Die Welt war eine gewaltige grüne Decke, durchzogen von den Farben des Herbstes und faltig, wo die Berge durch den Stoff brachen. Flüsse glitzerten wie silberne Bänder. Hie und da fanden sich winzige Gebäude, die wie verstreute Mosaikkacheln aussahen und durch braune Straßen verbunden waren. Wenn Auraya genauer hinschaute, konnte sie eine Vielzahl kleiner Tiere erkennen – und Menschen.
Auraya wäre gern dichter am Boden geflogen, aber Zeeriz zog es trotz ihrer Anwesenheit vor, reichlich Abstand zwischen sich und den Landgehern zu halten. Ihn kostete es einige Kraft, den ganzen Tag über in der Luft zu bleiben. Das Fliegen war nicht so mühelos, wie die Siyee es gern erscheinen ließen, und wenn sie in der Abenddämmerung auf dem Boden landeten, war Zeeriz am ganzen Körper steif und wund. Ob die Reise Tireel genauso schwerfiel, konnte Auraya nicht sagen: Er war vorausgeflogen, um den Siyee die Kunde von Aurayas Kommen zu überbringen. Nach einigen Stunden verlor die Welt unter ihr ihren Reiz. Abgesehen von den bevorstehenden Verhandlungen mit den Siyee hatte sie nicht viel zu bedenken, und nach einer Weile wurde sie es müde, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Stattdessen lernte sie, die Bewegungen ihres Begleiters nachzuahmen – indem sie so tat, als hätten Wind, Geschwindigkeit und der Sog der Erde die gleiche Wirkung auf sie wie auf die Siyee. Auf diese Weise erfuhr sie mehr über die Grenzen, die ihre körperliche Gestalt ihnen auferlegte.
Außerdem hatte sie aus dem Geist des Botschafters viel über sein Volk erfahren. Sie hatte in seinen Gedanken Furcht vor Landgehern, Hoffnungen für die Zukunft und Erinnerungen an die Kindheit gelesen. Am interessantesten war der unterdrückte Groll, den er empfand, wenn er sah, wie sie seinen Flug nachahmte. Er fragte sich, warum die Götter einer Landgeherin Zugang zur Luft gewährten, ohne sie den gleichen Beschränkungen zu unterwerfen, denen die Siyee ausgesetzt waren.
Dass die Siyee die Grenzen und Konsequenzen ihrer Schöpfung überwunden hatten, war ein Quell des Stolzes für ihn. Alle Siyee lernten von klein auf, dass ihre Vorfahren Schmerz, Deformierung und den frühen Tod in Kauf genommen hatten, damit die Göttin Huan ihre Rasse erschaffen konnte. Selbst heute noch zahlten sie den Preis dafür, aber die Anzahl der verkrüppelten Säuglinge war im Laufe der Jahrhunderte zurückgegangen. Ihre Bevölkerung war langsam gewachsen. Diese Entwicklung wurde einzig durch die torenischen Siedler gefährdet.
Es muss etwas geschehen, was diese Siedler betrifft, dachte Auraya. Es würde kein leichtes Unterfangen sein. Huan hatte verfügt, dass die Berge im Osten Torens den Siyee gehören sollten. Die torenischen Siedler hatten eine eigene Deutung für den Begriff »Berge«: In ihren Augen handelte es sich dabei um alles Land, das zu steil war, um es zu bebauen, und daher hatten sie die fruchtbaren Täler und Hänge langsam in Besitz genommen. Auraya bezweifelte, dass der König von Toren über das Tun seiner Untertanen informiert war, und falls er doch davon wusste, hatte er sicher nicht die Absicht, etwas dagegen zu unternehmen.
Aber er wird es tun, wenn die Weißen darauf bestehen.
Sie lächelte grimmig. Die Siyee brauchten diese Allianz mit den Weißen. Sie wollten die Allianz, befürchteten aber, dass sie nur wenig als Gegenleistung anzubieten hatten. Sie glaubten, sie seien weder stark noch geschickt genug, um im Falle eines Krieges von Nutzen zu sein. Außerdem verfügten sie über keinerlei Schätze, mit denen sie hätten Handel treiben können. Es war Aurayas Aufgabe, etwas zu finden, das sie den Weißen für ihren Schutz anbieten konnten – oder sie einfach davon zu überzeugen, dass das wenige, was sie zu bieten hatten, sei es im Krieg, im Handel oder in der Politik, genügen würde.
Sie blickte wieder zu Zeeriz hinüber. Er sah sie an und lächelte.
Es war nur wenig über das Volk der Siyee bekannt. Auraya hatte vieles von Tireel und Zeeriz erfahren, aber wenn sie die Anführer der Siyee kennenlernen und sie in ihrem Alltag beobachten konnte, würde sie die Geflügelten viel besser zu verstehen lernen. Dass die Weißen überhaupt die Anstrengung auf sich nahmen, ein Land zu besuchen, war für seine Bewohner stets ein Grund zur Freude. Die beiden Botschafter waren überglücklich, dass Auraya sich die Zeit nahm, sich ihr Heimatland anzusehen, und sie hoffte, dass die übrigen Siyee dieses Gefühl teilen würden. Wenn alles gutging, würde es ihr während der nächsten Monate gelingen, ihren Respekt zu gewinnen und ihr Vertrauen in die Weißen zu stärken.
Als Auraya zu den dunklen Umrissen der Berge in der Ferne hinüberschaute, stieg Erregung in ihr auf. In Wahrheit freute sie sich ebenso auf den Besuch von Si, wie die Botschafter sich darüber freuten, sie dorthin begleiten zu dürfen. Sie würde einen Ort besuchen, an dem nur wenige Landgänger je gewesen waren, um Bekanntschaft mit einem einzigartigen Volk zu schließen.
Ich könnte nicht glücklicher sein.
Mit einem Mal nahm sie eine vertraute Unruhe in sich wahr. Es war kein Zweifel, der sich auf sie selbst bezog, oder Furcht vor einem Versagen. Nein, es ist der Gedanke an das Durcheinander, das ich zurückgelassen habe.
»Du hast eine interessante Art, auf Wiedersehenzu sagen«, hatte Leiard bemerkt. Die Erinnerung an zerknüllte Laken am Fußende ihres Bettes blitzte in ihr auf, dann eine Erinnerung an nackte, ineinander verschlungene Gliedmaßen. Und dann kamen verlockende frühere Erinnerungen.
Wer hätte das gedacht?, überlegte sie, außer Stande, ein Lächeln zu unterdrücken. Ich und Leiard. Eine Weiße und ein Traumweber.
Bei diesem Gedanken verblasste ihr Lächeln, und ihre Stimmung verdüsterte sich. Halbherzig widersetzte sie sich dieser Regung. Ich muss mich dem Geschehenen stellen.
Und ich muss es jetzt tun. Sobald ich nach Si komme, werde ich zu viel zu tun haben, um über die Konsequenzen nachgrübeln zu können. Seufzend stellte sie sich die Frage, der sie bisher ausgewichen war.
Wie werden die anderen Weißen reagieren, wenn sie es herausfinden?
Dyara war die Erste, die ihr in den Sinn kam. Die Frau knurrte beinahe vor Missbilligung, wann immer Leiard in der Nähe war. Dyara würde Leiard gewiss nicht ohne weiteres als Aurayas Geliebten akzeptieren. Mairae dagegen würde vielleicht keinerlei Anstoß daran nehmen, obwohl sie es wahrscheinlich lieber gesehen hätte, hätte Auraya sich nicht ausgerechnet einen Traumweber für ihr Bett erwählt. Rian würde es nicht gefallen. Er hatte nie verlangt, dass die anderen Weißen sich für Enthaltsamkeit entschieden, so wie er es getan hatte, aber die Vorstellung, dass eine aus ihrer Mitte einen Heiden in ihr Bett nahm, würde ihm gewiss missfallen.
Und Juran? Auraya runzelte die Stirn. Sie konnte nicht erraten, wie seine Reaktion ausfallen würde. Er hatte Leiard als ihren Ratgeber akzeptiert. Würde er ihn auch als ihren Geliebten dulden?
Nein, er wird mir erklären, dass das Volk es nicht akzeptieren wird. Dass es alles zerstören würde, was ich je gesagt oder getan habe, um die Toleranz den Traumwebern gegenüber zu fördern. Die Menschen werden glauben, meine Meinung sei auf Liebe gegründet – oder auf Begierde -, statt auf gesunden Menschenverstand, und sie werden sich daran erinnern, dass Mirar ein großer Verführer war. Sie werden denken, ich sei betrogen worden, und sie werden ihren Gefühlen Luft machen, indem sie Traumweber angreifen.
Es war zu früh, um von ihnen zu erwarten, etwas Derartiges zu akzeptieren. Vielleicht war Zeit tatsächlich der Schlüssel dazu. Einen Moment lang kaute sie auf ihrer Unterlippe. Wenn sie ihre Affäre geheim hielt, gab sie damit den Weißen und den Menschen Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Es war nicht so, als ginge sie mit jedem attraktiven, hochgeborenen männlichen Wesen in ganz Nordithania ins Bett. Wenn Mairae damit durchkam, dann sollte Auraya doch gewiss damit durchkommen können, mit nur einem einzigen Traumweber zu schlafen.
Sie seufzte erneut. Ich wünschte, es wäre so. Welche Chancen habe ich, dieses Geheimnis zu bewahren? Jeder weiß Bescheid über Mairaes Affären, und wenn Dyara ihre auf tragische Weise keusche Beziehung zu Timare vor den restlichen Weißen nicht geheim halten kann, wie sollte mir dann so etwas gelingen?
Glücklicherweise würde sie die nächsten Monate weit entfernt von Jarime verbringen. In dieser Zeit konnte eine Menge geschehen. Sie konnte wieder zur Vernunft kommen. Das Gleiche galt für Leiard.
Und was war, wenn er bereits wieder zur Vernunft gekommen war? Was, wenn er nicht die Absicht hat, mich wiederzusehen. Was, wenn er seine Neugier befriedigt hat und nicht längeran mir interessiert ist? Ihr Herz zog sich zusammen. Nein! Er liebt mich! Ich habe es in seinem Geist gesehen.
Und ich liebe ihn. Sie spürte ein warmes Leuchten von Glück, das sich in ihrem Körper ausbreitete. Angenehme Erinnerungen kamen zurück, wurden aber sauer, als ein Bild in ihr aufstieg, das Bild seiner Traumweberweste und ihres Zirks, die Seite an Seite auf dem Boden gelegen hatten. Das war ein ernüchternder Anblick gewesen. Irgendwie hatte es nach Götterlästerung gerochen.
Die Götter müssen das wissen, dachte sie.
Sie schüttelte den Kopf. Wir können das nicht tun. Ich sollte ihn abweisen. Aber sie wusste, dass sie es nicht tun würde. Solange die Götter nicht ihre Gefühle offenbar gemacht haben, werde ich nicht versuchen zu erraten, was sie über Leiard und mich denken.
Sie blickte über die Schultern. Jarime war schon vor Stunden hinter dem Horizont verschwunden. Wie kann ich nur ein solches Durcheinander hinterlassen? Sie konnte jedoch nicht kehrtmachen und zurückfliegen. Sie zwang sich, an die Siyee zu denken und daran, wie enttäuscht und gekränkt sie sein würden. Und sie dachte auch daran, wie sehr sie sich wünschte, ihr Land mit eigenen Augen sehen zu dürfen.
Einige Monate, sagte sie sich. Bis ich zurückkehre,werde ich eine Entscheidung getroffen haben, wie wir weiter mit dieser Angelegenheit umgehen sollten.
Und hoffentlich habe ich bis dahin auch genug Mut gefasst, um diese Idee in die Tat umzusetzen.
Regen prasselte auf den Baldachin. Als Danjin spürte, dass etwas auf seinem Kopf landete, blickte er auf. Ein Wassertropfen war irgendwie durch den dichten, geölten Stoff gedrungen. Er wich einem weiteren Tropfen aus, rutschte auf der Sitzbank des Plattans ein Stück zur Seite, dann griff er in seiner Tasche nach einem Tuch, um sich den Kopf abzuwischen.
Stattdessen stießen seine Finger auf ein Stück Pergament.
Danjin zog es heraus und seufzte, als er sah, dass es sich um eine Nachricht seines Vaters handelte.
Theran ist zurückgekehrt. Ich habe deine Brüder zum Abendesseneingeladen. Deine Anwesenheit ist erwünscht. Pa-Speer
»Als ich sagte, es wäre schön, wieder ein wenig Zeit für mich zu haben, müssen die Götter wohl zugehört haben«, murmelte er und blickte zu dem Baldachin empor.
»Großer Chaia, was habe ich getan, um das zu verdienen?«
»Deine Familie vernachlässigt?«, meinte Silava.
Danjin betrachtete die Frau, die ihm gegenübersaß. Das Licht der Laterne ließ die Fältchen auf ihrem Gesicht weicher erscheinen. Es waren größtenteils Fältchen, die von Gelächter rührten. Größtenteils. Es hatte auch weniger angenehme Zeiten gegeben. Geradeso viele, wie sie jene erlebten, die aus Liebe heirateten, wie er während der letzten Jahre begriffen hatte. Sie waren beide untreu gewesen und hatten beide gelernt, dass Aufrichtigkeit der härteste, aber auch der einzige Weg zur Vergebung war. Obwohl sie niemals leidenschaftlich ineinander verliebt gewesen waren, waren sie am Ende doch gute Freunde geworden.
»Welche Familie?«, fragte Danjin. »Meine oder unsere?«
Sie lächelte. »Das solltest du einen unvoreingenommenen Richter fragen, Danjin. Sorge nur dafür, dass unsere Familie sich stets den Wunsch bewahrt, dich häufiger zu sehen. Vor allem nachdem deine Enkelkinder auf der Welt sind.«
Enkelkinder. Der Gedanke, Großvater zu werden, war gleichzeitig schön und erschreckend. Es bedeutete, dass er alt wurde. Außerdem würde es seine Töchter glücklich machen. Sie waren in ihrer neuen Lebenssituation voll erblüht. Es erleichterte ihn, dass er gute Ehemänner für sie ausgewählt hatte, obwohl er in dieser Hinsicht im Wesentlichen Silavas Rat gefolgt war. Ein Jammer nur, dass man sich seine Eltern nicht aussuchen konnte.
»Wenn es die Familie meines Vaters ist, die du meinst, dann wirst du ebenfalls für mein Verhalten bestraft werden«, stellte er fest.
»Das ist wahr. Aber er pflegt mich bei solchen Gelegenheiten zu ignorieren. Du wirst seine Zielscheibe sein.«
Bei diesen Worten runzelte Danjin finster die Stirn. Silava beugte sich vor und klopfte ihm sanft aufs Knie.
»Ich habe dir eine Flasche Tintra auf den Tisch im Lesezimmer gestellt.«
Er lächelte erfreut. »Ich danke dir.«
Der Plattan wurde langsamer. Danjin spähte unter dem Baldachin hervor, und als sie vor dem Haus seines Vaters anhielten, spürte er das gewohnte flaue Gefühl im Magen. Dann fiel ihm der Ring an seinem Finger wieder ein. Das Wissen, dass die Auserwählten der Götter ihn nicht für einen Versager hielten, wie sein Vater es tat, gab ihm Kraft.
Er stieg aus dem Plattan und half anschließend seiner Frau aus dem Wagen. Es regnete heftig, und ihre Kapas waren schnell durchnässt. Als sie die Tür der Villa erreichten, stießen sie beide einen Seufzer der Erleichterung aus.
Ein hochgewachsener, dünner Mann mit herablassendem Gesichtsausdruck geleitete sie hinein. Danjin musterte Forin, den Ersten Diener, mit einem argwöhnischen Blick. Der Mann hatte die Neigung, Danjins Ankunft in einem entschuldigenden Tonfall anzukündigen, als sei sein Erscheinen eine Störung.
»Willkommen, Danjin Speer, Silava.« Forin neigte den Kopf.
»Ratgeber Danjin Speer«, korrigierte ihn Danjin. Er öffnete sein Kapas und hielt es dem Diener hin.
Forins Augen funkelten. Er öffnete den Mund, dann senkte er den Blick auf Danjins Kapas und zögerte. Danjin begriff, dass der Mann den weißen Ring an seinem Finger anstarrte.
»Natürlich. Verzeih mir.« Er nahm ihnen ihre Kapas ab und eilte davon.
Als sie den Gemeinschaftsraum betraten, sah Silava Danjin an. Sie lächelte nicht, aber er erkannte jenes vertraute Glitzern von Triumph in ihren Augen. Es war der Blick, der ihm normalerweise zuteilwurde, wenn er eine Auseinandersetzung verloren hatte. Zwei von Danjins Brüdern standen neben Kohleöfen. Als er sie sah, schmolz Danjins Befriedigung über den kleinen Sieg dahin. Die Begrüßung seiner Geschwister fiel steif und unbeholfen aus. Ihre Ehefrauen hatten nur ein dünnes Lächeln für Silava übrig, dann wandten sie sich wieder ihrem Gespräch zu, ohne sie mit einzubeziehen. Der Regen fiel durch die Öffnung im Dach in ein Becken darunter. Mit Kissen und luxuriösen Decken ausgestattete Bänke zogen sich in perfekter Symmetrie an den Wänden des Raums entlang. Der Boden bestand aus poliertem Maserstein, und die Wände schmückten Fresken, die Schiffe und Handelswaren darstellten.
Ein Diener brachte gewärmten somreyanischen Ahm. Während Danjin den ersten Schluck nahm, dachte er über seine Familie nach. Theran wohnte zweifellos in der Villa und war bereits mit seinem Vater zusammen; Theran war der Liebling der Familie, und sein Besuch hier war der Anlass, warum sie alle eingeladen worden waren. Alle Söhne von Pa-Speer waren mit unterschiedlichem Erfolg in die Handelsgeschäfte der Familie eingestiegen. Theran, der zweite Sohn, war ein geborener Kaufmann. Zwei der jüngeren Brüder waren vor zwanzig Jahren bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Ma-Speer, die sich nie ganz von Danjins Geburt erholt hatte, war kurze Zeit später krank geworden und gestorben. Vor einem Jahr war das Herz des ältesten Bruders stehen geblieben, so dass jetzt nur noch vier Söhne übrig waren: Theran, Nirem, Gohren und er selbst.
Von den sieben Söhnen war erwartet worden, dass sie das Speersche Handelsimperium weiter vergrößerten. Danjin hatte es versucht, es aber schon nach seiner ersten Seereise im Alter von sechzehn Jahren wieder aufgegeben. Zwei Tage nach seiner Ankunft in Genria hatte er sich mit einem entfernten Neffen des Königs befreundet und sich inmitten politischer Geschehnisse wiedergefunden, die ihm weit aufregender und bedeutungsvoller erschienen waren als die langen Reisen und die endlosen Rechnereien des Kaufmannsgewerbes. Solchermaßen abgelenkt, war er nicht zugegen gewesen, um das Getreide zu untersuchen, mit dem das Schiff beladen wurde, und als er nach Jarime zurückkehrte, war die Hälfte der Ladung von Ungeziefer verseucht gewesen.
Sein Vater hatte mit blankem Zorn reagiert.
»Danjin?«
Die leise Stimme seiner Frau ließ Danjin aufblicken. Zwei Männer kamen den Flur herunter, der zum Gemeinschaftsraum führte. Forin trat vor.
»Pa-Speer und Theran Speer«, verkündete er.
Das Gesicht des alten Mannes war von Runzeln bedeckt, und er bewegte sich mithilfe eines Gehstocks. Seine Augen waren scharf und kalt, während sein Blick von einem Gesicht zum anderen flackerte. Zu seiner Rechten ging Theran. Der ältere Bruder lächelte Nirem und Gohren zu, aber als er Danjin ansah, wurde seine Miene starr. Statt seinen jüngsten Bruder zu ignorieren, wie er es für gewöhnlich tat, zog Theran die Augenbrauen hoch.
»Danjin. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du kommen würdest. Vater sagt, dass du aufgrund deiner Verpflichtungen im Tempel an den meisten Familienzusammenkünften nicht teilnehmen würdest.«
»Heute Abend ist das anders«, erwiderte Danjin. Und wie könnte ich mir die Gelegenheit entgehen lassen, geringschätzig ignoriert oder zur Zielscheibe deiner Scherze gemacht zu werden?
Der alte Mann ging zu einer langen Bank und setzte sich. Die übrigen Familienmitglieder warteten, bis sie aufgefordert wurden, Platz zu nehmen. Pa-Speer machte eine knappe Handbewegung.
»Setzt euch. Setzt euch«, sagte er, als bringe ihre Förmlichkeit ihn in Verlegenheit. Aber Danjin wusste, dass jede Abweichung von dieser rituellen Zurschaustellung guten Benehmens seinen Vater stets in Wut brachte. Sie nahmen die Plätze ein, die die Familientradition schon vor langer Zeit festgelegt hatte: Theran zu Pa-Speers Rechter, Nirem und seine Frau zu seiner Linken, Gohren neben Theran und Danjin neben Nirems Frau, den Platz, der von dem seines Vaters am weitesten entfernt war. Während die Dienerinnen eine Abfolge von Köstlichkeiten auftrugen, wandte sich das Gespräch dem Handel zu. Danjin zwang sich, zuzuhören, und bewahrte klugerweise Stillschweigen. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, eine Teilnahme an diesen Erörterungen zu vermeiden. Jede Bemerkung oder Frage von seiner Seite zu diesem Thema wurde genau beleuchtet, um festzustellen, ob er damit einmal mehr seine Unkenntnis in diesen Dingen unter Beweis gestellt hatte.
Doch wie still er sich auch verhalten mochte, sein Vater versäumte es niemals, die Rede auf Danjins Arbeit zu bringen. Nachdem Theran eine ausführliche Beschreibung eines erfolgreichen Geschäfts beendet hatte, wandte Pa-Speer sich seinem jüngsten Sohn zu.
»Ich habe bisher nicht bemerkt, dass unser Ratgeber bei den Weißen großen Nutzen aus seinem Dienst im Tempel gezogen hätte.« Pa-Speer deutete auf die Wände. »Wenn du für die Zirkler so wichtig bist, wie kommt es dann, dass ein bloßer Kaufmann besser lebt als du? Du musst um eine Erhöhung deines Lohns bitten, wenn du deine Arbeitgeberin das nächste Mal siehst. Wann wird das sein?«
»Auraya ist nach Si aufgebrochen, Vater«, antwortete Danjin. »Um eine Allianz auszuhandeln.«
Sein Vater zog die Augenbrauen hoch. »Du hast sie nicht begleitet?«
»Es ist für Landgeher nicht so einfach, die Berge von Si zu überqueren.« »Landgeher?«
»So nennen die Siyee gewöhnliche Menschen.«
Sein Vater rümpfte die Nase. »Wie ungehobelt. Vielleicht ist es ein Glück, dass sie dich zurückgelassen hat. Wer weiß, welche unsauberen Gewohnheiten diese Leute haben?«
Er schob sich einen Bissen von seinem Essen in den Mund, dann wischte er sich die Hände an einem Tuch ab, das eine junge Dienerin ihm hinhielt.
»Wenn die Siyee sich mit Hania verbünden, wird man mehr von ihnen hier sehen. Sie werden einen Botschafter einsetzen, und andere werden herkommen, um sich ausbilden zu lassen, der Priesterschaft beizutreten oder Handel zu treiben.«
Der Blick seines Vaters wurde schärfer. Er kaute, schluckte und nippte dann an seinem Wasserglas.
»Welche Handelsgüter haben sie denn anzubieten?«
Danjin lächelte. »Das ist eine der Fragen, die Auraya zu klären beabsichtigt.«
Pa-Speers Augen wurden schmal. »Das ist eine echte Chance, Sohn. Du magst zwar kein anständiges Einkommen haben, aber wenn du Chancen wie diese zu deinem Vorteil nutzt, wird dieser Umstand vielleicht nicht ins Gewicht fallen.«
Entrüstung stieg in Danjin auf. »Ich kann meine Stellung nicht benutzen, um mir Vorteile zu verschaffen, was den Handel betrifft.«
Sein Vater schnaubte. »Sei nicht so ein selbstgerechter Narr. Du wirst nicht für immer Ratgeber sein.«
»Nicht, wenn ich meine Privilegien missbrauche.« Oder wenn ich in deine Fußstapfen trete, fügte Danjin bei sich hinzu und dachte an die Feinde, die sein Vater sich im Laufe der Jahre geschaffen hatte. Mächtige Feinde, die ihn an gewissen Orten vom Handel ausschlossen.
Warum erinnerst du ihn nicht daran?
Als die Stimme in seinen Gedanken aufblitzte, zuckte Danjin zusammen.
Auraya?
Ja, ich bin es. Tut mir leid, ich wollte nicht stören. Die Siyee schlafen, und ich... nun ja... ich langweile mich.
Er wollte lächeln, besann sich jedoch hastig eines Besseren und bewahrte eine ernste Miene.
»... Ruhm und Ansehen werden vergehen«, sagte sein Vater gerade, »und dann wird man dich bald vergessen.«
Danjin öffnete den Mund zu einer Erwiderung.
In einem Punkt hat dein Vater recht. Wir sollten dir mehr bezahlen.
Er gab einen erstickten Laut von sich. Wie lange hörst du schon zu? Es folgte eine Pause.
Ich habe vor einiger Zeit einmal hineingeschaut. Hineingeschaut?
Um festzustellen, ob du beschäftigt bist.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Pa-Speer.
Danjin blickte auf und überlegte hastig, ob er erklären sollte, mit wem er soeben in Verbindung getreten war. Nur weiter, drängte ihn Auraya.
Ich will nicht respektlos sein, erklärte ihr Danjin, aber du kennst meine Familie nicht. Manche Töpfe lohnen nicht, dass man darin rührt.
»Ich habe über deinen Rat nachgedacht, Vater«, antwortete Danjin.
Pa-Speer kniff die Augen zusammen, dann wandte er sich an Nirem. »Hast du Kapitän Raerig in letzter Zeit einmal gesehen?«
Nirem nickte und begann, von einer durchzechten Nacht in einer weit entfernten Stadt zu erzählen. Erleichtert, dass er endlich nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, ließ Danjin seine Gedanken schweifen, bis eine Bemerkung über den südlichen Kult ihn in die Gegenwart zurückholte.
»Er hat gesagt, diese Pentadrianer seien gute Kunden«, bemerkte Nirem. »Die Hälfte ihrer Priester sind Krieger. Er kauft dunwegische Waffen und verkauft sie auf dem südlichen Kontinent weiter. Er kann gar nicht genug davon beschaffen. Meinst du, wir sollten...?«
Zu Danjins Überraschung runzelte sein Vater die Stirn. »Vielleicht. Ich habe gehört, dass sie dort unten eine Armee aufstellen. Dein Urgroßvater sagte immer, der Krieg sei gut für den Handel, das Ganze hänge aber davon ab, wer gegen wen zu kämpfen plane.«
»Gegen wen planen sie denn zu kämpfen?«, fragte Danjin.
Sein Vater lächelte dünn. »Ich hätte doch gedacht, du würdest das wissen, Ratgeber der Weißen.«
»Vielleicht weiß ich es«, sagte Danjin leichthin. »Vielleicht auch nicht. Was glaubst du, gegen wen sie kämpfen werden?«
Sein Vater zuckte die Achseln und wandte den Blick ab. »Fürs Erste würde ich lieber für mich behalten, was ich weiß- Falls sich ein Vorteil aus diesen Ereignissen ziehen lässt, möchte ich nicht, dass ein unbedachtes Wort am falschen Ort unsere Chancen verdirbt.«
Ein Stich des Ärgers durchzuckte Danjin. Was ihn erbitterte, war nicht die verschleierte Kränkung, mit der sein Vater andeutete, er könnte Informationen durchsickern lassen, sondern der Umstand, dass sein Vater über Informationen verfügte, die Danjin benötigte. Informationen, die die Weißen benötigten.
Dann verflog sein Ärger. Wenn sein Vater nicht gewollt hätte, dass Danjin von der Armee der Pentadrianer erfuhr, weil er befürchtete, sein Sohn könnte ihm ein Geschäft verderben, hätte er das Thema erst gar nicht zur Sprache gebracht. Vielleicht wollte sein Vater ihm eine Warnung zukommen lassen, auch wenn er nicht bereit war, all sein Wissen an seinen jüngsten Sohn weiterzugeben.
Hörst du zu, Auraya?
Es kam keine Antwort. Danjin drehte den Ring an seinem Finger und überlegte, was er tun sollte. Ich muss mehr über diese Dinge in Erfahrung bringen, befand er. Meine eigenen Nachforschungen anstellen. Wenn er das nächste Mal durch den Ring mit Auraya sprach, würde er ihr Genaueres erzählen können.
Ein Gefühl, als schnüre ihm etwas den Atem ab, weckte Leiard. Er richtete sich nach Luft ringend auf und sah sich um. Es war dunkel im Raum, und er spürte, dass die Morgendämmerung nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. An den Traum, der ihn geweckt hatte, konnte er sich nicht erinnern.
Er stand auf, wusch sich, zog sich an und schlüpfte aus seinem Zimmer. Er schuf einen winzigen Lichtfunken, durchquerte den Gemeinschaftsraum und stieg zum Dachgarten empor. Dort trat er in die kühle Nachtluft hinaus und nahm auf einer der Gartenbänke Platz, auf denen er Jayim seinen Unterricht erteilte.
Als er über seinen Traum nachdachte, stieß er nur auf ein Gefühl der Furcht. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf eine Übung, die eigens dazu ersonnen war, verlorene Träume wiederzugewinnen, aber nichts regte sich. Nur die Furcht blieb. Die Träume, an die er sich erinnern konnte, drehten sich um Auraya. Einige waren angenehm, voller Glück und Leidenschaft. Er hatte keine derartig erregenden Träume mehr gehabt, seit... Es war so lange her, dass er sich nicht mehr darauf besinnen konnte. Unglücklicherweise waren einige der Träume jedoch voller unerfreulicher Konsequenzen, voller Anschuldigungen und Vergeltungsmaßnahmen und furchtbarer Strafen.
Du hättest fortgehen sollen. Du hättest nicht vergessen dürfen, was sie ist, sagte eine Stimme in seinem Innern.
Ich habe es nicht vergessen.
Du hättest es dir noch viel deutlicher ins Gedächtnis rufen müssen.
Diese andere Stimme in seinem Geist – die Gedanken, von denen Arleej glaubte, sie seien eine Manifestation von Mirars Netzerinnerungen – sprach jetzt immer häufiger zu Leiard. Wenn er mit sich rang, was Auraya betraf, war es nur folgerichtig, dass dieser illusionäre Mirar ihm davon abriet, sich mit den Weißen einzulassen. Schließlich hatte einer von ihnen Mirar getötet.
Er hatte sich flüchtig gefragt, ob Mirar ihn in jener Nacht in Aurayas Zimmer irgendwie beeinflusst haben könnte. Leiard war es jedoch müde, dieser zweiten Identität in seinem Wesen die Verantwortung für seine eigenen Taten zuzuschieben. Da war keine Stimme gewesen, die ihn ermuntert hatte, Auraya zu verführen. Mirar hatte bis zum nächsten Morgen geschwiegen und erst wieder zu sprechen begonnen, nachdem Leiard den Turm verlassen hatte.
Auraya hatte ihn zum Abschied geküsst und ihn dann gebeten, ihre Liebelei geheim zu halten. Eine vernünftige Bitte, wenn man bedachte, was er war. Was sie war. Hatte ihn jemand fortgehen sehen? Er hatte keine Diener bemerkt, sich jedoch trotzdem so benommen, als wäre sein Beisammensein mit Auraya nichts anderes gewesen als eine nächtliche Beratung.
Diener stellten sich gern vor, dass spät in der Nacht hinter geschlossenen Türen aufregendere Dinge vor sich gingen als politische Erörterungen, vor allem wenn eine solche Erörterung bis zum frühen Morgen dauerte. Und wenn die Diener tatsächlich argwöhnten, dass Auraya seine Geliebte geworden war, würden die anderen Weißen es aus ihren Gedanken gelesen haben. Wenn einer der Auserwählten der Götter dies bestätigen wollte, brauchte er lediglich Leiard rufen zu lassen und seine Gedanken zu lesen.
Aber es war kein solcher Ruf gekommen. Das, so hoffte er, bedeutete, dass sein Besuch bei Auraya unbemerkt geblieben war oder zumindest keinen Verdacht erregt hatte. Wenn er an die Konsequenzen für seine Leute dachte, sollte ein solcher Skandal bekannt werden, schauderte es ihn vor Angst. Doch wann immer er sich nicht mit solchen Dingen quälte, ertappte er sich dabei, dass er über Möglichkeiten nachsann, wie er sie nach ihrer Rückkehr heimlich würde besuchen können.
Falls sie das überhaupt will. Vielleicht sieht sie in mir nicht mehr als ein nächtliches Vergnügen.
Einen Geliebten, den sie beiseite stoßen wird, wenn ihr klar wird, wie unbequem es wäre, ihn weiter um sich zu haben. Wenn ich doch nur herausfinden könnte, was sie will.
Eine Möglichkeit gab es, aber sie war gefährlich. Er konnte eine Traumvernetzung mit ihr durchführen.
Sei kein Narr. Wenn sie dich meldet, wird man dich steinigen lassen.
Sie wird es niemandem erzählen. »Leiard?«
Er zuckte zusammen und blickte auf. Zu seiner Überraschung stand Jayim vor ihm. Über dem Garten lag jetzt das erste schwache Licht der Morgendämmerung. Er war so in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er es nicht bemerkt hatte.
Der Junge nahm gähnend Leiard gegenüber Platz. Er hatte sich in eine Decke gehüllt.
Der Winter kommt, ging es Leiard durch den Kopf. Ich sollte ihn Mittel und Wege lehren, sich warm zu halten.
»Werden wir noch einmal die Gedankenvernetzung üben?«, fragte Jayim.
Leiard betrachtete den Jungen. Seit dem Tag, an dem Jayim Leiards Zuneigung zu Auraya bemerkt hatte, hatten sie sich nicht mehr miteinander vernetzt. Der Vorfall hatte Leiard so sehr verstört, dass er weitere Lektionen in dieser Richtung aufgeschoben hatte. Jetzt erfüllte ihn der Gedanke, sich mit seinem Schüler zu vernetzen, mit Furcht. Wenn er es tat, würde Jayim von Leiards Nacht mit Auraya erfahren. Außerdem würde er sehen, dass Leiard hoffte, die Affäre fortsetzen zu können. Wenn Jayim das wusste, würde es zwei Menschen in Jarime geben, in deren Gedanken die Weißen Leiards Geheimnis finden konnten.
»Nein«, erwiderte Leiard. »Es ist sehr kühl heute Morgen. Ich werde dir erklären, auf welche Weise der Körper unter der Kälte leidet, und dir Möglichkeiten zeigen, dem entgegenzuwirken.«
Der Hohepriester Ikaro blieb vor König Berros Audienzgemach stehen. Er holte tief Luft und betrat den Raum. Um den Thron versammelt standen Gefolgsleute, Ratgeber und Repräsentanten der größeren Handelshäuser. Der Thron selbst jedoch war leer. Der König stand vor einer riesigen Vase.
Sie war, wie Ikaro bemerkte, nach der neuesten Mode geschmückt. Der Künstler hatte die Vase mit einer schwarzen Tünche bemalt und dann Muster und Figuren aus dem Lack gekratzt, so dass der weiße Ton darunter sichtbar wurde. Der König blickte zu Ikaro hinüber, dann winkte er ihn heran.
»Gefällt sie dir, Hohepriester Ikaro? Sie stellt mich selbst dar, wie ich Cimro zu meinem Erben bestimme.«
»Die Vase ist sehr schön«, erwiderte Ikaro, nachdem er neben den König getreten war.
»Diese Linien zeigen Anmut und Talent, und die Ausführung ist bis in alle Einzelheiten exquisit. Ihr erweist mir eine große Ehre, Euer Majestät.«
Der König runzelte die Stirn. »Indem ich dir diese Vase zeige? Ich habe die Absicht, sie hier aufzustellen. Du wirst sie sehen, wann immer du diesen Raum betrittst.«
»Aber ich werde keine Gelegenheit haben, lange zu verweilen, um sie zu bewundern, Euer Majestät. Meine Aufmerksamkeit wird stets wichtigeren Dingen gelten.«
Der König lächelte. »Das ist wahr.« Er wandte sich von der Vase ab und schlenderte zum Thron hinüber. »Ich wusste gar nicht, dass du so viel von Kunst verstehst.« »Ich verstehe lediglich etwas von Schönheit.« Berro kicherte. »Dann ist es eine große Ironie, dass du meine Stadt auf den Kopf gestellt hast, um nach einem hässlichen alten Weib zu suchen.« Der König ließ sich auf seinem Thron nieder. Seine Miene wurde ernst. »Wie lange willst du diese Suche noch fortsetzen lassen?«
Eine Falte erschien zwischen Ikaros Brauen. Er konnte nicht in den Gedanken des Königs lesen – diese Fähigkeit besaß er nur, wenn Huan zugegen war -, aber das war in diesem Fall auch nicht nötig. Der König versuchte gar nicht, seine Ungeduld zu verbergen. Diesmal würden die gewohnten Beteuerungen nicht ausreichen, um Berro zu beschwichtigen. Er war sich nicht sicher, was diesen Zweck erfüllen konnte, außer...
»Ich werde die Götter fragen.«
Die Augen des Königs weiteten sich. Die Männer und Frauen in der Audienzhalle tauschten zweifelnde Blicke. »Jetzt?«
»Es sei denn, dies wäre ein ungünstiger Zeitpunkt«, fügte Ikaro hinzu. »Ich könnte den Palasttempel benutzen.«
»Nein, nein«, sagte Berro. »Sprich zu ihnen, wenn du glaubst, dass es das Richtige ist.«
Ikaro nickte, dann schloss er die Augen. »Stimmt mit mir ein Gebet an«, murmelte er und legte beide Hände zusammen, um einen Kreis zu bilden. Während er die vertrauten Worte des Lobpreises sprach, war er dankbar zu hören, dass viele Stimmen ihn leise begleiteten. Das machte ihm Mut.
Am Ende des Sprechgesangs hielt er inne, um tief Luft zu holen.
»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru. Ich bitte darum, dass einer von euch zu mir sprechen möge, auf dass ich eure Weisung erfahre.«
Mit hämmerndem Herzen wartete er ab. Ein Schaudern überlief seine Haut, als die Luft sich mit Energie füllte. Hohepriester Ikaro.
Ein Raunen breitete sich in der Halle aus. Ikaro öffnete die Augen und blickte sich um. Von der Besitzerin der Stimme war nichts zu sehen, aber an den Mienen aller Anwesenden im Raum konnte er ablesen, dass auch die anderen sie gehört hatten.
»Huan?«, fragte er.
Ich bin es.
Er neigte den Kopf. »Ich habe getan, was zu tun du mich geheißen hast, aber ich habe die Zauberin nicht gefunden. Soll ich die Suche fortsetzen? Gibt es eine andere Möglichkeit, wie ich sie aufspüren könnte?«
Lass sie glauben, du hättest aufgegeben. Ruf die Leute, die nach ihr suchen, zurück. Hör auf,die Menschen am Hafen und am Haupttor zu überprüfen. Stattdessen solltest du diese Ausgänge von verkleideten Priestern beobachten lassen. Wenn sie glaubt, die Suche sei beendet worden, wird sie vielleicht die Gelegenheit ergreifen, die Stadt zu verlassen. Ich werde nach ihr Ausschau halten.
Ikaro nickte. »Wenn man sie auf diese Weise finden kann, werde ich es tun«, erwiderte er mit großer Entschlossenheit.
Die Anwesenheit der Göttin verblasste. Ikaro blickte zum König auf, auf dessen Zügen ein nachdenklicher Ausdruck lag.
»Sprechen die Götter erst seit kurzem auf diese Weise zu dir?«
»Ja«, gestand Ikaro.
Der König runzelte die Stirn. »Die Göttin weiß zweifellos, wie dankbar ich dafür bin, dass die Einschränkungen, die meiner Stadt auferlegt worden sind, gelockert werden, aber um ganz sicherzugehen, werde ich meinen Dank in meine Gebete einschließen. So wenig ich mir wünsche, dass eine gefährliche Zauberin frei in meiner Stadt umherwandert, mache ich mir doch Sorgen, dass mein Volk leiden wird, wenn dem Handel Beschränkungen auferlegt werden. Wirst du Hilfe brauchen, um die Anweisungen der Göttin in die Tat umzusetzen?«
Ikaro schüttelte den Kopf, dann zögerte er kurz. »Obwohl Ihr vielleicht die Wachen davon in Kenntnis setzen solltet, dass sie Bettler, die sich an den Toren herumtreiben, in Ruhe lassen sollen.«
»Bettler, wie?« Berro lächelte schief. »Eine originelle Verkleidung, in der Tat.«
Ikaro kicherte. »Und wenn es nicht zu viel verlangt ist, könnten auch einige Uniformen, wie die Wachen sie tragen, recht nützlich sein.«
Berro nickte. »Ich werde dafür sorgen, dass du sie erhältst.«
Während des ganzen vergangenen Tages und des größten Teils des Morgens waren Auraya und Zeeriz über beeindruckend zerklüftete Berge geflogen. Sie hatte den größten Teil ihrer Kindheit im Schatten der Bergkette verbracht, die Dunwegen von Hania trennte, aber jene Berge waren im Vergleich zu diesen hohen, gezackten Gipfeln nicht mehr als Hügel.
Sie waren von Jarime aus direkt nach Südosten geflogen und dann weiter nach Süden zwischen zwei Bergen hindurch. In der vergangenen Nacht hatten sie ihr Lager in einer Höhle aufgeschlagen, die mit einer Feuerstelle, einfachen Betten und getrocknetem Essen ausgestattet war. Am Morgen hatte der Geruch von gebratenen Eiern Auraya geweckt, und sie hatte zu ihrer Überraschung festgestellt, dass Zeeriz zu früher Stunde weggeflogen war, um einige Nester zu plündern. Offensichtlich zauderten die Siyee nicht, andere geflügelte Geschöpfe zu essen.
Sie waren den ganzen Vormittag hindurch nach Süden geflogen. Jetzt, da die Sonne sich ihrem Zenit entgegenhob, richtete sich Aurayas Aufmerksamkeit auf eine lange, freie Fels-fläche am Hang eines Berges.
»Das ist das Offene Dorf«, erklärte Zeeriz. »Unser Hauptwohnort und die Stelle, an der wir zusammenkommen.«
Sie nickte zum Zeichen, dass sie verstand.
Juran?
Auraya.
Ich nähere mich meinem Ziel.
Ich werde den anderen Bescheid gehen. Sie brennen darauf, es zu sehen.
Auraya spürte ein wenig von seiner Erregung und lächelte. Selbst Juran, der normalerweise so ernsthaft war, konnte es kaum erwarten, die Heimat der Siyee zu sehen.
Nicht lange danach glitt ein Schatten über sie hinweg. Als sie aufblickte, bemerkte sie drei Siyee, die über ihr flogen. Fasziniert starrten die Geflügelten sie an. Sie rückte näher an Zeeriz heran.
»Soll ich innehalten und sie begrüßen?«
»Nein«, erwiderte er. »Wenn du jeden Siyee begrüßen würdest, der dich angafft, würden wir das Offene Dorf erst bei Einbruch der Nacht erreichen.« Er betrachtete die Neuankömmlinge und grinste. »Du wirst ziemlich viele Neugierige anziehen.«
Während sie weiterflogen, blickte Auraya gelegentlich auf, um den Siyee über ihr zuzulächeln. Schon bald gesellten sich weitere Siyee zu den ersten, und es kamen immer mehr hin zu, bis sie das Gefühl hatte, von einer gewaltigen, flügelschlagenden Wolke verfolgt zu werden. Als sie sich dem Offenen Dorf näherten, konnte sie einige Siyee auf dem felsigen Boden erkennen – und auch die Siyee bemerkten sie. Einige sprangen in die Höhe und stiegen auf, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Andere blieben einfach auf dem steilen Hang stehen und beobachteten sie.
Auraya war sich ihrer fortgesetzten Verbindung zu Juran vollauf bewusst. Inzwischen hatten sich auch die anderen Weißen dieser Verbindung angeschlossen, und Auraya ließ sie sehen, was sie selbst sah. Die steile Felsfläche, die das Offene Dorf genannt wurde, war wie eine riesige Narbe in der Flanke des Berges. Das Dorf, das von Wäldern umgeben war, erstreckte sich über eine beträchtliche Länge. Die Bäume waren riesig und würden, vom Boden aus betrachtet, gewiss noch beeindruckender sein.
Der Felshang war unebenmäßig und wurde von drei Terrassen geteilt. Auf der mittleren standen in Reih und Glied einige erwachsene Siyee. Dies waren, wie Auraya vermutete, die Stammesführer: die Sprecher.
Unter ihr wurde ein Dröhnen laut, das ihre Aufmerksamkeit auf mehrere, zu beiden Seiten des Dorfes stehende Trommeln lenkte. Plötzlich schössen Siyee vor ihr durch die Luft. Als sie sah, dass sie alle noch jung waren und überdies gleich gekleidet, wurde ihr klar, dass es sich um eine akrobatische Vorführung handelte, mit der die Geflügelten sie beeindrucken wollten.
Ihre Bewegungen genau aufeinander abgestimmt, vollführten sie kunstvolle Drehungen in der Luft. Die Muster, die sie bildeten, waren kompliziert, und doch gelang es ihnen, parallel zu Auraya auf den Boden zuzuhalten, während sie und Zeeriz sich zu den wartenden Sprechern hinuntergleiten ließen.
Die Trommeln verstummten, und die Flieger entfernten sich in verschiedene Richtungen. Zeeriz landete leichtfüßig vor den Sprechern, und Auraya ließ sich neben ihm zu Boden sinken. Eine Frau trat vor; in einer Hand hielt sie einen hölzernen Becher und in der anderen etwas, das aussah wie ein kleiner Kuchen.
»Ich bin Sprecherin Sirri«, sagte die Siyee.
»Ich bin Auraya von den Weißen.«
Die Siyee bot Auraya den Becher und den Kuchen dar. Der Becher war gefüllt mit klarem, sauberem Wasser. Zeeriz hatte ihr von diesem Willkommensritual erzählt. Auraya aß den Kuchen, der süß und fest war, dann trank sie das Wasser, bevor sie der Sprecherin den Becher zurückgab. Worte des Dankes waren nicht vonnöten, wie Zeeriz ihr erklärt hatte. Die Siyee aller Stämme begrüßten Besucher mit Essen und Wasser, da kein Siyee viel Proviant transportieren konnte. Selbst Feinde mussten einander Erfrischungen anbieten, aber das gebotene Schweigen im Anschluss an diese Geste verhinderte, dass jemandem die Dankesworte im Hals stecken blieben.
Sirri trat zurück und breitete die Arme aus, so dass die Membranen ihrer Flügel sichtbar wurden. Dies, das las Auraya in den Gedanken der Frau, war ein Willkommen, das nur jene empfingen, denen die Siyee vertrauten. Die Siyee vertrauten den Göttern und übertrugen dieses Vertrauen auf die Auserwählten der Götter.
»Willkommen in Si, Auraya von den Weißen.«
Auraya lächelte und ahmte die Geste nach. »Ich freue mich, dass du und dein Volk mich so herzlich begrüßt habt.«
Sirris Miene wurde weicher. »Es ist uns eine Ehre, eine der Auserwählten der Götter empfangen zu dürfen.«
Auraya machte das Zeichen des Kreises. »Und mir ist es eine Ehre, von der wunderbarsten und schönsten Schöpfung der Götter willkommen geheißen zu werden.«
Sirris Augen weiteten sich, und eine leichte Röte trat in ihre Wangen. Auraya bemerkte, dass die anderen Sprecher Blicke tauschten. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Sie konnte keine Kränkung bei den Siyee wahrnehmen, nur eine Mischung verschiedener Gedanken, und langsam begriff sie, dass ihre Gastgeber sich fragten, welchen Platz sie in der Welt bekleideten. Hatte ihre Existenz einen bestimmten Sinn? Oder war ihre Erschaffung nur einer vorübergehenden Laune entsprungen, ein Unterfangen, mit dem die Göttin Huan sich für eine Weile vergnügt hatte? Ihre Worte legten den Verdacht nahe, dass die Siyee lediglich zu dem Zweck erschaffen worden waren, Schönheit und Staunen zum Ausdruck zu bringen.
Was das betraf, würde sie große Vorsicht walten lassen müssen. Diese Leute konnten Bedeutungen in ihre Worte hineininterpretieren, die sie nicht beabsichtigte. Sie musste ihnen unbedingt klarmachen, dass sie, was die Ziele der Götter betraf, ebenso unwissend war wie die Siyee. Schließlich hatten die Götter seit der Auserwählungszeremonie nicht mehr zu ihr gesprochen.
»Wir haben eine Versammlung einberufen, um über die vorgeschlagene Allianz zu sprechen«, erklärte Sprecherin Sirri. »Es sind Boten zu allen Stämmen geschickt worden, um sie aufzufordern, ihre Sprecher oder Repräsentanten zu uns zu senden. Es wird zwei oder drei Tage dauern, bis sie alle angekommen sind. In der Zwischenzeit haben wir ein kleines Willkommensfest vorbereitet, das heute Abend bei Sonnenuntergang in der Sprecherlaube stattfinden soll.« Auraya nickte. »Ich freue mich schon darauf.« »Es bleiben noch viele Stunden, bevor die Sonne untergeht. Möchtest du dich ein wenig ausruhen oder dir das Offene Dorf ansehen?«
»Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mir mehr von eurer Heimat zeigen würdet.«
Sirri lächelte und deutete mit einer anmutigen Geste auf die Bäume neben ihr. »Es wäre mir eine Ehre, dich herumzuführen.«
Als das Wasser in der Schale ruhiger wurde, betrachtete Emerahl ihr Spiegelbild und neigte den Kopf, so dass sie ihren Schädel sehen konnte. Die natürliche Haarfarbe ihrer Jugend begann langsam wieder zutage zu treten, wenn auch nur bei genauem Hinsehen. Es war ein weniger lebhafter Rotton als die Farbe, die sie vor einigen Tagen angewandt hatte, aber wenn ihr Haar länger wurde, würde sie die Veränderung mit Hilfe einer schwächeren Farblösung kaschieren können.
Sie richtete sich auf und unterzog sich einer eingehenden Musterung. Eine junge Frau mit betörenden, grünen Augen, einer hellen, leicht sommersprossigen Haut und Haaren von der Farbe eines Sonnenuntergangs blickte ihr entgegen. Ihre lange Tunika war von einem verblichenen Grün, das früher einmal zu ihren Augen gepasst haben mochte, aber der Ausschnitt war aufreizend – und würde es erst recht sein, sobald sie ein wenig zugenommen hatte.
Das schwache Lächeln, das das Mädchen im Spiegel zeigte, verschwand und wurde durch ein Stirnrunzeln ersetzt.
Ja, ich muss eindeutig etwas tun, um meine Kurven wiederzugewinnen, dachte sie. Ich bin ein mageres kleines Ding.
Unglücklicherweise hatte sie den geringen Lohn von ihren ersten Kunden fast zur Gänze ausgegeben, um für einige Nächte ein Zimmer zu mieten. Der Preis für ein Quartier war in den letzten hundert Jahren ein wenig gestiegen. Geradeso, wie auch andere Dinge teurer geworden waren. Zu spät hatte sie erkannt, warum die Fischer nicht allzu inbrünstig gefeilscht hatten. Sie hatte vermutet, dass das Verlangen der Männer sie milde gestimmt hatte, obwohl sie sich in Wahrheit zu einem äußerst niedrigen Preis verkauft hatte.
Das Wichtigste war jedoch zuerst ihre Kleidung gewesen. Ein Teil des Lohns, den sie von den Fischern verlangt hatte, war ein schmutziges altes Kapas gewesen, das sie in der Hütte gesehen hatte. Der Umhang hatte sie bedeckt, bis sie sich eine Tunika kaufen konnte und ein Zimmer gefunden hatte. In dieser Nacht hatte sie sich gründlich gewaschen und sich dann auf den Weg gemacht, um ihre Börse wieder aufzufüllen. An jenem Abend hatten die Freier keinen allzu großen Gefallen an ihr gefunden, und sie hatte kaum genug Geld verdient, um Essen zu kaufen und die Miete für eine weitere Nacht bezahlen zu können. Am dritten Abend hatte der Mann, den sie in ihr Zimmer mitgenommen hatte, ihr weißes Haar angestarrt und sie mit äußerster Grobheit behandelt. Als er fortgegangen war, hatte er förmlich nach rachsüchtiger Befriedigung gestunken. Sie fragte sich, ob die Frau, die er hatte verletzen wollen, wohl wusste, wie sehr er sie hasste.
Sie hatte eine Mahlzeit ausfallen lassen, um sich das Färbemittel für ihr Haar zu kaufen. Am nächsten Abend hatte sie keine Mühe mehr gehabt, Kunden zu finden. Es gab nicht allzu viele rothaarige Frauen, die in den Straßen von Porin arbeiteten. Sie war etwas Neues.
Emerahl fuhr sich noch einmal mit dem Kamm durchs Haar und wandte sich der Tür zu. Im Stillen verfluchte sie den Priester, der sie aus ihrem Heim vertrieben hatte, dann drückte sie den Rücken durch und verließ den Raum.
