Zweites Buch Himmel in Flammen

Sieben Jahre später …

Gottesworte

Es begab sich aber zu der Zeit, als der Krieg gegen die Daimonen in das siebente Jahr ging, dass ein Herrscher unter den Klingen der Dunkelheit fiel. So war nur noch ein einziger der Unsterblichen verblieben. Doch die Götter selbst stiegen herab in den Palast von Valesia, und als da ward ein strahlendes Licht, vernahm alles Volk eine Stimme, die da sagte: Sehet, ich verkünde euch die Erhebung des Einen, der da wird beenden alle Kriege. Und Friede wird sein bei allen Menschen. Für die Daimonen aber wird da kommen eine dunkle Zeit, dass sie werden vom Himmel stürzen, von den Flammen verzehret, und unter denen, die leben, wird sich erheben ein Heulen und ein Zähneklappern, denn es wurde ihnen geweissagt: Was das Tier in sich trägt, das wird auch vom Verstand des Tieres regieret sein. Und als die Götter den neuen Unsterblichen im Palaste Valesias erhoben, da wussten die Daimonen, dass ihre Tage gezählt waren, denn schon als Sterblicher war sein Namen wie Donnerhall. Nun aber, erwählt von den Göttern, ward die Macht des Himmels in seine Hände gegeben, um Rache an jenen zu üben, die gekommen waren, die Erde den Menschen zu nehmen. Und der Name des Mannes war Arcumenna, und er wird überdauern alle Zeit, denn es ist der Name des Heils.«

Zitiert nach: Der Heilsbringer, Beginn des II. Kapitels von: Gottesworte, verfasst von Sakul, Weggefährte des Heiligen Tjured

Anmerkungen des Meliander von Arkadien zu Gottesworte:

»Wie es scheint, greift Sakul hier einen älteren Text auf. So fand sich in der Oase von Valemas in der Zerbrochenen Welt eine Stele, die einen König zeigt, der seinen Fuß in den Nacken eines Elfen mit übergroßen Ohren stellt. Die Inschrift nennt diesen König Arcumenna, Daimonenhammer, und er soll von den Göttern erhoben worden sein. Letztlich jedoch scheint auch er verderbt gewesen zu sein, denn Tjured erhob den Anspruch, dass es nur einen Gott geben kann. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Gottesworte wohl ein ferner Nachklang auf Ereignisse ist, die tatsächlich stattgefunden haben, und nicht, wie Unkundige behaupten, nur eine Sammlung erfundener Geschichten.«

Brennende Himmel, Auszug aus dem XXXVII. Kapitel von: Die Wege der Alben, verfasst von Meliander, Fürst von Arkadien

Das Lebende Licht

Arcumenna stieg die blutigen Palaststufen hinauf. Er vermochte den Blick nicht vom Antlitz des Unsterblichen Ansur zu wenden. Die Angst stand immer noch in den weiten grauen Augen des Herrschers. Er hätte hier sein sollen, dachte Arcumenna bitter. Nicht in weiter Ferne auf einem göttervergessenen Schlachtfeld.

Hinter ihm erstarben die schweren Schritte genagelter Sandalen auf Stein. Er war mit hundert seiner besten Männer gekommen, als ihn die Nachricht erreicht hatte. Er wandte sich um und ließ seinen Blick über den weiten Hof schweifen. Die Diener und Beamten zuckten zurück, wenn er sie ansah. Was für niederträchtige Schleimer! »Du da!« Er zeigte auf einen Grauhaarigen. Der breite Purpurstreifen am Saum seiner Tunika wies ihn als hohen Hofbeamten aus. »Komm hierher!«

Zögernd trat der Höfling vor ihn und achtete sorgsam darauf, dass das Blut auf den Stufen nicht seine Sandalen benetzte.

»Warum ist keiner bestattet? Wie konntet ihr das Haupt des Herrschers auf den Stufen liegen lassen? Ist dies die Art, wie ihr Ansurs Großmut vergeltet?«

»Wir … wir haben die Krähen mit Steinen vertrieben. Wir …«

Arcumenna versetzte dem Grauhaarigen eine Ohrfeige, die ihn zurücktaumeln ließ. »Die Krähen mit Steinen vertrieben«, wiederholte er in ätzendem Tonfall. »Ich hätte nicht übel Lust, euch allesamt den Krähen zum Fraß vorzuwerfen.«

Er stieg die Stufen hinauf und beugte sich nach dem Haupt Ansurs.

»Nicht, Herr!«, rief einer aus der Menge der Diener. »Die Daimonin hat die Leichen verflucht. Wer sie berührt, der wird blutig sterben.«

Der Feldherr lachte auf. »Hätte ich für jedes Mal, dass ich bedroht wurde, blutig zu sterben, ein Goldstück bekommen, wäre ich ein reicher Mann.« Er packte Ansurs Kopf bei den Wangen und hob ihn an. Das Fleisch fühlte sich bereits schwammig an. Maden purzelten aus dem Halsstumpf auf die Marmorstufen, und ein übler Gestank ließ Arcumenna sich abwenden.

Warum waren die Götter nicht gekommen, um Ansur zu helfen? Der Feldherr begriff es nicht. Was für ein niederträchtiger Scherz des Schicksals, dem Unsterblichen, der das Schöne und die Künste so sehr geliebt hatte, ein solches Ende zu schenken. Ermordet auf den Stufen seines Palastes, wo ihn seine Höflinge zum Fraß der Maden liegen ließen.

Arcumenna hob den Blick. Weiter oben auf den Stufen und vor dem Portal des Palastes sah er die Leibwache des Herrschers. Siebzehn Tote zählte er stumm. Sie hatten gekämpft, versucht, Ansur mit ihrem Leben zu schützen. Sie waren die einzigen Männer mit Ehre in diesem Palast schmieriger Schmeißfliegen, die sich in der Gunst Ansurs gesonnt hatten, ohne für ihren Herrscher einzustehen, als er sie gebraucht hatte. Nicht einmal nach seinem Tod.

»Wie viele Daimonen sind im Schutz der Dunkelheit in den Palast gekommen?«, fragte er den Grauhaarigen, der immer noch am Fuß der Treppe stand.

»Es … es war nur eine Daimonin, Herr. Und sie kam am helllichten Tag.«

»Nur eine?«, wiederholte der Feldherr nachdenklich und versuchte, dies mit all den Geschichten in Einklang zu bringen, die er über die anderen Mordanschläge gegen die Unsterblichen gehört hatte. »Und sie brachte keine Dunkelheit mit sich?«

»Nein, Feldherr. Sie war plötzlich hier … Bevor auch nur einer die Hand an sein Schwert legen konnte, waren die ersten drei Wachen bereits tot. Es war unheimlich, die Daimonin kämpfen zu sehen.«

Arcumenna hatte schon in erster Reihe gegen Daimonen gefochten. Er wusste, dass man gegen sie bestehen konnte, wenn man nur tapfer genug kämpfte und dazu in der Überzahl war. Er lächelte wissend. Der Grund, warum sie sich immer wieder daran versuchten, Unsterbliche zu ermorden, war offensichtlich: Es ging mit ihnen zu Ende. Die Daimonen wussten, dass sie den Krieg um Nangog verlieren würden. Der Übermacht der Menschenheere waren sie auf Dauer nicht gewachsen. Also versuchten sie, die sieben Königreiche zu erschüttern, indem sie ihnen die Herrscher nahmen.

Zwei Mal hatten sie den Unsterblichen der Schwimmenden Inseln ermordet. Der neue Herrscher wagte es nun nicht mehr, nach Nangog zu kommen, da er überzeugt war, ein bevorzugtes Opfer der Daimonen zu sein. Es hatte einen gescheiterten Anschlag auf die Unsterblichen Volodi und Aaron gegeben, und letzten Herbst war der Unsterbliche Acoatl ermordet worden. Nun führte der Unsterbliche Necahual das Reich der Zapote. Für Arcumenna war die Strategie hinter all diesen Angriffen klar zu erkennen: Es waren Verzweiflungstaten. Taten des Terrors in einem Krieg, den die Daimonen nicht gewinnen konnten.

Er winkte Horatius, den Hauptmann seiner Leibwache, heran. »Bring die Toten in die große Halle des Palastes und sorg dafür, dass sie mit allen Ehren aufgebahrt werden. Ich nehme an, du hast keine Angst vor angeblichen Daimonenflüchen?«

Horatius lächelte grimmig. »Es sind nicht Worte, sondern Klingen, die einen Krieger verletzen. Worte sind die Zuflucht der Wehrlosen.«

»Das sehe ich auch so«, bestätigte Arcumenna. Darauf stieg er die letzten Treppenstufen zum Palastportal hinauf und setzte das Haupt Ansurs neben dessen Rumpf auf den Boden. Sanft strich er dem toten Herrscher durch das verklebte Haar. »Ich werde dich rächen, Ansur. Du hättest in friedlicheren Zeiten herrschen sollen. Es war dir nicht …«

Ein gleißendes Licht erschien über dem Palasthof und sank langsam zu Boden. Es bannte jeden Schatten, ohne die Augen zu verbrennen, wenn man es ansah.

Demütig gingen die Höflinge und Krieger auf die Knie und senkten die Häupter, bis sie mit der Stirn die Marmorplatten des Hofes berührten. Auch Arcumenna kniete nieder. Doch den Kopf senkte er nicht. Inmitten des Strahlens sah er eine Gestalt aus fließendem Licht.

»Euer Sohn wurde gemeuchelt, Licht des Lebens«, sagte der Feldherr, bemüht, sich seinen Zorn und seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Und wieder fragte er sich, warum die Devanthar ihre Unsterblichen nicht besser beschützten. Sie waren Götter! Es müsste ihnen doch möglich sein, diese Morde zu verhindern.

»Mit dem Tod Ansurs ist diese Welt um ein Licht ärmer geworden.« In den Worten des Gottes lag eine Traurigkeit, die jedes andere Gefühl in Arcumenna verlöschen ließ. »Ansur war ein strahlendes Leuchtfeuer der Weisheit unter euch Menschen. Einer, dem Kunst mehr bedeutete als Eroberungen, der wusste, dass die Schönheit seiner Städte auch dann noch sein Reich schmücken würde, wenn Waffenruhm längst zu fernen Erinnerungen verblasst sein wird. In dem Kampf zu stehen, der uns aufgezwungen wurde, hat ihn unglücklich gemacht. Es hat ihn gegrämt, ein Zeitalter zu erleben, in dem sich die Weisheit dem Schwerte beugen muss.«

Der Devanthar näherte sich dem toten Unsterblichen und schien nun direkt zu ihm zu sprechen: »Du warst der Letzte, der es verdient hätte, durch das Schwert zu sterben, Ansur. Mein Herz ist voll von einer Trauer, die kein Maß kennt. Du hattest alles, was einen Unsterblichen auszeichnen sollte. Du warst der größte Sohn deines Volkes. Niemand wird je die Lücke schließen können, die die feige Mordlust unserer Feinde gerissen hat.«

Arcumenna war kein Mann für pathetische Worte. Manchmal, vor einem Kampf, hielt er Ansprachen an seine Krieger. Er wusste sehr wohl, wie die Lust zu töten und die Zuversicht zu siegen zu wecken waren. Welche Gleichnisse er setzen musste, um seine Krieger im Herzen zu berühren. Doch für ihn waren es nur Worte. Er benutzte sie, um andere zu berühren, ohne dass ihn diese Worte selbst berührt hätten. Sie waren nur Werkzeuge im Geschäft des Tötens wie das Schwert in seiner Hand.

Dieses Mal jedoch war es anders. Sein Verstand verarbeitete die Rede des Devanthar wie stets. Er analysierte und fand die Worte des Gottes nicht einmal sonderlich wohlgesetzt. Und dennoch berührten sie etwas in ihm. Er fühlte etwas tief in sich schwingen. Einen dumpfen Schmerz, der nicht vom Herzen oder vom Bauch ausging. Er ließ sich mit keinem Teil seines Körpers verbinden, den er zu benennen vermochte, und doch füllte er ihn ganz aus, so als wäre er, Arcumenna, der größte Feldherr Valesias, ganz Schmerz geworden.

Das Lebende Licht schwebte ihm entgegen. Und plötzlich streckte der Devanthar eine Hand nach ihm aus. Die Fingerspitzen berührten Arcumenna kühl an der Stirn, und das Strahlen der Gottheit umfing ihn.

»Arcumenna aus Truria, sei du nun die Fackel des Krieges, um unsere Feinde auszubrennen und Rache für den Tod des friedfertigen Ansur zu nehmen. Sei du nun mein Unsterblicher!«

Der Feldherr spürte ein leichtes Brennen auf der Haut. Sein Bronzekürass wog plötzlich leichter, und sein Helm veränderte sich. Das Metall schloss sich enger um seinen Kopf, bis nur noch schmale Sehschlitze blieben. Er ahnte, dass sich seine Rüstung zum Lederpanzer der Unsterblichen verändert hatte und er nun einen Adlerhelm, wie einst Ansur, trug.

»Heil Arcumenna, Unsterblicher von Valesia!«, rief Horatius als Erster.

Noch bevor die übrigen seiner Krieger in seinen Ruf einstimmen konnten, war der Devanthar verschwunden. Zurück blieben jubelnde Krieger. »Heil Arcumenna«, hallte es laut über den weiten Palasthof, und die Diener und Hofbeamten beeilten sich einzustimmen.

Arcumenna löste die beiden Scharniere an der Seite des neuen Helms, klappte das Visier, das nun wie ein mächtiger Adlerschnabel geformt war, zur Seite und nahm den Prunkhelm dann ab. Es war so gekommen, wie er es sich erhofft hatte. Bislang hatten die Devanthar stets den ersten Würdigen, der sich dem Leichnam eines Unsterblichen näherte, zu dessen Nachfolger gemacht. Unsterblicher! Er war einen weiten Weg gegangen für einen kleinen Provinzfürsten mit zweifelhafter Herkunft. Und er war noch lange nicht am Ende.

Er würde einfordern, vor den Devanthar sprechen zu dürfen, wie es Aaron einst getan hatte. Und er würde den Göttern unterbreiten, wie er gedachte, den Krieg gegen die Daimonen zu einem Ende zu bringen. Sie mussten größer denken. Über den nächsten Sieg hinaus.

»Mein Gebieter!«, sagte Horatius voller Stolz. »Lasst mich Euch beglückwünschen.« Ergeben verneigte sich der einäugige Hauptmann. »Jetzt werden wir Nangog, ihren Geistern und dem Daimonenpack den Arsch aufreißen!«

»Das werden wir«, entgegnete der Unsterbliche selbstbewusst lächelnd und wandte sich an den Hofstaat. Mit ausgebreiteten Armen brachte er die Jubelnden zum Schweigen. »Ich weiß, dass der Unsterbliche Ansur stets einige Dichter an seinem Hof versammelt hatte. Ich möchte sie bitten, an meine Seite zu treten. Es gilt eine Totenklage für unseren Herrscher zu verfassen, und ich möchte erfahren, wer sich befähigt fühlt, ihm diesen letzten Ehrendienst zu erfüllen.«

Arcumenna war überrascht, dass nicht weniger als sieben Männer und zwei Frauen unter den Höflingen hervortraten. Er winkte sie herbei und wies Horatius an, für Ordnung im Palast zu sorgen und nach Gaius zu schicken, der sich der Verwaltung des Hofstaats widmen sollte.

Ein verweichlicht aussehender, bartloser Jüngling, der eine Perücke aus blondem Frauenhaar trug, erreichte als Erster Arcumenna. Im Gegensatz zu den anderen war er geradewegs über die blutbesudelten Stufen geschritten. »Oh, tugendhafter Held!«, rief er voller Inbrunst. »Oh, Schwert der Gerechtigkeit und Erleuchter der Unwissenden. Ich hatte die Ehre, der Letzte zu sein, der den Unsterblichen Ansur mit seiner Dichtkunst unterhalten durfte. Der Erste unter den Erhabenen hat mich stets besonders gern …«

Arcumenna schnitt dem Laffen mit einer harschen Geste das Wort ab. Dann hob er die Stimme und bedachte die anderen Dichter mit einem stechenden Blick. »Tretet so nahe an mich heran, dass ihr mich mit ausgestrecktem Arm berühren könntet, aber wagt es nicht, mich zu betatschen.«

Der Herrscher genoss das Befremden im Blick der Poeten. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Horatius die Höflinge verscheuchte und Wachen an den Zugängen zum Palasthof postierte. Außer den Dichtern war nun niemand mehr in Hörweite.

»Tausend Lichter werde ich entzünden als Dank dafür, dass mir die Gnade zuteilwurde, als Erster mit Euch sprechen zu dürfen, mein allweiser Gebieter.« Der Jüngling griff sich mit beiden Händen in dramatischer Geste an die Brust. »Möge unser Bund auf ewig …«

»Schweig!«, zischte Arcumenna erbost. »Wisset, ich bin der Dichtkunst nicht sonderlich zugetan. Wenn ihr euch künftig auch nur einen Hauch meiner Gnade erhalten wollt, dann sprecht nur noch, wenn ich euch dazu auffordere. Ohrenbläser und Speichellecker sind mir zutiefst zuwider. Ich dulde euch allein aus einem Grund an meinem Hof. Ich weiß um den Wert guter Geschichten.« Der Unsterbliche machte eine kurze Pause, um der kleinen Schar Gelegenheit zu geben, sich der Bedeutung seiner Worte bewusst zu werden. Dann fuhr er selbstbewusst fort: »Ich erwarte zwei Werke von jedem Einzelnen von euch: Eine Totenklage zu Ehren Ansurs und eine epische Dichtung, die meine Erhebung zum Unsterblichen auf das Ergreifendste in Worte fasst. Wer mich mit beiden Werken überzeugt, der wird von mir ein Landhaus am Meer mit zwanzig Bediensteten geschenkt bekommen. Wer mich aber enttäuscht …«, Arcumenna wandte sich an den Dichter mit dem Frauenhaar, »… der wird die Ehre haben, beim nächsten Kampf gegen die Daimonen meine Krieger in der ersten Kampfreihe zu begleiten, damit ihm in Zukunft bei der Beschreibung epischer Ereignisse nicht mehr die rechten Worte fehlen. Natürlich vorausgesetzt, dass er diese Erfahrung überlebt.« Der blonde Weichling erblasste, während ihn eine der beiden Dichterinnen, ein hageres Geschöpf mit langem, rotem Haar mit abfälligem Blick maß. Er war sich sicher zu wissen, was sie dachte.

»Wer mich in heimlichen Versen verspottet oder gar zum Tyrannen macht, der wird diesem Tyrannen begegnen. Wer mich aber zur Lichtgestalt verklärt, dem wird auf ewig das warme Licht meiner Gnade leuchten. In fünf Tagen wünsche ich eure Verse zu hören!« Er klatschte in die Hände. »Und nun hebt euch hinweg, ich habe ein Königreich zu ordnen!«

Eilends machten sich die Wörterschmiede davon. Arcumenna war sich bewusst, dass ein schöpferischer Geist stets auch ein rebellischer Geist war. Wahrscheinlich würde Horatius dafür sorgen müssen, dass eine dieser Kanaillen einen wirklich hässlichen Unfall hatte. Dann würden die Übrigen begreifen, wie bedeutsam es war, sich um jeden Preis seine Gnade zu erhalten und das Andenken an den Unsterblichen Ansur hinter neuen Lobeshymnen auf den Unsterblichen Arcumenna verblassen zu lassen.

Auf trügerischem Grund

Ein messingbeschlagener Eichenstamm schmetterte auf das Mauerwerk. Roter Lehmziegelstaub wogte durch die glühende Hitze. Breite Risse klafften im Torbogen. Steine polterten auf den Torweg hinab.

Obwohl Solaiyn zehn Schritt vom Tor entfernt stand, atmete er nur flach. Es war so heiß, dass der Elfenfürst befürchtete, sich die Lunge zu versengen, wenn er einen tiefen Atemzug nahm. Wie ein Blick in einen gut befeuerten Kamin wirkte die Aussicht durch den Torbogen. Temil brannte lichterloh. Es tat Solaiyn leid um die Stadt. Er hatte ihre engen Gassen mit den bunt bemalten Lehmhäusern gemocht. Sie waren auf archaische Art schön gewesen. Drei Monde lang hatte er Temil belagert, bis er auch den vierten Ring aus hohen Lehmmauern bezwungen und die innerste Stadt erstürmt hatte. Wozu? Er seufzte. Nicht einmal zwanzig Tage hatte er in Temil geherrscht, bis seine Späher ihm meldeten, dass ein gewaltiges Entsatzheer auf dem Weg war. Er hatte nicht genug Albenkinder in seinen Truppen, um den äußeren Wall zu bemannen. Er würde die Stadt nicht halten können. Also hatte er keine andere Wahl gehabt, als sie niederzubrennen. Und zum Abschied rissen seine drei Riesen mit mächtigen Eichenstämmen das prächtige Haupttor nieder. Es war zum Verzweifeln! Der Kampf um Temil fasste im Kleinen die Tragödie der Feldzüge in Nangog zusammen. Sie konnten alles erobern, aber es gelang ihnen nicht, etwas zu halten, wenn die Menschenkinder mit geballter Macht zum Gegenschlag ausholten.

»Herr, es ist an der Zeit zu gehen«, flüsterte Aloki ihm ins Ohr. »Der Albenstern ist geöffnet. Die Vorhut marschiert bereits ins Goldene Netz.«

Er schnippte mit den Fingern, und sein bocksbeiniger Stallbursche brachte ihm einen Schimmel. Mit weiten Augen starrte die Stute auf die Schlangenfrau. Kein einziges Pferd in seinem Gestüt hatte sich je an Aloki gewöhnt. Sie alle fürchteten sie.

Schlecht gelaunt schwang sich der Elfenfürst in den Sattel und ritt an den Kolonnen des abziehenden Heeres vorbei. Die Straße, der seine Truppen folgten, lief parallel zum Meer. Auf dem roten Strand kauerten die Menschenkinder. Ihre hasserfüllten Blicke folgten dem abziehenden Heer. Solaiyn hatte sie aus der Stadt treiben lassen, bevor die Brände gelegt worden waren.

Als mit Getöse das Stadttor hinter ihm zusammenstürzte, scheute seine Stute. Mit festem Schenkeldruck brachte er sie zur Räson. Die Riesen hinter ihm verfielen in röhrendes Triumphgeheul. Sie waren schlichte Gemüter. Einfache Aufgaben zu erfüllen, für die man nichts als Kraft benötigte, machte sie glücklich.

Nodon preschte auf seinem Fuchs heran. »Die Verwundeten und Kranken bilden die Spitze der Kolonne. Danach bringen wir den Belagerungstross durch den Albenstern«, berichtete er und ließ seinen Hengst neben Solaiyns Stute in den Trab wechseln. »Heermeister Hornbori hat seine Männer auf dem Hügelkamm nahe dem Tor postiert. Er wird als Letzter nach Albenmark gehen, zusammen mit deiner Elfengarde. Fürst Sekander patrouilliert mit seinen Kentauren am Strand, damit die Menschenkinder nicht noch im letzten Augenblick auf die Idee kommen, sich als Helden aufzuspielen.«

Solaiyn nickte beifällig. Alles lief also nach Plan. Sie hatten Übung darin, sich geordnet zurückzuziehen. Schweigend ritt er die Kolonne ab und erreichte schon bald den großen Maultiertreck. Nur wenige Tiere trugen Plündergut. Die meisten hatte man mit eigens während der Belagerung gefertigten Lastsätteln aufgeschirrt. Links und rechts der Sättel waren Tragen befestigt, über denen Bahnen aus zartem Gazestoff hingen, um die Stechmücken von den Kranken und Verwundeten fernzuhalten, die zu schwach waren, um auf eigenen Beinen den Rückzug anzutreten.

Diese verfluchten Mücken aus den nahen Sümpfen! Sie hatten seinem Heer einen höheren Blutzoll abverlangt als drei Sturmangriffe auf die Festungsmauern. Würde er nur Elfen befehligen, hätte er solche Sorgen nicht. Sie wurden so gut wie nie krank, und auch die störrischen Zwerge des Heermeisters Hornbori waren schwer umzubringen. Aber all die anderen … Am schlimmsten hatte es die Kobolde erwischt. Hunderte von ihnen waren an dem Fieber gestorben, das die Mücken verbreiteten.

Solaiyn hatte die breiten Schilfgürtel der Sümpfe niederbrennen lassen. Ohne Erfolg. Eine ganze Karawanenladung Weihrauch hatte er heranschaffen lassen und in kupfernen Räucherpfannen im Heerlager abbrennen lassen. Die Hälfte seiner Truppen war von den Wohlgerüchen so berauscht worden, dass sie kein Schwert mehr halten konnten, doch gegen die Mückenplage hatte es nicht geholfen. Nicht einmal mit Zauberweberei war diesen Viechern beizukommen gewesen. Die Menschenkinder hatten ihre Stadt verloren, die Albenkinder hatten ihren Stolz verloren und mussten aufgeben, was sie gerade erst erobert hatten. Einzig die Mücken waren unbesiegt. Vielleicht war dies die Rache Nangogs an ihnen. Womöglich hatte die gefesselte Göttin dieses Ungeziefer ausgebrütet.

Eines Tages, wenn diese endlosen Feldzüge vorüber waren und er wieder die Muße hatte, auf der Terrasse seines Winterpalastes in Tanthalia zu sitzen, die einen wunderbaren Blick auf das weite Meer bot, dann würde er ein Gedicht auf die winzigen blutsaugenden Recken ersinnen, die weder sein Heer noch sein Scharfsinn hatten besiegen können.

Der Fürst presste der Stute die Hacken in die Flanken und trieb sie zu einem leichten Galopp an. Von den fiebernden Kobolden auf den Tragen stieg übler Gestank auf. Der Geruch von saurem Schweiß und eingenässten Kleidern. Wolken schwarzer Fliegen tanzten über der Karawane der Leidenden.

In melancholischer Stimmung erreichte er den Torbogen aus schillerndem Licht, durch den seine geschlagenen Krieger das Goldene Netz betraten. Er sah den Schrecken in den Gesichtern der bocksbeinigen Faune, die gerade im Begriff waren, den magischen Weg zu betreten, der sich durch die Finsternis des Nichts spannte. Für die meisten seiner Krieger verlor die Reise zwischen den Welten niemals ihre Schrecken, obgleich sie ungleich sicherer als jede Seefahrt war, jedenfalls solange man den Goldenen Pfad nicht verließ.

Solaiyn saß ab. Er saß nicht gern lange im Sattel. Aloki hatte mit ihm mitgehalten. Doch jetzt blieb sie im Hintergrund. Die Schlangenfrau wusste, dass sie der Mehrzahl der Albenkinder unheimlich war.

Der Feldherr grüßte einige der Hauptleute, die ihre Truppen an ihm vorbeiführten. Hier und da ließ er ein aufmunterndes Wort für einen der Krieger fallen, deren Namen ihm vertraut waren. Allzu viele waren es nicht. Er mochte es nicht, sich mit den einfachen Männern gemeinzumachen. Es hatte keinen Zweck. Wenn er versuchte, mehr als zwei Sätze mit ihnen zu wechseln, würden sie nur bemerken, dass sie sich im Grunde nichts zu sagen hatten.

Würde er ein Heer von Elfenkriegern befehligen, wäre alles anders, dachte Solaiyn bitter. Sie wurden nicht krank, sie kämpften besser, ihre Moral war unerschütterlich. Fast – er sollte nicht träumen. Er wusste, dass die reichen Familien versuchten, ihre Söhne und Töchter freizukaufen, damit sie nicht nach Nangog mussten. Es wurde immer schwieriger, neue Rekruten für die nicht enden wollenden Feldzüge zu finden.

Nodon hatte ihm erzählt, dass Nandalee in den Norden geschickt worden war, um Kämpfer unter den Elfenvölkern der Normirga und Maurawan anzuwerben. Ein Unterfangen, das der Schwertmeister für aussichtslos hielt. Die eigenbrötlerischen Jäger und Krieger der beiden Völker kamen entweder freiwillig, oder sie kamen gar nicht.

Tief in Gedanken versunken, sah Solaiyn den abrückenden Truppen nach. Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen, als ihn ein plötzlicher Schmerz zusammenzucken ließ. Der Goldene! Er war wieder in ihm, sah durch seine Augen … Der Feldherr wusste, dass sich die Himmelsschlangen versammelt hatten, um über die nächsten Schlachten zu beraten. Wenn sie hier mit ihnen kämpfen würden, mochte der Krieg eine Wende zum Guten nehmen. Beratungen halfen nicht! Solaiyn war sich bewusst, dass der Goldene seine Gedanken wahrnahm, wenn er in ihm war. Sollte er nur! Es war die Wahrheit, dass sie diesen Krieg schon bald verlieren würden, wenn die Himmelsschlangen nicht mithalfen, eine Entscheidung herbeizuführen.

Solaiyn keuchte. Der Schmerz stach wie glühende Dolche in seinen Kopf. Plötzlich sah er nichts mehr. Aloki war an seiner Seite und stützte ihn. Es geschah nicht jedes Mal, dass seine Welt in Dunkelheit versank, wenn der Goldene sich seiner Augen bemächtigte. Vielleicht bestrafte ihn der Drache ja.

»Es ist an der Zeit, dass auch wir gehen«, flüsterte die Schlangenfrau.

Er hielt sich eng an ihrer Seite. Er war schon oft mit ihr auf den Goldenen Pfaden gegangen. Sie gab ihm das Gefühl von Sicherheit. Obwohl all seine anderen Sinne schärfer wurden, wenn er erblindete – als versuchte sein Leib, auf diese Weise auszugleichen, was ihm fehlte –, fühlte er sich ohne sie hilflos. Er spürte die warme Haut der Schlangenfrau. Sie hatte einen festen Leib. Manchmal stellte er sich vor, sie zu verführen. Dass seine Hände ihren Körper erkundeten, überall, auch an den verborgensten Stellen. Ihr haftete ein Duft an, der ihn erregte.

Um sich abzulenken, dachte er an die Heimkehr ins Feldlager in Albenmark. Vielleicht brauchten die Himmelsschlangen einige Tage, um die Truppen neu zu organisieren und die Verluste zu ersetzen. Falls sie Verstärkungen gefunden hatten … Es wäre schön, eine Woche in einem seiner Paläste zu verweilen. Mit Aloki …

Er spürte das Prickeln des machtvollen Zaubers, der das Tor zum Goldenen Netz geöffnet hatte. Sie schritten durch das Tor. Instinktiv drückte er sich ein wenig enger an die Schlangenfrau. Ein falscher Schritt, und er würde in die endlose Finsternis stürzen.

»Diesmal ist es ein langer Weg«, erklärte sie ihm. »Ein Stück vor uns gehen die Riesen. Trotz der Dunkelheit kann ich sie sehen.«

Solaiyn mochte es, wenn sie versuchte, ihm durch Worte die Bilder zu ersetzen, die seine Augen ihm nicht mehr schenkten.

»Die Zwerge treten hinter uns auf den Pfad. Ihr Heermeister führt sie an.«

Der Fürst war froh, dass sie ihn fest untergehakt hielt. Dieser Weg durch das Nichts war von einer seltsamen Beschaffenheit. Es fühlte sich an, als würde man über eine weiche Matratze schreiten. Jetzt, da er blind war, spürte er umso deutlicher, wie unsicher der Grund war.

»Wir nähern uns der ersten Kreuzung«, erklärte Aloki. »Der Albenstern hinter uns hat sich geschlossen. Das Licht am Ende des Pfades ist verschwunden. Du hast es geschafft, dein Heer ist in Sicherheit.«

Er spürte das machtvolle Pulsieren, dort, wo sich vor ihnen mehrere Albenpfade kreuzten. Drei Albensterne wie diesen würden sie überqueren, bevor sie ihr Tor nach Hause erreichten. Solaiyn hatte das Gefühl, dass der Pfad unter seinen Füßen leicht vibrierte. Er war nichts als Magie. Es gab hier nirgends festen Untergrund. Das Nichts war, wie der Name schon sagte, die Abwesenheit alles Stofflichen. Der vermeintliche Pfad, auf dem sie dahinschritten, war gebündelte Magie. Ein Kraftfeld, das der Wille der Alben erschaffen hatte. Gab es etwas Fragileres als Willen?

Solaiyn lächelte. Es war dumm, sich solche Gedanken zu machen. Er hatte unzählige Male die Albenpfade überquert. Es gab keinen Grund … Da war etwas. Ein fremdes Schwingen. Es kam von außerhalb des Weges. Von dort, wo nichts hätte sein dürfen.

»Aloki! Was ist links von uns?«

»Dunkelheit.« Sie klang überrascht.

Solaiyn spürte, wie sich die Hand der Schlangenfrau fester um seinen Oberarm schloss. »Ich sehe etwas. Eine geflügelte Frau! Sie kommt …«

Ein machtvoller Stoß riss den Fürsten von der Schlangenfrau los. Er taumelte, trat über den Rand des Pfades und stürzte.

Unentschieden

Der Goldene schnappte nach Išta, hieb mit seinen Klauen auf sie ein – da war nichts! Seine Brüder sahen ihn verwundert an.

Ich habe durch seine Augen gesehen … Er bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Išta und der Löwenhäuptige waren so plötzlich erschienen. Sie hatten Solaiyn ins Nichts gestoßen und die Nachhut seines Heeres angegriffen.

Wir müssen sie retten!

Deshalb also warst du so still, Bruder, bemerkte der Frühlingsbringer tadelnd. Du warst nicht wirklich bei uns. Zumindest nicht mit all deinen Sinnen. Du hast wieder durch die Augen dieses Elfen gesehen.

Wir werden angegriffen! Die Devanthar haben Solaiyns Heer im Nichts aufgelauert. Der Goldene stand immer noch ganz unter dem Eindruck des plötzlichen Angriffs der Geflügelten.

Nicht wir werden angegriffen. Sammle dich, ermahnte ihn der Rote.

Doch, es sind sehr wohl wir, die angegriffen werden, unterstützte ihn der Erstgeschlüpfte.

Der Goldene nickte ihm zu und fuhr fort: Wenn wir Solaiyn und sein Heer verlieren, dann werden wir viele Jahre brauchen, um wieder eine ähnlich kampfstarke Streitmacht aufzustellen. Falls es uns je wieder gelingt … Genau darüber haben wir doch die ganze Zeit gestritten. Unsere Kräfte erschöpfen sich! Die Albenkinder sind kriegsmüde. Wir können unsere Verluste kaum noch ersetzen. Wohingegen die Reserven der Menschenkinder unerschöpflich zu sein scheinen. Ganz gleich, wie viele wir von ihnen töten, sie schicken Nachschub und schließen ihre Reihen. Die Städte, die wir niederbrennen, sie bauen sie wieder auf. Asugar bestand nur noch aus Ruinen, als der Heermeister Hornbori den Sohn der Göttin tötete. Jetzt ist es wieder eine blühende Stadt. Es ist, als versuchten wir, mit einem Sieb einen Ozean leer zu schöpfen.

Seht ihr denn beide nicht, dass die Devanthar genau das wollen?, fragte der Smaragdene ruhig, und der Goldene empfand die Stimme seines Nestbruders wie Balsam in seinen aufgewühlten Gedanken. Dieser Angriff hat nur den einen Zweck, uns in die Falle zu locken.

Und was geschieht, wenn wir nicht gehen? Der Dunkle peitschte aufgewühlt mit dem Schwanz. Wir gestehen unsere Niederlage ein. Wenn wir unsere besten Truppen verlieren, dann endet der Krieg um Nangog schon in dieser Nacht!

Der Goldene sprach ein Wort der Macht und schlich sich erneut in Solaiyns Kopf. Wieder sah er mit den Augen des Elfenfürsten. Solaiyn stürzte nicht, wie man in einen Abgrund stürzt, obwohl er es so empfand. Es war eher ein Abgetriebenwerden, so wie es ist, wenn man in eine Flussströmung gerät.

Nur undeutlich sah der Drache die beiden Devanthar. Sie wüteten unter den Truppen auf dem Goldenen Pfad. Etliche Krieger sprangen lieber ins Nichts, als sich den Devanthar zu stellen.

Der Goldene hatte genug gesehen. Er unterbrach die Verbindung zu Solaiyn und öffnete sich wieder dem Streit, der unter seinen Brüdern herrschte.

Es sind nur zwei!

Seine Nestbrüder sahen ihn an. Der Smaragdene und der Frühlingsbringer zweifelnd. In den Augen des Nachtblauen glomm Kampfeslust. Der Flammende wirkte unentschlossen.

Na und?, sprach der Rote.

So oft hätte unsere Anwesenheit den Unterschied gemacht, wenn unsere Albenkinder für uns in die Schlacht gezogen sind. Die Devanthar verlassen sich darauf, dass wir nicht kommen, um unseren Kriegern zu helfen. Sie haben nur zwei geschickt! Wir können sie überwältigen.

Und wenn die anderen noch verborgen im Nichts lauern?, wandte der Rote ein.

Dann gehen wir eben nicht allein, schlug der Dunkle vor. Der Sturz ins Nichts löst den Verstand schlichterer Gemüter auf. Wir dürfen keine Zeit verlieren, wenn es uns darum geht, unser Heer zu retten oder das, was von ihm noch übrig ist. Rufen wir all unsere Drachenbrüder ins Goldene Netz. Wir brauchen furchtlose Flieger, die sich in die Dunkelheit stürzen und die Verlorenen wieder einsammeln.

