22. November 1963, 15:56 Norman, Oklahoma

Das Ortsschild, das vor zehn Minuten am linken Straßenrand an uns vorüber gehuscht war, war das letzte Anzeichen menschlicher Zivilisation gewesen. Seither war die Straße nicht nur immer schlechter geworden, sondern unser Tempo auch ständig weiter gesunken. Seit fünf Minuten bewegten wir uns nur noch im Schritttempo. Beiderseits der festgefahrenen Piste, von der meine Karte in einem Anfall von Größenwahn behauptete, es handele sich um eine Straße, erstreckte sich eine karge, fast wüstenähnliche Landschaft: ausgedörrter Boden, aus dem nur hier und da ein vertrockneter Strauch ragte, kantige Hügel, da und dort das Skelett eines Baumes, der selbst in seiner besten Zeit nicht mehr als Mannsgröße erreicht hatte, Kieselsteine von der Größe eines Einfamilienhauses... Es war schwer zu glauben, dass wir uns mitten in Oklahoma befanden und nicht auf der Rückseite des Mondes oder auf irgendeinem fremden, unbewohnten Planeten. Aber für unser Vorhaben war diese Umgebung perfekt. Ich hatte eine halbe Stunde lang die Karte studiert, um einen passenden Ort zu finden, und das Ergebnis übertraf beinahe meine Erwartungen.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Kimberley. Es waren die ersten Worte, die sie sprach, seit wir das Motel verlassen hatten. Ihre Stimme klang flach und drückte noch mehr von ihrer Müdigkeit aus, als es die unnatürliche Blässe ihres Gesichtes und die tief eingegrabenen, dunklen Linien darin taten.

Ich versuchte die Karte zu rekapitulieren, suchte gleichzeitig nach einem bestimmten Geländemerkmal und zuckte schließlich mit den Schultern. »Zwei oder drei Meilen«, schätzte ich. »Warum?«

Kimberley antwortete nicht. Ich war auch nicht sicher, ob sie meine Worte überhaupt gehört hatte. Ich wandte flüchtig den Kopf, sah ihr ins Gesicht und erschrak, als ich sie anblickte - obwohl ich wusste, was ich sehen würde. Kim war totenbleich und ihre Augen blickten glasig. Sie hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen - das ganze Land hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen - aber das war nicht der alleinige Grund für ihren Zustand. Der Schock, der die gesamte Nation befallen hatte, hatte auch uns ergriffen, aber unser Schrecken ging tiefer. Vielleicht, weil Kim und ich wussten, was wirklich geschehen war. Oder es in diesem Moment zumindest zu wissen glaubten.

Der Chevy rumpelte über einen trockenen Ast, der quer über der Straße lag und mit einem trockenen Knall zerbrach. Das Geräusch klang in meinen Ohren wie ein Schuss.

»Wir haben ihn getötet, John«, murmelte Kim.

Ich sah überrascht hoch. »Wie?«

»Wir haben ihn umgebracht, John«, wiederholte Kimberley. »Wir haben den Präsidenten getötet.«

»Unsinn!«, antwortete ich impulsiv - und nicht annähernd so überzeugt, wie ich es sein sollte. Vielleicht hatte sie Recht. Es konnte nicht sein, weil es nicht sein durfte, aber vielleicht stimmte es dennoch. Bach hatte mir gesagt, dass wir uns im Krieg befanden, und vielleicht waren gestern Nachmittag in Dallas die ersten realen Schüsse gefallen. Und vielleicht war es meine Schuld, dass man sie abgefeuert hatte. Trotzdem sagte ich noch einmal und mit größerem Nachdruck: »Nein! Es war nicht unsere Schuld!«

»Wir haben ihm alles erzählt und jetzt ist er tot«, beharrte Kim.

»Das ist... Zufall«, beharrte ich. »Ein schrecklicher Zufall, mehr nicht. Nicht einmal Bach würde es wagen, so weit zu gehen. Ich traue diesem Mann beinahe alles zu, aber nicht, dass er den Befehl gegeben hat, Kennedy zu ermorden!«

»Nein. Weil er so ein guter Mensch ist.«

»Nein. Weil er nicht dumm ist«, antwortete ich gereizt. »Er kann nicht damit rechnen, damit durchzukommen. Sie werden nicht eher ruhen, bis sie herausgefunden haben, wer hinter dem Attentat steckt. Ganz egal, wie lange es dauert und wie viele einflussreiche Personen darin verwickelt sind. Dieses Risiko würde er niemals eingehen!«

Kim sah mich mit einem Ausdruck leichter Überraschung an und ich fragte mich einen Moment lang selbst, warum ich Bach - ausgerechnet Bach! - so vehement verteidigte.

Vielleicht weil ich einfach nicht wahrhaben wollte, dass Kim Recht haben könnte. Und was es für mich bedeutete...

»Wir... mussten es jemandem sagen«, fuhr ich nach einer Weile fort. »Ich hätte nicht weiterleben und so tun können, als wäre nichts geschehen. Und du auch nicht.«

»Sie dürfen nicht gewinnen«, murmelte Kim. »Wir dürfen sie nicht gewinnen lassen.«

Ich sah sie erneut an, ein wenig überrascht von dem Mut, der aus ihren Worten sprach, aber auch von einem plötzlichen Gefühl tiefer Zuneigung und Wärme erfüllt, das mich dazu brachte, die rechte Hand vom Lenkrad zu lösen und den Arm um ihre Schulter zu legen. Kimberley lehnte den Kopf gegen mich und schloss die Augen. Ihr Atem beruhigte sich und einen Moment lang dachte ich, sie wäre eingeschlafen. Aber dann fragte sie ganz leise:

»Sind wir die Nächsten, John?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Aber vielleicht machte ich mir nur selber etwas vor. Wenn es so war, wie Kim glaubte, wenn tatsächlich Bach den Mord an Kennedy angeordnet hatte, dann mussten sie uns töten.

Ich weigerte mich, es zu glauben. Diesen Gedanken zu akzeptieren hätte zugleich auch bedeutet, mich einer anderen, noch viel erschreckenderen Erkenntnis zu stellen, nämlich der, dass wir keine Chance hatten. Wir waren Verdammte, hilflos einem Gegner ausgeliefert, der in der Lage war, den Präsidenten der Vereinigten Staaten am helllichten Tag zu töten - warum sollte er uns fürchten?

Vielleicht weil wir im Besitz der einzigen Waffe waren, die ihn vernichten konnte: der Wahrheit.

»Ich habe Angst, John«, murmelte Kim.

