»Oh, Sie sind ja wach«, sagte jemand zu mir, als ich die Augen öffnete. »Versuchen Sie bitte nicht zu sprechen. Sie liegen in einer Nährlösung. Sie haben einen Atemschlauch im Hals. Und Sie haben keinen Unterkiefer.«
Ich blickte mich um. Ich trieb in einer Wanne mit zäher, warmer und durchsichtiger Flüssigkeit. Dahinter konnte ich Dinge erkennen, aber meinen Blick nicht darauf konzentrieren. Wie angekündigt schlängelte sich ein Atemschlauch von einer Klappe an der Seite der Wanne zu meinem Hals. Ich versuchte, dem Verlauf zu folgen, doch mein Sichtfeld wurde durch einen Apparat versperrt, der die untere Hälfte meines Kopfes umschloss. Ich versuchte ihn zu berühren, aber ich konnte meine Arme nicht bewegen. Das besorgte mich.
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte die Stimme. »Wir haben Ihre Bewegungsfähigkeit abgeschaltet. Wenn Sie die Wanne verlassen können, schalten wir sie wieder ein. Nur noch ein paar Tage. Sie haben übrigens weiterhin Zugang zu Ihrem BrainPal. Benutzen Sie ihn, wenn Sie kommunizieren möchten. Auf diese Weise reden wir auch in diesem Moment mit Ihnen.«
Wo, zum Teufel, bin ich?, sendete ich. Und was ist mit mir passiert?
»Sie befinden sich in der Brenneman-Klinik über Phoenix«, sagte die Stimme. »Hier bekommen Sie die beste medizinische Versorgung überhaupt. Sie liegen auf der Intensivstation. Ich bin Dr. Fiorina, und ich kümmere mich um Sie, seit Sie hier eingeliefert wurden. Auf das, was mit Ihnen passiert ist, kommen wir später zurück. Vorläufig kann ich Ihnen sagen, dass Sie in guter Verfassung sind. Machen Sie sich also keine Sorgen. Nachdem das geklärt ist, kann ich Ihnen verraten, dass Sie Ihren Unterkiefer, Ihre Zunge, den größten Teil Ihrer rechten Wange und ein Ohr verloren haben. Ihr rechtes Bein hatte einen sauberen Bruch in der Mitte des Oberschenkelknochens, ihr linkes ist an mehreren Stellen angebrochen, und Ihrem linken Fuß fehlen drei Zehen und die Ferse. Wir glauben, dass sie abgefressen wurden. Die gute Nachricht ist, dass Ihre Wirbelsäule unterhalb des Brustkorbs gebrochen ist, sodass Sie vermutlich nichts von allem gespürt haben. Darüber hinaus haben Sie sechs gebrochene Rippen, von denen eine Ihre Gallenblase punktiert hat. Außerdem haben Sie mehrfache innere Blutungen erlitten. Ganz zu schweigen von einer Sepsis und zahlreichen weiteren allgemeinen und speziellen Infektionen, die Sie sich zugezogen haben, als Sie tagelang mit offenen Wunden im Freien lagen.«
Ich dachte, ich wäre tot, sendete ich. Oder zumindest fast tot.
»Da Sie jetzt nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr schweben, kann ich Ihnen verraten, dass es eigentlich ein Wunder ist, dass Sie noch leben«, sagte Dr. Fiorina. »Wären Sie ein unmodifizierter Mensch, hätten Sie es auf gar keinen Fall überlebt. Danken Sie Ihrem SmartBlood, dass es Sie vor dem Tod gerettet hat. Es ist geronnen, bevor Sie verbluten konnten, und hat Ihre Infektionen eingedämmt. Trotzdem war es sehr knapp. Hätte man Sie nicht gefunden, wären Sie wahrscheinlich wenig später nicht mehr am Leben gewesen. Aber als man Sie in die Sparrowhawk gebracht hat, wurden Sie sofort in eine Stasisröhre geschoben, in der man Sie zu uns geschafft hat. An Bord des Schiffes konnte man nicht viel für Sie tun. Sie brauchen eine spezielle Behandlung.«
Ich habe meine Frau gesehen. Sie war bei denen, die mich gerettet haben.
»Ist Ihre Frau Soldatin?«
Sie ist vor einigen Jahren gestorben.
»Oh«, sagte Dr. Fiorina. »Wenn ich Ihren Zustand bedenke, wundert es mich nicht. Da sind Halluzinationen etwas ziemlich Normales. Der helle Tunnel und verstorbene Verwandte und die üblichen Sachen. Hören Sie, Corporal, wir haben noch eine Menge Arbeit mit Ihrem Körper, und es ist leichter für uns, wenn Sie dabei schlafen. Im Augenblick können Sie sowieso nichts anderes tun, als in der Lösung zu schwimmen. Ich werde Sie jetzt wieder für einige Zeit in den Schlafmodus versetzen. Wenn Sie das nächste Mal aufwachen, können Sie die Wanne verlassen, und Ihr Gesicht wird wieder so weit hergestellt sein, dass Sie sich auf normale Weise unterhalten können. Okay?«
Was ist mit meinen Leuten passiert?, wollte ich wissen. Wir sind abgestürzt …
»Schlafen Sie jetzt«, sagte Dr. Fiorina. »Wir reden über alles weitere, wenn Sie aus der Wanne gestiegen sind.«
Ich wollte eine sehr verärgerte Antwort geben, doch dann überkam mich tiefe Müdigkeit. Ich war weggetreten, bevor ich mich darüber wundern konnte, wie schnell ich weggetreten war.
»Schaut mal, wer wieder da ist«, sagte eine Stimme. »Der Mann, der sogar zu blöd zum Sterben ist.«
Diesmal schwamm ich nicht mehr in einer schleimigen Lösung. Ich blickte auf und versuchte zu erkennen, woher die Stimme kam.
»Harry«, sagte ich, so gut es mit einem unbeweglichen Unterkiefer ging.
»Der und kein anderer«, sagte er und deutete eine Verbeugung an.
»Entschuldige, dass ich nicht aufstehen kann«, murmelte ich. »Ich habe noch leichte Probleme.«
»›Leichte Probleme‹, sagt er!«, wiederholte Harry und verdrehte die Augen. »Jesus auf dem Schaukelpferd! Von dir hat mehr gefehlt, als noch übrig war, John. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe gesehen, wie sie deinen Kadaver von Coral raufgebracht haben. Als sie sagten, du wärst noch am Leben, ist mir die Kinnlade bis zum Fußboden runtergefallen.«
»Sehr witzig«, sagte ich.
»Tschuldigung«, sagte Harry. »Das sollte keine Anspielung sein. Aber du warst kaum noch wiederzuerkennen, John. Nur noch ein Haufen aus Einzelteilen. Versteh mich nicht falsch, aber ich habe dir gewünscht, dass du stirbst. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie es schaffen würden, dich wieder zusammenzuflicken.«
»Freut mich, dich enttäuscht zu haben«, sagte ich.
»Freut mich, von dir enttäuscht worden zu sein«, erwiderte er. Dann betrat jemand anderer den Raum.
»Jesse«, sagte ich.
Jesse ging um das Bett herum und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. »Willkommen im Land der Lebenden, John«, sagte sie und trat zurück. »Da wären wir glücklich wieder vereint. Die drei Musketiere.«
»Eher zweieinhalb Musketiere«, sagte ich.
»Sei nicht so pessimistisch«, sagte Jesse. »Dr. Fiorina sagt, dass du bald wieder völlig in Ordnung sein wirst. Dein Unterkiefer müsste morgen komplett nachgewachsen sein, und das Bein wird ein paar Tage später fertig sein. Ratzfatz wirst du wieder rumspringen.«
Ich tastete nach meinem rechten Bein. Es war vollständig vorhanden, beziehungsweise fühlte es sich so an. Ich zog die Bettdecke zurück, um es mir genauer anzusehen, und da war mein Bein. Sozusagen. Knapp unter dem Knie war ein grüner Striemen. Darüber sah mein Bein wie mein Bein aus, darunter wie eine Prothese.
Ich wusste, was los war. Einer Frau aus meinem Trupp war im Kampf ein Bein abgerissen worden, und man hatte ihr auf dieselbe Weise ein neues verschafft. Am Amputationsschnitt setzte man ein nährstoffreiches falsches Glied an und injizierte Nanoboter. Mit der körpereigenen DNS als Richtlinie bauten die Nanoboter dann das falsche Bein um und machten Fleisch und Knochen daraus, die sie mit den noch vorhandenen Muskeln, Nerven, Blutgefäßen und so weiter verbanden. Der Ring aus Nanobotern bewegte sich langsam hinunter, bis das gesamte Bein rekonstruiert war. Danach wanderten sie über den Blutkreislauf in die Gedärme, und man konnte sie ausscheißen.
Keine sehr feine, aber eine praktische Lösung, ohne chirurgische Eingriffe, ohne auf geklonte Teile warten zu müssen, ohne unhandliche künstliche Prothesen, die am Körper befestigt waren. Und es dauerte nur ein paar Wochen, je nach Umfang der Amputation, bis man wieder ein Bein hatte. Genauso hatten sie mir auch einen neuen Unterkiefer verschafft und wahrscheinlich auch die Ferse und die Zehen des linken Fußes, die längst wieder vollzählig vorhanden waren.
»Wie lange bin ich schon hier?«, fragte ich.
»In diesem Zimmer bist du seit einem Tag«, sagte Jesse. »Davor hast du etwa eine Woche lang in der Wanne gelegen.«
»Wir haben vier Tage gebraucht, bis wir über Phoenix eingetroffen sind«, sagte Harry. »Während dieser Zeit warst du in Stasis. Wusstest du das?« Ich nickte. »Und es waren ein paar Tage vergangen, bis man dich auf Coral gefunden hat. Also warst du insgesamt für ungefähr zwei Wochen aus dem Verkehr gezogen.«
Ich sah die beiden an. »Es freut mich, euch wiederzusehen. Versteht mich nicht falsch, aber warum seid ihr hier? Warum seid ihr nicht an Bord der Hampton Roads?«
»Die Hampton Roads wurde zerstört, John«, sagte Jesse. »Wir wurden unmittelbar nach dem Skip angegriffen. Unser Shuttle konnte sich im letzten Moment aus dem Hangar flüchten. Dabei wurde das Triebwerk beschädigt. Wir waren die Einzigen. Wir trieben fast anderthalb Tage lang im All, bevor die Sparrowhawk uns aufgelesen hat. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären erstickt.«
Ich erinnerte mich, gesehen zu haben, wie die Rraey einen gerade eingetroffenen Kreuzer zerschossen hatten. Vielleicht war es die Hampton Roads gewesen. »Was ist aus der Modesto geworden?«, fragte ich. »Wisst ihr etwas darüber?«
Jesse und Harry sahen sich an. »Auch die Modesto wurde vernichtet«, sagte Harry schließlich. »John, alle wurden vernichtet. Es war ein Massaker.«
»Es können nicht alle draufgegangen sein. Du sagst, die Sparrowhawk hätte euch gefunden, genauso wie mich.«
»Die Sparrowhawk kam etwas später, nach der ersten Welle«, sagte Harry. »Sie traf weit vom Planeten entfernt ein. Dadurch konnten die Rraey sie nicht orten, wie auch immer sie das machen. Aber sie haben sich sofort auf das Schiff gestürzt, als es über der Stelle, wo du abgestürzt warst, in den Parkorbit ging. Es war ziemlich knapp.«
»Wie viele haben überlebt?«, fragte ich.
»Du warst der Einzige von der Modesto«, sagte Jesse.
»Es gab doch mehr Shuttles, die entkommen sind«, sagte ich.
»Sie wurden alle abgeschossen«, sagte Jesse. »Die Rraey haben auf alles geballert, was größer als ein Schuhkarton war. Unser Shuttle wurde verschont, weil das Triebwerk bereits tot war. Vermutlich wollten sie keine Raketen verschwenden.«
»Wie viele haben insgesamt überlebt?«, fragte ich. »Es können doch nicht nur die Leute in deinem Shuttle und ich gewesen sein.«
Jesse und Harry schwiegen.
»Erzählt mir keinen Scheiß!«
»Es war ein Hinterhalt, John«, sagte Harry. »Jedes Schiff wurde fast unmittelbar nach dem Skip angegriffen, sobald es über Coral auftauchte. Wir wissen nicht, wie sie es gemacht haben, aber sie haben es gemacht, und bei den anschließenden Aufräumarbeiten haben sie sich um sämtliche Shuttles gekümmert. Deshalb ist die Sparrowhawk ein solches Risiko eingegangen, dich zu finden◦– weil du außer uns der einzige Überlebende bist. Dein Shuttle ist das einzige, das es bis zum Planeten geschafft hat. Sie haben sich am Peilsignal deines Shuttles orientiert. Euer Pilot hat den Sender kurz vor dem Absturz eingeschaltet.«
Ich erinnerte mich an Fiona. Und Alan. »Wie viele Leute haben wir verloren?«
»Insgesamt zweiundsechzig Kampfkreuzer mit voller Besatzung in Regimentsstärke«, sagte Jesse. »Fünfundneunzigtausend Menschen. Ungefähr.«
»Mir wird übel«, sagte ich.
»Das kann man wohl als Paradebeispiel eines gewaltigen Haufens Scheiße bezeichnen«, sagte Harry. »So viel steht fest. Das ist der Grund, warum wir alle noch hier sind. Wir können sonst nirgendwohin.«
»Außerdem werden wir regelmäßig befragt«, sagte Jesse. »Als wüssten wir irgendwas. Wir waren bereits in unserem Shuttle, als wir getroffen wurden.«
»Sie warten schon voller Ungeduld darauf, dass man wieder mit dir reden kann«, sagte Harry zu mir. »Ich vermute, du wirst schon bald Besuch von den Ermittlern der KVA bekommen.«
»Wie sind diese Leute so?«
»Humorlos«, sagte Harry.
»Ich hoffe, Sie verzeihen uns, dass wir nicht zu Scherzen aufgelegt sind, Corporal Perry«, sagte Lieutenant Colonel Newman. »Wenn man sechzig Schiffe und hunderttausend Leute verloren hat, versetzt einen das in sehr ernste Stimmung.«
Ich hatte nur »noch etwas aufgelöst« gesagt, als Newman mich fragte, wie es mir ging. Ich hatte gedacht, dass eine leicht ironische Beschreibung meines Zustandes vielleicht nicht unangebracht wäre. Offenbar hatte ich mich geirrt.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Obwohl es eigentlich kein Scherz sein sollte. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich einen nicht unerheblichen Teil meines Körpers auf Coral zurückgelassen.«
»Wie sind Sie überhaupt nach Coral gelangt?«, fragte Major Javna, die Newman begleitete.
»Ich erinnere mich, mit dem Shuttle geflogen zu sein«, sagte ich, »obwohl ich das letzte Stück dann allein geflogen bin.«
Javna warf Newman einen Blick zu, als wollte sie sagen: Er macht schon wieder Scherze. »Corporal, in Ihrem Bericht über den Zwischenfall erwähnen Sie, dass Sie dem Piloten Ihres Shuttles die Erlaubnis erteilt haben, das Hangartor der Modesto aufzusprengen.«
»Richtig«, sagte ich. Den Bericht hatte ich am vergangenen Abend verfasst, kurz nachdem Harry und Jesse mich besucht hatten.
»Wer hat Sie dazu befugt, diesen Befehl zu erteilen?«
»Niemand«, sagte ich. »Die Modesto wurde mit Raketen beschossen. Ich dachte mir, dass es vielleicht der richtige Zeitpunkt für ein wenig persönliche Initiative wäre.«
»Ist Ihnen bekannt, wie viele Shuttles von der gesamten Flotte über Coral gestartet wurden?«
»Nein«, sagte ich. »Allerdings kann ich mir denken, dass es vermutlich nur wenige waren.«
»Weniger als einhundert, einschließlich der sieben von der Modesto«, sagte Newman.
»Und wissen Sie auch, wie viele es bis zur Oberfläche von Coral geschafft haben?«, fragte Javna.
»Wie ich erfahren habe, soll es nur meinem gelungen sein.«
»Das ist richtig«, sagte Javna.
»Also?«
»Also«, sagte Newman, »scheinen Sie ziemliches Glück gehabt zu haben, weil Sie das Hangartor zum günstigsten Moment aufsprengten, um rechtzeitig zur Planetenoberfläche entkommen zu können.«
Ich starrte Newman verständnislos an. »Kommt Ihnen das in irgendeiner Weise verdächtig vor, Lieutenant Colonel?«
»Sie müssen zugeben, dass es eine interessante Verkettung von Zufällen darstellt«, sagte Javna.
»Den Teufel werde ich tun«, sagte ich. »Ich habe den Befehl gegeben, nachdem die Modesto getroffen wurde. Meine Pilotin war erfahren und geistesgegenwärtig genug, uns nach Coral und so weit runterzubringen, dass ich überleben konnte. Und wie Sie sich vielleicht erinnern, wäre ich fast dabei draufgegangen. Der größte Teil meines Körpers war über eine Fläche verschmiert, die so groß wie Rhode Island war. Der einzige glückliche Zufall war, dass ich gefunden wurde, bevor ich gestorben wäre. Alles andere war Geschick oder Intelligenz, sei es meine oder die meiner Pilotin. Entschuldigen Sie bitte, dass wir sehr gut ausgebildet wurden, Sir.«
Javna und Newman sahen sich an. »Wir versuchen nur, jeden unklaren Punkt zu verfolgen«, sagte Newman nachsichtig.
»Verdammt!«, sagte ich. »Denken Sie doch einfach mal nach. Wenn ich wirklich beabsichtigt hätte, die KVA zu verraten, hätte ich es doch wohl auf eine Art und Weise getan, bei der ich nicht das halbe Gesicht verloren hätte.« Ich dachte mir, dass ich keine Konsequenzen zu befürchten hatte, wenn ich in meinem Zustand einen höherrangigen Offizier anschnauzte.
Ich behielt Recht. »Dann wollen wir jetzt weitermachen«, sagte Newman.
»Tun Sie das«, sagte ich.
»Sie erwähnten, dass Sie einen Rraey-Schlachtkreuzer gesehen haben, der auf einen KVA-Kreuzer feuerte, als dieser über Coral auftauchte.«
»Richtig«, sagte ich.
»Interessant, dass Sie so etwas beobachten konnten«, sagte Javna.
Ich seufzte. »Wollen Sie das während unseres ganzen Gesprächs machen? Wir würden wesentlich schneller vorankommen, wenn Sie nicht ständig davon ausgehen würden, dass ich vielleicht ein Spion bin.«
»Der Raketenangriff, Corporal«, sagte Newman. »Erinnern Sie sich, ob die Raketen vor oder nach dem Eintreffen des KVA-Schiffs abgefeuert wurden?«
»Ich vermute, dass es kurz davor geschah«, sagte ich. »Zumindest hatte ich diesen Eindruck. Die Rraey wussten genau, wann und wo der Kreuzer nach dem Skip auftauchen würde.«
»Wie soll das Ihrer Ansicht nach möglich sein?«, fragte Javna.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Ich habe erst einen Tag vor dem Angriff erfahren, wie ein Skip-Antrieb funktioniert. Nach meinem Wissensstand sollte es eigentlich nicht möglich sein, die Ankunft eines Schiffes vorherzubestimmen.«
»Was meinen Sie mit ›Ihrem Wissensstand‹?«, fragte Newman.
»Alan, ein anderer Truppführer«◦– ich wollte ihn nicht als meinen Freund bezeichnen, da das möglicherweise verdächtig klang◦– »sagte, dass ein Raumschiff beim Skip in ein anderes Universum versetzt wird, das dem Ursprungsuniversum sehr ähnlich ist, und dass sowohl das Verschwinden als auch das Eintreffen eines Schiffs extrem unwahrscheinlich ist. Wenn das stimmt, kommt es mir nicht sehr wahrscheinlich vor, dass man wissen kann, wann und wo ein Schiff auftauchen wird.«
»Was glauben Sie also, ist passiert?«, fragte Javna.
»Wie meinen Sie das?«
»Sie sagen, dass man das Eintreffen eines Schiffs eigentlich nicht vorherbestimmen kann«, sagte sie. »Wir können uns diesen Hinterhalt nur so erklären, dass jemand den Rraey einen Tipp gegeben hat.«
»Schon wieder!«, sagte ich. »Selbst wenn wir mal rein theoretisch davon ausgehen, dass es einen Verräter gab◦– wie hätte er es machen können? Selbst wenn er den Rraey irgendwie eine Botschaft übermitteln konnte, dass eine Flotte auf dem Weg ist, hätte er unmöglich sagen können, wo genau die einzelnen Schiffe über Coral materialisieren werden. Denken Sie daran, dass die Rraey uns erwartet haben. Sie haben uns mit erstaunlicher Zielgenauigkeit angegriffen.«
»Also noch einmal«, sagte Javna. »Was glauben Sie, ist passiert?«
Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht ist das Skippen doch nicht so unwahrscheinlich, wie wir gedacht haben.«
»Reg dich wegen der Befragungen nicht zu sehr auf«, sagte Harry, als er mir einen Becher Fruchtsaft reichte, den er für mich aus der Cafeteria geholt hatte. »Wir mussten uns dieselben Bemerkungen anhören, wie verdächtig es ist, dass wir überlebt haben.«
»Wie habt ihr reagiert?«
»Scheiße«, sagte Harry. »Ich musste Ihnen beipflichten. Es ist wirklich verdammt verdächtig. Das Komische war nur, dass ihnen diese Antwort offenbar auch nicht gefallen hat. Aber man kann ihnen keinen Vorwurf machen. Den Kolonien wurde soeben der Boden unter den Füßen weggezogen. Wenn wir nicht herauskriegen, was im Coral-System passiert ist, stecken wir in großen Schwierigkeiten.«
»Das kannst du laut sagen. Was glaubst du, was passiert ist?«
»Keine Ahnung«, sagte Harry. »Vielleicht ist das Skippen doch nicht so unwahrscheinlich, wie wir gedacht haben.« Er trank von seinem Fruchtsaft.
»Komisch. Genau das Gleiche habe ich auch gesagt.«
»Ja, aber ich meine es auch so«, sagte Harry. »Ich kenne mich in theoretischer Physik nicht so gut aus wie Alan, Gott sei seiner Seele gnädig, aber das gesamte Modell, mit dem wir das Skippen erklären, muss irgendwie falsch sein. Offenbar haben die Rraey eine Vorhersagemethode mit einer ziemlich hohen Treffergenauigkeit gefunden. Wie machen sie das?«
»Ich glaube, dass das eigentlich nicht möglich sein sollte«, sagte ich.
»Völlig richtig. Aber trotzdem machen sie es. Das kann nur heißen, dass unsere Vorstellung, wie das Skippen vor sich geht, falsch ist. Eine Theorie wird aus dem Fenster geworfen, wenn die Beobachtungen nicht zu ihren Vorhersagen passen. Die Frage ist jetzt nur, was wirklich los ist.«
»Irgendwelche Ideen?«, fragte ich.
»Ein paar, auch wenn das Ganze eigentlich nicht mein Fachgebiet ist«, sagte Harry. »Dazu fehlt mir die nötige Mathe.«
Ich lachte. »Weißt du, vor gar nicht allzu langer Zeit hat Alan etwas sehr Ähnliches zu mir gesagt.«
Harry lächelte und hob seinen Becher. »Auf Alan«, sagte er.
»Auf Alan«, wiederholte ich. »Und auf alle abwesenden Freunde.«
»Amen«, sagte Harry, dann tranken wir.
»Harry, du hast gesagt, dass du dabei warst, als man mich an Bord der Sparrowhawk gebracht hat.«
»Ja. Nimm es bitte nicht persönlich, aber du sahst schrecklich aus.«
»Kein Problem«, sagte ich. »Erinnerst du dich an die Leute, die mich geholt haben?«
»Flüchtig«, sagte Harry. »Aber man hat uns für den größten Teil der Reise vom Rest des Schiffes isoliert. Ich habe dich in der Krankenstation gesehen, als man dich an Bord gebracht hatte. Sie haben uns untersucht.«
»Gab es unter den Leuten, die mich gerettet haben, eine Frau?«
»Ja«, sagte Harry. »Groß, braunes Haar. Das ist alles, woran ich mich spontan erinnere. Um ehrlich zu sein, habe ich meine Aufmerksamkeit mehr auf dich konzentriert. Dich kannte ich, die anderen nicht. Warum fragst du?«
»Harry, meine Frau war beim Rettungstrupp. Ich schwöre, dass sie es war.«
»Ich dachte, deine Frau wäre tot«, sagte Harry.
»Ist sie auch«, sagte ich. »Aber sie war es. Nicht so, wie Kathy während unserer Ehe aussah, sondern als KVA-Soldatin mit grüner Haut und so weiter.«
Harry sah mich skeptisch an. »Wahrscheinlich hast du halluziniert, John.«
»Gut möglich, aber warum habe ich Kathy dann als KVA-Soldatin halluziniert? Hätte ich mich nicht so an sie erinnern müssen, wie sie damals war?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Harry. »Halluzinationen zeigen per definitionem Dinge, die nicht real sind. Sie folgen nicht bestimmten Regeln. Es gibt keinen Grund, warum du deine tote Frau nicht als KVA-Soldatin halluzinieren solltest.«
»Harry, ich weiß, dass es leicht verrückt klingt, aber ich habe meine Frau gesehen«. Ich war vielleicht körperlich nicht mehr ganz beeinander, aber mein Gehirn hat noch tadellos funktioniert. Ich weiß, was ich gesehen habe.«
Harry saß einen Moment lang schweigend da. »Mein Trupp musste in der Sparrowhawk ein paar Tage im eigenen Saft schmoren«, sagte er. »Man hatte uns in einen Aufenthaltsraum gezwängt, den wir nicht verlassen durften und wo es nichts zu tun gab. Man hat uns nicht einmal den Zugang zu den Unterhaltungsprogrammen des Schiffes erlaubt. Wir durften nur mit Eskorte aufs Klo gehen. Also haben wir über die Besatzung des Schiffs und über die Spezialeinheit gesprochen. Und jetzt kommt der interessante Punkt: Keiner von uns kannte jemanden, der aus unseren Reihen zur Spezialeinheit gegangen ist. Das muss nichts heißen. Schließlich sind die meisten von uns erst seit wenigen Jahren dabei. Aber es ist interessant.«
»Dazu muss man vielleicht schon sehr lange gedient haben«, sagte ich.
»Vielleicht«, sagte Harry. »Aber vielleicht hat es auch einen anderen Hintergrund. Immerhin bezeichnet man sie als ›Geisterbrigade‹.« Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Fruchtsaft und stellte den Becher auf den Tisch neben meinem Bett. »Ich glaube, ich werde ein paar Nachforschungen anstellen. Räche meinen Tod, wenn ich nicht mehr zurückkomme.«
»Ich werde sehen, was sich unter den gegebenen Umständen tun lässt.«
»Ich bitte darum«, sagte Harry grinsend. »Und schau mal, was du selber herausfinden kannst. Schließlich stehen dir noch ein paar Befragungen bevor. Dabei könntest du dich mit ein paar Fragen revanchieren.«
»Was ist mit der Sparrowhawk«, fragte Major Javna bei unserem nächsten Gespräch.
»Ich würde gerne eine Nachricht an das Schiff schicken«, sagte ich. »Ich möchte den Leuten danken, dass sie mir das Leben gerettet haben.«
»Das ist nicht notwendig«, sagte Lieutenant Colonel Newman.
»Ich weiß, aber es ist mir ein Bedürfnis. Wenn man davor bewahrt wird, Stückchen für Stückchen von den Tieren des Waldes aufgefressen zu werden, ist es nur höflich, wenn man ein kleines Dankeschön schickt. Ich würde die Nachricht gerne direkt an die Typen schicken, die mich gefunden haben. Wie komme ich an sie heran?«
»Das geht nicht«, sagte Javna.
»Warum nicht?«, fragte ich unschuldig.
