Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]
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York, Gershon und Stone waren in ihren orangefarbenen Druckanzügen so eng zusammengepfercht, daß sie mit den Ellbogen zusammenstießen. Kein Tageslicht drang in die enge, von fluoreszierenden Strahlern erhellte Kabine der Kommandokapsel.
Ein Ruck fuhr durch die Kapsel. Besorgt schaute York auf ihre Kameraden.
»Treibstoffpumpen«, sagte Stone.
Nun vernahm York ein Rumoren - wie ein entferntes Donnern -, dessen Vibrationen sich durch die gepolsterte Liege bis in ihren Körper fortpflanzten.
Ein paar Dutzend Meter unter York flossen flüssiger Sauerstoff und Wasserstoff zusammen und vermischten sich in der ersten Stufe der Triebwerksbrennkammern.
Sie spürte, wie der Herzschlag sich beschleunigte, bis das Herz in der Brust hämmerte. Nur mit der Ruhe, verdammt.
Ein kleiner Metallkosmonaut, plump und mit mongolischen Zügen, baumelte an einer Kette über ihrem Kopf. Das war Boris, ein Geschenk von Wlad Wiktorenko. Die Figur, deren groteske Gesichtszüge hinter einem stilisierten Helm hervorlugten, schwang wie ein Pendel hin und her. Alles Gute, Ba-riis.
Der Lärm setzte kakophonisch ein und steigerte sich zu einem stetigen Tosen. Es war, als ob sie im Rachen eines brüllenden Riesen steckten.
»Alle fünf normal. Bereit für Dehnung«, rief Phil Stone.
Die fünf Flüssigbrennstoff-Raketen der ersten Stufe der Saturn VB, des MS-IC, hatten acht Sekunden vor den vier Feststoff-Boostern der Saturn gezündet. Und nun erfolgte die >Dehnung<, als der gewaltige Schub auf die Struktur der Rakete wirkte. Sie spürte, wie das Schiff in die Höhe gewuchtet wurde, und sie hörte das Stöhnen von Metall, als die Verbindungsstreben der segmentierten Booster sich durchbogen.
Das war eigentlich zu erwarten gewesen. Aber trotzdem... Mein Gott. Was für eine Konstruktion.
»Drei, zwei. FSR-Zündung«, sagte Stone.
Nun gab es kein Zurück mehr. Die Booster gingen los wie Feuerwerkskörper; waren sie erst einmal gezündet, gab es kein Halten mehr, bis sie ausgebrannt waren.
»Die Uhr läuft.«
Null.
Ein leichter Ruck ging durch das Modul. Die Sprengbolzen hatten die Zusatztriebwerke vom Startturm abgetrennt.
Ein Flugkörper mit der Masse der Saturn VB schoß nicht in den Himmel, sondern löste sich langsam und behäbig von der Erdoberfläche.
Die Kabine schüttelte sich. Die Befestigungen der Liegen klapperten.
»Aufstieg«, sagte Stone gleichmütig. »Los geht’s!«:
»Super!« jubelte Ralph Gershon. »Volle Pulle!«
Abgehoben. Mein Gott. Ich bin in der Luft.
Erregung überkam sie. Nun wurde sie sich der Realität des Flugs erst richtig bewußt. »Pojechali!« rief sie. Los geht’s! -der spontane Ausruf eines begeisterten Juri Gagarin.
Allmählich schneller werdend stieg die Rakete auf.
York wurde in den Gurten umhergeschleudert und stieß mit Gershon zusammen.
Die Saturn VB stieg träge am Startturm empor, wobei die automatische Steuerung die fünf Düsen der ersten Stufe schwenkte, um den Scherwind auszugleichen. Rechts, links, vor, zurück - die ruckartigen Manöver waren so heftig, daß sie blaue Flecken bekam.
Darauf hatte keine Simulation sie vorbereitet. Es war, als ob sie von einer Explosion durchgeschüttelt wurde.
»Ausleger«, rief Stone. »Wir sind vom Turm weg.«
John Young, der Leiter der Bodenstation Houston, meldete sich über Funk.
»Ares, Houston. Bestätigung. Ihr habt euch vom Turm gelöst.«
York wurde nach vorn gerissen. Die Kapsel hatte sich um neunzig Grad gedreht; sie saß nun auf der Liege und spürte den Schub der ersten Stufe im Rücken.
»Houston, wir schlagen gerade ein paar Purzelbäume«, sagte Stone.
»Weitermachen.«
Die Saturn erhob sich in einem Bogen über die Küste von Florida und nahm Kurs auf den Atlantik.
Unten an den Stränden von Florida hatten Kinder in großen Buchstaben Abschiedsgrüße in den Sand geschrieben. GUTEN FLUG, ARES. York hob den Kopf und schaute nach rechts zum winzigen Sichtfenster. Doch dort war nichts zu sehen. Sie befanden sich in einer Art Kokon; der Hitzeschild war wie ein Kegel über die Kommandokapsel gestülpt.
Das Innere der Kommandokapsel hatte die Größe eines Kleinwagens. Es war klein, ungemütlich, nüchtern und metallisch. Eben im Stil der Sechziger, sagte York sich. Die grau und gelb lackierten Wände waren mit Skalen, Schaltern und Unterbrechern besetzt. Notizzettel, mit denen die Besatzungsmitglieder sich untereinander verständigten sowie Notfallinstruktionen waren mit Klettverschlüssen an den Kabinenwänden angebracht.
Bei den drei Liegen für die Besatzung handelte es sich um bessere Feldbetten. York lag rücklings auf der rechten Liege der Kommandokapsel. Stone lag in seiner Eigenschaft als Kommandant auf der linken Liege, und Ralph Gershon lag auf der mittleren. Die großen Hebel, die aus der Luke hinter Gershons Kopf wuchsen, erinnerten an ein U-Boot-Schott.
»Ares, Houston. Ihr seid auf Kurs.«
»Roger, John«, sagte Stone. »Dieses Baby läuft gut.«
»Roger.«
»Mach zu, Mutter«, schrie Gershon. »Die Kacke ist am Dampfen!« York hörte das Tremolo in seiner Stimme, das durch die Vibrationen der Rakete verursacht wurde.
»Zehntausend und Mach null komma fünf«, sagte Young.
Mach null komma fünf. Noch nicht einmal eine halbe Minute unterwegs, und schon die Hälfte der Schallgeschwindigkeit erreicht.
John Young klang weder ängstlich noch nervös. Für ihn war es ein ganz normaler Tag im Büro.
Damals, im Jahr 1969, hatte John mit Apollo 10 den Mond umrundet. Und wenn die Apollo-Missionen nicht eingestellt worden wären, wäre er wohl als Kommandant eines Raumschiffs auf dem Mond gelandet.
Wenn Young die NASA nicht wegen der Pläne für Apollo-N kritisiert hätte, wäre er vielleicht an Stones Stelle gewesen.
Die Vibrationen wurden heftiger. Yorks Kopf rasselte im Helm wie eine Erbse in der Schote. Die ganze Kabine bebte, und sie vermochte sich nicht mehr auf die Instrumente vor sich zu konzentrieren.
»Mach null komma neun«, sagte Stone. »Vierzig Sekunden. Mach eins. Überschreiten neunzehntausend.«
»Ares, bei vierzig Überschall.«
Auf einmal verlief der Flug viel ruhiger - als ob man von Kopfsteinpflaster auf eine asphaltierte Straße gewechselt wäre. Sogar die Triebwerksgeräusche waren verstummt; sie waren inzwischen so schnell, daß sie ihrem eigenen Schall davonflogen.
»Ares, ihr seht gut aus.«
»Rog«, sagte Stone. »Gut, wir reduzieren den Schub.«
Die Triebwerke wurden heruntergefahren, um den Punkt der maximalen Beschleunigung abzufedern - den Punkt, wo das Zusammenwirken der Luftdichte und der Geschwindigkeit der Zusatztriebwerke eine Belastungsspitze für die Kapsel darstellte.
»Triebwerke hochfahren und los!«
»Roger. Triebwerke hochfahren und los.«
Der Druck legte sich wie eine Klammer um Yorks Brust; sie rang nach Luft, während die Lunge gegen den Schub der Triebwerke ankämpfte.
»Fünfunddreißigtausend Fuß«, sagte Stone. »Überschreiten Mach eins komma neun. F SR-B rennkammerdruck runter auf drei Kilogramm pro Quadratzentimeter.«
»Bestätigung«, sagte John Young am Boden. »Bereit zum Abtrennen der FSR.«
»Rog.«
Sie hörte einen schwachen, dumpfen Knall. Die Kabine bebte, und sie wurde in den Gurten durchgeschüttelt. Die Sprengbolzen hatten die ausgebrannten Feststoffraketen abgetrennt. Sie spürte einen Druckabfall, doch dann nahm die Beschleunigung der zentralen Flüssigkeitsraketen der MS-IC wieder zu und preßte sie auf die Liege.
»Klar bei Trennung«, sagte Young.
»Es läuft wie geschmiert, John.«
Die ausgebrannten Feststoff-Booster lösten sich wie brennende Streichhölzer vom Schiff. Die Booster waren die markanteste optische Veränderung der VB gegenüber der Konstruktion der Saturn V. Mit ihrer Hilfe brachte die VB die doppelte Nutzlast der V in den Erdorbit.
»Eins komma fünf Kilometer pro Sekunde«, sagte Stone. »Zurückgelegte Entfernung fünfzig Kilometer.«
Sie schaute auf den Beschleunigungsmesser. Dreifache Schwerkraft. Es war zwar unangenehm, aber in der Zentrifuge hatte sie schon viel mehr ausgehalten.
Kühle, nach Metall und Kunststoff riechende Luft zirkulierte im Helm.
Nach dem Abstoßen der Booster verlief der Flug viel ruhiger. Motoren, die mit Flüssigkeit betrieben wurden, liefen prinzipiell ruhiger als solche, die Feststoffe verbrannten. Sie hörte das sonore Brummen der MS-IC-Triebwerke und das stete Surren der Ausrüstung der Kommandokapsel.
Alles lief wie am Schnürchen. Die Besatzung der Kabine hatte das Gefühl, sich im Innern einer Nähmaschine zu befinden. Von den Beschleunigungskräften einmal abgesehen, mutete die Szene geradezu irreal an: als ob es sich um eine Simulation handelte.
»Drei Minuten«, sagte Stone. »Höhe neunundsechzig Kilometer, zurückgelegte Entfernung hundertzwölf Kilometer.«
»Abtrennung der ersten Stufe«, sagte Gershon. »Gleich stoßen zwei Züge zusammen.«
Wie vorgesehen verstummten die Triebwerke der ersten Stufe.
Die Beschleunigung brach ab.
Es war, als ob sie von einem Katapult abgeschossen worden wären. Sie wurde in den Gurten nach vorn geschleudert, in Richtung der Instrumente. Die Gurte rissen sie wieder auf die Liege, und dann wurde sie erneut nach vorn gedrückt.
Die Triebwerke der ersten Stufe hatten die Rakete wie eine Ziehharmonika gestaucht, und nach dem Verstummen der Triebwerke dehnte die Ziehharmonika sich aus und wurde erneut gestaucht. Es war eine unglaubliche Tortur.
Gershon hatte recht gehabt. Als ob zwei Züge ineinander gerast wären. Noch etwas, das man mir bei den Simulationen unterschlagen hat.
Sie hörte das Knattern der Sprengbolzen, welche die ausgebrannte MS-IC absprengten. Und nun hörte sie weitere Schläge, die über die Liege übertragen wurden und sich als Stöße gegen den Rücken bemerkbar machten: kleine Raketen feuerten, um den flüssigen Sauerstoff und Wasserstoff in den Tanks der zweiten Stufe nach unten zu drücken.
Die Schwingungen meldeten sich zurück, als die Triebwerke der zweiten Stufe gezündet wurden, und sie wurde wieder auf die Liege gepreßt.
Plötzlich ertönte ein lauter Knall, als ob jemand gegen die Hülle der Kommandokapsel hämmerte. Flammen und Rauch waberten vor dem Sichtfenster.
»Turm«, meldete Stone.
»Roger, Turm.«
Der Rettungsturm war abgesprengt worden und hatte den konischen Hitzeschild über der Kommandokapsel mitgerissen. Gleißendes Tageslicht strömte in die Kabine, spielte über die orangefarbenen Druckanzüge und blendete die Instrumente aus.
York blickte durchs Fenster. Über sich sah sie einen blauen, sich verdunkelnden Himmel, unter sich einen hellen Ausschnitt der Wolken und des Ozeans.
»Äh. Houston, wir schlagen vor, daß wir heute nach Sicht fliegen«, sagte Stone trocken.
Nun trieb eine Menge Schrott an Yorks Fenster vorbei, der vom abgesprengten Rettungsturm und der MS-IC stammte. Als ob die Kapsel mit Konfetti beworfen worden wäre, das in der Sonne funkelte.
»Triebwerke abschalten«, sagte Young.
»Rog«, sagte Stone. »Drücke auf ECO.«
Was auch immer nun geschehen würde, Ares würde diesen Kurs halten, bis die MS-II-Haupttriebwerke abgeschaltet wurden. Bis sie in den Orbit gegangen waren.
»Ares, ihr habt Go um fünf plus dreißig, mit ECO um acht plus vierunddreißig.«
Ares hatte inzwischen Mach 15 und eine Höhe von hundertdreißig Kilometern erreicht. Und noch immer feuerten die Triebwerke, und noch immer gewannen sie an Höhe. Die Gravitationsquelle der Erde war tief.
»Acht Minuten. Ares, Houston, ihr habt Go um acht.«
»Sieht gut aus«, sagte Stone.
Plötzlich verstummten die Triebwerksgeräusche, und die Vibrationen klangen ab. Der Rückstoß war wuchtig. York wurde erneut nach vorn geschleudert und von den Gurten zurückgerissen.
»ECO!« rief Stone.
Die Triebwerke wurden abgeschaltet; die MS-II-Stufe war nun auch ausgebrannt.
.Und diesmal kam die Schwerkraft nicht wieder. Es war, als ob man mit dem Auto über eine Bodenwelle gerast wäre und die Räder keinen Kontakt mehr zur Straße bekommen hätten.
»Bereit für Abstoßen der MS-II.«
Wieder ertönte ein dumpfer Knall, und ein leichter Ruck fuhr durch die Kabine.
»Roger, wir bestätigen die Trennung, Ares«, sagte John Young.
»Äh. wir haben eins null eins komma vier mal eins null drei komma sechs.«
»Roger, wir bestätigen, eins null eins komma vier mal eins null drei komma sechs.«
Die Parameter eines fast perfekten kreisförmigen Orbits um die Erde, in einer Höhe von hundertsechzig Kilometern.
Phil Stones Stimme klang so gleichmütig wie Youngs. Ein ganz normaler Tag im Büro. Nur daß das Büro, das er leitete, sich mit acht Kilometern pro Sekunde bewegte.
York schaute auf die glitzernde Wölbung der Erde, die runzlige Haut der Ozeane und die an Schlagsahne erinnernden Wolken.
Ich bin im Orbit. Mein Gott. Sie fühlte große Erleichterung, daß sie noch am Leben war und daß sie diesen enormen Energieverlust überlebt hatte.
Über ihr schwebte der kleine Kosmonaut, mit schlaffer und zusammengerollter Kette.
Sonntag, 20. Juli 1969 Tranquility Base
Joe Muldoon sah durch das Dreiecksfenster der Mondfähre.
Muldoon war fasziniert vom Spiel des Lichts und der Farben auf der Mondoberfläche. Wenn er den Blick von der aufgehenden Sonne wandte und nach Westen sah, erstrahlte die flache Landschaft in goldbraunem Glanz. Das Gelände im Halbschatten wies einen schwächeren Kontrast auf. Und wenn er sich vorbeugte und zur Seite blickte, wirkte die im Kernschatten liegende Oberfläche aschgrau, als ob er durch einen Polarisationsfilter schaute.
Nicht einmal die Lichtverhältnisse hatten Ähnlichkeit mit denen auf der Erde.
Draußen hüpfte Armstrong wie ein Ballon über die an einen Strand erinnernde Mondoberfläche. Der weiße Anzug glänzte im Sonnenlicht. Er war der hellste Gegenstand auf der Oberfläche des Monds, doch die Waden und die blauen Überschuhe waren schon mit dunkelgrauem Staub bedeckt.
Muldoon sah Armstrongs Gesicht nicht. Es war hinter dem goldfarben verspiegelten Helmvisier verborgen.
Er sah auf die Uhr. Der Kommandant war vor vierzehn Minuten nach draußen gegangen.
»Neil, soll ich rauskommen?«
»Ja«, rief Armstrong. »Eine Sekunde. Ich will erst noch das LEC zu dir rüberschicken.«
Armstrong stapfte um die Mondfähre herum und schob das LEC zur Seite, die flaschenzugbetätigte Fördereinrichtung, mit deren Hilfe Muldoon Ausrüstung zu seinem Kommandanten auf die Oberfläche hinuntergeschickt hatte.
Muldoon drehte sich in der luftleeren Kabine und kniete sich hin. Dann kroch er rückwärts durch die kleine Luke der Mondfähre und über die >Veranda<, die Plattform, die zur Leiter führte, welche am vorderen Landebein der Mondfähre angebracht war. Der Druckanzug schien sich jeder Bewegung zu widersetzen, als ob Muldoon in einem Paßform-Ballon steckte; nur mit Mühe gelang es ihm, sich mit den Handschuhen am Geländer der >Veranda< festzuhalten.
Armstrong lotste ihn hinaus. »Nun weißt du auch, welche Schwierigkeiten ich hatte. Ich versuche, dein PLSS von hier unten im Auge zu behalten. Es sieht so aus, als ob du gut vom Modul wegkommst. Die Schuhe ragen schon über die Kante. gut, laß dich fallen. Alles klar. Du hast ungefähr einen Zoll Luft über dem PLSS.«
Als Muldoon auf die oberste Sprosse der Leiter trat, hielt er sich am Geländer fest und richtete sich auf. Er sah die kleine Fernsehkamera, die Armstrong an der Außenwand der Mondfähre montiert hatte, um seinen Ausstieg zu filmen. Die Kamera hatte ihn im Visier. »Ich gehe noch einmal zurück«, sagte er. »Muß nachsehen, ob ich den Zündschlüssel abgezogen und die Handbremse angezogen habe.«
»Gute Idee.«
»Wir müßten meilenweit gehen, um hier einen Mietwagen zu bekommen.«
Er schwebte etwa drei Meter über der Mondoberfläche. Die Aufstiegsrampe zur Mondfähre befand sich direkt vor ihm, die spinnenartige Abstiegsrampe unter ihm. »Gut, ich stehe nun auf der obersten Sprosse und überblicke die Teller der Landebeine. Ich hüpfe einfach die Sprossen hinunter.«
»Ja«, sagte Armstrong. »Das ist ganz einfach, und das Gehen fällt einem auch sehr leicht. Joe, du hast noch drei Sprossen unter dir. Dann kommt ein breiter Zwischenraum.«
»Ich halte mich mit einer Hand fest und stelle beide Füße auf die vierte Sprosse von oben.«
Es war ein Routinevorgang, wie eine Simulation in der Peter-Pan-Anlage im MSC. Erfreut meldete er Houston den erfolgreichen Abstieg.
Doch als er erst einmal auf dem Landeteller der Eagle stand, verschlug es ihm die Sprache.
Ein Morgen auf dem Mond
Muldoon hielt sich an der Leiter fest und drehte sich langsam. Der Anzug hüllte ihn wie eine warme, behagliche Blase ein; er hörte das Summen der Pumpen und Lüfter im PLSS - dem Lebenserhaltungssystem, das er als Tornister auf dem Rücken trug - und spürte die leichte Sauerstoffbrise im Gesicht.
Die Mondfähre stand auf einer weiten Ebene, die mit Kratern übersät war, deren Durchmesser zwischen ein paar Zentimetern und ein paar Metern variierte. Das Licht der tiefstehenden Sonne warf lange Schatten. Die Flanken der zahlreichen Felsen waren von Meteoriteneinschlägen punktiert.
Die Oberfläche war mit Gestein und Felsbrocken übersät und wies Steilwände auf, die vielleicht sechs Meter in die Höhe ragten - wobei es jedoch schwierig war, die Entfernung zu bestimmen, weil es weder Pflanzen noch Gebäude oder Menschen gab, die Muldoon als Maßstab gedient hätten: das Terrain war noch öder als eine irdische Wüste. Wegen der fehlenden Atmosphäre waren die Felsen am Horizont genauso scharf konturiert wie die zu seinen Füßen.
Muldoon war überwältigt. Weder die Simulationen noch die Erdumkreisung während der Gemini-Mission hatten ihn auf die Fremdartigkeit dieses Orts vorbereitet, die kristallklare Sicht und den schroffen Kontrast zwischen der Schwärze des Himmels und der geröll- und kraterübersäten Mondoberfläche.
Muldoon hielt sich mit beiden Händen an der Leiter fest, stieß sich vom Landeteller ab und hopste auf den Mond.
Es war wie ein Spaziergang im Schnee.
Er spürte festen Boden unter einer elastischen, ein paar Zoll dicken Schicht. Bei jedem Schritt wirbelte er Staub auf, der wie eine Wolke mikroskopischer Golfbälle auf einer parabolischen Bahn davonflog. Er wußte, wie nicht vorhandene atmosphärische Turbulenzen und fehlende Schwerkraft sich auf die hiesige Geologie auswirkten.
In einem der kleineren Krater erkannte er kleine helle Fragmente mit einem metallischen Glanz, die aussahen wie Quecksilberkügelchen. Und hier und da sah er transparente Kristalle auf der Oberfläche herumliegen, die Ähnlichkeit mit Glassplittern hatten. Er wünschte sich, er hätte einen Probenbehälter am Gürtel gehabt. Auf diese Glasperlen würde er noch einmal zurückkommen, wenn offiziell Proben genommen wurden.
Die Fußabdrücke waren präzise konturiert, als ob er durch feinen, feuchten Sand gegangen wäre. Von einem besonders markanten Fußabdruck machte er ein Foto. Er würde hier für Millionen von Jahren überdauern, sagte er sich, wie der versteinerte Fußabdruck eines Dinosauriers. Nur der stete
Hagel von Mikrometeoriten, dieses Echo der gewaltigen Bombardements in grauer Vorzeit, würde ihn allmählich abschleifen.
Muldoon war nun damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten. Er drehte Pirouetten und machte Sprünge wie ein Tänzer. Die Anziehungskraft dieser kleinen Welt war so gering, daß er nicht wußte, wann er aufrecht stand, zumal die Masseträgheit des Rückentornisters seine Bewegungen noch verstärkte.
».Pulvrige Oberfläche«, meldete er nach Houston. »Der Stiefel gleitet darüber hinweg. Es ist schwierig, das Gleichgewicht zu halten. Man kommt erst nach ein paar Schritten zum Stehen. Um die Richtung zu ändern, muß man einen Ausfallschritt machen und sich etwas zurücklehnen. Nur durch Armbewegungen verlieren die Füße nicht den Kontakt zum Boden. So leicht sind wir dann doch nicht.«
Er spürte einen Druck in der Nierengegend. Er blieb stehen und entleerte sich in den Urinschlauch; er hatte den Eindruck, in die Hose zu machen. Neil ist vielleicht der erste Mensch auf dem Mond gewesen. Aber ich bin der erste, der hier pinkelt.
Er schaute auf. Ein Stern ging am östlichen Himmel auf und stieg dem Zenit entgegen, direkt über seinem Kopf. Es war das Apollo-Raumschiff, das im Orbit wartete, um sie wieder nach Hause zu bringen.
Armstrong schälte die silbrige Kunststoffolie ab und las die Inschrift auf der Plakette, die an einem Landebein der Mondfähre befestigt war. Sie zeigte die beiden Hemisphären der Erde. Darunter stand: >An dieser Stelle haben Menschen vom Planeten Erde zum erstenmal den Mond betreten. Juli 1969 n. Chr. Wir kamen zum Segen der ganzen Menschheit« Die Plakette trug die Signaturen der Besatzungsmitglieder und des Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Dann entfalteten sie das Sternenbanner. Die Fahne war mit Draht versteift worden, damit sie auch hier >wehte<, wo es keinen Wind gab.
Die beiden versuchten, die Stange in den Boden zu rammen. Doch so sehr sie sich auch bemühten, der Fahnenmast drang nur sechs bis acht Zoll tief in den Boden ein, und Muldoon befürchtete, daß die Fahne vor den Augen der zahllosen Fernsehzuschauer umkippen würde.
Endlich hatten sie die Stange tief genug in den Boden gerammt und entfernten sich.
Muldoon führte noch ein paar Bewegungsversuche durch.
Er versuchte einen Zeitlupen-Sprint. Bei jedem Schritt sprang er so hoch, daß die Zeit sich zu verlangsamen schien. Auf der Erde hätte er in der ersten Sekunde eines Falls fünf Meter zurückgelegt; hier waren es nur sechzig Zentimeter. Also hing er bei jedem Schritt in der Luft und mußte erst die Landung abwarten.
Schließlich verbesserte er die Fortbewegung. Er bückte sich und pendelte beim Laufen hin und her. Er hüpfte mehr, als daß er lief: mit einem Fuß abstoßen, das Gewicht verlagern, auf dem anderen Fuß landen.
Er atmete schwer und hörte, wie das Wasser zischend im Kühlsystem des Anzugs zirkulierte, in den Schläuchen, die sich um seine Glieder und den Oberkörper schlängelten.
Er fühlte sich wieder wie ein junger Hüpfer. Eine Zeile aus einem alten Roman drängte sich in sein Bewußtsein: Wir hängen nun nicht mehr am Schürzenzipfel von Mutter Erde.
Die Stimme des Leiters der Bodenstation riß ihn aus den Gedanken.
»Tranquility Base, hier ist Houston. Würdet ihr beide bitte für eine Minute vor die Kamera treten?«
Torkelnd kam Muldoon zum Stillstand.
Armstrong hatte inzwischen eine Alufolie aus einem Rohr gezogen und sie ausgebreitet. Das Experiment hatte den Zweck, Teilchen einzufangen, die von der Sonne abgestrahlt wurden. »Wiederholen Sie, Houston.«
»Rog. Wir möchten, daß ihr beide für eine Minute in den Erfassungsbereich der Kamera tretet. Neil und Joe, der Präsident der Vereinigten Staaten befindet sich nun in seinem Büro und möchte ein paar Worte an euch richten.«
Der Präsident? Gottverdammt; ich wette, Neil hat davon gewußt.
»Das wäre uns eine Ehre«, hörte er Armstrong in formellem Ton sagen.
»Sie sind dran, Mister President. Hier ist Houston. Ende.«
Muldoon schwebte zu Armstrong hinüber und stellte sich vor die Kamera.
Hallo, Neil und Joe. Ich melde mich telefonisch aus meinem Büro im Weißen Haus. Dieses Telefongespräch wird in die Geschichte eingehen. Ich möchte Ihnen sagen, wie stolz wir alle auf Ihre Leistung sind. Dies ist der größte Moment im Leben eines jeden Amerikaners. Und für die Menschen in aller Welt, denn ich bin sicher, daß auch sie die Bedeutung dieses Augenblicks würdigen werden. Sie haben den Weltraum für die Menschheit erobert...
Das vorherrschende Gefühl, das Muldoon während der Ansprache des Präsidenten verspürte, war Ungeduld. Er und Armstrong hatten auch so schon kaum Zeit - höchstens zweieinhalb Stunden für ihren Mondspaziergang -, zumal jede Sekunde in den endlosen Simulationen in Houston choreographiert und in den kleinen, am Ärmel befestigten Checklisten verplant war. Nixons Rede war in den Simulationen jedoch nicht geprobt worden, und Muldoon fühlte zunehmend Unbehagen beim Gedanken an die Arbeit, die noch zu erledigen war. Sie würden etwas auslassen müssen.
Er sah sie schon mit weniger Proben als erwartet zur Erde zurückkehren, und vielleicht würden sie sogar auf die Dokumentation verzichten müssen und zusammenraffen, was ihnen gerade in die Hände kam. Die Wissenschaftler würden darüber wenig erbaut sein.
Er hätte gern eine Probe von diesen glitzernden Splittern in den Kratern oder von einem der Kristalle genommen. Doch dafür war einfach keine Zeit mehr.
Im Grunde war Muldoon die Wissenschaft einerlei. Aber er hatte das dringende Bedürfnis, die Checkliste abzuhaken. Das Abhaken der Checkliste war nämlich die Voraussetzung für die Teilnahme am nächsten Flug.
Bei diesen Gedanken verflog ein Teil der Leichtigkeit, an der er sich eben noch erfreut hatte.
...Für einen Moment in der Geschichte der Menschheit sind alle Menschen der Erde vereint. Vereint im Stolz auf Ihre Leistungen und vereint im Gebet, daß Sie wohlbehalten zur Erde zurückkehren mögen.
»Danke, Sir«, erwiderte Armstrong. »Wir betrachten es als große Ehre und Privileg, nicht nur die Vereinigten Staaten zu repräsentieren, sondern die friedliebenden Menschen aller Nationen - und alle Menschen mit einer Vision für die Zukunft.«
Haben Sie vielen Dank. Und nun möchte ich Ihnen kurz einen besonderen Gast geben, der heute bei mir im Oval Office weilt.
Einen Gast? fragte Muldoon sich. Mein Gott. Hat er eine Ahnung, was dieser Anruf überhaupt kostet?
Und dann drangen vertraute Töne - dieser abgehackte Bostoner Akzent - aus dem Kopfhörer, und Muldoon spürte, wie eine atavistische Spannung von ihm Besitz ergriff.
Hallo, meine Herren. Wie geht es Ihnen? Ich möchte Ihnen nicht Ihre wertvolle Zeit auf dem Mond stehlen. Ich wollte nur kurz aus meiner Rede vor dem Kongreß am 25. Mai 1961 zitieren - das ist gerade erst acht Jahre her...
Nun ist die Zeit gekommen, mit großen Schritten voranzugehen.es ist an der Zeit, daß Amerika zu neuen Ufern aufbricht.es ist an der Zeit, daß diese Nation die Führung bei der Erforschung des Weltraums übernimmt, der in mancherlei Hinsicht den Schlüssel für die Zukunft der Erde enthält.
Ich glaube, diese Nation sollte sich das Ziel setzen, noch in diesem Jahrzehnt einen Menschen zum Mond zu schicken und ihn sicher zur Erde zurückzubringen. Kein Raumfahrtprojekt in diesem Zeitraum wird die Menschheit stärker beeindrucken oder eine größere Bedeutung für die Fernerkundung des Weltraums haben - und kein Projekt wird mit solchen Anstrengungen und Kosten verbunden sein.
Mein Gott, sagte Muldoon sich. Nixon haßt Kennedy; das ist doch allgemein bekannt. Muldoon fragte sich, welchem publikumswirksamen, politischen oder sogar geopolitischen Kalkül der alte JFK es zu verdanken hatte, daß Nixon ihm ausgerechnet heute wieder zu einem Auftritt im Rampenlicht verholfen hatte.
Er hatte Mühe, sich auf Kennedys Worte zu konzentrieren.
Die fünfzehn Meter entfernte Mondfähre wirkte wie eine riesige Spinne, die vom gleißenden Sonnenlicht beschienen wurde. Die Eagle war eine ebenso komplexe wie filigrane Konstruktion aus Blattgold und Aluminium, wobei die Symmetrie der Rampe durch den bauchigen Treibstofftank zur Rechten beeinträchtigt wurde. Die Mondfähre starrte von Antennen, Kopplungsöffnungen und Steuertriebwerken. Er sah den Staub, der sich über den mit Blattgold beschichteten Mantel des Triebwerks der Mondfähre gelegt hatte. Im Sonnenlicht wirkte die Mondfähre zerbrechlich: das Gewicht der Aluminiumkapsel war von den Ingenieuren der Herstellerfirma auf ein Minimum reduziert worden. Doch hier, auf dieser kleinen, statischen Welt, stimmten die Proportionen der Mondfähre wieder.
Sie ahnen gar nicht, wie nervös ich an jenem Tag war, meine Herren. Ich war mir nicht sicher, ob es richtig war, diese ehrwürdige Versammlung um so hohe Beträge zu bitten, ja sogar um eine Transformation unserer Volkswirtschaft. Doch wo dieses Ziel nun erreicht wurde, danke ich Ihnen, Neil und Joe, und Ihren Kollegen für Ihren Wagemut. Und den vielen fähigen Menschen unseres Landes, bei der NASA und der Raumfahrtindustrie, danke ich für ihren großartigen Einsatz. Muldoon schaute unbehaglich auf die stumme Kamera auf dem Stativ. Er sagte: >wo dieses Ziel nun erreicht wurde<. Vielleicht ging es wirklich nur um Fußabdrücke und Flaggen.
Es war etwa Viertel vor elf an einem warmen Juliabend in Houston. Er fragte sich, wie viele Mondscheinspaziergänger wohl schon unterwegs waren.
Jill würde noch immer zu Hause vor dem Fernsehgerät sitzen - oder?
. nach einem schwierigen Jahrzehnt zuhause und in der Welt hat Apollo Amerika zu einem neuen Selbstbewußtsein verholfen. Wo wir nun auf dem Mond gelandet sind, dürfen wir nicht zulassen, daß unser gemeinsamer Wille sich wieder in Einzelinteressen auflöst. Ich glaube, wir müssen weiter in die Zukunft sehen. In diesem Augenblick des Triumphs von Apollo möchte ich mein Land vor eine neue Herausforderung stellen: weiter zu gehen als in unseren kühnsten Träumen - den Bau unserer großen Raumschiffe fortzusetzen und mit ihnen zum Mars zufliegen.
Mars?
Die abgehackte Stimme drang als insektengleiches Wispern aus dem Kopfhörer, fern und bedeutungslos.
Vielleicht stimmte sogar, was die Leute sagten: daß die Schüsse, die Kennedy vor sechs Jahren in Texas überlebt hatte, doch mehr in Mitleidenschaft gezogen hatten als nur seinen Körper.
Er stand reglos da und erkannte nun, daß das Land sich sanft, aber merklich bis zum Horizont und überhaupt in alle Richtungen krümmte. Er hatte den Eindruck, auf der Kuppe eines großen, flachen Hügels zu stehen. Er und Armstrong waren zwei Menschen, die auf einer im All treibenden Kugel standen. Ihm wurde schwindlig. Plötzlich fühlte er sich so dicht mit dem Universum verwoben, wie er es auf der Erde nie erlebt hatte.
. Dies wird gewiß die schwierigste Reise werden, seit die großen Entdecker vor über drei Jahrhunderten aufbrachen, um ein Bild unseres Planeten zu zeichnen: eine neue Generation von Helden wird zu einem weit entfernten Ort reisen, wo die Erde nur noch als bloßer Lichtpunkt am Himmel steht und sich nicht mehr von den Sternen unterscheidet. Wir werden zum Mars fliegen, weil er der einzige Planet außer der Erde ist, der wahrscheinlich Leben trägt. Und wir werden diese Welt in eine zweite Erde verwandeln und somit das Überleben der Menschheit sichern.
Die Erde schwebte als große blaue, marmorierte Kugel über ihm. Anders als der Mond - von der Erde aus betrachtet -vermittelte sie einen dreidimensionalen Eindruck. Er sah die große, tiefstehende Sonne, deren Licht schräg auf diese öde Welt fiel. Plötzlich bekam er eine Perspektive für die Entfernung, die er bewältigt hatte: er war so weit gereist, daß die Dreifaltigkeit der Lichter, die seit jeher das Bewußtsein der Menschen geprägt hatte - Erde, Mond und Sonne -, sich in einem komplexen Reigen um ihn bewegt und diese neuen relativen Positionen in seiner Wahrnehmung bezogen hatten.
Genauso schnell, wie dieses Gefühl der Entrücktheit sich eingestellt hatte, war es auch wieder verschwunden. Er hing genauso an der Nabelschnur der Erde, als ob sein Aufenthalt hier nur weitere Simulation im JSC wäre. Ich schätze, daß man vier Milliarden Jahre der Evolution nicht in einer Woche abschüttelt.
Er machte sich Gedanken über die Zukunft.
Das ganze Leben lang hatte jemand - jemand außerhalb der NASA - ihn auf Ziele angesetzt. Es hatte mit seinem Vater angefangen und sich - daß er sich ausgerechnet an einem solchen Ort daran erinnertet - im Sommerlager fortgesetzt, wo die siegreiche Mannschaft Fleisch und die Verlierer nur Bohnen bekamen. Dann folgten die Akademie, die Luftwaffe und die NASA.
Er hatte immer einen starken Antrieb verspürt, einen Antrieb, der ihn so weit gebracht hatte - den ganzen Weg bis zum Mond.
Und nun hatte er sein größtes Ziel erreicht.
Er erinnerte sich an das Stimmungstief, das er nach der Rückkehr von der Gemini-Mission durchlebt hatte. Wie schwer würde die Rückkehr ihm diesmal zu schaffen machen?
Kennedy hatte seine Rede inzwischen beendet. Es trat ein etwas verlegenes Schweigen ein, und Muldoon fragte sich, ob er seinerseits etwas sagen sollte.
»Es ist uns eine Ehre, mit Ihnen zu sprechen, Sir«, versicherte Armstrong in diesem Moment.
Vielen Dank. Ich bedanke mich bei Präsident Nixon für die erwiesene Gastfreundschaft und richte ihm meine besten Grüße für Sie aus, wenn er Sie am Donnerstag an Bord des Flugzeugträgers empfängt.
Muldoon überwand seine Schüchternheit und sagte: »Ich freue mich sehr darauf, Sir.«
Dann folgte er Armstrongs Beispiel, hob die Hand zum Gruß und trat aus dem Erfassungsbereich der Kamera.
Er war ebenso perplex wie beunruhigt. Es war, als ob die Schwerkraft der Erde ihn jetzt schon niederdrückte.
Er würde sich ein neues Ziel suchen müssen, das war alles.
Was, fragte er sich, wenn Kennedys phantastische MarsVision Realität werden würde? Das wäre das richtige Projekt für ihn.
Vielleicht durfte er an diesem neuen Programm teilnehmen. Dieses gewaltige Ziel würde seinem Leben für die nächsten zwanzig Jahre wieder eine Richtung und einen Sinn geben.
Doch um das zu erreichen, mußte er sich diesem ganzen PR-Rummel entziehen, der nach der Rückkehr auf ihn wartete.
Für ihn würde die Rückkehr zur Erde ungleich schwieriger sein als der Flug zum Mond.
Er entfernte sich von der Kamera und ging zur Eagle zurück, die aus dieser Perspektive wie ein Spielzeug wirkte.
Samstag, 4. Oktober 1969
Nuklearraketen-Testgelände, Jackass Flats, Nevada
Die Brise aus der Wüste trug Brandgeruch heran, der mit Öl-und Farbgeruch von der Testanlage geschwängert war. Der Brodem war irgendwie surreal, als ob York aus Nevada auf einen Wüstenplaneten versetzt worden wäre.
Ich habe irgendwo gelesen, daß Mondstaub so riecht, sagte sie sich. Er riecht verbrannt, nach Asche - ein Herbstduft.
Im Jahr 1969 war Natalie York einundzwanzig Jahre alt.
In Ben Priestleys Corvette hatten sie die hundertvierzig Kilometer von Vegas nach Jackass Flats in weniger als einer Stunde abgespult.
Am Zielort wurden sie von Mike Conlig erwartet, der sie durch die Sicherheitsabsperrungen schleuste. Zu dieser späten Stunde hielt sich nur noch das Sicherheitspersonal in der Station auf. Als die drei - York, Priest und Petey, Priests Sohn - aus Bens Corvette stiegen, sah York, daß der Wagen mit einer Staubschicht bedeckt war. Der sich abkühlende Motor knackte.
Nevada war ein großes, menschenleeres Territorium, dessen zerklüftete Topographie von unansehnlichen Bergen gekrönt wurde. Die Sonne hing rund und rot am westlichen Horizont, und nach der Hitze des Tages kühlte die Luft sich schnell ab. Das Gelände war öde. York sah salzresistente Pflanzen und Creosote-Büsche, die sich hier und da in den Boden krallten sowie vereinzelte Ansammlungen von Beifuß. Sicher ein geeigneter Ort für den Test einer Atomrakete, sagte York sich. Aber diese Einöde gibt einem den Rest.
Im Fachjargon diskutierten Mike und Ben ein paar Aspekte der Testergebnisse, die sie an jenem Tag bekommen hatten. Wenn York in den - zu - vielen Stunden, die sie während des Geologiestudiums an der UCLA in Studentenkneipen rumgehängt waren, etwas gelernt hatte, dann das, die Ohren >auf Durchzug zu stellen« Also überließ sie Mike und Ben sich selbst und machte einen kleinen Spaziergang.
Petey, Ben Priests zehnjähriger Sohn, war ein schlankes und muskulöses Energiebündel. Er rannte vor den anderen her, wobei sein blondes Haar im letzten Licht des Tages leuchtete.
Das Testgelände war ein Rechteck, das im Süden von einer Straße und im Norden von einer Eisenbahnstrecke begrenzt wurde. Sie entfernten sich in westlicher Richtung von den Gebäuden, vor denen der Wagen geparkt war, zur statischen Versuchseinrichtung, dem Triebwerksprüfstand Eins.