»Ich auch«, antwortete ich. »Aber wir können sie schlagen. Wir müssen es.«

Es war Blut geflossen. Der Krieg, von dem Bach gesprochen hatte, war in eine neue Phase getreten, und ich wusste in diesem Moment mit unerschütterlicher Sicherheit, dass dies keineswegs das Ende, sondern erst der Beginn war. Mehr Blut würde fließen und grauenvolle Dinge geschehen. Vielleicht würde das nächste Blut, das vergossen wurde, unseres sein.

Aber das sprach ich nicht aus.

Ich hatte die Weggabelung entdeckt, nach der ich Ausschau gehalten hatte, und nahm den Fuß vom Gaspedal; gleichzeitig kuppelte ich aus. Das Brummen des Motors sank zu einem kaum hörbaren Geräusch herab. Unter den Reifen knirschten Kies und trockene Äste, als ich den Wagen ausrollen ließ und ihn dabei von einer schlechten auf eine noch schlechtere Straße lenkte. Trotz seines Alters lief der Motor einwandfrei; heute vielleicht noch leiser und gleichmäßiger als sonst. Fast als ahnte er, was geschehen würde.

Wir hielten an. Ganz automatisch drehte ich den Zündschlüssel herum und zog ihn ab; dann besann ich mich eines Besseren, steckte ihn wieder ins Schloss und startete den Motor. Ich musste mir angewöhnen, nicht mehr so viele Dinge automatisch zu tun. Ich musste mir sehr viel an- und abgewöhnen, um das Leben als Gejagter zu meistern.

Kimberley stieg aus und nahm die Reisetasche mit den wenigen Dingen aus dem Kofferraum, die wir am Morgen ausgesucht hatten. Der größte Teil unserer Habseligkeiten würde zurückbleiben, darunter auch einige persönliche Dinge, deren Verlust wirklich schmerzte. Aber es musste perfekt sein.

Während Kim schweigend Abschied von den wenigen Gegenständen nahm, die einen Großteil unseres zurückliegenden Lebens repräsentierten, ging ich einen flachen Hügel hinauf und sah nach Westen. Die Landschaft dort war nicht weniger öde als die, durch die wir in den letzten zehn Minuten gefahren waren. Mit einem Unterschied: Nicht weit entfernt zog sich das staubige Asphaltband einer Interstate wie ein mit einem überdimensionalen Lineal gezogener Strich durch die Ödnis. Die Bushaltestelle war weiter entfernt, als ich nach einem Blick auf die Karte angenommen hatte. Eine gute halbe Stunde Fußmarsch, schätzte ich. Nun ja, man konnte nicht alles haben.

Ich ging zu Kim zurück, die sich mittlerweile zehn oder zwölf Meter vom Wagen entfernt hatte. Wortlos griff ich unter die Jacke, zog meine Pistole und feuerte rasch hintereinander vier Schüsse auf den Wagen ab. Zwei Kugeln stanzten runde Löcher in den Kofferraumdeckel, die dritte prallte als heulender Querschläger vom Seitenholm ab, während die vierte eine fast meterlange, hässliche Narbe in die Fahrertür pflügte. Perfekt; wenigstens fast. Vielleicht hätte ich den Wagen nicht langsam ausrollen lassen, sondern mit einer Vollbremsung zum Stehen bringen sollen, um entsprechende Spuren zu hinterlassen. Nun war es zu spät.

Ich trat zurück und wandte mich zu Kimberley um. Auf ihrem Gesicht lag ein sonderbarer Ausdruck. Sie hatte die Lippen zu einem schmalen, blauen Strich zusammengepresst.

»Was hast du?«, fragte ich.

Kim deutete ein Achselzucken an und ein knappes, unechtes Lächeln. »Nichts«, behauptete sie. »Ich musste nur gerade daran denken, wie du ihn gekauft hast. Du warst so stolz damals.«

»Es ist nur ein Auto, Kim«, antwortete ich.

Aber das stimmte nicht. Es war unser erster gemeinsamer Wagen gewesen und in einer gewissen Art und Weise war er viel mehr als ein lebloses Stück Metall. Er war Teil unseres Lebens und Symbol unserer Selbständigkeit - nicht zu vergleichen mit dem alten Ford meines Vaters, den ich mir früher manchmal ausgeliehen hatte und der mir immer nur als Symbol der Abhängigkeit von meiner Familie erschienen war. Ich hob die Waffe, entsicherte sie wieder und drückte sie Kim in die Hand. Sie sah mich fast erschrocken an, aber ich nickte nur auffordernd, trat einen Schritt zur Seite und deutete auf den Chevy.

»Es ist einfacher, wenn du sie mit beiden Händen hältst. Und erschrick nicht. Der Rückschlag ist ziemlich stark.«

Kimberley zielte mit beiden Händen. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie lernte, mit einer Waffe umzugehen.

»Ziel auf die Heckscheibe«, sagte ich. »Nicht zu tief.« Ich wollte nicht, dass sie den Tank traf. Wir waren weit genug entfernt, um nicht in Gefahr zu sein, aber wir wollten schließlich nicht, dass die Polizei ein ausgebranntes Wrack fand. Kims erster Schuss ging daneben und schlug Funken aus einem Felsen, meterweit entfernt, aber die beiden anderen saßen perfekt im Ziel. Die Heck- und Frontscheibe des Chevy zerbarsten in einem Hagel winziger, rechteckiger Glassplitter. Mit einem erschöpften Laut ließ sie die Waffe sinken und wandte sich ab. Sie sah tatsächlich ein bisschen so aus, als hätte sie gerade einen guten Freund erschossen; so, wie ich mich fühlte. Es war fast unheimlich, wie ähnlich sich unsere Gedankengänge und Empfindungen manchmal waren.

Ich nahm ihr die Waffe ab, steckte sie ein und trat ein letztes Mal an den Wagen heran. Der Motor lief noch immer und das würde wahrscheinlich auch so bleiben, bis der Tank leer war. Die Sitze waren mit scharfkantigen Glastrümmern übersät, von denen ich eine Hand voll ergriff. Ich schloss die Finger kurz und hart zur Faust. Ein scharfer Schmerz, und das Glas in meiner Hand vermengte sich mit Blut, das ich sorgfältig über Lenkrad, Armaturenbrett und das Rückenpolster des Fahrersitzes verteilte. Damit war die Szene perfekt. Alles mehr wäre zu viel gewesen.

Rasch wandte ich mich um und ging zu Kimberley zurück. Sie hatte die schmale Reisetasche mit dem wenigen, das uns verblieben war, bereits ergriffen und ging den Hügel hinauf, den ich vorhin als Aussichtspunkt benutzt hatte. Sie sah nicht zum Wagen zurück.

