DRITTER TEIL Der Scharlachrote König

Wir sind alte Leute, jeder von uns besitzt ein zugeklapptes Rasiermesser.

Robert Lowell Walking in the Blue


Kapitel 20

Während sie mit dem Oldsmobile den Hospital Drive hinunterfuhren, kam es nur zu einem ganz kurzen Gespräch zwischen ihnen.

»Ralph?«

Er sah zu ihr, und dann hastig wieder auf die Straße. Das Ticken unter der Haube hatte wieder angefangen, aber Lois hatte es noch nicht erwähnt. Er hoffte, daß sie es jetzt auch nicht tun würde.

»Ich glaube, ich weiß, wo er ist«, sagte sie mit leiser, fast zaghafter Stimme. »Ed, meine ich. Ich war schon auf dem Dach ziemlich sicher, daß ich das alte Gebäude kenne, das sie uns gezeigt haben.«

»Was ist es? Und wo ist es?«

»Das Gebäude ist eine Flugzeuggarage. Wie sagt man gleich dazu? Ein Hangar.«

»O mein Gott«, sagte Ralph. »Coastal Air an der Bar Harbor Road?«

Lois nickte. »Sie veranstalten Charterflüge, Ausflüge mit dem Wasserflugzeug, solche Sachen. Als wir samstags mal einen Ausflug gemacht haben, ist Mr. Chasse da reingegangen und hat den Mann gefragt, der dort arbeitete, wieviel er für einen Rundflug über die Inseln verlangen würde. Der Mann sagte vierzig Dollar, was viel mehr war, als wir uns für so was leisten konnten, und ich bin sicher, im Sommer wäre der Mann hart geblieben, aber es war erst April, daher hat Mr. Chasse ihn auf zwanzig runterhandeln können. Ich fand das immer noch zuviel für eine Tour, die nicht einmal eine Stunde dauerte, aber ich bin froh, daß wir sie gemacht haben. Es war beängstigend, aber es war wunderschön.«

»Wie die Auren«, sagte Ralph.

»Ja, wie...« Ihre Stimme bebte. Ralph sah hinüber und erblickte Tränen, die ihre pausbäckigen Wangen hinunterliefen. »... wie die Auren.«

»Nicht weinen, Lois.«

Sie fand ein Kleenex in der Handtasche und wischte sich damit die Augen ab. »Ich kann nicht anders. Das japanische Wort auf der Karte bedeutet Kamikaze, oder nicht, Ralph? Göttlicher Wind.« Ihre Lippen bebten. »Selbstmordpilot.«

Ralph nickte. Er hielt das Lenkrad ganz fest umklammert. »Ja«, sagte er. »Das bedeutet es. Selbstmordpilot.«

Route 33 - die in der Stadt Newport Avenue genannt wurde führte in einem Abstand von vier Blocks an der Harris Avenue vorbei, aber Ralph hatte nicht die Absicht, ihrer langen Fastenzeit an der West Side ein Ende zu bereiten. Der Grund dafür war so einfach wie zwingend: Er und Lois konnten es sich nicht leisten, von ihren alten Freunden gesehen zu werden, da sie fünfzehn oder zwanzig Jahre jünger aussahen als am Montag.

Hatten irgendwelche dieser alten Freunde sie bei der Polizei schon als vermißt gemeldet? Ralph wußte, es wäre möglich, verließ sich aber darauf, daß sie zumindest in seinem Kreis noch keine allzu große Aufmerksamkeit erregt hatten; Faye und die anderen, die auf dem Picknickplatz an der Extension herumhingen, wären zu sehr damit beschäftigt, über den Verlust von nicht nur einem, sondern zwei Mitgliedern der Airvorderen zu trauern, als sich zu fragen, wohin sich Ralph Roberts mit seinem hageren alten Arsch abgesetzt haben mochte.

Bill und Jimmy könnten mittlerweile beide Totenwache, Trauergottesdienst und Beerdigung hinter sich haben, dachte er.

»Wenn du sicher bist, daß wir Zeit für ein Frühstück haben, Ralph, dann solltest du so schnell wie möglich ein Restaurant suchen - ich bin so hungrig, daß ich en Pferd mit Haut und Haaren verspeisen könnte!«

Sie waren jetzt fast eine Meile westlich vom Krankenhaus - weit genug, daß sich Ralph einigermaßen sicher fühlen konnte -, und er sah das Derry Diner vor ihnen auftauchen. Er und Carolyn hatten ein paarmal dort zu Mittag gegessen, und es war nicht so übel. Als er blinkte und auf den Parkplatz abbog, überlegte er sich, daß er seit Carolyns Krankheit nicht mehr hier gewesen war... ein Jahr mindestens, wahrscheinlich länger.

»Da sind wir«, sagte er zu Lois. »Und wir werden nicht nur essen, wir werden soviel essen, wie wir können. Heute kommen wir vielleicht nicht mehr dazu.«

Sie grinste wie ein Schulkind. »Da hast du gerade eines meiner größten Talente angesprochen, Ralph.« Sie rutschte ein wenig auf dem Sitz hin und her. »Außerdem muß ich für kleine Mädchen.«

Ralph nickte. Sie hatten seit Dienstag nichts gegessen, und auf dem Klo gewesen waren sie auch nicht. Lois konnte ruhig für kleine Mädchen; er würde in die Herrentoilette stürmen und ganz doll für große Jungs gehen.

»Komm mit«, sagte er, machte den Motor aus und brachte so das beunruhigende Ticken unter der Haube zum Verstummen. »Zuerst das Klo, dann das große Fressen.«

Auf dem Weg zur Tür sagte sie ihm (mit einer Stimme, die Ralph für eine Spur zu beiläufig hielt), daß sie nicht glaubte, Mina oder Simone hätten sie schon als vermißt gemeldet, jedenfalls noch nicht. Als Ralph den Kopf drehte und nach dem Grund fragte, stellte er zu seinem Erstaunen und seiner Erheiterung fest, daß sie errötete.

»Weil sie beide wissen, daß ich schon seit Jahren in dich verknallt bin.«

»Ist das ein Witz?«

»Selbstverständlich nicht«, sagte sie und hörte sich ein wenig verschnupft an. »Carolyn wußte es auch. Manche Frauen hätte es gestört, aber sie wußte, wie harmlos es war. Wie harmlos ich war. Sie war so ein Schatz, Ralph.«

»Ja. Das war sie.«

»Wie dem auch sei, sie werden wahrscheinlich vermuten, daß wir... du weißt schon...«

»Uns auf ein Schäferstündchen verdrückt haben?«

Lois lachte. »So was in der Art.«

»Würdest du dich gerne mit mir auf ein Schäferstündchen verdrücken, Lois?«

Sie stellte sich auf Zehenspitzen, knabberte kurz an seinem Ohrläppchen, und da geschah etwas Erstaunliches: Er war innerhalb von Sekunden hart wie eine Eisenstange. »Wenn wir das hier lebend überstehen, frag mich noch mal.«

Er gab ihr einen Kuß auf den Mundwinkel, bevor er die Tür aufstieß. »Worauf du dich verlassen kannst.«

Sie gingen auf die Toilette, und als Ralph wieder zu ihr kam, sah Lois nachdenklich und ein wenig erschüttert aus. »Ich kann nicht glauben, daß ich es bin«, sagte sie. »Ich meine, ich muß mich mindestens zwei Stunden im Spiegel angesehen haben, und ich kann es immer noch nicht glauben. Die Krähenfüßchen um meine Augen herum sind verschwunden, und Ralph... mein Haar...«Ihre dunklen spanischen Augen sahen funkelnd und staunend zu ihm auf. »Und du! Mein Gott, ich bezweifle, daß du mit vierzig so gut ausgesehen hast.«

»Habe ich auch nicht, aber du hättest mich mit dreißig sehen sollen.«

Sie kicherte. »Komm schon, du Kindskopf, setzen wir uns und vernichten ein paar Kalorien.«

»Lois?«

Sie sah von der Speisekarte auf, die zusammen mit mehreren anderen zwischen Salz- und Pfefferstreuer gesteckt hatte.

»Als ich auf der Toilette war, habe ich versucht, die Auren zurückkommen zu lassen. Diesmal konnte ich es nicht.«

»Warum wolltest du es, Ralph?«

Er zuckte die Achseln, weil er ihr nichts von dem Gefühl der Paranoia erzählen wollte, das ihn überkommen hatte, als er in der kleinen Toilette stand, sich die Hände wusch und sein seltsam jugendliches Gesicht in dem wasserfleckigen Spiegel betrachtete. Plötzlich war ihm der Gedanke gekommen, er könnte nicht allein da drinnen sein. Schlimmer, Lois hätte nebenan in der Damentoilette nicht allein sein können. Möglicherweise schlich sich Atropos an sie an, völlig unsichtbar, mit an seinen winzigen Ohrläppchen baumelnden Diamantohrringen und ausgestrecktem Skalpell...

Aber statt Lois' Ohrringen oder McGoverns Panama hatte Ralphs geistiges Auge das Springseil heraufbeschworen, das Atropos benützt hatte, als Ralph ihn (drei-sechs-neun, die Gans trank Wein) auf dem leeren Baugrundstück zwischen der Bäckerei und dem Bräunungsstudio entdeckt hatte, das Springseil, das einmal kostbarer Besitz eines kleinen Mädchens gewesen war, das beim Fangenspielen in der Wohnung stolperte, im ersten Stock aus dem Fenster fiel und sich das Genick brach (was für ein schrecklicher Unfall, sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, wenn es einen Gott gibt, warum läßt er so etwas zu, und so weiter, und so fort, ganz zu schweigen von bla-bla-bla).

Er sagte sich, daß er damit aufhören sollte, daß es schon schlimm genug sei, auch wenn er sich keine grausamen Bilder ausmalte, wie Atropos Lois' Ballonschnur durchschnitt, aber das half nichts... zumal er wußte, Atropos könnte sich tatsächlich hier bei ihnen im Restaurant aufhalten, das Springseil in einer und das rostige Skalpell in der anderen Hand, und er könnte mit ihnen anstellen, was er wollte. Einfach alles.

Lois streckte die Hand über den Tisch aus und strich ihm über den Handrücken. »Keine Bange. Die Farben werden wiederkommen. Sie kommen immer wieder.«

»Wahrscheinlich.« Er nahm sich selbst eine Speisekarte, schlug sie auf und ließ den Blick über das Frühstücksangebot schweifen. Sein erster Eindruck war, daß er von allem etwas wollte.

»Als du zum erstenmal gesehen hast, daß Ed sich wie ein Verrückter aufgeführt hat, kam er vom Flughafen von Derry«, sagte Lois. »Jetzt wissen wir, warum. Er hat Flugstunden genommen, nicht?«

»Natürlich. Als Trig mich zur Harris Avenue zurückgefahren hat, hat er sogar erwähnt, daß man einen Paß braucht, wenn man diesen Weg benutzen will. Er fragte mich, ob ich wüßte, wie Ed einen bekommen haben könnte, und ich sagte nein. Jetzt weiß ich es. Wahrscheinlich bekommen alle Flugschüler einen.«

»Glaubst du, Helen hat von seinem Hobby gewußt?« fragte Lois. »Wahrscheinlich nicht, oder?«

»Mit Sicherheit nicht. Ich bin sicher, er ist, gleich nachdem er auf den Mann von West Side Gardeners getroffen war, zu Coastal Air gewechselt. Dieser kleine Zwischenfall hätte ihn überzeugen können, daß er die allmählich Kontrolle verlor und gut beraten wäre, wenn er seine Lektionen etwas weiter von zu Hause entfernt nehmen würde.«

»Vielleicht hat ihn auch Atropos überzeugt«, sagte Lois düster.

»Atropos oder jemand von noch weiter oben.«

Die Vorstellung gefiel Ralph nicht besonders, aber sie schien dennoch zutreffend zu sein. Wesenheiten, dachte er und erschauerte. Der Scharlachrote König.

»Sie lassen ihn tanzen wie eine Marionette, oder nicht?« fragte Lois.

»Du meinst Atropos?«

»Nein. Atropos ist ein widerlicher kleiner Pisser, aber sonst unterscheidet er sich, glaube ich, kaum von Mr. K. und Mr. L. -niederes Personal, im großen Weltplan wahrscheinlich nur eine Stufe über ungelernten Hilfsarbeitern.«

»Hausmeister.«

»Nun, ja, vielleicht«, stimmte Lois zu. »Hausmeister und Handlanger. Atropos ist wahrscheinlich derjenige, der Ed am gründlichsten bearbeitet hat, und ich gehe jede Wette ein, daß er seine Arbeit liebt, aber ich bin überzeugt, seine Befehle kommen von weiter oben. Viel weiter oben. Hört sich das mehr oder weniger logisch an?«

»Ja. Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, wie verrückt Ed. war, bevor das alles angefangen hat, oder wann genau Atropos seine Ballonschnur durchgeschnitten hat, aber was mich im Augenblick am meisten interessiert, ist ziemlich weltlich. Mich würde interessieren, wie, um alles in der Welt, er Charlie Pickerings Kaution zusammenbekommen hat, und wie er für seine verdammten Flugstunden bezahlen konnte.«

Bevor Lois antworten konnte, kam eine kaugummikauende Kellnerin näher und holte einen Bestellblock und einen Kugelschreiber aus der Tasche ihrer Schürze. »Was darfs sein?«

»Ein Käse- und Pilzomelette«, sagte Ralph.

»Hm-hmm.« Sie wechselte den Kaugummi von einer Seite auf die andere. »Zwei oder drei Eier, Schatz?«

»Vier, wenn's recht ist.«

Sie zog eine Braue leicht in die Höhe und schrieb auf den Block. »Mir soll's recht sein. Etwas dazu?«

»Ja, bitte. Ein Glas Orangensaft, groß, eine Portion Speck, eine Portion Würstchen und eine Portion Bratkartoffeln. Sagen wir lieber eine doppelte Portion Bratkartoffeln.« Die Kellnerin schrieb schnell und kaute noch schneller. »Oh, und haben Sie noch Blätterteigplunder?«

»Ich glaube, ich habe einen mit Käse und einen mit Apfel.« Sie sah ihn an. »Sie sind ziemlich hungrig, Schatz, was?«

»Als hätte ich seit einer Woche nichts gegessen«, sagte Ralph. »Ich nehme den Käseplunder. Und Kaffee. Jede Menge schwarzen Kaffee. Haben Sie alles mitbekommen?«

»Oh, das hab ich, Schatz. Ich möchte nur auch gern mitbekommen, wie Sie aussehen, wenn Sie wieder gehen.« Sie sah Lois an. »Und Sie, Ma'am?«

Lois lächelte zuckersüß. »Ich nehme dasselbe wie er. Schatz.«

Ralph sah der davoneilenden Kellnerin nach, dann zur Uhr an der Wand, stellte seine Armbanduhr neu und zog sie auf. Es war erst zehn nach sieben, was eine Erleichterung hätte sein sollen. Sie konnten es in weniger als einer halben Stunde bis zu Barrett's Orchards schaffen, und wenn sie ihre geistigen Laser auf Gretchen Tillbury richteten, wäre es möglich, daß die Rede von Susan Day bis spätestens neun Uhr abgesagt werden konnte. Aber statt Erleichterung verspürte er eine unerbittliche, nagende Angst. Als hätte man einen schrecklichen Juckreiz an einer Stelle, die man mit den Fingern nicht erreichen konnte.

»Nun gut«, sagte er schließlich, »fassen wir zusammen. Ich denke, wir können davon ausgehen, daß sich Ed schon ziemlich lange Gedanken über die Abtreibung macht, daß er wahrscheinlich seit Jahren Abtreibungsgegner ist. Dann kann er plötzlich nicht mehr schlafen... hört Stimmen...« »... sieht kleine kahlköpfige Männer...« »Nun, speziell einen«, stimmte Ralph zu. »Atropos wird zu seinem Guru, erzählt ihm vom Scharlachroten König, den Zenturionen, dem ganzen Theater. Als Ed mir von König Herodes erzählte -«

»- dachte er an Susan Day«, führte Lois weiter aus. »Atropos hat ihn... wie sagt man im Fernsehen... aufgeputscht. Hat ihn in einen lenkbaren Marschflugkörper verwandelt. Was meinst du, woher hat Ed diesen Schal?«

»Von Atropos«, sagte Ralph. »Atropos hat bestimmt eine Menge solcher Andenken.« »Und was, meinst du, hat er in dem Flugzeug, das er heute nacht fliegen wird?« Lois' Stimme zitterte. »Sprengstoff oder Giftgas?«

»Wenn er wirklich vorhaben sollte, alle zu töten, dürfte Sprengstoff wahrscheinlicher sein; bei Gas könnte starker Wind ihm zu schaffen machen.« Ralph trank einen Schluck Wasser und stellte fest, daß seine Hand ein wenig zitterte. »Andererseits können wir nicht wissen, was für hübsche Sachen er in seinem Labor zusammengeköchelt hat, oder?«

»Nein«, sagte Lois mit leiser Stimme.

Ralph stellte das Wasserglas weg. »Aber was er benützen will, interessiert mich nicht besonders.«

»Was dann?«

Die Kellnerin kam mit frischem Kaffee zurück, und allein schon der Duft schien Ralphs Nerven aufleuchten zu lassen wie Neonröhren. Er und Lois griffen nach ihren Tassen und tranken, kaum daß die Kellnerin weg war. Der Kaffee war stark und so heiß, daß Ralph sich die Lippen verbrannte, aber er schmeckte himmlisch. Als er die Tasse wieder auf den Unterteller stellte, war sie halb leer, und er hatte eine ganz warme Stelle in der Leibesmitte, als hätte er glühende Kohlen verschluckt. Lois betrachtete ihn ernst über den Rand ihrer eigenen Tasse hinweg.

»Was mich interessiert«, sagte er, »sind wir. Du hast gesagt, Atropos hätte Ed in einen lenkbaren Marschflugkörper verwandelt. Das stimmt; genau das waren die Kamikazepiloten im Zweiten Weltkrieg. Hitler hatte seine V2; Hirohito hatte seinen Göttlichen Wind. Das Beunruhigende ist nur, daß Klotho und Lachesis dasselbe mit uns gemacht haben. Wir sind mit einer Menge spezieller Begabungen ausgestattet und programmiert worden, mit meinem Oldsmobile nach High Ridge zu fliegen und Susan Day aufzuhalten. Ich wüßte nur gerne, warum.«

»Aber das wissen wir doch«, wandte sie ein. »Wenn wir nicht eingreifen, wird Ed Deepneau heute abend während der Rede dieser Frau Selbstmord begehen und zweitausend Menschen mitnehmen.«

»Ja«, antwortete Ralph, »und wir werden versuchen, was in unserer Macht steht, um ihn daran zu hindern, Lois, keine Bange.« Er trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse wieder hin. Sein Magen war jetzt hellwach und lechzte nach Nahrung. »Ich könnte ebensowenig tatenlos zusehen, wie Ed diese Menschen umbringt, als ich irgendwo stehen und mich nicht ducken könnte, wenn jemand mir einen Baseball an den Kopf wirft. Es ist nur so, daß wir nie die Möglichkeit gehabt haben, das Kleingedruckte unten auf dem Vertrag zu lesen, und das macht mir angst.« Er zögerte einen Moment. »Und außerdem macht es mich stinkwütend.«

»Wovon redest du?«

»Davon, daß wir für dumm verkauft werden. Wir wissen, warum wir versuchen werden, die Rede von Susan Day zu verhindern; wir können den Gedanken nicht ertragen, daß ein Irrer zweitausend unschuldige Menschen ermordet. Aber wir wissen nicht, warum wir das tun sollen. Das ist der Teil, der mir angst macht.«

»Wir haben die Möglichkeit, zweitausend Menschenleben zu retten«, sagte sie. »Willst du mir sagen, das ist genug für uns, aber nicht für sie?«

»Das will ich damit sagen. Ich glaube nicht, daß Zahlen diese Burschen besonders beeindrucken; sie servieren uns nicht zu Zehnen oder Hunderten oder Tausenden ab, sondern zu Millionen. Und sie sind daran gewöhnt, daß der Plan und der Zufall uns routinemäßig abmurksen.«

»Katastrophen wie der Brand im Coconut Grove«, sagte Lois. »Oder die Überschwemmung hier in Derry vor acht Jahren.«

»Ja, aber auch das sind nur relativ kleine Fische, verglichen mit dem, was jedes Jahr in der Welt vor sich geht. Bei der Überschwemmung hier in Derry 1985 sind zweihundertundzwanzig Menschen ums Leben gekommen, ungefähr jedenfalls, aber letztes Frühjahr starben bei einer Überschwemmung in Pakistan dreieinhalbtausend, und beim letzten großen Erdbeben in der Türkei über viertausend. Und was ist mit Tschernobyl? Ich habe irgendwo gelesen, daß man letztendlich siebzigtausend Tote darauf zurückführen kann. Das sind eine Menge Panamahüte und Springseile und... Brillen, Lois.« Er war entsetzt, weil ihm beinahe Ohrringe herausgerutscht wäre.

»Nicht«, sagte sie erschauernd.

»Ich denke ebenso ungern darüber nach wie du«, sagte er, »aber wir müssen es tun, und sei es nur, weil die beiden Typen so erpicht darauf sind, daß wir es nicht tun. Verstehst du, worauf ich hinauswill? Du mußt. Große Tragödien sind von jeher Bestandteil des Zufalls gewesen; warum sollte es hier anders sein?«

»Ich weiß nicht«, sagte Lois, »aber es war wichtig genug für sie, daß sie uns rekrutiert haben, und ich denke, das war ein ziemlich großer Schritt.«

Ralphnickte. Jetzt konnte er spüren, wie das Koffein wirkte, ihn aufputschte und seine Finger ein bißchen zum Zittern brachte. »Dessen bin ich ganz sicher. Aber jetzt denk mal an das Krankenhausdach zurück. Hast du jemals in deinem Leben zwei Typen soviel erklären hören, ohne tatsächlich auf den Punkt zu kommen?«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Lois, aber ihr Gesicht drückte etwas anderes aus: daß sie nicht verstehen wollte, was er meinte.

»Was ich meine, basiert auf einer grundsätzlichen Annahme: Möglicherweise können sie nicht lügen. Gehen wir davon aus, sie können es nicht. Wenn du bestimmte Informationen hast, die du nicht preisgeben willst, aber keine Lüge erzählen kannst, was tust du dann?«

»Um die Gefahrenzone herumtanzen«, sagte Lois. »Oder die Gefahrenzonen.«

»Bingo. Und haben Sie nicht genau das getan?«

»Nun«, sagte sie, »ich schätze, es war ein Tanz, aber ich finde, du hast über weite Strecken geführt, Ralph. Ich war sogar ziemlich beeindruckt von den Fragen, die du gestellt hast. Ich glaube, solange wir auf dem Dach waren, habe ich die meiste Zeit nur versucht, mich davon zu überzeugen, daß das alles tatsächlich passierte.«

»Sicher, ich habe eine Menge Fragen gestellt, aber...« Er verstummte, weil er nicht sicher war, wie er das Konzept in Worte fassen sollte, das ihm durch den Kopf ging, ein Konzept, das ihm komplex und kinderleicht zugleich vorkam. Er unternahm noch einmal einen Versuch, ein wenig aufzusteigen, und suchte in seinem Kopf nach diesem Gefühl des Blinzeins, weil er wußte, wenn er auf geistiger Ebene mit ihr Kontakt aufnehmen konnte, könnte er ihr ein kristallklares Bild zeigen. Nichts geschah, und er trommelte frustriert mit den Fingerspitzen auf dem Tischtuch.

»Ich war nicht weniger verblüfft als du«, sagte er schließlich. »Wenn sich mein Erstaunen in Form von Fragen ausgedrückt hat, dann nur deshalb, weil man Männern - jedenfalls denen meiner Generation - beigebracht hat, daß es einen ziemlich schlechten Eindruck macht, wenn man dasteht und Ooh und Aah sagt. Das ist etwas für Frauen, die die Vorhänge aussuchen.«

»Sexist.« Sie lächelte, als sie es sagte, aber es war ein Lächeln, das Ralph nicht erwidern konnte. Er mußte an Barbie Richards zurückdenken. Wäre Ralph auf sie zugegangen, hätte sie mit Sicherheit den Alarmknopf unter ihrem Schreibtisch gedrückt, aber Lois hatte sie näherkommen lassen, weil sie zuviel von der alten Schwestern-Scheiße geschluckt hatte.

»Ja«, sagte er leise. »Ich bin ein Sexist, ich bin altmodisch, und manchmal bringt mich das in Schwierigkeiten.«

»Ralph, ich wollte nicht -«

»Ich weiß, was du wolltest, und es ist gut. Ich versuche dir zu vermitteln, daß ich estaunt war... überwältigt... vollkommen von den Socken... genau wie du. Also habe ich Fragen gestellt, na und? Waren es gute Fragen? Nützliche Fragen?«

»Wahrscheinlich nicht, hm?«

»Nun, vielleicht hatte ich gar keinen schlechten Start. Soweit ich mich erinnere, habe ich, als wir auf dem Dach waren, als erstes gefragt, wer sie waren und was sie wollten. Diese Fragen haben sie mit einer Menge philosophischem Geschwafel umgangen, aber ich denke, eine Weile sind sie doch ganz schön ins Schwitzen gekommen. Danach bekamen wir die ganzen Hintergrundinformationen über den Plan und den Zufall

- faszinierend, aber eigentlich hätten wir es nicht gebraucht, um nach High Ridge zu fahren und Gretchen Tillbury davon zu überzeugen, daß sie Susan Days Rede absagt. Verdammt, es wäre besser gewesen - zeitsparender -, wenn sie uns die Wegbeschreibung gegeben hätten, die wir jetzt von Simones Nichte holen mußten.«

Lois sah ihn erstaunt an. »Das stimmt, nicht?« »Ja. Und während wir geredet haben, ist die Zeit unaufhaltsam verflogen, wie das nunmal ist, wenn man ein paar Ebenen höhersteigt. Und sie haben es auch bemerkt, davon kannst du ausgehen. Sie haben das ganze Gespräch so hingedeichselt, daß wir keine Zeit mehr hatten, die Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollten, als sie uns endlich alles erzählt hatten, was wir wissen mußten. Ich glaube, sie wollten uns in dem Glauben lassen, wir würden der Öffentlichkeit einen Dienst erweisen, daß es nur darum geht, die vielen Menschenleben zu retten, aber das konnten sie nicht frei heraus sagen, weil...«

»Weil das eine Lüge gewesen wäre, und möglicherweise können sie nicht lügen.«

»Richtig. Möglicherweise können sie nicht lügen.«

»Aber was wollen sie wirklich, Ralph?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, Lois. Keinen blassen Schimmer.«

Sie trank ihren eigenen Kaffee leer, stellte die Tasse behutsam auf den Unterteller, betrachtete einen Moment ihre Fingerspitzen und sah wieder auf. Wieder war er beeindruckt von ihrer Schönheit - fast überwältigt.

»Sie waren gut«, sagte sie. »Sie sind gut. Das habe ich sehr stark gespürt. Du nicht?«

»Doch«, sagte er fast widerwillig. Selbstverständlich hatte er es gespürt. Sie waren das genaue Gegenteil von Atropos.

»Und du wirst trotzdem versuchen, Ed aufzuhalten - du hast gesagt, du könntest es ebensowenig nicht tun, wie du dich nicht ducken könntest, wenn dir jemand einen Baseball an den Kopf wirft. Ist es nicht so?«

»Ja«, sagte er noch widerwilliger.

»Dann solltest du es dabei bewenden lassen«, sagte sie ruhig und sah ihm mit ihren dunklen in seine blauen Augen. »Es nimmt nur Platz in deinem Kopf weg, Ralph. Macht eine Rumpelkammer daraus.«

Er sah ein, daß sie recht hatte, bezweifelte aber, daß er einfach die Hand aufmachen und diesen Teil davonfliegen lassen konnte. Vielleicht mußte man Siebzig werden, bis man voll und ganz einsah, wie schwer es war, seiner Erziehung zu entkommen. Seine Ausbildung, ein Mann zu sein, hatte vor Adolf Hitlers Aufstieg zur Macht begonnen, und er war immer noch ein Gefangener der Generation, die sich H. V. Kaltenborn und die Andrews Sisters im Radio angehört hatte - einer Generation von Männern, die auf Cocktails bei Mondlicht stand und meilenweit für eine Camel Filter ging. Diese Erziehung ignorierte im Grunde so hübsche moralische Fragen wie, wer für die Guten und wer für die Bösen arbeitete; das Wichtigste war, daß man sich von den Schlägern keinen Sand in die Augen kicken ließ. Daß man sich nicht an der Nase herumführen ließ.

Ist das so? fragte Carolyn kühl amüsiert. Wie faszinierend. Aber ich will die erste sein, die dir ein kleines Geheimnis erzählt, Ralph: Das ist Quatsch. Das war schon Quatsch bevor Glenn Miller am Horizont erschienen ist, und es ist heute immer noch Quatsch. Aber die Vorstellung, daß ein Mann tun muß, was ein Mann tun muß... darin könnte ein Körnchen Wahrheit enthalten sein, auch heutzutage. Auf jeden Fall ist es ein langer Weg zurück ins Paradies, oder nicht, Liebling?

Ja. Ein sehr langer Weg zurück ins Paradies.

»Weshalb lächelst du, Ralph?«

Die Kellnerin, die mit einem riesigen Tablett Essen kam, ersparte ihm, darauf antworten zu müssen. Er bemerkte zum ersten Mal, daß sie einen roten Button am Saum ihrer Schürze stecken hatte. LEBEN IST EINE ALTERNATIVE, stand darauf.

»Werden Sie heute abend die Veranstaltung im Bürgerzentrum besuchen?« fragte Ralph sie.

»Ich bin da«, sagte sie und stellte das Tablett auf den freien Tisch neben ihrem, damit sie die Hände freibekam. »Draußen. Mit einem Schild. Marschieren.«

»Gehören Sie zu den Friends of Life?« fragte Lois, als die Kellnerin Omelettes und Beilagen verteilte.

»Bin ich am Leben?« fragte die Kellnerin.

»Ja, das scheinen Sie durchaus zu sein«, sagte Lois höflich.

»Nun, ich schätze, dann bin ich ein Friend of Life, oder nicht? Jemanden zu töten, der eines Tages vielleicht ein großes Gedicht schreibt oder ein Heilmittel gegen Aids oder Krebs erfinden könnte, ist meiner Meinung nach einfach falsch. Darum werde ich mein Schild hochhalten und darauf achten, daß die Norma-Kamali-Feministinnen und Volvo-Liberalen auch sehen, daß das Wort MORD darauf steht. Sie hassen dieses Wort. Sie benützen es nicht bei ihren Cocktailpartys und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Brauchen Sie Ketchup?«

»Nein«, sagte Ralph. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Ein schwaches grünes Leuchten breitete sich um sie herum aus - es schien fast aus ihren Poren gezischelt zu kommen. Die Auren kamen wieder und erwachten zu vollem, strahlenden Glanz.

»Ist mir'n zweiter Kopf gewachsen, als ich nicht aufgepaßt hab, oder was?« fragte die Kellnerin. Sie ließ den Kaugummi platzen und schob ihn auf die andere Seite des Mundes.

»Ich habe Sie angestarrt, was?« fragte Ralph. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. »Entschuldigung.«

Die Kellnerin zuckte die derben Schultern, was den oberen Teil ihrer Aura in eine träge, faszinierende Bewegung versetzte. »Ich versuche, mich nicht zu sehr hineinzusteigern, wissen Sie. Meistens tue ich meine Arbeit und halte den Mund. Aber das soll nicht heißen, daß ich kusche. Wissen Sie, wie lange ich schon vor diesem Backsteinschlachthof herumspaziere, und zwar an so heißen Tagen, daß mir der Hintern anfing zu kochen, und in so kalten Nächten, daß ich ihn mir fast abgefroren habe?«

Ralph und Lois schüttelten die Köpfe.

»Seit 1984. Neun lange Jahre. Und ich werde es weitere neun machen, wenn es erforderlich sein sollte. Wissen Sie, was mich an den Befürwortern am meisten aufregt?«

»Was?« fragte Lois leise.

»Es sind dieselben Leute, die Waffen verbieten lassen wollen, damit die Leute sich nicht mehr gegenseitig damit erschießen, die die Gaskammer und den elektrischen Stuhl für verfassungswidrig halten, weil sie eine grausame und ungewöhnliche Strafe darstellen. Das alles sagen sie, und dann gehen sie auf die Straße und unterstützen Gesetze, die Ärzten -Ärzten! - erlauben, einer Frau einen Staubsauger in die Gebärmutter zu schieben und deren ungeborene Söhne und Töchter in Stücke zu reißen. Das regt mich am meisten auf.«

Die Kellnerin sagte das alles - wie eine Ansprache, die sie schon viele Male gehalten hatte -, ohne die Stimme zu heben oder äußerlich auch nur eine Spur von Wut erkennen zu lassen. Ralph hörte ihr nur mit halbem Ohr zu; der größte Teil seiner Aufmerksamkeit galt der hellgrünen Aura, die sie umgab. Aber sie war nicht nur hellgrün. Ein gelblich-schwarzer Fleck drehte sich langsam wie ein schmutziges Wagenrad über der unteren rechten Seite.

Ihre Leber, dachte Ralph. Etwas stimmt mit ihrer Leber nicht.

»Sie möchten doch nicht wirklich, daß Susan Day etwas zustößt, oder?« fragte Lois und sah die Kellnerin mit besorgtem Blick an. »Sie scheinen ein netter Mensch zu sein, und ich bin sicher, das wollten Sie nicht.«

Die Kellnerin seufzte durch die Nase, was zwei dünne Strahlen grünen Dunsts erzeugte. »Ich bin nicht so nett, wie ich aussehe, Schatz. Wenn Gott ihr etwas antun würde, dann wäre ich die erste, die vor Freude Luftsprünge macht und sagt: >Dein Wille geschehe glauben Sie mir. Aber wenn Sie einen Irren wie Charlie Pickering meinen, das ist etwas anderes. So etwas bringt uns alle in Verruf und stellt uns auf eine Stufe mit den Leuten, die wir bekämpfen. Aber Irre wie Pickering sehen das nicht so. Sie sind die Joker im Spiel.«

»Ja«, sagte Ralph. »Joker im Spiel, genau das sind sie.«

»Ich glaube, ich möchte nicht, daß dieser Frau etwas Schlimmes zustößt«, sagte die Kellnerin, »aber es könnte sein. Wirklich. Und wenn ihr etwas passiert, ist sie meiner Meinung nach ganz allein daran schuld. Sie heult mit den Wölfen... und Frauen, die mit den Wölfen heulen, sollten sich nicht wundern, wenn sie gebissen werden.«

Ralph war nicht sicher, ob er danach noch etwas essen wollte, aber sein Appetit schien die Ansichten der Kellnerin zur Abtreibung und zu Susan Day unbeschadet überstanden zu haben. Die Auren erwiesen sich als hilfreich; Essen hatte ihm noch nie so gut geschmeckt, nicht einmal als Teenager, als er fünf oder gar sechs Mahlzeiten täglich zu sich genommen hatte, wenn er sie bekommen konnte.

Lois hielt Bissen für Bissen mit ihm Schritt, jedenfalls eine Weile. Schließlich schob sie die Reste ihrer Bratkartoffeln und die beiden letzten Streifen Speck beiseite. Ralph ging wacker allein in die Zielgerade. Er wickelte das letzte Stück Speck um das letzte Würstchen, schob es sich in den Mund, schluckte und lehnte sich mit einem lauten Seufzen auf dem Stuhl zurück.

»Deine Aura ist zwei Stufen dunkler geworden, Ralph. Ich weiß nicht, ob das bedeutet, daß du endlich genug hast oder daß du an einer Magenverstimmung sterben wirst.«

»Beides wäre möglich«, sagte er. »Du siehst sie auch wieder, hm?«

Sie nickte.

»Weißt du was?« fragte er. »Am allermeisten auf der Welt würde mir jetzt ein Nickerchen gefallen.« Ja, wahrhaftig. Jetzt, wo er satt und schön warm war, schienen die vergangenen vier Monate weitgehend schlafloser Nächte wie ein Sack voll schwerer Gewichte auf ihm zu liegen. Seine Lider fühlten sich an, als wären sie in Beton getaucht worden.

»Ich glaube, das wäre im Augenblick eine ziemlich schlechte Idee«, sagte Lois erschrocken. »Eine ziemlich schlechte Idee.«

»Wahrscheinlich«, stimmte Ralph zu.

Lois wollte die Hand heben und um die Rechnung bitten, ließ sie aber wieder sinken. »Wie wäre es, wenn wir deinen Freund bei der Polizei anrufen? Leydecker, richtig? Könnte er uns nicht helfen? Würde er uns nicht helfen?«

Ralph dachte, so gründlich sein übermüdeter Verstand es zuließ, darüber nach, dann schüttelte er widerwillig den Kopf. »Ich wage nicht, es zu versuchen. Was könnte ich ihm sagen, das uns nicht ins Irrenhaus bringen würde? Und das ist nur ein Teil des Problems. Wenn er sich einmischen würde... aber in der falschen Weise... könnte er es schlimmer machen statt besser.«

»Er könnte uns im Weg sein.«

»Richtig.«

»Okay.« Lois winkte der Kellnerin. »Wir werden mit offenen Fenstern da raus fahren, und wir werden im Dunkin Donuts in Old Cape Rast machen und zwei riesige Kaffee trinken. Auf meine Rechnung.«

Ralph lächelte. Das Lächeln fühlte sich irgendwie riesig und albern und zusammenhanglos auf seinem Gesicht an fast wie das Lächeln eines Betrunkenen. »Ja, Ma'am.«

Als die Kellnerin herüberkam und die Rechnung verdeckt vor ihn schob, fiel Ralph auf, daß sich der Button mit der Aufschrift LEBEN IST EINE ALTERNATIVE nicht mehr an ihrer Schürze befand.

»Hören Sie«, sagte sie mit einem Ernst, den Ralph beinahe schmerzlich rührend fand, »es tut mir leid, wenn ich Sie vor den Kopf gestoßen habe. Sie sind zum Frühstücken gekommen, und nicht, um sich einen Vortrag anzuhören.«

»Sie haben uns nicht vor den Kopf gestoßen«, sagte Ralph. Er sah über den Tisch zu Lois, die zustimmend nickte.

Die Kellnerin lächelte knapp. »Danke, daß Sie das sagen, aber ich bin trotzdem ziemlich über Sie hergefallen. An jedem anderen Tag hätte ich das nicht getan, aber wir haben heute nachmittag um vier unsere eigene Veranstaltung, und ich muß Mr. Dalton vorstellen. Sie haben mir gesagt, ich hätte drei Minuten Zeit, und ich denke, genau so lange habe ich Sie belabert.«

»Schon gut«, sagte Lois und tätschelte ihr die Hand. »Wirklich.«

Diesmal war das Lächeln der Kellnerin aufrichtiger und wärmer, aber als sie sich abwandte, sah Ralph, wie Lois freudiger Gesichtsausdruck erlosch. Sie betrachtete den schwarzgelben Fleck, der über der rechten Hüfte der Kellnerin schwebte.

Ralph nahm den Kugelschreiber zur Hand, den er an der Brusttasche festgeklemmt hatte, drehte die Papiermatte vor seinem Platz herum und schrieb hastig etwas auf die Rückseite. Als er fertig war, holte er den Geldbeutel heraus und legte vorsichtig einen Fünfdollarschein unter das, was er geschrieben hatte. Wenn die Kellnerin nach dem Trinkgeld griff, konnte es sie nicht übersehen.

Er nahm die Rechnung und schwenkte sie vor Lois. »Da dies unsere erste richtige Verabredung ist, werde ich das wohl übernehmen müssen«, sagte er. »Wenn ich ihr den Fünfer gebe, fehlen mir drei Dollar. Bitte sag mir, daß du nicht pleite bist.«

»Wer, die Pokerkönigin von Ludlow Grange? Sei nicht albern, Püppchen.« Sie gab ihm eine Handvoll verschiedener Geldscheine aus der Handtasche. Während er suchte, was er brauchte, las sie, was er auf die Matte geschrieben hatte:

Madam,

Sie leiden an einer Störung der Leberfunktion und sollten unverzüglich zum Arzt gehen. Und ich gebe Ihnen den guten Rat, heute abend nicht in die Nähe des Bürgerzentrums zu kommen.

»Ziemlich dumm, ich weiß«, sagte Ralph.

Sie gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze. »Es ist nie dumm, wenn man versucht, anderen Menschen zu helfen. Ich liebe dich, Ralph.«

»Danke. Aber sie wird es nicht glauben. Sie wird denken, daß wir trotz unserer Beteuerungen sauer wegen ihrem Button und ihrer kleinen Ansprache waren. Daß das, was ich geschrieben habe, nur eine verschrobene Art ist, es ihr heimzuzahlen.«

»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, sie zu überzeugen.«

Lois betrachtete die Kellnerin - die angelehnt an der Durchreiche zur Küche stand und sich mit dem Koch unterhielt, während sie eine Tasse Kaffee trank - mit einem finsteren Ausdruck der Konzentration. Dabei sah Ralph, wie Lois' normalerweise blau-graue Aura dunkler wurde und sich zusammenzog; sie wurde zu einer Art Kapsel, die den Körper umgab, statt einer verschwommenen Korona.

Er war nicht ganz sicher, was vor sich ging... aber er konnte es spüren. Seine Nackenhaare richteten sich auf; er bekam eine Gänsehaut auf den Unterarmen. Sie lädt sich auf, dachte er. Sie drückt alle Schalter und schaltet alle Turbinen ein, und das für eine Frau, die sie noch nie vorher gesehen hat und wahrscheinlich auch nie wieder sehen wird.

Nach einem Augenblick spürte die Kellnerin es auch. Sie drehte sich zu ihnen um, als hätte sie gehört, wie ihr Name gerufen worden war. Lois lächelte beiläufig und krümmte die Finger zu einem knappen Winken, aber als sie zu Ralph sprach, bebte ihre Stimme vor Anstrengung. »Ich habe... habe es fast.«

»Was fast?«

»Ich weiß nicht. Was immer ich brauche. Es kommt gleich. Ihr Name ist Zoe, mit zwei Pünktchen über dem e. Geh die Rechnung bezahlen. Versuch sie abzulenken, damit sie mich nicht ansieht. Das macht es schwerer.«

Er fügte sich ihrem Wunsch, und es gelang ihm ziemlich erfolgreich, obwohl Zoe immer über seine Schulter zu Lois schauen wollte. Als sie zum erstenmal versuchte, die Gesamtsumme mit der Registrierkasse aufzurechnen, kam Zoe auf ene Gesamtsumme von $ 234,20. Sie löschte die Zahl mit einer ungeduldigen Bewegung ihres Zeigefingers, und als sie zu Ralph aufsah, war ihr Gesicht blaß und ihr Blick beunruhigt.

»Was ist mit Ihrer Frau?« fragte sie Ralph. »Ich habe mich entschuldigt, oder nicht? Also warum sieht sie mich dauernd so an?«

Ralph wußte, Zoe konnte Lois nicht sehen, weil er förmlich einen Steptanz aufführte, um zwischen den beiden zu bleiben, aber er wußte auch, daß sie recht hatte - Lois starrte wirklich her.

Er versuchte zu lächeln. »Ich weiß nicht, was -«

Die Kellnerin zuckte zusammen und warf dem Koch einen erschrockenen, bösen Blick zu. »Hör auf, so mit den Töpfen zu klappern!« schrie sie, obwohl Ralph aus der Küche nichts anderes als ein Radio hörte, das Fahrstuhlmusik spielte. Zoe sah Ralph wieder an. »Herrgott, das hört sich da hinten an wie der Zweite Weltkrieg. Könnten Sie Ihrer Frau vielleicht sagen, daß es unhöflich ist -«

»Andere Leute anzustarren? Das tut sie nicht. Wirklich nicht.« Ralph ging zur Seite. Lois war zur Tür gegangen, hatte ihnen den Rücken zugedreht und sah zum Fenster hinaus. »Sehen Sie?«

Zoe antwortete eine ganze Weile nicht, aber sie griff zu ihrem Mund, nahm den Kaugummi heraus und warf ihn in den Mülleimer. Das tat sie mit der langsamen, übertriebenen Gestik einer Schlafwandlerin. Schließlich sah sie Ralph wieder an. »Ja, ich sehe es. Warum verziehen Sie beide sich jetzt nicht einfach?«

»Na gut - sind wir noch Freunde?«

»Wie Sie wollen«, sagte Zoe, sah ihn aber nicht an.

Als Ralph zu Lois ging, stellte er fest, daß deren Aura sich wieder bis auf ihr normales, diffuseres Niveau entspannt hatte, aber immer noch viel heller als vorher war.

»Immer noch müde, Lois?« fragte er leise.

»Nein. Mir geht es sogar blendend. Laß uns gehen.«

Als er ihr die Tür aufmachen wollte, hielt er inne. »Hast du meinen Kugelschreiber?«

»Herrje, nein - der muß noch auf dem Tisch liegen.«

Ralph ging ihn holen. Unter seine Nachricht in Blockbuchstaben hatte Lois sechs Sätze mit rollender Kurzschrift nach Palmer geschrieben:

Mit 19 hatten Sie ein Baby und haben es zur Adoption freigegeben. Saint Anne's in Providence, Rhode. Island. Gehen Sie zu Ihrem Hausarzt, bevor es zu spät ist, Zoe. Kein Witz. Kein Trick. Wir wissen, wovon wir sprechen.

»O Mann«, sagte Ralph, als er wieder bei ihr war. »Das wird ihr einen Heidenschreck einjagen.«

»Wenn sie zum Arzt geht, bevor ihre Leber mit dem Bauch nach oben schwimmt, ist mir das egal.«

Er nickte, und sie gingen hinaus.

»Hast du das mit ihrem Kind erfahren, als du in ihre Aura eingetaucht bist?« fragte Ralph, als sie den laubübersäten Parkplatz überquerten.

Lois nickte. Hinter dem Parkplatz erstrahlte die gesamte East Side von Derry in hellem, kaleidoskopähnlichen Licht. Es kehrte zurück, mit Macht zurück, dieses heimliche, pulsierende Licht. Ralph streckte den Arm aus und legte eine Hand auf die Karosserie des Autos. Als er es berührte, war ihm, als würde er ein glattes Hustenbonbon mit Lakritzgeschmack schmecken.

»Ich glaube nicht, daß ich viel von ihrer... ihrer Substanz genommen habe«, sagte Lois, »aber es war, als hätte ich alles von ihr geschluckt.«

Ralph fiel etwas ein, das er vor nicht allzu langer Zeit in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift gelesen hatte. »Wenn jede Zelle in unserem Körper eine vollständige Blaupause davon in sich trägt, woraus wir bestehen, warum sollte dann nicht jedes Stückchen der Aura eines Menschen eine vollständige Blaupause davon enthalten, was wir sind?«

»Das klingt nicht sehr wissenschaftlich, Ralph.« »Wahrscheinlich nicht.«

Sie drückte seinen Arm und sah grinsend zu ihm auf. »Aber es klingt richtig.«

Er grinste sie ebenfalls an.

»Du mußt auch noch etwas mehr von den Farben nehmen«, sagte sie zu ihm. »Es kommt mir immer noch falsch vor, trotz allem, was die beiden kleinen Männer gesagt haben - wie Stehlen -, aber wenn du es nicht tust, befürchte ich, wirst du einfach umkippen.«

»Sobald ich kann. Im Augenblick möchte ich nur schnellstens nach High Ridge.« Doch kaum saß er am Steuer, schrak seine Hand vor dem Zündschlüssel zurück, kaum daß sie ihn berührt hatte.

»Ralph? Was ist denn?«

»Nichts... alles. Ich kann so nicht fahren. Ich werde uns um einen Telefonmasten wickeln oder bei jemandem im Wohnzimmer landen.«

Er schaute zum Himmel und sah einen der riesigen transparenten Vögel auf der Satellitenschüssel eines nicht weit entfernten Mietshauses auf der anderen Straßenseite sitzen. Ein dünner, zitronengelber Dunst stieg von seinen angelegten, prähistorischen Schwingen auf.

Siehst du das wirklich? fragte ein Teil seines Verstands zweifelnd. Bist du ganz sicher, Ralph? Bist du wirklich, völlig sicher?

Ich sehe es wirklich. Glücklicherweise oder unglücklicherweise sehe ich alles... aber wenn es einen geeigneten Zeitpunkt gibt, so etwas zu sehen, dann nicht jetzt.

Er konzentrierte sich und spürte dieses innere Blinzeln tief in seinem Verstand. Der Vogel verschwand wie das Geisterbild auf einem Fernsehschirm. Die warm leuchtende, über den Morgen ausgebreitete Farbenpalette verlor ihre pulsierende Kraft. Er nahm den anderen Teil der Welt lange genug wahr, daß er sehen konnte, wie die Farben ineinander liefen und einen hellen, grau-blauen Dunst bildeten, den er an dem Tag gesehen hatte, als er mit Joe Wyzer auf Kaffee und Kuchen im Day Break, Sun Down gewesen war - der unscharfe Nimbuseffekt, der seinen Zugang zur Welt der Auren markierte.

Dann war auch der verschwunden. Ralph verspürte das fast erdrückende Bedürfnis, sich zusammenzurollen, den Kopf auf den Arm zu betten und zu schlafen. Statt dessen atmete er in tiefen Zügen, sog jeden etwas tiefer in die Lungen, und drehte den Zündschlüssel herum. Der Motor erwachte mit einem Aufheulen zum Leben, begleitet von dem tickenden Geräusch. Es war jetzt viel lauter.

»Was ist das?« fragte Lois.

»Ich weiß nicht«, sagte Ralph, aber er glaubte, daß er es wußte

- entweder eine Pleuelstange oder ein Kolben. Was auch immer, sie würden in der Tinte sitzen, wenn es schlimmer wurde. Schließlich ließ das Geräusch nach, und Ralph stellte den Schalthebel auf Fahrt. »Gib mir einfach einen festen Stoß, wenn du siehst, daß ich eindöse, Lois.«

»Worauf du dich verlassen kannst«, sagte sie. »Und jetzt fahren wir.«

Kapitel 21

Das Dunkln Donuts in der Newport Avenue war ein fröhliches rosa Zuckerhäuschen in einer häßlichen Nachbarschaft von Reihenhäusern. Die meisten waren innerhalb eines einzigen Jahres erbaut worden, 1946, und fielen bereits auseinander. Dies war Derrys Old Cape, wo alte Autos, deren Auspufftöpfe mit Draht festgebunden waren, Stoßstangenaufkleber mit Aufschriften wie GEBT MIR NICHT DIE SCHULD, ICH HABE FÜR PEROT GESTIMMT und BIS ZUM ENDE MIT DER N.R.A. trugen; wo kein Haus vollständig war, wenn nicht mindestens ein Big Wheel Spielzeuglaster von Fisher Price auf dem vertrockneten Rasen stand; wo Mädchen mit sechzehn Drogen einwarfen und allzu häufig mit vierundzwanzig stumpfe Augen und dicke Hintern hatten und Mütter von drei Kindern waren.

Zwei Jungs mit neonfarbenen Fahrrädern und extravaganten Lenkern sausten auf dem Parkplatz herum und kreuzten ihre Bahnen mit einem Geschick, das auf solide Übung mit Videospielen und eine mögliche hochdotierte Laufbahn als Fluglotse hindeutete... das heißt, wenn es ihnen gelang, Koks und Autounfällen aus dem Weg zu gehen. Beide trugen die Mützen verkehrt herum. Ralph fragte sich kurz, warum sie an einem Freitagmorgen nicht in der Schule oder zumindest auf dem Weg dorthin waren, kam aber zu dem Ergebnis, daß es ihn nicht interessierte. Sie wahrscheinlich auch nicht.

Plötzlich stießen die beiden Räder zusammen, obwohl die Jungs es bisher erfolgreich geschafft hatten, einander auszuweichen. Beide Jungs fielen zu Boden, sprangen aber sofort wieder auf die Füße. Ralph stellt erleichtert fest, daß keinem etwas geschehen war; ihre Auren flackerten nicht einmal.

»Verdammte Pißnelke!« rief derjenige im Nirvana T-Shirt seinem Freund ärgerlich zu. Er war etwa elf. »Was, zum Teufel, ist los mit dir? Du fährst wie alte Leute ficken!«

»Ich hab was gehört«, sagte der andere und setzte sich die Mütze penibel wieder auf das schmutzige blonde Haar, »'n verdammt lauten Knall. Willst du behaupten, du hast nichts gehört? Ey, Mann!«

»Einen Scheiß hab ich gehört«, sagte der Nirvana-Junge. Er hielt die Handflächen hoch, die jetzt schmutzig waren (oder auch nur schmutziger) und aus zwei oder drei unbedeutenden Aufschürfungen bluteten. »Sieh dir diesen Scheiß-Asphaltschorf an!«

»Du wirst es überleben«, sagte sein Freund mit bemerkenswert wenig Mitgefühl.

»Klar, aber -« Der Nirvana-Junge bemerkte Ralph, der an seinem rostigen Oldsmobile lehnte, die Hände in den Taschen, und sie beobachtete. »Was gibts'n anzugaffen?«

»Dich und deinen Freund«, sagte Ralph. »Mehr nicht.«

»Mehr nicht, hm?«

»Jawohl - das ist alles.«

Der Nirvana-Junge sah seinen Freund an, dann Ralph. In seinen Augen leuchtete ein unverhohlener Argwohn, wie man ihn, fand Ralph, nur in Old Cape finden konnte. »Haben Sie'n Problem?«

»Ich nicht«, sagte Ralph. Er hatte ziemlich viel von der Aura des Nirvana-Jungen inhaliert und fühlte sich jetzt ein wenig wie Superman auf Speed. Außerdem fühlte er sich wie ein Kinderschänder. »Ich habe mir nur überlegt, daß wir nicht wie du und dein Freund geredet haben, als wir noch Kinder waren.«

Der Nirvana-Junge betrachtete ihn frech. »Ach ja? Und wie haben Sie geredet?«

»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, sagte Ralph, »aber ich glaube nicht, daß wir uns so sehr wie Pißköpfe angehört haben.« Er wandte sich von ihnen ab, als er das Fliegengitter zuschlagen hörte. Lois kam mit einem großen Becher Kaffee in jeder Hand aus dem DunkinDonuts heraus. Derweil sprangen die Jungs auf ihre neonfarbenen Fahrräder und brausten davon, wobei der Nirvana-Junge Ralph einen letzten mißtrauischen Blick über die Schulter zuwarf.

»Kannst du das hier trinken und gleichzeitig Auto fahren?« fragte Lois und gab ihm einen Kaffee.

»Ich denke schon«, sagte Ralph, »aber ich brauche ihn eigentlich nicht mehr. Mir geht es blendend, Lois.«

Sie sah den beiden Jungs nach und nickte. »Gehen wir.«

Die Welt rings um sie herum leuchtete grell, als sie auf der Route 33 zum ehemaligen Barrets Orchards fuhren, und sie mußten auf der Leiter der Wahrnehmung nicht eine einzige Stufe hinauf, um das zu sehen. Die Stadt blieb hinter ihnen zurück, sie fuhren durch einen Wald, der in Herbstfarben lichterloh brannte. Der Himmel war ein blaues Band über der Straße, und der Schatten des Oldsmobile folgte ihnen seitlich und flackerte über Blätter und Äste.

»O Gott, es ist so wunderschön«, sagte Lois. »Ist das nicht wunderbar, Ralph?«

»Ja. Ist es.«

»Weißt du, was ich mir wünsche? Mehr als alles andere?«

Er schüttelte den Kopf.

»Daß wir einfach an den Straßenrand fahren könnten - das Auto abstellen, aussteigen und ein Stück in den Wald hineingehen. Eine Lichtung suchen, in der Sonne sitzen und zu den Wolken hinauf schauen. Du würdest sagen: >Schau dir die an, Lois, die sieht aus wie ein Pferd. < Und ich würde sagen: >Schau da rüber, Ralph, da ist en Mann mit einem Besen. < Wäre das nicht schön?«

»Ja«, sagte Ralph. Links von ihnen tat sich ein schmaler Korridor im Wald auf; Strommasten marschierten den steilen Hang hinunter wie Soldaten. Dazwischen glänzten Hochspannungsleitungen silbern im Sonnenlicht, fein wie Spinnweben. Die Ansätze der Masten waren in dichten Sumach-Stauden verborgen, und als Ralph in die Höhe schaute, sah er einen Falken über der Schneise kreisen, der mit einem Aufwind segelte, so unsichtbar wie die Welt der Auren. »Ja«, sagte er noch einmal. »Das wäre schön. Vielleicht kommen wir sogar einmal dazu, es zu tun. Aber...«

»Aber was?«

»>Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann<«, sagte Ralph.

Sie sah ihn etwas betroffen an. »Was für eine schreckliche Vorstellung!« sagte sie.

»Ja. Ich glaube, die meisten wahren Einsichten sind schrecklich. Es stammt aus einem Gedichtband mit dem Titel Cemetery Nights. Dorrance Marstellar hat ihn mir an dem Tag gegeben, als er in mein Apartment geschlichen ist und die Spraydose Bodyguard in meine Jackentasche gesteckt hat.«

Er sah in den Rückspiegel und konnte mindestens zwei Meilen der Route 33 hinter ihnen sehen, ein schwarzer Streifen durch die lodernden Wälder. Sonnenlicht funkelte auf Chrom. Ein Auto. Möglicherweise zwei. Und wie es aussah, holten sie schnell auf.

»Der alte Dor«, sagte sie.

»Ja. Weißt du, Lois, ich glaube, er gehört auch dazu. Ich weiß, daß er die Auren auch sieht - als ich zu verhindern versuchte, daß Ed und der andere Typ einander an dem besagten Tag die Nasen blutig prügelten, sagte Dor, ich sollte Ed nicht berühren. Ich glaube, er hat schon damals das Leichentuch um Ed herum gesehen.«

»Vielleicht«, sagte sie. »Und wenn Ed ein Sonderfall ist, ist Dorrance vielleicht auch einer.«

»Ja, der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Das Interessanteste an ihm - dem alten Dor, meine ich, nicht Ed -, ist die Tatsache, daß Klotho und Lachesis scheinbar nichts von ihm wissen. Als würde er aus einer völlig anderen Gegend stammen.«

»Was meinst du damit?« »Ich bin nicht sicher, nicht ganz. Aber Mr. K. und Mr. L. haben ihn nicht einmal erwähnt, und das... das scheint... «

Er sah in den Rückspiegel. Jetzt sah er ein viertes Auto hinter den anderen, das allerdings rasch aufholte, und er konnte blaue Blinklichter auf den drei anderen erkennen. Polizeiautos. Unterwegs nach Newport? Nein, wahrscheinlich zu einem etwas näher gelegenen Ort.

Vielleicht sind sie hinter uns her, überlegte Ralph. Vielleicht hat Lois' Einflüsterung, die Richards sollte vergessen, daß wir je dort gewesen sind, nicht standgehalten.

Aber würde die Polizei vier Streifenwagen hinter zwei alten Leutchen in einem rostigen Oldsmobile herschicken? Das glaubte Ralph nicht. Plötzlich tauchte Helens Gesicht vor seinem geistigen Auge auf. Er verspürte ein flaues Gefühl im Magen, als er den Olds an den Straßenrand steuerte.

»Ralph? Was...?« Dann hörte sie die anschwellenden Sirenen, drehte sich auf dem Sitz um und riß erschrocken die Augen auf. Die ersten drei Streifenwagen donnerten mit über achtzig Meilen pro Stunde an ihnen vorbei, ließen Geröll auf Ralphs Auto niederregnen und wirbelten das Laub hinter sich zu tanzenden Derwischen auf.

»Ralph!« kreischte sie fast. »Wenn es nun High Ridge ist? Helen ist da draußen! Helen und das Baby!«

»Ich weiß«, sagte Ralph, und als das vierte Polizeiauto so schnell an ihnen vorbeiraste, daß der Olds auf den Stoßdämpfern schwankte, spürte er dieses innere Blinzeln wieder. Er streckte die Hand nach dem Schalthebel aus, aber sie blieb zehn Zentimeter darüber in der Luft stehen. Sein Blick war auf den Horizont gerichtet. Der Fleck dort sah nicht so geisterhaft aus wie der schwarze Schirm, den sie über dem Bürgerhaus gesehen hatten, aber Ralph wußte, daß er genau dasselbe darstellte: ein Leichentuch.

»Schneller!« schrie Lois ihn an. »Fahr schneller, Ralph!«

»Ich kann nicht«, sagte er. Er hatte die Zähne zusammengebissen, die Worte kamen gepreßt heraus. »Ich fahre schon Bleifuß.« Außerdem, fügte er nicht hinzu, bin ich seitfiinfunddreißig Jahren nicht mehr so schnell gefahren, und ich habe eine Heidenangst.

Die Geschwindigkeitsanzeige zitterte eine Haaresbreite über der 80 auf dem Tachometer; der Wald sauste als gelbe und rote und magentafarbene Schlieren vorbei; der Motor unter der Haube tickte nicht mehr nur, er hämmerte wie eine ganze Schwadron Schmiede auf einem Amboß. Trotzdem holten drei weitere Polizeiautos, die Ralph jetzt im Rückspiegel sah, mühelos auf.

Vor ihnen machte die Straße eine scharfe Rechtskurve. Gegen jeden Instinkt machte Ralph keinerlei Anstalten zu bremsen. Er nahm den Fuß vom Gas, als sie in die Kurve rasten... dann trat er das Pedal wieder durch, als er spürte, wie der Wagen hinten wegschmieren wollte. Er saß jetzt über das Lenkrad gekauert, biß sich mit den oberen Zähnen fest auf die Unterlippe, und die weit aufgerissenen Augen quollen ihm unter den buschigen Brauen fast aus den Höhlen. Die Hinterreifen der Limousine quietschten, und Lois, die verzweifelt an der Rückenlehne des Sitzes Halt suchte, kippte gegen ihn. Ralph klammerte sich mit verschwitzten Fingern an das Lenkrad und wartete darauf, daß der Wagen sich überschlagen würde. Der Olds war jedoch eines der letzten wahren Straßenungeheuer aus Detroit, breit und schwer und tiefliegend. Er schaffte es durch die Kurve, und auf der anderen Seite sah Ralph links ein rotes Farmhaus. Zwei Scheunen standen dahinter.

»Ralph, da ist die Abzweigung!«

»Ich sehe sie.«

Die neue Kolonne von Polizeiautos hatte sie eingeholt und scherte zum Überholen aus. Ralph fuhr so weit rechts, wie er konnte, und hoffte, daß keiner der Streifenwagen ihn bei dieser Geschwindigkeit streifen würde. Nichts passierte; sie sausten in dichter Formation vorbei, fast Stoßstange an Stoßstange, bogen links ab und den langgezogenen Hügel hinauf, der zu High Ridge führte.

»Festhalten, Lois.«

»Oh, das tue ich, das tue ich«, sagte sie. »Ich halte mich fest wie verrückt.«

Der Olds schlitterte fast seitwärts weg, als Ralph auf die Straße nach links bog, die er und Carolyn stets Orchard Road genannt hatten. Wäre der schmale Feldweg geteert gewesen, wäre das große Automobil wahrscheinlich umgekippt wie ein Stuntwagen in einer Motorshow. Aber sie war nicht geteert, und daher überschlug sich der Olds nicht, sondern rutschte nur wie wild und wirbelte Staubwolken auf. Lois stieß einen schrillen, atemlosen Schrei aus, und Ralph warf ihr einen raschen Blick zu.

»Fahr zu!« Sie deutete ungeduldig auf die Straße vor ihnen, und in diesem Augenblick sah sie Carolyn auf so unheimliche Weise ähnlich, daß Ralph fast glaubte, er hätte ein Gespenst neben sich sitzen. Er fragte sich, was Carolyn, die in ihren letzten fünf Lebensjahren fast eine Weltanschauung daraus gemacht hatte, ihm zu sagen, daß er schneller fahren sollte, von dieser kleinen Spritztour aufs Land gehalten hätte. »Nimm keine Rücksicht auf mich, achte auf die Straße!«

Jetzt bogen noch mehr Polizeiautos auf die Orchard Road ab. Wie viele waren es insgesamt? Ralph wußte es nicht; er hatte den Überblick verloren. Möglicherweise alles in allem ein Dutzend. Er steuerte den Olds nach rechts bis die beiden äußeren Reifen am Rand eines gefährlich aussehenden Straßengrabens dahinrollten, und die Verstärkung - drei Streifenwagen mit der goldenen Aufschrift DERRY POLICE auf den Seiten - rauschte vorbei und wirbelte erneute Schauer von Staub und Kies auf. Einen Augenblick sah Ralph einen uniformierten Polizisten, der sich aus einem der Streifenwagen lehnte und ihm zuwinkte, und dann verschwand der Olds in einer gelben Staubwolke. Ralph kämpfte den erneuten und stärkeren Impuls nieder, auf die Bremse zu treten, indem er an Helen und Nat dachte. Einen Augenblick später konnte er wieder sehen - jedenfalls mehr oder weniger. Die letzte Staffel Polizeiautos war schon fast halb den Hügel hinauf.