Diese Versuchsstation befand sich in einer weiten Senke, die zwischen zwei großen Auffaltungen lag: dem Colorado-Plateau und der Wasatch Range im Osten sowie der Bergkette der Sierra Nevada im Westen. Die paar Baracken mit Dächern aus Teerpappe wirkten in der wuchtigen Geologie der Wüste wie Fliegendreck.
Sie erreichten die Versuchsstation. Die Anlage war etwa neun Meter hoch und wirkte ebenso primitiv wie komplex. York erkannte ein dünnes, zylindrisches Gebilde, das von einem Gerüst eingeschlossen war. Das Gerüst war unlackiert und teilweise schon korrodiert. Das Ding war auf einem Flachwagen montiert, der an eine kleine Lokomotive angehängt war. Röhren führten vom Gerüst zu anderen Bereichen der Versuchsstation, und in der Ferne sah sie kugelförmige Tieftemperatur-Tanks in der Sonne glänzen: sie tippte auf flüssigen Wasserstoff.
Petey Priest preßte das Gesicht gegen den MaschendrahtZaun des Testgeländes, daß rautenförmige Abdrücke auf seinem Gesicht zurückblieben. Fasziniert starrte er auf die Anlage.
York beobachtete Conlig und Priest.
Mike Conlig war gebürtiger Texaner und siebenundzwanzig Jahre alt. Er war etwas kleiner als York, war von stämmiger Statur und hatte mit Schwielen besetzte und narbige Hände. Das schwarze Haar, das er zu einem Pferdeschwanz geflochten hatte, verriet seine irische Abstammung. Das Hemd spannte sich über einem Bauchansatz.
York hatte Mike vor einem halben Jahr auf einer Party in Ricketts House am Caltech kennengelernt, das eine halbe Stunde Fahrtzeit von UCLA entfernt war. York war dabei ein gewisses Risiko eingegangen, denn Frauen waren im Caltech nicht zugelassen. Natalie gefielen sein agiler Verstand und der Umstand, daß er sie wegen ihres Intellekts respektierte. und sein muskulöser Körper.
Am selben Abend noch war sie mit Mike ins Bett gegangen.
Mike war das genaue Gegenteil von Ben Priest, sagte sie sich, während sie die beiden betrachtete.
Ben Priest war einunddreißig Jahre alt. Er war groß, drahtig und hatte ständig ein Grinsen im Gesicht. Er war Marineflieger mit einem Dutzend Jahren Erfahrung, davon zwei Jahre bei der Erprobungsstelle der Marine in Patuxent River, Maryland -und seit 1965 war er NASA-Astronaut, obwohl er noch keinen Weltraumflug absolviert hatte.
York wußte, daß Mike und Ben Freundschaft geschlossen hatten, als Ben in seiner Eigenschaft als Repräsentant der Astronauten hierher versetzt worden war. Sie zweifelte nicht daran, daß Mike sich der in der Station herrschenden Kameraderie anpaßte - Männer in provisorischen Behausungen an der Grenze der Zivilisation, die den ganzen Tag mit NERVA spielten und sich abends einen hinter die Binde kippten.
Bei Mike hatte das körperliche Auswirkungen, sagte sie sich, aber nicht bei Ben.
Nun wurden auf dem Testgelände aus Sicherheitsgründen die Flutlichter eingeschaltet, und der Turm verwandelte sich in eine Skulptur aus Schatten und schimmernden Reflexen, die Karikatur eines Raumschiffs. Als ob der Ehrgeiz, von dem die hier arbeitenden Männer und Frauen erfüllt waren, die Geometrie dieses Orts so geprägt hätten, daß er nicht ganz von dieser Welt schien.
Während er mit Priest die Ereignisse des Tages Revue passieren ließ, ließ Mike Conlig Natalie nicht aus den Augen. Sie ließ indes den Blick über die Anlage schweifen. Natalie war ein >langes Elend< und hatte eine intensive Ausstrahlung. Das schwarze Haar hatte sie zurückgebunden, und diese buschigen Augenbrauen, die sie so haßte, waren nun in Konzentration zusammengezogen.
Dieser Besuch war wichtig für Conlig.
Indem er und Priest sie hierher gebracht hatten und ihr Einblick in ihre Arbeit gewährten, verstießen sie streng genommen gegen die Vorschriften der NASA und AEC; und ein Kind wie Petey hatte hier schon gar nichts verloren. Doch an einem so entlegenen Ort siegte die Wirklichkeit über die Vorschriften. Wir sind alle brave Jungs hier draußen, sagte er sich.
Zumal er großen Wert darauf legte, Natalie diesen Ort zu zeigen: wo er arbeitete, wie er sein Leben verbrachte. Das war ihm ein paar Regelverstöße wert. Er wollte, daß Natalie Jackass Flats mit eigenen Augen sah.
Natalie reagierte grundsätzlich mit Mißtrauen und Argwohn auf Forschungsprojekte, die von der Regierung finanziert wurden. Conlig sah das jedoch ganz anders. Für ihn war dieses schäbige Versuchsgelände das Tor zur Zukunft: zu anderen Welten, zu Kolonien auf dem Mond.
Und letztlich zum Mars.
Ben Priest versuchte, Natalie die Versuchsanlage zu erklären. Er lenkte ihren Blick auf das Objekt innerhalb des Gerüsts und sagte ihr, sie solle versuchen, es zu identifizieren. Eine formschöne Düse ragte oben in den Himmel.
»Ach«, sagte sie. »Ich verstehe. Es ist eine Rakete. Und das da oben ist die Düse. Es ist eine Rakete auf der Abschußrampe. Wie in Cape Kennedy.«
Ben Priest lachte. »Nur daß sie auf dem Kopf steht.«
»Eines Tages wird sie von Kennedy starten«, sagte Conlig defensiv. »Es wird nicht mehr lange dauern. Jedenfalls ein Nachfolgemodell; dieser Vogel wird nie fliegen.«
»Dies ist ein Triebwerk der jüngsten Generation«, sagte Ben. »Es ist unser ganzer Stolz. Der XE-Prototyp ist fast serienreif. Die ersten Geräte, die hier vor zehn Jahren konstruiert wurden, hießen Kiwis.«
»Ach«, sagte York. »Vögel ohne Flügel.«
»Und nun«, sagte Ben, »arbeiten wir an einer Reihe von Projekten unter der Sammelbezeichnung NERVA. Das steht für >Nuklearantrieb.<«
»>. für raketengestützte Versuchs-Anwendungen<. Ich weiß.«
»Aber wir dürfen nach wie vor nur Vögel ohne Flügel bauen«, sagte Priest. »Wir sind stolz auf dieses Baby, Natalie. Wir haben ihm einen Schub von fast fünfzigtausend Pfund eingehaucht. Und wir haben achtundzwanzig Starts absolviert. Zuverlässigkeit wird nämlich ein wichtiger Faktor bei Langstrecken-Raumflügen sein.«
Conlig beobachtete Natalie und versuchte ihre Reaktion zu ergründen.
Conlig, der sechs Jahre älter war als Natalie, hatte den Hochschulabschluß fast in Rekordzeit geschafft - sein Fachgebiet waren exotische, hitzebeständige RefraktionsWerkstoffe für miniaturisierte Fissionsreaktoren.
Conlig war sicher - und Natalie auch -, daß er in seiner Disziplin eine Spitzenposition erreichen würde. Und weil -wenn man Spiro Agnew Glauben schenken wollte - Raketen mit Nuklearantrieb eine Revolution in der Raumfahrt einleiten würden, würde er wohl einen sehr hohen Gipfel erklimmen. Inzwischen würde die Geologie York jeweils für mehrere Monate an einen anderen Ort führen. Es wäre eine komische Beziehung, um es milde auszudrücken.
Das Bewußtsein, daß sein Leben vom Erfolg oder Mißerfolg einer nuklearen Rakete bestimmt werden würde, vermittelte ihm auch ein komisches Gefühl. Ich lebe im Grunde schon in der Zukunft, sagte er sich.
Für Conlig waren Raketen mit Atomantrieb die simpelsten und ästhetischsten Maschinen der Welt. Im Gegensatz zu einer Saturn-Rakete wurde bei ihnen nichts verbrannt. Es wurde nur hochverdichteter flüssiger Wasserstoff in einem Reaktorkern erhitzt, und an der Rückseite des Schiffs trat dann heißes Gas aus.
Eine nukleare Zusatzstufe würde die Leistung einer Saturn V um den Faktor Zwei erhöhen: es wäre nun möglich, mehr als die Hälfte der bisherigen Nutzlast zum Mond zu befördern.
Doch zuvor waren noch erhebliche technische Probleme zu lösen.
Bei der Betriebsflüssigkeit handelte es sich um flüssigen Wasserstoff, der auf fünfundzwanzig Grad über dem absoluten Nullpunkt heruntergekühlt worden war. Wenn der Wasserstoff in den Reaktor strömte, wurde er jedoch auf eine Temperatur von über zweitausend Grad erhitzt.
Kühlsysteme waren Mike Conligs Spezialität.
Es gab aber noch andere Schwierigkeiten. So mußte die Besatzung zum Beispiel vor Strahlung abgeschirmt werden. Außerdem konnte man nur eine begrenzte Anzahl von Raketen bündeln, weil die Neutronenemissionen interferierten etc.
Dennoch machte das Projekt Fortschritte. Kurzfristig peilte man einen RIFT, einen Reaktor-im-Flug-Test, an. Doch bis dahin hatten sie noch eine Menge zu tun. Die Nukleartechnik mußte mit größter Sorgfalt gehandhabt werden: nicht
auszudenken, was passieren würde, wenn eine Rakete über Florida abschmierte, nur weil jemand in Kap Kennedy Mist gemacht hatte.
Doch eines Tages würden sie fliegen, sagte Conlig sich. Gewiß, es gab noch Probleme. Aber sie würden sie lösen. Sobald Nixon der >Arbeitsgruppe Raumfahrt< grünes Licht gab.
Die >Arbeitsgruppe Raumfahrt< war ein Ausschuß unter Vorsitz des Vizepräsidenten Agnew, den Nixon beauftragt hatte, ein Weltraum-Programm für die Zeit nach den ApolloMissionen zu entwerfen. Diese Arbeitsgruppe sollte im September ihren Bericht vorlegen. Es ging das Gerücht, daß sie einen bemannten Raumflug zum Mars befürwortete. Sollte ein solches Programm beschlossen werden, würde das Projekt wohl mit beachtlichen Finanzmitteln ausgestattet werden.
Ben Priest erläuterte Natalie noch immer die Details des XE-Prototyps. Plötzlich wurde Conlig sich bewußt, daß sie nicht nur optisch miteinander harmonierten, sondern auch einen gelösten Eindruck machten. Er verspürte einen Anflug von Eifersucht.
Doch Natalie war eine harte Nuß für Priest. Sie redete über Politik, wie immer.
Natalie York lachte unbehaglich; sie spürte einen Anflug von Ehrfurcht - oder vielleicht auch Abscheu - beim Anblick des schlanken XE-Prototyps.
»Sie sagten, hier würden schon seit zehn Jahren nukleare Raketen entwickelt?«
»Ja«, sagte Priest.
»Und wieso? Flüge zum Mars werden doch erst seit kurzer Zeit diskutiert, oder?«
Priest kratzte sich am Ohr. »Die Versuche, die anfangs auf diesem Testgelände stattfanden, hatten nur peripher mit Raumfahrt zu tun, Natalie. Ende der fünfziger Jahre waren Raketen mit chemischem Antrieb noch Zukunftsmusik. Und die Atomraketen waren plumpe und schwere Geräte.«
»Ach so. Hier wurden Interkontinentalraketen gebaut. Nukleare Interkontinentalraketen.«
»Es handelte sich um Versuche«, erklärte Priest gleichmütig. »Nur für den Notfall. Bedenken Sie, daß die UdSSR damals einen großen Vorsprung vor uns hatte, mit ihren chemischen Interkontinentalraketen mit hoher Nutzlast. Doch unsere chemischen Raketen wurden immer größer, die Bomben wurden immer leichter, und damit wurde das Programm schließlich überflüssig. Später erwog die NASA, die Atomraketen im Rahmen der Apollo-Missionen für Mondflüge einzusetzen. Doch dann wurden die Saturn-Raketen entwickelt.«
»Und nun müssen wir Atomraketen bauen, weil wir zum Mars fliegen wollen.«
»He, Ben«, sagte Mike. »Vielleicht wirst du der erste Mensch auf dem Mars sein. In der Atomrakete Spiro Agnew.«
Ben schnaubte. Dann legte er die zu einem Trichter geformten Hände an den Mund und intonierte im Stil von Cronkite2: »Und nun schalten wir live zu Jackass Flats, wo das prächtige Raumschiff Agnew bereitsteht, die Menschheit ins Weltall zu tragen, ihrer neuen Bestimmung entgegen. ich übergebe an Dan.«
»Danke, Walter. Wo ich hier unter dem strahlend blauen Himmel von Nevada stehe, fällt mir wieder diese Anekdote ein.«
Die beiden alberten herum und rempelten sich gegenseitig an. Petey wurde durch ihr Gelächter angelockt und schlug seinem Vater spielerisch auf den Rücken.
York folgte ihnen gemächlich.
Sie sah sich nun gründlicher um und versuchte den Aufbau der Anlage zu ergründen. »Ich würde gern wissen, wie das hier funktioniert«, sagte sie zu Priest, als das Gelächter verstummt war.
»Nun, die Bahnstrecke ist die Hauptader«, sagte er und wies auf die Schienen. »Die Gleise enden an diesem Gebäude, dem Lager für radioaktive Materialien. Die Versuchsobjekte werden erst dann radioaktiv, nachdem sie gefeuert haben. Sie werden auf den Flachwagen zu den Testkammern gebracht und dort einem Probelauf unterzogen. Danach kommen sie auf eine Deponie am östlichen Ende der Schienen.«
»Weil sie zu verstrahlt sind, um sie zu bergen?«
»Ja.« Priest zuckte die Achseln. »Mike spricht zwar von Wiederaufbereitung, aber es hat eher den Anschein, daß ein interplanetares Raumschiff mit einem ganzen Bündel von NERVA-Raketen ausgerüstet werden wird. Wenn ein Triebwerk ausgebrannt ist, wird es abgestoßen, um die Besatzung vor der Radioaktivität zu schützen. Sämtliche nuklearen Raketen werden schon für das Ausscheren aus dem Erdorbit benötigt; für weitere Kurskorrekturen stehen dann chemische Raketen zur Verfügung.«
»Na toll. Und das haltet ihr für eine rationelle Art des Raumflugs?«
Er grinste sie an, wobei sein Gebiß fahl in der Dämmerung schimmerte. »Wenn ich damit zum Mars komme, ist es verdammt rationell.«
»Haben sich hier schon Unfälle ereignet?«
»Sicher. Das ist schließlich ein Testgelände. Was haben Sie sonst erwartet?«
»Was für Unfälle waren das?«
»Risse im Atomreaktor. Ozonbildung in eingeschlossenen Luftblasen. Verlust von Moderator.«
»Und Verletzungen?«
»Geplatzte Trommelfelle. Ein paar Verbrennungen.« Priest schien Unbehagen zu empfinden. »Natalie, was wollen Sie von mir hören? Das NRTG ist das Produkt einer anderen Zeit. Sie müssen die Dinge aus der damaligen Perspektive betrachten.«
»Sicher.« Eine andere Zeit also. Aber dieser verfluchte Ort wird noch immer genutzt. Und Mike arbeitet hier, um Gottes willen. Sie schauderte, als ob sie spürte, wie die radioaktiven Teilchen des Kalten Krieges ihren Körper perforierten.
Sie ließ den Blick schweifen. »Wie haltet ihr überhaupt die Radioaktivität zurück, nachdem die Testraketen gefeuert haben? Ich denke da an den radioaktiven Wasserstoff, der in die Luft entweicht.«
»Wie. >zurückhalten« fragte Ben.
Sie quetschten sich in Bens Corvette und rasten auf dem Interstate nach Vegas, wo sie übernachten und den Sonntag verbringen wollten. Petey schlief schon während der Fahrt ein.
Ben schaltete das Radio an. Es kamen gerade Nachrichten, und York lauschte trübsinnig den Verlustmeldungen aus Vietnam.
Es war inzwischen dunkel geworden, und gleißende Sterne erschienen am Himmel über der Wüste.
Ben beugte sich nach vorn und drehte das Radio lauter. »He, Mike, hör mal. Agnew spricht.«
. Die drei Optionen, die unsere Arbeitsgruppe definiert hat, stellen ein ausgewogenes Programm dar... eine Palette von bemannten Raumflügen, Raumsonden und Satelliten - zum Wohle der Menschheit und zum Zweck einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit im All.
Dann ertönte die sonore Stimme Wernher von Brauns, der vor dem Senat sprach. Ich sage, wir sollten es schnell tun und den Fuß auf einen neuen Planeten setzen, solange wir noch die Gelegenheit dazu haben.
»Es ist also immer noch die Rede davon, zum Mars zu fliegen«, sagte York.
»Sicher«, sagte Ben. »Agnews drei Optionen beziehen sich allesamt auf den Flug zum Mars. Der einzige Unterschied zwischen ihnen besteht darin, daß man um so früher dort ankommt, je größer der Jahresetat ist. Obwohl.«
»Was?«
»Obwohl er noch eine vierte Option genannt hat: daß wir die bemannte Raumfahrt nämlich ganz einstellen.« Priest schaute auf die Straße. »Ich schätze, wir müssen einfach abwarten.«
»Agnew ist ein Arschloch«, sagte York mit milder Stimme.
»Vielleicht, aber das Arschloch hat ein Faible für Raumschiffe und Astronauten«, sagte Mike und beugte sich nach vorn. »Das macht ihn für mich zu einem sympathischen Arschloch.«
»Ein Flug zum Mars ist eine nette Idee«, sagte York. »Aber es ist auch Science Fiction. Oder?«
Mike klopfte ihr auf die Schulter. »Du hast den XE-Prototyp gesehen. Wir sind in der Lage, diesen Vogel zu bauen. Alles, was wir brauchen, ist das Geld.«
»Wieviel Geld?«
»Es bleibt noch im Rahmen«, sagte Ben. »Die effektiven Kosten sind wahrscheinlich niedriger als bei den ApolloMissionen. Das Programm ist modular aufgebaut. Ein paar Basiskomponenten werden für unterschiedliche Missionen unterschiedlich kombiniert. Mit einer Raumfähre geht man kostengünstig in den Orbit, eine nukleare Rakete befördert Lasten zum Mond, und für darüber hinausgehende Einsätze werden >Blechdosen< - Raumstation-Module - unterschiedlich konfiguriert. Ein Mars-Raumschiff würde man aus StationsModulen als Unterkünfte für die Besatzung und nuklearen Triebwerken kombinieren.«
Das reizte York zum Widerspruch. Sie wollte das Unbehagen artikulieren, das sie seit dem Anblick des Testgeländes empfand. »Wozu soll das gut sein? Noch mehr Fußabdrücke und Flaggen, wie bei Apollo?«
»Nein«, sagte Mike schroff.
Es schwang schon Ungeduld in seiner Stimme mit, seit sie das Testgelände verlassen hatten. Sie hatte das Gefühl, daß die Antwort, die sie ihm dort gegeben hatte, nicht seinen Erwartungen entsprochen hatte.
»Hast du denn nicht zugehört, Natalie?« fragte er nun. »Agnew hat eine großartige Vision präsentiert. Wir könnten 1982 schon auf dem Mars sein. Und 1990 werden wir hundert Menschen im Erdorbit haben, achtundvierzig auf dem Mond und achtundvierzig in einer Mars-Basis.«
»Ja, sicher«, sagte sie ironisch. »Ja, ich habe zugehört. Und ich höre auch, daß Agnew ausgebuht wird, wenn er in der Öffentlichkeit davon spricht, zum Mars zu fliegen. Die Menschen wollen das nicht, Mike. Der Krieg strapaziert die Wirtschaft ohnehin schon über Gebühr.«
Ben reagierte bestürzt auf ihre Tiraden.
»Ich glaube sowieso nicht, daß Nixon zustimmt«, sagte Ben. »Man sagt, er liebäugelt mit der Raumfähre und will die anderen Vorschläge der Arbeitsgruppe ad acta legen. Die Raumfähre ist nämlich noch erschwinglich. Andererseits hat Nixon ein Faible für Helden.«
»Kennedy hat ihn nach dem Gespräch, das er im Juli bei der Mondlandung mit Armstrong und Muldoon führte, in die Ecke gedrängt«, sagte Mike. »Zumal er sich auch danach immer wieder für dieses Projekt ausgesprochen hat.«
York knurrte. »Nixon haßt Kennedy. Außerdem ist Kennedy auch nur ein Opportunist. Glaubt ihr wirklich, er hätte wie Johnson Gelder ins Apollo-Projekt gepumpt, wenn er 1963 nicht wegen Invalidität aus dem Weißen Haus hätte ausziehen müssen? Wenn er wirklich für die Dinge hätte zahlen müssen, die er aus dem Rollstuhl in Auftrag gab?«
»Johnson war ein Anhänger der Raumfahrt«, sagte Mike. »Du bist ganz schön zynisch, Natalie.«
»Johnson war nur auf seinen Vorteil bedacht. Weshalb sind die NASA-Zentren wohl im Süden konzentriert?«
»Da kommt man schon ins Grübeln«, sagte Ben. »Was, wenn in Dallas nicht auf Kennedy geschossen worden wäre? Oder wenn er selbst anstatt seiner Frau getötet worden wäre? Wenn er als die treibende Kraft im Hintergrund ausgefallen wäre, hätte man vielleicht das ganze Programm eingestellt.«
»Wie dem auch sei«, sagte York, »ich hoffe nur, daß ihr Fliegerasse diesmal, was auch immer geschieht, Konkurrenz von ein paar Wissenschaftlern bekommt.«
»Hör nicht auf sie, Ben«, sagte Conlig. »Sie will cool wirken. Rate mal, was an der Wand ihres Schlafzimmers im Haus ihrer Mutter hängt.«
»Halt den Mund, Mike.«
»Bilder vom Mars.«
Ben schaute sie interessiert an.
»Teufel, da war ich gerade sechzehn. Für eine Weile habe ich mich vom Rummel um Mariner 4 beeindrucken lassen.«
Mariner 4 war eine Raumsonde der NASA, die den Mars im Juli 1964 erreicht hatte. Mariner hatte nicht über genug Brennstoff verfügt, um in einen Orbit um den Mars zu gehen; die Sonde hatte den Planeten einmal umkreist und Aufnahmen gemacht. Mariner hatte insgesamt einundzwanzig Bilder zur Erde geschickt. Sie deckten vielleicht ein Prozent der Marsoberfläche ab.
Natalie York hatte vor Mariner keinen Gedanken an den Mars, geschweige denn an andere Welten, verschwendet. Sie interessierte sich nicht für Astronomie, Raumfahrt, fremde Welten und dergleichen. Astronomie war etwas für die paar alten Männer, die Zugang zu den großen Teleskopen hatten und sie für ihre obskuren, Jahrzehnte umspannenden Projekte einsetzten. Schon damals, im Jahre 1964, war Geologie - das Studium der Erde - das, was ihre Phantasie beflügelte. Da hatte sie es wenigstens mit greifbaren Dingen zu tun, die man mit Augen und Händen untersuchen konnte.
Mariner änderte alles. Für eine Weile zumindest.
Sie erinnerte sich an einen Schullehrer, der ihr die Grundlagen der Astronomie nahebringen wollte.
Als Mariner im Juli 1964 den Mars erreichte, hatte der Planet in Opposition gestanden. Mars war ein Planet, der wie die Erde die Sonne umkreiste, nur daß er einen größeren Bahndurchmesser als die Erde hatte und sein Jahr doppelt so lang dauerte. Das bedeutete, daß seine Entfernung zur auf der
Innenbahn laufenden Erde ständig schwankte. Doch wenn Erde und Mars diese Positionen einnahmen, stand der Mars der Erde am nächsten. Opposition. Das ist also damit gemeint. Dann steht der Mars mitten am Nachthimmel auf der der Sonne gegenüber liegenden Seite, von der Erde aus gesehen. Der Punkt der dichtesten Annäherung.
Sie erinnerte sich, daß sie, nachdem sie das gelernt hatte, sich plötzlich als ein Passagier der Erde gefühlt hatte - als ob sie ein riesiges Raumschiff wäre, das an diesem großen roten Schiff namens Mars vorbeiflog.
Um ihre Aufgabe zu erfüllen, müssen die Astronomen in der Lage sein, ihre Position relativ zum Rest des Universums zu bestimmen. Sie müssen sich von der Vorstellung lösen, daß die Erde eine Scheibe ist.
Sie hatte sich Kontophotkopien der von Mariner 4 zur Erde gefunkten Bilder besorgt und sie sich übers Bett gehängt.
Das erste Bild zeigte den Planeten aus geringer Höhe, mit gekrümmtem Horizont und unscharfen
Oberflächenmarkierungen. Dennoch war das Bild ungleich schärfer als die dunstige, unwirkliche Scheibe, die man beim Blick durch ein Teleskop sah.
Die Fotos von Mariner zeigten den Mars aus der Perspektive eines Astronauten im Orbit.
Die nächsten Bilder waren Abbildungen der Oberfläche, gleichsam aus der Vogelperspektive. Die Monochrom-Bilder wirkten wie Luftaufnahmen einer irdischen Wüste.
»Mariner«, sagte Ben Priest, »war ein Schock für uns alle. Vor Mariner glaubten wir, schon alles über den Mars zu wissen. Wir glaubten, man könne nur mit einer Atemmaske ausgerüstet auf der Oberfläche herumspazieren. Wir glaubten, daß die dunklen Flecken auf der Oberfläche jahreszeitlichen Schwankungen unterlägen und daß vielleicht eine Art Vegetation existierte.
Doch nun sieht alles ganz anders aus. Wir haben uns in jeder Hinsicht geirrt. Der Mars hat keine Ähnlichkeit mit der Erde.«
Mariners siebtes Bild war die eigentliche Überraschung.
Das siebte Bild zeigte Krater. Damit hatte nun niemand gerechnet.
Von wegen irdische Wüste. Mars hatte mehr Ähnlichkeit mit dem Mond.
»Wir wissen nun«, sagte Priest, »daß die Atmosphäre sehr dünn ist. Sie besteht überwiegend aus Kohlendioxid und Spuren von Wasserdampf. Sauerstoff gibt es überhaupt nicht. Nicht einmal Stickstoff. Mariner hat keine Kanäle gefunden. Obwohl die Sonde ein Gebiet überflogen hat, wo man mit vielen Kanälen gerechnet hatte.
Alle bisherigen Annahmen waren plötzlich Makulatur. Bei einer so dünnen Atmosphäre gibt es kein Leben, höchstens primitive Organismen. Kein Vergleich mit terrestrischem Leben. Allerdings wird diese Frage erst dann abschließend beantwortet werden, wenn Menschen dort gelandet sind. Die NASA-Fritzen sagten, das sei ein Schlag ins Kontor gewesen. Plötzlich war der Mars als Ziel nicht mehr interessant. Wenn wir nicht zum Mars fliegen, wenn die finanziellen und materiellen Ressourcen nicht bereitgestellt werden, dann liegt das in meinen Augen an der Schockwirkung von Mariner 4.«
York zuckte die Achseln. »Aber die NASA hat den Mars doch jahrelang wie sauer Bier angepriesen. Man hat ihn als eine Art Freizeitpark im Weltraum bezeichnet, auf dem es von Leben nur so wimmelte und der die vielen Milliarden sehr wohl rechtfertigte, die man in Triebwerke und Raumschiffe investieren wollte.«
»Ein Freizeitpark«, sagte Priest lachend. »Wirklich gut.«
Für York war der Mars aber viel mehr. Mariner hatte ihr Interesse für den Mars geweckt, und sie vertiefte sich in die Geschichte der Phantasien, die sich um diesen Planeten rankten. Sie besorgte sich in der Bibliothek einschlägige Werke. Der Mars als Ursprung des Lebens von Percival Lowell, New York, 1909; Der Mars und seine Kanäle von Lowell, New York, 1906. Sie hatte phantastische Bilder von großen Bewässerungskanälen gesehen, die das Antlitz eines sterbenden, verdorrenden Mars durchfurchten und ausführliche Schilderungen der wogenden Vegetation und der Tierherden gelesen, mit denen die roten Ebenen des Mars angeblich bedeckt waren. Das Mars-Projekt Wernher von Braun, University of Illinois, 1953. Auf dem Einband prangte eine große Rakete, wie bei einem Kinderbuch. Von Braun wollte zehn Raumschiffe im Erdorbit bauen, jeweils mit einer Masse von dreieinhalbtausend Tonnen und einer Besatzung von sieben Mann. Es hätte neunhundert Flüge in den Orbit bedurft, um die Flotte fertigzustellen. Zudem hatte er Zweihunderttonnen-Landungsboote projektiert, die jeweils fünfzig Mann und Vorräte für ein Jahr auf die Oberfläche bringen sollten. Diese Visionen, sagte sie sich, waren infantile Machtphantasien im Gewand seriöser Konstruktionspläne.
York hatte sich nicht weiter damit befaßt. Schon mit sechzehn hatte York ein Faible für die Stringenz und Logik der Wissenschaft gehabt; sie wurde zunehmend intoleranter gegenüber Unlogik, Wunschdenken und der emotionalen Färbung rationaler Prozesse aller Art.
(Folglich war sie den meisten Jungen, mit denen ihre Mutter sie verkuppeln wollte, weit überlegen. Obwohl man hätte annehmen sollen, daß jemand, der eine so schmutzige Scheidung hinter sich hatte wie Maisie York, gelernt hätte, sich nicht in die Beziehungen anderer Leute einzumischen.)
Für sie war der wirkliche Mars jedenfalls weitaus interessanter als Lowells anthropozentrische Träume.
Mariner hatte den Mars in einen lohnenswerten Ort für geologische - oder besser: areologische - Studien verwandelt.
Wie würde die Areologie, die Geologie des Mars, sich von der irdischen unterscheiden? Was würde man dort über die Erde erfahren, das man zuhause nie erfahren hätte? Wahrscheinlich eine ganze Menge.
Mariners dreizehntes Bild hatte sie elektrisiert.
Das dreizehnte Bild zeigte frostüberzogene Kraterwände.
Mein Gott. Nicht wie der Mond, und auch nicht wie die Erde. Der Mars ist anders. Einzigartig.
Ben musterte York interessiert und mit fragendem Blick. »Dann bist du also ein richtiger Mars-Fan. Ich sollte dich mal zum JPL mitnehmen. Dort werden die planetarischen Sonden von. He, Natalie. Vielleicht solltest du dich dort bewerben.«
»Wofür?«
»Fürs Astronauten-Corps.«
»Ich? Machst du Witze?«
»Wieso nicht? Du bist doch qualifiziert. Und wir brauchen Leute wie dich. Sogar Spiro sagt das; er glaubt, es hätten sich so wenig Leute für Apollo beworben, weil die Projekte so technikorientiert waren.«
»Stimmt doch auch.«
Priest starrte sie an. »Ich meine es ernst, Natalie. Das wäre die Gelegenheit für dich. Du könntest für Jorge Romeros Geologentrupp in Flagstaff arbeiten und die >Mond-Spaziergänger< ausbilden. Auf diese Art ist auch Jack Schmitt ins Programm gekommen, und es heißt, daß er demnächst zum Mond fliegen wird.«
»Im Moment mache ich mir eher Sorgen um dich, Ben. Wie bekommt ein Verrückter wie du überhaupt die Erlaubnis, nachts Auto zu fahren?«
»Hier.« Er nahm eine Hand vom Lenkrad, schlug den Kragen hoch und löste einen silbernen Anstecker in Gestalt eines Kometenschweifs von der Jacke.
»Was ist das?«
»Meine Astronautenspange. Bald mache ich einen Raumflug. Du brauchst das eher als ich. Nimm es. Und wenn du dann 1982 mit der Spiro Agnew als erster Mensch auf dem Mars landest, wirf sie in den tiefsten Krater und denk dabei an mich.«
»Du bist verrückt«, wiederholte sie. »Du solltest sie Petey geben.«
Er sagte nichts.
Ihre Gedanken schweiften zu Jackass Flats ab.
Sie fangen den abgeblasenen Wasserstoff nicht einmal auf. Und Mike dachte gar nicht daran, mir davon zu erzählen. Wieso nicht? Weil er mir das nicht zumuten wollte? Oder weil er die Fehler selbst nicht erkennt?
Welches Zeugnis stellen wir uns damit aus? Und - müssen wir diesen Scheiß wirklich machen und zum Mars fliegen?
Sie schloß die Finger um die Spange, die Ben ihr gegeben hatte.
Die Autobahn zog sich als vom Sternenlicht beschienenes Band durch die Landschaft. Am Horizont sahen sie schon das Glühen von Vegas.
Montag, 27. Oktober 1969 Luftwaffenstützpunkt Edwards, Kalifornien
Major Philip Stone trat 1953 mit zwanzig Jahren in die US-Luftwaffe ein.
Er wurde sofort nach Korea versetzt und flog eine Reihe riskanter Einsätze. Insgesamt glichen die Einsätze in Korea jedoch einem Tontaubenschießen. Allerdings vermochte Stone sich nicht so recht für den Luftkampf zu begeistern. Zudem bezeichneten seine Kameraden ihn als steif. Für Stone kam es indes nur darauf an, in jedem Kampf etwas dazuzulernen -entweder über seine Maschine oder über sich selbst.
Nach dem Krieg konzentrierte er seine Neugier auf etwas anderes.
Anfang der sechziger Jahre führte der Weg ins All -zumindest für die Angehörigen der Luftwaffe - über das im Experimental stadium befindliche Raketenflugzeug-Programm. Die X-15 vermittelte dem Piloten schon bei Flügen bis zur offiziell festgelegten Untergrenze des >Weltraums< in einer Höhe von achtzig Kilometern das Gefühl eines Raumflugs. Die X-15 war das Vorläufermodell der X-20, die den Piloten erst wie eine Rakete in den Orbit befördert hätte und mit der er dann wie in einem Flugzeug zurückgeflogen wäre.
Doch in einer Periode, wo die Menschen in ballistischen Kapseln wie Mercury und Gemini ins All geschleudert wurden, war die X-20 ihrer Zeit zu weit voraus, und die Kosten waren bald so hoch wie für das gesamte Mercury-Programm - ohne daß auch nur eine einzige Maschine gestartet wäre. Also wurde das Projekt eingestellt.
Nun führte der Weg in den Weltraum einzig und allein über die NASA. Neil Armstrong war als ehemaliger X-15-Pilot auch diesen Weg gegangen. Und Stone war entschlossen, in seine Fußstapfen zu treten.
Doch zuvor wollte er noch etwas erledigen.
Im Jahr 1969 war Stone siebenunddreißig Jahre alt.
»Trennung minus eine Minute.«
»Eine Minute«, sagte Stone. »Rog. Daten ein. NotstromBatterie an. Ich bin bereit, wenn du bereit bist, Kumpel.
Hauptschalter ist umgelegt, Beleuchtung des Systemschalters ist aktiviert.«
Die B-52 erreichte die Startposition über Delamar Dry Lake in Nevada. Das Raketenflugzeug löste sich wie eine schlanke schwarze Rakete mit Stummelflügeln von der Tragfläche des Bombers. Das mit flüssigem Sauerstoff und Ammoniakanhydrid gefüllte Projektil war startbereit.
Stone war in der X-15 hermetisch eingeschlossen. Das Triebwerk der B-52 befand sich vielleicht einen Meter über seinem Kopf, doch Stone, der in der Druckkanzel wie in einem Kokon eingesponnen war, hörte den Lärm kaum. Aus dem Augenwinkel sah er die Rotte der Abfangjäger, welche die B-52 eskortierten. Nach diesem Flug ist >verdammt noch mal< Schluß.
Nach fünfzehn Jahren neigte das X-15-Programm sich dem Ende zu. Es gab nur noch eine flugfähige X-15: diese hier, die X-15-1. Die Maschine flog ihren ersten Einsatz im Jahre 1960. Sie war ein Veteran mit neunundsiebzig Einsätzen auf dem Buckel. Die Besatzung von Edwards wollte das Programm mit diesem, dem zweihundertsten Flug abschließen. Man hatte Phil gebeten, sich dafür zur Verfügung zu stellen. Doch dann war es über einer Reihe von Verzögerungen und technischen Pannen Winter geworden, und nun fand der Flug ein Jahr später statt als ursprünglich geplant.
Für Stone war das ein verlorenes Jahr. Doch er hatte in der Zwischenzeit den Wechsel zur NASA vorbereitet, um die Voraussetzungen für die neue Laufbahn zu optimieren.
»Fünfzehn Sekunden bis zur Trennung. Abfangjäger in Position. Zehn Sekunden.«
Er spürte, wie das Herz im silbernen Druckanzug etwas schneller schlug. Wie es einem solchen Moment angemessen war.
»Drei. Zwei. Eins. Los!«
Mit einem vernehmlichen Knacken gab die B-52 die X-15 frei. Die Maschine tauchte unter dem Trägerflugzeug weg, und Stone wurde in den Gurten nach vorn gerissen.
In einer Höhe von fünfundvierzigtausend Fuß tauchte Stone aus dem Schatten der Bombertragfläche hervor und wurde vom gleißenden Sonnenlicht geblendet. Das Licht in dieser Höhe war ein tiefes Blau und glich fast schon Dämmerlicht. Die Abfangjäger waren als silberne Lichtpunkte um ihn herum verstreut, und ihre Kondensstreifen durchschnitten die Luft.
Das Land krümmte sich unter der Nase des Flugzeugs, als ob die Mojave-Wüste eine riesige Kuppel wäre. Er sah den erodierten Buckel von Soledad, den Einsamen Berg, der über dem achthundert Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Rogers Dry Lake dräute. Die zahlreichen ausgetrockneten Salzseen mit ihren Tupfern aus kargen Pflanzen glitzerten wie Glas. Es war ein öder, trostloser Ort. Jeden Sommer buk die Wüstensonne die feuchten Flußbetten zu einer glatten Fläche zusammen. Der Ort war ein ideales Flugfeld, das überall eine sichere Landung ermöglichte.
Es war kurz nach halb elf.
Per Knopfdruck zündete Stone das Raketentriebwerk der X-15.
Er wurde in den Sitz gepreßt. Das Flugzeug ging in den Steigflug, während Ammoniak und Sauerstoff verbrannt wurden. Er raste hinauf in den Himmel, dessen Blau immer dunkler wurde. Bis auf Stones Atem, der im Innern des Helms widerhallte, war es fast still - das Triebwerksgeräusch und die Abgase blieben hinter ihm zurück.
Weit voraus sah er einen Lichtpunkt wie einen schwachen Stern. Es war ein Abfangjäger in großer Höhe. Plötzlich stand er wie ein Blitz vor Stone und fiel dann hinter ihn zurück, als ob er in der Luft verharrte.
Bei vierzigtausend Fuß erreichte er Mach null komma neun und spürte einen Ruck, wie ein Leichtflugzeug, das in Turbulenzen geriet. Er flog nun so schnell, daß die Luftmoleküle nicht mehr imstande waren, dem Flugzeug rechtzeitig auszuweichen.
Die Turbulenzen legten sich, als er die Schallmauer durchbrach.
Achtzigtausend Fuß.
Er schob den Schubhebel bis zum Anschlag vor und wurde mit viereinhalb Ge in den Sitz gepreßt. Die X-15-1 stieg fast senkrecht. Die Farbe des Himmels wechselte von Azur zu Marineblau. Er war schon so hoch, daß er mitten am Tag die Sterne sah; in dieser Höhe faserte die Atmosphäre bereits aus, so daß sie den aerodynamischen Steuerflächen der Maschine kaum noch Widerstand bot.
Das Gefühl der Macht, der Rausch der Geschwindigkeit und die Beherrschung des Flugzeugs waren überwältigend.
Nun hatte er neunzigtausend Fuß erreicht, bei einer Steigrate von dreitausendzweihundert Fuß pro Sekunde. Die Wüste breitete sich unter ihm aus; das über sechshundert Meter über dem Meeresspiegel gelegene Terrain wirkte wie das ausgetrocknete Dach der Welt.
Nach einer Flugdauer von kaum einer Minute gab es die ersten Schwierigkeiten.
Er bekam eine Nachricht von der Bodenstation. Es hörte sich so an, als ob sie die Telemetrie des Vogels verloren hätten. Das Problem war nur, die Funkverbindung hatte sich plötzlich so verschlechtert, daß er nicht sicher war, was sie sagten.
Eine Warnlampe leuchtete auf. Noch eine Störung. Aus irgendeinem Grund waren die automatischen Korrekturdüsen abgeschaltet worden. Zunächst war das noch kein Problem; die Atmosphäre war noch immer so dicht, daß er in der Lage war, das Flugzeug aerodynamisch zu steuern.
