Erster Teil

1

An meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag tat ich zwei Dinge. Ich besuchte das Grab meiner Frau. Dann ging ich zur Armee.

Der Grabbesuch war das weniger dramatische dieser beiden Ereignisse. Kathy liegt auf dem Friedhof Harris Creek, eine knappe Meile von meinem Haus entfernt, in dem wir unsere Kinder großgezogen haben. Sie auf dem Friedhof zu begraben war schwieriger, als es vielleicht hätte sein sollen. Keiner von uns beiden hatte damit gerechnet, eine Bestattung zu benötigen, sodass wir keine Vorkehrungen getroffen hatten. Es kann ziemlich beschämend sein, mit einem Friedhofsverwalter darüber diskutieren zu müssen, dass die eigene Frau keine Reservierung für ihr Begräbnis gemacht hat. Schließlich hat mein Sohn Charlie, der zufällig Bürgermeister ist, ein paar Hebel in Bewegung gesetzt und die Grabstelle besorgt. Es hat seine Vorteile, der Vater eines Bürgermeisters zu sein.

Also das Grab. Einfach und schlicht, mit einer kleinen Tafel statt einem großen Grabstein. Der krasse Gegensatz zu Sandra Cain, die genau neben Kathy liegt. Ihr eher übergroßer Grabstein aus poliertem schwarzem Granit ist mit ihrem Schulabschlussfoto und einem sentimentalen Zitat von Keats verziert, in dem es um Tod und Jugend geht. Typisch Sandy. Kathy hätte sich darüber amüsiert, wenn sie wüsste, dass sie mit ihrem großen dramatischen Grabstein direkt neben ihr parkt. Ihr ganzes Leben lang hat Sandy in einem eifrigen Wettstreit mit Kathy gelegen. Wenn Kathy mit einer Torte zum Kuchenverkauf kam, schleppte Sandy mindestens drei an und kochte in stiller Wut, wenn Kathys Kuchen zuerst verkauft war. Kathy hätte versucht, das Problem zu lösen, indem sie vorsorglich einen von Sandys Kuchen kaufte. Doch es war immer schwer zu sagen, ob die Sache für Sandy dadurch besser wurde.

Ich vermute, Sandys Grabstein ist so etwas wie das letzte Wort in der Angelegenheit, ein Abschluss, der sich nicht mehr übertreffen lässt, weil Kathy ja schon tot war. Andererseits erinnere ich mich nicht, dass irgendwer jemals Sandys Grab besucht hätte. Drei Monate nach ihrem Dahinscheiden verkaufte Steve Cain das Haus und zog nach Arizona, mit einem Lächeln, das so breit war wie die Interstate 10. Einige Zeit später schickte er mir eine Postkarte. Er war dort mit einer Frau zusammengezogen, die vor fünfzig Jahren ein Pornostar gewesen war. Nachdem ich diese Information erhalten hatte, fühlte ich mich eine Woche lang unsauber. Sandys Kinder und Enkel wohnen eine Stadt weiter, aber sie könnten genauso gut nach Arizona gezogen sein, wenn man bedenkt, wie oft sie das Grab besuchen. Seit der Beerdigung wurde Sandys Keats-Zitat vermutlich von niemand anderem mehr gelesen, nur noch von mir, wenn ich auf dem Weg zu meiner Frau daran vorbeikam.

Auf Kathys Schild stehen ihr Name (Katherine Rebecca Perry), ihre Lebensdaten und die Worte GELIEBTE FRAU UND MUTTER. Immer wieder lese ich diese Worte, jedes Mal, wenn ich sie besuche. Ich kann nicht anders, denn diese vier Worte fassen treffend ein ganzes Leben zusammen. Sie verraten nichts weiter über Kathy, wie sie ihre Tage zubrachte oder welcher Arbeit sie nachgeging, welche Interessen sie hatte oder wohin sie gerne verreiste. Man erfährt nicht, was ihre Lieblingsfarbe war oder auf welche Weise sie ihr Haar am liebsten trug, welche Partei sie wählte oder was für eine Art Humor sie hatte. Die Worte sagen nichts über sie aus, außer dass sie geliebt wurde. Und so war es. Sie selbst hätte es als völlig ausreichend empfunden.

Diese Besuche sind mir ein Gräuel. Ich verfluche die Tatsache, dass meine Frau nach zweiundvierzig Jahren Ehe gestorben ist, dass sie an jenem Samstagmorgen eben noch in der Küche stand und eine Schüssel mit Waffelteig anrührte, während sie mir von der Putzaktion des Bibliotheksausschusses am Vorabend erzählte, und im nächsten Moment lag sie am Boden, vom Schlaganfall geschüttelt. Es ist mir ein Gräuel, dass ihre letzten Worte »Wo zum Teufel habe ich die Vanille hingetan?« lauteten.

Ich verfluche die Tatsache, dass aus mir ein alter Mann geworden ist, der auf den Friedhof geht, um bei seiner verstorbenen Frau zu sein. Als ich noch (beträchtlich) jünger war, hatte ich Kathy immer gefragt, was der Sinn des Ganzen sein soll. Ein Haufen aus Knochen und verwesendem Fleisch, der einmal ein Mensch war, ist kein Mensch mehr, sondern nur noch ein Haufen aus Knochen und verwesendem Fleisch. Der Mensch ist nicht mehr da, zum Himmel oder zur Hölle gefahren oder sonstwohin oder gar nicht mehr existent. Man konnte genauso gut ein Stück Rindfleisch besuchen. Wenn man älter geworden ist, sieht man es immer noch genauso. Aber es ist einem egal. Es ist alles, was man noch hat.

So sehr ich den Friedhof hasse, bin ich trotzdem froh, dass es ihn gibt. Meine Frau fehlt mir. Auf dem Friedhof fällt es mir leichter, den Verlust zu empfinden, an einem Ort, wo sie immer nur tot war, leichter als an all den anderen Stellen, wo sie gelebt hat.

Ich bin nicht lange geblieben. Ich bleibe nie lange. Nur bis ich wieder die Wunde spüre, die nach fast acht Jahren immer noch frisch ist. Außerdem erinnert sie mich daran, dass ich noch andere Dinge zu tun habe, als ein alter Trottel zu sein, der auf einem Friedhof herumsteht. Sobald ich die Wunde wieder spürte, machte ich kehrt und ging, ohne mich noch einmal umzuschauen. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich das Grab meiner Frau besuchte, aber ich wollte nicht zu viel Mühe darauf verwenden, mich daran zu erinnern. Wie gesagt, war der Friedhof der Ort, wo sie immer nur tot war. Es bringt nicht allzu viel, sich daran zu erinnern.


Aber im Grunde war es auch nicht besonders dramatisch, zur Armee zu gehen.

Die Stadt, in der ich lebte, war viel zu klein für eine eigene Rekrutierungsstelle. Ich musste nach Greenville fahren, der Bezirkshaupstadt, um mich einzuschreiben. Es war ein kleines Büro an einer unscheinbaren Einkaufsstraße. Links davon gab es ein staatliches Spirituosengeschäft, rechts davon einen Tatoo-Salon. Wenn man diese Läden in der falschen Reihenfolge betrat, konnte man am nächten Morgen in großen Schwierigkeiten stecken.

Die Einrichtung des Büros war sogar noch unscheinbarer, sofern das überhaupt möglich ist. Sie bestand aus einem Schreibtisch mit einem Computer und einem Drucker, einem Menschen hinter dem Schreibtisch, zwei Stühlen davor und sechs weiteren Sitzgelegenheiten an der Wand. Auf einem kleinen Tisch vor diesen Stühlen lagen Rekrutierungsbroschüren und ältere Ausgaben von Time und Newsweek. Natürlich waren Kathy und ich zehn Jahre vorher schon einmal hier gewesen, doch ich vermutete, dass sich seitdem nichts an der Einrichtung geändert hatte, einschließlich der Zeitschriften. Der Mensch schien neu zu sein. Zumindest erinnerte ich mich nicht, dass der frühere Angestellte so volles Haar gehabt hatte. Oder Brüste.

Die Angestellte war damit beschäftigt, etwas in den Computer zu tippen, und blickte nicht auf, als ich eintrat. »Ich kümmere mich gleich um Sie«, murmelte sie. Es klang eher wie eine Pawlow’sche Reaktion auf das Öffnen der Tür.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte ich. »Ich sehe, wie voll es hier ist.« Dieser Versuch eines sarkastischen Scherzes wurde vollkommen ignoriert, genauso wie zehn Jahre zuvor. Es freute mich, dass ich immer noch gut in Form war. Ich setzte mich vor den Schreibtisch und wartete, dass die Rekrutierungsmitarbeiterin ihre wichtige Arbeit abschloss.

»Kommen oder gehen Sie?« Auch jetzt blickte sie nicht zu mir auf.

»Wie bitte?«

»Ob Sie kommen oder gehen?«, wiederholte sie. »Kommen Sie, um Ihre Bereitschaft zur Rekrutierung zu unterschreiben, oder gehen Sie, um Ihre Dienstzeit abzuleisten?«

»Ach so. Ich gehe.«

Diese Antwort veranlasste sie schließlich, mich anzusehen, und zwar durch eine ziemlich starke Brille. »Sie sind John Perry«, sagte sie.

»Genau. Wie haben Sie das erraten?«

Sie schaute wieder auf den Computermonitor. »Die meisten Leute, die zur Armee wollen, kommen an ihrem Geburtstag, obwohl sie danach noch dreißig Tage Zeit haben, sich offiziell einschreiben zu lassen. Heute haben wir nur drei Geburtstage. Mary Valory hat bereits angerufen, um zu sagen, dass sie nicht gehen will. Und Sie sehen nicht aus, als wären Sie Cynthia Smith.«

»Das freut mich zu hören.«

»Und da Sie nicht gekommen sind, um sich erstmals registrieren zu lassen«, fuhr sie fort, ohne auf meinen zweiten Versuch eines Scherzes einzugehen, »spricht einiges dafür, dass Sie John Perry sind.«

»Ich könnte einfach nur ein einsamer alter Mann sein, dem nach menschlicher Gesellschaft zumute ist.«

»So etwas passiert hier nur sehr selten«, sagte sie. »Die meisten Leute werden abgeschreckt, wenn sie nebenan die Jugendlichen mit den dämonischen Tattoos sehen.« Endlich schob sie die Tastatur zur Seite und schenkte mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Also gut. Dann weisen Sie sich bitte aus.«

»Aber Sie wissen doch schon, wer ich bin«, gab ich zu bedenken.

»Trotzdem wollen wir sichergehen.« Ihr Gesicht zeigte nicht die leiseste Spur eines Lächelns, als sie das sagte. Es ging offenbar nicht spurlos an einem vorüber, wenn man jeden Tag mit geschwätzigen alten Männern zu tun hatte.

Ich gab ihr meinen Führerschein, meine Geburtsurkunde und meinen Personalausweis. Sie nahm alles an sich, holte einen Handscanner aus einer Schreibtischschublade, schloss ihn an den Computer an und schob ihn zu mir herüber. Ich legte meine Handfläche darauf und wartete, bis der Scanvorgang abgeschlossen war. Sie nahm das Gerät wieder an sich und zog meinen Ausweis durch einen Schlitz an der Seite, um die Daten meines Handabdrucks abzugleichen. »Sie sind John Perry«, sagte sie schließlich.

»Damit wären wir wieder da, wo wir angefangen haben.«

Wieder ging sie nicht auf meine Erwiderung ein. »Als Sie vor zehn Jahren Ihre Bereitschaft zur Rekrutierung abgegeben haben, erhielten Sie Informationen über die Koloniale Verteidigungsarmee und über Ihre Pflichten im Fall eines Eintritts in die KVA.« Ihr Tonfall ließ darauf schließen, dass sie diese Worte seit Jahren mindestens einmal täglich aufsagte. »In der Zwischenzeit wurde Ihnen weiteres Auffrischungsmaterial zugeschickt, um Sie an Ihre Pflichten zu erinnern. Benötigen Sie zum jetzigen Zeitpunkt weitere Informationen oder eine Auffrischung, oder erklären Sie, dass Sie sich Ihrer künftigen Pflichten in vollem Umfang bewusst sind? Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass es nicht unter Strafe steht, wenn Sie um eine Auffrischung bitten oder sich entscheiden, der KVA zum jetzigen Zeitpunkt doch nicht beizutreten.«

Ich erinnerte mich an die Einführungsveranstaltung. Der erste Teil hatte aus einer Zusammenkunft von älteren Mitbürgern bestanden, die auf Klappstühlen im Gemeindezentrum von Greenville saßen, Kaffee tranken und Donuts aßen und dem KVA-Apparatschik zuhörten, der die Geschichte der menschlichen Kolonien herunterleierte. Dann teilte er Pamphlete über das Leben im Dienst der KVA aus, das genauso wie in jeder anderen militärischen Organisation abzulaufen schien. Während der Fragerunde stellten wir fest, dass er gar kein Mitglied der KVA war, sondern nur eingestellt worden war, um Präsentationen in der Miami-Valley-Region durchzuführen.

Der zweite Teil der Einführungsveranstaltung war eine kurze medizinische Untersuchung. Ein Arzt kam herein, nahm mir Blut ab, tupfte die Innenseite meiner Wange ab, um ein paar Schleimhautzellen zu bekommen, und machte einen Gehirnscan. Offenbar hatte ich den Test bestanden. Seitdem erhielt ich jedes Jahr per Post ein neues Pamphlet◦– dasselbe, das schon bei der Einführungsveranstaltung ausgeteilt wurde. Ab dem zweiten Jahr warf ich sie in den Müll. Seitdem hatte ich das Pamphlet nicht mehr gelesen.

»Ich habe alles verstanden«, sagte ich.

Sie nickte, holte aus einer Schublade ein Blatt Papier und einen Stift und reichte mir beides. Auf dem Blatt standen mehrere Absätze mit genug Zwischenraum, um sie einzeln unterschreiben zu können. Ich erkannte es sofort wieder. Bereits vor zehn Jahren hatte ich ein sehr ähnliches Dokument unterschrieben, die Erklärung, dass ich verstanden hatte, worauf ich mich zehn Jahre später einlassen würde.

»Ich werde Ihnen jetzt jeden Absatz vorlesen«, sagte sie. »Wenn Sie das Vorgelesene verstanden haben und einwilligen, unterschreiben Sie anschließend bitte mit Datum auf der Linie unmittelbar unter dem Absatz. Wenn Sie Fragen haben, stellen Sie sie bitte, nachdem ich den betreffenden Absatz vorgelesen habe. Wenn Sie nicht verstanden haben oder nicht in das einwilligen, was Ihnen vorgelesen und erklärt wurde, unterschreiben Sie bitte nicht. Haben Sie das verstanden?«

»Das habe ich verstanden.«

»Sehr gut«, sagte sie. »Absatz eins: Ich, der Unterzeichnende, habe verstanden und bestätige, dass ich aus freiem Willen und ohne Zwang erkläre, in die Koloniale Verteidigungsarmee eintreten zu wollen, für eine Dienstzeit von mindestens zwei Jahren. Zusätzlich verstehe ich, dass die Dienstzeit einseitig von der Kolonialen Verteidigungsarmee um bis zu acht weitere Jahre in Kriegs- und Krisenzeiten verlängert werden kann.«

Diese Verlängerungsklausel war mir nicht neu. Ich hatte die Pamphlete schließlich ein- oder zweimal gelesen. Dennoch fragte ich mich, wie viele Leute sie überlasen oder nicht glaubten, dass sie sich tatsächlich zu insgesamt zehn Jahren verpflichteten. Ich hatte den Eindruck, dass die KVA diese zehn Jahre nicht erwähnen würde, wenn sie nicht tatsächlich nötig wären. Aufgrund der Quarantänegesetze hörten wir nicht viel von den Kolonialkriegen. Aber was wir hörten, musste jedem klar machen, dass da draußen im Universum keineswegs Frieden herrschte.

Ich unterschrieb.

»Absatz zwei: Ich habe verstanden, dass mein freiwilliger Eintritt in die Koloniale Verteidigungsarmee damit verbunden ist, Waffen zu tragen und sie gegen die Feinde der Kolonialen Union einzusetzen, bei denen es sich auch um andere menschliche Streitkräfte handeln könnte. Es ist mir untersagt, während meiner Dienstzeit das Tragen von Waffen zu verweigern oder religiöse oder moralische Einwände gegen militärische Handlungen vorzubringen, um mich dem Dienst zu entziehen.«

Wie viele Leute melden sich freiwillig zum Militärdienst, um ihn anschließend aus moralischen Gründen zu verweigern? Ich unterschrieb.

»Absatz drei: Ich habe verstanden und bestätige, dass ich gewissenhaft und ohne Verzögerung alle Befehle und Anweisungen ausführen werde, die mir von vorgesetzten Offizieren erteilt werden, gemäß dem Uniformcode der Richtlinien der Kolonialen Verteidigungsarmee.«

Ich unterschrieb.

»Absatz vier: Ich habe verstanden, dass ich durch den freiwilligen Eintritt in die Koloniale Verteidigungsarmee in jegliche medizinische, chirurgische oder therapeutische Behandlung einwillige, die von der Kolonialen Verteidigungsarmee als nötig erachtet wird, um meine Kampffähigkeit zu verbessern.«

Jetzt kam es. Der Grund, warum sich zahllose Fünfundsiebzigjährige jedes Jahr freiwillig meldeten.

Vor langer Zeit hatte ich einmal zu meinem Großvater gesagt, dass man, wenn ich in seinem Alter war, eine Möglichkeit gefunden haben würde, die menschliche Lebensspanne dramatisch zu verlängern. Er hat mich ausgelacht und erklärt, dass er in jungen Jahren dasselbe gedacht hatte. Trotzdem war er ein alter Mann geworden. Genauso wie ich jetzt. Das Problem mit dem Altern ist nicht, dass eine Sache nach der anderen versagt, sondern dass alles auf einmal versagt.

Man kann das Altern nicht aufhalten. Mit Gentherapien, Ersatzorganen und plastischer Chirurgie kann man es eine Weile zurückdrängen, aber irgendwann holt es einen trotzdem ein. Wenn du dir eine neue Lunge einsetzen lässt, macht dir als Nächstes eine Herzklappe Probleme. Wenn du ein neues Herz hast, schwillt deine Leber zu einem aufblasbaren Kinderplanschbecken an. Nachdem man deine Leber ausgetauscht hat, gibt ein Schlaganfall dir den Rest. Das ist die Trumpfkarte des Alterns, denn es gibt immer noch keine Gehirnprothesen.

Die Lebenserwartung ist vor einiger Zeit bis auf nahezu neunzig Jahre angestiegen, und dort ist sie seitdem stehen geblieben. Wir hätten beinahe die magische Schwelle von hundert Jahren überschritten, doch dann scheint Gott dem Ganzen einen Riegel vorgeschoben zu haben. Die Menschen können länger leben und tun es auch, aber sie verbringen diese zusätzlichen Jahre trotzdem als Greise. Daran hat sich kaum etwas geändert.

Mach dir Folgendes klar: Wenn du fünfundzwanzig, fünfunddreißig, fünfundvierzig oder vielleicht sogar fünfundfünfzig bist, kannst du dir immer noch gute Chancen ausrechnen, etwas im Leben zu erreichen. Wenn du fünfundsechzig bist und dein Körper anfängt, den Geist aufzugeben, klingen diese mysteriösen »medizinischen, chirurgischen oder therapeutischen Behandlungen« plötzlich sehr interessant. Dann bist du fünfundsiebzig, deine Freunde sind gestorben, und man hat dir mindestens ein lebenswichtiges Organ ausgetauscht. Du musst jede Nacht viermal zum Pinkeln aufstehen, und schaffst keine Treppe mehr, ohne anschließend außer Puste zu sein. Und dann sagt man dir, dass du für dein Alter noch ziemlich gut in Form bist.

Allmählich kommt es dir als verdammt guter Handel vor, all das gegen zehn gesunde Jahre im Militärdienst einzutauschen. Vor allem, wenn du dir überlegst, dass du nach zehn Jahren fünfundachtzig sein wirst. Dann besteht der einzige Unterschied zwischen einer Rosine und dir darin, dass ihr zwar beide runzlig und ohne Prostata seid, aber die Rosine von Anfang an keine Prostata hatte.

Wie bewerkstelligt es also die KVA, den Alterungsprozess umzukehren? Niemand hier weiß es. Die Wissenschaftler auf der Erde haben keine Erklärung und können die Methode nicht rekonstruieren, obwohl sie es fleißig probiert haben. Die KVA operiert nicht auf der Erde, also kann man keine Veteranen fragen. Aber die KVA rekrutiert ihre Leute auf der Erde, also wissen es auch die Kolonisten nicht, wenn man sie fragen könnte, was man nicht kann. Welche Therapien die KVA auch immer anwenden mag, sie macht es nicht auf der Erde, sondern nur auf ihrem eigenen Territorium, fern von globalen und nationalen Institutionen. Also kann weder Uncle Sam noch sonst wer etwas ausrichten.

Ab und zu entscheidet eine Regierung, ein Präsident oder ein Diktator, der KVA die Rekrutierungen zu verbieten, wenn sie ihre Geheimnisse nicht offenbart. Die KVA lässt sich nie auf einen Streit ein, sie packt einfach ihre Sachen und verschwindet. Dann unternehmen alle Fünfundsiebzigjährigen plötzlich Auslandsreisen, von denen sie nie zurückkehren. Die KVA gibt keine Erklärungen, keine Rechtfertigungen, keine Hinweise. Wer herausfinden will, wie sie alte Menschen wieder jung macht, muss sich rekrutieren lassen.

Ich unterschrieb.

»Absatz fünf: Ich habe verstanden, dass ich durch den freiwilligen Eintritt in die Koloniale Verteidigungsarmee die Staatsbürgerschaft meiner politischen Nation aufgebe, in diesem Fall die der Vereinigten Staaten von Amerika, genauso wie das Aufenthaltsrecht für den Planeten Erde. Ich habe verstanden, dass meine Staatsbürgerschaft auf die Koloniale Union übertragen wird, im Besonderen auf die Koloniale Verteidigungsarmee. Weiterhin willige ich ein und habe verstanden, dass es mir durch die Beendigung meiner Staatsbürgerschaft und meines planetaren Aufenthaltsrechts untersagt ist, im Anschluss an meine Dienstzeit zur Erde zurückzukehren. Stattdessen wird mir durch die Koloniale Union beziehungsweise die Koloniale Verteidigungsarmee ein neuer Wohnsitz auf einer Kolonie zugewiesen.«

Etwas einfacher ausgedrückt: Eine Heimkehr ist ausgeschlossen. Das ist ein fester Bestandteil der Quarantänegesetze, die von der Kolonialen Union und der KVA erlassen wurden. Die offizielle Begründung lautet, dass die Erde vor weiteren xenobiologischen Katastrophen wie die Schrumpelseuche geschützt werden solle. Die Leute auf der Erde waren damals ausnahmslos dafür. Erstaunlich, wie sehr sich ein Planet abzuschotten bereit ist, wenn ein Drittel der männlichen Bevölkerung innerhalb eines Jahres die Zeugungsfähigkeit verliert. Inzwischen ist die Zustimmung hier nicht mehr so groß, weil sich viele auf der Erde langweilen und den Rest des Universums sehen wollen◦– und weil sie ihren kinderlos gebliebenen Großonkel Walt längst vergessen haben. Aber die KU und die KVA sind die Einzigen, die Raumschiffe mit Skip-Antrieb besitzen und interstellare Reisen unternehmen können. Damit ist alles klar.

(Und damit wird das Einverständnis, sich von der KU auf irgendeiner Kolonie ansiedeln zu lassen, im Grunde überflüssig. Da sie als Einzige über Raumschiffe verfügen, kommt man nur dorthin, wohin sie einen bringen. Schließlich kann man nicht selber mit den Raumschiffen herumfliegen.)

Eine Nebenwirkung der Quarantänegesetze und des Skip-Antriebs ist die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen der Erde und den Kolonien (sowie zwischen den Kolonien). Wenn man innerhalb eines sinnvollen Zeitraums eine Antwort auf eine Nachricht erhalten möchte, kann man sie nur von einem Raumschiff mit Skip-Antrieb befördern lassen. Die KVA ist widerstrebend bereit, auf diese Weise Botschaften und Daten für offizielle Institutionen zu transportieren, aber allen anderen bleibt dieses Privileg verwehrt. Man könnte eine Antennenschüssel aufstellen und darauf warten, dass Funksignale von den Kolonien eintreffen, aber Alpha, die der Erde am nächsten liegt, ist dreiundachtzig Lichtjahre von hier entfernt. Damit wird ein angeregtes Zwiegespräch zwischen verschiedenen Planeten ziemlich langwierig.

Ich habe nie danach gefragt, aber ich kann mir vorstellen, dass dieser Absatz die meisten Leute vor der Rekrutierung zurückschrecken lässt. Natürlich ist es nett, wieder jung zu sein, aber es ist etwas anderes, wenn man allen Menschen, die einem etwas bedeuten, den Rücken zukehren soll, wenn man alles aufgeben soll, was man in den vergangenen siebeneinhalb Jahrzehnten erlebt hat. Es ist verdammt schwer, sich von seinem ganzen bisherigen Leben zu verabschieden.

Ich unterschrieb.

»Absatz sechs, der letzte«, sagte die Rekrutierungsmitarbeiterin. »Ich habe verstanden und willige ein, dass ich zweiundsiebzig Stunden nach der letzten Unterschrift auf diesem Dokument beziehungsweise zum Zeitpunkt meiner Abholung durch die Koloniale Verteidigungsarmee für tot erklärt werde, im Sinne der Gesetze aller relevanten politischen Institutionen, in diesem Fall des Staates Ohio und der Vereinigten Staaten von Amerika. Mein gesamtes Vermögen wird nach den gesetzlichen Bestimmungen aufgeteilt. Alle juristischen Pflichten, die im Todesfall erlöschen, verlieren in diesem Sinne ihre Gültigkeit. Sämtliche juristischen Titel, ob ehrenhaft oder nicht, sind hiermit nichtig, und all meine Schulden werden im Sinne des Gesetzes gelöscht. Ich habe verstanden, dass mir die Koloniale Verteidigungsarmee im Fall, dass ich noch keine Verfügung über die Verteilung meines Vermögens getroffen habe, auf Antrag juristische Unterstützung gewährt, um entsprechende Verfügungen zu treffen.«

Ich unterschrieb. Jetzt hatte ich nur noch zweiundsiebzig Stunden zu leben. Sozusagen.

»Was passiert, wenn ich die Erde nicht in den nächsten zweiundsiebzig Stunden verlassen habe?« Ich gab der Angestellten das Dokument zurück.

»Nichts«, sagte sie, als sie es wieder an sich nahm. »Nur dass Ihr gesamtes Vermögen, da Sie im Sinne des Gesetzes tot sind, gemäß Ihrem Testament aufgeteilt wird. Ihre Kranken- und Lebensversicherungen erlöschen oder werden an Ihre Erben ausgezahlt, und Sie stehen nicht mehr unter dem Schutz der hiesigen Gesetze, ganz gleich, ob es um Verleumdung oder Mord geht.«

»Also könnte mich einfach jemand erschießen, ohne dass es zu Strafmaßnahmen kommt?«

»Nicht ganz. Wenn jemand Sie ermorden sollte, während Sie im Sinne des Gesetzes tot sind, würde der Täter hier in Ohio vermutlich wegen Leichenschändung belangt werden.«

»Faszinierend«, sagte ich.

»Allerdings«, fuhr sie in ihrem irritierend sachlichen Tonfall fort, »kommt es normalerweise nicht so weit. Bis zum Ablauf der zweiundsiebzig Stunden können Sie jederzeit Ihre Einwilligung zur Rekrutierung zurücknehmen. Rufen Sie mich einfach hier an. Wenn ich nicht da bin, wird ein automatischer Anrufbeantworter Ihren Namen aufnehmen. Nachdem wir bestätigt haben, dass Sie tatsächlich Ihre Rekrutierung widerrufen haben, werden Sie von allen weiteren Verpflichtungen entbunden. Denken Sie jedoch daran, dass ein solcher Widerruf Sie unumstößlich von einer künftigen Rekrutierung ausschließt. Eine solche Entscheidung wäre endgültig.«

»Verstanden«, sagte ich. »Müssen Sie mich jetzt vereidigen?«

»Nein. Ich muss nur diesen Antrag weiterleiten und Ihnen Ihr Ticket aushändigen.« Sie wandte sich wieder dem Computer zu, tippte in den nächsten Minuten verschiedene Sachen ein und drückte schließlich die Enter-Taste. »Der Computer erstellt nun Ihr Ticket. Es dauert noch etwa eine Minute.«

»Gut«, sagte ich. »Darf ich Ihnen eine weitere Frage stellen?«

»Ich bin verheiratet.«

»Das wollte ich gar nicht fragen«, sagte ich. »Bekommen Sie wirklich so viele Heiratsanträge?«

»Jede Menge. Allmählich nervt es.«

»Das tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie schon einmal wirklich einem Angehörigen der KVA begegnet sind.«

»Sie meinen, abgesehen von Rekrutierungswilligen?«

Ich nickte.

»Nein«, sagte sie. »Die KVA hat eine Firma mit der Abwicklung der Rekrutierungen beauftragt, aber keiner von uns ist ein Mitglied der KVA. Ich glaube, nicht einmal der Geschäftsführer gehört dazu. Wir erhalten das nötige Material und die Informationen nicht direkt von der KVA, sondern von der Botschaft der Kolonialen Union. Ich glaube nicht, dass Mitglieder der Streitkräfte jemals einen Fuß auf die Erde setzen.«

»Stört es Sie gar nicht, für eine Organisation zu arbeiten, mit der Sie nie direkten Kontakt hatten?«

»Nein. Die Arbeit ist in Ordnung, und die Bezahlung ist überraschend gut, wenn man bedenkt, wie wenig Geld man in die Einrichtung dieses Büros gesteckt hat. Aber Sie wollen Mitglied einer Organisation werden, mit der Sie nie direkten Kontakt hatten. Stört Sie das gar nicht?«

»Nein. Ich bin alt, meine Frau ist tot, und es gibt für mich kaum noch einen Grund, warum ich hier bleiben sollte. Werden Sie eintreten, wenn die Zeit gekommen ist?«

Sie zuckte die Achseln. »Es stört mich nicht, alt zu werden.«

»Das habe ich auch gedacht, als ich jung war«, sagte ich. »Es ist die Tatsache, jetzt alt zu sein, die mich stört.«

Der Drucker des Computers gab ein leises Summen von sich und spuckte etwas in der Größe einer Visitenkarte aus. Sie gab es an mich weiter. »Das ist Ihr Ticket. Es identifiziert Sie als John Perry und als Rekrut der KVA. Verlieren Sie es nicht. Ihr Shuttle startet genau vor diesem Büro, um Sie zum Flughafen von Dayton zu bringen, und zwar in drei Tagen um acht Uhr dreißig. Wir empfehlen Ihnen, früh genug hier zu sein. Sie dürfen nur ein Stück Handgepäck mitnehmen, also überlegen Sie sich bitte sehr genau, was Sie einpacken. Von Dayton werden Sie um elf Uhr nach Chicago fliegen und von dort um vierzehn Uhr mit dem Delta nach Nairobi. Aufgrund der Zeitverschiebung werden Sie um Mitternacht in Nairobi eintreffen. Dort wird ein Vertreter der KVA Sie in Empfang nehmen. Dann haben Sie die Möglichkeit, die Zwei-Uhr-Bohnenstange zur Kolonialstation zu nehmen oder sich ein wenig auszuruhen und die Neun-Uhr-Bohnenstange zu nehmen. Ab dann sind Sie in den Händen der KVA.«

Ich nahm das Ticket. »Was mache ich, wenn einer dieser Flüge verspätet landet?«

»Keiner dieser Flüge ist in den fünf Jahren, die ich hier arbeite, jemals verspätet eingetroffen.«

»Toll!«, sagte ich. »Ich wette, sogar die Züge der KVA treffen stets pünktlich ein.«

Sie sah mich verständnislos an.

