Ebenen sollten doch eigentlich flaches Land sein, nicht wahr?, dachte Danjin, als er den Hügel erklomm. Die Goldebenen ließen sich am besten mit dem Ausdruck »gewellt« beschreiben. Im westlichen Teil war die Landschaft weniger hügelig, aber hier im Osten konnte man sie nur im Vergleich zu den zerklüfteten Bergen am Rand der Ebene als flach bezeichnen.
Auch dem anderen Teil ihres Namens wurde die Landschaft nicht gerecht. Die Ebenen waren nur im Sommer golden, wenn die Gräser gelb wurden. Jetzt, direkt nach dem Winter, konnte man eine Mischung gesunder, grüner neuer Setzlinge unter den alten, dunkleren Pflanzen sprießen sehen.
Auf dem Kamm des Hügels angekommen, blieb Danjin stehen. Sein schwerer Atem klang seltsam laut an diesem ruhigen Ort. Er drehte sich um, und sein Unbehagen war schlagartig vergessen. Unter ihm erstreckte sich das größte Armeelager, das er je gesehen hatte.
Das einzige Armeelager, das ich je gesehen habe, korrigierte er sich. Aber dieses hier ist gewiss größer als jedes Lager, von dem ich je gelesen habe.
In einem großen, von niedrigen Hügeln gesäumten Tal konnte er Männer, Frauen, Tiere, Tarns, Plattans und Zelte erkennen. Das Gras, das den Ebenen ihren hübschen Namen eingetragen hatte, war inzwischen zu Schlamm zertrampelt. Das Licht der späten Nachmittagssonne berührte eine braune Linie, die auf der einen Seite in das Tal führte und sich auf der anderen in die Berge fortsetzte. Ein breiterer Streifen zertretenen Grases am westlichen Rand dieser Straße verriet, aus welcher Richtung die Armee gekommen war. In der Mitte des Tals stand ein großes Zelt, das, obwohl es jeden Abend neben der schlammigen Hauptdurchgangsstraße des Lagers aufgeschlagen worden war, seine weiße Farbe bewahrt hatte. Dies war der Ort, an dem der Kriegsrat der Weißen zu tagen pflegte.
Es war schwer, sich vorzustellen, dass irgendeine Armee dieser hier etwas entgegenzusetzen haben könnte. Danjin betrachtete die Berge im Osten. Selbst aus dieser Entfernung wirkten sie wild und unpassierbar. Er war zu weit entfernt, um die Straße sehen zu können, die sich den Pass hinauf schlängelte. Aber irgendwo jenseits dieser Gipfel befand sich eine weitere Armee, und nach allen Berichten war sie noch größer als die, die er vor sich hatte.
Er schöpfte einen gewissen Trost aus der Tatsache, dass sich das Heer der Zirkler noch nicht zur Gänze versammelt hatte. Bisher bestand es nur aus drei Nationen: Hania, Somrey und Genria – wobei Letztere sich der Truppe einige Tagesreisen von Jarime entfernt angeschlossen hatte. Die torenische Armee sollte ebenfalls in einigen Tagen zu ihnen stoßen, die Dunweger waren nicht viel weiter entfernt, und die Siyee... die Siyee wurden jeden Augenblick erwartet. Danjin wandte der Armee den Rücken zu und schaute nach Süden. Der Himmel war wolkenlos, abgesehen von einem dunklen Fleck in der Nähe des Horizonts. Sie hat gesagt, sie hätten die Ebenen erreicht, dachte er. Also, wo sind sie?
Er starrte in den Himmel, bis das grelle Licht ihm Tränen in die Augen trieb. Schließlich wandte er den Blick ab und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Leise Schritte holten ihn jäh in seine Umgebung zurück, und als er sich umdrehte, sah er einen Soldaten näher kommen. Es war einer der vielen Wachposten, die in den Hügeln rund um das Lager unterwegs waren.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Mann. »Ja, danke«, antwortete Danjin. »Es ist nur das grelle Licht des Himmels.«
Der Mann schaute nach Süden und beschattete die Augen mit der Hand. »Würdest du dir einmal diese Wolke ansehen?«
Danjin folgte dem Blick des Mannes. Der dunkle Fleck war größer geworden und... zersplitterte sich jetzt in viele winzige Punkte. Sein Herz setzte einen Schlag aus.
»Sie sind es«, murmelte er.
Danjin ließ den verwirrten Soldaten stehen und eilte den Hügel hinunter. Als er die ersten Zelte erreichte, verlangsamte er seinen Schritt. Einige Soldaten beobachteten ihn; sie hielten stets Ausschau nach Anzeichen von Nervosität bei den Führern der Armee und ihren Ratgebern.
Als er an die Hauptdurchgangsstraße kam, sah Danjin, dass Juran, Dyara, Rian und Mairae bereits vor dem weißen Zelt standen, den Blick zum Himmel gerichtet. Der alte genrianische König, Guire, stand bei seinem Gefolge. Meeran, der Vermittler des somreyanischen Rats, war zu dem Ältesten der Zirkler, Haleed, getreten. Ein dunwegischer Botschafter, Jen von Rommel, hatte sich zu dem dunwegischen Priester gesellt, der ihn stets begleitete und dessen hauptsächliche Rolle anscheinend darin bestand, den Weißen eine Möglichkeit zu geben, sich mit den abwesenden dunwegischen Führern in Verbindung zu setzen.
Danjin ging auf die kleine Gruppe von Ratgebern zu. Ihm fiel auf, dass die neue Traumweberratgeberin zugegen war. Raeli nahm nur selten an den Zusammenkünften des Kriegsrats teil, und wenn sie es doch einmal tat, wirkte sie unnahbar und desinteressiert. Als sie seinen Blick spürte, drehte sie sich zu ihm um, und er nickte höflich. Sie wandte sich ab. Danjin unterdrückte einen Seufzer.
Ich glaube, ich vermisse Leiard tatsächlich. Er war nicht viel redseliger als diese Frau, aber er war... was genau ? Er war zumindest zugänglich.
Raeli hatte ihre Aufmerksamkeit auf den Himmel gerichtet. Er drehte sich gerade rechtzeitig um, um die ersten Siyee über dem Hügel auftauchen zu sehen, den er soeben erklommen hatte. Zwei von ihnen kreisten einmal über dem Tal, dann ergoss sich plötzlich eine große Zahl der Geflügelten über den Kamm des Hügels. Als tausende von Siyee über dem Tal niedergingen, hörte Danjin überall um sich herum Ausrufe des Erstaunens. Auch sein eigenes Herz schlug schneller vor Aufregung. Die Siyee zogen ein paar Kreise, dann ließen sie sich langsam zu Boden sinken. Das Schlagen ihrer Flügel klang wie ein plötzlich aufkommender Wind, und der Aufprall vieler tausend Füße auf dem Boden erinnerte an das Klatschen von schwerem Regen. Sobald sie gelandet waren, stach ihre Kleinwüchsigkeit plötzlich ins Auge. Ihr kindliches Aussehen wurde jedoch von ihrer Kleidung und ihren Waffen gemildert. Im Gegensatz zu den beiden Boten, die nach Jarime gekommen waren, hatten diese Siyee Bögen, Köcher mit Pfeilen und Messer, und außerdem trugen sie, über ihre ledernen Wämser und Hosen geschnallt, etwas, das wie Blasrohre aussah. Männer wie Frauen hatten kurzes Haar, muskulöse Körper und eine stolze Ausstrahlung. Dies waren Krieger, klein, aber kämpferisch.
»Interessant. Sehr interessant.«
Danjin sah sich nach dem Sprecher um. Es war Lanren Liedmacher, der militärische Ratgeber, den die Weißen inzwischen den anderen vorzogen. Der Mann schaute zu Danjin hinüber und lächelte grimmig.
»Ich verstehe, welchen Nutzen diese Leute für uns haben könnten.«
»Auraya ist jedenfalls davon überzeugt«, erwiderte Danjin.
»Da kommt sie!«
Danjin drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Auraya vor den Weißen zu Boden schwebte. Eine Siyee landete neben ihr.
Auraya lächelte. »Dies ist Sirri, die Sprecherin des Stamms vom kahlen Berg und Oberste Sprecherin der Siyee.«
Juran trat vor und machte mit beiden Händen das Zeichen des Kreises. »Willkommen, Sprecherin Sirri, willkommen, ihr anderen Siyee. Wir sind froh und dankbar, dass ihr einen so weiten Weg auf euch genommen habt, um uns bei der Verteidigung unseres Landes zu helfen.«
Auraya wandte sich der anderen Frau zu und stieß eine Abfolge von Pfiffen und eigenartigen Lauten aus. Sie übersetzt, ging es Danjin durch den Sinn. Als Sirri antwortete, übersetzte Auraya für die Zuhörer. Danjin betrachtete die Gesichter der Menschen um ihn herum. Die meisten starrten die Siyee an. Einige wirkten fasziniert, andere erheitert. Die Traumweberratgeberin schien so desinteressiert wie immer, während Lanren Liedmacher seine Aufregung nur mühsam unterdrücken konnte.
Die Siyee reagierten auf diese Musterung in unterschiedlicher Weise. Einige beäugten die Menschen wachsam, andere hielten den Blick fest auf ihre Anführerin und die Weißen gerichtet. Danjin bemerkte die Ähnlichkeiten und die Unterschiede in ihrer Gewandung und auch den Umstand, dass sie sich zu Gruppen zusammengefunden hatten – wahrscheinlich nach Stämmen geordnet.
Das Gespräch endete, als Juran die Stimme hob, um die Siyee in ihrer eigenen Sprache anzusprechen. Danjin lächelte schief. Es ärgerte ihn beinahe, dass eine simple, von den Göttern geschenkte Gabe Kenntnisse überflüssig machen konnte, auf deren Erlernung er hätte Jahre verwenden müssen.
Als die Siyee sich mit ihrer Anführerin über die Durchgangsstraße entfernten, um ihr Lager aufzuschlagen, trat Auraya zu den Weißen. Sie sah zu Raeli hinüber, die ihren Blick ausdruckslos erwiderte, dann wandte sie sich in Danjins Richtung und lächelte.
Hallo, Danjin Speer.
Willkommen zurück, erwiderte er.
Danke. Wir haben einander eine Menge zu erzählen.
Das haben wir allerdings. Ich muss dich warnen, Juran hat die Neigung zu vergessen, dass Sterbliche Nahrung und Schlaf brauchen. Es könnte schwierig sein, Zeit für ein solches Gespräch zu finden.
Dann werde ich ihn eben an diese Bedürfnisse der Sterblichen erinnern müssen. Sobald die Siyee davongegangen waren, um ihr Lager aufzuschlagen, lud Juran sie alle in das Zelt ein. Lanren Liedmacher beobachtete, wie die strenge Hierarchie der Macht einmal mehr ihren Niederschlag fand. Der Anführer der Weißen sah zuerst den König von Genria an, da der Mann der einzige Anwesende von königlicher Abstammung war. Als Nächstes traten die Somreyaner ein, denn der Vermittler bekleidete in seinem Land die Rolle des Herrschers. Die beiden Dunweger folgten als Repräsentanten ihrer Heimat. Lanren war neugierig zu sehen, welchen Platz der König von Toren einnehmen würde, da die beiden Könige die gleiche Position bekleideten. Guire war ein vernünftiger Monarch, aber von Berro war bekannt, dass er unhöflich und schwierig war.
Anschließend gingen die Ratgeber in das Zelt, wobei keine bestimmte Reihenfolge eingehalten wurde. Die Weißen wollten nicht, dass einer sich wichtiger vorkam als ein anderer, dennoch hielt Lanren es für klug, den persönlichen Ratgebern der Weißen den Vortritt zu lassen. Sie standen den Weißen viel näher und arbeiteten schon sehr viel länger für sie.
Er folgte Danjin Speer zum Eingang des Zelts. Lanren hatte festgestellt, dass der jüngste der Gebrüder Speer ein intelligenter, gebildeter und besonnener Mann war – vor allem in diesem letzten Punkt unterschied er sich sehr von seinen Brüdern. Bisher hatte Danjin einen etwas verlorenen Eindruck gemacht, wahrscheinlich weil Auraya nicht da war und der Ratgeber nicht mehr Wissen über Kriege anzubieten hatte, als man in den Geschichtsbüchern finden konnte.
In Fragen der Strategie und des Kampfes war Lanren der »Experte«. Er fühlte sich zwar keineswegs sicher auf diesem Gebiet, aber außer ihm waren nur wenige andere infrage gekommen. Niemand konnte ein Experte in Kriegsbelangen sein, da es während der letzten hundert Jahre in Nordithania kaum mehr als einige wenige geringfügige bewaffnete Auseinandersetzungen gegeben hatte. Lanren hatte von Kindesbeinen an Kriege und Strategien studiert und die meisten der kleinen Scharmützel oder Aufstände beobachtet, die es während der letzten fünfzig Jahre gegeben hatte. Einige Jahre hatte er auch in Dunwegen verbracht, um die Kriegerkultur des Landes zu studieren, und vor mehr als einem Jahrzehnt war er einige Monate in Avven gewesen, wo sich ihm die Möglichkeit geboten hatte, den militärischen Kult der Pentadrianer zu beobachten – wenn auch nur aus der Ferne.
Als er das Zelt betrat, fiel ihm auf, dass alles genauso angeordnet war wie an jedem der vergangenen Abende. Mehrere Stühle, alle gleich groß und gleich schmucklos, bildeten einen Kreis. In der Mitte stand ein großer Tisch mit fünf Seiten, auf dem eine wunderschöne Karte lag. Es war eine prächtige Arbeit – das Beste, was er je gesehen hatte -, in kräftigen Farben auf Pergament gemalt.
Juran sah Auraya an. »Die dunwegischen Truppen haben die Südgrenze ihres Landes erreicht und warten auf unsere Entscheidung. Vor deiner Ankunft haben wir darüber gesprochen, was sie tun sollen: zu uns stoßen oder in Dunwegen bleiben.«
Sie blickte auf die Karte hinab. »Über diese Frage habe ich während meiner Reise ebenfalls nachgedacht. Beide Möglichkeiten bergen ein Risiko.« Sie schaute zu dem dunwegischen Botschafter hinüber. »Ich verstehe die Angelegenheit folgendermaßen, Jen von Rommel: Wenn die Dunweger auf dieser Seite der Berge zu uns stoßen, wird Dunwegen einem Angriff relativ wehrlos ausgesetzt sein, sollte die Armee der Pentadrianer nach Norden abschwenken. Es scheint mir nicht recht, dein Volk zu bitten, seine Grenzen ungeschützt zu lassen, um uns zu helfen. Allen Berichten zufolge ist die pentadrianische Armee gewaltig. Die dunwegischen Kämpfer sind berühmt für ihre Fähigkeiten in der Schlacht, aber unsere Spione haben gemeldet, dass die Kriegersekten der Pentadrianer ebenfalls herausragende Soldaten hervorbringen. Aus unseren Begegnungen mit den schwarzen Zauberern wissen wir, dass sie mächtiger sind als alle Zauberer in Dunwegen. Selbst wenn sämtliche dunwegischen Kämpfer zum Schutz ihrer Heimat zurückblieben, befürchte ich, würde das Land dennoch fallen.«
Der dunwegische Botschafter runzelte die Stirn, dann nickte er zustimmend.
»Wenn sie tatsächlich zu Hause blieben«, sprach Auraya weiter, »und die Pentadrianer würden nicht gegen sie kämpfen, sondern ihren Weg durch die Berge fortsetzen, besteht die Möglichkeit, dass unsere Armee den gut ausgebildeten pentadrianischen Kriegern nichts entgegenzusetzen hätte. Ich muss diese Frage stellen: Sollte diese Armee fallen, wie lange könnte Dunwegen standhalten?«
»Dann willst du also, dass wir die Berge überqueren?«
Auraya nickte. »Ja, aber...« Sie hielt inne und sah Juran an. »Vielleicht nicht alle Truppen. Vielleicht sollten einige Dunweger in ihrer Heimat bleiben. Falls die Pentadrianer in Dunwegen einfallen, können eure Krieger ihr Fortkommen verlangsamen und uns auf diese Weise Zeit verschaffen, um die Berge zu überqueren und uns dem Feind entgegenzustellen.«
Diese Leute werden keinen Unterschied machen, dachte Lanren. Aber... ich glaube, sie weiß das.
Sie möchte den Dunwegern lediglich ein gewisses Gefühl von Sicherheit geben. Es wird jedoch nicht funktionieren. Sie kennen sich zu gut in militärischen Fragen aus, um sich von einer solchen Illusion in Sicherheit wiegen zu lassen.
Juran wandte sich zu Lanren um und schüttelte den Kopf. »Einige wenige Kämpfer würden eine Armee von der Größe, wie unsere Feinde sie aufgestellt haben, nicht verlangsamen können.«
»Er hat recht«, stimmte der dunwegische Botschafter zu. »Darf ich einen Vorschlag machen?«, warf Lanren ein. Juran nickte.
»Wir wissen, dass die Pentadrianer sich nicht weit von den Bergen entfernt befinden«, sagte Lanren. »Je mehr Zeit wir haben, um unsere Position auf dem Pass zu erreichen und zu befestigen, desto besser. Sollten die dunwegischen Krieger durch die Berge kommen, könnten sie Fallen aufstellen, um das Fortkommen der Pentadrianer zu verlangsamen.« Und sie werden ihren Spaß dabei haben, fügte Lanren in Gedanken hinzu. Juran lächelte. »Das wäre durchaus möglich.« Er sah die anderen Weißen an, die ihm alle mit einem kurzen Nicken antworteten. Dann wandte er sich wieder an den dunwegischen Botschafter. »Bitte, übermittle I-Portak unsere Einschätzung der Lage und unsere Vorschläge. Teile ihm mit, dass es uns lieber wäre, wenn er hier zu uns stoßen würde, aber offenbare ihm auch das Risiko, das ein solcher Schritt birgt. Wir werden die Entscheidung ihm überlassen.«
Der Botschafter nickte. »Ich werde deinem Wunsch Folge leisten.«
Juran schaute auf die Karte hinab, schürzte die Lippen und straffte sich dann. »Die Berichte des heutigen Abends über die Position der Pentadrianer sind noch nicht eingetroffen. Lasst uns zeitig essen und dann wieder herkommen, um unsere Reise zum Pass zu erörtern. Ich würde gern auch die Siyee an diesem Gespräch beteiligen.«
Viele der Anwesenden im Zelt wirkten erleichtert. Lanren unterdrückte ein Lächeln. Obwohl keiner von ihnen seit ihrem Aufbruch aus Jarime mehr als einige wenige Schritte zu Fuß getan hatte, waren sie alle müde. Sie hatten in den Nächten kaum Schlaf gefunden, da ihre Erörterungen im Allgemeinen bis weit nach Mitternacht dauerten. Lanren war nicht der Einzige, der sich daran gewöhnt hatte, aufrecht sitzend in einem schaukelnden Tarn zu schlafen.
Wie immer blieb Lanren hinter den anderen zurück und beobachtete, wer mit wem das Zelt verließ. Er sah, wie Auraya Danjin Speers Blick suchte. Der Mann wirkte bereits nicht mehr gar so verloren. Dann kam plötzlich etwas Kleines in das Zelt gesprungen und stürzte sich auf Auraya.
»Owaya! Owaya!«
Ein kleines, graues Geschöpf lief Aurayas Zirk hinauf und auf ihren Rücken. Dann begann der Veez, keuchend vor Anstrengung, von einer ihrer Schultern auf die andere zu hüpfen.
»Hallo, Unfug«, sagte Auraya mit vor Erheiterung leuchtenden Augen. »Ich freue mich ebenfalls, dich zu sehen. Komm, lass dich – ich möchte dich nur -, wirst du endlich für einen Moment still halten?«
Er wich ihrer Hand aus, dann hielt er inne, um ihr die Ohren zu lecken.
»Ah! Unfug! Hör auf damit!«, rief sie. Sie zuckte leicht zusammen, nahm ihn von ihrer Schulter und hielt ihn dann mit einer Hand fest an sich gedrückt, während sie ihm mit der anderen den Kopf kraulte. Die kleine Kreatur blickte hingebungsvoll zu ihr auf.
»Owaya zu Hause.«
»Ja, und ich habe Hunger«, erklärte sie ihm. Dann sah sie Danjin an. »Und was ist mit dir?« »Ich auch«, antwortete Danjin.
Ihr Lächeln wurde breiter. »Dann wollen wir doch mal sehen, was wir an Essbarem auftreiben können. Du kannst mir erzählen, was Unfug getrieben hat, während ich fort war.«
»Eine Menge«, erwiderte Danjin trocken.
Als sie das Zelt verließen, verspürte Lanren eine vertraute Regung, die sich in seinen Gedanken festsetzte. Es war ein Gefühl, das ihn immer überkam, wenn er etwas gesehen hatte, das sich vielleicht als wichtig erweisen könnte. Und es hing mit diesem kurzen Zwischenspiel zusammen, das er soeben beobachtet hatte.
Oder waren es einfach die verschiedenen Möglichkeiten, die dem Veez selbst zu eigen waren, die seine Aufmerksamkeit fesselten? Diese Tiere konnten sehr nützlich als Späher oder Kuriere sein.
Sein Magen knurrte. Kopfschüttelnd schob Lanren den Gedanken beiseite und machte sich auf den Weg, um etwas zu essen.
Noch lange nach Mitternacht ging Auraya in ihrem Zelt auf und ab. Der Kriegsrat hatte sich über etliche Stunden erstreckt. Zuerst war die Zeit wie im Flug vergangen, aber im Laufe der Stunden hatte die Anwesenheit der neuen Traumweberratgeberin Auraya immer deutlicher an die Fragen erinnert, die sie Leiard stellen wollte.
Aus Raelis Gedanken wusste sie, dass die Frau keine Ahnung hatte, warum Leiard von dem Posten zurückgetreten war. Die Antwort darauf konnte Auraya mühelos erraten. Jeder der anderen Weißen hätte nur seine Gedanken zu lesen brauchen, um von ihrer Affäre zu erfahren. Leiard musste zurückgetreten sein, um das zu verhindern. Ihr Gewissen regte sich. Wenn ihr in jener Nacht, als sie ihn in ihr Bett genommen hatte, die Konsequenzen ihres Tuns klar gewesen wären... Aber in Augenblicken der Leidenschaft dachte man nicht wirklich nach. So hieß es jedenfalls in den Märchen, die von Liebe und Heldentum erzählten. Und selbst in diesen Geschichten hatte verbotene Liebe immer einen Preis. Offensichtlich war auch Leiard nicht bewusst gewesen, welche Probleme sie sich einhandeln würden. Selbst wenn sie sich in jener Nacht zurückgehalten hätten, wäre die Offenbarung ihrer Liebe zueinander nicht zu leugnen gewesen. Das zumindest hätten die Weißen aus seinen Gedanken lesen können.
Besteht die Chance, dass sie meine Wahl eines Geliebten akzeptieren könnten? Ich bezweifle, dass sie glücklich darüber wären, aber mit der Zeit würden sie vielleicht sogar einen gewissen Nutzen in unserer Verbindung sehen. Wir könnten zu einem Symbol der Einheit zwischen Zirklern und Traumwebern werden.
Es war schön und gut, von etwas Derartigem zu träumen, solange sie nicht wusste, wo er war oder – bei diesem Gedanken krampfte sich ihr Magen zusammen – ob er noch immer genauso für sie empfand. Während des Essens hatte sie Danjin gefragt, ob er Leiard gesehen habe. Er hatte keine Ahnung, wo sich Leiard oder die anderen Traumweber aufhielten. Sie wusste, dass sie es vorzogen, nicht mit Armeen zu reisen oder bei kriegerischen Auseinandersetzungen für eine Seite Partei zu ergreifen, aber sie konnten nicht allzu weit entfernt sein. Ihr Bestimmungsort war derselbe wie der beider Armeen: das Schlachtfeld.
Sie hätte eigentlich schlafen sollen, wusste aber, dass sie kein Auge würde zu tun können. Morgen würde Juran von ihr erwarten, dass sie die Armee zusammen mit den anderen Weißen in den Krieg führte. Diese wenigen Nachtstunden waren ihre einzige Gelegenheit, um nach Leiard zu suchen.
Als sie den Eingang des Zelts erreichte, hörte sie eine leise, gedämpfte Stimme.
»Owaya gehen?«
Sie sah zu dem Korb hinüber, den Unfug als sein Bett erwählt hatte. Zwischen den Decken erschienen ein kleiner Kopf und zwei leuchtende Augen.
»Ja«, sagte sie. »Unfug bleiben.«
»Unfug Owaya gehen.«
Auraya hielt inne, da sie sich nicht sicher war, was der Veez mit diesen Worten meinte. Das Tier sprang aus dem Korb und hüpfte an ihr vorbei. Einige Schritte von ihr entfernt blieb der Veez stehen und drehte sich zu ihr um.
»Unfug Owaya gehen«, wiederholte er.
Er wollte sie begleiten. Sie lächelte, dann schüttelte sie den Kopf.
»Auraya fliegen«, erklärte sie ihm.
Er blickte zu ihr auf. »Unfug Owaya fliegen.«
Verstand er wirklich, was sie sagte? Sie konzentrierte sich auf seine Gedanken und sah eine leuchtende Mischung aus Bewunderung und Eifer. Sie versuchte, dem Tier ein Gefühl davon zu vermitteln, was es hieß, sich über den Boden zu erheben. Der Veez zitterte vor Erregung, dann quiekte er und lief über ihren Körper zu ihrer Schulter hinauf.
Ob er wirklich verstand, wusste sie nicht. Wenn sie sich ein wenig in die Luft erhob, würde er es vielleicht mit der Angst bekommen und herunterspringen. Dann würde er die Bedeutung des Wortes »fliegen« verstehen und wissen, dass er nicht mit ihr kommen konnte.
Sie trat hinaus und ließ sich langsam emporschweben. Der Veez grub seine Krallen fester in ihre Schulter, aber sie fing keine Furcht von ihm auf. Natürlich nicht, überlegte sie. Er klettert ständig Wände hinauf und huscht an der Decke entlang.
Um seine Zuversicht auf die Probe zu stellen, stieg sie höher auf. Die einzige Veränderung in seiner Stimmung war eine wachsende Spannung. Als sie unter sich die Zelte sehen konnte, bewegte sie sich langsam vorwärts. Unfug schmiegte sich an sie und genoss den Luftzug, der seinen Pelz zerzauste.
Es gefällt ihm, staunte sie. Wer hätte das gedacht? Ich hoffe nur, dass seine Vorstellung von Höhe ihm auch sagt, wann er zu hoch ist, um noch ohne Gefahr hinunterspringen zu können...
Sie hatte mittlerweile den Rand des Lagers erreicht und folgte der Wölbung eines Hügels weiter nach oben. Über der Kuppe hielt sie inne, um sich umzusehen. Dann machte sie sich auf die Suche nach Leiard.
Tryss betrachtete die vielen hundert Lagerfeuer unter ihm und lächelte. Aus der Ferne war es ein Leichtes, sich diesen Landgehern überlegen zu fühlen. Er und Drilli hatten am vergangenen Abend darüber gesprochen. Zum einen blickten diese Leute kaum je einmal auf. Wahrscheinlich hatten sie das bisher auch nur selten nötig gehabt. Wenn die Pentadrianer die gleiche Schwäche hatten, wäre das ein großer Vorteil bei der bevorstehenden Schlacht.
Ein weiterer Schwachpunkt der Landgeher war ihre Langsamkeit. Die Siyee konnten in ein oder zwei Stunden die Strecke zurücklegen, für die der Rest der Armee zu Fuß einen ganzen Tag benötigte. Es war schnell offenbar geworden, dass die Siyee der zirklischen Armee nicht zum Schlachtfeld/o/gen würden. Es hatte keinen Sinn, im Kreis zu fliegen, während die Landgeher über die Ebenen marschierten, daher hatte Sirri angeboten, mit den Siyee vorauszufliegen, um der Armee einen günstigen Lagerplatz für die kommende Nacht zu suchen. Juran hatte ihren Vorschlag angenommen. Es hatte keinen Grund zur Eile gegeben, daher hatten sie sich reichlich Zeit gelassen, um sich das Gelände anzusehen. Die Ebenen waren eine für sie völlig unvertraute Landschaft. Sie waren tief darüber hinweggeflogen und hatten dabei Vogelschwärme und Herden von kleinen, feinknochigen Tieren aufgeschreckt, die die Landgeher Lyrim nannten. Diese Geschöpfe boten ihnen eine hervorragende Möglichkeit, den Umgang mit Geschirr und Blasrohr zu üben. Tryss und Drilli hatten einen der vielen Jägertrupps angeführt. Am Ende des Tages hatten sie mehr Tiere erlegt, als sie essen konnten. Das restliche Fleisch hatten sie gekocht und am Abend der Landgeherarmee überlassen.
Diese Geste hatte ihnen große Beliebtheit bei der Armee eingetragen. Die Landgeher hatten ihnen mit ihren Bechern zugeprostet und ihre Weinration nach der Mahlzeit den Siyee gewidmet. Dies war auch einer dieser Bräuche, der die Siyee erheiterte. Bei einer kleinen Gruppe von Landgehern, die früh am nächsten Morgen erschienen, hatte die Jagd ihnen jedoch keine gute Meinung eingetragen. Anscheinend hatten diese Lyrim-Herden ihnen gehört. Juran hatte diesen Männern Beutel mit Metallmünzen gegeben, die die Landgeher als Geld benutzten, und als die Lyrim-Hirten wieder aufgebrochen waren, hatten sie zwar grimmig dreingeblickt, waren aber zumindest nicht mehr wütend gewesen.
Wann immer er sich unter den Landgehern bewegte, verschwanden jedoch alle Gefühle von Überlegenheit. Ihre Größe genügte, um jeden Siyee einzuschüchtern, aber wahrhaft ernüchternd war es, sie zu beobachten, wenn sie sich im Umgang mit ihren Waffen übten. Viele dieser Kämpfer waren recht überheblich. Einmal hatte einer von ihnen Tryss und einige andere Siyee offen verhöhnt. Als Auraya später von dem Zwischenfall gehört hatte, war sie sehr ärgerlich gewesen. Sie hatte ihnen erklärt, dass einige Landgeher es für unehrenhaft und feige hielten, einen Menschen aus der Ferne zu töten, statt im Kampf Mann gegen Mann. Das war auch der Grund, warum sie den Bogenschützen der Landgeher Verachtung entgegenbrachten. Aber diese Leute waren groß und stark, hatte Auraya weiter erklärt, und für sie sei der Kampf Mann gegen Mann genau das Richtige. Nur könnte die Armee nicht bloß aus großen, starken Kerlen bestehen, dann brächte man nämlich nur einen denkbar kleinen Haufen zusammen. Und ander Meinung solcher Dummköpfe sollten sich die Siyee gar nicht stören. »Tryss!«
Jäh aus seinen Gedanken aufgeschreckt, sah Tryss sich um. Sprecherin Sirri kam mit einem Aufwind auf ihn zugeflogen. Kurz darauf landete sie neben ihm auf dem Hügel.
»Der Kriegsrat wird gleich beginnen«, rief sie. »Ich möchte, dass du mich begleitest.«
»Ich?«, rief er aus.
»Ja. Ich darf wahrscheinlich einige Begleiter mitbringen, aber ich bezweifle, dass man mir gestatten würde, alle vierzehn Sprecher mitzunehmen. Ich möchte lieber keine Wahl zwischen ihnen treffen, deshalb werde ich stattdessen jemand anderen mitnehmen.«
Sein Herz raste. »Ich weiß nichts darüber, wie man einen Krieg plant!«
Sie lachte. »Ich auch nicht! Aber eines weiß ich. Du bist klug. Und du denkst anders als ich. Es hätte keinen Sinn, jemanden mitzunehmen, der genauso denkt wie ich, denn der Betreffende würde wahrscheinlich nur die gleichen Probleme sehen und die gleichen Ideen haben wie ich. Ich brauche einen Begleiter, der versteht, was ich nicht verstehe.«
»Es wäre möglich, dass ich überhaupt nichts verstehe.«
»Das bezweifle ich. Also, kommst du mit?«
Er grinste. »Ja!«
»Gut!«
Sie erhob sich in die Luft, und er folgte ihr. Gemeinsam glitten sie auf das weiße Zelt zu, wo sich eine kleine Gruppe von Landgehern versammelt hatte. Nur einer der Männer schaute nach oben und sah Tryss und Sirri näher kommen. Als sie landeten, stießen die Übrigen überraschte Rufe aus und drehten sich zu ihnen um. Der Mann, der sie bemerkt hatte, trat vor und legte eine Hand auf die Brust.
»Lanren Liedmacher«, sagte er. Dann öffnete er die Hand und deutete auf Sirri. »Die Sprecherin Sirri?«
Sirri nickte. Sie sah Tryss an und nannte seinen Namen. Der Landgeher zog die Augenbrauen hoch, dann strich er sich mit dem Finger über die Brust und machte eine Bewegung, als schieße er einen Pfeil ab. Sirri nickte abermals. Der Landgeher zeigte auf seinen Kopf und machte mit dem Daumen ein Zeichen, das ein wenig töricht wirkte, aber Zustimmung zu bedeuten schien.
Tryss lächelte und nickte, um anzudeuten, dass er verstand. Eigentlich hätte es ihm peinlich sein müssen, in der Öffentlichkeit solchermaßen gelobt zu werden, aber stattdessen empfand er nur wachsendes Unbehagen. Diese Landgeher beherrschten die Sprache der Siyee nicht, und er beherrschte ihre Sprache nicht. Wie sollte er Sirri helfen, wenn er während des Kriegsrats kein Wort verstand?
Der Mann, der sich Liedmacher nannte, drehte sich um und stellte die anderen vor. Trotz der Sprachschwierigkeiten gelang es ihm, sich verständlich zu machen. Indem er »die Sprecher« sagte und auf einen der anderen Landgeher deutete, erklärte er ihnen, dass der Betreffende ein Anführer war. Bei einigen der anwesenden Personen deutete der Landgeher zuerst auf seinen Kopf, dann auf seinen Mund, um ihnen klarzumachen, dass die jeweilige Person anwesend sei, um den Anführern Gedanken und Worte zu übermitteln.
Ratgeber, dachte Tryss. Genau wie ich.
Eine in sich gekehrte Frau in einem vielfarbigen Wams lächelte schwach, als sie ihm vorgestellt wurde. Sirri erklärte Tryss leise, dass dies eine der sagenumwobenen Traumweberinnen sei. Liedmacher deutete abermals auf Kopf und Mund. Sie ist auch eine Ratgeberin, schlussfolgerte Tryss.
Anschließend deutete Liedmacher auf sich selbst, bevor er auf die Scheide an seiner Hüfte und dann auf seinen Kopf zeigte.
Also ist er sowohl ein Krieger als auch ein Ratgeber. Es wäre sicher nützlich, während eines Krieges mit diesem Mann befreundet zu sein... Wenn da nur nicht das Sprachproblem wäre. Ich frage mich, wie lange es dauernwürde, ihre Sprache zu erlernen. Die Sprache der Siyee hatte sich aus der eines Landgehers entwickelt, daher würde das Unterfangen vielleicht nicht allzu schwierig sein. Einige Wörter waren vielleicht dieselben oder wiesen zumindest eine gewisse Ähnlichkeit auf.
Plötzlich wandten die Landgeher sich von ihm und Sirri ab. Tryss konnte jedoch nicht an ihnen vorbeischauen, um den Grund für ihre Unaufmerksamkeit zu erkennen. Dann traten Anführer wie Ratgeber gleichermaßen zurück, und die Weißen erschienen. Es waren beeindruckende Gestalten. Fünf gutaussehende Männer und Frauen, alle in Weiß gekleidet. Der Mann, der jetzt das Wort an die Menge richtete – Juran -, begrüßte sie mit ernster, aber freundlicher Stimme. Auraya fing Tryss’ Blick auf und lächelte. Juran wandte sich an Sirri. »Willkommen, Sprecherin Sirri -und dies ist Tryss, der Erfinder, nicht wahr?«, sagte er in der Sprache der Siyee.
Tryss spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoss. Er war sich nicht sicher, was er diesem mächtigen, ehrfurchteinflößenden Mann erwidern sollte. Auraya lachte leise.
»Ja, das ist Jäger Tryss.« Sie fügte einige Worte in der Sprache der Landgeher hinzu, und Tryss begriff, dass sie übersetzte. Er seufzte vor Erleichterung, als ihm klar wurde, dass seine Ängste unbegründet waren. Wenn Juran und Auraya alles übersetzten, würde der Kriegsrat nicht vollkommen unverständlich für ihn sein.
Er beobachtete, wie die Weißen die Anführer und ihre Ratgeber in das Zelt geleiteten. Der Mann, der Vermittler Meeran genannt wurde, blieb unmittelbar vor dem Eingang stehen. Auraya winkte Sirri zu sich, die hinter Vermittler Meeran in das Zelt trat. Tryss vermutete, dass dies irgendeine Bedeutung haben musste. Falls sich die Gelegenheit bot, würde er Auraya später danach fragen. Im Zelt befand sich ein großer Tisch, der zu hoch war, als dass Tryss hätte erkennen können, was sich darauf befand. Alle bis auf die Weißen gingen zu den Stühlen, die im Kreis entlang der Wände des Zelts standen. Zwei dieser Stühle waren leer. Als Auraya ihnen bedeutete, dort Platz zu nehmen, runzelte Tryss die Stirn. Die Stühle waren für die Körpergröße von Landgehern gefertigt worden, und die Sitzflächen reichten Tryss bis zur Brust.
Sie hätten kleinere Stühle für uns bereitstellen sollen, überlegte er verstimmt. Es wirkt ein wenig unhöflich...
Sirri beklagte sich jedoch nicht. Sie trat vor einen der Stühle und sprang mühelos auf die Sitzfläche. Als Tryss ihrem Beispiel folgte, war er sich der vielen Blicke bewusst, die auf ihm ruhten. Nachdem er Platz genommen hatte, stellte er fest, dass er jetzt die Oberfläche des Tisches sehen konnte.
Ah, deshalb haben sie keine kleineren Stühle für uns beschafft.
Auf dem Tisch lag ein großes Laken aus einem dünnen Stoff, auf das eine bunte, ringsum von Blau umgebene Form gemalt war. Als Tryss näher hinschaute, wuchs seine Erregung. Dies war eine Landkarte – und er hatte noch nie eine Landkarte gesehen, die so detailliert oder so groß gewesen war. Die Karte zeigte den gesamten Kontinent Nordithania.
Als Nächstes versuchte er herauszufinden, wo Si lag. Schließlich begriff er, dass die Linien, die wie ein auf dem Kopf stehendes V ausahen, Berge sein sollten. Der Anführer der Weißen, Juran, begann zu sprechen, und Auraya schob sich zwischen Tryss’ und Sirris Stuhl.
»Er sagt, dass wir zuerst darüber reden werden, auf welche Weise die Siyee uns vor und während der Schlacht unterstützen können«, murmelte sie. »Da er im Wesentlichen zu euch sprechen wird, wird er sich nach bestem Vermögen eurer Sprache bedienen, und Dyara wird für die anderen übersetzen.«
Sirri nickte. Juran wandte sich ihr zu.
»Willkommen bei der Kriegsversammlung, Oberste Sprecherin Sirri«, sagte er, wobei er die Worte langsam und bedächtig bildete. Die Frau, Dyara, übersetzte derweil leise für die anderen Anwesenden.
»Ich danke dir, Juran, Anführer der Weißen«, erwiderte Sirri. »Ich bin bestrebt, zu helfen, so gut ich nur kann.«
Er lächelte. »Genau darüber wollen wir heute Abend sprechen. Wie möchtest du deine Leute am liebsten einsetzen?«
Sirri dachte kurz nach. »Als Bogenschützen aus der Luft«, antwortete sie. »Als Augen am Himmel.«
»In der Tat, es ist auch meine Meinung, dass sie uns so am nützlichsten wären«, stimmte Juran ihr zu. »Ich halte es für unklug, euch während der Schlacht zu willkürlichen Angriffen auf unseren Feind auszuschicken. Das wäre gefährlich und würde euren Fähigkeiten nicht gerecht werden. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, den Feind zu überraschen, und zu Land wie in der Luft möglichst vorteilhaft zusammenarbeiten.«
»Wie könnte das erreicht werden?«, fragte Sirri.
»Unser Kriegsratgeber, Lanren Liedmacher, hat viele Vorschläge zu diesem Thema.«
Sirri sah den Mann an, der sie begrüßt hatte. »Ich freue mich darauf, sie zu hören.«
»Dann wird er seine Vorschläge jetzt darlegen. Lanren?«
Der freundliche Landgeher erhob sich von seinem Platz. Auf ein Nicken von Juran hin begann er zu sprechen. Auraya übersetzte. Tryss hörte fasziniert zu, während Liedmacher mögliche Begegnungen mit dem Feind schilderte und erklärte, auf welche Weise die Siyee dabei helfen könnten. Tryss hatte sich vorgestellt, dass die beiden Armeen in einer einzigen gewaltigen Schlacht aufeinanderprallen würden; diese sorgfältig geplanten, komplizierten Strategeme und Taktiken erstaunten ihn über die Maßen.
Der Mann hatte überraschend klare Vorstellungen von den Beschränkungen, denen die Siyee im Flug unterworfen waren. Tryss war offenkundig nicht der Einzige, der die Stärken und Schwächen seiner Verbündeten beobachtet und abgeschätzt hatte. Allerdings unterlief dem Kriegsratgeber auch ein Schnitzer, denn er ging davon aus, dass die Windverhältnisse in den Bergen die gleichen sein würden wie über den Ebenen. Ohne lange nachzudenken, unterbrach Tryss den Mann. Zu spät wurde ihm klar, was er getan hatte, und während ihm die Röte ins Gesicht stieg, verstummte er jäh.
»Sprich weiter, Tryss«, murmelte Auraya. »Nur zu. Genau deshalb sind wir hier: um einander zu korrigieren, wenn einem von uns ein Irrtum unterläuft. Besser jetzt als später, nachdem solche Irrtümer Tote auf dem Schlachtfeld gefordert haben.«
Er sah zuerst sie an, dann Sirri. Die Sprecherin nickte ermutigend, und Tryss schluckte.
»In den Bergen bewegt sich die Luft anders«, sagte er. »Manchmal ist es zu unserem Vorteil, manchmal nicht.«
Auraya übersetzte, dann ergriff Lanren Liedmacher wieder das Wort.
»Könnt ihr voraussehen, wie diese Winde sich bewegen werden?«
»Wir können nur allgemeine Schätzungen abgeben. Erst wenn wir an Ort und Stelle sind, werden wir wissen, ob die Luft sich so verhält, wie wir es erwartet haben.«
Von diesem Zeitpunkt an drehte sich die Diskussion um konkrete Einzelheiten. Sirri beteiligte sich an dem Gespräch, blickte aber oft zu Tryss hinüber, wenn die Szenarien, die Liedmacher beschrieb, sehr kompliziert wurden. Der Kriegsratgeber war voller Begeisterung, aber nach einer Weile hielt er inne und wandte sich an Juran. Auraya übersetzte.
»Wir könnten noch stunden- oder sogar tagelang darüber reden. Darf ich vorschlagen, dass wir die Erörterung in meinem Zelt fortsetzen? Jeder, der an den näheren Einzelheiten interessiert ist, wäre mir willkommen.«
»Ja«, stimmte Juran ihm zu. »Zuvor möchte ich aber gern darüber reden, auf welche Weise die Siyee uns vor der Schlacht als unsere › Augen am Himmel ‹ von Nutzen sein könnten.« Er sah Sirri an und verfiel dann wieder in die Sprache der Siyee. »Wir haben keine Spione bei der pentadrianischen Armee. Die Zauberer, die sie führen, sind in der Lage, Gedanken zu lesen, und sie haben unsere Spione, die sich in ihre Truppe eingeschmuggelt haben, bereits entdeckt. Was ihre Position betrifft, haben wir lediglich Berichte von Spähern, die die Armee aus einiger Entfernung beobachten, und nach unseren jüngsten Informationen befinden sich die Pentadrianer jetzt in den Wäldern der Vorhügel. Wärst du bereit, einige von deinen Leuten über die Berge zu schicken, um Näheres in Erfahrung zu bringen?«
Sirri nickte. »Natürlich.«
»Wie lange würden sie brauchen, um die Berge zu überqueren und zurückzukehren?«
Sie zuckte die Achseln. »Einen Tag, vielleicht zwei, um hinüberzufliegen, und die gleiche Zeit für die Rückkehr. Wie lange sie für die Ausführung ihres Auftrags benötigen, hängt davon ab, wie viele Siyee ich ausschicke und wie schwierig es ist, in diesem Wald etwas zu erkennen. Wie groß ist das Gebiet, das sie absuchen müssten?«
Juran zeigte auf einen der Gebirgszüge auf der Karte.
»Ich werde zwanzig Paare schicken. Dann werden sie nicht länger als einen Tag brauchen, um das Gebiet abzusuchen.«
Juran nickte. »Können sie heute Nacht noch aufbrechen?«
»Wir haben keinen Mond heute Nacht. Es ist gefährlich, in Zeiten solcher Dunkelheit durch die Berge zu fliegen. Sie können jedoch vor Sonnenaufgang aufbrechen. Bis sie die Berge erreicht haben, wäre es dann hell genug.«
Juran lächelte. »Also müssen wir warten. Vielen Dank, Sprecherin Sirri.«
Sirri kicherte. »Ich sollte dir danken, Juran von den Weißen. Ich habe viel zu viele energiegeladene junge Männer bei mir, die auf Aufregung und Abenteuer brennen. Dies wird zumindest einigen von ihnen etwas zu tun geben.«
Die Landgeher lächelten, als Dyara diese Bemerkung übersetzte.
»Vielleicht solltest du die Vernünftigeren unter ihnen auswählen«, meinte Auraya.
»Leute, die sich nur dann offenbaren, wenn es unbedingt sein muss. Wir hoffen, dass ihr Siyee eine böse Überraschung für den Feind darstellen werdet.«
Sirri nickte. »Du hast recht. Ich werde sehr vorsichtig bei der Auswahl meiner Späher sein müssen.«
»Gibt es noch irgendwelche Veränderungen, die wir zu eurem Wohl vornehmen könnten?«, fragte Juran. »Sind deine Leute mit den bisherigen Vorkehrungen zufrieden?«
»Ja«, antwortete Sirri. »Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich noch einmal dafür entschuldigen, dass wir die Lyrim gejagt haben. Wenn wir gewusst hätten...«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Juran besänftigend. »Wenn wir diesen Herden begegnet wären, hätte ich selbst den Befehl gegeben, die Tiere zu erlegen. Hirten und Bauern wissen, dass dergleichen Dinge in Zeiten des Krieges häufig vorkommen. Wenn sie es nicht wüssten, hätten sie niemals den Mut gehabt, zu mir zu kommen und um eine Entschädigung zu bitten.«
»Ich verstehe.« Sirri machte ein nachdenkliches Gesicht. »Sollen wir dann auch in Zukunft jagen?«
Juran lächelte. »Wenn ihr es wollt, tut es, aber nehmt nur die Hälfte einer jeden Herde, auf die ihr trefft, und verschont die männlichen Tiere und die tragenden Weibchen, damit die Lyrim sich auch weiterhin möglichst schnell vermehren können.«
Sirri grinste. »Das werden wir tun.« »Gibt es sonst noch etwas, über das ihr gern sprechen möchtet?«
Sie schüttelte den Kopf. Juran sah sich im Raum um, dann richtete er das Wort an die anderen Landgeher.
»Er fragt, ob irgendjemand noch Fragen hat«, übersetzte Auraya.
Keiner der Landgeher sagte etwas, obwohl einige von ihnen so aussahen, als würden sie es gern tun. Als das Gespräch sich anderen Themen zuwandte und er nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, entspannte sich Tryss langsam. Jetzt würde er endlich mehr darüber erfahren, wie die Landgeher diesen Krieg führen wollten. Ein junger hanianischer Soldat starrte in sein Lagerfeuer. In den Flammen sah er die Gestalten grimmiger Krieger und großer Zauberer. Wie wird es werden?, fragte er sich.
Ich bin der Armee erst letztes Jahr beigetreten. Meine Ausbildung ist doch gewiss noch lange nicht ausreichend, oder? Aber der Hauptmann sagt, ein disziplinierter Kampfgeist sei alles, was ich brauchen werde.
Und eine große Portion Glück, fügte Jayim hinzu.
Geh weiter, befahl Leiard seinem Schüler. Du schaust in die Flammen, um zu lernen, aber wenn du dort verweilst, um dich zu unterhalten, missbrauchst du deine Gabe.
Jayim lernte schnell. Am Abend zuvor hatte er den Zustand der Trance erreicht, der vonnöten war, um Gedanken abzuschöpfen, aber er war nicht in der Lage gewesen, sich gleichzeitig auf das Gespräch mit Leiard zu konzentrieren. Diesmal machte er seine Sache besser.
Der nächste Geist war lebhafter. Es handelte sich um einen Siyee, dessen Gedanken von Tintra verzehrt wurden. Er und zwei andere Männer seines Stammes hatten einige somreyanische Soldaten in ihre Laube eingeladen. Sie waren nicht darauf gefasst gewesen, welche Wirkung der Alkohol auf ihre kleinen Körper hatte.
Ich hoffe, die Somreyaner nutzen diese Situation nicht aus, bemerkte Jayim besorgt.
Vielleicht tun sie’s, vielleicht nicht. Du kannst ihnen nicht helfen, ohne zu offenbaren, dass du in ihren Geist eingedrungen bist. Sie werden nicht verstehen, warum wir das tun. Geh weiter. Die Gedanken, die sie als Nächstes auffingen, waren eher körperlicher Natur. Die Aufmerksamkeit dieser Siyee galt ihrem Partner und den Zärtlichkeiten, die sie mit ihm austauschte. Sie dachte weder an das Kämpfen noch an die bevorstehende Schlacht. Jayim fand das alles sehr, sehr interessant.
Geh weiter.
Sein Zögern war Jayim ausgesprochen peinlich. Hastig wandte er seine Aufmerksamkeit von den Liebenden ab.
Die Siyee haben auch weibliche Kämpfer, und das Gleiche gilt für die Dunweger. Warum lassen die Hanianer Frauen in ihrer Armee nicht zu?
Was meinst du?
Weil unsere Frauen schwächer sind?
Sie könnten genauso stark sein wie die Dunwegerinnen, wenn sie es wollten. Es bedarf nur der richtigen Ausbildung.
Weil sich jemand um die Kinder und die Häuser kümmern muss?
Was ist mit den Kindern und den Häusern der Siyee? Aus den vielen Geistern, die wir berührt haben, weißt du, dass sie ihre Kinder in der Obhut der älteren Siyee lassen.
Dann finde ich keine Antwort auf meine Frage... Vielleicht habendie Hanianer es nicht nötig, Frauen in den Krieg mit einzubeziehen. Wir haben genug Männer, die für uns kämpfen.
Oder zumindest hoffen wir das.
Es hätte keinen Sinn, Frauen mitzunehmen, wenn sie keine Ausbildung haben. Frauen haben keine Zeit für eine solche Ausbildung, wenn sie jung heiraten und Kinder bekommen.
Die Siyee heiraten ebenfalls jung.
Also, woran liegt es dann?
Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit. Wir können die Gedanken eines Volkes nicht so lesen, wie wir heute Abend die Gedanken einzelner Menschen lesen. Sitten und Gebräuche entwickeln sich über einen langen Zeitraum und trotzen Veränderungen. Erst wenn eine Veränderungunbedingt erforderlich ist, kann sich die Art, wie ein Volk lebt, in eine andere Richtung entwickeln. Dasselbe gilt für das moralische Empfinden.
Wenn wir also nicht genug Männer für den Kampf hätten, würden auch Frauen zu kämpfen lernen?
Wahrscheinlich. Es gibt nur ein Problem: Wenn die Situation die Frauen dazu zwingt, in die Schlacht zu ziehen, wird keine Zeit mehr bleiben, um sie auszubilden. Und nun such dir einen anderen Geist.
Leiard folgte Jayim. Der Junge berührte die Geister der Traumweber, die um ihr Zelt herum lagerten. Bei einer von ihnen nahmen sie jähe Angst wahr, aber der Grund dafür war nicht die Berührung. Es war etwas anderes. Eine Gestalt in der Dunkelheit jenseits des Lagers...
