EPILOG Die Todesuhr wird aufgezogen (II)

Ich schaue über die Schulter und erblicke seine Gestalt und gehe vorwärts, wie jemand, der im Wald bei Nacht das Geräusch von Schritten hört, die näherkommen, und stehenbleibt und lauscht; und statt Stille hört er ein Geschöpf, das still zu sein versucht.

Was kann er tun als laufen? Blindlings den Weg entlang, stolpernd, von Zweigen ins Gesicht geschlagen; der andere immer näher, doch nicht in Eile oder atemlos; er spielt mit seiner Beute.

Stephen Dobyns Pursuit


If I had some wings, I'd fly you all around;

If I had some money, I'd buy you the goddam town;

If I had the strength, then maybe I coulda pulled you through;

If I had a lantern, I'd light the way for you,

If I had a lantern, I'd light the way for you.

Michael McDermott Lantern


Am 2. Januar 1994 wurde Lois Chasse zu Lois Roberts. Howard, ihr Sohn, war Brautführer. Howards Frau nahm nicht an der Feier teil; sie blieb mit einem nach Ralphs Ansicht höchst fragwürdigen Fall von Bronchitis in Bangor. Aber er behielt seinen Verdacht für sich und war alles andere als enttäuscht darüber, daß Jan Chasse verhindert war. Der Trauzeuge des Ehemanns war Detective John Leydecker, der immer noch einen Gips am rechten Arm trug, sonst aber keine Spuren des Einsatzes mehr zeigte, der ihn beinahe das Leben gekostet hatte. Er hatte vier Tage im Koma gelegen, aber Leydecker wußte, daß er großes Glück gehabt hatte; außer dem Bundespolizisten, der zum Zeitpunkt der Explosion neben ihm gestanden hatte, waren sechs weiter Polizisten gestorben, darunter zwei Mitglieder von Leydeckers handverlesenem Team.

Brautjungfer war Lois' Freundin Simone Castonguay, und beim Empfang wurde der erste Trinkspruch von einem Mann ausgebracht, der behauptete, daß er früher Joe Wyze gewesen sei, heute aber älter und Wyzer wäre. Im Anschluß daran hielt Trigger Vachon eine abgehackte, aber von Herzen kommende Rede und endete mit dem Wunsch, daß »diese beiden Menschen 'unnertundfünfzisch werden und kein' Tag nischt Rheuma oder Verschtopfung 'am!«

Als Ralph und Lois den Ball verließen, das Haar noch voller Reis, den hauptsächlich Faye Chapin und der Rest der Harris Avenue Altvorderen geworfen hatten, kam ein Mann mit einem Buch in der Hand und einem feinen weißen Haarschopf, der ihm um den Kopf wehte, zu ihnen gelaufen. Er stellte ein breites Lächeln zur Schau.

»Glückwunsch, Ralph«, sagte er. »Glückwunsch, Lois.«

»Danke, Dor«, sagte Ralph.

»Wir haben dich vermißt«, sagte Lois zu ihm. »Hast du keine Einladung bekommen? Faye hat gesagt, er würde sie dir geben.«

»Oh, er hat sie mir gegeben. Ja, oh ja, das hat er, aber ich geh nicht zu so was, wenn es drinnen ist. Zu eng. Beerdigungen sind noch schlimmer. Hier, das ist für euch. Ich habe es nicht eingepackt, weil die Arthritis in meinen Fingern mittlerweile zu schlimm dafür ist.«

Ralph nahm es. Es war ein Gedichtband mit dem Titel Concurring Beasts. Der Name des Dichters, Stephen Dobyns, ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen, aber er wußte nicht recht, warum.

»Danke«, sagte er zu Dorrance.

»Nicht so gut wie einige seiner späteren Texte, aber gut genug. Dobyns ist sehr gut.«

»Wir lesen sie uns in den Flitterwochen vor«, sagte Lois.

»Das ist eine gute Zeit, um Gedichte zu lesen«, sagte Dorrance. »Vielleicht die beste Zeit. Ich bin sicher, ihr werdet sehr glücklich miteinander.«

Er wollte gehen, drehte sich aber noch einmal um.

»Ihr habt tolle Arbeit geleistet. Die Langfristigen waren sehr zufrieden.«

Dann ging er seines Weges.

Lois sah Ralph an. »Hast du eine Ahnung, wovon er redet?«

Ralph schüttelte den Kopf. Er wußte es nicht mit Sicherheit, dachte aber, daß er es wissen sollte. Die Narbe an seinem Arm hatte zu kribbeln angefangen, wie es manchmal vorkam, ein Gefühl fast wie ein tiefsitzendes Jucken.

»Langfristige«, murmelte sie. »Vielleicht hat er uns gemeint, Ralph - schließlich sind wir inzwischen keine jungen Hühner mehr, oder?«

»Wahrscheinlich hat er genau das gemeint«, stimmte Ralph zu, aber er wußte es besser... und ihre Augen verrieten, daß es ihr tief im Innersten genauso ging.

Am selben Tag, als sich Ralph und Lois gerade das Jawort gaben, ging ein gewisser Penner mit einer hellgrünen Aura - der tatsächlich einen Onkel in Dexter hatte, allerdings hatte der Onkel seinen Taugenichts von Neffen seit mehr als fünf Jahren nicht mehr gesehen - durch den Strawford Park und kniff die Augen zusammen, weil die Sonne so grell auf dem Schnee funkelte. Er suchte nach Pfandflaschen und -dosen. Wenn er genug für eine Flasche Whiskey zusammenbekäme, wäre das toll, aber eine Flasche Wein Marke Night Train würde auch genügen.

Nicht weit von dem Port-O-San mit der Aufschrift MÄNNER entfernt sah er das helle Funkeln von Metall. Wahrscheinlich spiegelte sich die Sonne nur auf einem Kronkorken, aber so etwas mußte genauer untersucht werden. Möglicherweise war es ein Zehncentstück... aber der Penner fand, daß es mehr ein goldener Schimmer war. Es -

»Heiliger Judas!« rief er und hob den Ehering auf, der geheimnisvollerweise oben auf dem Schnee lag. Ein breiter Reif, mit ziemlicher Sicherheit Gold. Er hielt ihn schräg und las die Gravierung auf der Innenseite: HD - ED 5.8.87.

Eine Flasche? Nein, verdammt. Dieses kleine Baby würde ihm eine große Flasche sichern. Mehrere große Flaschen. Möglicherweise eine Wochenration Flaschen.

Der Penner hastete über die Kreuzung Witcham und Jackson, wo Ralph Roberts einmal fast ohnmächtig geworden wäre, und sah den Green-Line-Bus nicht, der auf ihn zukam. Der Fahrer sah ihn und trat auf die Bremse, aber der Bus befand sich auf einer vereisten Stelle.

Der Penner erfuhr nie, was ihn gerammt hatte. Eben noch überlegte er, ob er sich für Old Crow oder Old Granddad entscheiden sollte; im nächsten war er in die Dunkelheit gegangen, die uns alle erwartet. Der Ring rollte in den Rinnstein und verschwand in einem Kanalgitter, und da blieb er lange, lange Zeit. Aber nicht für immer. In Derry haben Gegenstände, die in der Kanalisation verschwinden, die - häufig unerfreuliche

- Angewohnheit, immer wieder aufzutauchen.

Ralph und Lois erlebten nicht ausschließlich glückliche Stunden.

In der Welt der Kurzfristigen gibt es nichts ausschließlich, weder Glück noch sonst etwas, eine Tatsache, die Klotho und Lachesis zweifellos genau kannten. Aber sie lebten lange Zeit glücklich. Keiner wollte frei heraus zugeben, daß es die glücklichsten Jahre waren, denn beide erinnerten sich ihrer ersten Ehepartner voll Liebe und Zuneigung, aber in ihren Herzen betrachteten sie beide die gemeinsamen Jahre als die glücklichsten. Ralph war nicht sicher, ob die Liebe im Herbst die schönste Liebe war, kam aber zur festen Überzeugung, daß es die gütigste und erfüllendste war.

Unsere Lois, sagte er oft und lachte. Lois tat so, als wäre sie verärgert darüber, aber sie tat immer nur so; sie sah den Ausdruck in seinen Augen, wenn er es sagte.

An ihrem ersten Weihnachtsmorgen als Mann und Frau (sie waren in Lois' hübsches kleines Haus gezogen und hatten das weiße Monstrum von Ralph zum Verkauf angeboten), schenkte Lois ihm einen Beaglewelpen. »Magst du sie?« fragte sie zaghaft. »Ich hätte sie fast nicht bekommen. Dear Abby sagt, man soll niemals Tiere verschenken, aber sie sah so süß im Fenster der Tierhandlung aus... und so traurig... wenn du sie nicht magst oder nicht den Rest des Winters damit verbringen willst, einen Welpen stubenrein zu machen, sag es einfach. Wir werden schon jemand -«

»Lois«, sagte er und zog seine Braue, wie er hoffte, so ironisch hoch wie Bill, »du stammelst.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Das tust du immer, wenn du nervös bist, aber jetzt kannst du aufhören, nervös zu sein. Ich bin vernarrt in diese Dame.« Und das war nicht übertrieben; er hatte sich fast auf der Stelle in die schwarzbraune Beaglehündin verliebt.

»Wie willst du sie nennen?« fragte Lois. »Schon eine Ahnung?«

»Klar«, sagte Ralph. »Rosalie.«

Die nächsten fünf Jahre waren im großen und ganzen auch für Helen und Nat Deepneau gute Jahre. Sie lebten eine Weile in ärmlichen Verhältnissen an der Fast Side und kamen gerade so mit Helens Gehalt als Bibliothekarin über die Runden, aber mehr auch nicht. Das kleine Cape Cod in der Nähe von Ralphs Haus war verkauft worden, aber der Erlös reichte gerade aus, um offene Rechnungen zu bezahlen. Dann, im Juni 1994, empfing Helen einen warmen Regen von der Versicherung... aber der Regenmacher war in Wirklichkeit John Leydecker.

