Als das Bett auf ihn zukroch, schrie Blaine mit einer Stimme um Hilfe, die die Fensterscheibe erbeben ließ. Die einzige Antwort war das schrille Lachen des Poltergeistes.
Waren denn alle im Hotel taub? Warum antwortete niemand?
Dann wurde ihm klar, daß es völlig in der Natur der Sache lag, daß niemand auch nur daran denken würde, ihm zu helfen. In dieser Welt war Gewalt etwas ganz Normales, und der Tod eines Menschen war allein seine Angelegenheit. Es würde keine Nachfragen geben. Der Hausmeister würde am Morgen einfach das ganze Durcheinander aufräumen und wegwischen, und das Zimmer würde wieder als zu vermieten ausgeschrieben.
Seine Tür war undurchdringbar. Seine einzige Möglichkeit bestand darin, über das Bett zu springen und durch das geschlossene Fenster. Wenn er richtig sprang, dann würde er gegen das hüfthohe Geländer der Feuertreppe fallen. Wenn er zu viel Schwung haben sollte, würde er über das Geländer rollen und drei Stockwerke tief hinab auf die Straße stürzen.
Der Stuhl stieß ihn an die Schulter, und das Bett rumpelte weiter vor um ihn an der Wand festzunageln. Blaine schätzte blitzschnell Winkel und Entfernungen ab, duckte sich zusammen und warf sich gegen das Fenster.
Er traf es völlig richtig; aber er hatte nicht mit den Fortschritten der modernen Wissenschaft gerechnet. Das Fenster bog sich nach außen wie eine Gummischicht und schnappte wieder zurück. Er wurde gegen die Wand geschleudert und stürzte halbbetäubt zu Boden. Als er hochblickte, sah er einen schweren Schrank, der auf ihn zutaumelte und sich zu neigen begann.
Während der Poltergeist seine Wahnsinnskraft gegen den Schrank richtete, wurde die unbewachte Tür aufgestoßen. Smith kam ins Zimmer, sein derbes Zombiegesicht war ausdruckslos, und er lenkte den stürzenden Schrank mit seiner Schulter ab.
»Kommen Sie!« sagte er.
Blaine stellte keine Fragen. Er rappelte sich auf die Beine und packte die Kante der sich schließenden Tür. Mit Smiths Hilfe riß er sie wieder auf, und die beiden Männer schlüpften nach draußen. Im Zimmer hörte er einen überraschten Wutschrei.
Smith eilte durch den Gang, eine kalte Hand hatte er um Blaines Handgelenk gelegt. Sie gingen die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Das Gesicht des Zombies war bleigrau bis auf die purpurne Schramme, wo Blaine ihn getroffen hatte. Die Prellung hatte sich mittlerweile über das ganze Gesicht ausgebreitet und es zu einer scheckigen, grotesken Harlekinmaske gemacht.
»Wo gehen wir hin?« fragte Blaine.
»An einen sicheren Ort.«
Sie kamen an einen antiken Ü-Bahneingang und gingen hinab. Ein Stockwerk tiefer kamen sie an eine kleine Eisentür, die in den geborstenen Betonboden eingelassen worden war. Smith öffnete die Tür und bedeutete Blaine, daß er ihm folgen solle.
Blaine zögerte und nahm einen Hauch von schrillem Gelächter wahr. Der Poltergeist verfolgte ihn, so wie die Erinnyen einst ihre Opfer durch die Straßen des antiken Athen verfolgt hatten. Er konnte in der beleuchteten Oberwelt bleiben, wenn er wollte, von einem wahnsinnigen Geist bedroht und bespukt. Oder er konnte mit Smith hinabsteigen, durch die Eisentür in die Dunkelheit, die dahinter lag, in ein unbestimmtes Schicksal in der Unterwelt.
Das schrille Lachen wurde lauter. Blaine zögerte nicht länger. Er folgte Smith durch die Eisentür und schloß sie hinter sich wieder.
*
Der Poltergeist hatte sich dazu entschlossen, ihn im Augenblick nicht weiter zu verfolgen. Sie schritten einen Tunnel hinab, der von vereinzelten nackten Birnen beleuchtet wurde, an gerissenen Mauerwerkröhren vorbei und an dem schillernd-grauen Leichnam einer Untergrundbahn, vorbei an rostigen Kabeln, die, zu riesigen Knäueln schlangengleich zusammengerollt, am Boden herumlagen. Die Luft war feucht und stank, und ein dünner Schlier machte das Gehen zu einer Gefahr.
»Wo gehen wir hin?« fragte Blaine.
»Dorthin, wo ich Sie beschützen kann«, antwortete Smith.
»Können Sie das denn?«
»Gespenster sind nicht unangreifbar. Exorzismus ist möglich, sofern man die wahre Identität eines Geistes kennt.«
»Dann wissen Sie also, wer mich heimsucht?«
»Ich glaube ja. Es gibt eigentlich nur eine Person, die es sein könnte.«
»Wer denn?«
Smith schüttelte den Kopf. »Ich möchte seinen Namen lieber noch nicht nennen. Es hat keinen Sinn, ihn zu rufen wenn er noch nicht da ist.«
Sie schritten eine Reihe von bröckelnden alten Treppen hinab in eine größere Kammer und gingen um einen kleinen schwarzen Teich herum, dessen Oberfläche so hart und schwarz wie Jetstein wirkte. Auf der anderen Seite des Teichs befand sich ein Durchgang. Ein Mann stand davor und blockierte ihn.
Es war ein großer, stämmiger Neger, in Lumpen gekleidet und mit einem Eisenrohr bewaffnet. Blaine erkannte ihn an seinem Aussehen als Zombie.
»Das ist mein Freund«, sagte Smith. »Kann ich ihn mitnehmen?«
»Du bist sicher, daß er kein Inspekteur ist?«
»Absolut sicher.«
»Wartet hier«, sagte der Neger. Er verschwand in dem Gang.
»Wo sind wir?« fragte Blaine.
»Unter New York, in einem System unbenutzter U-Bahntunnels, alten Abwasserkanälen und Gängen, die wir selbst gehauen haben.«
»Aber warum sind wir hierhergekommen?« fragte Blaine. »Wo hätten wir denn sonst hingehen sollen?« fragte Smith erstaunt. »Das ist mein Zuhause. Wußten Sie das nicht? Sie befinden sich in New Yorks Zombiekolonie.«
Blaine war nicht der Ansicht, daß eine Zombiekolonie sehr viel besser war als ein Gespenst, aber er hatte keine Zeit, um darüber nachzudenken. Der Neger kehrte zurück. Ein alter Mann mit einem Gehstock begleitete ihn. Das Gesicht des Mannes war durch tausend Falten und Runzeln zu einem Netzgespinst geworden. Seine Augen waren in der feinen Ziselierung seines schlaffen Fleisches kaum zu erkennen, und sogar seine Lippen waren verrunzelt.
»Ist das der Mann, von dem Sie mir erzählt haben?« fragte er.
»Jawohl, Sir«, antwortete Smith. »Das ist der Mann. Blaine, ich will Ihnen Mr. Kean vorstellen, den Chef unserer Kolonie. Darf ich ihn mitnehmen, Sir?«
»Sie dürfen«, sagte der Alte. »Und ich werde Sie eine Weile begleiten.«
Sie schritten den Gang entlang, wobei Mr. Kean sich schwer auf den stützenden Arm des Negers lehnte.
»Normalerweise«, sagte Mr. Kean, »dürfen nur Zombies die Kolonie betreten. Alle anderen haben keinen Zutritt. Aber ich habe schon seit Jahren mit keinem Normalen mehr geredet, und ich dachte mir, daß die Erfahrung wertvoll sein könnte. Deshalb habe ich Smiths Drängen nachgegeben und bei Ihnen eine Ausnahme gemacht.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Blaine und hoffte, daß er auch einen Grund dafür hatte.
»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe nichts dagegen, Ihnen behilflich zu sein. Aber zunächst einmal und in erster Linie bin ich verantwortlich für die Sicherheit der elfhundert Zombies, die unter New York leben. Um ihretwillen müssen Normale ferngehalten werden. Ausschließlichkeit ist unsere einzige Hoffnung in einer unwissenden Welt.« Mr. Kean machte eine Pause. »Aber vielleicht können Sie uns ja helfen, Mr. Blaine.«
»Wie denn?«
»Indem Sie zuhören und verstehen lernen und das, was Sie erfahren haben, weitergeben. Aufklärung ist unsere einzige Hoffnung. Sagen Sie, was wissen Sie über die Probleme eines Zombies?«
»Sehr wenig.«
»Ich werde Sie unterrichten. Der Zombieismus, Mr. Blaine, ist eine Krankheit, die seit langem mit einer Aura des Aberglaubens umgeben ist, genau wie Erkrankungen wie Epilepsie, Lepra oder St.-Veits-Tanz. Die Tendenz, die Sache zu personifizieren, genauer: zu spiritualisieren, ist weit verbreitet. Die Schizophrenie, müssen Sie wissen, wurde früher auch für eine Besessenheit durch Dämonen gehalten, und hydrozephalische Idioten galten als besonders heilig. An Zombies knüpfen sich ähnliche Phantastereien.«
Einen Augenblick schritten sie schweigend weiter. Dann sagte Mr. Kean: »Der Aberglaube an den Zombie stammt ursprünglich aus Haiti. Die Krankheit des Zombies ist jedoch weltweit verbreitet, wenn auch selten. Doch im öffentlichen Bewußtsein sind Krankheit und Aberglaube hoffnungslos vermischt worden. Der Zombie des Aberglaubens gehört zu den Eigenarten des Vodun-Kults auf Haiti, er ist ein menschliches Wesen, dessen Seele durch Magie gestohlen wurde. Der Körper des Zombies wurde vom Magier nach Belieben eingesetzt, er konnte sogar geschlachtet und auf dem Markt als Fleisch verkauft werden. Wenn der Zombie Salz aß oder das Meer erblickte, dann wurde ihm bewußt, daß er tot war, und er kehrte in sein Grab zurück. Für all das gibt es jedoch kein Tatsachenmaterial als Grundlage.
Der Aberglaube entstand durch die äußerlich völlig ähnliche Krankheit. Früher war sie sehr selten. Doch heute, da die Techniken des Geistaustausches und der Reinkarnation immer mehr zugenommen haben, ist der Zombieismus weiter verbreitet, häufiger. Die Erkrankung des Zombies erfolgt dann, wenn ein Geist in einen Körper eindringt, der zu lange unbewohnt geblieben ist. Dann sind Geist und Körper nicht so eins wie bei Ihnen, Mr. Blaine. Statt dessen existieren sie als quasi selbständige Wesenheiten, die auf unbeholfene Weise miteinander kooperieren. Nehmen wir unseren Freund Smith als typisches Beispiel. Er kann die groben Reaktionen seines Körpers kontrollieren, aber eine Feinkoordination ist ihm unmöglich. Seine Stimme ist nicht dazu in der Lage, verschiedene Abstufungen hervorzubringen, und seine Ohren können keine feinen Nuancen wahrnehmen. Sein Gesicht ist ausdruckslos, weil er wenig oder keine Kontrolle über die Oberflächenmuskulatur hat. Er treibt seinen Körper an wie ein Fahrer, aber er ist nicht wirklich ein Teil von ihm.«
»Und kann man nichts dagegen tun?« fragte Blaine.
»Im Augenblick noch nicht.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte Blaine verlegen.
»Das hier ist kein Werben um Ihr Mitleid«, sagte Kean. »Es ist nur eine Bitte, die Grundlagen zu begreifen. Ich möchte lediglich, daß Sie und jedermann begreifen, daß der Zombieismus keine Bestrafung für Sünden ist, sondern eine Krankheit, wie Mumps oder Krebs, und nichts weiter.«
Mr. Kean lehnte sich gegen die Wand des Ganges, um wieder Luft zu bekommen. »Sicher, das Äußere eines Zombies ist unschön. Er torkelt umher, seine Wunden heilen nicht, sein Körper verfällt sehr schnell. Er stottert wie ein Idiot, taumelt wie ein Betrunkener, starrt einen an wie ein Perverser. Aber ist das ein Grund, ihn zur Verkörperung aller Schuld und Schande auf Erden abzustempeln, zum Aussätzigen des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts? Man behauptet, daß Zombies Menschen angreifen; dabei ist der Körper des Durchschnittszombies extrem zerbrechlich, und er könnte in der Regel nicht einmal dem Angriff eines Kindes widerstehen. Man glaubt, daß die Krankheit ansteckend sei, dabei ist das ganz eindeutig nicht der Fall. Man sagt, daß Zombies sexuell pervers sein sollen, aber in Wahrheit hat ein Zombie überhaupt keine sexuellen Empfindungen. Aber die Leute weigern sich, etwas dazuzulernen, und Zombies sind Ausgestoßene, die nur für die Schlaufe der Henker oder für den Scheiterhaufen der Lyncher taugen.«
»Was ist mit den Behörden?« fragte Blaine.
Mr. Kean lächelte verbittert. »Früher haben sie uns barmherzigerweise in Irrenanstalten gesperrt. Sehen Sie, sie wollten ja nicht, daß uns etwas zustoßen sollte, aber Zombies sind nun einmal in der Regel nicht verrückt, und das wußten die Behörden auch! Und so bewohnen wir mit ihrem stillschweigenden Einverständnis diese verlassenen U-Bahntunnel und Abwasserkanäle.«
»Konnten Sie keinen besseren Ort finden?« fragte Blaine.
»Ehrlich gesagt ist uns der Untergrund ganz lieb. Sonnenlicht ist schlecht für unsere Haut, die sich ja nicht mehr erneuern kann.«
Sie schritten weiter. Blaine fragte: »Was kann ich tun?«
»Sie können jemandem erzählen, was Sie hier erfahren haben. Vielleicht darüber schreiben. Sich ausbreitende Wellen …«
»Ich werde tun, was ich kann.«
»Danke«, sagte Mr. Kean feierlich. »Aufklärung ist unsere einzige Hoffnung. Aufklärung und die Zukunft. Bestimmt werden die Menschen der Zukunft etwas aufgeklärter sein.«
Die Zukunft? Plötzlich fühlte Blaine sich schwindelig. Denn das hier war, doch die Zukunft, in die er aus dem idealistischen und hoffnungsvollen zwanzigsten Jahrhundert gereist war. Jetzt war die Zukunft! Aber die versprochene Aufgeklärtheit war nicht gekommen, und die Menschen waren immer noch genauso wie früher. Eine Sekunde lang drückten Blaines Jahrhunderte ihn wie eine schwere Bürde. Er fühlte sich orientierungslos und alt, älter als Kean, älter als die menschliche Rasse – ein Wesen in einem geliehenen Körper, das an einem Ort stand, den es nicht kannte.
»Und jetzt«, sagte Mr. Kean, »sind wir an Ihrem Ziel angelangt.«
Blaine blinkte schnell mit den Augenlidern, und das Leben rückte wieder in die richtige Perspektive. Der matt erleuchtete Gang war zu Ende. Vor ihm stand eine rostige Eisenleiter, die an der Tunnelwand befestigt war und hinauf in die Dunkelheit führte.
»Viel Glück«, sagte Mr. Kean. Er ging fort, auf den Arm des Negers gestützt. Blaine sah zu, wie der alte Mann verschwand, und wandte sich an Smith.
»Wo gehen wir jetzt hin?«
»Die Leiter hoch.«
»Aber wo führt die denn hin?«
Smith hatte bereits mit dem Klettern begonnen. Er blieb stehen, blickte hinunter, und seine bleiernen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Wir werden einen Freund von Ihnen besuchen, Blaine. Wir werden in sein Grabmal gehen, zu seinem Sarg, und ihn bitten, aufzuhören, Sie heimzusuchen. Vielleicht werden wir ihn auch dazu zwingen.«
»Wer ist es?« fragte Blaine.
Smith grinste nur und stieg weiter. Blaine kletterte hinter ihm her.
Über dem Gang befand sich ein Luftschacht, der in einen weiteren Gang führte. Sie kamen schließlich an eine Tür und gingen hindurch.
Sie befänden sich in einem großen, grell erleuchteten Raum. An der gewölbten Decke befand sich ein Wandgemälde, das einen gut aussehenden Mann mit klaren Augen zeigte, der in Begleitung von Engeln in einen blauen, gazeartigen Himmel eintrat. Blaine wußte sofort, wer das Modell für das Gemälde gewesen war.
»Reilly!«
Smith nickte. »Wir befinden uns in seinem Todespalast.«
»Woher wußten Sie, daß es Reilly ist, der mich heimsucht?«
»Sie hätten selbst drauf kommen können. Nur zwei Menschen, die mit Ihnen zu tun hatten, sind in letzter Zeit gestorben. Das Gespenst war gewiß nicht Ray Melhill. Es konnte nur Reilly sein.«
»Aber warum?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Smith. »Vielleicht wird Reilly es Ihnen selbst sagen.«
Blaine betrachtete die Wände. Man hatte darin Kreuze, Halbmonde, Sterne und Hakenkreuze eingelassen, sowie indische, arabische, chinesische und polynesische Glückszeichen. Auf Podesten rings um den Raum standen Statuen alter Gottheiten. Unter den Dutzenden erkannte Blaine Zeus, Apollo, Dagon, Odin und Astarte. Vor jedem Podest stand ein Altar, und auf jedem Altar ruhte ein geschliffener und polierter Edelstein.
»Wofür ist das?« fragte Blaine.
»Sühneopfer.«
»Aber das Leben nach dem Tode ist doch eine wissenschaftliche Tatsache.«
»Mr. Kean hat mir gesagt, daß die Wissenschaft den Aberglauben nur wenig berührt«, sagte Smith. »Reilly war sich ziemlich sicher, daß er nach dem Tode überleben würde, aber er sah keinen Grund dafür, ein Risiko einzugehen. Außerdem, sagt Mr. Kean, würden die sehr Reichen, genau wie die sehr Frommen, kein Jenseits für jedermann genießen können. Sie glauben, daß sie durch entsprechende Riten und Symbole in einen exklusiveren Teil des Jenseits kommen können.«
»Gibt es denn einen exklusiveren Teil?« fragte Blaine.
»Das weiß niemand. Es ist nur so ein Glaube.«
Smith führte ihn durch den Raum zu einer verzierten Tür, die mit ägyptischen Hieroglyphen und chinesischen Ideogrammen bedeckt war.
»Reillys Leiche ist hier drin«, sagte Smith.
»Gehen wir denn rein?«
»Ja, das müssen wir.«
Smith stieß die Tür auf. Blaine erblickte einen gewaltigen Raum mit Marmorsäulen. Mittendrin stand ein Sarg aus Bronze und Gold, der mit Juwelen besetzt war. Um den Sarg herum standen große Mengen verwirrender Gegenstände: Gemälde und Skulpturen, Musikinstrumente, Schnitzereien, Geräte wie Waschmaschinen, Herde, Kühlschränke und sogar ein kompletter Helikopter. Es gab Kleidungsstücke und Bücher und eine vollständige, üppige Eßtafel.
»Wofür ist denn das ganze Zeug?« fragte Blaine.
»Die Essenz dieser Dinge soll ihren Besitzer ins Jenseits begleiten. Ein alter Glaube.«
Blaines erste Reaktion war Mitleid. Das wissenschaftliche Jenseits hatte den Menschen nicht von der Furcht vor dem Tod befreit, wie es der Fall hätte sein sollen. Im Gegenteil, es hatte seine Ungewißheit noch verstärkt und seinen Wettbewerbsgeist gefördert. Da er sich des Lebens nach dem Tode sicher war, wollte der Mensch es auch verbessert wissen, einen besseren Himmel genießen als die anderen. Die Gleichheit war eine feine Sache, aber zunächst einmal kam die Eigeninitiative. Eine vollkommene, leidenschaftslose Nivellierung war im Jenseits eine genauso unangenehme Vorstellung wie auf Erden. Der Wunsch, besser zu sein, bewegte einen Mann wie Reilly dazu, sich ein Grabmal bauen zu lassen wie die Pharaonen Ägyptens, sein ganzes Leben lang über den Tod nachzugrübeln und die ganze Zeit nach Möglichkeiten zu suchen, seinen Besitz und seine Stellung in der grauen Ungewißheit zu erhalten.
Eine Schande. Und doch, dachte Blaine, gründete sich sein Mitleid nicht vielleicht auf einen Mangel an Glauben daran, daß Reillys Handlungen wirkungsvoll waren? Angenommen, man konnte seine Stellung im Jenseits tatsächlich verbessern: Was sollte man auf der Erde denn dann Besseres tun, als für eine bessere Ewigkeit zu arbeiten?
Der Gedankengang schien einleuchtend, doch Blaine weigerte sich, daran zu glauben. Das konnte doch wohl nicht der einzige Sinn des Lebens auf Erden sein! Ob gut oder böse, angenehm oder übel, man mußte die Sache um ihrer selbst willen leben.
Smith schritt langsam in den Sargraum, und Blaine unterbrach seine Spekulationen. Der Zombie blieb stehen und betrachtete einen kleinen Tisch, der mit Ornamenten übersät war. Leidenschaftslos trat er den Tisch um. Dann stampfte er langsam eines der Ornamente nach dem anderen in den polierten Marmorboden.
»Was machen Sie da?« fragte Blaine.
»Wollen Sie, daß der Poltergeist Sie in Ruhe läßt?«
»Natürlich.«
»Dann muß er auch einen Grund dafür haben, Sie in Ruhe zu lassen«, sagte Smith und trat gegen eine reichverzierte Ebenholzskulptur.
Das leuchtete Blaine ein. Selbst ein Gespenst mußte wissen, daß es eines Tages die Schwelle verlassen und ins Jenseits eintreten mußte. Wenn es das tat, dann wollte es seine Besitztümer intakt haben, damit sie ihn dort empfangen konnten. Folglich mußte Feuer mit Feuer bekämpft werden, Verfolgung mit Verfolgung.
Trotzdem kam er sich wie ein Vandale vor, als er ein Ölgemälde ergriff und Anstalten machte, seine Faust hindurchzustecken.
»Nicht!« sagte eine Stimme über seinem Kopf.
Blaine und Smith blickten hoch. Über ihnen schien ein blasser, silbriger Nebel zu sein. Aus dem Nebel sagte eine dünne Stimme: »Legen Sie bitte das Gemälde wieder hin.«
Blaine behielt es in der Hand, die Faust zum Schlag bereit. »Sind Sie Reilly?«
»Ja.«
»Warum bespuken Sie mich?«
»Weil Sie Schuld haben! Alles ist Ihre Schuld! Sie haben mich mit Ihrem bösen mörderischen Geist getötet! Ja, Sie, Sie widerliches Ding aus der Vergangenheit, Sie verdammtes Ungeheuer!«
»Das habe ich nicht!« rief Blaine.
»Wohl! Sie sind nicht menschlich! Sie sind unnatürlich! Alle meiden Sie, außer Ihr Freund, der tote Mann! Warum sind Sie denn nicht tot, Sie Mörder!«
Blaines Faust bewegte sich auf das Gemälde zu. Die dünne Stimme kreischte: »Nicht!«
»Werden Sie mich in Ruhe lassen?« fragte Blaine.
»Legen Sie das Gemälde hin«, bettelte die Stimme.
Blaine legte es behutsam hin.
»Ich lasse Sie in Ruhe«, sagte Reilly. »Warum auch nicht? Es gibt Dinge, die Sie nicht sehen können, Blaine, aber ich kann sie sehen. Ihre Zeit auf Erden wird kurz sein, sehr kurz, schmerzlich kurz. Sie werden von denen verraten werden, denen Sie vertraut haben, und diejenigen, die Sie hassen, werden Sie überwältigen. Sie werden sterben, Blaine, nicht in ein paar Jahren, sondern bald, viel schneller, als Sie glauben können. Sie werden betrogen werden und Sie werden von eigener Hand sterben.«
»Sie sind verrückt!« schrie Blaine.
»Bin ich das?« kicherte Reilly. »Bin ich das?«
Der silbrige Nebel verschwand. Reilly war fort.
*
Smith führte ihn durch enge, gewundene Gänge auf die Straße hinaus. Draußen war die Luft eisig, und die Dämmerung hatte alle Gebäude rötlich und grau gefärbt.
Blaine wollte ihm danken, doch Smith schüttelte den Kopf. »Keine Ursache! Schließlich brauche ich Sie, Blaine: Wo wäre ich denn, wenn der Poltergeist Sie umgebracht hätte? Passen Sie auf sich auf, seien Sie vorsichtig. Ohne Sie ist nichts für mich möglich.«
Der Zombie blickte ihn einen Augenblick lang besorgt an, dann eilte er davon. Blaine sah ihm nach und fragte sich, ob es nicht vielleicht besser wäre, ein Dutzend Feinde zu haben als Smith als Freund.
Eine halbe Stunde später war er an Marie Thornes Apartment. Marie, in einen Morgenmantel gekleidet und ohne Make-Up, blickte ihn verschlafen an und führte ihn in die Küche, wo sie Kaffee, Toast und Rührei per Knopfdruck bestellte.
»Ich wünschte«, sagte sie, »daß du deine theatralischen Auftritte zu einer vernünftigen Zeit machen würdest. Es ist halb sieben am Morgen.«
»Ich werd mich bessern«, sagte Blaine fröhlich.