Warte. Geh zurück.
Jayim hielt inne, dann wandte er sich wieder dem Geist der erschrockenen Traumweberin zu. Durch ihre Augen sah er eine Gestalt aus der Dunkelheit heraustreten. Eine Priesterin. Eine Hohepriesterin. Als die Frau näher kam, erkannte die Traumweberin sie, und eine gewisse Erleichterung stieg in ihr auf. Es ist die Weiße, die uns freundlich gesinnt ist. Auraya.
Auraya. Freude und Furcht strichen gleichzeitig durch Leiards Körper. Sie ist gekommen, um nach mir zu suchen.
Sieht so aus, als würden meine Lektionen heute Abend früh enden, bemerkte Jayim selbstgefällig.
Wir werden die verlorene Zeit morgen nachholen, erwiderte Leiard.
Dann erwarte ich von dir, dass du dafür sorgst, dass sich mein Opfer auch lohnt.
Leiard seufzte. Der Junge war genauso schlimm wie Mirar.
Genug, Jayim. Versichere dich deiner Identität.
Während Jayim das Ritual vollzog, konzentrierte sich Leiard ebenfalls auf das Gefühl seiner selbst. Ich bin Leiard, Traumw...
Und ein Narr, unterbrach ihn eine Stimme in seinen Gedanken. Du wusstest, dass sie zu der Armee stoßen würde, und trotzdem bist du zusammen mit den anderen Traumwebern gereist, obwohl du eigentlich in die andere Richtung hättest laufen müssen.
Mirar. Leiard seufzte. Wann werde ich dich endlich los?
Wenn du wieder zu Verstand gekommen bist. Es ist nicht deine Identität, mit der du Probleme hast, es sind deine Lenden.
Ich bin nicht hier, um Auraya zu treffen, dachte Leiard entschieden. Ich bin ein Traumweber.
Es ist meine Pflicht, die Opfer dieses Krieges zu versorgen.
Lügner. Es ist deine Pflicht, deine Leute zu schützen, entgegnete Mirar. Wenn diese Zirkler, die du glaubst versorgen zu müssen, herausfinden, dass du ihre Hohepriesterin verführt hast, werden sie nach ihren Schwertern greifen und jeden Traumweber töten, den sie finden können. Es wird eine hübsche kleine Aufwärmübung für die Schlacht mit den Pentadrianern sein.
Ich kann nicht einfach verschwinden, protestierte Leiard. Ich muss ihrer klären, warum ich fortgehen muss.
Das weiß sie bereits.
Aber ich muss mit ihr reden, um ihr...
Und was willst du ihr sagen? Dass du einen schönen, entlegenen Ort kennst, der wie geschaffen ist für eine kleine Liebelei? Das kannst du ihr in einem Traum sagen, und bei der gleichen Gelegenheit kannst du ihr erklären, warum du... »Leiard?«
Es war Jayim. Leiard öffnete die Augen. Der Junge starrte ihn an.
»Es ist nicht besser geworden, nicht wahr?«
Leiard erhob sich. »Ich habe seit Wochen nicht mehr die Kontrolle an ihn verloren. Das ist durchaus eine Verbesserung. Ich nehme an, es wird seine Zeit dauern.«
»Falls ich irgendetwas...«
»Hallo? Leiard?«
Beim Klang dieser Stimme überlief Leiard ein Schauder. Es war Aurayas Stimme. Er hatte sie seit Monaten nicht mehr gehört, und sie brachte Erinnerungen an Träume mit sich, die sie geteilt hatten, Echos jener ersten gemeinsamen Nacht. Sein Herz begann zu rasen.
Er brauchte sie lediglich hereinzubitten. Er holte Luft, um zu sprechen, und wartete auf Mirars Protest, aber der Geist, der sich in dem seinen eingenistet hatte, blieb still. Vielleicht aus Vorsicht. Wenn Mirar sprach, würde Auraya ihn hören und...
»Leiard?«
»Ich bin hier. Komm herein, Auraya.« Die Lasche wurde geöffnet, und Auraya trat ein. Leiard wurde eng um die Brust, und als er begriff, dass er die Luft angehalten hatte, stieß er den Atem langsam wieder aus. Sie hatte sich das Haar zu einem Zopf im Nacken geflochten, aber der Wind hatte – wahrscheinlich während des Fluges -einige Strähnen gelöst, die ihr jetzt ins Gesicht fielen. So war sie noch schöner, ging es ihm durch den Kopf. Zerzaust wie nach einer Nacht voller...
»Sei mir gegrüßt, Auraya von den Weißen«, sagte Jayim.
Sie sah den Jungen an und lächelte. »Sei mir gegrüßt, Jayim Bäcker. Wie kommst du mit deiner Ausbildung voran?«
»Gut«, antwortete der Junge.
Ihr Lächeln war sehr herzlich, verblasste jedoch ein wenig, als sie sich Leiard zuwandte.
»Ich habe gehört, dass du von deinem Amt zurückgetreten bist.«
Leiard nickte.
»Es war schön, dich wiederzusehen, Auraya«, warf Jayim ein. »Aber jetzt gehe ich wohl besser.«
Sie sah ihm nach, während er das Zelt verließ, dann drehte sie sich wieder zu Leiard um. »Er weiß Bescheid.«
»Ja. Ein Nachteil unserer Methoden, die Gedankenvernetzung zu lehren. Ich vertraue ihm.«
Sie zuckte die Achseln. »Dann tue ich es auch.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich verstehe, warum du zurückgetreten bist. Zumindest glaube ich, es zu verstehen. Du musstest es tun, für den Fall, dass man unsere Beziehung entdecken und verurteilen würde.«
»Ich bin nicht nur zurückgetreten, um die Traumweber zu schützen«, erwiderte er, und der Nachdruck, mit dem er sprach, überraschte ihn selbst. »Ich habe es auch getan, damit wir... damit wir uns auch in Zukunft treffen können.«
Ihre Augen weiteten sich, dann lächelte sie, und ihre Wangen röteten sich. »Ich muss zugeben, dass ich ein wenig beunruhigt war. Die Traumvernetzungen haben aufgehört, und ich habe zwei Nächte gebraucht, um dich zu finden.«
Er ging auf sie zu und griff nach ihren Händen. Ihre Haut war so weich. Sie blickte zu ihm auf, und ein kleines, sinnliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihr Duft war verführerisch schwach und weckte in ihm den Wunsch, tief einzuatmen.
Was soll ich sagen? Er blinzelte und versuchte sich zu erinnern. Ah, ja.
»Ich musste einige Entscheidungen treffen«, erklärte er. »Entscheidungen, die man am besten allein trifft.« Er konnte durch ihre Hände ihre Anspannung spüren.
»Und wie sieht deine Entscheidung aus?«
»Ich habe mich dafür entschieden...« Er hielt inne. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht begriffen, wie nahe er daran gewesen war, Mirar nachzugeben. Das Leben wäre leichter gewesen, wenn er einfach fortgelaufen wäre. Jetzt, da er wieder mit Auraya zusammen war – sie sah, sie berührte -, wusste er, dass er nicht vor ihr davonlaufen konnte. Sie würde ihn Tag und Nacht verfolgen.
»Ich habe entschieden, dass nur eins zählt: Wir müssen sein, wer wir sind«, sagte er.
»Du bist eine der Weißen. Ich bin ein Traumweber. Wir sind Liebende. Wenn wir das leugneten, würden wir leugnen, wer wir sind. Es wäre falsch, zuzulassen, dass andere durch unsere Liebe Schaden nehmen. Das wissen wir beide. Also...«
»Also?«
»Wir können uns nur in aller Heimlichkeit treffen.«
»Wo?«
»Weit fort von Jarime. Mir schwebt da ein bestimmter Ort vor. Ich werde dir in einem Traum die Beschreibung des Weges dorthin schicken.«
Ihre Mundwinkel zuckten. »Nur die Beschreibung des Weges? Sonst nichts?«
Er lachte leise. »Du findest ein wenig zu viel Gefallen an diesen Träumen, Auraya. Ich hatte schon Angst, dass du sie mir vorziehen würdest.«
Sie umfasste seine Hände ein wenig fester. »Nein, ich ziehe die Wirklichkeit immer noch vor. Oder... zumindest glaube ich, dass ich das tue.« Sie blickte über seine Schulter hinweg zum Bett. »Vielleicht sollte ich mich davon überzeugen, dass es wirklich so ist.«
Er schaute zur Zeltlasche hinüber. Jayim hatte sie sorgfältig verschlossen, wie er bemerkte. Es gab keine Ritzen.
»Keine Sorge«, murmelte Auraya. »Niemand wird etwas hören. Dafür habe ich bereits gesorgt.«
Als sie ihn zum Bett hinüberzog, konnte sich Leiard der Ironie der Situation nicht ganz entziehen. Was mochten die Götter davon halten, dass eine ihrer bevorzugten Priesterinnen ihre Gaben benutzte, um ihre heimliche Affäre mit einem Traumweber zu verbergen?
Dann wurde er plötzlich wieder ernst. Es bestand kaum eine Chance, dass sie nicht bereits davon wussten. Wenn sie ihre Beziehung missbilligten, hätten sie schon vor langer Zeit etwas dagegen unternommen.
Dann küsste Auraya ihn, und alle Gedanken an die Götter lösten sich in nichts auf.
Emerahl zog den Pelzkragen ihres Kapas fester um sich. Sie wandte sich dem Eingang des Zeltes zu, stieß einen tiefen Seufzer aus, drückte dann den Rücken durch und ging hinaus.
Sofort spürte sie die Blicke der Männer. Es waren die Soldaten, die die Aufgabe hatten, über sie zu wachen. Angeblich sollten sie ihre Beschützer sein, aber in Wirklichkeit waren sie eher Gefängniswärter. Seit dem Tag, an dem sie mit den anderen Prostituierten aus Porin aufgebrochen war, hatte sie die höfliche Aufmerksamkeit dieser Männer ertragen.
Als Rozea von Emerahls »Unfall« mit dem Formtane erfahren hatte, hatte sie erklärt, dass Emerahl ihre neue Favoritin sei. Auf diese Weise hatte sie weiteren »törichten und selbstzerstörerischen Angewohnheiten« vorbeugen wollen. Seither reiste Emerahl in Rozeas Tarn und bekam von allem nur das Beste – einschließlich ihrer persönlichen Wachposten.
Die anderen Huren standen etwas weiter entfernt. Seit ihrem Aufbruch aus Porin hatte Emerahl kaum mit ihnen gesprochen. Aus kurzen Gesprächen mit Flut wusste sie, dass die Frauen glaubten, sie habe ihren kleinen »Unfall« mit dem Formtane geplant, um Rozea dazu zu bewegen, ihr eine höhere Position zu geben.
Es machte die Sache nicht besser, dass Rozea Emerahl nicht erlaubte, Flut oder Brand zu besuchen. Sie wusste, dass Brand das Formtane für Emerahl gekauft hatte, und sie war sich nicht sicher, ob Emerahls Freundinnen ihr nicht auch andere Dinge zustecken würden.
Einen zweifelhaften Vorteil hatte ihre neue Position. Ihre Kunden waren stets die reichsten Adligen der Armee. Die wenigen Priester, die die Zelte des Bordells besuchten, konnten sich die Dienste der Favoritin nicht leisten. Zumindest bisher nicht. Emerahl wünschte beinahe, sie hätte Rozea nicht gesagt, dass sie diese Reise nicht machen wollte. Rozea befürchtete jetzt, dass die Angst ihrer Favoritin vor dem Krieg die Oberhand über ihre Vernunft gewinnen könnte, daher wurden die Zelte jeden Abend so aufgestellt, dass man Emerahl aus allen Richtungen beobachten konnte. Man gestattete ihr keine scharfen Werkzeuge, und ihre Kunden wurden gebeten, alle Waffen abzulegen, bevor sie zu ihr gingen. Rozea liebte fantastische Abenteuergeschichten und wusste, dass ein gestohlenes Messer und ein lautloser Schnitt in eine unbewachte Zeltwand den Heldinnen vieler Geschichten die Möglichkeit gegeben hatte, ihren Wärtern zu entfliehen.
Es war jedoch keine dieser Vorsichtsmaßnahmen, die Emerahl davon abhielt, fortzugehen.
Es sind weder die Wachen noch die Zeltwände, dachte sie, während einige Diener geschickt die Zeltpfosten aus dem Boden zogen und das ganze Gebilde in sich zusammenbrach. Es sind die Nachbarn gewesen.
Sie betrachtete das leere Feld, auf dem sie gelagert hatten. Die Überreste des bereits geernteten Getreides waren zertrampelt worden – zuerst von der Armee und jetzt von Rozeas Karawane. Ein Stich der Erregung durchzuckte sie. Bisher war es ihnen gelungen, mit der torenischen Armee Schritt zu halten. Tagsüber verschwanden die Truppen häufig in der Ferne, aber am Abend holte die Bordellkarawane sie immer wieder ein.
Nur am letzten Abend war es anders gewesen. Eine kleine Gruppe wohlhabender Freier war zurückgeritten, um sie aufzusuchen, und hatte sie in den frühen Morgenstunden wieder verlassen. Emerahls Freier, ein Vetter zweiten Grades des Königs, hatte ihr erzählt, dass die Armee die Männer jetzt so schnell wie möglich vorantrieb, damit sie rechtzeitig zur Schlacht zu der zirklischen Armee stoßen konnten.
Bisher hatte das Bordell jeden Abend auf dem gleichen Gelände gelagert wie die Truppen. Jeden Abend gingen Priester zwischen den Soldaten umher, sprachen ihnen Mut zu und sorgten dafür, dass sie in ihrem Eifer nicht erlahmten. Das war es, was Emerahl daran gehindert hatte, fortzugehen. Jede Auseinandersetzung zwischen ihr und ihren Wächtern würde unweigerlich Aufmerksamkeit erregen. Selbst wenn es ihr gelang, sich unbemerkt davonzustehlen, würde es sich schnell herumsprechen, dass Rozeas Favoritin davongelaufen war. Es war nicht schwer zu erraten, was passieren würde: In den Köpfen vieler Soldaten würde sich sofort der Gedanke an ein kostenloses Schäferstündchen mit einer begehrten Schönheit festsetzen – und die Aussicht auf eine Belohnung, wenn sie sie zurückbrachten. Sie könnte sich mühelos verteidigen, aber auch damit würde sie gerade die Aufmerksamkeit erregen, die sie unbedingt vermeiden wollte.
Jetzt, da die Armee schneller marschierte, bestand diese Gefahr nicht länger. Schon bald würde das Bordell zu weit zurückliegen, als dass die Adligen es bei Nacht aufsuchen konnten. Sie brauchte lediglich eine Ablenkung für ihre Wachen zu arrangieren und davonzuschlüpfen, und da sie keinen Kunden mehr die ganze Nacht in ihrem Bett haben würde, würde ihre Abwesenheit wahrscheinlich bis zum Morgen unbemerkt bleiben.
»Jade.«
Emerahl blickte auf. Rozea, deren hohe Stiefel schlammverkrustet waren, kam auf sie zu. Das Leben auf Reisen gefiel der Frau offensichtlich, und sie verbrachte jeden Morgen damit, im Lager umherzustapfen und Befehle zu erteilen.
»Ja?«, erwiderte Emerahl. »Wie geht es dir?«
Emerahl zuckte die Achseln. »Recht gut, danke.« »Dann komm mit.«
Rozea begleitete sie zu dem Tarn, der ihren Zug anführte, und schob sie hinein. Eine Dienerin reichte ihnen Kelche mit gewärmtem Gewürzwasser. Emerahl leerte ihren Kelch mit wenigen Zügen, weil sie die Absicht hatte, sich bald niederzulegen und zu schlafen. Sie war heute nicht in Stimmung für ein Gespräch mit Rozea, und wenn sich ihr in der Nacht die Gelegenheit zur Flucht bot, wollte sie so ausgeruht sein wie nur möglich.
»Du bist heute Morgen so still«, bemerkte Rozea. »Es ist wohl noch zu früh für dich?«
Emerahl nickte.
»Wir müssen zeitig aufbrechen, wenn wir heute Abend zu der Armee aufschließen wollen.«
»Glaubst du, dass wir es schaffen werden?«
Rozea schürzte die Lippen. »Vielleicht. Wenn nicht, werden wir uns zumindest vor Kremos Karawane setzen.«
Kremo war einer von Rozeas Rivalen. Die Karawane des Mannes war größer als ihre, und er bediente alle Soldaten bis auf die ärmsten unter ihnen, die sich nur die allein reisenden, kränklichen Huren leisten konnten, die wie Aasfliegen hinter der Armee herzockelten.
»Dann sollte ich besser zusehen, dass ich ein wenig Schlaf finde«, sagte Emerahl. Rozea nickte. Emerahl legte sich auf die Sitzbank und schlief sofort ein. Nur als der Tarn sich ruckartig in Bewegung setzte, wachte sie noch einmal kurz auf. Als sie das nächste Mal wieder erwachte, war der Tarn stehen geblieben. Sie blickte auf und stellte fest, dass Rozea fort war.
Nach einer Weile nickte sie wieder ein, bis laute Männer stimmen sie aufschreckten. Irgendwo hinter dem Tarn erklangen Schreie.
Emerahl fuhr hoch und riss die Türlasche des Tarns auf. Die Straße war von Bäumen gesäumt, und Männer, die sie nicht kannte, kamen durch die Bäume auf die Karawane zugestürmt. Irgendwo weiter vorn hörte Emerahl Rozea den Wachen Befehle zubrüllen, doch die Männer waren den Angreifern bereits entgegengerannt. Emerahl stellte fest, dass sie die Rüstung torenischer Soldaten trugen und die gleichen Schwerter und Speere schwangen wie die Truppen dieses Landes. Einen der Männer besah sie sich genauer. Seine Gefühle waren eine Mischung aus Habgier, Verlangen und Jubel darüber, endlich frei von Befehlen und Einschränkungen zu sein.
Deserteure, vermutete Emerahl. Wahrscheinlich sind sie zu Dieben und Gesetzlosen geworden.
Mit hämmerndem Herzen blickte sie sich um. Die Anzahl der Angreifer schien nicht allzu groß zu sein, aber es war durchaus möglich, dass sich weitere Männer zwischen den Bäumen versteckten. Dann stach ihr der herabgestürzte Baum ins Auge, der vor Rozeas Tarn lag. Jemand hatte den Stamm mit einem Beil bearbeitet; dies war kein natürliches Hindernis.
Plötzlich trat ein Fremder vor sie hin. Erschrocken zog sie sich in den Tarn zurück. Der Mann grinste sie an und riss die Lasche beiseite. Als er in den Tarn zu steigen versuchte, fasste Emerahl sich rasch. Sie zog Magie in sich hinein, dann zögerte sie. Es war das Beste, es wie einen körperlichen Schlag aussehen zu lassen. Sie schleuderte ihm die geballte Wucht eines Zaubers ins Gesicht.
Sein Kopf wurde zurückgerissen, und er keuchte überrascht auf. Blut rann aus seiner Nase. Der Mann stieß ein wütendes Knurren aus und hievte sich in den Tarn.
Zäher Bastard, dachte sie. Und dumm obendrein. Sie sammelte abermals Magie und richtete sie direkt auf seine Brust. Der Schlag katapultierte ihn rückwärts aus dem Tarn hinaus. Als er zu Boden fiel, schlug sein Kopf mit einem hörbaren Krachen gegen einen Baumstamm.
Emerahl schob sich zur Tür hinüber. Als eine weitere Gestalt in Sicht kam, zuckte sie zusammen, entspannte sich dann jedoch, als sie das Gesicht eines der Wachmänner des Bordells erkannte. Er bückte sich, dann hörte sie ein dumpfes Geräusch.
»Er wird dich nicht noch einmal belästigen«, sagte der Wachmann wohlgelaunt.
»Vielen Dank«, erwiderte sie trocken.
»Jetzt sieh zu, dass niemand dich bemerkt. Kiro und Stiilo brauchen ein wenig Hilfe.«
Die Schreie der Huren hatten sich inzwischen in ein entsetztes Kreischen verwandelt. Als der Wachmann davoneilte, ignorierte Emerahl seinen Befehl und spähte zur Tür hinaus.
Drei der Deserteure standen mit dem Rücken vor einem der Tarns. Sie kämpften gegen zwei Wachleute – drei, als Emerahls Retter sich zu seinen Kameraden gesellte. Die Mädchen in dem Wagen klangen hysterisch. Im nächsten Moment landete ein magerer, schwindsüchtig aussehender Angreifer einen Treffer – er bewegte sich schneller, als man es ihm zugetraut hätte -, und der Wachposten, der gegen ihn gekämpft hatte, sackte zu Boden.
Der magere Mann blickte zu seinen beiden Kameraden hinüber. Statt ihnen im Kampf beizustehen, trat er jedoch hinter sie, fuhr herum und schlug auf die Plane des Tarns ein. Der Rahmen des Aufbaus barst, und die Plane fiel in sich zusammen. Die Mädchen begannen von neuem zu schreien.
Gleichzeitig stürzte einer der beiden anderen Deserteure zu Boden. Der magere Mann griff in den Tarn. Emerahl hielt den Atem an, dann krampfte sich ihr Magen zusammen, als ein schlanker Frauenarm in Sicht kam. Der Mann zerrte daran, und Stern fiel aus dem Wagen.
Er deutete mit der Schwertspitze auf ihren Bauch. »Tretet zurück, oder sie stirbt!«
Die Kämpfer hielten inne. Der letzte Deserteur blutete stark aus einer Verletzung am Bein.
»So ist es richtig. Und jetzt gebt uns euer Geld.« Die beiden Wachen tauschten einen Blick. »Gebt uns euer Geld!«
Emerahl schüttelte traurig den Kopf. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, wie dies hier enden kann. Wenn die Wachen seine Forderungen missachten, wird er Stern töten. Wenn sie nachgeben, wird er sie trotzdem mitnehmen, als Sicherheit für den Fall, dass die Wachen ihm folgen, um das Geld des Bordells zurückzuholen.Höchstwahrscheinlich wird er Stern töten, sobald er das Gefühl hat, den Männern entkommen zu sein.
Es sei denn, ich greife ein. Aber das kann ich nicht. Nicht ohne zu offenbaren, dass ich über mächtige Gaben verfüge.
Aber würde sie damit wirklich ein Geheimnis verraten? Rozea wusste bereits, dass ihre Favoritin über einige Gaben verfügte. Wenn Emerahl lediglich elementare Magie benutzte – zum Beispiel nur einen schwachen Schlag, um dem Mann das Schwert aus der Hand zu reißen -, würden ihre Zuschauer schlimmstenfalls ein wenig überrascht sein. Sie würde einen Augenblick abpassen müssen, in dem der Deserteur abgelenkt war. Bei dem leisesten Hinweis auf einen magischen Angriff würde er Stern sein Schwert in den Leib rammen.
Emerahl zog Magie in sich hinein und hielt sie bereit.
»Du wirst nicht eine Münze von uns bekommen, du feiger Haufen Arem-Dung.« Rozea trat zwischen zwei Tarns hervor.
Der verletzte Deserteur wählte diesen Moment, um zusammenzubrechen. Der Mann, der Stern bedrohte, gönnte seinem Gefährten nicht einen Blick. Er drückte Stern sein Schwert noch ein wenig fester in den Bauch. Das Mädchen schrie auf. »Einen Schritt weiter, und ich werde sie töten.«
»Nur zu, Deserteur«, rief Rozea trotzig. »Ich habe jede Menge Mädchen wie sie.« Sie nickte den Wachen zu. »Tötet ihn.«
Die Miene der Wachsoldaten verhärtete sich. Als sie die Schwerter hoben, sandte Emerahl ihren Zauber aus, aber es war zu spät; der Deserteur hatte Stern sein Schwert bereits in den Bauch gestoßen.
Stern schrie gequält auf. Emerahls Zauber riss dem Mann im selben Augenblick das Schwert aus der Hand, in dem sich die Klinge eines der Wachsoldaten in seinen Hals bohrte. Stern schrie abermals und presste sich die Hände auf den Leib. Emerahl stellte entsetzt fest, dass der Zauber, mit dem sie das Schwert aus dem Körper des Mädchens herausgerissen hatte, noch größeren Schaden angerichtet hatte. Blut quoll aus der Wunde.
Mit einem heftigen Fluch sprang Emerahl aus dem Tarn. Die Wachen starrten sie an, als sie an ihnen vorbeieilte und neben Stern niederkniete. Sie hörte, dass Rozea mit scharfer Stimme ihren Namen rief, kümmerte sich jedoch nicht weiter darum.
Emerahl drückte mit einer Hand fest auf die Wunde des verletzten Mädchens. Stern schrie auf.
»Ich weiß, es tut weh«, sagte Emerahl leise. »Wir müssen verhindern, dass das Blut deinem Körper entweicht.« Mit Druck allein ließ sich die Blutung jedoch nicht eindämmen. Sie zog Magie in sich hinein und formte sie zu einer Barriere unter ihren Händen.
Dann sah sie zu den Wachen auf. »Sucht nach irgendetwas, auf dem wir sie in meinen Tarn tragen können.«
»Aber sie...«
»Tut es einfach«, blaffte sie die Männer an.
Sie eilten davon. Emerahl blickte sich um. Rozea stand noch immer einige Schritte entfernt.
»Hast du eine Tasche mit Heilmitteln und Kräutern dabei?«, fragte Emerahl. Die Bordellwirtin zuckte die Achseln. »Ja, aber es hat keinen Sinn, sie zu verschwenden. Sie wird ohnehin nicht überleben.«
Kaltherziges Miststück. Emerahl biss sich auf die Zunge. »Sei dir da nicht so sicher. Ich habe schon schlimmere Verletzungen gesehen, die von Traumwebern geheilt wurden.«
»Ach ja?« Rozea zog die Augenbrauen hoch. »Du wirst mit jedem Tag interessanter, Jade. Wann hatte ein armes Mädchen wie du, das von zu Hause weggelaufen ist, die Gelegenheit, Traumweber bei der Arbeit zu beobachten? Was bringt dich auf die Idee, du könntest tun, wozu sie eine jahrelange Ausbildung brauchen?«
Emerahl sah Rozea fest in die Augen. »Vielleicht werde ich es dir eines Tages erzählen -falls du mir die Tasche und etwas Wasser bringst. Und Verbandszeug. Viel Verbandszeug.«
Rozea rief nach den Dienern. Die Türlasche des letzten Tarns wurde geöffnet, und ängstliche Gesichter kamen in Sicht, dann erschien ein Diener und eilte auf Rozea zu. Die Wachen kehrten mit einem schmalen Brett zurück. Emerahl drehte Stern auf die Seite. Das Mädchen gab keinen Laut von sich. Sie war bewusstlos geworden. Die Wachen schoben das Brett unter ihren Körper, dann trugen sie die primitive Bahre zu Rozeas Tarn hinüber.
Rozea folgte ihnen. »Ihr werdet sie nicht in den Wagen legen. Du kannst sie genauso gut hier draußen behandeln.«
Je schneller ich von dieser Frau wegkomme, umso besser, ging es Emerahl durch den Kopf.
»Wenn ich ihre Wunde genäht habe, darf sie nicht mehr bewegt werden, daher müssen wir sie zuerst irgendwo hinbringen, wo sie es warm und bequem hat.« Sie sah die Wachen an. »Legt sie in den Wagen.«
Die Männer gehorchten ihr. Als sie wieder herauskamen, trat Rozea in die Tür. Emerahl hielt sie am Arm fest.
»Nein«, sagte sie. »Ich arbeite allein.«
»Ich werde nicht zulassen, dass du...«
»O doch, das wirst du«, knurrte Emerahl. »Der letzte Mensch, den sie wird sehen wollen, wenn sie aufwacht, bist du.«
Rozea zuckte zusammen. »Sie wäre so oder so gestorben.«
»Ich weiß, aber sie wird Zeit brauchen, um das zu akzeptieren. Für den Augenblick würdest du sie nur aufregen, und das würde ihr schaden.«
Rozea runzelte die Stirn, dann trat sie beiseite. Emerahl stieg in den Wagen und ging neben Stern in die Hocke. Kurz darauf brachten die Diener eine große Schale mit Wasser und Stoff streifen herbei und legten dann einen jämmerlich kleinen Lederbeutel in die Nähe des Eingangs.
Emerahl rührte nichts davon an. Stattdessen legte sie die Hände wieder auf Sterns Verletzung.
»Niemand darf mich stören«, rief sie. »Hast du mich gehört?«
»Ja«, antwortete Rozea.
Emerahl schloss die Augen, verlangsamte ihre Atmung und richtete ihre Aufmerksamkeit nach innen.
Es dauerte nicht lange, bis sie sich in Trance versetzt hatte. Diese Heiltechnik ähnelte ihrer eigenen Methode, ihr Äußeres zu verändern, kostete aber weniger Zeit und Magie. Ihr Geist musste seine Denkweise verändern, um die Welt von Fleisch und Knochen zu erfassen. In diesem Bewusstseinszustand war alles – Fleisch, Stein, Luft – wie ein gewaltiges, aus einer Vielzahl einzelner Teile bestehendes Mosaik. Diese Teile bildeten Muster. Sie taten es praktisch aus eigenem Antrieb. Wenn sie heilte, brauchte sie die Teile nur grob zu dem richtigen Muster zusammenzufügen, dann stellte sich der ursprüngliche Zustand von selbst wieder her.
Zumindest war das die Art, wie sie am liebsten arbeitete. Mirar hatte versucht, sie dazu zu bringen, ihre Fähigkeiten über das Notwendige hinaus zu verfeinern. Er hatte diese Heilmethode zur Kunst erhoben und das Ziel verfolgt, die Patienten vollkommen wiederherzustellen, ohne dass Narben – welcher Art auch immer – zurückblieben und möglichst so, dass keine weitere Zeit mehr für die Genesung benötigt wurde. Emerahl hatte keinen Sinn darin gesehen, so viel Zeit und Mühe auf reine Äußerlichkeiten zu vergeuden. In diesem Fall gab es noch einen anderen Grund zu bedenken: Wenn Stern keine Narbe davontrug, würde den anderen klarwerden, dass Emerahl etwas Außerordentliches getan hatte. Die Geschichten über ihre Arbeit würden gewiss die Aufmerksamkeit der Priester erregen.
Langsam fügte sich das zerrissene Gewebe der Wunde wieder zusammen. Die Körperflüssigkeiten drangen nicht länger nach außen, sondern flössen durch die dafür vorgesehenen Bahnen. Als nichts mehr übrig war außer einer flachen Wunde, öffnete Emerahl die Augen.
Schließlich griff sie nach dem Wasser und dem Verbandszeug, erwärmte Ersteres und benutzte Letzteres, um die Wunde zu reinigen. Aus dem Beutel nahm sie eine Nadel und Faden. Mithilfe von ein klein wenig Magie erwärmte sie die Nadel, wie Mirar es sie gelehrt hatte, um einer Entzündung vorzubeugen. Der Faden roch nach einem Kräuteröl, das gegen eine Vereiterung von Verletzungen eingesetzt wurde. Der Beutel mochte klein sein, aber sein Inhalt war von guter Qualität.
Als Emerahl sich wieder umdrehte, sah Stern sie mit weit aufgerissenen Augen an.
»Du bist nicht das, was du zu sein scheinst, nicht wahr, Jade?«, flüsterte das Mädchen. Emerahl musterte sie wachsam. »Warum sagst du das?«
»Du hast mich soeben mit Magie geheilt. Ich konnte es fühlen.«
»Das liegt nur an den Heilmitteln, die ich dir zur Stärkung gegeben habe.«
Stern schüttelte den Kopf. »Ich habe dich beobachtet. Du hast nichts anderes getan, als mit geschlossenen Augen dazusitzen, während ich spüren konnte, wie sich etwas in mir bewegte. Der Schmerz ist schwächer geworden, obwohl er eigentlich hätte schlimmer werden müssen.«
Emerahl betrachtete Stern eingehend. Sie bezweifelte, dass das Mädchen ihr glauben würde, wenn sie alles leugnete.
»Ja. Ich habe einen kleinen magischen Trick benutzt, den ich von einem Traumweber gelernt habe. Glaub nur nicht, du seist vollkommen geheilt. Wenn du nicht aufpasst, könnte die Wunde wieder aufreißen. Damit das nicht passiert, muss ich dich jetzt nähen. Möchtest du eine Medizin, damit du das Bewusstsein verlierst?«
Stern besah sich die Nadel und erbleichte. »Ich... ich denke, du solltest mir besser etwas geben.«
Emerahl legte die Nadel beiseite und unterzog den Inhalt des Beutels einer genauen Musterung. Sie fand eine Phiole, auf deren Etikett die Worte »um Schlaf zu erzwingen – drei Tropfen« zu lesen waren. Die Flüssigkeit roch nach Formtane und einigen anderen Beruhigungsmitteln.
»Dies hier dürfte den Zweck erfüllen.« Emerahl sah Stern an und seufzte. »Wirst du mir etwas versprechen?«
Stern zögerte kurz, dann nickte sie. »Es soll niemand erfahren, dass du Magie benutzt hast.«
»Rozea weiß bereits, dass ich über einige Gaben verfüge.
Ich möchte nicht, dass sie erfährt, wie groß diese Gaben sind, sonst wird sie von mir verlangen, mit den Kunden Dinge zu tun, die ich nicht tun will. Also lass uns vorgeben, du wärst nicht so schwer verletzt gewesen, wie es den Anschein hatte, und ich hätte meine Magie lediglich dazu benutzt, den Blutfluss zu stillen und das Gewebe zusammenzuhalten, während ich dich genäht habe.«
Stern nickte. »So werde ich es erzählen.«
»Du versprichst mir, nicht mehr zu sagen?«
»Ich verspreche es.«
Emerahl lächelte. »Danke. Ich vermisse euch alle sehr. Es ist so langweilig, mit Rozea allein im Wagen zu sitzen. Sie erlaubt nicht einmal Brand, mich zu besuchen.«
»Jetzt hast du ja mich zum Reden«, erwiderte Stern lächelnd.
Nicht wenn ich heute Nacht fortgehe, dachte Emerahl.
Sie hob eine Hand über Sterns Kopf, so dass sie dem Mädchen einige Tropfen von der Medizin in den Mund schütten konnte. Stern schluckte, verzog das Gesicht und sprach dann weiter.
»Du hattest recht, diese Reise ist wirklich gefährlich. Wir sind jetzt so weit hinter der Armee zurückgeblieben. Wie viele unserer Wachen sind tot?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Einige sind tot. Das weiß ich. Was ist, wenn so etwas noch einmal passiert?« Stern sah Emerahl an, und ihre Augen wurden langsam glasig. »Ich bin so froh, dass du bei uns bist. Du kannst helfen, uns zu beschütz...«
Emerahl wandte den Blick ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Einfädeln der Nadel. Von den Wachen, die sie hatte kämpfen sehen, waren am Ende nur noch zwei am Leben gewesen. Es war möglich, dass einige andere Soldaten außerhalb ihrer Sichtweite Wache gestanden hatten, doch wenn das nicht der Fall war, war die Karawane jetzt nur noch höchst unzureichend geschützt.
Und zwei Männer genügen nicht, um mich zu bewachen.
Sie machte sich daran, die Ränder der Wunde zusammenzunähen. Zuerst gab Stern noch ein leises Wimmern von sich, dann verlangsamte sich ihre Atmung, und sie wurde ruhiger.
Stern hat recht. Die Huren brauchen Schutz, überlegte Emerahl. Vor allem wenn es Tage dauern wird, bis die Karawane wieder zu der Armee aufschließt.
Tage, in denen sie nicht zu fürchten brauchte, dass sie von Priestern entdeckt wurde. Sie murmelte einen Fluch. Als sie mit der Wunde fertig war, legte sie die Nadel und die Garnspule wieder in den Beutel. Dann rief sie Rozeas Namen.
Die Bordellbesitzerin spähte in den Tarn. Sie warf einen Blick auf Stern und zog die Augenbrauen hoch.
»Sie lebt?«
»Im Moment, ja.«
»Gut gemacht.« Rozea stieg in den Wagen und setzte sich dem schlafenden Mädchen gegenüber. »Eine saubere Arbeit. Du steckst voller Überraschungen, Jade.«
»Ja«, erwiderte Emerahl. »Und ich habe noch eine Überraschung für dich. Ich gehe fort. Ich will das Geld, das du mir schuldest.«
Rozea reagierte nicht sofort. Emerahl spürte, wie die Entrüstung der Frau sich langsam in Ärger verwandelte, als ihr klar wurde, dass sie ihre Lieblingshure nicht an einer Flucht hindern konnte. »Wenn du jetzt fortgehst, verlässt du mich ohne eine Münze.«
Emerahl zuckte die Achseln. »Also schön. Aber erwarte nicht, dass du mich jemals wiedersehen wirst.«
Rozea zögerte. »Ich nehme an, ich könnte dir etwas zu essen und einige Münzen geben. Genug für dich, um nach Porin zurückzureisen. Wenn ich wieder in der Stadt bin, reden wir über den Rest. Wie hört sich das an?«
»Vernünftig«, log Emerahl.
»Gut – aber bevor du gehst, erzähl mir, warum du glaubst, uns verlassen zu müssen. Liegt es an den unerfreulichen Ereignissen dieses Tages? Wir hatten Pech, aber wenn du mit uns zusammen reist, dürfte das immer noch sicherer sein, als sich allein durchzuschlagen. Du kennst die Huren, die ohne Schutz hinter der Armee hertrotten, und du weißt, wie krank und zerschunden sie aussehen.«
»Ich habe nicht die Absicht, meinen Körper zu verkaufen. Ich kann mir eine Arbeit als Heilerin suchen.«
»Du? Warum sollten die Leute dich bezahlen, wenn sie unentgeltlich die Dienste eines Priesters oder eines Traumwebers in Anspruch nehmen könnten?«
»Wenn die Menschen keine Wahl haben, nehmen sie jede Hilfe, die sich ihnen bietet. Zwischen hier und Porin können nicht mehr viele Traumweber oder Priester zurückgeblieben sein. Sie haben sich alle der Armee angeschlossen.«
»Da irrst du dich. Viele Heiler, die zu alt zum Reisen sind, sind zurückgeblieben.« Die Stimme der Frau wurde weicher. »Bist du dir wirklich sicher, dass du das tun willst, Jade? Es wäre schrecklich für mich, wenn dir etwas Schlimmes zustoßen würde. Du denkst, einige Gaben würden dir Sicherheit gewähren, aber da draußen gibt es Männer, die von Natur aus grausam sind und über stärkere Kräfte verfügen.«
Emerahl senkte den Blick.
»Wie stehen die Chancen, dass ein Mädchen von deinem Aussehen keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich lenkt, wenn es allein reist? Hier bei uns bist du sicherer. Sobald wir die Armee eingeholt haben, werde ich neue Wachen in Dienst nehmen. Was hältst du davon?«
»Ich könnte vielleicht...« Emerahl biss sich auf die Unterlippe.
Rozea beugte sich vor. »Ja? Sprich.«
»Ich möchte einen Kunden ablehnen können, wenn er mir nicht gefällt«, sagte Emerahl und sah Rozea in die Augen. »Ich will jeden dritten Abend freihaben.«
»Solange du nicht alle Kunden zurückweist, wäre das wohl eine annehmbare Regelung für eine Favoritin, aber die Forderung, jeden dritten Abend freizuhaben, ist unvernünftig. Wie wäre es mit jedem sechsten Abend?«
»Jedem vierten.«
»Jedem fünften, und ich werde dein Honorar erhöhen.« »Welchen Sinn hätte das? Du wirst mich ohnehin nicht bezahlen.«
»Ich werde dir das Geld geben, wenn du es brauchst – und ich habe genug, um neue Wachen zu bezahlen.« Die Frau hielt inne. »Also gut«, sagte sie langsam. »Ich werde deine Forderungen akzeptieren.« Sie lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und lächelte.
»Solange du mir dein Wort gibst, dass du während des nächsten Jahres bei mir bleiben wirst.«
Emerahl öffnete den Mund, um das Angebot anzunehmen, dann zögerte sie. Sie sollte nicht allzu leicht nachgeben.
»Sechs Monate.«
»Acht?«
Emerahl seufzte und nickte. Rozea beugte sich vor und tätschelte ihr das Knie.
»Wunderbar. Und jetzt bleib hier, während ich feststelle, ob es den Männern bereits gelungen ist, diesen Baum aus dem Weg zu schaffen.«
Als Rozea aus dem Wagen stieg, sah Emerahl Stern an und lächelte grimmig. Sie hatte nicht die Absicht, ihr Wort zu halten. Sobald die Karawane sich der Armee näherte und die Mädchen in Sicherheit waren, würde sie gehen. Die Bedingungen, die sie gestellt hatte, würden ihr bis dahin als Schutz dienen.
Und vielleicht kann ich es irgendwie einrichten, dass wir zu weit hinter die Armee zurückfallen, um den Adligen und Priestern die Möglichkeit zu gehen, unser Lager aufzusuchen, dachte sie. Sobald Aurayas Füße den Boden berührten, sprang Unfug von ihrer Schulter und lief in ihr Zelt. Auraya folgte ihm langsam. Als sie sich dem Lager genähert hatte, hatte sie das Licht im Innern des Zeltes gesehen. Sie konnte jedoch keinen menschlichen Geist dort wahrnehmen, daher wusste sie, dass einer der Weißen auf sie warten musste.
»Mrae! Mrae!«
»Hallo, Unfug.«
Auraya entspannte sich ein wenig, obwohl sie nicht recht wusste, warum sie lieber mit Mairae sprechen wollte als mit einem der anderen Weißen. Wahrscheinlich lag es daran, dass Mairae selbst so viele Geliebte gehabt hatte. Von allen Weißen war sie diejenige, die es am wenigsten stören würde, dass Auraya nun ebenfalls einen Geliebten hatte.
Die Zeltlasche war nicht verschlossen. Auraya spähte hinein und sah Mairae auf einem der Stühle sitzen. Im Licht der Lampen wirkte sie noch jünger und schöner als sonst. Sie blickte Auraya an und lächelte.
»Hallo, Auraya.«
Auraya trat in das Zelt. »Ist etwas passiert?«
»Nichts Neues.« Mairae zuckte die Achseln. Ihr Lächeln nahm mit einem Mal etwas Gezwungenes an. »Ich konnte nicht schlafen, daher habe ich beschlossen, dich zu besuchen. Es scheint, als hätte ich überhaupt keine Gelegenheit mehr, mit jemandem zu reden. Immer geht es nur um Krieg und Politik, und normale Gespräche zwischen zwei Menschen sind praktisch unmöglich geworden.«
Auraya vermutete jedoch, dass noch mehr hinter Mairaes Besuch steckte. Irgendetwas machte der anderen Frau zu schaffen. Auraya brauchte ihre Gedanken nicht zu lesen, um das zu begreifen. Sie ging zu der Truhe hinüber, die Danjin für sie gepackt hatte. Sie öffnete den Deckel und nahm zwei Kelche und eine Flasche Tintra heraus.
»Etwas zu trinken?«
Mairae grinste. »Sehr gern.«
Auraya füllte die Kelche. Mairae nahm den ihren entgegen und trank.
»Also, wo bist du heute Abend gewesen? Bist du nur ein wenig umhergeflogen?«
Auraya zuckte die Achseln. »Ja.«
»Juran scheint erpicht darauf zu sein, den Pentadrianern endlich gegenüberzutreten. Ist dir das auch aufgefallen?«
»Ich hätte nicht gesagt, dass er ›erpicht‹ darauf ist. Eher... nun ja, wenn er etwas tut, will er seine Sache gut machen. Wie stehst du dazu?«
»Ich... ich habe Angst davor«, gestand Mairae und zog eine Grimasse. »Und du?«
»Ich freue mich jedenfalls nicht darauf.« Auraya lächelte schief. »Allerdings habe ich keine Zweifel. Wir werden siegen. Dafür werden schon die Götter sorgen.«
Mairae seufzte und nahm noch einen Schluck Tintra. »Es ist nicht die Möglichkeit einer Niederlage, die mir zu schaffen macht. Mir graut vor dem Töten... vor dem Blutvergießen.«
Auraya nickte.
»Aber du wirkst keineswegs besorgt«, bemerkte Mairae.
»Oh, der Schein trügt. Wann immer meine Gedanken zu diesem Thema wandern, versuche ich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Es wird schrecklich werden. Dessen können wir gewiss sein. Aber es hat keinen Sinn, mich jetzt schon damit zu quälen, dass ich mir ausmale, wie schrecklich es werden wird. Es wird schlimm genug sein, wenn es geschieht.«
Mairae musterte Auraya nachdenklich. »Ist das der Grund, warum du während der letzten Nächte umhergeflogen bist? Versuchst du, dich abzulenken?«
»Wahrscheinlich.«
Mairae zog vielsagend die Augenbrauen hoch. »Ist diese Ablenkung ein ›er‹?«
Auraya blinzelte überrascht, dann lachte sie. »Wenn es doch nur so wäre!« Sie füllte Mairaes Kelch wieder auf und beugte sich vor. »Meinst du, ich könnte Juran dazu überreden, das Gesetz zu widerrufen, das verbietet, die Dienste eines Traumwebers zu benutzen?«
Mairae sah sie fragend an. »Es überrascht mich, dass du es nicht bereits versucht hast.«
»Wenn ich nicht in Si gewesen wäre, hätte ich es getan.« Auraya hielt Mairaes Blick fest.
»Glaubst du, er würde es widerrufen?«
»Vielleicht.« Mairae runzelte die Stirn. »Wenn ihm der Gedanke widerstrebt, schlag ihm vor, das Verbot nach der Schlacht für eine bestimmte Zeit auszusetzen.«
»Das werde ich tun. Ich würde ein wenig besser schlafen, wenn ich wüsste, dass diejenigen, die die Schlacht überleben, nicht an ihren Verletzungen sterben werden.«
»Ich glaube nicht, dass es mir helfen würde, besser zu schlafen«, bemerkte Mairae düster.
Auraya lächelte. »Das klingt ganz so, als müsstest du dir eine Ablenkung suchen, Mairae. Gewiss sollte es in der größten Armee, die Nordithania je gesehen hat, doch ein oder zwei Männer geben, die deine Aufmerksamkeit erregt haben.«
Mairaes Miene hellte sich auf. »Da wäre tatsächlich der eine oder andere, aber da auch so viele meiner ehemaligen Geliebten hier sind, muss ich mich von meiner besten Seite zeigen. Es würde nicht angehen, wenn ich einen Verbündeten einem anderen vorzöge.«
Sie hielt inne, dann legte sich ein nachdenklicher Ausdruck über ihre Züge. »Obwohl es ein Volk gibt, das ich noch nicht ausprobiert habe...«
Ein Stich des Entsetzens durchzuckte Auraya, als ihr klar wurde, woran Mairae dachte.
»Nein!«
Mairae grinste. »Warum nicht? Sie mögen klein sein, aber...«
»Es ist verboten«, erklärte Auraya energisch. »Von Huan. Aus der Paarung mit Landgehern entspringen missgebildete Kinder.«
»Ich werde kein Kind empfangen.«
»Nein, aber wenn du einen von ihnen dazu verleitest, eins ihrer ernstesten Gesetze zu brechen, würdest du diese neue Freundschaft zwischen den Siyee und den Landgehern besudeln und vielleicht sogar zerstören.«
Mairae seufzte. »Ich fand die Idee ohnehin nicht allzu verlockend.« Sie setzte ihren Kelch an die Lippen, dann zögerte sie. »Glaubst du, irgendjemand hätte etwas dagegen, wenn ich mir einen Mann suchte, der nicht dem Adel entspringt? In der genrianischen Armee gibt es einen sehr gutaussehenden Mann, der einen Kriegsplattan fährt. Ein Krieger, wie er im Buche steht.«
Auraya unterdrückte einen Seufzer. Es würde eine lange Nacht werden.
Nicht lange, nachdem Danjin eingeschlafen war, wurde er von einer Berührung an seinen Beinen wieder geweckt. Er öffnete die Augen und stellte fest, dass Unfug sich auf seinen Oberschenkeln zusammengerollt hatte.
Seufzend schüttelte er den Kopf. Wie sorgfältig er den Käfig des Veez auch verschließen mochte, es gelang dem Tier stets, zu entkommen. Er hätte Unfug zurückbringen sollen, aber der Käfig stand unter der gegenüberliegenden Bank, hinter den Beinen von Lanren Liedmacher. Der Militärratgeber lag in tiefem Schlaf, und Danjin wollte ihn nicht stören.
Außerdem war der Veez eine willkommene Wärmequelle. Wäre mein Vater nicht begeistert, wenn er mich jetzt sehen könnte? Ich bin aufgrund meiner Intelligenz und meines Wissens über die Welt eingestellt worden, aber bisher bestand mein einziger Nutzen darin, auf ein Schoßtier aufzupassen.
Er sah sich in dem Tarn um. Alle anderen, die hier Quartier genommen hatten, schliefen, selbst die neue Traumweberratgeberin, Raeli. Ihr Gesicht hatte viel von seiner starren Wachsamkeit verloren. Sie war keine schöne Frau, aber ohne die Sorgenfalten, die normalerweise zwischen ihren Brauen standen, wirkte sie auch keineswegs unattraktiv.
Während des Essens am vergangenen Abend hatte Auraya ihm erklärt, dass Raelis herablassende Art ihren Grund in Furcht und Argwohn hatte. Die Frau hatte Angst davor, schlecht behandelt zu werden und Fehler zu machen, die ihren Leuten schaden könnten. Sie wagte es nicht, sich mit jemandem anzufreunden, weil die Möglichkeit bestand, dass derjenige sie verraten würde. Auraya hatte ihm versichert, dass Raeli für jede freundliche Geste ihr gegenüber durchaus dankbar war. Außerdem hatte sie durchblicken lassen, dass er es leichter haben würde, sich mit der Traumweberin anzufreunden, als sie selbst, da sie eine der Weißen war. Er hatte den verborgenen Fingerzeig verstanden; sie wollte, dass er sich für sie mit Raeli anfreundete. Es würde nicht einfach sein. Raeli beantwortete die meisten Fragen so knapp wie möglich. Als er an diesem Morgen mit Unfug in den Tarn gekommen war, hatte er einen Anflug von Wärme in Raelis Blick wahrgenommen und darüber nachgedacht, ob der Veez vielleicht eine Brücke zwischen ihm und der Traumweberin darstellen könnte. Sie kam aus Somrey, und in ihrem Land war die Haltung von Veez als Haustieren weit verbreitet. Obwohl er nicht die leiseste Ahnung hatte, wann er die Zeit finden sollte, sich mit ihr anzufreunden, da jeder Augenblick seines Tages voll ausgefüllt war und es außerdem eine unausgesprochene Vorschrift gab, die Gespräche im Tarn der Ratgeber untersagte.
Danjin schloss die Augen und seufzte. Es wäre alles so viel leichter, wenn Leiard nicht zurückgetretenwäre. Seit dem Tag, an dem er den Traumweber in Jarime aufgesucht hatte, hatte er Leiard nicht mehr gesehen. Gestern hatte Auraya ihm erzählt, dass sie in der Nacht zuvor Leiard in einem Traumweberlager in einiger Entfernung gefunden und mit ihm gesprochen hatte.
Das muss nach dem Kriegsrat gewesen sein. Braucht sie denn überhaupt keinen Schlaf?
Er gähnte. Vielleicht braucht sie keinen, aber für mich gilt das nicht.
Eine Weile wanderten seine Gedanken ziellos umher. Obwohl es ausgesprochen unbequem war, im Sitzen zu schlafen, während der Wagen über die Straße holperte, nickte er schließlich ein. Dann versetzte ihm etwas einen Tritt, so dass er zunächst einmal nur Dankbarkeit für das schwere Lederwams verspürte, das seine Lenden schützte. Fluchend schreckte er hoch und sah gerade noch den Veez unter der Wagenlasche verschwinden. Als Nächstes fiel ihm auf, dass mehrere Ratgeber ihn vorwurfsvoll musterten. Er schüttelte den letzten Rest Schläfrigkeit ab, sprang auf und machte sich an die Verfolgung des kleinen Tieres.