Und ich sage dir, Bruder, genau darauf warten die Devanthar, ermahnte ihn der Smaragdene. Lassen wir die Albenkinder sterben! Sie sind nichts als Werkzeuge. Lassen wir den Krieg um Nangog für ein Jahrhundert ruhen und bauen ein neues Heer auf! Jeder, der in dieser Stunde auf den Albenpfaden steht, ist ersetzbar. Doch wir, wir sind es nicht. Jeder von uns, der stirbt, weil wir leichtfertig in eine Falle tappen, wird auf immer fehlen.

Wenn wir heute nicht um Nangog kämpfen, dann werden wir es nie mehr tun!

Die Worte des Dunklen brannten im Kopf des Goldenen. Sein Bruder war entschlossen, den Kampf aufzunehmen.

Dann stimmen wir ab, forderte der Frühlingsbringer. Die einfache Mehrheit genügt. Ganz gleich, wie die Entscheidung ausfällt, wir alle werden sie anerkennen. Ich bin dagegen, in diese Falle zu tappen.

So denke auch ich, bekräftigte der Smaragdene.

Ich lasse unsere Kämpfer nicht im Stich, entschied der Dunkle.

Die Krallen des Goldenen kratzten über den Felsboden der Versammlungshöhle. Es sah nicht gut aus. Nun war er an der Reihe. Ich will ins Goldene Netz und meine Reißzähne in die Kehle Ištas schlagen.

Auch ich will kämpfen, entschied der Nachtblaue. Kehlen zerfetzen hört sich immer gut an.

Voller Sorge sah der Goldene zu den beiden verbleibenden Nestbrüdern. Als Letzter würde der Flammende seine Stimme abgeben. Der Unbeständigste von ihnen, der sich meist den Worten seiner Vorredner anschloss und dessen Überzeugungen etwa so fest gefügt waren wie die Form einer Wolke, an der Sturmwinde zerrten.

Ins Goldene Netz zu gehen ist eine große Dummheit, sagte der Rote überzeugt. Wir tun genau, was die Devanthar von uns erwarten, wenn wir dem Rat des Goldenen folgen. Wir werden mit unseren Leben dafür bezahlen, wenn wir uns von sentimentalen Gefühlen gegenüber ein paar Albenkindern beherrschen lassen. Noch wichtiger jedoch ist, dass wir uns mit unserem Eingreifen gegen die Befehle der Alben wenden würden. Wir dürfen die verbotene Welt nicht betreten! Wollen wir wirklich unsere Schöpfer herausfordern?

Der Goldene hielt den Atem an. Sein Bruder, der Flammende, nickte zu den Worten des Roten. War damit die Entscheidung gefallen?

Im Nichts

Der Hieb kam einfach zu schnell. Nyr wich ein Stück zurück, und dennoch schrammten die Krallen der löwenhäuptigen Kreatur funkenstiebend über seinen Schuppenpanzer. Er wurde nach hinten gerissen und trat über den Rand des Weges hinweg. Erschrocken keuchte er auf, ließ seine Axt fahren und versuchte, nach dem Goldenen Pfad zu greifen, doch es war zu spät. Er trieb ins Nichts. Ein Schrei kam ihm über die Lippen, ungewollt. Er ruderte mit den Armen, strampelte. Es half nichts – er glitt immer weiter ins endlose Dunkel.

Das also war das Ende! Er kämpfte gegen das Grauen an. Gegen die Verzweiflung. Er hatte sich immer vorgestellt, in einem ehrenhaften Kampf zu fallen. Und nun war er beiläufig vom Weg gestürzt. Wut übermannte seine Furcht. Und mit der Wut kam seine Fähigkeit, klar zu denken, zurück. Obwohl er das Gefühl hatte, wie ein Stein in einen bodenlosen Brunnenschacht zu stürzen, entsprach das nicht dem Bild, das sich seinen Augen bot. Der Goldene Pfad war nicht mehr als zehn Schritt entfernt. Und er selbst stürzte nicht senkrecht in die Tiefe, sondern trieb seitlich vom Pfad fort in die Finsternis.

Nyr versuchte es mit Schwimmbewegungen, doch er vermochte es nicht einmal, sich um seine eigene Achse zu drehen. Und natürlich half es auch nicht, mit den Armen zu rudern. Er trieb immer weiter vom Goldenen Pfad ab, ganz gleich, was er auch tat. Und so wie ihm erging es Dutzenden anderen. Sie schwebten in die unterschiedlichsten Richtungen davon.

Ein gellender Wutschrei ließ Nyr zurück zum Goldenen Pfad blicken. Dort griff Galar den Löwenhäuptigen an. Wütend drosch er mit seiner Axt auf den Devanthar ein und schaffte es, den Gott einen Schritt zurückzudrängen.

Nyr hielt den Atem an.

Die Klauen des Löwengottes fuhren nieder. Dem Schmied wurde die Axt aus der Hand geprellt. Er wurde an der Schulter getroffen. Krallen durchschlugen sein Kettenhemd und zerfetzten die Eisenringe. Dann hob der Löwenhäuptige seinen Freund mit einem wilden Brüllen hoch empor und schleuderte ihn ins Nichts hinaus.

Eine Spur unregelmäßiger, seltsam wabernder Blutstropfen folgte Galars Weg. Er trieb viel schneller davon als Nyr. Vielleicht lag es an der Wucht, mit der der Gott seinen Freund hinaus ins Dunkel geworfen hatte.

Wieder ruderte Nyr mit den Armen. Es geschah nichts! Er blieb auf der Bahn, die ihn in langsamem Flug von der Schlacht fortführte. Und mit jedem Atemzug entfernte sich Galar weiter von ihm.

Er hörte den Schmied fluchen, den feigen Katzenkopf verdammen. »Komm her und kämpf wie ein Mann mit mir, Pissmähne! Oder hast du Angst vor meinen Fäusten?«

Der Gott ignorierte Galar, der schließlich aufgab und seine Hand auf die Wunde an der Schulter presste.

Erschüttert sah Nyr, wie sich die beiden Devanthar immer weiter über den Goldenen Pfad vorarbeiteten. Es schien, als wäre es ihnen wichtiger, die Albenkinder ins Nichts zu stürzen, als sie zu töten. Immer mehr ihrer Krieger schwebten hilflos in der großen Dunkelheit. Sie würden verdursten, an ihren Wunden langsam verbluten oder vom Entsetzen, das das endlose Nichts jeder Seele einflößte, in den Wahnsinn getrieben werden. Die Götter der Menschen waren grausam! Sie gewährten ihnen nicht die Gnade eines schnellen Todes.

Nyr entdeckte unter sich zwischen den treibenden Kriegern auch Hornbori. Ihr Heermeister war eine auffällige Erscheinung. Er trug einen prächtigen Helm, der mit goldenen Adlerschwingen geschmückt war, und einen scharlachroten Umhang, der nun, da er im Nichts schwebte, wie eine Fahne hinter ihm wogte. Er war der Einzige weit und breit, der einen Umhang angelegt hatte. In der stickigen Hitze vor Temil war jedes unnötige Kleidungsstück nur eine Qual. Krieger, die nicht kämpfen mussten, hatten im Lager kaum mehr als einen Lendenschurz getragen. Etliche der Kobolde und die über und über tätowierten Minotauren waren sogar ganz nackt herumgelaufen. Nur Hornbori stellte das Bedürfnis, seinen Rang durch angemessene Kleidung zu zeigen, stets über sein Bedürfnis nach Bequemlichkeit. Galar nannte ihn deshalb einen eitlen Stutzer. Aber Hornbori war mehr als das. Auch wenn der Schmied es nie zugeben würde: Hornbori war ein Held! Die meisten Krieger, die ins Nichts gestürzt waren, schrien vor Entsetzen oder strampelten mit Armen und Beinen. Hornbori tat nichts dergleichen. Er hatte die Arme vor der Brust überkreuzt und war ganz ruhig. Eben ein Held, der gefasst seinem Schicksal entgegensah.

Ihr Feldherr vertraute offensichtlich darauf, gerettet zu werden! Sie sollten sich ein Beispiel an ihm nehmen, dachte Nyr aufgewühlt. Allein Hornbori mit seiner kalten Ruhe zu sehen gab ihm neuen Mut.

Sie würden hier herauskommen! Galar irrte sich in dem Heermeister. Hornbori war alles Erdenkliche, aber ganz gewiss kein Schisser!

Eine Göttin verführen

Hornbori war wie versteinert vor Entsetzen. Als diese schreckenerregende gefiederte Frau plötzlich aufgetaucht war, hatte er natürlich nicht nach seiner Axt gegriffen. Nur ein Narr legte sich mit Göttern an. Er hatte stattdessen die Arme über der Brust gekreuzt und versucht, sich vor diesem Flügelweib zu verbeugen. So hatte er es auf Wandreliefs der Menschenkinder gesehen. Es schien eine übliche Geste der Demut zu sein, wenn die Götter vor sie traten.

Leider hatte es nicht geholfen. Die Geflügelte hatte ihn mit einem Tritt in den Abgrund jenseits des Goldenen Pfades befördert. Wie einen Hund, der einem schnuppernd hinterherlief. Sie hatte nicht einmal ihre Waffe gegen ihn erhoben. Es war so schnell gegangen, dass er kein einziges Wort über die Lippen gebracht hatte.

Jeden Augenblick würde er auf etwas aufschlagen. Niemand wusste, was sich in der Dunkelheit neben den Goldenen Pfaden verbarg. Sicher scharfkantige Felsen, auf denen er zerschmettert würde. Allein der Gedanke daran erfüllte ihn mit kalter Furcht, die all seine Glieder durchströmte, als wäre er in Eiswasser gestürzt. Er war wie versteinert vor Entsetzen, ja, er konnte nicht einmal seine Panik hinausschreien. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und er glaubte an den Entsetzensschreien ersticken zu müssen, die von seiner Angst eingekerkert wurden.

Sieben lange Jahre war er als Heermeister in unzählige Schlachten gezogen. Und obwohl seine Männer in Scharen um ihn herum gestorben waren, war es ihm dank größter Anstrengungen immer geglückt, unbeschadet davonzukommen und zugleich wie ein Held dazustehen. Nun erwischte es ihn also doch noch. Dabei war er schon fast in Sicherheit gewesen … Hornbori hatte viele Geschichten über das Sterben gehört. Schließlich half es, gut informiert zu sein, wenn man dem Tod aus dem Weg gehen wollte. Alles um ihn herum schien langsamer geworden zu sein. Der Tod gab ihm noch ein bisschen Zeit, um seine Angst voll und ganz auskosten zu können. All die anderen Zwerge, die er sah, stürzten träge. Es war mehr so, als würden sie durch Wasser langsam auf den Grund eines finsteren Ozeans sinken. Er sah den dicken Ulur. Er schrie sich die Lunge aus dem Hals. So hatte sich der Schiffsführer seinen Abgang gewiss nicht vorgestellt.

Und da war noch etwas. Eine bedrohliche Gestalt mit Haaren, die in dicken Strähnen über die Schultern wogten. Eine Göttin, halb nackt und bewaffnet mit einem langen Speer, auf dem ein mächtiges Schwertblatt steckte. Sie stürzte nicht, sie flog, obwohl sie keine Flügel besaß! Dieses Miststück stach die Todgeweihten mit ihrer Klinge an und lachte! Jetzt hatte sie ihn entdeckt. Sie deutete mit der Spitze ihrer Waffe auf ihn. Und nun erkannte Hornbori, was mit ihrem Haar los war. Das waren keine dicken Strähnen! Der Göttin wuchsen lebende, sich windende Schlangen aus dem Kopf. Und sie hatte sich ihn als ihr nächstes Opfer auserkoren!

Plötzlich war die eisige Lähmung vergessen. »Du machst einen Fehler«, stammelte er, als sie nur noch wenige Schritt von ihm entfernt war. Sie musste ihn doch verstehen können, auch wenn er keine Sprache der Menschenkinder beherrschte. »Setzt mich auf den Weg, und ich verrate dir, wer unser Heerführer ist. Den wollt ihr doch sicher gefangen nehmen. Wenn ihr ihn ein wenig foltert, wird er ganz bestimmt jede Menge interessante Dinge erzählen können. Er ist ein Elfenfürst …«

»Du musst der Heermeister Hornbori sein!« Obwohl die Göttin mit seltsamer Satzmelodie sprach, konnte er ihre Worte klar verstehen. Sie nahmen ihm jedoch nicht seine Angst. Einige der Vipern auf ihrem Haupt hatten die Mäuler weit aufgerissen und zischten ihn an. Dabei sah er das Gift von ihren nadelspitzen Zähnen tropfen. »Ich habe gehört, du hast den Sohn der Göttin getötet. Den Meerwanderer.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Das war überaus freundlich von dir. Er hat etliche unserer Schiffe auf den Meeresgrund gezogen. Ein Mann wie du sollte wirklich keine Gelegenheit mehr haben, gegen unsere Krieger zu kämpfen. Es heißt, du allein ersetzt hundert Daimonen. Aus Respekt vor deinem Mord am Meerwanderer werde ich gnädig zu dir sein.« Sie lächelte ihn an.

Abgesehen von den Schlangen war sie nicht hässlich, ging es Hornbori durch den Kopf. Vielleicht sollte er die Sache ja ganz anders angehen. »Habt Ihr Erfahrung in der Minne, meine Holde?« Er bedachte sie mit einem Lächeln, das er hundertfach auf Siegesfeiern erprobt hatte. Ein Lächeln, dem kaum eine Zwergin widerstand.

Die Augen der Devanthar weiteten sich.

Es klappte, dachte Hornbori erleichtert. So fing es immer an. Jetzt noch ein Blick, der Frauenherzen dahinschmelzen ließ. »Ihr habt wirklich sinnliche Lippen …«

Die Stirn der Devanthar kräuselte sich. »Das ist nicht dein Ernst, Zwerg.« Sie lachte auf. »Glaubst du wirklich, ich würde mir so einen Halbmann ins Bett holen? Da könnte ich mich ja auch gleich auf Langarm einlassen.« Ihr Blick verdüsterte sich. Ihre Schlangen richteten sich auf und fauchten ihn an.

»Meine Gnade wird es sein, dir nur die Arme abzuhacken, du Held!« Ihr Speer schnellte vor.

Hornbori stieß einen gellenden Schrei aus. Im Reflex riss er die rechte Hand hoch, seine berühmte Drachenfaust. Das Speerblatt traf ihn mit einer Wucht, die ihm das Handgelenk brach, doch vermochte die Götterwaffe den flachen Handteller, auf den sie getroffen war, nicht einmal zu ritzen. Er wurde weggestoßen. Trieb durch die Wucht des Aufpralls davon.

Die Göttin sah ihm verwundert nach. »Diese Hand werde ich mit mir nehmen«, sagte sie ernst, hob erneut ihre Waffe und nahm die Verfolgung auf.

Der letzte Schuss

»Bei den Alben!«, keuchte Nyr.

Da war etwas Großes draußen im Dunkel. Erst sah er nur die Ahnung einer Bewegung. Dann manifestierte sich ein Schatten in der Finsternis. Ein Drache! Einer von den riesigen Roten, von denen er zwei während der Kämpfe um Asugar getötet hatte. Sie waren seit Jahren nicht mehr in die Schlacht gezogen. Hinter ihm folgte ein zweiter, ein dritter, und dort waren Quarzaugen! Diese Drachenart kannte Nyr nur aus den Bestiarien, die er in den letzten Jahren studiert hatte. Tückische, kleine Biester mit einem Körper etwa so groß wie ein Stierleib. Ihre Augen sahen aus wie Quarzkristalle. Auf gelbweißen Schwingen glitten sie aus dem Dunkel und griffen sich die vom Weg Gestoßenen. Warum konnten sie hier fliegen? War das ihrer Magie geschuldet? Quarzaugen galten als heimtückische Zauberweber, die zu jagen extrem gefährlich war. Und sie kamen jetzt als Retter? Das fühlte sich falsch an. Und doch war Nyr froh, sie zu sehen. Sie …

Er traute seinen Augen nicht. Inmitten des Schwarms von Quarzaugen flog ein riesiger Drache, dessen Schuppen wie poliertes Gold strahlten. Ja, sie schienen von innen heraus zu leuchten. Wo er war, wich die Finsternis. Der Goldene! Der Zweitgeschlüpfte unter den Himmelsschlangen!

Er war einer der Acht, die entschieden hatten, dass die Tiefe Stadt zerstört wurde. Nyr tastete nach dem Lederriemen, an dem seine Armbrust über seinem Rücken hing. Der Goldene … In all den Jahren waren Galar und er nie in die Lage gekommen, unbemerkt auf eine der Himmelsschlangen schießen zu können. Manchmal hatten sie die großen Drachen von ferne gesehen. Aber sie zeigten sich nicht auf einem Schlachtfeld.

Der Goldene glitt langsam durch das Nichts. Wachsam spähte er in die Dunkelheit. Er rettete niemanden, das überließ er den niederen Drachen.

Die Armbrust glitt in Nyrs Hand. Mit der Linken tastete er nach der breiten Lederkappe, die den Bolzenköcher an seiner Seite verschloss. Ein einziger Drachentöterbolzen war noch übrig. Galar hatte ihm das Geschoss vor drei Jahren überlassen, weil Nyr der bessere Schütze von ihnen beiden war. Damals hatten sie sich feierlich geschworen, dass sie diesen Bolzen für eine Himmelsschlange aufheben würden. Nun war der Augenblick gekommen, ihn zu nutzen.

Nyrs tastende Finger erkannten die Befiederung des Bolzens. Unzählige Male hatte er das Geschoss in Händen gehalten und davon geträumt, auf einen der Mörder anzulegen. Sachte legte er den Bolzen auf die Führungsschiene der Armbrust und begann, die Kurbel zu drehen. Noch immer hatte er das Gefühl zu stürzen, obwohl er nur langsam vom Goldenen Pfad forttrieb.

Der riesige Drache glitt zwischen den Gestürzten hindurch, ohne einen einzigen von ihnen zu berühren. Jetzt entdeckte Nyr eine zweite Himmelsschlange. Sie hatte leuchtend rote Schuppen. Und dahinter flog eine dritte Himmelsschlange von hellem Lindgrün. Waren sie etwa alle gekommen?

Die alten Drachen flogen etwa zweihundert Schritt über ihm. Alle hatten sie ihre Köpfe in Richtung des Pfads aus Licht gereckt. Von ihm nahmen sie keine Notiz. Perfekt!

Die Kurbel der Armbrust blockierte. Die Sehne war gespannt. Er hob die Waffe zum Schuss, als irgendwo unter ihm ein gellender Schrei erklang. Hornbori! Diese Stimme hätte er unter Hunderten erkannt. Nyr blickte hinab und sah, wie der Heermeister gegen eine Devanthar kämpfte. Mit bloßer Hand blockte er den Speer, der auf sein Herz zielte.

Hornbori glitt davon, doch dieses Biest setzte ihm nach. Sie würde ihn aufspießen! Ihn, den größten Helden der Zwerge! Das durfte nicht sein!

Nyr senkte seine Waffe und peilte über die Führungsschiene. Er würde seinen feierlichen Eid brechen, dachte er bedrückt. Dann zog er ab.

Davongekommen

Die Stirn der Göttin riss auf. Hirn spritzte Hornbori ins Gesicht.

»Heilige Albenscheiße!«

Die Devanthar sah mit glasigen Augen auf ihn herab. Sie kippte nicht um. Sie schwebte nach wie vor dicht vor ihm. Fast mit derselben Geschwindigkeit wie er. Nein, ein klein wenig schneller. Sie kam näher. Ihre Schlangen wanden sich, zischelten, reckten sich vor und versuchten, ihn zu beißen.

Hornbori griff nach der Axt an seinem Gürtel. Schlangen! Dem fühlte er sich gewachsen. »Kommt her, ihr Kriecher! Euch mach ich zu Hackfleisch!« Wütend drosch er in das angewachsene Schlangennest auf dem Kopf der Göttin. Binnen weniger Augenblicke trieben abgetrennte Schlangenleiber davon.

Brennendes Gift spritzte ihm über die Finger. Er ignorierte den Schmerz, schlug einfach immer weiter auf die Devanthar ein, und seine Axt machte ihrem Namen alle Ehre.

Er war davongekommen, dachte er erleichtert, als er schließlich die Waffe sinken ließ. Wieder einmal!

Ein wunderbarer Plan

»Die Sturmruferin ist tot!«, rief Langarm schockiert.

Der Gefiederte spürte das Entsetzen seiner Brüder und Schwestern. Sie waren Götter! Wie hatte es geschehen können, dass ihre Schwester gestorben war?

»Gewiss sind Himmelsschlangen gekommen«, stieß Langarm panisch hervor.

»Schweig!«, befahl ihm der Gefiederte. Solch Geschwätz war das Letzte, was sie nun brauchten. Sie alle hatten sich im Nichts versammelt, außer Sichtweite des Goldenen Pfades, über den das Heer der Albenkinder zog. Ihr Plan war ebenso einfach wie brillant. Sie stießen Hunderte Albenkinder ins Nichts. Natürlich hätten sie sie auch töten können, aber es ging hier nicht um ein paar Elfen und Zwerge – sie hofften darauf, dass die Himmelsschlangen magiebegabte Drachen schickten, um ihre Krieger zu retten. Drachen, die es vermochten, im Nichts zu fliegen. Die sich frei bewegten, wo einfachere Kreaturen verloren waren. Und sie würden diese Drachen töten. Alle! Seit Jahren hatten die Himmelsschlangen ihre niederen Brüder aus den Kämpfen herausgehalten. Sie waren ihre Reserve für die letzte Schlacht. Und nun würden sie diese Reserve vernichten.

»Die Sturmruferin ist tot!«, wiederholte Langarm seine Litanei. »Die Himmelsschlangen sind hier.«

»Bleib ruhig, Bruder. Sie haben sich noch nie in die Kämpfe eingemischt«, wandte das Lebende Licht ein.

Der Gefiederte hatte seinen Bruder, der sich so gerne als Lichtgestalt zeigte, nie sonderlich geschätzt. Er hielt ihn für überspannt, verweichlicht und den falschen Zielen zugewandt. Aber jetzt tat er endlich einmal das Richtige und half ihm. Es war eine verdammte Plage, alle dazu zu bringen, gemeinsam zu handeln. Es gab zu viele Intrigen, zu viele selbstverliebte Individualisten, zu …

Deutlich spürte der Gefiederte die fremde Macht, die nahte. Viele Präsenzen. Er spürte auch die Anspannung seiner Brüder und Schwestern. Er erhob die Stimme:

»Wir alle haben einen Plan gefasst. Und dieser Plan war gut! Lasst ihn nun Wirklichkeit werden! Niederlagen beginnen meist damit, von seinen einmal gefassten Vorsätzen wieder abzulassen. Gehen wir Drachen töten! Rächen wir unsere Schwester!« Ohne sich umzusehen, ohne ihnen Zeit für weiteres Wortgeplänkel zu lassen, flog er dem Albenpfad entgegen. Es war leicht, sich im Nichts zu bewegen. Man brauchte nur den Willen und ein wenig Zauberweberei.

Er freute sich auf den Kampf. Endlich hatten nicht nur Išta und der Löwenhäuptige ihren Spaß. Er hatte nicht verstanden, warum die beiden die Sturmruferin mitgenommen hatten. Sie war nie wirklich eine Kriegerin gewesen. Vielleicht war sie auf einige Drachenelfen gestoßen? Sie waren alle mit verwunschenen Klingen bewaffnet und konnten selbst einem Devanthar gefährlich werden.

Der Gefiederte näherte sich dem breiten Goldenen Pfad. Flüchtende Heerscharen zeichneten sich als Schatten darauf ab. Und dann sah er einen fahlgelben Drachen. Ein Hochgefühl überkam ihn. Er war ein Jäger, und solche Beute hatte er sich schon immer gewünscht! Der Devanthar fasste seinen Speer fester und beschleunigte seinen Flug. Vor Freude wie ein Adler schreiend, stürzte er auf den Drachen nieder, der in seinen Krallen einen Zwerg trug. Die Bestie versuchte auszuweichen, doch in elegantem Bogen folgte er ihrer Fluchtbewegung. Er umkreiste sie halb, zog die Beine an, als ein gieriges Drachenmaul nach ihnen schnappte. Dann schleuderte er seinen Speer. Die lange Spitze bohrte sich in eines der seltsamen Augen des Drachen. Wie klares Glas sahen sie aus, ganz ohne dunkle Pupille. Das Speerblatt zerteilte das vermeintliche Glas und verschwand tief im Kopf des Drachen, der im Todeskampf, von einem Krampf geschüttelt, den Zwerg zerquetschte, den er getragen hatte.

Zwei auf einen Streich, dachte der Gefiederte zufrieden, rief ein Wort der Macht und ließ den Speer zurück in seine Hand schnellen.

Einige seiner Brüder und Schwestern zogen es vor, sich auf die Albenkinder auf dem Goldenen Pfad zu stürzen. Für sie hatte er nichts als Verachtung übrig. Es war unwürdig, sich an Gegnern zu messen, die derart unterlegen waren. Er wollte jetzt einen großen Drachen. Einen Räuber, der über Jahrhunderte an Erfahrung verfügte. Er flog ein Stück den Weg entlang, lauschte dem Geschrei und genoss die Panik unter ihren Feinden. Viele Albenkinder sprangen jetzt freiwillig ins Nichts.

Plötzlich sah er Išta. Neben ihr schwebte der Löwenhäuptige. Beide winkten ihm zu.

»Wir haben uns geirrt!«, rief die Geflügelte. »Sie sind gekommen! Sieh nur! Dort!« Sie deutete mit ausgestrecktem Arm voraus. »Einer von ihnen – er ist noch zu weit entfernt. Benutze dein Verborgenes Auge, dann wirst du ihn sehen.«

Išta hatte recht. In der magischen Welt sah ihn nun auch der Gefiederte ganz deutlich. Die Aura der Himmelsschlange überstrahlte alles in seiner Nähe. Er war wie ein Mond unter Sternen. Gewaltig! Und er kam auf sie zu.

»Ich glaube, seine Brüder sind mit ihm gekommen«, knurrte der Löwenhäuptige. »Ich spüre sie. Sie sind weiter oben am Weg. Näher beim nächsten Albenstern.«

Der Gefiederte spürte nichts, aber er vertraute dem Löwenhäuptigen. Er verabscheute den rebellischen Unsterblichen, den sein Bruder sich erwählt hatte, doch davon abgesehen war er ein guter Jäger. Besser als die meisten; er hatte die Instinkte eines Raubtiers.

»Schnappen wir uns den Einzelgänger«, schlug Išta vor. »Fliegen wir zu ihm, packen ihn und springen zu dem Albenstern, durch den wir hierhergekommen sind. Dort können wir ihn in aller Ruhe abstechen, ohne dass seine Brüder ihm zu Hilfe kommen werden.«

Der Gefiederte dachte daran, wie er mit Išta und Langarm gegen den Purpurnen gekämpft hatte. Sein Bruder war dabei so schwer verwundet worden, dass ihm die Lust auf einen zweiten Kampf mit einer Himmelsschlange für alle Zeiten vergangen war. Auch wenn sie den großen Drachen von seinen Nestbrüdern trennten, würde es ganz gewiss nicht einfach werden, ihn abzustechen.

»Tun wir es«, entschied der Löwenhäuptige und flog mit Išta der Himmelsschlange entgegen. Kurz zögerte er, verärgert, dass die beiden nicht auf seine Entscheidung gewartet hatten. Dann folgte er ihnen doch. Er wollte nicht als Feigling dastehen. Zugleich spürte er die Panik der anderen Devanthar. Sie alle konnten nun spüren, dass nicht nur gewöhnliche Drachen, sondern auch die Drachengötter Albenmarks gekommen waren. Langarms panisches Geschwafel hatte sich als wahrhaftig gewordene Prophezeiung erwiesen.

Seine Brüder und Schwestern waren keine Feiglinge, doch schreckten sie davor zurück, unerwartet in den Kampf mit fast ebenbürtigen Gegnern zu treten. Ihr wunderbarer Plan war dabei, sich in eine katastrophale Niederlage zu verwandeln. Nur Mut konnte das noch ändern.

Der Gefiederte schloss das Verborgene Auge. Jetzt war die Himmelsschlange zu erkennen. Der Drache war vom Grün junger Frühlingstriebe. Auch er hatte sie entdeckt und begrüßte den Löwenhäuptigen, der ihm am nächsten war, mit einem Flammenstrahl. Sein Bruder wich den Flammen fast aus. Nur seine Mähne fing Feuer. Einen Herzschlag nur, dann erstickte ein Wort der Macht die Flammen.

Während Išta und der Löwenhäuptige versuchten, nach den Enden der Drachenschwingen zu greifen, hielt der Gefiederte auf den langen, schlangenhaften Hals des Ungeheuers zu.

Der Drache drehte sich um seine eigene Achse und versuchte, sie abzuschütteln. Dabei traf ein Schwanzhieb Išta. Die scharfen Schuppen zerfetzten ihr Gewand.

Diesen Moment nutzte der Gefiederte, streckte sich und berührte den Hals der Bestie. Zugleich wich er vor dem Kopf zurück, der sich zu ihm herabbeugte. So gelenkig der Drache auch war, vermochte er seinen Hals doch nicht so weit zu krümmen, dass die Fangzähne ihn erreichten.

»Jetzt!«, rief der Löwenhäuptige mit Donnerstimme.

Der Gefiederte umschlang mit beiden Armen den Drachenhals, vermochte ihn jedoch nicht einmal zur Hälfte zu umfangen. Fest dachte er an jenen Albenstern, an dem sie in das Nichts getreten waren, und sprach ein Wort der Macht. Es fühlte sich an, als würde ihn eine unsichtbare Riesenhand packen und ihn davonschleudern. Einen Lidschlag lang glaubte er, es müsse ihn zerreißen und sein Innerstes würde sich nach außen kehren. Dann war es vorbei. Er spürte die magischen Schwingungen des nahen Albensterns. Das kraftvolle Pulsieren.

Die Himmelsschlange bäumte sich auf. Sie stieß einen wilden Schrei aus.

Der Gefiederte konnte sich nicht länger an den glatten Schuppen halten. Er wurde davongeschleudert. Er sah, wie der Drache mit seinen Klauen auf den Löwenhäuptigen losging, der mit Zaubermacht einen Schild herbeirief, um sich zu schützen. Doch der Drachenzorn zerfetzte das Metall, und sein Bruder trug tiefe Wunden davon.

Išta versuchte, der Himmelsschlange ihren Speer in die Seite zu rammen, wurde aber von einem Flügelschlag weggefegt.

Der Gefiederte hob seine Waffe und schleuderte sie voller Zorn. Wütend rief er ein Wort der Macht, um den Flug seines Speers kraft seines Willens zu lenken. Die Waffe beschrieb einen weiten Bogen und raste auf die Drachenbrust dicht unterhalb des Halsansatzes zu. Die Spitze des Speers erglühte durch die zornbebende Zaubermacht.

Augenblicklich reagierte der Götterdrache. Er spie ein Wort der Macht, und der Gefiederte spürte, wie sich die Echse der Magie bediente, die durch den nahen Albenstern floss, um seinen Zauber zu stärken.

Hunderte lindgrüne Schuppen lösten sich vom Drachenleib, sodass es aussah, als zerrte ein plötzlicher Sturmwind das Laub von einem Frühlingsbaum. Sie warfen sich dem Speer entgegen, ließen sich aufspießen und durchbohren, um den Flug der Waffe aufzuhalten.

Ihr Duell war zu einem Kampf des Willens geworden. Auch der Gefiederte griff nun nach der Zaubermacht, die das Goldene Netz erfüllte, und lenkte sie in seinen Speer. Er musste sein Ziel finden, durfte sich nicht aufhalten lassen. Unerbittlich durchdrang er Schuppe um Schuppe.

Eine neue Nuance wandelte die Magie des Drachen. Weitere Schuppen rissen von seinem Leib. In torkelndem Flug, gleich dem von Schmetterlingen, rasten sie dem Gefiederten, aber auch den beiden anderen Devanthar entgegen. Schon erreichte die erste von ihnen ihr Ziel. Auch wenn sie für den flüchtigen Beobachter wie Falter aussahen, waren es doch immer noch Drachenschuppen. Sie streiften das Antlitz des Gefiederten und zogen tiefe Schrammen über seine Wangen. Im Reflex schloss er die Augen.

Dann folgten Hunderte von ihnen. Sie zerfetzten sein Federkleid, zerschrammten seinen Schnabel und schlitzten seine Augenlider, als er sie schloss, um sich vor dem Sturm der messerscharfen Schuppen zu schützen.

Er hörte das Schmerzensgeheul Ištas und die Flüche des Löwenhäuptigen. Erbarmungslos zerfetzten die Schuppen sein Gefieder, schnitten in sein Fleisch – doch er schwieg.

Er könnte die Schmerzen beenden. Er müsste seine Macht nur nutzen, um sich zu verteidigen, statt anzugreifen. Doch das wollte er nicht. Er wollte siegen. Um jeden Preis! Also verdrängte er den Schmerz und konzentrierte sich ganz und gar auf den Speer. Er drückte ihn vorwärts, gegen den Sturm aus Schuppen, gegen den Willen der Himmelsschlange, und er spürte, wie die Spitze der Waffe das Fleisch des Drachen berührte, wie der glühende Stahl eindrang, wie das Drachenblut zu kochen begann und als heißer Dampf aus der Wunde austrat.

Sein eigenes Gesicht war inzwischen bis auf die Knochen abgeschält. Sein Schnabel nur noch ein trauriger Stumpf. Die Schuppenschmetterlinge zerschnitten seine Augen, bis glasiger Gallert aus den Augenhöhlen trat. Der Schmerz überschritt jedes Maß, das er gekannt hatte. Der Drache oder er. Nur wenige Herzschläge trennten sie beide vom Tod. Die Schuppen schrammten über den Knochen seines Schädels.

Er war ein Gott, er hatte die Welt der Menschen erschaffen! Er würde auch sich neu erschaffen, wenn er weiterlebte. Es war so verlockend nachzugeben. Ein Gedanke und ein geflüstertes Wort und er wäre in Sicherheit.

Gnadenlos trieb sein Wille den Speer tiefer ins Drachenfleisch. Er spürte, wie nah das pulsierende Herz der Bestie war. Und er spürte, wie sein eigenes Herz immer schwächer schlug. Er verlor zu viel Blut. Nicht nachgeben, war sein einziger Gedanke!

Der Speer stieß ins Drachenherz. Der mächtige Muskel bäumte sich auf und erschlaffte. Die schneidenden Schuppen fielen von ihm ab, trieben davon ins endlose Nichts. Doch der Schmerz hörte nicht auf. Er zerrte an ihm, wollte ihn hinabziehen in die Dunkelheit des Wahnsinns. Sein Herz pumpte nur noch in schwachen, unregelmäßigen Stößen.

»Wir sind bei dir, Bruder«, hörte er die Stimme Ištas ganz nah. Sie berührte ihn, und seine Pein steigerte sich in neue, nie gekannte Höhen. Er war nur noch Schmerz. Und ein letzter Gedanke.

Er gehört mir!, ließ er seine Stimme im Kopf seiner Schwester erklingen. Bringt ihn zum Blutteich. Er wird für immer mein sein.

Umme

»Priester, schafft die Scherben heran!«, befahl Solomon, der Erste Hüter des Lichtes, mit Donnerstimme.

Ilmaris Herz schlug schneller. Dies war die Stunde, die über Gedeihen und Verderben entschied. Er hatte sich gedemütigt und war am Morgen zum Hohepriester von Tiefwasser gegangen. Er hatte ihn angebettelt, seiner Frau zu helfen, ein einziges Mal dem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Der fette Priester war unerbittlich geblieben. So war ihm nichts geblieben, als auf das Scherbengericht zu hoffen. Auf die Gnade der Götter, die sich schon zwei Mal als grausam erwiesen hatten.

Ein kahlköpfiger Priester stand vor ihm und hielt ihm einen Krug voller Scherben hin. Sie hatten die Zeremonie vor ein paar Jahren geändert. Es wurde kein Scherbenhaufen unter Solomons marmorner Kanzel mehr aufgeschüttet, seit es wiederholt zu Tumulten sich streitender Sippen gekommen war. Der Erste Hüter des Lichts duldete nichts, was die Heiligkeit dieses Augenblicks störte. So mussten die Unglücklichen, die hierherkamen, nun blind ihre Scherben aus Tonkrügen ziehen.

Ilmari streckte die Hand durch die enge Öffnung des Krugs. Plötzlich war ihm kalt. Alles hing von diesem Augenblick ab. Von der Hand, die niemand im Dorf berühren wollte, weil sie zu viele Tote auf die letzte Reise gebracht hatte. Seine Finger tasteten über die Scherben. Welche würde die Eine sein? Welche würde die Reise ins Licht schenken?

