ZWEITER TEIL Die heimliche Stadt

Alte Männer müßten Forscher sein.

T. S. Eliot


Kapitel 11

Das Derry der Altvorderen war nicht die einzige heimliche Stadt, die unauffällig innerhalb des Ortes existierte, den Ralph immer als seine Heimat betrachtet hatte; als Junge, der in Mary Mead aufgewachsen war, wo heute die verschiedenen Cape-Cod-Häuserkomplexe standen, hatte Ralph herausgefunden, daß es neben dem Derry der Erwachsenen ein Derry gab, das ausschließlich den Kindern gehörte. Da waren die verlassenen Hobo-Dschungel beim Eisenbahndepot in der Nähe der Neibolt Street, wo man manchmal Tomatensuppendosen finden konnte, die halb mit Currygeschnetzeltem gefüllt waren, und Flaschen mit einem oder zwei Schluck Bier; da war die Gasse hinter dem Aladdin Theater, wo Zigaretten Marke Bull Durham geraucht und manchmal Black Cat Kracher gezündet wurden; da war die große alte Ulme, die über den Fluß hing, wo hunderte Mädchen und Jungs gelernt hatten, wie man ins Wasser springt; da waren die hundert (wahrscheinlich eher zweihundert) verschlungenen Pfade, die durch die Barrens führten, ein zugewachsenes Tal, das sich durch die Stadtmitte erstreckte wie eine schlecht verheilte Narbe.

Diese heimlichen Straßen und Highways lagen allesamt unter der Ebene der Wahrnehmung Erwachsener und wurden infolgedessen von ihnen übersehen... aber es hatte Ausnahmen gegeben. Eine war ein Polizist namens Aloysius Neu gewesen -für Generationen Kinder von Derry nur Mr. Nell -, und erst jetzt, als er zum Picknickplatz in der Nähe der Stelle ging, wo die Harris Avenue zur Harris Avenue Extension wurde, überlegte sich Ralph, daß Chris Nell wahrscheinlich der Sohn des alten Mr. Nell war... aber das konnte nicht ganz stimmen, denn der Polizist, den Ralph zum erstenmal in Begleitung von John Leydecker gesehen hatte, war nicht alt genug, daß er der Sohn des alten Mr. Nell sein konnte. Wahrscheinlich war er sein Enkel.

Ralph war eine zweite heimliche Stadt aufgefallen- die den alten Leuten gehörte -, als er selbst pensioniert worden war, aber erst nach Carols Tod war ihm wirklich bewußt geworden, daß er nun auch deren Einwohner war. Und da hatte er eine versunkene Geographie gefunden, die unheimliche Ähnlichkeit mit der hatte, die er als Kind gekannt hatte, ein Ort, welcher von der Arbeitswelt, die geschäftig ringsum brodelte, weitgehend ignoriert wurde. Und das Derry der Altvorderen überlappte noch eine dritte heimliche Stadt: das Derry der Verdammten, ein gräßlicher Ort, der hauptsächlich von Pennern, Flüchtlingen und Irren bewohnt wurde, die man nicht einsperren konnte.

Auf diesem Picknickgelände hatte Lafayette Chapin Ralph mit einer der wichtigsten Überlegungen des Lebens vertraut gemacht... das heißt, nachdem man selbst ein aufrechter Altvorderer geworden war. Diese Überlegung hatte etwas mit dem »wirklichen Leben« zu tun. Das Thema war zur Sprache gekommen, als die beiden Männer sich gerade kennengelernt hatten. Ralph hatte Faye gefragt, was er gemacht hätte, bevor er mit seinen Ausflügen zu dem Picknickgelände begonnen hätte.

»Nun, in meinem wirklichen Leben war ich Zimmermann und Tischler«, hatte Chapin geantwortet und seine verbliebenen Zähne zu einem breiten Grinsen entblößt, »aber das alles hat vor fast zehn Jahren aufgehört.« Als wäre, hatte Ralph gedacht, wie er sich noch genau erinnerte, die Pensionierung eine Art Vampirkuß, der diejenigen, die ihn überlebten, in die Welt der Untoten zog. Und wenn man es genauer überlegte, war das wirklich so weit von der Wahrheit entfernt?

Nachdem er McGovern nun sicher hinter sich gelassen hatte (jedenfalls hoffte er es), ging Ralph durch das schmale Waldstück aus Eichen und Ahornbäumen, das den Picknickplatz von der Extension abschirmte. Er sah, daß sich seit seinem Spaziergang vorhin acht oder neun Leute versammelt hatten, die meisten mit Vespertüten oder Sandwiches von Coffee Pot. Die Eberlys und Zells spielten Hearts mit dem abgegriffenen Blatt Top-Hole-Karten, das sie in einem Astloch der nächsten Eiche versteckten; Faye und Doc Mulhare, ein pensionierter Tierarzt, spielten Schach; ein paar Kiebitze wanderten zwischen den beiden Spielrunden hin und her.

Auf dem Picknickplatz drehte sich alles um die Spiele - wie bei den meisten Treffpunkten im Derry der Altvorderen -, aber Ralph dachte, daß die Spiele in Wirklichkeit nur Beiwerk waren. Eigentlich kamen die Leute hierher, um den Kontakt nicht zu verlieren, sich zu melden, zu bestätigen (und sei es nur sich selbst), daß sie immer noch eine Art von Leben führten, wirklich oder sonstwie.

Ralph setzte sich auf eine freie Bank in der Nähe des Sturmzauns und strich mit einem Finger zerstreut über die eingeschnitzten Botschaften - Namen, Initialen, jede Menge FUCK YOUs -, während er Flugzeuge in regelmäßigen Zwei-Minuten-Intervallen landen sah: eine Cessna, eine Apache, eine Piper, eine Twin Bonanza, den 11:45 Air Express aus Boston. Mit einem Ohr verfolgte er das Auf und Ab der Gespräche hinter ihm. May Lochers Name wurde mehr als einmal erwähnt -mehrere der Anwesenden hatten sie gekannt, und der allgemeine Tenor schien zu sein, daß Gott sich endlich erbarmt und ihrem Leiden ein Ende gesetzt hätte -, aber die meisten Gespräche kreisten heute um den bevorstehenden Besuch von Susan Day. Als Faustregel konnte man sagen, daß Politik kein Thema für die Altvorderen war, die jederzeit einen guten Darmkrebs oder Hirnschlag vorzogen, aber selbst hier draußen verlor das Thema Abtreibung nicht seine einzigartige Fähigkeit, zu erzürnen, zu verbittern und zu entzweien.

»Sie hat sich eine schlechte Stadt ausgesucht, und das Schlimme daran ist, ich bezweifle, ob sie das weiß«, sagte Doc Mulhare und betrachtete das Schachbrett voll verdrossener Konzentration, während Faye Chapin die restliche Streitmacht seines Königs im Blitzkrieg niedermähte. »Hier passiert so allerhand. Erinnerst du dich an den Brand im Black Spot, Faye?«

Faye grunzte und schlug Docs letzten Läufer.

»Ich verstehe nur diese Scherzkekse hier nicht«, sagte Lisa Zell, hob die Derry News hoch und zeigte auf das Foto der Kapuzengestalten, die vor Woman-Care marschierten. »Sieht so aus, als wünschten sie sich die Zeiten zurück, als Frauen Abtreibungen mit Kleiderbügeln vorgenommen haben.«

»Genau das wollen sie«, sagte Georgina Eberly. »Sie denken sich, wenn eine Frau genügend Angst vor dem Sterben hat, wird sie das Baby bekommen. Sie kommen nicht auf den Gedanken, daß eine Frau mehr Angst davor haben könnte, ein Baby zu bekommen, als davor, es mit einem Kleiderbügel wegzumachen.«

»Was hat denn Angst damit zu tun?« fragte einer der Kiebitze -ein flachgesichtiger Alter namens Pedersen - trotzig. »Mord ist Mord, ob das Baby drinnen oder draußen ist, so sehe ich das. Selbst wenn sie so klein sind, daß man ein Mikroskop braucht, um sie zu sehen, ist es Mord. Weil sie Kinder wären, wenn man sie in Ruhe ließe.«

»Ich denke, das macht dich jedesmal, wenn du dir einen runterholst, zu Adolf Eichmann«, sagte Faye und zog mit der Dame. »Schach.«

»La-tay-ette Oza-pin!« rief Lisa Zell.

»Ist überhaupt nicht dasselbe, wenn man an sich selber rumspielt«, sagte Pedersen finster.

»Ach nein? Gab es nicht in der Bibel einen, der von Gott verflucht wurde, weil er sich einen von der Palme gelockt hat?« fragte der andere Kiebitz.

»Wahrscheinlich meinst du Onan«, sagte eine Stimme hinter Ralph. Er drehte sich erschrocken um und sah den alten Dor da stehen. In einer Hand hielt er ein Taschenbuch mit einer großen

5 auf dem Umschlag. Woher, um alles in der Welt, kommst du denn? Er hätte fast schwören können, daß vor einer Minute noch niemand hinter ihm gestanden hatte.

»Onan, Schmonan«, sagte Pedersen. »Diese Spermien sind nicht dasselbe wie ein Baby -«

»Nicht?« fragte Faye. »Und warum verkauft die katholische Kirche dann keine Gummis bei Bingospielen? Sag mir das.«

»Das ist die blanke Unwissenheit«, sagte Pedersen. »Und wenn du nicht begreifst -«

»Aber Onan wurde nicht wegen Masturbation bestraft«, sagte Dorrance mit seiner hohen, durchdringenden Altmännerstimme. »Er wurde bestraft, weil er sich weigerte, die Witwe seines Bruders zu schwängern, damit das Geschlecht seines Bruders fortbestehen konnte. Es gibt ein Gedicht, von Allen Ginsberg, glaube ich -«

»Halt den Mund, du alter Narr!« schrie Pedersen und sah dann Faye Chapin wütend an. »Und wenn du nicht begreifst, daß es etwas völlig anderes ist, ob ein Mann seine Nudel walkt oder eine Frau das Baby im Klo runterspült, das Gott in sie gepflanzt hat, dann bist du ein so großer Narr wie er.«

»Das ist eine ekelhafte Unterhaltung«, sagte Lisa Zell, die allerdings mehr fasziniert als angeekelt klang. Ralph sah über ihre Schulter und stellte fest, daß ein Stück des Maschendrahtzauns von einem Pfosten abgerissen und nach hinten gebogen worden war, wahrscheinlich von den Jugendlichen, die den Platz nachts für sich beanspruchten. Damit war immerhin ein Rätsel gelöst. Er hatte Dorrance nicht bemerkt, weil der alte Mann sich überhaupt nicht auf dem Picknickplatz aufgehalten hatte; er war auf dem Gelände des Flughafens herumgelaufen.

Ralph überlegte sich, daß das seine Chance war, sich Dorrance zu schnappen und ihn zur Rede zu stellen... nur würde er hinterher wahrscheinlich verwirrter sein als vorher. Der alte Dor glich zu sehr der Cheshirekatze in Alice im Wunderland - mehr Lächeln als Substanz.

»Großer Unterschied, hm?« wandte sich Faye an Pedersen.

»Klar!« Rote Flecken leuchteten auf Pedersens rissigen Wangen.

Doc Mulhare rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. »Hört zu, vergessen wir es einfach und spielen weiter, Faye, einverstanden?«

Faye beachtete ihn gar nicht; seine Aufmerksamkeit galt immer noch Pedersen. »Vielleicht solltest du noch mal an die vielen kleinen Spermien denken, die jedesmal auf deiner Handfläche gestorben sind, wenn du auf dem Klo gesessen und daran gedacht hast, wie schön es wäre, wenn dir Marilyn Monroe einen blasen -«

Pedersen streckte die Hand aus und fegte die restlichen Figuren vom Schachbrett. Doc Mulhare zuckte zurück, sein Mund zitterte, die Augen hinter der Brille mit dem rosa Gestell, das an zwei Stellen mit Isolierband geklebt war, waren groß und ängstlich.

»Ja, gut!« brüllte Faye. »Das ist wirklich ein überzeugendes, vernünftiges Argument, du Arsch!«

Pedersen hob die Fäuste zu einer übertriebenen John L. Sullivan-Pose. »Willst du was dagegen unternehmen?« fragte er. »Los doch, fangen wir an!«

Faye stand langsam auf. Er war gut dreißig Zentimeter größer als der flachgesichtige Pedersen und mindestens sechzig Pfund schwerer.

Ralph traute seinen Augen nicht. Und wenn das Gift schon soweit vorgedrungen war, wie mußte es im Rest der Stadt aussehen? Er fand, daß Doc Mulhare recht hatte; Susan Day konnte nicht die geringste Ahnung haben, wie schlecht es war, ihre Ansprache in Derry zu halten. In mancher Hinsicht - sogar in ziemlich vieler Hinsicht - war Derry nicht wie andere Städte.

Er bewegte sich, bevor er sich überlegte, was er vorhatte, war aber erleichtert, als er Stan Eberly dasselbe tun sah. Sie wechselten einen Blick, als sie sich den beiden Männern näherten, die Nase an Nase standen, und Stan nickte unmerklich. Ralph legte eine Sekunde bevor Stan Pedersens linken Oberarm festhielt einen Arm um Fayes Schultern.

»Das werdet ihr schön bleiben lassen«, sagte Stan direkt in eines von Pedersens haarigen Ohren. »Sonst müssen wir euch beide mit Herzanfällen ins Derry Home bringen, und du kannst keinen mehr brauchen, Harley - du hast schon zwei gehabt. Oder waren es drei?«

»Ich werd nicht zulassen, daß er Witze über Frauen macht, die Babys ermorden!« sagte Pedersen, und Ralph stellte fest, daß ihm Tränen über die Wangen liefen. »Meine Frau ist gestorben, als sie unsere zweite Tochter bekam! 1946 ist sie an Sepsis gestorben! Darum dulde ich dieses Geschwätz über Babymord nicht!«

»Herrgott«, sagte Faye mit veränderter Stimme. »Das wußte ich nicht, Harley. Es tut mir leid -«

»Einen Scheißdreck tut es dir leid!« schrie Pedersen und riß den Arm aus Stan Eberlys Griff. Er stürzte sich auf Faye, der die Fäuste hob und wieder sinken ließ, als Pedersen davonstapfte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er ging den Pfad zwischen den Bäumen entlang, der zur Extension führte, und weg war er. Seinem Aufbruch folgten dreißig Sekunden betroffenen Schweigens, das lediglich vom wespengleichen Summen einer landenden Piper Cub unterbrochen wurde.

»Mein Gott«, sagte Faye schließlich. »Da sieht man jemand fünf, zehn Jahre lang alle paar Tage und denkt, man wüßte alles. Himmel, Ralphie, ich wußte nicht, daß seine Frau gestorben ist. Ich komme mir wie ein Narr vor.«

»Laß dich nicht irre machen«, antwortete Stan. »Wahrscheinlich hat er nur seine Tage.« »Sei still«, sagte Georgina. »Wir hatten genug schmutziges Gerede für einen Morgen.«

»Ich bin froh, wenn diese Day wieder weg ist, damit alles wieder seinen gewöhnlichen Gang geht«, sagte Fred Zell.

Doc Mulhare hatte sich auf Hände und Knie niedergelassen und sammelte Schachfiguren ein. »Möchtest du zu Ende spielen, Faye?« fragte er. »Ich glaube, ich weiß noch, wie sie gestanden haben.«

»Nein«, sagte Faye. Seine Stimme, die während der Konfrontation mit Pedersen fest geklungen hatte, zitterte jetzt. »Ich glaube, ich habe eine Weile genug. Vielleicht läßt Ralph sich ja auf eine Partie ein.«

»Ich glaube, ich muß passen«, sagte Ralph. Er sah sich nach Dorrance um, weil er doch gerne mit dem alten Burschen gesprochen hätte, und entdeckte ihn schließlich. Er war wieder durch das Loch im Zaun gegangen. Er stand im kniehohen Gras am Rand der Zufahrt da drüben und knickte das Buch in den Händen, während er zusah, wie die Piper Cub zum Terminal der Privatmaschinen rollte. Ralph mußte daran denken, wie Ed mit seinem alten braunen Datsun diese Zufahrt entlanggerast gekommen war und geflucht hatte, weil

(Beeil dich! Beeil dich, du dreckige stinkende Fotze!) das Tor so langsam aufging. Zum erstenmal seit über einem Jahr fragte er sich, was Ed überhaupt dort zu suchen gehabt hatte.

»... als früher.«

»Hm?« Er konzentrierte sich mühsam wieder auf Faye.

»Ich habe gesagt, du scheinst wieder zu schlafen, du siehst nämlich viel besser aus als früher. Aber ich schätze, jetzt ist dein Gehör im Eimer.«

»Kann sein«, sagte Ralph und versuchte zu lächeln. »Ich glaube, ich geh was essen. Möchtest du mitkommen, Faye? Ich bezahle.«

»Nee, ich hatte schon ein Coffee-Pot-Sandwich«, sagte Faye. »Das liegt mir im Augenblick wie Blei im Magen, um die Wahrheit zu sagen. Herrgott, Ralph, der alte Furz hat geweint, hast du das gesehen?« »Ja, aber ich würde an deiner Stelle nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen«, sagte Ralph. Er ging Richtung Extension, und Faye trottete neben ihm her. Mit den hängenden breiten Schultern und dem gesenkten Kopf sah Faye wie ein Tanzbär in einem Menschenkostüm aus. »In unserem Alter weint man beim geringsten Anlaß. Das weißt du.«

»Kann sein.« Er lächelte Ralph dankbar zu. »Wie dem auch sei, danke, daß du mich zurückgehalten hast, bevor ich es noch schlimmer machen konnte. Du weißt ja, wie ich manchmal sein kann.«

Ich wünschte nur, jemand wäre dabei gewesen, als Bill und ich aneinandergeraten sind, dachte Ralph. Laut sagte er: »Kein Problem. Eigentlich müßte ich mich bei dir bedanken. Noch etwas, das ich vorbringen kann, wenn ich mich um diesen hochdotierten Job bei der UN bewerbe.«

Faye lachte freudig und klopfte Ralph auf die Schulter. »Klar, Generalsekretär! Friedensstifter Nummer eins! Das könntest du, Ralph, ohne Scheiß!«

»Ohne Zweifel. Paß auf dich auf, Faye.«

Er wollte sich abwenden, da berührte Faye ihn am Arm. »Du bist doch nächste Woche beim Turnier dabei, oder? Beim Startbahn Drei Classic?«

Ralph brauchte einen Moment, bis er dahinterkam, wovon Faye redete, obwohl es das Hauptthema des pensionierten Tischlers war, seit das Laub die erste herbstliche Färbung zeigte. Seit dem Ende seines »wirklichen Lebens« im Jahr 1984 veranstaltete Faye ein Schachturnier, das er Startbahn Drei Classic nannte. Der Pokal war eine übergroße verchromte Radkappe, in die eine verschnörkelte Krone und ein Zepter eingraviert waren. Faye, mit Sicherheit der beste Spieler der Altvorderen (jedenfalls in der West Side der Stadt), hatte sich die Trophäe in sechs von neun Fällen selbst überreicht, und Ralph vermutete, daß er die anderen Male freiwillig verloren hatte, um die anderen Turnierteilnehmer bei der Stange zu halten. In diesem Herbst hatte Ralph noch nicht oft an Schach gedacht; ihm gingen andere Dinge durch den Kopf.

»Klar«, sagte er. »Ich denke, ich werde mitspielen.«

Faye grinste. »Gut. Wir hätten es letztes Wochenende machen sollen - das war der Plan -, aber ich hatte gehofft, wenn ich es verschieben würde, könnte Jimmy V. mitspielen. Aber er ist immer noch im Krankenhaus, und wenn ich noch lange warte, ist es zu kalt, um draußen zu spielen, und wir müssen es im Hinterzimmer von Duffy Spragues Friseurladen machen, wie damals, '90.«

»Was ist denn mit Jimmy V.?«

»Der Krebs hat wieder angefangen«, sagte Faye, dann fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: »Ich glaube, diesmal hat er nicht mehr Chancen als ein Schneeball in der Hölle.«

Ralph verspürte einen plötzlichen und überraschend heftigen Anflug von Traurigkeit angesichts dieser Neuigkeit. Er und Jimmy Vandermeer hatten sich während ihres »wirklichen Lebens« gut gekannt. Damals waren beide auf Achse gewesen, Jimmy im Verkauf von Süßigkeiten und Grußkarten, Ralph mit Druckereibedarf und Papierprodukten, und sie hatten sich so gut verstanden, daß sie sich bei mehreren Fahrten durch Neuengland zusammengetan hatten, abwechselnd gefahren waren und sich deshalb luxuriösere Unterkünfte leisten konnten, als es jedem auf sich allein gestellt möglich gewesen wäre.

Darüber hinaus hatten sie die einsamen, unbedeutenden Geheimnisse von Handlungsreisenden geteilt. Jimmy erzählte Ralph von der Hure, die ihm 1958 seine Brieftasche gestohlen hatte, und wie er seine Frau deshalb belügen und behaupten mußte, ein Anhalter hätte ihn ausgeraubt. Ralph erzählte Jimmy, wie er im Alter von dreiundvierzig Jahren gemerkt hatte, daß er turpinhydratsüchtig geworden war, und von seinem schmerzlichen, aber letztendlich erfolgreichen Versuch, die Sucht zu überwinden. Er hatte Carolyn ebenso wenig von seiner bizarren Hustensaftabhängigkeit erzählt wie Jimmy V. seiner Frau von seinem letzten B-Girl.

Jede Menge Reisen; jede Menge Reifenwechsel; jede Menge Witze über Handlungsreisende und bildhübsche Farmerstöchter; jede Menge nächtlicher Gespräche, die nicht selten bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatten. Manchmal redeten sie von Gott, manchmal vom Finanzamt. Alles in allem war Jimmy Vandermeer ein verdammt guter Reisegefährte gewesen. Dann hatte Ralph seinen Schreibtischjob in der Druckerei bekommen und hatte den Kontakt zu Jimmy verloren. Erst hier draußen hatte er die Verbindung wieder aufleben lassen, und an einigen anderen vagen Orientierungspunkten im Derry der Altvorderen - der Bibliothek, der Billardhalle, dem Hinterzimmer von Duffy Spragues Friseurladen, vier oder fünf anderen. Als Jimmy ihm nach Carolyns Tod erzählt hatte, er hätte Krebs mit einem Lungenflügel weniger, ansonsten aber gut überstanden, war Ralph sofort das Bild des Mannes in Erinnerung gekommen, wie er eine Camelkippe nach der anderen an den Fahrtwind verfütterte, der am schräggestellten Seitenfenster des Autos vorbeirauschte.

Ich hab Glück gehabt, hatte er gesagt. Ich und der Duke, wir haben beide Glück gehabt. Aber offenbar war keinem der beiden das Glück treu geblieben. Nicht, daß es am Ende überhaupt jemandem treu blieb.

»O Mann«, sagte Ralph. »Das ist wirklich traurig.«

»Er ist schon seit fast drei Wochen im Derry Home«, sagte Faye. »Bekommt Bestrahlungen und schluckt Gift, das eigentlich den Krebs töten soll, einen aber fast selbst umbringt. Überrascht mich, daß du das nicht gewußt hast, Ralph.«

Dich vielleicht, aber mich nicht. Weißt du, die Schlaflosigkeit verschluckt so manches. An einem Tag vergißt man, wo die letzte Tüte Cup-A-Soup abgeblieben ist; am nächsten Tag kommt einem das Zeitgefühl abhanden; am Tag danach vergißt man seine alten Freunde.

»Um die Wahrheit zu sagen, mich auch.«

Faye schüttelte den Kopf. »Scheißkrebs. Unheimlich, wie er wartet.«

Ralph nickte und mußte an Carolyn denken. »In welchem Zimmer liegt Jimmy, weißt du das? Vielleicht gehe ich ihn besuchen.«

»Zufällig weiß ich es. 21 j. Glaubst du, du kannst es dir merken?«

Ralph grinste. »Jedenfalls eine Weile.«

»Besuch ihn, wenn du kannst, sicher - sie haben ihn ziemlich unter Drogen gesetzt, aber er weiß noch, wer zu ihm kommt, und ich wette, er würde sich freuen, dich zu sehen. Er hat mir mal erzählt, daß ihr beide früher eine tolle Zeit miteinander gehabt habt.«_ »Na ja, du weißt ja«, sagte Ralph. »Zwei Männer auf Achse, das ist eigentlich schon alles. Wenn wir in einem Restaurant eine Münze um die Rechnung geworfen haben, hat Jimmy V. immer verloren.« Plötzlich war ihm zum Weinen zumute.

»Beschissen, was?« sagte Faye leise.

»Ja.«

»Nun, geh ihn besuchen. Er wird sich freuen, und dir wird es besser gehen. So sollte es jedenfalls sein. Und vergiß nicht das verdammte Schachturnier!« kam Faye zum Ende, streckte sich und unternahm den heldenhaften Versuch, fröhlich auszusehen und zu klingen. »Wenn du jetzt kneifst, versaust du mir die Aufstellung.«

»Ich werde mein Bestes tun.«

»Klar, das weiß ich.« Er ballte die Faust und schlug Ralph sanft gegen den Oberarm. »Und noch mal danke, daß du mich daran gehindert hast, etwas zu tun, was mir, du weißt schon, später leid getan hätte.«

»Logisch. Friedensstifter Nummer eins, das bin ich.« Ralph ging den Pfad zur Extension entlang, dann drehte er sich noch einmal um. »Siehst du diese Zufahrt da drüben? Die vom General Aviation Terminal zur Straße führt?« Er zeigte in die Richtung. Ein Lieferwagen fuhr gerade vom Privatterminal weg; seine Windschutzscheibe reflektierte grelle Pfeile des Sonnenlichts in ihre Augen. Der Lieferwagen blieb kurz vor dem Tor stehen und unterbrach die Lichtschranke. Das Tor öffnete sich langsam.

»Klar sehe ich die«, sagte Faye.

»Letzten Sommer habe ich Ed Deepneau auf dieser Straße gesehen, was bedeutet, er hatte eine Karte für das Tor. Hast du eine Ahnung, wie er dazu gekommen sein könnte?«

»Du meinst der Kerl von den Friends of Life? Wissenschaftler, der letzten Sommer erforscht hat, wie man seine Frau verprügelt?«

Ralph nickte. »Aber ich spreche vom Sommer '92. Er fuhr einen alten braunen Datsun.«

Faye lachte. »Ich könnte einen Datsun nicht von einem Toyota oder Honda unterscheiden, Ralph - ich kann Autos nicht mehr auseinanderhalten, seit Chevrolet die geschwungenen Heckflossen aufgegeben hat. Aber ich kann dir verraten, wer diese Straße am häufigsten benützt: Zulieferer, Mechaniker, Piloten, Besatzungsmitglieder und Fluglotsen. Manche Passagiere haben Magnetkarten, glaube ich, wenn sie oft privat fliegen. Die einzigen Wissenschaftler, die dort arbeiten, arbeiten in der Luftmeßstation. Ist er so ein Wissenschaftler?«

»Nee, Chemiker. Bis vor kurzem hat er in den Hawking Labors gearbeitet.«

»Hat mit weißen Ratten gespielt, ja? Nun, es gibt keine Ratten im Flughafen - jedenfalls nicht, daß ich wüßte -, aber jetzt, wo ich daran denke, es gibt noch ein paar Leute, die das Tor benutzen.«

»Oh? Wer?«

Faye deutete auf eine Baracke mit Wellblechdach, die etwa siebzig Meter vom General Aviation Terminal entfernt stand. »Siehst du das Gebäude dort? Das ist SoloTech.«

»Was ist SoloTech?«

»Eine Schule«, sagte Faye. »Dort erteilen sie Flugunterricht.«

Als Ralph zur Harris Avenue zurückkehrte, hatte er die großen Hände in die Taschen gesteckt und den Kopf gesenkt, so daß er nicht viel mehr als die Risse im Bürgersteig unter seinen Füßen sah. Sein ganzes Denken kreiste wieder um Ed Deepneau... und SoloTech. Er konnte unmöglich wissen, ob SoloTech der Grund dafür war, daß sich Ed an dem Tag auf dem Flughafengelände aufgehalten hatte, als er auf Mr. West Side Gardeners gestoßen war, aber plötzlich war das eine Frage, die Ralph unbedingt beantwortet haben wollte. Außerdem war er neugierig, wo genau Ed heute wohnen mochte. Er fragte sich, ob John Leydecker seine Neugier hinsichtlich dieser beiden Punkte teilen mochte, und beschloß, es herauszufinden.

Er ging gerade an der unscheinbaren Ladenfassade vorbei, hinter der George Lyford, C. P. A., auf der einen und Maritime Jewelry (WIR KAUFEN IHR ALTES GOLD ZU HÖCHSTPREISEN) auf der anderen Seite untergebracht waren, als ihn ein kurzes, ersticktes Bellen aus seinem Nachdenken riß. Er sah auf und erblickte Rosalie, die dicht beim oberen Eingang des Strawford Park auf dem Bürgersteig saß. Die alte Hündin hechelte kurzatmig; Speichel troff von ihrer hängenden Zunge und bildete eine dunkle Pfütze auf dem Betonboden zwischen ihren Pfoten. Ihr Fell klebte in feuchten Strähnen zusammen, als wäre sie gerannt, und das blaue Tuch um ihren Hals schien im Rhythmus ihres hechelnden Atmens zu beben. Als Ralph sie ansah, stieß sie wieder ein Bellen aus, diesmal aber mehr ein Winseln.

Er schaute über die Straße, was sie anbellen mochte, sah aber nichts außer der Wäscherei Buffy-Buffy. Ein paar Frauen machten sich im Inneren zu schaffen, aber Ralph konnte nicht glauben, daß Rosalie sie anbellte. Und auf dem Bürgersteig vor der Münzwäscherei hielt sich derzeit niemand auf.

Ralph drehte sich wieder um und merkte plötzlich, daß Rosalie nicht nur auf dem Bürgersteig saß, sondern regelrecht dort kroch... kauerte. Sie sah aus, als litte sie Todesangst.

Bis zu diesem Augenblick hatte sich Ralph nie Gedanken darüber gemacht, wie unheimlich menschlich Mienen und Körpersprache von Hunden waren: Sie grinsten, wenn sie glücklich waren, ließen die Köpfe hängen, wenn sie sich schämten, ließen Angst in den Augen und Nervosität an verkrampften Schultern erkennen - genau wie Menschen auch. Und wie die Menschen drückten sie äußerste Angst durch ein Zittern am ganzen Körper aus.

Er sah wieder über die Straße zu der Stelle, der Rosalies Aufmerksamkeit zu gelten schien, und konnte wieder nur die Wäscherei und den menschenleeren Bürgersteig davor erkennen. Dann fiel ihm plötzlich Natalie ein, das Verherrlichte

& Angebetete Baby, das nach den grau-blauen Spuren seiner Finger griff, als er ihm die Milch vom Kinn wischen wollte. Für jeden anderen mußte es ausgesehen haben, als hätte sie ins Leere gegriffen, so wie Babys immer ins Leere zu greifen schienen... aber Ralph hatte es besser gewußt.

Er hatte es besser gesehen.

Rosalie stieß eine Kette panischer Kläfflaute aus, die sich für Ralphs Ohren wie das Quietschen ungeölter Scharniere anhörten.

Bis jetzt ist es immer von selbst passiert... aber vielleicht kann ich es herbeiführen. Vielleicht kann ich bewirken, daß ich sie sehe-

Daß du was siehst?

Nun, die Auren. Die Auren natürlich. Und vielleicht das, was Rosalie (drei-sechs-neun) gerade sah. Ralph hatte schon eine Ahnung, (die Gans trank Wein) was es sein würde, aber er wollte Gewißheit. Die Frage war, wie er es anstellen sollte.

Wie sieht ein Mensch überhaupt?

Natürlich indem er erstmal genau hinsieht.

Ralph sah genau zu Rosalie hin. Betrachtete sie sehr sorgfältig und versuchte, alles zu sehen, was es zu sehen gab: das verblichene Muster des blauen Tuchs, das ihr als Halsband diente, die staubigen und verfilzten Strähnen in ihrem ungepflegten Fell, die graumelierte lange Schnauze. Nach einigen Augenblicken schien sie seinen Blick zu spüren, denn sie drehte sich um, sah ihn an und winselte nervös.

Dabei spürte Ralph, wie sich in seinem Geist etwas drehte es fühlte sich wie der Anlasser eines Autos an. Er hatte das kurze, aber sehr eindeutige Gefühl, plötzlich leichter zu sein, und dann strömte Helligkeit in den Tag ein. Er hatte den Weg zurück in die klarere, deutlicher strukturierte Welt gefunden. Er sah eine trübe Membran - sie erinnerte ihn an verdorbenes Eiweiß - um Rosalie herum entstehen, dann die dunkelgraue Ballonschnur, die von ihr aufstieg. Aber ihr Ursprung war nicht der Schädel, wie bei den Menschen, die Ralph in diesem Zustand erweiterter Wahrnehmung gesehen hatte; Rosalies Ballonschnur stieg von ihrer Schnauze auf.

Jetzt kennst du den grundlegendsten Unterschied zwischen Hunden und Menschen, dachte er. Ihre Seelen sitzen an verschiedenen Stellen.

[Hündchen! Hierher, Hündchen, komm hierher!]

Ralph zuckte zusammen und schrak vor dieser Stimme zurück, die sich anhörte, als würde Kreide über eine Tafel kratzen. Er hob die Hände fast bis zu den Ohren, bis ihm klar wurde, daß das nichts nützen würde; er hörte es eigentlich gar nicht mit den Ohren, und die Stimme tat am meisten tief in seinem Kopf weh, wo er mit den Händen nicht hinkam.

[He, du beschissener Flohträger! Glaubst du, ich hab den ganzen Tag Zeit? Schlepp deinen zottigen Arsch hierher!]

Rosalie winselte und sah von Ralph wieder dorthin, wo sie zuvor schon hingesehen hatte. Sie wollte sich aufrichten, ließ sich aber wieder auf die Hinterbeine nieder. Das Tuch, das sie trug, zitterte mehr denn je, und Ralph sah, wie sich ein dunkler Fleck um ihre linke Flanke herum ausbreitete, als ihre Blase sich entleerte.

Er sah auf die andere Straßenseite und erblickte Doc Nr. 3, der in seinem weißen Kittel (der ziemlich verdreckt war, wie Ralph feststellte, als hätte er ihn schon lange Zeit an) und seinen Liliputaner-Bluejeans zwischen der Wäscherei und dem alten Mietshaus daneben stand. Auf dem Kopf trug er immer noch McGoverns Panamahut. Jetzt schien der Hut aber auf den Ohren der Kreatur zu sitzen; der Hut war so groß, daß der halbe Kopf darin zu verschwinden schien. Das Wesen grinste den Hund tückisch an, und Ralph sah eine Doppelreihe spitzer weißer Zähne - die Zähne eines Kannibalen. In der linken Hand hielt er etwas, bei dem es sich entweder um ein Skalpell oder ein Rasiermesser handelte. Ein Teil von Ralphs Verstand versuchte, ihn davon zu überzeugen, daß es Blut war, das er auf der Klinge sah, aber er war ziemlich sicher, daß es sich nur um Rost handelte.

Doc Nr. 3 steckte die beiden ersten Finger seiner rechten Hand in die Mundwinkel und stieß einen gellenden Pfiff aus, der wie ein Bohrer in Ralphs Kopf eindrang. Auf dem Bürgersteig zuckte Rosalie zurück und stieß ein kurzes Heulen aus.

[Schlepp deinen Kadaver hier rüber, Rover! Auf der Stelle!]

Rosalie stand auf, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und hinkte zur Straße. Sie winselte unentwegt, und die Angst machte ihr Hinken so schlimm, daß sie sich kaum fortschleppen konnte; bei jedem zögernden, schlurfenden Schritt drohten die Hinterbeine unter ihr wegzurutschen.

[»He!«]

Ralph merkte erst, daß er geschrien hatte, als er die kleine blaue Wolke vor seinem Gesicht schweben sah. Sie war mit silbernen Linien durchzogen, Altweibersommer gleich, wodurch sie wie eine Schneeflocke aussah.

Der kahlköpfige Zwerg wirbelte in die Richtung herum, aus der Ralphs Aufschrei gekommen war, und hob dabei instinktiv die Waffe. Seine Miene drückte wütende Überraschung aus. Ralph konnte Rosalie am linken Rand seines Gesichtsfelds sehen. Sie war mit den Vorderpfoten im Rinnstein stehengeblieben und sah ihn mit großen, ängstlichen braunen Augen an.

[Was willst du denn, Kurzer?]

Die Stimme drückte Wut darüber aus, daß sie unterbrochen worden war, Wut über die Herausforderung... aber Ralph fand, daß darunter auch noch andere Empfindungen mitschwangen. Angst? Er wünschte, er könnte es glauben. Verwirrung und Überraschung schienen wahrscheinlicher zu sein. Was auch immer diese Kreatur sein mochte, sie schien es nicht gewöhnt zu sein, von Leuten wie Ralph gesehen, geschweige denn herausgefordert zu werden.

[Was ist los mit dir, Kurzfristiger, hat eine Katze deine Zunge gefressen? Oder hast du schon vergessen, was du wolltest?]

[»Ich möchte daß du diesen Hund in Ruhe läßt!«]

Ralph hörte sich auf zwei verschiedene Weisen. Er war ziemlich sicher, daß er laut sprach, aber der Klang seiner Stimme war fern und blechern, wie Musik aus den Kopfhörern eines Walkman, die vorübergehend beiseite gelegt worden sind. Wenn jemand unmittelbar neben ihm gestanden hätte, hätte er vielleicht hören können, was Ralph sagte, aber Ralph wußte, die Worte hätten sich wie das klägliche, atemlose Keuchen eines Mannes angehört, der gerade einen Schlag in den Magen bekommen hat. In seinem Kopf jedoch hörte er sich an wie seit Jahren nicht mehr -jung, kräftig und voller Selbstvertrauen.

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Doc Nr. 3 mußte seine Worte auf die zweite Weise gehört haben, denn er zauderte einen Augenblick und hob erneut einen Augenblick die Waffe (Ralph war jetzt fast sicher, daß es sich um ein Skalpell handelte) wie zur Selbstverteidigung. Dann schien er sich wieder zu fangen. Er ging vom Bürgersteig zum Rand der Harris Avenue und blieb auf dem laubübersäten Grasstreifen zwischen Bürgersteig und Straße stehen. Er zupfte am Bund seiner Jeans, die er unter dem schmutzigen Kittel hochzog, und sah Ralph einige Momente grimmig an. Dann hob er das rostige Skalpell in die Luft und machte eine unangenehme, vielsagende sägende Geste damit.

[Du kannst mich sehen - tolle Geschichte! Steck deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen, Kurzfristiger! Der Köter gehört mir!]

Der kahlköpfige Doc drehte sich wieder zu dem ängstlichen Hund um.

[Ich habe es satt, mich mit dir rumzuärgern, Rover! Komm hierher! Sofort!]

Rosalie schenkte Ralph einen flehenden, verzweifelten Blick und begann, die Straße zu überqueren.

Ich mische mich nicht in langfristige Geschäfte ein, hatte der alte Dor an dem Tag zu ihm gesagt, als er ihm den Gedichtband von Stephen Dobyns gegeben hatte. Ich habe dir gesagt, daß du es auch nicht tun solltest.

Ja, das hatte er tatsächlich, aber Ralph hatte das Gefühl, daß es jetzt zu spät war. Und selbst wenn nicht, er hatte keineswegs die Absicht, Rosalie diesem unangenehmen kleinen Gnom zu überlassen, der auf der anderen Straßenseite vor der Münzwäscherei stand. Das hieß, nicht, wenn er es verhindern konnte.

[»Rosalie! Komm hierher, Mädchen! Los!«]

Rosalie stieß ein kurzes Bellen aus und kam zu Ralph getrottet. Sie versteckte sich hinter seinem rechten Bein, setzte sich und sah hechelnd zu ihm auf. Und Ralph sah noch einen Ausdruck, den er mühelos lesen konnte: ein Teil Erleichterung und zwei Teile Dankbarkeit.

Das Gesicht von Doc Nr. 3 verzerrte sich zu einer so haßerfüllten Grimasse, daß es fast wie eine Karikatur aussah.

[Du solltest sie besser herüberschicken, Kurzer! Ich warne dich!]

[»Nein!«]

[Ich mach dich zur Sau, Kurzer. Ich mach dich im großen Stil zur Sau. Und ch mach deine Freunde zur Sau. Hast du mich verstanden? Hast du... ]

Ralph hob plötzlich eine Hand mit nach innen gekehrter Handfläche zum Kopf, als wollte er einen Karateschlag führen. Er ließ die Hand herunterfahren und sah zu seinem Erstaunen, wie ein gebündelter blauer Lichtstrahl von seinen Fingerspitzen flog und wie ein Speer über die Straße sauste. Doc Nr. 3 duckte sich gerade noch rechtzeitig und legte eine Hand auf McGoverns Panama, damit er nicht fortflog. Der blaue Strahl zischte sechs bis acht Zentimeter über die kleine Hand hinweg und prallte gegen das Fenster des Buffy-Buffy. Dort breitete er sich wie eine übernatürliche Flüssigkeit aus, und einen Augenblick nahm die staubige Scheibe die klare, blaue Farbe des Himmels an. Diese verblaßte nach einem Moment wieder, und Ralph konnte die Frauen in der Wäscherei sehen, die ihre Wäsche zusammenlegten und die Waschmaschinen füllten, als wäre nichts geschehen.

Der kahlköpfige Zwerg streckte sich, ballte die Hände zu Fäusten und drohte Ralph damit. Dann riß er McGoverns Hut vom Kopf, steckte die Krempe in den Mund und biß ein Stück davon ab. Während er dieses bizarre Gegenstück zum Wutanfall eines Kindes ausführte, ließ die Sonne feurige Funken von seinen kleinen, perfekt geformten Ohrläppchen abprallen. Er spie den Mundvoll Stroh aus und setzte sich den Hut wieder auf den Kopf.

[Dieser Hund hat mir gehört, Kurzer! Ich wollte mit ihm spielen! Ich schätze, ich werde statt dessen mit dir spielen müssen, hm? Und mit deinen Freunden, den Arschlöchern!]

[»Verzieh dich.«]

[Fotzenlecker! Du hast deine Mutter gefickt und ihre Fotze geleckt!]

Ralph wußte genau, wo er diesen netten Spruch schon einmal gehört hatte: von Ed. Deepneau, draußen beim Flughafen, an dem Tag, als er den Mann im Ford Ranger geschlagen hatte. So etwas vergaß er nicht. Und mit einemmal hatte er schreckliche Angst. Wo, in Gottes Namen, war er da nur hineingestolpert?

5

Ralph hob die Hand wieder zum Kopf, aber etwas in seinem Inneren hatte sich verändert. Er hätte sie wieder heruntersausen lassen können, war aber fest davon überzeugt, daß diesmal kein blauer Strahl herauskommen würde.

Aber der Doc schien nicht zu wissen, daß er mit einer leeren Waffe bedroht wurde. Er wich zurück und hob die Hand mit dem Skalpell zu einer abwehrenden Geste. Der grotesk angebissene Hut rutschte ihm in die Augen, und einen Augenblick sah er wie eine melodramatische Bühnenversion von Jack the Ripper aus... einer, der durch extreme Kleinwüchsigkeit bedingte pathologische Perversionen auslebte.

[Das wirst du mir büßen, Kurzer1. Wart's nur ab! Wirst schon sehen! Kein Kurzfristiger hält mich zum Narren!]

Aber vorläufig hatte der kleine kahlköpfige Doktor genug. Er wirbelte herum und lief den unkrautüberwucherten Weg zwischen der Wäscherei und dem Mietshaus entlang, und sein schmutziger, zu langer Kittel flatterte um die Beine der Jeans. Mit ihm verschwand die Helligkeit aus dem Tag. Ralph verfolgte seine Flucht zum größten Teil mit Sinnen, von denen er nicht einmal etwas geahnt hatte. Er fühlte sich hellwach, belebt und explodierte fast vor entzückter Aufregung.

Ich habe ihn vertrieben, bei Gott! Ich habe den kleinen Hurensohn vertrieben!

Er hatte keine Ahnung, was die Kreatur in dem weißen Kittel tatsächlich sein konnte, aber er wußte, er hatte Rosalie davor gerettet, und das genügte vorerst. Wenn er morgen in den frühen Morgenstunden in seinem Ohrensessel saß und auf die verlassene Straße hinuntersah, stellten sich vielleicht wieder nagende Zweifel an seinem Geisteszustand ein... aber im Augenblick fühlte er sich pudelwohl.

»Du hast ihn gesehen, Rosalie, oder nicht? Du hast den häßlichen kleinen -«

Er sah nach unten, stellte fest, daß Rosalie nicht mehr neben seinem Fuß saß, und konnte gerade noch erkennen, wie sie in den Park hinkte - sie ließ den Kopf hängen, und ihr rechtes Bein wurde bei jedem schmerzhaften Schritt steif abgespreizt.

»Rosalie!« rief er. »He, Mädchen!« Und ohne zu wissen warum

- davon abgesehen, daß sie beide gerade etwas Außergewöhnliches durchgemacht hatten -, folgte Ralph ihr in den Park, zuerst gehend, dann laufend, und zuletzt in einem regelrechten Sprint.

Aber er sprintete nicht lange. Ein Schmerz wie der Stich einer heißen Chromnadel bohrte sich in seine linke Seite und breitete sich dann über die ganze linke Hälfte seines Brustkorbs aus. Er blieb dicht innerhalb des Parks stehen, bückte sich an der Kreuzung zweier Wege und stemmte die Hände dicht oberhalb der Knie an die Beine. Schweiß lief ihm in die Augen und brannte wie Tränen. Er keuchte abgehackt und fragte sich, ob es sich um ein ganz normales Seitenstechen handeln konnte, wie er es von den letzten Metern des HighSchool-Wettlauf s über eine Meile in Erinnerung hatte, oder ob sich so ein tödlicher Herzinfarkt ankündigte.

Nach dreißig oder vierzig Sekunden ließen die Schmerzen allmählich nach, daher war es vielleicht doch nur ein Seitenstechen gewesen. Aber es stützte McGoverns These nicht unerheblich, oder? Ich will dir was sagen, Ralph - in unserem Alter sind Geisteskrankheiten was ganz Normales! In unserem Alter sind sie was völlig Normales! Ralph wußte nicht, ob das stimmte, aber er wußte, die Zeit, als er an dem Rennen teilgenommen hatte, lag über ein halbes Jahrhundert zurück, daher war es dumm und wahrscheinlich gefährlich gewesen, einfach so hinter Rosalie herzulaufen. Wenn er einen Herzanfall bekommen hätte, dann wäre er wahrscheinlich nicht der einzige alte Mann gewesen, der mit einer Koronarthrombose dafür bestraft wurde, wenn er sich aufregte und vergaß, daß man die Achtzehn für immer überschritten hatte, wenn man sie einmal überschritten hatte.

Die Schmerzen waren fast abgeklungen, als er wieder zu Atem kam, aber seine Beine schienen immer noch weich zu sein, als könnten sie an den Knien abknicken und ihn ohne Vorwarnung auf den Kiesboden stürzen lassen. Ralph hob den Kopf, schaute zur nächsten Bank und sah etwas, bei dem er streunende Hunde, wacklige Beine und sogar mögliche Herzanfälle im Handumdrehen vergaß. Die nächste Bank lag zwölf Meter entfernt am linken Weg auf einem sanft geschwungenen Hügel. Lois Chasse saß in ihrem guten blauen Herbstmantel auf dieser Bank. Sie trug Handschuhe, hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und schluchzte, als würde ihr das Herz brechen.

Kapitel 12

»Was hast du, Lois?«

Sie sah zu ihm auf, und Ralph erschrak im ersten Moment. Der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war eine Erinnerung: an ein Theaterstück, das er vor acht oder neun Jahren mit Carolyn im Penobscot Theater in Bangor besucht hatte. Einige der Personen darin waren angeblich tot gewesen, und ihr Make-up bestand aus weißer Clownsschminke mit dunklen Ringen unter den Augen, die den Eindruck riesiger, leerer Augenhöhlen vermitteln sollten.

Sein zweiter Gedanke war einfacher: Waschbär.

Sie sah ihm ein paar seiner Gedanken entweder an oder wußte, wie sie aussehen mußte, denn sie wandte sich ab, machte sich kurz am Griff ihrer Handtasche zu schaffen und hob dann einfach die Hände, um das Gesicht dahinter zu verbergen.

»Geh weg, Ralph, ja?« fragte sie mit belegter, erstickter Stimme. »Ich fühle mich heute nicht besonders wohl.«

Unter normalen Umständen hätte Ralph getan, worum sie ihn gebeten hatte und wäre ohne einen Blick zurück gegangen, ohne mehr als vage Scham darüber zu empfinden, daß er sie hilflos und mit verschmierter Wimperntusche gesehen hatte. Aber dies waren keine normalen Umstände, und Ralph beschloß, daß er nicht gehen würde -jedenfalls noch nicht. Er verspürte immer noch einen Rest dieser seltsamen Leichtigkeit und wußte, daß die andere Welt, das andere Derry, ganz in der Nähe war. Und da war noch etwas, etwas vollkommen Einfaches und Direktes. Es gefiel ihm nicht, daß Lois, an deren Frohnatur er nie gezweifelt hatte, hier saß und sich die Augen aus dem Kopf heulte.

»Was ist los, Lois?«

»Ich fühle mich nur nicht wohl!« schluchzte sie. »Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?«

Lois vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr Rücken bebte, die Ärmel ihres blauen Mantels zitterten, und Ralph mußte plötzlich daran denken, wie Rosalie ausgesehen hatte, als der kleine Arzt ihr befohlen hatte, ihren Arsch in Bewegung zu setzen und zu ihm zu kommen: kläglich, zu Tode geängstigt.

Ralph setzte sich neben Lois auf die Bank, legte einen Arm um sie und zog sie an sich. Sie folgte, aber steif... als wäre ihr ganzer Körper voller Drähte.

»Sieh mich nicht an!« rief sie mit derselben hysterischen Stimme. »Wage es nicht! Mein Make-up ist im Eimer. Ich hatte es extra für meinen Sohn und meine Schwiegertochter aufgelegt... sie kamen zum Frühstück... wir wollten den Vormittag miteinander verbringen >Wir werden uns nett unterhalten, Ma<, hatte Harold gesagt... aber der Grund, weshalb sie gekommen sind... weißt du, der wahre Grund...«

Ihre Worte wurden von einem neuerlichen Weinkrampf erstickt. Ralph suchte in der Tasche, fand ein Taschentuch, das zerknittert, aber sauber war, und drückte es Lois in die Hand. Sie nahm es, ohne ihn anzusehen.

»Nur weiter«, sagte er. »Du kannst dir ein bißchen die Augen wischen, wenn du möchtest, aber du siehst nicht schlecht aus, Lois; ehrlich nicht.«

Ein bißchen waschbärmäßig, mehr nicht, dachte er. Er lächelte, aber dann erlosch das lächeln. Er erinnerte sich plötzlich an den Tag im September, als er zum Rite Aid aufgebrochen war, um sich ein Schlafmittel zu holen, und Bill und Lois vor dem Park getroffen hatte, wo sie sich über die Demonstration und das Puppenwerfen unterhielten, das Ed vor Woman-Care organisiert hatte. An dem Tag war sie eindeutig aufgeregt gewesen - Ralph erinnerte sich, sie hatte trotz ihrer Aufregung und Sorge müde ausgesehen -, aber sie war auch fast wunderschön gewesen: Ihr beachtlicher Busen hatte gewogt, ihre Augen geblitzt, ihre Wangen waren gerötet gewesen wie die eines jungen Mädchens.

Heute war diese so gut wie unwiderstehliche Schönheit kaum mehr als eine Erinnerung; mit ihrer verlaufenen Wimperntusche sah Lois wie ein trauriger und alter Clown aus, und Ralph spürte Wut auf das oder denjenigen in sich aufkeimen, der für die Veränderung verantwortlich war.

»Ich sehe schrecklich aus!« sagte Lois und rieb wie wild mit Ralphs Taschentuch an ihren Augen herum. »Ich bin eine Hexe!«

»Nein, Ma'am. Nur ein bißchen verschmiert.«

Nun drehte Lois ihm endlich das Gesicht zu. Das kostet sie sichtliche Anstrengung, da ihr Rouge und Augen-Make-up nun weitgehend an Ralphs Taschentuch klebten. »Wie schlimm sehe ich aus?« hauchte sie. »Sag die Wahrheit, Ralph Roberts, oder du wirst schielen.«

Er beugte sich nach vorne und küßte ihre feuchte Wange. »Nur reizend, Lois. Ätherisch werden wir uns für einen anderen Tag aufheben müssen, glaube ich.«

Sie lächelte ihm unsicher zu, und bei der Bewegung quollen frische Tränen aus ihren Augen. Ralph nahm ihr das zusammengeknüllte Taschentuch ab und wischte sie behutsam weg.

»Ich bin so froh, daß du vorbeigekommen bist, und nicht Bill«, sagte sie ihm. »Ich wäre vor Scham gestorben, wenn Bill mich in aller Öffentlichkeit weinen gesehen hätte.«

Ralph sah sich um. Er entdeckte Rosalie sicher und wohlbehalten am Fuß des Hügels - sie lag zwischen zwei Port-O'San-Toiletten, die da unten standen, und hatte die Schnauze auf den Pfoten liegen - sonst war dieser Teil des Parks verlassen. »Ich glaube, wir haben den Park für uns allein, zumindest im Augenblick«, sagte er.

»Gott sei Dank.« Lois nahm das Taschentuch und widmete sich wieder ihrem Make-up, diesmal weniger hektisch. »Da wir gerade von Bill sprechen, ich war auf dem Weg hierher rasch im Red Apple - das war, bevor ich mir selber leid tat und mir die Augen aus dem Kopf geheult habe -, und Sue sagte, daß du und Bill vor einer Weile einen Riesenstreit gehabt hättet. Ihr habt euch angeschrien und so, mitten im Vorgarten.«

»Nee, so riesig auch wieder nicht«, sagte Ralph und lächelte unbehaglich.

»Darf ich neugierig sein und fragen, worum es ging?«

»Schach«, sagte Ralph. Das war das erste, das ihm in den Sinn kam. »Das Startbahn-Drei-Turnier, das Faye Chapin jedes Jahr veranstaltet. Aber im Grunde genommen ging es eigentlich um gar nichts. Du weißt ja, wie das ist - manchmal stehen die Leute eben mit dem linken Fuß zuerst auf und nehmen den nächstbesten Anlaß, um sich zu streiten.«

»Ich wünschte, bei mir wäre es auch nichts anderes«, sagte Lois. Sie öffnete ihre Handtasche - diesmal ohne Schwierigkeiten - und holte den Taschenspiegel heraus. Dann seufzte sie und steckte ihn wieder in die Tasche, ohne ihn aufzuklappen. »Ich kann nicht. Ich weiß, ich bin albern, aber ich kann einfach nicht.«

Ralph griff mit der Hand in ihre Handtasche, bevor sie sie wieder zuklappen konnte, nahm den Taschenspiegel heraus, klappte ihn auf und hielt ihn ihr vor das Gesicht. »Siehst du? So schlimm ist es nicht, oder?«

Sie wandte das Gesicht ab wie ein Vampir, der vor einem Kruzifix zurückschreckt. »Bäh«, sagte sie. »Tu das weg.«

»Wenn du versprichst, mir zu sagen, was passiert ist.«

»Alles, wenn du ihn nur wegnimmst.«

Er gehorchte. Eine Zeitlang sagte Lois nichts, sondern saß nur da und sah zu, wie ihre Hände sich unablässig am Verschluß der Handtasche zu schaffen machten. Er wollte sie schon drängen, als sie mit einem erbarmenswert trotzigen Ausdruck zu ihm aufsah.

»Es ist nur so, daß du nicht der einzige bist, der nachts nicht mehr anständig schlafen kann, Ralph.«

»Wovon redest d -«

»Schlaflosigkeit!« schnappte sie. »Ich gehe zur selben Zeit schlafen wie immer, aber ich kann nicht mehr durchschlafen. Und das ist noch nicht das schlimmste. Es scheint, als würde ich jeden Morgen früher aufwachen.«

Ralph versuchte sich zu erinnern, ob er Lois von diesem speziellen Aspekt seines Problems erzählt hatte. Er glaubte nicht.

»Warum siehst du so überrascht aus?« fragte Lois. »Du hast doch nicht geglaubt, daß du der einzige Mensch auf der Welt bist, der jemals eine schlaflose Nacht hatte, oder?«

»Selbstverständlich nicht!« antwortete Ralph etwas gekränkt... aber war es ihm nicht manchmal doch so vorgekommen, als wäre er der einzige auf der Welt, der an dieser speziellen Form von Schlaflosigkeit litt? Der hilflos mit ansehen mußte, wie seine Schlafzeit langsam Minute um Minute, Viertelstunde um Viertelstunde zusammenschmolz? Wie eine unheimliche Variante der chinesischen Wasserfolter.

»Wann hat es bei dir angefangen?« fragte er.