Draußen regnete es. Die Armee war ein langer Zug von Männern, Frauen, Tieren und Wagen.
Er konnte keine Spur von Unfug entdecken, wusste aber aus Erfahrung, dass er am besten dort suchte, wo sich Auraya gerade aufhielt. Wenn ich doch nur noch ihren Ring hätte, dachte er. Dann könnte ich sie fragen. Sie hatte ihm den Ring abgenommen, um ihn dem Anführer der Späher aus Si zu geben. Es war sehr wichtig zu erfahren, was die Himmelsleute sahen; dagegen war es von minderer Bedeutung, dass der Ring es ihm ermöglichte, ihr launisches Schoßtier ein wenig schneller zu finden.
Ah, aber erst nachdem ich den Ring wieder abgegeben hatte, ist mir klargeworden, wie nützlich er war.
Stirnrunzelnd überlegte er, was er tun sollte. Wenn Auraya bereits von ihrem Erkundungsflug mit den Siyee zurück war, war sie wahrscheinlich bei den anderen Weißen. Er machte sich im Laufschritt auf den Weg zu dem weißen Tarn.
Als er näher kam, sah er, dass Juran auf einem der berühmten Träger neben dem Wagen herritt. Der Anführer der Weißen verbrachte fast den ganzen Tag im Sattel. Er war immer irgendwo in der langen Kolonne unterwegs und unterhielt sich mit den Menschen. Danjin hatte einige Stallburschen bemerkt, die sich um die anderen vier Träger kümmerten, aber abgesehen von Juran waren Dyara und Rian die einzigen anderen Weißen, die er bisher hatte reiten sehen. Mairae schien die Annehmlichkeiten des Tarns zu bevorzugen, und Auraya hatte, wie er wusste, niemals reiten gelernt. Danjin war sich nicht sicher, warum man überhaupt einen Träger für sie mitgenommen hatte. Das Fliegen war inzwischen ihre bevorzugte Art zu reisen. Gestern war sie zusammen mit den Siyee der Armee weit vorausgeflogen, einerseits, um sie zu schützen, andererseits, um mit den Hirten zu sprechen, falls diese zurückschlagen sollten, wenn die Siyee Jagd auf ihre Herden machten. Außerdem sorgte sie so dafür, dass die Weißen eine Verbindung zu dem Himmelsvolk hatten, da es unter den Siyee keine Priester gab, die Nachrichten auf telepathischem Wege übermitteln konnten.
Danjin wusste, dass es Juran anfangs widerstrebt hatte, Auraya zu erlauben, sich so weit von den anderen Weißen zu entfernen. Als sie ihm jedoch demonstriert hatte, wie schnell sie zu der Armee zurückkehren konnte, hatte Juran seine Meinung geändert. Ihre Fähigkeit zu fliegen ermöglichte es ihr, sich mit unglaublicher Geschwindigkeit fortzubewegen.
Danjin dagegen war eindeutig außer Atem, als er sich dem weißen Tarn näherte. Zu seiner Erleichterung entdeckte er Mairae und Auraya darin. Juran drehte sich zu ihm um.
»Ratgeber Speer.«
»Ist Unfug...?«, stieß Danjin hervor. »Ja, er ist hier.«
Danjin blieb vor dem Tarn stehen. Auraya lächelte ihn an.
»Ah, Danjin.« Sie kicherte. »Du hättest einen der Diener schicken können, damit er ihn holt. Steig ein. Er wird sich gleich beruhigen, dann kannst du ihn wieder mit zurücknehmen.«
Danjin folgte Aurayas Einladung. Mairae saß mit untergeschlagenen Beinen auf einer der Bänke. Unfug hockte auf Aurayas Schoß, und Danjin stellte fest, dass der Veez eine Vielzahl kleiner Pfotenabdrücke auf ihrem Zirk hinterlassen hatte.
»Fliegen!«, sagte Unfug beharrlich. Als Danjin sich neben Auraya setzte, sah das Tier ihn argwöhnisch an. »Nicht Käfig.«
»Nicht fliegen«, erwiderte Auraya. »Später fliegen.«
Der Veez sank in sich zusammen, stieß einen tiefen Seufzer aus und wandte den Blick ab.
»Hallo, Danjin.« Mairae lächelte mitfühlend. »Er hält dich ganz schön auf Trab, aber mach dir keine Sorgen. Solange du ihn fütterst, wird er dich nicht als Gegner betrachten.«
Danjin öffnete den Mund zu einer Antwort, zögerte jedoch, als er einen Träger mit hohem Tempo herankommen sah. Dyara saß im Sattel. Mairae blickte über die Schulter zu der Frau hinüber, dann drehte sie sich wieder zu Auraya um.
»Ich sehe einfach keinen Sinn darin«, murmelte sie. »Was kannst du in den nächsten Tagen schon in Erfahrung bringen?«
Auraya zuckte die Achseln. »Vielleicht etwas Nützliches. Zumindest werde ich ein wenig Übung bekommen, was die Schlacht betrifft.«
Mairae wandte sich an Juran. »Du hast selbst gesagt, dass Auraya nichts geschehen kann, solange sie deiner Führung folgt. Sie wird nicht allein versuchen, es mit einem dieser schwarzen Zauberer aufzunehmen. Nicht nach dem, was vorgefallen ist.«
Juran schüttelte den Kopf. »Sollte Auraya von uns getrennt werden – was durchaus möglich ist, da sie sich so häufig den Siyee anschließt -, könnte einer dieser Zauberer sie in die Enge treiben. Dann sind es vielleicht eher ihre besonderen Fähigkeiten als ihre Stärke, die sie retten.« Er blickte zu Dyaras Träger hinüber, der den Tarn inzwischen erreicht hatte. »Hallo, Dyara. Ist Guire einverstanden?«
Die Frau lächelte dünn. »Ja. Er ist immer vernünftig, aber wie lange das so bleiben wird, hängt von Berro ab. Sobald die Torener hier sind, dürfte es interessant werden.« Sie sah Danjin an und nickte höflich, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Auraya. »Ich dachte, wir könnten vielleicht in Richtung Norden gehen und eine gewisse Entfernung zwischen uns und die Armee legen.«
Auraya lächelte. »Das wäre in jedem Fall klug. Wir wollen niemanden ängstigen und auch nichts kaputt machen.« Sie sah Juran an. »Du wirst über meinen Vorschlag nachdenken?«
Juran nickte. »Ja. Wie du gesagt hast, die Kämpfer werden es uns verübeln, wenn wir ihnen keine Wahl lassen.«
Auraya stand auf und legte Danjin den Veez auf den Schoß. Er blickte zwischen ihr und Juran hin und her und fragte sich, wovon die beiden sprachen.
»Fliegen?«, sagte Unfug hoffnungsvoll.
»Nicht fliegen«, antwortete Auraya energisch. »Bleib bei Danjin. Benimm dich, und wir werden später fliegen.« Der Veez verdrehte den Kopf, wie kaum ein anderes Geschöpf es vermocht hätte, um Auraya nachzuschauen, als diese aus dem Tarn stieg. Dyara saß ab. Ein Stallbursche kam herbeigeeilt, um ihr das Halfter abzunehmen. Als sie und Auraya sich von der Straße entfernten, spürte Danjin, dass Unfug einen tiefen Seufzer ausstieß.
Juran blickte jäh über seine Schulter, dann lächelte er. »Meine Anwesenheit wird andernorts benötigt.«
»Dann geh.« Mairae lachte leise. »Und amüsier dich nicht allzu gut.« Als Juran davonritt, drehte sie sich zu Danjin um. »Es wäre nicht recht, dich zu bitten, hierzubleiben und mir Gesellschaft zu leisten. Du siehst aus, als müsstest du unbedingt einmal eine Nacht ordentlich schlafen. Was im Übrigen auch für Auraya gilt.«
Er lächelte schief. »Ich habe langsam schon gedacht, dass die Weißen überhaupt keinen Schlaf brauchen.«
Sie sah ihn kläglich an. »Wir brauchen genauso viel Schlaf wie die Sterblichen, obwohl unsere Gaben uns die Möglichkeit geben, für eine Weile darauf zu verzichten. Im Augenblick ist es nicht leicht, Zeit zum Schlafen zu finden. Und falls einer von uns doch einmal die Zeit dazu hat, will der Schlaf einfach nicht kommen.«
Danjin musterte sie überrascht. Keiner der Weißen hatte bisher auch nur die geringsten Anzeichen von Besorgnis verraten, aber vielleicht verstanden sie sich einfach nur gut darauf, ihre Gefühle zu verbergen. Es war gleichzeitig beunruhigend und tröstlich gewesen, wie Juran und Mairae in aller Gelassenheit über Aurayas Chancen gesprochen hatten, eine Auseinandersetzung mit einem der feindlichen Zauberer zu überleben.
Mairae zuckte die Achseln. »Jeder von uns hat seine eigene Art, mit seinen Ängsten umzugehen. Juran bleibt die ganze Nacht auf und schmiedet Pläne. Rian betet. Auraya fliegt umher.« Plötzlich lächelte Mairae kokett. »Oder zumindest behauptet sie das.« Sie sah Danjin aus den Augenwinkeln an. »Ich habe mich allerdings gefragt, ob sie eine andere Art der Ablenkung gefunden hat. Vielleicht verbringt sie ihre Zeit mit jemandem, der ihrem Herzen nähersteht.«
Danjin runzelte die Stirn. Dann wurde ihm klar, worauf Mairae anspielte, und er empfand eine Mischung aus Verlegenheit und Erschrecken. Auraya sollte sich einen Geliebten genommen haben? Das war natürlich möglich. Aber in diesem Fall hätte sie ihm doch gewiss davon erzählt. Sie vertraute ihm... Aber wenn sie es vor den anderen Weißen verborgen halten wollte, konnte sie ihn in ihr Geheimnis nicht einweihen. Er schüttelte den Kopf. »Wie soll ich jetzt noch schlafen? Ich werde den ganzen Tag darüber nachdenken.«
Mairae lachte. »Es tut mir leid, Danjin Speer. Ich wollte deinen Schlaf nicht noch zusätzlich beeinträchtigen. Geh jetzt. Du solltest besser in deinen Tarn zurückkehren, bevor ich dir noch mehr beunruhigende Ideen in den Kopf setze.«
Er stand auf, machte das Zeichen des Kreises und stieg dann aus dem Tarn. Unfug hockte sich auf seine Schulter. Der Veez schien Auraya vergessen zu haben. Danjin kraulte das kleine Tier unter dem Kinn, wie er es Leiard hatte tun sehen.
Leiard!
Danjin blieb jäh stehen. Als Auraya zwei Nächte zuvor »umhergeflogen« war, hatte sie das Lager der Traumweber gefunden. War sie gestern Nacht dort gewesen? Steckte mehr hinter ihren Besuchen als das Bedürfnis, mit einem alten Freund zu plaudern? Gewiss nicht. Er wusste, dass sie in Leiard ebenso einen Freund wie einen Ratgeber gesehen hatte... aber was war, wenn ihre Gefühle für ihn mehr waren als bloße Freundschaft?
Das würde die Heimlichtuerei erklären, dachte er.
Welche Heimlichtuerei? Danjin schüttelte den Kopf und ging weiter. Ich weiß nur, dass Auraya Leiard ein einziges Mal besucht hat und dass sie des Nachts umherfliegt. Das ist noch lange kein Beweis dafür, dass sie einen Geliebtenhat, geschweige denn, dass dieser Geliebte Leiard ist.
Als er sich seinem Ziel näherte, blieb er stehen und drehte sich noch einmal zu dem weißen Tarn um.
Außerdem, dachte er, ist Auraya keine Närrin. Sie würde niemals alles, was sie erreicht hat, aufs Spiel setzen, indem sie sich einen Traumweber als Geliebten nimmt.
Die Sonne stand tief am Himmel, als Dyara und Auraya zur Straße zurückgingen.
»Also, wie mache ich mich?«, fragte Auraya.
Dyara sah sie an und lächelte grimmig. »Recht gut. Du hast eine natürliche Begabung für Magie, aber das ist keine Überraschung. Anderenfalls hätten die Götter dich nicht auserwählt.«
»Ich dachte, es läge an meinem Charme.«
Zu Aurayas Überraschung lachte Dyara leise. »Ich bin davon überzeugt, dass sie dich auch deshalb gewählt haben. Aber mit Charme allein wirst du diesen Krieg nicht überleben, Auraya – und ich weiß, dass dir das klar ist.«
Auraya nickte. »Wir haben fast alles noch einmal durchgenommen, was ich seit meiner Erwählung gelernt habe. Was werden wir morgen machen?«
Dyara runzelte die Stirn. »Ich habe über verschiedene Möglichkeiten nachgedacht, wie du deine Fähigkeit zu fliegen zu deinem Vorteil nutzen könntest. Wenn du eine große Menge Magie in dich hineinziehst, verringerst du, wie du weißt, die Magie in der Welt unmittelbar um dich herum. Frische Magie fließt herein, um zu ersetzen, was gebraucht wurde, aber dieser Prozess ist zu langsam, wenn du sehr schnell weitere Macht benötigst. Um diesen Umstand auszugleichen, musst du Magie aus einiger Entfernung von dir holen, was mehr Anstrengung kostet, oder du musst dich zu einem Ort bewegen, an dem noch größere Vorräte an Magie zu finden sind.«
»Und ich muss es vermeiden, dort hinzugehen, wo mein Feind gestanden hat.«
»Ja. Im Gegensatz zu uns bist du nicht darauf beschränkt, dich über Land bewegen zu müssen. Dir steht auch der gesamte Himmel zur Verfügung. Deine Magiequellen werden immer frisch sein, solange du in der Luft bleibst und dich bewegst.«
Ein leiser Schauer der Erregung überlief Auraya. »Ich verstehe. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«
»Das Problem ist, dass Juran dich an unserer Seite haben will, da es auf diese Weise einfacher sein wird...« Auraya? Beobachtest du uns gerade?
Auraya hielt inne. Der Gedankenruf war schwach und zögerlich, aber klar genug, um zu erkennen, von wem er kam. Tireel, der Botschafter der Siyee, der nach Jarime gekommen war, hatte sich freiwillig erboten, die Späher über die Berge zu führen. Sie hatte ihm ihren Verbindungsring gegeben, damit er sie an seinen Gedanken und Sinneseindrücken teilhaben lassen konnte, sobald sie angekommen waren.
Tireel. Wo bist du?
Auf der anderen Seite der Berge. Wir haben die Pentadrianer gefunden. Sie sind erheblich näher, als du gesagt hast.
Sie konnte Erregung und Angst bei ihm spüren. Ohne lange zu zögern, griff sie mit ihrer Magie nach Dyara, Juran, Mairae und Rian, erzählte ihnen, was geschehen war, und leitete Tireels Botschaften an sie weiter.
Wie nah sind sie? Zeig mir, was du siehst.
Er brauchte einige Versuche, bevor er in der Lage war, ein klares Bild von seiner Umgebung zu übermitteln. Es war ein enges, von hoch oben betrachtetes Tal, durch das sich zwei Flüsse schlängelten, einer blau, einer schwarz. Dann wurde Auraya klar, dass der schwarze Fluss ein Strom von Menschen war, nicht von Wasser.
Die pentadrianische Armee.
Der Anblick war zwar keine Überraschung, aber war dennoch ein Schock. Bis jetzt hatte sie lediglich durch Berichte vom Feind gehört, und sie war ihm nur in der Gestalt eines einzelnen schwarzen Zauberers begegnet. Als sie jetzt diese endlose Kolonne sah, die sich stetig auf den Pass und auf ihre Heimat zubewegte, wurde die Gefahr einer Invasion plötzlich real und beängstigend.
Kannst du näher herankommen?, fragte Juran.
Ich werde einige Kreise ziehen und mich, wenn ich die Sonne im Rücken habe, langsam hinabsinken lassen.
Tireel gab einigen der anderen Siyee den Auftrag, die Nachbartäler zu erkunden, dann wies er die Übrigen an, sich außer Sichtweite der Armee zu begeben. Falls irgendwelche Pentadrianer zufällig zum Himmel aufschauten, würden sie glauben, einen großen Raubvogel zu sehen. Raubvögel traten jedoch nicht in Schwärmen auf, sondern allein. Mehrere große Vögel würden Aufmerksamkeit erregen, und es würde nicht lange dauern, bis jemand begriff, dass es sich möglicherweise nicht um Vögel handelte, sondern um Menschen.
Als er sich davon überzeugt hatte, dass seine Anweisungen ausgeführt wurden, ließ Tireel sich langsam hinabsinken, wobei er die Bewegungsabläufe von Raubvögeln nachahmte. Das Bild der pentadrianischen Armee vervollständigte sich. Auraya bemerkte, dass die Kolonne in fünf Abteilungen unterteilt war. Eine jede wurde von einem einzelnen Reiter angeführt, während die Vorratswagen am Ende des Zuges fuhren.
Sind diese Anführer die fünf Zauberer und Zauberinnen, von denen man uns erzählt hat?, wollte Juran wissen.
Ich werde versuchen, näher heranzufliegen und einen von ihnen genauer in Augenschein zu nehmen, erbot sich Tireel.
Tireel glitt tiefer hinab, bis Auraya sehen konnte, dass einer der Anführer eine Frau war. Auf dem Arm der Frau hockte ein riesiger schwarzer Vogel. Im Gegensatz zu den Jagdvögeln des genrianischen Adels trug dieser hier keine Haube. Er drehte sich hin und her und betrachtete die Bäume zu beiden Seiten der Straße. Dann legte er plötzlich den Kopf schräg und breitete die Flügel aus. Seine schrillen Schreie hallten durch das Tal.
Die Frau hob ruckartig den Kopf und streckte den Arm aus. Der schwarze Vogel schwang sich unter kräftigem Flügelschlagen in die Luft.
Zieh dich zurück, drängte Auraya.
Tireel entfernte sich kreisend. Als er sich umdrehte, erblickte er mehrere weitere Vögel, die sich zwischen den Reihen der Pentadrianer erhoben hatten. Die Angst verlieh ihm zusätzliche Kraft.
Glaubst du, sie hat ihn als das erkannt, was er ist?, fragte Mairae.
Wenn sie die einzige Pentadrianerin mit Vögeln ist, dann ist sie wahrscheinlich diejenige, die auch in Si war, antwortete Auraya. Das heißt, sie hat schon früher Siyee gesehen.
Wir sollten davon ausgehen, dass unsere Hoffnungen, sie zu überraschen, damit zunichte gemacht worden sind. Jurans Gedanke war so leise, dass nur die anderen Weißen ihn hören konnten.
Ich bezweifle ohnehin, dass wir sie überrascht hätten, erwiderte Dyara. Diese Frau hat Auraya bei den Siyee gesehen. Es wird ihr klar sein, dass die Siyee sich uns möglicherweise angeschlossen haben.
Dann sind das also die schwarzen Vögel, die...?
Plötzlich überlagerten Schock und Schmerz Mairaes Frage. Verworrene Gedanken und Gefühle folgten. Tireel konnte sich nur benommen fragen, was geschehen war. Sein Kopf und seine Schultern waren mit einem Mal wund und zerschunden, und er hatte das Gefühl, als sei er gegen einen Felsen geflogen, obwohl er sich noch immer in der Luft befand. Er stürzte auch nicht, sondern lag auf irgendetwas. Als er hinabblickte, sah er nichts als den Boden unter ihm.
Die pentadrianische Armee hatte Halt gemacht. Hunderte von Augenpaaren beobachteten ihn. Die Zauberin hatte den Arm in seine Richtung erhoben. Schwarze Vögel kreisten unter ihm.
Auraya spürte, wie ihr Magen sich zusammenschnürte.
Die Zauberin hat ihn gefangen. Dyara war entsetzt. Das ist nicht gut, murmelte Juran.
Die Barriere, die Tireel festgehalten hatte, verschwand, und er fiel. Mit ausgebreiteten Flügeln versuchte er, seinen Sturz zu bremsen, was ihm jedoch erst gelang, als er die Vögel erreichte.
Sie schössen auf ihn zu und hackten mit den Schnäbeln auf ihn ein. Er zog instinktiv die Arme an den Körper, um seine Flügel zu schützen, dann fiel er wie ein Stein zu Boden. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass dies vielleicht eine Möglichkeit war, ihnen zu entkommen.
Hoffnung stieg in Auraya auf.
Die Vögel folgten Tireel, während der Boden immer näher kam. Er breitete die Arme wieder aus.
Sofort stießen die Vögel auf ihn herab. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte er gegen den Schmerz und widerstand dem Drang, sich zu schützen. Der Boden war jetzt nicht mehr allzu weit entfernt.
Flieh, flüsterte Auraya, obwohl sie wusste, dass es kein Entkommen für ihn gab. Tireel blickte hinab und sah den Feind. Hunderte von Gesichtern, die ihn beobachteten. Dann zerrissen scharfe Krallen seine Flügel. Er schrie gequält auf und stürzte. Das Wissen, dass er nie wieder fliegen würde, war wie eine zusätzliche Last, die ihn in die Tiefe zerrte. Er schloss die Augen und betete, dass der Tod schnell kommen würde. Aber so war es nicht. Der Boden gab unter ihm nach, und in diesem Moment regte sich unwillkürlich Hoffnung in ihm. Er lebte. Seine Flügel mochten zerrissen sein, aber er lebte...
Dann öffnete er die Augen und sah den Ring schwarzgewandeter Männer und Frauen um sich herum. Das ist nicht gut, wiederholte Juran.
Nein, pflichtete Dyara ihm bei. Sie werden von ihm viel über uns erfahren.
Was können wir tun?, fragte Mairae. Nichts.
Vielleicht werden die anderen Siyee ihn töten.
Wenn sie es versuchen, werden sie ebenfalls gefangen, erwiderte Auraya unglücklich. Es ist meine Schuld. Ich hätte sie begleiten sollen. Ich hätte an ihrer Stelle fliegen sollen...
Nein, Auraya, widersprach Juran energisch. Wenn du hingeflogen wärst, hätten wir anstelle von Tireel eine Weiße verloren.
Er hat recht, Auraya, fügte Mairae hinzu.
Wir wussten nicht, dass diese Vögel dort sein würden oder dass sie Tireel sehen und in der Lage sein würden, die Zauberin auf ihn aufmerksam zu machen, warf Dyara ein.
Ich weiß, es ist schwer mit anzusehen, aber wir müssen in Erfahrung bringen, was Tireel preisgibt, sagte Rian. Halte die Verbindung aufrecht, Auraya.
Sie konzentrierte sich auf Tireels Geist. Seine Sicht war verschwommen, und er verlor viel Blut. Die Zauberin stand neben ihm. Sie nahm seine Hand und zog daran. Durch die Bewegung wurde seine Flügelmembran gedehnt, und eine neue Welle des Schmerzes schlug über ihm zusammen. Er spürte, wie etwas von seinem Finger glitt.
Der Ring!, rief Dyara erschrocken. Sie nimmt ihm den Ring ab.
Das ist ein Verlust, an dem wir nichts ändern können, murmelte Juran. Aber vielleicht lohnt es sich, wenn wir einen Blick in ihre Gedanken werfen...
Nachdem die Zauberin Tireel den Ring vom Finger gezogen hatte, brach die Verbindung zu seinem Geist ab. An seine Stelle trat ein Gefühl von Bedauern, das durchmischt war von einer skrupellosen Entschlossenheit. Die Siyee haben sich dafür entschieden, sich mit den Heiden zu verbünden, dachte die Frau. Das sollte ich nicht vergessen.
Was ist das für ein Ring? Ein hübscher Tand oder mehr? Vielleicht ist es ein magischer Gegenstand. Was wäre, wenn ich...? Nein!
Die Verbindung zu ihren Gedanken brach jäh ab, als sie den Ring wegwarf. Auraya öffnete die Augen. Einen Moment lang starrte sie orientierungslos auf die grasbewachsenen Hügel um sie herum. Dyara stand neben ihr.
Haben wir etwas Nützliches erfahren?, fragte Mairae hoffnungsvoll.
Nein, antwortete Juran müde. Zumindest nicht von ihr. Tireel hat uns vieles gezeigt, was wir nicht wussten. Die Größe ihrer Armee. Wie nahe sie dem Pass bereits sind. Wir werden uns beeilen müssen, wenn wir ihnen dort entgegentreten wollen. Dann wäre da noch die neue Bedrohung, die von diesen Vögeln ausgeht und die vor allem für die Siyee eine Gefahr darstellt.
Wir haben heute Abend viel zu besprechen. Ich werde dir deinen Träger schicken, Dyara. Und was ist mit dir, Auraya?
Ich werde fliegen.
Dann werden wir uns in Kürze treffen.
Als der andere Weiße seine Verbindung zu ihr abbrach, blickte Auraya zu dem Gebirge im Osten hinüber und seufzte.
»Ich hätte nicht gedacht, dass das erste Opfer ein Siyee sein würde«, murmelte Dyara.
»Nein.«
»Möchtest du, dass ich es Sprecherin Sirri sage?«
Auraya sah Dyara kurz an, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich werde das tun.«
Dyara nickte. »Dann geh. Ich komme allein zurecht. Um die Wahrheit zu sagen, es wird mir guttun, ein wenig allein zu sein. Und Juran wird sicher nichts dagegen haben, wenn auch du dir Zeit lässt.«
Ihre Blicke trafen sich, und plötzlich wurde Auraya klar, dass Dyara nicht so hart war, wie sie sich gab. Sie war kalt, aber nicht ohne Mitgefühl. Das Schicksal Tireels hatte sie sehr mitgenommen.
Auraya trat beiseite, holte tief Luft und ließ sich in den Himmel hinaufschweben.
Als Tryss erwachte, lag er mit dem Gesicht direkt an der Membran seiner tragbaren Laube. Gedämpfte Stimmen drangen durch die dünnen Wände. Er drehte sich um und spürte einen warmen Körper hinter sich.
»Hm, du bist aufgewacht«, bemerkte Drilli. »Ich hatte schon erwartet, dass ich dich würde schütteln müssen. Du bist gestern Abend so spät zurückgekommen.«
Er lächelte, schob sich näher an sie heran und legte eine Hand auf ihre nackte Taille.
»Ich wache immer früh auf, wenn du neben mir liegst.«
Als seine Finger zu ihrer Brust hinaufwanderten, hielt sie seine Hand fest. Er zog einen Schmollmund, und sie lachte. »So früh ist es nun auch wieder nicht«, sagte sie. »Es überrascht mich, dass Sirri nicht schon hier war, um festzustellen, warum wir noch nicht gepackt haben.« Sie küsste ihn, dann richtete sie sich auf und rieb sich den Bauch.
»Ist dir wieder übel?«, fragte er.
»Ein wenig«, gab sie zu. »Es ist nur das Essen. Zu viel Fleisch und Brot. Nicht genug Obst und Gemüse.« Sie sah sich in der Laube um, die kaum groß genug war, um aufrecht darin zu sitzen. Aber ihre Aufmerksamkeit galt den Geräuschen außerhalb der Wände.
»Es muss irgendetwas passiert sein, das alle aufgeschreckt hat.«
Draußen erklang jetzt ein Ausruf des Entsetzens. Irgendwo vor dem Zelt führten zwei Siyee ein hektisches Gespräch. Tryss konnte die einzelnen Worte nicht verstehen.
»Wir sollten uns anziehen und es herausfinden.«
Drilli hatte bereits nach ihren Kleidern gegriffen. Sie schlüpften hastig in ihre Wämser und Hosen, dann schnallten sie sich Geschirre und Waffen an den Leib. Drilli war als Erste fertig, aber sie wartete auf Tryss, bevor sie sich aus der Laube hinausschob. Die Siyee standen in kleinen Gruppen beisammen, und an ihren Mienen erriet Tryss, dass etwas Ernstes geschehen sein musste. Einige von ihnen wirkten verängstigt, andere wütend.
»Tryss, Drilli«, rief eine vertraute Stimme. Als er sich umdrehte, kam Sirri auf ihn zu, und er ging ihr mit Drilli entgegen.
»Was ist passiert?«, fragte Drilli.
»Die Späher haben die pentadrianische Armee gefunden. Ihr Anführer, Tireel vom Stamm des grünen Sees, ist gefangen genommen worden.«
Tryss’ Herz verkrampfte sich. »Wie?«
»Er ist zu dicht an sie herangeflogen. Es war bereits zu spät, als er sah, dass die Zauberin mit den schwarzen Vögeln – den Vögeln, die die Männer des Sonnengebirgsstamms angegriffen haben – diesen Teil der Armee anführte. Die Vögel haben ihn entdeckt, und die Zauberin hat ihn heruntergeholt.«
»Ist er tot?«, fragte Drilli leise.
Sirri verzog das Gesicht. »Das wissen wir nicht. Er ist bei dem Sturz nicht ums Leben gekommen, war aber in einer sehr schlechten Verfassung, als Aurayas Verbindung zu ihm abbrach.«
»Falls eine Chance besteht, dass er noch lebt, sollten wir es herausfinden.« Hoffnung glomm in Tryss auf. »Wir müssen ihn retten.«
Die Sprecherin seufzte und schüttelte den Kopf. »Wenn das doch nur möglich wäre, Tryss. Er befindet sich in den Händen der pentadrianischen Armee und wird von Zauberern gefangen gehalten. Wir würden nur selbst in Gefangenschaft geraten.«
»Natürlich.« Tryss’ Wangen röteten sich. Die Lösung war offenkundig. »Auraya wird ihn retten.«
»Nein.« Sirri legte Tryss die Hand auf die Schulter. »Sie würde gegen fünf mächtige pentadrianische Zauberer und all ihre Priester und Priesterinnen kämpfen müssen. Allein würde auch sie nicht überleben. Wenn wir einen Siyee weniger haben, können wir diesen Krieg vielleicht gewinnen, aber ich bezweifle, dass wir eine Chance hätten, wenn wir auf eine Weiße verzichten müssten.«
Tryss starrte sie ungläubig an. »Dann geben wir also einfach auf?« Zorn wallte in ihm auf. »Es hätte mich treffen können. Ich wollte die Späher anführen, aber du hast gesagt, ich wäre hier, bei der Arbeit mit Liedmacher, nützlicher.«
»Tryss...«, murmelte Drilli.
»Und das ist auch richtig«, erklärte Sirri entschieden. »Ich trauere genauso wie du, Tryss, aber ich bin trotzdem froh, dass du nicht an Tireels Stelle geflogen bist. Ich brauche dich hier. Tireel hat möglicherweise viele von uns gerettet. Wir wissen jetzt über die schwarzen Vögel Bescheid. Wir haben Zeit, Dinge zu erfinden, mit denen wir sie bekämpfen können.«
Er sah sie scharf an. Etwas an der Art, wie sie das Wort »erfinden« ausgesprochen hatte, weckte in ihm den Verdacht, dass sie den Ausdruck bewusst gewählt hatte, um ihn abzulenken. Natürlich hat sie das getan, sagte er sich. Sie versucht, meine Aufmerksamkeit von Tireels Schicksal auf etwas Wichtigeres zu lenken – auf unser aller Sicherheit.
Er brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Dann sollten wir besser anfangen, Pläne zu schmieden.«
Sie klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. »Genau deshalb habe ich eine Versammlung einberufen. Die Landgeher können heute ohne uns aufbrechen. Wir werden sie später einholen, nachdem wir diese Angelegenheit unter uns besprochen haben. Heute Abend werden wir beide dem Kriegsrat unsere Pläne vorlegen.« Sie wandte sich von ihm ab und blickte mit schmalen Augen über seine Schulter. »Da ist Sprecher Vreez. Ich muss jetzt gehen. Ich hoffe, du wirst einige Ideen entwickeln, die ich meinem Stamm vorlegen kann, Tryss.« »Das werde ich«, versprach er.
Nachdem sie gegangen war, spürte Tryss Drillis Hand in seiner. »Wenn ich mich noch einmal darüber beklage, dass du die ganze Nacht hindurch mit Liedmacher geredet hast, gib mir einen Tritt«, flüsterte sie.
Als der letzte gewaltige Baumstamm über die Straße gesenkt wurde, hörte Kar Schritte hinter sich. »Die gefällt mir bisher am besten.«
Kar drehte sich zu dem Mann hinter ihm um. Fin, Lem der Tarrep-Krieger, war recht groß für einen Dunweger. Er war ein gutaussehender Bursche und trug seinen Bart kurz geschnitten. Die Tätowierungen auf seinem Gesicht betonten leicht schräg stehende Augen und einen intelligenten Blick.
»Ich sehe, dass das versteckte Pfeilbienennest das eigentliche Hindernis ist. Aber warum hast du zu beiden Seiten Feuer entzündet?«, fragte Fin.
»Rauch macht Pfeilbienen benommen«, erklärte Kar. »Bei dem Holz handelt es sich um Myttenholz. Es brennt langsam und produziert, wenn es noch grün ist, viel Rauch. Der Rauch wird die Bienen in ihrem Stock festhalten, bis man die Holzscheite bewegt.«
»Und auf diese Weise verringert sich die Gefahr, dass einige vereinzelte Pfeilbienen ihren Stamm vor der Falle warnen.« Fin nickte. »Ich verstehe.«
Er rief den Feuerkriegern und den Mitgliedern seines Clans einige Anweisungen zu, dann wandte er sich ab. Kar folgte seinem Anführer die Straße zum Pass hinauf. Die übrigen Männer schlossen sich ihnen schweigend an, wobei die letzten in einem offenen Tarn saßen, in dem das Werkzeug für ihre Fallen transportiert wurde.
Der Weg war gewunden und an manchen Stellen ziemlich steil. Kar hielt konzentriert Ausschau nach geeigneten Stellen für seine Fallen. Er hatte noch immer einige Ideen, die er ausprobieren wollte, brauchte dafür jedoch das richtige Gelände. Nachdem sie eine Stunde marschiert waren, kamen sie um eine Biegung des Passwegs, und Kar blieb stehen. »Ah.«
Fin lächelte. »Ich dachte mir schon, dass dir das gefallen würde.«
Die Straße führte steil zwischen zwei Felswänden hindurch. Die Felsen neigten sich nach innen, so dass sie einander beinahe berührten. Zwischen ihnen eingekeilt befand sich ein riesiger Felsbrocken.
Kar strich sich über den Bart, dann setzte er sich wieder in Bewegung, um die Felswände näher in Augenschein zu nehmen. Sie wiesen zahlreiche Spalten auf, die bis zur Höhe des eingekeilten Felsbrockens sichtbar waren. Er setzte die Inspektion der Wände fort; am Ende der Passage wichen sie voneinander zurück und bildeten die Flanken einer engen Schlucht, die mit Felsen und gewaltigen Steinen übersät war. Die Straße verlief dort gewunden weiter.
Schließlich drehte er sich um und ging zurück. Als er aus der Passage trat, entdeckte er, worauf er gehofft hatte.
Direkt über der Biegung, dort, von wo er den eingeklemmten Felsbrocken zuerst gesehen hatte, befand sich ein breiter Felssims. Mit einem zufriedenen Seufzen winkte er die Feuerkrieger zu sich heran und erklärte ihnen, was sie tun sollten. In weniger als einer Stunde waren sie fertig. Die Feuerkrieger wirkten müde. Ihre Aufgabe hatte stete Konzentration erfordert, und trotz der Kälte glänzten Schweißperlen auf ihren Gesichtern, und ihre goldenen Stirnbänder waren stumpf von Staub. Er hoffte, dass sie nicht zu erschöpft für ihre nächste Aufgabe sein würden. Über sich konnte er gerade noch die beiden dünnen Seile erkennen, die durch kleine, in den Fels eingelassene Eisenringe in den Spalten der Felswände nach oben führten. Sie endeten an sandgefüllten Säcken auf dem Felssims, die einen sorgfältig aufgeschichteten Haufen von Felsbrocken hielten.
Dann schnitt er die Seilzüge entlang der Felswand ab. Sein Gehilfe folgte ihm durch die enge Passage. Dem Felsblock über ihm schenkte er dabei nicht die geringste Beachtung. Am Ende der Passage traf er auf Fin, der dort auf ihn wartete.
Der Clanführer runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts, als Kar den Zaubererkriegern befahl, den nächstgelegenen der großen Steinbrocken vor den Eingang der Passage zu rollen. Fin verfolgte mit angespanntem Schweigen, wie kleine Eisenringe in die Oberfläche des Steins eingelassen und die Seilzüge hindurchgeführt und am letzten davon befestigt wurden. Erst als Kar die Arbeit an der Falle für beendet erklärte, bat er ihn um einige Erläuterungen.
»Du hast von dem eingekeilten Felsblock keinen Gebrauch gemacht.«
»Oh, doch«, versicherte ihm Kar. »Er dient zur Ablenkung.«
»Wie das?«
»Die Feinde werden sich um diesen Felsblock große Sorgen machen, weil sie fürchten, er könnte eine Falle sein. Dadurch werden sie die Seilzüge nicht bemerken.«
Fin nickte langsam. »Und wenn die Zauberer des Feindes diesen Felsblock hier unten aus dem Weg räumen, werden sie ein Stück hinter sich an der Biegung die kleine Felslawine auslösen. Diesmal ist dein Ziel nicht das Haupt, es sind die Eingeweide der feindlichen Armee.«
»Sie werden ihre Feuerkrieger an die Spitze ihrer Armee setzen, damit sie sie vor Fallen schützen und Hindernisse entfernen.«
Fin lachte leise. »Ich frage mich, was dir als Nächstes einfallen wird.«
Kar lächelte. »Wir haben die Säure noch nicht benutzt.« Er sah die Feuerkrieger an.
»Diese Aufgabe bedarf eines wachsamen, ausgeruhten Geistes, sonst bringen wir uns in Gefahr.«
»Ja. Wir alle brauchen Ruhe. Lasst uns einen Lagerplatz suchen.« Fin gab dem Mann, der den Tarn fuhr, ein Zeichen. »Bring uns etwas zu essen und Wasser.«
Während die Männer sich auf den Steinen niederließen, um zu rasten, betrachtete Kar die vor ihnen liegende Straße. Der Pass und Hania waren noch immer einen mehrstündigen Fußmarsch entfernt. Er, Fin und ihre Gehilfen waren weit hinter den Rest der dunwegischen Armee zurückgefallen, würden sie jedoch bald einholen. In ein oder zwei Tagen würden sie den Pass erreichen und sich der zirklischen Armee anschließen.
Er lächelte. Danach würden sie sich an der größten Schlacht zwischen Sterblichen beteiligen, die in Nordithania jemals aus-gefochten werden würde.
Die Goldebenen waren durchzogen von Straßen. Die Wege, die die Traumweber genommen hatten, waren schmaler und in schlechterem Zustand als die von Ost nach West führende Straße, der die Armee folgte. Obwohl sie im Allgemeinen mühelos mit dem Tempo der Soldaten Schritt halten konnten, hatten sie heute einen beschwerlichen Weg nehmen müssen, der sie weit von der Armee weggeführt hatte. Arleej machte sich deswegen jedoch keine Sorgen. Die Bauern aus der Gegend hatten ihnen versichert, dass sie, wenn sie in dieser Richtung weiterfuhren, schon bald wieder auf die Ostweststraße stoßen würden. Danach würden die Traumweber der Armee in vorsichtigem Abstand folgen.
Leiard sah seinen Schüler an. Jayim beobachtete den Boden vor dem Arem, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. Er konnte inzwischen deutlich besser mit dem Tarn umgehen, musste sich aber immer noch auf das Fahren konzentrieren. Es wäre zu viel verlangt gewesen, dem Jungen gleichzeitig auch noch Unterricht zu geben. Jayim hatte inzwischen die Neigung entwickelt, von den Lektionen abzuweichen und sich in Spekulationen über Auraya und den bevorstehenden Krieg zu ergehen. Wenn Leiard es müde wurde, die Fragen des Jungen abzuwehren, übergab er ihm einfach die Zügel.
»Ich habe eine Frage«, sagte Jayim plötzlich.
Nun ja, meistens funktioniert es, dachte Leiard ironisch.
»Ja?«
»Du hast mir hier praktisch die gleichen Dinge beigebracht wie in Jarime – abgesehen von der Gedankenvernetzung. Ich hätte eigentlich erwartet, dass du mich darin unterweisen würdest, wie man mit Magie heilt. Schließlich ist das der Grund, warum wir hier sind.«
Leiard lächelte. »Der Unterricht in magischer Heilkunst stellt uns immer vor ein Dilemma. Wie kann ich dir beibringen zu heilen, wenn es keine Verletzungen gibt, an denen du üben kannst? Wir Traumweber fügen weder anderen noch uns selbst Schaden zu, um unseren Schülern ein Betätigungsfeld zu verschaffen.«
Der Junge schwieg einen Moment lang. »Dann werde ich das Heilen also erst lernen, wenn wir auf das Schlachtfeld kommen?« »Genau.«
»Ich hatte erwartet... ich dachte, ich würde... nun ja, ich dachte, ich würde bereit sein, wenn es so weit ist.«
»Niemand ist jemals bereit, das erste Mal auf ein Schlachtfeld zu ziehen.« Leiard sah den Jungen an und lachte leise. »Wenn es so weit ist, wirst du sehr schnell eine Menge lernen. Fürchte dich nicht davor. Ich werde dich anleiten.«
Jayim schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn, sich vor etwas zu ängstigen, das man nicht verhindern kann; wenn es geschieht, ist immer noch genug Zeit, sich Sorgen zu machen.«
Leiard musterte Jayim überrascht. »Das ist ein altes Sprichwort.«
Der Junge zuckte die Achseln. »Meine Mutter sagt so etwas ständig.«
»Ah. Ich nehme an, du hast ihr viele Gründe dafür geliefert...«
Der Tarn vor ihnen bremste ab. Während Jayim den Arem zügelte, schaute Leiard an dem Wagen vor ihnen vorbei. Ein anderer Tarn versperrte ihm den Weg, und daneben standen vier Traumweber, die Leiard nicht kannte.
»Sieht so aus, als hätte sich unsere Zahl soeben ein wenig vermehrt«, bemerkte Leiard.
»Bleib hier. Ich werde die Neuankömmlinge begrüßen.«
Er stieg aus dem Tarn und ging auf die Fremden zu. Arleej unterhielt sich mit einem der Neuankömmlinge, einem untersetzten Traumweber mit hellem Haar. Als sie Leiard sah, winkte sie ihn zu sich.
»Das ist Traumweber Leiard, der frühere Traumweberratgeber der Weißen«, sagte sie.
»Leiard, das ist Traumweber Wil.«
Der Mann war ein Dunweger, bemerkte Leiard. Als Arleej ihn auf Leiards frühere Position hinwies, zog er die Augenbrauen hoch.
»Ratgeber der Weißen«, sagte er. »Etwas Derartiges war mir bereits zu Ohren gekommen.« Er hielt kurz inne, dann schnaubte er. »Ich sollte dir besser gleich mitteilen, dass ich die Klugheit eines solchen Tuns in Zweifel ziehe. Diese Weißen sind Gedankenleser. Sie könnten uns viel von unserem Wissen stehlen.«
»Sie interessieren sich nur für solche Dinge, die für sie wertvoll und akzeptabel sind«, erwiderte Arleej. »Was herzlich wenig ist, wenn du dir ins Gedächtnis rufst, dass sie unsere Verwendung von Kräutern für drollig halten und unsere Gedankenvernetzungen für sie tabu sind.«
Wil schüttelte den Kopf. »Man kann seine Meinung ändern.«
»Und zu unserem Glück haben sie genau das jetzt getan.« Sie lächelte. »Auraya von den Weißen wird dich überraschen, Wil. Sie besucht uns jeden Abend. Sie und Leiard waren schon vor ihrer Auserwählung alte Freunde.«
Wil sah Leiard kurz an, dann zuckte er die Achseln. »Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.«
»Wir kehren jetzt am besten zu unserem Tarn zurück«, sagte Arleej entschieden. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bevor wir wieder zur Armee stoßen.«
Wil nickte, dann ging er auf den ersten der drei Wagen zu, in denen seine Gruppe reiste. Als Leiard sich abwandte, rief Arleej ihn zurück und deutete auf ihren Tarn.
»Willst du mir für eine Weile Gesellschaft leisten?«
Er stieg zu ihr auf die Sitzbank, während die Neuankömmlinge warteten, bis ihr Arem sich an die Spitze des Zuges setzte. Nach einigen Minuten wandte sich Arleej mit einem Lächeln zu Leiard um.
»Die Weißen haben Raeli eine erfreuliche Mitteilung gemacht: Das Gesetz, das den Menschen verbietet, unsere Dienste in Anspruch zu nehmen, wird nach der Schlacht für einen Tag aufgehoben.«
»Das sind gute Neuigkeiten.«
»Ja. Anscheinend ist aus deiner Freundschaft mit Auraya tatsächlich etwas Gutes erwachsen.« Er nickte.
»Ich nehme an, dass sie dir nichts von den Plänen der Weißen für die Armee erzählt hat?«
Leiard schüttelte den Kopf. »Nichts, was wir nicht bereits gewusst hätten.«
»Hat sie die neue Traumweberratgeberin erwähnt?«
»Ja, aber nur ein einziges Mal.« Er verzog das Gesicht. »Sie findet Raelis herablassende Art enttäuschend, versteht aber den Grund dafür. Sie hofft, dass sie sich später, nach dem Krieg, mit Raeli wird anfreunden können – oder dass sie zumindest ihren Respekt erringt.«
»Ich verstehe. Worüber spricht sie sonst noch mit dir?«
Über nichts, was du jetzt wiederholen könntest, murmelte Mirar.
Still, dachte Leiard streng.
»Sie erzählt manchmal von Dingen, die sie erlebt hat.« Er zuckte die Achseln. »Von ihren Besuchen in Si und Borra.«
Lügner.
»Weiß sie um das Problem, das du mit Mirars Netzerinnerungen hast? Dass sie in deinen Gedanken eine eigene Persönlichkeit entwickeln?«
Er runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. »Ich bin mir nicht sicher. Sie hat es nicht erwähnt.«
Weil du mich, wenn du mit ihr zusammen bist, so gründlich aussperrst, knurrte Mirar. Wenn ein Mann die volle Kontrolle über seinen Körper übernehmen will, geht eben nichts über pure Begierde.
Dann ist sie der Schlüssel, um dich loszuwerden!
Nein. Du kannst nicht ständig mit ihr zusammen sein.
In Mirars letzten Worten lag eine unausgesprochene Drohung. Leiard spürte, wie er die Kontrolle über sich verlor.
»Ich muss ein Geständnis machen«, sagte er zu seiner eigenen Überraschung. »Dieser Narr von einem Traumweber hat...«
Nein! Leiard rang Mirars Stimme nieder. Arleej sah ihn verwirrt an.
»Was ist los?«
Leiard schüttelte den Kopf. Er wagte es nicht zu sprechen, weil er befürchtete, dass die Worte, die über seine Lippen kämen, nicht seine eigenen wären.
»Es ist Mirar, nicht wahr?«
Er nickte.
Ihre Augen weiteten sich, als sie verstand, dann runzelte sie besorgt die Stirn. »Jayim hat mir erzählt, dass sich die Lage seiner Meinung nach in der letzten Zeit verschlimmert habe. Er hat gesagt, es hätte angefangen, nachdem Auraya dich das erste Mal besucht hat.«
Leiard blickte sie erschrocken an.
»Keine Bange, er hat sein Versprechen gehalten. Obwohl er seine Sorge um dich nicht verbergen konnte.«
Arleej griff nach seiner Hand und hielt sie fest, als er versuchte, sie wegzuziehen.
»Es steckt noch mehr hinter dieser Geschichte, mehr, als du zu offenbaren bereit bist. Ich würde dir normalerweise deine Geheimnisse lassen, aber ich habe den Verdacht, dass sie dich zerstören. Sprich mit mir, Leiard. Es ist offensichtlich auch Mirars Wunsch, dass du das tust.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich gehe bereits den Weißen aus dem Weg, damit sie nicht erfahren, dass du etwas vor ihnen verborgen hältst. Da das nun schon einmal so ist, kannst du mir geradeso gut die ganze Wahrheit sagen.«
Er wandte den Blick ab. Arleej schwieg, dann seufzte sie. »Mirar.«
Der Name klang wie ein Befehl. Ein Ruf. Leiard spürte, wie er die Kontrolle verlor.
»Endlich.«
Seine Stimme klang anders: höher und mit einem Unterton von Autorität und Arroganz, wie sie ihm vollkommen fremd waren. Unwillkürlich richtete er sich auf und wandte sich zu Arleej um.
Sie musterte ihn, und er sah einen Anflug von Furcht in ihren Zügen.
»Warum tust du Leiard das an?«
»Zu seinem eigenen Wohl. Er darf diese Affäre mit Auraya nicht fortsetzen. Sie wird nicht nur ihn zerstören, sondern auch meine Leute.«
Ihre Augen weiteten sich. »Eine Affäre?«
»Er liebt sie. Sie liebt ihn wahrscheinlich ebenfalls. Es ist jäm... äh, niedlich. Aber gefährlich.«
»Ich verstehe.« Mit ernster Miene dachte sie über das Gehörte nach. »Ich glaube nicht, dass Leiard irgendetwas tun würde, das unseren Leuten schaden könnte«, sagte sie langsam. »Er muss glauben, dass keine Gefahr besteht.«
»Er irrt sich.«
»Wieso? Wenn dieses Geheimnis verborgen bleibt, besteht keine unmittelbare...«
»Selbst wenn diese Beziehung nicht durch einen Zufall offenbar wird, kannst du dir sicher sein, dass die Götter davon wissen.«
Sie schauderte. »Offensichtlich haben sie nichts dagegen, sonst hätten sie dem schon lange ein Ende gemacht.«
»Sie werden es tun, wenn es für sie am vorteilhaftesten ist.
Du kannst jedenfalls sicher sein, dass es nicht zu unserem Nutzen sein wird. Glaube niemals, dass sie uns nicht hassen. Wir bewahren Erinnerungen an dunklere Zeiten, Zeiten, da sie nicht so mildtätig waren. Sie wollen nicht, dass ihre Anhänger erfahren, wozu sie fähig sind.«
Arleej war erbleicht, dann schüttelte sie den Kopf. »Leiard, Leiard. Was tust du?«
Plötzlich hatte Leiard wieder die Kontrolle über sich. Er rang nach Luft und schlug die zitternden Hände vors Gesicht.
»Du bist zurück!«, rief Arleej. »Ich habe seinen Namen gesagt«, fügte sie nachdenklich hinzu.
»Wenn das so funktioniert, dann bitte ich dich, seinen Namen nicht noch einmal auszusprechen«, stieß Leiard mit erstickter Stimme hervor.
Sie tätschelte ihm entschuldigend das Knie. »Das verspreche ich dir, und ich entschuldige mich.« Sie hielt kurz inne. »Aber was tust du, Leiard? Die Risiken, die du eingehst...«
»Sind gering«, beendete er ihren Satz und nahm dann die Hände vom Gesicht. »Wenn dieser Krieg vorüber ist, werde ich mich an einen abgelegenen Ort zurückziehen. Niemand wird je von uns erfahren müssen.«
»Niemand? Mirar hat recht. Die Götter müssen es wissen. Er könnte auch recht damit haben, dass sie auf den richtigen Zeitpunkt warten, um zurückzuschlagen. Du... du hast die Pflicht, deine Leute zu schützen. Du solltest diese Affäre beenden, Leiard.«
Leiard wandte den Blick ab. »Ich weiß. Aber wenn ich mit ihr zusammen bin, kann ich nicht einmal daran denken.«
Langsam wurde Arleejs Miene weicher. Sie lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und seufzte. »Oh, das ist tatsächlich Liebe, ja.«
Eine tiefe Falte stand zwischen ihren Brauen. Leiard beobachtete sie eingehend. Was würde sie tun? Würde sie Auraya zur Rede stellen? Würde sie ihm befehlen, sich nicht länger mit Auraya zu treffen?
Würdest du ihr gehorchen?, fragte Mirar.
Wahrscheinlich nicht, gab Leiard zu. Wenn sie will, dass ich jetzt fortgehe, werde ich es tun.
»Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll«, sagte Arleej leise und ohne ihn anzusehen. »Ich muss für eine Weile darüber nachdenken. Von jetzt an werden wir unser Lager nicht mehr so nahe bei der Armee aufschlagen, wie wir es bisher getan haben. Es wäre mir lieber, wenn es für die Weißen eine beträchtliche Unannehmlichkeit wäre, uns zu besuchen. Wenn Auraya kommt... ich werde mich nicht einmischen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass dieses Geheimnis unentdeckt bleibt.«
»Danke«, murmelte Leiard.
