Hinterher dachte Thomas Blaine über die Art, wie er gestorben war, nach, und er wünschte sich, es wäre interessanter gewesen. Warum konnte ihn nicht der Tod ereilt haben, während er gegen einen Taifun kämpfte, auf der Tigerjagd und beim Sturm auf einem windumtosten Gipfel? Warum war sein Tod etwas so Schlichtes, Alltägliches, Gewöhnliches gewesen?
Aber ein unterhaltsamer Tod, erkannte er, hätte gar nicht zu seinem Charakter gepaßt. Ohne Zweifel war es ihm bestimmt gewesen, auf genau die schnelle, alltägliche, blöde, schmerzlose Art zu sterben, auf die er starb. Sein ganzes Leben mußte sich geformt und entwickelt haben für diesen einen Punkt, den Tod – eine vage Vorahnung in der Kindheit, ein faires Versprechen in der College-Zeit, eine sichere Gewißheit im Alter von zweiunddreißig.
Er war über einen geraden, leeren Highway gefahren, die Scheinwerfer leuchteten vor ihm alles aus, dahinter die endlose vorbeihuschende Dunkelheit. Sein Tacho zeigte knapp über hundert. Er hatte das Gefühl, er könnte nicht schneller als fünfzig sein. Weit weg tauchten Scheinwerfer auf, die ersten seit Stunden.
Blaine kehrte nach einem Wochenende in seinem Blockhaus an der Chesapeake Bay nach New York zurück, wo er manchmal ein wenig von Tahiti geträumt hatte, auch jetzt am Wochenende wieder. Da war das blonde, sonnengebräunte Mädchen gewesen … »Oh, Raiatea, die Berge von Moorea, der frische Handelswind …«, summte er.
Aber zwischen ihm und Tahiti lag ein Kontinent und ein Ozean und noch eine Menge anderer Dinge. Der Gedanke taugte nur für eine halbe Stunde Tagträume, aber nicht, um danach zu handeln. Jetzt ging es zurück nach New York zu seinem Job als Yachtbauer bei der alten, berühmten Firma Mattison & Peters.
Die Scheinwerfer des anderen Wagens kamen näher. Blaine bremste ab bis auf achtzig.
Viele Yachten zu bauen gab es allerdings nicht. Die meiste Arbeit waren Bootsüberholungen.
Und dann passierte es. Er fühlte, wie er die Kontrolle über den Wagen verlor. Er geriet ins Schleudern, kam auf die andere Fahrbahn … der entgegenkommende Wagen … man stirbt schnell …
Er erwachte in einem weißen Zimmer.
»Jetzt ist er am Leben«, sagte jemand.
Blaine öffnete die Augen. Zwei Männer in Weiß standen über ihm. Es schienen Ärzte zu sein. Einer von ihnen war ein kleiner, bärtiger alter Mann. Der andere war ein Mann mit häßlichem Gesicht, Mitte fünfzig.
»Wie heißen Sie?« fuhr ihn der Alte an.
»Thomas Blaine.«
»Alter?«
»Zweiunddreißig. Aber -«
»Familienstand?«
»Ledig. Was -«
»Sehen Sie?« fragte der alte Mann und drehte sich zu seinem rotgesichtigen Kollegen herum. »Geistig gesund, völlig gesund!«
»Ich hätte es nie geglaubt«, meinte der Mann mit dem roten Gesicht.
»Aber ja doch! Das Todestrauma ist viel zu sehr überschätzt worden. Enorm überschätzt, wie mein nächstes Buch beweisen wird.«
»Hm. Aber die Wiedergeburtsdepression -«
»Unsinn!« sagte der Alte mit Bestimmtheit. »Blaine, fühlen Sie sich wohl?«
»Ja. Aber ich wüßte gern -«
»Sehen Sie?« sagte der alte Arzt triumphierend. »Wieder am Leben und geistig gesund. Werden Sie nun vielleicht den Bericht mitunterschreiben?«
»Ich habe wohl keine andere Wahl«, sagte der rotgesichtige Mann. Die beiden Ärzte verließen den Raum.
Blaine sah zu, wie sie hinausgingen und dachte darüber nach, was sie wohl gemeint haben konnten. Eine dicke, mütterlich wirkende Krankenschwester trat an sein Bett. »Wie fühlen Sie sich?« fragte sie.
»Prima«, sagte Blaine. »Aber ich wüßte gern -«
»Tut mir leid«, sagte die Krankenschwester, »aber jetzt dürfen noch keine Fragen gestellt werden. Anweisung des Arztes. Trinken Sie das hier, das wird Sie aufmuntern. Braver Junge! Keine Angst, es wird schon alles wieder werden.«
Sie ging hinaus. Ihre beruhigenden Worte erschreckten ihn. Was meinte sie mit es wird schon alles wieder werden? Das hieß doch, daß irgend etwas nicht in Ordnung war! Was war das, was war nicht in Ordnung? Was machte er hier, was war geschehen?
Der bärtige Arzt kam zurück, von einer jungen Frau begleitet.
»Ist er wieder auf dem Damm, Doktor?« fragte sie.
»Geistig völlig gesund«, sagte der alte Arzt. »Das nenne ich eine gute Spleißung.«
»Dann kann ich also mit dem Interview beginnen?«
»Natürlich. Allerdings kann ich nicht für sein Verhalten garantieren. Das Todestrauma wird zwar viel zu sehr überbewertet, aber es kann doch bewirken, daß -«
»Prima.« Die junge Frau trat zu ihm herüber und beugte sich über ihn. Blaine bemerkte, daß sie sehr hübsch war. Ihre Gesichtszüge waren klar, und ihre Haut sah frisch und strahlend aus. Nur hatte sie ihr langes, schimmerndes Haar zu sehr hinter ihre kleinen Ohren zurückgestrafft, aber sie duftete schwach nach Parfüm. Sie hätte schön sein können, doch die Unbeweglichkeit ihrer Züge und die beherrschte Angespanntheit ihres schlanken Körpers waren ein Makel. Es war schwer, sie sich lachend oder weinend vorzustellen. Es war unmöglich, sie sich im Bett vorzustellen. Es war etwas Fanatisches an ihr, wie bei einer überzeugten Revolutionärin; aber er vermutete, daß die Sache, der sie sich verschrieben hatte, sie selbst war.
»Hallo, Mr. Blaine«, sagte sie. »Ich bin Marie Thorne.«
»Hallo«, sagte Blaine fröhlich.
»Mr. Blaine«, fragte sie, »was glauben Sie wohl, wo sie sich befinden?«
»Sieht aus wie ein Hospital, würde ich sagen -« Er hörte auf zu sprechen. Er hatte gerade ein kleines Mikrophon in ihrer Hand erblickt.
»Ja, was glauben Sie?«
Sie machte eine kleine Handbewegung. Männer traten hervor und rollten schwere Apparate an sein Bett und umstellten es mit ihnen.
»Fahren Sie fort«, sagte Marie Thorne. »Erzählen Sie uns, was Sie vermuten.«
»Zum Teufel damit«, erwiderte Blaine mißmutig und blickte auf die Männer, die die Maschinen um ihn herum aufstellten. »Was ist das hier? Was ist los?«
»Wir versuchen, Ihnen zu helfen«, sagte Marie Thorne. »Wollen Sie nicht dabei mitarbeiten?«
Blaine nickte und wünschte sich, daß sie lächeln würde. Plötzlich fühlte er sich sehr unsicher. War ihm etwas zugestoßen?
»Erinnern Sie sich an den Unfall?« fragte sie.
»Welchen Unfall?«
»Erinnern Sie sich daran, verletzt zu werden?«
Als sein Gedächtnis plötzlich wiederkehrte, mit wirbelnden Lichtern, heulendem Motor, Zusammenstoß und berstendem Brustkorb, erschauerte Blaine.
»Ja. Das Lenkrad ist abgebrochen. Ich rammte es mir durch die Brust. Dann bin ich mit dem Kopf aufgestoßen.«
»Sehen Sie sich Ihre Brust an«, forderte sie ihn leise auf.
Blaine blickte an sich hinab. Sein Brustkasten unter dem weißen Pyjama wies keine Verletzungen auf.
»Unmöglich!« rief er. Seine eigene Stimme schien ihm hohl, entfernt, unwirklich zu klingen. Er nahm die Männer wahr, die sich um sein Bett herum über ihre Maschinen beugten und dabei sprachen, aber sie schienen wie Schatten zu sein, flach und ohne Körper. Ihre dünnen, unwichtigen Stimmen waren wie Fliegen, die gegen ein Fenster ansummten.
»Hübsche Erstreaktion.«
»Sehr hübsch!«
Marie Thorne sagte zu ihm: »Sie sind unverletzt.«
Blaine blickte seinen unverletzten Körper an und dachte an den Unfall. »Ich kann es nicht glauben!« rief er.
»Sauber!«
»Ausgezeichnete Mischung aus Glauben und Ungläubigkeit.«
Marie Thorne sagte: »Ruhe bitte! Fahren Sie fort, Mr. Blaine.«
»Ich erinnere mich an den Unfall«, sagte Blaine. »Ich erinnere mich an den Aufprall, ich erinnere mich – ans Sterben.«
»Hast du das?«
»Mann, klar! Wirklich eine Schau!«
»Irre, Mann! Darauf werden sie voll abfahren!«
Sie sagte: »Ein bißchen weniger Lärm bitte! Mr. Blaine, erinnern Sie sich ans Sterben?«
»Ja, ja, ich bin gestorben!«
»Sein Gesichtsausdruck!«
»Dieser alberne Ausdruck macht alles noch realistischer.«
»Hoffe nur, daß Reilly das auch meint.«
Sie sagte: »Sehen Sie sich einmal sorgfältig Ihren Körper an, Mr. Blaine. Hier ist ein Spiegel. Schauen Sie sich Ihr Gesicht an.«
Blaine sah hin und zitterte wie im Fieber. Er berührte den Spiegel und strich sich dann mit bebenden Fingern über sein Gesicht.
»Das ist nicht mein Gesicht! Wo ist mein Gesicht? Wo haben Sie mein Gesicht und meinen Körper gelassen?«
Er befand sich in einem Alptraum, aus dem er nie mehr erwachen würde. Die flachen Schattenmänner umringten ihn, und ihre Stimmen summten wie Fliegen an einer Fensterscheibe, sie bedienten ihre Pappmaschinen, von schwer zu bestimmender Boshaftigkeit geleitet, und doch auf merkwürdige Weise teilnahmslos, ihn kaum wahrnehmend. Marie Thorne neigte sich mit ihrem hübschen ausdruckslosen Gesicht über ihn und aus ihrem kleinen roten Mund perlten sanfte Alptraumworte.
»Ihr Körper ist tot, Mr. Blaine, er wurde in einem Autounfall getötet. Sie erinnern sich daran, wie er gestorben ist. Aber wir konnten den Teil von Ihnen retten, der eigentlich zählt. Wir haben Ihren Geist gerettet, Mr. Blaine, und Ihnen dafür einen neuen Körper gegeben.«
Blaine öffnete den Mund um zu schreien und schloß ihn wieder. »Das ist unglaublich«, sagte er leise.
Und die Fliegen summten.
»Welch eine Untertreibung!«
»Na klar. Man kann ja auch nicht ewig hektisch bleiben.«
»Hatte erwartet, daß er die Szene noch ein bißchen mehr durchkaut.«
»Falsch gedacht! Die Untertreibung betont sein Dilemma sogar noch mehr.«
»Unter dramaturgischen Gesichtspunkten vielleicht. Aber betrachte die Sache doch mal realistisch. Dieser arme Hund hat gerade festgestellt, daß er in einem Autounfall ums Leben gekommen ist und nun in einem neuen Körper wiedergeboren wurde. Was sagt er aber? Er sagt: ›Das ist unglaublich.‹ Verdammt, er reagiert ja nicht einmal richtig auf den Schock!«
»Tut er wohl! Du projizierst nur!«
»Bitte!« sagte Marie Thorne. »Fahren Sie fort, Mr. Blaine.«
Blaine, der tief in seinen Alptraum gefangen war, nahm die leisen, summenden Stimmen kaum wahr. Er fragte: »Bin ich wirklich gestorben?«
Sie nickte.
»Und bin ich wirklich in einem anderen Körper wiedergeboren worden?«
Sie nickte wieder und wartete ab.
Blaine blickte sie an und betrachtete dann die Schattenmänner an ihren Pappmaschinen. Warum belästigten sie ihn? Warum konnten sie sich nicht irgendeinen anderen Toten aussuchen? Man sollte Leichen nicht dazu zwingen dürfen, Fragen zu beantworten. Der Tod war das uralte Privileg des Menschen, sein Pakt mit dem Leben, seit unvorstellbaren Zeiten, er wurde dem Sklaven ebenso gewährt wie dem Edelmann. Der Tod war ein Trost, war sein Recht. Aber vielleicht war dieses Recht widerrufen worden, vielleicht konnte man nun seinen Verpflichtungen nun nicht mehr einfach dadurch entgehen, daß man starb?
Sie warteten darauf, daß er etwas sagte. Und Blaine fragte sich, ob wenigstens der Irrsinn immer noch seine altangestammten Privilegien behalten hatte. Er könnte mit Leichtigkeit hinüberschlüpfen und es selbst überprüfen.
Aber der Irrsinn wird nicht jedem beschert. Blaines Selbstbeherrschung kehrte zurück. Er blickte zu Marie Thorne hoch.
»Meine Gefühle«, sagte er langsam, »lassen sich nur schwer beschreiben. Ich bin gestorben und muß mich nun mit dieser Tatsache auseinandersetzen. Ich glaube kaum, daß irgendein Mensch jemals wirklich an seinen eigenen Tod glaubt. Tief in seinem Inneren fühlt er sich unsterblich. Der Tod scheint immer nur auf andere zu warten, aber nie auf einen selbst. Es ist beinahe so, als ob -«
»Brechen wir’s jetzt ab. Jetzt wird er analytisch.«
»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte Marie Thorne. »Recht vielen Dank, Mr. Blaine.«
Die Männer, die nun wirklich und weltlich waren, deren unbestimmbare Boshaftigkeit verschwunden war, begannen damit, ihre Geräte wieder fortzurollen.
»Moment mal -«, sagte Blaine.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Wir werden Ihre restlichen Reaktionen später aufnehmen. Wir brauchten jetzt gerade nur den spontanen Teil.«
»Eine Weile lang war’s ja verdammt gut.«
»Ein Sammlerstück!«
»Moment mal!« rief Blaine. »Ich verstehe das nicht. Wo bin ich? Was ist passiert? Wie -«
»Ich werde Ihnen morgen alles erklären«, sagte Marie Thorne. »Es tut mir schrecklich leid, aber ich muß jetzt ganz dringend fort und die Sache für Mr. Reilly redigieren.«
Die Männer und die Geräte waren verschwunden. Marie Thorne lächelte beruhigend und eilte dann fort.
Blaine fühlte sich auf lächerliche Weise den Tränen nah. Er zwinkerte schnell ein wenig, als die dicke, mütterliche Krankenschwester zurückkehrte.
»Trinken Sie das hier«, sagte die Krankenschwester. »Das wird Sie schlafen lassen. Hier, alles runterschlucken, wie ein braver Junge! Entspannen Sie sich, Sie haben einen großen Tag hinter sich, erst sterben, dann wiedergeboren werden und so.«
Zwei große Tränen rollten Blaines Wangen herab.
»Na sowas!« sagte die Krankenschwester. »Jetzt sollten die Kameras mal hier sein! Das sind die echtesten spontanen Tränen, die ich je gesehen habe. Glauben Sie mir, in diesem Krankenhaus habe ich schon manch eine tragische und spontane Szene miterlebt, und ich könnte diesen Rotzlümmeln von der Presse einiges über echte Gefühle erzählen, wenn ich wollte. Was die sich einbilden, alles über die Geheimnisse des menschlichen Herzens zu wissen!«
»Wo bin ich?« fragte Blaine schläfrig. »Wo ist das hier?«
»Sie würden sagen, es ist in der Zukunft«, sagte die Krankenschwester.
»Oh«, sagte Blaine.
Dann war er auch schon eingeschlafen.
Viele Stunden später wachte er ruhig und ausgeruht auf. Er blickte sein weißes Bett an und sah den weißen Raum und erinnerte sich.
Er war bei einem Unfall ums Leben gekommen und in der Zukunft wiedergeboren worden. Da war ein Arzt gewesen, der der Ansicht gewesen war, daß das Todestrauma überbewertet wurde, und Männer, die seine spontanen Reaktionen aufgenommen und für ein Sammlerstück gehalten hatten und ein hübsches Mädchen, dessen hübsche Gesichtszüge einen bedauernswerten Mangel an Gefühlen erkennen ließen.
Blaine gähnte und streckte sich. Tot. Tot im Alter von zweiunddreißig Jahren. Ein Jammer, dachte er. Sein junges Leben war mitten in der Blüte abgeschnitten worden. Blaine war eigentlich ganz in Ordnung gewesen und auch durchaus vielversprechend …
Seine flapsige Einstellung ärgerte ihn selbst. Das war doch wohl keine Reaktionsweise! Er versuchte, sich wieder den Schock zu vergegenwärtigen, unter dem er eigentlich stehen sollte.
Gestern, sagte er sich beharrlich, war ich noch ein Yachtdesigner, der aus Maryland zurückgefahren kam. Heute bin ich ein Mann, der in der Zukunft wiedergeboren wurde. In der Zukunft! Wiedergeboren!
Es hatte keinen Zweck, die Worte zogen nicht. Er hatte sich bereits an den Gedanken gewöhnt. Man gewöhnt sich an alles, dachte er, sogar an den eigenen Tod. Besonders an den eigenen Tod. Wahrscheinlich konnte man einen Menschen zwanzig Jahre lang dreimal am Tag den Kopf abhauen, und er würde sich daran gewöhnen und weinen, wenn man damit aufhörte …
Er wollte diesen Gedankenstrang nicht weiter verfolgen.
