24. November 1963, 17:23 Washington D.C.

Das Haus lag auf der anderen Straßenseite, vielleicht zehn, allerhöchstens ein Dutzend Schritte entfernt; ein schlichtes, nicht besonders großes Haus in einer unauffälligen, nicht gerade teuren Wohngegend Washingtons. Es hätte einem Staubsaugervertreter gehören können, einem Tierarzt oder einem Angestellten eines Automobilkonzerns. Nichts daran war irgendwie außergewöhnlich und schon gar nichts deutete darauf hin, dass sein Bewohner in irgendeiner Weise außergewöhnlich sein könnte.

Genau diesen Eindruck sollte es ja auch erwecken. Doch auf mich wirkten die spießbürgerlich kiesbestreute Auffahrt und die schlichte Mahagonitür wie der Eingang zu Draculas Schloss.

Kim hatte kein Wort gesagt, als ich unsere nunmehr unwiderruflich letzte Barschaft am Flughafen nachgezählt und einem Taxifahrer ausgehändigt hatte, damit er uns hierher brachte, aber sie schwieg auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Ihr Gesicht war verschlossen, ja, fast starr, und in ihren Augen lag ein Ausdruck, der mich erschreckt hätte, hätte ich den Mut gehabt, ihrem Blick länger als eine Sekunde standzuhalten. Von der überraschenden Fröhlichkeit, die sie noch am Morgen in Dallas an den Tag gelegt hatte, war nichts mehr geblieben. Anders als ich hatte sie auf dem Flug hierher geschlafen, aber die wenigen Stunden schienen sie mehr Kraft gekostet zu haben, als sie ihr gaben. Ihr Gesicht war grau und sie war nicht im Stande, die Hände ganz still zu halten. Ich war sicher, dass sie wieder geträumt hatte.

Hinter uns fuhr das Taxi los und die Stille, die das rasch verklingende Geräusch des Motors verschlang, riss mich in die Wirklichkeit zurück. Wir waren weit und breit die einzigen Menschen auf der Straße und mit Sicherheit wurden wir von einem Dutzend neugieriger Augenpaare beobachtet. Wir würden auffallen, wenn wir noch länger hier herumstanden und das Haus anstarrten. Vielleicht taten wir es bereits.

»Komm«, sagte ich. »Keine Angst. Er wird dir helfen.«

Kimberley tat mir auch jetzt nicht den Gefallen zu antworten, sondern sah mich nur an; vermutlich ohne irgendeinen Hintergedanken. Sie war einfach müde und suchte einen Halt für ihren Blick. Trotzdem glaubte ich einen vorwurfsvollen Schimmer in ihren Augen zu lesen. Aber sie widersprach nicht, sondern setzte sich mit einem angedeuteten Kopfnicken in Bewegung, als ich von der Straße heruntertrat und die Haustür ansteuerte.

Ich griff mit der linken Hand nach der Klingel, versenkte die rechte in der Manteltasche und drückte den Knopf so heftig in die Fassung, dass das Blut unter meinem Fingernagel wich. Gedämpft durch das dicke Holz der Tür hörte ich einen sanften Glockenton, dem praktisch sofort schnelle, schwere Schritte folgten, die sich näherten, und in dem vielleicht zehnten Teil einer Sekunde, der noch verging, bevor die Tür geöffnet wurde, schossen mir hunderte von Bildern durch den Kopf, die sich mir gleich bieten würden. Der Anblick einer Revolvermündung, die genau auf mein Gesicht zielte, war davon vielleicht noch das Harmloseste. Es war Wahnsinn gewesen, hierher zu kommen; der dümmste Fehler, den ich je gemacht hatte. Ebensogut hätten wir gleich zu Bach gehen oder am Flughafen auf Steel warten können und...

Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen und ich starrte in Dr. Hertzogs schreckensbleiches Gesicht. Der Ausdruck des mit Entsetzen gemischten Unglaubens in seinen Augen erschien nicht erst darin, als er mich ansah. Er musste uns bereits gesehen haben, als wir aus dem Taxi stiegen. Ich fragte mich, wie viele Leute uns vielleicht noch gesehen hatten.

»John?«, murmelte er. Dann weiteten sich seine Augen und er keuchte noch einmal: »John? Was um alles in der Welt...«

Ich ließ ihn nicht ausreden, sondern legte die linke Hand auf seine Brust, schob ihn mit schon etwas mehr als nur sanfter Gewalt wieder ins Haus zurück und folgte ihm; gleichzeitig machte ich einen halben Schritt zur Seite, damit Kimberley mir folgen konnte, und warf die Haustür hinter mir mit dem Absatz zu. Das alles dauerte weniger als eine halbe Sekunde und Hertzogs Gesichtsausdruck nach zu schließen bekam er nicht einmal richtig mit, wie ihm geschah. Er war offensichtlich zu hundert Prozent damit beschäftigt, abwechselnd mich und Kim anzustarren.

»Hallo, Carl«, sagte ich. »Wir waren gerade in der Gegend und da dachte ich mir, wir schauen einfach mal vorbei. Sie haben doch nichts dagegen?«

Hertzog japste fassungslos nach Luft. »Sind... sind Sie wahnsinnig geworden?«, murmelte er. »Was... was tun Sie hier? Großer Gott, John - ganz Majestic sucht nach euch beiden! Ihr braucht...«

»Hilfe«, fiel ich ihm ins Wort. »Genau. Aus keinem anderen Grund sind wir hier.«

Hertzog antwortete nicht gleich. Sein Gesicht hatte mittlerweile noch mehr Farbe verloren und leuchtete weiß im Halbdunkel der Diele, aber ich sah, wie er am ganzen Leib zu zittern begann. Ich hatte die rechte Hand immer noch in der Manteltasche, aber plötzlich wurde mir klar, wie albern das war. Hertzog war gar nicht in der Verfassung, sie zu bemerken und zu glauben, dass ich vielleicht eine Waffe darin hielt, mit der ich auf ihn zielte.

»Bitte, John«, murmelte er. »Sie...«

Ich unterbrach ihn erneut: »Sind wir allein?«

Hertzog nickte. Mit sichtlicher Mühe löste er den Blick von meinem Gesicht, sah Kimberley an und dann wieder mich. »Ja.«

»Fünf Minuten«, sagte ich. »Mehr verlange ich nicht von Ihnen, Carl. Hören Sie uns fünf Minuten zu. Wenn Sie es dann noch wollen, gehen wir, und Sie sehen uns nie wieder.«

»Wenn Bach erfährt, dass Sie hier waren, sieht mich niemand mehr wieder«, murmelte Hertzog, nickte dann aber und trat mit einer einladenden Geste zurück. »Kommt mit. Wir sind allein, aber die Putzfrau kommt jeden Augenblick. Es ist besser, wenn sie euch nicht sieht.«

Wir folgten ihm die Treppe hinauf und in ein kleines, ausgesprochen ungemütlich eingerichtetes Arbeitszimmer, dessen Fenster auf den Garten hinaus ging. Hertzog deutete mit einer fahrigen Geste auf eine zerschlissene Chaiselongue, die unter dem Fenster stand, schloss sorgsam die Tür hinter sich ab und nahm dann auf dem einzigen verbliebenen Stuhl im Zimmer Platz; so weit von uns entfernt, wie es der Raum überhaupt zuließ.

»Fünf Minuten«, sagte er. »Und wenn Sie mich nicht davon überzeugen, dass Bach selbst hive ist und Kennedy ein Agent der Grauen war, gebe ich Ihnen weitere fünf Minuten Vorsprung und informiere dann Majestic.«

»Das ist fair«, antwortete ich.

»Ich spiele mit offenen Karten«, erwiderte Hertzog ruhig. Er hatte seine Überraschung halbwegs überwunden und natürlich meldete sich jetzt sein Misstrauen. Ich fragte mich, was Bach ihm über Kim und mich erzählt haben mochte.

»Wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte ich. »Kim braucht Ihre Hilfe.«

Ich deutete auf Kimberley und erhaschte dabei einen Blick auf ihrem Gesicht, der mich beunruhigte. Sie hatte mit keinem Wort gegen meine Idee protestiert, ausgerechnet hierher zu kommen, und bisher hatte ich dieses überraschende Stillschweigen sogar mit einer gewissen Erleichterung hingenommen. Jetzt fragte ich mich, ob sie überhaupt begriffen hatte, was ich tat. Oder wo wir waren.

»Sie sehen nicht gut aus, meine Liebe«, sagte Hertzog. »Sind Sie krank?«

»Warum sonst wären wir wohl hier?«, fragte ich.

»Wenn Sie einen Arzt brauchen, dann kann ich Ihnen die Adresse eines Kollegen geben«, sagte Hertzog. »Keine Sorge, er wird keine Fragen stellen, sondern...«

»Ist er zufällig Spezialist für die Hive?«, fragte ich.

Diesmal dauerte Hertzogs Schweigen ein wenig länger. Er hatte sich nun wieder vollkommen in der Gewalt, aber man musste kein Gedankenleser sein, um zu erkennen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Was... meinen Sie damit?«, fragte er zögernd.

»Die ART, die Sie bei Kim durchgeführt haben«, antwortete ich. »Sie scheint nicht hundertprozentig erfolgreich gewesen zu sein, das meine ich damit.«

»Unsinn!«, antwortete Hertzog überzeugt. »Ich habe sie gründlich untersucht. Ein Dutzendmal. Verdammt, John, Sie waren dabei! In ihr ist kein Ganglion mehr und das wissen Sie so gut wie ich.«

»Träume«, murmelte Kim. Ihre Stimme klang flach, praktisch ausdruckslos und ihre Augen blieben leer. »Ich... habe Träume.«

»Das ist ganz normal, nach dem, was Sie mitgemacht haben«, erwiderte Hertzog. In seinen Augen blitzte es ärgerlich auf, als er sich wieder an mich wandte. »John, Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie sich selbst, Kim und zu guter Letzt auch mich in Gefahr bringen, weil Ihre Freundin ein paar schlechte Träume hat?«

»Warum hören Sie mir nicht einfach zu, Carl?«, fragte ich. »Vielleicht verstehen Sie mich danach besser.«

Hertzog setzte zu einer ärgerlichen Entgegnung an, beließ es dann aber doch nur bei einem Achselzucken und machte eine abgehackte, auffordernde Geste. Zugleich sah er auf die Uhr. »Sie haben noch drei Minuten.«

Natürlich brauchte ich länger als diese Zeit, um ihm zu erzählen, was seit unserer überstürzten Flucht aus Washington geschehen war. Hertzog hörte mir schweigend zu und es bedurfte abermals keiner sehr großen Menschenkenntnis, um zu begreifen, dass er mir nicht unbedingt jedes Wort glaubte. Trotzdem unterbrach er mich kein einziges Mal. Als ich fertig war, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte gute zehn Sekunden lang ins Leere.

»Oswald wurde heute Morgen in Dallas ermordet«, sagte er. »Es kam vor einer Stunde im Radio.«

»Ich weiß.«

»Sie könnten es dort gehört haben«, fuhr Hertzog fort. Er schüttelte den Kopf und lachte, leise und sehr nervös. »Warum sollte ich Ihnen diese verrückte Geschichte glauben, John? Und selbst, wenn sie wahr ist: Warum kommen Sie ausgerechnet zu mir? Sie wissen, dass ich...«

Er sprach nicht weiter, sondern biss sich auf die Unterlippe, und ich führte den begonnenen Satz für ihn zu Ende. »Ich weiß, dass Sie uns schon einmal an Bach verraten haben, Carl, das stimmt. Genau aus diesem Grund bin ich hier.«

»Wie?« Hertzogs Augen wurden schmal. »Sind Sie hier, um alte Schulden einzutreiben? Ich bin Ihnen gar nichts schuldig, wenn Sie das glauben.«

Das stimmte nicht und die Feindseligkeit in seiner Stimme war auch nicht echt, sondern purer Selbstschutz. Ich kannte Hertzog lange genug, um zu wissen, dass er sich den Verrat an Kim und mir niemals wirklich verziehen hatte. Wenn es bei Majestic überhaupt jemanden gab, der dem Begriff Freund nahe kam, dann war es Carl Hertzog gewesen - bis zu jenem Tag. Er hatte getan, was er glaubte tun zu müssen, aber ich wusste, wie sehr er unter diesem Vertrauensbruch litt.

»Sie sind der einzige Mensch in dieser Stadt, der uns helfen kann«, antwortete ich. »Vielleicht auf der ganzen Welt.«

»Unsinn!«, widersprach Hertzog. »Ich bin nur ein einfacher Arzt. Nicht einmal ein besonders guter, um ehrlich zu sein.«

»Aber Sie sind zufällig auch der einzige Spezialist für Ganglien«, erwiderte ich. »Und so ganz nebenbei auch der einzige Mensch in dieser Stadt, dem ich noch vertraue.«

Hertzog starrte mich überrascht an. »Mir?«

»Ja«, antwortete ich. In meiner Stimme war sehr viel mehr Überzeugung, als ich erwartet hatte, aber vielleicht begriff ich auch erst in diesem Moment, dass ich tatsächlich die Wahrheit sagte. Ich hatte mir jedes Wort, das ich Hertzog sagen wollte, sorgsam zurechtgelegt, und mir wurde erst jetzt klar, dass es eben nicht nur vorbereitete Argumente waren. »Sie haben damals nur getan, was Sie tun mussten, aber ich glaube, dass Sie es aus Überzeugung getan haben - weil Sie glaubten, dass es richtig war. Nicht aus blindem Gehorsam Bach und Majestic gegenüber. Sagen Sie mir, wenn ich mich irre.«

Hertzog schwieg. Er wirkte völlig verstört.

»Wir können niemandem mehr trauen«, fuhr ich fort, »nach dem, was wir mit Steel erlebt haben. Selbst wenn Bach ihn ausschaltet... Majestic ist nicht mehr sicher. Was, wenn Steel nicht der Einzige ist?«

»Das ist Wahnsinn«, murmelte Hertzog. »Steel und... und hive? Wenn das stimmt, dann... dann könnte es jeder sein. Sogar Bach. Sogar ich.«

»Nein«, sagte Kim leise.

»Nein?« Hertzog blinzelte. Seine Augen wurden schmal. »Woher wollen Sie das wissen?«

»Sie kann sie spüren«, antwortete ich an ihrer Stelle. »Auf diese Weise konnten wir Steel auch entkommen.«

»Sie können sie... spüren?«, krächzte Hertzog. »Sie meinen, Sie... Sie wissen, wenn sich ein Hive in Ihrer Nähe befindet?«

»Wenigstens war es bei Steel so«, sagte ich. »Ein weiterer Grund, aus dem wir nicht zu Bach gehen können.«

»Sie würden sie nie wiedersehen«, bestätigte Hertzog düster. Dann schüttelte er den Kopf. »Trotzdem - ist Ihnen eigentlich klar, wie unvorstellbar wertvoll diese Gabe ist?«

»Mir ist klar, wie unvorstellbar gefährlich Kim für die Hive ist«, antwortete ich betont. »Ich weiß nicht, ob Steel etwas von dieser... Gabe ahnt. Aber wenn es so ist, dann werden sie sie töten, ganz egal, was es sie kostet.«

»Wann hat es angefangen?«, fragte Hertzog. Etwas in seiner Stimme änderte sich, fast unmerklich, aber von einem Augenblick auf den anderen. Er klang immer noch nicht besonders freundlich oder gar begeistert von der Vorstellung, uns helfen zu sollen, aber ich spürte auch das professionelle Interesse, das meine Worte in ihm geweckt hatten. Ich war enttäuscht. Ich hätte mir gewünscht, dass Hertzog uns aus anderen Gründen half. Aber in unserer Situation stand es uns nicht an, wählerisch zu sein.