Sie sah ihm in die Augen. »Wenn ich über diese Angelegenheit nachdenke, möchte ich lieber allein sein.«
Er nickte, dann stieg er wie ein gescholtenes Kind aus dem Tarn und ging zurück zu Jayim.
Auraya band ihren Zirk zu und kehrte zu Leiard zurück, der immer noch in Decken eingerollt auf dem Boden lag. Sie blickte lächelnd auf ihn hinab. Er erwiderte ihr Lächeln und legte eine Hand um ihren Knöchel.
Seine Gedanken waren voller Sehnsucht. Er wünschte, sie hätte länger bleiben können – wünschte, sie hätte hier sein können, wenn er am Morgen aufwachte. Aber er wusste, dass sie dieses Risiko nicht eingehen durften.
Alle glauben, diese kurzen Besuche mitten in der Nacht hätten ausschließlich mit unserer Arbeit zu tun, hörte sie ihn denken. Sie glauben, Auraya kommt nur deshalb so spät, weil sie tagsüber so viel zu tun hat oder die neue Ratgeberin nicht wissen lassen möchte, dass sie sich noch immer mit mir bespricht. Er seufzte und dachte an Arleej. Alle glauben das, bis auf zwei Personen. Auraya runzelte die Stirn. Sein Lächeln verblasste, als ihm bewusst wurde, dass sie seine Gedanken gelesen hatte. Er ließ ihren Knöchel los.
»Arleej weiß über uns Bescheid«, sagte sie.
»Ja.«
Auraya biss sich auf die Unterlippe. Dies könnte sich als Problem erweisen. Jemand, der in Somrey und unter den Traumwebern eine so hohe Position bekleidete, würde irgendwann auf einen der anderen Weißen treffen. Ein einziger unbesonnener Gedanke von Arleej, und ihre Affäre würde entdeckt werden.
»Wir können darauf vertrauen, dass sie nichts sagen wird.«
Auraya sah ihn forschend an. »Aber ganz sicher bist du dir nicht.«
Er richtete sich stirnrunzelnd auf, und die Decken glitten von seinen nackten Schultern.
»Sie ist beunruhigt wegen Mirars Anwesenheit in meinem Geist.«
»Die Netzerinnerungen?« Auraya zuckte die Achseln. »Warum?«
Er zögerte. »Es ist dir noch nicht aufgefallen...« Er wandte den Blick ab. »Wenn du hier bist, schweigt er.«
Auraya schüttelte den Kopf. Leiards Worte ergaben keinen Sinn für sie. »Er?«
»Mirar oder das Echo seiner Persönlichkeit in meinen Gedanken. Manchmal spricht er zu mir. Gelegentlich hat er auch... durch mich gesprochen.«
Langsam begriff sie. Die Tatsache, dass diese Manifestation Mirars mit seiner Stimme sprach, beunruhigte ihn verständlicherweise. Er hatte Angst, dass sie sich davon abgestoßen fühlen könnte.
»Es ist mir immer gelungen, die Kontrolle zurückzugewinnen«, versicherte er ihr.
»Ich verstehe. Ich kann nachvollziehen, warum dich das quält, aber warum macht es auch Arleej Sorgen? Ich hatte gedacht, dass sie sich über diese Verbindung zu eurem früheren Oberhaupt freuen würde.«
»Es ist nur...« Er hielt inne. »Es stört dich nicht?«, fragte er zögernd. Auraya zuckte die Achseln. »Es sind doch nur Erinnerungen. Und genau betrachtet waren sie mir durchaus nützlich. Was du mir über die Siyee erzählt hast, war von unschätzbarem Wert.«
Er wandte den Blick ab, und sie spürte, dass er keineswegs beruhigt war.
»Es stört mich«, sagte er. »Er sieht uns nicht gern zusammen. Er sagt, wir würden meine Leute in Gefahr bringen.«
Eine leichte Kränkung stieg in Auraya auf. Ein Teil von ihm wollte sie nicht. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, sagte sie sich. Diese Netzerinnerungen stammen von einem Mann, der die Götter gehasst und gefürchtet hat, einem Mann, den Juran auf Geheiß der Götter getötet hat. Natürlich entfache ich in seinem Geist ein Echo von Angst.
»Ich bin nicht seiner Meinung«, sagte Leiard.
»Dann streitest du dich also mit ihm?«
Er sah sie überrascht an. »Ja. Aber... nicht, wenn du hier bist.«
Sie lächelte erleichtert. »Das heißt, ich tue dir gut.« Seine Mundwinkel zuckten. »Ja.«
Dennoch spürte sie sein Zögern. Sie sah genauer hin und verstand. Es würde ihm Frieden schenken, dieser anderen Persönlichkeit nachzugeben. Manchmal war es ausgesprochen verführerisch. Sie setzte sich und schlang die Arme um ihn.
»Dann werden wir gemeinsam gegen ihn kämpfen. Ich werde dir helfen, wo ich nur kann. Wenn der Krieg vorüber ist«, fügte sie hinzu. »Kannst du so lange warten?«
Er fuhr mit den Fingern durch ihr Haar. »Ich würde Jahrhunderte auf einen einzigen Augenblick mit dir warten.«
Sie grinste. »Du wirst schon wieder so romantisch. Du wirst nicht Jahrhunderte warten müssen, sondern nur einen Tag. Ich werde morgen Abend wieder hier sein.«
Sie beugte sich vor und küsste ihn. Seine Lippen waren warm. Angenehme Erinnerungen erwachten. Sie wollte ihn berühren, aber sie widerstand diesem Verlangen. Stattdessen löste sie sich von ihm und stand auf.
»Du solltest dich besser anziehen und mich hinausbegleiten.«
Er spitzte enttäuscht die Lippen, dann lächelte er und streifte die Decken ab. Sie beobachtete ihn, während er sich ankleidete, eine Prozedur, die ebenso faszinierend wie ernüchternd war. Als legte er zusammen mit den Kleidern eine Identität an. Als er fertig war, geleitete er sie wie ein aufmerksamer Gastgeber zum Eingang.
»Es war mir eine Freude, dich wiederzusehen, Auraya von den Weißen«, sagte er förmlich.
Sie nickte. »Wie immer, hoffe ich. Richte Traumweberin Arleej meine Grüße aus.«
»Das werde ich tun.«
Er hielt die Zeltlasche auf, und sie trat in die Dunkelheit des Lagers hinaus. Sie blickte zum Himmel auf und konzentrierte sich auf die Welt um sie herum. Es war inzwischen so einfach. Sie zog Magie in sich hinein und bewegte sich aufwärts.
Als sie höher stieg, sah sie in der Ferne Lichter. Das Armeelager.
Bildete sie sich das nur ein, oder waren da mehr Lichter als gewöhnlich? Es dauerte nicht lange, bis ihr Verdacht bestätigt wurde. Sie konnte etliche Reihen von Fackeln erkennen, die sich zwischen den Zelten hindurchbewegten.
Neuankömmlinge. Das muss die torenische Armee sein.
Als sie näher kam, sah sie vier bleiche Gestalten vor dem Zelt des Kriegsrats stehen. Eine kleine Menschenmenge hatte sich um sie herum versammelt, Adlige oder andere wichtige Persönlichkeiten, wie sie vermutete. Eine der Gestalten stand einige Schritte von den übrigen entfernt.
Berro. Der torenische König. Warum hat Juran mich nicht sofort von seiner Ankunft verständigt?
Einen Moment lang schwebte sie über der Versammlung. Die Stimme des Königs wehte zu ihr empor. Da sie es für unhöflich gehalten hätte, ihn zu unterbrechen, suchte sie in Gedanken die Verbindung zu Juran.
Juran? Soll ich zu euch stoßen?
Er machte eine schwache, überraschte Bewegung, dann sah er zum Himmel auf.
Ja, erwiderte er. Wenn ich dir ein Zeichen gehe.
Sie hörte ihn etwas sagen, dann winkte er sie zu sich heran. Sie ließ sich neben Mairae zu Boden sinken.
Der König musterte sie erstaunt. Dann schaute er nach oben, als erwarte er, festzustellen, dass sie von irgendeinem Gebäude gesprungen war.
»Auraya«, sagte Juran. »Ich glaube, du bist König Berro gleich nach deiner Auserwählung einmal begegnet?«
»Ja«, sagte sie. »Es ist mir eine Freude, dich wiederzusehen, mein König.«
Der König holte tief Luft und riss sich zusammen. »Die Freude ist ganz meinerseits, Auraya von den Weißen. Du hast dich mit beeindruckender Schnelligkeit und großer Sicherheit in deine neue Position eingefügt. Ich hatte bereits von deiner Gabe des Fluges gehört, konnte es aber bis jetzt nicht recht glauben.«
Sie lächelte und machte das Zeichen des Kreises. »Die Götter geben uns, was wir benötigen, um ihre Befehle auszuführen.«
Sein Blick flackerte, und sie stellte erfreut fest, dass seine Gedanken sich den Siyee zuwandten. Durch ihren Hinweis darauf, dass die Götter ihr die Gabe des Fluges geschenkt hatten, hatte sie angedeutet, dass sie das vielleicht getan hatten, um ihr eine Möglichkeit zu geben, die Siyee als Verbündete für die Weißen zu gewinnen. Hoffentlich würde Berro es sich gut überlegen, bevor er gegen die Entfernung der torenischen Siedler aus Si Einspruch erhob. Kein Monarch wagte es, den Göttern zu trotzen.
Jetzt wandte der König sich wieder Juran zu. »Ich bin mit meinen Truppen so schnell wie möglich hierhergereist, um mich euch rechtzeitig anschließen zu können. Wenn ich mit meiner Schätzung richtigliege, sind wir noch zwei Tagesreisen vom Pass entfernt. Werden wir Zeit haben, um uns auszuruhen?«
Juran runzelte die Stirn. »Ich kann euch nur die Möglichkeit anbieten, morgen nicht einen allzu weiten Marsch zurückzulegen. Aber sobald wir den Pass erreicht haben, werden deine Truppen vielleicht mehr Zeit haben, um sich zu erholen.«
»Das wird genügen.«
»Auch du bist müde«, erklärte Juran. »Es ist schon zu spät, um Kriegspläne zu erörtern. Wenn du einverstanden bist, werde ich morgen mit dir reisen, um dir alles mitzuteilen, was wir bisher besprochen und beschlossen haben.«
Berro lächelte erleichtert. »Das wäre mir sehr recht. Vielen Dank.«
Juran nickte und machte das formelle Zeichen des Kreises. »Dann werden wir uns morgen früh wiedersehen.«
Der König erwiderte die Geste und zog sich dann zusammen mit seinem Gefolge zurück. Auraya drehte sich wieder zu den anderen Weißen um. Juran wirkte erleichtert, Dyara resigniert. Rian und Mairae schienen sehr zufrieden mit der Begegnung zu sein.
»Zumindest sind sie endlich hier«, murmelte Dyara. »Die Dunweger sind auf dem Pass und stellen Fallen auf. Wenn sie zu uns stoßen, werden wir ein Heer von beträchtlicher Größe haben.«
»So ist es«, erwiderte Juran. »Und jetzt sollten wir alle ein wenig schlafen.«
Die anderen nickten. Mairae und Rian gingen davon, und Dyara machte sich auf den Weg zu dem Lager der genrianischen Armee. Juran dagegen blieb stehen, und Auraya trat auf ihn zu. Er sah sie an.
»Was ist los?«
»Es überrascht mich, dass du mich nicht gerufen hast«, erklärte sie.
»Mairae sagte, du seist zu einer Luftpatrouille aufgebrochen. Sie meinte, du hättest das Gleiche während der vergangenen Nächte getan, und ich solle dich nicht stören. Tatsächlich überrascht es mich, dass du mir nichts davon erzählt hast.«
Auraya zuckte die Achseln. »Es ist einfach meine Art, ein wenig zu fliegen, wenn ich nicht schlafen kann. Aber jetzt sollte ich wohl zu Bett gehen.« Sie hielt inne. »Und du auch.«
Er seufzte. »Ja. Du hast recht.«
Sie machte sich auf den Weg zu ihrem Zelt. Als sie hinter sich ein leises Gähnen hörte, drehte sie sich noch einmal um und sah, dass Juran sich eine Hand vor den Mund hielt. Vielleicht, dachte sie, würde er jetzt, da die Torener angekommen waren, ein wenig mehr Ruhe finden können.
Emerahl schreckte jäh aus dem Schlaf hoch. Einen Moment lang stieg Panik in ihr auf. Wurde die Karawane angegriffen? Dann erinnerte sie sich plötzlich an das Gefühl zu ersticken, und der Traum kehrte zu ihr zurück.
Der Turmtraum. Ärger flammte in ihr auf. Würde das denn niemals enden?
»Ist alles in Ordnung mit dir, Jade?«
Emerahl sah Stern an. Man hatte eine Matratze für das Mädchen in Rozeas Tarn gelegt. Es gelang Stern recht gut, so zu tun, als sei ihre Verletzung ernst gewesen, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Die Tatsache, dass sie fast wieder genesen war, bedeutete jedoch unglücklicherweise, dass es sie langweilte, den ganzen Tag liegen zu müssen. Manchmal tat Emerahl so, als ob sie schliefe, um dem Geplapper des Mädchens zu entgehen. Jetzt sah Stern Emerahl besorgt an.
»Es war nur ein Traum, mehr nicht«, erwiderte Emerahl.
»Wovon hast du denn geträumt? Es ging nicht zufällig um einen Turm, der eingestürzt ist, oder?«
Emerahl blinzelte überrascht. »Warum fragst du?«
Stern zuckte die Achseln. »Einige meiner Kunden haben mir davon erzählt. Sie haben gesagt, dass sie viele Male den gleichen Traum gehabt hätten.«
»Wie viele?«
»Das weiß ich nicht. Sie haben nicht davon gesprochen, wie oft sie den Traum hatten.«
Emerahl schüttelte den Kopf. »Ich meine, wie viele Kunden haben dir von dem Traum erzählt?«
Stern dachte nach. »Drei oder vier.« Dann sah sie Emerahl forschend an. »Also hast du auch diesen Traum gehabt?«
Emerahl nickte. »Ja.«
»War es das erste Mal?«
»Nein, ich hatte diesen Traum schon häufiger.« »Worum geht es denn eigentlich dabei?« »Um einen Turm. Er stürzt ein.«
Stern grinste. »Ich meine, warum haben verschiedene Menschen den gleichen Traum? Was bedeutet das?«
»›Die Bedeutung eines Traums hängt von dem Träumer ab‹«, zitierte Emerahl. Sie runzelte die Stirn und dachte noch einmal über ihre Theorie nach, dass der Traum vom Tod Mirars handelte. Aber irgendetwas passte da nicht recht zusammen.
»Unter einem Gebäude begraben zu werden...« Stern schauderte. »Eine abscheuliche Art zu sterben.«
Emerahl nickte geistesabwesend. Wenn der Träumer vom Tod Mirars träumte, durchlebte er nicht seine eigenen Erfahrungen noch einmal, sondern die von Mirar. Das ließ sich nur damit erklären, dass der Betreffende Netzerinnerungen an Mirars Tod hatte, was wiederum bedeutete, dass irgendjemand mit Mirar vernetzt gewesen sein musste, als dieser starb.
Das war sehr ungewöhnlich, und bei dem Gedanken daran lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Kein Wunder, dass der Träumer nicht aufhören konnte, wieder und wieder mit dem Traum zu experimentieren.
»Vielleicht bedeutet es, dass die Weißen scheitern werden.« »Träume sind keine Prophezeiungen, Stern«, entgegnete Emerahl.
Jedenfalls nicht dieser. Dieser Traum war historisch. Mirars Todeserfahrung musste während des vergangenen Jahrhunderts von einem Traumweber zum nächsten weitergegeben worden sein. Jetzt, da er sich im Geist eines mächtigen Traumwebers befand, wurde er an jeden Mann und jede Frau ausgesandt, deren Gaben groß genug waren, um Träume zu empfangen.
Ich frage mich, ob das vorsätzlich geschieht. Versucht jemand, die Welt daran zu erinnern, wer Mirar getötet hat? »Jade?«
Emerahl hob die Hand und schüttelte den Kopf. Die Götter haben Mirar zu einem Märtyrer gemacht. Dieser Traum berührt zweifellos auch den Geist von Priestern und Priesterinnen.
Gewiss versuchen die Götter bereits, dem ein Ende zu machen.
»Ich muss dir etwas erzählen«, sagte Stern mit leiser Stimme. »Ich habe Rozea...«
Vielleicht können sie nichts dagegen unternehmen. Vielleicht wird dieser Träumer geschützt.
Von wem? Von jemandem, der große Macht besitzt. Von einem Feind der Götter. Den Pentadrianern! Vielleicht...
»... Ich habe Rozea erzählt, dass du mich mit Magie geheilt hast.«
Emerahl starrte Stern an. »Du hast was getan?«, fuhr sie das Mädchen an. Stern wich zurück. »Es tut mir leid«, wimmerte sie. »Sie hat es mit einer List aus mir herausgeholt.«
Sie wirkte völlig verängstigt, und Emerahl bereute ihre scharfe Reaktion.
»Natürlich«, sagte sie in sanfterem Tonfall. »Rozea ist schlau genug, um einem Kaufmann sein Schiff abzuschwatzen. Ich hatte mich schon gefragt, warum sie plötzlich so nett zu mir ist.«
»Ich war nie gut darin, Geheimnisse zu hüten«, gestand Stern.
Emerahl musterte Stern forschend. Sie spürte, dass es wahrlich nicht schwer gewesen sein konnte, das Mädchen zu überlisten. Was soll ich jetzt tun?
Ich sollte fortgehen.
Emerahl lächelte. Nun, da Rozea wusste, dass sie eine Zauberin war, gab es keinen Grund mehr, diese Tatsache zu verbergen. Es stand ihr frei, das Geld zu nehmen, das Rozea ihr schuldete, wenn nötig mit Gewalt. Andererseits würde Rozea, sobald die Karawane die Armee erreicht hatte, von der Zauberin erzählen, die sie beraubt hatte. Ihre Geschichte würde vielleicht die Aufmerksamkeit der Priester erregen. Nein, ich sollte einfach fortgehen. Das Geld ist das Risiko nicht wert.
Trotzdem verspürte Emerahl noch immer die törichte Verpflichtung, die Mädchen so lange wie möglich zu beschützen. Sobald die Karawane in der Nähe der Armee war und Rozea neue Wachen einstellte, würden die Mädchen relativ sicher sein. Und dann? Emerahl dachte noch einmal über ihre Theorie nach, dass der Träumer von Pentadrianern geschützt wurde. Sie hatte bisher keine besonderen Pläne geschmiedet, weil sie vollauf damit beschäftigt gewesen war, zuerst dem Priester, dann Porin und jetzt dem Bordell zu entfliehen. Vielleicht würde sie nach diesem Träumer suchen. Vielleicht konnte er oder sie Emerahl Schutz vor den Göttern und ihren Dienern bieten.
Wenn das bedeutete, dass sie sich den Pentadrianern anschließen musste, dann sollte es eben so sein. Nach allem, was sie wusste, war es durchaus möglich, dass die Pentadrianer diesen Krieg gewannen.
Im Laufe des Nachmittags gelangten sie über die Ostweststraße zu einem breiten, steinigen Fluss. Das stete Getöse des Wassers, das über die Felsen strömte, übertönte die meisten Geräusche, und man konnte nur gelegentlich erhobene Stimmen, das Wiehern eines Arem oder den Ruf eines Reyna hören. Die Straße führte schließlich in ein weites Tal und vorbei an kleinen Dörfern, wo die Armee von lächelnden Erwachsenen und aufgeregten Kindern begrüßt wurde. Als dann die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verschwanden, erreichten sie das Ende des Tals, und Juran gab den Befehl, an dieser Stelle das Lager aufzuschlagen.
Das bedeutet wahrscheinlich, dass wir die Ebenen hinter uns haben und jetzt bald in die Berge kommen, dachte Danjin, als er in das Zelt des Kriegsrats trat. Von jetzt an wird es bergaufgehen. Er betrachtete die anderen Personen im Zelt, die hochmütige Miene König Berros, die steife Haltung von Sprecherin Sirri und die mitfühlenden Blicke, mit denen König Guire die Anführerin der Siyee bedachte.
Während er wartete, herrschte im Zelt ungewöhnliche Stille, bis schließlich Auraya und die Späher der Siyee eintrafen.
Auraya machte das Zeichen des Kreises. »Seid mir gegrüßt. Dies sind Sveel vom Schlangenflussstamm und Zeeriz vom Stamm des gegabelten Flusses. Sie sind die ersten Siyee, die von ihren Erkundungsflügen zurückgekehrt sind.«
Juran trat vor. Als er die beiden Siyee in ihrer Sprache anredete, übersetzte Dyara seine Worte.
»Ich danke euch, Sveel vom Schlangenflussstamm und Zeeriz vom Stamm des gegabelten Flusses, dass ihr diese gefährliche Reise auf euch genommen habt. Ohne eure Hilfe wüssten wir erheblich weniger über unseren Feind. Es bekümmert mich jedoch, dass diese Informationen uns das Leben eines Siyee gekostet haben.«
Die beiden Siyee-Krieger nickten. Danjin fiel auf, dass sie sehr erschöpft wirkten.
»Von Auraya weiß ich, dass ihr in aller Eile zurückgekehrt seid, um etwas zu berichten, von dem ihr glaubt, es könnte wichtig sein. Worum handelt es sich?«
Der Siyee namens Zeeriz straffte sich. »Nachdem Tireel gefangen genommen wurde, haben wir versucht, in der Nähe zu bleiben, um zu sehen, was geschah, aber die Vögel haben uns angegriffen, so dass wir uns in Sicherheit bringen mussten. Sie haben uns bis zum Abend von der Armee ferngehalten, dann sind sie endlich verschwunden, so dass wir uns auf die Suche nach Tireel machen konnten. Wir haben ihn am Straßenrand gefunden. Tot.«
Er hielt inne und schluckte hörbar. Danjin bemerkte, dass Sirri den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen hatte. Bewunderung für die Anführerin der Siyee stieg in ihm auf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der torenische König auch nur eine Träne um einen toten Späher vergießen würde.
»Man hat mich ausgewählt, an seiner statt den Spähtrupp anzuführen«, fuhr Zeeriz fort. »Ich habe vier Männer zurückgelassen, um Tireel zu begraben, während ich mich mit den übrigen Spähern an die Verfolgung der Armee machte. Wir konnten sie nicht finden. Sie waren nicht länger der Straße gefolgt, und wir konnten sie auch in dem umliegenden Land nirgends entdecken.«
Juran runzelte die Stirn. »Keine Spuren?«
»Keine, die wir hätten finden können, aber wir sind ein Volk des Himmels und der Luft und verfügen nur über geringe Fähigkeiten als Fährtensucher. Das Land dort ist steinig und hart, so dass kaum Fußabdrücke zurückbleiben.«
»Vielleicht sind sie schneller marschiert, als ihr erwartet hattet«, sagte Dyara. Zeeriz schüttelte den Kopf. »Wir sind über einem großen Gebiet gekreist. Weiter können sie unmöglich binnen eines einzigen Tages gekommen sein. Als wir sie nicht finden konnten, habe ich beschlossen, bei Anbruch der Dämmerung zurückzukehren.«
König Berro beugte sich vor. »Es war Nacht, als ihr gesucht habt, nicht wahr?«
Nachdem diese Frage übersetzt worden war, sah der Siyee den Monarchen an und nickte.
»Dann ist offenkundig, was geschehen sein muss. Sie wussten, dass ihr nach ihnen suchen würdet, daher sind sie ohne Fackeln marschiert. Wahrscheinlich hattet ihr sie direkt unter eurer Nase, ohne sie zu sehen.«
»Große Gruppen von Landgehern machen eine Menge Lärm«, warf Sprecherin Sirri ein.
»Selbst wenn meine Späher sie nicht gesehen hätten, hätten sie sie doch gehört.«
»Es sei denn, die Truppen hatten den Befehl, leise zu sein«, konterte Berro. Zeeriz straffte sich. »Ich bin davon überzeugt, dass ich sie gehört hätte, wenn sie dort gewesen wären. Eine Armee dieser Größe kann sich nicht leise fortbewegen.«
»Ach?« Berro zog ungläubig die Augenbrauen hoch. »Woher willst du das wissen? Wie vielen Armeen dieser Größe bist du bisher begegnet?«
»Deine Armee haben wir schon einen halben Tag vor ihrer Ankunft gehört«, entgegnete Sirri spitz. »Selbst wenn deine Männer den Mund gehalten hätten, hätten wir sie trotzdem hören können.«
König Berro wollte gerade etwas erwidern, als ein anderer der Anwesenden das Wort ergriff.
»Es ist möglich, dass die Pentadrianer während der Nacht Zuflucht in den alten Minen gesucht haben«, sagte Jen von Rommel, der dunwegische Botschafter, mit sanftem Tonfall.
Danjin hörte, wie jemand ganz in seiner Nähe den Atem einsog. Als er sich umdrehte, sah er, dass Lanren Liedmacher die Augen weit aufgerissen hatte; offensichtlich war ihm die Bedeutung von Jens Worten klar.
»Minen?« Juran runzelte die Stirn. »Du sprichst von den alten Minen von Rejurik?«
Jen zuckte die Achseln. »Vielleicht. Ich vermute allerdings, dass es auch Minen jüngeren Datums gibt. Sie sind genauso weit verzweigt wie ihre berühmten Vorläufer, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie einstürzen, ist geringer. Manche Höhlen sind groß genug, um eine Armee darin zu verbergen. Aber warum jemand das tun sollte...« Er breitete die Hände aus. »Die Belüftung ist schlecht, so dass man auf Feuer und warmes Essen verzichten müsste. Wenn sie sich in den Minen versteckt haben, haben sie eine kalte Nacht hinter sich.«
»Wäre es möglich, dass sie durch die Berge nach Hania marschiert sind?«, wollte Lanren Liedmacher wissen.
Jen schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. So weit haben die Minen niemals gereicht.«
»Die Pentadrianer verfügen über eine große Zahl von Zauberern. Sie könnten die Minen mit Magie ausdehnen.«
»Nein«, widersprach Juran. »Es würde Monate, wenn nicht gar Jahre dauern, um einen Tunnel von solcher Größe auszuheben. Die Trümmer und das Geröll müssten abtransportiert werden. Außerdem müsste man Belüftungsschächte anlegen und Zauberer postieren, die Luft in die Höhlen ziehen, denn die natürliche Zirkulation würde für die Versorgung so vieler Menschen und Tiere nicht ausreichen.«
Als Zeeriz das hörte, wirkte er erleichtert. Danjin hatte Mitgefühl mit dem jungen Mann, der eilends von seiner Mission zurückgekehrt war, nur um erleben zu müssen, dass der torenische König seine Fähigkeiten auf derart geringschätzige Weise in Zweifel zog.
»Es klingt tatsächlich so, als hätten sie für die Nacht in den Minen Zuflucht gesucht«, sagte Berro und deutete dabei mit der Hand auf Zeeriz. »Vielleicht haben sie einen Angriff von unseren kleinen Spionen befürchtet.«
Kleine Spione. Danjin unterdrückte einen Seufzer. Berro war bekannt für seine Neigung, die Genrianer gegen sich aufzubringen. Es sah so aus, als sei er fest entschlossen, auch die Siyee zu beleidigen.
»Wenn die Armee morgen wieder auftaucht, werden wir davon erfahren, sobald unsere Späher zurückkehren«, erklärte Sirri.
»Falls sie sie gesehen haben.«
»Eine Armee dieser Größe ist aus der Luft schwer zu verfehlen«, warf Auraya ein.
»Selbst wenn sie nicht der Straße folgen, werden sie zu guter Letzt auf diesen Weg zurückkehren müssen, um sich dem Pass zu nähern. Es gibt nur eine einzige Straße, die durch die Berge führt.«
Berro nickte respektvoll. »Das ist wahr, Auraya von den Weißen.«
Die Tatsache, dass er ihre Worte ohne Widerspruch hinnahm, hob seine verletzende Haltung den Siyee gegenüber nur umso deutlicher hervor, fand Danjin. Auraya sah Juran an, der ihren Blick auffing und nickte.
»Hat jemand noch weitere Fragen an Sveel vom Schlangenflussstamm und Zeeriz vom Stamm des gegabelten Flusses?«, erkundigte sich Juran.
Schweigen folgte. Auraya wandte sich zu den beiden Spähern um. »Vielen Dank, dass ihr hergekommen seid und uns Bericht erstattet habt. Ihr seid müde und hungrig. Erlaubt mir, euch zu eurem Volk zurückzubegleiten.«
Als Auraya ging, wurde Danjin bewusst, dass Mairae ihn beobachtete. Er lächelte und neigte den Kopf. Ihre Mundwinkel zuckten, und in ihren Zügen lag ein unverkennbar nachdenklicher Ausdruck. Dann drehte sie sich um, um Auraya nachzuschauen. Sofort fiel ihm wieder das Gespräch ein, das er am vergangenen Tag mit der Weißen geführt hatte. Als sie ihn das nächste Mal mit fragend hochgezogenen Augenbrauen ansah, war ihm klar, was sie von ihm wissen wollte. Ich habe keine Ahnung, ob sie einen Geliebten hat, dachte er. Du vielleicht?
Sie lächelte und nickte.
Er blinzelte überrascht.
Wer ist es?
Sie zuckte die Achseln.
Er wandte, gleichzeitig beunruhigt und neugierig, den Blick ab. Ihm war unbehaglich bei dem Gedanken daran, dass Auraya das Bett mit einem Mann teilte – genauso erging es ihm jedes Mal, wenn er sich seine Töchter mit ihren Ehemännern vorstellte. Andererseits wollte er auch wissen, wer Aurayas Aufmerksamkeit erregt hatte. Er betrachtete die Männer im Zelt, aber von ihnen konnte es keiner sein. Mairae konnte ihre Gedanken lesen, daher würde sie es wissen, wenn einer von ihnen Aurayas Geliebter war. Also konnte es nur jemand sein, dessen Gedanken sie nicht zu lesen vermochte – oder jemand, dem sie noch nicht begegnet war.
Soweit er wusste, konnte kein Weißer die Gedanken eines anderen Weißen lesen. Er sah Mairae an. Also war es möglich...
Mairaes Augen weiteten sich entsetzt. Sie schüttelte den Kopf, und ein leichter Schauder schien sie zu überlaufen. Er lächelte. Offensichtlich fand sie die Idee, mit einem anderen Weißen das Bett zu teilen, abstoßend, was jedoch nicht bedeutete, dass Auraya der gleichen Meinung war. Da er Mairae nicht in Verlegenheit bringen wollte, verbannte er diese Möglichkeit aus seinen Gedanken.
Wenn Aurayas Geliebter keiner der Weißen war und sie ihn dennoch regelmäßig besuchte, musste er in der Armee sein.
Zu seiner Überraschung schüttelte Mairae abermals den Kopf. Wie konnte sie sich da so sicher sein? Sie lächelte. Es ist also jemand außerhalb der Armee, dachte er. Aber er muss in der Nahe sein, sonst könnte Auraya ihn nicht besuchen.
Sein Magen krampfte sich zusammen, als ihm eine mögliche Antwort auf diese Frage in den Sinn kam.
Die Traumweber. Leiard.
Nein, sagte er sich energisch. Sie sind Freunde. Mehr nicht.
Es ergab durchaus einen Sinn, dass Auraya Leiard besuchte. Mairae musste annehmen, dass noch mehr hinter Aurayas nächtlichen Ausflügen steckte. Er sah Mairae an. Sie runzelte die Stirn, aber als sie seinen Blick auffing, lächelte sie und nickte. Dann erklärte Juran, dass sie eine Pause machen würden, um etwas zu essen, und Danjin seufzte vor Erleichterung. Er hatte halb befürchtet, dass Auraya zurückkehren und ihn dabei ertappen würde, wie er Spekulationen über ihr Privatleben anstellte. Wenn er sie wiedersah, würden seine Gedanken hoffentlich mit etwas anderem beschäftigt sein.
Es war ein langer Tag gewesen, aber jetzt, da Auraya dem Kriegsrat endlich entkommen war, wurde ihre Erschöpfung durch eine wachsende Erregung abgelöst. Schon bald würde sie wieder mit Leiard zusammen sein. Einzig Unfugs Verschwinden trübte ihre Laune. Als sie in ihr Zelt zurückgekehrt war, hatte sein Käfig offen gestanden. Zweifellos hielt der Veez gerade einen der Diener mit einer Jagd quer über den Lagerplatz in Atem.
Sie wagte es nicht, ohne Unfug aufzubrechen, denn es war durchaus möglich, dass das kleine Tier einen Diener direkt zum Lager der Traumweber führte. Das zu erklären könnte sich als schwierig erweisen.
»Auraya?«
Als sie Danjins Stimme erkannte, trat sie in den Eingang des Zelts. Zu ihrer Erleichterung sah sie ein zappelndes Pelzbündel in seinen Armen.
»Vielen Dank, Danjin.« Sie bedeutete ihm einzutreten. »Und nun zu dir, Unfug. Wo hast du gesteckt?«
»Owaya. Owaya. Böser Mann. Bringen Unfug weg. Böse.«
Sie sah Danjin bestürzt an. Er verzog das Gesicht und ließ den widerspenstigen Veez los, so dass er in Aurayas Arme hüpfen konnte. Unfug rollte sich um ihren Hals.
»Nicht so fest«, stieß sie hervor, dann wandte sie sich wieder an Danjin. »Was ist passiert?«
Seine Miene verriet eine Mischung aus Sorge und schlechtem Gewissen. »Beim Essen ist ein Diener zu mir gekommen und hat mir erzählt, dass Unfug verschwunden sei. Ich habe Stunden gebraucht, um ihn zu finden. Genau genommen hat er mich gefunden.«
Danjin seufzte. »Er hat wieder und wieder die Worte ›böser Mann‹ gesagt. Ich fürchte, dass jemand ihn von hier fortgeholt hat.«
Auraya konnte spüren, wie das Herz des Veez raste. Sie begann ihn zu streicheln und ertastete mit großer Sanftheit seinen Geist. Erinnerungen blitzten in seinen Gedanken auf. Ein menschliches Gesicht, dessen untere Hälfte von irgendetwas verdeckt wurde. Der Käfig, der geöffnet wurde, und eine Hand, die den Veez am Hals packte. Kratzen, beißen, der Geschmack von Blut. Ein Gefängnis, in dem er in der Falle saß und das er mit den Zähnen zerbissen hatte. Schließlich die Erleichterung der Freiheit.
Böser Mann!, sagte er in ihre Gedanken hinein. Sie zuckte zusammen. Er hatte sich noch nie telepathisch mit ihr in Verbindung gesetzt.
»Ich denke, du hast recht, Danjin«, sagte sie. Sie sah ihn an und spürte abermals Schuldgefühle bei ihm. Gewiss war er doch nicht derjenige gewesen...
Sie schaute genauer hin und war erleichtert, die wahre Quelle seiner Schuldgefühle zu entdecken. Mairae hatte ihn vor einigen Tagen gefragt, ob sie einen Geliebten hätte, und er hatte das Gespräch vergessen, bis sie das Thema an diesem Abend wieder aufgebracht hatte. Er schämte sich, weil er Spekulationen über ihr Privatleben angestellt hatte. Dann blitzte Leiards Name in seinen Gedanken auf, und ihre Erleichterung verflog. Danjin glaubte, dass sie Leiard lediglich aus Freundschaft besuchte, aber er hatte den Verdacht, dass Mairae mehr dahinter vermutete.
Ihr ganzer Körper wurde kalt. Sie wusste, dass Mairae dazu neigte, über dergleichen Dinge nachzugrübeln, aber sie hatte nicht geglaubt, dass die Frau so weit gehen würde, ihren Ratgeber zu Spekulationen über mögliche Geliebte zu verleiten. Wenn Mairae das tat, wie weit würde sie dann noch gehen, um ihre Neugier zu befriedigen? Es würde sie nur einen Ritt von wenigen Stunden kosten, um sich eine Antwort zu verschaffen. Aurayas Herz begann zu hämmern. Vielleicht war Mairae in ebendiesem Augenblick bereits auf dem Weg zum Lager der Traumweber.
Dieses Risiko kann ich nicht eingehen. Leiard muss sofort abreisen. Noch heute Nacht.
Auraya nahm Unfug von ihrer Schulter und reichte ihn an Danjin zurück.
»Bleib hier. Leiste ihm Gesellschaft. Er hat einen üblen Schrecken erlitten. Ich möchte so viel wie möglich über die Angelegenheit in Erfahrung bringen. Welcher Diener hat dir den Hinweis gegeben, dass du nach ihm suchen sollst?«
»Beiaya.«
Sie nickte, dann verließ sie das Zelt, um sich draußen sowohl mit den Augen als auch mit dem Geist umzusehen, aber sie konnte keine Beobachter wahrnehmen. Schließlich zog sie Magie in sich hinein und ließ sich zum Himmel emporschweben.
Das Lager der Traumweber war weiter von der Armee entfernt als zuvor, aber sie hatte es binnen weniger Augenblicke erreicht. In Leiards Zelt brannte eine Lampe. Sie landete auf dem Boden davor und ging zu der Türlasche hinüber.
»Traumweber Leiard?«
Die Lasche wurde geöffnet, aber nicht von menschlicher Hand. Auraya schaute in das Zelt hinein, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Juran stand hinter dem Eingang.
Er weiß Bescheid. Diese Erkenntnis traf sie wie ein kalter Windstoß. Sie sah den Zorn in Jurans Zügen. Sein ganzer Körper war angespannt, und er hatte die Hände zu Fäusten geballt.
Sie hatte ihn noch nie so wütend gesehen. »Komm herein, Auraya«, sagte er mit leiser, gepresster Stimme.
Zu ihrer Überraschung machte sein Zorn ihr keine Angst. Stattdessen stieg eine Welle der Zuneigung in ihr auf. Sie kannte ihn gut genug, um sicher zu sein, dass seine Vernunft immer die Oberhand über seinen Ärger behielt. Er war kein Freund von Gewalttätigkeiten. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er vom Tod Mirars gesprochen hatte, hatte er stets auch sein Bedauern darüber geäußert, dass dieser Schritt notwendig gewesen war.
Ich vertraue ihm, dachte sie. Ich vertraue sogar darauf, dass er Leiard niemals etwas antun würde, auch wenn er jetzt Bescheid weiß.
Aber Leiard befand sich nicht mit Juran im Zelt, und auch der Beutel, den er ständig bei sich trug, fehlte.
»Juran«, sagte sie ruhig. »Wo ist Leiard?«
Er holte tief Luft, dann stieß er den Atem langsam wieder aus.
»Ich habe ihn weggeschickt.« Sie sah ihn an. »Warum?«
»Warum?« Juran kniff die Augen zusammen. »Glaubst du, ich hätte nichts von eurer Affäre gewusst? Oder denkst du, ich hätte euch einfach so weitermachen lassen?«
Auraya verschränkte die Arme vor der Brust. »Das heißt also, dass ich deine Billigung brauche, wenn ich mir einen Geliebten suche?«
Sein Blick flackerte. »Als ich von... von dieser Angelegenheit ... erfahren habe, habe ich mir die gleiche Frage gestellt. Die Antwort ist einfach: Meine erste Pflicht gilt unserem Volk. Und das Gleiche gilt für dich.« Er schüttelte den Kopf. »Wie konntest du das tun, Auraya, obwohl dir die Konsequenzen im Falle einer Entdeckung doch klar gewesen sein müssen?«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich kann akzeptieren, dass unser Volk Veränderungen nur langsam annimmt, dass eine Weiterentwicklung sich über Generationen hinzieht. Ich hatte die Absicht, unsere Affäre geheim zu halten, um die Toleranz der Menschen auf keine allzu harte Probe zu stellen. Mir war klar, dass ich unsere Beziehung nicht für immer vor dir verborgen halten konnte. Und ich wollte es auch nicht. Du magst die Traumweber nicht, und ich wusste nicht, wie lange ich warten sollte, bevor ich dir davon erzähle. Ich bezweifle, dass du all deine Vorurteile überwunden hast. Wie lange hätte ich warten sollen? Jahre? Jahrzehnte? Jahrhunderte? Ich liebe jetzt, Juran. Leiard wird älter. Er wird eines Tages sterben. Ich kann nicht warten, bis du dich an den Gedanken gewöhnt hast, dass ein Traumweber meiner würdig sein könnte.«
Er musterte sie eindringlich. »Meine Meinung steht hier nicht zur Debatte, Auraya. Du bist eine der Weißen. Deine erste Pflicht besteht darin, das Volk zu leiten und zu schützen. Du darfst Geliebte haben, aber sie dürfen nicht zwischen dir und dem Volk stehen. Wenn das doch einmal geschieht, musst du den Betreffenden aufgeben.«
»Er wird nicht...«
»Er wird. Er hat es bereits getan. Ich habe es in seinen Gedanken gesehen. Du hast das Gesetz gegen die Traumvernetzung gebrochen. Was kommt als Nächstes?«
»Ich hatte die Heilkünste der Traumweber schon vorher akzeptiert, Juran. Auch dagegen gibt es ein gleichermaßen lächerliches Gesetz. Du bist nicht töricht genug, um dies als Hinweis zu werten, dass ich die Gesetze im Allgemeinen nicht achte.«
»Du musst nach außen hin absolut gesetzestreu erscheinen«, erwiderte er. »Sonst wirst du den Respekt der Menschen verlieren. Du würdest in ihren Augen an Ansehen verlieren, sobald sie von deiner Affäre erfahren.«
»Nicht in dem Maße, wie du es glaubst. Nicht alle Menschen verabscheuen die Traumweber.«
»Die Mehrheit misstraut ihnen.« Er seufzte. »Auraya, ich wünschte, ich müsste das nicht von dir verlangen. Ich möchte dir nicht wehtun. Aber du musst Leiard aufgeben.«
Auraya schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, Juran.«
»Oh, doch«, sagte er mit Nachdruck. »Irgendwann wirst du zurückblicken und erkennen, dass du richtig gehandelt hast, auch wenn es jetzt schmerzhaft sein mag. Du musst mir in dieser Sache vertrauen.«
Vertrauen? Dies hier hat nichts mit Vertrauen zu tun. Alles, was er gesagt hat, entspringt der Furcht. Furcht, dass ein Traumweber einen zu großen Einfluss auf mich gewinnen könnte.
Furcht, dass ich, wenn ich auch nur einen einzigen voreingenommenen Zirkler vor den Kopf stoße, alle anderen gegen uns aufbringen könnte. Vor allem aber fürchtet er jede Veränderung. Sie brachte ein Lächeln zustande. »Ich vertraue dir, Juran. Und ich gehe davon aus, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Ich werde nicht zulassen, dass sich Leiard zwischen mich und das Volk stellt. Die Menschen werden kaum von seiner Existenz Notiz nehmen.«
Sie wandte sich ab und ging auf die Türlasche zu.
»Auraya.«
Als sie den Eingang erreichte, drehte sie sich noch einmal um.
»Er kann nicht zurückkommen«, erklärte Juran. »Ich habe ihm einen Befehl gegeben, und ich traue es nicht einmal ihm zu, sich mir zu widersetzen.«
Sie lächelte. »Nein. Das würde er nicht tun. Sagt dir das denn gar nichts, Juran? Sagt dir das nicht, dass man ihn nicht zu fürchten braucht?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, trat sie hinaus und schwang sich in die Luft.
Von Norden her zogen langsam Wolken über den Himmel und verdeckten nach und nach die Sterne. Bellin gähnte, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Gauts zu. Die meisten hatten ihre langen, spindeldürren Beine unter den Körper geschoben und dösten vor sich hin. Einige wenige Tiere waren hellwach geblieben und bewegten die schlanken Köpfe hin und her, um die Herde gegen Räuber zu sichern.
Es waren kluge Tiere. Sie duldeten ihn als eine zusätzliche Art von Schutz, und sie gestatteten ihm im Gegenzug, ihre Milch zu nehmen. Dennoch verloren sie niemals etwas von ihrer natürlichen Wachsamkeit. Trotz seiner Anwesenheit wechselten sie sich des Nachts als Wachen ab.
Was nur gut ist, dachte er. Ich kann es nicht verhindern, dass ich ab und zu einschlafe oder meine Aufmerksamkeit durch irgendetwas anderes abgelenkt wird.
Er lehnte sich wieder an die Felswand und zog ein wenig Magie in sich hinein, die er in Licht umwandelte und zu verschiedenen Gestalten formte.
Als Erstes schuf er eine Gaut. Das war einfach; er verbrachte all seine Zeit mit den Tieren, daher wusste er, wie sie aussahen. Schwieriger war es dagegen, die Gaut zu bewegen. Er brachte sie dazu, zu gehen, zu laufen und schließlich von Felsen zu Felsen zu springen.
Als ihn das zu langweilen begann, fügte er seine Magie zu einer anderen vertrauten Gestalt zusammen. Der alte Lim. Das runzelige Gesicht kam ihm richtig vor, aber der Körper war zu gerade. Der alte Lim war gebeugt wie ein vom Wind verkrümmter Baum.
Ah. So ist es besser. Bellin ließ die Figur sich am Hintern kratzen – etwas, das der alte Lim ständig tat. Er kicherte, dann hatte er plötzlich ein schlechtes Gewissen. Er sollte sich nicht über den alten Lim lustig machen. Der Mann hatte ihn als Säugling in den Bergen gefunden und großgezogen. Lim wusste nicht, wer Berlins leibliche Eltern waren. Bellin sah nicht einmal so aus wie die meisten Menschen, die in dieser Gegend lebten. Der einzige Hinweis, den er auf seine Vergangenheit hatte, war ein Stück Stoff mit einem darauf gestickten Symbol. Der Stoff stammte von der Decke, in die er eingehüllt gewesen war, als der alte Lim ihn gefunden hatte. Es war auch ein goldenes Amulett bei seinen Sachen gewesen, aber das hatte Lim verkauft, um Essen und Kleider für Bellin bezahlen zu können.
Bellin fragte sich bisweilen, woher er kam, und spielte sogar mit dem Gedanken, sich auf eine aufregende Reise zu begeben, um nach seinen Eltern zu suchen. Aber es gefiel ihm hier. Er brauchte nicht hart zu arbeiten, sondern musste lediglich die Gauts bewachen und ihre Wolle sammeln, wenn sie in die Mauser kamen. Wenn Lim starb, würde er für die Sicherheit dieser Tiere verantwortlich sein. Er konnte sie nicht schutzlos zurücklassen.
Bellin seufzte und überlegte, was er als Nächstes machen könnte. Der alte Lim hatte ihm beigebracht, wie man aus dem Licht Bilder formte. Diese Bilder dienten zum einen dem Zweck, Raubtiere fernzuhalten, zum anderen hielten sie Bellin wach. Die Bilder waren nicht die einzige Gabe, die der alte Mann Bellin gelehrt hatte. Wenn Fanrin oder Leramer kühn oder verzweifelt genug waren, um sich den Gauts zu nähern, verjagte er sie mit kleinen Feuerbällen.
»Ihr habt Glück, dass ihr mich habt«, erklärte Beilin den Gauts. Beim Klang seiner Stimme schreckten mehrere Gauts aus dem Schlaf hoch. Was recht eigenartig war. Sie waren an seine Stimme gewöhnt.
»Der alte Lim kann ihnen kaum mehr als einen leichten Schlag versetzen, aber ich könnte Fanrin oder Leramer töten, wenn ich es wollte«, sagte er in besänftigendem Tonfall, um sie zu beruhigen. »Ich könnte...«
Er hielt inne, dann runzelte er die Stirn. Sein Rücken fühlte sich seltsam an. Die Felswand, an der er lehnte, bebte.
Als er sich vorbeugte, stellte er fest, dass er die gleichen Vibrationen unter seinen Schenkeln und Füßen spüren konnte. Die Gauts rappelten sich hoch. Ihre schmalen Ohren zuckten angstvoll.
Beilin stand langsam auf, drehte sich um und legte die Hände auf die Felswand. Die Vibrationen schienen jetzt stärker zu sein. Irgendetwas traf ihn am Kopf. Er schrie überrascht auf und blickte empor. Erde und kleine Steine prasselten herunter. Er trat hastig von dem Felsen weg.
Nachdem er sich einige Schritte entfernt hatte, konnte er einen Riss weiter oben in der Wand erkennen, und dieser Riss wurde zusehends breiter. Langsam dämmerte ihm, dass der Felsen nicht barst; die Erde, die sich in dem Riss angesammelt hatte, quoll heraus und bildete an der Stelle, an der er soeben noch gesessen hatte, einen wachsenden Hügel.
Die Vibrationen unter seinen Füßen wurden stärker. Dann nahm auch er Erschütterungen in der Luft wahr. Eine Wolke von Staub und Steinen ergoss sich aus dem Spalt. Er duckte sich und schützte den Kopf mit den Armen, während überall ringsum Steine niederprasselten.
Das Prasseln erstarb, dann erklang ein Pfeifen. Er sah, wie das Gras auf dem Felsen sich dem Spalt zuneigte. Luft schien in die Öffnung zu strömen.
Der Boden hatte aufgehört zu beben. Bellin schaute hinter sich, und das Blut gefror ihm in den Adern. Die Gauts waren verschwunden.
Ohne noch länger über das beunruhigende Verhalten des Berges und das seltsame Pfeifen der Luft nachzudenken, die in den Spalt gesogen wurde, schuf er einen Ball aus Licht und machte sich auf die Suche nach den Spuren seiner geliebten Gauts. Leiard drehte sich zu Jayim um, und ein Stich des Mitgefühls durchzuckte ihn, eines Mitgefühls, in das sich Gewissensbisse mischten. Der Junge war blass und fühlte sich offenkundig unwohl. Arems waren nicht gerade die angenehmsten Reittiere, erst recht nicht ohne Sattel. Jetzt, da sie kein Geschirr trugen und zu einer schnelleren Gangart angetrieben wurden, hatten sie ein Tempo angeschlagen, das sie stundenlang aufrechterhalten konnten, bei dem ihre Reiter jedoch arg durchgeschüttelt wurden. Aber es ließ sich nicht ändern. Juran hatte ihnen befohlen, unverzüglich aufzubrechen, und er war im Lager zurückgeblieben, um sicherzustellen, dass sie seiner Anweisung Folge leisteten. Sie hatten sich etwas zu essen eingepackt und ihre Beutel an sich genommen, aber es war offenkundig gewesen, dass Juran ihnen nicht erlauben würde, das Zelt abzubauen, den Tarn zu packen und die Arems anzuschirren.
Auch in diesem Punkt hatte Leiard ein schlechtes Gewissen. Die Arems gehörten Arleej. Sie hatte außerdem einige zusätzliche Arems gekauft, falls eins der Tiere krank oder lahm wurde, so dass sie nicht gezwungen sein würde, den Tarn stehen zu lassen. Er hatte keine Zeit gehabt, sie aufzusuchen oder auch nur einen Brief zurückzulassen, in dem er ihr sein plötzliches Verschwinden hätte erklären können. Einige Leute im Lager der Traumweber mussten Jurans Ankunft bemerkt und wahrscheinlich auch beobachtet haben, dass er kurz nach Leiard und Jayim wieder aufgebrochen war. Arleej würde erraten, was geschehen war. Sie würde sich Sorgen machen. Das tue ich auch, gestand er sich ein. Was wird das für den Rest der Traumweber bedeuten? Wird ihnen jetzt Gefahr drohen?
Eines steht fest, dachte er. Juran wird nicht bekanntmachen wollen, dass eine der Weißen ihr Bett mit einem Traumweber geteilt hat, daher wird er dieses Geheimnis wohl zu hüten wissen.
Es überraschte Leiard, dass Juran nur ihn fortgeschickt hatte und nicht alle Traumweber, und sei es auch nur, um die Tatsache zu verbergen, dass sich sein Zorn gegen einen Einzelnen richtete. Vielleicht begriff sogar Juran, dass er die Traumweber nach der Schlacht benötigen würde. Die Armee war riesig. Obwohl die Zirkler die Heilkünste der Traumweber eigentlich verschmähen sollten, geschah das in Notfällen doch nur selten. Nach der Schlacht würde es zu viele verletzte Soldaten geben, als dass die Priesterheiler allein mit ihnen fertigwerden würden.