»Dieser Cop hat dich zurückgewunken, oder?« fragte Lois.

»Klar.«

»Sie werden uns nicht einmal in die Nähe lassen.« Sie sah den schwarzen, schmierigen Fleck auf dem Hügel mit großen, betroffenen Augen an.

»Wir werden so nahe rankommen wie nötig.« Ralph sah in den Rückspiegel nach weiteren Fahrzeugen, konnte aber nur noch schwebenden Straßenstaub erkennen.

»Ralph?«

»Was?« »Bist du oben? Siehst du die Farben?«

Er sah sie kurz an. Sie sah immer noch wunderschön aus, und unfaßbar jugendlich, aber von einer Aura war keine Spur zu sehen. »Nein«, sagte er. »Du?«

»Ich weiß nicht. Das da sehe ich immer noch.« Sie deutete durch die Windschutzscheibe auf den dunklen Fleck über dem Hügel. »Was ist das? Wenn es kein Leichentuch ist, was dann?«

Er machte den Mund auf, um in Worte zu fassen, was sie auf einer bestimmten Ebene bereits wissen mußte - es war Rauch, und da oben konnte höchstwahrscheinlich nur eines brennen -, aber bevor er ein Wort sagen konnte, ertönte ein gewaltiger, überhitzter Knall aus dem Motorblock des Oldsmobile. Die Haube erzitterte und wölbte sich sogar an einer Stelle, als hätte eine Faust wütend von innen dagegen geschlagen. Das Auto schnellte einmal ruckartig vorwärts, was sich wie ein Schluckauf anfühlte; die roten Warnlichter gingen an, und der Motor starb ab.

Er steuerte den Olds an die weiche Böschung, und als der Rand unter den rechten Reifen nachgab und das Auto in den Graben kippte, verspürte Ralph die deutliche, klare Vorahnung, daß er gerade seine letzte Dienstfahrt als Betreiber eines Motorfahrzeugs hinter sich gebracht hatte. Bei diesem Gedanken verspürte er nicht das geringste Bedauern.

»Was ist passiert?« fragte Lois mit einem Anflug von Hysterie.

»Kolbenfresser«, sagte er. »Sieht aus, als müßten wir den Rest des Weg auf Schusters Rappen zurücklegen, Lois. Steig auf meiner Seite aus, damit du nicht im Schlamm versinkst.«

Eine frische Brise wehte von Westen, und als sie aus dem Auto ausgestiegen waren, nahmen sie den Geruch von Rauch, der von der Hügelkuppe herunterwehte, deutlich wahr. Die letzten fünfhundert Meter legten sie zurück, ohne darüber zu sprechen, sie gingen Hand in Hand, und sie gingen schnell. Als sie den Streifenwagen sahen, der quer über die Straße stand, stiegen ganze Rauchwolken über den Bäumen auf, und Lois rang keuchend nach Luft.

»Lois? Alles in Ordnung?«

Plötzlich überkam ihn die gräßliche Erinnerung an das Bild, das Lachesis ihnen in dem Fächer aus Licht zwischen seinen Fingern gezeigt hatte: Bill McGovern, der zuerst hinter dem Mann mit der pflaumenfarbenen Aura zurückblieb und sich dann mit einer Hand an der Wand abstützte und sich bückte wie ein ausgepumpter Läufer. Wie fühlte sich der Beginn eines Herzanfalls an? Wie ein rostiges Skalpell in der Brust, das sucht, sich dreht, alle wichtigen Leitungen und Röhren durchschneidet, die die Maschine versorgen? Ralph vermutete, daß es sich so verhielt. Und wenn Lois so etwas zustoßen sollte...

»Ja?« wollte er wissen, packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. »Hast du Schmerzen in der -«

»Mir geht es gut«, keuchte sie. »Ich wiege nur zu -«

Peng-peng-peng: Pistolenschüsse hinter dem Auto, das die Straße versperrte. Ihnen folgte ein heiserer, hustender Laut, den Ralph mühelos aus Nachrichtensendungen über Bürgerkriege in Ländern der Dritten Welt und über Schießereien in amerikanischen Städten der Dritten Welt kannte: eine auf Schnellfeuer gestellte automatische Waffe. Weitere Pistolenschüsse, dann der lautere, rauhere Knall einer Schrotflinte. Darauf folgte ein Schmerzensschrei, bei dem Ralph zusammenzuckte und sich die Ohren zuhalten wollte. Er nahm an, daß es der Schrei einer Frau war, und da fiel ihm plötzlich wieder ein, woran er sich nicht mehr hatte erinnern können: der Nachname der Frau, die John Leydecker erwähnt hatte. Sandra McKay.

Daß ihm das gerade in diesem Augenblick wieder einfiel, erfüllte ihn mit unbegründetem Entsetzen. Er versuchte sich einzureden, daß jeder x-beliebige geschrien haben konnte selbst Männer hörten sich manchmal wie Frauen an, wenn sie verletzt worden waren -, aber er wußte es besser. Sie war es. Sie waren es alle. Eds Irre. Sie hatten einen Anschlag auf High Ridge verübt.

Hinter ihnen weitere Sirenen. Der Geruch von Rauch, jetzt dicker. Lois sah ihn mit erschrockenen, ängstlichen Augen an und rang weiter nach Luft. Ralph sah bergauf und erblickte einen silbernen Briefkasten am Wegesrand. Selbstverständlich stand kein Name darauf; die Frauen von High Ridge hatten sich größte Mühe gegeben, unauffällig zu bleiben und ihre Anonymität zu wahren, was ihnen heute freilich wenig genützt hatte. Die Flagge des Briefkastens zeigte nach oben. Jemand hatte einen Brief für den Briefträger eingeworfen. Da mußte Ralph an den Brief denken, den Helen ihm von High Ridge geschrieben hatte - ein zurückhaltender Brief, aber dennoch voller Hoffnung.

Weitere Schüsse. Das Heulen eines Querschlägers. Berstendes Glas. Ein Aufschrei, der Wut ausdrücken konnte, wahrscheinlicher aber Schmerzen. Das hungrige Prasseln heißer Flammen, die trockenes Holz verschlangen. An- und abschwellende Sirenen. Und Lois' dunkle spanische Augen, die auf ihn gerichtet waren, denn er war der Mann, und sie war in dem Glauben erzogen worden, daß Männer wußten, was in solchen Situationen zu tun war.

Dann tu etwas! schrie er sich selbst an. Um Himmels willen, tu etwas!

Aber was? Vernunft und logisches Denken verschwanden hinter einer Windhose durcheinanderwirbelnder Bilder: Bills Panamahut mit der angebissenen Krempe; leuchtende Spuren -die Spuren des weißen Mannes - auf dem Bürgersteig vor May Lochers Haus; Trigger Vachons Brieftasche, die aufund zuklappte, als er Ralph winkte, damit er anhalten sollte; ein fliegender Dumbo, zwischen dessen übergroße, ausgebreitete Ohren das Bild von Susan Day geklebt worden war.

»PICKERING!« bellte eine lautsprecherverstärkte Stimme hinter der Stelle, wo sich der Weg in eine Schonung junger, weihnachtsbaumgroßer Fichten verzweigte. Ralph konnte jetzt rote Funken und orangefarbene Flammenzungen in dem dichten Rauch über den Fichten sehen. »PICKERING! ES SIND FRAUEN DA DRIN! LASSEN SIE UNS DIE FRAUEN IN SICHERHEIT BRINGEN!«

»Er weiß, daß Frauen da drin sind«, murmelte Lois. »Ist ihnen nicht klar, daß er das weiß? Sind sie dumm, Ralph?«

Ein seltsam bebender Schrei antwortete dem Polizisten mit der Flüstertüte, und Ralph merkte erst nach einer oder zwei Sekunden, daß es sich bei der Antwort um eine Art Gelächter handelte. Eine weitere Salve automatischen Gewehrfeuers ertönte. Sie wurde von einem Bombardement von Pistolen- und Flintenschüssen beantwortet.

Lois drückte Ralphs Hand mit kalten Fingern. »Was sollen wir tun, Ralph? Was sollen wir jetzt tun?«

Er betrachtete die grau-schwarzen Rauchschwaden über den Bäumen, dann die Polizeiautos, die den Hügel heraufgerast kamen - diesmal mehr als ein halbes Dutzend - und zuletzt Lois' blasses, verhärmtes Gesicht. Sein Denken klärte sich ein kleines bißchen - nicht sehr, aber soweit, daß ihm klar wurde, es gab nur äne mögliche Antwort auf ihre Frage.

»Wir gehen rauf«, sagte er.

Blinzel! und die Flammen, die über dem Fichtenhain loderten, wurden von Orange zu Grün. Das gierige Prasseln klang gedämpfter, wie Kracher, die in einer geschlossenen Kiste explodieren. Ralph, der immer noch Lois' Hand hielt, führte sie an der vorderen Stoßstange des Polizeiautos vorbei, das als Straßensperre quergestellt worden war.

Die neu eingetroffenen Streifenwagen hielten vor der Straßensperre. Männer in blauen Uniformen stiegen aus, noch ehe sie richtig zum Stillstand gekommen waren. Mehrere trugen Tränengaspistolen, fast alle dicke schwarze Westen. Einer von ihnen sprintete durch Ralph hindurch wie ein warmer Windstoß, bevor er beiseite springen konnte: ein junger Mann namens David Wilbert, der glaubte, daß seine Frau eine Affäre mit ihrem Boss im Maklerbüro hatte, wo sie als Sekretärin arbeitete. Aber die Frage seiner Frau war, zumindest vorübergehend, von David Wilberts fast unerträglichem Drang zu pinkeln und dem fortwährenden ängstlichen Gesang verdrängt worden, der sich wie eine Schlange durch sein ganzes Denken wand:

[»Du wirst dich nicht blamieren, du wirst dich nicht blamieren, nein, nein, nein.«]

»PICKERING!« bellte die Megaphonstimme, und Ralph stellte fest, daß er die Worte tatsächlich im Mund schmecken konnte, wie kleine Silberkügelchen. »IHRE FREUNDE SIND TOT, PICKERING! WERFEN SIE DIE WAFFE WEG UND KOMMEN SIE AUF DEN HOF! LASSEN SIE UNS DIE FRAUEN IN SICHERHEIT BRINGEN!«

Ralph und Lois, unsichtbar für die Männer, die um sie herum liefen, gingen um die Ecke und kamen zu einem Knäuel von Polizeiautos an einer Stelle, wo die Straße zur auf beiden Seiten von Blumenkästen mit bunten Herbstblumen gesäumten Einfahrt wurde.

Die weibliche Note, welch freundlicher Bote, dachte Ralph.

Die Einfahrt führte zum Hof eines geräumigen, mindestens siebzig Jahre alten Farmhauses. Es war zweistöckig und hatte zwei Flügel und eine große Veranda, die an der gesamten Länge des Gebäudes verlief und einen herrlichen Ausblick nach Westen bot, wo dunstige blaue Berge im Morgenlicht aufragten. In diesem Haus mit seiner friedlichen Aussicht hatte einmal die Familie Barrett mit ihrem Apfelgeschäft gewohnt, und in neuerer Zeit Dutzende geprügelter, ängstlicher Frauen, aber ein Blick verriet Ralph, daß morgen früh niemand mehr hier wohnen würde. Der Südflügel brannte lichterloh, und diese Seite der Veranda fing ebenfalls gerade Feuer; Flammenzungen stießen zu den Fenstern heraus und leckten gierig an den Erkern entlang, so daß Schindeln als feurige Splitter in die Luft stoben. Am anderen Ende der Veranda sah er einen Schaukelstuhl aus geflochtenem Peddigrohr brennen. Ein halb gestrickter Schal lag auf einer Armlehne; die Stricknadeln, die daran herunterbaumelten, waren weißglühend. Irgendwo ließ ein Glockenspiel eine nervtötend monotone Melodie erklingen.

Eine tote Frau im grünen Drillichanzug und einer Fliegerjacke lag kopfunter auf der Verandatreppe und sah durchblutverschmierte Brillengläser himmelwärts. Sie hatte Schmutz im Haar, eine Pistole in der Hand und ein unregelmäßiges schwarzes Loch in der Bauchgegend. Am nördlichen Ende der Veranda hing ein Mann über dem Geländer, der einen Fuß auf der Hollywood-Schaukel aufgestützt hatte. Auch er trug Drillichzeug und eine Fliegerjacke. Unter ihm im Blumenbeet lag ein Sturmgewehr mit aufgestecktem Magazin. Blut rann an seinen Fingern hinab und tropfte von den Nägeln. In Ralphs gesteigerter Wahrnehmung sahen die Tropfen schwarz und tot aus.

Feiton, dachte er. Wenn die Polizisten noch Pickerings Namen rufen - falls er sich im Inneren des Hauses aufhält -, dann muß das Frank Feiton sein. Und was ist mit Susan Day? Ed hält sich irgendwo an der Küste auf- Lois schien ganz sicher zu sein, und ich denke, sie hat recht -, aber wenn Susan Day da drinnen ist? Herrgott, wäre das möglich?

Es wäre sicher möglich, aber diese Möglichkeit war im Augenblick zweitrangig. Helen und Natalie waren mit Sicherheit da drinnen, zusammen mit weiß Gott wie vielen hilflosen und verängstigten Frauen, und daraufkam es an.

Aus dem Innern des Hauses ertönte das Geräusch von splitterndem Glas, gefolgt von einer leisen Explosion - fast einem Seufzen. Ralph sah neue Flammen hinter der Glasscheibe der Eingangstür emporlodern.

Molotowcocktails, dachte er. Charlie Pickering hat endlich die Möglichkeit bekommen, ein paar zu werfen. Wie schön für ihn.

Ralph wußte nicht, wieviele Polizisten sich hinter den am Ende der Einfahrt geparkten Autos duckten - es schienen knapp dreißig zu sein -, aber die beiden, die Ed Deepneau verhaftet hatten, sah er gleich. Chris Nell kauerte hinter dem Vorderreifen des am nächsten beim Haus geparkten Autos, und John Leydecker, der eine Baseballjacke der Maine Black Bears und Chino-Hosen und trug, hockte auf einem Knie neben ihm. Nell war derjenige mit dem Megaphon, und als Ralph und Lois sich der Polizeifestung näherten, sah er Leydecker an. Leydecker nickte, deutete auf das Haus und zeigte Nell dann die Handflächen, eine Geste, die Ralph mit Leichtigkeit deuten konnte: Sei vorsichtig. In Chris Nells Aura las er etwas Beunruhigenderes: der junge Mann war zu aufgeregt, um vorsichtig zu sein. Zu aufgekratzt. Und fast als wäre Ralphs Gedanke der Auslöser dafür gewesen, veränderte Chris Nells Aura die Farbe. Sie pulsierte mit unerbittlicher Geschwindigkeit von Hellblau über Dunkelgrau zu einem toten Schwarz.

»GEBEN SIE AUF, PICKERING!« schrie Nell, der nicht wußte, daß er ein toter Mann war, der noch atmete.

Der Metallschaft eines Sturmgewehrs wurde im Erdgeschoß des Nordflügels durch eine Fensterscheibe gestoßen und verschwand wieder. Im selben Augenblick explodierte die Lampe über der Eingangstür; Glasscherben regneten auf die Veranda. Flammen loderten brüllend aus der Öffnung heraus. Eine Sekunde später brach das Dach selbst auf, als hätte eine unsichtbare Hand es geschüttelt. Nell beugte sich weiter nach vorne - möglicherweise dachte er, daß der Schütze endlich zur Vernunft gekommen war und aufgab.

Ralph, schreiend: [»Ziehen Sie ihn zurück, Johnny! ZIEHEN SIE IHN ZURÜCK!«]

Das Gewehr wurde wieder herausgestreckt, diesmal mit dem Lauf zuerst.

Leydecker griff nach Nells Kragen, aber er war zu langsam. Die automatische Waffe hustete schnell und trocken, und Ralph hörte das metallische Boing!Boing!Boing! von Kugeln, die durch das dünne Stahlblech des Streifenwagens schlugen. Chris Nells Aura war jetzt völlig schwarz - sie war zu einem Leichentuch geworden. Er wurde seitwärts geschleudert, als ihn eine Kugel am Hals traf und aus Leydeckers Griff riß, und als er zu Boden fiel, zuckte ein Fuß krampfhaft. Das Megaphon fiel ihm mit dem kurzen Pfeifen einer Rückkopplung aus der Hand. Einer der Polizisten hinter den anderen Autos schrie vor Schreck und Überraschung. Lois' Aufschrei war viel lauter.

Weitere Kugeln mähten eine Bahn über den Hof auf Nell zu und schlugen winzige Löcher in die Schenkel seiner blauen Uniformhose. Ralph konnte den Mann gerade noch in dem Leichentuch erkennen, das ihn erstickte; er unternahm vergebliche Versuche, sich herumzuwälzen und aufzustehen. Sein Bemühen hatte etwas unaussprechlich Gräßliches - für Ralph war es, als würde er eine Kreatur in einem Fischernetz sehen, die in seichtem, schmutzigem Wasser ertrank.

Leydecker schnellte hinter dem Polizeiauto hervor, und als seine Finger in der schwarzen Membran versanken, die Chris Nell einhüllte, hörte Ralph den alten Dor sagen: Ich an deiner Stelle würde ihn nicht mehr anfassen. Ich kann deine Hände nicht sehen.

Lois: [»Nicht! Nicht, er ist tot, er ist schon tot!«]

Die Waffe die aus dem Fenster ragte, war nach rechts geschwenkt worden. Nun glitt sie langsam wieder in Leydeckers Richtung - offenbar war der Mann dahinter unverletzt, der Kugelhagel von den anderen Polizisten hatte ihn nicht abschrecken und ihm offenbar auch nichts anhaben können. Ralph hob die rechte Hand und ließ sie wieder wie bei einem Karateschlag heruntersausen, aber diesmal erzeugte er keinen Lichtstrahl, sondern etwas, das wie eine große blaue Träne aussah. Sie breitete sich über Leydeckers gelbe Aura aus, als mit dem zum Fenster herausragenden Gewehr gerade wieder das Feuer eröffnet wurde. Ralph sah zwei Kugeln in den Baum rechts von Leydecker einschlagen; Rindensplitter flogen in die Luft, schwarze Löcher erschienen im gelblichweißen Holz der Fichte. Eine dritte prallte gegen den blauen Schutzschirm, der Leydeckers Aura umhüllte - Ralph sah ganz kurz etwas Rotes links von der Schläfe des Detective aufleuchten und hörte ein kurzes Heulen, als die Kugel als Querschläger davonsauste, der wegsprang wie ein flacher Stein auf der Oberfläche eines Sees.

Leydecker zog Nell hinter das Auto, sah ihn an, riß die Fahrertür auf und warf sich auf den Vordersitz. Ralph konnte ihn nicht mehr sehen, hörte aber, wie er jemanden über Funk anbrüllte, wo, zum Teufel, denn die Rettungswagen blieben.

Wieder zerbarst Glas, und Lois zupfte hektisch an Ralphs Ärmel und deutete auf etwas - auf einen Backstein, der, sich überschlagend, auf den Hof fiel. Er kam aus einem der niederen, schmalen Fenster am Anfang des Nordflügels. Diese Fenster wurden fast von den Blumenbeeten rings um das Haus herum verdeckt.

»Helft uns!« schrie eine Stimme durch das geborstene Fenster, während der Mann mit dem Gewehr unwillkürlich auf den fliegenden Stein feuerte, worauf roter Staub aufwirbelte und der Backstein in drei Teile zerbrach. Weder Ralph noch Lois hatten diese Stimme jemals zu einem schrillen Kreischen erhoben gehört, aber beide erkannten sie dennoch sofort; es war Helen Deepneaus Stimme. »Helft uns, bitte! Wir sind im Keller! Wir haben Kinder bei uns! Bitte laßt uns nicht verbrennen, WIR HABEN KINDER BEI UNS!«

Ralph und Lois sahen sich mit weit aufgerissenen Augen kurz an, dann rannten sie auf das Haus zu.

Zwei uniformierte Gestalten, die in ihren unförmigen kugelsicheren Westen mehr Ähnlichkeit mit Footballspielern als mit Cops hatten, schnellten hinter einem der Streifenwagen hervor und liefen mit erhobenen Waffen schnurstracks auf die Veranda zu. Als sie den Hof diagonal überquerten, beugte sich Charlie Pickering unbändig lachend, das graue Haar zerzauster denn je, aus seinem Fenster heraus. Der Kugelhagel, der ihn begrüßte, war gewaltig, er überschüttete ihn mit Splittern der Fensterrahmen und riß sogar die rostige Dachrinne über seinem Kopf herunter - sie landete mit einem hohlen Bong auf der Veranda -, aber keine einzige Kugel traf ihn.

Wie können sie ihn verfehlen? dachte Ralph, während er und Lois auf die Veranda stiegen und den limonenf arbenen Flammen entgegentraten, die zur offenen Eingangstür herausloderten. Herrgott, sie sind fast vor seiner Nase, wie können sie ihn verfehlen?

Aber er wußte wie... und warum. Klotho hatte ihnen erzählt, daß Atropos und Ed Deepneau von Kräften umgeben seien, die zwar böse seien, aber auch einen gewissen Schutz bedeuteten. War es nicht wahrscheinlich, daß diese Kräfte nun Charlie Pickering beschützten, so wie Ralph selbst John Leydecker abgeschirmt hatte, als der die Deckung des Polizeiautos verließ, um seinen Kollegen aus dem Schußfeld zu ziehen?

Pickering eröffnete das Feuer auf die heranstürmenden Polizeibeamten. Er zielte tief, womit die kugelsicheren Westen so gut wie wertlos waren, und schlug die Beine unter ihnen weg. Einer stürzte und blieb reglos liegen; der andere kroch zurück, woher er gekommen war, und schrie dabei, er sei getroffen, er sei getroffen, Scheiße, er sei schwer getroffen.

»Barbecue!« schrie Pickering mit seiner kreischenden, lachenden Stimme zum Fenster hinaus. »Barbecue! Barbecue! Heiliges Grillfest! Verbrennt die Weiber! Gottes Feuer! Gottes heiliges Feuer!«

Jetzt ertönten noch mehr Schreie, scheinbar direkt unter Ralphs Füßen, und als er nach unten sah, stellte er etwas Schreckliches fest: ein Potpourri von Auren quoll zwischen den Dielen der Veranda herauf wie Dampf, aber die Vielfalt der Farben wurde durch das scharlachrote Blutleuchten gedämpft, das mit ihnen emporstieg... und sie umgab. Dieser blutrote Umriß glich nicht hundertprozentig der Gewitterwolke, die sich beim Kampf zwischen dem grünen Jungen und dem orangefarbenen Jungen vor dem Red Apple gebildet hatte, aber Ralph fand, daß sie eng mit ihr verwandt sein mußte; der einzige Unterschied bestand darin, daß diese hier aus Angst entstanden war, nicht aus Wut oder Aggression.

»Barbecue!« schrie Charlie Pickering, und dann so etwas wie, daß er die Teufelsfotzen umbringen würde. Plötzlich haßte Ralph ihn mehr, als er je in seinem Leben jemanden gehaßt hatte.

[»Komm, Lois - schnappen wir uns das Arschloch!«] Er nahm sie an der Hand und zog sie in das brennende Haus.

Kapitel 22

Die Verandatür führte zu einem zentralen Flur, der von der Vorder- bis zur Rückseite des Hauses verlief und inzwischen auf voller Länge in Flammen stand. Für Ralph waren sie hellgrün, und wenn Lois und er hindurchschritten, waren sie kühl - als würde man durch mentholgetränkte Gazemembranen gehen. Das Prasseln des brennenden Hauses wurde gedämpft; das Gewehrfeuer war so leise und unwichtig geworden wie Donnergrollen für jemanden unter Wasser... und genauso kam ihm das alles hier vor, mehr als alles andere, überlegte Ralph -als wären sie unter Wasser. Er und Lois waren unsichtbare Wesen und schwammen durch einen Fluß aus Feuer.

Er deutete auf eine Tür rechts und sah Lois fragend an. Sie nickte. Er griff nach dem Knauf und verzog ärgerlich das Gesicht, als seine Finger einfach hindurchgingen. Und das war selbstverständlich ganz gut so; hätte er das verdammte Ding tatsächlich festhalten können, wären die beiden obersten Hautschichten seiner Finger als verkohlte Streifen daran hängengeblieben.

[»Wir müssen durch, Ralph!«]

Er sah sie abschätzend an, erblickte eine Menge Angst und Sorge in ihrem Blick, aber keine Panik, und nickte. Sie gingen gemeinsam durch die Tür, als der Leuchter in der Mitte des Flurs mit einem unmelodischen Scheppern von Kristallglas und Eisenketten zu Boden fiel.

Ein Salon lag auf der anderen Seite, und was sie dort erwartete, versetzte Ralph einen Tief schlag. Zwei Frauen waren an die Wand gelehnt worden, direkt unter einem großen Plakat von Susan Day in Jeans und einem Cowboyhemd (LASS DICH NICHT BABY VON IHM NENNEN, WENN DU NICHT WIE EINS BEHANDELT WERDEN WILLST, riet das Plakat). Beiden war aus nächster Nähe in den Kopf geschossen worden; Gehirnmasse, Fetzen der Kopfhaut und Knochensplitter waren auf die Blumentapete und Susan Days schicke Cowboystiefel gespritzt. Eine der Frauen war schwanger gewesen. Die andere war Gretchen Tillbury.

Ralph mußte an den Tag denken, als sie mit Helen zu ihm nach Hause gekommen war, um ihn zu warnen und ihm eine Spraydose namens Bodyguard zu geben; an dem Tag fand er, daß sie wunderschön war, aber an dem Tag war ihr fein geformter Kopf selbstverständlich auch noch unversehrt, und das bildhübsche Gesicht nicht halb durch einen Schrotschuß aus nächster Nähe weggerissen gewesen. Fünfzehn Jahre nachdem sie knapp dem Tod aus der Hand ihres gewalttätigen Mannes entkommen war, hatte ein anderer Mann Gretchen Tillbury eine Waffe an den Kopf gehalten und sie einfach aus dieser Welt gepustet. Sie würde nie mehr einer anderen Frau erzählen können, wie sie zu der Narbe am linken Oberschenkel gekommen war.

Einen schrecklichen Augenblick glaubte Ralph, er würde ohnmächtig werden. Er konzentrierte sich, riß sich aber zusammen, indem er an Lois dachte. Ihre Aura hatte ein dunkles, schockiertes Rot angenommen. Gezackte schwarze Linien Schossen darüber hinweg und durch sie hindurch. Sie sahen wie die EKG-Kurve einer Frau aus, die einen tödlichen Herzanfall erleidet.

[»O Ralph! O Ralph, großer Gott!«]

Etwas explodierte am südlichen Ende des Hauses mit solcher Wucht, daß die Tür, durch die sie gerade gekommen waren, aus den Angeln gerissen wurde. Ralph vermutete, es könnten eine oder mehrere Propangasflaschen gewesen sein... nicht, daß es in dieser Lage eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Brennende Fetzen der Tapete wurden vom Flur hereingewirbelt, und er sah, wie die Vorhänge im Zimmer und die restlichen Haare auf Gretchen Tillburys Kopf zur Tür geweht wurden, als das Feuer die Luft aus dem Zimmer sog, um sich Nahrung zu verschaffen. Wie lange würde es dauern, bis das Feuer die Frauen und Rinder im Keller in verkohltes Fleisch verwandelte? Ralph wußte es nicht und schätzte, daß es auch nicht darauf ankam; die meisten Menschen, die da unten eingeschlossen waren, würden ersticken oder an Rauchvergiftung sterben, bevor sie verbrannten.

Lois starrte die toten Frauen voller Entsetzen an. Tränen liefen ihr die Wangen hinab. Das geisterhafte graue Licht, das von den Spuren aufstieg, die sie hinterließen, sah wie Dampf von Trockeneis aus. Ralph führte sie durch den Salon zur geschlossenen Doppeltür auf der anderen Seite, verweilte gerade lange genug davor, daß er einmal tief Luft holen konnte, legte Lois einen Arm um die Taille und trat in das Holz.

Es folgte ein Augenblick der Dunkelheit, als nicht nur seine Nase, sondern sein ganzer Körper vom süßlichen Duft von Sägespänen eingehüllt zu sein schien, und dann befanden sie sich im Zimmer dahinter, dem nördlichsten Zimmer des Hauses.

Das war möglicherweise einmal ein Arbeitszimmer gewesen, inzwischen aber zu einem Raum für Gruppentherapiesitzungen umgebaut worden. In der Mitte standen ein rundes Dutzend Klappstühle im Kreis. An den Wänden hingen Tafeln mit Aufschriften wie ICH KANN VON NIEMANDEM RESPEKT ERWARTEN, WENN ICH MICH NICHT SELBST RESPEKTIERE. Auf eine Tafel an einem Ende des Zimmers hatte jemand mit großen Druckbuchstaben geschrieben: WE ARE FAMILY, I'VE GOT ALL MY SISTERS WITH ME. Daneben, an einem der Fenster nach Osten über der Veranda, kauerte Charlie Pickering, der eine kugelsichere Weste über dem Snoopy T-Shirt trug, das Ralph überall wiedererkannt hätte.

»Grillt alle gottlosen Weiber!« schrie er. Eine Kugel pfiff an seiner Schulter vorbei; eine zweite bohrte sich rechts von ihm in den Fensterrahmen, ein Splitter prallte an das Horngestell seiner Brille. Der Gedanke, daß er beschützt wurde, drängte sich Ralph wieder auf, diesmal mit der Macht einer Überzeugung. »Lesbenbraten! Sollen sie ihre eigene Medizin kosten! Damit sie selbst sehen, wie das ist!«

[»Bleib oben, Lois-genau da, wo du jetzt bist.«]

[»Was hast du vor?«]

[»Mich um ihn kümmern,«]

[»Töte ihn nicht, Ralph! Bitte töte ihn nicht!«]

Warum nicht? dachte Ralph verbittert. Ich würde der Welt einen Gefallen tun. Das stimmte zweifellos, aber jetzt war keine Zeit zum Streiten.

[»Na gut, ich werde ihn nicht töten! Und jetzt bleib hier, Lois da fliegen so viele Kugeln herum, daß wir es nicht beide riskieren können, nach unten zu gehen.«]

Bevor sie antworten konnte, konzentrierte Ralph sich, beschwor das Blinzeln herauf und ließ sich auf die Ebene der Kurzfristigen zurückfallen. Diesmal passierte es so schnell und brutal, daß ihm die Luft wegblieb, als wäre er aus einem Fenster im ersten Stock auf harten Beton gesprungen. Teilweise verschwand die Farbe aus der Welt, was durch gesteigerten Lärm wettgemacht wurde: das Prasseln von Feuer, nicht mehr gedämpft, sondern deutlich und nahe; das Knallen eines Schrotschusses; das Knattern von rasch hintereinander abgegebenen Pistolenschüssen. Die Luft roch nach Ruß, und es war unerträglich heiß in dem Zimmer. Etwas, das sich wie ein Insekt anhörte, sauste an Ralphs Ohr vorbei. Er hatte eine Ahnung, als wäre es ein Insekt Kaliber.4 5 gewesen.

Solltest dich besser beeilen, Liebling, riet Carolyn. Vergiß nicht, wenn dich auf dieser Ebene Kugeln treffen, sind sie tödlich.

Er vergaß es nicht.

Ralph lief geduckt auf Pickering zu, der ihm den Rücken zuwandte. Seine Füße knirschten auf Glas und Splittern, aber Pickering drehte sich nicht um. Neben der automatischen Waffe in seiner Hand hatte er einen Revolver an der Hüfte und eine kleine grüne Tragetasche neben dem linken Fuß stehen. Der Reißverschluß der Tasche war offen, und Ralph sah eine Anzahl Weinflaschen darin. Die Öffnungen der Flaschen waren mit feuchten Stoffetzen zugestopft worden.

»Tötet die Weiber!« schrie Pickering und überzog den Hof mit einer erneuten Salve. Er nahm das Magazin heraus, zog das T-Shirt hoch und ließ drei oder vier weitere erkennen, die er in den Gürtel gesteckt hatte. Ralph griff in die offene Tragetasche, ergriff eine der benzingefüllten Weinflaschen am Hals und schwang sie nach Pickerings Schläfe. Dabei sah er den Grund, weshalb Pickering ihn nicht hören konnte, obwohl Ralph jede Menge Lärm gemacht hatte: Der Mann trug Ohrenstöpsel. Bevor Ralph darüber nachdenken konnte, welche Ironie darin lag, daß ein Mann auf einer Selbstmordmission sich die Mühe machte, seine Ohren zu schützen, knallte die Flasche an Pickerings Schläfe und übergoß ihn mit bernsteinfarbener Flüssigkeit und grünem Glas. Pickering taumelte rückwärts und griff sich mit einer Hand zum Kopf, wo die Haut an zwei Stellen aufgeplatzt war. Blut quoll zwischen seinen langen Fingern hervor - Finger, die einem Pianisten oder Maler gehören sollten, dachte Ralph - und lief an seinem Hals hinunter. Als er sich umdrehte, waren seine Augen hinter der verschmierten Brille groß und erschrocken, und die Haare standen ihm zu Berge, wodurch er wie die Karikatur eines Mannes aussah, der gerade einen schweren Stromschlag bekommen hat.

»Du!« schrie er. »Verdammter Zenturio, dich hat der Teufel geschickt! Gottloser Babymörder!«

Ralph dachte an die beiden Frauen im Zimmer nebenan und wurde erneut von Zorn überwältigt... nur war Zorn ein zu mildes Wort, viel zu milde. Er fühlte sich, als würden seine Nerven unter der Haut brennen. Und der Gedanke, der in seinem Gehirn trommelte, war: Eine von ihnen war schwanger, also wer ist der Babymörder, eine von ihnen war schwanger, also wer ist der Babymörder, eine von ihnen war schwanger, also wer ist der Babymörder.

Ein weiteres hochkalibriges Insekt zischte an seinem Kopf vorbei. Ralph bemerkte es gar nicht. Pickering versuchte, das Gewehr zu heben, mit dem er zweifellos Gretchen Tillbury und ihre schwangere Freundin getötet hatte. Ralph riß es ihm aus den Händen und richtete es auf ihn. Pickering winselte vor Angst. Dieser Laut brachte Ralph noch mehr auf, und er vergaß das Versprechen, das er Lois gegeben hatte. Er hob das Gewehr in der vollen Absicht, es auf den Mann leerzufeuern, der winselnd an der Wand kauerte (in der Hitze des Gefechts dachte keiner von beiden daran, daß sich gar kein Magazin darin befand), aber bevor er abdrücken konnte, wurde er von einem gleißenden Lichterspiel abgelenkt, das sich wie Blut neben ihm in die Luft ergoß. Zuerst war es formlos, ein sagenhaftes Kaleidoskop, dessen Farben irgendwie der Röhre entkommen waren, die sie umhüllen sollte, doch dann nahm es die Gestalt einer Frau an, aus deren Kopf ein langer, gazeartiger grauer Streifen aufragte.

»[Töte ihn nicht]

Ralph, bitte töte ihn nicht!«

Einen Augenblick konnte er die Tafel und das darauf geschriebene Zitat durch sie hindurch sehen, und dann wurden die Farben zu ihrer Kleidung und ihrem Haar und ihrer Haut, als sie völlig auf diese Ebene herunterkam. Pickering sah sie vor Entsetzen schielend an. Er schrie noch einmal, und der Schritt seiner Drillichhose färbte sich dunkel. Er streckte sich die Finger in den Mund, als wollte er den Schrei unterdrücken, den er ausstieß. »Ein Gesehenst!« kreischte er mit den Fingern im Mund. »Ein Hennurion und ein Gesehenst!«

Lois beachtete ihn gar nicht, sondern hielt den Lauf der Waffe fest. »Töte ihn nicht, Ralph! Nicht!«

Plötzlich war Ralph auch wütend auf sie. »Verstehst du denn nicht, Lois? Kapierst du nicht? Er hat genau gewußt, was er tat! Auf einer bestimmten Ebene hat er es gewußt - ich habe es in seiner gottverdammten Aura gesehen!«

»Das spielt keine Rolle«, sagte sie und hielt den Lauf der Waffe weiterhin so, daß er auf den Boden zeigte. »Es spielt keine Rolle, was er gewußt hat oder nicht. Wir dürfen nicht so vorgehen wie sie. Wir dürfen nicht sein, was sie sind.«

»Aber -«

»Ralph, ich will diesen Gewehrlauf loslassen. Er ist heiß und verbrennt mir die Finger.«

»Gut«, sagte er und ließ im selben Augenblick los wie sie. Das Gewehr fiel zwischen ihnen auf den Boden, und Pickering, der mit den Fingern im Mund und glänzenden, glasigen Augen, die er unablässig auf Lois gerichtet hielt, an der Wand hinuntergerutscht war, stürzte sich mit der Schnelligkeit einer zustoßenden Klapperschlange darauf.

Was Ralph nun tat, tat er ohne Vorbedacht und mit Sicherheit ohne Wut - er handelte rein instinktiv, griff mit beiden Händen nach Pickerings Gesicht und drückte sie ihm gegen die Wangen. Dabei erstrahlte etwas grell in seinem Verstand, das sich wie die Linse eines gewaltigen Vergrößerungsglases anfühlte. Dann raste er durch die verschiedenen Ebenen hinauf, und zwar den Bruchteil einer Sekunde lang höher, als sie jemals zuvor gewesen waren. Auf dem Höhepunkt seines Aufstiegs spürte er, wie eine gigantische Kraft in seinen Kopf einströmte und explosionsgleich seine Arme entlangraste. Als er wieder tiefer sank, hörte er dann den Knall, ein hohles, aber nachdrückliches Geräusch, das sich völlig anders anhörte als die Waffen, die draußen noch feuerten.

Pickerings Körper zuckte konvulsivisch, seine Beine strampelten so heftig, daß einer seiner Schuhe fortflog. Sein Hintern schnellte in die Höhe und sank wieder zurück. Er biß sich auf die Unterlippe, Blut spritzte ihm aus dem Mund. Einen Augenblick war Ralph überzeugt, daß er blaue Funken an den Spitzen von Pickerings wirrem Haar sehen konnte. Dann verschwanden sie, und Pickering sackte wieder gegen die Wand. Er sah Ralph und Lois mit Augen an, aus denen jegliche Sorge gewichen war.

Lois schrie. Zuerst glaubte Ralph, daß sie deswegen schrie, was er mit Pickering gemacht hatte, aber dann sah er, daß sie sich auf den Kopf schlug. Ein Stück der brennenden Tapete war dort gelandet, und ihre Haare hatten Feuer gefangen.

Er schlang einen Arm um sie, schlug selbst mit der Hand nach den Flammen und schirmte ihren Körper mit seinem ab, als ein neuerlicher Schauer von Gewehr- und Schrotflintenfeuer auf den Nordflügel herniederprasselte. Ralph hatte die freie Hand an die Wand gepreßt, und plötzlich erschien wie bei einem Zaubertrick ein Loch zwischen dem dritten und vierten Finger.

»Aufsteigen, Lois! Sofort [aufsteigen!«]

Sie stiegen gemeinsam auf, wurden vor Charlie Pickerings leeren Augen zu buntem Rauch... und verschwanden.

[»Was hast du mit ihm gemacht, Ralph? Eine Sekunde warst du verschwunden - du warst oben - und dann... was hast du getan?«]

Sie betrachtete Charlie Pickering mit fassungslosem Entsetzen. Der lehnte fast in derselben Haltung wie die toten Frauen im Nebenzimmer an der Wand. Vor Ralphs Augen bildete sich eine große rosa Speichelblase zwischen Pickerings Lippen, wuchs und platzte.

Er drehte sich zu Lois um, ergriff ihren Arm dicht oberhalb des Ellbogens und schuf ein Bild in seinem Geist: der Sicherungskasten in seinem Haus in der Harris Avenue. Hände öffneten den Kasten und stellten rasch sämtliche Sicherungen von AN auf AUS. Er war nicht sicher, ob das richtig war - alles war so schnell geschehen, daß er überhaupt nicht sicher sein konnte -, aber er fand, daß es der Wahrheit ziemlich nahekam.

Lois riß ein wenig die Augen auf, dann nickte sie. Sie sah Pickering an, dann Ralph.

[»Er hat es selbst über sich gebracht, oder? Du hast es nicht mit Absicht getan.«]

Nun nickte Ralph, dann ertönten wieder Schreie unter ihren Füßen, die er ganz sicher nicht mit den Ohren hörte.

[»Lois?«]

[»Ja, Ralph - sofort.«]

Er glitt mit den Händen an ihrem Arm hinab und nahm ihre Hände so, wie sie einander im Krankenhaus zu viert gehalten hatten, aber diesmal stiegen sie nicht auf, sondern sanken nach unten und verschwanden im Fußboden, als wären die Dielen aus Wasser. Ralph sah wieder eine Scheibe Dunkelheit an seinen Augen vorübergleiten, dann befanden sie sich im Keller und sanken langsam dem schmutzigen Betonboden entgegen. Er sah staubbedeckte Heizungsrohre im Schatten, einen mit durchsichtiger Plastikfolie abgedeckten Schneepflug, Gartengeräte an einem unscharf konturierten Zylinder, bei dem es sich wahrscheinlich um den Heißwasserboiler handelte, und Kartons an einer Backsteinwand - Suppe, Bohnen, Spaghettisauce, Kaffee, Müllbeutel, Toilettenpapier. Das alles sah wie in einer Halluzination aus, nicht ganz da, und zuerst glaubte Ralph, das wäre eine weitere Nebenwirkung, weil sie auf die nächste Ebene aufgestiegen waren. Dann stellte er fest, daß nur der Rauch daran schuld war - der Keller füllte sich rapide damit.

Achtzehn oder zwanzig Personen drängten sich an einem Ende des langen, halbdunklen Raums, überwiegend Frauen. Ralph sah auch einen etwa vier Jahre alten Jungen, der sich am Knie seiner Mutter festklammerte (in Moms Gesicht konnte man verblassende Blutergüsse sehen, die möglicherweise auf einen Unfall, wahrscheinlich aber auf Schläge zurückzuführen waren), ein Mädchen von einem oder zwei Jahren, das das Gesicht am Bauch seiner Mutter vergrub... und er sah Helen. Sie hielt Natalie in den Armen und blies dem Kind ihren Atem ins Gesicht, als könnte sie die Luft um sie herum damit frei von Rauch halten. Nat hustete und schrie mit ersticktem, verzweifelten Schluchzen. Hinter den Frauen und Kindern konnte Ralph staubige Treppenstufen erkennen, die in die Dunkelheit emporführten.

[»Ralph? Wir müssen hinunter, richtig?«]

Er nickte, erzeugte das Blinzeln in seinem Kopf, und plötzlich hustete er ebenfalls, als er beißenden Rauch in die Lungen sog. Sie nahmen unmittelbar vor der Gruppe am Fuß der Treppe Gestalt an, aber nur der kleine Junge, der die Arme um die Knie seiner Mutter schlang, reagierte. In diesem Augenblick war Ralph überzeugt, daß er das Kind schon einmal gesehen hatte, wußte aber nicht, wo das gewesen sein könnte der Tag am Ende des Sommers, als der Junge mit seiner Mutter in Strawford Park gespielt hatte, hätte Ralph im Augenblick nicht ferner liegen können.

»Schau mal, Mama!« sagte der Junge und deutete hustend auf sie. »Engel!«

Im Geiste hörte Ralph Klotho sagen: Wir sind keine Engel, Ralph, und dann drängte er sich durch den immer dichteren Rauch auf Helen zu, ohne Lois' Hand loszulassen. Seine Augen brannten und tränten bereits, und er konnte Lois husten hören. Helen sah ihn benommen an und schien ihn nicht zu erkennen -sie sah ihn an wie an jenem Tag im August, als Ed sie so schlimm verprügelt hatte.

»Helen!«

»Ralph? Ralph?«

»Die Treppe, Helen! Wohin führt sie?«

»Was machst du hier, Ralph? Wie bist du -« Sie bekam einen Hustenanfall und krümmte sich. Natalie wäre ihr fast aus den Armen gefallen, und Lois nahm das schreiende Kind, bevor Helen es tatsächlich fallenlassen konnte.

Ralph sah die Frau neben Helen an, die noch weniger mitzubekommen schien, was um sie herum vor sich ging, packte Helen und schüttelte sie. »Wohin führt diese Treppe?«

Sie sah über die Schulter. »Kellerluke«, sagte sie. »Aber das nützt nichts. Sie ist -« Sie krümmte sich und hustete trocken. Das Geräusch glich auf unheimliche Weise dem Knattern von Charlie Pickerings automatischem Gewehr. »Sie ist abgeschlossen«, sprach Helen zu Ende. »Die dicke Frau hat sie abgeschlossen. Sie hatte das Schloß in der Tasche. Ich hab gesehen, wie sie es angebracht hat. Warum hat sie das gemacht, Ralph? Wie konnte sie wissen, daß wir hier runterkommen würden?«

Wohin hättet ihr schon gehen können? dachte Ralph verbittert, dann drehte er sich zu Lois um. »Würdest du nachsehen, was du tun kannst, ja?«

»Okay.« Sie gab ihm das schreiende, hustende Baby und drängte sich durch die kleine Schar der Frauen. Soweit Ralph erkennen konnte, befand sich Susan Day nicht unter ihnen. Am anderen Ende des Kellers stürzte ein Teil des Bodens mit Funkenflug und einer Welle brütender Hitze ein. Das Mädchen, das das Gesicht am Bauch seiner Mutter vergraben hatte, fing an zu schreien.

Lois ging vier der Stufen hinauf und hielt die Hände nach oben wie ein Priester, der den Segen spendet. Im Licht der tanzenden Funken konnte Ralph vage den schrägen Schatten der Kellerluke erkennen. Lois drückte die Hände dagegen. Einen Augenblick geschah gar nichts, dann verschwand sie kurz in einem Regenbogen von Farben. Ralph hörte eine schneidende Explosion, die sich anhörte, als würde eine Spraydose in heißem Feuer platzen, dann war Lois wieder da. Im selben Augenblick glaubte er direkt über ihrem Kopf ein Pulsieren weißen Lichts zu sehen.

»Was hat geknallt, Mama?« fragte der kleine Junge, der Ralph und Lois Engel genannt hatte. »Was hat geknallt?« Bevor sie antworten konnte, ging ein Stapel Vorhänge auf einem sechs Meter entfernten Tisch in Flammen auf und tauchte die Gesichter der gefangenen Frauen in schroffe Schwarz-Orange-Kontraste wie Halloweenkürbisse.

»Ralph!« rief Lois. »Hilf mir!«

Er drängte sich durch die lethargischen Frauen und stieg die Treppe hinauf. »Was?« Sein Hals fühlte sich an, als hätte er mit Benzin gegurgelt. »Schaffst du es nicht?«

»Ich habe es geschafft, ich habe gespürt, wie das Schloß brach

- im Geiste habe ich es gespürt -, aber die verflixte Tür ist zu schwer für mich. Den Teil wirst du übernehmen müssen. Gib mir das Baby.«

Er überließ ihr Nat wieder, dann griff er nach oben und tastete die Kellerluke ab. Sie war wirklich schwer, aber Ralphs Körper war adrenalingesättigt, und als er mit der Schulter dagegen drückte, flog sie auf. Licht und frische Luft drangen in den Keller herunter. In einem von Ralphs heißgeliebten Filmen wäre so ein Augenblick mit Schreien des Triumphs und der Erleichterung begrüßt worden, aber zuerst gab keine der Frauen, die hier unten eingesperrt gewesen waren, auch nur einen Laut von sich. Sie standen nur schweigend da und betrachteten mit stummen, fassungslosen Gesichtern das Rechteck blauen Himmels, welches Ralph wie durch Zauberhand in dem Raum geschaffen hatte, den die meisten schon als ihr Grab betrachtet hatten.

Was werden sie später sagen? fragte er sich. Wenn sie dies wirklich überleben, was werden sie später sagen? Daß ein magerer Mann mit buschigen Augenbrauen und eine eher untersetzte Dame (aber mit wunderschönen spanischen Augen) plötzlich im Keller aufgetaucht wären, das Schloß aufgebrochen und sie in die Freiheit geführt hätten?

Er sah nach unten und erblickte den seltsam vertrauten kleinen Jungen, der mit großen, ernsten Augen zu ihm aufschaute. Der Junge hatte eine hakenförmige Narbe auf dem Nasenrücken. Ralph hatte eine Ahnung, als wäre dieser Junge der einzige, der sie wirklich gesehen hatte, als sie auf die Ebene der Kurzfristigen zurückgekehrt waren, und Ralph wußte genau, was er sagen würde: daß Engel gekommen wären, ein EngelMann und eine Engel-Lady, und die hätten sie gerettet. Dürfte heute abend in den Nachrichten eine interessante Fußnote abgeben, dachte Ralph. Ja, wahrhaftig. Lisette Benson und John Kirkland würden ausflippen.

Lois klatschte einmal kurz in die Hände wie eine Schulhofaufsicht, die die Kinder informiert, daß die Pause zu Ende ist. »Los doch, Leute! Beeilt euch, bevor das Feuer die Öltanks der Heizung erreicht!«

Die Frau mit dem kleinen Mädchen setzte sich als erste in Bewegung. Sie hob das weinende Kind auf die Arme und stolperte hustend und weinend die Treppe hinauf. Die anderen folgten ihr langsam. Der kleine Junge sah bewundernd zu Ralph auf, als seine Mutter ihn hinausführte. »Cool, Mann«, sagte er.

Ralph grinste ihn an - er konnte nicht anders -, dann drehte er sich zu Lois um und deutete die Treppe hinauf. »Wenn ich mich nicht völlig irre, müßte dieser Aufgang hinter dem Haus herauskommen. Laß sie noch nicht nach vorne gehen. Die Cops würden wahrscheinlich die Hälfte von ihnen umlegen, bevor ihnen klar wird, daß sie die Leute erschießen, die sie retten wollten.«

»Gut«, sagte sie - keine einzige Frage, kein weiteres Wort, und dafür hätte Ralph sie küssen können. Sie ging sofort die Treppe hinauf und blieb nur einmal stehen, um eine Frau, die stolperte, am Ellbogen zu fassen.

Nun blieben nur noch Ralph und Helen Deepneau übrig. »War das Lois?« fragte sie ihn.

»Ja.«

»Sie hat Natalie?« »Ja.« Ein weiteres großes Stück der Kellerdecke stürzte ein, Funken stoben in die Höhe, und Flammenzungen leckten gierig an den Deckenbalken entlang in Richtung des Heizofens.

»Bist du sicher?« Sie klammerte sich an seinem Hemd fest und sah ihn mit panischen, verquollenen Augen an. »Bist du sicher, daß sie Nat bei sich hatte?«

»Ganz sicher. Komm jetzt.«

Helen sah sich um und schien im Geiste zu zählen. Sie sah erschrocken auf. »Gretchen!« rief sie. »Und Merrilee! Wir müssen Merrilee holen, Ralph, sie ist im siebten Monat schwanger!«

»Sie ist oben«, sagte Ralph und packte Helen am Handgelenk, als sie die Treppe hinunter und in den brennenden Keller zurückgehen wollte. »Sie und Gretchen. Sind das dann alle?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Gut. Komm mit. Wir müssen hier raus.«

Ralph und Helen kamen in einer Wolke dunkelgrauen Rauchs aus dem Kelleraufgang heraus und sahen ein wenig wie der Höhepunkt im Programm eines Weltklasseillusionisten aus. Sie befanden sich tatsächlich auf der Rückseite des Hauses, bei den Wäscheleinen. Kleider, Hosen, Unterwäsche und Betttücher flatterten in der frischen Brise. Vor Ralphs Augen landete ein brennender Balken auf einem der Bettlaken und ließ es in Flammen aufgehen. Auch aus den Küchenfenstern schlugen die Flammen. Die Hitze war unvorstellbar.

Helen sackte gegen ihn, nicht bewußtlos, aber vorübergehend völlig erschöpft. Ralph mußte sie an der Taille halten, damit sie nicht zu Boden fiel. Sie kratzte ihn kraftlos im Nacken und versuchte, etwas über Natalie zu sagen. Dann sah sie sie in Lois' Armen und entspannte sich etwas. Ralph umklammerte sie fester und trug sie halb und zog sie halb von der Kelleröfmung weg. Dabei sah er die Überreste eines anscheinend nagelneuen Vorhängeschlosses neben der offenen Luke auf dem Boden liegen. Es war in zwei Teile zerbrochen und seltsam verdreht, als hätten kräftige Hände es auseinandergerissen.

Die Frauen standen etwa zehn Meter entfernt zusammengedrängt an der Ecke des Hauses. Lois stand vor ihnen, redete mit ihnen und hinderte sie daran weiterzugehen. Ralph glaubte, mit etwas Vorbereitung und Glück würde ihnen nichts mehr geschehen, wenn sie doch weitergingen das Feuer aus dem Belagerungsring der Polizei hatte nicht aufgehört, aber deutlich nachgelassen.

»PICKERING!« Das hörte sich nach Leydecker an, aber durch den Verstärker des Megaphons konnte man es unmöglich genau sagen. »WARUM SIND SIE NICHT EINMAL IN IHREM LEBEN SCHLAU UND KOMMEN RAUS, SOLANGE SIE NOCH KÖNNEN?«

Weitere Sirenen kamen näher, darunter das deutliche, oszillierende Heulen eines Krankenwagens. Ralph führte Helen zu den anderen Frauen. Lois gab ihr Natalie zurück, dann drehte sie sich in die Richtung um, aus der die Megaphonstimme gekommen war, und hielt die hohlen Hände an den Mund. »Hallo!« rief sie. »Hallo, da vorne, können Sie uns -« Sie verstummte und hustete so sehr, daß sie beinahe würgte, krümmte sich und stützte die Hände auf die Knie, während ihr Tränen aus den vom Rauch gereizten Augen drangen.

»Lois, alles in Ordnung?« fragte Ralph. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Helen das Gesicht des Verherrlichten und Angebeteten Babys mit Küssen bedeckte.

»Bestens«, sagte sie und wischte sich mit den Fingern die Wangen ab. »Der verdammte Rauch, mehr nicht.« Sie hielt wieder die Hände an den Mund. »Können Sie mich hören?«

Die Schüsse ließen noch mehr nach, aber vereinzelte Pistolenschüsse waren noch zu hören. Das gefiel Ralph ganz und gar nicht. Einer dieser vereinzelten Schüsse am falschen Platz konnte eine dieser unschuldigen Frauen das Leben kosten.

»Leydecker!« rief er und legte selbst die hohlen Hände um den Mund. »John Leydecker!«

Nach einer Pause gab die Megaphonstimme den Befehl, den Ralph herbeigesehnt hatte. »FEUER EINSTELLEN!«

Noch ein Knall, dann herrschte Stille, abgesehen vom Prasseln des brennenden Hauses.

»WER SPRICHT DA? IDENTIFIZIEREN SIE SICH!«

Aber Ralph glaubte, daß er auch so schon genug Probleme am Hals hatte.

»Die Frauen sind hier hinten!« rief er und mußte nun selbst gegen Hustenreiz kämpfen. »Ich schicke sie nach vorne!«

»NEIN, NICHT!« rief Leydecker zurück. »IM LETZTEN ZIMMER IM ERDGESCHOSS LAUERT EIN BEWAFFNETER MANN! ER HAT BEREITS MEHRERE MENSCHEN ERSCHOSSEN!«

Daraufhin stöhnte eine der Frauen und schlug die Hände vors Gesicht.

Ralph räusperte sich so gut er es mit seinem brennenden Hals vermochte - im Augenblick hätte er wahrscheinlich seine gesamte Rente für eine eiskalte Flasche Coca-Cola hergegeben - und schrie zurück: »Machen Sie sich keine Sorgen wegen Pickering! Pickering ist -«

Aber was genau war Pickering? Das war eine verdammt gute Frage, oder nicht?

»Mr. Pickering ist bewußtlos! Darum hat er aufgehört zu schießen!« schrie Lois neben ihm. Ralph glaubte nicht, daß »bewußtlos« das richtige Wort war, aber es würde genügen. »Die Frauen kommen mit erhobenen Händen um das Haus herum! Nicht schießen! Versprechen Sie uns, daß Sie nicht schießen werden!«

Es folgte ein Augenblick Stille. Dann: »WIR WERDEN NICHT SCHIESSEN, ABER ICH HOFFE, SIE WISSEN, WOVON SIE SPRECHEN, LADY.«

Ralph nickte der Mutter des kleinen Jungen zu. »Gehen Sie jetzt. Sie beide können die Karawane anführen.«

»Sind Sie sicher, daß sie uns nicht wehtun werden?« Die verblassenden Blutergüsse im Gesicht der jungen Frau (ein Gesicht, das Ralph ebenfalls vage bekannt vorkam) legten beredtes Zeugnis davon ab, was für einen bedeutenden Teil ihres Lebens die Frage bildete, wer ihr und ihrem Sohn wehtun würde und wer nicht. »Sind Sie sicher?«

»Ja«, sagte Lois, immer noch hustend und mit tränenden Augen. »Nehmen Sie einfach nur die Hände hoch. Das kannst du doch, großer Junge, oder nicht?«

Der Junge hielt die Hände mit der Begeisterung eines passionierten Räuber-und-Gendarm-Spielers hoch, aber er wandte den Blick seiner glänzenden Augen nicht von Ralphs Gesicht ab.

Rosa Rosen, dachte Ralph. Wenn ich seine Aura sehen könnte, hätte sie diese Farbe. Er war nicht sicher, ob das Intuition oder eine Erinnerung war, wußte aber, daß es stimmte.

»Was ist mit den Leuten im Inneren?« fragte eine andere Frau. »Wenn die nun schießen? Sie waren bewaffnet - wenn die nun schießen?«

»Da drinnen wird niemand mehr schießen«, sagte Ralph. »Gehen Sie jetzt.«

Die Mutter des kleinen Jungen warf Ralph noch einen zweifelnden Blick zu, dann sah sie ihren Sohn an. »Fertig, Pat?«

»Ja!« sagte Pat und grinste.

Seine Mutter nickte und hob eine Hand. Die andere legte sie ihm um die Schultern - eine zaghafte, beschützende Geste, die Ralphs Herz rührte. So gingen sie um die Hausecke herum. »Tun Sie uns nicht weh!« rief sie. »Wir haben die Hände erhoben und mein kleiner Junge ist bei mir, also tun Sie uns nicht weh!«

Die anderen warteten einen Moment, dann ging die Frau, die die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Die mit dem kleinen Mädchen gesellte sich zu ihr (das Mädchen lag jetzt in ihren Armen, hob aber trotzdem folgsam die Hände in die Luft). Die anderen folgten, die meisten hustend, alle mit leeren, erhobenen Händen. Als Helen sich am Ende der Parade einreihte, berührte Ralph sie an der Schulter. Sie sah zu ihm auf, und ihre roten Augen blickten gelassen und verwundert zugleich.

»Jetzt warst du zum zweitenmal da, als Nat und ich dich brauchten«, sagte sie. »Bist du unser Schutzengel, Ralph?«

»Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht bin ich das. Hör zu, Helen wir haben nicht viel Zeit. Gretchen ist tot.«

Sie nickte und fing an zu weinen. »Ich wußte es. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber irgendwie habe ich es doch gewußt.«

»Es tut mir sehr leid.« »Wir waren so fröhlich, als sie gekommen sind - ich meine, wir waren nervös, aber wir haben viel gelacht und viel geplaudert. Wir wollten den Rest des Tages damit verbringen, uns auf die Rede vorzubereiten. Die Veranstaltung und Susan Days Rede.«

»Wegen heute abend muß ich mit dir reden«, sagte Ralph so behutsam er konnte. »Glaubst du, sie werden trotzdem -«

»Wir haben Frühstück gemacht, als sie gekommen sind.« Sie sprach weiter, als hätte sie ihn gar nicht gehört; Ralph vermutete, daß sie ihn tatsächlich nicht gehört hatte. Nat sah über Helens Schulter, und obwohl sie noch hustete, hatte sie aufgehört zu weinen. In den schützenden Armen ihrer Mutter sah sie voll lebhafter Neugier von Ralph zu Lois und wieder zu Ralph.

»Helen -«, begann Lois.

»Guckt mal! Seht ihr das?« Helen deutete auf einen alten braunen Cadillac neben dem baufälligen Schuppen, der damals, als Ralph und Carolyn gelegentlich hierher gekommen waren, noch die Apfelpresse gewesen war; wahrscheinlich hatte er High Ridge als Garage gedient. Der Caddy war in einem schlechten Zustand - gesprungene Windschutzscheibe, verbeulte Kotflügel, ein Scheinwerfer mit Paketband geklebt. Die Stoßstange war mit Anti-Abtreibungs-Aufklebern übersät.

»Mit dem Auto sind sie gekommen. Sie fuhren hinter das Haus, als wollten sie es in unserer Garage abstellen. Ich glaube, dadurch konnten sie uns zum Narren halten. Sie fuhren einfach nach hinten, als gehörten sie hierher.« Sie betrachtete das Auto einen Moment, dann schaute sie wieder mit vom Rauch geröteten, unglücklichen Augen zu Ralph und Lois auf. »Jemand hätte auf die Aufkleber an der verdammten Karre achten sollen.«

Plötzlich mußte Ralph an Barbara Richards bei Woman-Care denken, Barbie Richards, die sich entspannt hatte, als Lois auf sie zugekommen war. Es hatte sie nicht weiter gekümmert, daß Lois etwas aus ihrer Handtasche holte; Lois war eine Frau, nur das zählte. Eine Schwester. Sandra McKay hatte den Cadillac gefahren; Ralph mußte Helen nicht fragen, um das zu wissen. Sie hatten die Frau gesehen und die Aufkleber nicht mehr beachtet. We are Family, I've got all my sisters with me.

»Als Deanie sagte, daß die Leute, die aus dem Auto ausstiegen, Armeekleidung trugen und bewaffnet wären, hielten wir es für einen Witz. Das heißt, alle außer Gretchen. Sie sagte uns, wir sollten, so schnell wir könnten, nach unten. Dann ging sie in den Salon. Um die Polizei anzurufen, vermute ich. Ich hätte bei ihr bleiben sollen.«

»Nein«, sagte Lois und ließ eine Locke von Natalies feinem Haar durch die Finger gleiten. »Sie mußten auf die Kleine hier aufpassen. Das müssen Sie noch.«

»Wahrscheinlich«, sagte Helen düster. »Wahrscheinlich. Aber sie war meine Freundin, Mrs. Chasse. Meine Freundin.«

»Das weiß ich, Liebste.«

Helen verzog das Gesicht und fing an zu weinen. Natalie sah ihre Mutter einen Moment mit einem Ausdruck komischen Erstaunens an, dann fing sie ebenfalls an zu weinen.

»Helen«, sagte Ralph. »Helen, hör mir zu. Ich muß dich etwas fragen. Es ist sehr, sehr wichtig. Hörst du mir zu?«

Helen nickte, hörte aber nicht auf zu weinen. Ralph hatte keine Ahnung, ob sie ihn wirklich hörte oder nicht. Er sah zur Hausecke und fragte sich, wieviel Zeit ihnen noch bleiben würde, bis die Polizisten angestürmt kamen, dann holte er tief Luft. »Glaubst du, es besteht die Möglichkeit, daß die Veranstaltung heute abend trotzdem stattfinden wird? Die geringste Möglichkeit? Du hast Gretchen nähergestanden als jede andere. Sag mir, was du meinst.«

Helen hörte auf zu weinen und sah ihn mit ruhigen, großen Augen an, als könnte sie nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Dann füllten sich diese Augen allmählich mit einem erschreckend heftigen Zorn.

»Wie kannst du das fragen? Wie kannst du das auch nur fragen?«

»Nun... weil...« Er verstummte, da er nicht weitersprechen konnte. Mit Wut hätte er zu allerletzt gerechnet.

»Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen«, sagte Helen. »Begreifst du das nicht? Gretchen ist tot, Merrilee ist tot, High Ridge ist mit allem, was die meisten Frauen besaßen, bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und wenn sie uns jetzt aufhalten, dann haben sie gewonnen.«

Nun stellte ein Teil von Ralphs Verstand - ein tief verborgener Teil - einen schrecklichen Vergleich an. Ein anderer Teil, der Helen liebte, wollte ihn unterdrücken, aber es war zu spät. Ihre Augen sahen wie die von Charlie Pickering aus, als Pickering neben ihm in der Bibliothek gesessen hatte, und mit einem Kopf, der so einen Blick zustande brachte, konnte man nicht vernünftig reden.

»Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen!« schrie sie. Natalie fing in ihren Armen lauter an zu weinen. »Kapierst du das nicht? Verdammt noch mal, kapierst du das nicht? Wir werden es niemals zulassen! "Niemals! Niemals! Niemals!«

Sie hob unvermittelt die freie Hand in die Höhe und ging um das Gebäude herum. Ralph streckte die Hand nach ihr aus, berührte aber nur ihre Bluse mit den Fingerspitzen. Das war alles.

»Erschießt mich nicht!« rief Helen den Polizisten auf der anderen Seite des Hauses zu. »Erschießt mich nicht, ich bin eine der Frauen! Ich bin eine der Frauen! Ich bin eine der Frauen!«

Ralph lief ihr hinterher - ohne nachzudenken, rein instinktiv -, aber Lois zog ihn am Gürtel zurück. »Du solltest besser nicht da vorgehen, Ralph. Du bist ein Mann, und sie glauben vielleicht -«

»Hallo, Ralph! Hallo, Lois!«

Sie drehten sich beide zu der neuen Stimme um. Ralph erkannte sie auf der Stelle und war gleichzeitig überrascht und nicht überrascht. Hinter der Wäscheleine mit ihrer Last brennender Laken und Kleidungsstücke stand in einer verwaschenen Flannellhose und Converse-Turnschuhen, die mit Isolierband geklebt worden waren, Dorrance Marstellar. Sein Haar, so fein wie das von Natalie (aber weiß statt braun), wurde vom Oktoberwind, der über den Hügel fegte, aus seinem Gesicht geweht. Wie üblich hielt er ein Buch in der Hand.

»Kommt schon, ihr beiden«, sagte er und winkte ihnen lächelnd. »Beeilt euch und kommt mit. Wir haben nicht viel Zeit.«

Er führte sie einen zugewachsenen, wenig benutzten Trampelpfad entlang, der in westlicher Richtung vom Haus wegführte. Anfangs wand er sich durch einen einigermaßen großen Garten, in dem alles abgeerntet worden war, außer

Kürbissen und Melonen, dann in einen Hain, wo die Äpfel gerade zu voller Reife gelangten, und durch eine dichte Brombeerhecke, wo Dornen überall nach ihrer Kleidung zu greifen schienen. Als sie aus dem Brombeerdickicht in ein düsteres Wäldchen mit Fichten und Rottannen kamen, überlegte sich Ralph, daß sie sich inzwischen auf der Newport zugewandten Seite des Hügels befinden mußten.

Dorrance schritt für einen Mann seines Alters kräftig aus, und das durchgeistigte Lächeln verschwand nie von seinem Gesicht. Das Buch, das er bei sich trug, war von Love, Poems 1950-1960 von einem Autor namens Robert Creeley. Ralph hatte noch nie von ihm gehört, aber er ging davon aus, daß Mr. Creeley auch noch nie von Elmore Leonard, Ernest Haycox oder Louis L'Amour gehört haben dürfte. Er versuchte nur einmal, den alten Dor anzusprechen, als die drei schließlich den Fuß eines Hangs erreicht hatten, wo Kiefernnadeln einen glatten und trügerischen Teppich bildeten. Direkt vor ihnen floß ein kalter Bach schäumend vorbei.

»Dorrance, was machst du hier? Wie bist du hergekommen, da wir schon dabei sind? Und wo, um alles in der Welt, willst du hin?«

»Oh, ich beantworte selten Fragen«, entgegnete der alte Dor breit grinsend. Erbetrachtete den Bach, dann hob er einen Finger und deutete auf das Wasser. Eine kleine braune Forelle sprang in die Luft, schüttelte helle Tropfen von der Schwanzflosse und fiel ins Wasser zurück. Ralph und Lois sahen einander mit identischen Habe-ich-das-gerade-wirklich-gesehen?Mienen an.

»Nee, nee«, fuhr Dor fort und trat vom Ufer auf einen feuchten Stein. >Kaum je. Zu schwierig. Zu viele Möglichkeiten. Zu viele Ebenen... was, Ralph? Die Welt ist voller Ebenen, oder nicht? Wie geht es dir, Lois?«

»Prima«, sagte sie geistesabwesend und beobachtete Dorrance, der auf einer Reihe geschickt plazierter Steine den Bach überquerte. Das tat er mit seitlich ausgestreckten Armen, wodurch er wie der älteste Akrobat der Welt aussah. Gerade als er das andere Ufer erreicht hatte, ertönte ein heftiges Aufwallen vom Hügel hinter ihnen - nicht ganz eine Explosion.

Soviel zu den Öltanks, dachte Ralph.

Dor drehte sich auf der anderen Seite des Bachbetts zu ihnen um und lächelte sein verklärtes Buddha-Lächeln. Ralph stieg ohne bewußte Absicht und ohne das Gefühl eines geistigen Blinzeins auf. Farben strömten in den Tag ein, aber er bemerkte es kaum; seine ganze Aufmerksamkeit galt Dorrance, und er vergaß zehn Sekunden lang sogar zu atmen.

Ralph hatte in den vergangenen Monaten Auren vieler Farben gesehen, aber keine kam auch nur in die Nähe der prunkvollen Hülle um den alten Mann, den Don Veazie einmal als »ausgesprochen nett, aber wirklich ein ziemlicher Narr« beschrieben hatte. Es war, als wäre Dorrance' Aura durch ein Prisma gebrochen worden... oder einen Regenbogen. Er versprühte Licht in blendenden Farben: Blau folgte Magenta, Magenta folgte Rot, Rot folgte Rosa, Rosa folgte das cremige Gelb-Weiß einer reifen Banane.

Er spürte, wie Lois' Hand nach seiner tastete, und ergriff sie.

[»Mein Gott, Ralph, siehst du es? Siehst du, wie wunderschön er ist?«]

[»Aber sicher.«]

[»Was ist er? Ist er überhaupt ein Mensch?«]

[»Ich weiß n -«]

[»Hört auf, alle beide. Kommt wieder runter.«]

Dorrance lächelte immer noch, aber die Stimme, die sie in ihren Köpfen hörten, war befehlsgewohnt und kein bißchen verschwommen. Und bevor Ralph sich mittels bewußter Gedankenanstrengung nach unten zurückversetzen konnte, spürte er einen Stoß. Die Farben und die gesteigerte Besonderheit der Geräusche verschwanden sofort aus dem Tag.

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Dor. »Es ist schon Mittag.«

»Mittag?« fragte Lois. »Das kann nicht sein! Es war nicht einmal neun, als wir hierher gekommen sind, und das kann höchstens eine halbe Stunde her sein!«

»Die Zeit vergeht schneller, wenn man höher ist«, sagte der alte Dor. Er sprach feierlich, aber seine Augen funkelten. »Fragt jemand, der Samstagabends Bier trinkt und Country-Musik hört. Kommt jetzt! Beeilt euch! Die Uhr tickt! Überquert den Bach!«

Lois ging als erste, sie hüpfte vorsichtig von Stein zu Stein und breitete dabei wie Dorrance die Arme aus. Ralph folgte ihr und hielt die Hände zu ihren beiden Seiten in Hüfthöhe, damit er sie halten könnte, falls sie stürzte, aber letztendlich war er derjenige, der beinahe gestolpert und ins Wasser gefallen wäre. Er konnte es vermeiden, aber nur, indem er einen Fuß bis zum Knöchel durchnäßte. Ihm war, als könnte er irgendwo in einem entlegenen Winkel seines Kopfes Carolyn lachen hören.

»Kannst du uns gar nichts sagen, Dor?« fragte er, als sie die andere Seite erreicht hatten. »Wir tappen ziemlich im Dunkeln.« Und nicht nur geistig oder seelisch, dachte er. Er war in seinem ganzen Leben noch nie in diesem Wald gewesen, nicht einmal als junger Mann, um Wild oder Rebhühner zu jagen. Wenn der Weg, auf dem sie gingen, einfach aufhören sollte, oder falls der alte Dor das verlor, was bei ihm als Orientierung galt, was dann?

»Ja«, antwortete Dor sofort. »Ich kann dir eines sagen, und das ist absolut sicher.«

»Was?«

»Dies hier sind die besten Gedichte, die Robert Creeley je geschrieben hat«, sagte der alte Dor und hielt seine Ausgabe von For Love in die Höhe, und bevor einer von ihnen drauf antworten konnte, drehte er sich um und folgte wieder dem schmalen Pfad, der nach Westen durch den Wald führte.

Ralph sah Lois an. Lois erwiderte den Blick gleichermaßen ratlos. Dann zuckte sie die Achseln. »Komm, alter Junge«, sagte sie. »Wir sollten ihn besser nicht aus den Augen verlieren. Ich habe die Brotkrumen vergessen.«

Sie erklommen einen weiteren Hügel, und von dessen Kuppe konnte Ralph sehen, daß der Pfad, dem sie folgten, zu einem alten Holzfällerweg mit einem Grasstreifen in der Mitte führte. Der endete etwa fünfzig Meter weiter als Sackgasse an einer alten, zugewucherten Kiesgrube. Direkt vor dem Zugang zu der Kiesgrube wartete ein Auto im Leerlauf, ein völlig anonymer Ford neueren Baujahrs, der Ralph trotzdem bekannt vorkam. Als die Tür aufging und der Fahrer ausstieg, fügten sich plötzlich alle Teile zusammen. Selbstverständlich kannte er das Auto; er hatte es zuletzt Dienstag nachts von Lois' Wohnzimmerfenster aus gesehen. Da hatte es schräg mitten auf der Harris Avenue gestanden, während der Fahrer im Licht der Scheinwerfer kniete... neben dem sterbenden Hund kniete, den er angefahren hatte. Joe Wyzer hörte sie kommen, hob den Kopf und winkte.

Kapitel 23

»Er hat gesagt, ich sollte fahren«, sagte Joe Wyzer, als er das Auto vorsichtig an der Zufahrt zur Kiesgrube wendete.

»Wohin?« fragte Lois. Sie saß mit Dorrance auf dem Rücksitz. Ralph saß vorne bei Joe Wyzer, der aussah, als wäre er nicht ganz sicher, wo er war oder wer er war. Ralph war ein Stück in die Höhe gestiegen - nur eine Winzigkeit -, als er dem Apotheker die Hände geschüttelt hatte, weil er einen Blick auf Wyzers Aura werfen wollte. Aura und Ballonschnur waren da und sahen völlig gesund aus... aber ihm kam das helle Gelborange leicht gedämpft vor. Ralph vermutete, daß das wahrscheinlich auf den Einfluß des alten Dor zurückzuführen war.

»Gute Frage«, sagte Wyzer. Er stieß ein kurzes, verwirrtes Lachen aus. »Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung. Das war der merkwürdigste Tag in meinem ganzen Leben. Daran kann absolut kein Zweifel bestehen.«

Der Waldweg endete an einer zweispurigen, asphaltierten Straße. Wyzer hielt an, sah vorschriftsmäßig nach links und rechts und bog dann links ab. Sie passierten Sekunden später ein Schild mit der Aufschrift ZUR 195, und Ralph vermutete, daß Wyzer, sobald sie die Interstate erreichten, nach Norden abbiegen würde. Jetzt wußte er, wo sie waren - etwa drei Meilen südlich der Route 33. Von hier aus konnten sie in weniger als einer halben Stunde wieder in Derry sein, und Ralph hatte keine Zweifel, daß sie genau dorthin unterwegs waren.

Ralph fing unvermittelt an zu lachen. »Nun sind wir also alle glücklich versammelt«, sagte er. »Drei glückliche Schlaflose bei einer Spritztour. Möglicherweise auch vier. Willkommen in der wunderbaren Welt der Hyperrealität, Joe.«

Joe warf ihm einen scharfen Blick zu, aber dann entspannte er sich und grinste. »Ist sie das?« Und ehe Ralph oder Lois antworten konnten, sagte er: »Ja, ich nehme an, daß sie es ist.« »Hast du das Gedicht gelesen?« fragte Dorrance hinter Ralph. »Das anfängt: >Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann

Ralph drehte sich um und sah, daß Dorrance immer noch sein breites, verklärtes Lächeln sehen ließ. »Ja, das habe ich. Dor -«

»Ist das nicht ein Knüller? Es ist so gut. Stephen Dobyns erinnert mich an Hart Crane ohne das Prätentiöse. Vielleicht meine ich auch Stephen Crane, aber das glaube ich nicht. Selbstverständlich fehlt ihm das Melodische von Dylan Thomas, aber ist das wirklich so schlimm? Wahrscheinlich nicht. Die moderne Dichtung hat nichts mit Musik zu tun. Sie handelt von Mut - wer ihn hat und wer ihn nicht hat.«

»O Mann«, sagte Lois. Sie verdrehte die Augen.

»Er könnte uns wahrscheinlich alles sagen, was wir wissen müssen, wenn wir ein paar Ebenen aufsteigen würden«, sagte Ralph. »Aber das möchtest du nicht, Dor, oder? Weil die Zeit schneller vergeht, wenn man oben ist.«

»Bingo«, antwortete Dorrance. Weiter vorne konnten sie die blauen Schilder der Interstateauffahrt sehen. »Ihr werdet später aufsteigen müssen, nehme ich an, du und Lois, darum ist es wichtig, daß ihr jetzt soviel Zeit wie möglich spart. Zeit... spart.« Er machte eine seltsam sinnträchtige Geste, indem er mit dem knorrigen Daumen und dem Zeigefinger durch die Luft fuhr und sie dabei zusammenführte, als wollte er einen Durchgang andeuten, der immer schmaler wird.

Joe Wyzer schaltete den Blinker ein, bog links ab und fuhr die nördliche Auffahrt Richtung Derry hinauf.

»Wie sind Sie in das alles verwickelt worden, Joe?« fragte Ralph ihn. »Warum hat Dorrance von allen Leuten in der West Side ausgerechnet Sie als Chauffeur ausgewählt?«

Wyzer schüttelte den Kopf, und als das Auto den Highway erreicht hatte, fuhr es sofort auf die Überholspur. Ralph streckte rasch die Hand aus und nahm eine Kurskorrektur vor, wobei er sich daran erinnerte, daß Joe in letzter Zeit wahrscheinlich auch nicht viel Schlaf bekommen hatte. Glücklicherweise war der Highway zumindest so weit von der Stadt entfernt weitgehend verlassen. Das ersparte ihm immerhin eine Angst, und davon hatte er heute weiß Gott schon genug gehabt.

»Wir sind alle durch den Plan zusammengebunden«, sagte Dorrance unvermittelt. »Das ist Ka-tet, was bedeutet eines aus vielen. So, wie viele Reime ein einziges Gedicht bilden. Verstanden?«

»Nein.« Ralph und Lois und Joe sagten es gleichzeitig, ein perfekter Chor, und dann lachten sie nervös. Die drei Schlaflosen der Apokalypse, dachte Ralph. Gott steh uns bei.

»Schon gut«, sagte Dor mit seinem breiten Grinsen. »Glaubt es mir einfach. Du und Lois... Helen und ihre kleine Tochter... Bill... Faye Chapin... Trigger Vachon... ich! Alle Teil des Plans.«

»Das ist schön, Dor«, sagte Lois, »aber wohin bringt uns der Plan jetzt? Und was sollen wir tun, wenn wir dort sind?«

Dorrance beugte sich nach vorne und flüsterte Joe Wyzer etwas ins Ohr, wobei er den Mund mit einer knotigen Hand voller Altersflecke abschirmte. Dann lehnte er sich wieder zurück und schien ungeheuer zufrieden mit sich selbst zu sein.

»Er sagt, wir fahren zum Bürgerzentrum«, sagte Joe.

»Zum Bürgerzentrum!« rief Lois erschrocken aus. »Nein, das kann nicht richtig sein! Die beiden kleinen Männer haben gesagt -«

»Vergiß sie vorerst mal«, sagte Dorrance. »Vergiß nur nicht, worum es geht - Mut. Wer ihn hat, und wer nicht.«

Fast eine Meile herrschte Schweigen in Joe Wyzers Ford. Dorrance schlug sein Buch mit Gedichten von Robert Creeley auf und fing an zu lesen, wobei er die Zeilen mit dem gelben Nagel eines Fingers nachfuhr. Ralph mußte an ein Spiel denken, das sie manchmal als Kinder gespielt hatten - kein besonders schönes. Es hieß Schnepfenjagd. Man nahm sich Kinder, die jünger und wesentlich leichtgläubiger als man selbst waren, tischte ihnen ein Lügenmärchen über die sagenhafte Schnepfe auf, und dann gab man ihnen Jutesäcke und ließ sie einen ganzen Nachmittag unter Mühen und Plagen durch Wald und Flur ziehen, um nach nicht existierenden Vögeln Ausschau zu halten. Dieses Spiel nannte man auch »Such die Wildgans«, und er hatte plötzlich das unausweichliche Gefühl, daß Klotho und Lachesis es auf dem Dach des Krankenhauses mit ihnen gespielt hatten.

Er drehte sich auf dem Sitz herum und sah den alten Dor direkt an. Dorrance knickte die obere Ecke der Seite um, die er gerade las, und betrachtete Ralph mit höflichem Interesse.

»Sie haben uns gesagt, wir sollten nicht mal in die Nähe von Ed Deepneau oder Doc Nr. 3 kommen«, sagte Ralph. Er sagte es langsam und sehr deutlich. »Sie haben uns unmißverständlich klargemacht, daß wir nicht einmal daran denken sollten, weil die die beiden in dieser Situation mit außergewöhnlichen Kräften versehen worden seien und wir zerquetscht würden wie die Fliegen. Ich glaube, Lachesis hat sogar angedeutet, wenn wir versuchen würden, uns Ed oder Atropos zu nähern, würden wir vielleicht Besuch von einem der Bosse der höheren Ebenen bekommen... jemand, den Ed den Scharlachroten König nennt. Nach allem, was man so hört, nicht unbedingt ein netter Kerl.«

»Ja«, sagte Lois mit schwacher Stimme. »Das haben sie uns auf dem Dach des Krankenhauses gesagt. Sie haben gesagt, wir sollten statt dessen nach High Ridge. Um die verantwortliche Frau davon zu überzeugen, daß sie die Veranstaltung mit Susan Day absagt.«

»Und ist Ihnen das gelungen?« fragte Wyzer.

»Selbstverständlich nicht! Eds verrückte Freunde sind vor uns dort gewesen, haben das Haus angezündet und mindestens zwei Frauen ermordet. Erschossen. Ich glaube, eine war genau die Frau, mit der wir reden sollten.«

»Gretchen Tillbury«, sagte Ralph.

»Ja«, stimmte Lois zu. »Aber wir müssen ganz bestimmt nichts mehr tun - ich kann mir nicht vorstellen, daß die Veranstaltung stattfinden wird. Ich meine, wie könnten sie das jetzt noch tun? Mein Gott, mindestens vier Menschen wurden getötet! Sie müssen die Rede absagen oder verschieben. Ist es nicht so?«

Weder Dorrance noch Joe antworteten. Ralph antwortete auch nicht - er mußte an Helens blutunterlaufene, wütende Augen denken. Wie kannst du das fragen? hatte sie gesagt. Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen.

Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen.

Gab es eine rechtliche Möglichkeit, daß die Polizei es ihnen verbieten konnte? Wahrscheinlich nicht. Der Stadtrat? Vielleicht. Vielleicht konnten sie eine Sondersitzung einberufen und die Genehmigung widerrufen, die sie Woman-Care erteilt hatten. Aber würden sie das tun? Wenn zwei- oder dreitausend erboste, trauernde Frauen vor dem Rathaus auf und ab marschierten und unisono brüllten: Wenn sie uns jetzt aufhalten haben sie gewonnen, würde der Stadtrat es dann wagen, die Genehmigung zu widerrufen?

Ralph spürte, wie allmählich eine tiefe Niedergeschlagenheit von ihm Besitz ergriff.

Helen hielt die Veranstaltung heute abend eindeutig für wichtiger denn je, und damit stand sie sicher nicht allein. Es ging nicht mehr nur um freie Entscheidung und wer das Recht hatte, zu bestimmen, was eine Frau mit ihrem eigenen Körper tat; jetzt ging es um Belange, die wichtig genug waren, dafür zu sterben, und das Andenken der Freunde zu ehren, die bereits gestorben waren. Die Einsätze des Pokerspiels waren sprunghaft in die Höhe geschnellt. Jetzt ging es nicht mehr um Politik, sondern um eine Art weltliche Totenmesse für die Gefallenen.

Lois packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn heftig. Ralph kehrte ins Hier und Jetzt zurück, aber langsam, wie ein Mann, der mitten in einem unglaublich wirklichkeitsnahen Traum geweckt wird.

»Sie werden doch absagen, oder nicht? Und selbst wenn nicht, wenn sie es aus einem verrückten Grund nicht tun, wird kaum jemand hingehen, richtig? Nach allem, was in High Ridge passiert ist, werden sie Angst davor haben, zu kommen.«

Ralph dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Die meisten werden denken, daß die Gefahr vorüber ist. In den Nachrichten werden sie sagen, daß zwei der Radikalen, die den Anschlag begangen haben, tot sind, und daß der dritte katatonisch ist, oder so was.«

»Aber Ed! Was ist mit Ed?« schrie sie. »Er ist derjenige, der sie zu dem Anschlag angestiftet hat, um Himmels willen! Er ist doch derjenige, der sie überhaupt erst dorthin geschickt hat!«

»Das mag stimmen, wird wahrscheinlich stimmen, aber wie könnten wir es beweisen?« fragte Ralph. »Weißt du, was die Cops meiner Meinung nach in Charlie Pickerings Bleibe finden werden? Einen Abschiedsbrief, in dem steht, daß alles seine Idee war. Ein Brief, der Ed wahrscheinlich unter dem Vorwand einer Anklage völlig entlasten wird... wie Ed sie im Stich gelassen hat, als sie ihn am nötigsten brauchten. Und wenn sie diesen Brief nicht bei Charlie Pickering finden, dann bei Frank Feiton. Oder Sandra McKay.«

»Aber das... das -« Lois verstummte und biß sich auf die Unterlippe. Dann sah sie mit hoffnungsvollem Blick zu Wyzer. »Was ist mit Susan Day? Wo ist sie? Weiß das jemand? Sie? Ralph und ich werden sie anrufen und ihr sagen -«

»Sie ist schon in Derry«, sagte Wyzer, »aber ich bezweifle, daß selbst die Polizei genau weiß, wo sie sich aufhält. Aber als der alte Mann und ich dorthin gefahren sind, habe ich in den Nachrichten gehört, daß die Veranstaltung heute abend stattfinden wird... und das angeblich aus dem Mund der Dame höchstpersönlich.«

Klar, dachte Ralph. Logisch. Die Show geht weiter, die Show muß weitergehen, und das weiß sie. Jemand, der all die Jahre auf der Welle der Frauenbewegung reitet - verdammt, seit der Convention in Chicago 1968 -, weiß genau, wann ein entscheidender Augenblick gekommen ist. Sie hat das Risiko abgeschätzt und akzeptabel gefunden. Entweder das, oder sie hat sich überlegt, daß der Verlust der Glaubwürdigkeit untragbar wäre, wenn sie einfach wieder abzieht. Vielleicht von beidem etwas. Wie ckm auch sei, sie ist genauso Gefangene der Ereignisse - des Ka-tet - wie wir alle.

Sie hatten die Randbezirke von Derry erreicht. Ralph konnte das Bürgerhaus am Horizont sehen.

Jetzt wandte sich Lois an den alten Dor. »Wo ist sie? Weißt du das? Es spielt keine Rolle, wieviel Leibwächter sie um sich hat; Ralph und ich können unsichtbar sein, wenn wir es wollen... und wir können sehr überzeugend auf die Leute wirken.«

»Oh, es würde überhaupt nichts ändern, wenn ihr Susan Day umstimmen würdet«, sagte Dor. Er stellte immer noch das breite, nervtötende Grinsen zur Schau. »Sie werden zum Bürgerzentrum kommen, was auch geschehen mag. Und wenn sie vor verschlossenen Türen stehen, werden sie sie aufbrechen und ihre Veranstaltung trotzdem abhalten. Um zu zeigen, daß sie keine Angst haben.«

»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, sagte Ralph düster.

»Richtig, Ralph!« sagte Dor fröhlich und tätschelte Ralphs Arm.

Fünf Minuten später fuhr Joe mit dem Ford an der scheußlichen Plastikstatue von Paul Bunyan vorbei, die vor dem Bürgerzentrum stand, und bog an einem Schild mit der Aufschrift KOSTENLOS PARKEN BEI IHREM BÜRGERZENTRUM! ab.

Der einen Morgen große Parkplatz lag zwischen dem Gebäude des Bürgerzentrums selbst und der Rennbahn des Bassey Parks. Wäre die heutige Veranstaltung ein Rock-Konzert oder eine Bootsschau oder ein Ringkampf gewesen, hätten sie den Parkplatz um diese Zeit noch ganz für sich allein gehabt, aber das Ereignis des heutigen Abends war offensichtlich meilenweit von einem Basketballspiel oder einem Monstertruck-Rennen entfernt. Sechzig bis siebzig Autos standen bereits auf dem Parkplatz, überall standen kleine Gruppen beisammen und betrachteten das Gebäude. Die meisten waren Frauen. Einige hatten Picknickkörbe dabei, manche weinten, fast alle trugen einen schwarzen Trauerflor am Arm. Ralph sah eine Frau mittleren Alters mit einem erschöpften, intelligenten Gesicht und einem dichten grauen Haarschopf, die die schwarzen Bänder aus einer Tragetasche verteilte. Sie trug ein T-Shirt mit dem Gesicht von Susan Day darauf und dem Schriftzug

WE SHALL VERC ME.

Auf der Durchfahrt vor den Eingangstüren des Bürgerhauses herrschte noch emsigere Betriebsamkeit als auf dem Parkplatz. Nicht weniger als sechs Übertragungswagen diverser Fernsehsender parkten dort, und verschiedene Techniker standen in kleinen Gruppen unter dem dreieckigen Baldachin und unterhielten sich darüber, wie sie das Ereignis des heutigen Abends anpacken wollten. Und laut dem bettlakengroßen Banner, das von dem Baldachin herabhing und träge im Wind flatterte, würde ein Ereignis stattfinden. GROSSVERANSTALTUNG, stand in großen, verschwommenen Buchstaben aus Spraydosenfarben darauf. 20:00 UHR. BEWEISEN SIE IHRE SOLIDARITÄT, ZEIGEN SIE IHRE WUT, TRÖSTEN SIE IHRE SCHWESTERN.

Joe schob den Schalthebel des Ford auf Parken, dann drehte er sich zu dem alten Dor um und zog die Brauen hoch. Dor nickte, worauf Joe Ralph ansah. »Ich schätze, hier müssen Sie und Lois aussteigen, Ralph. Viel Glück. Ich würde mit Ihnen kommen, wenn ich könnte - ich habe ihn sogar darum gebeten -, aber er sagt, ich bin nicht richtig ausgerüstet.« »Schon gut«, sagte Ralph. »Wir danken Ihnen für alles, was Sie getan haben, nicht wahr, Lois?«

»Ganz bestimmt«, sagte Lois.

Ralph griff nach der Türklinke, dann ließ er sie wieder los. Er drehte sich zu Dorrance um. »Worum geht es hier? Ich meine, wirklich? Es geht nicht darum, die zweitausend Menschen zu retten, die laut Klotho und Lachesis heute abend hier anwesend sein werden, soviel steht fest. Für diese ewigen Mächte, von denen sie gesprochen haben, sind zweitausend Menschenleben wahrscheinlich nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein. Also worum geht es? Warum sind wir hier?«

Nun verschwand Dorrance' Grinsen endlich; ohne das sah er jünger und seltsam eindrucksvoll aus. »Hiob hat Gott dieselbe Frage gestellt«, sagte er, »und keine Antwort bekommen. Du wirst auch keine bekommen, aber so viel kann ich dir verraten: Du bist zum Angelpunkt gewaltiger Ereignisse und Kräfte geworden. Das Wirken des höheren Universums ist fast vollständig zum Stillstand gekommen, da sowohl der Plan wie auch der Zufall ihr Augenmerk darauf richten, welche Fortschritte du machst.«

»Das ist prima, aber ich verstehe es nicht«, sagte Ralph mehr resigniert als wütend.

»Ich ebensowenig, aber zweitausend Menschenleben sind ausreichend für mich«, sagte Lois leise. »Ich könnte nicht mehr weiterleben, wenn ich nicht mindestens versuchen würde, zu verhindern, was geschehen soll. Ich würde den Rest meines Lebens vom Leichentuch um dieses Gebäude herum träumen. Selbst wenn ich nur eine Stunde pro Nacht schlafen könnte, würde ich davon träumen.«

Ralph dachte darüber nach, dann nickte er. Er machte die Tür auf und schwang einen Fuß heraus. »Das ist ein gutes Argument. Außerdem wird Helen da sein. Möglicherweise bringt sie sogar Nat mit. Vielleicht ist das für unbedeutende kurzfristige Fürze wie uns schon genug.«

Und vielleicht, dachte er, möchte ich eine Revanche mit Doc Nr. 3.

O Ralph, stöhnte Carolyn. Clint Eastwood? Schon wieder?

Nein, nicht Clint Eastwood. Und auch nicht Sylvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger. Nicht einmal John Wayne. Er war kein großer Action-Held oder Filmstar; er war nur der gute alte Ralph Roberts aus der Harris Avenue. Aber deshalb war der Groll, den er gegen den Doc mit dem rostigen Skalpell hegte, nicht weniger real. Und bei diesem Groll ging es um wesentlich mehr als einen streunenden Hund und einen alten Geschichtslehrer, der die letzten zehn Jahre oder so ein Stockwerk unter ihm gewohnt hatte. Ralph mußte immerzu an den Salon in High Ridge denken, und an die Frauen, die unter dem Plakat von Susan Day an die Wand gelehnt worden waren. Aber vor seinem geistigen Auge tauchte nicht der Bauch der schwangeren Merrilee auf, sondern Gretchen Tillburys Haar -ihr wunderschönes blondes Haar, das durch den Schuß aus nächster Nähe, der sie das Leben gekostet hatte, größtenteils verbrannt war. Charlie Pickering hatte abgedrückt, und Ed Deepneau hatte ihm möglicherweise die Waffe in die Hand gegeben, aber Ralph gab Atropos die alleinige Schuld, Atropos dem Springseilräuber, Atropos dem Huträuber, Atropos dem Kammräuber.

Atropos dem Ohrringräuber.

»Komm, Lois«, sagte er. »Gehen -«

Aber sie legte ihm eine Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. »Noch nicht - komm wieder rein und mach die Tür zu.«

Er sah sie eindringlich an, dann tat er, was sie gesagt hatte. Sie machte eine Pause, sammelte ihre Gedanken, und als sie weitersprach, sah sie den alten Dor direkt an.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum wir nach High Ridge geschickt worden sind«, sagte sie. »Und das will ich verstehen. Wenn wir hier sein sollten, warum mußten wir dann dorthin. Ich meine, wir konnten einige Menschenleben retten, und darüber bin ich froh, aber ich glaube, Ralph hat recht ein paar Menschenleben sind bedeutungslos für die Leute, die hier das Sagen haben.«

Einen Augenblick herrschte Stille, dann sagte Dorrance: »Sind dir Klotho und Lachesis wirklich weise und allwissend vorgekommen, Lois?«

»Nun... sie waren klug, aber ich glaube, Genies waren sie nicht gerade«, sagte sie nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Einmal haben sie sich Arbeiter genannt, die ganz weit unten auf der Leiter stehen, viel weiter unten als die leitenden Angestellten, die die Entscheidungen treffen.«

Der alte Dor nickte und lächelte. »Klotho und Lachesis sind selbst fast Kurzfristige im großen Weltenplan. Sie haben ihre eigenen Ängste und geistigen toten Winkel. Außerdem können sie falsche Entscheidungen treffen... was letztlich aber keine Rolle spielt, weil sie auch dem Plan dienen. Und dem Ka-tet.«

»Sie haben gedacht, wir würden verlieren, wenn wir Atropos direkt gegenübertreten, richtig?« fragte Ralph. »Darum haben sie sich selbst eingeredet, wir könnten tun, was erforderlich ist, indem wir nach High Ridge gingen, statt hierher zu kommen.«

»Ja«, sagte Dor. »So ist es.«

»Prima«, sagte Ralph. »Ich mag ein offenes Wort. Besonders, wenn es -«

»Nein«, sagte Dor. »Das ist es nicht.«

Ralph und Lois wechselten einen bestürzten Blick.

»Wovon redest du?«

»Es ist beides zugleich. Das ist häufig der Fall mit Sachen innerhalb des Plans. Seht ihr... nun...« Er seufzte. »Ich hasse diese Fragen. Ich beantworte so gut wie niemals Fragen, hab ich das nicht schon gesagt?«

»Ja«, sagte Lois. »Das hast du.«

»Ja. Und jetzt, bingo! So viele Fragen. Schlimm! Und sinnlos!«

Ralph sah Lois an, und sie erwiderte den Blick. Keiner machte Anstalten, aus dem Auto auszusteigen.

Dor stieß einen Seufzer aus. »Nun gut... aber es ist die letzte Auskunft, die ich geben werde, also hört gut zu. Klotho und Lachesis haben euch vielleicht aus den falschen Gründen nach High Ridge geschickt, aber der Plan hat euch aus den richtigen Gründen dorthin geschickt. Ihr habt eure Aufgabe dort erfüllt.«

»Indem wir die Frauen gerettet haben«, sagte Lois.

Aber Dorrance schüttelte den Kopf.

»Was haben wir dann getan?« schrie sie fast. »Was? Haben wir kein Recht zu erfahren, welchen Teil des gottverdammten Plans wir erfüllt haben?« »Nein«, sagte Dorrance. »Jedenfalls jetzt noch nicht. Weil ihr es noch einmal tun müßt.«

»Das ist verrückt«, sagte Ralph.

»Keineswegs«, antwortete Dorrance. Er drückte For Love jetzt fest an die Brust, knickte es hin und her und sah Ralph ernst an. »Der Zufall ist verrückt. Der Plan ist normal.«

Na gut, dachte Ralph, was haben wir in High Ridge getan, außer die Leute im Keller zu retten? Und natürlich John Leydecker - ich glaube, Pickering hätte ihn genau wie Chris Nell getötet, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Könnte es etwas mit Leydecker zu tun haben?

Möglicherweise schon, aber das schien nicht der Punkt zu sein.

»Dorrance«, sagte er »könntest du uns nicht bitte noch ein paar Informationen geben? Ich meine -«

»Nein«, sagte der alte Dor nicht unfreundlich. »Keine Fragen mehr, keine Zeit. Wenn dies alles vorbei ist, gehen wir zusammen einmal gut essen... das heißt, wenn es uns dann noch gibt.«

»Du weißt echt, wie man jemanden aufmuntert, Dor.« Ralph machte die Tür auf. Lois ebenfalls, und sie stiegen beide aus und standen auf dem Parkplatz. Ralph bückte sich und sah Joe Wyzer an. »Gibt es sonst noch etwas? Etwas, das Ihnen einfällt?«

»Nein, ich glaube nicht -«

Dor beugte sich wieder nach vorne und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Joe hörte stirnrunzelnd zu.

»Nun?« fragte Ralph, als sich Dorrance zurücklehnte. »Was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt, ihr sollt meinen Kamm nicht vergessen«, sagte Joe. »Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht, aber das ist ja nichts Neues.«

»Schon gut«, sagte Ralph und lächelte verhalten. »Das ist eines der wenigen Dinge, die ich verstehe. Komm mit, Lois sehen wir uns um. Mischen wir uns ein wenig unter das Volk.«

Auf halbem Weg über den Parkplatz stieß sie ihm mit dem Ellbogen so fest in die Rippen, daß Ralph stolperte. »Sieh doch!« flüsterte sie. »Gleich da drüben! Ist das nicht Connie Chung?«

Ralph sah hin. Ja; die Frau im beigen Mantel, die zwischen zwei Technikern mit dem Emblem von CBS an den Jacketts stand, war mit ziemlicher Sicherheit Connie Chung. Er hatte ihr hübsches, intelligentes Gesicht und freundliches Lächeln bei so vielen Tassen Kaffee bewundert, daß kaum ein Zweifel bestehen konnte.

»Entweder sie oder ihre Zwillingsschwester«, sagte er.

Lois schien alles über den alten Dor und High Ridge und die kahlköpfigen Docs vergessen zu haben; in diesem Moment war sie wieder die Frau, die Bill McGovern immer »unsere Lois« genannt hatte... stets mit der sarkastisch hochgezogenen Augenbraue. »Hol's der Teufel! Was macht sie denn hier?«

»Nun«, begann Ralph, und dann hielt er sich die Hand vor den Mund, um ein gewaltiges Gähnen zu verbergen, »ich schätze, was in Derry los ist, sorgt inzwischen landesweit für Schlagzeilen. Sie muß hier sein, um einen Livebericht vor dem Bürgerzentrum für die Abendnachrichten zu machen. In jedem Fall -«

Plötzlich und ohne Vorwarnung kamen die Auren zurück. Ralph stöhnte.

»Großer Gott! Lois, siehst du das?«

Aber er glaubte es nicht. Wenn sie es gesehen hätte, dann hätte Connie Chung wahrscheinlich nicht einmal ehrenhalber Erwähnung in Lois' Aufmerksamkeit gefunden. Dies war unsagbar schrecklich, und Ralph wurde zum erstenmal voll und ganz bewußt, daß selbst die helle Welt der Auren ihre Schattenseite hatte, bei der ein normaler Mensch auf die Knie gesunken wäre und Gott für seine eingeschränkte Wahrnehmung gedankt hätte.

Und dabei ist dies nicht einmal ein Schritt auf der Leiter hinauf, dachte er. Jedenfalls glaube ich es nicht. Ich sehe diese größere Welt nur wie ein Mann, der durch ein Fenster schaut. Ich bin nicht in ihr.

Und er wollte auch gar nicht darin sein. Wenn man so etwas nur vor sich sah, wünschte man sich fast, man wäre blind.

Lois sah ihn stirnrunzelnd an. »Was, die Farben? Nein. Sollte ich es versuchen? Stimmt etwas nicht mit ihnen?«

Er versuchte zu antworten, konnte es aber nicht. Einen Augenblick später spürte er, wie sie seinen Arm über dem Ellbogen mit einem schmerzhaften Klammergriff packte, und wußte, daß eine Erklärung nicht mehr nötig war. Ob gut oder schlecht, Lois sah es nun mit eigenen Augen.

»O Gott«, wimmerte sie mit einer atemlosen dünnen Stimme, kurz davor, in Tränen auszubrechen. »O Gott, o Gott, ojeh.«

Vom Dach des Derry Home hatte die Aura, die über dem Bürgerzentrum hing, wie ein riesiger Schirm ausgesehen - wie das Emblem der Travellers' Insurance, das ein Kind mit Wachsmalstift schwarz angemalt hatte. Hier, auf dem Parkplatz, war es, als stünde man in einem großen und unvorstellbar häßlichen Moskitonetz, so alt und verwahrlost, daß der Gazestoff von schwarz-grünem Mehltau verunstaltet wurde. Die helle Oktobersonne wurde zu einer trüben Scheibe angelaufenen Silbers. Die Atmosphäre wurde düster und verhangen und erinnerte Ralph an Fotos von London gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie sahen nicht nur das Leichentuch des Bürgerzentrums vor sich, nicht mehr; sie waren lebendig darin begraben. Ralph konnte spüren, wie es sich gierig an ihn schmiegte und versuchte, ihn mit Gefühlen von Verlust, Verzweiflung und Niedergeschlagenheit zu ersticken.

Warum das alles? fragte er sich und verfolgte apathisch, wie Joe Wyzers Ford mit dem alten Dor auf dem Rücksitz die Main Street entlangfuhr. Ich meine, wirklich, was soll das? Wir können es nicht verändern, völlig unmöglich. Vielleicht konnten wir in High Ridge etwas ausrichten, aber der Unterschied zwischen dem, was dort vor sich ging, und dem, was sich hier abspielt, ist wie der zwischen einem Klecks und einem schwarzen Loch. Wenn wir versuchen, uns hier einzumischen, werden wir zerquetscht.

Er hörte ein Stöhnen neben sich und stellte fest, daß Lois weinte. Er nahm seine ganze schwindende Energie zusammen und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Durchhalten, Lois«, sagte er. »Wir können es damit aufnehmen.« Aber er hatte seine Zweifel.

»Wir atmen es ein!« schluchzte sie. »Es ist, als würden wir den Tod einatmen! O Ralph, laß uns von hier fortgehen! Bitte, laß uns einfach fortgehen!«

Das klang so verlockend für ihn wie Wasser auf einen Verdurstenden in der Wüste wirken mußte, aber er schüttelte den Kopf. »Heute abend werden hier zweitausend Menschen sterben, wenn wir nichts unternehmen. Ich bin ziemlich verwirrt, was den Rest der Angelegenheit angeht, aber das sehe ich ohne Schwierigkeiten ein.«

»Okay«, flüsterte sie. »Laß nur den Arm um mich gelegt, damit ich mir den Schädel nicht aufschlage, wenn ich ohnmächtig werde.«

Es war die reine Ironie, dachte Ralph. Sie hatten nun Gesichter und Körper von vitalen Menschen mittleren Alters, schlurften aber über den Parkplatz wie zwei alte Leute, deren Muskeln zu Brei und deren Knochen zu Glas geworden sind. Er konnte Lois schwer und keuchend atmen hören, wie eine Frau, die gerade schwer verletzt worden ist.

»Ich bringe dich zurück, wenn du willst«, sagte Ralph, und das war sein Ernst. Er würde sie zum Parkplatz zurückbringen, er würde sie zu der orangefarbenen Bank der Bushaltestelle bringen, die er von hier sehen konnte. Und wenn der Bus kam, wäre es das Einfachste von der Welt, einfach einzusteigen und zur Harris Avenue zurückzufahren. Zwei Vierteldollarmünzen konnten den Trick bewerkstelligen.

Er spürte, wie die tödliche Aura, die diesen Ort umgab, auf ihm lastete, sie wollte ihn ersticken wie ein Plastikbeutel, und ihm fiel etwas ein, das McGovern über May Lochers Emphysem gesagt hatte - daß es eine der Krankheiten sei, von denen man immer etwas hatte. Jetzt hatte er eine ziemlich gute Vorstellung, wie sich May Locher in den letzten Lebensjahren gefühlt haben mußte. Es spielte keine Rolle, wie fest er die schwarze Luft einsog oder wie tief in die Lungen er sie pumpte; sie befriedigte nicht. Sein Herz und sein Kopf pochten unablässig, und er fühlte sich, als hätte er den schlimmsten Kater seines Lebens.

Er wollte gerade den Mund aufmachen und ihr sagen, daß er sie zurückbringen würde, als sie selbst atemlos keuchend das Wort ergriff. »Ich glaube, ich schaffe es... aber ich hoffe... es wird nicht lange dauern. Ralph, wie kommt es, daß wir etwas so Schlimmes nicht spüren können, auch wenn wir die Farben nicht sehen? Warum können sie es nicht?« Sie deutete auf die Presseleute, die sich vor dem Bürgerzentrum drängten. »Sind wir Kurzfristigen so unempfindlich? Der Gedanke gefällt mir nicht.«

Er schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß er es nicht wußte, aber er überlegte sich, daß die Nachrichtensprecher, Videotechniker und das Wachpersonal vor den Türen und unter dem Banner, das vom Baldachin hing, möglicherweise doch etwas spürten. Er sah eine Menge Leute, die Kaffeetassen aus Plastik in den Händen hielten, aber niemand trank tatsächlich etwas davon. Ein Karton mit Krapfen stand auf der Haube eines Kombis, aber nur ein einziger war herausgeholt worden, und der lag angebissen auf einer Serviette daneben. Ralph betrachtete ein Dutzend Gesichter und sah nicht ein einziges Lächeln. Die Nachrichtenleute gingen ihrer Arbeit nach - sie justierten die Kameras, markierten Stellen, wo die Moderatoren ins Bild kamen, verlegten Koaxialkabel und befestigten sie mit Klebeband auf dem Beton -, aber sie taten es ohne die Aufregung, die Ralph bei einer Geschichte dieser Größenordnung erwartet hätte.

Connie Chung kam mit einem bärtigen, gutaussehenden Kameramann unter dem Baldachin hervor - MICHAEL ROSENBERG stand auf dem Namensschild an seiner CBS-Jacke - und hob die Arme, wobei sie mit den Händen einen Rahmen bildete, um ihm zu zeigen, wie sie das Banner aufgenommen haben wollte, das von dem Baldachin herunterhing. Rosenberg nickte. Chungs Gesicht war blaß und ernst, und einmal im Verlauf ihrer Unterhaltung mit dem bärtigen Kameramann sah Ralph, wie sie verstummte und unsicher eine Hand an die Schläfe hielt, als hätte sie den Faden verloren oder fühlte sich schwach.

Er fand, daß sämtlichen Mienen, die er sah, unterschwellig ein Zug gemeinsam war - ein roter Faden gleichsam -, und er glaubte, daß er wußte, was es war: Sie litten alle an etwas, das man Melancholie genannt hatte, als er noch ein Kind war, und Melancholie war nur ein besseres Wort für den Blues.

Ralph erinnerte sich an Zeiten in seinem Leben, als er das emotionale Äquivalent von einer kalten Strömung beim Schwimmen oder Turbulenzen beim Fliegen erlebt hatte. Man schleppte sich so durch seinen Tag, fühlte sich manchmal großartig, manchmal nur so lala, aber man kam zurecht und brachte es hinter sich... und dann stürzte man plötzlich ohne ersichtlichen Grund ab und ging in Flammen auf. Ein Gefühl von Scheiße, was soll's überkam einen - in dem Moment ohne Zusammenhang mit einem bestimmten Ereignis im Leben, aber trotzdem ungeheuer stark ausgeprägt -, und man wollte einfach nur wieder ins Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen.

Vielleicht wird dieses Gefühl von so etwas verursacht, dachte er. Vielleicht liegt es daran, daß wir mit so etwas konfrontiert werden - ein gewaltiges Chaos von Tod oder Trauer lag in der Luft, das sich ausbreitete wie ein Festzelt aus Spinnweben und Tränen statt Segeltuch und Seilen. Wir sehen es nicht, nicht auf unserer kurzfristigen Ebene, aber wir spüren es. O ja, wir spüren es. Und jetzt...

Jetzt versuchte es, sie auszusaugen. Vielleicht waren sie selbst keine Vampire, wie sie anfangs befürchtet hatten, aber dieses Ding war auf jeden Fall einer. Das Leichentuch verfügte über ein träges, halbintelligentes Leben, und es würde sie aussaugen, wenn es konnte. Wenn sie es zuließen.

Lois stolperte gegen ihn, und Ralph mußte alle Kraft aufbieten, damit sie nicht beide zu Boden fielen. Dann hob sie den Kopf (langsam, als wäre ihr Haar in Zement getaucht worden), bildete mit einer Hand einen Trichter am Mund und atmete tief ein. Gleichzeitig flackerte sie ein wenig. Unter anderen Umständen hätte Ralph dieses Flackern als optische Täuschung abgetan, aber jetzt nicht. Sie war emporgestiegen. Nur ein klein wenig. Nur so weit, daß sie sich gütlich tun konnte.

Er hatte nicht gesehen, wie Lois die Aura der Kellnerin angezapft hatte, aber jetzt spielte sich alles vor seinen Augen ab. Die Auren der Medienleute waren wie kleine, aber hell erleuchtete Papierlampions, die tapfer in einer riesigen, dunklen Höhle strahlten. Nun fuhr ein gebündelter violetter Lichtstrahl aus einem heraus - aus Connie Chungs bärtigem Kameramann Michael Rosenberg. Vor Lois' Gesicht teilte er sich in zwei Strahle. Der obere teilte sich wieder zweimal und fuhr in ihre Nasenlöcher; der untere zwischen ihre geöffneten Lippen und in den Mund. Er konnte ein schwaches Leuchten hinter ihren Wangen erkennen, das sie von innen erhellte wie eine Kerze eine Kürbislaterne.

Ihr Griff um ihn lockerte sich, und plötzlich war die Last ihres Gewichts von ihm genommen. Einen Moment später verschwand der violette Lichtstrahl. Sie drehte sich zu ihm um.

Ihre bleigrauen Wangen hatten wieder etwas Farbe angenommen - nicht viel, aber etwas.

»Schon besser - viel besser. Jetzt du, Ralph!«

Er zögerte - ihm kam es immer noch wie Diebstahl vor -, aber es mußte sein, wenn er nicht hier und jetzt zusammenbrechen wollte; er konnte fast spüren, wie der letzte Rest der geborgten Energie des Nirvana-Jungen durch seine Poren entwich. Er legte die Hand um den Mund, wie er es heute morgen auf dem Parkplatz des Dunkln Donuts getan hatte, und drehte sich auf der Suche nach einem Opfer leicht nach links. Connie Chung war einige Schritte auf sie zu gekommen; sie sah immer noch zu dem Banner hinauf und unterhielt sich mit Rosenberg darüber (dem es nach Lois' Anleihe auch nicht schlechter zu gehen schien als vorher). Ohne weiter nachzudenken, inhalierte Ralph heftig durch den Trichter seiner Finger.

Chungs Aura hatte denselben lieblichen Elfenbeinfarbton eines Brautkleids wie die, welche Helen und Nat an dem Tag umgeben hatten, als sie mit Gretchen Tillbury bei ihm zu Hause gewesen waren. Aber statt eines Lichtstrahls schoß so etwas wie ein langes, gerades Band aus Chungs Aura. Ralph spürte, wie ihn fast augenblicklich Kraft durchdrang und die quälende Erschöpfung aus seinen Gelenken und Muskeln vertrieb. Und er konnte wieder klar denken, als wäre eine gewaltige Menge Matsch gerade aus seinem Gehirn gespült worden.

Connie Chung verstummte, sah kurz zum Himmel und unterhielt sich dann weiter mit dem Kameramann. Ralph drehte sich um und stellte fest, daß Lois ihn ängstlich ansah. »Besser?« flüsterte sie.

»Viel besser«, sagte er, »aber ich komme mir immer noch vor wie unter einem Leichentuch.«

»Ich glaube -«, begann Lois, aber dann fiel ihr Blick auf etwas links vom Eingang des Bürgerzentrums. Sie schrie und preßte sich mit so weit aufgerissenen Augen an Ralph, daß es aussah, als würden sie aus ihren Höhlen quellen. Er folgte ihrem Blick, und der Atem schien ihm in der Kehle zu stocken. Die Architekten hatten versucht, die kahlen Backsteinseiten des Gebäudes aufzulockern und immergrüne Büsche daran entlang gepflanzt. Diese waren entweder vernachlässigt worden, oder man hatte sie absichtlich wachsen lassen, so daß sie ineinander verschlungen waren und den schmalen Grasstreifen zwischen sich und dem betonierten Bürgersteig zu überwuchern drohten, der neben der Durchfahrt verlief.

Riesige Insekten, die wie prähistorische Trilobiten aussahen, krabbelten in Scharen durch dieses Gestrüpp, krochen übereinander, stellten sich manchmal auf und hieben mit den Vorderbeinen nacheinander wie Hirsche, die in der Bruftzeit die Geweihe ineinander verkeilen. Sie waren nicht durchsichtig, wie der Vogel auf der Satellitenschüssel, hatten aber dennoch etwas Geisterhaftes und Unwirkliches an sich. Ihre Auren flackerten fiebrig (und hirnlos, fand Ralph) durch das gesamte Farbspektrum; sie waren so grell und dabei so kurzlebig, daß man sie fast für unheimliche Glühwürmchen hätte halten können.

Aber das sind sie nicht. Du weißt, daß sie das nicht sind.

»He!« Das war Rosenberg, Chungs Kameramann, der sie ansprach, aber fast alle vor dem Gebäude sahen her. »Alles in Ordnung mit ihr, Kollege?«

»Ja«, rief Ralph zurück. Er hatte immer noch die zu einer Röhre gekrümmte Hand vor dem Mund, ließ sie aber rasch sinken, weil er sich albern vorkam. »Sie ist nur -«

»Ich habe eine Maus gesehen!« rief Lois, die ein albernes, benommenes Grinsen zustande brachte... ein »Unsere Lois« Grinsen, wie Ralph es noch nicht gesehen hatte. Er war sehr stolz auf sie. Sie deutete mit einem Finger, der fast nicht zitterte, auf die immergrünen Büsche links von der Tür. »Sie ist da rein verschwunden. Mann, war die riesig! Hast du sie gesehen, Norton?«

»Nein, Alice.«

»Bleiben Sie hier, Lady«, rief Michael Rosenberg. »Heute abend werden Sie hier alle möglichen wilden Tiere sehen.« Es folgte ein gekünsteltes, fast gequältes Lachen, worauf sie sich alle wieder an die Arbeit machten.

»O Gott, Ralph!« flüsterte Lois. »Diese... diese Kreaturen...«

Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ganz ruhig, Lois.«

»Sie wissen es, richtig? Deshalb sind sie hier. Sie sind wie die Geier.«

Ralph nickte. Vor seinen Augen kamen mehrere Insekten aus den Büschen heraus und krochen rastlos an der Wand herum. Sie bewegten sich benommen und träge - wie Fliegen im November auf einer Fensterscheibe - und hinterließen farbige Schleimspuren. Diese verblaßten rasch und verschwanden. Andere Insekten krochen unter den Büschen hervor auf den schmalen Grasstreifen.

Der Nachrichtenkommentator eines lokalen Senders schlenderte auf die verseuchte Stelle zu, und als er den Kopf drehte, konnte Ralph sehen, daß es sich um John Kirkland handelte. Er unterhielt sich mit einer gutaussehenden Frau in Bürokleidung Marke »Power Look«, die Ralph unter normalen Umständen extrem sexy gefunden hätte. Er vermutete, daß sie Kirklands Produzentin war, und fragte sich, ob Lisette Bensons Aura in Gegenwart dieser Frau grün werden würde.

»Sie gehen auf diese Käfer zu!« flüsterte Lois ihm panisch zu. »Wir müssen sie aufhalten, Ralph - wir müssen!«

»Wir werden überhaupt nichts tun.«

»Aber -«

»Lois, wir können nicht anfangen, über Insekten zu reden, die außer uns keiner sehen kann. Wir würden in der Klapsmühle enden. Außerdem sind die Käfer für sie gar nicht da.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Hoffe ich.«

Sie sahen zu, wie Kirkland und seine gutaussehende Kollegin auf den Rasen gingen... mitten hinein in einen gallertartigen Klumpen der zuckenden, krabbelnden Trilobiten. Einer glitt über Kirklands auf Hochglanz polierten Halbschuh, verharrte reglos, bis Kirkland einen Moment stehenblieb, und kroch dann sein Hosenbein hinauf.

»Susan Day ist mir ziemlich scheißegal«, sagte Kirkland. »Woman-Care ist die große Story hier, nicht sie - weinende Tussis mit schwarzen Armbinden.«

»Gib acht, John«, sagte die Frau trocken. »Man merkt, wie empfindsam du bist.«

»Wirklich? Gottverdammt.« Der Käfer an Kirklands Hosenbein schien sich seinen Schritt als Ziel vorgenommen zu haben. Ralph kam der Gedanke, wenn Kirkland plötzlich sehen könnte, was da gleich über seine Hoden kriechen würde, würde er wahrscheinlich den Verstand verlieren.

»Okay, aber vergiß nicht, mit den Frauen zu reden, die hier in der Gegend das Sagen haben«, sagte die Produzentin. »Nachdem diese Tillbury tot ist, sind das Maggie Petrowsky, Barbara Richards und Sallyann Rimbar. Rimbar wird heute abend den großen Kahuna ansagen, glaube ich... in diesem Fall wohl besser die große Kahunette.« Die Frau ging einen Schritt vom Bürgersteig herunter und zertrat einen der Käfer mit ihrem hohen Absatz. Ein Regenbogen von Eingeweiden wurde herausgequetscht, zusammen mit einer wachsähnlichen weißen Substanz, die wie verdorbenes Kartoffelpüree aussah. Ralph nahm an, daß es sich bei der weißen Substanz um Eier handelte.

Lois drückte das Gesicht gegen seinen Arm.

»Und halten Sie Ausschau nach einer Frau namens Helen Deepneau«, sagte die Produzentin und machte einen Schritt auf das Gebäude zu. Der Käfer blieb an ihrem Absatz kleben und wand sich und zuckte, während sie ging.

»Deepneau«, sagte Kirkland. Er klopfte sich mit den Knöcheln an die Stirn. »Irgendwo tief da drinnen klingelt es.«

»Nee, das ist nur deine letzte aktive Gehirnzelle, die herumkullert«, sagte die Produzentin. »Ed Deepneaus Frau. Sie leben getrennt. Wenn du Tränen willst, ist sie der sicherste Tip. Sie und Tillbury waren gute Freundinnen. Möglicherweise besonders gute Freundinnen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Kirkland grinste lüstern - ein Ausdruck, der in so krassem Gegensatz zu seiner Bildschirmpersönlichkeit stand, daß Ralph sich leicht desorientiert fühlte. Derweil hatte einer der Farbkäfer den Weg auf den Schuh der Frau gefunden und krabbelte an ihrem Bein hinauf. Ralph beobachtete mit hilfloser Faszination, wie er unter dem Rocksaum verschwand. Er sah, wie die Wölbung unter dem Stoff sich weiterbewegte, und es war, als würde man einem Kätzchen zusehen, das unter ein Badetuch gekrochen ist. Und wieder hatte man den Eindruck, als würde Kirklands Kollegin etwas spüren; sie griff, als sie sich mit ihm über mögliche Interviews während Susan Days Rede unterhielt, nach unten und kratzte geistesabwesend an der Wölbung, die inzwischen fast ihre rechte Hüfte erreicht hatte. Ralph konnte das glibberige Plopp! nicht hören, welches das weiche, empfindliche Geschöpf beim Zerplatzen von sich gab, aber er konnte es sich vorstellen. Schien nicht anders zu können, als es sich vorzustellen. Und er konnte sich vorstellen, wie die Gedärme wie Eiter auf den Nylonstrümpfen am Bein der Frau hinunterliefen. Dort würden sie mindestens bis zur abendlichen Dusche bleiben, unsichtbar, unbemerkt, unbeachtet.

Nun unterhielten die beiden sich darüber, wie sie über die für heute nachmittag angesetzte Demonstration der Abtreibungsgegner berichten sollten... das heißt, sollte sie tatsächlich stattfinden. Die Frau war der Ansicht, nicht einmal die Friends of Life wären dumm genug, nach den Vorfällen in High Ridge vor dem Bürgerzentrum aufzumarschieren. Kirkland sagte ihr, daß man die Dummheit von Fanatikern unmöglich unterschätzen könnte; Leute, die in der Öffentlichkeit soviel Polyester tragen konnten, seien eindeutig eine Kraft, mit der man rechnen müsse. Und die ganze Zeit, während sie sich unterhielten, Tips und Einfälle und Klatsch austauschten, schwärmten weitere bunte, aufgedunsene Läuse an ihren Beinen und Oberkörpern hinauf. Ein Pionier schaffte es bis zu Kirklands roter Krawatte und hatte es offensichtlich auf sein Gesicht abgesehen.

Eine Bewegung rechts von ihm zog Ralphs Aufmerksamkeit auf sich. Er drehte sich zu den Türen um und sah gerade noch, wie einer der Techniker einen Kollegen mit dem Ellbogen anstieß und auf ihn und Lois zeigte. Ralph konnte sich plötzlich nur allzugut vorstellen, was sie sahen: zwei Leute, die keinen ersichtlichen Grund hatten, hier zu sein (sie trugen keinen schwarzen Trauerflor und hatten eindeutig nicht mit den Medien zu tun), die einfach am Rand des Parkplatzes herumhingen. Die Lady, die schon einmal geschrien hatte, hatte das Gesicht am Arm des Herrn vergraben... und der fragliche Herr gaffte wie ein Irrer, obwohl es nichts zu sehen gab.

Ralph sprach leise aus dem Mundwinkel wie ein Sträfling, der sich in einem alten Gefängnisstreifen von Warner Brothers über einen Ausbruch unterhält. »Nimm den Kopf hoch. Wir ziehen mehr Aufmerksamkeit auf uns, als wir uns leisten können.«

Einen Augenblick glaubte er nicht, daß sie dazu imstande sein würde... aber dann kam sie zu sich und hob den Kopf. Sie warf den Büschen, die an der Wand wuchsen, einen letzten Blick zu

- einen unwillkürlichen, entsetzten kurzen Blick -, dann sah sie entschlossen wieder Ralph an, und nur Ralph. »Siehst du eine Spur von Atropos, Ralph? Darum sind wir doch hier, oder nicht... um seine Spur aufzunehmen?«

»Vielleicht. Kann sein. Um ehrlich zu sein, ich habe noch gar nicht danach gesucht - hier läuft zuviel anderes ab. Ich glaube, wir sollten ein wenig näher an das Gebäude heran.«

Er war nicht gerade heiß darauf, aber es schien sehr wichtig zu sein, irgend etwas zu unternehmen. Er konnte das Leichentuch um sie herum spüren, eine düstere, erstickende Präsenz, die sich passiv jeder Art von Vorwärtsbewegung widersetzte. Dagegen mußten sie ankämpfen.

»Na gut«, sagte sie. »Ich werde Connie Chung um ein Autogramm bitten, und dabei werde ich ununterbrochen albern kichern. Kannst du das ertragen?«

»Ja.«

»Gut. Denn das bedeutet, wenn sie überhaupt auf uns achten, werden sie alle mich ansehen.«

»Klingt nicht schlecht.«

Er riskierte einen letzten Blick auf Kirkland und die Produzentin. Sie unterhielten sich gerade darüber, welche Ereignisse sie zum Anlaß nehmen könnten, das Abendprogramm des Senders für eine Liveübertragung zu unterbrechen, ohne die trägen Trilobiten zu bemerken, die auf ihren Gesichtern hin und her krochen. Einer krabbelte gerade langsam in John Kirklands Mund.

Ralph wandte sich hastig ab und ließ sich von Lois zu Ms. Chung und dem bärtigen Kameramann ziehen. Er sah, wie die beiden zuerst Lois und dann einander ansahen. Der Blick drückte ein Viertel Erheiterung und drei Viertel Resignation aus

- da kommt eine von denen -, und dann drückte Lois seine Hand kurz und fest, was heißen sollte: Kümmere dich nicht um mich, Ralph, kümmere du dich um deine Angelegenheiten, und ich kümmere mich um meine.

»Pardon, aber sind Sie nicht Connie Chung?« fragte Lois mit ihrer überraschtesten Ja-ist-es-denn-die-Möglichkeit-Stimme. »Ich habe Sie hier gesehen und gleich zu Norton gesagt: >Ist das die Dame, die mit Dan Rather im Fernsehen ist, oder spinn ich?< Und dann -«

»Ich bin Connie Chung, und es ist sehr schön, Sie kennenzulernen, aber ich bereite mich gerade auf die Sendung heute abend vor, wenn Sie mich also bitte entschuldigen würden -«

»Oh, selbstverständlich, mir würde nicht im Traum einfallen, Sie zu behelligen, ich möchte nur gerne ein Autogramm - nur eine kurze Unterschrift würde genügen - weil ich Ihr Fan Nummer eins bin, zumindest in Maine.«

Ms. Chung warf einen Blick auf Rosenberg. Der hielt bereits einen Kugelschreiber in der Hand, so wie eine gute OP-Schwester das Instrument in der Hand hält, das der Arzt als nächstes haben will, noch ehe er danach verlangt hat. Ralph richtete seine Aufmerksamkeit auf den Bereich vor dem Bürgerzentrum und steigerte seine Wahrnehmung noch um eine Winzigkeit.

Vor den Türen sah er eine halbdurchsichtige, schwärzliche Substanz, die ihm anfangs Rätsel aufgab. Sie war etwa fünf Zentimeter tief und sah fast wie eine geologische Formation aus. Aber das konnte nicht sein... oder? Wenn das, was er da sah, real gewesen wäre (zumindest in der Form, wie Gegenstände auf der Ebene der Kurzfristigen real waren), dann hätte die Substanz die Türen versperrt, aber das tat sie nicht. Vor Ralphs Augen wateten zwei Fernsehtechniker bis zu den Knöcheln durch die Substanz, als wäre sie nicht greifbarer als Bodennebel.

