so nannte er sich. Er trug immer ein Foto von seinen Söhnen bei sich. Kami'en hat ihn eine Kamera bauen lassen, lange bevor die Erfinder der Kaiserin daraufkamen. Er hat uns viel beigebracht. Aber wer hätte gedacht, dass einem seiner Söhne eines Tages eine Jadehaut wächst!«

Hentzau strich der Pistole über den altmodischen Lauf. »Er war nicht halb so störrisch wie du, wenn man ihm Fragen stellte, und was wir von ihm gelernt haben, war sehr hilfreich in diesem Krieg. Doch dann ist er uns davongelaufen. Ich habe Monate nach ihm gesucht, ohne je eine Spur von ihm zu entdecken. Und nun habe ich stattdessen seine Söhne gefunden.«

Er wandte sich zu den Wachen um.

»Lasst ihn am Leben, bis ich von der Hochzeit zurück bin. Es gibt viel, was ich ihn fragen will.«

»Und das Mädchen?« Der Wächter, der auf Clara wies, hatte eine Haut aus Mondstein.

»Lasst sie ebenfalls am Leben«, antwortete Hentzau. »Und das Fuchsmädchen auch. Die zwei machen ihn wahrscheinlich schneller gesprächig als die Skorpione.«

Hentzaus Schritte verhallten auf dem Korridor und durch das vergitterte Fenster drang der Lärm der unterirdischen Stadt herein. Aber Jacob war weit fort im Zimmer seines Vaters und fuhr mit Kinderfingern über den Rahmen des Spiegels.


40


DIE STÄRKE DER ZWERGE


Jacob hörte Clara in der Dunkelheit atmen - und weinen. Sie waren immer noch durch das Gitter getrennt, aber der Gedanke an Will trennte sie mehr voneinander als die Eisenstäbe. In Jacobs Kopf verschmolzen die Küsse, die Clara ihm gegeben hatte, mit dem Kuss, der seinen Bruder geweckt hatte. Und immer wieder sah er, wie Will die Augen aufschlug und in Jade ertrank.

Er erstickte fast an seiner eigenen Verzweiflung. Hatte Miranda ihn in ihren Träumen beobachtet? Hatte sie gesehen, wie kläglich er versagt hatte? Clara lehnte den Kopf gegen die kalte Zellenwand und Jacob wollte sie umarmen und ihr die Tränen vom Gesicht wischen. Es ist nichts, Jacob. Nichts als das Lerchenwasser.

Hinter dem vergitterten Fenster schimmerte der hängende Palast wie eine verbotene Frucht. Vermutlich war Will inzwischen dort ...

Clara hob den Kopf. Ein dumpfes Scharren drang von draußen herein, als kletterte etwas die Mauer hinauf, und gegen das Gitter ihres Zellenfensters presste sich ein bärtiges Gesicht.

Valiants Bart sprießte schon wieder fast so üppig wie in den Tagen, in denen er ihn mit Stolz getragen hatte, und seine kurzen Finger bogen die Eisenstäbe mühelos auseinander.

»Euer Glück, dass die Goyl selten Zwerge einsperren!«, flüsterte er, während er sich durch die verbogenen Stäbe zwängte. »Die Kaiserin lässt allen Zellengittern Silber zusetzen.«

Er ließ sich geschickt wie ein Wiesel von dem Fenster herab und verbeugte sich vor Clara.

»Was starrst du mich so an?«, sagte er zu Jacob. »Es sah zu komisch aus, als die Schlangen dich gepackt haben. Absolut unbezahlbar.«

»Ich bin sicher, die Goyl haben dich sehr gut für den Anblick bezahlt!« Jacob kam auf die Füße und warf einen Blick auf den Korridor, aber es war keine der Wachen zu sehen. »Wo genau hast du mich verkauft? Als ich Stunden vor dem Juwelierladen gewartet habe? Oder bei dem Schneider, der den Palast beliefert?«

Valiant schüttelte nur den Kopf, während er die Eisenschellen an Claras Handgelenken ebenso selbstverständlich auseinanderbog wie die Gitter vor dem Fenster. »Hört Euch das an!«, flüsterte er Clara zu. »Er kann einfach niemandem trauen. Ich habe ihm gesagt, dass es eine idiotische Idee ist, wie eine Kakerlake am Palast ihres Königs herumzuklettern. Aber hat er auf mich gehört? Nein.«