»Glaubst du, dass sie darauf reinfallen?«, fragte sie.

»Die Polizei?« Ich nickte. »Zwei naive junge Leute, die leichtsinnig genug waren, mit dem Wagen in diese gottverlassene Gegend zu fahren und Opfer eines Verbrechens wurden. So etwas kommt vor. Öfter, als man denkt.«

»Bach«, sagte Kimberley.

Diesmal bestand meine Antwort aus einem sekundenlangen Schweigen, gefolgt von einem Kopfschütteln. Es hatte wenig Sinn, sich etwas vorzumachen. Bach war selbst ein zu guter Lügner, um auf einen so simplen Trick hereinzufallen. Vielleicht würde es uns ein wenig Zeit verschaffen, aber viel wichtiger war die Botschaft, die ich ihm damit schickte. Sieh her, Majestic, sagte der Wagen hinter uns, wir spielen das Spiel. Es würde sie vorsichtiger machen. Sie würden sich mehr Zeit nehmen, bevor sie uns aufgriffen, und in jedem Schatten eine Bedrohung vermuten.

Schweigend machten wir uns an den langen Fußmarsch zur Bushaltestelle. Der Wind war sehr kalt.


Die Telefonzelle war immer noch besetzt. Ich war vor gut fünfzehn Minuten hereingekommen, genau im richtigen Moment, um zu sehen, wie ein dunkelblauer Buick vor der Telefonzelle auf der anderen Seite des Parkplatzes anhielt und der Fahrer ausstieg, um die Zelle zu betreten und zu telefonieren.

Seither wartete ich darauf, dass er aufhörte.

Eine Kellnerin in Jeans und einer weißen Spitzenbluse trat an meinen Tisch und schwenkte fragend eine Kaffeekanne. Ich nickte wortlos, wartete, bis sie mir nachgeschenkt hatte, und wandte meine Konzentration dann wieder der Telefonzelle zu. Der Fahrer des Buick stand noch immer darin und telefonierte. Ich hoffte nur, dass er nicht sämtliche Anzugtaschen voller Münzen hatte, um hier die halbe Nacht zu verplempern.

Es begann zu dämmern. Der Schatten der Telefonzelle war auf das Doppelte angewachsen, seit ich am Fenster saß und sie beobachtete, und hier drinnen begannen die Farben zu verblassen. Trotzdem machte niemand Anstalten, das Licht einzuschalten. Auch der Geräuschpegel war nicht der, den man von einem Fast-Food-Restaurant am Rande eines Highway mit dem wenig einfallsreichen Namen Driver’s Inn erwartete. Der größte Teil der mit rotem Steppleder bezogenen Bänke war besetzt und die beiden Kellnerinnen hatten alle Hände voll zu tun, Bestellungen aufzunehmen, die Gäste zu bedienen und zu kassieren. Trotzdem herrschte eine fast gespenstische Stille. Niemand lachte. Die wenigen Gespräche wurden schleppend und im Flüsterton geführt. Die einzige permanente Geräuschquelle war der Fernseher, der an der Wand über der Theke hing. An diesem Abend liefen jedoch weder die üblichen Soap-Operas noch Spielfilme oder Musiksendungen. Seit ich hereingekommen war, war noch kein einziger Werbespot gesendet worden. Dafür wechselten sich die ernsten Gesichter von Nachrichtensprechern und Politikern ab.

Nicht nur dieses Restaurant, das ganze Land stand noch unter Schock. Es war der Tag nach dem Kennedy-Mord und ich hatte das Gefühl, dass die meisten noch gar nicht richtig begriffen hatten, was dieses schreckliche Attentat wirklich bedeutete. Es war nicht einfach nur ein Mord. Lee Harvey Oswald hatte mehr getan, als einen Politiker zu erschießen. Amerika war die mächtigste Nation der Welt, aber all unser Stolz, all unser Mut und all unsere Waffen und überlegene Technik hatten einen einzelnen Mann nicht davon abhalten können, den Führer dieses mächtigen Landes auf offener Straße zu erschießen. Viele der Menschen, die wir heute getroffen hatten, hatten geweint. Auf anderen Gesichtern hatte ich Zorn gelesen, aber auch Verbitterung, ohnmächtige Wut oder auch einfach nur Fassungslosigkeit. Oswald hatte mehr getan, als einen Menschen zu erschießen. Er hatte uns allen unsere Verwundbarkeit vor Augen geführt und er hatte einen Mythos zerstört: den bis gestern fast unerschütterlichen Glauben an eine bessere Welt, den Kennedy vielleicht mehr verkörpert hatte als jeder andere Präsident der USA zuvor.

Oswald...

Ich bezweifelte, dass der Mörder Kennedys tatsächlich Lee Harvey Oswald hieß. Möglicherweise hatte er die Waffe gehalten, aus der die tödlichen Schüsse abgegeben worden waren, aber der wahre Mörder war ein ganz anderer.

Vielleicht kannte ich sogar seinen Namen.

Ich riss meinen Blick fast gewaltsam vom Fernseher los, sah wieder zu der Telefonzelle am Ende des Parkplatzes und stellte ohne sonderliche Überraschung fest, dass der Buick-Fahrer sie noch immer besetzt hielt. Hoffentlich hatte er nicht vor, darin zu überwintern.

»Noch einen Kaffee?«

Die Stimme der Kellnerin riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah hoch, blickte dann wieder auf meine Tasse hinab und schüttelte den Kopf. Ich hatte den Kaffee, den sie mir vor fünf Minuten gebracht hatte, noch nicht einmal angerührt. »Danke. Ich... habe noch.«

Die Kellnerin - das handgeschriebene Namensschildchen auf ihrer Bluse identifizierte sie als Helen - nahm ein sauberes Gedeck vom Nebentisch und tauschte die Tassen aus. »Er schmeckt nicht, wenn er kalt ist«, sagte sie. »Trinken Sie. Sie sehen aus, als hätten Sie es nötig.«

Sie setzte sich unaufgefordert, schenkte sich selbst eine halbe Tasse ein und fuhr sich erschöpft mit beiden Händen durch das Gesicht, nachdem sie selbst an ihrem Kaffee genippt hatte. »Fünf Minuten«, seufzte sie. »Ich brauche einfach eine Pause - Sie haben doch nichts dagegen?«

Obwohl das Lokal gut besucht war, gab es noch fast ein halbes Dutzend leerer Tische, an die sie sich hätte setzen können. Aber ich konnte verstehen, dass sie nicht allein sein wollte. Nicht an einem Tag wie diesem. So nickte ich, obwohl mir eigentlich nicht nach Gesellschaft war.