Die Great Eastem Versicherungsgesellschaft hatte sich zunächst geweigert, Ed Deepneaus Lebensversicherung auszubezahlen, weil er sich selbst das Leben genommen hatte. Nachdem sie eine Zeitlang großes Theater gemacht und die Firmenmuskeln hatten spielen lassen, boten sie schließlich einen anständigen Vergleich an. Dazu wurden sie von einem Pokerkumpel von John Leydecker namens Howard Hayman überredet. Wenn er nicht Lowball, Stud oder Draw-Poker spielte, war Hayman Anwalt, dem es gefiel, Versicherungsgesellschaften zum Frühstück zu verspeisen.

Leydecker hatte Helen im Februar 1994 kennengelernt, war sofort von ihr fasziniert (»Es war nie richtig Liebe«, sagte er später zu Ralph und Lois, »was wahrscheinlich auch gut so war, wenn man bedenkt, wie alles gekommen ist«) und hatte sie Hayman vorgestellt, weil er glaubte, daß die Versicherungsgesellschaft sie übers Ohr hauen wollte. »Er war verrückt, kein Selbstmörder«, sagte Leydecker und blieb noch lange dabei, nachdem Helen ihm den Hut gebracht und ihm die Tür gewiesen hatte.

Als sie mit einem Prozeß rechnen mußten, bei dem Howard Hayman die Great Eastern hinstellen wollte wie Snidely Whiplash, der Little Nell an die Eisenbahnschienen fesselt, hatte Helen einen Scheck über siebzigtausend Dollar bekommen. Im Spätherbst des Jahres 1994 kaufte sie mit dem größten Teil dieses Geldes ein Haus in der Harris Avenue, nur drei Häuser von ihrem alten Wohnsitz entfernt und direkt gegenüber von Harriet Bennigan.

»Ich habe mich an der Hast Side nie richtig wohlgefühlt«, erzählte sie Lois an einem Novembertag dieses Jahres. Sie waren auf dem Rückweg vom Park, und Natalie saß zusammengesunken und schlafend in ihrem Wagen, nicht mehr als eine rosa Nasenspitze und eine Kondenswolke aus Atemluft unter einer großen Skimütze, die Lois selbst gestrickt hatte. »Ich habe von der Harris Avenue geträumt. Ist das nicht verrückt?«

»Ich glaube nicht, daß auch nur ein einziger Traum verrückt ist«, antwortete Lois.

Helen und John Leydecker gingen fast den ganzen Sommer über miteinander aus, aber weder Ralph noch Lois waren besonders überrascht, als die Romanze nach dem Labor Day unvermittelt zu Ende ging oder als Helen eine diskrete, dreieckige rosa Anstecknadel an ihrer gestärkten Bibliothekarinnenbluse mit dem hohen Kragen trug. Vielleicht waren sie nicht überrascht, weil sie so alt waren, daß sie alles mindestens einmal gesehen hatten, oder weil sie auf einer anderen Ebene immer noch die Auren sahen, die alles umgaben und einen hellen Durchgang zu einer heimlichen Stadt versteckter Bedeutungen, verborgener Motive und trügerischer Tagesabläufe bildeten.

Ralph und Helen machten ab und zu den Babysitter bei Natalie, als Helen wieder in der Harris Avenue wohnte, und diese Abende bereiteten ihnen außerordentliches Vergnügen. Nat war das Kind, das aus ihrer Ehe hervorgegangen sein könnte, wäre sie dreißig Jahre früher zustande gekommen, und der kälteste und wolkenverhangenste Wintertag wurde warm und hell, wenn Natalie hereingetappst kam, die in ihrem gesteppten rosa Schneeanzug, an dessen Ärmeln die Fäustlinge herunterhingen, wie eine zwergenhafte Version des Michelin-Männchens aussah und fröhlich rief: »Hi, Walf! Hi, Roliss! Ich bin zu Vesuv gekommen!«

Im Juni 1995 kaufte Helen einen gebrauchten Volvo. Auf das Heck klebte sie einen Sticker mit der Aufschrift EINE FRAU OHNE MANN IST WIE EIN FISCH OHNE FAHRRAD. Auch das überraschte Ralph nicht besonders, aber wenn er den Sticker sah, fühlte er sich immer unglücklich. Manchmal dachte er, Eds schlimmstes Vermächtnis an seine Witwe ließe sich in diesem kurzen, nicht besonders komischen Spruch zusammenfassen, und wenn er ihn sah, mußte Ralph oft daran denken, wie Ed an dem Nachmittag ausgesehen hatte, als er, Ralph, vom Red Apple zu ihm gegangen war, um ihn zur Rede zu stellen. Wie Ed ohne Hemd in dem Sprühregen des Rasensprengers gesessen hatte. An den kleinen Blutstropfen auf einem Brillenglas. Wie er sich nach vorne gebeugt, Ralph mit seinen ernsten, intelligenten Augen angesehen und gesagt hatte, wenn die Dummheit ein gewisses Maß erreicht habe, könne man schwer damit leben.

Und danach hat alles angefangen, dachte Ralph dann manchmal. Aber was genau angefangen hatte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, was allerdings wahrscheinlich auch nicht schlimm war. Aber dieses Aussetzen der Erinnerung (wenn es sich denn darum handelte) änderte nichts an seiner Überzeugung, daß Helen auf eine dunkle Weise betrogen worden war... daß ein übellauniges Schicksal ihr eine Blechdose an den Schwanz gebunden hatte, und sie wußte es nicht einmal.

Einen Monat nachdem Helen ihren Volvo gekauft hatte, erlitt Faye Chapin einen Herzanfall, während er an einer vorläufigen Teilnehmerliste für das Startbahn Drei Classic dieses Herbstes arbeitete. Er wurde ins Derry Home Hospital gebracht, wo er sieben Stunden später starb. Ralph besuchte ihn kurz vor dem Ende, und als er die Nummer an der Tür sah - 215 - überkam ihn ein überwältigendes Gefühl von deja vu. Zuerst glaubte er, es läge daran, daß Carolyns Krankheit auf diesem Flur ihr Ende genommen hatte, aber dann fiel ihm ein, daß auch Jimmy V. in genau diesem Zimmer gestorben war. Er und Lois hatten Jimmy kurz vor dem Ende besucht, und Ralph glaubte, daß Jimmy sie beide erkannt hatte, war aber nicht mehr sicher; seine Erinnerungen an die Zeit, als ihm Lois zum erstenmal richtig aufgefallen war, waren verschwommen und nebulös. Er vermutete, daß daran teilweise die Liebe schuld war, und teilweise, daß er in die Jahre kam, am meisten aber die Schlaflosigkeit - in den Monaten nach Carolyns Tod hatte er wirklich sehr darunter gelitten, aber mit der Zeit war sie verschwunden, wie das bei solchen Dingen eben manchmal geht. Dennoch schien ihm, als hätte sich etwas

([hallo Frau, hallo Mann, wir haben auf euch gewartet]) mehr als Außergewöhnliches in diesem Zimmer zugetragen, und als er Fayes trockene, kraftlose Hand nahm und in Fayes ängstliche, verwirrte Augen sah, kam ihm ein seltsamer Gedanke: Sie stehen genau da drüben in der Ecke und beobachten uns.

Er sah hinüber. Selbstverständlich stand niemand in der Ecke, aber einen Augenblick... nur einen Augenblick...

Das Leben in den Jahren von 1993 bis 1998 ging seinen Gang, wie es in Städten wie Derry immer der Fall ist: Aus den Knospen des April wurden die trockenen, fallenden Blätter des Oktober; Mitte Dezember wurden Weihnachtsbäume in die Häuser getragen und in der ersten Januarwoche mit Resten von Lametta, die noch traurig an den Zweigen hingen, wieder mit den Müllwagen abtransportiert; Babys kamen zum Eingang herein, und alte Leute gingen durch den Ausgang hinaus. Manchmal gingen auch Menschen im besten Alter durch den Ausgang hinaus.

In Derry waren es fünf Jahre der Haarschnitte und Dauerwellen, der Stürme und Schulabschlußfeiern, des Kaffees und der Zigaretten, der Steakessen in Parker's Cove und der Hot Dogs auf dem Spielfeld der Jugendliga. Mädchen und Jungen verliebten sich, Betrunkene fielen aus ihren Autos, kurze Röcke fielen in Ungnade. Die Leute deckten ihre Dächer neu und besserten die Einfahrten aus. Alte Flaschen wurden aus ihren Ämtern abgewählt und neue Flaschen hineingewählt. Es war das Leben, häufig unbefriedigend, manchmal grausam, normalerweise langweilig, manchmal wunderschön, ab und zu erfreulich. Die grundsätzlichen Dinge blieben erhalten, während die Zeit verging.

Im Frühherbst des Jahres 1 996 kam Ralph zu der Überzeugung, daß er Darmkrebs hätte. Er sah mehr als nur Spuren von Blut im Stuhl, und als er schließlich zu Dr. Pickard ging (Dr. Litchfields fröhlichem, schnodderigen Nachfolger), hatte er Visionen von Krankenhausbetten und Chemotherapie und IV-Tropfs, die trostlos in seinem Kopf tanzten. Aber statt um Darmkrebs handelte es sich um eine Hämorrhoide, die, mit Dr. Pickards denkwürdigem Ausdruck, »den Korken rausgedrückt« hatte. Er schrieb Ralph ein Rezept für Zäpfchen, mit dem Ralph zum Rite Aid ging. Joe Wyzer las es und grinste Ralph feixend an. »Beschissen«, sagte er, »aber auf jeden Fall um Klassen besser als Darmkrebs, oder nicht?«

»Ich habe nie an Darmkrebs gedacht«, antwortete Ralph steif.