In der unteren Atmosphäre flog die X-15 wie ein normales Flugzeug. Sie hatte konventionelle aerodynamische Flächen -Querruder und Höhenruder -, die Stone elektronisch oder mechanisch bediente. Doch oberhalb der Atmosphäre war die X-15 ein Raumschiff. Die automatische Fluglageregelung - mit kleinen Schubdüsen wie bei einem Raumschiff - erfolgte durch ein Steuergerät mit der Bezeichnung MH96. Dann gab es noch ein manuelles Fluglageregelungs-System (FRS), das über einen an der linken Seite des Pilotensitzes befindlichen Knüppel betätigt wurde.
Er hatte den Fehler schnell gefunden. Das automatische FRS hatte sich selbst abgeschaltet, weil der Stellfaktor des MH96, des Steuersystems, auf unter fünfzig Prozent gefallen war. Der Stellfaktor sollte reduziert werden, wenn das Flugzeug sich in der dichten Atmosphäre befand; dann sollte das MH96 sich selbst deaktivieren, um Brennstoff - Wasserstoffperoxid - zu sparen. Doch diesmal hatte der Stellfaktor sich verringert, weil die Steuerhydraulik der aerodynamischen Flächen defekt war. Da das Steuergerät infolgedessen mit falschen Daten versorgt wurde, hatte es das automatische FRS abgeschaltet.
Es sah so aus, als ob die Störungen in der Elektrik sich nun nicht mehr nur auf das Funkgerät beschränkten. Sieht so aus, als wären wir von einer Schlange gebissen worden, alter Freund.
Zumal der Raketenbrennstoff sowieso gleich verbraucht war. Er betätigte einen Schalter, und das Triebwerk wurde mit einem Knall abgeschaltet.
Er wurde in die Gurte gedrückt und driftete dann wieder zurück.
Nun befand er sich auf einer ballistischen Flugbahn, und die X-15 würde antriebslos dem Scheitelpunkt der Parabel zustreben. Er hatte kein Gefühl mehr für Geschwindigkeit und Bewegung. Er saß schwerelos in der Kabine und hatte den Eindruck, als ob ihm die Eingeweide zum Hals herauskommen würden.
Er versuchte die Probleme zu verdrängen. Er war noch immer in der Luft und noch immer unversehrt. Was auch immer mit dem MH96 geschah, er mußte sein Programm abarbeiten, eine ganze Testreihe für die NASA und die Luftwaffe.
Eine Minute einundvierzig Sekunden.
Er aktivierte das Sonnenspektrum-Meßgerät und den Mikrometeoriten-Kollektor im Behälter unter der linken Tragfläche.
Plötzlich schoß der Stellfaktor des MH96-Steuersystems ohne ersichtlichen Grund auf neunzig Prozent hinauf, und das automatische FRS wurde wieder aktiviert.
Er überprüfte die Instrumente. Wie bei den meisten Experimentalflugzeugen hatte auch das Cockpit der X-15 eine primitive Einrichtung, mit blanken Nieten und freiliegenden Kabeln. Wenigstens schien er die Maschine seit dem Übergang auf den Gleitpfad zum erstenmal völlig unter Kontrolle zu haben. Er freute sich zwar über das Anspringen der Automatik, fragte sich aber besorgt, welches System wohl als nächstes ausfallen würde.
Er hatte wenig Zutrauen zu der alten Kiste. Vielleicht weiß sie, daß es ihr letzter Flug ist; vielleicht möchte sie lieber mit flammendem Ruhm untergehen, als für ein paar Jahrzehnte in einem Museum verrotten.
Bald würde er den Scheitelpunkt erreichen, den Gipfel der Flugbahn bei zweihundertsechzigtausend Fuß.
Es war Zeit, die präzise Position einzunehmen, die für die Messung des Sonnenspektrums erforderlich war. Er mußte die Maschine nach unten drücken und nach links abfallen. Er flog bereits in einem Anflugwinkel von null Grad, doch das Flugzeug gierte und rollte leicht nach rechts. Also ließ er für zwei Sekunden die Rollkorrektur-Düse feuern, um die Tragflächen in die Horizontale zu bringen. Dann ließ er die Gierkorrektur-Düse feuern, um die Nase der X-15 nach links zu drücken. Die X-15 verhielt sich nun wie eine kardanisch aufgehängte Plattform, die jede von ihm gewünschte Richtungsänderung ausführte. Um das Rollen nach links zu unterbinden, ließ er eine weitere Düse feuern.
Er rollte noch immer nach links. Mein Gott. Was nun?
Gerade als er das Manöver beenden wollte, hatte das MH96 wieder versagt und das automatische FRS deaktiviert.
Um die Rotation der Maschine zu stoppen, ließ er die rechte Rollkorrektur-Düse für weitere acht Sekunden feuern. Doch die Luft war hier oben so dünn, daß die aerodynamische Lageregelung nur noch bedingt funktionierte und träge ansprach. Er ließ die Gierkorrektur-Düsen des manuellen FRS feuern.
Stone spürte, wie der Schweiß sich unter den Augen sammelte. Er kam überhaupt nicht mehr zur Ruhe; ein Problem jagte das andere.
Plötzlich sprang das MH96 wieder an, und mit ihm das automatische FRS. Stone betätigte erneut die manuelle Gierkontrolle, um den Kurs zu korrigieren. Zunächst wirkte das System der Gierneigung anscheinend korrekt entgegen - doch dann setzte das verdammte Gerät wieder aus, und der Referenzwert wurde überschritten.
Zu allem Überfluß rotierte nun auch noch die Kugel der Rollanzeige. Er rollte wieder nach links. Er versuchte, das mit drei Stößen der manuellen Rollkontrolle auszugleichen, doch er überzog die Maschine und rollte nun nach rechts.
Achtzig Kilometer hoch. Der Himmel war nun blauschwarz getönt, und die Instrumentenbeleuchtung strahlte wie der Lichterschmuck an einem Weihnachtsbaum. Am Horizont sah er die dicke Luftschicht, die er durchstoßen hatte. Er hatte einen Blick auf die Westküste der USA, von San Francisco bis hinunter nach Mexiko. In der klaren Luft breitete die Erde sich wie eine Reliefkarte unter ihm aus.
Drei Minuten dreiundzwanzig Sekunden. Die Gierneigung beschleunigte sich und betrug nun fünf bis sechs Grad pro Sekunde. Und die Kursabweichung von der B-52 betrug bereits fünfzig Grad. Bei dieser extremen Fluglage drohte die Maschine abzuschmieren. Sie rollte nach links. Er lief Gefahr, ins Trudeln zu geraten und unkontrolliert in die Atmosphäre einzutreten.
Und wenn das geschah, würde er sich in einer qualmenden Ellipse mit einer Länge von zehn Meilen und einer Breite von einer Meile über die Wüste verteilen.
Um das Rollen zu kompensieren, betätigte er bei vollem Querruderausschlag nach links das linke FRS. Mehr konnte er nicht tun. Doch das Rollen schien sich nur noch zu verstärken. Und nun nickte die Maschine auch noch.
Der sternenübersäte Himmel und die glühende Wüste unter ihm drehten sich immer schneller um das Cockpit, während er hektisch die Steuerung betätigte.
Zweihundertvierzigtausend Fuß über dem Boden geriet die -noch immer mit Überschallgeschwindigkeit fliegende X-15 -ins Trudeln, wobei sie sich um zwei Achsen gleichzeitig drehte.
Er machte der Bodenstation Meldung.
»Was haben Sie gesagt, Phil?« fragten sie ungläubig.
»Ich sagte, ich bin, gottverdammt noch mal, ins Trudeln geraten.« Er wunderte sich nicht über ihre Reaktion; es war ihnen nämlich nicht möglich, vom Boden aus den Kurs der X-15 zu erkennen; was sie sahen, waren ausgeprägte Roll- und Nickbewegungen.
Zumal man nicht wußte, wie ein Flugzeug sich verhielt, das bei Überschallgeschwindigkeit ins Trudeln geriet. Man hatte zwar ein paar Windkanalversuche durchgeführt, um das Verhalten der X-15 im Grenzbereich zu simulieren, nur daß die Ergebnisse nicht sehr aussagekräftig gewesen waren.
Auch das Pilotenhandbuch enthielt keinerlei Hinweise für die Stabilisierung der Maschine.
Stone zog alle Register, unter Zuhilfenahme der manuellen FLR und der aerodynamischen Steuerung. Volles Höhen- und Querruder. Was noch?
Das Flugzeug wurde durchgeschüttelt, und er wurde von einer Seite zur anderen geschleudert. Das Atmen fiel ihm schwer, und er war kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war alles so schnell gegangen. Ich habe das Leitwerk verloren. Nun ist alles aus.
Plötzlich aktivierte das MH96 wieder die automatische FLR. Die Korrekturdüsen feuerten und neutralisierten das Trudeln. Stone unterstützte die FLR durch den Einsatz der Steuerflächen.
Die X-15 stabilisierte sich und ging wieder in den Horizontalflug.
Stone fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte eine Höhe von hundertzwanzigtausend Fuß und flog Mach Fünf. Nun muß ich nur noch in die gottverdammte Atmosphäre eintreten.
Er zog die Maschine hoch und gab ein obszönes Stoßgebet von sich, als die Steuerung auf seine Befehle reagierte. Nachdem er den vorschriftsmäßigen Anflugwinkel von dreißig Grad erreicht hatte, öffnete er die Luftbremsen und fuhr die
Klappen am hinteren Vertikal stabilisator des Flugzeugs aus. Das Gefühl für die Geschwindigkeit kehrte zurück, als die Verzögerungskräfte einsetzten. Er wurde in die Gurte gedrückt. Die Vorderkanten der Tragflächen glühten in einem dunklen, bedrohlichen Rot.
Der Himmel wurde schnell heller. Er sah Edwards als ein über die Wüste gelegtes Gitter, vierhundert Kilometer vom Startpunkt entfernt.
In einer Höhe von achtzehntausend Fuß zog er die Luftbremsen ein und betätigte die aerodynamische Steuerung, um in einen korkenzieherartigen Sinkflug zu gehen - mit dem Ziel, so viel Geschwindigkeit und Energie wie möglich zu verzehren.
In einer Höhe von tausend Fuß über dem ausgetrockneten See ging er in den Horizontalflug über und stieß die Bauchflosse ab. Er fuhr die Landeklappen aus und zog die vom Wiedereintritt versengte Nase hoch. Zwei Abfangjäger setzten sich neben ihn.
Dann setzte die X-15 auf. Die Kufen am Heck wirbelten Staub und Steine auf, und Stone wurde durchgeschüttelt, während die Kufen über den ausgetrockneten See hoppelten. Das Bugrad hing noch für ein paar Sekunden in der Luft, bevor es aufsetzte und seinerseits eine Staubwolke aufwirbelte.
Anderthalb Kilometer vom Aufsetzpunkt kam die X-15 zum Stehen. Die Abfangjäger donnerten über sie hinweg.
Nachdem der Staub sich auf die Kanzel gelegt hatte, schaltete Stone alle Systeme ab, schloß die Augen und ließ sich in den Sitz zurückfallen.
Das Korsett des Druckanzugs bohrte sich ihm in den Rücken.
Stone hatte sich als Pilot bewährt. Doch mit einem Flug wie dem heutigen würde er bei der NASA keine Punkte sammeln.
Ich habe ein Überschall-Trudeln unter Kontrolle gebracht! Ich habe die Kiste heil ‘runtergebracht, und wenn ich in der Lage bin, das zu rekonstruieren, komme ich ins Handbuch. Und trotzdem hob ich es verbockt. Ich habe die wissenschaftlichen Untersuchungen nicht abgeschlossen, und ich habe die Checkliste nicht vollständig abgehakt. Und das war das einzige, wofür die NASA sich interessierte.
Eine Faust schlug gegen die Kanzel. Die Bodenbesatzung war angekommen; durch das staubige Glas sah er ein breit grinsendes Gesicht. Er hob eine behandschuhte Hand und krümmte Daumen und Zeigefinger zu einem >Perfekt<-Symbol.
Ein Tagewerk im Raumfahrtprogramm war vollbracht.
Montag, 13. April 1970 >Angelhaken<, Kambodscha
Im Jahre 1970 war Ralph Gershon fünfundzwanzig Jahre alt.
Er war in ärmlichen Verhältnissen auf einem Bauernhof in Iowa aufgewachsen und hatte bei der harten Arbeit vom Flug ins Weltall geträumt. Als Kind war er mit Weinbaum und Clarke, Rice Burroughs und Bradbury zum Mars geflogen; später hatte er fasziniert die Entstehung des RaumfahrtProgramms verfolgt. Er hatte ein paar Flugstunden genommen, in der Schule gebüffelt und wurde schließlich - wobei er gegen viele Vorurteile ankämpfen mußte - in die Akademie und dann in die Luftwaffe aufgenommen.
Er hatte einen Traum verwirklicht.
Aber die Wirklichkeit war dann nicht so wundervoll.
Gershon war kaum von der Basis aufgestiegen, als er auch schon über dem Dschungel dahinflog. Er erstreckte sich als schwarzes Meer bis zum Horizont, dunkler als der Himmel.
Sein Flügelmann hatte bereits Vollschub gegeben und war nicht mehr zu sehen; er befand sich wohl schon oberhalb der Viertausend-Fuß-Marke.
Während die Maschine stieg, schwoll das Turbinengeräusch an, und der Propeller schnitt durch rauchige Luft. Nun sah Gershon Lichtblitze, rote Nadelstiche im getarnten Boden. Die Nadelstiche waren Mündungsblitze der Artillerie.
Die Luft war von Rauch geschwängert: etwa doppelt so schlimm wie der durchschnittliche Smog von Los Angeles. Der Rauch regte Gershons Phantasie an. Dort unten unterhielten Hunderte, wenn nicht Tausende von Bauern rauchige Feuer auf ihren matschigen Feldern.
Jeder von ihnen trug seinen Teil dazu bei, um ihm, Gershon, und seinen Kameraden das Leben schwerzumachen. Man durfte gar nicht darüber nachdenken - dann wurde einem nämlich bewußt, wie groß dieses Land war und welche Schläge es verkraftete.
Also verdrängte Gershon den Gedanken daran.
Nun ging er in den Horizontalflug. »Marschflug«, wies er seinen Flügelmann an.
Die Radarüberwachung meldete sich über Funk. Damit hatte er schon gerechnet. Er schaltete die Taschenlampe ein, um die Karte zu markieren.
Gershon hatte eigentlich ein Ziel in Südvietnam angreifen sollen. Doch nun wies die Leitstelle ihm ein neues Ziel zu.
Gershon änderte den Kurs. Die Maschine spulte weitere Kilometer über dem anonymen, komplexen Dschungel ab.
Nach dem Einsatz würden die Verantwortlichen alle Beweise für die Mission vernichten und melden, daß der Angriff wie geplant in Südvietnam stattgefunden habe.
Und nicht im neutralen Kambodscha.
Und wie bei vorherigen Einsätzen würde Gershon auch diesmal wieder einen falschen Bericht abfassen müssen.
Er schaute gen Himmel. Irgendwo dort oben war Apollo 13 zum Mond unterwegs.
Gershon tat sich schwer damit, das grandiose Abenteuer am Himmel, bei dem drei Männer ihr Leben für eine sinnvolle Sache riskierten, mit diesem sinnlosen und verlogenen Scheißkrieg auf einen Nenner zu bringen.
Nach einer Stunde lief ein Zittern durch die Maschine -Schwingungen in Längsrichtung, so daß er im Sitz hin und her ruckte. Ein Nachtflug schien aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen, bis man vor Angst fast den Verstand verlor. Er wußte nicht, ob solche Vibrationen ein echter Defekt waren oder nur eine Erscheinung, die er am Tag gar nicht zur Kenntnis genommen hätte.
Er versuchte sie abzureiten, und nach einer Weile ebbten die Schwingungen tatsächlich ab. Die Produktion dieser Maschinen - der einsitzigen Douglas A-1 Skyraider - war 1957 eingestellt worden. Vor dreizehn Jahren. Sie dürften eigentlich gar nicht mehr fliegen. Die Ersatzteilversorgung wurde nur noch durch das Ausschlachten von Flugzeugwracks gewährleistet.
In der Dunkelheit mußte Gershon nach Zeit und Entfernung fliegen: eine Art >Pi-mal-Daumen<-Navigation, die lediglich auf Kurs, Geschwindigkeit und Flugzeit basierte. Präzise war das nicht. Dennoch wähnte Gershon sich nun über der vom KBO gemeldeten Position. Der KBO war sein Kampfbeobachter, der freundliche kambodschanische Späher, der den Auftrag hatte, seine Bomben ins Ziel zu bringen.
Er drehte an den Knöpfen des Funkgeräts. »Hallo Topdog, hier ist Pilgrim. Wie ist die Verständigung? Topdog, Pilgrim. Wie ist die Verständigung?«
Ein paar Kilometer entfernt hörte er das Bellen einer Siebenunddreißig-Millimeter-Flak.
Gershon übte sich in Geduld. Schließlich war der arme Kerl dort unten im finsteren Dschungel von feindlichen Soldaten umzingelt.
Es rauschte im Funkgerät, und dann ertönte eine entfernte Stimme. »Pilgrim. Topdog. Du kommst Topdog zu Hilfe?«
»Ja, Topdog. Pilgrim kommt dir zu Hilfe. Du hast böse Buben?«
»Rager, rager, Pilgrim.« Rager sollte Roger bedeuten. Der KBO sprach den Slang, den die Piloten mit den Eingeborenen vereinbart hatten, mit denen sie zusammenarbeiteten. »Hab viele, viele böse Buben. Sie sind überall. Sie schießen mit großem Gewehr auf mich.«
Großes Gewehr? Gershon spähte hinunter in die Dunkelheit. Er sah keine Mündungsblitze von Artilleriegeschützen; also wurde das Gefecht vielleicht nur mit Gewehren ausgetragen.
Vor Gewehren hatte Gershon keine Angst. Es war sogar irgendwie prickelnd. Die Kugeln prasselten wie Regen auf eine Blechbüchse und machten kleine Löcher ins Flugzeug.
Aber >großes Gewehr< bedeutete vielleicht auch einen Mörser.
Er vermochte es nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Topdog hingegen befand sich im Brennpunkt des Geschehens, im Höllenschlund auf dem schwarzen Erdboden.
»Gut, Topdog, du gibst uns deine Koordinaten. Wir holen dich raus.« Gershon knipste die Taschenlampe an, notierte die Zahlen und verglich sie mit den Einträgen auf der Karte.
Die Koordinaten stimmten nicht mit dem Ort überein, an dem der KBO sich befinden sollte.
Gershon rief seinen Flügelmann: »He. Bestätigst du das?«
»Bestätigt.«
»Entweder weiß er nicht, wo er ist, oder er ist hundert Kilometer von hier entfernt.«
»Du mußt ihn rufen, Pilgrim.«
Gershon zögerte und fragte sich, was er tun solle. Diese Art von Versteckspiel war bei einem KBO nicht ungewöhnlich.
Dann drangen wiederum Stimmen durch die Dunkelheit zu den Bombern herauf und gaben Koordinaten für den Bombenabwurf durch. Und wenn die Besatzungen diese Koordinaten dann überprüften, stellte sich heraus, daß sie die Position der eigenen Truppen bezeichneten.
»Topdog, hier ist Pilgrim. Hörst du mein Flugzeug?«
»Pilgrim, Topdog. Ich höre dein Flugzeug. Du kommst nach Norden vielleicht drei Kilometer.« Gershon flog nach Norden.
Gershon schaute nach unten. Die Berge hier waren hoch, und bei der Flughöhe von zehntausendfünfhundert Fuß war nicht mehr viel Platz dazwischen.
»He, Topdog. Hörst du mein Flugzeug jetzt?«
»Rager, rager, Pilgrim. Du nun über meiner Position.«
Es lag ein Tal unter ihm, eine schwarze Wunde in der Landschaft, die mit dem Pelz des Dschungels bedeckt war.
»Topdog, Pilgrim sieht großes Tal. Wo bist du?«
»Rager, Pilgrim. Böse Buben im Tal. Du wirfst Bombe in Mitte von Tal.«
Das hätte einen Präzisionsabwurf erfordert. »Topdog, ich will wissen, wo du bist.« Schließlich wollte Gershon den KBO nicht auch noch wegpusten.
»Pilgrim, Topdog oben auf Berg. Du bombardierst böse Buben.«
»In Ordnung, Topdog, Pilgrim wirft Bombe ins Tal.«
Gershon positionierte den Waffenwahlschalter so, daß eine Unterflügel-Napalmbombe von fünfhundert Pfund ausgelöst wurde. Dann schaltete er eine Positionslampe ein, um dem Flügelmann seine Flugrichtung anzuzeigen.
Er drückte die Maschine im Vertrauen auf die Instrumente nach unten und ging in einen Vierzig-Grad-Sturzflug.
Er unterschritt die Gipfelhöhe der Berge und näherte sich schnell dem Ziel. Durch das Bombensichtgerät sah er die schimmernden Konturen des Tals.
Der Zeiger des Höhenmesser rotierte, und Gershons Atem ging unregelmäßig. Er machte sich keine Sorgen wegen der Flak; im Moment kam es nur darauf an, nicht am Boden zu zerschellen.
Er drückte auf den Auslöser.
Die fünfhundert Pfund lösten sich mit einem Ruck von der Maschine. Er zog das Flugzeug hoch und grunzte unter der Last von drei Ge auf der Brust.
Die Napalmbombe explodierte wie ein Feuerwerkskörper über der Landschaft. Sie glich einer riesigen Glühlampe, die plötzlich auf dem Talboden aufleuchtete und den rauchigen Himmel über ihm in eine milchige Kuppel verwandelte. Es war ein gespenstischer, fast schöner Anblick.
»Pilgrim! Du hast Bombe Nummer Eins. Sehr gut. Du machst das gleiche noch mal.«
»Gut, Topdog, wir werden sie hier plazieren.«
Gershon tauschte mit dem Flügelmann die Position, und nun ging dieser in den Sturzflug. Im Tal war es nicht länger dunkel; es hatte sich in ein Inferno aus Flammen und den Leuchtspuren von Zwanzig-Millimeter-Geschossen verwandelt, die wie feurige Juwelen funkelten. Gershon erhaschte einen Blick auf die Maschine seines Flügelmanns, deren Konturen sich vor dem Feuer abzeichneten. Der Flügelmann drehte eine Rolle und ging in den Horizontalflug.
»Sehr gute Bombe, Pilgrim.«
»Alles klar, Topdog.«
»He, Pilgrim. Du hast Radio?«
Gershon wußte nicht, wovon der KBO sprach; der Einsatz war schließlich vorbei. »Wiederhole, Topdog. Wiederhole.«
»Topdog hört Radio. Stimme von Amerika. Ihr tapferen Jungs habt Probleme.«
»Was?«
»Apollo. Tapfere Jungs. Raumschiff in schrecklicher Gefahr, sagt Stimme von Amerika. Du verstehst?«
Mein Gott, sagte er sich elektrisiert. Was, zum Teufel, ist da passiert? Ob sie es wohl nach Hause schaffen...
Aber daß ich das ausgerechnet von einem armen Kerl erfahren muß, der in einem Scheißloch in den Bergen von Kambodscha hockt.
»Roger, Topdog. Ich bestätige. Danke.«
»Und dir eine gute Nacht, Pilgrim.«
Ja. Eine gute Nacht, um meinen Bericht zu frisieren.
Irgendwo am Himmel über ihm - trotz der Gefahr, in der diese Jungs sich befanden - bestanden Amerikaner großartige, wundervolle Abenteuer. Und er flog in diesem Blecheimer und schüttete flüssiges Feuer über Bauern aus. Das, was er tat, war so schmutzig, daß nicht einmal seine eigene Regierung zugeben würde, daß es geschah.
Ich muß hier raus. Natürlich mußte die NASA trotz des Drucks aus dem Weißen Haus erst noch einen schwarzen Mann ins Weltall schicken. Ralph Gershon würde sich in Geduld üben müssen...
Aber schlechter als jetzt konnte es für ihn nicht mehr kommen.
Gershon und sein Flügelmann zogen die Maschinen hoch, und Gershon ging auf Heimatkurs.
Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]
Plus 000/00:12:22
Die Erde stand als eine Wand aus blauem Licht vor ihr, so hell wie der Ausschnitt eines tropischen Himmels. Sie war so geblendet, daß der Himmel pechschwarz wurde, wenn sie den Blick abwandte. Die winzigen Fenster des Kommandomoduls waren bereits schartig, aber das gleißende blaue Licht, das dennoch hindurchfiel, tauchte die Kabine in strahlende Helligkeit.
»Houston, wir sind hier in einer Sauna.« Stone tippte mit dem behandschuhten Zeigefinger auf eine Temperaturanzeige. »Siebenundsiebzig.«
»Bestätigt, Ares«, sagte Young. »Wir empfehlen Ihnen, Kühlflüssigkeit durch den sekundären Kühlkreislauf zu schicken.«
»Rager«, sagte Gershon. »Äh. in Ordnung, Houston. Nun sehe ich eine Schwankung in der Wasserstandsanzeige. Sie schwankt zwischen sechzig und achtzig Prozent.«
»Bestätigt, Ralph; wir arbeiten daran.«
Und Stone mutmaßte, daß eine Helium-Blase sich in einem der Treibstofftanks der Steuertriebwerke gebildet hätte. Young sagte ihm, er solle die Steuertriebwerke ein paarmal feuern lassen, um die Blase zu verbrennen. Stone tat wie geheißen. Inzwischen hatte Young eine Antwort auf das Problem mit der Wasserstandsanzeige gefunden: es hatte den Anschein, als ob die Störung auf einen defekten Transducer zurückzuführen sei.
Und so jagten ein Problem und eine Überprüfung die andere.
York hatte indes eine eigene Checkliste, die sie abhaken mußte. Sie arbeitete zügig die einzelnen Punkte ab, öffnete und schloß Unterbrecher, legte Schalter um und rief Stone und
Gershon Instruktionen zu. Sie war umgeben von der im Helm zischenden Luft, dem Summen der Instrumente und Pumpen der Kommandokapsel, dem Rascheln von Papier, dem Rauschen von Youngs Stimme, die von der Bodenstation durchdrang und den leisen Stimmen von Gershon und Stone, die ihre post-orbitalen Checklisten abarbeiteten.
Es handelte sich um eine profane Prozedur, die sie schon ein Dutzend Mal in den Simulationen erledigt hatten.
Und doch war es etwas völlig anderes, diese Routine nicht in einem bodengestützten Ausbildungszentrum durchzuführen, sondern hier.
Wenn sie nach vorn aus der Kapsel blickte, sah sie die Krümmung des Planeten. Es war ein blauweißer Bogen, der vom dunklen All überwölbt wurde. Doch wenn sie nach unten sah, füllte die Haut der Erde das Fenster aus und zog stetig an ihr vorbei, als ob sie auf einem Computerbildschirm eine Landkarte betrachtete.
Sie staunte über die Transparenz der Luft. Die Atmosphäre hatte eine verblüffende Tiefenwirkung und dreidimensionale Anmutung. Die Wolken wurden von Schatten unterlegt, während sie über die Meere hinwegzogen. Die Wolken verdichteten sich mit abnehmender Entfernung zum Äquator, und wenn sie nach vorn schaute, tangential zur Erdoberfläche, sah York die Wolken in die Atmosphäre emporsteigen, als ob Ares auf eine Wand aus Dampf zuflöge. Auf dem Land erkannte sie Städte - einen grauen, verwinkelten
Flickenteppich - und die Linien von Fernstraßen. Die braunorangefarbene Tönung der Wüsten stach ihr förmlich in die Augen, doch die Wälder und verschiedenen Klimazonen waren schwerer zu erkennen; ihre Färbung kontrastierte weniger stark mit der Atmosphäre, und sie erschienen als graublaue Strukturen mit einer Ahnung von Grün.
Das fehlende Grün enttäuschte sie.
Sie sah das Kielwasser eines Schiffs, das wie ein Pinselstrich auf der ruhigen Meeresoberfläche ausfaserte.
Gershon, der auf dem mittleren Sitz festgeschnallt war, beugte sich zu ihr herüber. »Was für ein Anblick.«
Sie drehte den Kopf - und bereute es sofort. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf sei ein mit einer Flüssigkeit gefüllter Behälter, die bei jeder Bewegung schwappte. Sie hielt den Kopf für ein paar Sekunden ruhig und wartete ab, bis das Schwappen abgeklungen war. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken als an den Magen.
Raumadaptions-Syndrom. Sie wußte durchaus, was mit ihr geschah. In der Schwerelosigkeit nahmen Kalziumpartikel, die sich auf empfindlichen Härchen im Innenohr befanden, ungeordnete Positionen ein, so daß der Körper nicht mehr wußte, wo oben war. Normalerweise legte sich das nach ein paar Tagen wieder.
Doch im Moment war das höchst unangenehm für York.
Vorsichtig drehte sie sich wieder zum Fenster um. Sie flogen nun über Gewitterwolken dahin, die sich zu scheinbar massiven, kilometerhohen Wolkenklippen und -schluchten auftürmten. Sie sah Blitze, die wie Lebewesen durch die Wolken zuckten und sich durch Sturmfronten von ein paar tausend Kilometern fortpflanzten. Die von innen leuchtenden Wolken glühten purpurn und rosa, wie Neonskulpturen. »Sieh dir das an. Es hat den Anschein, als ob die Gewitterwolken nach uns ausgriffen.«
»Sie erreichen nur ein Zehntel unserer Höhe«, sagte Gershon milde.
»Der Druck ist wieder in Ordnung«, meldete Stone und nahm die Handschuhe und den Helm ab.
York löste die Verschlüsse der Handschuhe, zog sie aus und steckte sie in eine Tasche an der Liege. Sie faßte den Helm an den Seiten, löste die Arretierung und nahm ihn ab.
Sie bewegte sich zu schnell. Plötzlich schwappte wieder die Flüssigkeit im Kopf, und Speichel sammelte sich im Mund.
Der Helm rollte über den Boden und prallte gegen eine Schalterbank. Gershon ergriff ihn und lachte. »Abfangen!« Im Druckanzug wirkte er klein und kompakt. Mit Schwung warf er den Helm in die Luft, und die Kopfbedeckung taumelte um zwei Drehachsen.
York kam sich wie ein Trottel vor. Beim Anblick des Helms würgte sie plötzlich.
»O Mann«, sagte Stone angeekelt. Er reichte ihr eine Plastiktüte. York riß sie auf und steckte den Kopf hinein.
Während sie sich erbrach, driftete eine grünliche Kugel von der Größe eines Tennisballs aus dem Beutel. Die Kugel schimmerte, und die Oberfläche pulsierte.
York schaute ehrfürchtig zu. Vielleicht sollte ich das filmen. Es war eine Demonstration der Strömungslehre in der Schwerelosigkeit; sie fragte sich, ob es wohl möglich war, die von der Oberflächenspannung verursachten Wellenmuster vom Computer berechnen zu lassen.
Nun teilte der Klumpen aus Erbrochenem sich. Eine Hälfte driftete zur Wand, und die andere nahm geradewegs Kurs auf Gershon.
»Scheiße«, sagte Gershon angewidert und versuchte auszuweichen.
Der Klumpen traf ihn an der Brust; er löste sich sofort auf und verteilte sich wie ein Spiegelei über den ganzen Anzug. Wieder Oberflächenspannung, sagte York sich geistesabwesend.
»Mein Gott«, sagte Gershon. »Scheiße.«
Stone reichte Gershon ein paar Reinigungstücher. »Komm schon, Mann. Das hätte jedem von uns passieren können. Wir müssen hier saubermachen.«
Also turnten sie in der Kabine umher und versuchten, mit Papiertüchern und Plastikbeuteln Brocken von Erbrochenem einzufangen.
Wo ihr Magen sich nun beruhigt hatte, sagte York sich, daß es im Grunde gar nicht so unangenehm war. Es war fast so, als ob sie Schmetterlinge jagte.
»Numerische Steuerung Eins - Brennphase«, sagte Stone. Er betätigte den Schalter für die Schubkontrolle und blickte auf die Instrumente.
York empfand die Brennphase als heftig und unregelmäßig. Sie wurde wieder auf die Liege gedrückt; die Beschleunigung war zwar gering, aber nachhaltig.
Durchs Fenster sah sie, wie die Schubdüsen der Triebwerke für die Lage- und Bahnregelung Wasserdampf ausstießen; sie hatte den Eindruck, sich über einen Boden aus dunklem, mit Frost überzogenem Glas zu erheben. Die Kontinente waren von Ketten aus hellen Lichtpunkten gesäumt, die sich wie Straßenlampen aus der Vogelperspektive ausnahmen. Nur daß es sich bei diesen Punkten nicht um Straßenlampen handelte, sondern um Städte.
Sie rutschte auf der Liege herum und schaute nach vorn, auf die Masse des Planeten.
Sie sah die Schicht aus glühender Luft, die helle Schicht aus ionisiertem Gas am Rand der Atmosphäre. Die klar definierte Linie täuschte einen Sonnenaufgang vor. Und dann sah sie, wie erst ein Ausschnitt des Himmels eine blaue Färbung annahm und wie dieses Blau sich dann entlang des Horizonts ausbreitete. Die Farbpalette wurde vielfältiger und verschmolz zu einem hellen Fleck, bei dem es sich um die aufgehende Sonne handelte. Die Krümmung der Erde wurde in alle Farben des Spektrums getaucht. Das Licht der Dämmerung erreichte sie durch die Schicht der Atmosphäre; für einen kurzen Moment sah sie die Schatten der Wolken, die über die orangefarbene Meeresoberfläche zogen.
Dann stieg die Sonne so hoch, daß sie die Wolken von oben anstrahlte. Das Meer nahm eine rote Färbung an, und der Horizont schickte einen Schwall blauweißen Lichts zu ihr herüber.
Spontan griff sie in die Tasche des Druckanzugs und holte eine Handvoll von dem Gras heraus, das Wladimir Wiktorenko ihr gegeben hatte. Sie legte es auf den Handteller und zerrieb es vorsichtig; es verströmte ein süßliches Aroma, wie ein Kraut. Es war polin, eine Art von Wermut, der in der Steppe von Kasachstan gedeiht.
Stone beendete die Brennphase. Der Knopf sprang wieder heraus. »Zweihundertsieben Fuß pro Sekunde«, sagte er.
»Alles klar«, murmelte Gershon. »Hundertfünfundneunzig zu zweihunderteins.«
»Bestätigt die Brennphase, Ares«, rief Young. »Ihr seid vierhundert Kilometer vom Landeplatz entfernt, Distanz abnehmend.«
»Bestätigt, John. Vorbereitung auf Numerische Steuerung Zwei.«
Die Besatzung hatte mit der Hälfte der Ares den Orbit erreicht: die Apollo-Kommandokapsel, die Betriebs- und Versorgungseinheiten, das Mars-Exkursions-Modul - das MEM - sowie das Missionsmodul, das ihnen während der Reise als Unterkunft dienen würde. Der Rest - das Raketentriebwerk mit den Brennstofftanks - war bereits im Orbit stationiert und montiert worden. Nach ihrer Rückkehr würden sie dort andocken.
Das Missionsmodul war ein kompakter Zylinder, an dessen Vorderseite die Apollo wie ein filigraner silberner Kegel angeflanscht war. Das MEM - ein gedrungener Kegelstumpf -befand sich an der Rückseite. An der Grundfläche der Verkleidung des MEM war ein Orbitales Manöver-Modul angeflanscht, das mit einem modifizierten Antriebssystem der Apollo-Betriebs- und Versorgungseinheit bestückt war. Das OMM würde abgestoßen werden, bevor sie an der Mehrstufenrakete andockten. Doch zunächst mußte Stone das OMM viermal feuern lassen, um die Mehrstufenrakete ins All zu jagen.
»Bereit für NCC«, meldete Stone.
»Bestätigt«, sagte Young. »Hundertvierzig Kilometer, Tendenz abnehmend.«
Der Korrekturstoß machte sich als kurzes Zischen bemerkbar.
»Natalie, du müßtest nun die Triebwerke sehen«, murmelte Stone. »Direkt in Flugrichtung.«
York drückte sich die Nase am Fenster platt. Die kurzen Zündungen positionierten die Ares bruchstückweise in immer höhere Orbits, bis die Ares die Mehrstufenrakete schließlich überholen würde.
Das Schiff flog nun deutlich höher als beim Eintritt in den Orbit. Die Erdkrümmung war viel ausgeprägter, und sie sah ganze Landmassen mit Wolkentupfern.
Plötzlich sah sie es: einen silbrig glänzenden Stift, der über dem Horizont hing.
»Ich sehe ihn.«
»Da bin ich aber erleichtert«, sagte Stone trocken. »Houston, ich leite die koelliptische Kombinationszündung mit achtundzwanzig Fuß pro Sekunde ein.«
»Bestätigt, Phil.«
Ein Ruck fuhr durchs Schiff.
»Schub diesmal etwas zu gering, Ares. Eins komma sechs Fuß pro Sekunde.«
»Bestätige das«, sagte Gershon und gackerte Stone in gespielter Empörung an.
»Euer Orbit liegt nun sechzehn Kilometer unter dem des Triebwerks. Entfernung beträgt hundert Kilometer und nimmt weiter ab.«
»Rog«, sagte Stone. »Einleitung der letzten Phase.« York hörte Elektromagneten klacken, während Stone per
Knopfdruck die Bremsdüsen feuern ließ.
»Wünsche maximalen Wirkungsgrad, Ares«, sagte Young. »Ihr kommt mit vierundvierzig Metern pro Sekunde rein.«
Stone führte noch zwei weitere Kurskorrekturen und fünf Bremsmanöver durch. Dann, vielleicht einen Kilometer von den Triebwerken entfernt, peilte er die Mehrstufenrakete im rechten Winkel an und führte die Apollo-Kapsel in einem
kurzen Inspektionsflug an den Triebwerken vorbei. Die
Bremsdüsen feuerten, und York wurde in die Gurte gepreßt.
York sah die Mehrstufenrakete gravitätisch am Fenster
vorbeirollen.
Die kompakte Mehrstufenrakete war randvoll mit Treibstoff. Das Herzstück war ein wuchtiges MS-II-Triebwerk, eine zweite Saturn-Stufe, die zu einem Triebwerk für den Einschuß in eine Transferbahn modifiziert worden war. An der Vorderseite der MS-II war eine zylinderförmige MS-IVB angeflanscht, eine modifizierte dritte Saturn-Stufe. An beiden Seiten der MS-II waren die beiden Außentanks angebracht, deren silbrige Zylinder so groß waren wie die MS-II-Stufe selbst. Diese Zusatztanks enthielten über tausend Tonnen flüssigen Sauerstoff und Wasserstoff, den die Ares benötigen würde, um den Erdorbit zu verlassen.
Die MS-II und die Tanks wirkten wie drei dicke Würstchen, aus deren Mitte der Stift der MS-IVB herausragte. Der Rest des Ares-Ensembles - das Missionsmodul, das MEM und Apollo -würde an der Vorderseite des MS-IVB andocken und in der Gesamtheit das erste Mars-Raumschiff ergeben, eine knapp hundert Meter lange Nadel.
Die Mehrstufenrakete war so konfiguriert, daß sie auf die Sonne wies. Somit wurde die Verdunstung des TieftemperaturBrennstoffs in den Tanks auf ein Minimum reduziert. Die Verstrebungen und Steuerdüsen warfen Schatten auf die in der Sonne leuchtenden silbernen Hüllen der Brennstofftanks. Die Unterseite der Triebwerke wurde vom Licht der Erde mit seinen blauen und grünen Pastelltönen angestrahlt. Sie sah die Klappen der Sonnensegel, die an der Seite der MS-IVB-Stufe wie Flügel zusammengefaltet waren. Die Sonnensegel würden sich entfalten, wenn Ares sich auf dem Flug zum Mars befand. UNITED STATES stand in dicken roten Lettern auf der Hülle der MS-II, wobei dieser Schriftzug noch einmal in kleineren Buchstaben auf den Schutzklappen der Sonnensegel erschien. Dort war auch das NASA-Logo abgebildet. Sie sah die Streben und Stifte, mit denen die Außentanks an den Flanken der MS-II befestigt waren und die golden glänzenden Schlünde der vier J-2S-Triebwerke der MS-II, bei denen es sich um verbesserte Versionen der Triebwerke handelte, die Apollo zum Mond befördert hatten.
Um diese Masse im Erdorbit zu montieren, waren neun Saturn-VB-Flüge in den letzten fünf Jahren erforderlich gewesen - die Hälfte davon bemannt. Die Triebwerksstufen und die Tanks hatte man in Einzelteilen in den Orbit gebracht und dort montiert. Anschließend waren sie von Tank-Modulen mit Brennstoff beschickt worden. Die Mehrstufenrakete stellte eine Weiterentwicklung der Apollo-Saturn-Technik dar, wobei die Grundkonstruktion aus den sechziger Jahren stammte. Allerdings hatte die NASA eine ganze Reihe neuer Techniken entwickeln müssen, um das zu bewerkstelligen: die Montage schwerer Komponenten im Orbit, die langfristige Lagerung superkalter Flüssigkeiten, orbitale Betankung.
So, wie die komplexe und massive Triebwerksgruppe über der Erde segelte und vom gleißenden, nicht durch eine Atmosphäre gefilterten Sonnenlicht beschienen wurde, sah die Struktur aus wie ein großes, mit Juwelen besetztes Raumschiffsmodell. Wenn sie erst einmal angedockt hatten, würde sie die Mehrstufenrakete für ein Jahr nicht mehr aus dieser Perspektive sehen. Nicht, wie ihr nun bewußt wurde, bis sie von der Mehrstufenrakete ins MEM überwechselte und in einen Orbit um den Mars ging.