»Sind Sie allein?«, fragte sie.

»Nein. Meine Frau ist in unserem Zimmer.«

Helen nippte wieder an ihrem Kaffee, dann fragte sie mit überraschender Direktheit: »Ihr hattet doch keinen Streit, Honey?«

»Nein«, antwortete ich. »Sie ist nur müde. Wir haben nicht gut geschlafen letzte Nacht.«

»Wer hat das schon?«, sagte Helen kopfschüttelnd. Ihr Blick wanderte zum Fernseher. »Ist es nicht furchtbar? Er war so ein netter Mann. Warum tun Menschen so etwas?«

Ich zuckte nur mit den Schultern. Helen sah mich einen Moment lang erwartungsvoll an, dann änderte sich etwas in ihrem Blick und sie stand auf. »Ihnen ist nicht nach Reden zumute, wie?«, fragte sie. »Entschuldigen Sie die Störung.«

Sie ging. Um ein Haar hätte ich sie zurückgerufen, um mich bei ihr zu entschuldigen. Meine Schweigsamkeit hatte nichts mit Unhöflichkeit zu tun. Aber ich hatte nicht auf sie eingehen können. Ich war nicht sicher, ob ich es über mich gebracht hätte, mit den Worten zu antworten, die sie wahrscheinlich erwartete: Weil sie verrückt sind.

Vielleicht hätte ich ihr die Wahrheit gesagt. Auch wenn sie so unglaublich war, dass es selbst mir jetzt manchmal noch schwer fiel, sie zu glauben.

Bach, Majestic-12, die Grauen und die Ganglien... das alles erschien mir plötzlich so bizarr, so irreal, dass es einfach nicht wahr sein konnte; Teil eines Albtraums, in den ich vor mehr als einem Jahr gefallen war und aus dem ich einfach nicht aufzuwachen vermochte, ganz egal, wie sehr ich es auch versuchte. Ein Albtraum, der wie ein Wirbelsturm über Kims und mein Leben hinweggetobt war und es so gründlich durcheinander geworfen hatte, wie es nur ging.

Das Geräusch eines startenden Wagens drang in meine Gedanken. Ich sah hoch, stellte fest, dass der Buick verschwunden und die Telefonzelle leer war, und stand rasch auf. Im Vorbeigehen legte ich eine Dollarnote auf die Theke und erwiderte Helens Nicken; zugleich war ich mir aber auch ihres sonderbaren Blicks bewusst.

Vielleicht war er auch gar nicht sonderbar. Vielleicht - wahrscheinlich - war es ein ganz normaler Blick und ich war es, der irgendetwas hineindeutete, das es nicht gab. Möglicherweise ging die größte Gefahr in einem Leben als Beute nicht von den Jägern aus, die einen hetzten, sondern von der Unfähigkeit, Freund und Feind auseinander zu halten.

Es war dunkel geworden, als ich aus dem Restaurant trat und den Parkplatz überquerte, und kalt. Fröstelnd schlug ich den Mantelkragen hoch und vergrub die Hände in den Taschen; wahrscheinlich sah ich in diesem Moment wirklich aus wie ein Geheimagent in einer Slapstick-Komödie. Streng genommen benahm ich mich sogar so. Wenn mich irgendjemand beobachtete, mochte er sich fragen, warum ich zu der Telefonzelle ging, statt den Apparat im Restaurant zu benutzen, oder den in unserem Zimmer. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es einen Unterschied machen würde.

Ich konnte nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, mich verstohlen nach allen Seiten umzusehen, bevor ich in die Zelle trat und die Nummer wählte, die ich auswendig gelernt hatte. Das Freizeichen ertönte; zweimal, dreimal, viermal... Bobby Kennedy hatte mir gesagt, dass ich Geduld brauchte, wenn ich diese Nummer wählte, aber es fiel mir unendlich schwer, sie aufzubringen. Endlich brach das Klingeln ab und eine ungeduldige Männerstimme fragte: »Ja?«

»Dark Skies«, antwortete ich. Ob Kennedy wohl geahnt hatte, welch düstere Bedeutung dieses Kennwort erhalten würde, als er es mir vorschlug?

Ich bekam keine Antwort, aber wieder verging Zeit, in der der Telefonhörer stumm blieb, bis auf ein gelegentliches, ganz leises Klicken und Summen vielleicht. Wahrscheinlich wurde das Gespräch weitergeleitet, bis es Robert Kennedy irgendwo erreichte. Ich hoffte, dass das der Grund für die Störgeräusche war. Kennedy hatte mir versichert, dass diese spezielle Nummer absolut abhörsicher sei, und ich betete, dass er damit Recht hatte. Nach einer Ewigkeit meldete sich eine weitere Stimme. Ich wiederholte das Kennwort. Diesmal wurde ich nicht weitergeschaltet, aber es vergingen trotzdem noch einmal gute zwei oder drei Minuten, ehe sich endlich Bobby Kennedys Stimme meldete. »John?«

»Mister Kennedy!«, begann ich. »Ich... ich möchte Ihnen mein Beileid ausdrücken. Es tut mir so unendlich leid. Hätte ich geahnt, was geschieht, dann hätte ich Sie und Ihren Bruder niemals...«

Ich konnte nicht weiter sprechen. Ich hatte zu plappern begonnen, wie ein aufgeregter Schuljunge, und plötzlich war alles, was ich mir im Laufe des Nachmittages sorgsam zurecht gelegt hatte, einfach weg. Mein Herz hämmerte und meine Kehle war wie zugeschnürt.

»Sind Sie in Ordnung, John?«, fragte Kennedy, als ich auch nach endlosen weiteren Sekunden nicht weitersprach.

»Natürlich«, antwortete ich hastig. »Es... es tut mir leid.«

»Was haben Sie damit gemeint?«, fragte Kennedy. Plötzlich klang seine Stimme hart, fordernd und nicht mehr annähernd so sympathisch, wie ich sie in Erinnerung hatte.

»Was?«, fragte ich. Ich wusste genau, was er meinte.

»Gerade, als Sie sagten, Sie hätten nicht geahnt, was geschieht«, antwortete Kennedy. Er atmete hörbar ein. »Wollen Sie damit andeuten, dass... Majestic etwas mit dem Attentat auf meinen Bruder zu tun hat?«

»Nein!«, antwortete ich hastig. »Ich... Es tut mir leid. Es ist alles so verwirrend. Ich weiß selbst nicht mehr, was ich noch glauben soll.«

»Das verstehe ich gut«, antwortete Kennedy. »Wir werden herausfinden, was wirklich passiert ist, John, das verspreche ich Ihnen. Und wir werden die Täter bestrafen. Ganz egal, wer sie sind.« Einen Moment blieb es still und diese Pause sagte mir mehr als alle Worte, dass der Tod seines Bruders diesen Mann keineswegs so ungerührt gelassen hatte, wie es zunächst schien. »Aber es ist gut, dass Sie anrufen, John«, fuhr er schließlich in beherrschtem Tonfall fort. »Ich brauche Ihre Hilfe. Geht es Ihnen und Kimberley gut?«

»Ja«, antwortete ich. »Was kann ich tun?«

»Unser Beweis ist immer noch in Dallas«, sagte Kennedy knapp.