»Gleich nach... nach der ART«, antwortete Kim stockend.

»Und Sie haben nichts gesagt?« Nicht nur Hertzog sah Kim überrascht an. Auch ich hatte keine Ahnung gehabt. Kimberley hatte bis zu unserem ersten Zusammenstoß mit Steel nicht einmal eine Andeutung gemacht.

Sie schüttelte den Kopf und warf mir einen raschen, um Verzeihung bittenden Blick zu. »Ich dachte, es wäre normal«, antwortete sie.

»Das kann ich sogar verstehen«, sagte Hertzog. Er seufzte. »Nach dem, was Sie mitgemacht haben, würde sich niemand über ein paar Albträume wundern, nehme ich an.«

»Du hättest es mir trotzdem sagen sollen«, sagte ich vorwurfsvoll.

Kimberley ignorierte mich einfach und fuhr leise und an Hertzog gewandt fort: »Es war auch nicht sehr schlimm. Aber seit ein paar Tagen... wird es schlimmer.«

»Seit Sie auf Steel gestoßen sind.« Offensichtlich hatte Hertzog meiner Schilderung sehr aufmerksam gelauscht.

Kim nickte. »Ja. Vielleicht hat die Nähe eines anderen Ganglions... irgendetwas ausgelöst. Geweckt.«

»Etwas, das jetzt in Ihnen heranwächst und Zähne und Krakenarme hat und grüne Antennenaugen«, sagte Hertzog todernst. Dann schüttelte er heftig den Kopf. »Jetzt machen Sie sich mal nicht verrückt, Kleines. Ich werde sie erst einmal gründlich untersuchen - so weit ich das hier kann, und danach sehen wir weiter. Im Augenblick gibt es noch keinen Grund, in Panik zu geraten.« Er legte den Kopf schräg, betrachtete erst Kim und dann mich sehr aufmerksam - und auf eine Art und Weise, die mir klar machte, dass ihm das, was er sah, nicht sehr gefiel - dann seufzte er abermals und fuhr fort: »So, wie ihr beide ausseht, braucht ihr wahrscheinlich nichts anderes als vierundzwanzig Stunden Schlaf.«

»Nein!«, sagte Kim. »Ich...«

»Ich werde Ihnen etwas geben, nach dem Sie ganz bestimmt nicht träumen werden«, unterbrach sie Hertzog. »Aber Sie können natürlich auch warten, bis Sie ganz von selbst zusammenklappen. Ich schätze, es wird nur noch ein paar Stunden dauern.«

Kim schwieg. Ihr Blick flackerte und ihre Hand kroch ein kleines Stück auf meine zu und zog sich dann wieder zurück, ganz kurz, bevor sich unsere Finger wirklich berühren konnten. Ich konnte mir vorstellen, wie es in ihr aussah. Sie musste panische Angst davor haben einzuschlafen, aber das allein war es wahrscheinlich nicht. Hertzog hatte uns schon einmal an Bach verraten. Wenn sie das Schlafmittel nahm, das er ihr anbot, lieferte sie sich ihm vollends aus. Nicht, dass das in ihrem momentanen Zustand noch einen großen Unterschied gemacht hätte...

»Ich verstehe«, sagte Hertzog. Seine Stimme wurde um mehrere Nuancen kühler. Offensichtlich hatte er Kimberleys Schweigen vollkommen richtig gedeutet. »Also gut. Sie sind beide schließlich alt genug, um zu wissen, was Sie tun. Ich kann verstehen, dass Sie mir nicht mehr vertrauen.«

»Darum geht es nicht«, antwortete ich hastig. Ich war nie ein besonders guter Lügner gewesen und der Reaktion auf Hertzogs Gesicht nach zu schließen hatte sich daran auch jetzt nichts geändert. Trotzdem fuhr ich fort:

»Uns bleibt nicht genug Zeit, um uns gründlich auszuschlafen, Carl. Die Hive haben irgendetwas vor. Ich weiß nicht, was, aber es scheint sich um eine große Sache zu handeln. Wir müssen Kennedy warnen. Und ich muss ihm das Artefakt übergeben. Darf ich Ihr Telefon benutzen?«

»Gerne«, sagte Hertzog, schüttelte aber absurderweise gleichzeitig den Kopf. »Aber dann können Sie Frank Bach auch gleich persönlich anrufen.«

»Wieso?«

Hertzog verzog die Lippen zu einem vollkommen humorlosen Lächeln. Gleichzeitig stand er auf. »Wie lange sind Sie schon Majestic-Agent, John?«, fragte er. »Immer noch nicht lange genug, um zu wissen, dass Sie niemals einem Telefon trauen sollten? Nicht einmal, wenn es ins Büro des Generalstaatsanwalts führt?«

Gerade dann nicht, fügte ich in Gedanken hinzu. Gleichzeitig schalt ich mich selbst einen Narren. Schließlich hatte mir Bach höchstpersönlich diese eherne Regel beigebracht: Traue nichts und niemandem und schon lange keiner Technik. Allmählich machte sich die Übermüdung wohl auch bei mir bemerkbar. Ich begann Fehler zu machen.

»Außerdem würde es Ihnen nichts nutzen, John.« Hertzog trat an eine niedrige Kommode und begann mit fahrigen Bewegungen in einer Schublade zu kramen. Er wandte mir den Rücken zu, während er weitersprach. »Bobby Kennedy ist nicht in Washington. Ich weiß zufällig, dass er erst morgen Vormittag zurück erwartet wird. Ich an Ihrer Stelle würde versuchen, ihn morgen zu treffen. Und vorher niemanden anrufen.«

»Wieso?«, fragte ich.

»Die Beerdigung«, antwortete Hertzog. »Der Präsident wird morgen Nachmittag beigesetzt. Ich nehme doch an, dass sein Bruder anwesend sein wird... nebst einigen tausend anderen Gästen und ein paar Millionen Fernsehzuschauern in aller Welt. Nicht einmal Frank Bach dürfte es wagen, Sie vor so vielen Zeugen zu... eh... belästigen.«

Ich war davon nicht annähernd so überzeugt wie Hertzog, gab ihm im Stillen aber natürlich Recht; zumindest, was seinen Rat anging, mit niemandem Kontakt aufzunehmen. Jedenfalls mit niemandem aus Kennedys Stab.

Hertzog hörte auf, in seiner Schublade herumzuwühlen, drehte sich wieder zu uns herum und reichte Kimberley ein kleines Fläschchen mit Pillen. »Nehmen Sie wenigstens das«, sagte er. »Oder lassen Sie es bleiben.«

Kimberley griff zögernd nach dem Fläschchen, drehte es aber nur unschlüssig in den Händen. Hertzog sah sie einen Moment lang an, zuckte dann mit den Schultern und ging zu seinem Stuhl zurück, setzte sich aber nicht.

»Ihr solltet euch allmählich entscheiden«, sagte er. »Ich habe jetzt Dienst - und Bach warten zu lassen wäre nicht unbedingt das Klügste. Ich weiß allerdings noch nicht, wann ich zurückkommen werde. Ihr könnt hier bleiben oder gehen... wenn ihr euch fürs Bleiben entscheidet, werde ich Kimberley untersuchen, sobald ich wieder da bin.«

»Okay«, antwortete ich lahm und enttäuscht, denn eigentlich hatte ich mir etwas anderes vorgestellt. Es passte mir nicht, dass Hertzog jetzt sofort gehen musste - oder wollte. Bahnte sich da ein erneuter Verrat an oder war es wirklich so, dass er jetzt in Majestic erwartet wurde? Insgeheim hatte ich erwartet, dass er sich sofort um Kim kümmern würde und nicht noch etliche Stunden dazwischen schob.

»Freut mich, dass ihr das auch so seht«, brummte Hertzog, der über meinen Tonfall hinwegging, als ob er ihn gar nicht bemerkt hätte. »Und für was entscheidet ihr euch?«

Ich wechselte einen Blick mit Kim. In ihren Augen glaubte ich die gleiche Unentschlossenheit zu lesen, die auch ich empfand. »Ich bin... bin mir noch nicht ganz sicher.«

Hertzog runzelte die Stirn, verzichtete aber auch diesmal auf einen Kommentar. Er nahm seinen Mantel von der Garderobe und begann sich anzukleiden. »Machen Sie jetzt keinen Fehler, John«, sagte er, während er in seinen Mantel schlüpfte. »Kimberley als vollkommen erschöpft zu bezeichnen wäre reine Schmeichelei - und wenn Sie ehrlich in sich hineinspüren, werden Sie feststellen, dass es Ihnen keineswegs viel besser geht. Sie müssen zur Ruhe kommen, ein paar Stunden wenigstens. Wenn Sie darüber hinweggehen, folgt automatisch der Zusammenbruch.« Er setzte seinen Hut auf und warf mir nochmals einen prüfenden Blick zu. »Und davon hat doch keiner was, oder?«

Die Tür fiel so abrupt hinter ihm ins Schloss, dass ich automatisch zusammenzuckte. Hertzogs Aufbruch erschien mir etwas übereilt und tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Kim und ich sahen ihm nach und zumindest ich starrte die Tür hinter ihm noch endlose Sekunden weiter an. Ich fühlte mich hilflos und elend. Hilflos, weil ich einfach nicht mehr wusste, was ich tun sollte, und elend, weil Bach und die Hive mich mittlerweile so weit gebracht hatten, nicht einmal mehr meinen engsten Freunden vertrauen zu können - und Kim offensichtlich weit genug, nicht einmal mehr mir gänzlich zu vertrauen.

»Warum hast du es mir nie gesagt?«, fragte ich, während ich mich zu ihr umwandte.

»Was?«

»Du weißt ganz genau, wovon ich rede«, antwortete ich, ohne sie anzusehen und in schärferem Tonfall, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. »Deine Träume. Deine... Visionen. Ich dachte, es wäre alles vorbei.«

»Das war es auch«, antwortete Kim leise. Und nur, um sich mit ihrem nächsten Satz gleich selbst zu widersprechen. »Ich dachte, ich werde allein damit fertig. Und am Anfang war es auch so.«

Sie atmete hörbar ein, aber ich widerstand der Versuchung, mich zu ihr herumzudrehen und sie in die Arme zu schließen. Ich hörte ein leises Klappern und sah aus den Augenwinkeln, dass sie begonnen hatte, mit dem Tablettenfläschchen zu spielen, das Hertzog ihr gegeben hatte.

»Es geht mir wirklich schon ein wenig besser«, sagte sie nach einer Weile.

»Ach?«

»Ich meine es ernst.« Kimberley steckte das Fläschchen mit einer übertrieben heftigen Bewegung in die Manteltasche. »Ich meine... ich bin hundemüde und ich fühle mich, als wäre ich von einem Panzer überrollt worden, aber ich fühle mich trotzdem besser.«

Natürlich sagte sie das nur, um mich zu beruhigen und vielleicht auch sich selbst und ebenso natürlich musste sie wissen, dass ich ihr kein Wort glaubte. Irgendetwas zwischen uns schien plötzlich nicht mehr da zu sein; jenes unsichtbare Band aus absolutem Vertrauen, das unser Verhältnis immer zu etwas Besonderem gemacht hatte. Sie belog mich nur, um mich zu beruhigen. Diese Art kleiner Lügen und Ausflüchte hatte es natürlich auch schon früher zwischen uns hin und wieder einmal gegeben. Und trotzdem war es diesmal anders. Ich konnte das Gefühl nicht wirklich in Worte kleiden, aber es war da und es tat sehr weh.

»Also?«, fragte sie nach einer Weile. »Bleiben wir hier? Ich meine: Vertraust du Hertzog?«

Vertrauen... Das Wort hatte plötzlich einen sonderbaren, sehr bitteren Beigeschmack. Trotzdem nickte ich. »Er hat Recht«, sagte ich. »Wir brauchen ein wenig Ruhe. Ich beginne Fehler zu machen, weißt du, und das ist etwas, das wir uns nicht leisten können. Außerdem kann er dir vielleicht wirklich helfen.«

»Damit?« Kim zog das Fläschchen wieder aus der Tasche. Ich nahm es ihr aus den Fingern, warf einen Blick auf das Etikett und stellte erwartungsgemäß fest, dass mir die lateinische Beschriftung nichts sagte. Vermutlich nur ein harmloses Beruhigungsmittel.

»Auf jeden Fall wird es dir nicht schaden«, sagte ich, während ich es ihr zurückgab. Ich stand auf. »Wir haben keine Wahl, Kim. Irgendjemandem müssen wir vertrauen. Und ich wüsste nicht, wem - außer Carl. Zumindest, bis wir mit Kennedy gesprochen haben.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir während der Beerdigung auch nur auf hundert Fuß an ihn herankommen«, sagte Kim. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß nicht«, fuhr sie fort. Der Klang ihrer Stimme wurde eine Spur spröder. »Das alles gefällt mir überhaupt nicht, John. Ich traue deinem Doktor nicht. Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr komme ich zu der Überzeugung, dass wir nie hätten hierher kommen dürfen.«

Ich zuckte mit den Achseln. Nach den sich überschlagenden Ereignissen der letzten Tage kam mir Hertzogs Haus geradezu als ein sicherer Hort vor, als letzte ruhige Insel inmitten einer stürmischen See, die uns schon mehr als einmal fast untergespült hätte. Allein der Gedanke, eine Weile hier zu verweilen und Kraft zu schöpfen, hatte etwas Verlockendes. Wir konnten schließlich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf den Beinen bleiben. Wir brauchten beide etwas Ruhe. Und vielleicht brauchte ich noch etwas anderes: das Gefühl, ein Stück Verantwortung abgeben zu können. Ich hatte Hertzog einen Ball zugespielt und jetzt hing es einzig und allein von ihm ab, wie er ihn aufnahm.

»Wenn wir jedem misstrauen, laufen wir uns irgendwann tot«, sagte ich. Ich wollte Kim erklären, warum ich das Risiko für vertretbar hielt, Hertzog um Hilfe zu bitten. Aber meine Worte wären an ihrem Misstrauen sowieso abgeprallt und so ließ ich es lieber.

»Deswegen müssen wir uns doch nicht vorsätzlich in Gefahr begeben«, antwortete Kim ärgerlich.