»Die Sparrowhawk ist ein Schiff der Spezialeinheit«, sagte Newman. »Es ist so lautlos wie möglich unterwegs. Die Kommunikation zwischen den Schiffen der Spezialeinheit und dem Rest der Flotte ist auf ein Minimum reduziert.«
»Das klingt aber etwas ungerecht. Ich bin schon seit über einem Jahr in der Armee, und ich hatte nie ein Problem damit, Post an Freunde in anderen Schiffen zu senden. Man sollte meinen, dass selbst die Soldaten der Spezialeinheit gelegentlich von ihren Freunden im sonstigen Universum hören möchten.«
Newman und Javna sahen sich an. »Wir kommen vom Thema ab«, sagte Newman.
»Ich will doch nur ein kleines Dankeschön schicken«, sagte ich.
»Wir werden uns darum kümmern«, sagte Javna in einem Tonfall, der eher nach Wir werden uns nie darum kümmern klang.
Ich seufzte, dann erzählte ich ihnen zum schätzungsweise zwanzigsten Mal, warum ich den Befehl erteilt hatte, das Shuttlehangartor der Modesto zu sprengen.
»Wie geht es Ihrem Kiefer?«, fragte Dr. Fiorina.
»Voll funktionstüchtig und bereit, etwas zu kauen«, sagte ich. »Nicht dass mir Suppe durch einen Strohhalm nicht schmecken würde, aber nach einer Weile wird es etwas monoton.«
»Das kann ich Ihnen nachfühlen«, sagte der Arzt. »Jetzt wollen wir uns mal Ihr Bein anschauen.« Ich schlug die Bettdecke zurück. Der Ring war inzwischen bis zur Mitte des Schienbeins hinuntergewandert. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie jetzt anfangen, damit zu gehen. Der noch unverarbeitete Teil wird Ihr Gewicht stützen, und es ist gut, wenn Sie Ihr Bein ein wenig trainieren. Ich gebe Ihnen für die nächsten Tage einen Gehstock. Mir ist aufgefallen, dass Sie häufiger von Freunden Besuch bekommen. Lassen Sie sich doch einfach mal von ihnen zum Essen mitnehmen.«
»Das müssen Sie mir nicht zweimal sagen«, erwiderte ich und spannte das Bein an. »So gut wie neu«, sagte ich.
»Nicht nur das«, sagte Fiorina. »Wir haben ein paar Verbesserungen an den Konfigurationen der KVA-Körper vorgenommen, seit Sie rekrutiert wurden. Sie sind bereits in Ihr Bein integriert, und der Rest Ihres Körpers wird den Nutzen ebenfalls spüren.«
»Da fragt man sich, warum die KVA die Sache nicht konsequent durchzieht«, sagte ich. »Man könnte den Körper doch durch etwas ersetzen, das ausschließlich für den Krieg konstruiert wurde.«
Fiorina blickte von seinem Handcomputer auf. »Sie haben grüne Haut, Katzenaugen und einen Computer im Schädel. Möchten Sie wirklich noch menschenunähnlicher werden?«
»Gutes Argument.«
»Das will ich meinen«, sagte Fiorina. »Ich lasse Ihnen den Stock von einem Assistenten bringen.« Er tippte einen entsprechenden Befehl in seinen Handcomputer.
»Sagen Sie mal«, begann ich, »haben Sie noch andere Leute behandelt, die mit der Sparrowhawk gekommen sind?«
»Nein«, sagte er. »Mit Ihnen, Corporal, hatte ich bereits alle Hände voll zu tun.«
»Also auch niemanden aus der Besatzung der Sparrowhawk?«
Fiorina schmunzelte. »Natürlich nicht. Es handelt sich um die Spezialeinheit.«
»Was heißt das?«
»Sagen wir einfach, dass diese Leute besondere Anforderungen stellen«, antwortete Fiorina. Dann kam der Assistent mit meinem Gehstock.
»Weißt du, was man über die Geisterbrigade in Erfahrung bringen kann? Offiziell, meine ich«, sagte Harry.
»Ich vermute mal, nicht allzu viel«, sagte ich.
»Nicht allzu viel ist eine maßlose Übertreibung«, sagte Harry. »Man erfährt absolut nichts darüber.«
Harry, Jesse und ich aßen zu Mittag in einer der Kantinen der Phoenix-Station. Für meinen ersten Ausflug hatte ich vorgeschlagen, dass wir uns so weit wie möglich von Brenneman entfernten. Diese spezielle Kantine befand sich auf der anderen Seite der Raumstation. Die Aussicht war nichts Besonderes◦– man konnte auf ein kleines Reparaturdock blicken -, aber die Küche wurde in der ganzen Station für ihre Burger gerühmt, und diese Reputation war gerechtfertigt. Der Koch hatte in seinem vergangenen Leben eine Kette von Gourmethamburgerrestaurants eröffnet. Obwohl es kaum größer als eine Besenkammer war, herrschte hier ständig Hochbetrieb. Die Burger, die Harry und ich bestellt hatten, wurden trotzdem kalt, während wir uns über die Geisterbrigade unterhielten.
»Ich habe Javna und Newman gefragt, ob ich eine Nachricht an die Sparrowhawk schicken könnte, und bin gegen eine unnachgiebige Wand gelaufen«, sagte ich.
»Das überrascht mich nicht«, sagte Harry. »Offiziell existiert die Sparrowhawk, aber das ist auch schon alles, was man über das Schiff herausfinden kann. Man erfährt nichts über die Besatzung, die Größe, die Bewaffnung oder den Standort. Solche Informationen sind einfach nicht vorhanden. Wenn man einen allgemeineren Suchauftrag nach der Spezialeinheit oder der Geisterbrigade in die KVA-Datenbank eingibt, zieht man ebenfalls eine Niete.«
»Also habt ihr nichts herausgefunden«, sagte Jesse.
»Das würde ich nicht behaupten«, sagte Harry und grinste. »Offiziell kann man nichts herausfinden, aber inoffiziell sieht die Sache etwas anders aus.«
»Und wie schafft man es, an inoffizielle Informationen zu gelangen?«, wollte Jesse wissen.
»Mit einer charmanten Persönlichkeit wie meiner kann man wahre Wunder bewirken«, sagte Harry.
»Sag so etwas bitte nicht, während ich esse«, erwiderte Jesse. »Was man von euch beiden nicht behaupten kann.«
»Was hast du also herausgefunden?«, fragte ich und nahm einen Bissen von meinem Burger. Er war köstlich.
»Ich muss dich darauf aufmerksam machen, dass alles nur auf Gerüchten und versteckten Andeutungen basiert«, erklärte Harry.
»Was vermutlich bedeutet, dass es wesentlich zutreffender ist als alles, was wir offiziell erfahren«, sagte ich.
»Möglicherweise«, räumte Harry ein. »Die größte Neuigkeit ist jedoch, dass es in der Tat einen Grund gibt, warum sie als ›Geisterbrigade‹ bezeichnet wird. Das ist keine offizielle Bezeichnung, müsst ihr wissen, sondern nur ein Spitzname. Nach den Gerüchten, die ich aus mehr als nur einer Richtung gehört habe, sind die Mitglieder der Spezialeinheit Tote.«
»Wie bitte?«, sagte ich. Jesse blickte ebenfalls verdutzt von ihrem Essen auf.
»Keine Toten im strengen Sinne«, sagte Harry. »Es sind keine Zombies. Aber es gibt sehr viele Menschen, die sich von der KVA rekrutieren lassen und vor ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag sterben. Wenn das geschieht, scheint die KVA die DNS nicht einfach wegzuschmeißen. Sie wird benutzt, um daraus Mitglieder der Spezialeinheit zu züchten.«
Mir fiel etwas ein. »Jesse, erinnerst du dich, als Leon Deak starb? Was der Mediziner sagte? ›Wieder einer, der sich in letzter Minute freiwillig für die Geisterbrigade gemeldet hat.‹ Damals hatte ich es für einen makabren Scherz gehalten.«
»Wie kann man so etwas tun?«, sagte Jesse. »Das lässt sich ethisch nicht rechtfertigen.«
»Meinst du?«, sagte Harry. »Wenn du deine Absicht erklärst, dich einziehen zu lassen, gibst du der KVA das Recht, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um deine Kampffähigkeit zu verbessern, und wenn du tot bist, steht es ziemlich schlecht um deine Kampffähigkeit. Wir haben den Vertrag unterschrieben. Es mag ethisch nicht korrekt sein, aber es ist auf jeden Fall rechtlich einwandfrei.«
»Gut, aber es ist ein Unterschied, ob man meine DNS benutzt, um einen neuen Körper für mich zu züchten, oder ob man ohne mich einen neuen Körper züchtet«, sagte Jesse.
»Unbedeutende Details«, sagte Harry.
»Die Vorstellung, dass mein Körper ganz allein herumläuft, gefällt mit überhaupt nicht«, sagte Jesse. »Ich finde, dass es nicht richtig ist, wenn die KVA so etwas tut.«
»Das ist noch gar nicht alles, was sie tut«, sagte Harry. »Du weißt, dass diese neuen Körper, an denen wir uns erfreuen, genetisch modifiziert sind. Anscheinend sind die Körper der Spezialeinheit noch viel weiter entwickelt. Diese Soldaten sind Versuchstiere für neue Verbesserungen und Fähigkeiten, bevor sie für die Allgemeinheit eingeführt werden. Und es gibt Gerüchte, dass einige dieser Modifikationen ziemlich radikal sind◦– bis zu einem Punkt, an dem sie gar nicht mehr menschlich aussehen.«
»Mein Arzt ließ die Bemerkung fallen, dass die Soldaten der Spezialeinheit besondere Anforderungen stellen«, sagte ich. »Auch wenn ich möglicherweise halluziniert habe, sahen sie für mich noch recht menschlich aus.«
»Und wir haben auch keine Mutanten oder Monster in der Sparrowhawk gesehen«, sagte Jesse.
»Allerdings durften wir uns auch nicht überall im Schiff umsehen«, warf Harry ein. »Sie haben uns in eine Sektion gesperrt und uns von allem abgeschottet. Wir haben die Krankenstation und den Aufenthaltsraum gesehen, und das war auch schon alles.«
»Menschen sehen ständig Soldaten der Spezialeinheit herumlaufen oder kämpfen«, sagte Jesse.
»Sicher«, sagte Harry. »Aber das heißt nicht, dass sie alle Mitglieder zu Gesicht bekommen.«
»Deine Paranoia kocht wieder hoch, Schätzchen«, sagte Jesse und fütterte Harry mit einer Pommes.
»Danke, meine Liebste«, erwiderte Harry. »Aber selbst wenn wir die Gerüchte über ultrahochgezüchtete Supersoldaten beiseite lassen, bleiben genügend Hinweise übrig, die erklären, dass John tatsächlich seine verstorbene Frau gesehen hat. Allerdings ist es nicht die echte Kathy. Sondern nur jemand, der ihren Körper benutzt.«
»Wer?«, sagte ich.
»Das ist die große Frage, nicht wahr?«, sagte Harry. »Deine Frau lebt nicht mehr, also kann in diesem Körper nicht mehr ihre Persönlichkeit existieren. Entweder haben sie so etwas wie eine vorformatierte Persönlichkeit, die sie den Soldaten der Spezialeinheit einpflanzen …«
»… oder jemand anderer hat ihren Körper übernommen«, sagte ich.
Jesse erschauderte. »Tut mir leid, John, das ist unheimlich.«
»John? Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Harry.
»Was? Ja, alles klar«, sagte ich. »Es ist nur etwas viel, um es auf einmal zu verarbeiten. Die Vorstellung, dass meine Frau am Leben sein könnte◦– auch wenn sie es in Wirklichkeit gar nicht ist◦– und dass jemand, der nicht sie ist, darin herumspaziert … Ich glaube, es hat mir besser gefallen, als ich fast davon überzeugt war, dass ich es nur halluziniert habe.«
Ich sah zu Harry und Jesse. Beide waren erstarrt und blickten an mir vorbei.
»Was ist?«, fragte ich.
»Wenn man vom Teufel spricht …«, sagte Harry.
»Was?«, sagte ich.
»John«, flüsterte Jesse. »Sie steht in der Schlange für die Hamburger.«
Ich fuhr herum und warf dabei meinen Teller um. Dann hatte ich das Gefühl, als würde ich in einen Eisbottich getaucht.
»Heilige Scheiße«, sagte ich.
Sie war es. Daran bestand kein Zweifel.
Ich erhob mich. Harry hielt meine Hand fest.
»Was hast du vor?«, fragte er.
»Zu ihr gehen und mit ihr reden«, sagte ich.
»Bist du dir sicher, dass du das tun willst?«, fragte er.
»Was soll die Frage? Natürlich bin ich mir sicher!«
»Ich will damit nur sagen, dass es vielleicht besser wäre, wenn Jesse oder ich vorher mit ihr reden würden«, sagte Harry. »Um zu erfahren, ob sie mit dir sprechen will.«
»Mein Gott, Harry«, sagte ich. »Wir sind hier nicht auf dem Schulhof. Das ist meine Frau.«
»Nein, sie ist es nicht, John«, sagte Harry. »Sie ist jemand ganz anderer. Du weißt nicht einmal, ob sie überhaupt mit dir reden will.«
»John«, sagte Jesse, »selbst wenn sie mit dir reden will, musst du dir klar machen, dass sie eine Fremde ist. Was immer du dir von dieser Begegnung erwartest, du wirst es nicht bekommen.«
»Ich erwarte nichts«, sagte ich.
»Wir möchten dich nur vor Schmerzen bewahren«, sagte Jesse.
»Ich komme schon damit klar«, sagte ich und sah die beiden an. »Bitte. Lass mich gehen, Harry. Kein Problem.«
Harry und Jesse sahen sich an. Dann ließ Harry meine Hand los.
»Danke«, sagte ich.
»Was willst du zu ihr sagen?«, erkundigte sich Harry.
»Ich werde ihr danken, dass sie mir das Leben gerettet hat«, sagte ich und stand auf.
In der Zwischenzeit waren sie und ihre zwei Begleiter mit dem Essen in den hinteren Bereich der Kantine gegangen. Sie unterhielten sich, doch als ich mich ihrem Tisch näherte, verstummten sie. Die Frau saß mit dem Rücken zu mir und drehte sich um, als ihre Bekannten zu mir aufschauten. Ich blieb stehen, als ich ihr Gesicht sehen konnte.
Es war natürlich anders. Abgesehen von der grünen Haut und den Augen war sie wesentlich jünger als Kathy◦– wie Kathy vor einem halben Jahrhundert gewesen. Aber auch nicht ganz. Kathy war nie so schlank wie diese Frau gewesen, was natürlich an der genetisch implantierten Optimierung durch die KVA lag. Kathys Haar war fast immer eine fast nicht zu bändigende Mähne gewesen, selbst als sie in einem Alter war, in dem die meisten anderen Frauen eine etwas matronenhaftere Frisur vorzogen. Die Frau, die am Tisch saß, hatte so kurzes Haar, dass es weder die Ohren noch den Kragen berührte.
Es war das Haar, das mir am unpassendsten vorkam. Es war schon so lange her, dass ich jemanden ohne grüne Haut gesehen hatte, dass ich es gar nicht mehr bewusst registrierte. Aber an dieses Haar konnte ich mich nicht erinnern.
»Es ist nicht nett, andere Menschen anzustarren«, sagte die Frau mit Kathys Stimme. »Und um diese Frage gleich zu klären: Nein, Sie sind nicht mein Typ.«
Oh doch, sagte ein Teil meines Gehirns.
»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht stören«, sagte ich. »Aber ich habe mich gefragt, ob Sie mich vielleicht wiedererkennen.«
Ihr Blick musterte mich von oben bis unten. »Nein, bestimmt nicht«, sagte sie. »Und wir waren auch nicht in der gleichen Ausbildungskompanie.«
»Sie haben mich gerettet«, sagte ich. »Auf Coral.«
Jetzt spitzte sie die Ohren. »Ach du Scheiße! Kein Wunder, dass ich Sie nicht wiederkannt habe. Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, fehlte Ihnen die untere Hälfte des Kopfes. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber es erstaunt mich, dass Sie noch am Leben sind. Ich hätte nicht darauf gewettet, dass Sie durchkommen würden.«
»Ich hatte etwas, wofür es sich weiterzuleben lohnt.«
»Offensichtlich.«
»Ich bin John Perry«, sagte ich und reichte ihr meine Hand. »Ich fürchte, Ihr Name ist mir nicht bekannt.«
»Jane Sagan«, sagte sie und nahm meine Hand. Ich hielt sie etwas länger, als es angemessen gewesen wäre. Ihre Miene war leicht verdutzt, als ich sie schließlich losließ.
»Corporal Perry«, sprach mich einer ihrer Begleiter an. Er hatte zwischenzeitlich mit seinem BrainPal Informationen über mich abgerufen. »Wir dürfen uns mit dieser Mahlzeit nicht allzu viel Zeit lassen. Wir müssen in einer halben Stunde wieder in unserem Schiff sein. Wir möchten Sie also bitten …«
Ich schnitt ihm das Wort ab. »Ansonsten komme ich Ihnen nicht bekannt vor?«, fragte ich Jane.
»Nein«, sagte sie, nun mit etwas eisigem Unterton. »Danke, dass Sie vorbeigekommen sind, aber jetzt würde ich wirklich gerne weiteressen.«
»Ich möchte Ihnen etwas schicken«, sagte ich. »Ein Bild. Per BrainPal.«
»Das ist wirklich nicht nötig.«
»Nur ein Bild«, sagte ich. »Dann gehe ich. Tun Sie mir den Gefallen.«
»Also gut. Aber beeilen Sie sich.«
Zu den wenigen Dingen, die ich von der Erde mitgenommen hatte, gehörte ein digitales Fotoalbum mit Aufnahmen von Verwandten, Freunden und Gegenden, die mir etwas bedeuteten. Nach der Aktivierung meines BrainPals hatte ich die Fotos in den Speicher hochgeladen, was sich nun als kluge Entscheidung erwies, da das Fotoalbum selbst sowie all meine irdischen Besitztümer mit der Modesto vernichtet worden waren. Ich rief ein bestimmtes Foto ab und schickte es Jane. Ich beobachtete, wie sie auf ihren BrainPal zugriff und sich dann wieder mir zuwandte.
»Erkennen Sie mich jetzt?«, fragte ich.
Sie bewegte sich sehr schnell, noch viel schneller als ein normaler KVA-Soldat. Sie packte mich am Kragen und drückte mich gegen die nächste Wand. Ich war mir fast sicher, dass eine meiner eben erst reparierten Rippen erneut brach. Auf der anderen Seite der Kantine sprangen Harry und Jesse auf. Janes Begleiter griffen ebenfalls ein. Ich versuchte zu atmen.
»Wer, zum Henker, sind Sie?«, zischte Jane mich an, »und was für ein Spiel wollen Sie hier durchziehen?«
»Ich bin John Perry«, keuchte ich. »Ich ziehe gar nichts durch.«
»Blödsinn. Woher haben Sie dieses Foto?«, sagte sie mit sehr tiefer Stimme aus sehr großer Nähe. »Wer hat es für Sie getürkt?«
»Niemand hat es getürkt«, antwortete ich genauso leise. »Das Bild wurde bei meiner Hochzeit gemacht. Es ist … mein Hochzeitsfoto.« Ich hätte fast unser Hochzeitsfoto gesagt, konnte mich aber im letzten Moment korrigieren. »Die Frau auf diesem Bild ist meine Ehefrau Kathy. Sie starb, bevor sie zum Militärdienst eingezogen werden konnte. Die KVA hat ihre DNS benutzt, um den Körper zu züchten, den Sie tragen. Sie ist ein Teil von Ihnen. Ein Teil von Ihnen ist auf diesem Bild. Ein Teil von Ihnen hat mir das hier gegeben.« Ich hob die linke Hand und zeigte ihr meinen Ehering◦– der einzige materielle irdische Besitz, der mir noch geblieben war.
Jane knurrte, packte mich und warf mich brutal quer durch den Raum. Ich flog über mehrere Tische und nahm Hamburger, Salz- und Pfefferstreuer und Serviettenhalter mit, bevor ich auf dem Boden landete. Unterwegs schlug mein Kopf gegen eine harte Kante; kurz sickerte etwas Feuchtes aus meiner Schläfe. Harry und Jesse, die sich vorsichtig Janes Begleitern genähert hatten, ließen von ihnen ab und kamen zu mir. Jane setzte sich ebenfalls in meine Richtung in Bewegung, wurde jedoch auf halbem Wege von ihren Freunden aufgehalten.
»Hören Sie mir gut zu, Perry«, sagte sie. »Sie werden mich von nun an in Ruhe lassen. Wenn ich Sie noch einmal wiedersehe, werden Sie sich wünschen, ich hätte Sie auf Coral sterben lassen.« Sie stapfte davon. Einer ihrer Begleiter folgte ihr, der andere, der mich schon einmal angesprochen hatte, kam zu uns. Jesse und Harry stellten sich ihm entgegen, doch er hob die Hände, um anzuzeigen, dass er keinen Kampf wollte.
»Perry«, sagte er. »Was hatte das zu bedeuten? Was haben Sie ihr geschickt?«
»Fragen Sie sie selber, Kumpel«, sagte ich.
»Für Sie bin ich Lieutenant Tagore, Corporal.« Er sah Harry und Jesse an. »Ich kenne Sie beide. Sie waren an Bord der Hampton Roads.«
»Ja, Lieutenant«, sagte Harry.
»Hören Sie mir zu, alle beide«, sagte er. »Ich weiß nicht, was hier gespielt wird, aber ich möchte eins klarstellen. Was immer es ist, wir haben nichts damit zu tun. Sie dürfen rumerzählen, was Sie wollen, aber wenn dabei das Wort ›Spezialeinheit‹ fallen sollte, werde ich persönlich dafür sorgen, dass der Rest Ihrer militärischen Laufbahn kurz und schmerzhaft sein wird. Das ist kein Scherz. Ich werde Sie fertigmachen. Haben wir uns verstanden?«
»Ja, Lieutenant«, sagte Jesse. Harry nickte. Ich keuchte.
»Kümmern Sie sich um Ihren Freund«, sagte Tagore zu Jesse. »Er sieht aus, als hätte er gerade eine Tracht Prügel eingesteckt.« Dann ging er.
»Mensch, John«, sagte Jesse, nahm eine Serviette und betupfte damit meine Kopfverletzung. »Was hast du getan?«
»Ich habe ihr mein Hochzeitsfoto gesendet«, sagte ich.
»Sehr hintersinnig«, sagte Harry und blickte sich um. »Wo ist dein Gehstock?«
»Ich glaube, drüben an der Wand, gegen die sie mich geklatscht hat.«
Harry ging, um ihn zu holen.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Jesse mich.
»Ich glaube, sie hat mir eine Rippe gebrochen.«
»Das habe ich eigentlich nicht gemeint«, sagte sie.
»Ich weiß, was du gemeint hast. Ich glaube, auch was das betrifft, habe ich mir etwas gebrochen.«
Jesse legte die Hände an mein Gesicht. Harry kam mit meinem Stock zurück. Dann humpelten wir zurück zur Krankenstation. Dr. Fiorina war ganz und gar nicht von mir angetan.
Ich wachte auf, als mich jemand anstieß. Als ich sah, wer es war, wollte ich etwas sagen. Aber sie legte mir sofort eine Hand auf den Mund.
»Still«, sagte Jane. »Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein.«
Ich nickte. Sie nahm ihre Hand weg. »Sprechen Sie bitte leise«, sagte sie.
»Wir könnten über unsere BrainPals kommunizieren«, sagte ich.
»Nein. Ich will Ihre Stimme hören. Aber leise, bitte.«
»Gut«, sagte ich.
»Tut mir leid, was heute passiert ist«, sagte sie. »Aber es kam so überraschend. Ich wusste nicht, wie ich auf so etwas reagieren sollte.«
»Schon gut. Vielleicht hätte ich Sie damit nicht überfallen dürfen.«
»Haben Sie sich verletzt?«
»Sie haben mir eine Rippe gebrochen.«
»Tut mir leid.«
»Ist schon fast verheilt.«
Sie musterte mein Gesicht mit unruhigen Blicken. »Hören Sie, ich bin nicht Ihre Frau«, stieß sie plötzlich hervor. »Ich weiß nicht, wer oder was ich in Ihren Augen bin, aber ich war nie Ihre Ehefrau. Ich wusste nicht einmal, dass sie existiert hat, bevor Sie mir heute das Bild gezeigt haben.«
»Sie müssen doch gewusst haben, woher Sie kommen«, sagte ich.
»Warum?«, fragte sie erregt. »Wir wissen, dass wir aus den Genen irgendwelcher Leute geschaffen wurden, aber man sagt uns nicht, wer diese Leute waren. Welchen Sinn hätte es? Wir sind eigenständige Personen. Wir sind nicht einmal Klone. In meiner DNS sind Gene, die gar nicht von der Erde stammen. Wir sind die Versuchskaninchen der KVA, wussten Sie das nicht?«
»Davon habe ich gehört.«
»Das heißt, ich bin nicht Ihre Frau. Ich bin gekommen, um Ihnen das zu sagen. Es tut mir leid, aber ich bin jemand anderer.«
»Verstanden«, sagte ich.
»Gut. Dann gehe ich jetzt. Entschuldigung, dass ich Sie durch die Gegend geworfen habe.«
»Wie alt sind Sie?«, fragte ich.
»Was? Wieso?«
»Ich bin nur neugierig. Und ich möchte nicht, dass Sie schon gehen.«
»Ich wüsste nicht, was mein Alter mit allem zu tun haben soll«, sagte sie.
»Kathy ist jetzt seit neun Jahren tot«, sagte ich. »Ich will nur wissen, wie lange man gewartet hat, bevor man ihre Gene benutzt hat, um Sie zu erschaffen.«
»Ich bin sechs Jahre alt«, sagte sie.
»Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber Sie sehen anders als die meisten Sechsjährigen aus, die ich kennen gelernt habe.«
»Ich bin ziemlich weit entwickelt für mein Alter«, sagte sie. »Das sollte ein Scherz sein.«
»Klar.«
»Manche Leute verstehen den Witz überhaupt nicht. Weil die meisten Menschen in meiner Umgebung ungefähr genauso alt sind.«
»Wie funktioniert es?«, fragte ich. »Ich meine, wie ist es? Sechs zu sein. Keine Vergangenheit zu haben.«
Jane hob die Schultern. »Irgendwann bin ich aufgewacht und wusste nicht, wo ich war oder was los war. Aber ich befand mich bereits in diesem Körper, und ich wusste bereits etliche Dinge. Ich konnte sprechen und laufen. Ich konnte denken und kämpfen. Man sagte mir, ich wäre ein Mitglied der Spezialeinheit und dass jetzt meine Ausbildung beginnt. Und dass ich Jane Sagan heiße.«
»Netter Name«, sagte ich.
»Er wurde nach Zufallskriterien ausgesucht«, sagte sie. »Unsere Vornamen sind völlig alltägliche Namen, und unsere Nachnamen stammen hauptsächlich von Wissenschaftlern und Philosophen. In meinem Trupp gibt es einen Ted Einstein und eine Julie Pasteur. Zu Anfang ist einem das natürlich noch nicht klar. Erst später erfährt man etwas mehr darüber, wie man geschaffen wurde, nachdem man Zeit hatte, seine Persönlichkeit zu entwickeln. Von den Leuten, die ich kenne, hat niemand viele Erinnerungen. Erst wenn man Naturgeborene trifft, wird man sich bewusst, dass man anders ist. Und wir treffen sie nicht allzu oft. Meistens bleiben wir unter uns.«
»Naturgeborene?«, fragte ich.
»So nennen wir Leute wie Sie.«
»Wenn Sie unter sich bleiben, warum waren Sie dann in der Kantine?«
»Ich hatte Lust auf einen Burger«, sagte sie. »Es ist nicht so, dass wir unter uns bleiben müssen. Aber wir tun es meistens.«
»Haben Sie sich nie gefragt, aus wem Sie gemacht wurden?«
»Manchmal«, sagte Jane. »Aber wir erfahren nichts darüber. Man sagt uns nicht, wer unsere Ahnen waren◦– die Leute, aus denen wir gemacht wurden. Manche von uns haben mehr als nur einen Ahnen, wissen Sie. Außerdem leben sie ja sowieso nicht mehr. Sie müssen tot sein, sonst hätte man uns nicht gemacht. Und wir wissen nicht, wer ihre Bekannten waren. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir ihren Bekannten begegnen, auch wenn sie in der Armee dienen. Außerdem sterben die Naturgeborenen hier draußen ziemlich schnell. Ich kenne niemanden, der je einen Verwandten seines Ahnen getroffen hätte. Oder einen Ehepartner.«
»Haben Sie Ihrem Lieutenant das Bild gezeigt?«, fragte ich.