»Ich will Ihnen erklären, was ich damit meine«, sagte ich. »Ich habe mehrfach versucht, Scherze zu machen, seit ich dieses Büro betreten habe.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Tut mir leid. Mein Sinn für Humor wurde mir bereits im Kindesalter operativ entfernt.«

»Oh«, sagte ich.

»Das war ein Scherz.« Sie stand auf und reichte mir die Hand.

»Oh.« Ich stand auf und nahm ihre Hand.

»Herzlichen Glückwunsch zur Rekrutierung«, sagte sie. »Alles Gute da draußen zwischen den Sternen. Das meine ich übrigens ernst.«

»Vielen Dank.«

Sie nickte, setzte sich und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computer zu. Ich war entlassen.

Auf dem Weg nach draußen sah ich eine ältere Frau, die über den Parkplatz auf das Rekrutierungsbüro zulief. Ich fing sie ab. »Cynthia Smith?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie. »Wie haben Sie das erraten?«

»Ich wollte Ihnen nur zum Geburtstag gratulieren.« Ich zeigte in den Himmel. »Vielleicht sehen wir uns da oben wieder.«

Sie lächelte, als sie verstanden hatte. Endlich hatte ich es geschafft, an diesem Tag jemanden zum Lächeln zu bringen. Es ging aufwärts.

2

Nairobi startete und fiel unter uns zurück. Wir traten an den Rand, als würden wir in einem Expressaufzug stehen (wobei die Bohnenstange genau das ist), und sahen zu, wie die Erde davonschoss.

»Von hier oben sehen sie wie Ameisen aus!«, gluckste Leon Deak neben mir. »Wie schwarze Ameisen!«

Ich verspürte den starken Drang, ein Fenster einzuschlagen und Leon nach draußen zu schubsen. Leider gab es kein Fenster, das man hätte einschlagen können. Die Wände der Bohnenstange bestanden aus dem gleichen diamantharten Material wie die gesamte Kabine. Sie waren transparent, damit die Reisenden einen guten Rundumblick hatten. Die Kabine war luftdicht abgeschlossen, was sich in ein paar Minuten als äußerst praktisch erweisen würde, wenn wir so hoch hinaufgestiegen waren, dass ein eingeschlagenes Fenster zur explosiven Dekompression mit anschließendem Erstickungstod geführt hätte.

Also blieb Leon das Schicksal erspart, plötzlich und unerwartet die Rückreise zur Erde anzutreten. Was bedauerlich war. Leon hatte sich in Chicago wie eine dicke, mit Fett und Bier vollgesogene Zecke an mich gehängt. Es erstaunte mich, wie jemand, dessen Blut offensichtlich zur Hälfte aus Schweinefett bestand, das Alter von fünfundsiebzig Jahren hatte erreichen können. Ich verbrachte einen Teil des Fluges nach Nairobi damit, zuzuhören, wie er furzte und sich über die ethnische Zusammensetzung der Kolonien ausließ. Die Fürze waren noch der angenehmste Teil des Monologs. Nie zuvor war ich so versessen darauf gewesen, Kopfhörer zu kaufen, um das Unterhaltungsprogramm verfolgen zu können.

Ich hatte gehofft, ihn abzuhängen, indem ich Nairobi mit der ersten Bohnenstange verließ. Er schien mir jemand zu sein, der eine längere Ruhepause benötigte, nachdem er den ganzen Tag lang Gase abgesondert hatte. Pech gehabt. Die Vorstellung, weitere sechs Stunden mit Leon und seinen Fürzen verbringen zu müssen, war unerträglich. Wenn die Kabine Fenster gehabt hätte und es mir nicht möglich gewesen wäre, Leon hinauszuschubsen, wäre ich vielleicht selber gesprungen. Stattdessen entschuldigte ich mich bei Leon, indem ich zu ihm das Einzige sagte, womit man ihn sich vom Leibe halten konnte. Ich behauptete, dass ich ein dringendes Bedürfnis zu erledigen hätte. Leon grunzte sein Einverständnis. Ich spazierte gegen den Uhrzeigersinn davon, in die allgemeine Richtung der Toiletten, in Wirklichkeit jedoch, um nach einem Platz zu suchen, wo Leon mich nicht wiederfinden würde.

Das war nicht gerade einfach. Die Kabine hatte die Form eines Donuts mit einem Durchmesser von etwa dreißig Metern. Das »Loch« des Donuts, wo die Kabine an der Bohnenstange hinauffuhr, war etwa sechs Meter breit, was kaum dick genug für ein Kabel zu sein schien, das mehrere tausend Kilometer lang war. Der übrige Raum wurde von bequemen Nischen und Sofas eingenommen, auf denen man sitzen und plaudern konnte, sowie kleinen Bereichen, in denen die Reisenden Unterhaltungsprogramme verfolgen, sich mit Spielen die Zeit vertreiben oder essen konnten. Und natürlich gab es jede Menge durchsichtiger Wände, um hinauszuschauen, entweder runter zur Erde, rüber zu den anderen Stangen und Kabinen oder rauf zur Kolonialstation.

Insgesamt wirkte die Kabine wie die Lobby eines angenehmen Mittelklassehotels, das sich plötzlich auf den Weg in den geostationären Orbit gemacht hatte. Das Problem war jedoch, dass es durch den offenen Aufbau der Kabine schwierig war, sich zu verstecken. Der Transport war keineswegs ausgebucht, sodass es nicht genug Passagiere gab, um in der Menge untertauchen zu können. Also beschloss ich, an einem Tresen auf der Innenseite der Kabine etwas zu trinken, ungefähr gegenüber der Stelle, wo Leon stand. Hier hatte ich die besten Chancen, ihm am längsten aus dem Weg gehen zu können.

Dank Leons Widerwärtigkeit war es keine angenehme Erfahrung, die Erde körperlich zu verlassen, aber mich emotional von ihr zu verabschieden, war überraschend einfach gewesen. Ein Jahr vor der Abreise hatte ich den Entschluss gefasst, dass ich definitiv in die KVA eintreten wollte. Danach war es nur noch darum gegangen, Vorkehrungen zu treffen und Lebewohl zu sagen. Als Kathy und ich vor zehn Jahren entschieden hatten, zur Armee zu gehen, hatten wir unser Haus auf Charlies Namen eintragen lassen, damit unser Sohn es ohne gerichtliche Testamentsbestätigung in Besitz nehmen konnte. Ansonsten besaßen Kathy und ich nichts, das von größerem Wert war, nur den Krimskrams, den man im Laufe eines Lebens anhäuft. Die meisten hübschen Sachen hatte ich während des vergangenen Jahres an Freunde und Verwandte verteilt. Charlie würde sich später um den Rest kümmern.

Der Abschied von den Menschen fiel mir auch nicht wesentlich schwer. Die Leute reagierten mit unterschiedlich stark ausgeprägter Überraschung oder Trauer. Immerhin weiß jeder, dass man nicht mehr zurückkommt, wenn man in die Koloniale Verteidigungsarmee eintritt. Aber es ist nicht ganz dasselbe wie Sterben. Sie wissen, dass man immer noch irgendwo da draußen ist, dass man weiterlebt, und vielleicht sieht man sich sogar wieder, wenn sie nach einiger Zeit nachkommen. So ungefähr stelle ich es mir vor, wenn die Menschen vor Jahrhunderten erlebten, wie jemand einen Planwagen packte und nach Westen zog. Beim Abschied wurde geweint, doch schon bald ging das Leben weiter.

Jedenfalls habe ich den Leuten ein ganzes Jahr im Voraus gesagt, dass ich gehen würde. Das ist sehr viel Zeit, um zu sagen, was man noch zu sagen hat, um alles zu regeln und mit jemandem Frieden zu schließen. Im Laufe dieses Jahres hatte ich mehrere längere Gespräche mit alten Freunden und Verwandten. Ich stocherte ein letztes Mal in alten Wunden herum, und in fast allen Fällen ging es gut aus. Ein paarmal bat ich um Vergebung für Dinge, die ich eigentlich gar nicht bereute, und in einem Fall landete ich mit einer Frau im Bett, mit der ich normalerweise nie ins Bett gegangen wäre. Aber man tut, was man kann, um mit den Leuten zu einem Abschluss zu kommen. Sie fühlen sich danach besser, und man selber vergibt sich dadurch nichts. Ich entschuldige mich lieber für etwas, das mir gar nicht so viel bedeutet, damit mir jemand auf der Erde alles Gute wünscht. Wenn man dagegen störrisch bleibt, gibt es jemanden, der hofft, dass mir irgendein Alien das Gehirn ausschlürft. Das ist vielleicht so etwas wie eine karmische Versicherung.

Charlie hat mir die größten Sorgen gemacht. Wie bei vielen Vätern und Söhnen hatten wir unsere Meinungsverschiedenheiten. Als Vater war ich nicht besonders aufmerksam, und als Sohn war er nicht besonders eigenständig. Bis in die Dreißiger war er mehr oder weniger durchs Leben getaumelt. Als er zum ersten Mal erfuhr, dass Kathy und ich uns rekrutieren lassen wollten, ist er uns fast an die Gurgel gesprungen. Er erinnerte uns daran, dass wir damals gegen den Subkontinentalen Krieg protestiert hatten, dass wir ihm ständig eingeschärft hatten, dass Gewalt keine Lösung war. Er rief uns ins Gedächtnis, dass wir ihn einmal für einen Monat zu Hausarrest verdonnert hatten, weil er mit Billy Young einen Schießstand besucht hatte. Wir beide fanden es etwas seltsam, dass ein Mann von fünfunddreißig Jahren so ein Argument vorbrachte.

Mit Kathys Tod endeten die meisten unserer Reibereien, weil wir beide erkannten, dass fast alle unsere Streitpunkte einfach zu unwichtig waren. Ich war Witwer und er Junggeselle, und eine Zeit lang hatten wir beide nur noch uns. Wenig später lernte er Lisa kennen und heiratete sie, und etwa ein Jahr später wurde er Vater und noch in derselben hektischen Nacht zum Bürgermeister wiedergewählt. Charlie war ein Spätentwickler, aber er machte eine gute Entwicklung durch. Auch wir hatten ein langes Gespräch, in dem ich mich für einige Sachen entschuldigte (und es ehrlich meinte), und gleichzeitig sagte ich ihm, wie stolz ich auf das war, was er geleistet hatte. Dann saßen wir jeder mit einem Bier auf der Veranda und sahen zu, wie mein Enkel Adam mit einem T-Ball im Garten spielte, während wir für einen sehr angenehmen längeren Zeitraum über nichts von Bedeutung sprachen. Als ich ging, verabschiedeten wir uns freundlich und liebevoll, genauso, wie es zwischen Vätern und Söhnen sein sollte.

Ich stand am Tresen, hielt mich an meiner Coke fest und dachte an Charlie und seine Familie, als ich Leons grummelnde Stimme hörte, gefolgt von der Antwort einer anderen Stimme, die leise, prägnant und weiblich klang. Unwillkürlich blickte ich mich um. Leon war es offensichtlich gelungen, sich an eine bedauernswerte Frau zu hängen, der er zweifellos seine neueste idiotische Theorie aufdrängte, die sein strohdummes Kleinhirn in diesem Moment ausbrütete. Meine Ritterlichkeit triumphierte über meinen Drang, mich zu verstecken. Ich ging hinüber, um mich einzumischen.

»Ich will damit nur sagen«, erklärte Leon gerade, »dass es nicht gerade fair ist, dass Sie und ich und jeder andere Amerikaner warten müssen, bis wir scheißalt geworden sind, um unsere Chance zu bekommen, während all diese kleinen Hindus auf nagelneue Welten verfrachtet werden, so schnell sie sich vermehren können. Was ja verdammt schnell passiert. Das ist einfach nicht fair. Oder kommt Ihnen das etwa fair vor?«

»Nein, das kommt mir nicht besonders fair vor«, erwiderte die Frau. »Aber die Hindus finden es wahrscheinlich auch nicht besonders fair, dass wir Neu-Delhi und Mumbai von der Oberfläche dieses Planeten getilgt haben.«

»Genau darauf will ich hinaus!«, rief Leon. »Wir haben die Scheißkerle mit Atombomben plattgemacht! Wir haben diesen Krieg gewonnen, und was haben wir jetzt davon? Sie haben verloren, aber sie kolonisieren das Universum, und wir können nur dann gehen, wenn wir uns einziehen lassen, um sie zu beschützen! Entschuldigen Sie, dass ich das sage, aber heißt es nicht in der Bibel ›Die Schwachen werden die Erde besitzen‹? Ich finde, dass es ein verdammtes Zeichen für Schwäche ist, wenn man einen Krieg verliert.«

»Ich glaube nicht, dass sich das Zitat so interpretieren lässt, Leon«, sagte ich, während ich zu den beiden trat.

»John! Da ist jemand, der weiß, wovon ich rede«, sagte Leon und grinste mich an.

Die Frau drehte sich zu mir um. »Sie kennen diesen Herrn?«, fragte sie mich mit einem Unterton, der andeutete, dass ich nicht vertrauenswürdig war, wenn ich diese Frage bejahte.

»Wir sind uns auf dem Flug nach Nairobi begegnet«, antwortete ich und hob eine Augenbraue, um anzudeuten, dass ich mir diesen Reisegefährten nicht freiwillig ausgesucht hatte. »Ich bin John Perry.«

»Jesse Gonzales«, stellte sie sich vor.

»Angenehm.« Ich wandte mich wieder Leon zu. »Leon, Sie haben das Zitat falsch verstanden. In Wirklich stammt es aus der Bergpredigt und lautet: ›Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen‹ Das soll eine Belohnung sein und keine Strafe.«

Leon blinzelte, dann schaufte er. »Trotzdem, wir haben sie besiegt. Wir haben ihnen in die kleinen braunen Ärsche getreten. Wir sollten das Universum kolonisieren, nicht sie.«

Ich öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch Jesse war schneller. »›Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich‹«, sagte sie zu Leon, während sie mich von der Seite ansah.

Leon starrte uns eine Minute lang mit offenem Mund an. »Das kann nicht Ihr Ernst sein! In der Bibel steht nichts davon, dass wir auf der Erde verfaulen sollen, während sich die braunen Horden, die nicht einmal an Jesus glauben, gelobt sei sein Name, in der Galaxis ausbreiten! Und es steht bestimmt nicht geschrieben, dass wir die kleinen Mistkerle beschützen sollen, während sie es tun. Mein Sohn war in diesem Krieg. Irgendeiner von den Ärschen hat ihm die Eier weggeschossen! Seine Eier! Sie haben verdient, was sie bekommen haben, diese Scheißkerle. Erwarten Sie nicht von mir, dass ich glücklich bin, dass ich sie jetzt da oben in den Kolonien beschützen soll.«

Jesse zwinkerte mir zu. »Möchten Sie darauf antworten?«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Nur zu!«

»›Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen‹«, zitierte ich, »›Segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.‹«

Leon wurde krebsrot. »Jetzt sind Sie beide völlig durchgeknallt«, sagte er und stapfte so schnell davon, wie seine Fettmassen es ihm erlaubten.

»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte ich. »Und diesmal meine ich es wirklich so.«

»Sie haben eine Menge Bibelzitate auf Lager«, sagte Jesse. »Waren Sie in Ihrem früheren Leben mal Prediger?«

»Nein. Aber ich habe in einer Stadt mit zweitausend Einwohnern und fünfzehn Kirchen gelebt. Da war es hilfreich, wenn man sich in dieser Sprache verständlich machen konnte. Und man muss gar nicht sehr religiös sein, um der Bergpredigt etwas abgewinnen zu können. Mit welcher Ausrede können Sie aufwarten?«

»Religionsunterricht an einer katholischen Schule«, sagte sie. »In der zehnten Klasse habe ich einen Wettbewerb im Auswendiglernen gewonnen. Es ist erstaunlich, was ein menschliches Gehirn sechzig Jahre lang speichern kann, selbst wenn ich mich heutzutage kaum noch erinnere, wo ich meinen Wagen geparkt habe, wenn ich vom Einkaufen wiederkomme.«

»Wie dem auch sei, ich möchte mich für Leon entschuldigen. Ich kenne ihn nur flüchtig, aber für mich steht fest, dass er ein Idiot ist.«

»›Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet‹«, erwiderte Jesse mit einem Achselzucken. »Aber er sagt nur das, was viele Leute denken. Ich finde es dumm und falsch, aber das bedeutet nicht, dass ich kein Verständnis dafür hätte. Es wäre schön gewesen, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, zu den Kolonien zu reisen, als mein ganzes Leben lang zu warten und in den Militärdienst eintreten zu müssen. Wenn ich die Chance gehabt hätte, in jüngeren Jahren in die Kolonien auszuwandern, hätte ich sie sofort ergriffen.«

»Also sind Sie nicht hier, weil Sie Soldatenabenteuer erleben wollen?«

»Natürlich nicht«, entgegnete Jesse mit leichter Verachtung. »Sind Sie eingetreten, weil sie ganz wild darauf sind, einen Krieg mitzuerleben?«

»Nein.«

Sie nickte. »Bei mir ist es genauso. So ist es fast bei allen. Ihr Freund Leon hat sich jedenfalls nicht rekrutieren lassen, um Soldat zu werden. Schließlich kann er die Leute nicht ausstehen, die er beschützen soll. Fast alle machen es, weil sie nicht alt sein wollen und noch nicht zum Sterben bereit sind. Sie machen es, weil das Leben auf der Erde ab einem bestimmten Alter nicht mehr interessant ist. Oder sie machen es, weil sie noch ein paar andere Welten sehen wollen, bevor sie sterben. Deshalb bin ich dabei. Ich möchte weder kämpfen noch wieder jung sein. Ich will nur sehen, wie es ist, woanders zu sein.«

Sie schaute aus dem Fenster. »Natürlich klingt es komisch, wenn ich höre, wie ich das sage. Können Sie sich vorstellen, dass ich bis gestern mein ganzes Leben lang nicht einziges Mal den Staat Texas verlassen habe?«

»Das ist gar nicht so schlimm, wie es klingt«, sagte ich. »Texas ist ein ziemlich großer Staat.«

Sie lächelte. »Danke für Ihr Verständnis. Außerdem finde ich es gar nicht so schlimm. Es ist nur komisch. Als Kind habe ich alle Romane über die Jungen Kolonisten gelesen und die Filme gesehen. Ich habe davon geträumt, Arkturus-Rinder zu züchten und auf der Kolonie Gamma Primus gegen böse Landwürmer zu kämpfen. Dann wurde ich älter und erkannte, dass die Kolonisten aus Indien, Kasachstan und Norwegen kamen, aus Ländern, die ihre Bevölkerung nicht mehr versorgen können. Ich erkannte, dass ich nicht auswandern durfte, weil ich in Amerika geboren bin. Und dass es in Wirklichkeit gar keine Arkturus-Rinder oder Landwürmer gibt! Ich war sehr enttäuscht, als mir all dies im Alter von zwölf Jahren klar wurde.«

Wieder zuckte sie die Achseln. »Ich bin in San Antonio aufgewachsen und dann ›hinausgegangen‹, um an der University of Texas zu studieren. Anschließend nahm ich einen Job an, wieder in San Antonio. Irgendwann habe ich geheiratet, und wir machten Urlaub an der Golfküste. Unseren dreißigsten Hochzeitstag wollten mein Mann und ich in Italien verbringen, aber dazu ist es nie gekommen.«

»Was ist passiert?«

Sie lachte. »Seine Sekretärin ist passiert. Schließlich sind die beiden in den Flitterwochen nach Italien geflogen. Ich blieb zu Hause. Andererseits haben sie sich in Venedig eine schwere Muschelvergiftung zugezogen, also war es vielleicht ganz gut, dass ich nie in Italien war. Aber danach wollte ich sowieso nicht mehr verreisen. Ich wusste, dass ich mich rekrutieren lasse, sobald es ging. Ich habe es getan, und hier bin ich. Obwohl ich mir jetzt wünsche, ich hätte weitere Reisen unternommen. Ich bin mit dem Delta von Dallas nach Nairobi geflogen. Das hat mir riesigen Spaß gemacht. Ich wünschte, ich hätte es mehr als nur einmal in meinem Leben getan. Ganz zu schweigen von dem hier!« Sie zeigte auf das Fenster und die Kabel der Bohnenstange. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal auf diese Weise reisen würde. Ich meine, was hält dieses Kabel eigentlich aufrecht?«

»Der Glaube«, sagte ich. »Man glaubt fest daran, dass es nicht herunterfällt, und dann passiert es auch nicht. Versuchen Sie nicht, zu genau darüber nachzudenken, sonst könnten wir alle in Schwierigkeiten geraten.«

»Ich glaube nur daran, dass ich gerne etwas essen würde«, sagte Jesse. »Begleiten Sie mich?«


»Der Glaube«, sagte Harry Wilson und lachte. »Vielleicht ist es wirklich der Glaube, der dieses Kabel aufrecht hält. Jedenfalls tut es nicht die Physik.«

Harry Wilson hatte sich an den Tisch in der Nische gesetzt, an dem Jesse und ich aßen. »Ihr beide seht aus, als würdet ihr euch kennen, und damit habt ihr den meisten hier schon einiges voraus«, sagte er, als er sich uns näherte. Wir forderten ihn auf, uns Gesellschaft zu leisten, was er dankbar annahm. Er hatte zwanzig Jahre lang Physik an einer Highschool in Bloomington, Indiana, unterrichtet, erzählte er, und die Bohnenstange hatte ihn schon immer fasziniert.

»Was soll das heißen, dass es die Physik nicht tut?«, fragte Jesse. »Glaub mir, so etwas will ich im Augenblick eigentlich nicht hören.«

Harry lächelte. »Entschuldigung. Ich möchte es etwas genauer ausdrücken. Natürlich hat die Physik etwas damit zu tun, dass die Bohnenstange funktioniert. Aber es handelt sich nicht um die Physik im landläufigen Sinne. Hier spielt sich eine Menge ab, was auf den ersten Blick unmöglich erscheint.«

»Irgendwie klingt das wie der Anfang einer Physikstunde«, sagte ich.

»Ich habe jahrelang Jugendliche unterrichtet«, sagte Harry und zog einen kleinen Notizblock und einen Stift hervor. »Aber keine Sorge, es ist völlig schmerzlos. Schaut mal her.« Harry zeichnete einen Kreis auf die untere Hälfte des Blatts. »Das ist die Erde. Und das …«◦– darüber zeichnete er einen kleinen Kreis◦– »ist die Kolonialstation. Sie befindet sich im geosynchronen Orbit, was bedeutet, dass sie auf die Erdrotation bezogen ihre Position nicht verändert. Sie hängt immer genau über Nairobi. Könnt ihr mir so weit folgen?«

Wir nickten.

»Gut. Hier geht es darum, dass man die Kolonialstation mit der Erde verbindet, und zwar durch die ›Bohnenstange‹, ein Bündel aus Kabeln, wie ihr sie durch die Fenster sehen könnt, und mehrere Aufzugskabinen wie diese hier, die daran raufund runterfahren.« Harry zog zwischen den beiden Kreisen eine Linie, die das Kabel darstellte, und fügte ein kleines Rechteck hinzu, das unsere Kabine symbolisierte. »Der Trick an der Sache ist, dass die Aufzüge an den Kabeln nicht auf Fluchtgeschwindigkeit beschleunigt werden müssen, um in den Erdorbit zu gelangen, anders als bei der Nutzlast einer Rakete. Das ist gut für uns, weil wir während der Fahrt nicht das Gefühl haben, ein Elefant hätte uns einen Fuß auf den Brustkorb gestellt. Ganz einfache Sache.

Das Seltsame daran ist nur, dass diese Bohnenstange nicht den grundlegenden physikalischen Voraussetzungen einer klassischen Bohnenstange zwischen Erde und Weltraum entspricht. Zum einen …«◦– Harry zeichnete eine weitere Linie ein, die vom kleinen Kreis bis zum Rand des Blattes führte◦– »dürfte sich die Kolonialstation nicht am Ende der Bohnenstange befinden. Aus Gründen, die etwas mit dem Gleichgewicht der Massen und orbitaler Dynamik zu tun haben, müsste es ein zusätzliches Kabel geben, das mehrere zehntausend Kilometer über die Station hinausreicht. Ohne dieses Gegengewicht, müsste eine Bohnenstange sehr instabil und gefährlich sein.«

»Und du willst darauf hinaus, dass diese es nicht ist«, sagte ich.

»Sie ist nicht nur nicht instabil, sondern wahrscheinlich die sicherste Methode, die jemals erfunden wurde, in den Weltraum zu gelangen,«, sagte Harry. »Die Bohnenstange ist seit über einem Jahrhundert ständig in Betrieb. Für die Kolonisten gibt es keinen anderen Startpunkt. Es hat nie einen Unfall aufgrund von Instabilität oder Materialverschleiß gegeben, was immer mit Instabilitäten zusammenhängen würde. Vor vierzig Jahren gab es den berüchtigten Bombenanschlag, aber das war Sabotage, die nichts mit der physikalischen Struktur der Bohnenstange zu tun hatte. Sie selbst ist bewundernswert stabil, und zwar seit ihrer Errichtung. Doch nach den Grundgesetzen der Physik dürfte sie es eigentlich nicht sein.«

»Was ist also das Geheimnis der Bohnenstange?«, wollte Jesse wissen.

Wieder lächelte Harry. »Das ist die große Frage.«

»Heißt das, du weißt es nicht?«, sagte Jesse.

»Ich weiß es nicht«, gab Harry zu. »Aber das sollte kein Grund zur Besorgnis sein, da ich lediglich Physiklehrer an einer Highschool war. Doch soweit mir bekannt ist, gibt es praktisch niemanden, der eine Vorstellung hat, wie das Ding funktioniert. Hier auf der Erde, meine ich. In der Kolonialen Union sieht es offenbar anders aus.«

»Wie kann das sein?«, rief ich. »Sie steht doch schon seit über hundert Jahren hier. Und niemand hat sich dafür interessiert, wie sie tatsächlich funktioniert?«

»Das habe ich nicht gesagt«, gab Harry zurück. »Natürlich hat man versucht, es herauszufinden. Und es war in all diesen Jahren keineswegs ein Geheimnis. Als die Bohnenstange errichtet wurde, gab es viele Anfragen von Regierungen und der Presse, die alles darüber wissen wollten. Die KU hat darauf im Wesentlichen mit ›Findet es selber raus‹ geantwortet. Damit war die Sache für sie erledigt. Seitdem haben sich Physiker mit dem Ding beschäftigt. Es wird als ›Das Bohnenstangenproblem‹ bezeichnet.«

»Kein sehr origineller Titel«, sagte ich.

»Physiker sparen sich ihre Phantasie für andere Dinge auf«, sagte Harry glucksend. »Jedenfalls wurde es nicht gelöst, hauptsächlich aus zwei Gründen. Der erste ist der Umstand, dass die Sache sehr kompliziert ist. Ich habe schon auf die Massenverteilung hingewiesen, aber es gibt noch andere Schwierigkeiten mit der Kabeldicke, mit Schwingungen, die durch Stürme und andere atmosphärische Phänomene verursacht werden, und es spielt sogar die Frage eine Rolle, ob die Kabel spitz zulaufen sollen. In der realen Welt ist jede dieser Fragen für sich genommen schon schwer genug zu lösen. Sie alle auf einmal zu beantworten, ist so gut wie unmöglich.«

»Was ist der zweite Grund?«, fragte Jesse.

»Der zweite Grund ist der, dass es gar keinen Grund dafür gibt. Selbst wenn wir genau wüssten, wie man so ein Ding baut, könnten wir es uns gar nicht leisten.« Harry lehnte sich zurück. »Kurz bevor ich als Lehrer anfing, habe ich für die Hoch- und Tiefbauabteilung von General Electric gearbeitet. Damals haben wir an der subatlantischen Eisenbahnstrecke gearbeitet, und eine meiner Aufgaben bestand darin, alte Pläne und Bauvorschläge zu prüfen, um zu sehen, ob sich die Techniken irgendwie auf das Subatlantik-Projekt anwenden ließen. Es war so etwas wie der verzweifelte Versuch, irgendwie die Kosten zu drücken.«

»Ist General Electric nicht an diesem Projekt pleite gegangen?«, fragte ich.

»Jetzt weißt du, warum sie versucht haben, die Kosten zu drücken. Und warum ich Lehrer geworden bin. Danach konnte sich General Electric meine Dienste nicht mehr leisten. Oder die von anderen Leuten. Jedenfalls bin ich diese alten Pläne durchgegangen, von denen einige als geheim klassifiziert waren, und in einem davon ging es um eine Bohnenstange. General Electric war von der US-Regierung beauftragt worden, ein unabhängiges Gutachten über die Machbarkeit einer Bohnenstange in der westlichen Hemisphäre zu erstellen. Man wollte im Amazonasgebiet ein Loch mit dem Durchmesser von Delaware roden und das Ding genau auf den Äquator stellen.

General Electric gelangte zur Auffassung, dass man den Plan möglichst schnell vergessen sollte. Die Auswertung besagte, dass selbst unter der Annahme einiger technischer Weiterentwicklungen◦– zu denen es größtenteils bis heute nicht gekommen ist und die nicht annähernd dem Standard entsprechen, der bei dieser Bohnenstange verwirklicht wurde◦– das Budget für das Projekt ungefähr das Dreifache des jährlichen Bruttosozialprodukts der Vereinigten Staaten verschlingen würde. Unter der Voraussetzung, dass man den Kostenrahmen einhalten würde, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht passiert wäre. Das Ganze ist nun zwanzig Jahre her, und der Bericht, den ich gelesen habe, war zu diesem Zeitpunkt schon zehn Jahre alt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kosten seitdem erheblich niedriger geworden sind. Also gibt es keine neuen Bohnenstangen, zumal es preiswertere Methoden gibt, Menschen und Material in den Orbit zu befördern. Wesentlich preiswertere.«

Harry beugte sich wieder vor. »Was uns zu zwei nahe liegenden Fragen führt. Wie hat es die Koloniale Union geschafft, dieses technische Monstrum zu verwirklichen, und warum hat man überhaupt diese Mühe auf sich genommen?«

»Offensichtlich ist die Koloniale Union technisch fortgeschrittener als wir hier auf der Erde«, sagte Jesse.