»Du hast gesagt, du würdest anrufen. Was ist passiert?«
»Hast du dir Sorgen gemacht?«
»Nicht im geringsten. Was ist passiert?«
Während er seinen Toast aß, erzählte Blaine ihr von der Jagd, von dem Spuk und dem Exorzismus. Sie hörte sich alles an, dann sagte sie: »Du bist also jetzt ganz offensichtlich sehr stolz auf dich, und dafür hast du wahrscheinlich auch guten Grund. Aber du weißt immer noch nicht, was Smith von dir will oder wer er überhaupt ist.«
»Hab nicht die geringste Ahnung«, sagte Blaine. »Smith auch nicht. Ehrlich gesagt interessiert es mich auch überhaupt nicht.«
»Was passiert, wenn er es rausbekommt?«
»Darüber mache ich mir erst Sorgen, wenn es soweit ist.«
Marie hob die Augenbrauen, gab jedoch keinen Kommentar ab. »Tom, was hast du jetzt vor?«
»Ich werde mir einen Job suchen.«
»Als Jäger?«
»Nein. Ob es nun logisch sein mag oder nicht, ich werde es bei den Yacht-Konstruktionsbüros versuchen. Dann werde ich herkommen und dich zu vernünftigen Zeiten belästigen. Wie hört sich das an?«
»Unpraktisch. Willst du einen guten Rat haben?«
»Nein.«
»Ich gebe ihn dir trotzdem. Tom, verlasse New York. Geh so weit fort, wie es nur geht. Du kannst nach Fiji oder Samoa.«
»Warum sollte ich?«
Marie begann, rastlos in der Küche auf und ab zu gehen. »Du verstehst diese Welt einfach nicht.«
»Ich denke doch.«
»Nein! Tom, du hast ein paar typische Erlebnisse gehabt, das ist aber auch schon alles. Das bedeutet doch nicht, daß du unsere Kultur verinnerlicht hättest. Du bist geraubt worden, heimgesucht, und du warst auf einer Jagd. Aber das ist doch alles zusammen nicht viel mehr als eine Stadtführung. Reilly hat recht, du bist so verloren und hilflos wie ein Steinzeitmensch in deinem 1958.«
»Das ist albern, und ich wehre mich gegen diesen Vergleich.«
»Na gut, dann sagen wir ein Chinese aus dem vierzehnten Jahrhundert. Angenommen, daß dieser hypothetische Chinese einem Gangster begegnet ist, eine Busfahrt gemacht hat und auf Coney Island war. Würdest du dann sagen, daß er das Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts verstanden hätte?«
»Natürlich nicht. Aber worauf willst du hinaus?«
»Ich will darauf hinaus«, sagte sie, »daß du hier nicht sicher bist und daß du noch nicht einmal ahnst, wo die Gefahren stecken und wie groß sie sind. Zum einen ist dieser verdammte Smith hinter dir her. Dann werden Reillys Erben wohl auch nicht sonderlich erbaut davon sein, daß du sein Grabmal geschändet hast; kann sein, daß sie es für nötig halten werden, deswegen etwas zu unternehmen. Und die Direktoren bei Rex debattieren immer noch darüber, was sie mit dir machen sollen. Du hast die Dinge verändert, durcheinandergebracht. Spürst du das denn nicht?«
»Mit Smith werde ich schon fertig«, sagte Blaine. »Zum Teufel mit Reillys Erben. Und was die Direktoren angeht, was können die mir schon antun?«
Sie ging auf ihn zu und legte die Arme um seinen Hals. »Tom«, sagte sie ernst, »jeder Mann, der hier geboren worden wäre und sich in deiner Lage befände, würde so viel Fersengeld geben wie möglich!«
Blaine hielt sie einen Augenblick fest und streichelte ihr glattes dunkles Haar. Sie machte sich Sorgen um ihn, sie wollte, daß er in Sicherheit war. Aber er war nicht in der Stimmung für Warnungen. Er hatte die Gefahren der Jagd überstanden, er war durch die Eisentür in die Unterwelt eingedrungen und war wieder ans Licht zurückgekehrt. Nun saß er in Maries sonniger Küche und fühlte sich froh, im Einklang mit der Welt. Die Gefahr schien im Augenblick ein akademisches Problem zu sein, das nicht der Rede wert war, und der Gedanke, aus New York zu fliehen, schien absurd.
»Sag mal«, fragte Blaine fröhlich, »zu den Dingen, die ich durcheinandergebracht habe, zählst du auch dazu?«
»Ich werde vermutlich meine Stellung verlieren, wenn du das meinst.«
»Das meine ich nicht.«
»Dann solltest du die Antwort kennen … Tom, würdest du bitte New York verlassen?«
»Nein. Und kling nicht so nach Panik!«
»O Gott!« seufzte sie, »wir sprechen zwar dieselbe Sprache, aber ich kann mich dir einfach nicht verständlich machen. Du verstehst es nicht. Ich will es mit einem Beispiel versuchen.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Angenommen, ein Mann hätte ein Segelboot -«
»Kannst du segeln?« fragte Blaine.
»Ja, ich liebe das Segeln. Tom, hör mir zu! Angenommen ein Mann besitzt ein Segelboot, mit dem er eine Ozeanreise unternehmen will -«
»Über das Meer des Lebens«, ergänzte Blaine.
»Sei nicht albern«, sagte sie und sah sehr schön und ernst aus. »Dieser Mann versteht nichts von Booten. Er sieht, wie es auf dem Wasser treibt, daß es hübsch gestrichen ist und daß alles an seinem Platz steht. Er kann sich keinerlei Gefahr vorstellen. Dann schaust du dir das Boot an. Du siehst, daß die Rahmen brüchig sind, im Ruder sitzt der Schiffsbohrwurm, das Deck ist verfault, die Segel verschimmelt, die Kielbolzen sind verrostet und die Vertäuung kann jeden Augenblick reißen.«
»Woher weißt du so viel über Boote?« fragte Blaine.
»Ich bin schon als Kind segeln gegangen. Würdest du mir bitte zuhören? Du sagst dem Mann, daß sein Boot nicht seetüchtig ist, daß er wahrscheinlich beim ersten Windstoß kentern wird.«
»Wir müssen mal irgendwann zusammen segeln gehen«, sagte Blaine.
»Aber dieser Mann«, fuhr Marie unbeirrt fort, »versteht nun einmal nichts von Booten. Das Ding sieht doch ganz gut aus! Und das Schlimmste ist, daß du ihm nicht genau erklären kannst, was passieren wird oder wann. Vielleicht hält das Boot ja noch einen Monat oder ein Jahr oder vielleicht auch nur noch eine Woche. Vielleicht lösen sich die Kielbolzen als erstes, vielleicht geht auch zuerst der Mast zu Bruch. Du weißt es einfach nicht. Und so sieht das hier aus. Ich kann dir nicht sagen, was passieren wird oder wann. Ich weiß nur, daß du nicht seetüchtig bist. Du mußt hier weg!«
Sie blickte ihn hoffnungsvoll an. Blaine nickt und sagte: »Du wärst wirklich eine verdammte Mannschaft.«
»Also gehst du nicht?«
»Nein. Ich bin die ganze Nacht aufgeblieben. Der einzige Ort, an den ich jetzt gehen werde, ist das Bett. Hast du Lust, mitzukommen?«
»Geh zum Teufel!«
»Liebling, bitte! Wo bleibt denn dein Mitleid mit einem heimatlosen Wandersmann aus der Vergangenheit?«
»Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Du kannst gern das Schlafzimmer benutzen. Es wäre besser, wenn du mal über das nachdenken würdest, was ich dir erzählt habe.«
»Klar«, sagte Blaine. »Aber warum sollte ich mir Sorgen machen, wenn du doch auf mich achtgibst?«
»Smith gibt auch auf dich acht«, erinnerte sie ihn. Sie küßte ihn flüchtig und verließ den Raum.
*
Blaine beendete sein Frühstück und legte sich schlafen. Er erwachte früh am Nachmittag, und da Marie noch nicht zurückgekehrt war, hinterließ er ihr eine fröhliche Nachricht mit seiner Hoteladresse.
Während der nächsten paar Tage suchte er die meisten Yacht-Konstruktionsagenturen in New York auf, jedoch ohne Erfolg. Seine alte Firma, Mattison & Peters, existierte schon lange nicht mehr. Die anderen Firmen hatten kein Interesse. Schließlich fragte ihn der Chefkonstrukteur bei Jaakobsen Yacht, Ltd. detailliert über die längst nicht mehr gebauten Chesapeake Bay und Bahamas Arbeitsboote aus. Blaine stellte sein beachtliches Wissen über diese Modelle und sein veraltetes handwerkliches Können unter Beweis.
»Wir haben ab und zu Aufträge für antike Schiffskörper«, sagte der Chefkonstrukteur. »Ich will Ihnen was sagen. Wir stellen Sie als Bürojungen ein. Sie können die klassischen Schiffskörper auf einer Provisionsbasis machen und Ihr Design auf den neuesten Stand bringen, denn das ist, offengestanden, veraltet. Wenn Sie damit fertig sind, dann stufen wir Sie höher ein. Was meinen Sie dazu?«
Es war eine untergeordnete Tätigkeit, aber es war eine Stellung, eine echte Stellung mit guten Aufstiegsmöglichkeiten. Das bedeutete, daß er wirklich einen Platz in der Welt von 2110 gefunden hatte.
»Ich nehme dankend an«, sagte Blaine.
*
An diesem Abend ging er, um das Ereignis zu feiern, in einen Sensoriumsladen, um ein Abspielgerät und ein paar Aufnahmen zu kaufen. Er war der Meinung, daß er sich ein bißchen Grundluxus verdient hatte.
Die Sensorien waren ein untrennbarer Teil von 2110, so allgegenwärtig und beliebt wie es das Fernsehen in Blaines eigener Zeit gewesen war. Größere und raffiniertere Sensoren wurden für Theaterproduktionen verwendet, und Varianten dieser Geräte benutzte man in der Werbung und Propaganda. Sie stellten bis dato die reinste und mächtigste Form des vorfabrizierten Traums dar, der auf jeden genau zugeschnitten war.
Aber es gab wortgewaltige Gegner, die den Trend zur völligen Passivität der Zuschauer ablehnten. Diese Kritiker waren beunruhigt von der großen Leichtigkeit, mit der ein Mensch ein Sensorium aufnehmen und assimilieren konnte; und tatsächlich lief manch eine Hausfrau mit blinden Augen durch den Tag, eine Mystikerin der heutigen Zeit, die permanent an eine ewigwährende schillernde Vision angestöpselt war.
Wenn er ein Buch las oder fernsah, so meinten die Kritiker, dann mußte der Zuschauer sich anstrengen, mitmachen. Die Sensorien jedoch überschwemmten ihn einfach, lebendig, schillernd, hinterhältig und hinterließen den schädlichen, schizophrenen Eindruck, daß die Träume besser und wünschenswerter wären als das Leben. Sensorien waren gefährlich! Zugegeben, es wurde manches auf dem künstlerischen Sektor damit geleistet. (Man konnte Verreho nicht unerwähnt lassen, ebensowenig wie Johnston oder Telkin; und auch Mikkelsen war vielversprechend.) Aber es gab eben nicht viele gute Werke. Und verglichen mit den schädigenden Auswirkungen auf die Psyche, die Verflachung des allgemeinen Geschmacks, dem Trend zur völligen Passivität …
Noch eine Generation, so polterten die Kritiker, und die Menschen wären nicht mehr dazu in der Lage zu lesen, zu denken oder zu handeln!
Es war ein starkes Argument. Aber Blaine, der immerhin über 152 Jahre an Perspektive verfügte, erinnerte sich an fast genau dieselben Argumente, die einmal gegen das Radio, das Kino, die Comichefte, das Fernsehen und die Taschenbücher ins Feld geführt worden waren. Selbst der so geschätzte Roman war einmal dafür getadelt worden, daß er die Normen der reinen Dichtkunst überschritten hatte. Jede Erneuerung wirkte kulturbedrohend und wurde schließlich zu einem Kulturträger, zur Verkörperung der guten alten Tage, zum Geist des Goldenen Zeitalters – um von der nächsten Neuerung wieder bedroht und schließlich zerstört zu werden.
Ob sie nun gut oder schlecht sein mochten, die Sensoren waren nun einmal da. Blaine schritt in ein Geschäft, um daran teilzunehmen.
*
Nachdem er sich mehrere Modelle angeschaut hatte, kaufte er ein Bendixgerät der mittleren Preisklasse. Dann suchte er sich mit Hilfe des Verkäufers drei beliebte Aufnahmen aus und nahm sie in eine Kabine mit, um sie sich anzusehen. Er befestigte die Elektroden an seiner Stirn und stellte die erste an.
Es war eine populäre historische, stark romantisierte Wiedergabe des Chanson de Roland, in einer Niedrigintensitäts-, Nichtidentifikationstechnik hergestellt, die große Schlachtszenen ermöglichte sowie Massenauftritte. Der Traum begann.
… und Blaine stand unter Rolands Troß im Paß von Roncesvalles an jenem heißen und schicksalhaften Augustmorgen des Jahres 778 und beobachtete, wie sich die Armee Karls des Großen langsam auf das Land der Franken zuwälzte. Die müden Veteranen saßen gebeugt in ihren hohen Sätteln, Leder knarrte, Sporen schepperten gegen bronzene Steigbügel. In der Luft lag der Duft von Pinien und Schweiß, eine Spur von Rauch aus dem geschleiften Pamplona, der Geschmack von Stahl und trockenem Sommergras …
Blaine entschloß sich, die Aufnahme zu kaufen. Das nächste Stück war eine Hochintensitätsjagd auf der Venus, in der sich der Zuschauer voll mit dem gejagten, aber unschuldigen Mann identifizierte.
Die letzte Aufnahme war eine Bearbeitung von Krieg und Frieden in Variointensität, bei der sich der Zuschauer gelegentlich mit Figuren identifizierte.
Als er die Ware bezahlte, zwinkerte der Verkäufer ihm zu und fragte: »Auch an richtigen Sachen interessiert?«
»Vielleicht«, sagte Blaine.
»Habe großartige Partyaufnahmen«, sagte der Verkäufer. »Volle Identifikation mit Austausch. Nicht? Hab ein echtes Horrorstück, ein Mann, der im Treibsand stirbt. Die Mörder haben seinen Tod für den Spezialhandel aufgenommen.«
»Vielleicht ein anderes Mal«, sagte Blaine und ging auf die Ausgangstür zu.
»Dann habe ich noch eine Sonderaufnahme«, sagte ihm der Verkäufer, »gesetzlich einwandfrei hergestellt, aber nicht in den Verkehr gebracht. Gibt ’n paar Raubkopien. Ein Mann, der aus der Vergangenheit wiedergeboren wird. Absolut echt.«
»Wirklich?«
»Ja, und völlig einmalig. Die Emotionen kommen wirklich klar durch, klar wie ’ne Glocke, scharf wie ’n Messer. Ich möchte behaupten, daß das mal ein Klassiker wird.«
»Das würde mich schon interessieren«, sagte Blaine grimmig.
Er nahm die Platte ohne Etikett in die Kabine. Zehn Minuten später kam er wieder heraus, er war ein bißchen erschüttert; er kaufte die Aufnahme für einen horrenden Preis. Es war, als kaufte er ein Stück von sich selbst.
Der Verkäufer und die Techniker bei Rex hatten recht. Es war ein echtes Sammlerstück und würde wahrscheinlich ein Klassiker werden.
Leider hatte man alle Namen ausradiert, um die Polizei nicht auf die Fährte zu locken. Er war berühmt – aber auf eine völlig anonyme Weise.
Blaine ging jeden Tag zur Arbeit, wischte den Boden, leerte den Papierkorb, adressierte Briefumschläge und entwarf ein paar antike Schiffskörper auf Kommissionsbasis. Abends studierte er die komplizierte Wissenschaft der Yacht-Konstruktion des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts. Nach einer Weile durfte er ein paar kleinere Presseerklärungen schreiben, und es stellte sich heraus, daß er darin sehr begabt war, so daß er bald zum Junior-Yachtkonstrukteur befördert wurde. Er bearbeitete einen großen Teil der Geschäftsvorgänge zwischen Jaakobsen Yachts, Ltd. und den verschiedenen Werften, die ihre Konstruktionen ausführten.
Er studierte weiter, doch es gab nur wenig Aufträge für klassische Schiffskörper. Die Gebrüder Jaakobsen bearbeiteten die meisten Standardboote, während der alte Es Richter, der das ›Wunder von Salem‹ genannt wurde, die ungewöhnlicheren Rennboote und Mehrfachkörper entwarf. Blaine übernahm die Werbung und Öffentlichkeitsarbeit und hatte wenig Zeit für etwas anderes.
Es war verantwortungsvolle, wichtige Arbeit: Aber es war kein Yacht-Designing. Unwiderruflich fiel sein Leben in genau den gleichen Trott, in den es 1958 schon gefallen war.
Blaine dachte sorgfältig darüber nach. Auf der anderen Seite war er glücklich darüber. Es schien ein für alle Male den Konflikt zwischen seinem Geist und seinem geborgten Körper zu lösen. Offensichtlich war der Geist der Chef.
Auf der anderen Seite sprach diese Situation nicht besonders für die Qualität dieses Geistes. Er war ein Mann, der 152 Jahre in die Zukunft gereist war, Wunder und Schrecken erlebt hatte, und nun wieder, mit einer ermüdenden und schrecklichen Unausweichlichkeit als Junior-Yachtkonstrukteur arbeitete, der alles tat, außer Yachten zu entwerfen. Gab es in seinem Charakter irgendeinen bestimmten Fehler, einen verborgenen Defekt, der ihn zum Untergeordnetsein verdammte, egal in welcher Umwelt er leben mochte?
Mißmutig stellte er sich vor, daß man ihn etwa eine Million Jahre zurückgeworfen hätte, in ein Zeitalter der Höhlenmenschen. Zweifellos wäre er nach einer kurzen Phase der Anpassung zu einem Juniorkonstrukteur für Einbäume geworden. Nur eben kein wirklicher Konstrukteur. Seine Aufgabe hätte darin bestanden, Perlenschnüre zu zählen, die Qualität der Baumstämme zu überprüfen und Kontrakte für die Außenstabilisatoren zu beschaffen, während jemand anders (wahrscheinlich irgendein Neandertalergenie) die eigentliche Arbeit gemacht hätte.
Das war entmutigend. Aber glücklicherweise war es nicht die einzige Sehweise der Sache. Seine unausbleibliche Rückkehr ließ sich auch als ein bestechendes Beispiel für innere Solidarität werten, für menschliche Beharrlichkeit. Er war ein Mann, der wußte, was er war. Egal, wie sich seine Umgebung verändern mochte, er blieb seinen Fähigkeiten treu.
Wenn er es so betrachtete, dann konnte er äußerst stolz darauf sein, auf immer und ewig ein Junior-Yachtkonstrukteur zu bleiben.
Er fuhr fort zu arbeiten und pendelte zwischen diesen beiden Selbsteinschätzungen hin und her. Er traf sich ein oder zwei Mal mit Marie, aber die war meistens im hohen Rat der Rex Corporation eingespannt. Er zog aus seinem Hotel in ein kleines, geschmackvoll möbliertes Apartment. Langsam fühlte er sich in New York ganz normal.
Und er hatte, daran erinnerte er sich selbst, wenn schon nichts, so immerhin doch erreicht, daß er sein Geist-Körper-Problem gelöst hatte.
Aber sein Körper ließ sich nicht so leicht abtun. Blaine hatte eines der Probleme übersehen, das mit dem Besitz eines solch kräftigen, gut aussehenden und äußerst eigenwilligen Körpers einfach zusammenhängen mußte.
Eines Tages flackerte der Konflikt wieder auf, stärker denn je.
*
Er hatte seine Arbeit zur gewohnten Zeit verlassen und wartete an der Ecke auf seinen Bus. Er bemerkte eine Frau, die ihn wie gebannt anstarrte. Sie war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, eine üppige, attraktive Rothaarige. Sie war gewöhnlich gekleidet. Ihre Gesichtszüge waren kräftig, doch hatten sie eine gewisse Schläue an sich.
Blaine stellte fest, daß er sie schon zuvor gesehen, aber nie richtig bemerkt hatte. Nun, da er darüber nachdachte, fiel ihm ein, daß sie einmal im gleichen Helibus gesessen hatte wie er. Und sie war auch mehrmals an seinem Gebäude vorbeigeschritten, als er zur Arbeit gegangen war.
Sie hatte ihn beobachtet, wahrscheinlich schon wochenlang. Aber warum?
Er wartete und starrte zurück. Die Frau zögerte einen Augenblick, dann fragte sie: »Kann ich Sie einen Moment sprechen?« Ihre Stimme war rauh und angenehm, aber sehr nervös. »Bitte, Mr. Blaine, es ist sehr wichtig.«
Sie kannte also seinen Namen. »Natürlich«, sagte Blaine. »Worum geht es?«
»Nicht hier. Könnten wir – äh – woanders hingehen?«
Blaine grinste und schüttelte den Kopf. Sie wirkte ja recht harmlos, aber das hatte Orc auch getan. Wenn man in dieser Welt Fremden traute, dann riskierte man dabei leicht seinen Geist, seinen Körper oder beide.
»Ich kenne Sie nicht«, sagte Blaine, »und ich weiß auch nicht, woher Sie meinen Namen wissen. Wenn Sie irgend etwas wollen, dann sagen Sie es mir besser hier.«
»Ich sollte Sie wirklich nicht belästigen«, sagte die Frau in einer entmutigten Stimme. »Aber ich konnte mich nicht bremsen, ich mußte einfach mit Ihnen reden. Manchmal bin ich so einsam, Sie wissen doch wohl auch, wie das ist, nicht wahr?«
»Einsam? Klar, aber warum wollen Sie mit mir reden?«
Sie sah ihn traurig an. »Stimmt ja, Sie wissen es nicht.«
»Nein, das tue ich nicht«, erwiderte Blaine geduldig. »Warum?«
»Können wir nicht irgendwo hingehen? Ich mag solche Sachen nicht in der Öffentlichkeit sagen.«
»Das werden Sie wohl müssen«, sagte Blaine und dachte daran, daß dies ein äußerst kompliziertes Spiel zu sein schien.
»Also gut«, sagte die Frau, der die Sache ganz offensichtlich peinlich zu sein schien. »Ich bin Ihnen sehr lange nachgegangen, Mr. Blaine. Ich habe herausbekommen, wie Sie heißen und wo Sie arbeiten. Ich mußte mit Ihnen reden. Es liegt alles an Ihrem Körper.«
»Wie?«
»Ihr Körper«, sagte sie ohne ihn anzublicken. »Sehen Sie, es war der Körper meines Mannes, bevor er ihn an die Rex Corporation verkaufte.«
Blaines Mund öffnete sich, aber er konnte keine passenden Worte finden.
Blaine hatte immer gewußt, daß sein Körper sein eigenes Leben gelebt hatte, bevor man ihn ihm gegeben hatte. Er hatte gehandelt, Entschlüsse gefaßt, geliebt, gehaßt, hatte der Gesellschaft seinen eigenen Stempel aufgedrückt und sein eigenes kompliziertes und haltbares Netz von Beziehungen geknüpft. Er hätte sogar annehmen können, daß er verheiratet gewesen war, das war bei den meisten Körpern der Fall. Aber er hatte vorgezogen, nicht darüber nachzudenken. Er hatte sich in dem Glauben gewiegt, daß alles, was mit seinem früheren Besitzer zusammengehangen hatte, bequemlichkeitshalber verschwunden war.
Sein eigenes Zusammentreffen mit Ray Melhills geraubtem Körper hätte ihm eigentlich klar machen sollen, wie naiv diese Einstellung war. Ob es ihm gefiel oder nicht, jetzt mußte er darüber nachdenken.
Sie gingen in Blaines Apartment. Die Frau, Alice Kranch, saß deprimiert auf einer Couchseite und nahm eine Zigarette an.
»Es war so«, sagte sie. »Frank – das war der Name meines Mannes, Frank Kranch – war nie mit irgendwas zufrieden, verstehen Sie? Er hatte einen guten Job als Jäger, aber er war nie zufrieden.«
»Als Jäger?«
»Ja, er war Speermann im China-Geschäft.«
»Hm«, sagte Blaine und überlegte aufs neue, was ihn wohl dazu bewegt hatte, auf diese Jagd zu gehen. Waren es seine eigenen Bedürfnisse gewesen oder Kranchs Reflexe? Es war ärgerlich, wieder mit seinem Geist-Körper-Problem konfrontiert zu werden, jetzt, da er es doch so hübsch gelöst zu haben schien.
»Aber nie war er zufrieden«, sagte Alice Kranch. »Und er war immer wütend über diese reichen, vornehmen Typen, die sich umbringen ließen und ins Jenseits kamen. Er hatte den Gedanken immer gehaßt, einmal wie ein Hund zu sterben.«
»Das kann ich ihm nicht verübeln«, meinte Blaine.
Sie zuckte mit den Schultern. »Was wollen Sie? Frank hatte keine Chance, genug Geld zu machen, um sich eine Jenseitsversicherung zu leisten. Das hat ihn gestört. Und dann hat er diese große Schulterwunde bekommen, die ihn fast erledigt hätte. Ich nehme an, daß Sie immer noch die Narbe haben?«
Blaine nickte.