»Einen Monat oder zwei vor Carols Tod... was bedeutet, ich war noch vor dir mit dem Problem geschlagen, Ralph.«

»Wieviel Schlaf bekommst du?«

»Seit Anfang Oktober kaum noch eine Stunde pro Nacht.« Ihre Stimme war ruhig, aber Ralph hörte das Zittern von etwas, das Panik sein konnte, dicht unter der Oberfläche. »Wenn es so weitergeht, werde ich bis Weihnachten gar nicht mehr schlafen, und wenn das passiert, weiß ich nicht, wie ich es durchstehen soll. Ich kann es jetzt schon fast nicht mehr ertragen.«

Ralph suchte nach Worten und stellte die erste Frage, die ihm in den Sinn kam: »Wie kommt es, daß ich nie Licht bei dir sehe?«

»Aus demselben Grund, weshalb ich deins fast nie sehe, denke ich«, sagte sie. »Ich wohne seit fast fünfundzwanzig Jahren in dem Haus und brauche kein Licht, um mich zurechtzufinden. Außerdem behalte ich meine Probleme gern für mich. Wenn man um zwei Uhr nachts das Licht einschaltet, sieht es früher oder später jemand. Es spricht sich herum, und dann fangen die Naseweise an, Fragen zu stellen. Ich kann neugierige Fragen nicht ausstehen, und ich gehöre nicht zu den Leuten, die jedesmal in der Zeitung annoncieren müssen, wenn sie ein wenig Verstopfung haben.«

Ralph lachte laut auf. Lois sah ihn einen Moment mit perplexen, runden Augen an, dann stimmte sie ein. Er hatte den Arm immer noch um sie gelegt (oder hatte er sich wieder dorthin geschlichen, nachdem er ihn zunächst weggenommen hatte? Ralph wußte es nicht, und es war ihm eigentlich auch egal), und nun drückte er sie fest an sich. Diesmal schmiegte sie sich unbekümmert an ihn; die steifen kleinen Drähte waren aus ihrem Körper verschwunden. Ralph war froh darüber.

»Du lachst mich doch nicht aus, Ralph, oder?«

»Nee. Ganz sicher nicht.«

Sie nickte immer noch lächelnd. »Dann ist es gut. Du hast nie gesehen, wie ich in meinem Wohnzimmer herumspaziert bin, oder?«

»Nein.«

»Das liegt daran, daß keine Straßenlampe vor meinem Haus steht. Aber vor deinem steht eine. Ich habe dich häufig in deinem zerschlissenen alten Ohrensessel gesehen, wie du hinausgesehen und Tee getrunken hast.«

Ich habe immer gedacht, daß ich der einzige bin, dachte er, und plötzlich schoß ihm eine Frage durch den Kopf, die komisch und peinlich zugleich war. Wie oft hatte sie ihn gesehen, wie er sich in der Nase bohrte? Oder im Schritt kratzte?

Entweder las sie seine Gedanken oder zog Rückschlüsse aus der Farbe seiner Wangen, denn Lois sagte: »Ich konnte nicht mehr als deinen Umriß erkennen, weißt du, und du hast immer den Morgenmantel getragen, vollkommen anständig. Also darüber mußt du dir keine Gedanken machen. Außerdem hoffe ich, daß du weißt, wenn ich dich je bei etwas gesehen hätte, bei dem du nicht gesehen werden wolltest, dann hätte ich auch nicht hingesehen. Weißt du, ich bin auch nicht gerade in der Scheune großgezogen worden.«

Er lächelte und tätschelte ihre Hand. »Das weiß ich, Lois. Es ist nur... du weißt schon, eine Überraschung. Herauszufinden, daß jemand mich beobachtet hat, während ich dort saß und die Straße beobachtet habe.«

Sie schenkte ihm ein rätselhaftes Lächeln, das besagen konnte: Keine Bange, Ralph - für mich warst du nichts weiter als ein Teil der Landschaft.

Er dachte einen Moment über das Lächeln nach, dann kam er wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen. »Also, was ist passiert, Lois? Warum hast du hier gesessen und geweint?

Nur Schlaflosigkeit? Wenn es nur das war, kann ich mit Sicherheit mit dir fühlen. Aber so was wie >nur< gibt es dabei nicht, was?«

Ihr Lächeln erlosch. Sie faltete die Hände in den Handschuhen wieder im Schoß und betrachtete sie ernst. »Es gibt Schlimmeres als Schlaflosigkeit. Verrat, zum Beispiel. Besonders wenn die Menschen, die dich verraten, die Menschen sind, die du liebst.«

Sie verstummte. Ralph drängte sie nicht. Er sah den Hügel hinunter zu Rosalie, die ihn zu beobachten schien. Möglicherweise sie beide.

»Hast du gewußt, daß wir nicht nur dasselbe Problem, sondern auch denselben Arzt haben?«

»Du gehst auch zu Litchfield?« »Ich ging zu Litchfield. Auf Empfehlung von Carolyn. Aber ich werde nie wieder zu ihm gehen. Wir sind fertig miteinander.« Sie fletschte die Lippen und entblößte kleine weiße Zähne, die eindeutig ihre eigenen waren. »Der hinterhältige Dreckskerll«.

»Was ist passiert?«

»Ich habe fast ein Jahr lang darauf gewartet, daß es von alleine wieder besser werden würde - daß die Natur ihren Lauf nimmt, wie man so sagt. Nicht, daß ich nicht hier und da versucht hätte, der Natur auf die Sprünge zu helfen. Wahrscheinlich haben wie beide häufig dieselben Mittel ausprobiert.«

»Honigwabe?« fragte Ralph, der wieder lächelte. Er konnte nicht anders. Was für ein erstaunlicher Tag das gewesen ist, dachte er. Was für ein durch und durch erstaunlicher Tag... und dabei ist es noch nicht einmal ein Uhr mittags.

»Honigwabe? Was ist damit? Hilft das?«

»Nein«, sagte Ralph und grinste breiter denn je, »es hilft kein bißchen, aber es schmeckt köstlich.«

Sie lachte und drückte seine Hand mit ihren beiden. Ralph erwiderte das Drücken.

»Du bist deswegen nie bei Litchfield gewesen, Ralph, oder?«

»Nee. Ich hatte mal einen Termin vereinbart, hab ihn aber abgesagt.«

»Weil du ihm nicht getraut hast? Weil du der Meinung warst, daß er bei Carolyn gepfuscht hat?«

Ralph sah sie überrascht an.

»Vergiß es«, sagte Lois. »Ich hatte kein Recht, das zu fragen.«

»Nein, schon gut. Es überrascht mich nur, daß ich das von jemand anderem höre. Daß er... du weißt... eine falsche Diagnose gestellt haben könnte.«

»Ha!« Lois' hübsche Augen blitzten. »Das haben wir uns alle gedacht! Bill hat gesagt, er könne nicht begreifen, daß du den Kurpfuscher nicht am Tag nach Carolyns Beerdigung vor das Bezirksgericht gezerrt hast. Aber damals stand ich selbstverständlich noch auf der anderen Seite des Zauns und habe Litchfield wie verrückt verteidigt. Hast du je daran gedacht, ihn zu verklagen?« »Nein. Ich bin siebzig, und ich will die Zeit, die mir noch bleibt, nicht mit einem Kunstfehlerprozeß verschwenden. Außerdem -würde es Carol zurückbringen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Ralph sagte: »Aber was mit Carolyn passiert ist, war der Grund, daß ich nicht mehr zu ihm gegangen bin. Glaube ich jedenfalls. Ich konnte ihm einfach nicht mehr vertrauen, oder vielleicht... ich weiß auch nicht... «

Nein, er wußte es wirklich nicht, das war das Teuflische daran. Er wußte nur, er hatte den Termin bei Dr. Litchfield abgesagt, ebenso den bei James Roy Hong, in manchen Kreisen auch als der Nadelpiekser bekannt. Den letzteren Termin hatte er auf Anraten eines zwei- oder dreiundneunzigjährigen Mannes abgesagt, der sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an seinen zweiten Vornamen erinnern konnte. Seine Gedanken schweiften zu dem Rat ab, den ihm der alte Dor gegeben hatte, und zu dem Gedicht, aus dem er zitiert hatte -

»Pursuit« hatte es geheißen, und es ging Ralph nicht mehr aus dem Kopf... besonders der Teil, wo der Dichter alles hinter sich wegfallen sah: die ungelesenen Bücher, die unerzählten Witze, die Reisen, die er nie unternehmen würde.

»Ralph? Bist du noch da?«

»Was meinst du damit? Natürlich bin ich da.«

»Einen Moment hast du ausgesehen, als wärst du tausend Meilen weit weg.«

»Ich glaube, ich habe über Litchfield nachgedacht. Mich gefragt, warum ich den Termin abgesagt habe.«

Sie tätschelte seine Hand. »Sei froh, daß du es getan hast. Ich hab meinen wahrgenommen.«

»Sag mir, was passiert ist.«

Lois zuckte die Achseln. »Als es so schlimm wurde, daß ich mir dachte, ich könnte es nicht mehr ertragen, bin ich zu ihm gegangen und habe ihm alles erzählt. Ich dachte mir, er würde mir Schlaftabletten verschreiben, aber er sagte, er könnte nicht einmal das tun - ich habe manchmal Herzrhythmusstörungen, und Schlaftabletten können das verschlimmern.«

»Wann warst du bei ihm?« »Anfang letzter Woche. Dann rief mich gestern aus heiterem Himmel mein Sohn Harold an und sagte mir, er und Janet wollten mich zum Frühstück einladen. Unsinn, sagte ich, ich kann mich immer noch in der Küche beschäftigen. Wenn ihr von Bangor hierher kommt, mache ich uns eine Kleinigkeit zu essen, und damit basta. Wenn sie danach mit mir ausgehen wollten - ich dachte an das Einkaufszentrum, weil ich da immer gern hingehe -, wäre es in Ordnung. Genau das habe ich gesagt.«

Sie drehte sich mit einem Lächeln zu Ralph um, das verkniffen und verbittert und grimmig war.

»Ich habe mich nicht gefragt, warum sie mich beide an einem Wochentag besuchen kommen wollten, wo sie doch beide arbeiten gehen - und sie müssen die Jobs wirklich lieben, weil sie nie über etwas anderes reden. Ich dachte nur, wie süß es war... wie rücksichtsvoll... und ich strengte mich ganz besonders an, gut auszusehen und alles richtig zu machen, damit Janet nicht denken sollte, ich hätte Probleme. Ich glaube, das nervt mich am meisten. Die dumme alte Lois, >unsere Lois<, wie Bill immer sagt... mach nicht so ein überraschtes Gesicht, Ralph! Natürlich wußte ich das; glaubst du, ich bin erst gestern aus dem Urwald gelockt worden? Und er hat recht. Ich bin eine Närrin, ich bin dumm, aber das bedeutet nicht, daß ich nicht wie alle anderen Schmerzen empfinde, wenn ich zum Narren gemacht werde...« Sie fing wieder an zu weinen.

»Selbstverständlich«, sagte Ralph und tätschelte ihr die Hand.

»Du hättest dich totgelacht, wenn du mich gesehen hättest«, sagte sie. »Ich habe um vier Uhr morgens Brötchen gebacken, um Viertel nach vier Champignons für ein Pilzomelett geschnitten, um halb fünf mit dem Make-up angefangen, um sicher zu sein, ganz sicher, daß Jan nicht mit ihrem >Bist du sicher, daß du dich wohlfühlst, Mutter Lois?< anfängt. Ich hasse es, wenn sie mir mit diesem Quatsch kommt. Und weißt du was, Ralph? Sie wußte die ganze Zeit, was mit mir los ist. Sie wußten es beide. Man kann wohl sagen, daß der Witz auf meine Kosten gegangen ist, was?«

Ralph hatte gedacht, er hätte ihr aufmerksam zugehört, aber offenbar hatte er irgend etwas nicht mitbekommen. »Wußten es? Wie konnten sie es wissen?«

»Weil Litchfield es ihnen gesagt hat!« schrie sie. Sie verzerrte wieder das Gesicht, aber diesmal sah Ralph keinen Schmerz und keinen Kummer darin, sondern eine schreckliche, klägliche Wut. »Dieser dreckige alte Petzer hat meinen Sohn angerufen und IHM ALLES ERZÄHLT!«

Ralph war wie vor den Kopf gestoßen.

»Lois, das kann er nicht machen«, sagte er, als er endlich wieder sprechen konnte. »Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist... nun, es ist vertraulich. Das müßte dein Sohn wissen, schließlich ist er Anwalt, und für die gilt dasselbe. Ärzte dürfen keinem sagen, was sie von ihren Patienten erfahren, wenn der Patient nicht -«

»O Gott«, sagte Lois und verdrehte die Augen. »Himmel Herrgott noch mal. In was für einer Welt lebst du denn, Ralph?

Leute wie Litchfield tun das, was sie für richtig halten. Ich glaube, das habe ich immer gewußt, und deshalb war es doppelt dumm von mir, überhaupt zu ihm zu gehen. Carl Litchfield ist ein eitler, arroganter Mann, dem mehr daran liegt, wie er mit seinen Hosenträgern und Designerhemden aussieht, als an seinen Patienten.«

»Das ist schrecklich zynisch.«

»Und schrecklich wahr, das ist das Traurige daran. Weißt du was? Er ist fünfunddreißig oder sechsunddreißig, und irgendwie scheint er der Meinung zu sein, wenn er vierzig wird, wird er einfach... aufhören. Vierzig bleiben, solange er will. Er glaubt, daß Leute alt sind, wenn sie die Sechzig erreicht haben, und daß selbst die besten spätestens mit achtundsechzig senil geworden sind; und wenn man erst einmal über achtzig ist, wäre es ein Akt der Barmherzigkeit, wenn die Verwandten einen diesem Dr. Kervorkian übergeben würden. Kinder haben kein Recht, etwas vor ihren Eltern geheimzuhalten, und was Litchfield betrifft, haben alte Fürze wie wir kein Recht, etwas vor unseren Kindern geheimzuhalten. Das läge nicht in unserem Interesse, weißt du.

Carl Litchfield hat praktisch in dem Moment, als ich das Sprechzimmer verlassen habe, Harold in Bangor angerufen. Er hat gesagt, ich könnte nicht schlafen, ich hätte Depressionen und unter Problemen der Sinneswahrnehmung zu leiden, die mit einer verfrühten Verschlechterung der Kognition einhergingen. Und dann hat er gesagt: >Sie dürfen nicht vergessen, daß Ihre Mutter in einem hohen Alter ist, Mr. Chasse, und ich an Ihrer Stelle würde mir ernste Gedanken über ihre Situation hier in Derry machen. <«

»Das hat er nicht!« rief Ralph fassungslos und entsetzt. »Ich meine... ernsthaft?«

Lois nickte grimmig. »Er sagte es Harold, und Harold sagte es mir, und ich sage es jetzt dir. Ich altes Dummerchen, ich wußte nicht mal, was unter >einer verfrühten Verschlechterung der Kognition< zu verstehen ist, und keiner der beiden wollte es mir sagen. Ich habe >Kognition< im Wörterbuch nachgeschlagen, und weißt du, was es bedeutet?«

»Denken«, sagte Ralph. »Kognition ist Denken.«

»Richtig. Mein Arzt hat meinen Sohn angerufen und ihm gesagt, daß ich senil werde!« Lois lachte wütend und wischte sich mit Ralphs Taschentuch frische Tränen von der Wange.

»Ich kann es nicht glauben«, sagte Ralph, aber das Teuflische war, er konnte es. Seit dem Tod von Carolyn wurde ihm klar, daß die Naivität, mit der er die Welt bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr betrachtet hatte, offenbar nicht für immer verschwunden war, als er die Schwelle zwischen Kind und Mann überschritten hatte; diese spezielle Arglosigkeit schien sich wieder einzustellen, seit er die Schwelle zwischen Mann und altem Mann überschritten hatte. Immer wieder erlebte er Überraschungen... aber Überraschungen war ein zu zahmes Wort. Die meisten brachten ihn völlig aus der Fassung.

Die kleinen Fläschchen unter der Kußbrücke, zum Beispiel. Eines Tages im Juni hatte er einen langen Spaziergang zum Bassey Park gemacht und war unter die Brücke geklettert, um eine Weile aus der Nachmittagssonne herauszukommen. Kaum hatte er es sich gemütlich gemacht, war ihm ein kleiner Haufen Glasscherben im Unkraut bei dem schmalen Bach aufgefallen, der unter der Brücke dahinfloß. Er hatte das hohe Gras mit einem Ast geteilt und sechs oder acht kleine Ampullen bemerkt. In einer klebte noch eine verkrustete weiße Substanz am Boden. Ralph hatte sie aufgehoben, und als er sie behutsam vor den Augen gedreht hatte, war ihm klar geworden, daß er die Überreste einer Crackparty vor sich sah. Er hatte die Ampulle fallengelassen, als wäre sie glühend heiß. Er konnte sich immer noch an den lähmenden Schock erinnern, an die vergeblichen Versuche, so zu tun, als wäre er nicht recht bei Trost, daß es unmöglich sein konnte, wofür er es hielt, nicht in dieser hundertfünfzig Meilen von Boston entfernten Hinterwäldlerstadt. Selbstverständlich war nur der wieder auferstandene Naive geschockt gewesen; der Teil von ihm, der zu glauben schien (jedenfalls bis er die Ampullen unter der Brücke fand), daß die ganzen Meldungen über die Kokainepidemie nichts als Unsinn waren, daß sie ebensowenig der Wirklichkeit entsprachen wie ein Fernsehkrimi oder ein Film mit Jean-Claude Van Damme.

Jetzt verspürte er einen ähnlichen Schock.

»Harald sagte, sie wollten mich nach Bangor holen und mir >das Haus zeigen<«, sagte Lois. »Heutzutage fährt er nicht mehr mit mir weg, er >bringt< mich nur noch irgendwohin. Als wäre ich ein Botengang. Sie hatten eine Menge Broschüren dabei, und als Harold Janet zunickte, hat sie sie so schnell vor mir ausgebreitet -«

»Puh, langsam. Was für ein Haus? Was für Broschüren?«

»Tut mir leid, ich mache ein bißchen zu schnell, was? Es ist ein Haus in Bangor, das Riverview Estates heißt.«

Ralph kannte den Namen; er hatte sogar selbst schon eine Broschüre bekommen. Eine dieser Postwurfsendungen, die Leute über fünfundsechzig bekamen. Er und McGovern hatten darüber gelacht... aber das Lachen war ein klein wenig nervös gewesen - wie das Pfeifen von Kindern, die am Friedhof vorbeilaufen.

»Scheiße, Lois - das ist ein Altersheim, richtig?«

»Nein, Sir!« sagte sie und riß unschuldig die Augen auf. »Das habe ich auch gesagt, aber Harold und Janet haben mich verbessert. Nein, Ralph, Riverview Estates ist ein Apartmentkomplex für geselligkeitsorientierte Senioren! Als Harold das sagte, antwortete ich: >Ist das so? Nun, dann will ich euch beiden etwas erzählen - man kann einen Obstkuchen von McDonalds auf einen schicken Silberteller stellen und behaupten, daß er eine französische Torte ist, aber was mich betrifft, ist es deshalb immer noch ein Obstkuchen von McDonalds.<

Als ich das sagte, fing Harold an zu stottern und wurde rot im Gesicht, aber Jan bedachte mich einfach nur mit ihrem zuckersüßen Lächeln, das sie für besondere Anlässe aufhebt, weil sie genau weiß, daß es mich rasend macht. Sie sagt: >Nun, warum sehen wir uns die Broschüren nicht trotzdem an, Mutter Lois? Das wirst du doch wenigstens tun können, nachdem wir beide einen Tag Urlaub genommen und den ganzen Weg hierher gefahren sind, oder nicht?<«

»Als würde Derry im finstersten Afrika liegen«, murmelte Ralph.

Lois nahm seine Hand und sagte etwas, das ihn zum Lachen brachte. »Oh, für Jan ist das so!«

»War das bevor oder nachdem du herausgefunden hast, daß Litchfield gepetzt haben muß?« fragte Ralph. Er benutzte absichtlich dasselbe Wort wie Lois; es schien besser zu der Situation zu passen als ein beschönigenderer Ausdruck. »Einen Vertrauensbruch begangen« war viel zu anständig für dieses heimtückische Vorgehen. Litchfield hatte gepetzt. So einfach war das.

»Vorher. Ich dachte mir, ich könnte die Broschüren wirklich ansehen; schließlich waren sie vierzig Meilen gefahren, und es würde mich ja nicht umbringen. Also habe ich sie durchgeblättert, während sie das Frühstück aßen, das ich gemacht hatte - ich mußte übrigens später nichts in den Müll werfen und Kaffee tranken.

Nicht schlecht, dieses Riverview. Sie haben ihr eigenes medizinisches Personal, das rund um die Uhr einsatzbereit ist. Wenn man einzieht, checken sie einen vollständig durch und entscheiden, was man zu essen bekommt. Es gibt einen Roten Diätplan, einen Blauen Diätplan, einen Grünen Diätplan und einen Gelben Diätplan. Und noch drei oder vier andere Farben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wofür sie alle stehen, aber Gelb ist für Diabetiker und Blau für die Fetten.«

Ralph dachte daran, wie es sein würde, den Rest seines Lebens drei wissenschaftlich ermittelte Mahlzeiten täglich zu essen - keine Pizza mit Paprikawurst von Gambino's mehr, keine Coffee-Pot-Sandwiches, keine Chiliburger von Mexico Milt's -, und fand die Aussicht fast unerträglich trostlos.

»Außerdem«, sagte Lois strahlend, »haben sie eine Rohrpost, die einem die täglichen Tabletten direkt in die Küche liefert. Ist das nicht eine grandiose Idee, Ralph?«

»Schätze schon«, sagte Ralph.

»O ja, das ist es. Großartig, der letzte Schrei. Ein Computer überwacht alles, und ich wette, der hat nie eine Verschlechterung der Kognition. Ein spezieller Bus bringt die Bewohner von Riverview zweimal wöchentlich zu malerischen oder kulturellen Sehenswürdigkeiten, außerdem zum Einkaufen. Man muß den Bus nehmen, weil das Riverview nicht gestattet, daß man ein Auto besitzt.«

»Gute Idee«, sagte er und drückte ihre Hand ein wenig. »Was sind schon ein paar Betrunkene am Samstagabend im Vergleich zu einem alten Schwachkopf mit nachlassender Kognition, der mit einer Buick-Limousine auf die Menschheit losgelassen wird?«

Sie lächelte nicht, wie er gehofft hatte. »Die Bilder in diesen Broschüren haben mir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Alte Damen, die Canasta spielen. Alte Männer, die Hufeisen werfen. Beide Geschlechter gemeinsam beim Squaredance in dem großen, kieferngetäfelten Saal, den sie River Hall nennen. Aber das ist wirklich ein hübscher Name, findest du nicht auch? River Hall?«

»Ich finde ihn ganz okay.«

»Ich finde, das hört sich wie ein Saal in einem verwunschenen Schloß an. Aber ich habe ein paar alte Freunde in Strawberry Fields besucht - das ist ein Altenheim in Skowhegan -, daher weiß ich, was ein Aufenthaltsraum für alte Menschen ist. Es ist ganz egal, was für einen hübschen Namen man ihm gibt, in jedem steht ein Schrank mit Brettspielen in der Ecke, und mit Puzzles, bei denen immer vier oder fünf Teile fehlen, und im Fernseher läuft immer so etwas wie Family Feud, aber nie Filme, in denen gutaussehende junge Leute sich die Kleider ausziehen und sich vor dem Kamin auf dem Boden herumwälzen. Diese Räume riechen immer nach Salbe... und Pisse... und den Wasserfarben aus dem Five-and-Dime in den langen Blechkästen... und Verzweiflung.«

Lois sah ihn mit ihren dunklen Augen an.

»Ich bin erst achtundsechzig, Ralph. Ich weiß, achtundsechzig zu sein bedeutet Dr. Jungbrunnen überhaupt nichts, aber mir schon, denn meine Mutter war zweiundneunzig, als sie letztes Jahr gestorben ist, und mein Dad wurde sechsundachtzig. In meiner Familie stirbt man jung, wenn man mit achtzig stirbt... und wenn ich zwölf Jahre in einem Haus verbringen müßte, wo sie über Lautsprecher zum Essen rufen, würde ich verrückt werden.«

»Ich auch.«

»Aber ich habe es mir angesehen. Ich wollte höflich sein. Als ich fertig war, machte ich einen ordentlichen kleinen Stapel und gab ihn Jan. Ich sagte ihr, sie wären sehr interessant, und dankte ihr. Sie nickte und lächelte und steckte sie wieder in die Handtasche. Ich dachte, damit wäre die Sache erledigt, und tschüs, aber dann sagte Harold: >Zieh den Mantel an, Ma.<

Einen Moment hatte ich solche Angst, daß ich keine Luft bekam. Ich dachte, sie hätten mich schon angemeldet! Und ich dachte mir, wenn ich sagen würde, daß ich nicht mitkommen wollte, würde Harold die Tür aufmachen, und draußen würden zwei oder drei Männer in weißen Kitteln stehen, und einer würde lächeln und sagen: >Keine Bange, Mrs. Chasse; wenn Sie erst einmal die erste Handvoll Pillen direkt in Ihre Küche bekommen haben, möchten Sie gar nicht mehr anderswo leben.<

>Ich will meinen Mantel nicht anziehen<, sagte ich zu Harold und versuchte, es so zu sagen wie damals, als er noch zehn war und immer mit schmutzigen Schuhen in die Küche gekommen ist, aber mein Herz schlug so fest, daß man es in meiner Stimme hören konnte. >Ich will nicht mehr ausgehen. Ich hatte vergessen, wieviel ich heute zu tun habe.< Und da stieß Jan dieses Lachen aus, das ich noch mehr hasse als ihr zuckersüßes Lächeln, und sagte: >Aber Mutter Lois, was könntest du zu tun haben, das so wichtig ist, daß du nicht mit uns nach Bangor fahren könntest, nachdem wir uns die Zeit genommen haben und nach Derry gekommen sind, um dich zu besuchen?<

Diese Frau bringt mich immer auf die Palme, und ich schätze, umgekehrt ist es genauso. Muß so sein, denn ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die eine andere so oft angelächelt hat, ohne sie aus tiefster Seele zu hassen. Wie auch immer, ich sagte ihr, zuerst einmal müßte ich den Küchenboden schrubben. >Sieh ihn dir nur an<, sagte ich. >Schmutzig wie der Teufel.<

>Ha!< sagt Harold. >Ich kann nicht glauben, daß du uns unverrichteter Dinge in die Stadt zurückschickst, nachdem wir den weiten Weg hierher gekommen sind, Ma.< >Nun, ich werde da nicht hinziehen, wie weit ihr auch gekommen sein mögt<, antwortete ich, >also das könnt ihr euch gleich abschminken. Ich lebe seit fünfunddreißig Jahren in Derry, mein halbes Leben. Meine ganzen Freunde sind hier, und ich ziehe nicht weg.<

Sie sahen einander an wie die Eltern eines Bandes, das nicht mehr artig ist, sondern nur noch eine Nervensäge. Janet tätschelte mir die Schulter und sagte: >Nun reg dich nicht auf, Mutter Lois - wir möchten ja nur, daß du es dir ansiehst. < Als hätten wir es wieder mit den Broschüren zu tun und ich müßte nur höflich sein. Aber daß sie es gesagt hat, sollte mich nur ein bißchen beruhigen. Ich hätte wissen müssen, daß sie mich nicht zwingen können, dort zu wohnen, daß sie es sich nicht einmal leisten können. Sie rechnen damit, daß das Geld von Mr. Chasse dieses Rad dreht - seine Rente und die Eisenbahnversicherung, die ich bekommen habe, weil er bei der Arbeit gestorben ist.

Wie sich herausstellte, hatten sie einen Termin für elf Uhr vereinbart, und ein Mann sollte mich herumfuhren und mir alles zeigen. Als ich das alles begriffen hatte, war die Angst weitgehend verschwunden, aber ich war gekränkt, weil sie mich so von oben herab behandelt haben, und wütend, weil jedes zweite Wort von Janet Urlaubstag hier und Urlaubstag da war. Sie machte ziemlich deutlich, daß sie einen Urlaubstag besser verbringen konnte, als nach Derry zu fahren und ihre fette alte Schachtel von einer Schwiegermutter zu besuchen.

>Hör auf, dich so zu zieren, und komm mit, Mutter<, sagte sie nach weiterem Hin und Her, als wäre ich so angetan von der ganzen Idee, daß ich mich nicht entscheiden könnte, welchen Hut ich tragen sollte. >Zieh den Mantel an. Ich helfe dir mit dem Geschirr, wenn wir wieder zurück sind.<

>Du hast mich nicht richtig verstanden sagte ich. >Ich werde nicht mitkommen. Weshalb sollte ich so einen schönen Tag damit vergeuden, mir ein Haus anzusehen, wo ich nie wohnen werde? Und was gibt euch überhaupt das Recht, hierher zu kommen und mich derart damit zu überrumpeln? Warum hat nicht einer von euch zumindest angerufen und gesagt: Wir haben uns etwas überlegt, Mom, möchtest du es hören? Hättet ihr so nicht einen eurer Freunde behandelt?<

Als ich das gesagt hatte, haben sie sich noch mal angesehen... «

Lois seufzte, wischte sich zum letztenmal die Augen ab und gab Ralph das Taschentuch zurück, feuchter, aber sonst nicht weiter verändert.

»Nun, an diesem Blick sah ich, daß wir noch nicht fertig waren. Überwiegend lag es daran, wie Harold aussah - wie damals, wenn er gerade eine Handvoll Schokostreusel aus der Tüte in der Vorratskammer stiebitzt hatte. Und Janet... die betrachtete ihn mit dem Blick, den ich am allermeisten hasse. Ich nenne ihn ihren Bulldozerblick. Und dann fragte sie ihn, ob er mir erzählen wolle, was der Arzt gesagt hätte, oder ob sie es tun solle.

Am Ende erzählten sie es beide, und als sie fertig waren, da war ich so wütend und verblüfft, daß ich mir die Haare hätte ausreißen können. So sehr ich es versuchte, ich kam einfach nicht darüber hinweg, daß Carl Litchfield Harold alles erzählt hat, was ich für vertraulich gehalten hatte. Daß er Harold einfach angerufen und es ihm erzählt hatte, als wäre das vollkommen in Ordnung.

>Also denkst du, ich bin senil?< fragte ich Harold. >Läuft es darauf hinaus? Du und Jan denkt, ich bin im biblischen Alter von achtundsechzig nicht mehr ganz dicht im Oberstübchen?<

Harold wurde knallrot im Gesicht und scharrte unter dem Tisch mit den Füßen, während er vor sich hinmurmelte. Daß er das nicht dächte, aber er müßte an meine Sicherheit denken, wie ich immer an seine gedacht hätte, während er aufgewachsen sei. Und Janet saß die ganze Zeit am Tisch, knabberte an einem Brötchen und betrachtete ihn mit einem Blick, für den ich sie hätte töten können - als würde sie ihn für eine Küchenschabe halten, die gelernt hatte, wie ein Anwalt zu sprechen. Dann stand sie auf und fragte, ob sie >auf die Toilette gehen< dürfte. Ich erlaubte es ihr und verkniff mir die Bemerkung, wie erleichtert ich war, sie zwei Minuten aus dem Zimmer zu haben.

>Danke, Mutter Lois<, sagte sie. >Wird nicht lange dauern. Harry und ich müssen bald wieder gehen. Wenn du meinst, du kannst nicht mit uns kommen und deinen Termin wahrnehmen, gibt es nichts mehr zu sagen.<«

»Was für ein Herzchen«, sagte Ralph.

»Nun, was mich betraf, war das das Ende; ich hatte genug.

>Ich nehme meine Termine wahr, Janet Chasse<, sagte ich, >aber nur die, die ich selbst vereinbare. Wenn andere Leute welche für mich treffen, kümmert mich das einen feuchten Furz.<

Sie warf die Hände hoch, als wäre ich die unvernünftigste Frau, die jemals auf dem Antlitz dieser Erde gewandelt ist, und ließ mich mit Harold allein. Er sah mich mit seinen großen braunen Augen an, als wartete er darauf, daß ich mich entschuldigen würde. Und ich fühlte mich fast, als müßte ich mich entschuldigen, und sei es nur, damit sein Gesicht nicht mehr diesen Cockerspanielausdruck hatte, aber ich habe mich nicht entschuldigt. Ich wollte nicht. Ich sah ihn nur an, und nach einer Weile ertrug er es nicht mehr und sagte mir, ich sollte nicht mehr wütend sein. Er sagte, er würde sich nur Sorgen machen, weil ich ganz allein hier unten lebte, daß er nur versuchte, ein guter Sohn zu sein, und Janet eine gute Tochter.

>Ich denke, das verstehe ich<, sagte ich, >aber du solltest wissen, daß man Liebe und Sorge nicht dadurch ausdrückt, daß man hinter dem Rücken von jemandem intrigierte Da wurde er stocksteif und sagte, er und Jan würden es nicht als intrigieren bezeichnen. Als er das sagte, sah er eine oder zwei Sekunden zum Badezimmer, und ich dachte mir, er wollte mir damit zu verstehen geben, daß Jan es nicht als intrigieren betrachtete. Dann sagte er mir noch, daß es keineswegs so war, wie ich es darstellte - Litchfield hätte ihn angerufen, nicht umgekehrt.

>Na gut<, antwortete ich, >aber was hat dich daran gehindert, einfach aufzulegen, als dir klar wurde, warum er dich angerufen hatte, worüber er mit dir reden wollte? Das war schlicht und einfach falsch. Was, in Gottes Namen, ist in dich gefahren, Harry?<

Er fing wieder an zu zappeln und herumzudrucksen - ich glaube, er hätte sich sogar entschuldigt -, als Jan zurückkam, und da war die du-weißt-schon-was aber richtig am Dampfen. Sie fragte mich, wo meine Diamantohrringe seien, die sie mir zu Weihnachten geschenkt hätten. Das war so ein abrupter Themenwechsel, daß ich zuerst nur stottern konnte, und ich nehme an, es hörte sich an, als wäre ich senil. Aber schließlich brachte ich heraus, sie wären in dem kleinen Porzellanteller auf meiner Schlafzimmerkommode, wie immer. Ich habe eine Schmuckschatulle, aber diese Ohrringe und zwei oder drei andere hübsche Stücke lasse ich immer draußen, weil sie so schön sind und es mich immer aufmuntert, wenn ich sie ansehe. Außerdem sind es nur Diamantsplitter - es ist nicht so, daß jemand einbrechen würde, nur um sie zu stehlen. Dasselbe gilt für meinen Verlobungsring und meine Elfenbeinminiatur, die beiden anderen Stücke, die auf diesem Teller liegen.«

Lois warf Ralph einen durchdringenden, flehenden Blick zu. Er drückte wieder ihre Hand.

Sie lächelte und holte tief Luft. »Das ist sehr schwer für mich.« »Wenn du aufhören möchtest -«

»Nein, ich möchte alles erzählen... nur ab einem bestimmten Punkt kann ich mich sowieso nicht mehr erinnern, was passiert ist. Es war alles so gräßlich. Weißt du, Janet hat gesagt, sie wüßte, wo ich sie aufbewahre, aber da wären sie nicht. Der Verlobungsring sei da, die Miniatur auch, aber nicht die Ohrringe von Weihnachten. Ich ging selbst nachsehen, und sie hatte recht. Wir haben alles auf den Kopf gestellt, überall nachgesehen, aber wir haben sie nicht gefunden. Sie sind fort.«

Lois umklammerte Ralphs Hand jetzt mit ihren beiden und schien hauptsächlich mit dem Reißverschluß seiner Jacke zu reden.

»Wir haben sämtliche Kleidungsstücke aus der Kommode genommen... Harold hat die Kommode selbst von der Wand gezogen und dahinter nachgesehen... unter dem Bett und den Sofakissen... und mir schien jedesmal, wenn ich Janet ansah, als würde sie mich auch ansehen, mit diesem unschuldigen Ausdruck mit den großen Augen. Süß und lieb - nur in den Augen nicht -, und sie mußte nicht laut aussprechen, was sie dachte, weil ich es schon wußte. >Siehst du? Da siehst du, wie recht Dr. Litchfield hatte, uns anzurufen, und wie recht wir hatten, diesen Termin zu vereinbaren. Und wie starrsinnig du bist. Du gehörst nämlich in ein Haus wie Riverview Estates, und das ist der Beweis. Du hast die hübschen Ohrringe verloren, die wir dir zu Weihnachten geschenkt haben, du leidest an einer ernsten Verschlechterung der Kognition, und das ist der Beweis. Nicht mehr lange, und du wirst den Gasherd anlassen... oder den Badezimmerofen...<«

Sie fing wieder an zu weinen, und ihre Tränen erfüllten Ralphs Herz mit Traurigkeit - es war das tiefe, reinigende Schluchzen von jemand, der bis ins tiefste Mark seiner Persönlichkeit verletzt worden ist. Lois verbarg das Gesicht an seiner Jacke. Er hielt sie fester im Arm. Lois, dachte er. Unsere Lois. Aber nein; das gefiel ihm nicht mehr, wenn es ihm je gefallen hatte.

Meine Lois, dachte er, und als hätte eine höhere Macht es begrüßt, strömte plötzlich wieder Licht in den Tag. Geräusche bekamen eine neue Resonanz. Er sah auf seine und Lois' Hände hinunter, die sie in seinem Schoß verschränkt hatten, und erblickte einen hübschen blau-grauen Schimmer um sie, die Farbe von Zigarettenrauch. Die Auren waren wieder da.

»Du hättest sie in dem Augenblick rauswerfen sollen, als du gemerkt hast, daß die Ohrringe nicht mehr da sind«, hörte er sich sagen, und jedes einzelne Wort war fein säuberlich getrennt und strahlend einmalig, wie ein kristallener Donnerschlag. »In dem Augenblick.«

»Oh, das weiß ich jetzt«, sagte Lois. »Sie hat nur darauf gewartet, daß ich in eine Falle stolperte, und selbstverständlich habe ich ihr den Gefallen getan. Aber ich war so durcheinander

- zuerst der Streit, ob ich mit ihnen nach Bangor kommen sollte, um mir Riverview Estates anzusehen, dann die Tatsache, daß mein Arzt ihnen Dinge erzählt hatte, die er gar nicht erzählen durfte, und dazu dann noch, daß ich eines meiner teuersten Stücke verloren hatte. Und weißt du, was der Gipfel war? Daß sie den Verlust dieser Ohrringe entdecken mußte! Kannst du mir zum Vorwurf machen, daß ich nicht mehr wußte, was ich tat?«

»Nein«, sagte er und hob ihre behandschuhten Hände an seinen Mund. Das Geräusch, als sie durch die Luft glitten, ähnelte dem einer Handfläche, die über eine Wolldecke streicht, und einen Augenblick lang sah er deutlich den Umriß seiner Lippen auf dem rechten Handschuh als blauen Kuß abgedruckt.

Lois lächelte. »Danke, Ralph.«

»Gern geschehen.«

»Ich nehme an, du kannst dir denken, wie es weitergegangen ist, oder nicht? Jan sagte: >Du solltest wirklich besser achtgeben, Mutter Lois, aber Dr. Litchfield meint, du bist jetzt in einem Alter, wo du nicht mehr besser achtgeben kannst, und darum haben wir an Riverview Estates gedacht. Entschuldige, wenn wir dir auf die Füße getreten sind, aber es schien wichtig zu sein, rasch zu handeln. Und jetzt siehst du ja selbst, warum.<«

Ralph sah auf. Der Himmel über ihm bildete einen Wasserfall grün-blauen Feuers mit Wolken, die wie Luftschiffe aus Chrom aussahen. Er schaute den Hügel hinunter und sah Rosalie immer noch zwischen den Port-O-Sans liegen. Die dunkelgraue Ballonschnur stieg von ihrer Schnauze empor und wehte in der kühlen Oktoberbrise.

»Da wurde ich richtig wütend -« Sie verstummte und lächelte. Ralph dachte, daß es heute ihr erstes Lächeln war, das richtige Heiterkeit ausdrückte, und nicht ein unangenehmeres und komplizierteres Gefühl. »Nein - das stimmt nicht. Ich wurde mehr als nur wütend. Wenn mein Großneffe hier gewesen wäre, hätte er gesagt: >Nana ist explodierte«

Ralph lachte, und Lois lachte mit ihm, aber ihre Hälfte des Duetts hörte sich ein wenig gezwungen an.

»Am meisten erbost mich, daß Janet es gewußt hat«, sagte sie. »Sie wollte, daß ich explodiere, glaube ich, weil sie wußte, wie schuldig ich mich später fühlen würde. Und weiß Gott, so ist es. Ich schrie sie an, sie sollten verschwinden. Harold hat ausgesehen, als wollte er im Boden versinken - er war immer verlegen, wenn er angeschrien wurde -, aber Jan saß nur mit im Schoß gefalteten Händen da, lächelte und nickte sogar mit dem Kopf, als wollte sie sagen: >Ganz recht, Mutter Lois, schaff ruhig das ganze Gift aus deinem Körper, und wenn du fertig bist, kann man vielleicht wieder vernünftig mit dir reden.<«

Lois holte tief Luft.

»Dann geschah etwas. Ich bin nicht sicher, was es war. Es war auch nicht das erstemal, aber diesmal war es am schlimmsten. Ich fürchte, es war eine Art... nun... eine Art Anfall. Wie auch immer, ich sah Janet in einer wirklich seltsamen Weise... einer beängstigenden Weise. Und ich sagte etwas, das ihr richtig zusetzte. Ich kann mich nicht erinnern, was es war, und ich bin nicht sicher, ob ich es wissen will, aber auf jeden Fall verschwand das süße Lächeln, das ich so sehr verabscheue, von ihrem Gesicht. Sie hat Harold förmlich hinausgezerrt. Ich weiß nur noch, daß sie sagte, einer von ihnen würde mich wieder anrufen, wenn ich nicht mehr so hysterisch wäre, daß ich den Menschen, die mich lieben, häßliche Dinge an den Kopf werfen würde.

Ich blieb eine Weile, nachdem sie gegangen waren, im Haus, und dann kam ich hierher und setzte mich in den Park. Manchmal geht es mir besser, wenn ich einfach nur in der Sonne sitze. Ich nahm im Red Apple einen Imbiß zu mir, und da hörte ich, daß du dich mit Bill gestritten hast. Was meinst du, seid ihr wirklich wütend aufeinander?«

Ralph schüttelte den Kopf. »Nee - wir bringen das wieder ins reine. Ich mag Bill wirklich, aber -«

»- aber man muß bei ihm vorsichtig sein, was man sagt«, beendete sie den Satz. »Darf ich außerdem hinzufügen, Ralph, daß man das, was er zu einem sagt, nicht allzu ernst nehmen darf?«

Diesmal drückte Ralph ihre Hand. »Das könnte auch für dich ein guter Rat sein, Lois - du solltest das, was heute morgen passiert ist, nicht allzu ernst nehmen.«

Sie seufzte. »Vielleicht, aber das fällt mir schwer. Zuletzt habe ich ein paar schreckliche Sachen gesagt, Ralph. Schreckliche. Ein Teil von mir wünscht sich, ich könnte mich erinnern, was ich gesagt habe, damit dieses schreckliche Lächeln verschwindet, aber der Rest von mir - der größte Teil - ist dankbar, daß ich es nicht kann.«

Ein Regenbogen der Erkenntnis warf plötzlich einen leuchtenden Schein über den Vordergrund von Ralphs Bewußtsein. In seinem Leuchten sah er etwas Riesiges, so riesig, daß es unzweifelhaft und vorherbestimmt wirkte. Er sah Lois zum erstenmal, seit ihm die Auren erschienen waren... oder er sie wieder wahrnahm... richtig an. Sie saß in einer Kapsel durchscheinenden grauen Lichts so hell wie Nebel an einem Sommermorgen, der sonnig werden wird. Es verwandelte das Geschöpf, das Bill McGovern »unsere Lois« nannte, in ein Geschöpf großer Würde... und fast unerträglicher Schönheit.

Sie sieht aus wie Eos, dachte er. Die Göttin der Morgenröte.

Lois rutschte nervös auf der Bank hin und her. »Ralph? Warum siehst du mich so an?«

Weil du wunderschön bist, und weil ich mich in dich verliebt habe, dachte Ralph erstaunt. Im Augenblick liebe ich dich so sehr, daß ich glaube, ich ertrinke, und das Sterben ist schön.

»Weil du dich genau daran erinnerst, was du gesagt hast.«

Sie spielte wieder nervös mit dem Verschluß ihrer Handtasche. »Nein, ich -«

»O doch. Du hast deiner Schwiegertochter gesagt, daß sie deine Ohrringe weggenommen hat. Sie hat es getan, weil sie gemerkt hat, daß du nicht nachgeben und mit ihnen kommen würdest, und wenn sie nicht bekommt, was sie will, macht es deine Schwiegertochter verrückt... dann explodiert sie. Sie hat es getan, weil du ihr auf die Nerven gegangen bist. Kommt das nicht ungefähr hin?«

Lois sah ihn mit runden, ängstlichen Augen an. »Woher weißt du das, Ralph? Woher kannst du das über sie wissen?«

»Ich weiß es, weil du es weißt, und du weißt es, weil du es gesehen hast.«

»O nein«, flüsterte sie. »Nein, ich habe nichts gesehen. Ich war die ganze Zeit mit Harold in der Küche.«

»Nicht da, nicht als sie es getan hat, sondern als sie wiederkam. Du hast es in ihr und um sie herum gesehen.«

So wie er jetzt Harold Chasses Frau in Lois sah, als wäre die Frau, die neben ihm saß, eine optische Linse geworden. Janet Chasse war groß, hatte helle Haut und eine lange Taille. Auf den Wangen hatte sie Sommersprossen, die sie mit Make-up überdeckte, und ihr Haar war von einem lebhaften Rot mit einer Spur Ingwer. Heute morgen war sie nach Derry gekommen, und dieses sagenhafte Haar hing als breiter geflochtener Zopf wie Kupferdraht auf ihre Schulter. Was wußte er sonst noch von dieser Frau, die er nie kennengelernt hatte?

Alles, alles.

Sie überdeckt ihre Sommersprossen mit Schminke, weil sie findet, daß sie kindlich damit aussieht; daß die Leute Frauen mit Sommersprossen nicht ernst nehmen. Ihre Beine sind wunderschön, und das weiß sie. Sie trägt kurze Röcke zur Arbeit, aber als sie heute gekommen ist, um (die alte Kuh) Mutter Lois zu besuchen, trug sie einen Wollpullover und ein Paar alte Jeans. Mausgraues Derry-Kostüm. Ihre Periode ist überfällig. Sie hat den Abschnitt ihres Lebens erreicht, wo sie nicht mehr regelmäßig wie ein Uhrwerk kommt, und in den nervösen zwei oder drei Tagen, die sie jeden Monat ertragen muß, einem Zeitraum, wo die ganze Welt aus Glas und jedermann entweder dumm oder gemein zu sein scheint, sind ihr Verhalten und ihre Stimmung launisch geworden. Wahrscheinlich ist das der wahre Grund, weshalb sie es getan hat.

Ralph sah sie aus Lois winzigem Badezimmer kommen. Sah sie einen stechenden, wütenden Blick zur Küchentür werfen -jetzt war nichts mehr von dem süßen Unschuldslächeln in dem schmalen, durchdringenden Gesicht zu sehen -, und dann die Ohrringe von dem Porzellanteller nehmen. Sah, wie sie sie in die linke vordere Tasche ihrer Jeans steckte.

Nein, Lois hatte diesen kleinen, häßlichen Diebstahl tatsächlich nicht gesehen, aber er hatte die Aura von Jan Chasse von der blassen hellgrünen Farbe in ein komplexes, vielschichtiges Muster aus Braun- und Rottönen verwandelt, das Lois gesehen und wahrscheinlich augenblicklich verstanden hatte, wahrscheinlich ohne die geringste Ahnung, was tatsächlich mit ihr geschah.

»Ja, sie hat sie genommen«, sagte Ralph. Er konnte sehen, wie grauer Nebel verträumt über die Pupillen von Lois' aufgerissenen Augen driftete. Er hätte sie den Rest des Tages ansehen können.

»Ja, aber -«

»Wenn du doch noch eingewilligt hättest, Riverside Estates zu besuchen, hättest du sie garantiert nach dem nächsten Besuch wiedergefunden... oder sie hätte sie gefunden, was wahrscheinlicher ist. Nur ein glücklicher Zufall - >Oh, Mutter Lois, sieh mal, was ich gefunden habe!< Unter dem Waschbecken im Bad, in einem Schrank oder in einer dunklen Ecke.«

»Ja.« Jetzt sah sie ihm fasziniert ins Gesicht, fast hypnotisiert. »Sie muß sich schrecklich fühlen... und sie wird nicht wagen, sie zurückzubringen, oder? Nicht nach allem, was ich gesagt habe. Ralph, woher wußtest du das?«

»Aus demselben Grund, weshalb du es gewußt hast. Wie lange siehst du die Auren schon, Lois?«

»Auren? Ich weiß nicht, was du meinst.« Aber sie wußte es, das sah Ralph ihr an.

»Litchfield hat deinem Sohn von der Schlaflosigkeit erzahlt, aber ich bezweifle, ob das allein ausgereicht hätte, daß Litchfield... du weißt schon, petzt. Das andere - das er, wie du sagst, Probleme mit der Sinneswahmehmung genannt hat -habe ich gar nicht mitbekommen. Ich war so betroffen, jemand könnte dich für vorzeitig senil halten, daß es mir gar nicht aufgefallen ist, obwohl ich selbst in letzter Zeit auch Probleme mit meiner Wahrnehmung habe.«

»Du!«

»Ja, Ma'am. Vor einer Weile hast du etwas Interessantes gesagt. Du hast gesagt, du hättest Janet auf eine wirklich interessante Weise gesehen. Auf eine furchteinflößende Weise. Du könntest dich nicht erinnern, was du gesagt hast, bevor die beiden gegangen sind, aber du wüßtest genau, wie du dich gefühlt hast. Du siehst den anderen Teil der Welt. Den Rest der Welt. Umrisse um die Dinge, Umrisse in den Dingen, Geräusche innerhalb von Geräuschen. Ich nenne es die Welt der Auren, und die erlebst du auch. Ist es nicht so, Lois?«

Sie sah ihn einen Moment schweigend an, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. »Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren«, sagte sie, und dann sagte sie es noch einmal: »O Ralph, ich dachte, ich würde den Verstand verlieren.«

Er umarmte sie, dann ließ er sie los und hob ihr Kinn hoch. »Keine Tränen mehr«, sagte er. »Ich habe kein zweites Taschentuch dabei.«

»Keine Tränen mehr«, stimmte sie zu, aber ihre Augen funkelten schon wieder feucht. »Ralph, wenn du nur wüßtest, wie schrecklich es gewesen ist -«

»Das weiß ich.«

Sie lächelte strahlend. »Ja, das weißt du, oder nicht?«

»Dieser Idiot Litchfield ist nicht nur wegen der Schlaflosigkeit auf die Idee gekommen, daß du senil wirst - wahrscheinlich hat er auch mehr an die Alzheimersche gedacht -, sondern wegen etwas anderem... das er für Halluzinationen gehalten hat. Richtig?«

»Kann sein, aber davon hat er damals nichts gesagt. Als ich ihm erzählte, was ich gesehen hatte - die Farben und alles -, schien er ausgesprochen verständnisvoll zu sein.« »Hm-hmm, und kaum hast du sein Sprechzimmer verlassen gehabt, hat er deinen Sohn angerufen und ihm gesagt, er soll schleunigst nach Derry kommen und etwas wegen seiner alten Mom unternehmen, die die Leute in bunten Hüllen und mit langen Ballonschnüren sieht, die von ihren Köpfen emporschweben.«

»Die siehst du auch? Ralph, die siehst du auch?«

»Ich auch«, sagte er und lachte. Es hörte sich ein klein wenig irre an, aber das überraschte ihn nicht. Er wollte ihr hundert Fragen stellen; er fühlte sich rasend vor Ungeduld. Und da war noch etwas, etwas so Unerwartetes, daß er es zuerst überhaupt nicht hatte identifizieren können: er war geil. Nicht nur interessiert; richtig geil.

Lois weinte wieder. Ihre Tränen hatten die Farbe von Nebel über einem stillen See, und sie rauchten ein wenig, wenn sie ihre Wangen hinabliefen. Ralph wußte, sie würden dunkel und moosig schmecken, wie eingerollte Farntriebe im Frühling.

»Ralph... das... das ist... herrje!«

»Größer als Michael Jackson in der Superbowl, was?«

Sie lachte kläglich. »Nun, nur... du weißt schon, nur ein bißchen.«

»Es gibt einen Namen für das, was mit uns passiert, Lois, und das ist nicht Schlaflosigkeit oder Senilität oder die Alzheimersche Krankheit. Es heißt Hyperrealität.«

»Hyperrealität«, murmelte sie. »Herrgott, was für ein exotisches Wort.«

»Ja, das ist es. Ein Apotheker unten im Rite Aid, Joe Wyzer, hat es mir gesagt. Aber es ist viel mehr dran, als er wußte. Mehr als jeder bei klarem Verstand ahnen würde.«

»Ja, wie Telepathie... das heißt, wenn es wirklich passiert. Ralph, sind wir noch bei Verstand?«

»Hat deine Schwiegertochter deine Ohrringe genommen?«

»Ich... sie... ja.« Lois richtete sich auf. »Ja, das hat sie.«

»Kein Zweifel?«

»Nein.« »Dann hast du dir deine Frage selbst beantwortet. Wir sind bei Verstand... aber ich glaube, was die Telepathie betrifft, irrst du dich. Wir lesen nicht Gedanken, sondern Auren. Hör zu, Lois, ich möchte dir alle möglichen Fragen stellen, aber ich glaube, du weißt, daß es nur eines gibt, was du wirklich wissen mußt. Hast du auch schon gesehen -« Er verstummte unvermittelt und fragte sich, ob er wirklich aussprechen sollte, was ihm auf der Zunge lag.

»Ob ich was gesehen habe?«

»Okay. Das wird sich verrückter anhören als alles, was du mir gesagt hast, aber ich bin nicht verrückt. Glaubst du das? Ich bin es nicht.«

»Ich glaube dir«, sagte sie nur, und Ralph spürte, wie ihm eine große Last von der Seele genommen wurde. Sie sagte die Wahrheit. Keine Frage; ihr Glaube leuchtete rings um sie herum auf.

»Okay, hör mir zu. Hast du, seit es bei dir angefangen hat, gewisse Leute gesehen, die nicht aussehen, als hätten sie etwas in der Harris Avenue verloren? Leute, die aussehen, als gehörten sie gar nicht in die normale Welt?«

Lois sah ihn verwirrt und verständnislos an.

»Sie sind kahlköpfig, sie sind sehr klein, sie tragen weiße Kittel und sehen fast wie Zeichnungen von Außerirdischen aus, die man manchmal auf Seite eins der Regenbogenpresse sieht, wie sie sie im Red Apple verkaufen. Die hast du nicht zufällig gesehen, wenn du deine Anfälle von Hyperrealität gehabt hast?«

»Nein, niemanden.«

Er schlug sich frustriert mit der Faust auf den Oberschenkel, dachte einen Moment nach, dann sah er wieder auf. »Montag morgen«, sagte er. »Bevor die Polizei bei Mrs. Locher gewesen ist... hast du mich da gesehen?«

Lois nickte sehr bedächtig mit dem Kopf. Ihre Aura war ein wenig dunkler geworden, scharlachrote Spiralen, so dünn wie Fäden, kreisten langsam in einer Diagonalen darin.

»Dann könnte ich mir denken, daß du eine ziemlich gute Vorstellung davon hast, wer die Polizei angerufen hat«, sagte Ralph. »Oder nicht?« »Oh, ich weiß, daß du es warst«, sagte Lois mit leiser Stimme. »Ich hatte es die ganze Zeit vermutet, aber bis jetzt war ich mir nicht sicher. Bis ich es... du weißt schon, in deinen Farben gesehen habe.«

In meinen Farben, dachte er. So hatte Ed sie auch genannt.

»Aber du hast nicht zwei Miniaturversionen von Meister Proper aus ihrem Haus kommen sehen?«

»Nein«, sagte sie, »aber das hat nichts zu sagen, weil ich nicht einmal Mrs. Lochers Haus von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen kann. Das Dach des Red Apple ist im Weg.«

Ralph verschränkte die Hände auf dem Kopf. Natürlich, das hätte er wissen müssen.

»Ich dachte mir, daß du die Polizei gerufen haben mußtest, weil ich, kurz bevor ich duschen ging, gesehen habe, wie du etwas mit einem Fernglas beobachtet hast. Das habe ich dich noch nie tun sehen, dachte mir aber, vielleicht wolltest du dir nur den streunenden Hund genauer ansehen, der donnerstagmorgens die Mülleimer plündert.« Sie deutete den Hügel hinab. »Den da.«

Ralph grinste. »Das ist kein Er, das ist die prächtige Rosalie.«

»Oh. Wie auch immer, ich war ziemlich lange unter der Dusche, weil ich eine spezielle Spülung für mein Haar nehme. Keine Tönung«, sagte sie schneidend, als hätte er ihr das vorgeworfen, »nur Proteine und etwas, das angeblich die Locken etwas fester macht. Als ich herauskam, war überall Polizei. Ich habe einmal zu deinem Haus gesehen, konnte dich aber nicht mehr erkennen. Entweder warst du in ein anderes Zimmer gegangen oder hattest dich in deinem Sessel zurückgelehnt. Das machst du manchmal.«

Ralph schüttelte den Kopf, als müßte er ihn freimachen. Er war in den ganzen Nächten nicht in einem leeren Theater gewesen; jemand anders hatte es ebenfalls besucht. Sie hatten nur in verschiedenen Logen gesessen.

