Cornelia Funke

RECKLESS. Steinernes Fleisch

Gefunden und erzählt von Cornelia Funke und Lionel Wigram


1

ES WAR EINMAL


Die Nacht atmete in der Wohnung wie ein dunkles Tier. Das Ticken einer Uhr. Das Knarren der Holzdielen, als er sich aus dem Zimmer schob - alles ertrank in ihrer Stille. Aber Jacob liebte die Nacht. Er spürte ihre Dunkelheit wie ein Versprechen auf der Haut. Wie einen Mantel, der aus Freiheit und Gefahr gewebt war.

Draußen ließen die grellen Lichter der Stadt die Sterne verblassen und die große Wohnung war stickig von der Traurigkeit seiner Mutter. Sie wachte nicht auf, als Jacob in ihr Zimmer schlich und die Nachttischschublade aufzog. Der Schlüssel lag gleich neben den Pillen, die sie schlafen ließen. Das Metall schmiegte sich kühl in seine Hand, als er wieder auf den dunklen Flur hinaustrat.

Im Zimmer seines Bruders brannte wie immer noch Licht - Will hatte Angst im Dunkeln -, und Jacob überzeugte sich, dass er fest schlief, bevor er das Arbeitszimmer ihres Vaters aufschloss. Ihre Mutter hatte es nicht mehr betreten, seit er verschwunden war, doch Jacob stahl sich nicht zum ersten Mal hinein, um dort nach den Antworten zu suchen, die sie ihm nicht geben wollte.

Es sah immer noch so aus, als hätte John Reckless erst vor einer Stunde und nicht vor mehr als einem Jahr zuletzt an seinem Schreibtisch gesessen. Über dem Stuhl hing die Strickjacke, die er oft getragen hatte, und ein benutzter Teebeutel vertrocknete auf einem Teller neben dem Kalender, der die Wochen eines vergangenes Jahres zeigte.

Komm zurück! Jacob schrieb es mit dem Finger auf die beschlagenen Fenster, auf den staubigen Schreibtisch und die Scheiben des Glasschranks, in dem immer noch die alten Pistolen lagen, die sein Vater gesammelt hatte. Aber das Zimmer war still und leer und er war zwölf und hatte keinen Vater mehr. Jacob trat gegen die Schubladen, die er schon so viele Nächte vergebens durchsucht hatte, zerrte in stummer Wut Bücher und Zeitschriften aus den Regalen und riss die Flugzeugmodelle herunter, die über dem Schreibtisch hingen, voll Scham über den Stolz, den er empfunden hatte, als er eins davon mit rotem Lack hatte bepinseln dürfen.

Komm zurück! Er wollte es durch die Straßen schreien, die sieben Stockwerke tiefer Schneisen aus Licht zwischen die Häuserblocks schnitten, und in die tausend Fenster, die leuchtende Quadrate aus der Nacht stanzten.

Das Blatt Papier fiel aus einem Buch über Flugzeugtriebwerke, und Jacob hob es nur auf, weil er die Handschrift darauf für die seines Vaters hielt. Aber er erkannte seinen Irrtum schnell. Symbole und Gleichungen, die Skizze eines Pfaus, eine Sonne, zwei Monde. Nichts davon machte Sinn. Bis auf einen Satz, den er auf der Rückseite des Blattes fand.

DER SPIEGEL ÖFFNET SICH NUR FÜR DEN, DER SICH SELBST NICHT SIEHT.

Jacob wandte sich um und sein Spiegelbild erwiderte seinen Blick.

Der Spiegel. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sein Vater ihn aufgehängt hatte. Wie ein schimmerndes Auge hing er zwischen den Bücherregalen. Ein Abgrund aus Glas, in dem sich verzerrt all das spiegelte, was John Reckless zurückgelassen hatte: sein Schreibtisch, die alten Pistolen, seine Bücher - und sein ältester Sohn.

Das Glas war so uneben, dass man sich kaum darin erkannte, und dunkler als das anderer Spiegel, aber die Rosenranken, die sich über den silbernen Rahmen wanden, sahen so echt aus, als würden sie im nächsten Moment welken.

DER SPIEGEL ÖFFNET SICH NUR FÜR DEN, DER SICH SELBST NICHT SIEHT.

Jacob schloss die Augen.

Er kehrte dem Spiegel den Rücken zu.

Tastete hinter dem Rahmen nach irgendeinem Schloss oder Riegel. Nichts.

Er blickte immer wieder nur seinem eigenen Spiegelbild in die Augen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff.

Seine Hand war kaum groß genug, um das verzerrte Abbild seines Gesichts zu verdecken, aber das Glas schmiegte sich an seine Finger, als hätte es auf sie gewartet, und plötzlich war der Raum, den er hinter sich im Spiegel sah, nicht mehr das Zimmer seines Vaters.

Jacob drehte sich um.

Durch zwei schmale Fenster fiel Mondlicht auf graue Mauern, und seine nackten Füße standen auf Holzdielen, die mit Eichelschalen und abgenagten Vogelknochen bedeckt waren. Der Raum war größer als das Zimmer seines Vaters und über ihm hingen Spinnweben wie Schleier im Gebälk eines Daches.

Wo war er? Das Mondlicht malte ihm Flecken auf die Haut, als er auf eines der Fenster zutrat. An dem rauen Sims klebten die blutigen Federn eines Vogels, und tief unter sich sah er verbrannte Mauern und schwarze Hügel, in denen ein paar verlorene Lichter glimmten. Er war in einem Turm. Verschwunden das Häusermeer und die erleuchteten Straßen. Alles, was er kannte, war fort, und zwischen den Sternen standen zwei Monde, von denen der kleinere rot wie eine rostige Münze war.

Jacob blickte sich zu dem Spiegel um und sah darin die Angst auf dem eigenen Gesicht. Aber Angst war ein Gefühl, das ihm schon immer gefallen hatte. Sie lockte an dunkle Orte, durch verbotene Türen und weit fort von ihm selbst. Sogar die Sehnsucht nach seinem Vater ertrank in ihr.

Es gab keine Tür in den grauen Mauern, nur eine Luke im Boden. Als Jacob sie öffnete, sah er die Reste einer verbrannten Treppe, die in der Dunkelheit verschwand, und für einen Augenblick glaubte er unter sich einen winzigen Mann an den Steinen hinaufklettern zu sehen. Aber ein Scharren ließ ihn herumfahren.

Spinnweben fielen auf ihn herab und etwas sprang ihm mit einem heiseren Knurren in den Nacken. Es klang wie ein Tier, doch das verzerrte Gesicht, das die Zähne nach seiner Kehle bleckte, war so bleich und faltig wie das eines alten Mannes. Er war sehr viel kleiner als Jacob und mager wie eine Heuschrecke. Seine Kleider schienen aus Spinnweben gemacht, das graue Haar hing ihm bis zur Hüfte, und als Jacob seinen dürren Hals packte, gruben sich gelbe Zähne tief in seine Hand. Mit einem Aufschrei stieß er den Angreifer von seiner Schulter und stolperte auf den Spiegel zu. Der Spinnenmann kam erneut auf die Füße und sprang ihm nach, während er sich Jacobs Blut von den Lippen leckte, doch bevor er ihn erreichte, presste Jacob schon die unverletzte Hand auf sein verängstigtes Gesicht. Die dürre Gestalt verschwand ebenso wie die grauen Mauern und er sah hinter sich wieder den Schreibtisch seines Vaters.

»Jacob?«

Die Stimme seines Bruders drang kaum durch das Klopfen seines Herzens. Jacob rang nach Atem und wich vor dem Spiegel zurück.

»Jake, bist du da drin?«

Er zog sich den Ärmel über die zerbissene Hand und öffnete die Tür.

Wills Augen waren weit vor Angst. Er hatte wieder schlecht geträumt. Kleiner Bruder. Will folgte Jacob wie ein junger Hund und Jacob beschützte Will auf dem Schulhof und im Park. Und verzieh ihm manchmal sogar, dass ihre Mutter ihn mehr liebte.

»Mam sagt, wir sollen nicht in das Zimmer.«

»Seit wann tue ich, was Mam sagt? Wenn du mich verrätst, nehme ich dich nie wieder mit in den Park.«

Jacob glaubte, das Glas des Spiegels wie Eis im Nacken zu spüren. Will lugte an ihm vorbei, aber er senkte den Kopf, als Jacob die Tür hinter sich zuzog. Will war vorsichtig, wo sein Bruder leichtsinnig, sanft, wo er aufbrausend, ruhig, wo er rastlos war. Als Jacob nach seiner Hand griff, bemerkte Will das Blut an seinen Fingern und blickte ihn fragend an, aber Jacob zog ihn wortlos zu seinem Zimmer zurück.

Was der Spiegel ihm gezeigt hatte, gehörte ihm. Nur ihm.

2

ZWÖLF JAHRE SPÄTER


Die Sonne stand schon tief über den Mauern der Ruine, aber Will schlief immer noch, erschöpft von den Schmerzen, die ihn seit Tagen schüttelten.

Ein Fehler, Jacob, nach all den Jahren der Vorsicht. Er richtete sich auf und deckte Will mit seinem Mantel zu.

All die Jahre, in denen er eine ganze Welt sein Eigen genannt hatte. All die Jahre, in denen aus der fremden Welt das Zuhause geworden war. Vorbei. Schon mit fünfzehn hatte Jacob sich für Wochen hinter den Spiegel gestohlen. Mit sechzehn hatte er nicht einmal mehr die Monate gezählt und trotzdem hatte er sein Geheimnis bewahrt. Bis er es einmal zu eilig gehabt hatte. Hör auf, Jacob. Es ist nicht mehr zu ändern.

Die Kratzwunden am Hals seines Bruders waren gut verheilt, aber am linken Unterarm zeigte sich schon der Stein. Die blassgrünen Adern trieben bis hinunter zur Hand und schimmerten in Wills Haut wie polierter Marmor.

Ein Fehler nur.

Jacob lehnte sich gegen eine der verrußten Säulen und blickte hinauf zu dem Turm, in dem der Spiegel stand. Er war nie hindurchgegangen, ohne sich zu vergewissern, dass Will und seine Mutter schliefen. Aber seit ihrem Tod gab es auf der anderen Seite nur noch ein leeres Zimmer mehr, und er hatte es nicht erwarten können, die Hand wieder auf das dunkle Glas zu pressen und fortzukommen. Weit fort.

Ungeduld, Jacob. Nenne es beim Namen. Eine deiner hervorstechendsten Eigenschaften.

Er sah immer noch Wills Gesicht hinter sich im Spiegel auftauchen, verzerrt von dem dunklen Glas. »Wo willst du hin, Jacob'?« Ein Nachtflug nach Boston, eine Reise nach Europa, es hatte viele Ausreden im Lauf der Jahre gegeben. Jacob war ein ebenso einfallsreicher Lügner, wie sein Vater es gewesen war. Doch diesmal hatte seine Hand sich schon auf das kühle Glas gepresst und natürlich hatte Will es ihm nachgetan.

Kleiner Bruder.

»Er riecht schon wie sie.«

Fuchs löste sich aus den Schatten, die die zerstörten Mauern warfen. Ihr Fell war so rot, als hätte der Herbst es ihr gefärbt, und am Hinterlauf sah man noch die Narben, die die Falle hinterlassen hatte. Fünf Jahre war es her, dass Jacob sie daraus befreit hatte, und seither wich die Füchsin ihm nicht von der Seite.

Sie bewachte seinen Schlaf, warnte ihn vor Gefahren, die seine stumpfen Menschensinne nicht wahrnahmen, und gab Rat, den man besser befolgte. Ein Fehler.

Jacob trat durch den Torbogen, in dessen verbogenen Angeln immer noch die verkohlten Reste des Schlossportals hingen. Auf der Treppe davor sammelte ein Heinzel Eicheln von den zersprungenen Stufen. Er huschte hastig davon, als Jacobs Schatten auf ihn fiel. Spitznasig und rotäugig, in Hosen und Hemden, die sie aus gestohlenen Menschenkleidern nähten - die Ruine wimmelte von ihnen.

»Schick ihn zurück! Deshalb sind wir hergekommen, oder?« Die Ungeduld in Fuchs' Stimme war nicht zu überhören.

Aber Jacob schüttelte den Kopf. »Es war falsch, ihn hierher zu bringen. Es gibt nichts auf der anderen Seite, das ihm helfen könnte.«

Jacob hatte Fuchs von der Welt erzählt, aus der er kam, aber sie wollte nicht wirklich davon hören. Ihr reichte, was sie wusste: dass es der Ort war, an den er allzu oft verschwand und mit Erinnerungen zurückkam, die ihm wie Schatten folgten.

»Und? Was glaubst du, was hier mit ihm passieren wird?«

Fuchs sprach es nicht aus, doch Jacob wusste, was sie dachte. In dieser Welt erschlugen Männer ihre eigenen Söhne, sobald sie den Stein in ihrer Haut entdeckten.

Er blickte hinunter auf die roten Dächer, die sich am Fuß des Schlosshügels in der Dämmerung verloren. In Schwanstein flammten die ersten Lichter auf. Die Stadt sah von fern aus wie eines der Bilder, die man auf Lebkuchendosen druckte, aber seit ein paar Jahren durchzogen Eisenbahngleise die Hügel dahinter, und aus Fabrikschornsteinen stieg grauer Rauch in den Abendhimmel. Die Welt auf der anderen Seite des Spiegels wollte erwachsen werden. Aber das Steinerne Fleisch, das seinem Bruder wuchs, hatten nicht mechanische Webstühle oder andere moderne Errungenschaften gesät, sondern der alte Zauber, der in ihren Hügeln und Wäldern hauste.

Ein Goldrabe landete auf den zersprungenen Fliesen. Jacob scheuchte ihn fort, bevor er Will einen seiner finsteren Flüche zukrächzen konnte.

Sein Bruder stöhnte im Schlaf. Die Menschenhaut machte dem Stein nicht kampflos Platz und Jacob spürte den Schmerz wie seinen eigenen. Nur aus Liebe zu seinem Bruder war er immer wieder in die andere Welt zurückgekehrt, auch wenn seine Besuche von Jahr zu Jahr seltener geworden waren. Ihre Mutter hatte geweint und ihm mit der Fürsorge gedroht, ohne je zu ahnen, wohin er verschwand, aber Will hatte ihm die Arme um den Hals geschlungen und gefragt, was er ihm mitgebracht hatte. Heinzelschuhe, die Mütze eines Däumlings, einen Knopf aus Elfenglas, ein Stück schuppige Wassermannhaut - Will hatte Jacobs Mitbringsel unter dem Bett versteckt und die Geschichten, die er ihm dazu erzählte, schon bald für Märchen gehalten, die er nur für ihn erfand.

Nun wusste er, dass sie alle wahr waren.

Jacob zog ihm den Mantel über den entstellten Arm. Am Himmel waren schon die zwei Monde zu sehen.