»Mach hin!«, drängte ihn der Priester, der den Krug hielt. Es war ein junger Mann, der seine kalten grauen Augen mit schwarzer Farbe umrandet hatte. Wie alle von Solomons Untergebenen war er kahl geschoren. Nun, zur Zeremonie, hatte er sich Tupfer in allen Regenbogenfarben auf die Glatze gemalt. Trotz seiner Jugend neigte er bereits zur Fettleibigkeit. Die Priester waren die Einzigen in Tiefwasser, die dick waren. Selbst die ärmsten Bauern steckten ihnen regelmäßig Beutel mit Reis, Korn und geräuchertem Fisch zu, um sie sich gewogen zu halten. Alle wussten, dass sie auf kurz oder lang hier auf dem Marktplatz stehen und um ihr eigenes oder das Schicksal ihrer Liebsten bangen würden. So war das gnadenlose Gesetz der verborgenen Städte des Tarkon Eisenzunge.

»Wenn du dich nicht entscheiden kannst, wirst du gar keine Scherbe bekommen.«

»Einen kleinen Augenblick noch«, flüsterte Ilmari demütig. Seine Finger gruben sich tiefer hinab zwischen den Scherben. Das Glück lag nie an der Oberfläche. Es war nie zum Greifen nahe. Er ertastete eine lange, schmale Scherbe. Sie war anders als die anderen. Auffällig – das war gut! Seine Hand schloss sich darum. Er zog sie aus dem Krug, und der Priester schritt grummelnd weiter.

Mehr als siebzig hagere Gestalten hatten sich auf dem Markt versammelt, und Hunderte standen weiter oben auf den Stufen, die den Platz einfassten. Sie alle beteten stumm zur Großen Göttin, hatten ihre Glücksbringer mitgebracht oder ihren Glauben an die alten Götter ihrer Heimat Daia, deren Talismane sie unter den Kleidern verborgen trugen, weil sie Nangog nicht vertrauten.

Ilmari ritzte mit der Spitze seines Messers DIE STUMME in die Scherbe. Er hatte ungezählte Stunden damit verbracht, seiner Frau Namen aufzuzählen, um zu erfahren, wie sie geheißen hatte, bevor Urs ihr die Zunge geraubt hatte. Sie hatte stets nur den Kopf geschüttelt. Es war ein Spiel zwischen ihnen geworden. Er suchte auf jeder seiner Reisen in die anderen Städte nach neuen Namen. Bald war er davon überzeugt, dass es keinen zweiten Mann gab, der so viele Namen kannte wie er. Doch was immer er auch sagte, die Wäscherin schüttelte stets den Kopf. Als ihre kleine Tochter gelernt hatte, die ersten Worte zu brabbeln, nannte sie ihre Mutter Mama oder aber Umme, weil sie »die Stumme« noch nicht aussprechen konnte. Bei diesem Namen blieb Serin, bis sie den Höhlentod starb. Auch ihr jüngerer Bruder Talam übernahm diesen Namen.

Ilmari wusste, dass seine Frau ihn gern gehört hatte, auch wenn er nie aufgegeben hatte, nach ihrem richtigen Namen zu suchen.

Er starrte auf die Buchstaben auf der Scherbe. Vielleicht sollte er Umme aufschreiben? Außerhalb ihrer Familie kannte niemand diesen Namen. Hier im Dorf nannten alle seine Frau die Stumme. Womöglich vertrieb er so das Glück? Er kratzte die ersten Buchstaben fort, bis nur noch UMME auf der Scherbe stand. Leise sprach er den Namen aus, und es wurde ihm leicht ums Herz. Der Name, den ihre Kinder gefunden hatten, würde Glück bringen. Ganz sicher!

Erneut machte der unfreundliche junge Priester seine Runde. Diesmal sammelte er die beschrifteten Scherben in einem leeren Krug ein. Ganz vorsichtig bettete Ilmari sein tönernes Los auf die anderen Scherben.

Wie um ihn zu verhöhnen, schüttelte der Priester den Krug, sodass die Scherben darin krachend aufeinanderschlugen. »Dir klebt das Unglück an den Händen, Totenträger. Wer sich mehr mit Leichen abgibt als mit Lebenden, der steht dem Tod auch stets ein Stück näher als alle anderen.«

Ilmari presste seine Lippen zusammen. Er musste diese dummen Reden schlucken, musste demütig sein. Wenn er sich mit dem Priester anlegte, würde er nur erreichen, dass seine Scherbe aus dem Krug genommen wurde.

Der Priester ging mit einem triumphierenden Lächeln weiter. Wenn er wüsste, wen er beleidigt hatte … Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da wäre Ilmari ihn in der Nacht besuchen gekommen, um ihm die Kehle durchzuschneiden.

Schließlich wurde der Krug zu Solomon hinaufgetragen und auf der breiten Brüstung der Kanzel abgestellt. Der Erste Hüter des Lichts streckte seine Arme feierlich der Sonne entgegen, die einen breiten Strahl klaren Lichts durch die Öffnung in der hoch über ihnen liegenden Höhlendecke hinabsandte.

»Höre mich, Große Göttin«, rief er mit wohltönender Stimme. »Heute wird nur eine Seele aus unserer Mitte deine Gnade erfahren. Zu zahlreich sind deine Feinde am weiten Himmel geworden, sodass der edle Tarkon nur eines seiner Schiffe auf die Reise schicken kann. Zeige deinen demütigen Dienern nun, wer der Würdigste unter ihnen ist.« Mit diesen Worten griff er in den Krug und begann geräuschvoll zwischen den Scherben zu wühlen.

Ilmari betete stumm zu Išta, der er in seinem Leben schon nahe gewesen war. Dabei blickte er angespannt zu Solomon auf. Die Edelsteine auf der goldenen Schmucktafel, die er vor seine Brust gebunden trug, schillerten in allen Farben des Regenbogens. Der Priester sah eindrucksvoll aus. So wie seine Brust vor Licht sprühte, mochte man meinen, die Große Göttin habe ihn berührt. Sicherheitshalber begann Ilmari auch ein Gebet für sie zu murmeln, als Solomon eine Scherbe aus dem Krug zog. Sie war nicht länglich.

Das Herz wurde Ilmari schwer.

»Mikael!«, rief Solomon laut von der Kanzel herab. »Es ist Mikael, den die Göttin in den Himmel aufsteigen lässt!«

Seine Beine vermochten ihn plötzlich nicht mehr zu tragen. Dort wo er stand, ließ er sich auf den gepflasterten Boden sinken. Er war nicht der Einzige, dem es so erging. Die meisten aber verließen stumm den Scherbenplatz.

Nur eine junge Frau schluchzte vor Glück. Ilmari kannte sie vom Sehen. Sie war eine auffällige Erscheinung. Eine Frau mit Haaren wie Gold. Sie und ihr Mann waren die einzigen Drusnier in Tiefwasser.

Solomon stieg von der Kanzel hinab und ging auf sie zu. Väterlich schloss der Priester sie in die Arme und drückte sie. »Ich beglückwünsche dich, Jelena. Deine Gebete sind erhört worden, und ich freue mich für dich. In einer Stunde schon werden meine Priester zu dir kommen, um Mikael abzuholen und auf dem ersten Stück seiner großen Reise zu begleiten.«

»Eure Gebete sind es, die erhört wurden«, stammelte sie dankbar und sank vor Solomon auf die Knie. Sie bedeckte seine Hände mit Küssen.

Er tätschelte ihr über den Kopf, wie man einen treuen Hund tätschelt. »Ich ziehe keine Seele in unserer Gemeinde einer anderen vor. Ich bin sicher, es waren deine Gebete, die deinen Mann zum Auserwählten machten. Nun geh und hilf, ihn auf seine Reise vorzubereiten. Vertue deine Zeit nicht mit mir. Dein Mann wird lange fort sein, und ich bin sicher, es gibt noch vieles, das ihr euch zum Abschied zu sagen habt.«

Wieder küsste sie seine Hand. Dann stand Jelena auf und lief eilends davon.

Solomon schritt weiter und blieb dicht vor Ilmari stehen. Väterlich lächelnd blickte er auf ihn herab. Sie waren keine Freunde. Dass er den Faustkampf gegen Rufus gewonnen hatte, hatte der Hohepriester ihm nie verziehen. Vielmehr hatte er Ilmari seither immer wieder bedrängt, von seiner Vergangenheit zu erzählen. Er schien ihm nicht mehr zu trauen.

»Es tut mir leid für dich.« In der Stimme Solomons lag keine Wahrhaftigkeit.

»Ich beuge mich dir.« Es kostete Ilmari Überwindung, diese Worte über die Lippen zu bringen. »Gib meiner Frau einen Platz im Licht, und du kannst ganz und gar über mich verfügen.«

Der Priester schüttelte den Kopf. »Ilmari, unsere Gemeinschaft ruht auf den Säulen von Gleichheit und Gerechtigkeit. Ich kann niemanden bevorzugt behandeln. Ganz gleich, was du mir bietest, meine Antwort wird nein sein. Die Göttin hat entschieden, wer in den Himmel reisen wird, und wer bin ich, mich über den Willen der Göttin hinwegzusetzen. Geh heim! Ich verspreche dir, ich werde für das Wohl deiner Gemahlin beten, so wie ich für jede Seele bete, die mir anvertraut wurde.«

»Bitte …« Ilmari beugte sich vor und küsste den Saum des Priestergewandes.

»Würdest du mit derselben Leidenschaft zur Großen Göttin beten, hätte sie dir deine Bitte sicherlich gewährt. Hast nicht auch du zur Sicherheit noch zu deinen alten Göttern gebetet? Falls ja, dann sei gewiss: Die Göttin schickt nur jene ins Licht, die rein im Glauben sind. Denn dies, Ilmari, ist der Schlüssel zu allem.«

Während der Totengräber so fest die Kiefer zusammenpresste, dass es schmerzte, tätschelte Solomon ihm großmütig den Kopf und fuhr fort: »Bemühe dich weiter, und du wirst erhört werden.«

Ohne Worte

Sie sah noch zerbrechlicher aus als sonst. Ihre Haut war wie Wachs. Die Augen in dunklen Höhlen eingesunken. Doch obwohl es ihr an Kraft fehlte, ihn anzusehen, hatte sie bemerkt, dass er zurückgekehrt war. Der Hauch eines Lächelns spielte um ihre schmalen Lippen.

»Solomon war einsichtig«, sagte er mit fester Stimme. »Oder besser gesagt, er war genauso gierig, wie wir schon immer vermutet hatten. Du bekommst deinen Platz am Himmel! Allerdings wird es uns die Hälfte der Schätze kosten, die du … zur Seite gelegt hast.«

Er hob sanft ihren Kopf und versuchte, ihr ein wenig von der Fleischbrühe einzuflößen, die er gekocht hatte.

»Du musst bei Kräften sein, meine Liebste. Also, bitte, mach keinen Unsinn. Heute werde ich die neuen Toten waschen. Und ich dulde keine Widerworte.«

Es kostete sie sichtlich Mühe, die Brühe zu schlucken. Ilmari stellte die Schale zur Seite. Er hielt sie mit einem Arm. So leicht war sie … Mit der freien Hand schüttelte er das mit Daunenfedern gefüllte Kissen auf, das er für sie genäht hatte. Sanft bettete er sie auf das helle Leinen. Sie gab einen leisen Seufzer von sich, als ihr Kopf in das Kissen einsank. Ihre Lider flatterten, und dann sah sie ihn an. In den sieben Jahren der Gemeinsamkeit hatte er gelernt, in ihren Augen zu lesen. Sie brauchten keine Worte mehr, um sich zu verstehen. Ihr Blick lächelte. Sie bedankte sich.

Ilmari lief ein Schauer über den Rücken. »Tu das nicht. Du wirst noch ein wenig durchhalten. Du kommst auf ein Wolkenschiff!«, flehte er. Er würde seine Lüge nicht aufgeben, doch sah er an ihrem Blick, dass es sinnlos war. Sie hatte ihn längst durchschaut. Sie wusste, dass es keine Hoffnung mehr auf eine Reise zur Sonne gab und auf sie nur noch Dunkelheit wartete.

Ilmari hatte jede Öllampe, die er finden konnte, in ihre Kammer getragen und entzündet. Nie war der Raum mit den kahlen Wänden so hell gewesen wie in diesem Augenblick. So viele Lampen waren es, dass sie eine angenehme Wärme verbreiteten und dem Grau der Wände einen goldenen Schimmer verliehen.

Sie rollte die Augen und sah zu der Wandnische auf, in der die kleinen, hölzernen Krieger standen, die er für Talam geschnitzt hatte. Ihre Schwerter und Speere waren längst abgebrochen. Ihr Sohn hatte die Figuren geliebt und sich viele Schlachten mit ihnen geliefert. Daneben lehnten die beiden Puppen, die Umme für Serin genäht hatte. Sie waren aus Tuchresten gefertigt. Augen und Lippen waren mit feinem Garn in die Gesichter gestickt. Umme hatte auf beiden Puppen Haar von sich aufgenäht. Serin war mit den Puppen im Arm gestorben. Mehr als ein Jahr war das nun her. Als drei Monde später auch Talam gestorben war, war etwas in Umme zerbrochen. Sie hatte weiter gearbeitet, gegessen, ihm ihre Liebe geschenkt, aber ihr Lebenswille, der sie so viele schwere Jahre hatte überstehen lassen, war mit dem Tod ihrer Kinder erloschen.

»Ich bringe dich hinauf ins Licht!«, sagte er feierlich. »Ich schwöre dir jeden Eid darauf. Wir schaffen das auch ohne Solomon. Du weißt, wie stark ich bin. Ich kann dich viele Meilen weit tragen. Wir kehren zurück nach Daia und fangen noch einmal von vorne an. Du musst nur deine Kräfte sammeln …«

Ihre großen, dunklen Augen sahen zu ihm auf. Sie waren noch immer voller Dankbarkeit. Und Liebe.

Er ergriff ihre Hände. So kalt waren sie. »Wir schaffen das. Wir werden die Ersten sein, die einen Weg hinaus aus Tarkons Höhlenreich finden. Wir werden allem entfliehen.«

Sie schloss die Augen.

»Schlaf, meine Schöne.« Er nahm ein Tuch und tupfte ihr über die von Schweiß benetzte Stirn. »Schlaf, dann wirst du gekräftigt erwachen, und wir planen unsere Flucht.«

Er wich nicht von ihrer Seite und hielt weiterhin ihre Hände. Stumm machte er sich Vorwürfe. Sie hätten viel früher fliehen sollen. Es musste einen Weg aus diesen verfluchten Höhlen geben, die alle töteten, die hier Zuflucht suchten. Einmal mehr zerbrach er sich den Kopf darüber, woran das Sterben in den Höhlen lag. Manche glaubten, es liege nicht an der mangelnden Sonne, sondern an einem Gift im Wasser oder in den Felsen, das sie langsam umbrachte. Oder es sei ein Fluch, da die Göttin letztlich niemand anderen als ihre eigenen Geschöpfe in ihrer Welt duldete, ganz gleich, wie inbrünstig man auch zu ihr betete.

Ilmari sah auf. In diesen Höhlen war die Göttin schließlich überall! Er dachte an die Kristalle, die er auf seinen Reisen gesehen hatte. Sie wuchsen aus dem unebenen Boden der langen Tunnel, auf dem Grund der Flussbetten, selbst in Häusern hatte er sie schon gesehen.

Umme war eingeschlafen. Ilmari sah, wie sich die Augäpfel unter ihren Lidern bewegten, und dachte an den Tag, an dem ihre Tochter sie zum ersten Mal Umme genannt hatte. Sie hatten schöne Zeiten im Haus der Toten erlebt. Er war hier unten glücklich gewesen. Umme und die Kinder hatten ihn mit Gefühlen erfüllt, die er nie zuvor gekannt hatte. Doch das vertiefte nur seinen Schmerz. Er wusste, welches Glück er gehabt hatte. Dass es eine Gnade gewesen war und dass, ganz gleich, was er auch tun würde, dieses Glück nicht zurückkehren würde.

Lamgi, der Mörder, der er einst gewesen war, der Vertraute des Unsterblichen Muwatta und des Unsterblichen Aaron, er war tief unter diesen Gefühlen begraben gewesen. Doch nun regte er sich wieder. Es war Lamgi, der einen Weg aus den Höhlen finden würde, und wenn er dafür über Leichen gehen musste, dann würde es nicht sein Gewissen belasten.

»Ich bringe uns hier heraus!«, wiederholte er mit kalter Entschlossenheit. Selbst seine Stimme hatte sich verändert.

Er sah hinab auf Umme. Ihre Augen bewegten sich nicht mehr unter ihren Lidern. Vorsichtig strich er über ihr blasses Antlitz. Es fühlte sich kühl an, so wie auch die Hände, die er immer noch hielt.

Er tastete nach ihrer Brust, fühlte nach ihrem Herzen. Es schlug nicht mehr. Sie war gestorben, wie sie gelebt hatte: still.

Am weissen Schlund

Behutsam wickelte Ilmari seine Frau in das Leichentuch. Er hatte das feinste Tuch ausgesucht, das er hatte finden können. Makellos weiß und ohne Webfehler. Ein Tuch, das selbst die Seidene nicht zurückgewiesen hätte.

Mit eng gesetzten, sorgfältigen Stichen vernähte er das Tuch. Er ließ sich Zeit. Immer wieder sah er zu Ummes Gesicht. Sie sah friedlich aus. Nur viel zu schmal. Ihre dunklen Augenhöhlen hatte er behutsam geschminkt. Ihnen die Farbe von gesunder Haut gegeben. Ein Hauch von Rot lag auf ihren Lippen. Umme hatte nur sehr selten die Schminke und die Duftöle benutzt, die sie in reicher Auswahl besaßen, um die Toten ein wenig lebendiger aussehen zu lassen, wenn ihre Familien kamen, um sich zu verabschieden.

Manchmal, wenn sie ihn verführen wollte, hatte sie sich geschminkt. Sie war eine sinnliche Frau gewesen. Und eine gute Mutter. Er erinnerte sich an den Abend, als er von einer langen Reise zurückgekehrt war und Umme und die Kinder ihn erwartet hatten. Sie alle waren in den Farben des Regenbogens geschminkt gewesen und hatten vor Freude, ihn wiederzusehen, um ihn herumgetanzt. In der Woche danach war Serin erkrankt. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie getanzt hatte.

Ilmari schluckte schwer. »Alles, was in meinem Leben gut war, hast du mir geschenkt«, flüsterte er, beugte sich vor und küsste sie zärtlich auf die Lippen. »Du wirst alles mit dir nehmen, was gut an mir war.«

Er richtete sich auf und zog das Leichentuch über ihr Gesicht. Seine Hand zitterte, als er es vernähte, und er vermochte es nicht, ihr beim letzten Stich die Nadel durch die Nase zu stoßen, so wie die Tradition es verlangte.

Als die Arbeit getan war, hob er Umme vom steinernen Tisch, von dem er schon so viele Leichen gehoben hatte. Sie kam ihm leicht wie eine Feder vor. Behutsam legte er sie auf seine Schulter und trug sie die gewundene Treppe hinauf, in die große Eingangshalle des Hauses der Toten.

Niemand war hier, um von ihr Abschied zu nehmen. Als er Talam zum Weißen Schlund getragen hatte, war Umme an seiner Seite gegangen.

Es war nichts geblieben von seiner Familie. Einsam schritt er den Schwarzgürtel entlang bis zu jener Stelle, an der sich der Fluss mit Getöse in den Abgrund ergoss. Ilmari trat auf den Felssporn, der sich über den Weißen Schlund erhob. Feiner Sprühnebel benetzte sein Gesicht und vermischte sich mit seinen Tränen, als er Umme hochhob. Lange vermochte er sie nicht in den Abgrund zu werfen. Er hielt sie im Arm, wie man ein schlafendes Kind im Arm hält. Hoffte gegen jede Vernunft, dass sie gleich erwachen und sich im Leichentuch regen würde.

Es verging eine lange Zeit, bis er sie endlich freigeben konnte. Als er sie dem Schlund übergab, ging mit ihr auch der Totenträger.

Zurück im Haus der Toten, war er voller dunkler Gefühle. Er holte ein Messer. Dann ging er zum Tempel. Solomon hatte dazu beigetragen, Lamgi wiederzuerwecken. Nun sollte er sehen, wie es war, mit ihm Bekanntschaft zu machen.

Das Gottesurteil

Es war lächerlich einfach gewesen, über die hohe Mauer des kleinen Tempels zu steigen. Es gab keine Wachen und keine Hunde, die anschlugen. Die beiden jungen Priester waren mit dem Auserwählten abgereist. Nur Solomon war noch dort.

Ilmari pirschte durch den gut gepflegten Garten auf die Rückseite des Tempelbaus, wo sich die privaten Gemächer der Priester befanden. Es war ein lang gestreckter Anbau mit kleinen Fenstern. In einem von ihnen erstrahlte das warme gelbe Licht von Öllampen.

Als Ilmari näher kam, hörte er schweres Keuchen durch das Fenster. Es war nur eine kleine Öffnung, hoch in der Wand des Anbaus. Nicht geschaffen, Licht hineinzulassen, sondern allein, um den Raum zu lüften. Der Meuchler griff in die hoch gelegene Fensteröffnung und zog sich hoch. Die Kammer, in die er sah, war durch zahlreiche Öllämpchen erleuchtet. Blumenbündel hingen von den Wänden, und der Wohlgeruch von Weihrauch stieg Ilmari in die Nase.

Auf dem Lager des Ersten Hüters des Lichtes lag Jelena. Ihr grünes Kleid war ihr bis über die Hüften hochgeschoben. Ihr Gesicht wurde auf das Bett gepresst. Sie hatte es in ihren Händen vergraben und gab leise wimmernde Laute von sich, während der nackte Priester sie mit kräftigen Stößen keuchend von hinten nahm.

Ilmari ließ sich wieder zu Boden sinken. Er hatte immer schon den Verdacht gehabt, dass Solomon seine Position ausnutzte. Plötzlicher Zorn brandete in ihm auf. War es ein Zufall, dass der Mann einer schönen Frau die Reise ins Licht gewonnen hatte? Er kämpfte gegen seine Gefühle an. Zorn war nie ein guter Ratgeber. Vielleicht nutzte Solomon auch nur die Gunst eines glücklichen Zufalls. Für alles andere gab es keine Beweise. Sollte der Priester sich ein letztes Mal an der Macht über die Menschen ergötzen, die ihm die Große Göttin geschenkt hatte. Es war auch besser, wenn die Drusnierin nicht mehr im Tempel war, wenn er mit ihm abrechnete. Sonst würde man am Ende noch ihr den Mord anhängen. Oder schlimmer noch, sie würde versuchen, ihn abzuhalten, und er müsste auch sie töten.

Rastlos ging er am Anbau auf und ab. Das Keuchen wollte kein Ende nehmen. Schließlich trat er durch eine schmale Tür an der Seite des Tempels in das Allerheiligste. Hier war ein mannsgroßer grüner Kristall aus dem Boden gewachsen. In den letzten sieben Jahren war Ilmari nicht oft in den Tempel gekommen. Er hatte Serin und Talam nach der Geburt segnen lassen, wie es üblich war. Nicht aus Überzeugung, sondern um Gerede zu verhindern. Erst als Serin erkrankte, war er regelmäßig zum Gebet hierhergekommen. Damals war der Kristall kaum einen halben Schritt hoch und nur so dick wie ein Männerarm gewesen.

Ilmari hielt respektvoll Abstand von dem Stein, in dessen Tiefe ein unstetes grünes Licht glomm. Die Priester behaupteten, gleich dem Kristall wachse die Macht der Großen Göttin. Aber sollte die Göttin dann nicht dafür sorgen, dass ihre treuen Anhänger in den Höhlenstädten nicht starben wie die Fliegen?

Rechts neben dem Kristall gab es eine Tür zum Anbau. Es war den Gläubigen verboten, ohne Einladung durch die Priester den Teil der Tempelanlage zu betreten, der dahinter lag: die Archive, Vorratsräume und die privaten Gemächer der Priesterschaft. Ilmari gab nun einen Dreck auf solche Verbote. Er drückte gegen die grün gestrichene Tür. Sie war unverschlossen. Ein winziger Lichtfunke glomm in dem angrenzenden Raum. Eine Öllampe stand in einer Wandnische gleich neben dem Eingang. Behutsam schob Ilmari den Docht der Lampe hoch und wartete, bis die Flamme wuchs. Die Kammer, in der er sich befand, war lang und schmal. Unzählige Tonkrüge standen entlang der Wand zu seiner Linken.

Er kniete nieder und blickte durch die Öffnung des vordersten Kruges. Darin lagen Tonscherben. Er nahm eine heraus. Sie war leicht gewölbt. Eine Seite dunkel glasiert, die andere Seite rau und von rotbrauner Farbe. Auch die Glasur fühlte sich eigentümlich rau an. MARA war in deutlichen Buchstaben eingekerbt.

Bedrückt sah der Totenträger die lange Reihe der Krüge an. Dies also war das Archiv der enttäuschten Hoffnungen. Er erhob sich und ging bis ganz zum Ende der Reihe. Dort erkannte er den Krug vom Nachmittag. Er griff hinein und holte die oberste Scherbe hervor. MIKAEL stand darauf. Gedankenverloren rieb er sie zwischen den Fingern. Siebzehn Mal war er auf den Platz der Scherben gekommen. Nie hatte er Glück gehabt.

Ilmari griff erneut in den Krug. Er zog Dutzende Scherben heraus, bis er jene fand, auf der UMME stand. Es hätte nicht mehr geholfen, selbst wenn ihr Name gezogen worden wäre, dachte er traurig. Oder doch? War die Enttäuschung, wieder einmal verloren zu haben, wie ein Windzug gewesen, der ihr Lebenslicht ausgeblasen hatte?

Zärtlich streichelte er die Scherbe. Ihm traten Tränen in die Augen. Was für ein sentimentaler Dummkopf er doch war. Er stutzte … Etwas stimmte bei der Scherbe nicht. Verwundert sah er sie an. Sie war wie alle anderen, leicht gewölbt, auf einer Seite dunkel glasiert, auf der anderen Seite rotbraun. Und doch war etwas anders. Er nahm erneut die Scherbe, auf der MIKAEL stand. Er hielt sie in der Rechten, in der Linken die Scherbe von Umme. Er rieb mit Daumen und Zeigefinger über die Oberflächen. Die Glasur! Auf der Scherbe des Siegers war sie rau. Auf der von Umme glatt.

Er nahm andere Scherben aus dem Krug in die Hand. Alle hatten eine glatte Glasur.

Misstrauisch widmete er sich dem nächsten Krug. Auch hier lag die Scherbe mit dem Namen des Siegers zuoberst. Ihre Glasur war rau. Alle anderen Scherben aus dem Krug waren auf der Innenseite glatt.

Er ging zum dritten Krug. Dann zum nächsten und immer weiter. Es war überall dasselbe. Alle Scherben sahen gleich aus, aber rieb man sie zwischen den Fingern, gab es einen deutlich spürbaren Unterschied.

Ilmari verglich die Scherben der Gewinner miteinander. Die Schrift war auf allen ähnlich. Klar geschnittene Buchstaben von schriftkundiger Hand. Wie hatte Solomon seinen Betrug eingefädelt? Schrieb er die Namen auf die Scherben und schmuggelte sie heimlich in den Tonkrug, wenn er oben auf der Kanzel die Lose zog? So oder ähnlich musste es geschehen sein. Und bei dem Spektakel, bei dem angeblich die Große Göttin seine Hand führte, tastete er so lange über die Scherben, bis er die mit der rauen Glasur fand.

Kalte Wut packte Ilmari. Siebzehn Mal war er in treuem Glauben auf den Platz der Scherben gekommen. Seine ganze Familie war dabei voller Hoffnungen gewesen. Nun waren sie alle tot. Nie hatte auch nur die geringste Aussicht bestanden, dass einer ihrer Namen gezogen wurde. Solomon hatte sie ermordet! Er hatte ihnen den Schicksalsentscheid verweigert, für Liebesnächte wie jene, die er gerade gefeiert hatte, und andere Gefälligkeiten.

Ilmari atmete ruhig ein und aus. Seine Wut beherrschte nicht sein Denken. Sorgfältig legte er alle Scherben zurück in die Krüge. Dann drehte er den Docht der Öllampe zurück, bis nur ein kleiner, schwach glimmender Funke blieb. Leise verließ er das Archiv und den Tempel. Behände kletterte er über die Mauer des Tempelgartens und ging an der dunklen Stadt vorbei in Richtung des Hauses der Toten. Dort hielt er aber nicht an. Es gab hier nichts mehr für ihn. Alles, was er jetzt noch wollte, war ein echtes Gottesurteil. Wer immer an diesem Ort über ihn wachte, sollte entscheiden. Sei es nun die Große Göttin oder Išta.

Er folgte dem Schwarzgürtel bis zum Abgrund und stieg auf den Felsdorn, der über den Weißen Schlund ragte. Entschlossen blickte er in die tosenden Fluten. Hier begann das Reich der Toten. Und wie ein Toter fühlte er sich auch. Sein Hass war auf dem Weg hierher erloschen. Es war nicht einmal mehr Trauer um seine Familie geblieben. Nur ein einziger Gedanke: Solomon die Kehle durchzuschneiden war nicht genug.

Wenn er nach Tiefwasser zurückkehrte, dann als Hauptmann im Heer des Unsterblichen Aaron. Er würde Solomon aus seinem Tempel zerren, bis hinab zum Platz der Scherben. Und dann würde er sich einige der Scherben mit der rauen Glasur nehmen. Er würde dem Lügenmaul damit Zunge und Lippen abschneiden, er würde ihm die Augen langsam aus den Höhlen hebeln. Er würde einen sehr langen Tod haben, und alle in Tiefwasser würden dabei zusehen. Und er würde ihnen sagen, auf welche Art sie der Erste Hüter des Lichts all die Jahre betrogen hatte.

Ja, sollten die Götter entscheiden! Wenn die Macht Nangogs so groß war, wie ihre Anbeter glaubten, dann würde er auf den Felsen zerschmettert werden oder irgendwo unten in der schäumenden Gischt ertrinken. Ihm war es gleich. Dann wäre er zumindest dort, wo seine Familie war.

Wenn er aber überlebte und einen Weg durch den Dschungel fand, dann würde er vor den Unsterblichen Aaron treten, der ihn vor sieben Jahren ausgesandt hatte, um den verborgenen Unterschlupf von Tarkon Eisenzunge zu finden. Er kannte die verborgenen Städte wie kein Zweiter. Fast jedes Haus hatte er als Totenträger betreten. Er wusste um die Pfade zwischen den Städten. Er wusste, wo die Öffnungen in den Höhlendecken lagen, die aus der Höhe betrachtet unter Baumwipfeln verborgen blieben. Er hatte sich sogar in Mußestunden überlegt, wie die Städte am besten anzugreifen waren. Umme und die Kinder waren es gewesen, die ihn bisher vom Verrat an Tarkon abgehalten hatten.

Ilmari trat an das äußerste Ende des Felsvorsprungs. Dorthin, wo er sonst stand, wenn er die Toten ihrem nassen Grab anvertraute. Tief atmete er ein. Dann sprang er, ohne zu zögern. Er schloss die Augen, und seine liebste Erinnerung erfüllte ihn. Er sah Umme, Talam und Serin, wie sie mit Regenbogenfarben bemalt für ihn tanzten, als er nach langer Reise zu ihnen heimgekehrt war.

Unvergessen

Voller Unbehagen hielt Nyr den Kopf gesenkt, als sie in den Amethystsaal der Ehernen Hallen einzogen. Ihm war unbegreiflich, warum die Himmelsschlangen entschieden hatten, die überlebenden Zwerge hierher zu bringen. Sie sollten sich von den Schrecken des Nichts und dem Angriff der Devanthar erholen. Doch die Stimmung unter den einziehenden Truppen war gedrückt. Die Himmelsschlangen hatten die Devanthar zwar besiegt, und Hornbori galt als größter Held Albenmarks, der Einzige, der je eine Devanthar erschlagen hatte, doch niemand hier fühlte sich als ein Sieger.

Viele Zwerge vermochten nur gestützt auf Kameraden zu gehen. Andere hatte der Sturz ins Nichts den Verstand gekostet. Sie fingen zuweilen ohne Grund an zu kichern oder zu schreien, als würde ihnen ein Speer in den Leib gerammt.

Nyr ging neben Galar. Der Schmied lag auf einem großen Elfenschild, der ihnen als Trage diente. Der Schild ruhte auf drei Speeren, die von sechs Zwergen getragen wurden. Es stand schlecht um seinen Freund. Sich einem Devanthar in den Weg zu stellen war die mit Abstand dümmste Idee in einem Leben gewesen, in dem an unvernünftigen Entscheidungen kein Mangel geherrscht hatte.

Aus den Augenwinkeln sah Nyr zu den Zwergen, die gekommen waren, sie zu begrüßen. Er hatte das Gefühl, angegafft zu werden. Und nicht dazuzugehören. Sie waren wie wilde Tiere, die zur Schau gestellt wurden. Wieder ließ er den Kopf sinken. Er durfte kein unnötiges Risiko eingehen! Deshalb hatte er Galar auch die Decke, die ihn wärmen sollte, halb übers Gesicht gezogen. Sie beide waren von Eikin, dem Alten in der Tiefe, zum Tode verurteilt worden. Nicht öffentlich. Es hätte eine heimliche Hinrichtung werden sollen, der sie vor sieben Jahren nur knapp entronnen waren. Doch Nyr war überzeugt, dass Eikin sie nicht vergessen hatte. Sie durften keinem seiner Vertrauten auffallen!

Irgendein Würdenträger stand weit vorne in der Halle auf einer Tribüne und hielt eine Rede, von der Nyr nur vereinzelte Worte verstand. Der übliche Unsinn über Heldenmut und glorreiche Siege, den nur jene Männer von sich gaben, die nie in einer Schlacht in vorderster Reihe gestanden hatten. Nyr war stolz auf seine Siege in den vergangenen Jahren, so war es nicht. Aber er würde niemals auf solche Art davon sprechen. Vor allem nicht darüber, dass er es gewesen war, der die Frau mit dem Schlangenhaar getötet hatte. Eine Devanthar! Sollte Hornbori nur diesen Ruhm ernten. Sein glorreicher Gefährte würde mehr Nutzen aus dieser Heldentat ziehen, als er es könnte. Und das würde ihnen letzten Endes allen zugutekommen.

Nyrs Blick wanderte zu den Wänden der weiten Höhle, die ganz und gar mit Amethysten bedeckt waren. Das Licht der Fackeln und Feuerschalen brach sich in den lilafarbenen Kristallen. Doch da war noch ein anderes Licht. Eines, das den Edelsteinen selbst innezuwohnen schien. Es lief in Wellen über die Wände und hatte etwas an sich, das Nyr schwindelig werden ließ.

Plötzliche Hochrufe und beifälliges Murmeln in den Reihen der Zwerge deuteten an, dass die Rede beendet war.

»Diesen Klugscheißer würde ich gerne mal auf eine Reise in die Wilde Sau mitnehmen«, grummelte Ulur. »Nach drei Tagen an der Kurbelwelle hätte der ’nen anderen Blick auf Helden. Ich hoffe, sie fangen jetzt bald mit dem Fressen und Saufen an. Was Worte angeht, bin ich satt für heute.«

Ulur sollte enttäuscht werden. Schon betrat der nächste Festredner die Bühne. Und an dessen Seite stand nun auch Hornbori. War ja klar, dass ihr Held und Wortedrechsler sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen ließ. Auf solchen Festen war Hornbori in seinem Element. Doch zuerst sprach der Zwerg an Hornboris Seite. Ein alter Kerl, dessen krächzende Stimme kaum zu verstehen war.

In die Reihen vor ihnen kam Bewegung. Wachen in schimmernden Kettenhemden schoben sich zwischen die Heimkehrer. Welch Unterschied doch zwischen diesen schmucken Vorzeigekriegern und richtigen Kämpfern bestand.

Sie winkten die Verwundeten durch einen Seitengang aus der Halle.

»Dürfen wir euch eure Last abnehmen?«, fragte ein junger Zwerg mit blondem Bart und rosigen Wangen und deutete auf Galar. Ihn begleiteten noch fünf andere Wachen.

»Heh, was bildest du dir ein, Puderdosenfresse!«, fuhr Ulur den Wachmann an. »Da liegt ein Held. Wie kannst du es wagen, ihn eine Last zu nennen!«

»Ist schon gut«, beschwichtigte Nyr. Das Letzte, was er und Galar gebrauchen konnten, war Aufmerksamkeit.

»Entschuldigt meine unbedachte Wortwahl«, sagte der junge Zwerg zerknirscht. »Ich bin hier, um die Helden in unsere Krankenkammern bringen zu lassen. Ich glaube, sie brauchen gute Betten und die kundige Hilfe von Heilern, die ihre Schmerzen lindern, mehr als lobende Worte.«

»Das hört sich schon besser an!« Ulur maß den jungen Krieger mit abfälligen Blicken. »Ich hoffe doch, ihr habt da auch ein paar ansehnliche Gehilfinnen an der Seite eurer Heiler. Ein Lächeln und ein paar hübsche Augen wirken größere Wunder als irgendwelche Salben und übelriechenden Säfte.«

»In den Ehernen Hallen ist für Helden das Beste stets gerade gut genug«, erklärte der Jungzwerg beflissen. »Im Übrigen möchte der edle Eikin nicht, dass ihr das Festessen versäumt, weil ihr pflichtschuldig eure Verwundeten in die Krankenkammern tragt.«

Ulur sah Nyr unschlüssig an.