»Lois, der Streit, den Bill und ich hatten, drehte sich eigentlich gar nicht um Schach. Er drehte -«

Unten am Hügel stieß Rosalie ein eingerostetes Bellen aus und rappelte sich auf die Füße. Ralph sah in ihre Richtung und spürte, wie sich ein Eiszapfen in seinen Bauch bohrte. Obwohl sie beide seit fast einer halben Stunde hier saßen und sich in dieser Zeit niemand den öffentlichen Toiletten unten auch nur genähert hatte, ging nun die Hartplastiktür des Port-O-San mit der Aufschrift MÄNNER langsam auf.

Doc Nr. 3 kam heraus. McGoverns Panama, dessen Krempe am Rand zerbissen war, hatte er schräg auf den Kopf gesetzt, wodurch er auf unheimliche Weise McGovern selbst ähnelte, als Ralph ihn zum erstenmal mit dem braunen Fedora gesehen hatte - wie ein Reporter in einem Kriminalfilm aus den vierziger Jahren.

In einer Hand hielt der kahlköpfige Fremde das rostige Skalpell erhoben.

Kapitel 13

»Lois?« Ralph fand, seine Stimme hörte sich an, als würde sie aus einem langen, tiefen Canyon kommen. »Lois, siehst du das?«

»Ich weiß nicht...« Sie verstummte. »Hat der Wind die Toilettentür aufgestoßen? Nein, richtig? Ist jemand da? Macht der Hund deshalb so ein Theater?«

Rosalie wich langsam vor dem kahlköpfigen Mann zurück; sie hatte die zottigen Ohren angelegt und fletschte so verfaulte Zähne, daß sie nicht bedrohlicher wirkten als Gummistöpsel. Sie stieß ein heiseres, abgehacktes Bellen aus, dann winselte sie verzweifelt.

»Ja! Siehst du ihn nicht, Lois? Er ist direkt da!«

Ralph sprang auf die Füße. Lois stand mit ihm auf und schirmte mit einer Hand die Augen ab. Sie spähte mit verzweifelter Anstrengung den Hügel hinab. »Ich sehe ein Flimmern, mehr nicht. Wie Luft über einem Heizkörper.«

»Ich hab dir gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen!« schrie Ralph den Hügel hinunter. »Hör auf! Und mach, daß du verschwindest!«

Der kahlköpfige Mann sah in Ralphs Richtung, aber diesmal drückte sein Gesicht keine Überraschung aus; es war gelassen, unbeeindruckt. Er hob den Mittelfinger der rechten Hand, zeigte Ralph den uralten Gruß und fletschte dann selbst die Zähne -viel spitzer und gefährlicher als die von Rosalie - zu einem stummen Lachen.

Rosalie duckte sich, als der kleine Mann im schmutzigen Kittel wieder auf sie zukam, dann hob sie tatsächlich eine Pfote und legte sie sich auf den Kopf, eine Geste wie aus einem Trickfilm, die komisch hätte wirken müssen, aber nur dazu diente, das Ausmaß ihrer Angst zu verdeutlichen.

»Was kann ich nicht sehen, Ralph?« stöhnte Lois. »Ich sehe etwas, aber -«

»Geh WEG von ihr!« brüllte Ralph und hob wieder die Hand zu der Karate-Geste. Aber die Hand - aus der vorhin dieser erstaunliche blaue Lichtstrahl hervorgeschossen war - fühlte sich immer noch wie eine ungeladene Waffe an, und diesmal schien es der Doc auch zu wissen. Er sah in Ralphs Richtung und winkte ihm kurz und höhnisch zu. lAch, hör auf, Kurzer - setz dich, halt die Klappe und genieß die Vorstellung!]

Die Kreatur am Fuß des Hügels richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Rosalie, die zusammengekauert am Stamm einer riesigen alten Kiefer saß. Aus den Rissen in der Rinde des Baums strömte dünner grünlicher Dunst. Der kahlköpfige Arzt beugte sich über Rosalie und hatte eine Hand zu einer streichelnden Geste ausgestreckt, die überhaupt nicht zu dem Skalpell passen wollte, das er in der kleinen linken Faust hielt.

Rosalie winselte... dann streckte sie den Hals und leckte der Kreatur unterwürfig die Handfläche.

Ralph betrachtete seine eigenen Hände und spürte etwas in ihnen - nicht die Kraft von vorhin, nichts dergleichen, aber etwas. Plötzlich tanzten grellweise Funken dicht über seinen Nägeln. Als hätten sich die Finger in Zündkerzen verwandelt.

Lois zupfte inzwischen hektisch an ihm. »Was ist mit dem Hund, Ralph? Was ist mit ihm?«

Ohne darüber nachzudenken, was er tat oder warum, legte Ralph die Hände auf Lois' Augen, wie jemand, der »Rat mal wer« mit seiner Liebsten spielt. Seine Finger leuchteten kurzzeitig so grell weiß auf, daß er fast erblindete. Muß das Weiß sein, von dem sie immer in der Waschmittelwerbung sprechen, dachte er.

Lois schrie. Sie griff mit den Händen nach seinen Handgelenken, umklammerte sie und ließ wieder los. »Mein Gott, Ralph, was hast du mit mir gemacht?«

Er nahm seine Hände weg und sah eine grellweiße liegende Acht um ihre Augen herum; es war, als hätte sie gerade eine in Puderzucker getauchte Brille abgenommen. Das Weiß begann in dem Moment zu verblassen, als er die Hände wegnahm... aber...

Es verblaßt nicht, dachte er. Es sinkt ein.

»Vergiß es«, sagte er und deutete bergab. »Schau!«

Ihre aufgerissenen Augen verrieten ihm alles, was er wissen mußte. Doc Nr. 3, der sich von Rosalies verzweifeltem Versuch, seine Freundschaft zu erringen, nicht im geringsten beeindrucken ließ, stieß ihre Schnauze mit der Hand beiseite, die das Skalpell hielt. Er packte das alte Tuch um ihren Hals mit der anderen Hand und riß ihren Kopf hoch. Rosalie heulte kläglich. Sabber lief seitlich an ihrem Kopf herab. Der kahlköpfige Mann stieß ein schleimiges Kichern aus, bei dem Ralph eine Gänsehaut bekam.

[»He! Hör auf! Hör auf, den Hund zu quälen!«]

Der Kopf des kahlköpfigen Mannes fuhr herum. Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht, und er fauchte Lois an, wobei er sich selbst ein wenig wie ein Hund anhörte.

[Hah, verpiß dich bloß, du fette alte kurzfristige Fotze! Der Hund gehört mir, das hab ich deinem schlappschwänzigen Freund schon gesagt!]

Der kahlköpfige Mann hatte das blaue Tuch losgelassen, als Lois ihn angesprochen hatte, und jetzt preßte sich Rosalie wieder an die Kiefer, verdrehte die Augen, und Schaum troff von ihren Lefzen. Ralph hatte in seinem ganzen Leben noch nie ein so durch und durch verängstigtes Geschöpf gesehen.

»Lauf!« schrie Ralph. »Geh weg!«

Sie schien ihn nicht zu hören, und nach wenigen Augenblicken wurde Ralph klar, daß sie ihn tatsächlich nicht hören konnte, weil Rosalie nicht mehr ganz da war. Der kahlköpfige Arzt hatte schon etwas mit ihr angestellt - er hatte sie zumindest teilweise aus der gewöhnlichen Wirklichkeit herausgezogen wie ein Farmer, der einen Baumstumpf mit dem Traktor und einer Kette herauszieht.

Ralph versuchte es trotzdem noch einmal.

[»Lauf, Rosalie! Lauf weg!«]

Diesmal spitzte sie die angelegten Ohren und drehte den Kopf langsam in Ralphs Richtung. Er erfuhr aber nie, ob sie ihm gehorchen wollte oder nicht, denn der kahlköpfige Mann ergriff das Tuch wieder, bevor sie sich in Bewegung setzen konnte. Er riß ihren Kopf wieder hoch.

»Er wird sie umbringen!« kreischte Lois. »Er wird ihr mit diesem Ding die Kehle durchschneiden! Laß es nicht zu Ralph! Du mußt ihn daran hindern!«

»Ich kann nicht! Vielleicht kannst du es! Schieß auf ihn! Schieß mit deiner Hand auf ihn!«

Sie sah ihn verständnislos an. Ralph machte eine verzweifelte Holzhacker-Geste mit der rechten Hand, aber bevor Lois ihrerseits die Hand heben konnte, stieß Rosalie ein gräßliches, hilfloses Heulen aus. Der kahlköpfige Arzt hob das Skalpell und ließ es herunterfahren, aber er schnitt nicht Rosalies Kehle durch.

Er schnitt ihre Ballonschnur durch.

Zwei Fäden schwebten aus den Nasenlöchern von Rosalie in die Höhe. Sie verflochten sich etwa fünfzehn Zentimeter über der Schnauze und bildeten einen zierlichen Zopf, und genau an dieser Stelle verrichtete das Skalpell von Kahlkopf Nr. 3 seine Arbeit. Ralph sah voller Entsetzen, wie der abgeschnittene Zopf dem Himmel entgegenschwebte wie die Schnur eines losgelassenen Heliumballons. Dabei wand er sich auseinander. Ralph dachte, er würde in den Zweigen der alten Kiefer hängenbleiben, aber es kam anders. Als die aufsteigende Ballonschnur schließlich den ersten Zweig erreichte, ging sie einfach durch ihn hindurch.

Logisch, dachte Ralph. So wie die Kumpels dieses Burschen durch May Lochers abgesperrte Eingangstür gegangen sind, nachdem sie mit ihr dasselbe gemacht hatten.

Diesem Einfall folgte ein Gedanke, der zu einfach und grausam logisch war, als daß er ihn hätte verwerfen können: keine Außerirdischen, keine kleinen kahlköpfigen Ärzte, sondern Zenturionen. Ed Deepneaus Zenturionen. Sie sahen nicht wie die römischen Soldaten aus, die man in Blechhosen-Epen wie Spartacus oder Ben Hur sah, richtig, aber sie mußten Zenturionen sein, oder nicht?

Fünf oder sechs Meter über dem Boden verblaßte Rosalies Ballonschnur einfach und verschwand.

Ralph senkte den Blick gerade rechtzeitig, daß er sehen konnte, wie der kahlköpfige Gnom dem Hund das verblichene blaue Tuch über den Kopf zog und ihn dann zum Baumstamm hinstieß. Ralph betrachtete die Hündin eingehender und spürte, wie sich sein ganzes Fleisch fester über den Knochen zusammenzog. Sein Traum von Carolyn wurde ihm mit unerbittlicher Grausamkeit wieder ins Gedächtnis gerufen, und er mußte sich anstrengen, damit er keinen Schrei des Entsetzens ausstieß.

Ganz recht, Ralph, nicht schreien. Das solltest du nicht tun, denn wenn du erst einmal angefangen hast, kannst du vielleicht nicht mehr aufhören - du schreist vielleicht einfach weiter, bis es dir die Kehle zerreißt. Denk an Lois, denn sie steckt jetzt auch mit drin. Denk an Lois und fang nicht an zu schreien.

Ah, aber das fiel ihm schwer, denn die Käfer aus dem Traum, die aus Carolyns Kopf gequollen waren, kamen jetzt als zuckende schwarze Ströme aus Rosalies Nasenlöchern.

Das sind keine Käfer. Ich weiß nicht, was sie sind, aber es sind keine Käfer.

Nein, keine Käfer - nur eine andere Art von Aura. Alptraumhaftes schwarzes Zeug, weder Flüssigkeit noch Gas, wurde mit jedem Atemzug aus Rosalie herausgepumpt. Es schwebte nicht davon, sondern umgab sie als träge, widerliche Schnörkel von Anti-Licht. Diese Schwärze hätte sie eigentlich den Blicken entziehen müssen, aber das tat sie nicht. Ralph konnte ihre flehenden, entsetzten Augen sehen, während die Schwärze sich um ihren Kopf herum sammelte und ihr dann an Rücken, Flanken und Beinen hinablief.

Es war ein Leichentuch, ein echtes Leichentuch, und er wurde Zeuge, wie Rosalie, deren Ballonschnur durchgeschnitten war, es unablässig um sich selbst herum wob wie eine giftige Gebärmutter. Dieser Vergleich rief die Stimme von Ed Deepneau in seiner Erinnerung auf den Plan, der gesagt hatte, daß die Zenturionen Babys aus dem Schoß ihrer Mütter rissen und sie in Lastwagen wegbrachten, die mit Planen abgedeckt waren.

Hast du dich schon mal gefragt, was sich unter diesen Planen befindet? hatte Ed gefragt.

Hatte das etwas hiermit zu tun? Ja?

Doc Nr. 3 stand da und sah grinsend auf Rosalie herab. Dann löste er den Knoten ihres Tuchs, legte es sich selbst um den Hals und band einen großen, lockeren Knoten, so daß es aussah wie die Krawatte eines Bohemiens. Als er das getan hatte, sah er mit einem Ausdruck abscheulicher Selbstgefälligkeit zu Ralph und Lois auf. Da! sagte dieser Ausdruck. Ich habe letztlich doch getan, was ich wollte, und ihr habt nicht das geringste dagegen unternehmen können, richtig?

[»Tu etwas, Ralph! Bitte tu etwas! Er soll aufhören!«]

Dazu war es jetzt zu spät, aber möglicherweise noch nicht, ihn seines Weges zu schicken, bevor er den Anblick genießen konnte, wie Rosalie tot am Fuß des Baums zusammenbrach. Er war ziemlich sicher, daß Lois keinen Karateschlag mit blauem Licht zustandebringen konnte, so wie er, aber möglicherweise konnte sie etwas anderes.

Ja - sie kann auf ihre Weise auf ihn schießen.

Er wußte nicht, warum er da so sicher war, aber plötzlich war er es. Er packte Lois an den Schultern, damit sie ihn ansah, dann hob er die rechte Hand. Er winkelte den Daumen an und richtete den Zeigefinger auf den kahlköpfigen Mann. Nun sah er wie ein kleines Kind aus, das Räuber und Gendarm spielt.

Lois reagierte mit einem mißfälligen und verständnislosen Blick. Ralph nahm ihre Hand und zog ihr den Handschuh aus.

[»Du! Du, Lois!«]

Sie verstand, was er meinte, hob selbst die Hand, streckte den Zeigefinger aus und machte wie ein Kind eine schießende Geste: Peng! Peng!

Zwei kompakte, rhombusförmige Strahlen, deren graublauer Farbton identisch mit Lois' Aura war, nur viel heller, Schossen aus den Enden ihrer Finger und bergab.

Doc Nr. 3 kreischte und sprang in die Höhe, hielt die zu Fäusten geballten Hände in Schulterhöhe, und die Absätze seiner schwarzen Schuhe knallten gegen seinen Hintern, als die erste dieser »Kugeln« unter ihm durchging. Sie schlug auf dem Boden auf, prallte ab wie ein flacher Stein auf einer Wasseroberfläche und traf das Port-O-San mit der Aufschrift FRAUEN. Einen Augenblick glühte die ganze Fassade so grell wie das Fenster des Buffy-Buffy.

Das zweite grau-blaue Geschoß traf die linke Hüfte des Kahlkopfs und heulte als Querschläger himmelwärts. Er schrie -ein hohes, schrilles Geräusch, das sich wie ein Wurm in Ralphs Kopf zu fressen schien. Ralph hob die Hände zu den Ohren, obwohl es nichts nützen würde, und sah, daß Lois seinem Beispiel folgte. Er war sicher, wenn dieser Schrei lang anhalten würde, würde er ihm so sicher den Schädel spalten, wie das hohe C feines Kristallglas zerschmettern kann.

Doc Nr. 3 fiel neben Rosalie auf den nadelübersäten Boden, rollte sich hin und her, heulte und hielt sich die Hüfte wie ein kleines Kind sich die Stelle halten würde, die es sich gestoßen hat, als es vom Dreirad gefallen ist. Nach einigen Augenblicken wurde der Schrei leiser, und er sprang auf die Füße. Seine Augen waren hellgrün und funkelten sie unter der weißen Stirn an. Bills Panama hatte er jetzt weit nach hinten geschoben, und die linke Seite des Kittels war schwarz und rauchte.

[Das zahle ich euch heim! Euch beiden! Gottverdammte kurzfristige Störenfriede! DAS ZAHLE ICH EUCH BEIDEN HEIM!]

Er wirbelte herum und hüpfte den Weg hinunter, der zum Spielplatz und den Tennisplätzen führte; große, weite Sprünge wie ein Astronaut auf dem Mond. Seiner Schnelligkeit nach zu urteilen, konnte Lois' Schuß nicht viel Schaden angerichtet haben.

Lois packte Ralph an den Schultern und schüttelte ihn. Dabei begannen die Auren wieder zu verblassen.

[»Die Kinder! Er ist unterwegs zum Kinderspielplatz!«]

Sie verblaßte, und das schien vollkommen logisch zu sein, denn plötzlich sah er, daß Lois überhaupt nicht redete, sondern ihn mit ihren dunklen Augen nur starr ansah, während sie seine Schultern umklammert hielt.

»Ich kann dich nicht hören!« rief er. »Lois, ich kann dich nicht hören!« »Was ist los, bist du taub? Er ist zum Spielplatz unterwegs! Zu den Kindern! Wir dürfen nicht zulassen, daß er den Kindern etwas tut!«

Ralph stieß einen zitternden Stoßseufzer aus. »Das wird er nicht.«

»Wie willst du das wissen?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es eben.«

»Ich habe auf ihn geschossen.« Sie hielt sich den Finger vors Gesicht und sah einen Moment wie eine Frau aus, die einen Selbstmord simuliert. »Ich habe mit dem Finger auf ihn geschossen.«

»Hm-hmm. Und es hat ihm wehgetan. Ziemlich, wie es ausgesehen hat.«

»Ich kann die Farben nicht mehr sehen, Ralph.«

Er nickte. »Sie kommen und gehen wie Rundfunksender in der Nacht.«

»Ich weiß nicht, was ich empfinde... ich weiß nicht einmal, was ich empfinden möchte!« Letzteres wimmerte sie, und Ralph nahm sie in die Arme. Bei allem, was sich derzeit gerade in seinem Leben abspielte, war eines ganz deutlich: Es war wunderbar, wieder eine Frau in den Armen zu halten.

»Schon gut«, sagte er ihr und preßte das Gesicht an ihren Kopf. Ihr Haar roch angenehm, ohne das Aroma von Chemikalien aus dem Schönheitssalon, an das er sich die letzten zehn oder fünfzehn Jahre ihres gemeinsamen Zusammenlebens bei Carolyn erinnerte. »Laß es vorerst einfach dabei bewenden, okay?«

Sie sah zu ihm auf. Er konnte den feinen, perligen Nebel nicht mehr über ihre Pupillen ziehen sehen, war aber überzeugt, daß er noch da sein mußte. Und außerdem waren es sehr hübsche Augen, auch ohne diese zusätzliche Attraktion.

»Wozu geschieht das alles, Ralph? Weißt du, wozu es geschieht?«

Er schüttelte den Kopf. In seiner Vorstellung kreisten die Teile eines Puzzles - Hüte, Docs, Hunde, Spruchbänder, platzende Puppen voll falschem Blut -, die sich nicht zusammenfügen wollten. Zumindest im Augenblick war ihm am deutlichsten der Ausspruch des alten Dor gegenwärtig: Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen.

Ralph hatte eine Ahnung, als wäre das die reine Wahrheit.

Ein trauriges, leises Winseln erweckte seine Aufmerksamkeit, und Ralph sah den Hügel hinab. Rosalie lag am Stamm der großen Kiefer und versuchte aufzustehen. Ralph konnte die schwarze Hülle um sie herum nicht mehr sehen, war aber sicher, daß sie noch da war. »O Ralph, das arme Ding! Was können wir tun!« Sie konnten gar nichts tun. Ralph war ganz sicher. Er nahm Lois' rechte Hand in seine beiden und wartete, daß Rosalie sich hinlegen und sterben würde.

Aber anstatt zu sterben, bäumte sie sich so heftig mit dem ganzen Körper auf, daß sie auf die Füße kam und fast zur anderen Seite umgekippt wäre. Sie blieb einen Moment ruhig stehen und hielt den Kopf so tief, daß ihre Schnauze fast den Boden berührte, dann nieste sie drei- oder viermal. Nachdem das erledigt war, schüttelte sie sich und sah zu Ralph und Lois auf. Sie kläffte einmal, ein sprödes, abgehacktes Geräusch. Für Ralph hörte es sich so an, als wollte sie ihnen sagen, daß sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchten. Dann drehte sie sich um und ging durch den kleinen Kiefernhain zum anderen Ausgang des Parks. Bevor Ralph sie aus dem Augen verlor, hatte sie wieder die hinkende und doch gewandte Gangart angenommen, die ihr Markenzeichen war. Das schlimme Bein war nicht besser als vor dem Eingreifen von Doc Nr. 3, aber es schien auch nicht schlimmer zu sein. Alt, aber alles andere als tot (genau wie wir anderen Harris Avenue Altvorderen, dachte Ralph), verschwand sie zwischen den Bäumen.

»Ich dachte, das Ding würde sie töten«, sagte Lois. »Ich glaubte, es hätte sie getötet.«

»Ich auch«, sagte Ralph.

»Ralph, ist das alles wirklich passiert? Es ist passiert, nicht?« »Ja.«

»Die Ballonschnüre... glaubst du, daß sie Lebenslinien sind?«

Er nickte langsam. »Ja. Wie Nabelschnüre. Und Rosalie...«

Er dachte an das erste richtige Erlebnis mit den Auren zurück, wie er mit dem Rücken zu dem blauen Briefkasten vor dem Rite Aid gestanden und das Kinn fast bis auf die Brust hatte sinken lassen. Von den sechzig oder siebzig Menschen, die er gesehen hatte, bevor die Auren wieder verblaßt waren, hatten nur einige wenige diese schwarzen Umhüllungen getragen, die er jetzt als Leichentücher betrachtete, und dasjenige, das Rosalie um sich herum gestrickt hatte, war bei weitem schwärzer gewesen als alle an jenem Tag. Aber die Leute auf dem Parkplatz, deren Auren schwarz gewesen waren, hatten ausnahmslos krank ausgesehen... wie Rosalie, deren Aura die Farbe verschwitzer Socken gehabt hatte, noch bevor Doc Nr. 3 sich ihrer annahm.

Vielleicht hat er nur beschleunigt, was sonst ein vollkommen natürlicher Vorgang gewesen wäre, dachte er.

»Ralph?« fragte Lois. »Was ist mit Rosalie?«

»Ich glaube, meine alte Freundin Rosalie lebt jetzt von geborgter Zeit«, sagte Ralph.

Lois dachte darüber nach, während sie bergab in den sonnigen Hain sah, wo Rosalie verschwunden war. Schließlich drehte sie sich wieder zu Ralph um. »Der Gnom mit dem Skalpell war einer der Männer, die du aus dem Haus von May Locher hast kommen sehen, richtig?«

»Nein. Das waren die beiden anderen.«

»Hast du noch mehr gesehen?«

»Nein.«

»Glaubst du, daß es noch mehr gibt?«

»Ich weiß nicht.«

Er dachte, sie würde als nächstes fragen, ob ihm aufgefallen sei, daß die Kreatur Bills Panamahut aufgehabt habe, aber das tat sie nicht. Ralph hielt es für möglich, daß sie ihn gar nicht wiedererkannt hatte. Zuviel Unheimliches hatte sich abgespielt, und außerdem war kein Stück aus der Krempe herausgebissen gewesen, als sie ihn zum letztenmal bei Bill gesehenhatte. Pensionierte Geschichtslehrer sind einfach nicht der Typ, der in Hutkrempen beißt, überlegte er und grinste.

»Das war vielleicht ein Vormittag, Ralph.« Lois sah ihm unverwandt in die Augen. »Ich glaube, wir müssen darüber reden, findest du nicht? Ich muß, wirklich wissen, was hier vor sich geht.«

Ralph erinnerte sich an den Morgen - der jetzt tausend Jahre zurücklag -, als er vom Picknickplatz kommend die Straße entlang ging, seine kurze Liste von Bekannten abhakte und sich überlegte, mit wem er reden sollte. Er hatte Lois von der Liste gestrichen, weil er befürchtete, sie könnte bei ihren Freundinnen klatschen, und nun schämte er sich dieser irrigen Einschätzung, die mehr auf McGoverns Vorstellung von Lois als auf seiner eigenen basierte. Wie sich herausstellte, hatte Lois bis heute morgen nur mit dem einzigen Menschen auf der Welt über die Auren gesprochen, bei dem das Geheimnis eigentlich hätte sicher aufgehoben sein müssen.

Er nickte ihr zu. »Du hast recht. Wir müssen reden.«

»Möchtest du gerne zu einem verspäteten Mittagessen zu mir kommen? Ich mache ein ziemlich gutes Pfannengemüse für eine alte Tante, die nicht mehr weiß, wo sie ihre Ohrringe gelassen hat.«

»Mit Vergnügen. Ich werde dir sagen, was ich weiß, aber es wird eine Weile dauern. Als ich heute morgen mit Bill geredet habe, habe ich ihm nur die Reader's Digest-Version gegeben.«

»Aha«, sagte Lois. »Der Streit ging um Schach, ja?«

»Nun, vielleicht nicht«, sagte Ralph und betrachtete lächelnd seine Hände. »Vielleicht war er mehr wie der Streit, den du mit deinem Sohn und deiner Schwiegertochter gehabt hast. Und das Verrückteste habe ich ihm nicht mal erzählt.«

»Aber mir würdest du es erzählen?«

»Ja«, sagte er und stand auf. »Ich wette, du bist eine verdammt gute Köchin. Tatsächlich -« Er verstummt unvermittelt und hielt sich eine Hand an die Brust. Dann ließ er sich schwer auf die Bank zurücksinken und riß Augen und Mund auf.

»Ralph? Alles in Ordnung?«

Ihre erschrockene Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder Kahlkopf Nr. 3 zwischen dem Buffy-Buffy und dem Mietshaus nebenan stehen. Kahlkopf Nr. 3 versuchte, Rosalie über die Straße zu locken, damit er ihre Ballonschnur durchschneiden konnte. Da war es ihm nicht gelungen, aber er hatte die Aufgabe erledigt, bevor (Ich wollte mit ihr spielen!) der Vormittag vorüber war.

Vielleicht ist die Tatsache, daß Bill McGovern nicht der Typ ist, der in seinen Hut beißen würde, nicht der einzige Grund, weshalb Lois nicht aufgefallen ist, was für einen Hut Kahlkopf Nr. 3 da getragen hat, Ralph, alter Freund. Vielleicht hat sie es nicht bemerkt, weil sie es nicht bemerken wollte. Vielleicht gibt es ein paar Teile, die zusammenpassen, und wenn du recht hast, dann sind die Folgen weitreichend. Das ist dir doch klar, oder nicht?

»Ralph? Was ist denn los?«

Er sah, wie der Gnom ein Stück aus dem Panama abbiß und ihn dann wieder auf den Kopf setzte. Hörte ihn sagen, daß er nun statt dessen mit Ralph spielen müßte.

Aber nicht nur mit mir. Mit mir und meinen Freunden, hat er gesagt. Mit mir und meinen Arschlöchern von Freunden.

Und als er jetzt zurückdachte, sah er noch etwas. Er sah, wie die Sonne Funkensplitter aus den Ohrläppchen von Doc Nr. 3 schlug, als er - oder es - in die Krempe von McGoverns Hut gebissen hatte. Die Erinnerung war so deutlich, daß er sie nicht in Frage stellen konnte, ebensowenig wie die Bedeutung.

Die weitreichende Bedeutung.

Immer mit der Ruhe - du weißt nichts mit Sicherheit, und das Irrenhaus wartet direkt hinter dem Horizont, mein Freund. Ich glaube, das solltest du nicht vergessen, es möglicherweise als einen Anker benutzen. Es ist mir gleich, ob Lois das alles auch sieht oder nicht. Die anderen Männer in weißen Kitteln, nicht die kahlköpfigen halben Portionen, sondern die muskulösen Typen mit den Schmetterlingsnetzen und den Thorazinspritzen, können jederzeit auftauchen. Jederzeit.

Aber trotzdem.

Trotzdem.

»Ralph! Großer Gott, sprich mit mir!« Lois schüttelte ihn, und zwar heftig, wie eine Ehefrau, die ihren Mann wachrütteln möchte, damit er nicht zu spät zur Arbeit kommt.

Er sah sie an und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Es fühlte sich in seinem Inneren falsch an, schien Lois aber zu überzeugen, denn sie entspannte sich. Jedenfalls ein wenig. »Tut mir leid«, sagte er. »Ein paar Augenblicke ist mir alles einfach... du weißt schon, über den Kopf gewachsen.«_ »Mach mir nie wieder solche Angst! Wie du dir an die Brust gefaßt hast, mein Gott!«

»Mir geht es gut«, sagte Ralph und zwang sich zu einem noch breiteren falschen Lächeln. Er kam sich vor wie ein Kind, das einen Strang Silly Putty zieht und feststellen will, wie weit es ihn ziehen kann, bevor er zu dünn wird und reißt. »Und wenn du noch kochen willst, komme ich immer noch zum Essen.«

Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein.

Lois sah ihn eindringlich an und entspannte sich. »Gut. Das wäre schön. Ich habe schon lange für niemand mehr gekocht, außer für Simone und Mina - das sind meine Freundinnen, weißt du.« Dann lachte sie. »Aber das habe ich nicht gemeint. Das ist nämlich nicht der Grund, weshalb es mir Spaß machen würde... «

»Was meinst du damit?«

»Daß ich schon lange nicht mehr für einen Mann gekocht habe. Ich hoffe, ich habe nicht vergessen, wie es geht.«

»Nun, an dem Tag, als Bill und ich bei dir waren und die Nachrichten angesehen haben - da gab es Makkaroni mit Käse. Das war auch gut.«

Sie machte eine wegwerfende Geste. »Aufgewärmt. Das zählt nicht.«

Der Affe wollte Schaffner in der Straßenbahn sein. Die Bahn geriet in Not -

Er lächelte breiter denn je. Wartete darauf, daß es reißen würde. »Ich bin sicher, du hast es nicht vergessen, Lois.«

»Mr. Chasse hatte einen ausgesprochen herzhaften Appetit. In jeder Beziehung. Aber dann bekam er Probleme mit der Leber und...« Sie seufzte, dann ergriff sie Ralphs Arm und hielt ihn mit einer Mischung aus Schüchternheit und Entschlossenheit fest, die er absolut bezaubernd fand. »Vergiß es. Ich habe es satt, der Vergangenheit nachzutrauern und zu schniefen. Das überlasse ich Bill. Gehen wir.«

Er stand auf, hakte den Arm bei ihr unter und ging mit ihr den Hügel hinab zum gegenüberliegenden Ausgang des Parks. Lois betrachtete strahlend die jungen Mütter auf dem Spielplatz, als sie und Ralph an ihnen vorbeigingen. Ralph war froh um die Ablenkung. Er konnte sich sagen, er sollte mit einem endgültigen Urteil noch warten; er konnte sich immer wieder daran erinnern, daß er nicht genug über das wußte, was mit ihm und Lois geschah, um sich einzubilden, er könnte logisch darüber nachdenken, aber er kam trotzdem zu dieser Schlußfolgerung. Die Schlußfolgerung kam ihm im Innersten seines Herzens richtig vor, und er war schon weitgehend zur Überzeugung gelangt, daß in der Welt der Auren Fühlen und Wissen so gut wie identisch waren.

Von den beiden anderen weiß ich nichts, aber Doc Nr. 3 ist ein wahnsinniger Arzt... und er nimmt Souvenirs mit. Nimmt sie mit wie ein paar Irre in Vietnam Ohren gesammelt haben.

Daß Lois' Schwiegertochter einem bösen Impuls gefolgt war, die Diamantohrringe von dem Porzellanteller genommen und in die Tasche ihrer Jeans gesteckt hatte, daran zweifelte er nicht. Aber Janet Chasse hatte sie nicht mehr; zweifellos machte sie sich bereits schwere Vorwürfe, weil sie sie verloren hatte, und fragte sich, warum sie sie überhaupt erst weggenommen hatte.

Ralph wußte, der Winzling mit dem Skalpell hatte McGoverns Hut, auch wenn es Lois nicht aufgefallen war, und sie hatten beide gesehen, wie er Rosalies Halstuch mitgenommen hatte. Als Ralph von der Bank aufstehen wollte, war ihm klar geworden, die Lichtblitze, die er von den Ohrläppchen der Kreatur hatte funkeln sehen, bedeuteten mit ziemlicher Sicherheit, daß Doc Nr. 3 auch Lois' Diamantohrringe hatte.

Der Schaukelstuhl des verstorbenen Mr. Chasse stand auf verblaßtem Linoleum neben der Tür zu hinteren Veranda. Lois führte Ralph zu ihm und sagte, er solle ihr »nicht zwischen den Füßen herumlaufen«. Ralph hielt das für einen Rat, den er befolgen konnte. Kräftiges Licht, Nachmittagslicht, fiel ihm auf den Schoß, während er dasaß und schaukelte. Ralph war nicht sicher, wie es so schnell so spät hatte werden können, aber irgendwie war es geschehen. Vielleicht bin ich eingeschlafen, dachte er. Vielleicht schlafe ich noch und träume das alles. Er sah zu, wie Lois einen Wok (eindeutig Hobbit-Größe) aus einem Hängeschrank holte. Fünf Minuten später zogen leckere Gerüche durch die Küche.

»Ich habe dir gesagt, eines Tages würde ich für dich kochen«, sagte Lois und fügte Gemüse aus der Tiefkühltruhe und Gewürze aus einem der Hängeschränke hinzu. »Das war an dem Tag, als ich dir und Bill die Makkaronireste mit Käse gegeben habe. Weißt du noch?«

»Ich glaube ja«, sagte Ralph lächelnd.

»Im Milchkasten auf der Veranda draußen steht eine Flasche Cidre. Cidre hält sich draußen immer am besten. Würdest du ihn holen? Du kannst auch gleich einschenken. Meine guten Gläser sind im Schrank über der Spüle, an den ich nicht herankomme, ohne daß ich mich auf einen Stuhl stelle. Ich glaube, du bist groß genug, daß du es ohne Stuhl schaffst. Wie groß bist du, Ralph, einsfünfundachtzig?«

»Einsachtundachtzig. War ich zumindest; möglicherweise habe ich in den letzten zehn Jahren einen oder zwei Zentimeter verloren. Die Wirbelsäule fällt in sich zusammen, oder so was. Aber wegen mir mußt du dir nicht so eine Mühe machen. Ehrlich.«

Sie sah ihn gelassen an, stemmte die Hände an die Hüften, und in einer hielt sie den Löffel, mit dem sie den Inhalt des Wok umgerührt hatte. Ihre Strenge wurde durch die Andeutung eines Lächelns gemildert. »Ich habe gesagt, meine guten Gläser, Ralph Roberts, nicht meine besten Gläser.«

»Jawohl, Ma'am«, sagte er grinsend, dann fügte er hinzu: »So, wie es riecht, scheinst du dich doch noch daran zu erinnern wie man für einen Mann kocht.«

»Die Qualität des Puddings erweist sich beim Essen«, antwortete Lois, aber Ralph dachte, daß sie sich zu freuen schien, als sie sich zu dem Wok umdrehte.

Das Essen war gut, und sie unterhielten sich nicht über das, was im Park vorgefallen war, während sie sich bedienten. Ralphs Appetit war unregelmäßig und seit Beginn der Schlaflosigkeit häufiger schwach als stark, aber heute langte er herzhaft zu und spülte Lois' würziges Pfannengemüse mit drei Gläsern Cidre hinunter (während er das letzte austrank, hoffte er nervös, daß ihn die Aktivitäten des heutigen Tages nicht allzu weit von einer Toilette wegführen würden). Als sie fertig waren, stand Lois auf, ging zur Spüle und ließ heißes Wasser zum Geschirrspülen ein. Dabei griff sie die Unterhaltung von vorhin wieder auf wie ein halbfertiges Strickzeug, das wegen einer anderen, dringenderen Aufgabe vorübergehend zur Seite gelegt worden war.

»Was hast du mit mir gemacht?« fragte sie. »Was hast du gemacht, damit die Farben zurückgekommen sind?«

»Ich weiß nicht.«

»Es war, als hätte ich am Rand dieser Welt gestanden, und als du mir die Hand auf die Augen gelegt hast, hast du mich hineingestoßen.«

Er nickte und dachte daran, wie sie in den ersten Sekunden ausgesehen hatte, nachdem seine Hand ihre Augen nicht mehr bedeckt hatte - als hätte er ihr gerade eine in Puderzucker getauchte Brille abgenommen. »Es war rein instinktiv. Und du hast recht, es ist wie eine Welt. Ich sehe sie genau so - als Welt der Auren.«

»Wunderbar, nicht? Ich meine, es ist beängstigend, und als es mir zum erstenmal passierte - Ende Juli oder Anfang August war das -, war ich sicher, daß ich den Verstand verlieren würde, aber es gefiel mir auch. Ich konnte nicht anders, es gefiel mir.«

Ralph sah sie verblüfft an. Hatte er Lois einmal für leicht zu durchschauen gehalten? Schwatzhaft? Nicht in der Lage, ein Geheimnis für sich zu behalten?

Nein, ich fürchte, es war ein bißchen schlimmer, alter Junge. Du hast sie für oberflächlich gehalten. Du hast sie weitgehend durch Bills Augen gesehen, als »unsere Lois.« Nicht weniger... aber auch nicht mehr.

»Was ist?« fragte sie ein wenig unbehaglich. »Warum siehst du mich so an?«

»Du siehst diese Auren schon seit Sommer? So lange?«

»Ja - immer heller und heller. Habe ich dieses Ding wirklich mit meinem Finger angeschossen, Ralph? Je mehr Zeit vergeht, desto weniger kann ich es glauben.«

»Das hast du. Ich habe, kurz bevor ich dich getroffen habe, etwas ähnliches getan.«

Er erzählte ihr von seiner früheren Konfrontation mit Doc Nr. 3 und wie er den Gnom vertrieben hatte... jedenfalls vorübergehend. Er hob die Hand zur Schulter und ließ sie rasch heruntersausen. »Mehr habe ich nicht getan - wie ein Junge, der so tut, als wäre er Chuck Norris oder Steven Segal. Aber ich habe diesen unglaublichen blauen Lichtstrahl auf ihn geschleudert, und er hat sich schnellstens verzogen. Was wahrscheinlich gut so war, denn ich hätte es nicht noch einmal geschafft. Ich weiß auch nicht, wie mir das gelungen ist. Hättest du noch einmal mit dem Finger schießen können, Lois?«

Lois kicherte, drehte sich zu ihm und streckte den Finger ungefähr in seine Richtung aus. »Willst du es herausfinden? Peng! Bumm!«

»Richten Sie das Ding nicht auf mich, Lady«, sagte Ralph zu ihr. Er lächelte, als er es sagte, war aber selbst nicht ganz sicher, ob es ein Witz sein sollte.

Lois ließ den Finger sinken und spritzte Spülmittel Marke Joy ins Becken. Als sie das Wasser mit einer Hand umrührte, um Schaum zu erzeugen, stellte sie die Frage, die Ralph als die große Preisfrage betrachtete: »Woher kommt diese Macht, Ralph? Und wozu dient sie?«

Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging zum Geschirrgestell. »Ich weiß beides nicht. Hilft dir das weiter? Wo hast du deine Geschirrtücher, Lois?«

»Ist doch egal, wo ich meine Geschirrtücher habe. Setz dich. Bitte sag mir nicht, daß du einer von diesen modernen Männern bist, Ralph - die sich dauernd umarmen und plärren.«

Ralph lachte und schüttelte den Kopf. »Nee. Ich bin nur gut erzogen, das ist alles.«

»Okay. Solange du nicht damit anfängst, wie feinfühlig du bist. Manches möchte ein Mädchen gern selbst herausfinden.« Sie machte den Schrank unter der Spüle auf und warf ihm ein verblichenes, aber makellos sauberes Geschirrtuch zu. »Nur abtrocknen und auf den Tresen stellen. Wegräumen werde ich es selbst. Und während du arbeitest, kannst du mir deine Geschichte erzählen. Die ungekürzte Version.«

»Abgemacht.«

Er fragte sich immer noch, wo er anfangen sollte, als sich sein Mund scheinbar von ganz alleine öffnete und für ihn begann. »Als mir schließlich klar wurde, daß Carolyn sterben würde, bin ich oft spazierengegangen. Und eines Tages, als ich draußen an der Extension war...«

Er erzählte ihr alles, fing damit an, wie er zwischen Ed und dem dicken Mann mit der West-Side-Gardeners-Schirmmütze vermittelt hatte, und endete damit, wie Bill ihm den Rat gab, seinen Hausarzt aufzusuchen, weil in ihrem Alter Geisteskrankheiten normal seien, vollkommen normal. Manchmal mußte er wieder zurück, um Fäden aufzunehmen, die er hatte fallen lassen - zum Beispiel, wie der alte Dor aufgetaucht war, als er, Ralph, sich gerade bemühte, Ed daran zu hindern, auf den Mann von West Side Gardeners loszugehen -, aber das störte ihn nicht weiter, und Lois schien keine Mühe zu haben, seiner Geschichte zu folgen. Beim Erzählen verspürte Ralph ein Gefühl besonders deutlich, nämlich eine so große Erleichterung, daß es fast schmerzhaft war. Es war, als hätte jemand sein Herz und seinen Verstand mit Backsteinen eingemauert, die er nun einen nach dem anderen entfernte.

Als er fertig war, war das Geschirr gespült, und sie hatten die Küche verlassen und saßen im Wohnzimmer mit den Dutzenden gerahmter Fotos, über denen Mr. Chasse auf seinem Platz auf dem Fernseher prangte.

»Und?« fragte Ralph. »Wieviel davon glaubst du?«

»Selbstverständlich alles«, sagte sie und bemerkte den Ausdruck der Erleichterung auf Ralphs Gesicht entweder nicht oder beschloß, ihn nicht zu bemerken. »Nach allem, was wir heute morgen gesehen haben - ganz zu schweigen davon, was du über meine saubere Schwiegertochter gewußt hast -, bringe ich es nicht fertig, dir nicht zu glauben. Das ist mein Vorzug gegenüber Bill.«

Nicht dein einziger, dachte Ralph, sagte es aber nicht.

»Und das alles ist kein Zufall, oder?« fragte sie ihn.

Ralph schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.«

»Als ich siebzehn war«, sagte sie, »heuerte meine Mutter einen Jungen aus der Straße an - Richard Henderson war sein Name -, damit er die Arbeiten rund um unser Haus erledigte. Sie hätte eine Menge Jungs einstellen können, aber sie entschied sich für Richard, weil sie ihn mochte... und sie hätte ihn gern für mich gehabt, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Selbstverständlich verstehe ich. Sie hat dich verkuppeln wollen.«

»Hm-hmm, aber wenigstens hat sie es nicht auf eine auffällige, grausame oder peinliche Weise getan. Gott sei Dank, denn mir lag nicht das geringste an Richie - jedenfalls nicht so. Trotzdem hat sich Mutter größte Mühe gegeben. Wenn ich am Küchentisch saß und meine Hausaufgaben machte, ließ sie ihn die Holzkiste auffüllen, obwohl es Mai und schon ziemlich warm war. Wenn ich die Hühner fütterte, ließ sie Richie die Hecken neben dem Zaun schneiden. Sie wollte, daß ich ihn sehe... mich an ihn gewöhne... und wenn wir miteinander ausgekommen wären und er mich zum Tanzen aufgefordert oder zum Jahrmarkt eingeladen hätte, wäre ihr das recht gewesen. Es war ein sanfter, aber dauernder Druck. Und so ist es hier.«

»Mir kommt der Druck ganz und gar nicht sanft vor«, sagte Ralph. Er griff mit der Hand unwillkürlich an die Stelle, wo Charlie Pickering ihn mit der Messerspitze gepiekst hatte.

»Nein, natürlich nicht. Wenn einem jemand ein Messer so zwischen die Rippen bohrt, muß das schrecklich sein. Gott sei Dank hast du diese Spraydose dabeigehabt. Glaubst du, der alte Dor kann die Auren auch sehen? Daß ihm etwas aus dieser Welt gesagt hat, er soll dir die Spraydose in die Jackentasche tun?«

Ralph zuckte hilflos mit den Achseln. Was sie andeutete, war ihm auch schon durch den Kopf gegangen, aber wenn man eingehender darüber nachdachte, kippte einem wirklich der Boden unter den Füßen weg. Denn wenn Dorrance es getan hatte, bedeutete das, daß irgend eine (Wesenheit) höhere Macht oder ein Wesen gewußt haben mußte, daß Ralph Hilfe brauchen würde. Und das war noch nicht alles. Diese Macht - oder das Wesen - hätte ebenfalls wissen müssen, daß a) Ralph am Sonntag nachmittag ausgehen würde, b) das Wetter, das bis dahin schön gewesen war, sich so verschlechtem würde, daß er eine Jacke brauchte, und c) welche Jacke er anziehen würde. Mit anderen Worten, man hatte es mit etwas zu tun, das die Zukunft vorhersagen konnte. Die Vorstellung, daß er einem solchen Wesen aufgefallen sein könnte, machte ihm eine Heidenangst, um ganz ehrlich zu sein. Ihm war klar, daß die Intervention ihm zumindest im Fall der Spraydose wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, aber trotzdem litt er Todesängste.

»Möglich«, sagte er. »Vielleicht hat etwas Dorrance als Botenjungen benutzt. Aber warum?« »Und was machen wir jetzt?« fragte sie.

Ralph konnte nur den Kopf schütteln.

Sie sah auf die Uhr zwischen dem Bild des Mannes im Waschbärmantel und der jungen Frau, die bereit schien, jederzeit Twenty-three skidoo zu sagen, dann griff sie zum Telefon. »Fast halb vier! Meine Güte!«

Ralph berührte ihre Hand. »Wen rufst du an?«

»Simone Castonguay. Ich hatte vorgehabt, heute nachmittag mit ihr und Mina nach Ludlow zu fahren - im Grange findet ein Kartenspiel statt -, aber nach alledem kann ich nicht gehen. Ich würde das letzte Hemd verlieren.« Sie lachte, dann errötete sie reizend. »Nur so eine Redensart.«

Ralph legte die Hand auf ihre, bevor sie den Hörer abnehmen konnte. »Geh zu deinem Kartenspiel, Lois.«

»Wirklich?« Sie sah zweifelnd und ein wenig enttäuscht aus.

»Ja.« Er hatte immer noch keine Ahnung, was hier vor sich ging, aber er spürte, daß sich das ändern würde. Lois hatte gesagt, sie würde einen Druck verspüren, aber Ralph kam es vor, als würde er getragen werden, so wie ein Fluß einen Mann in einem kleinen Boot trägt. Aber er konnte nicht sehen, wohin er unterwegs war; dichter Nebel verbarg die Ufer, und während die Strömung schneller wurde, konnte er weiter vorne das Tosen von Stromschnellen hören.

Aber da sind Umrisse, Ralph. Umrisse im Nebel.

Ja. Aber keine besonders beruhigenden. Möglicherweise waren es Bäume, die nur wie greifende Hände aussahen... aber andererseits konnten es auch zupackende Hände sein, die sich als Bäume tarnten. Bis Ralph wußte, was nun der Fall war, beruhigte ihn der Gedanke, Lois würde nicht in der Stadt sein. Er hatte eine Eingebung - vielleicht auch nur eine Hoffnung, die sich als Eingebung verkleidete -, daß Doc Nr. 3 ihr nicht nach Ludlow folgen konnte, daß er nicht einmal imstande war, ihr durch die Barrens zur East Side zu folgen.

Das kannst du nicht wissen, Ralph.

Vielleicht nicht, aber es schien zu stimmen, und er war immer noch überzeugt, daß Fühlen und Wissen in der heimlichen Stadt der Auren weitgehend identisch waren. Eines wußte er mit Sicherheit, daß Doc Nr. 3 Lois' Ballonschnur noch nicht durchgeschnitten hatte; das hatte Ralph selbst gesehen, zusammen mit dem erfreulich gesunden grauen Leuchten ihrer Aura. Aber Ralph wurde die wachsende Gewißheit nicht los, daß Doc Nr. 3 - der Irre Doc - die Absicht hatte, sie durchzuschneiden, und daß, so lebendig Rosalie auch ausgesehen haben mochte, als sie aus dem Strawford Park getrottet war, das Durchtrennen dieser Schnur ein mörderischer Akt gewesen war.

Sagen wir einmal, du hast recht, Ralph; nehmen wir an, er kann ihr heute nachmittag nichts tun, wenn sie drüben in Ludlow Karten spielt. Was ist mit heute abend? Morgen? Nächste Woche? Wie sieht die Lösung aus? Soll sie ihren Sohn und das Biest von einer Schwiegertochter anrufen und ihnen sagen, sie hat es sich überlegt, sie möchte doch nach Riverview Estates ziehen?

Er wußte es nicht. Aber er wußte, er brauchte Zeit zum Nachdenken, und er wußte auch, konstruktives Denken würde ihm schwerfallen, wenn er keine Gewißheit hatte, daß Lois zumindest vorläufig in Sicherheit sein würde.

»Ralph? Du bekommst wieder diesen schmudigen Ausdruck.«

»Was für einen Ausdruck?«

»Schmudig.« Sie warf das Haar anmutig zurück. »Das ist ein Wort, das ich erfunden habe, um zu beschreiben, wie Mr. Chasse aussah, wenn er so tat, als würde er mir zuhören, in Wirklichkeit aber an seine Münzsammlung gedacht hat. Ich erkenne einen schmudigen Gesichtsausdruck, wenn ich einen sehe, Ralph. Woran hast du gedacht?«

»Ich habe mich gefragt, wann du von deinem Kartenspiel zurückkehren würdest.«

»Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Ob wir noch auf ein Schokofrappe bei Tubby's einkehren oder nicht.« Sie sagte es mit der Miene einer Frau, die ein heimliches Laster gesteht.

»Angenommen ihr kommt gleich zurück.«

»Sieben Uhr. Vielleicht halb acht.« »Ruf mich an, sobald du zu Hause bist. Würdest du das tun?«

»Ja. Du möchtest, daß ich de Stadt verlasse, richtig? Das hat dieser schmudige Ausdruck in Wirklichkeit bedeutet.«

»Nun... «

»Du glaubst, daß mir dieses häßliche kahlköpfige Ding etwas tun will, richtig?«

»Ich halte es für möglich.«

»Es könnte dir auch etwas tun!«

»Ja, aber... «

Aber soweit ich es beurteilen kann, trägt es keines von meinen modischen Accessoires.

»Aber was?«

»Mir wird nichts zustoßen, bis du zurück bist, das ist alles.« Er erinnerte sich an ihre abfällige Bemerkung über moderne Männer, die einander umarmten und plärrten, und bemühte sich um ein gebieterisches Stirnrunzeln. »Geh Kartenspielen und überlaß diese Sache mir, zumindest vorerst. Das ist ein Befehl.«

Carolyn hätte entweder gelacht oder wäre wütend über dieses komische Macho-Gehabe geworden. Lois, die einer völlig anderen Schule weiblichen Denkens angehörte, nickte nur und schien dankbar zu sein, daß ihr die Entscheidung aus den Händen genommen worden war. »Also gut.« Sie drückte sein Kinn nach unten, damit sie ihm direkt in die Augen sehen konnte. »Weißt du, was du tust, Ralph?«

»Nee. Jedenfalls noch nicht.«

»Nun gut. Solange du es wenigstens zugibst.« Sie legte ihm eine Hand auf den Unterarm und hauchte ihm mit geöffneten Lippen einen sanften Kuß auf den Mundwinkel. Ralph verspürte ein höchst willkommenes warmes Prickeln in den Lenden. »Ich fahre nach Ludlow und gewinne fünf Dollar von diesen albernen Frauen, die immer versuchen, ihren Straight vollzubekommen. Heute abend reden wir darüber, was wir als nächstes tun wollen. Okay?«

»Ja.«

Ihr zaghaftes Lächeln - mehr mit den Augen als mit dem Mund -deutete an, daß sie ein wenig mehr tun könnten als nur reden, wenn Ralph tollkühn genug wäre... und in diesem Augenblick fühlte er sich wahrhaftig tollkühn. Nicht einmal der strenge Blick von Mr. Chasse auf dem Fernseher konnte an diesem Gefühl etwas ändern.

Kapitel 14

Es war Viertel nach vier, als Ralph die Straße überquerte und die kurze Strecke bergauf zu seinem Haus ging. Erneut überkam ihn Müdigkeit; er fühlte sich, als wäre er seit ungefähr drei Jahrhunderten wach. Gleichzeitig aber fühlte er sich so gut wie seit Carolyns Tod nicht mehr. Mehr beieinander. Mehr er selbst.

Vielleicht möchtest du das auch nur glauben? Daß ein Mensch sich nicht so elend fiihlen kann, ohne eine Art positive Wiedergutmachung? Das ist eine schöne Vorstellung, Ralph, aber wahrscheinlich nicht besonders realistisch.

Na gut, dachte er, vielleicht bin ich im Moment ein bißchen verwirrt.

Das war er in der Tat. Außerdem ängstlich, aufgekratzt, desorientiert und ein klein wenig geil. Doch eines drang ganz deutlich durch diesen Wirrwarr der Gefühle, das er erledigen mußte, bevor er etwas anderes tun konnte: Er mußte sich mit Bill versöhnen. Falls dazu eine Entschuldigung erforderlich war, das würde er über sich bringen. Vielleicht war eine Entschuldigung sogar in Ordnung. Schließlich war Bill nicht zu ihm gekommen und hatte gesagt: »Herrje, alter Freund, du siehst schrecklich aus, erzähl mir alles.« Nein, er war zu Bill gegangen. Er hatte es mit Zweifeln getan, aber das änderte nichts an der Tatsache, und -

O Ralph, herrje, was soll ich nur mit dir machen? Es war Carolyns amüsierte Stimme, die so deutlich zu ihm sprach wie in den Wochen nach ihrem Tod, als er seinen größten Kummer verarbeitet hatte, indem er im Geiste mit ihr sprach... und manchmal laut, wenn er allein im Apartment war. Bill war derjenige, der sich vergessen hat, nicht du. Wie ich sehe, bist du immer noch so fest entschlossen, hart zu dir selbst zu sein, wie zu meinen Lebzeiten. Ich schätze, manches ändert sich nie.

Ralph lächelte schwach. Ja, okay, möglicherweise änderte sich manches wirklich nie, und möglicherweise war der Streit wirklich mehr Bills Schuld als seine eigene gewesen. Die Frage war nur, wollte er sich wegen eines albernen Streits und einer Menge gespreizten Bödsinns, wer nun recht hatte und wer nicht, Bills Freundschaft verscherzen? Ralph glaubte es nicht, und wenn eine Entschuldigung erforderlich wäre, die Bill eigentlich gar nicht verdiente, was war so schlimm daran? Seines Wissens war noch niemand an den drei Silben Tut mir leid gestorben.

Die Carolyn in seinem Kopf reagierte auf diesen Gedanken mit wortloser Fassungslosigkeit.

Vergiß es, sagte er zu ihr, als er den Fußweg zum Haus entlangging. Ich tue das für mich, nicht für ihn. Oder für dich, da wir schon dabei sind.

Er stellte amüsiert und erstaunt fest, wie schuldig er sich bei diesem letzten Gedanken fühlte - fast als hätte er ein Sakrileg begangen. Aber deswegen war der Gedanke nicht weniger zutreffend.

Er kramte gerade in der Tasche nach dem Schlüssel, als er den Zettel sah, der an der Tür f estgetackert war. Ralph tastete nach seiner Lesebrille, aber die hatte er oben auf dem Küchentisch liegenlassen. Er beugte sich nach vorne und kniff die Augen zusammen, damit er Bills nervtötend kleine, schräge Handschrift lesen konnte:

Liebe(r) Ralph/Lois/Faye/ wer auch immer,

ich gehe davon aus, daß ich den größten Teil des Tages im Derry Home verbringen werde. Bob Polhursts Nichte hat angerufen und mir gesagt, daß es diesmal mit ziemlicher Sicherheit ernst wird; das Leiden des armen Mannes ist fast vorbei. Zimmer 2 in der Intensivstation des Derry Home ist so ziemlich der letzte Ort auf der Welt, wo ich an einem so schönen Oktobertag sein möchte, aber ich finde, ich sollte bis zum Ende bei ihm sein.

Ralph, es tut mir leid, daß ich Dich heute morgen so vor den Kopf gestoßen habe. Du bist zu mir gekommen, weil Du Hilfe wolltest, und ich hätte Dir fast die Augen ausgekratzt. Ich kann als Entschuldigung nur sagen, daß ich wegen der Sache mit Bob völlig mit den Nerven runter bin. Okay? Ich glaube, ich schulde Dir ein Abendessen... das heißt, wenn du noch mit jemandem wie mir zusammen essen willst.

Faye, bitte, bitte, BITTE hör auf, mich wegen Deinem verfluchten Schachturnier zu nerven. Ich habe Dir versprochen, daß ich spielen werde, und ich halte meine Versprechen.