Sie brauchte nicht weit zu gehen. Ihr Quartier befand sich in einer Gasse, die von der Hauptstraße am unteren Ende der Stadt abzweigte. Hier ließ sich alles kaufen oder arrangieren: Huren, Waren vom Schwarzmarkt, Gift, eine neue Identität, die Besitztümer eines anderen, das Leben eines anderen. Die Konkurrenz war groß unter den Huren, und Emerahls Anwesenheit war schnell bemerkt und bemängelt worden. Als Emerahl ihren Platz an der Ecke der Gasse einnahm, hielt sie Ausschau nach inzwischen vertrauten feindseligen Gesichtern. Die dunkelhäutigen Zwillinge, die hinter der anderen Ecke der Gasse standen, hatten versucht, sie einzuschüchtern, um sie zu vertreiben, aber eine kleine Zurschaustellung ihrer Gaben hatte ihrem Treiben schnell ein Ende gemacht. Das junge Mädchen mit der spitzen Nase, das auf der anderen Seite der Straße stand, hatte versucht, sich mit ihr anzufreunden, aber Emerahl hatte sie abgewiesen. Sie würde nicht lange genug hier sein, um Freunde zu brauchen, und sie hatte nicht die Absicht, ihre Freier oder ihr Einkommen mit einer anderen Frau zu teilen.
Ein kühler Nieselregen setzte ein. Emerahl zog Magie in sich hinein und formte sie zu einer Barriere über ihrem Kopf. Sie bemerkte, dass die dunkelhäutigen Zwillinge unter einer Fenstermarkise Schutz suchten. Eine der Frauen wölbte die Hände, und ein rotes Licht sickerte zwischen ihren Fingern hervor. Die andere schlang die Hände um die ihrer Schwester.
Auf der Straße gegenüber wurde das spitznasige Mädchen schnell nass, und die Feuchtigkeit verwandelte sie von einer jungen Frau in ein zerzaustes Kind. Zu Emerahls Erheiterung lockten die durchnässten Kleider des Mädchens einen Freier an. Als die beiden kurz darauf verschwanden, nickte Emerahl zufrieden. Obwohl sie die Freundschaft des Mädchens nicht wollte, fühlte sie sich diesen Straßenhuren doch so weit verbunden, dass es sie bekümmerte, es mitansehen zu müssen, wenn sie Krankheiten förmlich herausforderten.
Es regnete inzwischen heftiger. Die wenigen Fußgänger, die noch unterwegs waren, hatten kaum einen Blick für die Straßenmädchen übrig. Emerahl beobachtete, wie zwei junge Männer breitbeinig auf der gegenüberliegenden Seite der Straße entlanggingen. Einer der beiden blickte zu ihr hinüber, dann stieß er seinem Gefährten in die Rippen. Jetzt schaute auch der andere in ihre Richtung, aber bevor er sie entdecken konnte, versperrte ihnen etwas die Sicht.
Emerahl musterte den geschlossenen Wagen, der vor ihr stehen geblieben war, mit einem Stirnrunzeln. Dann sah sie, dass der Mann sie durch eine Öffnung in den Vorhängen beobachtete. Nicht mehr ganz jung, stellte sie fest, aber gut gekleidet. Sie lächelte. »Sei mir gegrüßt«, sagte sie. »Suchst du nach etwas?«
Er kniff die Augen zusammen, und ein schiefes Lächeln spielte um seine Lippen. »Das tue ich in der Tat.«
Sie schlenderte zu dem Wagen hinüber. »Etwas, bei dem ich dir helfen kann?«, murmelte sie.
»Vielleicht«, erwiderte er. »Ich suche nach ein wenig Gesellschaft. Nach einem anregenden Gespräch.«
»Ich kann dir sowohl das eine als das andere bieten«, entgegnete sie.
Er lachte, dann wanderte sein Blick zu dem magischen Schild über ihr. »Eine nützliche Gabe.«
»Ich besitze viele nützlichen Gaben«, sagte sie verschlagen. »Einige sind nützlich für mich, andere könnten nützlich für dich sein.«
Seine Augen wurden schmal, obwohl sie nicht sicher war, ob sie dies als Warnung oder als Einladung auffassen sollte. »Wie heißt du?«
»Emmea.«
Die Öffnung in den Vorhängen des Plattans wurde breiter. »Steig ein, Emmea.«
»Das wird dich etwas kosten. Ich verlange mindestens...«
»Steig ein, und wir werden den Preis im Trockenen aushandeln.«
Sie zögerte kurz, dann zuckte sie die Achseln und kletterte in den Wagen. Wenn er ihr eine zu geringe Summe anbot oder Ärger zu machen drohte, konnte sie mühelos ihre Gaben benutzen, um sich zu befreien. Das Schlimmste, was ihr passieren konnte, war ein Spaziergang im Regen, und während sie sich neben ihm in die weichen Kissen auf der Sitzbank sinken ließ und die goldenen Ringe an den Fingern ihres Kunden betrachtete, wurde ihr klar, dass sich das Risiko lohnte.
Der Mann rief dem Fahrer etwas zu, und der Plattan setzte sich ruckartig in Bewegung. Emerahl musterte ihren Kunden, der ihren Blick gleichmütig erwiderte.
»Dreißig Ren«, sagte er. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sehr großzügig. Vielleicht konnte sie den Preis noch weiter in die Höhe treiben. Sie heuchelte Geringschätzigkeit.
»Fünfzig.«
Er schürzte die Lippen. Sie begann, die Bänder ihrer Tunika zu lösen. Er verfolgte jede Bewegung ihrer Finger. »Fünfunddreißig«, erhöhte er sein Angebot. Sie schnaubte leise.
»Fünfundvierzig.« Lächelnd beobachtete er, wie sie das Tuch ihrer Tunika auseinanderzog und ihren Körper enthüllte. Sie lehnte sich in den Kissen zurück und sah, wie das Verlangen in seinen Augen sich vertiefte, während sie ihre Hände über ihren Leib gleiten ließ, von den kleinen Brüsten bis hinunter zu dem feinen Dreieck roter Haare an ihren Lenden.
Er atmete heftiger und schaute ihr in die Augen. »Heybrin wird dich nicht vor Krankheiten schützen.«
Der Geruch des Krauts war ihm also nicht entgangen. Sie lächelte dünn. »Ich weiß, aber die Männer glauben mir nicht, wenn ich ihnen erzähle, dass meine Gaben mich schützen können.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Ich glaube dir. Wie klingen vierzig Ren?«
»Also gut, vierzig«, stimmte sie zu, bevor sie über die Sitzbank rutschte und nach dem Verschluss seiner elegant geschneiderten Hose griff.
Er beugte sich vor und strich ihr mit der Zungenspitze über den Hals bis zu den Brustwarzen hinunter, dann spürte sie die liebkosende Berührung seiner Finger in ihrem Schamhaar. Lächelnd tat sie so, als errege sie seine Zärtlichkeit; sie hoffte nur, dass er nicht glaubte, sie werde auf ihren Lohn verzichten, wenn auch er ihr ein wenig Vergnügen bereitete.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit seinem Körper zu, und schon bald interessierte er sich mehr für seine eigene Lust. Sobald er in ihr war, folgte sie den Instinkten ihres Körpers, um sich seinen Bewegungen anzuschließen, und konzentrierte ihren Geist gleichzeitig auf seinen. Gefühle, größtenteils Verlangen, wehten ihr entgegen wie Rauch. Sie wurde langsam besser darin, solche Regungen aufzufangen.
Seine Bewegungen wurden drängender, dann gab er sich seufzend seinem Höhepunkt hin. Wie die meisten Männer zog er sich nach nur einer winzigen Pause wieder zurück. Emerahl ließ sich in die Kissen sinken. Das ist eindeutig besser als eine harte Steinmauer in meinem Rücken.
Als sie zu ihm aufblickte, stellte sie fest, dass er sie neugierig betrachtete.
»Warum arbeitet eine schöne junge Frau wie du auf der Straße, Emmea?«
Mit Mühe gelang es ihr, ihre Züge zu beherrschen. »Geld.«
»Ja, natürlich. Aber was ist mit deinen Eltern?«
»Sie haben mich rausgeworfen.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Was hast du getan?«
»Du meinst, mit wem – ›mit wem habe ich es getan?‹«, antwortete sie leichthin. »Oder mit wem habe ich es nicht getan? Ich schätze, ich war von Anfang an für diese Arbeit bestimmt.«
»Gefällt es dir?«
Sie musterte ihn kühl. »Meistens«, log sie. Er lächelte. »Wie kommt es, dass du über Heybrin Bescheid weißt?«
Sie zögerte kurz, um sich auf die Bewegungen des Plattans zu konzentrieren. Der Wagen fuhr noch immer ziemlich langsam. Sie konnten nicht weit gekommen sein, aber je länger der Mann redete, desto weiter würden sie sich von der Hauptstraße entfernen. Versuchte er, sie einzuschüchtern, damit sie auf ihren Lohn verzichtete, nur um ihm zu entkommen? Nun, das würde bei ihr nicht funktionieren.
»Ich... meine Großmutter wusste eine Menge über Kräuter und Magie. Sie hat mich diese Dinge gelehrt. Mutter sagte, sie hätte mir nicht beibringen dürfen, wie man Babys verhindert, bis ich verheiratet war, aber...« Emerahl lächelte schief. »Meine Oma kannte mich besser.«
»Meine Großmutter pflegte zu sagen, dass Menschen immer Laster haben werden und man geradeso gut davon profitieren könne.« Er runzelte die Stirn. »Mein Vater ist das genaue Gegenteil. Sehr moralisch. Ihn würde es abstoßen, mich jetzt zu sehen. Er hat unser Geld von ihren unmoralischen Geschäften‹ genommen und alles in die östlichen Berge gesteckt. Wir haben ein Vermögen mit seltenen Hölzern und Bergwerken verdient.«
Plötzlich verstand sie, was vorging. Er war die Art Freier, die gern redete. Nun, er hatte tatsächlich etwas von anregenden Gesprächen gesagt. Es konnte nicht schaden, wenn sie ihm den Gefallen tat. Auf diese Weise würde sie vielleicht etwas erfahren – und wenn sie sich als gute Zuhörerin erwies, bestand immerhin die Möglichkeit, dass er ihre Dienste regelmäßig in Anspruch nehmen würde.
»Das klingt so, als hätte er die richtige Entscheidung getroffen«, bemerkte sie. Der Mann verzog das Gesicht. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Durch die Durchsuchungen an den Toren wird der Verkehr aufgehalten, und wir haben dadurch Kundschaft verloren. Ich weiß nicht, warum sie sich diese Mühe machen. Wenn ein Priester mit der Gabe, Gedanken zu lesen, diese Zauberin nicht finden kann, wer sollte dann dazu in der Lage sein? Jetzt gehen Gerüchte um, dass die Weißen sich mit den Siyee verbünden werden, die Anspruch auf das Land erheben, das sich in unserem Besitz befindet.«
»Die Weißen?«
»Ja. Die Siyee haben Botschafter zum Weißen Turm geschickt. Anscheinend ist eine der Weißen zu einem Besuch in Si aufgebrochen. Die Jüngste von ihnen. Ich schätze, es besteht wenig Hoffnung, dass sie die Angelegenheit aus Unerfahrenheit verpfuschen wird.«
Emerahl schüttelte den Kopf. »Wer sind die Weißen?«
Er starrte sie an. »Das weißt du nicht? Wie ist es möglich, dass du das nicht weißt?«
Etwas in seinem Tonfall sagte ihr, dass sie Unkenntnis in einer Angelegenheit bewiesen hatte, über die alle anderen Menschen genau Bescheid wussten. Sie zuckte die Achseln.
»Meine Heimat ist sehr weit von hier entfernt. Wir hatten nicht einmal einen Priester.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Aha. Kein Wunder, dass du weggelaufen bist.«
Weggelaufen? Das hatte sie nicht gesagt, aber vielleicht hatte er gespürt, dass sie log, und den Grund dafür erraten. Es war eine durchaus glaubwürdige Geschichte, wenn ein Straßenmädchen behauptete, weggelaufen zu sein.
»Die Weißen sind die höchsten Priester und Priesterinnen der Zirkler«, erklärte er. »Die Auserwählten der Götter. Juran ist der Erste, dann kommen Dyara, Mairae, Rian und jetzt Auraya.«
»Ah, die Auserwählten der Götter.« Emerahl hoffte, dass es ihr gelungen war, ihr Erschrecken zu verbergen. Wie war es möglich, dass Juran noch lebte? Die Antwort lag auf der Hand. Weil die Götter es so wollen. Sie nickte unmerklich. Höchstwahrscheinlich waren auch diese anderen Weißen recht langlebig. Und was war dieser Weiße Turm? Plötzlich fiel ihr der Traum von dem Turm ein, der ihr noch immer gelegentlich zu schaffen machte. War dies der Turm, von dem der Mann gesprochen hatte?
»Du siehst aus, als... Ergibt das einen Sinn für dich?« Sie betrachtete den Mann an ihrer Seite und nickte. »Ja, deine Worte haben meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen. Meine Oma hat mir etwas Derartiges beigebracht, aber ich hatte das meiste davon wieder vergessen.« Sie sah ihn an. »Kannst du mir mehr darüber erzählen?«
Er lächelte, dann schüttelte er traurig den Kopf. »Ich muss nach Hause zurückkehren. Aber zuerst werde ich dich wieder zu deinem Quartier bringen.« Er rief dem Fahrer seine Anweisungen zu, und der Plattan fuhr schneller. Nach einigen Minuten blieb der Wagen stehen.
Der Mann griff in seine Tunika, zog eine Börse hervor und zählte leise einige kleine Kupfermünzen ab. »Fünfzig Ren«, sagte er und gab ihr das Geld. Sie zögerte. »Aber...«
»Ich weiß. Wir hatten uns auf vierzig geeinigt. Aber du bist mehr wert, Emmea.«
Sie lächelte, dann beugte sie sich impulsiv vor und küsste ihn auf die Lippen. Ein Leuchten flammte in seinen Augen auf, und sie spürte seine Hand auf ihrer Taille, bevor sie aus dem Plattan stieg.
Er wird zurückkommen, dachte sie mit großer Zuversicht. Ich wusste, dass ich nicht lange hier sein würde.
Sie bemerkte, dass die Zwillinge verschwunden waren, und drehte sich noch einmal um, um dem Plattan nachzuwinken. Dann, nachdem sie die fünfzig Ren in ihrer Börse verstaut hatte, eilte sie die Gasse hinunter zu ihrem Quartier.
Tryss wachte während der Nacht mehrmals auf, doch jedes Mal sah er nur Dunkelheit. Zu guter Letzt blinzelte er sich den Schlaf aus den Augen, gerade als das erste bleiche Licht der Morgendämmerung durch die Wände der Laube seiner Eltern drang. Er stand auf, zog sich leise an und schnallte sich seine Werkzeuge um die Taille. Im Hinausgehen griff er rasch nach einem Stück Brot, und als er das Offene Dorf erreicht hatte, war nur noch die verbrannte Kruste übrig, die er wegwarf. Er reckte sich und wärmte sich sorgfältig auf. Wenn er heute sein neues Geschirr erproben wollte, durften keine Muskelkrämpfe seine Bewegungen behindern. Während er die verschiedenen Übungen durchlief, blickte er zum Nordrand des Dorfes hinüber, aber die Laube der Weißen Priesterin lag in den Schatten der Bäume verborgen.
Die Anwesenheit der Landgeherin hatte unter den Siyee Erregung und Argwohn wachgerufen. Alle sprachen über die Frau und die Allianz, die sie ihnen anbot. Tryss war des Themas herzlich müde, vor allem, da die Leute, die die größte Faszination für diese Auserwählte der Götter zeigten, jene waren, die am lautesten gespottet hatten, als sie von seinem Geschirr erfuhren. Die Leute, die nicht glaubten, dass die Siyee den Weißen als Gegenleistung für ihren Schutz irgendetwas anzubieten hatten.
Das liegt daran, dass sie die Dümmsten von uns sind, hatte Drilli bemerkt, als er ihr diese Beobachtung mitgeteilt hatte.
Er lächelte bei der Erinnerung an ihr Gespräch, dann sprang er in die Höhe. Kalter Wind strich ihm übers Gesicht und über die Membran seiner Flügel. Der Winter kam immer näher. Schon bestäubte der erste Schnee die höchsten Gipfel. Viele der Bäume im Wald hatten ihre Blätter verloren, so dass die Tiere, auf die er Jagd zu machen gedachte, umso deutlicher zu sehen waren.
Meine Familie wird in diesem Jahr nicht hungern, sagte er sich.
Er brauchte eine Stunde, um die Höhle zu erreichen, in der er sein neues Geschirr jetzt verwahrte. Er war einen Umweg geflogen, von dem er hoffte, dass er jeden etwaigen Verfolger verwirren würde. Seine Vettern waren immer noch voller Häme über ihre gehässige Tat, aber keiner von beiden hatte ihn seither gequält. Sein Vater hatte etwas darüber gesagt, dass die beiden mit einer Aufgabe beschäftigt seien, die Sprecherin Sirri ihnen zugewiesen habe.
Nachdem er vor der Höhle gelandet war, eilte Tryss hinein. Wann immer er die Höhle aufsuchte und feststellte, dass seine Erfindung unversehrt war, überkam ihn eine Welle der Erleichterung.
Doch diesmal war es anders. Neben dem Geschirr stand jemand. Tryss erstarrte vor Schreck, dann verspürte er eine Mischung aus Erleichterung und Furcht, als er Sprecherin Sirri erkannte.
Die Anführerin seines Stammes lächelte ihn an. »Ist es fertig?«
Tryss blickte zu dem Geschirr hinüber. »Fast.« Das Lächeln verblasste. »Dann hast du es also noch nicht ausprobiert.« »Nein.«
Sie sah ihn nachdenklich an, dann winkte sie ihn zu sich. »Wir sollten uns setzen, Tryss. Ich möchte mit dir sprechen.«
Als Sirri sich auf den Boden hockte, trat Tryss auf die andere Seite des Geschirrs und setzte sich ebenfalls. Er beobachtete sie genau. Einen Moment lang stand ein geistesabwesender Ausdruck in ihren Augen, dann wandte sie sich zu ihm um.
»Glaubst du, dass du deine Erfindung bis morgen Abend fertig haben kannst?«
Morgen Abend sollte die große Versammlung stattfinden. Die Weiße Priesterin würde das Wort an sie richten. Tryss’ Herzschlag beschleunigte sich.
»Vielleicht.«
»Ich brauche ein eindeutiges ›Ja‹ oder ›Nein‹.« Er holte tief Luft. »Ja.«
Sie nickte. »Willst du es riskieren, dein Geschirr bei einer so wichtigen Versammlung vorzuführen?« Sein Herz raste jetzt. »Ja.«
Sie nickte abermals. »Dann werde ich dafür sorgen, dass die Vorführung ein Teil der Versammlung sein wird. Sie sollte zu einem günstigen Zeitpunkt stattfinden, wenn du alle beeindrucken willst.«
»Ich wäre schon zufrieden, wenn ich nur einige wenige Leute überzeugen könnte«, murmelte er.
Sie lachte. »Ah, aber wir müssen alle überzeugen.«
»Einige Leute werden niemals daran glauben.«
Sie neigte den Kopf zur Seite. »Ist dir klar, dass einer der Gründe, warum sie sich gegen deine Erfindung sperren, die Furcht ist, du könntest recht haben?«
Er runzelte die Stirn. »Warum? Wenn ich recht habe, können sie jagen. Und kämpfen.«
»Und in den Krieg ziehen. Wenn wir in den Krieg ziehen, werden viele von uns niemals zurückkehren, selbst wenn der Sieg unser wäre. Wir sind nicht so zahlreich wie die Landgeher und bringen nicht so viele gesunde Kinder wie sie hervor. Ein Sieg für die Weißen könnte die endgültige Niederlage für die Siyee bedeuten.«
Als ihm die Bedeutung ihrer Worte langsam bewusst wurde, begann Tryss plötzlich zu frieren. Wenn seine Erfindung es den Siyee ermöglichte, in den Krieg zu ziehen, und dieser Umstand das Ende der Siyee herbeiführte, dann würde er für den Untergang seines Volkes verantwortlich sein.
»Aber wenn wir jagen und Land bebauen können, werden wir stärker werden«, sagte er langsam. »Wir werden mehr gesunde Kinder haben. Wenn wir uns gegen Eindringlinge verteidigen können, werden mehr von uns überleben, um Kinder zur Welt zu bringen. Wenn wir in den Krieg ziehen, müssen wir aus solcher Entfernung angreifen, dass die Pfeile der Feinde uns nicht erreichen können. Niemand von uns wird sterben müssen.«
Sirri lachte leise. »Wenn es doch nur so wäre. Wir haben zwei Wege vor uns. Beide haben einen Preis. Es könnte sein, dass der Preis in beiden Fällen derselbe ist.« Sie stand auf. »Komm heute in den späten Abendstunden in meine Laube, dann werden wir über den Zeitpunkt und die Form deiner Vorführung sprechen.«
»Ich werde da sein.« Er erhob sich. »Vielen Dank, Sprecherin Sirri.«
»Wenn dies hier funktioniert, werden alle Siyee dir danken, Tryss.« Sie zwinkerte ihm zu. »Nicht dass dich das irgendwie unter Druck setzen sollte.«
Dann verließ sie die Höhle und sprang in den Himmel hinauf, während Tryss mit dem nagenden Gefühl zurückblieb, dass sie ihm soeben einen Gefallen erwiesen hatte, den er vielleicht noch bedauern würde.
Als die in schwarze Kleider gehüllte, braunhäutige Landgeherin vorsichtig den Felsen hinunterkletterte, musste Yzzi sich ein Lachen verkneifen. Die Frau bewegte sich langsam und unbeholfen und wählte jede Stelle, an die sie ihre Füße oder Hände setzte, mit großer Sorgfalt. Dennoch lag eine Sicherheit in der Art, wie die Frau kletterte, die auf einige Übung schließen ließ. Sie erinnerte Yzzi an einen Jungen ihres Stamms, der ohne eine Membran zwischen seinen Armen und seinem Körper geboren worden war. Er konnte nicht fliegen, aber er konnte weiter gehen und höher springen als jeder normale Siyee. Zuerst waren seine Bemühungen komisch und Mitleid erregend gewesen, aber dann hatten sie und die anderen Kinder bald einigen Respekt vor seiner Entschlossenheit entwickelt, so beweglich wie nur möglich zu sein.
Am unteren Ende des Hangs angekommen, hielt die Frau an einem schmalen Bach inne, um zu trinken. Sie musste tatsächlich im Klettern geübt sein, befand Yzzi, da sie zahlreiche Berge überwunden haben musste, um so weit in das Land der Siyee vorzustoßen.
Yzzi verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere und hielt auf diese Weise mühelos das Gleichgewicht auf ihrem Zweig. Die Frau erhob sich, dann blickte sie auf... direkt in Yzzis Augen. Ein kalter Schauer überlief Yzzi, aber sie bewegte sich nicht von der Stelle. Es war möglich, dass die Frau sie nicht gesehen hatte. Möglich, dass sie durch das Blätterwerk verborgen wurde.
»Hallo«, rief die Fremde.
Yzzi blieb das Herz stehen. Sie hat mich entdeckt! Was soll ich jetzt tun?
»Hab keine Angst«, sagte die Frau. »Ich werde dir nichts tun.«
Es dauerte ein wenig, bis Yzzi die Worte begriffen hatte. Die Frau konnte die Sprache der Siyee nur stockend, und die Tonhöhe ihrer Pfiffe war ein wenig schief. Yzzi musterte die Fremde. Sollte sie mit der Frau reden? Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass man Landgehern nicht trauen dürfe, hatte seine Meinung jedoch geändert, nachdem die Weiße Priesterin am Morgen bei ihrem Stamm gewesen war.
»Willst du nicht herunterkommen und mit mir sprechen?«
Yzzi verlagerte ihr Gewicht abermals auf das andere Bein, dann traf sie eine Entscheidung. Sie würde mit der Fremden reden, aber sie würde es von ihrem Baum aus tun.
»Ich bin Yzzi. Wer bist du?«
Das Lächeln der Frau wurde breiter. »Ich bin Genza.« »Warum bist du in Si?«
»Um mir das Land anzuschauen. Warum kommst du nicht herunter? Ich kann dich kaum sehen.«
Wieder zögerte Yzzi. Die Landgeherin war so groß. Sie hielt Ausschau nach einem Platz, an dem sie der Frau näher sein würde, ohne die Möglichkeit einzubüßen, jederzeit davonzufliegen. Ein Vorsprung des steilen Felshangs, den die Frau soeben hinuntergeklettert war, schien für ihre Zwecke geeignet zu sein. Also ließ sie sich von dem Zweig gleiten und landete geschickt auf ihrem neuen Ausguck.
Dann drehte sie sich zu der Landgeherin um. Die Frau lächelte noch immer.
»Du bist so hübsch«, murmelte sie.
Ein warmes Gefühl der Freude stieg in Yzzi auf.
»Du bist eigenartig«, platzte sie heraus. »Aber auf eine gute Weise.«
Die Frau lachte. »Würdest du dem Anführer deines Stammes eine Nachricht von mir überbringen?«
Yzzi straffte sich. Das Weitergeben von Nachrichten war wichtig, und Kinder wurden nicht oft gebeten, wichtige Nachrichten weiterzugeben. »In Ordnung.«
Die Frau kam einige Schritte näher und blickte Yzzi tief in die Augen.
»Sag ihnen, es täte mir leid, dass die Vögel ihnen Schaden zugefügt haben. Das hätte nicht passieren sollen. Die Vögel haben versucht, mich zu beschützen, und mir ist erst zu spät klargeworden, was da geschah. Ich bin hierhergekommen, um festzustellen, ob wir Freunde werden könnten. Wirst du dir all das merken können, Yzzi?«
Yzzi nickte.
»Dann wiederhole es mir jetzt, damit ich feststellen kann, wie gut du...«
Ein Pfiff aus der Ferne lenkte Yzzis Aufmerksamkeit ab. Sie blickte auf und entdeckte eine große Gruppe von Siyee, die über sie hinwegflog. In ihrer Mitte befand sich eine weiß gekleidete Gestalt, die sich durch ihre Größe und ihre fehlenden Flügel von den anderen abhob.
Die Weiße Priesterin, dachte Yzzi. Dann drehte sie sich wieder zu Genza um, die unter den Blättern eines großen Felfea-Baums hockte. Der Gesichtsausdruck der Frau war schrecklich – eine Mischung aus Wut und Angst.
»Seit wann ist sie hier?«, fauchte sie.
»Seit einigen Tagen«, antwortete Yzzi. »Sie ist nett. Du solltest zu uns kommen und sie kennenlernen. Sie wird auch deine Freundin sein wollen.«
Genza richtete sich auf, und ihre Miene wurde weicher, als sie Yzzi ansah. Sie murmelte einige fremdartige Worte, die Yzzi nicht verstand, dann seufzte sie. »Kannst du dem Anführer deines Stammes noch etwas ausrichten, Yzzi?«
Yzzi nickte.
»Sag ihm Folgendes: Wenn die Siyee sich mit den heidnischen Zirklern verbünden, werden sie einen noch mächtigeren Feind gewinnen. Jetzt, da ich weiß, dass sie hier ist, werde ich nicht bleiben.«
»Du willst die Sprecher nicht kennenlernen?«
»Nicht solange sie hier ist.«
»Aber du bist so weit gereist! Es kann nicht leicht für dich gewesen sein.«
Genza verzog das Gesicht. »Nein.« Sie zögerte kurz, dann sah sie Yzzi hoffnungsvoll an. »Du kennst nicht zufällig einen leichteren Rückweg zur Küste?«
Yzzi grinste. »So weit fort bin ich noch nie gewesen, aber ich werde dir helfen, so gut ich kann.«
Genza schenkte ihr ein warmes, dankbares Lächeln. »Das ist sehr nett von dir, Yzzi. Ich hoffe, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden und ich auch etwas für dich werde tun können.«
Als Danjin Aurayas Räume betrat, hörte er einen schrillen Freudenschrei. »Daaaanin!«
Sofort zog er den Kopf ein und blickte auf. An der Decke war nichts zu sehen. Er hielt Ausschau nach dem Besitzer der Stimme. Ein grauer Nebel schoss durch den Raum und sprang ihm in die Arme.
»Hallo, Unfug«, sagte er.
Der Veez schaute zu Danjin auf und blinzelte ihn hingebungsvoll an. Unfug hatte inzwischen eine große Vorliebe für Danjin entwickelt, da er und Aurayas Diener die einzige Gesellschaft waren, abgesehen von den seltenen Besuchen von Mairae und Sternenstaub. Außerdem fand er es komisch, sich von der Decke auf Danjins Kopf fallen zu lassen, ein Kunststück, das für den Ratgeber kaum weniger beunruhigend war als die Aussicht aus den Fenstern.
Danjin kraulte den Veez am Kopf und unterhielt sich eine Weile mit ihm, aber schon bald kehrten seine Gedanken zu den Entdeckungen zurück, die er während der letzten Tage gemacht hatte. Er hatte Freunde und Bekannte überall in der Stadt besucht, in vornehmen und weniger vornehmen Bezirken. Was er gehört hatte, hatte seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Pentadrianer des südlichen Kontinents stellten eine Armee auf.
Die militärische Ausbildung war ein Teil ihres Kults, und er hatte gehofft, dass sein Bruder und sein Vater zu den falschen Schlüssen gekommen waren, was den Handel mit Waffen betraf. Doch sowohl der alte Seemann, mit dem Danjin sich während seiner frühen Jahre auf Reisen angefreundet hatte, als auch der dunwegische Botschafter hatten ihm von einer aktiven Rekrutierung von Soldaten und Schmieden in Mur, Avven und Dekkar erzählt, den Ländern des südlichen Kontinents.
Unfug entwand sich Danjins Armen, offenkundig unzufrieden mit der geringen Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Er sprang auf einen Stuhl und beobachtete Danjin, der jetzt rastlos im Raum auf und ab ging.
War Nordithania das Ziel der Pentadrianer? Natürlich war es das. Im Nordosten und im Westen lagen weitere Landmassen, aber sie waren so weit entfernt, dass sie beinahe in das Reich der Legenden gehörten. Wenn die Pentadrianer ein anderes Land erobern wollten, war der Kontinent nördlich von ihnen das nächstgelegene Ziel. Was ist los, Danjin? Er keuchte vor Erleichterung. Auraya! Endlich!
Es ist schön, vermisst zu werden, aber das ist offenkundig nicht der Grund für deine Sorgen. Was ist das für eine Geschichte, dass die Pentadrianer Ithania erobern wollen?
Er berichtete schnell, was er in Erfahrung gebracht hatte.
Ich verstehe. Das ist es also, was die Leute reden. Ich glaube nicht, dass die Möglichkeit eines Krieges noch sehr lange ein Geheimnis bleiben wird.
Du wusstest von alledem?
Ja und nein. Wir bekommenerst seit kurzem verlässliche Berichte darüber, was sich im Süden zuträgt. Es handelt sich dabei um Beobachtungen von Menschen, die sich große Mühe geben, nicht entdeckt zu werden. Die Art von Informationen, die du aufgetan hast – Ankäufe von Materialien und eine Veränderung in ihrer militärischen Strategie -, ist mir neu. Erzähl Juran, was du herausgefunden hast. Es wird ihm helfen, das größere Bild zu sehen.
Das werde ich tun. Wie entwickelt sich deine Arbeit in Si?
Es ist ein faszinierendes Land. Ich kann es gar nicht erwarten, dir davon zu erzählen. Diese Leute sind von so sanftem Wesen. Ich hatte eine Art innerer Zerrissenheit erwartet – wie die uralten Fehden zwischen den dunwegischen Clans -, aber hier herrscht lediglich eine sanfte Rivalität zwischen den Stämmen, die sie in fliegerischen Wettbewerben ausleben. Sie streben Verbindungenzwischen jungen Männern und Frauen verschiedener Stämme an, und sie heiraten ziemlich jung, was bedeutet, dass die Siyee schnell heranwachsen. Hast du in der Zwischenzeit etwas von Leiard gehört?
Der plötzliche Themenwechsel überraschte Danjin.
Nein. Nicht mehr, seit du abgereist bist. Könntest du... könntest du ihn besuchen? Nur um ihn wissen zu lassen, dass ich ihn nicht vollkommen vergessen habe. Ich werde gleich morgen zu ihm gehen.
Danke. Und wie geht es... ah,da kommt Sprecherin Sirri. Ich werde mich bald wieder bei dir melden.
Das Gefühl ihrer Anwesenheit verblasste, dann kehrte es plötzlich zurück.
Und streichle Unfug von mir. Das werde ich.
Dann war sie fort. Danjin ging zu dem Stuhl hinüber, hockte sich hin und kraulte den Veez am Kopf. »So, das ist von deiner Herrin.«
Unfug schloss die Augen, und sein spitzes Gesicht war ein Bild der Wonne. Danjin seufzte. Wenn man mich doch nur auch so leicht beruhigen könnte, dachte er. Auraya weiß von der Armee der Pentadrianer, aber das macht die Angelegenheit nicht weniger erschreckend. Ich kann nur hoffen, dass die Weißen alles in ihren Kräften Stehende tun werden, um einen Krieg zu verhindern – oder ihn zumindest zu gewinnen, falls er unvermeidlich sein sollte.
»Tut mir leid, Unfug«, sagte er zu dem Veez. »Ich muss dich allein lassen. Ich muss Juran berichten, was ich weiß.«
Er kraulte Unfug ein letztes Mal, dann erhob er sich und eilte aus dem Raum. Nachdem Sprecherin Sirri wieder gegangen war, schlenderte Auraya langsam durch die Laube, die die Siyee für sie gebaut hatten. Es war eine prächtige Behausung, so schlicht und gleichzeitig so schön. Ihre Laube war doppelt so groß wie eine gewöhnliche Laube, denn die Siyee hatten sie nach der Größe Gremmers bemessen, des Botschafters, der ihnen das Angebot einer Allianz überbracht hatte.
Sie legte ihren weißen Zirk ab und schlüpfte in die schlichte Tunika, in der sie schlief. Seit ihrer Abreise aus Jarime hatte sie sich nicht mehr die Mühe gemacht, ihr Haar nach der kunstvollen Mode Hanias zu frisieren, da das Fliegen all die harte Arbeit ohnehin schnell zunichte gemacht hätte. Stattdessen flocht sie ihr Haar zu einem einzigen Zopf, den sie nun löste.
Es gelang ihr, ohne allzu große Mühe in ihr bequemes Bett zu steigen. Nachdem sie sich die Kissen und Decken behaglich zurechtgelegt hatte, entspannte sie sich und ließ ihre Gedanken schweifen. Die Zeit verstrich, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Sie hatte früher am Tag zu Juran Verbindung gehabt, und vor diesem Hintergrund beunruhigten Danjins Neuigkeiten sie umso mehr. Es wurde von Tag zu Tag wahrscheinlicher, dass Nordithania tatsächlich ein Krieg mit den Pentadrianern drohte. Und Juran hatte Mairae aus Somrey zurückgerufen, weil er befürchtete, dass sie dort von einem der schwarzen Zauberer angegriffen werden könnte.
Und ich bin hier und versuche, die Siyee zu einer Allianz mit uns zu überreden. Wenn sie zustimmen und es zum Krieg kommt, werden sie an unserer Seite kämpfen müssen. Sie sind kein starkes oder robustes Volk. Wie kann ich sie darum bitten, zu kämpfen, wenn es sehr wahrscheinlich ist, dass viele von ihnen dabei ums Leben kommen werden?
Sie seufzte und veränderte ihre Position ein wenig. Es wäre den Siyee gegenüber nicht recht, ihnen die Möglichkeit eines Krieges vorzuenthalten, bis sie ihre Entscheidung getroffen hatten. Wenn sie ihnen jetzt jedoch davon erzählte, würde sie das vielleicht von einer Allianz mit den Weißen abhalten. Sie würde ihnen klarmachen müssen, dass eine Ablehnung der Allianz und die Vermeidung einer Beteiligung an einem Krieg sie nicht vor den Pentadrianern retten würden. Wenn die torenischen Siedler eine Bedrohung für sie darstellten, galt das Gleiche für andere Eindringlinge. Die Siyee würden sich vielleicht dazu entscheiden, dieses Risiko einzugehen. Schließlich würden die Pentadrianer am Ende vielleicht doch nicht in Nordithania einfallen. Andererseits konnte sie nicht darauf setzen, dass es nicht zu einem Krieg kommen würde und sie die Siyee daher nicht zu warnen brauchte. Es würde sie erbittern, wenn sie erfuhren, dass sie ihnen auch nur die Möglichkeit eines Krieges vorenthalten hatte.
Es sieht beinahe so aus, als hätten die Pentadrianer die Nachricht, dass sie einen Krieg planen, bewusst ausgestreut, um die anderen Länder von einer Allianz mit den Weißen abzubringen, dachte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. Das war zu raffiniert, um wahr sein zu können. Die Pentadrianer haben Si noch nicht einmal einen Besuch abgestattet. Sie haben mit nichts zu erkennen gegeben, dass sie die Siyee, die Huan huldigen, als Verbündete wollen.
Sie verlagerte ihr Gewicht noch einmal, und die Bewegung ließ ihr Schiingenbett sanft schaukeln.
Irgendwann werde ich den Siyee von dem drohenden Krieg erzählen müssen, überlegte sie.
Wenn ich den richtigen Zeitpunkt wähle, kann ich sie vielleicht trotzdem davon überzeugen, dass die Allianz für sie von Nutzen wäre. Schließlich können wir mit den Göttern auf unserer Seite nicht verlieren.
An diesem Gedanken hielt sie sich fest und konnte endlich dem Ruf des Schlafs folgen.
Auraya.
Die Stimme war nur ein Wispern in ihrem Geist. Auraya.
Diesmal war es deutlicher zu hören. Sie tauchte mit Mühe aus dem Schlaf auf und sah sich blinzelnd in dem dunklen Raum um. Er war leer, und als sie nach Geistern in ihrer Nähe suchte, konnte sie keinen entdecken. War die Stimme ein Gedankenruf gewesen?
Nein, es fühlte sich so an wie ein Traum, befand sie. Ich werde wohl geträumt haben, dass jemand nach mir gerufen hat. Sie schloss die Augen. Die Zeit dehnte sich, und sie vergaß den Traum.
Auraya.
Sie spürte, wie sie langsam aus dem Schlummer auftauchte, geradeso, als triebe man der Oberfläche von Wasser entgegen. Der Geist des Besuchers verblasste in ihrem Bewusstsein. Sie schlug die Augen auf, machte sich aber nicht die Mühe, nach dem Sprecher Ausschau zu halten. Er war auf den Traum begrenzt.
Er? Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Wer sonst als Leiard würde in einem Traum nach ihr rufen?
Mit einem Mal war Auraya hellwach, und ihr Herz raste. Soll ich antworten? Wenn ich es täte, wäre das dann eine Traumvernetzung? Traumvernetzungen sind ein Verbrechen.
Genauso wie es ein Verbrechen ist, die Dienste eines Traumwebers in Anspruch zu nehmen, dachte sie. Ein lächerliches Gesetz. Ich will wissen, wie sich eine Traumvernetzung anfühlt.
Welche Methode wäre da besser geeignet, als mich einer solchen Vernetzung anzuschließen?
Aber wenn ich an einer Traumvernetzung teilnehme, werde ich ein Gesetz brechen. Und er wird es ebenfalls tun.
Es ist nicht so, als wäre ich ein hilfloses Opfer. Ich könnte jederzeit dafür sorgen, dass er aufhört.
Oder könnte ich das vielleicht nicht?
Eine Weile lag sie wach da. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, mit Leiard zu sprechen, aber ein anderer Teil zögerte. Selbst wenn sie es gewollt hätte, jetzt war sie einfach zu wach – sie bezweifelte, dass sie ohne weiteres wieder einschlafen würde. Einige Zeit später hörte sie ihren Namen rufen und wusste gleichzeitig, dass es ihr doch gelungen war, einzuschlafen, und dass sie mit Leiard reden musste.
Leiard?, fragte sie.
Das Bewusstsein einer anderen Person wurde stärker, floss um sie herum wie dichter, süßer Rauch. Es war Leiard, und in gewisser Weise war er es doch nicht. Es war der Mann, auf den sie während ihrer letzten Nacht in Jarime einen flüchtigen Blick erhascht hatte. Der warmherzige, leidenschaftliche Mann, der unter dem würdevollen Äußeren des Traumwebers verborgen war.
In diesem Zustand kann ich nichts anderes sein als ich selbst, erklärte er ihr.
Ebenso wenig wie ich etwas anderes sein könnte, vermute ich, erwiderte sie.
Nein. Hier kannst du die Wahrheit zeigen oder sie verbergen, aber lügen kannst du nicht.
Dann ist dies also eine Traumvernetzung? So ist es. Verzeihst du mir das? Ich hatte nur den Wunsch, auf irgendeine Weise mit dir zusammen zu sein. Ich verzeihe dir. Aber verzeihst du mir? Wofür?
Für jene Nacht, in der wir...
Erinnerungen blitzten durch ihre Gedanken, lebhafter noch, als sie es taten, wenn sie wach war. Sie sah nicht nur ihre Gliedmaßen ineinander verwoben, sondern spürte auch die Berührung von Haut auf Haut. Von Leiard kamen Erheiterung und tiefe Zuneigung. Was gäbe es da zu verzeihen?
Weitere Erinnerungen schlugen über ihr zusammen, diesmal von einer anderen Perspektive betrachtet. Was dies enthüllte, war verblüffend. Die Lust aus seiner Perspektive zu erleben...
Wir wollten es beide. Ich denke, das war klar, sagte er. Was geschieht hier?, fragte sie. Diese Erinnerungen sind so lebendig.
Das sind sie im Traum immer. Ich kann berühren, schmecken...
Träume sind sehr machtvoll. Sie können den Trauernden Trostgeben, den Schwachen Zuversicht... Dem Missetäter Gerechtigkeit?
Früher einmal, ja, hatten Träume diese Aufgabe. Heute ist das nicht mehr so. Traumvernetzungen ermöglichen es Liebenden noch immer, zusammenzukommen, wenn sie voneinander getrennt sind. Sie sind für die Traumweber die Alternative zu dem Priesterring.
Ich hätte dir einen Ring gegeben, aber ich dachte, dass du ihn nicht annehmen würdest.
Nimmst du dies hier an? Wir brechen ein Gesetz. Sie hielt inne.
Ja. Wir müssen reden. Was wir getan haben – so wunderschön es auch war -, wird Konsequenzen haben. Ich weiß.
Ich hätte dich nicht einladen dürfen.
Ich hätte deine Einladung nicht annehmen dürfen.
Nicht dass ich es bedauere.
Ich ebenso wenig.
Aber wenn die Leute es herausfinden ...Es würde mir nicht gefallen, wenn dies zu deinem Schaden wäre – oder dem deiner Leute.
Mir auch nicht.
Sie zögerte, dann zwang sie sich zu sagen, was gesagt werden musste.
Wir werden es nicht wieder tun. Nein.
Für eine Weile schwiegen sie beide.
Du hast recht, sagte sie. Wir können an diesem Ort nicht lügen.
Er streckte die Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren.
Aber wir können wir selbst sein.
Sie erschauerte unter seiner Berührung. Sie weckte so viele Erinnerungen.
Ich wünschte, du wärst hier.
Das tue ich auch. Aber zumindest in einer Form bin ich bei dir.
Wie ich schon sagte, Erinnerungen sind im Traumzustand lebendiger. Gibt es irgendwelche Erinnerungen, die du gern noch einmal durchleben würdest?
Sie lächelte.
Die eine oder andere.
Die Sonne war eine leuchtende Kugel, deren Licht durch den Nebel, der die Stadt einhüllte, weicher erschien. Die wenigen Menschen, die unterwegs waren, zögerten, bevor sie an Leiard vorbeigingen; zweifellos fragten sie sich, was ein Traumweber an einem solchen Morgen in den Docks tat.
Was er tat, war einfach: Er dachte nach. Er erinnerte sich an Träume, in denen er sich erinnerte... und fühlte sich schuldig deswegen.
Er hatte vor einigen Tagen beschlossen, dass er nicht versuchen würde, Auraya in ihren Träumen zu erreichen, aber in der vergangenen Nacht hatte sein Unterbewusstsein etwas anderes beschlossen. Als er begriffen hatte, was er tat, war es bereits zu spät gewesen. Sie hatte ihm geantwortet.
Doch selbst dann noch hätte er die Willenskraft haben müssen, aufzuhören, aber Auraya hatte die Traumvernetzung auf völlig natürliche Weise angenommen. Es war unmöglich, sie zurückzuweisen, und die Freuden der Nacht waren zu schön gewesen, um zu widerstehen.
Sie hat eine ausgeprägte Fantasie, diese junge Frau, murmelte eine Stimme in seinen Gedanken. Es ist ein Jammer, dass sie ein Werkzeug der Götter ist.
Leiard runzelte die Stirn. Sie ist mehr als nur ein Werkzeug.
Ach ja? Glaubst du, dass sie sich weigern würde, wenn die Götter ihr den Befehl gäben, dich zu töten?
Ja.
Du bist ein Narr.
Leiard blieb stehen und blickte auf das Wasser hinaus.
Schiffe, die im Nebel seltsam geisterhaft wirkten, wiegten sich sanft an ihren Anlegestellen.
Ich bin ein Narr, pflichtete er der Stimme in seinem Innern bei.
Ich hätte es nicht tun dürfen, dachte Leiard. Wir haben das Gesetz gebrochen. Ein dummes Gesetz.
Trotzdem ein Gesetz. Und wer dagegen verstößt, wird mit dem Tod bestraft.
Ich bezweifle, dass sie bestraft würde. Was dich betrifft ...Du warst klug genug, sicherzustellen, dass es ihre Entscheidung war. Wenn sie ein Gewissen hat, wird sie sich selbst dafür verantwortlich machen, dich ermutigt zu haben, dieses Gesetz zu brechen.
Es war nicht ihre Schuld.
Nein? Dann hältst du dich also für so unwiderstehlich, dass sie jeden eigenen Willen verloren und sich dir hingegeben hat?
Oh, sei still Leiard runzelte finster die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Ganze war einfach lächerlich. Er stritt mit einer Erinnerung Mirars. Was in letzter Zeit immer häufiger geschah. Er hatte die Vernetzung mit Jayim abgelehnt, weil er fürchtete, der Junge könnte von seiner Nacht mit Auraya erfahren, aber Arleej hatte gesagt, dass er sich bisweilen vernetzen müsse, um das Gefühl für seine Identität zurückzuerlangen. War das der Grund, warum Mirars Persönlichkeit sich so entwickelt hatte, warum es sich so anfühlte, als wolle er... als wolle...
Dich beschützen? Weil ich weiß, dass ihr beiden, du und Auraya, euch gleich nach ihrer Rückkehr an verborgenen Ortenin der Stadt treffen wollt, um euch bis zur Besinnungslosigkeit eurer Leidenschaft hinzugeben. Weil du ein Traumweber bist, und wenn deine Affäre entdeckt wird, werden meine Leute den Preis dafür zahlen.
Das wird nicht geschehen, erwiderte Leiard. Nicht wenn die anderen Weißen niemals die Gelegenheit bekommen, meine Gedanken zu lesen. Ich werde die Rolle des Ratgebers aufgeben müssen.
Womit du nur ihren Argwohn wecken wirst. Sie werden dich befragen wollen. Sie werden wissen wollen, warum du so handelst.
Ich werde ihnen eine Nachricht schicken und ihnen mitteilen, dass ich mehr Zeit brauche, um Jayim auszubilden.
Das klingt wirklich sehr glaubwürdig.
Sie werden keinen weiteren Gedanken auf mich verschwenden. Ich bin nur ein gewöhnlicher Traumweber. Wahrscheinlich werden sie erleichtert sein, mich loszuwerden. Sie werden...
»Leiard?«
Die Stimme erklang ganz in seiner Nähe. Blinzelnd stellte Leiard fest, dass er sich am Ende eines Piers befand. Als er sich umwandte, stand Jayim hinter ihm.
»Jayim?«, fragte er. »Was tust du hier?«
Der Junge legte die Stirn in Falten. »Nach dir suchen.« Er sah sich um. »Mit wem hast du geredet?«
Leiard sah seinen Schüler an. Geredet? Er schluckte und stellte dabei fest, dass sich seine Kehle genauso anfühlte, als habe er eine ganze Weile gesprochen.
»Mit niemandem«, sagte er und hoffte, dass man ihm seine Beunruhigung nicht ansehen konnte. Er zuckte die Achseln. »Ich habe lediglich einige Formeln laut aufgesagt.«
Jayim akzeptierte Leiards Erklärung mit einem Nicken. »Wirst du mir heute Unterricht geben?«
Leiard schaute zu den Schiffen hinüber. Der Nebel war inzwischen schwächer geworden. Er konnte unmöglich feststellen, wie lange er hier gestanden hatte. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, seit einigen Stunden.
»Ja. Ich denke, wir werden uns weitere Heilmittel vornehmen. Man kann nie genug davon kennen.«
Jayim verzog das Gesicht. »Keine Vernetzung?«
Leiard schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
Ein beharrliches Hämmern zog Emerahl trotz ihres Widerstands aus den Tiefen des Schlafs empor. Benommen erkannte sie, worum es sich bei dem Geräusch handelte:
Jemand schlug mit der Faust gegen die Tür. Sie öffnete die Augen und murmelte einen Fluch. Einen Vorteil hatte es, bis spät in die Nacht aufzubleiben und den ganzen Morgen zu verschlafen: Sie wurde auf diese Weise nicht von dem Turmtraum gequält. Allerdings kam gelegentlich die Vermieterin zu früher Stunde vorbei, um die Miete einzufordern.
»Ich höre dich«, rief sie. »Ich komme.«
Mit einiger Mühe richtete sie sich auf. Sofort spürte sie, wie die letzten Überreste des Schlafs ihren Halt verloren. Sie blinzelte und rieb sich die Augen, bis sie sie offen halten konnte, dann gähnte sie mehrmals, warf sich ihr schmutziges, altes Kapas über und ging zur Tür.
Sobald sich der Riegel mit einem Klicken geöffnet hatte, schwang die Tür nach innen auf. Emerahl taumelte rückwärts und sammelte hastig Magie, um einen unsichtbaren Schild zu formen. Der Eindringling war eine hochgewachsene Frau in mittleren Jahren, die vornehme Kleidung trug. Hinter ihr standen zwei breitschultrige Männer, die sie offensichtlich zu ihrem Schutz in Dienst genommen hatte.
Weder von der reichen Fremden noch von ihren Wachen schlug Emerahl etwas Böses oder Gewalttätiges entgegen, nur Neugier und die Arroganz von Menschen, die über Wohlstand oder Macht verfügten. Emerahl starrte die Frau an.
»Wer bist du?«, verlangte sie zu erfahren.
Die Frau ignorierte die Frage. Sie sah sich im Raum um, zog angewidert die Augenbrauen hoch und bedachte Emerahl dann mit einem abschätzenden Blick. »Du bist also die Hure, die Panilo entdeckt hat.« Sie schürzte die Lippen. »Zieh das Kapas aus.«
Emerahl machte keine Anstalten zu gehorchen. Sie sah ihr fest in die Augen. »Wer bist du?«, wiederholte sie.
Die Fremde verschränkte die Arme vor der Brust und schob ihren üppigen Busen vor.
»Ich bin Rozea Peporan.«
Sie erwartete offensichtlich, dass der Name Emerahl etwas sagen würde. Nach einem kurzen Schweigen runzelte die Frau die Stirn, ließ die Arme sinken und stemmte stattdessen die Hände in die Hüften.
»Ich besitze und betreibe das reichste Bordell in Porin.«
Ein Bordell? In Toren klopften – beziehungsweise hämmerten -die Chancen sehr schnell an die Tür.
»Ist das so?«, erwiderte Emerahl.
»Ja.«
Emerahl legte einen Finger an die Lippen. »Panilo ist der Kaufmann, der während der letzten Nächte meine Dienste in Anspruch genommen hat.«
»Das ist richtig. Er ist ein Stammkunde. Zumindest war er das bis vor kurzer Zeit. Er hat einen Blick für Qualität, daher macht es mich immer misstrauisch, wenn meine Spione mir berichten, dass er die Hauptstraße besucht hat.«
»Dann bist du also hier, um mich meiner Wege zu schicken?«
Rozea lächelte, aber ihre Augen blieben kalt. »Das kommt darauf an. Zieh dein Kapas aus. Und dein Hemd.«
Emerahl schlüpfte aus ihren Kleidern und warf sie auf das Bett, dann straffte sie die Schulter und drehte sich um, um ihren nackten Körper zur Schau zu stellen. Sie brauchte sich nicht allzu sehr anzustrengen, um das Interesse der Wachen wahrzunehmen. Die Art, wie die Frau ihren Körper begutachtete, war unpersönlich und berechnend. Emerahl drehte sich einmal um die eigene Achse und warf den Kopf zurück.