»Aber das tun wir doch nicht«, beharrte ich. Gleichzeitig fühlte ich ein merkwürdiges Gefühl in mir aufsteigen; eine Unruhe, die weit über das hinausging, was mich in akuten Gefahrensituationen in den Klauen hielt. Hinter meiner Stirn formten sich Gedanken und Gefühle, die so absolut monströs waren, dass ein möglicher Verrat Hertzogs im Vergleich dazu geradezu harmlos erschien. Ich fühlte mich merkwürdig unwirklich, als wäre ich selbst nur ein Beobachter, der zufällig in dieses Dutzendhaus in einer besseren Gegend Washingtons geraten wäre; als würde mich alles nichts wirklich angehen und als wäre ich nur Zeuge einer Situation, auf die ich selber keinen Einfluss hätte.

Kims Augen wurden eine Spur dunkler. »Lass uns von hier verschwinden«, forderte sie mit rauer Stimme. »Je eher wir weg sind, umso besser.«

Ihre Worte erreichten mich nur wie durch Watte. Tage- ja wochenlang hatte mich der Gedanke immer wieder gestreift. Aber, jetzt, hier in diesem Haus, das in meiner Erinnerung so vollständig mit der Austreibung des Ganglions aus Kim verknüpft war, überfiel mich die Angst um sie mit unerbittlicher Kraft. Wenn ich ehrlich war, dann musste ich mir eingestehen, dass ich nicht wusste, wer sie war. Oder was. Vielleicht entglitt sie mir gerade jetzt, vielleicht hatte ich sie aber auch schon längst verloren. Und plötzlich wurde mir klar, dass die Frau, die ich liebte und mit der ich alles zu teilen bereit war, nicht mehr vollkommen sie selbst war. Möglicherweise kämpfte in ihr eine unvorstellbar fremde Macht mit ihrem Geist, mit ihrer Seele um die Vorherrschaft.

»Ich will hier weg, John«, sagte Kim. Ihre Stimme klang eiskalt, so als habe sie jedes Gefühl verloren. Auf unangenehme Weise fühlte ich mich an Steel erinnert, an diese unwirklich wirkende Szene seines Gesprächs mit Ruby im schummerigen Hinterzimmer des Carousel Clubs. »Ich habe Angst«, fuhr Kim im selben grauenvoll unbeteiligten Tonfall fort. »Hertzog wird mit der halben Mannschaft Majestics hier auftauchen. Wie kannst du nur so naiv sein zu glauben, dass Bachs Leibarzt uns mehr Loyalität entgegenbringt als seinem Herrn und Meister?«

»Ich...«, begann ich, brach dann aber verwirrt ab. Kims Befürchtungen klangen durchaus plausibel. Und doch überschlugen sich meine Gedanken. Wie sollte ich Kim begreiflich machen, dass ich selbst ihr nicht trauen konnte? Wie konnte ich ihr so etwas überhaupt begreifbar machen, ohne dass sie das Gefühl bekam, ja, bekommen musste, dass ich mich innerlich sehr weit von ihr entfernt hatte? Und das Schlimmste war: Was auch immer da in ihr am Werke war, was immer sie befähigte, die Nähe eines Hive zu spüren - es war nichts Menschliches. Was nun, wenn der fremde Teil in ihr sie dazu zwang, Hertzog auszuweichen? Denn schließlich war er der einzige Mensch, der dem fremden Etwas in ihr gefährlich werden konnte. War es wirklich gesundes Misstrauen, das aus Kim sprach, oder etwas gänzlich anderes?

»Was ist nun?«, fragte Kim ungeduldig. »Mit jeder Minute, die verstreicht, sinken unsere Chancen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich so fest wie möglich. Ich konnte aber nicht verhindern, dass meine Stimme fast unmerklich zitterte; jemand anderem würde das kaum auffallen, aber Kim konnte es nicht entgehen. Und dann wurde mir schlagartig klar, dass letztlich alles auf die Frage hinauslief, wem ich mehr traute: Kim oder Hertzog. »Hertzog ist schließlich die einzige Chance... um dir zu helfen...«, fuhr ich schließlich fort.

»Ach ja, ist er das?« Kim zog spöttisch die Augenbrauen nach oben. Ich kannte diesen Blick und ich fürchtete ihn; so reagierte sie nur, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte. »Ist dein Mister Allwissend vielleicht auch in der Lage, sich gegen Bach und Steel durchzusetzen? Kann Mister Supermann vielleicht mit einem Fingerschnippen die Ermordung Kennedys rückgängig machen?« Sie lachte kurz und hart auf »Mach dir doch nichts vor, John. Er gehört mit zu Bachs Häschern, zu den Leuten, die tief in Kennedys Tod verstrickt sind. Und er wird nichts tun, was ihn selbst ernsthaft in Gefahr bringt.«

»Aber er hat uns schon einmal...«

»Er hat schon einmal was? An mir rumgepfuscht und uns dann verraten?« Kim schüttelte energisch den Kopf. »Nicht mehr mit mir. Nicht jetzt. Mir geht es gut. Ich kann die Hive orten, und das hat uns schließlich schon mehr als einmal gerettet. Möchtest du, dass ich diese Fähigkeit verliere?«

Ja, das will ich! hätte ich ihr am liebsten entgegengeschrien. Ich hätte sie liebend gern gepackt und alles aus ihr herausgeschüttelt, was so fremd, so unvorstellbar anders war als alles, was ich an ihr liebte und schätzte. Doch da schwelte noch mehr unter der Oberfläche. Die Gefahr schweißte uns unbarmherzig zusammen und hatte verdeckt, wie weit wir uns in den letzten Tagen und Wochen innerlich voneinander entfernt hatten. Wir waren uns fremd geworden, vielleicht nicht allein nur durch dieses unvorstellbare Ding, den Rest dieses Aliens, der sich bei ihr eingenistet hatte. Aber das war das Schlimmste von allem. Weil ich nie sicher sein konnte, warum Kim etwas sagte und tat: aus freien Stücken oder als Sklavin einer ekelhaft fremden Intelligenz.

Meine Gedanken und Gefühle mussten wohl deutlich in meinem Gesicht abzulesen sein. Denn Kim starrte mich aus großen, runden Augen an, in denen sich erst Unverständnis und dann Abscheu spiegelten. »Das ist es also«, sagte sie leise. »Du traust mir nicht mehr! Du denkst, ich wäre eine von ihnen!«

»Nein, ich...«

»Erzähl mir nichts, John.« Sie hob die Hände in einer kraftlosen Geste und ließ sie dann wieder fallen. »So weit ist es also schon«, fuhr sie leise fort. »Du hast dich innerlich so weit von mir entfernt, dass dir selbst dieser... dieser widerliche Hertzog näher steht als ich.« Sie schien einen Augenblick nahe dran zu sein, in Tränen auszubrechen. Doch dann ging ein spürbarer Ruck durch ihren Körper und sie lächelte traurig. »Zeit für mich zu gehen. Wir sollten uns hier und jetzt trennen.«

»Wie... was meinst du damit?«, fragte ich fassungslos.

Ich hätte sonst was darum gegeben, in diesem einen endlosen Augenblick ihre Gedanken lesen zu können. Sie kam mir so erschreckend fremd vor. Da war überhaupt nichts mehr, was sie mit mir zu verbinden schien. Nichts. Keine Liebe, keine Sympathie, ja, nicht einmal so etwas wie Achtung und Respekt.

»Das, was ich sagte.« Sie straffte sich und schüttelte dann leicht den Kopf. »Wir sollten uns trennen. Für den Moment. Ich kann im Büro der First Lady mehr erreichen, als wenn wir beide zusammenbleiben.«

Einen Herzschlag lang war es totenstill. Es war eine Stille, die auf unangenehme Weise mehr war als nur das Fehlen von Geräuschen. Das Einzige, was ich wahrnahm, war das harte und zu schnelle Hämmern meines Herzens.

»Das ist doch nicht wirklich der Grund, oder?«, fragte ich zögernd. »Du willst einfach nicht mehr mit mir zusammen sein, ist es das?«

Nachdem ich den Satz ausgesprochen hatte, kam ich mir ausgesprochen dumm vor. Es wäre klüger gewesen, ihn ungesagt zu lassen, das war mir sofort klar. Das Letzte, was wir gebrauchen konnten, war ein Streit, der hier und jetzt unsere ganze Beziehung in Frage stellte.

»Ich weiß es nicht, John«, sagte Kim und diesmal schimmerten in ihren Augen Tränen. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, dass ich raus muss aus diesem Albtraum. Es muss ein Ende haben. Ich kann nicht mehr.« Sie schluchzte auf, riss sich aber sofort wieder zusammen und versuchte so etwas wie ein Lächeln. Es wurde aber nur eine groteske Grimasse daraus.

»Und was schlägst du vor?«, fragte ich so beherrscht wie möglich. Alles in mir verlangte danach, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten, wie man ein kleines Kind tröstet, das schlecht geträumt hat. Auf eine widerliche Art und Weise musste ich gleichzeitig daran denken, wie sich Steel Ruby genähert hatte, um ein ekelhaftes, zuckendes, tentakelbewehrtes kleines Ungeheuer von seinem Mund in den Rubys wandern zu lassen. Ich weiß nicht, warum ich einfach stock und steif stehen blieb; vielleicht war es diese Erinnerung, vielleicht aber auch einfach nur Sensibilität, die mich spüren ließ, dass Kim in diesem Moment jede Berührung zuwider sein würde.

»Wir haben doch keine Chance, an Robert Kennedy auf dem Friedhof heranzukommen«, sagte Kim. »Wir müssen auf irgendeine andere Art Kontakt mit ihm aufnehmen.« Das Wort wir in diesem Satz gefiel mir nicht. »Vielleicht gelingt es mir.«

»Und wie willst du das anstellen?«, fragte ich stirnrunzelnd.

»Über das Büro der First Lady«, sagte Kim rasch. »Ich habe immer noch meinen Ausweis. Mit ein bisschen Glück...«

»... wirst du nur verhaftet, sobald du dich dem Capitol näherst«, fiel ich ihr ins Wort. »Und mit ein bisschen weniger Glück erschießen sie dich gleich.« Ich machte eine heftige Handbewegung, als sie widersprechen wollte. »Das kommt nicht in Frage.«

»Ach nein?«, fragte Kim trotzig. »Hast du etwa eine bessere Idee?«

Diese Frage war im höchsten Maße unfair. Streng genommen hatte ich in den letzten Tagen nur noch spontan gehandelt. An Ideen hatte es mir dabei zwar nicht gemangelt, aber das war alles nur Stümperei gewesen. Wir waren auf der Flucht, gejagt wie Wild und wohl kaum fähig, in Ruhe einen genialen Plan auszutüfteln. Die einzige Chance, die wir im Augenblick hatten, hieß Robert Kennedy und die wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.

»Also gut«, sagte ich schließlich. »Schließen wir einen Kompromiss.« Ich zögerte einen Moment, denn ich war absolut unsicher, ob uns das, was ich vorschlagen wollte, wirklich weiterbrachte.

»Und wie soll dieser Kompromiss aussehen?«, fragte Kim in einem Tonfall, der alles bedeuten konnte, nur nicht, dass sie es mir leicht machen würde.

»Er sieht so aus, dass wir dieses gastliche Haus sofort verlassen«, fuhr ich fort. »Aber gemeinsam.« Mir war während des Gesprächs klar geworden, dass wir uns selber um Kopf und Kragen spielen würden, wenn wir nicht wenigstens die Aussicht auf etwas Ruhe und Geborgenheit hatten. Wir glichen zwei bis aufs äußerste gespannten Federn - ein Zustand, der sich nur mit etwas Normalität vernünftig entspannen ließ. »Doch zuvor werde ich noch ein Telefonat führen. Wir brauchen einen sicheren Platz, an dem wir unsere Wunden lecken können, wenn diese Sache mit dem Artefakt ausgestanden ist.«

»Wen willst du anrufen?«, fragte Kim stirnrunzelnd.

»Meine Familie«, antwortete ich rasch. »Sie werden mitbekommen haben, dass man uns wie wilde Tiere hetzt. Ich will sie nicht in die Sache hineinziehen, aber wir brauchen ihre Hilfe, um etwas zur Ruhe zu kommen. Doch bevor wir das tun können, werden wir sofort unseren letzten Trumpf ausspielen, um mit Robert Kennedy Kontakt aufzunehmen.«

»Unseren letzten Trumpf?«, echote Kim. »Nun komm schon, John, mach es nicht so spannend.«

»Also gut«, sagte ich. »Unser letzter Trumpf heißt Nelson T. Bennet. Wir werden ihm jetzt sofort einen Besuch abstatten. Es wäre doch gelacht, wenn er uns nicht zu Kennedy bringen könnte.«

»Wer, zum Teufel, ist Nelson T. Bennet?«, fragte Kim argwöhnisch.

»Ein schwatzhafter Autoverkäufer. Und vielleicht der einzige Mann, der uns im Moment wirklich weiterhelfen kann.« Ich hatte das Bild des rotweinfarbenen Chevrolets, den mir dieses halbe Hemd im Cowboydress fast aufgeschwatzt hatte, so nah vor Augen, als hätte ich den Wagen erst gestern gesehen. Und doch schien mir der Besuch bei dem Gebrauchtwagenhändler eine Ewigkeit her zu sein. So als gehöre er zu einer längst untergegangenen Epoche meines Lebens, zu der es kein Zurück mehr gab. Und genau genommen stimmte das ja auch.


Wir hatten Glück. Hertzog hatte noch seinen alten Dodge in der Garage stehen, ein mindestens zwanzig Jahre altes Ungetüm, das mich an die frühen Filme von James Cagney in seiner typischen Rolle als unerbittlicher und doch innerlich zerrissener Gangsterboss erinnerte. Der Doktor hatte mir gegenüber einmal erwähnt, dass er sich von seinem ersten Wagen bislang nicht hatte trennen können. Eine Sentimentalität, die einem Mitarbeiter Majestics seltsam anstand. Aber schließlich nur ein weiterer Persönlichkeitszug, der ihn etwas menschlicher machte als die Marionetten Bachs, die auch vor einem Mord nicht zurückschreckten.

Ich rechnete damit, dass wir für den Weg zum Car Paradise gut zwanzig Minuten brauchen würden. Es wurde eine kleine Ewigkeit daraus. Der Dodge lief stur und unbeirrt durch den Regen, eher wie ein LKW als wie einer der relativ komfortablen Straßenkreuzer, die Anfang der 60er Jahre die Straßen zu dominieren begannen. Ein leichter Regen ließ die Fahrbahn hinter einem Vorhang glitzernder Tröpfchen verschwinden. Natürlich hatte dieses Prachtstück aus den frühen 40er Jahren keine Waschanlage für die Frontscheibe und so blieb mir nichts anderes übrig, als mit zugekniffenen Augen durch die zerkratzte Windschutzscheibe ins düstere Grau hinauszustarren und zu hoffen, dass ich trotz meiner Müdigkeit keine Brems- oder Ampellichter übersah.