Lebwohl, grausame Welt

Ralph richtete sich mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Erleichterung auf. Wenn sich nur alles, was ihm in letzter Zeit widerfahren war, so leicht aus der Welt schaffen ließe wie das hier!

Er ging nach oben, schüttelte den Teekessel und füllte ihn gerade an der Spüle, als das Telefon läutete. Es war John Leydecker. »Mann, bin ich froh, daß ich Sie endlich erwischt habe«, sagte er. »Ich hatte mir schon langsam Sorgen gemacht, alter Freund.«

»Warum?« fragte Ralph. »Was ist denn los?« »Vielleicht nichts, vielleicht doch etwas. Charlie Pickering ist nun doch auf Kaution freigekommen.« »Sie haben mir gesagt, das würde nicht passieren.« »Ich habe mich geirrt, okay?« sagte Leydecker hörbar gereizt. »Und nicht nur in der Beziehung habe ich mich geirrt. Ich habe Ihnen gesagt, der Richter würde die Kaution wahrscheinlich so bei vierzigtausend Dollar festsetzen, wußte aber nicht, daß Pickering Richter Steadman vorgeführt werden würde, der behauptet, daß er nicht einmal an so etwas wie Irrsinn glaubt. Steadman hat die Kaution auf achtzig Riesen festgesetzt. Pickerings Pflichtverteidiger hat geheult wie ein Hund bei Vollmond, aber das konnte nichts ändern.« Ralph sah nach unten und stellte fest, daß er den Teekessel immer noch in der Hand hielt. Er stellte ihn auf den Tisch. »Und trotzdem ist er auf Kaution raus?«

»Jawoll. Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen gesagt habe, Ed würde ihn fallenlassen wie eine heiße Kartoffel?«

»Ja.«

»Nun, das können Sie wieder als Fehlwurf für John Leydecker werten. Ed ist heute vormittag um elf Uhr mit einem Aktenkoffer voll Geld ins Büro der Justizkasse spaziert.«

»Achttausend Dollar?« fragte Ralph.

»Ich sagte Aktenkoffer, nicht Briefumschlag«, antwortete Leydecker. »Nicht acht, sondern achtzig. Im Gerichtsgebäude sind sie immer noch ganz aus dem Häuschen. Verdammt, sie werden noch aus dem Häuschen sein, wenn der Weihnachtsschmuck abgehängt wird.«

Ralph versuchte, sich Ed Deepneau in seinen weiten alten Pullovern und einem Paar zerschlissener Kordjeans vorzustellen- Eds »Verrückter-Wissenschaftler-Kostüm«, hatte Carolyn immer gesagt -, wie er gebündelte Stapel Zwanziger und Fünfziger aus dem Aktenkoffer zog, konnte es aber nicht. »Hatten Sie nicht gesagt, daß zehn Prozent ausreichen, um freizukommen?«

»So ist es, wenn man etwas Wertvolles hinterlegen kann ein Haus oder irgendwas anderes, das einem gehört, zum Beispiel -, das in etwa die Gesamtsumme abdeckt. Offenbar konnte Ed das nicht, aber er hatte etwas Erspartes für schlechte Zeiten unter der Matratze. Oder er hat dem Weihnachtsmann verdammt gut einen geblasen.«

Ralph mußte an den Brief denken, den er von Helen bekommen hatte, als sie gerade eine Woche aus dem Krankenhaus entlassen und nach High Ridge gezogen war. Sie erwähnte, daß sie einen Scheck von Ed bekommen hatte -siebenhundertundfünfzig Dollar. Anscheinend ist er sich seiner Verantwortung bewußt, hatte.sie geschrieben. Ralph fragte sich, ob Helen immer noch so denken würde, wenn sie wüßte, daß Ed mit einer Summe ins Gerichtsgebäude von Derry spaziert war, die ausgereicht hätte, seine Tochter durch die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens zu bringer... damit er einen Wahnsinnigen freibekommen konnte, der gern mit Messern und Molotowcocktails spielte.

»Woher, in Gottes Namen, hat er es?« fragte er Leydecker. »Keine Ahnung.«

»Und er muß es auch nicht sagen?«

»Nee. Wir leben in einem freien Land. Soweit ich weiß, hat er gesagt, er hätte ein paar Aktien zu Geld gemacht.«

Ralph dachte an die alten Zeiten zurück - die guten alten Zeiten, bevor Carolyn krank geworden und gestorben und Ed nur krank geworden war. Er dachte an die gemeinsamen Mahlzeiten, die sie etwa alle zwei Wochen einmal zu viert eingenommen hatten, Pizza zum Mitnehmen bei den Deepneaus oder auch Carols Hühnerterrine in der Küche der Roberts', und er erinnerte sich, wie Ed einmal versprochen hatte, er würde sie alle zu Prime Ribs ins Red Lion in Bangor einladen, wenn seine Aktien Dividenden abwarfen. Ganz recht, hatte Helen geantwortet und Ed verliebt angesehen. Damals war sie schwanger gewesen, was man ihr gerade erst ansah, und mit dem zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebundenen Haar und dem Umstandskleid, das immer noch Nummern zu groß für sie gewesen war, hatte sie wie vierzehn ausgesehen. Was meinst du, welche zuerst Dividende bringen? Die zweitausend Anteile von United Fußschmerz oder die sechstausend Vereinigte Sauertopfe? Und er hatte sie angeknurrt, ein Knurren, bei dem sie alle lachen mußten, weil Ed Deepneau kein bißchen Gemeinheit in sich hatte; wer Ed länger als vierzehn Tage kannte, der wußte, daß er keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Aber Helen hatte es vielleicht ein bißchen besser gewußt schon damals hatte sie es vielleicht ein bißchen besser gewußt, verliebter Blick hin oder her.

»Ralph?« fragte Leydecker. »Sind Sie noch da?«

»Ed hatte keine Aktien«, sagte Ralph. »Er war Chemiker, um Himmels willen, und sein Vater besaß eine Flaschenfabrik ausgerechnet in Plaster Rock, Pennsylvania. Da war kein Geld zu holen.«

»Nun, irgendwoher hat er es bekommen, und ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, daß mir das gefällt.«

»Was meinen Sie, von den Friends of Life?«

»Glaube ich nicht. Zuerst einmal haben wir es da nicht mit reichen Leuten zu tun - die meisten Mitglieder der Friends sind Arbeiter, working class heroes, Helden der Arbeiterklasse. Sie würden geben, was sie können, aber soviel? Nein. Ich nehme an, zusammen hätten sie genügend Grundbesitz aufbringen können, um Pickering rauszuholen, aber das haben sie nicht getan. Und die meisten hätten abgelehnt, selbst wenn Ed gefragt hätte. Ed ist so eine Art persona non grata bei ihnen, und ich könnte mir denken, die wünschen sich, sie hätten nie von Pickering gehört. Dan Dalton hat wieder die Führung der Friends of Life übernommen, was für den überwiegenden Teil eine große Erleichterung ist. Ed und Charlie und zwei andere -ein Mann namens Frank Feiton und eine Frau namens Sandra McKay - scheinen inzwischen weitgehend auf eigene Faust zu handeln. Über Feiton weiß ich nichts, und es existiert keine Akte über ihn, aber die McKay hat einige derselben feinen Etablissements besucht wie Charlie. Und sie ist nicht zu übersehen - blasser Teint, schlimme Akne, so dicke Brillengläser, daß ihre Augen wie pochierte Eier aussehen, und sie bringt rund hundertvierzig Kilo auf die Waage.«

»Ist das ein Witz?«

»Nein. Sie trägt vorzugsweise Stretchhosen aus dem K-Mart und befindet sich normalerweise in Gesellschaft von Schokoriegeln, Schokoplätzchen und Zuckerbonbons. Häufig trägt sie weite T-Shirts, auf denen BABY FACTORY steht. Behauptet, sie habe fünfzehn Kinder geboren. Aber sie hat nie eins gehabt und kann möglicherweise gar keine bekommen.«

»Warum erzählen Sie mir das alles?«

»Weil ich möchte, daß Sie vor diesen Leuten auf der Hut sind«, sagte Leydecker. Er sagte es geduldig, wie zu einem Kind. »Sie könnten gefährlich sein. Charlie ist es mit Sicherheit, das brauche ich Ihnen nicht zu erzählen, und Charlie ist raus. Woher Ed das Geld bekommen hat, um ihn rauszuholen, ist zweitrangig - er hat es, darauf kommt es an. Es würde mich nicht überraschen, wenn er es wieder bei Ihnen versuchen würde. Er oder Ed, oder einer von den anderen.«

»Was ist mit Helen und Natalie?«

»Die sind bei ihren Freunden - Freunden, die bestens über die Bedrohung von Seiten durchgedrehter Ehemänner Bescheid wissen. Ich habe Mike Hanion informiert, und der wird auch auf sie aufpassen. Die Bibliothek wird von unseren Männern überwacht. Wir glauben nicht, daß Helen momentan in echter Gefahr schwebt - sie lebt in High Ridge -, aber wir tun, was wir können.«

»Danke, John. Ich danke Ihnen dafür, und ich danke Ihnen für den Anruf.«

»Freut mich, aber ich bin noch nicht ganz fertig. Sie dürfen nicht vergessen, wen Ed angerufen und wen er bedroht hat, mein Freund - nicht Helen, sondern Sie. Sie scheint ihm nicht mehr besonders viel zu bedeuten, aber Sie gehen ihm nicht aus dem Kopf, Ralph. Ich habe Chief Johnson gefragt, ob ich einen Mann - Chris Nell wäre meine Wahl gewesen - abstellen könnte, um Sie im Auge zu behalten, jedenfalls bis die Schnalle von Woman-Care hier war und wieder fort ist. Er hat abgelehnt. Er sagte, diese Woche sei zuviel los... aber wie es mir gesagt wurde, deutet darauf hin, daß Sie einen Aufpasser bekommen würden, wenn Sie persönlich darum bitten würden. Also, was meinen Sie?«

Polizeischutz, dachte Ralph. So nennen sie es in den Krimiserien im Fernsehen, und davon spricht er - Polizeischutz.

Er versuchte, darüber nachzudenken, aber zuviel anderes ging ihm durch den Kopf; die Gedanken tanzten herum wie umheimliche Bonbons. Hüte, Ärzte, Kittel, Spraydosen. Ganz zu schweigen von Messern, Skalpellen und einer Schere, die er durch die staubigen Gläser seines alten Fernglases gesehen hatte. Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann, dachte Ralph, und unmittelbar darauf: Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebling, also reg dich nicht wegen Kleinigkeiten auf.

»Nein«, sagte er.

»Was?«

Ralph machte die Augen zu und sah, wie er genau diesen Telefonhörer abnahm und seinen Termin beim Nadelpiekser absagte. Das hier war wieder genau dasselbe, oder nicht? Ja.

Er konnte Polizeischutz vor den Pickerings und McKays und Feitons bekommen, aber so sollte es nicht laufen. Das wußte er; er spürte es mit jedem Schlag seines Herzens und jedem Pulsieren seines Blutes.

»Sie haben richtig gehört«, sagte er. »Ich möchte keinen Polizeischutz.«

»Um Gottes willen, warum nicht?«

»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte Ralph und verzog ein wenig das Gesicht, so absurd überheblich hörte sich das Klischee an, das er schon in zahllosen Western mit John Wayne gehört hatte.

»Ralph, ich bin nicht gern der Überbringer schlechter Nachrichten, aber Sie sind alt. Am Sonntag haben Sie Glück gehabt. Nächstesmal haben Sie vielleicht keins mehr.«

Ich habe nicht nur Glück gehabt, dachte Ralph. Ich habe Freunde an höchster Stelle. Oder vielleicht sollte ich sagen, Wesenheiten an höchster Stelle.

»Mir passiert schon nichts«, sagte er.

Leydecker seufzte. »Werden Sie mich anrufen, wenn Sie es sich anders überlegen?«

»Ja.«

»Und wenn Sie entweder Pickering oder die große Frau mit der dicken Brille und dem strähnigen Haar herumhängen sehen -«

»Rufe ich Sie an.«

»Ralph, bitte überlegen Sie es sich noch mal. Ich spreche nur von einem Mann, der ein Stück von Ihrem Haus entfernt im Auto sitzt.«

»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, sagte Ralph.

»Hm?«

»Ich sagte, ich danke Ihnen. Trotzdem nein. Sie hören wieder von mir.«

Ralph legte den Hörer behutsam auf. Wahrscheinlich hatte John recht, überlegte er sich, wahrscheinlich war er verrückt, aber er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so normal gefühlt.

»Müde«, sagte er seiner sonnigen, einsamen Küche, »aber normal.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und fast wieder verliebt.«

Dabei mußte er grinsen, und er grinste immer noch, als er schließlich den Teekessel auf den Herd stellte.

Er trank die zweite Tasse Tee, als ihm einfiel, daß Bill in der Nachricht etwas von einem Essen gesagt hatte. Er beschloß impulsiv, Bill zu bitten, sich mit ihm zu einem kleinen Abendessen im Day Break, Sun Down zu treffen. Sie konnten noch einmal von vorne anfangen.

Ich glaube, wir müssen noch mal von vorne anfangen, dachte er, denn dieser kleine Irre hat Bills Hut, und ich bin ziemlich sicher, das bedeutet, daß er in Gefahr ist.

Nun, es geht nichts über die Gegenwart. Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer, die er sich jederzeit merken konnte: 941-5000. Die Nummer des Derry Home Hospital.

Die Telefonistin des Krankenhauses verband ihn mit Zimmer 213. Die eindeutig erschöpfte Frau, die den Hörer abnahm, war Denise Polhurst, die Nichte des sterbenden Mannes. Bill war nicht da, informierte sie ihn. Vier andere Lehrer aus den, wie sie sich ausdrückte, »ruhmreichen Tagen von Onkelchen« waren gegen eins vorbeigekommen, und Bill hatte vorgeschlagen, daß sie gemeinsam zu Mittag essen sollten. Ralph wußte sogar, wie es sein Untermieter formuliert haben würde: Besser spät als nie. Das war einer seiner Lieblingssprüche. Als Ralph sie fragte, ob sie ihnbald zurückerwartete, antwortete Denise Polhurst mit ja.

»Er war so aufmerksam. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn gemacht hätte, Mr. Robbins.«

»Roberts«, sagte er. »Nach Bills Worten muß Mr. Polhurst ein wunderbarer Mensch gewesen sein.«

»Ja, der Meinung sind alle. Aber die Rechnungen werden selbstverständlich nicht an seinen Fandub gehen, oder?«

»Nein«, sagte Ralph unbehaglich. »Wahrscheinlich nicht. In Bills Nachricht stand, daß es Ihrem Onkel sehr schlecht geht.«

»Ja. Die Ärzte sagen, er wird den Tag wahrscheinlich nicht überstehen, geschweige denn die Nacht, aber das habe ich schon einmal gehört. Gott möge mir verzeihen, aber manchmal kommt mir Onkel Bob wie eine dieser Anzeigen von Publisher's Clearing House vor - große Versprechungen und nichts dahinter. Ich nehme an, das hört sich schrecklich an, aber ich bin so müde, daß es mir egal ist. Heute morgen haben sie den Lebenserhaltungskram abgeschaltet - ich hätte die Verantwortung nicht auf mich alleine genommen, aber ich habe Bob angerufen, und er hat gesagt, das wäre bestimmt auch der Wunsch meines Onkels. >Es wird Zeit, daß Bob die nächste Welt erforscht sagte er. >Diese hier hat er schon zur Genüge kartographiert.< Ist das nicht poetisch, Mr. Robbins?«

»Doch. Und ich heiße Roberts, Ms. Polhurst. Würden Sie Bill bitte sagen, daß Ralph Roberts angerufen hat und ihn bittet zurückzu -«

»Also haben wir den Kram abgeschaltet, und ich war bereit -gewappnet, könnte man wohl sagen -, aber er ist nicht gestorben. Das verstehe ich nicht. Er ist bereit, ich bin bereit, sein Lebenswerk ist vollbracht... also warum stirbt er nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Der Tod ist ziemlich blöd«, sagte sie mit der quengelnden und unschönen Stimme, wie sie nur die sehr Müden und Schwermütigen zustande bringen. »Ein Geburtshelfer, der einem Baby so langsam die Nabelschnur durchschneidet, würde wegen Unfähigkeit gefeuert werden.«

Neuerdings schweiften Ralphs Gedanken gerne ab, aber diesmal wurde er ruckartig zurückgeholt. »Was haben Sie gesagt?«

»Pardon?« Sie klang verblüfft, als wären ihre eigenen Gedanken abgeschweift.

»Sie haben etwas gesagt, von wegen die Schnur durchschneiden.«

»Das hatte nichts zu bedeuten«, sagte sie. Der quengelnde Tonfall war stärker geworden... aber er war nicht quengelnd, wurde Ralph jetzt klar, er war winselnd, und er war ängstlich. Da stimmte etwas nicht. Sein Herz schlug plötzlich schneller. »Es hatte überhaupt nichts zu bedeuten«, beharrte sie, und plötzlich nahm der Telefonhörer in Ralphs Hand eine tiefe und bedrohliche Blaufärbung an.

Sie hat daran gedacht, ob sie ihn töten soll, und zwar nicht nur so - sie hat tatsächlich daran gedacht, ihm ein Kissen aufs Gesicht zu drücken und ihn damit zu ersticken. »Es würde nicht lange dauern«, denkt sie. »Ein Gnadenakt«, denkt sie. »Endlich überstanden«, denkt sie.

Ralph hielt den Hörer vom Ohr weg. Blaues Licht, kalt wie der Februarhimmel, drang in dünnen Strahlen aus der Hörmuschel.

Mord ist blau, dachte Ralph, hielt den Hörer auf Armeslänge von sich und sah, von ungläubiger Fassungslosigkeit erfüllt, wie die blauen Strahlen sich krümmten und zu Boden tropften. Er konnte ganz leise die quengelnde, ängstliche Stimme von Denise Polhurst hören. Das ist etwas, was ich nie wissen wollte, aber ich schätze, nun weiß ich es doch: Mord ist blau.

Er hielt den Apparat wieder an den Mund, aber so, daß die obere Hälfte mit der Last der eisblauen Aura von seinem Kopf wegzeigte. Er hatte Angst, wenn er den Hörer zu nahe ans Ohr hielt, würde sie ihn mit ihrer kalten und erbosten Verzweiflung taub machen.

»Sagen Sie Bill, daß Ralph angerufen hat«, sagte er. »Roberts, nicht Robbins.« Er legte auf, ohne auf ihre Antwort zu warten. Die blauen Strahlen am Hörer brachen ab und fielen torkelnd zu Boden. Ralph mußte wieder an Eiszapfen denken; diesmal, wie sie ordentlich in einer Reihe herunterfielen, wenn man nach einem warmen Wintertag mit dem Fäustling an der Unterseite eines Simses entlangstrich. Sie lösten sich auf, bevor sie auf dem Linoleum landeten. Er sah sich um. Nichts in dem Raum leuchtete, flackerte oder vibrierte. Die Auren waren wieder fort. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, und dann hatte draußen auf der Harris Avenue ein Auto eine Fehlzündung.

In dem einsamen Apartment im ersten Stock stieß Ralph Roberts einen Schrei aus.

Er wollte keinen Tee mehr, hatte aber immer noch Durst. Er fand eine halbe Flasche Pepsi Light - abgestanden, aber außen beschlagen - hinten im Kühlschrank, goß es in einen Plastikbecher mit dem verblaßten Symbol des Red Apple und nahm es mit nach draußen. Er ertrug es nicht mehr, in dem Apartment zu sein, das nach unglücklichem Wachsein zu riechen schien. Besonders nicht nach dem Zwischenfall mit dem Telefon.

Der Tag war, sofern dies überhaupt möglich war, noch schöner geworden; ein starker, milder Wind war aufgekommen, rollte Bänder aus Licht und Schatten über das westliche Derry und kämmte das Laub von den Bäumen. Der Wind wehte es wie orangefarbene, rote und gelbe heulende Derwische über die Bürgersteige.

Ralph wandte sich nach links, aber nicht, weil er den Wunsch verspürte, das Picknickgelände beim Flughafen wiederzusehen, sondern weil er den Wind im Rücken haben wollte. Dennoch betrat er zehn Minuten später wieder die kleine Lichtung. Diesmal fand er sie verlassen vor, was ihn nicht überraschte. Der Wind, der aufgekommen war, war keineswegs schneidend, so daß alte Männer und Frauen hätten aufspringen und in den Häusern Schutz suchen müssen, aber es war Schwerstarbeit, Karten auf den Tischen oder Spielfiguren auf dem Schachbrett zu halten, wenn der übermütige Wind versuchte, sie fortzuwehen. Als Ralph sich dem kleinen Tisch näherte, wo Faye Chapin für gewöhnlich Hof hielt, überraschte ihn auch nicht, daß er einen Zettel unter einem Stein vorfand, und er hatte eine deutliche Vorstellung davon, worum es gehen würde, noch bevor er den Plastikbecher aus dem Red Apple wegstellte und den Zettel aufhob.

Zwei Spaziergänge; zweimal den kahlköpfigen Arzt mit dem Skalpell gesehen; zwei alte Leute, die an Schlaflosigkeit leiden und bunte Farben sehen; zwei Zettel. Als würde Noah die Tiere auf die Arche führen, nicht einzeln, sondern in Paaren... und wird wieder harter radioaktiver Regen fallen? Was meinst du, alter Mann?

Er wußte nicht genau, was er meinte... aber Bills Zettel war eine Art in Entstehung befindlicher Nachruf gewesen, und er hatte keinen Zweifel, daß der von Faye dasselbe sein würde. Das Gefühl, als würde er mühelos und ohne Zögern vorwärts getragen werden, war so stark, daß er es nicht in Zweifel ziehen konnte; es war, als würde man auf einer unbekannten Bühne erwachen und Dialogzeilen in einem Schauspiel sprechen (oder besser gesagt, stottern), an dessen Probe man sich nicht erinnern konnte, als würde man einen Zusammenhang in etwas erkennen, das bislang wie völliger Unsinn ausgesehen hatte, oder entdecken...

Was entdecken?

»Eine heimliche Stadt, genau das«, murmelte er. »Das Derry der Auren.« Dann beugte er sich über Fayes Zettel und las ihn, während der Wind schalkhaft mit seinem schütteren Haar spielte.

Wer Jimmy Vandermeer die letzte Ehre erweisen möchte, sollte es bis spätestens morgen tun. Pater Coughlin kam heute mittag vorbei, als ich die Aufstellungfür das Schachturnier durchsah, und erzählte mir, daß sich der Zustand des armen Kerls zusehends verschlechtert. Aber er KANN Besucher empfangen. Er liegt auf der Intensivstation des Derry Home, Zim-

P.S. Vergeßt nicht, die Zeit wird knapp. 414

Ralph las den Zettel zweimal, legte ihn mit dem Stein darauf wieder auf den Tisch, damit ihn der nächste Altvordere lesen konnte, der hierher kam, dann blieb er einfach mit den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf stehen und betrachtete Startbahn 3 unter seinen buschigen Brauen hervor. Ein trockenes Blatt, orangefarben wie die Halloweenkürbisse, die bald die Straßen schmücken würden, kam aus dem tiefblauen Himmel heruntergeschwebt und landete in seinem schütteren Haar. Ralph wischte es zerstreut weg und dachte an zwei Zimmer auf der Intensivstation, zwei Zimmer nebeneinander. Bob Polhurst in einem, Jimmy V. im anderen. Und das nächste Zimmer in diesem Flur? Das war 217, das Zimmer, in dem seine Frau gestorben war.

»Das ist kein Zufall«, sagte er leise. »Nichts von alledem ist Zufall.«

Aber was war es? Umrisse im Nebel? Eine heimliche Stadt? Beides waren bedeutungsschwangere Ausdrücke, beide, aber sie beantworteten keine Fragen.

Ralph setzte sich auf den Picknicktisch neben dem, auf dem Faye seine Nachricht hinterlassen hatte, zog die Schuhe aus und schlug die Beine übereinander. Der böige Wind zerzauste ihm das Haar. Er saß zwischen den fallenden Blättern, hielt den Kopf leicht gesenkt und hatte die Stirn nachdenklich gerunzelt. Er sah wie eine Winslow-Homer-Version des meditierenden Buddha mit den Händen auf den Knien aus, während er gründlich über seine Eindrücke von Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 nachdachte... und sie dann mit denen verglich, die er von Doc Nr. 3 gewonnen hatte.

Erster Eindruck: Alle drei Docs hatten ihn an die Außerirdischen in Sensationsblättern wie Inside View und an Bilder erinnert, die stets die Legende »Vorstellung des Künstlers« trugen. Ralph wußte, daß diese Bilder geheimnisvoller kahlköpfiger, dunkeläugiger Besucher viele Jahre zurückreichten; schon seit langer Zeit berichteten Menschen von Begegnungen mit kleinwüchsigen Kahlköpfen - den sogenannten »kleinen Ärzten« -, möglicherweise schon so lange, wie von UFOSichtungen berichtet wurde. Er war ziemlich sicher, daß er mindestens einen derartigen Bericht schon in den sechziger Jahren gelesen hatte.

»Okay, also sind einige von diesen Burschen unterwegs«, sagte Ralph zu einem Sperling, der sich auf einem der Abfalleimer des Picknickplatzes niedergelassen hatte. »Nicht nur drei Docs, sondern dreihundert. Oder dreitausend. Lois und ich sind nicht die einzigen, die sie gesehen haben. Und...«

Und sprachen die meisten Leute, die solche Begegnungen schilderten, nicht auch von scharfen Gegenständen?

Ja, aber nicht von Scheren oder Skalpellen - jedenfalls glaubte Ralph das nicht. Die meisten Leute, die behaupteten, von den kleinen kahlköpfigen Ärzten entführt worden zu sein, sprachen von Sonden, oder nicht?

Der Sperling flog weg. Ralph bemerkte es nicht. Er dachte an die kleinen kahlköpfigen Ärzte, die May Locher in der Nacht ihres Todes besucht hatten. Was wußte er sonst noch von ihnen? Was hatte er noch gesehen? Sie waren in weiße Kittel gekleidet, wie sie Ärzte in Fernsehserien der fünfziger und sechziger Jahre getragen hatten und Apotheker sie heute noch trugen. Aber ihre Kittel waren, im Gegensatz zu dem von Doc Nr. 3, sauber gewesen. 3 hatte ein rostiges Skalpell gehabt; wenn die Schere in der rechten Hand von Doc Nr. 1 rostig gewesen war, hatte Ralph es nicht bemerkt. Nicht einmal durch das Fernglas.

Noch etwas - wahrscheinlich nicht so wichtig, aber immerhin ist es dir aufgefallen. Der scherentragende Doc war Rechtshänder, jedenfalls der Art nach zu urteilen, wie er seine Waffe gehalten hat. Der skalpellschwingende Doc war Linkshänder.

Nein, wahrscheinlich nicht wichtig, aber etwas daran auch einer dieser Umrisse im Nebel, ein kleinerer - ließ ihm keine Ruhe. Etwas über die Dichotomie von links und rechts.

»Gehen Sie nach links, und Sie haben recht«, murmelte Ralph und wiederholte die Pointe eines Witzes, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. »Gehen Sie nach rechts, und man läßt Sie links liegen.«

Unwichtig. Was wußte er sonst noch über die Docs?

Nun, sie waren selbstverständlich von Auren umgeben gewesen - ziemlich hübschen grün-goldenen -, und sie hatten diese (Spuren des weißen Mannes)

Tanzdiagramme wie von Arthur Brown hinterlassen. Und ihre Züge waren ihm völlig anonym vorgekommen, aber die Auren hatten ein Gefühl von Macht vermittelt... und Aufrichtigkeit... und...

»Und Würde, gottverdammt«, sagte Ralph. Der Wind wehte wieder böig, noch mehr Blätter wurden von den Bäumen gewirbelt. Fünfzig Meter vom Picknickplatz, nicht weit von den alten Eisenbahnschienen entfernt, schien ein verkrümmter, halb entwurzelter Baum in Ralphs Richtung zu greifen und Zweige auszustrecken, die tatsächlich ein wenig wie zupackende Hände aussahen.

Plötzlich überlegte sich Ralph, daß er in jener Nacht eine ganze Menge gesehen hatte für einen alten Burschen, der sich angeblich an der Schwelle zum letzten Lebensabschnitt eines Menschen befand, den Shakespeare (und Bill McGovern) »den ausgerutschten Hanswurst« nannte. Und nichts - nicht die kleinste Einzelheit - deutete auf Gefahr oder böse Absicht hin. Daß Ralph etwas Böses unterstellt hatte, war nicht gerade überraschend. Sie waren körperlich mißgebildete Fremde; er hatte sie zu nachtschlafender Zeit aus dem Haus einer todkranken Frau kommen sehen, wo Besucher normalerweise nichts zu suchen hatten; er hatte sie, wenige Minuten nachdem er aus einem Alptraum von epischer Breite erwacht war, gesehen.

Aber jetzt, als er Revue passieren ließ, was er gesehen hatte, fielen ihm auch andere Einzelheiten ein. Zum Beispiel, wie sie auf Mrs. Lochers Veranda standen, als hätten sie ein Recht, dort zu sein; der Eindruck, den er gehabt hatte, als würden zwei alte Freunde noch ein kleines Schwätzchen halten, bevor sie ihres Weges gingen. Zwei Kumpel bei einer abschließenden Besprechung, bevor sie nach getaner Arbeit nach Hause gingen.

Das war dein Eindruck, ja, aber es ist nicht gesagt, daß du dich darauf verlassen kannst, Ralph.

Aber Ralph fand, er konnte sich darauf verlassen. Alte Freunde, langjährige Kollegen, deren Arbeit für die Nacht beendet war. May Locher war ihre letzte Anlaufstelle gewesen.

Nun gut, Doc Nr. 1 und 2 unterschieden sich vom dritten wie der Tag von der Nacht. Sie waren sauber, er war schmutzig, sie besaßen eine Aura, er dagegen keine (jedenfalls keine, die Ralph gesehen hätte), sie trugen Scheren, er ein Skalpell, sie wirkten so ernst und normal wie zwei geachtete Dorfälteste, während Nr. 3 so verrückt wie eine Scheißhausratte zu sein schien.

Aber eines ist vollkommen klar, oder nicht? Deine Spielkameraden sind übernatürliche Wesen, und abgesehen von Lois scheint der einzige andere Mensch, der von ihrer Anwesenheit weiß, Ed Deepneau zu sein. Wollen wir Wetten abschließen, wieviel Schlaf Ed in letzter Zeit bekommt?

»Nein«, sagte Ralph. Er hob die Hände von den Knien und hielt sie vor die Augen. Sie zitterten ein wenig. Ed hatte kahlköpfige Ärzte erwähnt, und sie waren kahlköpfige Ärzte. Hatte er auch von den Docs gesprochen, als er die Zenturionen erwähnt hatte? Ralph wußte es nicht. Er hoffte es fast, denn das Wort -Zenturionen - beschwor jedesmal, wenn es ihm einfiel, ein weitaus erschreckenderes Bild vor seinem inneren Auge: das der Ringgeister aus Tolkiens Fantasy-Trilogie. Gestalten mit Kapuzen auf skelettgleichen Pferden mit rotglühenden Augen, die sich auf die kleine Gruppe ängstlicher Hobbits vor dem Gasthaus zum Tänzelnden Pony in Bree stürzten.

Als er an Hobbits dachte, mußte er an Lois denken, und das Zittern seiner Hände wurde schlimmer.

Carolyn: Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebling, also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen.

Lois: In meiner Familie stirbt man jung, wenn man mit achtzig stirbt.

Joe Wyzer: Der Leichenbeschauer schreibt normalerweise Selbstmord in die Spalte Todesursache, und nicht Schlaflosigkeit.

Bill: Sein Fachgebiet war der Bürgerkrieg, und heute weiß er nicht einmal mehr, was ein Bürgerkrieg ist, geschweige denn, wer unseren gewonnen hat.

Denise Polhurst: Der Tod ist ziemlich blöd. Ein Geburtshelfer, der einem Baby so langsam die Nabelschnur durchschneidet...

Es war, als hätte plötzlich jemand einen grellen Scheinwerfer in seinem Kopf angezündet, und Ralph schrie in den sonnigen Herbsttag hinaus. Nicht einmal die Delta 727, de zur Landung auf Rollbahn 3 ansetzte, konnte diesen Schrei völlig übertönen.

Den Rest des Nachmittags verbrachte er damit, auf der Veranda des Hauses zu sitzen, das er sich mit McGovern teilte, und ungeduldig darauf zu warten, daß Lois von ihrem Kartenspiel zurückkam. Er hätte noch einmal versuchen können, McGovern im Krankenhaus zu erreichen, ließ es aber sein. Es bestand keine Notwendigkeit mehr, mit McGovern zu reden. Ralph verstand noch nicht alles, aber er verstand wesentlich mehr als vorher, und wenn an seiner plötzlichen Erleuchtung auf dem Picknickplatz irgend etwas dran war, hätte es absolut keinen Zweck, McGovern zu erzählen, was mit seinem Panama passiert war, selbst wenn Bill ihm geglaubt hätte.

Ich muß den Hut zurückholen, dachte Ralph. Und ich muß auch Lois' Ohrringe zurückbekommen.

Es war ein erstaunlicher später Nachmittag und früher Abend. Einerseits passierte gar nichts. Andererseits passierte alles. Die Welt der Auren kam und ging um ihn herum wie die majestätische Prozession der Wolkenschatten über der West Side. Ralph saß da und beobachtete alles gebannt, und er machte nur einmal eine Pause, um eine Kleinigkeit zu essen und aufs Klo zu gehen. Er sah die alte Mrs. Bennigan in ihrem hellroten Mantel auf der vorderen Veranda stehen, wo sie den Krückstock umklammert hielt und eine Bestandsaufnahme ihrer Herbstblumen machte. Er sah die Aura, die sie umgab - das geschrubbte und gesunde Rosa eines frischgebadeten Säuglings - und hoffte, sie würde nicht viele Verwandte haben, die nur darauf warteten, daß sie starb. Er sah einen jungen Mann um die Zwanzig, der auf der anderen Straßenseite zum Red Apple ging. In seinen verblichenen Jeans und der ärmellosen Jacke der Celtics strotzte er vor Gesundheit, aber Ralph konnte das Leichentuch sehen, das wie ein Ölfilm um ihn lag, und seine Ballonschnur, die vom Scheitel aufstieg und wie eine verrottete Vorhangkordel in einem Spukhaus aussah.

Er sah keine weiteren kahlköpfigen Ärzte, aber kurz nach halb sechs bemerkte er einen erstaunlichen purpurnen Lichtstrahl, der aus einem Kanaldeckel in der Mitte der Harris Avenue emporschoß; er ragte etwa drei Minuten himmelwärts wie ein Spezialeffekt in einem Bibelepos von Cecil B. DeMille, dann erlosch er einfach wieder. Außerdem sah Ralph einen großen Vogel, der wie ein prähistorischer Falke aussah, zwischen den Schornsteinen der alten Molkerei an der Ecke Howard Street schweben, und dazu abwechselnde rote und blaue Aufwinde, die wie lange, träge Bänder über dem Strawford Park flatterten.

Als das Fußballtraining der Grundschule Fairmount um Viertel vor sechs zu Ende war, kamen rund ein Dutzend Kinder auf den Parkplatz des Red Apple geströmt, wo sie tonnenweise Süßigkeiten vor dem Essen und Kartons voll Sammelkarten kaufen würden - um diese Jahreszeit Footballkarten, vermutete Ralph. Zwei blieben stehen und zankten sich wegen etwas, worauf ihre Auren, eine grün, die andere von einer vibrierenden orangeroten Farbe, intensiver wurden und sich zusammenzogen; anschwellende Spiralen scharlachroter Fäden wurden darin sichtbar.

Paß auf! rief Ralph dem Jungen in der orangefarbenen Hülle aus Licht im Geiste zu, aber da ließ der Grüne auch schon die Schulbücher fallen und schlug dem anderen auf den Mund. Die beiden prügelten sich, wirbelten in einem unbeholfenen, aggressiven Tanz herum und purzelten dann auf den Bürgersteig. Ein kleiner Kreis johlender, schreiender Jungs bildete sich um sie herum. Über der Stätte des Kampfes entstand eine purpurfarbene Kuppel, wie eine Gewitterwolke. Ralph fand diesen Umriß, der langsam gegen den Uhrzeigersinn kreiste, schrecklich und wunderschön zugleich, und fragte sich, wie wohl die Aura über einer militärischen Schlacht aussehen würde. Er kam zum Ergebnis, daß er die Antwort darauf lieber nicht wissen wollte. Als Junge Orange gerade auf Junge Grün kletterte und anfing, ihn richtig zu bearbeiten, kam Sue aus dem Laden heraus und schrie sie an, sie sollten aufhören, sich auf dem verdammten Parkplatz zu prügeln.

Junge Orange ließ widerwillig ab. Die Kontrahenten standen auf und betrachteten einander argwöhnisch. Junge Grün, der sich bemühte, nonchalant zu wirken, drehte sich um und ging in den Laden. Nur sein rascher Blick über die Schulter, ob sein Gegner ihm auch nicht folgte, verdarb die Wirkung.

Die Zuschauer folgten Junge Grün entweder in den Laden, um ihre Süßigkeiten nach dem Training zu kaufen, oder scharten sich um Junge Orange und gratulierten ihm. Über ihnen brach der unsichtbare purpurrote Pilz auseinander wie eine Wolkenbank bei starkem Wind. Stücke rissen ab, lösten sich und verschwanden.

Die Straße ist ein Karneval der Energie, dachte Ralph. Der Saft, den die beiden Jungs in den neunzig Sekunden ihres Kampfs abgegeben haben, hätte ausgereicht, Derry eine Woche zu beleuchten, und wenn jemand die Energie hätte anzapfen können, die die Zuschauer erzeugt hatten - die Energie in der Pilzwolke -, hätte man wahrscheinlich den ganzen Staat Maine eine Woche lang beleuchten können. Kannst du dir vorstellen, wie es sein muß, an Silvester zwei Minuten vor Mitternacht auf dem Times Square in die Welt der Auren überzuwechseln?

Er konnte es nicht, und er wollte es nicht. Er vermutete, daß er die Ausläufer einer so gewaltigen und vitalen Kraft gesehen hatte, daß sämtliche seit 1945 gebauten Atomwaffen dagegen etwa so wirkungsvoll wie der Pfropfen eines Kindergewehrs schienen, der in eine leere Konservendose geschossen wurde. Ausreichend Energie, um das Universum zu zerstören... oder ein neues zu schaffen.

Ralph ging nach oben, kippte eine Dose Bohnen in einen Topf und ein Paar Hot Dogs in einen anderen, dann ging er ungeduldig durch die Wohnung, schnippte mit den Fingern und strich sich ab und zu mit ihnen durchs Haar, während er darauf wartete, daß sein improvisiertes Junggessellenmahl warm wurde. Die bodenlose Müdigkeit, die seit Mittsommer wie unsichtbare Bleigewichte an ihm hing, war zumindest vorübergehend vollkommen verschwunden; er fühlte sich von einer manischen, wahnsinnigen Energie erfüllt, randvoll davon. Er vermutete, daß manche Leute deshalb Benzedrin oder Kokain mochten, hatte aber das Gefühl, als wäre dies ein weitaus besserer Rausch, weil er sich nicht verbraucht und mißhandelt fühlen würde, wenn er zu Ende ging, mehr benutzt von der Droge als ihr Benutzer.

Ralph Roberts, der nicht bemerkte, daß das Haar, durch das seine Finger strichen, dichter geworden war und man zum erstenmal seit fünf Jahren schwarze Strähnen darin sehen konnte, tänzelte auf den Ballen durch sein Apartment, summte zuerst und sang dann einen alten Rock-andRoll Song aus den sechziger Jahren: »Hey, pretty bay-bee, you can't sit down... ya gotta hop-bop hip-hop slip-slop all around...«

Die Bohnen blubberten im einen Topf, die Würstchen im anderen- aber für Ralph sah es aus, als würden sie tanzen, den Bristol Stomp zur alten Melodie der Dovells. Ralph, der immer noch aus vollem Hals sang (»When you hear the hippy with the backbeat, you can't sit down«), schnitt die Würstchen in die Bohnen, kippte eine halbe Flasche Ketchup hinein, fügte etwas Chilisoße hinzu, rührte alles heftig um und ging zur Tür. Sein Essen trug er im Topf in einer Hand. Er lief so behende wie ein Kind die Treppe hinunter, das sich am ersten Schultag verspätet hat. Er zog eine ausgebeulte alte Weste gehörte McGovern, aber wen interessierte das? - aus dem Schrank in der Diele und ging wieder hinaus auf die Veranda.

Die Auren waren verschwunden, aber das enttäuschte Ralph nicht; im Augenblick interessierte ihn der Duft des Essens mehr. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal so hungrig gewesen war wie in diesem Augenblick. Er saß auf der obersten Stufe, streckte die langen Schenkel und knochigen Knie auf beiden Seiten von sich aus, wodurch er große Ähnlichkeit mit Ichabod Crane bekam, und begann zu essen. An den ersten Bissen verbrannte er sich Lippen und Zunge, aber statt sich abschrecken zu lassen, aß Ralph nur noch schneller, er schlang beinahe.

Als er den halben Topf Bohnen mit Würstchen verzehrt hatte, ließ er den Löffel sinken. Das Tier in seinem Magen hatte sich nicht wieder schlafen gelegt - noch nicht -, aber es war zumindest ein bißchen besänftigt. Ralph rülpste unbefangen und betrachtete die Harris Avenue mit einem Gefühl der Zufriedenheit, wie er es seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Unter den gegenwärtigen Umständen ergab dieses Gefühl überhaupt keinen Sinn, was aber nicht das Geringste daran änderte. Wann hatte er sich zum letztenmal so gut gefühlt? Möglicherweise nicht mehr seit dem Morgen, als er irgendwo zwischen Derry, Maine, und Poughkeepsie, New York, in jener Scheune erwacht war und die sich kreuzenden Lichtstrahlen -scheinbar Tausende - gesehen hatte, die den warmen, angenehm duftenden Unterschlupf durchdrangen, wo er sich befand.

Oder möglicherweise noch nie.

Ja, möglicherweise noch nie.

Er sah Mrs. Perrine die Straße entlangkommen, möglicherweise von A Safe Place, der Kombination aus Suppenküche und Obdachlosenasyl unten beim Kanal. Wieder faszinierte Ralph ihr seltsam gleitender Gang, den sie ohne Hilfe einer Krücke und scheinbar ohne Seitwärtsbewegung ihrer Hüften zustandebrachte. Ihr Haar, das immer noch eher schwarz als grau war, wurde jetzt von dem Haarnetz gehalten - vielleicht wäre gebändigt der zutreffendere Ausdruck gewesen -, das sie an der Essensausgabe trug. Dicke, baumwollfarbene Stützstrümpfe ragten aus ihren makellos weißen Krankenschwesterschuhen... nicht, daß Ralph viel von ihnen oder den Beinen sehen konnte, die sie bedeckten; heute abend trug Mrs. Perrine einen wollenen Herrenmantel, dessen Saum ihr fast bis zu den Knöcheln reichte. Sie schien sich beim Gehen fast ausschließlich auf die Oberschenkel zu verlassen -

Anzeichen eines chronischen Rückenleidens, vermutete Ralph -, und diese Art der Fortbewegung verlieh lone Perrine in Verbindung mit dem Mantel ein fast surrealistisches Aussehen, als sie näherkam. Sie sah wie die schwarze Dame auf dem Schachbrett aus, eine Spielfigur, die entweder von einer unsichtbaren Hand geführt wurde oder sich von ganz alleine bewegte.

Als sie sich der Stelle näherte, wo Ralph saß - er trug immer noch das zerrissene Hemd und aß obendrein seine Mahlzeit direkt aus dem Topf -, schlichen sich die Auren wieder in die Welt. Die Straßenlampen waren schon angegangen, und nun sah Ralph feine lavendelfarbene Bögen über jeder hängen. Außerdem konnte er einen roten Dunst über manchen Dächern erkennen, über anderen einen gelben, und wieder über anderen einen blaß kirschroten. Im Osten, wo die Nacht zu ihrem Sprung über den Himmel ansetzte, scharten sich dunkelgrüne Flecken am Horizont.

In unmittelbarer Nähe aber konnte er sehen, wie Mrs. Perrines Aura um sie herum zum Leben erwachte - das nüchterne Grau, das ihn an eine Kadettenuniform von West Point erinnerte. Einige dunklere Stellen, gleich geisterhaften Knöpfen, schwebten über ihrem Busen (Ralph vermutete, daß tatsächlich ein Busen irgendwo unter dem Mantel verborgen sein mußte). Er war nicht sicher, vermutete aber, daß dies Vorboten einer Krankheit sein konnten.

»Guten Abend, Mrs. Perrine«, sagte er höflich und sah, wie die Worte als Schneeflockenumrisse vor seinen Augen aufstiegen.

Sie betrachtete ihn mit einem raschen, vogelartigen Blick, musterte ihn mit den Augen und schien ihn gleichzeitig mit diesem einzigen Blick abzuschätzen und abzuurteilen. »Wie ich sehe, trägst du immer noch dasselbe Hemd, Roberts«, sagte sie.

Was sie nicht sagte - aber ganz bestimmt dachte, da war Ralph ganz sicher, war: Außerdem sehe ich, daß du da sitzt und Bohnen direkt aus dem Topf ißt wie ein zerlumpter Bettler von der Straße, der es nicht besser gelernt hat... und ich vergesse nicht, was ich sehe, Roberts.

»So ist es«, sagte Ralph. »Ich muß wohl vergessen haben, es zu wechseln.« »Hm«, sagte Mrs. Perrine, und er glaubte, daß sie sich nun Gedanken über seine Unterwäsche machte. Wann haben Sie zum letztenmal daran gedacht, die zu wechseln, Roberts? Mich schüttelt es, wenn ich nur daran denke.

»Schöner Abend, nicht wahr, Mrs. Perrine?«

Wieder einer dieser raschen, vogelähnlichen Blicke, diesmal zum Himmel hinauf. »Es wird kalt werden.«

»Glauben Sie?«

»O ja - der Indianersommer ist vorbei. Mein Rücken taugt heutzutage nur noch für Wettervorhersagen, aber darin ist er ziemlich gut.« Sie machte eine Pause. »Ich glaube, das ist die Weste von Bill McGovern.«

»Kann schon sein«, stimmte Ralph zu und fragte sich, ob sie ihn als nächstes fragen würde, ob Bill davon wüßte. Er hätte es ihr zugetraut.

Statt dessen befahl sie ihm, die Weste zuzuknöpfen. »Du möchtest doch kein Kandidat für eine Lungenentzündung sein, oder?« fragte sie, und ihr verkniffener Mund fügte hinzu: Genauso wie fürs Irrenhaus?

»Auf gar keinen Fall«, sagte Ralph. Er stellte den Topf beiseite, streckte die Hand nach den Knöpfen der Weste aus und hielt inne. Er trug immer noch einen gesteppten Topflappenhandschuh an der linken Hand. Bis jetzt war ihm das gar nicht aufgefallen.

»Es ginge leichter, wenn du den ausziehen würdest«, sagte Mrs. Perrine. Die Andeutung eines Funkeins schien in ihren Augen zu leuchten.

»Das denke ich auch«, sagte Ralph demütig. Er zog den Handschuh aus und knöpfte McGoverns Weste zu.

»Mein Angebot steht noch, Roberts.«

»Pardon?«

»Mein Angebot, dir dein Hemd zu nähen. Das heißt, wenn du es fertigbringst, dich einmal einen Tag davon zu trennen.« Pause. »Du hast doch noch ein anderes Hemd, nehme ich an? Das du tragen könntest, während ich das nähe, das du jetzt trägst?« »O ja«, sagte Ralph. »Das können Sie mir glauben. Jede Menge.«

»Scheint eine zu große Herausforderung für dich zu sein, dir jeden Tag ein neues auszusuchen. Du hast Soße am Kinn, Roberts.« Nach dieser Bemerkung richtete Mrs. Perrine die Augen geradeaus und setzte sich wieder in Bewegung.

Was Ralph nun tat, tat er ohne nachzudenken oder es zu verstehen; es war so instinktiv wie die Handbewegung, die er vorhin gemacht hatte, um Doc Nr. 3 von Rosalie fortzuscheuchen. Er hob die Hand, an der er den Topflappenhandschuh getragen hatte und formte damit eine Röhre um den Mund. Dann atmete er kräftig ein, was ein leises, flüsterndes Zischeln erzeugte.

Die Resultate waren erstaunlich. Ein bleistiftdünner grauer Lichtstrahl schoß aus Mrs. Perrines Aura wie der Stachel eines Stachelschweins. Er wurde zusehends länger und krümmte sich nach hinten, während sie vorwärts ging, bis er den laubübersäten Rasen überquert hatte und in die Röhre schnellte, die Ralphs gekrümmte Finger bildeten. Er spürte, wie der Lichtstrahl beim Inhalieren in ihn eindrang, und es war, als würde er reine Energie einsaugen. Plötzlich fühlte er sich erleuchtet wie eine Neonreklame oder das Vordach eines Großstadtkinos. Ein explosives Gefühl von Kraft - ein Eindruck von Rumms! - lief durch seine Brust und seinen Magen, und dann an den Beinen hinunter bis in die Zehenspitzen. Gleichzeitig sauste es in seinen Kopf hinauf und drohte, ihm die Schädeldecke wegzupusten wie das dünne Betondach eines Raketensilos.

Er konnte graue Lichtstrahlen wie elektrisch aufgeladenen Nebel erkennen, die zwischen seinen Fingern hervorquollen. Ein schreckliches, freudiges Gefühl der Macht entzündete seine Gedanken, aber nur einen Augenblick. Es folgten Scham und ein verblüfftes Entsetzen.

Was tust du da, Ralph? Was immer dieses Zeug ist, es gehört dir nicht. Würdest du in ihre Geldbörse greifen und ihr Geld wegnehmen, wenn sie nicht hinsieht?

Er spürte, wie er rot wurde. Er ließ die gekrümmte Hand sinken und klappte den Mund zu. Als seine Lippen und Zähne aufeinandertrafen, hörte er - und spürte sogar - deutlich, wie etwas knirschte. Es war das Geräusch, das man hörte, wenn man in eine frische Stange Rhabarber biß.

Mrs. Perrine blieb stehen, und Ralph beobachtete ängstlich, wie sie sich halb umdrehte und auf die Harris Avenue sah. Das wollte ich nicht, dachte er zu ihr. Wirklich nicht, Mrs. P. - ich lerne immer noch, mit diesen Dingen umzugehen.

»Roberts?«

»Ja?«

»Hast du etwas gehört? Hat fast wie ein Gewehrschuß geklungen.«

Ralph konnte spüren, wie heißes Blut in seinen Ohren pulsierte, als er den Kopf schüttelte. »Nein, aber meine Ohren sind nicht mehr das, was -«

»Wahrscheinlich nur eine Fehlzündung auf der Kansas Street«, sagte sie und tat seine klägliche Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. »Aber mein Herzschlag hat einen Moment ausgesetzt, das kann ich dir sagen.«

Sie setzte sich wieder mit dem seltsam gleitenden Gang in Bewegung, der dem einer Dame beim Schach glich, aber dann blieb sie noch einmal stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Aura verblaßte langsam, aber Ralph hatte keine Mühe, ihre Augen zu sehen - sie waren so scharf wie die eines Turmfalken.

»Du siehst verändert aus, Roberts«, sagte sie. »Irgendwie jünger.«

Ralph, der etwas anderes erwartet hatte (Gib mir zurück, was du mir gestohlen hast, aber auf der Stelle, zum Beispiel), konnte nur stammeln. »Finden Sie... das ist sehr... ich meine, dan-«

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Liegt wahrscheinlich am Licht. Ich gebe dir den guten Rat, nicht auf diese Weste zu tropfen, Roberts. Ich habe den Eindruck, als wäre Mr. McGovern ein Mann, der auf seine Sachen achtgibt.«

»Er hätte besser auf seinen Hut achtgeben sollen«, sagte Ralph.

Die klaren Augen, die sich von ihm abgewendet hatten, wurden wieder auf ihn gerichtet. »Pardon?«

»Seinen Panama«, sagte Ralph. »Er hat ihn irgendwo verloren.«

Mrs. Perrine hielt das einen Augenblick ins Licht ihres Intellekts, dann tat sie es mit einem weiteren Hm ab. »Geh ins Haus, Roberts. Wenn du noch lange hier draußen bleibst, wirst du dir den Tod holen.« Und damit glitt sie ihres Weges und sah als Folge von Ralphs gedankenlosem Diebstahl nicht schlechter aus als vorher.

Diebstahl. Ich bin ziemlich sicher, daß das nicht das richtige Wort ist, Ralph. Was du gerade getan hast, war eher -

»Vampirismus«, sagte Ralph düster. Er stellte den Topf mit Bohnen beiseite und rieb langsam die Hände aneinander. Er schämte sich... fühlte sich schuldig... und explodierte fast vor Energie.

Du hast ihr etwas von ihrer Lebenskraft statt von ihrem Blut gestohlen, aber Vampir ist Vampir, Ralph.

Ja, wahrhaftig. Und plötzlich fiel Ralph ein, daß dies nicht das erstemal gewesen sein konnte, daß er so etwas getan hatte.

Du siehst verändert aus, Roberts. Irgendwie jünger. Das hatte Mrs. Perrine gerade gesagt, aber seit der Sommer zu Ende ging, bekam er immer wieder ähnliche Bemerkungen zu hören, oder nicht? Der Hauptgrund, weshalb seine Freunde ihn nicht zum Arzt getragen hatten, war der, daß er nicht aussah, als würde ihm etwas fehlen. Er beschwerte sich über seine Schlaflosigkeit, sah aber offenbar aus, als würde er vor Gesundheit strotzen. Ich schätze, die Honigwabe hat wirklich geholfen, was? hatte John Leydecker gesagt, bevor sie beide am Sonntag die Bibliothek verlassen hatten - ihm kam es jetzt so vor, als wäre das noch in der Eisenzeit gewesen. Und als Ralph ihn gefragt hatte, wovon er spreche, hatte Leydecker geantwortet, er spreche von Ralphs Schlaflosigkeit. Sie sehen eine Zillionmal besser aus als am Tag, als wir uns kennenlernten.

Und Leydecker war nicht der einzige gewesen. Ralph hatte sich mehr oder weniger durch den Tag geschleppt und sich übernächtigt, erschöpft und verstümmelt gefühlt... aber die Leute erzählten ihm andauernd, wie gut er aussah, ;vie erfrischt er aussah, wie jung er aussah. Helen... McGovern... sogar Faye Chapin hatte vor ein oder zwei Wochen etwas gesagt, aber Ralph konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, was-»Aber klar doch«, sagte er mit leiser, mißfälliger Stimme. »Er hat mich gefragt, ob ich Faltencreme benütze. Faltencreme, um Gottes willen!«

Hatte er damals schon die Lebenskraft von anderen gestohlen? Sie gestohlen, ohne es zu wissen?

»So muß es sein«, sagte er mit derselben leisen Stimme. »Großer Gott, ich bin ein Vampir.«

Aber war das das richtige Wort? fragte er sich plötzlich. War es nicht immerhin denkbar, daß man in der Welt der Auren einen Dieb, der Lebenskraft stahl, einen Zenturio nannte?

Eds blasses, hektisches Gesicht tauchte vor ihm auf wie ein Geist, der zurückkehrt, um seinen Mörder anzuklagen, und Ralph, der plötzlich schreckliche Angst hatte, schlang die Arme um die Knie, ließ den Kopf sinken und legte ihn darauf.

Kapitel 15

Um zwanzig Minuten vor sieben stoppte ein perfekt erhaltener Lincoln Town Car aus den siebziger Jahren am Bordstein vor Lois' Haus. Ralph - der die letzte Stunde damit verbracht hatte, zu duschen, sich zu rasieren, und der versucht hatte, sich zu beruhigen - stand auf der Veranda und sah zu, wie Lois vom Rücksitz ausstieg. Man sagte sich auf Wiedersehen, und mädchenhaftes, schrilles Gelächter wurde ihm mit dem Wind zugetragen.

Der Lincoln fuhr weg, und Lois ging den Fußweg zu ihrem Haus entlang. Auf halbem Weg blieb sie stehen und drehte sich um. Eine ganze Weile betrachteten die beiden sich von ihren gegenüberliegenden Positionen auf der Harris Avenue und sahen trotz der hereinbrechenden Dunkelheit und der zweihundert Meter, die sie voneinander trennten, ausgezeichnet. Sie leuchteten in dieser Dunkelheit füreinander wie Fackeln.

Lois deutete mit dem Finger auf ihn. Die Geste ähnelte der, mit der sie auf Doc Nr. 3 geschossen hatte, aber das beunruhigte Ralph nicht im geringsten.

Absicht, dachte er verträumt. Alles liegt in der Absicht. Es gibt wenige Fehler auf dieser Welt... und wenn man sich erst einmal auskennt, gibt es vielleicht gar keine Fehler mehr.

Ein schmaler, grau leuchtender Energiestrahl kam aus Lois' Finger und bahnte sich einen Weg durch die dunklen Schatten der Harris Avenue. Ein vorbeifahrendes Auto durchquerte ihn unbeschadet. Die Fenster des Autos leuchteten kurz grell und grau auf, und die Scheinwerfer schienen einen Moment zu flackern, aber das war alles.