Kein Aufsehen, dachte der Richtschütze. Wenn sie jetzt ein vernünftiges Angebot ablehnten, würde dies Verdacht erwecken. »In Ordnung. Geht ihr zum Essen, ich allein kümmere mich um Galar.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Und vielleicht kümmere ich mich auch um eine der hübschen Gehilfinnen der Heiler.«

Ulur lachte. »Gut, tu das. Mich finden die Hübschen immer erst nett, wenn sie ein paar Krüge Pilz intus haben.«

Die Wachen übernahmen die improvisierte Trage, auf der Galar lag. Der Schmied war nicht bei Bewusstsein. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Eilig folgten sie den anderen Trägern und Verwundeten, deren Zug sich durch lange, verlassene Tunnel bewegte. Offenbar hatte sich alles, was Beine hatte, in der Amethysthalle versammelt, um die Heimkehrer zu begrüßen, obwohl auch eine Himmelsschlange zugegen war. Der Goldene hatte sie in Gestalt eines Elfenkriegers begleitet. Eine weitere schlechte Idee, wie Nyr fand. Drachen, ganz gleich welche, waren unter den Zwergenvölkern nicht sonderlich beliebt. Viele würden in diesem Besuch eine Provokation sehen. Er hatte auf einem Zwergenfest nichts verloren. Es sei denn, er war dort, um ihnen die Stimmung zu verderben.

Langsam löste sich der Verwundetenzug vor ihnen auf. Die meisten Tragen waren in Seitentunnel gebracht worden. Nun überholten sie nur noch hin und wieder ein paar hinkende Zwerge, die, auf ihre Gefährten gestützt, nur langsam vorankamen. Nyr dachte an Frar. Wie der Junge jetzt wohl aussah? Er musste groß geworden sein. Ob Amalaswintha gut auf ihn achtgegeben hatte? Frar nach mehr als sieben Jahren des Kämpfens endlich wiederzusehen war das einzig Gute, was die Ehernen Hallen ihm zu bieten hatten.

Wie so oft rief er all die Erinnerungen an den Kleinen wach. Wie sie ihn mit Drachenblut gesäugt hatten, weil sie nichts anderes hatten. Wie der Kleine sie in Glamirs Turm in die Verbannung begleitet hatte. Nyr war sich ziemlich sicher, dass er ein lausiger Ersatz für die tote Mutter des Jungen gewesen war, aber nach einer Weile hatte Frar ihn stets mit einem Lächeln empfangen. Dieses Lächeln hatte er vermisst. Es war so rein, so unverfälscht und ohne Hintergedanken.

Als Nyr, der mit gesenktem Haupt hinter den anderen hergetrottet war, aufblickte, sah er, dass der Blonde seinen Kriegern ein Zeichen gab, woraufhin diese in einen ungewöhnlich engen Seitentunnel abbogen. Die wenigen, die von der Kolonne noch übrig geblieben waren, nahmen keine Notiz davon und folgten weiter dem Hauptgang.

»Wohin bringst du uns?«, fragte Nyr nervös.

»An einen ganz besonderen Ort. Wir sind schon fast angekommen.«

Vor ihnen öffnete sich eine schwere, mit Eisenbändern beschlagene Eichentür. Bevor Nyr reagieren konnte, war die Trage mit Galar bereits durch die Tür. Der blonde Zwerg hielt sich nun dicht hinter ihm, in der Hand ein Kurzschwert.

»Wirst du so freundlich sein, mir zu erlauben, Gewalt anzuwenden?«

»Was soll das? Dieser Zwerg ist ein Held …«

Der Blonde setzte ihm die Schwertspitze auf den Schuppenpanzer und drückte leicht zu. »Los, rein mit dir! Ich weiß, was dieser Zwerg ist. Es ist Galar der Schmied, und er hat ein Mordkomplott gegen meinen Großvater geschmiedet. Glaubst du, Eikin würde nicht darauf achten, wer seinen Berg betritt? Habt ihr beiden Dummköpfe wirklich gedacht, ihr könntet euch hier einschleichen, um es noch einmal zu versuchen?«

»Sieht Galar vielleicht so aus, als würde er kämpfen können?«

Statt darauf zu antworten, befahl der Blonde seinen Männern barsch: »Absetzen!« Augenblicklich krachte der Schild, auf dem Galar lag, auf den Boden. Die Krieger hatten ihn einfach fallen lassen.

»Du und dein Freund, ihr seid hier unvergessen, Nyr. Ihr mögt mehr als sieben Jahre davongelaufen sein, aber das Urteil, das mein Großvater über euch Hochverräter gefällt hat, wurde niemals aufgehoben. Diesmal werdet ihr nicht lange auf eure Hinrichtung warten müssen.« Er bedachte Galar mit seinem abfälligen Blick. »Er soll schließlich noch leben, wenn er den Kopf auf den Richtblock legt.«

Auf jene, die heute an dieser Tafel fehlen

Nie zuvor war sich Hornbori auf einem Festgelage so deplatziert vorgekommen. Seine Männer fühlten sich nicht wie Sieger, und ihnen stand nicht der Sinn nach einem Fest mit Fremden. Ihnen allen war bewusst, dass es der Drachen bedurft hatte, sie zu retten. Ausgerechnet der Drachen! Und nun saß auch noch einer dieser Drachen am Ehrenplatz der Festtafel zur Rechten von Eikin. Ganz gewiss hätte der Goldene Zwergengestalt annehmen können, wenn er es nur gewollt hätte. Aber er war ihnen als ein blonder Elf erschienen, der in Licht zu baden schien. Eigentlich hasste Hornbori alle Himmelsschlangen aus tiefstem Herzen. Aber wann immer er dem Goldenen begegnete, vergaß er dies rätselhafterweise und war ganz und gar von der Erscheinung des Drachen eingenommen, gleich welche Gestalt er annahm. Heute war er ganz in Weiß gewandet, so wie die berüchtigten Drachenelfen. Jene Mörder, die die Schmutzarbeit in der Tiefen Stadt erledigt und all jene umgebracht hatten, die vom Drachenfeuer verschont geblieben waren.

Außerdem saß der Goldene nicht neben ihm. Hornbori hatte sich mit dem Platz zur Linken von Eikin begnügen müssen. Und weder der Alte aus der Tiefe noch der Drache hatten auf dem Fest auch nur ein einziges Wort mit ihm gesprochen.

Voller Missfallen sah er, wie es am Ende der Halle schon wieder eine Schlägerei gab. Es war bereits die dritte an diesem Abend. Kein Wunder, seine Männer wollten nicht hier sein, und Eikins Männer hatten ganz offensichtlich auch keine Lust, sie als Gäste zu bewirten.

»Du fängst an, grau zu werden.«

Hornbori seufzte. Das hatte ihm an diesem wunderbaren Abend noch gefehlt! Zu seiner Linken saß Amalaswintha. Sie war immer noch schön, und in ihrem rabenschwarzen Haar zeigte sich keine einzige graue Strähne.

»Es war nicht immer leicht …«, sagte Hornbori matt.

»Ich habe von dir gehört. Es gibt viele Geschichten über dich. Du bist einer der großen Feldherren Albenmarks, und man raunt, dass die Menschenkinder demjenigen dein Gewicht in Rubinen zahlen werden, der ihnen deine Leiche bringt.«

»Ich hoffe mal, dass sich dieses Gerücht nicht unter meinen Männern herumgesprochen hat. Mir würden zwei- bis dreihundert einfallen, die bei so einem Angebot schwach werden könnten.«

Amalaswintha lachte. »Du hast dich verändert.« Als sie nach ihrer Gabel griff, berührte sie wie zufällig seine Hand.

Hornbori schloss die Augen. Die Zwergin hatte nichts von ihrem Zauber verloren. Aber auch er hatte Gerüchte gehört. Sie war die Geliebte Eikins, so hieß es. Und mit dem Alten aus der Tiefe wollte er es sich nicht verderben. Er war der einflussreichste unter den Herrschern der Zwergenstädte.

»Wie geht es Frar? Nyr vermisst ihn. Und ich glaube sogar, unser stinkender und übellauniger Schmied würde ihn gerne mal wiedersehen.«

»Das ist keine gute Idee«, zischte Amalaswintha. »Frar hat euch ganz und gar vergessen. Ihr seid mehr als sieben Jahre fort gewesen. Was denkt ihr? Dass ihr einfach mal vorbeischauen könnt, um das Herz von ihm in Aufruhr zu versetzen. Es ist besser, wenn er sich nicht mehr an euch erinnert.«

»Aber …«

»Kein Aber! Der Junge hat es schwer genug. Das Letzte, was er braucht, ist, die drei Tölpel wiederzusehen, die ihm das angetan haben.«

Hornbori stocherte verärgert in der Wildschweinkeule, die ihm aufgetischt war. »Was haben wir ihm angetan? Ihm das Leben gerettet? Was für ein Verbrechen!«

»Das Blut!« Amalaswintha sprach so leise, dass außer ihm niemand hören konnte, was sie gesagt hatte.

»Wie …?«

Sie stand auf und verneigte sich vor Eikin und dem Goldenen. »Bitte vergebt mir, meine Herren, mich hat eine leichte Übelkeit befallen, und ich werde mich nun zurückziehen.«

Eikin wedelte gönnerisch mit der Hand. »Geh nur, meine Liebe.«

»Mit Euch verlässt die Schönheit diesen Saal«, sagte der Goldene mit einem Lächeln, das seine Wirkung bei Amalaswintha sichtlich nicht verfehlte.

»Mich dünkt, ich habe nicht Euer Format, Unsterblicher«, sagte die Zwergin vieldeutig und beeilte sich, die Tafel zu verlassen.

Ein unangenehmes Schweigen senkte sich über die Ehrengäste.

Es gab nichts, was schlimmer war als Schweigen. Verzweifelt suchte Hornbori nach einem Thema. Gerne hätte er Eikin nach Galar und Nyr gefragt. Dass der Schmied nicht unter den Gästen war, war nicht weiter verwunderlich. Ihn hatte es schlimm erwischt. Aber dass Nyr auch fehlte, ließ Übles ahnen. Hornbori wusste nur zu gut, wie Eikin zu den beiden stand.

Plötzlich erhob sich der Goldene, nahm einen Pokal in die Hand und schlug mit seinem Messer dagegen. Ein Ton rollte durch den weiten Amethystsaal, als wäre ein großer Gong angeschlagen worden. Schlagartig verstummten alle Gespräche. Selbst die Raufbolde hielten inne. Alle sahen zur Festtafel.

»Liebe Freunde …«

Es lag etwas in der Stimme des Götterdrachen, das ihn vom ersten Wort an in dessen Bann zog. Hornbori wünschte sich, er könne einen solchen Zauber weben, wenn er sprach. Wie leicht würde es dann sein, sich einen der Zwergenthrone zu erobern.

»Ich bin an diesem Abend an eure Festtafel gekommen, um die Helden unter euch zu ehren. Wie kein anderes Volk Albenmarks haben sich die Zwerge in Nangog als unnachgiebige, tapfere Kämpfer ausgezeichnet.« Er hob den Pokal. »Auf jene, die heute an dieser Tafel fehlen.«

Hornbori spürte, wie der Zauberbann des Drachen die Halle durchdrang. Niemand vermochte sich der Macht seiner Worte zu entziehen. Alle standen sie auf und hoben ihre Trinkhörner, Becher und Pokale. Und aus Hunderten Kehlen erklang der Trinkspruch: »Auf jene, die heute an dieser Tafel fehlen.«

»In fünf Tagen werden all meine Brüder hierher in die Ehernen Hallen kommen, und es werden die Fürsten aller Zwergenstädte mit uns zu Rate sitzen, um über die Zukunft des Krieges in Nangog zu beraten. Ich will es nicht schönreden. Unsere Feinde haben uns in eine Falle gelockt, und sie haben uns schwer zugesetzt. Einer meiner Brüder zählt zu jenen, die wir zu beklagen haben. Ich werde euch nun verlassen und um den Frühlingsbringer trauern. In fünf Tagen jedoch werden Himmelsschlangen und Zwerge einen Plan schmieden, wie wir unseren Feinden ihre Heimtücke vergelten.«

Hornbori hörte Eikin neben sich scharf einatmen. Er hatte ganz den Eindruck, als hörte der Alte aus der Tiefe gerade zum ersten Mal von diesem Vorhaben. Das konnte nichts Gutes heißen!

Eisennaht

Galars Verbände waren durchgeblutet. Seine Wunde musste wieder aufgebrochen sein, als sie ihn samt Schild auf den Boden der Kerkerzelle hatten fallen lassen. Diese verdammten Schweine. Wie konnten Zwerge anderen Zwergen so etwas antun?

»Möge dich Che in die Finger kriegen, wenn er einen besonders schlechten Tag hat«, murmelte Nyr wütend und hilflos. Was konnte er tun? Er hatte gegen die Tür getrommelt, bis seine Fäuste wund geschlagen waren. Aber hier am Ende des einsamen Seitentunnels würde ihn niemand hören. Offensichtlich hatten sie auch keine Wache vor der Tür zurückgelassen.

Galars Atem ging immer schwächer. Er brauchte einen Heiler, und zwar sofort! Die Wunde würde sich nicht von alleine schließen. Nyr hatte zugesehen, als sie notdürftig vernäht worden war. Der Löwenhäuptige hatte Galar aufgespießt.

Tränen der Wut standen Nyr in den Augen. Sie hatten so große Träume gehabt. Sie hatten Waffen erschaffen, die selbst Himmelsschlangen zu töten vermochten. Sie könnten die Herrschaft der Tyrannen brechen. Das alles durfte doch nicht hier im schmutzigen Kerker eines kleingeistigen Zwergenfürsten enden.

Verzweifelt sah er sich um. Die Wände des Kerkers waren aus gewachsenem Fels. Ohne schweres Grabwerkzeug würde er nichts ausrichten. Er bräuchte eine Spitzhacke oder zumindest Hammer und Stemmeisen. Und die Tür war solide, wie er schon hatte feststellen müssen. Es würde kein Entkommen geben.

Nyr fluchte laut und trat gegen den Eimer für die Notdurft. Außer dem Scheißkübel und Stroh, das aussah, als würde es hier schon seit Jahrzehnten liegen, gab es hier nichts. Die Speere, auf denen der Elfenschild gelegen hatte, hatten die Wachen natürlich mitgenommen.

Blut tropfte von dem Schild und benetzte das Stroh. Er konnte doch nicht einfach zusehen, wie Galar starb! Vielleicht war nur eine einzelne Naht aufgeplatzt? Vielleicht könnte er die Wunde mit seinen Händen zudrücken, sodass die Blutung aufhörte? Er würde tagelang neben seinem Freund sitzen, wenn es half …

Unschlüssig kauerte er sich neben ihm nieder. Galars zerfetztes Kettenhemd lag zu seinen Füßen. Sein Wams war aufgeschnitten worden und nur notdürftig mit einer groben Schnur geschlossen. Nyr knüpfte die Knoten auf. Zog das gepolsterte Wams auseinander und starrte auf den blutgetränkten Verband. Vorsichtig, mit spitzen Fingern schob er die Stoffbahnen auseinander.

Vier parallele Schnitte führten von der rechten Hälfte des Rippenbogens aufwärts und endeten dicht unter dem linken Schlüsselbein. Dort hatten sich die Krallen des Löwenmannes tief in Galars Fleisch gegraben. Eine Handbreit tiefer und sie hätten das Herz seines Freundes zerfetzt, aber die Krallen waren an den Rippen abgeglitten. Die Wunden reichten bis auf die Knochen. Und drei der vier Nähte waren zerrissen. Er hatte nicht genug Hände, um sie alle zu schließen.

»Was soll ich tun, mein Freund?«

Natürlich antwortete Galar nicht. Sein Atem ging so flach, dass er nicht zu hören war. So viele Nächte hatte er sich über das maßlose Schnarchen seines Gefährten geärgert. Jetzt wünschte er sich, ihn würde noch einmal dieses kräftige, kehlige Röhren quälen.

»Das ist nicht dein Abgang, verdammt! Hilf mir! Was kann ich tun?«

Leise tropfte das Blut vom Schild auf den Kerkerboden.

»Du lässt ihnen nicht die Genugtuung, deinen Kopf auf einen Richtklotz zu legen, nicht wahr? Du gehst vorher …«

Nyrs Blick streifte das geschwärzte Kettenhemd. Es war dicht gewoben, doch der Kraft eines Gottes hatte es nicht widerstehen können. Er beugte sich vor, betrachtete die zerfetzten Ringe. Die Ringe … Er las einige, die sich aus dem Verbund gelöst hatten, vom Schild auf. Dann blickte er auf die Wunden. Die Ringe! Sie konnten Galar retten. Er würde sie aufbiegen, auf die Wundränder setzen und sie wieder zusammendrücken. Galar würde eine Naht aus Eisen bekommen.

Zwei seiner Nägel splitterten, als er die ersten zehn Ringe jeweils ein kleines Stück aufbog. Dann drückte er mit den Fingern einen der Schnitte zusammen und setzte den ersten Ring an. Zwei Mal glitt der Ring ab, wollte einfach nicht halten. Erst als er den Mut fand, die offenen Enden durch das hochgewölbte Fleisch zu bohren, blieb der Ring an seinem Platz.

Bald waren die ersten zehn Ringe aufgebraucht, und er hatte gerade einmal ein fingerlanges Stück zugeklammert. Doch dort sickerte kein Blut mehr aus der Wunde.

»Hör jetzt bloß nicht auf zu kämpfen«, murmelte Nyr und las die nächsten Ringe vom Schild.

Das Opfermahl

»Was machst du da?«

Langarm duckte sich aus dem aufgebrochenen Brustkorb hervor und sah zum Gefiederten auf. Sein Bruder bot einen üblen Anblick. Da wühlte er doch lieber im Drachenfleisch! Das Gesicht war noch immer zerfetzt. Zwei kugelrunde Augen lagen in den Höhlen, die keine Lider mehr hatten. Die Augen hatte er als Erstes nachwachsen lassen. Langarm wunderte sich, wie langsam der Gefiederte es anging. Man konnte meinen, er wolle zelebrieren, was er getan hatte.

»Was machst du da?«, wiederholte sein Bruder seine Frage.

»Was glaubst du wohl, wozu die Stahlbögen dort vorne gut sind. Ich ziehe dem Biest ein paar zusätzliche Rippen ein. So bleibt sein Fleisch schön straff.«

Der Gefiederte nickte.

Er sah wie ein gerupftes Huhn aus, schoss es Langarm durch den Kopf. Keineswegs wie der Held, als der er sich seit Tagen aufspielte. Sein Bruder hatte eine Himmelsschlange getötet, na schön. Er hingegen konnte für sich beanspruchen, sieben wütenden Himmelsschlangen entkommen zu sein! War das etwa nichts? Und spielte er sich vielleicht auf? Aber das würde er seinem Bruder natürlich nicht ins Gesicht sagen.

»Diese Dinger dahinten, was machen die?«

Langarm reckte den Hals. »Das sind meine kleinen Helfer.«

»Für mich sehen die Dinger eher aus wie metallene Spinnen.«

»Auf den ersten Blick vielleicht. Hast du eine Ahnung, wie viel Arbeit in ihnen steckt? Ohne sie wäre ich aufgeschmissen. Seid ihr euch überhaupt im Klaren, was ihr mir antut? Seit Jahren kommt ihr mit immer neuen Wünschen zu mir. Fliegende Löwen, fliegende Bären, fliegende Ich-weiß-nicht-was. Und kaum habe ich sie gefertigt, haben die Menschenkinder sie auch schon wieder demoliert. Wenn es nach euch ginge, könnte ich mir das Schlafen ganz abgewöhnen …«

»Du bist ein Devanthar, du musst nicht schlafen«, entgegnete der Gefiederte gereizt.

Langarm schnaubte. So waren sie, seine Brüder und Schwestern. Vollkommen humorlos! »Es macht mir eben Spaß, auf der faulen Haut zu liegen.«

»Das kannst du tun, wenn die Himmelsschlangen besiegt sind. Sie haben die Sturmruferin getötet. Wir müssen …«

Langarm hob abwehrend die Hände. »Ja, ja, ich weiß. Noch mehr Waffen. Und natürlich noch schneller. Komm einmal mit!« Er führte ihn um den Kadaver des Drachen herum. Dort waren die Spinnen, die er erschaffen hatte, damit beschäftigt, das Haupt der toten Himmelsschlange abzutrennen. Doch nicht etwa mit einem einzigen glatten Schnitt, so wie es einer seiner Heldenbrüder getan hätte.

»Na, was siehst du?«

»Metzelnde Spinnen.«

Langarm lachte. »So eine Antwort hatte ich erwartet. Weißt du, dass wir Muskelstränge erhalten müssen, um sie später mit dem neuen Kopf zu verbinden? Wenn ich hier schlampig arbeite, wird dein wunderbarer Drache niemals den Kopf drehen können oder seinen Kiefer öffnen.«

Der Gefiederte nickte beiläufig, wirkte aber nicht mehr sonderlich interessiert. Er war genauso ein Banause wie die meisten seiner Brüder.

»Sieh ihn dir an, den Kopf!« Langarm führte ihn ein Stück weiter, nah zum aufgemauerten Ufer des künstlichen Sees. Dort war der Höhlenboden mit Marmorplatten ausgelegt. Auf dem Marmor lag ein großer goldener Drachenkopf. Mehr als drei Schritt lang und einen Schritt hoch, war er noch eindrucksvoller als das wirkliche Haupt des Drachen. »Ist er nicht wunderbar?« Etliche Metallspinnen unterschiedlicher Größe krabbelten über den Kopf. Sie justierten letzte Teile der aufwendigen Mechanik im Inneren des Kopfes und drehten die letzten stählernen Reißzähne in die goldenen Kiefer. Ein Seitenblech über dem linken Auge fehlte noch, sodass man ins Innere des Hauptes blicken konnte. Dort glomm ein faustgroßer grüner Kristall. Ein Stück des Herzens von Nangog.

»Er wird deinen ersten Drachen noch übertreffen.« Langarm strich liebevoll über die goldene Schnauze. »Er hier ist mein Meisterstück. Er ist besser als das Original aus Fleisch und Blut.«

»Wie lange wirst du noch benötigen, um fertig zu werden?«

Der Götterschmied knurrte unwillig. »Wenn du Schrott willst, kannst du ihn schon morgen haben. Dann kannst du die Federn selbst auf den Drachenleib aufbringen. Hast du eigentlich die geringste Vorstellung davon, wie viele Arbeitsstunden darin stecken?«

Der Gefiederte deutete auf die Stufenpyramide am Ende des Blutsees. »Ich habe meinen Kindern verboten, hier hinabzusteigen. Sie sollen nicht sehen, wie die Schlangendrachen im See entstanden sind. Doch je länger es dauert, desto unruhiger wird die Priesterschaft. Ich kann diese Höhlen nicht unbegrenzt sperren. Morgen wäre nach dem Kalender das nächste Opfer fällig, und in sieben Tagen sollen neue Adlerkrieger geweiht werden. Sie haben sich Jahre auf diesen Tag vorbereitet. Dieses Fest ist unaufschiebbar!«

Langarm lächelte in sich hinein. »Ich kenne den Kalender, Bruder. Es sind auch nur noch sieben Tage bis zum Fest der Heiligen Hochzeit in Luwien. Ein Freudentag, den ich in keinem Jahr vergesse. Manchmal ist die Vorfreude auf ein Ereignis besser als das eigentliche Ereignis. Kennst du das?«

Soweit man in den verstümmelten Zügen des Gefiederten überhaupt eine Regung ablesen konnte, schienen ihm solche Gefühle wie Vorfreude nicht vertraut zu sein. Er blickte mit seinen lidlosen, übergroßen Augäpfeln einfach nur finster drein. »Du musst dich beeilen, Langarm.«

»Ich tue, was ich kann.« Der Schmied kannte die Schwachstelle seines Bruders. »Wenn ich allerdings flüchtig arbeite, könnte es sein, dass die Fähigkeit der Regeneration darunter leidet. Aber ich werde alles Fleisch natürlich gut präparieren. Da ist es nicht nötig, dass etwas nachwächst.«

»Das darf nicht passieren!« Der Gefiederte wedelte aufgeregt mit den Händen. Eine Geste, die so gar nicht zu seinem sonst so herrischen Auftreten passte.

Langarm erinnerte sich gut, wie nachdrücklich sein Bruder vor Jahrhunderten, als er die purpurne Himmelsschlange in die Gefiederte Schlange umgearbeitet hatte, darauf bestanden hatte, dass er die besondere Fähigkeit der Regeneration unbedingt erhalten müsse.

»Warum darf das nicht passieren? Ich bin ein guter Präparator. Ich werde den Drachen schon hinbekommen. Wenn es sein muss, ist er morgen fertig. Arbeite ich halt noch eine Nacht …«

»So geht das nicht!«, unterbrach ihn der Gefiederte entschieden. »Wenn das Fleisch seines Leibes nicht nachwächst, hat er keinen Wert für mich.«

Langarm stemmte die Fäuste in die Hüften. »Also, es würde schon helfen, wenn du mir erklären könntest, wofür du das tote Vieh genau brauchst. Nur dann kann ich dir garantieren, dass du auch wirklich das bekommst, was du brauchst.«

Sein Bruder trat an die gemauerte Brüstung des künstlichen Sees und blickte über das Wasser. »Du weißt wirklich nicht, was hier unten geschieht?«

»Woher?«, fragte er ärgerlich. Sein Bruder machte seit jeher ein großes Geheimnis darum, was in dieser Höhle geschah. Es gab unzählige Gerüchte und keinerlei Gewissheiten. Wie es schien, wurden dem Schlangendrachen regelmäßig Menschenopfer dargebracht. Angeblich blonde Männer. Mehr wusste Langarm nicht. »Wie ich schon sagte, du kannst nur dann ein wirklich perfektes Werk von mir erwarten, wenn ich weiß, welchen Zweck es erfüllen soll.« Mit diesen Worten wandte er sich wieder dem goldenen Drachenkopf zu. Er berührte einige der Spinnen, die daran arbeiteten, und ließ sie, allein durch Gedanken, wissen, was sie als Nächstes tun sollten. Er hatte die Spinnen ursprünglich als eine Spielerei entworfen. Sie hatten zu seiner Unterhaltung Kapriolen aufgeführt und seine Werkstatt aufgeräumt. Erst mit der Zeit hatte er ihnen mehr und mehr Aufgaben anvertraut. Sie besaßen keinen Verstand und keine Erinnerung. Der kleine Splitter von Nangogs Herzen, der sich in ihrem Körper verbarg, erlaubte ihnen stets nur, eine Art von Arbeit zu verrichten. Schneiden, etwas zusammennähen oder sortieren … Doch das taten sie ohne Fehl. Heute sah er in ihnen die nützlichste Erfindung, die er je gemacht hatte.

»Also gut«, sagte der Gefiederte plötzlich hinter ihm. »Ich sage dir alles, aber du wirst es niemandem verraten. Es bleibt weiterhin ein Geheimnis.«

Überrascht drehte sich Langarm zu seinem Bruder um. »Natürlich. Ich schwöre dir jeden Eid. Ich werde …«

»Dein Wort genügt mir«, unterbrach der Gefiederte ihn ungeduldig. »Du weißt, meine Jaguarmänner und Adlerkrieger sind anders … Sie sind keine gewöhnlichen Menschen mehr. Sie haben einen Teil ihrer Menschlichkeit aufgegeben und erhalten dafür Fähigkeiten, die …« Er schüttelte den Kopf. »Das musst du nicht wissen. Wenn sie hierherkommen, um ihre Weihe zu empfangen, dann trinken sie vom Blut des Purpurnen und essen ein Stück von seinem Fleisch. Es verändert sie. Sie übernehmen Eigenschaften der Tiere, denen sie sich verschrieben haben, und noch mehr … Dieses Ritual ist das größte Geheimnis der Zapote. Außer den Jaguarmännern und den Adlerkriegern weiß nur eine Handvoll auserwählter Priester darum. Die Krieger aber begreifen nicht wirklich, dass sie danach keine normalen Menschen mehr sind. Sie sehen sich als Auserwählte der Gefiederten Schlange.«

Gebannt lauschte Langarm. Das war weit interessanter, als er erwartet hatte. Sein Bruder baute also Menschen ebenso um wie er diesen Drachen hier. Er hätte sich diese Zeremonie gerne einmal angesehen.

»Weißt du jetzt genug?«

»Es, äh … es wäre hilfreich, dabei einmal zuzusehen.«

»Ausgeschlossen!« Sein Bruder bedachte ihn wieder mit einem seiner finsteren lidlosen Blicke. »Diese Zeremonie ist heilig. Du hast dort nichts verloren.«

Langarm lag es auf der Zunge zu antworten, dass sie als die Götter der Menschen entschieden, was heilig war, aber er wusste, dass sein Bruder völlig humorlos und uneinsichtig war. So blieb er stattdessen freundlich. »Du brauchst also ein sich nie aufzehrendes Opfermahl für deine Lieblingskrieger.«

»Ich würde es nicht genauso ausdrücken«, entgegnete der Gefiederte trocken, »aber es trifft im Wesentlichen die Tatsachen.«

Plötzlich wogten Wellen über die Oberfläche des Sees, die bis dahin spiegelglatt gewesen war. Die Gefiederte Schlange erhob sich aus dem Wasser und blickte auf sie hinab. Der Gefiederte trat einen Schritt von der Uferbefestigung zurück.

»Kann sie verstanden haben, was wir besprochen haben?«, fragte er. »Das sieht ja fast aus, als hätte sie etwas von unserem Gespräch mitbekommen. So hat sie früher nie reagiert.«

»Ausgeschlossen! Das ist ein Kopf aus Goldblech, ohne Hirn. Deine Schlange ist nicht verständiger als eine gut dressierte Ratte.« Obwohl er das sagte, wich auch Langarm ein wenig zurück. Ganz sicher war er sich nicht. Die Himmelsschlangen waren durch und durch magische Geschöpfe. Es wäre töricht zu glauben, dass er all ihre Geheimnisse kannte. Vielleicht behielten sie selbst ohne Kopf noch eine vage Erinnerung daran, was sie einmal gewesen waren.

Die Kreatur, die einmal der Purpurne gewesen war, betrachtete lange den goldenen Drachenkopf nahe dem Ufer und den Kadaver der lindgrünen Himmelsschlange. Schließlich glitt das Ungeheuer wieder in die Tiefen des Sees zurück.

»Er weiß wirklich nichts?«, wiederholte sein Bruder misstrauisch.

»Nicht das Geringste!« Langarm lächelte breit. »Wie ich schon sagte, Blech ist nicht sonderlich vernunftbegabt. Nicht einmal Goldblech.« Insgeheim schwor er sich aber, sich mit seiner Arbeit ranzuhalten. Je schneller er aus dieser Höhle fort war, desto besser! Außerdem brauchte er mindestens einen Tag Zeit, um seine Werkstatt auf die schönsten Stunden des Jahres vorzubereiten. Sein Lächeln wurde noch breiter.

»Ich brauche den Kopf des Drachen bis spätestens morgen Mittag. Ich werde dann zusammen mit Išta kommen, um ihn zu holen.«

Langarm blickte zu den Spinnen und den Fortschritten, die ihre Arbeit machte. »Ich denke, das wird sich einrichten lassen.«

»Du bist fertig, oder Išta erledigt die restliche Arbeit mit dem Schwert.«

»Ich sagte dir bereits …«

Der Gefiederte wies gebieterisch mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn. »Du bist fertig!« Ohne sich auf weitere Diskussionen einzulassen, ging er in Richtung der Stufenpyramide davon.

Das war so typisch für seine Geschwister! Den Kopf mit dem Schwert abtrennen und nicht weiter darüber nachdenken, welche Konsequenzen das haben würde! Na ja, in diesem Fall fast keine. Aber das würde sein bornierter Bruder niemals von ihm erfahren. Schon als er am Purpurnen gearbeitet hatte, hatte Langarm sich eingestehen müssen, dass all seine mechanischen Künste nichts geholfen hätten, wäre der enthaupteten Himmelsschlange nicht die wunderbare Eigenschaft der Selbstheilung erhalten geblieben.

Als er entdeckt hatte, wie groß diese Kraft war, war Langarm versucht gewesen, das Haupt des alten Drachen an dessen Rumpf zu legen, nur um zu sehen, was geschehen würde. Er war froh, dass er es nicht getan hatte. Er hatte sich schon den ganzen gestrigen Tag immer wieder mit Entsetzen angesehen, was geschah. Seine Spinnen hatten die Enthauptung deshalb immer noch nicht vollendet, weil die Muskelstränge, die sie durchtrennten, wieder zusammenwuchsen. Es geschah immer schneller.

Jetzt arbeiteten schon doppelt so viele Spinnen am Rumpf wie gestern und erreichten kaum einen Fortschritt. Er sollte all seine Spinnen herbeirufen oder es selbst tun. Dieser Kopf musste hier fort. Nur so konnte verhindert werden, dass die verfluchte Himmelsschlange wieder zum Leben erwachte.

Sie waren tatsächlich unsterblich, diese verdammten Biester. Ob sie selbst das wohl wussten? Wohl nicht, sonst würde sie nichts davon abhalten, mit aller Entschlossenheit gegen die Devanthar zu kämpfen. Solange sie es schafften, ihre Toten zu behalten, waren sie unbesiegbar. Sie mussten alle Himmelsschlangen in einer einzigen Schlacht vernichten. Und dann dafür sorgen, dass ihre abgetrennten Häupter nicht in derselben Welt waren wie ihre toten Leiber.

Er ging zum Körper des Drachen und tätschelte über die Schuppen. »Das werden wir diesmal noch hinbekommen, mein Hübscher, das verspreche ich dir. Der Gefiederte und Išta werden morgen deinen Kopf mitnehmen. Komme, was da wolle. Und dann werde ich deine Gabe gegen dich kehren. Dein Körper wird immer weiter versuchen, sich zu heilen. Er wird vollenden, was mir nie gelungen wäre. Er wird dafür sorgen, dass du mit diesem neuen Kopf, den ich erschaffen habe, untrennbar zusammenwächst.« Langarm blickte zu den Spinnen, die am Hals arbeiteten. »Nun ja, untrennbar ist ein relativer Begriff. Aber dank dir wird mein Geschöpf leben und meinem Bruder zu Diensten sein.«

Ein Augenlid des Drachen begann zu flattern. Für einen Herzschlag nur. Dann war es wieder erstarrt.

Er würde mehr Spinnen holen, entschied Langarm. Alle! Mit einem mulmigen Gefühl sah er zum Blutsee. Wie weit die Selbstheilungskraft des Purpurnen gereicht hatte! Zu gerne würde er den goldenen Schädel seiner Kreatur öffnen und hineinsehen. War ihm ein neuer Verstand gewachsen? Hatte er eben zugehört?

Langarm dachte eine Weile darüber nach und entschied dann, dass er es lieber doch nicht herausfinden wollte. Er wollte nur eins: fertig werden und verschwinden!

Die Toten und die Lebenden

Išta setzte den riesigen Drachenkopf ab. Sie hatte ihn gemeinsam mit dem Gefiederten tragen müssen. Er war ebenso gewaltig wie der skelettierte Kopf an der anderen Seite des weiten Saals. Der Kopf, der ihrer Schwester Anatu für ihren Verrat zum Gefängnis geworden war.

Fast alle Devanthar hatten sich im weiten Saal versammelt. Sie hatte ihre Brüder und Schwestern gebeten, sich hier und nicht im Saal von Licht und Schatten zu versammeln. Sie wollte sie alle sehen, wollte ermessen können, was sie bewegte.

»Eine von uns gegen einen von ihnen«, sagte Išta ruhig. »Von ihnen gibt es noch sieben. Nun seht euch um, wie zahlreich wir sind. Ich nenne das einen Sieg!«

»Ist es auch noch ein Sieg, wenn du die nächste Tote bist?« Das Lebende Licht wurde mit jedem Wort heller. »Du verhöhnst die Sturmruferin, wenn du hier von einem Sieg sprichst.«

»Zu deiner Frage, Bruder. Da ich bei Kämpfen nicht davonzulaufen pflege, glaube ich nicht, dass ich die nächste Tote sein werde. Und was unsere Schwester angeht: Ich verhöhne ihren Tod nur dann, wenn ich zulasse, dass sie für nichts gestorben ist. Und das täte ich, wenn ich euch hier nicht zusammengerufen hätte, um zu beraten, wie wir nach unserem Sieg weiter vorgehen werden.« Sie drehte sich zu dem Drachenhaupt um, das an der Wand lehnte. »Seht ihn euch an, wenn ihr Zweifel an unserem Sieg habt. Wir können sie überwinden! Alles, was es dazu bedarf, ist, entschlossen zu handeln.«

»Und das Drachenhaupt zeigst du uns, weil du schon einen wunderbaren Plan hast, der höchstens sechs oder sieben von uns das Leben kosten wird?«

Der Löwenhäuptige erntete für seine Worte beifälliges Gemurmel. Auch wenn sie gegen die Himmelsschlange zusammen gekämpft hatten, verabscheute Išta ihn zutiefst. Er war der geborene Anführer, strebte aber nicht nach Macht. Sie fiel ihm einfach zu, und er nutzte sie nicht, dieser Narr. Eines Tages würde sie ihn genauso verschwinden lassen wie den Ebermann.