Eines Tages im Winter 1997 setzte Lois es sich in den Kopf, mit Nats Plastikschlitten, der wie eine fliegende Untertasse aussah, ihren Lieblingshügel im Strawford Park hinunterzufahren. Sie fuhr »schneller als ein Schwein auf einer eingeschmierten Rutsche« (das war der Ausdruck von Don Veazie, der an dem Tag zufällig vorbeikam und alles mit ansah) und knallte gegen das Port-O-San mit der Aufschrift FRAUEN. Sie stieß sich das Knie an und verrenkte sich den Rücken, und obwohl Ralph wußte, daß er es nicht tun sollte - es war zumindest äußerst herzlos -, lachte er fast den ganzen Weg zur Notaufnahme von Herzen. Die Tatsache, daß Lois trotz ihrer Schmerzen ebenfalls vor Lachen brüllte, trug auch nicht gerade dazu bei, daß Ralph sich wieder unter Kontrolle bekam. Er lachte, bis ihm Tränen aus den Augen quollen, und er fürchtete, er könnte einen Schlaganfall erleiden. Sie hatte einfach so gottverdammt wie unsere Lois ausgesehen, als sie auf diesem Ding den Hügel hinuntergerast war, immer im Kreis herum, die Beine über Kreuz wie ein Yogi aus dem geheimnisvollen Osten, und sie hätte das Port-O-San fast umgestoßen, als sie dagegen prallte. Als der Frühling kam, hatte sie sich wieder völlig erholt, obwohl ihr das Knie an regnerischen Tagen immer zu schaffen machte und sie es gründlich satt bekam, daß Don Veazie sich jedesmal, wenn er sie sah, danach erkundigte, ob sie in letzter Zeit mal wieder mit einem Scheißhaus zusammengestoßen wäre.

Das Leben nahm seinen Lauf wie üblich - was bedeutet, weitgehend zwischen den Zeilen und außerhalb der Ränder. Dem einen oder anderen Weisen zufolge ist es das, was passiert, während wir andere Pläne machen, und wenn das Leben in jenen Jahren besonders gut zu Ralph Roberts war, dann vielleicht deshalb, weil er keine anderen Pläne hatte. Er blieb mit Joe Wyzer und John Leydecker befreundet, aber sein bester Freund in all den Jahren war seine Frau. Sie gingen fast überall gemeinsam hin, hatten keine Geheimnisse voreinander und stritten selten, so gut wie nie, könnte man sagen. Außerdem hatte er den Beagle Rosalie, den Schaukelstuhl, der Mr. Chasse gehört hatte, jetzt aber seiner war, und fast täglich Besuche von Natalie (die sie jetzt Ralph und Lois statt Walf und Roliss nannte, eine Veränderung, die beide nicht als Verbesserung ansahen). Und er war gesund, was möglicherweise das Allerbeste war. Es war einfach das Leben, voll kurzfristiger Belohnungen und Rückschläge, und Ralph genoß es voll Freude und Ausgeglichenheit bis Mitte März 1998, als er eines Morgens aufwachte, auf die Digitaluhr neben dem Bett sah und feststellte, daß es 5:49 Uhr war.

Er lag still neben Lois, weil er sie nicht stören wollte, indem er aufstand, und fragte sich, was ihn geweckt hatte.

Das weißt du doch, Ralph.

Nein.

Doch, du weißt es. Hör gut hin.

Also hörte er gut hin. Er hörte ganz genau hin. Und nach einer Weile konnte er es in den Wänden hören: das leise, sanfte Ticken der Todesuhr.

Ralph erwachte am folgenden Morgen um 547 und am Morgen darauf um 5:44 Uhr. Sein Schlaf schwand Minute für Minute, während der Winter Derry langsam aus seinem Griff entließ und dem Frühling Platz machte. Im Mai hörte er das Ticken der Todesuhr überall, wußte aber, es kam nur von einem einzigen Punkt und projizierte sich, wie ein guter Bauchredner seine Stimme projizieren kann. Beim erstenmal war es aus Carolyn gekommen. Jetzt kam es aus ihm.

Er verspürte weder die Angst wie bei dem Gedanken, er könnte Krebs haben, noch die Verzweiflung, an die er sich von seiner früheren Phase der Schlaflosigkeit erinnerte. Er wurde schneller müde, und es fiel ihm schwerer, sich zu konzentrieren und sich auch nur an einfache Dinge zu erinnern, aber er fügte sich gelassen in das, was geschah.

»Schläfst du gut, Ralph?« fragte Lois ihn eines Tages. »Du bekommst große dunkle Ringe unter den Augen.«

»Das liegt an den Drogen, die ich nehme«, sagte Ralph.

»Sehr witzig, du alter Narr.«

Er nahm sie in die Arme und drückte sie. »Mach dir um mich keine Sorgen, Liebling - ich bekomme soviel Schlaf, wie ich brauche.«

Eine Woche später erwachte er morgens um 4:02 Uhr und spürte einen pochenden Strang starker Hitze in seinem Arm -sie pochte in perfektem Einklang mit dem Ticken der Todesuhr, die selbstverständlich nichts anderes als sein eigener Herzschlag war. Aber dieses neue Ding war nicht sein Herz, jedenfalls glaubte Ralph das nicht; es war, als wäre ein Stromkabel ins Fleisch seines Unterarms eingepflanzt worden.

Das ist die Narbe, dachte er, und dann: Nein, es ist das Versprechen. Die Zeit des Versprechens ist fast gekommen.

Welches Versprechen, Ralph? Welches Versprechen?

Er wußte es nicht.

Eines Tages Anfang Juni kamen Helen und Nat zu Besuch und erzählten Ralph und Lois von einem Ausflug nach Boston mit »Tante Melanie«, einer Bankangestellten, mit der Helen eng befreundet war. Helen und Tante Melanie waren zu einer feministischen Versammlung gegangen, während Natalie im Tageszentrum mit etwa einer Milliarde neuer Kinder Freundschaft schloß, und dann war Tante Melanie zu weiteren feministischen Aktivitäten nach New York und Washington weitergereist. Helen und Nat waren ein paar Tage in Boston geblieben, um die Sehenswürdigkeiten zu bewundern.

»Wir haben einen Zeichentrickfilm gesehen«, sagte Natalie. »Er handelte von Tieren im Wald. Sie haben gesprochen!« Das letzte Wort sprach sie mit Shakespearscher Grandeur ausgesprochen.

»Filme mit sprechenden Tieren sind toll, was?« fragte Lois.

»Ja! Außerdem habe ich dieses neue Kleid bekommen.« »Und was für ein hübsches Kleid«, sagte Lois.

Helen sah Ralph an. »Alles in Ordnung, alter Freund? Du siehst blaß aus und hast noch keinen Pieps gesagt.«

»Hab mich nie besser gefühlt«, sagte er. »Ich habe mir nur gerade überlegt, wie süß ihr beiden mit diesen Mützen ausseht. Habt ihr sie im Fenway Park gekauft?«

Helen und Nat trugen beide Mützen der Red Sox von Boston. Bei warmem Wetter waren diese in Neuengland weit verbreitet (»verbreitet wie Katzendreck«, hätte Lois gesagt), aber auf den Köpfen dieser beiden Menschen riefen sie ein tiefes Echo in Ralph wach... und das war mit einem bestimmten Bild verbunden, das er nicht im geringsten verstand: der Fassade des Red Apple.

Inzwischen hatte Helen ihre Mütze abgenommen und betrachtete sie. »Ja«, sagte sie, »wir waren da, sind aber nur drei Runden geblieben. Männer schlagen Bälle und fangen Bälle. Ich glaube, ich habe neuerdings nicht mehr viel Geduld mit Männern und ihren Bällen... aber unsere hübschen Red-SoxMützen gefallen uns, oder nicht, Natalie?«

»Ja!« stimmte Nat vergnügt zu, und als Ralph am nächsten Morgen um 4:01 Uhr erwachte, pochte die dünne Linie an seinem Unterarm heftig und die Todesuhr schien fast eine eigene Stimme bekommen zu haben, die immer wieder einen seltsamen und fremdartigen Namen flüsterte: Atropos... Atropos... Atropos.

Ich kenne diesen Namen.

Wirklich, Ralph?

Ja, er war der mit dem rostigen Skalpell und der gemeinen Art, er hat mich Kurzer genannt, er nahm... nahm...

Nahm was, Ralph?

Er gewöhnte sich an diese stummen Unterhaltungen; sie schienen auf einer geistigen Wellenlänge zu ihm zu kommen, einer Piratenfrequenz, die nur in den frühen Morgenstunden auf Sendung war, wenn er neben seiner schlafenden Frau lag und darauf wartete, daß die Sonne aufging.

Nahm was? Erinnerst du dich?

Er rechnete nicht damit; die Fragen, die ihm diese Stimme stellte, blieben fast immer unbeantwortet, aber diesmal erhielt er eine Antwort, mit der er nicht gerechnet hatte.

Selbstverständlich Bill McGoverns Hut. Atropos hat Bills Hut genommen, und einmal hob ich ihn so wütend gemacht, daß er wahrhaftig ein Stück aus der Krempe rausgebissen hat.

Wer ist er? Wer ist Atropos?