Im ersten Moment verstand ich nicht einmal, wovon er sprach; aber dann erschrak ich bis ins Mark. »Die Folie?«, keuchte ich. »Das Trümmerstück aus Bachs Amulett?«

»John hat es jemandem in Verwahrung gegeben«, bestätigte Kennedy. »In der Nacht, bevor er starb. Wir müssen es zurückhaben. Und im Moment sind Sie so ziemlich der einzige Mensch auf der Welt, dem ich in dieser Angelegenheit noch trauen kann. Und... da ist noch etwas.«

»Sir?«, fragte ich. Das Zögern in seinen Worten gefiel mir nicht.

»Ich habe Bach gesehen«, antwortete Kennedy. »Ich habe nur ein sehr altes, schlechtes Foto von ihm, aber ich bin fast sicher, dass er es war.«

»Wo?«, fragte ich. »Wann?«

»Vor einer Stunde auf dem Flughafen«, antwortete Kennedy. »Ich habe das Gefühl, dass er versuchte, Johns persönliche Sachen zu durchsuchen. Sie wissen, was das bedeutet, wenn es wahr ist.«

Mein Mund war plötzlich ganz trocken. Ich hatte Mühe, zu antworten. »Er weiß, dass wir das Artefakt haben.«

»Wir sollten lieber davon ausgehen, dass es so ist, ja«, antwortete Kennedy. »Sie müssen schnell handeln, John. So lange er das Trümmerstück noch in unserem Besitz vermutet, sind Sie einigermaßen sicher. Aber Bach ist nicht dumm. Ich glaube nicht, dass Ihnen viel Zeit bleibt. Unser Vertrauensmann erwartet Sie morgen Vormittag im Hotel TEXAS in Fort Worth. Zimmer 422.«

»Ich werde da sein«, versprach ich.

»Gut, John. Seien Sie vorsichtig. Und... viel Glück.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Ich starrte den Hörer in meiner Hand noch einen schweren Herzschlag lang an, dann hängte ich ein und verließ die Telefonzelle.


Kim schlief, als ich in unser Zimmer zurückkehrte. Ich hatte einen großen Umweg gemacht, nicht nur, um vom Restaurant aus nicht mehr gesehen zu werden, sondern auch, um noch ein wenig Zeit für mich zu gewinnen, in der ich meine Gedanken ordnen konnte.

Es hatte nichts genutzt. Ich fühlte mich verunsicherter und verstörter als vor meinem Gespräch mit Kennedy und ich wusste weniger denn je, was ich tun sollte. Kennedys Worte hatten mir nicht einmal Aufschluss über die Frage gegeben, ob Bach und Majestic nun wirklich etwas mit dem Attentat auf seinen Bruder zu tun hatten oder nicht. Zweifellos wusste Bach mittlerweile, dass wir ihm das Trümmerstück gestohlen hatten: Ein Bruchstück des UFOs, das vor sechzehn Jahren in der Nähe von Roswell abgestürzt war und das er seither in einem Medaillon auf der Brust bei sich trug. Und ebenso zweifellos wusste er auch, wem wir dieses Trümmerstück zusammen mit anderen Informationen über Majestic-12 zugespielt hatten - und warum. Das alles jedoch war noch lange kein Beweis, dass Bach tatsächlich hinter dem Anschlag auf Kennedy steckte. Ebenso gut konnte er versuchen, die momentane Verwirrung auszunutzen, um sein Eigentum zurückzubekommen.

Ich schaltete kein Licht ein, als ich das Motelzimmer betrat, sondern tastete mich im Halbdunkeln zum Nachttisch, nahm den Fahrplan, den ich vorhin darauf gesehen hatte, und ging damit ins Bad. Bevor ich den Lichtschalter betätigte, schloss ich sorgsam die Tür. Ich wollte Kim nicht wecken. Nach allem, was hinter uns lag, hatte sie jede Minute Schlaf bitter nötig.

Der nächste Bus in Richtung Dallas ging in einer halben Stunde; Zeit genug, unser weniges Gepäck zusammenzupacken und ihn zu erreichen. Aber das hätte bedeutet, mitten in der Nacht dort anzutreffen, in einer Stadt, die sich vermutlich in einer Mischung aus Hysterie und Lähmung befand und in der man jedem Fremden mit Misstrauen und Argwohn begegnete. Und dazu kamen noch Bach und seine Leute. Es war besser, wir verbrachten die Nacht hier und gestalteten unseren Aufenthalt in Dallas so kurz wie möglich.

Der nächste Bus ging in gut drei Stunden; also konnte ich Kimberley noch zweieinhalb Stunden Schlaf gönnen - zweieinhalb Stunden, die wach zu bleiben mir wahrscheinlich umso schwerer fallen würden. Ich war zwar noch immer aufgewühlt und so nervös, dass es mir nicht einmal gelang, den Fahrplan ruhig in der Hand zu halten, aber die zurückliegenden Stunden begannen allmählich doch ihren Tribut zu fordern. Die Verlockung, mich neben Kim auf dem Bett auszustrecken, einfach nur, um meinen müden Gliedern ein wenig wohlverdiente Ruhe zu gönnen, war groß, aber ich durfte ihr nicht nachgeben. Wenn ich das tat, würde ich wahrscheinlich einschlafen und erst am nächsten Abend wieder wach werden. Und die Verabredung am nächsten Tag im Hotel TEXAS war vielleicht die letzte Chance, die wir noch hatten, jemals in ein wenigstens halbwegs normales Leben zurückzukehren.

Ich ließ das Licht im Badezimmer brennen, ging jedoch nicht in unser Apartment zurück, sondern lehnte mich gegen den Türrahmen und beobachtete Kimberley. Sie lag auf dem Bett und schlief, aber jetzt, nachdem sich meine Augen allmählich an die hier drinnen herrschende Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich auch, dass es kein ruhiger Schlaf war. Sie bewegte sich, warf den Kopf hin und her und stöhnte ganz leise. Ihre Lippen bewegten sich und formten unhörbare Worte. Sie hatte einen Albtraum. Natürlich hatte sie einen Albtraum. Wie hätte sie auch nach dem, was hinter uns lag, ruhig schlafen können?