Er dachte an Laura. Würde sie ihn beweinen? Würde sie sich besaufen? Oder würde sie sich von der Nachricht nur deprimiert fühlen und ein Beruhigungsmittel schlucken? Was war mit Jane und Miriam? Würden sie überhaupt von seinem Tod erfahren? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht würden sie sich später Gedanken machen, warum er nicht mehr anrief. Genug davon. Das war alles Vergangenheit. Jetzt war er in der Zukunft.
Aber alles, was er bisher von der Zukunft gesehen hatte, war ein weißes Bett und ein weißes Zimmer, Ärzte und Krankenschwestern, Aufnahmeleute und ein hübsches Mädchen. Bisher hatte er noch keinen großen Unterschied zu seiner eigenen Zeit entdecken können. Aber es gab bestimmt Unterschiede.
Er erinnerte sich an Zeitungsartikel und Erzählungen, die er mal gelesen hatte. Heutzutage mochte es vielleicht überall Atomenergie geben, Unterwasserlandwirtschaft. Weltfrieden, internationale Geburtenkontrolle, interplanetare Reisen, freie Liebe, völlige Aufhebung der Rassentrennung, ein Mittel gegen jede Krankheit und eine geplante Gesellschaft, in der die Menschen in tiefen Zügen die Luft der Freiheit atmeten.
So sollte es sein, dachte Blaine. Aber es gab auch unangenehmere Möglichkeiten. Vielleicht hielt ein grimmiger Oligarch die Erde in seinem eisernen Griff, während eine kleine, aufopfernde Untergrundbewegung für die Freiheit kämpfte. Oder vielleicht hatten kleine, gallertartige Lebewesen die menschliche Rasse versklavt. Möglicherweise strich eine neue, fürchterliche Seuche ungehindert durchs Land, oder die vom Wasserstoffbombenkrieg von allen Kulturen beraubte Erde rappelte sich langsam und schmerzvoll wieder hoch, um eine technologische Zivilisation aufzubauen, während menschliche Wolfshorden das Hinterland unsicher machten; oder vielleicht waren Millionen ähnlich unerfreulicher Dinge geschehen.
Und doch zeigte die Menschheit eine historische Fähigkeit, die Extreme der Vernichtung und der Glückseligkeit zu vermeiden, dachte Blaine. Immer wurde das Chaos vorausgesagt, und andauernd wurde Utopia prognostiziert, und beides traf nie ein.
Folglich nahm Blaine an, daß diese Zukunft einige Verbesserungen gegenüber der Vergangenheit aufweisen würde, aber er rechnete auch mit sicheren Verschlechterungen. Einige der alten Probleme wären wohl gelöst, doch dafür würde es bestimmt neue geben. »Kurzum«, sagte Blaine zu sich selbst, »ich erwarte, daß diese Zukunft so sein wird wie alle Zukünfte im Vergleich zu ihren Vergangenheiten. Das ist zwar nicht sonderlich genau, aber schließlich bin ich nicht in der Futurologen- oder Prophetenbranche.«
Seine Gedanken wurden durch Marie Thorne unterbrochen, die forsch ins Zimmer trat.
*
»Guten Morgen«, sagte sie. »Wie fühlen Sie sich?«
»Wie ein neuer Mensch«, antwortete Blaine, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Schön. Würden Sie das hier bitte unterschreiben?« Sie hielt ihm einen Schreiber und ein bedrucktes Stück Papier hin.
»Sie sind ja verdammt effizient«, sagte Blaine. »Was soll ich da unterschreiben?«
»Lesen Sie es durch«, sagte sie. »Es ist eine Erklärung, die uns von allen rechtlichen Haftungsansprüchen wegen Ihrer Lebensrettung enthebt.«
»Haben Sie denn mein Leben gerettet?«
»Natürlich. Was glauben Sie denn, wie Sie sonst hierher gekommen wären?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, gab Blaine zu.
»Wir haben Sie gerettet. Aber es verstößt gegen das Gesetz, das ohne die schriftliche Einwilligung des potentiellen Opfers zu tun. Die Anwälte der Rex Corporation waren jedoch nicht dazu in der Lage, Ihre Einwilligung vorab einzuholen. Deswegen möchten wir uns jetzt ganz gerne schützen.«
»Was ist die Rex Corporation?«
Sie blickte verärgert drein. »Sind Sie bisher von niemandem unterrichtet worden? Sie befinden sich hier in der Zentrale von Rex. Unsere Firma ist heute so bekannt wie es Flyier-Thiess zu Ihrer Zeit gewesen ist.«
»Wer ist Flyier-Thiess?«
»Nein? Dann vielleicht Ford?«
»Ford, ja. Die Rex Corporation ist also bekannt wie Ford. Was macht sie denn?«
»Sie stellt Rex-Antriebssysteme her«, sagte sie ihm. »Die dazu verwendet werden, Raumschiffe anzutreiben, Reinkarnationsmaschinen, Jenseitsfahrzeuge und so weiter. Es war mit einem Rex-Antriebssystem, daß man Sie sofort nach Ihrem Tod aus dem Wagen gerissen und in die Zukunft gebracht hat.«
»Zeitreisen«, sagte Blaine. »Aber wie funktioniert sowas?«
»Das ist schwer zu erklären«, erklärte sie. »Sie haben nicht das wissenschaftliche Hintergrundwissen dafür. Aber ich will’s versuchen. Sie wissen, daß Raum und Zeit das gleiche sind, das eine ist nur ein Aspekt des anderen.«
»Ach ja?«
»Ja. Wie Masse und Energie. In Ihrem Zeitalter wußten die Wissenschaftler, daß man Masse und Energie vertauschen kann. Sie waren in der Lage, die Fissions-Fusions-Vorgänge der Sterne zu berechnen. Aber sie konnten diese Vorgänge nicht unmittelbar nachahmen, da sie dafür riesige Mengen Energie brauchten. Erst als sie das Wissen und die Energie hatten, konnten sie Atome spalten und verschmelzen, um neue zu schaffen.«
»Das weiß ich«, sagte Blaine. »Was ist mit den Zeitreisen?«
»Die sind nach einem ähnlichen Muster entwickelt worden«, sagte sie. »Wir wußten schon lange, daß Raum und Zeit nur zwei verschiedene Aspekte derselben Sache waren. Wir wußten, daß man entweder den Raum oder die Zeit mit einem Energieverfahren in Grundbausteine zerlegen und verwandeln konnte. Wir konnten die Zeitkrümmung am Rand einer Supernova messen, und wir konnten beobachten, wie ein Stern vom Typ Wolf-Rayet verschwand, wenn sich seine Zeitkonversionsgeschwindigkeit beschleunigte. Aber wir mußten erst noch einiges mehr entdecken. Und wir brauchten eine Energiequelle, die um ganze Exponentialfunktionen größer war als die, mit der Ihnen die Kernfusion ermöglicht wurde. Als wir das alles zur Verfügung hatten, konnten wir Zeiteinheiten gegen Raumeinheiten austauschen – das heißt also, Zeitentfernungen gegen Raumentfernungen. Wir konnten dann, sagen wir, hundert Jahre in der Zeit reisen anstatt die vergleichbare Strecke von hundert Parseks.«
»Ich verstehe, jedenfalls ein wenig«, sagte Blaine. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, es mir noch einmal ganz langsam zu erklären?«
»Später, später«, sagte sie. »Würden Sie bitte die Verzichtserklärung unterzeichnen?«
Das Formular besagte, daß er, Thomas Blaine, darauf verzichtete, die Rex Corporation wegen ihrer unbefugten Rettung seines Lebens im Jahre 1958 und wegen des Transports in einen Empfängerkörper im Jahre 2110 zu verklagen.
Blaine unterschrieb. »Und jetzt«, sagte er, »würde ich gerne einmal wissen -«
Er hörte auf zu sprechen. Ein Teenager war mit einem großen Poster ins Zimmer eingetreten. »Entschuldigen Sie, Miss Thorne«, sagte er, »aber die Grafikabteilung möchte wissen, ob das so in Ordnung ist.« Der Junge hielt das Plakat hoch. Es zeigte einen Autounfall im Augenblick des Zusammenstoßes. Aus dem Himmel langte eine gigantische stilisierte Hand hinab und zog den Fahrer aus dem brennenden Wrack. Der Text dazu lautete: REX MACHT’S MÖGLICH!
»Nicht schlecht«, meinte Marie Thorne. »Oh, Mrs. Vaness? Was halten Sie von diesem Poster?«
Es waren nun ein Dutzend Leute in seinem Zimmer, und es strömten immer noch mehr herein. Sie stellten sich um Marie Thorne und ignorierten Blaine völlig. Ein Mann, der sich angeregt mit einer grauhaarigen Frau unterhielt, setzte sich auf seine Bettkante. Da riß Blaines Geduldsfaden.
»Aufhören!« schrie Blaine. »Ich habe diese verdammte Hektik satt! Was ist los mit euch, könnt ihr euch nicht wie menschliche Wesen benehmen? Jetzt haut aber ab!«
»O weh!« seufzte Marie Thorne und schloß die Augen. »Er mußte ja temperamentvoll sein. Ed, sprechen Sie mit ihm.«
Ein behäbiger, schwitzender Mann in mittleren Jahren trat an Blaines Bettkante. »Mr. Blaine«, sagte er beschwörend, »haben wir Ihnen nicht das Leben gerettet?«
»Ich schätze schon«, meinte Blaine mißmutig.
»Wir hätten das nicht zu tun brauchen, wissen Sie. Es hat eine Menge Zeit, Geld und Mühe gekostet, Ihr Leben zu retten. Aber wir haben es getan. Alles, was wir als Gegenleistung wollen, ist der Werbeeffekt.«
»Den Werbeeffekt?«
»Natürlich, Sie sind schließlich von einem Rex-Antriebssystem gerettet worden.«
Blaine nickte und verstand nun, warum seine Wiedergeburt in der Zukunft von allen in seiner Umgebung so ungerührt hingenommen wurde. Die hatten viel Zeit, Geld und Mühe darauf verwandt, es zu bewerkstelligen, hatten es zweifellos aus jeder möglichen Perspektive durchdiskutiert und waren nun gewissenhaft dabei, es auszuschlachten.
»Ich verstehe«, sagte Blaine. »Sie haben mich nur gerettet, um einen Werbegag zu haben, nicht wahr?«
Ed sah unglücklich drein. »Warum soll man es so formulieren? Ihr Leben mußte gerettet werden. Unsere Verkaufskampagne mußte einen neuen Impuls bekommen. Wir haben uns beider Bedürfnisse angenommen, zu Ihrem Wohle und zum Vorteil der Rex Corporation. Vielleicht waren unsere Motive nicht völlig uneigennützig, aber würden Sie es vorziehen, lieber tot zu sein?«
Blaine schüttelte den Kopf.
»Natürlich nicht«, stimmte Ed ihm zu. »Ihr Leben ist Ihnen wertvoll. Besser heute lebendig als gestern tot, eh? Schön. Warum erweisen Sie uns dann nicht ein bißchen Dankbarkeit? Warum unterstützen Sie uns nicht ein bißchen?«
»Ich würde es ja gerne tun«, versicherte Blaine. »Aber Sie gehen mir ein wenig zu schnell vor, da komme ich nicht mit.«
»Ich weiß«, sagte Ed, »und ich habe volles Verständnis für Sie. Aber Sie wissen doch, wie das in der Werbebranche ist, Mr. Blaine. Wir müssen Ihre Rettung jetzt sofort ausschlachten, das Eisen schmieden, solange es noch heiß ist. Sonst nützt es uns nichts mehr.«
»Ich weiß es schon zu schätzen, daß Sie mir das Leben gerettet haben«, sagte Blaine, »auch wenn es nicht völlig uneigennützig war. Ich werde Ihnen gern behilflich sein.«
»Danke, Mr. Blaine«, sagte Ed. »Und bitte: Stellen Sie erst einmal keine Fragen mehr! Sie werden schon im Laufe der Zeit alles verstehen. Miss Thorne, Sie haben freie Fahrt.«
»Danke, Ed«, sagte Marie Thorne. »Also, alles mal herhören! Wir haben vorläufig die Genehmigung von Mr. Reilly, fortzufahren, also werden wir weitermachen wie geplant. Billy, Sie erstellen eine Presseerklärung für die Morgenzeitungen. So eine Art Story à la ›Der Mann aus der Vergangenheit‹ oder so.«
»Ist schon mal gemacht worden.«
»Na und? Ist doch immer wieder neu, oder etwa nicht?«
»Ich schätze, einmal mehr wird auch nicht schaden. Also gut. Ein Mann aus 1988 wurde ergriffen -«
»Entschuldigen Sie«, sagte Blaine, »1958«.
»Also aus dem Jahre 1958, würde aus seinem Autowrack geholt, sobald er gestorben war, und in einen Wirtskörper verpflanzt. Kurzer Abschnitt über den Wirtskörper. Dann erwähnen wir, daß die Rex-Antriebssysteme diese Rettung über einen Zeitraum von einhundertundzweiundfünfzig Jahren hinweg vollbracht haben. Wir erzählen ihnen, wie viele Ergs an Energie wir dabei verbraucht haben oder was immer es auch sonst sein mag, was wir dabei verbrauchen. Ich werde mich wegen der Fachausdrücke an einen Ingenieur wenden. O.K.?«
»Weisen Sie darauf hin, daß kein anderes Antriebssystem das hätte fertigbringen können«, sagte Joe. »Weisen Sie auf das neue Kalibrierungssystem hin, durch das dies ermöglicht wurde.«
»Das werden sie aber nicht alles drucken.«
»Vielleicht doch«, sagte Marie Thorne. »So, Mrs. Vaness. Wir brauchen einen Artikel über Blaines Empfindungen, als ihn die Rex-Antriebssysteme dem Tod entrissen haben. Machen Sie’s schön rührend. Schildern Sie seine ersten Gefühle in der erstaunlichen Welt der Zukunft. Ungefähr fünftausend Worte lang. Wir werden schon dafür sorgen, daß er gedruckt wird.«
Die grauhaarige Mrs. Vaness nickte. »Kann ich ihn jetzt interviewen?«
»Keine Zeit mehr«, sagte Miss Thorne. »Schreiben Sie es selbst zusammen. Erstaunt, verängstigt, aufgeregt, überrascht über all die Veränderungen, die seit seiner Zeit stattgefunden haben. Der wissenschaftliche Fortschritt. Möchte auf den Mars reisen. Mag die neue Mode nicht. Glaubt, daß die Leute in seiner Zeit glücklicher waren ohne die ganze Technik und mit weniger Hektik. Blaine ist schon einverstanden. Nicht wahr, Blaine?«
Blaine nickte stumm.
»Schön. Gestern abend haben wir seine Spontanreaktionen aufgenommen. Mike, Sie und die Jungs machen daraus eine Fünfzehn-Minuten-Spule, die in den Sensoriumsläden verkauft werden soll. Machen Sie daraus ein echtes Sammlerstück für den Snob Appeal. Aber fangen Sie mit einer kurzen, würdevollen technischen Erklärung an, wie Rex die Rettung durchgeführt hat.«
»Alles klar«, sagte Mike.
»Schön. Mr. Brice, Sie leiern ein paar Solido-Shows an, in denen Blaine auftreten kann. Er wird seine Reaktionen auf unsere Zeit wiedergeben, wie er sich fühlt, wie sie im Vergleich zu seiner Zeit wirkt. Sorgen Sie dafür, daß Rex erwähnt wird.«
»Aber ich weiß doch überhaupt nichts über diese Zeit!« warf Blaine ein.
»Das werden wir schon ändern«, versicherte Marie Thorne schnell. »Gut, ich glaube, das reicht für den Anfang. Abflug! Ich werde Mr. Reilly zeigen, was wir bisher alles geplant haben.«
Während die anderen das Zimmer verließen, wandte sie sich an Blaine.
»Vielleicht wirkt das auf Sie wie eine schäbige Behandlung. Aber Geschäft bleibt Geschäft, egal, in welchem Zeitalter man lebt. Morgen werden Sie ein berühmter Mann sein, und wahrscheinlich auch ein reicher. Ich glaube, daß Sie unter diesen Umständen keinen Grund haben, sich zu beklagen.«
Sie ging fort. Blaine sah ihr nach. Schlank und selbstbewußt. Er fragte sich, was in dieser Zeit wohl die Strafe dafür sein mochte, wenn man eine Frau schlug.
Die Krankenschwester brachte ihm sein Mittagessen auf einem Tablett. Der bärtige Arzt trat ein, untersuchte ihn und erklärte, daß er völlig gesund sei. Er sagte, daß er nicht das kleinste Anzeichen einer Wiedergeburtsdepression finden könne, und daß das Todestrauma ganz offensichtlich überbewertet würde. Es gäbe keinen Grund, weshalb Blaine nicht aufstehen und umherwandeln könne.
Die Krankenschwester kehrte mit Kleidung zurück, einem blauen Hemd, braunen Hosen und weichen, runden Schuhen. Dieser Aufzug sei, so versicherte sie ihm, durchaus unauffällig.
Blaine aß mit gutem Appetit. Bevor er sich jedoch anzog, untersuchte er seinen Körper in dem großen, mannshohen Spiegel im Badezimmer. Es war das erste Mal, daß er die Möglichkeit hatte, sich sorgfältig und genau zu betrachten.
Sein früherer Körper war groß und hager gewesen, mit glattem schwarzen Haar und einem gutgelaunten, jungenhaften Gesicht. In den zweiunddreißig Jahren hatte er sich an diesen schnellen, geschickten, leichtgängigen Körper gewöhnt. Er hatte würdevoll seine Konditionsschwächen hingenommen, seine seltenen Erkrankungen, und hatte sie zu Tugenden hochstilisiert, zu einmaligen Eigenschaften seiner Persönlichkeit, die in ihm wohnten. Denn weitaus mehr als die Fähigkeiten waren es die Beschränktheiten gewesen, die das Wesen seines alten Körpers auszumachen schienen.