»Nein. Aber er hat sich danach erkundigt. Ich sagte ihm, Sie hätten mir ein Bild von sich geschickt, das ich sofort wieder gelöscht habe. Das habe ich wirklich getan, weil er es gefunden hätte, wenn er nachgesehen hätte. Ich habe niemandem etwas von unserem Gespräch erzählt. Kann ich es noch einmal haben? Das Foto?«
»Natürlich«, sagte ich. »Ich habe auch noch andere, wenn Sie sie sehen möchten. Wenn Sie mehr über Kathy wissen wollen, kann ich Ihnen von ihr erzählen.«
Jane starrte mich an. Im schwach beleuchteten Krankenzimmer sah sie Kathy ähnlicher als je zuvor. Es schmerzte mich fast, sie anzusehen. »Ich weiß nicht recht«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht, was ich wissen möchte. Lassen Sie mich in Ruhe darüber nachdenken. Geben Sie mir vorläufig nur das eine Bild. Bitte.«
»Ich schicke es Ihnen.«
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie. »Damit das klar ist: Ich war niemals hier. Und wenn Sie mich irgendwo wiedersehen, tun Sie so, als würden wir uns nicht kennen.«
»Warum nicht?«
»Es ist sehr wichtig. Mehr kann ich im Moment nicht sagen.«
»Na gut«, sagte ich.
»Würden Sie mir bitte Ihren Ehering zeigen?«, fragte Jane.
»Klar.« Ich zog ihn ab, damit sie ihn sich ansehen konnte.
Sie hielt ihn wie etwas Zerbrechliches und musterte ihn von allen Seiten. »Da steht etwas«, sagte sie.
»›Meine Liebe ist ewig◦– Kathy‹«, sagte ich. »Das hat sie eingravieren lassen, bevor sie ihn mir angesteckt hat.«
»Wie lange waren Sie verheiratet?«
»Zweiundvierzig Jahre«, sagte ich.
»Wie sehr haben Sie sie geliebt?«, fragte Jane. »Ihre Frau. Kathy. Wenn man sehr lange verheiratet ist, bleibt man vielleicht nur noch aus Gewohnheit zusammen.«
»Das passiert«, sagte ich. »Aber ich habe sie sehr geliebt. Während der ganzen Zeit, die wir verheiratet waren. Und ich liebe sie immer noch.«
Jane stand auf, sah mich noch einmal an, gab mir den Ring zurück und ging, ohne sich zu verabschieden.
»Tachyonen«, sagte Harry, als er zum Frühstückstisch kam, an dem Jesse und ich saßen.
»Gesundheit!«, sagte Jesse.
»Sehr witzig.« Er setzte sich. »Tachyonen könnten die Antwort auf die Frage sein, wie die Rraey wussten, dass wir kommen würden.«
»Großartig«, sagte ich. »Und wenn Jesse und ich wüssten, was Tachyonen sind, wären wir vielleicht sogar richtig begeistert von dieser Offenbarung.«
»Das sind exotische Elementarteilchen«, erklärte Harry. »Sie bewegen sich schneller als das Licht und rückwärts durch die Zeit. Bislang existieren sie nur theoretisch, weil es ziemlich schwierig ist, etwas zu messen, das sich mit Überlichtgeschwindigkeit und gegen den Zeitstrom bewegt. Aber nach den Gesetzen der Physik müssen bei jedem Skip Tachyonen entstehen. Genauso wie unsere Masse und Energie in ein anderes Universum versetzt werden, reisen Tachyonen vom Zieluniversum ins Ausgangsuniversum zurück. Es gibt ein bestimmtes Tachyonenmuster, das der Skip-Antrieb bei einem Übergang erzeugt. Wenn man Tachyonen beobachten kann, die ein solches Muster bilden, weiß man, dass ein Skip-Schiff eintreffen wird◦– und wann.«
»Woher weißt du solche Dinge?«, fragte ich.
»Im Gegensatz zu euch beiden verbringe ich meine Tage nicht mit Herumgammeln«, sagte Harry. »Ich habe Freunde, die in interessanten Kreisen verkehren.«
»Wenn wir von diesem Tachyonenmuster wissen, warum sind wir der Sache noch nicht genauer nachgegangen?«, fragte Jesse. »Was du sagst, bedeutet praktisch, dass wir schon die ganze Zeit verwundbar waren, aber bisher einfach nur Glück gehabt haben.«
»Vergesst nicht, dass ich gesagt habe, dass Tachyonen lediglich ein theoretisches Konzept sind«, sagte Harry. »Und selbst das ist eigentlich noch eine Untertreibung. Sie sind nicht mal richtig real, sondern bestenfalls mathematische Abstraktionen. Sie stehen in keiner Beziehung zu den realen Universen, in denen wir existieren und uns bewegen. Bisher hat keine uns bekannte intelligente Spezies irgendetwas damit anstellen können. Es gibt keine praktischen Anwendungsmöglichkeiten.«
»Zumindest haben wir das gedacht«, sagte ich.
Harry machte eine zustimmende Geste. »Wenn diese Vermutung zutrifft, bedeutet es, dass die Technologie der Rraey weit über das hinausgeht, was wir leisten können. Im technischen Wettlauf liegen wir weit hinter ihnen.«
»Und wie können wir sie wieder einholen?«, fragte Jesse.
Harry lächelte. »Wer sagt, dass wir hinterherhecheln müssen? Wisst ihr noch, wie wir bei unserer ersten Begegnung in der Bohnenstange über die überlegene Technologie der Kolonien gesprochen haben? Und was ich vermutet habe, wie sie zu diesen Kenntnissen gelangt sind?«
»Durch Kontakte mit Aliens«, sagte Jesse.
»Richtig«, sagte Harry. »Wissen kann man durch Handel erwerben oder im Krieg erobern. Wenn es nun tatsächlich eine Möglichkeit gibt, Tachyonen zu beobachten, die sich von einem Universum in ein anderes bewegen, könnten wir die nötigen technischen Grundlagen vielleicht sogar selbst entwickeln. Aber dazu brauchen wir Zeit und Mittel, die wir nicht haben. Es wäre viel praktischer, sich die Technik einfach von den Rraey zu holen.«
»Willst du damit sagen, dass die KVA eine Rückkehr nach Coral plant?«, fragte ich.
»Natürlich«, sagte Harry. »Aber jetzt geht es nicht mehr nur darum, den Planeten zurückzuerobern. Das dürfte nicht einmal das Hauptziel sein. Unsere wichtigste Mission dürfte darin bestehen, die Technik des Tachyonendetektors in die Hände zu bekommen und herauszufinden, wie wir sie unschädlich machen oder sie gegen die Rraey verwenden können.«
»Als wir das letzte Mal nach Coral gedüst sind, hat man uns kräftig in den Hintern getreten«, sagte Jesse.
»Uns bleibt kaum eine andere Wahl, Jesse«, sagte Harry leise. »Wir brauchen diese Technologie. Wenn sie sich weiter ausbreitet, werden sämtliche Aliens da draußen jede Raumschiffbewegung der Kolonialen verfolgen können. Sie werden sogar genauer als wir selbst wissen, wann und wo wir eintreffen werden.«
»Das nächste Massaker ist vorprogrammiert«, sagte Jesse.
»Ich vermute, dass man diesmal viel mehr Leute von der Spezialeinheit einsetzen wird«, sagte Harry.
»Apropos«, sagte ich und erzählte Harry von meiner Begegnung mit Jane. Bevor er zu uns gestoßen war, hatte ich schon mit Jesse darüber gesprochen.
»Wie es aussieht, hat sie wohl doch nicht vor, dich umzubringen«, sagte Harry anschließend.
»Es muss ziemlich merkwürdig gewesen sein, mit ihr zu reden«, sagte Jesse. »Obwohl dir bewusst war, dass sie nicht mit deiner Frau identisch ist.«
»Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie erst sechs Jahre alt ist«, sagte Harry. »Das ist mehr als nur merkwürdig.«
»Aber man merkt es«, sagte ich. »Ihre emotionale Reife kann nicht sehr groß sein. Sie scheint gar nicht zu wissen, was sie mit Gefühlen machen soll, wenn sie welche empfindet. Sie hat mich durch die Kantine geschleudert, weil sie nicht wusste, wie sie auf die ganze Sache reagieren sollte.«
»Das Einzige, was sie kennt, ist Kämpfen und Töten«, sagte Harry. »Wir dagegen besitzen ein ganzes Leben an Erinnerungen und Erfahrungen, das uns stabilisiert. Selbst die jüngeren Soldaten in traditionellen Armeen haben Erfahrungen aus zwanzig Jahren. In gewisser Weise sind die Mitglieder der Spezialeinheit Kindersoldaten, was ich ethisch bedenklich finde.«
»Ich möchte keine alten Wunden aufreißen«, sagte Jesse, »aber hast du etwas von Kathy in ihr wiedererkannt?«
Ich dachte kurz darüber nach. »Offensichtlich hat sie große äußere Ähnlichkeit mit Kathy. Und ich glaube, ich habe eine Spur von Kathys Sinn für Humor an ihr entdeckt◦– und etwas von ihrem Temperament. Kathy konnte sehr impulsiv sein.«
»Hat sie dich des Öfteren quer durch die Küche geworfen?«, fragte Harry lächelnd.
Ich grinste zurück. »Es gab ein paar Gelegenheiten, wo sie es zweifellos getan hätte, wenn es ihr möglich gewesen wäre«, sagte ich.
»Eins zu null für die Genetik«, sagte Harry.
Plötzlich meldete sich Arschloch zu Wort. Corporal Perry, hieß es in der Nachricht. Bei einer Besprechung mit General Keegan um 10.00 Uhr im Einsatzhauptquartier im Eisenhower-Modul der Phoenix-Station ist Ihre Anwesenheit erforderlich. Seien Sie pünktlich. Ich bestätigte die Nachricht und erzählte Harry und Jesse davon.
»Und ich dachte, ich hätte Freunde, die in interessanten Kreisen verkehren«, sagte Harry. »Du verheimlichst uns etwas, John.«
»Ich habe keine Ahnung, worum es gehen könnte«, sagte ich. »Keegan bin ich nie zuvor begegnet.«
»Er ist nur der Kommandant der Zweiten Armee der KVA«, sagte Harry. »Es kann nur etwas völlig Unwichtiges sein.«
»Sehr witzig«, sagte ich.
»Jetzt ist es 9.15 Uhr, John«, sagte Jesse. »Du solltest dich lieber auf den Weg machen. Möchtest du, dass wir dich begleiten?«
»Nein, bitte setzt euer Frühstück fort«, sagte ich. »Der Spaziergang wird mir gut tun. Das Eisenhower-Modul liegt nur ein paar Kilometer entfernt. Ich werde es rechtzeitig schaffen.« Ich stand auf, nahm mir einen Donut, den ich unterwegs essen wollte, gab Jesse ein freundschaftliches Küsschen auf die Wange und machte mich auf den Weg.
In Wirklichkeit war das Eisenhower-Modul mehr als nur ein paar Kilometer entfernt, aber mein Bein war endlich nachgewachsen, und ich konnte die Bewegung gut gebrauchen. Dr. Fiorina hatte Recht. Das neue Bein fühlte sich tatsächlich besser als neu an, und insgesamt hatte ich den Eindruck, über viel mehr Energie zu verfügen. Andererseits hatte ich mich soeben von Verletzungen erholt, die so ernst gewesen waren, dass man es nur als mittleres Wunder bezeichnen konnte, dass ich noch am Leben war. Nach so einer Erfahrung hätte zweifellos jeder das Gefühl, vor Energie zu platzen.
»Drehen Sie sich nicht um«, flüsterte Jane mir ins Ohr. Sie war genau hinter mir.
Ich wäre fast an einem Bissen vom Donut erstickt. »Es wäre mir ganz lieb, wenn Sie sich nicht immer so anschleichen würden«, stieß ich schließlich hervor, ohne mich umzudrehen.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu verärgern. Aber eigentlich sollte ich gar nicht mit Ihnen sprechen. Hören Sie mir zu. Es geht um die Besprechung, zu der Sie unterwegs sind.«
»Woher wissen Sie davon?«, fragte ich.
»Das spielt jetzt keine Rolle. Es ist sehr wichtig, dass Sie dem Vorschlag zustimmen, den man Ihnen unterbreiten wird. Tun Sie es. So werden Sie vor dem sicher sein, was kommen wird. So sicher man in einer solchen Situation sein kann.«
»Was soll kommen?«
»Das werden Sie früh genug feststellen.«
»Was ist mit meinen Freunden?«, fragte ich. »Harry und Jesse. Werden sie in Schwierigkeiten geraten?«
»Wir alle werden in Schwierigkeiten geraten«, sagte Jesse. »Für die beiden kann ich nichts tun. Ich habe mich bemüht, Sie einzubringen, Perry. Tun Sie es. Es ist sehr wichtig.« Ich spürte eine kurze Berührung am Arm, und dann hatte ich das deutliche Gefühl, dass sie verschwunden war.
»Corporal Perry«, sagte General Keegan und erwiderte meinen Gruß. »Rühren.«
Ich war in einen Konferenzraum geführt worden, in dem mehr hohe Tiere als auf einer Militärparade versammelt waren. Ich war zweifellos die Person mit dem niedrigsten Rang. An nächsthöherer Stelle folgte, soweit ich erkennen konnte, Lieutenant Colonel Newman, der mich befragt hatte. Mir war recht mulmig zumute.
»Sie sehen etwas verloren aus, mein Junge«, sagte General Keegan zu mir. Genauso wie alle Anwesenden und jeder Soldat der KVA schien er kaum älter als Ende zwanzig zu sein.
»Ich fühle mich auch etwas verloren, General«, sagte ich.
»Das ist verständlich«, sagte Keegan. »Bitte, setzen Sie sich.« Er zeigte auf einen unbesetzten Stuhl am Tisch. Ich ging hinüber und nahm Platz. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Perry.«
»Ja, General«, sagte ich und versuchte, einen Seitenblick in Newmans Richtung zu vermeiden.
»Davon scheinen Sie nicht allzu begeistert zu sein, Corporal«, sagte er.
»Ich gebe mir Mühe, nicht aufzufallen, General. Ich versuche nur, meine Aufgaben zu erfüllen.«
»Nichtsdestotrotz sind Sie auffällig geworden«, sagte Keegan. »Über Coral konnten einhundert Shuttles starten, aber nur Ihres hat es bis zur Oberfläche geschafft, was zum großen Teil an Ihrem Befehl lag, das Shuttlehangartor aufzusprengen und möglichst schnell von dort zu verschwinden.« Er zeigte mit einem Daumen auf Newman. »Newman hat mir alles darüber erzählt. Er meint, wir sollten Ihnen dafür einen Orden verpassen.«
Ich hätte nicht überraschter reagiert, wenn Keegan gesagt hätte: Newman meint, Sie sollten die Hauptrolle in der diesjährigen Armeeaufführung vom Schwanensee spielen. Keegan bemerkte meinen Gesichtsausdruck und grinste. »Ja, ich weiß, was Sie jetzt denken. Newman hat das beste Pokergesicht der gesamten KVA, und das ist der Grund, warum er diesen Job macht. Was meinen Sie, Corporal? Haben Sie sich diese Auszeichnung verdient?«
»Bei allem Respekt … nein, General«, sagte ich. »Wir sind abgestürzt, und außer mir hat niemand überlebt. Das kann ich mir kaum als Verdienst anrechnen. Und dass wir es bis zur Planetenoberfläche geschafft haben, war ausschließlich die hervorragende Leistung meiner Pilotin Fiona Eaton.«
»Pilotin Eaton wurde bereits posthum ausgezeichnet, Corporal«, sagte General Keegan. »Für sie dürfte es nur ein schwacher Trost sein, aber der KVA ist es sehr wichtig, dass solche Leistungen gebührend gewürdigt werden. Und trotz Ihrer Bescheidenheit werden auch Sie eine Auszeichnung bekommen, Corporal. Andere haben die Schlacht von Coral ebenfalls überlebt, aber das war pures Glück. Sie haben in einer kritischen Situation die Initiative ergriffen. Und Sie haben schon zuvor Ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, mit dem eigenen Kopf zu denken. Die Feuertechnik im Kampf gegen die Consu. Wie Sie während der Ausbildung Ihre Kompanie geführt haben. Master Sergeant Ruiz hat ein ausdrückliches Lob ausgesprochen, wie Sie während des abschließenden Ausbildungsmanövers die BrainPals eingesetzt haben. Ich habe zusammen mit diesem Mistkerl gedient, Corporal. Ruiz würde nicht einmal seine Mutter dafür loben, dass sie ihn auf die Welt gebracht hat, falls Sie verstehen, was ich damit meine.«
»Ich glaube, ich verstehe es, General«, sagte ich.
»Das habe ich mir gedacht. Also bekommen Sie einen Bronzenen Stern, mein Junge. Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke, General.«
»Aber ich habe Sie aus einem ganz anderen Grund herbestellt«, fuhr Keegan fort und deutete auf den Tisch. »Ich glaube nicht, dass Sie General Szilard kennen, der unsere Spezialeinheit befehligt. Nein, Sie müssen nicht schon wieder salutieren.«
»General«, sagte ich und nickte wenigstens in seine Richtung.
»Corporal«, sagte Szilard. »Sagen Sie mir, was Sie über die Lage im Coral-System gehört haben.«
»Nicht sehr viel. Nur was ich aus Gesprächen mit Freunden erfahren habe.«
»Tatsächlich«, erwiderte Szilard ironisch. »Ich hätte gedacht, dass der mit Ihnen befreundete Gefreite Wilson Ihnen inzwischen einen umfassenden Bericht abgeliefert hat.«
Mir wurde klar, dass ich mein Pokergesicht, das noch nie sehr überzeugend gewirkt hatte, in letzter Zeit völlig vergessen konnte.
»Ja, natürlich wissen wir über den Gefreiten Wilson Bescheid«, sagte Szilard. »Vielleicht sollten Sie ihm sagen, dass seine Schnüffelaktionen längst nicht so unauffällig sind, wie er glaubt.«
»Harry wird überrascht sein, wenn er das hört«, sagte ich.
»Sicher«, sagte Szilard. »Genauso zweifle ich nicht daran, dass er Sie bereits über die Natur der Soldaten der Spezialeinheit in Kenntnis gesetzt hat. Übrigens ist das kein Staatsgeheimnis, auch wenn wir in der allgemeinen Datenbank keine Informationen zur Verfügung stellen. Wir verbringen die meiste Zeit mit Missionen, die strikteste Geheimhaltung erfordern. Es gibt nur wenige Gelegenheiten, bei denen wir mit Leuten wie Ihnen in Kontakt kommen. Außerdem verspüren wir nur wenig Neigung dazu.«
»General Szilard und die Spezialeinheit übernehmen die Führung bei unserem geplanten Gegenangriff auf die Rraey-Streitkräfte im Coral-System«, sagte General Keegan. »Während wir das Ziel verfolgen, den Planeten zurückzuerobern, sehen wir unsere Hauptaufgabe darin, ihren Tachyonendetektor zu isolieren und ihn außer Funktion zu setzen. Wir wollen ihn nicht zerstören, nur wenn es nicht anders geht.« Keegan deutete auf einen ernst dreinblickenden Mann neben Newman. »Colonel Golden glaubt zu wissen, wo er sich befindet. Colonel.«
»Ich werde mich kurz fassen, Corporal«, sagte Golden. »Unsere Fernerkundung vor dem ersten Angriff auf Coral ergab, dass die Rraey mehrere kleine Satelliten in Umlaufbahnen um den Planeten gebracht haben. Zuerst dachten wir, es wären Spionagesatelliten, die den Rraey Erkenntnisse über die Bewegungen von Kolonialen und Soldaten auf dem Planeten verschaffen sollen, aber nun glauben wir, dass es sich um ein System handelt, das der Messung von Tachyonenmustern dient. Wir glauben, dass die Kontrollstation, die die Satellitendaten auswertet, auf dem Planeten steht, dass sie mit der ersten Angriffswelle auf die Oberfläche gebracht wurde.«
»Wir vermuten die Station auf dem Planeten, weil das der sicherste Standort wäre«, sagte General Szilard. »Wenn sie sich an Bord eines Raumschiffs befinden würde, besteht die Gefahr, dass sie◦– vielleicht nur zufällig◦– von einer angreifenden KVA-Einheit zerstört wird. Und wie Sie wissen, kam kein Schiff außer Ihrem Shuttle auch nur in die Nähe der Oberfläche von Coral. Die Wahrscheinlichkeit spricht für einen Standort auf dem Planeten.«
Ich wandte mich an Keegan. »Darf ich eine Frage stellen, General?«
»Bitte«, sagte Keegan.
»Warum erzählen Sie mir das? Ich bin ein Corporal ohne Trupp, Kompanie oder Regiment. Ich wüsste nicht, warum ich das alles erfahren sollte.«
»Sie sollten es erfahren, weil Sie einer der wenigen Überlebenden der Schlacht um Coral sind und weil Sie der Einzige sind, der nicht nur durch Zufall überlebt hat. General Szilard und seine Leute glauben, und darin stimme ich ihnen zu, dass der Gegenangriff größere Erfolgschancen hat, wenn jemand, der am ersten Angriff teilgenommen hat, als Beobachter und Berater anwesend ist. Also Sie.«
»Bei allem gebührenden Respekt, General«, sagte ich. »Meine Beteiligung war minimal und katastrophal.«
»Nicht so katastrophal wie im Fall fast aller anderen Beteiligten«, sagte Keegan. »Corporal, ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein◦– mir wäre es lieber, wenn jemand anderer diese Rolle übernehmen könnte. Doch es gibt niemanden, der besser qualifiziert wäre. Selbst wenn Ihr Beitrag als Berater nur minimal ist, wäre das immer noch besser als gar nichts. Außerdem haben Sie bewiesen, dass Sie fähig sind, in Kampfsituationen zu improvisieren und schnell zu handeln. Das könnte uns von großem Nutzen sein.«
»Wie würde meine Mitarbeit aussehen?«, erkundigte ich mich.
Keegan sah Szilard an.
»Sie würden in die Sparrowhawk versetzt werden«, sagte Szilard. »Die Besatzung besteht aus Angehörigen der Spezialeinheit, die die größte Erfahrung mit solchen Situationen hat. Ihre Aufgabe wäre es, das Geschehen zu beobachten und den Führungsstab der Sparrowhawk auf der Grundlage Ihrer Erfahrungen auf Coral zu beraten. Außerdem sollen Sie im Bedarfsfall als Verbindungsoffizier zwischen den regulären Truppen der KVA und der Spezialeinheit agieren.«
»Würde ich kämpfen?«, fragte ich.
»Sie würden eine außerplanmäßige Funktion übernehmen«, sagte Szilard. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es für Sie nicht erforderlich sein, an den eigentlichen Kampfhandlungen teilzunehmen.«
»Sie verstehen vielleicht, dass ein solcher Auftrag äußerst ungewöhnlich wäre«, sagte Keegan. »Aufgrund der Unterschiede hinsichtlich der Missionsziele und des Personals agieren reguläre KVA-Streitkräfte und die Spezialeinheit fast nie gemeinsam. Selbst bei Kampfeinsätzen, in denen beide Truppen gegen einen Feind vorgehen, bewegen sie sich zumeist unabhängig voneinander und übernehmen völlig unterschiedliche Aufgaben.«
»Ich verstehe«, sagte ich. Ich verstand mehr, als sie ahnen konnten. Jane befand sich an Bord der Sparrowhawk.
Als Szilard sprach, war es, als wäre er demselben Gedankengang gefolgt. »Corporal, mir ist bekannt, dass Sie eine Auseinandersetzung mit jemandem aus meiner Truppe hatten, einer Person, die in der Sparrowhawk stationiert ist. Können Sie mir versichern, dass es nicht zu weiteren solchen Zwischenfällen kommt?«
»Das kann ich, General«, sagte ich. »Der Zwischenfall beruhte auf einem Missverständnis. Einer Verwechslung. Es wird nicht wieder passieren.«
Szilard nickte Keegan zu.
»Also gut«, sagte Keegan. »Corporal, in Anbetracht Ihrer neuen Aufgabe halte ich Ihren Rang für unangemessen. Ich befördere Sie mit sofortiger Wirkung zum Lieutenant. Sie werden sich um 15 Uhr bei Major Crick, dem Ersten Offizier der Sparrowhawk, einfinden. Das dürfte genügend Zeit sein, um Ihre Angelegenheiten in Ordnung zu bringen und sich zu verabschieden. Noch Fragen?«
»Nein, General«, sagte ich. »Aber ich hätte eine Bitte.«
»Ein ungewöhnliches Anliegen«, sagte Keegan, nachdem ich zu Ende gesprochen hatte. »Unter anderen Umständen würde ich eine solche Bitte◦– in beiden Punkten◦– ablehnen.«
»Ich verstehe, General«, sagte ich.
»Aber ich werde es einrichten. Und vielleicht nützt es sogar etwas. Also gut, Lieutenant. Sie dürfen jetzt gehen.«
Harry und Jesse trafen sich mit mir, so schnell es ihnen möglich war, nachdem ich sie benachrichtigt hatte. Ich erzählte ihnen von meinem neuen Auftrag und meiner Beförderung.
»Und du glaubst, dass Jane dahintersteckt?«, sagte Harry.
»Ich weiß es«, sagte ich. »Sie hat es mir selbst erzählt. Und vielleicht könnte es sich sogar irgendwie als nützlich erweisen. Ich bin mir sicher, dass sie irgendjemandem einen Floh ins Ohr gesetzt hat. Schon in wenigen Stunden werde ich unterwegs sein.«
»Wir werden schon wieder getrennt«, sagte Jesse. »Auch das, was noch von Harrys und meinem Trupp übrig ist, wird aufgeteilt. Unsere Kameraden werden in andere Schiffe versetzt. Wir warten noch auf Nachricht, wohin man uns versetzen wird.«
»Wer weiß, John«, sagte Harry, »vielleicht sehen wir uns im Coral-System wieder.«
»Dazu wird es nicht kommen. Ich habe General Keegan gebeten, euch beide aus der Infanterie zu befördern, und er war einverstanden. Eure erste Dienstphase ist beendet. Ihr bekommt neue Aufgaben zugeteilt.«
»Was soll das heißen?«, fragte Harry.
»Du wirst in der militärischen Forschungsabteilung der KVA arbeiten«, sagte ich. »Harry, sie wissen, dass du herumgeschnüffelt hast. Ich habe sie überzeugt, dass du auf diese Weise weniger Schaden anrichten wirst, sowohl für dich als auch für andere. Du wirst an den Dingen arbeiten, die wir von Coral zurückbringen.«
»Das kann ich nicht«, sagte Harry. »Dazu hatte ich nicht genug Mathe.«
»Ich bin überzeugt, dass du dich dadurch nicht aufhalten lassen wirst«, sagte ich. »Jesse, auch du kommst in die Forschungsabteilung, und zwar in den Assistentenstab. Mehr konnte ich für dich auf die Schnelle nicht herausholen. Es wird nicht sehr interessant sein, aber dort kannst du dich für andere Aufgaben ausbilden lassen. Und ihr beide werdet nicht mehr in der Schusslinie stehen.«
»Das ist nicht richtig, John«, sagte Jesse. »Wir haben unsere reguläre Dienstzeit noch nicht abgeleistet. Die Kameraden unserer Kompanie ziehen wieder in den Kampf, während wir hier herumsitzen, wegen etwas, das wir gar nicht getan haben. Und du gehst wieder an die Front. Das will ich nicht. Ich sollte meinen regulären Dienst ableisten.«
Harry nickte.