»Es tropft«, sagte Kimberley, nachdem wir schon mindestens fünf Minuten wortlos durch die Nacht gefahren waren. »Das Dach ist undicht.«

»Damit werden wir wohl leben müssen«, antwortete ich müde. »Immerhin war es doch nett von Carl, dass er den Wagen aufgetankt und mit Zündschlüssel im Schloss in seiner Garage stehen hatte. Wir hätten ja wohl kaum per Anhalter fahren können.«

»Nein, aber wir hätten ein Taxi nehmen können«, sagte Kimberley. »Wir hätten uns doch etwas Geld von deinem Doktor ausleihen können...«

»Die Spur eines Taxis lässt sich leichter verfolgen als die eines Oldtimers«, sagte ich gereizt. Ich hatte jetzt absolut keine Lust auf eine Wir-hätten-doch-können-Diskussion. Und mir war auch nicht danach zu erklären, warum ich das ungefragte Ausleihen eines Autos in der jetzigen Situation für legitim hielt, nicht aber das Durchwühlen von Carls persönlichen Sachen auf der Suche nach ein paar Dollar. Dass Kimberley überhaupt auf eine solche Idee kam, beunruhigte mich. Es passte so gar nicht zu ihrem Charakter.

»Da vorne müssen wir, glaube ich, links«, unterbrach sie meine düsteren Gedanken. Sie hatte immer schon über einen guten Orientierungssinn verfügt und kannte sich in Washington fast besser aus als ich.

»Danke, ich kenne den Weg«, sagte ich schroff. Dabei stimmte das nicht ganz. Die Abzweigung hätte ich vermutlich übersehen. Denn in Gedanken war ich immer noch bei dem kurzen Telefonat mit Lucy, meiner Schwester, die ich aus einer Telefonzelle heraus nur drei Blocks von Hertzogs Haus entfernt angerufen hatte. Es war ein merkwürdiges Gespräch gewesen. Als meine Schwester begriffen hatte, wen sie da am Telefon hatte, war ihre an sich ruhige Stimme geradezu umgekippt. »John!«, hatte sie geschrien. »Was zur Hölle ist los? Wo bist du? Wie geht es dir? Was macht Kimberley?« Nachdem ich ihren Wortschwall einigermaßen hatte stoppen können, hatte ich alles versucht, um sie zu beruhigen und ihr gleichzeitig anzudeuten, dass wir in einigen Tagen Hilfe gebrauchen könnten. »Selbstverständlich. Was können wir tun?«, hatte sie gesagt und ich schäme mich nicht, dass meine Augen bei dieser Antwort feucht geworden waren. Ein Stück Kindheitsgeborgenheit schien in diesem Moment durch die Telefonleitung zu kriechen und die Erinnerung an wilde Tage stieg in mir hoch, an gemeinsam durchgestandene Jugendstreiche, an das Vertrauen zwischen uns vier Geschwistern, an dieses unendlich schöne Gefühl zu wissen, dass die anderen immer zu mir halten würden, egal, was geschah. Wir hatten uns vielleicht aus den Augen verloren, und doch war da noch immer dieses alte Gefühl der Verbundenheit, das uns durch unsere Kindheit getragen hatte - und letztlich auch das Gefühl, dass ich in meine Beziehung zu Kimberley mit hatte einbringen können.

Ich setzte den Blinker und bog vorsichtig in die Hauptstraße ein. Das Gespräch mit Lucy hat mir Mut gemacht und doch gleichzeitig verwirrt. Ich hatte ihr kurz und knapp erzählt, was wir vorhatten und dass ich mich nach unserer Stippvisite im Car Paradise wieder bei ihr melden würde. Sie hatte mir im Gegenzug berichtet, dass mein Bruder Ray nach Washington gefahren sei, um mir zu helfen. Das verstand ich nicht. Was konnte Ray dazu bewogen haben, sein alltägliches behütetes Leben aufzugeben, nur um aufs Geratewohl nach Washington zu kommen? Da musste mehr vorgefallen sein als nur eine Familiendiskussion, wie man einem Bruder helfen konnte.

Doch ich kam nicht dazu, den Gedankengang weiterzuverfolgen. Bei einem Blick in den Rückspiegel fiel mir ein grelles Scheinwerferpaar auf, das zuerst auf uns zuschoss und dann wieder zurückfiel. Ich verfluchte die Konstrukteure dieser alten Gurken, die den Wagen nur Rückfenster spendiert hatten, die kaum größer waren als der Sehschlitz eines Panzers. Ich konnte im Rückspiegel einfach nicht genug erkennen, um beurteilen zu können, ob wir verfolgt wurden oder nicht.

»Pass auf«, schrie Kimberley plötzlich. »Du rammst noch den Lastwagen.«

Sie hatte Recht. Ich trat auf die Bremse und der Wagen schlitterte rasiermesserscharf an einem alten, qualmenden Truck vorbei. Einen fürchterlichen Moment verlor ich die Kontrolle über den Wagen, kurbelte wie wild am Lenkrad. Doch dann fing sich der Dodge wieder und ich konnte ihn problemlos an dem Truck vorbeilenken. Als wir auf der Höhe des Führerhauses waren, drückte der Fahrer auf die Hupe. Das brutale Dröhnen ließ mich schmerzhaft zusammenzucken, aber das war ja wahrscheinlich genau das, was der Fahrer beabsichtigt hatte.

»Idiot«, murmelte ich. Dabei meinte ich aber mehr mich als den Truck-Fahrer. Denn ein rascher Blick in den Rückspiegel hatte mich überzeugt, dass außer dem Lastwagen im Augenblick niemand hinter uns war. Wegen eines Hirngespinsts hätte ich beinahe einen Unfall gebaut. Langsam begann ich eine Art Verfolgungswahn zu entwickeln, der letztlich genauso gefährlich sein konnte wie die Gefahr, in der ich und Kim tatsächlich schwebten.

Kimberley verzichtete darauf, mein ungeschicktes Fahrmanöver zu kommentieren. Das war auch besser so. Denn ich brauchte meine ganze Konzentration, um nicht von der Fahrbahn abzukommen. Die huschenden Lichtreflexe und das tiefe Brummen des Motors hatten etwas Einlullendes und ich musste mich mehr als einmal zusammenreißen, um nicht der Trägheit meiner Augenlider nachzugeben. Die Ganglien, Bach, die Ermordung Kennedys und auch dieser merkwürdig knappe Halbsatz Lucys über die kurz entschlossene Reise meines Bruders Ray nach Washington, bevor mein Kleingeld ausgegangen war und ich Genaueres erfahren konnte - all das schrumpfte zu einem unbedeutenden Etwas zusammen angesichts der Erschöpfung, die mich erbarmungslos darauf aufmerksam machte, dass ich am Rande meiner Kraft war.

Obwohl ich erst einmal im Car Paradise gewesen war und mich mehr im Halbschlaf als im Wachzustand befand, funktionierte mein Orientierungssinn erstaunlich gut. Mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit steuerte ich durch die Straßen Washingtons, die heute weniger belebt waren als gewöhnlich. Das lag wahrscheinlich nicht nur an dem unangenehmen Nieselregen, sondern auch an der Tatsache, dass sich das wichtigste Machtzentrum der westlichen Welt seit der brutalen Ermordung Kennedys noch immer nicht von seinem Schock erholt hatte.

Schließlich erreichten wir die Seitenstraße, in der sich das große, aber heruntergekommene Gebrauchtwagengelände befand. Ein paar bunte Glühbirnenketten tauchten den Hof in einen undefinierbaren Lichterglanz, der vom mühsam aufpolierten Lack Dutzender Gebrauchtwagen zweifelhaften Zustands widergespiegelt wurde. Ein blinkender Lichtpfeil mit dem geschwungenen Schriftzug Car Paradise zeigte auf das lang gestreckte, flache Gebäude, das gleichzeitig als Werkstatt, Büro und Verkaufsraum diente. Das alles machte einen so tristen Eindruck, dass ich unter anderen Voraussetzungen nie meinen Fuß auf dieses Gelände gesetzt hätte. Doch so steuerte ich den Dodge in Richtung des blinkenden Lichtpfeils an der traurigen Parade der Rostlauben vorbei und hielt direkt neben der Eingangstür an.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Kimberley besorgt.

»Aber ja«, antwortete ich mit einer Zuversicht in der Stimme, die ich so nicht empfand. »Hier habe ich mich vor ein paar Wochen mit Robert Kennedy getroffen. Und Nelson T. Bennet hat den Kontakt hergestellt. Wenn er hier ist, wird er uns auch weiterhelfen können.«

»Ich weiß nicht...«, begann Kimberley. Ihre Stimme klang mit einemmal sehr besorgt. Und das auf eine Art, die mich mit einem Schlag hellhörig machte.

»Ja?«, fragte ich als sie nicht weitersprach. Die bunt blinkende Lichtreklame zerriss ihr Gesicht in groteske Momentaufnahmen äußerster Angespanntheit. Irgendetwas hatte sie alarmiert. Der Schleier der Müdigkeit, der mich die Fahrt über gefangen gehalten hatte, war mit einemmal wie weggeblasen.

»Ich... ich bin mir nicht sicher«, sagte sie.

Sie kam nicht dazu, ihren Gedankengang zu beenden. Die nur rund zehn Yard von uns entfernte Tür zum Verkaufsraum des Car Paradise wurde aufgerissen und ein dünnes Kerlchen in Cowboyhut, Westernstiefeln und einem braunen Fransenlederanzug stürmte heraus. Das war ganz eindeutig Nelson T. Bennet. Die Selbstverständlichkeit, mit der er den Cowboy spielte, hätte mir zu anderer Zeit ein Schmunzeln entlockt. Doch so starrte ich ihn mit plötzlichem Misstrauen an. Meine Idee, über diesen eigentümlichen Autofriedhof Kontakt zum Bruder des ermordeten Präsidenten herzustellen, kam mir mit einemmal absurd vor.

Bennets Kopf ruckte zu uns herum und einen kurzen Augenblick trafen sich unsere Blicke, noch nicht einmal so lang, wie ein Aufblitzen der Leuchtreklame dauerte. Doch es war offensichtlich lang genug, dass er mich erkannte: Seine Augen öffneten sich schreckensgeweitet und das professionelle Lächeln wich schlagartig aus seinem Gesicht.

Beim nächsten Aufblitzen der Leuchtreklame war er schon auf zwei Schritte an unseren Wagen herangekommen. Ich legte automatisch den Rückwärtsgang ein, bereit, bei jeder verdächtigen Bewegung sofort Vollgas zu geben. Es war etwas in Bennets Blick gewesen, das mich erschreckt hatte. Es war nicht unbedingt der Blick eines Menschen, der hive war. Aber es war in jedem Fall der Blick eines Menschen, der bis ins Mark getroffen war.

»Sie sind hier«, keuchte Kimberley. »Es sind Hive hier!«

»Bennet?«, fragte ich rasch.

Kimberley zuckte mit dem Kopf, kaum mehr als ein angedeutetes Kopfschütteln, dann aber nickte sie. »Ich weiß es nicht...«, stammelte sie hilflos.

Da war der schmalschultrige Cowboy mit dem viel zu großen Hut auch schon heran. Er riss ohne zu zögern an der Türklinke. Aber ich hatte sie nicht entriegelt und dachte auch gar nicht daran, das jetzt nachzuholen. Ganz im Gegenteil: Mein Fuß spielte mit der Kupplung und der Wagen machte einen kleinen, grotesk anmutenden Satz nach hinten, bevor er wieder zur Ruhe kam.

»Mister Loengard, um Gottes Willen!«, rief Bennet, der der Bewegung des Wagens gefolgt war. Seine Stimme klang durch die geschlossene Fensterscheibe seltsam dumpf und dunkel. »Was wollen Sie hier?«

Sie sind hier, echote Kims Warnung durch meine Gedanken und das konnte alles oder auch nichts bedeuten. Fast erwartete ich, dass Bennet mit der übermenschlichen Kraft der Hive die Autotür mit einem Ruck aus den Angeln reißen und sich mit der nächsten Bewegung auf mich stürzen würde. Aber was, wenn er ungefährlich war, wenn er nach wie vor unsere einzige Chance war, direkt an Robert Kennedy heranzukommen?

»Gehen Sie von der Tür weg«, schrie ich Bennet zu.

Der vorgebliche Gebrauchtwagenverkäufer zuckte zusammen, als sei er geschlagen worden, wich dann aber gehorsam zwei, drei Schritte zurück. Im Licht der rotgrünblauen Glühlampen wirkte sein Gesicht wie eine groteske Karikatur eines Rodeoreiters, der sich zum Clown geschminkt hatte. Bei jedem Aufflackern des grellhellen Leuchtpfeils schlossen sich seine Augen zu einem schmalen Spalt. Trotzdem erkannte ich in ihnen die gleiche Art Angst und Unsicherheit, die auch mich ergriffen hatte.

Ohne den Gang auszukuppeln, kurbelte ich das Fenster einen Spalt runter. »Ich muss unbedingt Mister Robert sprechen«, sagte ich ungeduldig.

»Das geht jetzt nicht«, antwortete Bennet ungehalten. Sein rechtes Augenlid begann unkontrolliert zu zucken. »Mister Robert ist wegen dringender Familienangelegenheiten verhindert. Und Sie sollten sehen, dass Sie von hier verschwinden. Wir haben geschlossen!«

»Kommen Sie, Bennet«, sagte ich nicht weniger gereizt als er. »Es ist verdammt wichtig. Es geht ja gerade um diese... Familienangelegenheiten. Mister Robert wird es Ihnen sehr übel nehmen, wenn Sie ihn jetzt nicht unterrichten.«

»Das geht nicht.« Bennets rechte Hand kroch in die Tasche seines übertrieben wirkenden Fransenanzugs. Ich spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach. Wenn der falsche Cowboy ebenso schnell mit der Waffe war wie seine Vorbilder in den Kinowestern, würde mich das Blech der Autotür nicht schützen. Nicht auf diese geringe Entfernung. »Wir haben...«

Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Hinter ihm wurde die Tür aufgerissen. Ein wahrer Hüne stürmte hervor und war mit ein paar wenigen Schritten bei Bennet.

»Was ist los?«, herrschte er den Autoverkäufer mit barscher Stimme an. Als Bennets Kopf herumfuhr, spürte ich, wie sich alles in mir verkrampfte. Der Mann war schnell und bewegte sich trotz seiner Größe mit einer katzengleichen Eleganz. Seine Kleidung wirkte neben der des Autoverkäufers, als käme er aus einer anderen Welt: dunkler Anzug mit hellem Hemd und unauffälliger Krawatte. Dazu ein schwarzer Hut mit grauem Hutband und ein Gesichtsausdruck, der zu glatt wirkte, um eine Emotion zu verraten. Der Mann sah aus wie Elliot Ness in der gleichnamigen Krimireihe, wenn er an der Spitze seiner Unbestechlichen das Lager eines Alkoholhändlers stürmte, um dem mittlerweile längst untergegangenen Gesetz der Prohibition Geltung zu verschaffen. Heute gehörte dieser Schlag Menschen zum FBI oder einer ähnlich staatlichen Organisation. Wenn ich Glück hatte, stand der Hüne auf der Gehaltsliste des Justizministers. Wenn nicht, sollte ich machen, dass ich so schnell wie möglich hier wegkam.