»Na ja, danach war er jedenfalls nie mehr derselbe. Jäger denken normalerweise nicht viel über den Tod nach, aber Frank hat es getan. Er hat die ganze Zeit darüber nachgedacht. Und dann hat er diese dürre Frau von Rex kennengelernt.«
»Marie Thorne?«
»Die, ja«, sagte Alice. »Es war ein dürres Weib, hart wie Stein und kalt wie ein Fisch. Ich konnte nicht verstehen, was Frank an ihr fand. Na ja, er hat ein bißchen rumgemacht, das tun ja die meisten Jäger. Das liegt an der Gefahr. Aber es gibt Rummachen und Rummachen. Er und diese aufgetakelte Ziege von Rex waren ein Herz und eine Seele. Ich verstand einfach nicht, was Frank an ihr fand. Ich meine, sie war doch so dürr und so verkrampft. Auf eine verkniffene Art und Weise war sie ja auch hübsch, aber sie sah so aus, als würde sie ihre Kleider nicht ausziehen, wenn sie ins Bett geht, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Blaine nickte, ein wenig schmerzlich berührt. »Fahren Sie fort.«
»Na ja, Geschmäcker sind ja manchmal ein Rätsel, aber ich hatte gedacht, daß ich Franks Geschmack doch kennen würde. Und das war wohl auch so, denn es stellte sich heraus, daß er nichts mit ihr gehabt hatte. Es war alles rein geschäftlich. Eines Tages kam er und sagte: ›Baby, ich werde dich verlassen. Ich mache eine dicke Reise ins Jenseits. Und für dich springt auch ein hübscher Batzen Kleingeld dabei heraus.‹«
Alice seufzte und wischte sich die Augen. »Dieser große Trottel hatte seinen Körper verkauft! Rex hatte ihm eine Jenseitsversicherung gegeben und eine Jahresrente für mich, und er war so verdammt stolz auf sich selbst! Na ja, ich habe mir den Mund fusselig geredet und versucht, ihn davon abzubringen. Aber nein, er wollte sein Stück vom Himmel abhaben. Seiner Meinung nach war er sowieso fällig, und bei der nächsten Jagd, meinte er, würde es ihn sowieso erwischen. Also ist er fortgegangen. Er hat einmal von der Schwelle aus mit mir geredet.«
»Ist er immer noch dort?« fragte Blaine mit einem Prickeln im Nacken.
»Ich habe schon über ein Jahr nichts mehr von ihm gehört«, sagte Alice. »Deshalb nehme ich an, daß er ins Jenseits übergewechselt ist. Dieser Bastard!«
Sie weinte eine Zeitlang, dann wischte sie sich mit einem winzigen Taschentuch und blickte Blaine traurig an. »Ich wollte Sie nicht belästigen. Schließlich war es Franks eigener Körper, er hatte das Recht, ihn zu verkaufen, und jetzt gehört er Ihnen. Ich habe keine Ansprüche an den Körper oder an Sie. Aber ich bin so traurig geworden, so einsam.«
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Blaine und dachte, daß sie ganz gewiß nicht sein Typ war. Objektiv gesehen war sie schon recht hübsch. Hausbacken, aber überzogen. Ihre Gesichtszüge waren wohlgeformt, kräftig und von lebhafter Farbe. Ihr Haar war, wenn auch nicht echt rot, schulterlang und seidig. Sie war die Art von Frau, die er sich mit in die Hüften gestemmten Armen dabei vorstellen konnte, einem Polizisten die Meinung zu sagen; ein Fischernetz einzuholen; zu einer Flamencogitarre zu tanzen; oder Ziegen auf einem Bergpfad hütend, mit einem vollen langen Kleid, das um ihre üppigen Hüften wirbelte, mit unordentlicher Bäuerinnenbluse.
Aber sie war ziemlich geschmacklos.
Frank Kranch jedoch, erinnerte er sich selbst, hatte sehr wohl an ihr Geschmack gefunden. Und er trug Kranchs Körper.
»Die meisten unserer Bekannten«, sagte Alice eben, »waren Jäger im China-Geschäft. O ja, sie sind manchmal vorbeigekommen, nachdem Frank gegangen war. Aber Sie kennen ja die Jäger, die denken immer nur an eins.«
»Tatsache?« fragte Blaine.
»Ja. Da bin ich von Peking fortgezogen und zurück nah New York gegangen, wo ich geboren bin. Und eines Tages habe ich Frank gesehen – ich meine Sie. Ich wäre fast auf der Stelle ohnmächtig geworden. Ich meine, ich hätte es mir ja denken können und so, aber man bekommt doch einen ganz schönen Schock, wenn man plötzlich den Körper des eigenen Mannes herumlaufen sieht.«
»Kann ich mir denken«, sagte Blaine.
»Also bin ich Ihnen gefolgt und so weiter. Ich wollte Sie eigentlich niemals belästigen, aber es hat mich die ganze Zeit aus der Fassung gebracht. Und ich hab mir Gedanken gemacht, was das wohl für ein Mann ist, der … ich meine, Frank war so – na ja, wir beide kamen sehr gut miteinander aus, wenn Sie verstehen was ich meine.«
»Natürlich«, sagte Blaine.
»Jetzt halten Sie mich bestimmt für schrecklich.«
»Überhaupt nicht«, sagte Blaine. Sie blickte ihm voll ins Gesicht, mit einem traurigen und koketten Ausdruck. Blaine spürte, wie Kranchs alte Narbe pulsierte.
Aber denk dran, sagte er sich, Kranch ist fort. Alles ist jetzt Blaine, Blaines Wille, Blaines Art, Blaines Geschmack …
Nicht wahr?
Dieses Problem muß gelöst werden, dachte er, als er die willige Alice packte und sie mit einer un-Blaineschen Heftigkeit küßte …
*
Am Morgen machte Alice das Frühstück. Blaine saß da, starrte aus dem Fenster und hing trübseligen Gedanken nach.
Die letzte Nacht hatte ihm unwiderlegbar unter Beweis gestellt, daß Kranch immer noch der Herrscher über den Kranch-Blaine-Geist-Körper war. Denn letzte Nacht war er ganz und gar nicht er selbst gewesen. Er war wild, gewalttätig, grob, wütend und exaltiert gewesen. Er war all die Dinge gewesen, die er immer verabscheut hatte, er hatte mit einer Unbeherrschtheit gehandelt, die an Wahnsinn gegrenzt haben mußte.
Das war nicht Blaine. Das war Kranch, der Körper im Triumph.
Blaine hatte immer Delikatheit, Subtilität und den Sinn für Nuancen geschätzt. Vielleicht zu sehr. Aber das waren jedenfalls seine Tugenden gewesen, der Ausdruck seiner individuellen Persönlichkeit. Mit ihnen zusammen war er Thomas Blaine. Ohne sie war er weniger als nichts – ein Schatten, der von dem stets triumphierenden Kranch geworfen wurde.
Mißmutig dachte er an die Zukunft. Er würde den Kampf aufgeben, tun, was sein Körper verlangte; ein Kämpfer werden, ein Raufbold, ein triebbesessener Vagabund. Vielleicht würde er sich mit der Zeit daran gewöhnen, es vielleicht sogar genießen …
»Das Frühstück ist fertig«, sagte Alice.
Schweigend aßen sie vor sich hin, und Alice betastete vorsichtig und trübsinnig eine Schramme an ihrem Unterarm. Schließlich hielt Blaine es nicht länger aus.
»Hören Sie«, sagte er, »es tut mir leid.«
»Was?«
»Alles.«
Sie lächelte blaß. »Das ist schon in Ordnung. Ist ja eigentlich meine Schuld.«
»Das bezweifle ich. Kann ich bitte mal die Butter haben?« sagte Blaine.
Sie reichte ihm die Butter. Schweigend aßen sie eine Weile. Dann sagte Alice: »Ich bin sehr sehr dumm gewesen.«
»Wieso?«
»Ich bin wohl einem Traum nachgejagt«, sagte sie. »Ich habe mir eingebildet, daß ich Frank wiederfinden könnte. Eigentlich bin ich nicht so, Mr. Blaine. Aber ich dachte, es würde sein wie mit Frank.«
»Und das war es nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«
Blaine stellte sorgfältig seine Kaffeetasse ab. Er sagte: »Ich nehme an, daß Kranch gröber war. Ich schätze, er hat Sie von Wand zu Wand geschmissen. Ich vermute -«
»O nein!« rief sie. »Niemals! Mr. Blaine, Frank war ein Jäger und führte ein hartes Leben. Aber bei mir war er immer ein vollkommener Gentleman. Er hatte Manieren, das hatte Frank.«
»Hatte er?«
»Und ob! Frank war immer zärtlich zu mir, Mr. Blaine. Er war – delikat, falls Sie wissen, was ich meine. Nett. Sanft. Er war niemals, niemals grob. Um die Wahrheit zu sagen, er war das genaue Gegenteil von Ihnen, Mr. Blaine.«
»Hmpf«, meinte Blaine.
»Nicht, daß ich was an Ihnen auszusetzen hätte«, fügte sie mit hastiger Freundlichkeit hinzu. »Sie sind ja schon ein bißchen rauh, aber solche Leute muß es ja wohl auch geben.«
»Tja, das glaube ich auch«, brummte Blaine. »Das glaube ich ganz bestimmt.«
In peinlichem Schweigen beendeten sie ihr Frühstück. Alice, von ihrem obsessiven Tun befreit, ging sofort danach fort, ohne auch nur anzudeuten, daß sie einander einmal wiedersehen sollten. Blaine saß in seinem großen Sessel, starrte aus dem Fenster und dachte nach.
Er war also nicht wie Kranch!
Die bittere Wahrheit, sagte er sich, war, daß er sich verhalten hatte, wie er sich Kranch unter ähnlichen Umständen vorgestellt hatte. Es war die reine Auto-Suggestion gewesen. Auf hysterische Weise hatte er sich eingeredet, daß ein starker, aktiver, herzhafter Naturbursche eine Frau notwendigerweise behandeln mußte wie ein Stemmeisen.
Er hatte sich stereotypisch verhalten. Er wäre sich noch viel alberner vorgekommen, wenn er nicht so erleichtert gewesen wäre, seine bedrohte Blainehaftigkeit wiedergewonnen zu haben.
Er zog eine Grimasse, als er an Alices Beschreibung von Marie dachte: Dürr, hart wie Stein, kalt wie ein Fisch. Noch mehr Stereotypen!
Aber wenn man die Umstände bedachte, konnte er es Alice kaum verübeln.
Ein paar Tage darauf erhielt Blaine eine Mitteilung, daß bei der Geistervermittlung eine Nachricht auf ihn warte. Er fuhr nach der Arbeit dort hin und wurde in die gleiche Kabine geschickt, die er schon beim ersten Mal benutzt hatte.
Melhills verstärkte Stimme sagte: »Hallo Tom!«
»Hallo Ray! Hab mich schon gewundert, wo du abgeblieben bist.«
»Ich bin immer noch auf der Schwelle«, erzählte Melhill. »Aber nicht mehr lange. Ich muß los und nachsehen, wie es im Jenseits ist. Es zieht mich an. Aber ich wollte mal wieder mit dir reden, Tom. Ich glaube, du solltest dich vor Marie Thorne hüten.«
»Also Ray -«
»Ich meine es. Sie hat ihre ganze Zeit bei Rex verbracht. Ich weiß nicht, was dort vorgeht, sie haben ihre Konferenzräume gegen psychisches Eindringen geschützt. Aber irgend etwas braut sich über dir zusammen und sie steckt mittendrin.«
»Ich halte die Augen offen«, sagte Blaine.
»Tom, befolge bitte meinen Rat. Verlasse New York. Hau ab, solange du noch einen Körper und einen Geist hast, mit denen du abhauen kannst.«
»Ich bleibe«, sagte Blaine.
»Du sturer Bastard«, sagte Melhill gefühlvoll. »Was bringt es denn, einen Schutzgeist zu haben, wenn du dich niemals nach seinen Ratschlägen richtest?«
»Ich weiß deine Hilfe zu schätzen«, sagte Blaine. »Wirklich. Aber sag mir doch mal ehrlich, um wieviel es mir besser erginge, wenn ich jetzt weglaufen würde?«
»Du könntest ein kleines bißchen länger leben.«
»Nur ein kleines bißchen? Ist es so schlimm?«
»Schlimm genug. Tom, denk dran, niemandem zu vertrauen. Ich muß jetzt gehen.«
»Werde ich nochmal mit dir reden, Ray?«
»Vielleicht«, sagte Melhill. »Vielleicht auch nicht. Viel Glück, Junge!«
Das Gespräch war zu Ende und Blaine kehrte in sein Apartment zurück.
*
Der nächste Tag war ein Sonntag. Blaine stand erst spät auf, machte Frühstück und rief Marie an. Sie war nicht da. Er beschloß, den Tag damit zu verbringen, sich zu entspannen und seine Sensorien abzuspielen.
An diesem Nachmittag hatte er zwei Besucher.
Als erstes kam eine sanfte, bucklige alte Frau in einer dunklen, strengen Uniform. An ihrer armeeähnlichen Mütze standen die Worte ›Alte Kirche‹.
»Sir«, sagte sie mit einer etwas kurzatmigen Stimme, »ich sammle für die Alte Kirche, eine Organisation, die in diesen verworrenen und gottlosen Zeiten den Glauben zu fördern trachtet.«
»Tut mir leid«, sagte Blaine und wollte die Tür schließen.
Doch die alte Frau mußte schon viele Türen erlebt haben, die sich ihr verschließen wollten. Sie klemmte sich zwischen Tür und Angel und redete weiter.
»Junger Mann, dies ist das Zeitalter des babylonischen Tieres und die Zeit der Vernichtung der Seelen. Dies ist das Zeitalter des Satan und seines vorgeblichen Triumphes. Aber lassen Sie sich nicht täuschen! Der Allmächtige hat dies zugelassen als eine Zeit der Prüfung, um die Spreu vom Weizen zu scheiden. Hüten Sie sich vor der Versuchung! Hüten Sie sich vor dem Pfad des Bösen, der glitzernd und verlockend vor Ihnen liegen mag!«
Blaine gab ihr einen Dollar, damit sie endlich den Mund hielte. Die Alte dankte ihm, redete aber weiter.
»Hüten Sie sich vor dieser letzten Falle des Satans – vor jenem falschen Himmel, den die Menschen das Jenseits nennen! Denn welch bessere Falle konnte Satan der Verblender wohl aufstellen, wenn nicht diese, seine größte Illusion! Die Illusion, daß die Hölle der Himmel sei! Und die Menschen werden verblendet von dieser heimtückischen Täuschung und liefern sich ihr willentlich aus!«
»Danke«, sagte Blaine und wollte die Tür wieder schließen.
»Denken Sie an meine Worte!« rief die alte Frau und fixierte ihn mit ihren glasblauen Augen. »Das Jenseits ist böse! Hüten Sie sich vor den Propheten des höllischen Lebens nach dem Tode!«
»Danke!« rief Blaine und bekam die Tür endlich zu.
Er entspannte sich wieder in seinem Sessel und stellte das Abspielgerät an. Fast eine Stunde lang war er von ›Flucht auf der Venus‹ gefesselt, dann klopfte es an seine Tür.
Blaine öffnete und erblickte einen kleinen, wohlgekleideten, dicklichen Mann mit ernstem Gesicht.
»Mr. Thomas Blaine?« fragte der Mann.
»Der bin ich.«
»Mr. Blaine, ich bin Charles Farrell von der Jenseits Corporation. Dürfte ich vielleicht mit Ihnen reden? Wenn es Ihnen im Augenblick nicht recht sein sollte, können wir gern einen Termin ausmachen, an dem es -«
»Kommen Sie rein«, sagte Blaine und öffnete dem Propheten des höllischen Lebens nach dem Tode Tür und Tor.
*
Farrell war ein sanfter, sachlicher, leiser Prophet. Als erstes händigte er Blaine ein Schreiben auf dem Geschäftspapier der Jenseits, Inc. aus, das bestätigte, daß Charles Farrell ein vollautorisierter Vertreter der Jenseits Corporation war. Die Bescheinigung enthielt eine ausführliche Beschreibung Farrells, seine Unterschrift, drei gestempelte Fotos und einen Satz Fingerabdrücke.
»Und hier sind meine Ausweise«, sagte Farrell und öffnete eine Brieftasche mit seiner Heli-Lizenz, seiner Bibliothekskarte, seiner Wählerregistrierungsnummer und einer staatlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung. Auf einem besonderten präparierten Stück Papier drückte Farrell seine Fingerabdrücke ab und gab sie Blaine, damit er sie mit denen auf dem Brief vergleichen konnte.
»Ist das denn alles nötig?« fragte Blaine.
»Absolut«, erwiderte Farrell. »Wir hatten ein paar unglückliche Vorkommnisse in der Vergangenheit. Skrupellose Subjekte versuchen oft, sich als Vertreter der Jenseits, Inc. auszugeben, vor allem unter den Armen und Leichtgläubigen. Sie bieten Erlösung zu Sonderpreisen an, nehmen, was sie kriegen können und verschwinden aus der Stadt. Es sind zu viele Leute betrogen worden um alles was sie hatten, ohne eine Gegenleistung zu erhalten. Denn diese illegalen Hochstapler, selbst wenn sie für irgendeine windige Hintertreppenfirma arbeiten, sind nicht im Besitz der kostspieligen Ausrüstung und des ausgebildeten Personals, die für so etwas nun einmal erforderlich sind.«
»Das wußte ich nicht«, sagte Blaine. »Wollen Sie sich nicht setzen?«
Farrell setzte sich in einen Sessel. »Die Organisationen für Sauberen Wettbewerb versuchen, etwas dagegen zu unternehmen. Aber die Hintertreppenbetriebe sind zu schnell, um erwischt zu werden. Nur die Jenseits, Inc. und zwei weitere Gesellschaften mit staatlich anerkannten Technologien sind auch dazu in der Lage, das zu leisten, was sie versprechen – ein Leben nach dem Tode.«
»Was ist mit den verschiedenen geistigen Techniken?« fragte Blaine.
»Die habe ich bewußt nicht erwähnt«, sagte Farrell. »Die gehören in eine völlig andere Kategorie. Wenn Sie die Geduld und das Durchhaltevermögen haben, um zwanzig Jahre oder länger intensiv zu studieren, um so besser für sie. Wenn nicht, dann brauchen Sie wissenschaftliche Hilfe und Unterstützung. Und da kommen wir dann in Frage.«
»Ich würde gern darüber hören«, sagte Blaine.
Mr. Farrell setzte sich bequemer im Sessel zurecht. »Wenn Sie so sein sollten, wie andere Leute, dann möchten Sie vermutlich gerne wissen, was das ist, das Leben. Was ist der Tod? Was ist Geist? Wo berühren sich Geist und Körper gegenseitig, wo handeln sie gemeinsam? Ist der Geist auch Seele? Ist die Seele auch Geist? Sind die beiden voneinander unabhängig, oder voneinander abhängig, oder miteinander vermischt? Oder gibt es überhaupt so etwas wie eine Seele?« Farrell lächelte. »Sind das ein paar der Fragen, die Sie gerne von mir beantwortet hätten?«
Blaine nickte. Farrell sagte: »Nun, das kann ich nicht beantworten. Wir wissen es einfach nicht, wir haben nicht die geringste Ahnung. Was uns betrifft, so sehen wir dies als religionsphilosophische Fragen an, die die Jenseits, Inc. nicht einmal zu beantworten versuchen will. Wir interessieren uns für Ergebnisse, nicht für Spekulationen. Wir sind medizinisch ausgerichtet. Wir gehen pragmatisch vor. Er ist uns gleichgültig, wie oder warum wir unsere Ergebnisse erzielen, oder wie seltsam sie erscheinen mögen. Funktioniert es? Das ist die einzige Frage, die wir stellen, und das ist unsere Grundeinstellung.«
»Ich glaube, Sie haben das verdeutlicht«, meinte Blaine.
»Es ist wichtig, daß ich das gleich am Anfang tue. Also will ich noch etwas klar machen: Begehen Sie nicht den Fehler zu glauben, daß wir den Himmel anbieten würden.«
»Nicht?«
»Überhaupt nicht! Das Himmelreich ist ein religiöses Konzept, und wir haben nichts mit Religion zu tun. Unser Jenseits ist ein Überleben des Geistes nach dem Tod des Körpers. Das ist alles. Wir behaupten genausowenig, daß das Jenseits das Himmelreich wäre, wie die frühen Wissenschaftler behauptet haben, daß die Knochen der ersten Steinzeitmenschen die Überbleibsel von Adam und Eva wären.«
»Vorhin war eine alte Frau hier«, sagte Blaine. »Sie hat mir gesagt, daß das Jenseits die Hölle sei.«
»Das ist eine Fanatikerin«, sagte Farrell grinsend. »Sie rennt mir nach. Und soweit ich das beurteilen kann, hat sie vielleicht vollkommen recht.«
»Was wissen Sie denn nun über das Jenseits?«
»Nicht allzu viel«, sagte Farrell. »Alles, was wir wirklich wissen ist Folgendes: Nach dem Tod des Körpers begibt sich der Geist in eine Region, die wir die Schwelle nennen und die zwischen der Erde und dem Jenseits ist. Wir glauben, daß das eine Art Vorbereitungsstadium für das Jenseits ist. Wenn der Geist erst einmal dort ist, kann er ins Jenseits eintreten, wann es ihm beliebt.«
»Aber wie ist denn das Jenseits beschaffen?«
»Das wissen wir nicht. Wir sind uns ziemlich sicher, daß es nicht körperlich ist. Manche meinen, daß der Geist die Essenz des Körpers ist und daß sich deshalb auch die Essenz weltlicher Güter ins Jenseits bringen läßt. Es könnte so sein. Es gibt Leute, die stimmen dem nicht zu. Manche haben das Gefühl, daß das Jenseits ein Ort ist, an dem die Seelen darauf warten, wiedergeboren zu werden, auf anderen Planeten, als Teil eines riesigen Wiedergeburtszyklus. Vielleicht stimmt auch das ja. Andere glauben, daß das Jenseits nur die erste Stufe postirdischer Existenz darstellt und daß es sechs weitere gibt, die immer schwieriger zu erlangen sind, bis alles schließlich in einer Art Nirwana endet. Könnte sein. Es ist behauptet worden, daß das Jenseits eine riesige, neblige Region ist, in der man allein herumwandert, immer suchend, niemals findend. Ich habe Theorien gelesen, die nachwiesen, daß die Leute im Jenseits nach Familienzugehörigkeit gruppiert würden; andere wiederum behaupten, daß man dort nach Rasse, Religion, Hautfarbe oder gesellschaftlicher Stellung gruppiert wird. Manche Leute behaupten, wie Sie selbst haben feststellen können, daß man da in die Hölle selbst eintritt. Es gibt Vertreter einer Illusionstheorie, die konstatieren, daß der Geist sich völlig auflöst, nachdem er die Schwelle verlassen hat. Und dann gibt es noch welche, die behaupten, daß unsere Firma ihre ganzen Effekte überhaupt nur gefälscht hätte. Ein gelehrtes Werk, das vor kurzem erschienen ist, stellt fest, daß man im Jenseits all das findet, was man finden will – das Himmelreich, das Paradies, Walhalla, grüne Weiden, suchen Sie’s sich aus. Es wird gesagt, daß die alten Götter das Jenseits regieren – die Götter Haitis, Skandinaviens, des Belgischen Kongo, je nachdem, an welche Theorie man sich hält. Natürlich gibt es eine Gegentheorie, die beweist, daß es überhaupt keine Götter geben kann. Ich habe ein englisches Buch gelesen, demzufolge im Jenseits englische Geister herrschen sollen, und ein russisches, das behauptet, daß dort Russen regieren und mehrere amerikanische, die nachweisen, daß dort die Amerikaner herrschen. Letztes Jahr ist ein Buch erschienen, das behauptete, daß die Regierungsform im Jenseits die Anarchie sei. Ein führender Philosoph beharrt darauf, daß der Geist des Wettbewerbs ein Naturgesetz sei und folglich auch im Jenseits vorherrschen müsse. Und so weiter. Sie können sich jede beliebige Theorie aussuchen, Mr. Blaine, oder Sie können auch eine eigene aufstellen.«
»Was meinen Sie denn?« fragte Blaine.
»Ich? Ich versuche, offen zu bleiben«, sagte Farrell. »Wenn die Zeit kommt, dann werde ich hingehen und es selbst rausfinden.«
»Hm, das ist auch meine Einstellung«, sagte Blaine. »Unglücklicherweise habe ich keine Chance. Ich habe nicht das Geld, das Sie dafür verlangen.«
»Ich weiß«, sagte Farrell. »Ich habe Ihre Finanzen überprüft, bevor ich kam.«
»Aber warum sind Sie dann -«
»Jedes Jahr«, sagte Farrell, »werden ein paar kostenlose Jenseitsstipendien vergeben, einige von Philanthropen, ein paar von Firmen und Trusts, einige auf Lotteriebasis. Ich bin in der glücklichen Lage, Ihnen mitzuteilen, Mr. Blaine, daß Sie für einen dieser Zuschüsse ausgewählt worden sind.«
»Ich?«
»Ich möchte Ihnen gratulieren«, sagte Farrell. »Sie sind ein sehr großer Glückspilz.«
»Aber wer hat mir denn den Zuschuß gewährt?«
»Die Main-Farbenger Textilien Corporation.«
»Ich habe noch nie von denen gehört.«
»Nun, sie haben aber von Ihnen gehört. Das Stipendium ist eine Anerkennung für Ihre Reise hierher aus dem Jahre 1958. Nehmen Sie es an?«
Blaine starrte den Jenseitsvertreter an. Farrell schien schon echt zu sein, außerdem ließ sich seine Geschichte auch im Jenseits-Gebäude überprüfen. Blaine traute dem Geschenk nicht, das ihm da so völlig unerwartet in die Hand gedrückt wurde. Aber der Gedanke an ein sicheres Leben nach dem Tode wog jeden erdenklichen Zweifel auf, schob alle möglichen Ängste und Befürchtungen beiseite. Vorsicht war ja ganz in Ordnung, aber nicht, wenn sich einem die Tore des Jenseits öffneten.