Stone streckte sich, hob die Arme über den Kopf und drückte den Rücken durch, so daß er von der Liege emporschwebte. Mit offensichtlicher Erleichterung entfaltete er die langen Gliedmaßen; für einen Astronauten war er im Grunde zu groß, sagte York sich.
»Es war ein langer Tag«, sagte er. »Was haltet ihr davon, wenn wir etwas essen, bevor wir mit dem Andockmanöver weitermachen. Wenn du dich darum kümmern würdest, Natalie?«
Essen? Jetzt? »Sicher«, sagte sie. »Wird gemacht.«
»Rager«, sagte Gershon und erhob sich von der Liege. Er bewegte sich in der Mikrogravitation, als ob er nie etwas anderes getan hätte; er stieg von der Liege auf, stieß sich an der Konsole vor sich ab und schlängelte sich wie ein Aal durch die Kabine.
Er verankerte sich in der Gerätenische unterhalb der Liegen. Dann driftete er zum Proviantbehälter hinüber und hob den Deckel: er war vollgestopft mit Zellophanpäckchen, die mit Klettverschlüssen fixiert wurden.
York wußte, daß das Essen besser werden würde, wenn sie erst einmal das Missionsmodul erreicht hatten. Doch solange sie in dieser Apollo-Kapsel steckten, mußten sie sich damit behelfen, Wasser in farblich markierte Beutel mit dehydrierter Nahrung zu pressen. Aber sie wollte sich nicht beklagen. Mit dem Wasserkocher für Essen und Kaffee, der Zahnpasta und sogar einem Rasierapparat für die Männer glich die Kommandokapsel einem gemütlichen Wohnmobil.
Gershon schwebte mit ein paar golden markierten Beuteln herauf. »He. Die hab ich vorne gefunden. Hat einer von uns etwa eine Goldkarte?« flachste er.
Stone lächelte. »Nee. Ich hatte sie ausgelegt, damit ihr sie auch findet.«
York musterte die Beutel. »Rindfleisch und Kartoffeln. Karamelpudding. Gebäck. Traubensaft.« Sie schaute Stone an. »Was soll das? Davon sagt mir gar nichts zu. Ich hasse Karamelpudding.«
»Ich hielt es für angebracht. Dies war nämlich das erste Menü, das die Besatzung von Apollo 11 im All verzehrt hat. Gleich nachdem sie den Erdorbit verlassen und Kurs auf den Mond genommen hatten.«
»Schon gut«, sagte Ralph Gershon, zog einen Schlauch aus dem Trinkwassertank und füllte mit Elan die Beutel auf.
Wieder beäugte York die Beutel. Karamelpudding in memoriam. Bizarr.
Aber vielleicht war es doch angebracht.
Montag, 13. April 1970
Zentrum für Bemannte Raumfahrt, Houston
Chuck Jones klappte das Helmvisier herunter und zog an den Kabeln des Druckanzugs, um die Anschlüsse zu überprüfen.
Dann trat er an den Rand des Tanks. Das große blaue Rechteck erinnerte an ein Schwimmbecken. Es befanden sich bereits Taucher im Wasser, die wie Delphine um die Simulation herumschwammen. Kabel zogen sich durch das
Wasser und wickelten sich um die kompakte weiße Form der Simulation.
Verdammt, das ist ein Kinderspiel, sagte Jones sich. Simulationen. Wie ich Simulationen hasse.
Er drehte sich zu seinem Partner, Adam Bleeker, um. Weil der Anzug so steif war, mußte Jones wie ein Kaninchen durch die Gegend hoppeln. »Alles klar, Junge?«
Bleeker wirkte erschrocken. »Sicher. Klar doch, Chuck.«
Jones lachte in sich hinein. Er wußte, daß schon ein Lächeln genügte, um einen grünen Jungen wie Bleeker aus der Fassung zu bringen. »Guter Junge. Willkommen in der Anlage für Schwerelosigkeits-Training im sonnigen Texas. Ein schöner Anblick, nicht wahr?«
Bleeker wandte sich dem Wasser zu. »Irgendwie habe ich heute keine Lust dazu, Chuck.«
»Ich auch nicht, Adam; ich auch nicht. Aber wir müssen da durch, oder wir dürfen die schönen Vögel nicht fliegen. Bist du soweit?«
»Gehen wir rein.«
Jones trat auf die Plattform. Der Atem rauschte in den Ohren. Nun hing er über dem Becken, und mit wimmernder Hydraulik senkte die Plattform die plumpe, verkabelte Gestalt ins Wasser.
Die Taucher behängten ihn mit Gewichten, die den Auftrieb neutralisierten und somit Schwerelosigkeit simulierten. Dann packten sie Jones an den Armen und zogen ihn auf die Simulation zu. Das Wasser war wohltemperiert, damit die Taucher angenehme Bedingungen vorfanden.
Der WET-F war einer der größten Simulatoren am ZBR. Das Becken befand sich im Zentrum von Gebäude 29, einem großen Rundbau, der früher eine Zentrifuge beherbergt hatte. Nun stand ein Krankenfahrzeug am Becken, und in der Nähe war eine Dekompressionskammer. Die in ihre Einzelteile zerlegten Simulatoren für andere Übungen standen neben dem Wasser und würden im Bedarfsfall von Laufkatzen ins Becken hinabgesenkt werden.
Jones haßte den WET-F. Er fühlte sich vom ihn umgebenden Wasser bedrängt: dem Widerstand, den es jeder Bewegung entgegensetzte, dem trüben Licht, den blubbernden Blasen und den schemenhaften Tauchern.
Der Kontrast zur Stille des eiskalten Alls hätte kaum schroffer sein können.
Im Wasser sah er das massige Modell einer S-IVB, einer dritten Saturn-Stufe. Die Öffnung des Triebwerkstrichters klaffte vor ihm. Der Kopplungstunnel, ein dünner Zylinder, war an der Vorderseite der S-IVB angeflanscht, an deren Vorderseite sich wiederum ein primitives Modell einer angedockten Apollo-Kommandokapsel befand.
Nach dem Erreichen des Orbits sollte die ausgebrannte S-IVB als Raumstation - als Skylab - eingesetzt werden. Die S-IVB und die Apollo-Kapsel mit der Besatzung sollten separat ins All geschickt werden, und zwar von Saturn IB-Raketen, den kleineren und billigeren Verwandten der Saturn V. Die Astronauten würden an die Rakete andocken, indem sie die Apollo mit der Nase voran an die Kopplungsöffnung bugsierten und durch spezielle Kopplungstunnel in die Rakete krochen. Anschließend würde die Besatzung das Innere der Rakete reinigen und sich im großen Flüssigwasserstofftank häuslich einrichten.
Dieser Simulator war nicht lackiert und hatte auch sonst keinen Feinschliff. Offensichtlich war er in aller Eile zusammengedengelt worden.
Die Stimme des Versuchsleiters ertönte im Kopfhörer: »Guten Morgen, Chuck, Adam.«
Guten Morgen, du Arschloch.
Bleeker drehte sich um und winkte in eine der allgegenwärtigen Kameras.
»Ich wollte vorher noch einmal die Basis-Parameter der Simulation mit euch durchgehen«, sagte der Versuchsleiter. »Es handelt sich nicht um eine integrierte Simulation.« Also waren sie nicht mit der Zentrale verbunden. »Wir haken hier nur versuchsweise die Checkliste ab, nach der wir uns richten müssen, wenn wir im Orbit die Werkstatt einrichten. Gut, machen wir weiter.«
Die Taucher nickten Jones zu und geleiteten ihn zum ApolloModell. Es handelte sich nur um einen offenen Käfig, der am Kopplungstunnel montiert war. Die Simulation sollte in dem Moment beginnen, wo die Besatzung in die Werkstatt eindrang, um sie bewohnbar zu machen.
Zuerst mußten sie das Haltegestell am Bug der Apollo abbauen und den Tunnel zur Werkstatt öffnen. Dieser Teil müßte zumindest glatt über die Bühne gehen, weil es sich bei diesem Andockmanöver um eine Standardroutine bei den Mondflügen handelte.
Jones hörte Bleekers rasselnden Atem, während er am schweren Haltegestell zerrte. »Immer mit der Ruhe, Junge. Wir werden nach Stunden bezahlt.«
Bleeker lachte und entspannte sich ein wenig.
Nachdem sie das Haltegestell abmontiert hatten, übergab Bleeker es einem Taucher.
Dann drang Bleeker durch die Kopplungsöffnung in den Kopplungstunnel ein, gefolgt von Jones. Der Tunnel war eng und mit Schränken ausgekleidet. Die gesamte Ausrüstung für die Wohnquartiere und Experimente sowie Kleidung und Nahrung etc. waren während des Starts in diesen Schränken verstaut; nachdem sie den Wasserstofftank umgebaut hatten, würden Jones und Bleeker noch einmal zurückkommen, die
Schränke ausräumen und die Ausrüstung in den Tank schaffen müssen.
Nun drang Bleeker in den Wasserstofftank selbst vor.
Die Metallwände des Tanks traten vor ihm auseinander. Es war stockdunkel, und Jones hatte das Gefühl, Bleeker in eine riesige, unheimliche Metallgruft zu folgen. »Halt, Adam; laß uns etwas Licht ins Dunkel bringen.« Jones nahm die Taschenlampe vom Gürtel und klemmte sie an die Stange, die entlang der Längsachse des Tanks verlief.
Das Licht der Lampe drang durchs Wasser und traf auf die rückwärtige Wand, deren Ausbuchtung auf ihn wies. Dies war das Schott zwischen dem Wasserstofftank und dem darunter befindlichen Flüssigsauerstofftank des Zusatztriebwerks. Helium-Druckkugeln klebten wie große silberne Warzen an den Wänden. Handläufe und Stangen zogen sich durch die Metallhöhle, und zusammengefaltete Trennwände und andere Ausrüstungsgegenstände waren säuberlich an den Wänden des Tanks aufgereiht. Zu ordentlich. Ich frage mich, was diese armen Schmocks vorfinden werden, wenn der Ernstfall eintritt und dieser Vogel im Orbit hängt.
Die Skylabs waren im Grunde Provisorien. Doch sie verhalfen der NASA zu den notwendigen Erfahrungen mit Blick auf orbitale Operationen und Langstreckenflüge, bevor die wirklichen Raumstationen zum Einsatz kamen.
»Gut, Männer«, sagte der Versuchsleiter. »Wie ihr wißt, besteht eure erste Aufgabe im Orbit darin, den Verschluß der Brennstoffleitungen zu kontrollieren. Heute übergehen wir das jedoch und kommen gleich zum Verlegen des Bodens.«
»Wir kennen die Prüfliste auch«, knurrte Jones. »Mach weiter, du Eumel.« An der Stange glitt er tiefer in den Tank hinein.
Nun widmeten Bleeker und Jones sich den an der Wand des Tanks gestapelten Bündeln mit Bodensegmenten. Ihre Aufgabe bestand darin, über die ganze Breite des Tanks und auf zwei Dritteln der Länge einen Boden aus Aluminiumprofilen zu verlegen. Das Anbringen der Profile glich dem Legen eines Puzzles, wobei die Achse des Tanks als Bezugspunkt diente.
Die beiden Männer arbeiten sich von den Wänden des Tanks zum Zentrum vor. Es war eine einfache, aber langwierige und ermüdende Arbeit. Jones hatte Probleme, die Werkzeuge mit den behandschuhten Händen zu greifen, zumal das Wasser jeder Bewegung Widerstand entgegensetzte.
Taucher waren ihnen in den Tank gefolgt. Einer hatte eine Unterwasserkamera dabei und filmte sie.
Der Versuchsleiter wollte sie aufmuntern: »Wir wissen eure Hilfe zu schätzen, Jungs. Wir wissen sehr wohl, daß ihr auch für andere Missionen vorgesehen seid und daß ihr diese hier vielleicht gar nicht ausführen werdet.«
Hoffentlich nicht, sagte Jones sich.
Chuck Jones sollte zum Mond fliegen. Er war Stellvertreter des Kommandanten von Apollo 15, was ihm aufgrund des für die Besatzungen geltenden Rotationsprinzips nach zwei weiteren Flügen, also bei Apollo 18, ein eigenes Kommando einbringen würde.
Der Kongreß hatte den NASA-Etat für das Haushaltsjahr 1971 jedoch gekürzt und auf den Stand von 1962 zurückgeführt. Und Nixon hatte noch immer nicht auf die Vorschläge der >Arbeitsgruppe Weltraum< in bezug auf die künftige Entwicklung des Raumfahrtprogramms reagiert, obwohl das Gerücht ging, daß er unter dem ständigen Druck von Kennedys medienwirksamen Inszenierungen nun doch mit einem Mars-Programm liebäugelte.
Auf jeden Fall würde die NASA Saturn V-Raketen brauchen, um die Skylabs und Raumstation-Module hochzuschießen und die NERVA-Testflüge durchzuführen. Folglich würde die NASA die Saturn V-Starts strecken müssen. Die verbleibenden Mondflüge, Apollo 14 bis 20, würden in Halbjahres-Abständen erfolgen.
Im Oval Office kursierte das Gerücht, wonach spätere Flüge ganz gestrichen würden.
Jones war schon ins All geflogen. Einmal.
Als Nachfolger von John Glenn hatte er bei der zweiten Mercury-Mission dreimal die Erde umkreist. Es war ein regelrechter Spaziergang gewesen. Er hatte das Gefühl der Schwerelosigkeit genossen und die Kapsel so ausgerichtet, daß die Erde ständig vor dem Sichtfenster stand.
Doch bei den Manövern im Orbit hatte er zuviel Brennstoff -Wasserstoffperoxid - verbraucht.
Als er zur Erde zurückkehren wollte, wußte niemand, ob er noch genug Brennstoff hatte, um die Kapsel so auszurichten, daß sie im richtigen Winkel in die Atmosphäre eintrat. Vielleicht hatte er durch die Faxen im Orbit den ganzen Brennstoff vergeudet. Hatte er nicht; er schoß zwar um vierhundert Kilometer über den Zielpunkt hinaus, doch nach ein paar Stunden wurde er von den Helikoptern eines Flugzeugträgers aus dem Wasser gefischt.
Jones war mit sich zufrieden. Leider waren die Obermuckel der NASA nicht mit ihm zufrieden: seine Kapriolen hätten ihn auch den Kopf kosten können.
Offiziell blieb Jones im Dienst und wurde für einen späteren Flug vorgesehen. Dennoch herrschte fortan eine gewisse Distanz zwischen Jones und dem übrigen Astronauten-Korps. Deke Slayton, der Chefastronaut, hatte ihm mit einem Wink mit dem Zaunpfahl nahegelegt, den Dienst zu quittieren.
Doch da war Jones erst recht bockig geworden und hatte das rundweg abgelehnt. Er wußte, daß er eine gute Leistung erbracht hatte. Er hatte sogar Glenn übertroffen; zumindest hielt er sich das zugute.
Also blieb er weiterhin Astronaut und würde auch zum Mond fliegen. Um nicht aus der Übung zu kommen, arbeitete er unter Slayton und Alan Shepard - auch ein Weltraumpionier, der wegen eines Ohrenleidens nicht mehr fliegen durfte - in der Bodenstation.
Jones hatte dort für volle acht Jahre Dienst getan: Flugpläne erstellt und trainiert, an Simulationen und Einsatzprofilen gearbeitet. Acht Jahre.
Nun waren die damaligen Vorgesetzten anscheinend im Ruhestand, denn seine Eigenmächtigkeiten waren vergessen, und man erteilte ihm wieder Flugerlaubnis.
Nur daß er nicht viel davon hatte, wenn die Mondflüge eingestellt wurden. Und für den Mars wäre er dann wohl zu alt.
Es war nicht Forscherdrang, der Jones beseelte. Für ihn zählte nicht das Ziel - der Mond -, sondern nur die Reise dorthin: eine Mission, die Gelegenheit zu einem tollkühnen Probeflug bot.
Die Skylabs würden ihm das nicht bieten. Für ihn stellte es gewiß nicht den Höhepunkt seiner Karriere dar, die Erde auf einer niedrigen Umlaufbahn in einem besseren Mülleimer zu umkreisen und die Tage abzureißen.
Er wollte unbedingt zum Mond fliegen.
Jones knallte die Schrauben mit einer solchen Vehemenz fest, daß die Ärzte, die am Monitor seine Lebensfunktionen überwachten, einen Schreck bekamen.
Als der Boden fertig war, gratulierte der Versuchsleiter ihnen. »Gut gemacht, Jungs. Wir machen eine Pause. Bis zum nächsten Einsatz haben wir noch etwas Zeit. Steigt durch den Kopplungstunnel aus.«
Bleeker folgte den Tauchern, fädelte sich durch den engen Kopplungstunnel und tauchte wieder ins lichtdurchflutete Wasser ein.
»Und jetzt du, Chuck«, sagte der Versuchsleiter.
Jones drang in den dunklen Tunnel ein, wobei er durch die an den Wänden aufgereihten Schränke behindert wurde. Das bißchen Licht stammte von den Lampen im Tank hinter ihm und dem blauen Wasser des Beckens vor ihm.
Als er sich im Tunnel befand, wurde die Ausstiegsluke des Apollo-Modells zugeschlagen.
Jones bremste abrupt ab und zog mit den behandschuhten Händen am Lukenhebel. Er gab nicht nach.
»Was ist hier los?«
»Jones«, sagte der Versuchsleiter mit rauher Stimme. »Alle Systeme sind ausgefallen. Die Energieversorgung der Kommandokapsel ist zusammengebrochen; eine Rückkehr ist unmöglich, genauso das Ablegen von der Kopplungsöffnung. Zu allem Überfluß wird die Energieversorgung der Werkstatt gleich zusammenbrechen. Tu etwas.«
Nun gingen die Lichter aus. Er driftete in völliger Dunkelheit. Sogar die Tanklichter waren erloschen.
»Was ist das für ein Scheißspiel.?«
Er holte tief Luft und beruhigte sich. Die Versuchsleiter waren berüchtigt für solche Einlagen. Er mußte reagieren, und zwar schnell; echauffieren konnte er sich später immer noch.
Theoretisch wußte er Bescheid. Für den Fall, daß den SkylabAstronauten der Rückweg versperrt war, würde ein neues Schiff starten. Wenn die paralysierte Apollo jedoch an der Kopplungsöffnung festhing, hatte er auch nicht viel davon.
In der Finsternis verlor er die Orientierung.
Diese abgefuckten Sims.
Er versuchte sich zu konzentrieren und rief sich den Kopplungstunnel in Erinnerung, wie er ihn vor der >Panne< gesehen hatte: die Kopplungsöffnung vor sich, den Tunnel zur Werkstatt hinter sich.
Plötzlich überkam ihn Panik. Er schlug blindlings um sich und hieb gegen Spinde und Handläufe. Der Raum hier war zu groß, sagte er sich; das raubte ihm die Orientierung. Wenn er sich in der Mercury befände.
Ruhig. Du bist nicht in Gefahr. Du kannst immer noch in den Tank zurück. Die Taucher sind noch dort.
Ja, sagte er sich verdrossen. Und wenn ich das tue, habe ich ausgeschissen. Der Große Alte Mann des Astronauten-Büros. Werft ihn für zwei Minuten in ein Schwimmbecken, und er versagt kläglich.
Im Grunde versage ich jetzt schon, sagte er sich. Schon dadurch, daß ich so lang brauche. Wie viele Sekunden? Eine halbe Minute? Sie erwarten irgend etwas von mir, etwas, das ich tun soll und das ich übersehen habe. Denk nach, verdammt. Wenn die Kopplungsöffnung blockiert ist, wie.
Und dann kam ihm die Erleuchtung. Der Kopplungstunnel hatte zwei Kopplungsöffnungen. Bleeker war durch die axiale Luke gegangen - doch es gab auch noch eine radiale Luke an der Seite des Kopplungstunnels, die gerade für solche Fälle vorgesehen war.
Er griff nach unten und fand die Luke auf Anhieb; sie klemmte zwar, gab aber nach ein paar Versuchen nach.
Bleeker klopfte Jones auf die Schulter. Der Schlag wurde durch die Gewebelagen des Anzugs gedämpft. »Was hast du da drin gemacht, Alter? Dich rasiert? Lies das nächstemal das Handbuch durch.«
»Arschloch«, knurrte Jones. »Du warst schließlich nicht da drin, oder?«
»Ist eben Montag, Chuck. Nimm’s nicht persönlich.«
Verdammte Ingenieure. Verdammte neunmalkluge Anfänger. Mit Hilfe der Taucher schwammen sie zum Beckenrand.
Dienstag, 14. April 1970
Zentrum für Bemannte Raumfahrt, Houston
Nach Fred Michaels’ antiker Taschenuhr war es dreiviertel zwei. Ihm wurde bewußt, daß er wie hypnotisiert auf die Uhr gestarrt hatte.
»Mr. Agronski möchte Sie sprechen, Sir«, schleimte Tim Josephson. »Er wartet in Ihrem Büro.«
»Das heißt Doktor Agronski, verdammt.«
»‘tschuldigung. Soll ich ihm ausrichten, Sie würden zu ihm kommen?«
Michaels, der über die Störung ungehalten war, wandte sich ab, anstatt zu antworten, und schaute durchs Fenster auf die in drei Reihen gestaffelte Belegschaft des Kontrollzentrums.
Aus der Perspektive des Podests an der Rückseite des MOCR, das aller Welt als NASA-Kontrollzentrum bekannt war, erschien die Lage undramatisch. Doch das Personal wirkte ziemlich derangiert, mit gelockerten oder abgenommenen Krawatten und zerknitterten Hemden. Die Tische waren mit Kaffeetassen, Handbüchern und Notizzetteln übersät.
Er sah John Muldoon an der Rückseite des MOCR auf und ab gehen. Neun Monate nach seinem Mondflug hatte Muldoon eine Sechs-Stunden-Schicht als Capcom für Jim Lovell und die Apollo-13-Besatzung hinter sich, doch traf er keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Vielmehr würde Muldoon gleich zum Gebäude 5 hinübergehen, wo andere Astronauten während der Freischicht Simulationen der Prozeduren laufen ließen, welche die Besatzung von Apollo 13 für den Rückflug würde durchführen müssen.
Siebzehn Stunden waren seit der Havarie von Apollo 13 nun vergangen; Michaels vermutete, daß die Leute seitdem kein Auge zugemacht hatten.
Josephson hustete. Der Assistent war ein schlanker junger Mann mit schütterem Haar, der den Titel eines Dr. phil. führte. Ohne Doktortitel war man hier im MOCR nicht einmal fürs Kaffeekochen qualifiziert. »Sir, Dr. Agronski.«
»Ja, ja.«
Leon Agronski gehörte Präsident Nixons Wissenschaftlichem Beirat an und war insbesondere für das kostenintensive Raumfahrtprogramm verantwortlich.
Michaels kannte den Grund für Agronskis Erscheinen: er wollte >Optionen< für den NASA-Etat für das Haushaltsjahr 1971 und darüber hinaus vorlegen, bevor der Staatshaushalt dem Weißen Haus zur Entscheidung vorgelegt wurde.
Weitere Einschnitte.
Michaels war als Inspektor für die Bemannte Raumfahrt zuständig und berichtete Thomas Paine, dem NASA-Direktor. Es hatte Michaels fast das Herz gebrochen, als Paine im Februar des Jahres sich an die Öffentlichkeit gewandt und die Einschnitte bei Skylab sowie die Einstellung einiger NASA-Projekte verkündet hatte.
»Wissen Sie«, sinnierte er, »wenn wir es schaffen, Apollo 13 ‘rumzureißen, machen wir wieder etwas Boden gut. Und das Bewußtsein dieser intensiven Zusammenarbeit wird uns wieder zu großen Leistungen befähigen.«
Josephson hatte bisher jeden Blickkontakt vermieden; nun war er etwas mutiger geworden und wandte sich direkt an Michaelson: »Fred, ich weiß, daß Sie sich ärgern. Aber es ist noch nicht aller Tage Abend. Und Doktor Agronski kommt extra aus Washington, um mit Ihnen zu sprechen.«
Michaels grunzte. Josephson hatte natürlich recht. Es war noch nicht aller Tage Abend.
Und vielleicht gelang es ihm, diesen Schlamassel doch noch zu seinem Vorteil zu wenden. Seine Stimmung hellte sich etwas auf.
»In Ordnung, reden wir mit ihm«, sagte er. »Aber nicht in einem verdammten Bürogebäude. Er soll ‘rüberkommen -bitten Sie ihn in den Nebenraum mit der Mondoberfläche.« Dann kam ihm noch ein Gedanke. »Ach - und, Tim.«
»Sir?«
»Bitten Sie auch Joe Muldoon hinzu.«
Der Nebenraum hätte eigentlich als Operationszentrale für die Mondspaziergänge dienen sollen. An den Wänden hingen Checklisten für die Besatzungen sowie Aufnahmen der Landezone, die von Orbiter- und Apollo-Missionen stammten. Das Gebiet hieß Fra Mauro und war im lunaren Hochland gelegen: der erste, auch in wissenschaftlicher Hinsicht
interessante Ort, an dem ein Raumschiff landen sollte. Noch war er unberührt.
Bei Michaels Eintreffen saßen Muldoon und Agronski an einem großen walnußförmigen Tisch im Mittelpunkt des Raums. Agronski, dürr bis zur Magersucht, blätterte in ein paar Notizzetteln, die er aus der Aktentasche geholt hatte; Muldoon standen vor Müdigkeit Ringe um die Augen, und er hatte die großen, kräftigen Hände auf dem Tisch gefaltet. Er schaute Michaels ungeduldig an. Josephson wuselte herum und schenkte Kaffee ein.
Michaels setzte sich auf einen Stuhl, und die promovierte Hilfskraft schenkte ihm Kaffee ein. Dann zog Josephson sich zurück und überließ die drei sich selbst.
Michaels stellte Muldoon Agronski vor. »Leon, Joe gehört zur Reserve-Besatzung für Apollo 14 und soll als Kommandant von Apollo 17 fliegen. Joe, ich habe Sie eingeladen, um uns auf die Sprünge zu helfen.«
Das ist der zweite Amerikaner auf dem Mond, Agronski, du schmallippiges Arschloch, sagte Michaels sich. Sieh ihn dir nur an! In voller Lebensgröße und doppelt so mutig! Eine lebende Legende! Bekunde ihm ein wenig Respekt!
Bei den Lichtstrahlen, die den Raum durchzuckten, war Michaels nicht in der Lage, Agronskis Augen hinter der dünnrandigen Brille zu erkennen.
Joe Muldoon sah Michaels düster an. Muldoons Blick aus diesen blauen Augen in dem massigen Schädel mit dem schütteren Haar sprach Bände: er hielt Michaels für einen Sesselfurzer, der Muldoon an einem Tag wie diesem nur die Zeit stahl. Wo er - Muldoon - doch viel lieber in Gebäude 5 oder in der MOCR bei den anderen Jungs gewesen wäre und sich Gedanken um die Rettung der Besatzung dort draußen gemacht hätte.
Mein Gott, sagte Michaels sich plötzlich. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Wenn Muldoon an die Decke geht, wird das eine mittlere Katastrophe. Er warf Muldoon einen beschwichtigenden Blick zu.
Agronski übergab Michaels ein Dokument aus seiner Aktentasche. »Es tut mir leid, Oberst Muldoon; ich hatte nicht mit Ihrer Anwesenheit gerechnet. Ich habe nur zwei Exemplare dabei.«
Muldoon musterte den Wissenschaftlichen Beirat mit seinem Raubvogelblick, doch der schien das nicht zu bemerken.
Bei dem Dokument handelte es sich um eine Kopie aus mehreren Originalunterlagen mit handschriftlichen Eintragungen und dem Siegel des Präsidenten auf der ersten Seite.
»Dies ist die Ansprache, die der Präsident im März halten wollte«, sagte Agronski. »Eine formelle Erwiderung auf den Bericht der >Arbeitsgruppe Raumfahrt« Aber er hat sie zurückgezogen. Ich möchte Ihnen dieses Manuskript zeigen,
Fred, um Ihnen die Denkweise der Regierung vor Augen zu führen.«
Michaels überflog den Text.
. Während des letzten Jahrzehnts ist der Mond das Hauptziel unseres nationalen Raumfahrtprogramms gewesen... Ich glaube, diese Errungenschaften sollten uns eine neue Perspektive des Raumfahrtprogramms vermitteln... Wir müssen neue Ziele definieren, die den Gegebenheiten der siebziger Jahre gerecht werden. Wir müssen, auf dem Erfolg der Vergangenheit aufbauend, nach neuen Zielen streben. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß noch viele Probleme auf diesem Planeten zu lösen sind. Das ist nur durch den Einsatz entsprechender Ressourcen möglich. Einen Stillstand des Raumfahrtprogramms darf es nicht geben. Doch wo wir genug Zeit haben und das Universum uns offensteht, sollten wir einen Schritt nach dem andern tun. Bei der Erschließung des Weltraums müssen wir kühn, aber auch überlegt handeln...
Mein Gott, sagte Michaels sich. Wir stecken in
Schwierigkeiten.
Er las weiter. Wirtschaftliche Erwägungen dominierten. Der Rotstift führte Regie. Kein Geld mehr für Mondflüge nach Apollo 20. Das Raumstation-Projekt im Grunde auf Skylab reduziert. Alle Entscheidungen für die Zeit nach Apollo und Skylab verschoben - also auf Eis gelegt.
Die Machbarkeitsstudien für das Space Shuttle schienen davon ausgenommen, aber auch nur, weil Nixon das Shuttle als Minimaloption betrachtete: Wir müssen die Kosten der Raumfahrt substantiell reduzieren. mittelfristig müssen wir kostengünstigere und einfachere Wege finden, Nutzlast ins All zu transportieren.
Michaels legte das Papier hin. Dann meint Nixon also, wir sollten einen Billigflug zum Mars nehmen.
Bei LBJ3 hätte es das nicht gegeben.
Doch Johnson war nicht mehr Präsident. Nun gab dieses wankelmütige Republikaner-Pack im Weißen Haus den Ton an. Und nun wurde Michaels im Alter von einundsechzig Jahren bewußt, daß die politischen Hebel, an denen er bisher gesessen hatte, nicht mehr griffen. Selbst die Kontakte zu den Kennedys waren nicht mehr so wertvoll wie ehedem.
Er fühlte sich müde und verbraucht.
Vielleicht sollte ich mich pensionieren lassen und nach Dallas gehen, sagte er sich. Und an meinem Golfschlag arbeiten.
Er sah, daß Agronski den Blick über die Bilder an den Wänden schweifen ließ. »Tolle Bilder, was?« sagte Michaels pointiert.
Agronski reagierte nicht.
»Leon, weshalb hat der Präsident diese Vorlage zurückgezogen?«
»Weil, offen gesagt, niemand im Weißen Haus weiß, welche Wirkung Kennedys Bemerkungen über die Mars-Option in der Öffentlichkeit haben. Und nun.« - Agronski wies mit ausladender Geste auf die gewellten Fotos von Fra Mauro -»habt ihr uns das hier eingebrockt. Die öffentliche Meinung ist ein wankelmütig’ Ding, Fred. Nach Apollo 13 wird Amerika mit voller Kraft dem Mars entgegenstreben - oder das Raumfahrtprogramm überhaupt einstellen.«
Muldoon wurde blaß um die Nase. »Sie sprechen über das Leben von drei Menschen, verdammt.«
Agronski musterte ihn prüfend. »Mit euch Leuten von der NASA ist es doch immer das gleiche. Ihr seid so emotional und unrealistisch. Auch Sie, Fred. Jedesmal, wenn wir um Vorschläge zu bestimmten Punkten bitten, kommt ihr gleich mit Maximalforderungen: sehen Sie sich nur diesen Bericht der >Arbeitsgruppe Raumfahrt< an, mit seinen >ausgewogenen Programmen< und dem >breiten technischen Spektrum<. Sie wollen mal eben zum Mars fliegen, doch das zieht anscheinend einen ganzen Rattenschwanz nach sich: Nukleartriebwerke, eine Raumfähre, Raumstationen etcetera pp. Die gleiche alte Vision, die von Braun seit den Fünfzigern hochhält - obwohl man gar keine Raumstation braucht, um zum Mond zu fliegen. Eure versteckten Agenden sind, ehrlich gesagt, nicht sehr gut versteckt. Ihr solltet endlich einmal lernen, Prioritäten zu setzen.«
»Die Arbeitsgruppe bittet lediglich um ein Mandat für die Kolonisierung des Sonnensystems«, sagte Muldoon verärgert. »Wodurch auch die Zukunft der Menschheit gewährleistet würde, wie Kennedy schon sagte. Gibt es vielleicht eine noch höhere Priorität?«
»Um Gottes willen«, sagte Agronski schroff. »Wir sind eine kriegführende Nation, Oberst Muldoon. Und der Krieg ist wie eine Sickergrube für Geld, Ressourcen und die Moral der Bevölkerung.«
»Klar«, sagte Muldoon. »Und für das Geld, das Apollo unterm Strich kostet, könnte man den Krieg noch um zwölf Monate verlängern. Was für ein Preis.«
Agronski überhörte das. »Der Staatshaushalt ist nun einmal kein Füllhorn. Sie müssen nicht einmal der Regierung angehören, um das zu erkennen. Und die öffentliche Meinung steht gegen Sie. Ich nehme nicht an, daß ihr Weltraum-Flieger vom Tag der Erde gehört habt, den die Grünen in ein paar Wochen veranstalten wollen.«
»Doch, verdammt, ich habe davon gehört.«
»Abfallbeseitigung. Kundgebungen. Volkspädagogik. Das steht im nächsten Jahrzehnt auf der Tagesordnung, Oberst
Muldoon: unsere Probleme hier auf der Erde rangieren vor Ihren Kapriolen im Weltall.«
»Vielleicht. Aber es war Agnew, der die >Arbeitsgruppe Weltraum< ins Leben gerufen hat und nicht die NASA«, sagte Michaels knurrig.
Doch das focht Agronski nicht an. »Es ist an der Zeit, daß ihr von eurem hohen Roß ‘runterkommt. Ihr seid nicht die Überflieger, für die ihr euch während des Apollo-Projekts gehalten habt. Ihr seid eine Dienstleistungs-Agentur mit begrenztem Etat. Damit werdet ihr euch abfinden müssen.«
Michaels mußte zugeben, daß Agronski so falsch nicht lag.
Michaels’ unmaßgeblicher Meinung zufolge war der Direktor der NASA, Thomas O. Paine, ein Idiot: ein Traumtänzer, der Agnew mit grandiosen Visionen vollaberte, ohne sich dabei zu fragen, ob dies bei den Führungskräften im Weißen Haus auch auf Akzeptanz stieß. Paine stellte einen deutlichen Kontrast zu seinem Vorgänger, Jim Webb, dar, den Michaels sehr geschätzt hatte. Webb hatte ein ausgeprägtes Gespür für politische Trends besessen und bewußt auf langfristige Planung verzichtet. Zumal die NASA mit langfristigen Plänen ohnehin schlechte Erfahrungen gemacht hatte - sie wurden nämlich zwischen den verschiedenen Abteilungen zerrieben. Webb war der Ansicht, daß Langfrist-Planung ein Glücksspiel sei und abschreckend auf den Finanzminister und die NASA-Oberen wirkte.
Paine erkannte anscheinend nicht, daß das eigentliche Problem darin bestand, angesichts der schweren Zeiten, die auf die NASA zukamen, die Existenz der Organisation zu sichern. An die Auflage neuer Programme war unter diesen Umständen gar nicht zu denken.
Michaels hätte die Sache ganz anders angepackt.
»Fred«, sprach Agronski, »vergessen Sie Ihre schönen Raumstationen und die fünfzig Mann, die Sie bis 1980 auf dem
Mond haben wollten. Der Präsident möchte das haben, was er privat als >Kennedy-Option< bezeichnet.« Er tippte auf das Dokument. »In dieser Vorlage wollte er ein Element aus dem Bericht der Arbeitsgruppe herauspicken - die Raumfähre -, auf das wir uns konzentrieren sollen. Doch was, wenn er sich für etwas anderes entscheiden sollte - für ein spektakuläreres Ziel, das genauso schnell und günstig zu erreichen wäre?«
In offenkundiger Verwirrung starrte Muldoon Agronski an.
Michaels hatte jedoch verstanden. Er darf nicht offen sprechen. Man muß zwischen den Zeilen lesen. Kennedy setzt sich anscheinend durch. Nixon will Geld sparen. Allerdings will er seine Präsidentschaft auch nicht mit dem Makel behaften, das Raumfahrtprogramm gekillt zu haben - nicht mit einem larmoyanten Kennedy im Hintergrund.
»Sie spielen auf den Mars an«, sagte er zu Agronski. »Nach dem ganzen Scheiß über den Tag der Erde sind Sie doch hier, um über einen Flug zum Mars zu sprechen. Stimmt’s?«
Muldoon war konsterniert.
»Was sagt Paine denn dazu?«
Agronski musterte ihn. »Doktor Paine ist im Moment nicht das Thema«, sagte er.
Ich wußte es. Sie schießen ihn ab. Er hatte die Gerüchte aus dem Weißen Haus gehört. Paine verweigerte nicht nur die Zusammenarbeit, er untergrub auch noch die Autorität des Präsidenten. Wir brauchen einen neuen Chef der mit uns und nicht gegen uns arbeitet und der den Präsidenten in einem günstigen Licht erscheinen läßt, anstatt ihn in Verlegenheit zu bringen... Paine war bereits Geschichte. Und aus der Art, wie Agronski ihn nun ansah, schloß Michaels, daß er, Fred Michaels, die Chance erhielt, die Nachfolge des NASA-Chefs anzutreten und dabei Leuten wie George Low und Jim Fletcher vorgezogen wurde.
Mars und der Posten des Leiters der NASA - alles an einem Tag. Spiele in Spielen. Aber ich muß Agronski etwas auf den Rückweg mitgeben, die Aussicht auf eine kostengünstige MarsOption. Überhaupt ist das Ganze zu schön, um wahr zu sein. Ich frage mich, wo der Haken bei der Sache ist.
Die Astronauten reagierten unterschiedlich auf die Unterhaltung. Michaels sah, daß ein Ausdruck der Hoffnung auf Muldoons Gesicht erschien; ein zartes Pflänzchen der Hoffnung, als ob Muldoon befürchtete, diese magische Möglichkeit - wir fliegen vielleicht zum Mars - würde dahinschmelzen, wenn er es sich zu sehr wünschte.
Er fragte sich, inwieweit Muldoon über die Vorgänge hinter den Kulissen Bescheid wußte oder ob er überhaupt etwas wußte. Beim Blick in Muldoons offenes, zorniges Gesicht verspürte Michaels einen Anflug von Scham wegen seiner Berechnung. Muldoons Anwesenheit schien nämlich die Wirkung auf ihn zu haben, die er sich eigentlich mit Blick auf Agronski erhofft hatte.
Joe Muldoon schwieg, weil er befürchtete, sonst diesen schwierigen, irreal anmutenden Verhandlungsprozeß zu stören. Womöglich war das alles nur ein Traum.
Mars. Sie reden noch immer vom Mars. Wenn Fred Michaels nun die richtigen Worte findet und die richtigen Dinge tut, macht er vielleicht den Weg zum Mars frei. Für uns.
Für mich.
Und dann hätte Joe Muldoons Leben wieder einen Sinn.
Die Monate seit der Rückkehr vom Mond waren so schlimm gewesen, wie Muldoon es befürchtet hatte.
Seine letzte PR-Tour hatte ihn an einen Ort namens Morang in Nepal geführt. Er hatte den Schulkindern die übliche Geschichte erzählt: Als ich auf dem Mond war.
>Als ich auf dem Mond war, habe ich die Erde nicht so gut gesehen. Tranquility Base war in der Nähe des Mond-Äquators - im Mittelpunkt der Mondoberfläche, von euch aus gesehen. Also stand die Erde direkt über mir, und im Raumanzug fiel es mir schwer, den Kopf zurückzulegen.
Das Sonnenlicht war sehr hell, und der Boden unter dem schwarzen Himmel war hellbraun. Ich hatte das Gefühl, an einem Strand zu stehen. Ich erinnere mich, wie Neil dort herumhopste. Er sah aus wie ein Strandball in Menschengestalt, der über den Sand sprang. Weil die Farben auf dem Mond ziemlich blaß sind, brachte die Eagle, die wie ein kleines, zerbrechliches Haus aussah, richtig Farbe auf den Mond: Schwarz, Silber, Orange und Gelb. <
Er verstummte und lauschte dem Prasseln des Regens auf dem Holzdach der Schule, schaute auf die runden Gesichter der Kinder, die mit untergeschlagenen Beinen vor ihm auf dem Boden saßen, und sah das skeptische Stirnrunzeln der Lehrerin.
Die paar Stunden, die er auf dem Mond herumspaziert war, standen mit der Präsenz einer Eagle in den Weiten seines Bewußtseins. Doch durch die Reden, die er nach der Rückkehr zur Erde auf den endlosen Vortragsreisen gehalten hatte, waren die Konturen der zugrunde liegenden Erinnerungen verschwommen. Inzwischen wirkte die Episode durch die ständigen Wiederholungen trivial.