»Eh, nichts«, hörte ich Bennet sagen. Er drehte sich einfach um und ging mit langsamen, fast tänzelnden Bewegungen zum Eingang des angeblichen Gebrauchtwagenladens zurück. Erst da begriff ich. Der Hüne hatte uns nicht gesehen; ihm war der fremde Wagen mit den beiden Personen, die im ganzen Land wie Schwerverbrecher gesucht wurden, inmitten der chromglänzenden Gebrauchtwagen offensichtlich nicht aufgefallen. Das war mehr als Glück. Wahrscheinlich hatte ihn die Leuchtreklame, als er auf Bennet zustürmte, so geblendet, dass er unseren Dodge nur als undeutlichen Schemen erkennen konnte.

Bennet hatte die Tür erreicht, streckte die Hand nach der Klinke aus und drehte sich noch einmal um, als ob er etwas sagen wollte. Doch was auch immer er wollte: Es blieb bei der Absicht. Der Hüne zog mit einer fast lässigen Bewegung eine schwarz schimmernde Pistole hervor und erschoss Bennet.

Es war nur ein Schuss und er war aus der Hüfte abgefeuert worden und doch war er absolut tödlich. Bennet wurde mitten im Gesicht getroffen. Das Fauchen der Kugel, der Knall, Bennets rückwärts stolpernde Bewegung, seine Arme, die noch ein-, zweimal in der Luft ruderten, als ob er verzweifelt Halt suchte, die Blutwolke, die von seinem Gesicht aufstob, der grelle Finger der Leuchtreklame, die seinen fassungslosen Blick wie das Blitzlicht einer Kamera der Ewigkeit entreißen wollte - all das wirkte wie in Zeitlupe auf mich, wie eine grotesk verlangsamte Aufnahme eines grausigen, unglaublichen Vorgangs.

Mein Fuß rutschte im gleichen Moment von der Kupplung, als der Hüne mit einer eleganten Bewegung herumfuhr. Mein rechter Fuß trat ohne mein bewusstes Zutun das Gaspedal bis aufs Bodenblech durch. Die Räder des schweren Dodge wirbelten Staub und kleine Steine auf, ehe sie fassten und den Wagen schwerfällig nach hinten schoben. Langsam, viel zu langsam setzte sich der alte Wagen in Bewegung. In das Dröhnen des Motors mischten sich Kims Schrei und das harte Peitschen eines Schusses, den der Hüne direkt auf mich abgab.

Ein Schauer scharfkantiger Glassplitter regnete auf mich herab. Die Seitenscheibe des Dodge bestand natürlich noch nicht aus Sicherheitsglas, wie das heute üblich ist. Ein paar Splitter rissen meine Gesichtshaut auf und dünne Blutrinnsale wie nach einer arg missglückten Nassrasur rannen meine linke Wange hinab. In diesem Moment bemerkte ich es nicht einmal. Blinde Panik trieb mich an, weg von diesem Mann, der zweifelsohne Hive war und vielleicht sogar gefährlicher als Steel.

Der Mann machte keine Anstalten uns zu folgen. Er hatte die klassische Schussstellung eingenommen; sicherer Stand mit leicht vorgebeugtem Oberkörper und die linke Hand als Unterstützung der rechten Hand, die Hand mit der Pistole, die uns töten sollte oder zumindest kampfunfähig machen, damit er uns seinen Auftraggebern ausliefern konnte. In mir war kein Platz für einen klaren Gedanken und meine Beobachtung nichts mehr als eine Momentaufnahme, die mich rein instinktiv handeln ließ. Ich riss das Steuer wild zur Seite gerade in dem Augenblick, als er ein zweites Mal abdrückte. Der zweite Schuss prallte irgendwo über mir in das kalte Metall des Dodge. Die dritte Kugel fraß sich dicht neben meinem linken Ohr ins Wageninnere.

Dann reagierte der Dodge endlich. Er schob sich über die Hinterachse herum wie ein Elefant, der schwerfällig, aber kraftvoll die Richtung wechselt um dem Angriff eines Tigers zu entgehen. Dummerweise brachte er damit Kimberley ins Schussfeld; das war etwas, was ich in der Panik komplett übersehen hatte. Doch dann geschah etwas Seltsames: Der Hüne riss die Pistole hoch, schüttelte verwirrt den Kopf, legte dann noch einmal an und zielte nach unten, auf die Reifen. Offensichtlich wollte er Kim nicht treffen.

Ich zwang die Vorderräder mit einer kräftigen Bewegung in die Geradeausrichtung. Der Dodge schwankte wie ein Betrunkener, der sein Ziel aus den Augen verloren hatte. Das war unsere Rettung. Denn so wurde ihm auch das Glück des Betrunkenen zuteil: Der vierte Schuss des Hünen stob als Querschläger davon, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten.

Erst dann packten die Räder richtig und katapultierten den Wagen voran. Keine Sekunde zu früh. Die Heckscheibe barst nach einem Treffer und eine Sekunde später grub sich eine Kugel neben mir in das altmodische Armaturenbrett aus der Sorte Nussbaumholz, das jahrzehntelang und mit wachsender Begeisterung von der Automobilindustrie in Mittelklassewagen verbaut worden war.

Doch der Hüne blieb nicht alleine. Eine schmale Gestalt schoss aus den blitzblank polierten Schrottkisten hervor und hielt geradewegs auf uns zu; einen aberwitzigen Augenblick glaubte ich, der Mann wollte unseren Dodge mit purer Körperkraft aufhalten, so zielstrebig rannte er auf uns zu, mit weit ausgestreckten Armen und etwas Unverständliches brüllend.

Ich riss abermals das Steuer herum und der Dodge schlitterte auf einen Chevy zu, touchierte die chromausladende Kühlerschnauze. Metall schrammte auf Metall und irgendetwas versetzte dem Wagen am Heck einen heftigen Stoß. Die hintere rechte Tür wurde durch den Ruck des Aufpralls regelrecht aufgesprengt, flatterte einen irren Moment wie ein Blatt im Wind und knallte bei der nächsten Lenkbewegung wieder in die Scharniere. Sekundenlang kämpfte ich mit dem Wagen, der zu einem bizarren Eigenleben erwacht zu sein schien.

Doch damit nicht genug. Die fürchterliche Zeitspanne, in der die Tür aufgestanden hatte und sich der Wagen zu verkeilen drohte, hatte dem zweiten Angreifer genügt, um mit einem Satz ins Auto zu hechten; ich sah einen dunklen Schemen im Rückspiegel, der mir kurzfristig die Sicht nach hinten versperrte und dann auf dem Rücksitz untertauchte. Es waren fürchterliche Sekunden. Ich drohte den Überblick zu verlieren, ähnlich einer Situation, wie ich sie beim Überholen eines Trucks bei einem Platzregen mehr als einmal erlebt hatte, wenn die von den Rädern hochgewirbelte Gischt über das Dach meines geliebten Chevy hinweggetobt war und mir fast komplett die Sicht genommen hatte. Doch diesmal war es nicht nur eine Gefahr, mit der ich konfrontiert war, sondern zwei Gegner, von denen der gefährlichere ohne Zweifel derjenige war, der mit seinem Kamikaze-Einsatz unseren Wagen geentert hatte.

»Gib endlich Gas!«, schrie eine Stimme hinter mir.

Es war vollkommene Fassungslosigkeit, die über mir zusammenschlug. Die Gestalt hinter mir hatte sich wieder aufgerichtet, und jetzt sah ich ihr, nein, sein Gesicht so deutlich und klar im Rückspiegel, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn zu erkennen: Der Schemen hatte die Silhouette meines Bruders Ray und es war ganz eindeutig seine Stimme. Aber ich konnte nicht begreifen, wie er hierhin kam, hier in diese Gegend und noch dazu in unseren Wagen. Es war schlicht und einfach unmöglich!

Doch dann waren wir frei und ich musste mich vollkommen aufs Fahren konzentrieren; der Wagen schoss schlitternd und wieder meinen Lenkbewegungen gehorchend direkt auf die Straße vor uns zu. Mit quietschenden Reifen bog ich in die menschenleere Straße ein, kämpfte ein paar Augenblicke mit dem Heck des Wagens, das in eine andere Richtung als das Vorderteil wollte. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen konnten, war ein Unfall, der uns hier festnagelte und dem Hünen doch noch die Gelegenheit gab zu beenden, was mit der Ermordung des lächerlichen Autoverkäufer-Cowboys seinen blutigen Auftakt genommen hatte.

»Nur weg hier!«, schrie Kimberley. »Sie werden uns nicht so einfach entkommen lassen!«

Sie hatte Recht. Es standen genug Autos auf dem Gelände vom Car Paradise, um eine ganze Armee von Verfolgern mit Fahrzeugen zu versorgen. Und mit Carls mittlerweile bereits angeschlagenem Dodge waren wir wohl kaum in der Lage, einen Vorsprung herauszuholen. Ich warf einen verzweifelten Blick in den Rückspiegel, aber dort war nichts weiter zu erkennen als die kalte Nacht, die sich jetzt ungehindert ins Wageninnere fraß. Ray war wieder verschwunden wie eine Fata Morgana, die sich im wahrsten Sinne des Wortes in warmer Luft auflöst. Entweder war ich im Begriff, vollkommen verrückt zu werden, oder hier geschah etwas, was einer ausführlichen Erklärung bedurfte.

Ich musste meine Aufmerksamkeit wieder der Straße zuwenden. Der Nieselregen begann sich zu einem Unwetter auszuwachsen und der Regen prasselte hart und schwer wie Gewehrfeuer auf den Wagen. Obwohl ich durch den dichten Schleier der Wasserkanonade kaum die Straße erkennen konnte, ließ ich die Scheinwerfer ausgeschaltet. Vielleicht war das die einzige Chance, unseren Verfolgern zu entkommen.

Und dann, wie ein Springteufel, der von einer Feder getrieben hochschnellt, tauchte Ray wieder auf: als schwarzer Schatten im Rückspiegel, der genau wusste, was er wollte. »Dort«, rief er. »Fahr dort in die Einfahrt.«

Ich reagierte fast zu spät. Die Einfahrt, auf die er mich aufmerksam gemacht hatte, war nichts als ein dunkler Schlund wie der eines Wals, der mit einemmal ein ganzes Fischerboot verschlucken konnte. Ich trat so hart auf die Bremse, dass das Heck des Dodge wieder ausbrach. Aber erneut ließ sich der alte Wagen brav in die Spur und anschließend in die Abzweigung zwingen. Mit einem letzten Satz schoss er auf eine kiesbedeckte Auffahrt, die in einer Kurve auf einen Schuppen zuführte; viel zu schnell, um noch rechtzeitig zum Stehen zu kommen. Ich kam mir vor wie der Pilot eines Flugzeugs, der mit zu hoher Geschwindigkeit und zu spät auf der Landebahn aufgesetzt hatte und nun verzweifelt darum kämpfte, die Maschine vor der letzten Begrenzung zum Halten zu bringen. Die Reifen des Dodge quietschten protestierend und der nasse Kies spritzte links und rechts davon. Mit einem üblen Geräusch kam der Wagen schließlich zum Stillstand, kaum einen Meter von dem dunklen Schatten des Schuppens entfernt.

Der Motor erstarb mit einem Stottern und ein paar Sekunden lang war nichts weiter zu hören als das harte Trommeln des Regens auf dem zwanzig Jahre alten Blech des Dodge. Doch dann mischte sich in dieses Geräusch etwas, auf das ich schon die ganze Zeit insgeheim gewartet hatte: das typische dumpfe Brummen langhubiger Straßenkreuzer, die ungesund hoch gedreht wurden. Im Rückspiegel sausten ein, zwei Lichtpunkte hinter uns vorbei, dann folgte das fast schmerzhaft laute Quietschen von Bremsen. Mein Brustkorb verkrampfte sich. Dann hörte ich, wie die Wagen wieder beschleunigten. Ich konnte mir lebhaft vorstellen wie die beiden Fahrer die schweren Straßenkreuzer zurück zur Einfahrt schießen ließen, während ihre Komplizen ihre Waffen entsicherten und mit zusammengekniffenen Gesichtern darauf warteten, dass sie freies Schussfeld bekamen. Offensichtlich war die Idee mit der Einfahrt doch nicht so gut gewesen. Meine Hand tastete nach der Kims.

»Um Gottes willen«, flüsterte sie.

Uns war klar, dass wir keine Chance mehr hatten, wenn sie uns jetzt und hier stellten. Bevor wir auch nur den Wagen verlassen konnten, würden sie auch schon da sein. Und auch mit dem Wagen hatten wir keine Chance, nicht gegen rücksichtslose Männer in modernen Fahrzeugen. Trotzdem ließ ich Kims Hand los und tastete nach dem Zündschlüssel. Ich würde es ihnen nicht leicht machen.

»Oh, Shit«, hörte ich Rays Stimme aus dem Fond des Wagens. »Das war knapp.«

Im ersten Moment verstand ich ihn nicht. Doch dann begriff ich: Die Wagen hatten wieder beschleunigt, aber nicht auf uns zu, sondern weg von uns. Das Brummen der Motoren war nur noch einen Moment zu hören, dann erstarb es und es blieb nichts weiter zurück als das harte Prasseln des Regens.

Ich drehte mich nach hinten um, auf alles gefasst und doch nicht darauf, wirklich und wahrhaftig meinen Bruder hinter mir zu sehen. »Hallo, John«, sagte er. Die Stimme klang seltsam vertraut und löste eine tiefe Resonanz in mir aus. Es konnte kein Zweifel bestehen: Das war er!

»Hallo, Ray«, krächzte ich.

»Hallo, John«, wiederholte er ruhig. »Schön, dich wieder zu sehen. Allerdings sind die Umstände nicht ganz nach meinem Geschmack.«

Ich wollte etwas sagen, aber die Stimme versagte mir. »Was machst du... denn hier...«, brachte ich schließlich mühsam hervor.

»Meinst du nicht, dass es Zeit wäre, sich aus dem Staub zu machen?«, fragte Ray, ohne auf meine Frage einzugehen und in einem Tonfall, als wäre es vollkommen selbstverständlich, sich plötzlich hier mit uns in dem alten, zusammengeschossenen Dodge des Majestic-Arztes Dr. Hertzog zu befinden.

»Wenn sie merken, dass wir sie geleimt haben, kommen sie mit Sicherheit wieder. Und dann sehen wir alt aus.«

»Eh, ja«, machte ich. Natürlich hatte er Recht. Aber es war ein bisschen viel; hier wie ein Gespenst zu erscheinen, keine Erklärung abzugeben und mir stattdessen in überheblichem Ton Anordnungen geben zu wollen. Ich hätte nicht überraschter sein können, wenn plötzlich Bach hinter mit gesessen und mir seinen Zigarrenqualm ins Genick geblasen hätte. »Wo kommst du her, Ray?«, fragte ich und ärgerte mich gleichzeitig über den kraftlosen Ausdruck in meiner Stimme.