»Was muß ich tun?«
»Einfach mich ins Jenseits-Gebäude begleiten«, sagte Farrell. »Wir können das nötige Verfahren in wenigen Stunden durchführen lassen.«
Überleben! Leben nach dem Tode!
»Also gut«, sagte Blaine. »Ich nehme das Stipendium an. Gehen wir.«
Sie verließen sofort Blaines Apartment.
Ein Helitaxi brachte sie direkt zum Jenseits-Gebäude. Farrell führte Blaine ins Empfangsbüro und händigte der Frau dort eine Fotokopie von Blaines Stipendiumsbewilligung aus. Blaine ließ seine Fingerabdrücke abnehmen und zeigte seine Jägerlizenz als Ausweis vor. Die Frau überprüfte alle Angaben auf einer Personenliste. Schließlich hatte sie sich von der Richtigkeit seiner Identifikation überzeugt und unterschrieb die Empfangspapiere.
Danach brachte Farrell Blaine in den Testraum, wünschte ihm viel Glück und verschwand.
Im Testraum übernahm eine Gruppe junger Techniker das Kommando und unterzog Blaine einer ganzen Reihe von Untersuchungen. Rechenmaschinen klapperten und spuckten yardweise Papier und ganze Fontänen Lochkarten aus. Ominöse Maschinen blubberten und quiekten ihn an, starrten mit riesigen roten Augen, zwinkerten und wurden bernsteinfarben. Automatische Schreiber kratzten über Skalenpapier. Und die ganze Zeit über fachsimpelten die Techniker sehr lebhaft miteinander.
»Interessante Beta-Reaktion. Können wir die Kurve angleichen?«
»Klaro, wir müssen lediglich seinen Schubkoeffizienten verringern.«
»Das möchte ich nicht so gern. Schwächt das Gewebe.«
»So weit braucht man es auch nicht zu schwächen. Das Trauma wird er trotzdem überstehen.«
»Vielleicht … Was ist denn mit diesem Henlinger-Faktor? Ist ja gar keiner!«
»Weil er in einem Wirtskörper ist. Wird schon kommen.«
»Letzte Woche der hat’s auch nicht geschafft. Der Typ ging doch hoch wie eine Rakete.«
»Der war doch schon von Anfang an ein bißchen labil.«
Blaine sagte: »He! Gibt es da etwa die Möglichkeit, daß die Sache doch nicht funktionieren könnte?«
Die Techniker wandten sich um, als erblickten sie ihn zum ersten Mal.
»Mann, jeder Fall ist anders«, sagte einer von ihnen.
»Man muß jeden Fall individuell berechnen.«
»Probleme, Probleme, Probleme.«
Blaine sagte: »Ich dachte, daß das Verfahren voll ausgereift wäre. Ich habe gehört, daß es unfehlbar wäre.«
»Klar, das erzählen sie den Kunden immer«, sagte einer der Techniker abfällig.
»Alles Werbequatsch.«
»Hier geht dauernd was schief. Wir müssen noch viel lernen.«
Blaine fragte: »Aber können Sie mir denn auch sagen, ob die Behandlung gewirkt hat?«
»Klar. Wenn sie gewirkt hat, dann bleiben Sie am Leben.«
»Wenn nicht, kommen Sie hier zu Fuß nicht mehr raus.«
»Normalerweise klappt es ja auch«, beruhigte ihn einer der Techniker. »Bei jedem, außer K3ern.«
»Dieser verdammte K3-Faktor legt uns immer aufs Kreuz. Nun sag schon, Jamiesen, ist er ein K3er oder nicht?«
»Bin mir nicht sicher«, sagte Jamiesen, über ein blitzendes Instrument gebeugt. »Die Testmaschine ist schon wieder im Arsch.«
Blaine fragte: »Was ist denn ein K3er?«
»Das wüßten wir auch gern«, sagte Jamiesen schlechtgelaunt. »Alles, was wir wirklich wissen, ist, daß Typen mit einem K3-Faktor den Tod nicht überleben können.«
»Unter keinen Umständen.«
»Der alte Fitzroy meint ja, daß das ein eingebauter Begrenzungsfaktor ist, den die Natur eingesetzt hat, damit die Spezies nicht außer Kontrolle gerät.«
»Aber die K3er vererben den Faktor nicht an ihre Kinder.«
»Es besteht immer noch die Möglichkeit, daß er latent bleibt und ein paar Generationen überspringt.«
»Bin ich ein K3er?« fragte Blaine und versuchte, seine Stimme vom Zittern abzuhalten.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Jamiesen wie beiläufig. »Ist ziemlich selten. Ich werd’s mal überprüfen.«
Blaine wartete, während die Techniker ihre Daten durchgingen und Jamiesen versuchte, an seiner defekten Maschine abzulesen, ob Blaine nun einen K3-Faktor hatte oder nicht.
Eine Weile später blickte Jamiesen hoch. »Na ja, schätze, daß er kein K3er ist. Aber wer weiß das schon wirklich? Na ja, machen wir doch einfach weiter.«
»Was kommt denn als nächstes?« fragte Blaine.
Man verabreichte ihm eine tiefe Injektion.
»Keine Bange«, sagte ein Techniker. »Wird schon schiefgehen.«
»Sind Sie sicher, daß ich kein K3er bin?« fragte Blaine. Der Techniker nickte gelangweilt. Blaine wollte noch weitere Fragen stellen, aber ein Schwindelgefühl überfiel ihn. Die Techniker hoben ihn gerade hoch und legten ihn auf einen weißen Operationstisch.
*
Als er sein Bewußtsein wiedererlangte, lag er auf einer bequemen Couch und hörte beruhigende Musik. Eine Krankenschwester reichte ihm ein Glas Sherry, und Mr. Farrell stand strahlend dabei.
»Fühlen Sie sich O.K.?« fragte Farrell. »Müßten Sie wohl. Hat ja alles wunderbar geklappt.«
»Tatsächlich?«
»Ohne jeden Zweifel. Mr. Blaine, das Jenseits gehört Ihnen.«
Blaine trank seinen Sherry aus und stand auf, ein bißchen schwankend. »Das Leben nach dem Tode gehört mir? Wann immer ich sterben mag? Woran ich auch sterben mag?«
»Genau. Egal wie oder warum sie sterben mögen, Ihr Geist wird nach dem Tode überleben. Wie fühlen Sie sich?«
»Ich weiß nicht«, sagte Blaine.
Erst eine halbe Stunde später, als er in sein Apartment zurückkehrte, kam die Reaktion.
Das Jenseits gehörte ihm!
Plötzlich fühlte er sich wild und ekstatisch. Nichts war jetzt noch wichtig, überhaupt nichts! Er war unsterblich! Man könnte ihn auf der Stelle töten und er würde dennoch weiterleben!
Er fühlte sich wunderbar trunken. Fröhlich überlegte er, ob er sich nicht unter die Räder eines vorüberfahrenden Lasters stürzen sollte. Was machte das schon? Nichts konnte ihn wirklich mehr verwunden! Er konnte nun amoklaufen und fröhlich die Menge niedermetzeln. Warum nicht? Das einzige, was die Bullen töten konnten, war sein Körper!
Das Gefühl war unbeschreiblich. Nun wurde Blaine zum erstenmal klar womit die Menschheit hatte leben müssen, bevor das wissenschaftliche Jenseits entdeckt worden war. Er erinnerte sich an die schwermütige, triste, ständige, unbewußte Angst vor dem Tode, die sich wie ein schauriger Bandwurm durch die Windungen des menschlichen Geistes gezogen hatte, ein Gespenst, das Tag und Nacht umherspukte, der Lauerer hinter der Ecke, der Schatten hinter der Tür, der ungesehene Gast bei jedem Bankett, die undefinierbare Gestalt in jeder Landschaft, immer präsent, immer wartend -
Nie wieder.
Denn nun war seinem Geist eine gewaltige Last abgenommen worden. Die Furcht vor dem Tode war vorüber, betäubend vorüber und er fühlte sich leicht wie Luft. Der Tod, dieser Erzfeind, war besiegt worden!
Er kehrte euphorisch gestimmt in sein Apartment zurück. Als er die Tür aufschloß, klingelte das Telefon.
*
»Blaine.«
»Tom!« Es war Marie Thorne. »Wo bist du gewesen? Ich habe den ganzen Nachmittag versucht, dich zu erreichen.«
»Ich bin ausgegangen, Liebling«, sagte Blaine. »Wo zum Teufel warst du denn?«
»Bei Rex«, sagte sie. »Ich habe versucht, rauszukriegen, was sie vorhaben. Jetzt hör gut zu, ich habe ein paar wichtige Neuigkeiten für dich.«
»Ich habe ein paar Neuigkeiten für dich, meine Liebe«, sagte Blaine.
»Hör mir zu! Heute wird ein Mann dein Apartment aufsuchen. Es wird ein Vertreter der Jenseits, Inc. sein, und er wird dir eine kostenlose Jenseitsversicherung anbieten. Nimm sie nicht an.«
»Warum nicht? Ist er nicht echt?«
»Doch, er ist völlig echt und das Angebot auch. Aber du darfst es nicht annehmen.«
»Das habe ich schon«, sagte Blaine.
»Du hast was?«
»Er war vor ein paar Stunden hier. Ich habe es angenommen.«
»Haben sie dich schon behandelt?«
»Ja. War das unecht?«
»Nein«, sagte Marie, »natürlich nicht. Ach, Tom, wann wirst du endlich einmal lernen, keine Geschenke von Fremden anzunehmen? Es gab doch noch genug Zeit für eine spätere Jenseitsversicherung … Oh, Tom!«
»Was ist los?« fragte Blaine. »Es war ein Stipendium von der Main-Farbenger Textilien Corporation.«
»Die gehört zu hundert Prozent der Rex Corporation«, sagte Marie ihm.
»Oh … Na ja, und?«
»Tom, die Direktoren haben dir dieses Stipendium bewilligt, sie haben Main-Farbenger als Tarnung genommen, aber das Stipendium hat dir Rex gegeben! Siehst du denn nicht, was das heißt?«
»Nein. Würdest du bitte aufhören zu schreien, und es mir erklären?«
»Tom, es geht um den Paragraphen über Genehmigten Mord im Selbstmordgesetz. Sie werden seine Anwendung erzwingen.«
»Wovon redest du?«
»Ich rede von dem Teil des Selbstmordgesetzes, der die Annahme von Wirtskörpern für legal erklärt. Rex hat das Überleben deines Geistes nach dem Tode garantiert, und du hast es angenommen. Jetzt können Sie dir ganz legal deinen Körper wieder abnehmen und verwenden, wie sie wollen. Er gehört ihnen. Sie können deinen Körper töten, Tom!«
»Mich töten?«
»Ja. Und natürlich werden sie das auch tun. Die Regierung plant rechtliche Schritte gegen sie zu unternehmen, weil sie dich illegal aus der Vergangenheit geholt haben. Wenn du nicht da bist, dann wird es auch keine Anklage geben. Jetzt hör zu. Du mußt New York verlassen und dann das Land. Vielleicht lassen sie dich dann in Ruhe. Ich werde dir helfen. Ich meine, du solltest -«
Das Telefon war tot.
Blaine drückte ein paarmal auf die Gabel, doch es kam kein Freizeichen. Offenbar war die Leitung unterbrochen worden.
Die ekstatische Fröhlichkeit, die ihn noch vor wenigen Sekunden erfüllt hatte, verließ ihn. Das berauschende Gefühl der Befreiung vom Tode verschwand. Wie hatte er nur an Amoklaufen denken können? Er wollte leben. Er wollte im Fleische leben, auf der Erde, die er kannte und liebte. Geistige Existenz war prima, aber jetzt wollte er sie noch nicht. Noch lange nicht. Er wollte unter festen Gegenständen leben, Luft atmen, Brot essen und Wasser trinken, Fleisch um sich herum fühlen, fremdes Fleisch berühren.
Wann würden sie versuchen, ihn umzubringen? Jederzeit. Sein Apartment war eine Falle. Schnell stopfte Blaine sein ganzes Geld in seine Tasche und eilte zur Tür. Er öffnete sie und blickte hoch und in den Gang. Er war leer.
Er lief hinaus, rannte durch den Korridor und blieb stehen.
Ein Mann war gerade um die Ecke gekommen. Der Mann stand mitten in der Eingangshalle. Er trug einen großen Projektor, den er auf Blaines Magengegend gerichtet hatte.
Der Mann war Sammy Jones.
»Ach, Tom, Tom«, sagte Jones seufzend. »Glaub mir, es tut mir verdammt leid, daß du es bist. Aber Geschäft bleibt Geschäft.«
Als sich der Projektor hob und auf seine Brust richtete, blieb Blaine wie angefroren stehen.
»Warum du?« konnte er noch herausbringen.
»Wer sonst?« fragte Sammy Jones. »Bin ich nicht der beste Jäger der westlichen Hemisphäre und wahrscheinlich auch Europas? Rex hat alle von uns im Gebiet New York angeheuert. Aber diesmal mit Strahler- und Projektorwaffen. Es tut mir leid, daß du es sein mußtest, Tom.«
»Aber ich bin doch auch ein Jäger«, sagte Blaine.
»Du bist nicht der erste, der umgelegt wird. Das gehört nun einmal zum Spiel dazu, Junge. Beweg dich nicht, ich mach’s schnell und sauber.«
»Ich will nicht sterben!« japste Blaine.
»Warum nicht?« fragte Jones. »Du hast doch deine Jenseitsversicherung.«
»Man hat mich reingelegt! Ich will leben! Sammy, tu’s nicht!«
Sammy Jones’ Gesicht verhärtete sich. Er zielte sorgfältig, dann senkte er das Gewehr.
»Ich werde wohl langsam zu weichherzig für dieses Spiel«, sagte er. »Also gut, Tom, lauf los. Ich schätze, jedes Opfer sollte einen kleinen Vorsprung bekommen. Dadurch wird die Sache sportlicher. Aber ich lasse dir nur einen kleinen.«
»Danke, Sammy«, sagte Blaine und eilte durch die Halle.
»Aber Tom – paß auf, wo du hintrittst, wenn du wirklich leben willst. Ich sag’s dir, in New York gibt es im Augenblick mehr Jäger als Einwohner. Und alle Verkehrsmittel werden überwacht.«
»Danke«, rief Blaine, während er die Treppe hinunterlief.
Er war auf der Straße, wußte aber nicht, wohin er gehen sollte. Aber er hatte keine Zeit dafür, unentschlossen zu sein. Es war später Nachmittag, Stunden bevor die Dunkelheit ihm helfen würde. Er wählte eine Richtung und ging los.
Fast instinktiv führten ihn seine Schritte in die Slums der Stadt.
Er schritt an zerfallenen Mietshäusern und uralten Apartmenthäusern vorbei, vorbei an billigen Kneipen und Nachtklubs; die Hände in die Taschen gesteckt, versuchte er zu denken. Er mußte sich einen Plan machen. Wenn er sich keinen Plan machen konnte, wie er aus New York hinauskäme, würden ihn die Jäger innerhalb der nächsten ein bis zwei Stunden aufspüren.
Jones hatte ihm gesagt, daß die Verkehrsmittel überwacht würden. Was hatte er dann noch für Chancen? Er war unbewaffnet, wehrlos -
Na ja, das konnte er vielleicht ändern. Mit einer Pistole in der Hand wäre die Lage schon anders. Sie könnte sogar sehr viel anders sein. Wie Hull erklärt hatte, konnte ein Jäger ganz legal ein Opfer erschießen; aber wenn ein Opfer einen Jäger erschoß, dann wurde es festgenommen und es drohten ihm schwere Strafen.
Wenn er tatsächlich einen Jäger erschießen würde, dann müßte die Polizei ihn festnehmen! Es würde zwar alles ziemlich kompliziert werden, aber es würde ihn wenigstens vor der unmittelbaren Gefahr retten.
Er ging weiter, bis er an ein Pfandhaus kam. Im Schaufenster lagen zahlreichende glitzernde Projektor- und Strahlenwaffen, Jagdgewehre, Messer und Macheten. Blaine ging hinein.
»Ich möchte eine Pistole«, sagte er zu dem schnurrbärtigen Mann hinter dem Verkaufstresen.
»Eine Pistole. Soso. Und was für eine Pistole?« fragte der Mann.
»Haben Sie Strahlenpistolen?«
Der Mann nickte und schritt an eine Schublade. Er holte eine glitzernde Pistole mit Kupferpolierung hervor.
»Das hier«, sagte er, »ist ein Sonderangebot. Es ist ein echter Sailes-Byrn-Nadelstrahler, der für die Großwildjagd auf der Venus benutzt wird. Damit können Sie auf fünfhundert Yards durch alles hindurchmähen, was geht, krabbelt oder fliegt. An der Seite befindet sich ein Streuungswähler. Sie können breit streuen für nahe Ziele, oder den Nadelstrahl für weit entfernte Ziele dünn bündeln.«
»Schön, schön«, sagte Blaine und zog Banknoten aus seiner Tasche.
»Dieser Knopf hier«, erklärte der Pfandleiher, »reguliert die Länge des Strahls. So wie er eingestellt ist, bekommen Sie den Standard-Bruchteilschub. Einmal klicken, und es verlängert sich auf eine Viertelsekunde. Auf Automatik eingestellt mäht es wie eine Sense. Die Waffe hat eine Energieversorgung von mehr als vier Stunden, und in der Originalverpackung sind noch über drei Stunden drin. Sie können Sie auch in Ihrer Heimwerkstatt verwenden. Wenn Sie einen speziellen Aufsatz daran befestigen und einen Widerstand einkoppeln, um die Energieabgabe zu dämpfen, dann können Sie damit Plastik besser zersägen als mit einer Säge. Es gibt noch einen anderen Dämpfer, mit dem sie sich in einen Lötkolben verwandeln läßt. Die Dämpfer können Sie auch im Pack zu Sonder -«
»Ich kaufe sie«, unterbrach ihn Blaine.
Der Pfandleiher nickte. »Darf ich bitte Ihren Waffenschein sehen?«
Blaine zog seine Jägerlizenz hervor und zeigte sie dem Mann. Der Pfandleiher nickte und füllte mit nervtötender Langsamkeit eine Quittung aus.
»Machen Sie sich keine Umstände. Ich nehme sie so.«
Der Pfandleiher sagte: »Das macht dann fünfundsiebzig Dollar.« Als Blaine das Geld über den Tresen schob, blickte der Pfandleiher auf einer Liste nach, die hinter ihm an der Wand hing. »Halt!« sagte er plötzlich.
»Hä?«
»Ich kann Ihnen die Waffe nicht verkaufen.«
»Warum nicht?« fragte Blaine. »Sie haben doch meine Jägerlizenz gesehen.«
»Aber Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie ein registriertes Opfer sind. Sie wissen doch, daß Opfer keine Waffen besitzen dürfen. Ihr Name ist uns vor einer halben Stunde reingeblitzt worden. Mr. Blaine, Sie können in ganz New York keine legale Waffe kaufen.«
Der Pfandleiher schob die Banknoten wieder zurück über den Tresen. Blaine griff nach dem Nadelstrahler. Der Pfandleiher ergriff ihn als erster und richtete ihn auf ihn.
»Ich sollte denen die Mühe ersparen«, sagte er. »Sie haben doch Ihr verdammtes Jenseits. Was wollen Sie denn noch?«
Blaine blieb stocksteif stehen. Der Pfandleiher senkte die Pistole.
»Aber das ist nicht meine Aufgabe«, sagte er. »Die Jäger kriegen Sie noch früh genug.«
Er langte mit der Hand unter den Tresen und drückte auf einen Knopf. Blaine drehte sich um und rannte aus dem Laden. Es wurde langsam dunkel. Aber sein Standort war jetzt bekannt. Die Jäger würden ihn bald umzingeln.
Er meinte jemanden zu hören, der seinen Namen rief. Er drängte sich durch die Menschenmenge, blickt nicht zurück und dachte daran, irgend etwas zu unternehmen. Er konnte doch nicht auf diese Weise sterben, oder? Er war doch nicht 152 Jahre durch die Zeit gereist, nur um vor einer Million Leute erschossen zu werden! Das war einfach nicht gerecht!
Er bemerkte einen Mann, der dicht hinter ihm ging und dabei grinste. Es war Theseus, der mit gezückter Waffe auf ein freies Schußfeld wartete.
Blaine rannte plötzlich los, im Zickzack durch die Menge, und bog scharf in eine Seitenstraße ab. Er lief die Straße hinunter und blieb plötzlich stehen.
Am Ende der Straße, silhouettenhaft vor dem Gegenlicht, stand ein Mann. Der Mann hatte einen Arm in die Hüfte gestemmt, den anderen hatte er in Schußhaltung erhoben. Blaine zögerte und blickte sich nach Theseus um.
Der kleine Jäger feuerte und versengte Blaines Ärmel. Blaine rannte auf eine offene Tür zu, die ihm vor der Nase zugeschlagen wurde. Ein zweiter Schuß versengte sein Jackett.
Mit traumwandlerischer Klarheit sah er, wie die Jäger näherkamen. Theseus dicht hinter ihm, der andere Jäger noch weiter entfernt und den Fluchtweg nach vorn blockierend. Blaine lief mit bleischweren Füßen auf den entfernteren Mann zu, über Gullilöcher und U-Bahngitter, an verrammelten Fenstern und verriegelten Gebäuden vorbei.
»Deckung, Theseus!« rief der Jäger. »Ich hab ihn!«
»Hol ihn dir, Hendrick!« rief Theseus zurück und lehnte sich flach an eine Wand, aus der Schußlinie des Strahls.
Der Pistolenschütze, der noch fünfzig Fuß entfernt war, zielte und schoß. Blaine ließ sich zu Boden fallen, und der Strahl verfehlte sein Ziel. Er rollte zur Seite und versuchte, hinter der ungenügenden Deckung eines Hauseingangs Schutz zu finden. Der Strahl sengte ihm hinterher, kratzte über Beton und verwandelte Abwasserpfützen in Dampf.
Dann gab ein U-Bahngitter unter ihm nach.
Während er hinabstürzte wurde ihm klar, daß das Gitter von dem Strahl gelockert worden sein mußte. Was für ein Glück! Aber er mußte mit den Füßen zuerst aufkommen. Er mußte bei Bewußtsein bleiben, sich von der Öffnung fortschleppen, etwas aus seinem Glück machen. Wenn er das Bewußtsein verlieren sollte, dann würde sein Körper in voller Schußlinie liegen, ein leichtes Ziel für die Jäger oben am Rand der Öffnung.
Er versuchte, sich im freien Fall umzudrehen, doch zu spät. Er schlug hart mit den Schultern auf, und sein Kopf krachte gegen eine eiserne Runge. Doch die Notwendigkeit, bei Bewußtsein zu bleiben war so stark, daß er sich auf die Beine hochrappelte. Er mußte sich aus dem Schußfeld schleppen, weiter in den U-Bahnschacht hinein, damit sie ihn nicht sehen würden. Doch selbst der erste Schritt war schon zuviel. Erschöpft gaben seine Beine unter ihm nach. Er fiel mit dem Gesicht nach unten, rollte sich mit letzter Kraft herum und starrte zu der Schachtöffnung über ihm hoch.
Dann wurde er ohnmächtig.
Als er wieder aufwachte, entschied er, daß er das Jenseits nicht sonderlich mochte. Es war finster und klumpig und stank nach Öl und Schliere. Außerdem tat ihm der Kopf weh, und sein Kreuz fühlte sich so an, als sei es an drei verschiedenen Stellen gebrochen.
Konnte ein Geist Schmerz empfinden? Blaine bewegte sich und stellte fest, daß er immer noch einen Körper hatte. Wenn man es ganz genau nahm, dann war er überhaupt nur noch Körper, jedenfalls fühlte er sich so. Offensichtlich war er gar nicht im Jenseits.
»Bleiben Sie noch einen Augenblick still liegen«, sagte eine Stimme.
»Wer ist da?« fragte Blaine in das undurchdringliche Dunkel hinein.
»Smith.«
»Ach so. Sie.« Blaine setzte sich auf und hielt sich seinen pulsierenden Kopf fest.
»Wie haben Sie das gemacht, Smith?«
»Beinahe gar nicht«, antwortete der Zombie. »Sobald Sie zum Opfer erklärt worden waren, bin ich gekommen, um nach Ihnen zu sehen. Einige meiner Freunde hier unten haben sich angeboten, mir behilflich zu sein, aber Sie sind einfach zu schnell gerannt. Ich habe Ihnen nachgerufen, als Sie aus dem Pfandleihhaus kamen.«
»Ich dachte mir doch, daß ich eine Stimme gehört hätte«, sagte Blaine.
»Wenn Sie sich umgedreht hätten, hätten wir Sie schon dann reingeholt. Aber das haben Sie nicht getan, also mußten wir Ihnen folgen. Wir haben einige Male Baugruben und U-Bahnroste für Sie aufgehalten aber es war schwierig, den Zeitpunkt genau abzuschätzen. Wir kamen jedesmal ein bißchen zu spät.«
»Aber nicht das letzte Mal«, sagte Blaine.