Ich überlegte einen Moment, ob ich noch einmal ins Drive-in gehen und einen weiteren Kaffee trinken sollte, entschied mich dann aber dagegen. Ich wollte nicht, dass Kim sich allein in der Dunkelheit wiederfand, wenn sie während meiner Abwesenheit erwachte. So ging ich lautlos zum Fernseher, schaltete ihn ein und drehte den Ton ab, noch bevor die Bildröhre Zeit hatte, sich zu erwärmen und hell zu werden. Es dominierte immer noch die gleiche Art trister Berichterstattung: Auf allen vier Kanälen, die ich hereinbekam, waren Nachrichtensprecher mit erstarrten Gesichtern und leeren Blicken zu sehen. Trotzdem drehte ich den Ton behutsam wieder an, bis ich wenigstens bruchstückhaft verstehen konnte, was gesprochen wurde.

Obwohl der Ton gerade an der Schwelle des überhaupt Hörbaren war, war er vielleicht doch schon zu laut, denn Kimberleys Stöhnen nahm schlagartig zu, dann fuhr sie mit einem Schrei hoch, riss die Augen auf und sah sich mit einem Ausdruck um, auf den kein anderes Wort als Panik zutraf. Sie keuchte irgendetwas, das sich wie ein Name anhörte, aber ich verstand es nicht genau.

Mit einem Satz war ich bei ihr, schloss sie in die Arme und erschrak erneut, als ich spürte, wie rasend schnell ihr Puls ging. Sie war in Schweiß gebadet. Vielleicht hatte ich ihr keinen Gefallen getan, sie schlafen zu lassen.

»Es ist alles in Ordnung, Liebling«, murmelte ich. »Keine Angst. Du bist in Sicherheit. Es war nur ein Traum.«

Kim löste sich mit einiger Mühe aus meiner Umarmung, setzte sich noch weiter auf und sah mich auf eine Weise an, die mich schaudern ließ. Sie sah sich immer noch mit wilden Blicken um und das Zittern ihrer Hände nahm nicht ab, sondern im Gegenteil immer mehr zu. »Wo ist er?«, murmelte sie. »Wo...?«

»Wer?«, fragte ich, schüttelte aber praktisch in der gleichen Sekunde den Kopf und sagte noch einmal: »Es war nur ein Traum. Es ist vorbei, Liebling.«

Kimberley atmete hörbar ein, aber dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Nein«, sagte sie.

»Nein? Was meinst du damit?«

»Ich... bin nicht sicher«, antwortete Kimberley. Sie versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine nervöse Geste daraus, die ich nicht genau einordnen konnte. »Ich meine, es... es ist ein Traum, aber ich bin... nicht sicher. Vielleicht... ist es auch eine Erinnerung. Da ist ein Mann. Ein Astronaut.«

»Ein Astronaut?« Ich machte keinen Hehl aus meinem Zweifel.

»Er war... im Schiff«, murmelte Kimberley. »Oben, als... als ich auch dort war.«

Erst jetzt begann ich allmählich zu begreifen. »Das Schiff? Das Schiff der Grauen?«

»Hive«, antwortete Kimberley. »Sie nennen sich Hive.«

»Woher...?« Ich brach ab, ging rasch zur Tür und schaltete das Licht ein. Die plötzliche Helligkeit ließ Kimberley blinzeln, aber sie schien trotzdem nicht in der Lage zu sein, die Dunkelheit zu vertreiben. Es war ein völlig verrückter Gedanke, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, dass Kimberley etwas aus ihrem Albtraum mit herüber in die Wirklichkeit gebracht hatte. Ich ging zurück zum Bett, setzte mich neben sie und streckte die Hand nach ihr aus, aber sie schien vor meiner Berührung zurückzuschrecken.

»Erzähle«, sagte ich leise. »Es ist nicht das erstemal, dass du diesen Traum hast, oder?«

»Ich war im Schiff«, murmelte Kim. »In jener Nacht, als sie mich geholt haben.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?« Ich versuchte, jeden noch so schwachen Ton von Vorwurf aus meiner Stimme zu verbannen, spürte aber selbst, dass es mir nicht vollkommen gelang.

»Es... es ist wie ein Albtraum«, antwortete Kim. Sie sah mich nicht an, sondern starrte an mir vorbei in eine Leere, die mit einem namenlosen Schrecken erfüllt zu sein schien. »Ich weiß nicht, was wahr ist und was nicht. Bilder, Erinnerungen, Geräusche...« Sie brach ab. Ihr Atem ging schneller und das Zittern ihrer Hände wurde immer schlimmer.

»Nicht«, sagte ich. »Quäl dich nicht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich will darüber reden«, flüsterte sie. »Ich wollte es die ganze Zeit, aber... ich konnte es nicht. Es ist... so schwer. Als wäre da etwas, was mich daran zu hindern versucht.«

Ich war nicht einmal überrascht. Erschrocken, ja, aber nicht wirklich überrascht. Kim war Gefangene der Hive gewesen und etwas war von dieser Gefangenschaft zurückgeblieben. Wäre es nicht so gewesen, dann wären sie und ich in dieser Nacht wahrscheinlich schon nicht mehr am Leben gewesen. Kim war in der Lage, die Nähe eines Menschen zu spüren, der von einem Ganglion besessen war.

»Woran erinnerst du dich?«, fragte ich.

»Ich war im Schiff. Aber da war nur... nur ein dunkler Raum. Und... andere.«

»Graue?«, fragte ich.

Kim verneinte. »Menschen. Ich glaube, sie... sie hatten sie auch entführt. Aber ich konnte niemanden erkennen. Niemanden bis auf den Astronauten. Ich kenne ihn.«

»Woher?«

Kim deutete mit einer Kopfbewegung auf den Fernseher. »Ich habe ihn gesehen. Ich... weiß seinen Namen nicht, aber ich glaube, er wird mit einer der nächsten Mercury-Missionen fliegen. Er hat mit mir geredet.«

»Über was?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Kim. »Ich glaube, er... er hat mich um Hilfe gebeten. Aber ich konnte nichts tun. Ich konnte mich nicht bewegen.« Ihre Stimme wurde noch leiser, gleichzeitig aber auch ruhiger. Ihre Hände hatten aufgehört zu zittern.