»Pass auf ihn auf, Fuchs.« Er erhob sich. »Ich bin bald zurück.«

»Wo willst du hin? Jacob!« Die Füchsin sprang ihm in den Weg. »Es kann ihm niemand mehr helfen!«

»Wir werden sehen.« Er schob sie beiseite. »Sorg dafür, dass Will nicht in den Turm hinaufgeht.«

Sie blickte ihm nach, als er die Treppe hinunterstieg. Die einzigen Stiefelabdrücke auf den vermoosten Stufen waren seine eigenen. Kein Mensch kam hierher. Die Ruine galt als verflucht und Jacob hatte schon Dutzende von Geschichten über ihren Untergang gehört. Aber nach all den Jahren wusste er immer noch nicht, wer den Spiegel in ihrem Turm hinterlassen hatte. Ebenso wenig, wie er je herausgefunden hatte, wohin sein Vater verschwunden war.

Ein Däumling sprang ihm in den Kragen. Jacob bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er ihm das Medaillon vom Hals riss, das er trug. An jedem anderen Tag wäre er dem kleinen Dieb auf der Stelle gefolgt. Däumlinge horteten beachtliche Schätze in den hohlen Bäumen, in denen sie hausten. Doch er hatte schon viel zu viel Zeit verloren.

Ein Fehler, Jacob.

Er würde ihn wiedergutmachen. Aber Fuchs' Worte folgten ihm, während er den steilen Hang hinunterstieg.

Es kann ihm niemand mehr helfen.

Wenn sie recht hatte, würde er schon bald keinen Bruder mehr haben. Weder in dieser noch in der anderen Welt.

Ein Fehler.

3

GOYL


Das Feld, über das Hentzau mit seinen Soldaten ritt, roch immer noch nach Blut. Der Regen hatte die Gräben mit schlammigem Wasser gefüllt, und hinter den Mauern, die beide Seiten zur Deckung errichtet hatten, war der Boden bedeckt mit herrenlosen Flinten und zerschossenen Helmen. Kami'en hatte die Pferde- und Menschenleichen verbrennen lassen, bevor sie zu verwesen begannen, aber die gefallenen Goyl lagen noch dort, wo sie gestorben waren. Schon in wenigen Tagen würden sie nicht mehr von den Steinen zu unterscheiden sein, die aus der zertretenen Erde ragten, und die Köpfe derer, die in vorderster Linie gekämpft hatten, waren, wie es Goylsitte war, in die Hauptfestung gebracht worden.

Noch eine Schlacht. Hentzau war sie leid, aber diese würde hoffentlich für eine Weile die letzte gewesen sein. Die Kaiserin war endlich bereit zu verhandeln und selbst Kami'en wollte Frieden. Hentzau presste sich die Hand vors Gesicht, als der Wind Asche von der Anhöhe herabwehte, auf der sie die Leichen verbrannt hatten. Sechs Jahre über der Erde, sechs Jahre ohne schützenden Fels zwischen ihm und der Sonne. Die Augen schmerzten ihm von all dem Tageslicht, und die Luft wurde mit jedem Tag kälter und machte seine Haut spröde wie Muschelkalk. Hentzaus Haut glich braunem Jaspis. Nicht die feinste Farbe, die ein Goyl haben konnte. Er war der erste Jaspisgoyl, der je in die obersten Militärränge aufgestiegen war, aber die Goyl hatten vor Kami'en auch noch nie einen König gehabt, und Hentzau gefiel seine Haut. Jaspis war eine wesentlich bessere Tarnfarbe als Onyx oder Mondstein.

Kami'en hatte unweit des Schlachtfelds Quartier bezogen, im Jagdschloss eines kaiserlichen Generals, der, wie die meisten seiner Offiziere, gefallen war. Die Wachen vor dem zerstörten Tor salutierten, als Hentzau auf sie zuritt. Den Bluthund des Königs nannten sie ihn, seinen Jaspisschatten. Hentzau diente Kami'en schon, seit sie gemeinsam die anderen Anführer bekämpft hatten. Zwei Jahre hatten sie gebraucht, um sie alle zu töten, aber danach hatten die Goyl zum ersten Mal einen König gehabt.

Die Straße, die vom Tor zum Schloss hinaufführte, war gesäumt von marmorweißen Statuen, und während Hentzau an ihnen vorbeiritt, amüsierte er sich nicht zum ersten Mal darüber, dass Menschen ihre Götter und Helden durch Abbilder aus Stein verewigten, während sie seinesgleichen für ihre Haut verabscheuten. Selbst die Weichhäute mussten es zugeben. Stein war das Einzige, was blieb.

Die Fenster des Schlosses waren zugemauert, wie die Goyl es bei allen Gebäuden taten, die sie besetzten, doch erst auf der Treppe, die in die Vorratskeller hinabführte, umgab Hentzau endlich die wohltuende Dunkelheit, die man unter der Erde fand. Nur wenige Gaslampen erleuchteten die Gewölbe, die nun statt Vorräten und verstaubten Jagdtrophäen den Generalstab des Königs der Goyl beherbergten.

Kami'en. Sein Name bedeutete in ihrer Sprache nichts anderes als Stein. Sein Vater hatte eine der untersten Städte befehligt, aber Väter zählten bei ihnen nicht viel. Die Mütter zogen sie auf, und mit neun war ein Goyl erwachsen und auf sich gestellt. Die meisten erkundeten danach die Untere Welt auf der Suche nach unentdeckten Höhlen, bis selbst steinerne Haut die Hitze dort nicht länger ertrug. Doch Kami'en hatte immer nur die Obere Welt interessiert. Er hatte lange in einer der Höhlenstädte gelebt, die sie über der Oberfläche gebaut hatten, weil es in den unteren Städten zu voll wurde, und dort zwei Menschenangriffe überlebt. Danach hatte er begonnen, ihre Waffen und Kriegstechniken zu studieren, und sich in ihre Städte und Militärlager geschlichen. Mit neunzehn hatte er ihre erste Stadt erobert.

Als die Leibwachen Hentzau hereinwinkten, stand Kami'en vor der Karte, die seine Eroberungen und die Positionen seiner Gegner zeigte. Die Figuren, die ihre Truppen verkörperten, hatte er nach seiner ersten gewonnenen Schlacht anfertigen lassen. Soldaten, Kanoniere, Scharfschützen, Reiterfiguren für die Kavallerie. Die Goyl waren aus Karneol, die Kaiserlichen aus Silber, Lothringen trug Gold, die Armeen im Osten Kupfer und Albions Truppen marschierten in Elfenbein. Kami'en blickte auf sie herab, als suchte er nach einem Weg, sie alle gemeinsam zu schlagen. Er trug Schwarz, wie immer, wenn er die Uniform ablegte, und seine rote Haut schien noch mehr als sonst aus Feuer gemacht. Nie zuvor war Karneol die Hautfarbe eines Anführers gewesen. Bei den Goyl war Onyx die Farbe der Fürsten.

Kami'ens Geliebte trug wie immer Grün, Schichten aus smaragdfarbenem Samt, die sie einhüllten wie die Blätter einer Blüte. Selbst die schönste Goylfrau verblasste neben ihr wie ein Kiesel neben geschliffenem Mondstein, aber Hentzau verbot seinen Soldaten immer wieder, sie anzusehen. Nicht umsonst gab es all die Geschichten über Feen, die Männer mit einem Blick in Disteln oder hilflos zappelnde Fische verwandelten. Ihre Schönheit war Spinnengift. Das Wasser hatte sie und ihre Schwestern geboren, und Hentzau fürchtete sie ebenso sehr wie die Meere, die an den Steinen der Welt nagten.

Die Fee streifte ihn nur mit einem Blick, als er eintrat. Die Dunkle Fee. Selbst ihre eigenen Schwestern hatten sie verstoßen. Es hieß, dass sie Gedanken lesen konnte, aber Hentzau glaubte das nicht. Sie hätte ihn längst getötet für all das, was er über sie dachte.

Er kehrte ihr den Rücken zu und beugte den Kopf vor dem König. »Ihr habt mich rufen lassen.«

Kami'en griff nach einer der Silberfiguren und wog sie in der Hand. »Du musst jemanden für mich finden. Einen Menschen, dem das Steinerne Fleisch wächst.«

Hentzau warf der Fee einen raschen Blick zu.

»Wo soll ich da suchen?«, erwiderte er. »Davon gibt es inzwischen Tausende.«

Menschengoyl. Früher hatte Hentzau seine Klauen zum Töten benutzt, doch nun ließ der Zauber der Fee sie Steinernes Fleisch säen. Wie alle Feen konnte sie keine Kinder gebären, also schenkte sie Kami'en Söhne, indem jeder Klauenhieb seiner Soldaten einen seiner Feinde zum Goyl machte. Niemand kämpfte mitleidloser als ein Menschengoyl gegen seine früheren Artgenossen, aber Hentzau verabscheute sie ebenso sehr wie die Fee, deren Zauber sie erschaffen hatte.

Auf Kami'ens Mund hatte sich ein Lächeln gestohlen. Nein. Die Fee konnte Hentzaus Gedanken nicht lesen, aber sein König schon.

»Keine Sorge. Der, den du finden sollst, ist leicht von den anderen zu unterscheiden.« Kami'en stellte die silberne Figur zurück auf die Karte. »Die Haut, die ihm wächst, ist aus Jade.«

Die Wachen wechselten einen raschen Blick, aber Hentzau verzog nur ungläubig den Mund. Die Lavamänner, die das Blut der Erde kochten, der augenlose Vogel, der alles sah - und der Goyl mit der Jadehaut, der den König, dem er diente, unbesiegbar machte ... Geschichten für Kinder, um die Dunkelheit unter der Erde mit Bildern zu füllen.

»Welcher Kundschafter hat Euch das erzählt?« Hentzau strich sich über die schmerzende Haut. Schon bald würde sie durch die Kälte mehr Risse haben als zersplittertes Glas. »Lasst ihn erschießen. Der Jadegoyl ist ein Märchen. Seit wann verwechselt Ihr die mit der Wirklichkeit?«

Die Wachen senkten nervös die Köpfe. Jeden anderen Goyl hätten solche Worte das Leben gekostet, aber Kami'en zuckte nur die Schultern.

»Finde ihn!«, sagte er. »Sie hat von ihm geträumt.«

Sie. Die Fee strich über den Samt ihres Kleides. Sechs Finger an jeder Hand. Jeder für einen anderen Zauber. Hentzau spürte, wie der Zorn in ihm erwachte. Der Zorn, der ihnen allen im steinernen Fleisch nistete wie die Hitze im Schoß der Erde. Er würde für seinen König sterben, wenn es nötig war, aber es war etwas anderes, nach den Traumgespinsten seiner Geliebten zu suchen.

»Ihr braucht keinen Jadegoyl, um unbesiegbar zu sein!«

Kami'en musterte ihn wie einen Fremden.

Euer Majestät. Hentzau ertappte sich immer öfter dabei, dass er Scheu hatte, ihn beim Namen zu nennen.

»Finde ihn«, wiederholte Kami'en. »Sie sagt, es ist wichtig, und bisher hatte sie immer recht.«

Die Fee trat an seine Seite, und Hentzau malte sich aus, wie er ihr den blassen Hals zudrückte. Aber nicht einmal das brachte Trost. Sie war unsterblich und irgendwann würde sie ihm beim Sterben zusehen. Ihm und Kami'en. Und dessen Kindern und Kindeskindern. Sie alle waren ihr Spielzeug, ihr sterbliches, steinernes Spielzeug. Aber Kami'en liebte sie, mehr als die beiden Goylfrauen, die ihm drei Töchter und einen Sohn geschenkt hatten.

Weil sie ihn verhext hat!, flüsterte es in Hentzau. Doch er beugte den Kopf und legte die Faust ans Herz. »Was immer Ihr befehlt.«

»Ich habe ihn im Schwarzen Wald gesehen.« Selbst ihre Stimme klang nach Wasser.

»Der ist sechzig Quadratmeilen groß!«

Die Fee lächelte, und Hentzau spürte, wie Hass und Furcht ihm das Herz erstickten.

Ohne ein Wort löste sie die Perlenspangen, mit denen sie ihr Haar hochsteckte wie eine Menschenfrau, und fuhr mit der Hand hindurch. Schwarze Motten flatterten ihr zwischen den Fingern hervor, mit blassen Flecken auf den Flügeln, die aussahen wie Schädel. Die Wachen öffneten hastig die Türen, als sie auf sie zuschwärmten, und auch Hentzaus Soldaten, die draußen auf dem dunklen Korridor warteten, wichen zurück, als die Motten an ihnen vorbeiflogen. Sie alle wussten, dass ihre Stiche selbst durch Goylhaut drangen.

Die Fee aber steckte sich die Spangen zurück ins Haar.

»Wenn sie ihn gefunden haben«, sagte sie, ohne Hentzau anzusehen, »werden sie zu dir kommen. Und du bringst ihn sofort zu mir.«

Seine Männer starrten sie durch die offene Tür an, aber sie senkten hastig die Köpfe, als Hentzau sich umwandte. Fee.

Verflucht sollte sie sein, sie und die Nacht, in der sie plötzlich zwischen ihren Zelten gestanden hatte. Die dritte Schlacht, der dritte Sieg. Und sie war auf das Zelt des Königs zugegangen, als hätte das Stöhnen der Verwundeten sie geboren und der weiße Mond, der über den Toten stand. Hentzau war ihr in den Weg getreten, aber sie war einfach durch ihn hindurchgegangen, wie Wasser durch porösen Stein - als gehörte auch er schon zu den Toten -, und hatte seinem König das Herz gestohlen, um sich die eigene herzlose Brust damit zu füllen.

Selbst Hentzau musste zugeben, dass die besten Waffen nicht halb so viel Schrecken verbreiteten wie ihr Fluch, der das weiche Fleisch ihrer Gegner in Stein verwandelte. Aber er war sicher, dass sie den Krieg auch ohne sie gewonnen hätten und dass der Sieg so viel besser geschmeckt hätte.

»Ich werde den Jadegoyl auch ohne Eure Motten finden«, sagte er. »Falls er tatsächlich mehr ist als ein Traum.«

Sie antwortete ihm nur mit einem Lächeln. Es folgte ihm bis hinauf ins Tageslicht, das ihm die Augen trübte und die Haut springen ließ.

Verflucht sollte sie sein.

4

AUF DER ANDEREN SEITE

Wills Stimme hatte so anders geklungen. Clara hatte sie kaum erkannt. Erst all die Wochen ohne ein Lebenszeichen von ihm und dann dieser Fremde am Telefon, der nicht wirklich sagte, warum er anrief.

