An der Reinkarnationsmaschine diskutierten der Cheftechniker und der bärtige Arzt miteinander, von ihren Gehilfen respektvoll umringt. Die Auseinandersetzung wurde im Fachjargon geführt, doch Blaine merkte, daß sie wohl versuchten, die Ursache für den Mißerfolg der Reinkarnation herauszufinden. Jeder schien der Meinung zu sein, daß der Hauptfehler beim anderen liege.
Der alte Doktor beharrte darauf, daß die Maschine falsch eingestellt gewesen sein mußte oder daß ein plötzlicher, nicht-kompensierter Energieabfall eingetreten sein mußte. Der Cheftechniker schwor, daß die Maschine perfekt sei. Er war der Überzeugung, daß Reilly dem anstrengenden Versuch körperlich nicht gewachsen gewesen sei.
Niemand wollte auch nur um einen Zoll von seinem Standpunkt abweichen. Aber da sie vernünftige Menschen waren, kamen sie bald zu einer Kompromißlösung. Der Fehler, so einigten sie sich, lag bei dem namenlosen Geist, der Reilly beim Eintrittsversuch in den Körper von Fitzsimmons bekämpft hatte und ihn ausgebootet hatte.
»Aber wer war das?« fragte der Cheftechniker. »Meinen Sie, daß es ein Gespenst war?«
»Möglicherweise«, sagte der Arzt, »obwohl es verdammt selten ist, daß Gespenster in einen lebenden Körper eindringen. Aber er hat verrückt genug geredet, um ein Gespenst sein zu können.«
»Wer immer es auch gewesen sein mag«, sagte der Cheftechniker, »den Wirt hat er jedenfalls zu spät übernommen. Der Körper war definitiv zomboid. Na ja, jedenfalls kann man niemanden dafür verantwortlich machen.«
»Genau«, sagte der Doktor. »Ich werde die offensichtliche Intaktheit des Geräts bescheinigen.«
»Ein fairer Vorschlag«, antwortete der Cheftechniker. »Und ich werde die offensichtliche körperliche Eignung des Patienten bescheinigen.«
Sie wechselten einen Blick vollsten Verständnisses.
Die Direktoren hielten mittlerweile eine eigene Konferenz ab und versuchten, die kurzfristigen Auswirkungen abzuschätzen, die das Geschehen auf die personelle Struktur der Firma haben würde, überlegten, wie man die Erklärung publik machen sollte und ob man der Belegschaft von Rex einen freien Tag gewähren sollte, um den Todespalast der Familie Reilly zu besuchen.
Der ursprüngliche Körper des alten Reilly lag zusammengesackt im Sessel und wurde langsam steif. Noch immer trug er sein gelöstes, geringschätziges Grinsen.
Marie Thorne erlangte ihr Bewußtsein wieder.
»Kommen Sie«, sagte sie und führte Blaine aus dem Theatersaal hinaus. Sie eilten durch die langen grauen Gänge auf die Straße, wo sie ein Helitaxi rief und dem Piloten eine Adresse nannte.
»Wo fahren wir hin?« fragte Blaine, als das Helitaxi sich erhob und davonflog.
»In meine Wohnung. Rex wird jetzt eine Weile lang das reinste Irrenhaus sein.« Sie richtete ihre Frisur.
Blaine lehnte sich in die Polster und blickte auf die glitzernde Stadt hinab. Aus dieser Höhe sah sie aus wie eine exquisite Miniatur, ein buntes Mosaik aus Tausendundeiner Nacht. Doch irgendwo dort unten lief der Zombie durch die Straßen und Ebenen und versuchte sich zu erinnern – an ihn.
»Aber warum ich?« fragte Blaine laut.
Marie Thorne blickte ihn an. »Warum Sie und der Zombie? Herrje, warum denn wohl nicht? Haben Sie denn noch nie Fehler gemacht?«
»Ich schätze schon. Aber die sind vorbei und erledigt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht konnten Fehler in Ihrer Zeit für immer vorbei sein. Heutzutage stirbt nichts mehr mit Sicherheit. Das ist einer der großen Nachteile beim Leben nach dem Tode, wissen Sie. Manchmal weigern sich unsere Fehler, sich anständig beerdigen zu lassen und tot zu sein. Manchmal verfolgen sie einen eben.«
»Das merke ich«, sagte Blaine. »Aber ich habe nie etwas getan, das sowas bewirken würde!«
Sie zuckte ungerührt mit den Schultern. »Wenn das der Fall ist, dann sind Sie besser als die meisten von uns.«
Noch nie war sie ihm so fremd gewesen. Das Helitaxi senkte sich langsam. Und Blaine brütete über die Nachteile, die in allen Vorteilen steckten.
In seiner Zeit hatte er erlebt, wie die Seucheneindämmung in den rückständigen Teilen der Welt eine Bevölkerungsexplosion, Hungersnot und neue Krankheiten erzeugt hatte. Er hatte mit angesehen, wie Kernkraft zum Atomkrieg führte. Jeder Vorteil hatte seine eigenen, speziellen Nachteile mit sich gebracht. Warum sollte es da heute anders sein?
Ein beglaubigtes, wissenschaftliches Jenseits war zweifellos ein Vorteil für die Menschheit. Die Manipulation hatte die Theorie wieder eingeholt! Aber die Nachteile … Es gab eine bestimmte Aufweichung der Schutzgrenzen des irdischen Lebens, ein paar Risse im Vorhang, ein paar Brüche im Deich. Die Toten weigerten sich, still zu bleiben, sie beharrten darauf, sich im Leben einzumischen. Zu wessen Vorteil? Sogar Gespenster – zweifellos logisch und innerhalb der bekannten Naturgesetze operierend. Aber das war ein kühler Trost für einen heimgesuchten Menschen.
Heutzutage, dachte Blaine, brach eine völlig neue Existenzebene in die Existenz des Menschen auf der Erde ein. Genau wie der Zombie auf beunruhigende Weise in seine Existenz eingebrochen war.
Das Helitaxi landete auf dem Dach eines Hochhauses. Marie Thorne zahlte und führte Blaine zu ihrem Apartment.
*
Es war ein großes, luftiges Apartment, auf angenehme Weise weiblich und mit einem gewissen Hauch des Spektakulären eingerichtet. Es waren mehr helle Farben zu sehen, als Blaine bei Miss Thornes schwermütigem Charakter erwartet hatte; aber vielleicht drückten die strahlenden Gelbtöne und das scharfe Rot eine Art von Wunsch aus, eine Kompensation für die Einengung durch ihr berufliches Leben. Oder vielleicht war es auch nur gerade der vorherrschende Stil. Das Apartment enthielt die Art von Geräten, die Blaine mit der Zukunft verband: sich selbst einstellende Beleuchtung und Klimaregulierung, pneumatische Sessel und eine Bar, die auf Knopfdruck einen vernünftigen Martini produzierte.
Marie Thorne ging in eines der Schlafzimmer. Sie kehrte in einem Hauskleid mit hohem Kragen zurück und setzte sich ihm gegenüber auf die Couch.
»Nun, Blaine, was haben Sie für Pläne?«
»Ich dachte, daß ich Sie zunächst einmal anpumpen wollte.«
»Kein Problem.«
»Wenn das der Fall sein sollte, dann werde ich mir zunächst ein Hotelzimmer und dann eine Arbeitsstelle suchen.«
»Das wird nicht leicht sein«, sagte sie, »aber ich kenne ein paar Leute, die vielleicht -«
»Nein danke«, wehrte Blaine ab. »Ich hoffe, daß sich das nicht allzu dämlich anhört, aber ich würde mir lieber selbst eine Stelle suchen.«
»Nein, das hört sich nicht dämlich an. Ich hoffe nur, daß es auch möglich ist. Wie wär’s mit Abendessen?«
»Prima. Kochen Sie auch?«
»Ich drücke auf Knöpfe«, sagte sie. »Mal sehen. Wie wär’s mit einem echt marsianischen Essen?«
»Nein danke«, sagte Blaine. »Marsianisches Essen schmeckt zwar gut, aber es hält nicht lange vor. Haben Sie zufällig ein Steak im Haus?«
Marie drückte die Knöpfe, und ihr automatischer Koch erledigte den Rest:
Er wählte die Zutaten aus der Speisekammer und der Gefrierbox, schälte, richtete an, wusch und kochte sie und bestellte Nachschub als Ersatz.
Das Essen war ausgezeichnet, aber Marie schien auf merkwürdige Weise verlegen deswegen zu sein. Sie entschuldigte sich bei Blaine wegen der völligen Automatisierung des Vorgangs.
Schließlich stammte er ja aus einer Zeit, in der die Frauen ihre Konservenbüchsen selbst öffneten und auch selbst abschmeckten; aber damals hatten sie wahrscheinlich auch mehr Zeit dafür.
Als sie ihren Kaffee getrunken hatten, war die Sonne bereits untergegangen. Blaine sagte: »Recht vielen Dank, Miss Thorne. Wenn Sie mir nun das Geld leihen könnten, dann mache ich mich auf den Weg.«
Sie blickte ihn erstaunt an. »In der Nacht?«
»Ich werde schon ein Hotelzimmer finden. Sie sind sehr nett zu mir gewesen, aber ich will Ihnen nicht länger -«
»Ist schon gut«, sagte sie. »Bleiben Sie ruhig über Nacht.«
»Na gut«, sagte Blaine. Sein Mund war plötzlich trocken, und sein Herz schlug verdächtig schnell. Er wußte, daß an ihrer Einladung nichts Persönliches war, aber sein Körper verstand das nicht, wie es schien. Er bestand darauf, hoffnungsfroh zu reagieren, sogar erwartungsvoll – auf die selbstbeherrschte, antiseptische Miss Thorne.
Sie wies ihm ein Schlafzimmer zu und gab ihm einen grünen Pyjama. Als sie gegangen war, schloß Blaine die Tür, zog sich aus und stieg ins Bett. Als er dem Licht sagte, daß es ausgehen sollte, erlosch es.
Kurz darauf kam Miss Thorne herein, so wie sein Körper es erwartet hatte. Sie trug etwas Weißes, Schimmerndes und legte sich neben ihn.
Schweigend lagen sie nebeneinander. Marie rückte näher an ihn heran, und Blaine legte einen Arm unter ihren Kopf.
Er sagte: »Ich dachte, daß mein Typ Sie nicht anzieht?«
»Nicht ganz. Ich habe nur gesagt, daß ich große schlanke Männer vorziehe.«
»Ich war mal ein großer, schlanker Mann.«
»Das habe ich vermutet«, sagte sie.
Sie schwiegen. Blaine wurde unruhig und mißtrauisch. Was bedeutete das? Mochte sie ihn etwa? Oder war das nur eine Sitte der Zeit, eine Art von Eskimo-Gastfreundschaft?
»Miss Thorne«, sagte er, »ich frage mich, ob -«
»Ach sei still!« sagte sie und drehte sich plötzlich zu ihm hin. Ihre Augen wirkten in dem schattigen Zimmer riesig. »Mußt du denn alles hinterfragen, Tom?«
Nachher sagte sie verträumt: »Unter diesen Umständen kannst du mich wohl Marie nennen, glaube ich.«
Am Morgen duschte Blaine, rasierte sich und zog sich an. Marie bestellte per Knopfdruck ein Frühstück für beide. Nachdem sie gegessen hatten, reichte sie ihm einen kleinen Umschlag.
»Wenn du mehr brauchen solltest, kann ich dir noch was geben«, sagte sie. »Was jetzt deinen Job angeht -«
»Du hast mir sehr geholfen«, sagte Blaine. »Aber den Rest würde ich lieber auf eigene Faust machen.«
»Also gut. Meine Adresse und Telefonnummer stehen auf dem Umschlag. Bitte ruf mich an, sobald du ein Hotel gefunden hast.«
»Das werde ich«, sagte er und musterte sie aufmerksam. Es war keine Spur mehr von der Marie der letzten Nacht zu erkennen. Sie hätte eine völlig andere Person sein können. Aber ihre einstudierte Beherrschtheit war Blaine Reaktion genug. Jedenfalls für den Augenblick.
Als sie an der Tür standen, berührte sie seinen Arm. »Tom«, sagte sie, »paß bitte auf dich auf. Und ruf mich an.«
»Das werde ich, Marie«, versprach Blaine. Glücklich und ausgeruht ging er hinaus. Er wollte die Welt erobern.
Blaines erster Gedanke war ursprünglich gewesen, nacheinander die Yacht-Konstruktionsbüros aufzusuchen. Aber er entschied sich dagegen, weil er sich einfach einmal vorgestellt hatte, wie ein Yacht-Designer aus dem Jahre 1806 in ein Büro des Jahres 1958 kam.
Der merkwürdige alte Mann mochte ja sehr talentiert sein, aber was würde ihm das nützen, wenn man ihn fragte, was er von metazentrischer Shelfanalyse verstand, von Flußdiagrammen, von Sekundärkraftzentrierung und der besten Plazierung für Radiopeilgerät und Radar? Welche Firma würde ihn bezahlen, während er alles über Reduktionsgetriebe, abblätternde Lacke, Tanktests, Propellerumdrehungszahlen, Wärmeaustauschsysteme, synthetisches Segeltuch und so weiter lernte?
Keine Chance, entschied Blaine. Er konnte nicht einfach 152 Jahre hinter der Zeit herhinken und in einem Konstruktionsbüro nach einer Stelle fragen. Eine Stelle als was? Vielleicht konnte er viel studieren und sich auf den Stand von 2110 bringen, aber das würde er in seiner Freizeit tun müssen.
Im Augenblick würde er alles annehmen, was er bekommen konnte.
Er ging an einen Zeitungskiosk und kaufte eine mikroverfilmte New York Times und ein Lesegerät. Er ging weiter, bis er eine Bank gefunden hatte, setzte sich und sah sich die Stellenanzeigen an. Schnell ließ er die qualifizierten Angebote aus, für die er ja doch nicht geeignet war, und studierte die Jobs für ungelernte Kräfte. Er las:
»Auto-Cafeteria sucht Mann für Wartung. Lediglich Grundkenntnisse der Robotik erforderlich.«
»Hüllenreiniger für Mar-Coling Raumer gesucht. Muß Rh positiv haben und verstärkter Antiklaustrophobiker sein.«
»Listenmann für hochtensilen Abfalltransporter gesucht. Bedingung: Grundkenntnisse in Jenkling. Verpflegung inklusive.«
Blaine merkte, daß selbst ungelernte Arbeit im Jahre 2110 ihn im Augenblick überfordern würde. Als er die Seite ›Stellenangebote für junge Leute‹ aufschlug, las er:
»Junger Mann gesucht, der sich für Slic-Trug-Maschinen interessiert. Gute Aufstiegsmöglichkeiten. Grundkenntnisse in Integralrechnung und Erfahrung im Gebrauch der Hooteschen Formeln erforderlich.«
»Junger Mann für Außendienstarbeit auf Venus gesucht. Gehalt plus Verkaufsprovision. Grundkenntnisse in Französisch, Deutsch, Russisch und Ourescz erwünscht.«
»Zeitungsausträger: Die Eth-Col-Agentur sucht Zeitungsjungen. Müssen Spenning lenken können. Gute Stadtkenntnisse erforderlich.«
Er konnte also noch nicht einmal als Zeitungsjunge arbeiten!