»Ich bitte euch inständig«, sagte ich. »Alan ist tot. Susan und Thomas sind tot. Maggie ist tot. Meinen Trupp und meine Kompanie gibt es nicht mehr. Von allen, die mir hier etwas bedeuten, seid nur noch ihr beide übrig. Ich hatte die Gelegenheit, euch sichere Posten zu verschaffen, und ich habe sie genutzt. Für alle anderen kann ich nichts mehr tun. Aber ich kann etwas für euch tun. Ich will, dass ihr am Leben bleibt. Ihr seid alles, was ich hier draußen noch habe.«
»Du hast Jane«, sagte Jesse.
»Ich weiß noch nicht, was Jane für mich bedeutet«, sagte ich. »Aber ich weiß, was ihr für mich bedeutet. Ihr seid jetzt meine Familie. Jesse und Harry, ihr seid meine Familie. Seid nicht sauer auf mich, weil ich möchte, dass ihr am Leben bleibt. Bitte bleibt am Leben! Tut es für mich! Bitte!«
Die Sparrowhawk war ein ruhiges Schiff. In einem handelsüblichen Truppenraumschiff sind überall Menschen zu hören, die reden, lachen, brüllen und die sonstigen Lautäußerungen des Lebens von sich geben. Soldaten der Spezialeinheit halten nichts von all diesen unsinnigen Beschäftigungen.
Was mir vom Ersten Offizier der Sparrowhawk erklärt wurde, nachdem ich an Bord gekommen war und mich ihm vorgestellt hatte. »Erwarten Sie nicht, dass sich die Leute hier mit Ihnen unterhalten«, sagte Major Crick.
»Major?«
»Die Soldaten der Spezialeinheit«, erklärte er. »Es ist nicht persönlich gemeint. Wir halten einfach nur nicht allzu viel von Gesprächen. Wenn wir unter uns sind, kommunizieren wir fast ausschließlich mittels unserer BrainPals. Erstens geht es schneller, und zweitens neigen wir ohnehin nicht so zum Plaudern wie Sie. Wir werden mit unseren BrainPals geboren. Wenn wir das erste Mal sprechen, tun wir es mit ihnen. Also kommunizieren wir die meiste Zeit auf diese Weise. Nehmen Sie es nicht persönlich. Trotzdem habe ich unsere Soldaten angewiesen, verbal zu Ihnen zu sprechen, wenn sie Ihnen etwas mitzuteilen haben.«
»Das ist nicht nötig, Major«, sagte ich. »Auch ich kann meinen BrainPal benutzen.«
»Ich fürchte, Sie würden nicht mitkommen«, sagte Major Crick. »Unser Gehirn ist auf eine andere Kommunikationsgeschwindigkeit programmiert. Ein Naturgeborener spricht nach unseren Maßstäben in Zeitlupe. Wenn Sie sich über längere Zeit mit jemandem von uns unterhalten, fällt Ihnen vielleicht auf, dass Ihr Gesprächspartner abgehackt und kurz angebunden zu antworten scheint, weil es für ihn genauso ist, als würden Sie mit einem Kind reden, das schwer von Begriff ist. Bitte lassen Sie sich dadurch nicht irritieren.«
»Ich werde es versuchen, Major. Sie selbst scheinen damit keine Probleme zu haben.«
»Als Erster Offizier verbringe ich viel Zeit mit Menschen, die nicht der Spezialeinheit angehören«, sagte Crick. »Außerdem bin ich älter als die meisten meiner Soldaten. Mit der Zeit habe ich ein paar gute Manieren aufgeschnappt.«
»Wie alt sind Sie, Major?«, fragte ich.
»Nächste Woche werde ich vierzehn«, sagte er. »So, morgen Früh um 6.00 Uhr findet eine Einsatzbesprechung des Stabs statt. Bis dahin sollten Sie sich hier etwas eingewöhnen und sich eine Mahlzeit sowie etwas Schlaf gönnen. Alles Weitere besprechen wir morgen.« Er salutierte und entließ mich.
Jane wartete in meinem Quartier.
»Sie schon wieder!«, sagte ich lächelnd.
»Ja, ich schon wieder«, entgegnete sie nur. »Ich wollte nur wissen, wie Sie zurechtkommen.«
»Gut«, sagte ich. »Wenn man bedenkt, dass ich mich erst seit fünf Minuten an Bord dieses Schiffes befinde.«
»Sie sind längst das wichtigste Tagesgespräch«, sagte Jane.
»Ja, das endlose Geplapper ist mir nicht entgangen«, sagte ich. Als Jane den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, hob ich die Hand. »Das war ein Scherz. Major Crick hat mir von der Sache mit den BrainPals erzählt.«
»Deshalb unterhalte ich mich so gerne mit Ihnen«, sagte Jane. »Es ist ganz anders als normale Gespräche.«
»Ich glaube mich zu erinnern, dass Sie verbal gesprochen haben, als Sie mich auf Coral gerettet haben«, sagte ich.
»Wir wollten es vermeiden, vom Feind geortet zu werden«, sagte Jane. »Es war sicherer, verbal zu kommunizieren. Wir tun es auch, wenn wir uns in der Öffentlichkeit bewegen. Wir möchten so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen.«
»Warum haben Sie das arrangiert?«, wollte ich von ihr wissen. »Dass ich in der Sparrowhawk stationiert werde.«
»Sie sind uns sehr nützlich«, sagte Jane. »Sie haben Erfahrungen, die uns helfen könnten, sowohl auf Coral als auch hinsichtlich eines anderen Aspekts unserer Vorbereitungen.«
»Was meinen Sie damit?«
»Major Crick wird es Ihnen morgen bei der Besprechung erläutern. Ich werde ebenfalls dabei sein. Ich kommandiere eine Kompanie und bin geheimdienstlich tätig.«
»Ist das der einzige Grund?«, fragte ich. »Weil ich mich als nützlich erweisen könnte?«
»Nein«, sagte Jane. »Aber es ist der Grund, warum Sie in dieses Schiff versetzt wurden. Hören Sie, ich möchte nicht allzu viel Zeit mit Ihnen verschwenden. Ich muss noch etliche Vorbereitungen für die Mission treffen. Aber ich möchte mehr über sie erfahren. Über Kathy. Wer sie war. Wie sie war. Ich möchte, dass Sie mir von ihr erzählen.«
»Ich werde es tun«, sagte ich. »Aber nur unter einer Bedingung.«
»Was verlangen Sie?«, fragte Jane.
»Sie müssen mir auch von sich erzählen.«
»Warum?«
»Weil ich die letzten neun Jahre mit der Tatsache gelebt habe, dass meine Frau tot ist, und jetzt kommen Sie und bringen in mir alles durcheinander. Je mehr ich über Sie weiß, desto besser kann ich mich an die Vorstellung gewöhnen, dass Sie nicht Kathy sind.«
»Mein Leben ist nicht besonders interessant«, sagte Jane. »Ich bin erst sechs Jahre alt. Das ist nicht viel Zeit, um es zu etwas zu bringen.«
»Im letzten Jahr habe ich mehr erlebt als ich all den Jahren davor«, sagte ich. »Glauben Sie mir, sechs Jahre sind eine lange Zeit.«
»Dürfen wir Ihnen Gesellschaft leisten, Lieutenant?«, fragte der nette junge (schätzungsweise vier Jahre alte) Soldat der Spezialeinheit. Er und vier seiner Kumpel standen mit ihren Tabletts in korrekter Haltung vor meinem Tisch.
»Alle Plätze sind noch frei«, sagte ich.
»Manche Leute ziehen es vor, beim Essen allein zu sein«, sagte der Soldat.
»Ich gehöre nicht zu diesen Leuten. Bitte, nehmen Sie Platz!«
»Vielen Dank, Lieutenant«, sagte der Soldat und stellte sein Tablett auf den Tisch. »Ich bin Corporal Sam Mendel. Das sind die Gefreiten George Linnaeus, Will Hegel, Jim Bohr und Jan Fermi.«
»Lieutenant John Perry«, sagte ich.
»Also, wie finden Sie es an Bord der Sparrowhawk, Lieutenant?«, fragte Mendel.
»Nett und vor allem ruhig«, sagte ich.
»So ist es, Lieutenant«, sagte Mendel. »Ich habe mich gerade mit Linnaeus darüber unterhalten, dass ich nicht glaube, dass ich im vergangenen Monat mehr als zehn Worte gesprochen habe.«
»Dann haben Sie soeben Ihren Rekord gebrochen.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, für uns eine Wette zu entscheiden, Lieutenant?«, sagte Mendel.
»Muss ich dazu etwas Anstrengendes tun?«
»Nein, Lieutenant. Wir möchten nur wissen, wie alt Sie sind. Hegel hat nämlich gewettet, dass Ihr Alter mehr als dem Doppelten des Alters unseres gesamten Trupps entspricht.«
»Wie alt sind die Mitglieder Ihres Trupps?«, fragte ich.
»Wir sind insgesamt zehn Soldaten, mich eingeschlossen«, sagte Mendel, »und ich bin der Älteste. Ich bin fünfeinhalb. Die anderen sind zwischen zwei und fünf Jahren alt. Unser Gesamtalter beträgt siebenunddreißig Jahre und etwa zwei Monate.«
»Ich bin sechsundsiebzig«, sagte ich. »Also hat er die Wette gewonnen. Obwohl er sie mit jedem Rekruten der KVA gewinnen würde. Wir sind mindestens fünfundsiebzig, wenn wir unseren Dienst antreten. Außerdem möchte ich hinzufügen, dass es etwas höchst Irritierendes hat, doppelt so alt wie Ihr gesamter Trupp zu sein.«
»Ja, Lieutenant«, sagte Mendel. »Andererseits führen wir dieses Leben schon mindestens doppelt so lange wie Sie. Also gleicht es sich wieder aus.«
»Wahrscheinlich haben Sie Recht.«
»Es muss sehr interessant sein, Lieutenant«, sagte Bohr, der ein Stück weiter weg am Tisch saß, »schon ein komplettes Leben hinter sich zu haben. Wie war es?«
»Wie war was?«, fragte ich zurück. »Mein Leben oder die Tatsache, dass ich schon vor diesem Leben ein anderes hatte?«
»Beides«, sagte Bohr.
Plötzlich wurde mir klar, dass noch keins der fünf anderen Mitglieder der Gruppe die Gabeln angerührt hatte. Auch ansonsten war es in der Messe, in der das telegrafische Klappern von Besteck an Geschirr zu hören gewesen war, deutlich stiller geworden. Ich erinnerte mich an Janes Bemerkung, dass sich die gesamte Besatzung sehr für mich interessierte. Offensichtlich hatte sie Recht.
»Ich mochte mein Leben«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob es für jemanden, der es nicht gelebt hat, besonders aufregend war. Aber für mich war es ein gutes Leben. Und was die Vorstellung betrifft, vor diesem Leben schon ein anderes gehabt zu haben, muss ich sagen, dass ich eigentlich nie darüber nachgedacht habe. Ich habe auch nie darüber nachgedacht, wie dieses Leben sein würde, bevor es für mich begonnen hatte.«
»Warum haben Sie sich dann dafür entschieden?«, fragte Bohr. »Sie müssen sich doch irgendetwas vorgestellt haben?«
»Nein. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns es getan hat. Die meisten von uns waren nie im Krieg oder beim Militär. Keiner von uns wusste, dass man uns in einen völlig neuen Körper stecken würde, der nur noch teilweise etwas mit unserem vorherigen zu hat.«
»Das kommt mir ziemlich gedankenlos vor, Lieutenant«, sagte Bohr und machte mir bewusst, dass es dem Taktgefühl nicht gerade dienlich war, zwei oder drei Jahre alt zu sein. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum sich jemand für etwas verpflichten sollte, ohne zu wissen, worauf er sich einlässt.«
»Sie waren auch noch nie alt«, sagte ich. »Ein unmodifizierter Mensch von fünfundsiebzig Jahren hat eine viel höhere Bereitschaft als Sie, ins kalte Wasser zu springen.«
»Wie kann das so unterschiedlich sein?«, fragte Bohr.
»Sagt ein Zweijähriger, der niemals altern wird«, erwiderte ich.
»Ich bin schon drei!«, stellte Bohr richtig.
Ich hob die Hand. »Hören Sie, lassen Sie mich die Sache einfach umdrehen. Ich bin sechsundsiebzig, und ich bin ins kalte Wasser gesprungen, als ich der KVA beigetreten bin. Andererseits war es meine ganz persönliche Entscheidung. Ich hätte nicht gehen müssen. Wenn es Ihnen schwer fällt, sich vorzustellen, wie es für mich war, versetzen Sie sich in meine Lage.« Ich zeigte auf Mendel. »Als ich fünf war, konnte ich mir kaum selbst die Schuhe zubinden. Wenn Sie sich nicht vorstellen können, wie es ist, so alt wie ich zu sein und sich rekrutieren zu lassen, dann stellen Sie sich vor, wie schwer es für mich ist, mir einen fünfjährigen Erwachsenen vorzustellen, der außer dem Krieg nichts anderes kennen gelernt hat. Immerhin weiß ich, wie das Leben außerhalb der Armee ist. Wie ist es für Sie?«
Mendel sah seine Kameraden an, die seinen Blick erwiderten. »Über so etwas denken wir normalerweise nicht nach, Lieutenant«, sagte er. »Zu Anfang wussten wir nicht einmal, dass daran irgendetwas Ungewöhnliches sein könnte. Alle, die wir kennen, wurden auf die gleiche Art ›geboren‹. Aus unserer Sicht sind Sie außergewöhnlich. Eine Kindheit zu haben und ein ganz anderes Leben zu führen, bevor man mit diesem Leben beginnt. Auf uns macht es eher den Eindruck der Ineffektivität.«
»Fragen Sie sich nie, wie es wäre, nicht in der Spezialeinheit zu dienen?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Bohr, und die anderen nickten. »Wir sind Soldaten. Das ist unser Job. Das sind wir.«
»Deshalb sind Sie für uns so interessant«, sagte Mendel. »Die Vorstellung, dass man sich für ein Leben wie dieses entscheiden kann. Die Vorstellung, dass man auch ein ganz anderes Leben führen könnte. Das ist sehr fremdartig.«
»Was haben Sie gemacht, Lieutenant?«, fragte Bohr. »In Ihrem anderen Leben.«
»Ich war Schriftsteller«, sagte ich.
Die Soldaten sahen sich gegenseitig an.
»Was?«, fragte ich.
»Eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen«, sagte Mendel. »Sich dafür bezahlen zu lassen, Worte aneinanderzureihen.«
»Es gibt schlimmere Jobs«, sagte ich.
»Wir wollten Sie nicht beleidigen«, sagte Bohr.
»Ich fühle mich nicht beleidigt. Sie haben nur eine andere Perspektive. Aber es bringt mich zum Nachdenken, warum Sie es tun.«
»Was tun?«, fragte Bohr.
»Kämpfen«, sagte ich. »Die meisten Menschen in der KVA sind wie ich. Und die meisten Menschen in den Kolonien unterscheiden sich noch mehr von Ihnen als ich. Warum kämpfen Sie für diese Leute? Und warum kämpfen Sie zusammen mit uns?«
»Wir sind Menschen, Lieutenant«, sagte Mendel. »Wir sind nicht weniger menschlich als Sie.«
»In Anbetracht des derzeitigen Zustandes meiner DNS besagt das nicht viel«, entgegnete ich.
»Sie wissen, dass Sie ein Mensch sind«, sagte Mendel. »Und uns geht es genauso. Wir wissen, wie die KVA ihre Rekruten auswählt. Auch Sie kämpfen für Kolonisten, denen Sie nie persönlich begegnet sind◦– die irgendwann sogar Feinde Ihres Heimatlandes waren. Warum kämpfen Sie für diese Leute?«
»Weil sie Menschen sind und weil ich gesagt habe, dass ich es tun würde«, antwortete ich. »Zumindest war das zu Anfang mein Beweggrund. Jetzt kämpfe ich nicht mehr für die Kolonisten. Ich meine, ich tue es schon, aber letzten Endes kämpfe ich für meine Kompanie und meinen Trupp◦– oder habe dafür gekämpft. Ich habe das Leben meiner Leute geschützt und sie meines. Ich habe gekämpft, weil ich sie im Stich gelassen hätte, wenn ich es nicht getan hätte.«
Mendel nickte. »Das ist auch der Grund, warum wir kämpfen, Lieutenant«, sagte er. »Das ist also eine Gemeinsamkeit, die uns alle menschlich macht. Das ist gut zu wissen.«
»Das ist es«, stimmte ich ihm zu. Mendel grinste und nahm seine Gabel. Als er zu essen begann, setzte auch das Geklapper der Esswerkzeuge im ganzen Raum wieder ein. Ich blickte auf und sah, wie Jane aus einer entfernten Ecke zu mir herüberschaute.
Bei der morgendlichen Besprechung kam Major Crick sofort zur Sache. »Der Geheimdienst der KVA ist der Ansicht, dass die Rraey Schwindler sind«, sagte er. »Und der erste Teil unserer Mission wird darin bestehen, diese Vermutung zu überprüfen. Dazu werden wir den Consu einen Besuch abstatten.«
Das machte mich endgültig wach. Und ich schien nicht der Einzige zu sein, dem es so ging. »Was, zum Teufel, haben die Consu damit zu tun?«, fragte Lieutenant Tagore, der unmittelbar links neben mir saß.
Crick nickte Jane zu. »Auf Anweisung von Major Crick und anderen«, sagte Jane, »habe ich die bisherigen Begegnungen zwischen der KVA und den Rraey etwas gründlicher untersucht, um zu sehen, ob es irgendwelche Hinweise auf eine neuere technische Entwicklung gibt. In den letzten hundert Jahren kam es zu zwölf bedeutenden militärischen Auseinandersetzungen mit den Rraey und mehreren Dutzend kleinerer Scharmützel, einschließlich einer ernsthaften und sechs kleinerer Begegnungen in den letzten fünf Jahren. Während des gesamten Zeitraums lag der technische Entwicklungsstand der Rraey deutlich unter unserem. Das lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen, unter anderem auf die mangelnde Neigung ihrer Zivilisation, den technischen Fortschritt systematisch voranzutreiben, und ihre gering ausgeprägte Bereitschaft, friedliche Kontakte zu technisch weiter fortgeschrittenen Völkern herzustellen.«
»Mit anderen Worten, sie sind rückständig und verbohrt«, sagte Major Crick.
»Das trifft vor allem für die Skip-Technologie zu«, sagte Jane. »Bis zur Schlacht von Coral waren die Skip-Antriebe der Rraey unseren weit unterlegen. Ihr gegenwärtiger Wissensstand über die Skip-Physik basiert sogar direkt auf Informationen, die sie vor etwas mehr als einem Jahrhundert von der KVA erhalten haben, während einer später abgebrochenen Handelsmission.«
»Warum wurde sie abgebrochen?«, fragte Captain Jung von der anderen Seite des Tisches.
»Weil die Rraey etwa ein Drittel der Handelsvertreter gegessen haben«, sagte Jane.
»Autsch«, sagte Captain Jung.
»Es geht darum«, sagte Major Crick, »dass die Rraey in Anbetracht ihrer Mentalität und ihres Entwicklungsstandes diesen Rückstand unmöglich aus eigener Kraft überwunden haben können. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass sie die technische Voraussetzung für eine Vorhersage des Eintrittspunktes von einer anderen Spezies erhalten haben. Wir wissen alles, was die Rraey wissen, und es gibt nur eine Spezies, von der wir vermuten können, dass sie im Besitz einer solchen Technologie ist.«
»Die Consu«, sagte Tagore.
»Die Consu«, bestätigte Crick. »Diese Mistkerle benutzen einen weißen Zwerg als Taschenlampenbatterie. Also könnte es durchaus sein, dass sie es geschafft haben, einen Skip-Antrieb durch Tachyonendetektion zu orten.«
»Aber warum sollten sie den Rraey eine solche Technik zur Verfügung stellen?«, fragte Lieutenant Dalton, der fast am Ende des Tisches saß. »Sie lassen sich doch nur auf uns ein, wenn sie sich ein wenig sportlich betätigen wollen, und wir sind technisch viel weiter fortgeschritten als die Rraey.«
»Der Punkt ist, dass die Consu weniger durch technologische Aspekte motiviert sind als wir«, sagte Jane. »Unsere Technik ist für sie genauso wertlos wie für uns die Geheimnisse einer Dampfmaschine. Wir glauben, dass sie durch ganz andere Faktoren motiviert werden.«
»Religion«, sagte ich. Alle Augen blickten in meine Richtung, und ich kam mir plötzlich wie ein Chorjunge vor, der während eines Gottesdienstes gefurzt hatte. »Ich meine damit, als meine Kompanie gegen die Consu kämpfte, begannen sie die Schlacht mit einem Gebet. Damals sagte ich zu einem Freund, dass ich glaube, die Consu würden den Planeten quasi mit dem Kampf segnen.« Die Blicke wurden noch intensiver. »Natürlich könnte ich mich auch täuschen.«
»Sie täuschen sich keineswegs«, sagte Crick. »In der KVA wird schon seit einiger Zeit diskutiert, warum die Consu überhaupt Krieg führen, da kein Zweifel besteht, dass sie jede raumfahrende Zivilisation in dieser Region der Galaxis ohne große Schwierigkeiten vollständig auslöschen könnten. Die vorherrschende Ansicht läuft darauf hinaus, dass sie es zur Unterhaltung tun, so wie wir Baseball oder Fußball spielen.«
»Wir spielen nie Baseball oder Fußball«, sagte Tagore.
»Aber andere Menschen tun es, Sie Schwachkopf«, sagte Crick mit einem Grinsen, bevor er wieder ernst wurde. »Eine nicht unerhebliche Minderheit im Geheimdienst der KVA glaubt, dass ihre Schlachten einen rituellen Hintergrund haben, wie Lieutenant Perry soeben angedeutet hat. Die Rraey können vielleicht nicht auf der technischen Ebene mit den Consu ins Geschäft kommen, aber es wäre denkbar, dass sie etwas anderes haben, an dem die Consu interessiert sind. Für eine solche Technik würden sie vielleicht ihre Seelen verkaufen.«
»Aber die Rraey sind selber religiöse Fanatiker«, sagte Dalton. »Das war doch der Hauptgrund, warum sie Coral überhaupt angegriffen haben.«
»Sie haben mehrere Kolonien, von denen einige begehrenswerter als andere sind«, sagte Jane. »Auch wenn sie Fanatiker sind, könnte es für sie ein gutes Geschäft sein, eine ihre weniger erfolgreichen Kolonien gegen Coral zu tauschen.«
»Was aber nicht so gut für die Rraey wäre, die in der abgetretenen Kolonie wohnen«, sagte Dalton.
»Wen würde es interessieren, was diese Rraey denken?«, sagte Crick.
»Die Consu haben den Rraey eine Technik verkauft, mit der sie einen bedeutenden Vorsprung über alle anderen Spezies in diesem Teil der Galaxis errungen haben«, sagte Jung. »Selbst für die mächtigen Consu muss eine solche Verschiebung des Machtgleichgewichts spürbare Folgen haben.«
»Es seid denn, die Consu haben die Rraey übers Ohr gehauen«, sagte ich.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Jung.
»Wir gehen davon aus, dass die Consu den Rraey die technischen Kenntnisse vermittelt haben, um die Geräte bauen zu können, mit denen sich skippende Schiffe orten lassen«, sagte ich. »Aber es wäre genauso gut möglich, dass sie den Rraey nur ein einziges Gerät mit einer Gebrauchsanweisung oder so gegeben haben, damit sie es bedienen können. Auf diese Weise hätten die Rraey, was sie wollen, das heißt, sie könnten Coral gegen unsere Angriffe verteidigen, während die Consu das Machtgleichgewicht im größeren Maßstab kaum verändert hätten.«
»Solange die Rraey nicht herausfinden, wie das verdammte Ding funktioniert«, sagte Jung.
»In Anbetracht ihres technischen Entwicklungsstands könnte das Jahre dauern«, sagte ich. »Damit hätten wir ausreichend Zeit, ihnen in den Arsch zu treten und ihnen diese Technik zu klauen. Falls die Technik wirklich von den Consu stammt. Falls die Consu ihnen nur eine einzige Maschine gegeben haben. Falls den Consu das Machtgleichgewicht wirklich egal ist. Für meinen Geschmack sind das ziemlich viele Eventualitäten.«
»Also werden wir uns bemühen, eine Antwort auf diese Unklarheiten zu finden, wenn wir bei den Consu vorbeischauen«, sagte Crick. »Wir haben bereits eine Skip-Drohne zu ihnen geschickt, damit sie wissen, dass wir kommen. Dann werden wir mal sehen, was wir aus ihnen herausbekommen.«
»Welche Kolonie wollen wir ihnen anbieten?«, erkundigte sich Dalton. Es war nicht zu erkennen, ob die Frage als Scherz gemeint war oder nicht.
»Keine Kolonie«, sagte Crick. »Wir haben etwas ganz anderes, das sie dazu verleiten könnte, uns eine Audienz zu gewähren.«
»Was wäre das?«, fragte Dalton.
»Er«, sagte Crick und zeigte auf mich.
»Er?«, fragte Dalton zurück.
»Ich?«, fragte ich.
»Sie«, sagte Jane.
»Mit einem Mal empfinde ich Verwirrung und Verängstigung«, sagte ich.
»Durch Ihre Doppelschusstechnik war es der KVA möglich, in kürzester Zeit mehrere tausend Consu zu töten«, sagte Jane. »Bei früheren Gelegenheiten waren die Consu stets sehr angetan von Delegationen, die von einem KVA-Soldaten begleitet wurden, der in einer Schlacht viele Consu töten konnte. Da es eindeutig Ihre Idee war, denen diese Consu-Kämpfer ihr schnelles Ende zu verdanken hatten, gehen all diese Toten auf Ihr Konto.«
»An Ihren Händen klebt das Blut von 8443 Consu«, sagte Crick.
»Großartig«, sagte ich.
»Es ist in der Tat großartig«, sagte Crick. »Damit werden Sie uns die Tür öffnen.«
»Was wird aus mir, nachdem wir durch die offene Tür getreten sind?«, fragte ich.»Stellen Sie sich vor, was wir mit einem Consu tun würden, der achttausend Menschen auf dem Gewissen hat.«
»Die Consu gehen mit so etwas ganz anders um als wir«, sagte Jane. »Ihnen dürfte nichts passieren.«
»Das will ich hoffen«, sagte ich.
»Die Alternative wäre, vom Himmel geschossen zu werden, wenn wir im System der Consu auftauchen«, sagte Crick.
»Ich verstehe«, sagte ich. »Es wäre nett gewesen, wenn Sie mir etwas mehr Zeit gegeben hätten, mich an diese Vorstellung zu gewöhnen.«
»Die Situation hat sich sehr schnell entwickelt«, sagte Jane gelassen. Und plötzlich erhielt ich eine BrainPal-Nachricht: Vertrau mir. Ich sah zu Jane hinüber, die meinen Blick völlig ruhig erwiderte. Ich nickte und bestätigte die eine Botschaft, während ich scheinbar die andere meinte.
»Was tun wir, nachdem sie damit fertig sind, Lieutenant Perry zu bewundern?«, fragte Tagore.
»Wenn alles in etwa so verläuft wie bei früheren Begegnungen, erhalten wir die Gelegenheit, den Consu bis zu fünf Fragen zu stellen«, sagte Jane. »Die genaue Anzahl der Fragen wird durch einen Wettkampf zwischen fünf von uns und fünf von ihnen entschieden. Es kämpft immer nur einer gegen einen. Die Consu verzichten auf Waffen, aber unsere Leute dürfen sich mit einem Messer bewaffnen, um unseren Mangel an Sensenarmen auszugleichen. Was wir uns bewusst machen sollten, ist die Tatsache, dass die Consu, gegen die wir bisher bei diesem Ritual gekämpft haben, in Ungnade gefallene Soldaten oder Kriminelle waren, denen auf diese Weise die Gelegenheit geboten wurde, ihre Ehre wiederherzustellen. Daraus ergibt sich, dass sie mit großer Entschlossenheit kämpfen werden. Die Anzahl der gewonnenen Kämpfe entscheidet über die Anzahl der Fragen, die wir anschließend stellen dürfen.«
»Und wer hat den Kampf gewonnen?«, fragte Tagore.