»Ich habe in der Tat einen Plan.« Sie würde sich von seinem Gerede nicht aus der Ruhe bringen lassen! »Unser einziger Fehler war, dass wir bei der Schlacht im Nichts nicht einkalkuliert hatten, dass die Himmelsschlangen selbst erscheinen könnten. Einen solchen Irrtum werden wir nicht wieder begehen. Wir werden vorbereitet sein. Beim nächsten Mal werden wir nicht fliehen.«

»Sollten dann nicht wenigstens alle Kämpfer anwesend sein?« Der Große Bär sprach langsam und gedehnt. Er galt nicht als ein herausragender Denker, und Išta war überrascht, dass er überhaupt etwas sagte. »Ich vermisse seit einiger Zeit meinen Freund, den Ebermann. Ich bin gerne mit ihm durch die verschneiten Wälder Drusnas gestreift. Er ist ein guter Jäger und Krieger. Weißt du, wo er geblieben ist?«

Ahnte er etwas? Einen Moment lang war Išta von der Frage so überrascht, dass sie nicht antwortete.

»Unser Freund, der Ebermann, war immer schon dafür bekannt, dass er gerne für sich blieb. Ich kann mich erinnern, ihn einmal drei Jahrzehnte nicht gesehen zu haben«, eilte ihr der Gefiederte zu Hilfe.

Einzelne Lacher erklangen.

»Mir war noch gar nicht aufgefallen, dass er fehlt«, fuhr der Gefiederte fort.

»Ebenso wie unser Bruder Langarm«, warf der Löwenhäuptige ein.

»Langarm arbeitet an etwas, das wir zur Vernichtung der Himmelsschlangen benötigen werden«, ergriff nun wieder Išta das Wort und war sich des verwunderten Seitenblicks des Gefiederten wohl bewusst. Er würde nicht mögen, was sie nun zu sagen hatte. Aber ihr Plan war zu verlockend, um nicht umgesetzt zu werden. Sie würden die Himmelsschlangen in eine Falle locken und sie so alle auf einmal vernichten.

»Ich gedenke der Lebenden und der Toten und der Schuld, die ich gegenüber den einen wie den anderen habe. Nichts Geringeres als die Verpflichtung zu siegen ist diese Schuld. Und ich will, dass wir alle gemeinsam diesen Sieg in einer einzigen Schlacht erringen. Einer Schlacht, die an dem Ort und zu der Stunde, die wir gewählt haben, stattfinden soll. Um dies zu erreichen, werden wir alle Opfer bringen müssen. Wir werden alles, was wir von Nangogs Herz noch besitzen, für diesen großen Plan opfern müssen …« Išta hielt kurz inne. Davon wusste Langarm noch nichts. Aber sie würde es ihm in einer Stunde beibringen, in der er zu keinem ihrer Vorschläge Nein sagen könnte. »Und das ist noch nicht alles.«

Sie sah zum Gefiederten, der sich immer noch nicht von seinen Wunden erholt hatte. Nun kam der Teil, der ihm nicht gefallen würde. Aber dass es so war, würde ihr vermutlich die Unterstützung fast aller anderen einbringen. Und so erklärte die Devanthar, auf welche Weise sie die Götterdrachen an den Himmel Nangogs bringen würde.

Zuschauen

»Du konntest nichts tun, Herrin«, versuchte Ashot sie zu beschwichtigen.

Shaya blickte auf das brennende Lager hinab und auf die Mannpferde, die die große Rinderherde davontrieben, um die es bei diesem Überfall gegangen war. Das Mittsommerfest stand kurz bevor. Die Trockenzeit in der Messergrassteppe hatte ihren Höhepunkt erreicht, und die wandernden Viehherden wurden zu den wenigen Wasserlöchern getrieben, die das ganze Jahr über nicht austrockneten.

»Ich hätte wenigstens versuchen können, etwas zu unternehmen, statt dem Morden einfach nur zuzusehen.«

»Das sind die Lasten des Herrschens«, sagte er lakonisch. Obwohl er Shaya nun schon viele Jahre kannte, war sie ihm immer noch ein Rätsel. Er wusste nicht, warum sie sich in Asugar den Namen Shaya gegeben hatte. Als sie zum ersten Mal in Aarons Palast erschienen war und als Küchengehilfin gearbeitet hatte, hatte sie sich Kirum genannt. Als Aaron sich in sie verliebte, hatte er ihr die Verantwortung über die königlichen Ställe übertragen. Eine Arbeit, die sie ausgezeichnet gemeistert hatte. Später, in der Eiswüste, war sie eine Heilerin gewesen, ebenso wie in Asugar. In den letzten sieben Jahren aber war sie immer wieder als Kriegerin in die Schlacht gezogen, während Aaron sich mehr und mehr von den Kämpfen zurückzog.

Ashot hatte den Verdacht, dass keins der vielen Gesichter die wirkliche Shaya zeigte, wer immer sie auch sein mochte. Sie war eine mörderische Kämpferin, ritt wilde Hengste ohne Decke und Zaumzeug und vermochte Streitwagen mitten im Schlachtgetümmel zu lenken. Sogar Bogenschießen konnte sie so gut, dass sie sich den Respekt Ormus verdient hatte, und das gelang nicht vielen. Als Frau an der Seite des Unsterblichen war sie anfangs bei Hof unter den Satrapen und bei der Priesterschaft des Reiches auf Ablehnung gestoßen, aber die meisten ihrer Widersacher hatte sie mit den Jahren von sich überzeugt. Einige sogar mit Fäusten. Bei ihrer überraschenden Rückkehr war sie von etlichen noch Kirum genannt worden, doch mit den Jahren hatte sich ihr anderer Name durchgesetzt. Nun kannte alle Welt sie als Shaya.

Das einfache Volk war von Anfang an von der Küchenmagd, die Herrscherin wurde, fasziniert gewesen. Es gab unzählige Geschichten über sie. Und die Mehrheit davon war nicht im Auftrag Aarons verbreitet worden. Aber nicht eine erzählte auch nur annähernd die Wahrheit über sie, da war er sich ganz sicher.

Ashot stand in seinem Streitwagen. Neben ihm der Wagenlenker. Er zog dies dem Reiten vor, obwohl inzwischen mehr als die Hälfte seiner Männer vom Streitwagen auf Pferderücken gewechselt war. »Sie haben uns bemerkt, Herrin. Vielleicht wäre es klug, wenn wir uns zurückziehen würden.«

Shaya bedachte ihn mit einem Lächeln. »Sie haben uns schon vor mehr als einer Stunde bemerkt, Ashot. Schon bevor sie den Angriff begonnen haben. Sie mögen zwar allesamt Pferdeärsche haben, aber Trottel sind diese Daimonen deshalb nicht. Sie haben überall im Grasland ihre Späher.«

»Warum haben sie uns dann nicht angegriffen? Sie sind in der Überzahl …«

»Tja, sie haben uns wohl nicht als würdige Gegner befunden. Ich weiß, wie diese Bastarde denken.«

Ashot fragte sich, woher sie das wusste. Aber er hütete lieber seine Zunge. Wer sich bei Shaya unbeliebt machte, der hatte auch einen schweren Stand bei Aaron. Das hatte er schon mehrfach miterlebt.

»Wir hätten trotzdem ein paar dieser Pferdeärsche erlegen sollen.«

Der Feldherr sah beunruhigt, wie etliche der Männer, die ihrem Gespräch lauschten, beifällig grinsten.

»Der Unsterbliche Subai hat schon mit deutlicher Übermacht im Kampf gegen die Pferdedaimonen verloren.«

»Ich bin nicht Subai!«, sagte sie überraschend verärgert und spuckte aus, um ihre Worte zu unterstreichen. »Ein kluger Feldherr findet einen Weg, die vermeintlichen Stärken seines Feindes gegen ihn einzusetzen.«

War das auch eine Spitze gegen ihn? Shaya war sich sicherlich bewusst, dass er an ihrer Seite war, um sie von Dummheiten abzuhalten, die sie in ihrem Ungestüm vielleicht begehen würde.

Sie hob den rechten Arm und winkte den Reitern, ihr die Bergflanke hinab zu folgen. »Begraben wir die Toten!«, rief sie. »Beim nächsten Mal werden es die Daimonen sein, die mit ihrem Leben bezahlen, das schwöre ich euch. Wir werden nicht noch einmal nur zusehen!«

Ashot befürchtete, dass sie das ernst meinte.

Von Reisenden und Trinkern

Sekander sah vom Hügel herab auf die große Herde, die vor ihm auf dem weiten Grasland weidete. Es war jedes Mal ein langwieriger Kampf, die völlig verängstigten Tiere über den Goldenen Pfad zu treiben. Dutzende waren ausgebrochen und ins Nichts gestürzt. Aber jetzt war es geschafft, und der Kentaur frohlockte. Als Fürst von Uttika war er immer schon ein reicher Mann gewesen, aber jetzt war er … Er stutzte. War er eigentlich mehr als reich? Es war die fünfte Herde, die er dieses Jahr schon geraubt hatte, und der Sommer hatte noch nicht einmal die Mitte erreicht. Er konnte es sich leisten, das Vieh mit vollen Händen zu verschenken. Jede Sippe, die ihm Krieger gestellt hatte, bekam fünfzig Stück Vieh als Lohn. Sein Ruf reichte bis zum Königsstein in der Snaiwamark und Alvemer im fernen Osten des Graslands. Selbst Trolle hatten schon an seiner Seite in den Kampf ziehen wollen, doch er hatte sie zurückgewiesen.

Vor fünf Jahren hatte er vor den Himmelsschlangen durchgesetzt, dass ihn nichts mehr begleitete, das nicht mindestens vier Hufe hatte. Er lächelte selbstbewusst. Das war die beste Entscheidung seines Lebens gewesen. Nach dem Feldzug in der Eiswüste und einem zweiten Feldzug in irgendeinem namenlosen Sumpfland, wo seine Männer zu Hunderten verreckt waren, hatte er die alten Drachen davon überzeugen können, dass Kentauren Krieg in der Steppe führen mussten. Dafür waren sie geschaffen. Dort konnten die Menschenkinder sie nicht besiegen.

Trafen sie auf ein Heer, das größer war als sie, konnten sie ihm davonlaufen – denn kein Menschenpferd konnte sich in langer Verfolgung mit der Ausdauer eines Kentauren messen. Trafen sie aber auf eine Streitmacht, die kleiner war, wurde diese eingekreist und gnadenlos niedergemacht. Es sei denn, sie hatten eine Herde davonzutreiben, so wie vorgestern. Sollten die Menschenkinder auf Knien vor ihren Göttern herumrutschen und ihnen danken, bis ihnen die Stimme erstarb, dass es so gewesen war.

Er war der unumschränkte Herrscher der Messergrassteppe. Er konnte sich nehmen, was immer er wollte. Sekander bedauerte zutiefst, dass die Menschenkinder es so schnell aufgegeben hatten, gegen ihn zu kämpfen. In den fünf Jahren, die er mit seinen Mannen das weite Grasland durchstreifte, hatte es nur sieben größere Schlachten gegeben. Jedes Mal hatten sie triumphiert. Es wurde ein wenig langweilig, zumal ihm für jeden Streifzug mehr Krieger zur Verfügung standen.

Selbstzufrieden sah er über die Herde, die sie erbeutet hatten. Es war unzweifelhaft eine äußerst angenehme Art, sich zu langweilen. Vielleicht sollte er beim nächsten Überfall nur tausend Kentauren mitnehmen. Dann trauten sich die Menschenkinder womöglich noch einmal, ihn zur Schlacht zu stellen.

Der Gedanke gefiel Sekander. Schließlich konnte ihnen nichts geschehen. Sollten die Menschen eine eindeutig überlegene Streitmacht aufstellen, könnten sie ihr ja leicht ausweichen.

»Junge?«

Der Kentaurenfürst straffte die Schultern. Es gab nur einen, der es wagte, ihn so anzureden, und das auch nur, wenn sie allein waren. Doch selbst dann störte es ihn. Er war kein Junge mehr! »Parmenion?«

Der alte Waffenmeister seines Vaters kam den Hügel hinauf. Er war ein prächtiger Schimmel und einer der wenigen in der Herde, die sich den Bart abrasierten. Einst hatte er ihm den Kampf mit dem Doppelschwert gelehrt.

»Shanadeen ist für die Kaufherren von Uttika gekommen, Sekander. Er wird dir einen guten Preis machen, wenn du ihm die Herde für seine Schlachthäuser überlässt. Er ist der Wortführer aller Kaufherren.«

Sekander zuckte mit den Schultern. »Gold. Was soll ich mit noch mehr Gold? Wenn ich die Rinder an meine Gefolgsleute verschenke, wächst mein Name. Was bringt es mir, wenn ich noch eine mit Gold gefüllte Kiste in meinen Palast stelle? Mein Name hingegen wird mich überdauern.«

»Wird es dich in deinem Grabhügel lebendiger machen, wenn in hundert Jahren irgendwelche Kentauren Lieder über dich grölen, während sie sich besaufen?« Parmenion stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Du musst ans Hier und Jetzt denken!«

Sekander fand es immer überaus amüsant, wenn sein alter Lehrer in Rage geriet und sich aufführte, als wäre er, der Fürst, immer noch ein Fohlen, dem man die Welt erklären musste. »Du findest also, ich bräuchte noch ein oder zwei Kisten voller Gold.«

»Natürlich nicht!« Jetzt sah Sekander das Zornesrot sogar durch das weiße Haupthaar seines Lehrers leuchten. »Rede mit Shanadeen! Er hat Verbindungen zu Zwergenschmieden. Wenn du deinen Männern Brustpanzer fertigen lässt und bessere Helme, dann werden wir weniger Verluste in unseren Schlachten haben.«

»Ich werde darüber nachdenken.« Sekander wandte sich ab und blickte wieder über die grasende Herde. Das war wahrer Reichtum! Was sollte er mit Schätzen?

»Shanadeen hat auch seine Frau mitgebracht«, sagte Parmenion wie beiläufig, obwohl der alte Fuchs natürlich genau wusste, dass das alles änderte. So viele Nächte hatte Sekander schon mit ihm über diese rätselhafte Elfe gesprochen. Das gefährliche Kindermädchen, das es geschafft hatte, den reichsten Kaufmann an der Westküste zu verführen. Die Elfe mit den seltsamen Freunden.

Seit ihrer ersten Begegnung war Sekander von ihr besessen. Er fand sie hübsch, aber das war es nicht, was dafür sorgte, dass sie ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Was sollte ein gestandener Hengst schon mit einer Elfe anfangen? Ihn interessierte das Geheimnis, das sie umgab. Sie war ganz gewiss nie ein Kindermädchen gewesen. Aber wer war sie dann? Und wer hatte sie in seine Stadt geschickt?

»Ein wenig mit Shanadeen zu reden kann ja nicht schaden«, lenkte der Fürst ein.

Als er gemeinsam mit Parmenion zum Opferstein hinabtrabte, sah er aus den Augenwinkeln, wie sein aufbrausender Lehrer breit grinste. Der Halunke wusste immer noch ganz genau, wie er seinen Fürsten zu packen bekam, dachte Sekander und musste ebenfalls lächeln.

Shanadeen stand neben dem flachen grauen Findling, inmitten der Wiese am Fuß des Hügels. Der einsame Stein, der aussah, als hätten Alben dort einen Tisch für ihre Festgelage abgestellt, diente seinem Volk schon seit Jahrhunderten als Opferplatz. Die ersten Jungtiere, die im Frühling geboren wurden, schenkten sie dort den Alben. Gelegentlich war es auch ein Gefangener ihrer Feldzüge, der sich durch besondere Tapferkeit ausgezeichnet hatte. Die Kadaver wurden auf Holzgerüsten im warmen Wind getrocknet, und es gehörte zu den Pflichten junger Kentauren, darüber zu wachen, dass sich keine Aasfresser am toten Fleisch gütlich taten. Zurzeit waren es auf Pfähle gespießte Menschenkinder, die das Ehrenrund um den Opferstein beherrschten. Einen hatten sie erst vorgestern den Alben geschenkt. Zwei Jungen mit Fächern, die auf langen Stangen steckten, hielten die Fliegen von dem toten Helden fern.

Shanadeen war nur mit kleinem Gefolge gekommen. Der Handelsfürst wedelte mit einem parfümierten Tuch vor seinem Gesicht. Dabei war der Leichengestank nicht sonderlich ausgeprägt. Sein langes, mürrisches Gesicht spiegelte sein Missfallen darüber, sich an diesem Ort mit Sekander treffen zu müssen. Der Kentaur mochte den Elfen nicht sonderlich. Seine Gesellschaft war anstrengend, er betrank sich nie, machte in lustiger Runde niemals einen Witz und schien an nichts anderes als die Warenlisten in seinen Kontoren zu denken. Warum er nach dem Selbstmord von Nevenyll noch einmal geheiratet hatte, entzog sich gänzlich Sekanders Verständnis. Ebenso wenig konnte er sich vorstellen, wie Shanadeen seine beiden Töchter gezeugt hatte. Er sah nicht aus wie ein Mann, der es genoss, bei einer Frau zu liegen.

Zu seiner Rechten stand Graumur, der in die Jahre gekommene Minotaur, der den Handelsfürsten seit Jahrzehnten als Leibwächter begleitete. Der Stiermann wirkte genauso mürrisch wie sein Herr. Er stützte sich auf eine riesige, doppelköpfige Axt und beobachtete aus den Augenwinkeln die Kentauren, die in kleinen Gruppen beim Opferstein herumlungerten und trotz der frühen Stunde bereits begonnen hatten, das rauschende Siegesfest der letzten Nacht fortzusetzen.

Bidayn war die interessanteste Erscheinung unter seinen Besuchern. Sie trug ein Jagdgewand aus hellem Hirschleder, das mit roten und blauen Perlen bestickt war und ihre schlanke Figur betonte. Ihr Blick war männlicher als der ihres Gatten. Und im Gegensatz zu ihm trug sie auch eine Waffe, wenngleich es nur ein langes Jagdmesser war.

»Ihr seid einmal nicht auf Reisen, Dame Bidayn.« Ihm war bewusst, dass er gegen die Gesetze der Höflichkeit verstieß, indem er nicht Shanadeen zuerst ansprach.

»Ihr seid einmal nicht betrunken, Fürst Sekander?«

Sekander hörte Parmenion neben sich scharf einatmen. Der Fürst lachte laut. Er mochte diese Elfe. Niemand sonst hätte es gewagt, ihm so etwas zu sagen. »Ich habe vorzüglichen Wein im Heerlager, meine Dame. Vielleicht wollt Ihr mich ja begleiten? Bei einem kleinen Umtrunk lässt sich viel entspannter verhandeln.«

»Darf ich das so verstehen, dass Ihr mich gerade ohne die Begleitung meines Mannes in Euer Zelt einladet, Fürst?«

Sekander sah, wie alle Farbe aus Shanadeens Gesicht wich. »Aber, meine Dame. Auf Feldzügen belastet sich mein Volk nicht mit Zelten. Was immer wir beide tun, werden alle Interessierten sehen können.«

Sie schenkte ihm ein angedeutetes Lächeln. »Dann muss sich also niemand Sorgen machen.« Sie wandte sich kurz an ihren Mann und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Shanadeen schüttelte entschieden den Kopf. »Fürst Sekander, wollen wir nun zur Sache kommen …«

»Nein, Kaufmann. Wir beide ganz gewiss nicht!«

Neben ihm prustete Parmenion, und selbst der mürrische Minotaur schnitt eine amüsierte Grimasse.

»Ihr wisst, was ich meine.« Shanadeen rang sichtlich um Fassung.

»Aber natürlich, mein Freund.« Sekander war sich bewusst, dass es klüger war, diese Scherze nicht auf die Spitze zu treiben. Shanadeen mochte ein Langweiler sein, aber er war auch ein einflussreicher Mann. Es war besser, ihn sich nicht unnötig zum Feind zu machen. »Trinken wir also alle einen Becher Wein und reden übers Geschäft. Parmenion sagte mir, dass Ihr gute Verbindungen zu Zwergenschmieden unterhaltet. Kennt Ihr vielleicht auch Gobhayn? Über diesen Elfen und seine Schmiedekunst erzählt man sich die unglaublichsten Geschichten. Es heißt, seine Klingen könnten sogar durch Stein schneiden.«

»Was für ein Narr schlägt ein Schwert gegen einen Stein?«, murmelte Bidayn abfällig.

»Der Narr, der nicht erst in der Schlacht erproben will, was seine Klinge taugt«, entgegnete Sekander ruhig. »Sollte ich lieber Euch nach Gobhayn fragen? Ich hörte, dass auch Ihr mit dem Schwerte umzugehen versteht.«

»Über meine Frau wird leider sehr viel Unsinn erzählt«, sagte Shanadeen und bedachte Bidayn mit einem frostigen Blick. »Und was Gobhayn angeht, habe ich im Südmeer die Geschichte gehört, dass er sich in eine Dryade verliebt hat und mit ihr in der undurchdringlichen Wildnis des Smaragdwaldes lebt. Nicht einmal mehr die Himmelsschlangen bekommen von ihm ein Schwert. Aber die Eisenarbeiten der Zwerge sind durchaus auch von herausragender Qualität. Ich bin mir sicher, dass ich mit ihrer Hilfe auch Eure ausgefallensten Wünsche erfüllen kann. Hättet Ihr nicht gerne einen Brustpanzer und einen Helm aus Silberstahl? Selbstverständlich maßgefertigt.«

Sekander kannte Klingen aus Silberstahl. Von einer Rüstung aus Silberstahl hatte er noch nie gehört. Dies wäre tatsächlich etwas, das eines Fürsten würdig wäre. »Ihr seid ein guter Kaufmann, Shanadeen. Ihr versteht es, Begehrlichkeiten zu erwecken, derer man sich noch gar nicht bewusst war.« Sekander stellte sich vor, wie er in einem Kürass aus poliertem Silberstahl aussehen mochte. Und dazu ein Helm mit einem wallenden roten Federbusch und ein Doppelschwert aus dem kostbaren Stahl. Er würde aussehen wie ein Held, den die Alben selbst in Metall gekleidet hatten. Er sollte dem Langweiler zuhören. Dabei konnte er die rätselhafte Elfe betrachten und über ihr Geheimnis nachsinnen.

In all den Jahren hatte er es nicht geschafft, einen Spitzel im Haus des Kaufherrn unterzubringen. Aber er würde schon noch herausfinden, was es mit Bidayn und den seltsamen Gestalten, mit denen sie sich umgab, auf sich hatte.

Nicht eingeladen

Keuchend sank Hornbori in die Kissen zurück. Er war ein angenehmer Liebhaber. Einer, der nicht nur daran dachte, schnellstmöglich alles zu bekommen, oder schlimmer noch, der mitten im Liebesspiel zu schwächeln begann. Er hatte sich ernsthaft Mühe gegeben, auch sie zu befriedigen. Amalaswintha war, was das anging, nicht mehr sehr verwöhnt.

Zudem litt Eikin unter krankhafter Eifersucht. Er ließ ihren Palast beobachten. Dieser blonde Schnösel Virfir, sein Enkel und größter Speichellecker, folgte ihr auf Schritt und Tritt. Wahrscheinlich war er auch jetzt nicht weit. Zwei Mal hatte sie versucht, ihn zu verführen, aber weibliche Reize schienen ihn nicht zu interessieren. Oder fand er sie alt? Der Gedanke beunruhigte sie.

Hornbori streckte sich neben ihr. »Tut das gut, endlich wieder in einem richtigen Bett zu liegen.«

»Das ist das Bemerkenswerteste an diesem Abend?«, sagte sie spitz.

Er drehte sich um und lächelte. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Du weißt, wie unvergleichlich eine Nacht mit dir ist.«

»Ob es wirklich eine Nacht wird, weiß ich im Augenblick nicht.«

Er beugte sich über sie. Seine Zunge glitt über ihre linke Brust, dann saugte er an ihrer Brustwarze und knabberte leicht mit den Zähnen daran. Augenblicklich breitete sich in ihrem Bauch eine sinnliche Wärme aus. Sie unterdrückte ein Stöhnen. Eikin machte das nie. Und Hornbori sah unendlich viel besser aus als der Alte aus der Tiefe. Sie hasste die faltige, schlaffe Haut des Herrschers. Seinen Geruch. Die grunzenden Geräusche, die er von sich gab, wenn er kurz davor war, sich zu vergießen, was er stets nur dann schaffte, wenn er selbst Hand anlegte. Die lächerlichen zwei Tröpfchen, die auf ihre samtene Haut fielen. Seine unpassenden Kommentare darüber, wie er sie wieder einmal mit seiner Manneskraft beglückt hatte. Stets schlief er kurz danach ein, um ihr laut schnarchend für den Rest der Nacht den Schlaf zu rauben. So oft hatte sie davon geträumt, ihm die Kehle durchzuschneiden.

Sie war reich. Aber Eikin verhinderte unter stets neuen Ausflüchten, dass sie die Ehernen Hallen verlassen konnte. Seit Jahren war sie im Grunde seine Gefangene. Und nun kam Hornbori zurück, als Held. Sie sollte ihn umgarnen, statt ihn durch schnippische Reden zu verärgern. Wenn sie es richtig anfing, würde er vielleicht Eikin töten. Ob er das wagte? Er hatte eine Devanthar erschlagen … Sie konnte sich das kaum vorstellen. Ihr klang noch im Ohr, dass Galar ihn bevorzugt einen Schisser genannt hatte. Hatte sich Hornbori so grundlegend geändert?

Seinen Feind Galar musste er jedenfalls nicht mehr fürchten. Gestern erst hatte Eikin bei ihr im Bett damit geprahlt, dass er die beiden Hochverräter Galar und Nyr hatte wegsperren lassen. Er hatte ihr beschrieben, in welchem Kerker die beiden lagen. Einer einzelnen Zelle am Ende eines fast vergessenen Seitentunnels. Er erwog, den Schacht mit Abraum füllen zu lassen und die beiden lebendig zu begraben. Ungenutzte Tunnel wieder zu verfüllen war nicht ungewöhnlich. Niemand würde Verdacht schöpfen. Und niemand würde Galar und Nyr je wiederfinden.

Sie tastete zwischen Hornboris Schenkel, und der Heermeister stöhnte lustvoll auf. »Wie tötet man eine Devanthar? Ich hätte dich nie für einen Frauenmörder gehalten.« Sie lächelte. »Und dann gleich noch eine Göttin …«

Hornbori hatte sichtlich Mühe, sich zu sammeln. »Ich hatte Glück«, brachte er schließlich hervor. »Sie war abgelenkt, und ich habe zugeschlagen.«

Amalaswintha traute ihren Ohren nicht. Sie hatte mit einem Zeugen gesprochen, der von einem wilden Kampf berichtet hatte, in dem Hornbori der Göttin jede Giftschlange einzeln vom Kopf schnitt, um ihr dann zuletzt den Schädel zu spalten. »Wie überrascht man eine Göttin?«

»Ich glaube, die größte Überraschung für sie war, dass meine Waffe sie verletzen konnte. Du weißt, meine Axt Schädelspalter wurde von den Himmelsschlangen geschmiedet.«

Das ist nicht mehr der Hornbori, den ich einmal kannte, dachte Amalaswintha. Sie betrachtete die Narben auf seinem Körper. Er hatte in vielen Kämpfen gestanden, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Plötzlich setzte er sich auf.

»Was ist los?«

»Ich sollte gehen«, sagte er entschieden und schwang die Beine über die Bettkante.

»Warum?«

»Eikin! Wenn er uns gemeinsam im Bett …«

Sie lachte. »Du tötest eine Göttin und fürchtest dich vor Eikin?«

»Ihm kann ich nicht einfach den Schädel spalten. Wenn ich das täte, wäre ich ein Geächteter. Dies hier ist sein Berg. Er macht hier die Gesetze, und ich bin nur ein Gast.«

»Aber ein Gast, dessen Wort schwer wiegt.« Sie musste ihn dazu bringen, Eikin zu erschlagen. Dann wäre sie endlich wieder frei.

Hornbori griff nach seiner Hose.

»Du musst dir keine Sorgen machen, mein Hübscher. Eikin ist auf einem Treffen mit den Alten aus der Tiefe.«

Der Heermeister hielt mitten in der Bewegung inne. »Sie sind schon da?«

»Natürlich, ebenso wie die Himmelsschlangen. Sie halten in dieser Nacht einen geheimen Rat ab. Wahrscheinlich wird jetzt schon alles besprochen, was sie morgen gemeinsam im Amethystsaal verkünden.« Er hatte keine Narben auf dem Rücken, dachte Amalaswintha. Sie waren ein untrügliches Merkmal von Feiglingen. Sie erhielten ihre Wunden nicht im Kampf, sondern während sie davonliefen.

»Woher weißt du das?«

»Männer erzählen gern nach Liebesnächten. Eikin war gestern völlig außer sich. Die Alten sind nicht gewohnt, dass ihnen irgendjemand Befehle gibt. Und schon gar nicht die Himmelsschlangen.«

Hornbori ließ die Hose sinken und drehte sich zu ihr um. »Du hast recht, ich sollte den Rest der Nacht bei dir verbringen.«

Sie lächelte kokett. »Was hat dich umgestimmt? Was ist an der Nachricht über ein Treffen von alten Männern und Echsen so viel überzeugender, als meine Reize es sind?«

»Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Doch. Dein Verhalten ist wenig schmeichelhaft …«

»Ich bin der Heermeister, Amalaswintha! Verstehst du nicht? Ich hätte auch eingeladen sein müssen. Dass ich es nicht bin, kann nur eines bedeuten. Es wird über Dinge gesprochen, die ich nicht erfahren soll. Es geht um meinen Kopf …«

Ganz unrecht hatte er nicht. »Das passt«, sagte sie leise.

»Wozu passt das?«

»Eikin hat Nyr und Galar in aller Heimlichkeit einkerkern lassen. Womöglich schmiedet er ein Komplott gegen euch drei.«

»Wo sind die beiden?«

Amalaswintha beschrieb ihm, wo der abgelegene Seitentunnel zu finden war. Wenn er sich jetzt daranmachte, seine Gefährten zu befreien, dann würde das unweigerlich zum Konflikt mit Eikin führen. Und einen Kampf mit Hornbori Drachenfaust würde der Alte aus der Tiefe nicht überleben.

Der Heermeister ließ sich zurück auf das Bett sinken. »Meine Freunde eingekerkert. Mein Feind schmiedet ein Komplott mit den Götterdrachen … Ich glaube, das Beste, was ich jetzt noch tun kann, ist diese Nacht mit der aufregendsten Frau zu verbringen, die ich kenne.«

»Du willst nicht versuchen, Galar und Nyr zu befreien?«

Hornbori schnaubte verächtlich. »Eikin ist kein Narr. Er wird dafür gesorgt haben, dass der Kerker gut bewacht ist. Wahrscheinlich stehen sogar vor deinem Palast Spitzel. Er wird wissen, was wir hier tun. Also lass es uns in vollen Zügen genießen.« Er leckte sich anzüglich mit der Zunge über die Lippen. »Du gibst eine wunderbare Henkersmahlzeit ab. Ganz gleich, welches Schicksal die Alben mir bestimmt haben, in dieser Nacht habe ich es besser getroffen als irgendein anderer Zwerg in diesem Berg.«

Amalaswintha war überrascht, dass er nicht einmal den Versuch unternehmen wollte zu kämpfen. Er war doch ein Held … Lange dachte sie darüber nicht nach. Ob Held oder nicht, er war zweifelsohne ein guter Liebhaber.

Das Tribunal

Er hatte das Gefühl, dass er der Letzte war, der den Amethystsaal betrat. Hornbori hatte das Vergnügen gehabt, Virfir, Eikins Speichellecker, kennenzulernen. Der blonde Hauptmann hatte ihn abgefangen, nachdem Hornbori Amalaswinthas Palasthöhle verlassen hatte. Begleitet von vier kräftigen Kriegern hatte Virfir dafür gesorgt, dass sie sich erst unterhielten, und der Mistkerl hatte durchblicken lassen, dass Eikin es nicht schätzte, wenn andere Männer über Nacht bei seiner Geliebten blieben.

Hornbori war überzeugt, dass dieses ganze Schauspiel nur stattfand, damit Eikin über die nächtlichen Abenteuer in Kenntnis gesetzt werden konnte. Der Heermeister lächelte versonnen. Ganz gleich, was geschah, die Stunden mit Amalaswintha würde er nicht bereuen.

Der Blick durch den weiten Saal ließ ihn dann aber doch zweifeln. Hunderte Zwerge standen in langen Reihen. Alle in Rüstungen, als wollten sie gleich zum Kampf ausrücken. Am Ende des Saals, auf einer Bühne, saßen an einem langen Tisch elf Graubärte. Das mussten die Alten aus der Tiefe der elf größten Siedlungen sein. Und leicht rechts von ihnen stand eine Gruppe von sieben Elfen. Er ahnte, wer sie sein mussten.

Eine schmale Gasse führte durch das Heer der Krieger direkt zur Bühne. Hornbori hatte das Gefühl, dass jedes einzelne Augenpaar im Saal auf ihn gerichtet war. Ihm wurde übel. Der Tisch mit den Alten, das sah aus wie ein Tribunal. Waren sie ihm endlich auf die Schliche gekommen? War aufgeflogen, was für ein Feigling er in Wirklichkeit war?

Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre davongelaufen, aber hinter ihm standen Virfir und dessen Spießgesellen. Es war aussichtslos! Er konnte nicht entkommen. Dann würde er dieses Spiel zumindest mit Anstand hinter sich bringen.

Ihm zitterten die Beine, als er langsam der Bühne entgegenging. Die Masse der Gesichter verschwamm. Es war unglaublich heiß. Schweiß rann ihm in Sturzbächen den Rücken hinab.

Wie sahen ihn die Alten denn an? Als würden sie ihn fressen wollen. Die buschigen Augenbrauen zusammengekniffen, mit zornigem Blick. Hornbori wünschte sich, er hätte zum Frühstück nichts getrunken. Seine Blase schien ihm so voll, dass er sich jeden Augenblick einnässen konnte.

Endlich stand er am Ende des Spaliers vor der hohen Bühne. Er fühlte sich lächerlich klein.

Der Goldene trat aus der Gruppe und winkte ihm. »Hornbori von der Tiefen Stadt, komm zu uns herauf, damit dich ein jeder im Saal sehen kann.«

Er schluckte. Sein Mund war staubtrocken. Was war herausgekommen? Wie er seine Männer auf der Eisebene verraten hatte? Dass er den Meerwanderer nur aus Versehen getötet hatte? Dass er keineswegs der erste Angreifer in der Bresche der Stadtmauer von Weithall gewesen war? Dass die Kentauren ihre überaus erfolgreichen Raubzüge in der Messergras-Steppe nicht auf seinen Befehl hin, sondern aus Eigeninitiative ausführten? Sollten alle, mit denen er gekämpft hatte, nun sehen, wie er vernichtet wurde?

Etwas in den Worten des Goldenen übte einen unwiderstehlichen Zwang aus. Obwohl er das Gefühl hatte, seine Beine müssten jeden Augenblick unter ihm wegknicken, stieg er die schmalen Stufen zur Bühne herauf.

»Ich … ich kann alles erklären.« Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern.

Der Goldene schüttelte nur den Kopf. Die Zwergenfürsten betrachteten Hornbori mit versteinerten Mienen. Blanke Verachtung spiegelte sich in ihren Zügen. Hier also endete sein Traum, selbst einmal ein Fürst zu werden.

Die Hand des Goldenen legte sich schwer auf Hornboris Schulter. Der Zwerg brachte es nicht fertig, in das Meer der Gesichter vor der Bühne zu sehen. Er wusste, viele Männer dort unten kannten ihn aus den Feldzügen der vergangenen Jahre. Und die meisten von ihnen hatten ihm, gegen jede Vernunft, vertraut. Nun würde die Maske also fallen. Er wünschte sich, er wäre auf einem der vielen Schlachtfelder gefallen.

»Vor uns steht ein Zwerg, dessen Taten mich und meine Nestbrüder zutiefst aufgewühlt haben«, sagte der Goldene laut.

Hornbori überlegte, welche Strafe die Himmelsschlangen wohl für ihn ersonnen hatten. Auf einen schnellen Tod durfte er gewiss nicht hoffen.

»Kein Albenkind wurde je geboren, das diesem Zwerg gleich ist.«

Hornbori wäre am liebsten im Boden versunken. Er war also der größte entlarvte Betrüger aller Zeiten. Gut, dass seine Eltern in der Tiefen Stadt umgekommen waren, sonst hätte sie die Schande des heutigen Tages ins Grab gebracht.