Da war er nicht so sicher. Er wußte nur, Atropos hatte etwas mit Helen zu tun, die jetzt eine Mütze der Boston Red Sox zu besitzen schien, auf die sie ausgesprochen stolz war, und er besaß ein rostiges Skalpell.

Bald, dachte Ralph Roberts, während er in der Dunkelheit lag und dem leisen, konstanten Ticken der Todesuhr in den Wänden lauschte. Bald werde ich es wissen.

In der dritten Woche des brütend heißen Juni sah Ralph die Auren wieder.

Als der Juni in den Juli überging, brach Ralph häufig in Tränen aus, meistens ohne ersichtlichen Grund. Das war seltsam; er fühlte sich weder deprimiert noch unzufrieden, aber manchmal sah er etwas - möglicherweise nur einen Vogel, der einsam seine Kreise am Himmel zog -, und sein Herz wurde schwer vor Kummer und Verlustgefühlen.

Es ist fast vorbei, sagte seine innere Stimme. Sie gehörte nicht mehr Carolyn oder Bill oder seinem jüngeren Selbst; sie war jetzt völlig eigenständig, die Stimme eines Fremden, allerdings nicht unbedingt eines unfreundlichen. Darum bist du so traurig, Ralph. Es ist völlig normal, traurig zu sein, wenn die Uhr abläuft.

Nichts ist fast vorbei! schrie er zurück. Warum sollte es? Bei meiner letzten Untersuchung hat Dr. Pickard gesagt, ich wäre kerngesund! Mir geht es gut! Ich habe mich nie besser gefühlt!

Die innere Stimme schwieg. Aber es war ein wissendes Schweigen.

»Okay«, sagte Ralph eines Nachmittags Ende Juli laut. Er saß auf einer Bank nicht weit von der Stelle entfernt, wo bis 1985 der Wasserturm von Derry gestanden hatte, als der große Sturm ihn umwarf. Am Fuß des Hügels, in der Nähe des Vogelbads, machte sich ein junger Mann (ein gewissenhafter Vogelbeobachter, dem Fernglas, das er um den Hals trug, und dem Stapel Taschenbücher neben sich im Gras nach zu urteilen, gewissenhaft Notizen in eine Art Tagebuch. »Okay, sag mir, warum es fast vorbei ist. Sag mir nur das.«

Es erfolgte keine unmittelbare Antwort, aber das machte nichts; Ralph war bereit zu warten. Der Spaziergang hierher war anstrengend gewesen, der Tag war heiß, und Ralph war müde. Er wachte jetzt jeden Morgen gegen 3:30 Uhr auf. Er machte wieder lange Spaziergänge, aber nicht in der Hoffnung, sie würden ihm helfen, besser oder länger zu schlafen; er glaubte, daß er Pilgerfahrten unternahm, daß er seine ganzen Lieblingsplätze in Derry ein letztes Mal besuchte. Daß er Lebewohl sagte.

Weil die Zeit des Versprechens fast gekommen ist, antwortete die Stimme, und die Narbe pochte wieder mit ihrer starken, konzentrierten Hitze. Das dir gegeben wurde, und das du als Gegenleistung gegeben hast.

»Was war das?« fragte er aufgeregt. »Bitte, wenn ich ein Versprechen gegeben habe, warum kann ich mich daran nicht erinnern?«

Das hörte der gewissenhafte Vogelbeobachter und sah den Hügel hinauf. Er sah einen Mann auf einer Parkbank sitzen und anscheinend Selbstgespräche führen. Der gewissenhafte Vogelbeobachter zog verächtlich die Mundwinkel nach unten und dachte: Ich hoffe, ich sterbe, bevor ich so alt werde. Wirklich. Dann drehte er sich wieder zu dem Vogelbad um und setzte seine Notizen fort.

Plötzlich kam tief im Inneren von Ralphs Kopf dieses verkrampfte Gefühl wieder - das Blinzeln -, und obwohl er sich nicht von der Bank fortbewegte, spürte er doch, wie er rapide in die Höhe getragen wurde... schneller und höher als jemals zuvor.

Ganz und gar nicht, sagte die Stimme. Einmal warst du viel höher als jetzt, Ralph - und Lois. Aber du kommst wieder hin. Bald wirst du bereit sein.

Der Vogelbeobachter, der, ohne es zu wissen, inmitten einer prachtvollen Aura aus gesponnenem Gold lebte, sah sich verstohlen um - möglicherweise wollte er sicherstellen, daß sich der senile alte Mann auf der Bank da oben auf dem Hügel nicht mit einem stumpfen Gegenstand an ihn heranschlich. Aber bei dem Anblick, der sich ihm bot, entspannte sich die verkrampfte, verbissene Linie seines Mundes. Er riß die Augen auf. Ralph erblickte plötzlich kreisende, indigoblaue Speichen in der Aura des gewissenhaften Vogelbeobachters und wußte, daß er einen Mann vor sich sah, der gerade einen Schock erlitten hatte.

Was ist los mit ihm? Was sieht er?

Aber das stimmte nicht. Es ging nicht darum, was der Vogelbeobachter sah, sondern was er nicht sah. Er sah Ralph nicht, denn Ralph war so weit aufgestiegen, daß er aus dieser Ebene verschwunden war - er war zum visuellen Gegenstück des Tons einer Hundepfeife geworden.

Wenn sie jetzt hier wären, könnte ich sie mühelos sehen.

Wer, Ralph? Wenn wer hier wäre?

Klotho. Lachesis. Und Atropos.

Plötzlich fügten sich die Teile wie im Flug in seinem Geist zusammen, wie die Stücke eines Puzzles, das viel komplizierter aussah, als es in Wirklichkeit war.

Ralph, flüsternd: [»O mein Gott. O mein Gott. O mein Gott.«]

Sechs Tage später erwachte Ralph um Viertel nach drei Uhr morgens und wußte, daß der Zeitpunkt des Versprechens gekommen war.

»Ich glaube, ich gehe zum Red Apple, mir ein Eis holen«, sagte Ralph. Es war fast zehn Uhr. Sein Herz schlug viel zu schnell, und seine Gedanken waren unter dem konstanten weißen Rauschen der Todesangst, die er jetzt verspürte, kaum zu finden. Ihm war in seinem ganzen Leben noch nie weniger nach Eis zumute gewesen, aber es war eine einleuchtende Ausrede für einen Spaziergang zum Red Apple; man schrieb die erste Augustwoche, der Wetterbericht hatte gesagt, daß die Quecksilbersäule am frühen Nachmittag wahrscheinlich über zweiunddreißig steigen und am frühen Abend Gewitter auf ziehen würden.

Ralph glaubte, daß er sich wegen des Gewitters keine Sorgen mehr zu machen brauchte.

Neben der Küchentür stand ein Bücherregal auf Zeitungen. Lois hatte es rot gestrichen. Jetzt stand sie auf, stemmte die Hände unten in den Rücken und streckte sich. Ralph konnte das leise Knacken der Wirbelsäule hören. »Ich komme mit dir. Wenn ich nicht eine Weile von der Farbe wegkomme, werde ich heute nacht Kopfschmerzen haben. Ich weiß sowieso nicht, warum ich an so einem schwülen Tag etwas anstreichen wollte.«

Ralph hatte als Allerletztes vor, sich von Lois zum Red Apple begleiten zu lassen. »Das mußt du nicht, Liebling; ich bringe dir ein Kokoseis am Stiel mit, das du so magst. Ich wollte nicht mal Rosalie mitnehmen, weil es so schwül ist. Warum setzt du dich nicht hinten auf die Veranda?«

»Wenn du an so einem Tag ein Eis am Stiel bis hierher trägst, fällt es wahrscheinlich vom Stiel, bis du hier bist«, sagte sie. »Komm schon, gehen wir, solange noch Schatten auf dieser Seite der...«

Sie verstummte langsam. Das verhaltene Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Es wich einem bestürzten Ausdruck, und das Grau ihrer Aura, das in den Jahren, als Ralph es nicht sehen konnte, nur ein bißchen dunkler geworden war, erstrahlte nun mit Scharen rötlich-rosafarbener Fünkchen.

»Ralph, was ist los? Was hast du wirklich vor?«

»Nichts«, sagte er, aber die Narbe in seinem Arm glühte, und das Ticken der Todesuhr war überall, laut und allgegenwärtig. Es sagte ihm, daß er eine Verabredung einhalten mußte. Ein Versprechen.

»O doch, und es geht schon seit zwei oder drei Monaten so, vielleicht länger. Ich bin eine dumme Frau - ich hab gewußt, daß etwas in der Luft lag, hab es aber nicht fertiggebracht, mich ihm direkt zu stellen. Weil ich Angst hatte. Und ich hatte recht, Angst zu haben, oder nicht? Ich hatte recht.«

»Lois —«

Plötzlich kam sie durch das Zimmer auf ihn zu, kam schnell, sprang fast, die alte Rückenverletzung hinderte sie nicht im geringsten, und bevor er sie aufhalten konnte, hatte sie seinen rechten Arm gepackt, streckte ihn und betrachtete ihn gebannt.

Die Narbe leuchtete in einem heftigen, strahlenden Rot.

Ralph hoffte kurz, daß es nur ein Leuchten der Aura war, das sie nicht sehen konnte. Dann sah sie mit runden Augen voller Angst auf. Angst und noch etwas. Ralph fand, daß dieses Andere Wiedererkennen war.