»Zum Schluß mußte ich direkt unter Ihnen ein Gitter öffnen. Es tut mir leid, daß Sie sich den Kopf gestoßen haben.«
»Wo bin ich hier?«
»Ich habe Sie aus dem Hauptgang gezerrt«, sagte Smith. »Sie sind in einem Nebengang. Die Jäger werden Sie hier nicht finden.«
Blaine konnte wieder einmal nicht die richtigen Worte finden, um Smith zu danken. Und wieder einmal wollte Smith keinen Dank.
»Ich tue es nicht für Sie, Blaine. Es ist für mich. Ich brauche Sie.«
»Wissen Sie inzwischen warum?«
»Noch nicht«, sagte Smith.
Blaines Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte den Umriß des Rumpfs des Zombies erkennen. »Was jetzt?« fragte er.
»Jetzt sind Sie in Sicherheit. Wir können Sie unterirdisch bis nach New Jersey bringen. Von dort aus kommen Sie dann allein weiter. Aber ich schätze nicht, daß Sie dann noch viel Ärger haben dürften.«
»Und worauf warten wir dann jetzt noch?«
»Auf Mr. Kean. Ich brauche seine Genehmigung, um Sie durch die Gänge zu führen.«
Sie warteten. Einige Minuten später sah Blaine Mr. Keans hageren Umriß, der sich auf den Neger stützte und auf ihn zukam.
»Tut mir leid, daß Sie Schwierigkeiten haben«, sagte Kean und setzte sich neben Blaine. »Ist ein Jammer.«
»Mr. Kean«, sagte Smith, »wenn ich von Ihnen die Erlaubnis bekommen könnte, ihn durch den alten Holland-Tunnel nach New Jersey zu bringen -«
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Kean, »aber das kann ich nicht gestatten.«
Blaine blickte um sich und merkte, daß er von einem Dutzend zerlumpter Zombies umgeben war.
»Ich habe mit den Jägern gesprochen«, sagte Kean, »und habe ihnen mein Wort gegeben, daß Sie innerhalb der nächsten halben Stunde wieder oben auf den Straßen sein werden. Sie müssen jetzt gehen, Blaine.«
»Aber warum das?«
»Wir können es uns einfach nicht erlauben, Ihnen zu helfen«, sagte Kean. »Ich bin schon beim ersten Mal ein ungewöhnliches Risiko eingegangen, als ich Ihnen gestattet habe, Reillys Grabmal zu schänden. Aber ich habe es für Smith getan, dessen Schicksal ja irgendwie mit dem Ihren verknüpft zu sein scheint. Und Smith gehört zu meinen Leuten. Aber das jetzt ist einfach zu viel. Sie wissen ja, daß man uns hier in unserer unterirdischen Behausung lediglich duldet.«
»Das weiß ich«, sagte Blaine.
»Smith hätte an die Folgen denken müssen. Als er dieses Gitter für Sie öffnete, sind die Jäger hereingeströmt. Sie haben Sie nicht gefunden, aber sie wußten, daß Sie irgendwo hier unten sein mußten. Also haben sie gesucht und gesucht. Und wie sie gesucht haben! Dutzende von ihnen, die unsere Gänge durchforsteten, unsere Leute herumschubsten, Drohungen ausstießen, brüllten, in ihre kleinen Funkgeräte sprachen. Reporter sind auch dagewesen und sogar unbeteiligte Zuschauer. Da sind ein paar von den jüngeren Jägern nervös geworden und haben angefangen, auf die Zombies zu schießen.«
»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte Blaine.
»Es war nicht Ihre Schuld. Aber Smith hätte es besser wissen müssen. Die Welt des Untergrunds ist kein souveränes Königreich. Wir existieren hier nur, weil man uns hier duldet, mit Hilfe einer Toleranz, die jederzeit widerrufen werden kann. Also habe ich mit den Jägern und Reportern gesprochen.«
»Was haben Sie ihnen gesagt?« fragte Blaine.
»Ich habe ihnen gesagt, daß ein defektes Gitter unter Ihnen nachgegeben hätte und habe behauptet, daß Sie durch Zufall hereingekommen seien und fortgekrochen wären. Ich habe ihnen versichert, daß kein Zombie daran beteiligt gewesen sei. Und daß wir Sie gefunden hätten und Sie binnen einer halben Stunde wieder hoch an die Erdoberfläche auf die Straße bringen würden. Sie nahmen mein Wort an und sind verschwunden. Ich wünschte, ich hätte anders handeln können.«
»Ich kann es Ihnen nicht verdenken«, sagte Blaine und erhob sich mühselig.
»Ich habe ihnen nicht gesagt, wo Sie wieder hinauskommen werden«, fuhr Kean fort. »So haben Sie wenigstens eine wohl noch größere Chance als vorher. Ich wünschte, ich hätte mehr für Sie tun können, aber ich kann es nicht zulassen, daß der Untergrund ein Schauplatz für Jagden wird. Wir müssen neutral bleiben, dürfen niemanden verärgern, niemanden erschrecken. Nur so wird es uns gelingen, solange zu überleben bis ein aufgeklärteres Zeitalter angebrochen ist.«
»Wo werde ich hinauskommen?« fragte Blaine.
»Ich habe einen unbenutzten U-Bahnausgang an der westlichen 79. Straße ausgesucht«, sagte Mr. Kean. »Von dort aus sollten Sie eigentlich einen guten Start haben. Und ich habe noch etwas getan, was ich vielleicht hätte unterlassen sollen.«
»Was denn?«
»Ich habe jemanden kontaktiert, den Sie kennen. Die Person wartet am Ausgang auf Sie. Aber bitte sagen Sie niemandem etwas davon. Und jetzt müssen wir uns beeilen.«
Mr. Kean führte die Prozession durch das verschlungene Labyrinth des Untergrunds, und Blaine schritt am Ende. Sein Kopfschmerz ließ langsam nach. Schon bald kamen sie an eine Betontreppe und blieben stehen.
»Hier ist der Ausgang«, sagte Kean. »Viel Glück, Blaine!«
»Danke«, sagte Blaine. »Und Smith – vielen Dank.«
»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte Smith. »Wenn Sie sterben sollten, werde ich wohl auch sterben. Wenn Sie überleben, dann will ich versuchen, mich wiederzuerinnern.«
»Und wenn Sie sich erinnern sollten?«
»Dann werde ich kommen und Sie aufsuchen«, sagte Smith.
Blaine nickte und stieg die Treppe hoch.
*
Draußen war tiefe Nacht, und die 79. Straße schien leer zu sein. Blaine stand am Ausgang, blickte um sich und überlegte, was er tun sollte.
»Blaine!«
Jemand rief nach ihm. Aber es war nicht Marie, wie er erwartet hatte, sondern die Stimme eines Mannes, den er kannte – vielleicht Sammy Jones oder Theseus.
Er wandte sich eilig um und lief zu dem U-Bahnausgang. Er war verschlossen und fest verriegelt.
»Tom, Tom, ich bin es!«
»Ray?«
»Natürlich! Sprich leise. Nicht weit entfernt von hier sind Jäger. Warte mal.«
Blaine kauerte sich neben den verschlossenen U-Bahneingang zusammen, blickte um sich und wartete. Er konnte keine Spur von Melhill entdecken. Es war kein ektoplasmischer Nebel zu sehen, nur eine flüsternde Stimme war zu hören.
»O.K.«, sagte Melhill. »Jetzt geh Richtung Westen. Schnell!«
Blaine schritt los. Er spürte Melhills unsichtbare Gegenwart, die neben ihm schwebte. Er fragte: »Ray, wie kommt das?«
»Ist ja langsam mal Zeit, daß ich dir behilflich bin«, sagte Melhill. »Dieser alte Kean hat deine Freundin benachrichtigt, und sie hat sich mit mir über die Geistervermittlung in Verbindung gesetzt. Warte! Bleib hier stehen!«
Blaine duckte sich hinter eine Gebäudeecke. Langsam flog ein Heli in Dachhöhe vorüber.
»Jäger«, sagte Melhill. »Junge, heute ist dein großer Tag! Man hat eine Belohnung ausgesetzt. Sogar für Hinweise, die zu deiner Ergreifung führen. Tom, ich habe Marie gesagt, daß sie versuchen sollte, dir zu helfen. Ich weiß nicht, wie lange ich das hier kann. Es laugt mich aus. Danach muß ich ins Jenseits.«
»Ray, ich weiß gar nicht, wie ich dir -«
»Hör auf damit. Hör mal, Tom, ich kann nicht viel reden. Marie hat ein paar Freunde dazu bewogen, dir behilflich zu sein. Wenn ich dich zu ihnen bringen kann, dann haben sie einen Plan. Stop!«
Blaine blieb stehen und versteckte sich hinter einem Briefkasten. Lange Sekunden verstrichen. Dann eilten drei Jäger vorbei, die Seitenwaffen griffbereit. Nachdem sie um eine Ecke gebogen waren, konnte Blaine weitergehen.
»Du hast vielleicht Augen!« sagte er zu Melhill.
»Die Sicht hier oben ist ziemlich gut«, antwortete Melhill. »Schnell über diese Straße!«
Blaine machte einen Sprint. Die nächsten fünfzehn Minuten folgte er nach Melhills Anleitungen den gebogenen Straßen, schritt auf dem Schlachtfeld der Stadt vor und machte wieder Rückzüge.
»Hier ist es«, sagte Melhill schließlich. »Die Tür da drüben, Nummer 341. Du hast es geschafft! Tschüß, Tom! Paß auf, daß -«
In diesem Augenblick kamen zwei Männer um eine Ecke, blieben stehen und starrten Blaine an. Einer von ihnen sagte: »He, das ist doch der Bursche!«
»Welcher Bursche?«
»Auf den die Belohnung ausgesetzt ist. He, Sie!«
Sie stürzten vor. Blaine schlug den ersten Mann schnell bewußtlos. Er wirbelte herum, um den zweiten Mann anzugehen, doch Melhill hatte die Situation schon voll unter Kontrolle.
Der zweite Mann hatte die Arme um den Kopf gelegt und versuchte sich zu schützen. Ein Mülleimerdeckel, der auf mysteriöse Weise in der Luft schwebte, prügelte ihn wütend um die Ohren. Blaine schritt vor und erledigte den Mann auch noch.
»Macht verdammt viel Spaß«, sagte Melhill mit schwächer werdender Stimme. »Wollte immer schon mal Gespenst spielen. Aber das kostet Energie … Viel Glück, Tom!«
»Ray!« Blaine wartete, aber er erhielt keine Antwort, und das Gefühl van Melhills Gegenwart war verschwunden.
Blaine wartete nicht länger. Er lief zu Nummer 341 hinüber, öffnete die Tür und trat ein.
Er befand sich in einer engen Eingangshalle. Am Ende des Ganges war eine Tür. Blaine klopfte an.
»Herein!« sagte jemand.
Er öffnete die Tür und trat in einen kleinen, schäbigen Raum, der dicht verhangen war.
Blaine hätte gedacht, daß er mittlerweile vor weiteren Überraschungen sicher wäre. Aber er zuckte unwillkürlich zusammen, als er Carl Orc, den Körperräuber, erblickte, der ihn angrinste. Und neben ihm saß, ebenfalls grinsend, Joe, der kleine Transplantationshändler.
Blaine bewegte sich wie instinktiv wieder in Richtung Tür, aber Orc winkte ihm zu, zu bleiben. Der Körperräuber war unverändert, immer noch sehr groß und schlank, sein Gesicht trug immer noch einen langen, trauernden Ausdruck, seine Augen waren immer noch eng geschlitzt und blickten offen und ehrlich. Seine Kleider hingen etwas schlampig an ihm herunter, als wäre er es mehr gewöhnt, Jeans zu tragen als maßgeschneiderte Hosen.
»Wir haben Sie erwartet«, sagte Orc. »Sie erinnern sich wohl noch an Joe?«
Blaine nickte und erinnerte sich an den kleinen Mann mit dem verschlagenen Blick, der ihn abgelenkt hatte, damit Orc seinen Drink vergiften konnte.
»Freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte Joe.
»Darauf gehe ich jede Wette ein«, sagte Blaine und blieb an der Tür stehen.
»Kommen Sie rein und setzen Sie sich«, sagte Orc. »Wir werden Sie schon nicht auffressen, Tom. Ehrlich nicht. Lassen wir die Toten ruhen, hehe.«
»Sie haben versucht, mich umzubringen.«
»Das war Geschäft«, sagte Orc offen heraus. »Jetzt stehen wir auf derselben Seite.«
»Und wieso sollte ich das glauben?«
»Niemand«, erklärte Orc, »hat jemals meine Ehrlichkeit bezweifelt. Nicht, wenn ich wirklich ehrlich gewesen bin, so wie jetzt. Miss Thorne hat uns eingestellt, um Sie sicher aus dem Land zu schaffen, und das werden wir auch tun. Setzen Sie sich und lassen Sie uns darüber reden. Haben Sie Hunger?«
Zögernd setzte Blaine sich hin. Auf einem Tisch standen Sandwiches und eine Flasche Rotwein. Er merkte plötzlich, daß er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Er fing an, die Sandwiches herunterzuschlingen, während Orc sich eine dünne braune Zigarre anzündete und Joe scheinbar vor sich hin döste.
»Wissen Sie«, sagte Orc und blies blauen Dunst aus, »fast hätte ich diesen Job nicht angenommen. Nicht, daß die Bezahlung nicht gestimmt hätte; ich glaube, Miss Thorne war mehr als großzügig. Aber Tom, dies ist eine der größten Menschenjagden, die in unserer Stadt seit langem stattgefunden hat. Hast du schon einmal etwas Derartiges miterlebt, Joe?«
»Noch nie«, sagte Joe und wackelte schnell mit dem Kopf. »Die Stadt ist voll wie Fliegenpapier.«
»Rex will Sie wirklich haben«, sagte Orc. »Sie haben es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Ihren Korpus festzunageln, wo sie ihm auch begegnen mögen. Macht einen nervös, es mit solch einer großen Organisation aufnehmen zu müssen. Aber es ist eine Herausforderung, eine richtig große Herausforderung.«
»Carl mag große Herausforderungen«, sagte Joe.
»Das will ich zugeben«, sagte Orc. »Besonders dann, wenn man viel Geld damit verdienen kann.«
»Aber wo kann ich schon hin?« fragte Blaine. »Wo würde Rex mich denn nicht finden können?«
»So ziemlich nirgendwo«, sagte Orc traurig.
»Von der Erde weg? Mars? Venus?«
»Noch schlimmer. Die Planeten besitzen nur ein paar Dörfer und Kleinstädte. Da kennt jeder jeden. Die Nachricht wäre innerhalb von einer Woche schon überall herum. Außerdem würden Sie da nicht hinpassen. Abgesehen von den Chinesen auf dem Mars sind die Planeten überwiegend mit Wissenschaftsfritzen und ihren Familien besiedelt sowie mit ein paar Jugendbildungsprogrammen. Da würde es Ihnen nicht gefallen.«
»Wohin dann?«
»Das habe ich Miss Thorne auch gefragt«, sagte Orc. »Wir sind mehrere Möglichkeiten durchgegangen. Zunächst einmal gibt es da eine Operation, mit deren Hilfe man Sie zum Zombie machen könnte. Ich könnte sie durchführen. Rex würde Sie niemals unter der Erde suchen.«
»Da würde ich lieber sterben«, antwortete Blaine.
»Ich auch«, stimmte Orc ihm zu. »Deshalb haben wir diese Möglichkeit verworfen. Wir dachten daran, vielleicht eine kleine Farm für Sie im Atlantischen Becken zu finden. Ist ein ziemlich einsames Gebiet da. Aber man braucht schon eine bestimmte Mentalität, um unter Wasser leben zu können, und wir waren der Meinung, daß Sie die nicht hätten. Sie würden wahrscheinlich durchdrehen. Also kamen wir zu der Entscheidung, daß der beste Ort für Sie auf den Marquesas ist.«
»Auf den was?«
»Die Marquesas. Eine kleine Inselgruppe, ursprünglich polynesisch, mitten im Pazifik. Sie sind nicht weit von Tahiti entfernt.«
»In der Südsee«, sagte Blaine.
»Genau. Wir meinten, daß Sie sich dort wohler fühlen müßten als sonstwo auf der Erde. Ich habe mir sagen lassen, daß es dort genau wie im zwanzigsten Jahrhundert sein soll. Und was noch wichtiger ist: Rex könnte Sie vielleicht in Ruhe lassen.«
»Warum sollten sie?«
»Aus naheliegenden Gründen, Tom. Warum wollen sie Sie denn überhaupt töten? Weil Sie illegal aus der Vergangenheit geholt wurden und sie nun Angst haben, daß die Regierung etwas deswegen unternehmen wird. Aber wenn Sie auf den Marquesas sind, dann sind Sie außerhalb der US-Gerichtsbarkeit. Ohne Sie wird es keinen Prozeß geben. Und die Tatsache, daß Sie so weit weggehen, ist für Rex ein Beweis Ihres guten Willens. Das ist bestimmt nicht die Handlung eines Mannes, der bei Onkel Sam petzen gehen will. Außerdem sind die Marquesas eine unabhängige kleine Nation, seit die Franzosen sie aufgegeben haben, also müßte Rex dort eine besondere Jagdgenehmigung einholen. Alles in allem also gerade ein bißchen zuviel Aufwand für alle Beteiligten. Die US-Regierung läßt die Sache dann zweifellos fallen, und ich glaube, daß Rex Sie dann auch in Ruhe lassen wird.«
»Ist das sicher?« fragte Blaine.
»Natürlich nicht. Es ist eine Vermutung. Aber sie klingt sehr vernünftig.«
»Könnten wir mit Rex nicht zuvor eine Abmachung treffen?«
Orc schüttelte den Kopf. »Um ein Geschäft machen zu können, müssen Sie etwas anzubieten haben, Tom. Solange Sie sich in New York aufhalten, ist es für sie einfacher und sicherer, Sie zu töten.«
»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte Blaine. »Wie werden Sie mich rausschaffen?«
Orc und Joe blickten einander unglücklich an. Orc sagte: »Tja, das war unser großes Problem. Es schien überhaupt keine Möglichkeit zu geben, Sie lebendig rauszubekommen.«
»Mit Heli oder Jet?«
»Die müssen an den Luftzollstationen landen, und da warten die Jäger überall. Bodenfahrzeuge scheiden ebenfalls aus.«
»Verkleidung?«
»Hätte vielleicht während der ersten Jagdstunde noch klappen können. Jetzt ist das unmöglich, selbst wenn wir eine volle Gesichtschirurgie an Ihnen machen lassen würden. Inzwischen sind die Jäger mit Identitätsscannern ausgerüstet. Sie würden Sie sofort durchschauen.«
»Also gibt es keinen Ausweg?« fragte Blaine.
Orc und Joe wechselten wieder unbehaglich Blicke miteinander. »Es gibt«, sagte Orc, »nur einen Weg. Aber den werden Sie vermutlich nicht besonders mögen.«
»Ich will am Leben bleiben. Was ist das für ein Weg?«
Orc machte eine Pause und zündete sich eine frische Zigarre an. »Wir haben vor, Sie schockzufrosten, fast bis zum absoluten Nullpunkt, wie für eine Raumreise. Dann werden wir Ihren Kadaver in einem Container mit gefrorenem Rindfleisch verschiffen. Ihr Körper wird sich in der Mitte der Ladung befinden, also wird er höchstwahrscheinlich nicht entdeckt werden.«
»Klingt riskant«, sagte Blaine.
»Nicht allzu riskant«, meinte Orc.
Blaine runzelte die Stirn, weil er spürte, daß irgendetwas nicht stimmte. »Ich werde dann wohl bewußtlos sein, oder?«
»So funktioniert das nicht«, erklärte Orc. »Tatsache ist, daß Sie und Ihr Körper sich voneinander trennen müssen. Das ist der Teil, von dem ich befürchtet hatte, daß er Ihnen nicht gefallen würde.«
»Was zum Teufel sagen Sie da?« fragte Blaine und stand auf.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Orc. »Setzen Sie sich, rauchen Sie eine Zigarette, trinken Sie einen Schluck Wein. Es ist so, Tom: Wir können keinen schockgefrosteten Körper mit einem Geist drin verschiffen. Auf so etwas warten die Jäger ja gerade. Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn sie schnell die Schiffsladung kontrollieren und mit ihren Scannern feststellen, daß sich in dem Rindfleisch ein Geist befindet? Dann ist der Teufel los. Adieu la musique! Ich versuche nicht, Sie reinzulegen, Tom. Aber so geht das einfach nicht.«
»Was wird denn dann mit meinem Geist?« fragte Blaine und setzte sich wieder.
»Da kommt Joe ins Spiel«, sagte Orc. »Sag es ihm, Joe.«
Joe nickte schnell. »Mein Freund, die Antwort lautet Transplantation.«
»Transplantation?«
»Ich habe Ihnen davon erzählt«, sagte Joe. »An jenem auspizienreichen Abend, als wir uns kennengelernt haben. Erinnern Sie sich noch? Transplantation, der große Freizeitspaß, das Spiel, das von jeder beliebigen Anzahl von Personen gespielt werden kann, der Kitzel abgeschlaffter Geister, das Tonikum für müde Körper. Mr. Blaine, wir haben ein weltweites Netz von Transplantationsteilnehmern. Leute, die gerne tauschen, Männer und Frauen, die es leid sind, immer den gleichen ollen Körper tragen zu müssen. Wir werden Sie in die Organisation einschleusen.«
»Sie wollen meinen Geist über Land verschiffen?« fragte Blaine.
»Genau das ist es! Von Körper zu Körper«, sagte Joe. »Glauben Sie mir, es ist sowohl lehrreich als auch spaßig.«
Blaine sprang derart schnell auf die Beine, daß er seinen Stuhl umkippte. »Von wegen!« sagte er. »Ich habe Ihnen damals schon gesagt, und ich sage es jetzt wieder, daß ich Ihr lausiges kleines Spielchen nicht mitmachen werde! Ich werde mein Glück auf der Straße versuchen.«
Er ging auf die Tür zu.
Joe sagte: »Ich weiß ja, daß es ein bißchen beängstigend klingen mag, aber -«
»Nein!«
Orc schrie ihn an: »Verdammt, Blaine, wollen Sie den Mann nicht wenigstens ausreden lassen?«
»Also gut«, sagte Blaine. »Reden Sie.«
Joe schenkte sich ein halbes Weinglas ein und kippte den Inhalt hinunter. Er sagte: »Mr. Blaine, es ist schwierig, das einem Mann aus der Vergangenheit, wie Sie einer sind, zu erklären. Aber versuchen Sie zu verstehen, was ich Ihnen sage.«
Blaine nickte erschöpft.
»Also dann. Heutzutage wird die Transplantation als Sexspiel verwendet, und so preise ich sie auch an. Warum? Weil die Leute nichts über ihre besseren Möglichkeiten wissen und weil eine reaktionäre Regierung darauf besteht, sie zu verbieten. Aber die Transplantation ist noch viel mehr als nur ein Spiel. Und ob Sie oder die Regierung es wollen oder nicht, die Transplantation stellt die Welt der Zukunft dar!«
Die Augen des kleinen Koberers glitzerten. Blaine setzte sich wieder.
»Zwei Dinge sind für den Menschen von grundlegender Bedeutung«, sagte Joe in schulmeisterlichem Ton. »Eins davon ist das immerwährende Streben des Menschen nach Freiheit: Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Wahlfreiheit – Freiheit eben! Und das zweite Ding, das das menschliche Zusammenleben bestimmt, ist der Versuch der Regierungen, dem Volk diese Freiheit vorzuenthalten.«
Blaine dachte kurz über diese etwas vereinfachte Sicht menschlicher Probleme nach. Aber er hörte weiterhin zu.
»Eine Regierung«, sagte Joe, »enthält dem Volk aus verschiedenen Gründen Freiheiten vor. Aus Gründen der Sicherheit, des persönlichen Gewinns, der Macht oder weil sie der Meinung ist, daß das Volk für diese Freiheit noch nicht reif ist. Aber was immer auch der Grund sein mag: Der Mensch strebt nach Freiheit, und die Regierung strebt danach, ihm diese Freiheit vorzuenthalten. Die Transplantation ist nur ein weiteres Mitglied einer langen Reihe von Freiheiten, nach denen der Mensch gestrebt hat und bei der die Regierung der Meinung war, daß sie nicht gut für ihn sei.«
»Sexuelle Freiheit?« fragte Blaine spöttisch.
»Aber nein!« rief Joe. »Nicht, daß etwas gegen sexuelle Freiheit einzuwenden wäre. Aber die Transplantation ist eigentlich etwas anderes. Klar, so verkaufen wir sie – aus Werbungsgründen. Weil die Leute nichts für abstrakte Vorstellungen übrig haben und keine grauen Theorien schätzen. Sie wollen wissen, was ihnen eine neue Freiheit bringt. Wir zeigen ihnen einen kleinen Teil davon, und sie merken noch viel mehr von alleine.«
»Was wird die Transplantation denn erreichen?« fragte Blaine.