Nun bin ich weit vom Mond entfernt. Und bei all diesen verdammten Einsparungen werde ich wohl nie mehr dorthin zurückkehren. Mir bleiben nur noch die Erzählungen. Verflixt und zugenäht.
Als er fertig war, hatten die nepalesischen Schulkinder ihm Fragen gestellt. Diese Fragen waren Muldoon eigenartig erschienen.
>Wen hast du gesehen?<
>Wo denn?<
>Auf dem Mond. Wen hast du gesehen?<
>Niemanden. Es gibt dort niemanden«
>Aber was hast du gesehen?<
Dann dämmerte es Muldoon. Vielleicht entsprachen die amerikanischen Klischees von Strandbällen und Sand nicht der Mentalität und dem Wissensstand dieser Kinder. Er mußte sich verständlicher ausdrücken. >Es gibt dort nichts. Keine Menschen, weder Pflanzen noch Bäume, auch keine Tiere. Nicht einmal Luft oder Wind. Nichts.<
Die Kinder schauten sich in offensichtlicher Verwirrung an. Muldoon und die Kinder redeten einfach aneinander vorbei. Auf ein Signal der Lehrerin hin - selbst noch ein halbes Kind - spendeten sie ihm höflichen Beifall, und er verteilte amerikanische Fähnchen und Bilder von der Landezone.
Als er das Schulhaus verließ, hörte er die Lehrerin noch sagen: >Hört nicht auf ihn. Er irrt sich.<
Im Hotelzimmer soff er systematisch die Minibar leer.
Später erfuhr er, daß die Nepalesen glaubten, nach dem Tod käme man auf den Mond. Die Kinder hatten geglaubt, die Seelen ihrer Vorfahren und Großeltern lebten auf dem Mond. Also hätte Muldoon sie auch sehen müssen, wo er schon einmal dort war. Und er hatte ihnen erzählt, es gebe keinen Himmel. Kein Wunder, daß die Kleinen verwirrt waren.
Er hatte einen Spaziergang auf dem Mond gemacht. Und nun war er, in diesem Winkel der Erde, mit einem Haufen Kinder in einem Schuppen konfrontiert worden, denen man noch immer - ungeachtet seiner Präsenz auf dem Mond, ungeachtet seiner Augenzeugenberichte vom Mond - Aberglauben einimpfte.
Das ganze verdammte Unternehmen kam ihm so sinnlos vor. Bevor er heute als Capcom den Dienst am JSC angetreten hatte, war ein Brief in der Post gewesen. Man bot ihm einen Vertrag für eine Kreditkarten-Werbung an. Kennen Sie mich?
Letztes Jahr habe ich einen Spaziergang auf dem Mond gemacht. Leider hilft mir das nicht bei der Platzreservierung im Flugzeug... Gottverdammter Müll.
Damit würde er fünfmal soviel verdienen wie bisher. Allerdings müßte er dafür aus der NASA ausscheiden.
Jill würde das sicher begrüßen. Jill war nicht so wie andere Frauen. Sie hatte keine Ahnung von militärischen Gepflogenheiten; Jill hatte keine Ahnung von den Flügen, den Gefahren und dem Dünnschiß, den die NASA während einer Mission verzapfte.
Und Tatsache war, daß die NASA ihn nie wieder zum Mond schicken würde.
Weshalb sollte er also nicht ausscheiden?
Vielleicht würde der Nimbus des Mond-Spaziergängers verblassen; vielleicht würde er den Heldenstatus verlieren. Der Meinungsumschwung zuungunsten des Programms hatte sich ohnehin noch verstärkt. Die Presse übte sogar Kritik an seinem und Armstrongs Verhalten auf dem Mond. Sie hätten sich zu lange mit dem zeremoniellen Teil aufgehalten. Sie hätten weniger Steine gesammelt als erwartet. Die meisten Proben seien nicht ordentlich dokumentiert worden. Sie hätten die Fußabdrücke mit der falschen Kamera abgelichtet und uninteressante Bilder mit nach Hause gebracht, weil sie nicht mehr genug Zeit für 3-D-Aufnahmen gehabt hätten. Nicht einmal die Aufnahmen, die sie aus dem Orbit gemacht hatten, fanden Gnade. Sie wurden als Schnappschüsse vom Erdaufgang abqualifiziert, ohne daß der unerforschte Mond zu sehen gewesen wäre.
Teufel, das war kaum unsere Schuld. Nixon wollte etwas von uns, nicht umgekehrt. Und was, zum Kuckuck, hätten wir mit dem ganzen wissenschaftlichen Krempel auch machen sollen? Er war alles andere als narrensicher: es unterlaufen einem zwangsläufig Fehler, wenn man nur ein paar Stunden hat, um auf dem Mond herumzulaufen...
Er bekämpfte die Depression, das Gefühl der Leere mit Alkohol, und hatte schon zuviel intus. Es war genau das gleiche wie nach dem Gemini-Flug. Noch ein paar Jahre, und er wäre zu einem depressiven Fettsack heruntergekommen, der einem zunehmend irritierten Publikum Kriegsgeschichten auftischte.
Er erinnerte sich daran, daß er an jenem Tag in Nepal ein Nickerchen gemacht hatte. Nach dem Aufwachen wollte er ins Bad. Beim Versuch, aus dem Bett zu schweben, war er der Länge nach auf den Fußboden geknallt, weil er sich mit den Beinen im Bettlaken verheddert hatte. Und nach dem Rasieren wollte er die Flasche Rasierwasser in der Luft treiben lassen. Sie fiel ins Waschbecken und zersplitterte.
An jenem Abend in Nepal war er als Ehrengast in ein feines Restaurant mit westlichem Standard eingeladen. Er beschloß, die anderthalb Kilometer zu Fuß zu gehen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Die Straße war holprig und steil; schließlich befand er sich hier im Vorgebirge des Himalaya. Bald wurde er müde.
Die Straße wurde von knienden Kindern gesäumt. Sie hielten Kerzen in den Händen und schauten zu ihm auf, wobei die runden Gesichter wie kleine Monde in der Dämmerung leuchteten.
Es war ein Akt der Verehrung.
Sie halten mich für einen Gott. Einen Gott, der sie besucht.
So darf man Menschen nicht behandeln, verdammt. Man hatte ihn zu einem gestrandeten Mond-Spaziergänger stilisiert. Am liebsten wäre er an einem Strand entlanggegangen.
Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, was Michaels und Agronski sagten.
Michaels wuchtete seine Leibesfülle vom Stuhl und ließ den eindrucksvollen Schmerbauch für eine Minute über dem Tisch dräuen. »Meine Herren, schau’n wir mal, ob wir die Sache nicht endlich auf die Reihe kriegen.«
Er zog ein Flip-Chart von der Wand weg. Die ersten paar Blätter waren mit kaum verständlichen Notizen beschriftet, die auf die Checklisten des abgebrochenen Mondspaziergangs der Apollo 13-Astronauten Bezug nahmen: DOKUMENTIERTE PROBE: Probe auswählen / Gnomon in der Sonne vor der Probe aufstellen / Probe & Gnomon [8,5,2] x Sonne / Probe bergen.< Es lag eine besondere Poesie in der Art und Weise, wie diese Technikfritzen miteinander kommunizierten, sagte er sich.
Er blätterte zu einem leeren Blatt weiter und schrieb drauflos. »Schau’n wir mal, was wir hier haben. Welche Strategie wenden wir an? Welche Mindestvoraussetzungen sind für einen Flug zum Mars erforderlich? Kurzfristig sehe ich drei Bereiche: zunächst müssen wir Probeflüge mit den
Nuklearraketen durchführen. Dann müssen wir die Module des Mars-Schiffs - wie die Landekapsel - so konzipieren, daß die Besatzung die gesamte Flugdauer übersteht. Schließlich müssen wir weitere Erfahrungen mit längeren Aufenthalten im Weltraum sammeln.« Er notierte die Punkte. »Doch ob wir uns nun auf die Raumfähre konzentrieren, ein Saturn-Programm ins Auge fassen oder beides: fünf Jahre müssen wir für die Entwicklung einer neuen Trägerrakete wohl veranschlagen. Also werden wir uns in der Zwischenzeit mit der Saturn V behelfen müssen.« Er warf einen Blick auf Agronski. »Sie wissen, daß wir die Produktionseinstellung der Saturn V bereits bekanntgegeben haben.«
»Natürlich.«
»Nun haben wir außer den Mondflügen noch das SkylabProgramm, für das wir vielleicht auch noch ein paar V’s benötigt hätten. Allerdings haben wir das Programm vor ein paar Monaten geändert; wir greifen wieder das Konzept der >Nassen Werkstatt< auf, für deren Start eine Saturn IB genügt. Also stehen die restlichen sieben einsatzbereiten beziehungsweise im Bau befindlichen Saturn V - SA-509 bis SA-515 - für die Apollo-Missionen zur Verfügung.«
»Wie viele Starts kalkulieren Sie für ein Mars-Programm ein?« fragte Agronski.
Michaels plusterte die Backen auf. »Sagen wir mal, in den nächsten fünf Jahren sechs Flüge mit einer Saturn V und vielleicht zehn mit einer Saturn IB. Das müßte für das Skylab genügen; und vielleicht schaffen wir es sogar, mit NERVA die ersten bemannten Flüge in den Erdorbit durchzuführen, bevor wir die neue Trägerrakete bekommen. Joe, findet das Ihre Zustimmung?«
»Ja, glaub schon«, grunzte Muldoon. »Wenn Sie veraltetes Material einsetzen und wieder einen Brand riskieren wollen, wie damals bei Apollo 1.«
»Aber, Joe.«
»Sechs Saturn V«, sagte Agronski. »Und dann hätten wir noch sieben Mondflüge, Apollo 14 bis 20.« Er setzte ein schmallippiges Grinsen auf.
Das ist es also. Nun kenne ich den Preis für den Mars und für Paines Posten. Es hatte den Anschein, daß Agronski einen verspäteten Rachefeldzug führte. Agronski hatte nämlich nie ein Hehl daraus gemacht, daß er das Programm für den bemannten Flug zum Mond mißbilligte, und das Vorhaben nach Kräften behindert. Agronski weiß, daß Apollo damit gestorben ist. Hier und jetzt, in diesem Raum.
»Nun«, sagte Agronski selbstgefällig. »Natürlich weiß ich, daß es viele Stimmen gegen eine Fortsetzung der Mondflüge gibt, sogar in den Reihen der NASA. Das ganze System ist einfach zu komplex. >Eines Tages wird Apollo noch jemanden umbringen, wenn es nicht schon Lovell und seine Besatzung auf dem Gewissen hat< - so sagt man doch, oder? Ich glaube, eine Einstellung des Programms würde nicht auf nennenswerten Widerstand stoßen - nicht einmal bei der NASA, nachdem die erste Landung nun absolviert wurde. Und.«
Muldoon stieß den Stuhl zurück und erhob sich. »Dann beenden wir die Mondflüge also«, sagte der Hüne in heiligem Zorn. »Wo wir gerade erst dort angekommen sind. Mein Gott, Fred. Die späteren Flüge wären erst die Krönung des Programms«, sagte Muldoon. »J-Klasse-Missionen mit neuen Landekapseln, dreitägigem Aufenthalt auf der Oberfläche, mit Hochleistungs-Tornistern mit einer Kapazität von sieben Stunden für Mondspaziergänge und Elektrofahrzeugen. Wir hätten Landschaften von unglaublicher Schönheit und hohem wissenschaftlichen Nutzwert gesehen. Wir hatten sogar erwogen, auf die Rückseite des Monds zu gehen.«
Michaels starrte Muldoon an. Er war stolz auf seine Fähigkeiten als Amateur-Politiker, doch in diesem alles entscheidenden Augenblick fehlten ihm die Worte.
»Ich weiß, Joe. Ich weiß.«
Michaels konnte sich die Attacken ausmalen, denen er von Seiten der Wissenschaftler ausgesetzt sein würde. Womöglich gelang es ihm nicht einmal, Paine oder anderen maßgeblichen Leuten wie George Mueller, der immerhin ein Verfechter der Raumstationen war, einen solchen Handel schmackhaft zu machen. Darüber hinaus bestand die Gefahr, daß ein MarsProgramm die Tätigkeit der NASA einengen und einem einzigen Ziel unterordnen würde, wie es schon bei Apollo der Fall gewesen war.
Er versuchte, sich auf Muldoon zu konzentrieren und die Lage in seiner Gegenwart zu klären.
»Vielleicht müssen die Flüge gar nicht gestrichen werden, Joe. Vielleicht könnten wir das Programm strecken. Ein paar Flüge auf später verschieben.«
Muldoon wandte sich Michaels zu, wobei die Muskeln sich unter dem Hemd anspannten. »Tu das nicht, Fred. Laß die Mondflüge nicht sterben.«
Aus dem Augenwinkel sah Michaels Agronskis Gesicht, der von diesem Ausbruch von Monomanie angewidert schien.
Er weiß, daß er gewonnen hat. Er weiß, daß es mit einer bloßen Verschiebung nicht getan ist. Ich muß diesen Opfern zustimmen, sie innerhalb der NASA verkaufen und dann als ihr Direktor durchsetzen, um uns allen eine Zukunft zu geben. Und es werden noch viel schmerzlichere Einschnitte auf uns zukommen.
Michaels hatte das Gefühl, als ob die ganze Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart, in diesem Moment auf ihn einstürzte und daß er, wie auch immer seine Entscheidung ausfiele, vielleicht das Schicksal ganzer Welten bestimmte.
Sonntag, 21. Juni 1970 Hampton, Virginia
Nachdem Jim Dana an Richmond vorbeigefahren war, bog er mit der Corvette vom Highway 1 in südöstlicher Richtung auf den schmaleren State Highway 60 ab. Die Städte würden immer seltener und kleiner. Und hinter Williamsburg schien es dann gar nichts mehr zu geben außer Wäldern, Sümpfen und vereinzelten Bauernhäusern.
Es war ein frischer Junitag, und bald stieg Dana die salz- und ozonhaltige Meeresluft in die Nase. Die Sonne brannte auf den Ellbogen, der lässig aus dem Wagenfenster ragte. Die Landschaft um ihn herum schien sich auszudehnen und wieder die riesigen Dimensionen der Kindheit einzunehmen. Die Schreie der Seemöwen hallten in der Luft.
Gegen Mittag erreichte er Hampton: seine direkt an der Spitze der Halbinsel gelegene Heimatstadt - im Grunde nicht mehr als ein Fischerdorf. Er fuhr Straßen entlang, die ihm so vertraut waren, daß er fast glaubte, seine Erinnerungen hätten die Welt von damals wiederauferstehen lassen. Er sah dieselben heruntergekommenen Anleger, die im Brackwasser dümpelnden Kähne der Krabbenfischer, die Möwen: all die Symbole der Kindheit waren noch da. Es war, als ob zwölf Jahre von ihm abfielen und mit ihnen all seine beruflichen und privaten Erfolge - Mary und die Kinder, die Akademie, der Dienst in der Luftwaffe - und ihn wieder auf den Status eines Zehnjährigen reduzierten.
Menschen waren zum Mond geflogen. Und die Denker des ein paar Kilometer weiter nördlich gelegenen
Forschungszentrums in Langley hatten dabei eine
Schlüsselrolle gespielt, Danas Vater Gregory eingeschlossen. Doch an Hampton schien das alles spurlos vorübergegangen zu sein.
Seine Eltern traten auf die Veranda, um ihn zu begrüßen. Die Fenster waren blitzblank, die Veranda war gefegt, und die Glöckchen, die der Wind immer zum Klingen brachte, blitzten unter dem strahlend blauen Himmel. Doch das kleine Holzhaus wirkte irgendwie vernachlässigt, und überhaupt hatte die Stadt schon bessere Zeiten gesehen. Dana spürte, daß
Klaustrophobie ihn wie ein alter, schlecht sitzender Mantel einengte.
Seine Mutter, Sylvia, war fülliger und älter geworden, und ihr Gesicht wirkte müder und eingefallener, als er es in Erinnerung hatte. Doch nun erschien ein so strahlendes Lächeln auf diesem Gesicht, daß Dana ein unbestimmtes Gefühl der Schuld verspürte. Und dann kam sein Vater, Gregory Dana, in einer alten Strickjacke und mit nachlässig gebundener Krawatte und wischte sich die Hände an einem ölverschmierten Lappen ab. Gregorys Augen waren hinter den staubigen Brillengläsern kaum zu sehen - John Lennon-Brille, sagte Dana sich und verkniff sich ein Grinsen.
Gregory schüttelte Dana die Hand. »Und wie kommt der große Astronaut voran?«
Gregory hatte diese Frage gestellt, solange Dana sich erinnerte. Der Unterschied war nur, daß es nun so aussah, als ob die Frage bald wörtlich zu verstehen sei.
Das Mittagessen ging recht steif vonstatten. Seine Eltern hatten ihre Zuneigung ihm gegenüber schon immer sparsam dosiert. Also erzählte er von Mary, den Kindern und wie sehr sie sich über die Geschenke gefreut hätten, die sie jüngst zum Geburtstag bekommen hatten: den Modellbausatz einer Saturn V-Rakete, der für den zweijährigen Jake noch viel zu kompliziert war, und den selbstgestrickten Pulli für Maria.
Nach dem Essen steckte Gregory Dana den Tabaksbeutel in die Tasche seiner verschlissenen grauen Strickjacke. »Na, Jimmy, wollen wir hinten in der Werkstatt ein bißchen fachsimpeln?«
Danas Mutter nickte ihm zu. Schon in Ordnung, er sollte ruhig gehen.
»Klar, Paps.«
Bei der sogenannten Werkstatt handelte es sich im Grunde um eine leerstehende Kammer an der Rückseite des Hauses. Sie war angefüllt mit Büchern, Werkzeugen, halbfertigen Modellen und einer Tafel, auf der irgendwelche unleserlichen Gleichungen standen.
Dana räumte ein paar Skizzen von einem Hocker. Er war bereits mit einer Patina aus feinem Staub überzogen. Sämtliche verfügbaren Oberflächen waren mit Zetteln, angekauten Bleistiften, Tabakkrümeln und unvollendeten Modellen belegt. Gregory hatte Sylvia untersagt, hier sauberzumachen. Als Dana schon größer war, hatte er zwar versucht, das Chaos zu begrenzen, doch seit er das Elternhaus verlassen hatte, war der Verschlag wohl kein einziges Mal gereinigt worden.
Sein Vater wuselte nun in der Werkstatt herum, klaubte diverse Teile aus dem Durcheinander und sortierte sie penibel. Dabei schmauchte Gregory zufrieden ein Pfeifchen, und der aromatische Tabakduft, der den Raum erfüllte, weckte Erinnerungen in Dana.
Sonntagnachmittags war Gregory oft mit Dana auf die Wiesen neben dem Flugfeld von Langley hinausgegangen, wo sie sich mit anderen Ingenieuren von Langley trafen und Flugzeug- und Raketenmodelle fliegen ließen - wobei es sich jedoch nicht um vorgefertigte Modelle gehandelt hatte, sondern um Eigenbauten, die in solchen Verschlägen wie dem von Gregory gebastelt wurden. Es war das Höchste für Dana gewesen, einen windigen Nachmittag mit diesen Exzentrikern zu verbringen, die sich selbst als Superhirne bezeichneten und von den Einwohnern von Hampton geschnitten wurden.
Als kleiner Junge hatte Dana seine Zukunft darin gesehen, in Langley Flugzeuge und Raketen zu entwickeln.
»Na«, sagte Gregory, ohne ihn anzuschauen, »wohin wirst du nun versetzt?«
»Ich bin nicht sicher. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehe ich nach Edwards.« In die Mojave-Wüste, zum renommiertesten Testgelände der amerikanischen Luftwaffe.
»Wirst du dort auch fliegen?«
»Vielleicht. Ist sogar wahrscheinlich. Aber nicht die neuesten Maschinen.«
»Und«, fragte Gregory gleichmütig, »wirst du dann für längere Zeit dort bleiben?«
»In meinem Geschäft ist gar nichts längerfristig, Paps. Das weißt du doch selbst.« Diese Frage hörte er jedesmal, wenn er nach Hause kam.
Gregory hatte ein rundes Gesicht mit weichen Zügen und leichten Hängebacken, und der massige Schädel war mit schütterem Haar bedeckt. »Es ist wegen deiner Mutter. Sie macht sich Sorgen. Ich.«
»Paps«, sagte Dana, »ich bin doch kein Kampfpilot. Du brauchst dir deshalb keine Sorgen zu machen. Ich werde nicht nach Vietnam gehen. Ich will am Raumfahrtprogramm teilnehmen und nicht in den Krieg ziehen. Ich weiß nicht, wie oft ich noch versetzt werde.«
»Wäre es möglich, in Edwards auch eine AstronautenAusbildung machen?«
Dana holte tief Luft. »Sicher. Überhaupt wird Edwards noch eine Schlüsselstellung einnehmen«, sagte er. »Man wird sich dort mit der Entwicklung der Raumfähre beschäftigen und dabei auf den Trägersystemen aufbauen, die früher in Edwards erprobt wurden. Außerdem ist Edwards dem Vernehmen nach als Landeplatz für die Raumfähre vorgesehen. Sie kommt aus dem Weltraum rein und geht in der Salzwüste runter.«
»Falls die Raumfähre gebaut wird«, grunzte Gregory. »Es gibt auch schon Pläne für einen Flug zum Mars. Und dafür nehmen wir auch wieder primitive Raketen. V-2.«
Dana grinste. »Die deutschen Raketen, Paps?«
»Es ist dieser Dilettantismus, der mich aufregt. Von Brauns Konstruktionen sehen alle gleich aus. Seit dreißig Jahren! Riesige, >übermotorisierte< Maschinen! Hauptsache, auf dem schnellsten Weg zu den Sternen!«
»Immerhin haben die Deutschen schon einen Mann auf den Mond geschickt«, gab Dana zu bedenken.
»Natürlich. Aber es ist nicht elegant.«
Nicht elegant. Langley hat eben keinen Sinn für Ästhetik.
»Im Grunde hat die Theorie der Raumfahrt sich seit den Tagen von Jules Verne nicht fortentwickelt«, beanstandete Gregory.
»Ach, komm schon, Paps; das stimmt nun wirklich nicht.« Die Mondreisenden in den Science Fiction-Romanen von Jules Verne, die er im neunzehnten Jahrhundert geschrieben hatte, wurden von Florida aus mit einer großen Kanone zum Mond geschossen. »Sogar Verne hätte erkannt, daß seine Reisenden durch die enorme Beschleunigung an die Innenwand des Projektils geschmiert worden wären.«
Gregory wedelte mit der Pfeife. »Ja, natürlich. Darauf kommt es aber nicht an. Schau - Verne hat seine Reisenden mit einem Impuls losgeschickt: einem Schub, der durch die Kanone erzeugt wurde. Nach diesem kurzen Moment bewegte das Raumschiff sich antriebslos auf einem langgestreckten Orbit um die Erde.
Und mit Apollo ist es das gleiche. Unsere großen Brocken, von Brauns Saturn-Raketen, sind auch schon nach ein paar Minuten ausgebrannt, und das bei einem mehrtägigen Flug. Sie verleihen dem Raumschiff auch nur einen Impuls. Und die Mars-Studien beruhen auf demselben Prinzip. Schau hier.«
Gregory ging zur Tafel und wischte sie mit dem Ärmel ab. Dann kramte er in der Tasche der Strickjacke und brachte schließlich ein Stück Kreide zum Vorschein. Er malte zwei konzentrische Kreise an die Tafel. »Das sind die Orbits von Erde und Mars. Jedes Objekt im Sonnensystem bewegt sich auf einem Orbit um die Sonne: in Ellipsen mit unterschiedlicher Streckung.
Wie kommen wir nun von der Erde auf dem Innenkreis zum Mars auf dem Außenkreis? Wir verfügen nicht über die Technik, um die Raketen für einen längeren Zeitraum feuern zu lassen. Wir müssen deshalb mit Impulsen arbeiten und von einer elliptischen Bahn zur nächsten hüpfen, als ob wir von einer fahrenden Straßenbahn auf die andere springen würden. Und wir müssen die Flugbahn zum Mars und zurück aus Abschnitten von verschiedenen Ellipsen zusammenfügen. Wir treten und wir rollen, treten und rollen. Wie ein Radfahrer.«
Dana betrachtete die Entwürfe seines Vaters und war in Gedanken doch in Langley.
Das Samuel P. Langley Memorial Laboratory war das älteste Luftfahrt-Forschungszentrum der USA und Ausgangspunkt aller anderen Einrichtungen dieser Art. Es war während des Ersten Weltkriegs gegründet worden, weil man verhindern wollte, daß das Land der Gebrüder Wright hinter die Europäer zurückfiel, deren Luftfahrttechnik durch den Krieg einen Innovationsschub erfuhr. Es war eine andere Welt gewesen, wo die individualistischen Traditionen des alten Amerika noch Bestand hatten und wo es nicht erstrebenswert schien, die technokratischen Strukturen zu übernehmen, welche die totalitären Staaten in Europa zunehmend prägten.
Also arbeiteten die Leute in Langley mit geringen Mitteln und weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, mauserten sich jedoch zu Pionieren in der Luft- und Raumfahrttechnik. Und damals - so hatte Gregory Jim erzählt - bezeichneten die Einwohner von Hampton den Bürgerkrieg noch immer als >den letzten Krieg<.
Gregory hatte Jim oft nach Langley mitgenommen. Das Forschungszentrum war eine Ansammlung altehrwürdiger, massiver Gebäude mit breiten Veranden. Fast wirkte das Gelände wie der Campus einer Universität. Doch auf den akkurat gestutzten Rasenflächen und zwischen den von Bäumen gesäumten Wegen befanden sich exotische Gebilde: große Kuppeln, aus denen bis zu zehn Meter lange Röhren ragten. Das waren Langleys berühmte Windkanäle.
Im Lauf der Zeit hatte Jim Dana eine Übereinstimmung zwischen der Architektur von Langley - eine eigenartige Kombination aus konventionellen und exotischen Elementen -mit dem komplexen Bewußtsein seines Vaters festgestellt.
Wegen der peripheren Lage von Hampton machten viele brillante junge Luftfahrtingenieure einen großen Bogen um den Ort. Diejenigen, die dennoch nach Langley kamen, waren ebenso motiviert wie verschroben - auch Gregory machte da keine Ausnahme, wie Jim zu seinem Leidwesen erkannt hatte. Und die ortsansässigen Virginier hatten von der Ankunft der >Eierköpfe< - diese Bezeichnung hatte sich bis heute gehalten -kaum Notiz genommen. Also blieben die Ingenieure von Langley im Dienst und in der Freizeit weitgehend unter sich und lebten in ihrer eigenen kleinen Welt.
Nachdem Dana von zuhause ausgezogen war, hatte er erkannt, daß die Welt hinter Virginia noch nicht zu Ende war.
»Ich weiß nicht, wieso du überhaupt noch hier bist«, hatte er einmal zu seinem Vater gesagt. »An den anderen NASA-Standorten geht die Post richtig ab. Wieso ziehst du nicht einmal in Erwägung, dich zu verändern?« Der mangelnde Ehrgeiz seines Vaters war ihm unbegreiflich.
»Weil Leute wie ich hier am besten aufgehoben sind«, hatte Gregory erwidert. »Die Medien interessieren sich kaum für Langley. Nicht einmal der Rest der NASA interessiert sich sonderlich dafür. Für Außenstehende ist dieser Ort nur eine Ansammlung von grauen Gebäuden und grauen Menschen, die auf Rechenschieber starren und lange Gleichungen an Schiefertafeln schreiben. Doch wer sich für die Forschung in der Luftfahrt begeistert, hat dort das Paradies gefunden - einen unvergleichlichen und wundervollen Ort.«
Jim wußte, daß Langley den USA in der Luft- und Raumfahrt enorme Fortschritte beschert hatte. Während des Zweiten Weltkriegs hatte man sich dort mit der Entwicklung von
Kampfflugzeugen beschäftigt und danach mit den Programmen, aus denen das erste Überschallflugzeug, die Bell X-1, hervorging. Angehörige von Langley hatten die Arbeitsgruppe gebildet, die für das Mercury-Programm verantwortlich war, und später befaßten sie sich mit der konstruktiven Optimierung der Gemini- und ApolloRaumschiffe.
Gregory hatte nie über seine Vergangenheit gesprochen. Dana wußte, daß er während des Kriegs eine schwere Zeit durchgemacht hatte. Vielleicht, so sagte er sich, war Langley nach all diesen Widrigkeiten eine Art Zufluchtsort geworden. Es bildete nämlich einen Puffer zwischen ihm und dem Druck der konkurrierenden Rüstungsbetriebe einerseits und der NASA-Politik andererseits. Es war, als ob die Männer von Langley - und es handelte sich auch fast ausschließlich um Männer - zu einem stillschweigenden Konsens gefunden hätten, daß sie an diesem Standort bleiben und mit den gleichen bescheidenen Mitteln weiterarbeiten würden - obwohl das von Langley initiierte Raumfahrtprogramm förmlich explodierte.
Gregory war erst einundvierzig. Doch Dana sah, daß er an persönlicher Statur gewonnen hatte, daß er seinen Platz gefunden hatte; und hier würde Gregory, der mit seinem leichten französischen Akzent die Leute entzückte, bis ans Ende seiner Tage bleiben und nach Lust und Laune in diesem friedlichen, isolierten Kokon arbeiten.
Daß Gregory in Langley blieb, bedeutete natürlich auch, daß er und Sylvia mehr oder weniger in Hampton festsaßen und wahrscheinlich auch in dem verfallenden Ort ausharren mußten; zumal Gregory nicht mehr mit einer Gehaltserhöhung rechnen konnte, weil er das Ende der Laufbahngruppe bereits erreicht hatte.
Gregory hatte eine Halbellipse gemalt, die im einen Extrem den Erdorbit tangierte und im anderen den Marsorbit. »Hier haben wir einen Minimalenergie-Transferorbit, auch Hohmann-Ellipse genannt. Jede andere Flugbahn hätte einen höheren Energiebedarf. Um zur Erde zurückzukehren, müssen wir einer ähnlichen Halbellipse folgen.« Er verschob den Mars um vielleicht zwei Drittel auf seinem Orbital-Pfad und malte eine weitere Ellipse, die sich diesmal vom Mars zur Erde erstreckte. »Der Rückflug dauert genauso lang wie der Hinflug, etwa zweihundertsechzig Tage. Und dann müssen wir noch die Wartezeit auf dem Mars berücksichtigen, bis Erde und Mars so zueinander stehen, daß der Rückflug überhaupt möglich wird: nicht weniger als vierhundertachtzig Tage. Also beträgt die Gesamtdauer der Mission volle neunhundertsiebenundneunzig Tage - mehr als zweieinhalb Jahre. Der längste bisherige Raumflug hatte eine Dauer von zwei Wochen; eine Mission von einer solchen Zeitdauer ist gewiß ausgeschlossen.«
»Trotzdem erstellt Rockwell gerade ein solches MissionsProfil für die NASA«, sagte Dana. »Sie befassen sich nur mit der chemischen Technik. Und in Marshall betrachtet man die nuklearen Optionen.« Nuklearraketen mit naturgemäß höherer Leistung wären in der Lage, ein Schiff auf eine flachere Ellipse zu bringen und dadurch Zeit zu sparen. »Die Marshall-Studie legt eine Gesamtflugdauer von maximal vierhundertfünfzig Tagen zugrunde.«
»Noch mehr große Raketen! Pfui!«
Dana grinste. »Immer noch nicht elegant genug für dich, Paps? Aber wo soll hier überhaupt Platz sein für Eleganz? Es sieht doch wohl so aus, als seien wir den Gesetzen der Himmelsmechanik unterworfen. Entweder Hohmann oder Brachialgewalt.«
»Genau. Die Eleganz besteht nun darin, zu warten: warten, bis wir einen geeigneten Antrieb entwickelt haben; wie zum Beispiel ein Ionentriebwerk, das die Flugdauer wirklich reduziert. Aber das werde ich nicht mehr erleben, und du vielleicht auch nicht.«
»Hmm.« Dana nahm seinem Vater die Kreide aus der Hand und zog selbst ein paar konzentrische Kreise. »Das Bild ist natürlich unvollständig. Das System hat schließlich noch mehr Planeten: Venus innerhalb der Erde, Jupiter außerhalb vom Mars. Und die anderen.«
»Und wo liegt da der Unterschied?« fragte Gregory mißmutig.
»Ich weiß nicht.« Dana versenkte den Kreidestummel wieder in der Jackentasche seines Vaters. »Du bist schließlich der Experte.«
»Nein, nein, das ist nicht mein Fachgebiet.«
»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, sich die anderen Planeten für einen Flug zum Mars zunutze zu machen. Die NASA erstellt bereits solche Szenarien: sie wollen das Schwerefeld von Jupiter und der anderen Riesenplaneten nutzen, um eine Sonde bis zum Neptun zu schleudern.«
»Was schlägst du da vor? Daß wir über den Jupiter zum Mars fliegen sollen? Das ist doch lächerlich. Jupiter ist dreimal so weit von der Sonne entfernt wie der Mars.«
Dieser barsche und ungeduldige Ton war Dana nur zu vertraut. Gereizt hob er die Hände. »Ich schlage gar nichts vor, Paps. Ich habe nur eine Feststellung getroffen, zum Teufel.«
Doch Gregory starrte weiterhin auf die Tafel, wobei die mit Kreidestaub überzogenen Brillengläser seine Augen verdeckten. Eine von Danas Bemerkungen hatte ihm, wie bei Jules Verne, einen Impuls verliehen und ihn auf eine neue spekulative Flugbahn geschickt. Jim Dana existierte in diesem Moment gar nicht mehr für ihn.
Zum Teufel damit, sagte er sich. Ich führe nun mein eigenes Lehen und habe eigene Sorgen. Ich habe keine Zeit mehr für diesen Kram.
Vielleicht hatte ich nie welche.
Dana wandte sich ab, klopfte sich den Staub aus der Jacke und überließ seinen Vater seinen Gedanken.
Den Rest des Nachmittags verbrachte er bei seiner Mutter. Sie saßen auf der Hollywoodschaukel hinter dem Haus, tranken selbstgemachte Limonade und unterhielten sich. In der Ferne schrien Seemöwen.
Gregory Dana entwarf präzise interplanetare Flugbahnen.
. Im Alter von fünfzehn Jahren, im Jahre 1944, war Gregory Dana noch kein Raketeningenieur gewesen. Vielmehr gehörte er zu den Untermenschen, zu den dreißigtausend Franzosen, Russen, Tschechen und Polen, die im Innern eines ausgehöhlten Bergs in Thüringen schufteten.
Alle Verrichtungen erfolgten langsam - sogar das Anziehen -, und Dana war schon hungrig, wenn morgens um fünf die Arbeit begann. Das erste Essen, eine Suppe, gab es aber erst um vierzehn Uhr.
Und dann stürmten die SS-Wachen durch den qualmenden Tunneleingang in den Berg und prügelten mit Stöcken und Fäusten auf Köpfe und Schultern der Arbeiter ein. Der Tunnel war die Hölle. Er wimmelte von mit weißem Staub überzogenen und mit Steinen, Zementsäcken, Trägern und Kisten beladenen Gefangenen, und die über Nacht Gestorbenen wurden an den Füßen aus den Pritschen gezerrt.
Gregory Dana wurde von den Aufsehern geschätzt, weil er mit seinen kleinen Händen auch komplizierte Arbeiten zu verrichten vermochte. Also wurden ihm leichtere, komplexere Aufgaben zugewiesen. Im Laufe der Zeit entwickelte er ein
Verständnis für die Funktionsweise der großen Maschinen, an denen er arbeitete und bekam auch mit, welche Visionen die militärischen Planer des Reiches hatten.
Die Arbeiter im Mittelwerk wußten bereits, daß Hitler die Produktion von nicht weniger als zwölftausend A-2-Raketen befohlen hatte, die von Braun entwickelt hatte - oder das, was die Deutschen nun als V-2 bezeichneten: V für
Vergeltungswaffe, Rachewerkzeug.
Es gab Pläne für den Bau einer riesigen Kuppel am Pas de Calais - sechzigtausend Tonnen Beton -, von der aus Raketen in Vierzehner-Salven auf England geschossen werden sollten. Und es gab noch weiterreichende Pläne: Raketenabschüsse von U-Booten, größere Raketen mit einer Reichweite von mehreren tausend Kilometern und - der größte Traum von allen! - eine große Raumstation, welche die Erde in einer Höhe von achttausend Kilometern umkreiste und mit einem großen
Spiegel ausgestattet war, der das Sonnenlicht reflektierte und Städte verdampfte und Meere zum Sieden brachte.
Visionen eben!
.Aber die V-2 war die alltägliche Realität. Dieses große, mit Heckflossen versehene Projektil mit einer Länge von über dreizehn Metern war imstande, eine Bombe mit einer
Sprengkraft von einer Tonne über dreihundert Kilometer weit zu befördern! Die vier Tonnen schwere Rakete bestand aus nicht weniger als zweiundzwanzigtausend Einzelteilen!
Dana verliebte sich förmlich in die V-2. Es war ein
wundervolles Gerät, eine Maschine aus einer anderen Welt, aus einer lichten Zukunft - und Dana erkannte auch den Traum, der mit der Rakete Gestalt angenommen hatte, den Traum der Konstrukteure.
Auch wenn die Arbeit ihn umbrachte.
Eines Morgens - so früh, daß die Sterne noch leuchteten und Frost den Boden bedeckte -, sah er, wie die Ingenieure von der
Forschungseinrichtung in Peenemünde - Wernher von Braun, Hans Udet, Walter Riedel und die anderen sowie ein paar junge uniformierte Männer, von denen manche kaum älter waren als Dana - zu den Sternen hinaufschauten und sich leise unterhielten.
Dana folgte der Richtung ihres Blicks und erkannte einen hellen, stetig glühenden Stern, der rötlich schimmerte wie ein Rubin.
Der >Stern< war natürlich der Planet Mars in seinem Glanz.
Natürlich: das war der Traum, der diese jungen, intelligenten Deutschen umtrieb und anspornte - daß eines Tages die Scheibe des Mars im Schein der von Menschenhand erbauten Städte erstrahlte. Und diese Menschen sollten von einem fernen Nachfolger der V-2 dorthin geflogen werden.
Mit fünfzehn hatte Gregory Dana bereits begriffen, daß diese jungen Männer aus Peenemünde von der strahlenden Schönheit der V-2 und dem, wofür sie stand, geblendet waren. Es war keine bloße Schwärmerei: ja, er verstand den ungeheuerlichen Zwiespalt und begnügte sich damit, seine Pläne bis nach dem Krieg aufzuschieben. Er träumte davon, selbst noch größere Raketen zu bauen und sogar einen Sohn zu zeugen, der als erster Mensch den Mars oder die Venus betrat.
Wie er die jungen Ingenieure aus Peenemünde beneidete, die in ihren schmucken Uniformen im Mittelwerk umhergingen; ihnen schien es nichts auszumachen, an den aufgestapelten Leichen und an den bis zum Skelett abgemagerten Menschen vorbeizuschlendern, die die großen Raumschiffe zusammenbauten! Dieser Zwiespalt war erdrückend. Dana fragte sich, ob ein solcher Schmutz und solche Qualen der unvermeidliche Preis waren, den man für den Traum vom Raumflug bezahlen mußte.
Er versuchte sich vorzustellen, er wäre einer dieser klugen Deutschen in ihren SS-Uniformen.
Wenn er sich solchen Träumereien hingab, linderte das etwas den Schmerz, den er jeden Tag verspürte.
Und dann war dieser Morgen wieder da.
In seiner Werkstatt, im sonnigen Juni des Jahres 1970, arbeitete Gregory Dana in Erinnerungen versunken an der Tafel, um den Traum von der Raumfahrt zu verwirklichen.
Als Dana vom Hof fuhr, kam sein Vater aus dem Haus gerannt und legte die Hände auf den Windschutzscheibenrahmen der Corvette. Er hatte Kreidespuren an der Stirn.
»Wohin willst du?«
»Ich muß fahren, Paps«, sagte Dana bedauernd. »Ich muß nach.«
»Ich glaube, es funktioniert«, erklärte Gregory atemlos. »Natürlich ist es noch zu früh, um sicher zu sein, aber.«
»Was funktioniert?«
»Venus. Nicht Jupiter - Venus. Verne hat ausgedient - wir brauchen diese riesigen Nuklearraketen überhaupt nicht!« »Paps, ich.«
Sylvia hakte sich bei Gregory unter. »Auf Wiedersehen, mein Junge. Fahr vorsichtig.«
»Ich rufe an, wenn ich zuhause bin, Mama.«
Am Ende des Blocks blickte Dana noch einmal zurück. Sylvia winkte, doch sein Vater war schon wieder in der Werkstatt verschwunden.
Donnerstag, 9. Juli 1970 San Gabriel-Berge, Kalifornien
Es war später Vormittag; von einem strahlend blauen Himmel brannte die Sonne auf Yorks unbedeckten Kopf und die bloßen Schultern herab.