»Vor uns steht der Krieger, der eine Devanthar getötet hat. Eine Göttin! Kann man größeren Waffenruhm erringen? Kaum dass meine Nestbrüder und ich ihn zum Heermeister berufen haben, erschlug er den Meerwanderer. Man muss dieses Ungeheuer gesehen haben, um zu ermessen, was dies heißt. Es war eine Bestie, groß wie ein Berg.« Der Goldene machte eine weite Geste zum Saal hinab. »Ich weiß, dort unten stehen Männer, die in der Schlacht um Asugar an Hornboris Seite gefochten haben. Männer, die diesem Schrecken ins Auge geblickt haben. In unzähligen Schlachten habt ihr mit dem Heermeister gekämpft. Auch wenn niemand immer siegen kann, so kann man keinem von euch vorwerfen, dass es den Zwergen Albenmarks an Tapferkeit mangelt. Ihr haltet die Schlachtlinie, wo alle anderen längst die Flucht ergriffen haben.«

Hornbori traute seinen Ohren kaum. Er war sich zwar nicht im Klaren, worauf das hier hinauslaufen sollte, aber es hörte sich nicht so an, als würde er verurteilt werden. Endlich wagte er es, die versammelten Zwerge anzusehen. Der Goldene hatte es geschafft, dass viele der Krieger breit grinsten. Kampferprobte Veteranen, die sonst für Drachen kein gutes Wort übrig hatten.

»Es ist längst an der Zeit, dass höchster Tapferkeit durch höchste Ehre Anerkennung gezollt wird. Deshalb haben wir beschlossen, den Heermeister Hornbori an diesem Tag zum Herrscher aller Tiefen auszurufen. Zum Herrscher aller Zwerge!«

Ein Raunen ging durch den weiten Amethystsaal. Hornbori war völlig überrumpelt. Er konnte es kaum fassen. Nun war ihm klar, warum die Zwergenfürsten ihn mit versteinerten Blicken angesehen hatten. Dieser Ehrung hatten sie ganz gewiss nicht freiwillig zugestimmt.

All seine Träume hatten sich in diesem Augenblick erfüllt. Ja, sie waren bei Weitem übertroffen worden! Er hatte der Fürst eines Berges werden wollen. Das war die höchste Würde, die ein Zwerg erreichen konnte. Der Alte in der Tiefe zu werden. Sie alle zu beherrschen, das hatte es bisher noch nie gegeben, und Hornbori spürte, wie die Stimmung auch unten im Saal umzuschlagen drohte. Er konnte das nicht annehmen. Jedenfalls nicht einfach so … Auch wenn er nichts mehr wollte.

»Ich bin überwältigt!«, rief er. Seine Stimme hatte zu ihrer alten Kraft zurückgefunden. »Doch kann ich diese Auszeichnung nicht annehmen.« In seinem Inneren nahm ein kühner Plan Gestalt an, und er breitete die Arme aus. »Wie könnte ich hier stehen und mich feiern lassen, wo ich weiß, dass in dieser Stunde zwei der tapfersten Zwerge meines Heeres eingekerkert sind, ohne dass sie sich etwas hätten zuschulden kommen lassen. Galar und Nyr, die seit Beginn des Feldzugs in jeder Schlacht gekämpft haben, wurden Opfer einer Intrige. Eikin, der Alte aus der Tiefe der Ehernen Hallen, will ihren Tod. Warum, weiß ich nicht, doch liegen die beiden zu Tode verwundet auf fauligem Stroh. Nicht einmal ein Tier würde man so wegsperren, wie Eikin es mit den Helden aus unserer Mitte getan hat. Wer je an meiner Seite gekämpft hat, wer ein Herz in seiner Brust trägt, das für die Gerechtigkeit schlägt, der folge mir nun, auf dass dem Unrecht ein Ende bereitet werde!«

Er sah, wie sich Eikin an der Tafel erhob. Der Alte aus der Tiefe durfte nicht sprechen! Wenn er den Himmelsschlangen verriet, warum er Galar und Nyr hatte beseitigen wollen, dann war alles verloren. Der Herrscher wusste um das Geheimnis der Drachentöterpfeile.

Hornbori sprang auf den Tisch, an dem die Zwergenfürsten saßen, und zog seine Axt. »Glaubst du, du kannst dich der Gerechtigkeit noch einmal in den Weg stellen?« Mit einem wuchtigen Hieb schlug er die flache Seite der Axt gegen Eikins Schläfe. Der alte Fürst fiel wie vom Blitz gefällt zu Boden.

»Befreien wir unsere Helden!«, rief Hornbori der Menge zu. Dann wandte er sich an die Zwergenfürsten, und diesmal war er es, der mit versteinerter Miene auf sie hinabsah. »Achtet mir auf Eikin. Wenn ich zurückkehre, werde ich über ihn zu Gericht sitzen.«

Die Götterdrachen sahen ihn verwundert an, aber sie ließen ihn gewähren, ja, ein Rothaariger trat sogar aus der Phalanx seiner Brüder und sprach: »Ich komme mit dir!«

Gefährten

Ein letzter Hieb, und die schwere Eichentüre gab endgültig nach und stürzte in den Kerker. Übler Gestank schlug Hornbori entgegen.

Galar und Nyr lagen am Boden inmitten von blutdurchtränktem Stroh. Vier Wunden quer über die Brust des Schmiedes waren mit Eisenringen zugeklammert. Nyr lag neben Galar. Er hatte sich mit einem Eisenring eine Arterie am Arm aufgestochen und offensichtlich versucht, Galar durch einen Strohhalm Blut von sich zukommen zu lassen. Und ebenso offensichtlich war es gründlich schiefgegangen.

Hornbori stürzte in die Kerkerzelle. Er fasste an den Hals des Schmieds. Da war kein Puls. Er legte die Linke auf Nyrs Hals. Auch bei dem Richtschützen konnte er keinen Puls mehr fühlen. Ihre Körper waren kalt, die wettergegerbten Gesichter blass wie Marmor.

Hinter Hornbori drängten andere Zwerge in den Kerker. Der dicke Ulur kniete als erster neben ihm. Auch er fühlte nach dem Puls der beiden. Leises Gemurmel ertönte.

»Es sieht nicht gut aus«, sagte jemand zu all denen, die im schmalen Gang vor der Kerkertür warteten.

Hornbori hörte, wie die geflüsterte Botschaft den Gang hinab zu den Zwergen im Haupttunnel wanderte. Hunderte waren ihm gefolgt, als er den Amethystsaal verlassen hatte. Und es waren nicht nur Krieger gewesen, die unter ihm gedient hatten, auch Bergleute aus den Ehernen Hallen, Leibwächter, die mit den Alten aus der Tiefe gekommen waren, Schiffer, die sich in den Aalen abstrampelten, und Lastenträger, die das taube Gestein aus den Minen hinausschleppten.

Ulur drückte den beiden Toten die Augen zu. Wie stets trug er kein Hemd, um all die rätselhaften Karten, die er sich in seine Haut hatte stechen lassen, zur Schau zu stellen. Sein mächtiger Brustkorb bebte, und er rang mit den Tränen. So hatte Hornbori ihn noch nie gesehen. »Bringen wir sie hier fort«, sagte der Bootsführer mit belegter Stimme.

Hornbori konnte nicht anders, als auf die beiden Toten zu starren. Er konnte nicht glauben, was er sah. Noch einmal fühlte er nach dem Puls der zwei. Nichts! Galar, der Mann, der ihm seine Drachenfaust verschafft hatte, der ihn hatte ermorden wollen, der ihn so voller Inbrunst verabscheut hatte und doch immer in seiner Nähe geblieben war, und Nyr, der immer um Ausgleich bemüht gewesen war, der ihm vor ein paar Tagen erst das Leben gerettet hatte. Sie beide tot – das konnte nicht sein. So viele Gefahren hatten sie gemeinsam überlebt. Die beiden konnten nicht einfach in einem schmutzigen Kerker verreckt sein. Hätte er Amalaswintha noch in der Nacht verlassen, um zu ihnen zu gehen, dann hätte er sie noch gerettet.

»Du kannst nichts mehr für sie tun, Heermeister«, sagte Ulur.

Das war wahr. Aber Galar und Nyr konnten noch etwas für ihn tun. Ein letztes Mal. Er musste schnell und entschlossen handeln, dann würden die beiden ihn zum Herrn aller Tiefen machen.

»Ich will Gerechtigkeit«, rief er mit volltönender Stimme. Er sah den bartlosen Ginnar inzwischen im Eingang des Kerkers stehen. »Helft mir!«, forderte er entschieden. »Du, Ginnar, und du, Ulur, und all die anderen. Wir wollen die beiden Helden auf unseren Schultern in den Amethystsaal tragen. Und dort fordern wir, was ihnen im Leben genommen wurde: Gerechtigkeit!«

Gerechtigkeit

»Gerechtigkeit!« Das war ihr Schlachtruf. Hunderte Kehlen schrien ihn heraus, und die glitzernden Wände des Amethystsaals hallten wider von diesem Ruf, als Nyr und Galar auf die Tribüne gehoben wurden.

»Dorthin!«, befahl Hornbori und deutete auf den langen Tisch, an dem die Alten aus der Tiefe noch immer saßen.

Hornbori hatte den Marsch zurück zum Festsaal genutzt, um seine Gedanken zu ordnen. Er musste Eikin loswerden. Der Fürst konnte ihn vernichten, und er würde es tun, wenn er ihm die Gelegenheit dazu ließ. Doch noch saß er zusammengesunken auf seinem Lehnstuhl.

»Packt den Mörder!«, befahl der Heermeister harsch.

Es war Ginnar, der als Erster dem Befehl nachkam. Kalter Hass lag in den Augen des Kriegers aus Ishaven. Er zerrte Eikin hoch, der benommen blinzelte, und drückte ihn auf den Tisch.

»Dies ist der Mann, der verwundete Helden wegsperrt!«, rief Hornbori und deutete auf den Fürsten. »Der Mann, der sie in ihrem Kerker verbluten lässt.« Er machte eine Pause, und es geschah, worauf er gehofft hatte. Das Geschrei nahm wieder zu.

»Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!«, skandierte die aufgeputschte Menge.

»Welche Gerechtigkeit kann einen Mord sühnen?«, rief Hornbori von der Tribüne herab. »Was erwartet einen Mann als Strafe für zu Unrecht vergossenes Blut?«

»Das ist nicht wahr …« Eikin versuchte, sich aufzubäumen, doch Ginnar drückte ihn erbarmungslos auf die Tischplatte zurück.

»Welche Strafe fordert ihr?«, rief Hornbori erneut.

»Den Tod!« Es war nur eine einzige Stimme, die dies rief, doch sie hob sich deutlich von all den anderen ab. Amalaswintha. Die Zwergin stand inmitten der aufgebrachten Menge. Sie trug ein scharlachrotes Kleid, war ganz die Fleisch gewordene Verführung. Die Krieger um sie herum hielten Abstand zu ihr, als scheuten sie vor ihrer unnahbaren Schönheit zurück. Es wurde ein wenig stiller im Saal, und ein zweites Mal war laut und deutlich ihre Stimme zu hören. »Ich fordere den Tod für Eikin, den Alten aus der Tiefe der Ehernen Hallen. Für Eikin, den feigen Meuchler von Helden!«

»Töte ihn!«, schrie noch jemand in der Menge.

»Töte ihn!«, erklang in der vordersten Reihe vor der Tribüne der tiefe Bass von Ulur.

»Töte ihn!« Der Ruf griff um sich. Immer mehr Krieger stimmten ein.

Hornbori zog die Axt Schädelspalter aus der Lederschlinge auf seinem Rücken. Er wandte sich zum Tisch um. Ginnar hielt den Fürsten weiterhin auf die schwere Eichenplatte niedergedrückt.

»Das ist nicht wahr …«, protestierte Eikin, doch seine Worte gingen in den wilden Schreien der aufgebrachten Menge unter.

»Töte ihn!«

Besser hätte es nicht laufen können, dachte Hornbori, hob die Axt und ließ das schwere Blatt niedersausen. Ohne Mühe durchtrennte er den Hals. Die anderen Fürsten sprangen von ihren Stühlen auf.

»Töte ihn!«, stammelte der Herrscher von Ishaven opportunistisch.

Hornbori griff Eikin ins weiße Haar und hielt den Kopf hoch, sodass die Menge das Haupt deutlich sehen konnte. »Dies ist die Gerechtigkeit des Volks!«, rief Hornbori.

Die Drachen in Elfengestalt hatten die ganze Zeit über am Rand der Bühne gestanden und dem grausigen Treiben mit unbewegter Miene zugesehen. Nur der Rote, der ihn auch zum Verlies begleitet hatte, wirkte aufgewühlt. Er nickte ihm zu, als wollte er ihm zeigen, dass dieses Urteil gerecht gewesen war.

Plötzlich löste sich der Goldene aus der Gruppe der Drachen und trat an den langen Tisch, von dem in Strömen Eikins Blut spritzte. Er legte Nyr und Galar je eine Hand auf die Brust.

Langsam erstarben die Wutschreie der Menge. Verwundert sahen sie der Lichtgestalt zu, denn es sah aus, als wolle die strahlende Aura, die den Goldenen umgab, auch auf die beiden Toten übergreifen.

Hornbori stellte den Kopf des Fürsten neben dessen Rumpf ab. Es war nicht gut, dass die Himmelsschlange die Toten betatschte. Der Heermeister kannte seine Zwergenbrüder gut. Die meisten von ihnen würden das übelnehmen.

»Sie sind nicht tot!«, verkündete der lichtumflorte Elf, gerade als Hornbori einschreiten wollte.

»Das kann nicht sein«, stammelte er. »Sie hatten keinen Puls mehr. Sie …« Er blickte hinab zu Ulur in der vordersten Reihe. »Du hast es auch gespürt. Sie hatten keinen Puls. Sie waren tot!«

»Das stimmt«, bekräftigte der Bootsführer. »Auch ich habe meine Hand an ihre Kehle gelegt. Das Blut in ihren Adern stand still. Sie waren von uns gegangen.«

»Sie hatten nur noch so wenig Blut im Leib, dass ihr es nicht fließen spüren konntet.« Die Stimme des Goldenen hatte allen Lärm in der weiten Halle verstummen lassen. »Doch glomm in ihnen beiden noch ein Funke Leben, den ich wieder zu einem Feuer entfachen konnte. Sie werden wieder genesen!«

Beifälliges Gemurmel breitete sich unter den Kriegern aus. Hornbori war überrascht. Hier retteten die Himmelsschlangen zwei Zwerge, und – zumindest für den Augenblick – war ihnen vergeben, dass sie in der Tiefen Stadt Tausende ermordet hatten. Er aber würde ihnen das nicht verzeihen. Niemals! Ganz gleich, mit welchen Würden sie ihn bedachten.

Der Goldene ging zurück zu seinen Nestbrüdern. Sie besprachen sich.

Hornbori hingegen trat zu seinen beiden Gefährten. Nyr und Galar lagen immer noch reglos vor ihm. Er tastete nach ihrem Hals. Jetzt spürte er wieder einen starken Puls. Doch statt sich zu freuen, lief ihm ein Schauder über den Rücken. Die beiden waren tot gewesen! Was hatte der Goldene mit ihnen gemacht? Waren das noch die beiden Rebellen, die er kannte?

Ein anderer der Elfen trat nun aus der kleinen Gruppe. Eine durch und durch finstere Gestalt, mit schwarzem Haar und schwarzem Gewand. Er musste sich nicht vorstellen, damit Hornbori wusste, dass er den Erstgeschlüpften vor sich hatte.

»Heermeister Hornbori!«, sagte er. Seine Stimme füllte die Halle bis in den hintersten Winkel, obwohl er nicht laut sprach. »Meine Brüder und ich haben entschieden, dich zum Herrn aller Tiefen zu machen. Knie nun nieder, empfange meinen Segen und erhebe dich als Erster unter den Zwergen.«

Obwohl Hornbori auf dem Rückweg vom Kerker alles genau überlegt hatte und ihm sein Entschluss klar und einfach erschienen war, fiel es ihm nun doch schwer, seine Entscheidung vor dieser finstren Gestalt stehend auch umzusetzen. Er musste all seinen Mut zusammennehmen, um überhaupt eine Silbe über die Lippen zu bringen. »Ich kann … diese Würde nicht annehmen.« Die Worte fühlten sich wie scharfkantiges Glas in seiner Kehle an. Hornbori wusste ganz genau, dass diese Ehrung nichts wert war, wenn sie von den Drachen kam. Nicht einmal, wenn es die Himmelsschlangen waren. Seine Brüder würden diesen Titel einfach nicht anerkennen. Er wandte sich an die Zwerge, die sich im weiten Saal versammelt hatten.

»Dort unten stehen Hunderte Helden. Warum sollte ich geehrt werden? Jeder Einzelne von ihnen verdient es, ein Fürst zu sein. Wenn ich einen Titel empfange, dann können nur sie es sein, die ihn mir zuerkennen. Ein Herrscher über alle Zwerge kann nicht von Drachen benannt werden, nicht einmal von Himmelsschlangen. Nur Zwerge können diese Würde verleihen.«

Hornbori spürte den Zorn des Dunklen. Der Drache in Elfengestalt blickte auf ihn herab. Durchbohrte ihn mit Augen, las in seinen Gedanken.

Der Heermeister klammerte sich an die Erinnerungen der letzten Nacht. Er dachte an Amalaswintha. Ihre schweren Brüste. Daran, wie er sie liebkost hatte. Ihr sinnliches Lächeln. Mit aller Macht beschwor er die Bilder der letzten Nacht in seinen Gedanken.

Er war auch da, der Erstgeschlüpfte. Tief in seinem Kopf. So präsent, als wäre er in der letzten Nacht bei ihnen gewesen. Er grub, wollte tiefer in seine Vergangenheit. Wollte an die verborgensten Geheimnisse. Es war ein Gefühl, als säße etwas tief in seinem Kopf. Eine Maus, eingesperrt in seinem Schädel, die mit kleinen Krallen in seinem Hirn zerrte. Der Schmerz nahm zu.

Hornbori fühlte sich schwanken. Sein Empfinden war seltsam distanziert, als würde er sich selbst von außen betrachten. Und da war noch etwas … Ein Druck auf seinen Ohren. Etwas, das anwuchs, stärker und stärker wurde, als wollte etwas von außen jene Maus vertreiben, die sich in seine Gedanken fraß.

Plötzlich war der Schmerz verschwunden. Alles, was blieb, war Übelkeit und der Druck auf seinen Ohren, der sich langsam wandelte. Es war ein tosendes Geräusch. Ein Ruf aus Hunderten von Kriegerkehlen. »Herr aller Tiefen!«

Die Geweihten

Hunderte Trommeln dröhnten in der weiten Höhle tief unter der verborgenen Stadt. Adlerkrieger stürzten sich mit schrillem Kreischen von einem Holzturm und glitten mit weit ausgebreiteten Schwingen über den Blutsee hinweg. Die Jaguarmänner tanzten in selbstvergessener Ekstase vor der Stufenpyramide, auf deren unterster Terrasse sich die Auserwählten versammelt hatten, die heute in die beiden Kriegerorden aufgenommen werden sollten.

Langarm hielt sich abseits. Er stand im Eingang zu einem Tunnel, der tief unter die Pyramide führte. Dort wurde in großen Urnen die Asche verdienter Priester aufbewahrt. Sein gefiederter Bruder hatte sich überraschend dankbar gezeigt, als seine zweite Schlange rechtzeitig fertig geworden war. Nicht nur konnte er von dort unbeobachtet dem bizarren Ritual beiwohnen, sein Bruder hatte ihm – wohl auch unter dem Druck der anderen Devanthar – die zweite Höhle überlassen, die von diesem Tunnelsystem abging.

Sie erstreckte sich unter dem Westhang des Weltenmunds bis hin zum Großen Fluss und war so weit, dass ganze Viertel der Goldenen Stadt darüber errichtet standen.

Schon bei der ersten Besichtigung war Langarm begeistert gewesen. Turmdicke Felssäulen trugen die Decke; und es lag wohl an der Existenz der Höhle, dass die Stadtteile, die über ihr lagen, von dem großen Beben weit weniger schlimm betroffen waren. Zu welchem Zweck Nangog diesen gewaltigen Hohlraum erschaffen hatte, wusste auch sein Bruder nicht. Doch Langarm war sich sicher, dass es einen Grund dafür geben musste. Es bestanden schließlich Verbindungen hinab zum Schlund, der bis ins Innerste der Hohlwelt führte. Hinab zu dem Gefängnis, in dem Nangog bis ans Ende aller Zeiten eingesperrt sein würde.

Abgesehen von den Säulen und einigen Kristallpfeilern, die aus dem Boden der Höhle wucherten, war der Ort leer. Er war wie dafür geschaffen, sein größtes Werk zu vollenden: den Reißzahn! Langarm hatte schon etliche vorgefertigte Teile für dieses Wunderwerk in die Höhle schaffen lassen. Das würde seine genialste Schöpfung werden. Er konnte es kaum erwarten, dort mit der Arbeit zu beginnen. Einige seiner größeren Spinnen hatten bereits angefangen, Schmelzöfen zu errichten. Die Vorräte an Erz und Holzkohle, die er benötigen würde, waren gewaltig. Es war eine Aufgabe, wie sie nur ein Gott bewältigen konnte, dachte er voller Stolz. Nicht so ein Maskenball, wie ihn sein Bruder hier aufzog.

Der Gefiederte stand neben dem Unsterblichen Necahual und umringt von federgeschmückten Priestern am Ufer des Blutsees. Mit theatralischen Gesten deutete er auf das aufgewühlte Wasser und rief düstere Worte, die zu keiner Sprache gehörten, die Langarm kannte. Wahrscheinlich hatte sein Bruder sie nur wegen ihres Klangs erfunden.

Beide Drachen erhoben gleichzeitig ihre goldenen Häupter aus dem dunklen Wasser. Langarm nickte zufrieden. Die beiden gefiederten Schlangen waren ihm gut gelungen. Sie bewegten sich ganz natürlich, trotz der vielen Metallteile, die er in ihre Leiber hatte einziehen müssen.

Der Trommelschlag steigerte sich zu frenetischen Wirbeln. Nun beugte sich einer der Schlangendrachen vor. Fasziniert beobachtete Langarm, wie sein Bruder einen tiefen Schnitt in den Drachenleib setzte und in einem goldenen Pokal das Blut auffing, das aus der Wunde strömte.

Nun stiegen die Auserwählten von der Pyramide herab. In langer Reihe traten sie vor den Gefiederten. Ein jeder von ihnen nahm einen Schluck von dem Blut, während sein Bruder ihnen seine Hand auf die Stirn legte und einen Zauber wob.

Die Auswirkungen auf die Menschenkinder waren sehr unterschiedlich. Manche brachen nach ein paar Schritt, von Krämpfen geschüttelt, in die Knie. Andere schlugen schreiend ihren Kopf gegen die gemauerte Einfassung des Sees oder sprangen sogar in das dunkle Gewässer. Wieder andere waren still.

Wie viele Männer sein Bruder wohl opfern musste, um einen einzigen Jaguarmann oder Adlerkrieger zu bekommen? Je länger Langarm sich dieses Spektakel ansah, desto mehr missfiel es ihm. Es lag nicht an der Grausamkeit. Es war die Verschwendung von Leben, die ihn ärgerte. Da war seine Arbeit doch wesentlich effektiver.

Muschelhörner wurden geblasen, und jene Männer, die nicht in unsinnige Raserei verfallen waren, reihten sich ein zweites Mal vor dem Gefiederten ein. Jetzt schnitt sein Bruder kleine Fleischbrocken aus der Brust der zweiten Himmelsschlange und legte sie den Kriegern, die vor ihn traten, in den weit geöffneten Mund.

Der Zauber, den sein Bruder wob, hatte eine solche Macht, dass Langarm ein unangenehmes Brennen auf der Haut spürte. Jedes Haar an seinem Körper richtete sich auf. Der Gefiederte nahm den Kriegern einen Großteil ihrer Menschlichkeit. Er stärkte die Seite des Tieres, mit dem sie sich verbunden fühlten. Es waren nicht länger Männer, die sich mit einer Jaguarhaut oder einem Federgewand verkleideten. Die Überlebenden fauchten und kreischten. Einige griffen sich gegenseitig an.

Langarm entschied, dass er genug gesehen hatte, und zog sich unbemerkt aus der Höhle zurück. Er wählte den verborgenen Weg der Priester hinauf in die Goldene Stadt. Es war die Nacht der Heiligen Hochzeit auf der Stufenpyramide von Isatami. Die Nacht des Festes, das er einst ersonnen hatte, damit Išta niemals ihr Versprechen vergessen würde. Es gab noch vieles zu tun, und eine Mischung aus Unruhe und Vorfreude ergriff ihn, als er, der lebende Gott, durch die Straßen ging und die Menschenkinder ihn ungläubig ansahen oder sich gar vor ihm in den Staub warfen. Diese Verehrung wurde ihm nur selten zuteil. Es war ein gutes Vorspiel für die Ereignisse des kommenden Tages, die ihm noch weit größere Freude bescheren würden.

Der Preis der Herrschaft

»Nun, wie war dein Fest?«

Išta sah kalt auf ihn herab. »Labarna sieht aus wie ein Tier, aber er verhält sich nicht so. Er ist ganz anders als Muwatta. Er erwählt nur Frauen zur Heiligen Hochzeit, die sie mit ihm auch wirklich begehen wollen. Und er nimmt es schwer, wenn sie nicht schwanger werden … Warum hast du dir dieses Ritual ausgedacht? Die Opferung? Dass die Frauen ihr Blut und ihr Leben für die Fruchtbarkeit des Landes geben müssen, wenn sie kein Kind empfangen?«

Langarm schnitt den Pfau auf, den er in vollem Federkleid zubereitet hatte, was selbst für ihn eine Herausforderung war. Geschickt holte er die Leber heraus, legte sie neben die beiden Klöße und die rohe Möhre. An den Tagen mit Išta mochte er es, sich vulgär zu geben. Mit Schwung verteilte er ein wenig dunkle Sauce über dem Arrangement und reichte den Teller dann der geflügelten Göttin.

»Ich habe keinen Hunger. Was soll das? Wir sind Götter! Wir müssen nicht essen.«

»Du wirst essen, weil ich es so will. Muss ich dich an unseren Pakt erinnern? Diesen einen Tag im Jahr gehörst du ganz und gar mir. Das ist der Preis dafür, dass dir Luwien gehört. Der Preis für deinen Verrat an Anatu und den Mord am Purpurnen. Ein Tag mit mir. Jedes Jahr nach der Sommersonnenwende.«

Sie nahm den Teller entgegen.

Langarm mochte es, wenn sie wütend war und sich doch hilflos fügte. Ausgeliefert zu sein war ein Gefühl, das seiner Schwester ganz und gar unvertraut war. Damit zu spielen gehörte zu den vielfältigen Freuden, die ihm dieser Tag bereitete.

Er sah zu, wie sie ein Stück von der Leber abschnitt und sich widerwillig in den Mund schob.

»Du solltest von der Sauce kosten!«

Sie schnitt ein weiteres Stück Leber ab und schob es in den Mund.

»Das war kein Wunsch!«, fuhr er sie an. »Tu es!«

Sie hob verächtlich eine Braue. »Sonst was?«

»Das weißt du!«

Sie seufzte. »Ja, das weiß ich. Ich gehöre dir nur einen einzigen Tag im Jahr, und ich kann dir wahrlich nicht den Vorwurf machen, sehr originell bei der Gestaltung des Ablaufs dieses Tages zu sein. Du hast vor, mich auf jede nur erdenkliche Art zu erniedrigen. Was also ändert es, ob ich mich nun füge oder nicht?« Sie sah ihm auf den Schritt und das auf eine Art, die jegliche Gefühle erstickte. »Es wird wieder geschehen, dass deine Träume deine Möglichkeiten übertreffen. Du wirst mir die Schuld daran geben. Du wirst deine gewalttätigen Fantasien an mir ausleben. So ist bislang jeder unserer Tage verlaufen. Bestehst du deshalb darauf, dass die Frauen, die bei der Heiligen Hochzeit nicht schwanger werden, geopfert werden müssen? Ist es einfach deine Neigung?«

Er betrachtete das Messer in seiner Hand. Eine Spur Sauce verdeckte einen Teil des wunderschönen blauen Linienmusters auf der Klinge. Er hatte viele Arbeitsstunden in dieses Messer investiert. Und er stellte sich vor, wie er damit in das weiche Fleisch seiner Schwester schnitt. Nicht nur, um sie zu quälen. Er mochte den Anblick ihres rubinfarbenen Blutes auf der fast marmornen Haut. Wie es mäandernd Muster zeichnete. In diesen Anblick konnte er sich ganz und gar verlieren.

Es ging ihm gar nicht in erster Linie darum, ihr Schmerzen zu bereiten. Er liebte die Bilder aus Weiß und Rot, die seine Schnitte entstehen ließen. Ebenso, wie er sich stundenlang am Anblick der Wellenlinien auf einer besonders gut geglückten Klinge ergötzen konnte. Ihm war bewusst, dass keiner seiner Brüder seine Neigungen verstand. Auch keine seiner Schwestern …

»Die Opfer«, sagte er geistesabwesend. »Eine Laune, fürchte ich. Enttäuscht? Es war kein Plan. Keine lang ersonnene Boshaftigkeit. Eher eine spontane Eingebung. Ich hatte immer den Eindruck, dass die Menschenkinder sich an Grausamkeiten dieser Art begeistern. Manchmal besuche ich in Menschengestalt die Heilige Hochzeit und bin erstaunt, welche Begeisterung eine öffentliche Vergewaltigung auf einer Zikkurat auslösen kann. Mir ist nie aufgefallen, dass jemand Mitleid mit den Jungfrauen hätte.«

»Mag es daran liegen, dass die Menschen von grausamen Göttern erschaffen wurden?« Išta schob den Teller von sich. Sie hatte kaum an den Speisen gerührt.

»Grausam? Sind wir das? Oder sind wir skrupellos und machtversessen? Oder vielleicht sind wir alle anders? Ich glaube, keine deiner Schwestern hätte sich an mich als Hure verkauft, nur um die Göttin eines der sieben Königreiche zu werden.«

Ein mordlustiges Glitzern lag in ihren Augen. »Vielleicht kennst du unsere Schwestern einfach nicht gut genug. Eines ist allerdings wahr: Du bist anders. Du musstest ein Geschäft abschließen, um zumindest einer deiner Schwestern beiliegen zu können. Ich kann dir versichern, das hatte keiner deiner Brüder nötig. Ich habe mich an fast allen versucht …« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Manche verstehen sich wirklich darauf, sinnliche Stunden zu schenken.«

»Was für ein Gewäsch … Mir geht es nur darum, mir selbst ein paar sinnliche Stunden zu schenken.« Langarm deutete in Richtung des Bettes. »Mir scheint, du hast keinen Appetit mehr. Dann beenden wir nun den kulinarischen Teil des Abends. Ich nehme an, dass du das auch willst. Sonst hättest du das Essen doch länger hinausgezögert.«

Išta erhob sich von der Tafel.

Wie stets bewunderte Langarm die Anmut, mit der sie sich bewegte. Sie trug nur ein kurzes weißes Kleid. Lose fallend, betonte es ihre Brüste. Ein angenehmes, warmes Gefühl breitete sich in seinem Bauch aus. Die Vorfreude, sie anzusehen und sich auszumalen, was er mit ihr tun würde, bereitete ihm mehr Freude, als sich zu ihr zu legen. Er war sich seiner Mängel wohl bewusst. Auch er konnte, wie alle seine Brüder und Schwestern, seine Gestalt verändern, doch was immer er auch tat, er blieb stets missgestaltet. Seine Glieder waren zu lang, sein Rumpf gedrungen. Selbst wenn er eine Tiergestalt wählte, änderte sich daran nichts … Oft fühlte er sich verhöhnt, wenn er sah, wie die anderen Devanthar sich Löwen- oder Eberköpfe erwählten. Wie sie vollkommene Körper bewusst entstellten, als wäre das ein Spaß. Und schlimmer noch, sich auf ihn einzulassen, den einzigen unter ihnen, der nicht die Wahl hatte, über sein Äußeres frei zu entscheiden, fanden sie abstoßend! Es war die reine Verzweiflung, die ihn zum Pakt mit Išta getrieben hatte.

»Zieh dich aus!«, befahl er mit heiserer Stimme. Diese eine Nacht musste für ein weiteres Jahr der Einsamkeit reichen. Er hatte viele Pläne mit ihr.

Išta gehorchte. Sie hob das Kleid über den Kopf und ließ es zu Boden gleiten. Dabei zeigte sie ihm nur den Rücken. So makellos war er …

Manchmal hatte Langarm die Angst gequält, Išta würde ihn töten oder verschwinden lassen, so wie den Ebermann. Doch nicht in dieser Nacht, da hatte sie sich immer genau an ihre Absprache gehalten. An einem der anderen Tage im Jahr aber … Der Götterschmied lächelte versonnen. Diese Sorge musste er nicht mehr haben. Seine Brüder und Schwestern brauchten ihn. Er würde den Untergang der Himmelsschlangen herbeiführen. Sein Plan hatte sie alle überzeugt.

Er nahm sein Messer vom Tisch und strich über die makellose Klinge. Sie war eine Göttin. Ihre Wunden verheilten schnell wieder. Er müsste ihr schon das Gesicht abschälen, so wie es dem Gefiederten geschehen war, damit es einige Zeit dauerte, bis sie ihre Schönheit zurückerlangte.

»Leg dich auf das Bett. Auf den Bauch.«

Sie gehorchte.

»Streck dich!«

Er beobachtete das Spiel ihrer Muskeln und stellte sich vor, welche Mechanik es simulieren könnte. Drähte unter dünnem Leder, stählerne Gelenke, Ösen … Seine Gedanken schweiften zum Reißzahn ab. Das war seine eigentliche Erfüllung. Er brauchte das hier nicht …

Langarm setzte sich neben Išta auf das Bett. Auch wenn ihre Wunden schnell heilten, empfand sie dennoch Schmerz. Ahnte sie, welche Schmerzen ihm ihre unberührbare Schönheit an all den anderen Tagen des Jahres bereitete. Ihre Verachtung … Von diesen Schmerzen würde er ihr nun ein wenig zurückgeben. Er setzte die Messerspitze unter ihrem linken Schulterblatt an. Diesmal sollte es kein langer Schnitt sein. Der Stahl drang glatt durch Haut und Fleisch. Er schob ihr die Klinge unter das Schulterblatt, erfreute sich an ihrem keuchenden Atem. Daran, wie sie dagegen ankämpfte, ihn mit einem Schmerzenslaut zu erfreuen.

Dunkles Blut rann in die längliche Mulde, unter der ihre Wirbelsäule lag. Dort sammelte es sich zu einer kleinen Pfütze. Er tauchte den Finger hinein und malte Linien über ihre blasse Haut. Überrascht sah er, dass er ihren Namen geschrieben hatte.

Die verlorene Stadt

Hornbori sah in die Gesichter der noch verbliebenen zehn Alten aus der Tiefe. In ihren Augen glomm derselbe Hass, der ihn empfangen hatte, als er auf die Tribüne im Amethystsaal gestiegen war.

Dieses Mal gab es keine Zeugen für das, was besprochen wurde. Sie hatten sich in einem der prächtigen Esszimmer von Amalaswinthas Palast versammelt. Hornbori schreckte davor zurück, Eikins Räumlichkeiten zu nutzen. Formal gehörte ihm nun der Palast des Toten, doch er hatte ihn noch nicht betreten. Stattdessen hielt er Hof bei seiner Geliebten. Er bekannte sich ganz offen zu ihr, sich wohl bewusst, was über sie beide geredet wurde. Er lächelte versonnen. Die meisten dieser Gerüchte stimmten.

»Du glaubst doch wohl nicht, dass wir dich als einen der Unseren anerkennen«, sagte Grimm, der Alte aus der Tiefe von Ishaven. Er war alt wie sein Berg, das Gesicht verwittert und von einer breiten Narbe gezeichnet, die von seiner linken Braue bis hinab zum Kinn reichte. Sein Bart war schlohweiß und zu zwei Zöpfen geflochten. Er galt als unnachgiebig, ja grausam. Der Krieg, den sein Volk gegen die Kobolde führte, war ein großes Stück weit sein Werk.

Hornbori hielt dem Blick des Fürsten stand. Im Vergleich zu den Schlachtfeldern, die er gesehen hatte, war das hier ein feuchter Dreck. Glaubte der Alte wirklich, er wäre mit bösen Blicken und Sprüchen einzuschüchtern?

»Du hast recht, Grimm. Ich bin nicht euresgleichen. Ich stehe über euch allen. Es sei denn, das Wort der Himmelsschlangen gilt für dich nicht.«

»Du dreckiger, kleiner …«

»Hör mir zu!«, schrie Hornbori den Alten nieder. »Hört mir alle zu! Ihr sitzt hier in meinem Berg! Ihr alle habt gesehen, was ich mit Eikin getan habe.« Er berührte die riesige Axt, die nun in seinem Gürtel steckte. »Draußen vor der Tür stehen einhundert Krieger, die ohne zu zögern jeden Befehl ausführen werden, den ich gebe.« Er sah die Alten der Reihe nach an. »Es sind Männer, die einmal euch gehört haben, wie Ginnar aus Ishaven. Ihr habt sie an mich verloren.« Er machte eine Pause, um den Fürsten Gelegenheit zu geben nachzudenken. »Die meisten von euch haben Männer in ihrer Leibwache, die unter meinem Befehl gekämpft haben. Ich kann die Hand nach jedem Berg ausstrecken, in dem Zwerge Tunnel graben. Denn ich habe Gefolgsleute in jedem Berg. Aber ich will Frieden zwischen uns. Ihr seid meine Brüder, nicht meine Feinde. Ich möchte, dass die Edlen der Ehernen Hallen einen neuen Alten in der Tiefe aus ihrer Mitte wählen.«

»Und wo willst du dann herrschen, aufgeblasener Trottel?«, fragte ihn Grimm. »Ein Fürst braucht einen Berg.«

Hornbori lächelte. »Ganz meine Meinung, Brüder. Mein Berg ist die Tiefe Stadt.«

Der Heermeister genoss die Verblüffung, die seine Worte auslöste. »Aber die Drachen …«, wandte Grimm ein.