Die Straßen schienen noch voller als sonst und der Weg endlos lang, bis sie endlich vor dem alten Apartmenthaus stand, in dem er und sein Bruder aufgewachsen waren. Von der grauen Fassade starrten Gesichter aus Stein, die verzerrten Züge zerfressen von Abgasen. Clara blickte unwillkürlich zu ihnen hinauf, als der Portier ihr die Tür aufhielt. Sie trug immer noch den blassgrünen Krankenhauskittel unter dem Mantel. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, sich umzuziehen, sondern war einfach losgelaufen. Will.

Er hatte so verloren geklungen. Wie ein Ertrinkender. Oder jemand, der sich verabschiedet.

Clara zog das Gitter des alten Aufzugs hinter sich zu. Sie hatte den Kittel auch getragen, als sie Will zum ersten Mal begegnet war, vor dem Zimmer, in dem seine Mutter gelegen hatte. Sie arbeitete oft an den Wochenenden im Krankenhaus, nicht nur, weil sie das Geld brauchte. Fachbücher und Universitäten ließen allzu oft vergessen, dass Fleisch und Blut sehr wirkliche Dinge waren.

Siebter Stock.

Das kupferne Namensschild neben der Tür war so angelaufen, dass Clara unwillkürlich mit dem Ärmel darüberwischte.

RECKLESS.

Will machte sich oft lustig darüber, wie wenig der Name zu ihm passte.

Hinter der Wohnungstür stapelte sich die ungeöffnete Post, aber im Flur brannte Licht.

»Will?«

Sie öffnete die Tür zu seinem Zimmer. Nichts.

In der Küche war er auch nicht.

Die Wohnung sah aus, als wäre seit Wochen niemand zu Hause gewesen. Aber Will hatte gesagt, dass er von dort anrief. Wo war er?

Clara ging vorbei an dem leeren Zimmer seiner Mutter und an dem seines Bruders, den sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. »Jacob ist verreist.« Jacob war immer verreist. Manchmal war sie nicht sicher, ob es ihn überhaupt gab. Sie blieb stehen.

Die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters stand offen. Will betrat das Zimmer nie. Er ignorierte alles, was mit seinem Vater zu tun hatte.

Clara trat zögernd hinein. Bücherregale, ein Vitrinenschrank, ein Schreibtisch. Die Flugzeugmodelle, die darüberhingen, trugen den Staub wie schmutzigen Schnee auf den Flügeln. Das ganze Zimmer war verstaubt und so kalt, dass sie ihren Atem sah.

Zwischen den Bücherregalen hing ein Spiegel.

Clara trat darauf zu und strich über die silbernen Rosen, die den Rahmen bedeckten. Sie hatte noch nie etwas Schöneres gesehen. Das Glas, das sie umfassten, war so dunkel, als wäre die Nacht darin ausgelaufen. Es war beschlagen, und dort, wo sich Claras Gesicht spiegelte, war der Abdruck einer Hand zu sehen.

5

SCHWANSTEIN

Das Laternenlicht füllte die Straßen von Schwanstein wie verlaufene Milch. Gaslicht und hölzerne Kutschräder, die über holpriges Kopfsteinpflaster rollten, Frauen in langen Röcken, die Säume nass vom Regen. Die feuchte Herbstluft roch nach Rauch, und Kohlenasche schwärzte die Wäsche, die zwischen den spitzen Giebeln hing. Es gab inzwischen einen Bahnhof gleich gegenüber der Postkutschstation und ein Telegrafenbüro. Ein Fotograf bannte steife Hüte und berüschte Röcke auf Platten aus Silber, und Fahrräder lehnten an Hauswänden, an denen Plakate vor Wassermännern und Goldraben warnten. Nirgendwo ahmte die Spiegelwelt die andere Seite so eifrig nach wie in Schwanstein, und Jacob hatte sich natürlich schon oft gefragt, wie viel von alldem durch den Spiegel gekommen war, der im Arbeitszimmer seines Vaters hing. Im Museum der Stadt gab es ein paar Dinge, die verdächtig nach der anderen Welt aussahen. Ein Kompass und eine Kamera kamen Jacob sogar so bekannt vor, dass er sie für das Eigentum seines Vaters hielt, aber niemand hatte ihm sagen können, wohin der Fremde verschwunden war, der sie hinterlassen hatte.

Die Glocken der Stadt läuteten den Abend ein, als Jacob die Straße hinunterging, die zum Marktplatz führte. Vor einem Bäckerladen verkaufte eine Zwergin geröstete Kastanien. Der süße Duft mischte sich mit dem Geruch der Pferdeäpfel, die überall auf dem Straßenpflaster lagen. Die Idee des Automotors war bislang nicht durch den Spiegel gedrungen, und das Denkmal auf dem Marktplatz war das Reiterstandbild eines Fürsten, der in den umliegenden Hügeln noch Riesen erschlagen hatte. Er war ein Vorfahre der derzeitigen Kaiserin, Therese von Austrien, deren Familie nicht nur Riesen, sondern auch Drachen so erfolgreich gejagt hatte, dass beide in ihrem Herrschaftsgebiet als ausgestorben galten. Der Zeitungsjunge, der neben dem Denkmal die neuesten Nachrichten in den Abend rief, hatte deshalb sicher nie mehr als den Fußabdruck eines Riesen oder die Spuren von Drachenfeuer an der Stadtmauer zu Gesicht bekommen.

Entscheidende Schlacht, hohe Verluste ... General gefallen ... geheime Verhandlungen mit den Goyl ...

Es herrschte Krieg in der Spiegelwelt und er wurde nicht von Menschen gewonnen. Vier Tage waren vergangen, seit Will und er einem ihrer Stoßtrupps in die Arme gelaufen waren, aber Jacob sah sie immer noch aus dem Wald kommen: drei Soldaten und einen Offizier, die steinernen Gesichter feucht vom Regen. Augen aus Gold und schwarze Klauen, die den Hals seines Bruders aufrissen ... Goyl.

»Pass auf deinen Bruder auf, Jacob.«

Er drückte dem Jungen drei Kupfergroschen in die schmutzige Hand. Der Heinzel, der auf seiner Schulter hockte, beäugte sie voll Misstrauen. Viele Heinzel schlossen sich Menschen an und ließen sich von ihnen füttern und kleiden, was allerdings nichts an ihrer ständig schlechten Laune änderte.

»Wo stehen die Goyl?« Jacob nahm sich eine Zeitung.

»Keine fünf Meilen von hier.« Der Junge zeigte nach Südosten. »Wenn der Wind günstig stand, hat man die Schüsse gehört. Aber seit gestern ist es still.« Er schien fast enttäuscht. In seinem Alter klang selbst der Krieg nach Abenteuer.

Die kaiserlichen Soldaten, die aus dem Wirtshaus neben der Kirche kamen, wussten es sicher besser. ZUM MENSCHENFRESSER. Jacob war Zeuge bei dem Ereignis gewesen, das dem Wirtshaus seinen Namen gegeben und seinen Besitzer den rechten Arm gekostet hatte.

Albert Chanute stand mit mürrischer Miene hinter dem Tresen, als Jacob in die dunkle Schankstube trat. Chanute war ein so feister Klotz von Mann, dass man ihm nachsagte, Trollblut in den Adern zu haben - nicht gerade ein Kompliment in der Spiegelwelt -, aber bis der Menschenfresser ihm den Arm abgehackt hatte, war Albert Chanute der beste Schatzjäger von ganz Austrien gewesen, und Jacob war viele Jahre bei ihm in die Lehre gegangen. Chanute hatte ihm gezeigt, wie man es hinter dem Spiegel zu Ruhm und Reichtum brachte, und Jacob hatte zum Ausgleich verhindert, dass der Menschenfresser dem alten Schatzsucher auch noch den Kopf abschlug.

Die Wände des Schankraums waren bedeckt mit Andenken an Chanutes ruhmreichere Tage: der Kopf eines Braunwolfs, die Ofentür aus einem Lebkuchenhaus, ein Knüppelausdemsack, der von der Wand sprang, wenn ein Gast sich nicht benahm, und, gleich über dem Tresen, aufgehängt an den Ketten, mit denen er seine Opfer gefesselt hatte, ein Arm des Menschenfressers, der Chanutes Schatzjägertage beendet hatte. Die bläuliche Haut schimmerte immer noch wie Echsenleder.

»Sieh an! Jacob Reckless.« Chanutes mürrischer Mund verzog sich tatsächlich zu einem Lächeln. »Ich dachte, du wärst in Lothringen, auf der Suche nach einem Stundenglas.«

Chanute war eine Legende als Schatzjäger gewesen, aber Jacob hatte inzwischen einen mindestens ebenso guten Ruf auf diesem Gebiet, und die drei Männer, die an einem der fleckigen Tische saßen, hoben neugierig die Köpfe.

»Werde deine Kundschaft los!«, raunte Jacob Chanute über den Tresen zu. »Ich muss mit dir reden.«

Dann stieg er hinauf zu der Kammer, die seit Jahren der einzige Ort war, den er in dieser oder der anderen Welt sein Zuhause nannte.

Ein Tischleindeckdich, ein Gläserner Schuh, der Goldene Ball einer Prinzessin - Jacob hatte schon vieles in dieser Welt gefunden und für viel Geld an Fürsten und reiche Händler verkauft.

Aber in der Truhe, die hinter der Tür der schlichten Kammer stand, bewahrte er die Schätze auf, die er für sich behalten hatte. Sie waren sein Handwerkszeug und Rettung in vielen Notlagen gewesen, aber Jacob hätte nie gedacht, dass sie ihm eines Tages würden helfen müssen, seinen eigenen Bruder zu retten.

Das Taschentuch, das er als Erstes aus der Truhe nahm, war aus einfachem Leinen, aber wenn man es zwischen den Fingern rieb, brachte es zuverlässig ein bis zwei Goldtaler hervor. Jacob hatte es vor Jahren von einer Hexe bekommen, für einen Kuss, der ihm noch Wochen auf den Lippen gebrannt hatte. Die anderen Dinge, die er in seinem Rucksack verstaute, sahen ebenso unscheinbar aus: eine silberne Schnupftabakdose, ein Schlüssel aus Messing, ein Zinnteller und ein Fläschchen aus grünem Glas. Doch jedes einzelne hatte ihm schon mindestens einmal das Leben gerettet.

Die Schankstube war leer, als Jacob die Treppe wieder herunterstieg, und Chanute saß an einem der Tische und schob ihm einen Becher Wein hin, sobald er sich zu ihm setzte.

»Also? Welchen Ärger hast du diesmal?« Chanute warf dem Wein einen begehrlichen Blick zu, aber er selbst hatte nur ein Glas Wasser vor sich stehen. Früher war er so oft betrunken gewesen, dass Jacob die Flaschen vor ihm versteckt hatte, obwohl Chanute ihn dafür jedes Mal verprügelt hatte. Der alte Schatzjäger hatte ihn oft geschlagen - auch wenn er nüchtern gewesen war -, bis Jacob eines Tages seine eigene Pistole auf ihn gerichtet hatte. Chanute war auch in der Höhle des Menschenfressers betrunken gewesen, und vermutlich hätte er seinen Arm behalten, hätte er damals geradeaus sehen können. Danach hatte er das Trinken aufgegeben. Der Schatzjäger war ein lausiger Vaterersatz gewesen, und Jacob war immer etwas auf der Hut vor ihm, aber wenn irgendjemand wusste, was Will retten konnte, dann war es Albert Chanute.

»Was würdest du tun, wenn einer deiner Freunde die Klauen der Goyl zu spüren bekommen hätte?«

Chanute verschluckte sich an seinem Wasser und musterte Jacob, als wollte er sichergehen, dass er nicht von sich selbst sprach.

»Ich hab keine Freunde«, grunzte er. »Und du auch nicht. Man muss ihnen trauen und darin sind wir beide nicht gut. Wer ist es?«

Aber Jacob schüttelte nur den Kopf.

»Ach ja. Jacob Reckless liebt es geheimnisvoll! Wie konnte ich das vergessen?« Chanutes Stimme klang bitter. Er hielt Jacob trotz allem für den Sohn, den er nie gehabt hatte. »Wann haben sie diesen Freund erwischt?«

»Vor vier Tagen.«

Die Goyl hatten sie unweit eines Dorfes angegriffen, in dem Jacob nach dem Stundenglas gesucht hatte. Er hatte unterschätzt, wie weit ihre Stoßtrupps schon in kaiserliches Gebiet vordrangen, und Will hatte nach dem Angriff solche Schmerzen gehabt, dass sie Tage für den Rückweg gebraucht hatten. Zurück, wohin? Es gab kein Zurück mehr, aber Jacob hatte nicht das Herz gehabt, Will das zu sagen.

Chanute fuhr sich durch das borstige graue Haar. »Vier Tage? Vergiss es. Dann ist er schon halb einer von ihnen. Erinnerst du dich noch an die Zeit, in der die Kaiserin sie in allen Farben gesammelt hat und dieser Bauer uns einen Toten als Onyx andrehen wollte, dem er die Mondsteinhaut mit Lampenruß gefärbt hatte?«

Ja, Jacob erinnerte sich. Die Steingesichter. So hatte man sie damals noch genannt und Kindern Geschichten über sie erzählt, um ihnen Angst vor der Nacht zu machen. Während er mit Chanute umherzog, hatten sie gerade begonnen, auch in Höhlen über der Erde zu hausen, und jedes Dorf hatte Goyl-Hetzjagden organisiert. Aber inzwischen hatten sie einen König und er hatte aus den Gejagten Jäger gemacht.

Neben der Hintertür raschelte es und Chanute zog sein Messer. Er warf es so schnell, dass er die Ratte im Sprung an die Wand nagelte.

»Diese Welt geht zugrunde«, knurrte er und schob den Stuhl zurück. »Die Ratten werden groß wie Hunde. Auf der Straße stinkt es wie in einer Trollhöhle von all den Fabriken und die Goyl stehen nur ein paar Meilen von hier.«

Er hob die tote Ratte auf und warf sie auf den Tisch.

»Es gibt nichts, was gegen das Steinerne Fleisch hilft. Aber wenn es mich erwischt hätte, würde ich zu einem Hexenhaus reiten und im Garten nach einem Busch mit schwarzen Beeren suchen.« Chanute wischte sich das blutige Messer am Ärmel ab. »Allerdings muss es der Garten einer Kinderfresserin sein.«

»Ich dachte, die wären alle nach Lothringen gezogen, seit nicht nur die Kaiserin, sondern auch die anderen Hexen sie jagen?«

»Aber ihre Häuser sind noch da. Die Büsche wachsen dort, wo sie die Knochen ihrer Opfer vergraben haben. Die Beeren sind das stärkste Gegenmittel gegen Flüche, von dem ich weiß.«

Hexenbeeren. Jacob musterte die Ofentür, die an der Wand hing. »Die Hexe im Schwarzen Wald war eine Kinderfresserin, oder?«

»Sie war eine der schlimmsten. Ich hab in ihrem Haus mal nach einem dieser Kamme gesucht, die dich in eine Krähe verwandeln, wenn du sie ins Haar steckst.«

»Ich weiß. Du hast mich vorgeschickt.«

»Tatsächlich?« Chanute rieb sich verlegen die fleischige Nase. Er hatte Jacob weisgemacht, dass die Hexe ausgeflogen war.