Jayim wird eine großartige Gelegenheit entgehen, seine Ausbildung zu vervollständigen, dachte er. Er sah den Jungen schuldbewusst an. Jurans Ärger hatte Jayim zutiefst erschreckt. Dem Jungen war nur allzu deutlich bewusst gewesen, dass der Mann, der seinen Lehrer zur Rede stellte, derjenige war, der Mirar getötet hatte. Jayims Erleichterung, als Juran sie fortgeschickt hatte, war unübersehbar gewesen.
Wenn die Furcht sich legt, wird er wütend sein, ging es Leiard durch den Kopf. Er wird fragen, welches Recht Juran hat, uns wegzuschicken, obwohl mein einziges Verbrechen darin besteht, Auraya zu lieben.
Er wird dir die Schuld geben, machte sich eine vertraute Stimme bemerkbar. Er wird sich fragen, warum du ihn überhaupt in diese Situation gebracht hast. Er wird sich fragen, warum du es so weit hast kommen lassen, obwohl dir die Konsequenzen doch klar waren. Wenn offenbar wird, dass du dich auch weiterhin mit Auraya treffen willst, wird er sich fragen, ob dir überhaupt an deinen Leuten gelegen ist.
Mirar, dachte Leiard müde. Diese Wendung der Ereignisse muss dich sehr glücklich machen.
Glücklich? Nein. Genau das ist es, was ich befürchtet hatte. Glaubst du wirklich, Juran wird sich damit zufriedengeben, dich fortzuschicken? Du hast ihn an die Dinge erinnert, die er an uns Traumwebern am meisten hasst. Unseren Einfluss auf die Menschen. Unsere Fähigkeiten.Ich war als großer Verführer bekannt. Du wirst in seinen Augen an meine Stelle treten. Wenn du die Affäre mit Auraya fortsetzst, wird er davon erfahren. Er wird andere Möglichkeiten finden, dich zu bestrafen: Er wird dich treffen, indem er unseren Leuten Schaden zufügt.
Leiard schauderte. Nein. Auraya wird das nicht zulassen.
Er ist ihr Anführer. Sie ist eine Dienerin der Götter. Wenn die Götter ihr befehlen, ihm zu gehorchen, wird sie es tun. Das weißt du.
Sie wird alles tun, um zu verhindern, dass den Traumwebern Schaden zugefügt wird.
Alles? Würde sie die Weißen verlassen? Würde sie Macht und Unsterblichkeit aufgeben? Würde sie den Göttern, die sie liebt, trotzen? Du weißt, dass sie ihnen niemals den Gehorsam verweigern würde.
Leiard schüttelte den Kopf, aber ihm war klar, dass Mirar in dem letzten Punkt recht hatte. Die Luft wurde schwer und kalt, und es überraschte ihn nicht, als es zu regnen begann. Er ließ sich von den Tropfen benetzen, und schon bald waren seine Kleider durchnässt.
Weit vor sich konnte er Lichter ausmachen. Er zügelte sein Arem und kniff die Augen zusammen. Er war der Straße jetzt seit mehreren Stunden gefolgt. Die Armee lag weit hinter ihnen. Wer waren diese Leute? Hatte Juran seine Meinung geändert? Hatte er Priester ausgeschickt, die hier warteten, um ihn abzufangen?
Plötzlich hörte er vor sich Hufgetrappel. Als der Reiter näher kam, öffnete Leiard die Hand und schuf ein kleines Licht. Der Fremde trug die Uniform eines hochrangigen Mitglieds der torenischen Armee und grinste ihn an, als er vorbeiritt. Seine selbstgefällige Zufriedenheit berührte Leiards Sinne wie eine Woge starken Parfüms. Jetzt wurde Leiard klar, dass die Lichter von einem reisenden Bordell stammen mussten. Er seufzte vor Erleichterung und trieb sein Arem wieder an.
Auraya liebt dich, wisperte Mirar. Und du liebst sie.
Leiard runzelte die Stirn, erstaunt über diesen plötzlichen Gesinnungswandel Mirars.
Du sagst, sie würde alles aufgeben, um unsere Leute zu schützen. Ich glaube dir nicht, aber falls es doch der Wahrheit entsprechen sollte, bedenke Folgendes: Solltest du das von ihr verlangen? Solltest du sie bitten, aufzugeben, was sie hat?
So weit wird es vielleicht nicht kommen.
Oh, doch. Ich kenne Juran. Er wird von ihr verlangen, dass sie eine Wahl trifft. Glaubst du, du wärst ein guter Tausch für die Götter, die sie so sehr liebt? Kannst du ihr geben, was sie ihr geben?
Leiard schüttelte den Kopf.
Möchtest du sie alt werden und sterben sehen und wissen, dass es deine Schuld ist?
Jedes von Mirars Worten fühlte sich an wie ein Messerstich.
Die Liebe ist berauschend, insbesondere die verbotene Liebe, aber Leidenschaft verblasst und wird zur Gewohnheit. Und Gewohnheit wird zur Langeweile. Wenn der Rausch der Verliebtheit abgeklungen ist, glaubst du, dass sie niemals auf das zurückblicken wird, was sie war und was sie hätte sein können, glaubst du, dass sie sich niemals wünschen wird, dir nie begegnet zu sein?
Leiards Kehle war jetzt wie zugeschnürt. Er wollte einwenden, dass es so gewiss nicht sein würde, aber er war sich nicht sicher.
Wenn du sie liebst, fuhr Mirar drängend fort, dann gib sie frei. Um ihrer selbst willen. Lass sie weiterleben, damit sie wieder und wieder lieben kann.
Und wenn sie nicht freigegeben werden will?
Dann musst du sie davon überzeugen, dass es das Richtige ist. Sag ihr, dass du sie nicht wiedersehen willst.
Sie wird mir nicht glauben. Vergiss nicht, sie kann meine Gedanken lesen. Mirar schwieg für einen Moment. Die Lichter vor ihnen waren jetzt heller. Dann lass mich es tun.
Leiard schauderte. Er fror entsetzlich, und er wusste, dass es nicht nur an dem Regen lag, der seine Kleider durchnässte.
Sie wird heute Nacht nach dir suchen. Ich werde nur lange genug bleiben, um sie zu überreden, dich zu verlassen.
Er war so müde. Müde der Gefahren und der Heimlichtuerei. Er blickte in den dunklen Himmel auf, und der Regen peitschte ihm ins Gesicht.
Es tut mir leid, Auraya, dachte er. Unsere Liebe kann kein glückliches Ende nehmen. Mirar hat recht: Je länger diese Beziehung dauert, umso größeren Schaden wird sie anrichten.
Er holte tief Luft, dann flüsterte er: »Mirar.«
Als die ersten Strahlen der Morgendämmerung den östlichen Himmel erhellten, schwanden Aurayas Hoffnungen langsam. Sie war, so weit ein Reiter an einem Tag reisen konnte, vom Lager der Traumweber aus in jede Richtung geflogen, sie war in die Goldebenen zurückgekehrt und hatte die Vorhügel der Berge abgesucht. Anschließend war sie der Straße fast den ganzen Weg bis zum Pass gefolgt. Sie hatte keine Spur von Leiard entdecken können.
Während sie geflogen war, hatte sie ihre Sinne offen für menschliche Gedanken gehalten. Sie hatte den Geist von Soldaten und Dörflern, von Hirten und Prostituierten wahrgenommen, aber Leiard schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.
Wie die Pentadrianer, dachte sie.
Jetzt schwebte sie hoch über dem Boden, unschlüssig, was sie als Nächstes tun sollte.
Vielleicht habe ich etwas übersehen. Ich könnte in das Lager der Traumweber zurückkehren und noch einmal von vorn anfangen. Diesmal werde ich in Kreisen fliegen und mich langsam von meinem Ausgangspunkt entfernen...
Sie tat, was sie sich vorgenommen hatte, doch als sie den Lagerplatz der Traumweber erreichte, waren diese bereits fort. Sie konnte sie in einiger Entfernung sehen und bemerkte auch, dass ein einzelner Reiter ihnen folgte. Kurz darauf fing sie müde Gedanken und eine vertraute Persönlichkeit auf.
Jayim.
Der Junge näherte sich einer Anhöhe und zügelte sein Arem. Als er weit voraus die Traumweber sah, stieg Erleichterung in ihm auf. Diesem Gefühl folgten Gewissensbisse und Unsicherheit. Er blickte über seine Schulter nach Südosten.
Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen ... Aber er wollte nicht auf mich hören. Die Art, wie er gesprochen hat... Irgendetwas stimmt da nicht. Ich muss Hilfe holen.
Er trieb das Arem wieder an; wenn er die anderen rechtzeitig einholte, so überlegte er, würde Arleej in das Lager des Bordells zurückkehren können, bevor Leiard weiterzog. Auraya sah ihm mit wachsendem Unbehagen nach. Das Lager des Bordells?
Sie war über einige dieser Lagerstätten hinweggeflogen. Es wurde allgemein akzeptiert, dass Prostituierte eine große Armee begleiteten. Auraya hatte gemischte Gefühle, was diese Frauen betraf. Obwohl sie verstand, dass einige Stunden im Bett einer Hure einem Soldaten neue Zuversicht und Kraft gaben, bestand doch immer die Gefahr, dass sich auf diese Weise Krankheiten ausbreiteten. Außerdem gefiel es ihr nicht, dass die Männer glaubten, sie würden ihren Ehefrauen nicht untreu werden, indem sie während eines Krieges mit einer Hure schliefen.
Das war der Grund, warum sie die Gedanken der Menschen in diesen Lagern bisher nicht allzu gründlich erkundet hatte. Und genau deshalb waren die Bordelle wie geschaffen dafür, sich vor ihr zu verstecken. Musste sie daraus den Schluss ziehen, dass Leiard sich vor ihr versteckte?
Nein. Er versteckt sich vor Juran.
Sie flog zu dem nächsten Lager, das ihr während der vergangenen Nacht aufgefallen war, doch Leiard befand sich weder in dem ersten Lager noch in den beiden darauffolgenden. Dann fiel ihr wieder ein, in welche Richtung Jayim geblickt hatte, und sie flog weiter nach Südosten. Etwa einen halben Tagesritt von der Armee entfernt stieß sie auf ein weiteres Bordell. Als sie den Geist der Menschen dort erforschte, sah sie in den Gedanken einer der Huren Leiards Gesicht.
Und prallte zurück, als sie die Gedanken las, die mit diesem Bild einhergingen.
...Dieser Hintern. Und ich habe ihn gestern Nacht für knochig gehalten. Das war eindeutig ein Irrtum. Wenn es nach mir ginge, könnte er diese Nacht umsonst bekommen. Wer hätte gedacht, dass ein Traumweber so gut im Bett ist...
Auraya unterbrach die Verbindung zu der Frau. Während sie weiter über dem Bordell schwebte, starrte sie ungläubig auf die Zelte hinab.
Ich muss mich irren. Das Mädchen muss an einen anderen Traumweber gedacht haben. An einen, der so aussieht wie Leiard.
Sie blickte abermals in die Gedanken der Menschen unter ihr. Diesmal hielt sie Ausschau nach einem männlichen Geist. Als sie Leiard fand, brauchte sie einen Augenblick, um ihn zu erkennen.
Seine Gedanken waren nicht die eines Mannes, der von seiner Geliebten getrennt wurde. Es waren die eines Mannes, der eine unerwartete Freiheit auskostete. Es ist nicht so, dass ich Auraya nicht für attraktiv oder liebenswert hielte, sagte er sich. Aber sie ist all diesen Ärger nicht wert. Am besten, wir stehlen uns ohne große Erklärungendavon.
Wie ausgelöscht waren die Zuneigung und der Respekt, die sie immer in seinem Geist gesehen hatte. Sie konnte nicht einmal einen schwachen Widerschein der Liebe finden, die er für sie empfunden hatte. Stattdessen betrachtete er sie mit einem milden Bedauern.
Sie keuchte und zuckte zurück, aber dem Schmerz, der sie zerriss, konnte sie nicht entrinnen. So fühlt es sich also an,wenn einem das Herz gebrochen wird, ging es ihr durch den Kopf. Als hätte jemand einem ein Messer in den Leib gerammt und die Klinge umgedreht.
Nein, es ist so, als hätte jemand mich ausgeweidet und zum Sterben liegen lassen. Tränen schössen ihr in die Augen, aber sie kämpfte dagegen an. Er hatte sie geliebt. Das wusste sie. Jetzt liebte er sie nicht mehr. Nur einige wenige Worte von Juran hatten seine Gefühle für sie getötet.
Wie kann das sein? Wie kann etwas, das so stark war, so leicht getötet werden? Ich verstehe es nicht. Sie wollte noch einmal hinschauen, wollte nach einer Erklärung suchen, konnte sich aber nicht dazu überwinden. Stattdessen ließ sie sich langsam höher in den Himmel steigen. Einmal mehr fing sie die Gedanken der Hure auf. Leiard hatte sich soeben den Bart abrasiert. Das Mädchen fand, dass er dadurch viel jünger und attraktiver aussah. Sie sprach ihren Gedanken aus und sagte auch, dass er jederzeit in ihrem Zelt willkommen sei. Ob er heute Nacht zurückkehren werde? Nein. Aber vielleicht würde er sie besuchen, wenn er irgendwann nach Porin käme...
Einige Menschen traten jetzt aus den Zelten unter ihr. Auraya stieg noch ein wenig höher auf, denn ihr war bewusst, dass jeder, der zum Himmel aufblickte, sie entdecken konnte. Sie stieg immer höher, bis das Lager nur noch ein winziger Fleck in der Landschaft unter ihr war. Als sie die Wolken erreichte, verschwand die Welt hinter einer nassen, kalten weißen Decke.
Emerahl hob die geflickte Türlasche des Tarns an und spähte hinaus. Dem Kunden zufolge, um den sie sich in der letzten Nacht gekümmert hatte, war die Armee ihnen nur einen Ritt von wenigen Stunden voraus. Als sie der Hoffnung Ausdruck verliehen hatte, dass sie die Soldaten bald einholen würden, hatte der Mann den Kopf geschüttelt. Die Armee reiste in schnellem Tempo, hatte er ihr erklärt. Sie würde den Pass vor dem Bordell erreichen. Außerdem wäre es ohnehin sicherer für sie, einen gewissen Abstand zu wahren. Wer konnte schließlich wissen, welche Gefahren in den Bergen lauerten? Danach hatte er versucht, sie zu trösten und zu beruhigen. Er war der Typ Mann gewesen, der eine schwache Frau brauchte, um sich selbst stark und männlich zu fühlen. Er war kein Mensch, der sich in der Nähe tatkräftiger, fähiger Frauen wohlfühlte, daher war es am Morgen ein Leichtes gewesen, ihn loszuwerden, indem sie selbstbewusst durch das Zelt geschritten war und ihn in ein intelligentes Gespräch verstrickt hatte. Seine Frau tat ihr leid. Männer, die schwache, dumme Frauen brauchten, konnten sehr unangenehm sein, wenn sie den Eindruck gewannen, dass die natürliche Ordnung der Dinge durcheinandergebracht worden war.
»Was kannst du sehen, Jade?«
Sie blickte Stern an, dann zuckte sie die Achseln. »Felsen. Und Bäume. Und noch mehr Felsen. Oh, schau nur, da ist noch ein Baum«, fügte sie trocken hinzu.
Die Mädchen lächelten. Rozea hatte am vergangenen Abend erklärt, dass Stern nun hinreichend genesen sei, um mit den anderen zu reisen, obwohl Emerahl davon überzeugt war, dass die Entscheidung mehr mit dem Wunsch zu tun hatte, sich nicht noch einen Tag ihr unablässiges Geplapper anhören zu müssen. Emerahl hatte darauf bestanden, Stern zu begleiten, für den Fall, dass die Anstrengung doch zu viel für sie sein würde. Dies gab ihr zumindest die Möglichkeit, mit Brand und Flut zu reden.
Inzwischen hatten alle Mädchen ihr anscheinend verziehen, dass Rozea sie zu ihrer Favoritin gemacht hatte. Möglicherweise hatten sie begriffen, dass ihr Groll lächerlich war, aber Emerahl bezweifelte das. Sie vermutete, dass es die Heilung Sterns war, die hinter ihrem veränderten Verhalten steckte.
»Ich habe eine ausgesprochen erstaunliche Nacht hinter mir«, bemerkte Barmherzigkeit.
Brand, Flut und Vogel stöhnten. »Müssen wir das jetzt alles noch einmal durchkauen?«, jammerte Brand.
Barmherzigkeit deutete auf Stern. »Sie hat es noch nicht gehört.«
Brand seufzte. »Na schön, dann erzähl.«
Barmherzigkeits Augen leuchteten, als sie sich zu Stern vorbeugte. »Letzte Nacht ist ein Traumweber vorbeigekommen. Es war schon spät, und die meisten Mädchen haben ihn gar nicht bemerkt. Er sah nicht schlecht aus, daher habe ich mich gefreut, als er sich für mich entschied.« Sie hielt inne und grinste breit. »Wenn alle Traumweber im Bett so sind wie er, werde ich nie wieder einen verschmähen.«
Stern zog die Augenbrauen hoch. »So gut war er?«
»Oh, du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es dir erzählte.«
Stern grinste. »Erzähl es trotzdem.«
Emerahl war so fasziniert, dass sie in Barmherzigkeits Gedanken nach einem Anflug von Betrug forschte. Sie konnte jedoch nicht mehr entdecken als Sehnsucht, Dankbarkeit und -vor allem – Selbstgefälligkeit. Es war selten, kam aber bisweilen durchaus vor, dass ein Kunde sich nicht nur zum Schein bemühte, auch einer Hure Vergnügen zu bereiten. Während Barmherzigkeit weitersprach, stieg eine leichte Traurigkeit in Emerahl auf. Die Freuden dieser Nacht erinnerten sie an einige Nächte, die sie selbst erlebt hatte, vor langer Zeit und mit einem anderen Traumweber. Mit dem Traumweber. Lächelnd stellte sie sich vor, was die Mädchen sagen würden, wenn sie ihnen von dieser Affäre erzählte.
»Wann immer er sich in mein Zelt schleichen möchte, kann er die Nacht umsonst haben«, erzählte Barmherzigkeit ihnen.
»Man nennt sie schließlich nicht umsonst Barmherzigkeit«, sagte Brand und verdrehte die Augen.
»Wie hat er denn ausgesehen?«, fragte Stern.
»Groß. Mager. Zuerst dachte ich ja, er sei ein wenig knochig. Sehr helles, blondes Haar. Fast weiß. Er hatte einen Bart, aber den hat er sich am nächsten Tag abrasiert. Und er sah viel besser aus ohne ihn.«
Emerahl wandte ihren Geist von dem Geplapper des Mädchens ab. Die Gedanken an Mirar führten sie zurück zu den Plänen, die sie geschmiedet hatte: Sie wollte die Quelle des Turmtraums finden. Es schien ein kurioses Unterfangen zu sein, Jagd nach einem Träumer zu machen, und das aus keinem anderen Grund als Neugier. Andererseits – was sollte sie sonst tun, um sich zu beschäftigen? Während der letzten hundert Jahre hatte sich die Zahl der Priester und Priesterinnen in Nordithania um ein Vielfaches vermehrt. Was bedeutete, dass es praktisch nichts gab, was sie tun konnte. Sie war zunehmend davon überzeugt, dass sich der Träumer auf der anderen Seite der Berge befinden musste. Je näher sie dem Gebirge kam, umso stärker und lebhafter wurde der Traum. Wenn das hieß, dass er oder sie unter den Pentadrianern zu finden war, dann sollte es eben so sein.
»Du hattest recht, was die Geheimfächer betrifft«, flüsterte Flut Emerahl ins Ohr, so dass sie heftig zusammenzuckte.
Sie drehte sich zu der jungen Frau um. »Fächer?«
»Unter den Sitzen«, sagte Flut und tippte mit der Ferse leicht gegen die Unterseite ihrer Bank. »Ich habe vor einer Woche Rozea etwas hineinlegen sehen. Sie tut das immer frühmorgens, wenn wir alle noch schlafen. Aber neulich bin ich aufgewacht und habe sie durch ein Loch in unserem Zelt beobachtet.«
Emerahl lächelte. »Du bist wirklich ein kluges Mädchen.« Flut grinste. »Ich bin nicht dumm genug, etwas wegzunehmen.«
»Nein, das wäre töricht«, stimmte Emerahl ihr zu.
Töricht für jeden, der im Bordell bleiben musste oder in der Welt draußen nicht allein zurechtkäme,überlegte sie weiter. In wenigen Tagen würden die Zirkler auf die Pentadrianer stoßen. Sie würde warten und die Augen offen halten, und wenn der richtige Moment kam, würde sie ihr Geld nehmen und sich auf den Weg zum Pass machen.
Und sie würde die Hurerei, die Priester und Nordithania hinter sich lassen. Als die letzte Verstrebung sich an ihren Platz fügte, stand Tryss auf und unterzog die Laube einer letzten kritischen Musterung.
»Sie ist gut«, sagte Drilli. Sie stand vom Boden auf und reichte Tryss die Keule einer gerösteten Gaut. »Also, wer waren diese neuen Soldaten?«
Er sah sie überrascht an. Es war leicht zu vergessen, dass die Informationen über das Geschehen nicht zu allen durchsickerten. Sie waren gemeinsam geflogen, als die Soldaten, die vom Pass kamen, entdeckt wurden. Sirri hatte ihn zu den Weißen geschickt, und obwohl er schon einige Stunden zuvor zurückgekehrt war, war er erst seit kurzem wieder bei Drilli.
»Es sind Dunweger«, antwortete er. »Sie leben auf der anderen Seite der Berge, aber weiter oben im Norden. Die Männer, die zu uns gestoßen sind, sind Stammesführer, Kriegsplaner und Priester. Der größte Teil ihrer Armee erwartet uns auf dem Pass.«
Sie nickte und kaute mit nachdenklicher Miene langsam einen Bissen Fleisch. »Hast du Auraya gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Liedmacher sagt, sie sei den größten Teil des Tages damit beschäftigt, sich mit Dyara in magischen Kampftechniken zu üben.«
»Normalerweise verbringt sie trotzdem jeden Tag einige Zeit mit uns. Aber seit gestern hat niemand sie mehr gesehen.«
Tryss nahm einen Bissen Gaut-Fleisch. Es war interessant, aber nicht überraschend, dass sich die Informationen über die Dunweger unter den Siyee nicht allzu schnell verbreitet hatten, während sie jeden von Aurayas Schritten wahrnahmen.
»Sie ist sicher mit etwas Wichtigem beschäftigt. Vielleicht werde ich heute Abend erfahren, was es ist.«
Drilli schnalzte widerwillig mit der Zunge. »Noch ein Kriegsrat? Werde ich dich jemals eine ganze Nacht für mich haben – ohne dass du sie verschläfst?«
Er grinste. »Schon bald.«
»Das sagst du immer.«
»Ich dachte, du wärst müde.«
»Ja, das bin ich auch.« Sie seufzte und hockte sich neben das Feuer. »Ich bin vollkommen erschöpft. Das ist auch der Grund für meine schlechte Laune.« Das Licht des Feuers tauchte ihre Haut in einen warmen, orangefarbenen Schimmer und betonte ihre Wangenknochen und ihren schlanken Körper.
Sie ist so schön, dachte er. Ich bin der glücklichste Siyee auf Erden.
»Vater weigert sich noch immer, mit mir zu reden«, sagte sie düster.
Er trat hinter sie und massierte ihr die Schultern. »Hast du es wieder versucht?«
»Ja. Ich weiß, es ist noch zu früh, aber ich muss es einfach versuchen. Ich wünschte, Mutter wäre hier. Sie würde mit mir reden.«
»Vielleicht würde sie es auch nicht tun. Dann würdest du dich noch elender fühlen.«
»Nein«, widersprach sie ihm mit Überzeugung. »Sie würde mit mir reden. Sie weiß, dass es Dinge gibt, die wichtiger sein können als... als...«
»Was für Dinge?«, fragte er geistesabwesend.
»Einfach... Dinge. Ah, da kommt Sirri.«
Als er sich umdrehte, sah er Sprecherin Sirri auf einem Felsvorsprung über ihrem Lagerplatz landen. Sie lächelte.
»Hallo, Drilli. Das riecht ja köstlich.«
Drilli erhob sich. »Hallo, Sirri. Du lässt doch nicht wieder deine Mahlzeiten aus, oder?«
Sirri lachte. »Ich habe vorhin etwas gegessen.« »Hier.« Drilli warf Sirri etwas zu. Die Sprecherin fing es geschickt auf. »Ein Gewürzkuchen. Vielen Dank.«
»Ihre Kuchen sind immer ziemlich scharf«, warnte Tryss die Sprecherin.
Sirri nahm einen Bissen, kaute und zuckte dann zusammen.
»Das stimmt. Nun, wir sollten jetzt losfliegen, sonst fängt die Versammlung ohne uns an.«
Tryss nickte. Als Sirri sich in die Luft schwang, erhob er sich, hielt dann jedoch inne, als er Drillis Arme um seinen Leib spürte. Er drehte sich zu ihr um. Ihr Kuss war warm und verlockend, und er löste sich nur widerstrebend von ihr.
»Bald«, versprach er.
»Dann geh«, erwiderte sie. »Bevor sie zurückkommt und nach dir sucht.«
Grinsend wandte er sich ab und flog Sirri hinterher.
Sie lagerten auf einem kleinen Felsvorsprung mit Blick auf die Straße. Die meisten der Siyee hatten ihre Lauben in luftiger Höhe errichtet, während die Landgeher auf der Straße lagerten, da sie keine Möglichkeit hatten, in die Anhöhen hinauf-zugelangen. Aus der Luft betrachtet wirkten die vielen Lampen und Feuer der Landgeher wie riesige Larven von Leuchtwürmern.
Tryss eilte Sirri mit kräftigen Flügelschlägen hinterher, und als er sie fast erreicht hatte, drehte sie sich zu ihm um. »Wie entwickeln sich deine Treffen mit Liedmacher?«
»Ich lerne schneller als er. Er hat mir gegenüber einen großen Nachteil, wie du dir denken kannst. Unsere gesprochene Sprache ähnelt seiner, aber unsere Pfeiflaute sind vollkommen neu für ihn.«
»Wie viel hast du inzwischen von der Sprache der Landgeher gelernt?«
Er zuckte bedauernd die Achseln. »Ich habe noch einen weiten Weg vor mir. Manchmal erkenne ich einige Wörter und kann ihnen zumindest entnehmen, wovon sie reden.«
»Das könnte nützlich sein.«
An einer Biegung der Straße wurde das weiße Zelt sichtbar, und sie schwebten darauf zu. Von den Menschen, die normalerweise dort standen, war nichts zu sehen. Als sie landeten, hörten sie Stimmen aus dem Innern des Zelts.
»Nun, besser spät als gar nicht«, murmelte Sirri.
Er folgte ihr in das Zelt, wo das Gespräch bei ihrem Eintreten verstummte.
»Bitte, verzeiht uns unsere späte Ankunft«, sagte Sirri.
»Ihr braucht euch nicht zu entschuldigen«, erwiderte Juran. »Wir haben uns gerade erst miteinander bekannt gemacht.« Er deutete auf die vier Dunweger, auf die Tryss bisher nur einen flüchtigen Blick hatte werfen können. Sie waren relativ klein für Landgeher, aber ihre Muskeln weckten den Eindruck von beträchtlicher Stärke, und die Muster, die auf ihre Gesichter gezeichnet waren, verliehen ihnen eine zusätzliche Wildheit. Als Juran sie vorstellte, schoss Tryss der Gedanke durch den Kopf, dass es wahrscheinlich ein glücklicher Umstand war, dass Dunwegen nicht in direkter Nachbarschaft zu Si lag. Wenn diese Leute jemals das Bedürfnis nach zusätzlichem Land entwickelten, bezweifelte er, dass man sie mit vergifteten Pfeilen würde aufhalten können. Als alle miteinander bekannt gemacht waren, ging Sirri zu ihrem gewohnten Platz hinüber. Tryss setzte sich auf den Hocker neben ihrem und sah sich im Raum um. Bis auf Auraya waren alle Weißen zugegen. Als Juran nun wieder in die Sprache der Landgeher verfiel, trat Dyara zwischen Tryss und Sirri, um leise zu übersetzen.
»Mil, Talm von Larrik, hat berichtet, dass die dunwegische Streitmacht sich an einer für die Verteidigung gut geeigneten Stelle im Pass niedergelassen hat«, sagte Juran. »Es sind hunderte von Fallen entlang der Straße aufgestellt worden, um den Feind aufzuhalten und zu schwächen. Die Späher melden, dass die Pentadrianer bisher noch nicht zu den ersten Fallen vorgestoßen sind. Anscheinend ist der Feind weit zurückgefallen.« Juran hielt inne. »Unerwartet weit.« Er wandte sich zu Mil um. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«
Mil sah einen Priester an, der in seiner Nähe stand und offenkundig demselben Volk angehörte. Der Mann schüttelte den Kopf.
»Unsere Späher haben noch nichts von ihnen gesehen.«
»Es weist auch nichts darauf hin, dass die Armee nach Norden abgeschwenkt ist«, fügte Mil hinzu.
Nach Norden? Tryss runzelte die Stirn, dann begriff er plötzlich. Die Dunweger befürchteten, dass die Pentadrianer sich nach Norden wenden könnten, um sie anzugreifen. Ihre Truppen befanden sich schließlich im Pass statt zu Hause, um dort ihr Land zu verteidigen.
»Man hat überhaupt nichts mehr von der Armee gesehen«, fügte der Priester hinzu.
»Die Siyee waren die Letzten, die sie beobachtet haben.«
Es folgte eine Pause, und viele der Anwesenden blickten besorgt drein.
»Sie können sich doch nicht immer noch in den Minen aufhalten«, bemerkte Guire.
»Vielleicht warten sie auf etwas«, murmelte der somreyanische Anführer. »Aber worauf?« Er wandte sich an Juran. »Bist du dir sicher, dass sie keine Tunnel durch die Berge graben können.«
Juran nickte lächelnd. »Ganz sicher.«
Mil hob die Hände. »Ich mache mir eher Sorgen, dass die Pentadrianer einen anderen Weg über die Berge nehmen könnten.«
Juran runzelte die Stirn. »Gibt es denn einen solchen Weg?«
»Es gibt keine Straße«, antwortete Mil. »Allerdings sind die Berge durchzogen von schmalen Pfaden, die die Gaut-Hirten benutzen. Der Weg über diese Pfade wäre lang und schwierig, aber nicht unmöglich.«
»Wir müssen wissen, was sie tun«, erklärte Juran entschieden. »Wenn die Pentadrianer auf den Ebenen auftauchen, während wir auf dem Pass sind, werden wir sie quer durch Hania und über die Landesgrenzen hinaus jagen müssen.«
»Falls sie die Berge überqueren, wird mein Volk sie finden«, sagte Sirri. Juran drehte sich zu ihr um. »Das wäre gefährlich – gefährlicher als zuvor.«
Sie zuckte die Achseln. »Wir wissen jetzt über die schwarzen Vögel Bescheid. Wir werden vorsichtig sein. Ich werde um Freiwillige bitten -und diesmal werden sie bewaffnet sein.«
Juran zögerte, dann nickte er. »Vielen Dank.«
Sirri lächelte. »Sie werden mit dem ersten Tageslicht aufbrechen. Möchtest du, dass einer von ihnen einen Verbindungsring trägt?«
Juran tauschte einen schnellen Blick mit Dyara. »Ja. Man wird dem Anführer deiner Freiwilligen einen Ring bringen, bevor er aufbricht.« Er hielt inne, dann sah er sich im Raum um. »Gibt es sonst noch etwas, über das wir sprechen müssen?«
Der Themenwechsel kam Tryss ein wenig abrupt vor, aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Er musterte die vier Weißen eingehend, wobei er sich besonders auf Mairae und Rian konzentrierte. Rian wirkte heute Abend... nun ja... unglücklich. Gelegentlich blickte er durch den Zelteingang hinaus und machte dabei ein Gesicht, als ärgere er sich über irgendetwas. Oder als sei er enttäuscht.
Ihm war schon früher aufgefallen, dass Mairae eher dazu neigte, etwas von ihren Gefühlen preiszugeben. Jetzt trat ein geistesabwesender Ausdruck in ihre Züge, und sie runzelte die Stirn. Tryss biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht waren sie alle nervös wegen der bevorstehenden Schlacht und des Verschwindens der pentadrianischen Armee. Er konnte jedoch nicht umhin, sich über Aurayas Abwesenheit zu wundern. Es war seltsam, dass niemand ein Wort darüber verloren hatte, wo sie war. Dann begriff er plötzlich.
Natürlich! Auraya fehlt, weil sie sich bereits auf die Suche nach der pentadrianischen Armee gemacht hat! Mairae machte sich Sorgen um sie. Rian war verärgert, weil... vielleicht hatte er an ihrer Stelle die Suche übernehmen wollen. Oder vielleicht hielt er das ganze Unterfangen für zu gefährlich.
So oder so, das musste der Grund für Aurayas Abwesenheit sein. Seine Freude darüber, dem Rätsel auf die Spur gekommen zu sein, verblasste jedoch schnell, als ihm klar wurde, welches Risiko sie einging. Wenn sie allein über diese pentadrianischen Zauberer stolperte, wäre sie in einer heiklen Lage. Was war, wenn sie getötet wurde? Was sollten die Siyee ohne sie anfangen? Kein anderer Landgeher verstand sie so gut, wie Auraya es tat.
Gib auf dich Acht, Auraya, dachte er. Wir brauchen dich.
Der Diener, der Aurayas Zelt abbaute, löste ein Seil nach dem anderen. Als das Zelt zu Boden sackte, stieß Danjin einen tiefen Seufzer aus.
Sie ist jetzt schon seit zwei Tagen fort, dachte er. Es ist alles meine Schuld. Er schüttelte den Kopf, um die düstere Stimmung zu vertreiben, die sich seiner bemächtigt hatte. Ich kann mir dessen nicht sicher sein. Vielleicht ist sie aus gutem Grund verschwunden. Aber er glaubte es nicht. Die Weißen benahmen sich, als sei Aurayas Abwesenheit nicht weiter erstaunlich. Sie hatten keinen Grund dafür genannt, und falls jemand Vermutungen diesbezüglich hatte, wagte er es nicht, sie auszusprechen. Danjin kannte die Weißen jedoch gut genug, um die kleinen Zeichen deuten zu können, die Sorge oder Ärger verrieten.
Was auch der Grund war, warum er versucht hatte, mit ihnen zu reden. Danjin hielt es für klüger, sich nicht an Juran zu wenden, da der Anführer der Weißen Anzeichen von Ärger erkennen ließ, wann immer die Rede auf Auraya kam. Dyaras Reaktion auf seine Fragen war ebenso eindeutig gewesen: Sie hatte jedes Mal irgendetwas gefunden, womit sie ihn beschäftigen konnte. Rian zuckte lediglich die Achseln und erklärte, es sei ein ungünstiger Augenblick, um darüber zu sprechen.
Und Mairae? Sie ging Danjin bewusst und mit großem Geschick aus dem Weg. Er blickte auf den Käfig neben sich hinab. Nicht einmal Unfug stand der Sinn nach Reden. Er war ohne Protest in seinen Käfig spaziert, als hoffte er, mit gutem Benehmen seine Herrin zurückholen zu können. Oder hatte seine Entführung ihm solche Angst gemacht, dass er es jetzt nicht mehr wagte, im Lager umherzuspazieren? Ein Stich des Mitgefühls mit dem Veez durchzuckte Danjin. Nachdem Auraya gegangen war, hatte Unfug sich auf Danjins Schoß zusammengerollt. Er hatte jedoch nicht geschlafen, sondern nur stundenlang dort gelegen und seine Umgebung beobachtet, und selbst das kleinste Geräusch hatte ihn aufgeschreckt.
»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«
Beim Klang der leisen, vertrauten Stimme hinter ihm zuckte Danjin zusammen. Er drehte sich zu Mairae um, die ernster wirkte, als er sie je zuvor gesehen hatte.
»Hätte Dyara mich in Dienst genommen, wenn ich nicht verschwiegen wäre?«, antwortete er.
Sie trat neben ihn und blickte auf Unfug hinab. »Es war nicht nett von uns, ihn entführen zu lassen, aber wir hatten keine Zeit, uns etwas anderes auszudenken«, murmelte Mairae. »Ich kann nur sagen, dass es nicht meine Idee war.«
Danjin starrte sie an. »Unfug? Sein Verschwinden war ein Ablenkungsmanöver, nicht wahr? Um mich davon abzuhalten, an dem Kriegsrat teilzunehmen.«
Sie zuckte nichtssagend die Achseln. Vielleicht steckt ja auch noch mehr dahinter.
»Und Auraya. Es ging darum, mich von Auraya fernzuhalten.«
Sie antwortete mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken.
Warum? Er hatte einen Verdacht, was das betraf, suchte aber dennoch nach weiteren Gründen. Entweder, sie wollten etwas vor mir verborgen halten, oder sie wollten mich daran hindern, Auraya etwas mitzuteilen. Wenn Ersteres der Fall war, hätte es eines solchen Manövers nicht bedurft. Sie hätten mich lediglich auf zufordern brauchen, den Kriegsrat zu verlassen. Es wäre nicht nötig gewesen, Unfug entführen zu lassen.
Also wollten sie mich wahrscheinlich daran hindern, Auraya etwas zu erzählen. Oder sie wollten verhindern, dass Auraya meine Gedanken las. Und was mich zu dem Zeitpunkt am meisten beschäftigt hat, war Mairaes Andeutung, dass Auraya einen Geliebten habe.
Er holte tief Luft. »Also ist es wahr? Hatte ich recht mit meinem Verdacht?«
Mairae lächelte schief. »Ich dachte, du glaubst, die beiden wären lediglich Freunde?«
»Darm war das also ein Irrtum?«
Ihr Lächeln verblasste. »So ist es. Aber du musst mir schwören, dass du das niemals irgendjemandem erzählen wirst.« »Ich schwöre es.«
Auraya und Leiard. Warum habe ich das nicht bemerkt? War es so wichtig für mich zu glauben, ihr Urteil sei über jeden Tadel erhaben, dass ich nicht sehen konnte, was ich nicht sehen wollte?
Mairae wandte den Blick ab und seufzte. »Sie tut mir leid. Man kann das Herz nicht dazu zwingen, eine kluge Wahl zu treffen. Es hat die Neigung, selbst zu wählen. Juran hat Leiard weggeschickt. Ich denke, es wird eine Weile dauern, bis sie Juran verzeiht.«
»Wo ist sie?«
»Das wissen wir nicht. Sie weigert sich, unsere Rufe zu beantworten. Ich glaube, dass sie nicht allzu weit entfernt ist. Spätestens wenn der Krieg beginnt, wird sie zurückkehren.«
»Natürlich«, pflichtete er ihr bei. Aus irgendeinem Grund half es ihm, das laut auszusprechen. Sie würde zurückkommen. Vielleicht erst im letzten Augenblick, vielleicht voller Groll, aber sie würde zurückkommen.
Mairae lachte leise. »Mach dir keine Vorwürfe, Danjin Speer. Wenn jemanden die Schuld an alledem trifft, bin ich es, nicht zuletzt, weil ich dich gedrängt habe, darüber nachzudenken, wen Auraya wohl besuchen könnte. Du wirst mir wahrscheinlich recht geben, dass es das Beste war, die beiden zu trennen. Das Beste für sie und für Nordithania.«
Er nickte. Mairae hatte recht, obwohl er eine gewisse väterliche Enttäuschung um Aurayas willen empfand. Sie hätte sich unter allen Männern auf der Welt keinen unpassenderen Geliebten aussuchen können. Auch Leiard hätte die Konsequenzen ihrer Affäre erkennen und das Ganze frühzeitig beenden müssen.
Sein Respekt vor dem Traumweber hatte Schaden genommen. Anscheinend können selbst weise heidnische Heiler im Angesicht der Liebe zu Narren werden, dachte er ironisch. Der Diener packte gerade die letzten Teile von Aurayas Zelt und ihre Besitztümer auf einen Tarn. Als der Mann sich mit erwartungsvoller Miene zu ihnen umdrehte, trat Mairae einen Schritt beiseite.
»Ich bin froh, dass wir darüber gesprochen haben«, sagte sie. »Pass gut auf Unfug auf. Wir werden heute Abend wahrscheinlich den Pass erreichen; ich sehe dich dann im Zelt des Kriegsrats.«
Er machte das Zeichen des Kreises, dann sah er ihr nach, während sie davonging. Als sie außer Sicht war, nahm er Unfugs Käfig und machte sich auf den Weg zum Tarn der Ratgeber.
Auraya ging unruhig auf und ab.
Sie befand sich auf einem steinigen Felsvorsprung, der an der steilen Flanke eines Tals entlanglief. Das Tal verlief parallel zu demjenigen, durch das die Ost-West-Straße zum Pass führte. Sie stellte sich Entdecker längst vergangener Zeiten vor, wie sie ihre Tage damit vergeudeten, diesem Tal zu folgen, weil sie hofften, das Gebirge so überqueren zu können.
Wie groß musste ihre Enttäuschung gewesen sein, wenn sie die steilen Felswände und das unwegsame Gelände am Ende des Tals erreichten. Einem Bergsteiger wäre es vielleicht gelungen, von hier aus das Gebirge zu durchqueren, aber für einen gewöhnlichen Reisenden war es unmöglich, insbesondere wenn er mit einem Plattan oder einem Tarn unterwegs war.
Sie hätte nicht hier sein sollen, sondern in dem benachbarten Tal.
Warum kann ich mich nicht dazu überwinden, zurückzukehren? Juran ist nicht verantwortlich für Leiards Treulosigkeit. Und selbst wenn er es wäre, könnte ich nicht ganz Nordithania für sein Verhalten bestrafen.
Trotzdem widerstrebte es ihr zutiefst, sich wieder der Armee anzuschließen. Zuerst war es ihr einfach vernünftig erschienen, einige Stunden allein zu verbringen. Ihr Geist war aufgewühlt von Zorn, Schmerz und Schuldgefühlen, und sie hatte Angst vor ihrer Reaktion, wenn sie zu den anderen zurückkehrte: Sie würde entweder ihren Ärger über Juran herausschreien oder in Tränen ausbrechen. Zuerst musste sie ihre Fassung zurückgewinnen.
Aus den wenigen Stunden war jedoch ein Tag geworden, und aus dem einen Tag schließlich drei. Wann immer sie glaubte, sich einigermaßen gefasst zu haben, und auf den Pass zuflog, schwenkte sie in letzter Minute doch wieder ab. Beim ersten Mal war es der Anblick des Traumweberlagers in der Ferne gewesen, das sie zur Umkehr veranlasst hatte, dann war es eine Karawane von Huren gewesen, die sie abgeschreckt hatte. Gestern Abend hatte der bloße Gedanke an eine Begegnung mit Juran genügt. All diese Dinge weckten Gefühle in ihr, von denen sie nicht sicher war, ob sie sie würde verbergen können.
Heute Abend werden sie den Pass erreichen, dachte sie. Dann werde ich wieder zu ihnen stoßen. Vielleicht werde ich einfach dort sein, wenn sie ankommen. Ja, sie werden zu erleichtert darüber sein, ihr Ziel erreicht zu haben, um mir große Aufmerksamkeit zu schenken.
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Dies hätte nicht geschehen dürfen. Es wäre auch nicht geschehen, wäre Juran nicht gewesen. Vielleicht sollte sie ihm dankbar sein, da sein Eingreifen ihr die Augen für Leiards wahre Natur geöffnet hatte.
Es war, als würde ich in die Gedanken eines anderen Menschen blicken, überlegte sie weiter.
Ich glaubte, ihn so gut zu kennen. Ich glaubte, die Gabe, Gedanken zu lesen, bedeute, dass niemand mich würde täuschen können. Das war offensichtlich ein Irrtum.
Sie hatte schon immer etwas Rätselhaftes an Leiard wahrgenommen. Er hatte verborgene Tiefen, hatte sie sich gesagt. Leiards Geist unterschied sich von dem gewöhnlicher Menschen oder anderer Traumweber, ein Umstand, den sie auf seine Netzerinnerungen zurückgeführt hatte. Jetzt wusste sie, dass noch mehr dahintersteckte. Sie wusste, dass er imstande war, einen Teil seiner selbst vor ihr verborgen zu halten.
Leiard hatte ihr erklärt, dass seine Netzerinnerungen sich manchmal in Gestalt eines anderen Geistes in seinen eigenen Gedanken zeigten. Er hatte ihr sogar erzählt, dass dieser Schatten Mirars sie nicht mochte, aber sie hatte diese andere Persönlichkeit in ihm nie wahrgenommen. Ebenso wenig wie sie sie hatte sprechen hören.
Sie musste akzeptieren, dass sie dazu vielleicht nicht imstande gewesen war. Aber wenn Leiard in der Lage war, einen Teil seiner selbst zu verbergen, war er vielleicht auch fähig, sie zu belügen. Möglicherweise war diese Vorstellung einer anderen Persönlichkeit in seinen Gedanken lediglich eine Erklärung, mit der er sie zu täuschen gehofft hatte, falls sie jemals seine wahren Gefühle entdeckte.
Sie stöhnte. Das führt nirgendwohin! Ich quäle mich schon seit Tagen mit diesen Überlegungen.
Wenn ich doch nur etwas anderes denken könnte...
Einem jähen Impuls gehorchend, schaute sie sich ihre Umgebung näher an. Der Felssims setzte sich sowohl zu ihrer Linken als auch zu ihrer Rechten fort. Irgendwann in ferner Vergangenheit hatte es einen großen Hangrutsch gegeben, der blanken Fels zurückgelassen hatte und einen breiten Felssims, der zum Talgrund hinunter-, und einen, der in entgegengesetzter Richtung zu den hohen Gipfeln der Berge hinaufführte. Der größte Teil dieses Simses lag hinter Bäumen und Büschen verborgen, aber wenn man ihn von allem Bewuchs befreite und die Oberfläche glättete, könnte man ohne weiteres eine schmale Straße darauf anlegen.
Vielleicht war es eine verlassene alte Straße. Eine Straße wohin? Plötzlich neugierig geworden, beschloss sie, dem Pfad zu folgen. Sie schob sich durch die Bäume und das Unterholz, das auf dem Felsen wucherte. Nach einigen hundert Schritten endete der Weg mit einem steilen Abriss zum Tal hin. Dort sah sie rechts von sich vor der Felswand ein Durcheinander von Felsbrocken, die von üppigem Gras halb verdeckt waren.
Sie drehte sich um, um über denselben Weg zurückzugehen, und hielt dann mitten in der Bewegung überrascht inne.
Einige Schritte von ihr entfernt stand eine leuchtende Gestalt. Hochgewachsen und stark, war der Gott der Inbegriff kraftvoller Männlichkeit. Seine perfekt gezeichneten Lippen waren zu einem Lächeln verzogen.
Auraya.
»Chaia!«
Mit hämmerndem Herzen ließ sie sich zu Boden sinken. Ich habe zu lange gewartet. Ich hätte früher zurückkehren sollen. Plötzlich erschien ihr ihr Selbstmitleid ungeheuer töricht, und sie schämte sich. Sie hatte ihre Pflicht den Göttern gegenüber vergessen, und jetzt hatten die Götter die Geduld mit ihr verloren ...
Noch nicht, Auraya. Aber es ist an der Zeit, dass du dir selbst und den anderen Weißen verzeihst.
Erhebe dich und sieh mich an.
Sie stand auf, hielt den Blick jedoch gesenkt.
Du brauchst dich nicht für deine Gefühle zu schämen. Du bist nur ein Mensch und noch dazu ein junger Mensch. Du hast großes Mitgefühl mit jenen, die anders sind als du. Es ist nur natürlich, dass sich aus deinem Mitgefühl bisweilen Liebe entwickelt.
Er kam näher, dann streckte er die Hand nach ihrem Gesicht aus. Als seine Finger über ihre Wange strichen, durchlief sie ein seltsames Kribbeln. Chaia war körperlos. Seine Berührung war die Berührung purer Magie.
Wir wissen, dass du dein Volk nicht im Stich gelassen hast. Trotzdem solltest du nicht länger allein hier verweilen. Du bist in Gefahr, und ich möchte nicht, dass dir etwas Böses widerfährt.
Nun stand er unmittelbar vor ihr. Sie blickte zu ihm auf und spürte, wie Kummer und Ärger von ihr abfielen. Jetzt war in ihren Gefühlen nur noch Raum für Ehrfurcht. Er lächelte, wie ein Vater ein Kind anlächeln mochte, mit Zuneigung und Nachsicht. Dann beugte er sich vor und strich mit den Lippen über ihre.
Und verschwand.
Keuchend machte sie zwei Schritte rückwärts. Er hat mich geküsst! Chaia hat mich geküsst!
Sie berührte ihre Lippen. Die Erinnerung an das Gefühl war ungeheuer stark. Was hat das zu bedeuten?
Der Kuss eines Gottes konnte nicht das Gleiche sein wie der Kuss eines Sterblichen. Und er hatte sie angelächelt, wie ein Vater es tun mochte, der sich über ein Kind amüsierte. Denn genau das musste er in ihr sehen. Ein Kind.
Und Eltern küssen ihre Kinder nicht, wenn sie wütend sind, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie küssen sie, um sie zu trösten und ihrer Liebe zu versichern. So muss es sein. Lächelnd trat sie an das Ende des Felsvorsprungs. Es war Zeit zu gehen. Zeit, zu der Armee zurückzukehren. Sie zog Magie in sich hinein und schwebte in den Himmel hinauf. Das Tal schrumpfte unter ihr zusammen, während sie in die Richtung flog, in der der Pass lag.
Ein dumpfes Dröhnen ließ sie zu Boden blicken. Von den Felsen unter ihr wogte Staub auf. Dann kam Bewegung in das Gras, die Erde und die Felsen. Chaias Worte wehten durch ihre Gedanken.
Trotzdem solltest du nicht länger allein hier verweilen. Du bist in Gefahr...
Wenn sie in Gefahr war, dann mussten die bevorstehenden Ereignisse schwerwiegend genug sein, um selbst eine mächtige Zauberin zu bedrohen. Furcht blitzte in ihr auf, aber dann stellte sich schnell eine nicht minder starke Neugier ein. Sie verharrte in der Luft und blickte hinab. Die Steine rollten jetzt zu Tal und zogen Wolken von Staub und Schmutz hinter sich her. Es sah so aus, als würde irgendetwas – oder irgendjemand – aus dem Innern der Erde aufsteigen.
Sie hatte Geschichten von Bergen gehört, die explodierten und geschmolzenes Gestein ausspien und große Zerstörung verursachten. Falls etwas Derartiges bevorstand, war sie nicht gut beraten, direkt über diesem Felsen zu schweben. Sie sollte so schnell wie möglich davonfliegen.
Die Fläche, die von dem seltsamen Geschehen unter ihr betroffen war, war jedoch recht klein. Die Berge um sie herum waren davon unberührt. Was immer dort unten geschah, es geschah nur an der Stelle, an der sie noch kurz zuvor gestanden hatte.
Chaia hat nicht gesagt, dass ich zu der Armee zurückkehren müsse, nur dass ich nicht länger allein hier verweilen solle. Würde mir auch Gefahr drohen, wenn ich das Geschehen von der anderen Seite des Tals aus verfolgte?
Sie flog zu einer Felsformation auf dem gegenüberliegenden Bergkamm und blickte zurück. Geschichten von gewaltigen Ungeheuern, die in Höhlen unter den Bergen lebten, gingen ihr durch den Sinn. Wenn man bedachte, wie übertrieben die Geschichten über die Siyee waren – die man als wunderschöne menschliche Geschöpfe mit am Rückgrat befestigten Vogelflügeln beschrieb -, war es durchaus wahrscheinlich, dass die Berichte über Ungeheuer genauso wenig Wahrheit enthielten. Aber falls tatsächlich eine solche Bestie erscheinen würde, wollte sie sie sehen.
Ich sollte allerdings dafür sorgen, dass das Ungeheuer mich nicht sieht.