Ralph erinnerte sich an die geisterhaften Fußspuren, welche die Leute hinterließen - die fast wie Tanzschrittdiagramme von Arthur Murray aussahen -, und plötzlich glaubte er zu verstehen. Die Spuren verschwanden wie Zigarettenrauch... Aber Zigarettenrauch verschwand nicht wirklich, sondern hinterließ einen Rückstand auf Wänden, Fenstern und in der Lunge. Offenbar hinterließen menschliche Auren ebenfalls ihre Rückstände. Wenn es sich nur um eine Person handelte, konnte man wahrscheinlich nichts mehr sehen, sobald die Farben verschwanden, aber dies war der größte öffentliche Versammlungsplatz in der viertgrößten Stadt von Maine. Ralph dachte an alle Leute, die durch diese Türen gegangen sein mußten - alle Bankette, Versammlungen, Münzbörsen, Konzerte, Basketballturniere - und wußte, worum es sich bei dem halbdurchsichtigen Schlamm handelte. Er war das Äquivalent der leichten Vertiefung, die man manchmal in der Mitte vielbegangener Treppenstufen sah.

Laß das jetzt, Liebling - kümmere dich um deine Aufgabe.

In der Nähe kritzelte Connie Chung ihren Namen auf die Rückseite eines Einkaufszettels, den Lois in ihrer Handtasche gefunden hatte. Ralph betrachtete den Rückstand auf dem Betonboden vor den Türen und suchte nach einer Spur von Atropos, nach etwas, das man nicht so sehr als visuellen Eindruck wahrnahm, sondern mehr als Geruch, als widerlichen Geruch nach Fleisch, wie in der Gasse hinter Mr. Hustons Metzgerei, als Ralph ein Kind gewesen war.

»Danke«, blubberte Lois. »Ich habe zu Norton gesagt: >Sie sieht genau wie im Fernsehen aus, wie ein kleines Porzellanpüppchen.< Genau das waren meine Worte.«

»Sehr gern geschehen«, sagte Chung, »aber jetzt muß ich mich wirklich wieder an die Arbeit machen.«

»Aber gewiß. Und grüßen Sie Dan Rather von mir, ja? Sagen sie ihm, ich hätte gesagt: >Nur Mut!<«

»Mach ich ganz bestimmt.« Chung lächelte und nickte, während sie Rosenberg den Kugelschreiber zurückgab. »Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden -«

Wenn es hier ist, dann weiter oben, als ich es bin, dachte Ralph. Ich muß noch etwas höher emporsteigen.

Ja, aber er mußte äußerst vorsichtig vorgehen, denn inzwischen war nicht nur die Zeit ein überaus wertvolles Gut geworden. Es war einfach so, wenn er zu weit emporstieg, würde er aus der Welt der Kurzfristigen verschwinden, und das würde selbst die Nachrichtenteams von der bevorstehenden Demonstration der Abtreibungsgegner ablenken... zumindest für eine Weile.

Ralph konzentrierte sich, aber diesmal erfolgte das schmerzlose Zucken in seinem Kopf nicht als Blinzeln, sondern wie ein langsamer Peitschenhieb. Farbe erblühte lautlos in der Welt; alles zeichnete sich mit hervorstechender Brillanz ab. Aber die deutlichste aller Farben, der überwältigende Schlüsselakkord, war das Schwarz des Leichentuchs, und das war eine Negation aller anderen Farben. Niedergeschlagenheit und das Gefühl lähmender Schwäche befielen ihn wieder und bohrten sich in sein Herz wie die Widerhaken eines Klauenhammers. Er überlegte sich, wenn er hier oben etwas zu erledigen hatte, sollte er es besser schnell erledigen und wieder auf die Ebene der Kurzfristigen zurückkehren, bevor er seiner ganzen Lebenskraft beraubt wurde.

Er sah wieder zu den Türen. Einen Augenblick konnte er immer noch nicht mehr als die verblassenden Auren der Kurzfristigen erkennen, wie er einer war... aber dann wurde plötzlich deutlich, wonach er suchte, es erschien wie eine mit Zitronensaft geschriebene Geheimbotschaft, wenn man sie dicht an eine Kerzenflamme hält.

Er hatte mit etwas gerechnet, das wie die verfaulenden Innereien in den Abfallbehältern hinter der Metzgerei von Mr. Huston riechen und aussehen würde, aber die Wirklichkeit war noch schlimmer, wahrscheinlich deshalb, weil es so unerwartet kam. Auf den Türen selbst befanden sich Schlieren einer blutigen, schleimigen Substanz - möglicherweise Spuren von Atropos' rastlosen Fingern -, und eine abstoßend große Pfütze desselben Materials sank in die hartgewordenen Rückstände auf dem Boden vor den Türen ein. Das Zeug hatte etwas so Schreckliches an sich - etwas so Fremdartiges -, daß die farbigen Käfer im Vergleich dazu fast normal wirkten. Wie eine Lache Erbrochenes von einem Hund, der an einer neuen und gefährlichen Form von Tollwut litt. Eine Spur derselben Substanz führte von der Lache weg, zuerst in trocknenden Flecken und Spritzern, dann in kleineren Tropfen, wie verschüttete Farbe.

Logisch, dachte Ralph. Darum ist er hergekommen. Der kleine Dreckskerl kann nicht anders. Für ihn ist das wie Rauschgift für einen Drogensüchtigen. Er konnte sich vorstellen, wie Atropos genau da stand, wo er, Ralph, sich gerade befand, wie er hinsah... grinste... dann weiterging und die Hände auf die Türen legte. Sie streichelte. Die schmutzigen, klebrigen Abdrücke hinterließ. Er konnte sich vorstellen, wie Atropos Kraft und Energie aus eben der Schwärze bezog, die Ralph seiner Vitalität beraubte.

Natürlich muß er noch anderswo hin und andere Taten vollbringen - wenn man ein übernatürlicher Psychopath wie er ist, hat man zweifellos jeden Tag alle Hände voll zu tun -, aber es muß ihm schwerfallen, sich lange von hier fernzuhalten, so beschäftigt er auch sein mag. Und wie fühlt er sich dabei? Wie bei einem tollen Fick an einem Sommernachmittag, genau so.

Lois zupfte ihn von hinten am Ärmel, und er drehte sich zu ihr um. Sie lächelte immer noch, aber durch den fiebrigen Ausdruck in ihren Augen sah das Lächeln verdächtig wie ein Schrei aus. Hinter ihr schlenderten Connie Chung und Rosenberg zu dem Gebäude.

»Du mußt mich hier wegbringen«, flüsterte Lois. »Ich kann es nicht mehr ertragen. Mir ist, als würde ich den Verstand verlieren.«

[»Okay - kein Problem.«]

»Ich kann dich nicht hören, Ralph - und ich glaube, ich kann die Sonne durch dich hindurchscheinen sehen. Mein Gott, das kann ich tatsächlich!«

[»Oh - warte -«]

Er konzentrierte sich und spürte, wie die Welt um ihn herum einen leichten Ruck machte. Die Farben verblaßten; Lois' Aura schien in ihre Haut hineinzuschrumpfen.

»Besser?«

»Nun, auf jeden Fall solider.«

Er lächelte kurz. »Gut. Komm mit.«

Er nahm sie am Ellbogen und führte sie zu der Stelle zurück, wo Joe Wyzer sie abgesetzt hatte. In dieselbe Richtung führten auch die blutigen Spuren.

»Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«

»Ja.«

Sie strahlte sofort. »Das ist toll! Ich habe gesehen, wie du emporgestiegen bist, weißt du - es war ziemlich seltsam, als hätte ich gesehen, wie du dich in eine sepiafarbene Fotografie verwandelst. Und dann... als ich dachte, ich könnte die Sonne durch dich hindurchscheinen sehen... das war sehr seltsam.« Sie sah ihn streng an.

»Schlimm, hm?«

»Nein... nicht gerade schlimm. Nur seltsam. Diese Käfer dagegen... die waren schlimm. - Igitt!«

»Ich weiß, was du meinst. Aber ich glaube, die sind alle da hinten.« »Vielleicht, aber wir haben das Schlimmste noch lange nicht überstanden, oder?« »Ja - es ist ein weiter Weg zurück ins Paradies, hätte Carol gesagt.«

»Bleib nur bei mir, Ralph Roberts, und verirre dich nicht.« »Ralph Roberts? Nie gehört. Norton ist mein Name.« Und das, stellt er glücklich fest, brachte sie zum Lachen.

Kapitel 24

Sie gingen langsam über den asphaltierten Parkplatz mit seinem Gitter aufgesprühter gelber Linien. Ralph wußte, heute abend würden die meisten Plätze besetzt sein. Kommt, seht, hört zu... und, am allerwichtigsten, zeigt eurer Stadt und den Fernsehzuschauern im ganzen Land, daß ihr euch nicht von den Charlie Pickerings dieser Welt einschüchtern laßt. Selbst die Minderheit, die die Angst abhalten würde, würde durch die von morbider Neugier Angelockten wieder wettgemacht werden, vermutete Ralph.

Als sie sich der Rennbahn näherten, näherten sie sich auch dem Rand des Leichentuchs. Es war dort dicker, und Ralph konnte langsame, wuselnde Bewegungen darin erkennen, als bestünde das Leichentuch aus winzigen Fetzen verkohlter Substanz. Es sah ein wenig wie die Luft über einem offenen Kohleofen aus, wo Stücke verbrannten Papiers über der flimmernden Hitze schweben.

Und er konnte zwei Geräusche hören, die einander überlagerten. Das obere war ein silbernes Seufzen. Der Wind könnte so ein Geräusch hervorbringen, dachte Ralph, wenn er lernen würde, wie man weint. Es war ein unheimliches Geräusch, aber das darunterliegende war regelrecht unangenehm - ein schlabberndes Kaugeräusch, als würde ganz in der Nähe ein riesiger Mund gewaltige Mengen Essen in sich hineinschaufeln.

Lois blieb stehen, als sie sich der dunklen, von Teilchen wimmelnden Haut des Leichentuchs näherten, und sah mit ängstlichen, bekümmerten Augen zu Ralph auf. Als sie ihn ansprach, sprach sie mit der Stimme eines kleinen Mädchens. »Ich glaube nicht, daß ich da durch kann.« Sie machte eine Pause, rang mit sich und brachte schließlich auch den Rest heraus: »Weißt du, es lebt. Das ganze Ding. Es sieht sie« - Lois zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf die Leute auf dem Parkplatz und die Nachrichtenteams in der Nähe des Gebäudes -, »und das ist schlimm, aber es sieht auch uns, und das ist schlimmer... weil es weiß, daß wir es auch sehen können. Gefällt ihm nicht, wenn man es sieht. Wenn man es fühlt vielleicht, aber nicht, wenn man es sieht.«

Jetzt schien das unterschwellige Geräusch - das schmatzende Eßgeräusch - fast artikulierte Worte zu bilden, und je länger Ralph zuhörte, desto mehr wuchs seine Überzeugung, daß er recht hatte.

[Hinausss. Forrttt. Zieeeeht abb]

»Ralph«, flüsterte Lois. »Hörst du das?«

[Hasss euch. Töttt euch. Fressss euch.]

Er nickte und hielt sie wieder am Ellbogen. »Komm mit, Lois.« »Komm -? Wohin?«

»Runter. Bis ganz runter.«

Einen Moment sah sie ihn nur an und verstand nicht; dann dämmerte es ihr, und sie nickte. Ralph spürte, wie das Blinzeln in seinem Inneren stattfand - ein wenig stärker als das Liderflattern vor kurzer Zeit -, und plötzlich wurde der Tag um ihn herum klar. Die wirbelnde Smogbarriere vor ihnen schmolz und verschwand. Dennoch machten sie die Augen zu und hielten den Atem an, als sie sich der Stelle näherten, wo sich, wie sie wußten, der Rand des Leichentuchs befand. Ralph spürte, wie Lois seine Hand fester drückte, als sie durch die unsichtbare Barriere hastete, und als er selber hindurchging, schien ein dunkler Wirrwarr von Erinnerungen - der langsame Tod seiner Frau, der Verlust eines Lieblingshundes, als er noch ein Kind war, der Anblick von Bill McGovern, wie er sich bückte und die Hand auf die Brust drückte - zuerst seinen Geist einzuhüllen und ihn dann zu umklammern wie eine unbarmherzige Hand. Das silberne Schluchzen ertönte in seinen Ohren, so konstant und so grauenhaft leer; die weinende Stimme eines von Geburt an Schwachsinnigen.

Dann waren sie durch.

Kaum hatten sie den hölzernen Bogen auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes passiert (WIR SIND ZUM RENNEN IM BASSEY PARK! stand auf der Rundung geschrieben), zog Ralph Lois zu einer Bank und ließ sie sich setzen, obwohl sie vehement darauf beharrte, daß es ihr gut gehe.

»Gut. Aber ich brauche einen Moment, bis ich mich wieder unter Kontrolle habe.«

Sie strich eine Haarlocke aus seiner Schläfe und hauchte einen sanften Kuß auf die Vertiefung darunter. »Laß dir soviel Zeit, wie du brauchst, Liebling.«

Das waren, wie sich herausstellte, fünf Minuten. Als er hinreichend sicher war, daß er aufstehen konnte, ohne in den Knien einzuknicken, nahm Ralph wieder ihre Hand, und sie erhoben sich gemeinsam.

»Hast du sie gefunden, Ralph? Hast du seine Spur gefunden?«

Er nickte. »Damit wir sie sehen können, müssen wir zwei Sprünge nach oben machen. Zuerst habe ich versucht, nur soweit aufzusteigen, daß ich die Auren sehen kann, weil dann nicht alles schneller abzulaufen scheint, aber das hat nicht geklappt. Es muß ein wenig höher sein.«

»Gut.«

»Aber wir müssen vorsichtig sein. Denn wenn wir sehen können

»Können wir auch gesehen werden. Ja. Und wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Zeit verrinnt.«

»Auf gar keinen Fall. Bist du bereit?«

»Fast. Ich glaube, vorher brauche ich noch einen Kuß. Ein kleiner würde schon genügen.«

Er lächelte und gab ihr einen.

»Jetzt bin ich bereit.«

»Okay - gehen wir.«

Blinzel

Die rötlichen Farbflecken führten sie über den Bereich gestampfter Erde, wo während der Kirmeswoche die Mittelstraße verlief, dann zur Rennbahn, wo von Mai bis September Trabrennen stattfanden. Lois stand einen Moment vor dem brusthohen Bretterzaun, sah sich um und vergewisserte sich, daß niemand in der Nähe war, und dann zog sie sich hoch. Zuerst bewegte sie sich so behende wie ein junges Mädchen, aber als sie ein Bein auf die andere Seite geschwungen hatte und breitbeinig auf dem Zaun saß, hielt sie inne. Ein Ausdruck von Überraschung und Mißfallen beherrschte ihr Gesicht.

[»Lois? Alles in Ordnung?«]

[»Ja, bestens. Es ist meine verfluchte alte Unterwäsche! Ich muß abgenommen haben, weil sie einfach nicht bleiben will, wo sie hingehört! Um Himmels willen!«]

Ralph stellte fest, daß er nicht nur den Spitzensaum von Lois' Slip sehen konnte, sondern acht oder neun Zentimeter rosa Nylon. Er unterdrückte ein Grinsen, während sie auf der breiten Abschlußplanke des Zauns saß und an dem Stoff zerrte. Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, daß sie niedlicher als ein kleines Kätzchen aussah, entschied aber, daß das wahrscheinlich keine so gute Idee wäre.

[»Dreh dich gefälligst um, bis ich diesen verdammten Slip wieder richtig anhabe, Ralph. Und hör auf, so albern zu grinsen.«]

Er drehte ihr den Rücken zu und sah zum Bürgerzentrum. Wenn er gegrinst hätte (er hielt es für wahrscheinlicher, daß sie seiner Aura das Grinsen angesehen hatte), hätte der Anblick des dunklen, langsam kreisenden Leichentuchs ihm dies ziemlich schnell ausgetrieben.

[»Lois, vielleicht wäre es einfacher, wenn du ihn ausziehen würdest.«]

[»Bitte vielmals um Entschuldigung, Ralph Roberts, aber ich gehöre nicht zu den Frauen, die ihre Unterwäsche ausziehen und auf Rennbahnen herumliegen lassen, und wenn du jemals ein Mädchen gekannt hast, das das getan hat, dann hoffentlich bevor du Carolyn kennengelernt hast. Ich wünschte nur, ich hätte eine -«]

Das undeutliche Bild einer glänzenden Sicherheitsnadel in Ralphs Kopf.

[»Ich nehme nicht an, daß du eine hast, Ralph, oder?«]

Er schüttelte den Kopf und schickte selbst ein Bild zurück: Sand, der durch ein Stundenglas rieselte.

[»Schon gut, ich hab verstanden. Ich denke, ich hab es soweit hingekriegt, daß es zumindest noch eine Weile hält. Du kannst dich jetzt wieder umdrehen.«]

Er gehorchte. Sie ließ sich auf der anderen Seite des Zauns herunter, und zwar mit müheloser Selbstsicherheit, aber ihre Aura war sichtlich blasser geworden, und Ralph konnte wieder dunkle Ringe unter ihren Augen sehen. Die Revolution der Unterbekleidung war im Keim erstickt worden, jedenfalls vorübergehend.

Ralph zog sich hoch, schwang ein Bein über den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite herunter. Es gefiel ihm, was er dabei empfand - alte, längst vergessene Erinnerungen schienen tief in seinen Zellen zu erwachen.

[»Wir müssen Energie tanken, bevor wir wieder emporsteigen, Lois.«]

Lois nickte resigniert: [»Ich weiß. Komm, gehen wir.«]

Sie folgten der Spur über die Rennbahn, kletterten über einen zweiten Bretterzaun und schlitterten dann einen überwucherten Hang zur Neibolt Street hinunter. Ralph sah, wie Lois durch ihren Rock verbissen den Slip hochhielt, während sie sich den Hang hinabquälten, und überlegte noch einmal, ob sie nicht besser dran wäre, wenn sie das verfluchte Ding einfach ausziehen würde, aber dann beschloß er erneut, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Wenn es sie ausreichend störte, würde sie es auch ohne weitere Anregung von ihm tun.

Ralphs größte Sorge - daß Atropos' Spur einfach verschwinden würde - erwies sich als unbegründet. Die blassen rosa Flecken führten zwischen ungestrichenen Mietshäusern, die man schon vor Jahren hätte abreißen sollen, direkt zur unebenen und löchrigen Oberfläche der Neibolt Street hinunter. Zerrissene Wäschestücke flatterten an durchhängenden Leinen; die Autos, die am Bordstein parkten (in diesem Teil von Derry gab es keine Einfahrten oder Garagen), waren alt, rostig und größtenteils verdreckt. Schmutzige Kinder mit Rotznasen sahen von verstaubten Vorgärten aus hinter ihnen her. Einbildhübscher, etwa dreijähriger Junge mit zerzaustem Haar betrachtete sie zutiefst argwöhnisch von der Treppenstufe seiner Veranda, dann griff er sich mit einer Hand zwischen die Beine und machte mit dem Mittelfinger der anderen eine obszöne Geste.

Die Neibolt Street endete als Sackgasse am alten Bahnhofsgelände, und da verloren Ralph und Lois die Spur vorübergehend aus den Augen. Sie standen vor einem der Sägeböcke, mit denen ein uraltes, rechteckiges Kellerloch blockiert wurde - mehr war von dem alten Passagierbahnhof nicht mehr übrig -, und ließen die Blicke über den großen Halbkreis eines völlig verwilderten Brachgrundstücks schweifen. Rostrote Rangiergleise lugten unter einem Dickicht aus Sonnenblumen und Dornenranken hervor; Scherben von hundert zertrümmerten Flaschen funkelten im nachmittäglichen Sonnenlicht. Auf der Seite des alten Schuppens für die Dieselloks waren mit greller, pinkrosa Leuchtfarbe die Worte geschrieben: SUZY HAT MEIN DICKES ROHR GELUTSCHT. Diese sentimentale Botschaft stand in einem Kreis aus tanzenden Hakenkreuzen.

Ralph: [»Verdammt, wohin ist er gegangen?«]

[»Da unten, Ralph - siehst du?«]

Sie deutete auf das, was bis 1963 die Hauptverkehrsader gebildet hatte, heute aber nur ein rostiges Gleis unter vielen war, die ins Nichts führten. Sogar die meisten Schwellen waren verschwunden; sie waren entweder von den hiesigen Pennern als Lagerfeuer verbrannt worden, oder von Wanderarbeitern auf dem Weg zu den Kartoffelfeldern von Aroostook County und den Apfelhainen oder Fischgründen der Maritimes. Auf einer der wenigen verbliebenen Schwellen sah Ralph Flecken der rosa Sporen. Sie sahen frischer aus als die, denen sie in der Neibolt Street nachgegangen waren.

Er folgte dem Verlauf der halb verdeckten Schienen und versuchte, sich zu erinnern. Wenn ihn sein Gedächtnis nicht im Stich ließ, führte dieses Gleis um den städtischen Golfplatz herum zurück zur... nun, zurück zur West Side. Ralph vermutete, daß dies dasselbe stillgelegte Gleis war, das am Rand des Flughafens und an dem Picknickgelände vorbeiführte, wo Faye Chapin in diesem Augenblick möglicherweise über die Aufstellung des bevorstehenden Startbahn Drei Classic brütete.

Alles ist ein großer Kreis, dachte er. Wir haben fast drei verfluchte Tage gebraucht, aber ich glaube, letzten Endes werden wir wieder genau dort landen, wo wir angefangen haben... nicht im Paradies, sondern in der Harris Avenue.

»Hallo Leute! Was treibt ihr'n hier?«

Ralph glaubte fast, daß er die Stimme kannte, und dieser Eindruck wurde verstärkt, als er den Mann ansah, dem sie gehörte. Er stand hinter ihnen an der Stelle, wo der Bürgersteig der Neibolt Street schließlich den Geist aufgab. Er sah aus wie fünfzig, aber Ralph schätzte, daß er in Wirklichkeit fünf, vielleicht sogar zehn Jahre jünger sein konnte. Er trug ein Sweatshirt und alte, zerschlissene Jeans. Die Aura, die ihn umgab, war so grün wie ein Glas St. Patrick's Day Bier. Das half Ralph endgültig auf die Sprünge. Es war der Penner, der ihn und Bill an dem Tag angesprochen hatte, als er Bill im Strawford Park fand, wo er wegen seines alten Freundes Bob Polhurst weinte... der ihn, wie sich herausstellte, doch noch überlebt hatte. Manchmal war das Leben komischer als Groucho Marx.

Ein eigentümliches Gefühl von Fatalismus stahl sich über Ralph, und damit einher ging ein intuitives Begreifen der Mächte, die sie nun umgaben. Er hätte darauf verzichten können. Es spielte kaum eine Rolle, ob diese Mächte gut oder böse waren, Plan oder Zufall; sie waren gigantisch, darauf kam es an, und vor ihnen wirkte alles, was Klotho und Lachesis über freie Entscheidung und freien Willen gesagt hatten, wie ein Witz. Ihm kam es so vor, als wären er und Lois mit Stricken an die Speichen eines gigantischen Rads gefesselt - eines Rads, das sie dorthin zurückrollte, woher sie gekommen waren, während es sie zugleich immer tiefer und tiefer in diesen schrecklichen Tunnel führte.

»Hamse 'n bißchen Kleingeld übrig, Mister?«

Ralph sank ein kleines Stück herunter, damit der Penner ihn auch bestimmt hören konnte, wenn er sprach.

»Ich wette, Ihr Onkel hat Sie aus Dexter angerufen«, sagte Ralph. »Hat Ihnen gesagt, Sie könnten Ihren alten Job in der Fabrik wiederhaben... aber nur, wenn Sie heute noch dort aufkreuzen. Kommt das in etwa hin?«

Der Penner sah ihn überrascht und argwöhnisch blinzelnd an. »Nun... ja. So was in der Art.« Er suchte nach der Geschichte -die er wahrscheinlich inzwischen selbst mehr glaubte als alle, denen er sie erzählt hatte - und fand ihren zerschlissenen Faden wieder. »Iss'n guter Job, wissense? Und ich könnt ihn wiederha'm. Um zwei fährt'n Bus von Bangor nach Aroostook, kost aber fünffuffzich, uns bis jetzt hab ich nur'n Vierteldollar -«

»Sechsundsiebzig Cent haben Sie«, sagte Lois. »Zwei Vierteldollarmünzen, zwei Dimes, einen Nickel und einen Penny. Aber wenn man bedenkt, wieviel Sie trinken, sieht Ihre Aura überraschend gesund aus, das kann ich Ihnen sagen. Sie müssen die Konstitution eines Ochsen haben.«

Der Penner warf ihr einen verwirrten Blick zu, dann wich er einen Schritt zurück und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab.

»Keine Bange«, beruhigte Ralph ihn, »meine Frau sieht überall Auren. Sie ist eine ausgesprochen spirituelle Person.«

»Tatsache?«

»Hm-hmm. Außerdem ziemlich großzügig, und ich glaube, sie hat was Besseres als nur ein bißchen Kleingeld für Sie. Richtig, Alice?«

»Er wird es nur versaufen«, sagte sie. »Es gibt keinen Job in Dexter.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Ralph und faßte sie scharf ins Auge, »aber seine Aura sieht extrem gesund aus. Extrem.«

»Schätze, Sie ha'm auch Ihre spirituelle Ader, was?-«-sagte der Penner. Sein Blick glitt immer noch argwöhnisch zwischen Ralph und Lois hin und her, aber jetzt flackerte schwache Hoffnung in seinen Augen.

»Wissen Sie, das stimmt«, sagte Ralph. »Und die ist in letzter Zeit so richtig aufgeblüht.« Er schürzte die Lippen, als wäre ihm gerade ein interessanter Gedanke gekommen, und atmete ein. Ein hellgrüner Lichtstrahl schoß aus der Aura des Penners, überquerte die drei Meter zwischen ihm und Lois und drang in Ralphs Mund ein. Der Geschmack war deutlich und sofort zu identifizieren: Boone's Farm Apfelwein. Rauh und derb, aber dennoch irgendwie angenehm - das Funkeln eines Arbeiters haftete ihm an. Mit dem Geschmack stellte sich auch ein Gefühl der Kraft ein, das war gut, außerdem eine scharf umrissene Klarheit des Denkens, und das war noch besser.

Inzwischen hielt Lois ihm einen Zwanzigdollarschein hin. Der Penner sah ihn aber nicht gleich; er sah stirnrunzelnd zum Himmel hinauf. In dem Moment schoß ein zweiter hellgrüner Strahl aus seiner Aura. Er schoß wie der gleißende Lichtstrahl einer Taschenlampe über das Unkraut neben dem Kellerloch und verschwand in Lois' Mund und Nase. Der Geldschein in ihrer Hand zitterte kurz.

[»O Gott, das ist so gut! Schmeckt wie der Wein, den Paul immer getrunken hat, wenn er sich Samstag abends die Red Sox angesehen hat!«]

»Gottverdammte Düsenjäger von der Charleston Air Force Base!« schrie der Penner mißbilligend. »Solln die Schallmauer erst durchbrechen, wenn sie draußen über'm Meer sind! Ich hab mir fast in die Hose -« Sein Blick fiel auf den Geldschein zwischen Lois' Fingern, und das Stirnrunzeln wurde noch tiefer. »Jetzt aber, wollnse mich verscheißern, oder was? Ich bin nich' dumm, wissense. Ich trink vielleicht ab und zu mal gern einen, aber das macht mich noch lang nich' dumm.«

Warten Sie nur ab, Mister, dachte Ralph. Das kommt noch.

»Niemand findet, daß Sie dumm sind«, sagte Lois. »Und es ist kein Witz. Nehmen Sie das Geld, Sir.«

Der Penner versuchte, seine finstere, argwöhnische Miene beizubehalten, aber nach einem weiteren eingehenden Blick auf Lois (und einem raschen Seitenblick zu Ralph), wurde sie von einem strahlenden, einnehmenden Lächeln verdrängt. Er ging auf Lois zu und streckte die Hand nach dem Geld aus, das er verdient hatte, ohne es überhaupt zu wissen.

Lois hob die Hand, bevor er den Geldschein nehmen konnte. »Aber denken Sie daran, daß Sie sich nicht nur etwas zu trinken, sondern auch etwas zu essen besorgen. Und Sie sollten sich vielleicht mal fragen, ob die Art und Weise, wie Sie leben, Sie glücklich macht.«

»Da haben Sie vollkommen recht!« rief der Penner enthusiastisch. Er ließ den Geldschein zwischen Lois' Fingern nicht aus den Augen. »Auf jeden Fall, Ma'am! Auf der anderen Seite des Flusses ham sie ein Programm, Entziehung und Resozialisierung, wissense. Ich denk drüber nach. Wirklich. Ich denk jeden verdammten Tag drüber nach.« Aber sein Blick klebte nach wie vor an dem Zwanziger, und er sabberte fast. Lois warf Ralph einen kurzen, zweifelnden Blick zu, dann zuckte sie die Achseln und gab ihm den Schein. »Danke! Danke, Lady!« Er sah zu Ralph. »Diese Lady is 'ne echte Prinzessin. Ich hoffe, Sie wissen das!«

Ralph schenkte Lois einen verliebten Blick. »Ja, das weiß ich durchaus«, sagte er.

Eine halbe Stunde später gingen die beiden zwischen den rostigen Schienen dahin, die in einer sanften Kurve am städtischen Golfplatz vorbeiführten... aber nach ihrer Begegnung mit dem Penner waren sie etwas höher über die Ebene der Kurzfristigen hinaufgestiegen (möglicherweise, weil der selbst ein bißchen high gewesen war), und sie gingen auch nicht gerade. Zum einen war wenig bis gar keine Kraftanstrengung erforderlich, und obwohl sich ihre Füße bewegten, kam es Ralph mehr wie ein Gleiten als wie ein Gehen vor. Und er war nicht sicher, ob man sie in der Welt der Kurzfristigen überhaupt sehen konnte; Eichhörnchen hüpften sorglos vor ihren Füßen herum und sammelten emsig Vorräte für den bevorstehenden Winter, und einmal sah er, wie Lois sich unvermittelt duckte, als ein Zaunkönig ihr fast einen Scheitel zog. Der Vogel wich aus und flatterte in die Höhe, als wäre ihm erst im letzten Moment klar geworden, daß sich ein Mensch in seiner Flugbahn befand. Die Golfspieler beachteten sie auch überhaupt nicht. In Ralphs Augen waren Golfspieler zwar ohnehin bis zur Besessenheit in ihr Spiel vertieft, trotzdem kam ihm dieser Mangel an Interesse extrem vor. Wenn er ein anständig angezogenes Paar gesehen hätte, das am hellichten Tag auf einem stillgelegten Gleis von GS&WM dahinspazierte, hätte er höchstwahrscheinlich eine kurze Auszeit genommen und sich gefragt, was sie im Schilde führen und wohin sie unterwegs sein mochten. Ich glaube, besonders neugierig wäre ich, weshalb die Dame ununterbrochen »Bleib, wo du bist, verflixtes Ding!« murmelte und dabei an ihrem Rock zupfte, dachte Ralph grinsend. Aber die Golfspieler warfen nicht einmal einen Blick zu ihnen herüber, obwohl ein Vierer auf dem Weg zum neunten Loch so nah an ihnen vorbei ging, daß Ralph hören konnte, wie sie sich Sorgen über eine sich abzeichnende Baisse auf dem Aktienmarkt machten. Der Gedanke, daß er und Lois wieder unsichtbar geworden waren - zumindest aber ziemlich konturlos - kam Ralph immer plausibler vor. Plausibel... und beunruhigend. Die Zeit vergeht schneller, wenn man weiter oben ist, hatte der alte Dor gesagt.

Die Spur wurde um so frischer, je weiter sie nach Westen kamen, und Ralph gefielen die Spritzer und Tropfen immer weniger. Wo der Glibber auf die Schienen getropft war, hatte er den Rost weggefressen wie ätzende Säure. Das Unkraut, auf das er getropft war, war schwarz und abgestorben- selbst das widerstandsfähigste war eingegangen. Als Ralph und Lois das dritte Grün des Golfplatzes von Derry passierten und in ein weiteres Dickicht von verkümmerten Bäumen und Unterholz eindrangen, zupfte Lois ihn am Ärmel. Sie zeigte nach vorne. Große Flecken von Atropos' Ausscheidung glänzten wie ekelerregende Farbe auf den Stämmen der Bäume, die sich jetzt bis dicht an den Schienenstrang drängten, und in manchen Mulden zwischen den alten Schienen - wo einmal Schwellen gewesen waren, vermutete Ralph - standen ganze Lachen davon.

[»Wir nähern uns seinem Zuhause, Ralph.«]

[»Ja.«]

[»Was sollen wir tun, wenn er zurückkommt und uns dort findet?«]

Ralph zuckte die Achseln. Er wußte es nicht und war nicht sicher, ob es ihn kümmerte. Sollten sich die Mächte, die sie hier herumschoben wie Figuren auf einem Schachbrett - die Mr. K. und Mr. L. den Höheren Plan nannte -, sich darüber Gedanken machen. Sollte Atropos auftauchen, würde Ralph versuchen, dem kleinen kahlköpfigen Wichser die Zunge herauszureißen und ihn damit zu erdrosseln. Und wenn er damit jemandem auf die Füße trat, zu dumm aber auch. Er konnte keine Verantwortung für große Pläne und langfristige Geschäfte übernehmen; seine Aufgabe bestand jetzt darin, auf Lois aufzupassen, die gefährdet war, und zu versuchen, das Blutbad zu verhindern, das in wenigen Stunden hier in der Nähe stattfinden sollte. Und wer weiß? Vielleicht fand er sogar unterwegs noch etwas Zeit, seine eigene, zum Teil verjüngte Haut zu beschützen. Das alles mußte er tun, und wenn der bösartige kleine Pisser Ralph dabei in die Quere kam, würde einer von ihnen auf der Strecke bleiben. Und wenn das Mr. K. und Mr. L. nicht gefiel, hatten sie Pech gehabt.

Lois las das fast alles aus seiner Aura - er sah es ihrer eigenen an, als sie ihn am Arm berührte und er sich zu ihr umdrehte.

[»Was soll das bedeuten, Ralph? Daß du versuchen willst, ihn umzubringen, sollte er sich uns in den Weg stellen?«]

Er dachte darüber nach, dann nickte er.

[»Ja, ganz genau das soll es bedeuten.«] [»Ralph?«]

Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an.

[»Wenn es sein muß, werde ich dir dabei helfen.«]

Das rührte ihn auf absurde Weise... und er gab sich allergrößte Mühe, den Rest seiner Gedanken vor ihr zu verbergen: daß sie nur noch deshalb bei ihm war, damit er sie im Auge behalten und beschützen konnte. Der Gedanke rief ihm die Ohrringe wieder ins Gedächtnis zurück, aber er verdrängte das Bild hastig, weil er nicht wollte, daß sie seiner Aura etwas ansah -oder es auch nur vermutete.

Derweil waren Lois' Gedanken in eine andere, etwas sicherere Richtung abgeschweift.

[»Selbst wenn wir reingehen und wieder rauskommen, ohne daß er auftaucht, wird er wissen, daß jemand da gewesen ist, oder nicht? Und wahrscheinlich wird er auch wissen, wer es war.«]

Ralph konnte es nicht bestreiten, sah aber nicht, was das großartig ausmachen sollte; sie hatten keine Alternative, zumindest momentan. Sie würden einen Schritt nach dem anderen machen und einfach hoffen, daß sie den morgigen Sonnenaufgang noch erleben würden. Aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich ihn wahrscheinlich lieber verschlafen, dachte Ralph, und ein kleines, sehnsüchtiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Herrgott, es scheint Jahre her zu sein, seit ich zum letztenmal ausgeschlafen habe. Von da aus schweiften seine Gedanken zu Carolyns Lieblingsspruch ab, daß es ein langer Weg zurück ins Paradies war. Im Augenblick schien ihm, als wäre es das Paradies, einfach mal bis zum Mittag zu schlafen... oder ein bißchen länger.

Er nahm Lois' Hand, dann folgten sie weiter der Spur von Atropos.

Zwölf Meter östlich des Sturmzauns an der Grenze des Flughafens hörten die rostigen Schienen auf. Atropos' Spur allerdings ging weiter, wenn auch nicht lange; Ralph war ziemlich sicher, daß er die Stelle sehen konnte, wo sie aufhörte, und das Bild, daß er und Lois an die Speichen eines großen Rads gebunden waren, kam ihm wieder in den Sinn. Wenn er recht hatte, dann war Atropos' Bau nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt, wo Ed auf den dicken Mann mit den Düngerfässern auf der Ladefläche seines Pickups gestoßen war.

Windstöße trugen einen ekelhaften, fauligen Geruch aus unmittelbarer Nähe herbei, und aus etwas größerer Entfernung die Stimme von Faye Chapin, der jemandem mit seinem Lieblingsthema auf den Geist ging: »... was ich immer sage! Mah-jongg ist wie Schach, Schach ist wie das Leben, wenn man also eins von beiden spielen kann -« Der Wind legte sich wieder. Ralph konnte Fayes Stimme immer noch hören, wenn er die Ohren spitzte, aber die einzelnen Worte bekam er nicht mehr mit. Aber das machte nichts. Er hatte die Ansprache oft genug gehört und wußte ziemlich gut, wie sie ging. [»Ralph, dieser Gestank ist gräßlich! Oder etwa nicht?«] Er nickte, glaubte aber nicht, daß Lois ihn sah. Sie hielt seine Hand fest zwischen ihren beiden und sah mit großen Augen starr geradeaus. Die fleckige Spur, die vor den Türen des Bürgerzentrums angefangen hatte, endete sechzig Meter entfernt am Stamm einer windschiefen abgestorbenen Eiche. Die Ursache dafür, daß der Baum abgestorben war und nun so schief dastand, war offensichtlich: Eine Seite des stattlichen Relikts war von einem Blitz wie eine Banane geschält worden. Die Risse und Furchen und Wölbungen der grauen Rinde schienen die Umrisse halb versunkener Gesichter zu bilden, die lautlose Schreie ausstießen, und der Baum streckte die nackten Äste wie grimmige Schriftzeichen in den Himmel... sie hatten, jedenfalls in Ralphs Phantasie, eine unheimliche Ähnlichkeit mit den japanischen Schriftzeichen für Kamikaze. Der Blitz, der das Ende des Baums besiegelt hatte, hatte ihn nicht umwerfen können, aber er hatte sich auf jeden Fall größte Mühe gegeben. Der Teil des verzweigten Wurzelsystems Richtung Flughafen war aus dem Boden herausgerissen worden. Diese Wurzeln waren unter dem Maschendrahtzaun hindurchgewachsen und hatten ihn ein Stück weit in die Höhe gedrückt, eine glockenförmige Kurve, bei deren Anblick Ralph zum erstenmal seit Jahren an einen Freund aus Kindertagen namens Charles Engstrom denken mußte.

»Spiel nicht mit Chuckie«, pflegte Ralphs Mutter zu sagen. »Er ist ein schmutziger Junge. Ralph wußte nicht, ob Chuckie ein schmutziger Junge war oder nicht, aber er war total Banane, das stand fest. Chuckie Engstrom versteckte sich gerne mit einem langen Zweig, den er seinen »Spickestab« nannte, hinter dem Baum im Vorgarten seines Hauses. Wenn eine Frau im Rock vorbeikam, schlich Chuckie ihr auf Zehenspitzen hinterher, steckte den Zweig unter den Rocksaum und hob ihn hoch. Meistens konnte er die Farbe der Unterwäsche erkennen (die Farbe von Damenunterwäsche faszinierte Chuckie ungeheuer), bis ihnen klar wurde, was vor sich ging, und sie den hysterisch kichernden Jungen bis zu seinem Haus verfolgten und drohten, sie würden es seiner Mutter erzählen. Der Flughafenzaun, den die Wurzeln der alten Eiche aus dem Boden gezogen und nach oben gedrückt hatten, erinnerte Ralph daran, wie die Röcke von Chuckies Opfern ausgesehen hatten, wenn er sie mit seinem Spickestab hochgehoben hatte.

[»Ralph?«]

Er sah sie an.

[»Wer ist Biggy Stab? Und warum denkst du ausgerechnet jetzt an sie?«]

Ralph prustete vor Lachen.

[»Hast du das in meiner Aura gesehen?«]

[»Wahrscheinlich - ich kann es nicht mehr sagen. Wer ist sie?«]

[»Erzähl ich dir ein andermal. Komm jetzt.«]

Er nahm ihre Hand, dann gingen sie langsam auf die Eiche zu, wo Atropos' Spur aufhörte, und in den immer stärkeren Fäulnisgeruch hinein, der seine Duftnote war.

Kapitel 25

Sie standen am Fuß der Eiche und sahen nach unten. Lois nagte zwanghaft an ihrer Unterlippe.

[»Müssen wir da runter, Ralph? Müssen wir wirklich?«]

[»Ja.«]

[»Aber warum? Was sollen wir tun? Atropos aussperren? Den Bau niederbrennen? Etwas zurückholen, das er gestohlen hat? Ihn töten? Was?«]

Er wußte es nicht davon abgesehen, daß er Joes Kamm und Lois' Ohrringe wiederhaben wollte... aber er war sicher, er würde es wissen, sie beide würden es wissen, wenn der Zeitpunkt gekommen war.

[»Ich glaube, im Augenblick sollten wir einfach nur in Bewegung bleiben, Lois.«]

Der Blitz hatte wie eine kräftige Hand gewirkt, den Baum brutal nach Osten gestoßen und gleichzeitig ein klaffendes Loch am Wurzelansatz der Westseite gerissen. Für einen Mann oder eine Frau mit dem Sehvermögen der Kurzfristigen hätte dieses Loch zweifellos dunkel ausgesehen - und mit seinen abbröckelnden Rändern und den kaum sichtbaren Wurzeln, die sich im Inneren wanden wie Schlangen, vielleicht ein wenig furchteinflößend, aber ansonsten nicht besonders ungewöhnlich.

Ein Kind mit einer ausgeprägten Phantasie würde vielleicht mehr sehen, dachte Ralph. Der dunkle Raum unter dem Baumstamm weckt vielleicht Gedanken an Piratenschätze... Verstecke von Banditen... die Höhle eines Trolls...

Aber Ralph glaubte, daß nicht einmal das phantasievollste Kind das düstere rote Leuchten würde sehen können, das unter dem Baum hervordrang, oder daß die zuckenden Wurzeln in Wirklichkeit holperige Sprossen waren, die an einen unbekannten (und zweifellos unerfreulichen) Ort hinabführten.

Nein - nicht einmal ein phantasievolles Kind würde das sehen... aber möglicherweise spüren.

Richtig. Und wenn es genügend Verstand hatte, würde es weglaufen als wären ihm sämtliche Dämonen der Hölle auf den Fersen. Wie er und Lois, wenn sie der Vernunft gehorchen würden. Wären da nicht Lois' Ohrringe. Wäre da nicht Joe Wyzers Kamm. Wäre da nicht sein eigener verlorener Platz im Plan. Und wären da selbstverständlich nicht Helen (und möglicherweise Nat) und die zweitausend anderen, die sich heute abend im Bürgerzentrum aufhalten würden. Lois hatte recht. Sie mußten etwas tun, und wenn sie jetzt kniffen, würde dieses Etwas für immer ungeschehenes Geschehen bleiben.

Und das sind die Seile, dachte er. Die Seile, mit denen die Mächtigen uns arme, verwirrte kurzfristige Kreaturen an ihr Rad fesseln.

Er stellte sich Klotho und Lachesis nun durch eine helle Linse des Hasses vor, und er dachte, wenn die beiden jetzt hier wären, hätten sie einen ihrer unsicheren Blicke gewechselt und wären einen Schritt oder zwei zurückgewichen.

Und dazu hätten sie einen Grund gehabt, dacht er. Allen Grund.

[»Ralph? Was ist los? Warum bist du so wütend?«]

Er hob ihre Hand an die Lippen und küßte sie.

[»Nichts weiter. Komm mit. Gehen wir, bevor wir den Mut verlieren.«]

Sie sah ihn noch einen Moment an, dann nickte sie. Und als Ralph die Beine in das klaffende, mit Wurzeln eingefaßte Loch am Fuß des Baums steckte, war sie direkt neben ihm.

Ralph rutschte auf dem Rücken unter den Baum und hielt die freie Hand vor das Gesicht, damit ihm keine Erde in die offenen Augen fiel. Er versuchte, nicht zusammenzuzucken, wenn Wurzeln ihm über den Hals strichen oder sich ihm in den Rücken bohrten. Der Geruch unter dem Baum war so durchdringend, daß man ihn fast greifen konnte, ein abstoßender Affenhausgestank, bei dem einem kotzübel wurde. Er konnte sich einreden, daß er sich daran gewöhnen würde, bis er ganz unter dem Loch in der Eiche war, doch dann ging es nicht mehr. Er stützte sich auf einen Ellbogen und spürte, wie kleinere Wurzeln nach seiner Kopfhaut griffen und baumelnde Rindenstücke ihm die Wangen streichelten, und dann gab er das gesamte Frühstück von sich, das sich noch im Vorratstank befand. Er konnte hören, wie Lois links von ihm seinem Beispiel folgte.

Eine schrecklicher, von Schwindel begleiteter Schwächeanfall schlug über ihm zusammen wie eine Welle am Strand. Der Gestank war so überwältigend, daß er ihn fast zu essen schien, und er konnte die rote Substanz, der sie zu diesem Ort des Grauens unter dem Baum gefolgt waren, überall auf seinen Händen und Armen sehen. Es war schlimm gewesen, das Zeug nur anzusehen; jetzt badete er regelrecht darin, um Gottes willen.

Etwas griff nach seiner Hand, und er ließ sich fast von seiner Panik überwältigen, bis ihm klar wurde, daß es Lois war. Er verschränkte seine Finger mit ihren.

[»Ralph, du mußt ein Stückchen emporsteigen! Dann ist es besser! Du kannst atmen!«]

Er begriff sofort, was sie meinte, und mußte sich zurückhalten, sich im letzten Moment wieder tiefer sinken lassen. Hätte er das nicht getan, wäre er wie eine Rakete mit vollem Schub die Leiter der Wahrnehmung hinaufgeschossen.

Die Welt flackerte, und plötzlich schien etwas mehr Licht in diesem stinkenden Loch zu sein... und auch etwas mehr Platz. Der Geruch verschwand nicht, aber er wurde erträglich. Jetzt war es, als hielte man sich in einem kleinen Zelt voller Leute mit schmutzigen Füßen und Achselschweiß auf - nicht angenehm, aber man konnte damit leben, jedenfalls eine Weile.

Ralph stellte sich plötzlich das Zifferblatt einer Taschenuhr vor, deren Zeiger sich rasch bewegten. Ohne den erstickenden Geruch war es besser, aber dennoch blieb es ein gefährlicher Aufenthaltsort - angenommen, sie kämen erst morgen früh hier wieder heraus, und das Bürgerzentrum wäre nur noch ein rauchendes Loch an der Main Street? Und das war nicht ausgeschlossen. Hier unten war es unmöglich, die Zeit zu messen - kurzfristig, langfristig oder wie auch immer. Der Gedanke an sich war ein Witz.

Laß gut sein, Ralph-du kannst nichts dagegen tun, und du mußt atmen, also laß es gut sein.

Er versuchte es, und dabei fiel ihm ein, daß der alt Dor am Tag, als Ed mit dem Lastwagen von Mr. West Side Gardeners zusammengestoßen war, hundertprozentig recht gehabt hatte; es war besser, sich nicht in langfristige Geschäfte einzumischen. Und doch waren sie hier, der älteste Peter Pan und die älteste Wendy der Welt, und glitten unter einem verzauberten Baum in eine schleimige Unterwelt hinab, die keiner von ihnen sehen wollte.

Lois sah ihn an, das widerliche rote Leuchten erhellte ihr Gesicht, und ihre Augen blickten ängstlich umher. Er sah dunkle Spuren auf ihrem Bonn und stellte fest, daß es sich um Blut handelte. Sie nagte nicht mehr nur an ihrer Unterlippe, sie biß regelrecht hinein.

[»Ralph, alles in Ordnung?«]

[»Ich kann mit einem hübschen Mädchen unter eine alte Eiche kriechen, und da fragst du noch? Mir geht es bestens, Lois. Aber ich denke, wir sollten uns besser beeilen.«]

[»Gut.«]

Er tastete unter sich herum und stellte den Fuß auf eine knorrige Eichenwurzel. Sie hielt sein Gewicht aus, und er ließ sich den steinigen Hang hinunterrutschen, zwängte sich unter einer weiteren Wurzel durch und hielt Lois dabei um die Taille gefaßt. Ihr Rock rutschte bis zu den Oberschenkeln hoch, und Ralph mußte wieder kurz an Chuckie Engstrom und seinen Spickestab denken. Er stellte amüsiert und verärgert zugleich fest, daß Lois sich bemühte, den Rock wieder nach unten zu ziehen.

[»Ich weiß, daß eine Dame nach Möglichkeit immer versucht, den Rock unten zu lassen, aber ich glaube, wenn man unter alten Eichen in Trollhöhlen hinabrutscht, geht diese Regel über Bord. Okay?«]

Sie schenkte ihm ein verlegenes, ängstliches Lächeln.

[»Wenn ich gewußt hätte, was wir vorhaben, hätte ich Hosen angezogen. Ich dachte, wir würden nur ins Krankenhaus gehen.«]

Wenn ich gewußt hätte, was wir vorhaben, dachte Ralph, hätte ich meine Aktien verkauft, sich abzeichnende Baisse am Aktienmarkt hin oder her, und hätte uns zwei Flugtickets nach Rio gekauft, Teuerste.

Er tastete mit einem Fuß umher, weil er wußte, wenn er abrutschte, würde er wahrscheinlich an einem Ort weit außerhalb der Reichweite der Ambulanzen von Derry landen. Direkt vor seinen Augen kam ein rötlicher Wurm aus dem Boden und ließ kleine Erdkrümel auf Ralphs Stirn rieseln.

Scheinbar eine Ewigkeit lang spürte er nichts, dann fand sein Fuß glattes Holz - diesmal keine Wurzel, sondern so etwas wie eine richtige Stufe. Er rutschte nach unten, ohne Lois' Taille loszulassen, und wartete, ob das Ding, worauf er stand, unter ihrer beider Gewicht zerbrechen würde.

Es hielt und war breit genug für sie beide. Ralph sah nach unten und stellte fest, daß es sich um die oberste Stufe einer schmalen Treppe handelte, die in eine rot getönte Dunkelheit hinabführte. Sie war für ein - und möglicherweise von einem -Geschöpf gebaut worden, das viel kleiner als sie selbst war, weshalb sie sich ducken mußten, aber es war immer noch besser als der Alptraum der letzten Augenblicke.

Ralph sah Tageslicht durch das gezackte Loch über ihnen, und seine Augen schauten mit einem Ausdruck dümmlicher Sehnsucht aus seinem schmutzigen, schweißüberströmten Gesicht. Das Tageslicht war ihm noch nie so verlockend und so fern vorgekommen. Er drehte sich zu Lois um und nickte ihr zu. Sie drückte seine Hand und erwiderte das Nicken. Gebückt und jedesmal zusammenzuckend, wenn eine herabhängende Wurzel ihnen über die Hälse strich, gingen sie die Treppe hinunter.

Der Abstieg schien endlos zu sein. Das rote Licht wurde heller, der Gestank von Atropos durchdringender, und Ralph stellte fest, daß sie beide »emporstiegen«, während sie nach unten gingen; ihnen blieb keine andere Wahl, wenn sie nicht von dem Gestank überwältigt werden wollten. Er redete sich immer wieder ein, daß sie nur taten, was sie tun mußten, daß bei einem Unternehmen dieser Bedeutung jemand den Zeitplan im Auge behalten würde -jemand, der ihnen einen Stoß versetzte, wenn es zu knapp wurde -, aber Sorgen machte er sich trotzdem. Denn möglicherweise gab es keinen mit einer Stoppuhr, keinen Unparteiischen oder Linienrichter in Zebrastreifenhemden. Alles ist offen, hatte Klotho gesagt.

Als Ralph sich gerade fragte, ob die Treppe bis in die Hölle hinunterführte, hörte sie auf. Ein kurzer, gemauerter Korridor, nicht höher als ein Meter zwanzig und etwa sechs Meter lang, führte zu einem Torbogen. Dahinter flackerte und pulsierte das rote Leuchten wie der Widerschein eines Brennofens.

[»Komm mit Lois, aber rechne mit allem. Rechne mit ihm.«]

Sie nickte, zog ihren rutschenden Slip wieder hoch und ging neben ihm den schmalen Flur entlang. Ralph trat gegen etwas, das kein Stein war, und bückte sich, um es aufzuheben. Es war ein roter Plastikzylinder, an einem Ende breiter als am anderen. Nach einem Moment wurde ihm klar, worum es sich handelte: um den Griff eines Springseils. Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein.

Misch dch in nichts ein, was dich nichts angeht, Kurzfristiger, hatte Atropos gesagt, aber er hatte sich eingemischt, und nicht nur deswegen, was die kleinen kahlköpfigen Ärzte Ka nannten. Er hatte sich eingemischt, weil ihn doch etwas anging, was der kleine Dreckskerl vorhatte, auch wenn dieser das Gegenteil denken mochte. Derry war seine Stadt, Lois Chasse war seine Freundin, und Ralph verspürte den aufrichtigen Wunsch in sich, Doc Nr. 3 dafür büßen zu lassen, daß er Lois' Diamantohrringe genommen hatte.

Er warf den Griff des Springseils weg und ging weiter. Einen Augenblick später gingen er und Lois unter dem Torbogen durch, blieben wie angewurzelt stehen und sahen in Atropos' unterirdische Behausung. Mit den ineinander verschränkten Händen und den aufgerissenen Augen sahen sie mehr denn je wie Kinder in einem Märchen aus - nicht wie Peter Pan und Wendy, sondern wie Hansel und Gretel, die nach tagelangem Herumirren im dichten Wald das Knusperhaus der Hexe gefunden hatten.

[»Oh, Ralph. O mein Gott, Ralph... siehst du das?«]

[»Pssst, Lois.«]

Direkt vor ihnen lag eine kleine, finstere Kammer, die Küche und Schlafzimmer in einem zu sein schien. Der Raum wirkte schmutzig und unheimlich zugleich. In der Mitte stand ein niederer runder Tisch, bei dem es sich, wie Ralph annahm, um das abgesägte Oberteil eines Fasses handelte. Die Überreste einer Mahlzeit - ein grauer, ranziger Brei, der wie aufgelöste Hirnmasse aussah, die in einer gesprungenen Suppenterrine gerann - stand darauf. Es gab einen einzigen schmutzigen Klappstuhl. Rechts vom Tisch stand eine primitive Kommode, die aus einer rostigen Stahltonne bestand, auf der eine Toilettenschüssel balancierte. Ein unvorstellbar übler Gestank ging davon aus. Einziger Schmuck des Zimmers war ein Spiegel mit Messingrahmen an einer Wand, dessen Oberfläche durch das Alter so nachgedunkelt und beschlagen war, daß Ralph und Lois darin aussahen, als würden sie drei Meter unter der Wasseroberfläche treiben.

Links von dem Tisch befand sich eine karge Schlafgelegenheit, die aus einer schmutzigen Matratze und einem mit Stroh oder Federn vollgestopften Jutesackbestand. Auf diesem Kissen und der Matratze, auf der es lag, leuchtete der nächtliche Schweiß der Kreatur, die hier zu schlafen pflegte. Die Träume in diesem Jutekissen würden mich in den Wahnsinn treiben, dachte Ralph.

Irgendwo, Gott allein wußte, wie tief unter der Erde, tropfte Wasser.

Auf der anderen Seite der Behausung befand sich ein zweiter Torbogen, hinter dem sie eine vollgestopfte, surrealistische Rumpelkammer erkennen konnten. Ralph blinzelte tatsächlich zwei- oder dreimal, um ganz sicher zu sein, daß er tatsächlich sah, was er zu sehen glaubte.

Genau das ist die Stelle, dachte er. Was immer wir suchen, es ist hier.

Lois ging wie hypnotisiert auf den zweiten Torbogen zu. Ihre Lippen bebten ängstlich, aber in ihren Augen stand eine hilflose Neugier - ganz bestimmt hatte Blaubarts Frau denselben Gesichtsausdruck gehabt, als sie den Schlüssel im Schloß des verbotenen Zimmers ihres Mannes umgedreht hatte. Ralph war plötzlich überzeugt, daß Atropos mit hoch erhobenem rostigen Skalpell direkt hinter diesem Torbogen lauern würde. Er eilte hinter Lois her und hielt sie auf, bevor sie durchgehen konnte. Er hielt sie am Oberarm fest, legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf, bevor sie sprechen konnte.

Er kauerte sich nieder und preßte die Finger einer Hand auf den gestampften Boden, wodurch er wie ein Läufer aussah, der auf den Knall der Startpistole wartet. Dann schnellte er durch den Torbogen (und genoß die blitzschnelle Reaktion seines Körpers selbst in diesem Augenblick), landete auf der Schulter und rollte sich ab. Mit den Füßen traf er eine Pappschachtel, die ein Durcheinander von Gegenständen preisgab, als sie umkippte: Handschuhe und Socken, die nicht zusammenpaßten, ein paar alte Taschenbücher, ein Paar Bermudashorts, einen Schraubenzieher mit einer rostroten Substanz - möglicherweise Farbe oder Blut - darauf.

Ralph ließ sich auf die Knie sinken und sah zu Lois, die unter dem Torbogen stand und die Hände unters Kinn hielt. Es war niemand neben dem Torbogen zu sehen, und es hätte auch niemand Platz gehabt. Auf beiden Seiten waren weitere Kartons gestapelt. Ralph las die Aufschriften darauf staunend: Jack Daniels, Gilbey's, Smirnoff, J&B. Atropos, schien es, war ebenso verrückt nach Spirituosenkartons wie alle anderen, die es nicht fertigbrachten, etwas wegzuwerfen.

[»Ralph? Ist es sicher?«]

Sicher? Das Wort war ein Witz. Aber er nickte und streckte die Hand aus. Sie kam hastig zu ihm, zog unterwegs noch einmal heftig den Slip hoch und sah sich mit wachsendem Staunen um.

Als sie auf der anderen Seite des Torbogens in Atropos' trostloser kleiner Wohnung gestanden hatten, hatte dieser Stauraum groß ausgesehen. Jetzt, wo sie tatsächlich darin standen, sah Ralph, daß er mehr als das war; Räume dieser Größe nannte man normalerweise Lagerhallen. Gänge verliefen zwischen gewaltigen, baufälligen Türmen aus Gerumpel. Nur die Sachen direkt an der Tür waren in Kartons verstaut; der Rest lag bunt durcheinandergewürfelt und bildete etwas, das zu zwei Teilen Irrgarten und zu drei Teilen eine Falle war. Ralph kam zum Ergebnis, daß nicht einmal das Wort Lagerhalle eine hinreichende Beschreibung bot - dies war ein unterirdischer Vorort, und Atropos konnte überall lauern... und wenn er hier war, beobachtete er sie wahrscheinlich.

Lois fragte nicht, was sie da vor sich hatten; er sah ihrem Gesicht an, daß sie es bereits wußte. Als sie das Wort ergriff, sprach sie mit einer verträumten Stimme die Ralph eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

[»Er muß so ungeheuer alt sein, Ralph.«]

Ja. So ungeheuer alt.

Zwanzig Meter tiefer in dem Raum, der von dem selben geisterhaften roten Leuchten wie die Treppe erhellt wurde, konnte Ralph ein großes Speichenrad auf einem Lehnstuhl liegen sehen, der wiederum auf einer gesprungenen alten Heißmangel stand. Als er dieses Rad sah, fröstelte ihn noch mehr; es war, als wäre die Metapher, die er sich im Geiste zurechtgelegt hatte, um das Prinzip des Ka zu versinnbildlichen, plötzlich zum Leben erwacht. Dann bemerkte er das rostige Eisenband um das Rad herum und überlegte sich, daß es wahrscheinlich von einem jener »Gay-Nineties«-Fahrräder stammen mußte, die wie zu groß geratene Dreiräder aussahen.

Es ist tatsächlich der Reifen eines Fahrrads, und er ist mindestens hundert Jahre alt, dachte er. Der Gedanke führte ihn zu der Frage, wie viele Menschen - wie viele Tausende und Zehntausende - in und um Derry gestorben waren, seit Atropos dieses Rad irgendwie hier heruntergeschafft hatte. Und wie viele von diesen Tausenden waren zufällige Tode gewesen?

Und wie weit geht er zurück? Wie viele Jahrhunderte?

Das konnte man selbstverständlich unmöglich sagen; möglicherweise bis zum Anbeginn, wann immer und wie immer der auch gewesen sein mochte. Und während dieser ganzen Zeit hatte er von jedem, den er sich vorgeknöpft hatte, ein kleines Andenken genommen... und hier waren sie alle.

Hier waren sie alle.

[»Ralph!«]

Er drehte sich um und sah, daß Lois beide Hände ausstreckte. In einer hielt sie einen Panama, aus dessen Krempe ein Stüc k herausgebissen worden war. In der anderen einen schwarzen Nylonkamm, wie man ihn in jedem Kramladen für einsneunundzwanzig kaufen konnte. Ein geisterhafter orangegelber Schimmer haftete ihm noch an, was Ralph nicht überraschte. Jedesmal, wenn sein Besitzer ihn benutzt hatte, mußte er ein wenig von dem Leuchten der Aura und der Ballonschnur angenommen haben, wie Schuppen. Und es überraschte ihn nicht, daß der Kamm bei dem Hut lag; als er beide zum letztenmal gesehen hatte, waren sie auch zusammen gewesen. Er erinnerte sich an das sarkastische Grinsen von Atropos, als er den Panama abgezogen und so getan hatte, als würde er den Kamm an seinem eigenen kahlen Schädel benützen.

Und dann ist er hochgesprungen und hat die Hacken zusammengeschlagen.

Lois deutete auf einen alten Schaukelstuhl mit gebrochener Kufe.

[»Der Hut lag gleich dort auf dem Stuhl. Der Kamm darunter. Er gehört Mr. Wyzer, nicht?«]

[»Ja.«]

Sie hielt ihn ihm sofort hin.

[»Nimm du ihn. Ich bin nicht so schusselig, wie Bill immer geglaubt hat, aber manchmal verliere ich schon etwas. Und wenn ich den verlieren würde, würde ich es mir nie verzeihen.«]

Er nahm den Kamm, wollte ihn in die Tasche stecken, dann dachte er daran, wie mühelos Atropos ihn aus einer Gesäßtasche herausgezogen hatte. Im Handumdrehen war es passiert. Er steckte ihn statt dessen in die vordere Tasche und sah wieder zu Lois, die McGoverns angebissenen Hut so traurig und verwundert betrachtete wie Hamlet den Schädel seines alten Freundes Yorrick. Als sie aufschaute, sah Ralph Tränen in ihren Augen.

[»Er hat diesen Hut geliebt. Er dachte, er würde ausgesprochen draufgängerisch und keck aussehen, wenn er ihn aufhätte. Das hat er nicht - er hat einfach nur wie Bill ausgesehen -, aber er dachte, daß er gut aussah, und daraufkommt es an. Findest du nicht auch, Ralph?«]

[»Ja.«]

Sie warf den Hut wieder auf den alten Schaukelstuhl, drehte sich um und begutachtete eine Kiste, die - wie es aussah - voll mit Kleidern für den Ramsch war. Kaum hatte sie ihm den Rücken zugedreht, ging Ralph in die Hocke, sah unter den Stuhl und hoffte, ein Funkeln von Edelsteinsplittern in der Dunkelheit zu sehen. Wenn Bills Hut und Joes Kamm hier waren, dann vielleicht auch Lois' Ohrringe...

Unter dem Schaukelstuhl lagen nur Staub und ein gestrickter rosa Babyschuh.

Ich hätte wissen müssen, daß es nicht so einfach sein würde, dachte Ralph und stand wieder auf. Plötzlich fühlte er sich erschöpft. Sie hatten Joes Kamm ohne Probleme gefunden, und das war gut, das war absolut super, aber Ralph befürchtete, daß es sich auch um einen spektakulären Fall von Anfängerglück handelte. Sie mußten sich immer noch um Lois' Ohrringe kümmern... und selbstverständlich erledigen, weshalb sie hergeschickt worden waren. Und was war das? Er wußte es nicht, und wenn jemand von weiter oben Anweisungen sendete, bekam er sie nicht mit.