Der Zwerg stemmte die Gitter zwischen den Zellen auseinander und blieb vor Jacob stehen. »Ich nehme an, du gibst mir auch die Schuld dafür, dass sie die Mädchen gefunden haben. Es war nicht meine Idee, sie allein in der Wildnis zu lassen. Und es war bestimmt nicht Evenaugh Valiant, der den Goyl erzählt hat, wo sie sind.«

Er beugte sich mit wissendem Grinsen zu Jacob herab. »Sie haben die Skorpione auf dich losgelassen, stimmt's? Ich gebe zu, das hätte ich gern gesehen.«

Aus einer der Nachbarzellen drangen Stimmen herein, und Clara wich unter das Fenster zurück, aber der Korridor blieb leer.

»Ich habe deinen Bruder gesehen«, flüsterte Valiant Jacob zu, während er ihm die Handschellen auseinanderbog. »Falls du ihn noch so nennen willst. Jeder Zentimeter Haut ein Goyl, und er folgt der Fee wie ein Hund. Sie hat ihn mitgenommen zur Hochzeit ihres Liebsten. Die Hälfte der Wachen ist mit ihnen gezogen. Nur deshalb konnte ich riskieren, hier einzusteigen.«

Clara stand da und wandte den Blick nicht von der Sandsteinbank, auf der Will gelegen hatte.

»Hinaus mit Euch, Gnädigste«, raunte Valiant und half ihr so mühelos zum Fenster hinauf, als wöge sie nicht mehr als ein Kind. »Da draußen wartet ein Seil, das das Klettern fast allein besorgt, und an diesem Gebäude gibt es keine Schlangen.«

»Was ist mit Fuchs?«, flüsterte Jacob.

Valiant wies zur Decke. »Sie ist gleich über euch.«

Die Fassade des Gefängnisstalaktiten war zerklüftet wie Tropfstein und bot reichlich Halt, aber Clara zitterte, als sie sich aus dem Fenster schob. Sie klammerte sich an die Brüstung, während ihre Füße Halt zwischen den Steinen suchten. Valiant dagegen krallte sich an die Mauer, als wäre er daran geboren worden.

»Ganz ruhig«, flüsterte er Clara zu, während er nach ihrem Arm griff. »Und einfach nicht nach unten sehen.«

Der Zwerg hatte sich von einer Brücke abgeseilt, die kaum mehr als ein eiserner Fußweg war. Das Rapunzelseil spannte sich straff zwischen ihren Eisenträgern und dem Gefängnisstalaktiten. Es waren zehn steile Meter.

»Valiant hat recht!«, flüsterte Jacob, während er Claras Hände um das Seil legte. »Sieh nur nach oben. Und bleib unter der Brücke, bis wir mit Fuchs nachkommen.«

Das Goldene Seil war kaum mehr als ein Spinnenfaden in der riesigen Höhle und Clara kletterte quälend langsam. Jacob folgte ihr mit den Augen, bis sie die Brücke erreicht hatte und sich an eine der Metallstreben klammerte. Zwerge und Goyl waren bekannt für ihre Kletterkünste, doch Jacob fühlte sich nicht einmal an Berghängen wohl, geschweige denn an der Fassade eines Baus, der Hunderte von Metern über einer feindlichen Stadt hing. Aber zum Glück mussten sie nicht weit klettern. Valiant hatte recht. Sie hatten Fuchs gleich über ihnen eingesperrt.

Sie war in Menschengestalt, und als Jacob sich neben sie kniete, schlang sie ihm die Arme um den Hals und weinte wie ein Kind, während Valiant ihr die Ketten löste.

»Sie haben gesagt, sie ziehen mir das Fell ab, wenn ich mich verwandle!«, schluchzte sie. Von ihrem Zorn war nichts mehr zu spüren.

»Es ist gut!«, flüsterte Jacob und strich ihr über das rote Haar. »Alles wird gut.« Wirklich, Jacob? Wie?