»Ich bin ein Zwerg! Seit wann lasse ich mir von Drachen vorschreiben, in welchem Berg ich lebe. Ganz gleich, was ihr denkt, ich bin nicht der Lakai der Himmelsschlangen. Ich will mir zurückholen, was sie unserem Volk genommen haben: die zwölfte Stadt. Meine Heimat wird wieder erblühen. Ich werde in jeder unserer Städte nach Freiwilligen suchen, die mir in die rußgeschwärzten Hallen meines Bergs folgen wollen, um ein neues Leben zu beginnen. Und ich erwarte, dass ihr diesen Siedlern keine Steine in den Weg legen werdet.« Wieder machte er eine Pause, um die Worte sacken zu lassen.

»Ich werde nicht akzeptieren, dass Zwerge verhindern, dass wir unsere verlorene Stadt zurückholen. Ich gebe euch drei Tage. Dann fordere ich von jedem einzelnen von euch einen Eid darauf, mich bei diesem Plan zu unterstützen.«

»Und wenn wir das nicht tun?«, fragte Grimm herausfordernd. »Was machst du dann mit uns? Uns hinrichten wie Eikin?«

»Was glaubt ihr vom Herrn aller Tiefen?« Hornbori lachte. »Natürlich werde ich das nicht wiederholen. Ich werde eure Entscheidung bekanntgeben. Ich werde verbreiten lassen, wie ihr euch aus selbstsüchtigen Gründen gegen ein Wiedererstarken unseres Volkes einsetzt, und das Gerücht streuen lassen, dass ihr mit den Drachen paktiert. Ihr werdet euch am Ende selbst hingerichtet haben.«

»Du wirst viel Gold brauchen, um die Tiefe Stadt wieder zu bevölkern«, wandte ein anderer Alter ein. »Woher soll das kommen? Wirst du besondere Abgaben einfordern?«

»Nein.« Hornbori schüttelte lächelnd den Kopf. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass dieser Einwand zuerst kommen würde. »Ich werde niemandem in sein Geldsäckel greifen. Die Dame Amalaswintha unterstützt mich. Unsere Mittel sind mehr als ausreichend, um mit der Besiedlung zu beginnen. Außerdem hat nie jemand die Schätze der Tiefen Stadt geborgen. Sollten sich keine Erben melden und in der neuen Stadt siedeln wollen, werden diese Schätze zum Wohl der Allgemeinheit eingesetzt.«

»Das ist Diebstahl«, ereiferte sich Grimm.

»Ist es das? Ich glaube eher, dass sich in der Hoffnung auf wohlwollende Prüfung der Besitzverhältnisse erstaunlich viele entfernte Neffen und Nichten bei mir melden werden. Und natürlich gehen solche Reichtümer immer nur an denjenigen, der sich zuerst meldet.«

»Eine Stadt von raffgierigen Aasgeiern wirst du da gründen!«

»Du wolltest auch kommen?« Hornbori bedachte Grimm mit einem abfälligen Lächeln. »Ihr seht, ihr habt die Möglichkeit, mich sehr schnell loszuwerden. Ich werde mein Amt als Erster, der über euch allen steht, kaum ausüben können, wenn ich einer ganzen Stadt wieder Leben einhauchen möchte. Natürlich könnt ihr euch auch gegen mich stellen, gegen den Heermeister der Himmelsschlangen. Gegen den größten lebenden Helden unseres Volkes. Ihr habt nun drei Tage, über euren Weg nachzudenken.« Hornbori verneigte sich knapp und ging.

Der Pakt

Galar trat unruhig von einem Bein auf das andere. Er hätte erst gar nicht hierherkommen sollen! Das war der Arsch der Welt. Ein Tunnel im hintersten Winkel der Ehernen Hallen. Mehr als eine Meile tief unten im Fels, nah den Wurzeln des Berges. Galars Laterne schnitt nur einen winzigen Kreis aus der Dunkelheit. Hier gab es nichts außer der Dunkelheit. Nicht einmal Ratten kamen hier hinab.

Wütend spuckte der Schmied aus. Die Finsternis setzte ihm zu. Das war neu! Und es war nicht gut! Er war dazu geboren, in Höhlen zu leben. Aber dieser Angriff im Nichts … So oft war er schon verwundet worden. Er hatte es immer überstanden. Aber diesmal war es so, als hätten die Krallen des Gottes etwas aus ihm herausgerissen. Er fühlte, dass ihm tief in seinem Inneren etwas fehlte.

Hornbori hatte ihm über Nyr ausrichten lassen, er solle sich hier einfinden. Was wollte der Schisser von ihm? Dank? Darauf könnte Hornbori warten, bis ihm die Sonne aus dem Arsch strahlte. Er hatte ihn schließlich nicht darum gebeten, gerettet zu werden. Er schuldete ihm nichts! Und er würde sich ganz bestimmt nicht von ihm vor den Karren spannen lassen.

Seit der Drecksack wichtig geworden war, war er kaum noch zu sehen. Entweder traf er sich mit reichen Kaufleuten, den Eignern der Aal-Flotten oder den verfluchten Alten aus den anderen Städten. Vielleicht auch noch mit den Himmelsschlangen … Wer wusste das schon? Und die restliche Zeit hurte er mit Amalaswintha herum.

Er sollte sich abregen. Der Schmerz in seinen Wunden begann wieder zu pochen. Die Schnitte in seiner Brust waren noch nicht tief verheilt. Was für eine Scheißwelt! Er war von diesem Devanthar fast ausgeweidet worden, und was hatte er davon? Der Schisser erntete allen Ruhm. Wie immer.

Schritte ließen ihn aufhorchen. Weit entfernt kam der Lichtkreis einer Laterne in Sicht. Wenigstens versetzte ihn der Schisser nicht. Galar lehnte sich an den kühlen Fels. Ein Dutzend Zwerge hatte ihm schon erzählt, wie der Goldene ihn zurückgeholt hatte. Ausgerechnet eine Himmelsschlange! Ob das Biest wohl in seinen Gedanken gelesen hatte? Wahrscheinlich nicht. Das hätte er nicht überlebt, dachte er schmunzelnd. Der Goldene hätte die Arbeit des Devanthar vollendet, wenn er gesehen hätte, was ihn in seinem Innersten bewegte.

Hornbori kam allein. Er sah gut aus, der verdammte Schisser. Jetzt lebte er ja erst recht wie eine Made im Speck. Herr aller Tiefen. Galar konnte es noch immer nicht fassen.

»Wirst du mit mir in die Tiefe Stadt kommen?«, kam es statt einer Begrüßung.

»Was sollte ich da? Knochen einsammeln?«

»Du sollst deine Werkstatt wieder einrichten. Und ich werde dir jeden verdammten Koboldkäse besorgen, der sich in Albenmark auftreiben lässt, oder was immer sonst du haben willst, um deine verqueren Ideen Wirklichkeit werden zu lassen.«

Für einen Moment verschlug es Galar die Sprache.

Hornbori genoss das ganz offensichtlich. »Du bist abgesehen von den Alten in der Tiefe und Amalaswintha der Erste, der davon erfährt. Ich werde die Tiefe Stadt wieder besiedeln. Wir werden uns zurückholen, was uns die Drachen gestohlen haben.«

»Eine Expedition …«, brachte Galar schließlich hervor.

Der Heermeister schüttelte den Kopf. »Nein, wir gehen nicht mehr fort, wenn wir einmal dort sind. Die Krieger, die abberufen werden …« Er seufzte. »Darum werden wir nicht herumkommen. Aber wir werden der Stadt wieder Leben einhauchen!«

»Warum sagst du mir das?«

»Weil es für mich keine Tiefe Stadt ohne Galar den Schmied geben kann! Ich brauche dich dort.«

Da kamen sie dem Braten näher. Der Drecksack brauchte ihn. »Wozu?«

»Weil du der verdammt genialste Erfinder bist, den unser Volk je hervorgebracht hat. Du bist der Gobhayn der Zwerge! Nur dass du im Gegensatz zu dem Elfen nicht bei einer verdammten Schatzsuche auf Nangog von Grünen Geistern in Stücke gerissen worden bist.«

Galar hatte ganz andere Geschichten über den Elfenschmied gehört. Angeblich hatten die Himmelsschlangen ihn von ihren verfluchten Drachenelfen ermorden lassen, weil er nicht bedingungslos ihren Befehlen gehorchen wollte.

»Was zögerst du, Galar? Hast du vergessen, wie du dich bei mir beklagt hast, deine Werkstatt sei zu klein und dass dir die Tintenpisser des Alten in der Tiefe keine Genehmigung geben wollten, deine Höhle zu erweitern? Diese Zeiten sind vorbei. Wenn du es brauchst, bekommst du von mir eine Werkstatt so groß wie der Amethystsaal. Außerdem alles Werkzeug, das du dir wünschst. Alle Metalle und Gehilfen, so viele du um dich ertragen kannst.«

»Was ist der Haken?« Der Drecksack machte so ein Angebot nicht ohne Hintergedanken, da war Galar sich sicher.

Hornbori nickte. »Du kennst mich gut. Es gibt tatsächlich eine Bedingung. Du hörst nicht damit auf, Drachen zu töten.«

»Nicht? Ich hab mich wohl verhört.«

»Keineswegs.« Der Heermeister deutete mit seiner Laterne in Richtung eines Seitentunnels, der hier vom Hauptgang abzweigte. »Komm mit mir. Ich werde dir etwas zeigen.«

Wenn Hornbori glaubte, er würde ihn jetzt mit neugierigen Fragen löchern, hatte er sich geschnitten. In bärbeißiges Schweigen gehüllt, folgte Galar dem Heermeister, bis sie nach etwa fünfzig Schritt an eine Tür gelangten, die ganz und gar aus Eisen gefertigt war und über drei Schlüssellöcher verfügte.

Der Schisser nahm einen Lederriemen vom Hals, von dem drei Schlüssel mit außergewöhnlich breiten Bärten hingen. »Nimm sie. Du sollst diese Tür öffnen.«

Misstrauisch trat Galar vor die Schlösser. Was sollte das Ganze? Würde Hornbori ihn über die Schwelle stoßen und wieder absperren, sobald er diese Tür öffnete? Er traute dem Schisser grundsätzlich jede Schurkerei zu.

Er brauchte einige Versuche, bis er die Schlüssel richtig zugeordnet hatte. Vorsichtig drehte er sie. Die Schlösser knirschten, als wären sie seit vielen Jahren nicht mehr geöffnet worden. Langsam schob er die schwere Tür auf und hob seine Laterne, um die Kammer auszuleuchten. Sie war etwa so groß wie seine verlorene Werkstatt. Es gab eine Esse voller Asche, daneben einen Amboss und einen staubtrockenen Wassertrog. Überall lag Werkzeug herum. Weiter hinten stand eine schwere, hölzerne Werkbank. Und darauf lag etwas, das in all den Jahren keinen Rost angesetzt hatte. Etwas, das Galar auf den ersten Blick erkannte: die Speer- und Pfeilspitzen, die er einst mit dem einbeinigen Glamir geschmiedet hatte. Seine Drachentöterpfeile!

»Die sind für dich und Nyr. Und ich wünsche mir, dass ihr sie benutzt!«, sagte Hornbori hinter ihm entschlossen.

Galar traute dem plötzlichen Sinneswandel seines Freundes nicht. »Der Lakai der Himmelsschlangen gibt mir diese Waffen … Wie geht das zusammen?«

»Ich musste ihr Lakai sein, um es bis hierher zu schaffen. Um dir heute diese Schlüssel geben zu können. Ich weiß, dass du nichts von mir hältst, aber auch ich habe den Drachen nie verziehen, was sie unserer Stadt angetan haben. Willst du noch Drachenblut vergießen, oder muss ich mir einen anderen Helden suchen?«

Galar nickte zögerlich. »Das will ich. Aber glaube nicht, dass du dir damit meine Freundschaft erkauft hättest. Auch dann nicht, wenn du die Wände meiner Werkstatt mit Goldplatten auskleidest.«

Hornbori schenkte ihm ein einschmeichelndes Lächeln. »Ein Schisser und ein Schmied, der so riecht, wie er mich nennt, als Freunde? Nein, ich müsste verrückt sein, das zu glauben. Wir haben einen Pakt geschlossen, weil wir dieselben Feinde haben. Und wir werden sie bekämpfen, solange noch Leben in uns ist. Ich führe einen Krieg gegen Drachen, Galar, und ich werde nicht ruhen, bis die letzte der Himmelsschlangen stirbt.« Er streckte ihm die Hand entgegen. »Stehst du in diesem Krieg an meiner Seite? Haben wir einen Pakt?«

Diesmal zögerte Galar nicht. Er schlug ein.

Nahendes Unheil

»Sie kommen!«, rief Ormu atemlos. Der Hauptmann der Bogenschützen stand vorgebeugt, sein Atem ging keuchend. Er hasste es zu reiten und musste mehrere Meilen gelaufen sein.

Shaya wandte sich an Ashot. »Ich werde …«

»Nein!«, widersprach der Feldherr heftig. »Ihr werdet Mira sofort verlassen, ganz so, wie es der ursprüngliche Plan war. Der Unsterbliche wird mich häuten lassen, wenn ich es Euch gestatte, hier in diesem Kaff zu bleiben. Ihr seid auch so schon viel zu nah dran.«

»Du widersetzt dich Befehlen deiner Herrscherin, du …« Sie griff nach der Dornaxt an ihrem Gürtel. Seltsamerweise gab sie dieser Waffe aus dem Volk der Ischkuzaia den Vorzug gegenüber den in Aram üblichen Äxten und Schwertern.

»Ich widersetze mich und befolge damit die Befehle des Unsterblichen, meine Herrin. Und wenn Ihr nicht freiwillig Mira verlasst, dann werde ich Euch hinaustragen lassen. Ihr werdet nicht hier sein, wenn der Tanz losgeht. Und es ist auch keine Zeit zum Reden mehr. Ihr geht jetzt! Ormu, du wirst …«

Shaya winkte ab. »Ich gehe. Aber das wird ein Nachspiel haben.«

Beklommen sah Ashot zu, wie sie sich auf eines der Pferde schwang und mit der Mehrzahl der Krieger durch das nördliche der beiden Tore die kleine Ortschaft verließ.

Seit sieben Wochen waren sie hier in Mira. Shaya hatte die Siedlung bei einer tiefen Wasserstelle unmittelbar nach dem letzten Überfall durch die Pferdemänner als jenen Ort bestimmt, an dem sie den Daimonen eine tödliche Falle stellen würde. Mira war nicht viel mehr als eine Ansammlung einfacher Grashütten rings um ein schlammiges Wasserloch. Ein Rastplatz für Viehtriebe, die weiter nach Nordosten, nach Naga gingen. Sieben Wochen lang hatte sie jedes Stück Vieh angekauft, das hier durchkam. In den Pferchen bei der Wasserstelle drängten sich inzwischen mehr als viertausend der großen Steppenrinder. Jeden Tag wurde es schwieriger, die große Herde mit Futter zu versorgen. Sie durften die Pferche nicht verlassen.

Rings um die Siedlung war eine drei Schritt hohe hölzerne Palisade errichtet worden. Sie hatten das Holz eigens durch ein magisches Tor unweit der Siedlung heranschaffen lassen, da es im Umkreis von mehr als hundert Meilen nicht genügend Bäume gegeben hätte, um eine solche Verteidigungsanlage zu errichten.

Ormu klopfte Ashot auf die Schulter. »Bist ein tapferer Mann.«

»Wegen der Kentauren?«

»Wegen Shaya. Ihr zu trotzen erfordert schon Mut.« Er grinste. »Ich möchte wirklich nicht in deiner Haut stecken. Alles, was dich hier mit den Kentauren erwartet, wird ein Spaziergang im Vergleich zu dem Ärger, den dir Shaya machen wird.«

»Vielleicht hab ich ja Glück und geh in diesem göttervergessenen Nest drauf …«

»Damit macht man keine Scherze, mein Freund.« Ormu packte ihn mit beiden Händen bei den Oberarmen. »Es sind zu wenige von uns alten Kämpfern übrig geblieben. Es kommen weit über tausend von diesen verfluchten Pferdedaimonen. Schau, dass du hier herauskommst, wie es geplant ist.«

Ashot rang sich ein Lächeln ab. »Wird schon.« Er kämpfte zu lange in diesem Krieg, um sich noch der Illusion hingeben zu können, dass jemals eine Schlacht wie geplant laufen würde. Er sah Ormu zu, der sich beeilte, aus dem zum Untergang verdammten Kaff zu kommen. Mit ihm zog sich die Mehrzahl der Krieger zurück.

Erst dann wandte sich Ashot an jene, die mit ihm in Mira geblieben waren. Er sah die Angst in ihren Gesichtern. Es waren überwiegend junge Spunde, die gut klettern und laufen konnten. Einer von ihnen stach ihm besonders ins Auge. Er trug sein Schwert in einem Gurt auf dem Rücken und spielte sich auf, als wäre er ein schlachterprobter Veteran, dabei spross ihm noch nicht einmal der erste Flaum auf den Wangen.

»He, Daron! Sind alle bereit?«, sprach er ihn an.

»Ja, Feldherr!« Der Junge verschluckte sich fast an den Worten. Er stand stocksteif und vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Der Knabe war offensichtlich überwältigt, dass ein Vertrauter des Unsterblichen seinen Namen kannte. Ashot lauschte gerne, wenn seine Männer sich unterhielten. Und einige der Namen, die er dabei hörte, prägte er sich ein. Sie waren stets völlig überrascht, wenn er sie persönlich ansprach. Manche glaubten, er würde sie alle kennen. Doch es war nur ein Trick, der die Moral hob.

Ashot hätte sein Vermögen darauf verwettet, dass der Knabe noch keine fünfzehn war, was eigentlich das Mindestalter war, um unter die Krieger aufgenommen zu werden. Doch je länger der Krieg gegen die Daimonen dauerte, desto weniger wählerisch wurden die Werber, die frisches Fleisch für die Schlachtfelder rekrutierten.

»Was ist deine Aufgabe, Junge?«

»Bei den Viehgattern bleiben, Feldherr! Ich soll sie öffnen, sobald die Daimonen in das Dorf eindringen.«

Ashot wünschte sich, er hätte nicht gefragt. Er wusste, dass die meisten der jungen Krieger dort draufgehen würden. Wenn erst einmal das Vieh ausbrach und die Pferdedaimonen durch die engen Straßen preschten, würden es nur noch wenige aus der Mitte des Dorfes bis zu den Palisaden schaffen. »Sobald du das Gatter geöffnet hast, läufst du, verstanden? Du wirst nicht stehen bleiben und die Daimonen angaffen und du wirst erst recht nicht versuchen, gegen sie zu kämpfen. Haben wir uns verstanden?«

»Jawohl, Feldherr!«

»Man gewinnt Schlachten, weil sich alle an ihre Befehle halten, Junge. Ich hoffe, du vergisst das nicht im Eifer des Gefechts.«

»Ganz gewiss nicht, Feldherr!«

»Dann ab auf deinen Posten!« Ashot wandte sich ab. Er wollte sich noch einige der Hütten ansehen. Ein letztes Mal … Nur um die Zeit zu vertreiben und hier nicht dumm herumzustehen. Er wusste, dass alles gut vorbereitet war.

»Feldherr?«

»Ja?« Unwirsch drehte er sich noch einmal zu dem Jungen um.

»Stimmt es, dass Ihr aus dem Dorf Belbek stammt?«

»Ja …« Misstrauisch sah er den Knaben an. »Aber all die anderen Geschichten stimmen nicht. Ich war nie Ziegenhirte oder ein armer Pachtbauer.«

Der Junge wurde rot. »Natürlich nicht …«, stammelte er, dann lief er davon.

Etwas mit dem Knaben stimmte nicht. Nachdenklich verfolgte er ihn mit Blicken, bis er in dem Labyrinth aus engen Gassen zwischen den Viehpferchen verschwunden war. Der Junge war klein, von leicht gedrungener Gestalt. Er hatte ein offenes Gesicht und lächelte oft. Ein einfältiger Bauernsohn halt, wie sie zu Hunderten nach Nangog kamen, um zu sterben. Einzig dieses große Schwert zeichnete ihn aus. Wo er es wohl herhatte? Beute konnte es nicht sein. Die Jungen, die hier in Mira verblieben waren, waren ausnahmslos junge Rekruten. Sie hatten noch in keiner Schlacht gefochten.

Ashot verdrängte die Gedanken an den Jungen. Es war besser, sie nicht kennenzulernen. Dann musste er auch niemanden betrauern. Mit festem Schritt ging er zur nächsten Hütte. Die Wände wie auch das Dach waren aus geflochtenen Grasmatten gefertigt. Nicht ungewöhnlich in dieser Gegend, wo das hohe Messergras das Einzige war, was reichlich vorhanden war. Im Durchgang hing ein verschlissenes Stofftuch, das wohl früher einmal türkisfarben gewesen war. Ashot duckte sich darunter hindurch. Der Teergestank, der über dem ganzen Dorf hing, war hier besonders intensiv. Überall auf den Wänden waren große Flecke der schmierigen schwarzen Paste. Ein junger Krieger spritzte Lampenöl auf die Graswände. Er fuhr erschrocken herum, als Ashot eintrat. »Feldherr?«

»Nur die Ruhe. Ich drehe eine letzte Runde. Die Daimonen sind auf dem Weg. Du weißt, was du zu tun hast?«

»Jawohl, beim dritten Hornstoß setze ich die Hütte in Brand und sehe zu, dass ich fortkomme!«

Ashot nickte. »Gut!« Er sah auf die kleine Lampe, die neben dem Fass mit dem Steinöl stand. Die Flamme auf dem Docht brannte ruhig. Rings um das Fass stapelte sich mit Teer beschmiertes Holz, darunter lag Reisig und Stroh. »Pass bloß auf, dass du dir kein Lampenöl auf die Kleider spritzt, Junge.«

»Ich bin vorsichtig, Herr. Keine Sorge.« Der Knabe grinste ihn breit an. Er hatte ein schmales Gesicht mit schiefer Nase, über die er sich sicher schon so manchen Witz hatte anhören müssen. »Den Daimonen werden wir es zeigen, nicht wahr?«

»Sie werden diesen Tag nicht so schnell vergessen«, bestätigte Ashot. »Also, beim dritten Hornstoß. Und dann nimmst du die Beine in die Hand.«

»Jawohl, Feldherr!«

»Wir sehen uns draußen, Junge. Ich schätze, du wirst mich alten Mann im Laufen schlagen.«

Statt einer Antwort bekam Ashot ein breites Grinsen. Er bewunderte die Jungen für ihren Mut und ihr bedingungsloses Vertrauen in ihre Anführer. Lange würde das nicht halten … Er duckte sich unter dem Tuch hindurch und trat wieder auf den Platz, der fast völlig von Pferchen ausgefüllt wurde.

Die Steppenrinder blökten noch mehr als sonst. Sie spürten, dass etwas in der Luft lag. Eine Anspannung. Nahendes Unheil.

Ashot atmete tief ein. Er hatte sich geirrt. Der Teer war überall zu riechen. Hoffentlich begriffen die Pferdedaimonen nicht, worauf das hier alles hinauslaufen würde.

Ein Hornsignal erklang. Der erste Hornstoß. Ihre Feinde waren also auf den Hügeln vor Mira erschienen. Plötzlich war sein Mund staubtrocken. Nervös ging er zu dem Krieger, der ein Stück entfernt neben dem größten der Grashäuser stand. Er hielt ein großes, gekrümmtes Messinghorn, auf das er unablässig mit den Fingern der Linken trommelte.

»Ich hoffe, du bist gut bei Puste, Mann.«

»Bin ich, Feldherr! Könnte eines dieser verdammten Grashäuser umpusten, wenn ich wollte.«

Erleichtert sah Ashot, dass dem Kerl wenigstens schon ein paar Stoppeln im schmutzigen Gesicht wuchsen. Es fiel ihm leichter, Männer in den Tod zu schicken als Knaben. »Mögen die Götter gleich deinen Füßen Flügel verleihen. Und nun verrate mir, wie wir es von hier aus am schnellsten zur Palisade schaffen.« Natürlich kannte Ashot den Weg, er war seit sieben Wochen in dem Dorf, um diesen Tag vorzubereiten, aber es war immer besser zu reden, als einfach nur schweigend beieinander zu stehen.

Der Hornbläser deutete zur nächsten Gasse. »Dort entlang, Feldherr. Merkt Euch meinen Rücken und folgt ihm, dann schafft Ihr es«, sagte der Krieger frech grinsend.

»Du glaubst, du kannst schneller laufen als ich?« Ashot erwiderte das Grinsen. »Ich wette eine Amphore Roten von den ägilischen Inseln gegen einen Ziegenschlauch sauren Fusel, dass ich vor dir bei der Palisade ankomme.«

»Das tut Ihr nur, damit ich stehen bleibe und Euch helfe, wenn es hart auf hart kommt.«

Ashot lachte. »Verdammt, um mich kann es als Feldherr ja nicht weit bestellt sein, wenn ich so leicht zu durchschauen bin.« Er hob die Rechte. »Schlägst du ein?«

Der Krieger packte seine Hand. Er hatte einen selbstbewussten, kräftigen Händedruck. »Wird mir ein Vergnügen sein, Euren Weinvorrat zu plündern, Feldherr.«

Böse Wölfe

»Und, Parmenion, was denkst du?« Sekander sah vom Hügelrücken auf die kleine, befestigte Siedlung hinab. Rechts und links von ihm nahmen immer mehr seiner Männer Stellung auf dem lang gezogenen Kamm.

»War zu erwarten, dass die Menschenkinder irgendwann damit anfangen.« Er deutete nach Osten, wo eine Gruppe Flüchtlinge in den Hügeln auf der anderen Seite der Siedlung verschwand. »Sie scheinen nicht sonderlich viel Vertrauen in ihre Verteidigungsanlagen zu haben.«

Während sie sprachen, ertönte unten im Dorf ein Hornsignal, und das Tor wurde vor ihren Augen geschlossen.

»Wie dick schätzt du die Bretter des Tors?«

Parmenion strich sich über seinen weißen Bart. »Ich habe keine Adleraugen mehr. Aber es sollte kaum mehr als ein Zoll sein. Das wird uns nicht aufhalten. Die Palisade ist da schon eher ein Hindernis. Aber etwas an diesem Ort schmeckt mir nicht. Es zeigt sich kaum jemand auf den Gassen, und nicht ein Mann ist auf den Palisaden. Es gibt nicht einmal einen Wehrgang. Niemand kann auf dem Wall stehen, um Pfeile auf uns abzuschießen oder Speere herabzuschleudern. Die können von diesem Wall aus ihre Siedlung nicht verteidigen. Findest du das nicht seltsam?«

»Vielleicht sollte man es sehen wie einen Zaun, um die bösen Wölfe draußen zu halten.« Sekander lächelte breit. »Das hilft natürlich wenig, wenn die bösen Wölfe schwere Äxte und Brechstangen dabeihaben.«

Der alte Waffenmeister wiegte den Kopf. »Mir gefällt das da unten nicht …«

»Woran liegt es?« Der Fürst vermochte beim besten Willen nichts Verdächtiges zu entdecken. Neben dem südlichen Tor standen ein paar aufgegebene Heuwagen. Keine Menschen zeigten sich. Die riesige Herde bei der Wasserstelle wurde immer unruhiger. Bis hier zu den Hügeln war ihr Blöken zu hören.

Parmenion seufzte. »Ich kann nicht wirklich sagen, was mich beunruhigt. Es ist einfach so ein Gefühl …«

»Mein Gefühl ist, dass uns dieses Tor nur wenige Augenblicke widerstehen wird und wir binnen einer Stunde auch das letzte Stück Vieh da unten rausgeholt haben werden. Die Mehrzahl der Bewohner ist weggelaufen. Wollen wir uns lächerlich machen, indem wir uns vor einem fast verlassenen Dorf fürchten?«

Der Waffenmeister schnaubte gereizt. »Lass uns noch ein wenig auf die Siedlung hinabblicken. Was kostet uns das? Gib mir etwas Zeit, dann werde ich herausfinden, was da unten nicht stimmt.«

Sekander winkte Nikanor, Parmenions Sohn. Der junge Rappe gehörte zu den neu ernannten Hauptleuten und brannte nur darauf, sich Schlachtenruhm zu erwerben. »Nimm dir ein paar Mann mit schweren Äxten, Nikanor! Schlagt das Tor ein und seht nach, ob dort unten eine Falle auf uns lauert. Eure Belohnung sind fünfhundert Stück Vieh nach eurer Wahl.«

Der junge Hauptmann hob sein Doppelschwert zum Gruß. »Danke, dass du an mich gedacht hast, Fürst. Wir werden diesen Ort ganz alleine für dich erobern«, sagte er selbstsicher und preschte davon.

Wie einst in Kush

»Scheiße!«, zischte Ashot, als er sah, dass nur eine kleine Gruppe von Kentauren den Hügelkamm verließ. Shaya war sich so sicher gewesen, dass sie wie eine wilde Horde über das Dorf herfallen würden.

Sie brauchten einen neuen Plan, und das schnell.

»Stimmt etwas nicht, Feldherr?«, fragte ihn der Hornbläser sichtlich nervös.

»Ich fürchte, wir werden die verdammten Pferdemänner ein wenig reizen müssen, wenn sie tun sollen, was wir uns von ihnen erhoffen.« Verzweifelt sah er sich um. Mit dreißig kampferfahrenen Männern hätte er sich beim Tor der kleinen Truppe von Feinden stellen können, um sie wieder aus Mira hinauszujagen. Aber mit diesen grünen Jungs, die in den Hütten versteckt kauerten, würde ihm das nicht gelingen. Ein einziger silberner Löwe würde auch genügen …

Er sollte besser aufhören zu träumen. »Alle Männer bei den Pferchen zu mir!«, brüllte er über das Muhen der Rinder hinweg. »Los, bewegt eure Ärsche! Sofort!«

Was würde der Unsterbliche Aaron jetzt tun, fragte er sich. Sein Herrscher war schon oft in aussichtslose Schlachten gezogen und hatte dennoch gesiegt. Kush! Er musste es machen wie auf der Hochebene von Kush, als Aaron mit einem Bauernheer die weit überlegene Armee des Unsterblichen Muwatta besiegt hatte.

Der kleine, gedrungene Knabe mit dem riesigen Schwert erschien als Erster.

»Los, bewegt euch zu mir!«, schrie Ashot erneut. »Kommt mit zur Werkstatt!«

Nur sieben junge Krieger waren seinem Ruf gefolgt. Mit blassen Gesichtern klammerten sie sich an ihre Speere, als würden ihnen die Holzschäfte Halt geben.

»Du kommst auch mit!« Ashot winkte dem Hornbläser.

»Aber ich darf meinen Posten nicht …«

»Was du darfst oder nicht, bestimmt allein dein Feldherr! Los, folge mir!« Er brachte die kleine Schar zum großen Werkstattschuppen, zwei Gassen weiter. Auf dem Weg dorthin holte er aus jedem Haus den Feuerwächter.

Als sie den offenen Schuppen erreichten, waren sie mehr als dreißig Mann. »Sucht euch Hämmer!«

Keiner fragte, warum. Alle waren eingeschüchtert. Auf dem Weg zur Werkstatt hatten sie die Pferdedaimonen auf dem Hügel vor der Siedlung gesehen und begriffen, dass etwas ganz und gar nicht nach Plan lief.

Unter einem Tisch zerrte Ashot einen Eimer voller langer Vierkantnägel aus gehämmertem Kupfer hervor. »Sucht euch jeder ein Brett. Und dann schlägt mir jeder von euch Milchgesichtern mindestens zwanzig von diesen Nägeln in dieses verdammte Brett. Ich will, dass sie mindestens so lang wie mein Finger aus dem Holz ragen.« Mit diesen Worten zeigte er ihnen den vorgestreckten Mittelfinger. »Und ihr haltet euch besser ran, wenn euch euer Leben lieb ist!«

Ashot griff selbst nach einem Hammer. Diese verdammten, unerfahrenen Kinder. Sie starrten ihn an. Er holte sich ein Brett, nahm einen Nagel und drosch mit aller Kraft darauf ein. »Los! Macht es mir nach, ihr verdammten ziegenfickenden Bauerntölpel. Macht einfach nach, was ich tue!« Er nahm einen zweiten Nagel, hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger und schlug mit dem Hammer zu.

Endlich kam Bewegung in die Frischlinge.

Vor dem Tor erschollen laute Rufe. Dann Gelächter. Im nächsten Augenblick war ein dumpfer Schlag zu hören. Die beiden Torflügel waren aus fast zwei Zoll dickem Eichenholz gefertigt. Wie lange würden sie halten?

»Beeilt euch!«, feuerte er seine Knaben an. »Schneller! Ihr werdet …«

Einer der Jungen schrie auf. Sein Daumen war zu einer unförmigen, blutigen Masse zerquetscht. »Weitermachen!«, feuerte Ashot die anderen an und schlug selbst Nagel um Nagel in sein Brett.

Kurz blickte er zu dem Verletzten auf. »Du fängst jetzt nicht an zu flennen! Du holst mir einen Arm voll Stroh und bringst es zum Tor!«

Die Äxte schmetterten in schnellem Rhythmus gegen das Tor. Schon hörte Ashot Holz splittern. Ihm wurde bewusst, dass sie nicht warten durften, bis die Pferdedaimonen ein Loch ins Tor geschlagen hatten. Wenn diese Bastarde sehen konnten, was sie taten, dann war alles verloren.

Zweifelnd blickte der Feldherr auf sein Brett. Er hatte gerade einmal ein Dutzend Nägel durch das Holz getrieben. Das musste genügen! »Aufhören!«, befahl er mit ruhiger Stimme. Sein Rekrutentrupp war schon verängstigt genug. Er musste ihnen den kaltblütigen Helden vorspielen, damit sie nicht endgültig in Panik verfielen. »Nehmt die Bretter und vergesst eure Speere nicht! Auf zum Tor! Wir werden den verdammten Pferdeärschen beibringen, wie eine Niederlage schmeckt!«

Der Sohn des Waffenmeisters

Nikanor spürte sein Blut in den Ohren rauschen. Es war nicht seine erste Schlacht, aber es war das erste Mal, dass er ein Kommando hatte. Er wusste, sein Vater sah jetzt vom Hügel auf ihn hinab. Er musste alles richtig machen. Verfluchtes Tor! Die dicken Bohlen machten mehr Ärger, als er erwartet hatte. Seine Hände schlossen sich fester um den lederumwickelten Griff seiner Doppelklinge. Sein Vater hatte sie ihm vor einer Woche geschenkt. Am selben Tag, an dem Fürst Sekander ihn zu einem Hauptmann gemacht hatte. Heute würde er die Klingen zum ersten Mal in Blut tauchen.

»Los, ihr Stuten!«, feuerte er seine Männer an. »Schlagt endlich das verfluchte Tor ein!«

Lange Späne sprühten von den Bohlen. Endlich splitterte das erste der dicken Bretter.

»Platz!« Nikanor drängte seine Kameraden mit den Äxten zur Seite.

»Nicht!«, schrie sein Freund Lamos ihn an, als er begriff, was er tun wollte.

Doch Nikanor ignorierte ihn und spähte durch das Loch, das von ausgefranstem Holz gerahmt wurde. Ein Stück die Straße hinauf waren Menschenkinder. Sie machten sich am Heu, das auf der Straße lag, zu schaffen. Unmittelbar am Tor konnte er niemanden entdecken. Allerdings würde er es auch nicht sehen, wenn sie mit dem Rücken gegen das Tor gepresst rechts und links der Lücke lauerten.

Er war der Sohn des Parmenion. Der Sohn des Waffenmeisters! Er musste mindestens genauso mutig wie sein Vater sein. Immer stärker rauschte das Blut in seinen Ohren. Das Geräusch überlagerte die warnenden Rufe seiner Gefährten. Er streckte den Arm durch die Lücke im Holz und tastete nach dem Querbalken, der das Tor verschlossen hielt. Dabei stellte er sich vor, wie nur ein paar Zoll entfernt, und doch unsichtbar für ihn, ein Mann mit einer Axt stand. Auf welchen Teil des Armes würde er zielen. Das Handgelenk? Sicher könnte sogar ein Menschensohn mit einem einzigen Hieb sein Handgelenk abtrennen.

Seine Finger ertasteten den Sperrbalken. Er streckte sich, schob die Hand unter die Holzkante. Jetzt wäre der Augenblick! Er biss die Zähne zusammen.

Es kam kein Hieb. Er spannte seine Muskeln zum Zerreißen. Der Balken bewegte sich. Er würde ihn heben … Etwas schlug mit dumpfem Laut in das Tor. Er spürte die Bohlen erzittern. Ein Speer?