»Offensichtlich«, sagte Harry. »Aber warum? Die Kolonisten sind auch nur Menschen. Obendrein rekrutieren sie sich in erster Linie aus verarmten Ländern, die ein Bevölkerungsproblem haben, was bedeutet, dass die Kolonisten nicht besonders gut ausgebildet sein können. Wenn sie ihre neue Heimat erreicht haben, kann man davon ausgehen, dass sie mehr Zeit darauf verwenden, am Leben zu bleiben, als kreative Techniken zum Bau von Bohnenstangen zu entwickeln. Und die Technik, die überhaupt die interstellare Kolonisierung ermöglicht hat, ist der Skip-Antrieb, der hier auf der Erde erfunden wurde. Und der wurde seit mehr als hundert Jahren kaum verbessert. Also gibt es eigentlich keinen Grund, warum die Kolonisten technisch höher entwickelt sein sollten als wir.«

Plötzlich klickte etwas in meinem Kopf. »Es sei denn, sie schummeln.«

Harry grinste. »Genau das habe ich mir auch gedacht.«

Jesse sah mich und dann Harry an. »Ich kann euch beiden nicht mehr folgen.«

»Sie schummeln«, sagte ich. »Hier auf der Erde schmoren wir im eigenen Saft. Wir können nur von uns selbst lernen. Wir forschen und verfeinern ständig unsere Technik, aber nur sehr langsam, weil wir die ganze Arbeit selber machen müssen. Aber da oben …«

»Da oben treffen die Menschen auf andere intelligente Spezies«, erklärte Harry. »Einige von ihnen müssen technisch weiter fortgeschritten sein als wir. Entweder erwerben wir die Kenntnisse durch ehrenhaften Handel, oder wir studieren sie, bis wir herausfinden, wie es funktioniert. Es ist viel leichter, wenn man schon etwas hat, mit dem man arbeiten kann, als es aus dem Nichts zu entwickeln.«

»Das ist die Schummelei daran«, sagte ich. »Die KU hat aus dem Schulheft eines Klassennachbarn abgeschrieben.«

»Und warum lässt die Koloniale Union uns dann nicht an diesen Erkenntnissen teilhaben?«, fragte Jesse. »Welchen Sinn hat es, alles für sich zu behalten?«

»Vielleicht halten sie sich an den Grundsatz: Was wir nicht wissen, tut uns auch nicht weh«, sagte ich.

»Oder es steckt etwas ganz anderes dahinter«, sagte Harry und zeigte auf das Fenster, wo die Kabel der Bohnenstange vorbeiglitten. »Diese Bohnenstange wurde nämlich nicht gebaut, weil sie die einfachste Methode ist, um Menschen zur Kolonialstation zu befördern, sondern weil sie eine der schwierigsten, der teuersten, technisch komplexesten und politisch bedrohlichsten Methoden ist, es zu tun. Ihre bloße Anwesenheit soll uns ständig daran erinnern, dass die KU uns buchstäblich um Lichtjahre voraus ist.«

»Ich habe sie nie als bedrohlich empfunden«, sagte Jesse. »Ich habe mir überhaupt kaum Gedanken darüber gemacht.«

»Die Botschaft ist auch nicht an dich gerichtet«, sagte Harry. »Wenn du jedoch Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wärst, würdest du anders darüber denken. Schließlich hält uns die KU hier auf der Erde fest. Sie erlaubt uns Raumfahrt nur zum Zweck der Kolonisierung oder Rekrutierung. Die Politiker stehen ständig unter Druck, sich der KU zu beugen und ihren Leuten den Zugang zu den Sternen zu ermöglichen. Aber die Bohnenstange ist wie ein großes Mahnmal. Es sagt: ›Solange ihr das hier nicht nachbauen könnt, dürft ihr nicht einmal daran denken, uns querzukommen‹. Und die Bohnenstange ist die einzige Technik, die die KU uns zu zeigen bereit ist. Stellt euch nur einmal vor, was sie uns alles nicht zeigen will. Ich kann euch garantieren, dass der Präsident der Vereinigten Staaten ständig daran denkt. Das ist der Grund, warum er und alle anderen Regierungschefs dieses Planeten vor der KU kuschen.«

»All das erweckt in mir nicht gerade freundschaftliche Gefühle für die Koloniale Union«, sagte Jesse.

»Es muss gar nicht gegen uns gerichtet sein«, sagte Harry. »Vielleicht will die KU die Erde nur beschützen. Das Universum ist verdammt groß. Vielleicht wohnen wir nicht gerade im angenehmsten Viertel.«

»Warst du schon immer so paranoid, Harry?«, fragte ich. »Oder hat es sich erst entwickelt, als du älter wurdest?«

»Was glaubst du wohl, wie ich es geschafft habe, fünfundsiebzig zu werden?«, erwiderte Harry grinsend. »Jedenfalls habe ich kein Problem damit, dass die KU technisch höher entwickelt ist. Davon werde ich in Kürze profitieren.« Er hob den Arm. »Schaut euch das hier an. Die Haut ist schlaff und runzlig, und die Muskeln machen nicht mehr richtig mit. Die KU wird irgendwas mit diesem Arm◦– und dem Rest von mir◦– anstellen und alles wieder kampftauglich machen. Und wisst ihr, wie sie das anstellt?«

»Nein«, sagte ich.

Jesse schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es auch nicht.« Harry ließ den Arm einfach auf den Tisch zurückfallen. »Ich habe keine Ahnung, wie sie das machen wollen. Obendrein kann ich mir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, wie sie es machen. Wenn wir davon ausgehen, dass wir von der KU auf einem kindlichen Entwicklungsstand gehalten werden. Falls man es mir jetzt erklären würde, wäre das genauso, als wollte man jemandem, der nie ein komplexeres Transportmittel als eine Pferdekutsche gesehen hat, das Funktionsprinzip der Bohnenstange erklären. Dennoch muss es funktionieren. Wie sonst hätte man das Universum mit einer Legion von Greisen erobern können? Nichts für ungut«, fügte er hastig hinzu.

»Kein Problem«, sagte Jesse lächelnd.

»Verehrtes Publikum«, sagte Harry und sah uns beide an, »wir glauben vielleicht, dass wir eine gewisse Vorstellung haben, was uns erwartet, aber wir haben nicht den leisesten Schimmer. Das können wir aus der bloßen Existenz dieser Bohnenstange schließen. Sie ist größer und fremdartiger als alles, was wir kennen, und sie stellt nur die erste Etappe unserer Reise dar. Was als Nächstes kommt, wird noch größer und fremdartiger sein. Macht euch darauf gefasst, so gut ihr könnt.«

»Wie dramatisch!«, sagte Jesse ironisch. »Ich habe keine Ahnung, wie ich mich nach einer solchen Offenbarung auf irgendetwas gefasst machen soll.«

»Aber ich«, sagte ich und schob mich seitlich aus der Sitznische heraus. »Ich werde pinkeln gehen. Wenn das Universum größer und fremdartiger ist, als ich mir vorstellen kann, ist es besser, ihm mit einer leeren Blase zu begegnen.«

»Das ist die wahre Pfadfindermentalität«, sagte Harry.

»Nur dass ein Pfadfinder nicht so oft pinkeln muss wie ich«, erwiderte ich.

»Nach sechzig Jahren wird es jedem Pfadfinder so gehen«, sagte Harry.

3

»Ich weiß nicht, wie es euch geht«, sagte Jesse zu Harry und mir, »aber ich muss zugeben, dass ich mir das Leben in der Armee etwas anders vorgestellt habe.«

»Ist doch gar nicht so schlecht«, sagte ich. »Hier, nimm noch einen Donut.«

»Ich brauche nicht noch mehr Donuts«, sagte sie und nahm sich trotzdem einen. »Ich brauche etwas Schlaf.«

Ich wusste, was sie meinte. Mehr als achtzehn Stunden waren vergangen, seit ich von zu Hause aufgebrochen war, und fast die ganze Zeit war ich auf Reisen gewesen. Ich hätte nichts gegen ein Nickerchen einzuwenden gehabt. Stattdessen saß ich in der riesigen Kantine eines interstellaren Kreuzers, wo man Kaffee und Donuts für die insgesamt etwa eintausend Rekruten aufgetischt hatte. Während wir darauf warteten, dass jemand kam und uns sagte, was wir als Nächstes tun sollten. Zumindest das entsprach ziemlich genau meiner Vorstellung vom Leben als Soldat.


Gleich nach der Ankunft begannen die Hetzerei◦– und die Warterei. Sobald wir die Kabine der Bohnenstange verlassen hatten, wurden wir von zwei Apparatschiks der Kolonialen Union begrüßt. Sie teilten uns mit, dass wir die letzten Rekruten waren, die man für ein Schiff erwartete, das bald starten würde. Also sollten wir ihnen bitte so schnell wie möglich folgen, damit der Zeitplan eingehalten werden konnte. Einer der beiden übernahm die Führung, und seine Kollegin bildete die Nachhut. So konnten sie auf sehr effektive und etwas demütigende Weise mehrere Dutzend ältere Mitbürger quer durch die Station zu unserem Schiff scheuchen, der KVAS Henry Hudson.

Jesse und Harry waren offensichtlich von der Hetzerei genauso enttäuscht wie ich. Die Kolonialstation war gewaltig, mit einem Durchmesser von über einer Meile (1800 Meter, um genau zu sein, und ich hatte den Verdacht, dass ich mich nach fünfundsiebzig Jahren wohl doch an das metrische System würde gewöhnen müssen). Sie diente als einziger Umschlaghafen für Rekruten und Kolonisten gleichermaßen. Durchgetrieben zu werden, ohne anhalten zu können, um sich alles anzuschauen, war genauso, als würde ein Fünfjähriger von gestressten Eltern zur Weihnachtszeit durch einen Spielzeugladen gehetzt werden. Ich hätte mich am liebsten zu Boden geworfen und einen Schreianfall bekommen, um meinen Willen durchzusetzen. Bedauerlicherweise war ich schon zu alt (beziehungsweise noch nicht alt genug), als dass diese Strategie Erfolg versprochen hätte.

Trotzdem bekam ich auf dem Gewaltmarsch einen verlockenden Appetithappen zu sehen. Während unsere Apparatschiks uns zur Eile antrieben, kamen wir an einer riesigen Halle vorbei, die mit Pakistanis oder indischen Moslems vollgestopft war. Die meisten warteten geduldig, bis sie ein Shuttle besteigen konnten, das sie zu einem gewaltigen Kolonistenschiff brachte, das durch das Fenster in einiger Entfernung zu sehen war. Andere stritten sich mit Vertretern der KU über dieses oder jenes in akzentgefärbtem Englisch. Manche trösteten ihre Kinder, die sich schrecklich langweilten, oder kramten in ihrem Gepäck nach etwas Essbarem. In einer Ecke kniete eine Gruppe Männer auf einem Teppich, um zu beten. Ich fragte mich, wie sie in dreiundzwanzigtausend Meilen Höhe bestimmt hatten, wo Mekka lag, dann wurden wir weitergetrieben, sodass ich sie aus den Augen verlor.

Jesse zupfte an meinem Ärmel und zeigte nach rechts. In einer kleinen Messe erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf etwas Blaues, das mit einem Tentakel einen Martini hielt. Ich machte Harry darauf aufmerksam. Er war so fasziniert, dass er ein Stück zurücklief, um sich die Sache genauer anzusehen, womit er den Apparatschik am Ende der Gruppe zur Verzweiflung trieb. Die Frau drängte Harry mit mürrischer Miene zurück in die Herde. Harry jedoch grinste wie ein Idiot. »Ein Gehaar«, sagte er. »Er war dabei, eine Büffelkeule zu verspeisen, als ich ihn gesehen habe. Widerlich.« Dann kicherte er. Die Gehaar gehörten zu den ersten intelligenten Aliens, denen die Menschen begegnet waren. Das war in der Zeit gewesen, bevor die Koloniale Union ihr Monopol auf die Raumfahrt etabliert hatte. Im Grunde waren es nette Leute, nur dass sie aßen, indem sie ihrer Nahrung aus mehreren dünnen Kopftentakeln Säure injizierten und die Pampe schließlich unter starker Geräuschentwicklung durch eine Körperöffnung aufschlürften. Eine ziemliche Sauerei.

Harry war trotzdem glücklich. Er hatte zum ersten Mal einen leibhaftigen Außerirdischen gesehen.

Die Hetzerei näherte sich dem Ende, als eine Halle in Sicht kam, über der die Worte »Henry Hudson/KVA-Rekruten« leuchteten. Unsere Gruppe nahm dankbar auf den Sitzen Platz, während die Apparatschiks mit ein paar anderen Mitarbeitern sprachen, die an der Einstiegsschleuse für das Shuttle warteten. Harry, der eine unverkennbare Neigung zur Neugier an den Tag legte, spazierte zu einem Fenster hinüber, um einen Blick auf unser Schiff zu werfen. Jesse und ich erhoben uns erschöpft, um ihm zu folgen. Ein kleiner Informationsmonitor vor dem Fenster half uns dabei, es im Gewimmel auszumachen.

Die Henry Hudson hatte natürlich nicht an der Schleuse angedockt. Schließlich war es nicht einfach, die Bewegung eines interstellaren Raumschiffs von hunderttausend metrischen Tonnen an eine rotierende Raumstation anzupassen. Genauso wie die Kolonistentransporter hielt es einen angemessenen Sicherheitsabstand, während Vorräte, Passagiere und die Besatzung mit leichter zu manövrierenden Shuttles hin und her geflogen wurden. Die Hudson stand ein paar Meilen über der Station und war keine schwerfällige, unästhetische und funktionale Konstruktion wie die Speichenräder der Kolonistenschiffe, sondern schlanker, flacher und vor allem nicht zylindrisch oder radförmig aufgebaut. Als ich diesen Punkt Harry gegenüber erwähnte, nickte er. »Ständig aktive künstliche Schwerkraft«, sagte er. »Und zwar über ein größeres Volumen stabil. Sehr beeindruckend.«

»Ich hatte den Eindruck, dass auch die Bohnenstangenkabine unter künstlicher Schwerkraft stand«, sagte Jesse.

»Richtig«, bestätigte Harry. »Die Leistung der Gravitationsgeneratoren der Kabine wurde verstärkt, je höher wir aufstiegen.«

»Und was ist der große Unterschied zu einem Raumschiff, in dem künstliche Schwerkraft eingesetzt wird?«, fragte Jesse.

»Nur die Tatsache, dass es ziemlich schwierig ist«, sagte Harry. »Man braucht gewaltige Energiemengen, um ein Gravitationsfeld zu erzeugen, und die benötigte Energie erhöht sich exponential mit dem Radius des Feldes. Wahrscheinlich wird getrickst, indem man mehrere kleinere Felder erzeugt. Aber selbst diese Methode hat es in sich. Die Erzeugung des Schwerkraftfeldes in unserer Kabine hat wahrscheinlich mehr Strom gefressen, als deine Heimatstadt monatlich an Energie verbraucht.«

»Das kann nicht allzu viel sein«, sagte Jesse. »Ich komme aus San Antonio.«

»Na gut. Dann eben seine Heimatstadt.« Harry zeigte mit dem Daumen auf mich. »Auf jeden Fall ist es eine unglaubliche Energieverschwendung, und in den meisten Fällen, wo künstliche Schwerkraft benötigt wird, ist es einfacher und erheblich preiswerter, ein Rad zu bauen und es rotieren zu lassen, damit Menschen und Gegenstände durch die Fliehkraft an die Innenseite gepresst werden. Sobald man das Ding in Rotation versetzt hat, braucht man nur noch sehr wenig zusätzliche Energie, um Reibungsverluste auszugleichen. Im Gegensatz zur Erzeugung eines künstlichen Schwerkraftfeldes, das ständig beträchtliche Energiemengen benötigt, um es aufrechtzuerhalten.«

Er zeigte auf die Henry Hudson. »Schaut euch mal das Shuttle direkt neben dem Schiff an. Wenn ich es als Maßstab nehme, würde ich schätzen, dass die Hudson achthundert Fuß lang, zweihundert Fuß breit und einhundertfünfzig Fuß hoch ist. Ein einziges Gravitationsfeld rund um dieses Baby zu erzeugen würde definitiv sämtliche Lichter in San Antonio ausgehen lassen. Selbst multiple Felder würden eine Menge Saft schlucken. Also haben sie entweder eine Energiequelle, die für die Schwerkraft ausreicht und obendrein alle anderen Schiffssysteme versorgt, zum Beispiel die Lebenserhaltung und nicht zuletzt den Antrieb, oder sie haben eine völlig neue Methode entdeckt, mit geringem Energieaufwand Gravitation zu erzeugen.«

»Trotzdem dürfte die Sache nicht billig sein.« Ich zeigte auf einen Kolonistentransporter rechts von der Henry Hudson. »Dieses Schiff ist radförmig. Und auch die Kolonialstation rotiert.«

»Die Kolonien scheinen ihre beste Technik dem Militär vorzubehalten«, sagte Jesse. »Und dieses Schiff wird nur dazu benutzt, neue Rekruten abzuholen. Ich glaube, du hast Recht, Harry. Wir haben keine Ahnung, worauf wir uns eingelassen haben.«

Harry grinste und wandte sich wieder der Henry Hudson zu, die langsam aus unserem Blickfeld wanderte, während sich die Kolonialstation weiterdrehte. »Ich schätze es, wenn sich andere Leute von meinen Überlegungen überzeugen lassen.«


Irgendwann wurden wir wieder von unseren Apparatschiks aufgescheucht. Wir sollten uns in einer Reihe aufstellen, damit wir geordnet das Shuttle besteigen konnten. Wir zeigten dem KU-Mitarbeiter am Gate unsere Ausweise und wurden auf einer Liste abgehakt, während ein Kollege uns einen persönlichen Datenassistenten überreichte. »Danke für Ihren Besuch auf der Erde, und hier ist ein hübsches Abschiedsgeschenk«, sagte ich zu ihm, doch er schien mich nicht zu verstehen.

Die Shuttles waren nicht mit künstlicher Schwerkraft ausgestattet. Unsere Apparatschiks trieben uns hinein und ermahnten uns, unter gar keinen Umständen die Gurte zu lösen. Um sicherzustellen, dass die klaustrophisch Veranlagten in unserer Gruppe es nicht trotzdem taten, ließen sich die Gurtverschlüsse während des Fluges gar nicht von uns betätigen. Damit war dieses Problem gelöst. Außerdem teilten die Apparatschiks Haarnetze an alle Langhaarigen aus. Im freien Fall schienen sich Haare in alle möglichen Richtungen zu bewegen.

Falls jemandem übel wurde, erzählte man uns, sollten wir die Kotztüten in den Taschen an den Seiten unserer Sitze benutzen. Man schärfte uns ein, dass wir damit nicht bis zur letzten Sekunde warten sollten. In der Schwerelosigkeit würde Erbrochenes quer durch die Kabine treiben und die anderen Mitreisenden belästigen, wodurch sich der Verursacher für den Rest des Fluges und vielleicht sogar für den Rest seiner militärischen Laufbahn bei den anderen sehr unbeliebt machte. Darauf folgte ein allgemeines Rascheln, als sich mehrere von uns auf diesen Fall vorbereiteten. Die Frau neben mir hielt ihre Kotztüte fest umklammert. Ich machte mich mental auf das Schlimmste gefasst.

Zum Glück musste sich niemand übergeben, und der Flug zur Henry Hudson verlief relativ glatt. Nach dem ersten Scheiße-ich-falle -Signal in der einsetzenden Schwerelosigkeit beruhigte sich mein Gehirn sehr schnell. Dann war es eher wie eine Achterbahnfahrt in Zeitlupe. Wir hatten das Raumschiff nach etwa fünf Minuten erreicht, und die Andockprozedur dauerte noch einmal ein oder zwei Minuten. Ein Hangartor öffnete sich, nahm das Shuttle auf und schloss sich wieder. Danach mussten wir noch ein paar Minuten warten, während Luft in den Hangar gepumpt wurde. Es folgte ein sanftes Kribbeln, und plötzlich spürten wir wieder unser Gewicht. Die künstliche Schwerkraft hatte eingesetzt.

Die Schleusentür des Shuttles ging auf, und ein weiblicher Apparatschik trat ein. »Willkommen in der KVAS Henry Hudson«, sagte die Frau. »Bitte lösen Sie die Anschnallgurte, nehmen Sie Ihre Sachen an sich und folgen Sie den Leuchtpfeilen, um den Shuttlehangar zu verlassen. In exakt sieben Minuten wird die Luft aus diesem Hangar abgepumpt, damit dieses Shuttle starten und ein anderes landen kann. Also beeilen Sie sich bitte.«

Wir verließen das Shuttle erstaunlich schnell.

Dann wurden wir in eine riesige Messe der Henry Hudson geführt, wo man uns zu Kaffee und Donuts einlud und uns aufforderte, uns zu entspannen. Bald würde jemand kommen, der uns weitere Erklärungen gab. Während wir warteten, kamen immer mehr Rekruten, die offenbar schon vor uns eingetroffen waren. Nach einer Stunde waren es ein paar hundert. Ich hatte noch nie so viele alte Leute auf einmal gesehen. Harry ging es genauso. »Es ist wie an einem Mittwochmorgen in der größten Kaufhauscafeteria der Welt«, sagte er und holte sich neuen Kaffee.

Ungefähr zum Zeitpunkt, als meine Blase mir mitteilte, dass ich es mit dem Kaffee etwas übertrieben hatte, betrat ein distinguiert wirkender Herr in einem Anzug in kolonialem Diplomatenblau die Messe und ging zur Frontseite des Raumes. Der Lärmpegel ebbte allmählich ab. Die Leute waren erleichtert, dass ihnen endlich jemand sagen würde, was hier eigentlich vor sich ging.

Der Mann stand ein paar Minuten lang reglos da, bis es im Raum still geworden war. »Ich grüße Sie«, sagte er, und wir alle zuckten zusammen. Offenbar hatte er ein Körpermikro, denn seine Stimme kam aus den Lautsprechern in den Wänden. »Ich bin Sam Campbell, Kontaktperson der Kolonialen Union für die Koloniale Verteidigungsarmee. Obwohl ich streng genommen kein Mitglied der Kolonialen Verteidigungsarmee bin, wurde ich von der KVA ermächtigt, Ihre Einführung zu leiten. Also können Sie mich für die folgenden Tage als Ihren vorgesetzten Offizier betrachten. Ich weiß, dass viele von Ihnen erst vor kurzem mit dem letzten Shuttle eingetroffen sind und sich gerne ausruhen würden, während sich andere schon einen ganzen Tag lang in diesem Schiff aufhalten und wissen möchten, wie es weitergeht. Im Interesse beider Gruppen werde ich mich kurz fassen.

In etwa einer Stunde wird die KVAS Henry Hudson den Erdorbit verlassen und sich auf den ersten Skip zum Phoenix-System vorbereiten, wo wir einen kurzen Zwischenstopp einlegen, um weitere Vorräte aufzunehmen. Danach fliegen wir weiter nach Beta Pyxis III, wo Ihre Ausbildung beginnen wird. Keine Sorge, ich erwarte nicht, dass Ihnen diese Namen etwas sagen. Sie müssen nur wissen, dass wir etwas mehr als zwei Tage benötigen werden, um unseren ersten Skip-Punkt zu erreichen, und in dieser Zeit wird man Sie mehreren psychischen und physischen Tests unterziehen. Ihr Zeitplan wird jetzt an ihre PDAs übertragen. Bitte schauen Sie ihn sich bei Gelegenheit an. Außerdem wird Ihr PDA Ihnen jederzeit den Weg zeigen, sodass Sie sich keine Sorgen machen müssen, sich zu verlaufen. Wer von Ihnen erst vor kurzem in der Henry Hudson eingetroffen ist, kann sich vom PDA sagen lassen, welches Quartier ihm oder ihr zugewiesen wurde.

Außer dass Sie sich in Ihrem Quartier einfinden, wird von Ihnen heute Abend nichts weiter erwartet. Viele von Ihnen haben eine lange Reise hinter sich, und wir möchten, dass Sie für die morgigen Tests ausgeruht sind. Dies ist ein guter Moment, um Sie auf die Bordzeit hinzuweisen, die der Kolonialen Standardzeit entspricht. Jetzt ist es«◦– er sah auf seine Uhr◦– »einundzwanzig Uhr achtundreißig KSZ. Ihr PDA ist auf die Bordzeit eingestellt. Ihr Tag beginnt morgen mit dem Frühstück in der Messe, von sechs Uhr bis sieben Uhr dreißig. Danach folgen die Tests und die physische Verbesserung. Die Teilnahme am Frühstück ist nicht zwingend, da Sie noch nicht dem militärischen Zeitplan unterworfen sind, aber ich empfehle Ihnen dringend, daran teilzunehmen, da Sie morgen ein langer Tag erwartet.

Wenn Sie Fragen haben, kann Ihr PDA Sie mit dem Informationssystem der Henry Hudson verbinden, wobei das KI-Interface Ihnen assistieren wird. Schreiben Sie einfach mit dem Stift die Frage auf oder sprechen Sie sie ins Mikrofon Ihres PDA. Außerdem finden Sie auf jedem Deck Mitarbeiter der Kolonialen Union. Bitte zögern Sie nicht, sie um Unterstützung zu bitten. Nach Maßgabe Ihrer persönlichen Informationen ist unserem medizinischen Personal bekannt, welche Probleme oder Bedürfnisse Sie haben, und gegebenenfalls hat man sich für heute Abend mit Ihnen in Ihren Quartieren verabredet. Schauen Sie in Ihrem PDA nach. Andererseits können auch Sie jederzeit die Krankenstation aufsuchen. Diese Messe wird die ganze Nacht geöffnet sein, auch wenn sie erst zum morgigen Frühstück wieder den normalen Betrieb aufnehmen wird. Auch die Zeiten und Speisekarten können Sie mit Ihrem PDA abrufen. Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass Sie alle ab morgen Ihre KVA-Rekrutenausrüstung tragen sollten, die zurzeit in Ihre Quartiere geliefert wird.«

Campbell machte eine kurze Pause und bedachte uns alle mit etwas, das er vermutlich für einen bedeutungsvollen Blick hielt. »Im Namen der Kolonialen Union und der Kolonialen Verteidigungsarmee heiße ich Sie als neue Mitbürger und als unsere neuesten Soldaten willkommen. Gott segne Sie alle und schütze Sie auf Ihren künftigen Wegen.

Falls Sie zuschauen möchten, wie wir den Orbit verlassen, suchen Sie bitte das Auditorium auf dem Beobachtungsdeck auf. Dort können Sie alles über die Videoeinspielung verfolgen. Das Auditorium ist recht groß und reicht für sämtliche Rekruten aus, sodass jeder von Ihnen einen Sitzplatz finden wird. Die Henry Hudson entwickelt eine beträchtliche Geschwindigkeit, sodass die Erde zum morgigen Frühstück nur noch eine kleine Scheibe und zu Mittag nicht mehr als ein heller Punkt am Himmel sein wird. Das ist wahrscheinlich Ihre letzte Chance, einen Blick auf Ihre Heimatwelt zu werfen. Wenn Ihnen das etwas bedeutet, empfehle ich Ihnen, es sich anzusehen.«


»Und wie ist dein Zimmergenosse?«, fragte Harry mich, als er neben mir im Auditorium Platz nahm.

»Darüber möchte ich lieber nicht reden.« Ich hatte meinen PDA konsultiert, um mich zu meinem Quartier führen zu lassen, wo mein Zimmergenosse bereits seine Sachen verstaute. Es war Leon Deak. Er sah mich nur kurz an, sagte: »Ach, schau mal einer an, der Bibelexperte«, und ignorierte mich dann geflissentlich, was in einem zehn mal zehn Fuß großen Raum gar nicht so einfach war. Leon hatte bereits die untere Koje okkupiert (was zumindest für fünfundsiebzig Jahre alte Knie die bevorzugte ist). Ich warf meine Reisetasche auf die obere Koje, nahm meinen PDA und suchte Jesse, die auf dem gleichen Deck untergebracht war. Ihre Zimmergenossin, eine nette Dame namens Maggie, ging gerade, um den Aufbruch der Henry Hudson zu verfolgen. Ich sagte Jesse, mit wem ich gestraft war. Sie lachte nur.

Sie lachte wieder, als sie Harry die Geschichte weitererzählte, der mir mitfühlend auf die Schulter klopfte. »Nimm’s nicht allzu tragisch. Es ist ja nur, bis wir Beta Pyxis erreicht haben.«

»Wo auch immer das sein mag«, sagte ich. »Wer ist dein Zimmergenosse?«

»Das kann ich dir leider nicht sagen. Er hat bereits geschlafen, als ich eintraf. Auch er hat die untere Koje genommen, dieser Mistkerl.«

»Meine Zimmergenossin ist einfach nur nett«, sagte Jesse. »Sie hat mir sofort einen Keks angeboten, als wir uns begegneten. Ihre Enkeltochter hat sie als Abschiedsgeschenk für sie gebacken.«

»Mir hat sie keinen Keks angeboten«, sagte ich.

»Sie muss ja auch nicht mit dir zusammenleben, nicht wahr?«

»Wie war der Keks?«, fragte Harry.

»Wie versteinerter Teig«, sagte Jesse. »Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass ich die beste Zimmergenossin von uns allen habe. Ich bin etwas Besonderes. Schaut mal, da ist die Erde.« Sie zeigte auf die riesige Videoleinwand des Auditoriums, die in diesem Moment zum Leben erwachte. Die Erde hing in bemerkenswerter Wiedergabegenauigkeit über uns. Der Videoschirm war ein Meisterwerk der Technik.

»Ich wünschte, ich hätte einen solchen Schirm in meinem Wohnzimmer gehabt«, sagte Harry. »Dann hätte ich die beliebtesten Super-Bowl-Parties in der Nachbarschaft veranstalten können.«

»Schaut sie euch an«, sagte ich. »Das ist der Ort, wo wir unser ganzes bisheriges Leben verbracht haben. Dort leben oder lebten alle Menschen, die uns etwas bedeuten. Und jetzt verlassen wir diese Welt. Dabei müsst ihr doch etwas empfinden.«

»Ich bin aufgeregt«, sagte Jesse. »Und traurig. Aber nicht übermäßig.«

»Traurig bin ich nicht«, sagte Harry. »Dort gab es für mich nichts mehr zu tun, außer älter zu werden und zu sterben.«

»Du weißt, dass du trotzdem jederzeit sterben kannst«, sagte ich. »Du bist in den Militärdienst eingetreten.«

»Ja, aber ich werde nicht als alter Mann sterben«, sagte Harry. »Ich erhalte eine zweite Chance, jung zu sterben und eine schöne Leiche zu hinterlassen. Das entschädigt mich dafür, dass ich diese Chance beim ersten Mal verpasst habe.«

»Du bist ein verdammter Romantiker«, sagte Jesse, ohne eine Miene zu verziehen.