»O mein Gott«, flüsterte sie. »Die Männer im Park. Die mit den komischen Namen... Klothes und Lashes oder so... und einer hat dich geschnitten. O Ralph, o mein Gott, was sollen wir tun?«

»Lois, jetzt reg dich nicht auf -«

»Komm mir nicht mit. Reg dich nicht auf!« kreischte sie ihm ins Gesicht. »Wage es nicht! Wage es JA nicht!«

Beeil dich, flüsterte die innere Stimme. Du hast keine Zeit, hier herumzustehen und dich darüber zu unterhalten; irgendwo hat es schon angefangen, und die Todesuhr, die du hörst, tickt möglicherweise nicht nur für dich.

»Ich muß gehen.« Er drehte sich um und stapfte zur Tür. In seiner Aufregung bemerkte er eine gewisse Sherlock Holmessche Einzelheit dieser Szene nicht: Ein Hund, der hätte bellen müssen - ein Hund, der immer mißbilligend bellte, wenn in diesem Haus Stimmen erhoben wurden -, bellte nicht. Rosalie lag nicht an ihrem Lieblingsplatz neben der Tür... und die Tür selbst war angelehnt.

Aber im Augenblick lag Ralph nichts ferner als Rosalie. Er kam sich vor, als stünde er knietief in Melasse und glaubte, es wäre eine reife Leistung, wenn er nur bis zur Veranda käme, geschweige denn die Straße hinauf zum Red Apple. Sein Herz pochte und raste in der Brust; seine Augen brannten.

»Nein!« schrie Lois. »Nein, Ralph, bitte! Bitte verlaß mich nicht!«

Sie lief hinter ihm her und hielt ihn am Arm fest. Sie hielt noch den Pinsel in der Hand, und die feinen Farbspritzer auf seinem Hemd sahen wie Blut aus. Jetzt weinte sie, und der Ausdruck völligen, allumfassenden Kummers brach ihm fast das Herz. Er wollte sie nicht so verlassen; war nicht sicher, ob er sie so verlassen konnte.

Er drehte sich um und hielt sie an den Unterarmen. »Lois, ich muß gehen.«

»Du hast nicht geschlafen«, stammelte sie. »Ich wußte es, und ich wußte, es bedeutet, daß etwas nicht stimmt, aber das macht nichts, wir gehen fort, wir können gleich aufbrechen, noch in dieser Minute, wir nehmen nur Rosalie und unsere Zahnbürsten und gehen -«

Er drückte ihre Arme, worauf sie verstummte und mit feuchten Augen zu ihm aufsah. Ihre Lippen bebten.

»Lois, hör mir zu. Ich muß es tun.«

»Ich habe Paul verloren, ich kann nicht auch noch dich verlieren!« schluchzte sie. »Ich könnte es nicht ertragen! O Ralph, ich könnte es nicht ertragen!«

Du wirst es können, dachte er. Kurzfristige sind viel zäher, als sie aussehen. Das müssen Sie sein.

Ralph spürte, wie ihm zwei Tränen an den Wangen herabliefen. Er vermutete, daß eher Müdigkeit als Traurigkeit der Grund dafür war. Wenn er ihr begreiflich machen könnte, daß dies alles nichts änderte, nur schwerer machte, was er tun mußte...

Er hielt sie auf Armeslänge von sich. Die Narbe an seinem Arm pochte heftiger denn je, und das Gefühl, daß ihm die Zeit unerbittlich zwischen den Fingern verrann, wurde überwältigend.

»Dann komm zumindest ein Stück mit mir, wenn du willst«, sagte er. »Vielleicht kannst du mir sogar dabei helfen, was ich tun muß. Ich habe mein Leben gehabt, Lois, und es war ein schönes Leben. Aber sie hat noch gar nchts gehabt, und der Teufel soll mich holen, wenn ich sie diesem Dreckskerl überlasse, nur weil er noch eine alte Rechnung mit mir zu begleichen hat.«

»Was für ein Dreckskerl, Ralph? Wovon, um alles in der Welt, redest du?«

»Ich rede von Natalie Deepneau. Sie soll heute morgen sterben, aber das werde ich nicht zulassen.«

»Nat? Ralph, warum sollte jemand Nat etwas antun?«

Sie sah sehr bestürzt aus, ganz unsere Lois... aber lag nicht etwas anderes unter dem arglosen Äußeren? Etwas Überlegtes und Berechnendes? Ralph fand, daß die Antwort ja lautete. Ralph überlegte sich, daß Lois möglicherweise nicht halb so bestürzt war, wie sie tat. Sie hatte Bill McGovern jahrelang mit dieser Nummer getäuscht - ihn auch, jedenfalls manchmal -, und dies war nur eine weitere (und ziemlich brillante) Variation des alten Schwindels.

In Wirklichkeit versuchte sie, ihn hier festzuhalten. Sie liebte Nat von Herzen, aber für Lois gab es keinen Zweifel, wenn sie sich zwischen ihrem Mann und dem kleinen Mädchen am Ende der Straße entscheiden mußte. Für sie hatten weder das Alter noch Fragen der Fairness einen Einfluß auf die Situation. Ralph war ihr Mann; nur das allein zählte für Lois.

»Das funktioniert nicht«, sagte er nicht unfreundlich. Er löste sich von ihr und ging wieder zur Tür. »Ich habe ein Versprechen gegeben, und meine Zeit wird knapp.«

»Dann brich es!« schrie sie, und die Mischung aus Verzweiflung und Wut in ihrer Stimme setzte ihn in Erstaunen. »Ich kann mich kaum noch an die Zeit erinnern, aber ich weiß, wir wurden in Ereignisse verwickelt, die uns fast das Leben gekostet hätten, und zwar aus Gründen, die wir nicht einmal verstehen konnten. Also brich es, Ralph! Besser dein Versprechen als mein Herz!«

»Und was ist mit dem Kind? Was ist mit Helen, wenn wir schon dabei sind? Sie lebt nur für Nat. Verdient Helen nicht etwas Besseres von mir als ein gebrochenes Versprechen?«

»Mir ist gleich, was sie verdient! Was sie alle verdienen!« schrie sie, doch dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Nein, das stimmt nicht. Aber was ist mit uns, Ralph? Zählen wir nicht?« Ihre Augen, die dunklen und länglichen spanischen Augen, flehten ihn an. Wenn er zu lange in sie hineinsah, würde es ihm allzu leichtfallen, die Sache aufzugeben, daher sah er schnell weg.

»Ich werde es tun, Liebling. Nat wird bekommen, was du und ich schon gehabt haben - siebzig Jahre voller Tage und Nächte.«

Sie sah ihn hilflos an, unternahm aber keinen Versuch mehr, ihn aufzuhalten. Statt dessen fing sie an zu weinen. »Dummer alter Mann!« flüsterte sie. »Dummer, störrischer alter Mann!«

»Ja, kann sein«, sagte er und hob ihr Kinn. »Aber ich bin ein dummer, störrischer alter Mann, der zu seinem Wort steht. Komm mit mir. Das würde mir gefallen. Aber... wenn es passiert... mach die Augen zu. Sieh nicht hin.«

»Gut, Ralph.« Sie konnte ihre eigene Stimme kaum hören, und ihre Haut war so kalt wie Eis. Ihre Aura war fast völlig rot geworden. »Was ist es? Was wird ihr zustoßen?« »Sie wird von einer grünen Ford-Limousine überfahren werden. Wenn ich nicht ihren Platz einnehme, wird sie über die gesamte Harris Avenue verspritzt werden... und Helen wird sehen, wie es passiert.«

Als sie den Hügel hinauf zum Red Apple gingen (anfangs ließ Lois sich zurückfallen und trabte wieder heran, ließ es aber sein, als sie merkte, daß sie ihn mit so einem einfachen Trick nicht aufhalten konnte), erzählte ihr Ralph noch das Wenige, das er wußte. Sie konnte sich noch vage erinnern, wie sie unter dem vom Blitz gefällten Baum draußen an der Extension gewesen waren - eine Erinnerung, die sie, jedenfalls bis heute morgen, als Erinnerung an einen Traum betrachtet hatte -, aber natürlich war sie bei Ralphs letzter Konfrontation mit Atropos nicht dabeigewesen. Jetzt erzählte ihr Ralph davon - von dem zufälligen Tod, den Atropos Natalie erleiden lassen wollte, wenn sich Ralph seinen Plänen weiter in den Weg stellte. Er erzählte ihr, wie er Klotho und Lachesis das Versprechen abgerungen hatte, daß Atropos in diesem Fall überstimmt und Nat gerettet würde.

»Ich habe eine Ahnung, daß... die Entscheidung... ziemlich weit oben an der Spitze dieses seltsamen Gebäudes... des Turms... getroffen wurde, von dem sie immer reden. Vielleicht... ganz oben.« Er stieß die Worte keuchend hervor, und sein Herz schlug schneller denn je, aber er glaubte, daß sich das größtenteils auf die Anstrengung und den schwülen Tag zurückführen ließ; seine Angst hatte etwas nachgelassen. Das immerhin hatte das Gespräch mit Lois bewirkt.

Jetzt konnte er das Red Apple sehen. Mrs. Perrine stand aufrecht wie ein General, der die Truppe inspiziert, an der Bushaltestelle. Ihr Einkaufsnetz hing über einem Arm. Ein Unterstand befand sich hinter der Haltestelle, und darin war es schattig, aber Mrs. Perrine ignorierte seine Existenz hartnäckig. Selbst im grellen Sonnenlicht konnte er sehen, daß ihre Aura noch dieselbe graue West-Point-Farbe hatte wie an jenem Oktoberabend des Jahres 1993. Von Helen und Nat war noch nichts zu sehen.