»Mager«, erklärte Rozea. »Gute Knochen. Mit guten Knochen kann ich immer etwas anfangen. Keine Narben... was ist deine natürliche Haarfarbe?« »Rot.«
»Warum färbst du dir dann die Haare?«
»Um sie röter zu machen. Damit ich auffalle.«
»Es sieht billig aus. Mein Etablissement ist nicht billig. Meine Mädchen dürfen sich das Haar in einem natürlichen Ton nachfärben. Hatten irgendwelche von deinen Kunden Krankheiten?«
»Nein.«
»Und du?«
»Nein.«
»Gut. Zieh dich an.«
Emerahl ging zu dem Stuhl, über den sie ihre grüne Tunika gehängt hatte, nachdem sie sie in der vergangenen Nacht gewaschen und getrocknet hatte. »Was bringt dich auf die Idee, ich würde in deinem Etablissement arbeiten wollen?«, fragte sie, während sie die Tunika überstreifte.
»Sicherheit. Ein sauberes Zimmer. Bessere Kunden. Besseres Geld.«
»Ich besitze Gaben. Ich kann mich selbst beschützen«, entgegnete sie. Sie sah Rozea von der Seite an. »Und was das Geld betrifft – über welche Summen reden wir?«
Rozea kicherte. »Fürs Erste wirst du nicht mehr als fünfzig Ren verdienen.«
Emerahl zuckte die Achseln. »Die habe ich von Panilo auch bekommen. Ich will hundert.«
»Sechzig und dazu neue Kleider und ein wenig Schmuck.«
»Achtzig.«
»Sechzig«, wiederholte Rozea energisch. »Mehr nicht.«
Emerahl setzte sich auf die Bettkante und tat so, als denke sie nach. »Keine groben Kunden. Ich höre, Leute wie du erlauben reichen Männern, unerfreuliche Dinge mit ihren Mädchen zu tun, wenn die Kunden genug Geld dafür bieten. Nicht mit mir. Ich besitze Gaben. Wenn sie irgendetwas versuchen sollten, werde ich sie töten.«
Die Frau kniff die Augen zusammen, dann zuckte sie die Achseln. »Also schön, keine groben Typen. Sind wir uns einig?«
»Und keine Kranken. Kein Geld ist es wert, krank zu werden.«
Rozea lächelte. »Ich tue mein Bestes, meine Mädchen zu schützen«, sagte sie stolz. »Die Kunden werden ermuntert, vorher ein Bad zu nehmen, was uns die Möglichkeit gibt, sie genauer zu betrachten. Kunden, von denen bekannt ist, dass sie krank sind, dürfen das Haus nicht betreten. Alle Mädchen bekommen reinigende Kräuter. Wenn deine Gaben groß genug sind, gibt es noch andere Methoden, die man dich lehren kann.« Sie bedachte Emerahl mit einem herablassenden Blick. »Wir stehen in dem Ruf, das sauberste Bordell in Porin zu betreiben.«
Emerahl nickte beeindruckt. »Das klingt vernünftig. Ich werde es versuchen.«
»Dann nimm deine Sachen. Ich habe einen Plattan vor dem Haus bereitstehen.«
Emerahl sah sich um. Ihre Börse befand sich in einer Tasche der Tunika, und die Seeglocke hatte sie in ihren Ärmel eingenäht. Sie erhob sich und ging zur Tür. Rozea warf einen Blick auf das Hemd und das Kapas, die sie liegen lassen hatte, dann lächelte sie und begleitete sie aus dem Haus.
»Wir erzählen unseren Kunden, dass unsere Mädchen aus guten Familien stammen, die harte Zeiten durchmachen«, sagte Rozea, während sie die Treppe hinunterstiegen. »Du hast eine altmodische Art zu reden, die diese Illusion unterstützen wird. Man wird dich alles lehren, was in der feinen Gesellschaft an Manieren verlangt wird. Wenn du dich als gelehrige Schülerin erweisen solltest, werde ich dir auch ein oder zwei fremde Sprachen beibringen.«
Emerahl lächelte schief. »Du wirst feststellen, dass ich eine schnelle Auffassungsgabe habe.«
»Gut. Kannst du lesen?«
»Ein wenig.« Sie hoffte, dass es sich tatsächlich so verhielt. Wenn sich die gesprochene Sprache im Laufe eines Jahrhunderts so sehr verändert hatte, wie sehr mochte sich dann die geschriebene Sprache verändert haben?
»Und schreiben?«
»Ein wenig.«
»Singen?«
»Gut genug, um die Vögel von den Feldern aufzuschrecken.«
Rozea lachte leise. »Dann also kein Gesang. Kannst du tanzen?«
»Nein.« Was wahrscheinlich der Wahrheit entsprach. Es war lange her, seit sie das letzte Mal getanzt hatte. »Wie heißt du?« »Emmea.«
»Jetzt nicht mehr. Dein neuer Name ist Jade.« »Jade.« Emerahl zuckte die Achseln. »Die Augen, nicht wahr?«
»Natürlich. Sie sind im Moment das Schönste an dir. Meine Mädchen werden dir zeigen, wie du deine Vorzüge besser zur Geltung bringen und deine Mängel verbergen kannst, indem du die richtige Kleidung auswählst, an deiner Haltung arbeitest und, wenn alles andere nicht hilft, Farbe auflegst.«
Am Fuß der Treppe angekommen, trat Rozea durch die Tür. In der Gasse wartete ein Plattan. Die beiden Wachen stiegen auf die Sitzbank neben dem Fahrer. Rozea bedeutete Emerahl, sich zu ihr in den Wagen zu setzen. Bevor sie einstieg, blickte Emerahl sich schnell noch einmal um. Bis auf einige schlafende Bettler war die Hauptstraße verlassen. Niemand würde ihr »Verschwinden« bezeugen können. Nicht einmal ihre Vermieterin, was kein Nachteil war.
Auf einen knappen Befehl des Fahrers setzte das Arem, das den Plattan zog, sich in Bewegung und trug Emerahl davon. Ein Bordell, dachte sie. Wird es für die Priester dadurch einfacher oder schwieriger, mich zu finden? Wahrscheinlich weder das eine noch das andere. Zumindest wird es dort behaglicher sein. Es könnte sich sogar als einträglich erweisen.
Der Himmel war von dem bläulichen Schwarz des frühen Abends. Überall blinkten Sterne, aber den Grund für ihre Unruhe konnte man nur erkennen, wenn man nach Westen blickte, wo hunderte geflügelter Gestalten vor einem Himmel zu sehen waren, der noch im Licht des Sonnenuntergangs leuchtete.
Diese Gestalten glitten zum Offenen Dorf hinab, zu dem flachen Bereich in der Mitte des felsigen Hangs. In einem großen Kreis waren Feuer entzündet worden, und ihr Licht tauchte die Gesichter der Siyee in einen warmen, roten Schimmer.
Inzwischen kannte Auraya viele dieser Gesichter. Sie hatte mit Siyee aller Altersklassen, Positionen und Stämme gesprochen. Nicht weit entfernt von ihr stand der Fallensteller des Stamms vom Schlangenfluss, der ihr erzählt hatte, dass torenische Siedler sein Volk aus seinen fruchtbaren Tälern vertrieben hatten. Dann war da die alte Matriarchin des Stamms von den Feuerbergen, die Auraya die Schmieden gezeigt hatte, die ihr Volk benutzte, um aus den überreichen Mineralvorkommen in ihrer Heimat Pfeilspitzen und Messer herzustellen. Soeben landeten drei junge Männer vom Tempelbergstamm, die sich bei ihr erkundigt hatten, was sie lernen müssten, um Priester zu werden.
»In meinem ganzen Leben hat es noch nie eine so große Versammlung gegeben«, murmelte Sprecher Dryss neben ihr, »und ich habe an allen teilgenommen.«
Sie drehte sich zu dem alten Mann um. »Sprecherin Sirri hat mir erklärt, dass nur Sprecher oder jene, die zu ihren Stellvertretern bestimmt wurden, an einer Versammlung teilnehmen müssen. Es überrascht mich jedoch nicht, dass auch viele andere gekommen sind. Die Entscheidung, die ihr heute Abend treffen wollt, könnte euer ganzes Leben verändern. Wenn ich eine Siyee wäre, würde ich hier sein wollen, um die Entscheidung der Sprecher zu hören.«
»Das stimmt, aber ich bin davon überzeugt, dass einige nur deshalb hier sind, um einen Blick auf die Auserwählte der Götter zu erhaschen«, erwiderte er kichernd. Sie lächelte. »Dein Volk hat mich sehr herzlich aufgenommen, Sprecher Dryss. Ich gestehe, ich habe mich in diesen Ort verliebt und wünschte, ich würde nicht fortgehen müssen.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Vermisst du denn nicht die Annehmlichkeiten deines Zuhauses?«
»Ein wenig«, gab sie zu. »Vor allem vermisse ich die heißen Bäder. Und meine Freunde.«
Er öffnete den Mund zu einer Antwort, aber in diesem Moment wandte Sprecherin Sirri sich der Reihe von Sprechern zu.
»Es wird Zeit, denke ich. Wenn wir auf Nachzügler warten, wird die Nacht zu Ende sein, bevor wir fertig sind.«
Die anderen nickten zustimmend. Als Sirri auf den Sprecherfelsen trat, brachen die Siyee ihre Gespräche ab und blickten erwartungsvoll empor.
Sirri hob die Arme. »Volk der Berge. Stämme der Siyee. Wir, die Sprecher, haben euch heute Abend hierhergerufen, um die Worte Aurayas von den Weißen zu hören, einer der Auserwählten der Götter. Wie ihr wisst, ist sie zu uns gekommen, um mit uns über eine Allianz zwischen den Siyee und den Zirklern zu reden. Heute Abend werden wir ihre Worte hören und unsere Gedanken zum Ausdruck bringen. In sieben Tagen werden wir wieder zusammenkommen, um unsere Entscheidung zu treffen.«
Sirri wandte sich zu Auraya um und winkte sie zu sich heran. Auraya trat neben die Frau und blickte auf das Volk von Si hinab. Seit ihrer Ankunft war es nicht notwendig gewesen, ihre Gedanken zu lesen, um sich ein Bild von ihren Zweifeln und Hoffnungen zu machen. Sie hatten sie offen ausgesprochen. Jetzt ließ Auraya ihren Geist über den der Siyee gleiten.
Sie waren zögerlich, davon überzeugt, dass eine Strafe ihrer harrte, ob sie einer Allianz nun zustimmten oder nicht. Sie waren ein furchtsames Volk, das nur selten Zuflucht zur Gewalt nahm. Außerdem waren sie ein stolzes Volk. Obwohl sie nicht in einen Krieg ziehen wollten, in dem wahrscheinlich viele von ihnen umkommen würden, wollten sie doch ihren Nutzen unter Beweis stellen. Dieser Stolz war es, an den sie jetzt anknüpfen musste.
»Volk von Si, Huans Schöpfung, ich bin auf eure Einladung hin in euer Land gekommen, um mehr über euch zu erfahren, um euch etwas von meinem eigenen Volk zu erzählen und die Möglichkeit einer Allianz zwischen uns zu erkunden. Ich habe viel über euch erfahren und euch für eure Zähigkeit und eure friedliebende Natur schätzen gelernt. Ich bin nicht länger unvoreingenommen – es ist mir ein Herzensanliegen, eine Verbindung zwischen meinem Volk und eurem herzustellen. Ich bin entsetzt über die große Zahl von Siyee, die durch die Hände von Landgehern gestorben sind. Außerdem kann ich viele Möglichkeiten erkennen, wie wir einander durch Handel und einen Austausch von Wissen bereichern können. Ich ertappe mich immer wieder bei dem eigensüchtigen Gedanken, dass eine Allianz ein wunderbarer Vorwand wäre, um meine Pflichten als Weiße zu vernachlässigen und häufiger als notwendig nach Si zu reisen.«
Diese Worte zauberten ein Lächeln auf viele Gesichter. Auraya hielt inne, dann wurde ihre Miene ernst.
»Eine Allianz erfordert eine Übereinkunft in verschiedenen Dingen, und das erste dieser Dinge, das ich ansprechen werde, ist der Krieg. Wenn wir, die Weißen, mit euch die Übereinkunft treffen, eure Länder zu schützen, können wir dem Eindringen von Siedlern ohne Blutvergießen ein Ende machen, indem wir vom torenischen König fordern, Maßnahmen zu ergreifen, die solche Dinge in Zukunft verhindern. Für eine solche Hilfe unsererseits erbitten wir von euch das Versprechen, uns ebenfalls zu helfen, sollten wir oder unsere Verbündeten durch Eindringlinge bedroht werden.«
Sie sah viele grimmige Gesichter und nickte. »Ich weiß, ihr glaubt nicht, dass ihr in einem Krieg von großem Nutzen sein könnt. Es wäre ebenso lächerlich, wollten die Siyee sich in einen Mann-gegen-Mann-Kampf gegen Landgeher einlassen, wie es lächerlich wäre, wenn ich etwas Derartiges tun wollte. Meine Stärke liegt in der Zauberei, eure im Flug. Eure Fähigkeit zu fliegen macht euch zu besseren Spähern, als wir sie bisher je gehabt haben. Ihr könnt über die Positionen und Bewegungen feindlicher Truppen Meldung machen und vor Fallen und Hinterhalten warnen. Ihr könnt kostbare, kleine Gegenstände tragen und abliefern – Heilmittel oder Verbände für die Verwundeten, Nachrichten an Kämpfer, die keinen Priester haben, der ihnen unsere Befehle übermitteln könnte.«
Inzwischen waren die Siyee fast alle eines Geistes. Sie hatten gut auf ihre Worte reagiert, einige mit Begeisterung, andere mit der vorsichtigen Anerkennung der Tatsache, dass sie recht hatte. Sie nickte leicht.
»Es ist schwer, etwas von euch zu verlangen, das euren Familien eines Tages Tod und Kummer bringen könnte, geradeso, wie es schwer sein wird, sollte ich jemals die Söhne und Väter meines eigenen Volkes bitten müssen, für unsere Verteidigung in den Kampf zu ziehen. Ich hoffe, dass ich den Tag niemals erleben werde, da eine Bedrohung von außen uns zu so schrecklichen Entscheidungen zwingen wird.
Dann mögt ihr euch noch die Frage stellen, wie diese Allianz eurem Volk in Zeiten des Friedens zugutekommen wird. Wir können euch Handel, Wissen und Zugang zu der zirklischen Priesterschaft anbieten. Viele von euch bezweifeln, dass ihr irgendetwas von Wert hättet, das sich verkaufen ließe. Das ist nicht wahr. Ihr stellt einzigartige Dinge her, die außerhalb von Si sowohl von praktischem als auch von künstlerischem Wert wären. Ihr habt Vorkommen von Mineralien, die abgebaut werden könnten. Ihr besitzt seltene Pflanzen, die heilende Eigenschaften haben. Selbst die weichen Decken in der Laube, die ihr für mich gebaut habt, würden in Jarime einen hohen Preis erzielen. Und das sind nur die Güter, die mir in den wenigen kurzen Wochen meines Aufenthalts hier aufgefallen sind. Ein erfahrener Händler würde noch viel mehr entdecken.
Dann wären da noch die Vorteile, die ein Austausch von Kultur und Wissen grundsätzlich mit sich bringt. Wir können viel voneinander lernen. Eure Methoden, zu herrschen und Konflikte zu lösen, sind einzigartig. Die Priesterschaft der Zirkler kann eine Ausbildung in der Heilkunst und der Zauberei anbieten. Als Gegenleistung können wir euch nur bitten, eure Kenntnisse auf dem Gebiet des Heilens mit uns zu teilen, damit wir unseren jeweiligen Völkern besser helfen können.«
Auraya hielt inne und ließ ihren Blick über die vielen hundert Gesichter wandern. »Ich hoffe, dass unsere Länder sich in Freundschaft und Respekt und zum beiderseitigen Wohl vereinen werden. Vielen Dank, dass ihr mir zugehört habt, Männer und Frauen von Si.«
Sie trat vom Rand des Felsvorsprungs zurück und schaute zu Sirri hinüber. Die Sprecherin nickte lächelnd, dann hob sie abermals die Arme.
»Die Sprecher werden sich jetzt mit ihren Stämmen beraten.«
Auraya sah zu, wie sich die Sprecher einer nach dem anderen in die Luft erhoben und zu ihren Stämmen hinunterglitten.
Als nur noch sie auf dem Felsvorsprung zurückgeblieben war, suchte sie einmal mehr Zugang zu den Gedanken der Siyee. Obwohl ihre Worte sie berührt hatten, waren sie natürlich immer noch vorsichtig. Die Veränderungen, von denen sie gesprochen hatte, begeisterten sie, machten ihnen aber auch Angst.
Sie sollten sich sehr genau überlegen, was sie wollen. Ihre Welt wird wahrscheinlich nie wieder dieselbe sein,auch wenn niemals Krieg ausbrechen sollte. Es würden Landgeher hierherkommen und ihre Ideen zurücklassen – sowohl gute als auch schlechte. Sie würden eine Straße nach Siyee bauen wollen, um sich die Reise zu erleichtern. Die Siyee würden sehr vorsichtig sein müssen; möglicherweise würden sie eindringende Siedler gegen habgierige, skrupellose Kaufleute eintauschen – vor allem dann, wenn sie sich dazu entschlossen, weitere Bergwerke zu eröffnen.
Ich werde dafür sorgen müssen, dass das niemals geschieht.
Es überraschte sie, wie stark ihr Bedürfnis war, die Siyee zu beschützen. Seit ihrer Ankunft waren erst wenige Wochen verstrichen. Hatten diese Leute sie so sehr in ihren Bann geschlagen?
Ja, dachte sie. Ich habe das Gefühl, hierherzugehören. Ich vergesse immer wieder, wie sehr ich mich von ihnen unterscheide, und ich wünsche mir beinahe, ich könnte auf die Hälfte meiner Gräfe zusammenschrumpfen und mir Flügel wachsen lassen.
Sie schaute zu den gewaltigen Bäumen empor, fing jedoch plötzlich einen bruchstückhaften Gedanken auf und wandte hastig den Blick ab. Dort oben war jemand. Ein Junge, der voller Angst auf den Moment wartete, da er vor der Versammlung erscheinen sollte. Auraya hatte bereits genug von Sirris Gedanken aufgefangen, um zu wissen, dass die Sprecherin für einen späteren Zeitpunkt eine Überraschung plante.
Irgendeine Art von Vorführung, ging es Auraya durch den Kopf- Etwas, von dem sie glaubt, es werde die Siyee dazu bringen, sich mit der Allianz einverstanden zu erklären.
Sie widerstand der Versuchung, die Gedanken des Jungen zu lesen, und konzentrierte sich stattdessen auf die Siyee. Die Zeit verging, und die Sprecher verließen einer nach dem anderen ihre Stämme und kehrten zu ihren früheren Plätzen zurück. Als die letzten von ihnen gelandet waren, trat Sirri wieder auf den Felsvorsprung, und Stille legte sich über die Versammlung.
Die Sprecher ergriffen der Reihe nach das Wort und legten die Meinung ihres Stammes dar. Die meisten der Stämme hatten sich für eine Allianz ausgesprochen, doch einige wenige verweigerten ihre Zustimmung.
»Alle Stämme müssen sich in dieser Angelegenheit einig sein«, erklärte Sprecherin Sirri.
»Wir konnten jedoch keine Einigkeit erzielen. Bevor ich diese Versammlung für beendet erkläre, bitte ich euch, mir zuzuhören. Ich glaube, dass wir unser Territorium den Landgehern deshalb nicht öffnen wollen, weil wir außerstande wären, gegen sie zu kämpfen. Warum sollten wir unser Leben im Krieg aufs Spiel setzen, wenn wir unseren Feinden keinen Schaden zufügen können? Warum sollten wir Landgehern Zutritt zu unseren Bergen gewähren, wenn wir sie nicht wieder vertreiben können, sollten sich ihre Absichten als böse erweisen?«
Auraya betrachtete die Sprecherin nachdenklich. Sie wusste, dass Sirri die Allianz wollte, aber diese beiden Punkte würden die Siyee nur gegen eine Allianz einnehmen. Sirri hob die Arme. »Wir können kämpfen. Wir können uns verteidigen. Wie? Ich will es euch zeigen.«
Sie blickte zu dem Baum auf, in dem der Junge wartete, dann schaute sie zum Waldrand hinüber und nickte.
Von hoch oben in seinem Baum konnte Tryss die Stimmen der Leute unter ihm hören, aber er konnte ihre Worte nicht verstehen. Er hatte inzwischen aufgegeben, es zu versuchen, und hielt stattdessen in der Menge nach Drilli Ausschau. Schließlich entdeckte er sie neben ihren Eltern.
Er hatte seit über einer Woche nicht mehr mit ihr gesprochen. Ihr Vater hatte Tryss aufgesucht und ihm befohlen, sich von ihr fernzuhalten. Sie würde keinen Jungen aus einem anderen Stamm heiraten, hatte er erklärt, und gewiss nicht einen Jungen mit eigenartigen Ideen, der seine Zeit mit müßigen Tagträumen verschwendete. Sie konnte einen besseren Partner finden.
Seine Vettern hatten deutlich gemacht, wer Drillis Vater von ihrer gegenseitigen Zuneigung berichtet hatte, aber es war möglich, dass sie logen, nur um ihn zu ärgern. Jeder, der Tryss und Drilli beim Trei-Trei beobachtet hatte, musste Verdacht geschöpft haben, dass sie einander sehr nahestanden.
Tryss blickte auf seine Erfindung hinab. Würden Drillis Eltern ihre Meinung über ihn ändern, wenn er sich von seinen Erfindungen abwandte und sich mehr wie andere Jungen seines Volkes benahm? Würde er die Arbeit aufgeben, wenn dies die einzige Möglichkeit war, sich weiter mit Drilli zu treffen?
Die Frage quälte ihn. Er drängte sie beiseite, ertappte sich aber immer wieder dabei, dass er darüber nachdachte. Er blickte zu Drilli hinüber. Sie war schön und klug. Gewiss würde er alles tun... Als er wieder Sprecherin Sirris Stimme hörte, riss er sich von Drillis Anblick los. Die Sprecherin schaute zu ihm auf, dann sah sie zu den Siyee hinab, die die Käfige mit Brems hielten, und nickte.
Das Signal. Tryss’ Herz machte einen Satz und begann zu hämmern. Er hielt Ausschau nach Bewegungen auf dem Boden. Dort!
Er sprang. Entschlossen ignorierte er seine Zuschauer und konzentrierte sich einzig auf das kleine Tier, das er erspäht hatte. Er musste mit allen Sinnen bei der Sache sein. Sein Geschirr war neu und ein wenig steif; er hatte nur das Licht der Lampen, um die Tiere zu sehen, und Brems waren schnell.
Blätter zischten an seinen Ohren vorbei. Er breitete die Arme aus und tauchte zwischen den Zweigen des Baums hervor. Dann zog er einen Pfeil in sein Blasrohr, zielte und schoss.
Das Brem stieß ein schrilles Quieken aus, als der Pfeil sein Bein traf. Es humpelte weiter, aber das Gift würde es schon bald lähmen. Tryss hatte ein zweites Brem entdeckt und drehte bei, um ihm zu folgen. Diesmal bohrte sich der Pfeil in den Rücken des Tieres. Eine Welle des Triumphs stieg in ihm auf, und er schlug mit den Flügeln, um ein wenig Höhe zu gewinnen und nach weiteren Brems Ausschau zu halten.
Zwei Tiere kamen zu beiden Seiten des flachen Felsens aus der Menge gerannt. Das erste verfehlte er, aber beim zweiten hatte er Erfolg. Er flog eine Kurve und schoss einen weiteren Pfeil auf das erste Brem ab, das jedoch im letzten Moment einen Haken schlug, so dass der Pfeil zu Boden fiel. Das Tier verschwand zwischen den Beinen der umstehenden Siyee.
Enttäuscht stieg Tryss wieder höher auf. Er sah die beiden letzten Brem in das Offene Dorf huschen und drehte sich hastig um. Er flog auf sie zu und packte die Daumengurte der neuen Flügelvergrößerung, die er eingebaut hatte, noch fester. Er hatte nur wenige Stunden Zeit gehabt, um damit zu üben, und es war deutlich schwieriger, mit dieser Vorrichtung zu zielen.
Die beiden Brem hielten mitten im Dorf inne und nahmen nur die Siyee wahr, die um sie herumstanden. Tryss zielte, bog die Daumen durch und spürte, wie die Gelenke auseinandergingen. Zu spät wurde ihm klar, dass er unbeabsichtigt beide gelöst hatte. Kleine Pfeile schnellten durch die Luft. Einer bohrte sich in ein Brem, der andere rutschte über den Boden und verkeilte sich in der Wand des Felsvorsprungs... Der jetzt unmittelbar vor ihm lag. Er drückte den Rücken durch und spürte, wie scharfe Steine über seine Hüfte kratzten, als es ihm mit knapper Not gelang, einen Zusammenprall zu vermeiden. Das Manöver hatte ihn jedoch einiges an Höhe gekostet, und er musste abrupt landen; er konnte nur hoffen, dass es für die anderen so aussah, als sei diese Landung beabsichtigt gewesen.
Tiefes Schweigen lag über den versammelten Siyee. Dann begann jemand in der Menge, begeistert zu pfeifen, wie die Zuschauer es bei den akrobatischen Wettbewerben des Trei-Trei taten. Andere fielen ein, bis der Applaus der Menge im ganzen Dorf widerhallte. Tryss blickte mit einem breiten Grinsen zu Sprecherin Sirri auf, die mit einem anerkennenden Nicken antwortete.
Die Sprecherin hob die Arme, und die Pfiffe verklangen.
»Volk der Berge. Stämme der Siyee. Ich glaube, ihr habt genau wie ich die Möglichkeiten dessen erkannt, was Tryss uns heute Abend gezeigt hat. Was er erfunden hat, ist eine Waffe. Nicht die Art Waffe, die für Landgeher geeignet wäre, die Art, die wir vor langer Zeit als nutzlos abgeschafft haben. Dies ist eine Waffe, die für uns geschaffen wurde. Sie ist nicht nur ein hervorragendes Jagdinstrument, sie ist auch eine Waffe, die es uns gestatten wird, voller Stolz erfolgreich zu kämpfen, sei es zu unserem eigenen Schutz oder dem unserer Verbündeten. Es ist heute Abend schon ein wenig spät, um die Möglichkeiten dieser Waffe zu erörtern und darüber zu reden, auf welche Weise ihre Existenz unsere Einstellung zu der vorgeschlagenen Allianz verändern könnte. Ich schlage vor, dass wir in sieben Tagen noch einmal zusammenkommen und dann unsere Entscheidung treffen. Seid ihr damit einverstanden?«
In der Menge wurden zustimmende Rufe laut. Sirri sah die anderen Sprecher an. Alle nickten.
»Dann soll es so sein. Diese Versammlung ist beendet. Möget ihr sicher in eure Lauben zurückkehren.«
Sofort flammten überall erregte Gespräche auf. Tryss blickte zu der Priesterin, denn er war plötzlich neugierig zu sehen, wie sie auf das Geschehene reagierte. Sie war jedoch ganz in die Beobachtung Sirris vertieft, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt, ein Ausdruck, der jedoch schnell verschwand, als einer der anderen Sprecher sich ihr zuwandte.
Jemand zupfte an seinem Arm, und als Tryss sich umdrehte, stand Sreil mit einem breiten Grinsen vor ihm.
»Das war fantastisch! Warum machst du nicht bei den akrobatischen Wettbewerben bei den Trei-Treis mit?«
»Ich, ahm...«
Es blieb ihm erspart, auf die Frage antworten zu müssen, da ein anderer Siyee seine Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. »Ist es schwer? Woraus ist es gemacht?«
Mit einem Mal war er umringt von Siyee, die alle den Wunsch hatten, das Geschirr näher in Augenschein zu nehmen. Ihre Fragen waren endlos und wurden oft wiederholt, aber Tryss zwang sich, stehen zu bleiben und sie zu beantworten. Es geht nicht nur darum, das Geschirr vorzuführen, sagte er sich. Ich muss sie dazu bringen, es selbst auszuprobieren.
Aber er wünschte sich sehnlichst, endlich fortzukommen und nach Drilli suchen zu können. Wann immer sich eine Lücke zwischen den Zuschauern auftat, hielt er nach ihr Ausschau, doch vergeblich. Sie und ihre Familie waren bereits fort.
Nicht lange, nachdem Danjin Aurayas Quartier betreten hatte, klopfte es an der Tür. Unfug litt derzeit an einer häufig vorkommenden Veez-Krankheit, die ihm seine gewohnte Energie raubte, und lag schlafend auf Danjins Schoß. Er schob das Tier beiseite und durchquerte den Raum, um die Tür zu öffnen. Zu seiner Überraschung stand Rian vor ihm.
»Ratgeber Danjin Speer«, sagte der Weiße. »Ich möchte mit dir sprechen.«
Danjin machte das Zeichen des Kreises. »Möchtest du hier mit mir sprechen oder lieber anderswo, Rian von den Weißen?«
Rian nickte. »Wir können ruhig hierbleiben.«
Aus der Nähe betrachtet schien Rian nicht älter als zwanzig zu sein, und Danjin musste sich stets ins Gedächtnis rufen, dass das wahre Alter des Mannes näher an fünfzig lag. Es war jedoch nicht so leicht, zu vergessen, wer Rian war. Seine ganze Haltung deutete daraufhin, dass er sich seiner Position bewusst und stolz darauf war, und im Gegensatz zu Auraya wirkte er stets ernst und förmlich. Seine Art, andere anzusehen – ohne einen Wimpernschlag -, war unheimlich.
»Es hat sich herausgestellt, dass die Beobachtungen deiner Familie, was den Verkauf von Waffen an die Pentadrianer betrifft, den Tatsachen entsprechen«, sagte Rian.
»Glaubst du, dass deine Brüder vielleicht noch andere nützliche Informationen haben könnten?«
Danjin schürzte die Lippen. »Vielleicht.« Aber ob sie sie mit mir teilen würden, das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann, fügte er im Geiste hinzu.
Rian zog die Augenbrauen hoch. »Glaubst du, sie wären bereit, als Spione für die Weißen zu arbeiten?«
Spione? Danjin wurde bewusst, dass er Rian anstarrte, und er senkte hastig den Blick.
Würden sie das tun? Er dachte darüber nach, wie sein Vater und seine Brüder auf einen solchen Vorschlag reagieren würden, und er schloss für einen Moment die Augen.
Natürlich würden sie es tun. Sie wären begeistert über diese Bestätigung ihres Werts. Es würde ihnen gefallen, nicht nur mit Waren zu handeln, sondern auch mit Informationen.
»Ich glaube, sie wären dazu bereit.« Aber du wirst deine Fähigkeiten im Gedankenlesen benutzen müssen, um sicher zugehen, dass sie dir auch alles erzählen, was sie wissen, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf. Sie könnten Informationen für sich behalten, die sich zu Geld machen ließen; ebenso würden sie schweigen, wenn ihr Wissen ihre gegenwärtigen Geschäfte beeinträchtigen könnte.
Rian nickte. »Dann werde ich ein Treffen mit ihnen verabreden. Möchtest du dabei zugegen sein?«
Danjin überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Meine Anwesenheit würde die Angelegenheit nur unnötig komplizieren.«
»Also gut.« Rian wandte sich der Tür zu, dann hielt er noch einmal inne. »Was weißt du über Sennon, Ratgeber?«
»Sennon?« Danjin zuckte die Achseln. »Ich habe das Land mehrfach besucht. In der Regel bin ich übers Meer gefahren, aber zweimal habe ich auch die Wüste durchquert. Ich spreche sennonisch und kenne einige Leute dort.«
»Der sennonische Kaiser hat gestern einen Bündnisvertrag mit den Pentadrianern unterzeichnet.«
Einmal mehr ertappte sich Danjin dabei, dass er Rian anstarrte, diesmal voller Entsetzen. Er erinnerte sich an Aurayas erste Begegnung mit dem Botschafter von Sennon. Der Mann hatte sie zu einem Besuch eingeladen. Es war lächerlich gewesen, zu erwarten, dass eine neue Weiße, die noch nicht ausgebildet war und sich mit ihrer Position noch nicht hatte vertraut machen können, den weiten Weg bis nach Sennon reisen würde. Vielleicht hätte einer der anderen Weißen das Land besuchen sollen. Möglicherweise hätte der Kaiser sich nicht mit den Pentadrianern verbündet, wenn man ihn rechtzeitig daran erinnert hätte, dass jenseits der Berge eine mächtige, von den Göttern unterstützte Allianz lag.
»Du denkst, wir hätten größere Anstrengungen unternehmen sollen, um uns den sennonischen Kaiser und sein Volk gewogen zu stimmen«, sagte Rian stirnrunzelnd. Danjin lächelte gequält. »Ja, aber was könnt ihr tun? Ihr seid nur zu fünft – in letzter Zeit nur zu viert. Ihr habt euch gerade erst mit Somrey verbündet, und jetzt versucht Auraya, die Si zu einer Allianz zu bewegen. Ihr hattet weder die Zeit noch die Mittel, um auch Sennon auf eure Seite zu ziehen.«
Rians Mundwinkel zuckten. »Das ist richtig. Die Kontrolle über die Zeit gehört nicht zu den Gaben, die die Götter uns verliehen haben.«
»Vielleicht werden dem Kaiser seine neuen Freunde nicht gefallen, und er wird seine Meinung wieder ändern. Ich nehme an, er wird genauso begeistert sein wie die Torener, diese schwarzen Worns kennenzulernen.«
Rians Miene verdüsterte sich. »Es sei denn, er hätte gern ein eigenes Rudel, das er ausbilden kann. Er hat allen zirklischen Priestern empfohlen, das Land zu verlassen, angeblich um ihrer eigenen Sicherheit willen.«
Danjin verzog das Gesicht. »Oh.« Er schüttelte den Kopf. »Der Kaiser hat immer behauptet, dass er keiner Religion den Vorrang vor einer anderen einräume.« Plötzlich fielen Danjin die Traumweber ein, und sofort hatte er ein schlechtes Gewissen. Auraya hatte ihn gebeten, Leiard zu besuchen, aber er war zu sehr mit der Jagd nach Gerüchten über die Pentadrianer beschäftigt gewesen, um ihrem Wunsch nachzukommen. »Meinst du, ich sollte Traumweberratgeber Leiard warnen?«
Rian zuckte die Achseln. »Das überlasse ich dir. Allen Berichten zufolge, die ich bekommen habe, dulden die Pentadrianer die Anhänger kleiner heidnischer Kulte. Nur die Zirkler verachten sie, zweifellos, weil sie wissen, dass unsere Götter real sind.«
Eifersüchtig, wie? Danjin lächelte grimmig. Wenn dies alles zu einem Konflikt führte, hatten die Zirkler zumindest diesen einen Vorteil: Ihre Götter waren real und würden sie beschützen. Er fürchtete nur den Schaden, den die Pentadrianer im Laufe eines solchen Konflikts anrichten könnten. Im Krieg gab es immer Opfer.
Ein Leuchten war in Rians Augen getreten. Er musterte Danjin anerkennend. »Vielen Dank für deine Unterstützung, Ratgeber.«
Danjin neigte den Kopf und machte das Zeichen des Kreises. »Es freut mich, wenn ich helfen kann.«
Er folgte Rian zur Tür und öffnete sie. Der Weiße trat hindurch, dann blieb er noch einmal stehen und drehte sich um.
»Wenn ich mit deiner Familie spreche, werde ich nicht erwähnen, dass ich mich mit dir beraten habe.«
Danjin nickte dankbar. Als Rian gegangen war, schloss er die Tür. Unfug sah ihn schläfrig blinzelnd an.
»Das«, sagte er zu dem Veez, »war sehr interessant.«
Auraya öffnete die Augen. Im Raum war es dunkel, und sie konnte kaum die Wände um sie herum erkennen. Hatte irgendetwas sie geweckt?
Nun, der Versuch war nicht sehr erfolgreich. Ich habe immer noch das Gefühl, eigentlich zu schlafen...
Sie öffnete die Augen ein zweites Mal. Diesmal war die Dunkelheit absolut. Nur dass... eine vertraute Gestalt in Traumweberroben erschien. Leiard?
Hallo, Liebhaberin von Träumen; Träumerin von Liebe. Seine Lippen bewegten sich, als die Worte zu ihr herüberwehten.
Ist... ist das eine Erinnerung? Es fühlt sich so an, als wärst du es, der jetzt zu mir spricht, und gleichzeitig ist es ganz anders.
Ja und nein. Ich bin es, der zu dir spricht, eingehüllt in deine Erinnerung an mich. Dein Geist gibt dem meinen eine Form. Du lernst schnell. Mir scheint, du hast eine natürliche Begabung dafür.
Vielleicht hätte ich Traumweberin werden sollen. Aber dein Herz gehört den Göttern. Meine Seele gehört den Göttern; mein Herz gehört dir. Leiard lächelte – ein hinterhältiges, heimlichtuerisches Lächeln. Es war ein Ausdruck, den sie noch nie zuvor in seinen Zügen gesehen hatte. War das nur ihr Verstand, der die Stimmung ausschmückte, die sie bei ihm wahrnahm?
Ich hatte schon immer den Verdacht, dass Seelen etwas sind, das die Götter erfunden haben, um die Menschen dazu zu bringen, ihnen zu dienen. Tatsächlich habe ich einmal ein Gespräch mit einem Gott geführt, bei dem er zugegeben hat, dass...
Sie war plötzlich hellwach und starrte zum Dach der Laube empor. Tageslicht drang durch die Wände. »Auraya?«
Die Stimme kam vom Eingang. Auraya stand auf, legte sich eine Decke um die Schultern und trat in den Hauptraum. Dann schlug sie die Lasche zurück, die die Tür bedeckte, und stand im nächsten Moment Sprecherin Sirri gegenüber.
»Ja, Sprecherin?«
Die Frau lächelte. »Entschuldige bitte, dass ich dich so früh wecke. Wir haben soeben eine Nachricht bekommen, die wir dringend mit dir erörtern müssen.«
Auraya nickte. »Komm herein. Ich werde gleich bei dir sein.«
Sie eilte in ihr Zimmer und schloss den Vorhang, der die beiden Räume voneinander teilte. Darm zog sie sich aus, wusch sich flüchtig mit Wasser aus einer Holzschale und trocknete sich mithilfe von Magie eilends ab. Sobald sie wieder angezogen war, fuhr sie sich mit einem Kamm durchs Haar, das sie sich zu einem Zopf flocht, während sie in den Hauptraum zurückkehrte.
Sprecherin Sirri stand neben dem Eingang und klopfte mit dem Zeigefinger auf den Rahmen der Laube. Allein aus dem Gesichtsausdruck der Frau hätte Auraya niemals ihre Stimmung erahnen können, aber diese kleine Geste der Ungeduld brachte sie dazu, näher hinzusehen. Sofort spürte sie, dass die Sprecherin mit einem Gefühl wachsender Angst kämpfte: Sie hatte von einer Landgeherin erfahren, die in Si gesehen worden war. Sirri hatte Auraya von dem Angriff schwarzer Vögel auf einen der Stämme der Siyee erzählt, und die Landgeherin hatte sich für diesen Angriff entschuldigt.
»Es wird bei unserer Zusammenkunft etwas zu essen geben«, sagte Sirri, als Auraya aus der Laube trat.
Die Sprecherin erhob sich in die Luft, und Auraya folgte ihr bis zum Offenen Dorf, wo sie leichtfüßig landete. Der Wald war an dieser Stelle von Unterholz überwuchert, so dass die Laube vor neugierigen Blicken geschützt war.
Auraya hatte die Sprecherlaube bereits einige Male besucht, war sich aber sicher, dass man sie jedes Mal über einen anderen Waldweg dorthin geführt hatte. Sie widerstand der Versuchung, die Gedanken der Sprecherin zu lesen, denn sie spürte, dass Sirri warten wollte, bis die anderen Sprecher versammelt waren. Erst dann wollte sie den Inhalt der Botschaft offenbaren, die sie so sehr beunruhigt hatte.
Ich vertraue ihr, ging es Auraya durch den Kopf. Ich weiß einfach, dass sie nichts vor mir verbirgt und ihre Gründe hat, warum sie warten will.
An der Laube angekommen, trat Sirri wortlos in den Eingang. Die Sprecher der anderen vierzehn Stämme erwarteten sie schon. Jetzt standen sie auf, um Auraya zu begrüßen, und sie spürte eine neue Vorsicht in der Art, wie sie ihr gegenübertraten. Sirri führte sie zu einem der niedrigen Hocker, dann nahm sie ebenfalls Platz.
»Auraya von den Weißen«, begann sie schließlich. »Erinnerst du dich daran, dass ich dir von großen, schwarzen Vögeln erzählt habe, die vor einem Monat den Sonnengebirgs-stamm angegriffen haben?«
»Ja. Einer der Jäger behauptete, es sei eine Landgeherin in der Nähe gewesen.«
Sirri nickte. »Die Vögel sind seither nicht mehr gesehen worden, obwohl einige von uns ängstlich nach ihnen Ausschau gehalten haben, aber die Frau ist vor kurzer Zeit wieder aufgetaucht.« Sie blickte zu dem Anführer des Zwillingsberge-Stamms hinüber. »Ein kleines Mädchen ist ihr begegnet. Wir haben keinen Grund, an der Geschichte dieses Mädchens zu zweifeln; sie neigt nicht dazu, sich fantastische Geschichten auszudenken. Sie sagt, sie sei der Frau in der Nähe ihres Dorfes begegnet. Die Frau habe sie gebeten, eine Botschaft zu überbringen; sie hat sich für den Angriff auf die Jäger entschuldigt. Allerdings behauptete sie, es sei ein Unfall gewesen, und sie habe zu spät begriffen, was ihre Vögel taten. In Wahrheit habe sie die Absicht gehabt, unsere Freundschaft zu erringen. Dann hat sie dich vorüberfliegen sehen« – Sirri schaute Auraya in die Augen -, »woraufhin sie ihre Meinung geändert hat. Sie hat beschlossen, Si zu verlassen, und dem Mädchen zuvor noch eine andere Botschaft für den Anführer ihres Stammes gegeben. Sie sagte, wenn die Siyee sich mit den Zirklern verbünden würden, würden sie einen noch mächtigeren Feind gewinnen.«
Auraya fröstelte. »Wie hat diese Landgeherin ausgesehen?«
»Ihre Haut war dunkel. Sie wirkte jung und stark.«
»Ihre Kleidung?«
»Sie war in Schwarz gewandet und trug eine Kette mit einem silbernen Anhänger.«
Aus dem Frösteln wurde ein Schauder, der Auraya kalt über den Rücken lief.
»Ah.«
»Hast du schon einmal von dieser Frau gehört?«
Auraya schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin Leuten wie ihr begegnet. Sie könnte ein Mitglied eines Kults aus Südithania sein. Ich muss Juran darüber berichten.«
Sie schloss die Augen und rief Jurans Namen.
Ja?, erwiderte er.
Ich glaube, dass eine Pentadrianerin in Si herumgeschnüffelt hat. Sie erzählte ihm, was sie erfahren hatte.
Eine Frau mit Vögeln, ein Mann mit Worns. Zu den fünf Anführern, die unsere Spione uns genannt haben, gehören auch zwei Frauen.
Ja. Was soll ich den Siyee erzählen?
Alles. Ganz Nordithania wird schon bald von diesen Zauberern erfahren. Dieser Zwischenfall könnte den letzten Ausschlag dafür geben, dass sie eine Allianz unterzeichnen. Auraya unterdrückte ein Seufzen und öffnete die Augen. In was für eine Geschichte ziehe ich diese Leute hinein?, fragte sie sich einmal mehr. Sie blickte in die ängstlichen Gesichter der Sprecher.
»Juran und ich glauben zu wissen, was sie ist, geradeso, wie sie mich als das erkannt hat, was ich bin. Sie ist eine pentadrianische Zauberin«, erklärte sie den Sprechern. »Wir sind bereits zwei anderen von ihrer Art begegnet. Der erste ist mit einem Rudel Worns nach Toren eingedrungen. Die Tiere waren größer und von dunklerer Farbe als ihre wilden Vettern, und sie schienen den Gedankenbefehlen ihres Herrn zu gehorchen. Anscheinend ist ihr Herr nur deshalb nach Toren gekommen, um Angst und Tod zu verbreiten. Rian hat den Mann gefunden und sich ihm in den Weg gestellt, und als dem Zauberer klar wurde, dass er den Kampf nicht gewinnen konnte, ist er geflohen.
Der zweite Zauberer befand sich nicht in Begleitung von Worns«, fuhr sie fort. Die Erinnerung daran, wie sie durch die Magie des schwarzen Zauberers an eine Wand gepresst worden war, brachte einen Nachhall von Furcht mit sich. Auraya holte tief Luft und schob sowohl die Erinnerung selbst als auch das Entsetzen beiseite, das damit einherging. »Er hatte überhaupt keine Tiere bei sich, bis auf ein gewöhnliches Reyna. Soweit wir wissen, hat er niemandem Schaden zugefügt. Man hat mir den Auftrag gegeben, Dyara bei der Suche nach ihm zu helfen, aber auch er ist uns entkommen.«
»Was wollen diese Zauberer?«, fragte einer der Sprecher.
Auraya verzog das Gesicht. »Das weiß ich nicht. Aber eines steht fest, sie hassen die Zirkler. Sie nennen uns Heiden.«
»Wem huldigen sie?«
»Fünf Göttern, genau wie wir es tun, aber ihre Götter sind nicht real.«
»Vielleicht ist das der Grund, warum sie ihren Glauben mit solcher Grimmigkeit verteidigen«, murmelte Dryss.
»Warum ist diese Zauberin nach Si gekommen?«, fragte ein anderer Sprecher.
»Aus dem gleichen Grund wie Auraya: um ein Bündnis zu suchen«, antwortete ihm jemand.
»Indem sie uns angreifen?«
»Die Frau sagte, es sei ein Versehen gewesen. Sie sagte, sie habe die Absicht gehabt, unsere Freundschaft zu erringen.« »Bis sie Auraya sah.«
Mehrere Sprecher blickten zu Auraya hinüber. Sie sah ihnen fest in die Augen und hoffte, dass sie mehr Zuversicht ausstrahlte, als sie empfand.
»Sie hat uns bedroht«, rief Dryss ihnen ins Gedächtnis. »Ich fürchte, wir sind gezwungen, uns zwischen zwei großen Mächten zu entscheiden. Ganz gleich, was wir tun, uns stehen Veränderungen bevor, denen wir nicht ausweichen können.«
»Ihr braucht euch für keine dieser Mächte zu entscheiden«, warf Auraya ein. »Ihr könnt euch dafür entscheiden, alles beim Alten zu belassen.«
»Und von diesen Siedlern der Landgeher langsam ausgehungert und gejagt zu werden, bis unser Volk ausgerottet ist?«, erwiderte ein Sprecher. »Das ist keine Alternative.«
»Jetzt können wir gegen die Eindringlinge kämpfen«, bemerkte ein junger Sprecher.
»Indem wir diesen Pfeilwerfer benutzen. Wir brauchen uns mit niemandem zu verbünden!«
Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Auraya hob die Hände, und die Sprecher verstummten wieder. »Wenn es euer Wunsch ist, werde ich Si verlassen. Sobald ich fort bin, könnt ihr diese Zauberin einladen, in euer Land zurückzukehren. Findet heraus, was sie von euch will und was sie als Gegenleistung anzubieten hat. Aber bitte, seid vorsichtig. Vielleicht hatte sie nicht die Absicht, euren Jägern Schaden zuzufügen, aber ich weiß, dass einer ihrer Gefährten ein grausamer Mann ist, der Tod und Schmerz bringt, einfach weil es ihm Vergnügen bereitet. Es wäre mir schrecklich, die Siyee unter seinen Händen leiden zu sehen.«
»Vielleicht war er ein Gesetzloser. Vielleicht ist er nach Nordithania gekommen, weil man ihn aus den Ländern der pentadrianer verbannt hat«, wandte der junge Sprecher ein.
»Zumindest haben diese Pentadrianer uns niemals unser Land gestohlen«, murmelte ein anderer.
»Das könnte daran liegen, dass sie keine Grenze mit uns teilen«, bemerkte Sirri. Auraya zuckte zusammen. »Jetzt haben sie eine.« Die Sprecher sahen sie stirnrunzelnd an. »Wie meinst du das?«, fragte Dryss.
»Der sennonische Kaiser hat gestern einen Allianzvertrag mit den Pentadrianern unterzeichnet. Und Sennon teilt eine Grenze mit euch, auch wenn es nur eine kleine ist.« »Auf ihrer Seite gibt es nur Wüste.«
»Aber dort, wo die Wüste endet, beginnen die Berge.« Dies kam von einem Sprecher, der sich bisher nicht an der Unterredung beteiligt hatte. »Es gibt mehrere Siedlungen von Landgehern entlang der Küste.«
Die Sprecher verfielen in Schweigen und senkten den Blick zu Boden. Auraya durchzuckte jähes Mitgefühl, als sie spürte, wie sie mit ihren Ängsten rangen.
»Männer und Frauen von Si«, sagte sie leise. »Ich wünschte, es stünden euch nicht so harte Zeiten und so schwierige Entscheidungen bevor. Ich kann euch diese Entscheidungen nicht abnehmen. Ich kann euch nicht sagen, wem ihr vertrauen sollt. Ich würde niemals auch nur im Traum daran denken, euch eine Entscheidung aufzuzwingen. Als die Götter mich und die anderen Weißen baten, Allianzen mit allen Ländern Ithanias anzustreben, taten sie dies meiner Meinung nach nur aus dem Wunsch heraus, uns alle in Frieden geeint zu sehen. Vielleicht haben sie irgendeinen zukünftigen Konflikt vorausgesehen. Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass es eine große Ehre für uns wäre, das Volk von Si an unserer Seite zu wissen, sei es in Zeiten des Konflikts oder des Friedens.«
Sie erhob sich, nickte kurz und verließ dann den Raum. Als sie sich von der Laube entfernte, hörte sie gedämpfte Stimmen. Sie konnte keine einzelnen Worte verstehen, aber ihre Gaben sagten ihr, was gesprochen wurde.
»Wir sitzen in dieser Angelegenheit – was auch immer dahinterstecken mag – in der Falle, ob es uns gefällt oder nicht. Ich sage, wir sollten uns für eine Seite entscheiden, denn auf uns allein gestellt werden wir gewiss umkommen.«
Es folgte eine Pause, dann: »Wenn wir entscheiden müssen, wem wir vertrauen können, wollen wir uns dann jemandem anschließen, der insgeheim in unser Land gekommen ist und gefährliche Vögel mitgebracht hat, oder jemandem, der gewartet hat, bis wir ihn eingeladen haben?«
Und zu guter Letzt: »Huan hat uns geschaffen. Huldigen diese Pentadrianer Huan? Nein. Ich entscheide mich für die Weißen.«
In den Schatten um Leiard und Jayim konnte man nur die undeutlichen Schemen von Bäumen und Pflanzen erkennen. Sie hätten sich ebenso gut mitten in einem Wald befinden können. Es war das Fehlen vertrauter Geräusche, das die Illusion verdarb und Leiard unmissverständlich sagte, dass sie sich auf dem Dach des Hauses der Bäckers befanden.
Ich vermisse den Wald, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Ich vermisse es, gelassen zu sein. Ich vermisse die Ruhe von Herz und Geist. Das Gefühl von Sicherheit. Dann kehr in deinen Wald zurück, Narr. Leiard ignorierte die scharfen Worte in seinem Geist. Diese Stimme in meinem Kopf ist lediglich das Echo eines lange verstorbenen Zauberers, rief er sich ins Gedächtnis. Wenn ich ihm keine Beachtung schenke, wird er fortgehen. Er blickte zu Jayim hinüber. Der Junge, der an Leiards lange Pausen gewöhnt war, wartete geduldig.
»Magie kann in vielfältiger Weise zum Heilen benutzt werden«, sagte Leiard. »Die Gaben, die ich dich lehren werde, teilen sich in drei verschiedene Schwierigkeitsstufen. Die erste Stufe fordert simple Taten: das Abklemmen eines Blutgefäßes, um eine Blutung zu stillen; das Ausbrennen von Wunden; die Einrichtung von gebrochenen Knochen. Bei der zweiten Stufe geht es um kompliziertere Dinge: die Fähigkeit, den Blutfluss entweder zu fördern oder zu hemmen, Stimulierung und Leitung des Selbstheilungsprozesses des Körpers und das Ausblenden von Schmerz. Auf der dritten Stufe setzt man Gaben ein, die so schwierig sind, dass es Jahre dauert, sie zu erlernen, falls es überhaupt möglich ist – da nur ein oder zwei Traumweber in jeder Generation über die Fähigkeiten verfügen, diese Stufe zu erreichen. Diese Gaben erfordern eine Konzentrationstrance und sichere Kenntnisse über alle Vorgänge des Körpers. Wenn du sie erlernst, wirst du in der Lage sein, jedes Gewebe in einem Körper wieder zusammenzufügen. Du wirst außerdem eine Wunde verschwinden lassen können, ohne dass eine Narbe zurückbleibt. Du wirst einem Blinden das Augenlicht geben und eine unfruchtbare Frau fruchtbar machen können.«
»Kann ich auch Tote wiederbeleben?«
»Nein. Jedenfalls nicht solche, die wahrhaft tot sind.«
Jayim runzelte die Stirn. »Kann jemand tot sein, ohne wahrhaft tot zu sein?«
»Es gibt Möglichkeiten, um...«
Leiard brach ab und wandte sich zur Treppe um. Er konnte leise Schritte näher kommen hören. Die Schritte von zwei Personen. Eine Lampe erschien, und helles Licht strahlte auf das Dach hinaus. Tanara trat durch die Tür, gefolgt von einem vertrauten, gut gekleideten Mann.