Er hatte seinen Körper gemocht. Sein neuer Körper war ein Schock.
Er war unterdurchschnittlich klein, stark muskulös, hatte einen faßgroßen Brustkasten und breite Schultern. Er fühlte sich oberlastig an, denn die Beine schienen für den herkulischen Torso ein wenig zu kurz geraten zu sein. Seine Hände waren groß und schwielig. Blaine machte eine Faust und blickte sie respektvoll an. Wahrscheinlich konnte er mit einem Hieb einen Ochsen niederstrecken, sofern sich ein Ochse auftreiben ließ.
Sein Gesicht war eckig und grobschlächtig, seine Backenknochen standen hervor, seine Kiefer waren kantig, und er hatte eine römische Nase. Sein Haar war blond und gelockt. Seine Augen waren stahlblau. Es war ein gut aussehendes, etwas brutal wirkendes Gesicht.
»Es gefällt mir nicht«, versicherte Blaine von Herzen. »Und ich hasse blonde Locken!«
Sein neuer Körper besaß beachtenswerte Kraft, aber er hatte körperliche Kraft nie gemocht. Der Körper wirkte unbeholfen, ungrazil, schwer zu handhaben. Es war die Sorte Körper, die immer gegen Stühle stieß und auf anderer Leute Zehen trampelte, die Hände immer zu fest drückte, zu laut redete und enorm schwitzte. Kleidung würde diesen Körper immer einengen und schlecht an ihm sitzen. Ein Körper, der andauernd Bewegung brauchen würde. Vielleicht würde er sogar Diät leben müssen; seine neue Physis machte den Eindruck, als würde sie leicht verfetten.
»Körperkraft ist ja ganz in Ordnung«, meinte Blaine zu sich selbst, »sofern man dafür Verwendung hat. Sonst ist sie nur lästig und lenkt einen ab, wie Flügel an einem Dodo.«
Der Körper war schon übel, aber das Gesicht war noch schlimmer. Blaine hatte noch nie kräftige, harte, grobschlächtige Gesichter gemocht. Für Erdarbeiter, Unteroffiziere, Dschungelforscher und so weiter mochten sie ja nützlich sein. Aber nicht für einen Mann, der kultivierte Gesellschaft schätzte. Solch ein Gesicht war ganz offensichtlich unfähig zu subtilerem Ausdruck. Alle Feinheiten, das ganze Zusammenspiel von Linien und Flächen wären vergebliche Liebesmüh. Mit diesem Gesicht konnte man grinsen oder wütend dreinblicken, feinere Gefühle konnte man damit nicht ausdrücken.
Er versuchte, den Spiegel jungenhaft anzulächeln. Das Ergebnis war ein Satyrgrinsen.
»Reingelegt hat man mich!« sagte Blaine voller Bitterkeit.
Es war eindeutig, daß die Qualitäten seines Geistes und die seines Körpers im Widerspruch zueinander standen. Eine Zusammenarbeit zwischen den beiden schien unmöglich. Natürlich könnte seine Persönlichkeit seinen Körper umformen; aber auf der anderen Seite konnte sein Körper auch gewisse Forderungen an seine Persönlichkeit stellen.
»Wir werden ja sehen«, sagte Blaine zu seinem mächtigen Körper, »wir werden ja sehen, wer der Boß ist!«
An seiner linken Schulter befand sich eine lange, gezackte Narbe. Er fragte sich, woher der Körper wohl eine solch ernste Wunde bekommen haben mochte. Dann überlegte er, wer denn eigentlich der wirkliche Besitzer des Körpers gewesen sein könnte. Konnte es sein, daß er immer noch im Gehirn lauerte und darauf wartete, irgendwann einmal die Kontrolle an sich reißen zu können?
Es war sinnlos zu spekulieren. Vielleicht würde er später einmal herausbekommen. Er blickte sich ein letztes Mal im Spiegel an. Was er sah, mochte er gar nicht. Er befürchtete, daß dies so bleiben könne. »Ja ja«, sagte er schließlich, »man frißt eben, was auf den Tisch kommt. Tote können nicht wählerisch sein.«
Das war alles, was er zur Zeit sagen konnte. Blaine wandte sich von dem Spiegel ab und begann, sich anzuziehen.
*
Spät am Nachmittag kam Marie Thorne ins Zimmer. Ohne Voransprache sagte sie nur: »Alles abgeblasen.«
»Abgeblasen?«
»Vorbei, fertig, erledigt!« Sie blickte ihn wütend an und begann, im weißen Zimmer auf und ab zu schreiten. »Die ganze Werbekampagne ist abgeblasen worden.«
Blaine starrte sie an. Die Nachricht war schon interessant, aber noch interessanter war, daß es tatsächlich Anzeichen von Gefühlsregung in Miss Thornes Gesicht gab. Sie war so verdammt selbstbeherrscht gewesen, so vollkommen und grotesk geschäftlich in ihrem Auftreten. Nun war ihr Gesicht gerötet, und ihre schmalen Lippen verzogen sich voller Bitterkeit.
»Volle zwei Jahre lang habe ich an dieser Idee gearbeitet«, schimpfte sie. »Die Firma hat, ich weiß nicht wie viele, Millionen ausgegeben, um Sie hierher zu bringen. Alles ist bereit, alles kann losgehen und dieser verdammte alte Mann sagt: ›Blasen wir die ganze Sache ab!‹«
Sie ist schön, dachte Blaine, aber ihre Schönheit macht ihr keine Freude. Es ist ein geschäftliches Zubehör, wie Haarfrisuren oder Trinkfestigkeit, es wird je nach Bedarf gebraucht und auch mißbraucht. Er stellte sich vor, daß viel zu viele Hände nach Marie Thorne ausgestreckt worden waren. Sie hatte nie eine davon angenommen. Und als die gierigen Hände weiterhin nach ihr gegriffen hatten, da hatte sie Verachtung gelernt, dann Kälte und schließlich Selbsthaß.
Ist ja ein bißchen weit her geholt, dachte Blaine, aber ich bleibe mal dabei, bis sich eine bessere Diagnose ergibt.
»Dieser verdammte, dämliche alte Mann!« flüsterte Marie Thorne gerade.
»Was für ein alter Mann?«
»Reilly, unser glorreicher Präsident.«
»Er hat sich gegen die Werbeaktion entschlossen?«
»Er will, daß die ganze Sache völlig kaschiert wird. Herrje, das ist einfach zu viel! Zwei Jahre lang!«
»Aber warum denn?« fragte Blaine.
Marie Thorne schüttelte erschöpft den Kopf. »Aus zwei Gründen, die beide genauso dämlich sind. Erstens wegen rechtlicher Probleme. Ich habe ihm gesagt, daß Sie die Verzichtserklärung unterschrieben haben und daß die Rechtsanwälte die ganze Sache unter Kontrolle haben, aber er hat Muffen. Er steht kurz vor der Reinkarnation, und er will keinen eventuellen Ärger mit den Behörden. Können Sie sich sowas vorstellen? Ein alter Mann, der sich vor Angst in die Hose macht, soll Rex leiten? Zweitens hat er mit seinem blöden verkalkten alten Großvater geredet, und dem gefällt die Sache nicht. Und das hat den Ausschlag gegeben. Nach zwei Jahren Arbeit!«
»Einen Augenblick mal«, sagte Blaine. »Haben Sie gesagt vor seiner Reinkarnation?«
»Ja. Reilly will es versuchen. Ich persönlich bin der Ansicht, daß er besser damit beraten wäre, zu sterben und die ganze Sache hinter sich zu bringen.«
Es war eine bittere Erklärung, aber Marie Thorne klang nicht bitter, während sie sprach. Sie hörte sich so an, als würde sie eine ganz normale Tatsache von sich geben.
Blaine fragte: »Sie meinen, daß er besser sterben sollte, als zu versuchen zu reinkarnieren?«
»Ich an seiner Stelle würde das vorziehen. Aber ich hatte ja ganz vergessen, daß Sie noch nicht aufgeklärt worden sind. Ich wünschte nur, daß er sich früher dazu entschlossen hätte. Daß dieser senile alte Großvater sich jetzt auch noch einmischen muß -«
»Warum hat Reilly denn seinen Großvater nicht früher gefragt?« fragte Blaine.
»Hat er ja. Aber sein Großvater wollte nicht früher reden.«
»Ich verstehe. Wie alt ist er denn?«
»Reillys Großvater? Als er gestorben ist, war er einundachtzig.«
»Was?«
»Ja, er ist vor ungefähr sechzig Jahren gestorben. Reillys Vater ist auch tot, aber der will überhaupt nicht reden. Das ist eigentlich ein Jammer, denn der hatte wenigstens Sinn fürs Geschäftliche. Warum starren Sie mich denn so an, Blaine? Ach herrje, ich habe ja vergessen, daß Sie gar nicht wissen können, worum es geht. Eigentlich ist alles ganz einfach.«
Einen Augenblick lang stand sie brütend da. Dann nickte sie entschlossen, drehte sich auf dem Absatz um und schritt zur Tür.
»Wo gehen Sie hin?« fragte Blaine.
»Zu Reilly, um ihm zu sagen, was ich von ihm halte! Das kann er mir nicht antun! Er hat’s mir versprochen.«
Abrupt gewann sie ihre Selbstbeherrschung wieder.
»Was Sie angeht, Blaine, so werden wir Sie hier wohl nicht länger brauchen. Sie haben Ihr Leben und einen adäquaten Körper, in dem Sie es leben können. Ich vermute, daß Sie jetzt wohl jederzeit gehen können, wenn Sie möchten.«
»Danke«, sagte Blaine, während sie aus dem Zimmer schritt.
*
In seine braunen Hosen und sein blaues Hemd gekleidet verließ Blaine die Station und schritt einen langen Korridor entlang, bis er an eine Tür kam. Neben der Tür stand ein uniformierter Wächter.
»Entschuldigen Sie«, sagte Blaine, »führt diese Tür hier nach draußen?«
»Häh?«
»Führt diese Tür aus dem Rex-Gebäude hinaus?«
»Ja, natürlich. Nach draußen und auf die Straße.«
»Danke.« Blaine zögerte. Er wünschte sich die Einweisung, die ihm versprochen worden war, die er jedoch nie erhalten hatte. Er wollte den Wächter fragen, wie New York jetzt war, was man für Sitten hatte und was für Bestimmungen, was er sich ansehen und um was er einen Bogen machen sollte. Aber der Wächter hatte offenbar noch nicht von dem ›Mann aus der Vergangenheit‹ gehört. Er blickte Blaine mit Stielaugen an.
Blaine mochte den Gedanken daran, so ohne Geld und Wissen und Freunde hinaus ins New York des Jahres 2110 zu treten, überhaupt nicht, ohne einen Job und eine Bleibe und in einen unbequemen neuen Körper gezwängt. Aber da ließ sich wohl nichts machen. Schließlich hatte der Stolz auch seinen Wert. Er würde sich lieber auf eigene Faust auf seinen Weg machen, als die porzellanharte Miss Thorne um Hilfe zu bitten oder sonst jemanden von Rex.
»Brauche ich einen Paß, um nach draußen zu können?« fragte er hoffnungsfroh.
»Nö. Nur um wieder reinzukommen.« Der Wächter blickte ihn mißtrauisch an. »Sagen Sie mal, was ist denn mit Ihnen los?«
»Nichts«, sagte Blaine. Er öffnete die Tür und konnte es immer noch nicht glauben, daß man ihn so ohne weiteres laufenlassen würde. Aber warum eigentlich nicht? Er befand sich in einer Welt, in der sich Leute mit ihren toten Großvätern unterhielten, wo es Raumschiffe und Jenseitsfahrzeuge gab, wo man einen Menschen aus der Vergangenheit hervorzerrte für einen Werbegag, den man dann einfach fallen ließ, wenn es dem toten Opa nicht paßte.
Die Tür ging zu. Hinter ihm befand sich die große graue Masse des Rex-Gebäudes. Vor ihm lag New York.
Auf den ersten Blick sah die Stadt aus wie ein surrealistisches Bagdad. Er sah quadratische Paläste aus weißen und blauen Kacheln, schlanke rote Minarette und unregelmäßige Gebäude mit flammenden chinesischen Dächern und gedrechselten Zwiebeltürmen. Es sah so aus, als habe sich eine Mode orientalischer Architektur über die ganze Stadt ausgebreitet. Blaine konnte kaum glauben, daß er in New York sein sollte. In Bombay vielleicht, in Moskau oder sogar Los Angeles, aber nicht in New York. Erleichtert nahm er Wolkenkratzer wahr, die sich, einfach und gerade, von den geschwungenen asiatischen Formen abhoben. Sie sahen aus wie die einsamen Wächter des New York, das er einmal gekannt hatte.
Die Straßen waren voller Miniaturfahrzeuge. Blaine erblickte Motorräder und -roller, Wagen, die nicht größer waren als Porsches, Laster von der Größe von Buicks und nichts, was größer gewesen wäre. Er fragte sich, ob dies wohl New Yorks Antwort auf Verkehrsstaus und Luftverschmutzung sein mochte. Wenn dies der Fall sein sollte, dann hatte sie jedenfalls nichts genützt.
Der größte Teil des Verkehrs lief oben ab. Es gab Propeller- und Düsenfahrzeuge, Luftlaster und Einmannflitzer, Helikoptertaxis und schwebende Busse, auf denen »Raumhafen, 2. Ebene« oder »Express nach Montauk« stand. Glitzernde Flecken markierten die senkrechten und waagerechten Bahnen, in denen sich der Verkehr bewegte, staute, abbog, hob und senkte. Blitzende rote, grüne, gelbe und blaue Lichter schienen den Verkehrsfluß zu regulieren. Es gab Regeln und Vorschriften, doch für Blaines ungeübtes Auge sah alles nach einem riesigen, hektischen Chaos aus.
Fünfzig Fuß über ihm befand sich eine weitere Einkaufsebene. Wie kamen die Leute dort hinauf? Und wenn man schon dabei war, wie konnte überhaupt jemand in dieser lärmenden, grellen, überfüllten Maschine leben, ohne verrückt zu werden? Die Menschendichte war überwältigend. Er hatte das Gefühl, in einem Fleischmeer zu ertrinken. Wie viele Einwohner lebten wohl in dieser Superstadt? Fünfzehn Millionen? Zwanzig Millionen? Sie ließ das New York von 1958 wie ein ländliches Dorf erscheinen. Er mußte stehenbleiben und seine Eindrücke sammeln. Aber die Gehsteige waren überfüllt, und wenn er langsamer wurde, schubsten ihn die Leute und fluchten. Weit und breit waren keine Parks und Bänke zu sehen.
Er bemerkte eine Gruppe von Leuten, die in einer Schlange standen und stellte sich hinten an. Langsam bewegte die Menschenschlange sich voran. Blaine schlurfte mit. Sein Kopf dröhnte, und er versuchte mühsam, normal zu atmen.
Einige Augenblicke später hatte er sich wieder in der Gewalt und empfand etwas mehr Respekt für seinen starken, phlegmatischen Körper. Vielleicht brauchte ein Mann aus der Vergangenheit genau solch einen Fleischumschlag, wenn er der Zukunft mit Gelassenheit begegnen wollte. Ein träges Nervensystem hatte auch seine Vorteile.
Still bewegte sich die Schlange vorwärts. Blaine stellte fest, daß die Männer und Frauen, die hier standen, ärmlich gekleidet, ungekämmt und ungewaschen waren. Sie alle sahen stumpf und verzweifelt aus.
Befand er sich an einer Essensausgabe?
Er klopfte dem Mann vor ihm auf die Schulter. »Entschuldigung«, sagte er, »wohin führt diese Schlange?«
Der Mann drehte seinen Kopf herum und starrte Blaine mit rotunterlaufenen Augen an. »Zu den Selbstmordkabinen«, sagte er und ruckte mit seinem Kinn in die Richtung des Anfangs der Schlange.
Blaine bedankte sich und trat schnellstens wieder aus der Schlange. Was für ein verdammt mieses Omen, um seinen ersten echten Tag in der Zukunft zu beginnen! Selbstmordkabinen! Na ja, jedenfalls würde er niemals freiwillig in eine gehen, da war er sich völlig sicher. So schlimm konnte es ja doch eigentlich wohl nicht werden.
Aber was war das für eine Welt, in der es Selbstmordkabinen gab? Und zwar kostenlose, wenn man sich die Kundschaft so ansah … Er würde vorsichtig damit sein müssen, was er an kostenlosen Geschenken in dieser Welt annahm.
*
Blaine schritt weiter und starrte alles an. Langsam gewöhnte er sich an die grelle, hektische, lärmende, überfüllte Stadt. Er kam an ein riesiges Gebäude, das wie eine gotische Burg gebaut war und von dessen Zinnen Wimpel flatterten. Auf seinem höchsten Turm befand sich ein helles grünes Licht, das vor der untergehenden, blasser werdenden Nachmittagssonne gut zu erkennen war.
Es sah wie ein bedeutendes Landschaftsmerkmal aus. Blaine starrte es an, dann sah er einen Mann, der gegen das Gebäude lehnte und sich eine dünne Zigarre anzündete. Er schien der einzige Mensch in New York zu sein, der nicht voller Eile dahinfetzte. Blaine ging auf ihn zu.
»Entschuldigen Sie mich, Sir«, sagte er, »was ist das für ein Gebäude hier?«
»Das hier«, sagte der Mann, »ist die Zentrale der Unsterblichkeitsgesellschaft.« Es war ein großer, sehr dünner Mann mit einem langen, traurigen, vom Wetter gegerbten Gesicht. Seine Augen waren etwas geschlitzt und blickten einen geradeheraus an. Seine Kleidung hing unelegant an ihm herunter als wäre er es eher gewohnt, Jeans zu tragen als maßgeschneiderte Hosen. Blaine dachte, daß er wie ein Mann aus den Weststaaten aussah.