[»Lois, hast du eine Ahnung, was -«]

[»Pssst.«]

[»Was ist, Lois? Ist er es?«]

[»Nein! Sei still, Ralph! Sei still und hör zul.«]

Er lauschte. Zuerst hörte er nichts, und dann spürte er wieder das zuckende Gefühl - das Blinzeln - im Kopf. Diesmal war es sehr langsam und vorsichtig. Er stieg ein wenig weiter empor, so leicht wie eine Feder in einem warmen Aufwind. Er bemerkte ein langgezogenes, leises Stöhnen, wie eine endlos quietschende Tür. Es hatte etwas Vertrautes an sich - nicht das Geräusch selbst, aber die damit verbundenen Assoziationen. Es war wie - ein Einbruchalarm oder möglicherweise ein Rauchdetektor. Es sagt uns, wo es ist. Es ruft uns.

Lois ergriff seine Hand mit eiskalten Fingern.

[»Das ist es, Ralph-das ist es, wonach wir suchen. Hörst du es?«]

Ja, er hörte es. Selbstverständlich. Aber was immer das Geräusch auch sein mochte, es hatte nichts mit Lois' Ohrringen zu tun... und ohne Lois' Ohrringe würde er hier nicht weggehen.

Das hoffst du, Liebling, antwortete die Carolyn in seinem Kopf. Das hoffst du.

Ja. Das hoffte er.

[»Komm schon, Ralph! Komm mit! Wir müssen es finden!«]

Er ließ sich von ihr tiefer in den Raum führen. An den meisten Stellen waren die Andenken von Atropos mehr als einen Meter über ihre Köpfe hinaus gestapelt. Ralph hatte keine Ahnung, wie ein Wurzelzwerg wie er das bewerkstelligen konnte -möglicherweise durch Levitation -, aber als Folge davon verlor Ralph bald die Orientierung, als sie sich hindurchzwängten, abbogen und manchmal auf den Weg zurückzugehen schienen, den sie gerade eingeschlagen hatten. Er wußte nur mit Sicherheit, daß das klägliche Stöhnen lauter wurde; je mehr sie sich dem Ursprung näherten, desto mehr glich es einem insektenhaften Summen, das Ralph immer unangenehmer fand. Er rechnete damit, daß er um eine Ecke biegen und vor einer riesigen Heuschrecke stehen würde, die ihn mit dunkelbraunen Augen so groß wie Grapefruits ansah.

Die unterschiedlichen Auren der Gegenstände in diesem Lagerhaus waren zwar verblaßt wie der Duft zwischen den Seiten eines Buchs gepreßter Blüten, aber unter dem Gestank von Atropos existierten sie noch, und auf dieser Stufe der Wahrnehmung, wo ihre sämtlichen Sinne hellwach und empfänglich waren, war es unmöglich, sie nicht zu spüren und von ihnen beeinflußt zu sein. Die stummen Erinnerungen an die Opfer des Zufalls waren schrecklich und mitleiderregend zugleich. Ralph wurde klar, daß dieser Ort hier mehr als ein Museum oder der Bau einer Packratte war; er war eine profane Kirche, wo Atropos seine Version des Abendmahls einnahm -Kummer statt Brot, Tränen statt Wein.

Ihr Hindernislauf durch die schmalen, zickzackförmigen Reihen war ein schreckliches, zermürbendes Erlebnis. Hinter jeder nicht ganz ziellosen Biegung warteten hundert weitere Objekte, von denen Ralph wünschte, er hätte sie nie gesehen und würde sich nie daran erinnern; jedes verlieh seinem eigenen leisen Aufschrei des Schmerzes und der Bestürzung Ausdruck. Er mußte sich nicht fragen, ob Lois seine Empfindungen teilte - sie schluchzte in einem fort leise neben ihm.

Da war der zerschrammte Flexible-Flyer-Schlitten eines Kindes, an dessen Lenkstange noch das Seil zum Ziehen geknotet war. Der Junge, dem er gehört hatte, war an einem kalten Januartag des Jahres 1953 an Krämpfen gestorben.

Da lag der Tambourstab einer Majorette, dessen Schaft in purpurne und weiße Kreppspiralen gewickelt war - die Farben der Grant Academy. Sie war im Herbst 1967 vergewaltigt und mit einem Stein totgeschlagen worden. Ihr Mörder, den man nie gefaßt hatte, hatte den Leichnam in eine kleine Höhle geschafft, wo ihre Gebeine - zusammen mit denen von zwei weiteren unglücklichen Opfern - immer noch lagen.

Hier lag die Kameenbrosche einer Frau, die von einem herabfallenden Ziegelstein erschlagen worden war, als sie die Main Street entlang ging, um die neueste Ausgabe von Vogue zu kaufen; hätte sie ihr Haus dreißig Sekunden früher oder später verlassen, wäre ihr nichts geschehen.

Dort lag der Hirschfänger eines Mannes, der 1937 bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war.

Da der Kompaß eines Pfadfinders, der bei einem Ausflug auf den Mount Katahdin gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte.

Der Turnschuh eines kleinen Jungen namens Gage Creed, den ein zu schnell fahrender Tanklaster auf der Route 15 in Ludlow überfahren hatte.

Ringe und Zeitschriften; Schlüsselanhänger und Regenschirme; Hüte und Brillen; Rasseln und Radios. Alle sahen verschieden aus, aber für Ralph waren sie ausnahmslos eines: die schwachen, kläglichen Stimmen von Menschen, die in der Mitte des zweiten Akts aus dem Drehbuch gestrichen worden waren, während sie noch ihren Text für den dritten lernten; Menschen, die ohne große Umstände abgeholt worden waren, bevor ihre Arbeit getan oder ihre Verpflichtungen erfüllt waren; Menschen, deren einziges Verbrechen es war, unter dem Stern des Zufalls geboren worden zu sein... und die Aufmerksamkeit des Irren mit dem rostigen Skalpell auf sich gelenkt zu haben.

Lois, schluchzend: [»Ich hasse ihn! Ich hasse ihn so sehr!«]

Er wußte, was sie meinte. Es war eines, Klotho und Lachesis zuzuhören, wenn sie sagten, daß Atropos ebenfalls in den größeren Rahmen gehörte, daß er vielleicht sogar selbst irgend einem höheren Plan diente, aber etwas völlig anderes, die verblaßte Red-Sox-Mütze eines kleinen Jungen zu sehen, der in ein zugewachsenes Kellerloch gefallen und im Dunkeln gestorben war, unter Schmerzen gestorben, und ohne Stimme, nachdem er sechs Stunden lang nach seiner Mutter geschrien hatte.

Ralph streckt die Hand aus und berührte die Mütze ganz kurz. Billy Weatherbee hatte ihr Besitzer geheißen. Sein letzter Gedanke war der an Eiscreme gewesen.

Ralph drückte Lois' Hand.

[»Ralph, was ist los? Ich kann dich denken hören - ich bin ganz sicher -, aber es ist, als würde ich jemandem zuhören, der unterdrückt flüstert.«]

[»Ich habe nur gedacht, daß ich dem kleinen Mistkerl gerne eins auswischen möchte. Vielleicht könnten wir ihm zeigen, wie es ist, wenn man nachts wach liegt. Was meinst du?«]

Sie drückte seine Hand ebenfalls fester. Mehr brauchte Ralph nicht als Antwort.

Sie kamen zu einer Stelle, wo der schmale Gang, dem sie folgten, sich teilte. Das leise, konstante Summen kam aus dem linken und war, wie es sich anhörte, nicht mehr weit entfernt. Es war jetzt unmöglich für sie, Seite an Seite zu gehen, und als sie sich dem Ende näherten, wurde der Gang noch schmaler. Ralph mußte schließlich seitwärts weitergehen.

Die rötliche Ausscheidung, die Atropos hinterließ, war hier besonders dick, tropfte an den Souvenirstapeln herunter und bildete kleine Pfützen auf dem gestampften Sandboden. Lois hielt seine Hand jetzt so fest, daß es wehtat, aber Ralph beschwerte sich nicht.

[»Wie beim Bürgerzentrum, Ralph - er verbringt eine Menge Zeit hier.«]

Ralph nickte. Die Frage war, wenn Mr. A. diesen Weg entlang kam, was wollte er sich ansehen... verdammt, womit wollte er kommunizieren? Sie näherten sich jetzt dem Ende des Gangs -er wurde von einer soliden Mauer aus Plunder versperrt -, aber er konnte immer noch nicht sehen, was das Summen erzeugte, das ihn allmählich verrückt machte; es war, als würde ihm eine Pferdebremse direkt durch den Kopf fliegen. Als sie sich dem Ende des Durchgangs näherten, wuchs seine Überzeugung, daß das, wonach sie suchten, sich auf der anderen Seite der Barriere aus Plunder befinden mußte - sie würden entweder umkehren und sich einen anderen Weg suchen oder durchbrechen müssen. Beides konnte mehr Zeit erfordern, als sie sich leisten konnten. Ralph verspürte eine nagende, unterschwellige Verzweiflung.

Aber der Korridor bildete keine Sackgasse; auf der linken Seite befand sich ein Durchschlupf unter einem Eßzimmertisch, auf dem sich Geschirr und Stapel grünen Papiers türmten und -

Grünes Papier? Nein, nicht ganz. Stapel von Banknoten. Zehner, Zwanziger und Fünfziger türmten sich wahllos auf den Tellern. Hunderter waren in eine gesprungene Sauciere gedrückt worden, ein zusammengerollter Fünfhundertdollarschein steckte wie betrunken in einem staubigen Weinglas.

[»Ralph! Mein Gott, das ist ein Vermögen!«]

Sie betrachtete nicht den Tisch, sondern die andere Wand der Passage. Die letzten eineinhalb Meter bestanden aus gebündelten grünen Backsteinen aus Geld, und Ralph wurde klar, daß sich damit eine weitere Frage beantwortete, die ihn beschäftigt hatte: woher Ed seine Knete hatte. Atropos konnte darin baden... aber Ralph vermutete, daß der kleine glatzköpfige Wichser trotzdem Probleme haben würde, sich mit einem Mädchen zu verabreden.

Er bückte sich, damit er den Durchschlupf unter dem Tisch besser sehen konnte. Auf der anderen Seite schien eine sehr kleine Kammer zu liegen. Träges rotes Leuchten pulsierte in dem Kämmerchen wie das Schlagen eines Herzes. Es warf einen unangenehmen roten Schimmer auf ihre Schuhe.

Ralph zeigte darauf, dann sah er Lois an. Sie nickte. Er ließ sich auf die Knie sinken und kroch unter dem mit Geld beladenen Tisch durch in den Schrein, den Atropos um das Ding herum gebaut hatte, das mitten auf dem Boden lag. Deshalb waren sie hergeschickt worden, daran hatte Ralph nicht den geringsten Zweifel, aber er hatte immer noch keine Ahnung, was es eigentlich war. Der Gegenstand, nicht größer als eine Murmel, wie Kinder sie »Klicker« nennen, war in ein Leichentuch gehüllt, so undurchdringlich wie das Zentrum eines schwarzen Lochs.

Oh, prima - klasse. Was nun?

[»Ralph! Hört du den Gesang? Er ist ganz leise.«]

Er sah sie zweifelnd an, dann drehte er sich um. Er haßte diesen engen Raum bereits, und obwohl er nicht an Klaustrophobie litt, spürte er nun, wie sich der panische Wunsch, hier zu verschwinden, in seine Gedanken stahl. Eine deutliche Stimme meldete sich in seinem Kopf zu Wort. Das will ich nicht nur, Ralph; das muß ich. Ich werde mich bemühen, bei dir zu bleiben, aber wenn du nicht bald zu Ende bringst, was du hier tun sollst, spielt es keine Rolle mehr, was einer von uns beiden will - dann werde ich einfach das Ruder übernehmen und abhauen, als wäre der Teufel hinter mir her.

Das unterdrückte Entsetzen in dieser Stimme überraschte ihn nicht, denn dies war wirklich ein gräßlicher Ort - überhaupt kein Zimmer, sondern der Grund eines Schachts aus Gerumpel und gestohlenen Dingen: Toastern, Fußschemeln, Radioweckern, Kameras, Büchern, Kisten, Schuhen, Rechen. Fast unmittelbar vor Ralphs Augen hing an einem zerschlissenen Gurt ein verbeultes altes Saxophon mit der Aufschrift PETE in staubtrübem Bergkristall. Ralph streckte die Hand danach aus, weil er das verdammte Ding aus dem Gesicht haben wollte. Dann überlegte er sich, daß das Entfernen eines Gegenstands möglicherweise einen Erdrutsch auslösen könnte, der die Wände zum Einsturz brachte und sie bei lebendigem Leib begrub. Er zog die Hand zurück. Gleichzeitig öffnete er seinen Geist und seine Sinne, so weit er konnte. Einen Augenblick glaubte er, daß er tatsächlich etwas hören konnte - ein schwaches Seufzen, wie das Flüstern des Meeres in einer Muschel -, aber dann war es verschwunden.

[»Wenn hier drinnen Stimmen sind, Lois, dann kann ich sie nicht hören - dieses verdammte Ding übertönt sie.«]

Er deutete auf den Gegenstand in der Mitte des Kreises ein Schwarz, das alle seine bisherigen Vorstellungen von Schwarz in den Schatten stellte, ein Leichentuch, das der Inbegriff aller Leichentücher war. Aber Lois schüttelte den Kopf.

[»Nein, es übertönt sie nicht. Es saugt sie aus.«]

Sie betrachtete das kreischende schwarze Ding voll Abscheu und Entsetzen.

[»Dieses Ding saugt das Leben aus den ganzen Sachen, die ringsum gestapelt sind... und es versucht, auch aus uns das Leben zu saugen.«]

Ja, natürlich. Jetzt, wo Lois es laut ausgesprochen hatte, konnte Ralph das Leichentuch spüren - oder den Gegenstand darin -, der an etwas tief in seinem Kopf zerrte, zog, drehte, schob... und versuchte, es herauszuziehen wie einen Zahn aus rosa Zahnfleisch.

Versuchte, ihnen das Leben auszusaugen? Nahe dran, aber kein Treffer. Ralph glaubte nicht, daß das Ding in dem Leichentuch ihr Leben wollte, ebensowenig ihre Seelen, jedenfalls nicht im strengen Sinne. Es wollte ihre Lebenskraft. Ihr Chi.

Lois' Augen wurden groß, als sie diesen Gedanken empfing... und dann sah sie zu einer Stelle dicht neben seiner rechten Schulter. Sie beugte sich auf den Knien nach vorne und streckte die Hand aus.

[»Lois, das würde ich nicht tun - die ganzen Stapel könnten über uns -«]

Zu spät. Sie zog etwas heraus, betrachtete es von schockiertem Begreifen erfüllt und hielt es ihm hin.

["»Es lebt noch - alles hier drinnen lebt noch. Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber es ist so... irgendwie ist es so. Aber sie sind schwach. Warum sind sie so schwach?«]

Was sie ihm entgegenstreckte, war ein kleiner weißer Turnschuh, der einer Frau oder einem Kind gehörte. Als Ralph ihn nahm, konnte er hören, wie der Schuh leise mit einer fernen Stimme sang. Das Geräusch war so einsam wie Novemberwind an einem verhangenen Nachmittag, aber auch unvorstellbar süß - ein Gegengift zum endlosen Plärren des Dings auf dem Boden.

Und es war eine Stimme, die er kannte. Er war ganz sicher.

Auf der Spitze des Turnschuhs war ein rostfarbener Spritzer. Ralph hielt ihn zuerst für Schokoladenmilch, aber dann erkannte er, worum es sich in Wirklichkeit handelte: getrocknetes Blut. In diesem Augenblick war er wieder vor dem Red Apple und hielt Nat, bevor Helen sie fallenlassen konnte. Er erinnerte sich, wie Helen über ihre eigenen Füße gestolpert war; wie sie rückwärts getaumelt war und sich an die Tür des Red Apple gelehnt hatte, wie eine Betrunkene an einen Laternenpfahl, und ihm die Hände entgegenstreckte. Gz mi mein Bäh-bie. Gi mi Nah-lie.

Er kannte die Stimme, weil es Helens Stimme war. Diesen Turnschuh hatte sie an dem Tag getragen, und die Blutstropfen auf der Schuhspitze stammten entweder von Helens eingeschlagener Nase oder der aufgeplatzten Wange. Er sang und sang, und seine Stimme wurde nicht völlig unter dem Summen des Dings in dem Leichentuch begraben, und jetzt, wo Ralphs Ohren - oder was in der Welt der Auren auch mmer als Ohren gelten mochte - weit geöffnet waren, konnte er alle anderen Stimmen von allen anderen Gegenständen hören. Sie sangen wie ein Chor der Verlorenen.

Lebten. Sangen.

Sie konnten singen, alle Gegenstände an diesen Wänden entlang konnten singen, weil ihre Besitzer noch singen konnten.

Ihre Besitzer waren noch am Leben.

Ralph sah wieder auf, und diesmal bemerkte er, daß verschiedene Gegenstände alt waren - das verbeulte Saxophon, zum Beispiel -, aber viele auch neu; in diesem kleinen Alkoven gab es keine Reifen von Gay-Nineties-Fahrrädern. Er sah drei Radiowecker, alle digital. Ein Rasierzeug, das aussah, als wäre es noch kaum benutzt worden. Ein Lippenstift, auf dem noch das Preisschild von Rite Aid klebte.

[»Lois, Atropos hat diese Sachen von den Leuten genommen, die heute abend im Bürgerzentrum sein werden. Richtig?«]

[»Ja. Ich bin sicher, daß es so ist.«]

Er deutete auf den schwarzen Kokon, der auf dem Boden kreischte und fast alle Lieder ringsum übertönte... übertönte und sich von ihnen nährte.

[»Und was immer sich in diesem Leichentuch befindet, hat etwas damit zu tun, was Klotho und Lachesis die Hauptsache nannten. Es ist das Ding, das alle verschiedenen Gegenstände

- alle verschiedenen Leben - zusammenbindet.«]

[»Das sie zu Ka-tet macht. Ja.«]

Ralph gab Lois den Turnschuh zurück.

[»Den nehmen wir mit, wenn wir gehen. Er gehört Helen.«]

[»Ich weiß.«]

Lois sah ihn einen Moment an, und dann tat sie etwas, das Ralph außerordentlich schlau fand: Sie zog den Schnürsenkel aus zwei Ösen heraus und band sich den Turnschuh wie einen Armreif um das linke Handgelenk.

Er kroch näher zu dem kleinen Leichentuch und beugte sich darüber. Es war schwer, in seine Nähe zu gehen, und noch schwerer, in seiner Nähe zu bleiben - es war, als würde man das Ohr ans Gehäuse eines auf Höchstleistung laufenden Schlagbohrers halten oder, ohne die Augen zuzukneifen, in ein grelles Licht sehen. Diesmal schienen tatsächlich Worte aus dem Summen heraus zu ertönen, wie die, die sie gehört hatten, als sie sich dem Rand des Leichentuchs über dem Bürgerzentrum näherten: Hinausss. Forrttt. Zieeeehtabb.

Ralph hielt sich einen Moment die Ohren zu, aber das nützte natürlich nichts. Die Worte kamen selbstverständlich nicht von außen. Er ließ die Hände wieder sinken und sah Lois an.

[»Was meinst du? Hast du eine Ahnung, was wir als nächstes tun sollen?«]

Er wußte nicht genau, was er von ihr erwartete, jedenfalls nicht die rasche, selbstbewußte Antwort, die er bekam.

[»Schneid es auf und hol raus, was im Inneren ist - und zwar schnell. Das Ding ist gefährlich. Außerdem ruft es vielleicht Atropos, hast du dir das schon einmal überlegt? Daß es petzt, so wie die Henne Jack im Märchen von der Bohnenranke verpetzt hat.«]

Ralph hatte über diese Möglichkeit nachgedacht, wenn auch nicht so eingehend. Na gut, dachte er. Schneid den Sack auf und nimm den Preis heraus. Aber wie genau sollen wir das machen?

Er erinnerte sich an den Blitzstrahl, den er Atropos geschickt hatte, als der kleine Dreckskerl versuchte, Rosalie über die Straße zu locken. Ein guter Trick, aber so etwas konnte hier mehr Schaden anrichten als nützen; wenn er das Ding damit verdampfen ließ, das sie mitnehmen sollten?

Ich glaube nicht, daß du das kannst.

Gut, hinreichend logisch, tatsächlich glaubte er selbst nicht, daß er es konnte... aber wenn man von den Habseligkeiten von Menschen umgeben war, die bei Sonnenaufgang tot sein würden, war es Wahnsinn, ein Risiko einzugehen. Völliger Wahnsinn.

Ich brauche keinen Blitz, sondern eine gute, scharfe Schere, wie die mit der Klotho und Lachesis -

Er sah Lois an und war verblüfft von dem klaren Bild.

[»Ich weiß nicht, was dir gerade eingefallen ist, aber was auch immer, beeil dich damit.«]

Ralph sah auf seine rechte Hand herab - eine Hand, von der Falten und erste Spuren von Arthritis verschwunden waren, eine Hand inmitten einer hellblauen Korona aus Licht. Er kam sich ein wenig albern vor, als er die beiden letzten Finger an die Handfläche preßte und die ersten beiden ausstreckte, wobei er an ein Spiel denken mußte, das sie als Kinder gespielt hatten -Stein bricht Schere, Schere schneidet Papier, Papier bedeckt Stein.

Seid eine Schere, dachte er. Ich brauche eine Schere. Helft mir.

Nichts. Er sah zu Lois und stellte fest, daß sie ihn mit einer gelassenen Ruhe betrachtete, die irgendwie beängstigend war. O Lois, wenn du nur wüßtest, dachte er, aber dann verdrängte er den Gedanken aus seinem Kopf. Denn er hatte etwas gespürt, oder nicht? Etwas.

Diesmal ließ er keine Worte in seinem Geist entstehen, sondern ein Bild: Nicht die Schere, mit der Klotho Jimmy V. in die nächste Welt geschickt hatte, sondern die Schere aus Edelstahl aus dem Nähkörbchen seiner Mutter - lange, schmale Scherenblätter, die fast so spitz zuliefen wie ein Messer. Als er sich stärker konzentrierte, konnte er sogar zwei winzige Worte erkennen, die dicht über dem Angelpunkt in den Stahl eingraviert waren: SHEFFIELD STEEL. Und jetzt konnte er dieses Gefühl wieder in seinem Geist spüren, diesmal allerdings kein Blinzeln, sondern das langsame Spannen eines Muskels - eines unvorstellbar kräftigen Muskels. Dabei klappte er langsam die Finger auf und zu und bildete ein V, das enger und breiter wurde.

Jetzt konnte er die Energie spüren, die er dem Nirvana-Jungen und dem Penner beim Bahnhof abgenommen hatte, wie sie sich erst in seinem Kopf sammelte und dann wie ein seltsamer Krampf an der rechten Hand hinunter in die ausgestreckten Finger floß.

Die Aura um die ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger seiner Hand wurde dicker... und länger. Nahm die schlanke Form von Schneiden an. Ralph wartete, bis sie etwa zwölf Zentimeter über seine Fingernägel hinausragte, dann bewegte er die Finger wieder auf und ab. Die Schere öffnete und schloß sich.

[»Los, Ralph! Tu es!«]

Ja - er konnte es sich nicht leisten, Zeit mit Experimenten zu verplempern. Er fühlte sich wie eine Autobatterie, die einen viel zu großen Motor anlassen muß. Er konnte spüren, wie seine ganze Energie - die, die er genommen hatte, und seine eigene -seinen rechten Arm hinunter in diese Schneide floß. Es würde nicht lange halten.

Er beugte sich nach vorne, preßte die Finger zu einer Zeigegeste zusammen, und bohrte die Spitze der Schere in das Leichentuch. Er hatte sich so sehr darauf konzentriert, die Schere zu erschaffen und zu erhalten, daß er das konstante, heisere Summen gar nicht mehr gehört hatte -jedenfalls nicht bewußt -, aber als die Scherenspitze sich in die schwarze Haut bohrte, schwoll der Laut des Leichentuchs plötzlich zu neuen Höhen eines zugleich schmerzerfüllten und erschrockenen Kreischens an. Ralph sah Rinnsale einer dicken, dunklen Gallertmasse aus dem Tuch auf den Boden fließen. Es sah aus wie ein krankhafter Auswurf. Gleichzeitig spürte er, wie sich der Energiefluß in ihm ungefähr verdoppelte. Er stellte fest, daß er es sogar sehen konnte: Seine eigene Aura wallte in langsamen peristaltischen Bewegungen den rechten Arm und Handrücken entlang. Und er konnte spüren, wie sie um den Rest des Körpers herum immer dünner wurde und seinen lebenswichtigen Schutz verdünnte.

[»Beeil dich, Ralph! Beeil dich!«]

Er unternahm eine gewaltige Anstrengung und spreizte die Finger. Die schimmernden blauen Scherenblätter klappten ebenfalls auf und hinterließen einen kleinen Schlitz in dem schwarzen Ei. Es schrie, und zwei gezackte rote Blitze sausten über die Oberfläche. Ralph führte die Finger zusammen und sah, wie die Schere, die aus ihnen wuchs, wieder zuschnappte und in die dicke schwarze Substanz schnitt, die teilweise Schale und teilweise Fleisch war. Er schrie auf. Er verspürte nicht gerade Schmerzen, sondern eher ein Gefühl schrecklicher Erschöpfung. So muß man sich fühlen, wenn man verblutet, dachte er.

Etwas im Innern des Leichentuchs erstrahlte in goldenem Glanz.

Ralph nahm all seine Kräfte zusammen und versuchte, die Finger zu einem weiteren Schnitt zu öffnen. Zuerst glaubt er nicht, daß es ihm gelingen würde - aber dann klappten sie auseinander und vergrößerten den Schlitz. Jetzt konnte er den Gegenstand im Inneren fast erkennen, etwas Kleines und Rundes und Glänzendes. Im Grunde genommen kann es eigentlich nur eines sein, dachte er, und dann spürte er, wie sein Herz plötzlich in der Brust flatterte. Die blauen Scherenblätter flackerten.

[»Lois! Hilf mir!«]

Sie umklammerte sein Handgelenk. Ralph spürte, wie gewaltige Voltzahlen frischer Energie in ihn fuhren. Er beobachtete erstaunt, wie die Schere wieder fester wurde. Jetzt war nur noch eines der Scherenblätter blau. Das andere war perlmuttfarben.

Lois, in seinem Kopf kreischend: [»Schneid es auf! Schneid es jetzt auf!«]

Er preßte die Finger wieder zusammen, und diesmal schnitt die Schere das Leichentuch weit auf. Es stieß einen letzten, röchelnden Schrei aus, dann wurde es ganz rot und verschwand. Die Schere, die aus Ralphs Fingerspitzen wuchs, löste sich flackernd auf. Er schloß die Augen einen Moment und merkte plötzlich, daß große, warme Schweißperlen wie Tränen an seinen Wangen hinabliefen. Im dunklen Feld hinter seinen Lidern konnte er irre Bilder sehen, die wie tanzende Scherenblätter wirkten.

[»Lois? Alles in Ordnung?«]

[»Ja... aber ich bin kaputt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich zu dieser Treppe unter dem Baum zurückkommen soll, vom Hochklettern ganz zu schweigen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich aufstehen kann.«]

Ralph machte die Augen auf, stemmte die Hände oberhalb der Knie auf die Schenkel und beugte sich wieder nach vorne. Auf dem Boden, wo das Leichentuch gewesen war, lag der Ehering eines Mannes. Er konnte mühelos lesen, was im Inneren eingraviert war: HD - ED 5.8.87.

Helen Deepneau und Edward Deepneau. Geheiratet am 5. August 1987.

Darum waren sie gekommen. Das war das Souvenir von Ed. Er mußte es nur noch aufheben... in die Hosentasche stecken... Lois' Ohrringe suchen... und zusehen, daß sie sich aus dem Staub machten.

Als er nach dem Ring griff, kam ihm ein Gedicht in den Sinn diesmal nicht von Stephen Dobyns, sondern von J.R.R. Tolkien, der die Hobbits erfunden hatte, an die Ralph zum letztenmal in Lois gemütlichem Wohnzimmer mit seinen vielen Bildern hatte denken müssen. Es war fast dreißig Jahre her, seit er Tolkiens Geschichte von Frodo und Gandalf und Sauron, dem dunklen Herrscher, gelesen hatte - eine Geschichte, in der es um einen ganz ähnlichen Gegenstand wie diesen ging, wenn man es genauer betrachtete -, aber die Verse waren im Moment so deutlich wie die Schere vor wenigen Augenblicken:

Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden Im Lande Mordor, wo die Schatten dröhnen.

Ich werde ihn nicht aufheben können, dachte er. Er wird so fest an das Rad des Ka gebunden sein wie Lois und ich, und ich werde ihn nicht aufheben können. Entweder das, oder es wird sein, als würde ich ein Starkstromkabel anfassen, und ich werde tot sein, ehe ich weiß, wie mir geschieht.

Aber er glaubte eigentlich nicht, daß es dazu kommen würde. Wenn er den Ring nicht nehmen sollte, warum war dieser dann durch das Leichentuch geschützt worden? Wenn er den Ring nicht nehmen sollte, warum hatten die Mächte hinter Klotho und Lachesis - und Dorrance, Dorrance durfte er nicht vergessen -ihn und Lois dann überhaupt erst auf diese Reise geschickt?

Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, dachte Ralph und schloß die Finger um Eds Trauring. Einen Augenblick verspürte er einen stechenden, gläsernen Schmerz in Hand, Handgelenk und Unterarm; im selben Augenblick schwollen die leise singenden Stimmen der Gegenstände, die Atropos hier gehortet hatte, zu einem lauten, harmonischen Ruf an.

Ralph stieß einen Laut aus - möglicherweise einen Schrei, möglicherweise nur ein Stöhnen -, hob den Ring hoch und hielt ihn fest in der rechten Hand. Ein Gefühl des Triumphs sang in seinen Adern wie Wein, oder wie -

[»Ralph.«]

Er sah sie an, aber Lois betrachtete die Stelle, wo Eds Ring gewesen war, und eine Mischung aus Angst und Verwirrung umwölkte ihre Augen.

Wo Eds Ring gewesen war; wo Eds Ring immer noch war. Er lag genau da, wo er gelegen hatte, ein glänzender goldener Kreis, in den HD - ED 5.8.87 eingraviert war.

Ralph verspürte einen Anflug schwindliger Desorientierung, brachte ihn aber mühsam unter Kontrolle. Er öffnete die Handfläche und rechnete fast damit, daß der Ring trotz allem, was seine Sinneswahrnehmung ihm verriet, nicht mehr da sein würde, aber er lag immer noch auf seiner Handfläche und bedeckte die Gabelung, wo Ralphs Liebes- und Lebenslinie sich kreuzten, und er glomm im häßlichen roten Licht dieses verabscheuungswürdigen Ortes. HD - ED 5.8.87. Die beiden Ringe waren identisch.

Einer in seiner Hand; einer auf dem Boden; absolut kein Unterschied. Zumindest keinen, den Ralph erkennen konnte.

Lois griff nach dem Ring, der anstelle des anderen dalag, den Ralph genommen hatte, zögerte und hob ihn auf. Vor ihren Augen erschien ein goldenes Leuchten auf dem Boden der Kammer und verfestigte sich zu einem dritten Ehering. Wie bei den anderen, war HD - ED 5. 8.1987 auf der Innenseite eingraviert.

Ralph mußte wieder an eine Geschichte denken - nicht an Tolkiens Geschichte vom Ring, sondern an ein Märchen von Dr. Seuss, das er in den fünfziger Jahren einer von Carolyns Nichten vorgelesen hatte. Das war lange her, aber er hatte das Märchen nie ganz vergessen, da es einprägsamer und dunkler als Dr. Seuss' sonstiger Unsinn von Ratten und Fledermäusen und aufmüpfigen Katzen gewesen war. Es trug den Titel The 500 Hats of Bartholomew Cubbins, und Ralph nahm an, daß es kein Wunder war, wenn ihm dieses Märchen gerade jetzt einfiel.

Der arme Bartholomew war ein Bauerntölpel, der das Pech hatte, sich gerade in der Stadt aufzuhalten, als der König vorbeikam. Man mußte den Hut vor seiner Königlichen Hoheit abnehmen, und Bartholomew hatte es wirklich versucht, aber jedesmal, wenn er den Hut abnahm, erschien ein anderer darunter, der genauso aussah.

[»Ralph, was ist hier los? Was hat das zu bedeuten?«]

Er schüttelte den Kopf, ohne zu antworten, und sah von dem Ring auf seiner Handfläche zu dem in Lois Hand und zu dem auf dem Boden, immer wieder im Kreis herum. Drei Ringe, alle identisch, genau wie die Hüte, die Bartholomew Cubbins hatte abziehen wollen. Der arme Junge hatte immer noch versucht, dem König die Ehre zu erweisen, erinnerte sich Ralph, als der Henker ihn eine Treppe zu der Stelle hinauf führte, wo er wegen Respektlosigkeit geköpft werden sollte...

Aber das war nicht richtig, denn nach einer Weile veränderten sich die Hüte auf dem Kopf des armen Bartholomew doch, sie wurden immer ausgefallener und barocker.

Sind die Ringe identisch, Ralph? Bist du sicher?

Nein, das war er nicht. Als er den ersten aufgehoben hatte, hatte er einen kurzen, vorübergehenden Schmerz verspürt, der sich wie Rheuma in seinem Arm ausgebreitet hatte, aber Lois schien keine Schmerzen empfunden zu haben, als sie den zweiten aufhob.

Und die Stimmen - ich habe sie nicht jubilieren gehört, als sie den zweiten aufgehoben hat.

Ralph beugte sich nach vorne und hob den dritten Ring auf. Er spürte keinen Schmerz und hörte keinen Jubelruf der Gegenstände, die die Mauern dieser Kammer bildeten - sie sangen einfach leise weiter. Derweil materialisierte sich ein vierter Ring an der Stelle, wo die anderen drei gelegen hatten, genau wie ein weiterer Hut auf dem Kopf des armen Bartholomew Cubbins, aber Ralph würdigte ihn kaum eines Blickes. Er betrachtete den ersten Ring, der auf seiner rechten Hand auf dem Schnittpunkt seiner Lebens- und Liebeslinie lag.

Ein Ring, sie zu knechten, dachte er. Sie alle zu binden. Und ich glaube, das bist du, mein Süßer. Die anderen sind nur geschickte Fälschungen.

Möglicherweise gab es eine Möglichkeit, das zu überprüfen. Ralph hielt die beiden Ringe an seine Ohren. Der in der linken Hand war stumm; der andere, der in der rechten, der in dem Leichentuch gewesen war, das Ralph aufgeschnitten hatte, wiederholte ein schwaches, unheimliches Echo vom letzten Aufschrei des Leichentuchs.

Der in seiner rechten Hand lebte.

[»Ralph?«]

Ihre Hand auf seinem Arm, kalt und drängend. Ralph sah sie an, dann warf er den Ring in der linken Hand weg. Er hielt den in der rechten Hand hoch und betrachtete Lois' angespanntes, seltsam jugendliches Gesicht durch ihn hindurch wie durch ein Teleskop.

[»Das ist der richtige. Die anderen sind nur Platzhalter, glaube ich - wie Nullen in einem komplizierten mathematischen Problem.«]

[»Du meinst, sie zählen nicht?«]

Er zögerte, da er nicht wußte, wie er antworten sollte... denn sie zählten doch, das war das Merkwürdige. Er wußte nur nicht, wie er dieses intuitive Wissen in Worte kleiden sollte. So lange der falsche Ring immer wieder in diesem Zimmer auftauchte wie die Hüte auf dem Kopf von Bartholomew Cubbins, blieb die Zukunft, die von dem Leichentuch über dem Bürgerzentrum repräsentiert wurde, die einzig wahre Zukunft. Aber der erste Ring, den Atropos Ed tatsächlich vom Finger gestohlen hatte (möglicherweise als er neben Helen in dem kleinen Cape-Cod-Haus geschlafen hatte, das jetzt leerstand), der konnte alles verändern.

Die Nachbildungen waren Platzhalter, die die Form des Ka erhielten, so wie Speichen, die von einer Nabe ausgingen, die Form des Rads erhielten. Aber das Original...

Ralph dachte, das Original war die Nabe: ein Ring, sie zu binden.

Er hielt den Goldreif fest in der Hand und spürte, wie die Kante sich in seine Finger und die Handfläche grub. Dann ließ er ihn in seiner Uhrtasche verschwinden.

Eines am Ka haben sie uns nicht erzählt, dachte er. Es ist schlüpfrig. Schlüpfrig wie ein böser alter Fisch, der sich nicht vom Haken losmachen lassen will, sondern einem in der Hand herumschnalzt.

Und es war auch, als würde man eine Sanddüne hinaufklettern

- für zwei Schritte, die man vorwärts schaffte, rutschte man einen zurück. Sie waren nach High Ridge gegangen und hatten etwas erreicht - was genau, das wußte Ralph nicht, aber Dorrance hatte ihnen versichert, daß es so war; ihm zufolge hatten sie ihre Aufgabe dort erfüllt. Jetzt waren sie hierher gekommen und hatten Eds Souvenir zurückgeholt, aber das reichte immer noch nicht aus, und warum? Weil Ka wie ein Fisch war, weil Ka wie eine Sanddüne war, weil Ka wie ein Rad war, das nicht stehenbleiben, sondern sich immer weiter und weiter drehen wollte, um alles zu zerquetschten, was sich in seinem Weg befand. Ein Rad mit vielen Speichen.

Aber am allermeisten war Ka wahrscheinlich wie ein Ring.

Wie ein Trauring.

Plötzlich begriff er, was das lange Gespräch auf dem Dach des Krankenhauses und Dorrance' Versuche, es zu erklären, nicht vermitteln konnten: Eds unbestimmter Status und die Tatsache, daß Atropos den armen, verwirrten Mann aufgespürt hatte, hatten ihn mit einer ungeheuren Macht ausgestattet. Eine Tür war aufgegangen, und ein Dämon, der der Scharlachrote König genannt wurde, war herausgekommen - einer, der mächtiger war als Klotho, Lachesis, Atropos, als alle drei zusammen. Und der hatte nicht die Absicht, sich von einem von Derrys Altvorderen wie Ralph Roberts aufhalten zu lassen.

[»Ralph?«]

[»Ein Ring, sie zu knechten, Lois - sie alle zu finden.«]

[»Wovon redest du? Was meinst du damit?«]

Er klopfte auf seine Uhrtasche und spürte die winzige, aber unendlich bedeutsame Wölbung von Eds Ring. Dann streckte er die Hände aus und packte Lois an den Schultern.

[ »Die Ersatzstücke - die falschen Ringe - sind Speichen, aber der hier ist die Nabe. Nimm die Nabe weg, und ein Rad kann sich nicht mehr drehen.«]

[»Bist du sicher?«]

Er war ganz sicher. Er wußte nur nicht, wie er es anstellen sollte.

[»Ja. Komm jetzt - verschwinden wir von hier, solange wir es noch können.«]

Ralph ließ sie zuerst unter dem vollbeladenen Eßzimmertisch durchkriechen, dann ging er in die Knie und folgte ihr. Auf halbem Weg hielt er inne und sah noch einmal über die Schulter. Er sah etwas Seltsames und Schreckliches: Das summende Geräusch hatte sich nicht wieder eingestellt, aber ein neues Leichentuch entstand um den Ersatzehering herum. Das glänzende Gold war bereits zu einem geisterhaften Reif geworden, der wie eine winzige Sonne hinter einer dichten Smogschicht aussah.

Er betrachtete das Bild ein paar Sekunden fasziniert, fast hypnotisiert, dann wandte er den Blick mühsam ab und kroch hinter Lois her.

Ralph hatte Angst, sie würden wertvolle Zeit vergeuden, wenn sie versuchten, den Rückweg durch das Labyrinth der Gänge zu finden, die sich kreuz und quer durch Atropos Lagerhalle der Andenken zogen, aber wie sich herausstellte, war das kein Problem. Ihre eigenen Fußspuren, die zwar verblaßten, aber immer noch sichtbar waren, wiesen ihnen den Weg.

Als sie die schreckliche kleine Kammer hinter sich gelassen hatten, fühlte er sich ein wenig kräftiger, aber jetzt machte Lois beinahe schlapp. Als sie den Torbogen zwischen der Lagerhalle und der schmutzigen Behausung von Atropos erreichten, mußte sie sich auf ihn stützen. Er fragte sie, ob sie es schaffen würde. Lois brachte ein Schulterzucken und ein kleines, müdes Lächeln zustande.

[»Mein größtes Problem ist dieser Ort. Es spielt keine Rolle, wie weit wir emporsteigen, er ist und bleibt schrecklich, und ich hasse ihn. Ich glaube, wenn ich etwas frische Luft bekommen habe, geht es mir besser. Ehrlich.«]

Ralph hoffte, daß sie recht hatte. Als er sich unter dem Torbogen hindurch in Atropos' Zimmer duckte, versuchte er, sich einen Vorwand auszudenken, unter dem er Lois voraus schicken konnte. Das würde ihm die Möglichkeit geben, die Behausung rasch zu durchsuchen. Wenn er die Ohrringe nicht finden konnte, mußte er davon ausgehen, daß Atropos sie noch trug.

Er bemerkte, daß ihr Slip wieder unter dem Rocksaum hervorhing, wollte sie darauf ansprechen und sah eine Bewegung aus dem linken Augenwinkel. Ihm wurde bewußt, daß sie auf dem Rückweg längst nicht so vorsichtig gewesen waren - was teilweise an ihrer Erschöpfung lag -, und daß sie jetzt möglicherweise einen hohen Preis für diese Sorglosigkeit zahlen mußten.

[»Lois, paß auf!«]

Zu spät. Ralph spürte, wie Lois Arm von ihm weggerissen wurde, als die Kreatur im schmutzigen Gewand sie an der Taille packte und rückwärts zog. Atropos' Kopf reichte nur bis zu ihrer Achselhöhle, aber das genügte, daß er das rostige Skalpell über sie halten konnte. Als Ralph sich instinktiv auf ihn stürzen wollte, ließ Atropos die scharfe Klinge sinken, bis sie die perlgraue Schnur berührte, die von ihrem Scheitel emporschwebte. Er entblößte die Zähne zu einem unsäglichen Grinsen.

[Keinen Schritt weiter, Kurzer... keinen einzigen!]

Nun, jetzt mußte er sich zumindest keine Gedanken wegen Lois' fehlender Ohrringe mehr machen. Sie funkelten trübe rötlich-rosa an Atropos Ohrläppchen. Ihr Anblick bewirkte mehr als die Aufforderung, daß Ralph stehenblieb.

Das Skalpell wurde ein wenig zurückgezogen... aber nur ein wenig.

[Also gut, Kurzer - du hast etwas genommen, was mir gehört, richtig? Versuch nicht, es zu leugnen; ich weiß es. Und jetzt wirst du es mir wiedergeben.]

Das Skalpell kehrte zu Lois' Ballonschnur zurück; Atropos liebkoste sie mit der flachen Seite der Schneide.

[Du gibt es mir zurück, oder dieses Flittchen hier wird vor deinen Augen sterben - du kannst da stehen und zusehen, wie ihre Aura schwarz wird. Also, was sagst du, Kurzer? Her damit!]

Kapitel 26

Atropos' Lächeln leuchtete regelrecht, erfüllt von widerlichem Triumph, erfüllt von -

Von Angst. Er hat dich kalt erwischt, er hält das Skalpell an Lois' Ballonschnur und die Hand um ihre Kehle, und trotzdem hat er Todesangst. Warum?

[Komm schon! Hör auf, meine Zeit zu vergeuden, Pißkopf Gib mir den Ring!]

Ralph griff langsam in die Tasche und ergriff den Ring, während er sich fragte, warum Atropos Lois nicht gleich getötet hatte. Sicher hatte er nicht vor, sie - sie beide - gehen zu lassen.

Er hat Angst, ich könnte ihn mit einem dieser telepathischen Karateschläge umhauen. Und das ist nur der Anfang. Ich glaube, er hat auch Angst davor, daß er es vermasselt. Er hat Angst vor dem Ding - der Wesenheit -, die ihn dirigiert. Angst vor dem Scharlachroten König. Du hast Angst vor dem Boss, oder nicht, mein schmutziger kleiner Freund?

Er hielt den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und sah wieder durch.

[»Komm und hol ihn dir, ja? Nicht so schüchtern.«]

Atropos verzerrte das Gesicht vor Wut. Der Ausdruck machte aus seinem nervtötenden, gemeinen Grinsen eine Zeichentrickgrimasse.

[Ich töte sie, Kurzer, hast du nicht gehört? Willst du das etwa?]

Ralph hob langsam und mit Bedacht die linke Hand. Er machte eine sägende Bewegung damit in der Luft und nahm dankbar zur Kenntnis, wie Atropos zusammenzuckte, als die Handkante kurz in seine Richtung zeigte.

[»Wenn du ihr auch nur einen Kratzer mit der Klinge zufügst, verpasse ich dir dermaßen eine, daß du deine Zähne mit dem Taschenmesser aus der Wand klauben mußt. Das ist ein Versprechen.«]

[Gib mir einfach den Ring, Kurzer!]

Sie können nicht lügen, dachte Ralph plötzlich. Ich weiß nicht mehr, ob mir das tatsächlich jemand gesagt hat oder ob ich es intuitiv geahnt halte, alter ich bin sicher, daß es stimmt - sie können nicht lügen, aber ich kann es.

[»Ich will dir was sagen, Mr. A. - versprich mir, daß wir einen Pakt geschlossen haben, und ich gebe ihn dir.«]

Atropos sah ihn mit einem verkniffenen Ausdruck von Argwohn und Zweifel an.

[Einen Pakt? Was meinst du mit einem Pakt?]

[•»Ralph, nein!«]

Er sah sie an, dann wieder Atropos. Er hob die linke Hand und kratzte sich am Kinn, ohne zu überlegen, wie die Geste für den kleinen kahlköpfigen Arzt wirken mußte. Das Skalpell wurde wieder gegen Lois' Ballonschnur gepreßt, diesmal so fest, daß die Schnur eingedrückt wurde und sich ein kleiner dunkler Fleck an der Stelle des Kontakts bildete. Er sah wie eine Blutblase aus. Dicke Schweißperlen standen auf Atropos' Stirn, und er sprach mit einem schrillen Unterton der Panik in der Stimme.

[Wage es nicht, welche von deinen Miniblitzen nach mir zu schleudern! Die Frau stirbt, wenn du das tust!]

Ralph ließ hastig beide Hände sinken und verschränkte sie hinter dem Rücken wie ein bußfertiges Kind. Eds Ring hielt er immer noch in der rechten, aber nun steckte er ihn fast ohne nachzudenken in die Gesäßtasche seiner Hose. Erst da war er vollkommen überzeugt, daß er den Ring nicht hergeben würde. Selbst wenn es Lois das Leben kosten würde - wenn es sie beide das Leben kosten würde - würde er ihn nicht hergeben.

Aber vielleicht würde es gar nicht soweit kommen.

[»Ein Pakt heißt, wir gehen beide unserer Wege, Mr. A. - ich gebe dir den Ring, du gibst mir meine Freundin zurück. Du mußt mir nur versprechen, daß du ihr nichts tust. Was meinst du?«]

[»Nein, Ralph, nein!«]

Atropos sagte nichts. Seine Augen sahen Ralph tückisch und vor Ohnmacht funkelnd an. Wenn er sich jemals in seinem langen Leben gewünscht hatte, er könnte lügen, dann mußte er es jetzt wünschen. Er müßte nur sagen: Abgemacht, ich bin einverstanden, und Ralph wäre wieder in Zugzwang. Aber das konnte er nicht sagen, weil er es nicht tun konnte.

Er weiß, daß er in einer Zwickmühle steckt, dachte Ralph. Es spielt eigentlich keine Rolle, ob er ihre Schnur durchschneidet oder sie gehenläßt - er wird denken, daß ich ihn so oder so rösten werde, und damit hat er nicht unrecht.

Wie sehr kannst du ihm wirklich schaden, Liebling? fragte Carolyn zweifelnd von dem Platz, den sie in seinem Kopf beanspruchte. Wieviel Saft hast du noch in dir, nachdem du das Leichentuch um den Ehering herum aufgeschnitten hast?

Die Antwort lautete unglücklicherweise: nicht viel. Vielleicht genug, um seinen Glatzkopf zu versengen, aber wahrscheinlich nicht genug, um ihn zu grillen. Und -

Dann sah Ralph etwas, das ihm gar nicht gefiel: Die Panik in Atropos' Grinsen wich einer zaghaften Zuversicht. Und er spürte, wie diese irren Augen ihn eingehend studierten - sein Gesicht, seinen Körper, aber am meisten seine Aura. Ralph sah plötzlich als deutliche Vision einen Mechaniker, der mit einem Prüfstab nachsah, wieviel Getriebeöl sich noch in einem Auto befand.

Tu etwas, flehte Lois ihn mit Blicken an. Bitte, Ralph.

Aber er wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte nicht die geringste Ahnung.

Atropos' Lächeln bekam einen gönnerhaften, gemeinen Beigeschmack.

[Keine Munition mehr, Kurzer, was? Das ist aber ein Jammer.]

[»Wenn du ihr wehtust, wirst du es herausfinden, du abgesägter Scheißkerl.«]

Atropos' Grinsen wurde immer breiter.

[Du könntest mit deinem kümmerlichen Rest keiner Ratte eins überbraten. Warum bist du kein guter Junge und gibst mir den Ring, bevor ich -]

[»Oh, du Dreckskerl!«]

Das war Lois. Sie sah Ralph nicht mehr an, sie sah durch das Zimmer in den Spiegel, wo Atropos zweifellos Sitz und Aussehen seiner neuesten Modeaccessoires überprüfte -Rosalies Halstuch oder Bill McGoverns Panama. Ihre Augen waren groß und voller Wut, und Ralph wußte genau, was sie sah.

[»Die gehören MIR, du elender kleiner Dieb!«]

Sie warf sich heftig nach hinten und drückte Atropos mit ihrem größeren Gewicht gegen den Torbogen. Er stieß ein verblüfftes Grunzen aus. Die Hand, die das Skalpell hielt, flog in die Höhe; die Schneide löste trockene Schuppen Schmutz von der Wand. Lois drehte sich zu ihm um und verzerrte das Gesicht zu einer wütenden Grimasse - eine Grimasse, die so wenig dem Bild von »unserer Lois« entsprach, daß McGovern bei dem Anblick wahrscheinlich vor Schreck ohnmächtig geworden wäre, wenn er sie gesehen hätte. Sie zerkratzte ihm mit den Händen das Gesicht und griff nach den Ohrringen. Einer ihrer Finger grub sich in seine Wange. Atropos kläffte wie ein Hund, dem jemand auf die Pfote getreten war, dann packte er sie wieder an den Handgelenken und wirbelte sie herum.

Er drehte die Schneide des Skalpells nach innen und holte zum Stoß aus. Ralph streckte den Zeigefinger wie beim Schimpfen danach aus. Ein so kümmerlicher Lichtstrahl, daß er fast unsichtbar war, schoß aus dem Fingernagel, traf die Spitze des Skalpells und stieß es vorübergehend von Lois' Ballonschnur weg. Und das war alles; Ralph spürte, daß seine persönlichen Reserven damit verbraucht waren.

Atropos fletschte die Zähne über die Schulter von Lois, die sich in seinen Armen wand und zappelte, in seine Richtung. Sie versuchte nicht, ihm zu entkommen; sie wollte sich umdrehen und ihn angreifen. Ihre Füße vollführten einen wilden Tanz, als sie sich wieder mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihn warf und versuchte, ihn hinter sich an die Wand zu quetschen, und Ralph warf sich ohne die geringste Ahnung zu haben, was er tun wollte, nach vorne, fiel auf die Knie und breitete die Arme aus. Er sah wie ein leidenschaftlicher Freier aus, der einen theatralischen Heiratsantrag macht, und Lois hätte mit einem wilden Fußtritt fast seine Kehle getroffen. Er zog am Saum ihres Slips, der sich mit einem gleitenden Rauschen von rosa Nylon löste. Derweil kreischte Lois immer noch. [»Elender kleiner Dieb! Da hast du'sl Wie gefällt dir das?«] Atropos stieß einen Schmerzensschrei aus, und als Ralph aufschaute, konnte er sehen, daß Lois die Zähne in sein rechtes Handgelenk gegraben hatte. Mit der linken Hand, in der er das Skalpell hielt, schlug er blindlings nach ihrer Ballonschnur und verfehlte sie nur um einen knappen Zentimeter. Ralph sprang auf die Füße und zog, obwohl er immer noch keine klare Vorstellung davon hatte, was er tat, Lois' rosa Slip über Atropos' um sich schlagende Hand... und seinen Kopf. [»Weg von ihm, Lois! Lauf!«]

Sie spie seine kleine weiße Hand aus und stolperte auf den Faß-Tisch in der Mitte des Zimmers zu, während sie sich Atropos' Blut mit einer atavistischen Gebärde des Ekels vom Mund wischte... aber ihr vorherrschender Gesichtsausdruck war immer noch Wut. Atropos selbst, momentan nur eine plärrende, sich windende Gestalt unter dem rosa Slip, tastete mit der freien Hand nach ihr. Ralph schlug sie weg und schob ihn unter den Torbogen zurück. [»Nein, mein Freund, das wirst du nicht-keinesfalls.«] [Laß mich los, Dreckskerl! Das kannst du nicht machen!] Und das Unheimliche daran ist, daß er das selbst glaubt, dachte Ralph. Es ist schon so lange alles nach seinem Willen gegangen, daß er völlig vergessen hat, was Kurzfristige tun können. Ich glaube, das kann ich ändern.

Ralph erinnerte sich, wie Atropos Rosalies Ballonschnur durchgeschnitten hatte, obwohl der Hund ihm die Hand leckte, und sein Haß auf diese großspurige, höhnische, auf eine selbstgefällige Art verrückte Kreatur explodierte plötzlich in seinem Kopf wie eine fäulnisgrüne Leuchtkugel. Er ergriff eine Seite von Lois' Slip und drehte die Faust zweimal mit einer brutalen Geste herum, als wollte er etwas aufziehen, und zog dabei den Stoff so straff, daß sich Atropos' Gesichtszüge wie unter einer rosa Nylontotenmaske abzeichneten.

Als die Schneide des Skalpells durch den Stoff stieß und ihn aufzuschlitzen begann, wirbelte Ralph Atropos herum, wobei er den Slip wie eine Schlinge durch die Luft schwang, mit der man einen Stein schleudert, und stieß ihn durch den Torbogen. Der Schaden wäre geringer gewesen, wenn Atropos gestürzt wäre, aber er stürzte nicht; seine Füße stießen zusammen, ohne sich jedoch zu überkreuzen. Er prallte klatschend gegen den Stein des Torbogens, stieß einen gedämpften Schmerzensschrei aus und sank auf die Knie. Blutflecken erblühten auf Lois' Nylonslip wie Blumen. Das Skalpell war wieder in den Schlitz hineingezogen worden, den es in den Stoff geschnitten hatte. Ralph sprang zu Atropos, als das Skalpell gerade wieder erschien und den ursprünglichen Schnitt vergrößerte, so daß das bestürzte, glotzäugige Gesicht der kahlköpfigen Kreatur sichtbar wurde. Seine Nase blutete; ebenso die Stirn und die rechte Schläfe. Bevor er sich aufrichten konnte, packte Ralph ihn an den schlüpfrigen rosa Ausbuchtungen seiner Schultern.

[Aufhören! Ich warne dich, Kurzer! Es wird dir leid tun, daß du je gebo-]

Ralph achtete nicht auf diese sinnlosen Drohgebärden und stieß Atropos mit aller Kraft nach vorn. Der Arm des Zwergs war immer noch in dem Slip verstrickt, und er landete voll auf dem Gesicht. Sein Schrei war teils Erstaunen, aber überwiegend Schmerz. Unglaublicherweise spürte Ralph Lois in seinem Hinterkopf, die ihm sagte, genug sei genug, er solle ihm nicht wehtun - solle dem kleinen Psychopathen nicht wehtun, der gerade versucht hatte, sie zu töten. Atropos versuchte, sich umzudrehen. Ralph rammte ihm das Knie zwischen die Schulterblätter und zwang ihn wieder nach unten.

[»Keine Bewegung, mein Freund. Ich mag dich genau da, wo du bist.«]

Er sah Lois an und stellte fest, daß ihr überraschender Wutanfall so schnell verschwunden war, wie er gekommen war wie ein seltsames Wetterphänomen. Ein Tornado vielleicht, der aus heiterem Himmel herabstößt, das Dach einer Scheune herunterreißt und dann wieder verschwindet. Aber ihr Finger zitterte nicht, als sie auf Atropos deutete.

[»Er hat meine Ohrringe, Ralph. Der gemeine kleine Dieb hat meine Ohrringe. Und er trägt sie auch noch!«]

[»Ich weiß. Ich habe es gesehen.«]

Eine Seite von Atropos' verzerrter Fratze ragte aus dem Schlitz im Nylon heraus wie das Gesicht des häßlichsten Babys der Welt im Augenblick der Geburt. Ralph konnte spüren, wie die Rückenmuskeln der kleinen Kreatur unter seinem Knie zitterten, und da fiel ihm ein altes Sprichwort ein, das er irgendwann einmal gelesen hatte... möglicherweise auf dem Etikett eines Teebeutels von Salada: Wer einen Tiger am Schwanz packt, sollte besser nicht loslassen. In dieser ungewöhnlichen unterirdischen Behausung, wo er sich vorkam wie der Held eines Märchens, das sich ein Irrer ausgedacht hatte, glaubte Ralph, daß er zu einem geradezu überirdischen Verständnis dieses Sprichworts gelangt war. Durch das Zusammenwirken von Lois' Wutanfall und schlichtem Scheißglück, war es ihm zumindest vorübergehend gelungen, den widerlichen kleinen Scheißer unterzubuttern. Die Frage - eine ziemlich drängende obendrein - war nun, wie es weitergehen sollte.

Die Hand mit dem Skalpell schnellte in die Höhe, aber der Schlag war schwach und wurde blind geführt. Ralph konnte ihm mühelos ausweichen, zuckte aber vor dem Geruch zurück, den die Schneide verströmte: alte Fleischfetzen, die in vergessenen Ecken eines alten Schlachthauses verfaulten. Der schluchzende und fluchende, keineswegs ängstliche, aber eindeutig verletzte und von rasender, ohnmächtiger Wut erfüllte Atropos holte wieder aus.

[Laß mich hoch, du zu groß geratener kurzfristiger Dreckskerl! Dummer alter Esel! Häßliches Faltengesicht!]

[»In letzter Zeit sehe ich ein bißchen besser aus, mein Freund. Ist dir das nicht auch aufgefallen?«]

[Arschloch! Dummes kurzfristiges Arschloch! Das wird dir noch leid tun! Das wird dir noch leid tun!]

Nun, dachte Ralph, wenigstens fleht er nicht. Ich hätte fast damit gerechnet, daß er jetzt anfängt zu flehen.

Atropos fuchtelte weiter kläglich mit dem Skalpell. Ralph wehrte zwei oder drei Stöße mühelos ab, dann legte er der Kreatur unter sich eine Hand um den Hals.

[»Ralph! Nein! Nicht!«]

Er schüttelte den Kopf in ihre Richtung, wußte aber nicht, ob er Ärger, Trost oder beides ausdrücken wollte. Er berührte Atropos' Haut und spürte, wie der erschauerte. Der kahlköpfige Doc stieß einen erstickten Schrei des Ekels aus, und Ralph wußte genau, wie ihm zumute war. Es war für sie beide ekelerregend, aber er nahm die Hand nicht weg. Statt dessen versuchte er, sie um Atropos' Hals zu schließen und war nicht besonders überrascht, daß er es nicht konnte. Aber hatte Lachesis nicht gesagt, daß sich nur Kurzfristige dem Willen von Atropos widersetzen konnten? Die Frage war nur, wie?

Unter ihm lachte Atropos häßlich.

[»Bitte, Ralph! Bitte nimm nur meine Ohrringe, und dann gehen wir!«]

Atropos verdrehte die Augen in ihre Richtung, dann sah er Ralph wieder an.

[Hast du gedacht, du könntest mich töten, Kurzer? Nun, das war wohl nichts.]

Nein, das hatte er nicht gedacht, aber er mußte es ganz sicher wissen.

[Das Leben ist beschissen, was, Kurzer? Warum gibst du mir nicht einfach den Ring zurück? Früher oder später werde ich ihn doch bekommen, das garantiere ich dir.]

[»Hol dich der Teufel, du kleine Ratte.«]

Große Worte, aber Worte konnten nichts ausrichten. Die drängendste Frage war immer noch unbeantwortet: Was, zum Teufel, sollte er mit diesem Monster anfangen?

Was auch immer, du wirst es nicht tun können, so lange Lois da steht und dich beobachtet, riet ihm eine kalte Stimme, die nicht ganz die von Carolyn war. Als sie wütend war, ging es gut mit ihr, aber jetzt ist sie nicht wütend. Sie ist zu zart besaitet für das, was als nächstes passieren wird, Ralph. Du mußt sie hier rausschaffen.

Er drehte sich zu Lois um. Sie hatte die Augen halb geschlossen. Es sah aus, als könnte sie sich unter dem Torbogen hinlegen und einschlafen.

[»Lois, ich möchte, daß du hier verschwindest. Sofort. Geh die Treppe hinauf und warte unter dem Baum aufm -«]

Das Skalpell schnellte wieder in die Höhe, und diesmal schnitt es fast Ralphs Nasenspitze ab. Er schrak zurück, und sein Knie rutschte auf Nylon ab. Atropos bäumte sich gewaltig auf und wäre um ein Haar unter ihm hervorgerollt. Im letzten Augenblick drückte Ralph dem kleinen Mann den Kopf mit dem Handballen hinunter - das, so schien es, ließen die Regeln zu - und rückte das Knie wieder zurecht.

[Auuul Auuul Aufhören! Du bringst mich um!]

Ralph beachtete ihn gar nicht, sondern sah Lois an.

[»Geh schon, Lois. Geh rauf! Ich komme nach, sobald ich kann!«]

[»Ich glaube nicht, daß ich alleine klettern kann. Ich bin zu müde.«]

[»Doch, du kannst. Du mußt, und du kannst.«]

Atropos fügte sich wieder - jedenfalls vorläufig -, ein kleines, keuchendes Bündel unter Ralphs Knie. Aber das reichte bei weitem noch nicht aus. Die Zeit verging im Flug, die Zeit verging viel zu schnell, und im Augenblick war die Zeit der wahre Gegner, nicht Ed Deepneau.

[»Meine Ohrringe...«]

[»Ich bringe sie mit, wenn ich komme, Lois. Ich verspreche es.«]

Lois richtete sich auf, wie es schien unter größter Anstrengung, und sah Ralph ernst an.

[»Du solltest ihm nicht wehtun, Ralph, wenn es sich vermeiden läßt. Es wäre nicht christlich.«]

Nein, ganz und gar nicht christlich, stimmte ein übermütiges kleines Wesen in Ralphs Kopf zu. Ganz und gar nicht christlich, aber trotzdem... ich kann es nicht erwarten, bis ich endlich anfangen kann.

[»Geh nur, Lois. Überlaß ihn mir.«]

Sie sah ihn traurig an.

[»Es würde nichts nützen, wenn du mir versprechen müßtest, ihm nicht wehzutun, oder?«]

Er dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf.

[»Nein, aber soviel werde ich dir versprechen: Es wird nicht schlimmer werden, als er es macht. Ist das gut genug?«]

Lois dachte gründlich darüber nach, dann nickte sie.

[»Ja, ich denke, das genügt. Und vielleicht schaffe ich es doch bis nach oben, wenn ich es langsam und vorsichtig mache... was ist mit dir?«]

[»Ich komme zurecht. Warte unter dem Baum auf mich.«]

[»Gut, Ralph.«]

Er sah ihr nach, wie sie durch das schmutzige Zimmer ging; Helens Turnschuh baumelte an ihrem Handgelenk. Sie duckte sich unter dem Torbogen zwischen Apartment und Treppe hindurch und begann mit dem langsamen Aufstieg. Ralph wartete, bis ihre Füße nicht mehr zu sehen waren, dann wandte er sich wieder Atropos zu.