Jorge Romero hatte die Gruppe in ein kleines Tal geführt, von dem aus man einen freien Blick auf die Hügel hatte. Nun wandte er sich einem alten, knorrigen Eisenholz-Baum zu. »Dieser Baum ist eure Landekapsel. Ihr seid soeben auf dem Mond gelandet. Ich möchte nun, daß ihr dort hinübergeht und mir sagt, was ihr seht.«
Die drei Astronauten - Jones, Priest und Bleeker - sahen in die angegebene Richtung. Mit den Baseballkappen, den TShirts und den verspiegelten Sonnenbrillen waren sie kaum voneinander zu unterscheiden.
York wußte, daß Romeros Frage leicht zu beantworten war. Dies war eine interessante Gegend: es war zwar nicht der Mond, aber die Schichtung der bunten Felsformationen hatte durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mond. Doch die Körpersprache und der Gesichtsausdruck der Astronauten kündeten von einer Mischung aus Verwirrung, Verlegenheit und Verärgerung.
Mein Gott, sagte York sich. Dieser Ausflug wird eine Katastrophe.
Doch Romero fuchtelte mit den Armen. »Kommt schon! Das einzige, wovon ihr auf dem Mond zuwenig habt, ist Zeit. Sie -Charles. Kommen Sie her.«
Mit einem süffisanten Grinsen an Bleekers Adresse schlenderte Chuck Jones zu Romero hinüber. Er lehnte sich neben Romero gegen den Baum und erzählte ihnen, was er so sah.
York schätzte Romero auf Anfang Fünfzig, doch er war kräftig und geschmeidig und steckte anscheinend noch voller Energie. Die von der Sonne verbrannte Nase lugte unter der Sonnenbrille hervor, und ein paar Strähnen graumelierten Haars fielen unter dem Schlapphut hervor. York hatte vor ein paar Jahren eine Vorlesung bei Romero besucht. Der von Flagstaff aus operierende Romero war ein hervorragender Geologe und Geochemiker. Sie hatte sofort gespürt, daß er selbst den trägsten Studenten aufrüttelte - zum Beispiel den durchschnittlichen biersüffelnden und klugschwätzenden Helden-Astronauten.
Nachdem Ben Priest ihr also gesagt hatte, Romero hätte sich bereit erklärt, den beiden Apollo 14-Besatzungen eine geologische Grundausbildung zu vermitteln und nachdem Ben ihr angeboten hatte, Romero zu assistieren, hatte sie mit Freuden eingewilligt.
».Nein, nein, nein! Was ist denn mit den Schichten in dem Berg dort drüben?«
»Sehen Sie, Professor.«
»Und das herausragende Merkmal der Landschaft habt ihr überhaupt nicht gesehen!«
Jones wirkte konsterniert; das dichte Haar auf Händen und Armen des stämmigen Manns schien sich vor Zorn zu sträuben. »Was für ein >herausragendes Merkmal< denn, um Himmels willen?«
»Sehen Sie hier.« Romero kniete sich hin und hob ein paar weiße Gesteinssplitter vom Talboden auf. »Sehen Sie? Solche Steine gibt es überall - stimmt’s? -, wo Sie nun genauer hinsehen.«
Jones hatte genug. »Das ist ein verdammtes Feldlager.« Er trat gegen einen von Romeros weißen Steinen. »Ben, das ist eine verdammte Zeitverschwendung.
Unser Programm ist auch ohne diesen Mist schon dicht gepackt genug.«
»Komm schon, Chuck«, sagte Adam Bleeker gemütlich. »Gib ihm wenigstens eine Chance.«
»Scheiß drauf und scheiß auf dich«, gab Jones ihm zu verstehen. »Hört zu: wir sind doch nur die gottverdammte Reserve-Mannschaft für Apollo 14. Zum einen werden wir wahrscheinlich nicht einmal zum Mond fliegen. Zum zweiten sind die Mond-Apenninen das Ziel, und nicht Kalifornien. Weshalb sollte ich also über einen Haufen beschissener kalifornischer Steine stolpern? Zum dritten bin Pilot. Ich sehe nicht ein, weshalb ich über die Geologie des Mondes Bescheid wissen muß, um meine Aufgabe zu erfüllen.«
»Sieh mal, Chuck.«, sagte York und trat vor.
Der verächtliche Blick, den er ihr nun zuwarf, ließ sie innehalten; gerade so lange, daß Romero Zeit hatte, die Hand zu heben.
»Nur mit der Ruhe. Mr. Jones hat natürlich völlig recht.«
Jones wirkte verwirrt.
»Es kommt nicht darauf an, ob Sie über die San GabrielBerge Bescheid wissen. Natürlich nicht. Im Grunde kommt es auch nicht darauf an, ob Sie über den Mond Bescheid wissen. Worauf es mir aber ankommt, ist, daß Sie lernen müssen, zu beobachten, wenn die Mission ein durchschlagender Erfolg werden soll.«
Ein durchschlagender Erfolg. Ben Priest mußte ein Grinsen unterdrücken, und York fragte sich, ob er Romero ein paar Boxer-Sprüche beigebracht hatte, mit denen er Jones kontern konnte.
Auf jeden Fall hatte er damit Erfolg. Jones bückte sich und hob einen weißen Stein auf. »Wenn Sie mir nun noch sagen würden, wozu das, verdammt noch mal, gut sein soll.«
»Der Stein heißt Anorthosit«, sagte Romero gleichmütig. »Und wir vermuten stark, daß er der Hauptbestandteil der Kruste des Urmonds war.«
»Wirklich?« Nun trat Adam Bleeker vor und nahm Jones den Stein aus der Hand - als ob es die einzige Anorthosit-Probe im Tal sei, sagte York sich. »Wie das?«
Jones schmollte noch immer, doch nun stand er nicht mehr im Mittelpunkt, sondern Romero hatte wieder die Kontrolle übernommen.
»In der Entstehungsphase war der Mond wahrscheinlich eine Schmelze. Als er sich dann abkühlte, bildete sich bis zu einer Tiefe von etwa hundertfünfzig Kilometern eine Kruste aus anorthositischem Gestein - helles Gestein wie dieses hier. Sehen Sie, die Hauptbestandteile von Anorthositen, wie Plagioclase, sind leicht; die schwereren Mineralien wie Eisen und Magnesium haben sich im Mondkern abgelagert. Und nun glauben wir, daß die helleren, älteren Gebiete, die wir an der Mondoberfläche ausgemacht haben, hauptsächlich aus Anorthosit bestehen, während es sich bei den dunklen maria um erstarrte Lavaseen handelt.«
Bleeker mußte bei dieser Vorstellung grinsen. »Dann waren die maria früher einmal Meere.«
York nickte. »Es muß ein unglaublicher Anblick gewesen sein: Meere von der Größe des Mittelmeers, in denen rotglühende Lava brodelte.«
Ihre Stimme erstarb. Jones, dessen Augen hinter der Sonnenbrille nicht zu sehen waren, schaute sie an und machte sich bei Ben Priest über sie lustig. Darüber, wie sie beim Sprechen die Augenbrauen hochzog.
Ben fühlte sich unbehaglich. Er wußte nicht, ob er den Scherz des Kommandanten mit einem Grinsen quittieren oder sich über den Affront gegen seine Freundin ärgern sollte.
Auf jeden Fall schwieg York nun. Sie war wütend und fühlte sich wieder wie die linkische Sechzehnjährige, die sie einmal gewesen war.
Mit ausladender, theatralischer Geste entfernte Jorge Romero sich ein paar Schritte. »Hört zu. Ich möchte, daß ihr diesen Ort als bessere Beobachter verlaßt, als die ihr hergekommen seid. Aber ihr sollt noch etwas mitnehmen: ein Gespür für das Drama der Geologie.« Er ließ den Blick schweifen. »Wenn ihr euch in einem Tal wie diesem umseht, nehmt ihr vielleicht ein paar staubige Felsen wahr. Ich sehe aber gewaltige Prozesse, welche die Oberflächen von Welten umformten und im Zeitablauf erstarrt sind. Ich bin sicher, daß Natalie die gleiche Wahrnehmung hat. Wir sehen es nur deshalb nicht, weil wir im Vergleich zu diesen Abläufen Eintagsfliegen sind.
Und nun fliegt ihr vielleicht zum Mond! Ihr müßt diese Gelegenheit beim Schopf packen und mit offenem Herzen und Bewußtsein dorthin gehen. Glaubt mir, wenn ich sage, daß ich alles geben würde, um mit euch zu tauschen.«
Chuck Jones trat vor und spuckte einen Kaugummi auf den staubigen Erdboden. »Klar. Wir werden eh nie zum Mond fliegen; es sei denn, Dave Scott und Jim Irvine fahren bei einer dieser öden Expeditionen mit ihrem Mondauto über eine gottverdammte Klippe. Sie fliegen mit der letzten Apollo zum Mond, nicht wir. Deshalb meine ich, Sie sollten die Ansage abkürzen, Prof, und die Checkliste abhaken, damit wir von hier wegkommen.«
Er trat gegen einen weiteren Anorthositen, der im Weg lag und verließ das Tal.
An dieser Exkursion hätten mindestens vier Astronauten teilnehmen sollen. Doch nachdem Fred Michaels das Programm kurz vorher gestrichen hatte, fehlte den Jungs wohl die Motivation für ein nun sinnlos erscheinendes Training. Wenigstens hatten diese drei sich aufgerafft, doch Jones’
Renitenz verwandelte die ganze Sache in einen Gang durchs Fegefeuer.
York war durchweg abgestoßen von den Astronauten, denen sie bislang begegnet war. Ben stellte offensichtlich eine Ausnahme dar. Zumal sie es ohnehin kaum glaubte, daß Typen wie Jones überhaupt Astronaut geworden waren; er wies nämlich eine frappierende Ähnlichkeit mit einem Familie Feuerstein-Raumfahrer aus den Fünfzigern auf. In ihren Augen war der ganze Haufen über die Maßen arrogant und selbstherrlich.
Zum Teufel mit ihnen.
Sie und ihre Freunde in Berkeley hatten in den letzten Monaten wenig getan, außer die Nachwirkungen der Vorgänge an der Kent State University im Mai zu verfolgen. Ein paar von ihnen bereiteten selbst Sympathiekundgebungen vor. Sie hätte wetten mögen, daß Chuck Jones - wahrscheinlich auch Bleeker und sogar Ben - überhaupt nichts vom Aufruhr an der Kent State wußten, der das Land zu zerreißen drohte. Dafür waren sie viel zu sehr mit ihren wichtigen Programmen beschäftigt.
Plötzlich überkam sie blinde Wut, fast ein Haß auf diese Astronauten und das System, dessen Produkt sie waren.
Während er durch die Landschaft stolperte, nahm Chuck Jones die Steine um sich herum kaum wahr. Immer wieder ließ er die Ereignisse der letzten Tage Revue passieren.
Fred Michaels, Inspektor der NASA, war höchstpersönlich im Gebäude 4 des Astronauten-Büros erschienen, um die Axt zu schwingen. Da stand er nun in seiner Weste, plump wie ein Otter, in einem Raum voller hemdsärmliger Leute mit Bürstenhaarschnitt.
Für Chuck Jones war Michaels’ persönliches Erscheinen kein Trost.
Michaels verkündete lakonisch, daß die Erbsenzähler alle noch ausstehenden Mondflüge gestrichen hätten - bis auf Apollo 14, die Anfang 1971 starten sollte.
Jones war fassungslos; mit ein paar dürren Worten machte Michaels seine, Jones’, erste und einzige Chance auf einen Mondflug zunichte.
Es wurden zwar Proteste laut, doch Michaels ging gar nicht auf die Fragen der Leute ein. »Es ist zum Nutzen des Programms, verdammt, zum langfristigen Wohl der NASA. Wir haben getan, was wir tun mußten. Und Tom Paine4 gefällt das genauso wenig wie mir. Sogar noch weniger. Aber wir mußten diese Kröte schlucken, um unsere Zukunft zu sichern. Ich bin sicher, die meisten von euch verstehen das.«
Klar, sagte Jones sich, vom Kopf her verstehen wir das schon. Aber wenn gerade der Flug gestrichen wurde, für den man jahrelang trainiert hat, steckt man das trotzdem nicht so einfach weg.
Und die Stimmung im Büro war noch schlechter geworden, nachdem Deke Slayton sich mit versteinertem Gesicht erhoben und verkündet hatte, daß diese letzte Mission, Apollo 14, zu einer J-Klasse-Mission aufgewertet werden sollte, einer qualifizierten wissenschaftlichen Expedition. Also würde Apollo 14 die neue Landekapsel mit dem Mondfahrzeug sowie die Betriebsund Versorgungseinheit mit der orbitalen Instrumentenbatterie erhalten, die eigentlich für Apollo 15 vorgesehen war. Und wo sie schon die Ausrüstung von Apollo 15 hatten, wurde ihnen auch gleich deren Landeplatz zugewiesen: ein Ort namens Hadley im Vorgebirge der Mond-Apenninen.
Doch die ursprüngliche Besatzung von Apollo 15 - Dave Scott, Jim Irwin und Al Worden - trainierten auch schon intensiv für die Landung in Hadley.
Also, sagte Deke, müsse er Alan Shepard und seine Leute rausnehmen, die eigentlich für Apollo 14 vorgesehen waren. Statt dessen sollten nun Scott und seine Besatzung die Mission durchführen und Jones, Bleeker und Priest als Reservebesatzung mitnehmen. Der Start würde um ein paar Monate verschoben werden, damit Boeing genug Zeit für die Fertigstellung des Rovers blieb und Grumman in die Lage versetzt wurde, die Verbesserungen an der Landekapsel vorzunehmen. Deke äußerte die Erwartung, daß Shepards Leute ab sofort Scotts Besatzung beim Training unterstützten.
Jones sah, daß Al Shepard die Besprechung mit einem Gesicht wie ein Grabstein verließ. Es war schon nicht ratsam, Al über den Weg zu laufen, wenn er einen guten Tag hatte; und es war offensichtlich, daß man ihn trotz seines Rangs nicht schon vor der Besprechung von den Änderungen in Kenntnis gesetzt hatte. Slayton war auch ein alter Kumpel von Al. Ihre Freundschaft reichte bis zu den Tagen von Mercury zurück. Eine beschissene Art, die Dinge zu regeln, Deke. Jones erwartete, daß Shepard Slayton noch ein paar freundliche Worte sagen würde, nachdem das hier vorbei war.
Zumal Jones selbst auch noch etwas zu sagen hatte.
Nach ein paar Stunden stürmte er in Slaytons Büro.
»Verdammt, Deke, mit der Rolle als Ersatzmann bin ich nicht einverstanden. Mir steht das Kommando über die Besatzung von 14 zu und nicht Scott.« Schließlich hatte er - Jones - zu den Mercury-Astronauten gehört und war der vierte Amerikaner im All gewesen. Und er trainierte bereits in der Freizeit für spätere J-Klasse-Missionen.
Er hatte verdammt lang auf diese Krönung seiner Karriere gewartet und würde nicht kampflos die Flagge streichen und sich mit Flügen in der Skylab-Mülltonne begnügen.
Doch Deke hatte seine Einwände mit einer Handbewegung abgetan. »Das ist unbegründet, Chuck. Hör zu: Al Shepard gehört auch zu den ersten Astronauten - für den Fall, daß du das vergessen haben solltest -, und er hat nach dieser schlimmen Ohrenerkrankung viele Jahre auf einen zweiten Flug gewartet. Und er war der erste Amerikaner im All; also rangiert Al vor dir, Chuck. Und trotzdem stelle ich ihn zugunsten von Dave Scott zurück. Du mußt dich damit abfinden, Chuck. Das gefällt mir genauso wenig wie dir, aber Scotts Mannschaft ist für die eine Mission, die wir noch haben, am besten qualifiziert.«
»Klar.« Natürlich verstand Jones das. Der Erfolg der Mission stand im Vordergrund; niemand in der NASA wollte auch nur das geringste Risiko eines Scheiterns eingehen.
Niemand außer den Astronauten, die sich nicht an Bord des letzten Apollo-Raumschiffs befanden.
Das Verständnis hinderte ihn allerdings nicht daran, es weiter zu versuchen, und er war noch für eine lange Zeit in Slaytons Büro geblieben und hatte ihn umzustimmen versucht.
Da lag wieder ein alter Stein, Anorthosit oder sonst ein Scheiß, im Weg. Jones trat dagegen und ging weiter.
Für den Nachmittag war ein simulierter dreistündiger Mondspaziergang angesetzt. Weil zu wenig Astronauten verfügbar waren, mußte York einspringen. Jones tat sich mit Priest zusammen und Bleeker mit York. Jorge Romero würde vom Fahrzeug aus den Capcom mimen. Die Astronauten waren mit Tornistern, Funkgeräten und Kameras bepackt und folgten Routen, die auf Karten eingetragen waren, deren Qualität den Orbital-Photographien mit ihrer niedrigen Auflösung entsprach.
York und Bleeker hielten am ersten Probenpunkt an. Sie standen vor einem großen, zerklüfteten Felsbrocken mit Durchschüssen von Anorthosit. Bleeker stellte ein Gnomon auf und machte Aufnahmen vom Felsen. Das Gnomon war ein Kalibrierungs-Gerät, ein kleines Stativ mit einer Farbskala für die Photographie und einem frei aufgehängten Stab in der Mitte, um die Senkrechte auszuloten. Bleeker schlug mit dem Hammer gegen den Fels und brach ein faustgroßes Stück los. Er verstaute die Probe in einem Teflonbeutel und steckte sie in Yorks Rückentornister. York sah, daß er sich zu diesem Zweck Spezialhandschuhe angezogen hatte, die so steif waren, daß er die Probe kaum greifen konnte.
»Na, wie war ich?«
Sie erwiderte sein Grinsen. »Standard-Operations-Prozedur, Adam; Jorge wird stolz auf dich sein.«
Sie gingen weiter.
Bleeker wandte das Gesicht der Sonne zu, wobei der Anflug eines Lächelns zu sehen war. Der blasse und sommersprossige Bleeker - ein Junge aus den Nordstaaten - hatte sich unter der kalifornischen Sonne ordentlich mit Sonnencreme eingeschmiert. York war heute das erstemal mit ihm allein. Er kam ihr nichtssagend und phantasielos vor. Idealprofil für einen Mond-Spaziergänger, sagte sie sich.
»Dieses Training unterscheidet sich wohl sehr von dem, was du bisher gemacht hast«, sagte sie.
»Darauf kannst du wetten. Vor allem im Vergleich zu der Aufgabe, die ich vor dem Eintritt ins Astronauten-Büro hatte.«
»Und was war das?«
»Staffel 510. Das ist eine Jagdbomber-Staffel, die in Virginia stationiert ist. Eine schöne Gegend. Bist du schon mal dort gewesen?«
»Nein. welche Art von Bomben?«
Er schaute sie an. »Spezialwaffen«, beschied er sie mit der Reserviertheit eines Geheimnisträgers.
Ach so. Nuklearwaffen.
»Wir wurden ausgebildet, Einsätze von Westdeutschland aus zu fliegen. Wir hätten das feindliche Radar im Tiefflug in dreißig Metern Höhe unterflogen.« Er veranschaulichte das
Manöver mit der Hand und winkelte sie dann nach oben ab. »Es kam darauf an, die Ladung genau im richtigen Moment abzuwerfen. Das Paket wäre dann in einer drei Kilometer langen Kurve ins Ziel gegangen.« Er grinste schüchtern. »Und ich mußte die Maschine senkrecht hochziehen, bevor es knallte.«
»Klingt echt riskant.«
»Das Fliegen ist an sich riskant«, sagte er gleichmütig. »Aber die F100, die wir flogen, waren schöne Geräte.«
Für eine Weile erging er sich in Lobreden über die F100: die >Super Saberc, das erste Kampfflugzeug der Welt, das für Marschflug im Überschallbereich ausgelegt war.
York stellte die Ohren auf >Durchzug<.
Die F100 war von Rockwell produziert worden: derselbe Hersteller, der die Apollo-Raumschiffe gebaut und der sich nun um den Auftrag für das Mars-Raumschiff beworben hatte. Wenn man bedachte, wohin das Geld in der Hauptsache ging, dann stellte der Unternehmensbereich >Raumfahrttechnik< bei Firmen wie Rockwell nur einen dünnen, glänzenden Firnis auf der Oberfläche der eigentlichen Geschäftstätigkeit, der militärischen Entwicklung, dar.
»Der Ausstieg hat mir aber nicht so gut gefallen.«
»Ausstieg?«
»Es war eine >Einweg<-Mission. Die Maschinen hatten nicht genug Treibstoff für den Rückweg. Wir mußten Hunderte von Kilometern von der Basis entfernt aussteigen und uns nach dem Absturz der Maschine irgendwie durchschlagen.«
»Meine Güte«, sagte York. »Du mußtest den Rückweg durch ein nukleares Schlachtfeld antreten?«
»Ich war dafür ausgebildet«, sagte er. »Ich war Teil der globalen Strategie. Neue Waffen bedingen neue EinsatzStrategien. Gegenseitige Abschreckung lautete die Parole.
>Sicherheit ist das Kind des Schreckens, und das Überleben der Zwillingsbruder der Vernichtung. <«
Sie gruselte sich bei diesem Zitat. »Schön gesagt.«
»Winston Churchill.« Seine Augen waren wie Fenster, durch die blaues Licht fiel.
Ihr wurde bewußt, daß er durchaus intelligent war. Nur daß er eben anders war als sie und die Leute, mit denen sie Umgang pflegte. Ein Kalter Krieger. Sie schauderte.
Er warf einen Blick auf die Checkliste. »He, sieh mal: wir haben den letzten Haltepunkt übersehen.«
Sie machten kehrt und gingen in ihren Fußspuren zurück, wobei sie neue Probenbeutel zückten.
Am späten Nachmittag fanden sie sich beim Fahrzeug ein. Romero grinste zwar noch immer und scherzte gar mit Jones, doch York glaubte, unter dem Staub und der Sonnencreme Ringe um Romeros Augen zu erkennen. Im Radio des Fahrzeugs wurde eine Rede übertragen, die Walter Mondale vor dem Kongreß hielt, wo gerade über den Etatentwurf der NASA debattiert wurde:.Ich halte ein Projekt, das mit solch gigantischen Kosten verbunden ist wie diese Mars-Mission, angesichts der Unterernährung vieler Menschen, der Verschmutzung unserer Flüsse und Seen und des Niedergangs unserer Städte und ländlichen Regionen schlicht für gewissenlos. Für welche Werte treten wir ein? Was ist uns wichtiger .?
York und Ben Priest zapften sich aus einer Kanne eine Tasse Kaffee und entfernten sich ein Stück. Die tief am Himmel stehende Sonne stach ihnen in die Augen; sie hatte kaum etwas von ihrer Intensität verloren.
»Ich glaube, Romero bekommt nun Chucks Frust wegen des gestrichenen Flugs zu spüren«, sagte York.
»Nee. Chuck ist immer so, wenn es um die >Wissenschaft< geht«, sagte Priest und nahm einen Schluck Kaffee. »Das ist schädlich.«
»>Schädlich< ist das richtige Wort. Kannst du ihn nicht irgendwie beruhigen?«
Er grinste sie an. »Ich befürchte, du kennst dich in Astronauten-Psychologie nicht aus, Natalie. Was diese Kerle betrifft, so ist das Wort des Kommandanten das Evangelium. Er gibt für die Besatzung und die ganze Mission den Ton an. Wenn der Kommandant ein ruhiger Typ ist, wie Armstrong, dann gilt das auch für die Besatzung; und wenn er eine Kappe mit einem Propeller tragen und ein Lied singen will, wie Pete Conrad, dann hat die ganze Truppe eine Kappe mit Propeller zu tragen und ein Lied zu singen. So läuft das eben. Gott sei Dank nimmt Dave Scott die Wissenschaft aber ernst. Ich glaube, wenn Chuck der Kommandant wäre, würde 14 vielleicht den Nadir des wissenschaftlichen Programms von Apollo darstellen und nicht den Zenit.«
Nun hörte sie, daß die Lautstärke wieder anschwoll. Romero klärte Jones darüber auf, wie wichtig es sei, Proben von großen Felsen zu nehmen, falls sie dazu in der Lage wären - weil große Felsen sich nämlich nicht weit vom Ort ihrer Entstehung entfernt hätten. Und das Umfeld einer Probe sei für einen guten Geologen genauso wichtig wie die Zusammensetzung des Steins.
Jones hingegen erklärte Romero, wohin er sich sein Geologenhämmerchen stecken solle.
Das hat keinen Sinn, sagte York sich wütend. Wir dürfen diese Kasper nicht zum Mond schicken. Propeller-Kappen und andere Kindereien...
So geht das nicht weiter. Wenn wir wirklich zum Mars fliegen wollen, dann brauchen wir eine neue Klasse von Astronauten. Eine bessere.
Ben hatte sie immer wieder ermuntert, sich zu bewerben und dem Programm anzuschließen. Vielleicht sollte ich das auch tun. Ich weiß, daß ich eine bessere Leistung bieten würde als ein Trottel wie Chuck Jones.
Sie ging zum Fahrzeug zurück und holte sich noch einen Kaffee.
Zeitdauer der Mission [Tag/Std:Min:Sek]
Plus 001/13:45:57
»Bereit für TOI«, sagte Capcom Bob Crippen. »Eine Minute dreißig.«
»Danke«, erwiderte Gershon.
York stülpte sich den Helm über und arretierte ihn im Halsring des Druckanzugs. Durch die steifen Handschuhe geriet diese Verrichtung zu einer fummeligen Angelegenheit. Sie legte sich in die Haltegurte.
Erneut spürte sie, wie die kalte, muffige Luft ihr ins Gesicht blies.
Die montierte Ares glich einem schlanken, zerbrechlichen Metallkugelschreiber. Sie war ein großes, helles Objekt und von der Erde aus mit bloßem Auge leicht zu erkennen - ein Stern, der über Cape Canaveral hinwegzog.
»Bereit, um AT H-Zwei unter Druck zu setzen.«
»Bestätige.«
York legte ein paar Schalter um, wodurch die Temperatur in den zwei großen Außentanks des Zusatztriebwerks anstieg. Flüssiger Wasserstoff würde sieden und verdampfen und den Flüssigbrennstoff durch die Leitungen in die Brennkammern des MS-II pressen.
York war Geologin, und in dieser Eigenschaft würde sie auch zum Mars fliegen. Doch eine Besatzung bestand aus nur drei
Mitgliedern. Wenn sie schon ins All flog, hatte sie sich auch mit den profanen Verrichtungen vertraut machen müssen, die für das Funktionieren des Raumschiffs und des Zusatztriebwerks unerläßlich waren.
Und Natalie Yorks Ressort waren die Außentanks.
Ihr Wissen war mittlerweile so umfangreich, daß sie in der Lage gewesen wäre, technische Dokumentationen über Zusatztanks zu schreiben. Im Grunde hatte sie das bereits getan.
»Eine Minute«, sagte Gershon.
York schaute durch das rechte Fenster auf den westlichen Atlantik, über dem gerade die Sonne aufging. Sie sah Schiffe auf dem Golf und Landstreifen, die wie auf einer ZeichentrickLandkarte arrangiert waren.
TOI stand für >Transfer Orbit Injection< und bedeutete, daß sie nun aus dem Erdorbit ausscherten und sich in eine Flugbahn zum Mars einschossen. Dies war ein entscheidender Augenblick für die Mission - und für ihr Leben.
Doch anderthalb Tage im Erdorbit waren zuwenig gewesen.
Sie hatte versucht, ein paar Impressionen der Erde im Gedächtnis zu speichern. Nacht über Afrika: die über die Wüste verstreuten Lagerfeuer der Nomaden. Gewitter über Neuseeland: Blitze, die wie Glühbirnen unter den gazeartigen Wolkenschichten explodierten, wo eine Entladung die nächste auslöste und in einer Kettenreaktion das ganze Land überzog.
6. November 1986. An diesem Tag sollte Ares in den Erdorbit zurückkehren. Am fünfhundertfünfundneunzigsten Tag der Mission. Dann werde ich dich wiedersehen. An einem schönen Sonntagmorgen, lauter Steine vom Mars im Gepäck.
»Ares, bereit für Zündung«, sagte Crippen.
Stone stellte den Hauptschalter auf EIN, und York sah, wie er die übrigen Instrumente überflog. Automatische Steuerung, automatische Schubregelung. Das Schiff befand sich in der richtigen Höhe, und die kardanische Aufhängung des Triebwerks war aktiviert, so daß die Düsen in allen Freiheitsgraden geschwenkt werden konnten, um das Schiff zu manövrieren.
Acht Sekunden bis zur Zündung. York spürte einen Stoß im Rücken: Hilfstriebwerke an der Grundfläche der
Mehrstufenrakete wurden gezündet, um vor der Hauptzündung den Brennstoffschwund in den Tanks zu kompensieren und das Schiff zu trimmen.
>99:40<, der Start-Code, erschien auf dem Monitor vor Stone. Sind Sie sicher, daß Sie das tun möchten?
Unter dem Bildschirm befand sich ein Knopf mit der Aufschrift WEITER. Stone streckte einen behandschuhten Finger aus und drückte auf den Knopf.
Gershon zählte abwärts: »Fünf. Vier.«
York rüstete sich für den entscheidenden Moment.
Ein dumpfes Rumoren ertönte und pflanzte sich durch die Mehrstufenrakete fort, während die vier mächtigen Triebwerke der MS-II neunzig Meter tiefer zündeten. Die Beschleunigung war langsam, fast sachte und drückte sie mit leichtem Druck auf die Liege.
Nach siebenunddreißig Stunden in der Mikrogravitation fühlte sie sich richtig schwer. Doch wenigstens war der Übergang nicht so abrupt wie beim letztenmal: diesmal verlief der Flug wirklich wie im Simulator. Im weiteren Verlauf der Mission - nachdem Ares den Brennstoff verbraucht und die Masse reduziert hatte - würde die MS-II viel schneller beschleunigen.
Gershon gab die Beschleunigungswerte durch. York hörte, daß seine Stimme durch den Kaugummi, den er im Mund hatte, leicht verzerrt wurde. Mit Fruchtgeschmack. Wie war es möglich, in einem Raumanzug Kaugummi zu kauen? Bei Gershon mußte man damit rechnen, daß er den Gummi mit der Zunge an die Innenseite des Helmvisiers pappte, um ihn später wieder abzulösen. Der Kerl war schon eine Marke.
»Ares, Houston, ihr seht gut aus von hier unten«, sagte Crippen. »Voll auf Kurs.«
»Danke«, sagte Stone. »Hier oben sieht es auch gut aus. Alle Werte im grünen Bereich.«
Sie sah aus dem Fenster. Die Erde schrumpfte deutlich. Es war ein bemerkenswerter Anblick, als ob die Erde ein Spezialeffekt wäre, der nun hinter dem Fenster verschwand.
Das Gefühl der Bewegung war erstaunlich. Fast erlebte sie einen Rausch der Geschwindigkeit.
»Wie läuft’s, York?« fragte Stone trocken.
Sie fuhr herum. Er hatte sie wieder beim Gaffen erwischt. »Gut, gut, Phil.«
Sie wandte sich wieder ihrer Station zu. Sie hatte eine Aufgabe zu erledigen. Wegen mir wird die Mission nicht scheitern. Das Mantra eines jeden, der am Ares-Programm beteiligt war.
Sie warf Stone einen Blick zu. Er hatte seine Instrumente im Blick und war auf das Ziel fixiert. Anscheinend hatte er sie schon wieder vergessen. Stone hatte sich voll unter Kontrolle. Das hatte er immer.
Sie überprüfte den Status der Außentanks, der auf den Anzeigen vor ihr dargestellt wurde.
Jede Minute wurden ungefähr zweihunderttausend Liter flüssiger Sauerstoff und Wasserstoff aus den Tanks in die Triebwerke der MS-II gepumpt. Der Druck in den Tanks fiel bereits deutlich ab; um diesen Druckabfall auszugleichen, leitete ein kompliziertes >Abgasrückführungssystem< einen Teil der verdampften Gase von den Triebwerken in die Tanks zurück. Die Brennstoffzuführung war ein komplexes Gewirr aus großen Röhren, aus denen superkalte Flüssigbrennstoffe in ultraheiße Brennkammern sprudelten.
Mitten in der Brennphase sagte Crippen: »Ares, Houston, wir wollen nun auf Sendung gehen.«
Stone und Gershon stöhnten gequält. York sah verlegen in die Kamera, die über ihrem Kopf montiert war.
»Wir hätten gern fünf Minuten fürs Fernsehen und eine Außenaufnahme mit einem Kommentar von euch, wenn möglich.«
»Bestätigt«, sagte Stone.
Die NASA hatte beschlossen, die dramatischsten Momente der Mission im Fernsehen zu übertragen. Durch diese PR-Maßnahme für Ares sollte das amerikanische Volk sehen, was mit seinem Geld geschah. So war zum Beispiel schon der Start aus der Kommandokapsel übertragen worden. York hielt das jedoch nicht für eine gute Idee. Für eine Generation, die mit dem bombastischen Feuerwerk von Krieg der Sterne aufgewachsen war, wirkte der Start wahrscheinlich zu betulich.
Stone nickte York zu, und sie aktivierte per Knopfdruck die Kamera.
»In Ordnung«, sagte Stone. »Willkommen auf der Ares. Sie sehen uns hier in der Kommandokapsel. Wir befinden uns gerade mitten im TOI-Manöver. Wir sehen durch die Fenster die Sonne an uns vorüberziehen und natürlich auch die Erde. Seit dem Start der Mission sind siebenunddreißig Stunden, einundfünfzig Minuten und ein paar Sekunden verstrichen. Und nun zeigt Ralph Ihnen die Aussicht.«
Stone nickte York zu. Sie streckte die Hand aus und löste die Kamera aus der Halterung. Weil sie wegen des Schubs nicht zu schweben vermochte, mußte sie Gershon die Kamera reichen. Sie war schwer und sperrig selbst in der schwachen Beschleunigung der MS-II.
»In Ordnung, Houston, los geht’s«, sagte Gershon. »Hier seht ihr die Erde, wie sie unter uns wegfällt.«
»Bestätigt, Ares. Schöne Bilder.«
»Es ist wirklich ein phantastischer Anblick«, sagte Gershon. »Wir stehen nun über dem Atlantik, und ich sehe die Ostküste von Florida bis hinauf nach Neufundland - ein kristallklares Bild. Ich weiß nicht, ob ihr es ebenfalls in dieser Brillanz seht.«
»Wir sehen es.«
»Und wenn ich nach rechts schaue, erkenne ich am Horizont Westeuropa und Afrika. Ich sehe Spanien und die Britischen Inseln, aus einer verkürzten Perspektive. Die Britischen Inseln leuchten in einem satteren Grün als das bräunliche Grün, das wir in Spanien haben. Über Spanien ist es leicht dunstig, und über Südengland haben sich ein paar Kumulus-Wolken aufgetürmt.«
»Bestätigt. Das entspricht dem heutigen Wetterbericht.«
»Gut zu wissen, daß ich den richtigen Planeten betrachte, Houston.«
»Ich bekomme gerade einen Kommentar über den Punkt auf der Erde, von dem aus die Sonnenstrahlen zu uns reflektiert werden«, sagte Stone. »Die Ozeane haben eine einheitliche, tiefblaue Färbung. Mit Ausnahme dieses Abschnitts, einem Kreis mit vielleicht einem Achtel des Erdradius. In diesem Gebiet verwandelt das Blau des Wassers sich in einen Grauton. Ich bin sicher, daß dies der Punkt ist, von dem aus die Sonnenstrahlen zu uns zurückgeworfen werden.«
»Roger, Phil«, sagte Crippen. »Das wurde schon früher beobachtet. Es hat Ähnlichkeit mit Licht, das auf eine Bowlingkugel fällt. Man erhält diesen hellen Punkt, und das Blau des Wassers nimmt dann eine gräuliche Färbung an.«
»Genau, eine Bowlingkugel. Oder vielleicht Phils Birne.« Gershon lachte über seinen eigenen Witz.
York drehte den Kopf und überzeugte sich von der Richtigkeit dieser Aussage. Die blaue Oberfläche des Ozeans wurde von einem hellen Licht beschienen. Verdammt. Das Ding sieht wirklich aus wie eine Kugel. Wie eine Stahlkugel.
»Danke, Ares. Könnten wir nun eine Innenansicht bekommen, bitte? Vielleicht möchtet ihr uns erzählen, was es mit dem TOI auf sich hat.«
Gershon beförderte die Kamera durch die Kabine zurück, und York plazierte sie wieder auf der Halterung, so daß die drei in einer Weitwinkelperspektive erfaßt wurden. Sie fing Stones Gesicht ein, und der rollte mit den Augen und wies auf sie und die Kamera.
York war auf Sendung.
Sie widmete sich wieder den Instrumenten und vermied es, allzu oft in die Kamera zu blicken. Sie hatte einen Kloß im Hals, und ihr Gesicht lief unter dem Helm rot an. Plötzlich spürte sie jede einzelne Falte des Druckanzugs. Sie drückte auf die Sendetaste des Mikros. »In Ordnung, Houston. Dies ist unser TOI-Manöver: TOI für Transfer Orbit Injection. Im Moment feuert die Hauptantriebsstufe, die MS-II, um uns aus der Erdumlaufbahn hinauszutragen. Die MS-II ist eine Version der zweiten Stufe der alten Saturn V, die zu einer orbitalen Zündstufe umgebaut wurde. Die S-II, die Apollo zum Mond brachten, verfügten über 5 J-2-Triebwerke. Wir haben nur noch vier Triebwerke - modernisierte Einheiten mit dem Kürzel J-2S. Das Zentraltriebwerk ist durch eine Kopplungsöffnung für einen Flüssigsauerstoff-Tanker ersetzt worden. Das MS-II hat eine wirkungsvollere Isolierung, um ein Verdampfen des Brennstoffs zu verhindern, verfügt über Hilfstriebwerke und zusätzliche Kopplungsöffnungen an der Vorderseite.
Auf jeden Fall sind wir froh, daß die MS-II so gut funktioniert. Die MS-II soll uns nämlich nicht nur von der Erde wegbringen, sondern uns auch abbremsen, wenn wir uns dem
Mars nähern und uns aus dem Mars-Orbit herauslösen, wenn wir den Rückflug antreten.«
Sie verstummte. Sie hatte zu schnell gesprochen und zudem nur Unsinn erzählt. »Dranbleiben«, sagte Crippen, Capcom. »Wir haben die Verbindung unterbrochen. Ares, ihr habt ein großes Publikum gehabt: eine Live-Übertragung in die USA, nach Japan, Westeuropa und in weite Teile von Südamerika. Alle haben sich über die schönen Bilder und die großartige Vorstellung gefreut.«
»Das war erst der Anfang«, versicherte Gershon.
»Wir vermissen euch jetzt schon«, sagte Crippen.
Mein Gott, was für ein Quatsch! Kein Wunder, daß sie die Verbindung unterbrochen hatten.
Sie hatte das gar nicht sagen wollen, sondern etwas Persönliches.
Was für ein Gefühl es war, die Erde hinter sich zu lassen.
Sie hatte frühere Raumfahrer-Generationen immer wegen des Mangels an Eloquenz kritisiert. Doch vielleicht war es gar nicht so einfach, in einer solchen Lage die richtigen Worte zu finden.
»ATs leer«, meldete York. »Bereit für Trennung.«
»Roger«, sagte Stone.
Über eine Million Liter Brennstoff, die in den Erdorbit zu heben fünf Jahre gedauert hatte, waren innerhalb von sechzehn Minuten verpufft.
»Drei, zwei, eins. Feuer.«
Sprengladungen rissen die Sicherungsbolzen und Rahmen an der Ober- und Unterseite der Tanks ab, und die Zuleitungen, die den Brennstoff von den Tanks in den Bauch der MS-II befördert hatten, wurden nun gekappt. Fast erwartete York, das Knacken der Bolzen und ein gedämpftes Klirren zu hören, wie es beim Start der Saturn VB der Fall gewesen war. Doch sie hörte und spürte nichts.
»AT-Trennung durchgeführt«, sagte sie.
»Bestätige AT-Trennung«, sagte Crippen.
»He«, sagte Gershon beim Blick aus dem Fenster. »Ich sehe einen Tank.«
York rutschte auf ihrer Liege herum und drehte den Kopf. Die Konturen des abgesprengten AT hoben sich wie ein mit einer Kegelspitze besetztes, silber-braunes Zigarrenetui gegen die graublaue Erde ab. Auf der silbernen Oberfläche sah sie Buchstaben und orangefarbene Isolationsreste. Brennstoff tröpfelte aus einer der gekappten Leitungen - ein Strom von Kristallen, die vor dem Antlitz der Erde glitzerten. Es hatte den Anschein, als ob der AT verwundet wäre wie ein harpunierter Wal.
Der taumelnde Tank fiel schnell hinter die Ares zurück.
Beide Tanks bewegten sich so schnell, daß sie zusammen mit Ares das Schwerefeld der Erde überwanden. Die Tanks würden als Satelliten um die Sonne kreisen und vielleicht nach Millionen Jahren in die Gravitationsquelle eines Planeten stürzen.