Sie suchte die Felsformation nach möglichen Verstecken ab, dann ließ sie sich in einer dunklen Gesteinsspalte nieder. Die Spalte war kaum groß genug, um sich hineinzuzwängen, und die Luft war feucht und kalt, aber sie konnte sich dort verbergen und gleichzeitig das Tal im Auge behalten.
Ein Donnern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Hang gegenüber. Gestein und Erde quollen aus der Höhle. Eine tiefe Stille folgte. Alle Pflanzen rund um den Felsvorsprung waren verschwunden. Was übrig geblieben war, war offenkundig von Menschenhand geschaffen worden.
Sie sah, dass die Felsen, von denen sie geglaubt hatte, sie seien natürlichen Ursprungs, in Wirklichkeit Teile einer Mauer waren. Jetzt war dahinter der weit aufklaffende Eingang zu einem Bergwerksstollen sichtbar geworden. Sie konnte sogar das bergmännische Emblem auf dem breiten Sturz über der Stollenöffnung erkennen:
Schaufel und Picke.
Mit Entsetzen erinnerte sie sich daran, dass man die Möglichkeit, die Pentadrianer könnten das Gebirge über die Minen durchqueren, im Kriegsrat erörtert und verworfen hatte. Dem dunwegischen Botschafter zufolge reichten die Minen nicht bis nach Hania hinein.
Was offenkundig ein Irrtum war. Als eine schwarz gewandete Gestalt aus der Dunkelheit auftauchte, mit einem sternförmigen, leuchtenden Anhänger auf der Brust, dämmerte ihr langsam, wie sehr sie und die anderen Weißen ihren Feind unterschätzt hatten. Der Zauberer legte den Kopf in den Nacken, um das Sonnenlicht zu begrüßen, und Auraya gefror das Blut in den Adern. Es war der Mann, der sie vor einigen Monaten angegriffen und besiegt hatte. Kuar.
Sie suchte nach einem vertrauten Geist.
Juran?
Die Antwort kam sofort. Auraya! Wo bist du? Hier.
Während sie ihm zeigte, was sie selbst sah, erschienen weitere Pentadrianer. Kurz darauf trat ihr Anführer auf den Felsvorsprung hinaus. Jetzt konnte Auraya auch erkennen, dass die Erde weggefegt worden war, um große, quadratische Steine freizulegen – Pflastersteine.
Der schwarze Zauberer stand mittlerweile am Rand des Abgrunds und blickte den steilen Hang hinab. Die Handflächen nach oben gedreht, streckte er die Arme aus. Gras und Erdreich wurden aufgewühlt und enthüllten langsam eine schmale Treppe, die zum Boden des Tals hinabführte. Als die gesamte Treppe freigelegt war, trat der pentadrianische Anführer beiseite, und seine Anhänger gingen langsam die Stufen hinunter.
Wo bist du?, wiederholte Juran, und diesmal klang seine Frage eher erschrocken als anklagend.
In einem Tal, das parallel zu dem liegt, dem ihr folgt. Ich werde es dir zeigen.Sie sandte ihm das Bild, das sich ihr von der Luft aus geboten hatte.
Wie weit sind sie noch vom Eingang des Tals entfernt?
Etwa einen Tagesmarsch, erwiderte sie. Wenn sie die ganze Nacht hindurch unterwegs waren, werden sie jetzt vielleicht eine Pause machen, um sich auszuruhen.
Immer mehr Pentadrianer ergossen sich aus der Mine, und sie alle wirkten zutiefst erleichtert. Einige hielten kurz inne, um Luft zu schöpfen und zur Sonne emporzublicken. Sobald sie den Boden des Tals erreicht hatten, hielten sie inne, um auf ihre Gefährten zu warten, die sich noch im Innern des Berges befanden. Ihr Anführer blieb derweil auf dem Felsvorsprung stehen, und in seinem Lächeln lag offenkundige Befriedigung.
Was kein Wunder ist, dachte Auraya. Was er erreicht hat, ist erstaunlich.
Das ändert alles, sagte Juran. Wir müssen uns beeilen, wenn wir uns ihnen entgegenstellen wollen. Die Dunweger werden sogar noch schneller sein müssen, um rechtzeitig zu uns zu stoßen.
Die Tollen, die sie auf dem Pass gestellt haben, sind jetzt nutzlos.
Zumindest werden sie andere Pentadrianer verlangsamen oder aufhalten, die möglicherweise aus dieser Richtungkommen.
Wie lange werdet ihr brauchen, um ihnen den Weg abzuschneiden?, fragte sie.
Einen Tag. Vielleicht länger. Wir werden ihnen in der Ebene gegenübertreten müssen. Was bedeutete, dass sie den Vorteil verloren, den sie bei einem Kampf auf dem Pass gehabt hätten. Auraya seufzte. Die Masse schwarzer Roben, die sich in dem Tal unter ihr sammelte, war wie ein stetig wachsender Teich aus Tinte.
Wie hast du diesen Ort gefunden?
Die Frage kam von Dyara. Auraya konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Durch Zufall. Ich bin an diesem Felsvorsprung entlanggegangen. Dann ist Chaia erschienen und hat mich gewarnt, nicht länger dort zu verweilen. Und ich hatte mich kaum in die Luft erhoben, als der Boden unter mir sich zu bewegen begann.
Chaia hat dir erzählt, dass die Pentadrianer kommen würden?, wollte Juran wissen.
Nein, er hat mir erklärt, dass ich in Gefahr sein würde, wenn ich blieb, wo ich war. Zuerst glaubte ich, er wolle, dass ich das Tal verlasse, aber als ich sah, dass die Erde sich nur an einer bestimmten Stelle bewegte, habe ich beschlossen, mich zu verstecken und das Geschehen zu beobachten.
Eine weitere Gestalt trat neben den Mann auf dem Felsvorsprung. Diesmal war es eine Frau. Sie kam Auraya bekannt vor.
Wenn sie dich finden, wirst du in Gefahr sein, bemerkte Juran.
Aus dem Durchgang ertönte ein lautes Kreischen.
Ja, stimmte Dyara Juran zu. Du musst sofort aufbrechen. Wir haben alles gesehen, was wir sehen müssen.
Jetzt ergossen sich geflügelte Gestalten aus dem Durchgang, und Auraya zog sich tiefer in ihr Versteck zurück, als eine Vielzahl schwarzer Vögel über dem Tal aufstieg.
Ich glaube nicht, dass es klug wäre, sofort aufzubrechen, es sei denn, ihr habt nichts dagegen, sie wissen zu lassen, dass sie gesehen wurden.
Es folgte eine Pause.
Dann bleib, erwiderte Juran. Warte, bis sie weitergezogen sind.
Und hoffe, dass sie nicht auf die Idee kommen, dort ihr Nachtlager aufzuschlagen, ergänzte Dyara.
Der Teich schwarzer Roben hatte sich in einen See verwandelt. Nach einigen Minuten tauchten geschmeidige, schwarze Leiber aus dem Eingang der Mine auf. Worns. Mit gerunzelter Stirn beobachtete Auraya, wie der Zauberer, der gegen Rian gekämpft hatte, zu den beiden anderen auf den Felsvorsprung hinaustrat.
Drei schwarze Zauberer. Zwei fehlten noch. Auraya konnte nicht viel anderes tun, als abzuwarten und zuzusehen, wie die übrigen Pentadrianer die Mine verließen. Sie spürte, dass die anderen Weißen ihre Aufmerksamkeit abzogen. Zweifellos hatten sie alle Hände voll damit zu tun, den Rückmarsch ihrer Armee zu organisieren. Kurze Zeit später gesellten sich zwei weitere Zauberer zu dem Trio auf dem Felsvorsprung. Eine Frau und ein Mann. Zu Aurayas Erleichterung hatten diese beiden keine weiteren finsteren tierischen Begleiter bei sich. Die Vögel und die Worns waren schlimm genug. Jede Kolonne der Armee bestand aus mehreren hundert pentadrianischen Zauberern. Etwa hundert Männer und Frauen in schlichter Kleidung, allesamt bepackt mit schweren Lasten, folgten den jeweiligen Kolonnen. Einige in Roben gewandete Männer, die alle eine kurze Peitsche in Händen hielten, gingen neben ihnen her.
Sklaven, dachte Auraya und verspürte eine Mischung aus Abscheu und Mitleid. Die Armee wurde weder von Tarns noch von Arems begleitet. Alle Vorräte wurden von den Sklaven transportiert.
Schließlich versiegte der Menschenstrom. Als die letzten Sklaven die Treppe hinuntergingen, formierten die fünf schwarzen Zauberer sich auf dem Felsvorsprung zu einer Reihe. Der Anführer begann zu sprechen. Seine Stimme dröhnte durch das Tal, aber Auraya konnte ihn nicht verstehen, ebenso wenig wie es ihr möglich war, in seinen Geist vorzudringen. Sie blickte auf die Männer und Frauen unter ihr hinab und konzentrierte sich auf ihre Gedanken. Langsam verstand sie den Sinn der Worte, die Kuar benutzte.
Der Pentadrianer sprach davon, dass er Wahrheit und Gerechtigkeit nach Nordithania bringen wolle. Er verhöhnte die Zirkler, weil sie an tote Götter glaubten. Einzig die neuen Götter existierten. Sie würden die Wahrheit schon bald erfahren.
Auraya schüttelte den Kopf. Die Bewunderung und der kritiklose Glaube dieser Menschen waren verstörend. Als der pentadrianische Anführer die Stimme hob, tauchte Auraya widerstrebend noch einmal in die Gedanken seiner Anhänger ein. Zu ihrer Überraschung beschwor er jetzt seine Götter, zu erscheinen. Sie lächelte grimmig und fragte sich, zu welchem Zauberkunststück er greifen würde, um seine Anhänger zu blenden.
Dann tauchte eine leuchtende Gestalt an seiner Seite auf.
Auraya starrte die Erscheinung an. Es war das Bild eines Mannes in einer exotischen Rüstung. Ihre Sinne vibrierten, so gewaltig war die Macht, die dieses Wesen verströmte. Aber wie konnte das sein?
Juran.
Auraya. Kann das warten?
Nein, ich denke, du solltest das sehen.
Sie zeigte ihm, was sie soeben beobachtete, und übermittelte ihm ihre Gefühle. Die schwarzen Zauberer hatten sich vor der Erscheinung niedergeworfen – ebenso wie die gesamte pentadrianische Armee und ihre Sklaven.
Es ist eine Illusion, versicherte Juran ihr.
Wenn es so ist, dann ist es die erste Illusion, die jemals Macht verströmt hat. Etwas Derartiges habe ich bisher nur in Anwesenheit der Götter empfunden.
Die einzigen Götter, die ihren Krieg überlebt haben, gehören dem Zirkel der Fünf an,erwiderte Juran energisch.
Dann ist dies vielleicht ein neuer Gott, warf Dyara ein.
Die fünf Zauberer hatten sich inzwischen wieder erhoben. Als die Erscheinung vortrat, rückten sie beiseite. Obwohl kein Laut von dem leuchtenden Mann kam, brachen die Menschen unten im Tal in regelmäßigen Abständen in Jubel aus, als reagierten sie auf seine Worte.
Wenn dies ein Gott ist, dann steht zu befürchten, dass es noch mehr davon gibt, sagte Rian. Wir wissen, dass diese Menschen fünf Göttern huldigen. Warum sollte dieser Gott ihnen gestatten, vier weitere Götter anzubeten, wenn diese Götter falsch wären?
Fünf neue Götter?, fragte Juran ungläubig. Und unsere Götter haben keinen von ihnen bemerkt?
Wir müssen diese Möglichkeit in Betracht ziehen, sagte Mairae.
Wir wissen, dass die schwarzen Zauberer sehr stark sind, erklärte Rian. Wie könnten sie ohne die Hilfe von Göttern eine Macht besitzen, die unserer gleichkommt?
So oder so, wir wissen, dass dies keine leichte Schlacht werden wird, ergänzte Dyara.
Das ist richtig, pflichtete Juran ihr bei. Unser Volk braucht nichts davon zu erfahren. Es würde die Menschen nur... entmutigen. Auraya, brich auf, sobald du kannst. Wir müssen uns zusammensetzen und noch einmal über unsere Strategie nachdenken.
Ich werde mich bald auf den Weg machen, antwortete Auraya. Ich versichere dir, dies hier ist der letzte Ort, an dem ich im Augenblick sein möchte.
Wieder brachen die Pentadrianer in lauten Jubel aus. Die Erscheinung verschwand, und eine Welle der Erleichterung stieg in Auraya auf.
Er ist weg, berichtete sie den anderen Weißen.
Die Zauberer gingen die Treppe hinunter. Der See schwarzer Roben geriet in Bewegung und teilte sich in fünf Kolonnen auf. Während der pentadrianische Anführer sich an die Spitze einer Kolonne setzte, um die Armee aus dem Tal zu geleiten, sandte Auraya ein leises Dankgebet an Chaia.
Leiard öffnete die Augen. Er ritt auf einem Arem, und er war allein. Vor ihm erhob sich das Gebirge. Ein Anflug von Panik stieg in ihm auf, und er zügelte das Arem.
Ich bewege mich auf den Pass zu. Was geht hier vor? Ich sollte in die andere Richtung reiten.
Ja, erwiderte Mirar, aber dein närrischer Schüler ist davongelaufen, und wir müssen ihn finden. Jayim? Warum sollte er weglaufen?
Ich weiß es nicht. Als ich mich auf die Suche nach ihm gemacht habe, war er nicht mehr da.
Du hast ihn gesucht? Seid ihr getrennt worden?
Ich dachte, er wäre dankbar für ein wenig Ungestörtheit.
Argwohn stieg in Leiard auf. Warum? Was hast du getan?
Ich habe ein Geschenk für ihn gekauft, um ihn abzulenken. Es wäre doch gewiss nicht in deinem Sinne gewesen, wenn er eine Auseinandersetzung mit Auraya mitangesehen hätte, nicht wahr?
Was war das für ein Geschenk?
Eine Hure. Wer hätte gedacht, dass so etwas einen jungen Mann wie Jayim derart erschrecken könnte?
Leiard stöhnte und verbarg das Gesicht in den Händen. Du bist doch angeblich so weise und verstehst dich so gut darauf, den Geist und das Herz der Menschen zu erkunden. Wie konnte dir ein solcher Irrtum unterlaufen?
Niemand ist vollkommen.
Wenn du dich in Jayim geirrt hast, könntest du dich auch in Auraya irren.
Nein, erwiderte Mirar entschieden. Nur ein liebeskranker Narr könnte übersehen, in welche Gefahr du unsere Leute gebracht hast. Arleej war der gleichen Meinung. Genauso wie Juran.
Und Auraya? Leiards Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Was hast du zu ihr gesagt?
Nichts. Ich habe sie gar nicht gesehen. Was ein Jammer ist. Ich hatte mich auf die Begegnung gefreut.
Leiard blickte zu den Bergen hinauf und seufzte. Diese Gelegenheit wird sich dir vielleicht noch bieten. Wir müssen Jayim finden. Juran hatte klargemacht, dass Leiard alles daransetzen müsse, seine Affäre mit Auraya geheim zu halten. Jayim durfte sich keinen anderen Lehrer als Leiard suchen, da er sich nicht mit einem anderen Traumweber vernetzen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sein Wissen weiterzugeben.
Es bliebe nur Arleej übrig, dachte er. Sie weiß Bescheid. Er drängte das Arem zum Weitergehen. Sie könnte ihn unterrichten.
Ahl Natürlich!, rief Mirar. Ich habe dir nur deshalb die Kontrolle wieder überlassen, weil ich glaubte, du könntest Jayim leichter finden als ich. Das wäre nicht notwendig gewesen. Wir brauchen nicht zurückzukehren.
O doch. Ich bin Jayims Lehrer. Ich kann diese Verpflichtung keinem anderen übertragen, ohne dass beide Seiten dem zustimmen.
Natürlich kannst du das. Juran hat dir befohlen, fortzugehen. Er wird wütend sein, wenn du zurückkommst. Deine Pflicht, für das Wohlergehen deiner Leute zu sorgen, wiegt schwerer als deine Verantwortung Jayim gegenüber.
Juran hat mir befohlen, fortzugehen, das ist richtig. Aber von welchem Ort sollte ich mich entfernen?, wandte Leiard ein. Sollte ich das Zelt verlassen? Die Berge? Nordithania? Nein, er hat mir befohlen, Auraya zu verlassen. Solange ich ihre Gesellschaft meide, gehorche ich seinem Befehl. Ich werde zurückkehrenund nach Jayim suchen.
Nein. Ich werde gegen dich kämpfen.
Leiard lächelte. Ich glaube nicht, dass du das tun wirst. Ich glaube, du bist in dieser Angelegenheit meiner Meinung. Wie kannst du dir da so sicher sein?
Du selbst hast diese Regeln festgelegt. Du bist diesen Regeln noch stärker verpflichtet, als ich es bin.
Auf diesen Einwand kam keine Antwort mehr.
Leiard dachte darüber nach, wie er Jayim finden könnte. Als Erstes sollte er sich mit Arleej in Verbindung setzen. Aber bei Tageslicht würde sie wach sein, so dass es unmöglich war, sie mit einer Traumvernetzung zu erreichen. Andererseits würde sie vielleicht spüren, dass er nach ihr suchte. Manchmal besaßen Traumweber mit mächtigen Gaben diese Fähigkeit, sofern sie nicht durch andere Dinge abgelenkt wurden. Leiard stieg von seinem Arem und führte das Tier an den Straßenrand, wo ein großer, ovaler Felsblock stand. In den Stein waren Ziffern gemeißelt. Die Zirkler hatten erst vor kurzem solche Wegsteine entlang der Ost-West-Straße aufgestellt, und zwar in Abständen von etwa einem Tagesmarsch.
Er lehnte sich mit dem Rücken an den Stein, schloss die Augen und versetzte sich in eine Traumtrance. Es war nicht weiter schwierig, da er das Gefühl hatte, seit Tagen nicht mehr geschlafen zu haben.
Wir haben tatsächlich nicht geschlafen. Still!
Leiard verlangsamte seinen Atem und suchte nach einem vertrauten Geist. Arleej?
Er wartete kurz, dann rief er abermals. Nach dem dritten Ruf hörte er eine schwache Antwort. Leiard? Bist du das? Ja.
Du klingst anders. Du bist es doch wirklich – nicht Mirar?
Ja, ich bin es. Ist Jayim bei dir? Ja.
Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Wo bist du?, fragte er.
Auf der Ost-West-Straße. Wir haben eine Kehrtwendung gemacht. Raeli sagt, die Pentadrianer seien gesehen worden, wie sie auf dieser Seite der Berge aus den Minen gekommen sind. Die Armee der Zirkler ist umgekehrt, um sich ihnen entgegenzustellen. Wo bist du?
Auf der Ost-West-Straße. Ich bezweifle, dass ich euch überholt habe, daher werde ich hier auf euch warten.
Gut. Jayim wird froh sein, dich zu sehen.
Leiard öffnete die Augen. Er stand auf und führte das Arem zu einer Stelle, von der aus er die Straße beobachten konnte, dann setzte er sich wieder hin. Sein Magen knurrte, aber er war zu müde, um aufzustehen und festzustellen, ob das Arem mit Proviant ausgerüstet war.
Wie viel Zeit ist verstrichen, seit ich dir erlaubt habe, die Kontrolle zu übernehmen?, fragte er Mirar.
Anderthalb Tage.
Was hast du während dieser Zeit getan?
Das willst du gar nicht wissen – obwohl ich in Wahrheit vor allem nach Jayim gesucht habe.
Leiard seufzte. Du hast recht. Ich will es nicht wissen.
Er ließ den Zügel des Arem los, woraufhin das Tier die Gelegenheit ergriff, ein wenig zu grasen. Es war für ein Arem leichter, einen Menschen zu tragen, als einen vollbeladenen Tarn zu ziehen. Solange die Tiere reichlich Wasser hatten und jeden Abend am Straßenrand Gras zu fressen fanden, konnte man sie in einem gemächlichen Tempo tagelang reiten. Leiard unterzog das Arem einer kritischen Musterung. Es war weder krank noch verletzt. Mirar hatte es offensichtlich nicht misshandelt. Obwohl er nur den Wunsch hatte, sich hinzulegen und zu schlafen, stand Leiard auf und versorgte sein Reittier.
Als die Traumweber auftauchten, war die Sonne bereits am Himmel emporgestiegen. Arleej fuhr wie immer den Tarn, der ihren Zug anführte. Leiard stieg auf das Arem und wartete.
»Traumweber Leiard«, sagte Arleej, als sie näher kam. »Ich bin froh, dass du zu uns zurückgekehrt bist. Das erspart uns die Mühe, später nach dir suchen zu müssen.«
»Es ist schön, dich wiederzusehen, Traumweberälteste«, erwiderte er. »Aber ihr hättet doch gewiss nicht nach mir gesucht?«
Er ließ sein Arem neben dem Tarn herlaufen. Arleej sah ihn fragend an.
»Nach dem, was Jayim mir erzählt hat? Glaub mir, wir hätten dich gesucht.« Sie runzelte die Stirn. »Du siehst müde aus. Hast du überhaupt geschlafen? Oder gegessen?«
Er verzog das Gesicht. »Schon seit einer Weile nicht mehr, denke ich. Ich kann mich an nichts von dem erinnern, was während der letzten anderthalb Tage geschehen ist.«
»Dann hatte Jayim recht. Mirar hat tatsächlich die Kontrolle über dich gewonnen.«
»Das hat der Junge herausgefunden?«
»Ja. Er hatte Angst, dass dieser Zustand von Dauer sein könnte, deshalb ist er zu uns zurückgekehrt, um Hilfe zu holen. Was mich in eine schwierige Lage gebracht hat. Ich musste mich entscheiden, ob ich nach dir suchen oder meine Pflicht als Heilerin erfüllen sollte.«
»Du hast die richtige Wahl getroffen.«
»Jayim war anderer Meinung.« Sie sah ihn von der Seite an. »Die zirklische Armee ist direkt hinter uns. Wir dürfen ihnen nicht im Weg sein und müssen trotzdem in der Nähe bleiben, so dass wir später helfen können. Ich hätte nie gedacht, dass irgendjemand in der Lage wäre, unter dem Gebirge hindurchzureisen. «
Leiard zuckte die Achseln. »Es ist nicht das erste Mal. Der Weg verläuft nicht über die gesamte Strecke unter der Erde. Man gelangt durch die Minen in Kalksteinhöhlen, die wiederum in verborgene Täler führen, in die die Gaut-Hirten ihr Vieh zum Grasen bringen. Auf dieser Seite der Berge gibt es noch eine weitere alte Mine, obwohl ihr Eingang, wie ich gehört habe, eingestürzt ist. Aber das ist kein Hindernis, das ein mächtiger Zauberer nicht überwinden könnte.«
Arleej musterte ihn kurz, dann schüttelte sie den Kopf. »Wenn du nicht von deiner Stellung zurückgetreten wärst, hättest du an den Treffen des Kriegsrats teilgenommen. Sie haben über die Möglichkeit gesprochen, dass die Pentadrianer den alten Minen unterhalb der Berge folgen könnten. Du hättest sie warnen können.«
»Und hätten sie mir geglaubt?«
Arleejs Mundwinkel zuckten. »Auraya hätte es getan.«
»Du hast bisher nie erwähnt, dass der Kriegsrat darüber gesprochen hat.«
Arleej runzelte die Stirn. »Raeli hat es uns vor zwei Tagen erzählt. An dem Abend, als du fortgegangen bist.«
»Wenn Juran mich also nicht weggeschickt hätte, hätte ich dir sagen können, dass es einen Weg durch die Minen gibt, und du hättest Raeli warnen können. Mit dem Ergebnis, dass die Weißen auch ihr nicht geglaubt hätten.«
Arleej legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Eines Tages werde ich Juran vielleicht darauf hinweisen.« Sie blickte nachdenklich drein. »Ich werde es auf jeden Fall tun, sollte Juran von deiner Rückkehr erfahren und dagegen protestieren.«
»Ich kann nicht bleiben, Arleej.«
Sie sah ihn mit ernster Entschlossenheit an. »Du musst bei uns bleiben, Leiard. Was dir widerfährt, ist unnatürlich und gefährlich. Nur wir können dir helfen. Ich habe die Absicht, mit dir zusammen nach Somrey zurückzukehren, sobald dieser törichte Krieg vorüber ist. Juran wird wohl keine Einwände dagegen haben, wenn ein ganzes Meer zwischen dir und Auraya liegt.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Bist du damit einverstanden?«
Leiard wandte den Blick ab. Ihr Vorschlag war bei weitem vernünftiger, als blind und ohne Ziel davonzulaufen. Das würde gewiss auch Mirar einsehen. Plötzlich verspürte er eine tiefe Dankbarkeit Arleej gegenüber.
»Je mehr ich mich bemühe, fortzugehen, desto mehr Gründe finde ich, um zu bleiben. Ich danke dir, Traumweberälteste. Ich werde bleiben.«
Sie wirkte erleichtert. »Gut. Und jetzt reite zu deinem Schüler hinüber. Er hat sich große Sorgen um dich gemacht.«
»Jade.«
Die Stimme riss Emerahl aus einem tiefen Schlaf, aus dem ihr Körper nur widerstrebend auftauchte. Sie zog ärgerlich die Brauen zusammen, schöpfte Atem und öffnete die Augen.
Rozea beugte sich über sie und lächelte auf sie hinab. »Schnell. Steh auf. Ich habe die Diener losgeschickt, damit sie uns einige Dinge besorgen. Wir müssen dich ordentlich herrichten.«
Emerahl rieb sich die Augen. Der Tarn bewegte sich nicht mehr. »Mich herrichten? Warum?«
»Die Armee kommt. Sie wird jeden Augenblick vorbeiziehen. Das ist die günstigste Gelegenheit, euch Mädchen vorzuzeigen. Komm. Reiß dich zusammen. Du siehst schrecklich aus.«
Die Türlasche des Tarns wurde geöffnet, und eine Dienerin reichte Rozea eine Schale mit Wasser, ein Handtuch und Emerahls Schatulle mit ihren Schminkutensilien und Salben. Emerahl sah, dass die Karawane am Straßenrand Halt gemacht hatte. Dann bemerkte sie ein rhythmisches Geräusch in der Ferne. Es war das Dröhnen von Trommeln, das das Marschtempo der Soldaten vorgab.
»Die Armee? Sie kehrt zurück?« Emerahls Herz setzte einen Schlag aus, als ihr die ganze Bedeutung von Rozeas Worten aufging. Die Armee kam aus dem Pass zurück. Für Rozea war dies lediglich eine Gelegenheit, ihre Waren zur Schau zu stellen. Für Emerahl bedeutete es, dass sie hunderten von Priestern begegnen würde, und das könnte in eine Katastrophe münden.
»Ja«, sagte Rozea. »Ich weiß nicht, warum, aber sie kommen zurück. Wir werden es herausfinden, wenn sie uns erreichen, also schon in wenigen Minuten. Mach dich zurecht. Ich werde jetzt nach den anderen Mädchen sehen und einen Diener zu dir rüberschicken.«
Emerahl nahm die Wasserschale und das Handtuch entgegen. Als Rozea den Tarn verließ, wusch sie sich das Gesicht. Ich muss eine Möglichkeit finden, den Priestern auszuweichen -und zwar schnell. Sie blickte auf die Schatulle hinab und öffnete mit den Zehenspitzen den Deckel. Wenn sie nicht in einem vorzeigbaren Zustand war, würde Rozea sie vielleicht nicht präsentieren wollen. Der Grund würde überzeugend sein müssen, aber andererseits hatte Emerahl in ihrem langen Leben genug kranke Menschen gesehen, um zu wissen, was sie tun musste, und Heilkräfte konnte man auch zu anderen Zwecken einsetzen.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Bauch.
Als die Türlasche das nächste Mal geöffnet wurde, lag Emerahl auf der Bank. Als das helle Licht in den Wagen fiel, krümmte sie sich und vergrub den Kopf in den Armen. Der Diener starrte sie an, dann blickte er auf den Inhalt der Schale und eilte davon. Kurze Zeit später tauchte Rozea wieder auf.
»Was ist los?«, fragte sie mit angespannter Stimme.
Emerahl bewegte den Kopf ein wenig zur Seite, so dass Rozea die von Schminke verdunkelte Haut unter ihren Augen sehen konnte. »Ich habe es versucht«, sagte sie schwach. »Ich dachte, ich könnte so tun, als ob... es tut mir leid.«
Rozea rief die Dienerin und ließ sie die Schale wegräumen. Dann stieg sie in den Tarn.
»Was... was ist los mit dir?«
Emerahl schluckte und rieb sich den Bauch. »Ich glaube, ich habe etwas Schlechtes gegessen. Als ich mich vorhin aufgerichtet habe... uh. Mir ist so übel.«
»Du siehst furchtbar aus.« Rozea verzog enttäuscht das Gesicht. »Ich kann nicht zulassen, dass du mir die Kunden verschreckst, nicht wahr?« Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Ärmel. »Also schön. Du bist meine Favoritin, daher wird nicht jeder einfache Soldat Zugang zu dir haben. Es dürfen dich nur jene Männer sehen, die es sich leisten können, gutes Geld für einen Blick auf eine seltene Schönheit zu bezahlen.«
Emerahl seufzte resigniert. Die Bordellbesitzerin lächelte, dann klopfte sie ihr auf die Schulter. »Ruh dich ein wenig aus. Solche Geschichten dauern nie lange. Bis heute Abend wird es dir sicher wieder gutgehen.«
Als sie fort war, richtete Emerahl sich auf und hob die Türlasche ein wenig an. Sie konnte nichts sehen, aber das Dröhnen der Trommeln war jetzt lauter. Das leise Gekicher der anderen Huren entlockte ihr ein Lächeln. Die kommenden Stunden würden ein Abenteuer für sie sein. Dann erklang eine Männerstimme – es war einer der Wachposten: »Da kommen sie!«
Ein Reiter wurde sichtbar, und Emerahls Herz hörte beinahe zu schlagen auf. ]umn.
Auf den ersten Blick sah er nicht anders aus als der Mann, dem sie vor hundert Jahren begegnet war. Sie schaute genauer hin und stellte fest, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Die Jahre zeigten sich in seinen Augen – in dem harten, entschlossenen Ausdruck auf seinem Gesicht. Er war noch immer gutaussehend und selbstbewusst, aber die Zeit hatte ihn verändert. Sie konnte nicht genau sagen, inwiefern, und sie wollte es auch nicht herausfinden.
Als er aus ihrem Blickfeld verschwand, erschienen zwei weitere Reiter. Eine Frau und ein Mann, die die gleichen schmucklosen, weißen Roben trugen wie Juran. Auch die Züge der Frau waren hart. Emerahl schätzte sie auf etwa vierzig Jahre. Der Mann an ihrer Seite wirkte dagegen deutlich jünger. Sein Blick hatte etwas beunruhigend Intensives, und als er die Karawane des Bordells bemerkte, runzelte er missbilligend die Stirn, bevor er das Kinn vorreckte und sich abwandte.
Ein Tarn folgte den drei Reitern. Darin saßen zwei junge Frauen. Auch sie trugen Weiß und waren beide sehr attraktiv. Die Gesichtszüge der blonden Frau wirkten offener als die ihrer Begleiterin. Als sie die Karawane sah, zuckte ein schwaches, ironisches Lächeln um ihre Lippen, das sie älter und weiser erscheinen ließ, als man auf den ersten Blick vermutet hätte.
Unsterbliche, dachte Emerahl. Wenn man erst einigen von ihnen begegnet ist, erkennt man sie sofort. Ich frage mich, ob ich auch so leicht zu durchschauen bin.
Die andere Frau trug ihr Haar offen, und sie hatte große Augen und ein herzförmiges Gesicht. Sie musterte die Karawane kurz, dann wandte sie sich hastig ab. Aber der Grund dafür war keineswegs Verachtung, wie Emerahl erkannte. Die Frau wirkte gequält. Dann waren auch diese beiden Weißen weitergezogen, und der nächste Tarn folgte. Er war kunstvoll geschmückt und wurde von Soldaten in prächtigen Uniformen begleitet. Emerahl erkannte die Farben und Symbole des gegenwärtigen Königs von Toren. Einige weitere auffällige Tarns zogen vorbei. Genrianer, Somreyaner, Hanianer. Dann kamen die Priester und Priesterinnen in Sicht. Emerahl ließ die Türlasche fallen und drehte sich mit hämmerndem Herzen auf den Rücken.
Das sind also diejenigen, die sie die Weißen nennen, dachte sie. Diejenigen, die die Götter erwählt haben, damit sie ihr schmutziges Werk unter den Sterblichen verrichten. Sie lauschte den Geräuschen der vorbeiziehenden Armee und den Stimmen der Mädchen. Es war beunruhigend zu wissen, dass so viele Anhänger der Götter unmittelbar an ihr vorbeizogen. Ich hätte nach dem Hinterhalt nicht bei dem Bordell bleiben sollen, ging es ihr durch den Kopf. Ich hätte mein Geld nehmen und verschwinden sollen. Es wäre ihr jedoch schrecklich gewesen, die Mädchen schutzlos zurückzulassen. Und wenn ich fortgegangen wäre, wäre ich niemals in dieser einzigartigen Position gewesen, die Auserwählten der Götter zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Ich glaube, ich gewinne langsam Gefallen an Abenteuern, dachte sie. Was wird als Nächstes kommen?
Sie seufzte. Die Karawane hatte die Armee eingeholt, auch wenn es auf eine unerwartete Weise geschehen war. Jetzt konnte Rozea sich neue Wachen suchen. Es gab keinen Grund mehr für Emerahl zu bleiben. Ich kann fortgehen... oder nicht?
Die Karawane würde der Armee wahrscheinlich folgen und in dieser Nacht in unmittelbarer Nähe der Soldaten ihr Lager aufschlagen. Ihre Situation hatte sich nicht verändert: Die Nachricht, dass Rozeas Favoritin geflohen war, würde eine ganze Armee dazu verlocken, nach ihr zu suchen.
Aber wenn sie blieb, drohte ihr jetzt eine neue Gefahr. Möglicherweise würde Rozea die erstaunlichen Heilkräfte ihrer Favoritin der falschen Person gegenüber erwähnen. Und dann würden womöglich die Priester auf sie aufmerksam werden.
Sie fluchte.
Die Türlasche wurde geöffnet, und Rozea stieg in den Wagen, um sich mit ernster Miene auf der Bank gegenüber niederzulassen.
»Es sieht so aus, als hätten unsere Feinde einen anderen Weg durch die Berge gefunden. Die Zirkler eilen ihnen entgegen, um sie aufzuhalten.«
»Werden wir uns der Armee anschließen?«, fragte Emerahl, wobei sie sorgfältig darauf achtete, ihrer Stimme einen schwachen Klang zu verleihen.
»Ja, allerdings mit einigem Abstand. Wir wissen nicht, ob die Pentadrianer einen Hinterhalt planen. Ich möchte mich nicht mitten in einer Schlacht wiederfinden.«
»Nein.«
»Du solltest dich jetzt ausruhen«, sagte Rozea besänftigend. Sie hob die Tür lasche an, und Emerahl stellte erleichtert fest, dass nur noch gewöhnliche Soldaten in ihrer Nähe waren. »Ich bezweifle, dass wir heute Abend Kundschaft haben werden. So wie es sich anhört, wird die Armee wohl die ganze Nacht marschieren. Wir werden morgen wieder zu ihr stoßen – ah, da kommt Hauptmann Spirano.«
Sie sprang auf und stieg aus dem Wagen. Emerahl drehte sich auf den Rücken und lauschte dem Dröhnen der Trommeln und der Soldatenstiefel. Als endlich Ruhe einkehrte, war sie davon überzeugt, dass etliche Stunden vergangen sein mussten.
Auch die Mädchen schwiegen jetzt; wahrscheinlich nutzten sie die Gelegenheit, um ein wenig zu schlafen, ohne vom stetigen Schaukeln des Tarns gestört zu werden. Emerahl hörte, wie die Wachen Rozea zu einem Spiel aufforderten. Schließlich nahm sie ihren Mut zusammen, richtete sich auf und benutzte das feuchte Handtuch, um sich das Gesicht abzuwischen.
Als sie aus dem Wagen trat, blickte Rozea auf. »Du siehst nicht mehr so krank aus wie vorhin. Wie fühlst du dich?«
»Viel besser«, antwortete Emerahl. Sie ging zu dem Tisch hinüber und betrachtete das Spiel. »Konträr. Ihr würdet nicht glauben, wie alt dieses Spiel ist.«
Der Wachmann, der Rozea gegenübersaß, bewegte eine Figur. Emerahl lachte leise.
»Ein schlechter Zug.«
Der Mann warf ihr einen gekränkten Blick zu. Es war der Soldat, der sie vor dem Deserteur »gerettet« hatte, den sie während des Hinterhalts aus ihrem Tarn geworfen hatte.
»Was hättest du an seiner Stelle getan?«, fragte Rozea.
Emerahl sah den Mann an. »Es ist sein Spiel.«
»Nur zu«, sagte er. »Wenn du es für mich gewinnst, kannst du die Hälfte des Preises haben.«
Sie lachte. »Rozea wird mir ohnehin nicht erlauben, das Geld zu behalten.«
»Natürlich werde ich das«, sagte die Bordellbesitzerin lächelnd. Sie schob die Spielfigur des Mannes auf ihre frühere Position zurück.
Emerahl sah der Frau in die Augen, dann widmete sie sich wieder dem Spielfeld. Sie zog ein wenig Magie in sich hinein und sandte sie aus. Ein schwarzer Stein rutschte über das Brett und legte sich auf einen anderen.
Die beiden Wachen zuckten zusammen, dann grinsten sie sie an. »Ein raffinierter Trick«, bemerkte der Freundlichere der beiden.
»Ja.« Rozea betrachtete das Spielbrett. »Sehr raffiniert.« »Gibst du auf?«, fragte Emerahl.
»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, gestand Rozea.
»Was?« Der Wachmann starrte das Brett an. »Hat sie das Spiel für mich gewonnen?«
»Allerdings.« Rozea schob ihm einige Münzen hin. »Ich glaube, die Hälfte davon gehört ihr.«
»Oh, du schuldest mir sehr viel mehr als das, Rozea«, erwiderte Emerahl. »Es wird Zeit, dass du mich auszahlst. Ich gehe.«
Die Bordellbesitzerin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir hatten eine Abmachung.«
»Die ich brechen werde.«
»Wenn du jetzt fortgehst, gehst du mit leeren Händen.«
Emerahl lächelte. »Das hast du schon einmal gesagt, und es ist nicht recht. Ich habe dir ein hübsches Sümmchen eingetragen. Wenn du mir den Lohn, der mir zusteht, nicht freiwillig gibst, werde ich ihn mir nehmen.«
Rozea ließ die Arme sinken und stemmte die Hände in die Hüften. »Was willst du denn tun? Mir mit Magie Spielfiguren an den Kopf werfen? Deine Zauberei macht mir keine Angst. Wenn du mich zwingen könntest, dir dein Geld zu geben, hättest du das schon längst getan.«
»Deine Schwäche, Rozea, besteht darin, dass du glaubst, andere seien ebenso selbstsüchtig und habgierig wie du. Ich bin nur geblieben, um die Mädchen zu beschützen. Jetzt, da ihr die Armee eingeholt habt, wirst du neue Wachmänner einstellen können. Du brauchst mich nicht länger.«
»Dich brauchen?« Rozea lachte. »Du schmeichelst dir.«
Emerahl zuckte die Achseln. »Vielleicht. Es ist sehr lange her, dass ich das letzte Mal Magie benutzt habe, um jemandem zu schaden. Ich tue das nicht gern. Ich ziehe es vor, derartige Situationen zu vermeiden. Also werde ich dir eine letzte Chance geben. Zahl mir meinen Lohn aus. Sofort.«
»Nein.«
Emerahl drehte sich um und ging auf den Tarn zu, in dem Brand und Flut schliefen.
»Wo willst du hin?«, hörte sie Rozea fragen.
Emerahl beachtete sie nicht, sondern zog die Türlasche des Tarns auf.
»Wacht auf, Mädchen.«
Brand und Flut schreckten aus dem Schlaf hoch und blinzelten überrascht, als sie in den Wagen stieg. »Jade?« »Was ist los?«
»Ich gehe fort«, antwortete Emerahl und wandte sich dann der vorderen Bank zu.
»Steht auf.«
Flut und Stern erhoben sich. Emerahl tastete den unteren Teil der Sitzbank ab und fand schließlich einen winzigen Riegel. Sie zog daran, und das Fach öffnete sich. Dahinter befand sich eine Ansammlung von Schachteln.
Im nächsten Moment tauchte Rozeas Gesicht in der Tür auf. »Was tust du... hör auf damit!«
Emerahl zog eine der Schachteln heraus. Sie war ermutigend schwer.
»Gib mir das!«, verlangte Rozea.
Emerahl öffnete die Schachtel. Die Mädchen begannen aufgeregt miteinander zu tuscheln, als sie die Münzen darin sahen. Rozea fluchte und machte Anstalten, in den Tarn zu steigen.
Mit einer knappen Handbewegung und einem kleinen magischen Stoß schob Emerahl die Frau aus dem Wagen. Rozea fiel rückwärts hinaus und wurde von den Wachen aufgefangen.
»Haltet sie auf!«, schrie die Frau. »Sie bestiehlt uns!«
»Ich stehle dir nichts«, korrigierte Emerahl sie. »Also, Panilo hat mir erzählt, dass du ihm das Doppelte von dem abgenommen hast, was er mir ursprünglich bezahlt hat. Das wären...« Sie hielt inne, als die Wachen widerstrebend versuchten, in den Tarn zu steigen, und schob sie sanft wieder hinaus. »Das wären hundert Ren pro Freier. Seit ich in deinem Bordell arbeite, hatte ich achtundvierzig Kunden, von denen viele reicher und wichtiger waren als Panilo. Machen wir daraus hübsche, runde fünftausend Ren, was zehn Goldmünzen ergäbe. Ich werde eine Goldmünze für jeden Monat abziehen, für mein Essen und meine Unterkunft – und für die Kleider, die du gewiss ohnehin einem anderen Mädchen geben wirst. Natürlich werde ich etwas zum Wechseln benötigen, daher...«
Emerahl begann zu zählen, während Rozea einige Schritte von ihr entfernt stand und sie wütend anfunkelte. Die Mädchen im Tarn schwiegen – sie waren zu überrascht, um zu sprechen.
»Jade? Jade? Bist du dir wirklich sicher?«, fragte Brand plötzlich, und ihre Stimme klang leise und besorgt. »Die Schlacht steht unmittelbar bevor. Du wirst ganz allein sein.«
»Ich werde schon zurechtkommen. Ihr seid es, um die ich mir Sorgen mache. Erlaubt Rozea nicht, euch in Gefahr zu bringen. Kehrt nach Toren zurück, sobald ihr könnt.«
»Ich verstehe das nicht.« Das kam von Stern. »Wenn deine Gaben groß genug sind, um mich zu heilen und Rozea deinen Lohn abzunehmen, warum bist du dann in einem Bordell gelandet?«
Emerahl blickte zu ihr auf, dann zuckte sie die Achseln. »Ich... ich weiß es nicht. Wahrscheinlich war es einfach Pech.«
Sterns Frage war ihr unangenehm, und nicht nur deshalb, weil die Frauen jetzt vielleicht darüber nachdenken würden, warum eine Zauberheilerin sich prostituierte – in einer Zeit, da die Priester nach jemandem suchten, auf den diese Beschreibung passte. Sie zählte den Rest ihrer Einkünfte in Silber und Gold ab, um die Angelegenheit nicht unnötig in die Länge zu ziehen.
Als sie fertig war, sah sie die Mädchen eins nach dem anderen an. Sie wirkten noch immer verwirrt. Emerahl lächelte.
»Passt auf euch auf. Und lasst euch einen Rat geben: Wenn ihr euch alle zusammentut, wird Rozea nichts anderes übrigbleiben, als euch euren Lohn auszuzahlen. Verschwendet das Geld nicht, sondern legt ein wenig für die Zukunft beiseite. Glaubt niemals, dass ihr außerhalb des Bordells kein Leben hättet. Ihr seid alle talentierte, schöne Frauen.«
Brand lächelte. »Vielen Dank, Jade. Und pass auch du auf dich auf.«
Die anderen murmelten ebenfalls einige Worte des Abschieds. Emerahl wandte sich ab und stieg aus dem Tarn, dann fiel ihr Blick auf einen Diener.
»Gib mir ein Bündel mit Essen und Wasser. Und einige einfache Kleider.«
Der Mann sah Rozea an. Zu Emerahls Überraschung nickte die Frau, und er eilte davon.
»Ich sollte dich wohl nicht zum Bleiben zwingen, wenn du so erpicht darauf bist, uns zu verlassen«, sagte Rozea resigniert. »Ich bin nicht glücklich darüber, aber wenn du gehen musst, dann musst du gehen. Solltest du dich irgendwann dafür entscheiden, wieder in das Geschäft zurückzukehren, glaube nicht, du seist in meinem Haus nicht willkommen. Ich bin keine solche Närrin, dass ich es nicht erwägen würde, dich wieder in meine Dienste zu nehmen.«
Emerahl betrachtete die andere Frau nachdenklich; sie spürte mit einem Mal eine Art mürrischen Respekt bei der Bordellbesitzerin. Warum ist sie jetzt so freundlich? Vielleicht habe ich nicht so viel Geld genommen, wie sie erwartet hatte. Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, wie sehr die Preise wahrend des letzten Jahrhunderts gestiegen sind.
»Ich werde es nicht vergessen«, erwiderte sie. Der Diener kehrte zurück und drückte ihr einen Beutel in die Arme. Sie unterzog den Inhalt einer schnellen Musterung, dann hievte sie ihn über ihre Schulter. »Pass auf die Mädchen auf«, sagte sie zu Rozea. »Du hast sie nicht verdient.«
Dann drehte sie sich um und machte sich auf den Weg die Straße hinunter in Richtung Toren.
Als die Sonne am Horizont emporstieg, fiel helles Licht über die Goldebenen. Die Schatten der Zirkler – Priester, Priesterinnen, Soldaten und Bogenschützen – streckten sich wie anklagend erhobene Finger der Masse schwarzgewandeter Eindringlinge entgegen.
Während Tryss beobachtete, wie sich die beiden Armeen aufeinander zubewegten, fiel auch der letzte Rest Müdigkeit von ihm ab.
Von der gesamten zirklischen Armee waren die Siyee die Einzigen, die in der vergangenen Nacht geschlafen hatten. Aber es war ein unruhiger Schlaf gewesen. Nur wenige von ihnen hatten an etwas anderes denken können als an die bevorstehende Schlacht. Und die Landgeher waren die ganze Nacht von wachsender Unruhe erfüllt gewesen. Selbst aus der Luft hatte er ihre Anspannung und Nervosität wahrnehmen können.
Zwischen den Pentadrianern erhoben sich schwarze, flügelschlagende Gestalten – wie eine böse, todbringende Wolke. Tryss hörte Entsetzensschreie um sich herum. Er sah die Männer und Frauen in seiner Nähe an; sie alle gehörten zu seinem eigenen Stamm. Der Rest seiner Familie war nicht bei ihm – die Sprecher fanden, es sei zu viel verlangt, einen Fluganführer zu bitten, seine Angehörigen in die Schlacht zu führen -, aber die einzelnen Stämme waren nie so groß, dass ein Siyee nicht jeden Einzelnen persönlich kannte. Es war immer noch schwer vorstellbar, dass diese Leute vielleicht sterben würden, wenn er die Situation falsch einschätzte.
Sein Magen krampfte sich zusammen, doch er ignorierte es und holte tief Luft. »Diese schwarzen Vögel haben Schnäbel und Klauen«, rief er. »Aber sie müssen nah herankommen, um sie benutzen zu können. Wir haben Pfeile und Flugbolzen. Wir werden sie töten, bevor sie uns erreichen.«
Er wusste nicht, ob seine Worte irgendeine Wirkung hatten. Vielleicht waren die Züge seiner Gefährten jetzt eine Spur weniger furchtsam und ein klein wenig entschlossener. Die Vögel kreisten über ihren Herren und warteten darauf, dass die Schlacht begann. Die beiden Armeen näherten sich einander nur quälend langsam. Die pentadrianische Armee hatte inzwischen einen niedrigen Hügel am Rand eines Tals erreicht und dort Halt gemacht. Die Zirkler marschierten auf die gegenüberliegende Seite des Tals zu und blieben ebenfalls stehen.
Keine der beiden Armeen rührte sich.
Dann trat eine schwarz gekleidete Gestalt zwischen den Pentadrianern hervor. Das Sonnenlicht verfing sich auf etwas, das der Mann um den Hals trug. Tryss beobachtete die fünf weißen Gestalten, die vor der zirklischen Armee standen. Einer der Weißen machte einen Schritt nach vorn.
Auf dem Grund des Tals trafen die beiden Gegner zusammen.
Wie sehr ich mir wünschte, ich könnte dieses Gespräch mit anhören, dachte Tryss. Bieten sie einander die Chance, sich zurückzuziehen? Werfen sie mit Drohungen um sich, oder prahlen sie wie Kinder mit ihrer Stärke? Bei diesem Krieg ging es um Religion, rief er sich ins Gedächtnis. Vielleicht führen sie eine theologische Debatte. Er stellte sich vor, wie ein solches Gespräch aussehen könnte.
»Meine Götter sind real.«
»Nein, das sind sie nicht; nur meine Götter existieren wirklich.«
»Deine Götter sind nicht real.« »Sind sie doch!«
Er unterdrückte ein Lachen. Ich sollte mich nicht darüber lustig machen. Dies hier ist todernst. Viele Menschen werden sterben.
Bei diesem Gedanken verflog alle Heiterkeit. Als die beiden Kontrahenten kurz darauf auseinandergingen, krampfte sich Tryss’ Magen abermals zusammen. Er beobachtete, wie sie zu ihren Armeen zurückkehrten.
Dann erklang das ferne Geräusch von Hörnern. Die pentadrianische Armee setzte sich in Bewegung, und die Zirkler folgten ihrem Beispiel.
Als das Tosen ihrer Stimmen Tryss erreichte, durchschnitt Sirris Pfiff die Luft. Es war an der Zeit, dass die Siyee sich ebenfalls in die Schlacht stürzten.
Die beiden Armeen waren noch nicht aufeinandergetroffen, aber die Luft über dem Tal glühte und wogte unter magischen Angriffen, die von Schilden abgewehrt wurden. Seltsam schrille Geräusche drangen an seine Ohren, und immer wieder erklang ein Dröhnen, das die Luft erbeben ließ.
Dort unten muss ohrenbetäubender Lärm herrschen, ging es ihm durch den Kopf. Die schwarze Wolke, die über der pentadrianischen Armee aufstieg, zersplitterte und schnellte empor. Ein Teil der Wolke schoss auf Tryss zu. In diesem Moment existierte nichts anderes mehr für ihn als die schwarzen Vögel, die sich mit hohem Tempo näherten. Er pfiff einige Befehle, mit denen er seine Truppe direkt auf die schwarzen Vögel zuführte, dann legte er die Finger entschlossen um die Hebel seines Geschirrs.
»Greift an!«
Die Feder seines Geschirrs sang. Er hörte das Sirren weiterer Geschirre, dann hüllte ein Schwärm von Pfeilen die schwarzen Vögel ein. Tryss jubelte, als die Geschöpfe krei sehend zu Boden stürzten. Er gab das Signal, beizudrehen, während seine Leute in lautes Triumphgeschrei ausbrachen und sich einige Flugkapriolen gönnten. Dann hörte er einen schrillen Schmerzensschrei, und sein Herz krampfte sich zusammen. Als er herumfuhr, sah er, dass einige der Vögel überlebt hatten und sich an die Beine einer Siyee klammerten. Das Gewicht der Tiere zog sie hinab.
Obwohl er nicht wusste, was er tun konnte, um ihr zu helfen, flog Tryss auf sie zu. Er konnte kaum die Hände benutzen, um die Vögel zu verscheuchen. Stattdessen biss er die Zähne zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und schoss auf die Beine der Siyee zu. Die Vögel schrien überrascht auf, und im nächsten Moment stürzte Tryss auch schon zur Erde. Er breitete die Arme aus, um den Wind einzufangen, dann drehte er sich um, um festzustellen, was geschehen war.