[»Nun, mein Freund, da sind wir wieder - zwei alte Kameraden, endlich vereint. Was sollen wir machen? Spielen? Du spielst doch gerne, oder nicht?«]

Atropos fing sofort wieder an, sich zu wehren, während er gleichzeitig mit dem Skalpell über Ralphs Kopf fuchtelte und versuchte, Ralph abzuwerfen.

[Hör auf! Faß mich nicht an, du alte Schwuchtel!]

Atropos schlug so wild um sich, daß es Ralph vorkam, als würde er auf einer Schlange knien. Aber er achtete nicht auf die Schreie, das Aufbäumen und das blind um sich stoßende Skalpell. Atropos' ganzer Kopf ragte jetzt aus dem Slip heraus, was es viel einfacher machte. Er griff nach Lois' Ohrringen und zog. Sie blieben, wo sie waren, aber er erntete einen Schmerzensschrei von Atropos, der aus vollem Herzen kam. Ralph beugte sich nach vorne und lächelte verhalten.

[»Die sind für Ohrlöcher gemacht, richtig, Kumpel?«]

[Ja! Ja, gottverdammt!]

[»Um dich zu zitieren: Das Leben ist beschissen, oder nicht?«]

Ralph packte die Ohrringe wieder und riß sie los. Zwei Blutrinnsale sprudelten, als die Löcher in Atropos' Ohrläppchen zu Rissen wurden. Der Schrei des kahlköpfigen Mannes war schrill wie ein Bohrer. Ralph verspürte eine unangenehme Mischung aus Mitleid und Verachtung.

Der kleine Dreckskerl ist daran gewöhnt, anderen Menschen wehzutun, aber nicht, daß ihm selbst wehgetan wird. Vielleicht hat ihm noch nie jemand wehgetan. Nun, herzlich willkommen bei uns Normalsterblichen, Kumpel.

[Hör auf! Hör auf! Das kannst du mit mir nicht machen!]

[»Ich hab Neuigkeiten für dich, Freundchen... ich mache es schon. Also warum findest du dich nicht einfach mit dem Programm ab?«]

[Was willst du damit erreichen, Kurzer? Weißt du, es wird sowieso passieren. Die Leute im Bürgerzentrum sind hinüber, und wenn du den Ring nimmst, wirst du daran nichts ändern.]

Was du nicht sagst, dachte Ralph.

Atropos keuchte immer noch, aber er schlug nicht mehr um sich. Ralph konnte den Blick einen Moment von ihm abwenden und rasch durch den Raum schweifen lassen. Er vermutete, daß er in Wirklichkeit nach einer Inspiration suchte - eine kleine würde schon genügen.

[»Darf ich einen Vorschlag machen, Mr. A.? Als neuer Freund und Spielgefährte? Ich weiß, du bist beschäftigt, aber du solltest dir die Zeit nehmen und hier etwas aufräumen. Ich meine nicht, daß House Beautiful darüber berichten sollte oder so, aber igitt! Was für ein Schweinestall!«]

Atropos, verdrossen und argwöhnisch zugleich: [Glaubst du, deine Meinung interessiert mich einen Scheißdreck, Kurzer?]

Ihm fiel nur eine weitere Vorgehensweise ein. Sie gefiel ihm nicht, aber er würde sie trotzdem durchziehen. Er mußte sie durchziehen; vor seinem geistigen Auge sah er ein Bild, das dafür sorgte. Es war das Bild von Ed Deepneau, der mit einem Kleinflugzeug von der Küste Richtung Derry flog und entweder Sprengstoff oder einen Tank mit Nervengas im Bug verstaut hatte.

[»Was kann ich nur mit dir anstellen, Mr. A.? Irgendwelche Vorschläge?«]

Die Antwort erfolgte auf der Stelle.

[Laß mich gehen. Das ist die Antwort. Die einzige Antwort. Ich lasse euch in Ruhe, alle beide. Ich überlasse euch dem Plan. Ihr werdet noch zehn Jahre leben, verdammt, vielleicht zwanzig, unmöglich wäre es nicht. Du und deine kleine Lady müßt euch nur zurückziehen. Geht heim. Und wenn der große Knall kommt, seht ihn euch in den Nachrichten im Fernsehen an.]

Ralph versuchte sich anzuhören, als würde er ernsthaft darüber nachdenken.

[»Und du würdest uns in Ruhe lassen? Versprichst du, daß du uns in Ruhe lassen wirst?«]

[Ja!]

Atropos' Gesicht hatte einen Ausdruck der Hoffnung angenommen, und Ralph konnte die ersten Spuren einer Aura um den kleinen Dreckskerl herum erkennen. Sie hatte dieselbe häßliche rote Farbe wie das pulsierende Leuchten, welches die Behausung erhellte.

[»Weißt du was, Mr. A.?«]

Atropos, hoffnungsvoller denn je: [Nein, was?]

Ralph streckte eine Hand aus, packte Atropos' linkes Handgelenk und drehte es brutal herum. Atropos schrie vor Schmerzen auf. Er ließ den Griff des Skalpells los, worauf Ralph es so mühelos an sich nehmen konnte wie ein professioneller Taschendieb eine Brieftasche.

[»Ich glaube dir.«]

[Gib es mir zurück! Gib es mir zurück! Gib es -]

In seiner Hysterie hätte Atropos vielleicht stundenlang so weitergeschrien, daher bereitete Ralph ihm auf die direkteste Art und Weise ein Ende, die er kannte. Er beugte sich nach vorne und fügte dem großen kahlen Hinterkopf, der aus Lois' Slip herausragte, einen flachen vertikalen Schnitt zu. Keine unsichtbare Hand versuchte, ihn daran zu hindern, und seine eigene Hand bewegte sich mühelos. Blut - eine erschreckende Menge - quoll aus dem Schnitt. Die Aura um Atropos hatte das dunkle und abscheuliche Rot einer entzündeten Wunde angenommen. Er schrie wieder.

Ralph beugte sich nach vorne und flüsterte ihm freundschaftlich ins Ohr.

[»Vielleicht kann ich dich nicht töten, aber ich kann dir auf jeden Fall die Hölle heiß machen, richtig? Und dazu muß ich nicht mit psychischem Saft aufgeladen sein. Dieses kleine Werkzeug hier genügt voll und ganz.«]

Er kreuzte mit der Klinge den ersten Schnitt, den er beigebracht hatte, und schrieb ein kleines t auf Atropos' Kopf. Atropos kreischte und schlug wie wild um sich. Ralph stellte zu seiner Betroffenheit fest, daß ein Teil von ihm - der vergnügte Troll -einen Heidenspaß dabei hatte.

[»Wenn du willst, daß ich dich weiter aufschlitze, mußt du dich nur weiter wehren. Wenn du möchtest, daß ich aufhöre, dann mußt du aufhören.«]

Atropos wurde augenblicklich still.

[»Okay. Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen. Ich glaube, es wäre in deinem Interesse, wenn du sie beantwortest.«]

[Frag mich ruhig! Was du willst! Nur schneid mich nicht mehr!] [»Das ist die richtige Einstellung, Freundchen, aber ich glaube, man kann sie immer noch verbessern, du nicht? Mal sehen.«]

Ralph stieß wieder zu, und diesmal fügte er der Seite von Atropos' Kopf einen langen Schnitt zu. Ein Hautfetzen löste sich wie schlecht angeklebte Tapete. Atropos heulte. Ralph verspürte vor lauter Ekel einen Krampf in der Magengegend und war richtig erleichtert darüber... aber als er zu Atropos sprach/dachte, gab er sich große Mühe, sich dieses Gefühl nicht anmerken zu lassen.

[»Okay, das war meine Lektion in Motivation, Doc. Wenn ich sie wiederholen mußt, wirst du Sekundenkleber brauchen, damit deine Kopfhaut bei starkem Wind nicht davonweht. Hast du verstanden?«]

[Ja! Ja!]

[»Und glaubst du mir?«]

[Ja! Dreckiges, altes, weißhaariges Aas, JA!]

[»Okay, das ist gut. Hier ist meine Frage Mr. A.: Wenn du ein Versprechen gibst, bist du dann verpflichtet, es einzuhalten?«]

Atropos antwortete zögernd, ein gutes Zeichen. Ralph drückte ihm die flache Seite des Skalpells an die Wange, um ihn anzuspornen. Er wurde mit einem weiteren Schrei und sofortiger Kooperation belohnt.

[Ja! Ja! Schneid mich nicht mehr! Bitte schneid mich nicht mehr!]

Ralph nahm das Skalpell weg. Der Umriß der Schneide brannte auf der glatten Wange der kleinen Kreatur wie ein Muttermal.

[»Okay, Sonnenschein, dann hör gut zu. Du mußt mir versprechen, daß du mich und Lois in Ruhe lassen wirst, bis die Veranstaltung im Bürgerhaus vorbei ist. Keine Verfolgung mehr, kein Durchschneiden, kein Quatsch. Versprich mir das.«]

[Verpiß dich! Nimm dein Versprechen und schieb es dir in den Arsch!]

Das erboste Ralph nicht; sein Lächeln wurde sogar noch breiter. Denn Atropos hatte nicht gesagt: Das werde ich nicht, und noch wichtiger, er hatte nicht gesagt: Das kann ich nicht. Er hatte nur nein gesagt. Ein kleiner Ausrutscher, mit anderen Worten, der sich leicht korrigieren ließ.

Ralph wappnete sich und strich mit dem Skalpell die ganze Länge von Atropos' Rücken entlang. Der Slip klaffte auf, die schmutzige weiße Tunika darunter klaffte auf, und die Haut unter der Tunika auch. Eine ekelhafte Menge Blut quoll heraus, und Atropos' gellender, gequälter Schrei hallte in Ralphs Ohren.

Er beugte sich nach vorne und flüsterte wieder in das kleine Ohr, während er gleichzeitig das Gesicht verzog, weil warmes Blut den Stoff seiner Hose tränkte.

[»Ich tu das nicht gern, Freundchen - noch etwa zwei Schnitte, und ich muß wieder kotzen -, aber du sollst wissen, daß ich es kann und auch tun werde, bis du mir entweder das Versprechen gegeben hast oder die Macht, die mich daran gehindert hat, dich zu erwürgen, mich wieder aufhält. Ich glaube, wenn du darauf wartest, wirst du höllische Schmerzen erleiden müssen. Also, was meinst du? Gibst du mir das Versprechen, oder soll ich dich schälen wie eine Apfelsine?«]

Atropos blubberte. Es war ein ekelerregender, schrecklicher Laut.

[Du verstehst nicht! Wenn es dir gelingt, zu verhindern, was begonnen worden ist - die Chancen sind nicht groß, aber es wäre möglich -, werde ich von dem Wesen bestraft werden, das du den Scharlachroten König nennst!]

Ralph biß die Zähne zusammen und stieß wieder zu, wobei er die Lippen so fest zusammenpreßte, daß sein Mund wie eine längst verheilte Narbe aussah. Er spürte einen leichten Widerstand, als die Schneide des Skalpells durch Knorpel glitt, und dann fiel das linke Ohr von Atropos auf den Boden. Blut spritzte aus dem Loch in seinem kahlen Kopf, und diesmal war sein Schrei so laut, daß er Ralph in den Ohren weh tat.

Sie sind wirklich und wahrhaftig keine Götter, was? dachte Ralph. Ihm war übel vor Grauen und Ekel. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und uns besteht darin, daß sie länger leben und nicht so leicht zu sehen sind. Und ich schätze, ich bin kein guter Soldat - wenn ich das viele Blut nur sehe, könnte ich schon umkippen. Scheiße.

[Ja, gut, ich verspreche es! Hör auf, mich zu schneiden! Nicht mehr! Bitte, nicht mehr!]

[»Das ist immerhin ein Anfang, aber du wirst schon etwas deutlicher werden müssen. Ich möchte hören, wie du mir versprichst, daß du von mir und Los wegbleibst, und von Ed auch, bis die Veranstaltung im Bürgerzentrum vorbei ist.«]

Er rechnete mit weiteren Ausflüchten und Gegenwehr, aber Atropos überraschte ihn.

[Ich verspreche es! Ich verspreche, daß ich mich von dir fernhalte, und von dem Weibsstück, mit dem du dich herumtreibst -]

[»Lois. Sag ihren Namen. Lois.«]

[»Ja, ja - sie - Lois Chasse! Ich verspreche, daß ich nicht in ihre Nähe kommen, und auch nicht in die von Deepneau. Ich halte mich von euch allen fern, wenn du nur versprichst, daß du mich nicht mehr schneidest. Bist du nun zufrieden? Ist das gut genug? Gottverdammt!]

Ralph entschied, daß er zufrieden war... so zufrieden ein Mann nur sein kann, den seine Methoden und sein eigenes Vorgehen zutiefst abstoßen. Er glaubte nicht, daß es Stolperfallen in Atropos' Versprechen gab; der kleine Mann wußte, später würde er vielleicht einen hohen Preis dafür bezahlen müssen, daß er jetzt nachgegeben hatte, aber letzten Endes hatte das die Schmerzen und die Angst nicht übertreffen können, die Ralph über ihn gebracht hatte.

[»Ja, Mr. A., ich glaube, das ist gut genug.«]

Als Ralph von seinem kleinen Opfer herunterrollte, hatte er ein flaues Gefühl im Magen und den Eindruck - der falsch sein mußte, oder nicht? -, daß sich sein Hals öffnete und schloß wie die Schale einer Muschel. Er betrachtete einen Moment das blutbefleckte Skalpell, dann beugte er den Arm und warf es so weit weg, wie er konnte. Es flog durch den Torbogen und verschwand im angrenzenden Lagerraum.

Aber dafür, dachte Ralph. Nun war ihm nicht mehr nach Erbrechen zumute. Mehr zum Weinen.

Atropos erhob sich langsam auf die Knie und sah sich mit den benommenen Augen eines Mannes um, der einen ungeheuren Sturm überlebt hat. Er sah sein Ohr auf dem Boden liegen und hob es auf. Er drehte es in seinen kleinen Händen und betrachtete die Knorpelstränge an der Rückseite. Dann sah er zu Ralph auf. Tränen des Schmerzes und der Demütigung schwammen in seinen Augen, aber es war auch noch etwas anderes darin zu sehen - eine so ungeheure und tödliche Wut, daß Ralph davor zurückschrak. Seine Vorsichtsmaßnahmen und Vorkehrungen wirkten angesichts dieser Wut lächerlich unzureichend. Er wich einen taumelnden Schritt zurück und zeigte mit einem zitternden Finger auf Atropos.

[»Denk an dein Versprechen.«]

Atropos fletschte die Zähne zu einem tückischen Grinsen. Der Hautlappen an der Seite seines Gesichts schwang hin und her wie ein schlaffes Segel, das rohe Fleisch darunter näßte und blutete.

[Selbstverständlich denke ich daran - wie könnte ich es vergessen? Ich werde dir sogar noch eines machen. Zwei zum Preis von einem, könnte man sagen.]

Atropos machte eine Geste, an die sich Ralph noch deutlich vom Dach des Krankenhauses erinnerte, er spreizte die ersten beiden Finger der rechten Hand zu einem V und zog sie nach oben, so daß ein roter Bogen in der Luft entstand. Dahinter konnte man undeutlich, wie durch einen Nebel aus Blutstropfen, das Red Apple erkennen. Er wollte fragen, wer da im Vordergrund am Bordstein der Harris Avenue stand... aber dann wußte er es plötzlich. Er sah Atropos mit erschrockenen Augen an.

[»Himmel, nein! Das kannst du nicht!«]

Das Grinsen auf Atropos' Gesicht wurde noch breiter.

[Weißt du, das hatte ich auch von dir gedacht, Kurzer. Aber ich habe mich geirrt. Du auch. Paß auf.]

Atropos bewegte die gespreizten Finger ein Stück weiter. Ralph sah jemand mit einer Baseballmütze der Boston Red Sox aus dem Red Apple kommen, und diesmal wußte Ralph sofort, wen er vor sich sah. Diese Peerson rief der anderen auf der gegenüberliegenden Straßenseite etwas zu, und dann spielte sich etwas Schreckliches ab. Ralph wandte sich voller Ekel von dem blutigen Bild der Zukunft zwischen Atropos' winzigen Fingern ab.

Aber er hörte, als es passierte.

[Der, den ich dir als ersten gezeigt habe, gehört dem Zufall, Kurzer - mit anderen Worten, mir. Und nun kommt mein Versprechen: Wenn du mir weiter in die Quere kommst, wird passieren, was ich dir gerade gezeigt habe. Du kannst nichts tun, keine Warnung aussprechen, die es verhindern wird. Aber wenn du jetzt aufgibst — wenn du und die Frau, wenn ihr beide einfach zur Seite tretet und die Ereignisse ihren Lauf nehmen laßt -, dann verzichte ich darauf.]

Die Obszönitäten, die so einen großen Teil von Atropos üblichen Sprüchen bildeten, waren abgestreift worden wie ein gebrauchtes Kostüm, und zum erstenmal wurde Ralph bewußt, wie wahrhaft alt und auf bösartige Weise gerissen dieses Wesen war.

[Denk daran, was die Junkies sagen, Kurzer: Sterben ist leicht, Leben ist hart. Das ist ein wahres Sprichwort. Wenn einer das wissen muß, dann ich. Also, was meinst du? Kommen dir Zweifel?]

Ralph stand mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten in der schmutzigen Kammer. Lois' Ohrringe brannten in einer Hand wie kleine, heiße Kohlen. Auch Eds Ring schien an seinem Körper zu brennen, und er wußte, nichts auf der Welt würde ihn daran hindern, ihn aus der Tasche zu holen und wie das Skalpell ins Nebenzimmer zu werfen. Er erinnerte sich an eine Geschichte, die er vor etwa tausend Jahren in der Schule gelesen hatte. Sie trug den Titel »Die Dame - oder der Tiger?«, und nun wußte er, wie es war, wenn man eine so schreckliche Macht besaß... und vor einer so schrecklichen Entscheidung stand. Oberflächlich gesehen schien es einfach zu sein; was war schon ein Leben verglichen mit zweitausenddreihundert?

Aber dieses eine Leben-!

Aber es ist ja nicht so, daß es jemals jemand erfahren müßte, dachte er kalt. Niemand, abgesehen vielleicht von Lois... und Lois würde meine Entscheidung akzeptieren. Carolyn hätte es vielleicht nicht getan, aber sie sind grundverschiedene Frauen.

Ja, aber hatte er das Recht?

[Selbstverständlich, Ralph - darum geht es bei diesen Fragen von Leben und Tod in Wirklichkeit: Wer das Recht hat. Diesmal bist du es. Also, was sagst du?]

[»Ich weiß nicht, was ich sage. Ich weiß nicht, was ich denke. Ich weiß nur, ich wünschte, ihr drei hättet mich EINFACH IN RUHE GELASSEN!«]

Ralph Roberts hob den Kopf zur wurzeldurchzogenen Decke von Atropos' Behausung und schrie.

Kapitel 27

Fünf Minuten später streckte Ralph den Kopf aus den Schatten unter der alten umgestürzten Eiche heraus. Er sah Lois sofort. Sie kniete vor ihm und sah ihm ängstlich durch das Dickicht der Wurzeln ins Gesicht. Er hob eine schmutzige, blutüberströmte Hand, die sie ergriff, um ihm einen Halt zu geben, während er die letzten Stufen heraufkam - knorrige Wurzeln, die mehr Ähnlichkeit mit Leitersprossen hatten.

Ralph wand sich unter dem Baum hervor, drehte sich auf den Rücken und atmete die herrliche, frische Luft in vollen Zügen ein. Er glaubte, daß die Luft in seinem ganzen Leben noch nie so angenehm gerochen hätte. Trotz allem war er ungeheuer dankbar, draußen zu sein. Frei zu sein.

[»Ralph? Alles in Ordnung?«]

Er drehte ihre Hand um, küßte die Handfläche und legte die Ohrringe dann dorthin, wo seine Lippen gewesen waren.

[»Ja. Bestens. Die gehören dir.«]

Sie betrachtete sie neugierig, als hätte sie noch nie Ohrringe gesehen - weder diese noch andere -, dann steckte sie sie in die Tasche.

[»Du hast sie im Spiegel gesehen, Lois, richtig?«]

[»Ja, und es hat mich wütend gemacht... aber ich glaube, eigentlich war ich nicht überrascht, im tiefsten Inneren nicht.«]

[»Weil du es gewußt hast.«]

[»Ja, ich schätze, das habe ich. Vielleicht schon, als wir Atropos zum erstenmal mit Bills Hut gesehen haben. Ich habe es nur...du weißt schon... verdrängt.«]

Sie sah ihn durchdringend und abschätzend an.

[»Aber lassen wir meine Ohrringe jetzt - was ist da unten passiert? Wie bist du entkommen?«]

Ralph hatte Angst, daß sie zuviel sehen würde, wenn sie ihn lange auf diese gründliche Art und Weise betrachtete.

Außerdem fürchtete er, wenn er sich nicht bald in Bewegung setzen würde, würde er nie mehr aufstehen können; seine Müdigkeit war inzwischen so gewaltig, sie glich einem riesigen, verkrusteten Objekt - möglicherweise einem vor langer Zeit gesunkenen Ozeanriesen -, das in ihm lag, ihn rief und versuchte, ihn in die Tiefe zu ziehen. Er stand auf. Er durfte nicht zulassen, daß einer von ihnen in die Tiefe gezogen wurde, jetzt nicht. Die Neuigkeiten, die der Himmel verkündete, waren nicht so schlimm, wie sie hätten sein können, aber schlimm genug - es war mindestens achtzehn Uhr. Überall in Derry setzten sich Leute, die das Thema Abtreibung keinen Scheißdreck interessierte (mit anderen Worten, die große Mehrheit), zum Abendessen hin. Im Bürgerzentrum würden die Türen jetzt geöffnet werden; 1000 Fernsehscheinwerfer würden sie anstrahlen, Minicams würden Livebilder der ersten Abtreibungsbefürworter übertragen, die an Dan Dalton und seinen schilderschwingenden Friends of Life vorbeifuhren. Nicht weit von hier entfernt sangen Leute das alte Lieblingslied von Ed Deepneau: Hey, hey, Susan Day, how many kids did you kill today? Was auch immer er und Lois tun würden, sie mußten es in den nächsten sechzig bis neunzig Minuten tun. Die Uhr tickte.

[»Komm mit, Lois. Wir müssen uns beeilen.«]

[»Gehen wir ins Bürgerzentrum zurück?«]

[»Nein, nicht gleich. Ich glaube, vorher müssen wir -«]

Ralph stellte fest, daß er es einfach nicht erwarten konnte, zu hören, was er zu sagen hatte. Wohin mußten sie seiner Meinung nach vorher? Ins Derry Home zurück? Ins Red Apple? Sein Haus? Wohin ging man, wenn man zwei wohlmeinende, aber alles andere als allwissende Burschen suchte, die einen selbst und seine engsten Freunde in eine Welt voller Schmerzen und Sorgen gestürzt hatten? Oder konnte man davon ausgehen, daß sie einen fanden?

Vielleicht wollen sie dich nicht finden, mein Lieber. Möglicherweise verstecken sie sich sogar vor dir.

[»Ralph, bist du sicher, daß du -«]

Plötzlich dachte er an Rosalie und wußte es.

[»Der Park, Lois. Strawford Park. Dorthin müssen wir. Aber unterwegs müssen wir noch einmal haltmachen.«]

Er führte sie am Sturmzaun entlang, und wenig später hörten sie das träge Murmeln verschiedener Stimmen. Ralph konnte gegrillte Hot Dogs riechen, und nach dem Gestank von Atropos' Bau kam ihm der Duft wie Ambrosia vor. Eine oder zwei Minuten später gelangten er und Lois an den Rand des kleinen Picknickgeländes in der Nähe der Startbahn 3.

Dorrance stand in seiner erstaunlichen vielfarbigen Aura dort und beobachtete ein Kleinflugzeug, das sich der Landebahn näherte. Hinter ihm saßen Faye Chapin und Don Veazie mit einem Schachbrett zwischen sich und einer halbvollen Flasche Blue Nun griffbereit an einem der Picknicktische. Stan und Georgina Eberly tranken Bier und schwenkten Gabeln mit aufgespießten Hot Dogs in der flimmernden Hitze - für Ralph hatte dieses Flimmern einen seltsam trockenen rosa Farbton, wie korallenfarbener Sand - über einem der Grillplätze des Picknickgeländes.

Einen Augenblick stand Ralph nur, wo er war, wie vom Donner gerührt von ihrer Schönheit - die vergängliche, außerordentliche Schönheit, die, vermutete er, das Wesentliche im Leben der Kurzfristigen bildete. Ein Stück aus einem mindestens fünfundzwanzig Jahre alten Lied fiel ihm ein: We are stardust, we are golden. Dorrance' Aura war anders - auf sagenhafte Weise anders -, aber selbst die prosaischste Aura von den anderen funkelte wie seltene und unendlich kostbare Edelsteine.

[»O Ralph, siehst du es? Siehst du, wie wunderschön sie sind?«]

[»Ja.«]

[»Jammerschade, daß sie es nicht wissen.«]

Stimmte das? Im Licht der jüngsten Ereignisse war Ralph da nicht mehr so sicher. Und er hatte eine Ahnung - eine undeutliche, aber ausgeprägte Intuition, die er niemals in Worte hätte fassen können -, daß wahre Schönheit etwas war, das das bewußte Selbst gar nicht erkannte, ein ständig im Entstehen begriffenes Kunstwerk, etwas, das mehr Sein als Sehen war.

»Los doch, Dummkopf, mach deinen Zug«, sagte eine Stimme. Ralph wirbelte herum, weil er zuerst dachte, die Stimme hätte ihn angesprochen, aber es war Faye, der sich mit Don Veazie unterhielt. »Du bist eine lahme Ente.«

»Hör auf«, sagte Don. »Ich denke nach.«

»Du kannst nachdenken, bis die Hölle zufriert, und bist trotzdem in sechs Zügen matt.«

Don goß etwas Wein in einen Pappbecher und verdrehte die Augen. »Pest und Hölle!« rief er. »Ich hab nicht gewußt, daß ich gegen Boris Spasski Schach spiele! Ich dachte, es wäre nur der gute alte Faye Chapin! Ich wälze mich vor dir im Staub!«

»Echt Klasse, Don. Mit der Show könntest du auf Tournee gehen und eine Million Dollar verdienen. Und du mußt nicht einmal lange warten - noch sechs Züge, und du kannst aufbrechen.«

»Was für ein Klugscheißer«, sagte Don. »Du weißt einfach nicht, wann du -«

»Pssst!« sagte Georgina Eberly schneidend. »Was war das? Hat sich angehört, als wäre was explodiert!«

»Das« war Lois, die eine regenwaldgrüne Flut aus Georginas Aura saugte.

Ralph hob die rechte Hand, krümmte sie zu einer Röhre um die Lippen und inhalierte einen ähnlichen blauen Strom aus der Aura von Stan Eberly. Er spürte auf der Stelle, wie ihn frische Energie erfüllte; es war, als wären Neonröhren in seinem Gehirn eingeschaltet worden. Aber das gewaltige versunkene Schiff, bei dem es sich überwiegend um vier Monate weitgehend schlafloser Nächte handelte, war immer noch da und versuchte, ihn dorthin hinunterzuziehen, wo es lag.

Und auch die Entscheidung war noch da - sie war weder so noch so getroffen worden, sondern nur aufgeschoben.

Stan sah sich ebenfalls um. So viel Ralph auch von seiner Aura nahm (und ihm kam es so vor, als hätte er eine gewaltige Menge genommen), die Quelle blieb so hell strahlend wie immer. Offenbar entsprach alles, was sie über die fast endlosen Energievorräte eines jeden menschlichen Wesens erfahren hatten, der Wahrheit.

»Nun«, sagte Stan, »ich hab auch was gehört -«

»Ich nicht«, sagte Faye.

»Logisch, du bist ja auch eine taube Nuß«, antwortete Stan. »Hör auf, einen ständig zu unterbrechen, ja? Ich wollte sagen, es war kein Treibstofftank, weil kein Feuer und kein Rauch zu sehen sind. Kann auch nicht sein, daß Don gefurzt hat, weil keine toten Eichhörnchen mit versengtem Fell von den Bäumen fallen. Muß eine Fehlzündung von einem der großen Lastwagen der Air National Guard gewesen sein. Keine Bange, Liebling. Ich werd dich beschützen.«

»Beschütz das da«, sagte Georgina, schlug eine Hand in die Ellbogenbeuge und ballte die Faust in seine Richtung. Aber sie lächelte dabei.

»O Mann«, sagte Faye, »seht euch mal den alten Dor an.«

Sie sahen alle zu Dorrance, der lächelte und n Richtung der Harris Avenue Extension winkte.

»Wen siehst du denn da, altes Haus?« fragte ihn Don Veazie grinsend.

»Ralph und Lois«, sagte Dorrance und lächelte strahlend. »Ich sehe Ralph und Lois. Sie sind gerade unter dem alten Baum hervorgekommen!«

»Klar«, sagte Stan. Er schirmte die Augen ab, dann zeigte er direkt auf sie. Das jagte einen Stromschlag durch Ralphs Nervensystem, der erst abflaute, als ihm klar wurde, daß Stan nur auf die Stelle zeigte, wohin Dorrance winkte. »Und seht doch! Elvis und Glenn Miller kommen gleich hinter ihnen! Gottverdammt!«

Georgina stieß mit dem Ellbogen nach ihm, und Stan wich grinsend einen Schritt zur Seite.

[»Hallo, Ralph! Hallo, Lois!«]

[»Dorrance! Wir gehen zum Strawford Park? Ist das richtig?«]

Dorrance, glücklich grinsend: [»Weiß nicht. Das sind jetzt alles langfristige Angelegenheiten, und ich bin fertig damit. Ich geh bald nach Hause und lese Walt Whitman. Es wird eine stürmische Nacht werden, und Walt Whitman ist immer am besten, wenn der Wind weht.«]

Lois, beinahe hysterisch: [»Dorrance, hilf uns!«]

Dors Grinser verlosch, und er sah sie ernst an.

[»Ich kann nicht. Es wurde mir aus den Händen genommen. Was getan werden muß, müssen du und Ralph jetzt tun.«]

»Bäh«, sagte Georgina. »Ich hasse es, wenn er so glotzt. Man könnte fast meinen, daß er wirklich jemanden sieht.« Sie griff nach der Grillgabel mit dem langen Stiel und grillte ihren Hot Dog weiter. »Übrigens, hat jemand Ralph und Lois gesehen?«

»Nein«, sagte Don.

»Die haben sich mit einem Kasten Bier und einer Flasche Johnson's Babyöl in einem der Stundenhotels an der Küste verbarrikadiert«, sagte Stan. »Einer großen Flasche. Das hab ich euch gestern schon gesagt.«

»Schmutziger alter Mann«, sagte Georgina, die ihre Ellbogengeste diesmal nachdrücklicher und akkurater ausführte.

Ralph: [»Dorrance, kannst du uns überhaupt keine Hilfe geben? Uns wenigstens sagen, ob wir auf der richtigen Spur sind?«]

Einen Augenblick war er überzeugt, daß Dor antworten würde. Dann ertönte ein summendes Dröhnen am Himmel, das langsam näherkam, und der alte Mann sah auf. Sein strahlendes, wunderschönes Lächeln tauchte wieder auf. »Seht!« rief er. »Eine alte Grauman Yellow Bird! Was für ein toller Vogel!« Er lief zum Maschendrahtzaun, um die Landung der kleinen gelben Maschine zu verfolgen, und drehte ihnen den Rücken zu.

Ralph ergriff Lois' Arm und versuchte, selbst zu lächeln. Es fiel ihm schwer - er glaubte, daß er sich in seinem ganzen Leben noch nie so ängstlich und verwirrt gewesen war -, aber er versuchte es trotzdem.

[»Komm mit, Liebste. Gehen wir.«]

Ralph erinnerte sich, wie er gedacht hatte - als sie sich auf dem stillgelegten Gleis fortbewegten, das sie zuletzt zum Flughafen zurückgeführt hatte -, daß Gehen nicht der richtige Ausdruck für ihre Art von Fortbewegung war; es war mehr ein Gleiten gewesen. Sie bewegten sich auf dieselbe Weise vom Picknickplatz am Ende der Startbahn 3 zum Strawford Park zurück. Nur war das Gleiten jetzt schneller und ausgeprägter. Es war, als würden sie von einem unsichtbaren Förderband transportiert werden.

Er hörte versuchsweise einmal auf zu gehen. Die Häuser und Geschäftsfassaden glitten weiter vorbei. Er sah auf seine Füße hinunter, um ganz sicherzugehen, und tatsächlich, sie blieben völlig reglos. Es schien, als würde sich der Bürgersteig bewegen, nicht er.

Da kam Mr. Dugan, Leiter der Kreditabteilung der Derry Trust's, in seinem üblichen dreiteiligen Anzug und der randlosen Brille. Wie immer sah er für Ralph wie der einzige Mann der Menschheitsgeschichte aus, der ohne Arschloch zur Welt gekommen war. Er hatte einmal Ralphs Antrag auf einen Ratenkredit abgelehnt, und Ralph vermutete, daß das ein Grund für seine negative Einstellung dem Mann gegenüber sein mochte. Jetzt sah er, daß Dugans Aura die stumpfe, graue Farbe der Flure in einem Militärkrankenhaus hatte, und Ralph überlegte sich, daß ihn das nicht sonderlich überraschte. Er hielt sich die Nase zu wie ein Mann, der gezwungen ist, durch einen verschmutzten Kanal zu schwimmen, und ging direkt durch den Banker hindurch. Dugan zuckte nicht einmal zusammen.

Das war irgendwie lustig, aber als Ralph Lois ansah, verflog seine Heiterkeit schlagartig. Er sah ihren besorgten Gesichtsausdruck und die Fragen, die sie stellen wollte. Fragen, auf die er keine zufriedenstellenden Antworten hatte.

Vor ihnen lag der Strawford Park. Vor Ralphs Augen gingen plötzlich die Straßenlampen an. Der kleine Spielplatz, wo er und McGovern - oft in Gesellschaft von Lois - den Kindern beim Spielen zugesehen hatten, war fast verlassen. Zwei Kids der Junior High saßen nebeneinander auf den Schaukeln, rauchten Zigaretten und unterhielten sich, aber die Mütter und Kleinkinder, die tagsüber hierher kamen, waren alle fort.

Ralph dachte an McGovern - an sein unablässiges morbides Geschwätz und sein Selbstmitleid, die einem kaum auffielen, wenn man ihn kennenlernte, aber allgegenwärtig schienen, wenn man länger mit ihm zusammen war, allerdings durch seinen respektlosen Witz und seine überraschenden, impulsiven Freundlichkeiten gemildert und in etwas Besseres verwandelt wurden - und spürte, wie ihn eine tiefe Traurigkeit überkam. Kurzfristige waren vielleicht Sternenstaub, und sie waren vielleicht golden, aber wenn sie fort waren, dann waren sie fort, genau wie die Mütter und Babys, die an sonnigen Sommernachmittagen für kurze Zeit zum Spielen hierher kamen.

[»Ralph, was machen wir hier? Das Leichentuch ist über dem Bürgerzentrum, nicht über dem Strawford Park!«]

Ralph führte sie zu der Parkbank, wo er sie vor mehreren Jahrhunderten gefunden hatte, als sie wegen eines Streits mit ihrem Sohn und ihrer Tochter weinte... und wegen ihrer verlorenen Ohrringe. Unten am Hügel glänzten die beiden Port-O-Sans in der zunehmenden Dämmerung.

Ralph machte die Augen zu. Ich werde verrückt, dachte er, und ich bin mit dem Schnellzug dorthin unterwegs, nicht mit der Bummelbahn. Was wird es sein? Die Dame... oder der Tiger?

[»Ralph, wir müssen etwas tun. Die Menschen... Tausende von Menschen...«]

In der Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern sah Ralph jemanden aus dem Red Apple kommen. Eine Gestalt in dunklen Kordhosen und einer Red-Sox-Mütze. Gleich würde das Schickliche wieder seinen Lauf nehmen, und weil Ralph es nicht sehen wollte, schlug er die Augen auf und betrachtete die Frau neben sich.

[»Jedes Menschenleben ist wichtig, Lois, würdest du das nicht auch sagen? Jedes einzelne.«

Er wußte nicht, was sie in seiner Aura sah, aber es bereitete ihr eindeutig Todesängste.

[»Was ist da unten passiert, nachdem ich gegangen bin? Was hat er dir gesagt oder getan? Sag es mir, Ralph! Sag es mir!«]

Was sollte es sein? Eine oder viele? Die Dame oder der Tiger? Wenn er nicht bald handelte, würde ihm die Entscheidung einfach von der verrinnenden Zeit aus der Hand genommen werden. Also was? Was?

»Keines... oder beides«, sagte er heiser und merkte in seiner schrecklichen Zwickmühle gar nicht, daß er es laut und auf mehreren Ebenen gleichzeitig aussprach. »Ich werde mich nicht so oder so entscheiden. Niemals. Habt ihr gehört?«

Er sprang von der Bank auf und sah wild um sich.

»Habt ihr mich gehört?« schrie er. »Ich lehne die Entscheidung ab! Entweder BEIDES oder KEINS VON BEIDEM!«

Auf einem der Wege nördlich von ihnen sah ein Penner auf, der nach Pfandflaschen und -dosen gesucht hatte, warf einen Blick auf Ralph und suchte das Weite. Er hatte einen Mann gesehen, der in Flammen zu stehen schien.

Lois stand auf und nahm sein Gesicht zwischen die Hände.

[»Ralph, was ist denn? Wer ist es? Ich? Du? Denn wenn ich es bin, wenn du dich wegen mir zurückhältst, möchte ich nicht -«]

Er holte tief und schwer Luft, dann berührte er ihre Stirn mit seiner und sah ihr in die Augen.

[»Du bist es nicht, Lois, und ich auch nicht. Wäre es einer von uns, könnte ich mich vielleicht entscheiden. Aber wir sind es nicht, und der Teufel soll mich holen, wenn ich weiter ein Bauer auf dem Schachbrett sein will.«]

Er riß sich los und ging einen Schritt von ihr weg. Seine Aura loderte so grell auf, daß sie die Hand vor die Augen halten mußte; es war, als würde er irgendwie explodieren. Und als er die Stimme erhob, hallte sie wie Donner in ihrem Kopf.

[»KLOTHO! LACHESIS! KOMMT ZU MIR, VERDAMMT, UND ZWAR SOFORT!«]

Er ging zwei oder drei Schritte weiter und sah bergab. Die beiden Jungs von der Junior High, die auf den Schaukeln saßen, sahen mit denselben ängstlichen Mienen zu ihm auf. Sie flohen in dem Moment, als Ralphs Blick auf sie fiel, flohen aufgeschreckt wie zwei Rehe zu den Lichtern der Witcham Street und ließen die schwelenden Zigaretten in den Fußspuren unter den Schaukeln zurück.

[»KLOTHO! LACHESIS!«]

Er brannte wie ein elektrischer Lichtbogen, und plötzlich floß sämtliche Kraft wie Wasser aus Lois' Beinen heraus. Sie wich einen Schritt zurück und ließ sich auf die Parkbank fallen. Ihre Gedanken kreisten in ihrem Kopf, ihr Herz schlug rasend schnell, und unter allem lag diese grenzenlose Erschöpfung. Ralph sah sie als gesunkenes Schiff; Lois sah sie als Grube, um die sie in einer immer engeren Spirale gehen mußte, eine Grube, in die sie am Ende fallen würde.

[»KLOTHO! LACHESIS! EURE LETZTE CHANCE! DAS IST MEIN ERNST!«]

Einen Augenblick tat sich gar nichts, dann gingen die Türen der Port-O-Sans unten am Hügel in perfektem Einklang auf. Klotho kam aus der mit der Aufschrift MÄNNER, Lachesis aus der mit der Aufschrift FRAUEN. Ihre Auren, gleißend grün-golden wie Libellen im Sommer, schimmerten im äschernen Licht des frühen Abends. Sie rückten zusammen, bis ihre Auren sich überlappten, dann kamen sie langsam bergauf, während ihre weißgekleideten Schultern sich fast berührten. Sie sahen wie zwei ängstliche Kinder aus.

Ralph drehte sich zu Lois um. Seine Aura loderte immer noch. [»Bleib hier.«]

[»Ja, Ralph.«]

Sie ließ ihn fast den Hügel hinuntergehen, dann nahm sie allen Mut zusammen und sprach ihn an.

[»Aber ich werde versuchen, Ed aufzuhalten, wenn du es nicht tust. Das ist mein Ernst.«]

Selbstverständlich, und ihre Tapferkeit rührte ihm das Herz... aber sie wußte nicht, was er wußte. Hatte nicht gesehen, was er gesehen hatte.

Er sah einen Moment zu ihr, dann ging er zu den beiden kleinen kahlköpfigen Ärzten, die ihn mit ihren leuchtenden, ängstlichen Augen betrachteten.

Lachesis, nervös: [Wir haben Sie nicht belogen - haben wir nicht.]

Klotho, noch nervöser (falls das überhaupt möglich war): [Deepneau ist auf dem Weg. Sie müssen ihn aufhalten, Ralph -Sie müssen es wenigstens versuchen.]

Tatsache ist, ich muß gar nichts, und das sieht man euren Gesichtern an, dachte er. Dann drehte er sich zu Klotho um und stellte zufrieden fest, daß der kleine kahlköpfige Mann vor seinem Blick zurückschreckte und die dunklen, pupillenlosen Augen niederschlug.

[»Ist das so? Auf dem Dach des Krankenhauses haben Sie uns gesagt, wir sollten uns von Ed Deepneau fernhalten, Mr. K. Das haben Sie ausdrücklich betont.«]

Klotho wand sich unbehaglich und rang die Hände.

[Ich...das soll heißen, wir... können uns irren. Diesmal haben wir uns geirrt.]

Aber Ralph wußte, geirrt war nicht der passende Ausdruck dafür; einer Selbsttäuschung erlegen wäre besser gewesen. Er wollte sie deshalb beschimpfen - oh, um die Wahrheit zu sagen, er wollte sie beschimpfen, weil sie ihn überhaupt erst in diese beschissene Lage gebracht hatten -, stellte aber fest, daß er es nicht konnte. Denn dem alten Dor zufolge hatte sogar ihre Selbsttäuschung dem Plan gedient; der Umweg nach High Ridge war aus irgendeinem Grund gar kein Umweg gewesen. Er begriff nicht, warum oder wie das sein konnte, hatte aber vor, es herauszufinden, wenn er es herausfinden konnte.

[»Vergessen wir das vorerst einmal, meine Herren, und unterhalten uns darüber, warum das alles passiert. Wenn ihr Hilfe von mir und Lois wollt, solltet ihr mir das besser sagen.«]

Sie sahen einander mit ihren großen, ängstlichen Augen an, dann wieder Ralph.

Lachesis: [Ralph, bezweifeln Sie, daß die vielen Menschen wirklich sterben werden? Denn wenn ja -]

[»Nein, aber ich habe es satt, daß sie mir andauernd vor Augen geführt werden. Wenn ein Erdbeben in dieser Gegend stattfinden würde, das dem Plan dient, und wenn die Zahl der Opfer bei zehntausend statt bei zweitausend und ein paar Zerquetschten liegen würde, dann würdet ihr beiden doch nicht einmal mit der Wimper zucken. Also, was ist so Besonderes an der Situation? Sagt es mir!«]

Klotho: [Ralph, wir machen die Regeln ebensowenig wie Sie. Wir haben gedacht, Sie wüßten das.]

Ralph seufzte.

[»Ihr weicht schon wieder aus, und damit vergeudet ihr nur eure eigene Zeit.«]

Klotho, unbehaglich: [Nun gut, vielleicht war die Version, die wir Ihnen geschildert haben, nicht völlig klar, aber die Zeit war knapp, und wir hatten Angst. Und Sie müssen wissen, was auch passiert, diese Menschen werden sterben, wenn Sie Ed Deepneau nicht aufhalten!]

[»Vergeßt sie alle vorerst mal; ich will nur über eine Person etwas wissen - diejenige, die dem Plan gehört und nicht übergeben werden kann, nur weil ein nicht eingeplanter Pisser mit einem Kopf voll lockerer Schrauben und einem Flugzeug voller Sprengstoff daherkommt. Wen könnt ihr dem Zufall nicht übergeben? Es ist Ms. Day, richtig? Susan Day.«]

Lachesis: [Nein. Susan Day gehört dem Zufall. Sie geht uns nichts an, unterliegt nicht unserem Einfluß.]

[»Wer dann?«]

Klotho und Lachesis wechselten wieder einen Blick. Klotho nickte stumm, dann wandten sie sich beide wieder Ralph zu. Wieder streckte Lachesis die ersten beiden Finger der rechten Hand in die Höhe und erzeugte das Pfauenrad aus Licht.

Diesmal sah Ralph aber nicht McGovern, sondern einen kleinen Jungen mit blondem Haar, das ihm strähnig in die Stirn hing, und einer hakenförmigen Narbe auf dem Nasenrücken. Ralph wußte sofort, wer es war - der Junge aus dem Keller von High Ridge, der mit der mißhandelten Mutter. Der ihn und Lois Engel genannt hatte.

Und ein kleines Kind wird sie führen, dachte er völlig verblüfft. O mein Gott. Er sah Klotho und Lachesis ungläubig an.

[»Verstehe ich das richtig? Dies alles dreht sich nur um diesen kleinen Jungen?«]

Er rechnete mit weiteren Ausflüchten, aber die Antwort von Klotho war einfach und direkt: [Ja, Ralph.]

Lachesis: [Er hält sich gerade im Bürgerzentrum auf. Seine Mutter, deren Leben ihr heute morgen auch gerettet habt, bekam vor einer knappen Stunde einen Anruf von ihrer Babysitterin, daß sie sich schlimm an einem Stück Glas verletzt hat und heute abend doch nicht auf das Kind aufpassen kann. Da war es selbstverständlich schon zu spät, einen anderen Babysitter zu finden, und diese Frau ist seit Wochen fest entschlossen, Susan Day zu sehen... ihr de Hand zu schütteln, wenn möglich, sie sogar zu umarmen. Sie vergöttert diese Day.]

Ralph, der sich an die verblassenden Blutergüsse in ihrem Gesicht erinnern konnte, stellte fest, daß er Verständnis für diese Vergötterung hatte. Etwas anderes verstand er noch besser: Die Verletzung des Babysitters war kein Zufall gewesen. Etwas war entschlossen, den kleinen Jungen mit den blonden Strähnen und den vom Rauch geröteten Augen ins Bürgerzentrum zu bringen, und war bereit, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um es zu erreichen. Seine Mutter hatte ihn nicht mitgenommen, weil sie eine schlechte Mutter war, sondern auch nur ein Mensch, wie alle anderen. Sie hatte ihre große Chance, Susan Day kennenzulernen, nicht verpassen wollen, das war alles.

Nein, das ist nicht alles, dachte Ralph. Sie hat ihn auch mitgenommen, weil sie glaubte, es wäre sicher, nachdem Pickering und seine Irren von Daily Bread alle tot sind. Sie mußte gedacht haben, daß sie ihren Sohn schlimmstenfalls vor ein paar schilderschwingenden Abtreibungsgegnern beschützen müßte, daß sie und ihren Sohn unmöglich gleich zweimal an einem Tag der Blitz treffen konnte, Ralph hatte zur Witcham Street gesehen. Jetzt wandte er sich wieder Klotho und Lachesis zu.

[»Seid ihr sicher, daß er dort ist? Ohne Zweifel?«]

Klotho: [Ja. Er sitzt neben seiner Mutter auf dem nördlichen Balkon und hat ein Poster von McDonald's zum Anmalen und ein paar Märchenbücher dabei. Überrascht es Sie, daß eines der Bücher The 500 Hats of Bartholomew Cubbins ist?]

Ralph schüttelte den Kopf. Im Augenblick überraschte ihn gar nichts mehr.

Lachesis: [Deepneaus Flugzeug wird die Nordseite des Bürgerzentrums angreifen. Der kleine Junge wird auf der Stelle sterben, wenn nichts unternommen wird, um es zu verhindern... aber es darf nicht geschehen. Der Junge darf auf keinen Fall vor seiner planmäßigen Zeit sterben.]

Lachesis sah Ralph ernst an. Der blau-grüne Fächer aus Licht zwischen seinen Fingern war verschwunden.

[Wir können nicht weiter diskutieren, Ralph - er ist schon in der Luft, keine hundert Meilen von hier. Bald wird es zu spät sein, ihn aufzuhalten.]

Daraufhin geriet Ralph fast außer sich, blieb aber dennoch gelassen stehen. Schließlich wollten sie, daß er außer sich geriet. Daß sie beide außer sich gerieten.

[»Ich sage euch, daß das alles keine Rolle spielt, bis ich nicht verstanden habe, worum es eigentlich geht. Ich werde nicht zulassen, daß es eine Rolle spielt.«]

Klotho: [Dann hören Sie zu. Ab und zu kommt ein Mann oder eine Frau daher, deren Leben nicht nur seine direkte Umwelt oder auch nur alle in der Welt der Kurzfristigen beeinflußt, sondern auch diejenigen auf vielen Ebenen über und unter der Welt der Kurzfristigen. Diese Menschen sind die Großen, und ihr Leben dient immer dem Plan. Wenn sie zu früh geholt werden, verändert sich alles. Die Verhältnisse sind nicht mehr im Gleichgewicht. Können Sie sich beispielsweise vorstellen, wie verändert die Welt heute aussehen würde, wenn Hitler als Baby in der Badewanne ertrunken wäre? Sie denken vielleicht, die Welt wäre besser dran, aber ich kann Ihnen sagen, die Welt würde überhaupt nicht mehr existieren, wenn das geschehen wäre. Angenommen, Winston Churchill wäre an Lebensmittelvergiftung gestorben, bevor er Premierminister werden konnte? Angenommen, Augustus wäre totgeboren worden, von seiner eigenen Nabelschnur erwürgt? Aber die Person, die Sie retten sollen, ist viel wichtiger als sie alle.]

[»Verdammt, Lois und ich haben den Jungen schon einmal gerettet! Ist der Fall damit nicht abgeschlossen und er wieder dem Plan zurückgegeben?«]

Lachesis, geduldig: [Ja, aber er ist nicht sicher vor Ed Deepneau, denn Deepneau hat weder im Plan noch im Zufall eine Bestimmung. Von allen Menschen auf der Welt kann nur Deepneau ihm ein Leid zufügen, bevor seine Zeit gekommen ist. Wenn Deepneau scheitert, ist der Junge wieder sicherer, wird seine Zeit ruhig verbringen, bis sein Augenblick gekommen ist und er die Bühne betritt, um seine kurze aber bedeutende Rolle zu spielen.]

[»Demnach bedeutet ein Leben so viel?«]

Lachesis: [Ja. Wenn dieses Kind stirbt, wird der Turm der gesamten Existenz fallen, und die Folgen dieses Falls übersteigen Ihre Vorstellungskraft. Und unsere ebenfalls.]

Ralph betrachtete einen Moment seine Schuhe. Sein Kopf schien tausend Pfund zu wiegen. Er hatte es hier mit einer Ironie zu tun, die er trotz seiner Müdigkeit mühelos begreifen konnte. Atropos hatte Ed in Bewegung gesetzt, indem er einen möglicherweise bereits latent vorhandenen Messiaskomplex zu hellen Flammen entfacht hatte. Ed sah nicht - und würde es auch nicht glauben, wenn man es ihm sagen würde -, daß Atropos und seine Bosse auf den höheren Ebenen ihn nicht benutzen wollten, um den Messias zu retten, sondern um ihn zu töten.

Er sah wieder in die ängstlichen Gesichter der beiden kahlköpfigen Ärzte.

[»Okay, ich habe keine Ahnung, wie ich Ed aufhalten soll, aber ich werde es versuchen.«]

Klotho und Lachesis sahen einander an und ließen beide dasselbe (und ausgesprochen menschliche) Lächeln der Erleichterung sehen. Ralph hob mahnend einen Finger.

[»Moment. Ihr habt noch nicht alles gehört.«]

Das Lächern erlosch.

[»Ich will etwas von euch zurück. Ein Leben. Ich tausche das Leben eures vierjährigen Jungen gegen -«]

Sie hörte das Ende davon nicht mehr; seine Stimme sank einen Augenblick unter die Schwelle des Hörbaren, aber als Lois sah, wie zuerst Klotho und dann Lachesis die Köpfe senkten, verließ sie der Mut.

Lachesis: [Ich verstehe Ihre Zwickmühle, zumal Atropos ganz sicher tun kann, was er angedroht hat. Aber Sie müssen einsehen, daß dieses eine Leben kaum so bedeutend ist wie -]

Ralph: [»Aber für mich schon, begreift ihr nicht? Für mich schon. Ihr Jungs müßt in die Köpfe bekommen, daß für mich beide Leben gleich wichtig sind -«]

Sie verstand wieder nicht alles, aber Klotho konnte sie deutlich verstehen; er war dermaßen verzweifelt, daß er fast winselte.

[Aber das ist etwas anderes! Das Leben dieses Jungen ist etwas anderes!]

Jetzt hörte sie Ralph deutlich sprechen (wenn man es überhaupt als sprechen bezeichnen konnte), und zwar mit einer furchtlosen, unerbittlichen Logik, bei der Lois an ihren Vater denken mußte.

[»Alle Leben sind verschieden. Alle sind wichtig oder keines ist wichtig. Das ist selbstverständlich nur meine engstirnige Kurzfristigenansicht, aber ich denke, ihr Jungs werdet euch damit abfinden müssen, da ich derjenige mit dem Hammer bin. Es läuft darauf hinaus: Ich mache einen Tausch. Das Leben, das euch wichtig ist, gegen das Leben, das mir wichtig ist. Ihr müßt mir nur euer Wort geben, dann sind wir uns einig.«]

Lachesis: [Ralph, bitte! Bitte verstehen Sie doch, daß wir das wirklich nicht dürfen!]

Es folgte ein langer Augenblick des Schweigens. Als Ralph wieder das Wort ergriff, war seine Stimme leise, aber trotzdem hörbar. Es war allerdings das letzte völlig deutlich Verständliche, das Lois von der Unterhaltung mitbekam.

[»Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen nicht können und nicht dürfen, meint ihr nicht auch?«]

Klotho sagte etwas, aber Lois verstand nur den zusammenhanglosen Ausdruck:

[Handel könnte möglich sein.]

Lachesis schüttelte heftig den Kopf. Ralph antwortete, und Lachesis antwortete mit einer grimmigen knappen Schneidegeste mit den Fingern.

Überraschenderweise reagierte Ralph darauf mit einem Lachen und einem Nicken.

Klotho legte seinem Kollegen eine Hand auf den Arm und unterhielt sich ernst mit ihm, bevor er sich wieder an Ralph wandte.

Lois verschränkte die Hände im Schoß und wünschte sich, sie würden zu einer Art Einigung gelangen. Irgendeiner Einigung, die Ed Deepneau daran hindern würde, die vielen Menschen zu töten, während sie hier nur herumstanden und redeten.

Plötzlich wurde der Hügel von gleißendem weißen Licht erhellt. Zuerst glaubte Lois, es käme vom Himmel herab, aber das lag nur daran, daß Mythos und Religion ihr beigebracht hatten zu glauben, daß der Himmel Ursprung aller übernatürlichen Erscheinungen war. In Wirklichkeit schien es von überall zu kommen - den Bäumen, dem Himmel, dem Boden, sogar aus ihr selbst, es strömte wie ein helles Nebelband aus ihrer Aura.

Dann ertönte eine Stimme... oder besser gesagt, eine STIMME. Sie sprach nur drei Worte, aber die hallten in Lois' Kopf wie eherne Glocken.

[SO SEI ES.]

Sie sah Klotho, dessen kleines Gesicht eine Maske des Grauens und der Ehrfurcht war, in die Tasche greifen und die Schere herausholen. Er zitterte und ließ sie fast fallen, ein Zeichen von Nervosität, bei dem sich Lois richtig mit ihm verbunden fühlte. Dann hielt er sie aufgeklappt hoch, in jeder Hand einen Griff.

Die drei Worte ertönten wieder:

[SO SEI ES.]

Diesmal folgte aber ein so grelles Leuchten, daß Lois einen Moment glaubte, sie wäre blind geworden. Sie schlug die Hände vor die Augen, sah aber - im letzten Augenblick, als sie noch etwas sehen konnte -, daß sich das Licht in der Schere sammelte, die Klotho wie einen zweizackigen Blitzableiter hochhielt.

Es gab kein Entrinnen vor diesem Licht; es verwandelte ihre Lider und ihre erhobenen, die Augen abschirmenden Hände in Glas. Das Leuchten zeichnete die Knochen ihrer Finger wie bei einer Röntgenaufnahme ab, als es durch ihre Hand strömte. Weit entfernt hörte sie eine Frau, die sich verdächtig nach Lois Chasse anhörte, innerlich mit lauter Stimme sprechen:

[»Abschalten! Mein Gott, bitte schaltet es ab, bevor es mich umbringt!«]

Und als sie glaubte, sie könne es nicht mehr länger aushalten, begann das Licht endlich zu verblassen. Als es erloschen war -abgesehen von einem leuchtenden blauen Phantombild, das in der Dunkelheit schwebte wie eine Geisterschere -, schlug sie langsam die Augen auf. Einen Augenblick sah sie nichts als das gleißende blaue Kreuz und dachte, sie wäre wirklich erblindet. Dann kehrte die Welt zurück, zuerst vage wie bei einer Fotografie, die gerade entwickelt wird. Sie sah Ralph, Klotho und Lachesis, die ebenfalls die Hände sinken ließen und sich mit der blinden Bestürzung von Maulwürfen umsahen, deren Bau von einer Pflugschar freigelegt worden ist.

Lachesis betrachtete die Schere in der Hand seines Kollegen, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen, und Lois wäre jede Wette eingegangen, daß er sie noch nie wie jetzt gesehen hatte. Die Scherenblätter leuchteten immer noch und verströmten geisterhaften Feenschimmer von Licht wie Nebeltröpfchen.

Lachesis: [Ralph! Das war...]

Den Rest bekam sie nicht mit, aber er sprach im Tonfall eines gewöhnlichen Bauern, der zur Tür geht, weil es geklopft hat, und feststellt, daß der Papst auf ein Gebet und eine kleine Beichte vorbeigekommen ist.

Klotho starrte immer noch die Blätter seiner Schere an. Ralph ebenfalls, aber sein Blick wanderte zu den kleinen Ärzten.

Ralph: [»... die Schmerzen?«]

Lachesis, wie ein Mann, der aus einem tiefen Traum erwacht: [Ja... wird nicht lange dauern, aber... Schmerzen werden gewaltig sein... Meinung geändert, Ralph?]

Plötzlich hatte Lois Angst vor dieser leuchtenden Schere. Sie wollte Ralph zurufen, er solle sein Leben vergessen und den beiden einfach ihres geben, den kleinen Jungen, den sie unbedingt haben wollten. Sie wollte ihm sagen, daß er alles tun sollte, was sie wollten, damit sie die Schere wieder wegsteckten.

Aber weder aus ihrem Mund noch aus ihrem Geist kamen Worte.

Ralph: [»... im geringsten... wollte nur wissen, was ich zu erwarten habe.«]

Klotho: [... fertig?... muß sein...]

Sag nein, Ralph, dachte sie. Sag NEIN!

Ralph: [»... bereit.«]

Lachesis: [Verstehen... seine Bedingungen... und den Preis?] Ralph, jetzt sichtlich ungeduldig: [»Ja, ja. Können wir jetzt bitte«]

Klotho, mit großem Ernst: [Nun gut, Ralph. So sei es.]

Lachesis legte einen Arm um Ralphs Schultern; er und Klotho führten ihn ein Stück weiter bergab zu der Stelle, wo die jüngeren Kinder im Winter ihre Schlittenfahrten begannen. Dort befand sich eine flache, kreisrunde Stelle, etwa so groß wie die Bühne eines Nachtclubs. Als sie dort angekommen waren, hielt Lachesis Ralph auf, dann drehte er ihn herum, so daß er und Klotho einander gegenüberstanden.

Plötzlich wollte Lois die Augen schließen, stellte aber fest, daß sie es nicht konnte. Sie konnte nur zusehen und beten, daß Ralph wußte, was er tat.

Klotho unterhielt sich murmelnd mit ihm. Ralph nickte und zog den Pullover aus. Er faltete ihn zusammen und legte ihn ordentlich auf das laubbedeckte Gras. Als er sich wieder aufrichtete, ergriff Klotho seinen rechten Arm am Handgelenk und hielt ihn starr ausgestreckt. Dann nickte er Lachesis zu, der Ralphs Manschettenknopf öffnete und mit drei raschen Bewegungen den Ärmel bis zum Ellbogen hochkrempelte. Als das geschehen war, drehte Klotho Ralphs Arm so, daß das Handgelenk nach oben zeigte. Die feinen blauen Adern dicht unter der Haut des Unterarms waren deutlich zu sehen und von feinen Schnörkeln der Aura betont. Das alles kam Lois schrecklich vertraut vor: als würde sie sehen, wie ein Patient in einer Krankenhausfernsehserie für die Operation vorbereitet wurde.

Aber dies war nicht das Fernsehen.

Lachesis beugte sich nach vorne und sagte wieder etwas. Sie konnte die Worte immer noch nicht hören, aber Lois wußte, er sagte Ralph, daß dies seine letzte Chance war.

Ralph nickte, und obwohl seine Aura Lois verriet, daß er große Angst vor dem hatte, was ihm bevorstand, brachte er sogar ein Lächeln zustande. Als er sich zu Klotho umdrehte und auf ihn einsprach, schien er keine Beruhigung zu suchen, sondern tatsächlich ein Wort des Trostes zu sprechen. Klotho versuchte, Ralphs Lächeln zu erwidern, aber ohne Erfolg.

Lachesis legte eine Hand um Ralphs Handgelenk, allerdings (so kam es Lois jedenfalls vor) mehr um den Arm zu stützen, als um ihn tatsächlich reglos zu halten. Er erinnerte sie an eine Schwester, die einem Patienten beisteht, der eine schmerzhafte Injektion bekommt. Dann sah er seinen Partner mit ängstlichen Augen an und nickte. Klotho nickte ebenfalls, holte tief Luft und beugte sich dann über Ralphs Unterarm mit dem geisterhaften Baum blauer Venen, die unter der Haut zu sehen waren. Er hielt einen Moment inne, dann klappte er langsam die Schere auf, mit der er und sein alter Freund das Leben gegen den Tod eintauschten.

Lois kam schwankend auf die Füße und stand unsicher auf Beinen, die sich wie toter Ballast anfühlten. Sie wollte die Lähmung überwinden, die sie in diesem schrecklichen Schweigen gefangenhielt, wollte Ralph zurufen, daß er aufhören sollte - ihm sagen, daß er nicht wußte, was sie mit ihm vorhatten.

Aber er wußte es. Sie sah es an seinem blassen Gesicht, den halb geschlossenen Augen, den schmerzlich zusammengepreßten Lippen. Am deutlichsten aber sah sie es an den schwarzen und roten Flecken, die durch seine Aura rasten wie Meteore, und an der Aura selbst, die sich zu einer harten, blauen Hülle zusammengezogen hatte.

Ralph nickte Klotho zu, der die Schere senkte, bis sie Ralphs Unterarm dicht unter dem Knick des Ellbogens berührte. Einen Augenblick wurde die Haut nur eingedrückt, dann bildete sich eine glatte, dunkle Blutblase, wo die Falte gewesen war. Die Schneide glitt in diese Blase. Als Klotho die Finger spannte und die Scherenblätter zusammendrückte, schnellte die Haut auf beiden Seiten des Längsschnitts zurück wie Jalousien. Das Unterhautfettgewebe glänzte wie schmelzendes Eis im grellen blauen Leuchten von Ralphs Aura. Lachesis hielt Ralphs Handgelenk fester, aber soweit Lois sehen konnte, unternahm Ralph nicht einmal ansatzweise den Versuch, sie zurückzuziehen, er senkte nur den Kopf und ballte die linke Hand zur Faust wie ein Mann, der den Black-Power-Gruß ausführt. Sie konnte die Sehnen an seinem Hals wie Kabel hervortreten sehen. Aber kein Laut kam über seine Lippen.

Jetzt, wo der schreckliche Vorgang tatsächlich begonnen hatte, handelte Klotho mit einer Schnelligkeit, die barmherzig und brutal zugleich war. Er führte rasch einen Schnitt an Ralphs Arm entlang bis zum Handgelenk aus, so wie ein Mann ein fest zugeklebtes Päckchen mit einer Schere öffnen würde, wobei er die Schneide mit den Fingern führte und mit dem Daumen niederdrückte. In Ralphs Arm glänzten Sehnen wie die Schnittflächen von Steaks. Blut lief in Rinnsalen herab, und jedesmal, wenn eine Ader durchschnitten wurde, spritzte es auf. Bald verunzierten Spritzer die weißen Kittel der beiden kleinen Männer, wodurch sie mehr denn je wie kleine Ärzte aussahen.