»Selbstverständlich wußte ich, wer er war«, erzählte Esther Perrine später dem Reporter der Derry News. »Mache ich einen unfähigen Eindruck auf Sie, junger Mann? Oder einen senilen? Ich kenne Ralph Roberts seit über zwanzig Jahren. Ein guter Mann. Selbstverständlich nicht aus demselben Holz wie seine Frau geschnitzt - Carolyn war eine Satterwaite, von den Bangor-Satterwaites -, aber trotzdem ein sehr anständiger Mann. Ich habe auch den Fahrer des grünen Ford-Automobils sofort erkannt. Pat Sullivan hat mir sechs Jahre meine Zeitung gebracht, und er hat es gut gemacht. Der neue, der Junge der Morrisons, wirft sie immer in mein Blumenbeet oder auf das Dach der Veranda. Soweit ich weiß, fuhr Pat mit seiner Mutter auf provisorischen Führerschein. Ich hoffe, er nimmt sich nicht allzusehr zu Herzen, was geschehen ist, denn er ist ein guter Junge, und es war wirklich nicht seine Schuld. Ich habe alles gesehen und würde jeden Eid darauf schwören.

Wahrscheinlich denken Sie, daß ich dummes Zeug rede. Streiten Sie das nicht ab; ich kann in Ihrem Gesicht lesen wie Sie in Ihrer eigenen Zeitung. Aber machen Sie sich keine Sorgen - ich habe fast alles gesagt, was ich zu sagen habe. Ich wußte auf der Stelle, daß es Ralph war, aber etwas werden Sie falsch verstehen, auch wenn Sie es in Ihrer Geschichte bringen... was Sie wahrscheinlich nicht tun. Er kam aus dem Nichts, um dieses kleine Mädchen zu retten.«

Esther Perrine fixierte den respektvoll schweigenden jungen Reporter mit einem formidablen Blick - wie ein Insektenforscher einen Schmetterling auf der Nadel, nachdem er ihn chloroformiert hat.

»Ich meine nicht, daß es ausgesehen hat, als käme er aus dem Nichts, junger Mann, auch wenn ich wette, daß Sie das drucken werden.«

Sie beugt sich zu dem Reporter, ohne den Blick von seinem Gesicht abzuwenden, und sagt es noch einmal.

»Er kam aus dem Nichts, um das kleine Mädchen zu retten. Können Sie mir folgen, junger Mann? Er kam aus dem Nichts.«

Der Unfall war die Schlagzeile der Derry News des nächsten Tages. Esther Perrines Bemerkungen waren so farbenprächtig gewesen, daß sie einen eigenen Kasten am Rand bekam, und der Fotograf Tom Matthews machte eine Aufnahme von ihr, auf der sie aussah wie Ma Joad aus Die Früchte des Zorns. Die Schlagzeile über dem Kasten lautete: »ES WAR, ALS WÄRE ER AUS DEM NICHTS GEKOMMEN«, BEHAUPTET AUGENZEUGIN.

Als Mrs. Perrine es las, war sie nicht im geringsten überrascht.

»Letzten Endes bekam ich, was ich wollte«, sagte Ralph, »aber nur weil Klotho und Lachesis - und derjenige auf der höheren Etage, für den sie arbeiten - Ed um jeden Preis aufhalten wollten.«

»Höheren Etage? Was für einer höheren Etage? In was für einem Gebäude?«

»Unwichtig. Du hast es vergessen, aber es würde auch nichts ändern, wenn du dich erinnern würdest. Wichtig ist nur folgendes, Lois: Sie wollten Ed nicht aufhalten, weil tausende Menschen gestorben wären, wenn er direkt ins Bürgerzentrum hineingerast wäre. Sie wollten ihn aufhalten, weil das Leben eines Menschen unter allen Umständen verschont werden mußte... ihrer Meinung nach jedenfalls. Als sie schließlich einsahen, daß ich über mein Kind genauso dachte wie sie über ihres, wurden Vereinbarungen getroffen.«

»Da haben sie dich geschnitten, richtig? Und dann hast du dein Versprechen gegeben. Von dem du im Schlaf gesprochen hast.«

Er warf ihr mit großen Augen einen verblüfften und herzzerreißend jungenhaften Blick zu. Sie erwiderte den Blick nur.

»Ja«, sagte er und wischte sich die Stirn ab. »Das nehme ich an.« Auf der Harris Avenue herrschte heute dichter Verkehr, und die Luft lag wie Metallsplitter in Ralphs Lungen. »Ein Leben für ein Leben, das war die Abmachung - Natalies im Tausch gegen meines. Und -«

[Hey! Hör auf, dich davonschleichen zu wollen! Hör auf, Rover, oder ich trete dir dein Arschloch eckig!]

Ralph verstummte, als er diese schrille, herrische, seltsam vertraute Stimme hörte - eine Stimme, die kein Mensch auf der Harris Avenue hören konnte, außer ihm -, und sah über die Straße.

»Ralph? Was -«

»Pssst!«

Er zog sie zu der sommerlich vertrockneten Hecke vor dem Haus der Applebaums zurück. Inzwischen transpirierte er nicht mehr nur; sein ganzer Körper stank nach einem übelriechenden Schweiß, so dick wie Motoröl, und er konnte spüren, wie jede Drüse in seinem Körper ihre heiße Ladung in seine Blutbahnen pumpte. Seine Unterwäsche wollte ihm in die Arschfalte kriechen und verschwinden. Seine Zunge schmeckte wie eine verbrannte Zündschnur.

Lois folgte seinem Blick. »Rosalie!« rief sie. »Rosalie, du böser Hund! Was machst du denn hier?«

Der schwarzbraune Beagle, den sie Ralph an ihrem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt hatte, befand sich auf der anderen Straßenseite und stand (kauerte wäre das bessere Wort gewesen) auf dem Bürgersteig vor dem Haus, wo Helen und Nat gewohnt hatten, bevor Ed übergeschnappt war. Zum erstenmal in den Jahren, seit sie die Hündin hatten, erinnerte sie Lois an Rosalie Nr. 1, den hinkenden Streuner, der an dem Abend, nachdem Ralph eine verzweifelte Lois Chasse auf der Parkbank gefunden hatte, wo sie sich die Seele aus dem Leib weinte, auf der Straße überfahren worden war. Rosalie Nr. 2 schien ganz allein da drüben zu sein, aber das konnte Lois' plötzliches Entsetzen nicht vertreiben.

Oh, was habe ich getan? dachte sie. Was habe ich getan?

»Rosalie!« schrie sie. »Rosalie, komm hier rüber!«

Die Hündin hörte sie, das konnte Lois sehen, aber sie bewegte sich nicht.

»Ralph? Was ist da drüben los?«

»Psssst!« sagte er wieder, und dann sah Lois etwas weiter oben an der Straße etwas, bei dem ihr der Atem stockte. Ihre letzte schwache Hoffnung, daß sich Ralph das alles nur einbildete, daß es eine Art Rückbesinnung auf ihre früheren Erlebnisse sein könnte, verschwand mit einem Mal, denn jetzt hatte ihr Hund Gesellschaft.

Die sechs Jahre alte Nat Deepneau kam mit einem Springseil über dem rechten Arm zum Ende ihrer Einfahrt herunter und sah die Straße hinunter zu dem Haus, in dem sie einmal gewohnt hatte, woran sie sich allerdings nicht erinnerte, zu dem Rasen, wo ihr Vater einmal ohne Hemd zwischen sich überschneidenden Regenbogen gesessen und Jefferson Airplane gehört hatte, während ein einziger Blutstropfen auf seiner John-Lennon-Brille trocknete. Natalie sah die Straße hinunter und lächelte glücklich, als sie Rosalie sah, die hechelte und sie mit kläglichen, ängstlichen Augen beobachtete.

Atropos sieht mich nicht, dachte Ralph. Er konzentriert sich auf Rosie... und natürlich auf Natalie... und er sieht mich nicht.

Alles fügte sich mit einer tückischen Perfektion zusammen. Das Haus war da, Rosalie war da, und Atropos war auch da, er hatte einen Hut auf dem Kopf zurückgeschoben und sah aus wie ein sprücheklopfender Reporter in einem B-Film aus den fünfziger Jahren - möglicherweise einem, bei dem Ida Lupino Regie geführt hatte. Aber diesmal war es kein Panama mit angebissener Krempe; diesmal war es eine Mütze der Boston Red Sox, und die war selbst für Atropos zu klein, weil das justierbare Band an der Rückseite bis ins letzte Loch gezogen worden war. Damit sie dem kleinen Mädchen paßte, dem sie gehörte.

Jetzt brauchen wir nur noch Pat, den Zeitungsjungen, und die Show ist perfekt, dachte Ralph. Die letzte Szene von Schlaflos, oder Das Leben der Kurzfristigen in der Harris Avenue, eine Tragikomödie in drei Akten. Alle verbeugen sich und treten nach rechts von der Bühne ab.

Dieser Hund hatte Angst vor Atropos, genau wie Rosalie Nr. 1, und der Hauptgrund, weshalb der kleine kahlköpfige Doc Ralph und Lois nicht gesehen hatte, war der, daß er versuchte, sie am Weglaufen zu hindern, bevor er bereit war. Und da kam Nat den Bürgersteig entlang zu ihrem liebsten Hund auf der ganzen Welt, Ralphs und Lois' Rosie. Ihr Springseil (drei-sechs-neun die Gans trank Wein) hatte sie über den Arm geschlungen. Sie sah unglaublich schön und unglaublich verwundbar aus in ihrer Matrosenbluse und den blauen Shorts. Ihre Zöpfe wippten.

Es passiert zu schnell, dachte Ralph. Alles passiert viel zu schnell.

[Ganz und gar nicht, Ralph! Vor fünf Jahren haben Sie es prima gemacht; Sie werden es jetzt auch prima machen. Gott liebt Sie... und jetzt halten Sie Ihr Versprechen.]