Es war ein deprimierender Gedanke. Es war offenbar doch schwieriger, eine Stelle zu finden, als er gedacht hatte. War denn niemand mehr in dieser Stadt, der Gräben aushob oder Pakete austrug? Machten die Roboter alle körperlichen Arbeiten, oder brauchte man mittlerweile sogar schon einen Doktortitel, um eine Schubkarre zu schieben? Was war das nur für eine Welt?
Er blätterte zurück auf die erste Seite des New York Times und stellte sein Lesegerät schärfer ein, dann las er die Tagesneuigkeiten:
In Oxa, Südmars, wurde ein neuer Raumhafen gebaut.
Ein Poltergeist war vermutlich die Ursache für mehrere Brände in Industrieanlagen in Chicago. Man hatte mit Versuchsexorzismen begonnen.
Im Sektor Sigma-G des Asteroidengürtels waren reiche Kupfervorkommen entdeckt worden.
In Berlin waren zunehmende Doppelgängeraktivitäten zu verzeichnen.
In den Octopidörfern der Mindanao-Tiefe fanden weitere Forschungsarbeiten statt.
In Spenser, Alabama, hatte ein Mob zwei städtische Zombies gehenkt und verbrannt. Gegen die Rädelsführer waren rechtliche Schritte eingeleitet worden.
Ein führender Anthropologe vertrat die Auffassung, daß das Tuamoto-Archipel in Ozeanien die letzte Bastion des einfachen Lebens in der Art des Zwanzigsten Jahrhunderts sei.
Die Atlantische Fischwächtergesellschaft hielt ihre Jahresversammlung im Waldorf ab.
Im österreichischen Tirol hatte man ohne Erfolg einen Werwolf gejagt. Den Dorfbewohnern wurde angeraten, rund um die Uhr Wachtposten aufzustellen, damit sie sich vor dem Tier schützen könnten.
Im Kongreß war ein Gesetzesvorschlag unterbreitet worden, der Jagden und Gladiatorenkämpfe verbieten sollte. Der Antrag wurde abgelehnt.
In der Unterstadt von San Diego hatte ein Amokläufer vier Menschen getötet.
Die Zahl der Hubschrauberunfälle hatte dieses Jahr bereits die Ein-Millionen-Grenze überschritten.
Blaine legte die Zeitung beiseite, er war deprimierter denn je. Gespenster, Doppelgänger, Werwölfe, Poltergeister … Der Klang dieser vagen, grimmigen alten Worte gefiel ihm ganz und gar nicht; sie schienen heutzutage völlig reale Erscheinungen zu bezeichnen. Er wollte keinem der gefährlicheren Nebeneffekte des Jenseits mehr begegnen.
Er stand auf und ging weiter. Er kam durch das Theaterviertel, schritt an glitzernden Markisen vorbei, an Plakaten, die die Gladiatorenkämpfe im Madison Square Garden anpriesen, an Ankündigungen für Solido-Visionsprogramme und Senso-Shows, an leuchtenden Videowänden, die Übertonkonzerte und venusische Pantomimen ankündigten. Traurig dachte Blaine daran, daß er ein Teil dieses überwältigenden Märchenlands hätte sein können, wenn Reilly sich nicht eines anderen besonnen hätte. Er hätte in einem von diesen Theatern auftreten können, angekündigt als ›Der Mann aus der Vergangenheit‹ …
Natürlich! Plötzlich wurde Blaine klar, daß ein Mann aus der Vergangenheit einen einzigartigen und unzweifelbaren Neuheitswert hatte, ein latentes Talent. Die Rex Corporation hatte sein Leben im Jahre 1958 nur gerettet, um dieses Talent auszuschlachten. Aber sie hatten ihre Meinung geändert. Was sollte ihn denn nun daran hindern, seinen Neuheitswert selbst auszubeuten? Und was sollte er denn auch sonst schon tun? Es sah so aus, als sei das Showgeschäft das einzige Geschäft, das ihm offenstand.
Er eilte in ein riesiges Bürogebäude und sah, daß auf der Liste sechs Theateragenturen standen. Er wählte Barnex, Scofield & Styles aus und nahm den Aufzug zu ihrem Büro im neunzehnten Stock.
Er kam in einen luxuriösen Warteraum, an dessen Wänden gigantische Solidografien von lächelnden Schauspielerinnen hingen. Am anderen Ende des Raums sah ihn eine hübsche Empfangsdame mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Blaine schritt an ihren Schreibtisch. »Ich möchte jemanden wegen meiner Nummer sprechen«, sagte er.
»Tut mir sehr leid«, sagte sie, »wir sind völlig ausgebucht.«
»Das ist aber eine ganz besondere Nummer.«
»Es tut mir ehrlich leid. Vielleicht nächste Woche.«
»Hören Sie«, sagte Blaine, »meine Nummer ist wirklich einmalig. Sehen Sie, ich bin ein Mann aus der Vergangenheit.«
»Es würde mich auch nicht interessieren, wenn Sie das Gespenst von Kirk Douglas wären«, flötete sie. »Wir sind ausgebucht. Versuchen Sie’s nächste Woche noch einmal.«
Blaine wandte sich ab, um zu gehen. Ein kurzer, gedrungener Mann schoß an ihm vorbei und nickte der Empfangsdame knapp zu.
»Morgen, Miss Thatcher.«
»Morgen, Mr. Barnex.«
Barnex! Einer der Agenten! Blaine rannte hinter ihm her und packte ihn am Ärmel.
»Mr. Barnex«, sagte er, »ich habe eine Nummer -«
»Jeder hat eine Nummer«, sagte Barnex gelangweilt.
»Aber diese Nummer ist einmalig!«
»Jedermanns Nummer ist einmalig«, sagte Barnex. »Lassen Sie meinen Ärmel los. Versuchen Sie’s nächste Woche noch einmal.«
»Ich bin aus der Vergangenheit!« rief Blaine und kam sich plötzlich ziemlich lächerlich vor. Barnex drehte sich um und starrte ihn an. Er sah so aus, als würde er gleich die Polizei oder die Feuerwehr anrufen. Aber Blaine redete weiter, ohne Rücksicht auf Verluste.
»Ich bin es wirklich!« sagte er. »Ich habe absolut sichere Beweise. Die Rex Corporation hat mich aus der Vergangenheit gerissen. Fragen Sie sie doch!«
»Rex?« sagte Barnex. »Ja, bei Lindys habe ich davon gehört … Hmm. Kommen Sie mit in mein Büro, Mister -«
»Blaine, Tom Blaine.« Er folgte Barnex in eine winzige überfüllte Nische. »Haben Sie eine Verwendung für mich?« fragte er.
»Vielleicht«, sagte Barnex und winkte Blaine in einen Sessel. »Kommt drauf an. Sagen Sie mir, Mr. Blaine, aus welcher Epoche der Vergangenheit stammen Sie?«
»Aus 1958. Ich habe genaue Kenntnisse der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich habe auf der Schulbühne gestanden und eine Berufsschauspielerin, die ich mal kannte, hat mir gesagt, daß ich eine natürliche -«
»1958? Zwanzigstes Jahrhundert, ja?«
»Ja, genau.«
Der Agent schüttelte den Kopf. »Zu schade. Wenn Sie nun ein Schwede aus dem sechsten Jahrhundert gewesen wären oder ein Japaner aus dem siebten, dann hätte ich Ihnen eine Stelle verschaffen können. Ich hatte auch keine Schwierigkeiten damit, Verträge für unsere Römer aus dem ersten Jahrhundert und unseren Sachsen aus dem vierten Jahrhundert zu bekommen, und von denen könnte ich noch ein paar mehr gebrauchen. Aber es ist verdammt schwierig, jemanden aus diesen frühen Jahrhunderten zu bekommen, seitdem die Zeitreisen verboten wurden. Und vor Christus, das kann man erst recht vergessen.«
»Aber was ist mit dem 20. Jahrhundert?« fragte Blaine.
»Ausgebucht.«
»Ausgebucht?«
»Klar. Ben Therler aus 1953 bekommt schon alle zur Verfügung stehenden Auftritte.«
»Ich verstehe«, sagte Blaine und stand langsam auf. »Na ja, Mr. Barnex, trotzdem vielen Dank.«
»Keine Ursache«, sagte Barnex. »Hätte Ihnen gerne geholfen. Wenn Sie aus irgendeiner Zeit vor dem elften Jahrhundert gewesen wäre, egal von welchem Ort, dann hätte ich Sie wahrscheinlich unterbringen können. Aber so neues Zeugs wie das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert, dafür interessiert sich kaum jemand … He, warum gehen Sie nicht mal zu Therler? Es ist zwar kaum wahrscheinlich, aber vielleicht kann er Sie ja als Gehilfe oder sowas gebrauchen.« Er kritzelte eine Adresse auf einen Zettel und reichte sie Blaine.
Blaine nahm den Zettel, dankte ihm noch einmal und ging.
Auf der Straße blieb er einen Augenblick stehen und haderte mit seinem Schicksal. Seine einzige und unanfechtbare Fähigkeit – sein Neuheitswert – von Ben Therler aus dem Jahre 1953 usurpiert! Wirklich, dachte er, man sollte die Zeitreisen doch wesentlich exklusiver halten! Es war einfach nicht fair, einen Mann hier abzuwerfen und sich dann nicht mehr um ihn zu kümmern.
Er überlegte, was für ein Mann Therler wohl sein mochte. Na ja, er würde es ja merken. Selbst wenn Therler keinen Assistenten brauchen sollte, wäre es immer noch eine Freude und ein Trost, mit jemandem von Zuhause reden zu können. Und Therler, der ja schon länger hier lebte, konnte vielleicht ein paar Tips geben, was ein Mensch aus dem zwanzigsten Jahrhundert im Jahre 2110 anfangen konnte.
Er winkte ein Helitaxi herbei und gab dem Piloten die Adresse. Fünfzehn Minuten später befand er sich in Therlers Hochhaus und drückte auf die Klingel seines Apartments.
Ein geschniegelter, rundlicher, selbstzufrieden wirkender Mann in einem Morgenmantel öffnete die Tür.
»Sind Sie der Fotograf?« fragte er. »Sie sind zu früh.«
Blaine schüttelte den Kopf. »Mr. Therler, wir sind einander noch nie begegnet. Ich stamme aus Ihrem Jahrhundert. Ich bin von von 1958.«
»Ach ja, tatsächlich?« fragte Therler mit offensichtlichem Mißtrauen.
»Es stimmt«, sagte Blaine. »Ich bin von der Rex Corporation hergeholt worden. Sie können sich meine Geschichte von ihnen bestätigen lassen.«
Therler zuckte mit den Schultern. »Na gut, was wollen Sie?«
»Ich hatte gehofft, daß Sie vielleicht einen Gehilfen brauchen oder so -«
»Nein, nein, ich arbeite nie mit Gehilfen«, sagte Therler und wollte die Tür schließen.
»Na ja, das habe ich auch nicht erwartet«, sagte Blaine. »Der wirkliche Grund, weswegen ich gekommen bin, war, um mit Ihnen zu reden. Man ist ziemlich einsam in einem fremden Jahrhundert. Ich wollte mal mit jemandem aus meiner Zeit reden. Ich dachte vielleicht ginge es Ihnen auch so.«
»Mit mir? Oh!« sagte Therler und lächelte plötzlich ein Bühnenlächeln. »Ach so, Sie meinen über das gute alte zwanzigste Jahrhundert! Tja, Kamerad, ich würde liebend gern irgendwann mal mit Ihnen darüber reden. Das kleine alte New York! Die Dodgers und Yankees, die Kutschen im Park, die Rollschuhbahn auf der Rockefeller Plaza! Das fehlt mir wirklich! Junge, Junge! Aber ich fürchte, daß ich im Augenblick ein bißchen arg beschäftigt bin.«
»Natürlich«, sagte Blaine. »Vielleicht ein anderes Mal.«
»Prima! Aber gern!« sagte Therler und lächelte noch strahlender. »Rufen Sie doch meine Sekretärin an, alter Junge, ja? Sie wissen ja, Termine, Termine! Wir werden uns mal ordentlich unterhalten, demnächst mal. Ich vermute, daß Sie vielleicht den einen oder anderen Dollar gebrauchen könnten -«
Blaine schüttelte den Kopf.
»Dann auf Wiedersehen«, sagte Therler fröhlich. »Und rufen Sie doch bald mal an!«
Blaine verließ hastig das Gebäude. Es war schon schlimm genug, wenn einer einem seinen Neuheitswert gestohlen hatte; aber es war noch viel schlimmer, wenn das ein völliger Scharlatan getan hatte, ein Zeitbetrüger, der dem Jahr 1953 niemals näher als hundert Jahre gekommen war. Die Rockefeller Rollschuhbahn! Und selbst dieser Patzer wäre gar nicht nötig gewesen. Alles an dem Mann wirkte unecht.
Aber traurigerweise war Blaine wahrscheinlich im Jahre 2110 der einzige Mann, der den Schwindel als solchen erkennen konnte.
An diesem Nachmittag kaufte Blaine Ersatzkleider und eine Rasurausrüstung. In einem billigen Hotel an der Fifth Avenue nahm er sich ein Zimmer. Die nächste Woche suchte er weiterhin nach Arbeit.
Er versuchte es mit den Restaurants, aber menschliche Tellerwäscher waren eine Sache der Vergangenheit. In den Docks und Raumhäfen erledigten Roboter die meiste körperliche Schwerarbeit. Eines Tages sprach man sich zögernd für ihn aus, als er sich um eine Stelle als Verpackungskontrolleur im Kaufhaus Gimbel-Macy’s bewarb. Doch nachdem die Personalabteilung sein Persönlichkeitsprofil, seinen Irritablitätsindex und seine Suggestibilitätseinstufung studiert hatte, entschied man sich doch für einen kleinen, stumpf dreinblickenden Mann aus Queens, der einen Magisterabschluß in Verpackungsdesign besaß.