»Da war etwas«, fuhr sie fort. »Ein... Geschöpf. Kein Grauer. Ein Einäugiger... fast wie ein Zyklop aus der griechischen Sage. Aber ich... ich kann mich nicht erinnern.«

»Lass dir Zeit«, sagte ich. »Vielleicht ist es nicht gut, wenn du dich zu sehr erinnerst. Manche Dinge sind vielleicht dafür bestimmt, vergessen zu werden.«

»Es ist wichtig«, widersprach Kim. »Wir müssen es verhindern. Etwas Schreckliches wird passieren. Etwas... tief unter der Erde. Es hat mit diesem... diesem Start zu tun.«

»Dem Mercury-Start?« Ich sagte nichts weiter dazu - was auch? Selbst wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten, uns um diesen ominösen Astronauten oder den Zyklopen zu kümmern - wir hatten im Moment weiß Gott Wichtigeres zu tun. Zum Beispiel, am Leben zu bleiben.

»Ich möchte hier weg«, sagte Kim plötzlich. »Hast du Kennedy erreicht?«

»Vor einer halben Stunde, ja. Er hat mir eine Adresse gegeben. Ein Kontaktmann wartet morgen auf uns.« Ich runzelte die Stirn. »In Dallas«, sagte ich.

Sie ging nicht darauf ein. »Wann geht der nächste Bus?«

Ich sah auf die Uhr. »In zehn Minuten. Aber...«

»Dann sollten wir uns lieber beeilen.« Kimberley stand mit einer fließenden Bewegung auf. Sie wirkte noch immer nervös, jetzt aber auf eine andere Art als noch vor wenigen Minuten.

»Warum so eilig? Wir können genauso gut den nächsten Bus nehmen und...«

»Ich möchte hier weg«, beharrte Kim. »Frag mich nicht, warum, aber ich habe kein gutes Gefühl. Irgendetwas wird passieren, wenn wir hier bleiben. Ich weiß es.«

Ich fragte Kim nicht, warum. Und ich zweifelte auch nicht an ihrer Vorahnung. Ich bin kein abergläubischer Mensch, aber ich hatte gelernt, auf Kims Ahnungen zu hören.

Während Kimberley ins Bad ging, um sich hastig ein wenig frisch zu machen, suchte ich unsere wenigen Habseligkeiten zusammen und packte sie in den einzigen Koffer, der uns noch geblieben war. Bisher hatte ich es erfolgreich vermieden, mich mit dem Gedanken auseinander zu setzen, aber wir hatten ein weiteres Problem. In Anbetracht dessen, was hinter uns lag, erschien es geradezu banal, aber es war da und es lag in seiner Natur, dass es mit jedem Tag größer wurde: Wir hatten nicht mehr viel Geld. Unser Aufbruch aus Washington war ziemlich überhastet gewesen; und es war noch nicht die Zeit der Kreditkarten und Geldautomaten. Das Motelzimmer und die beiden Buskarten nach Dallas hatten fast die Hälfte unserer Barschaft aufgezehrt.

»Erinnere mich daran, dass ich Kennedy um Geld bitte«, rief ich Kim durch die offen stehende Tür zum Bad hin zu. »Wenn wir Geld von unserem Konto abheben, können wir Bach auch gleich unsere Adresse durchgeben.«

Ich bekam keine Antwort und plötzlich fiel mir auch auf, dass Kims gedämpftes Hantieren verstummt war. Ich stand eine Sekunde lang reglos da, dann ging ich rasch ins Bad.

»Kim? Alles in Ordnung?«

Kimberley stand vor dem Waschbecken. Sie hatte beide Hände auf den Beckenrand gestützt und starrte aus weit aufgerissenen Augen in den Spiegel. Sie war sehr blass.

»Was ist los?«, fragte ich alarmiert.

»Sie sind hier«, flüsterte Kimberley.

Diesmal begriff ich sofort, was sie meinte.

»Ganglien?«

»Sie... kommen näher«, murmelte Kim. »Einer. Vielleicht zwei... Ich... weiß es nicht.«

Ich starrte ihr Gesicht im Spiegel noch eine Sekunde lang an, dann fuhr ich auf dem Absatz herum, ging zur Tür und hob die Hand, um das Licht auszuschalten, besann mich im letzten Augenblick aber eines Besseren. Die Vorhänge waren zugezogen, aber natürlich war das Licht von draußen deutlich zu sehen. Es auszuschalten, wäre ein schwerer Fehler gewesen. Stattdessen zog ich die Gardine einen winzigen Spalt breit auf und spähte hinaus.

Und direkt in Steels Gesicht.

Ein elektrischer Schlag hätte mich kaum härter treffen können. Ich fuhr so heftig zusammen, dass Steel die Bewegung einfach sehen musste. Ich war hundertprozentig sicher, dass er in der nächsten Sekunde herumfahren und mich kurzerhand durch das Fenster hindurch erschießen würde. Stattdessen griff er in aller Seelenruhe in die Jackentasche, zog eine Zigarettenpackung hervor und ließ ein Feuerzeug aufschnappen. Im Licht der kleinen, flackernden Flamme konnte ich sein Gesicht in aller Deutlichkeit erkennen.

Es hatte sich verändert. Von seinem Jochbein bis hinunter zum Kinn erstreckte sich ein dunkler, unförmig angeschwollener Bluterguss. Seine Unterlippe war gesprungen und voller Schorf und das linke Auge war grau geliert. Unsere letzte Begegnung war zu seinem Nachteil ausgegangen, aber ich war mir nur zu deutlich bewusst, dass damals das Glück auf unserer Seite gewesen war. Als er uns in unserer Wohnung aufgesucht hatte, war er noch davon ausgegangen, dass wir ihm vertrauen würden, dass ich ihn als einen Kollegen betrachten und in keinster Weise verdächtigen würde. Damit hatten wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Trotzdem war es zum Kampf auf Leben und Tod gekommen und ich hatte nach unserer Flucht aus der Wohnung keine andere Möglichkeit gehabt, als den wie einen Berserker auf uns losgehenden Steel mit dem Auto zu überfahren. Der Zusammenprall mit unserem Wagen hatte ihm nicht den Schädel eingeschlagen, wie ich jetzt erkennen musste, aber er hatte ihn ein Auge gekostet. Ich empfand keinerlei Zufriedenheit bei diesem Anblick; nicht einmal Beruhigung. Steel war angeschlagen, aber das machte ihn keinen Deut weniger gefährlich. Ganz im Gegenteil.