»Beeindruckend«, sagte Blaine und blickte an der gotischen Burg hoch.
»Protzig«, meinte der Mann. »Sie sind wohl nicht aus der Stadt, wie?«
Blaine schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Aber ehrlich gesagt, Fremder, ich hätte gedacht, daß jeder auf der Erde und auf allen Planeten das Jenseits-Gebäude, wie es auch heißt, kennen würde. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie frage, woher Sie kommen?«
»Aber nein«, sagte Blaine. Er fragte sich, ob er sich als Mann aus der Vergangenheit vorstellen sollte. Nein, das war wohl kaum etwas, was man einem völlig fremden Menschen sagen konnte. Der Mann konnte ein Bulle sein. Es wäre wohl besser, wenn er von anderswo käme.
»Sehen Sie«, sagte Blaine, »ich bin nämlich aus – Brasilien.«
»Ach ja?«
»Ja, aus dem Oberen Amazonasgebiet. Meine Eltern sind dort hingegangen, als ich noch ein Kind war. Gummiplantage. Paps ist gerade gestorben, da dachte ich mir, daß ich mir vielleicht mal New York anschauen könnte.«
»Hab gehört, daß es da unten noch ziemlich wild sein soll«, erwiderte der Mann.
Blaine nickte. Er war erleichtert, daß man seine Geschichte nicht anzweifelte. Aber vielleicht war es gar keine so ungewöhnliche Geschichte in dieser Zeit. Auf jeden Fall hatte er jetzt ein Zuhause.
»Ich komme aus Mexican Hat, Arizona«, sagte der Mann. »Orc heiße ich, Carl Orc. Blaine? Nett, Sie kennenzulernen, Blaine. Wissen Sie, ich bin hierher gekommen, um mir mal dieses New York anzusehen und um mal nachzuprüfen, weshalb die immer damit so angeben. Es ist ja schon ganz interessant, aber wenn Sie mich fragen, sind die Leute hier für meinen Geschmack ein bißchen zu hektisch und laut, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich will ja gar nicht behaupten, daß wir zu Hause immer stocksteif und stumm rumsitzen würden, tun wir gar nicht. Aber diese Leute hier zappeln rum wie die Affen auf dem Schleifstein.«
»Ich weiß, was Sie meinen«, bestätigte Blaine.
Eine Weile lang sprachen sie über das zappelige, frenetische, zwangsneurotische Wesen der New Yorker und verglichen es mit dem gesunden, ländlichen Leben in Mexican Hat und am Oberen Amazonas. Diese Leute hier, darüber waren sie sich sofort einig, wußten nicht, was Leben heißt.
»Blaine«, sagte Orc, »ich bin froh, daß ich Sie getroffen habe. Wie wär’s mit einem Drink?«
»Prima«, meinte Blaine. Ein Mann wie Carl Orc konnte ihm vielleicht dabei behilflich sein, sich von seinen dringendsten Schwierigkeiten zu befreien. Vielleicht konnte er einen Job in Mexican Hat bekommen. Er konnte sich auf Brasilien und auf Gedächtnisschwund berufen, um sein Unwissen über das heutige Leben zu erklären.
Dann fiel ihm ein, daß er kein Geld besaß.
Er fing an, eine Erklärung hervorzustammeln, wie er versehentlich seine Brieftasche im Hotel vergessen hätte. Doch Orc schnitt ihm sofort das Wort ab.
»Hören Sie, Blaine«, sagte er und fixierte ihn mit seinen enggeschlitzten blauen Augen, »ich will Ihnen was sagen. Die meisten Leute würden Ihnen eine solche Story nicht unbedingt abkaufen. Aber ich meine, daß ich ein ganz passabler Menschenkenner bin. Hab mich nicht oft geirrt, muß ich sagen. Ich bin nicht gerade das, was man einen armen Mann nennen würde, also wie wär’s, wenn wir den Abend auf meine Rechnung gehen lassen?«
»Wirklich«, sagte Blaine, »das kann ich doch nicht -«
»Kein Wort mehr davon!« sagte Orc entschieden. »Wenn Sie darauf bestehen, dann kann der morgige Abend von mir aus auf Sie gehen. Aber machen wir uns jetzt endlich auf den Weg, die Nachtbewegungen der Innereien dieses nervösen alten Städtchens zu studieren!«
Blaine kam zu dem Schluß, daß diese Methode, etwas über die Zukunft herauszufinden, auch nicht besser oder schlechter war als jede andere. Schließlich war nichts entlarvender als die Art und Weise, wie Leute ihre Freizeit verbrachten. Durch Spiele und Trunkenheit offenbarte der Mensch seine Grundeinstellung zu seiner Umwelt und zeigte, wie er zu den Problemen des Lebens, des Todes, des Schicksals und des freien Willens stand. Was wäre ein besseres Symbol Roms gewesen als der Circus? Wie hätte man den amerikanischen Westen besser charakterisieren können als durch das Rodeo? Spanien hatte seinen Stierkampf und Norwegen seinen Ski-Weitsprung. Welcher Sport, welcher Freizeitspaß würde auf ähnliche Weise das New York des Jahres 2110 offenbaren? Er würde es schon feststellen. Und es war sicherlich besser, dies alles direkt kennenzulernen, als darüber in irgendeiner verstaubten Bibliothek zu lesen. Und mehr Spaß würde es mit Sicherheit auch machen, viel mehr Spaß.
»Wie wär’s, wenn wir uns mal das Marsianerviertel anschauen würden?« fragte Orc.
»Nur zu«, sagte Blaine, der erfreut darüber war, daß er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden konnte.
*
Orc führte sie durch ein Gewirr von Straßen und Ebenen, durch Untergrundalleen und Hochrampen, zu Fuß, per Rolltreppe, Untergrundbahn und Helitaxi. Das verschlungene, komplizierte Straßensystem mit seinen vielen Ebenen beeindruckte den hageren Mann aus dem Westen überhaupt nicht. Phoenix, so sagte er, war ähnlich gebaut, wenn auch natürlich in kleinerem Maßstab.
Sie gingen in ein kleines Restaurant, das sich »Zum Roten Mars« nannte und echte südmarsianische Küche anpries. Blaine mußte gestehen, noch nie marsianisch gegessen zu haben. Orc hatte es in Phoenix schon mehrfach probiert.
»Es ist recht gut«, sagte er zu Blaine, »aber es hält nicht lange vor. Wir werden später noch ein Steak essen gehen.«
Die Speisekarte war ausschließlich auf Marsianisch geschrieben, ohne englische Übersetzung. Blaine bestellte tollkühn einfach das Menu Nummer Eins, wie Orc auch. Als es serviert wurde, stellte es sich als ein merkwürdiges Gemisch aus kleingeschnittenem Gemüse und Fleischstückchen heraus. Blaine probierte es und ließ vor Überraschung beinahe seine Gabel fallen.
»Das ist ja genau wie chinesische Küche!«
»Ja, natürlich«, sagte Orc. »Die Chinesen waren ja als erste auf dem Mars, das war ’97, glaube ich. Und alles, was man dort oben ißt, ist natürlich marsianisch, nicht wahr?«
»Na ja, das stimmt wohl«, meinte Blaine.
»Außerdem wird das Zeug mit echtem Marsgemüse und mutierten Kräutern und Gewürzen zubereitet. Jedenfalls behaupten sie das.«
Blaine konnte sich nicht entscheiden, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Er aß das C’kyo-Ourher, das genau wie Krabben Chow Mein schmeckte, und das Trrdxat, eine Frühlingsrolle, mit gutem Appetit.
»Warum hat das Zeug so abartige Namen?« fragte Blaine, als er zum Nachtisch Hggshrt bestellte.
»Mann, Sie sind wirklich aus der Walachei!« sagte Orc lachend. »Diese Marschinesen haben ganze Sache gemacht. Sie haben die Felsinschriften auf dem Mars und das ganze Zeug entziffert und haben angefangen, Marsianisch zu reden, wahrscheinlich mit starkem kantonesischen Akzent, aber es war ja auch keiner mehr da, der sich über ihre schlechte Aussprache hätte beklagen können. Sie reden wie Marsianer, kleiden sich wie Marsianer und denken wie Marsianer. Wenn man heute einen von ihnen einen Chinesen nennt, dann bekommt man eine geschoben. Er ist jetzt Marsianer, Mann!«
Das Hggshrt wurde serviert und stellte sich als Mandelplätzchen heraus.
Orc zahlte die Rechnung. Als sie das Lokal verließen, fragte Blaine: »Gibt es denn auch viele marsianische Wäschereien?«
»Klar, es wimmelt überall nur so davon.«
»Das hab ich mir gedacht«, sagte Blaine und dachte schweigend voller Bewunderung an die Marschinesen und an ihren ausgesprochenen Sinn für traditionelle Einrichtungen.
*
Sie nahmen ein Taxi zum Greens Club, ein Etablissement, von dem Orcs Freunde in Phoenix ihm gesagt hatten, daß er es nicht auslassen sollte. Dieser kleine, teure, intime Club war weltberühmt und ein absolutes Muß für jeden Besucher New Yorks. Denn der Greens Club hatte als einziger eine reine Gemüse-Floorshow.
Man wies ihnen Plätze auf einem kleinen Balkon unweit der mit Glas eingerahmten Mitte des Klubs zu. Drei Tischebenen umringten den Mittelpunkt, der von gleißenden Scheinwerfern angestrahlt wurde. Hinter dem Glaszaun befand sich etwas, das aussah wie ein paar Quadratyards Dschungel, der in einer Nährlösung wuchs. Eine künstliche Brise hielt die Pflanzen in Bewegung, die eng zusammengedrängt standen und von sehr unterschiedlicher Größe, Gestalt und Tönung waren.
Blaine hatte noch nie Pflanzen gesehen, die sich derart verhielten. Sie wuchsen mit phantastischer Geschwindigkeit, aus winzigen Samen und Wurzelsprossen wurden große Sträucher und rauhrindige Bäume, klobige Farne, monströse Blumen, triefende grüne Pilzgewächse und gefleckte Lianen. Sie wuchsen schnell, vollendeten ihren Lebenszyklus und verfaulten, wobei sie wieder Samen abgaben, um damit wieder aufs neue anzufangen. Doch keine der Spezies schien dazu in der Lage zu sein, sich fortzupflanzen. Aus den Samen entsprangen Spielarten und Mutationen sowie geschwollene Früchte, verwandelten sich und paßten sich der wilden Umwelt an, kämpften um Lebensraum am Boden und in der Luft und rankten sich zu den künstlichen Sonnen empor, die über ihnen leuchteten. Erfolglose Gewächse verwandelten sich sofort in Parasiten, umklammerten erstickte Bäume und verwandelten sich bei ihrer Umklammerung aufs neue. Manchmal schien es einer ehrgeizigen Pflanze zu gelingen, alles um sich herum zu überwuchern und ihre Gegner zu erwürgen, alles zu besiegen; doch an ihren Stengeln sprossen bereits neue Arten, zogen sie hinab und kämpften um ihren Kadaver. Ab und zu befiel eine Seuche, die selbst pflanzlichen Ursprungs war, den Dschungel und brachte alles in einem Crescendo des Faulens zum Einstürzen. Doch dann faßte eine tapfere Mutation Wurzeln in der Fäulnis, dann eine weitere, und schon ging der Kampf wieder los. Die Pflanzen wandelten sich, wurden größer oder kleiner und übertrumpften sich selbst in ihrem Kampf ums Überleben. Aber keine Entschlossenheit, keine Gerissenheit, keine Selbstübertrumpfung nützte etwas. Nicht eine Spezies brachte es fertig, zu überleben, und schließlich führte jede Anstrengung in den Tod.
Blaine fand die Show beunruhigend. War dieses fatalistische Spektakel etwa charakteristisch für die Welt des Jahres 2110? Er blickte Orc an.
»Wirklich großartig«, sagte Orc, »was diese New Yorker Laboratorien mit schnell wachsenden Mutanten alles anfangen können! Aber es ist natürlich eine Mißgeburtenshow. Man beschleunigt das Wachstum, erzwingt eine Anti-Überlebenssituation, setzt ein bißchen Strahlung ein und versucht, die beste Pflanze gewinnen zu lassen. Ich hab mal gehört, daß diese Pflanzen ihr Wachstumspotential nach zwanzig Stunden erschöpft haben und ersetzt werden müssen.«
»Da endet das also«, sagte Blaine und betrachtete den gequälten, aber immer optimistischen Dschungel. »Im Ersetztwerden.«
»Klar«, sagte Orc, der allen philosophischen Komplikationen einfach auswich. »Sie können es sich ja auch leisten bei den Preisen. Aber das ist Mißgeburtenzeugs. Ich will Ihnen von den Sandpflanzen erzählen, die wir in Arizona züchten.«
Blaine nippte an seinem Whisky und sah zu, wie der Dschungel wuchs, starb und sich wieder erneuerte. Orc sagte: »Mitten in der kochendheißen Wüste. Tatsache. Wir haben es schließlich geschafft, Obst und Gemüse an echte Wüstenbedingungen anzupassen ohne ihren Wasserbedarf zu erhöhen, und zwar zu einem Preis, bei dem wir mit den fruchtbaren Gegenden durchaus konkurrieren können. Ich sag’s Ihnen, Mann, noch fünfzig Jahre und das gesamte Konzept von Fruchtbarkeit hat sich grundlegend gewandelt. Nehmen wir doch mal den Mars als Beispiel -«
Sie verließen den Greens Club und zogen von Bar zu Bar in Richtung Times Square. Orc schien ein paar Schwierigkeiten mit der Sehschärfe zu haben, aber seine Stimme war vollkommen klar, als er über das verlorengegangene marsianische Geheimnis des Anbaus auf Sandböden sprach. Eines Tages, versprach er Blaine, würde es uns gelingen herauszubekommen, wie man Sandpflanzen anbauen konnte, ohne Nährstoffe und Feuchtigkeitsfixierer beimengen zu müssen.
Blaine hatte genug getrunken, um seinen früheren Körper gleich zweimal in ein Koma zu versetzen. Doch sein massiger neuer Körper schien eine schier unerschöpfliche Aufnahmekapazität für Whisky zu haben. Das war mal eine angenehme Abwechslung, einen Körper zu besitzen, der viel Alkohol vertragen konnte. Nicht, daß eine solche primitive Fähigkeit die Nachteile dieses Körpers hätte wettmachen können, fügte er hastig seiner Überlegung hinzu.
Sie überquerten das grelle Chaos des Times Square und gingen in eine Bar an der 44. Straße. Als man ihnen ihre Drinks brachte, kam ein verschlagen dreinblickender kleiner Mann in einem Regenmantel auf sie zu.
»Hallo, Jungs«, sagte er zögernd.
»Willst du’n, Freundchen?« fragte Orc.
»Wollt ihr Jungs ein bißchen Spaß haben?«
»Könnte man so ausdrücken«, sagte Orc gedehnt. »Und den verschaffen wir uns schon selbst, herzlichen Dank auch.«
Der kleine Mann lächelte nervös. »Was ich anbiete, das könnt ihr euch nicht selbst verschaffen.«
»Klartext, Freundchen!« sagte Orc. »Was bieten Sie denn Feines?«
»Ja ja, Jungs, es ist – pst! Blaumänner!«
Zwei blauuniformierte Polizisten kamen in die Bar, blickten sich um und gingen wieder.
»O.K.«, sagte Blaine, »was denn nun?«
»Nennt mich Joe«, sagte der kleine Mann mit einem gewinnenden Lächeln. »Ich bin Anschaffer für ein Transplantationsspielchen, Freunde. Das beste Spiel und der größte Anmacher in der ganzen Stadt!«
»Was zum Teufel ist denn Transplantation?« fragte Blaine.
Orc und Joe blickten ihn beide an. Joe sagte: »Junge, Junge, Freundchen, will ja niemanden beleidigen, aber Sie müssen ja wirklich ein Landei sein! Noch nie von Transplantationen gehört? Mann, nicht zu schnallen!«
»Na gut, bin ich eben ein Bauernjunge«, grollte Blaine und bewegte sein grimmiges, eckiges, hartes Gesicht näher an Joes heran. »Was ist Transplantation?«
»Nicht so laut!« flüsterte Joe und zuckte zurück. »Immer mit der Ruhe, Farmer, ich erklär’s ja schon! Transplantation ist ein neues Tauschspiel, Kamerad. Haben Sie das Leben satt? Glauben Sie, Sie hätten schon alles ausprobiert, alles abgecheckt? Dann warten Sie mal, bis Sie Transplantation probiert haben! Sehen Sie, Farmer, Leute, die’s wissen, sagen, daß normaler Sex ungefähr so reizvoll ist wie schimmlige Kartoffeln. Verstehen Sie mich nicht falsch, für Vögel und Bienen und Tiere ist das ja völlig in Ordnung. Ihre kleinen Tierherzchen bringt das noch in Aufregung, und wer sind wir denn, daß wir behaupten könnten, daß sei falsch? Als Mittel der Arterhaltung ist der kleine alte Sextrick der Natur immer noch logo und cool. Aber wer sich wirklich antörnen will, anspruchsvoll ist, Mann, der macht Transplantation.