Eines Abends kehrte Blaine gerade erschöpft zu seinem Hotel zurück, als er in der dichten Menschenmenge ein Gesicht erkannte. Es war ein Mann, den er überall und zu jeder Zeit sofort wiedererkannt hätte … Er war ungefähr so alt wie Blaine selbst, ein gedrungener, rotköpfiger Mann mit Stupsnase, leicht vorstehenden Zähnen und einem kleinen roten Fleck am Hals. Er gab sich gutgelaunt und selbstsicher und hatte das unzerstörbare Selbstvertrauen eines Mannes, der immer noch irgendwie gerettet wird.
»Ray!« rief Blaine. »Ray Melhill!« Er drängte sich durch die Menge und packte ihn am Arm. »Ray! Wie bist du rausgekommen?«
Der Mann riß sich los und strich seinen Jackenärmel wieder glatt. »Ich heiße nicht Melhill«, sagte er.
»Sicher? Sind Sie sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher«, sagte er und wollte sich davonmachen.
Blaine stellte sich ihm in den Weg. »Einen Augenblick mal! Sie sehen genau wie er aus, bis hin zu der Verstrahlungsnarbe. Sind Sie sicher, daß Sie wirklich nicht Ray Melhill sind, ein Flußkontrolleur vom Raumer Bremen?«
»Ganz sicher«, sagte der Mann kühl. »Sie haben mich mit jemandem verwechselt, junger Mann.«
Blaine starrte den Mann entgeistert an als dieser anfing, sich zu entfernen. Dann langte er aus, packte den Mann an der Schulter und riß ihn herum.
»Sie dreckiger Körperklau! Sie Bastard!« brüllte Blaine und seine schwere rechte Faust schoß hervor.
Der Mann, der Melhill so genau glich, wurde gegen eine Gebäudewand geschleudert und sackte betäubt auf den Gehsteig. Blaine rannte auf ihn zu, und die Passanten wichen ihm schleunigst aus.
»Amokläufer!« schrie eine Frau und irgend jemand wiederholte den Ruf. Blaine erblickte eine blaue Uniform, die sich durch die Menge auf ihn zuschob.
Ein Bulle! Blaine duckte sich und verschwand in der Menge. Er ging schnell um eine Ecke, dann um eine weitere, manövrierte sich langsam an eine Wand und blickte zurück. Der Polizist war nicht zu sehen. Blaine ging wieder in Richtung Hotel.
Es war Melhills Körper gewesen, aber Melhill bewohnte ihn nicht mehr. Für ihn hatte es keine Rettung in letzter Minute gegeben, keine letzte Chance. Man hatte ihm seinen Körper fortgenommen und an den alten Mann verkauft, dessen zänkischer Geist den drahtigen Körper nun wie einen Anzug trug, der nicht besonders gut paßte und viel zu jugendlich für ihn war.
Nun wußte er, daß sein Freund wirklich tot war. Schweigend leerte er in der Bar neben dem Hotel ein Glas auf ihn, bevor er auf sein Zimmer zurückkehrte.
*
Der Angestellte hielt ihn auf, als er gerade am Empfangsschalter vorbeikam. »Blaine? Ich habe eine Nachricht für Sie. Einen Augenblick.«
Blaine wartete und fragte sich, von wem die Nachricht sein konnte. Marie? Aber er hatte Marie noch nicht angerufen und wollte es auch nicht tun, bevor er eine Stellung bekommen hatte.
Der Angestellte kam zurück und reichte ihm einen Zettel. Die Nachricht lautete: »Für Thomas Blaine gibt es eine Durchsage bei der Geistervermittlung, Filiale 23. Straße. Öffnungszeiten: neun bis siebzehn Uhr.«
»Ich frage mich nur, woher irgend jemand wissen konnte, wo ich wohne«, sagte Blaine.
»Geister haben da so ihre Methoden«, sagte der Angestellte. »Ich kannte mal jemanden, dessen verstorbene Schwiegermutter trotz dreier falscher Namen, einer Transplantation und einer kompletten hautchirurgischen Operation immer noch an ihn heran kam. Er hatte sich in Abessinien vor ihr versteckt.«
»Ich habe keine tote Schwiegermutter«, sagte Blaine.
»Nein? Wer soll Sie denn dann sonst erreichen wollen?« fragte der Angestellte.
»Ich werde es morgen feststellen und Ihnen davon erzählen«, versprach Blaine. Doch sein Sarkasmus war verschwendet. Der Angestellte hatte sich schon längst wieder umgedreht und widmete sich seinem Fernlehrgang in Atommaschinenwartung. Blaine ging hoch in sein Zimmer.
Die Filiale der Geistervermittlung in der 23. Straße war ein großes Betongebäude in der Nähe der Third Avenue. Über der Tür hing eine Erklärung: »Der kostenlosen Kommunikation zwischen den Irdischen und den Jenseitigen gewidmet«.
Blaine betrat das Gebäude und studierte den Wegweiser. Darauf fand er Hinweise auf Etagen- und Zimmernummer der Sparten Nachrichtenempfang, Nachrichtenaussendung, Übersetzungen, Abschwörungen, Exorzismen, Angebote, Bittgesuche und Ermahnungen. Er war sich nicht sicher, unter welche Rubrik er zu zählen war und was die Einteilungen überhaupt beinhalteten oder auch nur, was eigentlich der Zweck der Geistervermittlung war. Er ging mit seinem Zettel zum Informationsschalter.
»Das ist die Abteilung Nachrichtenempfang«, sagte eine freundliche, grauhaarige Empfangsdame. »Gerade durch den Saal bis zum Zimmer 32A.«
»Danke.« Blaine zögerte, dann sagte er: »Könnten Sie mir vielleicht noch etwas anderes erklären?«
»Aber gern«, sagte die Frau. »Was möchten Sie denn wissen?«
»Na ja, ich hoffe, daß das … nicht allzu dumm klingt, aber … was ist das hier?«
Die grauhaarige Frau lächelte. »Das läßt sich schwer beantworten. Wenn man es philosophisch betrachtet, dann ist die Geistervermittlung wohl ein Schritt auf eine größere Einheit zu, ein Versuch, den Dualismus zwischen Geist und Körper aufzuheben und dafür -«
»Nein«, sagte Blaine, »ich meine ganz wörtlich.«
»Wörtlich? Nun, die Geistervermittlung ist eine Privatorganisation, die steuerfrei arbeitet und als Vermittlungsstelle zwischen der Schwelle des Jenseits und der Erde dient, um die Kommunikation zu ermöglichen. In manchen Fällen benötigen Leute natürlich unsere Hilfe nicht, da sie allein dazu in der Lage sind, mit ihren Verstorbenen zu kommunizieren. Aber normalerweise braucht man eine Verstärkung. Dieses Zentrum besitzt das nötige Zubehör, um die Verstorbenen für menschliche Ohren hörbar zu machen. Außerdem bieten wir noch andere Dienstleistungen an, etwa Abschwörungen, Exorzismen, Ermahnungen und so weiter, die dann und wann angebracht sind, wenn der Geist wieder mit dem Fleisch zusammentrifft.«
Sie lächelte ihn voller Wärme an. »Sind Sie jetzt besser im Bilde?«
»Recht vielen Dank«, sagte Blaine und schritt durch den Saal zu Zimmer 32A.
Es war ein kleiner grauer Raum mit mehreren Armlehnensesseln und einem in die Wand eingelassenen Lautsprecher. Blaine setzte sich und fragte sich, was nun wohl geschehen würde.
»Tom Blaine!« rief eine körperliche Stimme aus dem Lautsprecher.
»Häh? Was?« fragte Blaine und sprang auf, um an die Tür zu gehen.
»Tom! Wie geht’s dir, alter Junge?«
Blaine, dessen Hand bereits auf dem Türknauf ruhte, erkannte plötzlich die Stimme. »Ray Melhill?«
»Richtig! Ich bin hier oben, wo die reichen Macker hinkommen, wenn sie sterben. Ganz gut, was?«
»Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts«, sagte Blaine. »Aber Ray, wie nur? Ich dachte, du hättest keine Jenseitsversicherung?«
»Hatte ich auch nicht. Ich will dir die ganze Geschichte erzählen. Man hat mich ungefähr eine halbe Stunde, nachdem sie dich abgeführt haben, auch geholt. Ich war so verdammt wütend, daß ich dachte, ich würde durchdrehen. Ich blieb auch während der Chloroformbehandlung wütend und schließlich auch während des Auslöschens. Ich war immer noch wütend, als ich starb.«
»Wie war das, zu sterben?« fragte Blaine.
»Wie explodieren. Ich fühlte, wie ich überallhin verteilt wurde, so groß wurde wie die Galaxis und in Teile zerbrach; die Teile wurden in noch kleinere Teile zersplittert – und das alles war ich.«
»Was ist dann passiert?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht war es ganz gut, so wütend zu sein. Ich wurde so weit auseinandergedehnt, daß es nicht mehr weiter ging – noch weiter, und das wäre nicht mehr ich gewesen –, und dann bin ich einfach wieder zusammengekommen. Manchen Leuten passiert das ja. Hab dir ja erzählt, daß einer von einer Million auch ohne Jenseitstraining überlebt, schon immer. Ich war einer von diesen Glückspilzen.«
»Ich schätze, daß du alles über mich weißt«, sagte Blaine. »Ich hab versucht, was für dich zu tun, aber du warst schon verkauft worden.«
»Ich weiß«, sagte Melhill. »Trotzdem danke, Tom. Ach ja, und vielen Dank, daß du diesem Mistkerl eins reingehauen hast. Der Typ, der in meinem Körper rumrennt.«
»Das hast du gesehen?«
»Ich hab die Augen offengehalten«, sagte Melhill. »Ach, was ich noch sagen wollte, diese Marie gefällt mir. Hübsches Mädchen.«
»Danke Ray. Wie ist es so im Jenseits?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nicht?«
»Ich bin noch nicht im Jenseits, Tom. Ich bin auf der Schwelle. Das ist ein Vorbereitungsstadium, eine Art Brücke zwischen der Erde und dem Jenseits. Es ist schwer zu beschreiben. Eine Art Grau, die Erde ist auf der einen Seite und das Jenseits auf der anderen.«
»Warum gehst du nicht hinüber?« fragte Blaine.
»Jetzt noch nicht«, sagte Melhill. »Ins Jenseits führt nur eine Einbahnstraße. Wenn du einmal drüben bist, kannst du nicht mehr zurück, dann gibt es keinen Kontakt mit der Erde mehr.«
Blaine dachte einen Augenblick darüber nach, dann fragte er: »Wann wirst du denn hinübergehen, Ray?«
»Ich weiß es noch nicht so recht. Ich hab mir gedacht, daß ich wohl eine Weile an der Schwelle bleibe und ein bißchen auf die Dinge aufpasse.«
»Auf mich aufpaßt, meinst du wohl.«
»Na ja …«
»Vielen Dank, Ray, aber tu es nicht. Geh ins Jenseits. Ich kann schon auf mich achtgeben.«
»Klar kannst du das«, sagte Melhill. »Aber ich glaube, daß ich trotzdem noch eine Weile hier herumhängen werde. Du würdest es doch auch für mich tun, nicht wahr? Also, dann widersprich mir nicht! Aber jetzt hör mal zu, ich vermute, daß du weißt, daß du in Schwierigkeiten bist?«
Blaine nickte. »Du meinst den Zombie?«
»Ich weiß nicht, wer er ist oder was er von dir will, Tom, aber es ist auf jedenfall nichts Gutes. Wenn er es merkt, dann ist es auf jeden Fall besser, du bist ganz weit weg. Aber das waren nicht die Schwierigkeiten, die ich gemeint habe.«
»Meinst du etwa, daß da noch mehr sind?«
»Ich fürchte schon, Tom, du wirst heimgesucht werden.«
Blaine konnte nicht anders, er mußte lachen.
»Was ist daran so lustig?« fragte Melhill verärgert. »Meinst du, das wäre ein Spaß, heimgesucht zu werden?«
»Ich schätze nein. Aber ist das denn wirklich so schlimm?«
»Herrje, du bist vielleicht ein Ignorant!« rief Melhill. »Weißt du irgend etwas über Gespenster? Wie sie entstehen und was sie wollen?«
»Erzähl es mir.«
»Na ja, es gibt da drei Möglichkeiten, wenn ein Mensch stirbt. Erstens kann sein Geist einfach explodieren, sich verteilen, auflösen, das ist dann das Ende. Zweitens kann sein Geist auch das Todestrauma überleben, zusammenbleiben, dann findet er sich an der Schwelle wieder, als Geist eben. Ich nehme an, daß du von diesen beiden Möglichkeiten weißt.«
»Red weiter«, sagte Blaine.
»Die dritte Möglichkeit ist die: Sein Geist zerbricht während des Todestraumas, aber nicht genug, um aufgelöst zu werden. Er kommt bis an die Schwelle. Aber die Anstrengung hat ihn beschädigt. Er ist verrückt geworden. Und so entsteht ein Gespenst, mein Freund.«
»Hm«, sagte Blaine. »Dann ist ein Gespenst also ein Geist, der während des Todestraumas verrückt geworden ist?«
»Genau. Er ist verrückt, und er spukt.«
»Aber warum?«
»Gespenster spuken«, sagte Melhill, »weil sie angefüllt sind mit Haß, Wut, Furcht und Schmerz. Sie wollen nicht ins Jenseits. Sie wollen so lange wie möglich auf der Erde bleiben, auf die sich ihre Aufmerksamkeit immer noch richtet. Sie wollen Leute erschrecken, ihnen wehtun, sie in den Wahnsinn treiben. Das Spuken ist das antisozialste, was sie tun können, es ist ihr Wahnsinn. Schau mal, Tom, seit den Anfängen der Menschheit …«
*
Seit den Anfängen der Menschheit hatte es immer schon Gespenster gegeben, aber ihre Zahl war immer gering. Nur ein paar Menschen pro Million überlebten ihren Tod, und nur ein winziger Prozentsatz dieser Überlebenden wurde während des Übergangs wahnsinnig und wurde zu Gespenstern.