Als die Schere schließlich die Bänder an Ralphs Handgelenken durchschnitt (die »Operation« dauerte keine drei Sekunden, kam Lois aber wie eine Ewigkeit vor), nahm Klotho die tropfende Schere weg und gab sie Lachesis. Ralphs nach oben gedrehter Arm war vom Ellbogen bis zum Handgelenk aufgeschnitten worden, eine dunkle Furche. Klotho preßte die Hand auf den Ursprung dieser Furche, und Lois dachte: Jetzt wird der andere Ralphs Pullover aufheben und einen Druckverband daraus machen. Aber Lachesis tat nichts dergleichen; er hielt nur die Schere und sah zu.

Einen Augenblick floß das Blut noch zwischen Klothos Fingern hervor, dann hörte es auf. Er zog langsam die Hand an Ralphs Arm hinunter, und die Haut, die unter seinem Griff hervorkam, war unversehrt und fest, aber von einem dicken, weißen Strang Narbengewebe verunziert.

[Lois... Lo-isssss...]

Diese Stimme kam weder aus ihrem Kopf noch von der Stelle bergab; sie kam von hinter ihr. Eine leise Stimme, fast einschmeichelnd. Atropos? Nein, ganz und gar nicht. Sie sah nach unten und erblickte ein grünes und irgendwie versunkenes Licht, das um sie herum schwebte - es strahlte zwischen ihren Armen und Beinen, sogar zwischen ihren Fingern hindurch. Es versetzte ihren hageren und irgendwie verzerrten Schatten in wallende Bewegung, wie den Schatten einer Gehenkten. Es liebkoste sie mit kalten Fingern, die die Farbe von graugrünen Flechten hatten.

[Dreh dich um, Lo-isss... ]

In diesem Augenblick wollte sich Lois als allerletztes auf der Welt umdrehen und die Quelle dieses grünen Lichts ansehen.

[Dreh dich um, Lo-isss... sieh mich an, Lo-isss... komm ins Licht, Lo-isss... komm ins Licht... sieh mich an und komm ins Licht... ]

Es war unmöglich, der Stimme zu widerstehen. Lois drehte sich so langsam wie eine Ballerina um, deren Gelenke eingerostet sind, und in ihren Augen schien Elmsfeuer zu flackern.

Lois kam ins Licht.

Kapitel 28

Klotho: [Jetzt haben Sie Ihr sichtbares Zeichen, Ralph-sind Sie zufrieden?]

Ralph betrachtete seinen Arm. Die Schmerzen, die ihn verschluckt hatten, wie der Wal Jonas verschluckt hatte, kamen ihm bereits wie ein Traum oder ein Trugbild vor. Er vermutete, daß derselbe Akt der Distanzierung es Frauen ermöglichte, viele Babys zu bekommen, weil sie nach jeder vollbrachten Geburt die starken Schmerzen und Anstrengungen vergaßen. Die Narbe sah wie eine unregelmäßige weiße Kordel aus, die sich über die Wölbungen seiner kümmerlichen Muskeln spannte.

»Ja. Ihr wart tapfer und sehr schnell. Für beides danke ich euch.«]

Klotho lächelte, sagte aber nichts.

Lachesis: [Ralph, sind Sie bereit? Die Zeit wird jetzt sehr knapp.]

[»Ja, ich bin -«]

[»Ralph! Ralph!«]

Das war Lois, die oben auf dem Hügel stand und ihm winkte. Einen Augenblick hatte ihre Aura den normalen taubengrauen Farbton verloren und eine andere, dunklere Tönung angenommen, aber dann verschwand der Eindruck, der zweifellos von dem Schock und seiner Müdigkeit herrührte. Er stapfte den Hügel hinauf zu ihr.

Lois' Augen waren distanziert und benommen, als hätte sie gerade ein erstaunliches Wort vernommen, das ihr Leben verändern würde.

[»Lois, was ist denn? Was hast du? Ist es mein Arm? Wenn ja, mußt du dir keine Sorgen machen. Schau her! So gut wie neu!«]

Er hielt ihn hoch, damit sie sich selbst vergewissern konnte, aber Lois sah ihn nicht an. Statt dessen sah sie ihm ins Gesicht, und er erkannte das Ausmaß ihres Schocks.

[»Ralph, ein grüner Mann ist gekommen.«]

Ein grüner Mann? Er ergriff sofort besorgt ihre Hände.

[»Grün? Bist du sicher? War es nicht Atropos oder -«]

Er führte den Gedanken nicht zu Ende. Es war nicht nötig.

Lois schüttelte langsam den Kopf.

[»Es war ein grüner Mann. Wenn es in diesem Spiel Seiten gibt, weiß ich nicht, auf welcher dieser... diese Person... steht. Er schien gut zu sein, aber ich könnte mich irren. Ich konnte ihn nicht sehen. Seine Aura war zu grell. Er sagte mir, daß ich dir die hier wiedergeben soll.«]

Sie streckte die Hand aus und ließ zwei kleine, glitzernde Gegenstände auf seine Handfläche fallen: ihre Ohrringe. Er konnte auf einem einen kastanienfarbenen Fleck sehen und vermutete, daß das Atropos' Blut war. Er wollte die Hand darum schließen, zuckte aber zusammen, als er einen stechenden Schmerz verspürte. Er betrachtete seine Fingerspitze und sah wieder Blut - diesmal sein eigenes.

[»Du hast die Verschlüsse vergessen, Lois.«]

Sie sprach langsam und nuschelnd, wie eine Frau in einem Traum.

[»Nein, habe ich nicht - ich habe sie weggeworfen. Der grüne Mann hat es gesagt. Sei vorsichtig. Er schien... gütig...zu sein, aber ich bin mir nicht sicher, oder? Mr. Chasse hat immer gesagt, ich wäre die leichtgläubigste Frau auf der Welt und immer bereit, von allen nur das Beste zu denken. Von jedem.«]

Sie streckte langsam die Hand aus und ergriff seine Handgelenke, während sie ihm ununterbrochen ernst ins Gesicht sah.

»Ich weiß es einfach nicht.«

Daß sie den Gedanken laut aussprach, schien sie aufzuwecken, und sie schaute ihn blinzelnd an. Ralph vermutete, es wäre möglich - gerade noch denkbar -, daß sie tatsächlich geschlafen, daß sie diesen sogenannten »grünen Mann« geträumt hatte. Aber vielleicht wäre es klüger, einfach die Ohrringe zu nehmen. Sie bedeuteten vielleicht nichts, aber andererseits konnte es auch nicht schaden, Lois' Ohrringe in der Tasche zu haben... das heißt, wenn er sich nicht daran piekste.

Lachesis: [Ralph, was ist denn? Stimmt etwas nicht?]

Er und Klotho waren langsam nachgekommen und hatten daher Ralphs Gespräch mit Lois nicht mitbekommen. Ralph schüttelte den Kopf und drehte die Hand, um die Ohrringe vor ihnen zu verbergen. Klotho hatte seinen Pullover aufgehoben und strich die wenigen bunten Blätter weg, die daran klebten. Dann hielt er ihn Ralph hin, der unauffällig Lois' Ohrringe ohne die Verschlüsse in der Tasche verschwinden ließ, bevor er ihn wieder anzog.

Es wurde Zeit zu handeln, und die warme Linie in der Mitte seines Arms - entlang der Narbe - sagte ihm, womit er anfangen mußte.

[»Lois?«]

[»Ja, Darling?«]

[»Ich muß von deiner Aura nehmen, und zwar eine Menge. Verstehst du das?«]

[»Ja.«]

[»Ist das in Ordnung?«]

[»Ja, selbstverständlich.«]

[»Sei tapfer - es wird nicht lange dauern.«]

Er legte die Arme um ihre Schultern und verschränkte die Hände hinter ihrem Nacken. Sie wiederholte die Geste, dann beugten sie sich langsam zueinander, bis sie sich mit der Stirn berührten und ihre Lippen keine drei Zentimeter mehr auseinander waren. Er konnte noch Parfüm an ihr riechen -möglicherweise aus den dunklen, süßen Vertiefungen hinter ihren Ohren.

[»Bist du bereit, Liebste?«]

Was sie antwortete, fand er seltsam und tröstlich zugleich.

[»Ja, Ralph. Sieh mich an. Komm ins Licht. Komm ins Licht und nimm das Licht.«]

Ralph schürzte die Lippen und begann einzuatmen. Ein breites Band rauchigen Lichts strömte aus ihrem Mund und ihrer Nase in ihn. Seine Aura wurde augenblicklich heller, so lange, bis sie eine grelle, wolkige Korona um ihn herum bildete. Und immer noch inhalierte er weiter, atmete etwas jenseits des Atems und spürte, wie die Narbe an seiner Hand immer heißer und heißer wurde, bis sie einem unter seiner Haut begrabenen Starkstromkabel glich. Er hätte nicht aufhören können, selbst wenn er gewollt hätte... aber er wollte nicht.

Sie taumelte einmal. Er sah, wie ihr Blick verschwamm, und spürte, sie sich der Griff ihrer Hände in seinem Nacken kurz lockerte. Dann sah sie ihn wieder mit ihren großen, glänzenden Augen voll Vertrauen an, und ihr Griff wurde wieder fest. Als sich sein titanisches Einatmen schließlich dem Höhepunkt näherte, stellte er fest, daß ihre Aura so blaß geworden war, daß er sie kaum noch sehen konnte. Ihre Wangen waren leichenblaß, und ihr Haar so grau, daß das Schwarz fast nicht mehr zu sehen war. Er mußte aufhören, mußte, oder er würde sie umbringen.

Es gelang ihm, die linke Hand von der rechten zu lösen, und das schien gleichsam den Stromkreis zu unterbrechen; nun konnte er von ihr zurückweichen. Lois schwankte und wäre beinahe gestürzt, aber Klotho und Lachesis, die große Ähnlichkeit mit den Liliputanern aus Gullivers Reisen hatten, hielten sie an den Armen und ließen sie vorsichtig auf die Bank sinken.

Ralph ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder. Er war außer sich vor Angst und Schuldgefühlen, gleichzeitig aber von einem so gewaltigen Gefühl der Macht durchdrungen, daß er den Eindruck hatte, als könnte ihn ein heftiger Ruck wie eine Flasche Nitroglyzerin zur Explosion bringen. Jetzt hätte er mit der Karateschlag-Geste ein Gebäude zum Einsturz bringen können - möglicherweise eine ganze Reihe davon.

Dennoch hatte er Lois verletzt. Möglicherweise schwer.

[»Lois! Lois, kannst du mich hören? Es tut mir leid!«]

Sie sah benommen zu ihm auf, eine vierzigjährige Frau, die innerhalb von Sekunden sechzig Jahre alt geworden war... und dann immer älter bis weit über Siebzig, wie eine Rakete, die über ihr anvisiertes Ziel hinausschießt. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht besonders gut.

[»Lois, es tut mir leid. Ich wußte es nicht, und als ich es merkte, konnte ich nicht mehr aufhören.«]

Lachesis: [Wenn Sie überhaupt noch eine Chance haben wollen, Ralph, dann müssen Sie jetzt gehen. Er ist fast da.]

Lois nickte zustimmend.

[» Geh, Ralph - ich bin nur schwach, das ist alles. Ich komme schon wieder auf die Beine. Ich bleibe einfach hier sitzen, bis ich wieder bei Kräften bin.«]

Ihre Augen sahen nach links, und Ralph folgte ihrem Blick. Er sah den Penner, den sie vorhin in die Flucht getrieben hatten. Er war zurückgekehrt und suchte in den Abfalleimern auf dem Hügel weiter nach Pfandflaschen und -dosen, und auch wenn seine Aura nicht ganz so gesund aussah wie die des Burschen, den sie vorhin bei den alten Gleisen getroffen hatten, schätzte Ralph, daß er es für den Notfall tun würde... und für Lois war das eindeutig ein solcher.

Klotho: [Wir werden dafür sorgen, daß er hierher kommt, Ralph wir haben nicht viel Einfluß auf die stofflichen Aspekte der Welt der Kurzfristigen, aber ich denke, soviel werden wir schaffen.]

[»Sicher?«]

[Ja.]

[»Okay. Gut.«]

Ralph warf einen raschen Blick auf die beiden kahlköpfigen Männer, bemerkte ihre ängstlichen, furchtsamen Augen und nickte. Dann bückte er sich und küßte Lois' kalte, runzlige Wange. Sie schenkte ihm das Lächeln einer müden alten Großmutter.

Ich habe ihr das angetan, dachte er. Ich.

Dann solltest du gefälligst dafür sorgen, daß es nicht umsonst war, sagte Carolyns Stimme brüsk.

Ralph sah die drei - Klotho und Lachesis flankierten Lois mittlerweile schützend auf der Bank - ein letztesmal an, dann ging er wieder den Hügel hinab.

Als er die Toiletten erreichte, stand er einen Moment dazwischen, dann lehnte er den Kopf an die mit der Aufschrift FRAUEN. Er hörte nichts. Aber als er den Kopf an die blaue Plastiktür der mit der Aufschrift MÄNNER legte, hörte er eine leise, hallende, singende Stimme:

»Who believes that my wildest dreams And my craziest schemes will come true? You, baby, nobody but you.«

Herrgott, der ist völlig Banane.

Ist das etwas Neues, Liebling?

Wohl nicht, schätzte Ralph. Er ging zur Tür des Port-O-San und riß sie auf. Jetzt konnte er auch das ferne, wespenähnliche Summen eines Motorflugzeugs hören, aber es gab nichts zu sehen, das er nicht schon dutzende Male vorher gesehen hatte: die gesprungene Klobrille, die schief auf der Kloschüssel hing, eine Rolle Toilettenpapier, die einen seltsamen und irgendwie geheimnisvoll aufgequollenen Eindruck machte, und links ein Pissoir, das wie eine Träne aus Plastik aussah. Die Wände waren mit Kritzeleien vollgeschmiert. Die größte - und auffälligste - stand in dreißig Zentimeter großen Buchstaben über dem Pissoir: TONY BOYNTON HAT DEN ENGSTEN HINTERN IN DERRY! Ein betäubendes Fichtennadelaroma überlagerte die Gerüche von Scheiße, Pisse und Pennerfürzen wie Make-up das Gesicht einer Leiche. Die Stimme, die er hörte, schien aus der Kloschüssel zu kommen, möglicherweise aber auch aus den Wänden selbst:

»From the time l go to bed

Until the morning comes

I dream about you, baby, nobody but you.«

Wo ist er? fragte sich Ralph. Und wie, um alles in der Welt, kann ich zu ihm kommen?

Ralph verspürte plötzlich etwas Warmes an der Hüfte, als hätte ihm jemand eine heiße Kohle in die Tasche gesteckt. Er runzelte die Stirn, dann fiel ihm ein, was er darin hatte. Er griff mit einem Finger in die schmale Tasche, berührte den goldenen Ring, den er dort verstaut hatte, und zog ihn heraus. Er legte ihn an der Stelle, wo sich Liebes- und Lebenslinie kreuzten auf die Handfläche und berührte ihn zaghaft. Er war wieder abgekühlt. Ralph war nicht besonders überrascht.

HD-ED 15.8.87.

»Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden«, murmelte Ralph und steckte sich Eds Trauring an den Ringfinger der linken Hand. Er paßte wie angegossen. Er schob ihn hinauf, bis er den Ring berührte, den ihm Carolyn vor fünfundvierzig Jahren an den Finger gesteckt hatte. Dann sah er auf und stellte fest, daß die Rückwand des Port-O-San verschwunden war.

Zwischen den Wänden, die stehengeblieben waren, sah er einen Himmel kurz nach Sonnenuntergang und einen Ausschnitt der Landschaft von Maine, der sich im blaugrauen Dunst der Dämmerung verlor. Er schätzte, daß er aus einer Höhe von dreitausend Metern hinaussah. Er konnte schimmernde Seen und Teiche und gewaltige Flächen dunkelgrüner Wälder erkennen, die sich bis zur Toilettenschüssel des Port-O-San dahinzogen und dann verschwanden. Weit voraus - unter dem Dach der Toilettenkabine - konnte Ralph eine funkelnde Ansammlung von Lichtern sehen. Das war wahrscheinlich Derry, nicht mehr als zehn Minuten entfernt. Im linken unteren Quadranten seines Sehbereichs konnte Ralph einen Teil eines Armaturenbretts erkennen. Über dem Höhenmesser klebte ein kleines Farbfoto, bei dessen Anblick Ralph der Atem stockte. Es zeigte Helen, die unvorstellbar glücklich und unvorstellbar schön aussah. In den Armen hielt sie das Verehrte & Angebetete Baby, fest schlafend und nicht älter als vier Monate.

Er möchte, daß sie das letzte auf der Welt sind, das er sieht, dachte Ralph. Er ist in ein Monster verwandelt worden, aber offenbar vergessen nicht einmal Monster, wie man liebt.

Etwas an dem Armaturenbrett fing an zu piepsen. Eine Hand wurde sichtbar und legte einen Schalter um. Bevor sie verschwand, konnte Ralph die weiße Stelle am Ringfinger dieser Hand sehen, wo sich mindestens sechs Jahre lang der Ehering befunden hatte. Und er sah noch etwas - die Aura, die die Hand umgab, war dieselbe wie die des behinderten Babys im Krankenhausfahrstuhl, eine turbulente, rasende Membran, die so fremdartig wie die Atmosphäre eines Gasplaneten aussah.

Ralph drehte sich noch einmal um und hob die Hand. Klotho und Lachesis hoben ihre ebenfalls, und Lois warf ihm eine Kußhand zu. Ralph machte eine Auffangbewegung, dann drehte er sich um und betrat das Port-O-San.

Er zögerte einen Moment und fragte sich, was er wegen der Toilettenschüssel unternehmen sollte, aber dann fiel ihm die auf sie zurollende Bahre im Krankenhaus ein, die ihm den Schädel hätte zertrümmern müssen, es aber nicht getan hatte, und er ging in den hinteren Teil der Kabine. Er biß die Zähne zusammen und bereitete sich darauf davor, sich die Schienbeine anzustoßen - was man wußte war eines, was man glaubte, nachdem man sich siebzig Jahre lang irgendwo angestoßen hatte, war etwas ganz anderes -, und dann ging er einfach durch die Toilettenschüssel hindurch, als wäre sie aus Rauch...

Er verspürte ein beängstigendes Gefühl von Schwerelosigkeit und Schwindel, und einen Augenblick war er sicher, daß er sich übergeben müßte. Es wurde von einem Gefühl der Schwächung begleitet, als würde der Großteil der Energie, die er Lois abgenommen hatte, abgesaugt werden. Vermutlich entsprach das den Tatsachen. Immerhin handelte es sich hier um eine Form von Teleportation, richtiger Science-FictionKram, und so etwas mußte eine Menge Energie verbrauchen.

Das Schwindelgefühl verging, aber es wurde von einer Wahrnehmung ersetzt, die noch schlimmer war - einem Gefühl, als wäre ihm irgendwie der Hals duchtrennt worden. Er stellte fest, daß er einen ungehinderten Ausblick auf einen weiten Teil der Welt hatte.

Großer Gott, was ist mit mir passiert? Was ist nicht in Ordnung mit mir?

Seine Sinne meldeten ihm widerwillig, daß mit ihm alles in Ordnung war, er hatte nur eine unmögliche Position eingenommen. Er war einhundertfünfundachtzig Zentimeter groß das Cockpit des Flugzeugs maß vom Boden bis zur Decke hundertfünfzig Zentimeter. Das bedeutete, ein Pilot, der größer als Klotho oder Lachesis war, mußte gebückt zu seinem Sitz gehen. Ralph hatte das Flugzeug jedoch nicht nur im Flug betreten, sondern auch stehend, und er stand noch zwischen und ein wenig hinter den beiden Sitzen des Cockpits. Der Grund, weshalb seine Aussicht so ungehindert war, war einfach und erschreckend: Sein Kopf ragte oben aus dem Flugzeug heraus.

Ralph sah wie in einem Alptraum das Bild seines alten Hundes Rex, der beim Fahren gerne den Kopf zum Fenster hinaushielt, so daß seine zottigen Ohren im Fahrtwind flatterten. Er machte die Augen zu.

Und wenn ich nun falle? Wenn ich den Kopf durch das verdammte Dach strecken kann, was hindert mich dann daran, durch den Boden zu rutschen und bis auf die Erde zufallen? Oder möglicherweise durch den Erdboden und dann durch die Erde selbst?

Aber das passierte nicht, und es würde auch nichts Derartiges passieren, nicht auf dieser Ebene - er mußte nur daran denken, wie mühelos sie durch die Etagen des Krankenhauses aufgestiegen waren und wie mühelos sie danach auf dem Dach gestanden hatten. Wenn er sich das alles vor Augen hielt, würde ihm nichts geschehen. Ralph versuchte, sich auf diesen Gedanken zu konzentrieren, und als er sicher war, daß er sich wieder unter Kontrolle hatte, öffnete er die Augen.

Direkt unter ihm krümmte sich die Windschutzscheibe des Flugzeugs. Dahinter der Bug und die silbernen Schlieren des Propellers. Die Lichter, die er in dem Port-O-San gesehen hatte, waren jetzt näher.

Ralph beugte die Knie, und sein Kopf glitt mühelos durch das Dach des Cockpits. Einen Moment hatte er den Geschmack von Öl im Mund, die winzigen Härchen in seiner Nase schienen sich wie bei einem Elektroschock aufzurichten, und dann kniete er zwischen dem Piloten- und dem Copilotensitz.

Er wußte nicht, was für Empfindungen er erwartet hatte, als er Ed nach so langer Zeit und unter so seltsamen Umständen wiedersah, aber das Bedauern - nicht nur Mitleid, sondem Bedauern -, das sich einstellte, überraschte ihn. Ed trug ein altes T-Shirt statt eines Oxford- oder Arrow-Hemds, mit Knöpfen vorne und einem Obstkorb auf dem Rücken, wie an dem Tag im Sommer 1992, als er in den Lastwagen von West Side Gardeners hineingefahren war. Er hatte eine Menge abgenommen - fast vierzig Pfund, schätzte Ralph -, was eine außerordentliche Wirkung hervorrief, denn er sah nicht ausgemergelt aus, sondern irgendwie heroisch, wie in einem Schauer- oder Liebesroman; Ralph wurde mit Nachdruck an Carolyns Lieblingsgedicht »The Highwayman« von Alfred Noyes erinnert. Eds Haut war kalkweiß, seine grünen Augen dunkel und licht zugleich (wie Smaragde im Mondlicht, dachte Ralph) hinter der runden John Lennon-Brille, seine Lippen so rot, als hätte er Lippenstift aufgetragen. Den weißen Seidenschal mit den japanischen Schriftzeichen hatte er sich um die Stirn gebunden, so daß die Enden hinten hinunterbaumelten. Eds Gesicht in den Gewitterwirbeln seiner Aura drückte schreckliches Bedauern und felsenfeste Entschlossenheit zugleich aus. Er war wunderschön -wunderschön -, und Ralph verspürte, wie sich ein schreckliches Gefühl von deja vu in ihm breitmachte. Jetzt wußte er, was er an dem Tag gesehen hatte, als er zwischen Ed und den Mann von West Side Gardeners getreten war; jetzt sah er es wieder, und zwar mit Augen, die mehr sahen, als Ralph Roberts je hatte sehen wollen. Als er Ed inmitten seiner Wirbelsturmaura sah, von der keine Ballonschnur aufragte, kam es ihm vor, als sähe er eine unschätzbar kostbare Ming-Vase, die an eine Wand geworfen worden und zerschellt war.

Zumindest kann er mich nicht sehen, nicht auf dieser Ebene. Jedenfalls glaube ich es nicht.

Als hätte Ed auf diesen Gedanken reagiert, drehte er plötzlich den Kopf und sah Ralph direkt an. Seine Augen waren groß und von einem irren Argwohn erfüllt; die Winkel seines feingeschnittenen Mundes bebten, Speichel glänzte darauf. Ralph schrak zurück und war einen Moment überzeugt, daß er doch gesehen werden konnte, aber Ed reagierte nicht auf Ralphs plötzliche Rückwärtsbewegung. Er warf einen mißtrauischen Blick in die leere viersitzige Kabine hinter sich, als hätte er die verstohlenen Bewegungen eines blinden Passagiers gehört. Gleichzeitig griff er an Ralph vorbei und legte die rechte Hand auf einen Pappkarton, den er mit Sicherheitsgurt auf dem Sitz des Copiloten festgezurrt hatte. Die Hand strich zärtlich über den Karton, dann wanderte sie zur Stirn und rückte den Seidenschal, der als Stirnband diente, etwas zurecht. Nachdem das erledigt war, sang er weiter... aber diesmal ein anderes Lied, das Ralph eine Gänsehaut über den Rücken jagte:

»One pill makes you larger, One pill makes you small, And the ones that mother gives you Don't do anything at all...«

Richtig, dachte Ralph. Go ask Alice, she's ten feet tall.

Sein Herz schlug rasend in der Brust - als Ed sich plötzlich umgedreht hatte, hatte er einen größeren Schreck bekommen als in dem Augenblick, wo er festgestellt hatte, daß sein Kopf in dreitausend Meter Höhe aus dem Flugzeug herausragte. Ed konnte ihn nicht sehen, er war fast überzeugt davon, aber wer behauptet hatte, daß die Sinne eines Verrückten schärfer waren als die eines Normalen, mußte gewußt haben, wovon er sprach, denn Ed hatte auf jeden Fall gemerkt, daß sich etwas verändert hatte.

Das Funkgerät knisterte, worauf beide Männer zusammenzuckten. »Dies gilt für die Cherokee über South Haven. Sie befinden sich vor dem Flugraum von Derry in einer Höhe, die einen festgelegten Flugplan erfordert. Wiederhole, Sie sind im Begriff, in kontrollierten Luftraum über einem städtischen Gebiet einzudringen. Gehen Sie mit Ihrem Arschloch auf fünftausend Meter, Cherokee, und schwenken Sie auf 170, das sind eins-sieben-null. Und wenn Sie schon dabei sind, identifizieren Sie sich und erklären Sie -«

Ed ballte die Hand zur Faust und schlug damit auf das Funkgerät ein. Glasscherben flogen, wenig später spritzte auch Blut. Es spritzte auf das Armaturenbrett, das Bild von Helen und Natalie und Eds sauberes graues TShirt. Er schlug so lange auf das Gerät ein, bis die Stimme zuerst in zunehmendem Rauschen leiser wurde und dann völlig verstummte.

»Gut«, sagte er mit der leisen, seufzenden Stimme eines Mannes, der häufig Selbstgespräche führt. »Viel besser. Ich hasse diese vielen Fragen. Sie dienen nur -«

Er sah seine blutige Hand und verstummte. Er hielt sie hoch, betrachtete sie genauer und ballte sie wieder zur Faust. Ein großer Glassplitter ragte dicht unter dem dritten Knöchel aus dem kleinen Finger. Ed zog ihn mit den Zähnen heraus, spie ihn achtlos auf den Boden und tat dann etwas, bei dem Ralph ein kalter Schauer überlief: Er strich mit der blutigen Faust erst über die linke und dann über die rechte Wange, so daß zwei blutige Striemen zurückblieben. Er griff in die elastische Tasche an der linken Wand, holte einen Taschenspiegel heraus und betrachtete seine behelfsmäßige Kriegsbemalung. Was er sah, schien ihm zu gefallen, denn er lächelte und nickte, bevor er den Spiegel wieder in der Tasche verschwinden ließ.

»Just remember what the obor mouse said«, riet sich Ed mit seiner leisen, seufzenden Stimme, und dann drückte er den Steuerknüppel nach vorne. Die Schnauze der Cherokee sank, und der Höhenmesser fiel langsam. Ralph konnte Derry jetzt direkt vor sich sehen. Die Stadt sah aus wie eine Handvoll Opale, die auf dunkelblauem Samt ausgestreut worden waren.

Der Karton auf dem Sitz des Copiloten hatte ein Loch an der Seite. Zwei Kabel ragten daraus hervor. Sie führten zu einer Türklingel, die an der Armlehne von Eds Sitz festgeklebt war. Ralph nahm an, Ed würde, sobald er das Bürgerzentrum in Sichtweite hatte und mit seinem eigentlichen Kamikazeanflug begann, einen Finger auf den weißen Knopf in der Mitte des Plastikrechtecks legen. Und kurz vor dem Aufprall würde er darauf drücken. Ding-dong, die Avonberaterin.

Zerreiß die Kabel, Ralph! Zerreiß sie!

Ein ausgezeichneter Vorschlag, der nur einen Nachteil hatte: Er konnte keine Spinnwebe zerreißen, solange er sich auf dieser Ebene befand. Das bedeutete, er mußte ins Land der Kurzfristigen zurücksinken, und genau das wollte er tun, als ihm eine leise, vertraute Stimme rechts von ihm ins Ohr flüsterte.

[Ralph.]

Rechts von ihm? Das war unmöglich. Rechts von ihm war nichts, außer dem Sitz des Copiloten, die Wand des Flugzeugs und meilenweit Luft über Neuengland.

Die Narbe an seinem Arm fing an zu kribbeln wie der Heizstab eines Tauchsieders.

[Ralph!]

Schau nicht hin. Achte überhaupt nicht darauf. Ignoriere es.

Aber das konnte er nicht. Eine gewaltige, unerbittliche Kraft hatte ihn im Griff, und langsam drehte sich sein Kopf. Er kämpfte dagegen an, weil er merkte, daß der Neigungswinkel des Flugzeugs steiler wurde, aber es nützte nichts.

[Ralph, sieh mich an - hab keine Angst.]

Er unternahm einen letzten Versuch, sich der Stimme zu entziehen, konnte es aber nicht. Er drehte weiter den Kopf, und plötzlich sah Ralph seine Mutter vor sich, die vor fünfundzwanzig Jahren an Lungenkrebs gestorben war.

Bertha Roberts saß in ihrem Schaukelstuhl etwa eineinhalb Meter jenseits der Stelle, wo die rechte Seitenwand der Cherokee gewesen war, strickte und schaukelte eine Meile oder mehr über dem Boden in der Luft. Die Hausschuhe, die Ralph ihr zu ihrem fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte - mit echtem Nerzbesatz, wie albern -, trug sie an den Füßen. Um die Schultern hatte sie einen rosa Schal gelegt. Ein alter politischer Anstecker - WIN WITH WILKIE! stand darauf - hielt den Schal zusammen.

Stimmt, dachte Ralph. Die hat sie als Schmuck getragen - das war ihr kleiner Tick. Hatte ich ganz vergessen.

Das einzige andere, das falsch war (davon abgesehen, daß sie tot war und im Augenblick in einer Höhe von achtzehnhundert Metern schaukelte) war das rote Wollteil auf ihrem Schoß. Ralph hatte seine Mutter nie stricken sehen, war nicht einmal sicher, ob sie es konnte, aber jetzt strickte sie trotzdem wie verrückt. Die Nadeln glänzten und funkelten zwischen den Maschen.

[»Mutter? Mom? Bist du es wirklich?«]

Die Nadeln standen still, als sie von der scharlachroten Decke auf ihrem Schoß aufsah. Ja, sie war es - jedenfalls wie sie Ralphs Erinnerung nach ausgesehen hatte, als er zehn Jahre alt war. Schmales Gesicht, hohe Gelehrtenstirn, braune Augen und ein Knoten grauen Haars straff im Nacken gebunden. Es war ihr kleiner Mund, der streng und verbittert aussah... das heißt, bis sie lächelte.

[Aber, Ralph Roberts! Ich bin überrascht, daß du das überhaupt fragen mußt!]

Aber das ist eigentlich keine Antwort, oder? dachte Ralph. Er machte den Mund auf, um das zu sagen, aber dann entschied er, daß es zumindest vorläufig klüger sein könnte, wenn er still blieb. Ein milchiger Umriß schwebte jetzt rechts von ihr in der Luft. Er wurde vor Ralphs Augen dunkler und solider und gerann zu dem Zeitungsständer aus Kirschholz, den er im Werkuntericht in seinem ersten Jahr an der Derry High für sie gebastelt hatte. Er steckte voll mit Reader's-Digest- und LifeMagazinen. Und nun löste sich der Erdboden tief unter ihr auf und wurde zu einem Muster aus braunen und dunkelroten Quadraten, die sich, von ihrem Schaukelstuhl ausgehend, in einem Kreis ausbreiteten wie Wellen auf einem See. Ralph erkannte sofort, was es war - der Linoleumküchenboden im Haus in der Kansas Street, wo er aufgewachsen war. Zuerst konnte er den Erdboden noch darunter erkennen, die Geometrie des Farmlands, und nicht weit entfernt davon den Kenduskeag, der durch Derry floß, aber dann gewann der Fußboden an Festigkeit. Ein geisterhafter Fleck, wie Pusteblumen, wurde zu Futzy, der alten Angorakatze seiner Mutter, die sich auf dem Fenstersims zusammengerollt hatte und die Möwen betrachtete, die über der alten Müllhalde in den Barrens kreisten. Futzy war etwa zu der Zeit gestorben, als Dean Martin und Jerry Lewis aufgehört hatten, Filme zusammen zu machen.

[Der alte Mann hatte ganz recht, mein Junge. Du hast dich nicht in langfristige Geschäfte einzumischen. Hör auf deine Mutter und halte dich von allem fern, was dich nichts angeht. Paß gut auf.]

Hör auf deine Mutter... Paß gut auf. Diese Worte faßten Bertha Roberts' Ansichten über die Kunst und Wissenschaft der Kindererziehung ziemlich gut zusammen, nicht wahr? Ob es sich um den Befehl handelte, nach dem Essen eine Stunde zu warten, bevor man schwimmen ging, oder darauf zu achten, daß einem der alte Halsabschneider Butch Bowers nicht eine Menge verfaulte Kartoffeln unten in den Korb getan hatte, den man holen gehen sollte, der Prolog (Hör auf deine Mutter) und der Epilog (Paß gut auf) waren stets dieselben. Und wenn man nicht auf sie hörte, und wenn man nicht aufpaßte, mußte man mit Mutters Zorn rechnen, und dann helfe einem Gott.

Sie hob die Nadeln auf und fing wieder an zu stricken, wobei sie die scharlachroten Maschen mit Fingern weiterschob, die selbst ein wenig rot aussahen. Ralph vermutete, daß das nur eine Illusion war. Möglicherweise war die Farbe auch nicht völlig echt und färbte auf seine Finger ab.

Seine Finger? Was war denn das für ein dummer Fehler. Ihre Finger.

Andererseits...

Nun, sie hatte kleine Büschel von Schnurrbarthaaren an den Mundwinkeln. Lange. Irgendwie wüst. Und unbekannt. Ralph konnte sich an einen feinen Flaum auf ihrer Oberlippe erinnern, aber ein Schnurrbart? Auf keinen Fall. Der war neu.

Neu? Neu? Was denkst du da? Sie ist zwei Tage nach dem Attentat auf Robert Kennedy in Los Angeles gestorben, also was, in Gottes Namen, kann neu an ihr sein?

Zwei konvergierende Wände waren auf beiden Seiten von Bertha Roberts entstanden, sie bildeten die Küchenecke, wo sie soviel Zeit verbracht hatte. An einer hing ein Gemälde, an das Ralph sich noch gut erinnern konnte. Es zeigte eine Familie beim Essen - Dad, Mom, zwei Kinder. Sie reichten sich Kartoffeln und Mais und sahen aus, als würden sie sich darüber unterhalten, wie ihr Tag jeweils verlaufen war. Niemand bemerkte, daß sich eine fünfte Person in dem Zimmer befand -ein Mann in einem weißen Gewand, mit sandfarbenem Bart und langem Haar. JESUS CHRISTUS, DER UNSICHTBARE GAST, stand auf einer Plakette unter diesem Bild. Aber der Christus, an den sich Ralph erinnerte, hatte gütig und ein wenig verlegen ausgesehen, weil er lauschte, ohne daß sie es merkten. Diese Version dagegen sah kalt und berechnend aus... abschätzend... möglicherweise richtend. Und er hatte eine dunkle, fast cholerische Gesichtsfarbe, als hätte er etwas gehört, das ihn in Wut versetzte.

[»Mom? Bist du -«]

Sie legte die Nadeln wieder auf die rote Decke - diese seltsam glänzende rote Decke - und hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.

[Komm mir nicht mit Moms daher, Ralph - hör mir einfach zu und paß auf. Halt dich da raus! Es ist zu spät für dein Einmischen und Herumalbern. Du kannst nur alles noch schlimmer machen.]

Die Stimme war richtig, aber das Gesicht stimmte nicht und stimmte immer weniger. Am deutlichsten zeigte es sich an der Haut. Glatt und ohne Runzeln - ihre Haut war Bertha Roberts' einzige Eitelkeit gewesen. Die Haut der Kreatur im Schaukelstuhl war rauh... sogar mehr als rauh. Sie war schuppig. Und seitlich am Hals befanden sich zwei Geschwülste (oder waren es Geschwüre?). Als er das sah, regte sich eine schreckliche Erinnerung (nimm es von mir runter, Johnny, oh bitte NIMM ES RUNTER) tief unten in seinem Verstand. Und -

Nun, ihre Aura. Wo war ihre Aura?

[Vergiß meine Aura und vergiß diese fette alte Hure, mit der du herumgezogen bist... obwohl ich wette, daß sich Carolyn gerade im Grab umdreht.]

Der Mund der Frau (keine Frau dieses Ding ist keine Frau) auf dem Schaukelstuhl war nicht mehr klein. Die Unterlippe war nach außen geschwollen und hing herunter. Der Mund selbst hatte einen sabbernden, höhnischen Ausdruck angenommen. Einen seltsam vertrauten sabbernden, höhnischen Ausdruck.

(Johnny, es beißt mich, ES BEISST MICH!)

Auch die Barthaare an den Mundwinkeln hatten etwas gräßlich Vertrautes.

(Johnny, bitte, seine Augen, seine schwarzen Augen)

[Johnny kann dir nicht helfen, mein Junge. Er hat dir damals nicht geholfen, und er kann dir auch jetzt nicht helfen.]

Natürlich nicht. Sein älterer Bruder Johnny war vor sechs Jahren gestorben, Ralph war bei der Beerdigung Sargträger gewesen. Er war an einem Herzanfall gestorben, wahrscheinlich ebenso vom Zufall diktiert wie der, an dem Bill McGovern gestorben war, und -

Ralph sah nach links, aber die Pilotenseite des Cockpits war ebenfalls verschwunden, und Ed Deepneau mit ihr. Ralph sah den alten Gasherd und Holzofen, wo seine Mutter in dem Haus in der Kansas Street gekocht hatte (eine Aufgabe, die sie ihr Leben lang bitter verabscheut und schlecht erfüllt hatte), und den Bogen zum Eßzimmer. Er sah den Eßtisch aus Ahornholz. Ein Glaskrug stand in der Mitte. Der Krug war prallvoll mit leuchtenden roten Rosen. Jede schien ein Gesicht zu haben... ein blutrotes Gesicht mit aufgerissenem Mund...

Aber das ist falsch, dachte er. Völlig falsch. Sie hatte nie Rosen im Haus - sie war allergisch gegen fast alles, was geblüht hat, und bei Rosen war es am schlimmsten. Sie nieste wie verrückt, wenn sie in ihre Nähe kam. Ich habe sie nur einmal ein Indianerbukett auf den Tisch stellen sehen, und das bestand nur aus Herbstgräsern. Ich sehe Rosen, weil -

Er betrachtete wieder die Kreatur in dem Schaukelstuhl, die roten Finger, die nun zu Anhängseln zusammengeschmolzen waren, die fast wie Flossen aussahen. Er betrachtete die scharlachrote Masse, die auf dem Schoß der Kreatur lag, und die Narbe an seinem Arm fing wieder an zu kribbeln.

Was, in Gottes Namen, geht hier vor?

Aber er wußte es selbstverständlich; er mußte nur von dem roten Ding im Schaukelstuhl zu dem Bild sehen, das an der Wand hing, das Bild des Heilands mit dem scharlachroten Gesicht und der bösen Miene, der der Familie beim Abendessen zusah, um es zu bestätigen. Er war nicht in seinem alten Haus in der Kansas Street, und er war auch nicht exakt in einem Flugzeug über Derry. Er befand sich am Hof des Scharlachroten Königs.

Kapitel 29

Ohne darüber nachzudenken, warum er es tat, schob Ralph eine Hand in die Tasche des Pullovers und nahm einen von Lois' Ohrringen. Seine Hand schien weit entfernt zu sein, wie eine Hand, die jemand anderem gehörte. Und ihm fiel etwas Interessantes auf: Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie Angst gehabt, bis jetzt. Keinmal. Er hatte geglaubt, daß er Angst hatte, aber das war eine Illusion gewesen - er war nur ein einziges Mal kurz davor gewesen, nämlich in der öffentlichen Bibliothek von Derry, als Charlie Pickering ihm ein Messer in die Achselhöhle gebohrt und gedroht hatte, er würde ihm die Eingeweide aus dem Leib schneiden. Aber das war nichts weiter als ein gelinder Augenblick des Unbehagens, verglichen mit dem, was er jetzt empfand.

Ein grüner Mann kam...er schien gut zu sein, aber ich könnte mich irren.

Er hoffte, daß sie das nicht getan hatte; er hoffte es mit aller Kraft. Denn der grüne Mann war alles, was er jetzt noch hatte.

Der grüne Mann, und Lois' Ohrringe.

[Ralph! Komm zu dir! Sieh deine Mutter an, wenn sie mit dir redet! Siebzig Jahre, und du benimmst dich immer noch, als wärst du sechzehn, mit einem schlimmen Fall von Pimmelausschlag!]

Er drehte sich zu dem Ding mit den roten Flossen um, das auf dem Schaukelstuhl saß. Jetzt hatte es nur noch vage Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Mutter.

[»Du bist nicht meine Mutter, und ich befinde mich immer noch in dem Flugzeug.«]

[Das bist du nicht, mein Junge. Mach dir nichts vor. Ein Schritt aus meiner Küche hinaus, und dir steht ein langer Absturz bevor.]

[»Du kannst jetzt ruhig aufhören. Ich kann sehen, was du bist.«]

Das Ding sprach mit einer blubbernden, erstickten Stimme, die Ralphs Rückgrat in eine dünne Eisbahn verwandelte.

[Das stimmt nicht. Du denkst es vielleicht, aber es stimmt nicht. Du würdet mich nie und nimmer ohne eine meiner Verkleidungen sehen wollen. Glaub mir, Ralph, wirklich nicht.]

Er stellte mit wachsendem Entsetzen fest, daß sich das MutterDing in einen gewaltigen weiblichen Katzenwels verwandelt hatte, einen hungrigen Gründler mit Stummelzähnen zwischen den wulstigen Lippen und Barthaaren, die fast' zum Kragen der Bluse reichten, das es noch trug. Die Kiemen an seinem Hals öffneten und schlössen sich wie Rasiermesser und gaben den Blick auf entzündetes rotes Fleisch frei. Die Augen waren rund und purpurn geworden, und die Höhlen glitten vor Ralphs Augen auseinander. Das ging so lange, bis die Augen sich seitlich am schuppigen Gesicht der Kreatur wölbten, und nicht mehr vorn.

[Beweg keinen Muskel, Ralph. Du wirst wahrscheinlich bei der Explosion sterben, auf welcher Ebene du dich auch befinden magst - die Druckwellen breiten sich hier wie in jedem Gebäude aus -, aber dieser Tod wird immer noch wesentlich besser sein als der Tod durch mich.]

Der Katzenwels riß das Maul auf. Die Zähne umgaben ein blutrotes Maul, das voll von seltsamen Eingeweiden und Geschwülsten zu sein schien. Es schien ihn auszulachen.

[»Wer bist du? Bist du der Scharlachrote König?]

[Das ist Eds Name für mich - wir sollten einen eigenen haben, findest du nicht? Mal sehen. Wenn du nicht möchtest daß ich Mom Roberts bin, warum nennst du mich dann nicht Kingfish? Du erinnerst dich doch noch an Kingfish aus dem Radio, oder?]

Ja, natürlich erinnerte er sich... aber der echte Kingfish war nie in Amos 'n Andy gewesen, und er war eigentlich auch kein Kingfish gewesen. Der echte Kingfish war ein Queenfish gewesen, und der hatte in den Barrens gelebt.

An einem Sommertag des Jahres, in dem Ralph Roberts sieben geworden war, hatte er beim Angeln mit seinem Bruder John einen riesigen Katzenwels aus dem Kenduskeag gezogen - das war in den zwanziger Jahren gewesen, als man noch essen konnte, was man in den Barrens fing. Ralph hatte seinen älteren Bruder gebeten, das konvulsivisch zuckende Ding für ihn vom Haken zu nehmen und in den Eimer mit frischem Wasser zu werfen, den sie neben sich am Ufer stehen hatten. Johnny hatte sich geweigert und unbekümmert zitiert, was er den Anglerkodex nannte: Gute Angler befestigen ihre Köder selbst, graben ihre Würmer selbst aus und lösen ihren Fang selbst vom Haken. Erst später war Ralph klar geworden, daß Johnny vielleicht nur versucht hatte, seine eigene Angst vor der riesigen und irgendwie außerirdisch wirkenden Kreatur zu verbergen, die sein kleiner Bruder an dem Tag aus dem trüben, pißwarmen Wasser des Kenduskeag gezogen hatte.

Ralph hatte es schließlich fertiggebracht, den pulsierenden Körper des Katzenwelses anzufassen, der glitschig, schuppig und stachelig zugleich zu sein schien. Dabei hatte Johnny, um ihm Angst zu machen, zu ihm gesagt, er solle sich vor den Barthaarenhüten. Sie sind giftig. Bobby Therriault hat mir gesagt, wenn man sich an einem sticht, kann man gelähmt werden. Den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen. Also sei vorsichtig, Ralphie.

Ralph hatte das Tier hierhin und dorthin gedreht und versucht, den Haken aus den dunklen, nassen Innereien zu lösen, ohne die Hände auch nur in die Nähe der Barthaare zu bringen (er glaubte Johnny das mit dem Gift nicht, aber gleichzeitig glaubte er auch jedes Wort), und dabei war er sich überdeutlich der Kiemen, der Augen und des Fischgeruchs bewußt gewesen, der ihm mit jedem Atemzug tiefer in die Lunge einzudringen schien.

Schließlich hatte er Knorpel im Inneren des Katzenwelses reißen hören und gespürt, wie sich der Haken löste. Frische Blutströme liefen aus dem schnappenden Maul des sterbenden Tiers. Ralph stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus -zu früh, wie sich herausstellte. Als sich der Haken löste, schlug der Katzenwels gewaltig mit dem Schwanz aus. Die Hand, mit der Ralph ihn befreit hatte, rutschte ab, und plötzlich schloß sich das blutende Maul des Katzenwels um die ersten beiden Finger von Ralphs Hand. Wieviel Schmerz hatte er gespürt? Viel? Wenig? Vielleicht gar keinen? Ralph konnte sich nicht erinnern. Aber an Johnnys aufrichtigen, ungespielten Schreckensschrei und an seine eigene Überzeugung, daß der Katzenwels sich an ihm rächen würde, weil er ihn tötete, indem er ihm die beiden ersten Finger der rechten Hand abbiß, daran konnte er sich noch genau erinnern.

Er erinnerte sich, wie er selbst geschrien und die Hand geschüttelt und Johnny angefleht hatte, ihm zu helfen, aber Johnny hatte sich mit blassem Gesicht und vor Ekel verzerrtem Mund abgewendet. Ralph hatte die Hand wie verrückt geschüttelt, in weiten Bögen, aber der Katzenwels hatte sich festgeklammert wie der leibhaftige Tod, die Barthaare (giftige Barthaare, die mich für den Rest meines Lebens an den Rollstuhlfesseln) schlugen und flatterten gegen Ralphs Handgelenke, und die schwarzen Augen des Fischs glotzten ihn an.

Schließlich hatte er ihn gegen einen Baum in der Nähe geschlagen und ihm das Rückgrat gebrochen. Der Fisch war immer noch zuckend ins Gras gefallen, und Ralph war mit dem Fuß daraufgetreten, was den ultimativen Horror nach sich zog. Ein Schwall Gedärme quoll aus dem Maul des Fischs, und aus der Stelle, die Ralphs Absatz aufgerissen hatte, ergoß sich eine schleimige Flut blutiger Eier. Da war ihm klar geworden, daß der Kingfish in Wirklichkeit ein Queenfish und nur einen oder zwei Tage vom Laichen entfernt gewesen war.

Ralph hatte von der grausigen Masse auf seine eigene blutige, schuppenübersäte Hand gesehen und geheult wie eine Todesfee. Als Johnny seine Hand berührte, um ihn zu beruhigen, war Ralph ausgerissen. Er hatte erst aufgehört zu laufen, als er zu Hause angekommen war, und er hatte sich den Rest des Tages geweigert, sein Zimmer zu verlassen. Es hatte fast ein Jahr gedauert, bis er wieder Fisch gegessen hatte, und mit Katzenwelsen hatte er nie wieder etwas zu tun gehabt. Das heißt, bis heute.

[»Ralph!«] Das war Lois' Stimme... aber aus der Ferne. Aus weiter Ferne!

[»Du mußt sofort etwas unternehmen! Laß dich nicht von ihm aufhalten!«]

Jetzt sah Ralph, daß das, was er für eine Strickdecke auf dem Schoß seiner Mutter gehalten hatte, in Wirklichkeit eine glänzende Matte blutiger Eier auf dem Schoß des Scharlachroten Königs war. Er beugte sich über diese pulsierende Decke zu ihm, und seine wulstigen Lippen bebten in gespielter Fürsorge.

[Stimmt was nicht, Ralphie? Wo tut es weh? Sag es Mutter.]

[»Du bist nicht meine Mutter.«]

[Nein - ich bin der Queenfish! Ich bin gut drauf und stolz darauf. Ich hob den Swing, und ich hob das Ding! Tatsächlich kann ich sein, was ich will. Du weißt es vielleicht nicht, aber Verwandlungen haben eine altehrwürdige Tradition in Derry.] [»Kennst du den grünen Mann, den Lois gesehen hat?«]

[Selbstverständlich! Ich kenne jeden in der Nachbarschaft!]

Aber Ralph bemerkte einen Ausdruck flüchtiger Verwirrung in dem Schuppengesicht.

Die Hitze in seinem Unterarm nahm weiter zu, und da kam Ralph plötzlich eine Erkenntnis: Wenn Lois jetzt hier wäre, würde sie ihn kaum sehen können. Der Queenfish verströmte ein pulsierendes, immer heller werdendes Leuchten, das ihn allmählich einhüllte. Das Leuchten war rot statt schwarz, aber es war nichtsdestotrotz ein Leichentuch, und jetzt wußte er, wie es war, wenn man sich darin befand, in einem aus seinen schlimmsten Ängsten und traumatischsten Erlebnissen geflochtenen Netz. Es gab keinen Weg hinaus und keine Möglichkeit, es durchzuschneiden, so wie er das Leichentuch um Eds Trauring herum durchgeschnitten hatte.

Wenn ich entkommen will, dachte Ralph, muß ich es tun, indem ich so schnell und energisch vorwärts laufe, daß ich auf der anderen Seite durchbrechen kann.

Den Ohrring hielt er immer noch in der Hand. Jetzt drehte er ihn so, daß die ungeschützte Spitze auf der Rückseite zwischen den beiden Fingern herausragte, die der Katzenwels vor dreiundsechzig Jahren hatte fressen wollen. Dann sprach er ein kurzes Gebet, aber nicht zu Gott, sondern zu Lois' grünem Mann.

Der Katzenwels beugte sich weiter nach vorne, und die Karikatur eines höhnischen Grinsens breitete sich auf seinem nasenlosen Gesicht aus. Die Zähne in diesem schlaffen Grinsen sahen jetzt länger und spitzer aus. Ralph sah Perlen einer klaren Flüssigkeit an den Enden der Barthaare und dachte: Gift. Wirst den Rest deines Lebens im Rollstuhl verbringen. Mann, ich hob solche Angst. Todesangst.

Lois, aus weiter Ferne kreischend: [»Beeil dich, Ralph! DU MUSST DICH BEEILEN!«]

Ein kleiner Junge schrie irgendwo, viel näher; schrie und schwenkte die rechte Hand, schwenkte den Fisch, der sich an seinen Fingern festgebissen hatte, die im Maul eines schwangeren Monsters steckten, das nicht loslassen wollte.

Der Katzenwels beugte sich noch weiter herüber. Sein Kleid raschelte. Ralph konnte das Parfüm seiner Mutter riechen, St. Elene, das sich auf obszöne Weise mit dem fischigen Kloakenaroma des Gründlers mischte.

[Ich habe die Absicht, Ed Deepneaus Unternehmen zu einem erfolgreichen Abschluß zu fiihren, Ralph; ich habe die Absicht, den Jungen, von dem deine Freunde dir erzählt haben, in den Armen seiner Mutter sterben zu lassen, und ich möchte sehen, wie es passiert. Ich habe sehr hart hier in Derry gearbeitet, und ich finde, das ist nicht zuviel verlangt, aber es bedeutet, daß ich mir dich jetzt gleich vom Hals schaffen muß. Ich -]

Ralph trat einen Schritt tiefer in den Müllgestank des Dings hinein. Und nun sah er eine Gestalt hinter der Gestalt von Mutter, hinter der Gestalt von Queenfish. Er sah einen hellen Mann, einen roten Mann mit kalten Augen und einem unbarmherzigen Mund. Der Mann hatte Ähnlichkeit mit dem Christus, den er erst vor wenigen Augenblicken gesehen hatte... aber nicht mit dem, der tatsächlich in der Ecke der Küche seiner Mutter gehangen hatte.

[Was denkst du dir eigentlich? Geh weg von mir! Willst du den Rest deines Lebens im Rollstuhl verbringen?]

[»Ich kann mir Schlimmeres vorstellen, Kumpel - die Zeit, als ich am ersten Schlagmal gespielt habe, sind definitiv vorbei.«]

Die Stimme schwoll an und wurde zur Stimme seiner Mutter, wenn sie wütend war.

[Hör mir zu, Junge! Hör mir zu und paß auf l]

Einen Augenblick zögerte er angesichts der alten Kommandos, die mit einer Stimme ausgesprochen wurden, welche so unheimliche Ähnlichkeit mit der seiner Mutter hatte. Dann ging er wieder einen Schritt weiter. Der Queenfish drückte sich in den Schaukelstuhl und schlug unter dem Saum des alten Hauskleids mit der Schwanzflosse.

[WAS DENKST DU DIR EIGENTLICH DABEI?]

[»Ich weiß nicht; vielleicht will ich dich nur an den Barthaaren ziehen. Mal sehen, ob sie echt sind.«]

Dann bot er alle Willenskraft auf, damit er nicht aufschrie und floh, und streckte die rechte Hand aus. Lois' Ohrring fühlte sich wie ein kleiner, warmer Kieselstein in seiner Faust an. Lois selbst schien sehr nahe zu sein, und Ralph fand das nicht überraschend, wenn man bedachte, wieviel von ihrer Aura er in sich aufgenommen hatte. Möglicherweise war sie jetzt sogar ein Teil von ihm. Das Gefühl ihrer Präsenz war ein großer Trost für ihn.

[Nein, das wagst du nicht! Du wirst gelähmt sein!]

[»Katzenwelse sind nicht giftig - das war das Ammenmärchen eines zehnjährigen Jungen, der noch mehr Angst hatte als ich.«]

Ralph griff mit der Hand, in der er den Metalldorn verborgen hielt, nach dem Schnurrbart, und der schuppige Kopf zuckte zurück, wie es ein Teil von Ralph gewußt hatte. Er waberte und veränderte sich, und die furchteinflößende rote Aura drang durch. Wenn Krankheit und Schmerz eine Farbe hätten, dachte Ralph, das wäre sie. Und bevor die Veränderung noch weitergehen konnte, bevor der Mann, den er jetzt sehen konnte - groß, auf kalte Weise hübsch mit seinem blonden Haar und den stechenden roten Augen - durch den Schimmer der Illusion treten konnte, die er abgestreift hatte, stieß Ralph die Spitze des Ohrrings in ein schwarzes, gewölbtes Fischauge.

Das Wesen stieß einen schrecklichen summenden Laut aus wie eine Zikade, fand Ralph - und versuchte, sich zurückzuziehen. Der heftig schlagende Schwanz erzeugte ein Geräusch wie ein Ventilator, zwischen dessen Rotoren sich ein Blatt Papier verfangen hat. Er rutschte in dem Schaukelstuhl hinab, der sich langsam in einen aus orangefarbenem Stein gemeißelten Thron verwandelte. Und dann war die Schwanzflosse verschwunden, der Queenfish war verschwunden, und der Scharlachrote König, dessen hübsches Gesicht zu einer Fratze von Schmerz und Fassungslosigkeit verzerrt war, saß vor ihm. Eines seiner Augen funkelte so rot wie das eines Luchses im Feuerschein; das andere war vom grellen, gebrochenen Funkeln von Diamantsplittern erfüllt.

Ralph griff mit der linken Hand in die Decke der Eier hinein, sah aber nichts als Schwärze auf der anderen Seite der Öffnung. Die andere Seite des Leichentuchs. Der Weg hinaus.

[Du bist gewarnt worden, du kurzfristiger Hurensohn! Du glaubst, du kannst mich an den Barthaaren ziehen, ja? Nun, mal sehen, ja? Mal sehen!] Der Scharlachrote König beugte sich auf seinem Thron nach vorne, sein Maul klaffte, das verbliebene Auge erstrahlte in rotem Licht. Ralph kämpfte gegen den Wunsch, seine jetzt leere rechte Hand wegzuziehen. Statt dessen rammte er sie vorwärts ins Maul des Scharlachroten Königs, das weit auseinanderklaffte, um sie zu verschlingen, wie vor langer Zeit der Katzenwels in den Barrens.

Etwas, das nicht aus Fleisch bestand, wand sich um seine Hand und stach dann zu wie Pferdebremsen. Gleichzeitig spürte Ralph echte Zähne - Fangzähne -, die sich in seinen Arm bohrten. Noch einen Augenblick, höchstens zwei, und der Scharlachrote König würde ihm das Handgelenk durchbeißen und seine Hand in einem Stück verschlingen.

Ralph machte die Augen zu und fand augenblicklich das Muster von Gedanken und Konzentration, das Bewegung zwischen den Ebenen möglich machte - seine Schmerzen und seine Angst waren dabei kein Hindernis. Nur war sein Ziel diesmal nicht Bewegung, sondern Auslösung. Klotho und Lachesis hatten ihm eine Falle in den Arm eingepflanzt, und es wurde Zeit, sie auszulösen.

Ralph verspürte dieses Gefühl des Blinzelns in seinem Kopf. Die Narbe an seinem Arm wurde sofort weißglühend und ging in einen kritischen Zustand über. Die Hitze verbrannte Ralph nicht, sondern strömte als expandierende Energiewoge aus ihm heraus. Er bemerkte einen titanischen grünen Lichtblitz, so grell, daß es einen Augenblick schien, als wäre die Smaragdstadt von Oz rings um ihn herum explodiert. Etwas oder jemand schrie. Das hohe, schrille Geräusch hätte ihn wahnsinnig gemacht, hätte es lange gedauert, aber es war nur kurz. Ihm folgte ein lauter, hohler Knall, bei dem Ralph daran denken mußte, wie er einmal einen M-80 Kracher angezündet und in ein Stahlrohr geworfen hatte.

Eine plötzliche Woge der Energie wehte als Wind und verblassendes grünes Licht an ihm vorbei. Er konnte einen seltsam verzerrten Blick auf den Scharlachroten König werfen, der nicht mehr jung und nicht mehr hübsch war, sondern uralt und krumm und weniger menschlich als die seltsamste Kreatur, die je durch die Existenzebene der Kurzfristigen geflattert oder gehüpft war. Dann tat sich etwas über ihnen auf und offenbarte eine Dunkelheit, in der widerstreitende Schnörkel und farbige Lichtstrahlen umherschossen. Der Wind schien den Scharlachroten König darauf zuzuwehen wie die Aufwinde eines Schornsteins ein welkes Blatt. Die Farben wurden heller, und Ralph wandte das Gesicht ab und schützte mit einer Hand die Augen. Er begriff, daß eine Verbindung zwischen der Ebene, wo er sich befand, und den unvorstellbaren Ebenen darüber geöffnet worden war; er begriff auch, wenn er lange in dieses grelle Leuchten sehen würde, in diese (Totenlichter) wirbelnden Farben, dann wäre der Tod bei weitem nicht das Schlimmste, das ihm zustoßen konnte, sondern das Beste. Er schloß nicht nur die Augen; er schloß sein Denken.

Einen Augenblick später war alles verschwunden - die Kreatur, die sich Ed gegenüber als der Scharlachrote König zu erkennen gegeben hatte, die Küche des alten Hauses in der Kansas Street, der Schaukelstuhl seiner Mutter. Ralph kniete etwa zwei Meter rechts von der Schnauze der Cherokee in der Luft und hatte die Hände erhoben wie ein Kind, das häufig Prügel bezog, vor einem grausamen Erwachsenen, und als er zwischen seinen Knien hinunterschaute, sah er das Bürgerzentrum und den angrenzenden Parkplatz direkt unter sich. Zuerst glaubte er, seine Augen wären einer optischen Täuschung aufgesessen, weil die Lampen auf dem Parkplatz auseinanderzustreben schienen. Sie sahen fast wie eine Menge sehr großer, sehr schlanker Menschen aus, die sich auflöste, weil das wie auch immer geartete aufregende Ereignis vorbei ist. Und der Parkplatz selbst schien... nun... größer zu werden.

Er wird nicht größer, sondern kommt näher, dachte Ralph kalt. Ed geht runter. Er hat mit seinem Kamikazeanflug begonnen.

Einen Augenblick war Ralph starr und von der simplen Unmöglichkeit seiner Position in den Bann geschlagen. Er war zu einem mythischen Zwischenwesen geworden, eindeutig kein Gott (kein Gott konnte so müde und ängstlich sein wie er im Augenblick), aber eindeutig auch kein erdgebundenes Geschöpf wie ein Mensch. So war das Fliegen wirklich, wenn man die Erde ohne Hindernis sah. Dies -

[»RALPH«]

Ihr Schrei war wie der Knall einer Schrotflinte neben seinem Ohr. Ralph zuckte davor zurück, und in dem Moment, als er den Blick vom hypnotisierenden Anblick des Bodens abwenden konnte, der ihm entgegenraste, konnte er sich auch wieder bewegen. Er stand auf und ging zum Flugzeug zurück. Das tat er so beiläufig und mühelos wie ein Mann, der in seinem Haus den Flur entlanggeht. Kein Wind blies ihm ins Gesicht oder wehte ihm das Haar aus der Stirn, und als seine linke Schulter durch den Propeller der Cherokee hindurchging, konnte ihm der kreisende Rotor ebensowenig etwas anhaben wie Rauch.

Einen Augenblick sah er Eds blasses, hübsches Gesicht das Gesicht des Highwayman, der in dem Gedicht, das Carolyn immer zum Weinen gebracht hatte, zur Tür des alten Gasthauses kam -, und seine bisherigen Empfindungen von Mitleid und Bedauern wurden von Wut verdrängt. Es war schwierig, wirklich wütend auf Ed zu werden - schließlich war auch er nur eine Schachfigur, die auf dem Brett herumgeschoben wurde -, aber das Gebäude, das er mit seinem Flugzeug anvisierte, war voller Menschen. Unschuldiger Menschen. Ralph sah etwas Trotziges, Kindisches und Halsstarriges unter dem benommenen, verwirrten Gesichtsausdruck von Ed, und als er durch die Cockpitwand trat, dachte Ralph: Ich glaube, auf einer Ebene hast du gewußt, daß der Teufel hereingekommen ist, Ed. Ich glaube, du hättest ihn sogar wieder hinauswerfen können... haben Mr. K. und Mr. L. nicht gesagt, daß es immer eine Alternative gibt? Wenn ja, trägst du zumindest zum Teil die Verantwortung hierfür, du Dreckskerl.

Einen Moment ragte Ralphs Kopf durch die Decke wie vorhin auch, und er kniete sich hin. Jetzt beanspruchte das Bürgerzentrum die gesamte Windschutzscheibe des Flugzeugs ein, und er sah ein, daß es zu spät war, Ed daran zu hindern, etwas zu tun.

Ed hatte die Türklingel von dem Klebeband abgerissen und hielt sie in der Hand.