Transplantation ist demokratisch, Freund. Gibt einem die Gelegenheit, mit jemand anderem zu tauschen und zu fühlen, wie die anderen neunundneunzig Prozent fühlen. Man könnte sagen, daß es bildenden Wert hat, und es fängt dort an, wo gewöhnlicher Sex aufhört. Schon mal das Verlangen gehabt, sich wie ein überkandidelter Lateinamerikaner zu fühlen, Freund? Das können Sie, mit Transplantation. Haben Sie sich schon immer mal gefragt, was wohl in einem echten Sadisten so vorgeht? Dann klinken Sie sich mit Transplantation ein! Und es gibt noch mehr, noch viel viel mehr! Zum Beispiel, warum sein ganzes Leben ein Mann bleiben? Sie haben’s doch jetzt zu Genüge bewiesen, warum dran kleben? Warum nicht auch mal zur Abwechslung eine Weile lang eine Frau sein? Mit der Transplantation können Sie in den schönsten Augenblicken des Lebens an Bord eines unserer extra ausgesuchten Mädchen sein.«
»Voyeurismus«, sagte Blaine.
»Ich kenne diese großen Worte«, sagte Joe, »und sie treffen nicht zu. Das hier ist kein Spannerspiel. Mit der Transplantation sind Sie wirklich dabei, direkt im alten Korpus drin, bewegen diese exotischen Muskeln und spüren dieses irre Kitzeln. Schon mal gedacht, daß es ganz nett wäre, mal ein Tiger zu sein und in der Paarungszeit hinter einer Tigerin herzujagen, Farmer? Freund, wir haben einen Tiger und auch eine Tigerin! Schon mal überlegt, was ein Mann wohl für ein Vergnügen bei der Flagellation empfindet, beim Schuhfetischismus, bei der Nekrophilie und so? Transplantation macht’s möglich! Unser Körperkatalog liest sich wie ein Lexikon. Bei Transplantation liegen Sie nie falsch, Freunde, und unsere Preise sind geradezu lächerlich niedrig ge -«
»Raus!« sagte Blaine.
»Was ist denn, Freundchen?«
Blaines große Hand schoß hervor und packte Joe vorne am Regenmantel. Er hob den kleinen Anmacher hoch, bis er mit ihm auf Augenhöhe war und sah ihn wütend an.
»Nehmen Sie ihre widerlichen Perversionen, und machen sie die Fliege!« knurrte Blaine. »Typen wie Sie haben solche abartigen Schweinereien schon seit der Zeit von Babylon verkauft, und Leute wie ich haben nicht angebissen. Und jetzt machen Sie, daß Sie fortkommen, bevor ich Ihnen in einem kleinen Anfall von sadistischem Spaß das Genick breche!«
Er ließ ihn los. Joe strich seinen Regenmantel glatt und lächelte nervös. »Schon gut, Freund, wollte ja niemanden beleidigen. Ich geh ja schon. Schön, heute abend ist Ihnen eben nicht so danach, macht ja nichts. Gibt ja noch viele Nächte. Die Transplantation ist die Masche der Zukunft, Farmerjunge! Warum dagegen sein?«
Blaine wollte vorstürmen, doch Orc hielt ihn zurück. Der kleine Pusher huschte aus der Tür hinaus.
»Er ist es nicht wert«, sagte Orc. »Die Bullen würden Sie nur einlochen. Ist eine traurige, kranke, schmutzige Welt, Freund. Prost!«
Blaine kippte, immer noch innerlich kochend, den Whisky hinunter. Transplantation! Wenn das eine typische Vergnügung des Jahres 2110 sein sollte, dann wollte er nichts damit zu tun haben. Orc hatte recht, es war eine traurige, kranke, schmutzige Welt. Selbst der Whisky fing schon an, komisch zu schmecken.
Er hielt sich an der Theke fest. Der Whisky schmeckte ja äußerst komisch. Was war los mit ihm? Das Zeug schien ihm in den Kopf zu steigen.
Orc hatte den Arm um seine Schulter gelegt. »Na, da hat mein alter Freund wohl einen zuviel gehoben«, sagte er soeben. »Bring ihn wohl mal besser in sein Hotel zurück.«
Doch Orc wußte nicht, wo sein Hotel war. Er hatte nicht einmal ein Hotel, in das er ihn hätte bringen können. Orc, dieser verdammte, schnellredende, gerade blickende Orc mußte etwas in seinen Drink getan haben, während er mit Joe gesprochen hatte.
Um ihn auszunehmen? Aber Orc wußte doch, daß er kein Geld hatte. Warum dann?
Er versuchte, den Arm abzuschütteln. Er ruhte wie ein Eisenträger auf seiner Schulter. »Keine Angst«, sagte Orc. »Ich werde mich schon um dich kümmern, Freund.«
Träge drehte sich die Bar um Blaines Kopf. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er mit der zweifelhaften Methode der direkten Erfahrung eine ganze Menge über 2110 herausfinden würde. Wahrscheinlich sogar erheblich zuviel. Vielleicht wäre eine verstaubte Bibliothek doch besser gewesen.
Die Bar drehte sich immer schneller um ihn. Blaine verlor das Bewußtsein.
In einem dürftig beleuchteten kleinen Raum ohne Möbel, Türen und Fenster kam er wieder zu sich. Die einzige Öffnung war ein abgeschirmtes Ventilationsloch an der Decke. Die Wände und der Fußboden waren dick gepolstert, doch die Polsterung war lange nicht mehr geschrubbt worden. Sie stank ganz erbärmlich.
Blaine setzte sich auf, und zwei rotglühende Nadeln stachen ihm in die Augen. Er legte sich wieder hin.
»Ganz ruhig«, sagte eine Stimme. »Diese Knockouttropfen brauchen eine Weile, bis sie nicht mehr wirken.«
Er war nicht allein in dem gepolsterten Zimmer. In der Ecke saß ein Mann und beobachtete ihn. Der Mann trug lediglich kurze Hosen. Als er an sich selbst hinunterblickte, sah Blaine, daß er genauso gekleidet war.
Vorsichtig setzte er sich auf und lehnte sich gegen eine Wand. Einen Augenblick lang fürchtete er, daß sein Kopf explodieren würde. Dann, als die Nadeln unbarmherzig auf ihn einstachen, fürchtete er, daß er das eben nicht tun würde.
»Was ist das hier?« fragte er.
»Endstation«, sagte der Mann fröhlich. »Eingetütet haben sie dich. Eingetütet und hierher gebracht, wie ein Fabrikerzeugnis. Jetzt brauchen sie dich nur noch in eine Kiste zu packen und einen Aufkleber draufzupappen.«
Blaine verstand nicht, was der Mann sagte. Der Sinn stand ihm nicht sonderlich nach dem Slang des Jahres 2110. Er hielt sich den Kopf und fragte: »Ich habe kein Geld. Warum haben sie mich dann eingetütet?«
»Red keinen Quatsch!« sagt der Mann. »Warum sollten sie dich wohl eintüten, eh? Sie wollen deinen Körper, Mann!«
»Meinen Körper?«
»Klar. Als Wirt.«
Ein Wirtskörper, dachte Blaine, so einer, wie er ihn gerade hatte. Aber klar! Natürlich! Es war ja ganz logisch, wenn man nur mal drüber nachdachte. Dieses Zeitalter brauchte eine riesige Menge Wirtskörper für die unterschiedlichsten Zwecke. Aber wie kommt man wohl an Wirtskörper ran? Die wachsen schließlich nicht auf Bäumen, und ausgraben kann man sie auch nicht. Man holt sie von Leuten. Die meisten Leute haben es gar nicht gern, ihren Körper zu verkaufen; ohne Körper ist das Leben schließlich ziemlich sinnlos. Wie deckt man also dann den Bedarf?
Ganz einfach. Man sucht sich irgendeinen Blödmann, pumpt ihn mit Drogen voll, versteckt ihn, entfernt seinen Geist und nimmt sich dann den Körper.
Es war ein interessanter Gedankengang, aber Blaine konnte ihn nicht länger verfolgen. Es sah so aus, als habe sich sein Kopf nun doch dazu entschlossen, zu explodieren.
*
Später ließ dann der Kater nach. Blaine setzte sich auf und erblickte ein Sandwich, das neben ihm auf einem Pappteller lag, daneben stand ein Becher mit irgendeiner dunklen Flüssigkeit.
»Man kann es ruhig essen«, sagte der Mann. »Man sorgt ganz gut für uns. Ich hab mal gehört, daß der Schwarzmarktpreis für einen Körper an die viertausend Dollar betragen soll.«
»Schwarzmarkt?«
»Mann, was ist denn los mit dir? Aufwachen! Du weißt doch, daß es einen Schwarzmarkt für Körper gibt, genau wie es auch einen offenen Markt für Körper gibt.«
Blaine nippte an der dunklen Flüssigkeit, die sich als Kaffee herausstellte. Der Mann stellte sich als Ray Melhill vor, ein Flußmechaniker vom Raumschiff Bremen. Er war ungefähr so alt wie Blaine, ein gedrungener, rotköpfiger Mann mit Stupsnase und leicht hervorstehenden Zähnen. Selbst in dieser mißlichen Lage war er noch gut aufgelegt und selbstsicher – das unzerstörbare Selbstvertrauen eines Mannes, der immer noch irgendwie gerettet wird. Seine gefleckte Haut war sehr blaß bis auf einen kleinen roten Fleck am Hals, eine alte Strahlungsverbrennung.
»Ich hätte es eigentlich besser wissen sollen«, sagte Melhill. »Aber wir waren schon drei Monate auf der Asteroidenstrecke im Transit, und ich wollte einfach mal wieder auf den Putz hauen. Wenn ich bei den Jungs geblieben wäre, dann wäre nichts passiert, aber wir haben uns aus den Augen verloren. Also landete ich in einer besseren Hundehütte bei einer schmierigen Miranda. Sie hat meinen Drink gezwiebelt, und da bin ich hier aufgewacht.«
Melhill lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurück. »Ausgerechnet mir mußte das passieren! Wo ich den Jungs immer gesagt habe, sie sollten bloß aufpassen! Jungs, habe ich zu ihnen gesagt, immer bei der Gruppe bleiben. Weißt du, es macht mir eigentlich nicht viel aus, sterben zu müssen. Aber wenn ich daran denke, daß diese Bastarde meinen Körper irgend so einem dreckigen, versoffenen alten Fettsack geben, nur damit er noch fünfzig Jahre hier rumgurken kann, dann kriege ich die Wut. So ein fetter alter Schmierbold in meinem Körper. Mein Gott!«
Blaine nickte trübsinnig.
»Na ja, das ist also meine Leidensgeschichte«, sagte Melhill und wurde nun wieder etwas fröhlicher. »Und wie war das bei dir?«
»Meine Geschichte ist ziemlich lang«, sagte Blaine, »und manchmal klingt sie auch ein bißchen verrückt. Willst du sie ganz hören?«
»Klar. Haben ja ’ne Menge Zeit. Will ich jedenfalls hoffen.«
»O.K. Sie fängt im Jahre 1958 an. Moment, unterbrich mich nicht! Ich fuhr in meinem Wagen …«
Als er fertig war, lehnte Blaine sich gegen die gepolsterte Wand und atmete tief durch. »Glaubst du mir?« fragte er.
»Warum nicht? Zeitreisen sind doch nichts Neues. Sind nur illegal und teuer. Und diese Macker von Rex sind zu allem fähig.«
»Die Frauen da auch«, sagte Blaine, und Melhill grinste.
Eine Weile lang saßen sie in kameradschaftlichem Schweigen nebeneinander. Dann fragte Blaine: »Also wird man uns als Wirtskörper benutzen?«
»So sieht’s aus.«
»Und wann?«
»Wenn ein Kunde hereintorkeln sollte. Soweit ich das schätzen kann, bin ich schon eine Woche hier. Man kann jeden von uns in der nächsten Minute rausholen. Es kann aber noch eine Woche oder zwei dauern.«
»Und die löschen einfach unseren Geist aus?«
Melhill nickte.
»Aber das ist doch Mord!«
»Kann man wohl sagen«, stimmte Melhill ihm zu. »Aber noch ist es nicht passiert. Vielleicht machen die Bullen eine Razzia.«
»Das bezweifle ich.«
»Ich auch. Hast du eine Jenseitsversicherung? Vielleicht lebst du ja nach deinem Tod weiter.«
»Ich bin Atheist«, sagte Blaine. »Ich glaube nicht an solchen Kram.«
»Ich bin auch einer. Aber das Leben nach dem Tode ist eine Tatsache.«
»Ach, hör auf!« sagte Blaine mißmutig.
»Aber ja! Eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache!«
Blaine starrte den jungen Raumfahrer an. »Ray«, sagte er, »wie wär’s, wenn du mich mal auf den neuesten Stand bringen würdest? Erzähl mir, was seit 1958 passiert ist.«
»Das ist aber eine Menge Zeugs«, meinte Melhill. »Und ich bin nicht eben ein Bildungsmonster.«
»Nur so einen Eindruck. Was ist das für ein Jenseitskram? Und die Reinkarnationen und Wirtskörper? Was ist denn eigentlich los?«
Melhill lehnte sich zurück und atmete tief durch. »Na gut, mal sehen. 1958. Um 1970 haben sie ein Schiff auf den Mond geschickt und ungefähr zehn Jahre später sind sie auf dem Mars gelandet. Dann hatten wir diesen Blitzkrieg mit Rußland wegen der Asteroiden – war ’ne reine Weltallsache. Oder war das mit China?«
»Ist egal«, sagte Blaine. »Was ist mit der Reinkarnation und dem Leben nach dem Tode?«
»Ich will versuchen, es dir so zu erzählen, wie sie’s uns auf der High School erzählt haben. Ich hab mal an einem Seminar teilgenommen, das ›Überblick über das Überleben der Seele‹ hieß.« Melhill runzelte die Stirn und konzentrierte sich angestrengt. »Zitat. ›Seit Urzeiten hat der Mensch gespürt, daß es eine unsichtbare Geistwelt gibt und hat vermutet, daß er an dieser Welt nach seinem körperlichen Tod teilhaben würde.‹ Ich nehme an, daß du das Zeug alles kennst. Die Ägypter, die Chinesen, die Alchimisten Europas und so weiter. Dann mache ich mal einen Sprung bis zur Rhine. Der lebte in deiner Zeit. Er untersuchte parapsychische Phänomene an der Duke-Universität. Schon mal von ihm gehört?«
»Klar«, sagte Blaine. »Was hat er entdeckt?«
»Eigentlich nichts. Aber er brachte die Kugel ins Rollen. Dann hat Kralski in Vilna die Sache übernommen und ein bißchen daran herumgefummelt. Das war 1987, in dem Jahr, in dem die Pirates ihre erste Weltmeisterschaft gewonnen haben. Um 2000 war da von Leddner. Der hat eine allgemeine Theorie über das Jenseits entwickelt, aber noch nichts bewiesen. Und schließlich kommen wir zu Professor Michael Vanning.
Professor Vanning war der Knabe, der die ganze Sache endgültig festgenagelt hat. Er hat bewiesen, daß Menschen nach ihrem Tod weiterleben. Hat sie kontaktiert, mit ihnen geredet, sie aufgenommen und so weiter. Hat absolut unumstößliche Beweise für das Leben nach dem Tode geliefert, wissenschaftliche Beweise. Da gab’s natürlich reichlich viel Gerede, auch religiöses Zeug. Kontroversen. Schlagzeilen. Ein großer Professorencrack an der Harvard-Universität, ein Typ namens James Archer Flynn, hat versucht zu beweisen, daß die ganze Sache ein Schwindel wäre. Er und Vanning haben sich jahrelang darüber in den Haaren gelegen.
Inzwischen war Vanning schon ein alter Mann und beschloß, den Löffel abzugeben. Er hat eine Menge Zeug in einen Safe gestopft, hier und dort Sachen versteckt, überall Kodeworte verteilt und versprochen, zurückzukommen, wie das Houdini auch getan, aber nicht gemacht hat. Dann -«
»Entschuldige«, unterbrach Blaine ihn, »aber wenn es tatsächlich ein Leben nach dem Tode gibt, warum ist Houdini dann nicht zurückgekommen?«
»Das ist eigentlich ganz einfach, aber bitte, alles der Reihe nach, ja? Jedenfalls hat Vanning sich umgebracht und einen langen Selbstmordbrief hinterlassen, über die unsterbliche Seele des Menschen und den unaufhaltsamen Fortschritt der gesamten Menschheit und so. Wird in einer Menge von Anthologien immer wieder abgedruckt. Später hat man dann rausgefunden, daß er dafür einen Ghostwriter gehabt hat, aber das ist eine andere Geschichte. Wo war ich?«
»Er hat Selbstmord begangen.«
»Ach ja. Und dann hat er doch tatsächlich Professor James Archer Flynn kontaktiert und ihm gesagt, wo er das ganze verborgene Zeug finden würde, die Kodeworte und so weiter. Das hat’s dann endgültig entschieden, Freund. Das Leben nach dem Tode war plötzlich in.«
Melhill stand auf, streckte sich und nahm wieder Platz. »Das Vanning-Institut«, fuhr er fort, »hat alle vor Hysterie gewarnt. Aber die gab’s nun mal. Die nächsten fünfzehn Jahre sind als Verrückte Vierziger bekannt.«
Melhill grinste und leckte sich die Lippen. »Hätte ich gern erlebt. Alle haben irgendwie draufgemacht. ›Ist doch egal, was du tust‹, lautete das Schlagwort, ›am Himmel hängt auch für dich ein Stück vom Kuchen!‹ Ob Heiliger, ob Sünder, ob gut ob böse, jeder bekommt ein Stück ab. Der Mörder wanderte genauso ins Jenseits wie der Erzbischof. Also los, Kinder, macht einen drauf und genießt euer Fleisch auf Erden, denn Geist gibt’s nach dem Tod noch genug. Tja, und da haben sie eben ordentlich auf die Pauke gehauen. Das war die reinste Anarchie. Dann ist eine neue Religion aufgekommen, die sich ›Verwirklichung‹ nannte. Die sagte allen Leuten, daß sie es sich schuldig wären, alles zu erfahren, gut und böse, schön und übel, denn das Jenseits wäre lediglich eine lange Erinnerung an das, was man auf Erden getan habe. Also tu es, sagte sie, deshalb bist du auf der Erde, tu es, sonst hast du im Jenseits schlechte Karten. Befriedige jedes Bedürfnis, jeden Trieb, erforsche deine schwärzesten Tiefen. High leben, high sterben. Man war völlig ausgeklinkt. Die richtigen Fanatiker bildeten Folterklubs und schrieben Enzyklopädien des Schmerzes, sammelten Foltern, wie eine Hausfrau Rezepte sammelt. Bei jeder Sitzung meldete sich ein freiwilliges Opfer, und das wurde dann auf die scheußlichste Weise gefoltert und umgebracht, die sie sich nur ausdenken konnten. Sie wollten das absolut Höchste in Freude und Schmerz erfahren. Und das haben sie wohl auch getan, schätze ich.«
Melhill wischte sich den Schweiß von der Stirn und fuhr etwas ruhiger fort: »Hab ein bißchen über die Verrückten Vierziger gelesen.«
»Das merkt man«, sagte Blaine.