»Leiard?«, rief Tanara zaghaft. »Du hast Besuch.«
»Danjin Speer.« Leiard stand auf. »Was führt dich...?«
»Bevor ihr euer Gespräch beginnt, kommt doch herein«, unterbrach ihn Tanara. »Es ist zu kalt, um hier draußen einen Gast zu empfangen.«
Leiard nickte. »Ja, du hast recht.«
Tanara geleitete sie die Treppe hinunter und in den Gemeinschaftsraum, wo Kohleöfen Wärme verströmten, dann ließ sie sie allein und nahm Jayim mit, damit er ihr half, heiße Getränke zuzubereiten. Danjin ließ sich mit einem Seufzer in einen Sessel sinken.
»Du siehst müde aus, Ratgeber«, bemerkte Leiard.
»Das bin ich auch«, gab Danjin zu. »Meine Frau und ich hatten gehofft, dass ich ein wenig mehr freie Zeit haben würde, solange Auraya in Si ist, aber ich fürchte, es ist genau das Gegenteil eingetreten. Wie ist es dir ergangen?«
»Ich verwende all meine Zeit darauf, Jayim zu unterrichten.«
Nur des Nachts nicht, wenn du in verbotenen erotischen Traumvernetzungen mit einer der Weißen schwelgst, wisperte Mirar. Was er wohl davon halten würde? Die Frau, die er liebt wie eine Tochter, teilt das Bett mit einem Traumweber...
Tanara kam mit zwei dampfenden Bechern mit heißem, gewürztem Tintra in den Raum zurück. Danjin nahm einen Schluck und lächelte.
»Ah, vielen Dank, Ma-Bäcker. Das tut gut. Es ist sehr kalt draußen.«
»Ja, nicht wahr?«, erwiderte sie und warf Leiard einen bedeutungsvollen Blick zu. »An einem Tag wie diesem sollte niemand draußen auf einem Dach sitzen.«
»Mutter!« Jayims Protest wehte durch die Tür. »Ich habe es dir schon hundert Mal gesagt; er hat mir beigebracht, wie ich mich mit Magie warm halten kann.«
Sie rümpfte die Nase, dann wandte sie sich mit einem Lächeln an Danjin. »Ruf einfach nach mir, wenn du irgendetwas brauchst.«
Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, sah Leiard Danjin nachdenklich an. Mirars Bemerkung hatte ihn daran erinnert, dass er nur wenig darüber wusste, wie Aurayas Arbeit sich entwickelte. In ihren Traumvernetzungen hatten sie kaum über dieses Thema gesprochen. Ihre Aufmerksamkeit hatte... anderen Dingen gegolten.
»Also, wie geht es Auraya?«, fragte er.
Danjin lächelte. »Sie unterhält sich blendend. Ob sie bei ihrer Aufgabe Erfolg haben wird, steht noch nicht fest«, fügte er kopfschüttelnd hinzu. »Die Führer der Siyee, die Sprecher, wollen, dass alle Stämme einer Allianz zustimmen, bevor sie irgend etwas unterzeichnen, und während der ersten Versammlung haben sich einige Stämme gegen ein Bündnis ausgesprochen. Auraya hofft allerdings, dass sie ihre Meinung aufgrund einiger neuer Entwicklungen ändern werden. Die Gefahr eines Krieges ist eine dieser Entwicklungen, die andere ist ein glücklicher Zufall. Einer der Siyee hat eine neue Waffe erfunden, die es ihnen ermöglichen wird, Feinde von der Luft aus anzugreifen, was ihnen im Kampf einen entscheidenden Vorteil verschaffen würde. In einer Woche soll eine weitere Versammlung stattfinden, bei der darüber entschieden werden wird.«
Was ist das für eine Waffe?, fragte sich Leiard. Die Vorstellung, dass die Siyee sich zu einem kriegerischen Volk entwickeln könnten, entsetzte ihn. Es hatte ihm immer gutgetan zu wissen, dass es zumindest eine gewaltfreie Rasse auf der Welt gab.
Ein gewaltfreies Volk, das von Huan geschaffen wurde. Also, wenn das keine Ironie ist, murmelte Mirar.
»Sie hat mich gebeten, dich zu besuchen«, fügte Danjin hinzu, nachdem er seinen Becher geleert hatte.
Leiard lächelte. »Dann hat sie uns also noch nicht vergessen.«
»Nein.« Danjin lachte leise. »Ich habe den Verdacht, dass sie sich in Si niederlassen würde, wenn ihre Position es zuließe.«
»Sie hat sich in das Land verliebt«, sagte Leiard. »Das passiert manchmal, wenn Menschen das erste Mal auf Reisen gehen. Sie entdecken ein Land und glauben, dort sei alles so, wie es sein sollte. Irgendwann werden sie diesen Ort dann so sehen, wie er ist – mit seinen Vorzügen und seinen Nachteilen.«
Danjin musterte Leiard mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck. Leiard spürte Überraschung und einen widerstrebenden Respekt. »In meinen frühen Jahren als Kaufmann und später als Höfling und Unterhändler habe ich das gleiche Phänomen wahrgenommen.« Danjin betrachtete den leeren Becher in seinen Händen und stellte ihn dann beiseite. »Ich muss langsam nach Hause gehen. Es ist schon spät, und meine Frau erwartet mich.« Er erhob sich. »Bitte danke Ma-Bäcker in meinem Namen für das heiße Getränk.«
»Das werde ich tun«, versicherte ihm Leiard.
Leiard begleitete Danjin zum Haupteingang. Als sie dort ankamen, zögerte Danjin, runzelte die Stirn und sah Leiard beinahe verstohlen an. Leiard spürte eine plötzliche Veränderung in der Stimmung des Mannes. Danjin wollte irgendetwas sagen. Vielleicht wollte er ihn warnen.
Frag ihn, ob es noch irgendetwas anderes zu besprechen gibt, sagte Mirar.
Nein, erwiderte Leiard. Wenn er es mir erzählen könnte, hätte er es bereits getan.
Dessen kannst du dir nicht sicher sein. Wir wissen beide, dass seine Familie Traumweber schon immer gehasst hat. Wenn du ihn nicht fragst, werde ich es tun.
Leiard spürte, wie ihm etwas entglitt; es fühlte sich an, als versuche er, einen fallenden Gegenstand rechtzeitig aufzufangen, nur um dann erleben zu müssen, dass er ihm im letzten Moment durch die Finger rutschte. Sein Mund öffnete sich, obwohl er ihm nicht den Befehl dazu gegeben hatte. »Da ist noch etwas, nicht wahr?« Danjin drehte sich überrascht zu Leiard um. Seine Überraschung ist bei weitem nicht so groß wie meine eigene!, dachte Leiard. Er rang um Kontrolle über seinen Körper, etwas, das er noch nie zuvor hatte tun müssen, so dass er keine Ahnung hatte, wie er es anstellen sollte.
»Irgendetwas bekümmert dich«, erklärte Mirar und hielt Danjins Blick mit Leiards Augen fest. »Etwas Wichtiges. Eine mögliche Bedrohung für meine Leute.«
Danjin schwieg einen Moment lang; er dachte offensichtlich darüber nach, was er sagen sollte. Schließlich stieß er einen leisen Seufzer aus und blickte auf.
»Wenn deine Leute Grund haben sollten, die Pentadrianer zu fürchten, würde ich an deiner Stelle die Traumweber dazu überreden, Sennon zu verlassen«, murmelte Danjin.
»Das ist alles, was ich dazu sagen kann.«
Mirar nickte. »Ich danke dir. Für die Warnung und für deinen Besuch.«
Danjin hob die Schultern. »Ich wäre eher gekommen, wenn es mir möglich gewesen wäre.« Er neigte den Kopf. »Gute Nacht, Traumweberratgeber Leiard.«
Als Leiard seinen Namen hörte, spürte er, dass Mirar den Zugriff über seinen Körper verlor. Als er wieder die Kontrolle über sich hatte, taumelte er leicht. Danjin sah ihn erwartungsvoll an.
»Gute Nacht«, sagte er.
Leiard beobachtete, wie Aurayas Ratgeber zu einem geschlossenen Plattan ging und einstieg. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, schloss Leiard die Tür. Er lehnte sich an die Wand und atmete tief durch. Sein Herz raste.
Was ist da gerade passiert?
Mirar erwiderte nichts.
Ich habe soeben die Kontrolle über meinen Körper an ein Erinnerungsecho verloren, beantwortete Leiard sich seine Frage selbst. Kann so etwas noch einmal geschehen? Kann Mirar dauerhaft die Kontrolle über mich gewinnen? Ihm wurde klar, dass er es nicht wusste.
Dann muss ich jemanden finden, der es weiß. Aber an wen könnte ich mich wenden? Er lächelte grimmig. Traumweberin Arleej. Wenn die Anführerin der Traumweber mir keine Antwort geben kann, dann kann es niemand.
Eine Bewegung an der Tür ließ ihn zusammenzucken, aber es war nur Tanara. Sie musterte ihn besorgt. »Geht es dir gut, Leiard?«
Er atmete tief durch. »Ja. Ich bin nur müde. Ich... ich werde jetzt zu Bett gehen.«
Sie nickte lächelnd. »Ich werde Jayim Bescheid sagen. Dann bleibt mir nur, dir angenehme Träume zu wünschen.«
Leiard erwartete eine freche Erwiderung von Mirar, aber die fremde Persönlichkeit in seinem Geist schwieg. Als er an Tanara vorbeiging, blieb er noch einmal kurz stehen.
»Danjin hat mich gebeten, dir für den Tintra zu danken«, sagte er.
Sie lächelte. »Er scheint ein netter Mensch zu sein. Ganz im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern seiner Familie, über die ich nicht viel Gutes gehört habe.« »Das ist richtig«, stimmte Leiard ihr zu. »Gute Nacht.«
Er trat in sein Zimmer, zog sein Wams aus und legte sich aufs Bett.
Alle Traumweber lernten geistige Übungen, die den Übergang in den Traumzustand beschleunigten. Trotzdem dauerte es eine ganze Stunde, bis die Traumweberälteste auf seinen Ruf antwortete. Er vermutete, dass sie gerade erst eingeschlafen war.
Leiard?
Ja. Erinnerst du dich an mich?
Natürlich. Man vergisst keinen Traumweber, der so viele von Mirars Erinnerungen in sich trägt.
Nein, das tut man wohl nicht. Ich wünschte mir allerdings langsam, es wäre anders.
Warum?
Er erklärte ihr, was geschehen war, und spürte ihre wachsende Sorge.
Wie oft hast du dich mit deinem Schüler vernetzt?
Ein- oder zweimal, antwortete er ausweichend. Es ist noch ein wenig zu früh dafür.
Du vermeidest es bewusst, dich mit ihm zu vernetzen, erklärte sie. Er hatte sie mit seiner Ausrede nicht täuschen können.
Ja, gab er zu. Ich habe... ich habe Kenntnis von einem Geheimnis erhalten, das ich ihm nicht zu enthüllen wage.
Ich verstehe. Dann musst du jemand anderen finden, dem du das Geheimnis enthüllen kannst, jemanden, dem du vertraust. Wenn du es nicht tust, befürchte ich, dass du deine Identität verlieren wirst. Du wirst weder du selbst sein noch diese Manifestation Mirars, sondern eine halb wahnsinnige Mischung von beidem.
Ich kenne niemanden...
Es gibt noch andere Traumweberin Jarime. Würde einer von ihnen deinen Zwecken genügen?
Vielleicht. Er hielt einen Moment lang inne. Da wäre noch etwas, von dem ich dir erzählen sollte. Ich habe heute Abend mit Danjin Speer gesprochen. Er hat mir eine Warnung zukommen lassen, dass die Traumweber in Sennon vielleicht nicht mehr sicher sein werden.
Er spricht von der Allianz zwischen Sennon und den Pentadrianern. Ah!
Ja. Wir haben von den Pentadrianern nichts zu befürchten. Sie haben die Traumweber immer gut behandelt. Wenn du das nächste Mal mit diesem Ratgeber sprichst, bitte ihn, die Weißen daran zu erinnern, dass wir Traumweber in einem Krieg neutral zu bleiben pflegen. Falls es zu Kämpfen kommen sollte, werden wir uns um die Verwundeten aller Nationen kümmern, wie wir es immer getan haben.
Ich werde es ausrichten. Wird es denn einen Krieg geben?
Je mehr ich von diesen Pentadrianern erfahre, umso mehr befürchte ich, dass ein Krieg unvermeidlich ist. Sie zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: Was weißt du über sie?
Ich habe keine Netzerinnerungen, was dieses Thema betrifft, antwortete Leiard. Was ich weiß, beruht auf Bemerkungen von Auraya und den Gerüchten, die in Jarime die Runde machen. Sind ihre Götter real?
Das weiß niemand. Die Zirkler streiten es natürlich ab. Selbst wenn sie recht haben sollten, wären die Pentadrianer deswegen kaum ungefährlicher.
Das ist zumindest etwas.
Ja. Ich muss jetzt Schluss machen. Es warten noch andere Traumweber darauf, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Gib auf dich Acht, Leiard. Denk darüber nach, was ich gesagt habe.
Die Vernetzung endete, als Arleej ihren Geist anderen Dingen zuwandte. Nachdem die Verbindung abgebrochen war, trieb Leiard im Nichts, wohl wissend, dass sie ihm einen klugen Rat gegeben hatte. Aber er fürchtete die Konsequenzen: Wenn er einen anderen Traumweber in sein Geheimnis einweihte, dann würde der nächste Traumweber, mit dem er oder sie sich verband, die Wahrheit entdecken. Schon bald würden alle Traumweber davon wissen...
Leiard?
Sein Herz tat einen Freudensprung, als er Aurayas Gedankenstimme hörte, und er eilte ihr voller Eifer entgegen.
Was wir getan haben, lässt sich nicht mehr ungeschehen machen, dachte er. Wir können es genauso gut genießen, solange es uns möglich ist.
Als Emerahl in ihr Zimmer zurückkehrte, warm und entspannt nach einem langen Bad in heißem Wasser, ging ihr durch den Kopf, dass ihre Situation sich um einiges verbessert hatte. Sie war nach wie vor eine Hure, aber zumindest eine wohlgenährte, und sie hatte weit bessere Kunden als zuvor. Außerdem verdiente sie mehr Geld, obwohl Rozea darauf bestand, den größten Teil davon für sie zu verwalten.
Obwohl sie bereits zweimal in ihrem langen Leben eine Prostituierte gespielt hatte, war es keine Rolle, die ihr besonders gefiel. Sie erinnerte sich an das erste Mal vor mehr als fünfhundert Jahren und verzog das Gesicht. Eine Triade mächtiger Zauberer hatte sie kreuz und quer durch Ithania gejagt, entschlossen, ihr das Geheimnis der Unsterblichkeit abzupressen, auch wenn die Zauberer selbst zu schwach waren, um dieses Wissen nutzen zu können. Einzeln hatten sie ihr keine Mühe bereitet, aber vereint waren sie ein mächtiger Feind. In ihrer Verzweiflung hatte sie ihr Äußeres verändert und eine Rolle angenommen, die die Zauberer ihr niemals zugetraut hatten, weil sie glaubten, sie sei zu stolz, um eine derartige Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen.
Sie hatten recht gehabt. Ihr Stolz hatte unter der Berührung eines jeden Freiers gelitten. Wie konnte sie, eine der Unsterblichen, ihren Körper an Männer verkaufen, die in ihr nur ein flüchtiges Vergnügen sahen?
Die drei Zauberer hatten sich schließlich zerstritten, und einer von ihnen hatte die beiden anderen getötet. Es waren zwei Jahre vergangen, bis sie davon erfahren hatte. Zwei Jahre selbst auferlegter Demütigung, die sie nicht hätte zu ertragen brauchen. Was hätte ich anderes tun können? Die Menschen auf den Straßen interessieren sich nicht für fremdländische Zauberer. Diese Art von Neuigkeiten verbreitet sich nur langsam.
Sie seufzte. Die Menschen glaubten oft, sie müsse über ein großes Wissen verfügen, nur weil sie unsterblich war. Sie erwarteten von ihr, dass sie umwälzende historische Ereignisse beschreiben konnte, als sei sie dabei zugegen gewesen. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie sich von jedweden Machtspielen und den Menschen, die sie spielten, ferngehalten.
Und genauso wollte sie leben. Ruhm und Macht hatten während der ersten hundert Jahre ihrer Existenz ihren Reiz für sie verloren. Sie hatte sich zum zweiten Mal der Prostitution zugewandt, um beiden zu entkommen. Sie war in ein entlegenes Dorf gezogen und hatte dort die Menschen geheilt, wie sie es immer getan hatte. Anfangs waren nur wenige Menschen zu ihr gekommen, bis die Heilerzauberin eine wahre Flut von Kranken anzog und das Dorf reich wurde. Zuerst hatte ihr die Aufmerksamkeit geschmeichelt, und sie hatte sich eingeredet, dass sie auf diese Weise mehr Menschen Gutes tun konnte. Ihre Behauptung, lediglich ein altes Weib zu sein, hatte ihr einen liebevollen Spitznamen eingetragen: das Weib.
Einige Menschen hatten ihr angeboten, Unterkünfte für ihre Besucher bereitzustellen. Schon bald hatten sie Geld von den Kranken verlangt. Emerahl war ihrer Habgier und ihres Fanatismus überdrüssig geworden und hatte sich davongestohlen. Allerdings hatte sie den Ruhm, den sie erworben hatte, unterschätzt. Selbst an den entlegensten Orten hatten die Menschen von dem Weib gehört. Ihre Anhänger hatten überall nach ihr Ausschau gehalten, und wann immer sie irgendwo entdeckt worden war, hatte sich die Neuigkeit in Windeseile verbreitet.
Es war die Anonymität der Prostitution, die sie ein zweites Mal zu dem Gewerbe hingezogen hatte, aber sie war nicht lange Hure geblieben. Mirar hatte sie gefunden. Sie lächelte bei der Erinnerung, wie beliebt er bei den Mädchen gewesen war und wie sehr es ihn überrascht hatte, sie, Emerahl, dort zu finden. Obwohl er verstanden hatte, warum sie sich auf diese Art und Weise von der Menschheit zurückgezogen hatte, ließ er sich nicht von dem Gedanken abbringen, dass diese Arbeit ihr nicht guttue. Er brachte sie in die Wilden Territorien, lange bevor das Gebiet von den Siyee besiedelt wurde. Sie waren sowohl Liebende als auch Freunde gewesen, aber sie war seinem Zauber niemals wirklich erlegen... »Jade«, erklang eine atemlose Stimme. Sie blickte auf. Am Ende des Flurs standen zwei Frauen. Eine war Blatt, eine freundliche Frau in mittleren Jahren, die den Betrieb für Rozea regelte; sie war es auch, die Emerahl nach ihrer Ankunft durch das Bordell geführt hatte. Die andere Frau war die Favoritin des Bordells, Mondschein, eine kurvenreiche Schönheit mit dunklem Haar, blasser Haut und klaren, violetten Augen. Sie musterte Emerahl von Kopf bis Fuß, die fein gemeißelte Nase angewidert gerümpft.
»Panilo ist gerade angekommen«, sagte Blatt, als Emerahl zu den beiden Frauen trat.
»Er hat nach dir gefragt.«
Mondschein zog die Augenbrauen hoch. »Das ist also die Straßenhure, die es Panilo angetan hat.« Sie sah Emerahl in die Augen. »Gewöhn dich nur nicht allzu sehr an ihn. Kein Mädchen kann seine Aufmerksamkeit lange fesseln.« Die Frau verströmte ein Gefühl von Bitterkeit.
»Du sprichst aus Erfahrung, wie?«, fragte Emerahl sanft.
Ärger blitzte in Mondscheins Augen auf. »Panilos Freundlichkeit ist der einzige Teil meiner frühen Jahre, den ich mit dir gemein habe.«
Emerahl lächelte. Es erheiterte sie, dass diese Frau so schnell gekränkt war. »Ich bezweifle, dass deine frühen Jahre auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit meinen hatten«, erwiderte sie. »Entschuldige mich bitte, aber ich...« Sie hielt inne. Ihre Sinne sagten ihr noch etwas anderes über diese Frau. Sie konzentrierte sich auf Mondscheins Bauch. Etwas regte sich darin.
»Ich muss mich um einen Freier kümmern«, beendete sie ihren Satz. Dann wandte sie sich ab und kehrte in ihr Zimmer zurück. Bevor sie durch die Tür trat, drehte sie sich noch einmal um. Mondschein hatte sich zu Blatt vorgebeugt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Eine Hand ruhte auf ihrem Bauch, und ihr Gesicht war angespannt vor Sorge.
Sie ist also schwanger, überlegte Emerahl. Das könnte ich benutzen, um ihr Vertrauen zu gewinnen oder um ihre Position zu schwächen, sollte sie sich als Problem für mich erweisen. Sie schüttelte den Kopf. Am besten, ich ignoriere sie. Ich will keine allzu große Aufmerksamkeit auf mich lenken.
Als sie wieder in ihrem Zimmer war, sah sie, dass die beiden Frauen, mit denen sie sich den Raum teilte, inzwischen aufgewacht waren.
»Sieh nur, Jade. Die Flut ist da«, sagte Brand und zeigte auf die andere Frau. Flut verdrehte die Augen über ihren Scherz. »Wirst du jemals damit aufhören? Es ist nicht mehr witzig.«
Emerahl kicherte und schlenderte an den Betten vorbei zu einer Reihe femininer Tuniken, die an Haken an der hinteren Seite des Raumes hingen. Sie nahm eine neue, grüne Tunika herunter. Sie war aus einem Stoff gefertigt, der irgendwann vor einem Jahrhundert erfunden worden war und aussah wie poliertes Metall, sich aber wunderbar weich anfühlte. »Panilo ist wieder da?«, fragte Flut. »Ja.«
Brand schnitt eine Grimasse und warf sich wieder auf das Bett. Ihr leuchtend gelbes Haar ergoss sich über das Kissen. »Ich habe gehört, dass er recht nett sein soll, aber für meinen Geschmack taucht er immer viel zu früh hier auf.«
Emerahl zog ihren Morgenmantel aus und schlüpfte in die Tunika. »Ich bin es nicht gewohnt, tagsüber zu schlafen und die ganze Nacht aufzubleiben, daher kann es mir nur recht sein.«
Flut trat einen Schritt vor, um einen Faden von der Tunika zu zupfen. »Sieh zu, dass du ihn dir so lange wie möglich warmhältst«, riet sie ihr. »Er ist nett und reich.«
»Ich werde mein Bestes tun.« Sie ging zur Tür, dann blieb sie noch einmal stehen und drehte sich um. »Ist mein Haar in Ordnung?«
»Es ist prachtvoll«, antwortete Brand. »Verschwinde, Jade, bevor ihm ein anderes Mädchen ins Auge sticht.«
Emerahl grinste, dann eilte sie den Flur hinunter. Sie ging durch einige weitere Flure und eine Treppe hinunter, bis sie in einen großen, üppig ausgestatteten Gemeinschaftsraum kam. Die hohe Decke und die geschmackvollen Verzierungen von Wänden und Säulen verliehen dem Raum eine respektable Förmlichkeit. Durch die Öffnung im Dach konnte man den blauen Himmel sehen, der sich darüber hinaus auch in dem Wasserbecken darunter spiegelte. Die Gemälde an den Wänden zeigten Männer und Frauen beim Liebesspiel. Emerahl hatte nur selten Zeit, sich genau umzuschauen, aber bei jedem ihrer Besuche waren ihr andere faszinierende Bilder aufgefallen, darunter einige, die ziemlich ungehörig waren.
Sobald sie eingetreten war, blickte Panilo auf und erhob sich lächelnd von seinem Stuhl.
»Emmea.«
»Jade«, verbesserte sie ihn und legte einen Finger auf seine Lippen.
»Also schön, Jade«, sagte er. »Mir hat Emmea besser gefallen.«
Sie sah zu den beiden anderen Männern im Raum hinüber. Einer lümmelte sich mit einer erwartungsvollen Miene auf einer der Bänke. Der andere war umringt von jungen Mädchen, die geschickt mit ihm flirteten. Beide Männer hatten sich von den anderen Frauen abgewandt, um Emerahl anzustarren.
Ihre unverhohlene Bewunderung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Vielleicht sollte ich mir ein weniger auffallendes Äußeres geben, dachte sie. Ich darf keine allzu große Aufmerksamkeit erregen...
»Lass dich von den beiden nicht einschüchtern«, murmelte Panilo. »Galero könnte sich dich gar nicht leisten, und Yarro will nur das Beste, was das Haus zu bieten hat, eine Position, die du zu meinem Glück noch nicht erreicht hast.«
Sie lächelte ihn an, um sich für das Kompliment zu bedanken, und fragte sich gleichzeitig, wie viel Rozea ihm berechnen mochte. »Lass uns von hier verschwinden, damit ich dich ganz für mich allein haben kann.«
Sie zog ihn durch eine Tür in eine angrenzende Zimmerflucht. Blatt hatte ihr den Rat gegeben, eine der luxuriösen Suiten zu benutzen, wann immer sie mit Panilo zusammen war, und ein kleines, bescheideneres Zimmer, wenn sie andere Freier hatte. Emerahl fragte sich, wie hoch die Position in der torenischen Gesellschaft sein mochte, die Panilo bekleidete.
»Ein Bad?«, fragte sie. Jede der üppigen Zimmerfluchten verfügte über einen großen Badezuber.
Er schüttelte den Kopf. »Nachher.« Dann streckte er die Hand aus und strich ihr übers Haar, während er sie forschend betrachtete. »Du bist so schön, Emmea. Ich bin froh, dass Rozea dich hierhergebracht hat, auch wenn ich jetzt das Doppelte bezahlen muss, um dich zu bekommen.«
Sie lächelte und zog ihn zum Bett hinüber. »Ich bin auch froh, dass sie es getan hat. Dies ist doch bei weitem bequemer als eine Holzbank in einem Plattan. Hier kann ich mir Zeit lassen...« Sie machte sich daran, mit übertrieben langsamen Bewegungen die Bänder ihrer Tunika zu lösen.
Er lachte leise. »Aber nicht allzu viel Zeit«, sagte er, während er eine Hand hob, um ihr beim Auskleiden zu helfen. »Auf mich wartet noch eine andere Zusammenkunft.«
Eine andere Zusammenkunft? Emerahl zügelte ihre Neugier und versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Seine Bemerkung blieb jedoch in ihrem Gedächtnis haften. Er hatte sie seit seiner Ankunft in dem Bordell fast jede Nacht besucht, und jedes Mal hatte er eine Zusammenkunft erwähnt. Inzwischen war sie überzeugt davon, dass etwas Wichtiges in der Stadt vor sich ging – etwas, von dem nur hochrangige Adlige und die Huren wussten, die sich um ihre Bedürfnisse kümmerten. Sie hatte sich in der letzten Zeit ständig in Gedankenlesen geübt und diese Fähigkeit sowohl an Freiern wie auch an anderen Huren erprobt, so dass sie inzwischen wieder gut in der Lage war, Gefühle wahrzunehmen. Die vorherrschenden Regungen, die sie in der Nähe des Bordells aufgefangen hatte, waren Furcht und gespannte Erwartung. Sie war davon überzeugt, dass Panilo wusste, was vorging. Es war an der Zeit, dass sie ihn zum Sprechen brachte.
Als er sich später im Bad entspannte, sann sie darüber nach, wie sie ihm die Informationen am besten entlocken konnte. Er mochte keine Wortspiele, und er zog Ehrlichkeit jeder List vor. Eine direkte Frage war vielleicht alles, was vonnöten war.
»Also, was hat die Stadt in solchen Aufruhr versetzt?«, fragte sie leichthin. Er sah sie erschrocken an, und sie begann sich zu entschuldigen, aber er brachte sie mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen.
»Ich bin nicht verärgert über deine Frage, aber...« Er seufzte. »Es ist kein angenehmes Thema. Diese letzte Woche...« Er sah plötzlich müde aus.
»Es tut mir leid«, murmelte Emerahl. »Ich habe dir den Abend verdorben – indem ich dich an die Dinge erinnert habe, die dir Sorgen machen. Hier.« Sie trat hinter ihn und machte sich daran, seine Schultern zu massieren.
»Du hast mir nicht den Abend verdorben«, erwiderte er. »Das wird erst geschehen, wenn ich dich verlassen habe.« Er hielt inne, dann zuckte er die Achseln. »Ich nehme an, du wirst es ohnehin irgendwann erfahren. Versprichst du mir, das hier für dich zu behalten?«
»Natürlich – aber du brauchst es mir nicht zu erzählen, wenn du nicht willst«, sagte sie.
»Ich möchte darüber sprechen. Ich muss es irgendjemandem erzählen, und meine Gemahlin ist nicht die Art Frau, die zuhört.«
Eine Gemahlin, wie? »Dann sollte ich dich vielleicht warnen.«
»Weshalb?«, fragte er scharf.
»Ich denke, die Hälfte der Mädchen hier musste schwören, dasselbe Geheimnis zu wahren.«
Er lachte. »Das bezweifle ich nicht.« Er stieß einen wohligen Seufzer aus. »Das tut gut.«
Es folgte eine lange Pause, dann spürte sie, dass sich die Muskeln in seinen Schultern verspannten.
»Die Weißen haben uns gebeten, unsere Armee für einen Krieg zu rüsten«, erklärte er schließlich.
»Für einen Krieg?« Eine Mischung aus Entsetzen und Hoffnung stieg in ihr auf. Kriege brachten Gefahren mit sich, aber auch Chancen. Vielleicht würde sich auf diese Weise eine Möglichkeit für sie bieten, aus der Stadt zu fliehen. »Mit wem?«
»Mit den Pentadrianern.«
Sie zögerte. Es hatte ihn erstaunt, dass sie nicht wusste, wer die Weißen waren. Sollte sie zugeben, dass sie auch keine Ahnung hatte, wer diese Pentadrianer waren?
»Du fragst dich, wer sie sind, nicht wahr?«, bemerkte er. »Nun, genau kann ich es dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass sie einem Kult angehören, dessen Wurzeln auf dem südlichen Kontinent liegen. Es ist ihnen gelungen, Sennon zu einem Bündnis zu überreden.«
»Sie haben vor, in Toren einzufallen?«, fragte sie.
»Sie haben vor, in ganz Nordithania einzufallen. Um sich aller Zirkler zu entledigen. Sie hassen die Zirkler.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass irgendjemand es weiß.«
Mir würden ein paar Gründe einfallen, dachte Emerahl. Sie haben den so genannten »Heiden« allen Grund gegeben, sie zu hassen. Wer weiß, was sie diesen Pentadrianern angetan haben.
»Es sieht also so aus, als würde ich in einigen Wochen in einen Krieg ziehen«, fuhr Panilo fort. »Mit einem Trupp meiner eigenen Männer, über die ich das Kommando führen muss. Was ich über Kriege weiß? Nichts.«
Du weißt alles, was man wissen muss, dachte sie traurig. Armer Panilo. Es sieht so aus, als würde mein bester Kunde für eine Weile fort sein – und vielleicht nie mehr zurückkehren.
»Du wirst wahrscheinlich nicht mehr tun müssen, als Befehle an deine Männer weiterzugeben«, sagte Emerahl beruhigend. »Der König wird alle Entscheidungen für Toren treffen.«
Panilo nickte. »Und er wird die Anweisungen der Weißen befolgen.«
Die Weißen. Natürlich. Alle Priester und Priesterinnen werden den Befehl erhalten, in den Kampf zu ziehen. Die Wache bei den Toren wird abberufen werden. Es wird mir freistehen, die Stadt zu verlassen. Nur noch ein paar Wochen.
Panilo richtete sich auf. »Wie können wir scheitern, wenn wir die Götter auf unserer Seite haben? Diese Pentadrianer sind schließlich nur Heiden.«
»Das ist wahr.« Sie lächelte, dann schlang sie die Arme um seine Brust. »Wenn du zurückkommst, kannst du mir davon erzählen.«
Seit der Vorführung seines Geschirrs war Tryss jeden Morgen früh erwacht. Manchmal stand er leise auf und stahl sich davon, um zu jagen; dann wieder blieb er einfach im Bett und lauschte, während seine Familie langsam ihr Tagewerk begann. Heute hatte er beschlossen, im Bett zu bleiben. Er war erst spät zur Ruhe gekommen, und er wollte einfach noch ein wenig dösen.
Seine Gedanken wanderten zu den Gesprächen des vergangenen Abends. Sreil, Sprecherin Sirris Sohn, hatte Tryss erzählt, dass die jungen Männer anderer Stämme begierig darauf warteten, seine Erfindung ausprobieren zu können, aber ihre Sprecher hatten ihnen befohlen, Tryss in Ruhe zu lassen. Sie wollten sicherstellen, dass kein Stamm einem anderen vorgezogen wurde. Sprecherin Sirri hatte den Vorschlag gemacht, dass ein Mann aus jedem Stamm ausgewählt werden sollte, um eine erste Gruppe zu bilden, die Tryss unterrichten sollte. Diese Männer würden dann das Gelernte an ihren Stamm weitergeben.
Tryss war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Es war gewiss nicht die schnellste Methode, andere zu unterrichten, und wahrscheinlich auch nicht die verlässlichste. Wenn einer dieser Männer ihn nicht richtig verstand, würde er seine Irrtümer vielleicht weitergeben.
Aber es würde ohnehin nichts passieren, bevor die Allianz mit den Weißen unterzeichnet war. Am vergangenen Abend hatten die Siyee eine zweite Versammlung abgehalten. Diesmal hatten alle Stämme sich für eine Allianz mit den Weißen ausgesprochen. Die Stimmung war eher düster gewesen als begeistert. Obwohl die meisten Siyee mit der Entscheidung zufrieden waren, hatten einige offenkundig das Gefühl, dazu gezwungen worden zu sein, zwischen den Weißen und den Feinden der Weißen zu wählen, um sich vor den Siedlern zu schützen. Als trüge die Priesterin die Schuld an der Situation der Siyee.
So ist es nicht, hatte Tryss befunden. Die Weißen tragen ebenso wenig die Verantwortung dafür, dass sie einen Feind haben, wie man den Siyee die Schuld daran geben kann, dass Eindringlinge ihnen ihr Land stehlen. Es erschien ihm richtig, dass die Weißen und die Siyee einander jetzt halfen.
Ein leises Geräusch erregte Tryss’ Aufmerksamkeit. Er lauschte kurz, dann wurde ihm klar, dass es seine Mutter war, die im Hauptraum wahrscheinlich gerade das Morgenmahl vorbereitete.
Ich könnte aufstehen und ihr helfen, dachte er. Es sieht nicht so aus, als würde ich wieder einschlafen.
Er schwang sich aus dem Bett und wusch sich, bevor er sich ankleidete. Schließlich ging er in den Hauptraum und begrüßte seine Mutter mit einem fröhlichen Grinsen. Sie lächelte ihn an, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder einer steinernen Schale zu.
»Du bist spät dran.«
Er zuckte die Achseln. »Es war eine lange Nacht.« »Ich habe dich mit Sreil reden sehen«, sagte sie anerkennend. »Er ist ein kluger Junge.« »Ja.«
Das Wasser in der Schale begann zu dampfen. Seine Mutter warf Nusspaste und getrocknete Früchte hinein, und die Flüssigkeit hörte auf zu kochen. Tryss beobachtete seine Mutter, während sie in dem Brei rührte, bis die Flüssigkeit von neuem zu kochen begann. Wenn die Siyee über größere Gaben verfügten, hätten wir das Geschirr vielleicht nie benötigt, ging es ihm durch den Kopf. Die meisten Siyee konnten Speisen erhitzen, wie seine Mutter es tat, aber darüber hinaus waren ihre magischen Fähigkeiten sehr begrenzt. Nach allem, was er gehört hatte, besaßen auch die Landgeher kleine Gaben.
»Ich habe Ziss und Trinn in letzter Zeit kaum gesehen.«
»Ich auch nicht«, erwiderte er. »Dank sei Huan.«
Sie blickte ihn an. »Du solltest nicht zulassen, dass dieser kleine Streich eure Freundschaft zerstört.«
»Es war kein kleiner Streich«, gab er zurück. »Und die beiden waren niemals meine Freunde.«
Seine Mutter zog eine Augenbraue hoch. »Gib nur Acht, wie du sie jetztbehandelst. Man wird dir eine Menge Aufmerksamkeit schenken, und die beiden werden dir das verübeln. Es ist immer besser, sich keine Feinde zu schaffen...«
»Hallo? Ist schon jemand wach?«
Die Worte waren leise gesprochen worden und kamen von jenseits der Laube. Tryss erkannte Sprecherin Sirris Stimme und tauschte hastig einen Blick mit seiner Mutter.
»Ja. Komm herein, Sprecherin Sirri«, rief seine Mutter.
Die Türlasche wurde beiseitegezogen, und die ältere Frau trat ein. Sie begrüßte Tryss’
Mutter mit einem respektvollen Nicken und schenkte Tryss ein Lächeln.
»Die Sprecher werden heute Morgen zusammenkommen, um die Unterzeichnung der Allianz zu bezeugen. Ich möchte, dass auch Tryss zugegen ist.«
Seine Mutter wirkte erstaunt. »Wirklich? Nun, ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Hat er noch genug Zeit, etwas zu essen?«
Sirri zuckte die Achseln. »Ja, wenn er nicht zu lange braucht.« »Und du?«
Die ältere Frau blinzelte überrascht. »Ich?«
»Möchtest du eine Portion Nussbrei? Er ist schon fertig, und ich habe mehr als genug.«
Sirri betrachtete die Schale. »Nun, wenn es keine Mühe macht...«
Tryss’ Mutter antwortete mit einem Lächeln und löffelte den heißen Brei in vier Schalen. Sirri setzte sich, um zu essen. Der Erleichterung in ihren Zügen entnahm Tryss, dass die Sprecherin vermutlich noch keine Zeit gefunden hatte, etwas zu sich zu nehmen. Der Vorhang vor der Tür zum Zimmer seiner Eltern wurde aufgezogen, und sein Vater, dem das Haar in alle Richtungen vom Kopf abstand, trat hindurch. Er sah Sirri überrascht an.
»Sprecherin«, sagte er.
»Tiss«, erwiderte sie.
»Ist das das Frühstück, das ich da rieche?«, fragte er, an Tryss’ Mutter gewandt.
»Ja«, erwiderte sie und reichte ihm eine Schale.
»Ihr müsst sehr stolz auf Tryss sein«, sagte Sirri.
Tryss’ Herz schwoll an vor Freude, als seine Eltern nickten. »Er war schon immer ein kluger Junge«, erklärte seine Mutter. »Ich dachte, dass er einen guten Beruf erlernen und vielleicht Bogenmacher oder Pfeilschmied werden würde. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass er helfen würde, solche Veränderungen für unser Volk herbeizuführen.«
»So, wie es war, konnte es nicht bleiben«, ergänzte sein Vater. »Mein Großvater hat immer gesagt, die größte Stärke der Siyee liege darin, Veränderungen willkommen zu heißen und sich entsprechend anzupassen.«
»Dein Großvater war ein weiser Mann«, erwiderte Sirri.
Tryss’ Mutter nickte zustimmend, dann sah sie zu ihrem Sohn hinüber. »Ich fürchte nur, was jede Mutter fürchtet: dass solche Veränderungen einen furchtbaren Preis fordern.«
Sirri verzog das Gesicht. »Diese Furcht kenne ich gut. Wenn wir mit den Weißen in den Krieg ziehen, wie ich es vermute, bezweifle ich, dass ich Sreil hier halten kann. Was ich auch nicht tun sollte. Es wird eine schwierige Zeit werden.«
Tryss’ Eltern nickten abermals. Sie verzehrten schweigend ihr Frühstück, dann stellte Sirri ihre leere Schale beiseite und sah Tryss an.
»Veränderungen warten auf niemanden, aber die Unterzeichnung der Allianz kann ohne die Erste Sprecherin nicht vonstattengehen. Wir müssen aufbrechen. Vielen Dank für das Essen, Trilli. Es hat mir gutgetan.«
Tryss’ Mutter sammelte die leeren Schalen ein und begleitete Tryss und Sirri hinaus. Als sie ins Sonnenlicht traten, bemerkte Tryss eine Bewegung vor der benachbarten Laube. Ein Gefühl des Jubels stieg in ihm auf, als Drilli herauskam. Sie sah ihn und grinste, aber das Lächeln verblasste, als ihr Vater neben ihr erschien. Er bedachte Tryss mit einem warnenden Blick, dann schritt er davon, und Drilli folgte ihm.
Seufzend drehte Tryss sich wieder zu Sirri um, die ihn beobachtet hatte.
»Deine Nachbarn haben viel Zeit mit den Vertretern des Stamms vom Gegabelten Fluss verbracht. Ich habe mir nichts Besonderes dabei gedacht, bis mir wieder eingefallen ist, dass eine Familie von ihrem eigenen Stamm sich mit den Leuten vom Gegabelten Fluss zusammengetan hat. Ich vermute, Zyll hofft, seine Tochter dazu überreden zu können, in diese andere Familie vom Schlangenfluss einzuheiraten. Es ist ihm sehr wichtig, zu verhindern, dass der Schlangenflussstamm in anderen Stämmen aufgeht.«
Tryss hatte das Gefühl, als verwelke ihm das Herz im Leib. Als Sirri ihn ansah, zuckte er nur die Achseln, weil er befürchtete, dass seine Stimme seine Gefühle verraten würde, wenn er auch nur ein Wort sagte.
»Er kann sie natürlich nicht dazu zwingen, wenn sie bereits einem anderen versprochen sein sollte.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich fand dieses Gesetz schon immer töricht. Es zwingt junge Menschen, zu früh einen Partner zu wählen. Genauso wenig gefällt mir der Gedanke, dass Väter ihre Töchter zu jung an Männer verheiraten, die sie kaum kennen.« Wieder musterte sie Tryss. »Lass uns gehen.«
Gemeinsam rannten sie los, schwangen sich mit einem Sprung in die Luft und breiteten die Arme weit aus. Als Sirris Flügel den Wind einfingen und sie gen Himmel flog, folgte Tryss ihr. Während sie zum oberen Teil des Offenen Dorfs flogen, gingen ihre Worte ihm wieder und wieder durch den Kopf.
»Er kann sie natürlich nicht dazu zwingen, wenn sie bereits einem anderen versprochen sein sollte.«
Wusste sie, dass er und Drilli häufig zusammen gewesen waren, bis Drillis Vater eingegriffen hatte? Offensichtlich missbilligte sie, was Zyll tat. Wollte sie mit ihrer Bemerkung andeuten, dass er und Drilli einander ein Eheversprechen geben sollten? Es könnte die einzige Möglichkeit sein, Drilli wiederzusehen.
Aber... Ehe. Das klang so erwachsen. Er würde aus der Laube seiner Eltern ausziehen müssen. Der Stamm würde ihnen eine eigene Laube bauen. Er dachte darüber nach, wie es wohl sein würde, mit Drilli zu leben.
Er lächelte. Es würde schön sein. Eine Laube nur für sie beide. Gemeinsame Zeit. Ungestörtheit.
War sie das richtige Mädchen für ihn? Er dachte an die anderen Mädchen, die er kannte. Diejenigen in seinem Stamm, mit denen er aufgewachsen war, waren wie Familienmitglieder für ihn. Einige waren freundlich, aber sie konnten Drilli nicht das Wasser reichen. Sie war... etwas Besonderes.
Sirri landete vor ihm und hielt inne, um auf ihn zu warten.
Er ließ sich neben ihr zu Boden fallen, dann folgte er ihr zu der Sprecherlaube. Alle Gedanken an Drilli waren verflogen, als ihm klar wurde, dass er gleich an einem Ereignis teilhaben würde, das wahrscheinlich in die Geschichte der Siyee eingehen würde.
»Was... was werde ich tun müssen?«, fragte er.
»Nichts. Setz dich einfach nach hinten und schweige, bis man dich anspricht«, erklärte ihm Sirri.
Plötzlich war sein Mund trocken. Sein Magen begann beunruhigend zu flattern. Sirri schritt auf den Eingang zu und zog den Vorhang beiseite. Als sie hindurchtrat, schluckte Tryss und folgte ihr.
In dem Raum drängten sich dicht an dicht die Siyee. Alle hatten aufgeblickt, als Sirri eintrat, und nun betrachteten sie Tryss mit einigem Interesse. Die Priesterin war ebenfalls zugegen und wirkte in dem engen Raum größer denn je. Sie sah ihm in die Augen und lächelte, und er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Sirri trat zu einem freien Hocker. Als sie sich setzte, blickte sich Tryss im Raum um. Weitere Hocker gab es nicht. Er setzte sich auf den Boden, wo er Sirri zwischen zweien der Sprecher sehen konnte.
»Gestern Abend hat jeder Stamm noch einmal den Vorschlag der Weißen zu einer Allianz erwogen«, sagte Sirri. »Gestern Abend haben alle Stämme eine Entscheidung getroffen, und die Entscheidungen sind alle gleich ausgefallen. Wir, die Siyee, werden diesen Pakt mit den Weißen schließen. Wir werden uns mit den Zirklern verbünden. Wir haben bis spät in die Nacht über den genauen Wortlaut des Vertrages debattiert.«
Sie sah Auraya an. »Heute Morgen hat Auraya von den Weißen diese Worte in den Sprachen sowohl von Si als auch von Hania auf Pergament geschrieben. Diese beiden Schriftrollen sind von allen begutachtet worden.«
Die Weiße Priesterin hielt zwei Schriftrollen hoch. Tryss bemerkte, dass die hölzernen Stäbe an den Enden der Pergamentrolle mit Siyee-Schnitzereien verziert waren.
»Jetzt muss nur noch ein jeder von uns im Namen seines Stammes unterzeichnen«, beendete Sirri ihre Erklärungen.
Sie griff hinter ihren Hocker und holte ein flaches Brett hervor. Ein kleiner Behälter mit schwarzer Farbe stand in einer Vertiefung auf dem Brett, und in einer anderen lag ein Pinsel. Sirri legte sich das Brett auf die Knie.
Die Weiße Priesterin hielt die Schriftrollen vor sie hin. Dann schloss sie die Augen.
»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru. Heute kommt euer Wunsch, Nordithania in Frieden geeint zu sehen, seiner Verwirklichung einen Schritt näher. Wisset, dass das Volk, das Huan schuf, die Siyee, sich mit den Menschen verbünden will, die ihr zu euren Repräsentanten in dieser Welt auserwählt habt, den Weißen. Wir tun dies mit Freude und mit großen Hoffnungen für die Zukunft.«
Ein leiser Schauder strich über Tryss’ Rücken. Er hatte jedoch keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn Auraya schlug bereits wieder die Augen auf und reichte Sirri eine der Schriftrollen. Die Sprecherin entrollte das Pergament, griff nach dem Pinsel und tauchte ihn in die Farbe.
Während sich die Pinselspitze über die Schriftrolle bewegte, herrschte tiefes Schweigen in der Laube. Tryss beobachtete, wie Sirri auf die zweite Rolle ihr Namenszeichen und ihr Stammeszeichen malte, dann gab sie das Brett an den nächsten Sprecher weiter. Tryss wurde bewusst, dass dies kein Ritual war, das sich in langen Jahrhunderten durch stete Wiederholung gebildet hatte. Die Siyee kannten keine Zeremonie für ein solches Ereignis: Sie hatten noch nie zuvor eine Allianz unterzeichnet. Dies war ein neues Ritual, begonnen am heutigen Tag.
Die Stille hielt weiter an, während die Schriftrolle von einem Sprecher zum nächsten weitergereicht wurde. Die Weiße Priesterin beobachtete sie alle mit großer Geduld. Tryss bemerkte, dass bisweilen ein geistesabwesender Ausdruck in ihre Augen trat, als lausche sie auf etwas, das er nicht hören konnte. Einmal lächelte sie schwach, aber er konnte nichts im Raum entdecken, das ihre Erheiterung hätte erklären können. Schließlich gab der letzte Sprecher ihr die Schriftrolle zurück. Sie unterzeichnete langsam; sie war es offensichtlich nicht gewohnt, mit einem Pinsel zu schreiben. Als sie fertig war, gab sie das Brett und eine der Schriftrollen Sirri zurück. Die Sprecherin legte das Brett beiseite, behielt die Schriftrolle jedoch in der Hand.
»Heute haben unsere Völker sich in Freundschaft und zur gegenseitigen Unterstützung an Händen und Herzen verbunden«, sagte Sirri. »Mögen alle Siyee, gegenwärtige wie kommende, diese Allianz respektieren.« Sie sah Auraya an.
»Heute haben die Weißen einen Verbündeten gewonnen, den wir bis in alle Ewigkeit schätzen werden«, erwiderte Auraya. »In Übereinstimmung mit der Vereinbarung, die wir soeben getroffen haben, wird unsere erste Tat darin bestehen, die torenischen Siedler in ihr Heimatland zurückzuführen. Dies wird einige Zeit benötigen, wenn es ohne Blutvergießen geschehen soll, aber wir sind entschlossen, unser Ziel innerhalb der nächsten zwei Jahre zu erreichen.«
Ein triumphierendes Lächeln erschien auf den Gesichtern der Sprecher. Die förmliche Atmosphäre war durchbrochen, als einer der Sprecher Auraya fragte, wie sich dies bewältigen ließe, ohne zukünftige Handelsbeziehungen zu Toren zu beeinträchtigen. Die Sprecher begannen, miteinander zu reden, und einige von ihnen standen auf und traten neben Sirri, um die Schriftrolle zu betrachten.
Tryss beobachtete das Geschehen schweigend, aber es dauerte nicht lange, bis einer der Sprecher ihn bemerkte. Als der alte Mann begann, ihm Fragen nach seinem Geschirr zu stellen, fielen andere ein, und schon bald war Tryss nicht mehr in der Lage, eine Frage zu beantworten, bevor die nächste laut wurde.
»Meine lieben Freunde, habt ein wenig Mitleid mit dem armen Jungen.« Sirris Stimme erhob sich über die anderen. Sie schob sich in den Kreis von Männern und Frauen, die Tryss umringten. »Ihr wollt im Grunde alle dasselbe wissen: Wann werden eure Stämme ihre eigenen Geschirre bekommen und wann werden sie in ihrer Benutzung unterwiesen.« Sie sah Tryss an. »Was meinst du, Tryss?«
Er ließ seinen Blick über die Sprecher wandern, dann holte er tief Luft und sagte:
»Zuerst werden die Geschirre angefertigt werden müssen. Ich kann zwei Männer von jedem Stamm unterrichten, so dass einer den anderen korrigieren kann, falls es zu Fehlern kommen sollte. Ich werde mit dem Unterricht anfangen, sobald die Männer hier sind.«
»Wie hört sich das an?« Sirri drehte sich zu den Sprechern um.
Die Männer und Frauen nickten.
»Gut.« Sirri klopfte Tryss auf die Schulter. »Und nun erzähl uns, was sie mitbringen sollen.«
Während Tryss die Werkzeuge und Materialien auflistete, die er zur Fertigung seines Geschirrs benötigt hatte, machte sich ein Gefühl des Staunens in ihm breit. Er hatte es geschafft. Dank Sirri war es ihm gelungen, sie zu überzeugen. Sie hatte ihm zugehört, als er das Geschirr zum ersten Mal hatte vorführen wollen. Sie hatte die Möglichkeiten seiner Erfindung gesehen. Sie hatte ihm eine Chance gegeben. Er blickte die Sprecherin an, und eine Woge der Dankbarkeit stieg in ihm auf. Sie hatte sich sogar mitfühlend gezeigt, was Drilli betraf und ihm einen Weg gewesen, wie sie wieder zusammen sein konnten.
Er schuldete ihr eine Menge. Eines Tages, so hoffte er, würde er diese Schuld begleichen können. Für den Augenblick konnte er ihr seinen Dank am besten zeigen, indem er andern Siyee zeigte, wie sie jagen und kämpfen konnten. Obwohl er, wie ihm jetzt einfiel, das Geschirr noch nie im Kampf benutzt hatte. Einzig seine Fantasie sagte ihm, dass es eine wirkungsvolle Waffe sein würde. Es ist noch nicht vorbei, dachte er. Selbst ich habe noch viel zu lernen.
Seit sie davon gehört hatte, dass sie vor einigen Wochen direkt über die pentadrianische Zauberin hinweg geflogen war, schenkte Auraya dem Wald unter ihr größere Beachtung, wann immer sie flog. Glücklicherweise hatte sie keine schwarzgekleideten Landgeher gesehen, nur eine Fülle wilder Tiere und viele Bäume.