»Das spielt doch im Moment keine Rolle«, antwortete Ray ärgerlich. »Ich bin da, weil ich euch helfen will. Aber wenn du nicht bald fährst, dürfte es bei dem Versuch bleiben.«

»Wenn wir wie die Wilden einfach losfahren, könnten wir unseren Verfolgern genauso vor die Flinte laufen«, entgegnete ich schroff. Und trotz meiner grenzenlosen Überraschung war sie schlagartig wieder präsent: die alte Hassliebe zwischen Brüdern, das Gerangel um die Führungsposition wie unter den Jungtieren eines Wolfsrudels, die letztlich nie ganz geklärt worden war. Nach all der Zeit hatte ich fast vergessen, dass es außer dem Zusammenhalt der Loengard-Kinder auch handfeste Zwistigkeiten gegeben hatte. Und das durchaus auch im wortwörtlichen Sinne.

»Das wird mir jetzt alles ein bisschen zu viel«, unterbrach mich Kim. »Es muss mal irgendwann Schluss sein.« Ihre Stimme klang seltsam schwach. Aber da war noch ein anderer Unterton in ihr, ein Klang, als würde sie in eine unendliche Tiefe fallen. Vielleicht bildete ich mir ihren Tonfall nur ein, sicherlich aber nicht das dahinter stehende Gefühl. »Ich kann nicht mehr und ich will nicht. Bring mich hier raus, John. Wir haben es vermasselt und ich wüsste auch nicht, was wir jetzt noch tun könnten.«

Meine Hand tastete nach ihr, aber sie schob sie ungeduldig beiseite. »Verstehst du nicht?«, fragte Kim verzweifelt. »Ich kann nicht mehr! Es ist aus. Es war vielleicht schon in dem Moment aus, als sie Kennedy erschossen hatten.«

Ich starrte in den Regen hinaus, in die kalte Dunkelheit, die ihre Finger bis ins Wageninnere ausstreckte - und plötzlich war es mir egal, wie und warum Ray aufgetaucht war. Es war ein ungemütlicher Abend, ein typischer Novembertag, den man besser zu Hause am Kaminfeuer verbrachte statt in einem alten Auto mit einer frischen Beule am rechten Kotflügel, einer zerschossenen Heckscheibe und mehreren Einschusslöchern, von denen ich nur hoffen konnte, dass sie nicht an lebenswichtigen Stellen saßen. »In einem Monat ist Weihnachten«, sagte ich und hatte meinen Bruder schon halb vergessen, der hinter uns im Fond das Wagens war und Zeuge unserer intimen Unterhaltung wurde - aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. »Ich hätte mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass wir es in Ruhe und Frieden in unserer Wohnung hätten verbringen können.« Um uns vielleicht über so ganz profane Dinge wie unsere Hochzeit oder um die Frage nach Kindern, Karriere und Eigenheim zu streiten, fügte ich in Gedanken hinzu.

»Ach, John«, sagte Kimberley nur. In diesem Moment war sie mir gleichzeitig so nah und so schmerzhaft weit entfernt, weiter vielleicht sogar als bei unserer ersten Begegnung. Damals hatte uns die ganze Welt offen gestanden und die kribbelnde Aussicht auf ein spannendes Leben hatte uns optimistisch und lachend in die Arme getrieben. Doch was war jetzt davon übrig geblieben?

Ich konnte mich kaum noch an unsere Wohnung erinnern. Sie kam mir so weit entfernt vor wie das Klassenzimmer meiner ersten Schuljahre. Statt dessen hatte ich wieder das Zeitungsbild vor Augen, dieses berühmte Foto mit der großen offenen Limousine, das in grober Auflösung Kennedy zeigte, bereits tödlich getroffen und doch noch aufrecht stehend. Und hinter ihm der Leibwächter, der sich wenige Augenblicke später schützend und doch vollkommen sinnlos über seinen Präsidenten werfen würde. Nein, es war noch lange nicht vorbei.

»Wir sollten sehen, dass wir hier erst einmal wegkommen«, mischte sich Ray wieder ein. »Es kann sein, dass sie noch einmal zurückkommen, wenn sie uns auf der Hauptstraße nicht finden.«

»Und wohin sollen wir?«, fragte Kim.

»Ich... ich denke«, begann ich vorsichtig, wobei ich sorgfältig vermied, in ihre Richtung zu blicken, »dass wir noch eine Chance haben. Du hattest den Vorschlag gemacht, es über das Weiße Haus zu versuchen. Tu das...«

»Aber...«

»Aber wir haben keine Chance mehr?« Ich schüttelte den Kopf. »Wenn wir den Kopf in den Sand stecken, werden wir irgendwann mit den Zähnen knirschen. Nein. Wenn uns Bach jetzt erwischt, wäre das vielleicht noch das kleinere Übel. Irgendwann werden sie uns erwischen. Steel und Konsorten. Und die werden nicht an einem Gespräch interessiert sein. Sie werden uns sofort erschießen.«

»Wir könnten untertauchen...«

»Uns vor diesen... diesen Dingern verstecken?«, unterbrach ich sie abermals. »Während sie nach und nach alle wichtigen Leute übernehmen? Mach dich nicht lächerlich. Sie werden uns irgendwann aufspüren. Und wir werden in der Zwischenzeit dahinvegetieren, auf der Flucht und ohne Hoffnung. Nein.« Ich presste die Zähne zusammen und verschränkte die Hände einen Moment vor dem Gesicht, so wie man sich nach einer langen Fahrt räkelt. Aber in der Bewegung war nichts Entspannendes - ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich angespannt und meine Schultern waren hart und verkrampft. Trotzdem spürte ich fast keine Erregung in mir; es war eine eiskalte Entschlossenheit, die mich ergriffen hatte. Ähnlich mussten sich Mitglieder eines Todeskommandos vor dem Einsatz fühlen. Vielleicht war das der Moment, in dem ich zum erstenmal wirklich tief in meinem Inneren begriff, dass mein und Kims Leben keinen Pfifferling mehr wert war. Wir waren Vogelfreie, dazu verdammt, jedem zu misstrauen und dabei doch im Innersten zu wissen, dass es keine wirkliche Hoffnung mehr gab.

»Nicht dass ich euch eure Unterhaltung nicht gönnen will«, mischte sich Ray ein. »Aber dafür scheint mir jetzt weder der rechte Augenblick noch der rechte Ort zu sein.«

»Wir brauchen doch zumindest eine Pause«, sagte Kimberley tonlos, als wäre mein Bruder überhaupt nicht da. Die Teilnahmslosigkeit in ihrer Stimme erschreckte mich. »Wir können doch nicht ohne Unterbrechung allein gegen den Rest der Welt kämpfen.«

»Es ist nicht der Rest der Welt«, sagte ich so sanft wie möglich. Ich wartete auf eine Entgegnung von Kim, suchte, als sie stumm blieb, im Rückspiegel nach einer Spur, einem Hinweis, ob wir hier noch in Sicherheit waren oder nicht. Dabei begegnete ich Rays Blick.

»Ich will ja nicht unhöflich sein«, sagte er spöttisch. »Aber könntet ihr eure Turtelei vielleicht ein anderes Mal fortsetzen?«

»Was willst du überhaupt?«, fragte ich grob. »Schneist hier rein wie der Weihnachtsmann und willst gleich wieder das Kommando übernehmen, ganz so wie in alten Zeiten, was, Ray?«

Einen Moment lang herrschte eisiges Schweigen. Kims Kopf bewegte sich langsam nach oben und dann drehte sie sich um. »Hallo, Ray«, sagte sie. »Ich will jetzt gar nicht wissen, wie du hierher gekommen bist. Es ist in jedem Fall schön, dich hier zu sehen.« Sie unterbrach sich mit einem Laut, der wohl ein kurzes Auflachen sein sollte, aber eher ein Schluchzen war. »Aber es ist ein ungünstiger Moment, verstehst du? Vielleicht hast du ja eine Idee, wo wir in dieser Nacht etwas zur Ruhe kommen könnten?«

»Ich habe auch eine Idee...«, sagte ich.

»Wir sollten auf alle Fälle erst einmal losfahren«, unterbrach mich Ray.

»Verdammt noch mal, lass mich zumindest ausreden!«, herrschte ich ihn an und ärgerte mich gleichzeitig darüber, dass ich so impulsiv reagierte. Aber meine Nerven waren mittlerweile so straff gespannt wie Klavierdrähte und ich konnte es beim besten Willen nicht vertragen, wenn mir jemand Befehle geben wollte.

Es war Kim, die die Situation rettete. »Er hat Recht, John«, sagte sie ruhig und in so selbstverständlichem Tonfall, als sei das Auftauchen meines Bruders unter diesen merkwürdigen Umständen vollkommen normal. »Lass uns fahren. Irgendwohin, wo wir in Ruhe miteinander reden können.«

Ich starrte ein paar Sekunden wortlos in die Nacht hinaus, in das allumfassende, feuchte Dunkel, das gleichermaßen unbehaglich wie auch beruhigend wirkte: beruhigend, weil es die törichte Illusion vermittelte, dass sich niemand freiwillig bei diesem Wetter nach draußen begeben würde und wir somit sicher und geschützt wie in einer geheimen Höhle saßen, von der niemand etwas wusste. Kein Wunder, dass mir ein solcher Vergleich einfiel, denn eine solche Höhle hatte es tatsächlich gegeben, in meinem und Rays Leben, eine Höhle, die vielleicht vor ein paar hundert Jahren den Indianern bekannt war und davor Bären und Schakalen, die aber niemals vom Weißen Mann in Besitz genommen worden war. Als wir sie als Kinder entdeckt hatten, hatten wir uns wahrscheinlich nicht weniger stolz gefühlt als Christoph Kolumbus nach der Entdeckung Amerikas.

»Nun fahr schon«, sagte Ray. In seiner Stimme klang eine Geringschätzung mit, die ich schon fast vergessen geglaubt hatte. Warum musste er sich nur immer so aufspielen?

Trotzdem brachte seine Art, Anordnungen, ja, regelrechte Befehle zu erteilen, so viel Normalität mit ins Spiel, dass ich meine Lethargie abschütteln konnte und den Motor startete. »Hast du einen besonderen Wunsch, wo du hinwillst?«, fragte ich in einem gehässigen Tonfall, meiner Waffe gegen seine Art, sich mit seiner großsprecherischen Art über mich erheben zu wollen.

»In der Tat, Bruderherz«, sagte er ernsthaft und in so versöhnlichem Ton, dass ich meine unterschwellige Provokation sofort wieder bedauerte. »Ich habe in der Nähe der Zweihundertfünfundneunzigsten ein kleines Zimmer gemietet. Dort sollten wir ungestört sein.«


Die Route 295 verläuft parallel zum nordöstlichen Arm des Potomac River, einer jener mächtigen Flussarme Nordamerikas, die seit undenklichen Zeiten das Wasser kanadischer Seen in den Nordatlantik spülen. Sie durchschneidet damit parallel zum Flussarm die Stadt vom Südwesten in nördliche Richtung, doch der stellenweise über eine Meile breite Hauptarm verzweigt sich immer schmaler werdend genau in die entgegengesetzte Richtung, in Richtung Pennsylvania und kanadischer Seenplatte. Washington hatte damit seinen schnellen Aufschwung nicht zuletzt den Wasserwegen zu verdanken, die es einst zu einem strategisch wichtigen Punkt hatten werden lassen. Nur zwanzig Meilen vom östlichen Stadtrand entfernt erstreckt sich die Chesapeake Bay, so groß wie der deutsche Bodensee und im Süden vierzig Meilen breit aufgerissen in den Nordatlantik ragend: eine ideale Verbindung zu den Weltmeeren. Es hatte eine Zeit gegeben, als ich mich für die Erfolgsstory der Hauptstadt der wohl mächtigsten Nation der Welt interessiert hatte, beginnend mit Pierre Charles L’Enfant, der 1791 Washington inmitten der Wildnis so großzügig angelegt hatte, dass seine Zeitgenossen ihn, gelinde gesagt, für größenwahnsinnig gehalten hatten. Der Größenwahn hatte sich offensichtlich über die Jahrhunderte in der Regierungsstadt gehalten. Eines seiner jüngsten Opfer war Frank Bach. Er und Pierre Charles L’Enfant hätten sich wahrscheinlich blendend verstanden.

Doch dieser bittere Vergleich hielt sich nur flüchtig in meinem Kopf. Dafür spukte mir viel zu sehr die Geschichte im Kopf herum, die mir mein Bruder aufgetischt hatte. Sie klang, gelinde gesagt, dürftig. Angeblich hatte er Lucy angerufen, kurz nachdem ich mit meiner Schwester telefoniert hatte. In dem Gespräch hatte er erfahren, wohin wir unterwegs waren, und sich dann ebenfalls sofort zum Car Paradise begeben, wo er gerade noch rechtzeitig zu unserer Flucht ankam. Als ich den Chevy gerammt hatte und die Tür unseres Dodge aufgesprungen war, hatte er die Gunst der Stunde genutzt und war in unser Auto gesprungen. Behauptete er.

Ich nahm ihm die Geschichte nicht ganz ab. Während wir Richtung Innenstadt fuhren, die Rhode Island Avenue hinab, die nach einer Abbiegung am National Museum of Women in the Arts auf die berühmte Route 66 führen würde, versuchte ich krampfhaft, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Es war alles ein bisschen viel. Rays plötzliches Auftauchen beruhigte mich ganz und gar nicht. Das Misstrauen, mit dem ich seine knappe Erklärung aufgenommen hatte, mochte man meinetwegen für krankhaft erachten; nichtsdestotrotz war es da und verlangte danach, dass ich Rays Geschichte nicht einfach stillschweigend akzeptierte. Trotzdem: Mochte es auch noch so unglaublich sein - wie sonst hätte er plötzlich im Car Paradise auftauchen können?

»Wir müssen da vorne links, in Richtung Stanton Park«, unterbrach Ray meine düsteren Gedanken. Er selbst hatte das, was Kimberley ihm berichtet hatte, erstaunlich ruhig aufgenommen. Mehr noch, er zeigte sich über das meiste bereits informiert. Und das, so fand ich, war das Erstaunlichste von alledem.

Wir waren mittlerweile auf Höhe des nur noch rund eine Meile entfernten Weißen Hauses angekommen, diesem Nabel und wichtigsten Kreuzpunkt Washingtons und damit der gesamten Vereinigten Staaten, wenn nicht sogar der ganzen westlichen Welt. Ich kannte diese Gegend besser als viele meiner ehemaligen Kollegen aus den beengten Büroetagen des Weißen Hauses, die Bannmeile mit ihren sorgfältig angelegten Parks, den oft sonnendurchfluteten breiten Passagen und den aufwändig gestalteten Monumenten für die Hand voll staatstragender Männer wie George Washington und Abraham Lincoln. Meine Kenntnisse verdankte ich nicht zuletzt der Tatsache, dass sich unsere Wohnung in unmittelbarer Nähe des Weißen Hauses befand - unser erster gemeinsamer Zufluchtsort vor den Wirrnissen des Alltags, den wir jetzt unbedingt meiden mussten, da er zweifelsohne von Bachs Männern überwacht wurde. Was wäre gewesen, wenn dieser ganze Mist mit den Ganglien, den Grauen und damit auch mit Majestic nie passiert wäre? Hätten wir dann jetzt vor dem Fernseher gesessen oder aber am Küchentisch, um aufgeregt das Tagesgeschehen und unsere Zukunft zu besprechen? Hätte uns die Normalität eines trotz aller Nähe zum Zentrum der Macht recht träge dahinlaufenden Bürokratenlebens mittlerweile erdrückt und vielleicht sogar entzweit?