Ralph hob ebenfalls einen Finger, aus dem ein blauer Strahl hervorschoß. Diese beiden gebündelten Lichtstrahlen trafen sich in der Mitte der Harris Avenue und schlangen sich umeinander wie wilder Wein. Der geflochtene Zopf stieg immer höher und höher, wobei er leicht verblaßte. Dann krümmte Ralph den Finger, und seine Hälfte des Liebesknotens verschwand. Einen Moment später erlosch Lois' Hälfte ebenfalls. Ralph ging langsam die Verandatreppe hinunter und über seinen Rasen. Lois kam ihm entgegen. Sie trafen sich mitten auf der Straße... wo sie einander in einem durchaus realen Sinne bereits getroffen hatten. Ralph legte die Arme um ihre Taille und küßte sie.

Du siehst verändert aus, Roberts. Irgendwie jünger.

Diese Worte gingen ihm nicht aus dem Sinn - sie wiederholten sich wie eine Endlosbandschleife -, als Ralph in Lois' Küche saß und Kaffee trank. Er konnte seine Augen nicht von ihr wenden. Sie sah problemlos zehn Jahre jünger und zehn Pfund leichter als die Lois aus, an die er sich in den vergangenen Jahren gewöhnt hatte. Hatte sie heute morgen im Park schon so jung und hübsch ausgesehen? Ralph glaubte es nicht, aber selbstverständlich war sie heute morgen durcheinander gewesen und hatte geweint, und er vermutete, daß das schon etwas ausmachte.

Trotzdem...

Ja, trotzdem. Das Netz winziger Fältchen um ihren Mund herum war verschwunden. Ebenso die beginnenden Truthahnhautfalten am Hals und das erschlaffte Fleisch an den Oberarmen. Heute morgen hatte sie geweint, und heute abend strahlte sie vor Glück, aber Ralph wußte, das konnte unmöglich alle Veränderungen erklären, die er sah.

»Ich weiß, was du siehst«, sagte Lois. »Es ist unheimlich, nicht? Ich meine, es beantwortet die Frage, ob wir uns alles nur eingebildet haben oder nicht, aber es ist trotzdem unheimlich. Wir haben den Jungbrunnen gefunden. Vergiß Florida; er ist die ganze Zeit hier in Derry gewesen.«

»Wir haben ihn gefunden?«

Einen Augenblick sah sie nur überrascht aus... und ein wenig argwöhnisch, als würde sie denken, daß er sie auf den Arm nahm, sich über sie lustig machte. Sie als »unsere Lois« behandelte. Dann streckte sie die Hand über den Tisch aus und drückte seine. »Geh ins Bad. Schau dich an.«

»Ich weiß, wie ich aussehe. Verdammt, ich habe mich gerade eben erst rasiert. Und ich habe mir dabei richtig Zeit gelassen.«

Sie nickte. »Du hast es gut gemacht, Ralph... aber es geht hier nicht um deinen Fünf-Uhr-Bartschatten. Schau dich nur an.«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja«, sagte sie nachdrücklich. »Mein voller Ernst.«

Er war fast an der Tür angelangt, als sie sagte: »Du hast dich nicht nur rasiert, du hast auch das Hemd gewechselt. Das ist gut. Ich wollte nichts sagen, aber das karierte war zerrissen.«

»Tatsächlich?« fragte Ralph. Er hatte ihr den Rücken zugedreht, so daß sie sein Lächeln nicht sehen konnte. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«

Er stand mit auf das Waschbecken gestützten Händen vor dem Spiegel und betrachtete sein Gesicht fast zwei Minuten lang. So lange brauchte er, um sich einzugestehen, daß er wirklich sah, was er zu sehen glaubte. Die schwarzen, wie Krähenfedern glänzenden Strähnen in seinem Haar waren erstaunlich genug, ebenso die Tatsache, daß die häßlichen Tränensäcke unter seinen Augen verschwunden waren, aber er kam nicht darüber hinweg, wie die Linien und tiefen Runzeln auf seinen Lippen sich geglättet hatten. Es war eine Kleinigkeit... aber es war auch etwas Gigantisches. Er sah den Mund eines jungen Mannes. Und...

Plötzlich steckte sich Ralph einen Finger in den Mund und fuhr an der rechten unteren Zahnreihe entlang. Er konnte nicht völlig sicher sein, aber ihm schien, als wären sie länger, als wäre ein Teil der Abnutzung rückgängig gemacht worden.

»Ach du Scheiße«, murmelte Ralph, und seine Gedanken kehrten zu jenem drückend heißen Tag im vergangenen Sommer zurück, als er Ed Deepneau in dessen Vorgarten gegenübergetreten war. Ed hatte ihn zuerst gebeten, sich einen Stuhl ranzuziehen, und ihm dann eröffnet, daß Derry von bösen, babytötenden Kreaturen heimgesucht wurde. Lebensstehlenden Kreaturen. Alle Kraftlinien laufen hier zusammen, hatte Ed ihm gesagt. Ich weiß, das ist schwer zu glauben, aber es stimmt.

Ralph stellte fest, daß es immer leichter zu glauben war. Immer schwerer zu glauben fiel ihm dagegen, daß Ed verrückt sein sollte.

»Wenn das nicht aufhört«, sagte Lois von der Tür und erschreckte ihn, »müssen wir heiraten und die Stadt verlassen, Ralph. Simone und Mina konnten - buchstäblich - keinen Blick von mir nehmen. Ich habe eine Menge über ein neues Makeup erzählt, das ich angeblich im Einkaufszentrum gekauft habe, aber sie haben es nicht geschluckt. Ein Mann hätte es, aber eine Frau weiß, was man mit Make-up machen kann. Und was nicht.«

Sie gingen in die Küche zurück, und obwohl die Auren vorläufig wieder verschwunden waren, stellte Ralph fest, daß er doch eine sehen konnte: eine Röte, die aus dem Kragen von Lois' weißer Seidenbluse aufstieg.

»Schließlich erzählte ich ihnen das einzige, das sie glauben würden.«

»Und das wäre?« fragte Ralph.

»Ich sagte, ich hätte einen Mann kennengelernt.« Sie zögerte, und als das aufsteigende Blut ihre Wangen erreicht und rosa gefärbt hatte, kam sie zur Sache. »Und daß ich mich in ihn verliebt hätte.«

Er berührte sie am Arm und drehte sie zu sich um. Er betrachtete die kleine, saubere Falte in ihrer Ellbogenbeuge und überlegte sich, wie gerne er sie mit dem Mund berühren würde. Oder mit der Zungenspitze. Dann sah er ihr in die Augen. »Und ist es wahr?«

Sie erwiderte den Blick mit Augen voll Hoffnung und Offenheit. »Ich glaube es«, sagte sie mit leiser, deutlicher Stimme, »aber alles ist jetzt so seltsam. Ich weiß nur mit Sicherheit, ich möchte, daß es wahr ist. Ich möchte einen Freund haben. Ich bin schon eine ganze Weile ängstlich und unglücklich und einsam. Die Einsamkeit ist das Schlimmste am Älterwerden, glaube ich - nicht die Leiden und Schmerzen, nicht die eingerosteten Gedärme oder daß man kurzatmig ist, wenn man eine Treppe hinaufgehen mußte, die man mit zwanzig hinauigeflogen wäre, sondern die Einsamkeit.« »Ja«, sagte Ralph. »Das ist das Schlimmste.« »Niemand redet mehr mit einem - oh, sie sagen manchmal etwas zu einem, aber das ist nicht dasselbe - und meistens ist es, als würden die Leute einen nicht mal sehen. Ist es dir nicht auch schon so gegangen?«

Ralph dachte an das Derry der Altvorderen, eine Stadt, die von der hektischen, betriebsamen Welt ringsum weitgehend ignoriert wurde, und nickte. »Ralph, würdest du mich in den Arm nehmen?« »Mit Vergnügen«, sagte er, zog sie sanft zu sich und legte die Arme um sie.

Einige Zeit später saßen Ralph und Lois zerzaust und benommen, aber glücklich auf der Couch im Wohnzimmer, ein derart rigoros hobbitgroßes Möbelstück, daß es eigentlich kaum mehr als ein Zweiersessel war. Den beiden machte es nichts aus. Ralph hatte Lois einen Arm um die Schultern gelegt. Sie hatte ihr Haar aufgemacht, und er drehte eine Locke davon in seinen Fingern und dachte darüber nach, wie leicht man vergaß, wie sich Frauenhaar anfühlte - so völlig anders als Männerhaare. Sie hatte ihm von ihrem Kartenspiel erzählt, und Ralph hatte aufmerksam zugehört, erstaunt, aber, wie er feststellte, nicht überrascht.

Etwa ein Dutzend Frauen spielten regelmäßig jede Woche im Ludlow Grange um kleine Summen. Es war möglich, daß man mit fünf Dollar Verlust oder zehn Dollar Gewinn nach Hause ging, aber meistens lag man bei Spielende einen Dollar vorn oder ein bißchen Kleingeld hinten. Zwar gab es einige gute Spieler und einige Flaschen (Lois zählte sich zu ersteren), aber hauptsächlich ging es nur darum, einen heiteren Nachmittag zu verbringen - die Damenversion der Schachturniere und Romme-Marathons, wie sie die Altvorderen pflegten.

»Aber heute nachmittag konnte ich einfach nicht verlieren. Ich hätte eigentlich völlig pleite nach Hause kommen müssen, wo mich alle ständig fragten, was für Vitamine ich zu mir nähme und wo ich mir das Gesicht hätte liften lassen und dergleichen. Wer kann sich auf ein albernes Kartenspiel konzentrieren, wenn man ständig neue Lügen erzählen und darauf achten muß, daß man sich nicht in die verstrickt, die man bereits erzählt hat?« »Muß schwer gewesen sein«, sagte Ralph und bemühte sich, nicht zu grinsen.

»Das war es. Sehr schwer! Aber statt zu verlieren, habe ich immer mehr eingesackt. Und weißt du, warum, Ralph?«

Er wußte es, schüttelte aber den Kopf, damit sie es ihm sagen konnte. Er hörte ihr gerne zu.

»Wegen ihrer Auren. Ich wußte nicht immer genau, welche Karten sie hatten, aber meistens schon. Und selbst wenn ich es nicht wußte, hatte ich eine gute Vorstellung davon, wie ihr Blatt aussah. Die Auren waren nicht immer da, du weißt ja, sie kommen und gehen, aber selbst wenn sie nicht da waren, spielte ich besser als jemals vorher in meinem Leben. In der letzten Stunde verlor ich absichtlich, damit sie mich nicht alle haßten. Und weißt du was? Selbst absichtlich zu verlieren ist mir schwergefallen.« Sie betrachtete ihre Hände, die sie nervös im Schoß knetete. »Und auf dem Rückweg habe ich etwas getan, wofür ich mich schäme.«

Ralph sah ihre Aura wieder, ein vager grauer Geist, in dem ungeformte dunkelblaue Klumpen schwebten. »Bevor du es mir erzählst«, sagte er, »hör dir das an und sag mir, ob es etwas Ähnliches ist.«

Er schilderte ihr, wie Mrs. Perrine vorbeigekommen war, als er auf der Veranda saß, Bohnen und Würstchen aus dem Topf aß und darauf wartete, daß Lois zurückkam. Als er ihr erzählte, was er der alten Frau angetan hatte, senkte er den Blick und spürte, wie seine Ohren wieder warm wurden.

»Ja«, sagte sie, als er fertig war. »Dasselbe habe ich getan... aber ich wollte es nicht, Ralph... jedenfalls glaube ich nicht, daß ich es wollte. Ich saß mit Mina auf dem Rücksitz, und sie hörte nicht mehr auf damit, wie verändert ich aussähe, wie jung ich aussähe, und ich dachte mir - ich schäme mich, es laut auszusprechen, aber ich sollte es wohl besser -, ich dachte mir: >Ich stopf dir das Maul, du naseweise, neidische alte Eule. Denn es war Neid, Ralph. Ich sah es ihrer Aura an. Große, spitze Dornen in der Farbe von Katzenaugen. Kein Wunder, daß man Eifersucht das Ungeheuer mit den grünen Augen nennt! < Wie dem auch sei, ich deutete zum Fenster hinaus und sagte: >Oh, Mina, ist das nicht ein entzückendes kleines Häuschen?< Und als sie sich umdrehte und nachsah, da habe ich... ich getan, was du getan hast, Ralph. Nur habe ich nicht die Hand zum Trichter geformt, ich habe einfach nur die Lippen geschürzt... etwa so...« Sie führte es vor und machte einen derartigen Kußmund, daß Ralph sich veranlaßt (fast genötigt) sah, sich den Ausdruck zunutze zu machen. »... und ich atmete eine große Wolke ihrer Aura ein.«

»Was ist passiert?« fragte Ralph fasziniert und ängstlich.

Lois lachte bedrückt. »Mit mir oder ihr?«

»Mit euch beiden.«

»Mina zuckte zusammen und schlug sich in den Nacken. >Da sitzt ein Käfer auf mir!<« sagte sie. >Er hat mich gebissen! Nimm ihn weg, Lo! Bitte nimm ihn weg!< Selbstverständlich saß kein Käfer auf ihr - ich war der Käfer -, aber ich strich ihr trotzdem über den Hals, machte das Fenster auf und sagte ihr, er wäre dort, er wäre weggeflogen. Sie kann von Glück sagen, daß ich ihr nicht das Gehirn rausgehauen habe, statt nur über ihren Nacken zu streichen - so voller Pep war ich. Mir war, als hätte ich die Autotür aufreißen und den ganzen Weg nach Hause laufen können.«

Ralph nickte.

»Es war wunderbar... zu wunderbar. Wie in den Geschichten über Drogen, die man im Fernsehen sieht, wie sie einen zuerst in den Himmel bringen und dann in die Hölle. Was ist, wenn wir damit anfangen und nicht mehr aufhören können?«

»Ja«, sagte Ralph. »Und wenn es den Leuten schadet? Ich muß immerzu an Vampire denken.«

»Weißt du, woran ich denken muß?« Lois hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Was du mir erzählt hast, wovon Ed gesprochen hat. Diese Zenturionen. Was ist, wenn wir das sind, Ralph? Was ist, wenn wir das sind?«

Er umarmte sie und küßte sie auf den Kopf. Daß er seine schlimmste Befürchtung aus ihrem Munde hörte, machte es ihm etwas leichter ums Herz, und da mußte er wieder daran denken, wie Lois gesagt hatte, die Einsamkeit sei das Schlimmste am Älterwerden.

»Ich weiß«, sagte er. »Und am schlimmsten finde ich, daß das, was ich mit Mrs. Perrine gemacht habe, einfach impulsiv geschah - ich kann mich nicht erinnern, daß ich darüber nachgedacht habe, ich habe es einfach getan. War es bei dir genauso?«

»Ja. Einfach so.« Sie legte den Kopf an seine Schulter.

»Wir dürfen es nicht mehr tun«, sagte er. »Es könnte wirklich süchtig machen. Alles, was so gut tut, muß süchtig machen, findest du nicht auch? Und wir müssen versuchen, einen Schutzmechanismus zu entwickeln, damit wir es nicht unbewußt tun. Ich glaube nämlich, daß ich das getan habe. Es könnte der Grund dafür sein, weshalb -«

Quietschende Bremsen und kreischende Reifen unterbrachen ihn. Sie sahen einander mit großen Augen an, während draußen auf der Straße das Geräusch nicht aufhören wollte, und das Auto nach einem Aufprallpunkt zu suchen schien.

Laß nicht zu, daß es passiert, betete Ralph. Bitte laß nicht zu, daß es passiert, und wenn es denn sein muß, dann laß nicht Bill McGovern am Ende dieser Bremsspur sein.

Aber Ralph hatte schreckliche Angst, daß er es sein würde.

Ein gedämpftes Klatschen ertönte auf der Straße, als das Quietschen von Bremsen und Reifen verstummte. Es folgte ein kurzer Schrei von einer Frau oder einem Kind, Ralph konnte es nicht genau sagen. Jemand anders schrie: »Was ist passiert?« Und dann: »O Gott!« Schritte hallten auf dem Bürgersteig.

»Bleib auf der Couch«, sagte Ralph und eilte zum Wohnzimmerfenster. Als er das Rollo hochzog, stand Lois direkt neben ihm, und Ralph verspürte einen Anflug von Bewunderung. Carolyn hätte unter diesen Umständen nicht anders gehandelt.

Sie sahen in eine nächtliche Welt hinaus, in der seltsame Farben und wundersame Bewegungen pulsierten. Ralph wußte, sie würden Bill sehen, er wußte es - Bill, der von einem Auto überfahren worden war und tot auf der Straße lag, der Panama mit der angebissenen Krempe neben einer ausgestreckten Hand. Er legte einen Arm um Lois, und sie hielt seine Hand.

Aber es war nicht McGovern, der im Lichtkegel der Scheinwerfer des Ford lag, der schräg auf der Harris Avenue stand; es war Rosalie. Ihre frühmorgendlichen Spaziergänge waren vorbei. Sie lag in einer wachsenden Blutlache auf der Seite, und ihr Rücken war an mehreren Stellen geknickt und verkrümmt. Als der Fahrer des Autos, das sie angefahren hatte, neben dem alten Streuner niederkniete, erhellte der unbarmherzige Schein der nächsten Straßenlaterne sein Gesicht. Es war Joe Wyzer, der Apotheker von Rite Aid, in dessen orangegelber Aura nun rote und blaue Schnörkel der Verwirrung kreisten. Er streichelte die Seite der alten Hündin, und jedesmal, wenn seine Hand in die häßliche schwarze Aura eindrang, die das Tier umgab, verschwand sie.

Alptraumähnliches Grauen durchlief Ralph, senkte seine Temperatur und ließ seine Hoden schrumpfen, bis sie sich wie kleine harte Pfirsichkerne anfühlten. Plötzlich war es wieder Juli 1992, Carolyn starb, die Todesuhr tickte, und etwas Unheimliches geschah mit Ed Deepneau. Ed war ausgeflippt, und Ralph hatte versucht, Helens normalerweise gutmütigen Ehemann daran zu hindern, den Mann mit der Mütze von West Side Gardeners anzufallen, um ihm die Kehle zu zerfleischen. Dann - das Sahnehäubchen auf der Charlotte russe, wie Carolyn gesagt hätte - war Dorrance Marstellar dazugekommen. Der alte Dor. Und was hatte er gesagt?

Ich an deiner Stelle würde ihn nicht mehr anfassen. Ich kann deine Hände nicht sehen.

Ich kann deine Hände nicht sehen.

»O mein Gott«, flüsterte Ralph.

Lois schwankte, als würde sie ohnmächtig werden, und das holte ihn ins Hier und Jetzt zurück.

»Lois!« sagte er schneidend und hielt sie am Arm fest. »Lois, alles in Ordnung?«

»Ich glaube schon... aber Ralph... siehst du...«

»Ja, es ist Rosalie. Ich glaube, sie ist...«

»Ich meine nicht sie; ich meine ihn!« Sie deutete nach rechts.

Doc Nr. 3 lehnte an der Motorhaube von Joe Wyzers Ford und hatte McGoverns Panama keck auf dem kahlen Schädel nach hinten geschoben. Er sah zu Ralph und Lois, grinste frech, dann hielt er langsam den Daumen an die Nase und bewegte die Finger zappelnd in ihre Richtung.

»Du Dreckskerl!« schrie Ralph und schlug hilflos mit der Faust auf die Wand neben dem Fenster.

Ein halbes Dutzend Leute liefen zum Schauplatz des Unfalls, aber sie konnten nichts tun; Rosalie würde sterben, bevor die ersten auch nur in die Nähe der Stelle kamen, wo sie im Licht der Scheinwerfer lag. Die schwarze Aura verfestigte sich und wurde zu etwas, das fast wie rußgeschwärzter Backstein aussah. Sie hüllte sie ein wie ein maßgeschneidertes Leichentuch, und Wyzers Hand verschwand jedesmal, wenn sie durch das gräßliche Kleidungsstück glitt, bis zum Gelenk.

Jetzt hob Doc Nr. 3 die Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger und legte den Kopf schief - eine schulmeisterliche Pantomime, die so gut war, daß sie fast laut zu sagen schien: Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Er schlich auf Zehenspitzen näher völlig unnötig, da ihn die Leute da unten sowieso nicht sehen konnte, aber ungeheuer dramatisch - und streckte die Hand nach Joe Wyzers Gesäßtasche aus. Er drehte sich zu Ralph und Lois um, als wollte er sich vergewissern, daß sie ihm nach wie vor ihre Aufmerksamkeit schenkten. Dann schlich er wieder auf Zehenspitzen näher und streckte die linke Hand aus.

»Du mußt ihn aufhalten, Ralph«, stöhnte Lois. »O bitte, du mußt ihn aufhalten.«

Ralph hob langsam die Hand, wie ein Mann, der unter Drogen steht, und ließ sie heruntersausen. Ein blauer Lichtstrahl sauste aus seinen Fingerspitzen, aber er wurde unscharf, als er durch die Fensterscheibe drang. Pastellf arbener Nebel breitete sich ein Stück von Lois' Haus entfernt aus und verschwand. Der kahlköpfige Arzt bewegte den Finger in einer nervtötenden Pantomime - Oh, du böser Bube, sagte sie.

»Nützt nichts«, sagte Ralph.

Doc Nr. 3 streckte wieder die Hand aus und holte etwas aus Wyzers Tasche, während dieser auf der Straße kniete und um den Hund trauerte. Ralph wußte nicht mit Sicherheit, was es war, bis die Kreatur im schmutzigen Kittel McGoverns Hut vom Kopf zog und so tat, als würde sie den Gegenstand, den sie gerade gestohlen hatte, durch das nichtvorhandene Haar ziehen. Es war ein schwarzer Taschenkamm, wie man sie für einen Dollar im Kramladen kaufen konnte. Dann sprang Doc Nr. 3 in die Luft und schlug die Hacken zusammen wie ein bösartiger Kobold.

Rosalie hatte den Kopf gehoben, als der kahlköpfige Arzt nähergekommen war. Jetzt legte sie ihn wieder auf den Asphalt und starb. Die Aura, die sie umgab, verschwand sofort, sie verblaßte nicht, sondern platzte einfach wie eine Seifenblase. Wyzer stand auf, drehte sich zu einem Mann um, der am Bordstein stand, und erzählte ihm was passiert war, wobei er mit den Händen gestikulierte und zeigte, wie ihm der Hund vors Auto gelaufen war. Ralph stellte fest, dass er tatsächlich eine Kette von sechs Worten lesen konnte, die über Wyzers Lippen kamen: schien aus dem Nichts zu kommen.

Und als Ralph seinen Blick wieder auf die Seite von Wyzers Auto richtete, stellte er fest, daß der kleine kahlköpfige Arzt dorthin gegangen war.

Kapitel 16

Es gelang Ralph, seinen rostigen Oldsmobile anzulassen, aber er brauchte trotzdem noch zwanzig Minuten, bis er sie beide quer durch die Stadt zum Derry Home in der East Side gebracht hatte. Carolyn hatte seine wachsenden Zweifel an seiner Fahrtüchtigkeit verstanden und versucht, Rücksicht drauf zu nehmen, aber sie hatte eine ungeduldige, hektische Ader in sich gehabt, die im Lauf der Jahre nicht schwächer geworden war. Wenn eine Fahrt länger als eine halbe Meile war, hatte sie sich selten zurückhalten können. Sie köchelte eine Zeitlang schweigend und nachdenklich vor sich hin, und dann fing sie an zu kritisieren. Wenn sie besonders unzufrieden mit seiner Fahrweise war, konnte sie ihn fragen, ob seiner Ansicht nach ein Einlauf helfen würde, das Blei aus seinem Hintern zu bekommen. Sie war ein reizendes Ding, aber sie hatte immer eine spitze Zunge gehabt.

Nach so einer Bemerkung bot Ralph jedesmal - und ohne verängstigt zu sein - an, rechts ran zu fahren und sie weiterfahren zu lassen. Dieses Angebot hatte Carol stets abgelehnt. Ihrer Überzeugung nach war es, zumindest bei kurzen Ausflügen, die Aufgabe des Ehemanns, zu fahren, und die der Frau, konstruktive Kritik zu üben.

Er wartete die ganze Zeit darauf, daß Lois eine Bemerkung über seine Geschwindigkeit oder seine Unaufmerksamkeit machen würde (er glaubte, selbst wenn ihm jemand eine Waffe an den Kopf hielte, würde er heutzutage nicht jedesmal daran denken, den Blinker zu setzen), aber sie sagte nichts sie saß nur auf dem Sitz, wo Carolyn bei fünftausend oder mehr Fahrten gesessen hatte, und hielt genau wie Carolyn die Handtasche auf dem Schoß. Das Spiel der Lichter -Neonreklamen, Ampeln, Straßenlampen - glitt wie Regenbogen über Lois' Wangen und Stirn. In ihren dunklen Augen lag ein distanzierter und nachdenklicher Ausdruck. Sie hatte geweint, als Rosalie gestorben war, hemmungslos geweint, und Ralph hatte das Rollo wieder herunterlassen müssen.

Das hätte Ralph fast nicht getan. Sein erster Impuls war gewesen, auf die Straße zu laufen, bevor Joe Wyzer wegfahren konnte. Um Joe zu sagen, daß er vorsichtig sein mußte. Um ihm zu sagen, wenn er heute abend die Hosentaschen leerte, würde er feststellen, daß ein billiger Kamm fehlte, kein Beinbruch, die Leute verloren ständig solche Kämme, aber diesmal war es ein Beinbruch, und nächstesmal konnte Joe Wyzer, Apotheker bei Rite Aid, am Ende einer Bremsspur auf der Straße liegen. Hören Sie mir zu, Joe, und hören Sie mir gut zu. Sie müssen besonders vorsichtig sein, denn es gibt jede Menge Neuigkeiten aus der Hyperrealitäts-Zone, und in Ihrem Fall stehen sie alle in einem schwarzen Rahmen.

Aber das hätte gewisse Probleme aufgeworfen. Das größte war, so verständnisvoll Joe Wyzer an dem Tag gewesen war, als er Ralph den Termin beim Akupunkteur verschafft hatte, er würde Ralph für verrückt halten. Und außerdem, wie sollte man sich vor einem Wesen schützen, das man noch nicht mal sehen konnte?

Also hatte er das Rollo heruntergelassen... aber zuvor hatte er einen letzten prüfenden Blick auf den Mann geworfen, der ihm gesagt hatte, er sei früher einmal Joe Wyze gewesen, aber heute sei er älter und Wyzer. Die Auren waren noch da, und er konnte Wyzers Ballonschnur sehen, hell gelb-orange, die unversehrt von seinem Scheitel emporstieg. Demnach war noch alles in Ordnung mit ihm.

Jedenfalls vorläufig.

Ralph hatte Lois in die Küche geführt und ihr noch eine Tasse Kaffee eingeschenkt - schwarz, mit viel Zucker.

»Er hat sie getötet, nicht wahr?« fragte sie, als sie die Tasse mit beiden Händen an die Lippen führte. »Das kleine Biest hat sie getötet.«

»Ja. Aber ich glaube nicht, daß er es heute nacht getan hat. Ich glaube, in Wirklichkeit hat er es schon heute morgen getan.« »Warum? Warum?«

»Weil er es konnte«, sagte Ralph grimmig. »Ich glaube, einen anderen Grund braucht er nicht. Nur weil er es konnte.«

Lois hatte ihn mit einem langen, abschätzenden Blick angesehen, und ihr Gesicht nahm allmählich einen erleichterten Ausdruck an. »Du bist dahintergekommen, richtig? Ich hätte es in dem Moment wissen müssen, als ich dich heute abend gesehen habe. Ich hätte es gewußt, wenn mir nicht so viele andere Dinge durch meinen dummen alten Kopf gegangen wären.«

»Dahintergekommen? Davon bin ich noch meilenweit entfernt, aber einiges habe ich mir zuammengereimt. Lois, hast du Lust, mit mir ins Derry Home zu fahren?«

»Gerne. Möchtest du Bill besuchen?«

»Ich bin nicht sicher, wen ich besuchen möchte. Es könnte Bill sein, aber auch Bills Freund Bob Polhurst. Vielleicht sogar Jimmy Vandermeer - du kennst ihn doch?«

»Jimmy V.? Natürlich kenne ich ihn. Seine Frau kannte ich noch besser. Sie hat bis zu ihrem Tod mit uns Poker gespielt. Ein Herzanfall, und so plötzlich -« Sie verstummte unvermittelt und sah Ralph mit ihren dunklen spanischen Augen an. »Jimmy liegt im Krankenhaus? O Gott, es ist der Krebs, richtig? Der Krebs hat wieder angefangen.«

»Ja. Er liegt im Zimmer gleich neben Bills Freund.« Ralph erzählte ihr von der Unterhaltung mit Faye heute morgen und dem Zettel, den er am Nachmittag auf dem Picknickplatz gefunden hatte. Er wies auf die seltsame Konstellation der Zimmer und ihrer Bewohner hin - Polhurst, Jimmy V., Carolyn und fragte Lois, ob sie das für einen Zufall hielte.

»Nein. Ich bin sicher, daß es keiner ist.« Sie hatte auf die Uhr gesehen. »Komm mit - ich glaube, die reguläre Besuchszeit endet um halb zehn. Wenn wir vorher dort sein wollen, sollten wir uns besser beeilen.«

Als er jetzt in die Zufahrt zum Krankenhaus einbog (Du hast wieder vergessen den Blinker zu setzen, Herzblatt, bemerkte Carolyn), sah er Lois an - Lois, die ihre Handtasche umklammerte und deren Aura gerade nicht zu sehen war - und fragte sie, ob es ihr gut gehe.

Sie nickte. »Ja. Nicht gerade toll, aber einigermaßen. Mach dir um mich keine Sorgen.«

Aber ich mache mir Sorgen, Lois, dachte Ralph. Jede Menge. Und übrigens, hast du gesehen wie Doc Nr. 3 Joe Wyzer den Kamm aus der Tasche genommen hat?

Das war eine dumme Frage. Natürlich hatte sie es gesehen. Der kahle Gnom hatte gewollt, daß sie es sah. Er wollte, daß sie es beide sahen. Die wichtige Frage war, wieviel Bedeutung hatte sie dem beigemessen?

Wieviel weißt du wirklich, Lois? Wie viele Zusammenhänge hast du hergestellt? Das frage ich mich, denn eigentlich sind sie nicht so schwer zu sehen.

Er stellte fest, daß er Angst davor hatte, sie zu fragen.

Ein flaches Backsteingebäude lag etwa eine Viertelmeile entfernt an dem Zubringer - Woman-Care. Einige Scheinwerfer (neu aufgestellt, da war er ganz sicher) beleuchteten den Rasen, und Ralph konnte zwei Männer mit grotesk langen Schatten davor auf und ab marschieren sehen... Wachpersonal, vermutete er. Eine weitere Neuerung; ein weiteres böses Omen.

Er bog nach links ab (diesmal dachte er wenigstens an den Blinker) und fuhr mit dem Olds vorsichtig die Rampe zum Parkhaus des Hospitals hinauf. Oben versperrte eine orangefarbene Schranke den Weg. BITTE HALTEN UND PARKSCHEIN ZIEHEN stand auf einem Schild daneben. Ralph konnte sich noch erinnern, als richtige Menschen an solchen Orten gesessen hatten, was sie ein bißchen weniger unheimlich machte. Those were the days, myfriend, we thought they'd never end, dachte er, als er die Scheibe hinunterkurbelte und einen Parkschein aus dem automatischen Spender zog.

»Ralph?«

»Hm?« Er konzentrierte sich darauf, der Heckstoßstange eines der auf beiden Seiten der Fahrspur schräg parkenden Autos auszuweichen. Er wußte, die Durchfahrt war so breit, daß die Stoßstangen der anderen Autos kein Hindernis für ihn sein würden - intellektuell wußte er das -, aber in seinem Innersten wußte er es besser. Carolyn würde Zeter und Mordio wegen meiner Fahrweise schreien, dachte er mit einer gewissen geistesabwesenden Zuneigung.

»Weißt du, was wir hier wollen, oder tappst du im Dunkeln?«

»Einen Moment noch - laß mich erst die verdammte Karre parken.«

Er fuhr auf der ersten Etage an mehreren Parklücken vorbei, die groß genug für den Olds gewesen wären, aber er hatte nicht genügend Freiraum zum Manövrieren, daß er sich wohl in seiner Haut gefühlt hätte. Auf dem dritten Parkdeck fand er drei freie Plätze nebeneinander (zusammen hätte bequem ein Sherman Panzer Platz gehabt) und lotste den Olds in die mittlere Lücke. Er machte den Motor aus und drehte sich zu Lois um. Andere Motoren brummten ringsum im Leerlauf, aber aufgrund der Echos konnte man ihren Standort unmöglich bestimmen. Orangefarbenes Licht - das durchdringende, grelle Leuchten, das heutzutage sämtlichen derartigen Anlagen gemeinsam war, schien es - überzog ihre Haut wie eine dünne Schicht toxischer Farbe. Lois erwiderte seinen Blick gelassen. Er sah Nachwirkungen der Tränen, die sie wegen Rosalie vergossen hatte, an den aufgedunsenen, geschwollenen Lidern, aber die Augen selbst waren ruhig und sicher. Er registrierte erstaunt, wie sehr sie sich seit heute morgen verändert hatte, als er sie weinend und mit hängenden Schultern auf der Parkbank gesehen hatte. Lois, dachte er, wenn dein Sohn und deine Schwiegertochter dich heute abend sehen könnten, würden sie, glaube ich, schreiend davonlaufen. Aber nicht, weil du zum Fürchten aussiehst, sondern weil die Frau, die sie überreden wollten, ins Riverview Estates zu ziehen, nicht mehr da ist.

»Nun?« fragte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Wirst du mit mir reden oder mich nur ansehen?«

Ralph, normalerweise ein zurückhaltender Mann, sagte das erste, das ihm in den Sinn kam: »Ich glaube, ich möchte dich am liebsten schlecken wie ein Eis.«

Ihr Lächeln vertiefte sich so sehr, daß Grübchen an den Mundwinkeln sichtbar wurden. »Vielleicht versuchen wir später herauszufinden, wie groß dein Appetit auf Eis wirklich ist, Ralph. Im Augenblick solltest du mir nur sagen, weshalb du mich hierher gebracht hast. Und sag mir nicht, daß du es nicht weißt, das stimmt nämlich nicht.«

Ralph machte die Augen zu, holte tief Luft und schlug sie wieder auf. »Wir sind hier, um die beiden anderen Glatzköpfe zu finden. Die ich aus dem Haus von May Locher kommen gesehen habe. Wenn jemand erklären kann, was hier vor sich geht, dann sie.«

»Wie kommst du darauf, daß du sie hier finden wirst?«

»Ich glaube, sie haben Arbeit hier... zwei Männer, Jimmy V. und Bills Freund, liegen nebeneinander im Sterben. Ich hätte schon in dem Augenblick, als ich gesehen habe, wie die Notärzte Mrs. Locher zugedeckt auf der Bahre aus dem Haus brachten, wissen müssen, was die kahlköpfigen Ärzte sind was sie tun. Ich hätte es gewußt, wenn ich nicht so verdammt müde gewesen wäre. Die Schere wäre Beweis genug gewesen. Statt dessen bin ich erst heute nachmittag darauf gekommen, und das auch nur wegen etwas, das Mr. Polhursts Nichte zu mir gesagt hat.«

»Und das wäre?«

»Daß der Tod blöd ist. Wenn ein Geburtshelfer soviel Zeit brauchen würde, um eine Nabelschnur durchzuschneiden, würde er wegen Unfähigkeit gefeuert werden. Dabei mußte ich an einen Mythos denken, den ich in der Grundschule gelesen habe, als ich nicht genug von Göttern und Göttinnen und trojanischen Pferden bekommen konnte. Die Geschichte handelte von drei Schwestern - möglicherweise den griechischen Schwestern, möglicherweise auch den unheimlichen Schwestern. Scheiße, frag mich nicht; ich vergesse ja meistens sogar, den verfluchten Blinker zu setzen. Wie dem auch sei, diese drei Schwestern waren für den Verlauf des gesamten Menschenlebens verantwortlich. Eine spann den Faden, eine entschied, wie lang er sein würde... klingelt da was bei dir, Lois?«

»Aber natürlich!« rief sie fast. »Die Ballonschnüre!«

Ralph nickte. »Ja. Die Ballonschnüre. An die Namen der beiden ersten Schwestern kann ich mich nicht erinnern, aber den Namen der dritten habe ich nie vergessen - er lautet Atropos, und der Geschichte zufolge, besteht ihre Aufgabe darin, den Faden abzuschneiden, den die erste spinnt und die zweite mißt. Man konnte mit ihr diskutieren, man konnte sie anflehen, das alles änderte nichts. Wenn sie beschloß, daß es Zeit wurde, ihn abzuschneiden, dann schnitt sie ihn ab.«

Lois nickte. »Ja, ich erinnere mich an die Geschichte. Ich weiß nicht, ob ich sie gelesen habe oder ob sie mir als Kind jemand vorgelesen hat. Du glaubst, daß sie wirklich wahr ist, Ralph, oder nicht? Nur haben wir es statt mit den griechischen Schwestern mit den kahlköpfigen Brüdern zu tun.«

»Ja und nein. Soweit ich mich erinnern kann, standen die Schwestern alle auf derselben Seite - ein Team. Das ist auch der Eindruck, den ich bei den beiden Männern hatte, die aus Mrs. Lochers Haus gekommen sind, daß sie seit langer Zeit Partner sind und großen Respekt voreinander empfinden. Aber der andere Kerl, den wir heute abend wiedergesehen haben, ist nicht wie sie. Ich glaube, Doc Nr. 3 ist ein Schurke.«

Lois erschauerte, eine theatralische Geste, die erst im letzten Augenblick echt wurde. »Er ist schrecklich, Ralph. Ich hasse ihn.«

»Kann ich dir nicht verdenken.«

Er streckte die Hand zum Türgriff aus, aber Lois hielt ihn mit einer Berührung zurück. »Ich habe gesehen, wie er etwas getan hat.«

Ralph drehte sich um und sah sie an. Die Sehnen in seinem Hals ächzten eingerostet. Er wußte ziemlich genau, was sie sagen würde.

»Er hat dem Mann, der Rosalie überfahren hat, etwas aus der Tasche genommen. Aber es war nur ein Kamm. Und der Hut, den der Kahlköpfige getragen hat... ich bin ziemlich sicher, daß ich ihn kenne.«

Ralph sah sie an und hoffte inbrünstig, daß Lois' Erinnerung an die Habseligkeiten von Doc Nr. 3 nicht weiter reichte.

»Es war Bills Hut, nicht? Bills Panama.«

Ralph nickte. »Das war er.«

Lois machte die Augen zu. »O Gott.«

»Was sagst du, Lois? Bist du noch dabei?«

»Ja.« Sie machte ihre Tür ajf und schwang die Beine hinaus. »Aber laß uns gleich gehen, bevor ich den Mut verliere.«

»Das sagst du ausgerechnet mir«, antwortete Ralph Roberts.

Als sie sich dem Haupttor des Derry Home näherten, beugte sich Ralph zu Lois' Ohr und murmelte: »Spürst du es auch?«

»Ja.« Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Herrgott, ja. Diesmal ist es stark nicht?«

Als sie durch die elektronische Lichtschranke gingen und die Tür des Krankenhauses vor ihnen aufschwang, schälte sich die Oberfläche der Welt plötzlich ab wie die Schale einer exotischen Frucht und offenbarte eine andere Welt, die vor unsichtbaren Farben überquoll und von unsichtbaren Gestalten wimmelte. Oben jagten sich dunkelbraune Schatten vor dem Wandfresko, das Derry zeigte, wie es in seiner Blütezeit als Holzfällerstadt um die Jahrhundertwende gewesen war, und rückten immer dichter zusammen, bis sie einander berührten. Wenn das geschah, leuchteten sie kurz dunkelgrün auf und wechselten die Richtung. Ein heller, silberner Trichter, der wie eine Wasserhose oder ein Spielzeugzyklon aussah, kam die geschwungene Treppe herunter, die zu den Wartezimmern im ersten Stock, zur Cafeteria und zum Auditorium führte. Das breite obere Ende nickte hin und her, wenn es von einer Stufe zur nächsten sprang, und Ralph hatte das deutliche Gefühl, daß es sich um etwas Freundliches handelte, wie eine anthropomorphe Figur in einem Disney-Zeichentrickfilm. Vor Ralphs Augen eilten zwei Männer mit Aktentaschen die Treppe hinauf, und einer ging direkt durch den silbernen Trichter. Er machte nicht einmal eine Pause im Gespräch mit dem anderen Mann, aber als er auf der anderen Seite herauskam, konnte Ralph sehen, wie er sich abwesend mit der freien Hand die Haare glattstrich... obwohl kein einziges zerzaust worden war.

Der Trichter erreichte die unterste Stufe, sauste in einer engen Acht in der Mitte der Lobby herum und verschwand einfach; nur ein schwacher, rosiger Nebel blieb zurück, der sich rasch auflöste.

Lois stieß Ralph den Ellbogen in die Seite, wollte in die Richtung des Bereichs jenseits vom Empfang deuten, überlegte sich, daß sie von Menschen umgeben waren, und begnügte sich statt dessen damit, mit dem Kinn in die Richtung zu nicken. Vorhin hatte Ralph eine Gestalt am Himmel gesehen, die einem großen prähistorischen Vogel glich. Jetzt erblickte er so etwas wie eine lange, durchsichtige Schlange. Sie glitt über einem Schild an der Decke entlang, auf dem stand: ZUM BLUTTEST BITTE HIER WARTEN.

»Lebt es?« flüsterte Lois erschrocken.

Ralph sah genauer hin und stellte fest, daß das Ding keinen Kopf hatte... und auch keinen ersichtlichen Schwanz. Er vermutete, daß es lebte - wie er glaubte, daß alle Auras irgendwie von Leben beseelt waren -, aber er glaubte nicht, daß es sich tatsächlich um eine Schlange handelte und bezweifelte, daß es gefährlich sein würde, jedenfalls nicht für ihresgleichen.

»Reg dich nicht über Kleinigkeiten auf, Liebling«, flüsterte er zurück, während sie sich in die kurze Reihe der vor dem Informationsschalter Wartenden stellten, und noch während er das sagte, schien das Schlangenwesen mit der Decke zu verschmelzen und verschwand.

Ralph wußte nicht, wie bedeutend solche Wesen wie der Vogel oder der Zyklon im großen Plan der heimlichen Welt waren, aber er war überzeugt, daß Menschen trotz allem die Hauptattraktion bildeten. Die Halle des Derry Home glich den atemberaubenden Feuerwerken zum vierten Juli, nur übernahmen bei diesem Feuerwerk Menschen die Rolle von Wunderkerzen und Leuchtfontänen.

Lois steckte ihm einen Finger in den Kragen und zog seinen Kopf zu sich herunter. »Du wirst reden müssen, Ralph«, sagte sie mit einer kraftlosen, erstaunten dünnen Stimme. »Ich muß mich schon anstrengen, damit ich mir nicht in die Hose pinkle.«

Der Mann vor ihnen gab den Schalter frei, und Ralph rückte vor. Dabei wurde eine deutliche, nostalgisch gefärbte Erinnerung an Jimmy V. aus seinem Gedächtnis an die Oberfläche gespült. Sie waren irgendwo in Rhode Island unterwegs gewesen -möglicherweise Kingston - und hatten, einer Eingebung folgend, beschlossen, daß sie die Zeltmissionbesuchen wollten, die in der Nähe auf einer Wiese stattfand. Selbstverständlich waren sie beide sturzbetrunken gewesen. Zwei blitzsaubere junge Damen standen vor den zurückgeschlagenen Klappen des Zelteingangs und verteilten Broschüren, und als er und Jimmy sich dem Eingang genähert hatten, hatten sie einander mit alkoholgetränktem Atem zugeflüstert, sie wollten sichbenehmen, als wären sie nüchtern, verdammt, als wären sie nüchtern. Waren sie an dem Tag reingelassen worden? Oder -

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte die Frau an der Information in einem Tonfall, der ausdrückte, daß sie Ralph einen Riesengefallen tat, wenn sie überhaupt das Wort an ihn richtete. Er betrachtete sie durch das Glas des Schalters und sah die wahre Frau hinter der umwölkten orangefarbenen Aura, die wie ein brennender Dornbusch aussah. Hier haben wir eine Liebhaberin der schönen Literatur, die äußersten Wert auf Etikette legt, dachte er, und direkt im Anschluß daran erinnerte er sich, daß die beiden jungen Damen am Zelteingang einmal in ihre Richtung geschnuppert und sie höflich, aber bestimmt abgewiesen hatten. Er und Jimmy V. hatten den Abend in einer Spelunke in Central Falls verbracht, soweit er sich erinnerte, und konnten sich wahrscheinlich glücklich schätzen, daß sie nicht überfahren worden waren, als sie nach der Sperrstunde hinaustorkelten.

»Sir?« fragte die Frau hinter dem verglasten Schalter ungeduldig. »Kann ich Ihnen helfen?«

Ralph wurde mit einem Poltern in die Gegenwart zurückgeholt, das er fast spüren konnte. »Ja, Ma'am. Meine Frau und ich würden gern Jimmy Vandermeer im zweiten Stock besuchen, wenn -«

»Intensivstation!« bellte sie. »Ohne Sondergenehmigung dürfen Sie nicht in die Intensivstation.« Orangefarbene Haken bohrten sich aus dem Leuchten um ihren Kopf, und ihre Aura sah wie Stacheldraht um ein geisterhaftes Niemandsland herum aus.

»Ich weiß«, sagte Ralph unterwürfiger denn je, »aber mein Freund Lafayette Chapin hat gesagt -«

»Herrje!« unterbrach ihn die Frau. »Wunderbar, daß jeder einen Freund hat. Wirklich wunderbar.« Sie warf in gespielter Verzweiflung einen Blick zur Decke.

»Faye hat gesagt, daß Jimmy trotzdem Besuche empfangen darf. Sehen Sie, er hat Krebs und nicht mehr lange zu l -«

»Ich sehe in den Unterlagen nach«, sagte die Frau im verdrossenen Tonfall von jemanden, der weiß, daß er sich vergeblich die Mühe macht, »aber der Computer ist heute abend ziemlich langsam, daher wird es eine Weile dauern. Nennen Sie mir Ihren Namen, dann können Sie und Ihre Frau da drüben Platz nehmen. Ich rufe Sie auf, sobald -«

Ralph war der Meinung, daß er genug vor diesem bürokratischen Wachhund zu Kreuze gekrochen war. Schließlich wollte er kein Ausreisevisum aus Albanien; ein gottverdammter Passierschein für die Intensivstation genügte ja schon.

Unter der Glasplatte des Schalters befand sich ein Schlitz. Ralph streckte die Hand durch und ergriff das Handgelenk der Frau, bevor sie es wegziehen konnte. Er spürte das schmerzlose aber sehr deutliche Gefühl, wie die orangefarbenen Haken direkt durch sein Fleisch fuhren, ohne einen Halt zu finden. Ralph drückte sanft und verspürte ein geringes Quantum Kraft - nicht größer als ein Schrotkügelchen, wenn er es hätte sehen können -, das von ihm auf die Frau überging. Plötzlich nahm die offiziöse orangefarbene Aura um ihren linken Arm und die Seite herum den blassen Türkiston von Ralphs Aura an. Sie stöhnte und zuckte auf ihrem Stuhl nach vorne, als hätte ihr gerade jemand einen Pappbecher voll Eiswürfel in den Ausschnitt gekippt.

[»Vergessen Sie den Computer. Geben Sie mir bitte einfach zwei Passierscheine. Sofort.«]

»Ja, Sir«, sagte sie augenblicklich, worauf Ralph ihr Handgelenk losließ, damit sie unter den Schreibtisch greifen konnte. Das türkisfarbene Leuchten um ihren Arm herum wurde wieder orange; die Farbveränderung breitete sich von der Schulter am Arm entlang aus.

Aber ich hätte sie ganz blau machen können, dachte Ralph. Sie übernehmen. Sie durch den Raum tanzen lassen wie ein aufgezogenes Spielzeug.

Plötzlich fiel ihm ein, wie Ed das Evangelium nach Matthäus zitiert hatte - Da Herodes nun sah, daß er von den Weisen betrogen worden war, ward er sehr zornig - und eine Mischung aus Angst und Scham erfüllte ihn. Auch mußte er wieder an Vampirismus denken, und ein Text aus einem alten Pogo-Comic fiel ihm ein: Wir haben den Feind getroffen, und wir sind es selbst. Ja, wahrscheinlich hätte er mit diesem schlechtgelaunten Frauenzimmer in der orangefarbenen Aura alles anstellen können, was er wollte; seine Batterie war voll geladen. Das Problem war nur, der Saft in dieser Batterie - und in der von Lois - war gestohlen.

Als die Dame am Informationsschalter die Hand wieder unter dem Schreibtisch hervorholte, hielt sie zwei laminierte rosa Plaketten mit der Aufschrift INTENSIVSTATION/BESUCHER darin. »Hier sind sie, Sir«, sagte sie mit einer höflichen Stimme, die in krassem Gegensatz zu dem Feldwebelton stand, mit dem sie ihn zuerst angesprochen hatte. »Genießen Sie Ihren Besuch und herzlichen Dank für Ihre Geduld.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Ralph. Er nahm die beiden Plaketten und ergriff Lois' Hand. »Komm mit, Teuerste. Wir müssen [»Ralph, was hast du mit ihr GEMACHT?«]

[»Nichts, schätze ich - ich denke, es geht ihr gut.«] nach oben gehen und unseren Besuch machen, bevor es zu spät ist.«

Lois sah zu der Frau am Informationsschalter. Sie kümmerte sich um ihren nächsten Kunden, aber langsam, als wäre ihr gerade eine ziemlich verblüffende Offenbarung zuteil geworden, über die sie erst nachdenken mußte. Das blaue Leuchten war jetzt nur noch an ihren Fingerspitzen zu sehen, und es verschwand vor Lois' Augen völlig.

Lois sah wieder zu Ralph auf und lächelte.

[»Ja...es GEHT ihr gut. Also hör auf, so hart mit dir ins Gericht zugehen.«]

[»Habe ich das getan?«]

[»Ich glaube ja... wir reden schon wieder so, Ralph.«]

[»Ich weiß.«]

[»Ralph?«]

[»Ja?«]

[»Das ist alles ganz wunderbar, oder nicht?«]

[»Ja.«]

Ralph versuchte, was er sonst noch dachte, vor ihr zu verheimlichen: Wenn der Preis für etwas so Wunderbares verlangt wurde, würden sie feststellen, daß er sehr hoch sein würde.

[»Hör auf, das Baby anzustarren, Ralph. Du machst seine Mutter nervös.«]

Ralph betrachtete die Frau, in deren Armen das Baby schlief, und sah, daß sie recht hatte... aber es war schwer, nicht hinzusehen. Das Baby, nicht älter als drei Monate, lag in der Kapsel einer heftig wallenden grau-gelben Aura. Dieses mächtige, aber beunruhigende Wetterleuchten umkreiste den winzigen Körper mit der idiotischen Geschwindigkeit der Atmosphäre eines Riesenplaneten - Jupiter, zum Beispiel, oder Saturn.

[»Himmel, Lois, das ist ein Hirnschaden, nicht?«]

[»Ja. Die Frau spricht von einem Autounfall.«]

[»Spricht? Hast du mit ihr geredet?«]

[»Nein. Es ist—«J [»Ich verstehe nicht.«]

[»Willkommen im Club.«]

Der übergroße Krankenhausfahrstuhl quälte sich langsam in die Höhe. Die Insassen - die Lahmen, die Hinkenden, die wenigen schuldbewußten Gesunden - sagten kein Wort und richteten die Blicke entweder auf die Stockwerkanzeige über der Tür oder auf ihre eigenen Schuhe. Die einzige Ausnahme war die junge Frau mit dem behinderten Baby. Sie betrachtete Ralph mißtrauisch und erschrocken, als würde sie damit rechnen, daß er sich jeden Moment auf sie stürzen und versuchen würde, ihr das Baby aus den Armen zu reißen.

Es ist nicht nur, weil ich sie angesehen habe, dachte Ralph. Jedenfalls glaube ich das nicht. Sie hat gespürt, daß ich an ihr Baby gedacht habe. Hat mich gespürt... mich wahrgenommen... mich gehört... irgend so was.

Der Fahrstuhl hielt im ersten Stock, die Türen gingen quietschend auf. Die Frau mit dem Baby drehte sich zu Ralph um. Das Kind regte sich etwas dabei, und Ralph konnte seinen Scheitel sehen. Dort befand sich eine tiefe Furche in dem winzigen Schädel. Eine rote Narbe verlief darin. Ralph fand, sie sah wie Brackwasser auf dem Grund eines schmalen Grabens aus. Die häßliche und verwirrte grau-gelbe Aura, die das Baby umgab, drang aus dieser Narbe wie Dampf aus einer Erdspalte. Die Ballonschnur des Babys hatte dieselbe Farbe wie die Aura, aber keine Ähnlichkeit mit den Ballonschnüren, die Ralph bisher gesehen hatte - sie sah nicht ungesund aus, sondern kurz und häßlich, nicht mehr als ein Stummel.

»Hat Ihre Mutter Ihnen denn keine Manieren beigebracht?« wandte sich die Mutter des Babys an Ralph, aber nicht der Vorwurf machte Ralph betroffen, sondern die Art, wie sie ihn vorbrachte. Er hatte ihr einen großen Schrecken eingejagt-

»Madam ich versichere Ihnen -«

»Ja, versichern Sie, was Sie wollen«, sagte sie und verließ den Fahrstuhl. Die Fahrstuhltüren glitten langsam wieder zu. Ralph sah Lois an, und zwischen den beiden herrschte ein kurzes, aber vollkommenes Einvernehmen. Lois winkte mit dem Finger zur Tür, als wollte sie sie ausschimpfen, und eine graue, gitterähnliche Substanz strömt aus der Fingerspitze. Die Türen trafen darauf und glitten in ihre Schlitze zurück, wie es ihre Programmierung vorsah, wenn sie auf ein Hindernis trafen.

[»Madam!«]

Die Frau drehte sich eindeutig verwirrt um. Sie richtete argwöhnische Blicke überallhin, um festzustellen, wer sie angesprochen hatte. Ihre Aura hatte eine dunkelgelbe Butterfarbe mit hellen, orangefarbenen Schlieren, die aus dem Inneren kamen. Ralph sah ihr direkt in die Augen.

[»Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Dies ist alles ziemlich neu für mich und meine Freundin, Wir sind wie Kinder bei einem Galaempfang. Ich entschuldige mich.«]

Er wußte nicht genau, was sie übermitteln wollte - es war, als würde man jemanden in einer schalldichten Kabine sprechen sehen -, aber er spürte Erleichterung und ein tiefempfundenes Unbehagen... die Art von Unbehagen, die Menschen empfinden können, wenn sie denken, sie sind bei etwas beobachtet worden, das sie nicht tun sollten. Ihr zweifelnder Blick ruhte noch einen Moment auf seinem Gesicht, dann drehte sie sich um und ging hastig den Flur entlang auf ein Schild zu mit der Aufschrift NEUROLOGISCHE UNTERSUCHUNG. Das graue Gitter, das Lois zur Tür geschleudert hatte, wurde dünner, und als die Tür sich wieder schließen wollte, schnitt sie es sauber durch. Die Kabine setzte ihre langsame Aufwärtsfahrt fort.

[»Ralph... Ralph, ich glaube, ich weiß, was mit dem Baby passiert ist.«]

Sie streckte die rechte Hand nach seinem Gesicht aus und schob sie mit der Handfläche nach unten zwischen seine Nase und seinem Mund. Sie preßte den Daumenballen behutsam gegen einen seiner Wangenknochen und den Zeigefinger leicht gegen den anderen. Das geschah so schnell und selbstsicher, daß es sonst niemand im Fahrstuhl bemerkte. Und selbst wenn einem der drei anderen Mitfahrer etwas aufgefallen wäre, sie hätten nur eine ordentliche Ehefrau gesehen, die einen Tropfen Hautcreme oder ein Klümpchen Rasierschaum wegwischte -nur das, und sonst nichts.

Ralph war, als hätte jemand einen Starkstromschalter in seinem Gehirn gedrückt, der ganze Stadionflutlichter einschaltete. In deren grellem, kurz aufblitzenden Licht sah er ein Bild des Grauens: Hände in einer brutalen, purpur-braunen Aura, die in eine Wiege griffen und das Baby herauszogen, das er und Lois gerade gesehen hatten. Es wurde hin und her geschüttelt, der Kopf rollte und nickte auf dem dünnen Hals wie der einer Flickenpuppe - und es wurde geworfen -

Da wurden die Lichter in seinem Kopf schwarz, und Ralph stieß einen harschen, bebenden Seufzer der Erleichterung aus. Er dachte an die Abtreibungsgegner und ihre Demonstration, die er in den Abendnachrichten gesehen hatte, Männer und Frauen mit Spruchbändern, auf denen das Bild von Susan Day zu sehen war und WEGEN MORDES GESUCHT stand, Männer und Frauen im Gewand des Sensenmannes, Männer und Frauen mit einem Transparent, auf dem man lesen konnte: LEBEN, WAS FÜR EINE WUNDERBARE ENTSCHEIDUNG.

Er fragte sich, ob das behinderte Baby dazu nicht vielleicht eine andere Meinung hatte. Er sah Lois' fassungslosen, gequälten Blick und tastete nach ihrer Hand.