»Du hast mir Schnaps auf die Wunden gegossen.« Man sah die Abdrücke ihrer Finger immer noch an seinem Hals. Es hatte Wochen gedauert, bis die Brandwunden geheilt waren. Jacob warf sich den Rucksack über die Schulter. »Ich brauche ein Packpferd, Proviant, zwei Flinten und Munition.«

Aber Chanute schien ihn nicht gehört zu haben. Er starrte auf seine Trophäen. »Gute alte Zeiten«, murmelte er. »Die Kaiserin hat mich dreimal persönlich empfangen. Auf wie viele Male hast du es gebracht?«

Jacob rieb das Tuch in seiner Tasche, bis er zwei Goldtaler zwischen den Fingern fühlte.

»Zweimal«, sagte er und warf die Taler auf den Tisch. Er brachte es inzwischen auf sechs kaiserliche Audienzen, aber Chanute machte die Lüge sehr glücklich.

»Steck das Gold wieder ein!«, brummte er. »Ich nehme kein Geld von dir.« Dann hielt er Jacob sein Messer hin.

»Hier«, sagte er. »Es gibt nichts, was diese Klinge nicht zerschneidet. Ich hab so eine Ahnung, dass du sie nötiger brauchen wirst als ich.«

6

VERLIEBTER NARR

Will war fort. Jacob sah es, sobald er das Packpferd durch das zerfallene Tor der Ruine führte. Sie lag so verlassen da, als wäre sein Bruder ihm nie durch den Spiegel gefolgt, als wäre alles gut und diese Welt immer noch sein, nur sein. Für einen Moment ertappte er sich dabei, dass er fast erleichtert war. Lass ihn gehen, Jacob. Warum nicht vergessen, dass er einen Bruder hatte?

»Er hat gesagt, er kommt zurück.« Fuchs saß zwischen den Säulen. Die Nacht schwärzte ihr das Fell. »Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber er ist genauso starrsinnig wie du.«

Noch ein Fehler, Jacob. Er hätte Will mit nach Schwanstein nehmen sollen, statt ihn bei der Ruine zu verstecken. Will wollte nach Hause. Nur nach Hause. Aber den Stein würde er mitnehmen.

Jacob stellte das Pferd zu den zwei anderen, die hinter der Ruine grasten, und ging auf den Turm zu. Sein langer Schatten schrieb ein einziges Wort auf die Fliesen: Zurück.

Eine Drohung für dich, Jacob, ein Versprechen für Will.

Der Efeu wuchs so dicht an den verrußten Steinen hinauf, dass seine immergrünen Ranken wie ein Vorhang vor der Türöffnung hingen. Der Turm war der einzige Teil des Schlosses, der das Feuer fast unbeschadet überstanden hatte. Im Innern schwärmten die Fledermäuse, und die Strickleiter, die Jacob vor Jahren angebracht hatte, schimmerte silbrig in der Dunkelheit. Die Elfen hinterließen ihren Staub darauf, als wollten sie ihn nicht vergessen lassen, dass er vor Jahren aus einer anderen Welt herabgestiegen war.

Fuchs blickte ihn besorgt an, als er nach den Seilen griff.

»Wir brechen auf, sobald ich mit Will zurück bin«, sagte er.

»Aufbrechen? Wohin?«

Aber Jacob kletterte schon die schwankende Leiter hinauf.

Das Turmzimmer war hell vom Licht der beiden Monde und sein Bruder stand neben dem Spiegel. Er war nicht allein.

Das Mädchen löste sich aus seinen Armen, sobald sie Jacob hinter sich hörte. Sie war hübscher als auf den Fotos, die Will ihm gezeigt hatte. Verliebter Narr.

»Was macht sie hier?« Jacob spürte den eigenen Ärger wie Frost auf der Haut. »Hast du den Verstand verloren?«

Er wischte sich den Elfenstaub von den Händen. Wenn man nicht aufpasste, wirkte er wie ein Schlafmittel.

»Clara.« Will griff nach ihrer Hand. »Das ist mein Bruder. Jacob.«

Er sprach ihren Namen aus, als hätte er Perlen auf der Zunge. Will hatte die Liebe schon immer zu ernst genommen.

»Was muss noch passieren, damit du begreifst, was das hier für ein Ort ist?«, fuhr Jacob ihn an. »Schick sie zurück. Sofort.«

Sie hatte Angst, aber sie gab sich Mühe, sie zu verbergen. Angst vor dem Ort, den es nicht geben konnte, vor dem roten Mond, der draußen am Himmel stand - und vor dir, Jacob. Sie schien überrascht, dass er tatsächlich existierte. Wills älterer Bruder. Unwirklich wie der Raum, in dem sie stand.

Sie griff nach Wills entstellter Hand und strich sich über die Stirn. »Was ist das?«, fragte sie mit stockender Stimme. »Ich habe so einen Ausschlag noch nie gesehen!«

Natürlich. Studentin der Medizin ... Sieh sie an, Jacob! Sie ist genauso liebeskrank wie dein Bruder. So verliebt, dass sie Will selbst in eine andere Welt folgte.

Über ihnen war ein Scharren zu hören und ein hageres Gesicht lugte von den Balken auf sie herab. Der Stilz, der Jacob bei seinem ersten Ausflug hinter den Spiegel gebissen hatte, ließ sich auch nach all den Jahren nicht vertreiben, doch sein hässliches Gesicht verschwand hastig zwischen den Spinnweben, als Jacob die Pistole zog. Für eine Weile hatte er die alten Revolver aus der Sammlung seines Vaters benutzt, aber schließlich hatte er eines der altmodischen Gehäuse von einem Waffenschmied in New York mit dem Innenleben einer modernen Pistole ausstatten lassen.

Clara starrte entgeistert auf den schimmernden Lauf.

»Schick sie zurück, Will.« Jacob schob die Waffe wieder in den Gürtel. »Ich sag es nicht noch mal.«

Auch Will waren inzwischen Dinge begegnet, die mehr Angst machten als große Brüder, doch schließlich wandte er sich um und strich Clara das helle Haar aus der Stirn.

»Er hat recht«, hörte Jacob ihn flüstern. »Ich komme bald nach. Es wird verschwinden, du wirst sehen. Mein Bruder findet einen Weg.«

Jacob hatte nie begriffen, woher dieses große Vertrauen kam. Nichts hatte es je erschüttern können, nicht einmal all die Jahre, in denen Will ihn kaum je zu Gesicht bekommen hatte.

»Komm schon.« Jacob wandte sich um und ging auf die Bodenluke zu.

»Geh zurück, Clara. Bitte«, hörte er Will sagen.

Aber Jacob stand bereits am Fuß der Strickleiter, als sein Bruder endlich nachkam. Will kletterte so zögernd, als wollte er niemals unten ankommen. Dann stand er da und betrachtete den Elfenstaub an seinen Händen. Tiefer Schlaf und betörend schöne Träume. Nicht das schlechteste Geschenk. Aber Will wischte sich den Staub von den Fingern, wie Jacob es ihm beigebracht hatte, und fasste sich an den Hals. Inzwischen zeigte sich auch dort schon das erste blasse Grün.

»Du brauchst niemanden, oder, Jake?« Aus seiner Stimme klang fast so etwas wie Neid. »So war es schon immer.«

Jacob schob den Efeu zur Seite.

»Wenn du sie so sehr brauchst«, sagte er, »dann solltest du sie dort lassen, wo sie sicher ist.«

»Ich wollte sie nur anrufen! Sie hatte seit Wochen nichts von mir gehört. Ich habe nicht erwartet, dass sie mir nachkommt.«

»Ach ja? Worauf hast du denn da oben gewartet?« Darauf erwiderte Will nichts.

Fuchs wartete bei den Pferden. Und es gefiel ihr gar nicht, dass Jacob Will zurückbrachte. Niemand kann ihm helfen. Ihr Blick sagte es immer noch. Wir werden sehen, Fuchs.

Die Pferde waren unruhig. Will strich ihnen beruhigend über die Nüstern. Sein sanfter Bruder. Jeden streunenden Hund hatte Will früher mit nach Hause gebracht und Tränen um die vergifteten Ratten im Park vergossen. Aber das, was in seinem Fleisch wuchs, war alles andere als sanft.

»Wohin reiten wir?«

Er blickte zum Turm hinauf.

Jacob gab ihm eine der Flinten, die am Sattel des Packpferds hingen.

»Zum Schwarzen Wald.«

Fuchs hob den Kopf.

Ja, ich weiß, Fuchs. Kein angenehmer Ort.

Seine Stute stieß ihm die Schnauze in den Rücken. Jacob hatte Chanute den Verdienst eines Jahres für sie bezahlt, aber sie war jeden Taler wert. Er zog den Sattelgurt fest, als Fuchs neben ihm ein warnendes Knurren hören ließ.

Schritte. Sie wurden langsamer. Und blieben stehen.

Jacob drehte sich um.

»Egal, was das hier für ein Ort ist...« Clara stand zwischen den verrußten Säulen. »Ich gehe nicht zurück. Will braucht mich. Und ich will wissen, was passiert ist.«

Fuchs musterte sie so ungläubig wie ein fremdes Tier. Die Frauen in ihrer Welt trugen lange Kleider und steckten sich das Haar hoch oder flochten es wie Bauerntöchter. Die hier trug Hosen und ihr Haar war fast so kurz wie das eines Jungen.

Das Heulen eines Wolfes drang durch die Dunkelheit und Will zog Clara mit sich. Er sprach auf sie ein, aber sie griff nur nach seinem Arm und folgte den steinernen Adern in seiner Haut mit den Fingern.

Du bist nicht mehr der Einzige, der auf Will aufpasst, Jacob.

Clara blickte zu ihm herüber und für einen Moment erinnerte ihn ihr Gesicht an das seiner Mutter. Warum hatte er ihr nie von dem Spiegel erzählt? Was, wenn die Welt dahinter ihr wenigstens etwas von der Traurigkeit vom Gesicht gewischt hätte?

Zu spät, Jacob. Viel zu spät.

Fuchs wandte den Blick immer noch nicht von dem Mädchen. Manchmal vergaß Jacob, dass sie auch eines war.

Ein zweiter Wolf heulte. Die meisten waren friedlich, aber manchmal war ein Brauner unter ihnen, und die fraßen allzu gern Menschenfleisch.

Will lauschte besorgt in die Nacht. Dann redete er erneut auf Clara ein.

Fuchs hob die Schnauze. »Wir sollten aufbrechen«, raunte sie Jacob zu.

»Nicht, bevor er sie zurückschickt.« Fuchs blickte ihn an. Augen aus Bernstein. »Nimm sie mit.«

»Nein!«

Sie würde sie nur aufhalten, und Fuchs wusste ebenso gut wie er, dass seinem Bruder die Zeit davonlief. Auch wenn Jacob das Will noch nicht erklärt hatte.

Fuchs wandte sich um.

»Nimm sie mit!«, sagte sie noch einmal. »Dein Bruder wird sie brauchen. Und du auch. Oder traust du meiner Nase nicht mehr?«

Dann verschwand sie in der Nacht, als wäre sie es leid, auf ihn zu warten.

7

DAS HAUS DER HEXE

Ein Dickicht aus Wurzeln, Dornen und Blättern. Baumriesen und junge Bäume, die sich nach dem Licht streckten, das allzu spärlich durch das dichte Laubdach fiel. Irrlichterschwärme über fauligen Tümpeln. Lichtungen, auf denen Fliegenpilze ihre giftigen Kreise zogen. Jacob war zuletzt vor vier Monaten im Schwarzen Wald gewesen, um dort nach einem Menschenschwan zu suchen, der ein Hemd aus Nesseln über den Federn trug. Aber nach drei Tagen hatte er die Suche aufgegeben, weil er unter den dunklen Bäumen nicht mehr hatte atmen können. Sie erreichten den Waldrand erst um die Mittagszeit, weil Will wieder Schmerzen hatte. Der Stein wucherte inzwischen den ganzen Hals hinauf, aber Clara tat, als sähe sie ihn nicht. Liebe macht blind. Sie schien das Sprichwort beweisen zu wollen. Sie wich nicht von Wills Seite und schlang den Arm um ihn, wenn der Stein erneut wuchs und Will sich im Sattel krümmte. Aber wenn sie sich unbeobachtet fühlte, sah Jacob die Angst auch auf ihrem Gesicht. Auf ihre Frage, was er über den Stein wusste, hatte er ihr dieselben Lügen erzählt wie seinem Bruder: dass sich nur Wills Haut änderte und es in dieser Welt ein Leichtes sein würde, ihn zu heilen. Es war nicht schwer gewesen, sie zu überzeugen. Sie glaubten ihm beide allzu gern jede tröstliche Lüge, die er ihnen erzählte.

Clara ritt besser als erwartet. Jacob hatte unterwegs auf einem Markt ein Kleid für sie gekauft, aber sie hatte es ihn gegen Männerkleider eintauschen lassen, nachdem sie vergebens versucht hatte, mit dem weiten Rock auf ihr Pferd zu steigen. Ein Mädchen in Männerkleidern und der Stein auf Wills Haut - Jacob war froh, als sie Dörfer und Straßen hinter sich ließen und unter die Bäume ritten, auch wenn er wusste, was dort auf sie wartete. Rindenbeißer, Pilzler, Fallensteller, Krähenmänner - der Schwarze Wald hatte sehr viele unfreundliche Bewohner, auch wenn die Kaiserin seit Jahren versuchte, ihm seinen Schrecken zu nehmen. Trotz seiner Gefahren gab es einen regen Handel mit den Hörnern, Zähnen und Häuten seiner Bewohner. Jacob hatte nie auf die Art sein Geld verdient, aber es gab viele, die gut davon lebten: fünfzehn Silbertaler für einen Pilzler (zwei Taler Zuschlag, wenn er Fliegenpilz-Gift spuckte), dreißig für einen Rindenbeißer (nicht allzu viel angesichts der Tatsache, dass diese Jagd leicht mit dem Tod endete) und vierzig für einen Krähenmann (der es immerhin nur auf die Augen abgesehen hatte).

Viele Bäume verloren schon ihr Laub, aber das Blätterdach war immer noch so dicht, dass der Tag sich in herbstgeschecktem Zwielicht verlor. Sie mussten die Pferde schon bald führen, weil sie sich immer öfter in dem dichten Unterholz verfingen, und Jacob wies Will und Clara an, die Bäume nicht zu berühren. Aber die schimmernden Perlen, die ein Rindenbeißer als Köder auf der Borke einer Eiche hatte sprießen lassen, ließen Clara seine Warnung vergessen. Jacob konnte ihr den garstigen kleinen Wicht noch gerade rechtzeitig vom Handgelenk pflücken, bevor er ihr in den Ärmel kroch.