Die Siyee war frei. Ihre Beine bluteten. Er konnte einen Vogel unter sich fliegen sehen, unverletzt, aber offenkundig benommen. Tryss nahm hastig sein Blasrohr zwischen die Zähne, saugte einen Pfeil hinein und schoss.
Der Vogel kreischte laut auf, als er getroffen wurde. Tryss wartete nicht ab, um festzustellen, ob das Gift wirkte. Er blickte auf und rief seine Truppe zu sich. All seine Leute lebten und waren, bis auf einige Kratzer, unverletzt.
Erleichtert blickte er an ihnen vorbei und sog erschrocken die Luft ein. Der Himmel war voller Siyee und Vögel, und einige waren in wilde Kämpfe verstrickt. Dann stürzten drei Siyee zu Boden.
Tryss bemerkte, dass zwei andere Abteilungen es ebenfalls geschafft hatten, an den tödlichen Vögeln vorbeizukommen. Während sie nun über dem Schlachtfeld kreisten, fielen Tryss Sirris Anweisungen wieder ein.
»Die Vögel werden versuchen, euch abzulenken. Das dürft ihr nicht zulassen. Zielt auf ihre Herren, die schwarzen Priester und Priesterinnen. Sie beherrschen die Vögel, deshalb müsst ihr versuchen, sie zuerst zu töten. Es ist durchaus möglich, dass die Vögel sich als harmlos erweisen, sobald niemand mehr da ist, der sie kontrolliert.«
Er wandte sich von der Schlacht ab und rief seine Truppe zu sich. Seine Leute erhoben keine Einwände, und ihre Mienen waren grimmig. Tryss blickte auf die pentadrianische Armee hinab und überlegte, wie er seinen ersten Angriff organisieren sollte.
Überall war Blut. Die Luft stank danach, und Gesichter, Kleider und Schwerter waren davon benetzt. Das Gras war nicht länger gelb, sondern von einem abstoßenden Orangerot.
Ein weiteres schwarz gewandetes Ungeheuer näherte sich. Der Soldat hob seinen Schild, um den Angriff abzuwehren, und schwang sein Schwert. Die Bewegungen waren vertraut und wohltuend. Die vielen Jahre der Ausbildung erwiesen sich endlich als nützlich. Sein Schwert war eine Verlängerung seines Arms. Er spürte, wie seine Klinge Fleisch durchtrennte und Knochen zerschmetterte. Es war ein viel befriedigenderes Gefühl als der Widerstand von gepolstertem Holz.
Der Pentadrianer sank auf die Knie und gab ein ersticktes Röcheln von sich, als das Blut seine Lunge füllte. Sein Schwert fiel zu Boden. Ein Hieb in den Nacken brachte die Hand zur Ruhe, die bereits nach dem Dolch griff.
Plötzlich hörte er ein Keuchen zu seiner Linken. Der Soldat duckte sich, wirbelte herum und trat den Angreifer in den Bauch. Die Augen des Mannes traten mit einem Ausdruck der Überraschung aus den Höhlen. Ein Feigling, der von hinten angriff. Diesen Mann ließ er einfach liegen, damit er einen langsamen Tod starb.
Ein einziger Blick sagte ihm, dass die Kämpfer um ihn herum größtenteils seine eigenen Gefährten waren. Er drehte sich um und suchte nach dem Feind. Ein fernes Knurren erregte seine Aufmerksamkeit. Weit rechts von ihm sah er torenische Soldaten unter unglaublich großen Geschöpfen fallen. Worns. Er starrte sie einen Moment lang ungläubig an, dann rannte er davon.
Er war nur wenige Schritte weit gekommen, als er stolperte und mit dem Gesicht nach unten im Schlamm landete. Hitze versengte ihm die Ohren, und er griff sich an den Kopf. Die Berührung seiner erdverkrusteten Hände hatte etwas wunderbar Beruhigendes, aber sie konnte die Geräusche, die jetzt kamen, nicht dämpfen. Schreie. Unmenschliche Schreie, die einfach nicht abreißen wollten.
Etwas Furchtbares war geschehen.
Er hob den Kopf, und quälend trockene, rauchige Luft schoss in seine Lunge. Hustend richtete er sich auf und sah sich um.
Das Gras war fort... nein, es war zu geschwärzten Büscheln zusammengeschmolzen. Schwarze Gestalten lagen auf dem Boden. Einige von ihnen bewegten sich zuckend. Die Quelle der Schreie. Als er begriff, wer diese Geschöpfe waren, stieg ihm Galle in den Mund.
Es waren Männer. Die Kämpfer, die noch vor wenigen Augenblicken an seiner Seite gestanden waren.
Er zog sich auf die Füße, und sofort begriff er, was geschehen war. Das verbrannte Gras und die toten und sterbenden Männer bildeten eine lange, breite Linie, die zum Feind hinüberführte. Ein Zauberer hatte sie angegriffen – mit tödlicher Magie. Keine Ausbildung konnte einen Soldaten davor retten. Er hatte Glück gehabt, dass er sich am Rand des Zaubers befunden hatte. Seine schwere Rüstung und der Sturz hatten ihn gerettet, obwohl seine Ohren heftig brannten. Als er hinabblickte, sah er die ausgestreckte Hand des Pentadrianers, der ihn zu Fall gebracht hatte. Das Gesicht des Mannes war so schwarz verkohlt wie seine Kleidung.
Er biss die Zähne zusammen, griff nach seinem Schwert, das noch warm von dem Angriff war, und ging zu seinen weniger glücklichen Kameraden hinüber.
Keine Verbindung zwischen Auraya und den anderen Weißen war jemals so stark oder vollständig gewesen.
Sie verhielten sich, als seien sie miteinander verschmolzen. Juran leitete ihre Kräfte, was überraschend einfach war. Er zwang ihnen keineswegs seinen Willen auf, vielmehr öffneten sie ihren Geist und folgten seinen Anweisungen. Auf diese Weise standen ihm die Ideen und die Augen vier weiterer Menschen zur Verfügung, um ihm bei seinen Entscheidungen zu helfen, und vier zusätzliche Positionen, aus denen er angreifen konnte.
Es erwies sich als eine sinnvolle Methode, ihre Bemühungen miteinander abzustimmen. Und es hatte etwas beinahe Erregendes, auf solche Art mit den anderen zusammenzuarbeiten. Es gab keine Missverständnisse, keine Irrtümer.
Trotzdem hatten sie ihre Grenzen. Der Feind hatte Mairaes Grenzen bereits erkundet, was dazu führte, dass sie einmal einige Soldaten opfern musste, um sich selbst zu schützen. Ihr Tod hatte Mairae bekümmert und sie alle schockiert, aber sie waren dennoch nicht ins Wanken geraten.
Auch Rian hatte mit Problemen zu kämpfen. Juran musste immer wieder einschreiten, wenn einer der mächtigen schwarzen Zauberer Rian oder Mairae angriff. Auraya war es bisher gelungen, sich gegen die feindlichen Zauberer zu verteidigen, aber sie wusste, dass der Anführer der Pentadrianer stärker war als sie. Auch sie würde Hilfe brauchen, wenn er ihr seine ganze Macht entgegenschleuderte.
Was er bisher jedoch nicht getan hatte. Vielleicht genügte seine Magie nicht, um gleichzeitig anzugreifen und sich selbst zu schützen. Trotzdem konnte ein solcher Angriff immer noch kommen, wenn die übrigen schwarzen Zauberer ihn beschirmten. Auraya sah die vier anderen Weißen an, die unerschütterlich ihre Position hielten, dann blickte sie zu den pentadrianischen Zauberern auf der anderen Seite des Tals hinüber.
Fünf schwarze Zauberer, dachte Auraya. Fünf Weiße.Ein Zufall? Nein, es ist wahrscheinlicher, dass sie gewartet haben, bis sie uns zahlenmäßig ebenbürtig waren. Auf Jurans Befehl hin schleuderte Auraya einem der Zauberer ihre Magie entgegen. Sie spürte eine Veränderung in dem Schild des Mannes, als die anderen Zauberer ihm halfen, sich zu schützen.
Er ist der Schwächste von ihnen, bemerkte Juran. Nach den Beschreibungen unserer Spione ist er derjenige, der Sharneya genannt wird. Wir könnten diesen Vorteil nutzen...
Der Pentadrianer griff die Siyee an. Auf Jurans Anweisung riss Auraya eine Barriere hoch, um die Magie abzufangen. Mairae übermittelte ihr die Erleichterung, die Sprecherin Sirri empfand; die Anführerin der Siyee trug Mairaes Verbindungsring. Die Wucht des Angriffs verstärkte sich, und Auraya brauchte ihre ganze Kraft, um ihren Schild aufrechtzuerhalten, während sich die Geschwindigkeit, mit der sie weitere Magie an sich ziehen konnte, zunehmend verringerte. Sie machte einige Schritte nach vorn und konnte ihre Barriere wieder stärken. Es war nicht das erste Mal, dass die Magie um sie herum schwächer wurde. In den Stunden, seit der Angriff begonnen hatte, hatte sie sich mehrere Schritte von dem Felsvorsprung in Richtung des Tals zurückgezogen, während die Magie um sie herum schwand. Die schwarzen Zauberer hatten das Gleiche getan. Es war unvorstellbar, wie viel Magie sie bereits verbraucht hatten, aber Auraya hatte keine Zeit, Ehrfurcht zu empfinden. Dann hörte sie plötzlich in unmittelbarer Nähe das Knurren eines Tieres und einen Schrei, in dem Angst und Schmerz lagen. Kein gewöhnlicher Mensch und kein Tier konnten sie erreichen, aber ihr war nur allzu deutlich bewusst, dass die stärksten zirklischen Priester und Priesterinnen um sie und die anderen Weißen herum versammelt waren und ihnen ihre Stärke liehen. Als sie sich umdrehte, sah sie einen riesigen schwarzen Worn, der sich in die Kehle einer Priesterin verbissen hatte. Er musste um sie herumgeschlichen sein, um sie ohne Vorwarnung angreifen zu können.
Töte ihn, Auraya, befahl Juran.
Sie sandte einen Zauber in seine Richtung. Als ihre Magie ihn von seinem Opfer wegriss, heulte der Worn auf, dann lag er mit zuckenden Gliedern auf dem Boden. Weitere schwarze Gestalten, die über ihre Priesterschaft hatten herfallen wollen, suchten schleunigst das Weite.
Glaubst du, die Pentadrianer haben die Siyee angegriffen, um uns abzulenken und den Worns auf diese Weise Zeit zu verschaffen, sich von hinten an uns anzuschleichen?, fragte sie.
Ja, antwortete Juran. Und sie haben diesen Bestien die Anweisung gegeben, die Menschen um dich herum anzugreifen, nicht uns. Ich denke, sie haben dich auf die Probe gestellt, um herauszufinden,ob du den Rest der Armee opfern würdest, um das Himmelsvolk zu schützen. Lass sie für den Augenblick in diesem Glauben. Es wird uns später von Nutzen sein.
Ja, erwiderte sie, obwohl sich ein gewisser Zweifel in ihr regte. Vielleicht liegen mir die Siyee ja wirklich mehr am Herzen als die anderen?
Nein, so ist es nicht, versicherte ihr Dyara.
Aber Auraya konnte die nagende Angst, die sie quälte, nicht abschütteln. Würde Juran einen der anderen an ihrer Stelle beauftragen, die Siyee zu schützen? Oder bedeutete »für den Augenblick«, dass sie die Siyee später einem Angriff schutzlos ausliefern sollte?
Obwohl die Sonne hoch am Himmel stand, zwang ein kühler Wind die Beobachter auf dem Felsvorsprung, sich fest in ihre Kapas zu hüllen. Danjin betrachtete die eigenartige Mischung aus Lagerdienern und wichtigen Persönlichkeiten, die sich zusammengefunden hatten, um die Schlacht zu verfolgen. Die Menschen bildeten eine lange Reihe am Rand des Tals. In der Mitte stand ein Pavillon, und auf dem Gras lag ein Teppich. Darauf standen Stühle für die Personen, die die höchsten Ränge bekleideten: die beiden Könige und den Vermittler des somreyanischen Rats. Ratgeber, Höflinge und Diener hielten sich in der Nähe des Pavillons, traten jedoch nur ein, wenn sie gerufen wurden.
Die Weißen hatten darauf bestanden, dass die beiden Monarchen nicht an der Schlacht teilnahmen. Die Erinnerung an diese Auseinandersetzung entlockte Danjin ein Lächeln.
»Wir sind durchaus bereit, zusammen mit unseren Männern zu kämpfen«, hatte König Berro entrüstet gesagt, als man ihm erklärte, dass er und König Guire sich vom Schlachtfeld fernhalten sollten.
»Ich versichere dir, das wissen wir«, hatte Juran erwidert. »Aber wenn ihr euch an der Schlacht beteiligt, werdet ihr sterben. Sobald die Pentadrianer eine Lücke in unserer Verteidigung entdecken – und das werden sie tun -, werden sie jeden angreifen, der für uns wichtig zu sein scheint.« Er hatte kurz innegehalten, bevor er weitersprach: »Ihr könntet in die Uniformen gewöhnlicher Soldaten schlüpfen, um eure Überlebenschancen zu verbessern, aber ich würde es vorziehen, wenn ihr das nicht tätet. Wir können es nicht riskieren, euch zu verlieren.«
Auf diese Bemerkung hatte Berro mit einem Stirnrunzeln reagiert. »Warum schickst du dann die Sprecherin der Siyee in den Kampf?«
»Sie ist schwer von den anderen Siyee zu unterscheiden, und da die Siyee ihre Anführer wählen, ist bereits ein anderer Sprecher bestimmt worden, der Sirris Platz einnehmen wird, falls sie stirbt.«
»Ich habe meinen Erben bestimmt«, hatte Berro Juran ins Gedächtnis gerufen.
»Ein Kind«, hatte Juran mit einem Anflug von Schroffheit erwidert. »Es wird Jahre dauern, bis der Junge alt genug ist, um seine Verantwortung zu übernehmen.« Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Wenn es dein Wunsch ist, dich auf das Schlachtfeld zu begeben, werden wir dich nicht daran hindern. Aber wir werden dich auch nicht um den Preis eines Sieges schützen. Wenn du auf Ruhm aus bist, wird die Schlacht dich das Leben kosten – und das wird dein Land schwächen.«
An dieser Stelle hatte Vermittler Meeran sich geräuspert. »Ich bin ebenfalls ein gewählter Herrscher, aber auch für mich habt ihr keinen Platz.«
»Nein«, hatte Juran erwidert. »Verzeih mir, wenn ich darauf hinweise, aber du bist alt und hast keine Erfahrung im Kampf. Du bist für uns von größerem Wert aufgrund deiner Fähigkeit, mit anderen zu verhandeln und Einigkeit zu erzielen.«
Dann hatte er Meeran gebeten, während der Schlacht die Aufsicht über diejenigen zu übernehmen, die nicht kämpften, und im Falle, dass die Zirkler die Schlacht verloren, für die Armee zu verhandeln. Niemand hatte gefragt, warum I-Portak, der Anführer der Dunweger, sich an den Kämpfen beteiligte. Es verstand sich von selbst, dass der Anführer der Kriegernation an der Seite seiner Männer stehen würde. Wenn er es nicht täte, würde er die Führung an einen anderen verlieren. Mehrere dunwegische Zauberer – ihre Feuerkrieger – begleiteten ihn. Danjin wandte sich zu Lanren Liedmacher um. Der militärische Ratgeber stand ein wenig vor den Beobachtern, den Blick fest auf das Schlachtfeld gerichtet. Sein ganzer Körper war angespannt, und er hatte die Fäuste geballt. Das Sonnenlicht leuchtete auf dem weißen Ring am Mittelfinger seiner rechten Hand.
Der Ring verband Liedmacher mit Juran und vermittelte dem Weißen aus der Ferne ein Bild des Schlachtfelds. Als Danjin nun in das Tal hinunterschaute, runzelte er die Stirn. Die pentadrianischen Zauberer und die Weißen hatten einander seit Stunden mit Magie bekämpft, aber keine Seite schien einen Vorteil zu erringen. Da ein großer Teil der entfesselten Magie aus der Entfernung praktisch unsichtbar war, ließ sich nur schwer erahnen, was vorging. Danjin konnte nur die Auswirkungen des Kampfes sehen, wenn es einer Seite gelang, der anderen Schaden zuzufügen.
Meistens waren die Kämpfer davon betroffen. Beide Seiten schienen ungefähr gleich viele Mitglieder der feindlichen Armee getötet zu haben, aber Danjin war aufgefallen, dass vor allem die Soldaten, Priester und Priesterinnen, die von Mairae oder Rian geschützt wurden, Verluste erlitten. Zwei der feindlichen Zauberer schienen die gleichen Schwierigkeiten zu haben. Beide Seiten benutzten die Stärke ihrer mit Gaben versehenen Anhänger, um die Abwehr der schwächeren Zauberer zu stützen.
Bei den übrigen Kampfeinheiten waren die Kräfte nicht so ausgewogen verteilt. Der Vorteil lag, wie Danjin entsetzt beobachtete, auf Seiten der Pentadrianer. Zuerst hatte es nicht diesen Anschein gehabt. Die Kämpfer der Pentadrianer waren zahlenmäßig unterlegen. Sie verfügten weder über Kriegsplattans noch über berittene Soldaten. Als die beiden Armeen jedoch zusammenstießen, wurde offenbar, dass die meisten der pentadrianischen Fußsoldaten gut ausgebildet und bereit waren, sich beidem zu stellen.
Und dann waren da die Worns.
Die riesigen Tiere brachten Tod und Zerstörung, wo immer sie auftauchten. Sie bewegten sich so schnell, dass nur reines Glück oder der geballte Angriff durch viele Bogenschützen sie bezwingen konnte. Die Bestien schienen das Töten zu genießen. Danjin beobachtete, wie vier von ihnen eine Gruppe von Soldaten vom eigentlichen Schlachtfeld abdrängten. Sie rissen die Kehlen jener heraus, die sich ihnen entgegenstellten, dann jagten sie die Übrigen aus dem Tal, wobei sie den Flüchtigen mühelos nachsetzten und spielerisch an ihren Fersen knabberten.
»Warum haben wir nicht auch solche Kreaturen? Warum haben wir keine Worns, die für uns kämpfen?«, murrte König Berro.
»Wahrscheinlich hatten die Weißen keine Zeit, selbst welche zu züchten«, erwiderte Guire besänftigend.
»Sie sind widernatürliche Gräuel«, knurrte eine Frau.
Mehrere Köpfe wandten sich zu der Sprecherin um. Traumweberin Raeli sah sie mit kaltem Blick an. »Wenn eure Weißen derart verderbte Bestien geschaffen hätten, wären sie dann auch nur um einen Deut besser als diese Pentadrianer?«, fragte sie. Die beiden Könige blickten nachdenklich drein, obwohl klar war, dass ihre Worte Berro nicht vollends überzeugt hatten.
»Sie züchten stattdessen Träger«, sagte Meeran. »Und mein Volk hat sie mit kleinen Helfern ausgestattet.« Er deutete auf den Käfig, den Danjin in der Hand hielt. Danjin blickte auf Unfug hinab. Der Veez war bisher während der Schlacht sehr still gewesen. Danjin hatte es nicht gewagt, Unfug zurückzulassen, weil er davon überzeugt war, dass der Veez in diesem Falle entflohen wäre und sich auf die Suche nach Auraya gemacht hätte.
»Reyna und Veez?«, schnaubte Berro. Er blickte nach links, wo Stallburschen die fünf weißen Träger bereithielten, für den Fall, dass die Weißen sie benötigen sollten. »Nur die Weißen haben Träger, und sie benutzen sie nicht einmal – und welchen Sinn sollte ein Haustier schon im Krieg haben?«
»Raus«, sagte Unfug.
Der Veez war an eine andere Stelle des Käfigs gerutscht. Danjin blickte hinab. »Nein. Bleib.«
»Raus«, beharrte Unfug. »Weg. Laufen.«
»Nein. Auraya wird später zurückkommen.«
Der Veez begann in dem Käfig in Kreisen zu laufen, so dass der Käfig hin und her schwankte. »Laufen! Böse Dinge kommen. Laufen! Verstecken! Laufen!«
Danjin runzelte die Stirn. Die Erregung des kleinen Tieres wuchs. Vielleicht war der Entführer des Veez in der Nähe. Danjin ließ den Blick über die Gesichter um sich herum gleiten. Diejenigen, die am nächsten standen, betrachteten den Veez voller Neugier. Dann wandte Danjin sich von dem Kreis in seiner unmittelbaren Nähe ab und blickte nach links und nach rechts und über seine Schulter.
Und sah vier schwarze Gestalten über den Felskamm auf sie zulaufen.
Er rief eine Warnung. Schreie wurden laut, als auch die anderen die Worns entdeckten. Einen Augenblick lang herrschte Zögern, während die Menschen sich in Todesangst aneinander festklammerten oder mit anderen zusammenstießen, als sie zu fliehen versuchten. Die Reihe der Beobachter brach. Die meisten Menschen jagten den Hügel hinunter, in Richtung der Schlacht, und nur wenige blieben schreckensstarr auf dem Felskamm stehen. Die Beobachter in der ersten Reihe verharrten auf ihrem Posten, festgehalten von einer starken, zuversichtlichen Stimme.
»Ihr geht alle in den Pavillon und bleibt dort«, sagte Hohepriester Haleed und trat einige Schritte vor, um sich zwischen die Worns und den Pavillon zu stellen. »Ich kümmere mich darum.«
Danjin runzelte die Stirn, als ihm klar wurde, dass der somreyanische Älteste, abgesehen von Raeli, der Einzige unter den Beobachtern war, der eine magische Ausbildung besaß – obwohl er keine Ahnung hatte, wie groß Raelis Gaben waren. Nicht alle Traumweber waren starke Zauberer.
Sie zwängten sich in den zweifelhaften Schutz des aus Tuch errichteten Pavillons. Draußen deckten die Stallburschen hastig die Köpfe der Reyna mit Tüchern ab, in der Hoffnung, dass die Reittiere nicht in Panik geraten und flüchten würden. Sie zogen sie so nah wie nur möglich an den Pavillon heran.
Liedmacher stand noch immer draußen, den Rücken an den Pavillon gelehnt. Seine Aufmerksamkeit galt einzig der Schlacht. Danjin sah, dass der Mann verwirrt die Menschen beobachtete, die ins Tal hinabflohen. Er rief den Namen des Mannes. Liedmacher drehte sich um, und an die Stelle der Verwirrung trat jetzt Erschrecken, als er die Szene erfasste. Als er auf den Pavillon zuging, konnte Danjin ganz in der Nähe ein Tier vor Schmerz heulen hören.
Es war einer der Worns, der mit zuckenden Gliedern auf dem Boden lag. Die anderen zogen sich rückwärts zurück und sprangen bald in diese, bald in jene Richtung, um Haieeds Angriffen zu entgehen.
»Ah, Magie«, murmelte Liedmacher. »Ein Soldat mag im Alter seine Kräfte verlieren, aber für einen Zauberer gilt das nicht.«
Solange er sich gute Reflexe bewahrt, fügte Danjin bei sich hinzu. Haleed gelang es, einen weiteren Worn zu verletzen, aber die meisten seiner Zauber hatten die flinken Tiere verfehlt.
»Dein Schoßtier hat sich am Ende also doch als nützlich erwiesen«, flüsterte jemand Danjin ins Ohr. »Mach dir keine Sorgen um ihn. Er wird zurückkommen.«
Raeli war neben ihn getreten. Sie schaute zu Boden, und als Danjin ihrem Blick folgte, stellte er fest, dass der Käfig, den er noch immer in der Hand hielt, leer war. Erschrocken hielt er nach dem Veez Ausschau.
»Spar dir die Mühe. Er kann auf sich selbst aufpassen«, versicherte ihm Raeli.
»Wenn er es mit Worns zu tun hat?«
»Sie sind nicht hinter Veez her, sie sind...«
Ihre Worte wurden von einem Schmerzensschrei übertönt, dem ein unmenschliches Kreischen folgte. Als Danjin sich umdrehte, sah er Haleed unter einer wogenden Masse schwarz gefiederter Gestalten taumeln. Die Roben des Priesters waren von Blut durchtränkt.
»Die Vögel!«, rief jemand. »Helft ihm!«
»Seine Augen«, zischte Liedmacher. »Sie haben es auf seine Augen abgesehen.«
Meeran brüllte einige Befehle, und mehrere Diener liefen los, zogen sich dann aber hastig wieder in den Pavillon zurück. Danjin sah eine schwarze Gestalt, die sich auf Haleed stürzte und den alten Mann zu Boden warf. Eine Woge der Angst überflutete ihn, als zwei weitere schwarze Gestalten an dem Priester vorbeirannten. Im nächsten Moment wurde Danjin beiseitegestoßen.
Er verlor beinahe das Gleichgewicht, aber irgendjemand packte ihn am Arm und gab ihm Halt. Um ihn herum herrschte Chaos: Schreie, Heulen, verzweifelte Befehle und das Kreischen der Vögel. Wie konnten so wenige Menschen so viel Lärm machen? Noch bevor er sich diese Frage beantworten konnte, wurde er herumgerissen.
Raeli stand vor ihm. Er blickte sie überrascht an. Hinter ihr sah er ein Reyna mit König Berro im Sattel davongaloppieren.
»Bleib dicht bei mir«, sagte Raeli. »Es ist mir verboten zu töten, aber ich kann dich beschirmen.«
Er nickte. Als sie sich zu dem Pavillon umwandte, hörte man ein lautes Krachen, und das Gebäude stürzte in sich zusammen. Die Markise war bedeckt von Vögeln. Raeli breitete die Hände aus. Die Luft knisterte, und der Schwärm erhob sich kreischend in den Himmel.
Lautes Hufgetrappel erregte Danjins Aufmerksamkeit: Die Träger galoppierten davon. Auf jedem saßen zwei Reiter, und Danjin stellte erleichtert fest, dass Vermittler Meeran unter ihnen war.
»Gut«, sagte Raeli. »Das erspart mir einige Mühe.«
Dann tauchte eine schwarze Gestalt unter dem Pavillon auf und machte sich an die Verfolgung der Reiter.
Raeli verzog das Gesicht. »Ich hoffe, diese Träger können tatsächlich so schnell laufen, wie man ihnen nachsagt.«
»Sie können es«, versicherte ihr Danjin. »Obwohl ich nicht weiß, ob...«
Als ein wildes Knurren unter dem Pavillon laut wurde, zuckte Danjin heftig zusammen. Ein Beben durchlief die Plane, und er wich zurück, aber Raeli blieb, wo sie war. Sie bückte sich und zog an dem Stoff.
»Lass ihn nicht frei!«
Sie beachtete seinen Einwurf nicht und zog den Stoff beiseite. Danjin blickte voller Entsetzen auf die blutverschmierten Leiber darunter. Eine schwarze Gestalt bäumte sich auf und stürzte sich auf Raeli. Raeli machte eine knappe Handbewegung, und der Worn wurde zur Seite gerissen. Er musterte sie mit erschreckender Intelligenz, bevor er sich davonschlich.
Eine vertraute Stimme begann heftig zu fluchen. Als Danjin zu Boden blickte, sah er zu seiner Überraschung, dass Liedmacher sich mühsam auf die Füße zog. An seinem linken Arm klafften tiefe Wunden, aus denen Blut rann.
»Ich kann dich heilen«, erbot sich Raeli, die näher an den Mann herangetreten war, um die Wunde zu untersuchen.
Liedmacher zögerte, und für einen Moment trat ein leerer Ausdruck in seine Augen, dann runzelte er die Stirn.
»Vielen Dank, Traumweberratgeberin«, erwiderte er förmlich, »aber ich muss dein Angebot ablehnen. Fürs Erste wird ein Verband genügen.«
Ihre Lippen wurden schmal. »Ich werde sehen, was ich finden kann.«
Jähes Mitgefühl für Raeli stieg in Danjin auf, das zu seiner eigenen Überraschung einem Anflug von Ärger wich. Wie es aussieht, muss ich Auraya recht geben, dass das Gesetz gegen die Inanspruchnahme der Dienste der Traumweber lächerlich ist. Der Worn lag noch immer ganz in ihrer Nähe auf der Lauer. Raeli vermied es, ihm den Rücken zuzuwenden, während sie von der Tunika eines der toten Diener einen Stoffstreifen abriss, um damit Liedmachers Wunde zu verbinden.
»Wenn die Weißen wollen, dass du hierbleibst, sollten sie dir am besten einen Priester schicken – und zwar bald«, sagte sie. »Ich kann ein oder zwei dieser Kreaturen abwehren, aber ich bezweifle, dass ich mit einer größeren Zahl fertigwerden würde.«
Ihr Blick wurde hart. »Richte deinem Anführer aus, dass meine Leute in einigen Stunden hier sein werden. Erinnere ihn daran, dass wir niemals Partei ergreifen, dass wir jedem unsere Hilfe anbieten werden. Sollten die Pentadrianer uns akzeptieren, während die Zirkler uns zurückweisen, wird das nicht unsere Schuld sein.«
Lanren hielt ihrem Blick ungerührt stand, dann nickte er. »Es sind bereits mehrere Priester auf dem Weg.«
Als die Karawane der Traumweber haltmachte, hing die Sonne schon tief am Himmel. Ihre Zahl war inzwischen auf etwa hundert Männer und Frauen gewachsen. Leiard wusste, dass noch mehr Traumweber zu der Schlacht kommen würden. In den Tälern in der Nähe lagerten weitere Karawanen. Solchermaßen verstreut, verringerten sie das Risiko, dass die Zirkler die Welt nach der Schlacht mit einem einzigen Schlag von hunderten von Traumwebern befreien konnten.
Sie hatten einen Tagesmarsch vom Schlachtfeld entfernt haltgemacht, und Arleej hatte eine Gruppe von zwanzig Personen ausgewählt, die sie dorthin begleiten sollten. Die meisten der anderen würden erst folgen, wenn die Schlacht vorüber war. Einige würden zurückbleiben, um die Tarns verteidigen zu können, falls einzelne Soldaten auf die Idee kamen, sie zu plündern.
Leiard hatte sich Arleejs Gruppe angeschlossen, und er hatte Jayim mitgenommen, da er wusste, dass der Junge sich hinter ihm herschleichen würde, wenn er ihn zurückließ. Als sie nun den Schauplatz der Zerstörung erreichten, spürte er, wie Jayims Neugier dem Grauen wich.
Das Tal war dunkel von aufgewühltem Schlamm, verkohltem Gras und verstümmelten Leichen. In der Luft lag ein stetes Tosen, das aus einiger Entfernung kam. Es waren Schreie und das Klirren von Waffen und Schilden, immer wieder überlagert vom Dröhnen magischer Angriffe. Fünf weiße Gestalten standen fünf Schwarzen auf der anderen Seite des Tals gegenüber. Die Luft zwischen ihnen blitzte und zuckte. Riesige Brandmale, die voller verkohlter Leichen waren, waren dort zurückgeblieben, wo kein Schild die Angriffsenergie der gegnerischen Zauberer aufgenommen hatte. Leiard erinnerte sich an andere Schlachten, die kleiner, aber nicht minder grausam gewesen waren. Auch wenn es nicht seine eigenen Erinnerungen waren, waren sie dennoch ungeheuer lebhaft. Zauberei und Tod. Vergeudung und Schmerz. Er sah, dass diese Schlacht neue Elemente enthielt. Schwarze Bestien – die Worns, von denen Auraya ihm erzählt hatte -strichen zwischen den zirklischen Soldaten umher, mörderisch und schwer zu töten. Über den Köpfen der Kämpfer und der Zauberer kreisten Siyee. Kleinere, schwarze Gestalten machten Jagd auf sie und zogen ihre Opfer zu Boden.
Jetzt entfernten sich drei Siyee von der Luftschlacht, um über den Köpfen der Pentadrianer zu kreisen und einen Hagel von Wurfgeschossen auf sie niedergehen zu lassen. Ein Siyee stürzte zu Boden, als die Bogenschützen mit einer Salve von Pfeilen auf den Angriff reagierten, aber auch in den Reihen der Pentadrianer gab es Verluste. Dennoch war jeder einzelne Tote für die Siyee vernichtend. Es gab nur sehr wenige von ihnen.
Ich kann bloß hoffen, dass die Zirkler siegen werden, dachte Leiard plötzlich. Sonst könnte dies das Ende der Siyee bedeuten.
Die größte Tragödie ist, dass sie überhaupt hier sind, bemerkte Mirar düster. Dies wird das größte Verbrechen deiner ehemaligen Geliebten sein: dass sie ein friedliches Volk zu Kriegern gemacht und in seine Vernichtung geführt hat.
»Also, hier sind wir. Was hältst du davon, Leiard?«
Arleej war neben ihn getreten.
»Torheit«, antwortete er. »Vergeudung.«
Sie lächelte grimmig. »Ja, ich bin deiner Meinung. Aber was hältst du von den beiden Armeen? Worin liegen ihre Stärken und ihre Schwächen? Wer wird den Sieg davontragen?«
Leiard runzelte die Stirn und wandte sich wieder der Schlacht zu. »Es ist eine typische Begegnung. Die Zauberer kämpfen von hinten und schützen sowohl ihre Armee als auch sich selbst mit Magie. Die stärkeren unter den niederen Zauberern bleiben bei ihnen und leihen ihnen ihre Macht.«
»Du sprichst von den Weißen?«, fragte Jayim. »Und von den Priestern und Priesterinnen.«
»Ja«, antwortete Leiard. »Jene, die sich im Kampf nicht auf Magie stützen können, hoffen immer, dass die Zauberer sie schützen werden. Soldaten, Bogenschützen, berittene Kämpfer, die Fahrer von Kriegsplattans, Siyee, Worns, die schwarzen Vögel. Sie mögen keine starken Gaben haben, aber sie werden benutzen, was sie nur können.«
»Die Siyee sind wie Bogenschützen«, sagte Jayim. »Fliegende Bogenschützen.«
»Ja«, stimmte Arleej ihm zu. »Sie stützen sich auf das Überraschungselement und drehen ab, bevor die pentadrianischen Bogenschützen Zeit finden, zurückzuschlagen.«
»Und die gleiche Strategie benutzen die Worns«, warf ein anderer Traumweber ein.
»Aber sie brauchen keine Gegner wie die schwarzen Vögel zu bekämpfen.«
»Die Siyee verteidigen sich recht gut gegen die Vögel«, erklärte Leiard. »Die Vögel scheinen nur in der Gruppe anzugreifen, niemals allein, aber dadurch können sie leichter von Wurfgeschossen getroffen werden.«
»Was geschieht, wenn die zirklische Armee verliert, aber die Weißen gewinnen?«, fragte Jayim.
Leiard lächelte grimmig. »Wenn die Weißen die pentadrianischen Zauberer bezwingen, können sie die restlichen Pentadrianer töten – oder ihre Unterwerfung verlangen.«
»Würden sie ihre eigenen Soldaten im Stich lassen, um ihre gesamte Magie darauf zu verwenden, die schwarzen Zauberer zu töten?«
»Vielleicht als allerletztes Mittel.«
»Ich... ich verstehe nicht. Warum machen sie sich überhaupt die Mühe, Soldaten in die Schlacht mitzubringen? Ich kann nachvollziehen, dass die Priester den Weißen helfen können, indem sie ihnen zusätzliche magische Stärke geben, aber mir ist unklar, inwiefern Soldaten einen Unterschied machen.«
Arleej lachte leise. »Du musst bedenken, welche Motive hinter einem Krieg stecken. Es geht fast immer darum, die Herrschaft über etwas zu erlangen, daher lässt sich der größte Gewinn den Besiegten abpressen. Ein Eindringling denkt über die Schlacht hinaus. Nach dem Sieg muss er die Kontrolle behalten. Selbst wenn sie mächtige Zauberer sind, können sie nicht an allen Orten gleichzeitig sein, daher bringen sie Helfer mit. Geringe Zauberer. Kämpfer. Menschen, die sich von der Aussicht auf Beute und Land verlocken lassen. Die Verteidiger wissen das und stellen eine Armee auf, für den Fall, dass sie verlieren. Wenn die Armee der Verteidiger möglichst viele Soldaten des Gegners tötet, bleiben weniger potenzielle Eroberer zurück, die ihr Land unterwerfen können. Das eroberte Volk hat auf diese Weise bessere Chancen, sich später wieder gegen die Eroberer zu erheben.«
Jayim nickte langsam. »Und wenn sie warten, bis die Zauberer mit ihrem Kampf fertig sind, und ihre Seite verliert, werden die feindlichen Zauberer sie ohnehin töten. Was bedeutet, dass sie ebenso gut gleich kämpfen können.«
»Ja.« Arleej seufzte. »Obwohl den meisten Soldaten das nicht klar ist. Sie tun, was man ihnen befiehlt, und vertrauen auf das Urteil ihrer Führer.«
»Es hat schon Zauberer gegeben, die den übrig gebliebenen Kämpfern die Möglichkeit angeboten haben, sich zu ergeben«, fügte Leiard hinzu.
Jayim blickte auf das Schlachtfeld und runzelte die Stirn. »Werden... werden die Zirkler gewinnen oder verlieren?«
Leiard studierte noch einmal sorgfältig die Situation der Armeen. Ihm war bereits aufgefallen, dass die gewöhnlichen Soldaten in arger Bedrängnis waren, aber dieser Umstand hatte ihn nicht allzu sehr beunruhigt, da der Ausgang der Schlacht, wie er Jayim erklärt hatte, von den Weißen abhing. Die zirklischen Priester und Priesterinnen schienen höhere Verluste hinnehmen zu müssen als die Zauberer der Pentadrianer. Die Zahl der weiß gewandeten Leichen war größer als die derjenigen, die schwarze Roben trugen. Während er das Geschehen weiterverfolgte, begriff er allmählich, warum das so war.
Die Worns. Sie waren so schnell und geschickt, was das Töten anbetraf, dass sie von Zeit zu Zeit hinter die Verteidigung der Zirkler gelangten und einen Priester oder eine Priesterin überraschen konnten. Die Siyee waren die einzigen Kämpfer, die die pentadrianischen Zauberer angreifen konnten, aber die schwarzen Vögel stellten ein erhebliches Hindernis für die Siyee dar.
»Der Vorteil liegt auf Seiten der Pentadrianer«, sagte er.
Arleej seufzte. »Die schlimmste Herausforderung, die einem Traumweber jemals begegnen kann, sind nicht Vorurteile oder Intoleranz, sondern die Notwendigkeit, daneben zu stehen und zuzusehen, wie das eigene Land einen Krieg verliert.« Sie sah Jayim an. »Wir ergreifen niemals Partei. Wenn du in den Kampf eingreifst, bist du kein Traumweber mehr.«
Jayim nickte. Auf seinem jungen Gesicht spiegelten sich Anspannung und Kummer wider – und Entschlossenheit. Leiard verspürte eine Mischung aus Stolz und Traurigkeit. Der Junge würde nicht wanken, aber sein eigenes Verhalten würde ihn nicht glücklich machen.
Arleej wandte sich um und warf Leiard einen abschätzenden Blick zu. »Und du?«
Leiard sah sie stirnrunzelnd an. »Ich?«
»Fühlst du dich nicht versucht, dich in den Kampf zu stürzen und jemanden zu retten?«
Schlagartig wurde ihm bewusst, was sie meinte. Auraya. Konnte er daneben stehen und zusehen, wie Auraya besiegt wurde? Konnte er zusehen, wie sie starb?
Sein Herz begann zu rasen. Er blickte auf das Schlachtfeld – zu den fünf Weißen hinüber. Warum war ihm dieser Gedanke noch nicht gekommen? Sie wirkte immer so stark, so zuversichtlich, dachte er. Es mag mir nicht gefallen haben, dass sie eine der Auserwählten der Götter ist, aber es bedeutete, dass sie in Sicherheit war. Unsterblich. Geschützt durch Magie und durch die Götter.
Die Götter... Gewiss würden sie nicht zulassen, dass ihre erwählten menschlichen Stellvertreter den Kampf verloren?
Wenn du das glaubst, bist du ein Narr, wisperte Mirar.
»Was könnte ich tun, um sie zu retten?«, sagte Leiard aufrichtig. »Ein einzelner Zauberer? Ich bezweifle, dass ich auch nur das Geringste ausrichten könnte.« Wohl wissend, dass seine Stimme seine Erregung verriet, sah er Arleej an. »Es sei denn natürlich in meiner Eigenschaft als Heiler.«
Arleej legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Und zwar als ein hervorragender Heiler.«
Als sie davonging, stieß Leiard einen tiefen Seufzer aus. Er verspürte nicht länger den Wunsch, die Schlacht zu beobachten. Nicht wenn das hieß, dass er zusehen musste, wie Auraya starb, ohne etwas dagegen tun zu können.
Ich könnte dir diese Qual ersparen, erbot sich Mirar.
Nein. Ich bin hier, um zu heilen, antwortete Leiard.
Auch das kann ich für dich tun.
Nein. Wenn dies vorüber ist, werden wir nach Somrey gehen, und dort werde ich mich endgültig von dir befreien.
Du denkst, Arleej könnte dieses Problem für dich lösen? Ich bin mir nicht sicher, oh es dir gefallen wird, wenn sie in deinem Geist herumstöbert. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob es mir gefallen würde.
Ich dachte, du hättest den Wunsch, fortzugehen?
Das hängt davon ab, ob die Weißen diese Schlacht gewinnen oder nicht. Wenn ja, werde ich dich nach Somrey gehen lassen. Wir werden herausfinden, ob Arleej etwas an unserer Situation ändern kann.
Und wenn die Weißen verlieren?, fragte Leiard. Mirar gab ihm keine Antwort.
Tryss flog in einem weiten Bogen über den Kampfplatz, weil er hoffte, auf diese Weise die Schlacht verfolgen zu können. Ohne einen unmittelbaren Gegner, einen schwarzen Vogel, den er abwehren musste, oder irgendetwas anderes, das seine Aufmerksamkeit verlangte, wurde ihm plötzlich bewusst, wie müde er war. Jeder Muskel in seinem Körper schmerzte, und er blutete aus mehreren Schnitten und Kratzern, obwohl er sich nicht erinnern konnte, wie er sich diese Verletzungen zugezogen hatte. Sie brannten.
Die Hälfte seines Trupps folgte ihm. Er musterte sie kritisch und hielt Ausschau nach Wunden und Anzeichen von Erschöpfung. Tyssi blutete heftig aus einer tiefen Schnittwunde, die ihn beunruhigte. Die anderen wirkten gesund, aber müde. Er beobachtete die Schlacht am Himmel. Die Anzahl schwarzer Vögel war deutlich geringer geworden – ein Umstand, der ihn mit grimmiger Befriedigung erfüllte -, aber auch die Zahl der Siyee hatte sich verringert. Etwa um die Hälfte.
Einige waren davongeflogen, um sich auszuruhen oder ihre Vorräte an Pfeilen wieder aufzufüllen, aber dies war nicht die Mehrheit. Sein Magen krampfte sich zusammen. Die meisten der fehlenden Siyee waren tot. Leute, die er kannte. Leute, die er mochte. Leute, die er nicht mochte. Sein Herz brannte vor Trauer. Jetzt erschien ihm das alles so töricht.
Warum haben wir uns bereitgefunden, hierherzukommen? Warum haben wir den Bündnisvertrag unterzeichnet? Wir hätten zu Hause bleiben können. Wir hätten die südlichen Länder den Siedlern überlassen und uns auf die höchsten Gipfel zurückziehen können.
Und wären verhungert.
Er seufzte. Wir kämpfen, weil die Zirkler in einer Zeit, da wir nicht länger hoffen konnten, dass die Ereignisse der Welt ohne Wirkung auf uns bleiben würden, die besseren Verbündeten für uns waren. Es ist besser, zu ihnen zu gehören und die Konsequenzen zu erleiden, denn wenn wir uns ihnen nicht angeschlossen hätten, hätten wir die Konsequenzen dennoch tragen müssen.
Ein Triumphschrei ließ ihn nach unten blicken. Ein Trupp Siyee, der soeben einen Regen vergifteter Pfeile auf den Feind hatte niedergehen lassen, stieg in den Himmel auf. Der Anführer war, wie er sah, Sreil. Als ihm wieder einfiel, dass Drilli in Sreils Schar war, hielt er Ausschau nach ihr. Sie flog mit einem grimmigen Lächeln hinter Sreil her.
Erleichterung und Dankbarkeit durchfluteten ihn. Allein ihr Anblick hob seine Stimmung. Sie lebte. Und ich auch, dachte er. Und solange ich lebe, werde ich kämpfen.
Er musterte die Reihen von Pfeilen und Giftbolzen, die an seinem Geschirr befestigt waren, und schätzte, dass ihm weniger als ein Drittel seiner ursprünglichen Munition geblieben war. Er würde sie verschießen und seine Truppe dann zum Lager führen, um neue Pfeile zu holen. Er drehte sich um und gab seinen Gefährten das Zeichen, ihm zu folgen. Dann schoss er auf den Feind unter ihm hinab.
Er hatte inzwischen gelernt, an der Haltung und den Bewegungen der Landgeher abzulesen, was sie im Schilde führten. Die bleichen Gesichter der Pentadrianer waren vor dem Hintergrund ihrer schwarzen Roben leicht zu erkennen, vor allem, wenn sie aufblickten. Er zielte auf eine Gruppe, deren ganze Aufmerksamkeit der schwarzen Zauberin galt.
Plötzlich wandten sich alle Gesichter gleichzeitig Tryss zu. Er bemerkte, dass etliche von ihnen Bögen hielten, und pfiff seinen Gefährten eine Warnung zu, während er bereits nach links auswich. Die Pfeile kamen ihm beängstigend nahe. Etwas kratzte über sein Kinn. Mit hämmerndem Herzen schoss er davon.
Also haben sie inzwischen gelernt, nach uns Ausschau zu halten, dachte er. Und so zu tun, als bemerkten sie uns nicht, bis wir nahe genug herangekommen sind. Raffiniert.
Er blickte hinab und erschrak, als ihm bewusst wurde, wie tief er flog. Glücklicherweise wandten die Männer und Frauen unter ihm ihm den Rücken zu. Ihre Aufmerksamkeit galt etwas, das sich vor ihnen befand. Er sah auf und spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte.
Die schwarze Zauberin. Er würde gleich über sie hinwegfliegen – in die magische Schlacht hinein. Er machte eine ruckartige Kehrtwendung und schaffte es mit verzweifeltem Flügelschlagen, sich von dem Schauplatz zu entfernen und wieder etwas an Höhe zu gewinnen.
Erst da wurde ihm bewusst, dass er allein war.
Während er sich umsah, vergaß er die Bogenschützen am Boden. Wo war seine Truppe? Waren sie in die andere Richtung geflogen, um den Bogenschützen auszuweichen? Oder hatten sie... waren sie... ?
Unter sich sah er zerschmetterte, geflügelte Leiber am Boden liegen. Alle bis auf einen regten sich nicht mehr. Tyssi versuchte sich davonzuschleppen, um sich vor den herannahenden Pentadrianern in Sicherheit zu bringen. In einem ihrer Oberschenkel steckte ein Pfeil.
Dann hatten mehrere Männer sie erreicht und begannen, mit den Füßen auf sie einzutreten.
Heißer Zorn loderte in Tryss auf. Ungeachtet jedweder Gefahr flog er direkt auf ihre Angreifer zu. Er konzentrierte sich auf den Rücken der Pentadrianer. Sobald er in Schussweite war, feuerte er zwei Pfeile ab. Zwei der Pentadrianer fielen. Tryss sah, wie die anderen Männer sich zu ihm umdrehten und davonstoben. Als er über seine Schulter zurückblickte, lag Tyssi reglos da, und aus einer Wunde über ihrem Herzen quoll Blut. Tränen stiegen ihm in die Augen und raubten ihm beinahe die Sicht. Er blinzelte dagegen an, wandte sich wieder nach vorn und stellte fest, dass er abermals auf die schwarze Zauberin zuflog.
Er wollte gerade beidrehen, hielt dann jedoch inne.
Noch während er zielte, wusste er, dass sein Tun absolut sinnlos war. Er gönnte sich keine Zeit zum Nachdenken. Die Pfeile flogen aus seinem Geschirr durch die Luft; er hatte erwartet, dass sie von einem magischen Schild abprallen würden.
Stattdessen gruben sie sich in den Rücken der schwarzen Zauberin.
An die Stelle von ungläubigem Staunen trat sehr schnell Jubel. Als die Frau vorwärtstaumelte, stieß Tryss einen lauten Triumphschrei aus. Dann entfernte er sich kreisend und blickte zurück. Sie hatte sich umgedreht und starrte ihn an. Noch während ihre Hand sich bewegte, krampfte sein Magen sich zusammen, als er begriff. Etwas traf ihn mit voller Wucht, so dass alle Luft aus seiner Lunge wich. Die Welt schoss an ihm vorbei, schneller, als er je zuvor geflogen war, dann traf ihn etwas anderes im Rücken. Der Boden. Er hörte einen dumpfen Aufprall, und der Schmerz, der seinen Körper zerriss, raubte ihm beinahe die Besinnung.
Was habe ich gerade getan?, dachte er, während er keuchend dalag. Etwas wirklich, wirklich Dummes, beantwortete er seine eigene Frage. Aber ich habe sie getötet. Ich habe die schwarze Zauberin vergiftet. Jetzt werden wir siegen. Das muss ich sehen. Er öffnete die Augen. Als er jedoch den Kopf hob, zuckten Blitze des Schmerzes seinen Rücken hinab, und was er sah, verursachte ihm Übelkeit. Seine Beine waren an Stellen verbogen, an denen sie es nicht hätten sein dürfen.
Das müsste eigentlich wehtun, dachte er. Aber ich spüre überhaupt nichts. Nichts unterhalb meiner Taille. Er wusste, dass er schwer verletzt war – dass er wahrscheinlich sterben würde -, trotzdem konnte er es nicht recht glauben. Schwarz gewandete Männer und Frauen ragten über ihm auf. Sie wirkten wütend.
Er lächelte. Ich habe eure Anführerin getötet.
Einer der schwarzen Zauberer sagte etwas, ein anderer zuckte die Achseln und nickte. Dann gingen sie davon.
Tryss biss die Zähne zusammen und hob abermals den Kopf. Zwischen den schwarzen Roben der Pentadrianer hindurch konnte er die Zauberin sehen. Plötzlich streckte sie die Hand aus und zog erst einen Pfeil aus ihrem Körper, dann den nächsten, bevor sie beide beiseitewarf.
Das Gift müsste mittlerweile schon wirken.
Stattdessen wandte sie sich um und kehrte in die Schlacht zurück.
Wenn er seinen Kiefer hätte bewegen können, hätte er geflucht. So wie die Dinge lagen, konnte er nur die Augen schließen und den Kopf sinken lassen. Drilli wird so wütend auf mich sein.
Und dann ließ er sich von der Dunkelheit umfangen.
Im Laufe des Tages hatten die Weißen sich langsam der Mitte des Tals genähert, immer auf der Suche nach einer frischen Magiequelle. Auch die schwarzen Zauberer waren Schritt um Schritt vorgerückt. Die Armeen zwischen ihnen wurden immer kleiner. Auraya konnte jetzt die Gesichter ihrer Gegner sehen. Um auf sie zuzugehen, musste sie jedoch über tote und verletzte Männer und Frauen steigen. Die Verbindung zu den anderen Weißen half ihr, sich auf den Kampf zu konzentrieren, aber sie spürte eine wachsende Anspannung in den Gedanken ihrer Gefährten. Sie hatte Angst davor, dass die Verbindung abreißen könnte, so dass sie nicht länger vor der trostlosen, schrecklichen Realität der Schlacht geschützt sein würde.
Vielleicht würde sie diesen Zustand nicht lange ertragen müssen. Sie wusste, dass die zirklische Armee verlor. Sie wusste, dass die Worns zu viele Priester und Priesterinnen getötet hatten und dass dies vielleicht endgültig die Waage zugunsten der Pentadrianer senken würde. Außerdem war ihr bewusst, dass zu viele Siyee ihr Leben gelassen hatten...