»Derjenige, der seinen Gegner tötet«, sagte Jane.
»Faszinierend«, sagte Tagore.
»Es gibt noch eine weitere Regel«, sagte Jane. »Die Consu suchen sich die Kämpfer aus unseren Reihen aus. Das Protokoll erfordert also, dass wir mit mindestens dem Dreifachen der möglichen Kampfpartner antreten. Vom Kampf ausgeschlossen ist einzig der Anführer der Delegation, und das sollte jemand sein, der eine zu hohe Stellung hat, um gegen Verbrecher und Versager der Consu zu kämpfen.«
»Perry, Sie werden die Delegation führen«, sagte Crick. »Da Sie es waren, der achttausend von den Mistkäfern getötet hat, haben Sie in ihren Augen die höchste Stellung. Außerdem sind Sie hier der einzige Nichtangehörige der Spezialeinheit, und Ihnen fehlen die erhöhte Reaktionsgeschwindigkeit und modifizierte Kampfkraft, über die alle anderen verfügen. Falls Sie ausgewählt werden sollten, könnte es sein, dass Sie tatsächlich verlieren.«
»Ich bin gerührt, wie sehr Sie sich um mich sorgen«, sagte ich.
»Darum geht es nicht«, sagte Crick. »Wenn unser großer Star von einem ordinären Verbrecher getötet wird, könnte das unsere Chancen gefährden, die Consu zu einer Kooperation zu bewegen.«
»Okay«, sagte ich. »Eine Sekunde lang bin ich der Illusion aufgesessen, Sie könnten weich geworden sein.«
»Blödsinn«, sagte Crick und schüttelte den Kopf. »Uns bleiben noch dreiundvierzig Stunden, bis wir die Skip-Distanz erreicht haben. Unsere Delegation wird aus vierzig Personen bestehen, einschließlich aller Truppführer. Ich werde die übrigen Teilnehmer aussuchen. Das bedeutet, dass Sie zwischen jetzt und dann Ihre Soldaten im Nahkampf trainieren werden. Perry, ich habe Ihnen das Delegationsprotokoll überspielt. Gehen Sie es genau durch, und verpatzen Sie nichts. Kurz nach dem Skip werden wir beide uns treffen, damit ich Ihnen die Fragen geben kann, die wir stellen wollen, und die Reihenfolge, in der wir sie stellen sollten. Wenn wir gut sind, haben wir fünf Fragen, aber wir müssen auf den Fall vorbereitet sein, dass es weniger sind. Und jetzt an die Arbeit, Leute. Sie sind entlassen.«
Während der dreiundvierzig Stunden erzählte ich Jane alles über Kathy. Jane kam immer wieder kurz zu mir, fragte, hörte zu und verschwand wieder, um ihren Pflichten nachzugehen. Es war eine seltsame Methode, sehr persönliche Informationen weiterzugeben.
»Erzähl mir von ihr«, forderte sie mich auf, als ich auf einem Aussichtsdeck das Protokoll studierte.
»Wir haben uns schon in der ersten Klasse kennengelernt«, sagte ich und musste ihr dann das Klassensystem erklären. Ich erzählte ihr von meiner frühesten Erinnerung an Kathy. Im Kunstunterricht, der für die ersten und zweiten Klassen gemeinsam veranstaltet wurde, hatte ich mir für eine Papierkonstruktion Klebstoff von ihr geborgt. Sie erwischte mich, als ich ein bisschen vom Klebstoff aß, und sagte mir, dass ich ein widerlicher Typ sei. Dafür schlug ich sie, worauf sie mir einen Faustschlag aufs Auge verpasste. Sie wurde einen Tag lang vom Schulbesuch ausgeschlossen. Wir sprachen erst in der Mittelstufe wieder miteinander.
»Wie alt ist man in der ersten Klasse?«, fragte sie.
»Sechs Jahre«, sagte ich. »Genauso wie du jetzt.«
»Erzähl mir mehr über sie«, forderte sie mich ein paar Stunden später an einem ganz anderen Ort auf.
»Einmal hätte Kathy sich fast von mir scheiden lassen«, sagte ich. »Wir waren seit zehn Jahren verheiratet, und ich hatte eine Affäre mit einer anderen Frau. Als Kathy davon erfuhr, hat sie sich furchtbar aufgeregt.«
»Warum hat es sie gestört, dass du mit jemand anderem Sex hattest?«, wollte Jane wissen.
»Es ging eigentlich gar nicht um den Sex«, sagte ich. »Sondern darum, dass ich sie belogen hatte. Für sie war ein Seitensprung nicht mehr als eine hormonelle Schwäche. Lügen jedoch fiel unter Respektlosigkeit, und sie wollte nicht mit jemandem verheiratet sein, der keinen Respekt vor ihr hatte.«
»Warum habt ihr euch nicht scheiden lassen?«
»Weil ich sie trotz der Affäre liebte und sie mich auch«, sagte ich. »Wir haben uns wieder vertragen, weil wir zusammenbleiben wollten. Außerdem hatte sie ein paar Jahre später selber eine Affäre, sodass wir am Ende wohl quitt waren. Danach kamen wir sogar besser miteinander zurecht.«
»Erzähl mir von ihr«, bat mich Jane, wieder ein paar Stunden später.
»Kathys Obsttorten waren einfach unglaublich«, sagte ich. »Sie hatte ein Rezept für eine Erdbeer-Rhabarber-Torte, die einen einfach umhaute. Irgendwann gab es einen großen Tortenbackwettbewerb, bei dem der Gouverneur von Ohio der Schiedsrichter war. Der erste Preis war ein nagelneuer Backofen.«
»Hat sie gewonnen?«
»Nein, sie wurde Zweite, wofür es einen Hundert-Dollar-Geschenkgutschein für ein Möbelhaus gab. Aber eine Woche später rief das Büro des Gouverneurs an. Sein Assistent erklärte Kathy, dass er den Preis aus politischen Gründen der Frau des besten Freundes eines wichtigen Sponsors geben musste. Aber seit der Gouverneur ein Stück von Kathys Torte gegessen hatte, sprach er pausenlos davon, wie gut sie gewesen war. Ob sie bitte eine Torte für ihn backen könnte, damit er endlich Ruhe gab?«
»Erzähl von ihr«, sagte Jane.
»Es war im ersten Jahr an der Highschool, als mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich mich in sie verliebt hatte«, sagte ich. »An unserer Schule sollte Romeo und Julia inszeniert werden, und sie bekam die Rolle der Julia. Ich war Regieassistent, was die meiste Zeit darauf hinauslief, dass ich Kulissen bauen und Kaffee für Mrs. Amos holen musste, die Lehrerin, die die Regie übernommen hatte. Doch als Kathy leichte Schwierigkeiten hatte, ihren Text zu behalten, wurde ich von Mrs. Amos beauftragt, mit ihr zu üben. Also gingen Kathy und ich in den nächsten zwei Wochen nach den Proben zu ihr nach Hause und arbeiteten an ihrer Rolle, obwohl wir die meiste Zeit über andere Dinge redeten, wie es Jugendliche halt machen. Zu dieser Zeit war das alles noch sehr unschuldig. Dann kamen die Kostümproben für das Stück, und ich hörte, wie Kathy all diese wunderbaren Worte zu Jeff Greene sagte, der den Romeo spielte. Ich wurde furchtbar eifersüchtig. Eigentlich sollte sie diese Worte zu mir sagen.«
»Was hast du getan?«, fragte Jane.
»Ich war die ganze Zeit frustriert, während das Stück gespielt wurde, vier Aufführungen von Freitagabend bis Sonntagnachmittag, und ich gab mir alle Mühe, Kathy aus dem Weg zu gehen. Dann, auf der Abschlussparty am Sonntagabend, kam Judy Jones zu mir, die Julias Amme gespielt hatte, und sagte, dass Kathy vor dem Lieferanteneingang der Cafeteria hockte und sich die Augen ausheulte. Sie dachte, ich könnte sie nicht mehr ausstehen, weil ich während der ganzen vier Tage kein Wort mit ihr geredet hatte. Judy sagte, wenn ich nicht sofort zu ihr gehen und ihr sagen würde, dass ich sie liebe, würde sie eine Schaufel suchen und mich damit totprügeln.«
»Woher wusste sie, dass du in Kathy verliebt warst?«, fragte Jane.
»Wenn man sich als Jugendlicher verliebt, ist es für jeden offensichtlich, außer einem selbst und dem Menschen, den man liebt. Frag mich nicht, warum das so ist. Es ist einfach so. Also ging ich zum Lieferanteneingang und sah Kathy dort sitzen. Ihre Beine baumelten von der Laderampe. Es war Vollmond, der genau auf ihr Gesicht schien, und ich glaube, sie war für mich niemals schöner als in dieser Nacht. Und mir ging das Herz über, weil ich wusste, mit absoluter Sicherheit wusste, dass ich sie so sehr liebte, dass ich ihr niemals sagen konnte, wie sehr ich sie begehrte.«
»Was hast du gemacht?«, fragte Jane.
»Geschummelt«, sagte ich. »Denn zufällig hatte ich immer noch längere Passagen aus Romeo und Julia im Kopf. Ich ging also über die Laderampe zu ihr und trug ihr Akt zwei, Szene zwei vor. ›Doch still, was schimmert durch das Fenster dort? Es ist der Ost, und Julia die Sonne!◦– Geh auf, du holde Sonn!‹ und so weiter. Vorher hatte ich die Worte nur auswendig gelernt, aber in diesem Moment spürte ich, was sie wirklich bedeuteten. Und nachdem ich zu Ende gesprochen hatte, ging ich zu ihr und küsste sie zum ersten Mal. Sie war fünfzehn, ich war sechzehn, und ich wusste, dass ich sie heiraten und mein Leben mit ihr verbringen würde.«
»Erzähl mir, wie sie starb«, sagte Jane kurz vor dem Skip ins Consu-System.
»Eines Sonntagvormittags machte sie Waffeln und erlitt einen Schlaganfall, während sie nach der Vanille suchte. Ich war zu diesem Zeitpunkt im Wohnzimmer. Ich hörte noch, wie sie sich fragte, wohin sie die Vanille getan hat, und im nächsten Moment folgte ein Klappern und ein dumpfer Schlag. Ich lief in die Küche, und da lag sie am Boden, zitternd und aus der Wunde blutend, wo sie mit dem Kopf gegen die Anrichte gestoßen war. Ich rief den Notarzt, während ich sie in den Armen hielt. Ich versuchte die Blutung zu stillen, und ich sagte ihr, wie sehr ich sie liebte. Ich redete die ganze Zeit auf sie ein, bis die Sanitäter kamen und sie mir wegnahmen, obwohl ich während der Fahrt ins Krankenhaus ihre Hand halten durfte. Ich hielt ihre Hand, als sie noch im Krankenwagen starb. Ich sah, wie das Licht in ihren Augen erlosch, aber ich sagte ihr immer noch, wie sehr ich sie liebte, bis man uns im Krankenhaus voneinander trennte.«
»Warum hast du das getan?«, fragte Jane.
»Ich wollte, dass es die letzten Worte waren, die sie hörte.«
»Wie ist es, wenn man jemanden verliert, den man liebt?«
»Man selber stirbt ebenfalls«, sagte ich. »Und man wartet nur noch, bis der Körper den gleichen Weg geht.«
»Ist es das, was du jetzt tust?«, sagte Jane. »Darauf zu warten, dass auch dein Körper stirbt?«
»Nein, jetzt nicht mehr«, sagte ich. »Irgendwann fängt man wieder an zu leben. Nur dass es ein anderes Leben ist.«
»Also ist das schon dein drittes Leben«, sagte Jane.
»So scheint es.«
»Wie gefällt dir dieses Leben?«, fragte Jane.
»Ganz gut«, sagte ich. »Ich mag die Menschen, mit denen ich zu tun habe.«
Hinter dem Fenster gruppierten sich die Sterne um. Wir waren im Consu-System. Wir saßen schweigend da und passten uns der Stille im übrigen Schiff an.
»Sie dürfen mich als Botschafter anreden, obgleich ich dieses Titels unwürdig bin«, sagte der Consu. »Ich bin ein Verbrecher, der sich in der Schlacht auf Pahnshu entwürdigte, und deshalb bin ich gezwungen, in Ihrer Sprache mit Ihnen zu reden. Aufgrund dieser Schande sehne ich mich nach dem Tod und einer gerechten Bestrafungsdauer, bevor ich wiedergeboren werde. Ich hoffe, im Verlauf dieser Gespräche erweist sich, dass ich noch unwürdiger bin und bald durch den Tod erlöst werden muss. Deshalb beschmutze ich mich, indem ich mich mit Ihnen unterhalte.«
»Auch ich finde es nett, Sie kennen zu lernen«, sagte ich.
Wir standen im Zentrum einer fußballplatzgroßen Kuppel, die die Consu erst vor weniger als einer Stunde erbaut hatten. Natürlich durfte uns Menschen nicht gestattet werden, den Boden von Consu zu betreten oder sich irgendwo aufzuhalten, wo sich anschließend wieder Consu aufhalten würden. Nach unserer Ankunft war die Kuppel von automatischen Anlagen in einem Sektor des Systems errichtet worden, der als abgeschotteter Empfangsbereich für unwillkommene Besucher diente, wie wir es waren. Wenn die Verhandlungen abgeschlossen waren, würde man die Kuppel in sich zusammenstürzen lassen und in das nächste Schwarze Loch werfen, damit kein einziges ihrer Atome je wieder dieses Universum beschmutzte. Vor allem den letzten Teil hielt ich für reichlich übertrieben.
»Uns ist bekannt, dass Sie uns einige Fragen bezüglich der Rraey stellen möchten«, sagte der Botschafter, »und dass Sie sich den Ritualen unterziehen wollen, mit denen Sie sich die Ehre verdienen können, sie an uns richten zu dürfen.«
»So ist es«, sagte ich. Fünfzehn Meter hinter mir standen neununddreißig für den Kampf gekleidete Soldaten der Spezialeinheit in militärisch korrekter Haltung. Nach unseren Informationen würden die Consu diese Begegnung nicht als Treffen zwischen gleichwertigen Partnern betrachten, sodass wir auf diplomatische Nettigkeiten weitgehend verzichten konnten. Außerdem mussten unsere Leute auf den Kampf vorbereitet sein, da jeder von ihnen ausgewählt werden konnte. Ich hatte mich ebenfalls ein bisschen in Schale geschmissen, aber das war einzig und allein meine Sache. Wenn ich schon so tun sollte, als wäre ich der Anführer dieser kleinen Delegation, wollte ich die Rolle wenigstens einigermaßen überzeugend spielen.
In gleicher Entfernung standen fünf weitere Consu hinter dem Botschafter. Alle hielten jeweils zwei lange, gefährlich aussehende Messer bereit. Es wäre überflüssig gewesen, mich nach ihrer Aufgabe zu erkundigen.
»Mein großes Volk erkennt an, dass Sie auf korrekte Weise um die Durchführung unserer Rituale gebeten haben und gemäß der Anforderungen erschienen sind«, sagte der Botschafter. »Dennoch hätten wir Ihre Bitte als unwürdig abgelehnt, wäre unter Ihnen nicht jemand gewesen, der unsere Krieger auf so ehrenhafte Weise in den Zyklus der Wiedergeburt geleitet hat. Sind Sie dieser Mensch?«
»Der bin ich«, sagte ich.
Der Consu musterte mich einen Moment lang aufmerksam. »Seltsam, dass ein großer Krieger einen solchen äußeren Eindruck erweckt«, sagte er.
»Das geht mir manchmal genauso«, sagte ich. Nach unseren Informationen würden die Consu unserem Ansinnen Folge leisten, ganz gleich, wie wir uns während der Verhandlungen aufführten. Hauptsache, wir hielten uns an die Kampfregeln. Also war es kein Problem, wenn ich etwas flapsig antwortete. Es schien sogar so zu sein, dass es den Consu lieber war, weil es ihr Gefühl der Überlegenheit verstärkte. Alles, was sie wollten.
»Fünf Kriminelle wurden ausgewählt, um sich mit Ihren Soldaten zu messen«, sagte der Botschafter. »Da es den Menschen an einigen körperlichen Attributen der Consu mangelt, bieten wir Ihren Soldaten eine Auswahl von Messern. Unsere Kämpfer führen sie mit sich und werden ihren Gegner dadurch erwählen, dass sie ihnen die Messer überreichen.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Sollte Ihr Soldat den Kampf überleben, darf er die Messer als Zeichen des Sieges behalten.«
»Danke«, sagte ich.
»Wir möchten sie nicht zurückhaben, weil sie danach unrein sind.«
»Das habe ich kapiert.«
»Nach dem Wettkampf werden wir so viele Fragen beantworten, wie Sie sich verdient haben«, sagte der Botschafter. »Jetzt wollen wir die Gegner auswählen.« Der Consu stieß ein Kreischen aus, das Steine zum Zerspringen gebracht hätte, und die fünf Consu hinter ihm traten vor. Sie gingen mit gezückten Messern an ihm und mir vorbei und auf unsere Soldaten zu.
Keiner von ihnen zuckte. Das war Disziplin!
Die Consu brauchten nicht lange für die Auswahl. Sie marschierten geradeaus und drückten die Messer den Leuten in die Hände, die genau vor ihnen standen. Für sie war ein Mensch wie jeder andere. Die Erwählten waren Corporal Mendel, den ich aus der Messe kannte, die Gefreiten Joe Goodall und Jennifer Aquinas, Sergeant Fred Hawking und Lieutenant Jane Sagan. Alle nahmen wortlos die Messer an. Die Consu zogen sich hinter den Botschafter zurück, während die Übriggebliebenen aus unserer Gruppe mehrere Meter hinter die Auserwählten zurückwichen.
»Sie geben das Zeichen für den Beginn der Kämpfe«, sagte der Botschafter, dann entfernte er sich aus dem Zentrum des Raumes. Jetzt waren nur noch ich und zwei Reihen von Kämpfern übrig, die im Abstand von fünfzehn Metern darauf warteten, sich gegenseitig umzubringen. Ich trat ein wenig zur Seite und zeigte auf den Soldaten und den Consu, die mir am nächsten waren.
»Fangen Sie an«, sagte ich.
Der Consu entfaltete die Sensenarme und offenbarte die flachen, scharfen Schneiden aus modifizierter Panzerung sowie die kleineren, fast menschlich wirkenden sekundären Arme mit Händen. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus und trat vor. Corporal Mendel ließ eins der Messer fallen, nahm das andere in die linke Hand und ging direkt auf den Consu los. Als sie sich auf drei Meter genähert hatten, war plötzlich alles nur noch ein verwischtes Durcheinander. Zehn Sekunden später hatte Corporal Mendel einen Schnitt quer über den Brustkorb, der bis auf die Knochen ging, und dem Consu steckte ein Messer in der weichen Stelle, wo sich Kopf und Körperpanzer trafen. Mendel hatte sich die Wunde zugezogen, als er sich vom Consu packen ließ, wobei er die Verletzung in Kauf nahm, um an die offensichtlichste Schwachstelle seines Gegners zu gelangen. Der Consu zuckte, als Mendel die Klinge drehte und den Nervenstrang des Aliens mit einem Ruck zerschnitt. Dadurch wurden, das sekundäre Nervenzentrum im Kopf vom Primärgehirn im Thorax getrennt und mehrere Blutgefäße in Mitleidenschaft gezogen. Der Consu brach zusammen. Mendel zog das Meser heraus und ging zu seinen Kameraden von der Spezialeinheit, während er mit dem rechten Arm seine Schnittwunde zusammendrückte.
Ich gab Goodall und seinem Gegner das Zeichen. Goodall grinste und sprang tänzelnd vor. Mit beiden Händen hielt er die Messer unten und mit den Klingen nach hinten. Sein Consu bellte und griff an, mit dem Kopf voran und die Sensenarme ausgestreckt. Zunächst parierte Goodall den Angriff, doch im letzten Moment tauchte er ab. Der Consu schlug nach unten, wobei er ein Stück Haut und das Ohr von Goodalls Kopf abrasierte. Mit einem schnellen Stoß nach oben hackte Goodall dem Alien ein chitingepanzertes Bein ab. Es knackte wie eine Hummerschere und flog senkrecht in der Bewegungsrichtung des Hiebs davon. Der Consu neigte sich und kippte um.
Goodall vollführte auf dem Hintern eine Drehung, warf beide Messer hoch und machte eine Rolle rückwärts. Er landete rechtzeitig auf den Füßen, um die Messer wieder auffangen zu können. Die linke Seite seines Kopfes war von dickem grauem Schorf bedeckt, aber Goodall lächelte immer noch, als er wieder auf den Consu zusprang, der sich verzweifelt bemühte, sich wieder aufzurichten. Er schlug mit den Armen nach Goodall, war aber zu langsam, während Goodall eine Pirouette drehte und das erste Messer mit einem Rückwärtshieb in den Rückenpanzer des Consu rammte. Dann streckte er sich und versenkte auf dieselbe Weise das zweite Messer im Brustpanzer. Nun drehte sich Goodall um 180 Grad, sodass er neben dem Consu stand, packte beide Messergriffe und bewegte sie gleichzeitig, als würde er einen Teig umrühren. Der Consu zuckte, als die aufgelösten Bestandteile seines Körpers durch die vordere und hintere Öffnung herausfielen, dann brach er endgültig zusammen. Währenddessen grinste Goodall die ganze Zeit und zog sich schließlich mit einem kleinen Tänzchen zurück. Er hatte offenkundig Spaß an der Sache gehabt.
Gefreite Aquinas tänzelte nicht, und sie machte auch nicht den Eindruck, als hätte sie Spaß. Sie und ihr Gegner umkreisten sich misstrauisch fast zwanzig Sekunden lang, bevor der Consu endlich losstürmte. Dabei hob er die Sensenarme, als wollte er sie Aquinas wie Fleischerhaken in die Eingeweide rammen. Aquinas wich zurück und verlor das Gleichgewicht. Der Consu sprang sie an und fixierte ihren linken Arm, indem er ihn mit einem Sensenarm durch das weiche Gewebe zwischen Elle und Speiche aufspießte. Den rechten Arm legte er an ihren Hals und bewegte die Hinterbeine, um sich in eine günstigere Position für einen Enthauptungsschlag zu bringen.
Als der Consu mit dem Sensenarm ausholte und auf Aquinas’ Hals zielte, stieß sie einen lauten kehligen Schrei aus und stemmte sich gegen die Sense, die ihren Arm aufgespießt hatte. Der Unterarm und die Hand wurden aufgeschlitzt, als das weiche Gewebe nachgab, dann kippte der Consu, als sie seinem Bewegungsimpuls folgte. Aquinas drehte sich im Griff des Gegners und rammte dann mit der rechten Hand das Messer in den Panzer des Consu. Dieser versuchte sie wegzustoßen, doch Aquinas schlang die Beine um den Körper des Wesens und hielt sich fest. Der Consu konnte ein paarmal auf Aquinas’ Rücken einstechen, bevor er starb, doch mit den Sensenarmen ließ sich in inmittelbarer Nähe seines Körpers nicht allzu viel ausrichten. Aquinas erhob sich von der Leiche ihres Gegners und schaffte noch die Hälfte des Rückwegs zu ihren Leuten, bevor sie zusammenbrach und fortgetragen werden musste.
Nun verstand ich, warum man mich von den Kämpfen ausgeschlossen hatte. Es war nicht nur eine Frage von Tempo und Kraft, obwohl ich den Soldaten der Spezialeinheit in beiderlei Hinsicht deutlich unterlegen war. Sie wendeten Strategien an, die auf einer völlig andersartigen Einstellung basierten, was man in Kauf zu nehmen bereit war. Ein normaler Soldat würde niemals einen Arm opfern, wie Aquinas es soeben getan hatte. Wenn man sieben Jahrzehnte mit dem Wissen gelebt hatte, dass Gliedmaßen nicht zu ersetzen waren und der Verlust zum Tod führen konnte, tat man so etwas einfach nicht. Für die Soldaten der Spezialeinheit jedoch war das kein Problem, weil sie sich jederzeit neue Arme oder Beine wachsen lassen konnten und weil sie wussten, dass die Verletzungstoleranz ihres Körper wesentlich höher als bei einem normalen Menschen war. Es war keineswegs so, dass diese Soldaten keine Angst hatten. Sie konnten diese Empfindung nur auf viel später verschieben.
Ich gab Sergeant Hawking und seinem Gegner das Zeichen, dass sie anfangen sollten. Dieser Consu entfaltete seine Sensenarme nicht, er marschierte nur in die Mitte der Kuppel und wartete auf seinen Widersacher. Hawking ging unterdessen gebückt auf ihn zu, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, um den richtigen Moment zum Angriff einschätzen zu können. Einen Schritt vor, anhalten, zur Seite treten, vorwärts, anhalten und wieder einen Schritt vor. Bei einem dieser behutsamen, wohlbedachten, winzigen Schritte nach vorn schlug der Consu plötzlich zu, als würde er explodieren. Er spießte Hawking mit beiden Sensenarmen auf, hob ihn empor und warf ihn in die Luft. Als er wieder herunterkam, schlug der Consu noch einmal auf ihn ein, trennte ihm den Kopf ab und zerteilte ihn in der Körpermitte. Der Oberkörper und die Beine flogen in unterschiedliche Richtungen davon, der Kopf landete genau vor dem Consu auf dem Boden. Der Alien musterte ihn einen Moment lang, dann spießte er ihn mit der Spitze einer Sense auf und warf ihn der Menschengruppe entgegen. Er flog über sie hinweg und verspritzte Hirnmasse und SmartBlood, bis er mit einem feuchten Klatschen auf den Boden schlug.
Während der vorausgegangenen vier Kämpfe hatte Jane ungeduldig gewartet und nervös mit ihren Messern gespielt. Jetzt trat sie kampfbereit vor, genauso wie ihr Gegner, der letzte Consu. Ich ließ die beiden anfangen. Der Consu griff sofort an und machte einen Schritt auf sie zu, wobei er die Sensenarme ausbreitete. Mit weit geöffneten Mandibeln stieß er einen kreischenden Kampfschrei aus, der die Kuppel zu sprengen drohte, worauf wir alle ins Vakuum hinausgerissen worden wären. In dreißig Metern Entfernung blinzelte Jane, dann warf sie eins ihrer Messer in die aufgerissenen Kiefer. Im Wurf lag ausreichend Kraft, um die Klinge quer durch den Kopf des Consu zu treiben, bis der Griff vor der Rückseite des Schädelpanzers stecken blieb. Der gellende Kampfschrei wich unvermittelt den Geräuschen, die ein dickes großes Insekt von sich gab, das am eigenen Blut und einem Stück Metall erstickte. Der Consu versuchte noch, das Messer herauszuziehen, aber er war schon tot, bevor er die Bewegung vollenden konnte. Er kippte nach vorn um und verschied mit einem letzten gurgelnden Seufzer.
Ich ging zu Jane hinüber. »Ich glaube nicht, dass die Messer auf diese Weise eingesetzt werden sollten«, sagte ich.
Sie zuckte die Achseln und drehte das zweite Messer in der Hand. »Niemand hat mir gesagt, dass ich es nicht tun darf«, erwiderte sie.
Der Botschafter der Consu trat wieder zu mir, wobei er seinen toten Artgenossen ausweichen musste. »Sie haben sich das Recht erkämpft, vier Fragen zu stellen«, sagte er. »Sie dürfen sie jetzt stellen.«
Vier Fragen waren mehr, als wir erwartet hatten. Wir hatten auf drei gehofft und uns auf zwei eingerichtet. Wir hatten die Consu für schwerere Gegner gehalten. Andererseits stellten ein toter Soldat und mehrere zerstörte Körperteile keineswegs eine totale Niederlage dar. Trotzdem◦– man nahm, was man kriegen konnte. Vier Fragen waren ein guter Schnitt.