Das hörte sich nach Klotho an, aber er hatte keine Zeit, sich zu vergewissern. Ein grünes Auto fuhr langsam aus der Richtung des Flughafens die Harris Avenue entlang; es fuhr mit der quälenden Vorsicht, die normalerweise darauf schließen ließ, daß entweder ein sehr alter oder ein sehr junger Mensch am Steuer saß. Quälende Vorsicht hin oder her, es war zweifellos das Auto; eine schmutzige Membran hing wie ein Leichentuch darüber.

Das Leben ist ein Rad, dachte Ralph, und er überlegte sich, daß ihm dieser Gedanke nicht zum erstenmal kam. Früher oder später kommt alles, das man hinter sich gelassen zu haben glaubt, wieder zum Vorschein. Ob gut oder schlecht, es kommt wieder zum Vorschein.

Rosie unternahm einen weiteren vergeblichen Versuch, die Freiheit zu erlangen, und als Atropos sie zurückriß, kniete Nat sich vor sie hin und streichelte sie. »Hast du dich verirrt, Mädchen? Bist du alleine rausgekommen? Das macht nichts, ich bring dich nach Hause.« Sie umarmte Rosie, ihre kleinen Ärmchen gingen durch die Arme von Atropos, ihr kleines, hübsches Gesicht war nur Zentimeter von seinem häßlichen, grinsenden entfernt. Dann stand sie auf. »Komm mit, Rosie. Komm mit, Hündchen.«

Als Nat losging, blieb Rosalie ihr unmittelbar auf den Fersen, drehte sich noch einmal zu dem grinsenden Mann um und winselte nervös. Auf der anderen Seite der Harris Avenue kam Helen aus dem Red Apple, und damit war die letzte Bedingung der Vision, de Atropos Ralph gezeigt hatte, erfüllt. Helen hielt einen Laib Brot in der Hand. Die Red-Sox-Mütze hatte sie auf dem Kopf.

Ralph zog Lois in seine Arme und küßte sie innig. »Ich liebe dich von ganzem Herzen«, sagte er. »Vergiß das nicht, Lois.«

»Das weiß ich«, sagte sie ruhig. »Und ich liebe dich. Darum kann ich nicht zulassen, daß du es tust.«

Sie schlang Arme wie Eisenbänder um seinen Hals, und er spürte ihre Brüste an seinem Körper, als sie so tief Luft holte, wie sie nur konnte.

»Geh weg, du elender kleiner Dreckskerl!« schrie sie. »Ich kann dich nicht sehen, aber ich weiß, daß du da bist! Geh weg! Geh weg und laß uns in Ruhe!«

Natalie blieb wie angewurzelt stehen und sah Lois mit großen, überraschten Augen an. Rosalie blieb neben ihr stehen und spitzte die Ohren.

»Geh nicht auf die Straße, Nat!« rief Lois ihr zu. »Geh nicht -« Dann hielten ihre Hände, die sie in Ralphs Nacken verschränkt hatte, plötzlich gar nichts mehr, ihre Arme, die einen unnachgiebigen Klammergriff bildeten, waren leer.

Er hatte sich in Luft aufgelöst.

Atropos sah in die Richtung, aus der der Warnschrei gekommen war, und erblickte Ralph und Lois, die auf der anderen Seite der Harris Avenue standen. Wichtiger, er stellte fest, daß Ralph ihn sehen konnte. Er riß die Augen auf und fletschte die Lippen zu einem haßerfüllten Fauchen. Eine Hand flog zu seinem kahlen Schädel, der unter der Mütze von alten Narben bedeckt war, die er mit seinem eigenen Skalpell zugefügt bekommen hatte - eine instinktive schützende Geste, die fünf Jahre zu spät kam.

[Hol dich der Teufel, Kurzer! Das kleine Biest gehört mir!] Ralph sah Nat, die Lois unsicher und überrascht anblickte. Er hörte, wie Lois ihr zurief, sie sollte nicht auf die Straße gehen. Dann hörte er Lachesis, der ganz in der Nähe sprach. [Kommen Sie herauf, Ralph! Soweit Sie können! Schnell!] Er spürte den Krampf mitten in seinem Kopf, spürte das kurze Schwindelgefühl im Magen, und plötzlich wurde die ganze Welt hell und füllte sich mit Farben. Er spürte halb und sah halb, wie Lois' Arme und verschränkten Hände an der Stelle in sich zusammenfielen, wo sich sein Körper noch vor einem Augenblick befunden hatte, und dann wich er vor ihr zurück -nein, wurde von ihr weggezogen. Er spürte den Sog einer gewaltigen Strömung und begriff ein wenig verschwommen: Wenn es so etwas wie den Höheren Plan gab, dann hatte er ihn jetzt erreicht und würde bald mit ihm stromabwärts gerissen werden.

Natalie und Rosalie standen direkt vor dem Haus, das sich Ralph einmal mit Bill McGovern geteilt hatte, bevor er es verkauft hatte und in Lois' Haus gezogen war. Nat sah zweifelnd zu Lois, dann winkte sie. »Alles in Ordnung, Lois -schau, sie ist hier bei mir.« Sie tätschelte Rosalies Kopf. »Ich bring sie sicher rüber, keine Bange.« Als sie auf die Straße trat, rief sie ihrer Mutter zu: »Ich kann meine Baseballmütze nicht finden! Ich glaube, jemand hat sie gestehlt!«

Rosalie stand immer noch auf dem Bürgersteig. Nat drehte sich ungeduldig zu ihr um. »Komm schon, Mädchen!«

Das grüne Auto fuhr auf das Kind zu, aber sehr langsam. Zuerst schien keine Gefahr zu bestehen. Ralph erkannte den Fahrer sofort, und er zweifelte nicht an seinen Sinnen oder glaubte an eine Halluzination. In diesem Augenblick schien es völlig richtig zu sein, daß die allmählich näherkommende Limousine von seinem ehemaligen Zeitungsjungen gefahren wurde.

»Natalie!« schrie Lois. »Natalie, nein!«

Atropos schoß nach vorne und versetzte Rosalie Nr. 2 einen heftigen Schlag.

[Verschwinde, Köter! Los! Bevor ich's mir anders überlege!]

Atropos hatte einen letzten höhnischen Blick für Ralph übrig, als Rosie kläffte und auf die Straße lief... und vor den Ford, den der sechzehnjährige Pat Sullivan fuhr.

Natalie sah das Auto nicht; sie sah zu Lois, deren Gesicht rot und erschrocken war. Plötzlich fiel Nat ein, daß Lois vielleicht gar nicht wegen Rosie schrie, sondern wegen etwas ganz anderem.

Pat registrierte den laufenden Beagle; das kleine Mädchen sah er nicht. Er schwenkte, um Rosalie auszuweichen, ein Manöver, das damit endete, daß der Ford direkt auf Natalie zufuhr. Ralph konnte zwei ängstliche Gesichter hinter der Windschutzscheibe sehen, als das Auto herumgerissen wurde, und er glaubte, daß Mrs. Sullivan schrie.

Atropos hüpfte auf und ab und schlug sich auf die Schenkel wie ein Seemann, der einen Hornpipe tanzt.

[Jaaaa, Kurzer! Dummer weißhaariger Trottel! Ich hob dir ja gesagt, ich werd's dir zeigen!]

Helen ließ den Laib Brot, den sie trug, in Zeitlupe fallen. »Natalie, PASS AUUUUUUF!« schrie sie.

Ralph lief los. Wieder hatte er den deutlichen Eindruck, als würde er sich allein kraft seiner Gedanken bewegen. Und als er mit ausgestreckten Händen auf Nat zurannte und das Auto sah, das unmittelbar hinter ihr war, während ihm durch das Leichentuch grelle Sonnenstrahlen in die Augen fielen, verkrampfte er seinen Geist wieder und sank zum letztenmal auf die Ebene der Kurzfristigen zurück.

Er fiel in eine Landschaft, in der abgehackte Schreie ertönten: Der von Helen vermischte sich mit dem von Lois, der sich mit denen der Reifen des Ford vermischte. Und wie der wilde Trieb einer Ranke wand sich der Jubel von Atropos durch alle hindurch. Ralph sah ganz kurz Nats aufgerissene blaue Augen, dann stieß er sie so fest er konnte in Brust und Bauch, so daß sie mit rudernden Händen und Füßen nach hinten flog. Sie landete aufrecht sitzend im Rinnstein und stieß sich den Steiß am Bordstein an, brach sich aber nichts. Von einem fernen Ort hörte Ralph Atropos voller Wut und Fassungslosigkeit kreischen.

Dann wurde Ralph von dem zwei Tonnen schweren Ford getroffen, der immer noch mit zwanzig Meilen pro Stunde fuhr, und die Geräuschkulisse verstummte unvermittelt. Er wurde in einem langsamen, steilen Bogen in die Höhe und nach hinten geschleudert - ihm kam es jedenfalls im Inneren langsam vor -, der Kühlerschmuck des Ford prägte sich in seine Wange ein wie eine Tätowierung, und ein gebrochenes Bein hatte er auch. Er konnte noch seinen Schatten sehen, der wie ein X auf dem Asphalt unter ihm dahinglitt; er konnte noch einen Sprühregen roter Tropfen über sich in der Luft sehen und dachte, Lois müßte doch mehr rote Farbe auf ihn gespritzt haben, als er zunächst angenommen hatte. Und er konnte Natalie sehen, die weinend, aber unversehrt am Straßenrand saß... und Atropos auf dem Bürgersteig hinter ihr spüren, wo er die Fäuste schüttelte und vor Wut tanzte.