»Da hast du verdammt Recht«, sagte Harry.

»Wir nehmen Fahrt auf«, sagte ich.

Die Lautsprecher übertrugen die Kommunikation zwischen der Henry Hudson und der Kolonialstation, die genaue Anweisungen für den Abflug erteilte. Dann folgten ein tiefes Brummen und leichte Vibrationen, die wir durch die Sitze spürten.

»Das Triebwerk«, sagte Harry.

Jesse und ich nickten.

Dann wurde die Erde auf dem Videoschirm langsam kleiner. Sie war immer noch riesig und strahlend blau und weiß, aber sie nahm unverkennbar bereits einen etwas kleineren Teil der Projektionsfläche ein. Wir sahen stumm zu, wie sie schrumpfte, sämtliche paar hundert Rekruten, die zu diesem Anlass ins Auditorium gekommen waren. Ich blickte zu Harry, dessen Kaltschnäuzigkeit sich in stille Nachdenklichkeit verwandelt hatte. Jesse lief eine Träne über die Wange.

»He«, sagte ich und griff nach ihrer Hand. »Nicht übermäßig traurig, ja?«

Sie sah mich lächelnd an und hielt meine Hand fest. »Nein«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Nicht übermäßig. Aber ein bisschen. Wenigstens ein bisschen.«

Wir saßen noch eine Weile da und beobachteten, wie alles, was wir jemals gekannt hatten, auf dem Videoschirm immer kleiner wurde.


Ich hatte meinen PDA darauf eingestellt, mich um sechs Uhr zu wecken, was er tat, indem er leise Musik aus den winzigen Lautsprechern erklingen und allmählich lauter werden ließ, während ich erwachte. Ich schaltete die Musik aus, stieg leise von der oberen Koje herunter und suchte dann im Schrank nach einem Handtuch, wobei ich das kleine Licht im Schrank einschaltete. Dort hingen die Rekrutenanzüge für Leon und mich, zwei Trainingsjacken und -hosen im Hellblau der Kolonialen Union, zwei hellblaue T-Shirts, zwei Bundhosen im Chino-Stil, zwei Paar weiße Socken, Unterwäsche und blaue Turnschuhe. Offenbar bestand für uns zwischen hier und Beta Pyxis kein Anlass, eine richtige Uniform zu tragen. Ich zog mir eine Trainingshose und ein T-Shirt an, schnappte mir ein Handtuch◦– auch davon hingen mehrere im Schrank◦– und lief den Gang zur Dusche hinunter.

Als ich zurückkehrte, brannte das Licht, aber Leon lag immer noch in seiner Koje. Offenbar war die Beleuchtung automatisch angegangen. Ich zog mir eine Trainingsjacke über das T-Shirt und ergänzte mein Outfit um Socken und Turnschuhe. Nun war ich zum Joggen bereit oder was auch immer ich an diesem Tag zu tun hatte. Aber zuerst frühstücken. Auf dem Weg nach draußen gab ich Leon einen Schubs. Er war ein Drecksack, aber selbst Drecksäcke verschliefen vielleicht nicht gerne eine Mahlzeit. Ich fragte ihn, ob er nicht frühstücken wollte.

»Was?«, sagte er schlaftrunken. »Nein. Lass mich in Ruhe.«

»Bist du dir sicher, Leon? Du weißt doch, was man über das Frühstück sagt. Dass es die wichtigste Mahlzeit des Tages ist und so weiter. Komm schon. Du brauchst Energie.«

Leon brummte unwillig. »Meine Mutter ist schon seit dreißig Jahren tot, und soweit ich weiß, ist sie nicht in deinem Körper zurückgekehrt. Also verschwinde endlich und lass mich weiterschlafen.«

Es erleichterte mich, dass Leon nichts von seinem Schneid verloren hatte. »Gut«, sagte ich. »Ich bin nach dem Frühstück wieder da.«

Leon grunzte und drehte sich um. Ich verließ unser Quartier.

Das Frühstück war phänomenal, und das sage ich als jemand, der mit einer Frau verheiratet war, die ein Frühstücksbüffet zubereiten konnte, bei dessen Anblick selbst Gandhi eine Fastenzeit unterbrochen hätte. Ich aß zwei belgische Waffeln, die golden, knusprig und leicht waren, gewälzt in Puderzucker und Sirup, der wie echter Vermont-Ahornsirup schmeckte (und wenn Sie nicht genau wissen, ob Sie schon einmal Vermont-Ahornsirup hatten, dann hatten Sie noch nie welchen). Dazu kam ein Klecks cremiger Butter, die kunstvoll zerschmolz und die tiefen quadratischen Senken der Waffel ausfüllte. Des Weiteren halb durchgebratene und gewendete Spiegeleier, die tatsächlich halb durchgebraten waren, vier Scheiben aus dickem, in braunem Zucker eingelegtem Schinken, Orangensaft von einer Frucht, die offenbar gar nicht bemerkt hatte, dass sie gepresst wurde, und eine Tasse frischen Kaffees.

Ich kam mir vor, als wäre ich gestorben und in den Himmel gekommen. Da ich auf der Erde nun offiziell tot war und mit einem Raumschiff durch das Sonnensystem flog, lag ich damit vermutlich gar nicht so weit daneben.

»Mein Gott!«, sagte der Kerl, der neben mir am Tisch saß, als ich mit meinem voll beladenen Tablett zurückkehrte. »So viel Fett auf nur einem Tablett. Die besten Zutaten für einen Herzinfarkt. Ich bin Arzt, müssen Sie wissen.«

»Aha«, sagte ich und zeigte auf sein Tablett. »Das sieht nach einem Omelett aus vier Eiern aus, womit Sie sich da abmühen. Mit ungefähr je einem Pfund Schinken und Cheddar.«

»›Tu nicht, was ich tue, sondern was ich sage‹. Das war mein Motto als praktizierender Arzt. Wenn mehr meiner Patienten auf mich gehört hätten, statt meinem traurigen Vorbild zu folgen, wären sie jetzt noch am Leben. Das ist eine Lektion, die uns allen zu denken geben sollte. Ich bin übrigens Thomas Jane.«

»John Perry.« Ich schüttelte ihm die Hand.

»Angenehm«, sagte er. »Aber auch ein wenig traurig, denn wenn Sie das alles wirklich essen, werden Sie innerhalb der nächsten Stunde einen Herzinfarkt erleiden.«

»Hören Sie nicht auf ihn, John«, sagte die Frau, die uns gegenübersaß. Ihr Teller wies die Spuren vertilgter Pfannkuchen und Würste auf. »Tom versucht Sie nur zu bewegen, ihm etwas von Ihrem Tablett abzugeben, damit er sich nicht noch einmal in die Schlange einreihen muss. Auf diese Weise habe ich die Hälfte meiner Würste verloren.«

»Die Anschuldigung ist genauso irrelevant, wie sie wahr ist«, sagte Thomas indigniert. »Ja, ich gebe zu, dass ich diese belgische Waffel begehre. Das kann und will ich nicht abstreiten. Aber wenn ich meine Arterien opfere, um sein Leben zu verlängern, ist es mir die Sache wert. Betrachten Sie es als kulinarisches Äquivalent des Falls, bei dem sich jemand auf eine Granate wirft, um seinen Kameraden zu retten.«

»Die meisten Granaten dürften nicht in Sirup getränkt sein«, gab sie zurück.

»Vielleicht sollte man es einführen«, sagte Thomas. »Dann würde es viel mehr Selbstlosigkeit geben.«

»Hier.« Ich schnitt eine Hälfte von einer Waffel ab. »Damit Sie etwas haben, wofür Sie sich opfern können.«

»Ich werde mich mit dem Gesicht darauf werfen«, versprach Thomas.

»Wir alle sind zutiefst erleichtert, das zu hören«, erwiderte ich.

Die Frau auf der anderen Seite des Tisches stellte sich als Susan Reardon vor. Sie kam aus Bellevue, Washington. »Wie finden Sie unser bisheriges kleines Weltraumabenteuer?«

»Wenn ich gewusst hätte, dass die Verpflegung so gut ist, hätte ich versucht, mich schon vor Jahren rekrutieren zu lassen. Wer hätte gedacht, dass das Essen in der Armee so exzellent ist?«

»Ich glaube eher, dass wir noch gar nicht richtig in der Armee sind«, sagte Thomas mit einem Bissen von der belgischen Waffel im Mund. »Das hier dürfte so etwas wie das Wartezimmer der Kolonialen Verteidigungsarmee sein, falls Sie verstehen, was ich damit meine. Und ich glaube auch nicht, dass wir später immer noch in Turnschuhen herumschlurfen werden.«

»Sie meinen, man lässt es für uns sachte angehen?«, fragte ich.

»Genau. Sehen Sie, in diesem Schiff sind tausend Leute versammelt, die sich völlig fremd sind. Alle haben ihre Heimat, ihre Familie, ihren Beruf verloren. Das ist ein verdammt schwerer psychischer Schock. Das Mindeste, was man für uns tun kann, ist eine exzellente Mahlzeit, damit wir nicht zu viel darüber nachdenken.«

»John!« Harry hatte mich aus der Schlange erspäht. Ich winkte ihn an unseren Tisch. Er kam mit seinem Tablett, gefolgt von einem anderen Mann.

»Das ist mein Zimmergenosse, Alan Rosenthal«, stellte er ihn vor.

»Auch als ehemalige Schönheitskönigin bekannt«, sagte ich.

»Von dieser Aussage trifft ungefähr die Hälfte zu«, sagte Alan. »Ich bin in der Tat eine umwerfende Schönheit.« Ich machte Harry und und Alan mit Susan und Thomas bekannt.

Thomas schnalzte tadelnd mit der Zunge, als er ihre Tabletts musterte. »Da kündigen sich zwei weitere Herzinfarkte an.«

»Wirf Tom lieber ein paar Schinkenstreifen zu, Harry«, sagte ich. »Sonst hört er nie mit diesen Sprüchen auf.«

»Ich höre es gar nicht gern, wenn man andeutet, dass ich mich mit Essbarem bestechen lasse.«

»John hat überhaupt nichts angedeutet«, sagte Susan. »Es war eine ziemlich klare Tatsachenfeststellung.«

»Ich weiß, dass die Zimmergenossenlotterie für dich schlecht ausgegangen ist«, sagte Harry zu mir, während er Thomas zwei Stück Schinken abgab, die dieser mit ernster Miene entgegennahm. »Aber ich habe das große Los gezogen. Alan ist theoretischer Physiker. Hochintelligent.«

»Und umwerfend schön«, fügte Susan hinzu.

»Danke für die Erwähnung dieses Details«, sagte Alan.

»Mir scheint, an diesem Tisch haben sich insgesamt recht intelligente Erwachsene versammelt«, sagte Harry. »Was glaubt ihr, was uns heute bevorsteht?«

»Ich soll um Punkt acht zu einer ärztlichen Untersuchung antanzen«, sagte ich. »Ich glaube, das gilt für uns alle.«

»Richtig«, sagte Harry. »Aber ich frage euch, was das alles eurer Ansicht nach zu bedeuten hat. Glaubt ihr, dass heute unsere Verjüngungstherapie beginnt? Ist heute der Tag, an dem wir aufhören, alt zu sein?«

»Wir wissen nicht, ob wir wirklich nicht mehr alt sein werden«, sagte Thomas. »Wir alle gehen davon aus, weil wir uns vorstellen, dass Soldaten jung sein sollten. Aber denkt einmal genauer darüber nach. Keiner von uns hat jemals einen Soldaten der Kolonialen Verteidigungsarmee gesehen. Wir gehen nur von Mutmaßungen aus, aber die könnten völlig falsch sein.«

»Welchen Sinn hätte es, alte Soldaten kämpfen zu lassen?«, fragte Alan. »Wenn sie mich so, wie ich bin, in den Kampf schicken, weiß ich nicht, was sie sich davon versprechen. Ich habe Rückenprobleme. Als ich gestern von der Kabine der Bohnenstange zum Shuttlegate laufen musste, hätte ich es fast nicht überlebt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich zwanzig Meilen mit Gepäck und Waffe marschieren soll.«

»Ich glaube, wir alle haben ein paar Reparaturen nötig«, sagte Thomas. »Aber das ist nicht dasselbe wie eine umfassende Verjüngung. Ich bin Arzt und kenne mich ein bisschen damit aus. Man kann den menschlichen Körper leistungsfähiger machen und in jedem Alter in Bestform sein, aber jedes Alter hat seine natürlichen Grenzen. Mit fünfundsiebzig ist der Körper einfach nicht mehr so schnell, nicht mehr so beweglich, und er lässt sich nicht mehr so leicht reparieren wie in jüngeren Jahren. Natürlich kann ich immer noch erstaunliche Leistungen vollbringen. Ich will nicht prahlen, aber auf der Erde habe ich regelmäßig an Zehn-Kilometer-Läufen teilgenommen. Mein letzter war vor knapp einem Monat. Und ich bin eine bessere Zeit gelaufen, als ich mit fünfundfünfzig gelaufen wäre.«

»Wie warst du mit fünfundfünfzig?«, fragte ich.

»Das ist der Punkt«, sagte Thomas. »Mit fünfundfünfzig war ich ein Fettkloß. Ich ließ mir ein neues Herz einsetzen und fing an, auf meine Gesundheit zu achten. Ich will darauf hinaus, dass ein trainierter Fünfundsiebzigjähriger eine Menge leisten kann, ohne im eigentlichen Sinne ›jung‹ sein zu müssen, wenn er einfach nur gut in Form ist. Vielleicht braucht man genau solche Leute für diese Armee. Vielleicht sind alle anderen intelligenten Spezies in diesem Universum leichte Opfer. Wenn das stimmt, könnte es tatsächlich sinnvoll sein, alte Soldaten in den Kampf zu schicken, weil junge Leute viel mehr Nutzen für die Gesellschaft haben. Sie haben noch ihr ganzes Leben vor sich, während man auf uns problemlos verzichten kann.«

»Also werden wir vielleicht alt bleiben, aber sehr, sehr gesund sein«, sagte Harry.

»Darauf will ich hinaus«, bestätigte Thomas.

»Hör auf damit. Damit reißt du mich runter«, sagte Harry.

»Ich werde die Klappe halten, wenn du mir deinen Obstsalat gibst«, sagte Thomas.

»Selbst wenn wir zu gesunden, durchtrainierten Fünfundsiebzigjährigen werden«, sagte Susan, »würden wir trotzdem immer älter werden. In fünf Jahren wären wir nur noch gesunde, durchtrainierte Achtzigjährige. Es muss eine Obergrenze geben, was unsere Tauglichkeit als Soldaten betrifft.«

Thomas zuckte die Achseln. »Wir haben uns für zwei Jahre verpflichtet. Vielleicht reicht es, wenn sie unsere Funktionsfähigkeit für diesen Zeitraum aufrechterhalten. Der Unterschied zwischen fünfundsiebzig und siebenundsiebzig Jahren ist nicht so groß wie zwischen fünfundsiebzig und achtzig. Oder zwischen siebenundsiebzig und achtzig. Jedes Jahr melden sich Hunderttausende von uns. Nach zwei Jahren ersetzen sie uns einfach durch eine Truppe aus jüngeren Rekruten.«

»Wir können bis zu zehn Jahre lang verpflichtet werden«, sagte ich. »So steht es im Kleingedruckten. Das würde dafür sprechen, dass sie die technischen Möglichkeiten besitzen, uns über diesen Zeitraum fit zu halten.«

»Und sie haben unsere DNS gespeichert«, sagte Harry. »Vielleicht haben sie schon Ersatzteile für uns geklont oder etwas in der Art.«

»Das ist denkbar«, räumte Thomas ein. »Aber es würde viel Arbeit machen, jedes einzelne Organ, jeden Knochen, jeden Muskel, jeden Nerv von einem geklonten Körper in unseren zu transplantieren. Und danach hätten wir immer noch unsere alten Gehirne, die sich nicht transplantieren lassen.«

Thomas blickte sich um und erkannte, das er den ganzen Tisch deprimiert hatte. »Ich will damit nicht sagen, dass wir auf gar keinen Fall wieder jung sein werden. Allein das, was wir in diesem Schiff sehen, überzeugt mich, dass die Koloniale Union viel bessere Technik besitzt, als wir zu Hause auf der Erde haben. Doch als Arzt muss ich sagen, dass ich mir nur schwer vorstellen kann, wie sich der Alterungsprozess auf so dramatische Weise umkehren ließe, wie wir alle zu glauben oder zu hoffen scheinen.«

»Die Entropie ist eine böse Hexe«, sagte Alan. »Es gibt fundierte Theorien, die diese Behauptung stützen.«

»Es gibt jedoch einen Beweis, der darauf hindeutet, dass man unseren körperlichen Zustand in jedem Fall verbessern wird«, sagte ich.

»Verrate ihn mir bitte ganz schnell«, sagte Harry. »Toms Theorie von der ältesten Armee der Galaxis verdirbt mir den Appetit.«

»Genau darum geht es«, sagte ich. »Wenn sie unsere Körper nicht reparieren könnten, würden sie uns kein Essen auftischen, dessen Fettgehalt die meisten von uns innerhalb eines Monats umbringen dürfte.«

»Das ist wahr«, sagte Susan. »Ein beeindruckendes Argument, John. Ich fühle mich schon viel besser.«

»Vielen Dank«, sagte ich. »Dieser Beweis stärkt mein Vertrauen in die Medizin der Kolonialen Verteidigungsarmee so sehr, dass ich mir noch einen Nachschlag holen werde.«

»Bring mir ein paar Pfannkuchen mit, wenn du sowieso gehst«, sagte Thomas.


»He, Leon«, rief ich und stieß gegen seine Fettmassen. »Steh auf. Die Schlummerzeit ist vorbei. Du hast um acht eine Verabredung.«

Leon lag wie ein nasser Sack in seiner Koje. Ich verdrehte die Augen, seufzte und bückte mich, um ihm einen stärkeren Schubs zu versetzen. Dabei fiel mir auf, dass seine Lippen blau waren.

Ach, du Scheiße!, dachte ich und schüttelte ihn. Keine Reaktion. Ich griff seinen Oberkörper und zog ihn von der Koje auf den Boden. Er war furchtbar schwer.

Ich zog meinen PDA hervor und forderte medizinische Unterstützung an. Dann ging ich über ihm in die Knie und pumpte ihm per Mund-zu-Mund-Beatmung Luft in die Lungen und bearbeitete seinen Brustkorb, bis zwei Mediziner der KU eintrafen und mich von ihm wegzogen.

Mittlerweile hatte sich eine kleine Menge vor der offenen Tür versammelt. Ich sah Jesse und reichte ihr die Hand, um sie in den Raum zu ziehen. Sie sah Leon am Boden liegen und schlug sich erschrocken die Hände vor den Mund. Ich drückte sie kurz an mich.

»Wie geht es ihm«, fragte ich einen der Kolonialen, der seinen PDA konsultierte.

»Er ist tot«, sagte der Mann. »Schon seit einer Stunde. Sieht ganz nach einem Herzinfarkt aus.« Er steckte den PDA ein, stand auf und blickte auf Leon herab. »Armer Kerl. Hat es so weit geschafft, und dann macht seine Pumpe schlapp.«

»Wieder einer, der sich in letzter Minute freiwillig für die Geisterbrigade entschieden hat«, sagte der andere Koloniale.

Ich warf ihm einen strengen Blick zu. Ich fand, dass ein Witz in diesem Moment von furchtbar schlechtem Geschmack zeugte.

4

»Dann wollen wir mal schauen«, sagte der Arzt und blickte auf seinen recht großen PDA, als ich sein Büro betrat. »Sie sind John Perry, richtig?«

»Richtig.«

»Ich bin Dr. Russell«, sagte er und musterte mich von oben bis unten. »Sie sehen aus, als wäre gerade Ihr Hund gestorben.«

»Nicht ganz. Es hat meinen Zimmergenossen erwischt.«

»Ach ja«, sagte er und blickte wieder auf seinen PDA. »Leon Deak. Er wäre gleich nach Ihnen dran gewesen. Verdammt schlechtes Timing. Dann wollen wir ihn mal aus dem Terminplan streichen.« Er tippte ein paar Sekunden lang auf seinem PDA herum und lächelte gepresst, als er fertig war. Dr. Russells Manieren ließen offensichtlich ein wenig zu wünschen übrig.

Dann wandte er sich wieder mir zu. »Und jetzt werde ich Sie mal etwas genauer unter die Lupe nehmen.«

Das Büro bestand aus Dr. Russell, mir, einem Stuhl für den Arzt, einem kleinen Tisch und zwei sargähnlichen Behältern. Ihre Form bildete den Umriss eines menschlichen Körpers nach, und jeder hatte eine gewölbte transparente Tür über dem geformten Bereich. Am oberen Ende jedes Sarkophags befand sich eine armähnliche Vorrichtung mit einem schalenförmigen Ende. Die Schale schien gerade so groß zu sein, um auf einen menschlichen Kopf zu passen. Das Gebilde machte mich, offen gesagt, ein wenig nervös.

»Bitte steigen Sie ein und machen Sie es sich bequem«, sagte Dr. Russel und öffnete die Tür eines Sarkophags. »Dann kann es gleich losgehen.«

»Muss ich irgendetwas ausziehen?« So weit ich mich erinnerte, war eine medizinische Untersuchung meistens mit einer körperlichen Inspektion verbunden.

»Nein. Aber wenn Sie möchten, können Sie es gerne tun.«

»Gibt es tatsächlich Leute, die sich entkleiden, auch wenn es nicht sein muss?«

»Die gibt es. Manchen fällt es schwer, mit vertrauten Gewohnheiten zu brechen.«

Ich behielt meine Sachen an. Ich legte meinen PDA auf den Tisch, ging zum Sarkophag, drehte mich um, lehnte mich zurück und passte mich ein. Dr. Russell schloss die Tür und trat zurück. »Warten Sie einen Moment, während ich die Justierungen vornehme«, sagte er und bediente seinen PDA. Ich spürte, wie sich die Form des Sarkophags veränderte, bis er sich meinen Körpermaßen angepasst hatte.

»Ein ziemlich komisches Gefühl«, sagte ich.

Dr. Russell lächelte. »Sie werden gleich eine leichte Vibration spüren.«

Er hatte Recht.

»Die anderen Leute, die mit mir im Warteraum gesessen haben«, sagte ich, während der Sarkophag sanft unter mir summte. »Wohin sind sie verschwunden, nachdem sie hier bei Ihnen waren?«

»Durch die Tür da drüben.« Er zeigte nach hinten, ohne von seinem PDA aufzublicken. »Da ist der Erholungsbereich.«

»Erholungsbereich?«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Es klingt schlimmer, als es in Wirklichkeit ist. Das meiste haben Sie bereits überstanden. Gleich sind wir fertig.« Er tippte wieder etwas in seinen PDA, und die Vibration hörte auf.

»Was soll ich jetzt tun?«

»Bleiben Sie noch einen Moment so«, sagte Dr. Russell. »Wir müssen nur noch die Auswertung der Untersuchung abwarten und die Ergebnisse durchgehen.«

»Heißt das, wir sind fertig?«

»Die moderne Medizin ist etwas Wunderbares, nicht wahr?« Er zeigte mir den Bildschirm des PDA, auf dem die Resultate der Untersuchung angezeigt wurden. »Sie müssen nicht einmal ›Aaaaa‹ sagen.«

»Toll. Aber wie gründlich kann eine solche Untersuchung sein?«

»Gründlich genug«, sagte er. »Mr. Perry, wann haben Sie sich das letzte Mal untersuchen lassen?«

»Vor etwa sechs Monaten.«

»Was hat Ihr Arzt zu Ihnen gesagt?«

»Dass ich gut in Schuss bin, abgesehen von meinem Blutdruck, der vielleicht etwas zu hoch ist. Warum?«

»Im Großen und Ganze hat er Recht«, sagte Dr. Russell, »nur dass er offenbar den Hodenkrebs übersehen hat.«

»Wie bitte?«

Dr. Russell zeigte mir ein zweites Mal den Bildschirm des PDA. Jetzt war darauf eine Falschfarbendarstellung meiner Genitalien zu sehen. Es war das erste Mal, dass mir jemand meine eigenen Geschlechtsorgane unter die Nase hielt. »Hier.« Er deutete auf einen dunklen Fleck an meinem linken Hoden. »Das ist die Geschwulst. Ziemlich dicker Brocken. Es ist auf jeden Fall Krebs.

Ich sah ihn mit finsterer Miene an. »Wissen Sie, Dr. Rusell, die meisten Ärzte hätten eine etwas einfühlsamere Methode gewählt, um mich mit dieser Neuigkeit zu konfrontieren.«

»Verzeihen Sie, Mr. Perry«, sagte er. »Ich möchte nicht gefühllos erscheinen. Aber das ist kein ernsthaftes Problem. Selbst auf der Erde ist Hodenkrebs sehr leicht zu behandeln, vor allem im Frühstadium wie in Ihrem Fall. Schlimmstenfall würden Sie einen Hoden verlieren, was allerdings kein großes Problem wäre.«

»Außer man ist der Besitzer des betreffenden Hodens.«

»Das ist eher eine psychologische Angelegenheit. Bitte machen Sie sich deswegen keine Sorgen. In ein paar Tagen werden Sie eine körperliche Generalüberholung erhalten, und dabei werden wir uns auch um Ihren Hoden kümmern. Bis dahin wird die Sache für Sie völlig unproblematisch sein. Der Krebs beschränkt sich auf den Hoden. Er hat sich noch nicht auf die Lungen oder die Lymphknoten ausgebreitet. Sie haben nichts zu befürchten.«

»Werde ich nicht mehr mit den Eiern schaukeln können?«, fragte ich.

Dr. Russell lächelte. »Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen. Abgesehen vom Krebs, der, wie gesagt, nicht weiter problematisch ist, sind Sie so gut in Form, wie man es von einem Mann im Ihrem Alter erwarten kann. Das ist eine gute Nachricht. Im Augenblick müssen wir Sie nicht weiter behandeln.«

»Was hätten Sie getan, wenn Sie etwas wirklich Schlimmes gefunden hätten?. Zum Beispiel, wenn der Krebs unheilbar gewesen wäre?«

»›Unheilbar‹ ist ein ziemlich ungenauer Begriff, Mr. Perry«, sagte der Arzt. »Auf lange Sicht sind wir alle unheilbare Fälle. Bei dieser Untersuchung geht es nur darum, alle Rekruten zu stabilisieren, die in unmittelbarer Lebensgefahr schweben, damit sie die nächsten paar Tage überstehen. Der Fall Ihres bedauernswerten Zimmergenossen Mr. Deak ist gar nicht so ungewöhnlich. Wir haben viele Rekruten, die es nicht bis in mein Untersuchungszimmer schaffen. Das ist für uns alle nicht gut.«

Dr. Russell konsultierte seinen PDA. »Im Fall von Mr. Deak, der an einem Herzinfarkt starb, hätten wir wahrscheinlich versucht, die Arterienverkalkung abzubauen und seine Arterienwände zu stärken, um Risse zu verhindern. Das ist die übliche Behandlungsmethode. Die meisten fünfundsiebzigjährigen Arterien können eine kleine Stärkung vertragen. Wenn Ihr Krebs bereits ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hätte, hätten wir die Tumore so weit herausgeschnitten, dass sie keine unmittelbare Gefahr mehr darstellen und Sie in den nächsten Tagen keine Probleme damit haben.«

»Warum hätten Sie den Krebs nicht behandelt? Das alles klingt, als hätten Sie mich auch vollständig heilen können, wenn Sie wollten.«

»Wir könnten es, aber das wäre nicht notwendig«, sagte Dr. Russell. »In ein paar Tagen werden Sie einer wesentlich gründlicheren Behandlung unterzogen. Wir sorgen nur dafür, dass Sie bis dahin durchhalten.«

»Was meinen Sie überhaupt mit einer ›wesentlich gründlicheren Behandlung‹?«

»Ich meine damit, dass Sie sich anschließend fragen werden, weshalb Sie sich jemals wegen eines kleinen Krebstumors an Ihrem Hoden Sorgen gemacht haben«, erklärte er. »Das können Sie mir glauben. Jetzt müssen wir nur noch eine Kleinigkeit erledigen. Beugen Sie bitte den Kopf vor.«

Ich tat es. Dr. Russell griff nach dem furchterregenden Arm mit der Schale und setzte sie mir genau auf den Schädel. »Es ist wichtig, dass wir in den nächsten Tagen genaue Daten über Ihre Hirnaktivitäten erhalten«, sagte er und trat zurück. »Deshalb werde ich Ihnen ein paar Sensoren in den Kopf implantieren.« Wieder tippte er auf den Bildschirm seines PDA, eine Handlung, die mir immer suspekter wurde. Ich hörte ein saugendes Geräusch, als sich die Schale auf meine Schädeldecke legte.

»Wie werden Sie das machen?«, fragte ich.

»Sie spüren in diesem Moment vermutlich ein leichtes Kribbeln auf Ihrer Kopfhaut und im Nacken«, sagte Dr. Russell, und so war es. »Das sind die Injektoren, die sich in Stellung bringen. Die Sensoren werden durch kleine Nadeln eingeführt. Die Sensoren selbst sind winzig, aber es sind eine ganze Menge. Etwa zwanzigtausend. Keine Sorge, sie sind völlig steril.«

»Wird es wehtun?«, fragte ich.

»Nicht sehr«, sagte er und tippte auf den PDA. Zwanzigtausend Mikrosensoren schossen schlagartig in meinen Schädel. Es fühlte sich an, als würde man mit mehreren Axtstielen gleichzeitig gegen meinen Kopf hämmern.

»Verdammte Scheiße!« Ich wollte nach meinem Kopf greifen, doch meine Hände schlugen nur gegen die Tür des Sarkophags. »Sie Mistkerl!«, brüllte ich Dr. Russell an. »Sie haben gesagt, dass es nicht wehtun würde.«

»Ich sagte ›nicht sehr‹.«

»Nicht so sehr, als würde mir ein Elefant auf dem Kopf herumtrampeln?«

»Nicht so sehr wie das, was Sie spüren werden, wenn sich die Sensoren miteinander verbinden«, sagte Dr. Russell. »Das Gute daran ist, dass der Schmerz aufhört, sobald die Verbindungen hergestellt sind. Jetzt bleiben Sie bitte ganz ruhig. Es wird nur eine Minute dauern.«

Wieder tippte er auf den PDA. Achtzigtausend Nadeln schossen kreuz und quer durch meinen Schädel.

Ich hatte nie zuvor ein so intensives Verlangen verspürt, einem Arzt den Hals umzudrehen.


»Ich weiß nicht«, sagte Harry. »Ich finde, es ist ein interessanter Look.« Er rieb sich den Schädel, der wie bei uns allen mit einem gesprenkelten Grau überzogen war, während zwanzigtausend subkutane Sensoren seine Hirnaktivitäten registrierten.