Aber die Wirkung, die diese wenigen auf die vom Tode faszinierte Menschheit ausübte, war kolossal; auf eine Menschheit, die erschreckt war von der kalten, achtlosen Unbeweglichkeit einer Leiche, die vor kurzem noch so lebendig und schnell gewesen war, schockiert von dem grausigen, beziehungslosen Humor des Skeletts. Die gründliche, geheimnisvolle Gestalt des Todes schien unendlich bedeutungsvoll zu sein, ihr warnender Finger zeigte auf einen mit Geistern angefüllten Himmel. So kam es, daß für jedes echte Gespenst durch Gerüchte und Angst tausend weitere erfunden wurden. Jede schreiende Fledermaus wurde zu einem Gespenst. Moorfeuer, flatternde Vorhänge und schwankende Bäume wurden zu Gespenstern, und St.-Elms-Feuer, großäugige Eulen, Ratten im Gemäuer, Füchse im Gebüsch, sie alle wurden zu Beweisen für das Gespenstische gemacht. Die Volksüberlieferungen blühten und brachten Hexen und Zauberer hervor, bösartige kleine Familiare, Dämonen und Teufel, Sukkubi und Inkubi, Werwölfe und Vampire. Hinter jedem Gespenst witterte man tausend weitere, und für jede übernatürliche Tatsache nahm man eine Million weitere an.
Die frühen Wissenschaftler traten bei ihren Forschungen in dieses Labyrinth ein und versuchten, die Wahrheit über übernatürliche Erscheinungen herauszubekommen. Sie entlarvten zahllose Betrügereien, Halluzinationen und Fehlurteile. Und sie fanden einige echte, unerklärliche Geschehnisse, die, wenn auch interessant, statistisch insignifikant waren.
Die ganzen Volksüberlieferungen würden über den Haufen geworfen. Statistisch gesehen gab es keine Gespenster. Aber dennoch war da beständig ein heimtückisches, nicht festzumachendes Etwas, das sich weigerte, stillzuhalten und sich untersuchen zu lassen. Jahrhundertelang ignorierte man es, dieses seltene Etwas, das den Erzählungen von Sukkubi und Inkubi eine Grundlage und Realität bescherte. Bis die Wissenschaft schließlich die Volkslegenden einholte, ihnen einen Platz unter den unanfechtbaren Erscheinungen einräumte und sie salonfähig machte.
Als das wissenschaftliche Jenseits entdeckt worden war, verstand man das irrationale Gespenst als einen wahnsinnig gewordenen Geist, der die neblige Zwischenwelt zwischen Erde und Jenseits bewohnte. Die Arten des Gespensterwahnsinns ließen sich genauso kategorisieren wie der Wahnsinn auf der Erde. Es gab die Melancholiker, die trübsinnig durch die Bilder ihrer großen Leidenschaften schwebten; den flüsternden Hebephreniker, der fröhlichen, willkürlichen Unsinn daherplapperte; die Idioten und Retardierten, die in der Verkleidung von kleinen Kindern wiederkamen; die Schizophrenen, die sich für Tiere hielten, Prototypen des Vampirs und des Schneemenschen, des Werwolfs, Wertigers, Werfuchses, Werhunds. Es gab die zerstörerischen, steinewerfenden, brandstiftenden Gespenster, die Poltergeister und die großsprecherischen Paranoiker, die sich selbst für Luzifer oder Beelzebub hielten, für Israfael oder Azazael, den Geist der Vergangenen Weihnacht, für die Furien, die Göttliche Gerechtigkeit oder sogar für den Tod persönlich.
Spuk war Wahnsinn. Sie weinten am alten Wachturm, diese wenigen Gespenster, auf deren schimmernden Schultern das ganze große Gebäude der Volksüberlieferung ruhte, sie vermengten sich mit den Nebeln am Galgen und stammelten ihren Unsinn bei Seancen hervor. Sie redeten, weinten, tanzten und sangen zur Belustigung der Leichtgläubigen, bis wissenschaftliche Beobachter mit ihren nüchternen, kalten Fragen erschienen. Da flohen sie zurück an die Schwelle, entsetzt von diesem Gegenschlag der Vernunft, um ihre Illusionen bangend, in der Furcht, kuriert zu werden.
*
»So war das«, schloß Melhill. »Den Rest kannst du dir denken. Seit es die Jenseits, Inc. gibt, haben verflucht viel mehr Leute den Tod überlebt. Aber natürlich werden auch sehr viel mehr dabei wahnsinnig.«
»Und dadurch entstanden viel mehr Gespenster«, schloß Blaine.
»Genau. Eins davon ist hinter dir her«, sagte Melhill, und seine Stimme wurde schwächer. »Also paß auf dich auf, Tom, ich muß jetzt gehen.«
»Was ist denn das für ein Gespenst?« fragte Blaine. »Wessen Geist ist es? Und warum mußt du weg?«
»Man braucht Energie, um auf der Erde zu bleiben«, flüsterte Melhill. »Ich bin so gut wie verbraucht. Muß mich erst wieder aufladen. Hörst du mich noch?«
»Ja, red weiter.«
»Ich weiß nicht genau, wann sich das Gespenst zeigen wird, Tom. Und ich weiß auch nicht, wer es ist. Ich habe ihn gefragt, aber er wollte es mir nicht sagen. Hüte dich jedenfalls vor ihm.«
»Ich passe auf«, sagte Blaine und preßte das Ohr an den Lautsprecher. »Ray! Werde ich dich nochmal sprechen können?«
»Ich glaube schon«, sagte Melhill, dessen Stimme kaum noch zu hören war. »Tom, ich weiß, daß du einen Job suchst. Versuch es mal bei Ed Franchel, 322 West 19. Straße. Ist rauhe Arbeit, bringt aber auch gutes Geld. Und paß auf dich auf!«
»Ray!« schrie Blaine. »Was für eine Art von Gespenst ist das?«
Er erhielt keine Antwort. Der Lautsprecher blieb still, und er war allein in dem grauen Raum.
322 West 19. Straße, die Adresse, die Ray Melhill ihm gegeben hatte, war ein kleines, heruntergekommenes Braunsteinhaus in der Nähe der Docks. Blaine stieg die Stufen hoch und drückte den Erdgeschoßsummer, auf dem Edward J. Franchel Enterprises stand. Ein großer, beinahe glatzköpfiger Mann in Hemdsärmeln öffnete die Tür.
»Mr. Franchel?« fragte Blaine.
»Der bin ich«, sagte der Mann mit einem entschiedenen fröhlichen Lächeln. »Hier entlang, Sir.«
Er führte Blaine in ein Apartment, in dem es scharf nach gekochtem Kohl stank. Der vordere Teil des Apartments war als Büro eingerichtet, mit einem papierübersäten Schreibtisch, einem staubigen Aktenschrank und mehreren Stühlen mit steifen Rückenlehnen. Dahinter sah Blaine ein dunkles Wohnzimmer. Aus dem hinteren Innenraum des Apartments krächzte ein Solido eine Tagesshow heraus.
»Entschuldigen Sie bitte den Zustand«, sagte Franchel und winkte Blaine auf einen Stuhl. »Ich werde in ein richtiges Büro im oberen Teil der Stadt ziehen, sobald ich die Zeit dazu habe. Die Aufträge sind so schnell und wild reingekommen … Nun, Sir, was kann ich für Sie tun?«
»Ich suche einen Job«, sagte Blaine.
»Scheiße!« sagte Franchel. »Ich dachte, Sie wären ein Kunde.« Er drehte sich in die Richtung des lärmenden Solidos und rief: »Alice, würdest du mal das verdammte Ding leiser stellen!« Er wartete, bis die Lautstärke ein wenig nachgelassen hatte, dann wandte er sich an Blaine. »Kumpel, wenn das Geschäft nicht bald besser läuft, dann werde ich wohl wieder eine Selbstmordkabine in Coney Island aufmachen. Einen Job, eh?«
»Ja. Ray Melhill hat mir geraten, es bei Ihnen zu versuchen.«
Franchels Gesicht hellte sich auf. »Wie geht’s Ray denn?«
»Er ist tot.«
»Schade«, sagte Franchel. »Er war ein guter Bursche, wenn auch immer ein bißchen wild. Er hat einige Male für mich gearbeitet, wenn die Raumpiloten gerade streikten. Möchten Sie einen Drink?«
Blaine nickte. Franchel ging an den Aktenschrank und holte eine Flasche Ryewhiskey Marke »Mondsaft« hervor. Er fand zwei schartige Gläser und füllte sie mit einem geübten Schlenker.
»Auf den alten Ray«, sagte Franchel. »Ich vermute, daß er wohl eingetütet worden ist, wie?«
»Eingetütet und verpackt«, sagte Blaine. »Ich habe gerade mit ihm über die Geistervermittlung gesprochen.«
»Dann ist er ja bis zur Schwelle gekommen!« sagte Franchel bewundernd. »Kumpel, so ein Glück müßten wir mal haben! Sie wollen also einen Job? Na ja, vielleicht kann ich das einrichten. Stehen Sie mal auf.«
Er ging um Blaine herum, prüfte seine Armmuskeln und tastete mit einer Hand über seine harten Schultermuskeln. Er stellte sich vor Blaine auf, nickte mit gesenktem Blick und machte dann plötzlich mit der Faust eine Finte auf Blaines Gesicht. Blaines Rechte schoß sofort empor und blockte den Schlag rechtzeitig ab.
»Gute Statur, gute Reflexe«, sagte Franchel. »Ich glaube, Sie sind geeignet dafür. Verstehen Sie was von Waffen?«
»Nicht viel«, sagte Blaine und wunderte sich, was er da wohl für eine Stelle bekommen würde. »Nur – äh – antike. Garands, Winchester, Colts.«
»Ehrlich?« fragte Franchel. »Wissen Sie, ich wollte schon immer mal antike Rückstoßlader sammeln. Aber auf dieser Jagd sind keine Projektil- und Strahlenwaffen erlaubt. Was haben Sie noch aufzuweisen?«
»Ich kann mit einem Bajonettgewehr umgehen«, sagte Blaine und dachte daran, wie schallend sein Unteroffizier in der Grundausbildung jetzt gelacht hätte.
»Ja? Stoßen und Parieren und so? Sagenhaft, ich dachte, der Bajonettkampf wäre eine ausgestorbene Kunst! Sie sind der erste, dem ich in fünfzehn Jahren begegnet bin, der das kann. Kumpel, Sie sind angestellt!«
Franchel ging an seinen Schreibtisch zurück, schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn Blaine.
»Morgen gehen Sie zu dieser Adresse und bekommen Ihre Instruktionen. Sie bekommen den üblichen Jägerlohn, zweihundertfünfzig Dollar plus fünfzig für jeden Arbeitstag. Haben Sie eigene Waffen und Zubehör? Na gut, dann besorge ich Ihnen das Zeug, aber es wird Ihnen vom Lohn abgezogen. Und ich bekomme zehn Prozent Provision. O.K.?«
»Klar«, sagte Blaine. »Könnten Sie mal die Jagd ein wenig erklären?«
»Da gibt es nichts zu erklären. Es ist eine Standardjagd. Aber erzählen Sie es nicht überall herum. Ich bin mir nicht sicher, ob Jagden immer noch erlaubt sind. Ich wünschte, daß der Kongreß die Gesetze über Selbstmord und Genehmigten Mord endlich mal deutlich klären würde. Man weiß ja überhaupt nicht mehr, woran man ist.«
»Ja«, stimmte Blaine ihm von Herzen zu. Wer wußte das schon?
»Wahrscheinlich werden Sie beim Briefing auch was über die rechtlichen Aspekte sagen«, erklärte Franchel. »Die anderen Jäger werden auch da sein, und das Opfer wird euch alles erklären, was ihr wissen müßt. Grüßen Sie Ray von mir, falls Sie nochmal mit ihm reden sollten. Sagen Sie ihm, daß es mir leid tut, daß er getötet wurde.«
»Mache ich«, sagte Blaine. Er entschied sich, keine weiteren Fragen mehr zu stellen, weil er befürchtete, daß ihn das seinen Job kosten könnte. Was immer für eine Jagd das sein mochte, er und sein Körper würden es mit Sicherheit schaffen. Und ein Job, irgendein Job, war nun nötig, sowohl für sein Selbstwertgefühl wie auch für seinen schrumpfenden Geldbeutel.
Er dankte Franchel und ging.
An diesem Abend aß er in einem billigen Imbiß und kaufte sich mehrere Illustrierte. Er war guter Stimmung, daß er eine Stelle bekommen hatte und war sich sicher, daß er seinen Weg in diesem Zeitalter schon machen würde.
Als er auf dem Weg ins Hotel einen Mann in einer Seitenstraße stehen sah, der ihn betrachtete, dämpfte dies seine Freude ein wenig. Der Mann hatte ein bleiches Gesicht und ruhige Buddhaaugen und seine groben Kleider hingen an ihm herunter wie an einer Vogelscheuche.
Es war der Zombie.
Blaine eilte in sein Hotel zurück, er wollte es nicht wahrhaben, daß es Ärger geben könnte. Wenn eine Katze schließlich das Recht hatte, einen König anzublicken, warum sollte ein Zombie dann nicht einen Mann betrachten dürfen, was war denn schon Schlimmes dabei?
Dieser Gedankengang hinderte ihn allerdings nicht daran, bis zum Morgengrauen Alpträume zu haben.
*
Früh am nächsten Morgen ging Blaine zur Kreuzung Park Avenue/42. Straße, um einen Bus zu dem Briefing zu nehmen. Während er wartete, bemerkte er auf der anderen Seite der 42. Straße Unruhe.
Ein Mann war mitten auf dem geschäftigen Gehsteig stehengeblieben. Er lachte vor sich hin, und die Leute entfernten sich langsam von ihm. Blaine schätzte, daß er in seinen Fünfzigern sein mochte; er trug unauffällige Tweedkleidung, hatte eine Brille auf und schien ein wenig Übergewicht zu haben. Er hatte einen kleinen Aktenkoffer in der Hand und sah aus wie zehn Millionen anderer Geschäftsleute auch.
Plötzlich hörte er abrupt auf zu lachen. Er machte den Reißverschluß seines Aktenkoffers auf und holte zwei lange, leicht gebogene Dolche daraus hervor. Er warf den Aktenkoffer fort und danach auch die Brille.
»Amokläufer!« rief irgend jemand.
Der Mann stürzte sich mit blitzenden Dolchen in die Menschenmenge hinein. Die Leute fingen an zu schreien, und die Menge stob vor ihm auseinander.
»Amokläufer! Amokläufer!«
»Ruft die Bullen!«
»Achtung, Amokläufer!«
Ein Mann lag am Boden. Er hielt sich seine zerrissene Schulter und fluchte. Das Gesicht des Amokläufers war nun feurig gerötet, und Speichel troff aus seinem Mund. Er watete noch tiefer in die dichte Menge hinein, und die Menschen stießen sich beim Versuch, zu entfliehen, gegenseitig zu Boden. Eine Frau schrie auf, als sie das Gleichgewicht verlor, und die Pakete, die sie im Arm getragen hatte, verteilten sich über den Gehsteig. Der Amokläufer stieß mit der Linken nach ihr, verfehlte sie und drängte noch tiefer in die Menge ein. Sechs oder acht blauuniformierte Polizisten erschienen mit gespreizten Armen. »Alles auf den Boden!« riefen sie. »Alles in Deckung! Auf den Boden!«
Der Verkehr war zum Erliegen gekommen. Die Leute, die dem Amokläufer im Weg standen, warfen sich zu Boden. Auf Blaines Straßenseite gingen die Leute ebenfalls in Deckung.