Jurans Enttäuschung war für sie alle fühlbar. Er klammerte sich an die Hoffnung, dass der Feind einen Fehler machen würde. Eine einzige Fehlentscheidung, die sie ausnutzen konnten.
Als es geschah, kam es von einer so unerwarteten Quelle, dass sie es zuerst nicht bemerkten.
Die mächtigere der beiden Zauberinnen geriet ins Wanken. Juran reagierte sofort und griff den schwächeren der pentadrianischen Zauberer an, in der Hoffnung, dass seine Gefährten ihn nicht rechtzeitig beschirmen würden. Der Mann schützte sich, was jedoch bedeutete, dass er nicht gleichzeitig seine Leute verteidigen konnte. Als die Feinde fielen, frohlockte Auraya innerlich.
Dann regnete es Leichen vom Himmel.
Sie sog entsetzt die Luft ein. Die Pentadrianer hatten ihre eigenen Soldaten geopfert, um genug Magie für einen Schlag gegen die Siyee aufbringen zu können. Aber warum die Siyee? Sie stellten inzwischen nur noch eine geringe Bedrohung dar.
Sie bemerkte, dass der Anführer der Pentadrianer emporsah. Er dirigierte die Angriffe. Als er ihren Blick auffing, grinste er hämisch, und Hass regte sich in Auraya.
Er glaubt immer noch, dass Auraya sich eine günstige Gelegenheit zum Angriff entgehen lassen wird, um die Siyee zu schützen, sagte Juran. Ich werde sie schützen, Auraya. Kämpfe du gegen den Anführer.
Sie knirschte mit den Zähnen und zog schneller als je zuvor Magie in sich hinein. Die Magie wogte ihr entgegen, klar und machtvoll. Sie konnte sie um sich herum spüren, konnte spüren, wie sie auf ihren Willen und ihren Zorn reagierte und sich in ihr ansammelte und zusammenballte. Überwältigt von einem neuen Gefühl von Bewusstheit, schloss sie die Augen. Die Zeit hielt inne.
Jetzt, Auraya!
Jurans Ruf holte sie mit Macht in die Welt der Dinge zurück. Sie öffnete die Augen und schleuderte dem Anführer der Pentadrianer die geballte Wucht ihrer Magie entgegen. Alle Selbstgefälligkeit wich aus den Zügen des Pentadrianers. Seine Abwehr geriet ins Wanken, und er stürzte rückwärts zu Boden und riss die Männer und Frauen hinter sich mit.
Auraya wartete darauf, dass er sich wieder erhob. Wartete auf Jurans nächsten Befehl. Langsam wurde ihr die Überraschung der anderen Weißen bewusst und die verringerte Kraft des Feindes. Etliche Pentadrianer umringten jetzt ihren Anführer. Ein Schrei zerriss die Luft.
Sie sagen, er sei tot, rief Dyara. Kuar ist tot!
Auraya starrte ihre Gefährtin an.
Das ist unmöglich. Er muss bewusstlos sein. Sie müssen sich irren, wenn sie glauben, er sei tot.
Er versucht, uns mit einer List dazu zu bringen, in unserer Wachsamkeit nachzulassen.
Nein, Auraya, sagte Rian. Ich bezweifle, dass irgendjemand diesen Angriff hätte überleben können.
Aber...
Er hat den Fehler gemacht, auf den wir gehofft hatten, erklärte Juran triumphierend. Er hat nicht mit einem derart mächtigen Angriff gerechnet und es versäumt, seine gesamte Stärke in seine Verteidigung fließen zu lassen. Vielleicht hat er jemand anderen geschützt. Jemanden, von dem wir nichts wissen.
Wir haben gesiegt!, jubelte Mairae, doch ihr Lächeln verblasste schon bald. Was tun wir jetzt?
Wir töten sie, antwortete Rian. Wenn wir es nicht tun, werden sie immer eine Gefahr für uns darstellen.
Rian hat recht, erklärte Juran. Wir haben keine andere Wahl. Wir brauchen nur die Anführer zu töten. Die anderen können wir getrost am Leben lassen...
Sofern sie kapitulieren, fügte Dyara hinzu.
Auraya spürte, wie Juran und die anderen Magie sammelten. Sie tat das Gleiche.
Nein!
Die Stimme donnerte durch Aurayas Gedanken. Sie erschrak so heftig, dass sie um ein Haar ihren Schutzschild hätte sinken lassen.
Chaia!, rief Juran.
Ja, ich bin es. Tötet die Anführerdes Feindes nicht. Wenn ihr es tut, werden andere ihren Platz einnehmen. Diese Leute kennt ihr jetzt. Ihr wisst, wie sie kämpfen. Ihr wisst, dass ihr ihnen überlegen seid. Lasst sie ziehen.
Das werden wir, erwiderte Juran. Auraya konnte Erleichterung und Verwirrung bei ihm wahrnehmen. Als die Aura des Gottes verblasste, wandte sich Juran wieder den feindlichen Zauberern zu. Die vier Pentadrianer standen mit regloser Miene da, versuchten aber nicht länger, sie anzugreifen.
Wir werden ihnen entgegengehen, beschloss Juran.
Als sie sich durch die Soldaten ihrer Armee hindurchbewegten, breitete sich langsam Stille auf dem Schlachtfeld aus. Die Kämpfe brachen ab, und die beiden Parteien zogen sich voneinander zurück. Die vier pentadrianischen Zauberer rückten näher zusammen. Dann nahm Auraya ein neues Geräusch wahr. Es waren laute Schreie. Sie sah sich um, erfüllt von der Furcht, der Kampf könnte von neuem begonnen haben.
Es dauerte einige Augenblicke, bis sie begriff, dass die Zirkler in lauten Jubel ausgebrochen waren.
Als die beiden Armeen zu kämpfen aufhörten und sich auf gegenüberliegende Seiten des Tals zurückzogen, stieß Emerahl einen langen Seufzer aus.
Ich wusste, dass es zu schön war, um wahr zu sein, ging es ihr durch den Kopf. Für eine Weile habe ich tatsächlich geglaubt, diese Pentadrianer würden mein Problem mit den Zirklern für mich lösen.
Aber die Götter würden es den Heiden niemals gestatten, ihre Anhänger auszulöschen. Zweifellos waren sie auf irgendeine Weise eingeschritten, um den Sieg der Weißen zu sichern.
Warum sie allerdings bis zum Ende des Tages damit gewartet hatten, war ein Rätsel. Die tief am Himmel stehende Sonne tauchte das Tal in ein sanftes Licht, das sich auf Waffen und Schilden brach und die weißen Roben mit einem goldenen Schimmer überhauchte. Die meisten dieser Roben waren auf dem Boden zu sehen und gehörten den Toten, Sterbenden und Verletzten.
Schon bald würden die Traumweber mit ihrer Arbeit beginnen.
Emerahl konnte eine wachsende Anspannung unter den Menschen um sich herum spüren. Sie warteten auf den Abzug der beiden Armeen. Sie hatte noch nie erlebt, dass Traumweber so zögerlich oder so ängstlich waren. Aber vermutlich hatten die Netzerinnerungen ihrer Vorgänger sie Vorsicht gelehrt.
Nach ihrem Aufbruch von der Karawane des Bordells war sie einige Stunden die Straße in Richtung Toren entlanggegangen, bevor sie sich auf den Weg quer durch die Ebenen gemacht hatte. Auch wenn Rozea beschloss, den Verlust ihrer Favoritin für sich zu behalten, würden sich die Geschichten von der Hure, die sich als Zauberin erwiesen hatte, verbreiten, und jeder, der sie einem anderen erzählte, würde noch zusätzliche Einzelheiten hinzuerfinden. Falls ein zirklischer Priester auf die Idee kommen sollte, der Sache auf den Grund zu gehen, sollte er glauben, Emerahl sei auf dem Weg zurück nach Toren. Niemand würde erwarten, dass sie der Armee auch weiterhin folgen würde. Zumindest hoffte sie, dass die Zirkler so denken würden. Sie besah sich die ängstlichen Menschen in der Nähe und lächelte. Sie wussten nicht, was sie von ihr halten sollten. Sie war eine junge, schlicht gekleidete Frau, die allein am Rand eines Schlachtfelds umherwanderte – zu hübsch, um eine der Huren zu sein, die ohne Schutz der Armee folgten. Als sie ihnen erklärt hatte, dass sie die Quelle des Turmtraums suche, von dem sie glaubte, er sei eine Netzerinnerung an Mirars Tod, hatten die beiden Männer, die die Gruppe anführten, sich zu einem langen Gespräch zurückgezogen.
»Unter uns ist jemand, der der Träumer sein könnte, nach dem du suchst«, hatten sie ihr schließlich offenbart. »Er hat viele Netzerinnerungen von Mirar. Wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind, werden wir dich zu ihm bringen.«
Also hatte sie mit ihnen gewartet und das Ende der größten Schlacht mit angesehen, die jemals auf nordithanischem Boden getobt hatte. Es war schwer, sich diese Chance entgehen zu lassen. Sie hatte einen so großen Teil ihres Lebens darauf verwandt, Konflikte zu vermeiden, dass sie kaum jemals Ereignisse miterlebt hatte, aus denen einmal Legenden werden würden.
Jetzt habe ich etwas, das ich an Essenstischen und Lagerfeuern erzählen kann, und mein Publikum wird noch in Jahrtausenden von meinen Berichten beeindruckt sein, dachte sie ironisch.
Im Tal unter ihr entfernten sich die Weißen langsam von den schwarzen Zauberern. Der Leichnam des pentadrianischen Anführers wurde weggetragen.
»Sie erlauben ihnen zu kapitulieren«, sagte einer der Traumweber mit unüberhörbarer Überraschung.
»Vielleicht ist selbst ihnen klar, dass für heute genug Blut vergossen wurde.«
»Ich bezweifle es.«
Emerahl war geneigt, dem Mann, der als Letzter gesprochen hatte, recht zu geben, aber sie enthielt sich jeder Bemerkung. Viele der zirklischen Kämpfer und Priester und Priesterinnen waren im Tal zurückgeblieben und wanderten jetzt zwischen den Toten und Sterbenden umher. Das Gleiche taten einige der Pentadrianer.
»Es wird Zeit«, sagte der Anführer der Traumweber.
Emerahl spürte, wie die Spannung mit einem Mal nachließ und Entschlossenheit an ihre Stelle trat. Ausgerüstet mit ihren Medizinbeuteln, gingen die Traumweber ins Tal hinunter, gefolgt von Schülern, die schwere Säcke mit Verbandszeug und Wasserschläuche trugen.
Sie konnte sich ihnen nicht anschließen. Dort unten waren noch immer Priester und Priesterinnen beschäftigt. Wenn sie als einzige Heilerin, die weder ein Traumweberwams noch einen Zirk trug, zwischen den Verwundeten umherstreifte, würde sie Aufmerksamkeit erregen.
Dann muss ich mit den anderen verschmelzen. Ich brauche Traumweberroben...
Sie drehte sich zu den Tarns um; dort müssten zusätzliche Kleidungsstücke zu finden sein. Gewiss würde es den Traumwebern nichts ausmachen, wenn sie sich etwas zum Anziehen borgte?
Sie stand auf und ging zurück zum Lager der Traumweber.
Priester Tauken trat über einen geköpften Leichnam und blieb stehen. Nur wenige Schritte entfernt lag ein junger Soldat, der sich die Arme fest um den Leib geschlungen hatte. Er konnte den Mann um Atem ringen hören. Tauken trat neben ihn und ging in die Hocke. Der junge Mann blickte zu ihm auf, die Augen groß vor Hoffnung.
»Hilf mir«, stieß er hervor.
»Lass dich ansehen«, erwiderte Tauken.
Der junge Mann nahm widerstrebend die Arme beiseite. Die Bewegung bereitete ihm offenkundig Schmerzen, aber das Einzige, was er über die Lippen brachte, war ein schwaches Wimmern.
Der Soldat trug einen eisernen Brustpanzer, aber nicht einmal der konnte den Schlag eines guten Schwertes abwehren. Aus einem großen Schlitz in dem Panzer quoll Blut.
»Wir müssen dich zunächst einmal aus diesem Ding herausholen.«
Der Soldat gestattete ihm, die Rüstung zu entfernen, obwohl sein Blick inzwischen glasig war. Tauken riss die Kleider rund um die Wunde auf und beugte sich über den Mann. Er konnte ein leises, saugendes Geräusch hören, das dem Rhythmus des Atems des Verletzten folgte. Seine Hoffnung schwand. Diesen Mann würden sie nicht retten können.
Als er wieder aufstand, sahen ihn die beiden Lagerdiener, die ihm zur Hand gehen sollten, erwartungsvoll an. Er erwiderte ihren Blick und machte eine knappe Handbewegung zum Zeichen, dass sie nicht bleiben würden. Die Diener nickten und wandten sich ab, dann leuchtete plötzlich neue Hoffnung in ihren Augen.
Tauken drehte sich um, um herauszufinden, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Eine Traumweberin stand in der Nähe und beobachtete ihn. Ihrem Aussehen nach musste sie eine Somreyanerin sein. »Bist du fertig?«, fragte sie. Juran hatte verfügt, dass die Soldaten an diesem Tag die Dienste der Traumweber ungestraft in Anspruch nehmen durften. Tauken öffnete den Mund, dann zögerte er. Wenn er die Frage der Frau laut bejahte, würde er dem sterbenden Soldaten damit sagen, dass es um ihn geschehen war. Also nickte er nur stumm.
Die Traumweberin trat vor und blickte auf den Mann hinab. »Eine Brustverletzung. Seine Lunge ist durchstoßen worden.«
Während die Traumweberin sich vor dem Soldaten auf die Knie niederließ, wandte Tauken sich ab. Er ging einige Schritte, blieb jedoch jäh stehen, als die Frau einen durchdringenden Pfiff ausstieß. Er drehte sich um und sah einen jüngeren Traumweber zu ihr hinübereilen. Sie nahm ihm einige Verbände und eine kleine Schale ab, die er mit Wasser aus einem Krug füllte. Als der Junge wieder davoneilte, um auf einen weiteren Pfiff zu reagieren, holte die Traumweberin einen kleinen Krug aus ihrem Wams und kippte ein wenig Pulver daraus in das Wasser.
Tauken wusste, dass er sich zurückziehen sollte, aber seine Neugier gewann die Oberhand. Mit flinken, geschickten Bewegungen wusch die Traumweberin die Wunde aus, dann legte sie das blutverschmierte Tuch beiseite und hielt inne. Tauken sah, wie ihre Schultern sich hoben und senkten, während sie ein- und ausatmete, dann legte sie eine Hand auf die Wunde und schloss die Augen.
Irgendetwas stimmte da nicht. Aber erst, als er sah, wie die Traumweberin ihre Magie benutzte, wurde Tauken klar, was es war.
»Du hast nicht gefragt, ob er deine Hilfe überhaupt will«, sagte er.
Sie runzelte die Stirn, öffnete die Augen und drehte sich zu ihm um. »Er ist bewusstlos.«
»Also kann er kaum für sich entscheiden.«
»Dann musst du für ihn entscheiden«, sagte sie gelassen.
Er starrte sie an. Früher einmal hätte er sie weggeschickt. Für den jungen Soldaten war es besser zu sterben, als seine Seele aufs Spiel zu setzen, indem er sich von einer Traumweberin heilen ließ. Aber andererseits wusste Tauken, dass er selbst, wäre er an der Stelle des jungen Mannes gewesen, hätte leben wollen. Wenn Juran das Verbot für einen Tag aufheben konnte, dann mussten die Götter beabsichtigen, jenen, die die Dienste von Traumwebern in Anspruch nahmen, zu verzeihen.
Wer bin ich, diesem Mann das Leben zu verwehren? Wenn ein Mensch die Hilfe eines Traumwebers in Anspruch nimmt, wird er noch lange nicht zu einem der ihren. Und wir könnten eine Menge von ihnen lernen.
Er hoffte nur, dass der junge Mann seiner Meinung war.
»Heile ihn«, sagte er. Dann winkte er seine Helfer herbei und ging weiter.
»Verzeiht mir, ihr Götter«, murmelte er vor sich hin.
Das Lager der Zirkler wurde von tausend Fackeln erhellt. Es hätte ein fröhliches Bild sein sollen, aber diese Lichter enthüllten schreckliche Dinge.
Gegen Ende der Schlacht hatten die Worns das Lager angegriffen und schutzlose Diener und Tiere getötet. Auraya konnte sehen, dass die Überlebenden bei den Aufräumarbeiten ihr Bestes gaben. Einige trugen Leichen fort, andere kümmerten sich um die Verletzten. Die Reyna, die ihre Reiter verloren hatten, waren eingefangen worden und wurden jetzt benutzt, um Tote zum Rand des Lagers zu tragen. Während sie all das beobachtete, wünschte Auraya beinahe, sie und die anderen Weißen hätten den Pentadrianern den Garaus gemacht.
Aber die Götter hatten recht, sie leben zu lassen. Ich mag kein unnötiges Gemetzel. Ich mag auch kein notwendiges Gemetzel, aber wer einen besiegten Feind tötet, begeht im Grunde einen kaltblütigen Mord.
Sie hatten die Welt von den schwarzen Zauberern befreien wollen. Jetzt, nachdem sie ein wenig nachgedacht hatte, begriff sie, welche Konsequenzen das hätte haben können. Die Schlacht hätte sich noch weiter in die Länge ziehen können, und dann wären noch mehr Menschen gestorben.
Andererseits war ihr klargeworden, dass sie ihre Entscheidung, die vier schwarzen Zauberer auf den südlichen Kontinent zurückkehren zu lassen, in Zukunft vielleicht noch bereuen würden. Wenn der pentadrianische Anführer durch einen ebenso mächtigen Zauberer ersetzt wurde, drohte Nordithania vielleicht eine weitere Invasion. Allerdings war es sehr ungewöhnlich, dass während des vergangenen Jahrhunderts fünf mächtige Zauberer geboren worden waren. Es war unwahrscheinlich, dass innerhalb der nächsten Zeit ein weiterer auftauchen würde.
Die Leute aus dem Süden werden es sich gründlich überlegen, bevor sie uns ein zweites Mal angreifen, sagte sich Auraya. Sie dachte an die leuchtende Gestalt, die sie gesehen hatte, nachdem die Pentadrianer die Minen verlassen hatten. Ob es eine Illusion oder ein neuer Gott gewesen war, er hatte ihren Feinden jedenfalls nicht zum Sieg verholten.
Auch das wird sie zögern lassen, falls sie erwägen sollten, einen weiteren Eroberungsversuch zu unternehmen.
Während unsere Götter Nordithania durch uns erfolgreich geschützt haben. Sie lächelte, doch ihr Lächeln verblasste sogleich wieder. Seit dem Tod des pentadrianischen Anführers hatte sie das Geschehene im Geist wieder und wieder durchgespielt. Nicht um sich daran zu erfreuen, dass sie den tödlichen Schlag geführt hatte, sondern um zu begreifen, was passiert war.
Sie erinnerte sich sehr deutlich an ein neues Bewusstsein von Magie, das sie erfüllt hatte. Sie hatte es spüren können. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie sich in diesen Bewusstseinszustand zurückversetzen. Irgendwie hatte sie die Fähigkeit gewonnen, mehr Magie zu benutzen, als sie es je zuvor vermocht hatte.
Die anderen Weißen waren von der Stärke ihres Angriffs überrascht gewesen. Von Zeit zu Zeit ertappte sie Juran dabei, wie er sie verwundert musterte. Vielleicht hatte sie schneller als erwartet gelernt, ihre Gaben zu nutzen. Aber die anderen Weißen waren auch nicht gezwungen gewesen, ihre Fähigkeit in einem Krieg unter Beweis zu stellen. Vielleicht überraschte es Juran auch nur, dass sie es gewesen war, die den entscheidenden Schlag geführt hatte, und nicht er. Falls es so war, hegte er deswegen keinen Groll gegen sie, sondern schien vielmehr erfreut zu sein. Sie betrachtete seine Anerkennung mit einem Anflug von Argwohn und fragte sich, ob ihre Leistung ihn dazu veranlassen würde, ihr ihre Affäre mit Leiard zu verzeihen.
Bei dem Gedanken an Leiard durchzuckte sie ein scharfer Schmerz, und sie war froh, dass sie nicht mehr mit den anderen Weißen verbunden war. Dann straffte sie sich. Leiard war ein Fehler, der der Vergangenheit angehörte, eine Lektion, was die Gefahren der Liebe betraf. Jetzt, nach der Schlacht, erschien ihr ihre Vernarrtheit in den Traumweber kindlich und töricht. Es war an der Zeit, an wichtigere Dinge zu denken:
Ihr Volk – und das der Siyee – musste sich von den Strapazen erholen.
Ein einsamer Reiter galoppierte zu den Weißen hinüber.
Auraya, die ihn beobachtete, war dankbar für die Ablenkung. Die Ratgeber hatten berichtet, dass König Guire und Vermittler Meeran einige Stunden nachdem sie vor den Worns geflohen waren, zurückgekehrt waren. König Berro dagegen war seither nicht mehr gesehen worden.
Der Reiter brachte sein Tier vor Juran zum Stehen. »Wir haben noch keine Spur von ihm finden können, Juran von den Weißen. Wir könnten eine zweite Gruppe Fährtensucher ausschicken.«
»Ja«, antwortete Juran. »Tut das.«
Der Mann eilte davon. Die Weißen gingen weiter hügelabwärts auf das Lager zu. Als sie es fast erreicht hatten, rief eine vertraute, hohe Stimme Aurayas Namen. Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus, als Unfug vom Dach eines Tarns sprang und über den schlammigen Boden auf sie zugehüpft kam. Zwei weitere Veez folgten ihm, ein schwarzer und ein orangefarbener. Als Unfug an Aurayas Robe auf ihre Schulter hinaufkletterte, rannten die anderen Veez zu Mairae und Dyara hinüber.
»Du kleiner Ausbrecher«, schalt Dyara, während sie über den leuchtend orangefarbenen Kopf ihres Schoßtieres strich. Dann sah sie Unfug argwöhnisch an.
»Hat er etwa einen schlechten Einfluss auf Glück?«
Auraya lächelte. »Vermutlich. Hat er...?«
Plötzlich hörten sie Flügelschlagen, und Aurayas Herz setzte einen Schlag aus. Sie blickte hastig zum Himmel auf und sah zu ihrer Erleichterung Sprecherin Sirri und zwei andere Siyee zu ihnen hinabsteigen. Als sie landeten, ging Juran auf sie zu.
»Sprecherin Sirri. Wir stehen tief in Eurer Schuld. Ihr wart uns heute ein unschätzbarer Verbündeter.«
Sirri lächelte grimmig. »Es war unsere erste Erfahrung mit einem Krieg. Wir haben heute viel gelernt und einen hohen Preis dafür gezahlt, obwohl unsere Verluste nichts sind im Vergleich zu euren. Als die Worns unsere nicht kämpfenden Leute angegriffen haben, konnten sie entkommen.«
»Alle Verluste sind gleichermaßen furchtbar«, erwiderte Juran. »Unsere Heilerpriester werden sich um die Verwundeten der Siyee ebenso kümmern wie um die der Landgeher.«
Sirri wirkte verwundert, und Auraya sah in den Gedanken der Frau Bilder von den vielen hundert Traumwebern, die auf das Schlachtfeld gekommen waren.
»Dann werde ich euren Priestern diejenigen von meinen Leuten schicken, die nicht an den Kämpfen beteiligt waren. Sie sind ausgeruht und können kleine Lasten sehr schnell von einem Ort zum anderen bringen.«
Juran nickte. »Ihre Hilfe wäre uns sehr willkommen. Gibt es sonst noch irgendetwas, das du brauchst?«
»Nein. Aber ich habe gerade etwas erfahren, das dich vielleicht interessieren wird. Einer meiner Leute hat in nordwestlicher Richtung einen Mann in einem Baum sitzen sehen. Meine Jägerin hat mir berichtet, seine Rufe hätten ihre Aufmerksamkeit erregt, aber sie hat es nicht gewagt zu landen, da sie eins dieser großen Raubtiere des Feindes in der Nähe hören konnte.«
Juran zog die Augenbrauen hoch. »Das ist in der Tat interessant. Könntest du diese Jägerin zu uns schicken, damit wir den Mann, den sie gesehen hat, suchen können?«
»Natürlich.«
»Vielen Dank, Sprecherin Sirri.«
Sie nickte, dann wandte sie sich zum Gehen. »Ich werde meine Leute zusammenrufen und euch so viele Helfer schicken, wie ich kann.«
Als sie mit ihren Gefährten davongeflogen war, drehte Juran sich zu Auraya um. »Ich denke, es wäre das Beste, wenn du diese Jägerin begleiten würdest.«
Aber...zeige deine Fähigkeiten nicht allzu deutlich, fügte er hinzu. Es gibt eine feine Grenze zwischen Dankbarkeit und Groll.
Ich nehme an,dass die Grenze in König Berros Fall ganz besonders fein ist. Ich werde vorsichtig sein.
»Dieser arme Mann wird ein Reittier brauchen, um zum Lager zurückzukommen«, sagte sie laut.
Juran lächelte. »Ja, und vertraute Gesichter, die den Schock, den er erlitten hat, ein wenig mildern.«
Sie hätte um ein Haar laut aufgelacht. Wenn einige Landgeher zugegen waren, die die Rettung beobachteten, würden alle erfahren, dass der König von Toren sein Leben den Siyee verdankte.
Und das konnte gewiss nicht schaden.
Überall waren Gebiete, die jedweder Magie beraubt waren, aber das war normal für ein Schlachtfeld. Zum Ausgleich brauchte Leiard sich lediglich auf das Gefühl von Magie um ihn herum zu konzentrieren und seine Kraft aus den noch unverbrauchten Bereichen zu ziehen.
Er ließ die Magie durch sich selbst in den Verletzten fließen und bewegte Knochen und Fleisch, bis sie sich wieder zusammenfügten. Die Flüssigkeiten kehrten in die ihnen gemäßen Bahnen zurück. Leiard hörte den Mann vor Schmerz stöhnen und blockierte das Nervengewebe abermals, diesmal so, dass sich der Vorgang leicht umkehren ließ. Während er das Bein versorgte, behob Leiard auch die übrigen Schäden. Er strich mit der Hand über die Haut des Mannes und verspürte eine tiefe Befriedigung angesichts des narbenfreien Gewebes, dann löste er die Blockade der Nervenbahnen wieder und machte sich auf die Suche nach einem anderen Patienten.
Er brauchte lediglich seinen Geist zu öffnen und sich von den Gedanken der Verletzten und Sterbenden leiten zu lassen. Verworrene, trübe Regungen führten ihn zu einer pentadrianischen Zauberin. Die Frau hatte einen Schlag auf den Kopf bekommen, der einen blutigen Krater hinterlassen hatte.
Ich kann sie nicht retten, dachte er. Ihr Geist wird zerstört sein.
Doch, du kannst es, flüsterte Mirar. Ich werde dir helfen. Leiard ging neben der Frau in die Hocke und legte eine Hand auf die Wunde, dann ließ er sich von Mirar führen. Die Arbeit war so kunstvoll, dass er kaum zu atmen wagte. Mirars Wille fügte sich mit seinem zusammen, wie es in dieser Nacht so viele Male geschehen war, bis er beinahe glaubte, sich selbst zu verlieren. Ein Gefühl von Panik ergriff ihn, aber er hielt seine Angst im Zaum. Um der Frau willen.
Leiard spürte, wie sich der Krater im Schädel der Frau unter seinen Händen ausdehnte. Knochen fügten sich zusammen. Die Schwellungen im Gehirn gingen zurück.
Wird sie wieder ganz normal werden?, fragte Leiard.
Nein, sie wird sich an manche Dinge nicht mehr erinnern, antwortete Mirar. Es müssen nicht unbedingt Teile ihrer Vergangenheit sein. Wahrscheinlich wird sie etwas neu erlernen müssen, das Gehen zum Beispiel oder das Tanzen – oder das Sehen.
Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist.
Doch, du wusstest es. Du hast es lediglich vergessen.
Die Frau war geheilt. Sie schlug die Augen auf und blickte Leiard überrascht an. Dann erhob sie sich und sah sich auf dem Schlachtfeld um. Leiard drehte sie zu der pentadrianischen Seite des Tals und hob die Hand, um ihr die Richtung zu zeigen. Die Frau nickte, dann ging sie davon.
Leiard wandte sich ab. Schmerz und Trauer zogen ihn zu einem jungen Siyee hinüber, dessen Arme und Beine in unnatürlichen Winkeln verbogen waren. Neben ihm kniete eine junge Siyee und schluchzte.
Ein weiteres Opfer eines Sturzes, bemerkte Mirar. Auch sein Rückgrat könnte gebrochen sein. Dies würde viel Magie und Konzentration erfordern. Leiard kümmerte sich nicht um das weinende Mädchen, sondern kniete sich neben den Siyee und zog Magie in sich hinein.
Danjin schreckte aus dem Schlaf auf. Er lag an einem Feuer. Flammen züngelten an einem frischen Holzscheit.
Wie lange habe ich geschlafen?
Er richtete sich auf. Ein Diener ging an ihm vorbei, wahrscheinlich der Mann, der das Holz gebracht hatte. Er sah sich im Lager um. Es brannten jetzt weniger Lampen als zuvor. Nur eine Handvoll Menschen bewegte sich noch leise umher. Über allem lag eine tiefe Stille. Kein Wind. Nur wenig Geräusche.
Dann blickte er auf. Im Osten war bereits ein schwaches Leuchten zu erkennen. Die Morgendämmerung. Ich habe fast die ganze Nacht geschlafen.
Das war nicht seine Absicht gewesen. Er hatte eigentlich nur ein warmes Getränk und etwas zu essen zu sich nehmen wollen. Das Schlafen auf dem Boden war ihm nicht gut bekommen; ihm taten alle Knochen weh. Ohne ein festes Ziel im Sinn stand er auf, reckte sich und ging los.
Seine Beine trugen ihn zu einer Seite des Lagers hinüber. Es freute ihn ungemein, einen toten Worn dort liegen zu sehen, mit einer Vielzahl von Pfeilen, Messern und sogar Holzsplittern in der Flanke. Dahinter lag eine lange Reihe von Leichen – die Diener, die ihr Leben gelassen hatten. Es war ein schlimmer Anblick, aber nichts im Vergleich zu dem Schlachtfeld auf der anderen Seite des Felsvorsprungs.
Als er zum Tal hinüberblickte, sah er eine Gruppe von Dienern am Rand des Lagers stehen. Dann löste sich eine Gestalt aus der Dunkelheit. Ein blutverschmierter hanianischer Soldat. Zwei Diener traten vor, hüllten den Mann in eine Decke und führten ihn zu einem Feuer.
Als kurz darauf zwei dunwegische Krieger erschienen, wurde Danjin klar, was dort geschah. Dies waren die Überlebenden der Schlacht, die von Priestern und Traumwebern geheilt worden waren.
Das muss ich sehen.
Danjin ging an den wartenden Dienern vorbei den Hügel hinauf. Der Himmel wurde jetzt langsam heller. Als er oben auf dem Felsvorsprung angekommen war, konnte er Männer und Frauen zum Lager zurückkehren sehen. Einige gingen, andere humpelten. Wieder andere wurden von Dienern gestützt. Einige wenige mussten getragen werden. Auf dem Felsvorsprung stand eine vertraute Gestalt. Schuldgefühle durchzuckten ihn, als er sie sah. Sie drehte sich zu ihm um, dann winkte sie ihn herbei.
»Guten Morgen, Danjin Speer«, sagte Auraya leise.
»Auraya«, erwiderte er. »Ich muss mich entschuldigen.«
»Wenn du das möchtest, dann tu es. Aber dich trifft keine Schuld. Sie hätten es ohnehin herausgefunden. Ich hatte vor, es ihnen irgendwann zu sagen – und dir auch.«
Er blickte zu Boden. »Du musst wissen, dass ich glaube, du hättest eine bessere Wahl treffen können.«
»Ja.«
»Ob es nun eine gute Wahl war oder nicht, du bist sicher... enttäuscht über das Ergebnis.«
Sie lächelte müde. »Wie taktvoll du dich ausdrückst. Ja, ich war enttäuscht. Aber das gehört jetzt der Vergangenheit an. Ich muss mich um wichtigere Dinge kümmern.«
Er lächelte. »Das ist allerdings wahr.«
Sie wandte sich dem Tal zu. Als Danjin ihrem Blick folgte, sah er Bewegungen zwischen den gefallenen Soldaten. Traumweber und Priester bei der Arbeit.
»Die Veränderung, die schon lange mein Ziel war, ist nun von allein eingetreten«, murmelte sie.
»Veränderung?«
Sie hob die Hände. »Statt die Heilkünste der Traumweber zu ignorieren oder ins Verächtliche zu ziehen, schenken die Heilerpriester ihnen ihre Aufmerksamkeit. Sie werden heute viel lernen.«
Danjin sah sie mit großen Augen an. Priester, die von Traumwebern lernten? War es tatsächlich das, worauf sie die ganze Zeit über hingearbeitet hatte? Als ihm die Konsequenzen dieser Entwicklung dämmerten, war er tief beeindruckt von Aurayas Klugheit. Wenn die Priester die gleichen Dienste wie Traumweber anbieten konnten, würden die Traumweber überflüssig werden.
Wusste Leiard davon? Hat er es jemals auch nur geahnt?
Danjin bezweifelte, dass ihm diese Idee gefallen hätte. Und als seine Geliebte musste Auraya gezögert haben, auf das Ende seiner Zunft hinzuarbeiten, selbst wenn das bedeutet hätte, dass sie die Seelen derer retten würde, die sich anderenfalls in der Zukunft dem heidnischen Kult angeschlossen hätten.
Wie lange plante sie das schon? Und war die Ernennung Leiards zum Traumweberratgeber ein Schritt in diese Richtung gewesen? Jetzt, da Leiard fort war, war sie frei, ihre Arbeit fortzusetzen.
Auraya seufzte und drehte sich um. Danjin blickte wieder zum Lager hinüber und sah, dass die anderen vier Weißen näher kamen.
»Wir werden uns jetzt ein wenig mit den Göttern unterhalten«, bemerkte Auraya leichthin. »Geh zurück zum Lager, Danjin. Ich werde bald zum Frühstück nachkommen.«
Er nickte, dann sah er ihr nach, während sie den Hang hinunter zu den anderen Weißen ging.
Ein Soldat kam aus dem Tal auf ihn zugehumpelt. Er warf noch einen letzten Blick auf Auraya, dann eilte er hinüber, um dem Mann zu helfen.
Tryss versuchte nun schon lange, es zu verstehen. Seit Stunden hatte er benommen dagelegen und gelauscht, wie Männer und Frauen sich leise in Sprachen unterhielten, die er nicht verstand. In ihren Stimmen lag ein Unterton von Verzweiflung. Erst viel später wurde ihm klar, dass es Gebete waren, die er hörte. Das Gemurmel brach nicht ab. Irgendwann aber waren die meisten Stimmen verklungen. Er fragte sich, ob die Götter geantwortet hatten. Er hoffte es. Jetzt erklang eine neue Stimme, aber diese sagte nicht die Namen der Götter, sondern einen vertrauteren Namen.
»Tryss! Du lebst! Tryss! Wach auf! Sprich mit mir!«
Die Stimme war so vertraut. Und irgendwie tröstlich. Trotzdem würde er nicht tun, was sie sagte. Aufwachen bedeutete Schmerz. Und er hatte an diesem Tag schon mehr als genug Schmerzen erlitten.
»Tryss...« Es folgte eine lange Pause, dann ein erstickter Laut. »Tryss. Ich muss dir etwas erzählen. Wach auf.«
Neugier regte sich in ihm, aber es war nicht genug. Die Erinnerung an den Schmerz war zu erschreckend. Er ließ sich wieder in einen benommenen Schlummer sinken. Dann kehrte der Schmerz zu ihm zurück.
Es war nicht wie zuvor – ein ferner, steter Schmerz. Dieser Schmerz kam in kurzen Stichen. Wann immer er durch seinen Körper schoss, folgte eine kurze Phase, in der ihm nichts wehtat. Irgendjemand wollte ihm nicht gestatten, in dem behaglichen Zustand des Schlummers zu verweilen. Die Stimme wird glücklich sein, dachte er mürrisch. Ich wache auf; genau das, was sie will. Ich werde die Augen öffnen und...
Plötzlich sah er ein Gesicht über sich. Ein Mann beugte sich, die Stirn konzentriert gerunzelt, über ihn. Das Gesicht passte nicht zu der Stimme.
»Tryss! Oh, ich danke dir!«
Der Ausruf kam von Tryss’ linker Seite. Er wollte den Kopf in diese Richtung wenden, aber es tat zu weh. Also verdrehte er die Augen. Er konnte ein verschwommenes Gesicht sehen. Ein weibliches Gesicht.
Sie beugte sich vor, und das Wissen, wer sie war, traf ihn wie ein Blitzschlag. »Drilli.«
Ich habe gesprochen, dachte er. Vielleicht liege ich doch nicht im Sterben. Er sah wieder zu dem Mann hinüber. Ein Traumweber. Ein weiterer Stich des Schmerzes durchzuckte Tryss, dann folgte Benommenheit. Er wandte die Augen nach rechts und spürte die Hände des Traumwebers auf seinem Arm.
Dann nahm er eine Bewegung in seinem Arm wahr. Knochen und Fleisch verlagerten sich. Das Gefühl war eigenartig und übelkeiterregend. Tryss entschied, dass es besser sei, nicht hinzusehen. Stattdessen blickte er zu Drilli hinüber. Sie war so schön – selbst mit Schlamm, Schweiß und Blut bedeckt. Sie grinste ihn an, und ihre Augen schimmerten eigenartig.
»Also, was ist es?«, fragte er. Sie blinzelte. »Was ist was?« »Was du mir erzählen musst.«
Zu seiner Erheiterung zögerte sie. »Dann hast du das also gehört.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Vielleicht sollten wir bis später warten. Wenn du geheilt bist.«
»Warum?«
»Es ist noch... zu früh.«
»Zu früh für was?« Er versuchte den Kopf zu heben und stöhnte, als ein scharfer Schmerz durch seinen Rücken zuckte.
»Erzähl es ihm«, sagte der Traumweber leise.
Drilli sah den Mann kurz an, dann nickte sie. »Aber vergiss nicht, dass diese Dinge in den ersten paar Monaten häufig schiefgehen.«
Tryss seufzte und verdrehte die Augen. »Welche Dinge?« Sie biss sich abermals auf die Lippen. »Ich bin – wir werden – wir werden Eltern.«
»Eltern?«
»Ja. Ich trage...«
Ein Kind. Sie ist schwanger. Eine Welle der Erregung schlug über Tryss zusammen. Als der Schmerz das nächste Mal kam, kümmerte er ihn kaum. Er grinste Drilli an.
»Das erklärt, warum dir die ganze Zeit übel war. Ich dachte, es läge an all den Gewürzen, die du in dein Essen tust.«
Sie schnitt eine Grimasse.
Tryss öffnete den Mund, um zu sprechen, brach jedoch ab, als der Traumweber ihm die Hände unter den Hals schob. Schmerz züngelte seinen Körper hinab, dann folgte Taubheit. Der Traumweber verharrte lange Zeit reglos in derselben Position. Langsam kehrte das Gefühl zurück, aber ohne den Schmerz. Schließlich zog der Traumweber die Hände zurück und wandte seine Aufmerksamkeit Tryss’ anderem Arm zu.
»Das war... erstaunlich«, brachte Tryss heraus.
»Beweg dich nicht«, sagte der Traumweber.
Drilli ging um Tryss herum und setzte sich an seine rechte Seite. Er stellte fest, dass er den Arm bewegen konnte. Als er ihn hochhob, bemerkte er zu seiner Überraschung, dass nicht einmal eine Narbe auf seiner Haut zurückgeblieben war.
Er konnte jetzt auch den Kopf drehen, daher beobachtete er den Traumweber bei der Arbeit. Es war beunruhigend, den eigenartigen Winkel zu sehen, in dem sein anderer Arm auf dem Boden lag, aber während der Traumweber langsam die Hände darübergleiten ließ, kehrte sein Ellbogen wieder in die richtige Position zurück. Tryss verspürte ein wachsendes Gefühl der Ehrfurcht. Er hatte zwar von den legendären Fähigkeiten der Traumweber gehört, aber mit etwas Derartigem hatte er nicht gerechnet.
Ich habe im Sterben gelegen, dachte er. Und dieser Mann hat getan, was eigentlich unmöglich hätte sein müssen: Er hat mich wieder gesund gemacht. Er hat mir das Leben gerettet.
Der Traumweber hockte sich hin und unterzog Tryss einer kritischen Musterung. Dann stand er auf und ging davon. »Warte.«
Tryss rappelte sich hoch. Erst jetzt begriff er, was er getan hatte, und hielt inne, um voller Staunen auf seine Arme und seinen Körper zu blicken. Dann eilte er, gefolgt von Drilli, hinter dem Traumweber her.
»Warte. Ich danke dir. Du hast mir das Leben gerettet.«
Der Mann ließ seinen Blick umherstreifen. Er murmelte etwas Unverständliches. Tryss runzelte die Stirn und trat näher an ihn heran.
»Nein. Dort ist es nicht sicher. Aber Jayim. Nein. Vergiss es. Du musst gehen, bevor er mit Arleej zurückkommt.« Der Traumweber hielt inne, dann wurde seine Stimme plötzlich dünn und schwach. »Nur noch einer. Nur noch einer.« Dann schüttelte er den Kopf. »Genug. Die Sonne geht auf. Es wird Zeit.«
Der Traumweber führte Selbstgespräche. Waren alle Traumweber so? Vielleicht benahmen sie sich nur bei der Arbeit so. Tryss hoffte es. Die Vorstellung, von einem Wahnsinnigen geheilt worden zu sein, hatte etwas Beunruhigendes. Mit einem traurigen Kopfschütteln wandte sich Tryss wieder Drilli zu.
»Ich weiß nicht, ob er mich gehört hat. Ich weiß nicht einmal, ob er es kann«, sagte er zu ihr.
Sie nickte und unterzog ihn dann einer eingehenden Musterung. »Was er getan hat... es war unglaublich. Denkst du... denkst du, du kannst fliegen?«
Er grinste. »Lass es uns herausfinden.«
Sie runzelte besorgt die Stirn. »Warte. Was ist, wenn es noch zu früh ist...«
Aber er war bereits losgelaufen. Er rannte mit weit ausgebreiteten Armen über das Schlachtfeld. Er spürte einen leichten Wind unter seinen Flügeln und sprang in die Luft. Als Drilli sich zu ihm gesellte, stieß er einen Freudenschrei aus und schwebte in den Himmel empor.
Nachdem sie etwa eine Stunde lang gegangen waren, blieben die Weißen auf dem Gipfel eines niedrigen Hügels stehen. Auraya blickte zurück. Dünne Rauchfäden waren der einzige Hinweis auf den Standort des Lagers. Sie stellten sich in einem weiten Kreis auf.
»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru«, begann Juran. »Wir danken euch, dass ihr uns die Möglichkeit gegeben habt, Nordithania zu verteidigen. Wir danken euch dafür, dass ihr unser Volk vor den pentadrianischen Eindringlingen geschützt habt.«
»Wir danken euch«, murmelte Auraya zusammen mit den anderen.
»Wir haben in eurem Namen gekämpft, und wir haben den Sieg davongetragen. Jetzt, da wir den Nachwehen dieser Schlacht entgegensehen, brauchen wir eure Leitung umso mehr.«
»Leitet uns.«
»Wir bitten euch, jetzt zu erscheinen, auf dass wir an eurer Weisheit teilhaben können.«
Auraya hielt den Atem an. Ein Leuchten erfüllte den Kreis, das sich schließlich zu fünf Gestalten formte.
Alle fünf, dachte sie. Seit meiner Erwählung habe ich sie nicht mehr alle fünf zusammen gesehen.
Die Gesichtszüge der Götter bildeten sich heraus. Sie lächelten. Auraya konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern. Chaia stand vor Juran.
Wir sind sehr erfreut über euren Sieg, sagte er. Ihr habt eure Sache alle gut gemacht. Und Auraya... Der Gott wandte sich zu ihr um. Du hast selbst unsere Erwartungen übertroffen.
Auraya spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Sie senkte den Blick, erheitert über ihre eigene Verlegenheit angesichts seines Lobs.
Was wollt ihr von uns wissen? Die Frage kam von Huan.
»Wir haben eure Anweisungen befolgt und den überlebenden Pentadrianern gestattet, sich zu ergeben und in ihre Länder zurückzukehren«, antwortete Juran, »aber wir fürchten die Konsequenzen dieser Entscheidung.«
Die Pentadrianer könnten ihre Stärke zurückgewinnen und noch einmal in Nordithania einfallen, sagte Lore. Wenn sie entschlossen sind, das zu tun, werden sie es tun. Wenn ihr diese Armee ausgelöscht hättet, hättet ihr damit nicht verhindern können, dass eine andere euch überfällt.
»Wenn sie erneut angreifen, sollten wir sie das nächste Mal vielleicht nicht nur vertreiben, sondern die Welt von ihrem Kult befreien«, sagte Juran.
Es könnte eine Zeit kommen, da dies unvermeidlich wird. Aber ihr seid noch nicht bereit für diese Schlacht, erwiderte Chaia.
»Als Auraya beobachtet hat, wie die pentadrianische Armee aus den Minen kam, hat sie etwas gesehen, das ein Gott zu sein schien«, sagte Dyara. »Aber das ist unmöglich. Was war es? Eine Illusion?«
Es ist nicht unmöglich, antwortete Yranna.
»Aber es gibt keine anderen Götter.«
Außer uns hat keiner der alten Götter überlebt, stimmte Yranna ihr zu. Allerdings können neue Götter kommen.
»Aber gleich fünf?«, fragte Dyara.
Das ist unwahrscheinlich, murmelte Saru.
»Aber nicht unmöglich.«
Nein. Chaia sah die anderen Götter an. Wir werden der Sache auf den Grund gehen. Die anderen nickten. Chaia wandte sich wieder Juran zu. Für den Augenblick kehrt nach Jarime zurück und genießt den Frieden, den ihr so hart erkämpft habt. Wir werden schon bald wieder zu euch sprechen. Er sah Dyara an, dann blickte er zu Auraya hinüber. Einen Moment lang wurde sein Lächeln breiter, bevor er seine Aufmerksamkeit auf Rian und Mairae richtete.
Dann waren die leuchtenden Gestalten ebenso plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren.
Juran seufzte und durchbrach den Kreis, indem er zu Dyara hinüberging. »Lasst uns hoffen, dass sie nichts finden werden.«
»Ja«, pflichtete Dyara ihm bei. »Andererseits – wenn die Pentadrianer tatsächlich realen Göttern folgen, dürften sie zurzeit ein wenig unzufrieden mit ihnen sein. Sie haben verloren.«
»Hmmm«, murmelte Juran. »Werden sie auch ein weiteres Mal verlieren?«
»Natürlich werden sie das«, sagte Mairae leichthin. Als die anderen sich zu ihr umwandten, lächelte sie. »Wir haben schließlich Auraya.«
Auraya seufzte. »Würdest du bitte aufhören, immer wieder davon zu sprechen, Mairae? Ich habe nichts Außergewöhnliches getan. Die Pentadrianer haben einen Fehler gemacht, das ist alles.«
Mairae grinste. »Der Feind wird mit Geschichten über die wilde, fliegende Priesterin zurückkehren, die ihren Anführer getötet hat.«
»Ich bin während der Schlacht nicht geflogen.«
»Das dürfte kaum eine Rolle spielen. Stell dir nur vor, was für ein Abschreckungsmittel das sein wird, falls sie einen neuen Angriff planen. Dein Name wird über Generationen hinweg benutzt werden, um Kindern Angst zu machen, damit sie ihren Eltern gehorchen.«
»Wie schön«, bemerkte Auraya trocken.
»Wenn ich nicht bald mein Frühstück bekomme, werdet ihr herausfinden, was für eine wilde Priesterin ich sein kann«, knurrte Dyara. Juran warf Dyara einen erheiterten Blick zu. »Das muss um jeden Preis vermieden werden. Also los. Lasst uns nach Hause gehen.«
Die Traumweberroben, die Emerahl gestohlen hatte, waren ein wenig zu groß für sie, aber sie hatten ihr einen hinreichenden Schutz vor unliebsamer Aufmerksamkeit geboten, während sie sich um die Verletzten gekümmert hatte. Sie hatte sich auf der Seite der Pentadrianer gehalten, wodurch sich die Zahl der Zirkler, die sie behandeln musste, auf ein Minimum beschränkt hatte. Von den Weißen hatte sie seit Stunden nichts mehr gesehen. Wahrscheinlich erörterten sie mit ihren Verbündeten die Schlacht. Sie hatte keinen Medizinbeutel bei sich, kam aber allein mit der Benutzung von Magie sehr gut zurecht. Es war eine befriedigende Arbeit. Sie hatte seit langem nicht mehr die Möglichkeit gehabt, ihre Gaben auf diese Weise einzusetzen. Kurz bevor der Morgen dämmerte, war sie zu dem Schluss gekommen, es sei Zeit zu gehen, aber am Rand des Schlachtfelds hatte sie einen Siyee gefunden, der sich noch immer an das Leben klammerte, und sie war geblieben, um ihm zu helfen.
Als sie fertig war, war die Sonne aufgegangen, und zartes Licht erfüllte das Tal. Eigentlich hatte sie das Schlachtfeld verlassen wollen, solange es noch dunkel war, aber es würde wahrscheinlich niemandem weiter auffallen, wenn sie jetzt fortging. Sie sah sich um. In ihrer Nähe stand nur ein einziger Traumweber, und dieser wandte ihr den Rücken zu und blickte zum Himmel auf. Sie runzelte die Stirn. Irgendetwas an dem Mann kam ihr vertraut vor. Vielleicht war er einer der Traumweber aus der Gruppe, der sie begegnet war.
Dann drang eine Stimme an ihr Ohr, leise und angespannt. Sie ging näher an den Mann heran, und ein Schauer überlief sie.
Ich kenne diese Stimme.
Aber sie konnte unmöglich dem Mann gehören, den sie gekannt hatte. Und was sagte er eigentlich? Sie stieg über einen Leichnam und schlich sich näher heran.
»... muss gehen. Nein. Sie kann helfen. Nein. Sie wird alles nur noch schlimmer machen. Ich kann nicht...«
Die Stimme klang abwechselnd hoch und tief, schwach und kraftvoll, fremd und vertraut. Der Mann zürnte mit sich selbst wie ein Wahnsinniger. Als er sich in ihre Richtung wandte, sog sie scharf die Luft ein.
»Mirar!«
Es war unmöglich. Er war tot. Aber als sie seinen Namen sagte, klärte sich sein Blick, und sie sah Erkennen in seinen Augen aufschimmern.
»Emerahl?«
»Du bist... du bist...«
»Lebendig? In gewisser Weise.« Er zuckte die Achseln, dann sah er sie plötzlich scharf an. »Was machst du hier?« Sie lächelte schief. »Das ist eine lange Geschichte.« »Wirst du... kannst du mir helfen?« »Natürlich. Was brauchst du?«
»Ich brauche dich, damit du mich von hier fortbringst. Ganz gleich, in wen ich mich verwandle. Ganz gleich, wie sehr ich protestiere. Wenn nötig, nimm all deine Magie zu Hilfe.«
Sie starrte ihn an. »Warum sollte ich das tun müssen?« Er verzog das Gesicht. »Das ist eine lange Geschichte.« Sie nickte, dann trat sie direkt vor ihn hin. Er war alt gewor den. Sie hatte ihn noch nie so dünn und so verrunzelt gesehen. Sein Haar war so hell, dass es beinahe weiß wirkte, und an der ungebräunten Haut an seinem Kinn erkannte sie, dass er sich erst vor kurzem von seinem Bart getrennt hatte. Wären da nicht die kleinen Gesten gewesen, die ihr früher einmal so vertraut gewesen waren, hätte sie ihn vielleicht überhaupt nicht erkannt. Doch hier war er, verändert, aber lebendig. Über die Unmöglichkeit dieses Geschehens würde sie später nachgrübeln.
Sie griff nach seinem Arm und führte ihn davon.