Die Frühstückstruppe hatte sich zum Mittagessen wieder versammelt. Diesmal wurde sie durch Jesse und ihre Zimmergenossin Maggie vervollständigt. Harry hatte erklärt, dass wir nun offiziell eine Clique bildeten, die er auf den Namen »Alte Scheißer« taufte. Außerdem forderte er, dass wir uns eine Essensschlacht mit dem Nachbartisch lieferten, doch sein Antrag wurde abgelehnt, hauptsächlich aufgrund des Vetos von Thomas, der darauf hinwies, das alle Lebensmittel, die wir durch die Gegend warfen, nicht mehr von uns verspeist werden konnten. Zudem war das Mittagsbüffet noch besser als das Frühstück, auch wenn eine Steigerung kaum vorstellbar war.

»Und es hat noch einen positiven Effekt«, sagte Thomas. »Nach dieser Gehirnoperation heute Vormittag war ich so sauer, dass ich fast den Appetit verloren hätte.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Susan.

»Dir scheint entgangen zu sein, dass ich ›fast‹ gesagt habe«, entgegnete Thomas. »Ich hätte wirklich gerne einen von diesen Särgen in meiner Praxis gehabt. Damit hätte ich meine Arbeitszeit um achtzig Prozent reduzieren und viel häufiger Golf spielen können.«

»Ich bin beeindruckt, wie viel dir am Wohl deiner Patienten liegt«, sagte Jesse.

»Ich habe mit den meisten Golf gespielt«, sagte Thomas. »Sie wären genauso begeistert gewesen wie ich. So sehr es mich schmerzt, es zugeben zu müssen, aber dieses Ding hat meinem Arzt zu einer viel genaueren Diagnose verholfen, als sie mir jemals möglich gewesen wäre. Es ist der Traum eines jeden Mediziners. Es hat einen mikroskopisch kleinen Tumor in meiner Bauchspeicheldrüse festgestellt. Zu Hause hätte ich ihn erst diagnostizieren können, wenn er wesentlich größer geworden wäre oder ein Patient mit eindeutigen Symptomen zu mir gekommen wäre. Wurden bei jemandem von euch unerwartete Zipperlein gefunden?«

»Lungenkrebs«, sagte Harry. »Ein paar kleine Flecken.«

»Zysten am Eierstock«, sagte Jesse.

Maggie nickte nur.

»Rheumatoide Arthritis im Frühstadium«, sagte Alan.

»Hodenkrebs«, sagte ich.

Alle Männer am Tisch zuckten zusammen. »Autsch«, sagte Thomas.

»Der Arzt versicherte mir, dass ich es überleben werde«, sagte ich.

»Nur dass du beim Gehen humpeln wirst«, sagte Susan.

»Es reicht! Ich möchte dazu keine dummen Sprüche mehr hören!«

»Ich verstehe nur nicht, warum man unsere kleinen Probleme nicht behoben hat«, sagte Jesse. »Mein Arzt zeigte mir eine Zyste von der Größe einer Kaugummikugel, aber er meinte, ich sollte mir deswegen keine Sorgen machen. Ich glaube, ich bin einfach nicht der Typ, der sich wegen einer solchen Sache keine Sorgen machen wird.«

»Thomas, du bist doch angeblich Arzt«, sagte Susan und klopfte sich auf die grau gespenkelte Schädeldecke. »Was hat es mit diesen kleinen Scheißdingern auf sich? Warum macht man nicht einfach eine Tomografie von unserem Gehirn?«

»Wenn ich raten müsste«, sagte Thomas, »und mehr kann ich nicht tun, denn ich habe nicht den leisesten Schimmer, würde ich sagen, dass sie sehen wollen, wie unsere Gehirne arbeiten, während wir ausgebildet werden. Das geht nicht, während wir an eine Maschine angeschlossen sind, also schließen sie stattdessen die Maschinen an uns an.«

»Danke für die überzeugende Erklärung, auf die ich längst von selbst gekommen bin«, sagte Susan. »Ich wollte auf die Frage hinaus, welchen Zweck diese Art von Messung erfüllen könnte.«

»Keine Ahnung«, sagte Thomas. »Vielleicht brauchen sie die Daten, wenn sie uns neue Gehirne verpassen. Oder sie haben eine Möglichkeit gefunden, bestimmte Hirnareale auszubessern, und dazu müssen sie schauen, welche Teile eine Überholung brauchen. Ich hoffe nur, dass sie uns nicht noch mehr von diesen Dingern verpassen müssen. Heute vormittag hätten mich die Schmerzen fast umgebracht.«

»Apropos«, sagte Alan und wandte sich an mich. »Ich habe gehört, dass du heute Früh deinen Zimmergenossen verloren hast. Wie kommst du damit zurecht?«

»Es geht«, sagte ich. »Obwohl es schon recht deprimierend ist. Mein Arzt sagte, wenn er bis zum Untersuchungstermin durchgehalten hätte, wäre er vielleicht noch zu retten gewesen. Er hätte ihm den Kalk aus den Arterien gespült oder etwas in der Art. Ich überlege, ob ich ihn hätte überzeugen sollen, zum Frühstück aufzustehen. Die Bewegung hätte ihn vielleicht lange genug am Leben erhalten, sodass er den Termin hätte wahrnehmen können.«

»Mach dir deswegen keine Vorwürfe«, sagte Thomas. »Du konntest es nicht ahnen. Menschen sterben nun einmal.«

»Klar, aber wenn es nur wenige Tage vor einer ›Generalüberholung‹ passiert, wie mein Arzt sich ausdrückte …«

»Ich möchte keineswegs makaber erscheinen …«, sagte Harry.

»Was nur heißen kann, dass es jetzt richtig makaber wird«, warf Susan ein.

»…aber wenn in meiner Collegezeit ein Zimmergenosse starb«, fuhr Harry fort und warf ein Stück Brot nach Susan, »musste man nicht an den Abschlussprüfungen des Semesters teilnehmen. Aus Rücksicht auf den Schock.«

»Seltsamerweise blieben dann auch dem Zimmergenossen die Abschlussprüfungen erspart«, sagte Susan. »Und zwar fast aus demselben Grund.«

»So habe ich es noch nie betrachtet«, sagte Harry. »Glaubst du, dass dir die Eignungstests erspart bleiben, die für heute angesetzt sind?«

»Das bezweifle ich«, antwortete ich. »Und selbst wenn, würde ich das Angebot nicht annehmen. Was sollte ich stattdessen tun? Den ganzen Tag in meinem Quartier hocken? Davon würde ich erst recht Depressionen bekommen. Schließlich ist dort gerade jemand gestorben, wisst ihr.«

»Du könntest umziehen«, sagte Jesse. »Vielleicht zu jemand anderem, dessen Zimmergenosse ebenfalls gestorben ist.«

»Das wird ja immer morbider! Außerdem will ich nicht umziehen. Natürlich tut es mir leid, dass Leon gestorben ist. Aber jetzt habe ich ein ganzes Zimmer für mich allein.«

»Wie es scheint, hat er schon angefangen, darüber hinwegzukommen«, sagte Alan.

»Ich versuche nur, den Schmerz möglichst schnell zu verarbeiten.«

»Du redest nicht viel, was?«, sagte Susan unvermittelt zu Maggie.

»Stimmt«, sagte Maggie.

»Sagt mal, was habt ihr eigentlich als Nächstes auf dem Stundenplan?«, fragte Jesse.

Jeder griff nach seinem PDA, dann hielten alle mit schuldbewusster Miene inne.

»Überlegt euch mal, wie highschoolmäßig das jetzt war«, sagte Susan.

»Was soll’s?«, sagte Harry und zog trotzdem seinen PDA hervor. »Wir haben uns sogar schon zu einer Clique zusammengeschlossen. Also können wir die Sache auch weiter durchziehen.«


Es stellte sich heraus, dass Harry und ich unseren ersten Eignungstest gemeinsam absolvieren sollten. Wir wurden zu einem Konferenzraum geleitet, in dem man Tische und Stühle aufgestellt hatte.

»Ach, du Scheiße«, sagte Harry, als wir uns setzten. »Wir sind wirklich wieder in der Highschool!«

Diese Einschätzung bestätigte sich, als eine Koloniale den Raum betrat. »Sie werden jetzt auf grundlegende sprachliche und mathematische Fertigkeiten getestet«, sagte die Prüferin. »Die Fragen werden jetzt in Ihren PDA geladen. Es handelt sich um einen Multiple-Choice-Test. Bitte beantworten Sie innerhalb der vorgegebenen dreißig Minuten so viele Fragen wie möglich. Wenn Sie vor Ablauf der halben Stunde fertig sind, bleiben Sie bitte ruhig sitzen oder gehen Sie Ihre Antworten noch einmal durch. Bitte arbeiten Sie nicht mit anderen Rekruten zusammen. Sie dürfen jetzt anfangen.«

Ich blickte auf meinen PDA. Auf dem Bildschirm erschien eine Frage, in der es um synonyme Begriffe ging.

»Das kann nicht euer Ernst sein!«, sagte ich. Auch andere Leute im Raum lachten leise.

Harry hob eine Hand. »Welche Punktzahl muss ich erreichen, um von Harvard angenommen zu werden?«

»Den Spruch habe ich schon ein paarmal gehört«, entgegnete sie. »Bitte konzentrieren Sie sich jetzt auf die Prüfung.«

»Ich habe sechzig Jahre lang darauf gewartet, meine Mathenote verbessern zu können«, sagte Harry. »Schauen wir mal, wie ich jetzt abschneide.«


Der zweite Eignungstest war sogar noch schlimmer.

»Bitte verfolgen Sie das weiße Quadrat. Benutzen Sie nur die Augen, bewegen Sie nicht den Kopf.« Die Koloniale dämpfte die Beleuchtung im Raum. Sechzig Augenpaare konzentrierten sich auf ein weißes Quadrat an der Wand, das sich langsam in Bewegung setzte.

»Ich fasse es nicht, dass wir dafür in den Weltraum aufbrechen mussten«, sagte Harry.

»Vielleicht ist das noch nicht alles«, sagte ich. »Wenn wir Glück haben, kriegen wir noch ein weißes Quadrat zu sehen.«

Als Nächstes erschien ein weißes Quadrat auf der Wand.

»Gib’s zu, du warst schon einmal hier!«, sagte Harry.

Später wurden Harry und ich getrennt, und die nächsten Tests musste ich allein bestehen.

Im ersten Zimmer befanden sich ein Kolonialer und ein Haufen Bauklötze.

»Bauen Sie daraus bitte ein Haus«, sagte der Koloniale.

»Nur wenn ich danach einen Lutscher bekomme«, sagte ich.

»Ich werde mal sehen, was ich für Sie tun kann«, versprach der Koloniale. Ich stapelte die Bauklötze zu einem Haus auf, dann betrat ich das nächste Zimmer, in dem ein anderer Kolonialer mir ein Blatt Papier und einen Stift reichte.

»Fangen Sie in der Mitte des Labyrinths an und versuchen Sie, einen Weg nach draußen zu finden.«

»Mein Gott!«, sagte ich. »Das schafft selbst eine hirnamputierte Ratte.«

»Wenn Sie meinen«, sagte der Koloniale. »Trotzdem wüssten wir gerne, ob auch Sie es schaffen.«

Ich schaffte es. Im nächsten Zimmer forderte ein Kolonialer mich auf, ihm die eingeblendeten Zahlen und Buchstaben zuzurufen. Ich hörte auf, mich über den Sinn dieser Tests zu wundern und tat einfach, was man von mir erwartete.


Irgendwann am Nachmittag riss mir der Geduldsfaden.

»Ich habe Ihre Personalakte gelesen«, sagte der Koloniale, ein magerer junger Mann, der aussah, als würde eine kräftige Windböe ihn wie einen Drachen davonfliegen lassen.

»Schön«, sagte ich.

»Darin steht, dass Sie verheiratet waren.«

»Stimmt.«

»Hat es Ihnen gefallen? Verheiratet zu sein?«

»Klar. Auf jeden Fall besser als die Alternative.«

Er sah mich verschmitzt an. »Was ist passiert? Scheidung? Zu viel in der Gegend rumgevögelt?«

Zu Anfang fand ich den Kerl noch auf widerwärtige Weise amüsant, doch diese Einschätzung kehrte sich schnell ins Gegenteil um. »Sie ist gestorben«, sagte ich.

»Aha? Wie ist das passiert?«

»Sie hatte einen Schlaganfall.«

»Ein Schlaganfall ist etwas Wunderbares«, sagte er. »Es macht Bumm, und das Gehirn ist nur noch ein grauer Pudding. Gut, dass sie es nicht überlebt hat. Dann wäre sie jetzt nur noch ein fetter, bettlägriger Zombie. Sie müssten sie mit einer Schnabeltasse füttern und so weiter.« Er gab schlürfende Geräusche von sich.

Ich sagte nichts. Ein Teil meines Gehirns überlegte, ob ich schnell genug war, um aufzuspringen und ihm das Genick zu brechen, aber der Rest meines Verstandes ließ mich einfach nur in blinder Wut reglos dasitzen. Ich konnte nicht fassen, was ich gerade gehört hatte.

Ein sehr tief gelegener Teil meines Gehirns sagte mir, dass ich allmählich wieder atmen sollte, weil ich ansonsten demnächst in Ohnmacht fallen würde.

Plötzlich piepte der PDA des Kolonialen. »Okay«, sagte er und stand schnell auf. »Wir sind fertig. Mr. Perry. Ich bitte um Entschuldigung für die Bemerkungen, die ich zum Tod Ihrer Frau geäußert habe. Meine Aufgabe besteht darin, die Rekruten so schnell wie möglich zu einer zornigen Reaktion zu verleiten. Unsere psychologische Auswertung hat ergeben, dass Sie am empfindlichsten auf die Art von Bemerkungen reagieren würden, die Sie soeben gehört haben. Ich versichere Ihnen, dass ich in einem persönlichen Gespräch niemals solche Bemerkungen über Ihre verstorbene Frau von mir geben würde.«

Ich sah den Mann ein paar Sekunden lang verdutzt an und blinzelte wie ein Idiot. Dann brüllte ich ihn an. »Was für ein kranker Scheißtest sollte DAS sein?«

»Ich stimme Ihnen zu, dass es ein recht unangenehmer Test ist, und möchte mich erneut entschuldigen. Ich führe nur meine zugewiesene Arbeit aus, mehr nicht.«

»Meine Fresse! Ist Ihnen klar, dass ich Ihnen fast den beschissenen Hals umgedreht hätte?«

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.« Seine Stimme klang so ruhig und beherrscht, dass es ihm offenbar wirklich klar war. »Mein PDA, der Ihren Erregungszustand gemessen hat, piepte, kurz bevor Sie explodiert wären. Aber ich hätte es auch so gespürt. Ich mache ständig solche Test. Ich weiß, was ich zu erwarten habe.«

Ich war immer noch dabei, mich abzuregen. »So etwas machen Sie mit jedem Rekruten? Wie haben Sie es geschafft, so lange zu überleben?«

»Ich verstehe Ihre Frage«, sagte der Mann. »Ich wurde unter anderem für diese Arbeit ausgewählt, weil mein schmächtiger Körperbau bei den Rekruten den Eindruck erweckt, dass sie mich mühelos überwältigen können. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich durchaus in der Lage bin, mich gegen einen Rekruten zur Wehr zu setzen, wenn es sein muss. Auch wenn es normalerweise nicht nötig ist. Wie ich bereits erwähnte, führe ich diese Tests sehr häufig durch.«

»Das ist kein sehr netter Job.« Endlich war es mir gelungen, wieder in vernünftigen Bahnen zu denken.

»Wie heißt es so schön? ›Es ist ein schmutziger Job, aber irgendjemand muss ihn machen.‹ Ich finde ihn durchaus interessant, da jeder Rekrut einen anderen Schwachpunkt besitzt, der ihn zum Ausrasten bringt. Aber Sie haben Recht. Die Arbeit ist mit einem hohen Stressfaktor verbunden. Das hält nicht jeder durch.«

»Ich wette, dass Sie in einer Bar sehr schnell Kontakt finden«, sagte ich.

»Mir wird immer wieder bescheinigt, dass ich sehr charmant bin◦– wenn ich nicht gerade damit beschäftigt bin, Leute auf die Palme zu bringen. Mr. Perry, wir sind fertig. Wenn Sie bitte durch die Tür zu Ihrer Rechten treten würden. Dort wartet die nächste Prüfung auf Sie.«

»Ich hoffe, man versucht nicht noch einmal, mich auf die Palme zu bringen.«

»Es mag sein, dass Sie sich über einen der nächsten Tests ärgern, aber dann liegt es ganz allein an Ihnen. Diese Prüfung führen wir bei jedem Rekruten nur ein einziges Mal durch.«

Ich machte mich auf den Weg zur Tür, dann blieb ich noch einmal stehen. »Ich weiß, dass Sie nur Ihren Job gemacht haben. Aber ich möchte Ihnen trotzdem sagen, dass meine Frau ein wunderbarer Mensch war. Sie hat es nicht verdient, auf diese Weise missbraucht zu werden.«

»Ich weiß, Mr. Perry«, sagte der Mann. »Ich weiß.«

Ich trat durch die Tür.

Im nächsten Raum fand ich eine sehr nette junge Dame vor, die zufällig völlig nackt war. Sie forderte mich dazu auf, mir alles, woran ich mich erinnerte, über die Party anlässlich meines siebten Geburtstags zu erzählen.


»Ich fasse es nicht, dass sie uns diesen Film unmittelbar vor dem Abendessen gezeigt haben«, sagte Jesse.

»Es war nicht unmittelbar vor dem Abendessen«, sagte Thomas. »Danach kam noch der Zeichentrickfilm mit Bugs Bunny. Aber eigentlich war er gar nicht so schlecht.«

»Es mag sein, dass Sie einen Film über chirurgische Eingriffe an den Eingeweiden nicht als widerwärtig empfinden, Herr Doktor, aber für uns Normalsterbliche sind solche Szenen starker Tobak«, sagte Jesse.

»Heißt das, du möchtest die Rippchen vielleicht doch nicht essen?«, fragte Thomas und zeigte auf ihren Teller.

»Hattet ihr auch mit einer nackten Frau zu tun, die euch nach eurer Kindheit ausgefragt hat?«, wechselte ich das Thema.

»Bei mir war es ein Mann«, sagte Susan.

»Ich hatte eine Frau«, sagte Harry.

»Einen Mann«, sagte Jesse.

»Eine Frau«, sagte Thomas.

»Einen Mann«, sagte Alan.

Alle Blicke richteten sich auf ihn.

»Was ist?«, sagte Alan. »Ich bin schwul.«

»Was soll der Schwachsinn?«, fragte ich. »Nicht dass Alan schwul ist, sondern das mit den Nackten, meine ich.«

»Danke«, sagte Alan trocken.

»Sie versuchen uns bestimmte Reaktionen zu entlocken, mehr nicht«, sagte Harry. »In allen Tests, denen wir heute unterzogen wurden, ging es um grundlegende intellektuelle oder emotionale Reaktionen, die die Basis für komplexere und subtilere Empfindungen und geistige Fähigkeiten darstellen. Sie wollten damit nur feststellen, wie wir auf einer sehr elementaren Ebene denken und reagieren. Die Nackten sollten uns offenbar sexuell anregen.«

»Aber warum haben sie uns dann nach unserer Kindheit ausgefragt?«, wollte ich wissen.

Harry zuckte hob die Schultern. »Was wäre Sex ohne Schuldgefühle?«

»Was mich zum Ausrasten gebracht hat, war der Test, bei dem wir zum Ausrasten gebracht werden sollten«, sagte Thomas. »Ich hätte den Kerl zu Hackfleisch verarbeiten können! Er sagte, die Cubs hätten längst in die Unterliga strafversetzt werden müssen, nachdem sie seit zwei Jahrhunderten keine Weltmeisterschaft mehr gewonnen haben.«

»Gar kein schlechter Vorschlag«, sagte Susan.

»Jetzt fang du auch noch an!«, regte sich Thomas auf. »Mann! Merkt euch gefälligst, dass ich nichts auf die Cubs kommen lasse!«


Nachdem man uns am ersten Tag alle möglichen demütigenden intellektuellen Leistungen abverlangt hatte, ging es am zweiten Tag um alle möglichen demütigenden körperlichen Leistungen beziehungsweise den Mangel derselben.

»Hier ist ein Ball«, sagte ein Prüfer zu mir. »Dribbeln Sie damit.« Ich tat es. Dann sagte man mir, dass ich in den nächsten Raum gehen sollte.

Ich arbeitete einen kleinen Parcours mit verschiedenen Sportgeräten ab. Ich wurde aufgefordert, eine kleine Strecke zu rennen. Ich machte ein bisschen leichte Gymnastik. Ich wurde vor ein Videospiel gesetzt. Ich sollte mit einer Lichtpistole ein Ziel an einer Wand treffen. Ich schwamm. (Dieser Teil gefiel mir am besten. Ich bin schon immer gerne geschwommen, solange sich mein Kopf über Wasser befindet.) Zwei Stunden lang wurde ich mit mehreren anderen Rekruten in einen Raum gesperrt und aufgefordert, zu tun, was ich wollte. Ich spielte ein bisschen Billard. Ich spielte eine Runde Tischtennis. Und so wahr mir Gott helfe, ich spielte sogar Shuffleboard.

Dabei brach mir nicht ein einziges Mal der Schweiß aus.

»Was für eine blöde Armee soll das sein?«, fragte ich die Alten Scheißer beim Mittagessen.

»Es ergibt durchaus Sinn«, sagte Harry. »Gestern wurden wir auf elementare intellektuelle und emotionale Eigenschaften geprüft. Heute ging es um die allgemeine körperliche Geschicklichkeit. Auch diesmal schien man sich für die Grundlagen komplexerer Leistungen zu interessieren.«

»Mir ist nicht klar, welche komplexeren Fähigkeiten sich bei einem Tischtennisspiel zeigen«, sagte ich.

»Die Koordination von Auge und Hand«, sagte Harry. »Zeitgefühl. Zielgenauigkeit.«

»Außerdem weiß man nie, wann man eine Granate zurückwerfen muss«, warf Alan ein.

»Genau«, bestätigte Harry. »Was sollen sie deiner Meinung nach stattdessen mit uns machen? Uns einen Marathon laufen lassen? Wir alle würden zusammenbrechen, bevor wir die erste Meile geschafft hätten.«

»Schließ nicht von dir auf andere«, sagte Thomas.

»Ich muss mich korrigieren«, sagte Harry. »Unser Freund Thomas würde sechs Meilen schaffen, bevor sein Herz schlappmacht. Falls er nicht vorher einen Eingeweidekrampf bekommt.«

»Red keinen Unsinn«, sagte Thomas. »Jeder weiß, dass man vor einem Lauf genügend Kohlehydrate als Energiequelle braucht. Deshalb werde ich mir jetzt noch einen Nachschlag von den Fettucini holen.«

»Niemand hat gesagt, dass du heute noch einen Marathon laufen sollst«, sagte Susan.

»Der Tag ist noch jung«, gab Thomas zurück.

»Für mich steht heute nichts mehr auf dem Stundenplan«, sagte Jesse. »Ich habe für den Rest des Tages frei. Und für morgen ist nur die ›Abschließende Körperliche Verbesserung‹ von sechs bis zwölf Uhr angesetzt und danach eine Versammlung aller Rekruten um zwanzig Uhr.«

»Auch ich habe heute keine Termine mehr«, sagte ich. Ein kurzer Rundumblick verriet mir, dass es bei allen anderen am Tisch genauso war. »Was machen wir jetzt, damit uns nicht langweilig wird?«

»Irgendwo wird sich bestimmt noch ein Shuffleboard auftreiben lassen«, sagte Susan.

»Ich habe eine bessere Idee«, sagte Harry. »Hat jemand um fünfzehn Uhr schon was vor?«

Allgemeines Kopfschütteln.

»Großartig«, sagte Harry. »Dann treffen wir uns hier wieder. Die Alten Scheißer werden einen kleinen Ausflug unternehmen.«


»Dürfen wir überhaupt hier sein?«, fragte Jesse.

»Klar«, sagte Harry. »Warum nicht? Und selbst wenn nicht, was wollen sie mit uns machen? Wir sind ja noch gar nicht richtig in der Armee. Also können sie uns kein offizielles Disziplinarverfahren anhängen.«

»Das nicht, aber sie können uns durch eine Luftschleuse nach draußen pusten«, sagte Jesse.

»Blödsinn«, sagte Harry. »Das wäre eine Verschwendung von kostbarer Luft.«

Harry hatte uns auf ein Beobachtungsdeck in einem Bereich des Schiffes geführt, der den Kolonialen vorbehalten war. Man hatte uns Rekruten zwar nicht ausdrücklich erlaubt, die Decks der Kolonialen zu betreten, aber man hatte es uns auch nicht verboten. Unsere siebenköpfige Gruppe stand auf dem verlassenen Deck wie Schulkinder vor einer Peepshow.

Was unserer Situation sogar ziemlich nahe kam.

»Während unserer heutigen Übungen habe ich einen Kolonialen in ein Gespräch verwickelt«, sagte er. »Dabei erwähnte er, dass die Henry Hudson heute um fünfzehn Uhr fünfunddreißig den Skip durchführen wird. Und ich schätze mal, dass noch keiner von uns jemals einen Skip beobachtet hat. Also habe ich ihn gefragt, von wo aus man einen guten Blick haben würde. Der Mann empfahl diese Stelle. Und da wären wir, und wir haben noch …«◦– er blickte auf seinen PDA◦– »vier Minuten Zeit.«

»Tut mir leid«, sagte Thomas. »Ich wollte die Truppe nicht aufhalten. Die Fettucini waren ausgezeichnet, aber mein Dickdarm schien da anderer Meinung zu sein.«

»Bitte verzichte in Zukunft darauf, uns über solche Einzelheiten zu informieren«, sagte Susan. »Dazu kennen wir uns noch nicht gut genug.«

»Wie sonst wollt ihr mich besser kennen lernen?«

Niemand hielt es für nötig, auf Thomas’ Frage zu antworten.

»Weiß irgendjemand, wo wir sind?«, fragte ich, nachdem eine Weile Schweigen geherrscht hatte. »In astronomischer Hinsicht, meine ich.«

»Wir sind immer noch im Sonnensystem«, sagte Alan und zeigte aus dem Fenster. »Das sieht man an den vertrauten Sternbildern. Da drüben ist Orion. Wenn wir mehrere Lichtjahre von der Erde entfernt wären, hätten die Sterne ihre Positionen am Himmel verändert. Die Konstellationen wären verzerrt oder gar nicht mehr wiederzuerkennen.«

»Wohin werden wir skippen?«, fragte Jesse.

»Zum Phoenix-System«, sagte Alan. »Aber das dürfte euch nicht weiterhelfen, weil Phoenix der Name des Planeten und nicht des Sterns ist. Es gibt ein Sternbild namens Phoenix◦– und zwar genau dort …«◦– er zeigte auf eine kleine Sterngruppe◦– »aber der Planet Phoenix ist kein Begleiter der betreffenden Sonnen. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, befindet er sich im Sternbild Lupus, das ein Stück weiter nördlich steht.« Er zeigte auf eine andere Konstellation aus nicht so hellen Sternen. »Aber von hier aus können wir das Zentralgestirn nicht mit bloßem Auge erkennen.«

»Du kennst dich offenbar ziemlich gut am Himmel aus«, sagte Jesse bewundernd.

»Danke«, sagte Alan. »In jüngeren Jahren wollte ich Astronom werden, aber Astronomen werden verdammt schlecht bezahlt. Also sattelte ich auf theoretische Physik um.«

»Gibt es haufenweise Geld dafür, sich neue subatomare Partikel auszudenken?«, fragte Thomas.

»Das nicht«, räumte Alan ein. »Aber ich habe ein Modell entwickelt, mit dessen Hilfe die Firma, für die ich arbeitete, ein neues System zur besseren Energieausnutzung bei nautischen Fahrzeugen bauen konnte. Nach dem Motivationsprogramm der Firma stand mir ein Prozent vom Gewinn zu, den dieses System abwarf. Was unter dem Strich mehr Geld war, als ich ausgeben konnte, obwohl ich mir wirklich alle Mühe gegeben habe.«

»Reichtum muss was Nettes sein«, sagte Susan.

»Es war gar nicht so schlecht«, gab Alan zu. »Obwohl ich jetzt natürlich nicht mehr reich bin. Schließlich gibt man alles auf, wenn man in die Armee eintritt. Und man verliert auch andere Dinge. Ich meine damit, dass mein Wissen über die Sternbilder in etwa einer Minute völlig überflüssig sein wird. Dort, wo wir hinfliegen, gibt es keinen Orion, keine Ursa Minor und keine Kassiopeia. Es klingt vielleicht blöd, aber vielleicht werde ich die Sternbilder mehr vermissen als das Geld. Man kann jederzeit neues Geld verdienen. Aber wir kehren nie mehr zur Erde zurück. Es ist das letzte Mal, dass ich diese alten Freunde sehe.«

Susan ging zu Alan und legte ihm den Arm um die Schultern. Harry blickte auf seinen PDA. »Gleich geht es los«, sagte er und zählte die verbleibenden Sekunden ab. Als er bei »eins« ankam, blickten wir alle aus dem Fenster.

Es war ziemlich undramatisch. Eben noch sahen wir einen von Sternen erfüllten Himmel. Im nächsten Moment sahen wir einen anderen von Sternen erfüllten Himmel. Hätte man in diesem Moment geblinzelt, hätte man es gar nicht bemerkt. Trotzdem war offensichtlich, dass es sich um einen fremden Himmel handelte. Wir kannten uns zwar nicht so gut aus wie Alan, aber die meisten von uns konnten Orion oder den Großen Wagen im Sternengewimmel identifizieren. Doch nun waren sie verschwunden. Es war eine verstörende Erfahrung, auch wenn ihre Abwesenheit erst auf den zweiten Blick auffiel. Ich blickte zu Alan hinüber. Er stand da, als wäre er zur Salzsäule erstarrt, während Susan seine Hand hielt.

»Wir drehen uns«, sagte Thomas. Wir beobachteten wie sich die Sterne gegen den Uhrzeigersinn wegdrehten, als die Henry Hudson den Kurs änderte. Plötzlich hing der riesige blaue Arm des Planeten Phoenix über uns. Und darüber (oder darunter, wenn man uns als Bezugspunkt nahm) schwebte eine Raumstation, die so gewaltig und so betriebsam war, dass wir sie nur verdattert anstarren konnten.

Es dauerte eine Weile, bis jemand sprach. Zur Überraschung aller war es Maggie. »Schaut euch das an!«, sagte sie.

Wir alle drehten uns zu ihr um.

Sie sah uns mit verärgerter Miene an. »Ich bin keineswegs stumm«, sagte sie. »Ich rede nur nicht viel. Aber das hier muss man einfach irgendwie kommentieren.«

»Stimmt«, sagte Thomas und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Im Vergleich dazu wirkt die Kolonialstation wie ein Haufen Kotze.«

»Wie viele Schiffe sind das?«, fragte Jesse.