Ein sommersprossiges Mädchen von etwa zwölf Jahren zupfte Blaine am Ärmel. »Kommen Sie, Mister, gehen Sie in Deckung! Wollen Sie etwa weggestrahlt werden?«
Blaine legte sich neben sie. Der Amokläufer hatte sich umgedreht und rannte nun auf die Polizisten zu, wobei er wortlose Schreie ausstieß und seine Dolche schwang.
Drei der Polizisten feuerten zur gleichen Zeit, und ihre Waffen gaben gelbe Strahlen von sich, die rot aufglühten, als sie den Amokläufer trafen. Er schrie, als seine Kleidung Feuer zu fangen begann, drehte sich um und versuchte zu fliehen.
Ein Strahl traf ihn voll in den Rücken. Er schleuderte seine Dolche auf die Polizisten und brach zusammen.
Mit wirbelnden Rotorblättern senkte sich ein Krankentransporter hinab, und der Amokläufer und seine Opfer wurden schnell verladen. Die Polizisten begannen damit, die Menge wieder auseinanderzutreiben, die sich um sie gebildet hatte.
»Ist gut, Leute, alles vorbei! Gehen Sie weiter!«
Die Menge löste sich auf. Blaine stand auf und klopfte sich ab. »Was war denn das?« fragte er.
»Das war doch ein Amokläufer, Sie Dummkopf«, sagte das sommersprossige Mädchen. »Haben Sie denn nichts gesehen?«
»Ich hab’s gesehen. Gibt es hier viele davon?«
Sie nickte voller Stolz. »New York hat mehr Amokläufer als jede andere Stadt auf der Welt, mit Ausnahme von Manila. Wir haben etwa fünfzig im Jahr.«
»Mehr«, meinte ein vorbeikommender Mann. »Vielleicht siebzig, achtzig im Jahr. Aber dieser hier war nicht besonders gut.«
Um Blaine und das Mädchen hatte sich eine kleine Gruppe gebildet. Die Leute diskutierten über den Amokläufer auf ähnliche Weise, wie Blaine es bei Fremden in seinem Zeitalter erlebt hatte, die über einen Autounfall redeten.
»Wie viele hat er denn erwischt?«
»Nur fünf und ich glaube nicht, daß er auch nur einen davon getötet hat.«
»Er war nicht voll bei der Sache«, sagte eine alte Frau. »Als ich noch ein Mädchen war, da konnte man sie nicht so einfach aufhalten. Stark waren die damals.«
»Na ja, er hat sich auch einen schlechten Platz ausgesucht«, meinte das sommersprossige Mädchen. »Die 42. Straße ist voll von Bullen. Ein Amokläufer kann ja kaum in Gang kommen, da wird er schon umgestrahlt.«
Ein großer Polizist kam zu ihnen herüber. »Gut, Leute, jetzt macht mal, daß ihr fort kommt. Der Spaß ist vorbei, weitergehen.«
Die Gruppe löste sich auf. Blaine erwischte seinen Bus und fragte sich, warum wohl über fünfzig Leute in New York jährlich amokliefen. Reine Nervosität? Eine wahnsinnige Abart des Individualismus? Erwachsenenkriminalität?
Es war eine der Sachen, die er über die Welt von 2110 herausfinden mußte.
Die Adresse stellte sich als ein Penthouse hoch über der Park Avenue in den siebziger Straßen heraus. Ein Butler führte ihn in ein geräumiges Zimmer, wo man Stühle in einer langen Reihe aufgestellt hatte. Die zwölf Männer, die auf den Stühlen saßen, waren ein lärmender, zäher, wettergegerbter Haufen, schlampig gekleidet und nervös in solch vornehmer Umgebung. Die meisten kannten einander.
»He, Otto! Wieder beim Jagdspiel dabei?«
»Ja. Kein Geld.«
»Wußte doch, daß du wiederkommen würdest. Hallo Tim!«
»Hallo Bjorn! Das ist meine letzte Jagd.«
»Klar. Bis zum nächsten Mal.«
»Nein, ich meine es ernst. Ich kaufe mir eine Samenpreßfarm im Nordatlantischen Becken. Brauche nur noch ein bißchen Anfangskapital.«
»Du wirst dein Anfangskapital versaufen.«
»Diesmal nicht.«
»Hallo Theseus! Wie geht’s deinem Wurfarm?«
»Ganz gut, Chico. Que tal?«
»Nicht übel, Junge.«
»Da ist ja Sammy Jones, immer der Letzte!«
»Bin doch wohl pünktlich, oder?«
»Zehn Minuten zu spät. Wo ist denn dein Partner?«
»Sligo? Tot. Auf dieser Asturias-Jagd.«
»Harte Sache. Jenseits?«
»Unwahrscheinlich.«
Ein Mann trat ins Zimmer und rief: »Gentlemen, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!«
Er ging in die Mitte des Raums und stellte sich mit in die Hüften gestemmten Armen vor den Jägern auf. Er war ein schlanker, sehniger Mann von mittlerer Größe, in Reithosen gekleidet; er trug ein Hemd mit offenem Kragen. Er hatte einen kleinen, sorgfältig gepflegten Schnurrbart und strahlend blaue Augen in einem braungebrannten Gesicht. Ein paar Minuten blickte er die Jäger der Reihe nach an, während sie hüstelten und unbehaglich mit den Füßen scharrten.
Schließlich sagte er: »Guten Morgen, Gentlemen. Ich bin Charles Hull, Ihr Arbeitgeber und Opfer.« Er schenkte ihnen ein Lächeln ohne jede Wärme. »Zunächst ein paar Worte zum rechtlichen Aspekt unseres Vorgehens, meine Herren. Es hat in letzter Zeit diesbezüglich ein wenig Verwirrung gegeben. Mein Anwalt hat sich intensiv mit der Sache befaßt und wird ein paar Erklärungen abgeben. Mr. Jensen!«
Ein kleiner, nervös wirkender Mann kam ins Zimmer, drückte seine Brille fester auf die Nase und räusperte sich.
»Jawohl, Mr. Hull. Gentlemen, was die Legalität der Jagd angeht: In Übereinstimmung mit den Gesetzesänderungen zum Selbstmordgesetz von 2102 hat jeder Mensch, der durch Jenseitsversicherung abgesichert ist, das Recht, seinen eigenen Tod auf jede beliebige Weise und an jedem beliebigen Ort zu jedem beliebigen Zeitpunkt selbst zu bestimmen, vorausgesetzt, daß die Todesart keinen grausamen und unnatürlichen Mißbrauch dieses Rechts darstellt. Die Begründung für dieses ›Grundrecht zu sterben‹ liegt auf der Hand: Die Gerichte erkennen den physischen Tod nicht als Tod per se an, sofern besagter Tod nicht die Vernichtung des Geistes beinhaltet. Juristisch betrachtet ist der körperliche Tod nichts anderes als das Abschneiden eines Fingernagels, vorausgesetzt, daß der Geist bestehen bleibt. Durch höchstrichterliches Urteil des Obersten Gerichtshofs ist bestimmt worden, daß der Körper ein Anhängsel des Geistes ist, seine Kreatur, mit der der Geist nach Belieben verfahren kann, um sie zu beseitigen.«
Während der Erklärung war Hull mit schnellen, katzenartigen Schritten im Raum auf und ab gegangen. Jetzt blieb er stehen und sagte: »Danke, Mr. Jensen. Mein Recht auf Selbstmord bleibt also unanfechtbar. Es ist auch nichts Ungesetzliches dabei, wenn ich eine oder mehrere Personen wie Sie dazu bestimme, den Akt des Selbstmords für mich durchzuführen. Und Ihre Handlungen werden durch den Paragraphen über Genehmigten Mord im Selbstmordgesetz abgesichert. Alles schön und gut. Das einzige juristische Problem ergibt sich durch einen kürzlichen Zusatz zum Selbstmordgesetz.«
Er nickte Mr. Jensen zu.
»Der Zusatz besagt«, sagte Jensen, »daß ein Mensch zu jeder Zeit und an jedem Ort und durch jedes Mittel sich einen Tod aussuchen darf, sofern dieser Tod für niemanden sonst körperliche Schäden mit sich bringt.«
»Das«, sagte Hull, »ist die problematische Klausel. Nun ist eine Jagd eine legale Form des Selbstmords. Man sorgt für einen Zeitpunkt und einen Ort. Sie, die Jäger, jagen mich. Ich, das Opfer, fliehe. Sie fangen mich und töten mich dann. Prima. Bis auf eine Sache.«
Er drehte sich zu dem Anwalt um. »Mr. Jensen, Sie können den Raum verlassen. Ich will Sie nicht zum Beihelfer machen.«
Nachdem der Anwalt gegangen war, sagte Hull: »Das eine Problem, das noch bestehen bleibt, ist natürlich die Tatsache, daß ich bewaffnet sein werde und mich sehr anstrengen werde, Sie umzubringen. Jeden von Ihnen. Alle von Ihnen. Und das ist ungesetzlich.«
Hull setzte sich elegant auf einen Stuhl. »Das ist jedoch mein Verbrechen, nicht Ihres. Ich habe Sie eingestellt, um mich zu töten. Sie haben keine Ahnung, daß ich vorhabe, mich zu schützen, mich zu wehren. Das ist zwar eine juristische Fiktion, aber eine, die Sie davor bewahren wird, möglicherweise Beihelfer zu sein. Wenn ich dabei erwischt werde, einen von Ihnen töten zu wollen, dann wird die Strafe sehr hart sein. Aber ich werde nicht erwischt werden. Einer von Ihnen wird mich töten und mich dadurch außer Reichweite der menschlichen Justiz befördern. Wenn ich das Unglück haben sollte, Sie alle umzubringen, dann werde ich meinen Selbstmord auf altmodische Weise selbst durchführen, und zwar mit Gift. Aber das wäre eine Enttäuschung für mich. Ich verlasse mich darauf, daß Sie nicht so schlampig sein werden, das geschehen zu lassen. Noch irgendwelche Fragen?«
Die Jäger murmelten untereinander:
»Gelackter Schnösel, labernder!«
»Vergiß es, alle Opfer reden so.«
»Glaubt wohl, er wär was Besseres als wir, mit seinem eingebildeten Juristengequatsche!«
»Werden ja sehen, wie er mit einem Stück Stahl im Leib redet!«
Hull lächelte kalt. »Ausgezeichnet. Ich glaube, die Situation ist geklärt. Wenn Sie mir nun bitte verraten würden, welche Waffen Sie verwenden.«
Einer nach dem anderen antworteten die Jäger:
»Streitkolben.«
»Netz und Dreizack.«
»Speer.«
»Siebenstern.«
»Bola.«
»Krummsäbel.«
»Gewehr mit Bajonett«, sagte Blaine, als er an der Reihe war.
»Breitschwert.«
»Streitaxt.«
»Säbel.«
»Danke, Gentleman«, sagte Hull. »Ich werde natürlich mit einem Rapier bewaffnet sein, ohne Rüstung. Wir treffen uns am Sonntag zum Morgengrauen auf meinem Grundstück. Der Butler wird Ihnen allen einen Zettel geben, auf dem genaue Anweisungen sind, wie Sie dort hinfinden. Lassen Sie den Bajonettmann hierbleiben. Dem Rest von Ihnen wünsche ich noch einen guten Morgen.«
Die Jäger gingen hinaus. Hull sagte: »Der Bajonettkampf ist eine ungewöhnliche Kunst. Wo haben Sie das gelernt?«
Blaine zögerte, dann sagte er: »In der Armee, von 1943 bis 1945.«
»Sie stammen aus der Vergangenheit?«
Blaine nickte.
»Interessant«, sagte Hull ohne besonderes Interesse zu zeigen. »Dann ist das wohl Ihre erste Jagd, wie?«
»Das ist sie.«
»Sie scheinen einigermaßen intelligent zu sein. Ich nehme an, daß Sie Ihre Gründe dafür haben, solch eine gefährliche und schlecht angesehene Tätigkeit zu wählen?«
»Ich bin knapp bei Kasse«, sagte Blaine, »und ich kann nichts anderes finden.«
»Natürlich«, sagte Hull, als hätte er es die ganze Zeit schon gewußt. »Also haben Sie sich der Jagd zugewandt. Und doch ist die Jagd nichts, dem man sich so einfach zuwendet; und die Bestie Mensch zu jagen ist nichts für jeden. Dieser Beruf erfordert gewisse Fähigkeiten, von denen nicht die unwichtigste die ist, töten zu können. Glauben Sie, daß Sie diese latente Fähigkeit haben?«
»Ich glaube schon«, sagte Blaine, obwohl er sich mit dieser Frage bisher noch nicht beschäftigt hatte.
»Ich weiß nicht«, sagte Hull nachdenklich. »Trotz Ihres kämpferischen Aussehens scheinen Sie mir nicht der Typ zu sein. Was, wenn Sie feststellen sollten, daß Sie nicht dazu in der Lage sind, mich zu töten? Was, wenn Sie im entscheidenden Augenblick, da Stahl auf Stahl trifft, zögern sollten?«
»Ich werd’s riskieren«, sagte Blaine.
Hull nickte freundlich. »Ich auch. Vielleicht glimmt, tief in Ihnen verborgen, der Funken des Mordes. Vielleicht auch nicht. Dieser Zweifel wird das Spiel noch aufregender machen – obwohl Sie vielleicht dann nicht mehr die Zeit dazu haben werden, es zu genießen.«
»Das ist mein Problem«, sagte Blaine und fühlte eine starke Abneigung gegen seinen eleganten und sprachgewandten Arbeitgeber in sich aufwallen. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Betrachten Sie mich als zu Ihren Diensten stehend.«
»Danke. Warum wollen Sie sterben?«
Hull starrte ihn an, dann brach er in Gelächter aus. »Jetzt weiß ich, daß Sie aus der Vergangenheit sind! Was für eine Frage!«
»Können Sie sie beantworten?«
»Natürlich«, sagte Hull. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und seine Augen nahmen den Ausdruck eines Mannes an, der eine Rede formuliert.