Natürlich las Fuchs ihm die Verzweiflung vom Gesicht. »Du hast Will nicht gefunden«, flüsterte sie. »Doch. Aber er ist fort.«

Auf dem Korridor schlug eine Tür zu. Valiant spannte die Flinte, doch die Wächter zerrten einen anderen Gefangenen auf den Gang hinaus.

Fuchs kletterte ebenso gut wie der Zwerg, und Clara sah sehr erleichtert aus, als sie und Jacob sich neben ihr auf den Eisenträger zogen. Valiant schwang sich schon über das Brückengeländer, während Jacob das Rapunzelseil zwischen den Fingern rieb, bis es sich wieder in nichts als ein goldenes Haar verwandelte. Es verstrich eine Ewigkeit, bis der Zwerg sie zu sich hinaufwinkte. Unter ihnen marschierte ein Trupp Goyl über eine andere Brücke und ein Güterzug keuchte beim Überqueren des Abgrunds schmutzigen Rauch in die gewaltige Höhle. Bis auf zwei Schächte, durch die ein Schatten von Tageslicht fiel, war nichts zu entdecken, wodurch die Goyl sich der Abgase entledigten, die ihre Welt produzierte. Dein Vater wird ihnen wohl auch das beigebracht haben, Jacob, dachte er, während er Valiant über die eisernen Brückenplanken folgte. Aber er schob den Gedanken fort. Er wollte nicht an seinen Vater denken. Er wollte nicht einmal an Will denken. Er wollte zurück zu der Insel und wieder vergessen, alles vergessen, die Jade, das Lerchenwasser und die eisernen Brücken, die aussahen, als hätte John Reckless seine Signatur auf dieser Welt hinterlassen.

»Was ist mit Pferden?«, fragte Jacob den Zwerg, als sie sich in einem der Bogengänge verbargen, die sich an der Höhlenwand entlangzogen.

»Vergiss es«, knurrte Valiant. »Die Ställe sind zu nah beim Haupteingang. Zu viele Wachen.«

»Das heißt, du willst zu Fuß durch die Berge?«

»Hast du einen besseren Plan?«, zischte der Zwerg zurück.

Nein, hatte er nicht. Und wenn sie diesmal an den blinden Wächtern vorbeikamen, hatten sie nur Valiants Flinte und das Messer, das er Jacob mitgebracht hatte - nicht ohne dafür einen Goldtaler zu verlangen.

Fuchs verwandelte sich neben ihm wieder in die Füchsin, und Clara lehnte sich gegen eine der Säulen und blickte in die Tiefe, als wäre sie nicht wirklich bei ihnen. Vielleicht war sie wieder hinter dem Spiegel und saß mit Will in dem schäbigen Krankenhauscafe. Es war ein weiter Weg dorthin zurück, und jede Meile würde sie daran erinnern, dass Will nicht bei ihnen war.

Fenster und Türen hinter Vorhängen aus Sandstein. Häuser wie Schwalbennester. Goldaugen überall. Um nicht zu sehr aufzufallen, nahm Valiant zuerst Clara mit sich, während Jacob sich mit Fuchs zwischen den Häusern verbarg. Dann holte der Zwerg sie nach, und Clara versteckte sich in irgendeinem dunklen Winkel. Hinunter waren die steilen Straßen und Treppen für Menschen noch unbegehbarer als hinauf.

Valiant hatte den Buchstaben auf Jacobs Stirn nachgezogen und ging mit so selbstzufriedener Miene an Claras Seite, als führte er den Goyl seine frisch angetraute Frau vor. Wie auf dem Hinweg begegneten sie vielen Soldaten, und Jacob erwartete jedes Mal, wenn sie sich an einem vorbeidrängten, einen scharfen Zuruf oder den Griff einer steinernen Hand. Aber niemand hielt sie an, und nach ein paar endlosen Stunden erreichten sie endlich die Öffnung, durch die sie zum ersten Mal in die Höhle geblickt hatten. Erst in dem Tunnel dahinter verließ sie das Glück.