»Das hier«, sagte er und hielt Clara den Rindenbeißer so dicht vor die Augen, dass sie die scharfen Zähne über den borkigen Lippen sah, »ist einer der Gründe, warum ihr die Bäume nicht berühren sollt. Sein erster Biss macht dich schwindelig, der zweite lähmt dich, und du bist bei vollem Bewusstsein, wenn seine ganze Sippschaft anfängt, sich an deinem Blut satt zu trinken. Keine sehr angenehme Art zu sterben.«

Siehst du nun ein, dass du sie hättest zurückschicken müssen?

Will las Jacob den Vorwurf vom Gesicht, während er Clara an seine Seite zog. Aber von da an war sie vorsichtig. Als sich das taufeuchte Netz eines Fallenstellers vor ihnen über den Weg spannte, war es Clara, die Will rechtzeitig zurückzerrte, und sie scheuchte die Goldraben fort, die ihnen Flüche in die Ohren krächzen wollten.

Trotzdem. Sie gehörte nicht hierher. Noch weniger als sein Bruder.

Fuchs blickte sich zu ihm um.

Hör auf, warnten ihre Augen. Sie ist hier, und ich sage es dir noch einmal: Er wird sie brauchen.

Fuchs. Sein pelziger Schatten. Die Irrlichter, deren Schwärme überall zwischen den Bäumen hingen, hatten selbst Jacob mit ihrem Summen schon oft hoffnungslos in die Irre gelockt, aber die Füchsin scheuchte sie aus ihrem Fell wie lästige Fliegen und lief unbeirrt voran.

Nach drei Stunden tauchte zwischen Eichen und Eschen der erste Hexenbaum auf, und Jacob warnte Clara und Will gerade vor den Zweigen, die allzu gern nach Menschenaugen stachen, als Fuchs abrupt stehen blieb.

Das Geräusch ertrank fast in dem Summen der Irrlichter. Es klang wie das Schnippschnapp einer Schere. Kein allzu bedrohliches Geräusch. Will und Clara bemerkten es nicht einmal. Aber das Fell der Füchsin sträubte sich und Jacob legte die Hand an den Säbel. Er kannte nur einen Bewohner dieses Waldes, der solch ein Geräusch machte, und es war der einzige, den er auf keinen Fall treffen wollte.

»Lass uns schneller gehen«, flüsterte er Fuchs zu. »Wie weit ist es noch bis zu dem Haus?«

Schnippschnapp. Es kam näher.

»Es wird knapp«, flüsterte Fuchs.

Das Schnippen verstummte, aber die plötzliche Stille klang ebenso bedrohlich. Kein Vogel sang. Selbst die Irrlichter waren verschwunden. Fuchs warf einen besorgten Blick zwischen die Bäume, bevor sie so hastig weiterhuschte, dass die Pferde in dem dichten Unterholz kaum nachkamen.

Der Wald wurde dunkler, und Jacob zog die Taschenlampe aus der Satteltasche, die er aus der anderen Welt mitgebracht hatte. Immer öfter mussten sie einem Hexenbaum ausweichen. Schwarzdorn ersetzte die Eschen und Eichen. Tannen erstickten das spärliche Licht zwischen schwarzgrünen Nadeln, und die Pferde scheuten, sobald sie das Haus sahen, das zwischen den Bäumen auftauchte.

Als Jacob vor Jahren mit Chanute hergekommen war, hatten die Dachschindeln so rot durch die Bäume geleuchtet, als hätte die Hexe sie mit Kirschsaft gefärbt. Jetzt waren sie mit Moos bedeckt, und von den Fenstern blätterte die Farbe, aber an den Mauern und auf dem spitzgiebligen Dach klebten immer noch ein paar Kuchen. Von der Regenrinne und den Fensterbänken hingen Zapfen aus Zuckerguss, und das ganze Haus roch nach Zimt und Honig, wie es sich für eine Kinderfalle gehörte. Die Hexen hatten oft versucht, die Kinderfresserinnen aus ihrer Sippe zu verstoßen, und vor zwei Jahren hatten sie ihnen schließlich den Krieg erklärt. Die Hexe, die im Schwarzen Wald ihr Unwesen getrieben hatte, fristete ihr Dasein angeblich als Warzenkröte in einem morastigen Tümpel.

An dem schmiedeeisernen Zaun, der ihr Haus umgab, klebten immer noch ein paar bunte Zuckerperlen, und Jacobs Stute zitterte, als er sie durch das Tor führte. Der Zaun eines Lebkuchenhauses ließ jeden ein, aber niemanden wieder heraus. Chanute hatte darauf geachtet, dass das Tor bei ihrem Besuch weit offen blieb, doch das, was ihnen folgte, machte Jacob mehr Sorge als das verlassene Haus. Sobald er das Tor hinter Clara schloss, war das Schnippen wieder deutlich zu hören, und diesmal klang es fast zornig. Aber wenigstens kam es nicht näher und Fuchs warf Jacob einen erleichterten Blick zu. Es war, wie sie gehofft hatten: Ihr Verfolger war kein Freund der Hexe gewesen.

»Was, wenn er auf uns wartet?«, flüsterte Fuchs.

Ja, was dann, Jacob? Es war ihm gleich. Solange nur der Busch, den Chanute ihm beschrieben hatte, noch hinter dem Haus wuchs.

Will hatte die Pferde zum Brunnen geführt und ließ den rostigen Eimer hinunter, um sie zu tränken. Er musterte das Lebkuchenhaus wie eine giftige Pflanze. Aber Clara strich über den Zuckerguss, als könnte sie nicht glauben, dass das, was sie sah, wirklich war.


Knusper, knusper, Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen ...

Welche Version der Geschichte hatte Clara gehört?


Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand und trug ihn in einen kleinen Stall und sperrte ihn mit einer Gittertüre ein: Er mochte schreien, wie er wollte. Es half ihm nichts.

»Pass auf, dass sie nicht von den Kuchen isst«, sagte Jacob zu Fuchs. Und machte sich auf die Suche nach den Beeren.

Hinter dem Haus wuchsen die Nesseln so hoch, dass es aussah, als stünden sie Wache um den Garten der Hexe. Sie verbrannten Jacob die Haut, doch er bahnte sich einen Weg durch ihre giftigen Blätter, bis er zwischen Schierling und Tollkirschen das fand, was er suchte: einen unscheinbaren Busch mit gefiederten Blättern. Jacob füllte sich die Hand mit seinen schwarzen Beeren, als er Schritte hinter sich hörte.

Clara stand zwischen den verwilderten Beeten.

»Eisenhut. Schattenblumen. Schierlingskraut.« Sie sah ihn fragend an. »Das sind alles Giftpflanzen.«

Offenbar lernte sie als Studentin der Medizin auch ein paar nützliche Dinge. Will hatte ihm schon ein Dutzend Mal erzählt, wie er ihr im Krankenhaus begegnet war. Auf der Station, auf der ihre Mutter behandelt worden war. Als du nicht da warst, Jacob.

Er richtete sich auf. Aus dem Wald war wieder das Schnippen zu hören.

»Manchmal braucht man Gift, um zu heilen«, sagte er. »Dir muss ich das wohl nicht erklären. Obwohl du über diese Beeren sicher nichts gelernt hast.«

Er füllte ihr die Hände mit den schwarzen Früchten.

»Will muss ein Dutzend davon essen. Bis die Sonne aufgeht, sollten sie gewirkt haben. Überrede ihn, sich im Haus schlafen zu legen. Er hat seit Tagen kaum ein Auge zugemacht.«

Goyl brauchten wenig Schlaf. Einer der vielen Vorteile, die sie Menschen gegenüber hatten.

Clara blickte auf die Beeren in ihrer Hand. Sie hatte tausend Fragen auf den Lippen, aber sie stellte sie nicht. Was hatte Will ihr über ihn erzählt? Ja, ich habe einen Bruder. Aber er ist schon lange ein Fremder für mich.

Sie drehte sich um und lauschte in den Wald. Diesmal hatte sie das Schnippen auch gehört.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Sie nennen ihn den Schneider. Er traut sich nicht durch den Zaun, aber wir können nicht wieder fort, solange er da ist. Ich werde versuchen, ihn zu vertreiben.« Jacob zog den Schlüssel aus der Tasche, den er aus der Truhe in Chanutes Gasthaus genommen hatte. »Der Zaun wird euch nicht wieder herauslassen, aber dieser Schlüssel öffnet jede Tür. Ich werde ihn übers Tor werfen, sobald ich draußen bin, für den Fall, dass ich nicht zurückkomme. Fuchs wird euch zu der Ruine zurückbringen. Aber schließ das Tor nicht auf, bevor es hell wird.«

Will stand immer noch am Brunnen. Als er auf Clara zuging, stolperte er vor Müdigkeit.

»Lass ihn nicht in dem Zimmer mit dem Ofen schlafen«, raunte Jacob ihr zu. »Die Luft dort beschert finstere Träume. Und pass auf, dass er mir nicht nachkommt.«

Will aß die Beeren, ohne zu zögern. Der Zauber, der alles heilt. Schon als Kind hatte er viel leichter an solche Wunder geglaubt als Jacob. Man sah ihm an, wie müde er war, und er ließ sich ohne Protest von Clara in das Lebkuchenhaus ziehen. Hinter den Bäumen ging die Sonne unter und der rote Mond hing über den Wipfeln wie ein blutiger Fingerabdruck. Wenn die Sonne ihn ablöste, würde der Stein in der Haut seines Bruders nur noch ein böser Traum sein. Falls die Beeren wirkten.

Falls.

Jacob trat an den Zaun und blickte in den Wald.

Schnippschnapp.

Ihr Verfolger war noch da.

Fuchs blickte Jacob besorgt nach, als er auf die Stute zuging und Chanutes Messer aus der Satteltasche zog. Gegen den, der da draußen wartete, halfen keine Kugeln. Angeblich machten sie den Schneider sogar stärker.

Der Wald füllte sich mit tausend Schatten und Jacob glaubte, zwischen den Bäumen eine dunkle Gestalt stehen zu sehen. Wenigstens wird er dir die Wartezeit bis zum Morgen verkürzen, Jacob. Er schob sich das Messer in den Gürtel und nahm die Taschenlampe aus dem Rucksack. Fuchs lief ihm nach, als er auf den Zaun zuging.

»Du kannst nicht da raus. Es wird schon dunkel.«

»Und?«

»Vielleicht ist er bis zum Morgen fort!«

»Warum sollte er?«

Das Zauntor sprang auf, sobald Jacob den Schlüssel in das verrostete Schloss schob.

Bestimmt hatten schon viele Kinderhände vergeblich daran gerüttelt.

»Bleib hier, Fuchs«, sagte er.

Aber sie huschte nur wortlos an seine Seite und Jacob zog das Tor hinter sich zu.

8

CLARA


Das erste Zimmer war die Kammer mit dem Ofen, aber Clara zog Will weiter, als er durch die Tür blickte. Der enge Flur roch nach Kuchen und süßen Mandeln, und im nächsten Zimmer hing über einem zerschlissenen Sessel der Schal einer Frau, bestickt mit schwarzen Vögeln.

Das Bett stand im letzten Zimmer. Es war kaum groß genug für sie beide, und die Decken waren mottenzerfressen, aber Will schlief schon, bevor Jacob draußen das Tor hinter sich zuzog. Der Stein maserte ihm den Hals, wie es draußen die Schatten des Waldes getan hatten.

Clara fuhr vorsichtig über das matte Grün. So kühl und glatt. So schön und schrecklich zugleich.

Was würde geschehen, wenn die Beeren nicht wirkten? Sein Bruder wusste die Antwort, aber sie machte ihm Angst, auch wenn er sich sehr gut darauf verstand, das zu verbergen.

Jacob. Will hatte Clara von ihm erzählt, aber er hatte ihr nur ein Foto gezeigt, auf dem sie beide noch Kinder gewesen waren. Jacobs Blick war schon damals so ganz anders als der seines Bruders gewesen. Nichts von Wills Sanftheit war darin zu finden. Nichts von seiner Stille.

Clara löste sich aus Wills Umarmung und deckte ihn mit der Decke der Hexe zu. Eine Motte saß auf seiner Schulter, schwarz wie ein Abdruck der Nacht. Sie flatterte davon, als Clara sich über Will beugte, um ihn zu küssen. Er wachte nicht auf und sie ließ ihn allein und ging nach draußen.

Das kuchenbedeckte Haus, der rote Mond über den Bäumen - alles, was sie sah, schien so unwirklich, dass sie sich wie eine Schlafwandlerin fühlte. Alles, was sie kannte, war fort. Alles, was sie erinnerte, schien verloren. Das einzig Vertraute war Will, aber ihm wuchs das Fremde schon in der Haut.

Die Füchsin war nicht da. Natürlich. Sie war mit Jacob gegangen.

Der Schlüssel lag gleich hinter dem Tor, wie er es versprochen hatte. Clara hob ihn auf und strich über das ziselierte Metall. Die Stimmen der Irrlichter füllten die Luft wie das Summen von Bienen. Ein Rabe krächzte in den Bäumen. Aber Clara horchte auf ein anderes Geräusch: das scharfe Schnippschnapp, das Jacobs Gesicht dunkel vor Sorge gemacht hatte und ihn in den Wald hatte zurückgehen lassen. Wer war es, der da draußen wartete und das Haus einer Kinderfresserin zu einem sicheren Unterschlupf machte?

Schnippschnapp. Da war es wieder. Wie das Schnappen metallischer Zähne. Clara wich von dem Zaun zurück. Lange Schatten wuchsen auf das Haus zu, und sie spürte dieselbe Angst, die sie als Kind gehabt hatte, wenn sie allein zu Hause gewesen war und Schritte im Treppenhaus gehört hatte.

Sie hätte Will doch sagen sollen, was sein Bruder vorhatte. Er würde ihr nie verzeihen, wenn Jacob nicht zurückkam.

Er würde zurückkommen.

Er musste zurückkommen.

Sie würden nie wieder nach Hause finden ohne ihn.

9

DER SCHNEIDER

Kam er ihnen nach? Jacob ging langsam, damit der Jäger, den sie angelockt hatten, ihm folgen konnte. Aber alles, was er hörte, waren seine eigenen Schritte, das Brechen morscher Zweige unter seinen Stiefeln - das Rascheln von Blättern. Wo war er? Jacob hatte schon Angst, dass sein Verfolger die Furcht vor der Hexe vergessen hatte und sich hinter seinem Rücken durch ihr Tor schlich, als zu seiner Linken plötzlich wieder das Schnippen aus dem Wald drang. Offenbar stimmte es, was man erzählte: Der Schneider spielte mit seinen Opfern gern Katz und Maus, bevor er an sein blutiges Handwerk ging.