[»Der Vater hat es getan, richtig? Er hat das Kind gegen die Wand geworfen.«]

[»Ja. Das Baby hat nicht aufgehört zu schreien.«]

[»Und sie weiß es. Sie weiß es, aber sie hat es keinem gesagt.«]

[»Nein... doch möglicherweise tut sie es, Ralph. Sie denkt darüber nach.«]

[»Vielleicht wartet sie auch, bis er es wieder tut. Und nächstesmal bringt er es vielleicht zu Ende.«]

Da kam Ralph ein schrecklicher Gedanke; er schoß wie ein Meteor, der kurzzeitig ein Feuer am mitternächtlichen Sommerhimmel entzündet, durch seinen Geist: Möglicherweise war es besser, wenn er es zu Ende brachte. Die Ballonschnur des behinderten Babys war nur ein Stummel gewesen, aber ein gesunder Stummel. Das Kind lebte vielleicht noch jahrelang, ohne zu wissen, wer es war oder wo es war, geschweige denn, warum es war, und es würde Leute kommen und gehen sehen wie Bäume im Nebel...

Lois stand mit hängenden Schultern da, betrachtete den Boden des Fahrstuhls und strahlte eine Traurigkeit aus, die Ralph fast das Herz brach. Er streckte die Hand aus, legte ihr einen Finger unter das Kinn und sah, wie eine filigrane blaue Rose aus der Stelle erblühte, wo seine Aura ihre berührte. Er hob ihren Kopf und war nicht überrascht, als er Tränen in ihren Augen sah.

»Findest du immer noch, daß alles wunderbar ist, Lois?« fragte er leise, und darauf erhielt er keine Antwort, weder akustisch noch im Geiste.

Sie waren die einzigen, die im zweiten Stock ausstiegen, wo die Stille so dicht war wie der Staub unter Bibliotheksregalen. Zwei Schwestern standen auf halbem Weg im Flur, drückten Notizblöcke an weißgekleidete Busen und unterhielten sich flüsternd. Alle anderen im Fahrstuhl sahen sie wahrscheinlich an und vermuteten eine Unterhaltung über Leben, Tod und heldenhafte Rettungsmaßnahmen; Ralph und Lois dagegen warfen nur einen Blick auf ihre sich überlappenden Auren und wußten, das Thema war, wohin sie nach Schichtende etwas trinken gehen sollten.

Ralph sah es und gleichzeitig auch nicht, so wie ein in tiefes Nachdenken versunkener Mann Verkehrsampeln sieht, ohne sie richtig wahrzunehmen. Der größte Teil seines Verstands war mit einem tödlichen Gefühl von deja vu beschäftigt, das über ihn gekommen war, als er und Lois aus dem Fahrstuhl in diese Welt getreten waren, wo das leise Quietschen der Schuhe der Krankenschwestern auf dem Linoleum sich fast genauso anhörte wie das leise Piepsen der Lebenserhaltungssysteme.

Zimmer mit geraden Nummern links; mit ungeraden Nummern rechts, dachte er, und 217, wo Carolyn gestorben ist, liegt neben der Schwesternstation. Es war 217 - daran erinnere ich mich. Jetzt, wo ich wieder hier bin, erinnere ich mich an alles. Wie jemand ihr Krankenblatt immer verkehrt herum in den kleinen Rahmen an der Tür gesteckt hat. Wie das Licht an sonnigen Tagen als verzerrtes Rechteck auf ihr Bett fiel. Wie man auf dem Besuchersessel sitzen und die Stationsschwester beobachten konnte, deren Aufgabe darin bestand, Monitorsignale, Telefonanrufe und Pizzabestellungen zu überwachen.

Dasselbe. Alles dasselbe. Es war wieder Anfang März, das düstere Ende eines grauen, verhangenen Tages, Hagel tschickschackte gegen das offene Fenster von Zimmer 217, und er saß seit dem frühen Morgen auf dem Besucherstuhl und hatte eine zugeklappte Ausgabe von Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reiches auf dem Schoß liegen. Er saß da und wollte nicht einmal aufstehen, um zur Toilette zu gehen, weil die Todesuhr mittlerweile fast abgelaufen war; jedes Ticken war ein Schlurfen, die Zeitspanne zwischen jedem Ticken ein Leben; seine Lebensgefährtin mußte einen Zug erwischen, und er wollte am Bahnsteig stehen und sie verabschieden. Er würde nur eine Chance bekommen, es richtig zu machen.

Er konnte die Hagelkörner mühelos hören, die immer schneller und heftiger wurden, denn das Lebenserhaltungssystem war abgeschaltet worden. In der letzten Februarwoche hatte Ralph aufgegeben; Carolyn, die in ihrem ganzen Leben niemals aufgegeben hatte, hatte etwas länger gebraucht, um die Botschaft zu verstehen. Aber was genau war die Botschaft? Nun, daß bei einem harten Kampf auf zehn Runden, Carolyn Roberts gegen den Krebs, der Krebs, der ungeschlagene Schwergewichtsweltmeister, als Sieger durch technischen K.o. hervorging.

Er hatte auf dem Besucherstuhl gesessen und beobachtet und gewartet, während ihr Atem immer schwerer ging - das lange, seufzende Ausatmen, die flache, fast reglose Brust, die zunehmende Gewißheit, daß der letzte Atemzug tatsächlich der letzte Atemzug gewesen, daß die Uhr abgelaufen war, der Zug den Bahnsteig erreicht hatte, um den einzigen Passagier an Bord zu nehmen... und dann kam ein gewaltiges, unbewußtes Keuchen, als sie die nächste Lungevoll der unfreundlichen Luft einsaugte, allerdings nicht mehr im normalen Sinne atmete, sondern sich von Atemzug zu Atemzug schleppte wie ein Betrunkener, der den dunklen Flur eines billigen Hotels entlangtorkelt.

Tschick-tschick-tschack-tschack: Hagel trommelte mit unsichtbaren Fingernägeln gegen die Fenster, während der schmutziggraue Märztag in eine schmutziggraue Dunkelheit überging und Carolyn die letzte Hälfte ihrer letzten Runde kämpfte. Da war sie selbstverständlich nur noch mit Autopilot geflogen; das Gehirn, das einmal in diesem wunderschön gearbeiteten Schädel existiert hatte, war nicht mehr. Es war von einem Mutanten ersetzt worden - einem dummen, grauschwarzen Delinquenten, der nicht denken oder fühlen konnte, nur fressen und fressen und fressen, bis er sich selbst zu Tode geschlungen hatte.

Tschick-tschick-tschack-tschack, und er hatte gesehen, daß sich das T-förmige Atmungsrohr in ihrer Nase verschoben hatte. Er wartete darauf, daß sie einen ihrer schrecklichen, gequälten Atemzüge aus der Luft saugen würde, und als sie ausatmete, beugte er sich nach vorne und rückte das kleine Plastikröhrchen wieder zurecht. Er hatte ein wenig Rotz an die Finger bekommen, daran erinnerte er sich noch, und wischte sie an einem Kleenex aus der Box auf dem Nachttisch ab. Er hatte sich zurückgelehnt, auf den nächsten Atemzug gewartet, wollte sich vergewissern, daß die Nasenröhre sich nicht wieder verschob, aber es kam kein nächster Atemzug, und ihm war klar geworden: Das Ticken, das er seit dem vergangenen Sommer überall gehört hatte, war verstummt.

Er erinnerte sich, wie er wartete, während die Minuten verstrichen - eine, dann drei, dann sechs -, weil er nicht glauben wollte, daß die guten Jahre und schönen Anlässe (nichtzu vergessen die wenigen unschönen) auf diese klägliche und tonlose Weise zu Ende gegangen sein sollten. Ihr Radio, das auf einen lokalen Musiksender eingestellt war, spielte leise in der Ecke, und er hörte »Scarborough Fair« von Simon and Garfunkel. Sie sangen es bis zum Ende. Danach kam Wayne Newton und sang »Danke Shoen.« Er sang es bis zum Ende. Danach kam der Wetterbericht, aber bevor der Sprecher erzählen konnte, wie das Wetter an Ralph Roberts erstem Tag als Witwer werden würde, die Einzelheiten über Tiefdruckzonen und Kälte und Windböen aus Nordost, sah Ralph es schließlich ein. Die Uhr hatte aufgehört zu ticken, der Zug war angekommen, der Boxkampf war vorbei. Und sämtliche Metaphern waren zu Boden gefallen, zurück blieb nur die Frau in dem Zimmer, in dem es endlich still geworden war. Ralph fing an zu weinen. Er war weinend in die Ecke gestolpert und hatte das Radio ausgeschaltet. Er erinnerte sich an den Sommer, als sie einen Kurs in Malen mit Fingerfarben besucht hatten, und an die Nacht, als sie ihre nackten Körper mit den Fingern bemalt hatten. Bei dieser Erinnerung mußte er noch mehr weinen. Er ging zum Fenster, lehnte den Kopf an die kalte Glasscheibe und weinte. Während dieser ersten, schrecklichen Minute der Einsicht wollte er nur eines: selber tot sein. Eine Schwester hörte ihn weinen und kam herein. Sie versuchte, Carolyns Puls zu messen. Ralph sagte ihr, sie sollte aufhören, sich wie eine Närrin zu benehmen. Sie kam zu Ralph herüber, und er glaubte einen Moment, sie würde versuchen, seinen Puls zu messen. Statt dessen hatte sie die Arme um ihn gelegt.

Sie -

[»Ralph? Ralph, alles in Ordnung?«]

Er drehte sich zu Lois um und wollte ihr sagen, daß es ihm bestens ging, aber dann fiel ihm ein, daß er in diesem Stadium kaum etwas vor ihr verbergen konnte.

[»Ich bin traurig. Zu viele Erinnerungen hier drinnen. Und keine guten.«]

[»Ich verstehe... aber sieh nach unten, Ralph! Schau auf den Boden!«]

Er gehorchte und riß die Augen auf. Auf dem Boden befanden sich verschiedene bunte Fußspuren, einige frisch, aber die meisten verblaßten bereits. Zwei zeichneten sich deutlich vom Rest ab, sie funkelten wie Diamanten in einem Haufen stumpfer Imitationen. Ihre Farbe war leuchtend grün-golden, mit einigen winzigen roten Fleckchen darin.

[»Sind die von denen, nach denen wir suchen, Ralph?«]

[»Ja - die Docs sind hier.«]

Ralph nahm Lois' Hand - die sich sehr kalt anfühlte - und führte sie langsam den Flur entlang.

Kapitel 17

Sie waren noch nicht weit gekommen, als etwas Seltsames und ziemlich Furchteinflößendes geschah. Einen Augenblick blutete die Welt vor ihren Augen weiß. Die Türen der Zimmer entlang des Flurs, in diesem grellweißen Dunst kaum zu erkennen, schwollen zur Größe von Garagentoren an. Der Flur selbst schien gleichzeitig länger und höher zu werden. Ralph spürte, wie sich sein Magen hob wie damals, als er noch ein Teenager war und häufig mit der Dust-Devil-Achterbahn in Old Orchard Beach gefahren war. Er hörte Lois stöhnen, dann drückte sie seine Hand mit der Kraft der Panik.

Das Weiß währte nur einige Sekunden, dann strömte wieder Farben in die Welt ein, aber sie wirkten heller und leuchtender als noch vor einem Augenblick. Auch die normale Perspektive erlangte wieder Geltung, aber die Gegenstände sahen irgendwie dicker aus. Die Auren waren noch da, aber sie schienen dünner und blasser zu sein - Heiligenscheine in Pastelltönen statt Primärfarben wie aus der Spraydose.

Gleichzeitig stellte Ralph fest, daß er jeden Riß und jede Pore in der Betonwand zu seiner Linken sehen konnte... und dann wurde ihm klar, er konnte die Röhren, Leitungen, Kabel und die Isolierung hinter den Wänden sehen, wenn er wollte; er mußte nur hinsehen.

O mein Gott, dachte er. Passiert das alles wirklich? Kann das alles wirklich passieren?

Überall Geräusche: gedämpfte Glocken, eine Toilettenspülung, verhaltenes Gelächter. Geräusche, die man normalerweise als Bestandteile des täglichen Lebens völlig überhörte, aber jetzt nicht. Nicht hier. Die Geräusche schienen, wie die sichtbare Realität der Gegenstände, eine außergewöhnliche sinnliche Beschaffenheit zu haben, wie dünne, einander überlappende Schichten aus Seide und Stahl.

Aber nicht alle Geräusche waren gewöhnlich; eine ganze Menge exotische zogen sich durch das Sammelsurium. Er hörte tief in einer Heizungsleitung eine Fliege summen. Ein Geräusch wie feines Schmirgelpapier, als eine Schwester in der Personaltoilette ihre Strumpfhose hochzog. Herzschlag. Zirkulierendes Blut. Die sanften Gezeiten des Atmens. Jedes Geräusch war auf seine Weise perfekt; fügte sich in die anderen ein zu einem wunderschönen und komplexen Hörballett - einem verborgenen Schwanensee knurrender Mägen, summender Steckdosen, wirbelsturmgleicher Föhns, flüsternder Reifen von Krankenhausbahren. Ralph konnte einen Fernseher am Ende des Flurs hinter dem Schwesternzimmer hören. Aus Zimmer 240, wo Mrs. Thomas Wren, eine Patientin mit einem Nierenleiden, Kirk Douglas und Lana Turner in Die Stadt der Illusionen sah. »Wenn du dich mit mir zusammentust, werden wir diese Stadt aus den Angeln heben, Baby«, sagte Kirk, und Ralph erkannte an der Aura, die diese Worte umgab, daß Mr. Douglas am Tag, als diese spezielle Szene gedreht worden war, Zahnweh gehabt hatte. Und das war längst nicht alles; er wußte, er konnte (höher? tiefer? weiter?) gehen, wenn er wollte. Ralph wollte es eindeutig nicht, dies war der Wald von Arden, und man konnte sich in seinem Dickicht verirren.

Oder von Tigern aufgefressen werden.

[»Herrgott! Eine neue Ebene - das muß es sein, Lois! Eine völlig neue Ebene!«]

[»Ich weiß.«]

[»Wirst du damit fertig?«]

[»Ich glaube ja, Ralph... und du?«]

[»Ich denke auch, vorläufig... aber wenn der Boden wieder wegrutscht, weiß ich nicht. Komm mit.«]

Aber bevor sie den grün-goldenen Spuren weiter folgen konnten, kamen Bill McGovern und ein Mann, den Ralph nicht kannte, aus Zimmer 213. Sie waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft.

Lois drehte sich voller Entsetzen zu Ralph um.

[»O nein! O Gott, nein! Siehst du es, Ralph? Siehst du es?«]

Ralph hielt ihre Hand fester. Er sah es auch. McGoverns Freund war von einer pflaumenfarbenen Aura umgeben. Sie sah nicht besonders gesund aus, aber Ralph glaubte auch nicht, daß der Mann ernsthaft krank war; nur eine Menge chronische Sachen wie Rheuma und Nierensteine. Eine Ballonschnur derselben purpurnen Farbe stieg vom Kopf des Mannes auf und wogte sanft hin und her wie der Luftschlauch eines Tauchers in schwacher Strömung.

McGoverns Aura dagegen war völlig schwarz. Der Stumpf, der einmal eine Ballonschnur gewesen war, ragte steil in die Höhe. Die Ballonschnur des behinderten Babys war kurz, aber gesund gewesen; hier sahen sie die verwesenden Überreste einer brutalen Amputation vor sich. Ralph sah kurz ein Bild vor sich, so deutlich, daß es fast einer Halluzination gleichkam: McGoverns Augen quollen aus den Höhlen und wurden dann ganz herausgedrückt, worauf sich eine Sturzflut schwarzer Käfer daraus ergoß. Er mußte selbst einen Moment die Augen schließen, um nicht lauthals aufzuschreien, und als er sie wieder aufschlug, war Lois nicht mehr neben ihm.

McGovern und sein Freund gingen in Richtung der Schwesternstation, wahrscheinlich zum Trinkbrunnen. Lois war ihnen dicht auf den Fersen und stapfte mit wogendem Busen den Flur entlang. Blitzende rosa Funken, die wie neonüberzogene Sterne aussahen, leuchteten in ihrer Aura. Ralph lief ihr hinterher. Er wußte nicht, was passieren würde, sollte sie McGoverns Aufmerksamkeit erlangen, und er wollte es eigentlich auch nicht herausfinden. Aber er befürchtete, er würde es trotzdem erfahren.

[»Lois! Lois, nicht!«]

Sie achtete nicht auf ihn.

[»Bill, bleib stehen! Du mußt mir zuhören! Etwas stimmt nicht mit dir!«]

McGovern beachtete sie nicht; er sprach von Bob Polhursts Manuskript Later that Summer. »Das beste Buch über den Bürgerkrieg, das ich je gelesen habe«, sagte er zu dem Mann in der pflaumenfarbenen Aura, »aber als ich ihm sagte, er sollte es veröffentlichen, antwortete er mir, das käme nicht in Frage. Können Sie sich das vorstellen? Ein potentieller Anwärter für den Pulitzer-Preis, aber -«

[»Lois, komm zurück! Geh nicht in seine Nähe!«]

[»Bill! Bill! B-«]

Lois erreichte McGovern einen Augenblick bevor Ralph sie erreichen konnte. Sie streckte die Hand aus, um ihn an der Schulter zu greifen. Ralph sah ihre Finger in das Dunkel gleiten, das ihn umgab... und darin verschwinden.

Ihre Aura veränderte sich augenblicklich; von grau-blau mit rosa Fünkchen wurde sie so grellrot wie ein Feuerwehrauto. Unregelmäßige schwarze Schlieren schössen hindurch wie Wolken winziger Insektenschwärme. Lois schrie und zog die Hand zurück. Ihr Gesicht drückte eine Mischung aus Entsetzen und Abscheu aus. Sie hielt die Hand vor die Augen und schrie wieder, obwohl Ralph nichts daran erkennen konnte. Schmale schwarze Streifen zuckten nun schwindelerregend über den äußeren Rand ihrer Aura; für Ralph sahen sie wie Planetenbahnen auf einer Karte des Sonnensystems aus. Sie drehte sich um und wollte weglaufen. Ralph hielt sie an den Oberarmen fest, und sie schlug blind nach ihm.

McGovern und sein Freund schlurften derweil weiter gemächlich den Flur entlang zum Trinkbrunnen, ohne etwas von der kreischenden, um sich schlagenden Frau keine drei Meter hinter ihnen zu bemerken. »Als ich Bob fragte, warum er das Buch nicht veröffentlichen wollte«, fuhr McGovern fort, »sagte er, daß ausgerechnet ich seine Gründe verstehen müßte. Ich sagte ihm...«

Lois, die wie eine Feuersirene kreischte, übertönte ihn.

[»in in«]

[»Hör auf, Lois! Hör sofort auf! Was immer dir zugestoßen ist, jetzt ist es vorbei! Es ist vorbei, und dir ist nichts geschehen!«]

Aber Lois wehrte sich weiter, jagte diese unartikulierten Schreie in seinen Kopf und erzählte ihm, wie schrecklich es gewesen war, daß er verfaulte, daß Käfer in seinem Inneren waren, die ihn auffraßen, ihn bei lebendigem Leibe auffraßen, und das war schlimm genug, aber es war nicht das Schlimmste. Diese Kreaturen wußten es, sagte sie, sie waren böse und sie hatten gewußt, daß sie da war.

[»Lois, du bist bei mir! Du bist bei mir, und alles ist g -«]

Eine ihrer Fäuste traf ihn seitlich am Kopf, und Ralph sah Sterne. Ihm war klar, sie hatten eine Ebene der Wirklichkeit erreicht, in der körperlicher Kontakt mit anderen unmöglich war

- hatte er nicht selbst gesehen, wie Lois' Hand direkt in McGovern eingedrungen war, wie die Hand eines Geistes? -, aber füreinander waren sie offensichtlich nach wie vor real; der Beweis dafür war sein schmerzender Unterkiefer.

Er legte die Arme um sie und drückte sie an sich, so daß ihre Fäuste zwischen ihren Brüsten und seinem Brustkorb eingeklemmt wurden. Ihre Schreie hallten allerdings weiter in seinem Kopf. Er verschränkte die Hände zwischen ihren Schulterblättern und drückte. Er spürte wieder, wie die Energie aus ihm entwich, wie heute morgen, aber diesmal schien es ganz anders zu sein. Blaues Licht strömte durch Lois' aufgewühlte rot-schwarze Aura und besänftigte sie. Ihre Gegenwehr ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Er spürte, wie sie zitternd Luft holte. Das blaue Leuchten über ihr und um sie herum dehnte sich aus und verblaßte. Die schwarzen Streifen verschwanden einer nach dem anderen aus ihrer Aura, von unten nach oben, und der erschreckende, entzündete rötliche Farbton verblaßte ebenfalls. Sie legte den Kopf an seinen Arm.

[»Es tut mir leid, Ralph - ich bin wieder explodiert, richtig?«] [»Könnte man sagen, aber mach dir nichts draus. Jetzt ist es wieder gut. Darauf kommt es an.«]

[»Wenn du wüßtest, wie schrecklich es war... ihn so zu berühren...«]

[»Du hast es mir ziemlich deutlich klargemacht, Lois.«]

Sie sah den Korridor hinunter, wo McGoverns Freund gerade trank. McGovern lehnte neben ihm an der Wand und redete darüber, wie der Verehrte & Angebetete Bob Polhurst das Kreuzworträtsel der New York Sunday Times immer mit Tinte ausgefüllt hatte. »Er sagte mir immer, das sei kein Stolz, sondern Optimismus«, führte McGovern aus, und das Leichentuch wallte beim Sprechen träge um ihn herum und waberte aus seinem Mund und zwischen den Fingern seiner gestikulierenden, ausdrucksvollen Hand.

[»Wir können ihm nicht helfen, oder, Ralph? Wir können überhaupt nichts für ihn tun.«]

Ralph drückte sie kurz und fest an sich. Ihre Aura, sah er, war wieder völlig normal geworden.

McGovern und der Mann mit der pflaumenfarbenen Aura kamen auf dem Rückweg den Korridor entlang auf sie zu. Ralph folgte einem Impuls (ein Verhalten, das in der Welt der Auren immer angemessen zu sein schien), löste sich von Lois und stellte sich direkt vor Mr. Pflaume, der zuhörte, wie McGovern in epischer Breite von der Tragödie des Alterns erzählte, und an den richtigen Stellen nickte.

[Ralph, tu es nicht!«]

[»Schon gut, mach dir keine Sorgen.«]

Aber plötzlich war er nicht mehr so sicher, daß es gut war. Hätte er noch eine Sekunde Zeit gehabt, wäre er vielleicht ausgewichen. Aber bevor er die Möglichkeit dazu hatte, sah ihm Mr. Pflaume, ohne ihn zu sehen, ins Gesicht und schritt direkt durch ihn hindurch. Das Gefühl, das Ralph erlebte, als der andere durch seinen Körper spazierte, war ihm durchaus vertraut; das Prickeln und Stechen, wenn das Blut wieder durch ein eingeschlafenes Glied zirkuliert. Einen Augenblick verschmolz seine Aura mit der von Mr. Pflaume, und Ralph erfuhr alles über den Mann, das es zu wissen gab, einschließlich der Träume, die er im Mutterleib gehabt hatte.

Mr. Pflaume blieb ruckartig stehen.

»Stimmt was nicht?« fragte McGovern.

»Wahrscheinlich nicht... aber haben Sie nicht irgendwo einen Knall gehört? Wie ein Kracher oder ein Auto mit Fehlzündung?«

»Kann ich nicht sagen, aber mein Gehör ist nicht mehr, was es einmal war.« McGovern kicherte. »Aber wenn etwas hochgegangen ist, dann hoffentlich keines der radiologischen Labors.«

»Jetzt kann ich nichts mehr hören. Wahrscheinlich hab ich es mir nur eingebildet.«

Ralph dachte: Mrs. Perrine hat auch einen Knall gehört - sie sagte, es hätte sich wie ein Gewehrschuß angehört. Lois' Freundin dachte, ein Käfer säße auf ihr und hätte sie gebissen. Möglicherweise nur ein Unterschied, was die Intensität der Berührung anging, so wie Klavierspieler einen unterschiedlichen Anschlag haben. Wie auch immer, sie spüren es, wenn wir sie beeinflussen. Sie wissen vielleicht nicht, was es ist, aber spüren können sie es auf jeden Fall.

Lois nahm seine Hand und führte ihn zur Tür von Zimmer 213. Sie standen auf dem Flur und sahen zu, wie McGovern sich auf einem Konturstuhl aus Plastik am Fußende des Betts niederließ. Mindestens acht Menschen drängten sich in dem Raum, und Ralph konnte Bob Polhurst nicht deutlich erkennen, aber eines sah er ganz deutlich: Polhurst war zwar dicht in sein Leichentuch gehüllt, aber seine Ballonschnur war noch unversehrt. Sie war schmutzig wie ein rostiges Abgasrohr, schälte sich an manchen Stellen und war an anderen rissig... aber sie war noch unversehrt. Er drehte sich zu Lois um.

[»Diese Leute müssen vielleicht länger warten, als sie glauben.«]

Lois nickte, dann deutete sie auf die grün-goldenen Fußspuren

- die Spuren des weißen Mannes. Sie führten an Zimmer 213 vorbei, sah Ralph, bogen aber ins nächste Zimmer ab - 215, das von Jimmy V.

Er und Lois gingen gemeinsam dorthin und sahen hinein. Jimmy V. hatte drei Besucher, aber derjenige, der neben dem Bett saß, hielt sich für den einzigen. Das war Faye Chapin, der müßig den Stapel Grußkarten auf dem Nachttisch von Jimmy durchblätterte. Die beiden anderen waren die kahlköpfigen Ärzte, die Ralph zum erstenmal auf der Veranda von May Lochers Haus gesehen hatte. Sie standen in ihren weißen Kitteln ernst am Fußende von Jimmys Bett, und jetzt, aus der Nähe, konnte Ralph erkennen, daß die glatten, fast identischen Gesichter eine ganze Welt von Charakter ausdrückten; man konnte es nur nicht durch ein Fernglas erkennen - oder vielleicht auch erst, wenn man ein paar Sprossen auf der Leiter der Wahrnehmung hinaufgeklettert war. Am deutlichsten sah man es in den Augen; sie waren dunkel, ohne Pupillen und von einem tiefen goldenen Funkeln erfüllt. Intelligenz und ein helles Bewußtsein spiegelten sich darin. Ihre Auren leuchteten und wallten um sie herum wie die Gewänder von Kaisern...

... oder vielleicht von Zenturionen auf Staatsbesuch.

Sie sahen zu Ralph und Lois, die händchenhaltend unter der Tür standen wie Kinder, die sich in einem Märchenwald verirrt haben, und lächelten ihnen zu.

[Hallo, Frau.]

Das war Doc Nr. 1. Er hielt die Schere in der rechten Hand. Die Scherenblätter waren sehr lang, die Spitzen sahen ausgesprochen scharf aus. Doc Nr. 2 kam einen Schritt auf sie zu und führte einen komischen Knicks aus.

[Hallo, Mann. Wir haben auf euch gewartet.]

Ralph spürte, wie Lois seine Hand fester packte und wieder losließ, als sie entschied, daß keine unmittelbare Gefahr drohte. Sie machte einen kurzen Schritt nach vorne und sah von Doc Nr. 1 zu Doc Nr. 2 und wieder zu Doc Nr. 1.

[»Wer seid ihr?«]

Doc Nr. 1 verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. Die langen Scherenblätter nahmen die gesamte Länge des weißgekleideten Unterarms ein.

[Wir haben keine Namen, so wie die Kurzfristigen - aber du kannst uns nach den Parzen in der Geschichte nennen, die dir dieser Mann bereits erzählt hat. Daß es sich eigentlich um Frauen handelte, hat keine Bedeutung für uns, da wir Geschöpfe ohne sexuelle Prägung sind. Ich werde Klotho sein, obwohl ich keinen Faden spinne, und mein Kollege und alter Freund wird Lachesis sein, obwohl er keine Stäbchen schüttelt und nie die Münzen geworfen hat. Kommt herein, alle beide -bitte!]

Sie traten ein und blieben argwöhnisch zwischen dem Besucherstuhl und dem Bett stehen. Ralph glaubte nicht, daß ihnen die Docs etwas zuleide tun wollten -jedenfalls vorläufig nicht -, aber er wollte ihnen trotzdem nicht zu nahe kommen. Ihre Auren, die im Vergleich zu denen Normalsterblicher so strahlend und atemberaubend waren, schüchterten ihn ein, und er konnte an Lois' großen Augen und dem halboffenen Mund sehen, daß sie dasselbe empfand. Sie spürte, wie er sie ansah, drehte sich zu ihm um und versuchte zu lächeln. Meine Lois, dachte Ralph. Er legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie kurz.

Lachesis: [Wir haben euch unsere Namen genannt -jedenfalls Namen, die ihr benützen könnt; wollt ihr uns eure nicht verraten?]

Lois: [»Sie meinen, die wissen Sie nicht schon längst? Pardon, aber das kann ich kaum glauben.«]

Lachesis: [Wir könnten sie kennen, haben aber beschlossen, sie nicht zu kennen. Wir halten uns, wenn möglich, gern an die Höflichkeitsgebote der Kurzfristigen. Wir finden sie reizend, denn sie werden unter euresgleichen von den Alten an die Jungen weitergegeben und erzeugen so die Illusion eines langen Lebens.]

[»Ich verstehe nicht.«]

Ralph auch nicht, und er war nicht sicher, ob er es verstehen wollte. Der Tonfall desjenigen, der sich Lachesis nannte, hatte etwas leicht Herablassendes, das ihn an McGovern erinnerte, wenn dieser in der Stimmung war, Vorträge zu halten.

Lachesis: [Das ist einerlei. Wir waren sicher, daß ihr kommen würdet. Wir wußten, Mann, daß du uns am Montagmorgen beobachtet hast - vor dem Haus von]

An dieser Stelle fand eine seltsame Überlappung in der Sprechweise von Lachesis statt. Er schien zwei Dinge zur exakt gleichen Zeit zu sagen, und die beiden Ausdrücke waren ineinander verschlungen wie eine Schlange, die den eigenen Schwanz im Mund hat:

[May Locher] [der beendeten Frau.]

Lois ging zaghaft einen Schritt vorwärts.

[»Mein Name ist Lois Chasse. Mein Freund ist Ralph Roberts. Und nachdem wir uns nun alle angemessen bekanntgemacht haben, würden Sie beide uns bitte sagen, was hier vor sich geht?«]

Lachesis: [Noch einer muß einen Namen bekommen.]

Klotho: [Ralph Roberts hat ihm bereits einen Namen gegeben.]

Lois sah Ralph an, der nickte.

[»Sie sprechen von Doc Nr. 3. Richtig, Jungs?«]

Klotho und Lachesis nickten. Sie stellten ein identisches, wohlgefälliges Lächeln zur Schau. Ralph nahm an, daß er sich geschmeichelt fühlen sollte, aber er war es nicht. Statt dessen war er ängstlich und ziemlich wütend - sie waren auf jedem Schritt des Weges geschickt manipuliert worden. Dies war keine zufällige Begegnung, sie war eingefädelt worden, seit das Wort »Los« erklungen war. Klotho und Lachesis, nur zwei kleine kahlköpfige Ärzte mit zuviel Zeit, die im Zimmer von Jimmy V. herumstanden und auf die Ankunft der Kurzfristigen warteten, ho-hum.

Ralph sah zu Faye und stellte fest, daß der ein Buch mit dem Titel aus der Tasche gezogen hatte. Er las und bohrte sich dabei grüblerisch in der Nase. Nach einigen Voruntersuchungen bohrte Faye tief und brachte einen fetten Brocken zum Vorschein. Er untersuchte ihn, dann schmierte er ihn an die Unterseite des Nachttischs. Ralph wandte sich peinlich berührt ab, und ein Sprichwort seiner Großmutter fiel ihm ein: Schau nie durch ein Schlüsselloch, sonst wirst du verhext. Er war siebzig Jahre alt geworden und hatte es nie richtig verstanden. Aber nun war ihm eine andere Frage eingefallen.

[»Warum sieht Faye uns nicht? Und was das betrifft, warum haben Bill und sein Freund uns nicht gesehen? Und wie konnte der Mann einfach durch mich hindurchgehen? Oder habe ich mir das nur eingebildet?«]

Klotho lächelte.

[Sie haben es sich nicht eingebildet. Versuchen Sie, sich das Leben als eine Art Gebäude vorzustellen - was Sie einen Wolkenkratzer nennen würden.]

Aber Ralph stellte fest, daß Klotho gar nicht daran dachte. Einen Sekundenbruchteil schien er ein Bruchstück aus dem Verstand des anderen zu empfangen, das er aufregend und beunruhigend zugleich fand: ein gewaltiger Turm aus dunklem, rußigem Stein, der inmitten eines Felds roter Rosen stand. Schießschartenähnliche Fenster zogen sich wie eine düstere Spirale an den Seiten entlang.

Dann verschwand das Bild.

[Du und Lois und alle anderen kurzfristigen Geschöpfe leben auf den beiden ersten Etagen dieses Gebäudes. Selbstverständlich existieren Aufzüge -]

Nein, dachte Ralph. Nicht in dem Turm, den ich in deinen Gedanken gesehen habe, mein Freund. In diesem Gebäude -wenn dieses Gebäude tatsächlich existiert - gibt es keine Fahrstühle, nur eine schmale, mit Spinnweben verhangene Treppe und Türen, die Gott weiß wohin führen.

Lachesis sah ihn mit einer seltsamen, fast mißtrauischen Neugier an, und Ralph überlegte sich, daß ihm dieser Blick nicht gefiel. Er wandte sich wieder an Klotho und bedeutete ihm, er möge fortfahren.

Klotho: [Wie ich schon sagte, es existieren Fahrstühle, aber unter normalen Umständen ist es Kurzfristigen nicht gestattet, sie zu benützen. Ihr seid nicht [bereit] [darauf eingestellt] [-----.]

Die letzte Erklärung war eindeutig die beste, aber sie tänzelte vor Ralph davon, bevor er sie greifen konnte. Er sah Lois an, die den Kopf schüttelte, und dann wieder zu Klotho und Lachesis. Er wurde allmählich wütender denn je. Die vielen langen - endlosen Nächte, die er in seinem Ohrensessel gesessen und auf die Dämmerung gewartet hatte; die Tage, an denen er sich wie ein Gespenst in seiner eigenen Haut gefühlt hatte; die Unfähigkeit, einen Satz zu begreifen, wenn er ihn nicht dreimal las; die Telefonnummern, die er einst auswendig kannte, aber jetzt nachschlagen mußte -

Da fiel ihm etwas ein, das gleichzeitig die Wut zusammenfaßte und rechtfertigte, die er empfand, als er die beiden Glatzköpfe mit den dunklen, goldenen Augen und den fast blendend grellen Auren ansah. Er sah, wie er in den Hängeschrank über dem Küchentresen sah und nach der Instantsuppe suchte, während sein übermüdeter Verstand darauf beharrte, daß sie irgendwo da drinnen sein mußte. Er sah, wie er danach suchte, innehielt, weitersuchte. Er sah seinen Gesichtsausdruck - einen Ausdruck zerstreuter Verwirrung, den man ohne Schwierigkeit als leichten Fall geistiger Behinderung hätte deuten können, der aber nichts weiter als schlichte Erschöpfung war. Dann sah er, wie er die Hände sinken ließ und einfach nur dastand, als würde er darauf warten, daß das Päckchen von alleine herausgesprungen kam.

Erst jetzt, in diesem Augenblick, angesichts dieser Erinnerung, wurde ihm bewußt, wie schrecklich die letzten Monate gewesen waren. Zurückblickend waren sie, als sähe er in ein wüstes Land, das in trostlose Ocker- und Grautönen getaucht war.

[»Sie haben uns also zu dem Fahrstuhl gebracht... vielleicht war das aber auch nicht gut genug für unsresgleichen, und Sie haben uns einfach nur die Feuerleiter hinaufbugsiert. Und haben uns Stück für Stück daran gewöhnt, damit uns nicht die Tassen aus dem Schrank fallen, könnte ich mir denken. Sie mußten uns ja nur um den Schlaf bringen, bis wir halb verrückt waren. Lois Sohn und Schwiegertochter wollen sie in einen Freizeitpark für alte Menschen einweisen lassen, haben Sie das gewußt? Und mein Freund Bill McGovern findet, daß ich reif für Juniper Hill bin. Und derweil habt ihr kleinen Engel -«]

Klotho ließ eine Andeutung seines vorherigen Lächelns erkennen.

[Wir sind keine Engel, Ralph.]

[»Ralph, bitte, schrei sie nicht an.«]

Ja, er hatte geschrien, und zumindest ein Teil schien bis zu Faye durchgedrungen zu sein; er hatte das Schachbuch zugeklappt, bohrte nicht mehr in der Nase, saß kerzengerade auf seinem Stuhl und sah sich nervös in dem Zimmer um.

Ralph sah von Klotho (der einen Schritt zurückwich und den Rest seines Lächelns verlor) zu Lachesis.

[»Ihr Freund sagt, ihr wärt die Engel nicht. Und wo sind sie dann? Spielen sie sechs oder acht Stockwerke weiter oben Poker? Und ich vermute, Gott sitzt im Penthouse, und der Teufel schaufelt Kohlen im Heizungskeller.«]

Keine Antwort. Klotho und Lachesis sahen sich zweifelnd an. Lois zupfte an Ralphs Ärmel, aber er beachtete sie nicht.

[»Also, Jungs, was sollen wir tun? Eure kleine kahlköpfige Version von Hannibal Lecter aufspüren und ihm das Skalpell wegnehmen? Nun, ihr könnt mich mal.«]

Ralph hätte auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre hinausgegangen (er hatte eine Menge Filme gesehen und wußte, wie man einen guten Abgang inszenierte), aber Lois brach in Tränen aus, und das hielt ihn zurück. Unter dem Blick bestürzter Zurechtweisung aus ihren Augen bereute er seinen Gefühlsausbruch zumindest ein wenig. Er legte den Arm um Lois' Schultern und sah die beiden kahlköpfigen Männer trotzig an.

Diese wechselten wieder einen Blick, und etwas - eine Form der Kommunikation, die seine und Lois' Fähigkeit, zu hören oder zu verstehen, gerade überstieg - wurde zwischen ihnen ausgetauscht. Als Lachesis sich wieder zu ihnen umdrehte, lächelte er... aber seine Augen waren ernst.

[Ich begreife Ihren Zorn, Ralph, aber er ist nicht gerechtfertigt. Das glauben Sie jetzt nicht, aber vielleicht später einmal. Vorerst jedoch müssen wir Ihre Fragen und Antworten - soweit wir Antworten geben können - beiseite stellen.]

[»Warum?«]

[Weil für diesen Mann die Zeit des Durchschneidens gekommen ist. Seht genau hin, auf daß ihr lernet und wisset]

Klotho ging zur linken Seite des Betts. Lachesis näherte sich ihm von rechts und ging dabei durch Faye Chapin. Faye bückte sich, weil ihn ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte, und als der nachgelassen hatte, schlug er das Schachbuch wieder auf.

[»Ralph, ich kann nicht zusehen! Ich kann nicht zusehen, wie sie das tun!«]

Aber Ralph glaubte, daß sie es dennoch tun würde. Er glaubte, daß sie es beide tun würden. Er drückte sie fest an sich, als sich Klotho und Lachesis über Jimmy V. beugten. Liebe und Anteilnahme und Sanftheit sprachen aus ihren Gesichtern; Ralph mußte an die Gesichter denken, die er einmal auf einem Gemälde von Rembrandt gesehen hatte - Die Nachtwache hatte es geheißen, soweit er wußte. Ihre Auren überlappten sich und verschmolzen über der Brust von Jimmy. Und plötzlich schlug der Mann im Bett die Augen auf. Er sah einen Moment mit vagem und verwirrtem Gesichtsausdruck durch die beiden kahlköpfigen Ärzte hindurch zur Decke, dann glitt sein Blick zur Tür, und er lächelte.

»He! Seht mal, wer da ist!« rief Jimmy V. aus. Seine Stimme klang eingerostet und erstickt, aber Ralph konnte immer noch den South Bostoner Intellektuellenslang hören, bei dem wer zu wahr wurde. Faye zuckte zusammen. Das Schachbuch fiel zu Boden. Er beugte sich nach vorne und ergriff Jimmys Hand, aber Jimmy beachtete ihn gar nicht, sondern sah durch das Zimmer zu Ralph und Lois. »Ralph Roberts! Und Paul Chasses Frau! Sag, Ralphie, erinnerst du dich noch an den Tag, als wir zu der Zeltmission wollten, um zuzuhören, wie sie >Amazing Grace< singen?«

[»Ich erinnere mich, Jimmy.«]

Jimmy schien zu lächeln, dann schloß er wieder die Augen. Lachesis legte dem sterbenden Mann behutsam die Hände auf die Wangen und rückte seinen Kopf ein wenig zurecht, wie ein Barbier, der dabei ist, einen Kunden zu rasieren. Im selben Augenblick beugte sich Klotho noch dichter über ihn, klappte die Schere auf und schob sie nach vorne, so daß sich die schwarze Ballonschnur von Jimmy V. zwischen den Scherenblättern befand. Als Klotho die Schere zuklappte, beugte sich Lachesis vor und gab Jimmy einen Kuß auf die Stirn.

[Geh in Frieden, mein Freund.]

Ein leises, unbedeutendes Schnipp! ertönte. Der Teil der Ballonschnur oberhalb der Schere schwebte zur Decke und verschwand. Das Leichentuch, das Jimmy V. einhüllte, wurde einen Augenblick grellweiß, dann erlosch es wie das von Rosalie am frühen Abend. Jimmy machte die Augen wieder auf und sah Faye an. Er lächelte, fand Ralph, und dann richtete er den Blick starr in die Ferne. Die Grübchen, die sich an seinen Mundwinkeln gebildet hatten, glätteten sich.

»Jimmy?« Faye schüttelte die Schulter von Jimmy V., wobei er mit der Hand durch Lachesis hindurchgreifen mußte. »Alles in Ordnung, Jimmy?... O Scheiße.«

Faye stand auf und verließ hastig das Zimmer.

Klotho: [Seht und begreift ihr, daß wir das, was wir tun, mit Liebe und Respekt tun l Daß wir de facto die Ärzte des letzten Stück Wegs sind? Es ist wichtig für unsere gegenseitigen Beziehungen, Ralph und Lois, daß ihr das versteht.]

[»Ja.«]

[»Ja.«]

Ralph hatte nicht die Absicht gehabt, irgend einem Satz der beiden zuzustimmen, aber dieser Begriff - die Ärzte des letzten Stück Wegs - schnitt sauber und mühelos durch seinen Zorn. Er klang aufrichtig. Sie hatten Jimmy V. aus einer Welt befreit, in der es nichts mehr für ihn gab außer Schmerzen. Ja, zweifellos hatten sie auch an einem grauen Tag mit Hagelschauern vor sieben Monaten mit Ralph in Zimmer 217 gestanden und Carolyn dieselbe Befreiung zuteil werden lassen. Und es stimmte auch, daß sie ihre Aufgabe offenbar voll Liebe und Respekt erfüllten - alle diesbezüglichen Zweifel waren ausgeräumt worden, als Lachesis Jimmy V. auf die Stirn geküßt hatte. Aber gaben Liebe und Respekt ihnen das Recht, ihn -und Lois ebenfalls - durch die Hölle und dann hinter einem übernatürlichen Wesen herzuschicken, das ausgerastet war? Gab es ihnen das Recht, auch nur zu denken, daß zwei gewöhnliche Menschen, beide nicht mehr jung, mit einer derartigen Kreatur fertigwerden konnten?

Lachesis: [Entfernen wir uns von hier. Bald werden viele Menschen auftauchen, und wir müssen miteinander reden.]

[»Haben wir eine andere Wahl?«]

Ihre Antworten

[Ja, selbstverständlich!] [Es gibt immer eine Wahl!] erfolgten rasch und mit einem überraschten Unterton.

Klotho und Lachesis gingen zur Tür hinaus; Ralph und Lois wichen zurück und ließen sie passieren. Aber die Auren der kleinen kahlköpfigen Ärzte wallten dennoch einen Moment über sie hinweg, und Ralph registrierte ihren Geschmack und ihre Beschaffenheit: der Geschmack von süßen Äpfeln, die Beschaffenheit von trockener, heller Rinde.

Als sie sich Seite an Seite entfernten, wobei sie sich ernst und respektvoll unterhielten, kam Faye wieder herein, nun in Begleitung zweier Schwestern. Die Neuankömmlinge gingen durch Lachesis und Klotho und dann durch Ralph und Lois, ohne zu bremsen oder etwas Ungewöhnliches zu spüren.

Draußen auf dem Flur spielte sich das Leben in seinem üblichen gedämpften Schritt ab. Keine Summer ertönten, keine Lichter blinkten, keine Assistenten kamen gelaufen und schoben eine Bahre vor sich her. Niemand rief »Notarzt!« über Lautsprecher. Dazu war der Tod hier ein zu normaler Besucher. Ralph vermutete, daß der Tod nicht willkommen war, nicht einmal unter Umständen wie diesen, aber er war vertraut und wurde akzeptiert. Außerdem glaubte er, daß Jimmy V. mit diesem Abgang aus dem zweiten Stock des Derry Home zufrieden gewesen wäre - er hatte es ohne Getue und Aufhebens getan, und er hatte keinem seinen Führerschein oder seine Blue Cross Medical Kreditkarte zeigen müssen. Er war mit der Würde gestorben, die einfachen, nicht unerwarteten Dingen häufig eigen ist. Einen oder zwei Augenblicke bei Bewußtsein, begleitet von einer gesteigerten Wahrnehmung, was sich um ihn herum abspielte, und dann peng. Nimm meine Sorgen und mein Leid, blackbird, bye-bye.

Sie gesellten sich auf dem Flur vor der Tür von Bob Polhursts Zimmer zu den kahlköpfigen Docs. Durch die offene Tür konnten sie sehen, daß die Totenwache am Bett des alten Lehrers andauerte.

Lois: [»Der Mann dicht neben dem Bett ist Bill McGovern, ein Freund von uns. Etwas stimmt nicht mit ihm. Etwas Schreckliches. Wenn wir tun, was Sie verlangen, könnten Sie dann -?«

Aber Lachesis und Klotho schüttelten beide den Kopf.

Klotho: [Nichts kann geändert werden.]

Ja, dachte Ralph. Dorrance hat es gewußt: Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen.

Lois: [»Wann wird es passieren?«]

Klotho: [Euer Freund gehört dem anderen, dem dritten. Dem Ralph bereits den Namen Atropos gjgeben hat. Aber Atropos könnte euch den genauen Todeszeitpunkt dieses Mannes ebensowenig nennen wie wir. Er kann nicht einmal sagen, wen er als nächstes holen wird. Atropos ist ein Agent des Zufalls.]

Als er das hörte, fröstelte Ralph im tiefsten Inneren.

Lachesis: [Aber dies ist nicht der geeignete Ort zum Reden. Kommt.]

Lachesis ergriff eine Hand von Klotho, die andere hielt er Ralph hin. Gleichzeitig bot Klotho seine Hand Lois an. Sie zögerte, dann sah sie Ralph an.

Ralph seinerseits betrachtete Lachesis grimmig.

[»Ihr solltet ihr besser nichts zuleide tun.«] [Keinem von euch wird etwas geschehen, Ralph. Nimm meine Hand.]

Ich bin ein Fremdling im Paradies, führte Ralph den Gedanken zu Ende. Dann seufzte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, nickte Lois zu und ergriff Lachesis' ausgestreckte Hand. Der Schock des Wiedererkennens, durchdringend und angenehm wie das Wiedersehen mit einem alten und geschätzten Freund, erfüllte ihn erneut. Äpfel und Rinde; Erinnerungen an Obstgärten, durch die er als Kind gegangen war. Irgendwie bemerkte er, ohne es direkt zu sehen, daß sich die Farbe seiner Aura verändert und - zumindest vorübergehend - die gold-grüne Tönung von Klotho und Lachesis angenommen hatte.

Lois ergriff Klothos Hand, holte mit zusammengebissenen Zähnen tief und zischelnd Luft und lächelte zaghaft.

Klotho: [Schließt den Kreis, Ralph und Lois. Habt keine Angst. Alles ist gut.]

Mann, da bin ich aber entschieden anderer Ansicht, dachte Ralph, aber als Lois nach seiner Hand griff, nahm er ihre Finger. Zu dem Geruch von Äpfeln und der Beschaffenheit von trockener Rinde gesellte sich ein dunkles und unbekanntes Gewürz. Ralph sog das Aroma in vollen Zügen ein und lächelte Lois zu. Sie lächelte ebenfalls - ohne zu zögern -, und Ralph verspürte eine tiefgreifende, distanzierte Verwirrung. Wie konntest du Angst haben? Wie konntest du auch nur zögern, wo es doch so gut und richtig zu sein schien, was sie brachten?

Ich fühle mit dir, Ralph, aber du solltest trotzdem zögern, riet ihm eine Stimme.

[»Ralph? Ralph!«]

Sie hörte sich erschrocken und überschwenglich zugleich an, Ralph drehte sich rechtzeitig um und konnte sehen, daß der obere Rand der Tür von Zimmer 215 an ihrer Schulter vorbei sank... nur schwebte die Tür nicht nach unten; sie schwebten nach oben. Alle schwebten nach oben, während sie weiter mit den Händen einen Kreis bildeten.

Das war Ralph gerade klar geworden, als eine vorübergehende Dunkelheit, scharf wie eine Messerklinge, durch sein Gesichtsfeld glitt wie der Schatten einer Jalousie. Er sah ganz kurz dünne Röhren, die wahrscheinlich zum Sprinklersystem des Krankenhauses gehörten, umgeben von flauschigen rosa Polstern der Isolierung. Dann sah er einen langen, gekachelten Flur entlang. Eine Bahre rollte direkt auf seinen Kopf zu... der, wie ihm plötzlich bewußt wurde, wie ein Periskop in einen der Flure des zweiten Stocks ragte.

Er hörte Lois aufschreien und spürte, wie sie seine Hand fester umklammerte. Ralph machte instinktiv die Augen zu und wartete darauf, daß die heranbrausende Bahre ihm den Kopf plattwalzen würde.

Klotho: [Bleibt ruhig! Bitte, bleibt ruhig! Vergeßt nicht, daß dies alles auf einer anderen Realitätsebene geschieht als der, auf der ihr euch derzeit befindet!]

Ralph schlug die Augen auf. Die Bahre war verschwunden, aber er konnte ihre Räder noch hören, wie sie sich entfernten.

Das Geräusch kam jetzt von hinter ihm. Die Bahre war, wie McGovems Freund, einfach durch ihn hindurchgegangen. Sie stiegen alle vier langsam in den Flur der Kinderstation hinauf -Märchenwesen tänzelten und tollten an den Wänden herum, und Figuren aus Disneys Aladin und Die kleine Meerjungfrau waren auf die Fenster eines großen, hell erleuchteten Spielzimmers geklebt worden. Ein Arzt und eine Schwester, die sich über einen Kranken unterhielten, kamen auf sie zu.

»- weiteren Tests anzudeuten scheinen, aber nur wenn wir zu mindestens neunzig Prozent sicherstellen können, daß -«

Der Arzt ging durch Ralph hindurch, und dabei erfuhr Ralph, daß der Mann nach fünfzehn Jahren Abstinenz vor kurzem erst wieder zu rauchen angefangen hatte und deswegen schreckliche Schuldgefühle empfand. Dann waren sie fort. Ralph sah nach unten und bekam gerade noch mit, wie seine Füße aus dem Fliesenboden herauskamen. Er drehte sich zu Lois um und lächelte zaghaft.

[»Klassen besser als der Fahrstuhl, was?«]

Sie nickte. Seine Hand hielt sie aber nach wie vor ziemlich fest.

Sie stiegen durch den dritten Stock, kamen im vierten in einem Ärztezimmer heraus (zwei Ärzte - von der voll ausgewachsenen Art - waren anwesend, einer sah sich eine alte Wiederholung von F Troop an, der andere schnarchte auf einem gräßlichen Sofa von Swedish Modern), und dann befanden sie sich auf dem Dach.

Die Neumondnacht war klar und atemberaubend. Sterne funkelten am Himmelszelt wie eine extravagante, nebelhafte Lichterkette. Der Wind wehte heftig, und er dachte an Mrs. Perrine, die sagte, daß der Altweibersommer vorüber sei, das könnte er ihr glauben. Ralph konnte den Wind hören, spürte ihn aber nicht... aber er hatte eine Ahnung, als könnte er ihn spüren, wenn er wollte. Es kam nur darauf an, sich auf die richtige Weise zu konzentrieren...

Noch während er diesen Gedanken hatte, verspürte er eine unbedeutende, vorübergehende Veränderung in seinem Körper, so etwas wie ein Blinzeln. Plötzlich wurde ihm das Haar an der Stirn nach hinten geweht, und er konnte seine Hosen um die Schienbeine flattern hören. Er erschauerte. Mrs. Perrines Rücken hatte sich also nicht geirrt, das Wetter änderte sich tatsächlich. Ralph blinzelte noch einmal innerlich, worauf der Windstoß wieder verschwand. Er sah zu Lachesis hinüber.

[»Kann ich Ihre Hand jetzt loslassen?«]

Lachesis nickte und ließ seinerseits Ralphs Hand los. Klotho gab Lois' Hand frei. Ralph sah über die Stadt hinweg nach Westen zu den pulsierenden blauen Startbahnlichtern des Flughafens. Dahinter konnte er das Gitter orangefarbener Natriumdampflampen von Cape Green erkennen, einer der Neubausiedlungen jenseits der Barrens. Und irgendwo inmitten der Lichter östlich des Flughafens lag die Harris Avenue.

[»Es ist wunderschön, nicht wahr, Ralph?«]

Er nickte und überlegte sich, hier zu stehen und die nächtliche Stadt in der Dunkelheit zu sehen, machte alles wieder wett, was er seit Anfang der Schlaflosigkeit hatte erleiden müssen. Alles und noch viel mehr. Aber das war ein Gedanke, dem er nicht uneingeschränkt vertraute.

Er drehte sich zu Lachesis und Klotho um.

[»Na gut, erklärt uns alles. Wer seid ihr, wer ist er, und was wollt ihr von uns?«]

Die beiden kahlköpfigen Ärzte standen zwischen zwei schnell kreisenden Heizungsventilatoren, die braun-purpurne Abgase in die Luft entließen. Sie sahen einander nervös an, und Lachesis nickte Klotho fast unmerklich zu. Klotho machte einen Schritt nach vorne, sah von Ralph zu Lois und schien seine Gedanken zu ordnen.

[Nun gut. Zuerst müßt ihr einsehen, daß die Geschehnisse im Augenblick zwar unerwartet und beunruhigend, aber keineswegs unnatürlich sind. Mein Kollege und ich tun das, wofür wir geschaffen wurden; Atropos tut das, wofür er geschaffen wurde; und ihr, meine kurzfristigen Freunde, werdet das tun, wofür ihr geschaffen worden seid.]

Ralph bedachte ihn mit einem strahlenden, bitteren Lächeln.

[»Ich schätze, damit ist es aus mit der freien Entscheidung.«]

Lachesis: [So dürft ihr nicht denken! Es ist einfach so, was ihr freie Entscheidung nennt, das nennen wir Ka, das große Rad das Daseins.]

Lois: [»Wir sehen durch ein dunkles Glas... meinen Sie das damit?«]

Klotho, der sein irgendwie jungenhaftes Lächeln sehen ließ: [Die Bibel, soweit ich weiß. Und eine sehr gute Art, es zu beschreiben.]

Ralph: [»Und ziemlich bequem für Jungs wie euch. Aber lassen wir das vorerst. Bei uns gib es noch eine Maxime, die nicht in der Bibel steht, aber trotzdem ziemlich gut ist: Hüte dich vor Schönfärberei. Ich hoffe, Sie vergessen das nicht.«]

Aber Ralph hatte den Verdacht, als wäre das ein bißchen viel verlangt.

Danach ergriff Klotho das Wort und redete lange Zeit. Ralph hatte keine Ahnung, wie lange genau, denn auf dieser Ebene verlief die Zeit anders - irgendwie komprimiert. Manchmal drückte er das, was er sagte, gar nicht mit Worten aus; verbale Ausdrücke wurden durch einfache helle Bilder wie die in leichten Bilderrätseln für Kinder ersetzt. Ralph vermutete, daß es sich dabei um Telepathie handelte, ein an sich erstaunliches Phänomen, aber während es passierte, kam es ihm so natürlich wie das Atmen vor.

Manchmal blieben Worte wie Bilder auf der Strecke und wurden von rätselhaften Pausen in der Kommunikation unterbrochen. Dennoch gelang es Ralph auch dann meistens, eine Vorstellung davon zu bekommen, was Klotho vermitteln wollte, und er hatte eine Ahnung, daß Lois noch deutlicher als er selbst begriff, was in diesen Unterbrechungen verborgen blieb.

[Zuerst müßt ihr wissen, daß es nur vier Konstanten auf der Existenzebene gibt, wo eure Leben und unsere, die Leben der Langfristigen sich überlappen. Diese vier Konstanten sind Leben, Tod, der Plan und der Zufall. Diese Worte haben alle einen Sinn für euch, aber jetzt habt ihr eine etwas andere Vorstellung von Leben und Tod, oder nicht?]