Ich glaube, für einen alten Tattergreis hab ich es verdammt gut gemacht, dachte Ralph, aber jetzt würde mir wirklich ein Nickerchen guttun.

Dann landete er mit einem schrecklichen, tödlichen Aufprall auf dem Boden - sein Schädel barst, die Wirbelsäule brach, die Lunge wurde von Knochensplittern durchbohrt, als seine Rippen explodierten, die Leber wurde zu Brei und seine Eingeweide lösten sich und rissen.

Und nichts tat weh.

Überhaupt nichts.

Lois vergaß nie das schreckliche dumpfe Geräusch, das Ralphs Aufprall auf der Harris Avenue begleitete, ebensowenig die Blutspritzer, die er hinterließ, als er, sich überschlagend, zum Stillstand kam. Sie wollte schreien, wagte es aber nicht; eine tiefe, aufrichtige innere Stimme verriet ihr, wenn sie es täte, würde sie durch die Kombination von Schock, Grauen und Sommerhitze das Bewußtsein verlieren und auf den Bürgersteig sinken, und wenn sie zu sich käme, würde Ralph nicht mehr da sein.

Statt zu schreien, lief sie los, verlor einen Schuh und bekam nur am Rande mit, daß Pat Sullivan aus dem Ford ausstieg, der fast genau an derselben Stelle stand, wo Joe Wyzers Auto ebenfalls ein Ford - vor vielen Jahren gestanden hatte, nachdem er Rosalie Nr. 1 überfahren hatte. Sie bekam auch nur am Rande mit, daß Pat schrie.

Sie kam zu Ralph, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und sah, daß seine Gestalt irgendwie durch den grünen Ford verändert worden war, daß sich der Körper unter der vertrauten Chinohose und dem farbverspritzten Hemd radikal von dem unterschied, den sie noch vor einer Minute an sich gepreßt hatte. Aber seine Augen waren offen, und sie blickten strahlend und lebhaft.

»Ralph?«

»Ja.« Seine Stimme klang deutlich und kräftig, weder von Verwirrung noch von Schmerzen beeinträchtigt. »Ja, Lois, ich höre dich.«

Sie wollte die Arme um ihn legen, zögerte aber, weil ihr einfiel, daß man Schwerverletzte nicht bewegen sollte, weil man sie noch schlimmer verletzen oder gar töten konnte. Dann sah sie ihn wieder an, sah das Blut, das aus seinen Mundwinkeln lief und den Unterkörper, der sich vom Oberkörper gelöst zu haben schien, und kam zu dem Ergebnis, daß es unmöglich wäre, Ralph noch schwerer zu verletzen, als er es bereits war. Sie umarmte ihn, beugte sich zu ihm und nahm die Gerüche des Desasters in sich auf: Blut und den süßsauren Acetongeruch verbrauchten Adrenalins in seinem Atem.

»Diesmal hast du es geschafft, was?« fragte Lois. Sie küßte seine Wange, seine blutigen Augenbrauen, die blutige Stirn, wo sich ein Hautlappen vom Schädel gelöst hatte. Sie fing an zu weinen. »Sieh dich doch an! Hemd zerrissen, Hose zerrissen... glaubst du, Kleidungsstücke wachsen auf Bäumen?«

»Ist er verletzt?« fragte Helen hinter ihr. Lois drehte sich nicht um, aber sie sah die Schatten auf der Straße: Helen, die ihrer weinenden Tochter einen Arm um die Schultern gelegt hatte, und Rosie, die neben Helens rechtem Bein stand. »Er hat Nat das Leben gerettet, und ich habe nicht einmal gesehen, woher er gekommen ist. Bitte, Lois, sag mir, daß er n-«

Dann verschoben sich die Schatten, als Helen zu einer Stelle ging, von der sie Ralph tatsächlich sehen konnte, und sie zog Nats Gesicht an ihre Bluse und fing an zu weinen.

Lois beugte sich dichter über Ralph, streichelte seine Wangen mit den Händen, wollte ihm sagen, daß sie mit ihm kommen wollte - das hatte sie gewollt, ja, wirklich, aber am Ende war er zu schnell für sie gewesen. Am Ende hatte er sie zurückgelassen.

»Ich liebe dich, Herzblatt«, sagte Ralph. Er streckte den Arm aus und kopierte ihre Geste mit seiner eigenen Hand. Er versuchte, auch die linke Hand zu heben, aber die lag nur auf dem Asphalt und zuckte.

Lois nahm seine Hand und küßte sie. »Ich liebe dich auch, Ralph. Immer. So sehr.«

»Ich mußte es tun. Verstehst du?«

»Ja.« Sie wußte nicht, ob sie es verstand... aber sie wußte, daß er im Sterben lag. »Ja, ich verstehe.«

Er seufzte rauh - der süßliche Acetongeruch stieg wieder zu ihr auf - und lächelte.

»Miz Chasse? Miz Roberts, meine ich?« Es war Pat, der hektisch nach Luft schnappte. »Geht es Mr. Roberts gut? Bitte sagen Sie, daß ich ihn nicht verletzt habe!«

»Bleib weg, Pat«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Ralph geht es gut. Er hat sich nur das Hemd und die Hose zerrissen... richtig, Ralph?«

»Ja«, sagte er. »Worauf du dich verlassen kannst. Du mußt mich nur prügeln für meine -«

Er verstummte und sah nach links. Niemand war da, aber Ralph lächelte trotzdem. »Lachesis!« sagte er.

Er streckte die zitternde, blutige rechte Hand aus, die sich vor den Augen von Lois, Helen und Pat Sullivan zweimal in der Luft hob und senkte. Ralph verdrehte wieder die Augen, diesmal nach rechts. Als er diesmal sprach, wurde seine Stimme schwächer. »Hi, Klotho. Vergessen Sie nicht: Es... tut nicht... weh. Richtig?«

Ralph schien zu lauschen, dann lächelte er.

»Jawohl«, flüsterte er, »so locker, wie sie nur können.«

Seine Hand hob und senkte sich wieder in der Luft und fiel auf seine Brust zurück. Er sah Lois mit seinen brechenden blauen Augen an.

»Hör zu«, sagte er unter großer Anstrengung. Aber seine Augen blitzten und ließen nicht von ihren ab. »Jeden Tag, wenn ich neben dir aufgewacht bin, war mir, als würde ich jung aufwachen und alles... neu sehen.« Er versuchte, die Hand wieder zu ihrer Wange zu heben, konnte es aber nicht. »Jeden Tag, Lois.«

»So war es für mich auch, Ralph - als würde ich jung aufwachen.«

»Lois?«

»Was?«

»Das Ticken«, sagte er. Er schluckte, dann sagte er es noch einmal, wobei er die Worte sehr sorgfältig aussprach. »Das Ticken.«

»Was für ein Ticken?«

»Vergiß es, es hat aufgehört«, sagte er und lächelte strahlend. Dann hörte auch Ralph Roberts auf.

Klotho und Lachesis sahen zu, wie Lois über dem Mann weinte, der tot auf der Straße lag. In einer Hand hielt Klotho seine Schere; die andere hatte er in Augenhöhe gehoben und betrachtete sie staunend.

Sie leuchtete und erstrahlte in Ralphs Aura.

Klotho: [Er ist da... da drinnen... wie wunderbar!]

Lachesis hob ebenfalls die rechte Hand. Sie sah, wie Klothos linke, aus, als hätte jemand einen blauen Handschuh über die sonst grün-goldene Aura gezogen.

Lachesis: [Ja. Er war ein wunderbarer Mann.]

Klotho: [Sollen wir ihn ihr geben?]

Lachesis: [Können wir das?]

Klotho: [Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.]

Sie näherten sich Lois. Jeder preßte die Hand, die Ralph geschüttelt hatte, auf eine Seite von Lois' Gesicht.

»Mommy!« rief Natalie Deepneau. In ihrer Aufregung fiel sie in die Sprache ihrer Babyzeit zurück. »Wer sind die deinen Männer? Warum fassen Sie Roliss an?«

»Psst, Liebling«, sagte Helen und drückte Nats Kopf wieder an die Brust. Es waren keine Männer, weder klein noch sonstwie, in der Nähe von Lois; sie kniete allein auf der Straße neben dem Mann, der ihrer Tochter das Leben gerettet hatte.

Lois sah plötzlich mit großen und überraschten Augen auf und vergaß ihren Kummer, als ein wunderbares Gefühl von

(Licht blauem Licht)

Ruhe und Frieden über sie kam. Einen Augenblick war die Harris Avenue verschwunden. Sie befand sich an einem dunklen Ort, wo es süß nach Heu und Kühen roch, an einem dunklen Ort, wo hundert gleißende Lichtblitze zu sehen waren. Sie vergaß nie die gewaltige Freude, die sie in diesem Augenblick erfüllte, rein und heiß wie eine Flamme, noch die sichere Gewißheit, daß sie das Abbild eines Universums sah, das Ralph ihr zeigen wollte, eines Universums, wo blendendes Licht hinter der Dunkelheit herrschte... konnte sie es nicht durch die Ritzen sehen?

»Können Sie je mir verzeihen?« schluchzte Pat. »O mein Gott, können Sie mir je verzeihen?«

»O ja, ich glaube schon«, sagte Lois ruhig.

Sie strich mit der Hand über Ralphs Gesicht, schloß ihm die Augen, und dann hielt sie seinen Kopf auf dem Schoß, während sie daraufwartete, daß die Polizei kam. Für Lois sah Ralph aus, als wäre er eingeschlafen. Und sie sah, daß die lange weiße Narbe an seinem rechten Unterarm verschwunden war.


10. September 1990 - 10. November 1993


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