Niemand konnte sagen, wer oder was genau er war. Die Geschichten über den Schneider waren fast so alt wie der Schwarze Wald. Nur eins wusste jeder: Seinen Namen hatte er sich dadurch verdient, dass er Kleider aus Menschenhaut schneiderte.

Schnippschnapp, klippklapp. Zwischen den Bäumen öffnete sich eine Lichtung, und Fuchs warf Jacob einen warnenden Blick zu, als aus den Zweigen einer Eiche ein Schwarm Krähen aufflog. Das Klippklapp wurde so laut, dass es selbst ihr Krächzen übertönte, und der Strahl der Taschenlampe fand unter der Eiche die Silhouette eines Mannes.

Dem Schneider gefiel der tastende Lichtfinger nicht. Er stieß ein ärgerliches Grunzen aus und schlug danach wie nach einem lästigen Insekt. Aber Jacob ließ das Licht weitertasten: über das bärtige, schmutzverkrustete Gesicht, die grausigen Kleider, die auf den ersten Blick nur nach stümperhaft gebeiztem Tierleder aussahen, und die plumpen Hände, die die blutige Arbeit taten. Die Finger der linken endeten in breiten Klingen, jede lang wie die eines Dolches. Die der rechten waren ebenso tödlich lang, aber schlank und spitz wie riesige Schneidernadeln. An beiden Händen fehlte ein Finger - offenbar hatten auch schon andere Opfer ihre Haut verteidigt -, doch der Schneider schien sie nicht weiter zu vermissen. Er ließ seine mörderischen Nägel durch die Luft fahren, als schnitte er ein Muster aus den Schatten der Bäume und nähme Maß für die Kleider, die er aus Jacobs Haut nähen wollte.

Fuchs bleckte die Zähne und wich knurrend zurück an Jacobs Seite. Er scheuchte sie hinter sich und zog mit der Linken den Säbel und mit der Rechten Chanutes Messer.

Sein Gegner bewegte sich schwerfällig wie ein Bär, doch seine Hände schnitten und stachen mit beängstigender Emsigkeit durch das Distelgestrüpp. Seine Augen waren so ausdruckslos wie die eines Toten, aber das bärtige Gesicht war verzerrt zu einer Maske aus Mordlust, und er bleckte die gelben Zähne, als wollte er Jacob die Haut auch damit vom Fleisch schälen.

Zuerst hieb er mit den breiten Klingen nach ihm. Jacob wehrte sie mit dem Säbel ab, während er mit dem Messer nach der Nadelhand stieß. Er hatte schon gegen ein halbes Dutzend betrunkener Soldaten gekämpft, gegen die Wachen verwunschener Schlösser, Wegelagerer und ein Rudel abgerichteter Wölfe, aber das hier war schlimmer. Der Schneider stieß und hieb so unerbittlich auf ihn ein, dass Jacob glaubte, in eine Häckselmaschine geraten zu sein.

Sein Gegner war nicht sonderlich groß und Jacob war behänder als er. Trotzdem spürte er bald die ersten Schnitte an Schulter und Armen. Nun mach schon, Jacob. Sieh dir seine Kleider an. Willst du so enden? Er hieb ihm mit dem Messer einen Nadelfinger ab, nutzte das Wutgeheul danach, um Atem zu schöpfen - und riss den Säbel gerade noch rechtzeitig hoch, bevor die Klingen ihm das Gesicht aufschlitzten. Zwei der Nadeln streiften ihm die Wange wie die Krallen einer Katze. Eine andere bohrte sich fast in seinen Arm. Jacob wich zwischen die Bäume zurück, ließ die Klingen in Rinde statt in seine Haut fahren und die langen Nadeln tief ins Holz statt in sein Fleisch. Aber der Schneider befreite sich immer wieder, und er wurde einfach nicht müde, während Jacob schon die Arme schwer wurden.

Er schlug ihm einen weiteren Finger ab, als eine der Klingen gleich neben ihm in die Baumrinde fuhr. Der Schneider heulte auf wie ein Wolf, aber er hieb nur noch wütender nach ihm, und aus der Wunde rann kein Blut.

Du wirst als ein paar Hosen enden, Jacob! Sein Atem ging schwer. Das Herz raste ihm. Er stolperte über eine Wurzel, und bevor er sich wieder aufrichten konnte, stieß der Schneider ihm eine seiner Nadeln tief in die Schulter. Der Schmerz warf Jacob auf die Knie, und er bekam nicht genug Luft, um Fuchs zurückzurufen, als sie auf den Schneider zusprang und ihm die Zähne tief ins Bein schlug. Sie hatte Jacob schon oft die Haut gerettet, doch niemals in so wörtlichem Sinne. Der Schneider versuchte, sie abzuschütteln. Er hatte Jacob vergessen, und als er wütend ausholte, um Fuchs seine Klingen in den pelzigen Leib zu stoßen, hieb Jacob ihm mit Chanutes Messer den Unterarm ab.

Der Schrei des Schneiders hallte durch den nächtlichen Wald. Er stierte auf den nutzlosen Armstumpf und die klingenbewehrte Hand, die vor ihm im Moos lag. Dann fuhr er mit einem Keuchen zu Jacob herum. Die verbliebene Hand fuhr mit tödlicher Wucht auf ihn zu. Drei stählerne Nadeln, mörderische Dolche. Jacob glaubte, ihr Metall schon in den Gedärmen zu spüren, doch bevor sie sich in sein Fleisch bohrten, stieß er dem Schneider die Messerklinge tief in die Brust.

Er grunzte auf und presste die Finger gegen das abscheuliche Hemd. Dann gaben seine Knie nach.

Jacob stolperte gegen den nächsten Baum und rang nach Atem, während der Schneider sich im feuchten Moos wälzte. Ein letztes Röcheln und es war still. Aber Jacob ließ das Messer nicht fallen, obwohl die Augen in dem schmutzigen Gesicht nur noch leer zum Himmel starrten. Er war nicht sicher, ob es für den Schneider so etwas wie den Tod gab.

Fuchs zitterte, als hätten sie die Hunde gejagt. Jacob ließ sich neben ihr auf die Knie fallen und starrte den reglosen Körper an. Er wusste nicht, wie lange er so dasaß. Seine Haut brannte, als hätte er sich in zersprungenem Glas gewälzt. Seine Schulter war taub vor Schmerz und vor seinen Augen tanzten die Klingen immer noch ihren mörderischen Tanz.

»Jacob!« Fuchs' Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Steh auf. Beim Haus ist es sicherer!«

Er kam kaum auf die Füße.

Der Schneider rührte sich immer noch nicht.

Es schien ein weiter Weg zurück zu dem Hexenhaus, und als es endlich zwischen den Bäumen auftauchte, sah Jacob Clara wartend hinter dem Zaun stehen.

»O Gott«, murmelte sie nur, als sie das Blut auf seinem Hemd sah.

Sie holte Wasser vom Brunnen und wusch die Schnittwunden aus. Jacob fuhr zusammen, als ihre Finger seine Schulter berührten.

»Die Wunde ist tief«, sagte sie, während Fuchs sich besorgt an ihre Seite setzte. »Ich wünschte, sie würde stärker bluten.«

»In meiner Satteltasche ist Jod und etwas zum Verbinden.« Jacob war dankbar dafür, dass sie den Anblick von Wunden gewohnt war. »Was ist mit Will? Schläft er?«

»Ja.« Und der Stein war immer noch da. Sie musste es nicht sagen.

Jacob sah ihr an, dass sie wissen wollte, was im Wald passiert war, aber er wollte sich nicht erinnern.

Sie holte das Jod aus seiner Satteltasche und träufelte es auf die Wunde, aber ihr Blick blieb besorgt.

»Worin wälzt du dich, wenn du dich verletzt, Fuchs?«, fragte sie.

Die Füchsin zeigte ihr ein paar Kräuter im Garten der Hexe. Sie verströmten einen bittersüßen Geruch, als Clara sie zerpflückte und ihm auf die zerschnittene Haut legte.

»Wie eine geborene Hexe«, sagte Jacob. »Ich dachte, Will hätte dich in einem Krankenhaus getroffen.«

Sie lächelte. Es ließ sie sehr jung aussehen.

»In unserer Welt arbeiten die Hexen in Krankenhäusern. Hast du das vergessen?«

Sie bemerkte die Narben auf seinem Rücken, als sie ihm das Hemd über die verbundene Schulter zog.

»Wie ist das passiert?«, fragte sie. »Das müssen furchtbare Verletzungen gewesen sein!«

Fuchs warf Jacob einen wissenden Blick zu, aber er knöpfte sich nur mit einem Schulterzucken das Hemd zu.

»Ich habe es überlebt.«

Clara sah ihn nachdenklich an.

»Danke«, sagte sie. »Für was auch immer du da draußen getan hast. Ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist.«

10

FELL UND HAUT


Jacob wusste zu viel über Lebkuchenhäuser, um unter ihren Zuckergussdächern ruhig schlafen zu können. Er holte den Zinnteller aus der Satteltasche, setzte sich damit vor den Brunnen und polierte ihn mit dem Ärmel, bis er sich mit Brot und Käse füllte. Es war kein Fünf-Gänge-Menü wie bei dem Tischleindeckdich, das er für die Kaiserin gefunden hatte, aber dafür passte der Teller leicht in eine Satteltasche.

Der rote Mond mischte Rost in die Nacht, und es waren noch Stunden bis zum Morgengrauen, aber Jacob wagte nicht nachzusehen, ob der Stein in Wills Haut schon verschwunden war. Fuchs setzte sich neben ihn und leckte sich das Fell. Der Schneider hatte nach ihr getreten, und ein paar Schnitte hatte sie auch abbekommen, aber es ging ihr gut. Menschenhaut war so viel verletzlicher als ein Fell. Oder Goylhaut.

»Du solltest dich auch schlafen legen«, sagte sie.

»Ich kann nicht schlafen.«

Seine Schulter schmerzte, und er glaubte zu spüren, wie der schwarze Zauber der Hexe sich mit dem Fluch der Dunklen Fee maß.

»Was wirst du tun, wenn die Beeren wirken? Die beiden zurückbringen?«

Fuchs gab sich Mühe, gleichgültig zu klingen, aber Jacob hörte trotzdem die unausgesprochene Frage hinter ihren Worten. Er konnte Fuchs noch so oft sagen, dass ihre Welt ihm gefiel. Sie verlor nie die Angst, dass er eines Tages in den Turm hinaufsteigen und nicht zurückkommen würde.

»Ja, sicher«, sagte er. »Und sie leben glücklich bis an ihr Lebensende.«

»Und wir?« Fuchs schmiegte sich an ihn, als die kalte Nachtluft ihn schaudern ließ. »Der Winter kommt. Wir könnten nach Süden gehen, nach Grenadia oder Lombardien, und dort nach dem Stundenglas suchen.«

Das Stundenglas, das die Zeit anhielt. Noch vor ein paar Wochen hatte er an nichts anderes gedacht. Der Sprechende Spiegel. Der Gläserne Schuh. Das Spinnrad, das Gold spann ... Es gab immer etwas oder jemanden, nach dem man in dieser Welt suchen konnte. Und meist ließ ihn das vergessen, dass er den Einzigen, den er je wirklich hatte finden wollen, vergebens gesucht hatte.

Jacob nahm ein Stück Brot von dem Teller und hielt es Fuchs hin. »Wann hast du dich zuletzt verwandelt?«, fragte er, als sie gierig danach schnappte.

Sie wollte davonhuschen, aber er hielt sie fest. »Fuchs!«

Sie biss nach seiner Hand, doch schließlich streckte sich der Fuchsschatten, den das Mondlicht neben den Brunnen zeichnete, und das Mädchen, das neben Jacob kniete, stieß ihn mit kräftigen Händen fort.

Fuchs. Ihr Haar war rot wie der Pelz, der ihr so viel lieber war als die Menschenhaut. Es fiel ihr so lang und dicht über den Rücken, dass es fast so aussah, als trüge sie immer noch ihr Fell. Auch das Kleid, das ihr die sommersprossige Haut bedeckte, schimmerte im Mondlicht wie der Pelz der Füchsin, und sein Stoff schien aus demselben seidigen Haar gewebt.

Sie war erwachsen geworden in den letzten Monaten, fast so plötzlich, wie ein Welpe zur Füchsin wird. Aber Jacob sah immer noch das zehnjährige Mädchen neben sich knien, das eines Nachts statt der Füchsin am Fuß des Turmes geschluchzt hatte, weil er länger als versprochen in der Welt geblieben war, aus der er stammte. Fuchs war Jacob fast ein Jahr gefolgt, ohne dass er sie je in Menschengestalt gesehen hatte, und Jacob erinnerte sie immer wieder daran, dass sie diese Gestalt verlieren konnte, wenn sie das Fell allzu lange trug. Auch wenn er wusste, dass Fuchs, hätte sie sich entscheiden müssen, immer den Pelz gewählt hätte. Sie hatte mit sieben eine verwundete Füchsin vor den Stöcken ihrer zwei älteren Brüder gerettet und am nächsten Tag das pelzige Kleid auf ihrem Bett gefunden. Es hatte ihr die Gestalt geschenkt, die sie inzwischen als ihr wahres Ich empfand, und es war Fuchs' größte Angst, dass jemand das Kleid eines Tages stehlen und ihr das Fell wieder nehmen könnte.

Jacob lehnte sich gegen den Brunnen und schloss die Augen. Es wird alles gut, Jacob. Aber die Nacht wollte einfach nicht enden. Er spürte, wie Fuchs den Kopf auf seine Schulter legte, und schließlich schlief er ein, neben sich das Mädchen, das die Haut nicht wollte, um die sein Bruder kämpfen musste. Er schlief unruhig und selbst seine Träume waren aus Stein. Chanute, der Zeitungsjunge auf dem Markt, seine Mutter, sein Vater - sie alle erstarrten zu Statuen, die neben dem toten Schneider standen.

»Jacob! Wach auf!«

Fuchs trug wieder ihr Fell. Das erste Morgenlicht stahl sich durch die Tannen, und seine Schulter schmerzte so sehr, dass er kaum auf die Füße kam. Alles wird gut, Jacob. Chanute kennt diese Welt wie kein anderer. Weißt du noch, wie er dir den Hexenfluch ausgetrieben hat? Du warst schon halb tot. Und der Stilzbiss. Oder sein Rezept gegen Wassermanngift ...

Er ging auf das Lebkuchenhaus zu und sein Herz schlug mit jedem Schritt schneller.

Der süßliche Geruch im Innern nahm ihm fast den Atem. Vielleicht schliefen Will und Clara deshalb so fest. Sie hatte den Arm um Will geschlungen, und das Gesicht seines Bruders war so friedlich, als schliefe er im Bett eines Prinzen und nicht in dem einer Kinderfresserin. Aber der Stein maserte seine linke Wange, als wäre er in Wills Haut ausgelaufen, und an der linken Hand waren die Fingernägel schon fast so schwarz wie die Krallen, die ihm das Steinerne Fleisch in die Schulter gesät hatten.