»Die Transplantation«, sagte Joe mit fieberhaftem Eifer, »gibt dem Menschen die Fähigkeit, seine Grenzen, die ihm durch Geburt und Umwelt gesetzt wurden, zu überschreiten.«
»Ach ja?«
»Jawohl! Die Transplantation erlaubt es Ihnen, Wissen, Körper, Talente und Fähigkeiten mit jedem zu tauschen, der dazu bereit ist. Und das wollen viele. Die meisten Menschen möchten nicht ihr ganzes Leben lang immer nur ein paar bestimmte Fähigkeiten haben und damit handeln, so befriedigend diese auch sein können. Der Mensch ist ein viel zu ruheloses Wesen. Musiker möchten Ingenieure sein, Werbeleute möchten Jäger sein, Seeleute möchten Schriftsteller werden. Aber normalerweise gibt es meistens nicht genug Zeit, mehr als eine Reihe von Fähigkeiten in einem Leben zu erwerben und einzusetzen. Und selbst wenn es Zeit genug gäbe, ist der blinde Faktor ›Talent‹ immer noch ein kaum zu überwindendes Hindernis. Denken Sie mal darüber nach, Mr. Blaine. Warum sollte ein Mensch dazu gezwungen werden, sein Leben in einem Körper zu verleben, auf dessen Wahl er keinerlei Einfluß gehabt hat? Das ist, wie wenn man ihm sagen würde, daß er mit den Krankheiten leben soll, die er geerbt hat und nicht versuchen sollte, sie zu heilen. Der Mensch muß die Freiheit haben, sich den Körper und die Talente auszusuchen, die seiner Persönlichkeit gemäß sind.«
»Wenn Ihr Plan Wirklichkeit würde«, sagte Blaine, »dann hätten wir lediglich einen Haufen Neurotiker, die jeden Tag ihre Körper wechseln würden.«
»Das gleiche verallgemeinernde Argument ist auch gegen die Einführung jeder anderen Freiheit eingewandt worden«, sagte Joe glitzernden Auges. »Die ganze Geschichte hindurch wurde behauptet, daß der Mensch nicht klug genug sei, seine eigene Religion zu wählen, oder daß Frauen einfach nicht die Intelligenz hätten, zur Wahl zu gehen, weil sie nur dämliche Entscheidungen fällen würden. Und natürlich gibt es ja auch einen Haufen von Neurotikern, die selbst den Himmel noch versauen würden. Aber es gibt eine viel größere Anzahl von Leuten, die mit ihrer Freiheit vernünftig umgehen.«
Joe senkte seine Stimme zu einem beschwörenden Flüsterton. »Sie müssen erkennen, Mr. Blaine, daß der Mensch nicht sein Körper ist, denn seinen Körper hat er willkürlich bekommen. Er ist nicht seine Talente, denn die wurden durch seine Erbmasse und seine frühen Umweltfaktoren bedingt. Er ist nicht die Krankheiten, für die er anfällig ist, und er ist auch nicht die Umwelt, die ihn prägt. Ein Mensch beinhaltet all diese Dinge, aber ist mehr als die Summe ihrer Teile. Er hat die Macht, seine Umwelt zu verändern, seine Krankheiten zu heilen, seine Fähigkeiten zu fördern – und, schließlich, seinen Körper und seine Talente selbst zu wählen! Das ist die nächste Freiheit, Mr. Blaine. Sie ist historisch unvermeidbar, ob es mir, Ihnen oder der Regierung nun paßt oder nicht. Denn der Mensch braucht jede nur mögliche Freiheit!«
Joe beendete seine etwas heftige und unzusammenhängende Rede und schnappte nach Luft. Sein Gesicht war rot angelaufen. Blaine starrte den kleinen Mann mit neugewonnenem Respekt an. Er hatte, sagte er sich, einen echten Revolutionär des Jahres 2110 vor sich.
Orc sagte: »Er hat recht, Tom. In Schweden und Ceylon ist die Transplantation erlaubt, und sie scheint der öffentlichen Moral keinen besonderen Abbruch getan zu haben.«
»Eines Tages«, sagte Joe und schenkte sich ein Glas Wein ein, »wird die ganze Welt für die Transplantation sein. Das ist unvermeidlich.«
»Vielleicht«, meinte Orc. »Vielleicht erfindet auch jemand eine neue Freiheit, die sich an ihre Stelle setzt. Jedenfalls können Sie sehen, Tom, daß die Transplantation eine gewisse moralische Berechtigung hat. Und außerdem ist sie die einzige Möglichkeit, Ihren Körper zu retten. Was meinen Sie dazu?«
»Sind Sie auch ein Revolutionär?« fragte Blaine.
Orc grinste. »Könnte sein. Ich schätze, ich bin wie die Blockadebrecher während des amerikanischen Bürgerkrieges oder wie die Burschen, die Waffen an Revolutionäre in Mittelamerika verkauft haben. Sie haben es getan, um Gewinn zu machen, aber sie waren auch nicht gegen gesellschaftlichen Wandel.«
»Na ja, na ja«, meinte Blaine sardonisch. »Und ich dachte bisher immer, daß Sie beide ganz gewöhnliche Kriminelle wären!«
»Vergessen Sie’s«, sagte Orc freundlich. »Sind Sie bereit, es zu versuchen?«
»Natürlich«, sagte Blaine, »ich bin überwältigt. Ich hätte nie gedacht, daß ich mich einmal an der Spitze einer gesellschaftlichen Revolution wiederfinden würde.«
Orc lächelte und sagte: »Schön. Wollen hoffen, daß es klappt, Tom. Krempeln Sie Ihren Ärmel hoch. Es ist besser, wir fangen sofort an.«
Blaine krempelte seinen Ärmel hoch, während Orc eine Injektionsspritze aus einer Schublade holte.
»Die soll Sie nur betäuben«, erklärte Orc. »Die Yogamaschine ist nebenan. Sie funktioniert wirklich. Wenn Sie Ihr Bewußtsein wiedererlangen, werden Sie sich als Gast in einem anderen Geist aufhalten, und Ihr Körper reist tiefgefroren übers Land. Sobald es sicher ist, werden die beiden wieder zusammengeführt.«
»Wie viele Geister werde ich bewohnen?« fragte Blaine. »Und wie lange?«
»Ich weiß nicht, wieviel wir brauchen werden. Was die Länge angeht, die schwankt, ein paar Sekunden, Minuten, vielleicht eine halbe Stunde. Wir werden Sie so schnell wie möglich weiterbewegen. Sehen Sie, das hier ist keine volle Transplantation. Sie werden nicht den Körper übernehmen. Sie werden nur einen kleinen Teil des Bewußtseins besetzthalten, als Beobachter. Also bleiben Sie ruhig, und verhalten Sie sich neutral. Alles klar?«
Blaine nickte. »Aber wie funktioniert denn diese Yogamaschine?«
»Wie Yoga«, sagte Orc. »Die Maschine macht ganz einfach das, was Sie selbst machen könnten, wenn Sie richtig in Yoga ausgebildet wären. Sie entspannt jeden Muskel und Nerv Ihres Körpers, bündelt und beruhigt Ihren Geist, baut Ihre Konzentration mit auf. Wenn Sie genug Energie aufgebaut haben, dann können Sie eine Astralprojektion durchführen. Das macht die Maschine auch für Sie. Sie hilft Ihnen, Ihren Körper loszulassen, was ein Adept des Yoga auch ohne mechanische Hilfe tun könnte. Sie projiziert Sie zu der Person, die wir für Sie ausgewählt haben und die Ihnen Platz freimacht. Den Rest erledigt die Anziehungskraft. Sie schlüpfen hinein wie ein gestrandeter Fisch zurück ins Wasser.«
»Klingt riskant«, sagte Blaine. »Was ist, wenn ich nicht reinkommen sollte?«
»Mann, Sie können gar nichts dagegen tun, reinzukommen! Hören Sie, Sie haben doch bestimmt schon mal von dämonischer Besessenheit gehört, nicht wahr? Leute, die von sogenannten Dämonen beherrscht werden? Dieser Gedanke zieht sich durch den größten Teil der Volksüberlieferungen auf der ganzen Welt. Manche der Besessenen waren natürlich schizophren, und manche waren echte Betrüger. Aber es gab eine Menge Fälle echter spiritueller Invasion, bei der Geister von anderen in Besitz genommen wurden, die es verstanden, aus ihrem eigenen Körper zu scheiden und sich in einen anderen zu begeben. Die Invasoren haben die Gewalt ohne mechanische Hilfe übernommen, und zwar gegen einen echten, starken Widerstand ihrer Opfer. In Ihrem Fall besitzen wir die Yogamaschine, und die Leute sind bereit, Sie einzulassen. Warum sollten Sie sich also Sorgen machen?«
»Also gut«, sagte Blaine. »Wie ist es auf den Marquesas?«
»Schön«, sagte Orc und stach die Nadel in den Arm. »Es wird Ihnen gefallen.«
Blaine trieb langsam in die Besinnungslosigkeit; er dachte an Palmen, an schäumende Wellen, die gegen Korallenriffs peitschten und an Mädchen mit dunklen Augen, die einem steinernen Götzen dienten.
Es gab kein Gefühl des Aufwachens, kein Gefühl des Übergangs. Wie eine brillant gefärbte Dia-Aufnahme, die auf eine weiße Leinwand projiziert wurde, war er abrupt wieder bei Bewußtsein. Plötzlich erwachten die Marionetten zappelnd zum Leben, und er handelte und bewegte sich.
Er war nicht völlig Thomas Blaine. Er war auch Edgar Dyersen. Oder er war Blaine innerhalb Dyersen, ein integraler Bestandteil von Dyersens Körper, ein Teil von Dyersens Geist, der die Welt durch Dyersens matte Augen betrachtete, Dyersens Gedanken dachte und alle schattigen halbbewußten Fragmente von Dyersens Erinnerungen, Hoffnungen, Ängsten und Wünschen erfuhr. Und doch war er immer noch Blaine.
Dyersen-Blaine kam aus dem beackerten Feld und lehnte sich gegen einen Holzzaun. Er war ein Farmer, ein altmodischer Lastwagenfarmer in Südjersey, der nur wenige Maschinen besaß, weil er ihnen sowieso nicht traute. Er war fast siebzig und immer noch verdammt gesund. Seine Glieder wiesen eine Spur Arthritis auf, die der schlaue junge Mediko im Dorf aber schon zum größten Teil geheilt hatte; und manchmal machte ihm sein Rücken Schwierigkeiten, bevor es regnete. Aber er meinte, daß er gesund wäre, gesünder als die meisten, und daß er noch gut zwanzig Jahre machen könnte.
Dyersen-Blaine ging auf seine Hütte zu. Sein graues Arbeitshemd war von saurem Schweiß durchtränkt, und Schweiß machte auch seine formlosen Jeans fleckig.
Weit entfernt hörte er einen Hund bellen und sah unscharf, wie eine gelbbraune Gestalt sich ihm näherte. (Brille? Nein danke. Geht auch so ganz gut.)
»He, Champ! He, alter Junge!«
Der Hund rannte im Kreis um ihn herum, dann trottete er neben ihm her. Er hatte etwas Graues im Maul, vielleicht eine Ratte oder ein Stück Fleisch. Dyersen-Blaine konnte es nicht genau erkennen.
Er bückte sich, um Champs Kopf zu tätscheln …
Wieder war da kein Gefühl des Übergangs oder der vergehenden Zeit. Es wurde einfach ein neues Dia auf die Leinwand geworfen, und eine neue Marionette erwachte zappelnd zum Leben.
Jetzt war er Thompson-Blaine, neunzehn Jahre alt, der dösend auf seinem Rücken auf den rauhen Planken eines Segelskiffs lag und Hauptsegel und Ruderpinne mit einer braunen Hand festhielt. Gen Steuerbord lag die flache Ostküste, und zur Backbordseite konnte er ein Stück des Hafens von Baltimore erkennen. Das Skiff trieb leicht vor der leichten Sommerbrise, und unter dem Stevenanlauf gluckerte fröhlich das Wasser.
Thompson-Blaine legte seinen schlaksigen, braungebrannten Körper auf den Planken zurecht und zappelte herum, bis er seinen Fuß endlich gegen den Mast gestützt hatte. Er war erst seit einer Woche wieder zu Hause, nachdem er zwei Jahre auf dem Mars gearbeitet und studiert hatte. Es war wirklich sehr interessant gewesen, besonders die Archäologie und Speläologie. Die Sandbebauung war ab und an ein bißchen eintönig gewesen, aber es hatte ihm Spaß bereitet, die Erntemaschinen zu steuern.
Nun war er wieder für zwei Jahre zu Hause, um einen zweijährigen Intensivkurs am College zu absolvieren. Dann sollte er auf den Mars zurückkehren, als Farmmanager. So wollte es sein Stipendium. Aber sie konnten ihn nicht dazu zwingen, noch einmal dort hinzugehen, wenn er nicht wollte.
Vielleicht würde er zurückgehen wollen. Vielleicht aber auch nicht.
Die Mädchen auf dem Mars waren so fanatisch. Zäh, kompetent und immer ein bißchen herrisch. Wenn er zurückginge – sofern er überhaupt zurückginge –, dann würde er eine Frau mitbringen und sich nicht dort eine suchen. Natürlich, da war Marcia gewesen, gar nicht so übel. Aber ihr ganzer Kibbuz war zur südlichen Polarkappe umgezogen, und sie hatte auf seine drei letzten Briefe nicht mehr geantwortet. Na ja, vielleicht war sie ja auch doch nicht so berauschend gewesen.
»He, Sandy!«
Thompson-Blaine blickte hoch und sah Eddie Duelitle, der auf seiner Thistle segelte und ihm zuwinkte. Träge winkte Thompson-Blaine zurück. Eddie war erst siebzehn und noch nie von der Erde weg gewesen; dabei wollte er Raumschiffkapitän werden. Haha! Da hatte er aber auch eine dicke Chance!
Die Sonne ging am Horizont unter, und Thompson-Blaine war froh, sie sinken zu sehen. Heute abend hatte er ein Date mit Jennifer Hunt. Sie wollten im Starsling in Baltimore tanzen gehen, und Dad würde ihm seinen Heli leihen. Mann, was war Jennifer in den letzten beiden Jahren gewachsen! Und sie konnte einen vielleicht anschauen, gleichzeitig schüchtern und frech! War gar nicht abzusehen, was nach dem Tanzen noch alles passieren würde, auf dem Rücksitz des Helis. Vielleicht auch nichts. Aber vielleicht, vielleicht …
Thompson-Blaine setzte sich auf und legte das Ruder um. Das Skiff nahm Wind auf und schwenkte herum. Es war Zeit, zum Yachthafen zurückzukehren, dann ging’s nach Hause zum Abendessen und dann …
*
Die schwarze Schlangenpeitsche flackerte über seinen Rücken.
»An die Arbeit, du da!«
Piggot-Blaine strengte sich doppelt so sehr an, hob den schweren Pickel, schwang ihn hoch nach oben und hieb ihn mit voller Wucht in die staubige Straße. Der Wächter stand daneben, das Schrotgewehr in der linken Armbeuge, die Peitsche in der rechten Hand; ihr Ende schlängelte sich im Staub. Piggot-Blaine kannte jede Linie und Pore im schlanken, dummen Gesicht dieses Wächters, kannte den Abwärtszug des verkniffenen kleinen Mundes, kannte das zusammengekniffene Blinzeln der blassen Augen wie sein eigenes Gesicht.
Warte nur, du Geierspeise, sagte er still zu dem Wächter. Auch deine Zeit kommt noch. Warte nur, warte nur ein kleines bißchen.
Der Wächter entfernte sich und schritt die Reihe der Gefangenen hinauf und hinab, die unter der gleißenden Mississippisonne schufteten. Piggot-Blaine versuchte zu spucken, konnte jedoch nicht genug Speichel im Mund ansammeln. Er dachte: Das nennt ihr also eure schöne moderne Welt? Ihr redet also von euren großen alten Raumschiffen, von euren automatisierten Farms, von eurem feinen, fetten alten Jenseits? So soll es sein? Dann fragt doch mal, wie man die Straßen im Quilleg County in Nordmississippi baut. Sie werden es euch nicht erzählen, also kommt ihr besser mal selbst vorbei und schaut es euch an. Denn so ist die Welt wirklich!
Arny, der vor ihm an der Arbeit war, flüsterte: »Bist du bereit, Otis? Vorbereitet?«
»Bin fertig«, flüsterte Piggot-Blaine, und seine breiten Finger klammerten sich fester um den Plastikgriff des Pickels und ließen wieder los. »Bin schon mehr als fertig, Arny.«
»In einer Sekunde. Achte auf Jeff!«
Piggot-Blaines dichtbehaarte Brust wölbte sich erwartungsvoll. Er strich eine dünne braune Haarsträhne aus dem Gesicht und beobachtete Jeff, der fünf Männer weiter an der Kette stand. Piggot-Blaine wartete, und seine Schultern schmerzten vom Sonnenbrand. An seinen Fußknöcheln waren entzündete Narben von den Fußeisen, und auf seinem Rücken waren Striemen von früheren Peitschenhieben. Er verspürte einen brennenden Durst. Doch kein Eimer Wasser konnte diesen Durst jemals löschen, diesen verrückten Durst, der ihn hierher gebracht hatte, nachdem er Gainsvilles einzigen Saloon auseinandergenommen und diesen stinkenden alten Indianer getötet hatte.
Jeffs Hand bewegte sich. Die Reihe der angeketteten Gefangenen sprang vor. Piggot-Blaine stürzte auf den Wächter mit dem hageren Gesicht, seinen Pickel hocherhoben, da ließ der Wächter die Peitsche fallen und hob das Schrotgewehr.
»Geierspeise!« schrie Piggot-Blaine und schlug den Pickel mitten in die Stirn des Wächters.
»Hol die Schlüssel!«
Piggot-Blaine ergriff die Schlüssel, die von dem Gürtel des toten Wächters herabhingen. Er hörte ein Schrotgewehr, das abgefeuert wurde, und einen grellen Schmerzensschrei. Besorgt blickte er hoch …
*
Ramirez-Blaine steuerte seinen Heli über die flachen Ebenen von Texas, mit Kurs auf El Paso. Er war ein ernster junger Mann, und er widmete sich sehr aufmerksam seiner Arbeit, als er den letzten Knoten Geschwindigkeit aus dem alten Heli herausholte, um El Paso zu erreichen, bevor Johnsons Metallwarenladen zumachte.
Er ging sorgfältig mit der alten Klapperkiste um, und nur wenige Male drangen Gedanken in seine Konzentration ein, flüchtige Gedanken über Höhe und Kompaßdaten, über einen Tanzabend in Guanajuato, nächste Woche, über den Preis für Felle in Ciudad Juarez.
Die Ebene war grün gefleckt und gelb, als er hinunterblickte. Er blickte auf die Uhr, dann auf den Geschwindigkeitsmesser.
Ja, dachte Ramirez-Blaine, er mußte in El Paso sein, bevor der Metallwarenladen zumachte! Dann hätte er eventuell sogar noch Zeit um …
*
Tyler-Blaine wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und leckte den letzten fetten Soßenrest von einem Stück Maisbrot. Er rülpste, rückte seinen Stuhl vom Küchentisch und stand auf. Mit einstudiertem Desinteresse nahm er eine zersprungene Schüssel aus der Speisekammer und füllte sie mit Schweinefleischstückchen, ein bißchen Gemüse und einem großen Stück Maisbrot.
»Ed«, fragte seine Frau, »was machst du da?«
Tyler-Blaine blickte sie verärgert an und spürte, wie sein Magengeschwür stärker schmerzte, als er diese schrille, besorgte Stimme hörte. Die schrillste Stimme in ganz Kalifornien, sagte er zu sich selbst, und ich habe sie geheiratet. Schrille Stimme, scharfe Nase, spitze Ellenbogen und Knie, brustlos und durch und durch unfruchtbar. Beine, die einen Körper mal eben tragen aber nicht für eine Sekunde Lust spenden. Ein Bauch, der gefüllt, aber nicht berührt werden will. Von allen Mädchen Kaliforniens hatte er ganz zweifellos das allererbärmlichste gewählt, ganz der verdammte Narr, für den ihn Onkel Rafe ja schon immer gehalten hatte.
»Wohin gehst’n mit der Schüssel?« fragte sie.
»Raus, den Hund füttern«, sagte Tyler-Blaine und schritt auf die Tür zu.
»Wir haben keinen Hund! Oh Ed, tu’s nicht, nicht heute abend!«
»Ich tu’s«, sagte er und freute sich über ihre Beunruhigung.
»Bitte nicht heute abend. Laß ihn sich doch woandershin schleppen, wenigstens für eine Weile. Ed, hör mir zu! Was, wenn man es in der Stadt merkt?«
»Die Sonne ist schon untergegangen«, sagte Tyler-Blaine, der mit seiner Eßschüssel neben der Tür stand.
»Die Leute spionieren doch rum«, sagte sie. »Ed, wenn sie dahinterkommen, werden sie uns lynchen, das weißt du!«
»Sähst bestimmt reichlich klapprig aus, wenn du von einem Strick herunterhängen würdest«, meinte Tyler-Blaine und öffnete die Tür.
»Du würdest es schon tun, nur um mich zu ärgern!« rief sie.
Er schloß die Tür hinter sich. Draußen herrschte volles Zwielicht. Tyler-Blaine stand im Hof neben dem unbenutzten Hühnerkäfig und blickte sich um. Das einzige Haus in der Nähe war das von den Flannagans, einhundert Yards entfernt. Aber die kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Er wartete, um sicherzugehen, daß keins von den Stadtkindern herumschnüffelte. Dann schritt er vor, wobei er die Schüssel vorsichtig in beiden Händen hielt.
Er kam an den Rand des spärlichen Walds und stellte die Schüssel ab. »Ist alles in Ordnung«, rief er leise. »Komm raus, Onkel Rafe.«
Ein Mann krabbelte auf allen Vieren aus dem Wald. Sein Gesicht war bleifarben, seine Lippen blutlos, seine Augen leer und starr, seine Gesichtszüge grob und unbehauen, wie Eisen vor dem Schmieden oder Ton vor dem Brennen. Eine lange Schnittwunde am Hals hatte sich entzündet, und sein rechtes Bein war an der Stelle, wo die Leute aus der Stadt es zerschlagen hatten, lahm und hing schlaff und nutzlos herab.
»Danke, Junge«, sagte Rafe, Tyler-Blaines Zombieonkel.
Der Zombie verschlang hastig den Inhalt der Schüssel. Als er fertig war, fragte Tyler-Blaine: »Wie fühlst du dich, Onkel Rafe?«
»Hab gar kein Gefühl. Dieser alte Körper hat es bald hinter sich. Noch ’n paar Tage, vielleicht ’ne Woche, dann häng ich euch nicht mehr auf der Pelle.«
»Ich werd für dich sorgen«, sagte Tyler-Blaine, »solange du noch lebst, Onkel Rafe. Ich wünschte, ich könnte dich ins Haus lassen.«
»Nein«, sagte der Zombie, »dann kriegen Sie’s raus. Ist so schon riskant genug … Junge, wie geht’s deiner dürren Frau?«
»Iss genauso gemein wie immer«, sagte Tyler-Blaine.
Der Zombie machte ein Geräusch, das wie Lachen klang. »Ich hab dich gewarnt, Junge, schon vor zehn Jahren, dieses Mädchen nicht zu heiraten. Hab ich’s nicht?«
»Klar, das hast du, Onkel Rafe. Warst der einzige, der vernünftig war. Wünschte, ich hätte auf dich gehört.«
»Härteste man, mein Junge! Na ja, ich geh zurück in mein Versteck.«
»Bist dir sicher, Onkel?« fragte Tyler-Blaine besorgt.
»Allerdings.«
»Und du willst versuchen, genauso sicher zu sterben?«
»Werd ich, Junge. Und ich komm schon an die Schwelle, verlaß dich drauf! Und wenn ich da bin, dann halte ich mein Versprechen. Ganz bestimmt!«
»Danke, Onkel Rafe.«
»Bin ein Mann, der zu seinem Wort steht. Junge, ich werd sie heimsuchen, wenn der Herr mich an die Schwelle läßt. Erst kommt dieser fette Doktor an die Reihe, der mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin. Aber dann bespuke ich sie. Ich bespuke sie, bis sie verrückt wird. Ich bespuke sie, bis sie durch ganz Kalifornien zu Fuß vor dir wegrennt.«
»Danke, Onkel Rafe.«
Der Zombie gab ein gelächterähnliches Geräusch von sich und kroch zurück in den dünnen Wald. Tyler-Blaine erschauerte einen Augenblick lang völlig unkontrolliert, dann nahm er die leere Schüssel auf und ging zurück zu dem eingewölbten Waschbretthaus.
*
Mariner-Blaine zog den Riemen ihres Badeanzugs straffer, so daß er sich enger an ihren schlanken, üppigen jungen Körper anschmiegte. Sie hängte sich den Lufttank auf den Rücken, nahm ihr Atemgerät auf und schritt auf die Druckluke zu.
»Janice?«
»Ja, Mutter?« fragte sie und drehte sich mit ausdruckslosem Gesicht um.