»Schwer zu sagen. Dutzende. Vielleicht sogar Hunderte. Ich wusste gar nicht, dass überhaupt so viele Raumschiffe existieren.«

»Falls jemand unter uns immer noch der Meinung sein sollte, die Erde sei das Zentrum des von Menschen beherrschten Universums«, sagte Harry, »wäre jetzt ein guter Moment, um diese Ansicht zu revidieren.«

Wir alle starrten durch das Fenster auf die neue Welt.


Mein PDA weckte mich um 5.45 Uhr, was ungewöhnlich war, da ich ihn auf 6.00 Uhr gestellt hatte. Der Bildschirm blinkte. Eine Nachricht mit dem Vermerk DRINGEND war eingetroffen. Ich öffnete sie.


HINWEIS:

Von 6.00 bis 12.00 Uhr werden wir für alle Rekruten den abschließenden körperlichen Verbesserungsprozess durchführen. Um einen möglichst zügigen Ablauf zu gewährleisten, müssen alle Rekruten in ihren Quartieren bleiben, bis Mitarbeiter eintreffen, um sie zur körperlichen Verbesserung abzuholen. Damit der Vorgang reibungslos durchgeführt werden kann, werden die Türen der Quartiere ab 6.00 Uhr verriegelt. Bitte nutzen Sie die verbleibende Zeit, um alle persönlichen Angelegenheiten zu regeln, für die die Benutzung der Toiletten oder anderer Bereiche außerhalb Ihres Quartiers erforderlich ist. Sollten Sie nach 6.00 Uhr eine Toilette aufsuchen müssen, setzen Sie sich bitte über Ihren PDA mit dem Quartiermeister auf Ihrem Deck in Verbindung.

Sie werden 15 Minuten vor Ihrem Termin benachrichtigt. Sorgen Sie bitte dafür, dass Sie angekleidet und bereit sind, wenn die Mitarbeiter an Ihrer Tür eintreffen. Das Frühstück fällt heute aus; das Mittag- und Abendessen wird zur gewohnten Zeit serviert.


In meinem Alter muss man mich nicht zweimal auffordern, pinkeln zu gehen. Ich stapfte zur Toilette, um die Angelegenheit zu erledigen, und hoffte, dass ich nicht allzu lange auf meinen Termin warten musste, weil ich nur ungern um Erlaubnis fragte, wenn ich mich später erneut erleichtern musste.

Tatsächlich musste ich nicht allzu lange warten. Um 9.00 Uhr informierte mich mein PDA über den bevorstehenden Termin, und um 9.15 Uhr klopfte es an meiner Tür, und eine Männerstimme rief meinen Namen. Ich öffnete. Draußen standen zwei Koloniale. Ich holte mir von ihnen die Erlaubnis zu einem kurzen Zwischenstopp an der Toilette, dann folgte ich ihnen zum Wartezimmer von Dr. Russell. Wenig später wurde ich aufgefordert, in das Behandlungszimmer zu treten.

»Mr. Perry, es freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. Die Kolonialen, die mich begleitet hatten, gingen durch eine Tür auf der anderen Seite hinaus. »Bitte gehen Sie zur Diagnoseeinheit.«

»Als ich es das letzte Mal getan habe, haben Sie mir mehrere tausend Metallstückchen in den Schädel geschossen«, sagte ich. »Verzeihen Sie bitte, wenn ich Ihrer Aufforderung diesmal nur zögernd Folge leisten kann.«

»Das verstehe ich«, sagte Dr. Russell. »Doch heute wird die Sache völlig schmerzfrei ablaufen. Außerdem stehen wir ein wenig unter Zeitdruck. Wenn ich Sie also bitten dürfte…« Er deutete auf den Sarkophag.

Widerstrebend stieg ich hinein. »Wenn ich auch nur das leiseste Kneifen verspüre, werde ich Ihnen die Fresse polieren«, warnte ich ihn.

»Auch dafür habe ich Verständnis«, sagte Dr. Russell und schloss die Tür. Ich bemerkte, dass er sie im Gegensatz zum letzten Mal verriegelte. Vielleicht nahm er meine Drohung durchaus ernst. Mir sollte es recht sein. »Wie fanden Sie die letzten Tage, Mr. Perry?«, fragte er mich.

»Verwirrend und ärgerlich«, sagte ich. »Wenn ich gewusst hätte, dass ich wie ein Vorschulkind behandelt werde, hätte ich mich wahrscheinlich nicht zum Militärdienst gemeldet.«

»Ungefähr das Gleiche sagen fast alle. Also will ich Ihnen etwas genauer erklären, was wir damit bezweckt haben. Wir haben Sie aus zwei Gründen mit den Sensoren ausgestattet. Vermutlich haben Sie sich bereits gedacht, dass wir Ihre Hirnaktivitäten messen, während Sie bestimmte Handlungen ausführen oder Gefühlszustände erleben. Jedes menschliche Gehirn verarbeitet Informationen und Erfahrungen auf sehr ähnliche Weise, aber jeder Mensch benutzt dazu ganz eigene Methoden und Prozesse. Es ist vergleichbar mit der Tatsache, dass wir alle fünf Finger an jeder Hand haben, aber völlig individuelle Fingerabdrücke besitzen. Mit diesen Messungen haben wir versucht, Ihren mentalen Fingerabdruck zu ermitteln. Leuchtet Ihnen das ein?«

Ich nickte.

»Gut. Also wissen Sie jetzt, warum Sie in den vergangenen zwei Tagen recht alberne und blöde Dinge tun mussten.«

»Zum Beispiel einer nackten Frau erzählen, was an meinem siebten Geburtstag passiert ist.«

»Durch diesen Test konnten wir sehr viele nützliche Informationen gewinnen.«

»Das leuchtet mir nicht ein.«

»Dies Sache ist technisch sehr kompliziert«, sagte Dr. Russell. »Jedenfalls haben wir in den letzten Tagen ein ziemlich gutes Bild bekommen, wie die Nervenbahnen in Ihrem Gehirn verdrahtet sind und wie es alle möglichen Reize verarbeitet. Diese Informationen können wir als Schablone benutzen.«

Bevor ich ›Als Schablone wofür?‹ fragen konnte, fuhr Dr. Russell fort. »Zweitens leisten die Sensoren viel mehr, als nur aufzuzeichnen, was Ihr Gehirn tut. Sie übermitteln außerdem ein Echzeitmodell Ihrer Hirnaktivität. Oder um es anders auszudrücken: Sie übertragen Ihr Bewusstsein. Das ist sehr wichtig, denn im Gegensatz zu bestimmten mentalen Prozessen lässt sich das Bewusstsein nicht aufzeichnen. Es muss aktiv sein, damit der Transfer funktioniert.«

»Der Transfer«, sagte ich.

»Richtig«, sagte Dr. Russell.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich frage, was, zum Teufel, das alles bedeuten soll?«

Dr. Russell lächelte. »Mr. Perry, als Sie den Rekrutierungsvertrag unterschrieben haben, dachten Sie, wir würden Sie wieder jung machen, nicht wahr?«

»Klar. Das denkt jeder. Man kann einen Krieg nicht mit alten Soldaten gewinnen. Trotzdem rekrutieren Sie Greise. Sie müssen eine Möglichkeit haben, sie wieder jung zu machen.«

»Was glauben Sie, wie wir das machen?«, fragte Dr. Russell.

»Ich weiß es nicht. Mit einer Gentherapie? Mit geklonten Ersatzteilen? Irgendwie tauschen Sie alte gegen neue Körperteile aus.«

»Das ist zur Hälfte richtig«, sagte Dr. Russell. »Wir arbeiten tatsächlich mit gentherapeutisch geklontem Ersatzmaterial. Aber wir tauschen nichts aus. Das Einzige, was wir austauschen, sind Sie

»Das verstehe ich nicht.« Mir wurde plötzlich sehr kalt, als würde mir die Wirklichkeit unter den Füßen weggezogen.

»Ihr Körper ist alt, Mr. Perry. Er wird nicht mehr allzu lange funktionieren. Es hätte keinen Sinn, ihn retten oder aufrüsten zu wollen. Daran ist nichts, was wertvoller wird, wenn es altert oder durch Ersatzteile wieder reibungslos funktioniert. Wenn ein menschlicher Körper altert, altert er einfach nur. Also werden wir ihn entsorgen. Von Ihrem alten Körper können wir nichts mehr gebrauchen. Der einzige Teil von Ihnen, den wir behalten werden, ist der einzige Teil, der nicht schlechter geworden ist◦– Ihr Geist, Ihr Bewusstsein, Ihre mentale Individualität.«

Dr. Russell ging zur Tür hinüber, durch die die Kolonialen hinausgegangen waren, und klopfte an. Dann drehte er sich wieder zu mir um. »Schauen Sie sich Ihren Körper noch mal gut an, Mr. Perry«, sagte er. »Denn Sie müssen sich von ihm verabschieden. Sie werden jetzt woanders hingehen.«

»Wohin werde ich gehen, Dr. Russell?« Ich brachte kaum genug Spucke zusammen, um sprechen zu können.

»Hierher«, sagte er und öffnete die Tür.

Aus dem Nachbarraum kamen die Kolonialen zurück. Einer von ihnen schob einen Rollstuhl, in dem jemand saß. Ich reckte den Hals, um ihn mir anzusehen. Dann begann ich heftig zu zittern.

Ich saß darin.

Ich vor fünfzig Jahren.

5

»Jetzt entspannen Sie sich bitte«, sagte Dr. Russell zu mir.

Die Kolonialen hatten meine jüngere Version zum zweiten Sarkophag geschoben und waren nun dabei, den Körper hineinzubefördern. Er, ich oder es leistete keinen Widerstand und war leblos wie eine Leiche◦– oder wie jemand im Wachkoma. Ich war fasziniert. Und gleichzeitig entsetzt. Eine leise Stimme in meinem Kopf sagte, dass es gut war, dass ich noch einmal zur Toilette gegangen war, weil ich mich jetzt bestimmt nass gemacht hätte.

»Wie…?«, begann ich, doch weiter kam ich nicht. Mein Mund war zu trocken, um sprechen zu können. Dr. Russell wandte sich an einen der Kolonialen, der ging und kurz darauf mit einem kleinen Becher zurückkehrte. Dr. Russell hielt den Becher, während ich das Wasser trank. Das war gut so, denn ich hätte es nicht geschafft, ihn in der Hand zu halten.

»Ein Wie leitet an dieser Stelle für gewöhnlich eine von zwei Fragen ein«, sagte er. »Die erste lautet: Wie konnten Sie eine jüngere Version von mir herstellen? Darauf würde ich antworten, dass wir Ihnen vor zehn Jahren eine Genprobe entnommen haben, mit der wir Ihren neuen Körper hergestellt haben.« Er stellte den Becher weg.

»Einen Klon«, sagte ich◦– endlich konnte ich wieder etwas sagen.

»Nein. Zumindest nicht ganz. Ihre DNS wurde stark modifiziert. Der größte Unterschied müsste offensichtlich sein◦– die Haut Ihres neuen Körpers.«

Ich schaute hinüber und sah sofort, was er meinte. Unter dem ersten Schock der Konfrontation hatte ich die auffälligste Andersartigkeit völlig übersehen.

»Er ist grün«, sagte ich.

»Sie sind grün, meinen Sie«, erwiderte Dr. Russell. »Das heißt, Sie werden es in etwa fünf Minuten sein. Damit wäre die erste Wie-Frage beantwortet. Die zweite lautet: Wie soll das mein neuer Körper werden?« Er zeigt auf meinen grünhäutigen Doppelgänger. »Die Antwort: indem wir Ihr Bewusstsein transferieren.«

»Wie?«, fragte ich.

»Indem wir Sie beziehungsweise das Bild Ihrer Hirnaktivitäten, die von den Sensoren gemessen werden, in Ihr neues Gehirn senden«, erklärte Dr. Russell. »Anhand des Gedankenmusters, das wir in den vergangenen Tagen ermittelt haben, wurde Ihr neues Gehirn auf Ihr spezielles Bewusstsein vorbereitet. Wenn wir Sie hinüberschicken, wird es Ihnen recht vertraut vorkommen. Natürlich ist das nur die vereinfachte Zusammenfassung des Verfahrens; in Wirklichkeit ist es sehr kompliziert. Aber das muss vorläufig reichen. Jetzt wollen wir Sie anschließen.«

Dr. Russell griff nach dem Arm und wollte mir wieder die Schale aufsetzen. Unwillkürlich bewegte ich den Kopf zur Seite, worauf er innehielt. »Diesmal werden wir Ihnen nichts einpflanzen, Mr. Perry«, sagte er. »Die Injektorkappe wurde durch einen Signalverstärker ersetzt. Es besteht kein Grund zur Sorge.«

»Tut mir leid«, sagte ich und brachte meinen Kopf wieder in Stellung.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen.« Dr. Russell drückte mir die Schale auf den Schädel. »Sie nehmen es gelassener als die meisten Rekruten. Der Kerl vor Ihnen hat wie ein abgestochenes Schwein geschrien und ist in Ohnmacht gefallen. Wir mussten ihn bewusstlos transferieren. Bald wird er aufwachen und jung und grün und sehr verwirrt sein. Glauben Sie mir, Sie verhalten sich vorbildlich!«

Ich lächelte und blickte zum Körper, der bald mir gehören würde. »Wo ist seine Kappe?«

»Er braucht keine.« Dr. Russell tippte etwas in seinen PDA ein. »Wie ich bereits erwähnte, ist sein Körper erheblich modifiziert worden.«

»Das klingt ziemlich unangenehm.«

»Das werden Sie anders sehen, sobald Sie drinnen sind.« Dr. Russell ließ seinen PDA sinken und wandte sich wieder mir zu. »Gut, wir sind so weit. Ich werde Ihnen jetzt sagen, was als Nächstes geschehen wird.«

»Bitte.«

Er zeigte mir den Bildschirm des PDA. »Wenn ich auf diese Taste drücke, senden die Sensoren Ihre Hirnaktivitäten an den Verstärker. Wenn eine ausreichende Datenmenge gesammelt wurde, verbinde ich diese Einheit mit einem speziellen Computer. Gleichzeitig wird eine ähnliche Verbindung zu Ihrem neuen Gehirn drüben geöffnet. Wenn die Verbindung steht, senden wir Ihr Bewusstsein in Ihr neues Gehirn. Wenn wir Ihre normale Hirnaktivität im neuen Gehirn registrieren, trennen wir die Verbindung. Dann ist es vollbracht. Sie werden ein neues Gehirn und einen neuen Körper haben. Noch Fragen?«

»Kommt es vor, dass diese Prozedur fehlschlägt?«

»Es sieht Ihnen ähnlich, ausgerechnet diese Frage zu stellen«, sagte Dr. Russell. »Die Antwort lautet: Ja, es kommt vor. Es kann etwas schiefgehen, doch es passiert extrem selten. Ich mache diesen Job seit zwanzig Jahren und habe mehrere tausend Transfers durchgeführt, und nur in einem einzigen Fall hat es nicht geklappt. Die betreffende Frau erlitt während des Transfers einen schweren Schlaganfall. Ihre Hirnmuster wurden chaotisch, und das Bewusstsein ließ sich nicht mehr transferieren. Alle anderen haben es problemlos überstanden.«

»Das heißt, solange ich nicht sterbe, werde ich am Leben bleiben.«

»Eine interessante Art, es zu formulieren. Aber im Prinzip haben Sie Recht.«

»Woran erkennen Sie, dass mein Bewusstsein transferiert wurde?«

»Wir sehen es an den Messwerten.« Dr. Russell tippte gegen seinen PDA. »Und daran, dass Sie es uns sagen werden. Glauben Sie mir, Sie werden es merken, wenn der Transfer vollzogen ist.«

»Woher wissen Sie es?«, fragte ich. »Haben Sie diese Prozedur schon selber durchgemacht? Den Transfer?«

Dr. Russell lächelte. »Sogar schon zweimal.«

»Aber Sie sind gar nicht grün.«

»Das liegt am zweiten Transfer. Man muss nicht für immer grün bleiben«, sagte er, fast mit einem wehmütigen Unterton. Dann blinzelte er und konsultierte wieder seinen PDA. »Ich fürchte, wir müssen die Fragestunde jetzt beenden, Mr. Perry. Nach Ihnen sollen noch weitere Rekruten transferiert werden. Sind Sie bereit?«

»Nein, verdammt, ich bin nicht bereit. Ich habe Angst, so sehr, dass meine Eingeweide es nicht mehr lange überstehen werden.«

»Dann will ich es anders formulieren«, sagte Dr. Russell. »Sind Sie bereit, es hinter sich zu bringen?«

»Um Gottes willen, ja!«

»Dann geht es jetzt los«, sagte Dr. Russell und drückte auf die Taste auf seinem PDA.

Durch den Sarkophag ging ein leichter Stoß, als sich darin etwas einschaltete. Ich blickte zu Dr. Russell. »Der Verstärker«, sagte er. »Dieser Teil wird etwa eine Minute dauern.«

Ich brummte als Zeichen, dass ich seine Erklärung zur Kenntnis genommen hatte, und richtete die Augen auf mein neues Ich. Es lag reglos im Sarkophag wie eine Wachsfigur, die beim Herstellungsprozess versehentlich mit grüner Farbe getränkt worden war. Ansonsten sah er genauso aus wie ich vor sehr langer Zeit◦– sogar noch besser. Damals war ich nicht gerade der sportlichsten einer gewesen. Diese Version von mir sah jedoch aus, als hätte er Muskeln wie ein Profischwimmer. Und er hatte tolles, volles Haar!

Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, in diesem Körper zu stecken.

»Wir haben jetzt die volle Auflösung errreicht«, sagte Dr. Russell. »Ich öffne die Verbindung.« Er machte etwas mit seinem PDA.

Ich spürte einen kleinen Ruck, dann fühlte es sich plötzlich an, als wäre mein Kopf eine riesige hallende Kammer. »Boh!«, sagte ich.

»Der Echoeffekt?«, fragte Dr. Russell, und ich nickte. »Das ist der Computer. Ihr Bewusstsein nimmt die leichte Zeitverzögerung zwischen hier und dort wahr. Kein Grund zur Sorge. Gut, ich stelle jetzt die Verbindung zwischen dem Computer und dem neuen Körper her.« Wieder tippte er auf den PDA.

Auf der anderen Seite des Raums öffnete mein neues Ich die Augen.

»Das habe ich gemacht«, sagte Dr. Russell.

»Er hat Augen wie eine Katze«, sagte ich.

»Sie haben Augen wie eine Katze«, sagte Dr. Russell. »Beide Verbindungen sind klar und ungestört. Ich beginne jetzt mit dem Transfer. Sie werden nun eine gewisse Desorientierung verspüren.« Wieder kam der PDA zum Einsatz …

…und ich fiel

tiiiiiiieeeeeeef hinunter

(dabei kam ich mir vor, als würde ich durch ein feines Maschengeflecht gedrückt werden)

und Erinnerungen an mein ganzes Leben stürzten wie eine zusammenbrechende Ziegelmauer auf mich ein

ein klares bild, wie ich vor dem altar stehe

wie kathy durch die kirche auf mich zukommt

wie sich ihr Schuh im saum ihres kleides verhakt

wie sie leicht stolpert

und sich geschickt abfängt

wie sie mich lächelnd anschaut

als wollte sie sagen

glaubst du so etwas könnte mich aufhalten?

*ein weiteres bild von kathy wo zum teufel habe ich die vanille hingetan und dann das klappern als die teigschüssel herunterfällt*

(mensch kathy!)

Und dann bin ich wieder ich und starrte benommen in das Behandlungszimmer, und ich schaue genau in Dr. Russels Gesicht und gleichzeitig auf seinen Hinterkopf. Ich denke Mann, toller Trick!, und es kommt mir vor, als hätte ich gerade in Stereo gedacht.

Dann wird mir alles klar. Ich bin an zwei Stellen gleichzeitig.

Ich lächle und sehe, wie mein altes Ich und mein neues Ich simultan lächeln.

»Ich breche gerade die Gesetze der Physik«, sage ich aus zwei Mündern zu Dr. Russell.

Und er sagt: »Sie sind drin.«

Und dann drückt er wieder eine Taste seines verdammten PDA.

Und dann bin ich nur noch in einfacher Ausführung vorhanden.

Der andere. Ich weiß es, weil ich nicht mehr auf mein neues Ich schaue, sondern auf mein altes.

Und er sieht mich an, als wäre ihm soeben klar geworden, dass etwas sehr Seltsames geschehen ist.

Und dann scheint der Blick zu sagen: Ich werde nicht mehr gebraucht.

Und dann schließt er die Augen.


»Mr. Perry«, sagte Dr. Russell. Dann wiederholte er es, und schließlich schlug er mir leicht auf die Wange.

»Ja«, antwortete ich. »Entschuldigung. Jetzt bin ich da.«

»Wie lautet Ihr vollständiger Name?«

Ich dachte etwa eine Sekunde darüber nach. »John Nicholas Perry.«

»Wann haben Sie Geburtstag?«

»Am zehnten Juni.«

»Wie lautet der Name Ihrer Klassenlehrerin in der zweiten Klasse?«

Ich sah Dr. Russell an. »Mein Gott, daran konnte ich mich nicht einmal erinnern, als ich noch meinen alten Körper hatte.«

Dr. Russell lächelte. »Willkommen in Ihrem neuen Leben, Mr. Perry. Sie haben die Prozedur mit Bravur überstanden.« Er entriegelte die Tür des Sarkophags und ließ sie weit aufschwingen. »Kommen Sie bitte heraus.«

Ich legte meine Hände◦– meine grünen Hände◦– an die Seiten des Sarkophags und hievte mich heraus. Ich stellte den rechten Fuß auf den Boden und wankte leicht. Dr. Russell trat neben mich, um mich zu stützen. »Vorsichtig«, sagte er. »Sie waren in letzter Zeit ein wesentlich älterer Mann. Es wird eine Weile dauern, bis Sie sich daran erinnert haben, wie sich ein jüngerer Körper anfühlt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Zum Beispiel können Sie jetzt wieder gerade stehen.«

Er hatte Recht. Ich stand leicht nach vorn gebeugt (Kinder, trinkt eure Milch!), doch dann richtete ich mich auf und ging einen weiteren Schritt. Und noch einen. Sehr gut, ich wusste noch, wie man lief. Ich strahlte wie ein Schuljunge, als ich quer durch den Raum stapfte.

»Wie fühlen Sie sich?«, wollte Dr. Russell wissen.

»Vor allem fühle ich mich jung«, sagte ich, aber nur mit wenig Überschwänglichkeit.

»Mit Recht«, sagte Dr. Russell. »Dieser Körper hat ein biologisches Alter von zwanzig Jahren. In Wirklichkeit ist er noch wesentlich jünger, da wir sie heutzutage sehr schnell heranwachsen lassen können.«

Ich machte versuchsweise einen Sprung und kam mir wie ein Gummiball vor. »Ich bin nicht einmal alt genug, um wieder Alkohol trinken zu dürfen.«

»Drinnen sind Sie immer noch fünfundsiebzig.«

Ich hörte mit dem Springen auf und ging zu meinem alten Körper, der immer noch im Sarkophag lag. Er sah traurig und eingefallen aus, wie ein alter Koffer. Ich legte eine Hand an mein altes Gesicht. Es war immer noch warm, ich spürte einen Atemhauch. Ich zuckte zusammen.

»Er lebt noch!«, sagte ich und wich zurück.

»Er ist hirntot«, sagte Dr. Russell schnell. »Alle Ihre kognitiven Funktionen wurden transferiert. Unmittelbar danach habe ich das Gehirn abgeschaltet. Der Körper arbeitet nur noch vegetativ◦– die Lungen atmen, und das Herz schlägt, aber viel mehr passiert nicht. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Wenn man sich nicht um ihn kümmern würde, wäre er in ein paar Tagen tot.«

Ich wagte mich wieder näher an meinen alten Körper heran. »Was wird mit ihm passieren?«

»Wir werden ihn eine Weile einlagern«, sagte Dr. Russell. »Mr. Perry, ich hetze nur ungern, aber es wird Zeit, dass Sie in Ihr Quartier zurückkehren, damit ich meine Arbeit mit dem nächsten Rekruten fortsetzen kann. Bis Mittag habe ich noch etliche auf der Warteliste.«

»Ich hätte sehr viele Fragen zu meinem neuen Körper.«

»Wir haben eine Broschüre vorbereitet«, sagte Dr. Russell. »Ich habe sie auf Ihren PDA überspielen lassen.«

»Oh. Danke.«

»Keine Ursache.« Dr. Russell zeigte auf die Kolonialen. »Diese Männer werden Sie in Ihr Quartier zurückbringen. Noch einmal herzlichen Glückwunsch.«

Ich ging zu den Kolonialen, und wir wandten uns der Tür zu. Dann blieb ich noch einmal stehen. »Einen Moment. Ich habe etwas vergessen.« Ich kehrte zu meinem alten Körper zurück, der immer noch im Sarkophag lag, dann drehte ich mich zu Dr. Russell um. »Ich würde gerne die Tür öffnen.« Der Arzt nickte. Ich entriegelte die Tür und machte sie auf. Ich hob die linke Hand meines alten Ichs. Am Ringfinger steckte ein einfacher Goldring. Ich zog ihn ab und steckte ihn auf meinen Ringfinger. Dann legte ich die Hände um mein altes Gesicht.

»Danke«, sagte ich zu mir. »Danke für alles.«

Dann verließ ich zusammen mit den Kolonialen den Raum.


IHR NEUES ICH
Eine Vorstellung Ihres neuen Körpers
Für Rekruten der Kolonialen Verteidigungsarmee
Von der Abteilung Koloniale Genetik
Die seit zwei Jahrhunderten bessere Körper baut!

[Das stand auf der Titelseite der Broschüre, die ich mit meinem PDA abrufen konnte. Dazu müssen Sie sich als Illustration die berühmte Studie des menschlichen Körpers von da Vinci vorstellen, allerdings mit einem grünen Mann in der Mitte. Aber das nur nebenbei.]


Inzwischen haben Sie Ihren neuen Körper von der Kolonialen Verteidigungsarmee erhalten. Herzlichen Glückwunsch! Ihr neuer Körper ist das Endergebnis jahrzehntelanger Arbeit von Wissenschaftlern und Ingenieuren aus der Abteilung Koloniale Genetik, und er wurde für die strengen Anforderungen des KVA-Dienstes optimiert. Dieses Dokument soll Ihnen eine kurze Einführung in die wichtigsten Eigenschaften und Funktionen Ihres neuen Körpers geben und beantwortet einige der häufigsten Fragen, die von Rekruten zu ihrem neuen Körper gestellt werden.


NICHT NUR EIN NEUER KÖRPER- EIN BESSERER KÖRPER

Ihnen ist zweifellos die grünliche Hautfarbe Ihres neuen Körpers aufgefallen. Das ist keineswegs nur eine kosmetische Angelegenheit. Ihre neue Haut (KloraDerm™) enthält Chorophyll. Das bedeutet, Ihr Körper verfügt über eine zusätzliche Energiequelle und ist in der Lage, sowohl Sauerstoff als auch Kohlendioxid optimal zu nutzen. Die Folge: Sie fühlen sich länger fit und sind besser in der Lage, Ihre Pflichten als Mitglied der KVA auszuführen! Das ist jedoch nur eine von mehreren Verbesserungen, die Sie an Ihrem neuen Körper bemerken werden. Hier ein paar weitere:

- Ihr Blut wurde durch SmartBlood™ ersetzt, ein revolutionäres System mit einer um den Faktor vier gesteigerten Fähigkeit, Sauerstoff zu transportieren, während es Ihren Körper gleichzeitig vor Krankheiten, Giftstoffen und Tod durch Blutverlust schützt!

- Unsere patentierte CatsEye™-Technologie verleiht Ihnen ein Sehvermögen, das Sie sehen müssen, um es zu glauben! Eine erhöhte Zahl von Stäbchen und Zäpfchen ermöglicht Ihnen eine erheblich bessere Bildauflösung, als sie von den meisten natürlichen Systemen erreicht wird. Zusätzlich ermöglichen Ihnen speziell abgestimmte Lichtverstärker, auch unter minimalen Beleuchtungsverhältnissen gut zu sehen.

- UncommonSense™, ein Paket zur Verbesserung von Sinneswahrnehmungen, lässt Sie hören, riechen, schmecken und fühlen, wie Sie es nie zuvor erlebt haben. Durch optimierte Nervenanordnung wird das Spektrum Ihrer Wahrnehmungsfähigkeit in jeder Hinsicht erweitert. Sie werden den Unterschied vom ersten Tag an spüren.

- Wie stark wären Sie gerne? Mit der HardArm™-Technologie, die Ihre natürliche Muskelkraft und Reaktionszeit steigert, werden Sie stärker und schneller sein, als Sie in Ihren kühnsten Träumen für möglich gehalten hätten◦– so stark und schnell, dass es der Kolonialen Genetik gesetzlich nicht erlaubt ist, dieses Produkt auf dem freien Markt zu verkaufen. Das ist ein echter Bonus für unsere Rekruten!

- Nie mehr ohne Verbindung! Sie können Ihren BrainPal™-Computer niemals verlieren, weil er in Ihr Gehirn eingebaut ist. Unser patentierter Adaptiver Interface-Assistent (AIA) arbeitet mit Ihnen, sodass Sie ganz nach Ihren Wünschen auf Ihren BrainPal™ zugreifen können. Ihr BrainPal™ kümmert sich außerdem um die Koordinierung der Funktionen von SmartBlood™ und anderer nichtorganischer Technologien in Ihrem neuen Körper. Die Mitarbeiter der KVA schwören auf diese atemberaubende Technik◦– und Sie werden es auch tun.


DIE ENTWICKLUNG IHRES BESSEREN ICHS

Es dürfte für Sie zweifellos erstaunlich sein, wozu Ihr neuer Körper imstande ist. Vielleicht haben Sie sich schon gefragt, wie er entwickelt wurde. Möglicherweise interessiert es Sie, dass Ihr Körper nur das neueste Modell einer langen Serie von ständig verbesserten Körpern ist, die von der Abteilung Koloniale Genetik designt wurden. In unserer Markentechnologie nutzen wir sowohl genetische Informationen von anderen Spezies als auch neue Fortschritte in der miniaturisierten Robotik, um Ihren neuen Körper zu verbessern. Es ist harte Arbeit, aber Sie werden froh sein, dass wir uns solche Mühe gemacht haben!

Seit unseren ersten Durchbrüchen vor fast zwei Jahrhunderten haben wir kontinuierlich an unseren Produkten weitergearbeitet. Bevor wir Änderungen und Verbesserungen umsetzen, testen wir sie mit Hilfe von leistungsfähigen Computermodellen, um die Auswirkung jeder Modifikation auf das gesamte Körpersystem zu simulieren. Die Verbesserungen, die diesen Test bestehen, werden anschließend an biologischen Modellen ausprobiert. Erst danach kommt eine Modifikation in den neuen Körpern zum Einsatz und wird in das Ausgangsmaterial, das Sie mit Ihrer DNS zur Verfügung stellen, integriert. Sie können also beruhigt sein: Jedes System Ihres neuen Körpers ist gründlich getestet und sicher und wird ein besseres Ich aus Ihnen machen!