Wie laut das Herz schlagen konnte. Bis es einem den Atem nahm. Alles wird gut.

Jacob stand immer noch da und starrte den Stein an, als sein Bruder sich regte. Sein Blick verriet Will alles. Er griff sich an den Hals und folgte dem Stein mit den Fingern die Wange hinauf.

Denk nach, Jacob! Aber sein Verstand ertrank in der Angst, die er auf dem Gesicht seines Bruders sah.

Sie ließen Clara schlafen, und Will folgte ihm nach draußen wie ein Schlafwandler, den ein Albtraum gefangen hielt. Fuchs wich vor ihm zurück, und der Blick, den sie Jacob zuwarf, sagte nur eins.

Verloren.

Und genau so stand Will da. Verloren. Er fuhr sich über das entstellte Gesicht, und Jacob sah dort zum ersten Mal nicht das Vertrauen, das sein Bruder so viel leichter gewährte als er, sondern all die Vorwürfe, die er selbst sich machte. Hättest du besser aufgepasst, Jacob. Wärst du mit ihm nur nicht so weit nach Osten geritten. Wärst. Hättest.

Will trat an das Fenster, hinter dem der Ofen der Hexe stand, und starrte auf das Abbild, das die dunklen Scheiben ihm zeigten. Jacob aber blickte auf die Spinnweben, die schwarz vom Ruß unter dem zuckerweißen Dach hingen. Sie erinnerten ihn an andere Netze, ebenso dunkel, gesponnen, um die Nacht darin zu fangen.

Was für ein Dummkopf er war! Was wollte er bei den Hexen? Es war der Fluch einer Fee. Einer Fee! Fuchs sah ihn beunruhigt an.

»Nein!«, bellte sie.

Manchmal wusste sie, was er dachte, bevor er selbst es tat. »Sie wird ihm helfen können! Schließlich ist sie ihre Schwester.«

»Du kannst nicht zu ihr zurück! Nie wieder.«

Will wandte sich um. »Zurück zu wem?«

Jacob antwortete ihm nicht. Er griff nach dem Medaillon, das er unter dem Hemd trug. Seine Finger erinnerten sich immer noch daran, wie er das Blütenblatt darin gepflückt hatte. So wie sein Herz sich an die erinnerte, vor der das Blatt ihn beschützen sollte.

»Geh Clara wecken«, sagte er zu Will. »Wir brechen auf. Es wird alles gut.«

Es war ein weiter Weg, vier Tage, wenn nicht mehr, und sie mussten schneller als der Stein sein. Fuchs sah ihn immer noch an. Nein, Jacob. Nein!, flehten ihre Augen.

Natürlich erinnerte sie sich ebenso gut wie er, wenn nicht besser.

Furcht. Zorn. Verlorene Zeit... »Das müssen furchtbare Verletzungen gewesen sein.«

Aber es gab nur noch den einen Weg, wenn er weiter einen Bruder haben wollte.

11

HENTZAU

Dem Menschengoyl, den Hentzau in der verlassenen Kutschstation fand, wuchs eine Haut aus Malachit. Das dunkle Grün maserte ihm schon das halbe Gesicht. Hentzau ließ ihn laufen wie all die anderen, die sie gefunden hatten, mit dem Rat, im nächsten Goylcamp Zuflucht zu suchen, bevor seine eigenen Artgenossen ihn erschlugen. Aber noch war kein Gold in seinen Augen zu sehen, sondern nur die Erinnerung, dass seine Haut nicht immer aus Malachit gewesen war. Er rannte davon, als gäbe es noch einen Ort, an den er zurückkehren konnte, und Hentzau schauderte bei dem Gedanken, dass die Fee ihm eines Tages Menschenfleisch in die Jaspishaut säen könnte.

Malachit, Blutstein, Jaspis, sogar die Hautfarbe des Königs hatten er und seine Soldaten gefunden, aber natürlich nicht den Stein, nach dem sie suchten.

Jade.

Alte Frauen trugen sie als Glücksbringer um den Hals und knieten heimlich vor Götzen, die daraus gemacht waren. Mütter nähten sie ihren Kindern in die Kleider, damit der Stein sie furchtlos machte und beschützte. Aber nie hatte es einen Goyl gegeben, dessen Haut aus Jade war.

Wie lange würde die Dunkle Fee ihn suchen lassen? Wie lange würde er sich zum Narren machen müssen, vor seinen Soldaten, dem König und vor sich selbst? Was, wenn sie den Traum nur erfunden hatte, um ihn von Kami'en zu trennen? Und er war losgezogen, treu und gehorsam wie ein Hund.

Hentzau blickte die verlassene Straße hinunter, die sich zwischen den Bäumen verlor. Seine Soldaten waren nervös. Die Goyl mieden den Schwarzen Wald so, wie die Menschen es taten. Die Fee wusste auch das. Es war ein Spiel. Ja, das war es. Nichts als ein Spiel, und er war es leid, ihren Hund zu spielen.

Die Motte setzte sich Hentzau auf die Brust, als er gerade den Befehl zum Aufsitzen geben wollte. Sie krallte sich da fest, wo unter der grauen Uniform sein Herz schlug, und Hentzau sah den Menschengoyl ebenso deutlich, wie die Fee ihn in ihren Träumen sah.

Die Jade durchzog seine Menschenhaut wie ein Versprechen. Es konnte nicht sein.


Doch dann gebar die Tiefe einen König, und in einer Zeit großer Gefahr erschien ein Goyl aus Jade, geboren von Glas und Silber, und machte ihn unbesiegbar.

Ammenmärchen. Als Kind hatte Hentzau nichts lieber gehört, weil sie der Welt einen Sinn und ein gutes Ende gaben. Einer Welt, die in oben und unten zerfiel und von Göttern mit weichem Fleisch regiert wurde. Doch Hentzau hatte ihnen ihr weiches Fleisch zerschnitten und gelernt, dass sie keine Götter waren - ebenso, wie er gelernt hatte, dass die Welt keinen Sinn machte und nichts ein gutes Ende nahm.

Aber da war er. Hentzau sah ihn so deutlich, als könnte er die Hand nach ihm ausstrecken und den mattgrünen Stein berühren, der ihm schon die Wange maserte.

Der Jadegoyl. Geboren aus dem Fluch der Fee.

Hatte sie es so geplant? Hatte sie all das Steinerne Fleisch nur gesät, um ihn zu ernten?

Was interessiert dich das, Hentzau? Finde ihn!

Die Motte spreizte erneut die Flügel, und er sah Felder, auf denen er selbst noch vor ein paar Monaten gekämpft hatte. Felder, die an den Ostrand des Waldes grenzten. Er suchte auf der falschen Seite.

Hentzau unterdrückte einen Fluch und erschlug die Motte.

Seine Soldaten blickten ihn erstaunt an, als er den Befehl gab, wieder nach Osten zu reiten. Aber sie waren erleichtert, dass er sie nicht tiefer in den Wald hineinführte. Hentzau wischte sich die zerdrückten Flügel von der Uniform und schwang sich aufs Pferd. Keiner von ihnen hatte die Motte gesehen, und sie würden alle bezeugen, dass er den Jadegoyl ohne die Hilfe der Fee gefunden hatte - so wie er jedem sagte, dass es Kami'en war, der den Krieg gewann, und nicht der Fluch seiner unsterblichen Geliebten. Jade.

Sie hatte die Wahrheit geträumt.

Oder einen Traum zur Wahrheit gemacht.


12

SEINESGLEICHEN

Es war später Mittag, als sie den Wald endlich hinter sich ließen. Dunkle Wolken hingen über Feldern und Wiesen, Flicken aus Gelb, Grün und Braun, die sich bis zum Horizont erstreckten. Holunderbüsche trugen schwer an schwarzen Beeren, und zwischen den wilden Blumen, die am Straßenrand wuchsen, schwärmten Elfen, die Flügel nass vom Regen. Doch viele der Höfe, an denen sie vorbeiritten, waren verlassen, und auf den Feldern rosteten Kanonen zwischen dem ungeernteten Weizen.

Jacob war dankbar für die verlassenen Häuser, denn Will war inzwischen allzu deutlich anzusehen, was in seinem Fleisch nistete. Es regnete, seit sie aus dem Wald gekommen waren, und der grüne Stein schimmerte auf dem Gesicht seines Bruders wie die Glasur eines finsteren Töpfers.

Jacob hatte Will immer noch nicht gesagt, wohin er sie führte, und er war froh, dass Will nicht fragte. Es reichte, dass Fuchs wusste, dass ihr Ziel der einzige Ort in dieser Welt war, an den er geschworen hatte, niemals zurückzukehren.

Der Regen fiel schon bald so unerbittlich, dass selbst Fuchs ihr Fell keinen Schutz mehr bot, und Jacobs Schulter schmerzte, als stieße der Schneider ihm seine Nadeln aufs Neue hinein. Doch jeder Blick auf Wills Gesicht ließ ihn alle Gedanken an Rast vergessen. Die Zeit lief ihnen davon.

Vielleicht war es der Schmerz, der ihn unvorsichtig machte. Jacob beachtete den verlassenen Hof am Straßenrand kaum, und Fuchs witterte sie erst, als es zu spät war. Acht Männer, zerlumpt, aber bewaffnet. Sie kamen so plötzlich aus einem der zerschossenen Ställe, dass sie die Flinten auf sie richteten, bevor Jacob die Pistole ziehen konnte. Zwei von ihnen trugen die Uniformmäntel der Kaiserlichen und ein dritter die graue Jacke der Goyl. Plünderer und Deserteure. Hinterlassenschaft des Krieges. Einer hatte die Trophäen am Gürtel hängen, mit denen sich auch die Soldaten der Kaiserin gern schmückten: Finger ihrer steinhäutigen Feinde, in allen Farben, die sie finden konnten.

Für einen Moment hoffte Jacob tatsächlich, sie würden den Stein nicht bemerken, denn Will hatte sich die Kapuze wegen des Regens tief ins Gesicht gezogen. Aber einer von ihnen, mager wie ein ausgezehrtes Wiesel, bemerkte seine entstellte Hand, als er Will vom Pferd zerrte, und zog ihm die Kapuze vom Kopf.

Clara versuchte, sich schützend vor ihn zu stellen, doch der in der Goyljacke riss sie grob zurück, und Will verwandelte sich in einen Fremden. Es war das erste Mal, dass Jacob auf dem Gesicht seines Bruders so unverstellt die Lust sah, jemanden zu verletzen. Will versuchte, sich loszureißen, aber das Wiesel schlug ihm ins Gesicht, und als Jacobs Hand an den Revolver fuhr, setzte der Anführer ihm die Flinte auf die Brust.

Er war ein grobschlächtiger Kerl mit nur drei Fingern an der linken Hand, und seine zerschlissene Jacke war bedeckt mit den Halbedelsteinen, die Goyloffiziere am Kragen trugen, um ihren Rang zu zeigen. Auf Schlachtfeldern war reichlich Beute zu machen, wenn die Lebenden die Toten zurückließen.

»Warum hast du ihn noch nicht erschossen?«, fragte er, während er Jacob die Taschen durchsuchte. »Hast du noch nicht gehört? Es gibt keine Belohnungen mehr für seinesgleichen, seit sie mit ihnen verhandeln.«

Er zog Jacobs Taschentuch heraus, aber zum Glück stopfte er es achtlos zurück, bevor ihm ein Goldtaler in die schwielige Hand fiel. Hinter ihnen huschte Fuchs in die Scheune, und Jacob spürte, wie Clara Hilfe suchend zu ihm herübersah. Was glaubte sie? Dass er es mit acht Männern aufnehmen konnte?

Der Dreifinger schüttete sich den Inhalt seines Geldbeutels in die Hand und grunzte enttäuscht, als er nur ein paar Kupfermünzen darin fand. Aber die anderen starrten immer noch auf Will. Sie würden ihn umbringen. Nur zum Spaß. Und sich die Finger seines Bruders an die Gürtel hängen. Tu etwas, Jacob! Aber was? Reden. Zeit schinden. Auf ein Wunder warten.

»Ich bringe ihn zu jemandem, der ihm seine Haut zurückgeben wird!« Der Regen lief ihm übers Gesicht und das Wiesel drückte Will die Flinte in die Seite. Rede weiter, Jacob.

»Er ist mein Bruder! Lasst uns gehen und ich bin in einer Woche mit einem Sack voll Gold zurück.«

»Sicher.« Der Dreifinger nickte den anderen zu. »Bringt sie hinter die Scheune und schießt dem hier in den Kopf. Ich mag seine Kleider.«

Jacob stieß die zwei zurück, die nach ihm griffen, aber ein dritter hielt ihm das Messer an den Hals. Er trug die Kleider eines Bauern. Sie waren nicht alle schon immer Räuber gewesen.

»Wovon redest du?«, zischte er Jacob zu. »Nichts gibt ihnen ihre Haut zurück ... Ich hab meinen eigenen Sohn erschossen, als ihm der Mondstein auf der Stirn wuchs!«

Jacob konnte kaum atmen, so fest presste die Klinge sich gegen seine Kehle.

»Es ist der Fluch der Dunklen Fee!«, stieß er hervor. »Also bringe ich ihn zu ihrer Schwester. Sie wird ihn brechen.«

Wie sie ihn alle anstarrten. Fee. Ein Wort nur. Drei Buchstaben, in denen aller Zauber und aller Schrecken dieser Welt sich verbanden.

Der Druck des Messers ließ nach, aber das Gesicht des Mannes war immer noch verzerrt vor Wut und hilflosem Schmerz. Jacob war versucht zu fragen, wie alt sein Sohn gewesen war.

»Niemand geht einfach zu den Feen.« Der Junge, der die Worte stammelte, war höchstens fünfzehn. »Sie holen dich!«

»Ich weiß einen Weg.« Rede, Jacob. »Ich war schon einmal bei ihnen!«

»Ach ja, warum bist du dann nicht tot?« Das Messer schlitzte ihm die Haut auf. »Oder verrückt, wie die, die von ihnen zurückkommen und sich im nächsten Tümpel ertränken!«

Jacob spürte, dass Will ihn ansah. Was dachte er? Dass sein älterer Bruder Märchen erzählte, so wie früher, als sie Kinder gewesen waren und Will nicht hatte einschlafen können?

»Sie wird ihm helfen«, sagte Jacob noch einmal, heiser vom Druck des Messers. Aber leider werdet ihr uns vorher erschlagen. Und es wird deinen Sohn nicht wieder lebendig machen.

Das Wiesel drückte Will die Flinte gegen die entstellte Wange. »Zu den Feen! Merkst du nicht, dass er dich veralbert, Stanis? Lasst sie uns endlich erschießen.«

Er stieß Will auf die Scheune zu und zwei andere packten Clara. Jetzt, Jacob. Was hast du zu verlieren? Aber der Dreifinger fuhr plötzlich herum und starrte an den Ställen vorbei nach Süden. Das Schnauben von Pferden klang durch den Regen.