»Ist ziemlich interessant. Aber dann kam der große Hammer. Das Vanning-Institut hatte die ganze Zeit weiter experimentiert. Um 2050, als die Verrückten Jahre noch in vollem Gang waren, erklärte es, daß es zwar ein Jenseits gebe, aber nicht für jeden.«
Blaine zuckte mit den Augenlidern, sagte jedoch nichts.
»War ein echter Hammer. Das Vanning-Institut erklärte, daß es sichere Beweise dafür hätte, daß nur etwa einer von einer Million ins Jenseits kommt. Der Rest, die ganzen Millionen und Abermillionen, gingen einfach aus wie die Lichter, wenn sie starben. Paff! Nichts mehr. Kein Leben danach mehr. Nichts!«
»Warum?« fragte Blaine.
»Na ja, Tom, das ist mir auch nicht so ganz klar«, sagte Melhill. »Wenn du mich etwas über Flußmechanik fragen würdest, dann könnte ich dir einiges erklären. Aber die Theorie der parapsychischen Erscheinungen ist einfach nicht mein Gebiet. Also versuch mal, mit mir am Ball zu bleiben, während ich mich da durchwühle.«
Er rieb sich kräftig seine Stirn. »Was nach dem Tod überlebt oder nicht überlebt, das ist der Geist. Die Leute liegen sich seit Jahrtausenden darüber in der Wolle, was eigentlich Geist ist und inwieweit er mit dem Körper zusammenhängt und nicht. Und so weiter. Wir wissen noch nicht alle Antworten auf diese Fragen, aber wir haben sowas wie Arbeitshypothesen. Heutzutage nimmt man an, daß der Geist ein energetisches Hochspannungsnetz ist, das vom Körper ausgestrahlt wird, von ihm verändert wird und ihn seinerseits verändert. Kannst du mir folgen?«
»Ich glaube schon. Weiter.«
»Soweit wie ich das verstanden habe, reagieren Geist und Körper miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Aber der Geist kann auch unabhängig vom Körper existieren. Eine ganze Reihe von Wissenschaftlern nimmt an, daß der unabhängige Geist die nächste Stufe der Evolution sein wird. In einer Million Jahren, sagen sie, werden wir nicht einmal einen Körper brauchen, höchstens vielleicht für eine kurze Inkubationszeit. Was mich angeht, so glaube ich kaum, daß diese verdammte Rasse noch eine Million Jahre überstehen wird. Verdient hätten wir’s wahrscheinlich nicht.«
»Da kann ich dir im Augenblick nur beipflichten«, sagte Blaine. »Aber was ist denn nun mit dem Jenseits?«
»Da gibt’s also dieses energetische Hochspannungsnetz. Wenn der Körper stirbt, dann sollte das Netz eigentlich weiterbestehen, wie ein Schmetterling, der sich entpuppt. Der Tod ist lediglich der Vorgang, der den Geist aus dem Körper ablöst. Aber das funktioniert so nicht, und zwar wegen des Todestraumas. Manche Wissenschaftler sind der Meinung, daß das Todestrauma der Ejektionsmechanismus der Natur ist, um den Geist vom Körper zu befreien. Aber es schlägt zu sehr zu und versaut alles. Das Sterben ist ein enormer psychischer Schock und in den meisten Fällen wird das Netz zerfetzt und völlig zerstört. Es kann sich nicht selbst wieder zusammensetzen, sondern verteilt sich überall hin; und dann ist man völlig tot.«
Blaine sagte: »Deshalb ist Houdini also nicht zurückgekommen.«
»Er und die meisten anderen. Ganz genau. Jedenfalls haben ziemlich viele Leute ziemlich angestrengt nachgedacht, und damit waren die Verrückten Jahre zu Ende. Das Vanning-Institut arbeitete weiter. Man untersuchte Yoga und so’n Zeugs, aber auf wissenschaftlicher Grundlage. Einige von diesen östlichen Religionen hatten wirklich recht, weißt du. Den Geist stärken. Das ist es, was das Institut wollte; eine Methode, das Energienetz so zu verstärken, daß es den Todesvorgang überleben kann.«
»Und? Haben sie eine Methode gefunden?«
»Schaufelweise. Das war dann die Zeit, als sie sich in Jenseits, Inc. umbenannten, was heute die Unsterblichkeitsgesellschaft ist.«
Blaine nickte. »Ich bin heute an ihrem Gebäude vorbeigegangen. Aber warte mal! He! Du hast gesagt, daß sie das Problem der Geiststärkung gelöst haben? Aber dann stirbt doch niemand mehr! Dann überlebt jeder den Tod!«
Melhill grinste sardonisch. »Sei kein Bauerntölpel, Tom. Meinst du, daß sie das kostenlos verteilen würden? Von wegen! Freund, das ist eine komplizierte elektrochemische Behandlung, und die kostet. Die kostet verdammt viel.«
»Also kommen nur die Reichen in den Himmel«, sagte Blaine.
»Was dachtest du denn? Da kann man doch nicht jeden reinlassen!«
»Natürlich«, sagte Blaine, »natürlich. Aber gibt es denn keine anderen Methoden, andere geiststärkende Disziplinen? Was ist denn mit Yoga? Was ist denn mit Zen?«
»Die funktionieren«, sagte Melhill. »Es gibt mindestens zwei Dutzend von der Regierung geprüfte und anerkannte Heimlehrgänge fürs Überleben. Das Problem ist nur, daß man gute zwanzig Jahre hart arbeiten muß, bis man sie beherrscht. Das ist nichts für den Durchschnittsmenschen. Nein, ohne Maschinen, die einem helfen, ist man tot.«
»Und die Maschinen hat nur die Jenseits, Inc.?«
»Es gibt noch ein oder zwei andere Firmen, die Akademie für das Leben nach dem Tode und die Himmel GmbH, aber die Preise bleiben sich in etwa gleich. Die Regierung ist dabei, ein Überlebensversicherungsprogramm einzuführen, aber das hilft uns auch nichts.«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Blaine. Einen Augenblick lang war der Traum erschütternd gewesen: eine Befreiung von der Todesangst; die rationale Gewißheit, daß es nach dem Absterben des Körpers ein Weiterbestehen und eine Existenz gibt; das Wissen um einen ununterbrochenen Wachstums- und Selbstverwirklichungsfortschritt, ein Erreichen der eigenen, weitgesteckten Grenzen – nicht die einengenden Beschränkungen der gebrechlichen fleischlichen Hülle, die Vererbung und Schicksal einem oktroyiert hatten.
Aber es sollte nicht sein. Der Wunsch seines Geistes, sich auszudehnen, wurde brutal und endgültig gebremst, zum Stehen gebracht. Auf immer und ewig würden die Verheißungen des Morgen nicht im Heute zu verwirklichen sein.
»Was ist mit der Reinkarnation und den Wirtskörpern?« fragte er.
»Das solltest du doch wissen«, meinte Melhill. »Sie haben dich ja reinkarniert und in einen Wirt eingepflanzt. Ein Geistaustausch ist nicht weiter kompliziert, wie dir die Transplantationsoperateure fröhlich versichern werden. Aber die Transplantation ist nur eine vorläufige Besetzung und beinhaltet nicht die völlige Beseitigung und Dislozierung des ursprünglichen Geistes. Wirtskörper sind für immer gedacht. Zunächst einmal muß der ursprüngliche Geist ausradiert werden. Zum zweiten ist es ein für den Geist ziemlich gefährliches Spiel, in einen Wirtskörper eindringen zu wollen. Manchmal gelingt es dem Geist nicht, in den Wirt einzudringen, und er bricht dabei auseinander. Wenn man eine Reinkarnation versucht hat, dann nützt einem das Jenseitstraining auch nichts mehr. Wenn es dem Geist nicht gelingt, in den Wirt einzudringen, dann – paff!«
Blaine nickte. Jetzt war ihm klar, warum Marie Thorne es für besser gehalten hatte, wenn Reilly sterben würde. Ihr Ratschlag war völlig in Reillys eigenem Interesse gewesen.
Er fragte: »Warum versucht denn ein Mensch mit einer Jenseitsversicherung dann eine Reinkarnation?«
»Weil manche alten Knacker Angst vorm Sterben haben«, erwiderte Melhill. »Sie fürchten sich vor dem Jenseits, haben einen Horror vor diesem ganzen Geistzeugs. Sie wollen hier auf der Erde bleiben, wo sie sich auskennen und wissen, was gespielt wird. Also kaufen sie sich legal einen Körper auf dem offenen Markt, sofern sie einen finden. Wenn nicht, dann kaufen sie eben einen Körper auf dem Schwarzmarkt. Einen von unseren Körpern, Freund!«
»Die Körper auf dem offenen Markt werden dann also freiwillig angeboten, ja?«
Melhill nickte.
»Aber wer verkauft denn seinen Körper?«
»Natürlich jemand, der sehr arm ist. Das Gesetz schreibt eigentlich vor, daß er als Gegenleistung dafür eine Jenseitsversicherung bekommen müßte. In der Praxis sieht es jedoch so aus, daß er nimmt, was man ihm gibt.«
»Dann muß er doch verrückt sein!«
»Meinst du wirklich?« fragte Melhill. »Die Welt ist heutzutage – wie schon seit eh und je – voll von gescheiterten, kranken, verseuchten und verhungernden Leuten. Und wie seit Urzeiten haben sie alle Familien. Nimm doch mal an, daß jemand für seine Kinder Nahrungsmittel kaufen muß? Sein Körper ist alles, was er verkaufen kann, sein einziger wertvoller Besitz. Damals, zu deiner Zeit, hatte er überhaupt nichts, was er verkaufen konnte.«
»Mag sein«, sagte Blaine. »Aber ich werde meinen Körper niemals verkaufen, egal, wie schlimm sich die Sache entwickeln mag!«
Melhill lachte gutmütig: »Bist ’n aufrechter Bursche! Aber Tom, sie nehmen ihn dir einfach umsonst weg!«
Darauf wußte Blaine keine Antwort.
Die Zeit verstrich langsam in der gepolsterten Zelle. Man gab Blaine und Melhill Bücher und Zeitschriften. Sie bekamen oft und gut zu essen und zu trinken, aus Pappbechern und von Papptellern. Man wachte sorgfältig über ihr körperliches Wohl, denn ihren enorm marktfähigen Körpern durfte nichts zustoßen.
Man ließ sie zusammen, damit jeder von ihnen Gesellschaft hatte. Menschen in Einzelzellen werden manchmal wahnsinnig, und der Wahnsinn kann wertvolle Gehirnzellen beschädigen. Man erlaubte ihnen sogar, Sport zu treiben, unter scharfer Bewachung, damit sie sich nicht langweilten und damit ihre Körper für ihre zukünftigen Besitzer fit blieben.
Blaine entwickelte langsam eine immer größer werdende Zuneigung für den kräftigen, grobschlächtigen muskulösen Körper, den er erst seit so kurzer Zeit bewohnte und von dem er schon so bald getrennt werden würde. Es war wirklich ein ausgezeichneter Körper, dachte er, ein Körper, auf den man stolz sein konnte. Zugegeben, besonders grazil war er nicht gerade, aber man konnte Grazie auch überbewerten. Er nahm an, daß der Körper dafür, sozusagen als Gegengewicht, nicht so anfällig für Heuschnupfen war wie der, den er früher bewohnt hatte; und seine Zähne waren auch völlig in Ordnung.
Abgesehen von der Frage nach der Sterblichkeit überhaupt war es immerhin, alles in allem betrachtet, ein Körper, den man nicht so leichtfertig aufgeben sollte.
*
Eines Tages öffnete sich ein Teil der gepolsterten Wand, kurz nachdem sie gegessen hatten. Von Stahlgitterstäben geschützt, blickte Carl Orc in die Zelle.
»Hallochen«, sagte Orc, groß und hager, geraden Blicks und in seiner Stadtkleidung eckig wirkend, »wie geht’s meinem Freund aus Brasilien?«
»Sie Bastard!« sagte Blaine, der bedauernd spürte, wie unangemessen Worte sein konnten.
»Immer mit der Ruhe!« sagte Orc. »Bekommt ihr Jungs auch genug zu futtern?«
»Sie und ihre Ranch in Arizona!«
»Ich habe dort tatsächlich eine gepachtet«, sagte Orc. »Eines Tages werde ich mich dorthin zurückziehen und Sandpflanzen anbauen. Ich schätze, daß ich wahrscheinlich mehr über Arizona weiß als manch ein Eingeborener dort. Aber eine Ranch kostet halt Geld, und Jenseitsversicherungen kosten auch Geld. Man tut eben was man kann.«
»Ein Aasgeier tut auch, was er kann«, meinte Blaine.
Orc seufzte tief. »Na ja, ist eben ein Geschäft und auch nicht viel schlechter als manche andere Sachen, die ich mir vorstellen könnte, wenn ich mal ernsthaft darüber nachdenken würde. Ist eine schlimme Welt, in der wir hier leben. Wahrscheinlich wird mir das alles mal leid tun, wenn ich auf der Veranda meiner kleinen Wüstenranch sitze.«
»Da werden Sie nie hinkommen!« versicherte Blaine.
»Ach nein?«
»Nein. Eines Tages wird irgendein Typ merken, wie Sie ihm den Drink versoßen. Sie werden im Rinnstein enden, Orc, mit eingedroschenem Schädel. Und das war’s dann auch schon.«
»Nur für meinen Körper«, berichtigte Orc ihn. »Meine Seele wird in das süße Leben im Drüben weiterwandern. Ich hab mein Geld bezahlt, Junge, und mein nächstes Zuhause ist der Himmel!«
»Das verdienen Sie nicht!«
Orc grinste, und selbst Melhill konnte sich nicht eines Lächelns enthalten. Orc sagte: »Mein armer, brasilianischer Freund, es geht doch überhaupt nicht um Verdienste. Das solltest du doch wirklich wissen! Das Leben nach dem Tod ist eben nicht für die sanftmütigen und friedfertigen kleinen Leute, egal wie verdienstvoll sie sein mögen. Der schlaue Kopf mit den Taschen voller Dollars und dem wachen Sinn dafür, die Nummer eins zu sein, dessen Seele überlebt den Tod.«
»Ich kann das nicht glauben!« sagte Blaine. »Das ist einfach nicht fair, es ist ungerecht.«
»Du bist ein Idealist«, sagte Orc interessiert, so als würde er den letzten Panda-Bär der Welt studieren.
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Vielleicht bekommen Sie schon Ihr Jenseits, Orc. Aber ich glaube, daß es dort eine kleine Ecke gibt, in der Sie in Ewigkeit schmoren werden!«
Orc sagte: »Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis für das Höllenfeuer. Aber es gibt noch sehr viel, was wir über das Jenseits nicht wissen. Vielleicht werde ich ja schmoren. Und vielleicht gibt es dort oben im Blauen ja sogar eine Fabrik, in der man deinen zertrümmerten Geist wieder zusammensetzt … Aber wir wollen nicht streiten. Tut mir leid, die Zeit ist gekommen.«
Orc schritt schnell davon. Die Stahlgittertür schwang auf, und fünf Männer marschierten in den Raum.
»Nein!« schrie Melhill.
Sie umringten den Raumfahrer. Geschickt wichen sie seinen schwingenden Fäusten aus und drückten seine Arme zusammen. Einer von ihnen knebelte ihn, dann begannen sie damit, ihn aus dem Raum zu zerren.
Orc erschien in der Tür und blickte sie böse an. »Laßt ihn los!« sagte er.
Die Männer ließen Melhill frei.
»Ihr habt den falschen Mann genommen, ihr Idioten!« sagte Orc ihnen. »Den da brauchen wir!«
Blaine hatte sich bereits darauf vorbereitet, den Verlust seines Freundes irgendwie zu verschmerzen. Diese abrupte Wende des Schicksals traf ihn unvorbereitet, mit offenem Mund. Die Männer packten ihn, bevor er Zeit hatte zu reagieren.
»Tut mir leid«, sagte Orc, als sie Blaine hinausführten, »der Kunde hat deine Statur und Hautfarbe angefordert.«
Blaine erwachte plötzlich aus seinem Stupor und versuchte, sich loszureißen. »Ich bring dich um!« brüllte er Orc an. »Ich schwöre es, ich bring dich um!«
»Beschädigt ihn nicht«, sagte Orc mit hölzerner Miene zu den Männern.
Man legte ihm einen Lumpen über Nase und Mund, und Blaine nahm einen widerlichen süßlichen Geruch wahr. Chloroform, dachte er. Seine letzte Erinnerung war das Bild, wie Melhill aschfahl an der vergitterten Tür stand.
Thomas Blaines erste bewußte Reaktion war es, festzustellen, ob er immer noch Thomas Blaine war und ob er noch seinen eigenen Körper bewohnte. Die Frage selbst war schon der Beweis. Seinen Geist hatten sie noch nicht ausgelöscht.