»Haben die Consu den Rraey die nötige Technik zur Verfügung gestellt, um eintreffende Skip-Schiffe orten zu können?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete der Botschafter, ohne diesen Punkt weiter auszuführen. Aber das war in Ordnung. Wir hatten ohnehin nicht damit gerechnet, dass die Consu uns mehr erzählen würden, als sie mussten. Aber dieses »Ja« beantwortete gleichzeitig mehrere andere Fragen. Wenn die Rraey die Technik von den Consu bekommen hatten, war es sehr unwahrscheinlich, dass sie das Funktionsprinzip verstanden hatten. Also mussten wir uns keine Sorgen machen, dass sie dieses technische Know-how anderen Spezies zur Verfügung stellten.
»Wie viele Geräte zur Ortung von Skip-Schiffen besitzen die Rraey?« Ursprünglich hatten wir überlegt, ob wir fragen sollten, wie viele davon die Consu den Rraey geliefert hatten, aber für den Fall, dass sie inzwischen weitere hergestellt hatten, wäre es besser, die Frage allgemeiner zu stellen.
»Eins«, sagte der Botschafter.
»Wie viele andere Völker, die den Menschen bekannt sind, besitzen die Fähigkeit, Skip-Schiffe zu orten?« Unsere dritte wichtige Frage. Wir gingen davon aus, dass die Consu viel mehr Spezies kannten als wir, also wäre eine allgemeinere Frage, wie viele Spezies diese Technik besaßen, ohne Nutzen für uns gewesen. Genauso wäre es mit der Frage gewesen, wem sonst sie diese Technik zur Verfügung gestellt hatten, da irgendein anderes Volk sie aus eigener Kraft entwickelt haben konnte. Nicht jede Technik stammt ursprünglich von einer weiter fortgeschrittenen Spezies. Gelegentlich kommen Intelligenzwesen von allein auf solche Dinge.
»Keins«, sagte der Botschafter. Ein weiterer Glückstreffer für uns. Zumindest gab uns das etwas Zeit, uns zu überlegen, wie wir das Problem lösen konnten.
»Wir haben noch eine weitere Frage«, sagte Jane und gab mir ein Zeichen, dass ich mich wieder dem Botschafter zuwenden sollte, der geduldig auf meine letzte Frage wartete. Also dachte ich mir: Was soll’s?
»Die Consu könnten die meisten Spezies in diesem Teil der Galaxis auslöschen«, sagte ich. »Warum tun sie es nicht?«
»Weil wir Sie lieben«, sagte der Botschafter.
»Wie bitte?« Genau genommen wäre das eine fünfte Frage gewesen, die der Consu nicht mehr hätte beantworten müssen. Aber er tat es trotzdem.
»Wir verehren alles Leben, das das Potenzial zum Ungkat besitzt.« Wie er dieses Fremdwort aussprach, klang es wie eine Stoßstange, die an einer Mauer entlangschrammt. »Das ist die Teilnahme am großen Zyklus der Wiedergeburt. Wir sorgen uns um Sie, wir segnen Ihre Planeten, damit alle, die dort wohnen, im Zyklus wiedergeboren werden können. Wir empfinden es als unsere Pflicht, Ihr Wachstum zu befördern. Die Rraey glauben, wir hätten ihnen die Technik, nach der Sie fragten, zur Verfügung gestellt, weil sie uns dafür einen ihrer Planeten gegeben haben, aber das ist nicht der Fall. Wir haben die Chance erkannt, Ihre beiden Spezies der Vollkommenheit ein Stück näher zu bringen, und zu unserer Freude ist es uns gelungen.«
Der Botschafter entfaltete die Sensenarme, und wir sahen seine sekundären Arme mit den geöffneten Händen, die er uns in einer fast flehenden Geste entgegenhielt. »Die Zukunft, in der Ihr Volk würdig ist, sich uns anzuschließen, ist jetzt viel näher. Heute sind Sie noch unrein, und wir müssen Sie verachten, während wir Sie gleichzeitig lieben. Aber trösten Sie sich mit der Gewissheit, dass die Erlösung eines Tages kommen wird. Ich selbst gehe jetzt in den Tod, denn ich bin unrein, weil ich in Ihrer Sprache zu Ihnen geredet habe, aber mir ist ein Platz im Zyklus garantiert, weil ich Ihr Volk auf dem großen Rad ein Stück weitergebracht habe. Ich verachte Sie und ich liebe Sie, die Sie gleichzeitig meine Verdamnis und meine Erlösung sind. Gehen Sie jetzt, damit wir diesen Ort vernichten können, und feiern Sie Ihre Weiterentwicklung. Gehen Sie.«
»Das gefällt mir nicht«, sagte Lieutenant Tagore bei unserer nächsten Besprechung, als meine Begleiter und ich unsere Erlebnisse berichtet hatten. »Das gefällt mir ganz und gar nicht. Die Consu haben den Rraey diese Technik nur deshalb zur Verfügung gestellt, damit sie uns fertigmachen können. Das hat die verdammte Wanze selbst gesagt. Sie lassen uns wie Marionetten herumtanzen. Vielleicht stecken sie den Rraey sogar, dass wir zu ihnen unterwegs sind.«
»Das wäre redundant«, sagte Captain Jung, »wenn man bedenkt, dass sie einen Skip-Detektor besitzen.«
»Sie wissen genau, was ich meine«, gab Tagore zurück. »Die Consu sind nicht nett zu uns, weil sie ganz klar wollen, dass wir und die Rraey gegeneinander kämpfen, damit wir uns zu irgendeinem kosmischen Level ›weiterentwickeln‹, was auch immer das bedeuten soll.«
»Die Consu wären sowieso nie nett zu uns gewesen, also müssen wir uns nicht weiter den Kopf über sie zerbrechen«, sagte Major Crick. »Wir können weiter nach Plan vorgehen, aber vergessen Sie nicht, dass die Pläne der Consu sich zufällig bis zu einem gewissen Punkt mit unseren decken. Und ich glaube, dass es den Consu scheißegal ist, ob wir oder die Rraey den Sieg davontragen. Also wollen wir uns jetzt auf das konzentrieren, was wir tun werden, statt auf das, was die Consu tun werden.«
Mein BrainPal aktivierte sich. Crick hatte eine Grafik von Coral und der Heimatwelt der Rraey geschickt. »Die Tatsache, dass die Rraey geborgte Technik benutzen, bedeutet für uns, dass wir eine Chance haben, ihnen einen schweren Schlag versetzen zu können, sowohl auf Coral als auch auf ihrer Heimatwelt. Während wir mit den Consu geplaudert haben, hat die KVA ihre Schiffe auf Skip-Distanz gebracht. Auf unserer Seite stehen sechshundert Schiffe bereit◦– fast ein Drittel unserer Streitkräfte. Wenn die KVA von uns hört, beginnt der Countdown für den gleichzeitigen Angriff auf Coral und die Rraey-Heimatwelt. Es geht darum, Coral zurückzuerobern und potenzielle Verstärkungstruppen zu binden. Wenn wir ihre Heimatwelt treffen, werden wir dort einerseits ihre Schiffe vernichten und die Rraey-Einheiten in anderen System zwingen, sich zu entscheiden, ob für sie Coral oder die Rraey-Heimatwelt höhere Priorität besitzt. Beide Angriffe haben ein gemeinsames Ziel: Wir wollen ihnen die Fähigkeit nehmen, unsere Ankunft im Voraus zu erkennen. Das bedeutet, dass wir ihre Beobachtungsstation einnehmen und ausschalten◦– aber ohne sie zu zerstören! Die Technologie, die dieser Station zugrunde liegt, ist für die KVA von großem Nutzen. Die Rraey mögen nicht in der Lage sein, die Funktionsweise des Detektors zu rekonstruieren, aber wir besitzen die dazu nötigen technischen Voraussetzungen. Wir sprengen die Station nur dann in die Luft, wenn uns wirklich keine andere Wahl bleibt. Wir werden die Station einnehmen und halten, bis wir Verstärkungstruppen auf die Oberfläche gebracht haben.«
»Wie lange wird das dauern?«, fragte Jung.
»Die Simultanangriffe sind so koordiniert, dass sie vier Stunden nach unserem Eintreffen im Coral-System beginnen«, sagte Crick. »Je nach dem, wie heftig die Raumschlacht verläuft, können wir nach ein paar Stunden mit der Landung der Verstärkungstruppen rechnen.«
»Vier Stunden, nachdem wir im Coral-System eingetroffen sind?«, fragte Jung nach. »Nicht, nachdem wir die Ortungsstation eingenommen haben?«
»Richtig«, sagte Crick. »Also sollten wir uns verdammte Mühe geben, die Station zu erobern, Leute.«
»Verzeihen Sie bitte«, sagte ich. »Aber ich mache mir Sorgen wegen einer kleinen Einzelheit.«
»Sprechen Sie, Lieutenant Perry«, sagte Crick.
»Der Erfolg der KVA-Offensive hängt davon ab, ob wir die Ortungsstation einnehmen können, die die eintreffenden Schiffe registriert, nicht wahr?«, sagte ich.
»Richtig«, sagte Crick.
»Dabei handelt es sich um dieselbe Ortungsstation, die auch uns orten wird, wenn wir in das Coral-System skippen, nicht wahr?«
»Richtig«, sagte Crick.
»Ich war an Bord eines Schiffs, das geortet wurde, als es ins Coral-System kam, wie Sie sich vielleicht erinnern. Es wurde völlig vernichtet, und mit Ausnahme meiner Person kamen sämtliche Besatzungsmitglieder ums Leben. Machen Sie sich keine Sorgen, dass mit diesem Schiff dasselbe geschehen könnte?«
»Wir sind schon einmal unbemerkt ins Coral-System gelangt«, sagte Tagore.
»Dessen bin ich mir bewusst, da die Sparrowhawk das Schiff war, das mich gerettet hat«, sagte ich. »Und dafür bin ich Ihnen immer noch zutiefst dankbar. Doch es könnte sich um die Art von Trick handeln, mit dem man nur einmal durchkommt. Und selbst wenn wir weit genug von Coral entfernt ins System eintreten, um eine Ortung zu vermeiden, würden wir anschließend mehrere Stunden brauchen, um den Planeten zu erreichen. Doch dazu ist der Zeitplan viel zu eng. Wenn diese Sache funktionieren soll, muss die Sparrowhawk in der Nähe des Planeten auftauchen. Also wüsste ich gerne, wie wir das anstellen wollen, um zu gewährleisten, dass das Schiff ganz bleibt.«
»Die Antwort darauf ist im Grunde sehr einfach«, sagte Major Crick. »Wir rechnen nicht damit, dass das Schiff ganz bleibt. Wir rechnen damit, dass es sofort in Stücke geschossen wird. Damit rechnen wir sogar ganz fest.«
»Wie bitte?« Ich blickte mich am Tisch um und erwartete, verdutzte Mienen zu sehen, die ähnlich wie ich reagierten. Doch alle anderen machten einen eher nachdenklichen Eindruck. Das war für mich äußerst irritierend.
»Also eine hochorbitale Absetzung?«, fragte Lieutenant Dalton.
»Ja«, bestätigte Crick. »Nur offensichtlich modifiziert.«
Ich konnte es nicht fassen. »Sie haben so etwas schon einmal gemacht?«
»Nicht ganz auf diese Weise, Lieutenant Perry«, sagte Jane und lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. »Aber bei verschiedenen Gelegenheiten haben wir die Soldaten der Spezialeinheit schon direkt aus dem Raumschiff abgesetzt. Meist dann, wenn sich der Einsatz von Shuttles verbietet, wie in diesem Fall. Wir haben besondere Eintrittsanzüge, die uns gegen die Hitze beim Eintauchen in die Atmosphäre isolieren. Ansonsten ist es praktisch wie ein klassischer Fallschirmsprung.«
»Nur dass Ihnen in diesem Fall das Schiff unter dem Hintern weggeschossen wird«, sagte ich.
»Das ist in diesem Fall der neue Aspekt«, räumte Jane ein.
»Sie alle sind völlig wahnsinnig«, sagte ich.
»Trotzdem ist das Ganze eine exzellente Taktik«, sagte Major Crick. »Wenn das Schiff zerstört wird, rechnet der Gegner damit, dass Leichen unter den Trümmerteilen sind. Von der KVA ist soeben eine Skip-Drohne mit aktuellen Informationen über den Standort der Ortungsstation eingetroffen. Damit können wir in einer günstigen Position über dem Planeten herauskommen und unsere Leute absetzen. Die Rraey werden glauben, dass sie unseren Vorstoß vereitelt haben, wie es schon mehrmals geschehen ist. Sie werden nichts ahnen, bis wir zuschlagen. Und dann wird es für sie zu spät sein.«
»Vorausgesetzt, jemand von Ihnen überlebt den Angriff auf das Schiff«, sagte ich.
Crick schaute zu Jane hinüber und nickte.
»Die KVA hat uns ein bisschen Spielraum verschafft«, sagte Jane zur Gruppe. »Man hat abgeschirmte Raketenbatterien mit Skip-Triebwerken versehen und sie ins Coral-System geschickt. Wenn die Schilde getroffen werden, setzen sie die Raketen frei, die für die Rraey nur sehr schwer zu orten sind. Auf diese Weise haben wir in den vergangenen zwei Tagen mehrere Rraey-Schiffe erwischt, und nun warten sie immer erst ein paar Sekunden, bevor sie feuern, um genauer erfassen zu können, was anschließend auf sie zugerast kommt. Wir müssten eine Zeitspanne von zehn bis dreißig Sekunden haben, bevor die Sparrowhawk getroffen wird. Das ist nicht genug Zeit für ein Schiff, das nicht mit einem Treffer rechnet, um etwas zu unternehmen, aber für uns reicht es aus, um unsere Leute nach draußen zu bringen. Vielleicht reicht die Zeit sogar für die Brückenbesatzung, um zur Ablenkung einen Angriff zu starten.«
»Die Brückenbesatzung wird an Bord des Schiffes bleiben?«, fragte ich.
»Wir setzen uns ebenfalls mit Raumanzügen ab und bedienen das Schiff mit unseren BrainPals«, sagte Major Crick. »Aber wir werden mindestens so lange an Bord bleiben, bis wir unsere erste Raketenstaffel abgefeuert haben. Wir werden die BrainPal-Verbindung kappen, wenn wir in die Atmosphäre von Coral eintauchen, damit die Rraey nicht merken, dass wir noch am Leben sind. Mit dieser Aktion sind gewisse Risiken verbunden, aber die bestehen für jeden, der sich an Bord dieses Schiffs befindet. Das ist das Stichwort für die Frage, was mit Ihnen geschehen wird, Lieutenant Perry.«
»Mit mir«, sagte ich.
»Es ist ziemlich klar, dass Sie sich nicht im Schiff befinden möchten, wenn es getroffen wird«, sagte Crick. »Außerdem wurden Sie nicht für eine derartige Mission trainiert, und wir haben Ihnen versprochen, dass Sie ausschließlich in beratender Funktion tätig sein würden. Unser Gewissen verbietet es, Sie zu bitten, daran teilzunehmen. Nach dieser Besprechung werden Sie an Bord eines Shuttles gehen, und gleichzeitig werden wir eine Skip-Drohne nach Phoenix schicken, die die Koordinaten des Shuttles und die Bitte, Sie abzuholen, übermittelt. Phoenix hält ständig mehrere Bergungsschiffe in Skip-Distanz bereit. Also dürfte es höchstens einen Tag dauern, bis man Sie geholt hat. Trotzdem geben wir Ihnen Vorräte für einen Monat mit. Und das Shuttle ist mit eigenen Skip-Drohnen für den Notfall ausgestattet, falls es hart auf hart kommt.«
»Sie wollen mich also loswerden«, sagte ich.
»Nehmen Sie es nicht persönlich«, sagte Crick. »General Keegan dürfte sehr daran interessiert sein, über die Lage und die Verhandlungen mit den Consu informiert zu werden, und als Verbindungsoffizier zur KVA sind Sie der beste Mann, um beide Aufgaben zu erfüllen.«
»Major, mit Ihrer Erlaubnis würde ich gerne an Bord bleiben«, sagte ich.
»Wir haben wirklich keinen Platz für Sie, Lieutenant«, sagte Crick. »Sie nützen uns mehr, wenn Sie nach Phoenix zurückkehren.«
»Major, bei allem Respekt, aber Sie haben mindestens eine Lücke in Ihren Reihen«, sagte ich. »Sergeant Hawking starb während unserer Verhandlungen mit den Consu, und die Gefreite Aquinas hat einen halben Arm verloren. Sie werden es nicht schaffen, vor dieser Mission die Lücken wieder aufzufüllen. Ich gehöre zwar nicht der Spezialeinheit an, aber ich bin ein altgedienter Soldat. Ich bin zumindest besser als gar nichts.«
»Ich erinnere mich, dass Sie uns alle als völlig wahnsinnig bezeichnet haben«, sagte Captain Jung zu mir.
»Sie alle sind völlig wahnsinnig. Das heißt, wenn Sie diese Sache durchziehen wollen, brauchen Sie jede Hilfe, die Sie bekommen können. Außerdem«, fuhr ich fort und wandte mich wieder an Crick, »sollten Sie nicht vergessen, dass ich meine Leute auf Coral verloren habe. Es käme mir falsch vor, mich diesem Kampf zu entziehen.«
Crick warf einen Blick zu Dalton. »Wie weit sind wir mit Aquinas?«, fragte er.
Dalton zuckte die Achseln. »Wir unterziehen sie einer beschleunigten Heilungsprozedur«, sagte er. »Es tut höllisch weh, einen Arm auf diese Weise nachwachsen zu lassen, aber sie wird bereit sein, wenn wir den Skip machen. Ich brauche ihn nicht.«
Crick wandte sich an Jane, die mich anstarrte. »Dann ist es Ihre Entscheidung, Sagan. Hawking war Ihr Mann. Wenn Sie Perry wollen, können Sie ihn haben.«
»Ich will ihn nicht haben«, sagte Jane und sah mich dabei an. »Aber er hat Recht. Mir fehlt ein Mann.«
»Gut«, sagte Crick. »Dann bringen Sie ihn auf den neuesten Stand.« Er schaute mich an. »Wenn Lieutenant Sagan findet, dass Sie den Anforderungen nicht genügen, stecken wir Sie ins Shuttle. Ist das klar?«
»Verstanden, Major«, sagte ich und erwiderte Janes Blick.
»Gut«, sagte er. »Willkommmen bei der Spezialeinheit, Perry. Sie sind der erste Naturgeborene, den wir jemals in unseren Reihen hatten, soweit mir das bekannt ist. Versuchen Sie, die Sache nicht zu verpatzen, denn wenn Sie es tun, können Sie sich darauf verlassen, dass die Rraey ihr geringstes Problem sein werden.«
Jane betrat meine Kabine, ohne meine Erlaubnis einzuholen. Nachdem sie jetzt mein vorgesetzter Offizier war, hatte sie das Recht dazu.
»Was, zum Henker, hast du dir dabei gedacht?«, sagte sie.
»Euch fehlt ein Mann«, sagte ich gelassen. »Ich bin einer. Ganz einfache Mathematik.«
»Ich habe dich in dieses Schiff geholt, weil ich wusste, dass du es vor dem Einsatz mit dem Shuttle verlassen würdest«, sagte sie. »Wenn du zur Infanterie zurückgehst, wärst du an Bord eines der Schiffe, die den Großangriff durchführen. Wenn wir die Ortungsstation nicht ausschalten, weißt du, was mit diesen Schiffen und ihren Besatzungen geschieht. Mir war klar, dass ich nur so deine Sicherheit gewährleisten konnte, und nun wirfst du alles über den Haufen.«
»Du hättest Crick sagen können, dass du mich nicht haben willst. Dann hätte er keine Sekunde gezögert, mich in einem Shuttle im Consu-System auszusetzen, bis irgendwer vorbeikommt, um mich aufzulesen. Du hast es nicht getan, weil du weißt, wie verrückt dieser Plan ist. Du weißt, dass du alle Hilfe brauchst, die du kriegen kannst. Ich wusste nicht, dass ich unter dir dienen würde, Jane. Wenn Aquinas nicht einsatzbereit wäre, hätte ich genauso gut in Daltons Trupp landen können. Ich wusste nicht einmal, dass Hawking einer von deinen Leuten war, bevor Crick es erwähnte. Ich wusste nur, dass ihr jeden verfügbaren Mann braucht, wenn diese Sache funktionieren soll.«
»Warum liegt dir so viel daran?«, fragte Jane. »Dies ist nicht deine Mission. Du bist keiner von uns.«
»Aber jetzt bin ich einer von euch. Ich befinde mich an Bord dieses Schiffes. Ich bin hier, was ich dir zu verdanken habe. Und ich wüsste nicht, wohin ich mich sonst wenden sollte. Mein Bataillon wurde vollständig ausgelöscht, und fast alle meine Freunde sind tot. Und wie jemand von euch erwähnte, sind wir alle trotzdem Menschen. Scheiße, ich wurde sogar genauso wie ihr in einem Labor gezüchtet. Zumindest dieser Körper. Ich könnte genauso gut einer von euch sein. Also gehöre ich jetzt zu euch.«
»Du hast keine Ahnung, wie es ist, einer von uns zu sein!«, regte sich Jane auf. »Du hast gesagt, dass du mehr über mich wissen willst. Was genau willst du wissen? Willst du wissen, wie es war, eines Tages aufzuwachen, im Kopf eine ganze Bibliothek an Informationen◦– die gesamte Palette, von der Schlachtung eines Schweins bis zur Navigation eines Raumschiffs -, aber ohne einen blassen Schimmer, wie man heißt? Oder dass man überhaupt einen haben sollte. Willst du wissen, wie es war, niemals ein Kind gewesen zu sein◦– und noch nie eins gesehen zu haben, bevor man den Boden eines verbrannten Kolonialplaneten betritt und auf eine Kinderleiche stößt? Vielleicht würdest du gerne mehr darüber hören, wie es ist, wenn wir zum ersten Mal mit einem Naturgeborenen reden, wie wir uns zusammenreißen müssen, damit wir nicht auf euch einprügeln, weil ihr so lähmend langsam redet, euch so langsam bewegt und so langsam denkt, dass es uns völlig unverständlich ist, warum man Leute wie euch rekrutiert hat?
Vielleicht möchtest du auch davon erfahren, dass jeder Soldat der Spezialeinheit sich eine persönliche Vergangenheit erträumt. Wir wissen, dass wir Frankensteins Monster sind. Wir wissen, dass wir aus Einzelteilen von Toten zusammengeflickt wurden. Wir schauen in einen Spiegel und wissen, dass wir jemand anderen sehen, und wir wissen, dass wir nur deshalb existieren, weil dieser Jemand nicht mehr existiert◦– und dass wir nie etwas über diese Person erfahren werden. Also bilden wir alle uns ein, wie dieser Mensch gewesen sein könnte. Wir stellen uns das Leben dieser Person vor, ihren Ehepartner, ihre Kinder, und wir wissen, dass nichts davon irgendetwas mit uns selbst zu tun hat.«
Jane kam einen Schritt näher und brüllte mir ins Gesicht. »Willst du wissen, wie es ist, den Ehemann der Frau kennen zu lernen, die man einmal war? Wie er dich wiedererkennt, aber du selber gar nichts spürst, ganz gleich, wie sehr du es dir wünschst? Zu wissen, dass er sich danach sehnt, dich mit einem anderen Namen anzureden, der nicht dein eigener Name ist? Zu wissen, dass er Jahrzehnte eines Lebens sieht, wenn er dich ansieht, eines Lebens, von dem du gar nichts weißt. Zu wissen, dass er an deiner Seite war, dass er in dir war, dass er deine Hand gehalten hat, als du gestorben bist, und dir gesagt hat, dass er dich liebt. Zu wissen, dass er dich nicht zu einer Naturgeborenen machen kann, aber dass er dir Kontinuität schenken kann, eine Geschichte, eine Vorstellung, wer du warst, um dir zu helfen, zu verstehen, wer du bist. Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie es ist, sich so etwas zu wünschen? Und es um jeden Preis geheim halten zu müssen?«
Näher. Lippen, die fast meine berührten, aber ohne die winzigste Andeutung eines Kusses. »Du hast zehnmal länger mit mir zusammengelebt, als ich mit mir gelebt habe«, sagte Jane. »Du bist es, der etwas von mir bewahrt hat. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das für mich ist. Weil du eben keiner von uns bist.« Sie trat zurück.
Ich starrte sie an. »Du bist nicht sie«, sagte ich. »Du hast es mir selbst gesagt.«
»Oh Mann!«, rief Jane. »Ich habe gelogen. Ich bin sie, und du weißt es. Wenn sie länger gelebt hätte, wäre sie zur KVA gegangen, und sie hätten dieselbe gottverdammte DNS benutzt, um einen neuen Körper für sie zu machen, genauso wie für mich. Ich habe zusammengerührte Alienscheiße in meinen Genen, aber auch du bist nicht mehr hundertprozentig menschlich, und sie wäre es auch nicht gewesen. Der menschliche Teil von mir ist derselbe wie das, was in ihr gewesen wäre. Das Einzige, was mir fehlt, sind die Erinnerungen. Was mir fehlt, ist mein gesamtes vorheriges Leben.«
Jane kam zu mir zurück und legte die Hände an mein Gesicht. »Ich bin Jane Sagan, das weiß ich«, sagte sie. »Die letzten sechs Jahre gehören mir allein, und sie sind wirklich geschehen. Das ist mein Leben. Aber ich bin auch Katherine Perry. Dieses Leben will ich wiederhaben. Und du bist mein einziger Zugang zu diesem Leben. Dazu musst du am Leben bleiben, John. Ohne dich würde ich mich ein weiteres Mal verlieren.«
Ich griff nach ihrer Hand. »Dann hilf mir, am Leben zu bleiben«, sagte ich. »Sag mir alles, was ich wissen muss, um diese Mission heil zu überstehen. Zeig mir alles, was ich tun muss, um deiner Kompanie zu helfen, ihre Aufgaben zu erfüllen. Hilf mir, damit ich dir helfen kann, Jane. Du hast Recht, ich weiß nicht, wie es ist, du zu sein, einer von euch zu sein. Aber ich weiß, dass ich nicht in einem verdammten Shuttle im Nichts treiben will, während du dich ins Kampfgetümmel wirfst. Auch ich will, dass du am Leben bleibst. Ist das ein fairer Deal?«
»Das ist ein fairer Deal«, sagte sie.
Ich küsste ihre Hand.
Das ist der leichte Teil, sendete Jane mir. Lehn dich einfach zurück.
Das Hangartor wurde aufgesprengt, und es kam zu einer explosiven Dekompression, wie ich sie schon einmal im Orbit über Coral erlebt hatte. Irgendwann würde ich ein weiteres Mal hierher zurückkehren, ohne aus einem Hangar geschleudert zu werden. Diesmal jedoch flogen keine gefährlichen Teile herum. Im Hangar der Sparrowhawk befanden sich ausschließlich Besatzungsmitglieder und Soldaten, die in klobigen Raumanzügen steckten. Unsere Füße klebten fest am Boden, von elektromagnetischen Haftplatten gehalten, doch sobald die Türen des Frachthangars weit genug ins Weltall hinausgetrieben waren, um uns nicht mehr gefährlich werden zu können, würden die Magneten uns loslassen und wir durch die Tür nach draußen geschleudert werden. Dafür sorgte die entweichende Luft◦– im Frachthanger herrschte Überdruck, damit der Sturm nicht zu schnell versiegte.
Es klappte. Unsere Füße lösten sich vom Boden, und dann war es, als würde man von einem Riesen durch ein recht großes Mauseloch gezerrt werden. Ich folgte Janes Vorschlag und ließ es mit mir geschehen. Plötzlich spürte ich, dass ich durch den Weltraum wirbelte. Das war in Ordnung, da wir den Eindruck erwecken wollten, völlig unerwartet dem Nichts des Alls ausgesetzt zu sein, für den Fall, dass die Rraey uns beobachteten. Es folgte ein desorientierender Moment des Schwindelgefühls, als draußen zu unten wurde. Unten war in diesem Fall die dunkle Masse von Coral, zweihundert Kilometer unter uns. Östlich von uns glühte die Sichel des anbrechenden Tages, etwa dort, wo wir schließlich landen würden.