Sie winkte dem Tank zum Abschied zu. Viel Glück, Baby.
Schließlich erstarben die Triebwerke. Sie spürte es an der nachlassenden Beschleunigung, dem Abflauen des allgemeinen Geräuschpegels und der Vibrationen von den entfernten Triebwerken.
»Das war’s«, sagte Stone. »Schluß. Alle Werte normal.«
»Ihr habt einen ganzen Saal voller Leute hier unten«, ertönte Crippens Stimme, »die sagen, daß ihr gut ausseht, Ares.«
»Das war ein Höllenritt, Bob«, sagte Gershon jubelnd.
»Von hier oben gesehen verlief die Brennphase prima, Houston. Danke.« Er löste den Helm und streifte die Handschuhe ab.
York sah, wie die Erde zu einer hellen, kompakten Kugel im Weltraum schrumpfte, wobei der Atlantische Ozean sich perspektivisch vergrößerte und förmlich auf sie zustieß.
Die Ares-Mehrstufenrakete hatte seit dem Verlassen des Erdorbits erst ein paar hundert Kilometer zurückgelegt. Doch war die Geschwindigkeit schon so hoch, daß die Schwerkraft der Erde sie nicht mehr zu halten vermochte. Fast siebenhundert Kilometer pro Minute, sagte York sich: so schnell, daß sie den Mondorbit in nur zwölf Stunden kreuzen würde.
»Ist das etwa Musik, was ich da im Hintergrund höre?« fragte Crippen.
»Nein«, sagte Stone. »Ralph singt.«
Samstag, 7. August 1971
Zentrum für Bemannte Raumfahrt, Houston
Bert Seger hatte noch Papierkram zu erledigen, bevor der Feierabend winkte. Doch als die Nachricht von der Landung eintraf, verließ er sein Büro und ging auf die Galerie des Kontrollzentrums. Er holte eine Zigarre aus der Brusttasche der Jacke, wobei er mit der Hand über die rosa Nelke strich, die seine Frau ihm ins Knopfloch gesteckt hatte.
Nach einem Zwölftage-Flug war Apollo 14 im Pazifik niedergegangen, knapp sieben Kilometer vom Träger Okinawa entfernt. Die NASA wäre für eine Weile aus dem Häuschen, erkannte Seger. Scott und Irwin hatten neunzehn Stunden außerhalb der Landekapsel verbracht, im Vergleich zu den nicht einmal drei Stunden, die Armstrong und Muldoon draußen gewesen waren. Und sie hatten einen annähernd dreißig Kilometer langen Marsch im Gelände am Fuß eines Viereinhalbtausenders bewältigt. Inzwischen klappte auch die
Koordination zwischen Kontrollzentrum und Astronauten auf der einen und Wissenschaftlern auf der anderen Seite. Fast alle Innovationen der J-Klasse-Mission - die neue Version der Landekapsel, das Mondfahrzeug, die Instrumente der Betriebsund Versorgungseinheit - hatten einwandfrei funktioniert.
Apollo 14 war der größte Erfolg seit der ersten Landung gewesen: sogar die Skeptiker unter den Wissenschaftlern äußerten sich lobend.
Doch nun war die Mission abgeschlossen.
Segers Schritte hallten in der Stille. Apollo 11 lag gerade zwei Jahre zurück, sagte er sich, und doch war die erste Phase der Erforschung des Monds bereits vorbei. Verdammt, sagte Seger sich. Wir haben gerade erst richtig angefangen und müssen schon wieder aufhören.
Er verhielt an der Tür zum MOCR, des Kontrollzentrums, und trat ein. Das MOCR war verlassen; die Leute waren schon auf die Landungs-Party gegangen, eine Riesenfete, welche die Jungs von der Auswertung im Gebäude 45 steigen ließen.
Er erklomm die Stufen zur Konsole des Leiters des Kontrollzentrums: hier schlug das Herz der Mission, mehr noch als in der Kommandokapsel des Raumschiffs selbst. Der Großbildschirm an der Stirnseite des Raums war dunkel. Die Konsolen des Kontrollzentrums waren mit Handbüchern, Graphiken, Checklisten und Kopfbügelmikrofonen übersät. Überall standen Aschenbecher voller Zigarettenstummel und halb gerauchter Zigarren herum. Ein paar Mitarbeiter hatten die Fähnchen zurückgelassen, die sie während der Landung des Raumschiffs geschwenkt hatten.
Vielleicht, so sagte er sich, würden diese Konsolen eines Tages Datenströme auffangen, die von einem bemannten Raumschiff im Orbit um den Mars stammten.
Wo er hier stand und diese Gedanken verfolgte, schien es unmöglich. Allerdings mußte die Mondlandung im Jahr 1959 genauso unmöglich erschienen sein, als die NASA noch nicht existierte und Techniker die Hitzeschilde für die Mercury-Schiffe mit Pritschenwagen zum Raumfahrtzentrum gekarrt hatten - auf Matratzen gelagert.
Es war Bert Segers Aufgabe, den Flug zum Mars Realität werden zu lassen.
Vor einem Monat erst war Bert Seger zum Stellvertretenden Direktor des Büros für Bemannten Raumflug ernannt worden, einer der vier großen Abteilungen der NASA. Er hatte den Auftrag, das embryonale Mars-Programm-Büro hier in Houston zu leiten.
Fred Michaels war nach Tom Paines Rücktritt Direktor geworden und schien entschlossen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, in den sein Vorgänger ihn geschoben hatte. Und er hatte Bert Seger persönlich ernannt.
»Bert, die verdammte Mars-Sache droht jetzt schon den Bach runterzugehen, und dabei liegen uns noch nicht einmal die Definitions-Berichte für den Abschluß von Phase A vor. Sehen Sie - ich brauche jemanden, der sich so für den Mars einsetzt, wie Joe Shea sich seinerzeit für das Mondprogamm engagiert hat. Sonst wird Nixon die Sache nie genehmigen.«
Seger verstand. »Sie brauchen einen Vormann«, sagte er. »Und einen Vollstrecker.«
»Verdammt richtig. Werden Sie es tun?«
»Natürlich werde ich es tun.«
»Dann ist das Ihr erster Auftrag«, hatte Michaels gesagt. »Definieren Sie den verdammten Missions-Modus.«
Die konkurrierenden Herstellerfirmen, die sich mit den vorläufigen Studien für die Phase A befaßten, verfolgten zwar unterschiedliche Konzeptionen für die Antriebstechnik, doch in bezug auf die Route herrschte Einvernehmen: ein Direktflug Erde-Mars und zurück. Und nun gab es da einen Kerl in
Langley, der einen Wirbel mit einem anderen Modus machte. Erzählte irgend etwas von einem Vorbeiflug an der Venus.
»Ein Typ namens Dana«, sagte Michaels. »Gregory Dana. Er hat mich persönlich angeschrieben. Ist das zu glauben?« Dana hatte den Dienstweg abgekürzt und dabei eine Menge Leute aufgescheucht.
»Hat er recht? Mit der Venus?«
»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen? Im Moment ist mir das auch verdammt egal. Dieser Dana hat sie alle in Aufruhr versetzt - Marshall, Langley, die Raumfahrtindustrie, den Haushaltsausschuß, den verdammten Wissenschaftlichen Beirat. Die detaillierten Definitions-Studien für Phase B sollen in Kürze angefordert werden. Dieser Dana gefährdet das alles. Bert, ich möchte, daß Sie das für mich regeln.«
Seger hegte keine Zweifel an seiner Kompetenz, die Sache mit dem Modus selbst zu regeln. Genauso wenig zweifelte er an seiner Befähigung, die eigentliche Aufgabe zu erfüllen: die Durchführung des Mars-Programms - falls das Land sich dafür entschied.
Seger pflegte für ein paar Minuten zu beten, bevor er sein Tagwerk begann oder eine wichtige Aufgabe in Angriff nahm. Er betrachtete das als Ausweis seiner charakterlichen Stärke. Wo er nun im MOCR stand, sprach er also ein kurzes Gebet.
Seine Gedanken galten dieser zerbrechlichen, kleinen Welt in vierhunderttausend Kilometern Entfernung, auf der noch immer drei Landekapseln parkten, die von Fußabdrücken umgeben waren. Doch Seger interessierte sich weder für die Fußabdrücke noch für die Flaggen, nicht einmal für den wissenschaftlichen Aspekt. Auch nicht dafür, daß sie vor den Russen dort gewesen waren. Für ihn zählte nur, daß Apollo als Beleg für die Fähigkeit der Menschheit diente, im Weltraum zu leben und zu arbeiten.
Der Mond war nicht annähernd so exotisch gewesen, wie einige Leute vermutet hatten. Manche hatten prophezeit, die Astronauten würden in kilometertiefem Staub versinken. Oder daß es sich bei den Mondbergen um fragile Gebilde in der Art großer grauer Baisers handeln würde, die sich unter der Berührung der Astronauten in Staubwolken auflösten. Oder daß der Mondstaub sich entzünden oder explodieren würde, wenn die Astronauten ihn in die Landekapsel einschleppten. Oder daß die Astronauten von fürchterlichen Krankheiten befallen würden.
Letztlich hatten doch die nüchternen Ingenieure recht behalten, die den Mond in die Nähe von Arizona gerückt - und die Landebeine der Mondlandekapsel entsprechend konstruiert - hatten. Das muß ich mir immer vor Augen halten, sagte er sich. Der Mars ist auch wie Arizona.
Für Seger war das eine faszinierende Vorstellung - als ob Erde, Mond und Mars eine physische Einheit bildeten, wobei diese Einheit durch die Errungenschaften der Amerikaner verwirklicht wurde.
Gemessen schritt er die Stufen von der Konsole des Leiters des Kontrollzentrums hinab und schloß die Tür hinter sich.
Montag, 16. August 1971
George C. Marshall-Raumfahrtzentrum,
Huntsville, Alabama
Gregory Dana erschien erst, nachdem die Sitzung bereits begonnen hatte. Er hatte sich die Folien und Berichte unter den Arm geklemmt. Als er im Konferenzraum eintraf - der sich direkt neben von Brauns Büro befand -, war der Saal schon voll, und er mußte sich hinten einen Platz suchen.
Der Raum war im elften Stock des Marshall-Hauptquartiers gelegen, das im Volksmund als >von Braun-Hilton< firmierte. Jeder, der Rang und Namen hatte, schien hier vertreten zu sein: Führungskräfte aus Marshall und aus Houston, ein paar hochrangige Abgesandte des NASA-Hauptquartiers in Washington und viele Vertreter der Herstellerfirmen, deren Studien heute präsentiert werden sollten.
An der Stirnseite des Raums sprach Bert Seger, der Leiter des aufstrebenden Marsprogramm-Büros, ein paar einleitende Worte. Er war so weit entfernt, daß Dana kaum sein Gesicht erkannte.
Sie hatten sich alle hier eingefunden, um der AbschlußPräsentation der Phase A-Studien des Mars-Missions-Modus beizuwohnen. Bei dieser Zusammenkunft ging es laut Seger darum, sich auf einen Modus für das Entwicklungsprogramm zu verständigen. Diese Gruppe konkurrierte nämlich mit der Planungsgruppe für die wiederverwendbare Raumfähre um finanzielle Mittel und öffentliche Akzeptanz. Eine ähnliche Konferenz hatte kürzlich in Williamsburg stattgefunden, wo einige konzeptionelle Aspekte dieses Programms diskutiert worden waren.
In seinem schnellen Bronx-Dialekt stimmte Seger die Anwesenden ein: er wies auf die Notwendigkeit einer offenen Diskussion hin, forderte die Zuhörer zur Mitarbeit auf und appellierte an die Bereitschaft aller, diesen Raum erst dann zu verlassen, wenn man sich auf welchen Modus auch immer verständigt hatte. Dana erspähte ein kleines Kruzifix an Segers Revers, unter einer verwelkten rosa Nelke.
Dana war sicher, daß jeder die Weiterungen von Segers Ausführungen begriffen hatte. Der Kongreß hatte zwar die beantragten Mittel für das NASA-Budget für 1972 bewilligt, doch im Haushaltsjahr 1973 würden erstmals die hohen Ausgaben für das Programm - welches auch immer -erscheinen. Zumal Präsident Nixon noch immer nicht über die Zukunft des Raumfahrtprogramms entschieden hatte. Gerüchten zufolge plante er gar die Einstellung des bemannten Raumflugs und wollte die freigewordenen Mittel für die Förderung eines Quantensprungs bei den >bodenständigen< Wissenschaften nutzen, was eher mit dem Zeitgeist konform ging.
Inzwischen war es wegen des Mars-Modus zwischen den NASA-Zentren Houston und Marshall zu einem offenen Konflikt gekommen.
Das konnte die NASA nun am allerwenigsten gebrauchen. Dana wußte, daß Seger bereits Schadensbegrenzung betrieb, indem er informelle Kontakte und Gespräche vermittelte, Mitarbeiter aus Houston bei Präsentationen aus Marshall mitwirken ließ etc. Und es war offensichtlich, daß Seger bestrebt war, den Konflikt schnellstmöglich beizulegen, bevor er die Empfehlungen nach oben weiterleitete.
Nun legte Seger die Tagesordnung vor. Die Konferenz sollte den ganzen Tag dauern. Die beiden Hauptoptionen - die chemische und nukleare - sollten zuerst vorgestellt werden, gefolgt von den anderen Studien.
Dana mußte zu seinem Leidwesen feststellen, daß seine Option an fünfter Stelle rangierte. Den letzten beißen die Hunde, sagte er sich. Ich komme sogar erst nach den Jungs von General Dynamics mit ihrem lächerlichen AtombombenAntrieb. Mich bringen sie quasi zum Ausklang. Er blieb bei diesen organisatorischen Querelen auf der Strecke; durch die Mißachtung des Dienstwegs hatte er wahrscheinlich zu vielen Leuten auf den Schlips getreten. Er spürte, wie der Magen sich vor Enttäuschung und Ärger zusammenkrampfte. Verdammt, ich weiß, daß ich recht habe. Der Weg zum Mars ist in diesem Hefter vorgezeichnet. Erregt korrigierte er den Sitz der Brille.
Zuerst wurde die Option mit der Nuklearrakete präsentiert.
In Danas Augen war die Reihenfolge bezeichnend. Diese aus Marshall propagierte Option wurde dem Vernehmen nach von der NASA-Führung favorisiert.
Die Präsentation wurde von einem langhaarigen jungen Mann namens Mike Conlig eröffnet. Conlig war für Marshall tätig, doch zuvor hatte er mehrere Jahre auf dem Testgelände für Nuklearraketen in Nevada gearbeitet. »Wir haben mit unserem XE-Prototyp mit Flüssigwasserstoff-Antrieb achtundzwanzig Starts absolviert und dabei eine Schubkraft von fast fünfundzwanzig Tonnen erreicht.« Conlig zeigte ein Foto einer primitiv anmutenden Versuchseinrichtung vor dem Hintergrund öder Berge. »Wir beschäftigen uns nun mit der Entwicklung von NERVA 1, die eine Schubkraft von etwa fünfunddreißig Tonnen erreichen wird. Anschließend wird das NERVA 2-Modul entwickelt, das bei der Mars-Mission verwendet werden soll. Die Flugerprobung von NERVA 2 wird Mitte der siebziger Jahre erfolgen, wobei sie als eine neue dritte Stufe der Saturn V in den Orbit geschossen wird.«
Conligs Vortrag war von Kompetenz und Enthusiasmus geprägt, und Dana hörte aufmerksam zu.
Nun ging ein schlanker Mann mit kalten Augen nach vorn. Sein blondes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. »Um die für interplanetare Raumfahrt erforderliche Leistung zu erhalten, haben wir eine >Baustein<-Technik entwickelt, in der einzelne NERVA-Antriebsmodule in den Erdorbit gebracht und je nach Anforderung zusammengesetzt werden.« Obwohl die hohe, abgehackt wirkende Stimme durch all die Jahre in Huntsville einen Alabama-Akzent angenommen hatte, waren die scharfen teutonischen Konsonanten dennoch unverkennbar.
Dies war Hans Udet: Udet, der in Peenemünde mit von Braun zusammengearbeitet hatte und nun einer der Führungskräfte von Brauns in Marshall war.
Dana zeigte keine Reaktion.
Dana hatte während seiner Zeit bei der NASA oft mit den Deutschen von Huntsville zu tun gehabt. Selbst jetzt erkannte er bei der NASA noch viele Gesichter aus jenen Tagen im Harz.
Doch ihn hatte man nie erkannt - weshalb auch? -, und er hatte seine Identität auch nie preisgegeben. Über diesen Abschnitt seiner Biographie bewahrte er Stillschweigen. Das Mittelwerk war Vergangenheit, und alle Beteiligten hatten nun andere Sorgen.
Er hatte nicht einmal mit Jim darüber gesprochen.
Doch das Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber diesen unbeirrbar zuversichtlichen, klugen Deutschen hatte er nie überwunden.
Udet präsentierte Folien mit zwei identischen Schiffen, die auf der Erdumlaufbahn montiert werden sollten. Jedes Schiff sollte eine aus vier oder sechs Mitgliedern bestehende Besatzung haben. Die Schiffe würden von NERVA-Modulen aus dem Orbit befördert und für den Flug zum Mars am Bug andocken. Udet wartete mit technischen Daten, Flugzeiten, Entwicklungskosten und sonstigen Schlüsselparametern auf. »Unsere Studie«, sagte Udet, »sieht den Start zum Mars im November 1981 vor.«
Es war ein grandioses Szenario. Typisch von Braun, sagte Dana sich: phantasielos, dumpfe Kraft, >übermotorisiert<.
Nun eröffnete Bert Seger die Fragestunde. Die HoustonFraktion versuchte, mit allerlei detaillierten Fragen die noch unerprobte Nukleartechnik zu diskreditieren: sie erwähnten die Problematik beim Zusammenfügen der nuklearen Module und erkundigten sich nach den Fortschritten bei den erforderlichen
Kühltechniken. Außerdem wurde die Frage nach der Vereinbarkeit dieser Option mit den Verträgen für das Verbot atmosphärischer Atomtests aufgeworfen. Dana hatte den Eindruck, daß all diese Punkte noch der Klärung bedurften.
Seger intervenierte zunächst nicht - wobei er der Diskussion dieser Option mehr Zeit einräumte als eigentlich vorgesehen -und orchestrierte dann eine Runde Applaus. All das erhärtete Danas Verdacht, daß diese Option inoffiziell von der NASA favorisiert wurde und daß Seger den Segen der NASA-Oberen hatte, das Verständnis und die Akzeptanz dieses Konzepts zu fördern.
Die zweite Präsentation befaßte sich mit der Option eines chemischen Antriebs. Sie war von Rockwell erstellt worden und wurde von den Leuten in Houston befürwortet. Zufällig war Rockwell auch der Favorit für den Bau der Raumfähre.
Dana erkannte bald, daß das Missions-Profil sich eng an das klassische Minimalenergie-Transferprofil von Hohmann anlehnte, das er Jim damals in der Werkstatt in Hampton erläutert hatte.
Die chemische Option wies einige Vorteile auf. Die Kosten für das Entwicklungsprogramm waren überschaubar, weil das Material auf einer Weiterentwicklung der Saturn-Technik basierte, zum Beispiel unter Verwendung einer verbesserten zweiten Saturn-Stufe als orbitale Zündstufe.
Doch die Nuklear-Fraktion aus Marshall, angeführt von Udet und Conlig, deckte schonungslos die Schwachstellen dieser Option auf. Im Vergleich zum NERVA-Profil müßte man die doppelte Masse in den Orbit wuchten, für eine Mission mit der doppelten Zeitdauer. Die chemische Technik stieß hier an ihre Grenzen. Zumindest auf diese Art, sagte Dana sich; solange man am direkten Transfer klebt...
Dana erkannte, daß in dieser Diskussion überwiegend die sterilen Argumente wiedergekäut wurden, welche die NASA schon seit ein paar Monaten entzweiten.
Nachdem die Fragestunde beendet war, verzichtete Seger darauf, Applaus zu inszenieren.
Zum Mittagessen gab es ein Büffet mit Rindfleisch und Geflügel. Die Debatte wurde auch beim Essen weitergeführt, wobei die Delegierten ihre Position unterstrichen, indem sie die Kontrahenten mit aufgespießten Fleischbrocken oder Bratkartoffeln attackierten.
Dana machte die schlanke, stattliche Statur von Wernher von Braun aus. Er unterhielt sich mit einem Astronauten: mit Joe Muldoon, einem hochgewachsenen Mond-Spaziergänger, dessen grau-blondes Haar militärisch kurz gestutzt war.
Mit dem wunderlichen kleinen Mann aus Langley indes sprach kaum jemand. Venus-Katapulteffekt? Was, zum Teufel, soll das bedeuten? Das reichte Dana. Er verließ das Büffet und setzte sich wieder auf seinen Platz; er war ohnehin kein großer Fleischesser.
Bevor Dana an die Reihe kam, befaßte das Plenum sich mit zwei weiteren Optionen. Beide waren in technischer Hinsicht ambitionierter als die chemische und nukleare Option, die zuvor präsentiert worden waren. Dana argwöhnte, daß sie nur Alibifunktion hatten und bloß der Vollständigkeit halber vorgetragen wurden, ehe man sich offiziell auf einen schon vorab ausgekungelten Modus verständigte.
Ein Vertreter von McDonnell präsentierte eine sogenannte nuklear-elektrische Option, wobei er von Repräsentanten der NASA und ARPA, einer Forschungseinrichtung der Regierung, Schützenhilfe erhielt. Plasma - ein elektrisch geladenes Gas -sollte elektrodynamisch beschleunigt werden und aus einer
Raketendüse austreten. Eine Plasma-Rakete entwickelte zwar nur eine sehr geringe Schubkraft, die sich jedoch über mehrere Monate zu gewaltigen Geschwindigkeiten summierte. Zumal diese Technik einen deutlichen Fortschritt gegenüber Jules Vernes altertümlichem >Tritt-und-Freilauf<-Modell darstellte. Sie war zwar noch unerprobt, doch ein paar Versuche hatten bereits stattgefunden: schon 1964 hatte eine elektrische Rakete eine beachtliche Höhe erreicht.
Der Mann von McDonnell präsentierte einen Entwurf für ein bemanntes nuklear-elektrisches Raumschiff. Die skurrile Konstruktion sah aus wie eine dreiblättrige Windmühle. Zwei der - jeweils fünfzig Meter langen - Arme enthielten die Reaktoren, und der dritte die Quartiere für die Mannschaft. Die Raketen waren an der Nabe des Rotors montiert, und das Gerät sollte sich dann um die Nabe drehen, um eine künstliche Schwerkraft zu erzeugen. In Danas Augen sah das Gebilde aus wie eine große metallene Schneeflocke, die auf den Mars zuwirbelte. Es war ein ebenso bizarres wie unpraktisches Konzept.
Dann folgte ein Projekt-Manager von General Dynamics. Ein breites Grinsen erschien auf seinem von der kalifornischen Sonne gebräunten Gesicht. »Ich wollte euch NERVA-Leuten nur sagen«, eröffnete er dem Auditorium, »daß ihr einpacken könnt. Mit tausend Tonnen im Erdorbit schaffe ich den Flug zum Mars und zurück in gerade einmal zweihundertfünfzig Tagen - in kaum mehr als der Hälfte eurer Zeit - und mit höchstens zwanzig Mann. Meine Herren, ich präsentiere Ihnen nun das Projekt >Mars-Express<.«
Das Konzept sah vor, Ein-Kilotonnen-Atombomben an der Rückseite des Raumschiffs auszustoßen - alle dreißig Sekunden eine - und sie dreihundert Meter hinter dem Schiff zu zünden. Die Druckwellen sollten durch wassergekühlte Federn absorbiert werden, wodurch das Schiff dann Vortrieb bekam. »Als ob man Feuerwerkskörper hinter einer Blechdose zünden würde. Nicht wahr?«
Das Konzept wirkte lächerlich, aber General Dynamics hatte bereits Anfang der sechziger Jahre Versuche unter der Bezeichnung >Projekt Orion< durchgeführt, und der Referent legte Fotos eines kleinen Versuchsmodells vor, das sich mit Hilfe von Sprengstoff ein paar hundert Meter in die Lüfte erhoben hatte.
Technische Probleme bereiteten nur die hohen Temperaturen an der Rückseite des Raumschiffs: die Wärme würde zwischen zwei Explosionen abgeführt werden müssen. Und der Mann von General Dynamics wies auch auf den eigentlichen Haken bei diesem Konzept hin, die radioaktive Strahlung. Doch im Jahre 1960, als die ersten Orion-Versuche erfolgt waren, hatte man Radioaktivität noch als wesentlich harmloser eingestuft. Weil man befürchtete, daß die skrupellosen Sowjets mit dieser ebenso schnellen wie schmutzigen Methode den Weltraum eroberten, mußten die Amerikaner ihnen eben zuvorkommen.
Der Repräsentant von General Dynamics lockerte seinen Vortrag mit Witzen auf und wurde dafür mit dem stärksten Applaus des Tages belohnt.
Dana sackte förmlich auf dem Stuhl zusammen.
Was, zum Teufel, soll ich dem noch entgegensetzen?
Auf dem Weg zum Podium blätterte Dana in den Unterlagen und Folien und vermied es, den Blick über das Meer aus Maßanzügen schweifen zu lassen. Er schien im Licht des auf ihn gerichteten Strahlers zu erblassen. Es war bereits halb fünf, und nach der Präsentation des Vertreters von General Dynamics schwand den Delegierten die Konzentration. Sie lachten und unterhielten sich.
Dana las vom Blatt ab: »Bemannte Mars-Missionen mit einer Dauer von zwölf bis vierundzwanzig Monaten sind über den Zyklus der Missions-Optionen durch Geschwindigkeiten von bis zu einundzwanzigtausend Metern pro Sekunde definiert. Ein erfolgversprechender Ansatz, die Geschwindigkeit auf zwölf- bis fünfzehntausend Meter pro Sekunde zu reduzieren, ohne die Brutto-Masse des Schiffs zu erhöhen, ist der Flug durch das Schwerefeld der Venus. Aus verschiedenen Studien geht hervor, daß diese Technik auf alle Marsflüge angewandt werden kann und daß in einem Drittel aller Fälle die Antriebserfordernisse unter die Minimalanforderungen des Direkt-Modus sinken...«
Die Zuhörer regten sich und rutschten auf den Stühlen herum. Dana machte weiter. Er spürte, wie der Schweiß ihm ausbrach.
Er präsentierte das Konzept der >Gravitationsschleuder< und versuchte das historische und intellektuelle Gewicht dieses Konzepts zu unterstreichen, indem er zeigte, daß seine Berechnungen auf der Arbeit von anderen namhaften Wissenschaftlern aufbauten. »Die NASA verfolgt das Konzept eines Vorbeiflugs an der Venus bereits, seit Hollister und Sohn unabhängig voneinander in den Jahren 1963 und 1964 ihre Studien veröffentlicht hatten. Nach weiterführenden Studien stellten Sohn und Deerwester ihre zahlreichen Ergebnisse in einem graphischen Format dar, das mit den direkten Flugbahnen im Handbuch des Planetaren Flugs der NASA kompatibel ist.«
Es war eine Art interplanetares Billardspiel, erläuterte er. Ein Raumschiff näherte sich einem Planeten so dicht an, daß die Flugbahn durch das Gravitationsfeld dieses Planeten geändert wurde. Während des Vorbeiflugs am Planeten - der den Katapulteffekt bewirkte - würde das Raumschiff Energie aus der Planetendrehung um die Sonne >zapfen< und dadurch beschleunigen; um die Energiebilanz auszugleichen, würde das Planeten-Jahr minimal verlängert werden.
In der Praxis hatte die Abstoßung durch die Gravitationsquelle eines Planeten die Wirkung einer zusätzlichen Raketenstufe - nur daß dieser Effekt >gratis< war. Voraussetzung war jedoch, daß die Navigation stimmte.
»Wir haben die Mariner-Mercury-Mission studiert, die an der Venus vorbei zum Merkur geflogen wäre. Ein Direktflug wäre auch möglich gewesen, zum Beispiel mit einem Titan IHC-Zusatztriebwerk. Der Gravitationsschleuder-Effekt hätte jedoch den Einsatz des billigeren Atlas-Centaur-Trägersystems ermöglicht.«
»Ja«, ertönte eine Stimme im Publikum, »aber Mariner-Mercury wurde auf Eis gelegt. Zumal das Raumschiff gar keine Besatzung hatte!«
Gelächter.
Dana ließ sich jedoch nicht beirren und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Es gab zwei Möglichkeiten, sich die Venus für einen Flug zum Mars zunutze zu machen, sagte er. Entweder flog das Raumschiff tangential an der Venus vorbei und wurde durch die Schwerkraft des Planeten in Richtung Mars beschleunigt, oder das Raumschiff bremste auf dem Rückflug zur Erde ab, indem es den Gravitationseffekt der Venus mit umgekehrtem Vorzeichen nutzte.
»Ersten Schätzungen zufolge müßte man eine Masse von tausend Tonnen in den Erdorbit bringen, um die Dauer der Mission auf sechshundertvierzig Tage zu begrenzen.« Die Masse entsprach der nuklearen Option, und die Dauer der Mission entsprach zwei Dritteln der chemischen Option, »Also erhalten wir ein annähernd optimales Missionsprofil, ohne daß aufwendige neue Techniken entwickelt werden müßten. Daraus resultiert wiederum eine signifikante Verringerung der Entwicklungskosten im Vergleich zu anderen Modi.«
Und es ist elegant. Seht ihr das denn nicht? Keine Brachialgewalt: keine große, nukleare V-2. Nur bewährte Technik, Eleganz und Stil. Denkt mal drüber nach, meine Herren.
»Zusammenfassend möchte ich sagen, daß die Machbarkeit und die Kostenvorteile des >Venus-Modus< für den Flug zum Mars hinreichend belegt sind.«
Dana verließ das Podium und zog sich aus dem gleißenden Licht zurück. Er war wie betäubt.
Seger dankte ihm und eröffnete die Fragerunde, wobei er mit einem Blick auf die Uhr signalisierte, daß die Leute sich beeilen sollten. »...Wie verhält es sich mit der Steuerung und Navigation? Ist Ihnen eigentlich klar, daß Sie von einem Missionsprofil mit vier möglichen planetaren Kontakten reden? Der Mars, die Venus - vielleicht sogar zweimal -, und wieder die Erde? Und jeder Kontaktpunkt muß mit einer Präzision von ein paar hundert Kilometern angeflogen werden, nachdem jeweils eine Strecke von vielen Millionen Kilometern zurückgelegt wurde. Wie sollten wir so exakt navigieren? Und dabei ist nicht einmal erwiesen, daß auch nur eine einzige Annäherung über solche Entfernungen möglich ist.«
»Es ist möglich«, sagte Dana. »Bedenken Sie, daß die NASA sich bei Apollo für das Mondorbit-Rendezvous entschied -immerhin vierhunderttausend Kilometer entfernt -, ohne daß vorher auch nur ein einziger Praxistest erfolgt wäre.«
Ein Raunen ging durch die Anwesenden. Der Vergleich hinkte.
»Und was ist mit dem technischen Aspekt? In der Nähe der Venus hat das Sonnenlicht die vierfache Temperatur wie auf dem Mars. Also müßten Sie Kapazitäten für ein Kühlsystem opfern, das auf dem Mars nur Ballast darstellen würde. Außerdem würde die erhöhte Strahlung von der Sonne ein Problem darstellen.«
Dana wollte antworten - ich habe die konstruktiven Änderungen des Raumschiffs schon bei der Masseanalyse berücksichtigt, und... Doch seine Stimme ging im Lärm der Zuhörer unter, die überhaupt nur wenig Interesse an seinen Ausführungen zeigten.
Nun erhob Hans Udet sich, und schlagartig trat Ruhe ein. »Worauf gründen Ihre Zahlen sich?« fragte Udet dezidiert. »Die vorläufigen Analysen der komplexen Missions-Klassen, die Sie beschreiben, sind mir durchaus geläufig. Ich kenne jedoch keine detaillierten Analysen, welche die von Ihnen postulierten Einsparungen belegen.«
Dana stammelte eine Erwiderung. Unser Verständnis von Raumschiff-Systemen hat sich seit diesen frühen Studien weiterentwickelt, und aus den Zahlen, die ich ermittelt habe, geht hervor, daß...
»Diese Ergebnisse sind falsch.« Udet ließ den Blick schweifen - ein großer, aristokratischer und beherrschter Mann, der noch nichts von seinem Charme eingebüßt hatte. »Das ist offenkundig. Die uns vorgelegten Zahlen beruhen auf unbewiesenen Annahmen. Der Referent weiß überhaupt nicht, wovon er spricht.
Vielleicht handelt es sich um Inkompetenz, eine bewußte Täuschung oder was auch immer. Wir sollten nicht länger unsere Zeit mit diesem Dilettanten vergeuden.« Er nahm wieder Platz und saß steif wie ein Ladestock da.
Eine Regung des Unbehagens ging durch die Zuhörer, und vereinzelt ertönte ein nervöses Lachen.
Bert Seger stand auf, dankte Dana hastig und wandte sich von ihm ab.
Dana war fassungslos. Einen solchen Ton sollte man in einem Forum wie diesem nicht anschlagen - und auch sonst nicht. Das ist einfach unzivilisiert. Nachdem es nun geschehen war, wunderte er sich nicht mehr. Natürlich hat man meinen
Standpunkt nicht anerkannt. Aber hier geht es überhaupt nicht um Logik, Technik oder Wissenschaft. Es lag daran, daß er die Hierarchie mißachtet und den Dienstweg nicht eingehalten hatte. Hier geht es um Macht. Um die Hackordnung. Möglicherweise glaubt Udet sogar, was er gesagt hat. Vielleicht ist er wirklich der Ansicht, ich hätte die Zahlen manipuliert, um einen Vorteil für Langley zu erringen.
Dana sammelte seine Unterlagen ein und verließ das Podium.
Das Licht ging an, und im Konferenzraum wurde es still. Bert Seger erhob sich und schritt das Podium ab, wobei er die Anwesenden mit in die Hüften gestemmten Händen geradezu herausfordernd musterte.
»Ich habe heute viel Positives über die Nuklear-Option gehört«, sagte er. »Sonst habe ich, ehrlich gesagt, nicht viel Sinnvolles gehört.« Er schaute in die Runde. »Ich möchte Ihnen sagen, daß ich es für machbar halte. Ich glaube, wir haben nun eine >Kennedy-Option<, die wir dem Präsidenten vorlegen können. Gibt es vielleicht jemanden, der anderer Meinung ist?«
Wernher von Braun stand auf und sprach sich in einer kurzen Stellungnahme für die nukleare Option aus. Dann meldete einer der Befürworter der chemischen Option aus Houston sich zu Wort und gestand mit wohlgesetzten Worten gegenüber den Kollegen aus Marshall die Niederlage ein.
Seger beendete die Konferenz. »Meine Herren, ich möchte Ihnen für die geleistete Arbeit danken. Ich glaube, wir haben einen gangbaren Weg gefunden und wissen nun, wie wir zum Mars kommen.«
Dann applaudierte er, und die Versammelten fielen ein und beklatschten ihr eigenes Werk.
Alle außer Dana. Er konnte sich beherrschen.
Die Deutschen hatten wieder mal gewonnen.
Vielleicht hat Seger recht. Vielleicht haben wir eine historische Entscheidung getroffen, und ich werde es noch erleben, daß Menschen zum Mars fliegen. Aber es ist falsch. Ich weiß, daß es falsch ist.
Zumal man immer noch damit rechen mußte, sagte er sich, daß dieses gewaltige Projekt überhaupt nicht finanziert wurde. Vielleicht entscheidet Nixon sich für den Bau der Raumfähre. Oder für keins von beiden.
Für gar nichts.
Der Beifall hielt an. Die Delegierten bejubelten sich nun selbst.
DIE ZUKUNFT DER NASA
Die aktuellen Pläne sehen drastische Kürzungen beziehungsweise Veränderungen bei der NASA vor. Erreicht werden soll dies durch eine Kappung des bemannten Raumfahrtprogramms und anderer Programme der NASA. Ich halte das für einen Fehler.
1) Der eigentliche Grund für die Kürzungen im NASA-Haushalt besteht darin, daß die 28 % des Gesamthaushalts, die für die NASA vorgesehen sind, zur Disposition stehen. Mit anderen Worten, es wird gestrichen, weil man hier streichen kann und nicht, weil die NASA etwa schlecht arbeitet oder überhaupt überflüssig wäre.
2) Wir stehen unter dem Zwang, immer mehr in Programme zu investieren, die keine Perspektive für die Zukunft aufzeigen: Sozialhilfe, Zinszahlungen, Aufwendungen für das Gesundheitswesen usw. Wir tun das nicht aus Überzeugung, sondern um die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren.
3) Die Zukunft der NASA und die Verwirklichung der geplanten Programme ist von großer Bedeutung für die Zukunft. Gerade von den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die durch Skylab und NERVA gewonnen werden, wird unter anderem ein Impuls für die Volkswirtschaft ausgehen, und gleichzeitig werden die vielen qualifizierten (und anderweitig schwer vermittelbaren) Wissenschaftler und Techniker an Projekten arbeiten, die zur Erkenntnisgewinnung über den Weltraum beitragen. Sollten die langfristigen Projekte erst eingestellt und zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf gelegt werden, wäre eine erneute Zusammenstellung der NASA-Arbeitsgruppen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.
4) Als Reaktion auf unseren Druck hat die NASA die beantrag ten Mittel für Forschung und Entwicklung für die nächsten Haushaltsjahre um die Hälfte reduziert.
5) Apollo 14 war in jeder Hinsicht ein Erfolg. Am bedeutendsten ist jedoch der Umstand, daß die Mission das Selbstbewußt sein des amerikanischen Volks gesteigert (und -was ebenso notwendig war - der Welt die amerikanische Überlegenheit vor Augen geführt) hat. Die Ankündigung einer Streichung oder auch nur einer drastischen Kürzung des bemannten Raumfahrtprogramms der Vereinigten Staaten würde sich sehr negativ auswirken. Es würde in mancherlei Hinsicht einer Einstellung Vorschub leisten, die in meinen Augen im In- und Ausland um sich greift: daß unsere besten Jahre schon vorbei seien, daß wir den Rückzug antreten, die Verteidigungsanstrengungen reduzieren und uns freiwillig des Status als Supermacht und Nummer Eins in der Welt begeben. Amerika ist so reich, daß es sich mehr leisten kann als eine Erhöhung der Sozialausgaben.
Handschriftlicher Zusatz: Ich stimme Cap zu. RMN.
Caspar W. Weinberger, Stellvertretender Leiter des Planungsund Haushaltsausschusses - Memorandum für den Präsidenten, 27. August 1971. Akte 1968-1971: Weißes Haus, Richard M. Nixon, Präsident. Archiv der NASA, NASA-Hauptquartier, Washington, DC.
Mittwoch, 1. Dezember 1971
Jet Propulsion Laboratory, Pasadena
Ben Priest kurvte durch Glendale, bog nach Norden auf den Linda Vista ab und fuhr am Rose Bowl vorbei. Sein Mietwagen war ein alter Dodge mit defekter Heizung. Es war ein kalter Dezembertag, und York schwitzte und bibberte abwechselnd.
»Die Strecke zieht sich aber«, sagte sie.
Er grinste. »Ja. Hier wurden früher die Raketentriebwerke getestet. Wegen der möglichen Gefährdung der Bevölkerung wurde die Anlage so weit draußen im Arroyo angelegt. Und dann hat man einen Vorort drumherum errichtet.«
York sah, daß der Arroyo mit Bürogebäuden angefüllt war; bei den meisten handelte es sich um triste Kästen, doch es ragte auch ein imposanter Turm aus Stahl und Glas auf.
Die zum JPL führende Straße war auf einer Länge von einem halben Kilometer mit parkenden Autos gesäumt, und die Zufahrt zum Pressezentrum wurde von Übertragungswagen fast blockiert.
Am Eingang zum JPL stand ein Posten, der ihnen einen Parkplatz zuwies. York hatte den Eindruck, daß es kaum noch ein freies Plätzchen gab.
Eilig betraten sie das Gebäude. Im Innern schien es noch kälter zu sein. Priest führte sie durch Korridore, die mit Lochkarten und Computerausdrucken übersät waren. Schludrig gerahmte Nahaufnahmen vom Mond hingen an den Wänden. JPL war ein Ort der Kontraste; es war ein Bürokomplex wie jeder andere auch, sagte York sich, nur daß es sich um eine junge Belegschaft handelte - niemand trug Anzug und Krawatte, und statt dessen trugen die Leute das Haar länger und hatten sich Smiley-Buttons an den Pulli gesteckt. Ein paar Frauen hatten sogar Hotpants an. Andererseits hatte der Ort auch nicht das lässige Ambiente einer Hochschule; dafür stand hier zu viel auf dem Spiel. Man hatte das Gefühl, daß hier etwas bewegt wurde.
Sie erwähnte den vollen Parkplatz.