Ralph und Lois nickten zögernd.

[Lachesis und ich sind die Agenten des Todes. Damit sind wir für die meisten Kurzfristigen Gestalten des Grauens; selbst diejenigen, die so tun, als akzeptierten sie uns und unsere Funktion, haben normalerweise Angst. Auf Bildern werden wir manchmal als furchterregendes Skelett oder als Gestalt mit Kapuze abgebildet, deren Gesicht man nicht sehen kann.]

Klotho legte die winzigen Hände auf seine weißgewandeten Schultern und schützte ein Erschauern vor. Die burleske Darstellung gelang ihm so gut, daß Ralph grinsen mußte.

[Aber wir sind nicht nur Agenten des Todes, Ralph und Lois; wir sind auch Agenten des Plans. Und nun müßt ihr genau zuhören, damit ihr mich nicht mißversteht. Unter euresgleichen gibt es welche, die der Meinung sind, alles ist vorherbestimmt, und es gibt welche, die alle Ereignisse einfach für Schicksal oder Zufall halten. In Wahrheit besteht das Leben aus Plan und Zufall, wenn auch nicht zu gleichen Teilen. Das Leben ist wie]

Hier bildete Klotho einen Kreis mit den Armen, wie ein kleines Kind, das so tut, als würde es die Form der Erde zeigen, und in diesem Kreis sah Ralph ein brillantes und vielsagendes Bild: Tausende (möglicherweise auch Millionen) Spielkarten, die zu einem flackernden Regenbogen aus Herz und Pik und Karo und Kreuz aufgefächert waren. Außerdem sah er eine große Menge Joker in diesem Blatt; nicht so viele, daß sie eine eigene Farbe ergeben hätten, aber proportional gesehen eindeutig mehr als die zwei oder drei, die man in einem gewöhnlichen Kartenspiel fand. Alle Joker grinsten, und alle trugen einen fadenscheinigen Panama, aus dessen Krempe ein Stück herausgebissen war.

Und jeder hatte ein rostiges Skalpell.

Ralph sah Klotho mit großen Augen an. Klotho nickte.

[Ja. Ich weiß nicht genau, was genau Sie gesehen haben, aber ich weiß, Sie haben das gesehen, was ich darzustellen versuche. Lois? Was ist mit Ihnen?]

Lois, die für ihr Leben gern Karten spielte, nickte blaß.

[»Atropos ist der Joker im Spiel - das haben Sie gemeint.«]

[Er ist ein Agent des Zufalls. Wir, Lachesis und ich, dienen der anderen Macht, die für die meisten Ereignisse im individuellen Leben und im breiteren Strom aller Leben verantwortlich ist. Auf eurer Etage des Gebäudes, Ralph und Lois, ist jedes Lebewesen ein kurzfristiges Lebewesen mit einer vorherbestimmten Lebensspanne. Das soll nicht heißen, daß ein Kind aus dem Schoß seiner Mutter kommt und ein Schild um den Hals trägt, auf dem steht: BALLONSCHNUR DURCHSCHNEIDEN NACH 84 JAHREN, 2 MONATEN, 9 TAGEN, 6 STUNDEN, 4 MINUTEN UND 2 SEKUNDEN. Diese Vorstellung wäre lächerlich. Aber Zeiträume sind normalerweise festgelegt, und wie ihr beide gesehen habt, dient die Aura der Kurzfristigen unter anderem als Uhr.]

Lois bewegte sich, und als Ralph sich zu ihr umdrehte, fiel ihm etwas Erstaunliches auf: Der Himmel über ihnen wurde blasser. Er schätzte, daß es fünf Uhr morgens sein mußte. Sie waren Dienstag abend gegen neun Uhr im Krankenhaus eingetroffen, und jetzt schrieb man auf einmal Mittwoch, den 6. Oktober. Ralph kannte den Ausdruck, daß die Zeit verflog, aber dies war lächerlich.

Lois: [»Ihre Aufgabe ist das, was wir einen natürlichen Tod nennen, richtig?«]

Verwirrte, unvollständige Bilder flimmerten in ihrer Aura. Ein Mann (der verstorbene Mr. Chasse, da war Ralph ganz sicher), der in einem Sauerstoffzelt lag. Jimmy V., der die Augen aufschlug und Ralph und Lois in dem Moment ansah, bevor Klotho seine Ballonschnur durchschnitt. Die Todesanzeigen der Derry News, voll mit Fotos, die meisten nicht größer als Briefmarken, von der wöchentlichen Ernte in den städtischen Krankenhäusern und Altenheimen.

Klotho und Lachesis schüttelten beide den Kopf.

Lachesis: [Eigentlich gibt es keinen natürlichen Tod. Unsere Aufgabe ist ein planmäßiger Tod. Wir holen die Alten und Kranken, aber wir holen auch andere. Erst gestern haben wir zum Beispiel einen jungen Mann von achtundzwanzig Jahren geholt. Einen Zimmermann. Vor zwei Wochen ist er vom Gerüst gefallen und hat sich den Schädel gebrochen. In diesen zwei Wochen war seine Aura]

Ralph sah das zertrümmerte Bild der Aura eines Behinderten, ähnlich der des Babys aus dem Fahrstuhl.

Klotho: [Dann kam die Wende - die Veränderung der Aura. Wir wußten, sie würde kommen, aber nicht, wann sie kommen würde. Als es soweit war, sind wir zu ihm gegangen und haben ihn weitergeschickt.]

[»Wohin weitergeschickt?«]

Lois hatte die Frage gestellt und schnitt damit die delikate Frage des Lebens nach dem Tod fast versehentlich an. Ralph griff nach seinem geistigen Sicherheitsgurt und hoffte fast auf einen dieser eigentümlichen leeren Zwischenräume, aber als ihre einander überlappenden Antworten ertönten, waren sie völlig deutlich.

Klotho: [Nach überallhin.]

Lachesis: [In andere Welten als diese.]

Ralph verspürte eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung.

[»Das klingt sehr poetisch, aber ich glaube, es bedeutet -verbessern Sie mich, wenn ich mich irre -, daß das Leben nach dem Tod für Sie ebenso ein Geheimnis ist wie für uns.«]

Lachesis, der sich ein wenig verschnupft anhörte: [Ein andermal haben wir vielleicht Gelegenheit, uns über so etwas zu unterhalten, aber jetzt nicht - wie ihr beiden sicherlich schon festgestellt habt, vergeht die Zeit schneller auf diesem Stockwerk des Gebäudes.]

Ralph sah sich um und stellte fest, daß der Morgen schon deutlich heller geworden war.

[»Tut mir leid.«]

Klotho, lächelnd: [Nicht nötig - wir genießen eure Fragen und finden sie erfrischend. Neugier existiert allerorten im Kontinuum des Lebens, aber nirgendwo in einem solchen Übermaß wie hier. Doch was ihr das Leben nach dem Tod nennt, hat keinen Platz invden vier Konstanten - Leben, Tod, dem Plan und dem Zufall -, die uns betreffen.

Der Verlauf eines jeden Todes, der dem Plan dient, nimmt einen Gang, mit dem wir vertraut sind. Die Auren derjenigen, die einen planmäßigen, vorherbestimmten Tod sterben, werden grau, wenn das Ende näherrückt. Dieses Grau geht konstant in Schwarz über. Wir werden gerufen, wenn die Aura und wir kommen genau so, wie ihr uns in der letzten Nacht gesehen habt. Wir erlösen die Leidenden, besänftigen die Ängstlichen und geben den Ruhelosen Ruhe. Die meisten planmäßig bestimmten Tode werden erwartet, fast herbeigesehnt, aber nicht alle. Manchmal werden wir gerufen, um Männer, Frauen und Kinder zu holen, die sich bester Gesundheit erfreuen... doch ihre Auren verfärben sich plötzlich, und ihre Zeit ist gekommen.]

Ralph dachte an den jungen Mann in der ärmellosen Red Sox Jacke, den er am Dienstag nachmittag ins Red Apple hatte gehen sehen. Er hatte ein Bild von Jugend und Vitalität gesehen... abgesehen von dem geisterhaften Ölfilm, der ihn umgeben hatte.

Ralph machte den Mund auf, um eventuell diesen jungen Mann zu erwähnen (oder nach seinem Schicksal zu fragen), dann schloß er ihn wieder. Die Sonne stand jetzt direkt über ihm, und plötzlich erfüllte ihn eine bizarre Gewißheit - daß er und Lois zum Thema lüsterner Diskussionen in der heimlichen Stadt der Altvorderen geworden waren.

Hat sie jemand gesehen?... Nein?...Ob sie zusammen durchgebrannt sind?... Nee, nicht in ihrem Alter, aber vielleicht liegen sie in der Falle...Ich weiß nicht, ob Ralphie noch Munition in seiner alten Patronenschachtel hat, aber für mich hat sie immer wie ein heißer Feger ausgesehen...Ja, sie geht so, als wüßte sie, was man damit anstellt, was?

Das Bild seiner übergroßen Rostlaube fiel ihm ein, die geduldig hinter einem der efeubewachsenen Bungalows der Derry Cabins wartete, während im Inneren die Bettfedern obszön boingten und zoingten, und er grinste. Er konnte nicht anders. Einen Augenblick später kam ihm die erschreckende Erkenntnis, daß er seine Gedanken möglicherweise durch seine Aura übermittelte, und er schlug hastig die Tür vor diesem Bild zu. Aber sah Lois ihn nicht bereits mit einer gewissem amüsierten Gesichtsausdruck an?

Ralph richtete seine Aufmerksamkeit hastig auf Klotho.

[Atropos dient dem Zufall. Nicht jeder Todesfall, den die Kurzfristigen »sinnlos« oder »unnötig« oder »tragisch« nennen, ist sein Werk, aber die meisten. Wenn ein Dutzend alte Männer und Frauen bei einem Brand in einem Altersheim ums Leben kommen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß Atropos dort gewesen ist, Souvenirs mitgenommen und Ballonschnüre durchgeschnitten hat. Wenn ein Kind ohne ersichtlichen Grund in der Wiege stirbt, sind Atropos und sein rostiges Skalpell in den meisten Fällen dafür verantwortlich. Wenn ein Hund -ja, sogar ein Hund, denn das Schicksal fast aller lebenden Geschöpfe in der Welt der Kurzfristigen fällt in die Zuständigkeit des Plans oder des Zufalls - auf der Straße überfahren wird, weil der Fahrer sich den fälschen Moment ausgesucht hat, um auf die Uhr zu sehen -]

Lois: [»Ist das mit Rosalie passiert?«]

Klotho: [Atropos ist mit Rosalie passiert. Ralphs Freund Joe Wyzer hat lediglich, wie wir sagen, »die Umstände erfüllt«.]

Lachesis: [Und Atropos ist auch Ihrem Freund zugestoßen, dem verstorbenen Mr. McGovern.]

Lois sah aus, wie Ralph sich fühlte: Betroffen, aber eigentlich nicht überrascht. Es war jetzt Spätnachmittag, möglicherweise waren achtzehn Stunden nach Zeitrechnung der Kurzfristigen vergangen, seit sie Bill zum letztenmal gesehen hatten, und schon da hatte Ralph gewußt, daß dem Mann äußerst wenig Zeit blieb. Lois, die ungewollt die Hand in ihn gesteckt hatte, hatte es noch besser gewußt.

Ralph: [»Wann ist es passiert? Wie lange nachdem wir ihn gesehenhatten?«]

Lachesis: [Nicht lange. Als er das Krankenhaus verließ. Es tut mir leid um euren Verlust, und auch, weil wir euch die Neuigkeit auf so grobe Weise überbringen. Wir unterhalten uns so selten mit Kurzfristigen, daß wir nicht wissen, wie man es anstellt. Wir wollten euch nicht wehtun, Ralph und Lois.]

Lois sagte ihm, es wäre schon gut, sie verstünden schon, aber Tränen liefen an ihren Wangen hinab, und Ralph spürte, wie sie in seinen Augen brannten. Der Gedanke, daß Bill nicht mehr war - daß der kleine Scheißkerl im schmutzigen Kittel ihn erwischt hatte -, war schwer zu begreifen. Sollte er wirklich glauben, daß McGovern nie wieder sardonisch die Augenbraue hochziehen würde? Nie wieder jammern würde, wie beschissen es war, alt zu werden? Unmöglich. Er drehte sich unvermittelt zu Klotho um.

[»Zeigen Sie es uns.«]

Klotho, überrascht, fast bibbernd: [Ich... ich glaube nicht -]

Ralph: [»Für uns kurzfristige Pimpfe heißt sehen glauben. Habt ihr Jungs das nie gehört?«]

Lois ergriff unerwartet das Wort.

[»Ja - zeigt es uns. Aber nur soviel, daß wir es wissen und akzeptieren können. Versucht nicht, uns deprimierter zu machen, als wir schon sind.«]

Klotho und Lachesis sahen einander an, dann schienen sie die Achseln zu zucken, ohne die winzigen Schultern tatsächlich zubewegen. Lachesis schnippte mit den beiden ersten Fingern seiner rechten Hand und schuf ein fächerförmiges, blaugrünes Pfauenrad aus Licht. Darin sah Ralph eine winzige, unheimlich perfekte Abbildung der Intensivstation im zweiten Stock. Eine Schwester, die einen Rollwagen mit Medikamenten schob, trat in den Fächer und durchquerte ihn. Am anderen Ende des Bildausschnitts schien sie tatsächlich ein wenig verzerrt zu werden, bevor sie aus dem Bild verschwand.

Lois, trotz der Umstände aufgeregt: [»Es ist, als würde man einen Film in einer Seifenblase sehen!«]

Jetzt kamen McGovern und Mr. Pflaume aus Bob Polhursts Zimmer. McGovern hatte einen alten Pullover mit den Buchstaben der Derry High School angezogen, und sein Freund machte gerade den Reißverschluß seiner Jacke zu; sie gaben die Totenwache für diese Nacht eindeutig auf. McGovern ging langsam und blieb hinter Mr. Pflaume zurück. Ralph konnte sehen, daß sein Untermieter ganz und gar nicht gut aussah.

Er spürte, wie Lois ihm die Hand auf den Unterarm legte und fest zudrückte.

Auf halbem Weg zum Fahrstuhl blieb McGovern stehen, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und senkte den Kopf. Er sah wie ein völlig kaputter Läufer am Ende eines Marathonlaufs aus. Einen Augenblick ging Mr. Pflaume weiter. Ralph sah, wie er den Mund bewegte, und dachte: Er weiß noch nicht, daß er ins Leere spricht -jedenfalls noch nicht.

Plötzlich wollte Ralph nicht mehr sehen.

In dem blau-grünen Fächer hielt sich McGovern eine Hand an die Brust. Die andere griff an den Hals und fing an zu reiben, als würde er nach Wülsten suchen. Ralph konnte es nicht mit Sicherheit sagen, glaubte aber, daß sein Hausgenosse ängstlich aussah. Er mußte an die haßerfüllte verzerrte Miene von Doc Nr. 3 denken, als ihm klar geworden war, daß ein Kurzfristiger sich erdreistet hatte, sich in das Geschäft einzumischen, das er mit einem streunenden Hund aus der Gegend zu erledigen hatte. Was hatte er gesagt?

[Ich mach dich fertig, Kurzer. Ich mach dich im großen Stil fertig. Und ich mach deine Freunde fertig. Hast du mich verstanden?]

Ein schrecklicher Gedanke, fast eine Gewißheit, dämmerte in Ralphs Kopf, als er zusah, wie Bill McGovern langsam zu Boden sackte.

Lois: [»Nehmt es weg-bitte nehmt es weg!«]

Sie vergrub das Gesicht an Ralphs Schulter. Klotho und Lachesis wechselten unbehagliche Blicke, und Ralph stellte fest, daß er seine Ansicht bereits revidierte, daß sie allwissend und allmächtig waren. Sie waren vielleicht übernatürliche Wesen, aber Dr. Joyce Brothers waren sie nicht. Und er hatte den Verdacht, als wären sie auch nicht gerade Weltmeister darin, die Zukunft vorherzusagen; Burschen mit einer wirklich funktionierenden Kristallkugel hatten nicht solche Blicke im Repertoire.

Sie tasten sich blind voran, genau wie wir anderen auch, dachte Ralph und verspürte ein gewisses widerwilliges Mitgefühl für Mr. K. und Mr. L.

Der blaugrüne Fächer aus Licht, der vor Lachesis schwebte, und die Bilder darin verschwanden plötzlich.

Klotho, defensiv: [Bitte vergeßt nicht, daß es euer Wunsch war, zu sehen, Ralph und Lois. Wir haben es euch nicht freiwillig gezeigt.]

Ralph hörte es kaum. Der schreckliche Gedanke, der ihm gekommen war, entwickelte sich immer noch, wie eine Fotografie, die man nicht sehen will, von der man sich aber auch nicht abwenden kann. Er mußte wieder an Bills Hut... Rosalies verblaßtes blaues Tuch... und Lois fehlende Diamantohrringe denken.

Ich mach deine Freunde fertig, Kurzer - hast du mich verstanden? Ich hoffe es'. Ich hoffe es sehr.

Er sah von Klotho zu Lachesis, und sein Mitgefühl für die beiden verschwand. Es wich einer dumpfen, pulsierenden Wut. Lachesis hatte gesagt, es gab keinen zufälligen Tod, und dazu gehörte auch der von McGovern. Ralph zweifelte nicht daran, daß Atropos McGovern aus einem einzigen Grund genommen hatte: Er wollte Ralph wehtun, Ralph bestrafen, weil er sich in... wie hatte Dorrance es ausgedrückt?... in langfristige Geschäfte eingemischt hatte.

Der alte Dor hatte ihm geraten, das nicht zu tun - zweifellos ein guter Rat, aber er, Ralph, hatte keine andere Wahl gehabt... weil diese abgebrochenen Kahlköpfe mit ihm herumgemacht hatten. In einem sehr realen Sinne waren sie an Bill McGoverns Tod schuld.

Klotho und Lachesis sahen seine Wut und wichen einen Schritt zurück (was sie zu tun schienen, ohne tatsächlich die Füße zu bewegen), und ihre Gesichter wurden nervöser denn je.

[»Ihr beiden seid der Grund, daß Bill McGovern tot ist. Das ist die Wahrheit, oder nicht?«]

Klotho: [Bitte... wenn ihr uns einfach zu Ende erklären laßt...]

Lois sah Ralph besorgt und ängstlich an.

[»Ralph? Was ist denn? Warum bist du so wütend?«]

[»Begreifst du denn nicht? Das abgekartete Spielchen dieser beiden da hat Bill McGovern das Leben gekostet. Wir sind hier, weil Atropos entweder etwas getan hat, das diesen Bursche nicht gefällt, oder es noch tun wird -«]

Lachesis: [Sie kommen zu voreiligen Schlußfolgerungen, Ralph -]

[»- aber es gibt ein ganz entscheidendes Problem: Er weiß, dass wir ihn sehen! Atropos WEISS, daß wir ihn sehen!«] Lois Augen wurden groß vor Angst... endlich begriff auch sie.

Kapitel 18

Eine kleine weiße Hand fiel auf Ralphs Schulter und blieb dort liegen wie Rauch.

[Bitte... wenn ihr uns nur erklären lassen würdet -]

Er spürte die Veränderung - dieses Blinzeln - in seinem Körper stattfinden, bevor er richtig merkte, daß er sie herbeigewünscht hatte. Er konnte den Wind wieder spüren, der wie die Klinge eines kalten Messers aus der Dunkelheit wehte, und erschauerte. Die Berührung von Klothos Hand war jetzt nicht mehr als eine Phantomvibration dicht unter der Oberfläche seiner Haut. Er konnte noch alle drei sehen, aber jetzt waren sie milchig und vage. Jetzt waren sie Geister.

Ich bin hinuntergegangen. Nicht ganz bis dorthin, wo wir angefangen haben, aber immerhin auf eine Ebene, wo sie fast keinen körperlichen Kontakt mit mir haben können. Meine Aura, meine Ballonschnur... ja, ich bin sicher, daß sie die erreichen würden, aber die Dimension meines Körpers, die mein wirkliches Leben in der Welt der Kurzfristigen lebt? Keine Chance, Franz.

Lois' Stimme, fern wie ein verhallendes Echo: [»Ralph! Was machst du denn jetzt?«]

Er betrachtete die geisterhaften Umrisse von Klotho und Lachesis. Jetzt sahen sie nicht nur nervös oder etwas schuldbewußt aus, sondern regelrecht ängstlich. Ihre Gesichter waren verzerrt und schwer zu erkennen, aber an ihrer Angst konnte dennoch kein Zweifel bestehen.

Klotho, mit leiser, aber verständlicher Stimme: [Kommen Sie zurück, Ralph! Bitte kommen Sie zurück!]

[»Wenn ja, werden Sie aufhören, Spielchen mit uns zu spielen, und offen und ehrlich sein?«]

Lachesis, verblassend, verschwindend: [Ja! Ja!]

Ralph beschwor das innere Blinzeln wieder herbei. Die drei nahmen wieder deutlich Gestalt an. Gleichzeitig strömte wieder Farbe in die Zwischenräume der Welt, und die Zeit nahm ihre vorherige Geschwindigkeit auf - er sah den abnehmenden Mond, der an der gegenüberliegenden Seite des Himmels hinabsank wie ein Tropfen leuchtenden Quecksilbers. Lois legte ihm die Arme um den Hals, und einen Moment war er nicht sicher, ob sie ihn umarmte oder versuchte, ihn zu erwürgen.

[»Gott sei Dank! ich dachte schon, du würdest mich hier zurücklassen!«]

Ralph gab ihr einen Kuß, und einen Augenblick war sein Kopf von einem angenehmen Durcheinander von Sinneswahrnehmungen erfüllt: der Geschmack von frischem Honig, eine Beschaffenheit wie gekämmte Wolle und der Geruch von Äpfeln. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf (wie wäre es, hier oben Sex zu haben?) aber er verdrängte ihn sofort wieder. Er würde in den nächsten paar (Minuten? Stunden? Tagen?) klar denken und sprechen müssen, und wenn er an so etwas dachte, würde ihm das um so schwerer fallen. Er drehte sich zu den kleinen kahlköpfigen Ärzten um und sah sie abschätzend an.

[»Ich hoffe, es ist Ihr Ernst, denn wenn nicht, sollten wir das kleine Techtelmechtel besser hier und jetzt absagen und unserer Wege gehen.«]

Diesmal ersparten es sich Klotho und Lachesis, Blicke zu wechseln; sie nickten beide eifrig. Als Lachesis das Wort ergriff, tat er es in unterwüfigem Tonfall. Mit diesen Burschen, überlegte sich Ralph, war weitaus besser Kirschen essen als mit Atropos, aber sie waren ebenso wenig daran gewöhnt, Fragen gestellt zu bekommen - auf den Pott gesetzt zu werden, wie Ralphs Mutter gesagt haben würde - wie er.

[Alles, was wir euch gesagt haben, ist wahr, Ralph und Lois. Wir haben die Möglichkeit unerwähnt gelassen, daß Atropos mehr über die Situation wissen könnte, als uns lieb ist, aber -]

Ralph: [»Und wenn ich mich nun weigere, noch mehr von diesem Unsinn anzuhören? Wenn ich mich einfach umdrehe und gehe?«]

Keiner antwortete, aber Ralph sah etwas Bestürzendes in ihren Augen: Sie wußten, daß Atropos Lois Ohrringe hatte, und sie wußten, daß er es ebenfalls wußte. Die einzige, die es nicht wußte - hoffte er -, war Lois selbst.

Die zupfte jetzt an seinem Arm.

[»Tu das nicht, Ralph - bitte nicht. Wir müssen sie zu Ende anhören.«]

Er drehte sich wieder zu ihnen um und deutete mit einer knappen Geste an, daß sie fortfahren sollten.

Lachesis: [Unter gewöhnlichen Umständen mischen wir uns nicht in Atropos' Geschäfte ein, und er sich nicht in unsere. Wir könnten uns nicht einmischen, selbst wenn wir es wollten; der Plan und der Zufall sind wie die schwarzen und weißen Felder eines Schachbretts, sie definieren einander durch den Kontrast. Aber Atropos will sich in das Wirken der Dinge einmischen - in einem durchaus realen Sinne wurde er geschaffen, um sich einzumischen -, und bei seltenen Anlässen bietet sich die Gelegenheit, in wirklich großem Maßstab einzugreifen. Selten gibt es Bemühungen, diese Einmischung zu unterbinden -]

Klotho: [Die Wahrheit sieht in Wirklichkeit etwas drastischer aus, Ralph und Lois; soweit wir wissen, ist niemals ein Versuch unternommen worden, ihn zu beeinflussen oder an etwas zu hindern.]

Lachesis: [- und sie finden nur statt, wenn die Situation, in die er sich einmischen will, eine äußerst prekäre ist, ein Gleichgewicht von vielen ernsten Belangen. Dies ist eine dieser Situationen. Atropos hat einen Lebensfaden durchgeschnitten, den er besser in Ruhe gelassen hätte. Das wird zu Problemen auf allen Ebenen führen, ganz zu schweigen von einem gravierenden Ungleichgewicht zwischen dem Zufall und dem Plan, wenn de Situation nicht bereinigt wird. Wir können nicht selbst erledigen, was getan werden muß; die Situation übersteigt unsere bescheidenen Fähigkeiten bei weitem. Wir können nicht mehr deutlich sehen, geschweige denn handeln. Doch in diesem Fall spielt unser Unvermögen zu sehen kaum eine Rolle, denn letzten Endes können sich nur Kurzfristige dem Willen von Atropos widersetzen. Darum seid ihr beiden hier.]

Ralph: [»Wollen Sie damit sagen, daß Atropos die Schnur von jemandem durchgeschnitten hat, der eines natürlichen Todes sterben sollte... oder eines planmäßigen Todes?«]

Klotho: [Nicht exakt. Manche Leben - sehr wenige - unterliegen 'keinem klaren Muster. Wenn Atropos so ein Leben beeinflußt, entstehen fast immer Schwierigkeiten. »Alles ist offen«, wie man bei euch zu sagen pflegt. Solche unbestimmten Leben sind wie -]

Klotho breitete die Arme aus, worauf ein Bild - wieder Spielkarten - zwischen ihnen aufblitzte. Eine Reihe von sieben Karten, die rasch, eine nach der anderen, von einer unsichtbaren Hand umgedreht wurden. Ein As; eine Zwei; ein Joker; eine Drei; eine Sieben; eine Dame. Die letzte Karte, die die unsichtbare Hand umdrehte, war leer.

Klotho: [Hilft dieses Bild weiter?]

Ralph runzelte die Stirn. Er wußte nicht, ob es weiterhalf, irgendwo da draußen existierte ein Mensch, der weder eine normale Karte noch ein Joker im Spiel war. Ein völlig unbeschriebenes Blatt, das sich beide Seiten schnappen konnten. Atropos hatte den metaphysischen Luftschlauch dieses Burschen durchgeschnitten, und jetzt hatte jemand -oder etwas - eine Auszeit beantragt.

Lois: [»Sie sprechen von Ed, richtig?«]

Ralph wirbelte herum und sah sie durchdringend an, aber sie betrachtete Lachesis.

[»Ed Deepneau ist die leere Karte.«]

Lachesis nickte.

[»Woher weißt du das, Lois?«]

[»Wer sollte es sonst sein?«]

Sie lächelte ihm nicht direkt zu, aber Ralph spürte die Entsprechung eines Lächelns. Er drehte sich wieder zu Klotho und Lachesis um.

[»Okay, allmählich zeichnet sich immerhin etwas ab. Und wer hat bei dieser Sache die Notbremse gezogen? Ich glaube nicht, daß Sie beide es gewesen sind - ich habe eine Ahnung, als wären Sie, zumindest in dieser Angelegenheit, nicht mehr als Handlanger.«]

Sie streckten einen Moment die Köpfe zusammen und murmelten, aber Ralph sah einen schwachen Ockerfarbton wie einen Saum an der Stelle erscheinen, wo ihre Auren sich berührten, und wußte, daß er recht hatte. Schließlich drehten die beiden sich wieder zu ihm und Lois um.

Lachesis: [Ja, das ist im wesentlichen richtig. Sie haben eine Art, alles ins rechte Licht zu rücken, Ralph. So eine Unterhaltung haben wir seit tausend Jahren nicht mehr geführt -]

Klotho: [Wenn überhaupt je.]

Ralph: [»Ihr müßt nur die Wahrheit sagen, Jungs.«]

Lachesis, flehentlich wie ein Kind: [Das haben wir!]

Ralph: [»Die ganze Wahrheit.«]

Lachesis: [Nun gut, die ganze Wahrheit. Ja, Atropos hat Ed Deepneaus Schnur durchgeschnitten. Das wissen wir nicht, weil wir es gesehen haben - wie schon gesagt, ist unser Sehvermögen nicht mehr besonders klar -, sondern weil es die einzig logische Schlußfolgerung ist. Deepneau ist ein unbeschriebenes Blatt, er gehört weder dem Plan noch dem Zufall; das wissen wir, und seine Lebensschnur muß von ungeheurer Bedeutung gewesen sein, daß so ein Aufhebens gemacht wird. Allein die Tatsache, daß er so lange weiterlebt, obwohl seine Schnur durchgeschnitten wurde, deutet auf seine Macht und seine Bedeutung hin. Als Atropos seine Schnur durchgeschnitten hat, hat er eine schreckliche Kette von Ereignissen ausgelöst.]

Lois erschauerte und stellte sich neben Ralph.

Lachesis: [Ihr habt uns Handlanger genannt. Das ist zutreffender, als euch bewußt ist. In diesem Fall sind wir nichts weiter als Boten. Unsere Aufgabe besteht darin, Ihnen und Lois klarzumachen, was geschehen ist und was von Ihnen erwartet wird, und diese Aufgabe haben wir fast erfüllt. Und wer »die Notbremse gezogen hat«, diese Frage können wir nicht beantworten, weil wir es selbst nicht wissen.]

[»Ich glaube Ihnen nicht.«]

Aber er hörte die fehlende Überzeugung in seiner eigenen Stimme (sofern es eine Stimme war).

Klotho: [Seien Sie nicht albern - selbstverständlich glauben Sie es! Würden Sie damit rechnen, daß die Direktoren eines riesigen Automobilkonzerns einen Fließbandarbeiter in die Chefetage einladen, um ihm die Hintergründe der Firmenpolitik zu erläutern? Oder um ihm detailliert zu erklären, warum ein Werk geschlossen wurde und das andere weiterproduzieren darf?]

Lachesis: [Wir stehen ein wenig höher als die Männer, die in Autofabriken am Fließband stehen, aber wir sind trotzdem noch das, was Sie vielleicht als »kleine Leute« bezeichnen würden, Ralph nicht mehr und nicht weniger.]

Klotho: [Geben Sie sich damit zufrieden: Über der Ebene kurzfristiger Existenzen und der langfristiger, auf der Lachesis, Atropos und ich existieren, gibt es noch andere. Diese werden von Wesen bewohnt, die wir Immerwährende nennen; sie existieren entweder ewig oder zumindest so lange, daß kaum ein Unterschied mehr besteht. Kurzfristige und Langfristige leben in überlappenden Sphären der Existenz - auf verbundenen Etagen desselben Gebäudes, wenn Sie so wollen -, die vom Plan und vom Zufall beherrscht werden. Über diesen Etagen, für uns unerreichbar, aber nichtsdestotrotz ebenso Bestandteil desselben Turms der Existenz, leben andere Wesen. Manche sind ehrfurchtgebietend und wunderbar, andere so böse, daß nicht einmal wir es begreifen können, geschweige denn ihr. Diese Wesen könnte man den Höheren Plan und den Höheren Zufäll nennen... möglicherweise gibt es auch jenseits einer bestimmten Ebene keinen Zufall mehr; wir vermuten es, aber mit Sicherheit sagen können wir es nicht. Wir wissen, es ist etwas von einer dieser höheren Ebenen, das Interesse an Ed gefunden hat, und daß etwas anderes da oben einen Gegenzug unternommen hat. Dieser Gegenzug seid ihr, Ralph und Lois.]

Lois warf Ralph einen bestürzten Blick zu, den er kaum bemerkte. Im Augenblick nahm er die Vorstellung, daß etwas sie herumschob wie Schachfiguren bei Faye Chapins heißgeliebtem Startbahn Drei Classic - eine Vorstellung, die ihn unter normalen Umständen zur Weißglut gebracht hätte - kaum zur Kenntnis. Er mußte an den Abend denken, als Ed ihn angerufen hatte. Du schwimmst in tiefem Wasser, hatte er gesagt, und es kreisen Dinge in der Strömung, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.

Mit anderen Worten, Wesenheiten.

So böse Wesen, daß man sie nicht einmal mehr begreifen konnte, laut Mr. K., und Mr. K. war ein Gentleman, der hauptberuflich den Tod brachte.

Sie haben dich noch nicht bemerkt, hatte Ed an jenem Abend zu ihm gesagt, aber wenn du dich weiter mit mir anlegst, werden sie es. Und das möchtest du sicher nicht. Glaub mir.

Lois: [»Wie haben Sie uns überhaupt auf diese Stufe gebracht? Durch die Schlaflosigkeit, richtig?«]

Lachesis, vorsichtig: [Im wesentlichen ja. Wir sind imstande, gewisse geringfügige Veränderungen in den Auren der Kurzfristigen vorzunehmen. Diese Veränderung bewirkte eine besondere Form der Schlaflosigkeit, die eure Art zu träumen und eure Wahrnehmung der Welt im Wachsein veränderte. Auren von Kurzfristigen zu manipulieren, ist eine komplexe, beängstigende Arbeit. Wahnsinn ist immer eine mögliche Gefahr.]

Klotho: [Manchmal war euch vielleicht zumute, als würdet ihr verrückt, aber diese Gefahr bestand nicht einmal annähernd. Ihr seid beide viel zäher, als ihr euch selbst eingestehen wollt.]

Diese Arschlöcher glauben tatsächlich, daß uns das ein Trost ist, staunte Ralph, aber dann unterdrückte er seinen Zorn wieder. Er hatte jetzt einfach keine Zeit, wütend zu sein. Vielleicht konnte er es später wettmachen. Momentan tätschelte er nur Lois' Hand und wandte sich wieder Klotho und Lachesis zu.

[»Letzten Sommer, als er seine Frau verprügelt hatte, hat Ed mir von einem Wesen erzählt, das er den Scharlachroten König nannte. Sagt euch Burschen das etwas?«]

Klotho und Lachesis wechselten wieder einen Blick, den Ralph zunächst für ernst hielt.

Klotho: [Ralph, Sie dürfen nicht vergessen, daß, Ed wahnsinnig ist und in einem Zustand der Selbsttäuschung lebt -]

[»Klar, wem sagen Sie das.«]

[- aber wir glauben, daß dieser »Scharlachrote König« doch in der einen oder anderen Form existiert, und als Atropos Eds Lebensschnur durchgeschnitten hat, muß er direkt unter den Einfluß dieses Wesens geraten sein.]

Die beiden kahlköpfigen Ärzte sahen einander wieder an, und diesmal erkannte Ralph ihren gemeinsamen Gesichtsausdruck als das, was er tatsächlich war: Nicht Ernst spiegelte sich darin, sondern blankes Entsetzen.

Ein neuer Tag war angebrochen - Donnerstag - und ging bereits dem Mittag entgegen. Ralph konnte es nicht mit Sicherheit sagen, fand aber, daß die Geschwindigkeit, mit der die Zeit da unten auf der Ebene der Kurzfristigen ablief, zugenommen hatte; wenn sie die Sache nicht bald hinter sich brachten, würde Bill McGovern nicht der einzige ihrer Freunde bleiben, den sie überlebten.

Klotho: [Atropos wußte, daß der Höhere Plan irgend jemanden schicken würde, um zu versuchen, das rückgängig zu machen, was er in Bewegung gesetzt hat, und jetzt weiß er, wer das ist. Aber ihr dürft euch nicht von Atropos ablenken lassen; ihr dürft nicht vergessen, er ist kaum mehr als ein Bauer auf diesem Schachbrett. Atropos ist nicht euer wahrer Gegner.

Er machte eine Pause und sah seinen Kollegen zweifelnd an. Lachesis nickte ihm zu, er solle weitersprechen, was er auch zuversichtlich tat, aber Ralph spürte dennoch eine gewisse Resignation über sich kommen. Er war sicher, die beiden kahlköpfigen Ärzte hatten die besten Absichten, aber sie flogen trotzdem eindeutig weitgehend nach Instrumenten.

Klotho: [Ihr dürft euch Atropos nicht direkt nähern. Das kann ich nicht genügend betonen. Er ist von Kräften umgeben, die bei weitem größer sind als er selbst, von Kräften, die böse und mächtig sind, von Kräften, die bewußt sind und vor nichts haltmachen werden, um euch aufzuhalten. Aber wir glauben, wenn ihr euch von Atropos fernhaltet, könnt ihr möglicherweise die bevorstehende schreckliche Katastrophe verhindern... die, in durchaus realem Sinne, schon angefangen hat.]

Ralph gefiel die stillschweigende Annahme nicht besonders, daß er und Lois tun würden, was diese beiden fröhlichen Gauchos verlangten, aber es schien nicht der geeignete Zeitpunkt zu sein, das zu sagen.

Lois: [»Was wird denn geschehen? Was wollt ihr von uns? Sollen wir Ed suchen und ihm ausreden, etwas Böses zu tun?«]

Klotho und Lachesis sahen sie mit demselben Ausdruck fassungslosen Erschreckens an.

[Habt ihr nicht zugehört, was -]

[- ihr dürft nicht einmal daran denken -]

Sie verstummten, und Klotho gab Lachesis, ein Zeichen, daß er fortfahren sollte.

[Wenn Sie uns nicht zugehört haben, Lois, dann hören Sie uns jetzt zu: Halten Sie sich von Ed Deepneau fern! Diese ungewöhnliche Situation hat ihn, genau wie Atropos, vorübergehend mit größerer Macht ausgestattet. Wenn Sie sich ihm auch nur nahern, riskieren Sie damit einen Besuch der Wesenheit, die er als Scharlachroten König bezeichnet... davon abgesehen ist er gar nicht mehr in Derry.]

Lachesis sah über das Dach, wo in der Abenddämmerung des Donnerstag die Lichter angingen, dann betrachtete er wieder Ralph und Lois.

[Er ist aufgebrochen nach _ - keine Worte, aber Ralph empfing deutlich einen Sinneseindruck, der teils Geruch (Öl, Fett, Abgase, Meeresluft), teils Gefühl und Ton war (ein großes, rostiges Gebäude, in dem ein riesiges Tor auf einer Stahlschiene offenstand).

[»Er ist an der Küste, richtig? Oder auf dem Weg dorthin.«]

Klotho und Lachesis nickten, und ihre Gesichter schienen zu sagen, daß die achtzig Meilen von Derry entfernte Küste ein ausgezeichneter Aufenthaltsort für Ed Deepneau war.

Lois zupfte wieder an seinem Arm, und Ralph sah sie an.

[»Hast du das Gebäude gesehen, Ralph?«]

Er nickte.

Lois: [»Nicht die Hawking Labors, aber in der Nähe. Ich glaube, es könnte sogar ein Ort sein, den ich kenne -]

Lachesis ergriff hastig das Wort, als wollte er das Thema wechseln: [Wo er sich befindet und was er vorhaben könnte, ist eigentlich unerheblich. Eure Aufgabe liegt anderswo, in sichereren Gewässern, aber ihr werdet möglicherweise dennoch all die nicht unerhebliche Kraft brauchen, die euch Kurzfristigen zur Verfügung steht, um sie zu erfüllen, und die Gefahren konnten trotz alledem groß sein.]

Lois sah Ralph nervös an.

[»Sag ihnen, daß wir keinem etwas zuleide tun, Ralph - wir stimmen vielleicht zu, ihnen zu helfen, wenn wir können, aber wir werden keinem etwas zuleide tun, was auch passieren mag.«]

Aber das sagte Ralph ihnen nicht. Er dachte daran, wie die Diamantsplitter an Atropos' Ohren gefunkelt hatten, und meditierte über die perfekte Falle, in der er saß - und Lois selbstverständlich mit ihm. Doch, er würde jemandem wehtun, um die Ohrringe zurückzubekommen. Das stand außer Frage. Aber wie weit würde er gehen? Würde er auch töten, um sie zurückzubekommen? Er glaubte, daß die Antwort darauf ja lautete.

Ralph, der nicht über das Thema nachdenken, der Lois im Augenblick nicht einmal ansehen wollte, wandte sich wieder an Klotho und Lachesis. Er machte den Mund auf, um zu sprechen, aber sie war schneller.

[»Ich möchte noch etwas wissen, bevor wir fortfahren.«]

Klotho antwortete; er hörte sich gelinde amüsiert an - hörte sich de facto wie Bill McGovern an. Was Ralph nicht besonders gefiel.

[Und das wäre, Lois?]

[»Ist Ralph auch in Gefahr? Besitzt Atropos etwas von ihm, das wir später zurückbekommen müssen? So etwas wie Bills Hut?«]

Lachesis und Klotho wechselten einen hastigen, besorgten Blick. Ralph glaubte nicht, daß Lois es mitbekam, aber er schon. Sie kommt der Wahrheit zu nahe, sagte dieser Blick. Dann verschwand er auch schon wieder. Ihre Gesichter waren wieder glatt, als sie Lois ihre Aufmerksamkeit zuwandten.

Lachesis: [Nein. Atropos hat nichts von Ralph genommen, weil ihm das bis zu diesem Zeitpunkt nichts genützt hätte.]

Ralph: [»Was meinen Sie damit, bis zu diesem Zeitpunkt?«]

Klotho: [Sie haben Ihr Leben als Bestandteil des Plans gelebt, Ralph, aber das hat sich geändert.]

Lois: [»Wann hat es sich geändert? Es ist passiert, als wir angefangen haben, die Auren zu sehen, richtig?«]

Sie sahen einander an, dann Lois, dann - nervös - Ralph. Sie antworteten nicht, und da kam Ralph ein interessanter Gedanke: Wie der Knabe George Washington in der Legende mit dem Kirschbaum konnten Klotho und Lachesis nicht lügen... was sie in Augenblicken wie diesem wahrscheinlich bedauerten. Sie hatten nur eine einzige Möglichkeit, nämlich wie jetzt den Mund zu halten und zu hoffen, daß sich das Gespräch in eine andere Richtung entwickeln würde. Ralph beschloß, daß er das nicht wollte - jedenfalls noch nicht -, obwohl die große Gefahr bestand, daß Lois herausfand, wohin ihre Ohrringe tatsächlich verschwunden waren... immer vorausgesetzt, sie wußte es nicht ohnehin schon, eine Möglichkeit, die ihm gar nicht so weit hergeholt erschien. Der alte Lockruf der Marktschreier fiel ihm ein: Kommen Sie ruhig näher, meine Herren... aber wenn Sie spielen wollen, müssen Sie bezahlen.

[»O nein, Lois, die Veränderung hat nicht stattgefunden, als ich angefangen habe, die Auren zu sehen. Ich glaube, viele Menschen können ab und zu einmal einen Blick in die langfristige Welt der Auren werfen, ohne daß ihnen etwas Böses widerfährt. Ich glaube, ich wurde erst aus meiner hübschen, sicheren Nische im Plan gestoßen, als wir das Gespräch mit diesen beiden feinen Herren angefangen haben. Was meinen Sie dazu, meine feinen Herren? Sie haben gewissermaßen eine Spur aus Brotkrumen hinterlassen, obwohl Sie genau wußten, was passieren würde. Ist es nicht ganz genauso gewesen?«]

Die beiden betrachteten ihre Füße, dann langsam, widerwillig wieder Ralph. Lachesis antwortete.

[Ja, Ralph. Wir haben Sie zu uns gelockt, obwohl wir wußten, daß es Ihr Ka verändern würde. Das ist ein Unglück, aber die Situation erforderte es.]

Jetzt wird Lois nach ihrem eigenen Status fragen, dachte Ralph. Jetzt muß sie fragen.

Aber sie fragte nicht. Sie sah die beiden kleinen kahlköpfigen Ärzte nur mit einem undeutbaren Ausdruck an, der so gar nicht zu ihrer gewohnten Unsere-Lois-Miene passen wollte: aufgerissene Augen des Interesses, aufgerissene Augen der Verwunderung. Ralph fragte sich wieder, wieviel sie wußte oder vermutete, und staunte erneut darüber, daß er nicht die geringste Ahnung hatte... doch dann wurden diese Spekulationen von einer neuerlichen Woge des Zorns verschluckt.

[»Ihr Jungs... Mann, oh Mann, ihr Jungs...«]

Er führte es nicht weiter aus, aber wenn Lois nicht neben ihm gestanden hätte, hätte er es vielleicht getan: Ihr Jungs habt eine ganze Menge mehr getan, als uns nur um unseren Schlaf zu bringen, oder nicht? Ich weiß nicht, wie es bei Lois ist, aber ich hatte eine gemütliche kleine Nische im Plan... was bedeutet, daß ihr mich absichtlich zu einer Ausnahme von der Regel gemacht habt, deren Einhaltung ihr euer ganzes Leben widmet. In gewisser Weise bin ich ebenso leer wie der Bursche, den wir finden sollen. Wie hat Klotho es ausgedrückt? »Alles ist offen.« Wie verdammt wahr das ist.

Lois: [»Sie haben davon gesprochen, daß wir unsere Macht einsetzen sollten. Welche Macht?«]

Lachesis drehte sich zu ihr um und war offenbar entzückt über den Themenwechsel. Er preßte die Handflächen aufeinander und breitete die Hände dann zu einer eigentümlich orientalischen Geste aus. Zwei rasch aufeinanderfolgende Bilder erschienen dazwischen: Ralphs Hand, aus der ein Strahl kalten blauen Feuers schoß, als er mit ihr wie bei einem Karateschlag durch die Luft fuhr, und Lois' Zeigefinger, der blau-graue Kugeln aus Licht hervorbrachte, die wie radioaktive Hustendrops aussahen.

Ralph: [»Ja, schon gut, wir besitzen etwas, aber es ist nicht zuverlässig. Es ist mehr wie...«]

Er konzentrierte sich und erzeugte selbst ein Bild: Hände, die die Rückseite eines Radios öffneten und zwei mit blaugrauem Belag verkrustete Batterien herausholten. Klotho und Lachesis, die nicht verstanden, sahen ihn stirnrunzelnd an.

Lois: [»Er versucht zu sagen, daß wir das nicht immer können, und wenn, dann können wir es nicht lange. Wißt ihr, unsere Batterien sind schnell leer.«]

Mit amüsiertem Unglauben gemischtes Verständnis breitete sich auf ihren Gesichtern aus.

Ralph: [»Was ist daran so verdammt komisch?«]

Klotho: [Nichts... alles. Ihr habt keine Vorstellung, wie seltsam ihr beide uns vorkommt - eben noch unglaublich weise und subtil, und im nächsten Augenblick unglaublich naiv. Eure Batterien, wie ihr euch ausdrückt, müssen niemals leer werden, denn ihr steht neben einem grenzenlosen Vorrat an Energie. Da ihr beide schon davon getrunken habt, sind wir davon ausgegangen, daß ihr das eigentlich wissen müßtet.]

Ralph: [»Wovon, um alles in der Welt, reden Sie?«]

Lachesis führte erneut die seltsam orientalische Geste der ausgebreiteten Arme aus. Diesmal sah Ralph Mrs. Perrine, die in ihrer Aura von der Farbe einer Uniform von West Point steif aufrecht ging. Sah einen Strahl grauen Leuchtens, dünn und gerade wie der Stachel eines Stachelschweins, aus dieser Aura herausragen.

Das Bild wurde überblendet mit dem einer mageren Frau in einer schmutzigbraunen Aura. Sie sah zu einem Autofenster hinaus. Eine Stimme - die von Lois - sagte: Oh, Mina, ist das nicht ein entzückendes kleines Häuschen? Einen Augenblick später wurde leise eingeatmet, worauf ein dünner Strahl im Nacken der Frau aus ihrer Aura schoß.

Dem folgte ein drittes Bild, kurz aber deutlich: Ralph, wie er unter der Scheibe der Krankenhausinformation durchgriff und die Hand der Frau mit der orangefarbenen Aura packte... nur war diese Aura um den linken Arm herum plötzlich nicht mehr orange. Plötzlich hatte sie die verblaßte Türkisfarbe, die er mittlerweile als Ralph-Roberts-Blau betrachtete.

Das Bild verblaßte. Lachesis und Klotho sahen Ralph und Lois an; diese erwiderten den Blick schockiert.

Lois: [»O nein! Das können wir nicht tun! Es ist wie -«]

Bild: Zwei Männer in gestreifter Gefängniskleidung mit schwarzen Augenmasken, die auf Zehenspitzen aus einem Banktresor flohen und prallvolle Säcke mit dem Symbol $ darauf hinaustrugen.

Ralph: [»Nein, schlimmer. Es ist wie -«]

Bild: Eine Fledermaus flog durch ein offenes Kellerfenster herein, kreiste zweimal in einem silbernen Schacht aus Mondlicht und verwandelte sich dann in Ralph Lugosi im Cape und einem altmodischen Frack. Er näherte sich einer schlafenden Frau -keiner jungen, rosigen Jungfrau, sondern der alten Mrs. Perrine in einem züchtigen Flanellnachthemd - und beugte sich über sie, um ihre Aura auszusaugen.

Als Ralph wieder zu Klotho und Lachesis sah, schüttelten beide vehement die Köpfe.

Lachesis: [Nein! Nein, nein, nein! Sie könnten gar nicht falscher liegen! Haben Sie sich noch nicht gefragt, warum Sie Kurzfristige sind, deren Lebenspanne nach Jahrzehnten und nicht nach Jahrhunderten gemessen wird l Eure Lebensspanne ist kurz, weil ihr wie Freudenfeuer brennt! Wenn ihr Energie von anderen Kurzfristigen bezieht, ist das wie -]

Bild: Ein Kind am Strand, ein hübsches kleines Mädchen mit goldenen Ohrringen, die auf den Schultern anstießen, lief am Strand entlang, wo die Wellen brachen. In einer Hand trug sie einen roten Plastikeimer. Sie kniete hin und füllte ihn aus dem riesigen Atlantik.

Klotho: [Ihr seid wie dieses Kind, Ralph und Lois - die anderen Kurzfristigen sind wie das Meer. Habt ihr jetzt verstanden?]

Ralph: [»Verfügt die menschliche Rasse wirklich über soviel von dieser Aura-Energie?«]

Lachesis: [Ihr versteht immer noch nicht. Soviel gibt es -]

Lois unterbrach ihn. Ihre Stimme bebte, aber Ralph vermochte nicht zu sagen, ob aus Angst oder Ekstase.

[»Soviel gibt es in jedem von uns, Ralph. Soviel existiert in jedem menschlichen Wesen auf der Welt!«]

Ralph pfiff leise durch die Zähne und sah von Lachesis zu Klotho. Sie nickten zustimmend.

[»Sie wollen damit sagen, wir können diese Energie bei jedem aufstocken, der gerade zur Verfügung steht? Daß den Menschen, von denen wir sie nehmen, kein Schaden entsteht?«]

Klotho: [Ja. Ihr könntet ihnen ebensowenig schaden, wie ihr den Atlantik mit dem Plastikeimer eines Kindes leerschöpfen könntet.]

Ralph hoffte, daß das stimmte, denn er vermutete, daß er und Lois schon seit einer ganzen Weile Energie aus den Auren ihrer Mitmenschen borgten - das war die einzige Erklärung für alle Komplimente, die er bekam. Immer wieder versicherten ihm Leute, daß er großartig aussähe. Mutmaßten die Leute, daß er seine Schlaflosigkeit überwunden haben mußte, mußte, weil er so ausgeruht und gesund aussah. Weil er jünger aussah.

Verdammt, dachte er, ich bin jünger.

Der Mond war wieder untergegangen, und Ralph stellte erschrocken fest, daß die Sonne bald am Freitagmorgen aufgehen würde. Es wurde höchste Zeit, daß sie sich wieder dem Hauptthema ihrer Diskussion zuwandten.

[»Belassen wir es dabei, Leute. Warum haben Sie sich all diese Mühe gemacht? Was sollen wir eigentlich aufhalten?«]

Aber bevor jemand antworten konnte, überkam ihn eine blitzartige Einsicht, die so stark und grell war, daß er sie unmöglich in Frage stellen oder leugnen konnte.

[»Es geht um Susan Day, richtig? Er will Susan Day umbringen. Ein Attentat auf sie verüben.«]

Klotho:[Ja,aber-]

Lachesis: [- aber darum geht es nicht -]

Ralph: [»Kommt schon, Jungs -findet ihr nicht auch, daß es Zeit wird, den Rest der Karten auf den Tisch zu legen?«]

Lachesis: [Ja, Ralph, es wird Zeit.]

Sie hatten sich wenig oder gar nicht berührt, seit sie den Kreis gebildet hatten und durch die Etagen des Krankenhauses zum Dach aufgestiegen waren, aber nun legte Lachesis einen federleichten Arm um Ralphs Schultern, und Klotho nahm Lois am Arm, wie ein Gentleman vergangener Zeiten die Dame seines Herzens auf die Tanzfläche geführt haben mochte.

Geruch von Äpfeln, Geschmack von Honig, Beschaffenheit von Wolle... aber diesmal konnte Ralphs Freude über diese Mischung von Sinneseindrücken das Unbehagen nicht verbergen, das er empfand, als Lachesis ihn nach links drehte und mit ihm zum Rand des flachen Krankenhausdaches ging.

Wie viele der größeren und bedeutenderen Städte, schien auch Derry am geographisch ungeeignetsten Platz erbaut worden zu sein, den die ersten Siedler finden konnten. Der Innenstadtbereich lag am steilen Abschnitt eines Hangs; der Kenduskeag floß träge und braun durch das zugewucherte Dickicht der Barrens an der tiefsten Stelle des Tals. Von ihrem Aussichtspunkt auf dem Krankenhausdach wirkte Derry wie eine Stadt, deren Herz von einem schmalen grünen Dolch durchbohrt worden war... nur sah dieser Dolch in der Dunkelheit schwarz aus.

Auf einer Seite des Tals lag Old Cape, eine heruntergekommene Nachkriegssiedlung mit einem todschicken neuen Einkaufszentrum. Die andere Seite umschloß das, was die meisten Leute meinten, wenn sie von der »Innenstadt« sprachen. Die Innenstadt von Derry drängte sich rund um den UpMile Hill. Witcham Street bildete den direktesten Weg diesen Hügel hinauf und stieg steil an, bevor sie sich zu einen Gewirr von Nebenstraßen verästelte (eine davon war die Harris Avenue), das die West Side bildete. Die Main Street zweigte auf halbem Wege bergauf von der Witcham ab und verlief an der flacheren Seite des Tals entlang nach Südwesten. Dieser Stadtteil war sowohl als Main Street Hill wie auch als Bassey Park bekannt. Und in der Nähe der höchsten Kuppe der Main Street-

Lois, fast stöhnend: [»Großer Gott, was ist das?«]

Ralph versuchte, etwas Tröstendes zu sagen, brachte aber nur ein klägliches Krächzen heraus. Über dem Gipfel des Main Street Hill schwebte ein riesiger, schwarzer Regenschirmumriß über dem Boden und verdeckte die Sterne in ihrer zarten morgendlichen Blässe. Ralph versuchte sich zuerst einzureden, es handle sich nur um Rauch, eine der Lagerhallen in der Gegend habe Feuer gefangen... möglicherweise sogar das aufgegebene Eisenbahndepot am Ende der Neibolt Street. Aber die Lagerhallen befanden sich weiter südlich, das alte Depot weiter westlich, und wenn dieser böse aussehende Pilz tatsächlich Rauch gewesen wäre, hätte der starke Wind ihn in Rauchfahnen verwehen müssen. Aber das passierte nicht. Statt sich aufzulösen, hing der stumme Fleck einfach am Himmel, dunkler als die Dunkelheit.

Und niemand sieht ihn, dachte Ralph. Niemand außer mir... und Lois... und den kleinen kahlköpfigen Ärzten. Den gottverdammten kleinen kahlköpfigen Ärzten.

Er kniff die Augen zusammen, damit er den Umriß in dem riesigen Leichentuch erkennen konnte, aber das war eigentlich gar nicht nötig; er hatte fast sein ganzes Leben in Derry verbracht und hätte sich beinahe mit geschlossenen Augen auf den Straßen zurechtgefunden (das heißt, wenn er es nicht am Steuer seines Automobils tun mußte). Wie auch immer, er konnte das Gebäude in dem Leichentuch identifizieren, zumal sich bereits das Tageslicht am Horizont abzeichnete. Das runde Flachdach auf der geschwungenen Glas- und Backsteinfassade ließ keinen Zweifel zu. Dieser Rückfall in die fünfziger Jahre war nicht ohne hintergründigen Humor von dem berühmten Architekten (und ehemaligen Einwohner Derrys) Benjamin Hanscom entworfen worden, und es handelte sich um das neue Bürgerhaus von Derry, den Nachfolger des alten, das bei der Sturmflut des Jahres 1985 zerstört worden war.

Klotho drehte sich zu Ralph um und sah ihn an.

[Sie sehen, Ralph, Sie hatten recht - er möchte ein Attentat auf Susan Day verüben... aber nicht nur auf Susan Day.]

Er machte eine Pause, sah Lois an und wandte das ernste Gesicht dann wieder Ralph zu.