Er lag voll bekleidet auf einem Sofa. Er setzte sich auf und hörte, wie sich von draußen Fußschritte der Tür näherten.
Sie mußten die Stärke des Chloroforms überschätzt haben! Er hatte immer noch eine Chance!
Er huschte hinter die Tür. Sie ging auf und jemand kam durch die Öffnung geschritten. Blaine trat hervor und holte aus.
Es gelang ihm, den Hieb etwas zu bremsen. Aber es war immer noch sehr viel Wucht dabei, als er Marie Thorne seitlich an ihrem hübschen Kinn traf.
Er trug sie zum Sofa hinüber. Wenige Minuten später kehrte ihr Bewußtsein wieder zurück, und sie sah ihn an.
»Blaine«, sagte sie, »Sie sind ein Idiot!«
»Ich wußte nicht, wer es war«, sagte Blaine. Doch noch während er sprach wurde ihm klar, daß es nicht stimmte. Er hatte Marie Thorne doch erkannt, einen Sekundenbruchteil bevor sein Hieb losging; und sein gut durchtrainierter, geübter Körper hätte den Schlag selbst dann noch bremsen und zurückziehen können. Aber unter seinem gesunden, rationalen, moralisch wachen Bewußtsein hatte eine unsichtbare, eine unkontrollierbare Wut gehandelt; die Wut hatte auf gerissene Weise die Brenzligkeit und die Hast dazu benutzt, die Verantwortlichkeit auszuschließen, hatte den täuschenden Augenblick wahrgenommen, um der kalten und gefühllosen Miss Thorne eins zu verpassen.
Diese Handlung deutete auf etwas in ihm selbst hin, über das Blaine keineswegs mehr zu erfahren wünschte. Er fragte: »Miss Thorne, für wen haben Sie meinen Körper gekauft?«
Sie blitzte ihn an. »Ich habe ihn für Sie gekauft, da Sie offensichtlich nicht dazu in der Lage waren, selbst darauf aufzupassen!«
Also würde er doch nicht sterben müssen. Kein fetter Widerling würde seinen Körper erben und seinen Geist in alle Winde verstreuen. Gut! Er wollte auch unbedingt weiterleben. Aber er wünschte sich, daß nicht ausgerechnet Marie Thorne ihn gerettet hätte.
»Wenn ich gewußt hätte, was hier alles los ist, wäre es mir besser ergangen«, sagte Blaine.
»Ich wollte Ihnen alles erklären. Warum haben Sie nicht gewartet?«
»So, wie Sie mit mir geredet haben?«
»Es tut mir leid, wenn ich etwas brüsk war«, sagte sie. »Ich war ziemlich wütend, weil Mr. Reilly die Werbekampagne abgeblasen hatte. Aber konnten Sie das denn nicht verstehen? Wenn ich ein Mann gewesen wäre -«
»Sie sind aber kein Mann«, meinte Blaine.
»Was macht das für einen Unterschied? Ich vermute, daß Sie noch so ein paar merkwürdige altmodische Vorstellungen über die Rolle und Stellung der Frau haben.«
»Ich finde die gar nicht merkwürdig«, antwortete Blaine.
»Natürlich nicht.« Sie befingerte ihren Kiefer, der etwas verfärbt und geschwollen war. »Na gut, sagen wir eins zu eins? Oder wollen Sie mich noch einmal vermöbeln?«
»Einmal reicht, danke«, sagte Blaine.
Sie erhob sich ein wenig unsicher. Blaine legte einen Arm um sie, um sie zu stützen und geriet sofort aus der Fassung. Er hatte sich diesen adretten Körper als eine Mischung aus Sprungfedern und Stahl vorgestellt; tatsächlich aber bestand er aus Fleisch, festem, widerstandsfähigem und erstaunlich sanftem Fleisch. Aus dieser Nähe konnte er einzelne Haare sehen, die aus ihrer strengen Frisur ausgeschert waren; auf ihrer Stirn erblickte er ein winziges Muttermal unter dem Haaransatz. In diesem Augenblick hörte Marie Thorne auf, für ihn eine reine Abstraktion zu sein und nahm menschliche Gestalt an. »Ich kann auch allein stehen«, sagte sie.
Einen langen Augenblick später ließ Blaine sie los.
»Ich glaube«, sagte sie und blickte ihn fest an, »daß es unter den gegebenen Umständen besser wäre, wenn unsere Beziehung auf einer rein geschäftlichen Ebene bliebe.«
Wunder über Wunder! Auch sie hatte plötzlich damit begonnen, ihn als menschliches Wesen zu sehen; sie nahm ihn als Mann wahr, und das beunruhigte sie. Der Gedanke daran machte ihm viel Freude. Es war ja nicht so, dachte er bei sich, daß er Marie Thorne mochte oder sie sonderlich begehrte. Aber er wollte sie zu gern aus dem Gleichgewicht bringen, die Emaille von der Fassade kratzen, sie aus ihrer verdammten Fassung scheuchen.
Er sagte: »Aber gewiß doch, Miss Thorne!«
»Es freut mich, daß Sie das auch so sehen«, sagte sie zu ihm. »Denn, ehrlich gesagt, Sie sind nicht mein Typ.«
»Was ist denn Ihr Typ?«
»Ich mag große, schlanke Männer«, sagte sie. »Männer, die eine gewisse Grazie besitzen, Gelassenheit und Format.«
»Aber -«
»Wie wär’s mit Mittagessen?« fragte sie. »Danach möchte Mr. Reilly mit Ihnen ein paar Worte wechseln. Ich glaube, daß er Ihnen ein Angebot machen möchte.«
Er folgte ihr aus dem Zimmer und kochte dabei innerlich vor Wut. Hatte sie ihn verspottet? Große, schlanke, grazile Männer mit Format! Verdammt, das war er doch einmal gewesen! Und unter diesem fleischigen blonden Ringerkörper war er es auch immer noch, wenn sie nur die Augen hätte, genau genug hinzusehen!
Und überhaupt: Wer brachte denn nun wessen Pose eigentlich durcheinander?
*
Als sie sich an den Tisch in der Managementkantine des Rex-Gebäudes setzten, sagte Blaine plötzlich: »Melhill!«
»Wie?«
»Ray Melhill, der Mann, mit dem ich zusammen in der Zelle war. Hören Sie, Miss Thorne, wäre es vielleicht möglich, ihn auch freizukaufen? Ich werde dafür bezahlen, sobald ich dazu in der Lage bin. Wir waren zusammen eingesperrt. Ist ein verdammt netter Bursche.«
Sie sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck an. »Ich werde sehen, was sich machen läßt.«
Sie stand vom Tisch auf und ging fort. Blaine wartete. Er rieb sich die Hände und wünschte, daß er Carl Orcs Hals dazwischen hätte. Wenige Minuten später kehrte Marie Thorne zurück.
»Es tut mir sehr leid«, sagte sie. »Ich habe Kontakt zu Orc aufgenommen. Mr. Melhill ist eine Stunde nachdem Sie entfernt wurden, verkauft worden. Es tut mir wirklich leid. Ich wußte das nicht.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Blaine. »Ich glaube, ich hätte jetzt ganz gern einen Drink.«
Mr. Reilly saß steif und beinahe wie verloren in einem riesigen, weichen, thronähnlichen Stuhl. Er war ein winziger, spinnenartiger alter Mann. Seine faltige, durchschimmernde Haut spannte sich straff über seinem Schädel und an den Krallenhänden, und durch das ledrige, verschrumpelte Fleisch waren Knochen und Sehnen gut zu erkennen. Blaine hatte den Eindruck, als ob das Blut träge durch die brüchigen, purpurnen verkalkten Venen strömte und jeden Augenblick drohte, stehenzubleiben. Und doch war Reillys Haltung fest, und die Augen in seinem humorvollen Affengesicht blickten klar in die Welt hinaus.
»Das ist also unser Mann aus der Vergangenheit!« sagte Mr. Reilly. »Setzen Sie sich bitte, Sir. Sie auch, Miss Thorne. Ich habe gerade mit meinem Großvater über Sie gesprochen, Mr. Blaine.«
Blaine blickte sich um und erwartete beinahe, den seit fünfzig Jahren toten Großvater als Gespenst über sich schweben zu sehen. Doch in dem verschnörkelten Raum mit der hohen Decke war keine Spur von ihm zu sehen.
»Er ist fort«, erklärte Mr. Reilly. »Der arme Großvater kann immer nur kurz in einem ektoplasmatischen Zustand bleiben. Aber da hat er es immer hoch besser als die meisten anderen Gespenster.«
Blaines Gesichtsausdruck mußte sich verändert haben, denn Reilly fragte: »Glauben Sie nicht an Gespenster, Mr. Blaine?«
»Ich fürchte nein.«
»Natürlich nicht. Ich nehme an, daß das Wort für Ihren, im zwanzigsten Jahrhundert lebenden Geist eine Reihe unglücklicher Konnotationen hat. Rasselnde Ketten, Skelette und ähnlicher Blödsinn. Aber Worte verändern ihre Bedeutung, und selbst die Wirklichkeit verändert sich zusammen mit der Menschheit, die die Natur ändert und manipuliert.«
»Ich verstehe«, erwiderte Blaine höflich.
»Sie glauben, das wäre Etikettenschwindel«, sagte Mr. Reilly gutgelaunt. »Lag aber nicht in meiner Absicht. Nehmen Sie doch mal die Art und Weise, in der Worte ihre Bedeutung verändern. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde das Wort ›Atom‹ zu einem Schlagwort für phantasievolle Schriftsteller: all die ›Atomkanonen‹ und ›atomgetriebene Schiffe‹ und so. Ein absurdes Wort, das jeder vernünftige Mensch eigentlich am besten ignorieren würde, so wie Sie voller Vernunft das Wort ›Gespenst‹ ignorieren. Und doch konnten ›Atome‹ nur wenige Jahre später das Bild einer äußerst realistischen und unmittelbaren Bedrohung beschwören. Kein vernünftig denkender Mensch konnte das Wort länger ignorieren!«
Mr. Reilly lächelte, in seine Erinnerungen verloren. »Das Wort ›Strahlung‹ wurde von einem langweiligen Lehrbuchausdruck zu einer Quelle von Krebsgeschwüren. Zu Ihrer Zeit war ›Raumkrankheit‹ ein abstrakter Begriff ohne Substanz. Aber fünfzig Jahre später bedeutete das Krankenhäuser voller sich verkrampft windender Körper. Mr. Blaine, Worte haben die Neigung, sich zu verändern, und zwar vom abstrakten, phantastischen oder akademischen Gebrauch zu funktionalen, realistischen Alltagsausdrücken. So etwas geschieht eben, wenn die Technik die Theorie eingeholt hat.«
»Und Gespenster?«
»Dieser Vorgang ist ähnlich verlaufen. Mr. Blaine, Sie sind altmodisch! Sie müssen einfach Ihre Vorstellungen von diesem Wort ändern.«
»Das wird schwierig sein«, meinte Blaine.
»Aber unumgänglich. Denken Sie daran, es gab immer eine ganze Menge Beweismaterial für ihre Existenz. Man könnte sagen, daß die Prognose für ihre Existenz günstig war. Und als das Leben nach dem Tode zu einer Tatsache geworden war, anstatt lediglich ein frommer Wunsch zu sein, da wurden Gespenster eben auch zu einer Tatsache.«
»Ich glaube, ich müßte erst mal eins sehen«, sagte Blaine.
»Das werden Sie auch zweifellos tun. Aber genug davon. Sagen Sie, wie gefällt Ihnen unsere Zeit?«
»Bisher nicht allzu sehr«, erwiderte Blaine.
Reilly lachte, erheitert meckernd. »Bodyjacking sagt Ihnen wohl nicht so sehr zu, wie? Aber Sie hätten einfach nicht das Gebäude verlassen dürfen, Mr. Blaine. Das lag nicht in Ihrem eigenen Interesse und schon gar nicht im Interesse der Firma.«
»Es tut mir leid, Mr. Reilly«, sagte Marie Thorne. »Das war meine Schuld.«
Reilly blickte sie kurz an, dann wandte er sich wieder an Blaine. »Es ist natürlich ein Jammer. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, man hätte Sie Ihrem Schicksal im Jahre 1958 überlassen sollen. Ehrlich, Mr. Blaine, Ihre Gegenwart hier bringt uns etwas in Verlegenheit.«
»Das bedaure ich.«
»Mein Großvater und ich haben uns, leider zu spät, fürchte ich, darauf geeinigt, Sie nicht für Werbezwecke einzusetzen. Diese Entscheidung hätte früher getroffen werden müssen. Aber wir haben sie nun einmal erst jetzt getroffen. Doch entgegen unserem Wunsch könnte es dennoch zu Publicity kommen. Es gibt sogar die Möglichkeit, daß die Behörden rechtliche Schritte gegen die Firma einleiten werden.«
»Sir«, sagte Marie Thorne, »die Anwälte sind aber sehr zuversichtlich, was unsere Position angeht.«
»O nein, wir werden schon nicht ins Gefängnis wandern«, rief Reilly. »Aber denken Sie doch mal an die Publicity! An den Skandal! Miss Thorne, Rex muß seriös bleiben. Wenn Skandale angedeutet werden, wenn uns Illegalität nachgesagt wird … Nein, Mr. Blaine dürfte einfach nicht hier im Jahre 2110 sein. Er ist ein wandelnder Beweis für eine Fehleinschätzung. Deshalb möchte ich Ihnen auch ein Geschäft vorschlagen, Sir.«
»Ich höre«, sagte Blaine.
»Was halten Sie davon, wenn Rex Ihnen eine Jenseitsversicherung kauft und somit Ihr Leben nach dem Tode sicherstellt? Würden Sie dann in Selbstmord einwilligen?«
Blaine klimperte einen Augenblick lang sehr schnell mit den Augenlidern. »Nein.«
»Warum denn nicht?« fragte Reilly.
Einen Augenblick lang schien die Antwort selbstverständlich zu sein. Welches Lebewesen willigte schon freiwillig in seinen eigenen Tod ein? Unglücklicherweise tat der Mensch das inzwischen aber. Also mußte Blaine Zeit gewinnen und seine Gedanken ordnen.
»Zunächst einmal«, sagte er, »bin ich nicht völlig von diesem Jenseits überzeugt.«
»Angenommen, wir würden Sie überzeugen«, meinte Mr. Reilly. »Würden Sie dann in einen Selbstmord einwilligen?«
»Nein!«
»Wie kurzsichtig! Mr. Blaine, überdenken Sie doch einmal Ihre Lage. Dieses Zeitalter ist Ihnen feindlich gesinnt, es ist Ihnen fremd, es ist unbefriedigend für sie. Was könnten Sie schon für eine Arbeit leisten? Mit wem könnten Sie sich schon unterhalten, und über was denn eigentlich? Sie können ja noch nicht einmal in den Straßen Spazierengehen, ohne ständig in Lebensgefahr zu schweben.«
»Das wird nicht noch einmal passieren«, sagte Blaine. »Ich wußte einfach nicht, was hier so abläuft.«
»Aber natürlich wird es wieder passieren! Sie werden niemals wissen können, was hier abläuft! Niemals wirklich. Sie sind in der gleichen Situation, in der ein Höhlenmensch gewesen wäre, wenn er per Zufall in Ihrem 1958 gelandet wäre. Er würde sich wohl schon für fähig halten, nehme ich an, zu überleben, eben auf der Grundlage seiner Erfahrungen mit Säbelzahntigern und haarigen Mastodons. Vielleicht würde ihn sogar irgendeine barmherzige Seele vor Gangstern warnen. Aber was würde das schon nützen? Würde ihn das davor bewahren, von einem Auto überfahren zu werden, auf einer U-Bahnspur einen Elektroschock zu erleiden, in einen Fahrstuhlschacht zu fallen, von einer Kreissäge zerstückelt zu werden oder sich in der Badewanne das Genick zu brechen? Um unbeschadet unter solchen Bedingungen einherzuwandeln, muß man in sie hineingeboren sein. Und selbst dann erleiden immer noch zahlreiche Menschen Ihres Zeitalters solche Unfälle, wenn Ihre Aufmerksamkeit auch nur einen Augenblick nachläßt! Um wieviel wahrscheinlicher ist es da doch, daß unser Höhlenmensch ausrutschen würde?«
»Sie übertreiben die Lage«, sagte Blaine, der spürte, wie sich auf seiner Stirn Schweißtropfen bildeten.
»Tue ich das? Die Gefahren des Waldes sind unbedeutend im Vergleich zu denen der Stadt. Und wenn aus der Stadt eine Superstadt geworden ist -«
»Ich werde keinen Selbstmord begehen«, sagte Blaine. »Ich werde es riskieren. Lassen wir jetzt das Thema.«
»Warum sind Sie denn nicht vernünftig?« beharrte Mr. Reilly. »Bringen Sie sich doch jetzt um, und ersparen Sie uns allen einen Haufen Ärger! Ich kann Ihnen Ihre Zukunft vorhersagen, wenn Sie es schon nicht können. Vielleicht überleben Sie durch reine Nervenanstrengung und List ein Jahr lang. Vielleicht sogar zwei. Es wird nichts ausmachen, denn am Ende werden Sie ja doch Selbstmord begehen. Sie sind der Selbstmordtyp. Der Selbstmord steht Ihnen ins Gesicht geschrieben – Sie sind dazu geboren, Blaine! In einem oder in zwei Jahren werden Sie sich selbst umbringen, voller Erleichterung werden Sie endlich aus Ihrem gequälten Fleisch entweichen – aber ohne ein Jenseits, das ihren matten Geist willkommenheißen wird.«
»Sie sind verrückt!« rief Blaine.