»Du hättest vor einer Woche hier sein sollen«, sagte Priest, »als die ersten Bilder vom Mars eingingen. Es wimmelte nur so von Presseleuten, Prominenten, Politikern und Science FictionAutoren.« Er lachte. »Du hättest ihre Gesichter sehen müssen, als wir ihnen nur die Aufnahme eines Sandsturms präsentierten.«
Es war ein eigenartiges Gefühl, sich wieder in Priests Gesellschaft zu befinden. Die Vergangenheit holte sie ein. Sie hatte ihn seit über einem Jahr nicht mehr gesehen und war erstaunt, daß er sein altes Versprechen wahr machte und sie mit hierher nahm, um ihr die Bilder vom Mars zu zeigen. Er schien sich nicht verändert zu haben: schlank, pflichtbewußt,
unkompliziert und intelligent.
Sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Er war ein angenehmer Umgang. Verheiratet.
Sie fühlte eine innere Unruhe.
Im Moment, so gestand sie sich ein, verfolgte sie kein klares Ziel, sondern arbeitete nur sporadisch an Hochschul-Projekten mit. Sie war bestrebt, ihr Leben in geordnete Bahnen zu lenken.
Und sie hatte noch immer diese Beziehungskiste mit Mike Conlig, der so in die Arbeit an NERVA vertieft war, daß er sie überhaupt nicht wahrzunehmen schien, falls er ihr überhaupt einmal etwas Zeit widmete. Mikes Leben drehte sich einzig und allein um NERVA; hinter der Schale des sanften Intellektuellen, die sie anfangs angezogen hatte, schien sich der Kern eines besessenen Monomanen zu verbergen.
Sie hatte den Eindruck, daß das ganze Raumfahrtprogramm aus solchen Leuten bestand.
York stellte sich nun die Frage, ob sie wirklich eine Nebenrolle an der Seite eines Hauptdarstellers spielen wollte, dessen Ziele nicht einmal die ihren waren?
Sie betraten die Kommunikationszentrale. Die Wände waren mit Bildschirmen bedeckt, die allesamt körnige, unscharfe Schwarzweiß-Darstellungen zeigten. Handbücher lagen auf den Tischen, und Bahnen von Computerausdrucken schlängelten sich über die Tische, den Boden und an den Wänden entlang. Das Personal - überwiegend hemdsärmlige, langhaarige Männer, deren Sicherheitsausweis an der Hemdtasche baumelte - brütete über den Bildern und Computerausdrucken. Auf den Tischen standen Tassen mit kaltem Kaffee - manche in gefährlicher Nähe zu wichtigen Unterlagen -, und in einer Ecke sah sie einen angebissenen Krapfen, aus dem noch die Füllung troff.
Ein schwacher, aber unverkennbarer Schweißgeruch lag in der Luft.
Priest zuckte die Achseln und schaute wie ein Schaf. »So sieht das immer hier aus, Natalie. Eine Art kontrolliertes Chaos. Dies ist das Herz des Raumfahrt-Operationszentrums. Hier gehen in einem steten Strom die Daten von Mariner ein. Die Leute arbeiten im Schichtdienst. Die Arbeit ist >adaptiv<: die Daten des einen Orbits dienen als Grundlage für die nachfolgenden Berechnungen. Da bleibt nicht viel Zeit fürs Saubermachen.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du müßtest erst einmal sehen, wie eine geologische Forschungsstätte nach ein paar Tagen aussieht.«
Ein etwa metergroßes Modell des Mariner 9-Raumschiffs hing in einer Ecke des Raums. Sie blieb stehen und betrachtete es. Vier silbrige Sonnensegel waren um eine achteckige Kiste aufgefächert. Ein Raketentriebwerk mit Brennstofftanks war auf der Oberseite der Kiste montiert, und an der Unterseite klebte eine Instrumentenbatterie. York erkannte die winzigen Linsen von Kameras, die im fluoreszierenden Licht glitzerten. Die Sonde wirkte ziemlich primitiv im Vergleich zu den schweren Viking-Sonden, die bereits für den für 1975 geplanten Start entwickelt wurden. Dennoch war Mariner 9 eine Augenweide, wie eine schöne Uhr.
York hegte nach wie vor Zweifel am wissenschaftlichen Nutzwert des Raumflugs. Als Kind hatten die Bilder von Mariner 4 sie fasziniert, ihr sogar einen Schauder über den Rücken gejagt. Doch diese Faszination hatte sich gelegt, und die Fortschritte der späteren Sonden hatte sie gar nicht mehr verfolgt. Und dennoch: dieses schöne, filigrane Ding war von Menschen wie ihr gebaut und ins All geschossen worden, um auf eine Umlaufbahn um den Mars einzuschwenken. Es war das erste von Menschenhand erschaffene Objekt, das einen anderen Planeten umkreiste.
Was für eine Vorstellung!
Priest erzählte ihr vom Staubsturm. »Er hat den ganzen verdammten Planeten überzogen, Natalie. Als wir ankamen, haben wir nichts gesehen. Messungen haben ergeben, daß der Staub eine Höhe von achtzig Kilometern erreichte. Es klingt unmöglich, aber es stimmt. Einen Gefallen hat der Sturm uns aber getan.«
»Wie das?«
»Auf einmal wollten alle unbedingt einen Blick auf die Monde werfen. Übrigens, soll ich dir einen Kaffee holen? Oder einen Krapfen?«
»Nein danke, Ben.«
Er führte sie durch weitere Korridore zu einem kleineren Labor. Noch mehr hemdsärmliges Personal, das an Computern und Monitoren arbeitete.
»Bildbearbeitung«, sagte Priest. Er führte sie zu einem freien Monitor, und sie nahmen auf wackligen Klappstühlen Platz. Dann bearbeitete er die Tastatur. »Das erste halbwegs deutliche Bild von Phobos bekamen sie beim einunddreißigsten Umlauf - gerade erst vergangene Nacht. Ich bin bis zum frühen Morgen aufgeblieben und habe ihnen bei der Verarbeitung der Daten zugesehen. « Ein Bild wurde nun auf dem Monitor zusammengesetzt, Zeile um Zeile, von oben nach unten. »Mariner nimmt die Bilder auf Magnetband auf und schickt sie zur Erde; einem Zeitungsfoto vergleichbar, das per Fernschreiber übertragen wird. So haben die Leute heute nacht das erste Bild erhalten.«
Sie lächelte. »Was soll das, Ben? Weshalb zeigst du mir nicht einfach das fertige Bild? Veranstaltest du wieder so eine NASA-Show?«
Er hob die Augenbrauen. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich dir Zynismus attestieren.«
Impulsiv berührte sie seine Hand. »Es tut mir leid, Ben.« Seine Haut war warm und ledrig.
Er grinste sie an.
Heute fand sie Ben, mit seiner Intelligenz und der Begeisterung für dieses grandiose Mars-Projekt, einfach unwiderstehlich. Verdammt. Solche Gefühle sollte ich nicht haben.
Sie konzentrierte sich auf die Bilder.
Die obersten Linien des Bilds waren schwarz gewesen -leerer Raum. Doch nun erkannte sie erste Details, eine weißgraue Kurve, die Linie um Linie Gestalt annahm. Zuerst hielt sie das für die Krümmung einer Kugel, doch dann sah sie, daß die Form zu unregelmäßig für eine Kugel war.
Phobos erwies sich als halb im Schatten liegende Ellipse mit zerklüftetem Rand. In Yorks Augen hatte Phobos mehr Ähnlichkeit mit einem Asteroiden als einem Mond. Er war von alten, großen Kratern übersät, von denen manche so tief waren, daß die Einschläge, die sie verursacht hatten, den kleinen Mond fast zerschlagen haben mußten.
»Natalie, das ist Phobos - er ist etwa halb so groß wie unser Vollmond -, wie du ihn vom Mars aus sehen würdest.«
Phobos sah aus wie eine verschrumpelte Kartoffel. Priest starrte das Bild an, wobei die Schwarz- und Grautöne sich in seinen Augen spiegelten. »Das ist Geschichte, Natalie. Stell dir das mal vor: ich war einer der ersten Menschen, die Phobos und Deimos, die Mars-Monde, gesehen haben. Ich wollte dich daran teilhaben lassen und dir zeigen, was ich gesehen habe.«
Erneut spürte sie den Drang, ihn zu berühren, doch sie unterdrückte ihn.
»Zeig mir den Mars, Ben.«
»Sicher.«
Nach ein paar Minuten hatte Priest Bilder der Oberfläche des Planeten rekonstruiert. Doch der Staubsturm hielt noch immer an. Außer an den Polen waren nur noch an einem Ort Einzelheiten zu sehen: ein Gebiet namens Tharsis in der Nähe des Marsäquators. Es waren vier unregelmäßige, annähernd kreisförmige Punkte zu erkennen, von denen drei sich auf einer Geraden befanden. Der vierte war etwas nach Westen versetzt.
»Was könnte das sein?« fragte sie.
»Wer weiß? Ich schätze, wir werden es erfahren, nachdem der Sturm sich gelegt hat. Die Belegschaft des Labors nennt diese Erscheinungen >Carls Markierungen« Nach Sagan.«
Die Formen auf den Bildern erregten ihre Neugier; sie kamen ihr irgendwie bekannt vor. Wenn die Sicht nur etwas besser wäre. »Du sagst, diese Region würde Tharsis genannt. Wissen wir sonst noch etwas darüber?«
»Eigentlich schon. Du bist die Geologin, Natalie. Du müßtest es wissen.«
»Sag’s mir einfach, du Arsch.«
»Seit Mitte der Sechziger werden Radar-Bilder vom Mars gemacht. Diese Tharsis-Region - die von der Erde aus nur als heller Fleck erscheint - ist anscheinend das höchste Plateau auf dem Planeten.«
»Wirklich? Wie hoch denn?«
Er zuckte die Achseln. »Fünfzehn bis dreißig Kilometer über Normalnull. Wir wissen es nicht mit Bestimmtheit. Normalnull aus dem Grund, weil es auf dem Mars ja keine Meere gibt und die Bezeichnung >Meeresspiegel< deshalb nicht anwendbar ist.«
»Ihr müßt doch noch Bilder mit einer höheren Auflösung haben als diese hier. Es ist der einzig sichtbare Punkt auf dem Planten, mein Gott! Jemand muß die Kameras noch einmal darauf ausgerichtet haben.«
Priest hieb in die Tasten und fand auch ein paar Bilder mit mehr Details. Fast hätte sie sich die Nase am Monitor plattgedrückt, so nahe ging sie heran.
»Und du meinst, diese Merkmale seien stabil? Nicht nur. äh. Wirbel im Staubsturm oder so?«
»Ach was. Sie existieren schon, seit Mariner vor ein paar Wochen den Mars erreicht hat. Wir sehen hier ohne Zweifel Oberflächenmerkmale.«
Sie erkannte runde Markierungen in jedem Fleck. Und eine Art Kante. Sie sehen fast aus wie Vulkantrichter. Die Schlünde von Vulkanen.
Doch weshalb erschienen überhaupt solche Formationen auf dem Mars? Weil sie sich in Tharsis befinden. Und Tharsis ist die höchstgelegene Region auf dem Mars. Und weshalb diese spezifischen Merkmale? Weil sie die höchsten Punkte von Tharsis darstellen - und folglich die höchsten Punkte des Planeten sind.
»Mein Gott«, flüsterte sie.
»Natalie? Was ist denn?«
Bei diesen Punkten mußte es sich um Vulkane handeln, die auf einer Art riesigem Schild saßen. Groß genug, um die höchsten Berge auf der Erde zu Maulwurfshügeln zu degradieren. Everest hatte eine Höhe von wenig mehr als acht Kilometern; diese Burschen mußten mindestens dreimal so hoch sein. So hoch, daß sie aus den Staubstürmen herausragten; so hoch, daß sie aus der Atmosphäre selbst herausragten.
»Natalie? Alles in Ordnung?«
Natalie traute ihren Augen nicht. Sie ließ sich von Priest ein Bild nach dem andern zeigen.
Wenigstens, so wurde sie sich später bewußt, hatten die Mysterien der Geologie des Mars sie von Priest abgelenkt.
Samstag, 11. Dezember 1971 NASA-Hauptquartier, Washington, DC
Nachdem Fred Michaels aufgelegt hatte, saß Tim Josephson mit einem Glas Whisky im Büro.
Die Entscheidung war gefallen.
Eigentlich hätte er ein Gefühl des Triumphs spüren müssen. Des Überschwangs. Wir haben, was wir wollten, bei Gott. Einen neuen großen Spielplatz, ein Programm, mit dem Tausende von NASA-Mitarbeitern für ein Jahrzehnt und länger beschäftigt sein werden.
Doch er war zu müde und zerschlagen, um in Jubel auszubrechen. Ihm fielen bald die Augen zu. Er hatte den ganzen Tag Telefondienst gehabt und Fred Michaels’ Manöver unterstützt. Und es gab immer noch hundert Dinge, die zu erledigen waren. Doch es gab nichts, so sagte er sich, das nicht auch bis morgen Zeit gehabt hätte.
Also zog er die Schuhe aus, legte die Füße auf den Schreibtisch und sprach ins Diktiergerät.
In den letzten Monaten hatte Josephson, der als Assistent für Fred Michaels arbeitete, erstaunliche Einblicke in die Entscheidungsfindung auf höchster Ebene gewonnen: die Bewahrung des nationalen Prestiges, die Verteilung von zweistelligen Milliardenbeträgen und den Postenschacher im Bereich der Politik, der Wirtschaft und der Streitkräfte. Eines Tages würde er ein Buch darüber schreiben. Vielleicht mit dem Titel Management im Zeitalter der Raumfahrt.
Die Entscheidung über Amerikas Zukunft im Weltraum hatte sich als außerordentlich schmerzlich erwiesen.
Josephson hatte von Anfang an gewußt, daß Nixon nur das Notwendigste in die Raumfahrt investieren wollte.
Tatsache war, daß Nixon - im Widerspruch zur offiziellen Linie - in der Innenpolitik einen ausgesprochen liberalen Kurs einschlug. Mitten in einem Krieg, der die Ressourcen der Volkswirtschaft aufzehrte, wollte er Mittel freisetzen, um die Sozialausgaben zu erhöhen und das Lohn- und Preisniveau zu stabilisieren.
Und diese Mittel sollten sozusagen aus dem Weltraum kommen. Doch die Raumfahrt-Lobby war ein harter Gegner.
Also hatte Nixon kurz nach seinem Amtsantritt den Kongreß bevollmächtigt, die derzeitigen Ausschüsse für Raumfahrt >wegzuorganisieren<, so daß die Raumfahrt nun in die Zuständigkeit des Unterausschusses für Finanzen des Senats und des Unterausschusses für Wissenschaft und Technik des Kongresses fiel. Durch den Verlust des direkten Kanals zum Kongreß lief die NASA nun Gefahr, ihren heroischen Status zu verlieren und zu einer Abteilung von vielen zu werden, die um Finanzmittel kämpfte.
Für die meisten am Raumfahrtprogramm beteiligten Leute -sogar innerhalb der NASA - gingen solche Veränderungen unbemerkt vonstatten, doch für Eingeweihte wie Josephson und Michaels waren sie dramatisch und stellten einen Gradmesser für Nixons Entschlossenheit dar, das gesamte Raumfahrtprogramm zu beschneiden.
Doch dann hatte das Weiße Haus den Widerstand der Luft-und Raumfahrtindustrie zu spüren bekommen.
Die Branche kränkelte wie eh und je. Paradoxerweise wurde ihre Situation durch den technischen Fortschritt noch prekärer. Neue Systeme kamen entweder gar nicht erst zum Einsatz oder hatten nur eine kurze Produktionsdauer: wenn es funktioniert, ist es schon veraltet. Die Unternehmen der Luft- und Raumfahrtindustrie gingen bei jedem Auftrag, den sie annahmen, ein großes Risiko ein.
Doch offensichtlich brauchte die Regierung eine gesunde Luft- und Raumfahrtindustrie. Also mußten Mittel und Wege gefunden werden, um der Industrie in schlechten Zeiten über die Runden zu helfen: um die Wohlfahrt zu mehren und die Forschung zu subventionieren. Das zivile Raumfahrtprogramm war für diesen Zweck ideal. War es immer schon gewesen.
Also hatte Fred Michaels seit Anfang 1971 die Kunde ausgestreut, daß die Luft- und Raumfahrtindustrie bei den gegenwärtigen Kürzungen im Raumfahrtprogramm kein Jahr mehr durchhalten würde. Dabei wandte er sich insbesondere an Kongreßabgeordnete aus Staaten wie Kalifornien, Texas und Florida, wo die Kürzungen zum Wahlkampfthema gemacht wurden. Und er forderte die Auftragnehmer der jeweiligen Programme auf, die Beschäftigungswirkung der entsprechenden Optionen ruhig etwas höher anzusetzen. Damit sollte das Weiße Haus unter Druck gesetzt werden. 1972 ist ein Wahljahr. Wir brauchen ein Raumfahrtprogramm, um die Arbeitsplätze zu sichern. Aber wie soll dieses Programm aussehen?
Josephson stellte mit gelindem Schrecken fest, wie schnell die wissenschaftlichen und Forschungs-Aspekte des Raumflugs als Faktoren beim Entwurf des neuen Programms über Bord geworfen wurden. Niemand, der auch nur einen Hauch von Verstand hatte, würde der Wissenschaft wegen zum Mars oder sonstwohin fliegen. Und niemand - was ihn noch mehr wunderte - wies auf die Übertragung von Innovationen aus der Raumfahrt in andere Bereiche hin. Weshalb sollte man dazu erst ins All fliegen? Weshalb sollte man die F&E-Mittel und die berühmten Management-Qualitäten der NASA da nicht gleich in andere, sinnvollere Programme investieren?
Das waren heikle Fragen. Also vermied Michaels sie von vornherein.
In der Öffentlichkeit stellte Michaels die Raumfahrt als ein Abenteuer dar - etwas, wofür eine Nation wie die USA einfach das Geld haben müsse. Astronauten aus den Glanzzeiten der Raumfahrt wurden als lebende Erinnerung an bessere Zeiten bemüht. Nach Michaels’ geschicktem PR-Trara schien der Mars etwas an Akzeptanz gewonnen zu haben. Das hatte einen Schneeball-Effekt zur Folge, und der Kongreß war nun geneigt, die Option zu unterstützen.
Und die Umfragen zeigten, daß die Öffentlichkeit einer MarsOption immer wohlwollender gegenüberstand.
Doch der NASA-Etat war noch immer viel zu hoch. Im Juli hatten Mitglieder des Kongresses zweimal beantragt, für das Haushaltsjahr 1972 überhaupt keine Mittel für den bemannten Raumflug zu bewilligen.
Es war ein kritischer Moment in der Geschichte, und das Feilschen ging weiter.
Worauf könnten wir verzichten?
Josephson hatte angenommen, Nixon würde wenigstens das Space Shuttle-Programm genehmigen - nur diesen einen Punkt von all den Optionen, die seine Arbeitsgruppe vorgelegt hatte. Zumindest das Ziel der Raumfähre war auch mit geringeren Mitteln zu erreichen, zumal ihr Bau wegen der vielen Spin-offs von der Luft- und Raumfahrtlobby befürwortet wurde.
Doch das Shuttle-Programm war bald Makulatur geworden. In Josephsons Augen war es offensichtlich, daß der Entwurf einer Billig-Raumfähre einen faulen Kompromiß darstellte, der vom Ausschuß zusammengerührt worden war, um an sich unvereinbare Interessen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Und Michaels nahm Anleihen bei seinem Vorgänger Paine - ein großer Befürworter der Mars-Option, dessen Nachfolge Michaels im September angetreten hatte - und wies auf den militärischen Nutzen der Raumfähre hin: es war kein Zufall, daß das Shuttle, das nur einen Orbit von maximal hundertsechzig Kilometern erreichte und über hervorragende Flugeigenschaften verfügte, auch ideal für Luftwaffen-Einsätze war.
Das mit modernster Technik ausgestattete Shuttle wäre
höchstens für Aufklärungsflüge im niedrigen Erdorbit geeignet. In einer Ära, wo Entspannung angesagt war, bekam die
militärische Komponente des Projekts jedoch einen schlechten Beigeschmack. Zumal Kennedy und andere Politiker der
Öffentlichkeit ständig vor Augen führten, daß dieses
Unternehmen absolut nichts Heroisches hatte.
Also hatte Josephson mit einer gewissen Zufriedenheit verfolgt, wie Nixon sich allmählich von der Raumfähre verabschiedet hatte. Bei der nächsten Generation von Trägersystemen für den bemannten Raumflug würde es sich wahrscheinlich um eine verbesserte Saturn-Serie handeln.
Außerdem schien Nixon der Empfehlung der >Arbeitsgruppe Raumfahrt< gefolgt zu sein, den Plan der neuen modularen Raumstationen zu verwerfen und statt dessen nur die SkylabSerie fortzusetzen, die aus Saturn-Brennstofftanks improvisiert werden sollte. Die NASA-Ingenieure verloren darob schier die Fassung, vor allem Mueller und seine Raumstation-Lobby. Doch all diese Kürzungen schufen ein Kostenprofil, das vielleicht vom Weißen Haus genehmigt werden würde.
Natürlich wäre im Programm auch ein Handel enthalten. Rockwell hatte als Favorit für die Produktion der auf Eis gelegten Raumfähre gegolten. Und nun hatte es den Anschein, daß sein Rivale Boeing das größte Stück vom Kuchen des neuen Zusatztriebwerks bekam, weil Boeing als Hersteller der ersten Stufe der Saturn S-IC Haupt-Auftragnehmer beim neuen Saturn-Projekt werden sollte. Boeing wartete mit allen möglichen Ideen für eine Kostensenkung beim Saturn V-System auf: so sollten zum Beispiel wiederverwendbare Raketen eingesetzt werden, und die S-IC selbst sollte auch wiederverwendet werden können, indem sie mit Tragflächen, Fallschirmen, wasserstoffgefüllten Ballons, Luftbremsen, Paragleitern und Systemen aus rotierenden Fallschirmen ausgerüstet wurde.
Also hatte Rockwell - der Hersteller von Apollo - zur aller Überraschung das Nachsehen. Als Trostpflaster durfte das Unternehmen ein Programm auflegen, in dessen Rahmen die S-II, die wasserstoffbetriebene zweite Stufe der Saturn, zu einer interplanetaren Zündstufe modifiziert wurde. Weil es sich jedoch um den Part handelte, der von NERVA übernommen werden sollte, war das S-II-Programm bereits redundant, bevor es überhaupt begonnen hatte, und es wurde auch schon die Frage nach dem Sinn dieses Programms gestellt.
Dennoch rechnete Johnson damit, daß Rockwell auf die eine oder andere Art entschädigt werden würde. Die Firma war bereits Anwärter für das große Trägerraketen-Programm, das aus der heutigen Entscheidung resultieren würde, obwohl sie noch nicht einmal verkündet war.
Inzwischen waren die Militärs auf Johnsons Linie eingeschwenkt, nachdem er ihnen versprochen hatte, sie würden bei den neuen Skylabs berücksichtigt werden. Dadurch hatten sie die Möglichkeit, an die Missionsziele der alten Bemannten Orbital-Labors anzuknüpfen.
Beim neuen Raumfahrtprogramm handelte es sich um eine Resultierende des Gleichgewichts der Kräfte, um einen Kompromiß zwischen den Fraktionen im Weißen Haus und im Kongreß. Im Grunde nichts Neues, sagte Josephson sich.
Doch es wäre nicht möglich gewesen, ohne daß Michaels Fäden gezogen, Leute um einen Gefallen gebeten und sich des Geflechts aus politischen Allianzen bedient hätte, das er im Lauf der Jahre geknüpft hatte. Ein nicht so begnadeter Direktor - Thomas Paine zum Beispiel - hätte das niemals zuwege gebracht. Und doch wußte Josephson, daß Michaels’ Arbeit gerade erst begonnen hatte. Michaels war es bisher lediglich gelungen, die Zusage für den Start eines neuen Programms zu erhalten; die Herausforderung lag nun darin, dafür zu sorgen, daß diese Zusage auch für die zukünftige Entwicklung des Programms Gültigkeit hatte.
Fred Michaels kannte Nixon noch aus den Sputnik-Tagen, wo er Eisenhowers Vizepräsident gewesen war. Michaels glaubte, daß Nixon den Symbolgehalt des Raumfahrt-Zeitalters von Anfang an erkannt hatte. »In erster Linie geht es hier um Politik und nicht um Wissenschaft«, hatte Michaels Josephson offenbart, und Josephson sprach diese Erkenntnis nun auf Band. »Das eigentliche Motiv für die Raumfahrt ist Prestige. Nixon hat das begriffen. In dieser Hinsicht ist er formbar wie Lehm. Ich sage Ihnen, Tim: im Grunde wundere ich mich überhaupt nicht darüber, wie die Dinge sich entwickelt haben. Alles was er brauchte, war das richtige Argument.«
Vielleicht, sagte Josephson sich. Doch Nixon war auch ein hochintelligenter Pragmatiker, ein Mann, auf dessen Prioritätenliste die Raumfahrt ziemlich weit unten stand.
Er hätte sich auch dafür entscheiden können, die bemannte Raumfahrt ganz einzustellen.
Und doch, und doch .
Und doch war da noch der liebe alte Jack Kennedy, der wie ein Geist aus seinem Studierzimmer in Neuengland sprach und den Amerikanern unablässig sagte, daß sie besser seien als das pessimistische Bild, das sie von sich selbst hatten: daß es ihnen schließlich gelungen sei, vor den Augen der ganzen Welt Menschen auf den Mond zu schicken; daß sie nicht stehenbleiben, sondern weitergehen und sich im Lichte des feurigen Traums immer wieder neu erfinden sollten - des Traums, dessen lebende Verkörperung Kennedy geworden war.
Und heute schlug die Stunde der Entscheidung. Michaels war zu einer Besprechung mit Agronski, anderen Beratern des Präsidenten und Repräsentanten des Haushaltsausschusses gebeten worden.
Agronski, so hatte Michaels Josephson gesagt, war gleich zur Sache gekommen. »Sie werden Ihren Mars-Tinnef bekommen, Fred. Gegen meine Überzeugung.«
»Der Präsident hat das Programm genehmigt.«
»Ja.« Agronski wühlte in seinen Unterlagen. »Es stehen noch ein paar Entscheidungen in bezug auf den Umfang und die Kosten aus.«
Michaels grunzte. »Was hat ihn dazu bewogen?«
»Eine Reihe von Faktoren. Vor allem der Punkt, daß es unser Prestige im In- und Ausland beschädigen würde, wenn wir den bemannten Raumflug ganz einstellten.« Er klang zerknirscht. »Daß die Mars-Mission die einzige Option ist, die sowohl prestigeträchtig ist als auch mit relativ geringem finanziellen Aufwand durchgeführt werden kann. Daß wir den NASA-Etat nur deshalb kürzen wollten, weil es sich angeboten hat. Daß die Streichung des Programms die Luft- und Raumfahrtindustrie in Mitleidenschaft gezogen hätte.«
Michaels hatte verstanden, und Josephson war auch nicht sonderlich erstaunt. Kennedys Lobbyarbeit und Michaels’ Wühlarbeit hatten zu einem Umschwung in der öffentlichen Meinung geführt. Zumal 1972 ein Wahljahr war; die Arbeitslosenstatistik in Staaten, die von der Raumfahrt abhingen - Kalifornien, Texas und Florida - gereichte Nixon nicht gerade zum Vorteil. Und wir hatten auch verdammtes Glück, in Cap Weinberger einen Verbündeten zu finden. Josephson wußte, daß ohne Caps Fürsprache innerhalb der Regierung das Programm der bemannten Raumfahrt vielleicht gescheitert wäre.
Am Anfang der Besprechung hatte es Auseinandersetzungen über Details und die Interpretation einer Verlautbarung des Präsidenten gegeben. Doch die Entscheidung war gefallen.
Mars.
Trotz seiner Müdigkeit fühlte Josephson eine tiefe Zufriedenheit. Als ob er nach einem guten Essen einen Brandy und eine Zigarre genießen würde.
Eigentlich war es sogar schlecht für Nixon gelaufen, sagte Josephson sich. Nixon hatte recht gehabt; er hatte ein bezahlbares Programm mit einem konkreten Ziel gewollt, ein Programm, das ein solides Fundament für die Zukunft bildete. Doch nun hatte es den Anschein, als ob es wieder auf den
Schmonzes mit Fußabdrücken und Flaggen hinausliefe. Und Jack Kennedy - oder vielleicht auch Ted, der von einem ermordeten und einem verkrüppelten Bruder profitierte und nun selbst den Einzug ins Weiße Haus vorbereitete - würde den Lorbeer ernten.
Wie dem auch sei, in einer solchen Gemengelage aus sozialen, politischen, ökonomischen und technischen Kräften, die von Männern wie Michaels, Nixon und Kennedy kontrolliert wurde, war die Entscheidung entstanden. Die Entscheidung - mit welchen Problemen und Unwägbarkeiten sie auch behaftet war -, Amerikaner zum Mars zu schicken.
Eine Putzfrau klopfte an und trat mit einem schweren Staubsauger ein. Josephson schaltete das Diktiergerät aus. Millie Jacks grinste Josephson an; sie war daran gewöhnt, daß er so spät noch arbeitete.
»Wie ich höre, fliegen wir zum Mars, Dr. Josephson?«
»Sieht so aus, Millie.«
»Huu!« stieß Millie ungläubig aus. Doch sie hatte schon alle Aktionen mit einem Kopfschütteln quittiert, welche die NASA seit 1966 durchgeführt hatte. Josephson fragte sich manchmal, ob sie wirklich glaubte, daß die Menschen zum Mond geflogen waren oder ob sie das nur für eine Art Räuberpistole hielt.
Was würde Millie erst sagen, wenn wir ein paar Schwarze oder sogar Frauen in die Mars-Besatzungen aufnähmen. Sie würde sich überhaupt nicht mehr einkriegen.
Vielleicht wird es sich ändern. Vielleicht werden wir in einer anderen Welt leben, wenn wir 1982 zum Mars fliegen.
. Ich habe heute entschieden, daß die Vereinigten Staaten die Entwicklung von Systemen und Technik vorantreiben sollen, die geeignet sind, amerikanischen Astronauten eine Landung auf dem Mars zu ermöglichen. Dieses System wird auf einer neuen Generation von Raketen mit Nuklearantrieb basieren, die den interplanetaren Raumflug revolutionieren und zu einer Routineangelegenheit machen werden.
Im Jahre 1971 wurde Amerikas bemanntes MondflugProgramm eingestellt. Bei den drei erfolgreichen Mondlandungen wurde viel erreicht - wobei die wissenschaftlichen Ergebnisse der dritten Mission die Ergebnisse aller vorherigen bemannten Raumflüge übertrafen, ob in den Erdorbit oder zum Mond. Doch sie hat uns auch zu einer Entscheidung geführt - an einen Punkt, an dem wir entscheiden mußten, wo mit dem Ende von Apollo unser Horizont im Weltraum verläuft und wohin wir von dort aus gehen wollen.
Die wissenschaftlichen Erfahrungen der letzten zehn Jahre haben uns gelehrt, daß Raumschiffe ein notwendiges Werkzeug für die Erforschung des näheren Weltraums - des Mondes und der Planeten - sind und ein wichtiges Hilfsmittel für das Studium der Sonne und Sterne darstellen. Indem wir uns den Weltraum zunutze machten, um die Bedürfnisse der Erde zu befriedigen, haben wir das enorme Potential von Satelliten für die internationale Kommunikation, Klimaforschung und Überwachung der globalen Ressourcen erkannt.
All diese Möglichkeiten und unzählige andere, welche die Wohlfahrt der Menschheit steigern, werden jedoch nur dann Wirklichkeit, wenn der Traum, der uns so schnell so weit gebracht hat, ebenfalls Wirklichkeit wird: ich meine den Traum der Erforschung des Weltraums, des Ausgreifens der Amerikaner und der gesamten Menschheit ins All. Mit meiner heutigen Entscheidung habe ich der Notwendigkeit Rechnung getragen, diesen Traum zu fördern und zu verwirklichen.
Die NASA und viele Unternehmen der Luft- und Raumfahrtindustrie haben umfassende Konstruktionsentwürfe für die Mars-Mission vorgelegt. Der Kongreß hat diese Anstrengungen geprüft und gebilligt. Die Vorbereitungen sind nun so weit gediehen, um mit Zuversicht ein neues Entwicklungsprogramm ins Leben zu rufen. Um die technischen und wirtschaftlichen Risiken zu minimieren, wird die NASA einen evolutionären Ansatz bei der Entwicklung dieses neuen Systems verfolgen. Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, werden wir am Ende dieses Jahrzehnts die ersten Komponenten des Mars-Raumschiffs in bemannten Flugversuchen erproben und wenig später einsatzbereit sein. Doch wir werden keine willkürlichen Fristen setzen, wie manche es gefordert haben; wir werden Entscheidungen in Abhängigkeit vom Fortschritt des Programms und nach eingehender Prüfung treffen.
Aus technischen Gründen habe ich mich gegen die Entwicklung der wiederverwendbaren Raumfähre zu diesem Zeitpunkt entschieden. Ungeachtet der offenkundigen ökonomischen Vorteile eines solchen Trägersystems bin ich nicht davon überzeugt, daß unsere Technik schon so ausgereift ist, um ohne Kostenschübe und Verzögerungen die gewaltigen Probleme zu lösen, die dieses Projekt mit sich bringt. Zumal viele dieser wirtschaftlichen Vorteile auch durch Modernisierungen unserer existierenden >Wegwerf<-Plattformen zu realisieren wären.
Ein anderer wichtiger Punkt ist, daß dieses Projekt von nationaler Bedeutung Tausenden hochqualifizierter Arbeiter und Hunderten von Unternehmen für die nächsten Jahre ein Betätigungsfeld eröffnet. Die fortdauernde Überlegenheit Amerikas und der amerikanischen Industrie im Bereich der Luft- und Raumfahrt wird ein wichtiger Teil der Nutzlast der Mars-Mission sein.
Wir werden zum Mars fliegen, weil er außer der Erde wohl der einzige Planet ist, auf dem menschliches Leben möglich ist und wo wir Kolonien gründen können. Wir werden zum Mars fliegen, weil die Untersuchung seiner Geologie und Entstehungsgeschichte in hohem Maße zum Verständnis unserer wertvollen Erde beitragen wird.
Und vor allem werden wir zum Mars fliegen, weil er uns über die Schwierigkeiten und Probleme der Gegenwart hinweg eine Perspektive auf eine bessere Zukunft ermöglicht.
>Wir müssen manchmal mit dem Wind und manchmal gegen ihn segelnc, sagte Oliver Wendell Holmes, >doch wir müssen segeln, und nicht treiben oder vor Anker liegen« Dasselbe gilt für die epische Reise der Menschheit ins All - eine Reise, welche die Vereinigten Staaten von Amerika geführt haben und die sie noch immer führen. Apollo ist in den Hafen zurückgekehrt. Nun ist es an der Zeit, zügig neue Schiffe zu bauen und in fernere Gefilde zu segeln, als unsere Vorfahren sich jemals hätten träumen lassen.
Veröffentlichte Dokumente der Präsidenten der Vereinigten Staaten: Richard M. Nixon, 1972 (Washington, DG: Presseamt der Regierung, 1972)
Mittwoch, 5. Januar 1972
.Wie aus der Verlautbarung des Präsidenten hervorgeht, sind die Studien der NASA und der Luft- und Raumfahrt-Industrie in bezug auf die Mars-Mission nun an dem Punkt angelangt, wo der Übergang zur Entwicklung der Missions-Komponenten entscheidungsreif ist. Die Entscheidung zur Fortführung des Projekts, die der Präsident nun getroffen hat, geht mit den Plänen konform, die dem Kongreß für den NASA-Etat des Haushaltsjahrs 1972 vorgelegt und von diesem gebilligt wurden.
Die Mars-Mission wird aus zwei Schiffen bestehen, die im Erdorbit montiert werden. Die Schiffe werden aus mehreren Antriebsmodulen in Gestalt von Nuklearraketen bestehen, die von chemischen Raketen auf der Basis der bewährten Saturn V-Technologie gestartet werden. Das Raumschiff wird in dieser modularen Form konzipiert, um einen schnellen Umbau zu unterschiedlichen Konfigurationen zu ermöglichen: zum Beispiel für Flüge zu anderen Planeten oder den Asteroiden. Die Besatzung wird Module beziehen, bei denen es sich um die ersten aus >trockenen Brennstofftanks< bestehenden SkylabRaumstationen handelt, die wir ab dem nächsten Jahr ins All schicken wollen. Die Besatzung wird in einer neuen Landekapsel auf der Marsoberfläche landen.
Wie der Präsident bereits ausführte, werden wir nicht nach einem Zeitplan arbeiten. Dennoch hoffen wir, daß wir für die erste Mission bereit sind, wenn 1982 der Mars in Opposition zur Erde steht. Dieser ersten Mission wird ein intensives Entwicklungsprogramm vorausgehen, das unter anderem Flugphasen im Erdorbit umfaßt. Das Programm umfaßt die Entwicklung der Nukleartechnik bis zur Serienreife und die Entwicklung lebenserhaltender Systeme für Langstreckenflüge sowie interplanetarer Kommunikations- und Navigationstechniken. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Wiederverwendbarkeit und Steigerung der Zuverlässigkeit der Systeme sowie die Entwicklung von Systemen für den Eintritt in die Marsatmosphäre und die Landung auf dem Mars. Die
Rekrutierung von Astronauten für das neue Programm wird in Kürze erfolgen.
Um Landezonen für die bemannte Mission ausfindig zu machen, wird eine Reihe neuer, mit Kameras ausgerüsteter Mariner-Sonden zum Mars geschickt werden. Diese Sonden ersetzen die ursprünglich vorgesehenen wissenschaftlichen Viking-Plattformen, die gestrichen wurden. Der Etat wird also nicht überzogen.
Der Beschluß des Präsidenten ist ein historischer Schritt für das nationale Raumfahrtprogramm. Es wird der Menschheit neue Perspektiven für die Eroberung des Weltalls eröffnen. In zehn Jahren wird die Nation über die Mittel verfügen, Menschen und Ausrüstung über interplanetare Distanzen zu befördern. Mittelfristig rechnen wir damit, daß solche Missionen ebenso zur Routine werden wie der Flug zum Mond und die sichere Rückkehr zur Erde. Nicht nur der Mars, sondern auch unser Schwester-Planet Venus, die Ressourcen des Asteroidengürtels sowie die Monde des Jupiter und die äußeren Planeten rücken in greifbare Nähe. Hierbei wird es sich um Komponenten eines Raumfahrtprogramms handeln, das eine konzertierte Aktion aus Wissenschaft, Forschung und Anwendung darstellt und sich im Rahmen des gegenwärtigen Etats für die Raumfahrt bewegt. Ich danke Ihnen.
Chronologische Akte Frederick W. Michaels, 1972, Archiv der NASA, NASA-Hauptquartier, Washington, DC.
Mittwoch, 5. Januar 1972 NASA-Hauptquartier, Washington, DC
Gregory Dana hatte den Tag mit einer Diskussion von Rendezvous-Techniken für die geplanten Skylab-Missionen verbracht. Auf dem Gang begegnete er ein paar NASA-Mitarbeitern aus Houston, die sich vor dem Schwarzen Brett versammelt hatten.
»Was ist denn hier los?«
»Wissen Sie das noch nicht? Wir fliegen zum Mars. Nixon hat endlich die Genehmigung erteilt. Sehen Sie hier.« Sie bahnten ihm eine Gasse zum Schwarzen Brett. Auf den ersten Blick sah Dana nichts, das für ihn von Interesse gewesen wäre: Karten für eine Sportveranstaltung, verschiedene Fortbildungsmaßnahmen und ein Akupunktur-Kurs (hier im NASA-Hauptquartier!) und einen Aufkleber in Signalorange mit der schlichten Botschaft JESUS HILFT. Doch dort, halb verdeckt von den banalen Aushängen, war ein engbedrucktes Blatt Papier mit einem Briefkopf. Es handelte sich um eine Verlautbarung von Nixon und eine Anmerkung von Michaels, dem neuen NASA-Direktor. Ein paar Pressemeldungen waren auch ausgehängt: ein >Marsflug-Leitfaden< mit simplen Frage-und-Antwort-Informationshappen über die Mission und ein paar spektakuläre künstlerische Impressionen der verschiedenen Phasen der Mission. Es wurden sogar die Optionen skizziert, die diskutiert und wieder verworfen worden waren.
Danas >Katapult-Modus< wurde jedoch nicht erwähnt.
Seit jener apokalyptischen Phase A-Konferenz, die im Juli in Huntsville stattgefunden hatte, war die Entwicklung der MarsOptionen praktisch an Dana vorbeigegangen. Und nun hörte er zum erstenmal von Nixons Entscheidung - zusammen mit der Putzkolonne des Hauptquartiers und dem Rest der Nation.
Was sollte er nun tun? Noch einen Brief an Fred Michaels schreiben?
Er spürte, wie die Ungerechtigkeit, die schiere Dummheit, ihm ein Loch in den Magen brannte.
Wie dem auch sei, er war aus dem Rennen. Vielleicht wäre Jim wenigstens imstande, ein paar seiner eigenen Träume zu verwirklichen, während diese Entscheidung allmählich in die Praxis umgesetzt wurde.
Dana klemmte sich die Aktentasche unter den Arm und ging.