Ich wusste es nicht. Es war auch müßig, darüber nachzudenken. »Wieso bist du über alles so gut im Bilde?«, fragte ich stattdessen laut.

»Das habe ich dir doch schon erklärt«, sagte Ray in erstaunlich geduldigem Tonfall. »Dieser Polizist, von dem du sagst, es könnte auch ein Majestic-Agent gewesen sein - er tauchte auf und stellte tausend Fragen. Er hat mich regelrecht verfolgt, blieb mir tagelang auf den Fersen und löcherte mich immer wieder mit Fragen. Und das hat mich neugierig gemacht.«

»Wie genau sah er aus?«

Ray seufzte. »Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte er dann gepresst. Seine Stimme ging fast im dunklen Dröhnen des niedertourig laufenden alten Motors des Dodge unter, der sicherlich schon seine zweihunderttausend Meilen hinter sich hatte und gemeinsam mit Ray dagegen zu protestieren schien, dass ich einfach keine Ruhe geben konnte. »Du stellst auch immer wieder die gleichen Fragen, genau wie dieser Bulle. Was ist bloß los mit dir? So kenne ich dich gar nicht.«

Natürlich kannte er mich nicht so. Im letzten Jahr hatten sich die Ereignisse so überstürzt, dass mein ganzes Inneres durcheinander gewirbelt worden war. »Wenn er dir Fragen gestellt hat, bedeutet das ja nicht, dass er dir auch gleich die ganze Majestic-Geschichte auf die Nase gebunden hat.«

»Herrgott.« Ray seufzte abermals. »Ich habe nachgeforscht. Glaubst du eigentlich, du bist der Einzige in unserer Familie, der in der Lage ist, zwei und zwei zusammenzuzählen? Es gab ein paar mehr oder weniger klare Hinweise, aus denen ich den Schluss zog, dass ich dir helfen könnte - und müsste. Und Washington schien mir der geeignete Ort zu sein, dich aufzuspüren...«

Kimberley hatte unser gereiztes Gespräch schweigend verfolgt, vielleicht zu müde und zu erschöpft von den Ereignissen der letzten Tage, als dass sie sich daran wirklich hätte beteiligen können und wollen. Um ehrlich zu sein: Ich hatte ihr auch keine große Beachtung geschenkt, nicht nachdem mein Bruder so dramatisch in unser Leben geplatzt war und offenbar willens schien, das Kommando zu übernehmen, ganz so, wie er es als Heranwachsender immer versucht hatte. Doch jetzt begann Kim plötzlich zu stöhnen, ein langer klagender Laut, der im dumpfen Brummen des gleichmäßigen Motorengeräuschs fast unterging.

»Was hat sie?«, fragte Ray alarmiert. Ich konnte sein besorgtes Stirnrunzeln fast spüren, diese ungleichnamige Art, das Gesicht zu verziehen, gleichzeitig Anteilnahme und Hochmut auszudrücken.

Ich warf einen besorgten Blick auf Kim. Das diffuse Licht der Straßenlampen schien beim Vorbeifahren auf- und abzuschwellen, ein merkwürdig unwirklicher und doch gleichzeitig einschläfernder Rhythmus, der den Innenraum des Wagens nur dürftig ausleuchtete. Und doch reichte das Licht aus, um zu erkennen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Kims Gesicht wirkte gleichzeitig versteinert und gelähmt wie auch in fließender Bewegung. Etwas schien mit ihrer Gesichtshaut nicht zu stimmen; sie bewegte sich, so, als ob sich jeder einzelne ihrer Gesichtsmuskeln in zuckenden Krämpfen befand - oder als ob sie mit winzig kleinen Bewegungen von innen aus heraus massiert würde!

Es war, als griffe eine eiskalte Hand mein Herz. Ich weiß nicht, was mir in diesem Moment alles an Gedanken durch den Kopf schoss, aber ich werde nie den Schreck vergessen, den ich bei diesem Anblick empfand. Es musste ein ähnliches Gefühl sein wie das, von dem mir mein alter Freund Walter vor ein paar Jahren mit stockender und gebrochener Stimme erzählt hatte: Als er eines Abends mit seinem klapprigen Ford T die Landstraße hinabgefahren war und schon von ferne die blinkenden Lichter gesehen hatte, die auf eine Straßensperre hindeuteten. Eine merkwürdig kalte Vorahnung hatte ihn ergriffen, als er näher gefahren und seinen Ford hinter einem Streifenwagen abgestellt hatte. Er hatte die Szene nur verschwommen erkannt, den Lastwagen, der in den Vordergraben gerutscht war, sodass seine Hinterräder grotesk über der Straße hingen, und die wenigen Menschen, die vor einer mit einer alten Pferdedecke bedeckten, am Straßenrand liegenden Gestalt standen, leise vor sich hinmurmelten und ihn mit stumpfen, betroffenen Blicken ansahen, wortlos einen Schritt zur Seite wichen, als er an ihnen vorbeiging, sich bückte und die Pferdedecke ein Stück von dem Unfallopfer zog. Es war sein jüngerer Bruder Peter, ganze fünfzehn Jahre alt und an diesem kalten Septemberabend von einem Lastwagen überfahren und getötet worden.

»Da vorne, noch vor dem Stanton Park links«, sagte Ray, der in Ermangelung meiner Antwort wohl davon ausgegangen war, dass alles in Ordnung war. Seine Stimme erreichte mich wie durch Watte. Und doch gehorchte ich ganz automatisch. Ohne den Blinker zu setzen und ohne auf Gegenverkehr zu achten, zog ich den Wagen in die Seitenstraße, die uns zu Rays Wohnung führen sollte. Hinter uns quietschte etwas und irgendjemand hupte so laut, wie es in meiner Vorstellung nur Ozeandampfern zustand. Es war mir vollkommen egal, ja, ich nahm es nicht einmal richtig wahr. Stattdessen steuerte ich den Wagen an den Straßenrand und brachte ihn abrupt zum Stehen.

»Warum halten wir?«, fragte Kim.

Die Nebenstraße war unbeleuchtet und die kalte feuchte Nacht dämpfte das Licht von der Fifth Street so stark, dass es im Auto fast vollständig dunkel war. Ich konnte Kims Gesicht nicht erkennen, und doch schien es mir, als wäre da noch immer diese unheimliche Kraft am Werk, die aus ihrem Inneren heraus etwas Unvorstellbares mit ihr anstellte. Ich hatte noch nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen, aber mir war klar, dass es nur eine Deutung geben konnte. Alles, was ich hoffte, von ganzem Herzen vom Schicksal erflehte, war, dass ich mich getäuscht hatte, dass ich einer Täuschung meiner überreizten Nerven erlegen war.

»Stimmt etwas nicht, John?«, fragte Kim. Ihre Stimme klang so wie immer. Fast. Aber es schien mir, als ob etwas Fremdes darin mitschwang, eine Kälte, die ich nicht an ihr kannte und auch nie an ihr erlebt hatte. »Wenn du zu müde bist, dann lass doch deinen Bruder fahren. Er kennt den Weg zu seiner Wohnung sowieso besser.«

»Das wäre wohl in der Tat besser«, mischte sich Ray ein. »Falls du es nicht gemerkt haben solltest: Du hast eben einem 12-Tonner die Vorfahrt genommen. Wenn unsere Schutzengel nicht zusammengearbeitet hätten, lägen wir jetzt unter ein paar Tonnen Stahl begraben.«

Ich wollte antworten, aber meine Stimmbänder fühlten sich so ausgetrocknet an, als ob ich tagelang durch die Sahara marschiert und tonnenweise Wüstensand geschluckt hätte. Meiner Kehle entrang sich ein Laut, der kaum mehr zu verstehen sein konnte. Ich schluckte krampfhaft, räusperte mich und versuchte es dann noch einmal. »Wie... wie fühlst du dich, Liebling?«

»Warum fragst du?«, wollte Kim wissen. Diesmal stimmte irgendetwas mit ihrer Stimme nicht, ganz eindeutig, und es war mehr als nur eine ungewohnte Kälte, die ich herauszuhören glaubte. Ich wusste nicht, ob es an dem prasselnden Regen lag, dass ich sie nur undeutlich hören konnte; ihre Stimme kam mir jedenfalls schwächer vor als normal und dabei so fremd im Klang, dass ich sie nicht erkannt hätte, hätte ich nicht gewusst, dass sie neben mir saß.

»Weil... weil...«, stammelte ich hilflos.

»Wenn du es genau wissen willst: Ich bin fix und fertig«, unterbrach mich Kimberley im gleichen fremden Tonfall. Jetzt wusste ich auch, was nicht stimmte: Es lag an der eigentümlichen Betonung, die sie so fremd klingen ließ. Wie verfremdet durch eine aufwändige Elektronik, wie sie teilweise bei den Anfang der sechziger Jahre immer noch populären Hörspielen im Radio eingesetzt wurde. »Und ich habe jetzt absolut keine Lust dazu, hier auf der Straße zu stehen und mit dir zu diskutieren. Lass Ray ans Steuer, damit wir endlich weiterkommen.«

Die Kälte, die durch die geborstene Heckscheibe ins Innere kroch, war nicht das Einzige, was mir einen Schauder über den Rücken jagte. Es war etwas ganz anderes, das Gefühl, dass etwas Unvorstellbares geschah, dass ich Zeuge eines unglaublichen Vorfalls wurde - oder ganz einfach die Nerven verlor. Was war mit mir los? War das die Ankündigung eines Nervenzusammenbruchs oder war irgendetwas in Kim darauf aus, die Kontrolle über sie zu übernehmen? Hatte mir das Geflackere der Straßenbeleuchtung einen Streich gespielt oder hatte es wirklich etwas gegeben, das in mir das gleiche Entsetzen rechtfertigte wie bei Walter, als er auf den mit einer Pferdedecke notdürftig bedeckten Leib seines toten Bruders zugegangen war?

Ich beschloss, es herauszufinden. Dabei rangen die widerstrebendsten Gefühle in mir, das Verlangen, Kim anzuherrschen und zu fragen, was denn nur eigentlich los sei, und das Gefühl, dass es im Moment besser war, einfach ihrem Wunsch nachzukommen. Aber ich hatte keine Lust, mir das Steuer aus der Hand nehmen zu lassen, und das im wortwörtlichen Sinne.

»Was ist nun?«, fragte Ray. »Mit jeder Sekunde, die wir hier rumstehen, sinkt unsere Chance, mit heiler Haut aus der Sache herauszukommen.«

»Du hast Recht«, sagte ich und nickte mit einer Entschlossenheit in die Dunkelheit hinein, die ich so nicht empfand. »Aber ich fahre. Das ist doch hier richtig, oder?«

»Ja, die Richtung stimmt.« Rays Stimme klang mühsam beherrscht. Wie ich diesen Tonfall hasste, mit dem er immer und immer wieder versucht hatte, Einfluss auf mein Leben zu gewinnen. Und doch war es im Augenblick vollkommen nebensächlich.

Ich startete den Wagen und fuhr auf Rays Geheiß hin weiter nach Osten, in eine Gegend, die mir kaum bekannt war und mich eher an New York als an Washington erinnerte, so urban und gleichzeitig heruntergekommen wirkte sie. Dazu mochte der Regen beitragen: Der Niederschlag war mittlerweile in feines Nieseln und einen nach unten drückenden Nebel übergegangen, gegen das die Scheibenwischer verzweifelt ankämpften. Die Schlieren auf der Windschutzscheibe machten es fast unmöglich, die Fahrbahn zu erkennen. Viel mehr als das vom Scheinwerferlicht reflektierte glitzernde Funkeln der feuchten, von den dunklen Silhouetten trister Miethäuser eingerahmten Straße war nicht zu erkennen, aber das war es nicht, was mir Sorgen machte. Um diese Zeit und bei diesem Wetter war eine solche Wohngegend zweiter Klasse sowieso so gut wie leer gefegt und die Gefahr, einen Fußgänger zu übersehen, entsprechend gering. Nein, was mir Sorgen machte war die rapide Veränderung von Kims Zustand, die mich das Schlimmste befürchten ließ.

Nach ein paar Minuten hatte ich vollständig die Orientierung verloren und wunderte mich darüber, mit welcher Sicherheit Ray die Richtung vorgab. Er war meines Wissens früher noch nie in Washington gewesen und konnte auch jetzt erst seit kurzem in der Stadt sein; dennoch kannte er sich hervorragend hier aus. Schließlich dirigierte er mich in eine schmale Seitenstraße, in der auf Anhieb ein Parkplatz frei war. Bei diesem Wetter, bei dem jeder vernünftige Mensch zu Hause blieb, ein wahrer Glücksfall, den ich allerdings nicht richtig würdigen konnte. Schließlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich das Beste war, gemeinsam mit Kim Rays Wohnung aufzusuchen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, bei Dr. Hertzog auszuharren und darauf zu hoffen, dass er ihr weiterhelfen konnte.

Trotzdem stieg ich wortlos aus dem Wagen und folgte Ray und Kim, die ineinander eingehakt mit schnellen Schritten auf den Eingang eines vierstöckigen Hauses zusteuerten. Ich hatte es so eilig, den beiden zu folgen, dass ich darauf verzichtete, den alten Dodge abzuschließen. So, wie der Wagen aussah, würde ihn selbst hier niemand anrühren und wenn: Es war mir in diesem Moment vollkommen egal.

Der dunkle, nasse Himmel ließ die alten Häuser sicherlich schäbiger und unansehnlicher aussehen, als sie bei Sonnenschein gewirkt hätten. Vielleicht war sogar der leichte, aber durchdringende Gestank des Mülls nur bei einem solchen Wetter wahrzunehmen. Dennoch: Es gab bessere Gegenden, vor allem in Washington, das seiner Würde als Hauptstadt der Vereinigten Staaten in allen Punkten gerecht zu werden versuchte. Anders als in den üblichen amerikanischen Städten dominierten gut gepflegte Gebäude im Stil der italienischen Renaissance oder der europäischen Klassik, helle Bauten mit Säulen, Erkern und Verzierungen inmitten sorgfältig angelegter Grünflächen und Gärten, wie sie vor allem in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden waren und auch spätere Bauherren noch entsprechend inspiriert hatten. Sicherlich war nicht alles aus Marmor und nicht alles im besten Zustand; Reihenhaussiedlungen typisch amerikanischer Art mit preiswerten Holzhäusern, die auf uneingezäunten, nur sparsam bepflanzten Grundstücken standen, prägten in langweiliger Gleichförmigkeit ganze Stadtviertel. Doch ausgewachsene Wolkenkratzer gab es in Washington überhaupt nicht, höchstens Miethäuser mit wenigen Stockwerken - doch auch diese konnten unansehnlich und schmuddelig aussehen.