HÄUFIG GESTELLTE FRAGEN ZU IHREM NEUEN KÖRPER

1. Hat mein neuer Körper einen Markennamen?

Ja! Ihr neuer Körper trägt die Typenbezeichnung Defender-Serie XII, Modell »Herkules«. Die interne Bezeichnung lautet KG/ KVA Modell 12, Version 1.2.11. Dieses Modell kommt ausschließlich in der Kolonialen Verteidigungsarmee zum Einsatz. Darüber hinaus ist jeder Körper mit einer Seriennummer versehen, die für Wartungszwecke benötigt wird. Sie können Ihre persönliche Seriennummer über Ihren BrainPal™ abrufen. Aber keine Sorge, im alltäglichen Leben können Sie weiterhin Ihren gewohnten Personennamen benutzen!


2. Altert mein neuer Körper?

Die Körper der Defender-Serie sind darauf ausgelegt, während der gesamten Betriebsdauer optimale Leistungen im Dienst der KVA zu erbringen. Dazu wurden fortschrittliche genetische Regenerationstechniken eingebaut, um der natürlichen Entropie entgegenzuwirken. Wenn Ihr Körper regelmäßig gewartet wird, bleibt er praktisch unbegrenzt in Topform. Außerdem werden Sie feststellen, dass Verletzungen und Behinderungen sehr schnell behoben werden. Das heißt, Sie werden in kürzester Zeit wieder auf den Beinen sein!


3. Kann ich diese erstaunlichen Verbesserungen an meine Kinder weitergeben?

Nein. Ihr Körper und die integrierten biologischen und technischen Systeme sind Patente der Abteilung Koloniale Genetik, die nicht ohne Genehmigung weitergegeben werden dürfen. Aufgrund der umfangreichen Verbesserungen an der Defender-Serie ist die DNS nicht mehr mit dem Erbgut unmodifizierter Menschen kompatibel, sodass bei einer Fortpflanzung keine überlebensfähigen Embryos entstehen, wie Labortests ergeben haben. Darüber hinaus hat die KVA bestimmt, dass die Fähigkeit zur Weitergabe genetischer Informationen für ihre Mitarbeiter nicht von Belang ist. Deshalb sind alle Modelle der Defender-Serie unfruchtbar. Sonstige sexuelle Funktionen sind jedoch in vollem Umfang verfügbar.


4. Ich bin verunsichert, was die theologischen Konsequenzen des Lebens in einem neuen Körper betrifft. Was sollte ich tun?

Die Abteilung Koloniale Genetik sowie die KVA vertritt keinen offiziellen Standpunkt hinsichtlich der theologischen oder psychologischen Aspekte, die mit dem Transfer eines Bewusstseins in einen anderen Körper verbunden sein können. Doch uns ist bewusst, dass viele Rekruten Fragen zu diesem Thema haben. Jeder Rekrutentransporter wird von geistlichem Personal begleitet, das die meisten größeren Religionsgemeinschaften der Erde vertritt. Zusätzlich kann der Rat psychologischer Therapeuten in Anspruch genommen werden. Wir empfehlen Ihnen, Kontakt aufzunehmen und einen Gesprächstermin zu vereinbaren.


5. Wie lange werde ich in meinem neuen Körper bleiben?

Die Körper der Defender-Serie sind ausschließlich für den Dienst in der KVA bestimmt. Solange Sie der KVA angehören, können Sie die technischen und biologischen Möglichkeiten dieses neuen Körpers benutzen und genießen. Wenn Sie die KVA verlassen, wird man Ihnen einen neuen unmodifizierten Körper zur Verfügung stellen, der nach Ihrer originalen DNS geklont ist.


Alle Mitarbeiter der Abteilung Koloniale Genetik möchten Sie zu Ihrem neuen Körper beglückwünschen! Er wird Ihnen während Ihrer Dienstzeit in der Kolonialen Verteidigungsarmee gute Dienste leisten. Danke, dass Sie bereit sind, den Kolonien zu dienen- und viel Spaß mit Ihrem neuen Körper!


Ich legte den PDA weg, ging zum Waschbecken meines Quartiers hinüber und schaute mir im Spiegel mein neues Gesicht an.

Am auffälligsten waren die Augen. Mein alter Körper hatte braune Augen gehabt◦– matschbraun, aber mit ein paar interessanten goldenen Tupfern. Kathy wies mich immer wieder darauf hin, dass sie gelesen hätte, diese Farbflecken in der Iris wären einfach nur Fettablagerungen. Ich hatte also verfettete Augen.

Wenn meine alten Augen fett waren, waren die neuen eindeutig extrem korpulent. Außerhalb der Pupille waren sie golden, nur am Rand kam eine leichte Grünschattierung hinzu. Die Umrandung der Iris war ein tiefes Smaragdgrün, mit kleinen Zacken in dieser Farbe, die auf die Pupille zielten. Die Pupillen selbst waren geschlitzt und hatten sich im hellen Licht der Lampe über dem Spiegel zusammengezogen. Ich schaltete diese Lampe aus, dann auch die Deckenbeleuchtung des Quartiers. Jetzt war eine kleine Leuchtdiode am PDA die einzige Lichtquelle im ganzen Raum. Für meine alten Augen wäre die Umgebung damit stockfinster gewesen.

Meine neuen Augen brauchten nur einen kurzen Moment, um sich daran anzupassen. Ich nahm das Zimmer als recht dunkel wahr, aber ich konnte jeden Gegenstand deutlich erkennen. Ich ging zum Spiegel zurück und sah, dass sich meine Pupillen erweitert hatten, als hätte man mir eine Überdosis Belladonna verabreicht. Ich schaltete die Lampe über dem Spiegel wieder ein und beobachtete, wie sich meine Pupillen mit erstaunlicher Schnelligkeit zusammenzogen.

Ich zog mich aus und schaute mir meinen Körper zum ersten Mal in aller Ruhe an. Der erste Eindruck von meiner Figur erwies sich als korrekt. Ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken soll: Ich hatte einen Traumkörper! Ich strich mit der Hand über meine Brust und den Waschbrettbauch. So fit und athletisch war ich in meinem ganzen Leben noch nie gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie es geschafft hatten, mich so gut in Schuss zu bringen. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, um wieder so wabbelig zu werden, wie ich in meinen Zwanzigern wirklich gewesen war. Dann überlegte ich, ob es überhaupt möglich war, dass dieser Körper wabbelig wurde, wenn man bedachte, was sie alles mit der DNS angestellt hatten. Ich hoffte, dass ich so bleiben würde, wie ich war. Denn mein neues Ich gefiel mir ausgezeichnet.

Außerdem war ich von den Augenbrauen abwärts völlig haarlos.

Ich meine, ich hatte ansonsten wirklich kein einziges Haar am Körper. Glatte Arme, glatte Beine, glatter Rücken (nicht dass er nie zuvor nicht glatt gewesen wäre, ähem) und glatte Geschlechtsteile. Ich rieb mir das Kinn, ob irgendwo der Ansatz von Bartstoppeln zu spüren war. So glatt wie ein Babypopo. Oder wie mein eigener jetzt war. Ich blickte auf mein Gemächt. Wenn ich ehrlich war, wirkte es ohne Haare etwas verloren. Meine Kopfbehaarung war voll und von einem unauffälligen Braun. Das war keine besondere Veränderung gegenüber meiner vorherigen Inkarnation.

Ich hob eine Hand, um mir die Hautfarbe etwas genauer anzusehen. Es war ein Grünton, der recht hell, aber nicht grell war. Das war in Ordnung. Ich hätte es nicht ertragen, wenn ich lindgrün gewesen wäre. Am ganzen Körper wies die Haut einen gleichmäßigen Farbton auf, nur die Brustwarzen und die Spitze meines Penis waren ein wenig dunkler. Im Wesentlichen schien mein Körper die gleichen Farbkontraste aufzuweisen wie zuvor, nur eben in einem anderen Farbton. Und ich bemerkte noch etwas: Meine Venen waren auffälliger als früher, und sie waren eher grau. Ich wusste nicht, welche Farbe SmartBlood™ hatte, aber ich vermutete, dass es nicht blutrot war.

Ich zog mich wieder an.

Mein PDA piepte mich an. Ich warf einen Blick auf den Bildschirm. Ich hatte eine Nachricht erhalten.

Sie haben nun Zugang zu Ihrem BrainPal™-Computersystem, stand dort. Möchten Sie es jetzt aktivieren? Darunter waren zwei Felder für JA und NEIN. Ich drückte auf JA.

Plötzlich ertönte eine tiefe, volle Stimme aus dem Nichts. Ich hätte fast einen Herzanfall bekommen◦– falls mein neuer Körper jemals einen Herzanfall bekommen konnte.

»Hallo!«, sagte die Stimme. »Sie haben über den patentierten Adaptiven Interface-Assistenten Verbindung zu Ihrem internen BrainPal-Computer aufgenommen! Es besteht kein Grund zur Sorge! Mittels der BrainPal-Integration wird die Stimme, die Sie jetzt hören, direkt im Hörzentrum Ihres Gehirns generiert.«

Großartig, dachte ich. Jetzt habe ich noch eine Stimme im Kopf!

»Nach dieser kurzen Einführungsprozedur können Sie die Stimme jederzeit abschalten. Wir werden mit ein paar Optionen beginnen, die Sie wählen können, indem Sie mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ antworten. In diesem Stadium möchte Ihr BrainPal Sie bitten, ›Ja‹ und ›Nein‹ zu sagen, wenn Sie dazu aufgefordert werden, damit er Ihr Reaktionsmuster lernen kann. Wenn Sie bereit sind, sprechen Sie bitte das Wort ›Ja‹.«

Die Stimme verstummte. Ich zögerte, leicht benommen von diesem mentalen Überfall.

»Bitte sagen Sie jetzt ›Ja‹«, wurde ich erneut aufgefordert.

»Ja!«, sagte ich etwas gereizt.

»Danke, dass Sie ›Ja‹ gesagt haben. Jetzt sagen Sie bitte ›Nein‹.«

»Nein«, sagte ich und fragte mich für einen kurzen Moment, ob der BrainPal™ meinen könnte, ich hätte seine Aufforderung verneint, worauf er eingeschnappt reagierte und mein Gehirn im eigenen Saft braten ließ.

»Danke, dass Sie ›Nein‹ gesagt haben«, sagte die Stimme und outete sich damit als Pedant. »Nach einiger Zeit werden Sie diese Befehle nicht mehr laut aussprechen müssen, damit Ihr BrainPal darauf reagiert. Doch vorläufig möchten Sie vielleicht sogar lieber verbal kommunizieren, während Sie sich mit Ihrem BrainPal vertraut machen. Zum jetzigen Zeitpunkt haben Sie die Option, per Audio oder im Textmodus fortzufahren. Möchten Sie lieber auf den Textmodus umschalten?«

»Ich bitte darum«, sagte ich.

Wir fahren nun im Textmodus fort, erschien eine Zeile, die genau in meinem Blickfeld hing. Der Text hatte einen optimalen Kontrast zu dem, was sich in meinem Blickfeld befand. Ich drehte den Kopf, doch der Text wanderte mit, und der Kontrast passte sich perfekt dem Hintergrund an, ganz gleich, worauf ich blickte, damit er jederzeit gut zu lesen war. Wahnsinn!

Es wird empfohlen, dass Sie sich setzen, um die Verletzungsgefahr zu verringern, bis Sie sich mit dem Textmodus vertraut gemacht haben, schrieb der BrainPal. Setzten Sie sich jetzt bitte.

Ich setzte mich.

Während Sie sich mit Ihrem BrainPal vertraut machen, werden Sie feststellen, dass Ihnen die verbale Kommunikation leichter fällt. Um dem BrainPal zu ermöglichen, Ihre Fragen zu verstehen, muss er lernen, Ihre Stimme zu erkennen. Bitte sprechen Sie der Reihe nach die folgenden Phoneme aus.

In meinem Sichtfeld erschien eine Liste von Phonemen, die ich von links nach rechts vorlas. Dann ließ mich der BrainPal ein paar kurze Sätze sprechen. Ich tat ihm den Gefallen.

Vielen Dank, schrieb der BrainPal. Ihr BrainPal™ ist nun in der Lage, gesprochene Anweisungen von Ihnen entgegenzunehmen. Möchten Sie Ihren BrainPal™ nun personalisieren?

»Ja«, sagte ich.

Viele BrainPal™-Nutzer finden es wünschenswert, ihrem BrainPal™ einen persönlichen Namen zu geben. Möchten Sie Ihrem BrainPal™ jetzt einen persönlichen Namen geben?

»Ja«, sagte ich.

Bitte sprechen Sie den Namen, den Sie Ihrem BrainPal™ geben möchten.

»Arschloch«, sagte ich.

Sie haben »Arschloch« gewählt, schrieb der BrainPal, und er hatte den Namen sogar richtig geschrieben. Viele Rekruten wählen diesen Namen für ihren BrainPal™. Möchten Sie einen anderen Namen wählen?

»Nein«, sagte ich und war stolz darauf, dass so viele andere Rekruten ihrem BrainPal ähnliche Gefühle entgegenbrachten wie ich.

Ihr persönlicher BrainPal™ heißt nun Arschloch, schrieb der BrainPal. Sie können diesen Namen jederzeit ändern. Nun müssen Sie noch eine Anrede wählen, mit der Sie Zugang zu Arschloch erhalten. Arschloch ist zwar die ganze Zeit aktiv, aber er wird nur auf Befehle reagieren, nachdem er aktiviert wurde. Bitte wählen Sie eine möglichst kurze Phrase. Arschloch schlägt Ihnen »Arschloch aktivieren« vor, aber Sie dürfen selbstverständlich eine andere Anrede wählen. Bitte sprechen Sie jetzt die Aktivierungsanrede.

»He, Arschloch«, sagte ich.

Sie haben »He, Arschloch« gewählt. Bitte wiederholen Sie die Anrede, um zu bestätigen.

Ich tat es. Dann forderte er mich auf, eine Deaktivierungsanrede zu wählen. Ich entschied mich (selbstredend) für »Verpiss dich, Arschloch.«

Möchten Sie, dass Arschloch von sich selbst in der ersten Person redet?

»Aber sicher«, sagte ich.

Ich bin Arschloch.

»Völlig richtig.«

Möchten Sie, dass Arschloch Sie weiterhin siezt, oder ziehen Sie eine vertraulichere Anrede vor?

»Mit einem Arschloch bin ich grundsätzlich per du.«

Ich interpretiere diese Antwort als Entscheidung für die vertrauliche Anrede. Ich warte auf deine Befehle oder Fragen.

»Bist du intelligent?«, fragte ich.

Ich bin mit einem natürlichen Sprachprozessor und anderen Systemen ausgestattet, um gesprochene Sätze verstehen und darauf antworten zu können. Diese Fähigkeit erweckt häufig den Eindruck von Intelligenz, vor allem in Verbindung mit größeren Computernetzwerken. Das BrainPal™-System ist jedoch nicht im engeren Sinne intelligent. Dies ist zum Beispiel eine automatische Antwort, auf eine häufig gestellte Frage.

»Wie verstehst du mich?«

In diesem Stadium reagiere ich auf deine Stimme, schrieb Arschloch. Während du sprichst, beobachte ich die Aktivitäten deines Gehirns und lerne, wie es sich verhält, wenn du mit mir kommunizieren möchtest. Nach einiger Zeit werde ich dich verstehen, ohne dass du sprichst. Und du wirst lernen, mich ohne bewusste auditive oder visuelle Hilfsmittel zu benutzen.

»Was kannst du alles?«, fragte ich.

Ich besitze eine große Zahl von Fähigkeiten. Möchtest du eine strukturierte Liste sehen?

»Bitte«, sagte ich.

Vor meinen Augen erschien eine lange Liste. Um die Unterkategorien einzusehen, wähle bitte eine Hauptkategorie aus und sage »[Kategorie] erweitern«. Um eine Aktion auszuführen, sage bitte »[Kategorie] öffnen«.

Ich las die Liste. Offenbar gab es nur sehr wenig, wozu Arschloch nicht fähig war. Er konnte Nachrichten an andere Rekruten schicken. Er konnte Berichte abrufen. Er konnte Musikstücke oder Videos abspielen. Er beherrschte verschiedene Spiele. Er konnte jedes Dokument eines angeschlossenen Systems aufrufen. Er konnte unvorstellbare Datenmengen speichern. Er konnte komplizierte Berechnungen durchführen. Er konnte körperliche Krankheiten diagnostizieren und Behandlungsvorschläge machen. Er konnte ein lokales Netzwerk zwischen verschiedenen BrainPal-Nutzern herstellen. Er konnte aus mehreren hundert menschlichen und etlichen außerirdischen Sprachen simultan übersetzen. Er konnte sogar multimediale Informationen über jeden anderen BrainPal-Nutzer liefern. Ich wählte diese Option. Ich erkannte mich selbst kaum wieder. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich jemand anderen von den Alten Scheißern wiedererkennen würde. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass es äußerst nützlich war, ein kleines Arschloch im Kopf zu haben.

Ich hörte, wie sich die Tür zu meinem Quartier entriegelte. Ich blickte auf. »He, Arschloch«, sagte ich. »Wie spät ist es?«

Es ist genau 12.00 Uhr, schrieb Arschloch. Ich hatte gute anderthalb Stunden damit zugebracht, mich mit ihm vertraut zu machen. Aber jetzt reichte es. Ich war bereit, wieder mit realen Menschen umzugehen.

»Verpiss dich, Arschloch«, sagte ich.

Auf Wiederhören, schrieb Arschloch. Der Text verschwand, sobald ich ihn gelesen hatte.

Es klopfte an der Tür. Ich ging hinüber und machte sie auf. Ich konnte mir vorstellen, dass es Harry war. Wie er wohl aussehen mochte?

Er sah wie eine hinreißende Brünette mit dunkler (also eher olivgrüner) Haut und langen Beinen aus.

»Du bist nicht Harry.« Etwas Intelligenteres fiel mir leider nicht ein.

Die Brünette musterte mich von oben bis unten. »John?«, sagte sie schließlich.

Ich starrte sie eine Sekunde lang verständnislos an, dann wurde mir alles klar◦– unmittelbar bevor die Identitätsdaten geisterhaft vor meinen Augen schwebten. »Jesse«, sagte ich.

Sie nickte. Ich starrte sie an. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Sie griff nach meinem Kopf und küsste mich so wild, dass ich rückwärts ins Zimmer taumelte. Sie schaffte es, die Tür mit einem Fußtritt zu schließen, während wir zu Boden gingen. Ich war beeindruckt.

Ich hatte längst vergessen, wie leicht es für einen jungen Mann war, eine Erektion zu bekommen.

6

Ich hatte auch vergessen, wie oft ein junger Mann eine Erektion bekommen kann.


»Fass es bitte nicht falsch auf«, sagte Jesse, als sie nach dem dritten (!) Mal auf mir lag. »Aber ich fühle mich eigentlich gar nicht so sehr zu dir hingezogen.«

»Gott sei Dank«, sagte ich. »Andernfalls wäre jetzt gar nichts mehr von mir übrig.«

»Versteh mich nicht falsch«, sagte Jesse. »Ich mag dich. Selbst vor der …« Sie wedelte mit der Hand, während sie nach einem Begriff suchte, der eine Verjüngung durch eine totale Körpertransplantation zusammenfasste. »Selbst vor der Veränderung warst du ein intelligenter und angenehmer Zeitgenosse. Ein guter Freund.«

»Weißt du, Jesse«, sagte ich, »normalerweise hält man die Lass-uns-gute-Freunde-sein-Rede, um keinen Sex miteinander zu haben.«

»Ich möchte nur vermeiden, dass du dir falsche Vorstellungen machst, worum es hier geht.«

»Ich hatte den Eindruck, dass es darum geht, auf wundersame Weise in einen zwanzigjährigen Körper versetzt zu werden und das so toll zu finden, dass man unbedingt wilden Sex mit dem ersten Menschen haben möchte, der einem über den Weg läuft.«

Jesse starrte mich eine Sekunde lang an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. »Ja! Genau das ist es. Obwohl es in meinem Fall der zweite Mensch war. Ich teile mein Zimmer mit jemandem, wie du dich vielleicht erinnerst.«

»Richtig. Wie sieht Maggie jetzt aus?«

»Frag nicht«, sagte Jesse. »Neben ihr wirke ich wie ein gestrandeter Wal.«

Ich strich mit den Händen über ihren Körper. »Das wäre dann aber ein ziemlich hübscher gestrandeter Wal, Jesse.«

»Ich weiß!« Jesse setzte sich unvermittelt auf mir auf. Sie hob die Arme und verschränkte sie hinter dem Kopf, wobei sich ihre auch ansonsten wunderbar vollen und festen Brüste reckten. Ich spürte, wie sich die Innenseiten ihrer Schenkel erwärmten, mit denen sie meine Hüften umschloss. Ich hatte im Augenblick zwar keine Erektion, aber ich spürte, dass sich bereits die nächste ankündigte. »Schau mich an«, forderte sie mich überflüssigerweise auf, da ich sie keinen Moment aus den Augen gelassen hatte. »Ich sehe hinreißend aus. Das sage ich nicht, weil ich eitel bin. Ich meine damit, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie so gut ausgesehen habe. Nicht einmal annähernd!«

»Das ist schwer zu glauben.«

Sie nahm die Brüste in die Hände und streckte mir die Brustwarzen entgegen. »Siehst du die hier?« Sie wackelte mit der linken Brust. »Im wahren Leben war die hier eine Körbchengröße kleiner als die andere, aber immer noch zu groß. Ab der Pubertät hatte ich ständig Rückenschmerzen. Und ich glaube, so fest waren sie vielleicht eine Woche lang, kurz vor oder nach meinem dreizehnten Geburtstag. Glaube ich.«

Sie griff nach meinen Händen und legte sie auf ihren perfekten flachen Bauch. »Auch so etwas hatte ich nie zuvor. Ich habe da unten immer einen kleinen Beutel mit mir herumgetragen, auch schon vor meinem ersten Kind. Und nach dem zweiten … sagen wir einfach, wenn ich noch ein drittes Mal schwanger geworden wäre, hätte es da drinnen jede Menge Platz zum Herumtoben gehabt.«

Ich legte die Hände auf ihren Hintern. »Und was war damit?«

»Die volle Breitseite«, sagte Jesse und lachte. »Ich war ein großes Mädchen, mein Freund.«

»Groß zu sein ist kein Verbrechen«, sagte ich. »Auch Kathy war nicht gerade zierlich gebaut. Ich konnte damit wunderbar leben.«

»Damals hatte ich auch kein Problem damit. Es ist idiotisch, sich wegen körperlicher Dinge zu ärgern. Andererseits würde ich jetzt nicht mehr tauschen wollen.« Sie reckte sich aufreizend. »Jetzt bin ich total sexy!« Gleichzeitig kicherte sie und neigte neckisch den Kopf zur Seite. Ich lachte.

Jesse beugte sich vor und sah mich an. »Ich finde diese Katzenaugen unglaublich faszinierend. Ich würde gerne wissen, ob sie dafür tatsächlich Katzen-DNS benutzt haben. Mich würde es jedenfalls nicht stören, zum Teil eine Katze zu sein.«

»Ich glaube nicht, dass es wirklich Katzen-DNS ist«, sagte ich, »da wir keine anderen Katzenattribute haben.«

Jesse setzte sich wieder auf. »Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel«, sagte ich und ließ meine Hände zu ihren Brüsten hinaufwandern, »haben Kater Stacheln an ihrem Penis.«

»Raus!«, sagte Jesse.

»Nein, das stimmt. Es sind die Stacheln, die das Weibchen zur Ovulation stimulieren. Schlag selber nach. Ich habe jedenfalls keine Stacheln. Andernfalls dürftest du es längst bemerkt haben.«

»Das beweist gar nichts.« Jesse bewegte abrupt ihren hinteren Teil nach hinten und den vorderen nach vorn, sodass sie genau auf mir lag. Sie grinste anzüglich. »Vielleicht haben wir es nur nicht wild genug getrieben, um sie hervorbrechen zu lassen.«

»Das klingt nach einer Herausforderung.«

»Ich spüre, dass du bereit bist, sie anzunehmen«, sagte sie und rührte sich.


»Woran denkst du?«, fragte Jesse mich später.

»Ich denke an Kathy«, sagte ich. »Wie oft wir so dagelegen haben, wie wir es jetzt tun.«

»Auf dem Teppich, meinst du?«

Ich versetzte ihr einen leichten Stoß gegen den Kopf. »Nicht das. Sondern nach dem Sex einfach dazuliegen, zu reden und die Nähe des anderen zu genießen. Dasselbe haben wir gemacht, als wir zum ersten Mal darüber sprachen, uns rekrutieren zu lassen.«

»Warum hast du das Thema angesprochen?«

»Ich habe es nicht getan«, sagte ich. »Kathy hat davon angefangen. Es war an meinem sechzigsten Geburtstag, und ich war deprimiert, weil ich schon wieder zehn Jahre älter geworden war. Also schlug sie vor, dass wir uns freiwillig melden. Ich war ein wenig überrascht. Wir waren immer Antimilitaristen gewesen. Wir haben gegen den Subkontinentalen Krieg protestiert, als es nicht unbedingt populär war, so etwas zu tun.«

»Viele Leute waren gegen diesen Krieg«, sagte Jesse.

»Ja, aber wir haben wirklich protestiert. In unserer Stadt hat man schon Witze über uns gerissen.«

»Wie konnte sie es mit ihrer Überzeugung vereinbaren, sich von der Kolonialen Armee rekrutieren zu lassen?«

»Sie sagte, sie wäre nicht grundsätzlich gegen den Krieg oder die Armee, sondern nur gegen diesen Krieg und unsere Armee. Sie sagte, die Menschen hätten das Recht, sich zu verteidigen, und dass das Universum da draußen wahrscheinlich nicht gerade freundlich ist. Und abgesehen von diesen noblen Gründen wären wir dann obendrein wieder jung.«

»Aber ihr hättet nicht gemeinsam eintreten können«, sagte Jesse. »Oder wart ihr im gleichen Alter?«

»Sie war ein Jahr jünger als ich. Und ich habe es ihr erklärt◦– dass ich offiziell tot wäre, wenn ich zur Armee gehen würde, dass wir nicht mehr verheiratet wären und dass wir uns vielleicht nie wiedersehen würden.«

»Was hat sie gesagt?«

»Dass das alles nur Detailfragen wären. Sie würde mich wiederfinden und noch einmal vor den Altar zerren. Und sie hätte es zweifellos geschafft, weißt du. In solchen Dingen war sie unglaublich hartnäckig.«

Jesse stützte sich auf einen Ellbogen und sah mich an. »Es tut mir leid, dass sie nicht hier bei dir sein kann, John.«

Ich lächelte. »Schon gut. Es ist nur so, dass ich meine Frau von Zeit zu Zeit vermisse.«

»Ich verstehe«, sagte sie. »Auch ich vermisse meinen Mann.«

Ich warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich dachte, er hätte dich wegen einer jüngeren Frau verlassen und sich dann eine Lebensmittelvergiftung zugezogen.«

»Richtig, und er hat es verdient, sich die Eingeweide aus dem Leib zu kotzen. Ihn als Mann, als Person vermisse ich weniger. Es fehlt mir, einen Ehemann zu haben. Es ist nett, jemanden zu haben, zu dem man gehört. Es ist nett, verheiratet zu sein.«

»Es ist nett, verheiratet zu sein«, pflichtete ich ihr bei.

Jesse kuschelte sich an mich und legte einen Arm über meine Brust. »Natürlich ist auch das hier nett. Es ist schon eine Weile her, seit ich es das letzte Mal getan habe.«

»Auf dem Fußboden liegen?«

Jetzt versetzte sie mir eine Kopfnuss. »Nein. Andererseits schon. Nach dem Sex so dazuliegen, meinte ich. Oder überhaupt Sex zu haben. Du willst gar nicht wissen, wie lange mein letztes Mal schon zurückliegt.«

»Aber klar.«

»Mistkerl. Acht Jahre.«

»Kein Wunder, dass du mich angesprungen hast, sobald ich in deiner Nähe war.«

»Da ist was dran«, sagte Jesse. »Zufällig kamst du mir sehr gelegen.«

»Es ist alles nur eine Frage der Gelegenheit, wie meine Mutter stets zu sagen pflegte.«

»Du hattest eine seltsame Mutter«, sagte Jesse. »Eh, Zicke, wie spät ist es?«

»Was?«, sagte ich.

»Ich habe mit der Stimme in meinem Kopf gesprochen.«

»Ein netter Name, den du dir dafür ausgesucht hast.«

»Wie hast du deinen Quälgeist genannt?«

»Arschloch.«

Jesse nickte. »Klingt auch nicht schlecht. Jedenfalls sagt Zicke, dass es kurz nach sechzehn Uhr ist. Wir haben noch zwei Stunden bis zum Abendessen. Weißt du, was das bedeutet?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, viermal ist mein Maximum, selbst wenn ich jung und ultrafit bin.«

»Beruhige dich. Das bedeutet, dass wir noch genug Zeit für ein Nickerchen haben.«

»Sollte ich eine Decke holen?«

»Red keinen Blödsinn. Bloß weil ich Sex auf dem Teppich hatte, heißt das nicht, dass ich auch dort schlafen will. Du hast zwei Kojen in deinem Quartier. Ich werde eine davon benutzen.«

»Also werde ich allein schlafen müssen?«

»Ich werde dich dafür entschädigen«, sagte Jesse. »Erinnere mich daran, wenn ich aufwache.«

Sie hielt ihr Versprechen.


»Meine Fresse!«, sagte Thomas, als er sich an den Tisch setzte. Sein Tablett war so schwer mit Essen beladen, dass es kaum vorstellbar war, wie er es hatte anheben können. »Wir alle sehen einfach unbeschreiblich toll aus!«

Er hatte Recht. Die Alten Scheißer hatten sich erstaunlich gut gemacht. Thomas, Harry und Alan hätten problemlos als männliche Models arbeiten können. Von uns vieren war ich eindeutig das hässliche Entlein◦– trotzdem sah ich, nun ja, immer noch sehr gut aus. Was die Frauen betraf: Jesse war hinreißend. Susan noch mehr. Und Maggie sah offen gesagt wie eine Göttin aus. Es schmerzte regelrecht, sie anzuschauen.

Das galt im Prinzip für uns alle. Wir waren Schönheiten, bei denen einem für einen Moment die Luft wegblieb. Wir alle standen ein paar Minuten lang einfach nur da und starrten uns gegenseitig an. Aber so war es nicht nur mit uns. Als ich mich im Raum umsah, entdeckte ich darin nicht einen einzigen hässlichen Menschen. Es war auf angenehme Weise verstörend.