»Ich bin dreiundvierzig Jahre alt und der Tage und Nächte müde. Ich bin ein Mann von Reichtum und habe keinerlei Verpflichtungen. Ich habe experimentiert, intrigiert, gelacht, geweint, geliebt, gehaßt, gevöllt, getrunken – zur Genüge. Ich habe alles probiert, was mir die Erde bieten kann, und ich ziehe es vor, diese Erfahrung nicht geistlos immer wieder zu wiederholen. Als ich noch jung war, da stellte ich mir diesen wunderbaren grünen Planeten, der auf so geheimnisvolle Weise um seinen flammenden gelben Lichtspender kreist, als eine Schatztruhe vor, als eine Messingkiste von unermeßlichem Inhalt, voller Freuden, deren Auswirkungen auf meine immer eifrigen Wünsche nicht auszuloten waren. Aber nun habe ich leider länger gelebt, bin älter geworden und habe das Ende der Reize erlebt. Und nun sehe ich, mit welch spießbürgerlicher Selbstzufriedenheit unsere fette runde Erde sich dreht, in sicherem Abstand und in fester Bahn um ihren schimmernden, gefürchteten Stern herum. Und die angebliche Schatztruhe der Erde erweist sich nun als eine gemalte Spielzeugkiste für Kinder, mit wertlosem Inhalt und mittelmäßigen Auswirkungen auf Nerven, die viel zu schnell für alle Reize taub werden.«
Hull blickte Blaine an, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten, dann fuhr er fort.
»Vor mir erstreckt sich nun die Langeweile wie eine riesige, unfruchtbare Ebene – und ich ziehe es vor, mich nicht zu langweilen. Ich ziehe es statt dessen vor, weiterzugehen, vorwärtszugehen, hinauszugehen; das letzte große Abenteuer der Erde zu kosten – das Abenteuer des Todes, des Tors zum Jenseits. Verstehen Sie das?«
»Natürlich«, sagte Blaine, der von Hulls theatralischem Benehmen irritiert, aber auch beeindruckt war. »Aber warum die Eile? Das Leben könnte doch immer noch ein paar schöne Sachen für Sie in petto haben. Der Tod ist doch sowieso unvermeidlich. Warum ihn dann beschleunigen?«
»Wie ein echter Optimist des zwanzigsten Jahrhunderts gesprochen«, sagte Hull lachend. »›Das Leben ist wirklich, das Leben ist ernst …‹ In Ihrer Zeit mußte man doch einfach daran glauben, daß das Leben wirklich und ernst sei. Was gab es denn für Alternativen? Wie viele von Ihnen haben denn wirklich an ein Leben nach dem Tode geglaubt?«
»Das ändert nichts am Wert meines Standpunkts«, sagte Blaine und haßte die verhaltene, vorsichtige, rationale Position, in die er gedrängt wurde.
»Aber ja doch! Die Perspektiven des Lebens und des Todes haben sich jetzt geändert. Anstatt Longfellows weitschweifigem Rat zu folgen, halten wir uns nun an Nietzsches Diktum – zur rechten Zeit zu sterben! Intelligente Menschen klammern sich nicht an die letzten Reste des Lebens wie Ertrinkende an ein Stück Holz. Sie wissen, daß das Leben des Körpers nur ein unendlich winziger Teil der Gesamtexistenz des Menschen ist. Warum sollten sie da nicht den Abgang des Körpers um ein paar Jahre beschleunigen, wenn ihnen danach ist? Warum sollten diese klugen Schüler nicht die eine oder andere Klasse überspringen? Nur die Verängstigten, die Dummen, die Ungebildeten klammern sich an jede nur mögliche monotone Sekunde auf Erden.«
»Die Verängstigten, Dummen und Ungebildeten«, wiederholte Blaine. »Und die Unglücklichen, die sich keine Jenseitsversicherung leisten können.«
»Reichtum und Klasse haben eben ihre Privilegien«, sagte Hull mit mattem Lächeln. »Ebenso wie ihre Verpflichtungen. Eine dieser Verpflichtungen besteht darin, zur rechten Zeit zu sterben bevor man anfängt, seine Zeitgenossen zu langweilen und sich selbst abscheulich zu werden. Aber der Akt des Sterbens transzendiert Klasse und Herkunft. Er ist der Adelsbrief eines jeden Menschen, sein Königsruf, sein ritterliches Abenteuer, die größte Tat seines Lebens. Und wie er sich bei diesem einsamen und gefährlichen Unternehmen hält, das ist sein wahrer Wertmaßstab als Mensch.«
Hulls blaue Augen glitzerten intensiv. Er sagte: »Ich wünsche nicht, dieses wichtige Ereignis im Bett zu erleben. Ich wünsche keinen langweiligen, zahmen, alltäglichen Tod, der mich als Schlaf verkleidet überfällt. Ich wünsche – kämpfend zu sterben.«
Blaine nickte und bedauerte seinen eigenen prosaischen Tod. Ein Autounfall! Wie langweilig, zahm und alltäglich! Und wie seltsam, dunkel, atavistisch und edel wirkte Hulls herrscherliche Todeswahl dagegen! Anmaßend natürlich; aber schließlich war das Leben selbst ja auch nichts als eine Anmaßung in dem riesigen Universum unbelebter Materie. Hull war wie ein alter japanischer Edelmann, der sich ruhig hinkniete, um die Zeremonie des Hara-Kiri durchzuführen und die Wichtigkeit des Lebens sogar in der Wahl seines Todes zu betonen wußte. Aber Hara-Kiri war ein passives östliches Ritual, während Hulls Form des Sterbens ein westlicher Tod war, wild, gewalttätig, ekstatisch.
Es war bewundernswert. Aber immens irritierend für einen Menschen, der noch nicht bereit war, zu sterben.
Blaine sagte: »Ich habe nichts dagegen, daß Sie oder jeder andere Mensch sich seinen eigenen Tod selbst aussucht. Aber was ist mit den Jägern, die Sie töten wollen? Sie haben es sich nicht ausgesucht zu sterben und werden auch nicht im Jenseits überleben.«
Hull zuckte mit den Schultern. »Sie haben sich dafür entschieden, gefährlich zu leben. In Nietzsches Terminologie, sie ziehen es vor, Risiko und Gefahr zu erleben und mit dem Tod Würfel zu spielen. Blaine, haben Sie Ihre Meinung geändert?«
»Nein.«
»Dann treffen wir uns am Sonntag.«
Blaine schritt zur Tür und empfing seinen Zettel mit den Anleitungen von dem Butler. Als er gerade gehen wollte, sagte er noch: »Ich frage mich, ob Sie wohl eine letzte Sache bedacht haben.«
»Und die wäre?« fragte Hull.
»Sie müssen einfach dran gedacht haben«, sagte Blaine. »Die Möglichkeit, daß diese ganze elaborierte Sache – das wissenschaftliche Jenseits, Stimmen der Toten, Gespenster – lediglich ein gigantischer Schwindel sein könnte, ein Betrug der alten Jenseits, Inc., um damit Geld zu verdienen.«
Hull stand völlig still da. Als er sprach, schwang eine Andeutung von Ärger in seiner Stimme mit: »Das ist völlig unmöglich. Nur ein sehr ungebildeter Mensch könnte so etwas denken.«
»Vielleicht«, sagte Blaine. »Aber Sie wären ja wohl ziemlich gelackmeiert, wenn es tatsächlich ein Schwindel wäre, was? Guten Morgen, Mr. Hull.«
Er ging, froh, diesen geschniegelten, selbstzufriedenen, vornehmen, redegewandten Bastard wenigstens einen Augenblick lang aus der Fassung gebracht zu haben – und traurig, daß sein eigener Tod so langweilig, zahm und alltäglich gewesen war.
Am nächsten Tag, es war Sonnabend, ging Blaine zu Franchels Apartment, um sein Gewehr, das Bajonett, seine Jägeruniform und seinen Rucksack abzuholen. Er bekam die Hälfte seines Lohns minus zehn Prozent und die Kosten für die Ausrüstung. Das Geld war ihm sehr willkommen, denn er hatte nur noch drei Dollar und ein bißchen Kleingeld.
Er ging zur Geistervermittlung, aber Melhill hatte keine weiteren Nachrichten für ihn hinterlassen. Er kehrte in sein Hotelzimmer zurück und verbrachte den Nachmittag damit, Stoßen und Parieren zu üben.
An diesem Abend war Blaine immer gespannt und mutlos, wenn er an die Jagd denken mußte, die am nächsten Tag begann. Er ging in eine kleine Cocktailbar an der West Side, die wie eine Bar aus dem zwanzigsten Jahrhundert aufgemacht war, mit einer dunklen, glänzenden Theke, Holzhockern, Nischen, einem Messinggeländer und Sägespänen auf dem Fußboden. Er schlüpfte in eine Nische und bestellte Bier.
Die klassischen Neonleuchten glommen sanft, und eine echt antike Jukebox spielte sentimentale Melodien von Glenn Miller und Benny Goodman. Blaine saß über seinem Bierglas zusammengesunken und fragte sich verzweifelt, wer und was er eigentlich war.
War es wirklich wahr, daß er einen Gelegenheitsjob als Jäger und Menschentöter angenommen hatte?
Was war denn mit Tom Blaine passiert, dem ehemaligen Konstrukteur von Segelbooten, dem ehemaligen Hi-Fi-Hörer, dem ehemaligen Leser guter Bücher, dem ehemaligen Besucher guter Theateraufführungen? Was war mit diesem stillen, sardonischen, unaggressiven Mann geschehen?
Dieser Mann, der in seinem schlanken, nervösen, bescheidenen Körper gehaust hatte, hätte doch wohl nie getötet!
Oder?
War dieser wohlbekannte und vermißte Blaine von dem großen, klobig-muskulösen Kämpferkörper mit den schnellen Reflexen besiegt worden, den er nun besaß? Und war dieser Körper mit seinen eigenen merkwürdigen Drüsensekretionen in dem dunklen Blutkreislauf, mit seinem eigenen, individuell geformten und strukturierten Gehirn, mit seinem eigenen System von Nerven und Signalen und Reaktionen – war dieser dominierende Körper für alles verantwortlich, zog er seinen hilflosen Besitzer in mörderische Gewalttätigkeit herab?
Blaine rieb sich die Augen und sagte sich, daß er Unsinn träumte. Die Wahrheit war schlicht diese: Er war durch Umstände, die sich seiner Kontrolle entzogen hatten, gestorben, in der Zukunft wiedergeboren worden und hatte festgestellt, daß er keine Stellung finden konnte außer der eines Jägers, quod erat demonstrandum.
Aber diese rationale Erklärung befriedigte ihn nicht, und er hatte keine Zeit mehr, die schlüpfrige, ausweichende Wahrheit zu suchen.
Er war kein distanzierter Beobachter des Jahres 2110 mehr. Er war ein parteiischer Teilnehmer geworden, ein Schauspieler anstatt ein Zuschauer zu sein, mit der ganzen gedankenlosen Eile und Hektik eines Schauspielers. Das Handeln war unwiderstehlich, es entwickelte seine eigene, augenblickliche Wahrheit. Die Bremsen waren gelöst worden, und nun rollte Blaine den steilen Hügel des Lebens hinab, Tempo und Schub gewinnend aber keinerlei Moos ansetzend. Vielleicht war dies nun endlich seine letzte Chance, einen Blick zu erheischen, Bilanz zu ziehen, eine wohlabgewogene Wahl zu treffen …
Aber es war schon zu spät, denn ein Mann schlich wie ein Schatten über die Welt und setzte sich ihm gegenüber in die Nische. Und schon blickte Blaine in das bleiche und unbewegliche Gesicht des Zombies.
»Guten Abend«, sagte der Zombie.
»Guten Abend«, sagte Blaine gefaßt. »Möchten Sie vielleicht einen Drink?«
»Nein danke. Meinem Kreislauf bekommen Stimulantien nicht.«
»Das tut mir leid zu hören«, sagte Blaine.
Der Zombie zuckte mit den Schultern. »Ich habe jetzt einen Namen«, sagte er. »Ich habe mich dazu entschlossen, mich Smith zu nennen, bis ich mich an meinen richtigen Namen erinnern kann. Smith. Gefällt er Ihnen?«
»Es ist ein schöner Name«, sagte Blaine.
»Danke. Ich war beim Arzt«, sagte Smith. »Er hat mir gesagt, daß mein Körper nichts taugt. Keine Kondition, keine Selbstheilungskräfte.«
»Kann man Ihnen nicht helfen?«
Smith schüttelte den Kopf. »Der Körper ist ganz definitiv zomboid. Ich habe ihn viel zu spät besetzt. Der Doktor gibt mir höchstens ein paar Monate.«
»Wirklich schade«, sagte Blaine und spürte, wie ein Ekelgefühl in seinem Hals hochkam, als er dieses trübe, bleichhäutige Gesicht mit den dicken Zügen sah, mit seinem unharmonischen Ausdruck und den geduldigen Buddhaaugen. Smith saß da, zusammengesackt und unnatürlich in seinen groben Arbeitskleidern, sein schwarzgepunktetes weißes Gesicht war glattrasiert und roch nach einem starken Rasierwasser. Aber er hatte sich verändert. Schon jetzt konnte Blaine eine gewisse ledrige Trockenheit in der einstmals geschmeidigen Haut erkennen, gewisse Hautrisse um Nase, Augen und Mund herum, winzige Falten auf der Stirn, wie Werkzeugspuren im alten Leder. Und vermengt mit dem starken After-Shave meinte Blaine den ersten feinen Geruch der Verwesung wahrzunehmen.
»Was wollen Sie von mir?« fragte Blaine.
»Ich weiß es nicht.«
»Dann lassen Sie mich allein.«
»Das kann ich nicht«, beteuerte Smith.
»Wollen Sie mich umbringen?« fragte Blaine, und sein Hals war trocken.
»Ich weiß es nicht! Ich kann mich nicht erinnern! Sie umbringen, Sie beschützen, Sie verstümmeln, Sie lieben – ich weiß es noch nicht. Aber ich werde mich bald daran erinnern, Blaine, ich verspreche es Ihnen!«
»Lassen Sie mich allein«, sagte Blaine, und seine Muskeln verspannten sich.
»Das kann ich nicht«, sagte Smith. »Verstehen Sie das denn nicht? Ich kenne nichts außer Ihnen. Wortwörtlich nichts! Ich kenne weder diese Welt noch irgend jemanden sonst, keine Person, kein Gesicht, weder Geist noch Gedächtnis. Sie sind meine einzige Orientierungshilfe, der Mittelpunkt meiner Existenz, mein einziger Grund, zu leben.«
»Hören Sie auf damit!«
»Aber es stimmt doch! Glauben Sie, daß es mir Spaß macht, dieses Gestell aus Fleisch über die Straßen zu zerren? Was hat das Leben denn für einen Wert für mich, wenn ich keine Hoffnung vor mir und keine Erinnerungen hinter mir habe? Da ist der Tod doch besser! Das Leben bedeutet widerliches, verwesendes Fleisch, der Tod bedeutet reiner Geist! Ich habe darüber nachgedacht, davon geträumt: schöner, fleischloser Tod! Aber eine Sache hält mich ab. Ich habe Sie, Blaine, um mich in Gang zu halten!«
»Gehen Sie hier weg«, sagte Blaine mit einem bitteren ekligen Geschmack im Mund.