In genau so einem Haus wohnte Ray.

Ray hatte bereits die unverschlossene Haustür aufgestoßen und Kim mit einer raschen Geste an sich vorbei in die Trockenheit gestoßen. Als ich ihn erreichte, schob er auch mich in den Hausflur, einen düsteren, nur spärlich beleuchteten Treppenschacht, der überhaupt nichts Einladendes hatte. Das Licht stammte von einer Glühbirne, die am Draht von der Decke hing; die Zuleitung und der Drahtkäfig um die Birne’ schwankten ein wenig; der ganze Hausflur war in ein flackerndes Licht getaucht, in dem ich Kim wie einen verschwommenen Schemen wahrnahm. Ich musste ein paarmal blinzeln, bevor ich meine Umgebung genauer erkennen konnte. Es wurde Zeit, dass ich etwas gegen meinen Erschöpfungszustand unternahm. Mich zum Beispiel ein paar Stunden aufs Ohr legte. Ansonsten bedurfte es keines Bachs und keiner Grauen, um mich fertig zu machen.

»Da hat schon wieder jemand die Haustür aufgelassen«, murmelte Ray, während er vor mir die knarrende Holztreppe hinaufstieg. Ich erkannte, dass Kim bereits vor einer Tür im ersten Stock stehen geblieben war, auf uns wartend. Ich suchte ihren Blick, aber sie starrte an mir vorbei ins Nichts, gedankenverloren vielleicht oder auch ausweichend, weil sie im Grunde genommen im Moment genauso wenig mit mir sprechen wollte wie ich mit ihr. Zumindest konnte ich an ihr keine außergewöhnliche Veränderung feststellen, sah man einmal von den dunklen Ringen unter den Augen ab und von den Haarsträhnen, die ihr wirr und verschwitzt über der Stirn hingen. Kimberley hatte es bislang immer verstanden, sich frisch und adrett zu präsentieren; ein Wesenszug, der bei ihr viel stärker ausgeprägt war als bei mir. Bei ihrem Anblick hatte ich das Gefühl, als würde man mir ein Messer im Magen umdrehen. Es war einfach entwürdigend.

Ray schob sich an mir vorbei und kramte in den Hosentaschen nach seinem Schlüssel. Dann schien er zu stutzen. »Das gibt es doch gar nicht«, sagte er mehr zu sich selbst als zu uns. Er stieß gegen die Tür und sie schwang mit einem leise quietschenden Geräusch zurück. »Sieht so aus, als hätte ich in der Zwischenzeit Besuch gehabt.«

Ich spürte ein prickelndes Gefühl im Nacken und meine Magenmuskeln schienen sich zusammenzuziehen. Es war still im Hausflur, abgesehen von einem entfernten Klappern von Geschirr, ein paar gedämpften Stimmen, die von einem Radio oder einem Fernseher stammen konnten. Doch die Stille konnte trügerisch sein; der Hausflur über uns blieb unseren Blicken verborgen und war damit ein geeignetes Versteck für jemanden, der es auf uns abgesehen hatte. Genauso gut war es aber auch möglich, dass man in aller Ruhe in der Wohnung auf uns wartete.

Ray schien in die gleiche Richtung zu denken wie ich. »Bleibt hier«, flüsterte er. »Ich seh’ erst mal nach, was los ist.«

Ich nickte nur stumm und sah zu, wie Ray die Tür aufstieß und in der dunklen Wohnung verschwand. Ich tauschte einen raschen Blick mit Kim und las in ihren Augen die gleiche Art von Besorgnis, die auch ich empfand. Es war merkwürdig, aber ich dachte zuerst an Steel, an unseren gnadenlosen Verfolger, der im Driver’s Inn ohne zu zögern ein junges Paar erschossen hatte, nur weil er es mit uns beiden verwechselt hatte. Ich traute ihm durchaus zu, dass er Ray aufgestöbert hatte und nun hier in der Wohnung auf ihn oder vielleicht sogar gezielt auf uns alle drei wartete. Und doch passte es nicht zusammen: Steel hätte weder die Haus- noch die Wohnungstür offen gelassen, dazu war er viel zu sehr Profi. Das hier war ganz eindeutig nicht seine Handschrift.

Wir warteten schweigend, während ich gleichzeitig versuchte, den Hausflur und die Wohnungstür im Auge zu behalten. Nichts geschah. Die Sekunden dehnten sich scheinbar endlos. Schließlich wurde es mir zu bunt. Mein Instinkt warnte mich, Ray zu folgen, aber ich tat es dennoch und näherte mich vorsichtig der Tür. Als ich schon nach der Klinke greifen wollte, nahm ich ein anderes Geräusch wahr - ein pulsierendes Piepsen, wie es ein Telefon von sich gibt, wenn man es länger als dreißig Sekunden ausgehängt hat. Das Geräusch irritierte mich; es war ein weiteres Indiz, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Doch durch die halb offene Tür sah ich nichts als Dunkelheit und ein paar verwischte Lichtpunkte von den gegenüberliegenden Häusern.

Ich blieb noch an die zehn Sekunden dort, wo ich war, und hörte nichts weiter als das Piepsen des Telefons. Dann drückte ich den Handrücken sacht gegen die Türfüllung, atmete tief ein und war mit einem Schritt über der Schwelle.

Im gleichen Moment flammte etwas auf, ein gleißendes Licht, das mich blendete, sodass ich automatisch den Arm hochriss, um meine Augen zu schützen. Und doch erkannte ich genug, um zu wissen, dass ich in die Falle gegangen war; ich verspürte schlagartig das bekannte, leere Gefühl in der Magengrube und einen säuerlichen Geschmack in der Kehle. Was ich sah, ließ mich zusammenzucken, und danach stand ich einen Herzschlag lang wie angewurzelt da. Es waren zwei Männer mit Pistolen in den Händen, die ich nicht kannte, und ein weiterer Mann, der sich etwas abseits hielt. Es dauerte einen Moment, bevor ich ihn gegen das gleißend helle Licht erkennen konnte: Es war Phil Albano, einer der engsten Vertrauten Bachs.


Die Rückkehr ins Hauptquartier von Majestic war wie ein Albtraum für mich; Kim und ich hatten es solange geschafft, Bachs Häschern zu entgehen, bis ausgerechnet mein Bruder Ray sie auf unsere Spur gebracht hatte. Majestic bedeutete, dass das Artefakt für uns endgültig verloren war, dieser einzige offensichtliche Beweis für die Existenz der Außerirdischen, ohne dessen Hilfe unsere Geschichte nicht mehr wert war als das Gestammelte zweier Verrückter. Majestic bedeutete aber auch, dass unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt war und vielleicht sogar unser Leben in akuter Gefahr: Es war nicht vorauszusehen, was Bach mit uns vorhatte.

Ich saß neben Phil Albano im Fond eines großräumigen Plymouth, einer jener Familienkutschen, in denen man wohl kaum Agenten einer Organisation wie Majestic vermuten würde. Kim und meinen Bruder hatte man in einem zweiten Wagen untergebracht; offenbar hatte es Albano für sinnvoll gehalten, mich und Kim zu trennen.

»Wie seid ihr eigentlich auf unsere Spur gekommen?«, fragte ich Albano in dem Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Aber wie ich erwartet hatte, verzichtete er auf jegliche Antwort. Mit bewegungslosem Gesicht saß er neben mir; die schwarze Sonnenbrille auf seiner Nase wirkte in der Dunkelheit noch deplatzierter als sonst. Zum wiederholten Male fragte ich mich, wie er es eigentlich schaffte, durch die dunklen Gläser auch in der Nacht jede Einzelheit wahrzunehmen, zumal mir noch nie aufgefallen war, dass er irgendwann einmal etwas übersehen hätte.

»Was soll das, Phil«, sagte ich mürrisch. »Immerhin habe ich euch Steel geliefert.« Als er nicht antwortete, fuhr ich fort: »Ihr habt ihn euch doch geschnappt, oder?«

Diesmal antwortete Albano. »Ja, wir haben ihn uns geschnappt«, sagte er ruhig. »Um den brauchst du dir jedenfalls keine Sorgen mehr zu machen.«

»Ah ja. Umso besser.« Ich überlegte verzweifelt, wie ich das Gespräch in Gang halten konnte; denn schließlich war es möglich, dass ich etwas erfuhr, was mir später weiterhelfen würde. »Und habt ihr die Sache mit Oswalds Tod überprüft?«, fragte ich weiter.

Albano wandte den Kopf zu mir und sah mich einen Moment lang schweigend an. »Du quatschst zu viel, Loengard«, sagte er dann. »Wir sitzen doch hier nicht beim Bier zusammen und unterhalten uns über alte Zeiten.«

Allerdings nicht. Diese Vorstellung war auch etwas grotesk; ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand mit Albano typisches Bargeplänkel austauschte. Und schon gar nicht, wenn es um Majestic ging. »Mir ist nicht nach Smalltalk zu Mute«, antwortete ich dennoch ungehalten. »Aber es könnte ja sein, dass ich noch mehr weiß. Es könnte sein, dass ein Gespräch zwischen uns wie zwischen erwachsenen Leuten den Sinn hätte, uns auf den gleichen Kenntnisstand zu setzen.«

Albano nahm meine Worte ohne sichtbare Regung auf. Aber dennoch war da eine Kleinigkeit anders als sonst, das unbestimmte Gefühl, dass etwas seine simple Sicht, die Dinge zu betrachten, durcheinander gebracht hatte und er sich nicht ganz sicher war, ob es nicht vielleicht doch besser war, sich auf ein Gespräch einzulassen. »Du bluffst, Loengard«, behauptete er. »Du weißt gar nichts. Das mit Steel war ein Glückstreffer. Außerdem hätten wir ihn auch ohne dich erwischt; er hatte den Bogen bereits überspannt und hätte ein, zwei Tage später auffliegen müssen.«

»Aha. Und wie das?«

»Was, zum Teufel, geht dich das an?« Phil Albano wirkte trotz seiner schroffen Worte so distanziert wie immer - aber immerhin unterhielt er sich mit mir. Und das allein war schon ungewöhnlich genug.

»Es geht mich eine ganze Menge an«, antwortete ich ernsthaft und mit dem festen Entschluss, meinen einzigen Trumpf hier und jetzt auszuspielen. »Schließlich bringt ihr mich nach Majestic zurück.« Obwohl ich vorhatte, so ruhig wie möglich zu bleiben, konnte ich nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte. »Und da läuft nicht nur Steel mit netten kleinen Ganglien rum.«

Ich glaubte im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung zu erkennen, dass Albano die Stirn runzelte. Vielleicht täuschte ich mich auch. Aber dennoch: Ich hatte ihn immer als einen Soldaten betrachtet und als sonst nichts. Ein Mann, der Befehlen gehorchte und im Rahmen überschaubarer Regeln problemlos mit dem Unfassbaren umgehen konnte, solange es sich nur irgendwie bekämpfen ließ. Was aber musste in diesem Mann vorgehen, wenn er nicht wusste, ob seine Vorgesetzten und Kollegen vielleicht von einem bösen Geist besessen waren, von etwas, das wir Hive nannten? Ging es ihm nicht ähnlich wie schlachterprobten Kriegern im Mittelalter, die zwar Tod und blutrünstige Massaker nicht fürchten, wohl aber das unerklärbar Dämonische, das monströs Teuflische, den Leibhaftigen, der ihrem Glauben zufolge in jedem Menschen stecken konnte?

»Wenn du etwas weißt, dann spuck es aus«, sagte Albano ruhig. »Sonst spar dir deine Rede für Bach. Er ist für dein Seelenleben verantwortlich, nicht ich.«

Ich unterdrückte die Bemerkung, dass mein Seelenleben weder ihn noch Bach irgendetwas anging. »Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher«, sagte ich stattdessen laut. »Ich kann dir mehr sagen, wenn du mir verrätst, wie ihr Steel geschnappt habt.«

»Das klingt nach einem Kuhhandel«, sagte Albano verächtlich. »Auf so etwas lasse ich mich prinzipiell nicht ein.«

»Nenn es, wie du willst«, sagte ich so beherrscht wie möglich. »Aber was hast du zu verlieren? Ich bin ein Gefangener Majestics. Und das, was ich sowieso schon weiß, dürfte weit über das hinausgehen, was du mir erzählen kannst.«

»Kann sein«, sagte Albano. »Ich sehe trotzdem nicht ein, warum du die Geschichte von Steels... eh... Verhaftung wissen musst, um mir einen Verdacht zu nennen.«

»Weil es etwas schwerer ist, als zwei und zwei zusammenzuzählen«, sagte ich eindringlich. »Schließlich habe ich auch Steel enttarnt, bevor ihr das geschafft habt. Vielleicht gelingt mir das auch in einem anderen Fall.« Ich biss mir auf die Lippe; es war eine unbewusste Geste, die Albano meine Unsicherheit verraten hätte, wenn er sie gesehen hätte. Aber wir fuhren jetzt durch eine unbeleuchtete Seitenstraße und damit hatte Albano, mit oder ohne Sonnenbrille, keine Chance, irgendetwas zu sehen.

Albano ließ mich ein paar Sekunden zappeln. Die zu weiche Federung des Plymouth schüttelte mich währenddessen durcheinander und mir fiel plötzlich ein Fahrbericht in der Washington Post ein, der diesen Wagen weich und instabil wie ein Sofakissen genannt hatte. Komisch, welche Dinge einem manchmal in den Kopf kommen. Dabei war mein Gefühl viel mehr bei Kim, die mit Ray in dem vor uns fahrenden Straßenkreuzer saß und sicherlich nicht weniger verzweifelt war als ich. Wenn ich wenigstens neben ihr hätte sitzen können! Doch so konnte ich sie nicht einmal trösten.

»Also gut«, sagte Albano schließlich. »Schließen wir den Kuhhandel. Ich erzähl’ dir alles über Steel und dann sagst du mir, was du daraus für Schlüsse ziehst.«

Das war mehr, als ich erwartete hätte. »Okay«, sagte ich trotzdem schwächlich und plötzlich gar nicht mehr so sicher, dass mein Bluff eine gute Idee gewesen war.

»Bach ist dem Hinweis, dass Steel hive sein könnte und an der Ermordung Lee Harvey Oswalds beteiligt war, sofort nachgegangen«, begann Albano ruhig, während er die Sonnenbrille abnahm und gedankenverloren mit ihr spielte. »Er hat alles andere hintangestellt und sich den Film besorgen lassen, der Oswalds Ermordung zeigt. Und dabei sind wir dann tatsächlich auf etwas gestoßen, was bis dahin undenkbar gewesen wäre.« Albano fuhr fort, mit ruhiger, sachlicher Stimme von den Ereignissen nach meinem Telefonat mit Bach zu berichten. Und doch hatte seine Art zu erzählen eine ganz eigene Kraft, etwas, das mich seine Worte in der Phantasie so ergänzen ließ, dass sich ein geradezu plastisches Bild der Ereignisse in mir formte.

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