Sie waren so erschöpft, dass sie zusammenblieben. Jacob stützte Clara, auch wenn ihm die Blicke, die Fuchs ihm zuwarf, nicht entgingen. Die ersten Goyl, die ihnen begegneten, kamen von der Jagd. Sie waren zu sechst und hatten eine Meute zahmer Wölfe dabei, die ihnen selbst in die tiefsten Höhlen folgten. Zwei Knechte führten die Pferde mit der Beute: drei der großen Echsen, deren Stacheln die Goylkavallerie auf den Helmen trug, und sechs Fledermäuse, deren Hirn angeblich eine Delikatesse war. Keiner der Jäger warf Jacob mehr als einen schnellen Blick zu, als sie ihre Pferde an ihm vorbeitrieben. Doch die Goylpatrouille, die plötzlich aus einem der Seitentunnel auftauchte, war neugieriger. Es waren drei Soldaten. Einer von ihnen war ein Alabastergoyl - die Hautfarbe, die viele ihrer Spione hatten.

Sobald Valiant ihnen den Händler nannte, dem Jacob angeblich gehörte, wechselten sie einen raschen Blick. Der Alabastergoyl griff nach der Pistole, während er Valiant eröffnete, dass sein Handelspartner wegen illegaler Mineraliengeschäfte verhaftet worden war, aber der Zwerg war schneller. Er schoss den Alabastergoyl vom Pferd und Jacob warf dem zweiten das Messer in die Brust. Valiant hatte es in einem der Läden auf der Palastbrücke gekauft und die Klinge fuhr ohne Mühe durch seine Zitrinhaut. Jacob schauderte, als er begriff, wie sehr er sie alle töten wollte. Fuchs sprang dem Pferd des dritten zwischen die Beine, doch der Goyl brachte es unter Kontrolle und galoppierte davon, bevor Jacob einem der Toten die Waffe aus dem Gürtel ziehen konnte.

Valiant stieß einen Fluch aus, den selbst Jacob noch nie gehört hatte, und während die Hufschläge des galoppierenden Pferdes noch in der Dunkelheit verhallten, erhob sich ein Ton, der den Zwerg abrupt verstummen ließ. Er klang, als begännen tausend mechanische Grillen in den Felsen zu zirpen, und um sie her wurden die Steinwände lebendig. Käfer krochen aus Rissen und Löchern, Tausendfüßler, Spinnen, Kakerlaken. Motten schwirrten ihnen ins Gesicht, Mücken, Schnaken, Drachenfliegen. Sie setzten sich ihnen ins Haar und krochen ihnen in die Kleider. Der Alarm der Goyl ließ die Erde atmen, und ihre felsige Haut atmete Leben aus, krabbelnd, flatternd und beißend.

Sie stolperten weiter, fast blind in der Dunkelheit, um sich schlagend, und zertraten, was ihnen entgegenkroch. Keiner von ihnen wusste noch, wo sie hergekommen waren oder in welcher Richtung der Weg nach draußen lag. Um sie her zirpten weiter die Wände und das Licht der Taschenlampe war ein tastender Finger in der Dunkelheit. Jacob glaubte, Hufe in der Ferne zu hören, Stimmen. Sie steckten in der Falle, einer endlos verzweigten Falle, und die Angst ließ ihn die Verzweiflung vergessen, die er in der Zelle gespürt hatte, und weckte wieder den Willen zu leben. Nur leben, nichts weiter, und wieder ans Licht kommen. Luft atmen.

Fuchs bellte und Jacob sah sie in einem Seitengang verschwinden. Ein kühler Windzug strich ihm übers Gesicht, als er Clara mit sich zerrte. Licht fiel eine weite Treppe hinunter, und da waren sie: die Drachen, von denen der Fährmann erzählt hatte. Aber sie waren aus Metall und Holz und die erwachsenen Brüder der Modelle, die verstaubt über dem Schreibtisch von John Reckless hingen.


41


FLÜGEL


Der Alarm war auch in der Flugzeughöhle zu hören, aber dort kroch nichts aus den Wänden. Sie waren versiegelt und begradigt und durch einen weiten Tunnel fiel eine Ahnung von Tageslicht. Zwischen den Flugzeugen standen nur zwei unbewaffnete Goyl: Mechaniker, keine Soldaten. Sie hoben die Hände, sobald Valiant die Flinte auf sie richtete.