»Wohin gehst du, Liebes?«
»Nur mal eben schwimmen, Mami. Hab mir gedacht, ich könnte mir mal die neuen Gärten auf Level 12 anschauen.«
»Du hast doch wohl nicht etwa vor, dich mit Tom Leuwin zu treffen, oder?«
Hatte ihre Mutter es erraten? Mariner-Blaine strich sich ihr schwarzes Haar glatt und antwortete: »Ganz bestimmt nicht.«
»Na gut«, sagte ihre Mutter und lächelte schief. Offenbar glaubte sie ihr nicht. »Dann sei früh wieder da, Liebes. Du weißt ja, wie leicht dein Vater sich Sorgen macht.«
Sie beugte sich vor und gab ihrer Mutter einen hastigen Kuß, dann eilte sie in die Druckschleuse. Mutter wußte es, da war sie sich sicher! Und sie hielt sie nicht auf! Aber warum sollte sie auch? Schließlich war sie schon siebzehn, alt genug um zu wissen, was sie wollte. Heutzutage wurden die Kinder eben schneller erwachsen als zu Mamis Zeiten, auch wenn die Eltern das nicht immer begreifen wollten. Aber Eltern begriffen ja sowieso nicht viel. Die wollten ja immer nur herumsitzen und neues Farmland planen, hektarweise. Wenn die sich vergnügen wollten, dann spielten sie irgendeine klassische Aufnahme ab, ein Stück Bop oder Rock’n’Roll. Und redeten dann darüber, wie frei und expressionistisch ihre Vorfahren waren. Und manchmal sahen sie sich große, glänzende Kunstbücher an, die mit Reproduktionen von Comic Strips des zwanzigsten Jahrhunderts angefüllt waren und sprachen über die in Vergessenheit geratene Kunst der Satire. Wenn die sich mal einen tollen Abend machen wollten, dann gingen sie in die Galerie und starrten voller Bewunderung auf die Sammlung der Titelseiten der Saturday Evening Post aus der Großen Periode. Aber dieses ganze langweilige Zeug langweilte sie nur. Zum Teufel mit der Kunst, sie zog die Sensorien vor.
Mariner-Blaine rückte ihre Gesichtsmaske und das Atemgerät zurecht, legte die Schwimmflossen an und drehte am Ventil. Wenige Sekunden später war die Schleuse voller Wasser. Sie wartete ungeduldig, bis sich der Druck dem Außendruck angeglichen hatte. Dann öffnete sich die Schleuse automatisch und sie schoß heraus.
Die Druckfarm ihres Vaters war auf dem Hundert-Fuß-Level, nicht weit von dem mammutartigen Unterseeblock von Hawaii. Sie wandte sich nach unten und sank mit kräftigen, schnellen Schwimmzügen in die grüne Tiefe. Tom würde bei den Korallenhöhlen auf sie warten.
Als Mariner-Blaine tiefer sank, wurde es dunkler. Sie stellte ihren Kopfscheinwerfer an und biß fester in ihr Mundstück. Stimmte es wohl, dachte sie, daß die Unterwasserfarmer bald dazu in der Lage sein würden, eigene Kiemen zu entwickeln? Das hatte ihr Biologielehrer behauptet, und vielleicht würde das noch zu ihren Lebzeiten geschehen. Wie sie wohl mit Kiemen aussehen würde? Geheimnisvoll, wahrscheinlich, glatt und seltsam, eine Fischgöttin.
Außerdem konnte sie sie immer noch mit Haar bedecken, wenn sie ihr nicht stehen sollten.
Im gelben Licht ihres Scheinwerfers sah sie vor sich die Korallenhöhlen, ein rotes und rosa Labyrinth voller Verästelungen, mit gemütlichen, luftdichten Stellen in seinem Inneren, wo man sicher sein konnte, allein zu bleiben. Und dann sah sie Tom.
Unsicherheit durchflutete sie. O weh, was, wenn sie schwanger würde? Tom hatte ihr versichert, daß schon alles in Ordnung sein würde, aber er war ja auch erst neunzehn. War es richtig, das zu tun? Sie hatten oft genug darüber geredet, und sie hatte ihn mit ihrer Offenheit schockiert. Aber Reden und Handeln waren zweierlei Dinge. Was würde Tom von ihr denken, wenn sie nein sagte? Könnte sie einen Spaß daraus machen, so tun, als habe sie ihn nur an der Nase herumführen wollen?
Lang und golden schwamm Tom neben ihr auf die Höhlen zu. Er sagte ›hallo‹ in der Fingersprache. Ein Hornfisch schwamm vorbei und dann auch ein kleiner Hai.
Was sollte sie tun? Die Höhlen waren schon sehr nah, lagen dunkel und einladend vor ihnen. Tom lächelte sie an, und sie spürte, wie ihr Herz zu schmelzen begann …
*
Elgin-Blaine saß aufrecht da und erkannte, daß er wohl gerade eingedöst war. Er befand sich an Bord eines kleinen Motorboots, auf einem Liegestuhl in Decken eingehüllt. Das kleine Schiff rollte und schlingerte in der Gegensee, aber die Sonne schien hell, und der Passat trug den Dieselqualm in einer breiten dunklen Wolke davon.
»Fühlen Sie sich besser, Mr. Elgin?«
Elgin-Blaine blickte zu dem kleinen bärtigen Mann mit der Kapitänsmütze hoch. »Prima, ganz prima«, sagte er.
»Wir sind fast da«, sagte der Kapitän.
Elgin-Blaine nickte desorientiert und versuchte, Bestandsaufnahme zu machen. Er dachte angestrengt nach und erinnerte sich daran, daß er unterdurchschnittlich klein war, sehr muskulös mit breitem Brustkasten und Schultern, mit Beinen, die für einen solch herkulischen Torso ein bißchen zu kurz schienen, mit großen, schwieligen Händen. Auf seiner Schulter befand sich eine alte, zackige Narbe, die Erinnerung an einen Jagdunfall …
Elgin und Blaine verschmolzen miteinander.
Dann wurde ihm klar, daß er endlich wieder in seinem eigenen Körper war. Blaine war sein Name, und Elgin mußte das Pseudonym sein, unter dem Carl Orc und Joe ihn eingeschifft haben mußten.
Der lange Flug war vorbei! Sein Geist und sein Körper waren wieder zusammen!
»Man hat uns gesagt, daß es Ihnen nicht gut ginge, Sir«, sagte der Kapitän. »Aber Sie waren ja so lange in diesem Koma …«
»Jetzt geht’s mir gut«, sagte Blaine. »Sind wir noch weit von den Marquesas?«
»Nicht weit. Die Insel Nuku Hiva ist nur noch ein paar Stunden entfernt.«
Der Kapitän ging zurück zu seinem Steuerhaus; und Blaine dachte über die vielen Persönlichkeiten nach, denen er begegnet war und mit denen er sich vermischt hatte.
Er empfand Respekt für den aufrechten und unabhängigen alten Dyersen, der langsam in seine Hütte zurückging, hoffte, daß der junge Sandy Thompson zum Mars zurückkehren würde, bemitleidete den durchgedrehten und mörderischen Piggot, genoß seine Begegnung mit dem ernsten und offenen Juan Ramirez, empfand ein Gemisch von Mitleid und Verachtung für den hinterlistigen und erfolglosen Ed Tyler, wünschte Janice Mariner das Beste.
Sie waren immer noch bei ihm. Ob gut oder böse, er wünschte ihnen alles Gute. Sie waren jetzt seine Familie. Entfernte Verwandte, Cousins und Onkel, die er nie wiedertreffen würde, Nichten und Neffen, über deren Schicksal er nachdenken würde.
Wie alle Familien waren auch sie ein zusammengewürfelter Haufen; aber sie gehörten zu ihm, und er würde sie nie vergessen.
»Nuku Hiva ahoi!« rief der Kapitän.
Blaine erblickte am Rande des Horizonts einen winzigen schwarzen Fleck, über dem eine weiße Kumuluswolke schwebte. Er rieb sich entschlossen seine Stirn und nahm sich vor, nicht länger über seine adoptierte Familie nachzudenken. Er mußte sich mit den Realitäten der Gegenwart auseinandersetzen. Bald würde er in ein neues Zuhause kommen, und das bedurfte eines gründlichen Nachdenkens.
Das Schiff dampfte gemächlich in die Bucht von Taio Hae. Der Kapitän, ein stolzer Sohn der Inseln, war so frei, Blaine das Wichtigste über seine neue Heimat zu erklären.
Die Marquesa-Inseln, erzählte er, bestanden aus zwei, leicht unterschiedlichen Inselgruppen, alle bergig und zerklüftet. Eine der Gruppen war die Kannibaleninsel genannt worden, denn die Marquesaner besaßen einst eine gewisse Berühmtheit für Massaker an den Besatzungen von Handels- und Forschungsschiffen. Die Franzosen hatten die Inseln 1842 in ihren Besitz gebracht und ihnen 1993 die Unabhängigkeit gegeben. Ihr höchster Gipfel, Temetiu, war fast 1500 Meter hoch. Die Hafenstadt Taiohae rühmte sich einer Bevölkerung von fast fünftausend Seelen. Es sei ein stiller, gemütlicher Flecken, meinte der Kapitän, und inmitten der geschäftigen, überbevölkerten Südsee gelte es als eine Art Schrein der Ruhe. Denn hier war das letzte Überbleibsel vom Polynesien des unverdorbenen 20. Jahrhunderts.
Blaine nickte, ohne viel vom Vortrag des Kapitäns mitbekommen zu haben. Ihn beeindruckte im Augenblick mehr der Anblick des großen dunklen Bergrückens vor ihnen, der von silbernen Wasserfällen geschmückt war, und das Tosen der Brandung gegen das granitene Felsengeschicht der Insel.
Er entschied, daß es ihm hier gefallen würde.
Bald hatte das Schiff an der Kaimauer angelegt, und Blaine ging von Bord, sich die Stadt Taiohae anzusehen.
Er sah einen Supermarkt, drei Kinos, Reihen von Häusern im Ranch-Stil, viele Palmen, einige flache Ladengebäude mit riesigen Fensterfronten, ein Dutzend Cocktailbars, zahlreiche Autos, eine Tankstelle und eine Verkehrsampel. Die Bürgersteige waren voller Menschen mit bunten Hemden und Shorts. Alle trugen Sonnenbrillen.
Dies war also das letzte Überbleibsel vom Polynesien des unverdorbenen 20. Jahrhunderts, dachte Blaine. Ein Ferienkaff aus Florida in die Südsee versetzt!
Doch, was hätte er im Jahr 2110 auch anderes erwarten sollen? Die alten Polynesier waren jetzt so tot wie das englische Empire oder das Frankreich der Bourbonen. Und das Florida des 20. Jahrhunderts konnte tatsächlich sogar recht angenehm sein, erinnerte er sich.
Er ging die Hauptstraße hinunter und sah einen Anschlag an einer Hauswand, der verkündete, daß Postmeister Alfred Gray zum Repräsentanten der Unsterblichkeitsgesellschaft für die Marquesas ernannt worden war. Ein Stückchen weiter kam er zu einem kleinen schwarzen Gebäude mit einem Schild davor, auf dem ›Öffentliche Selbstmordkabine‹ stand.
Aha, dachte Blaine sardonisch, die moderne Zivilisation erreichte auch diesen abgelegenen Ort. Als nächstes werden sie eine Geistervermittlung einrichten. Na, und wo sind wir dann hier?
Inzwischen hatte er den Stadtrand erreicht. Als er umkehrte, kam ihm ein gedrungener, rotgesichtiger Mann entgegengelaufen.
»Mr. Elgin? Mr. Thomas Elgin?«
»Das bin ich«, bestätigte Blaine mit einer gewissen Zurückhaltung.
»Tut mir furchtbar leid, daß ich Sie am Kai verpaßt habe«, sagte der rotgesichtige Mann und rieb sich seine breite, glänzende Stirn mit einer Bandanna. »Keine Entschuldigung, natürlich. Reine Nachlässigkeit meinerseits. Das müßige Klima hier auf den Inseln. Man läßt sich gehen. Oh, ich bin Davis, Besitzer des Bootsbüros Point. Willkommen auf Taiohae, Mr. Elgin.«
»Vielen Dank, Mr. Davis«, erwiderte Blaine.
»Im Gegenteil, ich habe Ihnen noch einmal dafür zu danken, daß Sie auf meine Anzeige geantwortet haben«, sagte Davis. »Ich suche schon seit Jahren einen anständigen Bootsausstatter. Sie können sich das gar nicht vorstellen! Und, ganz offen zugegeben, ich hätte nie gedacht, daß ich einmal einen Mann von Ihren Qualifikationen finden würde.«
»Mmmmm«, sagte Blaine, angenehm überrascht von der Gründlichkeit, mit der Orc hier alles vorbereitet zu haben schien.
»Gibt nicht viele Leute, die sich mit der Bootsbaukunst des 20. Jahrhunderts auskennen«, meinte Davis traurig. »Eine aussterbende Kunst – Haben Sie sich schon auf der Insel umgesehen?«
»Gerade eben, ganz kurz«, erwiderte Blaine.
»Meinen Sie, Sie könnten es hier aushalten?« fragte Davis gespannt. »Sie haben keine Ahnung, wie schwer es ist, einen guten Yachtausstatter zu finden, der sich in einem so stillen, abgelegenen Hafen niederlassen will. Sie wollen alle in die großen Boomstädte wie Papete oder Apia. Ich weiß, daß dort natürlich auch besser bezahlt wird, und es gibt mehr Nachtleben, Vergnügen, Gesellschaft und all diese Dinge. Aber Taiohae hat seinen eigenen Zauber.«
»Was Städte angeht, reicht es mir eine ganze Weile«, antwortete Blaine lächelnd. »Ich werde es hier lange aushalten, Mr. Davis.«
»Prima, prima!« rief Davis. »Lassen Sie sich ruhig erst mal ein paar Tage Zeit hier, bevor Sie zur Arbeit kommen. Ruhen Sie sich aus, lassen Sie es langsam angehen, schauen Sie sich gemütlich unsere Insel an. Es ist das letzte Überbleibsel des primitiven Polynesiens, wissen Sie. Hier sind die Schlüssel zu Ihrem Haus, Mr. Elgin. Nr. 1, Temetiu Road, gleich hier vorne den Berg hoch. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?«
»Ich finde ihn schon«, versicherte Blaine. »Vielen herzlichen Dank, Mr. Davis.«
»Ich habe Ihnen zu danken, Mr. Elgin. Ich schau morgen mal bei Ihnen vorbei, nachdem Sie sich hier ein bißchen eingelebt haben. Dann kann ich Sie mit den Leuten hier bekanntmachen. Die Frau des Bürgermeisters gibt Donnerstag gerade eine Party. Oder ist es Freitag? Wie auch immer, ich finde es raus und laß es Sie wissen.«
Sie schüttelten sich die Hände, und Blaine ging zur Temetiu Road hinauf, wo sein neues Zuhause lag.
Es stellte sich als kleiner, frisch gestrichener Bungalow mit einem spektakulär schönen Blick über Nuku Hivas drei südliche Buchten heraus. Blaine bewunderte minutenlang die Aussicht, dann probierte er die Türe. Sie war unverschlossen, und er ging hinein.
»Es wurde Zeit, daß du dich hier sehen läßt.«
Blaine starrte sich die Augen aus dem Kopf und wollte nicht glauben, was er da sah.
»Marie!«
*
Sie schlank, begehrenswert, lieb und kühl wie immer. Aber sie war nervös. Sie redete sehr schnell und vermied, ihm in die Augen zu sehen.
»Ich dachte, es wäre am besten, wenn ich die letzten Arrangements an Ort und Stelle treffe«, sagte sie. »Ich bin seit zwei Tagen hier und warte auf dich. Du hast Mr. Davis schon getroffen, nehme ich an. Er scheint ein sehr netter Bursche zu sein.«
»Marie …«
»Ich habe ihm erzählt, ich wäre deine Verlobte«, fuhr sie fort. »Ich hoffe, das macht dir nichts aus, Tom. Ich brauchte dringend irgendeine Entschuldigung, um meine Anwesenheit hier zu erklären. Ich habe erzählt, ich wäre früher gekommen, um dich zu überraschen. Mr. Davis war ganz entzückt, denn er möchte nichts lieber, als daß sein Bootsausstatter sich hier niederläßt und Familie gründet. Ist das schlimm, Tom? Wir können immer noch sagen, wir hätten die Verlobung kurzfristig aufgelöst …«
Blaine nahm sie in den Arm und sagte: »Ich möchte die Verlobung aber nicht auflösen. Ich liebe dich, Marie.«
»O, Tom, Tom, ich liebe dich!« Sie drückte ihn wild an sich und trat dann schnell zurück. »Wir sollten dann besser bald die offizielle Heirat vorbereiten, wenn es dir nichts macht. Sie sind hier sehr prüde und altmodisch, weißt du, ist noch echtes 20. Jahrhundert.«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Blaine. »Doch, doch.«
Sie sahen einander an und brachen dann in schallendes Gelächter aus.
Marie bestand darauf, im South Sea Motel zu wohnen, bevor sie offiziell geheiratet hatten. Blaine schlug eine stille Zeremonie vor einem Friedensrichter vor. Aber Marie überraschte ihn mit dem Wunsch, das größte Hochzeitsfest zu veranstalten, das in Taiohae möglich war. Es fand am Sonntag statt, im Haus des Bürgermeisters.
Mr. Davis lieh ihnen einen kleinen Kutter seines Bootsbüros. Bei Sonnenaufgang setzten sie Segel für eine Hochzeitskreuzfahrt nach Tahiti.
Für Blaine wurde die Fahrt zu einem köstlichen, schwebenden Traum. Sie segelten über eine See aus grüner Jade und sahen den Mond, gelb und riesig, vom Mastkreuz des Kutters gevierteilt. Die Sonne hob sich aus langen, schwarzen Wolken, erreichte den Zenit und stieg wieder hinab, wobei sie die See in eine schimmernde Schale voller flüssigem Messing verwandelte. Sie gingen in der Lagune von Papete vor Anker und sahen die Berge von Moorea, die im Sonnenuntergang brannten und phantastischer waren als die Berge des Mondes. Und Blaine erinnerte sich an einen Tag an der Chesapeake Bay, als er geträumt hatte: Oh, Raiatea, die Berge von Moorea, der frische Handelswind …
Ein Kontinent und ein Ozean hatte ihn von Tahiti getrennt und noch einige andere Dinge mehr. Aber das war in einem anderen Jahrhundert gewesen.
Irgendwann kehrten sie schließlich nach Taiohae zurück. Marie übernahm den Haushalt, und Blaine begann mit seiner Arbeit auf der kleinen Werft von Davis’ Bootsbüro.
*
Gespannt warteten sie die nächsten Wochen ab, was sich in New York tat, lasen aufmerksam die Zeitungen, warteten auf die weiteren Reaktionen von Rex. Aber das Unternehmen rührte sich nicht, kein Anzeichen für eine weitere Verfolgung, war auszumachen. So entschieden sie, daß die unmittelbare Gefahr vorüber sein mußte. Trotzdem waren sie erst richtig erleichtert, als sie zwei Monate später lasen, daß Rex die Blaine-Jagd offiziell eingestellt hatte.
Blaines Job für Davis war interessant und abwechslungsreich. Die Inselkutter mußten überholt und gewartet werden, oder repariert, wenn sie ihre Schrauben gebrochen oder die Maschine beschädigt hatten. Ein verborgenes Korallenriff riß schon einmal die Planken einer der wertvollen antiken Ferienyachten auf. Dann mußten die Unterwasserboote überholt werden, die den submarinen Pflanzern aus der Umgebung gehörten, für die Taiohae als Nachschubbasis diente. Und dann gab es auch manchmal Auftrag, einen Schoner zu bauen oder ein Dingi.
Blaine kam mit allen praktischen Fragen gut zurecht. Er arbeitete mit Liebe und großem Geschick. Nach einiger Zeit begann er den ein oder anderen PR-Artikel für das Bootsbüro im ›South Sea Courier‹ zu veröffentlichen. Das brachte neue Kunden, mehr Arbeit und schließlich die Notwendigkeit, mit einigen kleineren Bootswerften der Umgebung zu kooperieren. Blaine schaffte das alles und übernahm von Mr. Davis die Arbeitsplanung und die Werbung.
Bald unterschied sich sein Job als Bootsausstatter hier kaum noch von einem gewissen Job als Yachtbauer, den er einmal gehabt hatte. Aber das machte Blaine nichts mehr. Er hatte festgestellt, daß dies offenbar die Arbeit sein mußte, für die er bestimmt war, und er akzeptierte diese Bestimmung.
Sein Leben wurde zu einer angenehmen Routine zwischen dem Bootsbüro und dem weißen Bungalow. Samstags abends Kino, die Mikrofilm-Sunday Times am nächsten Morgen, kleine Besuche bei den umliegenden Unterwasserfarmen, Partys im Bürgermeisterhaus und Poker im Yacht Club, harte Segeltouren über die Comptroller Bay und Schwimmen im Mondlicht am Temoua-Strand. Blaine begann zu denken, daß sein Leben hier seine endgültige und definitive Form angenommen hatte.
Dann, etwa vier Monate nach seiner Ankunft in Taiohae, änderten sich die Dinge doch wieder.
An einem Morgen wie jedem anderen wachte Blaine auf, aß sein Frühstück, gab seiner Frau einen Abschiedskuß und ging zur Bootswerft hinab. Ein fettes, geschwungenes Boot stand heute an, aus Tuamotan, dem die Seite bei einem unglücklichen Anlegemanöver aufgerissen worden war.
Blaine sah sich den Schaden gerade genauer an, als Mr. Davis bei ihm auftauchte.
»Hör mal, Tom«, sagte der Werftbesitzer, »da war ein Bursche hier, noch gar nicht lange her, der dich suchte. Hast du ihn gesehen?«
»Nein«, sagte Blaine. »Wie sah er denn aus?«
»Na, einer vom Festland war das«, meinte Davis stirnrunzelnd. »Gerade heute morgen mit dem Schiff angekommen. Ich sagte ihm, du wärst noch nicht hier, und da sagte er, dann würde er mal bei dir zu Hause vorbeisehen.«
»Sein Aussehen?« drängte Blaine, der fühlte, wie sich etwas in seinem Magen zusammenzog.
Davis runzelte noch stärker die Stirn. »Tja, das ist ja das Komische. Er war etwa so groß wie du, dünn und sehr braungebrannt. Er hatte einen Vollbart und lange Koteletten. Sieht man heute ja nur noch selten. Und dazu stank er nach Rasierwasser.«
»Klingt verdächtig«, sagte Blaine.
»Sehr verdächtig. Ich könnte schwören, daß der Bart nicht echt ist.«
»Nein?«
»Er sah wie ein falscher aus, der Bart. Alles an dem Kerl wirkte nicht ganz echt. Und er hinkte böse.«
»Hat er einen Namen genannt?«
»Sagte, er hieße Smith. Tom, wo gehst du hin?«
»Ich muß sofort nach Hause«, rief Blaine. »Ich erkläre es dir später.«
Er rannte los. Smith mußte herausgefunden haben, wo er sich verkrochen hatte und welche Verbindung zwischen ihnen bestand. Und, genau wie er versprochen hatte, kam der Zombie nun, ihn zu besuchen.
Als er Marie davon erzählt hatte, ging sie zur Abstellkammer und holte ihre Koffer. Sie trug sie ins Schlafzimmer und begann, die Kleider hineinzuwerfen.
»Was machst du?« fragte Blaine.
»Packen.«
»Das sehe ich. Aber warum?«
»Weil wir hier verschwinden.«
»Wovon redest du? Wir leben hier!«
»Nicht mehr«, erklärte sie. »Nicht, wenn dieser verdammte Smith hier in der Nähe steckt. Tom, er bedeutet Schwierigkeiten. Alles geht wieder von vorne los.«
»Natürlich bringt er Ärger«, sagte Blaine. »Aber deshalb brauchen wir nicht wegzulaufen. Hör mit dem Packen auf, und hör mir eine Minute zu! Was denkst du, könnte es mir schon Schlimmes tun?«
»Wir werden nicht hier bleiben, um es herauszufinden«, verkündete sie entschlossen.
Sie fuhr damit fort, Kleider in einen Koffer zu werfen, bis Blaine sie an den Handgelenken faßte.
»Beruhige dich«, erklärte er. »Ich werde nicht vor Smith davonrennen.«
»Aber das ist das einzige Vernünftige, was du machen kannst«, sagte Marie. »Er bedeutet Ärger, Gefahr, aber er hat bestimmt nicht mehr lange zu leben. Höchstens noch ein paar Monate, Wochen vielleicht noch, dann ist er tot. Er hätte schon lange vorher sterben sollen, dieser verfluchte Zombie! Tom, laß uns verschwinden!«
»Bist du verrückt geworden oder was ist los?« fragte Blaine. »Was immer er will, ich werde damit schon fertig.«
»So etwas Ähnliches habe ich dich doch schon einmal sagen hören«, erwiderte Marie.
»Damals sahen die Dinge anders aus.«
»Jetzt sind sie auch anders! Tom, wir könnten uns den Kutter noch einmal leihen. Mr. Davis würde uns helfen. Und wir würden einfach auf See …«
»Nein! Ich will verflucht sein, wenn ich jetzt weglaufe! Vielleicht ist dir das entfallen, Marie, aber Smith hat mir das Leben gerettet.«
»Aber wozu hat er es dir gerettet?« weinte sie. »Tom, ich warne dich! Du darfst ihn nicht treffen, nicht wenn er seine Erinnerung wiedergefunden hat!«
»Moment mal«, sagte Blaine. »Gibt es da etwas, was du weißt? Etwas, das ich nicht weiß?«
Sofort wurde sie ruhig. »Natürlich nicht.«
»Marie, sagst du mir die Wahrheit?«
»Sicher, Liebling. Aber ich habe Angst vor Smith. Bitte, Tom. Hör ein einziges Mal auf mich. Tu es aus Rücksichtsnahme. Laß uns gehen.«
»Ich werde keinen einzigen Schritt mehr vor jemandem weglaufen«, erklärte Blaine fest. »Ich lebe hier. Dies ist mein Zuhause. Und damit Schluß.«
Marie setzte sich und sah plötzlich sehr erschöpft und müde aus. »In Ordnung, Liebling. Tu, was du für das Beste hältst.«
»Das klingt schon besser«, bedankte sich Blaine. »Ich werde schon damit fertig werden. Keine Angst.«
»Sicher wirst du das«, sagte Marie.