Die Zauberin war längst fort – zumindest glaubten das die iyee. Auraya blickte zu den Bergen empor. Große, verschneite Felstürme erhoben sich zu allen Seiten. Ihre steilen Hänge waren mit Wäldern überzogen. In den Tälern und Schluchten unter ihr glitzerten Wasserläufe, die sich in Richtung Meer schlängelten. Prachtvoll, dachte sie. Sie fühlte sich durch und durch lebendig. Leichter als Luft, s war nicht nur ihre eigenartige Gabe, es war eine Stimmung, die sich seit ihrer Ankunft in Si eingestellt und ihren Gipfel an diesem Morgen erreicht hatte, als es ihr gelungen war, ihre Aufgabe zu erfüllen und die Siyee und die Weißen zu einen.
Aber das war noch nicht alles. An diesem Morgen war sie aus Träumen von Leiard aufgewacht, die so voller Liebe und Leidenschaft gewesen waren, dass sie eigentlich überhaupt nicht hatte aufwachen wollen. Sie sehnte sich danach, nach Jarime zurückzukehren, und doch fragte sie sich manchmal, ob sich die Wirklichkeit im Vergleich zu ihren geteilten Träumen nicht vielleicht als enttäuschend erweisen würde.
Nein, es wird noch besser sein, sagte sie sich.
Sirri veränderte ihre Flugrichtung ein wenig, und Auraya passte sich ihr entsprechend an. Die Sprecherin hatte während der letzten Stunde allmählich an Höhe gewonnen, und die Luft war inzwischen eiskalt. Auraya zog beständig Magie in sich hinein, um sich warm zu halten. Den Siyee schien die Kälte nichts auszumachen.
Sie waren den größten Teil des Tages geflogen, und die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu. Auraya sah, dass sie auf einen Berggipfel zuflogen, der etwas niedriger war als die anderen. Sie hatte in den Gedanken der Frau flüchtige Bilder von ihrem Bestimmungsort gesehen und daraus entnommen, dass sie auf diesem Gipfel einen Tempel vorfinden würden.
Auraya war fasziniert gewesen, als sie erfuhr, dass die Siyee einen eigenen Tempel besaßen. Obwohl sie Huan huldigten, waren sie doch keine wahren Zirkler. Sie folgten den Ritualen und Traditionen nicht, die die Landgeher ersonnen hatten, um ihrer Huldigung der fünf Götter Ausdruck zu verleihen. Genau genommen kannten die Siyee diese Traditionen nicht einmal.
Sie hatte den Tempel besuchen wollen, aber das Gesetz der Siyee untersagte es jedem, sich zu nähern, es sei denn, die Göttin hätte ihn eingeladen oder er käme in Begleitung eines Wächters; die Siyee hatten keine Priester oder Priesterinnen, doch die Wächter kamen dieser Funktion am nächsten. An diesem Morgen hatte Sirri eine solche Einladung ausgesprochen. Seither verspürte Auraya ein aufgeregtes Prickeln in ihrem Magen. Bedeutete das, dass sie endlich zu ihr sprechen würden?
Wenn sie hier sind, warum sprechen sie nicht einfach zu mir? Warum diese Einladung, die sie durch andere übermitteln lassen?, fragte sich Auraya nicht zum ersten Mal. Vielleicht wollen sie, dass die Siyee es erfahren. Hätten die Götter einfach in meine Gedanken hineingesprochen, hätten die Siyee nichts davon bemerkt, oder aber sie hätten darauf vertrauen müssen, dass ich die Wahrheit sage. Und wenn die Götter in Anwesenheit der Siyee erschienen wären, würde das dem Tempel ein wenig von seiner Heiligkeit nehmen, da dies der einzige Ort ist, an dem sie mit Huan in Verbindung treten können.
Je näher sie dem Gipfel kamen, desto deutlicher konnte Auraya Einzelheiten erkennen. Die höchste Stelle war seltsam geformt – zylindrisch mit rundem Abschluss. Plötzlich ergab das, was sie in Sirris Geist gesehen hatte, einen Sinn. Aus dem steinernen Gipfel war ein kleiner Pavillontempel herausgehauen worden.
Sie fragte sich, wie er erbaut worden war. Unter dem runden Sockel befand sich zu allen Seiten ein fast lotrechter Abgrund. Wenn man allerdings eine Höhle in den Fels gehauen hatte, hätte man danach den Rest von innen wegschlagen können. Niemand außer den Siyee konnte jedoch einen derart hochgelegenen, unzugänglichen Ort erreicht haben. Sie hatte nicht gewusst, dass die Steinmetze der Siyee so begabt waren. Als sie näher kam, konnte sie sehen, dass es sich um ein schlichtes, schmuckloses Gebäude handelte. Fünf Säulen trugen ein Kuppeldach. Die Proportionen waren makellos, und die Oberfläche war blank poliert.
Sirri schlug mit den Flügeln, um ein wenig an Höhe zu gewinnen, dann legte sie sie schräg, so dass sie geschickt zwischen zwei Säulen landete. Auraya gab den Versuch auf, so zu tun, als sei sie ebenfalls den Kräften des Windes und dem Sog der Erde unterworfen. Sie richtete sich auf und hielt mitten in der Luft inne, bevor sie sich vorwärtsbewegte, bis ihre Füße den Boden des Tempels berührten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Tempel sich von seinen Maßen eher an der Größe der Landgeher orientierte als an der Größe der Siyee. Sie konnte aufrecht stehen, ohne den Kopf einziehen zu müssen.
»Das ist der Tempel«, sagte Sirri leise. »Er ist schon immer hier gewesen. In unseren Unterlagen heißt es, er habe hier gestanden, lange bevor die Siyee geschaffen wurden.«
»Die Siyee haben den Tempel nicht erbaut?«
Sirri schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wer dann?«
»Das weiß niemand. Vielleicht Huan.«
Auraya nickte, obwohl sie nach wie vor vor einem Rätsel stand. Die Götter konnten auf diese Welt nur durch Menschen einwirken, was bedeutete, dass zumindest ein Mensch an der Erbauung des Tempels beteiligt gewesen sein musste. Vielleicht hatte Huan einem Steinmetz die Fähigkeit des Fliegens geschenkt, um diesen Ort erschaffen zu lassen.
»Dies ist ein heiliger Ort. Selbst die Mitglieder des Tempelbergstamms, die über den Tempel wachen, kommen nur selten hierher.« Sirri schenkte Auraya ein schnelles Lächeln. »Wir wollen Huan nicht unnötig von ihrer Arbeit ablenken.«
Auraya strich mit der Hand über eine Säule. Nichts in ihrer Beschaffenheit ließ auf hohes Alter schließen. »Es ist erstaunlich.«
»Ich habe eine Frage, bevor ich aufbreche«, sagte Sirri. »Die Sprecher möchten wissen, wann du nach Borra abreisen willst?«
»Wann ich abreisen will? Niemals.« Auraya seufzte. »Aber ich muss es tun – und zwar bald. Ich muss versuchen, die Elai zu überreden, sich uns anzuschließen.«
Sirri lächelte. »Dann wünsche ich dir viel Glück. Die Elai begegnen Fremden mit großem Misstrauen.«
Auraya nickte. »Das hast du mir bereits erzählt. Trotzdem treiben sie mit euch Handel.«
»Wir Schöpfungen Huans bleiben gern miteinander in Verbindung. Der Sandstamm treibt Handel mit den Elai. Du solltest dich mit ihrem Sprecher treffen, bevor du abreist. Er kann dir sicher mehr über das Meeresvolk erzählen als ich.«
»Das werde ich tun.«
Mit einem Mal wurde die Miene der Sprecherin ernst. »Und jetzt, Auraya von den Weißen, muss ich dich allein lassen.« Sie trat an den Rand des Tempels und deutete in die Tiefe. »Siehst du diesen Fluss?«
Auraya trat neben Sirri und blickte hinab. Der Himmel spiegelte sich in dem schmalen Band des Wasserlaufs tief unten in der engen Schlucht wider.
»Ja.«
»Wenn du fertig bist, flieg dort hinunter. Der Tempelbergstamm lebt in Höhlen entlang der Schlucht.« Sie drehte sich mit einem Lächeln zu Auraya um, dann beugte sie sich über den Rand und schwebte davon.
Auraya.
Sie hatte das Gefühl, als höre ihr Herz zu schlagen auf. Die Stimme war in ihren Gedanken erklungen, und sie war eindeutig weiblich.
Huan?
Ja.
Die Luft vor ihr wurde heller. Auraya trat mit hämmerndem Herzen zurück, als sich vor ihr eine Gestalt aus Licht bildete. Sie ließ sich auf die Knie fallen und legte sich dann vor der Göttin nieder.
Erhebe dich, Auraya.
Während Auraya gehorchte, erzitterte sie in einer Mischung aus Freude und Furcht. Sie stand ganz allein vor einer Göttin. Auch wenn ich eine ihrer Auserwählten bin, bin ich vor ihr doch nur ein gewöhnlicher Mensch. Huan lächelte.
Du bist kein gewöhnlicher Mensch, Auraya. Wir erwählen keine gewöhnlichen Menschen. Wir erwählen jene mit herausragenden Talenten, und davon hast du gewiss mehr, als wir ursprünglich wahrnehmen konnten.
Der Tonfall der Göttin war anerkennend, und doch spürte Auraya einen Anflug von Ironie darin. Sie hatte allerdings keine Zeit, sich über die Bedeutung von Huans Worten den Kopf zu zerbrechen, da die Göttin bereits weitersprach.
Wir sind sehr zufrieden mit deinen bisherigen Bemühungen, Nordithania zu einen. Mich freut es besonders, die Siyee mit den Weißen verbunden zu sehen. Allerdings wirst du feststellen, dass von meinen beiden Rassen die Siyee diejenigen sind, deren Freundschaft man leichter erringen kann. Deine Fähigkeit zufliegen wird die Elai nicht beeindrucken. Sie werden eine größere Herausforderung für dich darstellen.
Wie kann ich sie beeindrucken?
Das musst du selbst herausfinden, Auraya. Die Entscheidung muss ihre eigene sein,daher werden wir uns nicht einmischen, indem wir dir Anweisungen oder den Elai Ratschläge geben.
Ich verstehe.
Huans Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.
Das bezweifle ich. Du bist jung und hast noch viel zu lernen – vor allem in Angelegenheiten des Herzens. Ich habe nichts dagegen, dass du dich mit dem Traumweber vergnügst, Auraya. Es ist die Aufgabe der anderen Weißen, darüber zu befinden, was für die Menschen annehmbar ist oder nicht. Lass dir jedoch ein Wort der Warnung gesagt sein. Aus dieser Art von Liebekann nur Schmerz erwachsen. Sei darauf vorbereitet. Dein Volk braucht eine starke Vertreterin in dir.
Gerätst du ins Wanken, werden die Menschen vielleicht leiden.
Aurayas Gesicht wurde heiß, als Überraschung von Verlegenheit verdrängt wurde.
Ich werde deinen Rat beherzigen, war alles, was ihr zu sagen einfiel.
Huan nickte. Die Gestalt löste sich in einer Säule aus Licht auf, dann schrumpfte sie zusammen, verblasste und verschwand.
Kimyala, der Hohepriester der Anhänger des Gareilem, legte langsam sein aus vielen Schichten bestehendes Oktavestim an und befolgte dabei das uralte Ritual seiner Vorfahren mit großer Sorgfalt. Während er jedes Kleidungsstück arrangierte und gürtete, murmelte er Gebete an seinen Gott. Es war wichtig, jedes Stadium des Rituals und jedes Ritual des Tages genau zu befolgen.
Er hatte seinen Meister, den ehemaligen Hohepriester, gefragt, warum das so sein müsse. Der große Shamila hatte lediglich erwidert, dass es wichtig sei, sich zu erinnern. Kimyala hatte ihn damals nicht verstanden. Er vermutete, dass er es aufgrund seiner jugendlichen Ungeduld mit den endlosen, komplizierten Ritualen einfach nicht hatte verstehen wollen. Jetzt verstand er es besser. Es war wichtig, sich zu erinnern, denn es gab zu wenige von ihnen, die es taten.
Zu wenige glaubten. Die Zirkler hielten Gareilem für tot und verachteten seine Anhänger. Die Pentadrianer glaubten das Gleiche und bemitleideten Kimyala. Die Traumweber gaben Zirklern wie Pentadrianern recht, aber sie behandelten ihn zumindest mit Respekt.
In einem Punkt war Kimyala sich jedoch sicher: Götter können nicht sterben. Dies war eins der alten Geheimnisse der Anhänger des Gareilem. Sollten andere ruhig zweifeln, aber er und sein Volk kannten die Wahrheit. Die Götter waren Wesen aus Magie und Weisheit. Sie existierten, solange die Magie existierte, also musste auch Gareilem irgendwo noch existieren, in irgendeiner Form. Vielleicht würde er eines Tages zurückkehren. Sein Schweigen konnte sogar eine Prüfung ihres Glaubens sein. Er ließ es zu, dass die Schar seiner Anhänger immer kleiner wurde, bis nur noch die Treuesten verblieben waren.
Nachdem das Ankleideritual beendet war, verließ Kimyala sein Zimmer und stieg zu dem Dach des alten Tempels hinauf. Gareilem war der Gott von Stein, Sand und Erde. Seine Tempel waren stets hoch oben auf den Hängen von Bergen erbaut worden. Hier, in der Nähe der Südküste von Sennon, gab es nur wenige Hügel. Der Tempel lag auf einem kleinen Felsvorsprung inmitten eines Dünenmeeres, aber da der Salzbusch die höchste Pflanze war, die in dieser Gegend wuchs, hatte man von hier aus einen ungehinderten Blick auf das umliegende Land.
Auf dem Dach des Tempels angekommen, ließ Kimyala seinen Blick über die Dünen wandern. Die Sonne hing direkt über dem Horizont und verlangte damit seine Aufmerksamkeit. Der rituelle Gesang für das Ende des Tages ging ihm durch den Kopf, aber es war noch ein wenig zu früh dafür. Im Westen gab es nicht viel zu sehen. Nur einige sanft gewellte Hügel entlang der Küste. Vor ihm erstreckte sich blaugrau der Golf des Grams. Ein wenig weiter zur Linken konnte er die Landenge von Grya sehen, die sich nach dem südlichen Kontinent ausstreckte. An seinem unteren Ende war ein dunkler Fleck zu erkennen: die Stadt Diamyane.
Die Stadt war nahe genug, um das Gewirr von Straßen und die langgezogenen, niedrigen Häuser dazwischen zu erkennen. An einem klaren Tag konnte er sogar ohne die Benutzung eines Fernrohrs die Bürger der Stadt ausmachen. Heute hatte ein leichter, aber beharrlicher Wind so viel Staub aufgewirbelt, dass die Umrisse der Stadt verwischt waren. Es gab nichts Interessantes zu sehen. Außer... Als er über die Stadtgrenzen hinausblickte, fiel ihm etwas Ungewöhnliches auf.
»Jedire!«, brüllte er. »Bring mir mein Fernrohr! Schnell!«
Er hörte hastige Schritte, als sein Akolyth, der im Raum unter ihm studierte, herbeigelaufen kam. Kimyala schaute zur Sonne hinüber und schätzte, dass ihm noch einige Minuten blieben, bevor sie den Horizont berührte. Schon bald würde alles Licht fort sein, und das Land würde in Dunkelheit versinken.
Das Klatschen von Sandalen auf den steinernen Treppenstufen kündete von der Ankunft Jedires. Kurz darauf war der Junge oben angekommen und reichte Kimyala das Fernrohr. Der Hohepriester hielt es sich ans Auge.
Er suchte die Stadt ab und fand von dort aus die Landenge. Der dunkle Fleck, den er gesehen hatte, nahm klare Formen an. Kolonnen von Gestalten marschierten auf Sennon zu, einige mit Bannern in Händen. In der Mitte eines jeden schwarzen Tuchs war ein weißer, fünfzackiger Stern zu sehen.
»Pentadrianer«, sagte er angewidert und gab seinem Akolythen das Fernrohr zurück. Der Junge hielt sich das Rohr ans Auge. »Was tun sie da?«
»Keine Ahnung. Vielleicht eine Pilgerreise.«
»Sie haben Waffen bei sich«, sagte der Junge mit gedämpftem Tonfall. »Sie ziehen in den Krieg.«
Kimyala entriss dem Jungen das Fernrohr und drehte sich zu der Stadt um. Wieder hielt er Ausschau nach den Pentadrianern und betrachtete die Marschkolonnen genauer. Und tatsächlich, einige trugen Rüstungen. Mitten unter ihnen bewegten sich schwer beladene Karren. Im nächsten Moment hatte die Spitze der schwarzen Kolonne die Stadt erreicht.
Er murmelte einen Fluch. Er hatte bereits zwei Jungen an die Pentadrianer verloren. Es war nicht leicht, sie zu halten, wenn die Pentadrianer ständig in der Nähe waren und mit ihren Reichtümern und ihrer Macht protzten. Und als wenn das nicht genug gewesen wäre, um junge Männer wegzulocken, waren da immer noch die Gerüchte über Fruchtbarkeitsriten. Es hieß, sie hielten Orgien ab, in denen alle Teilnehmer maskiert waren und dass manchmal auch ihre Götter an den Orgien teilnahmen.
»Es ist eine Armee, nicht wahr?«, fragte Jedire. »Sind sie hergekommen, um Sennon unter ihre Gewalt zu bringen?«
Kimyala schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Niemand versucht, sie aufzuhalten.«
»Wenn sie nicht hier sind, um uns zu überfallen, wen wollen sie dann überfallen?«
Er drehte sich zu Jedire um. Die Augen des Jungen leuchteten vor Erregung.
»Setz dir keine törichten Ideen in den Kopf, von wegen weglaufen und dich Ewarli und Gilare anschließen zu wollen«, warnte ihn Kimyala. »Jungen sterben in Schlachten. Sie sterben einen grausamen Tod, unter schrecklichen Schmerzen. Und jetzt bring dieses Fernrohr schnell nach unten. Ich habe ein Ritual zu vollziehen.«
Als der Junge davongeeilt war, wandte Kimyala seine Aufmerksamkeit wieder der Sonne zu. Die feurig rote Scheibe würde nun gleich den Horizont berühren. Es war an der Zeit, die unheilverkündende Anwesenheit der Armee zu ignorieren und mit dem Ritual zu beginnen.
Das Fenster stand offen, Danjin verfluchte die Diener. Wie hatte das geschehen können? Unfug hätte hinausgelangen können – es war durchaus möglich, dass er sich bereits auf der Außenseite der Mauer befand, ohne um die Gefahr zu wissen.
Er sollte die Diener rufen und es jemand anderem überlassen, die Angelegenheit zu regeln, aber etwas zwang ihn, auf das Fenster zuzugehen. Kalte Luft hüllte ihn ein. Er trat an den Rand der Öffnung und spürte, wie sich seine Zehen um das Fenstersims krümmten.
Ich stehe am Abgrund, dachte er. Dann runzelte er die Stirn. Warum trage ich keine Schuhe?
Er blickte über seine Füße hinaus auf den Boden, der so tief unter ihm lag, und die Welt um ihn herum begann sich zu drehen.
Mit einem Mal stand er am Fuß des Weißen Turms und blickte empor. Jetzt, da er sich auf festem Boden befand, hätte er sich eigentlich besser fühlen müssen, aber seine Angst war noch größer als zuvor. Der Turm ragte über ihm auf, kam ihm langsam entgegen. Zu spät bemerkte er die Risse, die sich im Mauerwerk gebildet hatten.
Er sah den Turm einstürzen, sah Trümmer, die auf ihn flogen. Er konnte sich nicht bewegen.
Schutt prasselteauf ihn nieder, riss ihn zu Boden, bedeckte ihn, erstickte ihn. Er kämpfte gegen das Entsetzen. Zwang sich, still zu liegen...
»Danjin.«
Hoffnung regte sich in ihm. Wenn er jemanden hören konnte, war er vielleicht so nah an der Oberfläche, dass man ihn ausgraben konnte. Seine Kehle war trocken und voller Staub, und er konnte keinen Laut von sich geben.
Geduld. Es gibt keinen schnellen Ausweg aus dieser Lage. Aber er musste sich auch beeilen. Er musste entscheiden, wie er seine verbleibende Kraft am besten nutzen konnte...»Danjin. Wach auf.« Eine Hand umfasste seinen Arm. Rettung! »Danjin!«
Er schreckte hoch und nahm sein Schlafzimmer wahr, die Decken, die er sich fest um den Körper – aber nicht um die Füße – geschlungen hatte, und seine Frau, die auf ihn herabblickte.
»Was ist?«
Silava richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Draußen ist eine Armee.«
Eine Armee? Er befreite sich aus den Decken und folgte ihr zu einem der Fenster. Von dieser Seite seines Hauses aus hatte man einen Blick auf die Hauptstraßen der Stadt. Danjin sah hinaus und riss erstaunt die Augen auf, als er in Reih und Glied marschierende Soldaten entdeckte.
Das Bild hatte etwas eigenartig Erregendes. In der Stadt waren ständig hanianische Soldaten zu sehen, sowohl in den sauberen Straßen der adligen Familien wie auch in den schäbigeren Vierteln, aber niemals fand man so viele Soldaten an einer Stelle vereint. Das rhythmische Geräusch ihrer Sandalen auf dem Pflaster klang so zuversichtlich und organisiert.
»Sie verschwenden keine Zeit«, murmelte er vor sich hin. »Womit?«
»Bei der Versammlung gestern Abend hat Juran uns mitgeteilt, dass die pentadrianische Armee Sennon erreicht und ihre Absicht erklärt habe, die Welt von den Zirklern zu befreien«, antwortete er. »Es ist so lange her, seit Hania das letzte Mal vor einer militärischen Bedrohung gestanden hat. Einige Adlige haben Zweifel geäußert, ob unsere Armee einer solchen Auseinandersetzung gewachsen sein wird. Dies wird sie eines Besseren belehren.«
Silava blickte auf die Soldaten hinab. »Wohin gehen sie?«
Er überlegte kurz. »Wahrscheinlich in den Tempel, um den Segen der Götter zu erbitten.«
»Alle gleichzeitig?«
»Gemeinsam mit den Priestern werden sie ein solches Spektakel bieten, dass unsere jungen Männer in Scharen herbeiströmen werden, um sich der Armee anzuschließen und an dem großen Abenteuer teilhaben zu können. In den anderen Ländern wird das Gleiche passieren, da sie im Grunde gar nicht anders können. Die Bedingungen ihrer Bündnisverträge mit den Weißen lassen ihnen keine Wahl.«
Sie musterte ihn nachdenklich. »Dann ist es dir jetzt also gestattet, mir all das zu erzählen?«
»Ja. Seit gestern Abend ist es allgemein bekannt.«
»Als du nach Hause gekommen bist, hast du nichts davon gesagt.«
»Du hast bereits geschlafen.«
»Neuigkeiten von solcher Wichtigkeit sind es wert, dafür geweckt zu werden.«
»Wenn man selbst so wenig Schlaf bekommt, widerstrebt es einem, einen anderen im Schlaf zu stören.«
Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick.
Er breitete die Arme aus. »Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn du fünf Stunden früher davon erfahren hättest?«
Sie runzelte die Stirn. »Ja. Ich hätte wahrscheinlich überhaupt nicht geschlafen.« Sie seufzte. »Das heißt wahrscheinlich, dass du Auraya bei diesem großen Abenteuer begleiten wirst?«
Er blickte auf die vorbeimarschierenden Soldaten hinab. »Davon gehe ich aus, obwohl ich kein militärischer Experte bin und auch kein Soldat. Wahrscheinlich werde ich in etwa dieselben Aufgaben erfüllen wie jetzt – ein Umstand, auf den hinzuweisen mein Vater gestern Abend nicht müde geworden ist.«
Sie kicherte. »Das kann ich mir vorstellen. Hast du ihm erzählt, dass du weißt, dass sie alle für die Weißen spionieren?«
»Nein. Ich habe meine Meinung geändert. Er war so unerträglich selbstgefällig. Auraya und ich finden es amüsanter, ihn glauben zu lassen, ich wüsste nicht darüber Bescheid.«
Silava zog die Augenbrauen hoch. »Sie ist wieder da?«
Er schüttelte den Kopf, dann tippte er sich mit dem Finger an die Stirn. »Sie wollte die Reaktion der anderen Adligen und Botschafter sehen. Sie sind viel offener, wenn sie glauben, dass keiner der Weißen anwesend ist.«
Sie zögerte kurz. »Ist sie auch jetzt in deinem Kopf?«
»Nein.« Er griff nach ihrer Hand; er wusste, wie sehr es sie beunruhigte, dass Auraya durch seine Augen sehen konnte. »So ist es keineswegs. Sie übernimmt nicht die Kontrolle über meine Gedanken. Ich bin immer noch ich. Sie kann lediglich hören, was ich höre, und sehen, was ich sehe.«
Silava entzog ihm ihre Hand. »Das verstehe ich. Oder zumindest glaube ich, dass ich es verstehe. Aber es gefällt mir einfach nicht. Woher soll ich wissen, ob sie mich gerade beobachtet oder nicht?«
Er kicherte. »Sie ist sehr diskret.«
»Das klingt so, als sei sie deine Geliebte.«
»Bist du etwa eifersüchtig?«
Sie rückte von ihm ab und vermied es, ihm in die Augen zu sehen. »Bilde dir nur nichts ein.«
Er folgte ihr lächelnd aus dem Raum. »Ich denke, mein Gefühl trügt mich nicht. Meine Frau ist tatsächlich eifersüchtig auf Auraya von den Weißen.«
»Ich... sie verbringt mehr Zeit mit dir als ich.« Er nickte. »Das ist wahr. Sie bekommt all die trockenen Informationen über Gebräuche, Politik und juristische Angelegenheiten, von denen ich weiß, dass du sie so faszinierend findest. Ist es das, was du vermisst? Soll ich dir von den Gesetzen erzählen, die der König von Genria vor fünfzig Jahren erlassen hat? Oder möchtest du etwas über die vielen Traditionen und Rituale wissen, mit denen die hohen Gesellschaftskreise von Sennon dem Teho huldigen?«
»Diese Dinge interessieren dich wahrhaftig mehr als alles andere«, erwiderte sie. Er hielt sie an der Hand fest und drehte sie zu sich herum. »Das mag die Wahrheit sein, aber alles andere, was ich habe, gehört dir. Meine Freundschaft, mein Respekt, meine Kinder, sogar mein Körper – obwohl du in dieser traurigen, vernachlässigten Gestalt wahrscheinlich nicht viel Lohnendes entdecken kannst.«
Ihre Lippen wurden schmal, aber an den feinen Fältchen, die sich um ihre Augen herum bildeten, konnte er erkennen, dass seine Worte sie freuten.
»Wenn ich nicht den Verdacht hätte, dass du mich soeben vom Gegenteil überzeugen wolltest, wäre ich ein größerer Narr als du«, sagte sie.
Er grinste. »Könntest du nicht meinetwegen wenigstens so tun, als seist du eine Närrin?«
Sie löste sich von ihm und ging auf die Tür zu. »Ich habe keine Zeit dafür, und mein Mann hat wahrscheinlich noch eine Menge weiterer trockener Informationen, die er eilends seiner Herrin übermitteln muss.«
Er seufzte laut. »Wie soll ich nur damit leben, dass die Welt solche Dinge von mir denkt?«
Als sie die Tür erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um und lächelte. »Ich bin davon überzeugt, es wird dir gelingen.«
Wenn Auraya nicht gewusst hätte, dass es nur ein kleiner Teil der Bevölkerung von Si war, der jetzt im Offenen Dorf auf sie wartete, hätte sie geglaubt, das ganze Volk sei zusammengekommen, um sie zu verabschieden. Die meisten von ihnen hatten sich unter dem Felsvorsprung versammelt, auf dem die Sprecher während der beiden Versammlungen gestanden hatten. Andere hockten in den Zweigen der riesigen Bäume zu beiden Seiten. Wieder andere zogen am Himmel ihre Kreise und warfen durch ihre ständigen Bewegungen verwirrende Schatten auf den Boden.
Als Auraya zwischen den Bäumen hervortrat, wandten sich ihr alle Gesichter zu, und ein schrilles Pfeifen setzte ein. Das war ihre Art, ihren Beifall zu bekunden. Sie lächelte ihnen allen zu.
»Ihr seid ein so freundliches Volk«, sagte sie zu Sirri. »Ich wünschte, ich hätte noch ein Weilchen länger bleiben können.«
Die Sprecherin lachte leise. »Sei vorsichtig, Auraya. Obwohl wir dich gern bei uns behalten würden, wissen wir doch, wie wichtig du für Nordithania und für unsere eigene Zukunft bist. Wenn es dir hier zu gut gefiele, müssten wir vielleicht aufhören, so nett zu dir zu sein.«
»Es würde eine Menge dazugehören, meine Meinung über dich und dein Volk zu ändern«, erwiderte Auraya.
Sirri sah Auraya nachdenklich an. »Wir haben dich auf unsere Seite gezogen, nicht wahr?«
»Ich war noch nie so glücklich wie hier.«
»Du bist die einzige Landgeherin, bei der ich ständig vergesse, dass sie eine Landgeherin ist.« Sirri runzelte die Stirn. »Klingt das vernünftig?«
Auraya lachte. »Ja, das tut es. Ich vergesse ebenfalls immer wieder, dass ich eine Landgeherin bin.«
Sie hatten inzwischen die ersten Sprecher erreicht, die in einer Reihe am Rand des Felsvorsprungs standen. Auraya richtete das Wort an einen jeden von ihnen, dankte denen für ihre Gastfreundschaft, deren Stämme sie besucht hatte, und versprach den anderen, einen solchen Besuch zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen. Der Sprecher am Ende der Reihe war der Anführer des Sandstamms, Tyrli. Der ernste alte Mann und die wenigen Mitglieder seines Stammes, die zu der Versammlung in das Offene Dorf gereist waren, würden ihr den Weg bis zur Küste weisen.
»Ich freue mich, dass du mich auf meiner Reise begleiten wirst und ich auf diese Weise Gelegenheit haben werde, deine Heimat zu sehen, Sprecher Tyrli«, sagte sie. Er nickte. »Ich fühle mich geehrt, einer der Auserwählten der Götter behilflich sein zu können.«
Sie spürte, dass er ein wenig überwältigt war, und trat neben Sprecherin Sirri, die sich jetzt der Menge zugewandt hatte.
»Volk der Berge. Stämme der Siyee. Wir, die Sprecher, haben euch hierhergerufen, um einer Besucherin unseres Landes Lebewohl zu sagen. Sie ist, wie ihr alle wisst, keine gewöhnliche Besucherin. Sie ist Auraya, eine der Auserwählten der Götter und unsere Verbündete.« Sie drehte sich zu Auraya um. »Fliege hoch, fliege schnell, fliege wohl, Auraya von den Weißen.«
Die Menge wiederholte die Worte. Auraya lächelte und trat vor.
»Volk von Si, ich danke euch für eure herzliche Gastfreundschaft. Ich habe jeden Augenblick meines Aufenthalts bei euch genossen. Es bekümmert mich, euch verlassen zu müssen, und ich weiß, sobald ich von hier fortgegangen bin, werde ich ungeduldig auf eine Möglichkeit zur Rückkehr warten. Ich wünsche euch alles Gute. Mögen die Götter über euch wachen.«
Sie machte mit beiden Händen das Zeichen des Kreises. Einige der Kinder in der Menge ahmten ihre Geste nach, und wieder wurden begeisterte Pfiffe laut. Tyrli stellte sich neben sie.
»Wir sollten jetzt aufbrechen«, murmelte er.
Er beugte sich vor, breitete die Arme weit aus und sprang von dem Felsen. Der Wind trug ihn empor. Als Auraya seinem Beispiel folgte, flogen die Siyee aus den Bäumen auf und gesellten sich unter lautem Pfeifen zu ihr. Lachend winkte sie dieser jungen Eskorte zu, die spielerisch um sie herumschwirrte.
Als sie sich ein gutes Stück vom Offenen Dorf entfernt hatten, ließen sich die ersten Siyee zurückfallen, bis schließlich nur noch Tyrli und sein Stamm bei ihr waren. Die Zeit schien plötzlich langsamer zu vergehen. Während des Fluges schwiegen die Siyee meistens, und wenn sie sich doch miteinander in Verbindung setzten, dann handelte es sich um einfache Befehle oder Richtungsangaben, und dafür benutzten sie schon lange keine Wörter mehr, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Pfiffe. Daher war Auraya sehr überrascht, als Tyrli sein Tempo verlangsamte und neben ihr herflog, um mit ihr zu reden.
»Es war dein Wunsch, mehr über die Elai zu erfahren«, begann er.
Sie nickte.
»Sie werden von einem König regiert«, erklärte er. »Von einem Anführer, statt von vielen.«
»Gibt es verschiedene Stämme unter den Elai?«
»Nein. Früher einmal war das anders; es gab einen Stamm für jede Insel. Inzwischen leben die meisten von ihnen auf der Hauptinsel. In ihrer Stadt.«
»Woran liegt das?«
»Die Landgeher haben sie über viele Jahre hinweg immer wieder angegriffen. Das Leben auf den äußeren Inseln ist nicht mehr sicher.« Er sah sie mit ernster Miene an. »Aus diesem Grund mögen die Elai die Landgeher nicht.«
Auraya runzelte die Stirn. »Warum haben diese Landgeher sie angegriffen?«
»Um sie zu bestehlen.«
»Dann waren es also Plünderer.«
»Ja. Die Elai befinden sich in einer viel schlimmeren Situation als die Siyee. Diese Landgeher haben viele von ihnen getötet. Es gibt viele tausend Siyee, aber von den Elai sind nur noch wenige tausend übrig geblieben.«
»Und sie leben alle in dieser Stadt. Hast du die Stadt jemals gesehen?«
Er blickte beinahe sehnsüchtig drein. »Niemand außer den Elai kennt die Stadt. Nur sie können dorthin gelangen. Die Stadt ist eine große Höhle, die man durch Tunnel unter der Wasseroberfläche erreicht. Es heißt, sie sei wunderschön.«
»Eine Unterwasserstadt. Dort sollten sie eigentlich sicher vor Plünderern sein.« Wie sollte sie mit den Elai reden, wenn sie unter Wasser lebten? Würden die Götter ihr auch die Gabe verleihen, unter Wasser zu atmen?
»Ganz so ist es nicht«, entgegnete Tyrli, und Auraya hatte beinahe den Eindruck, dass er lächelte. »Die Elai mögen im Wasser leben, aber sie atmen dennoch Luft. Sie können allerdings lange Zeit den Atem anhalten.«
Sie sah ihn überrascht an. »Dann sind die Legenden in diesem Punkt also falsch? Sind die Elai mit Schuppen bedeckt? Haben sie einen Fischschwanz anstelle von Beinen?«
Er lachte. »Nein, nein.« Sie fing eine schemenhafte Gestalt in seinen Gedanken auf: einen fast nackten, unbehaarten Mann mit dunkler, leuchtender Haut und einem massigen Brustkorb. »Huan hat ihnen eine so dicke Haut gegeben, dass sie für viele Stunden im Wasser bleiben können, und außerdem große Lungen, damit sie über lange Zeit hinweg den Atem anhalten können. Darüber hinaus hat sie ihnen Flossen gegeben – aber sie sind nicht wie die Flossen von Fischen. Die Flossen der Elai haben mit Fischflossen so viel gemein wie unsere Flügel mit den Flügeln von Vögeln. Wenn du sie siehst, wirst du verstehen, was ich meine.«
Sie nickte. »Hat jemals irgendein Landgeher ihre Freundschaft gewonnen?«
Er dachte kurz nach. »Einer. Vor langer Zeit. Er hat auch uns oft besucht. Ich habe gehört, dass er einen geheimen Weg nach Si kannte, obwohl nicht einmal die Siyee heute noch wissen, wo dieser Weg liegt. Viele haben ihn sehr gemocht. Er war ein Heiler mit großen Gaben. Er konnte Flügel heilen, die hoffnungslos beschädigt waren.«
»Er muss ein mächtiger Zauberer gewesen sein. Wie war sein Name?«
Tyrli dachte kurz nach, dann nickte er. »Sein Name war Mirar.«
Sie drehte den Kopf und starrte ihn an. »Mirar? Der Begründer der Traumweber?«
Wieder nickte Tyrli. »Er war ein Traumweber, ja.«
Auraya wandte den Blick ab, nahm aber kaum noch etwas von der Landschaft wahr, während sie über diese Enthüllung nachsann. War es wirklich so überraschend, dass Mirar vor langer Zeit durch diese Berge gestreift war? Dann fiel es ihr wieder ein:
Leiard hatte ihr erzählt, dass er Erinnerungen an die Siyee besaß. Waren es Mirars Erinnerungen? Und wenn es so war, hatte Leiard dann auch Erinnerungen an die Elai? Sie schürzte die Lippen. Wenn er heute Nacht in einer Traumvernetzung zu ihr sprach, würde sie ihn nach dem Meeresvolk fragen. Obwohl es so klang, als bedürften die Elai der Hilfe der Weißen noch mehr als die Siyee, vermutete sie doch, dass ihr Groll allen Landgehern gegenüber Verhandlungen mit ihnen schwierig machen würde. Vielleicht wusste Leiard am besten, wie man ihr Vertrauen gewinnen konnte. Sie brauchte alle Informationen, die sie bekommen konnte.
Schließlich drehte sie sich wieder zu Tyrli um und lächelte. »Also, wie lange treibt dein Stamm schon Handel mit den Elai?«
Drilli seufzte und folgte ihren Eltern aus der Laube. Sie waren wieder einmal auf dem Weg zu einem Treffen mit dem Schlangenflussstamm. Die Familien, die unter den anderen Stämmen lebten, nutzten die Versammlungen als Möglichkeit, an einem Ort zusammenzukommen und Pläne für die Zukunft zu schmieden. Sie blickte zu Tryss’
Familienlaube hinüber, obwohl sie wusste, dass er nicht zu Hause war, sondern andere Siyee in der Benutzung des Geschirrs unterwies. Nicht einmal seine Vettern waren in der Nähe.
Als sie sich wieder umdrehte, fing ihr Vater ihren Blick auf und runzelte missbilligend die Stirn. Obwohl sie sich versucht fühlte, ihn wütend anzufunkeln, wandte sie den Blick ab und folgte ihm gehorsam einen Waldweg hinunter.
Wie kann er mir das antun?
Monatelang waren sie umeinander herumgetanzt. Zu Anfang war es ein unbefangenes Spiel gewesen. Er hatte sie nach ihrer Meinung über einige junge Männer gefragt, und sie hatte ihm jedes Mal eine höfliche, aber abschätzige Antwort gegeben. Am Ende solcher Gespräche hatte er immer zustimmend genickt und es dabei belassen. Dann war sie Tryss begegnet. Er war nicht stärker oder von besserer Herkunft als die möglichen Partner, die ihr Vater vorgeschlagen hatte, aber er war interessant. Die meisten jungen Männer ihres Stammes langweilten sie bis zur Bewusstlosigkeit. Was im Übrigen auch für die meisten der älteren Männer galt. Bis auf ihren Großvater... Aber er war während des Überfalls auf ihre Heimat getötet worden.
Genau wie ihr Großvater war Tryss ausgesprochen klug. Er dachte über Dinge nach. Er dachte wirklich nach, und er erging sich nicht in törichten Prahlereien, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er sah sie nur mit diesen ernsten, unergründlichen Augen an...
Ihr Vater hatte jede Geduld mit ihr verloren, als er erfuhr, dass sie so viel Zeit mit Tryss verbrachte. Er konnte keinen einzigen guten Grund für seine Missbilligung nennen, nur dass Tryss nicht dem Schlangenflussstamm angehörte.
Zyll wollte unbedingt verhindern, dass sein Stamm in anderen aufging, und dieser Wunsch war ihm wichtiger als alles andere – selbst als das Glück seiner Tochter, wie sie hatte herausfinden müssen. Er hatte ihr verboten, mit Tryss zu sprechen, und jetzt nutzte er diese Treffen, um nach einem Ehemann für sie Ausschau zu halten. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Das Gesetz der Siyee verfügte, dass Eltern über die erste Ehe ihrer Nachkommen bestimmen durften. In der Vergangenheit war eine frühe Eheschließung von größter Bedeutung gewesen, um die Chancen auf mehr gesunde Kinder zu vergrößern.
Ich kann immer noch auf einer Scheidung bestehen, dachte sie. Wir brauchen nur für zwei Jahre zusammenzubleiben. Das kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Bis dahin könnte Tryss jemand anderen gefunden haben. Und ich könnte Kinder haben.
Sie verzog das Gesicht. Ich weiß nicht einmal, ob Tryss heiraten will. Das Problem mit diesen stillen Typen ist, dass sie sich nicht darauf verstehen, einen wissen zu lassen, was sie wollen. Sie zweifelte nicht daran, dass er sie sehr mochte und dass er sich zu ihr hingezogen fühlte – sie war davon überzeugt!
Ein flackernder Lichtschein erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie sah, dass am Rande einer Lichtung mehrere Lampen aufgestellt worden waren. Obwohl noch heller Nachmittag War, standen die Bäume an dieser Stelle so dicht beieinander, dass nur wenig Sonnenlicht auf den Waldboden fiel. Eine Lampe stand in der Mitte der Lichtung. Mehrere Männer und Frauen saßen im Kreis darum versammelt. Drilli erkannte Styll, den Sprecher ihres Stammes. Neben ihm saß der Junge, den ihr Vater zuletzt als geeigneten Verehrer für sie vorgeschlagen hatte, Sveel. Er lächelte sie an, und Gewissensbisse durchzuckten sie. Sveel war absolut begeistert von der Aussicht auf eine Heirat mit ihr.
Sie blickte in die Runde und sah zu ihrer Überraschung, dass Sprecherin Sirri und ihr Sohn, Sreil, bei ihrem Stamm saßen. Ein verrückter Gedanke durchzuckte sie. Vielleicht hielt auch Sirri Ausschau nach einer Frau für ihren Sohn. Vielleicht würden Sreil und Sveel um sie kämpfen müssen. Drilli musste sich ein Lachen verkneifen. Pech gehabt, Sreil. Mein Vater wird niemanden akzeptieren, der außerhalb des Stamms vom Schlangenfluss geboren ist, nicht einmal den Sohn der Anführerin aller Siyee.
Ihre Familie gesellte sich zu den anderen, und es gelang ihrem Vater, sie zu dem Platz neben Sveel zu dirigieren. Sie zwang sich, mit dem Jungen zu reden. Es hatte keinen Sinn, unhöflich zu sein. Wenn sie ihn denn heiraten musste, konnte sie ebenso gut versuchen, mit ihm auszukommen. Er war durchaus ein liebenswürdiger Kerl; er war einfach nur nicht interessant oder besonders klug.
»Also, warum bist du heute zu uns gekommen, Sprecherin Sirri?«, fragte ihr Vater. »Ich habe gehört, dass du etwas gegen unsere Ehetraditionen hast.«
Sirri lächelte. »Ich habe keineswegs etwas gegen eure Traditionen, Zyll, aber ich halte es für töricht, dass die Siyee so jung heiraten. Mit vierzehn Jahren haben sie ihre Persönlichkeit noch lange nicht voll entwickelt.«
»Und genau deshalb ist es am besten, wenn ihre Eltern den Partner auswählen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so. Ich habe Eltern genauso oft schlechte Entscheidungen wie gute treffen sehen. Selbst wenn sie sich noch so große Mühe geben, werden sie doch durch die Tatsache behindert, dass ihre Söhne und Töchter noch nicht zu den Menschen geworden sind, die sie einmal sein werden. Wie können sie entscheiden, wer ein geeigneter Partner für ihre Kinder sein wird, wenn diese ihren Charakter noch nicht voll entwickelt haben?«
Zyll blickte finster drein. »Es geht nicht nur um den Charakter. Es geht um Blutlinien und Stammesverbindungen.«
Sirri runzelte die Stirn. »Huan hat vor mehr als einem Jahrhundert die Gesetze aufgehoben, die es uns verboten haben, außerhalb unseres Stammes zu heiraten.«
»Und doch wollen wir nicht in einen Zustand zurückfallen, in dem die Hälfte unserer Kinder bei der Geburt...«
»Diese Gefahr dürfte jetzt kaum noch bestehen«, unterbrach ihn Sirri. Plötzlich lag ein kalter Ausdruck in ihren Augen, und Drilli erinnerte sich daran, gehört zu haben, dass das erste Kind der Sprecherin flügellos und verkümmert geboren und noch als Säugling gestorben war. »Wir sind inzwischen so zahlreich, dass solche Dinge kaum noch vorkommen.«
»Ich spreche nicht von Verbindungen zwischen den Stämmen«, sagte Zyll. »Ich spreche von Verbindungen innerhalb eines Stammes. Mein Stamm ist in alle Himmelsrichtungen verstreut. Wenn wir nicht Acht geben, wird er in einigen Jahren verschwunden sein.«
Etwas in Sirris Miene veränderte sich unmerklich, und ihre Züge wirkten jetzt gleichzeitig nachdenklich und gefährlich. »Darüber brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen. Die Weißen werden euch euer Land zurückgeben, und jetzt habt ihr dank des jungen Tryss eine wirkungsvolle Möglichkeit, es zu verteidigen.«
Als Tryss’ Name fiel, verhärtete sich Zylls Miene. »Trotzdem, wir müssen die Bande zwischen unseren Familien stärken, oder wir werden einander irgendwann fremd werden.«
Sie zog die Augenbrauen hoch, dann nickte sie respektvoll. »Wenn ihr so weit gehen müsst, um euch eurer selbst zu versichern, dann bleibt mir nichts mehr zu sagen übrig. Ich werde eure Familie hier im Offenen Dorf vermissen.« Sie sah zu Sveel hinüber. »Du hast an der Ausbildung der Krieger teilgenommen, nicht wahr? Wie gefällt es dir?«
Sveel richtete sich auf. »Es ist hart, aber ich übe jeden Tag.«
Sie nickte. »Gut. Du wirst diese Fähigkeiten benötigen, um dein Land zu verteidigen, wenn ihr dorthin zurückgekehrt seid. Und genau das ist es, worüber ich mit euch allen reden wollte.« Sie hielt einen Moment lang inne, dann wandte sie sich zu ihrem Sohn um. »Sreil, hast du diesen Korb mitgebracht?«
Der Junge blinzelte, dann weiteten sich seine Augen. »Nein, das habe ich vergessen. Tut mir leid.«
Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Nun, dann geh ihn holen. Und bring auch etwas Wasser mit.« »Wie soll ich das alles tragen?« »Nimm Drilli mit.«
Drilli blinzelte überrascht, dann sah sie ihren Vater an. Er nickte zustimmend, obwohl er nicht allzu glücklich über den Gang der Ereignisse zu sein schien. Sie stand auf und eilte Sreil nach.
Sprecherin Sirris Sohn gab ein schnelles Tempo vor, und schon bald konnte sie die Stimmen ihres Stammes nicht länger hören. Er drehte sich kurz um, dann wurde er langsamer, so dass sie ihn einholen konnte.
»Du sollst verheiratet werden«, sagte er. Sie zuckte die Achseln. »Sieht so aus.« »Du klingst nicht allzu begeistert.« »Ach nein?«, fragte sie trocken. »Nein. Du magst Sveel nicht, oder?« »Er ist ganz in Ordnung.«
»Aber du möchtest ihn nicht heiraten, hab ich recht?«
Sie musterte ihn stirnrunzelnd. »Warum fragst du?«
Er lächelte. »Bei dem Trei-Trei war ziemlich offenkundig, wen du bevorzugst, Drilli. Also, warum heiratest du nicht einfach Tryss? Er ist berühmter als die Gründer unseres Volkes.«
Ihr Magen verkrampfte sich. »Ich heirate ihn nicht, weil ich keine Wahl habe.«
»Natürlich hast du die Wahl.«
Sie sah ihn finster an. »Ach ja? Ich habe seit Wochen nicht mehr mit Tryss gesprochen. Er hat nicht einmal versucht, mit mir zu reden. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt heiraten will.«
»Ich könnte es für dich herausfinden.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Das würdest du tun?«
»Natürlich.« Er lächelte, dann schnalzte er selbstzufrieden mit der Zunge. Sofort stieg Argwohn in ihr auf. Sie blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was hättest du davon, Sreil? Warum solltest du uns helfen wollen?«
Immer noch lächelnd drehte er sich zu ihr um. »Weil...« Er hielt inne und begann, auf seiner Unterlippe zu kauen. »Das sollte ich wohl lieber nicht sagen.«
Sie funkelte ihn mit schmalen Augen an.
»Nun ja...« Er verzog das Gesicht. »Also schön. Dein Vater trägt die Nase etwas hoch, was seinen Stamm betrifft. Es geht nicht nur darum, dass er nicht einmal darüber nach denkt, dich jemanden heiraten zu lassen, dessen Erfindung unser Volk retten und deinem Vater sein Land zurückbringen könnte – obwohl das so ziemlich der Gipfel ist -, es geht auch um andere Dinge, die er seit seiner Ankunft hier gesagt und getan hat.«
Jetzt trat ein entschuldigender Ausdruck in seine Züge, der den Ärger verdrängte. »Tut mir leid.«
Sie nickte. Was er gesagt hatte, war zutreffend, obwohl es sie ein wenig kränkte zu erfahren, dass man so über ihre Familie dachte. Nach allem, was sie durchgemacht hatten...
»Mutter denkt außerdem, dass du wahrscheinlich zu Tryss’ Erfolg beigetragen hast«, fügte er hinzu. »Er könnte dich auf irgendeine Art und Weise brauchen, daher wäre es töricht, dich ihm wegzunehmen.«
Sie blinzelte überrascht und wollte es gerade abstreiten, als ihr wieder einfiel, dass sie diejenige gewesen war, die ihm gezeigt hatte, wie man Blasrohre benutzte. Er war auf die Idee gekommen, sie als Teil des Geschirrs zu verwenden, aber wenn sie nicht gewesen wäre...
»Frag ihn«, sagte sie. »Aber erzähl ihm nicht, warum du fragst. Ich möchte nicht, dass er mich nur deshalb heiratet, um es mir zu ersparen, einen anderen heiraten zu müssen. Er muss mich heiraten wollen, weil es sein Wunsch ist.«
Sreil grinste. »Ich werde mich wieder mit dir in Verbindung setzen.«
Millo Bäcker war ein stiller Mensch. Jayims Vater wusste, dass Zufriedenheit mehr zählte als Glück, das hatte Leiard inzwischen herausgefunden. Millo mochte nicht überglücklich sein mit seinem Leben, aber er war auch nicht unglücklich damit. Er nahm das Morgenmahl nur selten mit seiner Frau, seinem Sohn und seinem Gast ein. Heute hatte ihn jedoch ein Anfall der üblichen winterlichen Kopfinfektion gezwungen, sich Ruhe zu gönnen. Er hatte Leiard mit ungewohnter Redseligkeit überrascht und ihnen von den Neuigkeiten, seien sie nun offizieller Natur oder reine Spekulation, erzählt, die ihm zu Ohren gekommen waren. Das Heilmittel, das Leiard ihm verabreicht hatte, hatte bisweilen diese Wirkung auf einen Kranken.
»Bist du mal im Tempel gewesen?«, fragte er Leiard. »Nicht mehr, seit Auraya fort ist.«
Millo schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie zuvor so viele Soldaten gesehen. Das muss eine ganze Armee sein. Ich hatte ja keine Ahnung, dass der Tempel so groß ist. Die Schlangen von Männern – und Frauen -, die der Armee beitreten wollen, sind so lang, dass sie zwei Häuserblocks weit die Hauptstraße hinunterreichen.«
Tanara runzelte die Stirn und sah Jayim an. »Nur gut, dass sie keine Traumweber nehmen.«
Jayim blickte sie mit verschlossener Miene an. Leiard spürte, dass der Junge eine Mischung aus Erleichterung, Schuldgefühlen und Ärger empfand.
»Was weißt du über diese Pentadrianer, Leiard?«, fragte Millo.
Leiard zuckte die Achseln. »Nicht viel. Nur das, was andere Traumweber mir erzählt haben. Die Pentadrianer sind noch ein junger Kult, höchstens einige hundert Jahre alt. Sie huldigen fünf Göttern, wie es die Zirkler tun.«
»Realen Göttern oder toten?«, fragte Millo weiter.
»Das weiß ich nicht.«
»Wie lauten ihre Namen?«
»Sheyr, Ranah, Alor, Sraal und Hrun.«
»Vielleicht sind es alte, tote Götter, die auf dem südlichen Kontinent andere Namen hatten«, meinte Jayim.
»Vielleicht«, stimmte Leiard zu, erfreut darüber, dass Jayim auf diesen Gedanken gekommen war.
Die Augen des Jungen leuchteten auf. »Oder es sind dieselben Götter, denen die Zirkler folgen, nur dass sie unter anderen Namen bekannt sind.«
»Das ergäbe keinen Sinn«, bemerkte Tanara. »Dann würden sie ihre eigenen Anhänger in den Kampf gegen weitere ihrer Anhänger schicken.«
Leiard musterte sie nachdenklich, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich kann mir nicht vorstellen, was ihnen das einbringen sollte.«
Sie runzelte die Stirn. »Du meinst, sie würden so etwas tun, wenn es ihnen etwas einbrächte?«
»Wahrscheinlich.«
»Aber das wäre unaussprechlich grausam.«
»Die Götter sind nicht so nobel und gerecht, wie die Zirkler uns glauben machen wollen«, erklärte Leiard zu seiner eigenen Überraschung. »Wir Traumweber erinnern uns daran, was sie in der Vergangenheit getan haben, bevor diese Scharade der Sorge um die Sterblichen begann. Wir wissen, wozu sie fähig sind.«
Tanara starrte ihn entsetzt an.