»Sie, meine Sonne und mein Mond, meine Sterne, meine Erde, mein ganzes Weltall, mein Leben, mein Sinn, mein Freund, Feind, Geliebter, Mörder, meine Frau, mein Vater, mein Kind, mein Mann -«
Blaines Faust schoß hervor und traf Smith hoch oben am Backenknochen. Der Zombie wurde in der Nische zurückgeworfen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber auf seinem bleifarbenen Wangenknochen erschien eine große purpurne Schramme.
»Ihr Mal!« murmelte Smith.
Blaines Faust, die sich zu einem weiteren Schlag gehoben hatte, fiel herab.
Smith stand auf. »Ich gehe. Passen Sie auf sich auf, Blaine. Sterben Sie noch nicht jetzt! Ich brauche Sie. Bald werde ich mich erinnern, dann komme ich zu Ihnen.«
Smith verließ die Bar. Sein trübes, schlaffes, zerschrammtes Gesicht war ausdruckslos.
Blaine bestellte einen doppelten Whisky und saß eine lange Zeit davor; er versuchte, seine zitternden Hände zu beruhigen.
Eine Stunde vor Sonnenaufgang kam Blaine in einem ländlichen Jetbus am Anwesen von Hull an. Er trug die traditionelle Jägeruniform – Khakihemd und -hose, Schuhe mit Gummisohlen und einen Hut mit breiter Krempe. Über seine Schulter hatte er sein Feldpack geschlungen; an der anderen trug er sein Gewehr und das Bajonett in einem Plastiksack.
Am Außentor nahm ihn ein Diener in Empfang und führte zu dem niedrigen, weiträumigen Landhaus. Blaine erfuhr, daß das Hullsche Anwesen aus neunzig Morgen Waldland in den Adirondack-Bergen zwischen Keene und Elizabethtown bestand. Hier hatte, so erzählte ihm der Diener, Hulls Vater im Alter von einundfünfzig Jahren Selbstmord begangen und sechs Jäger mitgehen lassen, bis ihm schließlich ein Säbelmann den Kopf abgeschlagen hatte. Ein ruhmreicher Tod! Hulls Onkel hatte sich auf der anderen Seite dazu entschlossen, in San Francisco amokzulaufen, in einer Stadt, die er immer sehr gemocht hatte. Die Polizei hatte ihn zwölfmal anstrahlen müssen, bis er zusammengebrochen war, und er hatte sieben Passanten getötet. Die Zeitungen hatten viel über diese Tat berichtet, und die Berichte wurden in der Familienchronik aufbewahrt.
Das zeigte eben, meinte der geschwätzige Haushälter, wie unterschiedlich doch die Temperamente sein konnten. Manche, wie etwa der Onkel, waren freundliche, das Vergnügen schätzende Männer, die gerne in einer Menge sterben und dabei auch noch ein wenig Aufmerksamkeit erheischen wollten. Andere, wie der gegenwärtige Mr. Hull, liebten mehr die Einsamkeit und die Natur.
Blaine nickte freundlich, als ihm dies erzählt wurde und wurde in einen großen rustikalen Raum gebracht, wo die Jäger sich versammelt hatten, Kaffee tranken und ihre Waffen ein letztes Mal polierten und schliffen. Das Licht blitzte an dem Breitschwert aus Blaustahl und der silbrigen Streitaxt ab, flackerte über die polierte Speerspitze und glitzerte frostig von den diamantenförmigen Spitzen des Streitkolbens und des Siebensterns. Auf den ersten Blick meinte Blaine, daß es aussehe wie eine Szene aus dem Mittelalter. Doch als er noch einmal darüber nachdachte, kam er zu der Überzeugung, daß es eher wie eine Kinoszene wirkte.
»Hol dir ’n Stuhl, Kamerad!« rief der Axtmann. »Willkommen in der Barmherzigen Schutzgemeinschaft der Schlächter, Schlachthofmänner und Freistreunenden Killer! Ich bin Sammy Jones, der beste Axtmann in den Amerikas und wahrscheinlich auch von Europa.«
Blaine setzte sich und wurde den anderen Jägern vorgestellt. Es war etwa ein halbes Dutzend Nationalitäten darunter, aber alle sprachen Englisch miteinander.
Sammy Jones war ein gedrungener, schwarzhaariger Mann mit Stierschultern, der ausgebleichte, geflickte Khakikleidung trug und auf seinem rissigen Gesicht alte Jagdnarben hatte.
»Erste Jagd?« fragte er, als er Blaines sorgfältig gebügelte Khakikleidung erblickte.
Blaine nickte, holte das Gewehr aus dem Plastiksack und befestigte das Bajonett daran. Er überprüfte den Einrastmechanismus, verengte den Gewehrriemen und entfernte das Bajonett wieder.
»Klar«, sagte Blaine mit mehr Zuversicht, als er wirklich hatte.
»Wollen’s hoffen. Burschen wie Hull haben einen Riecher für schwache Schwestern. Sie versuchen, sie so früh wie möglich aus der Horde rauszuschneiden.«
»Wie lang dauert so eine Jagd normalerweise?« fragte Blaine.
»Na ja«, sagte Jones, »die längste, die ich jemals mitgemacht habe, dauerte acht Tage. Das war Asturias, als es meinen Partner Sligo erwischt hat. Normalerweise kann eine Horde ein Opfer in ein bis zwei Tagen aufspüren und erledigen. Hängt davon ab, wie der Bursche sterben will. Manche wollen es so lange wie möglich hinauszögern. Sie laufen in Deckung. Sie verstecken sich in Höhlen und Erdspalten, die dreckigen, hinterhältigen Hunde, und man muß hinter ihnen her und einen Schlag ins Gesicht riskieren. So hat’s Sligo erwischt. Aber ich glaube nicht, daß Hull so ist. Er will wie ein großer starker feuerfressender Kraftprotzheld sterben. Also wird er herumschleichen und Risiken eingehen und sehen, wie viele von uns er mit seinem Schweinestecher abschlitzen kann.«
»Klingt so, als wär dir das nicht recht«, sagte Blaine.
Sammy Jones hob die buschigen Augenbrauen. »Ich halte nichts davon, aus dem Sterben ein großes Spektakel zu machen. Da kommt der Held ja persönlich.«
Hull kam in den Raum geschritten, schlank und elegant in seiner Khakiseide, ein weißes Halstuch lose um den Hals geknotet. Er trug ein leichtes Pack, und an einer Schulter hing ein dünnes, heimtückisch aussehendes Rapier.
»Guten Morgen, Gentleman«, sagte er. »Waffen alle poliert, Packs fertig, Schnürsenkel fest geschnürt? Ausgezeichnet.«
Hull schritt an ein Fenster und zog die Vorhänge auf.
»Sehen Sie das erste Morgendämmern, ein prachtvoller Streif an unserem östlichen Himmel, der Vorbote unseres grimmigen Sonnengottes, der die Jagd regiert! Ich werde jetzt gehen. Ein Diener wird Ihnen mitteilen, wann meine halbstündige Galgenfrist vorüber ist. Dann dürfen Sie mich verfolgen und bei Sichtkontakt töten. Wenn Sie das schaffen sollten! Das Anwesen ist eingezäunt. Ich werde innerhalb seiner Grenzen bleiben, und Sie werden das gleiche tun.«
Hull verneigte sich, dann schritt er schnell und elegant aus dem Raum.
»Gott, wie ich diese gelackten Vögel hasse!« rief Sammy Jones, nachdem die Tür sich wieder geschlossen hatte. »Sind doch alle gleich, jeder einzelne von ihnen. Benehmen sich so kühl und gleichgültig, so verdammt heroisch. Wenn sie nur mal merkten, wie verflucht albern ich sie finde – ich, der ich schon achtundzwanzig von diesen Sachen mitgemacht habe.«
»Warum gehst du auf die Jagd?« fragte Blaine.
Sammy Jones zuckte mit den Schultern. »Mein Vater war ein Axtmann, und er hat mich das Handwerk gelehrt. Es ist das einzige, was ich kann.«
»Du könntest etwas anderes lernen«, meinte Blaine.
»Könnte ich wohl. Tatsache ist, daß ich es genieße, diese aristokratischen Herren umzubringen. Ich hasse jeden einzelnen Bastard von ihnen, die mit ihrem lausigen Jenseits, das sich kein armer Mann leisten kann. Es macht mir Vergnügen, sie zu töten, und wenn ich Geld hätte, ich würde dafür auch bezahlen.«
»Und Hull genießt es, arme Männer wie dich zu töten«, sagte Blaine. »Es ist eine traurige Welt.«
»Nein, nur eine ehrliche«, entgegnete Sammy Jones. »Stell dich auf, ich schnall dir dein Pack rechts fest.«
Als er das erledigt hatte, fragte Sammy Jones: »Hör mal, Tom, warum bleiben wir beide auf dieser Jagd nicht zusammen? Gegenseitiger Schutz und so?«
»Mein Schutz, meinst du wohl«, sagte Blaine.
»Nichts, für das man sich zu schämen braucht«, sagte Jones ihm. »Jedes qualifizierte Handwerk muß erst einmal erlernt werden, bevor man es ausüben kann. Und von welchem Mann kannst du schon besser lernen als von mir, dem Besten der Besten?«
»Danke«, sagte Blaine. »Werd mir Mühe geben, die Fahne hochzuhalten, Sammy.«
»Wirst es schon schaffen. Nun ist dieser Hull ein Fechter, wie er im Buche steht, und Fechter haben so ihre kleinen Tricks, die ich dir verraten werde, während wir losgehen. Wenn er -«
In diesem Augenblick trat ein Diener ein, der einen alten, verzierten Chronometer trug.
Als der Sekundenzeiger die Zwölf überschritten hatte, blickte er die Jäger scharf an.
»Gentlemen«, sagte er, »die Gnadenfrist ist abgelaufen. Die Jagd darf beginnen.«
Die Jäger schritten hinaus in die graue, neblige Dämmerung, wobei Theseus, der Fährtenleser, der seinen Dreizack auf der Schulter balancierte, die Spur sofort entdeckte. Sie führte nach oben, auf einen nebelverhüllten Berg.
Im Gänsemarsch machten sich die Jäger auf den Weg, den Berg zu erklimmen.
*
Schon bald hatte die frühe Morgensonne die Nebel fortgebrannt. Theseus verlor die Spur, als sie auf nackten Granit stießen. Die Jäger verteilten sich in einer gebrochenen Linie über den Bergabhang und schritten weiterhin langsam nach oben.
Gegen Mittag zupfte der Breitschwertmann ein Stückchen khakifarbener Seide aus einem Dornenbusch. Wenige Minuten später entdeckte Theseus Fußspuren im Moos. Sie führten nach unten, in ein enges, dichtbewaldetes Tal. Eifrig stießen die Jäger weiter vor.
»Hier ist er!« rief ein Mann.
Blaine wirbelte herum und sah, wie fünfzig Yards zu seiner Rechten der Mann mit dem Siebenstern vorwärts rannte. Er war der jüngste der Jäger, ein fleischiger, selbstbewußter Sizilianer. Seine Waffe bestand aus einem dicken Eschengriff, an den eine ein Fuß lange Kette befestigt war, an deren Ende eine schwere Kugel mit Dornen hing, der Siebenstern. Er wirbelte die Waffe über seinem Kopf und sang dabei mit voller Lungenkraft.
Sammy Jones und Blaine sprinteten auf ihn zu. Sie sahen, wie Hull mit dem Rapier in der Hand aus dem Gebüsch sprang. Der Sizilianer sprang vor und verteilte einen Schlag, der einen Baum hätte fällen können. Hull hüpfte leichtfüßig beiseite, dann stieß er vor.
Der Siebensternmann gab ein gurgelndes Geräusch von sich und ging zu Boden, am Hals durchstochen. Hull setzte einen Fuß auf seine Brust, zog das Rapier wieder aus dem Körper und verschwand erneut im Unterholz.
»Ich hab nie begreifen können, warum jemand einen Siebenstern verwenden will«, meinte Sammy Jones. »Viel zu klobig. Wenn du den Mann nicht gleich beim ersten Mal triffst, dann erholst du dich nie mehr rechtzeitig davon.«
Der Sizilianer war tot. Hulls Pfad durch das Unterholz war klar zu erkennen. Sie stürzten hinter ihm her, von den meisten Jägern gefolgt, die auf jeder Seite gesonderte Flankensicherungsposten eingeteilt hatten.
Schon bald kamen sie wieder auf Felsgestein und verloren die Fährte.
*
Den ganzen Nachmittag suchten sie ohne Erfolg. Gegen Sonnenuntergang errichteten sie ihr Lager am Berghang, stellten Wachen auf und besprachen den bisherigen Verlauf der Jagd an einem kleinen Lagerfeuer.
»Was meinst du, wo er ist?« fragte Blaine.
»Er kann irgendwo auf dem verdammten Anwesen sein«, meinte Jones. »Vergiß nicht, er kennt hier jeden Fleck Boden. Wir sind zum erstenmal hier.«
»Dann könnte er sich ja unendlich lange vor uns verstecken.«
»Wenn er wollte, ja. Aber er will ja getötet werden, nicht wahr? Auf eine große, schillernde, heldenhafte Weise. Also wird er weiterhin versuchen, uns zu dezimieren, bis wir ihn haben.«
Blaine blickte über die Schulter in den dunklen Wald. »Es könnte ja sein, daß er dort gerade steht und zuhört.«
»Das tut er zweifellos auch«, meinte Jones. »Ich hoffe, daß die Wachposten nicht einschlafen.«
Im kleinen Lager ging das gedämpfte Gespräch weiter, und das Feuer wurde kleiner. Blaine wünschte, daß der Morgen bald käme. In der Dunkelheit waren die Rollen vertauscht. Die Jäger waren nun die Gejagten, von einem grausamen und amoralischen Selbstmörder gehetzt, der so viele Menschenleben mit sich fortreißen wollte, wie er nur konnte.
Mit diesem Gedanken im Sinn schlief er ein.