Blaine hängte die Kleider wieder in den Schrank und brachte die Koffer zurück in den Abstellraum. Dann setzte er sich ins Wohnzimmer und wartete. Physisch war er ganz ruhig. Aber in Gedanken kehrte er zu der Tür mit den ägyptischen Hieroglyphen und den chinesischen Ideogrammen zurück, trat wieder durch sie hindurch in die marmorne Halle des Palasts des Todes mit ihrem goldenen und bronzenen Sarkophag. Und er hörte wieder, wie Reillys schrille Stimme aus einem silbernen Nebel heraus schrie:
»Es gibt Dinge, die sie nicht sehen können, Blaine, aber ich kann sie sehen. Ihre Zeit auf Erden wird kurz sein, schmerzlich kurz, Sie werden von denjenigen verraten werden, denen Sie vertraut haben, und diejenigen, die sie hassen, werden sie überwältigen. Sie werden sterben, Blaine, nicht in ein paar Jahren, sondern bald, viel schneller, als sie glauben können. Sie werden betrogen werden, und Sie werden von eigener Hand sterben.«
Dieser verrückte alte Mann! Blaine fröstelte es leicht, und er sah zu Marie hinüber. Sie saß mit niedergeschlagenen Augen da und wartete. Also wartete er auch.
Nach einer Weile hörten sie ein leises Klopfen an der Tür.
»Herein«, sagte Blaine, wer immer es auch sein mochte.
Blaine erkannte Smith sofort, selbst mit dem falschen Bart und dem braunen Bühnen-Make-up. Der Zombie kam hereingehinkt und brachte einen schwachen Geruch nach Verwesung mit sich, den das schwere Rasierwasser nur unvollkommen überlagern konnte.
»Entschuldigen Sie die Verkleidung«, sagte Smith. »Ich wollte Sie nicht damit täuschen, oder sonst irgend jemanden. Ich trage sie nur, weil mein Gesicht inzwischen für jeden anderen zu einer Zumutung geworden ist. Ich kann es nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen.«
»Sie haben einen weiten Weg hinter sich«, bemerkte Blaine.
»Ja, ziemlich weit«, stimmte Smith zu. »Und ich hatte eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, mit denen ich Sie nicht langweilen möchte. Aber jetzt bin ich hier, und das ist allein wichtig.«
»Warum sind Sie gekommen?«
»Weil ich weiß, wer ich bin«, verkündete Smith.
»Und Sie nehmen an, damit habe ich etwas zu tun?«
»Ja.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was«, sagte Blaine grimmig. »Aber lassen Sie hören.«
Marie mischte sich ein. »Einen Augenblick. Smith. Sie sind hinter ihm her, seit er in diese Welt versetzt worden ist. Er hat niemals eine ruhige Minute gehabt. Können Sie die Dinge nicht, verdammt noch mal, einfach akzeptieren, wie sie nun mal sind? Können Sie nicht gehen und in Ruhe irgendwo sterben?«
»Nicht ohne es ihm vorher erzählt zu haben«, sagte Smith.
»Na los, erzählen Sie mal«, forderte Blaine. »Einmal muß es ja raus.«
Smith begann: »Mein Name ist James Olin Robinson.«
»Nie von Ihnen gehört«, meinte Blaine nach kurzem Nachdenken.
»Natürlich nicht.«
»Haben wir uns jemals vor der Geschichte im Rex-Hochhaus getroffen?«
»Nicht offiziell.«
»Aber wir haben uns getroffen?«
»Kurz.«
»In Ordnung, James Olin Robinson, erzählen Sie mir davon. Wann trafen wir uns?«
»Es war wirklich sehr kurz«, erzählte Robinson. »Wir erblickten uns nur für Sekundenbruchteile, dann sahen wir nichts mehr. Es passierte spät in der Nacht, 1958, auf einem einsamen Highway, Sie in Ihrem Auto und ich in meinem.«
»Sie haben das Auto gefahren, mit dem ich meinen Unfall hatte?«
»Ja, wenn man es einen Unfall nennen will.«
»Aber das war es! Es war doch völlig zufällig.«
»Wenn das stimmt, habe ich hier nichts mehr zu suchen«, erklärte Robinson. »Aber, Blaine, ich weiß, daß es kein Unfall war. Es war Mord. Fragen Sie Ihre Frau.«
Blaine sah zu seiner Frau, die in der Ecke der Couch saß. Ihr Gesicht war wächsern. Alle Lebenskraft schien sie verlassen zu haben. Ihr Blick schien nach innen gerichtet und dort Dinge zu sehen, die ihr absolut keine Freude bereiteten. Blaine fragte sich, ob sie auf die Geister einer alten Schuld starrte, lange vergraben, lange verdrängt, die jetzt von dem bärtigen Robinson wiedererweckt worden waren.
Langsam begann er die Dinge zu begreifen und wie ein Puzzle zusammenzusetzen.
»Marie«, sagte er, »was war mit dieser Nacht 1958? Woher wußtet ihr damals, daß ich einen Autounfall haben würde?«
Sie sagte: »Wir haben statistische Vorhersagemethoden benutzt, Wahrscheinlichkeitsberechnungen …« Ihre Stimme verlor sich in einem Flüstern.
»Oder habt ihr dafür gesorgt, daß ich mein Auto zu Bruch fuhr? Habt ihr nachgeholfen?« wollte Blaine wissen. »Hast du den Unfall genau zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort vorprogrammieren lassen, um mich in die Zukunft zu eurer Werbekampagne zu holen?«
Marie antwortete nicht. Und Blaine dachte genau darüber nach, wie er eigentlich damals gestorben war.
Er war über einen geraden, leeren Highway gefahren, die Scheinwerfer leuchteten vor ihm alles aus, dahinter die endlose, vorbeihuschende Dunkelheit … Sein Auto schleuderte, brach aus und schlingerte auf die entgegenkommenden Scheinwerfer zu … Er riß hart am Steuerrad. Es war blockiert … Dann kam das Steuer frei und drehte sich in seiner Hand, der Motor heulte auf …
»Bei Gott, ihr habt mich diesen Unfall bauen lassen!« schrie Blaine seine Frau an. »Du und Rex, ihr habt meinen Wagen zum Schleudern gebracht! Sieh mich an und antworte mir! Ist es so?«
»Na gut!« sagte sie. »Aber wir hatten nicht vor, ihn umzubringen. Robinson kam zufällig gerade vorbei. Tut mir leid für ihn.«
»Du hast schon die ganze Zeit gewußt, wer dieser Zombie ist«, rief Blaine.
»Ich hatte einen Verdacht.«
»Und du hast mir nie davon erzählt.« Blaine sprang auf und lief im Zimmer hin und her. »Marie! Verdammt, du hast mich umgebracht, du!«
»Das habe ich nicht, Tom! Nicht wirklich. Ich habe dich nur aus dem Jahr 1958 in unsere Zeit geholt. Ich habe dir einen anderen Körper gegeben. Aber ich habe dich nicht wirklich getötet.«
»Sie haben mich einfach umgebracht«, sagte Robinson.
Mit großer innerer Anstrengung löste Marie sich von ihren Gedanken und richtete ihren Blick auf den Zombie. »Ich fürchte, ich bin tatsächlich für Ihren Tod verantwortlich, Mr. Robinson. Auch wenn er in keiner Weise beabsichtigt war. Ihr Körper muß gleichzeitig mit dem von Tom gestorben sein. Das Rex-Antriebssystem, von dem er in die Zukunft gezogen wurde, hat Sie mitgerissen. Dann nahmen Sie Reilly als Wirtskörper.«
»Ein erbärmlicher Tausch, den ich für meinen früheren Körper gemacht habe«, sagte Robinson.
»Sicher. Aber was wollen Sie jetzt? Was kann ich tun? Das Jenseits …«
»Das will ich keinesfalls«, meinte Robinson schnell. »Ich habe noch überhaupt keine Chance auf dieser Erde gehabt.«
»Wie alt waren Sie denn, als der Unfall passierte«, wollte Blaine wissen.
»Neunzehn.«
Blaine nickte traurig.
»Ich bin noch nicht für das Jenseits bereit«, erklärte Robinson. »Ich möchte reisen, Dinge erleben, Dinge sehen. Ich möchte herausfinden, was für ein Mensch ich eigentlich gewesen bin, was für eine Art Mann. Ich will leben! Wissen Sie, daß ich nicht einmal eine richtige Frau gehabt hatte? Ich tausche gerne die Unsterblichkeit für zehn gute Jahre auf der Erde.«
Robinson zögerte einen Moment, dann sagte er: »Ich will einen Körper. Ich will den guten Körper eines Mannes, in dem ich leben kann. Nicht dieses tote Ding, das ich jetzt herumschleppen muß. Blaine, deine Frau hat meinen früheren Körper getötet.«
»Wollen Sie meinen?« fragte Blaine.
»Wenn Sie glauben, daß es fair ist«, antwortete Robinson.
»Nun mal langsam!« rief Marie. Die Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt. Mit ihrem Geständnis schien sie sich aus dem Bann des alten Bösen befreit zu haben, um nun wieder den Kampf mit der Gegenwart und dem Leben aufnehmen zu können.
»Robinson«, sagte sie, »das können Sie nicht von ihm verlangen. Er hatte absolut nichts mit Ihrem Tod zu tun. Es war mein Fehler, und es tut mir leid deswegen. Sie werden wohl nicht den Körper einer Frau haben wollen, oder? Meinen würden Sie sowieso nicht bekommen. Was passiert ist, ist passiert! Verschwinden Sie jetzt hier!«
Robinson ignorierte sie und sah zu Blaine. »Ich habe immer gewußt, daß Sie es waren, Blaine. Wenn ich auch sonst nichts gewußt habe, von Anfang an erkannte ich Sie als den Schuldigen. Ich habe über Sie gewacht, Blaine. Ich habe Ihnen das Leben gerettet.«
»Ja, das haben Sie«, bestätigte Blaine ruhig.
»Ja, und?« schrie Marie. »Er hat dir also das Leben gerettet. Das heißt doch nicht, ihm gehört es jetzt! Man rettet kein Leben, um es sich dann auf Anfrage aushändigen zu lassen. Tom, hör nicht auf ihn!«
Robinson sagte: »Ich habe nicht die Absicht oder den Wunsch, Sie zu irgend etwas zu zwingen, Blaine. Sie werden entscheiden, was richtig ist, und ich werde mich danach richten. Und Sie werden sich an alles erinnern.«
Blaine sah den Zombie fast mit einer gewissen Zuneigung an. »Also gibt es mehr zwischen uns. Viel mehr. Ist es nicht so, Mr. Robinson?«
Robinson nickte, die Augen auf Blaines Gesicht fixiert.
»Aber woher wissen Sie davon?« fragte Blaine. »Welche Möglichkeit hatten Sie, davon zu erfahren?«
»Weil ich Sie verstehe. Ich habe Sie zu meiner einzigen Lebensbeschäftigung gemacht. Mein Leben hat sich ganz auf Ihres konzentriert. Ich habe über nichts anderes nachgedacht als über Sie. Und je besser ich Sie kennenlernte, Blaine, desto sicherer wurde ich mir in dieser einen Sache.«
»Vielleicht«, sagte Blaine.
Marie sagte: »Worüber, bei allen Himmeln, redet ihr da eigentlich? Was gibt es zwischen euch? Was noch?«
»Ich muß darüber nachdenken«, meinte Blaine ruhig. »Ich muß versuchen, mich genau zu erinnern. Robinson, lassen Sie mich bitte für eine Weile allein.«
»Sicher«, antwortete der Zombie und verließ sofort das Haus.
Blaine winkte Marie zu, still zu sein. Er setzte sich und vergrub seinen Kopf in den Händen. Nun mußte er sich an etwas erinnern, über das er eigentlich nie nachdenken wollte. Jetzt mußte er es wieder heraufbeschwören und ihm ein für alle Mal in die Augen sehen.
*
Noch immer hatte er die Worte im Kopf, wie eingraviert in seine grauen Zellen, die Reilly in seinem Palast des Todes geschrien hatte:
»Alles ist Ihre Schuld! Sie haben mich mit Ihrem bösen, mörderischen Geist getötet! Ja, Sie, Sie widerliches Ding aus der Vergangenheit, Sie verdammtes Ungeheuer! Alle meiden Sie, außer ihr Freund, der tote Mann! Warum sind Sie denn nicht tot, Sie Mörder!«
Hatte Reilly es gewußt?
Er erinnerte sich, wie Sammy Jones nach der Jagd zu ihm sagte: »Tom, du bist der geborene Killer. Für dich gibt es nichts anderes.«
Hat Sammy es geahnt?
Und nun der entscheidende Augenblick, der signifikanteste Augenblick seines Lebens – sein Tod im Jahre 1958. Ganz lebendig stand ihm wieder alles vor Augen.
Das Steuer war wieder frei, aber Blaine ignorierte es, fühlte mit einer plötzlichen wilden Aufregung, einem blitzartigen Stimmungswechsel, daß er den Unfall wünschte, daß er Lust darauf hatte, wilde, böse Lust nach Schmerz und Grausamkeit und Tod …
Blaine schüttelte sich, als er noch einmal den Augenblick durchlebte, den er doch sicher vergessen zu haben glaubte – den Augenblick, in dem er die Katastrophe noch hätte verhindern können, und es doch vorgezogen hatte, zu töten.
Er hob den Kopf und sah seine Frau an. »Ich habe ihn getötet. Das weiß Robinson von mir. Und jetzt weiß ich es auch selbst.«
In Ruhe erklärte er Marie alles. Sie weigerte sich zunächst, ihm zu glauben.
»Es ist so weit in der Vergangenheit, Tom! Wie kannst du sicher sein, was damals wirklich passiert ist?«
»Ich bin sicher«, sagte Blaine. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand je die Art vergessen kann, auf die er stirbt. Ich erinnere mich an meinen Tod sehr gut. So bin ich gestorben.«
»Trotzdem kannst du dich doch nicht einen Mörder nennen, nur wegen dieser einen Sekunde, diesem Sekundenbruchteil …«
»Wie lange dauert es, eine Kugel abzufeuern, mit einem Messer zuzustoßen?« fragte Blaine. »Einen Sekundenbruchteil. So lange dauert es, ein Mörder zu werden.«
»Aber, Tom, du hast doch kein Motiv.«
Blaine schüttelte den Kopf. »Es stimmt, daß ich nicht aus Rache gemordet habe. Ich bin eben nicht diese Art von Mörder. Es brachte mir auch keinen persönlichen Vorteil. Ich bin einfach einer von diesen ganz gewöhnlichen Kerlen, die von jedem ein kleines Stückchen in sich haben, auch vom Mörder. Ich habe getötet, weil ich in jenem Moment die Gelegenheit dazu hatte. Meine ganz besondere Chance, die sich aus ganz besonderen Umständen ergeben hat, Umständen, die vielleicht nie wieder in meinem Leben zusammengekommen wären.«
»Aber daran trägst du doch keine Schuld!« sagte Marie. »Es wäre alles doch nicht passiert, wenn Rex und ich nicht genau diese besonderen Umstände arrangiert hätten.«
»Ja, schon. Aber ich habe die Gelegenheit genutzt«, sagte Blaine, »und einen kaltblütigen Mord daraus gemacht. Nur so zum Spaß, weil ich genau wußte, daß man mich nie dafür zur Rechenschaft ziehen könnte. Mein Mord war das.«
»Nun … unser Mord«, sagte sie.
»Ja.«
»Na gut. Wir sind Mörder«, erklärte Marie ruhig. »Akzeptieren wir es. Wir haben einmal getötet, dann können wir es auch noch einmal tun.«
»Nie«, sagte Blaine.
»Er ist fast hinüber, Tom. Ein fester Schlag, und es ist vorbei.«
»Ich bin nicht diese Art von Mörder.«
»Dann laß mich es machen.«
»Diese Art auch nicht.«
»Du Idiot! Dann tu einfach gar nichts. Warte ab. Einen Monat noch, und es ist vorbei mit ihm. Du wartest den Monat ab, Tom -«
»Kein Mord mehr«, meinte Tom ruhig. »Ich frage mich sowieso schon länger, was es nun mit diesem Jenseits auf sich hat. Die Versicherung habe ich ja. Nein, er bekommt ihn. Keine Diskussion mehr …«
»Tom!«
Blaine ging hinaus, wo der Zombie auf der Straße wartete. »Robinson«, sagte er, »kommen Sie mit mir zur Selbstmordkabine. Ich gebe Ihnen meinen Körper.«
»Geringeres habe ich von Ihnen auch nicht erwartet«, sagte der Zombie.
»Dann gehen wir.«
Zusammen schritten sie langsam den Berg hinunter. Marie blickte ihnen einige Sekunden aus dem Fenster nach, dann lief sie hinter ihnen her.
Sie blieben an der Tür zur Selbstmordkabine stehen. Blaine sagte: »Meinen Sie wirklich, daß Sie ohne Schwierigkeiten übernehmen können?«
»Da bin ich mir sicher«, sagte Robinson. »Tom, ich bin Ihnen dankbar dafür. Ich werde gut mit Ihrem Körper umgehen.«
»Ist ja eigentlich gar nicht meiner«, sagte Blaine. »Hat einem Burschen namens Kranch gehört. Aber ich habe ihn liebgewonnen. Sie werden sich schon an seine Eigenarten gewöhnen. Sie müssen ihn nur ab und zu daran erinnern, wer der Chef ist. Manchmal geht er gerne auf die Jagd.«
»Ich glaube, das wird mir gefallen«, sagte Robinson.
»Ja, das dachte ich mir. Na gut, viel Glück!«
»Viel Glück wünsche ich Ihnen. Tom.«
Marie kam näher und küßte Blaine mit eisigen Lippen. Auf Wiedersehen. Blaine fragte: »Was wirst du jetzt tun?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich fühle mich so taub … Tom, mußt du es wirklich tun?«
»Das muß ich«, antwortete Blaine.
Er blickte noch einmal um sich und besah sich die Palmen, die im Sonnenschein wisperten, die blaue Weite des Meeres und den großen dunklen Berg über ihm, der von silbernen Wasserfällen geschmückt war. Dann wandte er sich wieder um und ging in die Selbstmordkabine. Er machte die Tür hinter sich zu.
*
Es gab keine Fenster und auch keine Möbel bis auf einen Stuhl. Die Anleitungen, die auf einem Plakat an der Wand hingen, waren sehr einfach. Man mußte sich einfach setzen und den Schalter am rechten Stuhlarm irgendwann betätigen. Dann würde man sterben, schnell und schmerzlos, und der Körper würde für den nächsten Bewohner bereitstehen.
Blaine setzte sich, überzeugte sich von der Existenz des Schalters, lehnte sich zurück und schloß die Augen.
Er dachte wieder an das erste Mal, als er gestorben war und wünschte sich, daß es aufregender gewesen wäre. Von rechts wegen hätte er diesmal diesen Fehler wiedergutmachen und wie Hunt untergehen sollen, in heftigem Kampf an einem Bergesrand zum Sonnenuntergang. Warum hatte es nicht so sein können? Warum hatte der Tod nicht kommen können, während er mit einem Taifun kämpfte, sich gegen einen Tiger wehrte oder den Mount Everest bestieg? Warum mußte sein Tod schon wieder so zahm, so alltäglich, so gewöhnlich sein?
Aber warum hatte er denn niemals wirklich Yachten entworfen?
Ein solcher Tod, das wurde ihm wieder klar, würde nicht seinem Charakter entsprechen. Zweifellos war er dafür bestimmt, auf eben diese schnelle, alltägliche, schmerzlose Weise zu sterben. Und all sein Leben in der Zukunft mußte auf diese Art und Weise des Todes hingearbeitet haben – ein vager Hinweis als Reilly starb, eine Gewißheit im Palast des Todes, ein unausweichliches Schicksal, als er sich in Taiohae niedergelassen hatte.
Und doch ist der Tod, so gewöhnlich er auch sein mag, eines der interessantesten Ereignisse im Leben. Blaine war sehr gespannt darauf.
Er hatte keinen Grund, sich zu beschweren. Obwohl er über ein Jahr in der Zukunft gelebt hatte, hatte er schon ihren größten Preis errungen – das Jenseits! Er spürte noch einmal, was er empfunden hatte, als er aus dem Jenseitsgebäude gekommen war – Befreiung von der schweren, trübsinnigen, immerwährenden, unbewußten Angst vor dem Tod, die auf hinterhältige Weise jede Handlung und jede Bewegung durchdrungen hatte. Kein Mensch seines Alters konnte ohne den Schatten leben, der sich wie ein grausiger Bandwurm durch seine Gehirnwindungen schlängelte, das Gespenst, das Tag und Nacht spukte, der Lauerer hinter der Ecke, die Gestalt hinter der Tür, der ungesehene Gast bei jedem Festmahl, die nichtidentifizierte Gestalt in jeder Landschaft, ständig präsent, ständig wartend -
Nie mehr!
Denn nun war der Erzfeind besiegt. Und die Menschen starben nicht mehr, sie schritten weiter!
Aber er hatte sogar noch mehr als ein Leben nach dem Tode gewonnen. Er hatte es geschafft, ein ganzes Leben in dieses eine Jahr zu quetschen.
Er war in einem weißen Zimmer mit blendenden Lichtern geboren worden, mit dem bärtigen Gesicht eines Arztes über ihm und einer mütterlichen Krankenschwester, die ihn fütterte, während er beunruhigt dem Geplapper fremder Zungen lauschte. Er hatte sich früh in die Welt hinausgewagt, unschuldig und ungebildet, und er hatte die orientalische Pracht New Yorks bewundert, einem ehrlich dreinblickenden, redegewandten Fremden ermöglicht, ihn nicht nur zum Narren zu halten sondern ihn sogar beinahe zu einer Leiche zu machen, bis ihn klügere Köpfe schließlich aus seiner Misere gerettet und seinen Schmerz gemildert hatten. In seinen großartigen, starken, geheimnisvollen Körper gekleidet, hatte er sich wieder vorgewagt, diesmal schon klüger, und hatte sich als Gleicher unter Gleichen unter Männern bewegt, die mit glitzernden Waffen ihren Gefahren und ihrem Ruhm nachgingen. Und er hatte auch diese Dummheit überlebt und hatte, älter geworden, einen ehrbaren Beruf gewählt. Doch bestimmte dunkle Omen, die schon seine Geburt begleitet hatten, waren schließlich zur Reife gelangt, und er hatte seine Heimat verlassen und war bis ans Ende der Welt geflüchtet. Und doch war es ihm unterwegs gelungen, sich eine Familie anzueignen: eine Familie, die manch eine Leiche im Kleiderschrank verborgen hielt, aber immerhin sein war. In seinen besten Jahren war er in ein Land gekommen, das er liebte, hatte sich eine Frau genommen und hatte auf seiner Hochzeitsreise die Berge von Moorea im flammenden Sonnenuntergang gesehen. Er hatte sich niedergelassen, um seine letzten Monate in Frieden und nützlicher Arbeit zu verbringen und in liebevollen Erinnerungen an die Wunder, die er gesehen hatte. Und so hatte er sie auch verbracht, von allen geehrt und respektiert.
Es war genug. Blaine drehte den Schalter.
»Wo bin ich? Wer bin ich? Was bin ich?«
Keine Antwort.
»Ich erinnere mich. Ich bin Thomas Blaine und bin gerade eben gestorben. Ich befinde mich jetzt an der Schwelle, an einem sehr realen und völlig unbeschreiblichen Ort. Ich spüre die Erde. Und weiter vorne spüre ich das Jenseits.«
»Tom -«
»Marie!«
»Ja.«
»Aber wie konntest du – ich hatte nicht gedacht -«
»Na ja, vielleicht war ich ja in mancher Hinsicht keine besonders gute Ehefrau, Tom. Aber ich war immer treu, und was ich getan habe, das habe ich für dich getan. Ich Hebe dich, Tom. Natürlich wollte ich folgen.«
»Marie, darüber bin ich sehr glücklich.«
»Das freut mich.«
»Wollen wir weiterziehen?«
»Wohin, Tom?«
»Ins Jenseits.«
»Tom, ich habe Angst. Könnten wir nicht erst eine Weile hierbleiben?«
»Die gibt sich schon. Komm mit mir.«
»Oh, Tom! Was, wenn sie uns trennen? Wie wird das sein? Ich glaube nicht, daß es mir sehr gefallen wird. Ich fürchte, daß es schrecklich fremdartig und gespenstisch und schauderhaft sein wird.«
»Marie, mach dir keine Sorgen. Ich bin in zwei Leben schon dreimal Junior-Yachtdesigner gewesen. Das ist mein Schicksal! Das kann doch nicht hier schon enden!«
»Also gut. Ich bin bereit, Tom. Gehen wir.«
ENDE