Mirar, dachte Leiard streng. Ich habe dir doch gesagt, du sollst das lassen.
Ja, das hast du. Aber was kannst du tun, um mich daran zu hindern?, erwiderte die andere Stimme.
Leiard ignorierte die Frage. Was wolltest du damit erreichen, ihr Angst zu machen? Jetzt kennt noch jemand die Wahrheit. Und welchen Nutzen soll das für Tanara haben? Mirar antwortete nicht. Tanara wandte den Blick ab. »Dann hoffen wir am besten, dass sie die Scharade aufrechterhalten wollen«, murmelte sie.
Jayim beobachtete Leiard mit schmalen Augen. »Was erzählen dir deine Erinnerungen über die Pentadrianer?«
»Meine Erinnerungen erzählen mir nichts. Was ich weiß, habe ich von Traumwebern in Sennon erfahren.« »Durch Traumvernetzungen?« »Ja.«
Jayim runzelte die Stirn. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, seufzte dann jedoch nur und schüttelte den Kopf. »Wie denken die Sennoner über sie?«
»Sie sind der Meinung, dass Traumweber nichts von den Pentadrianern zubefürchten haben. Der südliche Kult betrachtet uns mit Mitleid, nicht mit Furcht oder Abneigung. Was ein Beweis dafür ist, dass ihre Götter nicht dieselben sind wie die der Zirkler«, fügte er hinzu.
»Werden wir in diesen Krieg eintreten?«, fragte der Junge.
»Die Traumweber kämpfen nicht«, antwortete Leiard.
»Das weiß ich, aber werden wir uns als Heiler daran beteiligen?«
»Wahrscheinlich.«
Tanaras Augen weiteten sich. Sie sah ihren Sohn an und biss sich auf die Unterlippe. Millo runzelte die Stirn.
»Wir werden nicht in allzu großer Gefahr sein«, versicherte Leiard ihnen. »Den Pentadrianern ist klar, dass wir uns um alle Verwundeten kümmern, ganz gleich, welcher Rasse oder Religion sie angehören. Unsere Gaben werden uns vor Unfällen und Missverständnissen schützen.« Er sah Jayim an. »Es wird eine gute Möglichkeit für Jayim sein, seine Fähigkeiten als Heiler zu...«
Ein Klopfen unterbrach sie. Sie blickten einander an, dann stand Millo auf und ging zur Tür.
Leiard leerte seinen Becher, bevor auch er sich vom Tisch erhob. Jayim war schon lange mit dem Essen fertig. Wie die meisten Jungen seines Alters hatte er ständig Hunger. Er stand auf und folgte Leiard zu der Treppe, die zum Dachgarten hinaufführte.
»Wartet, ihr beiden«, rief Millo.
Er trat von der Tür weg. Eine Frau ging an ihm vorbei, und als Leiard die Traumweberroben und das vertraute Gesicht sah, blinzelte er überrascht.
»Traumweberälteste Arleej«, sagte er und berührte Herz, Mund und Stirn. Sie lächelte und erwiderte die Geste. »Traumweberratgeber Leiard.«
»Es ist schön, dich wiederzusehen. Geht es dir gut?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich bin nur ein wenig müde, da ich gerade erst angekommen bin.«
»Dann möchtest du sicher etwas zu essen und ein heißes Getränk«, sagte Tanara. »Setz dich.«
Tanara geleitete Arleej zu einem Stuhl, dann verließ sie emsig den Raum. Leiard setzte sich neben die Traumweberälteste und bedeutete Jayim, der unsicher an der Treppe stehen geblieben war, sich zu ihnen zu gesellen. Millo schlurfte in sein Zimmer davon.
»Was führt dich nach Jarime?«, fragte Leiard.
Arleej lächelte schief. »Hast du es noch nicht gehört? Es wird Krieg geben. Du und Auraya, ihr habt uns anscheinend gerade rechtzeitig zu einem Bündnis überredet.«
Leiards Mundwinkel zuckten. Es hatte kein Groll in ihrer Stimme gelegen, nur Ironie.
»Kein Wunder, dass du müde bist. Hast du dir mit hunderten von Soldaten ein Schiff geteilt, oder ist es den somreyanischen Traumwebern gelungen, ein Schiff für sich zu fordern?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir reisen in kleinen Gruppen auf Handelsschiffen, die vor oder nach dem Eintreffen der somreyanischen Armee ankommen. Die Erinnerungen an die Massaker unter Traumwebern auf dem Festland sind noch sehr stark. Auf diese Weise werden wir weniger Aufmerksamkeit auf uns lenken.«
»Ich glaube nicht, dass euch Gefahr gedroht hätte, wenn ihr mit den somreyanischen Truppen gekommen wärt.«
»Du hast vermutlich recht. Der Anblick von Truppen eines anderen Landes, das Traumweber schätzt, könnte die Hanianer zum Nachdenken bringen. Alte Gewohnheiten und Ängste haben jedoch tiefe Wurzeln, besonders bei uns.« Arleej sah ihn an, und ihr direkter Blick brachte ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht. »Wie geht es dir, Leiard? Haben die Vernetzungen mit Jayim dir geholfen, Kontrolle über deine Netzerinnerungen zu gewinnen?«
Leiard spürte Jayims Überraschung und auch sein Erschrecken. »Ich habe einige Fortschritte gemacht, was meine...«
»Er vernetzt sich nicht mit mir«, unterbrach ihn Jayim. »Er bringt mir alles bei, bis auf Gedanken- oder Traumvernetzungen.«
Arleej blickte stirnrunzelnd zwischen Jayim und Leiard hin und her.
»Und ständig murmelt er vor sich hin«, fügte Jayim mit gepresster Stimme hinzu. »Manchmal ist es so, als nehme er mich gar nicht wahr. Dann spricht er mit der Stimme eines Fremden und sagt ganz eigenartige Dinge.«
»Leiard«, begann Arleej leise, aber mit unterdrücktem Erschrecken. »Weißt du...? Bist du...?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass dir klar ist, was du da riskierst. Ist dein Geheimnis so gewaltig, dass du dafür deine Identität opfern würdest – und deinen Verstand?«
Er schauderte. Meinen Verstand. Vielleicht habe ich ihn bereits verloren. Ich höre Stimmen – zumindest eine Stimme.
Du denkst, dass du verrückt wirst?, warf Mirar ein. In deinem Kopf leben zu müssen, ist genug, um jeden in den Wahnsinn zu treiben.
Wenn es dir nicht gefällt, dann geh doch.
»Leiard?«
Er blickte auf. Arleej musterte ihn mit besorgter Miene. Er seufzte und schüttelte den Kopf.
»Ich kann mich nicht mit Jayim vernetzen.« Er wandte sich zu seinem Schüler um. »Es tut mir leid. Du solltest dir einen anderen Lehrer suchen. Einer der Somreyaner wird sich gewiss...«
»Nein!«, entfuhr es Jayim. »Wenn das, was Ar... Traumweberälteste Arleej sagt, wahr ist, wirst du ohne meine Hilfe den Verstand verlieren.« Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. »Was auch immer dein Geheimnis sein mag, ich werde es bewahren. Ich werde niemandem davon erzählen.«
»Du verstehst nicht«, sagte Leiard sanft. »Wenn ich dir dieses Geheimnis anvertraue, darfst du dich nie mehr mit einem anderen Traumweber vernetzen. Ich möchte deine Zukunft nicht auf diese Weise behindern.«
»Wenn es das ist, was ich tun muss, um dich zu retten, dann werde ich es tun.«
Leiard sah Jayim überrascht an. Zu welchem Zeitpunkt während der vergangenen Monate hatte dieser Junge eine solche Treue ihm gegenüber entwickelt?
Arleej gab einen erstickten Laut von sich, dann atmete sie hörbar aus. »Ich weiß nicht, Jayim. Das ist ein hoher Preis, den du da zu zahlen bereit bist.« Sie wandte sich mit gequälter Miene zu Leiard um. »Wie... wie lange würde Jayim dieses Geheimnis hüten müssen?«
Für immer. Leiard schüttelte den Kopf. Es war nicht gerecht, aber er konnte die Vergangenheit nicht ungeschehen machen.
Du weißt, dass diese Affäre nicht von Dauer sein kann, wisperte Mirar. Man wird irgendwann dahinterkommen, daher kannst du Jayim genauso gut davon erzählen.
Warum willst du, dass ich meine Beziehung zu Auraya beende? Ich hatte den Eindruck, dass du die Traumvernetzungen mit ihr genießt.
Sie ist eine der Schachfiguren der Götter. Ich genieße die Ironie des Ganzen. Tatsächlich werde ich beim nächsten Mal vielleicht selbst ein wenig mit ihr spielen.
Leiards Magen krampfte sich zusammen. Konnte Mirar sich in die Traumvernetzung einmischen?
Ich könnte dir einige Dinge zeigen,von denen du dachtest, du wüsstest sie nicht.
Das würdest du nicht wagen. Wenn Auraya wüsste, dass du eine solche Kontrolle über mich hast...
Dann würde sie was tun? Mich töten? Aber das würde bedeuten, dass sie auch dich töten müsste.
Ich nehme an,gar so schwer würde ihr das nicht fallen, wenn sie wüsste, dass ihr Geliebter sich zu einem höchst unpassenden Zeitpunkt in den verhassten Mirar verwandeln kann.
Leiard seufzte. Was willst du von mir? Was soll ich tun?
Verlass Jarime. Such dir irgendwo einen entlegenen Ort, an dem Auraya dich nicht finden wird.
Unterweise Jayim in der Gedankenvernetzung.
Wenn Arleej recht hat, wird das das Ende deiner Existenz bedeuten.
Ich will nicht existieren. Dies ist das Zeitalter der Fünf. Meine Zeit ist die Vergangenheit, als es eine Vielzahl von Göttern gab und die Unsterblichen frei umherstreifen konnten – jene Epoche, die man jetzt das Zeitalter der Vielen nennt – und vielleicht die Zukunft, aber nicht die Gegenwart.
Dieses Eingeständnis erstaunte Leiard. Wenn dieser Schatten Mirars nicht existieren wollte, warum war er dann so besorgt um Leiards Sicherheit?
Die andere Stimme antwortete nicht.
Also schön,dachte er. Aber zuerst werde ich mich den Traumwebern anschließen, die in den Krieg ziehen.
Er erwartete, dass Mirar protestieren würde, denn wenn er der Armee folgte, würde er den Weißen – und Auraya – nahe sein, aber Mirars Stimme blieb still. Erleichtert blickte er zu Arleej auf.
»Ich kann das nur tun, wenn Jayim und ich Jarime verlassen«, sagte er zu ihr. »Nach dem Krieg werde ich mich um die Verwundeten kümmern, und danach werden wir für eine Weile verschwinden. Später, wenn keine Gefahr mehr droht, werden wir uns mit anderen Traumwebern treffen.« Er drehte sich zu Jayim um. »Du darfst niemals in die Nähe der Weißen kommen. Sie verstehen sich besser als jeder Zauberer darauf, Gedanken zu lesen.«
Jayim runzelte die Stirn. »Wenn sie dazu in der Lage sind, können sie dein Geheimnis dann nicht auch aus deinen Gedanken lesen?«
»Ja.«
»Aber du bist der Traumweberratgeber.« »Nicht mehr lange. Ich werde zurücktreten, sobald ich bereit bin, fortzugehen.«
»Warum nicht jetzt schon?«
»Sie könnten versuchen, ein Treffen mit mir herbeizuführen, um den Grund zu erfahren. Ich möchte bereits fort sein, wenn sie meine Nachricht erhalten.«
Jayims Augen weiteten sich. »Das muss ein ziemlich wichtiges Geheimnis sein.«
Arleej lächelte grimmig. »Ja. Ich hoffe, es ist all diese Mühe wert.«
»Welche Mühe?«
Tanara war mit einem Tablett in der Tür erschienen. Als Arleej ihr die Situation erklärte, fühlte Leiard sich mit einem Mal schuldig. Er würde Jayim seiner Familie wegnehmen, und der Junge würde wahrscheinlich nie mehr zurückkehren. Dann kam ihm ein anderer Gedanke, und er stöhnte leise.
»Was ist los?«, fragte Arleej.
Er sah sie entschuldigend an. »Die Weißen könnten von dir und den Bäckers erfahren, dass ich fortgegangen bin, weil ich ein Geheimnis habe, das ich vor ihnen verbergen will.«
Sie verzog das Gesicht. »Was Grund genug wäre, um dich suchen und zurückbringen zu lassen.« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe ohnehin nicht die Absicht, in ihre Nähe zu kommen.« Sie schaute Tanara an. »Ich bezweifle, dass die Weißen dich und deinen Mann aufsuchen werden. Sie sind zu beschäftigt damit, einen Krieg vorzubereiten. Aber nur für den Fall des Falles, könntet ihr für einige Wochen weggehen? Wenn ihr Geld für ein Quartier braucht, können wir es euch geben.«
»Millo hat einen Bruder oben im Norden«, erklärte Tanara. »Wir haben ihn schon seit einiger Zeit nicht mehr besucht.«
»Dann fahrt zu ihm«, sagte Arleej. »Ich denke, ich kann mich von den Weißen fernhalten, solange sie noch einen Traumweberratgeber haben, mit dem sie sich besprechen können.« Sie wandte sich an Leiard. »Hast du jemanden im Sinn, der diese Rolle übernehmen könnte?«
Er schüttelte den Kopf. »Das wäre deine Entscheidung oder die von Auraya.«
Sie schürzte die Lippen, dann kniff sie die Augen zusammen. »Da Auraya nicht in der Stadt ist und die anderen Weißen mit Kriegsvorbereitungen beschäftigt sind, wird man die Angelegenheit wahrscheinlich bis zu ihrer Rückkehr verschieben – es sei denn, ich könnte einige Kandidaten benennen. Hm, das ist ein Problem, das zu lösen einige Zeit erfordern wird.« Sie trommelte mit den Fingern auf den Tisch und dachte nach. »Meine Leute werden vor der Armee aufbrechen. Wir werden immer einen guten Tagesritt von den Zirklern entfernt sein. Die Weißen werden nicht wissen, dass du bei uns bist, und selbst wenn sie es herausfinden, werden sie zu viel zu tun haben, um nach dir zu suchen. Ich würde gern in der Nähe bleiben, während du deine Vorbereitungen triffst. Du könntest meine Hilfe brauchen.«
Leiard neigte den Kopf. »Vielen Dank. Ich hoffe, das wird nicht nötig sein.«
Der östliche Horizont wurde stetig heller und warf ein schwaches, kühles Licht auf das Meer.
Als Auraya mit Tyrli den Strand entlangging, dachte sie über ihre ersten Eindrücke von der Heimat des Sandstamms nach. Sie hatte die Siyee mit hohen Bergen und Wäldern in Verbindung gebracht, aber nachdem sie am vergangenen Tag ihre Lauben inmitten der baumlosen Dünen gesehen hatte, hatte sie ihr Bild korrigieren müssen. Sie lebten recht gut hier an den Stränden von Si, was nur noch deutlicher machte, was sie verloren hatten, als die torenischen Siedler ihnen die fruchtbaren Täler ihrer Heimat gestohlen hatten.
»Hast du alles, was du brauchst?«, fragte Tyrli.
»Alles, bis auf genug Zeit«, antwortete sie. Oder Leiards Empfehlungen, fügte sie bei sich hinzu. Er hatte seit Tagen keine Traumvernetzungen mit ihr gesucht, was es ihr erleichtert hatte, am Morgen vor Aufgang der Sonne aufzustehen. An den beiden vorangegangenen Tagen war sie früh erwacht und hatte sich über den Grund für sein Schweigen den Kopf zerbrochen.
»Wenn du mehr Zeit hättest, könnte ich dich mit den Elai bekannt machen, die mit uns Handel treiben, aber es wird noch fast ein Monat vergehen, bevor sie sich das nächste Mal bei uns melden werden.«
»Ich wäre gern länger geblieben, und sei es auch nur, um deinen Stamm besser kennenzulernen«, erklärte sie aufrichtig. Sie hatte nur wenig davon gesehen, wie sein Volk lebte, und sie hätte gern mehr über diese Leute erfahren. »Juran drängt mich, mich sobald wie möglich mit den Elai zu treffen.«
»Es wird sich später eine Möglichkeit dazu finden lassen«, erwiderte er.
»Dafür werde ich auf jeden Fall sorgen.« Sie sah ihn an. »Ich werde in etwa zehn Tagen in das Offene Dorf zurückkehren.«
Er nickte. »Wir werden bereit sein.«
Sie reagierte auf seine grimmige Zuversicht mit einem Lächeln. Er hatte Boten in das Offene Dorf zurückgeschickt, die den Siyee dort von dem Eindringen der Pentadrianer und von Jurans Bitte berichtet hatten, die Weißen in den bevorstehenden Kämpfen zu unterstützen. Auraya seufzte und blickte über das Wasser.
»Du solltest gegen Mittag dort eintreffen«, bemerkte er.
»Wie finde ich den Weg dorthin?«, fragte sie.
Er wandte sich den Bergen zu und streckte die Hand aus. »Siehst du den Berg mit dem doppelten Gipfel?«
»Ja.«
»Nimm die Strecke von dort hierher zu uns und fliege diesen Kurs weg von dem Berg. Du wirst rechts von dir die Küste sehen, und wenn du sie nach einigen Stunden nicht mehr sehen kannst, halte dich rechts, bis du die Küste wieder erkennen kannst. Folge ihr bis zum Ende der Halbinsel, dann flieg direkt nach Süden. Es gibt eine Menge kleiner Inselchen rund um Elai. Wenn du mehr als eine Stunde geflogen bist, ohne eine dieser Inseln zu sehen, hast du dein Ziel verfehlt und solltest dich wieder in Richtung Norden wenden.«
Sie nickte. »Ich danke dir für alles, Tyrli.«
Er neigte den Kopf. »Viel Glück, Auraya von den Weißen. Fliege hoch, fliege schnell, fliege wohl.«
»Mögen die Götter dich leiten und beschützen«, erwiderte sie.
Auraya wandte sich wieder dem Meer zu, zog Magie in sich hinein und ließ sich emportreiben. Der Strand blieb unter ihr zurück, bis Tyrli nur noch ein kleiner Punkt in einer großen, geschwungenen Fläche aus Sand war. Sie blickte über die Berge hinaus und prägte sich die Position des doppelten Gipfels ein, bevor sie in die entgegengesetzte Richtung flog.
Während der letzten Monate hatte sie sich daran gewöhnt, die Bewegungen der Siyee nachzuahmen. Jetzt, da sie allein war, erschien es ihr nicht länger notwendig, so zu tun, als sei sie dem Sog der Erde unterworfen. Sie begann zu experimentieren. Die Siyee konnten nur so schnell fliegen, wie der Wind und ihre Ausdauer es zuließen. Auraya hatte keine Ahnung, wie schnell sie sich bewegen konnte, daher beschleunigte sie ihr Tempo.
Der Wind war jetzt schon ein Problem, und sie vermutete, dass es dieser Faktor sein würde, der ihr Einschränkungen auferlegte. Er peitschte ihr ins Gesicht, trocknete ihre Augen aus und ließ sie frieren. Sie konnte Magie benutzen, um sich zu wärmen, aber als sie schneller flog, stellte sie fest, dass sie Jen Zugriff auf diese Wärme rasch verlor. Seltsamerweise fiel es ihr auch immer schwerer zu atmen.
Sie schuf einen magischen Schild vor sich, der ihr Tempo abrupt verlangsamte, wie ein Ruder, das man durchs Wasser zog. Aber sie brauchte kein Ruder, sie brauchte... eine Pfeilspitze. Von dieser Erkenntnis getrieben, veränderte sie die Form ihres Schildes, so dass er jetzt mühelos die Luft durchschnitt. Der Schild lenkte den Wind ab, und Auraya konnte wieder atmen.
Mittlerweile bewegte sie sich schneller, als sie es je zuvor getan hatte, sei es zu Land oder am Himmel, aber diesen Umstand konnte sie nur daran erkennen, dass der Wind rasend schnell an ihr vorbeiströmte.
Nach einer Weile konnte sie einen Schatten am Horizont ausmachen – die Küste, von der Tyrli gesprochen hatte. Wie berauscht flog sie weiter.
Borra war noch immer zu weit entfernt, als dass sie es hätte sehen können, aber bisher war sie gut vorangekommen. Nach einigen Minuten kamen bereits die ersten Inseln in Sicht. Schon bald folgten weitere, dann konnte sie größere Inseln vor sich erkennen. Während die kleineren Inseln wie Sanddünen aussahen, auf denen die Flut Pflanzen angespült hatte, wirkten die größeren Inseln wie halb versunkene Berge.
Tyrli hatte ihr geraten, auf den Stränden der größten Insel nach Elai Ausschau zu halten. Sie kam zu dem Schluss, dass er damit wohl die halbmondförmige Insel gemeint haben musste, die rechts von ihr aufragte, und flog darauf zu. Als sie dem Boden nahe genug war, um die kümmerlichen Pflanzen in der Nähe der Küste erkennen zu können, sah sie sich nach den Meeresmenschen um.
Es dauerte nicht lange, bis sie sie entdeckte. Auf allen Stränden wanderten dunkelhäutige Männer und Frauen umher. Sie legten Streifen leuchtender Algen auf dem Sand aus, und Auraya erblickte unter Wasser die Umrisse von Leuten, die weitere Algen schnitten.
Die meisten von ihnen versahen mit großer Konzentration ihre Arbeit, obwohl es in jeder Gruppe einen Elai zu geben schien, der den anderen Anweisungen erteilte. Einige der Elai waren auf Anhöhen gestiegen und schauten auf das Meer hinaus. Einer sah sie direkt an, und sie spürte sein Erstaunen. Er winkte nicht, und er machte auch die anderen nicht auf Aurayas Anwesenheit aufmerksam. Aus seinen Gedanken entnahm sie, dass er nicht glaubte, was er sah.
Dann erklang plötzlich ein wütendes Brüllen, und der Beobachter zuckte zusammen und blickte auf den Strand vor ihm hinab. Der Anführer der arbeitenden Elai drohte ihm mit der Faust. Der Beobachter zeigte auf Auraya, woraufhin der andere Mann nach oben blickte und dann überrascht einen Schritt rückwärts machte.
Es wird Zeit, dass ich mich vorstelle, dachte Auraya mit einem Anflug von Ironie. Nun hatten die anderen Elai die Unaufmerksamkeit ihres Anführers bemerkt und blickten zum Himmel auf, um festzustellen, was sein Interesse erregt hatte. Auraya stieg langsam hinunter, da sie jetzt sowohl Angst als auch Ehrfurcht bei den Elai wahrnahm. Obwohl sie mehrere Schritte entfernt von ihnen landete, zogen sie sich hastig noch weiter zurück.
Plötzlich warfen sie sich auf den Sand, und Auraya tauchte überrascht in ihre Gedanken ein. Sie erkannte sofort, welchen Grund ihre Reaktion hatte. Sie glaubten, sie sei Huan.
»Volk von Borra«, sagte sie langsam in der Sprache der Elai, die sie aus ihren Gedanken geschöpft hatte. »Ihr braucht euch nicht vor mir zu erniedrigen. Ich bin nicht die Göttin Huan, sondern eine ihrer Dienerinnen.«
Die Elai tauschten fragende Blicke, dann erhoben sie sich langsam. Jetzt konnte Auraya sie deutlicher sehen. Sie waren nur geringfügig kleiner als Landgeher und vollkommen unbehaart. Ihre Haut war glatt, glänzend und von einem bläulichen Schwarz, ähnlich der Haut der Meeres-Ner, die bei ihrer Rückreise aus Somrey neben den Schiffen hergeschwommen waren. Ihre Oberkörper waren breit und ihre Hände und Füße groß und flach, mit Membranen zwischen Fingern und Zehen. Während sie sie anstarrten, fiel ihr auf, dass ihre Augen hellrot gerändert waren. Wenn sie blinzelten, konnte sie erkennen, dass diese Röte ebenfalls eine Membran war und sich wie ein zweites Lid über ihre Augen wölbte. Alle Elai starrten sie an, und sie filterte ihre Gedanken. Einige von ihnen hatten sich sehr schnell eine Meinung gebildet: Wenn sie keine Göttin und offenkundig auch keine Siyee war, dann musste sie eine Landgeherin sein, und man durfte ihr nicht trauen. Diese Elai betrachteten sie mit unverhohlenem Argwohn und einem Anflug von siedendem Hass. Die anderen waren noch immer verwirrt, und ihre Gedanken waren unklar. Bei ihnen handelte es sich um die niedersten Mitglieder der Gesellschaft der Elai, vermutete sie. Die Langsamen oder die Glücklosen. Sie verrichteten diese harte Arbeit, weil sie kaum etwas anderes zu tun vermochten. Auraya sah ihren Anführer an. Er war nicht klüger als die anderen, aber seine herrische Natur hatte ihm diese höhere Position eingetragen.
Als sie ihm in die Augen blickte, drückte der Mann die Schultern durch. »Wer bist du?«, fragte er scharf.
»Ich bin Auraya von den Weißen«, antwortete sie. »Eine der Auserwählten der Götter. Ich bin im Auftrag der Götter hier, um mit dem Oberhaupt aller Elai zu sprechen – mit König Ais.«
Der Anführer kniff die Augen zusammen. »Warum?« »Um...«
Es war schwer, die richtigen Worte zu finden, da die Gedanken der Arbeiter voller Ausdrücke waren, die sie mit den Landgehern in Verbindung brachten – Mord, Vergewaltigung, Diebstahl. Die Worte für Frieden, Verhandlungen oder Allianz konnte sie in ihren Köpfen nicht finden, daher entschied sie sich für eine andere Taktik. Der Anführer erwartete nicht, dass sie ihre Gründe nannte.
»Dies ist nur für die Ohren des Königs bestimmt«, sagte sie.
Der Mann nickte.
»Wirst du einen deiner Leute für mich zum König schicken?«, fragte sie. Er runzelte die Stirn. »Warum?«
»Ich möchte eure Stadt nicht ohne Erlaubnis betreten«, erwiderte sie.
Er hielt inne, dann sah er seine Arbeiter an. Er deutete auf den Mann, der sie als Erster entdeckt hatte – auf den Beobachter. Die Schultern des Mannes hingen herab, und seine Haut wirkte stumpf. Sie las Unbehagen aus seinen Gedanken und begriff, dass er zu lange außerhalb des Meeres gewesen war und unter Wassermangel litt. Als er seinen Befehl bekam, frohlockte er innerlich bei der Aussicht, endlich wieder schwimmen zu können.
»Geh und sag Ree Bescheid«, rief der Anführer. »Er wird jemanden in den Palast schicken.«
Während der Mann spritzend ins Wasser eintauchte, wandte sich der Anführer wieder Auraya zu. »Es wird einige Zeit dauern. Im Palast schenkt man den Erntearbeitern keine große Aufmerksamkeit. Wir müssen jetzt weitermachen. Wenn du willst, kannst du hier warten.«
Sie nickte. Mehr sagte er nicht, sondern hob die Stimme und trieb die anderen Elai wieder zur Arbeit an. Auraya beobachtete sie eine Weile, aber dann las sie bei mehreren Elai Groll in ihren Gedanken, weil sie sie so anstarrte, und entfernte sich ein wenig von ihnen, um sich den Anschein zu geben, als konzentriere sie sich auf andere Dinge.
Die Sonne stieg am Himmel auf und senkte sich dann langsam wieder dem Horizont entgegen. Die Elai machten keine Pause, obwohl sie ab und zu innehielten, um ihre Haut zu befeuchten. Aus ihren Gedanken erfuhr Auraya mehr über die Sitten und Gebräuche der Elai.
Ihre Stadt war übervölkert, und die meisten Elai lebten in winzigen Räumen. Durch diese Umstände hatten sie es gelernt, einander Respekt entgegenzubringen. Es gab starke Tabus, die es ihnen untersagten, einander zu berühren oder in die Augen zu blicken, und diese Gesetze fußten auf einer strengen gesellschaftlichen Hierarchie. Einen größeren Unterschied zu den Siyee hätte es nicht geben können.
Trotz dieser Unterteilung in Klassen herrschte unter den Elai ein ausgeprägtes Pflichtgefühl. Diese Männer und Frauen kamen bereitwillig aus der Stadt, um Algen zu ernten. Sie ließen sich von Männern wie ihrem Anführer schikanieren und gingen das Risiko ein, von Plünderern angegriffen zu werden, nur um die Ernährung ihres Volkes zu sichern. Bei vielen von ihnen fing sie Sorge um einen Arbeiter auf, der krank war und dem sie Essen gebracht hatten.
Selbst die Wohlhabenden und Mächtigen trugen zur Sicherheit der Stadt bei. Wenn der König wusste, dass sein Volk hungerte, ließ er Nahrungsmittel verteilen. Viermal im Jahr hielt er ein Festmahl ab, zu dem alle Elai eingeladen waren. Er versah sogar seinen Dienst bei der Bemannung des Ausgucks über der Stadt und stieg die lange Treppe hinauf, um nach Plünderern Ausschau zu halten.
Eine Treppe? Über der Stadt?Auraya lächelte. Es gibt also doch einen Weg über Land in die Stadt. Dies war eine interessante Information, die sie jedoch nicht zu benutzen gedachte. Wenn sie das tat, würde sie niemals das Vertrauen der Elai gewinnen. Aus den Gedanken der Leute am Strand hatte sie erfahren, wie schrecklich die Plünderer unter ihnen gewütet hatten. Es war nicht überraschend, dass sie Landgehern mit tiefem Abscheu begegneten. Als Repräsentantin der Götter würde sie vielleicht eine Audienz beim König bekommen, aber mehr würde ihr diese Tatsache nicht einbringen. Sie würde sich als vertrauenswürdig erweisen müssen.
Sie seufzte. Und gerade dafür habe ich keine Zeit.
»Landgeherin.«
Der Klang einer schroffen Stimme ließ sie zusammenzucken, und sie drehte sich um. Der Anführer des Arbeitstrupps kam auf sie zu. Sie stand auf und ging ihm entgegen.
»Der König hat eine Antwort auf deine Nachricht geschickt«, sagte er zögernd. Mit einigem Entsetzen begriff sie, dass er all seinen Mut zusammennehmen musste. Er erwartete, dass sie zornig sein würde, und er hatte Angst davor, wie dieser Zorn sich ausdrücken würde. »Er hat gesagt: ›Der König von Elai hat nicht die Absicht, mit der Landgeherin zu reden, die behauptet, für die Götter zu sprechen. Landgeher sind hier nicht willkommen – wir wollen sie nicht einmal auf der kleinsten Insel sehen. Geh nach Hause.«‹
Sie nickte langsam. In seinem Geist war keine Spur von Betrug zu erkennen. Er mochte den Wortlaut der Nachricht ein wenig verändert haben, aber nicht die grundsätzliche Bedeutung. Der Mann musterte sie wachsam, dann eilte er davon.
Juran?
Auraya?, antwortete Juran sofort.
Der König von Elai hat mein Audienzgesuch abgelehnt. Ich denke, er glaubt nicht, dass ich bin, was ich zu sein behaupte. Sie wiederholte die Nachricht. Das ist noch nicht alles. Der Hass dieser Leute auf die Landgeher ist sehr stark. Ich denke, wir werden uns als vertrauenswürdig erweisen müssen. Ich wünschte, wir könnten etwas tun, was diese Plünderer betrifft...
Damit würden wir ihnen einen machtvollen Anreiz für ein Bündnis mit uns nehmen. Ich glaube nicht, dass es sie auch nur im Geringsten beeindrucken wird, wenn wir ihnen versprechen, sie zu einem späteren Zeitpunkt von den Plünderern zu befreien. Anders als bei den Siyee werden wir hier helfen müssen, bevor wir uns mit ihnen verbünden, nicht danach.
Dessen kannst du dir erst sicher sein, wenn du dem König begegnet bist. Sei beharrlich. Kehre morgen zurück und an jedem der nächsten Tage. Du kannst sie zumindest mit deiner Entschlossenheit beeindrucken.
Sie lächelte. Das werde ich tun.
Sie blickte auf die Arbeiter hinab und sah, dass sie sich jetzt große Bündel Seegras auf den Rücken schnallten. Einige wateten ins Wasser und schwammen davon. Auraya fing bruchstückhafte Gedanken auf, die besagten, dass sie früher als sonst aufbrachen, und einige argwöhnten, dies geschehe, weil die Anwesenheit der Landgeherin ihrem Anführer Angst machte.
Sie seufzte. Wie sollte sie die Elai jemals auf ihre Seite ziehen, wenn ihre bloße Anwesenheit am Strand eine solche Wirkung auf diese Leute hatte?
Huan hat gesagt, dass dieses Unterfangen eine echte Herausforderung werden würde, rief sie sich ins Gedächtnis.
Mit einem schiefen Lächeln sammelte sie ihre Magie und erhob sich gen Himmel.
Während sie langsam aus der dunklen Umarmung des Schlafs auftauchte, drangen Stimmen in Emerahls Bewusstsein.
»Jade. Wach auf.«
»Das ist wahrscheinlich nicht ihr richtiger Name.« »Ich kenne ihren richtigen Namen nicht. Du vielleicht?« »Nein, sie wollte es mir nicht sagen.« »Du hast sie gefragt?« »Du nicht?«
»Nein. Das ist unhöflich.«
»Ich kannte mal ein Mädchen namens Jade.«
»Es ist ein hübscher Name. Anders als Brand. Wer würde seine Tochter schon Brand nennen? Ich hasse meinen Namen.«
Wer sind diese Frauen? Während sie die letzten Reste des Schlafs abschüttelte, kehrte Emerahls Erinnerung zurück. Es sind nur die Frauen, die sich mit mir ein Zimmer teilen. Sie runzelte die Stirn. Sie sind vor mir wach geworden ? Das ist ungewöhnlich ...
»Wer würde seine Tochter Flut nennen? Oder Mondschein?«, fragte Flut.
Brand kicherte. »Mein kleiner Bruder hatte früher einen zahmen Moohook namens Mondschein.«
Flut lachte leise. »Mondschein. Diamant. Unschuld. Namen, die am besten zu Huren oder Haustieren passen. Nur ein Narr würde sein Kind mit solchen Namen verfluchen. Jade ist nicht allzu schlimm, denke ich. Sieh mal, sie ist endlich wach.«
Emerahl musterte die beiden hübschen jungen Frauen, dann gähnte sie und richtete sich auf.
»Weshalb seid ihr beiden schon so früh auf den Beinen?«
Brand lächelte kläglich. »Rozea hat eine Versammlung einberufen. Du solltest dich besser schnell anziehen.«
Emerahl streifte ihre Decken ab und reckte sich. Die beiden anderen Mädchen trugen alte Tuniken statt ihrer besten Gewänder. Emerahl entschied sich für die abgetragene, schlichte Tunika, die Blatt ihr für die Zeit außerhalb ihrer Dienststunden und den Unterricht gegeben hatte.
Während sie sich ankleidete, sah sie andere Mädchen den Flur hinuntergehen. Brand und Flut wartete geduldig im Raum, aber sie konnte ihre Erregung spüren.
»Also, worum geht es bei dieser Versammlung?«, fragte sie, während sie sich schnell das Haar kämmte.
»Keine Ahnung«, antwortete Brand.
»Es hat wahrscheinlich mit dem Krieg zu tun.«
»Beeil dich, umso eher werden wir es herausfinden«, drängte Brand sie.
Emerahl lächelte, und kurz darauf gingen sie, angeführt von Brand, den Flur hinunter. Emerahl merkte sich die Stellen, an denen sie abbogen, und nachdem sie die dritte Treppe hinaufgestiegen waren, vermutete sie, dass sich der Versammlungsort im oberen Stockwerk des Bordells befand.
Nach einigen weiteren Schritten folgte sie ihren Begleiterinnen durch eine große, offene Doppeltür in einen riesigen Raum. Die gegenüberliegenden Wände waren von Fenstern durchsetzt, und auf einem erhöhten Podest am Ende des Raums standen auf einer Staffelei mehrere Bilder mit erotischen Szenen.
Emerahl war überrascht, dass sich so viele Mädchen in dem Raum befanden. Einigen war sie seit ihrer Ankunft im Bordell nur kurz begegnet, andere hatten sich ihr vorgestellt und sie herzlich willkommen geheißen. Einige Mädchen hatte sie noch nie gesehen. Dann stach ihr ein eindeutig männlich wirkendes Gesicht ins Auge, und ihr wurde klar, dass sich neben den Frauen auch junge Männer im Raum befanden. Männlichen Huren war sie in dem Bordell bisher nicht begegnet.
»Das ist der Tanzsaal«, murmelte Flut. »Rozea veranstaltet hier jedes Jahr zwei oder drei große Feste. Manchmal kommt sogar der König her. Im letzten Jahr hat er...«
Ihre Worte gingen im Läuten einer Glocke unter, und alle Gesichter wandten sich dem Podest zu. Rozea war erschienen. Die Bordellbesitzerin wartete, bis Stille eingekehrt war, bevor sie Blatt eine große, goldene Glocke reichte.
»Es ist schön, euch wieder einmal alle zusammenzuhaben«, sagte sie lächelnd. »So viele hübsche Gesichter in einem einzigen Raum versammelt.« Sie blickte kurz in die Runde, dann wurde ihre Miene ernster.
»Ihr werdet mittlerweile alle gehört haben, dass die torenische Armee in einer Woche aufbrechen wird, um sich an den Kämpfen gegen die pentadrianischen Eindringlinge zu beteiligen. Viele unserer Kunden werden in den Krieg ziehen und für uns ihr Leben aufs Spiel setzen.« Sie zögerte kurz, dann lächelte sie abermals. »Und wir werden sie begleiten.«
Diese Nachricht traf Emerahl wie ein Schlag. Sie wollte auf keinen Fall hinter ebenden Priestern herlaufen, die nach ihr suchten, was bedeutete, dass sie das Bordell würde verlassen müssen.
»Nun, nicht wir alle«, verbesserte sich Rozea. »Einige von euch werden hierbleiben. Die Entscheidung darüber überlasse ich euch. Wir werden so bequem wie nur möglich reisen. Ich habe bereits veranlasst, dass Tarns und Zelte für uns angefertigt werden. Unsere Kunden werden nach wie vor wohl habende Männer sein, und sie erwarten für ihr Geld ein gewisses Maß an Luxus.«
Sie gab ihnen einen Moment Zeit, das Gehörte zu verarbeiten, dann fuhr sie fort: »Für einige von euch wird dies eine seltene Gelegenheit sein, Reisen außerhalb von Porin zu unternehmen. Außerdem werdet ihr Zeugen eines großen Ereignisses werden. Es kommt nicht alle Tage vor, dass ihr die Möglichkeit habt, die Weißen in der Schlacht zu sehen. Wenn ihr Glück habt, werdet ihr vielleicht sogar einem von ihnen persönlich begegnen.«
Emerahl verkniff sich ein Lächeln. So, wie Rozea es schilderte, war es ein wunderbares Abenteuer, einer Armee zu folgen. In Wirklichkeit bedeutete das Unternehmen viel Arbeit unter primitiven und gefährlichen Bedingungen. Gewiss ließ sich niemand unter diesen Mädchen – und Jungen – von Rozeas hübscher Ansprache täuschen.
Ihre Sinne sagten ihr jedoch, dass die Menschen im Raum das Gehörte voller Erregung überdachten. Emerahl seufzte. Diese jungen Männer und Frauen wissen nichts über Kriege, rief sie sich ins Gedächtnis. Nach allem, was ich gehört habe, hat es seit mehr als hundert Jahren keinen Krieg mehr gegeben.
Eines der Gesichter um sie herum leuchtete jedoch nicht vor Erregung. Mondschein stand mit hochmütiger Miene ein wenig abseits. Emerahl spürte einen Anflug von Neid bei der Frau. Rozeas Stimme nahm wieder einen geschäftsmäßigen Tonfall an.
»Jene von euch, die die Armee begleiten wollen, treten jetzt vor. Wer zurückbleiben möchte, geht nach hinten. Nur zu. Wie ihr euch auch entscheidet, es ist keine Schande. Ich brauche Leute, die mitkommen, und Leute, die bleiben.«
Brand machte zuversichtlich einen Schritt nach vorn, und nach kurzem Zögern folgte ihr Flut. Emerahl blieb, wo sie war, im hinteren Teil des Raums. Während sich alle Anwesen den nach und nach entschieden, ließ Rozea den Blick über die Gesichter derjenigen wandern, die ihr am nächsten standen. Sie runzelte die Stirn, dann blickte sie zur gegenüberliegenden Wand. Als sie Emerahl sah, wurden ihre Lippen schmal vor Enttäuschung. Emerahls Magen krampfte sich zusammen. Sie fragte sich, aus welchem Grund Rozea ihre Begleitung wünschen mochte, aber sie fand keine Antwort. Schließlich richtete Rozea die Aufmerksamkeit auf die kleine Gruppe derer, die direkt vor ihr standen.
»Vielen Dank. Bleibt hier, damit Blatt eure Namen aufschreiben kann. Wenn ihr wollt, dürft ihr euch alle einen Tag freinehmen, um vor unserer Abreise eure Familien zu besuchen. Und noch einmal, vielen Dank.«
Sie trat von dem Podest herunter und schritt auf eine Tür zu. Als sie sie erreichte, blieb sie stehen und blickte zu Emerahl hinüber.
»Jade. Komm mit mir. Ich möchte mit dir sprechen.«
Emerahl unterdrückte einen Seufzer und folgte Rozea in einen großen Raum, in dem ein gewaltiges Bett stand. Ein Bett, das für einen König passend gewesen wäre.
Tatsächlich, ging es ihr durch den Kopf, ist es wahrscheinlich für den König gedacht. Die Frau schloss leise die Tür, dann wandte sie sich zu ihr um.
»Warum willst du uns nicht begleiten, Emerahl?«
Emerahl wich ihrem Blick aus. »Ich bin gerade erst hier angekommen. Ich fühle mich hier wohl und sicher, und das zum ersten Mal seit... nun ja, seit einer langen Zeit.«
Rozea lächelte. »Ich verstehe. Was wäre, wenn ich dir sagte, dass ich Pläne für dich habe? Was, wenn ich dir erzählte, dass du, wenn du nach Porin zurückkehrst, das reichste und begehrteste Freudenmädchen von ganz Toren sein wirst?«
»Wie meinst du das?«
Rozeas Lächeln wurde breiter. Sie griff nach Emerahls Arm und zog sie sacht zu dem Bett hinüber, wo sie sich beide setzten. »Mondschein ist schwanger. Ich kann sie nicht mitnehmen, und außerdem werde ich ohnehin bald eine neue Favoritin benötigen. Was ich von den Freiern über dich gehört habe, hat meine Meinung über dich bestätigt. Du verstehst dich sehr gut auf deine Arbeit. Du hast etwas an dir, das die Männer fasziniert. Ich möchte, dass du die neue Favoritin wirst. Da dies jedoch eine Position ist, die man sich verdienen muss, wirst du mit den Mädchen aufbrechen und deine neue Rolle übernehmen, wenn wir...«
»Ich möchte nicht die neue Favoritin sein«, unterbrach Emerahl sie.
Rozea zog die Augenbrauen hoch. »Warum nicht? Du wirst weniger Freier haben und dann nur die besten von ihnen. Du wirst zehnmal so viel verdienen wie jetzt.«
»Aber Panilo...«
»Wenn er einen besonderen Platz in deinem Herzen einnimmt, darfst du ihn weiterhin sehen.« »Ich möchte Porin nicht verlassen.«
Rozea richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde dir ein paar Tage Zeit geben, um darüber nachzudenken. Aber ich muss dich warnen, Jade. Die Bequemlichkeit und die Sicherheit, die du hier hast, müssen wohlverdient sein. Ich erwarte, dass du mich begleitest, ob als Favoritin oder nicht.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Tür. »Geh jetzt.«
Emerahl verbeugte sich knapp und verließ den Raum. Der Krampf in ihrem Magen war zu einem harten Knoten der Angst geworden. Sie betrachtete die anderen Huren, die sich aufgeregt miteinander unterhielten, und seufzte. Ich dachte, ich hätte einen Ort gefunden, an dem ich mich verbergen kann. Stattdessen soll ich die bekannteste Hure der Stadt werden. So viel zur Anonymität der Prostitution! Sie dachte über ihre Möglichkeiten nach. Sie könnte das Bordell jetzt verlassen und allein und schutzlos mit einer begrenzten Menge an Geld im halbleeren Porin zurückbleiben. Falls Rozea mich überhaupt bezahlt. Emerahl biss sich auf die Unterlippe. Oder ich könnte mit Rozea und den Mädchen die Stadt verlassen.
Rozea würde wahrscheinlich ganz am Ende des Truppenzugs reisen, noch nach den Vorratswagen. Die Priester würden die Armee anführen, so dass ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen gelten würde. Aber der Priester, der nach ihr suchte, könnte durchaus erraten, dass sie diese Chance nutzte, um die Stadt zu verlassen. Er würde vielleicht zurückbleiben, um nach ihr Ausschau zu halten. Es ist wirklich zermürbend. Ich weiß nicht einmal, ob der Priester noch an den Toren nach mir suchen lässt. Es gefiel ihr nicht, auch nur die kleinsten Risiken einzugehen. Ein winziger Fehler konnte ihren Tod bedeuten. Sie hatte lange gelebt, und je länger sie lebte, umso mehr hing sie am Leben.
Entweder das, oder ich bin einfach zu einem noch größeren Feigling geworden.
Dann muss ich meine Feigheit überwinden. Manchmal muss man Risiken eingehen, oder man sitzt irgendwo erbärmlich in der Falle. Also, welches Risiko ist das schlimmere?
Es war vielleicht ungefährlicher, die Stadt mit den Huren zu verlassen als ganz allein. Wenn sie nur eine Frau unter vielen war, würden die Priester möglicherweise nicht so genau hinsehen. Andererseits würde sie vielleicht auffallen, weil sie die Einzige war, deren Gedanken sie nicht lesen konnten.
Es sei denn natürlich, sie glaubten, es gebe einen guten Grund für meinen Mangel an Gedanken.
Einen guten Grund ...Ich könnte zum Beispiel tot sein... oder bewusstlos.
Ein kalter Schauer überlief sie. Sie wollte sich nicht noch einmal tot stellen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
Aber wenn sie sich in einen Zustand der Bewusstlosigkeit versetzte... Es gab viele Möglichkeiten, das zu tun, und sie waren nicht alle unangenehm. »Was ist los, Jade?«
Emerahl drehte sich um und sah Brand hinter sich stehen. »Rozea hat mir befohlen, mich der Armee anzuschließen.«
Brand schnaubte. »So viel zu ihrem Gerede, sie würde uns die Wahl lassen. Wirst du deine Familie besuchen, bevor du aufbrichst?«
»Nein, und du?«
Das Mädchen zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich. Ich mag sie nicht besonders, aber die Chance, für einen Tag aus dem Bordell fortzukommen, möchte ich mir nicht entgehen lassen.«
Emerahl runzelte die Stirn. Sie bezweifelte, dass Rozea ihr gestatten würde, fortzugehen. Wie sollte sie an die Substanzen kommen, die sie in Bewusstlosigkeit versetzen konnten?
Dann ging ihr die naheliegende Lösung auf. Sie senkte die Stimme. »Könntest du mir einen Gefallen tun, Brand?«
Das Mädchen lächelte. »Kommt darauf an, was es ist.«
»Ich werde wahrscheinlich eine Kleinigkeit brauchen, um mich auf dieser Reise zu entspannen. Könntest du, wenn du das Bordell verlässt, etwas für mich kaufen?«
Brand zog die Augenbrauen hoch, dann grinste sie. »Aber sicher.«
Der warme Aufwind von der Schlucht trug den jungen Mann vom Stamm des grünen Sees empor. Er legte die Flügel schräg und landete leichtfüßig auf dem Felsen. Sein Gesicht war gerötet vor Verlegenheit und Ärger.
»Es ist nicht leicht, nicht wahr?«, fragte Tryss den Mann mit einem schiefen Lächeln.
»Denk daran, wie es war, als du gelernt hast, einen Bogen zu benutzen. Dies ist noch schwieriger. Sowohl du als auch dein Ziel sind in Bewegung. Aber wenn du den Eifer hattest, die Benutzung des Bogens zu erlernen, dann kannst du auch dies hier lernen.«
Die Miene des Mannes wurde ein wenig versöhnlicher. Tryss wandte sich dem nächsten jungen Krieger zu, einem verdrossenen Burschen, und runzelte die Stirn.
»Dein Geschirr sitzt zu locker.«
Der Mann blickte finster drein. »Es ist unbequem.«
Tryss sah ihm fest in die Augen. »Das überrascht mich nicht. Wenn es richtig angelegt ist, sollte es sich im Einklang mit dir bewegen. Aber wenn es schlaff herunterhängt, behindert es dich nur. Als du zum ersten Mal einen Bogen getragen hast, musst du sein Gewicht deutlich gespürt haben. Man wird dich gelehrt haben, dass du den Bogen fest an deinen Körper schnallen musst, weil er sonst im Flug eine Gefahr darstellen könnte. Das Gleiche gilt für dieses Geschirr. Du wirst dich schnell daran gewöhnen. Leg es richtig an, dann werde ich...«
Ein lauter Freudenschrei und Gelächter übertönten seine Worte. Tryss drehte sich gerade rechtzeitig um, um eine Gruppe von Jungen unter der Führung von Sreil in der Nähe landen zu sehen. Sie hatten sich kleine Bündel auf den Rücken geschnallt. Bei ihrem Anblick stieß Tryss einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Bündel waren mit Ersatzspitzen und Pfeilen für die Geschirre bepackt. Die Siyee, die zu jung oder zu alt für den Kampf waren, fertigten diese Dinge in großer Zahl an. Er wusste, dass die Männer des Stamms vom grünen See größere Begeisterung für ihr Tun würden aufbringen können, wenn die Aussicht bestand, tatsächlich Tiere zu erlegen. Während die Jungen die Spitzen und Pfeile verteilten, erklärte Tryss, wie man sie an dem Geschirr befestigte. Ihm fiel auf, dass der verdrossene Mann, mit dem er kurz zuvor gesprochen hatte, die Riemen seines Geschirrs als Letzter anlegte. Sreil schickte die Jungen nach Hause, dann trat er neben Tryss.
»Könnte ich dich kurz sprechen?«
Tryss nickte und wandte sich zu den Kriegern um. »Sucht mir etwas, das zu jagen sich lohnt«, sagte er. »Ich werde später nachkommen.«
Einige der Männer grinsten, bevor sie sich umdrehten und sich in die Luft schwangen. Tryss beobachtete sie, um sich davon zu überzeugen, dass alle Geschirre richtig funktionierten. Vor drei Tagen hatte sich ein schlecht gefertigtes Geschirr verfangen. Sein Besitzer war nicht weit über dem Boden gewesen, hatte sich bei dem Sturz aber dennoch beide Beine gebrochen. Seither legte Tryss den Männern nahe, ihre Geschirre jeden Tag von einem Angehörigen ihres Stammes untersuchen zu lassen, der etwas von der Sache verstand.
»Ich habe noch einmal mit Drilli gesprochen«, sagte Sreil.
Tryss’ Herz setzte einen Schlag aus, und er sah Sreil erwartungsvoll an.
»Und?«
»Es war nicht leicht«, erklärte Sreil. »Ihr Vater hält sie inzwischen praktisch in ihrer Laube fest. Ich glaube, er hat Verdacht geschöpft. Meine Mutter hat sich an dem Tag, an dem wir mit dem Schlangenflussstamm zusammengekommen sind, nicht allzu raffiniert ausgedrückt. Es würde mich nicht überraschen, wenn...«
»Sreil! Was hat sie gesagt?«
Der Junge grinste. »Du bist heute aber wirklich angespannt. Man könnte direkt glauben, du stündest kurz davor, dich zu verheiraten.«
Tryss verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte Sreil wütend an. Seit Tryss begonnen hatte, den Sohn der Sprecherin auszubilden, hatte er zu seiner Freude festgestellt, dass er gut mit dem Jungen auskam. Nichts konnte Sreils Laune trüben. Er entdeckte an jeder Situation etwas Komisches. Manchmal war sein Sinn für Humor erfrischend düster, dann wieder konnte er einen bis aufs Blut reizen. So wie jetzt.
Sreil hob die Hand, als wolle er einen Schlag abwehren. »Hör auf, mich so anzustarren. Du machst mir Angst.«
Tryss hatte nicht die Absicht, etwas an seinem Verhalten zu ändern.
»Also schön. Sie hat ja gesagt.«
Zwei Gefühle zuckten gleichzeitig in Tryss auf: Erleichterung und eine geradezu schwindelerregende Furcht. Drilli wollte ihn heiraten. Sie war bereit, ihrem Vater zu trotzen und ihren Stamm zu verlassen, um seine Frau zu werden.
Er würde heiraten.
Es ist ja nicht so, als könnten wir unsere Meinung in einigen Jahren nicht wieder ändern, sagte er sich. Falls sie zu dem Schluss kommt, dass sie mich doch nicht mag.