*
Kurz vor der Morgendämmerung wurde er von einem Schrei geweckt. Er packte sein Gewehr und sprang auf, um in die Dunkelheit hineinzustarren. Ein weiterer Schrei, diesmal näher, erscholl, dann war eiliges Dahinhuschen im Wald zu hören. Irgend jemand warf schließlich eine Handvoll Blätter auf die Glut.
In dem plötzlichen gelben Aufflackern erblickte Blaine einen Mann, der zum Lager zurücktaumelte. Es war einer der Wachposten, der seinen Speer hinter sich her zog. Er blutete aus zwei Wunden, schien aber nicht tödlich verletzt zu sein.
»Dieser Bastard!« schluchzte der Speermann, »dieser lausige Bastard!«
»Gemach, Chico, gemach«, sagte einer der Männer und riß das Hemd des Speermanns auf, um die Wunde zu reinigen und zu verbinden. »Hast du ihn erwischt?«
»Er war zu schnell«, jammerte der Speermann. »Ich hab ihn verfehlt.«
Damit war es für diese Nacht mit dem Schlafen vorbei.
*
Beim ersten Licht der Morgendämmerung waren die Jäger wieder auf und verteilten sich weithin, um eine Spur des Opfers ausfindig zu machen. Theseus fand einen zerbrochenen Knopf und dann einen halb verwischten Fußabdruck. Die Jagd ging weiter, den schmalen Berghang hoch.
An der Spitze der Horde rief Otto plötzlich: »He! Hier! Ich habe ihn!«
Theseus rannte auf ihn zu, gefolgt von Blaine und Jones. Sie sahen Hull, der sich langsam zurückzog und konzentriert zusah, wie Otto, die Bola um seinen kurzhaarigen Kopf wirbelnd, auf ihn zukam. Das argentinische Lasso zischte durch die Luft, und seine drei Eisenkugeln waren nun unscharf zu erkennen. Dann ließ Otto los. Sofort warf sich Hull zu Boden. Die Bola flog nur wenige Inches über seinem Kopf an ihm vorbei, wickelte sich um einen Ast und riß ihn ab. Hull rannte mit breitem Grinsen auf den waffenlosen Mann zu.
Bevor er ihn erreicht hatte, war Theseus angekommen und hatte seinen Dreizack gehoben. Sie parierten ihre gegenseitigen Schläge, dann wirbelte Hull herum und rannte davon.
Theseus stieß zu. Das Opfer heulte vor Schmerz auf, lief jedoch weiter.
»Hast du ihn verwundet?« fragte Jones.
»Eine Fleischwunde am Hintern«, sagte Theseus. »Wahrscheinlich sehr schmerzlich für seinen Stolz.«
Die Jäger rannten weiter, schwer atmend den Abhang hoch. Doch wieder einmal hatten sie ihr Opfer verloren.
Sie verteilten sich, umringten den schmalen Berg und arbeiteten sich langsam auf seine Spitze hoch. Vereinzelte Geräusche und Fußabdrücke sagten ihnen, daß das Opfer sich immer noch vor ihnen befand und sich nach oben zurückzog. Als die Bergspitze immer schmaler wurde, konnten sie ihre Reihen noch dichter schließen und verringerten damit jede Möglichkeit für Hull, zwischen ihnen durchzuschlüpfen.
Gegen Spätnachmittag waren die Pinien und Nadelbäume rar geworden. Über ihnen befand sich ein planloses Labyrinth aus Granitfelsen und dahinter schließlich der Gipfel selbst.
»Vorsichtig, jetzt!« rief Jones den Jägern zu.
Noch während er es sagte, griff Hull an. Er sprang hinter einer Felsenspitze hervor, lief auf den alten Bjorn, den Streitkolbenmann, zu und versuchte mit zischendem Rapier, den Mann so schnell wie möglich niederzustrecken und aus der Falle der Jäger zu entkommen.
Doch Bjorn gab nur langsam nach, parierte die Stöße des Rapiers vorsichtig, indem er seinen Streitkolben mit beiden Händen umfaßte als sei er ein Kampfstock. Hull schrie den phlegmatischen Mann fluchend an, griff ihn wild an und wich ihm gerade noch rechtzeitig aus, um einem Schlag des Streitkolbens zu entgehen.
Der alte Bjorn kam näher – zu schnell. Das Rapier huschte in seine Brust und wieder zurück wie eine züngelnde Schlange. Bjorns Streitkolben fiel zu Boden, und sein Körper rollte den Abhang hinunter.
Doch die Jäger hatten den Kreis bereits wieder geschlossen. Hull zog sich zurück in das Felsengewirr.
Die Jäger schritten vorwärts. Blaine bemerkte, daß die Sonne schon fast versunken war; schon jetzt war die Luft vom Zwielicht leicht getönt, und lange Schatten erstreckten sich über die grauen Felsen.
»Wird langsam Abend«, sagte er zu Jones.
»Haben vielleicht noch eine halbe Stunde Licht«, sagte Jones und schielte an den Himmel. »Besser, wenn wir ihn möglichst bald erledigen. Wenn es dunkel ist, kann er jeden von uns einfach vom Fels pieksen.«
Sie stiegen nun schneller hoch und suchten die hohen Felsen ab.
»Er könnte Felsen auf uns herabrollen«, meinte Blaine.
»Der nicht«, sagte Jones. »Dazu ist er viel zu verflucht stolz.«
Und dann trat Hull hinter einem hohen Felsen neben Blaine hervor.
»Also gut, Gewehrmann«, sagte er.
Blaine, der sein Gewehr hoch trug, konnte gerade noch einen Stich parieren. Die Klinge des Rapiers kratzte am Gewehrlauf entlang und verfehlte seinen Hals. Automatisch drehte er ihn beiseite. Irgend etwas brachte ihn dazu, zu brüllen, als er vorstieß, dem Stoß eine verzückte Schlitzbewegung folgen zu lassen und dann einen hoffnungsfrohen Hieb mit dem Kolben zu machen, der das Gehirn seines Feindes über die Felsen verspritzen sollte. In diesem Augenblick war Blaine kein zivilisierter Mann mehr, der in einer schmerzlichen Notlage handeln mußte; er war ein viel primitiveres Wesen, das voller Freude seiner wahren Berufung des Mordens nachging.
Das Opfer wich seinen Stößen mit schneller, seidiger Eleganz aus. Blaine torkelte ihm nach, die Wut fraß an seinem Können. Plötzlich wurde er von Sammy Jones beiseite gestoßen.
»Meiner«, sagte Jones. »Ganz meiner. Ich bin dein Mann, Hull. Versuch’s doch mal mit deinem Schweinestecher.«
Hull griff mit ausdruckslosem Gesicht an, sein Rapier blitzte auf. Jones stand fest auf leicht gebeugten Beinen, die Streitaxt drehte sich leicht in seinen Händen. Hull machte einen Ausfallschritt und stieß vor. Jones parierte so hart, daß die Funken flogen und das Rapier sich bog wie ein frischer Zweig.
Die anderen Jäger waren inzwischen auch eingetroffen. Sie setzten sich auf die herumliegenden nahen Felsen und atmeten schwer und tief von der Anstrengung des Laufens. Sie gaben Kommentare zu dem Duell ab und riefen Ratschläge.
»Dräng ihn an die Klippe, Sammy!«
»Nein, über den Rand mit ihm!«
»Brauchst du Hilfe?«
»Nein, verdammt!« brüllte Jones zurück.
»Paß auf, daß er dir keinen Finger absäbelt, Sammy!«
»Keine Bange«, sagte Jones.
Blaine sah zu, und seine Wut ließ so schnell nach, wie sie gekommen war. Er hatte gedacht, daß eine Streitaxt eine unbeholfene Waffe war, bei der man bei jedem Schlag erst voll ausholen müßte. Doch Sammy Jones ging mit der kurzen, schweren Axt um, als sei sie ein Taktstock. Er holte nicht aus sondern ließ sie aus jeder Stellung hervorschnellen und zurückwirbeln, und er drängte Hull mit seinem unerschütterlichen Gewicht und seinem Schub an den Rand der Klippe. Blaine begriff, daß die beiden Männer nicht wirklich miteinander zu vergleichen waren. Hull war ein begabter Amateur, ein dilettantischer Mörder; Jones war ein gewiefter professioneller Killer. Es war, als ob man einen wilden Haushund gegen einen Dschungeltiger kämpfen ließ.
Das Ende kam schnell im blauen Zwielicht des Berggipfels. Sammy Jones parierte einen Stich und stampfte vor, die Axt aus der Rückhand schwingend. Die Klinge hieb tief in Hulls linke Seite. Hull stürzte brüllend den Berg hinunter. Sekundenlang hörten sie, wie sein Körper aufstieß und weiterrollte.
»Achtet darauf, wo er liegt«, sagte Sammy Jones.
»Er muß einfach tot sein«, meinte der Säbelmann.
»Ist er auch wahrscheinlich. Aber es ist eine Schlamperei, wenn wir uns nicht genau davon überzeugen.«
Beim Abstieg fanden sie Hulls verstümmelten, leblosen Leichnam. Sie markierten die Stelle für das Beerdigungsteam und gingen zurück zum Haus.
Die Jäger kehrten gemeinsam in die Stadt zurück und feierten wild. Während des Abends fragte Sammy Jones Blaine, ob er ihm beim nächstenmal Gesellschaft leisten wolle.
»Ich habe einen netten Auftrag oben in Omsk«, sagte Jones. »Ein russischer Adliger will ein paar Gladiatorenkämpfe abhalten. Du müßtest mit einem Speer kämpfen, aber das ist ja das gleiche wie bei einem Gewehr. Ich werd mit dir auf dem Weg dorthin trainieren. Nach Omsk gibt es eine wirklich große Jagd in Manila. Da wollen fünf Brüder zusammen Selbstmord machen. Sie brauchen fünfzig Jäger, um sie abzuschlachten. Was meinst du, Tom?«
Blaine überlegte gründlich, bevor er antwortete. Das Leben eines Jägers war ihm das angenehmste, das er bislang in dieser Welt hatte finden können. Er mochte die rauhe Kameradschaft von Männern wie Sammy Jones, das einfache, geradlinige Denken, das Leben im Freien, das Handeln, das jeden Zweifel ausradierte.
Auf der anderen Seite war da etwas fürchterlich Sinnloses dabei, als bezahlter Killer durch die Welt zu wandern, als moderne, anerkannte Version des Schlägers, des Banditen, des Strauchdiebs. Es war etwas Fruchtloses am Handeln um des Handelns willen, ohne echtes Ziel dahinter, ohne Zweck, ohne Entschlossenheit und ohne Entdeckungsmöglichkeiten. Diese Erwägungen wären nicht aufgekommen, wenn er wirklich gewesen wäre, was sein Körper zu sein schien; aber das war er nicht. Der Gegensatz blieb bestehen, und er mußte sich ihm stellen.
Und schließlich gab es auch noch andere Probleme, die diese Welt ihm stellte, andere Herausforderungen, die seiner Persönlichkeit mehr entsprachen. Und diesen mußte er sich stellen.
»Tut mir leid, Sammy«, sagte er.
Jones schüttelte den Kopf. »Du machst einen Fehler, Tom. Du bist ein geborener Killer. Es gibt nichts anderes für dich.«
»Vielleicht«, sagte Blaine. »Ich muß das selbst herausfinden.«
»Na ja, viel Glück«, sagte Sammy Jones. »Und paß auf deinen Körper auf. Du hast dir einen guten ausgesucht.«
Blaine zuckte automatisch zusammen. »Ist das so offensichtlich?«
Jones grinste. »Ich bin viel herumgekommen, Tom. Ich merke das, wenn ein Mann einen Wirt bewohnt. Wenn dein Geist in diesem Körper geboren wäre, dann würdest du jetzt mit mir auf die Jagd gehen. Und wenn dein Geist in einem anderen Körper geboren wäre -«
»Ja?«
»Dann wärst du überhaupt nicht erst auf die Jagd gegangen. Ist eine schlimme Spaltung, Tom. Du solltest besser rausfinden, für welchen Weg du dich entscheiden willst.«
»Danke«, sagte Blaine. Sie drückten sich die Hände, und Blaine ging zurück zu seinem Hotel.
*
Er trat in sein Zimmer und warf sich in voller Montur aufs Bett. Nach dem Aufwachen würde er Marie anrufen. Aber zunächst einmal mußte er schlafen. Alle Pläne, Gedanken, Probleme, Entscheidungen, sogar Träume mußten warten. Er war zu Tode erschöpft.
Er schaltete das Licht aus. Schon wenige Sekunden später war er eingeschlafen.
*
Einige Stunden danach wachte er mit dem Gefühl auf, daß irgend etwas nicht stimmte. Das Zimmer war dunkel. Alles war ruhiger, schweigender und erwartungsvoller, als das für New York angemessen schien.
Er setzte sich im Bett auf und hörte eine leise Bewegung am anderen Ende des Zimmers, neben dem Waschbecken.
Blaine schaltete das Licht an. Es war niemand sonst im Zimmer. Aber während er zusah, erhob sich das emaillierte Waschbecken in die Luft. Langsam stieg es empor und blieb auf unmögliche Weise ungestützt schweben. Zur gleichen Zeit hörte er ein dünnes, erschütterndes Lachen.
Er wußte sofort, daß er bespukt wurde, und zwar von einem Poltergeist.
Vorsichtig stieg er aus dem Bett und schritt an die Tür. Das schwebende Becken neigte sich plötzlich vor und flog auf seinen Kopf zu. Er duckte sich und das Becken krachte gegen die Wand.
Jetzt schwebte sein Wasserkrug hoch, gefolgt von zwei schweren Bechern. Planlos wirbelnd und torkelnd bewegten sie sich auf ihn zu.
Blaine hob ein Kissen als Schild auf und rannte zur Tür. Die Tür ging nicht auf. Der Poltergeist hielt sie verschlossen.
Der Krug traf ihn hart in die Rippen. Der übriggebliebene Becher kreiste ominös um seinen Kopf herum, und er war gezwungen, sich von der Tür zurückzuziehen.
Er erinnerte sich an die Feuertreppe draußen vor seinem Fenster. Doch der Poltergeist dachte auch daran, als er sich zu bewegen begann. Die Vorhänge gingen plötzlich in Flammen auf. Zur gleichen Zeit fing das Kissen, das er in der Hand hielt, Feuer, und Blaine warf es fort.
»Hilfe!« schrie er. »Hilfe!«
Er wurde in eine Ecke des Raums gedrängt. Rumpelnd rutschte das Bett vor und schnitt ihm den Rückzug ab. Ein Stuhl schwebte langsam hoch und machte sich anstellig, seinen Kopf zu treffen.
Und andauernd war da dieses dünne, erschütternde Lachen, das Blaine beinahe erkannte.