Im Zuge meiner Drehbewegungen kam die Sparrowhawk gerade rechtzeitig in Sicht, um beobachten zu können, wie sie an vier Stellen explodierte. Die Feuerbälle entstanden auf der gegenüberliegenden Seite des Schiffs, sodass es von hinten beleuchtet wurde. Ohne Geräusch und ohne Hitzeempfindung, was ich dem Vakuum zwischen mir und dem Schiff zu verdanken hatte. Doch die obszön rötlichgelben Feuerbälle entschädigten visuell für den Mangel an anderen Sinnesreizen. Während ich mich weiterdrehte, sah ich zu meinem Erstaunen, wie die Sparrowhawk Raketen abfeuerte, die einem Feind entgegenrasten, dessen Position ich nicht ausmachen konnte. Es hatte sich immer noch jemand an Bord des Schiffes befunden, als es getroffen wurde. Ich vollführte eine weitere Rotation und sah dann, wie die Sparrowhawk in zwei Stücke gerissen wurde, als die nächste Raketensalve einschlug. Wer sich jetzt noch an Bord befand, würde es nicht überleben. Ich hoffte, dass unsere abgefeuerten Raketen ihr Ziel fanden.
Ich stürzte ganz allein auf Coral zu. In meiner Nähe mochten sich weitere Soldaten befinden, aber ich merkte nichts davon. Wir trugen nichtreflektierende Anzüge und hatten den Befehl, mit den BrainPals Funkstille zu wahren, bis wir in die obersten Schichten der Atmosphäre von Coral eingedrungen waren. Ich würde die anderen höchstens bemerken, wenn jemand einen Stern verdunkelte. Es war sinnvoll, unauffällig zu bleiben, wenn man einen Planeten anzugreifen beabsichtigte, vor allem, wenn die Möglichkeit bestand, dass andere nach einem Ausschau hielten. Ich stürzte weiter und beobachtete, wie der Rand des Planeten unter mir immer mehr Sterne ausblendete.
Mein BrainPal piepte. Es wurde Zeit für den Schutzschild. Ich gab mein Einverständnis, dann floss ein Strom von Nanobotern aus einer Öffnung in meinem Rückentornister. Ich wurde von einem elektromagnetischen Netz umgeben, das sich zu einer pechschwarzen Kugel verdichtete und es um mich stockfinster werden ließ. Nun stürzte ich wahrlich durchs Nichts. Ich dankte Gott, dass ich nicht zur Klaustrophobie neigte, weil ich ansonsten in diesem Moment durchgedreht wäre.
Der Schutzschild war das Schlüsselelement bei der hochorbitalen Absetzung. Er bewahrte den Soldaten auf zwei Arten vor der glühenden Hitze, die durch den Eintritt in die Atmosphäre entstand. Erstens wurde die Sphäre geschaffen, während sich der Soldat noch im Vakuum befand, wodurch die Wärmeleitung unterbunden wurde, solange der Soldat den Schild nicht berührte, der in Kontakt mit der Atmosphäre stand. Um das zu vermeiden, sorgte die elektromagnetische Ladung des Schildes gleichzeitig dafür, dass jede Eigenbewegung des Soldaten unterbunden und er im Zentrum der Sphäre gehalten wurde. Das war nicht gerade bequem, doch das galt erst recht für die Alternative des Verbrennens, wenn man von Luftmolkülen bombardiert wurde.
Die Nanoboter kümmerten sich um die Hitze. Einen Teil der Energie benutzten sie, um das elektromagnetische Netz zu verstärken, und vom Rest versuchten sie so viel wie möglich abzugeben. Irgendwann verbrannten sie, worauf neue Nanoboter durch das Netz kamen und ihre Stelle einnahmen. Im Idealfall brauchte man den Schild nicht mehr, wenn er aufgebraucht war. Die uns zugeteilte Menge von Nanobotern war auf die Atmosphäre von Coral kalibriert, wobei man einen kleinen Spielraum übrig gelassen hatte. Aber man wurde zwangsläufig etwas nervös, wenn man genauer darüber nachdachte.
Ich spürte, wie der Schild vibrierte, als er durch die oberen Luftschichten pflügte. Arschloch meldete überflüssigerweise, dass wir es mit Turbulenzen zu tun bekamen. Ich wurde in meiner kleinen Sphäre hin und her geworfen. Das Isolationsfeld hielt, ließ mir aber mehr Bewegungsspielraum, als mir lieb war. Wenn durch eine Berührung mit dem Schild schlagartig mehrere tausend Grad Hitze direkt an den Körper weitergegeben werden konnten, machte man sich wegen jeder Bewegung in diese Richtung Sorgen, mochte sie auch noch so geringfügig sein.
Falls jemand auf der Oberfläche von Coral nach oben blickte, würde er mehrere hundert Sternschnuppen sehen, die über den Nachthimmel strichen. Jegliches Misstrauen, was die Bedeutung dieser Meteore betraf, würde durch das Wissen erstickt werden, dass es sich höchstwahrscheinlich um Trümmer des Menschenraumschiffs handelte, das die Flotte der Rraey kurz zuvor abgeschossen hatten. In mehreren tausend Metern Höhe waren ein abstürzender Soldat und ein abstürzendes Metallteil praktisch nicht zu unterscheiden.
Der Widerstand der dichter werdenden Atmosphäre verlangsamte meine Hülle. Ein paar Sekunden, nachdem sie zu glühen aufgehört hatte, brach sie vollständig in sich zusammen, und ich schoss daraus hervor wie ein Küken, das mit Hilfe einer Schleuder aus dem Ei katapultiert wird. Nun sah ich nicht mehr die völlig schwarze Wand der Nanoboter, sondern die fast schwarze nächtliche Oberfläche eines Planeten. Nur stellenweise leuchteten biolumineszierende Algen und zeichneten die geschwungenen Umrisse der Riffe nach. Etwas heller waren die Lichter, wo die Rraey ihre Lager aufgeschlagen hatten und sich ehemalige menschliche Siedlungen ausbreiteten. Wir steuerten auf einen Lichtklecks zu, der zur zweiten Sorte gehörte.
BrainPal-Funkstille aufgehoben, sendete Major Crick. Ich war überrascht, denn ich hatte gedacht, er wäre mit der Sparrowhawk untergegangen. Truppführer melden sich, Soldaten gruppieren sich um ihre Anführer.
Etwa einen Kilometer westlich und ein paar hundert Meter über mir leuchtete Jane plötzlich auf. Natürlich hatte sie sich nicht tatsächlich mit Neonfarbe bemalt. Das wäre eine gute Methode gewesen, um sicherzustellen, dass man von Bodentruppen abgeschossen wurde. Es war nur mein BrainPal, der sie einfärbte, um mir zu zeigen, wo sie war. Um mich herum leuchteten weitere Soldaten auf, meine neuen Truppkameraden, die sich identifizierten. Wir drehten uns im freien Fall und trieben langsam aufeinander zu. Während wir uns bewegten, verwandelte sich die Oberfläche von Coral in ein topologisches Gitternetz, in dem eine Anhäufung mehrerer Punkte leuchtete◦– die Ortungsstation und ihre unmittelbare Umgebung.
Jane schickte ihren Soldaten neue Informationen. Nachdem ich ein Mitglied von Janes Trupp geworden war, verzichteten die anderen auf die Höflichkeit, verbal mit mir zu kommunizieren, und benutzten wieder ihre BrainPals, um sich zu unterhalten. Sie waren der Ansicht, dass ich mich ihnen anpassen musste, wenn ich an ihrer Seite kämpfen wollte. Die letzten drei Tage waren ein einziges Kommunikationschaos für mich gewesen. Als Jane gesagt hatte, Naturgeborene würden sich mit lähmend langsamer Geschwindigkeit unterhalten, hatte sie deutlich untertrieben. Die Leute von der Spezialeinheit schickten sich Botschaften in schnellerem Tempo, als ich blinzeln konnte. Gespräche und Diskussionen waren schon längst vorbei, wenn ich endlich kapiert hatte, worum es ging. Doch das Verwirrendste war, dass sie ihre Sendungen nicht auf Text- oder Sprachbotschaften beschränkten. Sie benutzten ihre BrainPals auch dazu, emotionale Reaktionen zu übermitteln, wie ein Autor Satzzeichen einsetzte. Jemand erzählte einen Witz, und alle, die mitgehört hatten, lachten über den BrainPal-Kanal. Es war, als würde man mit winzigen Heiterkeitspatronen beschossen werden, die einem in den Schädel drangen. Ich bekam davon Kopfschmerzen.
Aber es war wirklich eine viel effizientere Methode des »Sprechens«. Jane legte die Mission des Trupps, die Ziele und die Strategie in etwa einem Zehntel der Zeit dar, die ein Befehlshaber in der konventionellen KVA bei einer Einsatzbesprechung benötigt hätte. Das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil, wenn man die Besprechung durchführt, während die Soldaten im freien Fall auf die Oberfläche eines Planeten hinunterrasen. Erstaunlicherweise gelang es mir, die Übertragung fast genauso schnell mitzuhören, wie Jane sie herunterrasselte. Ich stellte fest, dass das Geheimnis darin bestand, sich nicht dagegen zu wehren und nicht zu versuchen, die Informationen so zu sortieren, wie ich es gewohnt war, in gesonderten Bröckchen aus gesprochener Sprache. Man musste nur akzeptieren, dass man aus einem Feuerwehrschlauch trank und den Mund weit aufreißen. Hilfreich war auch, dass ich keinen eigenen Beitrag zur Kommunikation leisten musste.
Die Ortungsstation befand sich auf einer Anhöhe in der Nähe einer kleineren ehemals menschlichen Ansiedlung, die wie alle anderen von den Rraey besetzt worden war. Das Ganze lag in einem kleinen Tal, das dort zu Ende war, wo die Station stand. Ursprünglich war es das Kommandozentrum der Siedlung mit ein paar Nebengebäuden gewesen. Die Rraey hatten sich dort eingenistet, weil sie die Energieversorgung nutzen und die technische Ausrüstung des Zentrums ausschlachten konnten. Sie hatten Verteidigungsstellungen um das Kommandozentrum herum angelegt, aber die Echtzeitbildübertragung von einem Mitglied aus Cricks Führungsstab, der sich praktisch einen Spionagesatelliten vor die Brust geschnallt hatte, zeigte uns, dass diese Stellungen nur mäßig bewaffnet und bemannt waren. Die Rraey waren fest davon überzeugt, dass ihre Technik und ihre Raumschiffe jede Gefahr rechtzeitig ausschalten würden.
Andere Trupps würden das Kommandozentrum übernehmen, um dann die Maschinen zu lokalisieren und sicherzustellen, die die Ortungsdaten von den Satelliten verarbeiteten und an die Raumschiffe der Rraey im Orbit weiterleiteten. Die Aufgabe unseres Trupps war es, den Sendeturm zu besetzen, der die Verbindung zu den Raumschiffen herstellte. Wenn die Sendetechnik genauso hoch entwickelt war wie die üblichen Gerätschaften der Consu, sollten wir den Turm außer Betrieb setzen und ihn gegen den unvermeidlichen Gegenangriff der Rraey verteidigen. Wenn es sich nur um handelsübliche Rraey-Technik handelte, sollten wir sie einfach in die Luft sprengen.
Auf jeden Fall musste die Station ausgeschaltet werden, damit die Raumschiffe der Rraey nicht mehr erkennen konnten, wo und wann unsere Schiffe auftauchen würden. Der Turm stand ein Stück vom Kommandozentrum entfernt und war im Verhältnis zum übrigen Gelände recht schwer bewacht, aber wir hatten vor, die Wachhunde zu reduzieren, bevor wir einen Fuß auf den Boden setzten.
Ziele auswählen, sendete Jane, und unsere BrainPals markierten den Zielbereich. Rraey-Soldaten und ihre Maschinen leuchteten in Infrarot. Ohne Hinweis auf eine Gefahr bestand für sie kein Grund, ihre Wärmestrahlung abzuschirmen. Den Trupps und den einzelnen Soldaten wurden bestimmte Ziele zugewiesen. Nach Möglichkeit sollten wir die Rraey und nicht ihre Ausrüstung treffen, die wir vielleicht selber gebrauchen konnten, wenn wir mit unseren Gegnern fertig waren. Waffen töteten keine Menschen, es waren die Aliens, die hinter dem Abzug saßen. Nachdem die Angriffsvorbereitungen abgeschlossen waren, trieben wir ein Stück auseinander. Nun mussten wir nur noch darauf warten, dass wir bis auf einen Kilometer heran waren.
In tausend Metern Höhe rekonfigurierten sich unsere noch übrigen Nanoboter zu einem manövrierbaren Fallschirm, der die Fallgeschwindigkeit mit einem heftigen Ruck aufhob, bei dem sich mir der Magen umdrehte. Die Schirme waren genauso wie unsere Kampfanzüge getarnt, sodass sie weder Wärme noch Licht abgaben. Wenn man nicht genau wusste, womit man es zu tun hatte, würde man uns erst bemerken, nachdem es bereits zu spät war.
Ziele ausschalten, kam der Befehl von Major Crick, und die Lautlosigkeit des Sinkfluges wurde unvermittelt vom lauten Geratter der Vauzetts zerrissen, die einen Metallregen entließen. Am Boden wurden den Soldaten und Arbeitern der Rraey überraschend Köpfe und Gliedmaßen von den Körpern gesprengt. Ihren überlebenden Kameraden blieb nur ein Sekundenbruchteil, das Geschehen zu registrieren, bevor sie dasselbe Schicksal ereilte. Ich hatte drei Rraey unter Beschuss genommen, die in der Nähe des Sendeturms stationiert waren. Die ersten zwei gingen ohne einen Mucks zu Boden, der dritte riss die Waffe hoch und machte sich bereit, in die Dunkelheit zu feuern. Er war offenbar der Ansicht, dass ich schräg vor statt genau über ihm war. Ich erledigte ihn, bevor er die Gelegenheit hatte, diese Einschätzung zu revidieren. Nach etwa fünf Sekunden lagen sämtliche Rraey, die sich im Freien aufhielten und sichtbar waren, tot am Boden. Wir waren immer noch ein paar hundert Meter hoch, als es geschah.
Flutlichter gingen an und wurden ausgeschossen, sobald sie zum Leben erwachten. Wir jagten Raketen in Schützengräben und Unterstände und zerfetzten die Rraey, die sich darin aufhielten. Soldaten, die aus dem Kommandozentrum und den Lagern strömten, verfolgten die Raketenspuren zurück und feuerten nach oben. Doch unsere Leute hatten längst ihre Position gewechselt, und nun erledigten wir die Rraey, die sich ins Freie gewagt hatten.
Ich suchte mir eine Landestelle neben dem Sendeturm aus und wies Arschloch an, einen Schlängelkurs zu berechnen, der mich nach unten führte. Als ich runterkam, stürmten zwei Rraey durch die Tür einer Baracke neben dem Turm. Sie feuerten ungefähr in meine Richtung, während sie zum Kommandozentrum liefen. Dem einen schoss ich ins Bein, worauf er schreiend stürzte. Der andere hörte auf zu schießen und rannte nur noch. Mit den kräftigen, vogelähnlichen Beinen legte er ein beeindruckendes Tempo vor. Ich gab Arschloch den Befehl, den Fallschirm abzukoppeln, der sich in harmlosen Staub auflöste, als das elektromagnetische Feld zwischen den Nanobotern zusammenbrach. Ich legte die restlichen paar Meter bis zum Boden im freien Fall zurück, rollte mich ab, kam auf die Beine und visierte den Rraey an, der sich zusehends entfernte. Doch er folgte einem schnellen, geradlinigen Fluchtweg und verzichtete darauf, gelegentlich die Richtung zu wechseln, was es schwieriger gemacht hätte, auf ihn zu zielen. Ich erlegte ihn mit einem einzigen Schuss. Hinter mir kreischte der andere Rraey noch immer, doch dann verstummte er abrupt. Ich drehte mich um und sah Jane, deren Vauzett noch auf den toten Rraey gerichtet war.
Du folgst mir, sendete sie und dirigierte mich zur Baracke. Während wir uns in Bewegung setzten, kamen zwei weitere Rraey durch die Tür, während ein dritter uns von innen unter Beschuss nahm. Jane ließ sich zu Boden fallen und erwiderte das Feuer, während ich mich um die flüchtenden Gegner kümmerte. Diese beiden liefen im Zickzack. Den einen erwischte ich, doch der andere konnte entkommen, indem er hinter eine Böschung stürzte. Unterdessen hatte Jane genug von der Schießerei mit den Rraey in der Baracke und jagte eine Granate in das Gebäude. Ein erstickter Schrei war zu hören, dann ein lauter Knall, gefolgt von großen Rraey-Körperteilen, die durch die Tür nach draußen geschleudert wurden.
Wir rückten weiter vor und betraten die Baracke. Das Innere beherbergte elektronische Geräte, die mit Resten mehrerer Rraey übersät waren. Mein BrainPal bestätigte, dass es sich um Kommunikationstechnik der Rraey handelte. Hier befand sich also das Operationszentrum für den Sendeturm. Jane und ich zogen uns zurück und feuerten Raketen und Granaten in die Baracke. Das Ganze flog in die Luft. Nun war der Turm außer Betrieb, doch wir mussten uns noch um die eigentlichen Sendeanlagen an der Spitze des Turms kümmern.
Jane rief Lageberichte von ihren Truppführern ab. Wir hatten den Turm und die nähere Umgebung gesichert. Die Rraey hatten es nicht mehr geschafft, nach dem ersten Angriff ernsthaften Widerstand zu leisten. Unsere Verluste waren minimal, in der gesamten Kompanie war kein einziger Toter zu beklagen. Die anderen Angriffsphasen waren ebenfalls gut gelaufen. Der heftigste Widerstand kam aus dem Kommandozentrum, den unsere Leute nun Raum für Raum durchkämmten und von Rraey säuberten. Jane schickte zwei Trupps hinüber, um die Aufräumarbeiten zu unterstützen. Ein anderer Trupp sollte die Basis des Turms bewachen und zwei weitere die Umgebung sichern.
Und du, sagte sie, während sie mich ansah und auf den Turm zeigte, kletterst da rauf und sagst mir, womit wir es zu tun haben.
Ich blickte zur Spitze des Sendeturms hinauf. Er war etwa 150 Meter hoch und bestand im Prinzip nur aus einem Metallgerüst, das als Stütze für das diente, was sich an der Spitze befand. Das Gebilde stellte die bislang beeindruckendste Leistung der Rraey dar. Vor ihrer Ankunft hatte es den Turm noch nicht gegeben, also mussten sie ihn in kürzester Zeit errichtet haben. Es war nur ein Sendeturm, aber versuchen Sie mal, an nur einem Tag einen Sendeturm zu bauen, und überlegen Sie sich, was dabei rauskommen würde. Am Turm waren Stacheln angebracht, die bis zur Spitze führten. Da sich die Rraey hinsichtlich Körperbau und Größe kaum von Menschen unterschieden, konnte ich sie ohne Schwierigkeiten zum Klettern benutzen. Also machte ich mich auf den Weg.
Oben wehte eine kräftige Brise um den automobilgroßen Komplex aus Antennen und Instrumenten. Ich scannte das Ganze mit Arschlochs Hilfe, der die Bilder mit seiner Datenbank verglich, in der sämtliche uns bekannte Technik der Rraey verzeichnet war. Alles stammte restlos von den Rraey. Die Daten von den Satelliten wurden hier nur empfangen und im Kommandozentrum ausgewertet. Ich hoffte, dass unsere Leute das Kommandozentrum unter ihre Kontrolle bringen konnten, ohne hier unabsichtlich alles in die Luft zu jagen.
Ich gab die Informationen an Jane weiter. Sie teilte mir mit, dass ich möglichst schnell wieder vom Turm runterkommen sollte, weil ich dadurch die Gefahr verringern konnte, von Trümmern erschlagen zu werden. Eine zweite Aufforderung brauchte ich nicht. Sobald ich unten war, rasten Raketen über meinen Kopf hinweg und schlugen genau in den Instrumentenkomplex an der Spitze des Turmes. Die Wucht der Explosion zerriss die Halteseile des Turms, worauf das Gebilde gefährlich ins Schwanken geriet. Jane befahl, die Basis des Turms unter Beschuss zu nehmen, und kurz darauf detonierten Raketen in den Metallträgern. Der Turm kippte und brach mit einem lauten ächzenden Geräusch zusammen.
Im Kommandozentrum hatte der Kampflärm aufgehört, und nun war gelegentlicher Jubel zu hören. Das Gelände war frei von lebenden Rraey. Ich ließ mir von Arschloch die Zeit ansagen. Es waren keine neunzig Minuten vergangen, seit wir die Sparrowhawk verlassen hatten.
»Sie hatten keinen blassen Schimmer, dass wir kommen«, sagte ich zu Jane und war leicht überrascht, den Klang meiner eigenen Stimme zu hören.
Jane sah mich an, nickte und schaute dann wieder zum Turm. »Sie hatten keinen Schimmer. Das war die gute Neuigkeit. Die schlechte Neuigkeit ist, dass sie nun wissen, dass wir hier sind. Das war der leichte Teil. Damit kommen wir jetzt zum schwierigen Teil.«
Sie drehte sich um und attackierte ihre Kompanie mit Befehlen. Wir erwarteten einen Gegenangriff. Einen dicken, fetten Gegenangriff.
»Wärst du gern wieder menschlich?«, fragte mich Jane. Es war am Abend vor der Landung auf Coral. Wir saßen in der Messe und stocherten in unserem Essen herum.
»Wieder?«
»Du weißt, wie ich es meine«, sagte sie. »Wieder mit einem richtigen menschlichen Körper. Ohne künstliche Zusätze.«
»Klar. Ich muss nur noch etwas mehr als acht Jahre Dienstzeit ableisten. Wenn ich dann noch lebe, werde ich mich als Kolonist zur Ruhe setzen.«
»Es würde bedeuten, wieder schwach und langsam zu sein«, sagte Jane mit dem besonderen Taktgefühl, für das die Leute von der Spezialeinheit berühmt waren.
»So schlimm ist es gar nicht«, sagte ich. »Außerdem wird man durch andere Dinge entschädigt. Kinder, zum Beispiel. Oder anderen Individuen begegnen zu können, ohne dass man sie töten muss, weil es sich um außerirdische Feinde der Kolonien handelt.«
»Du würdest wieder alt werden und sterben«, sagte Jane.
»Davon gehe ich aus«, sagte ich. »So ist das Leben. Das hier«◦– ich hob einen grünen Arm◦– »ist nicht der Normalfall, weißt du. Und was das Sterben betrifft, ist die Todesgefahr während meiner Dienstzeit in der KVA deutlich höher als auf einem friedlichen Kolonialplaneten. Rein statistisch dürfte das Leben als unmodifizierter Kolonist angenehmer sein.«
»Du bist noch nicht tot«, sagte Jane.
»Ich scheine Leute um mich zu haben, die gut auf mich aufpassen«, sagte ich. »Wie sieht es mit dir aus? Willst du dich irgendwann in einer Kolonie zur Ruhe setzen?«
»Soldaten der Spezialeinheit setzen sich nicht zur Ruhe«, sagte Jane.
»Du meinst, ihr dürft es nicht?«
»Nein, wir dürften schon«, sagte Jane. »Unsere Dienstzeit beträgt zehn Jahre, genauso wie bei euch, obwohl in unserem Fall keine Aussicht auf eine Verkürzung besteht. Wir setzen uns nicht zur Ruhe, das ist alles.«
»Warum nicht?«
»Wir haben keine Erfahrung damit, etwas anderes zu sein als das, was wir sind«, sagte Jane. »Wir werden geboren, wir kämpfen, das ist unser Job. Und darin sind wir verdammt gut.«
»Hast du nie den Wunsch, irgendwann mit dem Kämpfen aufzuhören?«
»Warum?«
»Zum einen reduziert es dramatisch deine Chance, einen gewaltsamen Tod zu erleiden. Zum anderen hättest du die Gelegenheit, das Leben zu führen, von dem ihr alle träumt. Du weißt schon, die Lebensgeschichten, die ihr euch ausdenkt. Wir Normalen hatten ein solches Leben, bevor wir rekrutiert wurden. Ihr könntet es anschließend haben.«
»Ich wüsste gar nicht, was ich mit mir anfangen sollte«, sagte Jane.
»Willkommen im Schoß der Menschheit. Heißt das also, dass niemand von der Spezialeinheit jemals den Dienst quittiert?«
»Ich kenne ein paar, die es getan haben. Aber es sind nur wenige.«
»Was ist mit ihnen passiert? Wohin sind sie gegangen?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher«, wand sich Jane und wechselte abrupt das Thema. »Ich möchte, dass du morgen in meiner Nähe bleibst.«
»Verstehe.«
»Du bist immer noch viel zu langsam. Ich möchte vermeiden, dass du meinen anderen Leuten auf die Füße trittst.«
»Danke.«
»Tut mir leid«, sagte Jane. »Ich glaube, das war nicht sehr taktvoll. Aber du hast auch schon Soldaten in den Kampf geführt. Du weißt, welche Sorgen ich mir mache. Ich bin bereit, das Risiko einzugehen, das mit deiner Teilnahme verbunden ist. Aber das muss nicht zwangsläufig für andere gelten.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Und ich nehme es nicht persönlich. Mach dir keine Sorgen. Ich werde mein Gepäck selbst tragen. Ich habe vor, mich irgendwann zur Ruhe zu setzen, weißt du. Dazu muss ich noch eine Weile am Leben bleiben.«
»Gut, dass du motiviert bist«, sagte Jane.
»Das sehe ich genauso. Auch du solltest dir überlegen, dich zur Ruhe zu setzen. Wie du gesagt hast, ist es gut, zum Überleben motiviert zu sein.«
»Ich möchte nicht tot sein«, sagte Jane. »Das ist eine sehr starke Motivation.«
»Falls du es dir anders überlegen solltest, werde ich dir eine Postkarte schicken, wo auch immer ich meinen zweiten Lebensabend verbringen werde. Komm zu mir. Wir könnten gemeinsam auf einer Farm leben. Hühner pflanzen und Mais halten.«
Jane schnaufte. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Es ist mein voller Ernst.« Erst dann wurde mir bewusst, dass ich es wirklich so meinte.
Jane schwieg eine Weile. »Das Leben auf einer Farm gefällt mir nicht«, sagte sie schließlich.
»Woher willst du das wissen? Du hast es nie ausprobiert.«
»Wollte Kathy auf einer Farm leben?«, fragte Jane.
»Alles andere als das. Sie brachte kaum die nötige Geduld für einen Vorgarten auf.«
»Siehst du?«, sagte Jane. »Ich habe das Präzedenzrecht auf meiner Seite.«
»Denk trotzdem mal drüber nach.«
»Vielleicht werde ich das tun«, sagte Jane.
Wo, zum Teufel, habe ich den Munitionsstreifen hingetan?, sendete Jane, dann schlugen die Raketen ein. Ich warf mich zu Boden, als vom Felsvorsprung, auf dem Jane stand, Gesteinssplitter auf mich herabregneten. Ich blickte auf und sah Janes zuckende Hand. Ich wollte mich auf den Weg zu ihr machen, wurde jedoch durch neues Feuer zurückgehalten. Ich sprang zurück hinter den Felsen in Deckung.
Ich sah zur Gruppe der Rraey hinunter, die uns kalt erwischt hatten. Zwei von ihnen bewegten sich langsam den Hügel hinauf in unsere Richtung, während zwei weitere damit beschäftigt waren, eine neue Rakete zu laden. Für mich bestand kein Zweifel über ihr vorgesehenes Ziel. Ich warf eine Granate zu den beiden näher kommenden Rraey und hörte, wie sie hektisch Deckung suchten. Nach der Explosion beachtete ich die beiden nicht weiter und feuerte einen Schuss auf einen der Rraey am Raketenwerfer ab. Er brach tödlich verwundet zusammen und löste dabei die Rakete aus. Der Triebwerksstrahl versengte seinem Kameraden das Gesicht, worauf er schreiend herumirrte und sich die Augen zuhielt. Ich schoss ihm in den Kopf. Die Rakete stieg empor, flog aber nicht in meine Richtung. Ich wartete nicht ab, bis ich sehen konnte, wo sie landen würde.