»Das ist einfach unmöglich«, sagte Harry plötzlich zu mir. »Auch ich habe mich umgeschaut. Es kann einfach nicht sein, dass alle Leute in diesem Raum so gut ausgesehen haben, als sie so jung waren, wie sie jetzt aussehen.«

»Schließ nicht von dir auf andere, Harry«, sagte Thomas. »Ich würde meinen, dass ich jetzt eine Spur weniger attraktiv bin als in meinen alten Tagen.«

»Selbst wenn wir unseren Ungläubigen Thomas als Ausnahme akzeptieren …«

»Ich muss heulen, wenn ich vor einen Spiegel trete«, warf Thomas ein.

»… ist es schlichtweg unmöglich, dass alle, die hier versammelt sind, in der gleichen Liga spielen. Ich zumindest habe mit zwanzig Jahren nicht so gut ausgesehen. Ich war dick. Ich hatte starke Akne. Ich verlor bereits die ersten Haare.«

»Hör auf«, sagte Susan. »Du machst mich ganz heiß.«

»Und ich versuche zu essen«, sagte Thomas.

»Jetzt kann ich darüber lachen, weil ich so aussehe«, sagte Harry und reckte seinen Körper, als wollte er sich modelmäßig in Pose setzen. »Aber mein neues Ich hat nur sehr wenig mit meinem alten zu tun, das kann ich euch sagen.«

»Du klingst, als würde es dich stören«, sagte Alan.

»Ein wenig schon«, gab Harry zu. »Ich meine, ich werde es akzeptieren. Aber dem geschenkten Gaul werde ich ins Maul schauen. Warum sehen wir so verdammt gut aus?«

»Gute Gene«, sagte Alan.

»Klar«, sagte Harry. »Aber wessen? Unsere? Oder etwas, das sie irgendwo im Labor zusammengebraut haben?«

»Wir sind jetzt einfach nur ausgezeichnet in Schuss«, sagte Jesse. »Ich habe schon zu John gesagt, dass dieser Körper hier besser in Form ist, als es mein wirklicher Körper war.«

Unvermittelt meldete sich Maggie zu Wort. »Genauso sehe ich es auch. Und ich spreche von meinem ›wirklichen Körper‹, wenn ich meinen alten meine. Es ist, als wäre dieser Körper für mich noch gar nicht ganz real.«

»Er ist durchaus real«, sagte Susan. »Damit musst du immer noch pinkeln. Ich weiß es.«

»Und das von der Frau, die mich wegen zu intimer Details kritisiert hat«, sagte Thomas.

»Ich wollte darauf hinaus«, sagte Jesse, »dass sie nicht nur neue, sondern gleich bessere Körper für uns gemacht haben.«

»Genau«, sagte Harry. »Aber das erklärt noch nicht, warum sie es getan haben.«

»Damit wir uns besser verstehen«, sagte Maggie.

Alle starrten sie an. »Schau mal einer an, wer da aus seinem Schneckenhaus kommt!«

»Du mich auch, Susan«, sagte Maggie, worauf Susan nur grinste. »Es ist eine ganz simple psychologische Erkenntnis, dass Menschen dazu neigen, Menschen zu mögen, die sie attraktiv finden. Wir alle in diesem Raum, selbst unsere Gruppe, sind uns praktisch immer noch völlig fremd, und wir haben kaum Ansatzpunkte, die uns in kurzer Zeit enger zusammenbringen könnten. Wenn man uns alle füreinander attraktiv macht, ist das eine gute Methode, um die Gruppenbindung zu stärken, wenn unsere Ausbildung beginnt.«

»Ich sehe nicht ein, was es der Armee nützt, wenn wir alle viel zu sehr damit beschäftigt sind, uns gegenseitig lüsterne Blicke zuzuwerfen«, sagte Thomas.

»Darum geht es gar nicht«, sagte Maggie. »Sexuelle Attraktivität ist in diesem Zusammenhang nur nebensächlich. Es geht darum, sehr schnell Vertrauen und Hingabe aufzubauen. Menschen sind instinktiv bereit, anderen Menschen zu vertrauen und ihnen zu helfen, wenn sie sie anziehend finden, unabhängig von sexuellen Begierden. Deshalb sehen Nachrichtensprecher immer so gut aus. Deshalb müssen sich attraktive Menschen in der Schule nicht so sehr anstrengen.«

»Aber jetzt sind wir alle attraktiv«, sagte ich. »Im Land der atemberaubend Schönen können jene, die einfach nur gut aussehen, sehr schnell in Schwierigkeiten kommen.«

»Und selbst jetzt sehen manche von uns schöner als andere aus«, sagte Thomas. »Jedes Mal, wenn ich Maggie anschaue, habe ich das Gefühl, als würde der Luft in diesem Raum der Sauerstoff entzogen werden. Nichts für ungut, Maggie.«

»Kein Problem«, sagte Maggie. »Die Vergleichsgrundlage ist sowieso nicht unser jetziger Zustand, sondern wie wir vorher waren. Kurzfristig ist das die Grundlage, auf der wir Vergleiche anstellen werden, und viel mehr als einen kurzfristigen Vorteil dürften sie sich ohnehin nicht davon versprechen.«

»Willst du damit sagen, dass du keinen Sauerstoffmangel verspürst, wenn du mich ansiehst?«, sagte Susan zu Thomas.

»Ich wollte mit dieser Bemerkung niemanden beleidigen«, sagte Thomas.

»Daran werde ich mich erinnern, wenn ich dich erwürge«, sagte Susan. »So viel zum Thema Sauerstoffentzug.«

»Hört auf zu flirten, ihr beiden«, sagte Alan und wandte sich Maggie zu. »Du könntest mit dieser Attraktivitätsgeschichte Recht haben, aber ich glaube, du vergisst die Person, zu der wir uns angeblich am meisten hingezogen fühlen: uns selbst. So oder so sind uns diese neuen Körper immer noch fremd. Ich meine, abgesehen von der Tatsache, dass ich grün bin und einen Computer namens ›Dumpfbacke‹ im Kopf habe …« Er stockte und sah in die Runde. »Wie habt ihr eigentlich eure BrainPals genannt?«

»Arschloch«, sagte ich.

»Zicke«, sagte Jesse.

»Saftsack«, sagte Harry.

»Satan«, sagte Maggie

»Schätzchen«, sagte Susan. »Anscheinend bin ich hier die Einzige, die ihren BrainPal mag.«

»Wahrscheinlich warst du nur die Einzige, die es nicht irritiert hat, plötzlich eine Stimme im Kopf zu haben«, sagte Alan. »Aber eigentlich wollte ich auf Folgendes hinaus. Plötzlich jung zu sein und mit beträchtlichen physischen und psychischen Verbesserungen konfrontiert zu werden, kann eine gewaltige Belastung sein. Auch wenn wir froh sind, wieder jung zu sein◦– jedenfalls weiß ich, dass ich es bin -, dürften wir alle uns von unserem neuen Ich entfremdet fühlen. Wenn wir uns selbst attraktiv finden, hilft es uns, mit der Situation klarzukommen.«

»Die Leute, mit denen wir es hier zu tun haben, verstehen ihr Handwerk«, sagte Harry mit unheilvoller Endgültigkeit.

»Ach, sieh es nicht so verkrampft«, sagte Jesse und boxte ihm in die Seite. »Du bist der einzige Mensch, für den es eine düstere Verschwörung sein muss, jung und sexy zu sein.«

»Du hältst mich für sexy?«, fragte Harry.

»Du träumst, Schätzchen«, sagte Jesse und verdrehte theatralisch die Augen.

Harry grinste dümmlich. »Das ist das erste Mal in diesem Jahrhundert, dass jemand das zu mir sagt. Okay, ich gebe auf.«

Der Mann, der vor den Rekruten im Auditorium stand, war ein kampferprobter Veteran. Unsere BrainPals teilten uns mit, dass er seit vierzehn Jahren in der Kolonialen Verteidigungsarmee diente und an verschiedenen Schlachten teilgenommen hatte, deren Namen für uns noch keinerlei Bedeutung hatten, obwohl sich das vermutlich irgendwann in der Zukunft ändern würde. Dieser Mann hatte neue Welten gesehen, war neuen Spezies begegnet und hatte sie ohne Zögern ausgelöscht. Er sah höchstens wie dreiundzwanzig Jahre aus.

»Guten Abend, Rekruten«, begann er, nachdem wir unsere Plätze eingenommen hatten. »Ich bin Lieutenant Colonel Bryan Higgee, und für den Rest der Reise werde ich Ihr vorgesetzter Offizier sein. Das hat für Sie so gut wie keine praktischen Konsequenzen, denn bis zu unserer Ankunft auf Beta Pyxis III in einer Woche werden Sie lediglich eine einzige Anweisung von mir bekommen. Andererseits wird es Sie daran erinneren, dass Sie von nun an den Regeln und Vorschriften der Kolonialen Verteidigungsarmee unterworfen sind. Sie verfügen jetzt über Ihre neuen Körper, und dieser Umstand ist für Sie mit neuen Verantwortungen verbunden.

Sie dürften sich viele Fragen über Ihre neuen Körper gestellt haben, wozu sie imstande sind, welche Belastungen sie ertragen und wie Sie sie im Dienst der Kolonialen Verteidigungsarmee benutzen können. All diese Fragen werden in Kürze beantwortet, wenn Sie auf Beta Pyxis III mit Ihrer Ausbildung beginnen. Im Augenblick liegt unsere Hauptaufgabe jedoch darin, einfach nur dafür zu sorgen, dass Sie sich in Ihrer neuen Haut wohl fühlen.

Daher erteile ich Ihnen für den Rest unserer Reise nun folgenden Befehl: Haben Sie Spaß!«

Damit löste er ein allgemeines Raunen und stellenweise Gelächter in den Reihen aus. Die Vorstellung, dass uns befohlen wurde, Spaß zu haben, war einfach zu verblüffend. Lieutenant Colonel Higgee zeigte ein humorloses Grinsen.

»Mir ist klar, dass Ihnen dieser Befehl ungewöhnlich vorkommt. Trotzdem ist es die beste Methode, um sich mit Ihren neuen Fähigkeiten vertraut zu machen. Wenn Ihre Ausbildung beginnt, werden Sie von Anfang an Bestleistungen bringen müssen. Es gibt keine Anlaufphase, weil wir dafür keine Zeit haben. Das Universum ist ein gefährlicher Ort. Ihre Ausbildung wird kurz und hart sein. Wir können es uns nicht leisten, dass Sie sich in Ihrem Körper unwohl fühlen.

Betrachten Sie die nächste Woche als Übergang zwischen Ihrem alten und Ihrem neuen Leben. In diesem Zeitraum, der Ihnen am Ende viel zu kurz erscheinen wird, können Sie diese neuen Körper, die für den militärischen Einsatz konzipiert wurden, für Vergnügungen nutzen, die Sie aus Ihrem Leben als Zivilisten kennen. Sie werden feststellen, dass die Henry Hudson sämtliche Freizeitaktivitäten zu bieten hat, die Ihnen auf der Erde Spaß gemacht haben. Benutzen Sie Ihre neuen Körper. Haben Sie Spaß damit. Lernen Sie Ihr neues Potenzial kennen und versuchen Sie, an Ihre Grenzen zu gehen.

Meine Damen und Herren, bevor Ihre Ausbildung beginnt, werden wir uns zu einer kurzen Besprechung wiedersehen. Bis dahin wünsche ich Ihnen viel Spaß. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass das Leben in der Kolonialen Verteidigungsarmee durchaus seine positiven Seiten hat, doch dies könnte das letzte Mal sein, das Sie sich völlig sorgenfrei an Ihren neuen Körpern erfreuen können. Ich schlage vor, dass Sie die freie Zeit klug nutzen. Ich schlage vor, dass Sie Spaß haben. Das ist alles. Sie sind entlassen.«

Wir alle flippten völlig aus.

Zuerst kam natürlich der Sex. Jeder trieb es mit jedem, an allen möglichen und unmöglichen Stellen im Schiff. Nachdem sich am ersten Tag herausstellte, dass jedes halbwegs abgeschiedene Plätzchen für begeisterte Rammeleien genutzt wurde, bürgerte es sich ein, möglichst geräuschvoll aufzutreten, wenn man unterwegs war, um Pärchen auf seine Annäherung aufmerksam zu machen. Irgendwann während des zweiten Tages war allgemein bekannt, dass ich ein Zimmer ganz allein für mich hatte, was dazu führte, dass ich mit Anfragen, es nutzen zu dürfen, überhäuft wurde. Ich lehnte jedes Mal kategorisch ab. Ich hatte nie ein Haus zweifelhaften Rufs geführt und wollte auch jetzt nicht damit anfangen. Die einzigen Leute, die in meinem Zimmer herumvögeln durften, waren ich und geladene Gäste.

Was das betraf, gab es für mich nur einen Gast. Aber es war nicht Jesse, sondern Maggie, die, wie sich herausstellte, schon ein Auge auf mich geworfen hatte, als ich noch alt und runzlig gewesen war. Nach Higgees Ansprache lauerte sie mir praktisch an meiner Tür auf, worauf ich mich fragte, ob sich die Frauen irgendwie abgesprochen hatten. Trotzdem machte es großen Spaß mit ihr, und sie war kein bisschen zurückhaltend, zumindest nicht, wenn wir unter uns waren. Sie vertraute mir an, dass sie Professorin am Oberlin College gewesen war. Ihr Fachgebiet war die Philosophie der fernöstlichen Religionen gewesen. Sie hatte sechs Bücher über dieses Thema geschrieben. Erstaunlich, was man über manche Menschen erfährt.

Die anderen Alten Scheißer blieben ebenfalls unter sich. Nach unserem ersten Testlauf tat sich Jesse mit Harry zusammen, während Alan, Tom und Susan irgendeine Lösung ausarbeiteten, bei der Tom die Schnittmenge bildete. Es war gut, dass Tom sehr viel aß, denn er brauchte seine ganze Kraft.

Die Ausgelassenheit, mit der sich die Rekruten sexuell betätigten, erschien von außen betrachtet zweifellos ungebührlich, doch wie die Dinge für uns lagen (oder standen oder hockten), war es völlig klar. Man nehme eine Gruppe von Leuten, die im Allgemeinen wenig Sex in ihrem Leben hatten, sei es aus Mangel an einem Partner oder wegen nachlassender Gesundheit oder Libido, man stecke sie in nagelneue junge, attraktive und extrem leistungsfähige Körper und verfrachte sie in den Weltraum, fort von allen Menschen, die sie kannten und die ihnen etwas bedeutet hatten. Diese Kombination führte zwangsläufig zu wildem Sex. Wir trieben es, weil wir es konnten und weil es um Längen besser war, als allein zu bleiben.

Natürlich war es nicht das Einzige, was wir taten. Diese wunderbaren neuen Körper nur zum Vögeln zu benutzen, wäre genauso gewesen, als würde man immer denselben Ton singen. Unsere Körper waren angeblich neu und verbessert, und das wurde uns immer wieder auf einfache und erstaunliche Weise bestätigt. Harry und ich mussten ein Tischtennisspiel abbrechen, weil irgendwann klar wurde, dass keiner von uns beiden gewinnen würde◦– nicht weil wir beide unfähig waren, sondern weil unsere geschärften Reflexe es praktisch unmöglich machten, den Gegner mit einem Ball zu überraschen. Wir spielten dreißig Minuten lang ohne Unterbrechung und hätten den Schlagabtausch noch viel länger fortsetzen können, wenn der Pingpongball die Kräfte, die während des unglaublich schnellen Spiels auf ihn einwirkten, heil überstanden hätte. Es war grotesk. Es war wunderbar.

Andere Rekruten machten auf andere Weise die gleiche Erfahrung. Am dritten Tag beobachtete ich zusammen mit einer Menge, wie sich zwei Rekruten das möglicherweise spannendste Kampfsportduell lieferten, das jemals ausgetragen wurde. Sie stellten Dinge mit ihren Körpern an, die unter normalen Bedingung einfach undenkbar waren. Einer der Männer versetzte seinem Kontrahenten einen Tritt, der diesen halb durch den Raum schleuderte. Doch statt mit mehreren Knochenbrüchen auf dem Boden zu landen, vollführte der andere im Flug einen Salto rückwärts, richtete sich auf und warf sich sofort wieder auf seinen Gegner. Es sah aus wie ein genialer Spezialeffekt. Und in gewisser Weise war es das auch.

Nach dem Kampf standen sich beide Männer schwer atmend gegenüber und verbeugten sich voreinander. Dann fielen sie sich gleichzeitig erschöpft in die Arme. Sie lachten und schluchzten hysterisch. Es ist eine unheimliche, wunderbare, aber auch verstörende Erfahrung, plötzlich viel besser zu sein, als man sich je hatte träumen lassen.

Natürlich gingen ein paar auch zu weit. Ich erlebte persönlich mit, wie eine Rekrutin von einer hohen Brüstung sprang, entweder weil sie dachte, sie könnte fliegen, oder weil sie zumindest überzeugt war, den Sprung ohne Verletzung zu überstehen. Wie ich hörte, brach sie sich das rechte Bein, den rechten Arm, den Unterkiefer und den Schädel. Doch sie überlebte die Aktion, was ihr während ihrer irdischen Existenz höchstwahrscheinlich nicht gelungen wäre. Noch beeindruckender war die Tatsache, dass sie zwei Tage später wieder auf den Beinen war, was diese durchgeknallte Frau vermutlich eher der Medizintechnik der Kolonialen zu verdanken hatte als ihren regenerativen Fähigkeiten. Ich hoffe, jemand hat ihr gesagt, dass sie in Zukunft solche Dummheiten unterlassen sollte.

Wenn die Leute nicht mit ihren Körpern spielten, taten sie es mit ihrem Geist, beziehungsweise mit ihren BrainPals, was fast das Gleiche war. Während ich im Schiff herumlief, sah ich immer wieder Rekruten, die einfach nur dasaßen, die Augen geschlossen und langsam nickend. Sie hörten Musik oder sahen sich einen Film an oder etwas in der Art. Sie erlebten irgendeine Aufzeichnung, die nur ihrem Gehirn abgespielt wurde. Ich hatte es schon selber getan. Bei der Suche in den Systemen des Schiffes war ich auf eine Sammlung sämtlicher Looney Tunes gestoßen, die jemals geschaffen wurden, sowohl während der klassischen Warner-Epoche als auch später, als die Figuren Public Domain geworden waren. Eines Abends brachte ich mehrere Stunden damit zu, mir anzuschauen, wie Karl der Kojote in die Luft gesprengt oder von Felsbrocken erschlagen wurde. Ich hörte erst damit auf, als Maggie verlangte, dass ich mich entweder für sie oder für den Road Runner entschied. Ich entschied mich für sie. Schließlich konnte ich den Road Runner jederzeit haben. Ich hatte Arschloch angewiesen, sämtliche Zeichentrickfilme runterzuladen.

Freundschaften schließen war etwas, das ich ausgiebig tat. Alle Mitglieder der Alten Scheißer wussten, dass unsere Gruppe bestenfalls vorübergehenden Bestand hatte. Wir waren nicht mehr als sieben Menschen, die der Zufall zusammengeworfen hatte, in einer Situation, in der niemand auf Dauerhaftigkeit hoffen konnte. Aber in der kurzen Zeit, die wir gemeinsam verbringen durften, wurden wir zu Freunden, sogar zu engen Freunden. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass ich Thomas, Susan, Alan, Harry, Jesse und Maggie schließlich so nahe stand wie allen anderen, die ich in der zweiten Hälfte meines »normalen« Lebens gekannt hatte. Wir wurden zu einer Art Familie, in der sich sogar die üblichen kleinlichen Streitereien abspielten. Wir kümmerten uns umeinander, und das brauchten wir dringend in einem Universum, das uns nur Gleichgültigkeit entgegenbrachte oder nicht einmal wusste, dass wir überhaupt existierten.

Wir knüpften starke Bindungen. Und wir hatten es sogar schon getan, bevor wir von den Wissenschaftlern der Kolonien mit biologischen Mitteln dazu gedrängt wurden. Während sich die Henry Hudson ihrem Ziel näherte, wurde mir immer deutlicher bewusst, wie sehr die Alten Scheißer mir fehlen würden.


»In diesem Raum befinden sich exakt 1022 Rekruten«, sagte Lieutenant Colonel Higgee. »In zwei Jahren werden vierhundert von Ihnen tot sein.«

Higgee stand wieder auf der Bühne des Auditoriums◦– diesmal vor einem besonderen Hintergrund. Der Videoschirm zeigte Beta Pyxis III, eine gewaltige Kugel in Blau, Weiß, Grün und Braun. Doch keiner von uns achtete auf den Planeten, wir alle starrten nur auf Lieutenant Colonel Higgee. Mit seiner Statistik hatte er die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen, was eine beträchtliche Leistung war, wenn man die Zeit (sechs Uhr morgens) und die Tatsache bedachte, dass die meisten von uns ausgiebig die vermutlich letzte Nacht in Freiheit ausgekostet hatten.

»Im dritten Jahr«, fuhr er fort, »werden weitere hundert von Ihnen gestorben sein. Und jeweils einhunderfünfzig im vierten und fünften Jahr. Nach zehn Jahren◦– ja, Sie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit die vollen zehn Jahre dienen◦– werden siebenhundertfünfzig von Ihnen bei der Ausübung Ihrer Pflichten das Leben verloren haben. Drei Viertel von Ihnen werden es nicht schaffen. So sieht die Überlebensstatistik aus◦– nicht nur für die vergangenen zehn oder zwanzig Jahre, sondern für die über zweihundert Jahre, seit die Koloniale Verteidigungsarmee aktiv ist.«

Totenstille im Saal.

»Ich weiß, was Sie jetzt denken, weil ich genau dasselbe gedacht habe, als ich an Ihrer Stelle war«, sagte Higgee. »Sie denken: Was, zum Henker, mache ich hier eigentlich? Dieser Kerl erzählt mir, dass ich in zehn Jahren tot sein werde! Aber vergessen Sie nicht, dass Sie auch zu Hause in zehn Jahren mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben wären. Sie wären alt und gebrechlich geworden und sinnlos gestorben. Vielleicht sterben Sie in der Kolonialen Verteidigungsarmee. Höchstwahrscheinlich werden Sie in der Kolonialen Verteidigungsarmee sterben. Aber dieser Tod wird nicht sinnlos sein. Sie werden sterben, damit die Menschheit in diesem Universum überleben kann.«

Der Projektionsschirm hinter Higgee wurde schwarz, dann erschien ein dreidimensionaler Sternenhimmel. »Ich will Ihnen erklären, in welcher Lage wir uns befinden«, sagte er, und gleichzeitig wurden mehrere Dutzend Sterne, die wahllos über den Raum verteilt schienen, hellgrün. »Das sind die Systeme, die von Menschen kolonisiert wurden, in denen wir uns behaupten konnten. Und das sind die uns bekannten Systeme, die von außerirdischen Spezies bewohnt werden, die ein mit unserem vergleichbares technisches Niveau haben und ähnliche Lebensbedingungen benötigen.« Diesmal leuchteten Hunderte von Sternen in rötlicher Farbe auf. Die menschlichen Lichtpunkte waren von allen Seiten umzingelt. Viele im Publikum schnappten nach Luft.

»Die Menschheit hat zwei Probleme«, sagte Lieutenant Colonel Higgee. »Das erste ist, dass wir in einem Kolonisierungswettkampf mit anderen intelligenten Spezies stehen. Die Kolonisierung ist der Schlüssel zum Überleben der Menschheit. Eine ganz einfache Sache. Wir müssen kolonisieren, wenn wir nicht von anderen Spezies ausgebootet werden wollen. Es ist ein harter Wettkampf. Unter den anderen intelligenten Aliens haben die Menschen nur wenige Verbündete. Sehr wenige von ihnen gehen überhaupt Bündnisse ein. Das war schon so, bevor die Menschheit auf die galaktische Bühne trat.

Ganz gleich, was Sie über die Möglichkeiten diplomatischer Verhandlungen denken, die Realität sieht so aus, dass wir uns in einem gnadenlosen Wettkampf befinden. Wir können unsere Expansion nicht zurückfahren und darauf hoffen, dass wir eine friedliche Lösung finden, die allen Spezies die Kolonisierung erlaubt. Damit würden wir die Menschheit zum Untergang verdammen. Also kämpfen wir um die Kolonien.

Unser zweites Problem ist die Tatsache, dass die Planeten, die wir entdecken und die sich für die Kolonisierung eignen, häufig von intelligenten Lebewesen bewohnt werden. Wenn es möglich ist, leben wir neben der einheimischen Bevölkerung und bemühen uns um eine harmonische Koexistenz. Leider werden wir in vielen Fällen nicht willkommen geheißen. Das ist äußerst bedauerlich, aber die Bedürfnisse der Menschheit müssen für uns höchste Priorität haben. Dann wird die Koloniale Verteidigungsarmee zu einer Invasionsstreitmacht.«

Das Hintergrundbild wechselte wieder zu Beta Pyxis III. »In einem perfekten Universum würden wir die Koloniale Verteidigungsarmee gar nicht benötigen«, sagte Higgee. »Aber dieses Universum ist nicht perfekt. Also verfolgt die Koloniale Verteidigungsarmee drei Aufgaben. Die erste ist der Schutz existierender menschlicher Kolonien vor Angriff und Invasion. Die zweite ist die Suche nach neuen Planeten, die sich für die Kolonisierung eignen, und die Verhinderung von Ausbeutung, Kolonisierung und Invasion durch konkurrierende Spezies. Die dritte ist die Vorbereitung von Planeten mit einheimischer Bevölkerung für die menschliche Kolonisierung.

Als Soldaten der Kolonialen Verteidigungsarmee haben Sie alle drei Aufgaben zu erfüllen. Diese Arbeit ist weder einfach noch sauber, und zwar in mehr als einer Hinsicht. Aber sie muss erledigt werden. Das Überleben der Menschheit hängt davon ab, deshalb werden wir Ihnen alles abverlangen.

Drei Viertel von Ihnen werden in drei Jahren gestorben sein. Trotz der Verbesserungen an den Körpern der Soldaten sowie an den Waffen und anderer Technik ist diese Zahl eine Konstante. Doch Sie werden dafür sorgen, dass dieses Universum zu einem Ort wird, an dem Ihre Kinder und die Kinder der gesamten Menschheit leben und gedeihen können. Es ist ein hoher Preis, aber es lohnt sich, ihn zu zahlen.

Manche von Ihnen werden sich fragen, was Sie persönlich durch Ihren Dienst gewinnen. Nach Ablauf Ihrer Dienstzeit werden Sie ein neues Leben erhalten. Sie werden zu Kolonisten und können auf einer neuen Welt von vorn anfangen. Die Koloniale Verteidigungsarmee wird Sie dabei unterstützen und Ihnen alles zur Verfügung stellen, was Sie benötigen. Wir können Ihnen nicht versprechen, dass Ihr neues Leben erfolgreich verlaufen wird, das liegt allein an Ihnen. Aber Sie werden exzellente Startbedingungen erhalten◦– und die Dankbarkeit der anderen Kolonisten, weil Sie etwas Wichtiges für sie getan haben. Oder Sie können es genauso machen wie ich und Ihren Dienst fortsetzen. Sie werden überrascht sein, wie viele es tun.«

Das Bild von Beta Pyxis III flackerte kurz, dann verschwand es, sodass Higgee nun allein im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. »Ich hoffe, Sie alle haben meinen Ratschlag befolgt und in der vergangenen Woche viel Spaß gehabt. Jetzt beginnt Ihre Arbeit. In einer Stunde werden Sie die Henry Hudson verlassen, um mit Ihrer Ausbildung zu beginnen. Hier gibt es mehrere Trainingsbasen. Über Ihren BrainPal werden Sie informiert, welcher Basis Sie zugewiesen wurden. Sie werden jetzt in Ihre Quartiere zurückkehren und Ihre persönlichen Sachen zusammenpacken. Machen Sie sich keine Gedanken über Kleidung; sie wird Ihnen in der Basis zur Verfügung gestellt. Ihr BrainPal wird Ihnen sagen, wo Sie sich zum Abtransport versammeln sollen.

Viel Glück, Rekruten. Möge Gott Sie schützen, und mögen Sie der Menschheit mit Würde und mit Stolz dienen.«

Lieutenant Colonel Higgee salutierte. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Keiner von uns wusste es.

»Sie haben Ihre Befehle«, sagte er. »Sie sind entlassen.«


Unsere siebenköpfige Truppe drängte sich um die Plätze, auf denen wir bis eben gesessen hatten.

»Sie lassen uns nicht viel Zeit zum Verabschieden«, sagte Jesse.

»Fragt eure Computer«, sagte Harry. »Vielleicht sind einige von uns derselben Basis zugeteilt.«

Wir konsultierten unsere BrainPals. Harry und Susan gingen zur Basis Alpha, Jesse nach Beta, Maggie und Thomas nach Gamma, Alan und ich nach Delta.

»Die Alten Scheißer werden auseinandergerissen«, sagte Thomas.

»Werd nicht sentimental«, sagte Susan. »Wir alle haben gewusst, dass es so kommen würde.«

»Ich werde sentimental, wann ich will«, sagte Thomas. »Dort kenne ich sonst niemanden. Selbst du wirst mir fehlen, du alte Schreckschraube.«

»Ihr habt etwas vergessen«, sagte Harry. »Auch wenn wir nicht mehr zusammen sind, können wir ständig in Verbindung bleiben. Wir haben unsere BrainPals. Wir müssen nur eine Mailbox für uns alle einrichten. Einen Gemeinschaftsraum für die Alten Scheißer.«

»Das mag hier funktionieren«, sagte Jesse. »Aber ich weiß nicht, wie es ist, wenn wir im aktiven Dienst sind. Wir könnten über die halbe Galaxis verstreut sein.«

»Alle Raumschiffe kommunizieren über Phoenix miteinander«, sagte Alan. »Jedes Schiff verfügt über Skip-Drohnen, die Meldung erstatten und neue Befehle abholen. Damit wird auch Post transportiert. Es könnte eine Weile dauern, bis eine Nachricht den Empfänger erreicht, aber so könnten wir Kontakt halten.«

»Als würden wir per Flaschenpost kommunizieren«, sagte Maggie. »Flaschen mit gewaltiger Feuerkraft.«

»So machen wir es«, sagte Harry. »Wir sind eine Familie, die zusammenhält. Wir bleiben in Verbindung, ganz gleich, wo wir sind.«

»Jetzt wirst auch du sentimental«, sagte Susan.

»Ich mache mir keine Sorgen, dass du mir fehlen wirst, Susan«, sagte Harry. »Du bleibst in meiner Nähe. Die anderen werden mir fehlen.«

»Also schließen wir einen Pakt«, sagte ich. »Dass wir die Alten Scheißer bleiben, ganz gleich, was geschieht.« Ich streckte eine Hand aus. Nacheinander legten die übrigen Mitglieder der Gruppe die Hände auf meine.

»Au weia«, sagte Susan, als sie ihre Hand auf die der anderen legte. »Jetzt werde ich sentimental.«

»Das legt sich wieder«, sagte Alan.

Susan schlug mit der freien Hand nach ihm.

So blieben wir, so lange es ging.

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