Reiter.

Sie kamen über die brachliegenden Felder, auf Pferden, die so grau waren wie ihre Uniformen, und Wills Gesicht verriet, wer sie waren, bevor das Wiesel es den anderen zuschrie.

»Goyl!«

Der Bauer richtete das Gewehr auf Will, als könnte nur er sie herbeigerufen haben, aber Jacob schoss ihn nieder, bevor er abdrücken konnte. Drei der Goyl zogen im vollen Galopp die Säbel. Sie kämpften immer noch mit Vorliebe damit, auch wenn sie die Schlachten mit ihren Flinten gewannen. Clara starrte entgeistert auf die steinernen Gesichter - und sah Jacob an. Ja, das wird aus ihm werden. Liebst du ihn immer noch?

Die Plünderer suchten Deckung hinter einem umgestürzten Karren. Sie hatten ihre Gefangenen vergessen - und Jacob stieß Will und Clara auf die Pferde zu.

»Fuchs!«, schrie er, während er die Stute einfing. Wo war sie?

Zwei Goyl stürzten von den Pferden und die anderen suchten Deckung hinter der Scheune. Der Dreifinger war ein guter Schütze.

Clara saß schon auf dem Pferd, aber Will stand da und starrte zu den Goyl hinüber.

»Aufs Pferd mit dir, Will!«, schrie Jacob ihm zu, während er selbst sich auf die Stute schwang.

Aber sein Bruder rührte sich nicht.

Jacob wollte das Pferd auf ihn zutreiben, doch in dem Moment huschte Fuchs aus der Scheune. Sie hinkte, und Jacob sah, wie das Wiesel die Flinte hob. Er schoss ihn nieder, aber als er die Stute zügelte und sich aus dem Sattel beugte, um Fuchs zu packen, traf ihn ein Flintenkolben an der verletzten Schulter. Der Junge. Er stand da, die leer geschossene Flinte am Lauf gepackt, und holte erneut aus, als könnte er mit ihm seine eigene Angst erschlagen.

Der Schmerz ließ alles vor Jacobs Augen verschwimmen. Er schaffte es, die Pistole zu ziehen, doch die Goyl kamen ihm zuvor. Sie schwärmten hinter der Scheune hervor und eine ihrer Kugeln traf den Jungen in den Rücken.

Jacob packte Fuchs und hob sie in den Sattel. Auch Will hatte sich aufs Pferd geschwungen, aber er starrte immer noch auf die Goyl.

»Will!«, schrie Jacob ihn an. »Reite, verdammt noch mal!«

Sein Bruder sah ihn nicht einmal an. Er schien ihn und Clara vergessen zu haben.

»Will!«, schrie sie mit einem verzweifelten Blick auf die kämpfenden Männer.

Aber Will kam erst zu sich, als Jacob ihm in die Zügel griff.

»Reite!«, fuhr er ihn noch einmal an. »Reite und sieh dich nicht um.«

Und sein Bruder wendete endlich das Pferd.

13

DER NUTZEN VON TÖCHTERN


Besiegt. Therese von Austrien stand am Fenster und blickte hinunter zu den Palastwachen. Sie patrouillierten vor dem Tor, als wäre nichts geschehen. Die ganze Stadt lag da, als wäre nichts geschehen. Aber sie hatte einen Krieg verloren. Zum ersten Mal. Und jede Nacht träumte sie, dass sie in blutigem Wasser ertrank, das sich in die mattrote Steinhaut ihres Gegners verwandelte.

Ihre Minister und Generäle erklärten ihr seit einer halben Stunde, warum sie verloren hatte. Sie standen in ihrem Audienzsaal, geschmückt mit den Orden, die sie ihnen verliehen hatte, und versuchten, ihr die Schuld zu geben. »Die Flinten der Goyl sind besser. Sie haben schnellere Züge.« Aber es war der König mit der Karneolhaut, der diesen Krieg gewann, weil er mehr von Strategie verstand als sie alle zusammen. Und weil er eine Geliebte hatte, die zum ersten Mal seit dreihundert Jahren den Zauber der Feen in den Dienst eines Königs stellte.

Vor dem Tor hielt eine Kutsche und drei Goyl stiegen aus. Wie zivilisiert sie taten. Sie trugen nicht mal Uniform. Was für eine Genugtuung es wäre, sie von den Wachen auf den Hof zerren und erschlagen zu lassen, wie ihr Großvater es noch mit ihnen getan hatte. Aber dies waren andere Zeiten. Nun besorgten die Goyl das Erschlagen. Sie würden sich mit ihren Beratern an einen Tisch setzen, Tee aus silbernen Tassen schlürfen und Kapitulationsbedingungen verhandeln.

Die Wachen öffneten das Tor, und die Kaiserin wandte dem Fenster den Rücken zu, als die Goyl den Platz vor dem Palast überquerten.

Sie redeten immer noch, all ihre nutzlosen, ordenbehängten Generäle, während ihre Vorfahren von den mit goldener Seide beschlagenen Wänden auf sie herabstarrten. Gleich neben der Tür hing das Bild ihres Vaters, hager und aufrecht wie ein Storch, ständig im Krieg mit seinem königlichen Bruder in Lothringen, so wie sie sich seit Jahren mit dessen Sohn bekriegte. Daneben hing ihr Großvater, der ebenso wie der Goyl eine Affäre mit einer Fee gehabt und sich aus Sehnsucht nach ihr schließlich im kaiserlichen Seerosenteich ertränkt hatte. Er hatte sich auf einem Einhorn porträtieren lassen, für das sein Lieblingspferd Modell gestanden hatte, mit einem Narwalhorn auf der Stirn. Es sah lächerlich aus und Therese hatte das nächste Bild immer wesentlich besser gefallen. Es zeigte ihren Urgroßvater und dessen älteren Bruder, der enterbt worden war, weil er die Alchemie allzu ernst genommen hatte. Der Maler hatte seine blinden Augen so realistisch abgebildet, dass ihr Vater sich darüber empört hatte, aber Therese hatte als Kind oft einen Stuhl unter das Gemälde geschoben, um die Narbenhaut rund um die toten Augen näher betrachten zu können. Angeblich hatte ihn ein Experiment geblendet, bei dem er versucht hatte, sein eigenes Herz in Gold zu verwandeln, aber trotzdem war er von all ihren Vorfahren der einzige, der lächelte - weshalb sie als Kind fest geglaubt hatte, dass ihm das Experiment gelungen und ihm tatsächlich ein Goldherz in der Brust geschlagen hatte.

Männer. Sie alle. Verrückt oder nicht verrückt. Nichts als Männer.

Seit Jahrhunderten hatten ausschließlich sie auf Austriens Thron gesessen, und geändert hatte sich das nur, weil ihr Vater vier Töchter, aber keinen Sohn gezeugt hatte.

Auch sie hatte keinen Sohn. Und nur eine Tochter. Aber sie hatte nicht vorgehabt, sie zum Handelsgut zu machen, wie ihr Vater es mit ihren jüngeren Schwestern getan hatte. Eine für den Krummen König in seinem finsteren Schloss in Lothringen, eine für ihren jagdbesessenen Vetter in Albion und die jüngste verschachert an einen Fürsten im Osten, der schon zwei Frauen begraben hatte.

Nein. Auf den Thron hatte sie ihre Tochter setzen wollen. Ihr Bild an dieser Wand sehen, gerahmt in Gold, zwischen all den Männern. Amalie von Austrien, Tochter von Therese, die davon geträumt hat, einmal die Große genannt zu werden. Aber es gab keinen anderen Ausweg oder sie würden beide in dem blutigen Wasser ertrinken. Sie selbst. Ihre Tochter. Ihr Volk. Ihr Thron. Diese Stadt und das ganze Land mitsamt den Dummköpfen, die immer noch darüber redeten, warum sie diesen Krieg für sie nicht hatten gewinnen können. Thereses Vater hätte sie hinrichten lassen, aber was dann? Die Nächsten würden nicht besser sein. Und ihr Blut würde ihr nicht die Soldaten zurückgeben, die sie verloren hatte, die Provinzen, die nun den Goyl gehörten, oder ihren Stolz, der in den letzten Monaten im Schlamm von vier Schlachtfeldern erstickt war. »Schluss.«

Ein Wort nur, und es wurde still in dem Saal, in dem schon ihr Urgroßvater Todesurteile unterschrieben hatte. Macht. Berauschend wie guter Wein.

Wie sie die eitlen Köpfe einzogen. Sieh sie dir an, Therese. Wäre es nicht doch eine Genugtuung, sie ihnen abzuschlagen?

Die Kaiserin rückte sich das Diadem aus Elfenglas zurecht, das schon ihre Urgroßmutter getragen hatte, und winkte einen der Zwerge an den Schreibtisch. Sie waren die einzigen Zwerge im Land, die noch Barte trugen. Diener, Leibwächter, Vertraute. Seit Generationen im Dienst ihrer Familie und noch immer in der Tracht, die sie schon vor zweihundert Jahren getragen hatten. Kragen aus Spitze auf schwarzem Samt und die lächerlich weiten Hosen. Sehr geschmacklos und völlig aus der Mode, aber über Tradition konnte man mit Zwergen ebenso wenig streiten wie mit einem Priester über Religion.

»Schreib!«, befahl sie.

Der Zwerg kletterte auf den Stuhl. Er musste sich auf das blassgoldene Polster knien. Auberon. Ihr Favorit und der Klügste von ihnen allen. Die Hand, mit der er nach dem Füllfederhalter griff, war so klein wie die eines Kindes, aber diese Hände zerbrachen Eisenketten so mühelos, wie ihre Köche ein Ei aufschlugen.

»Wir, Therese, Kaiserin von Austrien« - ihre Ahnen blickten missbilligend auf sie herab, aber was wussten sie von Königen, die der Schoß der Erde geboren hatte, und Feen, die Menschenhaut in Stein verwandelten, um sie der Haut ihres Geliebten gleichzumachen? -, »bieten hiermit Kami'en, dem König der Goyl, die Hand unserer Tochter Amalie zum Ehebund an, um diesem Krieg ein Ende zu setzen und Frieden zu schließen zwischen unseren großen Nationen.«

Wie die Stille zersprang. Als hätte sie mit ihren Worten das Glashaus zerschlagen, in dem sie alle saßen. Aber nicht sie, sondern der Goyl hatte den Schlag geführt, und sie musste ihm nun ihre Tochter geben.

Therese wandte ihnen allen den Rücken zu und die aufgebrachten Stimmen verstummten. Nur das Rascheln ihres Kleides folgte ihr, als sie auf die hohen Türen zuschritt. Sie schienen nicht für Menschen, sondern für die Riesen gemacht, die vor sechzig Jahren dank der Bemühungen ihres Urgroßvaters ausgestorben waren.

Macht. Wie Wein, wenn man sie hatte. Wie Gift, wenn man sie verlor. Sie spürte schon, wie es an ihr fraß.

Verloren.


14

DAS DORNENSCHLOSS

»Aber er wacht einfach nicht auf!« Die Stimme klang besorgt. Und vertraut. Fuchs. »Mach dir keine Sorgen. Er schläft nur.« Die Stimme kannte er auch. Clara.

Wach auf, Jacob. Finger strichen ihm über die heiße Schulter. Er öffnete die Augen und sah über sich den Silbermond in einer Wolke treiben, als wollte er sich vor seinem roten Zwilling verbergen. Er schien herab in einen dunklen Schlosshof. Hohe Fenster spiegelten die Sterne in ihrem Glas, doch hinter keinem war Licht zu sehen. Keine Laterne brannte über den Türen oder unter den überwachsenen Torbögen. Kein Diener hastete über den Hof, und auf dem Pflaster lagen die feuchten Blätter so hoch, als hätte ihn seit Jahren niemand gefegt.

»Endlich. Ich dachte, du wachst niemals auf.«

Jacob stöhnte, als Fuchs ihm die Schnauze gegen die Schulter stieß.

»Vorsicht, Fuchs!« Clara half ihm, sich aufzusetzen. Sie hatte seine Schulter frisch verbunden, aber sie schmerzte schlimmer denn je. Die Plünderer, die Goyl ... Mit dem Schmerz kam alles zurück, doch Jacob konnte sich nicht erinnern, wann er das Bewusstsein verloren hatte.

Clara richtete sich auf. »Die Wunde sieht nicht gut aus. Ich wünschte, ich hätte ein paar Pillen aus unserer Welt!«

»Es wird schon gehen.« Fuchs schob ihm besorgt den Kopf unter den Arm. »Wo sind wir?«, fragte er sie.

»Im einzigen Unterschlupf, den ich finden konnte. Das Schloss ist verlassen. Zumindest von den Lebenden.«

Fuchs stieß mit der Pfote die verfaulten Laubschichten auseinander. Ein Schuh kam zum Vorschein.

Jacob blickte sich um. An vielen Stellen lagen die Blätter so verdächtig hoch, als bedeckten sie ausgestreckte Körper.

Wo waren sie?

Er suchte Halt an einer Mauer, um sich aufzurichten, und zog mit einem Fluch die Hände zurück. Die Steine waren mit Dornenranken bedeckt. Sie waren überall, wie ein stachliger Pelz, der dem ganzen Schloss gewachsen war.

»Rosen«, murmelte er und pflückte eine der Hagebutten, die an den verschlungenen Ranken wuchsen. »Ich suche seit Jahren nach diesem Schloss! Dornröschens Bett. Die Kaiserin würde ein Vermögen dafür zahlen.«

Clara blickte ungläubig über den stillen Hof.

»Angeblich findet jeder, der in dem Bett schläft, wahre Liebe. Aber wie es scheint«, Jacob musterte die dunklen Fenster, »ist der Prinz nie gekommen.«

Oder er war wie ein aufgespießter Vogel in den Dornenranken verendet. Zwischen den Rosen ragte eine mumifizierte Hand hervor. Jacob schob die Blätter darüber, bevor Clara sie bemerkte.

Eine Maus huschte über den Hof, und Fuchs setzte ihr nach, aber sie blieb schon nach einem Satz mit einem Wimmern stehen.

»Was ist mit dir?«, fragte Clara. Die Füchsin leckte sich die Seite. »Der Dreifinger hat mich getreten.«

»Lass mich sehen.« Clara beugte sich zu ihr herab und tastete vorsichtig über das seidige Fell.

»Wirf den Pelz ab, Fuchs!«, sagte Jacob. »Sie versteht mehr von Menschen als von Füchsen.«

Fuchs zögerte, doch schließlich gehorchte sie, und Clara starrte das Mädchen an, das plötzlich vor ihr stand - in einem Kleid, das aussah, als hätte der rote Mond es ihr auf den Leib gesponnen.

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