Die zwei Rraey, die sich unserer Stellung genähert hatten, kamen wieder hervorgekrochen. Ich feuerte eine weitere Granate in ihre ungefähre Richtung, um sie abzulenken, und hetzte dann zu Jane. Die Granate landete genau vor einem der Rraey und riss ihm die Beine ab. Der zweite warf sich zu Boden. Ich schickte noch eine Granate hinüber. Diesmal schaffte er es nicht, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Ich ging neben Jane in die Knie. Sie zuckte immer noch, und ich sah nun den Felssplitter, der sich seitlich in ihren Schädel gebohrt hatte. Das SmartBlood bildete schnell einen festen Schorf, aber an den Rändern sickerte immer noch etwas hervor. Ich sprach zu Jane, aber sie reagierte nicht. Ich griff auf ihren BrainPal zu und empfing emotionale Ausbrüche von Schock und Schmerz. Ihre Augen bewegten sich, nahmen aber nichts wahr. Sie würde sterben. Ich hielt ihre Hand und versuchte den Ansturm von Übelkeit zu unterdrücken, den dieses Déjà-vu-Erlebnis in mir auslöste.
Der Gegenangriff hatte im Morgengrauen begonnen, und er war viel heftiger ausgefallen, als wir befürchtet hatten. Nachdem die Rraey erkannt hatten, dass sie durch den Verlust der Ortungsstation ohne jeden Schutz waren, hatten sie gnadenlos zugeschlagen, um das Gelände zurückzuerobern. Der Angriff wirkte etwas planlos, da sie nicht genug Zeit für eine gründliche Vorbereitung gehabt hatten, aber sie setzten uns trotzdem schwer zu. Ein Truppentransporter nach dem anderen tauchte am Horizont auf und brachte weitere Rraey ins Kampfgebiet.
Die Soldaten der Spezialeinheit benutzten ihre typische Mischung aus Taktik und Wahnsinn und griffen diese Truppentransporter schon während der Landung an. Kleine Gruppen stürmten auf die Schiffe zu und feuerten Raketen und Granten durch die Ausstiegsluken, sobald sie sich öffneten. Irgendwann hatten die Rraey ihre Luftunterstützung organisiert, und nun konnten die Truppen landen, ohne schon im nächsten Moment ausgelöscht zu werden. Während der größte Teil unserer Streitkräfte das Kommandozentrum und die erbeutete Consu-Technik verteidigte, sicherte unser Trupp die Umgebung, setzte den Rraey zu und erschwerte ihnen das Vorankommen. Zu diesem Zweck hatten Jane und ich auf dem Felsvorsprung Stellung bezogen, mehrere hundert Meter vom Kommandozentrum entfernt.
Genau unter unserer Stellung rückte die nächste Gruppe von Rraey auf uns zu. Es wurde Zeit, von hier zu verschwinden. Ich feuerte zwei Raketen ab, um die Rraey zu stoppen, dann legte ich mir Jane über die Schulter. Sie stöhnte, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich sah einen Felsblock, den Jane und ich auf dem Herweg als Deckung benutzt hatten, und rannte hinüber. Hinter mir legten die Rraey auf mich an. Schüsse pfiffen mir um die Ohren, und Gesteinssplitter flogen mir ins Gesicht. Ich warf mich hinter den Felsblock, legte Jane ab und feuerte den Rraey eine Granate entgegen. Als sie hochging, sprang ich hinter dem Felsblock hervor und lief genau auf die Gruppe zu. Die Rraey kreischten, da sie nicht wussten, was sie von diesem Menschen halten sollten, der sie frontal angriff. Ich schaltete meine Vauzett auf Automatikfeuer und erledigte meine Gegner aus kurzer Distanz, bevor sie dazu kamen, sich zu organisieren. Dann eilte ich zu Jane zurück und stellte wieder eine Verbindung zu ihrem BrainPal her. Sie war noch da. Sie lebte noch.
Als Nächstes kam ein schwieriges Wegstück. Zwischen mir und meinem Ziel, einer kleinen Werkstatt, lag eine etwa hundert Meter breite offene Fläche. Am Rand hatte Infanterie der Rraey Stellung bezogen, und ein gegnerisches Fluggefährt näherte sich dem Bereich, zu dem ich wollte, und suchte nach Menschen, die sich erschießen ließen. Ich erkundigte mich bei Arschloch, wo sich Janes Leute befanden, und stellte fest, dass drei in meiner Nähe waren, zwei auf meiner Seite der freien Fläche, dreißig Meter entfernt, und ein weiterer auf der anderen Seite. Ich erteilte ihnen den Befehl, mir Feuerschutz zu geben, hob Jane wieder auf, und rannte in Richtung der Werkstatt.
Der Kugelhagel brachte die Luft zum Kochen. Erde spritzte hoch, als sich die Geschosse in den Boden bohrten, wo meine Füße waren oder gewesen wären. Ich steckte einen Streifschuss an der linken Hüfte ein, und meine untere Körperhälfte drehte sich weg, während ich heftige Schmerzen spürte. Ich schaffte es, auf den Beinen zu bleiben und weiterzulaufen. Hinter mir hörte ich das Krachen, wenn Raketen in die Stellungen der Rraey einschlugen. Die Kavallerie war eingetroffen.
Das Fluggefährt der Rraey wandte sich in meine Richtung, um mich ins Visier zu nehmen, musste dann jedoch abdrehen, um einer Rakete auszuweichen, die einer von unseren Soldaten abgefeuert hatte. Das Manöver gelang, aber mit den nächsten zwei Raketen, die von der anderen Seite kamen, hatte das Schiff weniger Glück. Die erste traf das Triebwerk, die zweite die Pilotenkanzel. Das Fluggefährt neigte sich, konnte sich aber noch lange genug in der Luft halten, um von einer letzten Rakete getroffen zu werden, die durch die zertrümmerte Windschutzscheibe ins Cockpit raste und dort explodierte. Das Schiff stürzte mit erschütternder Wucht zu Boden, während ich die Werkstatt erreichte. Hinter mir wandten sich die Rraey, die mich beschossen hatten, Janes Leuten zu, die ihnen viel mehr Schwierigkeiten bereiteten als ich. Ich riss die Tür zum kleinen Gebäude auf und schob mich und Jane hinein.
In der Werkstatt war es verhältnismäßig ruhig, sodass ich mir die Zeit nahm, Janes Zustand zu untersuchen. Ihre Kopfwunde war völlig mit SmartBlood verschorft. Ich konnte nicht erkennen, wie groß der Schaden war oder wie tief die Gesteinstrümmer in ihr Gehirn eingedrungen waren. Ihr Puls war stark, aber ihr Atem ging flach und unregelmäßig. In einem solchen Fall erwies sich die größere Sauerstoffaufnahmekapazität von SmartBlood als sehr praktisch. Ich war mir nicht mehr sicher, dass sie sterben würde, aber ich wusste auch nicht, was ich tun konnte, um sie am Leben zu erhalten.
Ich fragte Arschloch nach Möglichkeiten, und er bot mir eine an: Im Kommandozentrum gab es eine kleine Krankenstation. Sie war bescheiden eingerichtet, aber es war eine tragbare Stasiskammer vorhanden. Damit ließ sich Jane stabilisieren, bis wir sie in ein Schiff bringen und nach Phoenix schaffen konnten, wo sie eine angemessene Behandlung bekommen würde. Ich erinnerte mich, wie Jane und die Besatzung der Sparrowhawk mich in eine Stasiskammer gesteckt hatten, nachdem ich mich das erste Mal auf Coral aufgehalten hatte. Jetzt konnte ich mich für die Rettung erkenntlich zeigen.
Eine Geschossgarbe pfiff durch ein Fenster über mir. Also hatte sich jemand daran erinnert, dass ich noch hier war. Zeit für einen neuen Standortwechsel. Ich plante die nächste Strecke zu einem von den Rraey angelegten Schützengraben fünfzig Meter weiter, der nun von Leuten der Spezialeinheit gehalten wurde. Ich teilte ihnen mit, dass ich kommen würde, und gehorsam gaben sie mir Feuerschutz, während ich im Zickzack zu ihnen lief. Damit war ich wieder hinter den Linien der Spezialeinheit. Der Rest des Weges zum Kommandozentrum verlief ohne dramatische Zwischenfälle.
Als ich eintraf, begannen die Rraey gerade, das Kommandozentrum unter Artilleriebeschuss zu nehmen. Sie verfolgten offenbar nicht mehr die Absicht, ihre Ortungsstation zurückzuerobern, sondern begnügten sich damit, sie zu zerstören. Ich blickte zum Himmel hinauf. Selbst in der Helligkeit des Morgens waren Lichtblitze zu erkennen, die durch das Blau schimmerten. Die Flotte der Kolonialen war eingetroffen.
Die Rraey würden nicht lange brauchen, das Kommandozentrum mitsamt der Consu-Technik in Schutt und Asche zu legen. Mir blieb also nicht viel Zeit. Ich lief geduckt ins Gebäude und hetzte zur Krankenstation, während sich alle anderen nach draußen flüchteten.
In der Krankenstation befand sich etwas Großes und Kompliziertes. Es war das Ortungssystem der Consu. Wahrscheinlich wussten nur die Rraey, warum sie beschlossen hatten, es hier unterzubringen. Demzufolge war die Krankenstation der einzige Raum im gesamten Kommandozentrum, der nicht völlig zerschossen worden war. Die Spezialeinheit hatte den Befehl erhalten, das Ortungssystem unversehrt zu bergen, weshalb unsere Jungs und Mädchen die Rraey in diesem Raum mit Blendgranaten und Messern angegriffen hatten. Die Rraey waren immer noch hier und lagen mit Stichwunden am Boden.
Das Ortungssystem◦– ein strukturloser Kasten an der Wand◦– summte fast genüsslich vor sich hin. Der einzige Hinweis auf eine Schnittstelle zur Außenwelt war ein kleiner Monitor und eine Zugangsspindel für ein Speichermodul der Rraey. Das Ding lag wie zufällig auf einem Krankenhausnachttisch neben der Anlage. Das Ortungssystem hatte keine Ahnung, dass es dank einer einschlagenden Rraey-Granate in nur wenigen Minuten nicht mehr als ein Haufen zerfetzter Bauteile sein würde. All unsere Bemühungen, das verdammte Ding unversehrt zu sichern, würden dann vergebens sein.
Das Kommandozentrum wurde erschüttert. Ich hörte auf, mir Gedanken über das Ortungssystem zu machen, und legte Jane behutsam auf ein Krankenbett. Dann suchte ich nach der Stasiskammer. Ich fand sie in einem kleinen Nebenraum, in dem verschiedene Dinge gelagert wurden. Sie sah aus wie ein Rollstuhl mit einem halbierten Zylinder aus Kunststoff. Ich nahm zwei tragbare Energiezellen vom Regal neben der Stasiskammer, schloss eine an die Kammer an und las die Anzeige. Das Ding hatte noch für zwei Stunden Saft. Ich nahm mir noch eine vom Regal. Sicher ist sicher.
Ich rollte die Kammer zu Jane hinüber, als eine weitere Granate einschlug. Das Kommandozentrum erzitterte, und der Strom fiel aus. Die Detonation warf mich zur Seite, ich rutschte auf einer Rraey-Leiche aus und stieß mir im Fallen den Kopf an der Wand. Hinter meinen Augen blitzten grelles Licht auf und kurz darauf spürte ich heftige Schmerzen. Fluchend kam ich wieder hoch und spürte ein kleines Rinnsal SmartBlood, das aus einem Kratzer an der Stirn kam.
Die Beleuchtung ging ein paar Sekunden lang flackernd wieder an, und in den dunklen Momenten sendete Jane mir einen Sturm aus emotionalen Daten, der so intensiv war, dass ich mich an der Wand festhalten musste. Jane war wach und bei Bewusstsein, und in diesen paar Sekunden sah ich, was sie zu sehen glaubte. Es war noch eine andere Person bei ihr, eine Frau, die genauso aussah wie sie, die ihre Hände an Janes Gesicht legte und sie lächelnd ansah. Wieder flackerte es, und dann sah sie wieder genauso aus, wie ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Nachdem die Lampen noch ein paarmal geflackert hatten, brannten sie wieder normal, und die Halluzination verschwand.
Jane zuckte, und ich ging zu ihr. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie sah mich an. Ich griff auf ihren BrainPal zu. Sie war noch bei Bewusstsein, stand aber schon auf der Kippe.
»He«, sagte ich leise und nahm ihre Hand. »Du hast etwas abbekommen, Jane. Vorläufig bist du in Sicherheit, aber ich muss dich in diese Stasiskammer legen, bis wir dir helfen können. Auch du hast mich einmal gerettet, weißt du noch? Also sind wir anschließend quitt. Hauptsache, du hältst lange genug durch. Okay?«
Jane nahm meine Hand, aber ihr Griff war nur schwach. »Ich habe sie gesehen«, flüsterte sie. »Ich habe Kathy gesehen. Sie hat zu mir gesprochen.«
»Was hat sie gesagt?«
»Sie sagte …« Jane driftete für einen Moment weg, bevor sie sich wieder auf mich konzentrierte. »Sie sagte, ich sollte mit dir auf einer Farm leben.«
»Was hast du dazu gesagt?«
»Okay.«
»Okay?«
»Okay«, bestätigte Jane, dann entglitt sie wieder. Ihre BrainPal-Daten deuteten auf unregelmäßige Gehirnaktivitäten hin. Ich hob sie auf und legte sie so vorsichtig wie möglich in die Stasiskammer. Ich gab ihr einen Kuss und schaltete die Einheit an. Die Kammer verschloss sich summend. Janes neurale und physiologische Werte wurden auf Schneckentempo verlangsamt. Sie war bereit für den Abtransport. Ich achtete auf die Räder, damit ich um den toten Rraey herummanövrieren konnte, auf den ich kurz zuvor getreten war. Dabei fiel mir das Speichermodul auf, das aus der Bauchtasche des Aliens ragte.
Wieder bebte das Kommandozentrum, als es erneut getroffen wurde. Trotz der Gefahr nahm ich das Modul, ging zur Spindel hinüber und drückte es hinein. Der Monitor erwachte zum Leben und zeigte eine Dateiliste in der Schrift der Rraey an. Ich öffnete eine Datei und betrachtete ein Diagramm. Ich schloss sie und öffnete eine andere Datei. Weitere Diagramme. Ich kehrte zur Übersicht zurück und sah mir das grafische Interface an, ob es dort einen übergeordneten Zugang gab. Es gab einen. Ich griff darauf zu und ließ mir von Arschloch übersetzen, was ich sah.
Was ich sah, war ein Handbuch für das Ortungssystem der Consu. Diagramme, Bedienungsanleitungen, technische Daten, Fehlerbehebung. Alles, was man brauchte. Es war fast so gut wie die Maschine selbst.
Die nächste Granate schlug mitten ins Kommandozentrum, warf mich auf den Hintern. Geschosssplitter fetzten durch die Krankenstation. Ein Metallstück hatte ein klaffendes Loch im Monitor hinterlassen, auf den ich geblickt hatte, ein anderes Teil hatte sich mitten in die Ortungsstation gebohrt. Die Anlage hörte auf zu summen und gab nun erstickte Geräusche von sich. Ich griff mir das Speichermodul, zog es herunter, packte die Griffe der Stasiskammer und beeilte mich. Wir waren kaum weit genug entfernt, als eine letzte Granate ins Kommandozentrum einschlug und das Gebäude vollends zum Einsturz brachte.
Vor uns zogen sich die Rraey zurück. Die Ortungsstation gehörte jetzt nicht mehr zu ihren dringlichen Problemen. Über uns senkten sich mehrere Dutzend dunkler Punkte herab. Es waren Landeboote voller KVA-Soldaten, die darauf brannten, den Planeten zurückzuerobern. Ich wollte ihnen nicht im Weg stehen. Ich wollte nur so schnell wie möglich von diesem Felsbrocken verschwinden.
Nicht allzu weit entfernt hielt Major Crick eine Einsatzbesprechung mit seinem Stab ab. Er winkte mich zu sich. Ich kam mitsamt der rollenden Kammer zu ihm. Er warf einen Blick auf sie und dann auf mich.
»Ich habe gehört, Sie wären fast einen Kilometer mit Sagan auf dem Rücken durch die Kampfzone gelaufen und dann mit ihr im Kommandozentrum verschwunden, als die Rraey mit dem Artilleriefeuer begannen. Aber waren nicht Sie es, der uns als wahnsinnig bezeichnet hat.«
»Ich bin nicht wahnsinnig, Major«, sagte ich. »Ich verfüge über einen fein abgestimmten Sinn für akzeptable Risiken.«
»Wie geht es ihr?«, fragte Crick und zeigte auf Jane.
»Ihr Zustand ist stabil«, sagte ich. »Aber sie hat eine ziemlich schwere Kopfverletzung. Wir müssen sie so schnell wie möglich an professionelle Hände übergeben.«
Crick deutete mit einem Nicken zu einem landenden Shuttle. »Das ist der erste verfügbare Transporter«, sagte er. »Sie beide stehen auf der Passagierliste.«
»Vielen Dank, Major.«
»Ihnen gebührt der Dank, Perry«, sagte Crick. »Sagan ist einer meiner besten Offiziere. Ich bin zutiefst erleichtert, dass Sie sie gerettet haben. Wenn es Ihnen obendrein gelungen wäre, die Ortungsstation zu retten, wäre ich überglücklich. All unsere Bemühungen, die Station zu verteidigen, waren leider umsonst.«
»Vielleicht nicht ganz«, sagte ich und zeigte ihm das Speichermodul. »Ich habe hier etwas, das für Sie möglicherweise von Interesse ist.«
Crick starrte auf das Speichermodul, dann legte sich seine Stirn in tiefe Falten. »Leute, die ständig Erfolg haben, machen sich bei anderen nicht unbedingt beliebt, Captain.«
»Damit könnten Sie Recht haben«, sagte ich. »Aber nicht mit der Anrede. Ich bin Lieutenant.«
»Das lässt sich ändern«, sagte Crick.
Jane verließ Coral mit dem ersten Shuttle. Ich wurde noch eine Weile aufgehalten.
Ich wurde Captain. Jane sah ich nie wieder.
Das erste dieser beiden Ereignisse war eindeutig das dramatischere. Jane auf dem Rücken mehrere hundert Meter weit quer durch ein Schlachtfeld zu tragen und sie im Granatenhagel in eine Stasiskammer zu verfrachten, hätte bereits genügt, um mir eine lobende Erwähnung in den offiziellen Einsatzberichten zu verdienen. Dass ich außerdem die technischen Daten für das Ortungssystem der Consu geborgen hatte, war vielleicht ein bisschen zu viel des Guten, wie Major Crick angedeutet hatte. Aber es ließ sich nicht mehr ändern. Die Zweite Schlacht von Coral brachte mir ein paar weitere Orden und eine Beförderung ein. Falls sich jemand wunderte, wie ich es in weniger als einem Monat vom Corporal zum Captain gebracht hatte, behielt er es für sich. Ich machte es genauso. Auf jeden Fall gab es in den folgenden Monaten immer jemanden, der mir einen ausgeben wollte. Natürlich muss niemand für Getränke bezahlen, wenn man in der KVA ist. Es geht um die Geste.
Die Bedienungsanleitung der Ortungsstation wurde direkt an die militärische Forschungsabteilung weitergeleitet. Harry erzählte mir später, darin herumzublättern wäre so gewesen, als hätte man einen Blick in Gottes Notizbuch werfen dürfen. Die Rraey wussten, wie man die Anlage bediente, aber sie hatten keine Ahnung, wie sie funktionierte. Selbst mit einem vollständigen Konstruktionsplan hätten sie es vermutlich nie geschafft, ein zweites System zusammenzubauen. Dazu fehlten ihnen die nötigen Produktionsmittel. Daran bestand für uns kein Zweifel, weil auch wir nicht die nötigen Produktionsmittel hatten. Schon die theoretischen Grundlagen der Maschine basierten auf einem völlig neuen Zweig der Physik und führten dazu, dass die Kolonien die Skip-Technologie gründlich überarbeiten mussten.
Harry wurde dem Team zugewiesen, das die Aufgabe hatte, praktische Anwendungen aus den neuen Erkenntnissen zu ziehen. Er war begeistert über diese neue Stellung. Jesse beklagte sich, dass er seitdem unerträglich war. Harrys ewige Nörgelei, dass ihm die nötige Mathematik für den Job fehlte, spielte nun keine Rolle mehr, weil niemand die nötige Mathematik beherrschte. Jedenfalls bestätigte das Ganze die Vorstellung, dass die Consu eine Spezies waren, mit der wir es uns nicht verscherzen sollten.
Einige Monate nach der Zweiten Schlacht von Coral kamen Gerüchte auf, dass die Rraey wieder Kontakt mit den Consu aufgenommen hatten, um sie um weitere technische Unterstützung zu bitten. Die Antwort der Consu bestand darin, dass sie das Schiff der Rraey implodieren ließen und es ins nächste Schwarze Loch dirigierten. Die Reaktion kommt mir reichlich übertrieben vor. Aber es handelte sich ja nur um Gerüchte.
Nach Coral wurde ich von der KVA mit mehreren gemütlichen Missionen betraut. Die erste war eine Tournee durch die Kolonien, wobei ich als Held der KVA auftreten und den Kolonisten zeigen sollte, wie toll die Koloniale Verteidigungsarmee für EUCH kämpft! Ich musste mir viele bunte Paraden ansehen und als Schiedsrichter in zahlreichen Kochwettbewerben auftreten. Nach mehreren Monaten war ich bereit, wieder etwas anderes zu tun, obwohl es durchaus nett war, den einen oder anderen Planeten zu besuchen, ohne jeden töten zu müssen, der sich dort herumtrieb.
Nach dieser Werbekampagne schickte mich die KVA zu den Transportschiffen mit den neuen Rekruten. Ich war nun der Typ, der vor tausend alten Menschen in neuen Körpern stand und ihnen sagte, dass sie Spaß haben sollten, um ihnen eine Woche später zu erklären, dass drei Viertel von ihnen die nächsten zehn Jahre nicht überleben würden. Diese Aufgabe hatte für mich einen fast unerträglichen bittersüßen Geschmack. Ich betrat den Speisesaal eines Transportschiffs und beobachtete, wie sich freundschaftliche Bande zwischen den Gruppen bildeten, genauso wie es mir mit Harry, Jesse, Alan, Maggie, Tom und Susan ergangen war. Ich fragte mich, wie viele von ihnen durchkommen würden. Ich wünschte es allen. Aber ich wusste, dass die meisten es nicht schaffen würden. Nach einigen Monaten in diesem Job beantragte ich einen neuen Tätigkeitsbereich. Niemand wunderte sich darüber. Es war ein Job, den niemand gerne lange Zeit machte.
Schließlich bat ich darum, wieder in die kämpfende Truppe versetzt zu werden. Nicht dass ich wild aufs Kämpfen war, obwohl ich seltsamerweise ziemlich gut darin war. Aber in diesem Leben war ich nun einmal Soldat. Dazu hatte ich mich verpflichtet, und das wollte ich sein. Ich hegte die Absicht, irgendwann damit aufzuhören, aber vorläufig wollte ich weiter dabei sein. Ich wurde einem Bataillon zugewiesen und in die Taos versetzt. Dort bin ich jetzt. Es ist ein gutes Schiff. Meine Soldaten sind gute Leute. In diesem Leben kann man sich kaum mehr wünschen.
Dass ich Jane nie wiedersah, war gar nicht so dramatisch. Schließlich war ein Nichtwiedersehen kein besonders aufwühlendes Ereignis. Jane flog mit dem ersten Shuttle zur Amarillo. Der Bordarzt warf nur einen kurzen Blick auf die Soldatin der Spezialeinheit und schob sie in eine Ecke seiner Krankenstation. Sie blieb in der Stasiskammer, bis sie nach Phoenix zurückkehrten, wo sich die medizinischen Ingenieure der Spezialeinheit mit ihr beschäftigen konnten. Ich kam irgendwann mit der Bakersfield nach Phoenix. Zu diesem Zeitpunkt steckte Jane tief in den Eingeweiden der medizinischen Abteilung der Spezialeinheit und war für einen Normalsterblichen wie mich unerreichbar◦– nicht einmal für einen gefeierten Helden wie mich.
Kurz danach wurde ich ausgezeichnet, befördert und auf die große Tournee durch die Kolonien geschickt. Irgendwann erhielt ich von Major Crick die Nachricht, dass Jane genesen war und wieder ihren Dienst angetreten hatte. Zusammen mit vielen anderen überlebenden Besatzungsmitgliedern der Sparrowhawk war sie in ein neues Schiff namens Kite versetzt worden. Darüber hinaus hätte es wenig Sinn, Jane eine Nachricht schicken zu wollen. Die Spezialeinheit war eben etwas Spezielles. Die Geisterbrigade. Es ging einen nichts an, wo sich diese Leute aufhielten oder was sie taten oder dass sie überhaupt existierten.
Doch ich weiß, dass es sie gibt. Wenn Soldaten der Spezialeinheit mich sehen, schicken sie mir einen kurzen BrainPal-Impuls◦– einen geballten Schwall emotionaler Informationen, mit dem sie ihrem Respekt Ausdruck verleihen. Ich bin der einzige Naturgeborene, der jemals in der Spezialeinheit diente, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich habe einem von ihnen das Leben gerettet und dafür gesorgt, dass eine ihrer Missionen doch nicht mit einem Fehlschlag endete. Wenn ich einen solchen Impuls empfange, sende ich eine genauso knappe Antwort zurück, doch ansonsten zeige ich keine Reaktion, um sie nicht zu verraten. So ist es den Leuten von der Spezialeinheit am liebsten. Ich habe Jane weder auf Phoenix noch anderswo wiedergesehen.
Aber ich habe von ihr gehört. Kurz nach meiner Versetzung zur Taos teilte Arschloch mir mit, dass ich eine Nachricht von einem anonymen Absender empfangen hatte. Das war etwas Neues, denn ich hatte über meinen BrainPal noch nie eine anonyme Nachricht erhalten. Ich öffnete sie. Ich sah ein Bild von einem Getreidefeld mit einem Farmhaus in der Ferne und einem Sonnenaufgang. Vielleicht war es auch ein Sonnenuntergang, aber so fühlte es sich nicht an. Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass das Bild eine Postkarte sein sollte. Dann hörte ich ihre Stimme◦– die Stimme, die ich im Laufe meines Lebens von zwei verschiedenen Frauen gehört hatte.
Du hast mich einmal gefragt, wohin die Angehörigen der Spezialeinheit gehen, wenn sie sich zur Ruhe setzen, und ich habe geantwortet, dass ich es nicht weiß. Aber jetzt weiß ich es. Für uns gibt es einen Ort, zu dem wir gehen können, wenn wir möchten, wo wir lernen können, als Menschen zu leben. Ich glaube, wenn die Zeit kommt, gehe ich dorthin. Ich glaube, ich möchte, dass du mitkommst. Aber du musst nicht. Doch wenn du möchtest, kannst du es tun. Schließlich bist du einer von uns.
Ich hielt die Nachricht für einen Moment an, und als ich bereit war, setzte ich sie fort.
Ein Teil von mir war einmal jemand, den du geliebt hast. Ich glaube, dieser Teil von mir möchte wieder von dir geliebt werden, und er möchte, dass auch ich dich liebe. Ich kann niemals wie sie sein. Ich kann nur ich sein. Aber ich glaube, du könntest mich lieben, wenn du willst. Ich möchte, dass du es tust. Komm zu mir, wenn du kannst. Ich werde da sein.
Das war alles.
Ich denke an den Tag zurück, als ich zum letzten Mal das Grab meiner Frau besuchte und ihm ohne Reue den Rücken zukehrte, weil ich wusste, dass sie nicht das war, was sich in diesem Loch im Boden befand. Ich bin in ein neues Leben eingetreten und habe sie wiedergefunden, in einer Frau, die eine eigene Persönlichkeit hat. Wenn ich mit diesem Leben fertig bin, werde ich auch ihm ohne Reue den Rücken zukehren, weil ich weiß, dass sie auf mich wartet◦– in einem anderen, völlig andersartigen Leben.
Ich habe sie nie wiedergesehen, aber ich weiß, dass es eines Tages geschehen wird. Bald. Wenn es so weit ist.