Trotzdem, es bedeutete das Ende ihrer Kindheit. Sie würden Erwachsene sein und einen vollen Beitrag zum Leben des Stammes leisten müssen. Es würde nicht mehr nur um die einfachen Aufgaben gehen, die er jeden Tag für seine Eltern verrichtete; stattdessen würde er Nahrung sammeln, Bögen anfertigen und kämpfen müssen.
Was ich ohnehin bereits tue. Statt zu meinen Eltern nach Hause zu gehen, werde ich zu Drilli heimkehren... und in ein oder zwei Jahren vielleicht auch zu einem Kind.
Lächelnd stellte er sich vor, wie er mit seinem kleinen Sohn oder seiner Tochter spielte. Der Gedanke hatte tatsächlich etwas Reizvolles. All die Dinge, die er sie würde lehren können ...
Ich muss nur zuerst diesen Krieg überleben – und sie muss die Geburt der Kinder überleben. Er verbannte diese Überlegung aus seinen Gedanken. Er konnte nicht durchs Leben gehen und sich stets vor dem Schlimmsten fürchten. Man musste sich den Dingen stellen, wenn sie einem begegneten. Für den Augenblick brauchte er sich nur um zwei Dinge zu kümmern: Er musste die Krieger ausbilden und Drilli von ihrem Vater fortholen, damit eine Heiratszeremonie stattfinden konnte. Und dafür brauchte er Sreils Hilfe.
»Wer wird das Ritual vollziehen?«, fragte er. »Deine Mutter?«
Sreil grinste. »Nein«, antwortete er. »Sie hat nichts dagegen, wenn die Leute vermuten, dass sie dabei ihre Finger im Spiel hat, aber sie möchte nicht, dass sie es mit Sicherheit wissen. Wenn sie das Ritual vollzöge, wäre es offenkundig, dass sie eure Verbindung geplant hat. Sobald wir Drilli bei uns haben, werde ich einen der anderen Sprecher holen. Das Oberhaupt des Tempelbergstamms hält sich noch immer im Offenen Dorf auf. Ich wette, er hat keine Ahnung, was vorgeht.«
»Was ist, wenn er sich weigert?«
»Das kann er nicht. Er muss es tun. So will es das Gesetz.« Tryss holte tief Luft.
»Wann?«
Sreil verzog das Gesicht. »Das hängt von Drillis Vater ab. Wir werden warten müssen, bis er und ihre Mutter sie in der Laube allein lassen.«
»Können wir nicht irgendetwas arrangieren? Ihnen einen Grund geben, die Laube zu verlassen?«
Sreil lächelte. »Natürlich. Ja, genau das werden wir tun.« Er rieb sich begeistert die Hände. »Das wird ein Riesenspaß.«
»Für dich vielleicht«, erwiderte Tryss. »Ich werde vor Nervosität sterben.« Dann grinste er. »Es freut mich, dass es dir Spaß macht, uns zu helfen, Sreil.«
Der andere Junge zuckte die Achseln. »Ich gehe dann besser mal und fange an, Pläne zu schmieden. Ich denke, deine Schüler haben etwas gefunden, das zu jagen sich lohnt.«
Tryss suchte den Himmel ab, bis er die Krieger des Stamms vom grünen See erblickte. Die Männer drehten ihre Kreise, bis plötzlich einer von ihnen in die Bäume hinabstieß.
»Ich sollte besser dafür sorgen, dass sie vorsichtig sind.« Er nickte Sreil zu, dann sprang er von dem Felsen und flog auf seine jüngste Gruppe angehender Krieger zu.
Danjins neue Kleider – die Uniform eines Ratgebers – waren steif und eng. Bisher hatte er es nicht für möglich gehalten, dass etwas unbequemer sein konnte als die elegante Gewandung eines Adligen, die zu tragen man in der Öffentlichkeit von ihm erwartete. Das dicke, lederne Wams der Uniform, das den Eindruck einer Rüstung erwecken sollte, schmiegte sich viel zu eng an die dazugehörige weiße Tunika, die wie eine klägliche Version eines Priesterzirks aussah. Wer auch immer die Uniformen gemacht hatte, hatte sich offensichtlich nicht entscheiden können, ob Ratgeber dem Militär oder dem Priesterstand angehörten, und deshalb verband die Uniform Elemente beider Kleidungsstile.
Die Tür zu seinem Schlafzimmer wurde geöffnet, und Silava trat ein.
»Grässlich, nicht wahr?«
Sie nickte. »Wenn du die Wahl hast, solltest du eher das Wams verlieren als die Tunika. Nur mit der Tunika bekleidet wirst du wahrscheinlich einen recht guten Eindruck machen, aber für das Wams allein hast du einfach nicht die richtige Figur.«
Er klopfte auf seinen Oberkörper und seinen Bauch. »Was soll das heißen? Bin ich nicht männlich genug?«
Sie grinste. »Darauf antworte ich nicht. Wenn du dich sowohl des Wamses als auch der Tunika entledigst, solltest du unbedingt den richtigen Zeitpunkt dafür wählen. All die weiße Haut wird deinen Gegner wahrscheinlich blind machen. Oder er wird derart lachen müssen, dass er sein Schwert fallen lässt. So oder so, es könnte dir die Chance geben, wegzulaufen.«
Danjin schnaubte entrüstet. »Ich? Weglaufen?«
Er erwartete einen Seitenhieb, was seine körperliche Verfassung betraf, aber stattdessen wurde ihre Miene ernst.
»Ja«, sagte sie. Dann trat sie vor ihn hin und sah ihm in die Augen. »Lauf weg. Ich bin noch zu jung, um Witwe zu werden.«
»Ich werde nicht... Einen Moment mal. Um was zu werden?«
Sie kniff ihn in den Arm, und trotz des dicken Stoffs gelang es ihr irgendwie, ihm weh zu tun.
»Au!«
»Das hast du verdient. Ich versuche gerade, dir zu sagen, wie sehr ich mich um dich sorgen werde.«
Ihm kamen mehrere freche Antworten in den Sinn, die er jedoch beiseiteschob. Er legte ihr sanft die Arme um die Schultern. Der Stoff des Wamses widersetzte sich der Bewegung, und ein Stich des Grolls durchzuckte ihn, als ihm klar wurde, dass er in dieser lächerlichen Gewandung nicht einmal dazu in der Lage war, seine Frau richtig zu umarmen.
Silava gab einen erstickten Laut von sich, und er trat überrascht einen Schritt zurück. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und wandte sich verlegen ab.
»Du wirst... du wirst doch vorsichtig sein?«, fragte sie leise.
»Natürlich.«
»Versprich es mir.«
»Ich verspreche, dass ich vorsichtig sein werde.« »Ich werde dich beim Wort nehmen.«
Sie hörten Schritte, die sich der Tür näherten, und wandten sich um. Im nächsten Moment erschien ihr Diener. »Pa-Speer ist eingetroffen«, sagte er schwer atmend. Danjin nickte. »Ich werde gleich runterkommen.« Er drehte sich wieder zu seiner Frau um und küsste sie. »Leb wohl fürs Erste, Silava.«
Ihre Augen glänzten, aber sie erwiderte mit ihrer normalen Stimme: »Leb wohl fürs Erste.«
Es widerstrebte ihm, sie allein zu lassen, wenn sie so aufgewühlt war, aber sie winkte ungeduldig ab. »Geh nur. Lass deinen Vater nicht warten.« »Nein, das wäre undenkbar.«
Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande. Er zwinkerte ihr zu, dann verließ er den Raum. Als er die Treppe zum unteren Stockwerk erreichte, holte er tief Luft und wappnete sich gegen die Verachtung seines Vaters.
Draußen war es trotz des hellen Morgenlichts ziemlich kalt. Pa-Speer wartete in einem geschlossenen Plattan. Danjin trat aus seinem Haus und stieg in den Wagen. »Vater«, begrüßte er Pa-Speer.
»Danjin«, erwiderte sein Vater. »Was für ein schöner Tag, um in den Krieg zu ziehen, wie? Ich frage mich, ob die Götter das so arrangiert haben.«
»Ob sie nun dafür verantwortlich sind oder nicht, wir werden gewiss jeden regenfreien Tag zu schätzen wissen«, entgegnete Danjin.
Sein Vater lehnte sich auf seinem Platz zurück und gab dem Fahrer das Zeichen zum Aufbruch. Als der Plattan sich ruckartig in Bewegung setzte, bedachte Pa-Speer Danjin mit einem seiner typischen, berechnenden Blicke. »Du musst heute sehr stolz sein.«
»Stolz?«
»Du setzt dein Leben für dein Land aufs Spiel. Das ist doch etwas, worauf man stolz sein kann.«
Danjin zuckte die Achseln. »Ich werde wohl kaum in große Gefahr geraten, Vater. Es ist jedenfalls kein Vergleich zu dem, was meine Brüder kürzlich erlebt haben. Es bedarf eines mutigeren Mannes, als ich einer bin, sich in dieser Zeit in den Süden zu wagen.«
Die Augen seines Vaters leuchteten auf. »Du hast recht, ihre Arbeit verlangt große Risiken von ihnen.«
Danjin lachte leise. »Ja. Obwohl es mich nicht überrascht hat, als Rian bemerkte, dass Theran die Neigung habe, unnötige Risiken einzugehen.«
»Das hat Rian gesagt?«
»Ja. Er meinte auch, Theran halte nicht allzu viel davon, Befehle auszuführen, aber einem Mann, der es gewohnt ist, alle Entscheidungen selbst zu treffen, dürfte das wohl schwerfallen, nehme ich an.«
Pa-Speer musterte Danjin mit schmalen Augen. »Was weißt du über Therans Reisen?«
Danjin zuckte die Achseln. »Alles, was er zu berichten sich die Mühe gemacht hat. Nirem und Gohren waren da viel verlässlicher. Und vorsichtiger.«
»Du... du hast es von Anfang an gewusst.«
»Natürlich habe ich es gewusst.«
Pa-Speer starrte Danjin an, und sein Gesichtsausdruck verriet weder Billigung noch Missfallen. »War es deine Idee?«
»Nein«, antwortete Danjin aufrichtig. »Selbst wenn mir der Gedanke gekommen wäre, hätte ich es nicht vorgeschlagen. Ich hätte niemals wissentlich Mitglieder meiner Familie in eine gefährliche Lage gebracht. Rian hat im Voraus mit mir darüber gesprochen und mich über das Tun meiner Brüder auf dem Laufenden gehalten.«
»Ich verstehe. Warum hast du uns nicht erzählt, dass du Bescheid wusstest?«
Danjin lächelte. »Es war nicht notwendig. Solche Dinge bleiben am besten unausgesprochen. Zum Wohle aller Beteiligten.«
»Warum erzählst du es mir dann jetzt?« »Weil Rian und seine Leute zu beschäftigt mit Kriegsvorbereitungen sind, um dir von den jüngsten Neuigkeiten zu berichten; deshalb habe ich mich erboten, das selbst zu übernehmen.« Danjin hielt inne. »Theran ist tatsächlich gefangen genommen worden, wie wir vermutet hatten, aber unseren Leuten ist es gelungen, ihn zu retten. Er, Nirem und Gohren sind auf dem Heimweg.«
Sein Vater nickte, und die Erleichterung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Danjin hatte die Neuigkeiten mit der gleichen Erleichterung aufgenommen. Auch wenn er sich mit seinen Brüdern nicht allzu gut verstand, wollte er doch nicht, dass einer von ihnen versklavt oder getötet wurde.
Dann holte er tief Luft und zwang sich, weiterzusprechen. »Da ist noch etwas, das du wissen solltest, Vater. Als man Theran gefangen nahm, hat man ihn gefoltert. Er hat viele Namen preisgegeben, darunter die von Nirem und Gohren. Deswegen werden weder Theran noch Nirem oder Gohren gefahrlos weiter in südliche Gewässer segeln können. Die Weißen haben sie von ihren Pflichten entbunden. Ich empfehle dir, sie nicht mehr...«
»Nein!« Pa-Speers Augen blitzten. »Theran würde niemals...!«
»Er hat es getan«, sagte Danjin entschieden. »Niemand kann im Voraus wissen, wie er unter Folter reagieren wird. Den Weißen ist das klar, und sie verurteilen ihn nicht. Sie sind dankbar für all das, was er ertragen hat, um uns Informationen über die Pentadrianer liefern zu können.«
Sein Vater wandte den Blick ab, und auf seiner Stirn stand eine steile Falte. Wie versöhnlich wirst du sein, Vater?, dachte Danjin. Du hattest niemals auch nur das geringste Verständnis für Schwäche, erst recht nicht bei deinen Söhnen.
Den Rest der Fahrt hüllte Pa-Speer sich in Schweigen. Das Tempelgelände, das früher einmal aus säuberlich geschnittenem Gras bestanden hatte, war jetzt nur noch eine aufgerissene Fläche von Schlamm, in dem Zelte, Karren, Soldaten und Tiere standen. Entlang der Straße zum Turm hatte sich eine lange Reihe von Plattans gebildet. Nachdem die Fahrgäste eines jeden Wagens ausgestiegen waren, wurden die Plattans zu einem Wartebereich hinter den Hauptgebäuden des Tempels gefahren.
Als ihr Plattan schließlich vor dem Turm Halt machte, wartete Danjin darauf, dass sein Vater als Oberhaupt ihrer Familie zuerst ausstieg, aber der alte Mann rührte sich nicht. Er sah Danjin nur mit ernster Miene an.
»Pass auf dich auf, Danjin«, sagte er leise. »Du magst nicht mein Lieblingssohn sein, aber du bist mein Sohn, und ich möchte dich nicht verlieren.«
Danjin musterte seinen Vater voller Überraschung, während der alte Mann sich nun erhob und aus dem Plattan stieg. Kopfschüttelnd folgte er ihm.
Das ist es also, womit ich seine Zuneigung erringen kann. Nun, ich habe nicht die Absicht, jedes Mal in den Krieg zu ziehen, wenn ich mir wünsche, dass er mir auch nur die kleinste Anerkennung entgegenbringt.
»Ich muss meinen Platz einnehmen«, sagte Danjin, als der Plattan davonfuhr. »Gib auf dich Acht, Vater. Und auf meine Brüder.«
»Ich werde das nächste Jahr wahrscheinlich damit zubringen, meine Verluste wettzumachen, die mir durch die fehlenden Geschäfte mit Sennon entstanden sind«, brummte Pa-Speer leise. »Wie dem auch sei, geh jetzt. Nimm deinen Platz in diesem wenig gewinn trächtigen, aber notwendigen Krieg ein.«
Danjin lächelte. Er ist wieder ganz der Alte, schroff wie eh und je. Er nickte höflich, dann wandte er sich ab, um nach den anderen Ratgebern Ausschau zu halten.
Die Ratgeber der Weißen würden gemeinsam in einem Tarn abreisen, sobald die Parade die Stadt verlassen hatte. Mari hatte Danjin nicht gesagt, wo er sie treffen würde, aber er hatte eine gute Vorstellung davon, wie er sie finden konnte. Nachdem er einige Minuten gesucht hatte, entdeckte er eine kleine Gruppe von Männern und Frauen, die die gleiche Uniform trugen wie er selbst. Sie schienen sich mit ihren neuen Kleidern ungefähr genauso wohlzufühlen wie er, stellte er fest.
Sie standen im Kreis neben dem Podest versammelt, das errichtet worden war, damit die Weißen das Wort an die Armee richten konnten. Ihre Aufmerksamkeit galt irgendetwas oder irgendjemandem in ihrer Mitte. Als Danjin sie erreichte, sah er, dass Rian zu ihnen sprach. Er trat in eine Lücke in den Kreis.
»Ratgeber Danjin Speer.« Rian sah ihn kurz an, dann wandte er sich wieder der ganzen Gruppe zu. »Jetzt, da ihr alle hier seid, möchte ich euch jemanden vorstellen.«
Rian blickte über die Schulter, dann trat er zurück. Zu Danjins Überraschung stand, ein wenig abseits von der Gruppe, eine Traumweberin. Rian winkte sie zu sich, und sie kam mit wachsamer Miene näher.
»Traumweberratgeberin Raeli. Sie tritt an die Stelle von Traumweber Leiard, der von seinem Amt zurückgetreten ist, um sich der Ausbildung seines Schülers zu widmen.«
Die Ratgeber nickten höflich, aber die Frau erwiderte die Geste nicht. Sie sah Danjin an, und ihm wurde bewusst, dass er sie überrascht angestarrt hatte.
»Dann wünsche ich ihm alles Gute«, sagte Danjin zu ihr. »Er war ein hilfreicher und verlässlicher Ratgeber.«
Die Frau reagierte auf diese Bemerkung mit einem flüchtigen Nicken, dann wandte sie den Blick ab. Danjin sah Rian an. Wusste Auraya von dieser Wendung der Ereignisse? Sie hatte gestern Abend, als sie durch den Ring zu ihm gesprochen hatte, nichts davon erwähnt. Er überlegte, ob er Rian danach fragen sollte, aber der Weiße hatte sich abrupt abgewandt und schaute jetzt zu dem Podest hinüber. Davor hatte sich eine große Gruppe Hohepriester und -priesterinnen versammelt. Hinter ihnen standen die übrigen Mitglieder der Priesterschaft und dahinter die Armee. Danjin konnte die Federbüsche auf ihren Helmen sehen – blau für die Hanianer und rot und orange für die Somreyaner.
»Ich muss euch jetzt verlassen«, erklärte Rian. »Wir werden jeden Augenblick beginnen.«
Er machte mit einer Hand das Zeichen des Kreises, eine Geste, die alle Ratgeber mit Ausnahme der Traumweberin erwiderten, dann eilte er davon, um sich zu Juran, Dyara und Mairae zu gesellen. Nach einer kurzen Unterredung stiegen die vier Weißen die Treppenstufen zum Podest hinauf.
Sofort senkte sich Stille über die Menge. Die Weißen stellten sich in einer Reihe auf. Als die Drittstärkste unter ihnen hätte Auraya normalerweise in der Mitte der Reihe gestanden, ging es Danjin durch den Kopf. Ob sie wohl zusah?
Natürlich tut sie das, dachte Danjin. Aber sie wird sich mit den anderen Weißen vernetzen. Sie haben von dort oben den besten Blick. Es muss ein beeindruckendes Bild sein.
Juran trat vor und hob die Arme. Als die letzten wenigen Stimmen zu einem Murmeln verklungen waren, ließ er die Arme wieder sinken. »Männer und Frauen von Hania und Somrey. Treue Freunde und Verbündete. Ich danke euch allen, dass ihr meinem Ruf zu den Waffen gefolgt seid. Heute werden wir uns auf den Weg zu den Goldebenen machen. Dort werden wir uns mit den Truppen aus Genria, Toren und Si vereinen, um eine einzige gewaltige Armee zu bilden. Es wird ein ehrfurchtgebietender Anblick sein. Noch nie zuvor waren so viele Völker Nordithanias für ein gemeinsames Ziel vereint. Es wird gleichfalls ein schreckliches Bild sein, denn was uns zusammenführt, ist ein Krieg – und zwar kein Krieg, den wir selbst verursacht hätten. Es ist ein Krieg, den die Pentadrianer, ein törichtes und barbarisches Volk, über uns gebracht haben.« Er hielt inne. Seine Stimme war dunkel vor Verachtung gewesen, als er den Namen des heidnischen Kults ausgesprochen hatte.
»Ich will euch erzählen, was ich über diese Pentadrianer weiß. Sie behaupten, fünf Göttern zu huldigen, genau wie wir es tun. Aber diese Götter sind falsch. Die Pentadrianer müssen Männer und Frauen versklaven und verführen, damit sie diesen Göttern huldigen, und sie haben sich auf den Weg nach Nordithania gemacht, um uns dazu zu zwingen, das Gleiche zu tun. Aber wir werden ihnen nicht nachgeben!« Seine Stimme wehte stark und wütend über den Platz.
Mehrere Menschen in der Menge bekundeten lautstark ihre Zustimmung.
»Wir werden unsere Götter nicht gegen diese verderbten Zaubererpriester eintauschen!«, fuhr Juran fort.
»Nein!«, kam die Antwort.
»Wir werden sie in ihre heidnischen Tempel zurücktreiben.«
»Ja!«
»Wir werden ihnen zeigen, was es heißt, realen Göttern mit realer Macht zu huldigen.«
Die Menge brach in Jubel aus. Juran lächelte und ließ den Menschen Zeit, ihre Begeisterung herauszuschreien, bevor er abermals das Wort ergriff.
»Die Götter haben uns, den Weißen, große Macht anvertraut, damit wir euch schützen können. Wir haben eine eigene Armee zusammengerufen. Wir Zirkler sind nicht gewalttätig. Wir finden keinen Gefallen an Blutvergießen. Aber wir werden uns verteidigen. Wir werden einander verteidigen. Wir werden unser Recht verteidigen, dem Zirkel der Götter zu huldigen. Und wir werden siegen!«
Er hob den Arm und schüttelte drohend die Faust. Die Reaktion der Menge war ohrenbetäubend. Danjin verkniff sich ein Lächeln. Im hellen Sonnenschein und mit Jurans Zuversicht, die sie alle ansteckte, war es schwer, sich vorzustellen, dass sie diese Schlacht verlieren würden. Nicht dass ich mir überhaupt vorstellen könnte, die Schlacht zu verlieren, ging es ihm durch den Kopf. Wie könnten wir auch scheitern, wenn wir die Götter auf unserer Seite haben?
»Folgt uns jetzt«, übertönte Juran die Jubelrufe. »Folgt uns in den Krieg!«
Er trat von dem Podest und stieg auf seinen Träger. Die anderen Weißen folgten seinem Beispiel. Sie trieben ihre prächtigen, weißen Reyna in die Menge. Die Hohepriester traten zurück, um ihre Anführer passieren zu lassen.
Nach und nach schlossen sich alle anderen an. Danjin bewegte sich auf das Podest zu und ging einige Stufen hinauf, um die gewaltige Menschenmenge zu beobachten, die in einer Marschkolonne den Tempel verließ. Als er fernen Jubel hörte, blickte er über die Köpfe der Menschen hinweg. Die Weißen waren soeben durch den Bogengang in die Stadt gezogen. Er stieg noch eine weitere Stufe hinauf und sah, dass die Straßen von Zuschauern gesäumt waren.
Die Treppe vibrierte unter dem Schritt eines anderen. Danjin drehte sich um; Lanren Liedmacher, einer der militärischen Ratgeber, kam auf ihn zu.
»Wir sollten ihnen folgen«, murmelte der Mann. »Ich bezweifle, dass die Armee auf uns warten wird, wenn wir uns nicht den Priestern anschließen.«
»Ja«, pflichtete Danjin ihm bei. Er ging die Stufen hinunter und gesellte sich zu den anderen Ratgebern. Als die letzten Priester und Priesterinnen sich der Kolonne anschlossen, wies Lanren sie an, ihre Plätze einzunehmen.
Auraya betrachtete die Überreste ihres gestrigen Abendessens und verzog das Gesicht. Sie mochte Fisch, aber die einzige Art, die sie am vergangenen Abend hatte fangen können, waren Holzfische. Diese waren bekanntermaßen fade, und sie hatte keine Gewürze oder Kräuter gefunden, die ihrem Mahl etwas Aroma hätten verleihen können. Sie hatte sich mit dieser geschmacklosen Kost abgefunden, nur um von Eindrücken des wunderbaren Festmahls gequält zu werden, an dem Danjin sich zur gleichen Zeit während ihrer gedanklichen Unterredung erfreut hatte.
Wenn ich gewusst hätte, dass ich tagelang auf einer unbewohnten Klippe lagern würde, hätte ich mir etwas zu essen mitgenommen. Und ein Stück Seife.
Sie hatte sich soeben in einem kleinen Teich mit Regenwasser gewaschen, den sie am Tag zuvor entdeckt hatte. Ihr einstmals blendend weißer Zirk war mittlerweile ein wenig schmuddelig, obwohl sie jeden Tag ihre Gaben benutzte, um Schmutz und Flecken zu entfernen. Manchmal kam es ihr so vor, als seien diese alltäglichen Aufgaben die einzige Verwendung für Magie, die sie hatte.
Nun ja, abgesehen vom Fliegen und von der Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen zu lesen, überlegte sie.
Schließlich trat sie an den Rand der Klippe und blickte zu den Inseln von Borra hinab. Sie war seit vier Tagen jeden Tag hierher zurückgekehrt. Und jedes Mal hatte der König ihr Audienzgesuch abgelehnt. Gestern war die Nachricht, die der Höfling sich eingeprägt hatte, jedoch anders ausgefallen.
»Sag ihr, dass ich sie nur dann empfangen werde, wenn sie in den Palast kommt.«
Befürchtete er, dass sie versuchen würde, ihn mit einer List dazu zu bringen, die Sicherheit seiner Unterwasserstadt zu verlassen? Gewiss hatten die Elai, die sie gesehen hatten, ihm berichtet, dass sie immer allein kam. Oder hatte er diese Bedingung aus reiner Bosheit gestellt, weil er glaubte, sie könne die Stadt nicht erreichen oder würde bei dem Versuch ertrinken?
Lächelnd erhob sie sich von dem Felsen. Obwohl sie die Stadt mühelos über den geheimen Weg zu dem Ausguck erreichen könnte, würde sie damit das Vertrauen der Elai nicht gewinnen. Wenn sie auf die Herausforderung des Königs eingehen wollte, musste sie den Palast über den unterseeischen Weg erreichen. Ihre Ankunft würde ebenso viel Neugier wie Furcht wecken. Die Elai würden wissen wollen, wie es ihr gelungen war, ihre Stadt zu erreichen, ohne zu ertrinken, und gleichzeitig würde es ihnen Angst machen, dass eine Fremde in ihre Heimat vorgedrungen war.
Sie hatte in den vergangenen Tagen reichlich Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie sie in den Palast kommen könnte. Sie hatte beobachtet, wie schnell diese fremdartigen Meeresmenschen schwimmen konnten und wie lange sie den Atem anzuhalten vermochten. Und diese Zeit war kürzer, als sie erwartet hatte. Sie konnten nur etwa drei- oder viermal so lange unter Wasser bleiben wie ein Landgeher, waren allerdings in der Lage, bemerkenswert schnell zu schwimmen. Sie selbst hatte kaum Erfahrung mit diesem Element, da sie als Kind nur gelegentlich in einer stillen Biegung des Flusses in der Nähe ihres Dorfes herum geplanscht hatte. Aber das sollte kein Problem sein. Sie hatte nicht die Absicht zu schwimmen.
Die Luft war an diesem Tag sehr feucht. Der Wind spielte mit den Wellen und ließ weiße Gischt aufschäumen. Die kräftigen Böen zwangen sie, ihr Tempo zu verlangsamen, so dass sie eine Stunde später als an den vergangenen Tagen ankam. Sobald sie die Inseln erkennen konnte, hielt sie auf diejenige mit den zwei Gipfeln zu. Sie stieg langsam hinab und bemerkte, dass die Strände dieser Insel verlassen waren. Ohne lange zu zögern, sandte sie ihren Geist aus und entdeckte mehrere Elai, die paarweise auf dem höchsten Gipfel und im Wasser Wache hielten. Als sie auf dem Sand landete, fing sie einen Gedankenfaden von den Wächtern auf. Sie war gesehen worden. Lächelnd ging sie aufs Wasser zu.
Kurz bevor sie die Wellen erreichte, blieb sie stehen und schuf einen magischen Schild um sich herum, bevor sie sich, immer noch aufrecht, ein wenig über den Boden erhob und vortrat. Als sie über tieferem Wasser angelangt war, ließ sie sich langsam hinabsinken. Der Schild tauchte ins Wasser, das sich seinem Eindringen widersetzte, aber sie hatte diese Prozedur inzwischen viele Male geübt. Die Luftblase um sie herum strebte der Oberfläche entgegen, was sie jedoch nicht zuließ. Sie stärkte ihren Schild, stieg weiter in die Tiefe hinab und drang in eine geisterhafte Welt vor.
Überall um sie herum schuf fütterndes Sonnenlicht eine Illusion von Bewegung. Die vom Wind aufgepeitschten Wellen wühlten den Meeresboden auf, und in den Sandschwaden unter ihr konnte Auraya bizarre Gestalten ausmachen. Gebilde, die die Form von Bäumen, Pilzen oder riesigen, gemusterten Eiern hatten, umgaben sie, und alle waren eingehüllt von Seegräsern und Algen, die von den Wellen hin und her getrieben wurden. Auch Fische verbargen sich in diesem eigenartigen Meeresgarten. Auraya vermutete, dass es sich um die gleichen Fischarten handelte, die sie bei ihren Versuchen, sich unter Wasser zu bewegen, verwirrt hatten, aber in dem schummrigen Licht wirkten ihre Farben trüb und gedämpft.
Plötzlich hatte sie das Ende dieses fantastischen Unterwasserwalds erreicht. Sie bewegte sich über den Rand eines Kliffs und blickte in endlose Finsternis hinab. Der Meeresboden konnte ebenso gut einige hundert wie mehrere tausend Schritte entfernt sein. Schaudernd stieg sie in die Tiefe hinunter. Den Gedanken der Elai hatte sie entnommen, dass ihr Bestimmungsort nicht mehr allzu weit entfernt war.
Als sie tiefer sank, stieß sie auf eine dunkle Gestalt, die sie umkreiste und dann innehielt. Die Elai – es war eine Frau -starrte sie an. Auraya lächelte, was die Frau jedoch nur aus ihrem Schockzustand herausriss und in die Flucht trieb.
Weitere Elai erschienen. Auch sie starrten sie nur an und huschten davon. Schwache Lichter zogen Auraya zu einem großen Loch in der Klippenwand. Etliche Elai benutzten diese Öffnung von beiden Seiten, aber als sie sie entdeckten, versiegte der Strom der Unterwassermenschen jäh. Einige schwammen um sie herum, bevor sie sich entfernten, andere machten bei ihrem Anblick sofort kehrt und verschwanden in dem Loch.
Das Licht kam, wie Auraya bemerkte, von den hässlichsten Fischen, die sie je gesehen hatte und die in kleinen Käfigen gefangen waren. Die Käfige waren paarweise aufgestellt, und die Tiere darin schienen vollkommen fasziniert voneinander zu sein. Als Auraya durch das Loch schwamm, kam sie an zweien dieser Fische vorbei. Der eine schoss blitzschnell auf den anderen zu, aber der Käfig sorgte dafür, dass seine scharfen Zähne sich nicht in das Fleisch des anderen Fisches graben konnten.
Die Luft in ihrem Schild war inzwischen ein wenig schal geworden. Sie widerstand der Versuchung, sich schneller zu bewegen, denn sie wollte die Elai nicht noch mehr ängstigen. Es kam ihr so vor, als sei sie eine Ewigkeit den langsam absteigenden Tunnel hinuntergeschwebt, bis sie endlich die erste Lufttasche erreichte.
Sie war ziemlich flach, aber doch breit genug, um mehreren Elai Platz zu bieten, die dort Atem schöpfen konnten. Sie wusste von den Elai, dass schmale Risse und Klüfte in den Felsen die Luft frisch hielten. Sie öffnete ihren Schild, um die frische, kühle Luft einzulassen. Dann versiegelte sie den Schild wieder und stieg von neuem in die Tiefe.
Obwohl sie sie nicht sehen konnte, nahm sie die Gedanken von Elai um sich herum wahr. Wenn sie gewollt hätten, hätten sie fliehen können. Stattdessen waren sie in der Nähe geblieben, um sie zu beobachten. Das ist gut, befand sie. Sie sind nicht so scheu, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Außerdem haben sie offensichtlich bessere Augen als ich.
Sie hielt noch achtmal inne, um Luft in ihren Schild einzulassen, dann wurden die Wände des Tunnels jäh breiter, und zahlreiche Lichter erschienen über der Oberfläche. Auraya bewegte sich aufwärts. Als ihr Schild die Wasseroberfläche durchbrach, stellte sie fest, dass sie sich am Rand einer riesigen Höhle befand.
In die Wände waren tausende von Löchern eingemeißelt, und durch mehr als die Hälfte von ihnen fiel Licht. Auf der anderen Seite des Sees befand sich ein breiter Bogengang. Der Boden der Höhle wölbte sich wie eine gewaltige Rampe aus dem Wasser nach oben, und am Rand des Wassers gingen etliche Elai umher, die Auraya anstarrten. Ein Horn erklang und füllte die Höhle mit Echos. Die Elai eilten zu beiden Seiten der Rampe davon. Hinter ihnen erschien jetzt eine Gruppe von Männern, die mit stolzer Miene Speere trugen. Am Rand des Wassers blieben sie stehen und bildeten eine Abwehrlinie.
Auraya bewegte sich langsam auf sie zu, bis sie direkt vor ihnen schwebte.
»Ich bin Auraya von den Weißen. Wie der König es verlangt hat, bin ich in die Stadt der Elai gekommen, um mich hier mit ihm zu treffen.«
Die Krieger rührten sich nicht, aber einige von ihnen runzelten die Stirn. Dann erklang eine Stimme von der Seite.
»Das habe ich verlangt, ja. Dann komm. Diese Männer werden dich in den Palast begleiten.«
Auraya sah sich um, konnte aber den Sprecher nirgendwo entdecken; ebenso wenig war sie in der Lage, seinen Geist zu erspüren. Fasziniert trat sie einige Schritte vor und setzte die Füße auf den Boden. Die Krieger bildeten links und rechts von ihr eine Doppelreihe. Sie zog ihren Schild dicht an sich und folgte ihrer Eskorte in die unterirdische Stadt des Meeresvolkes.
Leiard blickte auf den Schnee hinab, der sich auf den zotteligen Ohren und den kurzen Hörnern der Arems vor ihm ansammelte. Der wiegende Gang der großen, fleckigen Tiere, die den vierrädrigen Tarn zogen, war beruhigend. Arems waren starke, friedfertige Geschöpfe, die gut geeignet waren, um Wagen oder Pflüge zu ziehen. Er konnte sich daran erinnern, Schnitzereien von Arems in den Ruinen lange vergangener Zeitalter gesehen zu haben. Auch diese Tiere hatten Karren gezogen, daher wusste er, dass sie vor tausenden von Jahren gezähmt worden waren. Man konnte sie auch reiten, aber sie bewegten sich nur langsam und reagierten träge auf Befehle; außerdem waren sie im Rücken zu breit, um bequem darauf sitzen zu können. Kein Adliger hätte sich jemals dazu herabgelassen, ein Arem zu reiten. Die feinknochigen, launischen Reyna, die die Adligen ritten, gingen jedoch nicht gut im Geschirr, obwohl man sie dazu ausbilden konnte, Plattans zu ziehen, die für Rennen benutzt wurden.
Im Gegensatz zu anderen Tieren schienen Arems keine magischen Gaben zu haben. Die meisten Tiere und Pflanzen benutzten in kleinem Umfang Magie, die ihnen half, Nahrung zu finden, sich zu verteidigen oder nach einem Gefährten für die Paarung zu suchen. Wenn Arems überhaupt eine magische Gabe besaßen, so war es vermutlich die Fähigkeit, den Gedanken ihres Fahrers den Bestimmungsort zu entnehmen. Sie hatten ein beeindruckendes Gedächtnis für die Straßen und Orte, an denen sie einmal gewesen waren, und es gab viele Geschichten, in denen sie Fahrer, die aufgrund von Krankheit oder zu viel Wein eingenickt waren, nach Hause gebracht hatten. Oder in die Häuser ihrer Geliebten.
Die Traumweber lenkten abwechselnd die drei vierrädrigen Tarns, die sie in Jarime für den Transport von Essen, Zelten und Vorräten gekauft hatten. Einige von ihnen gingen voraus, um den Schnee, wo er die Straße versperrte, zu schmelzen oder wegzukehren. Alles, was Leiard von dem Wagen vor ihm sah, war das geölte Tuch, das die großen Vorratsbündel bedeckte. Es hatte keinen Sinn, zurückzublicken; sein gleichermaßen voll beladener Tarn versperrte die Sicht. Allerdings konnte er die Stimmen der Traumweber hören, die in Arleej s Gruppe reisten.
»Glaubst du, die Armee wird uns einholen?«, fragte Jayim.
Leiard sah zuerst den jungen Mann an seiner Seite an, dann wieder die Arems.
»Nein. Die meisten Soldaten reisen zu Fuß.« »Warum?«, wollte Jayim wissen. Leiard lachte leise. »Es gibt in Hania nicht einmal genug ausgebildete Reyna für die Hälfte der Armee, geschweige denn für die Somreyaner.«
Jayim kaute auf seiner Unterlippe. »Wir kommen kaum schneller voran als jemand, der zu Fuß geht, und wegen des Schnees müssen wir immer wieder Halt machen, daher werden wir wohl keinen großen Vorsprung gewinnen.«
»Möglicherweise doch. Vergiss nicht, wir brauchen keine Armee zu befehligen. Stell dir vor, wie viel Zeit und Mühe sie jeden Abend aufwenden müssen, um ihr Lager zu errichten, die Verteilung von Essen und Holz für die Feuer zu regeln, Streitigkeiten zu schlichten, morgens alle Männer wieder aufzuwecken und in Marsch zu setzen. Selbst wenn die Schneefälle aufhören sollten und das Wetter wieder besser wird, gibt es einfach zu viel zu tun.«
Jayim machte ein nachdenkliches Gesicht. »Es wäre interessant, das zu beobachten. Ich wünschte beinahe, wir würden mit ihnen reisen, obwohl ich verstehe, warum wir das nicht tun.«
Leiard nickte. Vor einigen Tagen hatte er Jayim bei einer Gedankenvernetzung einige Erinnerungen an frühere Kriege gezeigt. Da Traumweber grundsätzlich für keine Seite Partei ergriffen und Kranke und Verletzte behandelten, ungeachtet der Frage, welcher Nationalität oder welchem Glaubensbekenntnis ihr Patient angehörte, stießen sie häufig auf Ablehnung. In der Vergangenheit waren nicht wenige Traumweber dafür getötet worden, dass sie »dem Feind geholfen« hatten.
Traumweber reisten grundsätzlich nicht mit den Armeen. Sie bildeten in kleinen Gruppen entweder die Vorhut oder das Schlusslicht. Während des Wahnsinns einer Schlacht warteten sie in einiger Entfernung, um später auf das Schlachtfeld und in die Lager beider Armeen zu gehen und ihre Hilfe anzubieten. Jayim sah Leiard kurz an, dann wandte er den Blick hastig wieder ab.
»Was hast du?«, fragte Leiard.
»Nichts.«
Leiard wartete lächelnd ab. Es war ungewöhnlich, dass Jayim zu sprechen zögerte. Nach einigen Minuten wandte der Junge sich Leiard wieder zu.
»Glaubst du... glaubst du, dass du irgendwann Auraya begegnen wirst?«
Bei der Erwähnung ihres Namens durchzuckte Leiard ein erregendes Gefühl von Hoffnung. Er holte tief Luft und rief sich ins Gedächtnis, warum er hier bei Arleej war.
»Ihr würdet euch heimlich treffen müssen, nicht wahr?«, hakte Jayim nach.
»Nicht unbedingt.«
»Ich nehme an, es wird dir nichts passieren, solange die anderen Weißen nicht in der Nähe sind und deine Gedanken lesen.« »Ja.«
»Glaubst du, ihr werdet... zusammenkommen? Ein letztes Mal?«, fragte Jayim. Leiard sah Jayim an. Der Junge grinste.
»Das hier ist keine Kleinigkeit, Jayim. Ich habe uns in große Gefahr gebracht. Begreifst du das nicht?«
Sei nicht so pedantisch. Der arme Jayim ist noch Jungfrau. Was er in deiner Erinnerung gesehen hat, war interessanter als alles, was er sich je vorgestellt hat.
Beim Klang der vertrauten Stimme in seinem Kopf runzelte Leiard die Stirn. Du bist immer noch nicht ganz weg, nicht wahr, Mirar?
Du wirst mehr brauchen als nur einige Gedankenvernetzungen, um mich loszuwerden.
Erheblich mehr.
»Natürlich verstehe ich das«, antwortete Jayim mit ernster Miene. Dann grinste er abermals. »Aber du musst auch die komische Seite sehen. Unter allen Frauen, die du hättest wählen können, hast du dich ausgerechnet für sie entschieden. Es ist wie in einem dieser Theaterstücke, die die Adligen so lieben. Skandalöse Affären und tragische Liebe, wo man hinschaut.«
»Und deren Folgen«, ergänzte Leiard.
Mir gefällt die Einstellung des Jungen, bemerkte Mirar. Er hat einen ausgeprägten Sinn für Humor. Im Gegensatz zu dem Mann, in dem ich festsitze...
»Manchmal kommen die Liebenden damit durch«, stellte Jayim fest.
»Ein glückliches Ende solcher Affären ist ein Luxus, den man nur in Romanen und Theaterstücken findet«, entgegnete Leiard.
Jayim zuckte die Achseln. »Das ist wahr. Ich habe mir vorgestellt, was das für ein Geheimnis sein könnte, das du hütest. Ich hatte nicht erwartet, dass es etwas sein würde, das so... so...«
»So gewagt ist?«, beendete Leiard seinen Satz.
Jayim kicherte. »Ja. Es war eine Überraschung. Ich weiß nicht, warum, aber ich dachte, die Weißen würden nicht... ahm. – - ich dachte, sie leben keusch. Aber wahrscheinlich wäre das ein wenig zu viel verlangt von jemandem, der unsterblich ist. Vielleicht ist das der Grund, warum Mirar war, wie er war.«
Leiard unterdrückte ein Lachen. Also? War das der Grund, warum du dich so schlecht benommen hast?
Ich weiß es nicht. Vielleicht. Weiß irgendjemand, warum er die Dinge tut, die er tut?
Du hattest reichlich Zeit, es herauszufinden.
Manche Antworten kann man nicht finden, selbst wenn man alle Zeit der Welt hätte.
Unsterblichkeit macht einen nicht unbedingt allwissend.
»Ich frage mich, ob alle Weißen so sind«, überlegte Jayim laut. »Wenn die Unsterblichkeit sie dazu verleitet, sich so zu benehmen, so... du weißt schon. Gewiss hätten die Leute doch davon erfahren, wenn die anderen Weißen mit jedem ins Bett gingen, der ihnen über den Weg läuft.«
Leiard blickte entrüstet drein. »Auraya ist nicht mit jedem ins Bett gegangen, der ihr über den Weg gelaufen ist.«
»Es wäre durchaus möglich, dass sie es tut. Woher willst du das wissen?«
»Jetzt aber genug mit diesem Gerede«, sagte Leiard energisch. »Wenn du Zeit hast zu schwatzen, hast du auch Zeit für deinen Unterricht.«
Jayim schnalzte enttäuscht mit der Zunge. »Während wir unterwegs sind?«
»Ja. Du wirst während der nächsten Jahre noch viel auf Reisen sein, daher gewöhnst du dich am besten gleich daran, deine Ausbildung auf der Straße zu erhalten.«
Der Junge seufzte. Er drehte sich um, um über seine Schulter zu blicken, änderte dann aber seine Meinung.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich nach alledem nicht nach Hause zurückkehren werde«, murmelte er, und seine Stimme war so leise, dass man sie kaum hören konnte. Dann richtete er sich auf und sah Leiard an. »Also, was werde ich heute lernen?«
Irgendetwas ist passiert, befand Imi, während sie Teiti, ihrer Tante und Lehrerin, durch den Flur folgte. Zuerst war da der vor Anstrengung keuchende Bote gewesen, der sich Teiti hastig genähert und der alten Frau etwas ins Ohr geflüstert hatte, bevor er davongehumpelt war. Dann hatte Teiti ihr befohlen, den Teich und die anderen Kinder zu verlassen, und sie, ohne auf ihren Protest zu achten, nach Hause geschleppt. Sie waren über einen der geheimen Wege gegangen, ein Umstand, der sofort Imis Argwohn geweckt hatte. Als sie am Palast angekommen waren, hatten die Wachen ihr nicht zugelächelt, wie sie das normalerweise taten. Sie hatten sie vollkommen ignoriert und ernst und unnahbar gewirkt. Die Wachen, die stets an den Türen ihres Zimmers standen, hatten zwar gelächelt, aber auch sie hatten den Eindruck gemacht, als seien sie seltsam nervös.
»Was geht hier vor?«, fragte sie Teiti, als die Türen sich hinter ihnen schlossen. Teiti blickte auf Imi herab und runzelte die Stirn. »Ich habe es dir bereits gesagt, Prinzessin, ich weiß es nicht.«
»Dann finde es heraus«, befahl Imi.
Teiti verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein missbilligendes Gesicht. Im Gegensatz zu den übrigen Palastdienern ließ Teiti sich nicht leicht einschüchtern. Sie war kein Lakai, sondern ein Familienmitglied, und stand im Rang nur geringfügig unter Imi. Doch die erwartete Schelte blieb aus. Der missbilligende Ausdruck in Teitis Zügen verwandelte sich in Sorge.
»Heilige Huan«, murmelte sie. »Warte hier. Ich werde gehen und feststellen, ob ich etwas in Erfahrung bringen kann.«
Imi lächelte und legte die Hände zusammen. »Vielen Dank! Bitte, beeil dich!«
Die alte Frau kehrte zu den Türen zurück, legte eine Hand auf den Griff und drehte sich dann noch einmal mit argwöhnischer Miene zu Imi um.
»Sei ein braves Mädchen, Imi. Geh nirgendwohin. Um deiner eigenen Sicherheit willen, bleib hier.«
»Ich verspreche es.«
»Wenn du bei meiner Rückkehr nicht mehr hier bist, werde ich dir nichts erzählen«, warnte sie ihre Nichte.
»Ich habe es doch schon gesagt, ich werde hierbleiben.«
Teiti kniff die Augen zusammen, dann wandte sie sich um und verließ den Raum. Als die Türen sich hinter der alten Frau schlossen, stürzte Imi in ihr Schlafzimmer. Sie lief zu einer Schnitzerei an einer der Wände und schob die Hand dahinter. Es dauerte nicht lange, bis sie den Riegel gefunden hatte. Sie schob ihn zurück, woraufhin die Schnitzerei lautlos aufschwang wie eine Tür.
Dahinter befand sich eine Öffnung. Ihr Vater hatte ihr dieses Loch vor vielen Jahren gezeigt. Falls irgendwelche bösen Menschen in den Palast eindringen sollten, so hatte er ihr erklärt, sollte sie durch das Loch kriechen und warten, bis sie dort waren. Er hatte ihr nicht erzählt, dass dieses Loch der Eingang zu einem Tunnel war. Diesen Umstand hatte sie eines Abends entdeckt, als die Langeweile stärker geworden war als ihre Furcht, sich an einen unbekannten, dunklen Ort zu wagen. Mit einer Kerze in der Hand hatte sie sich kriechend ein kleines Stück vorwärtsbewegt, bevor sie auf eine Mauer aus Stein und Mörtel gestoßen war.
Das Hindernis war jedoch nicht vollkommen unüberwindlich. Der Erwachsene, der es gemacht hatte, hatte offensichtlich zu wenig Platz gehabt, um sich zu bewegen, und war nicht gründlich genug zu Werke gegangen. Imi hatte Stimmen hören können, die durch Risse und Löcher in der Wand gedrungen waren. Stimmen, die sie nicht ganz deutlich verstehen konnte.
Also war sie einen Monat lang jeden Abend, nachdem sie eigentlich längst hätte im Bett liegen müssen, in das Loch geschlüpft und hatte das Hindernis nach und nach abgetragen. Den Staub und die kleinen Mörtelbröckchen hatte sie in die Latrine gekippt und die größeren Steine in ihrer Kleidung nach draußen geschmuggelt.
Als sie jetzt in das Loch hinaufstieg, gratulierte sich Imi abermals zu ihrer Entdeckung. Nach der Entfernung des Hindernisses war sie weitergekrochen und hatte eine kleine Tür entdeckt, die auf der Tunnelseite verriegelt gewesen war. Als sie die Tür geöffnet hatte, war sie in einen kleinen Schrank gelangt. Dahinter lag ein mit Rohren gesäumter Raum.
Sie hatte sofort erraten, worum es sich handelte. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass er eine Möglichkeit habe, mit Menschen in anderen Teilen der Stadt zu sprechen, und er hatte ihr von den Röhren erzählt, die Geräusche weitertrugen.
Er hatte keine Ahnung, dass sie wusste, wo sich dieser Raum befand, oder dass sie ihn ebenfalls benutzte.
Es war ein wunderbarer Spaß, hierherzukommen. Bevor sie spätabends durch den Tunnel kroch, versicherte sie sich immer, dass ihr Vater andernorts zu tun hatte. Dann legte sie den Kopf an die ohrenförmigen Öffnungen in den Rohren und lauschte Gesprächen zwischen wichtigen Persönlichkeiten, Streitigkeiten unter den Dienern und dem Austausch von Zärtlichkeiten zwischen heimlichen Liebenden. Sie kannte alle Gerüchte der Stadt – und auch die Wahrheit.
Als sie jetzt die hölzerne Tür erreichte, lauschte Imi auf Stimmen, bevor sie hindurchtrat. Dann eilte sie zu dem Rohr, von dem sie wusste, dass es in den königlichen Audienzsaal führte, und drückte ihr Ohr an die Öffnung.
»...die Vorteile des Handels. Die Kunstwerke, die ich in diesem Raum sehe, und der Schmuck, den du trägst, sagen mir, dass du hier begabte Künstler hast. Diese Künstler könnten Dinge herstellen, um sie außerhalb von Borra zu verkaufen. Als Gegenleistung könntest du dich an einigen Annehmlichkeiten meines Volkes erfreuen, wie zum Beispiel an den schönen Stoffen, die in Genria hergestellt werden und die glänzen wie Sterne, oder an den leuchtend roten Feuersteinen von Toren.«
Die Stimme gehörte einer Frau und hatte einen eigenartigen Akzent. Die Frau sprach langsam und stockend, als müsse sie über jedes einzelne Wort nachdenken. Bei der Beschreibung von glänzendem Stoff und brennenden Steinen hielt Imi den Atem an. Diese Dinge klangen wunderbar, und sie hoffte, dass ihr Vater sie kaufen würde.
»Außerdem gibt es eine Vielzahl von Gewürzen, Kräutern und exotischen Speisen, die du vielleicht gern kosten würdest, und ich weiß, dass im Norden ein Volk lebt, das ein Vermögen für die Gelegenheit gäbe, neue Produkte aus Borra kennen zu lernen. Aber glaube nicht, wir hätten nur Luxuswaren anzubieten. Mein Volk verfügt über wirksame Heilmittel, um alle möglichen Krankheiten zu kurieren, und es würde mich nicht überraschen, zu entdecken, dass ihr Heilmittel kennt, denen wir noch nie begegnet sind. Es gibt so vieles, was wir einander geben könnten, mein König.«
»Ja, das ist wahr.« Imis Herzschlag beschleunigte sich, als die Stimme ihres Vaters erklang. »Es ist eine schöne Ansprache, die du da gehalten hast, aber wir haben diese Dinge schon früher gehört. In der Vergangenheit sind Landgeher hierhergekommen und haben behauptet, sie wollten nur Handel mit uns treiben. Stattdessen haben sie uns bestohlen; sie haben aus ebendiesem Raum heilige Gegenstände entwendet. Wir haben diese Leute gejagt und unser Eigentum zurückgeholt, und wir haben geschworen, den Landgehern nie wieder zu vertrauen. Warum sollten wir dieses Gelübde brechen und dir vertrauen?«
Landgeher?, dachte Imi. Diese Frau ist eine Landgeherin! Wie ist sie in die Stadt gekommen?
»Ich verstehe deinen Ärger und deine Vorsicht«, sagte die Frau. »Ich würde genauso handeln, wenn ich auf solche Weise betrogen worden wäre. Falls du deine Türen Kaufleuten öffnest, würde ich dich drängen, diese Vorsicht beizubehalten. Sie sind nicht immer die ehrlichsten Menschen. Aber ich bin kein Kaufmann. Ich bin eine Hohepriesterin der Götter. Eine der fünf Auserwählten, die sie in dieser Welt repräsentieren. Ich kann die Falschheit der Welt ebenso wenig eindämmen wie du, aber ich kann versuchen, dergleichen vorzubeugen oder sicherzustellen, dass ein solches Verhalten bestraft wird. Eine Allianz mit uns würde die Abmachung einschließen, dass wir einander verteidigen. Wir würden euch helfen, euer Land vor Eindringlingen zu schützen, wenn ihr euch als Gegenleistung dazu verpflichten würdet, auch uns zu helfen.«
DAS klingt ein wenig töricht, ging es Imi durch den Kopf. Es gibt nur wenige von uns und so viele Landgeher...
»Was könnten wir dir, einer Zauberin von großer Stärke, die den Befehl über gewaltige Armeen von Landgehern hat, anbieten?«
»Was immer an Hilfe ihr leisten könntet, mein König«, antwortete sie gelassen. »Die Siyee haben soeben ein solches Abkommen mit uns getroffen. Sie mögen körperlich weder groß noch stark sein, aber es gibt viele Wege, wie sie uns helfen können.«
Stille folgte. Imi konnte hören, wie ihr Vater mit der Zunge schnalzte, was er immer tat, wenn er konzentriert nachdachte.