Auf ihren Gesichtern war die Todesangst ebenso deutlich zu sehen wie ihr berüchtigter Zorn. Jacob fesselte sie mit Kabeln, die Clara zwischen den Flugzeugen fand, aber einer riss sich los und holte mit den Krallen aus. Er ließ die Hände sinken, sobald Valiant die Flinte spannte, aber Jacob konnte nur an die Klauen denken, die Will den Nacken aufgerissen hatten. Er hatte nie Spaß am Töten gehabt, aber die Verzweiflung, die er spürte, seit Will der Dunklen Fee gefolgt war, ließ ihn Angst vor den eigenen Händen haben.

»Nein«, flüsterte Clara, während sie ihm das Messer aus der Hand nahm, und für einen Moment verband es sie stärker als das Lerchenwasser, dass sie die Dunkelheit in ihm verstand.

Valiant hatte die Goyl vergessen. Er hatte alles vergessen. Der Zwerg schien nichts mehr zu sehen und zu hören, weder das Zirpen in den Wänden noch die Stimmen, die draußen immer lauter durch die Tunnel schallten. Er hatte nur Augen für die drei Flugzeuge.

»Oh, das ist wunderbar!«, murmelte er. »Viel wunderbarer als ein stinkender Drache. Aber wie fliegen sie und was hat der Goyl mit ihnen vor?«

»Sie spucken Feuer«, sagte Jacob. »Wie alle Drachen.«

Es waren Doppeldecker, wie man sie im frühen zwanzigsten Jahrhundert in Europa gebaut hatte. Ein gewaltiger Sprung in die Zukunft für die Spiegelwelt - weiter als alles, was in den Fabriken von Schwanstein oder von den Ingenieuren der Kaiserin entwickelt wurde. Zwei der Maschinen glichen den Einsitzern, die die Kampfpiloten im Ersten Weltkrieg geflogen hatten, aber die dritte glich der Junkers J 4, einem Zweisitzer, der als Bomber und Erkundungsflugzeug konstruiert war. Jacob hatte ein Modell desselben Flugzeugs mit seinem Vater gebaut.

Fuchs ließ ihn nicht aus den Augen, als er in das enge Cockpit kletterte.

»Komm da runter!«, rief sie ihm zu. »Lass es uns mit dem Tunnel versuchen. Er führt ins Freie. Ich rieche es!«

Aber Jacob strich über die Kontrollinstrumente und prüfte die Ventile. Die Junkers war relativ leicht zu fliegen. Nur am Boden war sie plump und schwierig zu lenken. Das weißt du aus einem Euch, Jacob, und von Spielen mit Modellflugzeugen. Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass du sie deshalb fliegen kannst. Er war ein paarmal mit seinem Vater geflogen, als John Reckless der anderen Welt noch in einem Sportflugzeug statt durch den Spiegel entflohen war. Aber das war so lange her, dass es ebenso unwirklich schien wie die Tatsache, dass er einmal einen Vater gehabt hatte.

Der Alarm schrillte durch die Höhle, als hätte man Grillen in einer frisch gemähten Wiese aufgescheucht.

Jacob pumpte den Benzindruck hoch. Wo war die Zündung?

Valiant blickte entgeistert zu ihm hinauf.

»Warte! Du kannst dieses Ding fliegen?«

»Sicher!« Jacob hätte sich selbst fast überzeugt, so selbstverständlich kam ihm die Antwort über die Lippen.

»Zum Teufel, woher?«

Fuchs bellte warnend zu Jacob hinauf.

Die Stimmen draußen wurden lauter. Sie kamen.

Clara hob Valiant hastig auf eine der Tragflächen. Fuchs wich vor dem Flugzeug zurück, aber Clara nahm sie kurzerhand auf den Arm und kletterte mit ihr zum Cockpit hinauf.

Jacobs Finger fanden den Anzünder.

Der Motor sprang an. Der Propeller begann sich zu drehen, und während Jacob noch einmal durch die Kontrollinstrumente ging, glaubte er, die Hände seines Vaters bei denselben Handgriffen zu sehen. In einer anderen Welt. Einem anderen Leben. »Sieh dir das an, Jacob! Ein Aluminiumrumpf auf einem Metallskelett. Nur das Flugruder ist noch aus Holz.« John Reckless hatte nie leidenschaftlicher geklungen, als wenn er über alte Flugzeuge gesprochen hatte. Oder über Waffen.