»Was Selbstmordtypen angeht, da irre ich mich nie«, sagte Mr. Reilly ruhig. »Ich kann sie riechen. Mein Großvater stimmt mir darin zu. Wenn Sie also doch nur -«
»Nein«, erwiderte Blaine fest. »Ich werde mich nicht umbringen. Ich fürchte, da müssen Sie sich schon jemanden mieten, der das für Sie erledigt.«
»Das ist nicht mein Stil«, sagte Mr. Reilly. »Ich werde Sie nicht zwingen. Aber kommen Sie doch heute nachmittag zu meiner Reinkarnation. Erhaschen Sie doch mal einen Blick ins Jenseits! Vielleicht ändern Sie dann Ihre Meinung.«
Blaine zögerte, und der alte Mann grinste ihn an.
»Keine Angst, ich verspreche es Ihnen, es ist kein Trick dabei, kein Haken! Haben Sie befürchtet, daß ich Ihren Körper stehlen könnte? Ich habe mir meinen Körper schon vor Monaten ausgesucht, auf dem offenen Markt. Ehrlich gesagt, würde ich Ihren Körper überhaupt nicht wollen. Wissen Sie, ich würde mich niemals in etwas so Grobschlächtigem wohlfühlen können.«
Das Gespräch war beendet. Marie Thorne führte Blaine hinaus.
Der Reinkarnationssaal war wie ein kleines Theater aufgebaut. Er wurde oft benutzt, erfuhr Blaine, und zwar für Firmenvorträge und Managerschulungen. Das heutige Publikum war klein und ausgesucht. Der Aufsichtsrat von Rex war anwesend, fünf Männer mittleren Alters, die in der letzten Reihe saßen und leise miteinander redeten. Neben ihnen befand sich eine Sekretärin, die Aufnahmen machte. Blaine und Marie Thorne saßen vorne, so weit entfernt von den Direktoren wie es nur ging.
Auf der erhöhten Bühne stand, von weißen Scheinwerfern angestrahlt, das Reinkarnationszubehör. Es bestand aus zwei stabilen Armlehnensesseln, die mit Schnallen und Drähten bestückt waren. Zwischen den Sesseln stand eine große schwarze Maschine, die blankpoliert schimmerte. Dicke Kabel verbanden die Maschine mit den Sesseln und vermittelten Blaine ein ungutes Gefühl, als würde er bald einer Hinrichtung beiwohnen. Mehrere Techniker beugten sich über die Maschine und justierten sie abschließend. Neben ihnen stand der bärtige alte Doktor und sein rotgesichtiger Kollege.
Mr. Reilly kam auf die Bühne, nickte dem Publikum zu und setzte sich in einen der Sessel. Ihm folgte ein Mann in den Vierzigern, der einen ängstlichen Ausdruck in seinem blassen, entschlossenen Gesicht trug. Dies war der Wirt, der gegenwärtige Besitzer des Körpers, den Mr. Reilly gekauft hatte. Der Wirt setzte sich in einen anderen Sessel, blickte sich kurz im Publikum um und betrachtete dann seine Hände. Er schien verlegen zu sein. Auf seiner Oberlippe standen Schweißperlen, und die Achselhöhlen seines Jacketts wiesen dunkle Flecken auf. Er sah Reilly nicht an, und dieser schenkte ihm auch keinen Blick.
Ein weiterer Mann auf der Bühne, der kahlköpfig war und ernst dreinblickte, trug einen dunklen Anzug mit einem Stehkragen und hatte ein kleines schwarzes Buch in der Hand. Er begann ein geflüstertes Gespräch mit den beiden Männern in ihren Sesseln.
»Wer ist das denn?« fragte Blaine.
»Father James«, sagte Marie Thorne. »Er ist Pfarrer der Kirche des Jenseits.«
»Was ist das?«
»Eine neue Religion. Haben Sie von den Verrückten Jahren gehört? Na ja, damals gab es eine heftige religiöse Kontroverse …
Die brennendste Frage der Vierziger war die nach dem spirituellen Zustand des Jenseits. Es wurde noch schlimmer als die Jenseits, Inc. das Kommen des wissenschaftlichen Jenseits ankündigte. Die Firma versuchte verzweifelt, sich aus jeder religiösen Debatte herauszuhalten, aber das ließ sich schlecht vermeiden. Die meisten Kirchenmänner waren der Meinung, daß die Wissenschaft sich auf unfaire Weise in ihr Gebiet eingemischt hatte. Ob sie es nun wollte oder nicht, die Jenseits, Inc. wurde als Wortführer einer neuen religiösen Einstellung angesehen: Daß die Erlösung nämlich nichts mit religiösem, moralischen oder ethischen Erwägungen zu tun hatte, sondern auf einem angewandten, unpersönlichen, unabänderlichen wissenschaftlichen Prinzip beruhte.
Es wurden Zusammenkünfte, Treffen und Kongresse abgehalten, um diese brennende Frage zu beantworten. Manche Gruppen kamen zu der Überzeugung, daß das von der Wissenschaft neu enthüllte Jenseits offensichtlich nicht der Himmel, die Erlösung, das Nirwana oder das Paradies sei, denn es hatte nichts mit der Seele zu tun.
Der Geist, das war ihre Auffassung, war nicht identisch mit der Seele, und die Seele war auch nicht im Geist enthalten und bildete auch kein Teil von ihm. Die Wissenschaft hatte eingestandenermaßen eine Möglichkeit entwickelt, mit deren Hilfe die Lebensdauer eines Teils der Körper-Geist-Wesenheit verlängert werden konnte. Das war zwar nett, berührte die Seele jedoch überhaupt nicht und bedeutete schon gar nicht so etwas wie das Himmelreich oder Nirwana oder Ähnliches. Die Seele konnte durch wissenschaftliche Manipulationen nicht angerührt werden. Und das Schicksal der Seele nach dem unausweichlichen Tod des Geistes im wissenschaftlichen Jenseits hing wie gehabt von den Normen ab, wie sie schon immer von traditionellen moralischen, ethischen und religiösen Anschauungen postuliert worden waren.«
»Puh!« sagte Blaine. »Ich verstehe, was Sie meinen. Die haben also versucht, eine Koexistenz zwischen Wissenschaft und Religion zu erreichen. Aber war ihre Argumentation nicht für einige Leute ein bißchen zu hoch und spitzfindig?«
»Ja«, sagte Marie Thorne, »obwohl sie es natürlich besser erklärt haben als ich und es mit allen möglichen Analogien veranschaulicht haben. Aber das war nur eine Meinung. Es gab auch andere, die nicht nach einer Koexistenz strebten. Sie behaupteten einfach, daß das wissenschaftliche Jenseits sündig wäre. Und eine Richtung löste das Problem dadurch, daß sie sich auf die Seite der Wissenschaft schlug und erklärte, daß die Seele im Geist enthalten sei.«
»Das wird dann wohl vermutlich die Kirche des Jenseits gewesen sein?«
»Ja. Sie spalteten sich von den anderen Religionen ab. Nach ihrer Lehre enthält der Geist die Seele, und das Jenseits ist die Wiedergeburt der Seele, ohne spirituelles Wenn und Aber.«
»Das nenne ich auf der Höhe der Zeit bleiben!« meinte Blaine. »Aber die Moral -«
»Ihrer Meinung nach schaffte das die Moral nicht ab. Die Jenseitsler meinen, daß man Moral und Ethik niemandem durch ein System der Belohnung und Bestrafung aufzwingen kann; und selbst wenn man es könnte, sollte man es trotzdem nicht tun. Sie sagen, daß die Moral um ihrer selbst willen gelebt werden muß, zunächst einmal, was den Gesellschaftsorganismus angeht und dann auch was das höchste Gut des Individuums betrifft.«
Blaine fand, daß das ziemlich viel von der Moral verlangte. »Ich vermute, daß das eine sehr beliebte Religion ist?« fragte er.
»Äußerst beliebt«, antwortete Marie Thorne.
Blaine wollte noch weitere Fragen stellen, doch Father James hatte mit einer Rede begonnen.
»William Fitzsimmons«, sagte der Pfarrer zu dem Wirt, »Sie sind aus freien Stücken hierhergekommen, um Ihre Existenz auf der irdischen Ebene zu beenden und auf der spirituellen fortzusetzen?«
»Ja, Father«, flüsterte der blasse Wirt.
»Und man hat auch die notwendigen wissenschaftlichen Verfahren angewandt, um zu gewährleisten, daß Sie Ihre Existenz auf der spirituellen Ebene fortsetzen können?«
»Ja, Father.«
Father James wandte sich an Reilly. »Kenneth Reilly, Sie sind aus freien Stücken hierhergekommen, um Ihre Existenz auf der Erde im Körper von William Fitzsimmons fortzusetzen?«
»Ja, Father«, antwortete Reilly.
»Da all dies der Fall ist«, fuhr Father James fort, »wird hierbei kein Verbrechen begangen, weder ein weltliches noch ein geistliches. Es wird kein Leben genommen, denn das Leben und die Persönlichkeit von William Fitzsimmons werden im Jenseits ungehindert fortgesetzt, und das Leben und die Persönlichkeit von Kenneth Reilly werden ungehindert auf der Erde fortgesetzt. Die Reinkarnation möge deshalb erfolgen!«
Für Blaine schien es wie eine abscheuliche Mischung aus Hochzeit und Exekution. Der lächelnde Geistliche zog sich zurück. Die Techniker schnallten die Männer an ihre Sessel und befestigten Elektroden an ihren Armen, Beinen und Stirnen. Das Theater wurde still, und die Direktoren von Rex lehnten sich gespannt nach vorne.
»Los!« sagte Reilly und blickte Blaine lächelnd an.
Der Cheftechniker drehte an einem Knopf an der schwarzen Maschine. Das Gerät fing an, laut zu summen, und die Scheinwerfer wurden matter. Beide Männer zuckten verkrampft gegen ihre Schnallen, dann sackten sie zusammen.
Blaine flüsterte: »Sie ermorden diesen armen Bastard Fitzsimmons.«
»Dieser arme Bastard«, sagte Marie Thorne, »wußte genau, was er tat. Er ist siebenunddreißig Jahre alt und war schon sein ganzes Leben lang ein Versager. Er hat noch nie einen Job lange halten können und hatte keinerlei Chance auf ein Überleben nach dem Tode. Das war eine wunderbare Gelegenheit für ihn. Außerdem hat er eine Frau und fünf Kinder, die er nicht versorgen konnte. Die Summe, die Mr. Reilly bezahlt hat, wird es der Frau ermöglichen, den Kindern eine gute Ausbildung zu finanzieren.«
»Hurra!« sagte Blaine. »Wie schön für sie! Zu verkaufen: Vater mit kaum benutztem Körper in ausgezeichnetem Zustand. Sonderangebot! Umständehalber abzugeben!«
»Sie sind albern«, sagte sie. »Schauen Sie, es ist vorbei.«
Die Maschine wurde abgestellt, und man schnallte die beiden Männer fest. Reillys verrunzelte alte Leiche blieb unbeachtet, während die Techniker und die Ärzte den Wirtskörper untersuchten.
»Noch nichts!« rief der bärtige alte Arzt.
Blaine spürte die Nervosität im Saal, die sich mit einem Hauch von Furcht vermengt hatte. Die Sekunden zogen sich dahin, während die Ärzte und Techniker den Körper umringten.
»Immer noch nichts!« rief der alte Arzt, und seine Stimme wurde schrill.
»Was ist los?« fragte Blaine Marie Thorne.
»Wie ich Ihnen ja schon sagte, die Reinkarnation ist schwierig und gefährlich. Reillys Geist hat es bisher noch nicht geschafft, in den Wirtskörper einzudringen. Viel Zeit hat er nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Weil ein Körper in dem Augenblick zu sterben anfängt, in dem er nicht mehr bewohnt wird. Wenn der Geist nicht wenigstens latent im Körper ist, setzen unwiderrufliche Todesvorgänge ein. Der Geist ist lebenswichtig. Selbst ein bewußtloser Geist kontrolliert immer noch die automatischen Körpervorgänge. Aber ohne jeden Geist -«
»Immer noch nichts!« schrie der alte Doktor.
»Ich glaube, jetzt ist es schon zu spät«, flüsterte Marie Thorne.
»Ein Beben!« sagte der Arzt. »Ich habe ein Beben gespürt!«
Ein langes Schweigen setzte ein.
»Ich glaube, er ist drin!« rief der alte Arzt. »Los jetzt, Sauerstoff! Adrenalin!«
Sie setzten dem Gesicht des Wirts eine Maske auf und verabreichten ihm eine Spritze. Der Wirt bewegte sich, zitterte, sackte zusammen und bewegte sich aufs neue.
»Er hat es geschafft!« rief der alte Arzt und entfernte die Sauerstoffmaske.
Wie auf ein Stichwort hin sprangen die Direktoren von ihren Sitzen und eilten auf die Bühne. Sie umringen den Wirt, der nun mit den Augen rollte und keuchte.
»Herzlichen Glückwunsch, Mr. Reilly!«
»Gut gemacht, Sir!«
»Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, Mr. Reilly!«
Der Wirt starrte sie an. Er wischte sich über den Mund und sagte: »Mein Name ist nicht Reilly!«
Der alte Arzt bahnte sich einen Weg durch die Direktoren und beugte sich über den Wirt. »Nicht Reilly?« fragte er. »Sind Sie Fitzsimmons?«
»Nein«, sagte der Wirt. »Ich bin nicht Fitzsimmons, dieser arme verdammte Narr! Und ich bin auch nicht Reilly. Reilly hat versucht, in diesen Körper zu gelangen, aber ich war zu schnell für ihn. Ich bin als erster reingekommen. Es ist jetzt mein Körper.«
»Wer sind Sie?« fragte der Doktor.
Der Wirt erhob sich. Die Direktoren wichen von ihm zurück, und einer von ihnen bekreuzigte sich hastig.
»Er war zu lange tot«, sagte Marie Thorne.
Das Gesicht des Wirts war nur noch schwach und sehr stilisiert das Antlitz des blassen, ängstlichen William Fitzsimmons. Es war nichts von Fitzsimmons’ Entschlossenheit darin, nichts von Reillys Verdrießlichkeit und Gutmütigkeit in diesem Gesicht. Es glich nur sich selbst.
Das Gesicht war totenblaß bis auf die schwarzen Bartstoppeln an Kinn und Wangen. Die Lippen waren blutlos. Als Fitzsimmons noch da gewesen war, waren die Züge in harmonischem, unauffälligen Übereinklang gewesen. Doch nun waren die einzelnen Züge verhärtet und voneinander getrennt. Das unharmonische weiße Gesicht sah grob und unfertig aus, wie Eisen vor der Bearbeitung oder Ton vor dem Brennen. Es trug einen schlaffen, mißmutigen entspannten Ausdruck, weil Muskeltonus und -spannung im Gesicht fehlten. Die ruhigen, formlosen, unharmonischen Züge existierten einfach und verrieten nichts über die Persönlichkeit, die dahinter lag. Das Gesicht wirkte nicht mehr völlig menschlich. Alles, was menschlich an der Gestalt war, ruhte nun in den großen, geduldigen, ruhigen Buddhaaugen.
»Der Körper ist zum Zombie geworden«, flüsterte Marie Thorne und klammerte sich an Blaines Schulter fest.
»Wer sind Sie?« fragte der alte Arzt.
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, sagte das Wesen. »Ich kann es nicht.« Es drehte sich langsam um und wollte von der Bühne steigen. Zwei der Direktoren stellten sich ihm zögernd in den Weg.
»Haut ab«, sagte er, »das ist jetzt mein Körper.«
»Lassen Sie den armen Zombie in Frieden«, sagte der alte Arzt erschöpft.
Die Direktoren machten den Weg frei. Der Zombie ging ans Ende der Bühnen, schritt die Stufen hinab und kam zu Blaine herüber.
»Ich kenne dich!« sagte er.
»Was? Was wollen Sie?« fragte Blaine nervös.
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte der Zombie und starrte ihn konzentriert an. »Wie heißt du?«
»Tom Blaine.«
Der Zombie schüttelte den Kopf. »Sagt mir nichts. Aber ich werde mich schon noch dran erinnern. Du bist es schon, das stimmt schon. Irgendwas … Mein Körper stirbt, nicht wahr? Schade. Ich werde mich dran erinnern, bevor er tot ist. Du und ich, weißt du, wir waren zusammen. Blaine, erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
»Nein!« schrie Blaine und zuckte vor der Vorstellung zurück, daß es zwischen ihm und diesem sterbenden Ding eine lebenswichtige Beziehung geben sollte. Das konnte einfach nicht sein! Auf welches gemeinsame Geheimnis spielte dieser Leichendieb da an, dieser schmutzige Usurpator, welche dunkle Intimität deutete er da an, welches gemeinsame Wissen, das nur von ihm und Blaine wahnsinnig keckernd geteilt werden sollte, wie eine schmutzige Brotrinde?
Nichts, sagte Blaine zu sich selbst. Er kannte sich selbst, wußte, wer er war, was er gewesen war. Nichts Derartiges hatte das Recht, sich zu erheben und ihn … Diese Kreatur mußte verrückt sein oder sich irren.
»Wer sind Sie?« fragte Blaine.
»Ich weiß es nicht!« Der Zombie warf seine Hände in die Höhe wie ein Mann, der in einem Netz gefangen war. Und Blaine spürte, was dieser Geist fühlen mußte, verwirrt, desorientiert, namenlos, mit dem Willen zu leben und eingekerkert in der fleischigen, sterbenden Umarmung eines Zombiekörpers.
»Ich werde dich wieder aufsuchen«, sagte der Zombie zu Blaine. »Du bist wichtig für mich. Ich werde dich wiedertreffen und mich an alles über dich und mich erinnern.«
Der Zombie wandte sich um und schritt durch den Gang aus dem Theatersaal hinaus. Blaine starrte ihm nach, bis er plötzlich eine Last auf seiner Schulter spürte.
Marie Thorne war ohnmächtig geworden. Es war die weiblichste Handlung, die sie bisher vollführt hatte.