»Wenn du bist, was du zu sein behauptest«, sagte er plötzlich, »dann solltest du in der Lage sein, Huan jetzt zu uns zu rufen. Tu das, damit ich sie fragen kann, ob du die Wahrheit sprichst.«
Die Frau gab ein leises Geräusch von sich, das wie ein ersticktes Lachen klang. »Ich mag zwar einer ihrer Repräsentanten sein, aber das gibt mir noch nicht das Recht, eine Göttin herumzukommandieren.« Sie hielt inne, und ihre Stimme war jetzt so leise, dass Imi sie kaum noch verstehen konnte. »Ich habe jedoch erst kürzlich mit ihr über dein Volk gesprochen. Sie sagte, die Entscheidung liege bei euch. Sie werde sich nicht einmischen.«
Wieder trat Stille ein.
»Das wusstest du bereits, nicht wahr?«, fügte sie in einem Tonfall gelinder Überraschung hinzu.
»Die Göttin hat etwas in der Art zu unseren Priestern gesagt«, gab der König zu. »Wir sollen in dieser Angelegenheit selbst entscheiden. Ich werte das als ein Zeichen dafür, dass sie meinem Urteil vertraut.«
»So sieht es aus«, stimmte die Frau ihm zu.
»Mein Urteil lautet wie folgt: Ich weiß nicht genug über dich, Landgeherin. Ich sehe keinen Grund, warum wir unser Leben für einige Kinkerlitzchen aufs Spiel setzen sollten. Dein Angebot, uns zu schützen, ist verführerisch, was du gewiss selbst weißt, aber wie kannst du uns verteidigen, wenn du auf der anderen Seite des Kontinents lebst?«
»Wir werden diese Plünderer finden und sie bestrafen«, erwiderte die Frau. »Jede weitere Bedrohung kann mithilfe von Schiffen abgewendet werden, die wir aus Porin schicken würden.«
»Diese Schiffe würden niemals rechtzeitig hier ankommen. Als Nächstes wirst du vorschlagen, ein Schiff hier vor Anker gehen zu lassen. Dann wirst du eine Siedlung für die Mannschaft fordern. Das kommt nicht infrage.«
»Ich verstehe. Man wird eine Alternative finden. Wenn wir diese Angelegenheit besprechen...«
»Nein.« Imi erkannte die halsstarrige Härte, die sich in die Stimme ihres Vaters schlich, wenn er eine Entscheidung getroffen hatte. Sie runzelte missbilligend die Stirn. Es hatte so aufregend geklungen, all dieses Gerede von Handelsgütern. Es war doch gewiss die einfachste Methode, die Plünderer loszuwerden, indem man andere dafür bezahlte, dass sie diese Mühe auf sich nahmen.
»Imi!«
Beim Klang der Stimme zuckte sie zusammen. Es war Teiti, und ihre Stimme kam nicht aus dem Rohr. Sie kam von dem Loch im Schrank. Ihre Lehrerin war zurückgekehrt. Imi blieb das Herz fast stehen. Der einzige Grund, warum Imi die Frau hören konnte, war der, dass sie die Schnitzerei – die Tür vor dem Loch – offen gelassen hatte! Wenn Teiti das Loch fand, würden Imis Besuche in dem Raum mit den Rohren ein jähes Ende nehmen.
Imi kletterte blitzschnell in den Schrank. Sie zog die Tür hinter sich zu, dann stieg sie in das Loch. Die hölzerne Tür zu schließen war schwieriger; Imi war in der letzten Zeit ein wenig gewachsen und hatte nicht mehr genug Platz, um den Griff hinter sich zuzuziehen.
Sie kroch, so schnell sie konnte, weiter, hielt dann direkt vor der Öffnung inne und blickte hinaus. Teiti lief im Zimmer nebenan umher. Als die Frau unter einen Stuhl sah, musste Imi ein Lachen unterdrücken. Teiti glaubte, sie verstecke sich.
»Imi, das ist sehr unartig. Komm jetzt raus!«
Teiti ging auf das Schlafzimmer zu, und Imi erstarrte, als ihre Tante in einen Schrank schaute. Hastig streckte sie die Hand aus und zog die Schnitzerei wieder über das Loch. Sie lauschte, während Teiti im Schlafzimmer umherging und mit zittriger Stimme nach ihr rief. Imi runzelte die Stirn. War Teiti wütend? Oder nur aufgeregt? Die Stimme verblasste, als die alte Frau in den Hauptraum zurückkehrte. Dann hörte Imi ein leises Schniefen, und das schlechte Gewissen trieb ihr die Röte ins Gesicht. Teiti weinte!
Also schob sie die Schnitzerei beiseite, schlüpfte so geräuschlos wie möglich aus dem Loch und verriegelte die Schnitzerei wieder, bevor sie ins Nebenzimmer lief.
»Es tut mir leid, Teiti«, rief sie.
Die Frau blickte auf, dann stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Imi! Das war nicht witzig!«
Es war nicht schwer, einen schuldbewussten Eindruck zu machen. Teiti mochte eine strenge Lehrerin sein, aber sie konnte auch lustig und großzügig sein. Imi spielte ihren Freunden gern Streiche, brachte sie damit aber nur zum Lachen. Sie wollte niemandem wehtun.
»Das muss eine ernste Angelegenheit sein«, sagte sie.
Teiti wischte sich die Augen trocken und lächelte. »Ja. Es ist eine Landgeherin im Palast. Ich weiß nicht, wie sie hierhergekommen ist oder warum, aber für den Fall, dass es Ärger gibt, sollten wir besser bleiben, wo wir sind.« Teiti runzelte die Stirn. »Nicht dass ich dächte, du wärst in Gefahr, Prinzessin. Sie weiß ja nicht einmal, dass es dich gibt, daher glaube ich, du bist hier ziemlich sicher.«
Imi dachte an die Frau, die sie soeben beim Gespräch mit ihrem Vater belauscht hatte. Eine Zauberin und Priesterin der Götter, die die Elai und ihr eigenes Volk als Verbündete sehen wollte – was ein anderes Wort für Freunde war. Sie klang nicht wie jemand, den man fürchten musste.
Imi nickte. »Das glaube ich auch, Teiti.«
Die Mondsichel war wie ein fröhliches, weißes Lächeln. Als Tryss sie das erste Mal gesehen hatte, hatte er unwillkürlich denken müssen, dass es ein gutes Omen sei. Jetzt, mehrere Stunden später, wirkte die bleiche Sichel eher wie ein höhnisches Grinsen.
Oder eine mörderische Klinge, dachte er. Er stieß den Atem aus, dann schüttelte er den Kopf. Abergläubischer Unsinn. Es ist bloß ein großer Felsen in dem gefrorenen Wasser des oberen Himmels. Nicht mehr, nicht weniger.
»Ich glaube es nicht. Er geht die ganze Zeit auf und ab. Der ruhige, ernste Tryss läuft auf und ab.«
Tryss zuckte zusammen, als er die Stimme hörte. »Sreil!«, flüsterte er. »Was ist passiert?«
»Nichts«, antwortete der ältere Junge. »Ich habe nur ein wenig länger als erwartet gebraucht, um durch die Wand zu kommen.«
Zwei Gestalten traten aus dem Schatten, und ihre Schritte klangen gedämpft von dem Schnee. Der Mondschein erhellte beide Gesichter, aber Tryss sah nur eines. Drilli, eingewickelt in einen Yern-Pelz. Sein Herz frohlockte, als er ihr Gesicht sah. Ihre Augen waren groß. Ihre Miene... zögerlich. Ängstlich.
»Bist du dir sicher...«
»... dass du das willst?«
Sie hatten dieselben Worte gemeinsam gesprochen. Drilli grinste, und Tryss stellte fest, dass er das Gleiche tat. Er trat vor und griff nach ihren Händen, dann berührte er ihr Gesieht. Sie schloss für einen Moment seliger Wonne die Augen. Er drückte seine Lippen auf ihre. Der Kuss, mit dem sie antwortete, war stark und zuversichtlich. Eine Hitzewoge durchflutete seinen ganzen Körper. Die winterliche Kühle schien sich von ihnen zurückzuziehen. Als sie sich voneinander lösten, hämmerte sein Herz, und alle Zweifel hatten sich zerstreut.
Oder ich habe vollkommen den Verstand verloren, fügte er im Geiste hinzu. Das erzählt man sich schließlich von jungen Männern.
Er wandte sich zu Sreil um. »Wohin jetzt?«
Sreil kicherte. »Wir haben es wohl eilig, wie? Ich finde immer noch, dass Ryliss der beste Mann dafür ist. Er hat sein Lager ein wenig weiter vom Offenen Dorf entfernt aufgeschlagen als alle anderen. Du weißt ja, wie diese Leute vom Tempelbergstamm sind. Furchtbar ernst und einsiedlerisch. Folgt mir.«
Tryss nahm Drillis Hand, und sie gingen hinter Sreil her durch den Wald. Es war ein weiter Weg; sie mussten um den oberen Teil des Offenen Dorfs herumwandern. Die dunklen Schatten der Bäume verschlangen das Mondlicht, und überall lag Schnee. Tryss und Drilli gerieten immer wieder ins Stolpern.
Drilli stöhnte leise.
»Was ist los?«, flüsterte er.
»Meine Füße tun weh.«
»Meine auch.«
»Hätten wir nicht fliegen können?«
»Wenn das möglich gewesen wäre, hätte Sreil es sicher vorgeschlagen.«
»Ihm tun die Füße wahrscheinlich genauso weh wie uns.« Sie verfiel in Schweigen, und einige Minuten später drückte sie seine Hand.
Imi dachte an die Frau, die sie soeben beim Gespräch mit ihrem Vater belauscht hatte. Eine Zauberin und Priesterin der Götter, die die Elai und ihr eigenes Volk als Verbündete sehen wollte – was ein anderes Wort für Freunde war. Sie klang nicht wie jemand, den man fürchten musste.
Imi nickte. »Das glaube ich auch, Teiti.«
Die Mondsichel war wie ein fröhliches, weißes Lächeln. Als Tryss sie das erste Mal gesehen hatte, hatte er unwillkürlich denken müssen, dass es ein gutes Omen sei. Jetzt, mehrere Stunden später, wirkte die bleiche Sichel eher wie ein höhnisches Grinsen.
Oder eine mörderische Klinge, dachte er. Er stieß den Atem aus, dann schüttelte er den Kopf. Abergläubischer Unsinn. Es ist bloß ein großer Felsen in dem gefrorenen Wasser des oberen Himmels. Nicht mehr, nicht weniger.
»Ich glaube es nicht. Er geht die ganze Zeit auf und ab. Der ruhige, ernste Tryss läuft auf und ab.«
Tryss zuckte zusammen, als er die Stimme hörte. »Sreil!«, flüsterte er. »Was ist passiert?«
»Nichts«, antwortete der ältere Junge. »Ich habe nur ein wenig länger als erwartet gebraucht, um durch die Wand zu kommen.«
Zwei Gestalten traten aus dem Schatten, und ihre Schritte klangen gedämpft von dem Schnee. Der Mondschein erhellte beide Gesichter, aber Tryss sah nur eines. Drilli, eingewickelt in einen Yern-Pelz. Sein Herz frohlockte, als er ihr Gesicht sah. Ihre Augen waren groß. Ihre Miene... zögerlich. Ängstlich.
»Bist du dir sicher...«
»... dass du das willst?«
Sie hatten dieselben Worte gemeinsam gesprochen. Drilli grinste, und Tryss stellte fest, dass er das Gleiche tat. Er trat vor und griff nach ihren Händen, dann berührte er ihr Gesieht. Sie schloss für einen Moment seliger Wonne die Augen. Er drückte seine Lippen auf ihre. Der Kuss, mit dem sie antwortete, war stark und zuversichtlich. Eine Hitzewoge durchflutete seinen ganzen Körper. Die winterliche Kühle schien sich von ihnen zurückzuziehen. Als sie sich voneinander lösten, hämmerte sein Herz, und alle Zweifel hatten sich zerstreut.
Oder ich habe vollkommen den Verstand verloren, fügte er im Geiste hinzu. Das erzählt man sich schließlich von jungen Mauern.
Er wandte sich zu Sreil um. »Wohin jetzt?«
Sreil kicherte. »Wir haben es wohl eilig, wie? Ich finde immer noch, dass Ryliss der beste Mann dafür ist. Er hat sein Lager ein wenig weiter vom Offenen Dorf entfernt aufgeschlagen als alle anderen. Du weißt ja, wie diese Leute vom Tempelbergstamm sind. Furchtbar ernst und einsiedlerisch. Folgt mir.«
Tryss nahm Drillis Hand, und sie gingen hinter Sreil her durch den Wald. Es war ein weiter Weg; sie mussten um den oberen Teil des Offenen Dorfs herumwandern. Die dunklen Schatten der Bäume verschlangen das Mondlicht, und überall lag Schnee. Tryss und Drilli gerieten immer wieder ins Stolpern.
Drilli stöhnte leise.
»Was ist los?«, flüsterte er.
»Meine Füße tun weh.«
»Meine auch.«
»Hätten wir nicht fliegen können?«
»Wenn das möglich gewesen wäre, hätte Sreil es sicher vorgeschlagen.«
»Ihm tun die Füße wahrscheinlich genauso weh wie uns.« Sie verfiel in Schweigen, und einige Minuten später drückte sie seine Hand.
»Tut mir leid. Wie romantisch von mir, mich in meiner Hochzeitsnacht über schmerzende Füße zu beklagen.«
Er lachte leise. »Wenn du willst, werde ich dir später eine höchst romantische Fußmassage zuteilwerden lassen.«
»Hmh. Ja, das würde mir gefallen.«
Als zwischen den Bäumen vor ihnen eine Laube sichtbar wurde, schlug eine Woge der Erleichterung über Tryss zusammen. Sreil wies sie an zu warten, während er feststellen wollte, ob Sprecher Ryliss allein war. Während Sreil auf den Eingang der Laube zuging, wurde Tryss langsam flau im Magen. Dann erschien ein Schatten in der Tür. Der Vorhang wurde beiseite gezogen, und Sreil drehte sich um und winkte sie zu sich. Drilli hielt seine Hand fest umschlungen, während sie auf die Laube zueilten. Direkt vor der Tür blieben sie stehen. Sprecher Ryliss, dessen Augen von buschigen, grauen Brauen überschattet waren, musterte sie nachdenklich, bevor er die Hand hob.
»Kommt herein.«
Sie folgten ihm in den Raum. Auf einer Seite brannte ein Feuer, dessen Rauch zu einem Loch im Dach aufstieg. Die Wärme war ihnen höchst willkommen. Ryliss deutete auf einige zu Sitzbänken gestaltete Holzscheite, und sie nahmen Platz, während er sich in einem Hängemattenstuhl niederließ.
»Ihr beide wollt heute Abend also heiraten«, sagte er. »Das ist keine Kleinigkeit. Seid ihr euch wirklich sicher?«
Tryss blickte zu Drilli hinüber, dann nickte er. Sie lächelte und murmelte ein »Ja«.
»Wenn ich recht verstehe, verstößt diese Heirat gegen die Wünsche eurer Eltern.«
»Gegen die von Drillis Eltern«, erwiderte Tryss. »Meine hätten nichts dagegen.«
Der alte Mann musterte sie ernst. »Ihr solltet beide wissen, welche Folgen ein solcher Schritt hätte: Ihr könnt euch zwar dafür entscheiden, ohne die Zustimmung eurer Eltern zu heiraten, aber in dem Fall ist euer Stamm nicht verpflichtet, ein Festmahl für euch zu geben oder euch etwas zu schenken. Eure Eltern sind nicht verpflichtet, euch in ihrer Laube Quartier zu geben.«
»Das ist uns bewusst«, erwiderte Drilli.
Der Sprecher nickte. »Ich kann euch diesen Ritus nicht verwehren, wenn ihr in aller Form darum bittet.«
Tryss erhob sich, und Drilli trat neben ihn. »Ich bin Tryss vom Stamm des kahlen Bergs. Ich habe mich aus freien Stücken dafür entschieden, Drilli vom Schlangenflussstamm zu heiraten. Wirst du den Ritus für uns vollziehen?«
»Ich bin Drilli vom Schlangenflussstamm. Ich habe mich aus freien Stücken dafür entschieden, Tryss vom Stamm des kahlen Bergs zu heiraten. Wirst du den Ritus für uns vollziehen?«
Ryliss nickte. »Das Gesetz verlangt von mir, eurer Bitte nachzukommen. Tryss muss sich jetzt hinter Drilli stellen. Bitte, fasst einander bei den Händen.«
Drilli lächelte, während sie taten wie geheißen. Mit leuchtenden Augen blickte sie ihn über ihre Schulter an. Sie wirkte gleichzeitig erregt und ein wenig verängstigt.
»Das ist die letzte Chance, aus der Sache rauszukommen«, flüsterte sie. Er erwiderte ihr Lächeln und drückte ihre Hände ein wenig fester. »Nur wenn du es schaffst, freizukommen.«
»Ruhe, bitte«, befahl Ryliss und sah sie beide stirnrunzelnd an. »Dies ist eine ernste Angelegenheit. Ihr müsst für die nächsten zwei Jahre zusammenbleiben, selbst wenn ihr eure Entscheidung bereuen solltet. Hebt die Arme.«
Er öffnete einen kleinen Beutel, den er um die Taille gegürtet trug – den Beutel, den alle Sprecher bei sich führten -, und nahm zwei leuchtend bunte, dünne Seile heraus, die er um ihre Hände schlang.
»Ich bin Ryliss vom Tempelbergstamm. Hiermit verbinde ich Tryss vom Stamm des kahlen Bergs und Drilli vom Schlangenflussstamm als Mann und Frau. Flieget vom heutigen Tag an Seite an Seite.«
Er trat auf ihre andere Seite und griff nach ihren freien Händen. »Ich bin Ryliss vom Tempelbergstamm. Hiermit verbinde ich Drilli vom Schlangenflussstamm und Tryss vom Stamm des kahlen Bergs als Mann und Frau. Flieget vom heutigen Tag an Seite an Seite.«
Tryss blickte auf ihre Hände. Wenn sie so nahe nebeneinander hergeflogen wären, hätten sie beide jede Bewegung des anderen wahrgenommen.
Ich schätze, genau darum geht es.
Ryliss trat zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Indem ihr euch dafür entschieden habt, euch aneinander zu binden, habt ihr euch zu einer Partnerschaft verpflichtet. Ihr seid für die Gesundheit und das Glück des anderen verantwortlich und für die Erziehung aller Kinder, die aus eurer Verbindung hervorgehen werden. Da dies eure erste Ehe ist, habt ihr hiermit auch den Schritt in die Verantwortung und die Pflichten eines Erwachsenen getan. Man wird von euch beiden erwarten, zum Wohlergehen des Stammes beizutragen, bei dem ihr in Zukunft leben werdet.« Er hielt inne, dann nickte er. »Ich erkläre euch für verheiratet.«
Es ist geschehen, dachte Tryss und sah Drilli an. Sie lächelte. Er schlang die Arme um sie und zog sie fest an sich.
Sreil räusperte sich. »Jetzt bleibt nur noch ein letzter Schritt zu tun.«
Tryss blickte erschrocken zu Sreil auf. Was konnte das sein...?
»Das ist wahr.« Ryliss’ Mundwinkel zuckten, die erste Regung an diesem Abend, die einem Lächeln nahe kam. Er sah zuerst Tryss an, dann Drilli. »Ich werde morgen früh wieder da sein. Macht bitte keine Unordnung.«
Mit diesen Worten verließ er die Laube und verschwand, Tryss warf Sreil einen verwirrten Blick zu. »Von welchem Schritt hat er geredet?« Sreils Grinsen wurde noch breiter. »Ich kann nicht fassen, dass du das fragst.«
»Oh!« Tryss spürte, wie ihm die Wärme ins Gesicht schoss, als ihm klar wurde, was Sreil gemeint hatte. Drilli kicherte.
»Manchmal frage ich mich, wie jemand, der so klug ist, so dumm sein kann«, sagte sie.
»Ich auch«, stimmte Sreil ihr zu. »Also dann. Ihr werdet sicher keine Schwierigkeiten haben, das Ritual zu vollenden. Meine Hilfe braucht ihr jedenfalls nicht, daher mache ich mich jetzt auf den Rückweg.« »Vielen Dank, Sreil«, sagte Drilli. »Ja. Ich stehe in deiner Schuld«, fügte Tryss hinzu. Sreil heuchelte Arglosigkeit. »Ich hatte mit alledem nichts zu tun.«
»Überhaupt nichts«, erwiderte Tryss. »Also dann, bis bald. Wir werden kein Wort sagen.«
Sreil lachte leise, dann trat er aus der Laube nach draußen und zog den Vorhang zu.
Die Karawane des Bordells bot ein beeindruckendes Bild. Zwölf Tarns, ein jeder von zwei Arems gezogen, standen vor dem Gebäude. Die ersten sechs Tarns waren leuchtend bunt bemalt, und auf den Seiten stand Rozeas Name. Die kräftigen Behänge waren mit den passenden Farben gesäumt. Die letzten sechs Wagen waren schlichter, und einige Diener waren davor zu sehen. Die Frauen standen neben einem der Tarns, während die Männer einen anderen mit Säcken und Kisten beluden.
Brand und Flut, deren Atem wie weiße Wolken in der Luft hing, schnalzten anerkennend mit der Zunge. Zusammen mit Emerahl und drei anderen Mädchen gingen sie auf den vierten Wagen zu. Als sie eine Stunde zuvor im Tanzsaal gewartet hatten, waren sie aufgefordert worden, sich in Gruppen von sechs Frauen zusammenzufinden, und danach hatte Rozea Wagennummern für sie ausgewählt, indem sie nummerierte Scheiben aus einer Tasche genommen hatte.
Unsere Arbeitgeberin gibt sich gern den Anschein, äußerst gerecht zu sein, überlegte Emerahl.
Ich frage mich, ob Mondschein mir da zustimmen würde. Weiß sie, dass Rozea beabsichtigt, mich als Favoritin in das Bordell zurückkehren zu lassen? Hasst sie mich? Oder ist sie froh, diese Stellung an eine andere abgeben zu können?
Es spielte keine Rolle. Emerahl hatte nicht die Absicht, zurückzukehren. Sie wollte sich, sobald sie die Stadt hinter sich hatten, von der Karawane davonschleichen.
Das heißt, sofern ich unbemerkt aus der Stadt herauskomme, räumte sie in Gedanken ein. Sie widerstand der Versuchung, mit den Fingern über den Saum ihres Ärmels zu streichen. Darin eingenäht waren kleine Klumpen Formtane. In dieser Form eingenommen, entfaltete sich die Wirkung der Droge nur langsam und hielt ungefähr eine Stunde an.
Es war keine unbekannte Droge in Porin. Normalerweise nahm man sie als Tee ein oder rauchte sie in einer Pfeife. Sie schenkte wunderbare Ruhe und vertrieb Übelkeit, und eine starke Dosis förderte den Schlaf.
Schlaf war nicht genug für Emerahl. Sie brauchte etwas, das sie bewusstlos machte. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie über das Risiko nachdachte, das sie einging. Wenn ihr Plan nicht aufging -wenn der Priester, der an den Stadttoren Wache hielt, bemerkte, dass er nicht in den Geist einer der Huren eindringen konnte, Verdacht schöpfte und die Karawane aufhielt, bis Emerahl erwacht war -, dann würde ihr unnatürlich langes Leben ein jähes Ende finden.
Damit sie nicht auffiel, wenn sie die Droge einnahm, hatte sie mehrere Bröckchen Formtane vorbereitet, die sie den anderen Mädchen geben würde. Diese enthielten eine schwächere Dosis, so dass die Mädchen nur die wunderbar angenehme, beruhigende Wirkung erfahren würden. Ein Tarn voller bewusstloser Frauen würde erst recht Argwohn erregen.
Emerahl war die Letzte, die in den Wagen stieg. Sie waren alle mit schweren Kapas bekleidet und trugen Decken bei sich. Die Plane des Tarns würde sie vor dem Regen schützen, aber nicht vor der Kälte. Der Winter war noch keineswegs vorüber und würde auf dem Weg nach Norden noch härter werden.
Es war sehr eng in dem Tarn, da sich sechs Frauen auf die Bänke zwängen mussten.
»Von außen sehen sie geräumiger aus«, murrte Brand. »Pass auf, wohin du deine Schuhe stellst, Stern.«
»Es stinkt wie geräucherter Ner«, jammerte Barmherzigkeit.
»Ich bezweifle, dass Rozea die Wagen neu gekauft hat.« Vogel zog die Füße zurück, und ihre Fersen schlugen gegen ein Hindernis. »Da liegt etwas unter dem Sitz.«
Emerahl spähte unter die Bank gegenüber. »Kisten. Ich glaube, einige unserer Vorräte sind hier im Wagen. Unsere Sitze stehen dichter beieinander, als es notwendig wäre. Es würde mich nicht überraschen, wenn dahinter Fächer eingebaut wären.«
»Wozu sollten diese Fächer dienen?«, fragte Flut. »Ist Rozea zu geizig, um genug Tarns zu kaufen?«
»Nein«, sagte Brand. »Ich wette, es sind Geheimfächer, in denen man einige Dinge verstecken kann, für den Fall, dass wir ausgeraubt werden.«
Die anderen verstummten und sahen sie an.
»Ein Räuber würde denken, die Vorratskarren seien alles, was wir haben«, erklärte Brand. »Wenn er hier hineinschauen würde, würde er nur uns sehen und sonst nichts.«
»Es wird uns niemand überfallen«, widersprach Stern. »Wir reisen mit der Armee.«
»Aber wir könnten hinter dem Trupp zurückfallen«, bemerkte Vogel mit gepresster Stimme. »Oder von ihm getrennt werden.«
»Das wird nicht passieren«, versicherte ihr Stern. »Rozea wird es nicht zulassen.«
Draußen erklang ein schriller Pfiff. Die Mädchen tauschten nervöse Blicke und schwiegen, bis der Tarn sich ruckartig in Bewegung setzte.
»Jetzt ist es zu spät, um unsere Meinung zu ändern«, murmelte Flut.
»Wir könnten alle rausspringen und ins Haus zurücklaufen«, schlug Barmherzigkeit halb im Scherz vor.
Emerahl schnaubte. »Rozea würde dir jemanden hinterherschicken, der dich zurückschleift. Ich dachte, außer mir seien alle ganz erpicht auf dieses wunderbare Abenteuer.«
Die anderen Mädchen zuckten die Achseln.
»Du möchtest nicht fortgehen, Jade?«, fragte Stern. »Warum nicht?«
Emerahl wandte den Blick ab. »Ich denke, Räuber werden unser geringstes Problem sein. Es sind die Soldaten, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen. Sie werden glauben, ihr Einsatz im Kampf berechtige sie, in unser Bett zu kommen, wann immer sie wollen, und wir haben nicht genug von unseren eigenen Wachen dabei, um sie daran zu hindern. Dies wird eine unerfreuliche, schmutzige Arbeit werden.«
Barmherzigkeit verzog das Gesicht. »Lasst uns nicht länger darüber reden. Ich möchte mir lieber vormachen, dass wir in ein herrliches Abenteuer ziehen, bei dem wir große Dinge miterleben werden. Dinge, von denen ich meinen Enkelkindern erzählen kann.«
»Nur gut, dass es Großmüttern gestattet ist, die schlechten Teile auszulassen«, meinte Brand kichernd. »Und die guten auszuschmücken. Die Soldaten werden tapfer sein, die Generäle attraktiv und die Priester tugendhaft und noch attraktiver...«
Bei der Erwähnung von Priestern zog sich der Knoten in Emerahls Magen noch fester zusammen. Sie beugte sich über Fluts Schoß und hob die Türlasche an. Sie befanden sich bereits auf halbem Weg zu den Toren. Ihr Mund wurde trocken. Sie widerstand dem Drang, nach dem Formtane zu greifen. Bald.
»Hast du jemals einen Priester als Freier gehabt?«, fragte Flut Brand.
»Nicht nur einen.«
»Ich nicht. Was ist mit dir, Stern? Barmherzigkeit?«
Stern zuckte die Achseln. »Einmal. Und er war nicht attraktiv. Er war fett. Und schnell, Yranna sei gedankt.«
»Ich habe einige gehabt«, gestand Barmherzigkeit mit einem Grinsen. »Ich glaube, sie mögen mich wegen meines Namens. Dann können sie sagen, sie hätten den Abend mit Werken der Barmherzigkeit verbracht.«
Brand brach in Gelächter aus. »Rozea versteht sich eindeutig darauf, geeignete Namen auszuwählen. Was ist mit dir, Jade?«
»Mit mir?«
»Hast du jemals einen Priester als Freier gehabt?« Emerahl schüttelte den Kopf. »Noch nie.« »Dann wirst du das auf dieser Reise vielleicht nachholen können.« »Vielleicht.«
Brand wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. »Sie sind angeblich ziemlich gut im Bett.«
»Ungefähr so gut wie jede Rasse oder jeder Kult, dem man genau das nachsagt, vermute ich.«
»Du bist viel zu ernst, Jade – und warum schaust du ständig nach draußen?«
Emerahl ließ die Türlasche sinken. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Vom Reisen wird mir immer übel.«
Stern stöhnte wenig mitfühlend auf. »Du wirst dich doch nicht etwa übergeben, oder?«
Emerahl schnitt eine Grimasse. »Wenn ich es tue, werde ich mich auf jeden Fall in deine Richtung beugen.«
»Du bist verrückt. Hier.« Flut stand auf. »Setz dich ans Fenster. Wenn dir übel wird, kannst du die Lasche öffnen und etwas frische Luft einlassen.«
»Vielen Dank.« Emerahl brachte ein Lächeln zustande und schob sich über die Bank. Flut nahm in der Mitte Platz und tätschelte mitleidig Emerahls Knie.
Als Emerahl das nächste Mal hinausschaute, schätzte sie, dass sie nicht mehr weit von den Stadttoren entfernt waren. Sie ließ die Lasche sinken und wandte sich den anderen Frauen zu.
»Ich habe etwas mitgebracht«, erklärte sie. »Etwas gegen die Übelkeit. Es wäre nicht richtig, wenn ich es nicht mit euch teilen würde.«
Brand lächelte wissend. »Das Formtane?«
»Formtane!«, rief Stern. »Wo hast du das her?«
»Ich habe auf dem Weg zu meiner Familie einen kleinen Ausflug auf den Markt gemacht«, erzählte Brand ihnen.
Emerahl streckte den linken Arm aus und zog das erste Bröckchen Formtane aus dem Saum ihres Ärmels. Sie schob es sich in den Mund und schluckte, dann förderte sie den nächsten kleinen Klumpen zutage.
»Also, wer möchte etwas haben?«
Die anderen beugten sich eifrig vor.
»Ich habe es noch nie probiert«, gestand Flut.
»Es ist wunderbar«, flüsterte Barmherzigkeit. »Die Zeit scheint plötzlich langsamer zu vergehen, und man fühlt sich ganz leicht, als würde man schweben.« Sie nahm ihr Bröckchen Formtane entgegen. »Vielen Dank, Jade.«
Eine Woge des Schwindels schlug über Emerahl zusammen. Sie pflückte ein weiteres Bröckchen aus ihrem Ärmel und gab es Brand. Dann brauchte sie ihre ganze Konzentration, um drei weitere Bröckchen für Flut, Vogel und Stern aus ihrem Ärmel zu holen. Anschließend ließ sie sich gegen die Rückenlehne der Sitzbank sinken.
»Hast du noch mehr?«, fragte Stern träumerisch.
Emerahl, die ihrer Stimme nicht mehr traute, schüttelte nur den Kopf. Sie erwog, nachzusehen, wie nahe sie dem Tor inzwischen waren, konnte sich aber nicht dazu durchringen.
Die anderen Frauen lächelten selig. Wie töricht sie aussahen. Emerahl spürte, wie ein Lachen in ihr aufstieg. »Was ist so komisch?« »Ihr seht alle so glücklich aus«, lallte sie. Flut kicherte, dann brachen sie alle in träges, atemloses Gelächter aus.
»Fühlst du dich jetzt besser, Jade?«, fragte Brand. Emerahl lachte abermals, dann beugte sie sich vor. Sie schwankte, und ihr Blick trübte sich. »Meins war war zu viel...«
Mit diesen Worten entglitt sie in eine wohlige, angenehme Schwärze.
Die Zeit blieb stehen, aber Emerahl war zu träge, um sich dafür zu interessieren. Sie überließ sich mit allen Sinnen der sicheren, warmen Dunkelheit. Aus der Dunkelheit heraus erschien ein Turm. Der Anblick verstörte sie. Ein Anflug von Ärger stieg in ihr auf.
O nein. Nicht schon wieder.
Der Turm erstreckte sich in unmögliche Höhen und riss sogar die Wolken auf. Sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Er fesselte ihre gesamte Aufmerksamkeit.
Wo ist dieser Ort?
Plötzlich war der Turm fort. Emerahl senkte den Blick. Ein anderes Gebäude stand an seiner Stelle. Das alte Traumweberhaus in Jarime. Das Haus, unter dem Mirar begraben worden war, nachdem Juran, Hohepriester des Zirkels der Götter, ihn getötet hatte.
Ich träume. Das ist nicht gut. Ich sollte bewusstlos sein...
Sie versuchte, sich aus dem Trugbild zu befreien, aber der Traum ließ sie nicht los. Plötzlich ragte wieder der hohe, weiße Turm über ihr auf, noch bedrohlicher als zuvor. Sie wollte fliehen, konnte sich aber nicht bewegen. Wieder wusste sie, dass man sie sehen würde, wenn sie blieb. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Sie brauchten sie nur zu sehen, und...
»Was ist los mit ihr?«
... Und sie würden wissen, wer sie war...
»Sie hat Formtane genommen. Ihr wird übel, wenn sie reist. Ich glaube, ihre Dosis war ein wenig zu stark.«
... Und wenn sie es herausfanden...
»Das ist wohl eindeutig. Sie sollte bewusstlos sein, aber stattdessen ist sie in einem Traum gefangen.«
... Dann würden sie sie töten...
»Gefangen? Das kannst du sehen?«
»Ja, ich bin ein Priester.«
»In der Uniform eines Wachsoldaten?«
»Ja.«
»Wird sie aufwachen?«
... Der Turm ragte über ihr auf. Er schien sich vorzubeugen. Angst durchzuckte sie, als die ersten Risse über seine Oberfläche liefen...
»Ja. Wenn die Droge ihre Wirkung verliert, wird sie sich aus dem Traum befreien.«
... Und der Turm begann, auf sie herabzufallen...
»Vielen Dank, Priester...?«
»Ikaro.«
Emerahl nahm die Stimmen kaum wahr. Der Traum war zu real. Vielleicht waren die Stimmen ein Traum, und der Traum war Wirklichkeit. Sie hörte das Krachen des einstürzenden Turms, spürte den Schmerz in ihren zerschmetterten Gliedern und in ihrer Lunge, während sie langsam erstickte. Es ging immer weiter und weiter, eine Ewigkeit, die nur aus Schmerz bestand.
»Jade?«
Mir gefällt diese Wirklichkeit nicht, dachte Emerahl. Ich will den Traum. Wenn ich mir einrede, dass der Traum real ist, kann ich diesem Schmerz vielleicht entkommen. Sie versuchte krampfhaft, die Stimme besser zu hören, konzentrierte sich auf die Worte. Der Schmerz ebbte ab.
»Jade. Wach auf.«
Jemand drückte ihr die Lider auf. Sie erkannte Gesichter. Spürte Sorge aus dem Geist vertrauter Menschen strömen. Klammerte sich daran fest und zog sich aus dem Traum empor.
Sie sog mit tiefen Zügen die herrlich klare Luft in ihre Lunge und sah die fünf jungen Frauen an, die sich über sie beugten. Ihre Namen gingen ihr durch den Sinn. Sie konnte die Bewegung des Tarns spüren. Sie lag auf einer Bank. Der Turmtraum, dachte sie. Er ist wiedergekommen. Diesmal waren Stimmen da. Ein weiterer Traum innerhalb des Traums.
»Was ist passiert?«
Die Erleichterung in den Zügen der Mädchen war rührend. Sie hatten gute Herzen, befand Emerahl. Sie würde sie vermissen, wenn sie fortging.
»Du hast zu viel Formtane genommen«, erklärte Brand. »Du bist bewusstlos geworden.«
»Ein Priester, der an den Toren postiert war, ist zu uns gekommen, um nachzusehen«, ergänzte Barmherzigkeit. »Ich weiß nicht, woher er es gewusst hat.«
Furcht regte sich in Emerahl, und sie richtete sich auf. Ein Priester! Also war der Traum innerhalb des Traums Wirklichkeit gewesen? »Was hat er gesagt?«
Flut lächelte. »Er hat einen Blick auf dich geworfen und gemeint, es sei alles in Ordnung mit dir, du würdest nur träumen.«
»Ich denke, er konnte Gedanken lesen«, fügte Stern hinzu.
Er konnte sehen, dass ich geträumt habe? Sie runzelte die Stirn. Ich muss unvorsichtig gewesen sein.
»Wir haben uns Sorgen gemacht, dass dir ein Fehler mit der Dosis unterlaufen sein könnte«, bemerkte Brand. »Oder dass du versucht hättest, dich umzubringen.«
»Du hast doch nicht versucht, dich umzubringen, oder?«, fragte Flut ängstlich.
»Nein.« Emerahl zuckte die Achseln. »Ich dachte nur, es würde länger anhalten, wenn ich mehr nehme.«
»Dummes Mädchen«, tadelte Brand sie. »Diesen Fehler wirst du nicht noch einmal machen.«
Emerahl schüttelte kläglich den Kopf, dann schwang sie die Beine über die Kante der Bank. Brand setzte sich neben sie.
»Du siehst immer noch ein wenig verträumt aus«, sagte Brand. »Lehn dich an mich und schlaf ein bisschen – falls du bei dieser Schaukelei ein Auge zu tun kannst.«
Emerahl lächelte dankbar. Sie lehnte den Kopf an die Schulter des größeren Mädchens und schloss die Augen.
Der Priester hat also meine Gedanken gelesen, ging es ihr durch den Kopf. Und er hat alles, was er darin gesehen hat, als Traum abgetan. Sie dachte an die Angst, entdeckt zu werden, die in dem Turm immer auf sie lauerte. Eine Angst, die ihrer eigenen Angst vor Entdeckung sehr ähnlich war. Im Stillen dankte sie dem Traumweber, der diese Träume aussandte. Er oder sie hatte ihr wahrscheinlich das Leben gerettet.
Als Auraya erwachte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht von Leiard geträumt hatte, und sie stieß einen Seufzer der Enttäuschung aus.
Seit ihrer Abreise aus Si hatte er sie in ihren Träumen nicht mehr besucht. Sie hatte die schwache Hoffnung gehegt, es könnte etwas damit zu tun haben, dass sie auf Reisen und deshalb schwer zu finden war und dass er sich wieder mit ihr vernetzen würde, wenn sie in das Offene Dorf zurückkehrte, aber in der vergangenen Nacht hatte nichts ihren Schlaf gestört.
Das war nur eine einzige Nacht, dachte sie. Er wird nicht wissen, dass ich schon zurückgekehrt bin, und jetzt muss ich wieder aufbrechen.
Sie stand auf und begann sich zu waschen. Gewiss überprüft er jede Nacht, ob ich zurückgekehrt bin. Vielleicht hat er einfach zu viel zu tun – oder die Traumvernetzung ist zu anstrengend, um sie jede Nacht durchzuführen.
Ich sollte überhaupt nicht darüber nachdenken. Ich sollte darübernachdenken, die Siyee in den Krieg zuführen.
Es hatte eine Menge vorzubereiten gegeben. Sie hatte gestern bis spät in die Nacht mit den Sprechern erörtert, was sie mitnehmen mussten und in welchen Dingen sie sich auf die Vorräte der Landgeherarmee würden stützen müssen. Die Siyee konnten nicht viel Gewicht mit sich tragen. Sie würden ihre Waffen und genug Nahrung mitnehmen müssen, um bis zu den Goldebenen zu kommen, mehr jedoch nicht. Auraya hatte sich bei Juran versichert, dass die Siyee zu essen bekommen würden, sobald sie sich der Armee angeschlossen hatten.
Auraya unterzog ihre Kleidung einer genauen Musterung und machte sich mithilfe von Magie daran, so viele Flecken wie nur möglich zu entfernen. Sie kämmte sich die Knoten aus ihrem Haar, die sich während des Fluges gestern angesammelt hatten. Die Siyee haben eindeutig recht damit, ihr Haar kurz zu halten, überlegte sie. Ich frage mich, wie ich mit kurzem Haar aussehen würde...
Sie flocht die Haare zu einem langen Zopf, dann ging sie in den Hauptraum der Laube. Eine Siyee hatte ihr am Abend zuvor einen kleinen Korb mit einigen Speisen gebracht. Auraya trank ein wenig Wasser, dann begann sie zu essen.
Dies könnte für viele Monate meine letzte Nacht hier sein. Nach dem Krieg wird Juran wollen, dass ich nach Jarime zurückkehre.Der Gedanke machte sie traurig. Sie wollte nicht fortgehen. Aber gleichzeitig regte sich auch Neugier in ihr. Was wird meine nächste Herausforderung sein? Eine weitere Allianz, die ich aushandeln muss? Werde ich nach Borra zurückkehren, um dem König von Elai noch einmal meine Bitte vorzutragen?
Es würde mehr dazu gehören als Worte, König Ais dazu zu bewegen, eine Allianz in Erwägung zu ziehen. Sie hatte in den Gedanken des Elai viel Argwohn und Hass auf die Landgeher gesehen. Wenn sie die Plünderer in die Schranken wiesen, würde das vielleicht helfen, das Vertrauen des Meeresvolkes zu gewinnen. Wenn nicht, würde es zumindest den Hauptgrund dafür beseitigen, warum die Elai die Landgeher hassten. In einigen Generationen würde ihr Hass sich vielleicht so weit verringert haben, dass sie einen Kontakt mit der Außenwelt nicht mehr für allzu gefährlich halten würden. Etwas in der Art hatte sie auch zu Juran gesagt, und er hatte ihr recht gegeben. Wenn ihre nächste Aufgabe nicht die Elai waren, was dann? Sie erwog die möglichen Konsequenzen des Krieges. Sennon unterstützte die Pentadrianer. Wenn die Götter noch immer wünschten, dass Sennon sich friedlich mit dem Rest von Nordithania verbündete, würde es dort nach dem Krieg einiges an Arbeit geben; nicht zuletzt würden sie die übrigen Verbündeten der Weißen zur Versöhnlichkeit überreden müssen. Indem sie sich mit dem Feind zusammentaten, würden die Sennoner den Tod vieler Bewohner Nordithanias verursachen. Viele Menschen würden Sennon bestraft sehen wollen, aber damit würden sie nur zusätzlichen Groll und weiteren Hass schüren.
Sie runzelte die Stirn. Juran war am besten geeignet, die Sennoner zur Unterzeichnung einer Allianz zu bewegen. Sie und die anderen Weißen würden wahrscheinlich daran arbeiten, die Zirkler dazu zu bringen, das zu akzeptieren, aber damit würde sie nicht voll ausgelastet sein.
Da wären immer noch die Traumweber.
Bei dem Gedanken krampfte sich ihr Magen zusammen. Seit Monaten hatte sie kaum mehr über ihre Ideen nachgedacht, wie sich die Heilkenntnisse der Zirkler verbessern ließen, um zu verhindern, dass junge Leute Traumweber werden wollten.
Ich will den Traumwebern ja nicht schaden, sagte sie sich. Ich will nur die Seelen derer retten, die den Reihen der Traumweber noch nicht beigetreten sind.
»Auraya von den Weißen. Darf ich hereinkommen?«
Dankbar für die Ablenkung blickte sie zur Tür hinüber.
»Ja, Sprecherin Sirri. Komm herein.«
Der Vorhang vor der Tür wurde beiseitegezogen, und die Siyee trat ein. Sirri trug ein Gewand, das Auraya noch bei keinem Siyee gesehen hatte. Ihre Brust und ihre Schenkel waren bedeckt mit einem Wams und einer Schürze aus hartem Leder, die kreuz und quer von Riemen durchzogen waren. Um die Brust geschnallt trug sie einen der neuen Pfeilwerfer, und auf ihrem Rücken waren ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen befestigt. An ihrer Hüfte hingen ein Beutel und zwei Messer.
»Du siehst nun wirklich für einen Kampf gerüstet aus«, rief Auraya.
Sirri lächelte. »Das ist gut. Mein Volk muss denken, dass seine Anführerin bereit ist, an seiner Seite zu kämpfen.«
»Das bist du gewiss«, sagte Auraya. »Wenn ich ein Pentadrianer wäre, würde ich sofort die Flucht ergreifen.«
Sirris Lächeln nahm einen grimmigen Ausdruck an. »Viel wahrscheinlicher ist, dass du in Gelächter ausbrechen würdest. Um die Wahrheit zu sagen, ich denke, wir werden eine Menge aus diesem Krieg lernen.«
Aurayas Grinsen verblasste. »Ich werde nicht so tun, als würde es keinen Preis zu zahlen geben«, erwiderte sie. »Ich hoffe allerdings, es wird kein allzu hoher Preis sein. Ich verspreche, ich werde versuchen, es zu verhindern.«
Sirri nahm Aurayas Versprechen mit einem Nicken zur Kenntnis. »Wir wissen, was uns bevorsteht. Bist du bereit?«
Auraya nickte. »Habt ihr euch schon versammelt?«
»Es ist alles aufgeladen, und wir sind bereit zu fliegen. Es müssen nur noch ein oder zwei Ansprachen gehalten werden.«
Auraya stellte ihren leeren Becher beiseite, stand auf und sah sich ein letztes Mal im Raum um, dann griff sie nach dem kleinen Bündel, das sie nach Si mitgebracht hatte, und folgte Sirri hinaus. Lange bevor sie die versammelten Siyee sah, konnte sie sie bereits hören: das Gewirr vieler Stimmen und dazu der Klang von Wasser, das über die Felsen stürzte. Als sie und Sirri sich dem Felsvorsprung über der Menge näherten, war die Luft von Pfiffen erfüllt. Auraya lächelte auf die größte Ansammlung von Siyee hinab, die sie bisher gesehen hatte.
Die Stämme waren von unterschiedlicher Größe: Einige von ihnen bestanden nur aus ein paar Dutzend Familien, andere brachten es auf tausend Personen. Von den tausenden von Siyee hatte sich mehr als die Hälfte dieser Armee angeschlossen. Aber es waren nicht alles Krieger. Von drei Siyee waren jeweils nur zwei als Kämpfer gekleidet. Jeder Stamm brachte seine eigenen Heiler und häusliche Helfer mit, die tragbare Lauben und so viel Essen wie möglich transportierten.
Sirris Erscheinung war das Stichwort für die anderen Sprecher, nun ebenfalls vorzutreten und eine Reihe zu bilden. Auraya nahm ihren Platz ein – einige Schritte vom Ende dieser Reihe entfernt – und beobachtete, wie Sirri auf den Sprecherfelsen trat und die Arme ausbreitete.
»Volk der Berge. Stämme der Siyee. Schaut euch an!« Sirri grinste. »Was für ein kämpferisches Bild wir abgeben!«
Die Siyee schrien und pfiffen zur Antwort. Sirri nickte und hob die Arme noch ein wenig höher.
»Heute verlassen wir unsere Heimat und fliegen in den Krieg. Wir tun das, um ein Versprechen zu halten. Was war das für ein Versprechen? Wir wollten einem Freund helfen. Unsere Verbündeten unter den Landgehern benötigen unsere Unterstützung. Sie brauchen uns, die Siyee, damit wir ihnen helfen, sich gegen Eindringlinge zu verteidigen. Wir wissen, was das für ein Gefühl ist.« Sirris Gesichtszüge verhärteten sich. »Wir kennen den Schmerz, Land und Leben an Eindringlinge zu verlieren. Doch das wird jetzt ein Ende haben, denn unsere neuen Verbündeten halten ebenfalls ihre Versprechen. Gestern Abend hat mir Auraya von den Weißen die gute Nachricht überbracht, dass der König von Toren seinem Volk befohlen hat, unser Land zu verlassen.«
Die Pfiffe, die dieser Ankündigung folgten, waren ohrenbetäubend. Der Lärm wollte einfach nicht mehr enden. Sirri winkte Auraya zu sich. Als Auraya neben die Sprecherin trat, kehrte langsam wieder Ruhe ein.
»Volk von Si, ich danke euch«, sagte sie. »Indem ihr meinem Volk eure Unterstützung schenkt, helft ihr uns, uns gegen einen schrecklichen Feind zu verteidigen. Seit vielen Jahren hören wir Gerüchte über diese barbarischen Völker des südlichen Kontinents, aber sie waren zu weit entfernt, um uns wirklich Sorgen zu bereiten. Wir haben gehört, dass sie Männer und Frauen versklaven und dass die Anhänger des pentadrianischen Kults ihrem Volk eigenartige und widernatürliche Riten aufzwingen. Wir wissen, dass sie dem Krieg um der bloßen Gewalt wegen huldigen. Jetzt sind diese Pentadrianer ausgezogen, um ihre verderbten Sitten zu verbreiten. Sie wollen mein Volk vernichten und ganz Ithania versklaven.«
Sie hielt inne. Die Menge schwieg jetzt, und Auraya spürte die aufkeimende Angst.
»Sie werden scheitern!«, erklärte sie. »Denn Männer und Frauen, die dem Krieg um der Gewalt willen huldigen, sind keine wahren Krieger, wie wir es sind. Männer und Frauen, die ein anderes Land überfallen, werden nicht von der Leidenschaft geleitet, ihre Heimat zu verteidigen, wie es bei uns der Fall ist. Und das Wichtigste, Männer und Frauen, die heidnischen Kulten folgen, genießen nicht den Schutz der wahren Götter...«
Sie wartete einen Moment, dann sprach sie leise, aber entschieden weiter: »... so wie wir es tun.«
Sie legte die Hände zusammen, um das Zeichen des Kreises zu formen. »Als eine der Weißen bin ich eure Verbindung zu den Göttern. Ich werde eure Übersetzerin und Dolmetscherin sein. Ich bin stolz darauf, das Bindeglied zwischen einem solchen Volk und den Göttern zu sein. Ich bin stolz darauf, eine Armee wie diese begleiten zu dürfen.«
Und ich bin stolz darauf, ein solches Volk geschaffen zu haben.
In den Gesichtszügen der Menschen unter Auraya ging eine jähe Veränderung vor. Ihre Augen weiteten sich, und sie öffneten den Mund. Auraya spürte ihre Ehrfurcht wie einen Windstoß, und gleichzeitig nahm sie die Göttin an ihrer Seite wahr. Während sie sich Huan zuwandte, ließen die Siyee sich ausnahmslos zu Boden fallen. Huan hob die Hand und bedeutete Auraya, stehen zu bleiben.
Erhebt euch, Männer und Frauen von Si, sagte Huan.
Langsam standen die Siyee auf und blickten voller Ehrfurcht zu der Göttin empor.
Es freut mich zu sehen, dass ihr heute hier zusammengekommen seid. Ihr seid stark und zahlreich geworden. Ihr seid bereit, euren Platz unter den Völkern Nordithanias einzunehmen. Ihr habt große Klugheit bei der Wahl eurer Verbündeten bewiesen. Und in Auraya werdet ihr nicht nur eine Verbündete haben, sondern auch eine treue Freundin. Sie liebt euch mehr, als es die Pflicht von ihr verlangt. Alle Weißen werden euch schützen, so gut sie können. Aber eure Zähigkeit als Volk ist es, die euer Überleben in der Zukunft sichern wird, nicht Auraya oder ich. Seid stark, aber seid auch weise, Volk von Si. Wisset um eure Stärken und eure Schwächen und haltet aus.
Die Göttin lächelte, dann verblasste ihre leuchtende Gestalt und verschwand. Sirri sah mit immer noch geweiteten Augen zuerst Auraya an, dann die versammelten Siyee.
»Wir haben die Worte der Göttin Huan gehört. Lasst uns nicht länger warten. Lasst uns in den Krieg fliegen!«
Sie nickte den Sprechern zu, die unverzüglich an den Rand des Felsvorsprungs traten und zu ihren Stämmen hinunterflogen. Dann drehte sich Sirri wieder zu Auraya um.
»Ich hatte eine flammende Abschiedsrede geplant, aber jetzt habe ich vollkommen vergessen, was ich sagen wollte«, gestand sie leise.
Auraya lächelte und zuckte die Achseln. »Ein Besuch der Götter kann durchaus eine solche Wirkung haben.«
»Es spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass wir voller Zuversicht in den Kampf ziehen, und gerade diese Zuversicht hat Huan uns eben vermittelt. Also, es sieht so aus, als würde mein Stamm darauf brennen, endlich in die Luft zu kommen. Möchtest du mit uns fliegen?«
Auraya nickte. »Sehr gern, vielen Dank.«
Sirri lächelte und gab ihr ein Zeichen, dann sprangen sie beide vom Felsvorsprung. Der Stamm der Sprecherin gesellte sich unverzüglich zu ihnen, und ein Stamm nach dem anderen folgte ihrem Beispiel. Auraya betrachtete die Wolke fliegender Geschöpfe, und Staunen machte sich in ihr breit.
Aber dem Staunen folgte ein Stich der Sorge. Dies wird ihr erster Krieg sein, dachte sie. Sie können unmöglich wirklich auf das vorbereitet sein, was ihnen bevorsteht. Sie seufzte. Und für mich gilt dasselbe.