Ralph griff in die Tasche, nahm den verbliebenen Ohrring und hielt ihn wieder so zwischen den Fingern, daß die Spitze dazwischen herausragte. Mit der anderen Hand ergriff er die Kabel, die zwischen der Klingel und dem Pappkarton verliefen. Dann schloß er die Augen, konzentrierte sich und rief wieder das angespannte Gefühl mitten in seinem Kopf herbei. Er spürte ein plötzliches hohles Flattern im Magen und dachte sich: Mann! Das ist der Expreßlift!

Dann befand er sich wieder auf der Ebene der Kurzfristigen, wo es keine Götter oder Teufel gab, keine kahlköpfigen Ärzte mit magischen Scheren oder Skalpells, keine Auren. Unten, wo es unmöglich war, durch Wände zu gehen oder einen Flugzeugabsturz zu überleben. Auf der Ebene der Kurzfristigen, wo man ihn sehen konnte... und das, wurde Ralph klar, tat Ed gerade.

»Ralph?« Es war die nuschelnde Stimme eines Mannes, der gerade aus dem tiefsten Schlaf seines Lebens erwacht. »Ralph Roberts? Was machst du denn hier?«

»Oh, ich war gerade in der Gegend und dachte mir, ich schau mal vorbei.« Und damit schloß er die Faust und riß die Kabel aus dem Karton.

»Nein!« schrie Ed. »O nein, nicht, du verdirbst alles!«

Ja, wirklich, dachte Ralph, dann griff er über Eds Schoß hinweg nach dem Steuerknüppel der Cherokee. Das Bürgerzentrum lag keine vierhundert Meter mehr unter ihnen, möglicherweise noch weniger. Ralph wußte immer noch nicht mit Sicherheit, was sich in dem auf dem Sitz des Copiloten festgeschnallten Karton befand, aber er hatte eine Ahnung, daß es sich um den Plastiksprengstoff handeln könnte, den Terroristen immer in den Kampfsportfilmen mit Chuck Norris oder Steven Segal benützten. Der sollte ziemlich stabil sein - nicht wie das Nitroglyzerin in Clouzots Lohn der Angst -, aber dies war sicher nicht der Zeitpunkt, sich auf das Evangelium der Filmbranche zu verlassen. Und selbst ein stabiler Sprengstoff konnte ohne Zünder explodieren, wenn er aus einer Höhe von fast dreitausend Metern fiel.

Er drückte den Steuerknüppel, so weit er konnte, nach links. Unter ihnen drehte das Bürgerzentrum auf schwindelerregende Weise ab, als wäre es auf die Spindel eines gewaltigen Kreisels montiert.

»Nein, du Dreckskerl!« schrie Ed, und etwas, das sich wie der Kopf eines kleinen Hammers anfühlte, traf Ralph an der Seite, lahmte ihn fast vor Schmerzen und machte es ihm unmöglich zu atmen. Seine Hand glitt vom Steuerknüppel ab, als Ed wieder auf ihn einschlug, diesmal in die Achselhöhle. Ed ergriff den Steuerknüppel und riß ihn heftig zurück. Das Bürgerzentrum, das im Sichtfeld der Windschutzscheibe zur Seite geglitten war, bewegte sich wieder Richtung Zentrum.

Ralph streckte die Hand nach dem Knüppel aus. Ed drückte Ralph die Handfläche auf die Stirn und stieß ihn zurück. »Warum hast du dich nicht raushalten können?« fauchte er. »Warum hast du dich einmischen müssen?« Er hatte die Zähne gefletscht und die Lippen zu einer eifersüchtigen Grimasse verzerrt. Daß Ralph im Cockpit aufgetaucht war, hätte ihm einen lähmenden Schock versetzen müssen, aber das hatte es keineswegs.

Natürlich nicht, er ist verrückt, dachte Ralph, und plötzlich erhob er seine innere Stimme zu einem Ruf voller Panik:

Klotho! Lachesis! Um Himmels willen, helft mir!

Nichts. Es sah nicht so aus, als hätte sein Ruf irgend jemanden erreicht. Warum auch? Er befand sich wieder auf der Ebene der Kurzfristigen, und das bedeutete, er war auf sich selbst gestellt.

Das Bürgerzentrum war jetzt nur noch etwa zweihundertvierzig bis zweihundertsiebzig Meter unter ihnen. Ralph konnte jeden Backstein, jedes Fenster, jede Person sehen, die davor stand -er konnte fast sagen, wer von ihnen Schilder trug. Sie sahen auf und versuchten herauszubekommen, was dieses verrückte Flugzeug hier zu suchen hatte. Ralph konnte die Angst in ihren Gesichtern nicht sehen, noch nicht, aber noch drei oder vier Sekunden -

Er warf sich wieder auf Ed, achtete nicht auf das Pochen in seiner linken Seite, und stieß mit der rechten Faust zu, wobei er die Spitze des Ohrrings mit dem Daumen so weit er konnte zwischen den Fingern hinausdrückte.

Der Trick mit dem goldenen Ohrring hatte beim Scharlachroten König funktioniert, aber da war er höher oben gewesen und hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite gehabt. Auch diesmal zielte Ralph nach dem Auge, aber Ed wandte im letzten Moment den Kopf ab. Der Dorn bohrte sich dicht über dem Wangenknochen in Eds Gesicht. Ed schlug ihn weg wie eine Stechmücke und hielt dabei weiter mit der linken Hand den Steuerknüppel fest.

Ralph wollte sich wieder auf den Knüppel stürzen. Ed schlug nach ihm. Seine Faust traf über dem linken Auge und stieß Ralph zurück. Ein einziger lauter Ton, rein und silbern, hallte ihm in den Ohren. Es war, als befände sich eine gewaltige Stimmgabel irgendwo zwischen ihnen, die jemand angeschlagen hatte. Die Welt wurde grau wie eine körnige Zeitungsfotografie.

[»RALPH! BEEIL DICH!«]

Das war Lois, völlig entsetzt. Er wußte warum; die Zeit war so gut wie abgelaufen. Ihm blieben bestenfalls fünf Sekunden. Er warf sich wieder nach vorne, aber diesmal nicht auf Ed, sondern auf das Bild von Helen und Nat, das über dem Höhenmesser festgeklebt worden war. Er riß es ab, hielt es hoch... und zerknüllte es zwischen den Fingern. Er wußte nicht genau, mit was für einer Reaktion er gerechnet hatte, aber sie übertraf seine kühnsten Erwartungen.

»GIB SIE ZURÜCK!« schrie Ed. Er vergaß den Steuerknüppel und griff statt dessen nach dem Bild. Dabei sah Ralph wieder den Mann, den er an dem Tag zu sehen bekommen hatte, als er Helen verprügelt hatte - ein Mann, der verzweifelt unglücklich war und sich vor den in ihm freigesetzten Kräften fürchtete. Tränen standen ihm nicht nur in den Augen, sondem liefen an seinen Wangen hinab, und Ralph dacht verwirrt: Hat er die ganze Zeit geweint?

»GIB SIE ZURÜCK!« bellte er wieder, aber Ralph war nicht mehr sicher, ob der Schrei ihm galt; er dachte, daß sein ehemaliger Nachbar möglicherweise das Wesen ansprach, das in sein Leben getreten war, sich vergewissert hatte, daß es geeignet schien, und es dann einfach übernommen hatte. Lois' Ohrring funkelt an Eds Wange wie ein barbarisches Trauerornament. »GIB SIE ZURÜCK, SIE GEHÖREN MIR!«

Ralph hielt die zerknüllte Fotografie gerade außerhalb der Reichweite von Eds fuchtelnden Armen. Ed sprang, der Sicherheitsgurt schnitt ihm in den Bauch, und Ralph schlug ihm, so fest er konnte, gegen die Kehle und verspürte eine unbeschreibliche Mischung aus Befriedigung und Ekel, als der Schlag auf der harten, knorpeligen Wölbung von Eds Adamsapfel landete. Ed fiel in den Sitz zurück, die Augen quollen ihm vor Schmerzen und Bestürzung aus den Höhlen, und er griff sich mit den Händen an den Hals. Ein ersticktes, würgendes Geräusch drang aus seinem Inneren. Es hörte sich an wie das Getriebe einer gigantischen Maschine, die im Begriff war, sich festzufressen.

Ralph schob sich über Eds Schoß nach vorne und sah das Bürgerzentrum dem Flugzeug förmlich entgegenspringen. Er zog den Steuerknüppel so weit er konnte nach links, und unter ihm - direkt unter ihm - drehte sich das Bürgerzentrum wieder zur Seite der dem Untergang geweihten Windschutzscheibe der Cherokee... aber es bewegte sich quälend langsam.

Ralph stellte fest, daß er etwas in dem Cockpit riechen konnte -ein schwaches Aroma, das süßlich und vertraut zugleich war. Bevor er sich überlegen konnte, was es sein mochte, sah er etwas, das ihn völlig ablenkte. Im Geiste hörte er John Leydecker wieder fragen, wem dieser Brontosaurier gehörte, und hörte sich antworten, daß es sein Brontosaurier sei.

Mein Gott, dachte Ralph mehr staunend als ängstlich. Ich glaube, ich lande auf meinem eigenen Vordersitz.

Der süßliche Geruch war stärker, und als plötzlich Hände seine Schultern ergriffen, wurde ihm klar, daß es das Parfüm von Lois Chasse war.

»Komm hoch!« schrie sie. »Ralph, du Dummkopf, du mußt -«

Er dachte nicht nach; er tat es einfach. Das Ding in seinem Geist verkrampfte sich, das Blinzeln fand statt, und er hörte den Rest von dem, was sie zu sagen hatte, in der unheimlichen, durchdringenden Weise, die mehr Denken als Sprechen war.

[»-heraufkommen! Stemm dich mit den Füßen ab!«]

Zu spät, dachte er, befolgte ihren Rat aber trotzdem, stützte die Füße auf das schräg geneigte Armaturenbrett und stieß sich so fest er konnte ab. Er spürte, wie Lois mit ihm durch den Schacht der Existenz emporstieg, während die Cherokee die letzten dreißig Meter zwischen sich und dem Boden zurücklegte, und als sie in die Höhe schössen, spürte er, wie sich eine plötzliche Ladung der Energie von Lois um ihn legte und ihn zurückriß wie ein Bungeeseil. Er erlebte kurz das ekelerregende Gefühl, als würde er in zwei Richtungen gleichzeitig fliegen.

Ralph konnte einen letzten Blick auf Ed Deepneau werfen, der an der Seitenwand des Cockpits lehnte, aber in einem sehr realen Sinne sah er ihn überhaupt nicht. Die gelb-graue Aura der Verwirrung war verschwunden. Ed war ebenfalls verschwunden. Er steckte in einem Leichentuch, so schwarz wie die Mitternacht in der Hölle.

Dann fielen und flogen er und Lois zugleich.

Kapitel 30

Kurz bevor es zu der Explosion kam, sagte Susan Day, die im grellen weißen Scheinwerferlicht stand und die letzten Sekunden ihres provokativen Lebens erlebte, gerade: »Ich bin nicht nach Derry gekommen, um Sie zu heilen, Sie herumzukommandieren oder aufzuhetzen, sondern, um mit Ihnen zu trauern - dies ist eine Situation, die weit über politische Erwägungen hinausgeht. Es gibt kein Recht auf Gewalt, keine Zuflucht in Selbstgefälligkeit. Ich bin hier, um Sie zu bitten, daß Sie Ihren Standpunkt und Ihre Rhetorik beiseite lassen und eine Möglichkeit finden, einander zu helfen. Sich von der Faszination abzuwenden -«

Hinter den hohen Fenstern an der Südseite des Auditoriums erstrahlte plötzlich ein grelles weißes Licht, dann barsten sie nach innen.

Die Cherokee verfehlte Ralphs alten Olds, aber das rettete ihn nicht. Das Flugzeug machte noch einmal eine halbe Drehung in der Luft, dann bohrte es sich etwa acht Meter von dem Zaun entfernt in den Boden, wo Lois früher an diesem Tag stehengeblieben war, um ihren nervtötenden Slip in die Höhe zu ziehen. Die Tragflächen brachen ab. Das Cockpit unternahm eine schnelle und brutale Reise durch die Passagierkabine. Der Rumpf explodierte mit der Wucht einer Champagnerflasche im Mikrowellenherd. Scherben flogen durch die Luft. Das Heck bog sich über den Rumpf der Cherokee wie der Stachel eines sterbenden Skorpions und bohrte sich ins Dach eines Dodge, auf dessen Seite SCHÜTZT DAS RECHT DER FRAUEN AUF FREIE ENTSCHEIDUNG! gemalt worden war. Ein helles und bitteres Scheppern erklang, das sich anhörte, als wäre ein Stapel Alteisen umgestürzt.

»Ach du Schei -«, begann einer der auf dem Parkplatz postierten Polizisten, dann flog das C4 aus der Pappschachtel heraus wie ein großer grauer Schleimklumpen und landete auf den Trümmern des Armaturenbretts, wo sich mehrere »heiße« Kabel hineinbohrten wie die Nadeln von Spritzen. Der Plastiksprengstoff explodierte mit einem gewaltigen, ohrenbetäubenden Knall, röstete die Rennbahn und verwandelte den Parkplatz in einen Wirbelsturm von weißem Licht und herumfliegenden Trümmern. John Leydecker, der unter dem Baldachin des Bürgerzentrums gestanden und sich mit einem Cop der Staatspolizei unterhalten hatte, wurde durch eine der offenen Türen und quer durch die Halle geschleudert. Er prallte gegen die Wand und sackte bewußtlos auf den Scherbenhaufen des Glaskastens mit den Renntrophäen. Damit hatte er mehr Glück als der Mann, neben dem er gestanden hatte; der Staatspolizist wurde gegen die Strebe zwischen zwei offenen Türen gedrückt und in der Mitte entzweigerissen.

Die Reihen der Autos schirmten das Bürgerzentrum vor der schlimmsten Wucht der Explosion ab, aber diese glückliche Fügung erkannte man erst später. Drinnen saßen über viertausend Menschen zuerst wie vom Donner gerührt und wußten nicht, was sie tun sollten, und noch weniger, was sie gerade gesehen hatten: Amerikas prominenteste Feministin, die von einer herumfliegenden scharfen Glasscherbe geköpft worden war. Ihr Kopf flog wie eine seltsame weiße Bowlingkugel mit angeklebter blonder Perücke bis in die sechste Reihe.

Sie brachen erst in Panik aus, als das Licht ausging.

Einundsiebzig Menschen starben bei der überstürzten Flucht zu den Ausgängen, und die Derry News berichtete am nächsten Tag unter einer furchteinflößenden Riesen-Schlagzeile davon und bezeichnete es als schreckliche Tragödie. Ralph Roberts hätte ihnen sagen können, daß sie unter Berücksichtigung aller Umstände Glück gehabt hatten. Wirklich großes Glück.

In der Mitte des Nordbalkons saß eine Frau namens Sonia Danville - eine Frau, auf deren Wangen noch die Blutergüsse der letzten Prügel verblaßten, die sie je von einem Mann bekommen hatte - und hatte die Arme um die Schultern ihres Sohns Patrick gelegt. Sein Poster von McDonald's, auf dem Ronald und Mayor Cheese und der Hamburglar vor dem Fenster des Autoschalters den Boot-Scootin' Boogie tanzten, hatte er auf dem Schoß ilegen, aber er hatte gerade erst die goldenen Bögen ausgemalt, als er das Poster auf die leere Seite umdrehte. Nicht, daß er das Interesse verloren hätte; ihm war gerade nur selbst ein Bild eingefallen, und das überkam ihn, wie es bei solchen Hinfallen häufig der Fall war, mit zwanghafter Wucht. Er hatte fast den ganzen Tag darüber nachgedacht, was im Keller von High Ridge geschehen war -der Rauch, die Hitze, die ängstlichen Frauen und die beiden Engel, die gekommen waren, um sie zu retten -, aber sein grandioser Einfall verdrängte diese Gedanken, und er machte sich von stummem Enthusiasmus beseelt an die Arbeit. Bald war Patrick in etwa zumute, als würde er selbst in der Welt leben, die er mit seinen Wachsmalstiften malte.

Er war ungeachtet seiner vier Jahre bereits ein außerordentlich fähiger Maler (»Mein kleines Genie«, nannte ihn Sonia manchmal), und sein Bild war viel besser als das Poster zum Ausmalen auf der anderen Seite des Blatts. Was er in den Minuten zustande brachte, bevor das Licht ausging, war eine Arbeit, auf die ein begabter Kunststudent im ersten Semester stolz hätte sein können. In der Mitte des Posters ragte ein Turm aus dunklen, rußfarbenen Steinen in einen blauen Himmel mit vereinzelten dicken weißen Wolken auf. Ringsum lag ein Feld mit so roten Rosen, daß sie fast zu schreien schienen. Auf einer Seite stand ein Mann in verblichenen Blue Jeans. Revolvergurte überkreuzten sich auf seinem flachen Bauch; an jeder Hüfte hing ein Halfter. Ganz oben auf dem Turm sah ein Mann im roten Gewand mit einer Mischung aus Haß und Angst auf den Revolverhelden herunter. Seine Hände, die er um die Brüstung geklammert hatte, schienen ebenfalls rot zu sein.

Sonia war wie gebannt von Susan Day, die hinter dem Rednerpult saß und ihrer Einführungsrede zuhörte, aber sie sah kurz vor dem Ende der Rede auch auf das Bild ihres Sohnes. Sie wußte seit zwei Jahren, daß Patrick das war, was Psychologen ein Wunderkind nannten, und sie redete sich manchmal ein, daß sie sich an die komplexen Bilder und Play-Doh-Skulpturen gBwöhnt hatte, die er seine Knetfamilie nannte. Vielleicht stimmte das bis zu einem gewissen Grad, aber dieses spezielle Bild erfüllt sie mit einem seltsamen Frösteln, das sie nicht völlig als emotionale Auswirkung des langen, aufregenden Tags abtun konnte.

»Wer ist das?« fragte sie und deutete auf die winzige Gestalt, die eifersüchtig vom Gipfel des dunklen Turms herabsah.

»Der ist der Rote König«, sagte Patrick.

»Oh, der Rote König. Ich verstehe. Und wer ist der Mann mit den Revolvern?«

Als er den Mund aufmachte, um zu antworten, hob Barbara Richards, die Frau am Rednerpult, den rechten Arm (sie trug einen schwarzen Trauerflor daran) und deutete auf die Frau, die hinter ihr saß. »Meine Freunde, Ms. Susan Day!« rief sie, und Patricks Antwort auf die zweite Frage seiner Mutter ging im donnernden Beifall unter:

Der heißt Roland, Mama. Manchmal träume ich von ihm. Der ist auch ein König.

Jetzt saßen die beiden mit klingelnden Ohren in der Dunkelheit, und zwei Gedanken gingen Sonia durch den Kopf wie Ratten, die einander in einem Laufrad jagen: Nimmt dieser Tag nie ein Ende, ich wußte, ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nimmt dieser Tag nie ein Ende, ich wußte, ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nimmt dieser Tag -

»Mommy, du zerdrückst mein Bild!« sagte Patrick. Er klang ein wenig atemlos, und Sonia wurde bewußt, daß sie auch ihn zerdrückte. Sie lockerte ihren Griff ein wenig. Ein zusammenhangloses Durcheinander von Schreien, Rufen und stammelnden Fragen drang aus der dunklen Grube unter ihnen herauf, wo die Leute, die reich genug waren, daß sie sich eine »Spende« von fünfzehn Dollar leisten konnte, auf Klappstühlen saßen. Ein durchdringender Schmerzensschrei übertönte das allgemeine Murmeln, und Sonia zuckte auf dem Sitz zusammen.

Der donnernde Knall unmittelbar nach der Explosion hatte schmerzhaft auf ihre Ohren gedrückt und das Gebäude in seinen Grundmauern erschüttert. Verglichen damit hörte sich der fortwährende Lärm - Autos, die auf dem Parkplatz wie Kracher explodierten -, leise und unbedeutend an, aber Sonia spürte dennoch, wie Patrick sich bei jedem neuen Knall an sie drückte.

»Ganz ruhig, Pat«, sagte sie zu ihm. »Etwas Schlimmes ist geschehen, aber ich glaube, es ist draußen passiert.« Da sie zu den grell erleuchteten Fenstern gesehen hatte, hatte Sonia barmherzigerweise nicht mitbekommen, wie der Heldin der Kopf von den Schultern getrennt worden war, aber sie wußte, daß der Blitz irgendwie tatsächlich zweimal an derselben Stelle eingeschlagen hatte (hätte ihn nicht mitnehmen sollen, hätte ihn nicht mitnehmen sollen) und zumindest ein Teil der Leute unter ihnen in Panik ausgebrochen war. Wenn sie in Panik geriete, würden sie und der junge Rembrandt ernste Probleme bekommen.

Aber das werde ich nicht. Ich bin heute morgen nicht aus dieser Todesfalle entkommen, nur um jetzt in Panik zu geraten. Der Teufel soll mich holen, wenn ich das tue.

Sie griff nach unten und nahm eine von Patricks Händen - die freie, nicht die, mit der er das Bild hielt. Sie war sehr kalt.

»Glaubst du, die Engel werden wiederkommen und uns retten, Mama?« fragte er mit leicht zitternder Stimme.

»Nee«, sagte sie. »Ich glaube, diesmal sollten wir es selbst tun. Aber das können wir. Ich meine, jetzt ist doch alles in Ordnung mit uns, oder nicht?«

»Ja«, sagte er, aber dann ließ er sich gegen sie sinken. Sie hatte einen schrecklichen Augenblick Angst, er hätte das Bewußtsein verloren und sie würde ihn auf den Armen aus dem Bürgerzentrum hinaustragen müssen, aber dann richtete er sich wieder auf. »Meine Bücher war'n auf dem Boden«, sagte er. »Ich wollte nicht ohne meine Bücher gehen, besonders das über den Jungen, der seinen Hut nicht abnehmen kann. Gehen wir jetzt, Mama?«

»Ja. Sobald die Leute da unten nicht mehr herumlaufen. Auf dem Flur gibt es bestimmt Lichter, die mit Batterien laufen, auch wenn sie hier drinnen ausgefallen sind. Wenn ich sage, wir stehen auf, dann gehen - gehen! - wir die Stufen hinauf zur Tür. Ich werde dich nicht tragen, aber ich werde direkt hinter dir gehen und dir beide Hände auf die Schultern legen. Hast du verstanden, Pat?«

»Ja, Mama.« Keine Fragen. Kein Blubbern. Nur seine Bücher, die er ihr zur sicheren Verwahrung in die Hände drückte. Das Bild behielt er selbst. Sie umarmte ihn kurz und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

Sie warteten etwa fünf Minuten auf dem Sitz, während sie langsam bis dreihundert zählte. Sie spürte, daß ihre unmittelbaren Nachbarn gegangen waren, bevor sie hundertfünfzig erreicht hatte, aber sie wartete trotzdem. Jetzt konnte sie ein wenig sehen; soviel, daß sie glaubte, draußen müsse etwas lichterloh in Flammen stehen, aber auf der anderen Seite des Gebäudes. Das war ein Glück. Sie konnte das irre Heulen von näherkommenden Polizeiautos, Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeugen hören.

Sonia stand auf. »Komm. Bleib dicht vor mir.«

Pat Danville trat auf den Gang, wo ihm seine Mutter die Hände auf die Schultern drückte. Er führte sie die Stufen hinauf zu den mattgelben Lichtern, die den Korridor des nördlichen Balkons erhellten, und blieb nur einmal stehen, als der dunkle Umriß eines laufenden Mannes auf se zugeschnellt kam. Die Hände seiner Mutter packten seine Schultern fester, als sie ihn zur Seite riß -

»Gottverdammte Abtreibungsgegner!« schrie der laufende Mann. »Elende selbstgefällige Scheißer! Am liebsten würde ich sie alle umbringen!«

Dann war er fort, und Pat ging weiter die Stufen hinauf. Sie spürte jetzt eine Ruhe in ihm, eine Besonnenheit ohne eine Spur von Angst, die ihr Herz mit Liebe erfüllte und mit einer sonderbaren Art von Dunkelheit. Er war so anders, ihr Sohn, so etwas Besonderes... aber die Welt liebte solche Menschen nicht. Die Welt versuchte, sie auszurotten, wie Unkraut im Garten.

Schließlich traten sie in den Korridor hinaus. Ein paar Leute in tiefem Schock wanderten mit benommenen Blicken und offenen Mündern hin und her wie Zombies in einem Horror Film. Sonia beachtete sie kaum, sie schob Pat einfach weiter Richtung Treppe. Drei Minuten später standen sie völlig unversehrt in der lodernden Nacht vor dem Gebäude, und in sämtlichen Ebenen des Universums setzten Plan und Zufall ihren vorherbestimmten Kurs fort. Welten, die einen Augenblick auf ihren Bahnen erbebt waren, wurden wieder stabil, und auf einer dieser Welten, in einer Wüste, die der Inbegriff aller Wüsten war, drehte sich ein Mann namens Roland in seinem Schlafsack um und schlief wieder ruhig unter den fremdartigen Sternbildern.

Auf der anderen Seite der Stadt, im Strawford Park, flog die Tür des Port-O-San mit der Aufschrift MÄNNER auf. Lois Chasse und Ralph Roberts wurden rückwärts inmitten einer Rauchwolke herausgeschleudert und hielten einander fest. Aus dem Port-O-San ertönte das Geräusch der abstürzenden Cherokee und dann die Explosion des Plastiksprengstoffs. Ein weißer Lichtblitz war zu sehen, und die blauen Wände der Toilette wölbten sich nach außen, als hätte ein Riese mit der Faust dagegengeschlagen. Eine Sekunde später hörten sie die Explosion noch einmal; diesmal, als sie durch die Luft zu ihnen herübergetragen wurde. Die zweite Version war leiser, aber irgendwie realer.

Lois stolperte und fiel mit einem Schrei, der teilweise Erleichterung ausdrückte, auf dem Hügel ins Gras. Ralph landete neben ihr, richtete sich aber gleich in eine sitzende Haltung auf. Er sah ungläubig zum Bürgerzentrum, wo sich eine Faust aus Feuer am Horizont ballte. Eine purpurne Schwellung, so groß wie ein Türknauf, wuchs mitten auf Ralphs Stirn, wo Ed ihn geschlagen hatte. Seine linke Seite pochte immer noch, aber er dachte, daß die Rippen wahrscheinlich nur angeknackst waren, nicht gebrochen.

[»Lois, alles in Ordnung?«]

Sie sah ihn einen Augenblick verständnislos an, dann tastete sie Gesicht, Hals und Schultern ab. Diese Untersuchung paßte so süß und perfekt zu »unserer Lois«, daß Ralph lachen mußte. Er konnte nicht anders. Lois lächelte zögernd zurück.

[»Ich denke, es ist alles in Ordnung. Ich bin sogar ziemlich sicher.«]

[»Was hattest du dort zu suchen? Du hättest getötet werden können.«]

Lois, die wieder etwas verjüngt aussah (Ralph vermutete, daß der rechtzeitig erschienene Penner etwas damit zu tun hatte), sah ihm in die Augen.

[»Vielleicht bin ich altmodisch, Ralph, aber wenn du denkst, daß ich die nächsten zwanzig Jahre oder so damit verbringe, in Ohnmacht zufallen oder zu bibbern wie die beste Freundin der Heldin in diesen Liebesromanen, die meine Freundin Mina immer liest, dann solltest du dir besser eine andere Frau suchen, mit der du herumziehst.«]

Er sperrte einen Moment den Mund auf, dann zog er sie auf die Füße und umarmte sie. Lois erwiderte die Umarmung. Sie war unglaublich warm, unglaublich präsent. Ralph mußte kurz an die Ähnlichkeiten zwischen Einsamkeit und Schlaflosigkeit denken - beide heimtückisch, kumulativ und trennend, Freunde der Verzweiflung und Erzfeinde der Liebe -, und dann verdrängte er diese Gedanken und küßte sie.

Klotho und Lachesis, die auf dem Hügel standen und so ängstlich aussahen wie Arbeiter, die ihr ganzes Weihnachtsgeld beim Boxen auf einen Außenseiter gesetzt haben, kamen zu Ralph und Lois geeilt, die wieder einmal Stirn an Stirn standen und einander in die Augen sahen wie verliebte Teenager. Auf der anderen Seite der Barrens schwoll der Lärm von Sirenen an wie Stimmen in unruhigen Träumen. Die Feuersäule über dem Grab von Ed Deepneaus Besessenheit war jetzt so grell, daß man sie nicht mehr ansehen konnte, ohne die Augen etwas zuzukneifen. Ralph konnte das leise Knallen explodierender Autos hören. Eines davon war zweifellos seines. Er beschloß, daß ihm das nichts ausmachte. Er wurde wirklich zu alt zum Fahren.

Klotho: [Alles in Ordnung?]

Ralph: [» Uns geht es gut. Lois hat mich hochgezogen. Sie hat mir das Leben gerettet.«]

Lachesis: [Ja, wir haben sie reingehen sehen. Das war sehr tapfer.] Und ziemlich verwirrend, Mr. L. was? dachte Ralph. Sie haben es gesehen, und Sie bewundern es... aber ich glaube, Sie haben keine Ahnung, wie und warum sie es über sich bringen konnte. Ich glaube, für Sie und Ihren Freund muß das Konzept von Rettung fast so fremd sein wie die Vorstellung von Liebe.

Zum erstenmal verspürte Ralph eine Art Mitleid mit den kleinen kahlköpfigen Ärzten und begriff die zentrale Ironie ihres Lebens: Sie waren sich bewußt, daß die Kurzfristigen, deren Existenz zu beschneiden sie gesandt waren, ein mächtiges inneres Leben führten, aber sie begriffen die Wirklichkeit dieses Innenlebens nicht im geringsten, die Emotionen, die sie antrieben oder die Taten - manchmal edel, manchmal närrisch -, die daraus resultierten. Mr. K. und Mr. L. hatten ihre kurzfristigen Aufträge so gründlich studiert wie gewisse reiche, aber ängstliche Engländer die Karten, die Forscher der viktorianischen Zeit von Expeditionen mitbrachten; Forscher, die in vielen Fällen von denselben reichen, aber ängstlichen Männern finanziert worden waren. Mit manikürten Nägeln und sanften Fingern hatten diese Philanthropen papierne Flüsse nachgezogen, auf denen sie nie fahren würden, und papierne Dschungel durchquert, in die sie nie einen Fuß setzen würden. Sie lebten in ängstlicher Verunsicherung und taten sie als Phantasie ab.

Klotho und Lachesis hatten ihn und Lois rekrutiert und sie mit einer gewissen groben Effektivität benützt, aber sie begriffen weder die Freude des Risikos noch die Traurigkeit des Verlusts

- in Sachen Gefühle hatten sie nichts weiter zustande gebracht als nagende Angst, er und Lois könnten versuchen, den gehätschelten Chemiker des Scharlachroten Königs direkt anzugreifen, ind für ihre Bemühungen zerquetscht werden wie ein paar alte Fliegen. Die kleinen kahlköpfigen Ärzte lebten lang, aber Ralph vermutete, daß sie trotz ihrer wie Libellen schillernden Auren ein graues Leben führten. Er betrachtete ihre glatten, seltsam kindlichen Gesichter aus dem sicheren Hafen von Lois' Armen und erinnerte sich, welch schreckliche Angst er vor ihnen gehabt hatte, als er sie zum erstenmal in den frühen Morgenstunden aus May Lochers Haus hatte kommen sehen. Angst, hatte er seither festgestellt, überlebte bloße Bekanntschaft nicht, geschweige denn Wissen, und von beidem besaß er nun ein bißchen.

Klotho und Lachesis erwiderten seinen Blick mit einem Unbehagen, das Ralph keineswegs zerstreuen wollte. Irgendwie kam es ihm äußerst gerecht vor, daß sie das empfanden, was sie jetzt empfanden.

Ralph: [»Ja, sie ist sehr tapfer, und ich liebe sie sehr, und ich denke, wir werden einander sehr glücklich machen bis -«]

Er verstummte plötzlich, und Lois beugte sich in seinen Armen. Er stellte mit einer Mischung aus Heiterkeit und Erleichterung fest, daß sie halb eingeschlafen war.

[»Bis wann, Ralph?«]

[»Bis wann du willst. Ich glaube, wenn man ein Kurzfristiger ist, gibt es immer ein Eis, aber vielleicht ist das ganz gut so.«]

Lachesis: [Nun, ich denke, jetzt heißt es Abschied nehmen.]

Ralph mußte unwillkürlich grinsen und dachte an die Hörspielserie um den Lone Ranger, wo fast jede Episode mit einer Version dieses Satzes zu Ende gegangen war. Er streckte die Hand nach Lachesis aus und nahm mit galligem Vergnügen zur Kenntnis, daß der kleine Mann vor ihm zurückzuckte.

Ralph: [»Moment mal... nicht so hastig, Freunde.«]

Klotho, mit einer Spur Unbehagen: [Stimmt etwas nicht?]

[»Das glaube ich nicht, aber nachdem ich Schläge auf den Kopf und in die Rippen bekommen habe und fast bei lebendigem Leibe geröstet wurde, wollte ich mich eben vergewissern, daß es vorbei ist. Ist es das? Ist euer Junge in Sicherheit?«]_

Klotho, lächelnd und eindeutig erleichtert: [Ja. Können Sie es nicht spüren? In achtzehn Jahren, kurz vor sänem Tod, wird der Junge das Leben von zwei Männern retten, die sonst sterben würden... aber einer der Männer darf nicht sterben, wenn das Gleichgewicht zwischen dem Plan und dem Zufall erhalten bleiben soll]

Lois: [»Vergeßt das alles. Ich will nur wissen, ob wir jetzt wieder ganz normale Kurzfristige sein können.«]

Lachesis: [Das können Sie nicht nur, Lois, das müssen Sie. Wenn Sie und Ralph noch lange hier oben bleiben würden, könnten Sie nicht mehr zurückkehren!

Ralph spürte, wie sich Lois dichter an ihn schmiegte.

[»Das würde mir nicht gefallen.«]

Klotho und Lachesis drehten sich zueinander um und wechselten einen kurzen, verblüfften Blick - wie konnte es jemand hier oben nicht gefallen? -, bevor sie sich wieder an Ralph und Lois wandten.

Lachesis: [Wir müssen wirklich gehen. Es tut mir leid, aber -]

Ralph: [»Immer mit der Ruhe, Freunde - noch werdet ihr nirgendwohin gehen.«]

Sie sahen ihn ängstlich an, während Ralph langsam den Ärmel seines Pullovers hinaufschob - auf dem Ärmel war eine Flüssigkeit angetrocknet, möglicherweise Laich vom Katzenwels, über die er lieber nicht eingehender nachdenken wollte - und ihnen die weiße, knotige Narbe auf seinem Unterarm zeigte.

[»Laßt die konsternierten Mienen, Freunde. Ich wollte euch nur daran erinnern, daß ihr mir euer Wort gegeben habt. Vergeßt es nicht.«]

Klotho, eindeutig erleichtert: [Sie können sich darauf verlassen, Ralph. Was Ihre Waffe war, ist jetzt unsere Verpflichtung. Das Versprechen wird nicht vergessen werden.]

Ralph glaubte allmählich, daß es tatsächlich vorbei war. Und so verrückt es schien, ein Teil von ihm bedauerte es eigentlich. Inzwischen kam ihm das wirkliche Leben - das Leben auf den Ebenen unterhalb dieser - wie ein Trugbild vor, und er begriff, was Lachesis gemeint hatte, als er sagte, sie würden nie wieder in ihr altes Leben zurückkehren können, wenn sie noch lange hier oben blieben.

Lachesis: [Wir müssen wirklich gehen. Lebt wohl, Ralph und Lois. Wir werden den Dienst niemals vergessen, den ihr uns geleistet habt.]

Ralph: [»Hatten wir je eine andere Wahl? Wirklich?«]

Lachesis, ganz leise: [Das haben wir gesagt, oder nicht? Für Kurzfristige gibt es immer eine Wahl. Das finden wir furchterregend... aber wir finden es auch schön.]

Ralph war den Tränen nahe.

[»Sagt mal - gebt ihr Burschen jemals jemandem die Hand?«]

Klotho und Lachesis sahen einander verblüfft an, und Ralph spürte, wie in einer Art telepathischem Steno ein kurzer Dialog zwischen ihnen stattfand. Als sie Ralph wieder ansahen, stelltenbeide dasselbe nervöse Lächeln zur Schau - das Lächeln von Teenagern, die zu dem Ergebnis gekommen sind, daß sie niemals wahre Männer weden würden, wenn sie den Mut nicht aufbrächten, diesen Sommer mit der großen Achterbahn im Freizeitpark zu fahren.

Klotho: [Wir haben diesen Brauch selbstverständlich viele Male gesehen, aber - nein, wir haben nie jemandem die Hand gegeben.]

Ralph sah Lois an und stellte fest, daß sie lächelte... aber er dachte, daß er auch in ihren Augen das Funkeln von Tränen sah.

Er hielt Lachesis zuerst die Hand hin, weil Mr. L. nicht ganz so schreckhaft zu sein schien wie sein Kollege.

[»Also dann, Mr. L.«]

Lachesis sah Ralph so lange an, daß Ralph schon dachte, er würde es nicht fertigbringen, obwohl er es eindeutig wollte. Dann streckte er zaghaft seine kleine Hand aus und ließ zu, daß Ralph sie ergriff. Ralph verspürte ein Kribbeln auf der Haut, als ihre Auren sich zuerst überlappten und dann verschmolzen... und bei diesem Verschmelzen sah er ein paar rasche, wunderschöne silberne Schnörkel. Sie erinnerten ihn an die japanischen Schriftzeichen auf Eds Schal.

Er schüttelte Lachesis zweimal die Hand, langsam und förmlich, dann ließ er sie los. Lachesis' ängstlicher Ausdruck war einem breiten, albernen Grinsen gewichen. Er drehte sich zu seinem Partner um.

[Seine Energie ist während dieser Zeremonie fast völlig ungebremst. Ich habe sie gespürt! Es war herrlich!]

Klotho streckte Ralph seine Hand zentimeterweise entgegen, und in dem Augenblick, bevor sie sich berührten, schloß er die Augen wie ein Mann, der mit einer schmerzhaften Injektion rechnet. Derweil schüttelte Lachesis Lois die Hand und grinste dabei wie ein Vaudevilletänzer bei der Zugabe.

Klotho schien sich zu wappnen, dann ergriff er Ralphs Hand. Er schüttelte sie einmal fest. Ralph grinste.

[»Nehmen Sie sie sanft, Mr. K.«]

Klotho zog die Hand zurück. Er schien nach der richtigen Antwort zu suchen.

[Danke, Ralph. Ich nehm sie, wie ich sie kriegen kann. Korrekt?]

Ralph prustete vor Lachen. Klotho, der sich zu Lois umdrehte, betrachtete ihn mit einem verwirrten Lächeln, und Ralph schlug ihm auf den Rücken.

[»Da haben Sie recht, Mr. K. -völlig recht.«]

Er legte einen Arm um Lois und warf den kleinen kahlköpfigen Ärzten einen letzten neugierigen Blick zu.

[»Ich werde euch Burschen wiedersehen, nicht wahr?«]

Klotho: [Ja, Ralph.]

Ralph: [»Nun, das macht nichts. In etwa siebzig Jahren wäre mir recht; warum schreibt ihr euch das nicht gleich in euren Kalender?«]

Sie reagierten mit dem Lächeln von Politikern, was ihn nicht besonders überraschte. Ralph machte eine knappe Verbeugung, dann legte er einen Arm um Lois' Schultern und sah Mr. K. und Mr. L. nach, wie sie langsam den Hügel hinuntergingen. Lachesis machte die Tür des leicht verbogenen PortO-San mit der Aufschrift MÄNNER auf; Klotho stand in der offenen Tür der Kabine für FRAUEN. Lachesis lächelte und winkte. Klotho hob die Schere mit den langen Schneiden zu einer Art seltsamem Salut.

Ralph und Lois winkten zurück.

Die kahlköpfigen Ärzte gingen hinein und machten die Türen zu.

Lois wischte sich die feuchten Augen ab und drehte sich zu Ralph um.

[»Das war's, richtig? Ist es nicht so?«]

Ralph nickte.

[»Was machen wir jetzt?«]

Er hielt ihr den Arm hin.

[»Darf ich Sie nach Hause bringen, Madam?«]

Sie ergriff lächelnd seinen Unterarm dicht unter dem Ellbogen. [»Danke, Sir. Sie dürfen.«]

So verließen sie den Strawford Park, und als sie auf die Harris Avenue kamen, kehrten sie auf die Ebene der Kurzfristigen zurück, nahmen ihren normalen Platz im Lauf der Dinge ein, ohne Aufhebens darum zu machen, tatsächlich ohne es zu bemerken, bis es geschehen war.

Derry stöhnte vor Panik und schwitzte vor ungesunder Aufregung. Sirenen heulten, Leute unterhielten sich rufend von Baikonen im ersten Stock mit Freunden auf dem Bürgersteig, und an jeder Straßenecke hatten sich Menschentrauben versammelt, die zu dem Feuer auf der anderen Seite des Tals sahen.

Ralph und Lois beachteten den Tumult und das Durcheinander gar nicht. Sie gingen langsam den Up-Mile-Hill hinauf und spürten in zunehmendem Maße ihre Erschöpfung; sie schien sich über ihnen aufzutürmen wie behutsam geworfene Sandsäcke. Der weiße Lichtfleck, der den Parkplatz des Red Apple kennzeichnete, schien unerreichbar weit entfernt zu sein, obwohl Ralph wußte, es handelte sich nur um drei Blocks, und kurze obendrein.

Um die Sache noch schlimmer zu machen: Die Temperatur war seit heute morgen um gut zehn Grad gefallen, der Wind wehte heftig, und sie waren beide nicht für dieses Wetter angezogen. Ralph vermutete, daß dies die Vorhut des ersten großen Herbststurms sein könnte und der Altweibersommer in Derry vorbei war.

Faye Chapin, Don Veazie und Stan Eberly kamen den Hügel herunter auf sie zugelaufen; sie wollten offensichtlich zum Strawford Park. Das Fernglas, mit dem der alte Dor manchmal den Flugzeugen auf der Rollbahn beim Starten, Rollen oder Landen zusah, baumelte um Fayes Hals. Mit dem fast kahlen und vierschrötigen Don in der Mitte war ihre Ähnlichkeit mit einem berühmteren Trio unübersehbar. Die drei Stooges der Apokalypse, dachte Ralph und grinste.

»Ralph!« rief Faye aus. Er atmete schnell, fast keuchend. Der Wind wehte ihm das Haar in die Augen, und er strich es ungeduldig zurück. »Das gottverdammte Bürgerzentrum ist in die Luft geflogen! Jemand hat es aus einem Kleinflugzeug bombardiert! Wir haben gehört, daß es tausend Tote gegeben hat!«

»Dasselbe habe ich auch gehört«, stimmte Ralph ernst zu. »Lois und ich sind gerade unten im Park gewesen, um nachzusehen. Von dort kann man direkt über das Tal sehen, wißt ihr.«

»Herrgott, ich weiß das, ich habe mein ganzes verdammtes Leben hier verbracht, oder etwa nicht? Wo wollt ihr denn hin? Kommt mit uns zurück!«

»Lois und ich wollten gerade zu ihr und sehen, ob sie was im Fernsehen darüber bringen. Vielleicht kommen wir später noch.«

»Okay, wir - ach du dicker Vater, Ralph, was ist denn mit deinem Kopf passiert?«

Einen Augenblick war Ralph ratlos - was war denn mit seinem Kopf passiert? -, doch dann sah er als alptraumhafte Erinnerung Eds fauchenden Mund und irre Augen. O nein, nicht, hatte Ed geschrien. Du verdirbst alles.

»Wir sind gelaufen, damit wir besser sehen können, und Ralph ist gegen einen Baum gerannt«, sagte Lois. »Er kann von Glück sagen, daß er nicht im Krankenhaus liegt.«

Don lachte darüber, aber er war nicht ganz bei der Sache, wie jemand, der sich um wichtigere Dinge kümmern muß. Faye beachtete sie überhaupt nicht. Stan Eberly dagegen schon, und Stan lachte nicht. Er sah sie verwirrt und neugierig an.

»Lois«, sagte er.

»Was?«

»Weißt du, daß du einen Turnschuh ans Handgelenk gebunden hast?«

Sie sah nach unten. Ralph sah ebenfalls nach unten. Dann schaute Lois mit einem strahlenden Lächeln wieder Stan an. »Ja!« sagte sie. »Eine interessante Mode, nicht wahr? Eine Art... lebensgroßes Glücksarmband!«

»Ja«, sagte Stan. »Klar.« Aber er sah nicht mehr den Turnschuh an, sondern Lois' Gesicht. Ralph fragte sich, wie sie morgen ihr Aussehen erklären sollten, wenn sie sich nicht im Schatten zwischen den Straßenlampen verstecken konnten.

»Kommt schon!« rief Faye ungeduldig. »Gehen wir!«

Sie setzten sich in Bewegung (Stan warf ihnen dabei einen letzten zweifelnden Blick über die Schulter zu). Ralph horchte hinter ihnen her und rechnete fast damit, daß Don Veazie ein gespieltes Kicher-kicher von sich geben würde.

»Mann, das hat sich so dumm angehört«, sagte Lois, »aber irgendwas mußte ich doch sagen, oder?«

»Hast du prima gemacht.«

»Nun, wenn ich den Mund aufmache, scheint immer irgendwas herauszufallen«, sagte sie. »Das ist eins meiner großen Talente, das andere ist, daß ich eine ganze Packung Whitman's Sampler während eines zweistündigen Fernsehfilms verputzen kann.« Sie band die Schnürsenkel von Helens Turnschuh auf und sah ihn an. »Sie ist in Sicherheit, richtig?«

»Ja«, stimmte Ralph zu und griff nach dem Turnschuh. Dabei stellte er fest, daß er bereits etwas in der Hand hatte. Er hatte die Finger so lange darum gekrümmt, daß sie sich kaum öffnen wollten. Als es ihm schließlich doch gelang, sah er die Abdrücke der Nägel im Fleisch der Handfläche. Als erstes bemerkte er, daß sein eigener Ehering noch an der gewohnten Stelle steckte, der von Ed aber fehlte. Er hatte zwar allen Anschein nach gepaßt wie angegossen, aber offenbar war er ihm in der letzten halben Stunde doch vom Finger gerutscht.

Vielleicht nicht, flüsterte eine Stimme, und Ralph nahm amüsiert zur Kenntnis, daß es diesmal nicht die von Carolyn war.

Diesmal gehörte die Stimme in seinem Kopf Bill McGovern. Vielleicht ist er einfach verschwunden. Du weißt schon, puff.

Aber irgendwie glaubte er das nicht. Er hatte den Verdacht, als wäre Eds Ehering mit Kräften ausgestattet gewesen, die nach Eds Tod nicht notwendigerweise verschwunden waren. Der Ring, den Bilbo Beutlin gefunden und widerwillig seinem Enkel Frodo übergeben hatte, hatte die Eigenheit gehabt, hinzugehen, wohin er wollte... und wann. Vielleicht war das bei Eds Ring nicht viel anders.

Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, tauschte Lois Helens Turnschuh gegen das Ding in seiner Hand ein: einen kleinen, zusammengeknüllten Zettel. Sie strich ihn glatt und sah ihn an, und dabei verwandelte sich ihre Neugier langsam in Ernst.

»Ich erinnere mich an das Bild«, sagte sie. »Die Vergrößerung stand in einem teuren Goldrahmen auf dem Kaminsims im Wohnzimmer. Es hatte einen Ehrenplatz.«

Ralph nickte. »Das muß dasjenige gewesen sein, das er in der Brieftasche hatte. Es war am Armaturenbrett des Flugzeugs festgeklebt. Bis ich es genommen habe, hat er mich geschlagen und ist dabei nicht einmal ins Schwitzen gekommen. Mir fiel nichts anderes ein, als das Bild zu nehmen. Als ich das getan hatte, interessierte ihn das Bürgerzentrum nicht mehr. Das Letzte, das ich ihn sagen hörte, war: >Gib sie zurück, sie gehören mir. <«

»Hat er mit dir gesprochen, als er das gesagt hat?«

Ralph steckte den Turnschuh in die Gesäßtasche und schüttelte den Kopf. »Nee. Das glaube ich nicht.«

»Helen war heute abend im Bürgerzentrum, nicht?«

»Ja.« Ralph dachte daran, wie sie in High Ridge ausgesehen hatte - ihr blasses Gesicht, die tränenden, vom Rauch geröteten Augen. Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen, hatte sie gesagt. Begreifst du das nicht?

Jetzt begriff er es.

Er nahm Lois das Bild aus der Hand, zerknüllte es wieder und ging zum Papierkorb an der Ecke Harris Avenue und Kossuth Lane. »Wir werden irgendwann ein anderes Bild von ihnen bekommen, das wir auf unseren eigenen Kaminsims stellen können. Eins, das nicht ganz so förmlich ist. Aber das hier... das will ich nicht.«

Er warf die kleine Papierkugel in den Mülleimer, ein einfacher Wurf, höchstens zehn Zentimeter, aber genau in diesem Moment nahm der Wind zu, und das zerknüllte Foto von Helen und Natalie, das über dem Höhenmesser von Eds Flugzeug geklebt hatte, flog auf seinem kalten Atem davon. Die beiden sahen ihm fast hypnotisiert nach, wie es zum Himmel hinaufwirbelte. Lois wandte den Blick als erste ab. Als sie Ralph ansah, umspielte der Hauch eines Lächelns ihre Lippen.

»Habe ich da einen versteckten Heiratsantrag gehört, oder bin ich nur müde?« fragte sie.

Er machte den Mund auf, um zu antworten, als eine zweite Windbö aufkam, diesmal so stark, daß sie beide zusammenzuckten und die Augen schlössen. Als er sie wieder aufmachte, war Lois schon ein Stück bergauf gegangen.

»Alles ist möglich, Lois«, sagte er mit leiser Stimme, nur zu sich selbst. »Das weiß ich jetzt.«

Fünf Minuten später klirrte Lois' Schlüssel im Schloß ihrer Eingangstür. Sie ließ Ralph ein, machte fest hinter ihnen zu und sperrte die windige, zänkische Nacht aus. Er folgte ihr ins Wohnzimmer und wäre dort geblieben, aber Lois zögerte nicht. Sie hielt immer noch seine Hand, zog ihn jedoch nicht (hätte es aber möglicherweise getan, sollte er zaudern), und führte ihn in ihr Schlafzimmer.

Er sah sie an. Lois erwiderte seinen Blick gelassen... und plötzlich spürte er dieses Blinzeln wieder. Er sah ihre Aura erblühen wie eine graue Rose. Sie war noch geschwächt, kam aber bereits wieder zurück, fügte sich zusammen, heilte sich selbst.

[»Lois, bist du sicher, daß du es willst?«]

[»Selbstverständlich! Glaubst du, nach allem, was wir durchgemacht haben, würde ich dir einen Klaps auf den Kopf geben und dich nach Hause schicken?«]

Plötzlich lächelte sie - ein verschmitztes, schalkhaftes Lächeln.

[»Abgesehen davon, Ralph - ist dir heute nacht wirklich danach zumute? Sei ehrlich! Noch besser, versuch nicht, mir zu schmeicheln.«]

Er dachte darüber nach, dann lachte er und zog sie in die Arme. Ihr Mund war süß und feucht, wie die Haut eines reifen Pfirsichs. Der Kuß schien durch seinen ganzen Körper zu kribbeln, aber das Gefühl konzentrierte sich hauptsächlich auf den Mund, wo es sich fast wie ein elektrischer Schock anfühlte. Als sie die Lippen lösten, fühlt er sich erregter denn je... aber auch seltsam ausgelaugt.

[»Und wenn ich jetzt ja sage, Lois? Wenn ich jetzt sage, daß mir danach zumute ist?«]

Sie wich zurück und sah ihn kritisch an, als wollte sie entscheiden, ob er es ernst meinte, oder ob es sich nur um die übliche männliche Großspurigkeit handelte. Gleichzeitig griff sie nach den Knöpfen ihres Kleids. Als sie sie öffnete, fiel Ralph etwas Wunderbares auf: Sie sah wieder jünger aus. Keinesfalls wie Vierzig, aber sicher nicht älter als Fünfzig... eine junge Fünfzigjährige. Daran war selbstverständlich der Kuß schuld, und das wahrhaft Amüsante war, sie hatte wahrscheinlich keine Ahnung, daß sie zu ihrer früheren Portion Penner nun noch eine kräftige Portion Ralph bekommen hatte. Und was wäre daran falsch gewesen?

Sie beendete ihre Untersuchung, beugte sich nach vorne und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

[»Ich glaube, wir werden später noch eine Menge Zeit dafür haben, Ralph - die heutige Nacht ist zum Schlafen da.«]

Er nahm an, daß sie recht hatte. Vor fünf Minuten war er mehr als bereit gewesen - die körperliche Liebe hatte ihm immer Spaß gemacht, und es war lange her. Aber im Augenblick war der Funke erloschen. Ralph bedauerte es nicht im geringsten. Schließlich wußte er, wohin er übergesprungen war.

[»Okay, Lois - die heutige Nacht ist zum Schlafen da.«]

Sie ging ins Bad, und die Dusche wurde aufgedreht. Ein paar Minuten später hörte Ralph, wie sie sich die Zähne putzte. Schön zu wissen, daß sie sie noch hatte. In den zehn Minuten, während sie weg war, gelang es ihm, sich teilweise auszuziehen, aber mit den schmerzenden Rippen ging es langsam. Schließlich schaffte er es, sich aus dem Pullover zu winden und die Schuhe abzustreifen. Danach kam das Hemd, und er machte sich hilflos an seinem Gürtel zu schaffen, als Lois mit zurückgebundenem Haar und leuchtendem Gesicht herauskam. Ralph sah fassungslos ihre Schönheit, und plötzlich kam er sich zu groß und dumm (ganz zu schweigen von alt) vor. Sie trug ein langes rosa Nachthemd aus Seide, und er konnte ihre Handcreme riechen. Es war ein angenehmer Duft.

»Laß mich das machen«, sagte sie und hatte den Gürtel aufgeknöpft, bevor er etwas sagen konnte, so oder so. Daran war nichts Erotisches; sie machte es mit den geschickten Bewegungen einer Frau, die ihrem Mann in seinem letzten Lebensjahr häufig beim An- und Ausziehen geholfen hatte.

»Wir sind wieder unten«, sagte er. »Diesmal habe ich gar nicht gespürt, wie es passiert ist.«

»Aber ich, als ich unter der Dusche war. Eigentlich bin ich froh. Es ist ziemlich verwirrend, wenn man sich das Haar durch eine Aura hindurch waschen will.«

Draußen wehte der Wind, brachte das Haus zum Beben und blies einen langen, zitternden Ton auf einer Regenrinne. Sie sahen zum Fenster, und obwohl sie sich wieder auf der Ebene der Kurzfristigen befanden, war Ralph plötzlich überzeugt, daß Lois dasselbe dachte wie er: Atropos war irgendwo da draußen, zweifellos enttäuscht darüber, welche Wendung die Dinge genommen hatten, aber keineswegs niedergeschmettert, blutig, aber unbeugsam, am Boden, aber noch nicht ausgezählt. Von jetzt an nennen sie ihn Altes Einohr, dachte Ralph und erschauderte. Er stellte sich vor, wie Atropos auf einer willkürlichen Bahn durch die Einwohner dieser Stadt stob, wie ein irregeleiteter Asteroid, beobachtete und sich versteckte, Souvenirs stahl und Ballonschnüre durchschnitt... mit anderen Worten, Trost aus seiner Arbeit bezog. Ralph fand es fast unmöglich zu glauben, daß er vor kurzer Zeit erst auf dieser Kreatur gesessen und ihr mit ihrem eigenen Skalpell zugesetzt hatte. Wie konnte ch nur den Mut aufbringen? fragte er sich, aber er glaubte, daß er es wußte. Die Diamantohrringe, die das kleine Monster getragen hatte, waren der Grund dafür gewesen. Wußte Atropos, daß diese Ohrringe sein größter Fehler gewesen waren? Auf seine Art hatte Doc Nr. 3 noch weniger über die Motivation der Kurzfristigen gewußt als Klotho und Lachesis.

Er drehte sich zu Lois um und ergriff ihre Hand. »Ich habe deine Ohrringe wieder verloren. Ich glaube, diesmal sind sie endgültig fort. Es tut mir leid.« »Du mußt dich nicht entschuldigen. Weißt du nicht mehr, sie waren schon verloren. Und ich mache mir keine Sorgen mehr wegen Howard und Jan, denn jetzt habe ich einen Freund, der mir hilft, wenn die Leute mich nicht richtig behandeln oder wenn ich einfach nur Angst habe. Nicht wahr?«

»Ja. Auf jeden Fall.«

Sie schlang die Arme um ihn, drückte ihn fest an sich und küßte ihn wieder. Lois hatte offenbar nichts vergessen, was sie beim Küssen gelernt hatte, und Ralph schien es, daß sie eine ganze Menge gelernt hatte. »Los, geh unter die Dusche.« Er wollte sagen, daß er wahrscheinlich einschlafen würde, sobald er den Kopf unter warmes Wasser hielte, aber dann fügte sie etwas hinzu, bei dem er es sich rasch anders überlegte: »Sei mir nicht böse, aber du hast einen komischen Geruch an dir, besonders an den Händen. Mein Bruder Vic hat so gerochen, wenn er den ganzen Tag Fische geputzt hatte.«

Zwei Minuten später stand Ralph unter der Dusche und hatte sich bis zu den Ellbogen eingeseift.

Als er wieder herauskam, lag Lois unter zwei Steppdecken. Nur ihr Gesicht war zu sehen, und auch das nur von der Nase an. Ralph ging hastig durch das Zimmer; er trug nur Unterhosen und war sich schmerzlich seiner spindeldürren Beine und seines Bauchs bewußt. Er schlug die Decke zurück und legte sich hastig hin, wobei er leise keuchte, als die kalten Laken seine warme Haut berührten.

Lois kam sofort auf seine Seite des Betts gerutscht und legte die Arme um ihn. Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar und entspannte sich. Es war sehr gut, mit Lois unter der Decke zu liegen, während der Wind draußen heulte und manchmal so stark wütete, daß die Sturmläden in ihren Rahmen klapperten. Ralph kam sich vor wie im Himmel.

»Gott sei Dank, daß ein Mann in meinem Bett liegt«, sagte Lois müde.

»Gott sei Dank, daß ich es bin«, antwortete Ralph, und sie lachte.

»Wie geht es deinen Rippen? Soll ich dir ein Aspirin holen?«

»Nee. Ich bin sicher, morgen früh tun sie wieder weh, aber im Augenblick hat das warme Wasser alles fortgespült.« Die Frage, was am Morgen passieren könnte, oder auch nicht, rief eine Frage in ihm wach - die wahrscheinlich schon die ganze Zeit da gewesen war. »Lois?«

»Mrnmtnrn?«

Vor seinem geistigen Auge sah Ralph, wie er in der Dunkelheit aufwachte, hundemüde, aber nicht mehr schläfrig (sicherlich eines der grausamsten Paradoxe der Welt), während die Digitaluhr träge von 3:47 auf 3:48 Uhr wechselte. F. Scott Fitzgeralds dunkle Nacht der Seele, wenn jede Stunde lange genug war, um die große Cheopspyramide zu bauen.

»Glaubst du, wir werden durchschlafen?« fragte er.

»Ja«, sagte sie, ohne zu zögern. »Ich glaube, wir werden ausgezeichnet schlafen.«

Einen Augenblick später tat Lois genau das.

Ralph blieb noch etwa fünf Minuten wach, hielt sie in den Armen, genoß die wunderbaren verschiedenen Düfte, die von ihrer Haut aufstiegen, erfreute sich am Gefühl der glatten Seide unter seinen Händen und staunte mehr darüber, wo er sich befand, als über die Ereignisse, die ihn hierher geführt hatten. Er war von einem tiefen und einfachen Gefühl erfüllt, das er kannte, aber nicht gleich identifizieren konnte, wahrscheinlich weil es schon zu lange aus seinem Leben verschwunden war.

Der Wind zerrte und stöhnte draußen und erzeugte wieder das hohle, pfeifende Geräusch über der Regenrinne — wie der größte Nirvana-Junge der Welt, der über den größten Flaschenhals der Welt blies -, und Ralph überlegte sich, daß nichts im Leben besser war, als in einem weichen Bett zu liegen und eine schlafende Frau in den Armen zu halten, während draußen, vor dem sicheren Hafen, der Wind heulte.

Aber eines war doch besser, mindestens eines, und das war das Gefühl, wieder einzuschlafen, sanft in die gute Nacht zu dämmern, in die Strömung des Vergessens zu treiben wie ein Kanu, das sich an einem strahlenden Sommertag vom Steg löst und in die Strömung eines breiten, trägen Flusses gerät.

Von allem, was unser kurzfristiges Leben ausmacht, ist Schlaf mit Sicherheit das Beste, dachte Ralph.

Draußen heulte der Wind (dessen Geräusch jetzt aus weiter Ferne zu kommen schien), und als er spürte, wie ihn die Strömung des gewaltigen Flusses ergriff, konnte er endlich das Gefühl identifizieren, das er empfand, seit Lois die Arme um ihn gelegt hatte und so mühelos und vertrauensvoll eingeschlafen war wie ein Kind. Es trug viele verschiedene Namen - Frieden, Gelassenheit, Erfüllung -, aber im Augenblick, während der Wind toste und Lois einen heiseren Laut schläfriger Zufriedenheit weit hinten in der Kehle von sich gab, kam es Ralph so vor, als wäre es eines der seltenen Dinge, die zwar bekannt, aber im Grunde genommen nicht mit einem Namen zu versehen sind: eine Beschaffenheit, eine Aura, möglicherweise eine eigene Ebene des Daseins im Schacht der Existenz. Es war das sanfte Rotbraun der Ruhe; es war die Stille, die nach Erfüllung einer schwierigen, aber notwendigen Aufgabe folgt.

Als der Wind sich wieder aufbäumte und das Geräusch ferner Sirenen mit sich brachte, hörte Ralph es nicht. Er schlief. Einmal träumte er, daß er aufstand und zur Toilette ging, und er vermutete, daß das kein Traum gewesen war. Einmal träumte er, daß er und Lois langsam und sich zärtlich liebten, und das war möglicherweise auch kein Traum gewesen. An andere Träume oder Augenblicke des Wachseins konnte er sich nicht erinnern, und diesmal erwachte er nicht um drei oder vier Uhr morgens. Sie schliefen - manchmal getrennt, aber meistens vereint - bis nach sieben Uhr am Samstagabend; alles in allem rund zweiundzwanzig Stunden.

Lois machte ihnen bei Sonnenuntergang Frühstück köstliche, lockere Waffeln, Speck, Bratkartoffeln. Während sie kochte, versuchte Ralph, diesen Muskel tief in seinem Geist zu spannen - um das Gefühl des Blinzelns zu erzeugen. Es gelang ihm nicht. Auch Lois konnte es nicht, als sie es versuchte, obwohl Ralph hätte schwören können, daß sie einen Augenblick flackerte und er den Herd hinter ihr durch sie hindurch sehen konnte.

»Und wenn schon«, sagte sie und trug die Teller zum Tisch.

»Ich denke auch«, stimmte Ralph zu, aber er fühlte sich trotzdem, wie er sich fühlen würde, wenn er den Ring verloren hätte, den Carolyn ihm an den Finger gesteckt hatte, und nicht den, den er Atropos abgenommen hatte - als wäre ein kleiner, aber bedeutender Gegenstand mit einem Blinzeln und einem Schimmern aus seinem Leben verschwunden.

Nach zwei weiteren Nächten tiefen, ununterbrochenen Schlafs verblaßten auch die Auren. In der darauffolgenden Woche waren sie ganz verschwunden, und Ralph fragte sich, ob die ganze Sache nicht vielleicht ein seltsamer Traum gewesen sei. Er wußte, daß es nicht so war, aber es fiel ihm immer schwerer zu glauben, was er wußte. Da war natürlich die Narbe zwischen Ellbogen und Handgelenk seines rechten Arms, aber er fragte sich, ob er sich auch die nicht vor langer Zeit zugezogen hatte, in den Jahren seines Lebens, als er kein weißes Haar gehabt und tief in seinem Herzen noch geglaubt hatte, daß das Alter ein Mythos sei, oder ein Traum, oder etwas, das Menschen vorbehalten blieb, die nicht so etwas Besonderes waren wie er.

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