Fuchs sprang zu Jacob nach vorn und duckte sich zitternd hinter seinen Beinen.

Maschinen. Metallener Lärm. Gebaute Bewegung. Mechanischer Zauber für die, denen kein Fell und keine Flügel wuchsen.

Jacob steuerte das Flugzeug auf den Tunnel zu. Ja, es war plump am Boden. Er konnte nur hoffen, dass es besser flog.

Schüsse hallten ihnen nach, als die Maschine in den Tunnel rollte. Der Lärm des Motors fing sich zwischen den Felswänden. Öl spritzte Jacob ins Gesicht und ein Flügel streifte fast die Felsen. Schneller, Jacob. Er beschleunigte, auch wenn es dadurch nicht leichter wurde, den Tunnelwänden fernzubleiben, und atmete auf, als die schwerfällige Maschine hinaus auf eine schotterbedeckte Startbahn schoss, über der eine blasse Sonne zwischen regenschweren Wolken trieb. Der Motorenlärm zerriss die Stille, und ein Schwarm Krähen erhob sich aus den nahen Bäumen, aber zum Glück flogen sie ihm nicht in den Propeller.

Zieh sie hoch, Jacob. Fuchs lässt sich ein Fell wachsen, dein Bruder trägt eine Haut aus Stein und du hast nun Flügel.

Maschinenzauber.

Sein Vater hatte Drachen aus Metall hinter den Spiegel gebracht. Und wie damals, als Jacob den Bogen Papier in einem seiner Bücher gefunden hatte, wollte der Gedanke nicht weichen, dass John Reckless seinem ältesten Sohn erneut etwas hinterlassen hatte.

Das Flugzeug stieg höher und höher, und Jacob sah unter sich Straßen und Gleise, die durch massive Torbögen im Innern eines Berges verschwanden. Noch vor wenigen Jahren war der Eingang der Goylfestung nur ein natürlicher Spalt am Fuß des Berges gewesen. Doch inzwischen schmückten Echsen aus Jade die Tore, und in die Bergflanke war das Wappen des Königs eingelassen, das Kami'en erst vor einem Jahr zu dem seinen erklärt hatte: der Umriss einer schwarzen Motte in einem Feld aus Karneol. Die Sonne zeichnete ihr den Schatten des Flugzeugs unter die Flügel, als Jacob an dem Wappen vorbeiflog.

Er stahl dem König der Goyl seinen Drachen. Aber auch das gab ihm nicht seinen Bruder zurück.


42


ZWEI WEGE


Zurück. Über den Fluss, auf dem sie fast die Loreley gefressen hatten, die Berge, in denen Jacob gestorben war, das geplünderte Land, in dem die Prinzessin zwischen Rosen schlief und Will die Goyl zum ersten Mal wie seinesgleichen angestarrt hatte ... Die Junkers brachte die Meilen, für die sie mehr als eine Woche gebraucht hatten, in wenigen Stunden hinter sich. Aber Jacob kam der Weg trotzdem ebenso lang vor, denn jede Meile machte es unwiderruflicher, dass er keinen Bruder mehr hatte.

»Wo ist Will, Jacob?« Ms Kind hatte er ihn mehr als einmal verloren. Beim Einkaufen oder im Park, weil es ihm peinlich gewesen war, die Hand seines kleinen Bruders zu halten. Will war fort gewesen, sobald man seine kurzen Finger losließ. Einem Eichhörnchen nach, einem streunenden Hund, einer Krähe ... Einmal hatte Jacob Stunden nach ihm gesucht, bis er Will mit verheultem Gesicht vor einem Ladeneingang gefunden hatte. Aber diesmal gab es keinen Ort, an dem er suchen konnte, keinen Weg, den er zurückgehen konnte, um seinen Fehler ungeschehen zu machen, den einen Moment der Unachtsamkeit.