Steel löschte sein Feuerzeug, nahm einen Zug aus seiner Zigarette, der sein deformiertes Gesicht noch einmal in düsterrotes Licht tauchte, und drehte sich vom Fenster weg. Eine Fifty-fifty-Chance. Hätte er sich in die andere Richtung herumgedreht, dann hätte er mich gesehen. Unsere Gesichter waren durch eine dünne Glasscheibe und nicht mehr als zwanzig Zentimeter getrennt. Aber diesmal war das Schicksal auf meiner Seite. Bachs Bluthund entfernte sich mit langsamen, fast gemächlichen Schritten, wobei er ab und zu an seiner Zigarette zog. Erst als er gute zehn Meter entfernt war, wagte ich es, die Gardine wieder zufallen zu lassen und mich zu Kim herumzudrehen.

»Steel«, sagte ich.

Kimberley runzelte ungläubig die Stirn. »Steel? Aber er muss doch tot sein!«

»Oder wenigstens schwer verletzt.« Ich nickte, schüttelte aber praktisch in der gleichen Bewegung auch den Kopf. »Das dachte ich auch. Aber er ist es nicht.«

»Aber wie kann er wissen, dass wir hier sind?«, murmelte Kim.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Es war im Grunde nicht nur erstaunlich, dass Steel hier auftauchte, sondern praktisch unmöglich. Selbst wenn Bach mein Telefongespräch mit Bobby Kennedy abgehört hätte - es lag noch keine halbe Stunde zurück. Die Zeit hätte niemals gereicht, unseren Aufenthaltsort zu ermitteln und hierher zu kommen!

»Und... wenn er meine Nähe spürt?«, flüsterte Kim. »Wenn er mich aufspüren kann, so wie... wie ich ihn?«

Ich starrte sie an. Der Gedanke war entsetzlich; so sehr, dass ich mich einfach weigerte, auch nur darüber nachzudenken. »Wenn es so wäre, wäre er jetzt schon hier drinnen«, antwortete ich; ohne wirkliche Überzeugung, aber zumindest mit Nachdruck in der Stimme. Mehr, um mich wirklich von dem zu überzeugen, was ich sagte, fügte ich noch hinzu: »Oder tot.«

Kimberley starrte mich aus schreckgeweiteten Augen eine Sekunde lang an, dann trat sie an mir vorbei, zog die Gardine einen Finger breit auf und sah hinaus.

»Was tut er?«

Kimberley zuckte mit den Schultern. »Er steht nur da und raucht«, antwortete sie. »Als ob er auf etwas wartet. Aber worauf? Da kommt der Bus.«

Ich griff nach unserem Koffer, drehte mich herum und deutete auf das Fenster auf der anderen Seite des Zimmers. »Los.«

Wir kletterten hintereinander aus dem Fenster. Kim stellte sich wie üblich geschickter an als ich. Sie ersparte sich diesmal jedoch die spöttischen Bemerkungen, die sie in solchen Situationen normalerweise immer in niemals endenden Variationen bereit hatte. So lautlos, dass nicht einmal ich ihre Schritte hörte, obwohl ich unmittelbar hinter ihr ging, huschte sie vor mir her zur Ecke des Gebäudes, blieb einen Moment stehen und spähte dann vorsichtig zuerst nach rechts, dann nach links. Nach einer letzten Sekunde des Zögerns lief sie mit schnellen, aber immer noch beinahe lautlosen Schritten los. Der Greyhound stand auf der anderen Seite des Parkplatzes, vielleicht fünfzig oder sechzig Schritte entfernt. In der Stille, die mit der Nacht endgültig Einzug gehalten hatte, klang das Geräusch des im Leerlauf brummenden Motors überlaut - aber es reichte trotzdem nicht, um das unserer Schritte vollkommen zu überdecken.

Ich warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück.

Von Steel war nichts mehr zu sehen, aber die Tür des benachbarten Apartments stand offen. Die Vorstellung, dass Steel sich einfach in der Zimmernummer geirrt haben sollte, erschien mir geradezu lächerlich. Aber vielleicht war das unsere einzige Chance. Steel - das Ding, das aussah wie Steel, verbesserte ich mich in Gedanken - würde keine Sekunde zögern, uns auch in einem voll besetzten Bus zu erschießen.

Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, wehte in dieser Sekunde ein dumpfer Knall an mein Ohr; eigentlich mehr ein Plopp, wie das Öffnen einer Sektflasche. Eine Sekunde später erfolgte ein zweites, gedämpftes Plopp. Vielleicht tatsächlich das Geräusch, das beim Öffnen einer Sektflasche entsteht. Vielleicht aber auch der charakteristische Laut eines Schalldämpfers. Und eigentlich auch nicht vielleicht. Ich hatte während meiner Ausbildung bei Majestic oft genug mit einer Waffe mit Schalldämpfer gefeuert, um ihn zu erkennen.

Kimberley, die nicht durch einen Koffer behindert war, hatte den Bus mittlerweile erreicht, und auch ich legte einen kurzen Zwischenspurt ein. Als ich um die Ecke des Drive-in bog, sah ich noch einmal über die Schulter zurück und erkannte eine dunkle Gestalt, die aus der Tür des Motelzimmers stürmte und sich nach links wandte. Steel hatte seinen Irrtum bemerkt. Er würde weitere Sekunden verlieren, in denen er auch noch Löcher in die Kopfkissen auf unseren Betten schoss.

Ich hechtete regelrecht in den Bus, ließ den Koffer fallen und grub mit fliegenden Fingern nach den Tickets. Natürlich fand ich sie nicht sofort und brauchte länger, als wenn ich Ruhe bewahrt hätte. Der Busfahrer sah mich stirnrunzelnd an. Er ersparte sich jeden Kommentar, aber ich rief mich selbst in Gedanken zur Ordnung. Wir durften kein Aufsehen erregen. Das Leben auf der Flucht gehorchte anderen Regeln als denen, nach denen wir bisher gelebt hatten. Alles, woran Menschen sich erinnern konnten, war schlecht. Wir mussten lernen, unsichtbar zu werden.

Ich zwang mich mit aller Kraft, mit zur Schau gestellter Ruhe abzuwarten, bis der Fahrer unsere Tickets entwertet hatte, nahm den Koffer wieder auf und ging zu Kim, die im hinteren Teil des Greyhounds Platz genommen hatte. Erst dann gestattete ich mir einen Blick nach draußen. Der Parkplatz und das Motel lagen dunkel und reglos da. Steel war nicht zu sehen. Als ich mich neben Kim auf den kalten Kunstledersitz sinken ließ, schlossen sich die Türen mit einem durchdringenden Zischen und einen Augenblick später setzte sich der Greyhound in Bewegung. Steel tauchte nicht auf.

Aber keine zehn Minuten, nachdem der Greyhound das Motel verlassen und sich auf den Weg nach Dallas gemacht hatte, kam uns ein Wagen der Highway-Patrol mit heulenden Sirenen entgegen.

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