[Diese Wolke - die Sie ganz zutreffend ein Leichentuch nennen bedeutet, daß er in einem sehr realen Sinne bereits getan hat, was Atropos ihm aufgetragen hatte. Heute abend werden über zweitausend Menschen anwesend sein... und Ed Deepneau will sie alle umbringen. Wenn der Gang der Ereignisse nicht verändert wird, dann wird er sie alle umbringen.]

Lachesis trat neben seinen Kollegen.

[Ihr beiden, Ralph und Lois, seid die einzigen, die das verhindern können.]

Vor seinem geistigen Auge sah Ralph das Plakat von Susan Day, das im leeren Schaufenster zwischen der Rite Aid Drogerie und dem Day Break, Sun Down ausgestellt worden war.

Er erinnerte sich an die in den Staub auf der Fensterscheibe gekritzelten Worte: TÖTET DIESE FOTZE. Und das Schlimme war, in Derry konnte so etwas durchaus passieren. Derry war wirklich nicht wie andere Städte. Ralph fand, daß sich die Atmosphäre der Stadt seit der großen Überschwemmung vor acht Jahren deutlich verbessert hatte, aber es war trotzdem nicht wie andernorts. Derry hatte einen Hang zum Bösen, und wenn seine Einwohner in Rage kamen, konnten sie bekanntlich ausgesucht scheußliche Taten vollbringen.

Er strich sich über die Lippen und wurde kurz von dem seidigen, distanzierten Gefühl seiner Hand auf dem Mund abgelenkt. Er wurde auf mannigfaltige Weise daran erinnert, daß sich sein Daseinszustand radikal verändert hatte.

Lois, entsetzt: [»Wie sollen wir das anstellen? Wenn wir nicht in die Nähe von Atropos oder Ed gehen dürfen, wie sollen wir es dann verhindern können?«]

Ralph wurde bewußt, daß er ihr Gesicht jetzt deutlich sehen konnte; der Tag hellte mit der Geschwindigkeit einer Zeitrafferaufnahme in einem alten Dokumentarfilm von Disney auf.

[»Wir rufen an und geben eine Bombendrohung durch, Lois. Das müßte funktionieren.«]

Klotho machte ein bestürztes Gesicht; Lachesis schlug sich sogar mit der flachen Hand gegen die Stirn, bevor er nervös zum grauen Himmel hinaufblickte. Als er Ralph wieder ansah, drückte sein kleines Gesicht mühsam unterdrückte Panik aus.

[Das wird nicht funktionieren, Ralph. Und nun hört mir zu, alle beide, und hört genau zu; was auch immer ihr in den nächsten vierzehn Stunden tut, ihr dürft die Macht der Kräfte nicht unterschätzen, die Atropos entfesselt hat, als er Ed entdeckte und seinen Lebensstrang durchschnitt.]

Ralph: [»Warum wird es nicht funktionieren?«]

Lachesis, wütend und ängstlich zugleich: [Wir können nicht ewig Ihre Fragen beantworten, Ralph - von nun an werden Sie uns einfach glauben müssen. Ihr wißt, wie schnell die Zeit auf dieser Ebene verstreicht; wenn wir noch lange hier bleiben, ist jede Chance dahin, daß ihr verhindern könnt, was heute abend im Bürgerhaus geschehen wird. Ihr beide, Sie und Lois, müßt wieder zurückkehren. Ihr müßt!]

Klotho hielt eine Hand hoch und brachte seinen Kollegen zum Schweigen, dann drehte er sich zu Ralph und Lois um.

[Ich werde die letzte Frage beantworten, auch wenn ich sicher bin, daß ihr sie mit etwas Nachdenken selbst beantworten könntet. Es sind bereits dreiundzwanzig Bombendrohungen für Susan Days Rede heute abend eingegangen. Die Polizei hat Sprengstoffhunde im Bürgerhaus, seit achtundvierzig Stunden durchleuchten sie sämtliche Päckchen und Pakete, die in das Gebäude zugestellt wurden, und sie haben auch Stichproben gemacht. Sie haben Bombendrohungen erwartet, und sie nehmen sie ernst, aber in diesem Fall gehen sie von der Annahme aus, daß sie von Abtreibungsgegnern kommen, die nur Ms. Days Rede verhindern möchten.]

Lois, düster: [»O Gott - der kleine Junge, der rief: >Hilfe, ein Wolf<.«]

Klotho: [Ganz recht, Lois.]

Ralph: ["»Hat er eine Bombe gelegt? Das hat er, richtig?«]

Helles Licht wanderte über das Dach und streckte die Schatten der kreisenden Heizungsventilatoren wie Karamelmasse. Klotho und Lachesis betrachteten die Schatten, dann sahen sie mit demselben Ausdruck des Mißfallens nach Osten, wo die Sonne gerade über dem Horizont emporstieg.

Lachesis: [Wir wissen es nicht, und es spielt auch keine Rolle. Ihr müßt verhindern, daß diese Rede stattfindet, und das geht nur auf eine Weise: ihr müßt die verantwortlichen Frauen davon überzeugen, Susan Days Rede abzusagen. Habt ihr verstanden? Sie darf heute abend nicht im Bürgerzentrum sprechen! Ihr könnt Ed nicht aufhalten, und ihr dürft nicht wagen, in die Nähe von Atropos zu kommen, also müßt ihr Susan Day aufhalten.]

Ralph: [»Aber -«]

Nicht das zunehmende Sonnenlicht verschloß ihm den Mund, auch nicht der Ausdruck panischer Angst in den Gesichtern der kleinen kahlköpfigen Ärzte. Es war Lois. Sie legte ihm eine Hand auf die Wange und schüttelte knapp aber entschlossen den Kopf.

[»Nichts mehr. Wir müssen runter, Ralph. Sofort.«] Fragen kreisten in seinem Kopf wie Moskitos, aber wenn sie sagte, daß keine Zeit mehr war, dann war keine Zeit mehr. Er betrachtete die Sonne, stellte fest, daß sie ganz über den Horizont gestiegen war, und nickte. Er legte ihr den Arm um die Taille.

Klotho, ängstlich: [Laßt uns nicht im Stich, Ralph und Lois.]

Ralph: [»Sparen Sie sich die Durchhalteparolen, Kleiner. Dies ist kein Footballspiel.«]

Bevor einer von ihnen antworten konnte, machte Ralph die Augen zu und konzentrierte sich darauf, in die Welt der Kurzfristigen zurückzuspringen.

Kapitel 19

Dieses Gefühl des Blinzeins stellte sich wieder ein, und ein kalter Morgenwind wehte ihm ins Gesicht. Ralph schlug die Augen auf und betrachtete die Frau neben sich. Nur einen Augenblick konnte er ihre Aura sehen, die hinter ihr wehte wie der Gazeüberrock eines Ballkleids, und dann war sie wieder nur Lois, die zwanzig Jahre jünger aussah als vor einer Woche... und in ihrem leichten Herbstmantel und dem guten Ausgehkleid extrem fehl am Platze hier oben auf dem geteerten Schotterdach des Krankenhauses.

Ralph nahm sie fester in den Arm, als sie zu zittern anfing. Von Lachesis und Klotho war keine Spur zu sehen.

Obwohl sie direkt neben uns stehen könnten, dachte Ralph. Was sie wahrscheinlich auch tun.

Plötzlich fiel ihm dieser Ausruf des Marktschreiers wieder ein, daß man bezahlen mußte, wenn man spielen wollte, also treten Sie näher, meine Herrschaften, und machen Sie Ihre Einsätze. Aber häufiger spielte man nicht, es wurde mit einem gespielt. Und es wurde einem übel mitgespielt. Aber weshalb hatte er dieses Gefühl gerade jetzt?

Weil es eine ganze Menge gibt, das du nie herausgefunden hast, sagte Carolyn in seinem Kopf. Sie halten eine Menge interessante Abschweifungen zugelassen und haben dich vom Wichtigsten ferngehalten, bis es zu spät war, die Fragen zu stellen, die sie vielleicht nicht beantworten wollten... und ich glaube nicht, daß so etwas versehentlich passiert, du?

Nein. Er glaubte es auch nicht.

Das Gefühl, von unsichtbaren Händen in einen dunklen Tunnel gestoßen zu werden, wo alles möglich war, war jetzt stärker. Das Gefühl, manipuliert zu werden. Er fühle sich klein... und verwundbar... und stinksauer.

»N-nun, wir sind wieder d-d-da«, sagte Lois zähneklappernd. »Was meinst du, wie spät ist es?«

Er schätzte sechs Uhr, aber als er auf die Uhr sah, stellte er ohne Überraschung fest, daß sie stehengeblieben war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie zum letztenmal aufgezogen hatte. Wahrscheinlich am Dienstag morgen.

Er folgte Lois' Blick nach Südwesten und sah das Bürgerzentrum wie eine Insel im Meer der Parkplätze. Jetzt, wo das frühmorgendliche Sonnenlicht sich grell in den gekrümmten Scheiben spiegelte, sah es wie eine übergroße Version des Bürogebäudes aus, in dem George Jetson arbeitete. Das riesige Leichentuch, das es noch vor wenigen Augenblicken eingehüllt hatte, war verschwunden.

O nein, das ist es nicht. Mach dir nichts vor, Junge. Du kannst es im Augenblick vielleicht nicht sehen, aber es ist noch da.

»Früh«,' sagte er und zog sie enger an sich, als der böige Wind ihm das Haar aus der Stirn wehte - Haar, in dem jetzt fast ebenso viel Schwarz wie Weiß zu sehen war. »Aber ich glaube, es wird schneller spät werden, als uns lieb ist.«

Sie verstand, was er meinte, und nickte. »Wo sind L-Lachesis und K-K -«

»Auf einer Ebene, wo einem bei dem Wind nicht der Arsch abfriert, denke ich. Komm mit. Laß uns eine Tür suchen und von diesem Dach verschwinden.«

Sie blieb aber noch einen Augenblick, wo sie war, und sah zitternd über die Stadt. »Was hat er getan?« fragte sie mit leiser Stimme. »Wenn er keine Bombe gelegt hat, was kann er getan haben?«

»Vielleicht hat er eine Bombe gelegt, und die Spürhunde mit den trainierten Nasen haben sie nur noch nicht gefunden. Oder vielleicht handelt es sich um etwas, auf das die Hunde nicht abgerichtet sind. Ein Kanister im Gebälk - etwas Teuflisches, das Ed in der Badewanne zurechtgemixt hat. Schließlich hat er mit Chemie seinen Lebensunterhalt verdient... jedenfalls bis er seinen Job aufgegeben hat und hauptberuflicher Psychopath geworden ist. Möglicherweise hat er vor, sie wie Ratten zu vergasen.«

»Mein Gott, Ralph!« Sie drückt die Hand oberhalb des Busens auf die Brust und sah ihn mit großen, betroffenen Augen an.

»Komm schon, Lois. Laß uns von diesem verdammten Dach runtergehen.«

Diesmal kam sie bereitwillig mit. Ralph führte sie zur Tür des Dachs... die, wie er inbrünstig hoffte, unverschlossen sein würde.

»Zweitausend Menschen«, stöhnte sie fast, als sie die Tür erreicht hatten. Ralph verspürte Erleichterung, als sich der Türknauf unter seinen Fingern drehte, aber Lois ergriff sein Handgelenk mit eiskalten Fingern, bevor er die Tür öffnen konnte. »Vielleicht haben diese kleinen Männer gelogen, Ralph

- vielleicht haben sie ihre eigenen Eisen im Feuer, etwas, das wir nicht einmal begreifen können, und sie haben gelogen.«

»Ich glaube, sie können nicht lügen«, sagte er langsam. »Das ist das Teuflische, Lois - ich glaube nicht, daß sie es können. Und dann das da.« Er deutete auf das Bürgerzentrum, auf die schwarze Membran, die sie nicht sehen konnten, die aber trotzdem, wie sie beide wußten, noch da war. Lois drehte sich nicht um. Statt dessen legte sie ihre kalte Hand auf seine, zog die Dachtür auf und ging die Treppe hinunter.

Ralph machte die Tür am unteren Ende der Treppe auf, sah in den Flur des fünften Stocks, stellte fest, daß keine Menschenseele zu sehen war und zog Lois aus dem Treppenhaus. Sie gingen gemeinsam zu den Fahr stühlen, doch dann blieben sie vor einer Tür stehen, neben der an der Wand mit grellroten Buchstaben ÄRZTEZIMMER geschrieben stand. Das war das Zimmer, das sie beim Aufsteigen mit Klotho und Lachesis gesehen hatten - Drucke von Winslow Homer hingen schief an den Wänden, eine Silex stand auf einer Kochplatte, gräßliche Swedish Modern Möbel. Im Augenblick hielt sich niemand in dem Zimmer auf, aber der an der Wand festgeschraubte Fernseher lief trotzdem, und ihre alte Freundin Lisette Benson verlas die Frühnachrichten. Ralph mußte an den Tag denken, als er mit Lois und Bill in Lois' Wohnzimmer gesessen, Makkaroni mit Käse gegessen und im Fernsehen Lisettes Bericht über die Demonstration gesehen hatte, bei der mit falschem Blut gefüllte Puppen auf das Gebäude von Woman-Care geworfen worden waren. Das war noch keinen Monat her, schien aber eine Ewigkeit zurückzuliegen. Plötzlich fiel ihm ein, daß Bill McGovern nie wieder Lisette Benson sehen oder vergessen würde, die Eingangstür abzuschließen, und ein Gefühl des Verlusts, so kalt und heftig wie ein Windstoß im November, durchfuhr ihn. Er konnte es nicht richtig glauben, jedenfalls noch nicht. Wie hatte Bill so schnell und unzeremoniell sterben können? Es hätte ihm ganz und gar nicht gefallen, dachte er, und nicht nur, weil es seiner Ansicht nach schlechten Geschmack bewiesen hätte, in einem Krankenhausflur an einem Herzanfall zu sterben. Seiner Ansicht nach wäre es auch eines Schmierentheaters würdig gewesen.

Aber er hatte gesehen, wie es geschehen war, und Lois hatte sogar gespürt, was an Bills Innerem gefressen hatte. Dabei mußte Ralph an das Leichentuch denken, welches das Bürgerhaus umgab, und was dort geschehen würde, sollte es ihnen nicht gelingen, die Rede zu verhindern. Er wollte weiter Richtung Fahrstuhl gehen, aber Lois hielt ihn zurück. Sie betrachtete fasziniert den Fernseher.

»- werden große Erleichterung verspüren, wenn die für heute abend geplante Rede der feministischen Abtreibungsbefürworterin Susan Day vorbei ist«, sagte Lisette Benson, »aber die Polizisten werden nicht die einzigen sein, die so denken. Offenbar macht sich sowohl unter Befürwortern wie Gegnern die Belastung bemerkbar, ständig am Rand einer Konfrontation zu leben. John Kirkland ist heute morgen live im Bürgerzentrum, und er kann Näheres berichten. John?«

Der blasse, ernste Mann, der neben Kirkland stand, war Dan Dalton. Er trug einen Button am Hemd, auf dem ein Skalpell zu sehen war, das auf ein Baby herabstieß, welches die Beine in Embryonalhaltung angezogen hatte. Das Bild war von einem roten Kreis umgeben und von einer diagonalen roten Linie durchzogen. Ralph konnte ein halbes Dutzend Polizeiautos und zwei Übertragungswagen von Nachrichtenteams sehen, einen mit dem Logo von NBC auf der Seite im Bildhintergrund. Ein uniformierter Beamter mit zwei Hunden - einem Bluthund und einem deutschen Schäferhund an der Leine ging über den Rasen.

»Ganz recht, Lisette, ich befinde mich hier vor dem Bürgerzentrum, wo man die Stimmung mit den Schlagworten Besorgnis und stumme Entschlossenheit beschreiben könnte. Bei mir befindet sich Dan Dalton, Präsident der Organisation Friends of Life, die sich so vehement gegen die Rede von Ms. Day eingesetzt hat. Mr. Dalton, würden Sie dieser Einschätzung der Situation zustimmen?«

»Daß hier eine Menge Besorgnis und Entschlossenheit in der Luft liegen?« fragte Dalton. Ralph fand, sein Lächeln sah nervös und betrübt aus. »Ja, so könnte man es wohl ausdrücken. Wir sind besorgt, daß es Susan Day, einer der schlimmsten nicht zur Verantwortung gezogenen Kriminellen dieses Landes, gelingen wird, das zentrale Thema hier zu verschleiern, nämlich die Ermordung von zwölf bis vierzehn hilflosen ungeborenen Kindern jeden Tag.«

»Aber Mr. Dalton -« »Und«, unterbrach ihn Dalton, »wir sind entschlossen, einer aufmerksamen Nation zu beweisen, daß wir nicht bereit sind, gute Nazis zu sein, daß wir keinen Kniefall vor der Religion der political correctness - der politischen Korrektheit-machen.«

»Mr. Dalton-«

»Außerdem sind wir entschlossen, einer aufmerksamen Nation zu zeigen, daß einige von uns immer noch imstande sind, für ihre Überzeugungen einzutreten und die heilige Verantwortung zu übernehmen, die uns ein gütiger Gott -«

»Mr. Dalton, planen die Friends of Life hier einen gewalttätigen Protest?«

Das brachte ihn einen Moment zum Schweigen und verbannte zumindest vorübergehend die aufgestaute Energie aus seinem Gesicht. Und da sah Ralph etwas Erschreckendes: Unter der aufgeplusterten Maske litt Dalton Todesangst.

»Gewalt?« sagte er schließlich. Er sprach das Wort vorsichtig aus, als könnte er sich daran den Mund verbrennen. »Großer Gott, nein. Die Friends of Life lehnen die Theorie ab, daß man Unrecht mit Unrecht vergelten sollte. Wir haben vor, eine massive Kundgebung zu organisieren - dazu bekommen wir Unterstützung von Abtreibungsgegnern aus Augusta, Portland, Portsmouth und sogar aus Boston -, aber zu gewalttätigen Ausschreitungen wird es nicht kommen.«

»Was ist mit Ed Deepneau? Können Sie auch für ihn sprechen?«

Daltons ohnehin schon zu einem schmalen Saum zusammengepreßte Lippen, schienen völlig zu verschwinden. »Mr. Deepneau gehört den Friends of Life nicht mehr an«, sagte er. Ralph glaubte, Angst und Zorn aus Daltons Tonfall herauszuhören. »Dasselbe gilt für Frank Feiton, Sandra McKay und Charles Pickering, falls Sie das fragen wollten.«

John Kirklands Blick in die Kamera war kurz und vielsagend. Er sagte, daß er Dan Dalton für vollkommen übergeschnappt hielt.

»Wollen Sie damit sagen, daß Ed Deepneau und die anderen Personen - tut mir leid, aber ich kenne sie nicht - eine eigene Fraktion von Abtreibungsgegnern gebildet haben? Eine Art Splittergruppe?«

»Wir sind nicht gegen die Abtreibung, wir sind für das Leben!« schrie Dalton. »Das ist ein Riesenunterschied, den ihr Reporter aber nicht zu begreifen scheint!«

»Tut mir leid. Sie wissen also nichts über den Verbleib von Ed Deepneau, oder was - wenn überhaupt - er vorhaben könnte?«

»Ich weiß nicht, wo er ist, mir ist es egal, wo er ist, und mich interessieren auch nicht seine Splittergruppen.«

Aber du hast Angst, dachte Ralph. Und wenn ein selbstgefälliger kleiner Arsch wie du Angst hat, dann müßte ich Todesangst haben.

Dalton lief davon. Kirkland, der offenbar überzeugt schien, daß er ihn noch nicht völlig ausgewrungen hatte, folgte ihm und schüttelte dabei sein Mikrofonkabel aus.

»Aber stimmt es nicht, Mr. Dalton, daß Ed Deepneau als Mitglied der Friends of Life mehrere gewalttätige Protestkundgebungen organisierte, einschließlich der vom letzten Monat, als mit falschem Blut gefüllte Puppen geworfen wurden -«

»Ihr seid alle gleich, was?« fragte Dan Dalton. »Ich werde für Sie beten, mein Freund.« Er stapfte davon.

Kirkland sah ihm einen Moment nachdenklich hinterher, dann drehte er sich wieder zur Kamera um. »Wir haben versucht, Mr. Daltons Gegenspielerin Gretchen Tillbury zu einem Interview zu bekommen - sie hat die gewaltige Aufgabe übernommen, dieses Ereignis für Woman-Care zu koordinieren -, aber sie stand nicht für Gespräche zur Verfügung. Unseren Informationen zufolge hält sich Ms. Tillbury in High Ridge auf, einem Frauenhaus und Übergangszentrum, das Woman-Care angeschlossen ist und von dort auch verwaltet wird. Sie und ihre Mitarbeiterinnen halten sich vermutlich dort auf und treffen die letzten Vorbereitungen für eine, wie sie hoffen, friedliche, gewaltfreie Veranstaltung heute abend im Bürgerzentrum.«

Ralph sah Lois an und sagte: »Okay - jetzt wissen wir wenigstens, wohin wir gehen.«

Das Fernsehbild zeigte wieder Lisette Benson im Studio. »John, gibt es im Bürgerzentrum Hinweise auf tatsächliche gewaltsame Übergriffe?«

Schnitt zu Kirkland, der seine ursprüngliche Position vor den Polizeiautos wieder eingenommen hatte. Er hielt ein kleines, bedrucktes weißes Rechteck vor seine Krawatte. »Nun, private Sicherheitskräfte fanden heute morgen kurz nach Anbruch der Dämmerung Hunderte dieser Karteikarten auf dem Rasen vor dem Bürgerzentrum. Ein Wachmann behauptet, daß er das Fahrzeug gesehen hat, aus dem sie geworfen wurden. Es soll sich um einen Cadillac aus den späten sechziger Jahren gehandelt haben, entweder braun oder schwarz. Er konnte sich die Nummer nicht merken, sagte aber etwas von einem Stoßstangenaufkleber mit der Aufschrift ABTREIBUNG IST MORD UND KEINE FREIE ENTSCHEIDUNG.«

Ins Studio, wo Lisette Benson einen mächtig interessierten Eindruck machte. »Was steht auf diesen Karten, John?«

Zurück zu Kirkland.

»Man muß wohl sagen, daß es sich um eine Art Rätsel handelt.« Er betrachtete die Karte. »>Wenn Sie eine mit zwei Kugeln geladene Waffe haben und sich in einem Zimmer mit Hitler, Stalin und einer Abtreibungsbefürworterin befinden, was tun Sie?<« Kirkland sah wieder in die Kamera und sagte: »Die Antwort steht auf der Rückseite, Lisette, und sie lautet: >Sie schießen zweimal auf die Abtreibungsbefürworterin.<

Das war John Kirkland mit einem Livebericht vom Bürgerzentrum in Derry.«

»Ich verhungere«, sagte Lois, während Ralph den Oldsmobile vorsichtig die zahlreichen Rampen des Parkhauses hinuntersteuerte, die sie angeblich ins Freie bringen sollten... das heißt, wenn Ralph keines der Ausfahrtsschilder übersah. »Und wenn das übertrieben ist, dann nicht viel.«

»Ich auch«, sagte Ralph. »Und wenn man bedenkt, daß wir seit Dienstag nichts mehr gegessen haben, war das eigentlich zu erwarten. Wir gehen auf dem Weg nach High Ridge gut frühstücken.«

»Haben wir denn die Zeit?«

»Wir nehmen uns die Zeit. Schließlich kann keine Armee mit leerem Magen kämpfen.«

»Da hast du wohl recht, obwohl ich mir nicht sehr armeemäßig vorkomme. Weißt du, wo -«

»Sei mal einen Moment still, Lois.«

Er brachte den Oldsmobile zum Stillstand, stellte das Automatikgetriebe auf Parken und lauschte. Unter der Haube ertönte ein Klicken, das ihm nicht besonders gefiel. Selbstverständlich verstärkten Betonwände in Gebäuden wie diesem hier jedes Geräusch, aber trotzdem...

»Ralph?« fragte sie nervös. »Sag mir nicht, daß etwas mit dem Auto nicht stimmt. Alles, nur das nicht, okay?«

»Ich glaube, es ist alles in Ordnung«, sagte er und kroch wieder dem Tageslicht entgegen. »Seit Carolyns Tod bin ich einfach nicht mehr an die gute alte Nellie gewöhnt. Ich habe vergessen, was für Geräusche sie macht. Du wolltest mich etwas fragen, oder nicht?«

»Ob du weißt, wo sich das Frauenhaus befindet. High Ridge.«

Ralph schüttelte den Kopf. »Irgendwo in der Nähe der Stadtgrenze von Newport, mehr weiß ich nicht. Ich glaube, sie dürfen mir auch nicht sagen, wo genau es liegt. Ich dachte, vielleicht hättest du es gehört.«

Lois schüttelte den Kopf. »Gott sei Dank mußte ich nie in so einem Haus Zuflucht suchen. Wir müssen sie anrufen. Diese Tillbury. Du hast sie mit Helen kennengelernt, also kannst du mit ihr reden. Dir wird sie zuhören.«

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, bei dem ihm warm ums Herz wurde - jeder bei klarem Verstand würde dir zuhören, Ralph, sagte der Blick -, aber Ralph schüttelte den Kopf. »Ich wette, sie nimmt heute nur Anrufe entgegen, die vom Bürgerzentrum kommen oder von dort, wo sich Susan Day gerade aufhält.« Er warf ihr einen Blick zu. »Weißt du, diese Frau hat wirklich Mumm, hierherzukommen. Entweder das, oder sie ist eine dumme Kuh.«

»Wahrscheinlich von beidem ein bißchen. Wenn Gretchen Tillbury keine Anrufe entgegennimmt, wie sollen wir dann mit ihr Verbindung aufnehmen?«

»Nun, ich will dir was sagen. Ich bin den größten Teil dessen, was Faye Chapin mein wirkliches Leben nennen würde, Vertreter gewesen, und ich denke, ich habe immer noch ein paar gute Ideen, wenn es drauf ankommt.« Er dachte an die Dame mit der orangefarbenen Aura am Informationsschalter und grinste. »Und vielleicht sogar überzeugende.« »Ralph?« Ihre Stimme klang piepsig.

»Was, Lois?«

»Mir kommt dies hier wie das wirkliche Leben vor.«

Er tätschelte ihre Hand. »Ich weiß, was du meinst.«

Ein vertrautes hageres Gesicht sah aus dem Kartenhäuschen des Krankenhausparkhauses; ein vertrautes Grinsen aus dem mindestens ein halbes Dutzend Zähne desertiert waren -breitete sich darauf aus.

»Eeeeh, Ralph, bist du das? Isses die Möglischkeit? Schön! Schön!«

»Trigger?« fragte Ralph langsam. »Trigger Vachon?«

»Kein ärmerer!« Trigger schüttelte das fettige braune Haar aus der Stirn, damit er Lois besser sehen konnte. »Und wer ist diese reizende Blume? Isch kenn sie von irgendwo 'er, der Teufel soll misch 'olen, wenn's nischt so ist!«

»Lois Chasse«, sagte Ralph und holte den Parkschein, den er an der Sonnenblende festgeklemmt hatte. »Du hast vielleicht ihren Mann Paul gekannt -«

»Verdammt rischtisch, das 'ab isch!« schrie Trigger. Damals, neunzehnsibbenzisch oder einundsibbenzisch sind wir am Wochenende immer rumgezogen! Mehr als einmal bis zur Sperrstunde in Nan's Tavern! 'immel Arsch! Wie geht es Paul 'eute so, Ma'am?«

»Mr. Chasse ist vor etwas mehr als zwei Jahren von uns gegangen«, sagte Lois.

»O verdammt! Tut mir leid, das zu 'ören. War ein dufter Kumpel, Paul Chasse. Wirklisch ein rundum dufter Kumpel. Alle 'aben ihn gemocht.« Trigger sah so betroffen aus, als hätte sie ihm gesagt, daß es erst heute morgen passiert sei.

»Danke, Mr. Vachon.« Lois sah auf die Uhr, dann Ralph an. Ihr Magen knurrte, als wollte er das letzte Wort zu dem Thema beisteuern.

Ralph reichte seinen Parkschein durch das offene Fenster des Autos, und als Trigger ihn nahm, wurde ihm bewußt, der Datumsstempel würde zeigen, daß er und Lois seit Dienstagabend hier waren. Fast sechzig Stunden.

»Was ist mit der chemischen Reinigung geworden, Trig?« fragte er hastig.

»Ahhh, 'am misch entlassen«, sagte Trigger, »'am fast alle entlassen. Zuerst war isch 'n bißschen traurisch, aber letzten April 'ab isch 'ier angefangen, und... ehhh! Gefällt mir viel besser, 'ab 'nen kleinen Fernse'er, wenn nix los is', und 'ier 'upt keiner, wenn isch nischt sofort losfahr, wenne Ampel grün wird, oder schneidet misch draußen auf der Extension. Alle 'ams eilig, wo'in zu kommen, nur warum weiß isch nischt. Außerdem will isch dir was sagen, Ralph: Im Winter war der Scheißlastwagen kälter als 'exentitten. Pardon, Ma'am.«

Lois antwortete nicht. Sie schien mit größtem Interesse die Rückseite ihrer Hände zu studieren. Derweil sah Ralph erleichtert, wie Trigger den Parkschein zusammenknüllte und in den Mülleimer warf, ohne auch nur einen Blick auf Datumund Uhrzeitstempel zu werfen. Er drückte einen Knopf der Registrierkasse, worauf in beiden Fenstern ein Schild mit der Aufschrift $ 0,00 hochschnellte.

»Mensch, Trig, das ist echt nett von dir«, sagte Ralph.

»Ehhh, nischt der Rede wert«, sagte Trigger und drückte mit großer Geste einen weiteren Knopf. Die Schranke vor der Kabine ging in die Höhe. »Schön, disch zu sehen. Letztesmal war draußen beim Flug'afen. Daran erinnerste disch noch, was? War 'eißer als inner 'olle, und die beiden Typen sind einander fast anne 'älse gegangen. Und dann 'ats geregnet wie der Teufel. Und ge'agelt. Du warst zu Fuß, und isch 'ab disch nach 'ause gefahren.« Er sah Ralph eingehender an. »Siehst 'eute viel besser aus als damals, Ralphie, das kann isch dir sagen. Verdammt, siehst kein' Tag älter als fünfundfünfzisch aus. Schön!«

Lois' Magen knurrte wieder, diesmal lauter. Sie betrachtete weiter ihre Handrücken.

»Ich fühle mich aber ein bißchen älter«, sagte Ralph. »Hör zu, Trig, es war schön, dich zu sehen, aber wir müssen -«

»Verdammt«, sagte Trigger, und seine Augen sahen in die Ferne. »Isch wollte dir was sagen, Ralph. Glaub ich jedenfalls. Wegen diesem Tag. 'errje, 'ab isch 'n dummen alten Kopf!«

Ralph wartete noch einen Moment unbehaglich zwischen Ungeduld und Neugier. »Mach dir nichts draus, Trig. Ist schon lange her.«

»Aber was, zum Teufel...?« fragte Trigger sich selbst. Er sah zur Decke seiner kleinen Kabine, als könnte die Antwort dort geschrieben stehen.

»Ralph, wir müssen los«, sagte Lois. »Und nicht nur wegen dem Frühstück.«

»Ja. Du hast recht.« Er ließ den Oldsmobile langsam anrollen. »Wenn es dir wieder einfällt, Trig, ruf mich an. Ich steh im Telefonbuch. War schön, dich zu sehen.«

Trigger Vachon schenkte ihm überhaupt keine Beachtung; tatsächlich schien er gar nicht mehr zu merken, daß Ralph noch da war. »War es was, das wir gese'en 'aben?« wollte er von der Decke wissen. »Oder was wir getan 'aben? Mann!«

Er sah immer noch zur Decke und kratzte sich das dünne Haar im Nacken, als Ralph nach links abbog, zum Abschied grüßend die Hand hob und den alten Oldsmobile mit einem letzten Winken den Hospital Drive hinunter zu dem flachen Backsteingebäude von Woman-Care steuerte.

Nachdem die Sonne aufgegangen war, stand nur noch ein Wachmann da, und die Demonstranten hatten sich ganz verzogen. Ihre Abwesenheit rief in Ralph Erinnerungen an alle Dschungelfilme wach, die er in seiner Jugend gesehen hatte, besonders an den Teil, wo die Trommeln der Eingeborenen verstummten und der Held - Jon Hall oder Frank Bück - sich zum Anführer seiner Träger umdrehte und sagte, daß ihm das nicht gefiele, daß es zu still sei. Der Wächter zog ein Notizbrett unter dem Arm hervor, betrachtete Ralphs Olds mit verkniffenen Augen und schrieb etwas auf - wahrscheinlich die Autonummer. Dann kam er auf dem mit Karteikarten übersäten Rasen auf sie zugeschlurft.

Zu dieser frühen Morgenstunde konnte sich Ralph einen Parkplatz gegenüber dem Gebäude aussuchen. Er parkte, stieg aus und ging um das Auto herum, um Lois die Tür zu öffnen, wie er es gelernt hatte.

»Wie willst du es machen?« fragte sie, als er ihr die Hand reichte und aus dem Auto half.

»Wahrscheinlich müssen wir ein bißchen nett sein, aber wir wollen es nicht übertreiben. Richtig?« »Richtig.« Sie strich nervös mit der Hand an der Vorderseite ihres Mantels hinunter, als sie über den Rasen gingen, dann strahlte sie dem Wachmann ein Megawattlächeln entgegen. »Guten Morgen, Officer.«

»Morgen.« Er sah auf die Uhr. »Ich glaube nicht, daß um diese Zeit jemand da ist, außer der Dame am Empfang und der Putzfrau.«

»Genau zu der Dame am Empfang möchten wir«, sagte Lois fröhlich. Das war neu für Ralph. »Barbie Richards. Ihre Tante Simone hat eine Nachricht, die ich ihr überbringen soll. Sehr wichtig. Sagen Sie ihr, es ist Lois Chasse.«

Der Wachmann dachte darüber nach, dann nickte er in Richtung der Tür. »Das wird nicht nötig sein. Gehen Sie ruhig rein, Ma'am.«

Lois sagte strahlender lächelnd denn je: »Wir werden keine zwei Minuten brauchen, oder, Norton?«

»Eher anderthalb«, stimmte Ralph zu. Als sie sich dem Gebäude näherten und den Wachmann hinter sich zurückließen, beugte er sich zu ihr und murmelte: »Norton? Großer Gott, Lois, Norton?«

»Das war der erste Name, der mir eingefallen ist«, antwortete sie. »Ich schätze, ich habe an The Honeymooners gedacht Ralph und Norton, weißt du noch?«

»Ja«, sagte er. »Eines Tages, Alice... peng! Bis zum Mond!«

Zwei der drei Türen waren verschlossen, aber die ganz links ging auf, und sie traten ein. Ralph drückte Lois' Hand und spürte, wie sie den Druck erwiderte. Im gleichen Augenblick spürte er, wie seine Aufmerksamkeit stark gebündelt wurde und sein Wille und seine Konzentration sich verstärkten. Rngs um ihn herum schien das Auge der Welt zuerst zu blinzeln und dann weit aufgeschlagen zu werden. Um sie beide herum.

Der Empfangsbereich war schmucklos, fast nüchtern. Die Wände bestanden aus druckbehandeltem Fichtenholz, die Sessel und Sofas waren streng und zweckdienlich, das dekorative Beiwerk gedämpft. Bei den Plakaten an den Wänden handelte es sich um den Typus, den die Fremdenverkehrsämter fremder Länder gegen Portoerstattung verschickten. Die einzige Ausnahme befand sich rechts von der Rezeption: ein großes Schwarzweißfoto einer jungen Frau im Umstandskleid. Sie saß auf einem Barhocker und hielt ein Martiniglas in einer Hand. WENN SIE SCHWANGER SIND, TRINKEN SIE NIE ALLEIN! lautete die Legende unter dem Foto. Nichts deutete darauf hin, daß in einem oder mehreren Zimmern hinter diesem freundlichen, unaufdringlichen Büro auf Verlangen Abtreibungen durchgeführt wurden.

Nun, dachte Ralph, was hast du erwartet? Eine Werbung? Ein Plakat mit abgetriebenen Föten in einem emaillierten Mülleimer zwischen einem Plakat mit der Insel Capri und einem mit den italienischen Alpen drauf? Komm zu dir, Ralph.

Links von ihnen wusch eine kräftige Frau Ende vierzig oder Anfang Fünfzig die Platte eines Glastischs ab; heben ihr stand ein kleiner Wagen mit verschiedenen Putzmitteln. Sie steckte in einer dunkelblauen Aura mit ungesunden schwarzen Flecken, die wie unheimliche Insekten über den Stellen ausschwärmten, wo sich Herz und Lungenflügel befanden, und sie sah die Neuankömmlinge mit unverhohlenem Argwohn an.

Direkt vor ihnen beobachtete eine andere Frau sie vorsichtig, allerdings nicht so argwöhnisch wie die Putzfrau. Ralph kannte sie vom Fernsehbericht am Tag der Demonstration mit den Puppenwürfen. Simone Castonguays Nichte war dunkelhaarig, um die Fünfunddreißig und sah selbst zu dieser frühen Morgenstunde atemberaubend aus. Sie saß hinter einem nüchternen Schreibtisch aus grauem Metall, der einen krassen Gegensatz zu ihrem Aussehen bildete, und inmitten einer waldgrünen Aura, die bei weitem gesünder als die der Putzfrau aussah. Auf einer Ecke des Schreibtischs stand eine Glasvase mit Herbstblumen.

Sie lächelte ihnen zögernd zu, ohne Lois zu erkennen, und deutete mit dem Finger auf die Uhr an der Wand. »Wir öffnen erst um acht«, sagte sie. »und ich glaube nicht, daß wir Ihnen heute helfen könnten. Sämtliche Ärzte sind abwesend - ich meine, Dr. Hamilton hat offiziell Dienst, aber ich bin nicht einmal sicher, ob ich sie erreichen könnte. Es ist eine Menge los - dies ist ein großer Tag für uns.«

»Ich weiß«, sagte Lois und drückte Ralphs Hand noch einmal, bevor sie sie losließ. Einen Augenblick hörte er ihre Stimme in seinem Geist, ganz leise - wie bei einem Überseetelefongespräch mit schlechter Verbindung -, aber verständlich:

[»Bleib, wo du bist, Ralph. Sie hat -«]

Lois schickte ihm ein Bild, das noch schwächer als der Gedanke und fast wieder verschwunden war, ehe Ralph es richtig erfassen konnte. Diese Art von Kommunikation fiel auf den höheren Ebenen wesentlich leichter, aber was er mitbekam, reichte aus. Die Hand, mit der Barbara Richards auf die Uhr gedeutet hatte, ruhte jetzt auf dem Schreibtisch, aber die andere hatte sie darunter, wo sich ein kleiner weißer Knopf neben der Knieöffnung befand. Sollte einer von ihnen das geringste Anzeichen seltsamen Verhaltens erkennen lassen, würde sie diesen Knopf drücken und zuerst ihren Freund mit dem Notizbrett rufen und danach den größten Teil der privaten Sheriffs in Derry.

Und mich betrachtet sie mit ganz besonderem Argwohn, weil ich ein Mann bin, dachte Ralph.

Als Lois sich dem Schreibtisch näherte, kam Ralph ein beunruhigender Gedanke: Angesichts der momentanen Atmosphäre in Derry, könnte diese Form der Geschlechterdiskriminierung - unbewußt, aber deshalb nicht weniger real - diese hübsche junge Frau in Gefahr bringen; sie könnte verletzt... möglicherweise sogar getötet werden. Er erinnerte sich, wie Leydecker ihm sagte, daß sich in Eds kleinem Kader von Mitverrückten auch eine Frau befand. Blasser Teint, hatte er gesagt, schlimme Akne, so dicke Brillengläser, daß ihre Augen wie pochierte Eier aussehen. Sandra Sowieso hieß sie. Und wenn Sandra Sowieso sich Ms. Richards Schreibtisch genähert hätte, wie Lois sich ihm jetzt näherte, wenn sie zuerst die Handtasche geöffnet und dann hineingegriffen hätte, würde die Frau mit der waldgrünen Aura dann den Alarmknopf gedrückt haben?

»Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht an mich, Barbara«, sagte Lois, »weil ich dich selten gesehen habe, seit du das College besucht hast; damals bist du mit dem jungen Sparkmeyer ausgegangen -«

»O mein Gott, Lennie Sparkmeyer, an den hab ich seit Jahren nicht mehr gedacht«, sagte Barbara Richards und stieß ein kurzes, verlegenes Lachen aus. »Aber ich erinnere mich an Sie. Lois Delancey. Tante Simones Pokerpartnerin. Spielt ihr immer noch?« »Ich heiße Chasse, nicht Delancey, und wir spielen noch.« Lois klang hocherfreut, weil Barbara sich an sie erinnerte, und Ralph hoffte, sie würde darüber nicht vergessen, weshalb sie eigentlich hier waren. Aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen. »Wie dem auch sei, Simone hat mir eine Nachricht für Gretchen Tillbury aufgetragen.« Sie holte einen Zettel aus der Handtasche. »Ob du ihr die wohl geben könntest?«

»Ich bezweifle stark, daß ich heute auch nur mit Gretchen Tillbury telefonieren könnte«, sagte Ms. Richards. »Sie st so beschäftigt wie wir alle. Noch mehr.«

»Kann ich mir denken.« Lois stieß ein erstaunlich echtes kurzes Lachen aus. »Ich denke, es hat auch keine Eile. Gretchen hat eine Nichte, die ein Stipendium für die Universität von New Hampshire bekommen hat. Ist dir auch schon aufgefallen, daß sich die Leute viel mehr Mühe geben, wenn sie schlechte Nachrichten überbringen müssen? Seltsam, nicht?«

»Kann schon sein«, sagte Ms. Richards und streckte die Hand nach dem zusammengelegten Zettel aus. »Wie auch immer, ich werde es gern in Gretchens -«

Lois ergriff ihr Handgelenk, und ein Blitz grauen Lichts so grell, daß Ralph die Augen zukneifen mußte, um nicht geblendet zu werden - raste an Arm, Schultern und Hals der Frau hinauf. Er waberte kurz als Heiligenschein um ihren Kopf, dann verschwand er.

Nein, dachte Ralph. Er ist nicht verschwunden, er ist eingesunken.

»Was war das?« fragte die Putzfrau mißtrauisch. »Was war das für ein Knall?«

»Eine Fehlzündung«, sagte Ralph. »Mehr nicht.«

»Hm«, sagte sie. »Ihr verfluchten Männer glaubt, daß ihr alles wißt. Hast du das gehört, Barbie?«

»Ja«, sagte Ms. Richards. Für Ralph hörte sie sich völlig normal an, und er wußte, die Putzfrau würde den perlgrauen Nebel nicht sehen können, der jetzt in ihren Augen wallte. »Ich glaube, er hat recht, aber würdest du trotzdem draußen bei Peter nachsehen? Wir können gar nicht vorsichtig genug sein.«

»Auf jeden Fall«, sagte die Putzfrau. Sie stellte die Flasche Windex weg, marschierte zur Tür (schenkte Ralph einen letzten, finsteren Blick, der sagte: Du bist alt, aber ich gehe jede Wette ein, daß du irgendwo da unten noch einen Penis hast) und ging hinaus.

Kaum war sie fort, beugte sich Lois über den Schreibtisch. »Barbara, mein Freund und ich müssen noch heute morgen mit Gretchen sprechen«, sagte sie. »Persönlich.«

»Sie ist nicht hier. Sie ist in High Ridge.«

»Sag uns, wie wir dorthin kommen.«

Ms. Richards' Blick wanderte zu Ralph. Der fand ihre grauen, pupillenlosen Augenhöhlen durch und durch beunruhigend. Als würde man eine klassische Statue ansehen, die irgendwie zum Leben erwacht war. Auch ihre dunkelgrüne Aura war deutlich blasser geworden.

Nein, dachte er. Sie wird nur vorübergehend von Lois' grauer überlagert, das ist alles.

Lois drehte sich kurz um und folgte Barbara Richards' Blick zu Ralph, dann drehte sie sich wieder zu der jungen Frau um. »Ja, er ist ein Mann, aber das macht nichts, ich verspreche es. Wir wollen Gretchen Tülbury oder den Frauen in High Ridge nichts tun, aber wir müssen mit ihr reden, also sag uns, wie wir dorthin kommen können.« Sie berührte wieder ihre Hand, worauf ihr Grau wieder am Arm der jungen Frau hinauf schoß.

»Tu ihr nicht weh«, sagte Ralph.

»Nein, aber sie muß reden.« Sie beugte sich dichter zu Richards. »Wo ist es? Komm schon, Barbara.«

»Ihr fahrt auf der Route 33 aus Derry hinaus«, sagte sie. »Die alte Newport Road. Nach etwa zehn Meilen seht ihr ein großes rotes Farmhaus links. Zwei Scheunen stehen dahinter. Danach biegt ihr die erste links ab...«

Die Putzfrau kam herein. »Peter hat nichts gehört -« Sie verstummte abrupt, weil ihr möglicherweise nicht gefiel, wie Lois sich über den Schreibtisch beugte, oder weil sie der leere Gesichtsausdruck ihrer Freundin beunruhigte.

»Barbara? Alles in Ord -«

»Seien Sie still«, sagte Ralph mit leiser, freundlicher Stimme. »Sie unterhalten sich.« Er ergriff den Arm der Putzfrau dicht über dem Ellbogen und verspürte dabei ein kurzes aber starkes Pulsieren von Energie. Einen Augenblick wurden alle Farben in der Welt heller. Die Putzfrau hieß Rachel Anderson. Sie war einmal mit einem Mann verheiratet gewesen, der sie oft und schwer verprügelt hatte, bis er vor acht Jahren verschwunden war. Heute hatte sie einen Hund und ihre Freundinnen bei Woman-Care, und das genügte ihr.

»Aber sicher«, sagte Rachel Anderson mit verträumter, nachdenklicher Stimme. »Sie unterhalten sich, und Peter sagt, es ist alles in Ordnung, also sollte ich wohl besser still sein.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Ralph, der sie immer noch sanft am Oberarm hielt.

Lois sah sich rasch um und vergewisserte sich, daß Ralph die Situation unter Kontrolle hatte, dann wandte sie sich wieder Barbara Richards zu. »Nach dem Farmhaus mit den beiden Scheunen links abbiegen. Okay, das haben wir. Was dann?«

»Dann kommt ein Feldweg. Der führt bergauf - etwa eineinhalb Meilen - und endet an einem weißen Farmhaus. Das ist High Ridge. Es hat die schönste Aussicht -«

»Jede Wette«, sagte Lois. »Barbara, es war schön, dich wiederzusehen. Aber jetzt müssen mein Freund und ich -«

»War auch schön, Sie wiederzusehen, Lois«, sagte Ms. Richards mit abwesender, desinteressierter Stimme.

»Mein Freund und ich werden jetzt gehen. Es ist alles in Ordnung.«

»Gut.«

»Du mußt dich nicht daran erinnern«, sagte Lois.

»Auf keinen Fall.«

Lois wollte schon gehen, da drehte sie sich noch einmal um und nahm das Blatt Papier, das sie aus der Handtasche genommen hatte. Es war auf den Schreibtisch gefallen, als Lois das Handgelenk der Frau ergriffen hatte.

»Warum gehen Sie nicht wieder an die Arbeit, Rachel?« fragte Ralph die Putzfrau. Er ließ vorsichtig ihren Arm los, war aber jederzeit bereit, ihn wieder zu packen, sollte sie zu erkennen geben, daß sie einer erneuten Behandlung bedurfte.

»Ja, ich sollte besser weitermachen«, sagte sie etwas freundlicher. »Ich möchte bis Mittag hier fertig sein, damit ich nach High Ridge fahren und mithelfen kann, Spruchbänder zu machen.«

Lois gesellte sich zu Ralph, während Rachel Anderson wieder zu ihrem Wägelchen mit Putzmitteln ging. Lois sah erstaunt und ein wenig erschüttert drein. »Mit ihnen ist doch alles in Ordnung, Ralph, oder?«

»Ja, ganz sicher. Geht es dir denn gut? Du wirst mir doch nicht ohnmächtig oder so?«

»Mir geht es gut. Kannst du dich an die Wegbeschreibung erinnern?«

»Freilich - sie meint das Gelände, das einmal Barrett's Orchards gewesen ist. Carolyn und ich sind da jeden Herbst hingegangen, um Äpfel zu pflücken und Cidre zu kaufen, bis sie Anfang der achtziger Jahre schließen mußten. Wenn ich mir vorstelle, daß das High Ridge ist.«

»Du kannst dich später noch wundern, Ralph - ich bin jetzt wirklich am Verhungern.«

»Nun gut. Was stand eigentlich auf dem Zettel? Der Nachricht von der Nichte mit dem Stipendium der Uni?«

Sie lächelte ihn schalkhaft an und gab ihm das Blatt Papier. Es handelte sich um ihre Stromrechnung für den Monat September.

»Haben Sie Ihre Nachricht hinterlassen können?« fragte der Wachmann, als sie herauskamen und den Fußweg hinuntergingen.

»Ja, danke«, sagte Lois und schaltete ihr Megawattlächeln wieder ein. Aber sie blieb in Bewegung und umklammerte Ralphs Hand fest mit ihrer. Er wußte, wie ihr zumute war; er hatte keine Ahnung, wie lange die Suggestionen der beiden Frauen andauern würden.

»Gut«, sagte der Wachmann und folgte ihnen zum Ende des Fußwegs. »Das wird ein langer, langer Tag werden. Bin froh, wenn er vorbei ist. Wissen Sie, wieviel Wachpersonal wir von Mittag bis Mitternacht hier haben? Ein Dutzend. Und das nur hier. Beim Bürgerzentrum werden es über vierzig sein - und das zusätzlich zur hiesigen Polizei.«

Und es wird kein bißchen nützen, dachte Ralph.

»Und weshalb? Damit eine aufmüpfige Blondine ihr Maul aufreißen kann.« Er sah Lois an, als rechnete er damit, sie würde ihm vorwerfen, daß er ein sexistischer Stänkerer sei, aber Lois ließ nur ihr Lächeln wieder aufblitzen.

»Ich hoffe, daß alles gutgeht, Officer«, sagte Ralph und führte Lois über die Straße zu dem Oldsmobile. Er ließ ihn an, wendete mühsam in der Einfahrt von Woman-Care und rechnete jeden Moment damit, daß entweder Barbara Richards, Rachel Anderson, oder beide zur Tür herausgelaufen kommen, sich wild umsehen und mit Fingern auf sie zeigen würden. Schließlich hatte er den Olds in der richtigen Richtung und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Lois sah ihn an und nickte mitfühlend.

»Ich dachte, ich wäre der Vertreter«, sagte Ralph, »aber, Mann, ich habe noch nie gesehen, wie jemand einen Menschen so um den Finger wickelt.«

Lois lächelte bescheiden und verschränkte die Hände im Schoß.

Sie näherten sich dem Parkhaus des Hospitals, als Trigger aus seiner kleinen Kabine gelaufen kam und mit den Armen ruderte. Ralphs erster Gedanke war, daß sie doch keine saubere Flucht bewerkstelligt hatten - der Wachmann mit dem Notizbrett hatte etwas Verdächtiges bemerkt und Trigger über Funk oder Telefon gebeten, sie aufzuhalten. Dann sah er den Gesichtsausdruck - außer Atem, aber glücklich - und was Trigger in der rechten Hand hielt. Es war eine sehr alte und sehr zerschlissene schwarze Brieftasche. Bei jeder Armbewegung klappte sie auf und zu wie ein zahnloser Mund.

»Keine Sorge«, sagte Ralph und bremste den Olds ab. »Ich habe keine Ahnung, was er will, aber ich bin ziemlich sicher, daß es keinen Ärger gibt. Jedenfalls noch nicht.«

»Mir ist egal, was er will. Ich will nur hier weg und etwas essen. Wenn er anfängt, dir seine Angelbilder zu zeigen, Ralph, werde ich persönlich aufs Gaspedal treten.«

»Amen«, sagte Ralph, der genau wußte, daß Trigger nichts mit Angelbildern am Hut hatte. Er war immer noch nicht völlig im Bilde, aber eines wußte er ganz genau: Nichts geschah aus Zufall. Nicht mehr. Dies war der Plan mit all seiner Macht. Er hielt neben Trigger und drückte den Knopf, der das Fenster auf seiner Seite herunterließ. Es senkte sich mit einem ungehaltenen Heulen.

»Ehhh, Ralph!« rief Trigger. »Dacht schon, isch würde disch verpassen!«

»Was ist denn, Trig? Wir haben es ziemlich eilig -«

»Ja, ja, dauert nischt lange, 'ab's gleisch 'ier inner Brieftasche, Ralph. Mann, isch 'ab mein' ganzen Papierkram 'ier, und isch verlier nie was.«

Er spreizte die schlaffen Kiefer der alten Börse und offenbarte ein paar zerknitterte Geldscheine, ein Zellulloidleporello mit Fotos (und konnte Ralph nicht wirklich und wahrhaftig eines von Trigger sehen, wie er einen großen Barsch hochhielt?) und mindestens vierzig Visitenkarten, die meisten zerknittert und abgenutzt. Die suchte Trigger nun mit der Geschwindigkeit eines altgedienten Bankkassierers durch, der Geldscheine zählt.

»Isch werf die Dinger nie weg«, sagte Trigger. »Kann man prima drauf schreiben, besser wie in Notizbüscher, und umsonst. Jetzt aber Moment mal... Augenblick noch, wo steckst du, verfluchtes Ding?«

Lois warf Ralph einen ungeduldigen, besorgten Blick zu und deutete die Straße entlang. Ralph schenkte weder dem Blick noch der Geste Beachtung. Er verspürte ein seltsames Kribbeln in der Brust. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie er den Finger ausstreckte und etwas auf die Scheibe von Triggers Lieferwagen schrieb, die beschlagen war - als Folge von kaltem Regen an einem heißen Tag.

»Ralph, erinnerst du disch noch an den Schal, den Ed Deepneau an dem Tag angehabt hat? Weiß mit roten Krakeln darauf?«

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Ralph. Fotzenlecker, hatte Ed zu dem vierschrötigen Mann gesagt. Du hast deine Mutter gefickt und ihre Fotze geleckt. Ja, auch an den Schal erinnerte er sich -selbstverständlich. Aber das Rote waren nicht nur Krakel oder Flecken oder sinnlose Schnörkel gewesen, sondern ein oder mehrere Schriftzeichen. Der plötzliche Druck in seiner Magengegend verriet Ralph, daß Trigger aufhören konnte, durch seine alten Visitenkarten zu kramen. Er wußte, worum es ging. Er wußte es.

»Wir haben gedacht, es wäre Chinesisch«, sagte er mit einer Stimme, die von anderswo zu kommen schien. »Jedenfalls ich. Damals zumindest. Aber das stimmt nicht, richtig? Es war Japanisch.«

Trigger sah ihn mit vor Überraschung offenem Mund an. In einer Hand hielt er eine Visitenkarte, die er aus dem Stapel gezogen hatte. Auf der unbeschriebenen Seite sah Ralph eine ungefähre Kopie des doppelten Symbols, das Eds Schal geziert hatte, des doppelten Symbols, das Ralph auf die beschlagene Windschutzscheibe gemalt hatte.

»Worum geht es hier eigentlich?« fragte Lois, die jetzt nicht mehr ungeduldig klang, sondern durch und durch ängstlich.

»Ich hätte es wissen müssen«, hörte sich Ralph mit kläglicher, entsetzter Stimme sagen. »Ich hätte es sehen müssen.«

»Was sehen müssen?« Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Was sehen müssen?«

Er antwortete nicht. Mit einem Gefühl wie ein Mann in einem Traum griff er nach der Visitenkarte. Trigger Vachon lächelte nicht mehr, seine dunklen Augen betrachteten ernst und forschend Ralphs Gesicht.

»Bist du ganz sicher, Trig?« fragte er.

»'unnert Prozent, Ralphie. Isch 'ab's abgemalt, bevor es von der Scheibe verschwunden war, weil isch wußte, daß isch's schon mal gesehen'atte, und als isch an dem Abend nach 'ause gekommen bin, da 'ab isch auch gewußt wo. Marcel, mein großer Bruder, 'at im letzten Kriegsjahr im Pazifik gekämpft. Und er 'at einen Schal mit denselben Symbolen mitgebracht, im selben Rot. Isch 'ab ihn gefragt, nur um ganz sischer zu sein, und er 'at's auf diese Karte geschrieben.« Trigger deutete auf die Karte, die Ralph zwischen den Fingern hielt. »Isch wollt's dir sagen, sobald wir uns wiedersehn, aber isch 'ab disch bis 'eute nischt gesehn. Bin froh, daß es mir noch eingefallen ist, aber wenn isch disch so anseh, war's wahrscheinlisch besser gewesen, ich 'ätfs vergessen.«

»Nein, ist schon gut.«

Lois nahm ihm die Karte ab. »Was ist das? Was bedeutet es?« »Sag ich dir später.« Ralph griff nach dem Schalthebel. Sein Herz fühlte sich wie ein Stein in seiner Brust an. Lois betrachtete die Symbole auf der freien Seite der Karte, so daß Ralph die bedruckte Rückseite sehen konnte. R. H. FOSTER, BRUNNEN UND TROCKENMAUERN, stand darauf. Darunter hatte Trigs Bruder ein einziges Wort in schwarzen Großbuchstaben geschrieben.

KAMIKAZE.

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