Jacob folgte einer Gleisstrecke nach Osten, in der Hoffnung, dass sie Richtung Schwanstein führte. Es war bitterkalt in dem offenen Flugzeug, obwohl er nicht allzu hoch flog, und der Wind fuhr immer wieder so tückisch unter die aluminiumverkleideten Flügel, dass Jacob die Selbstvorwürfe vergaß und nur mit der schwankenden Maschine kämpfte. Hinter ihm begann der Zwerg jedes Mal zu fluchen, wenn das Flugzeug an Höhe verlor, auch wenn er es bestimmt genoss, sich den engen Rücksitz mit Clara zu teilen, und Fuchs ließ immer öfter ein klägliches Jaulen hören. Nur von Clara kam kein Laut, als ließe sie den Wind alles fortwehen, was in den letzten Tagen passiert war.

Fliegen.

Es war, als wären beide Welten verschmolzen. Als gäbe es den Spiegel nicht mehr. Wenn aus den Drachen Maschinen wurden, was kam als Nächstes?

Es war nicht gut, solche Gedanken hinter dem Steuerknüppel eines Doppeldeckers zu haben, schon gar nicht, wenn man zum ersten Mal dahintersaß. Der aufsteigende Dampf einer Lok nahm Jacob die Sicht. Er zog das Flugzeug zu schnell hoch, und die Junkers stützte auf die Erde zu, als hätte sie sich plötzlich daran erinnert, dass sie eigentlich aus einer anderen Welt stammte. Fuchs duckte sich winselnd und Valiants Flüche übertönten den spuckenden Motor.

Natürlich. Wie hast du glauben können, dass auf etwas Verlass ist, das von deinem Vater stammt, Jacob?

Er spürte, wie Clara die Finger in seine Schulter grub. Was würde sein letzter Gedanke sein? Die Erinnerung an Wills Jadegesicht oder die toten Lerchen?

Er fand es nicht heraus.

Ein Windstoß fing den Fall der stöhnenden Maschine auf, und Jacob konnte sie abfangen, bevor sie die ersten Baumwipfel streifte. Das Flugzeug schlingerte wie ein angeschossener Vogel, aber er schaffte es, die Räder auf einer morastigen Anhöhe aufzusetzen. Das Ruder zerbrach bei dem Aufprall. Einer der Flügel zersplitterte an einem Baum, und der Rumpf riss auf, als es über den steinigen Grund schlitterte, aber schließlich kam es zum Halten. Der Motor erstarb mit einem letzten Röcheln - und sie lebten noch.

Valiant kletterte stöhnend auf die Tragfläche und übergab sich unter einem Baum. Der Zwerg hatte sich die Nase aufgeschlagen, und Clara hatte ein Zweig die Hand verletzt, aber ansonsten waren sie unversehrt. Fuchs war so glücklich, festen Boden unter den Pfoten zu spüren, dass sie dem ersten Kaninchen nachsprang, das den Kopf aus dem Gras hob.

Die Füchsin warf Jacob einen erleichterten Blick zu, als sie zu ihrer Linken den Hügel mit der Ruine bemerkte. Sie waren tatsächlich nicht weit entfernt von Schwanstein. Aber Jacob starrte auf die Gleise, die sich am Fuß der Anhöhe wie eine Eisennaht nach Süden zogen, nicht bloß nach Schwanstein, sondern weiter, sehr viel weiter ... bis nach Vena, in die Hauptstadt der Kaiserin. Er glaubte, die fünf Brücken vor sich zu sehen, den Palast, die Türme der Kathedrale ...

»Reckless! Hörst du mir überhaupt zu?« Valiant wischte sich mit dem Ärmel das Blut von der Nase. »Wie weit ist es noch?«

»Was?« Jacob starrte immer noch auf die Gleise.

»Zu deinem Haus. Mein Goldbaum!«

Jacob antwortete nicht. Er blickte nach Osten, wo der Zug, der sie hatte abstürzen lassen, zwischen den Hügeln auftauchte. Weißer Rauch und schwarzes Eisen.

»Fuchs.« Er kniete sich neben sie. Ihr Fell war immer noch zerzaust vom Wind. »Ich will, dass du Clara zu der Ruine zurückbringst. Ich komm in ein paar Tagen nach.«

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