Er presste sich dicht gegen das Tor. Holzsplitter bohrten sich in seine Achsel. Jeder Muskel im Arm zitterte vor Anstrengung. Der Balken glitt zur Seite weg. Das Tor gab unter dem Druck seines Körpers nach und schwang nach innen.

Seine Männer schrien auf! Der Weg in die Siedlung war offen. Ein Augenblick Heldenmut hatte ihnen fünfhundert Rinder eingebracht! Sie würden ihn feiern. Und sie würden seine Geschichte im Windland erzählen. Die Geschichte von Nikanor, dem heldenhaften Sohn des Parmenion.

Die paar Menschenkinder, die auf der Straße einen Wall aus Speeren auf ihn richteten, würden ihn nicht aufhalten. Seite an Seite mit seinen Männern preschte er voran, als Lamos neben ihm plötzlich aufschrie. Nikanor ignorierte ihn. Es konnte nichts Ernstes sein. Ihnen schlugen weder Pfeile noch Speere entgegen. Da war nur der Speerwall.

Nikanor sah die Angst in den Augen der jungen Menschenkinder. Die Hände, in denen sie ihre Waffen vorstreckten, zitterten. Nur ein älterer Mann, ein hagerer Kerl mit ausgezehrtem, stoppelbärtigem Gesicht, wirkte ganz ruhig. Wenn er sich den Kopf von dem Alten holte, dann würden die anderen schreiend davonlaufen.

Plötzlich bohrte sich ein scharfer Schmerz durch seinen linken Vorderhuf. Etwas hatte ihn getroffen. Er wurde langsamer, hinkte. Ein Brett klemmte unter seinem Huf! Nägel ragten aus der Hufkrone und der Fessel.

Er durfte jetzt nicht abbrechen. Er musste dem Schmerz trotzen. Einfach durchhalten. Er würde diesen lächerlichen Speerwall durchbrechen. Wütend ging er weiter vor. Nur noch im Schritt. Gleich hätte er sie!

Ein dumpfer Schlag traf ihn in der Brust. Ein Pfeil hatte ihn getroffen. Woher war der gekommen? Er sah keinen einzigen Bogenschützen. Was … Taubheit floss in seine Glieder. Er blinzelte.

Der alte Mann stürmte ihm entgegen. Nikanor wollte den Speer, der auf ihn zielte, zur Seite wischen, aber seine Arme waren wie Blei. Er hob das Doppelschwert zu langsam. Die Speerspitze raste ihm entgegen. Er starrte auf den funkelnden Stahl. Dann verschwand er unter seinem Kinn.

Der dritte Hornstoss

Ashot schwenkte den Kopf des toten Pferdemanns, sodass ihn die anderen auf dem Hügel gut sehen konnten. Die Provokation verfehlte ihre Wirkung nicht. Alle Daimonen preschten vom Hügel herab. Und ihnen voran ein alter, weißbärtiger Kerl.

Der Feldherr warf den Kopf ins zertrampelte Gras bei der Palisade und beeilte sich, dicht bei den Hütten, wo sie einen schmalen Streifen der Straße nicht mit Nagelbrettern gepflastert hatten, zurückzulaufen.

Nun lief endlich wieder alles nach Plan. Sie hatten nur drei der Pferdemänner getötet, die übrigen waren Hals über Kopf geflohen.

»Lauf!«, rief er Ormu zu. Der rotbärtige Jäger war zu ihnen zurückgekehrt, als er gesehen hatte, dass Shayas Plan nicht aufging. Es war sein Schuss gewesen, der den Anführer der Pferdedaimonen aufgehalten hatte.

Ashot wusste, dass die paar Nagelbretter die anstürmende Horde nicht aufhalten würden. Die Daimonen waren blind vor Zorn. Genau das hatte er erreichen wollen.

Ein Pfeil zischte dicht über den Feldherrn hinweg.

»Hierher!« Ormu zog ihn in eine Seitengasse. »Die Kerle sind verdammt gute Schützen. Wer vor ihnen über die Hauptstraße zu den Pferchen läuft, ist ein toter Mann.«

»Aber das Signal …«

»Dein Hornbläser ist klüger als du, alter Mann. Der ist dort vorne in eine der Gassen gehetzt.«

Obwohl die Pferdedaimonen das Dorf noch nicht erreicht hatten, vibrierte der Boden schon unter ihren donnernden Hufen. Sie waren wie eine Naturgewalt. Tausende. Eine Flutwelle aus Fleisch, die alles hinwegreißen würde, was ihnen im Weg stand. Wie mussten sich all die jungen Rekruten jetzt fühlen? In jeder Hütte kauerte einer der Knaben und wartete auf den dritten Hornstoß, auf das Signal, eine weitere Naturgewalt zu entfesseln.

Ashot lief neben dem Bogenschützen. Sein Herz schlug immer schneller. Er war noch nie ein sonderlich guter Läufer gewesen. Schon ging sein Atem keuchend. Sie bogen nach links in die Gasse ein, die zur Wasserstelle in der Mitte der kleinen Siedlung führte.

Hinter sich, beim Tor, waren nun wilde Schreie zu hören. Ashot hätte gerne gesehen, wie seine Nagelbretter wirkten. Wie die ersten der Daimonen strauchelten, andere über sie stürzten, wie ein Knäuel aus Leibern sich auf der Straße wand. Wie sie sich in ihrer blinden Wut gegenseitig tottrampelten. Der zweite Hornstoß ertönte. Das Zeichen, dass der Feind in die Stadt eindrang. Bald würde ihre Falle zuschnappen, dachte Ashot und lief so schnell seine Beine ihn trugen.

Ormu hatte nun einigen Vorsprung. Der Bogenschütze hatte bereits die Mündung zum Viehmarkt erreicht. Er hielt Ashot mit dem Arm zurück. Fünf Schritt vor ihnen lag, von Pfeilen durchbohrt, der Hornbläser. Er war halb gegen ein Viehgatter gesunken. Sein Horn hielt er in der Hand, als hätte er es gerade zum dritten Mal an die Lippen setzen wollen.

Ashot schob die Hand zur Seite. »Wir brauchen das Horn!« Geduckt wagte er sich aus der Gasse heraus. Pfeile empfingen ihn. Da war kein Chaos auf der Straße, die vom Tor kam. Der weißbärtige Pferdedaimon hinkte ungeachtet der Verletzung durch die Nagelbretter auf sie zu. Dicht neben ihm schritten einige Bogenschützen, die zwar viel kleiner waren als er, aber nicht weniger entschlossen.

Ashot warf sich nach vorne in den Staub und packte das Horn. Überall auf der Straße lagen tote Knaben. Die meisten der Rekruten, die mit ihm das Tor verteidigt hatten, waren in gerader Linie vor den Schützen fortgelaufen. Leichte Ziele …

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Ormu aus der Gasse trat und einem Schützen, der gerade auf Ashot anlegte, einen Pfeil in den Hals schoss. Dann brachte sich der Jäger mit einem Satz wieder in Deckung.

Ein Pfeil zupfte an Ashots Haaren. Die verfluchten Pferdedaimonen. Sie gingen langsam und systematisch vor. Der Weißhaarige rief Befehle. Seine Männer schwärmten bereits in die Seitengassen aus, während von hinten weitere Daimonen vordrängten. Das alles lief viel geordneter ab, als Shaya es sich vorgestellt hatte.

Ashot packte den toten Hornisten und zog ihn als Schutz vor seinen Leib. »Du musst den Weißhaarigen töten, Ormu. Er hält sie zusammen.«

Pfeile schossen an der Häuserecke vorbei, hinter der sich Ormu verbarg, und sorgten dafür, dass er in Deckung blieb.

»Lenk sie ab!«, rief Ormu.

Was dachte der verdammte Hinterwäldler sich? Dass er jetzt aufsprang und die Zielscheibe spielte. Ashot setzte das Horn an die Lippen. Mit aller Kraft blies er hinein, doch er brachte nur einen kläglichen, wimmernden Laut zustande. Das würde niemand hören. Und das Weißhaupt hätte ihn auch gleich erreicht.

»Scheiße!«, schrie Ashot wild heraus, sprang auf und schwenkte wild mit den Armen. Aber das waren keine dämlichen Gäule, die er da vor sich hatte. Keiner der Pferdemänner scheute. Zwei legten auf ihn an, doch ein Befehl des Alten ließ sie die Bögen senken. Der Anführer der Pferdedaimonen ließ eine seltsame Klinge wirbeln. Ein Holzschaft, etwa so lang wie ein Arm, an dessen beiden Enden funkelnde Schwertklingen angebracht waren.

Ashot hielt mit der Linken das Horn umklammert und zog mit der Rechten sein Schwert. Dieser Daimon war knapp drei Schritt hoch! Seine Oberarme waren massiger als Ashots Oberschenkel. Der Kerl würde ihn einfach in Stücke hacken, das wusste der Feldherr. »Schieß ihn nieder, Ormu, das hier ist kein Ehrenhändel!«

Mehrere Bogenschützen der Pferdemänner belauerten mit gespannten Bögen die Hausecke, hinter der sich Ormu versteckte. In dem Augenblick, in dem der Jäger vortrat, um zu schießen, würde er selbst von Pfeilen durchbohrt werden.

»Komm her, Großer!« Ashot hob herausfordernd sein Schwert. »Glaubst du, ich hab Angst vor dir?« Er führte einen Stich nach oben, der auf die Brust des Pferdemanns zielte.

Der Daimon parierte mit Leichtigkeit, prellte Ashots Schwert zur Seite und zog seine Waffe zurück, sodass der Feldherr nur mit einem verzweifelten Hüpfer der Klinge entkam, die nach unten wies.

»Ist das alles, was du draufhast, dämlicher Gaul?«

Der alte Daimon lächelte gehässig. Dann sagte er etwas, von dem Ashot kein Wort verstand.

Gehetzt sah sich der Feldherr um. Immer mehr Pferdemänner füllten die kleine Siedlung. Warum ergriffen die Knaben in den Hütten denn nicht von sich aus die Initiative? Sie mussten doch sehen, dass es an der Zeit war, die Feuer zu entzünden. Stattdessen warteten sie auf den dritten Hornstoß.

Ein Hieb, der auf seinen Kopf zielte, zwang Ashot, sich zu ducken. Kaum dass er das tat, zuckte das untere Schwert der bösartigen Daimonenwaffe vor. Die Breitseite der Klinge traf ihn mit solcher Wucht vor die Brust, dass er von den Beinen gerissen wurde. Ein Huf schnellte herab, auf seine Rechte. Seine Finger brachen wie dürres Reisig. Ashot keuchte auf, doch fühlte er keinen Schmerz, obwohl er seine Knochen splittern hörte.

»Für Aram!«, ertönte plötzlich ein Schrei.

Zwei seiner jungen Krieger stürmten aus dem Wegelabyrinth zwischen den Viehpferchen hervor. Einer schwang ein großes Schwert über dem Kopf.

Ashot nutzte die Gelegenheit, sprang auf und stach dem Pferdemann das Mundstück des Horns in die Brust. Nicht, dass er ihn damit verletzt hätte, doch sein riesiger Gegner tänzelte ein Stück zurück. In diesem Augenblick trat Ormu hinter der Häuserecke hervor und ließ einen Pfeil von der Sehne schnellen.

Das Geschoss traf den Weißbart mitten in die Stirn.

»Lauft, Jungs!«, schrie Ashot den Knaben zu und lief geduckt zur Gasse zurück.

Pfeile umschwirrten ihn wie wütende Hornissen, aber die Götter waren auf seiner Seite. Zwei Geschosse zupften an seiner Tunika, doch keines verletzte ihn.

Kaum dass er bei Ormu stand, hielt er ihm das Horn hin. »Ich hoffe, du kannst das.«

Mit einem gurgelnden Schrei taumelte der Junge mit dem Schwert in die Gasse. Zwei Pfeile ragten ihm aus dem Rücken. Der andere Rekrut lag tot neben dem weißbärtigen Pferdemann.

Ashot schloss Daron in die Arme. »Du wirst mir jetzt nicht verrecken, Kleiner! Du bist gerade ein verdammter Held geworden.«

Daron lächelte schwach, während neben ihnen endlich das dritte Hornsignal erklang.

Hastig packte Ashot Daron und zog ihn mit sich. Der Junge vermochte sich kaum noch auf den Beinen zu halten.

Ormu blieb dicht hinter ihnen und deckte ihren Rückzug mit gespanntem Bogen. Wer immer sich in ihre Gasse wagte, wurde von ihm mit einem wohlgezielten Pfeil empfangen.

Bald erreichten sie die Innenseite der Palisade, an der alle paar Schritt Leitern aufgestellt waren. Ashot schob Daron vor sich her die Sprossen hoch. Jedes Mal, wenn seine verletzte Hand gegen den Körper des Jungen stieß, peinigte ihn sengender Schmerz. Aber er gab ihn nicht auf. Zu viele würden hier sterben! Diesen einen wollte er retten. Wenigstens einen.

Überall entlang des hölzernen Schutzwalls tauchten nun junge Krieger auf, die ihre Brandsätze gezündet hatten. Allerdings waren auch die ersten Pferdemänner bis zur Palisade vorgedrungen. Mit Schrecken sah Ashot, wie sie ihre Doppelschwerter einsetzten. Seine Krieger vermochten nicht gegen diese tödlichen Waffen zu bestehen und fielen wie Ähren unter Sichelschnitten.

Unendlich langsam schob sich Daron über die Krone der Palisade. Ashot hielt ihn mit der gesunden Hand, als der Junge sich an den Holzstämmen hinabsinken ließ. Es fehlte immer noch etwas mehr als ein Schritt bis zum Boden.

»Wenn ihr etwas schneller machen könntet, werde ich vielleicht auch meinen Arsch retten können!«, zischte Ormu hinter ihm.

Als Ashot sah, dass der Schütze seinen letzten Pfeil verschossen hatte, fuhr er den Jungen an:

»Spring!«

Daron sah verzweifelt zu ihm auf, dann ließ er los. Mit einem leisen Schmerzenslaut landete er auf den Füßen und taumelte zur Seite. Ashot schwang sich hastig über die zugespitzten Pfähle. Federnd landete er neben dem Jungen, dicht gefolgt von Ormu.

Die beiden Anführer blickten zu dem lang gezogenen Hügel, auf dem eben noch die Pferdemänner gestanden hatten. Eigentlich sollte dort jetzt Shaya mit ihren Reitern erscheinen. Sie sollte den Pferdedaimonen in den Rücken fallen und die letzten Nachzügler in das Dorf treiben. Wo waren sie? Was hatte sie aufgehalten?

»Wenn wir das Tor nicht versperren, sind wir alle tot«, stellte der Bogenschütze nüchtern fest. »Selbst wenn wir in die Steppe hinauslaufen. Sie werden uns nachstellen. Und sie werden bald verstehen, was für eine Falle wir ihnen gestellt haben. Dann werden sie jeden von uns hetzen, bis unsere Köpfe auf ihren Speeren stecken.«

Ashot seufzte. Er hasste Tage wie diesen. Plötzlich fühlte er sich todmüde und steinalt. »Du bleibst hier«, befahl er Daron. Der Junge war ohnehin nicht in der Verfassung, weit zu laufen, aber er sollte seine letzten Kräfte nicht vergeuden, um irgendwelchen Unsinn zu machen. In diesem Augenblick erkannte er ihn wieder. Trotz all der Jahre, die vergangen waren. Er sah seinem Vater erstaunlich ähnlich. »Erinnerst du dich, wie ich dir den Hintern versohlt habe, als du in den Dorfbrunnen gepinkelt hast?«

»Ihr wisst, wer ich bin …« Es klang zugleich überrascht und erleichtert.

»Natürlich erinnere ich mich an den Sohn meines besten Freundes. Und ich sag dir eins, die Tracht Prügel von damals war ein Dreck gegen das, was dich erwartet, wenn du deinen Arsch von der Stelle bewegst. Also warte hier und verblute inzwischen gefälligst nicht!«

Trotz der Schmerzen lächelte ihn Daron selig an. Dann nickte der Junge und ließ sich im hohen Gras nieder.

Ashot folgte Ormu entlang der Palisade in Richtung des Tors. Überall sprangen jetzt junge Krieger, die ihre Aufgabe erfüllt hatten und den Daimonen entkommen waren, über den hölzernen Wall. Dichter Rauch stieg im Dorf auf. Ashot blickte wieder zum Hügel. Bei den Göttern, wo blieb Shaya?

»Siehst du das?«, zischte Ormu. »Die meisten haben nicht einmal Waffen. Wir sind so was von erledigt.« Der Späher hielt sich mit dem Rücken dicht an der Palisade. Sie konnten das Tor jetzt sehen. Es war nur noch knapp dreißig Schritt entfernt. Ein Trupp von Pferdemännern lungerte vor dem Durchgang zur Siedlung. Die mit Heu beladenen Karren, die wie zufällig neben dem Tor standen, versperrten den Daimonen die Sicht.

Ashot konnte unter den Wagen hindurch nur ihre Beine sehen. Unsicher blickte der Feldherr zurück. Etwa zwanzig seiner Rekruten hatten es hier über den Wall geschafft. Aus der Siedlung waren gellende Schreie zu hören. Auf der anderen Seite des Holzwalls donnerten Hufe. Wer jetzt noch nicht auf der sicheren Seite war, der würde nicht mehr herauskommen. Die Pferdedaimonen hatten die Leitern entdeckt. Sie würden …

»Da!« Ormu deutete auf den Hügel.

Shaya! Endlich! Sie preschte an der Spitze von etwa hundert Reitern den Hang hinab. Die meisten von ihnen waren mit langen Speeren bewaffnet.

Ein einzelner Pferdemann galoppierte ihnen wild schreiend entgegen und schwang dabei seine Doppelklinge über dem Kopf. Eine Salve Pfeile brachte ihn zu Fall. Weitere Pfeile trieben die übrigen Daimonen in die Sicherheit des Walls.

»Jetzt!«, rief Ashot und lief in Richtung der Heuwagen.

Ormu und einige der Jungen folgten ihm. Sie schoben den schweren Wagen vor das Tor, sodass es blockiert war. Dann zerschmetterten sie mit Äxten, die sie unter der Ladung hervorzogen, die Achsen der Wagen.

Ashot wusste, dass sich unter dem Heu verborgen zwei Fässer mit Teer befanden.

»Entzündet die Wagen!«, befahl Shaya, die mit ihrer Stute knapp vor ihnen zum Stehen kam. »Ormu?« Sie bedachte den Hauptmann der Bogenschützen mit einem finsteren Blick. »Ich hoffe, deine Männer sind auch ohne dich in Stellung gegangen.«

»Das hoffe ich auch.« Der Schütze lächelte sie an, doch Ashot spürte, wie unwohl sich sein Freund fühlte.

Shaya nickte ihm zu. »Ihr habt gut gekämpft, Ashot. Ich hoffe, es wird sich gelohnt haben. Ziehen wir uns ein Stück zurück und beobachten die Wälle.«

»Herrin …«

»Ja?« Sie wirkte ungehalten.

»Bitte, gebt mir unseren Heiler mit, ich … Es gibt da einen Verwundeten. Ich weiß, dass er Aaron am Herzen liegt.«

Shayas Maske der Unnahbarkeit fiel. »Ich werde mit dir kommen.« Ihre Stimme klang nun ganz verändert.

Ashot war erleichtert und überrascht. Sie blieb ein Geheimnis. Mal eiskalte Kriegerin, dann mitfühlende Heilerin. Nur eins war sie immer: verschwiegen.

Die Grenze überschreiten

Shaya wischte sich mit einem schmutzigen Tuch das Blut von den Händen und sah auf den bewusstlosen Jungen im Gras. Er hatte Glück gehabt. Beide Pfeile hatten Rippen getroffen und nicht mehr die Kraft gehabt, die Knochen zu zerbrechen. Weder seine Lunge war verletzt noch die Nerven seiner Wirbelsäule. Allerdings war es ein übles Gemetzel geworden, die mit Widerhaken versehenen Pfeilspitzen herauszuschneiden. Der Knabe hatte viel Blut verloren.

Schweren Herzens drehte Shaya sich zur kleinen Siedlung um. Sie war froh gewesen, einen Grund zu haben, nicht zu beobachten, was geschah. Doch nun zwang sie sich hinzusehen. Ihr Plan war aufgegangen: Beide Tore waren mit brennenden Wagen unpassierbar gemacht. Ihre Männer hatten über die Leitern an der Palisade fliehen können. Die Pferdedaimonen konnten das nicht. Sie saßen gefangen in einem Dorf, in dem jedes einzelne Haus brannte.

Der verletzte Junge war auf den Hügel vor dem südlichen Tor geschafft worden, bevor sie die Pfeile aus seinem Rücken geholt und seine Wunden vernäht hatte. Andere Verwundete gab es nicht. Entweder hatte man es aus dem Dorf geschafft oder nicht. Die Rekruten, die verletzt worden waren, fielen unter oder nicht. Auch Daron hätte es nicht geschafft, wenn er nicht Ashot und Ormu an seiner Seite gehabt hätte. Der Feldherr hatte ihr nicht erzählt, welches Interesse Aaron an diesem Knaben hatte. Aber sie zweifelte nicht an Ashots Worten. Die Zeit würde zeigen, was es mit diesem Glückskind auf sich hatte.

Unangenehm deutlich spürte sie die Hitze des Feuers, obwohl sie mehr als hundert Schritt von der Palisade entfernt war. Dichter schwarzer Rauch stand über der Siedlung. Der Wind trieb ihn nach Westen, und doch waren der brennende Teer und das verbrannte Fleisch deutlich zu riechen.

Das Blöken der Rinder war verstummt. Die vielen einzelnen Flammen der brennenden Häuser wuchsen langsam zu einer einzigen, riesigen Flammensäule zusammen. Der Wind veränderte sich. Sie sah es am hohen Gras rings um das Dorf. Er schien jetzt aus allen Richtungen auf Mira einzustürmen.

Ein übler Geschmack lag Shaya auf der Zunge. Das musste der Teer sein … Sie wusste es besser. Nach der Schlacht um Asugar hatte sie viele Monde lang kein gebratenes Fleisch mehr essen können. Selbst der Geruch hatte ihr Übelkeit verursacht.

Zwei der dicken Stämme aus der Palisade brachen nieder, und ein rußgeschwärzter Pferdedaimon zwängte sich durch die Lücke. Ormu war sofort mit seinen Schützen zur Stelle. Sie ließen den Pferdemann durch die Lücke steigen, dann schossen sie ihn nieder. Ein zweiter in einer Rüstung, die einmal silbern gewesen sein musste, folgte ihm. Jetzt zeugten nur noch einzelne silberne Flecken von der verlorenen Pracht. Das Metall war geschwärzt. Den Helm auf seinem Kopf hatte wohl einst ein prächtiger Federbusch geschmückt. Nun waren nur noch ein paar versengte Borsten geblieben.

Die Pfeile prallten am Brustpanzer des Pferdemanns ab. Dann traf ein Geschoss mitten zwischen die Wangenklappen, die bis unter das Kinn reichten. Der Pferdemann fiel wie vom Blitz getroffen. Kein weiterer folgte den beiden durch die Lücke.

Shaya musste sich zwingen, weiter hinzusehen. Als sie den Plan ersonnen hatte, war ihr alles so klar, so einfach und gerecht erschienen. In einer Feldschlacht konnten sie die Pferdedaimonen nicht stellen. Waren sie unterlegen, wichen ihre Feinde einfach aus. Sie hatten ihnen eine Falle stellen müssen. Mira war ihr riesiger Daimonenkäfig gewesen. Die Rinder der Köder. Alles war gelungen, und doch empfand sie keinen Stolz.

Sie drückte ihren Rücken durch und dachte erneut an Asugar. Selbst heute wachte sie manchmal noch zitternd aus dem Schlaf auf, geplagt von Albträumen über die Kämpfe in der Felsenstadt. Ihr Rücken war entstellt von Brandnarben, die nie ganz verschwunden waren. Die Daimonen hatten es verdient! Sie hatten zuerst das Feuer zu ihrer Waffe gemacht.

Ashot kam zu ihr. »Ich glaube, in Mira lebt niemand mehr. Von den Rekruten haben es zweiundfünfzig nicht über die Wälle geschafft. Von den Pferdedaimonen sind wohl mehr als tausend gestorben.« Der Feldherr klang niedergeschlagen, als empfände auch er keine Freude über diesen Sieg.

Sie sah ihn an. Seine Hand war übel zugerichtet. Vorhin hatte sie ihm angeboten, danach zu sehen, aber er wollte sich nicht verbinden lassen, bevor alles entschieden war.

»Sollten wir nicht abziehen?«, fragte Ashot.

Sie nickte langsam. »Ja, aber ich werde bleiben …«

»Warum? Hast du Sorgen, dass doch noch jemand entkommt? Sieh dir diese riesige Flammensäule an. Da unten lebt gewiss nichts mehr.«

»Ich weiß«, sagte sie müde. »Ich bleibe, weil ich dies dort unten ersonnen habe. Ich schulde es ihnen, es mir bis zum Ende anzusehen.« Sie schenkte Ashot ein freudloses Lächeln. »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Ich kann es mir selbst nicht richtig erklären. Sie sind unsere Feinde! Und trotzdem fühle ich mich schuldig, als hätte ich eine Grenze überschritten und etwas Unrechtes getan.«

Zu ihrer Überraschung nickte Ashot, und sein Gesicht wirkte mit einem Mal fast sanft. »Ich kenne dieses Gefühl. Ich werde bei dir bleiben, aber die anderen schicke ich fort.«

Licht und Dunkel

Nandalee lehnte an der sonnenwarmen Wand des Palas in der Alten Veste. Wie sie das genoss! Gestern war sie aus der Snaiwamark zurückgekehrt. Sie hatte dort Elfen für die Kämpfe auf Nangog anwerben sollen. Eine Liste mit siebzig Namen hatte der Dunkle ihr mitgegeben. Sie hatte nur einundsechzig der Genannten finden können. Nur siebzehn waren der Aufforderung gefolgt, sich zum Kampf zu melden. Sie konnte verstehen, dass ihre Brüder und Schwestern aus dem hohen Norden nicht nach Nangog wollten. Zu viele, die diese Reise antraten, kehrten nicht mehr zurück.

Ganz oben auf der Liste hatten die Namen Cullayn und Tylwyth gestanden. Der Hieb einer Trollkeule hatte einst das Gesicht Cullayns schrecklich entstellt. Nie war sie einem Elfen begegnet, der so schrecklich anzusehen, aber zugleich auch so freundlich war. Er galt als der beste Fährtensucher des Nordens. Nandalee hatte ihm nicht vergessen, wie er ihr auf der Suche nach den Überlebenden ihrer Sippe und im Kampf gegen den Immerwinterwurm geholfen hatte. Sein Freund Tylwyth war das genaue Gegenteil von ihm. Er war von anrührender Schönheit, wenngleich manchmal ein wenig naiv. Beide hatten sie sich einst der Blauen Halle verschrieben, doch mit dem Tod des Himmlischen war ihr Bund mit den alten Drachen zerbrochen.

Zwei Mal hatte sie morgens Zeichen der beiden in ihrem Lager gefunden. Sie war ihnen nahe gekommen, und doch würde sie Cullayn und Tylwyth nie finden, wenn sie es nicht wollten. Sie hatte das gewusst, bevor sie sich auf die Suche gemacht hatte.

Dennoch war sie es dem Dunklen schuldig gewesen, den beiden nachzuspüren. Er hatte sie in den letzten Jahren aus fast allen Kämpfen auf Nangog herausgehalten. Sie war als Werberin gereist. Die meiste Zeit jedoch hatte sie bei den Kindern in der Alten Veste verbracht.

Ihr war bewusst, wie oft Nodon und all die anderen Elfen in der Alten Veste auf Missionen geschickt wurden. Bewusst, welche Privilegien sie genoss. Und auch wenn sie nicht wieder Freunde geworden waren, hatte sie mit dem Dunklen einen Waffenstillstand geschlossen und duldete, dass er zu den Kindern kam.

Es war so gut, hier zu stehen. Die Wärme im Rücken. Die Kinder vor Augen. Groß waren sie geworden. Emerelle war die kleinere der beiden. Von zierlicher Gestalt, mit dunkelblondem Haar, das ihr in Wellen auf die schneeweißen Schultern fiel. Nur ihre Augen wirkten zu verständig. Sie hatten dieselbe Farbe wie das Fell eines jungen Rehkitzes: rotbraun, mit hellen Sprenkeln. Darunter ein waldbeerroter, lachender Mund. Sie zu sehen ließ Nandalee alles vergessen. Die einsamen Nächte im Eis. Die Morde, die sie begangen hatte. Doch Meliander … In ihm lebte alles auf. Verstümmelt saß er auf der Pferdetränke im Hof und scherzte mit Eleborn, der nur für die trügerische Hoffnung, dem Jungen helfen zu können, ein Bein gegeben hatte. Meliander lachte, ganz in sein Spiel verloren. Er und seine Schwester hatten etliche unregelmäßige Kugeln aus Wasser erschaffen, die sie von der Tränke aufwärts in die breite Bahn aus klarem Sonnenlicht aufsteigen ließen.

Eleborn hatte sie das Zauberweben gelehrt. Hatte ihnen beigebracht, spielerisch mit Wasser und Licht umzugehen. Wenn Nandalee auf Reisen musste, nahm Eleborn die Kinder zu sich in den verwunschenen Palast, den er sich am Grund des Sees neben der Pyramide erschaffen hatte. Emerelle und Meliander halfen ihm manchmal, neue Räume zu verwirklichen. Er lehrte sie, Träume Wirklichkeit werden zu lassen.

Hätte Gonvalon seine Kinder nur sehen können! Hätte er nur einen einzigen Nachmittag wie diesen erleben dürfen! So lange war er nun schon tot. Verloren in Selinunt … Wenn sie an jene Nacht dachte, verlor der Sommernachmittag seine Wärme. Eisfinger krochen durch ihr Gedärm.

Sie schlang die Arme um den Leib.

»Mama …« Meliander deutete auf das Tor der Alten Veste. Etwas in seiner Stimme ließ all ihre Erinnerungen verblassen. Er hatte seltsame Gaben, das wusste sie schon lange. Manchmal machte er ihr richtiggehend Angst.

Meliander nahm die Krücke und richtete sich auf.

Im selben Augenblick erklang das Horn vom Posten über dem Turm. Drei kurze Stöße – Alarm!

Die Wasserkugeln stürzten in den Hof.

Der Zauber, der nichts außer Schönheit schenken wollte, war dahin.

Schwere Schritte hallten in verborgenen Gängen. Nandalee sah Schatten hinter den Schießscharten des Torturms.

Zwei riesige Adler landeten auf dem Felsplateau vor dem Tor. Eine Gestalt, wie in strahlendes Sonnenlicht gehüllt, sprang von dem größeren der beiden Vögel und durchquerte das dunkle Torgewölbe. Ihm folgte eine schlanke Frau mit langem, dunklem Haar, die ein schlichtes, ärmelloses Kleid trug. Es erinnerte an die Gewänder der Weißen Halle, auch wenn es nicht mit der Goldstickerei geschmückt war, die seine Trägerin als die Meisterin ausgewiesen hätte, die sie war.

Vor zwei Wochen erst war Nandalee auf ihrer Reise in den Norden kurz in Uttika gewesen. Jetzt bereute sie es. Sie war Gerüchten über eine geheimnisvolle Elfe gefolgt. Und sie hatte gedacht, vorsichtig genug gewesen zu sein … Nur einen halben Tag hatte sie die Stadt besucht, und als sie entdeckt hatte, wer die Gemahlin des Kaufmanns Shanadeen wirklich war, hatte sie sich eiligst zurückgezogen. Und nun stand sie hier, Bidayn. Gemeinsam mit ihrem Herrn.

»Ihr also seid Emerelle und Meliander«, begrüßte der Goldene ihre Kinder mit einem strahlenden Lächeln. »Ich habe schon viel über euch gehört.«

Seine Worte jagten Nandalee unwillkürlich einen Schauder über den Rücken, der im Gegensatz zu den Wohlgefühlen stand, die der Anblick des Goldenen sonst erweckte.

Der Götterdrache ging in die Knie und weitete die Arme. Emerelle kam ihm lachend entgegengelaufen, als wäre ein lang vermisster Freund heimgekehrt. Und selbst Meliander, der Fremden gegenüber sonst stets verschlossen blieb, hinkte auf seiner Krücke zum Zweitgeborenen.

Der Goldene hatte den gesamten Hof mit seiner unvergleichlichen Aura durchtränkt. Nandalee sah, wie die Bogenschützen hinter den Schießscharten ihre Waffen senkten. Und nicht einmal die sonst so scheuen Felstauben, die meist schon eine unbedachte Bewegung zu panisch flatternder Flucht bewegte, flogen davon.

»Bist du Gonvalon?«, fragte Meliander ergriffen.

Der Goldene warf Nandalee einen überraschten Blick zu. »Wie kommst du darauf, Meliander?«

»Mutter sagt immer, unser Vater ist in ein helles Licht gegangen. Und dann wird sie ganz traurig und spricht nicht mehr weiter … Sie hat uns nie erzählt, was für ein Licht das war. Und du … du bist ganz aus Licht. Du bist …«

Nandalee zitterten die Lippen. Sie war unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. All die so lange unterdrückten Gefühle übermannten sie. Tränen traten ihr in die Augen, und sie hasste sich dafür. Ebenso, wie sie sich dafür hasste, dass sie den Kindern nie ganz deutlich gesagt hatte, was mit ihrem Vater geschehen war. Wie er in den gebündelten Flammen der Himmelsschlangen gestorben war.

»Es tut mir leid, mein Junge. Ich bin nicht dein Vater.«

Er klang so aufrichtig betroffen … so mitfühlend. Nandalee musste sich zwingen, sich daran zu erinnern, dass der Goldene Gonvalon verstoßen hatte und dass er sich sicherlich dessen Tod gewünscht hatte.

»Wisst ihr, euer Vater war ein sehr guter Freund von mir. Er war mein Schwertmeister, für sehr lange Zeit, bis er eure Mutter kennenlernte, sich verliebte und mich verlassen hat.«

Emerelle kicherte leise.

Der Goldene richtete sich auf. »Kommt, gehen wir zur Tränke. Ich setze mich, ihr nehmt neben mir Platz, und ich erzähle euch von dem Schwertmeister, wie er den Mondriesen besiegte oder bis zum Grund der Karyn-See tauchte, um dort eine der schwarzen Perlen zu finden, die einen Toten zurück ins Leben holen, wenn man sie auf seine Lippen legt.«

Die Kinder jauchzten vor Vergnügen.

»Wirst du ihnen die ganze Geschichte erzählen, Bruder?«

Das Tor zum Hof hatte sich schon mit dem ersten Wort mit Schatten gefüllt. Eine Gestalt, dunkel wie die Nacht, löste sich daraus. Nachtatem. Auch er hatte Elfengestalt, und nie, seit er sie tätowiert hatte, war Nandalee so glücklich gewesen, ihn zu sehen.

Die graubraunen Felstauben, die eben noch friedlich pickend um die Füße des Goldenen gehüpft waren, stoben erschrocken auf und flogen davon.

Emerelle gab einen leisen, ängstlichen Laut von sich und wich zurück. Meliander stellte sich schützend vor sie. Wohl nie zuvor hatten die beiden die bedrohliche Aura des Dunklen so deutlich gespürt.

Nandalee versetzte es einen Stich, was sie sah. Nicht ein einziges Mal waren die Kinder mit Nachtatem so herzlich umgegangen wie mit seinem goldenen Bruder. Es war ungerecht. Er war immer für sie da gewesen. Auch jetzt war er augenblicklich erschienen, als er eine Gefahr spürte.

Der Elfe wurde bewusst, dass es nicht allein die Kinder gewesen waren, die Nachtatem ungerecht behandelten. Auch sie hatte nie mehr als ein freundliches Wort für ihn gehabt. Nach der Zeit des Hasses, den sie nach Gonvalons Tod empfunden hatte, war es nie wieder so geworden wie in der Nacht, in der er sie tätowiert hatte. Sie konnte ihn nicht mehr lieben, sosehr er sich auch darum bemühte.

Mit dem Dunklen war die spätsommerliche Hitze gewichen. Die Spannung zwischen den beiden Himmelsschlangen war fast körperlich zu spüren. Der Goldene war in das Revier Nachtatems eingedrungen. Er wollte seinen Bruder provozieren, die Macht des Erstgeschlüpften auf die Probe stellen.

»Nun, Bruder?« Der Goldene lächelte herausfordernd. »Wie machen wir weiter? Von anderswo bin ich es gewohnt, dass ein Gast an einem heißen Tag auf einen kühlen Trunk im Schatten eingeladen wird. Wie ist es um die Gastfreundschaft im Jadegarten bestellt?«

»Freunde sind hier stets willkommen«, kam es eisig zurück. Dann folgte langes Schweigen. Nandalee befürchtete schon, Nachtatem würde seinen Bruder brüskieren und zum Gehen auffordern, als der Herr des Jadegartens doch noch auf den Eingang zum Palas wies.

Selbstsicher ging der Goldene voran. Sein Bruder folgte ihm dichtauf.

Bidayn aber verharrte noch einen Augenblick. Neugierig sah sie sich um. Nur Nandalee beachtete sie nicht. Wie sehr Bidayn sich verändert hatte! Von dem etwas pummeligen, schüchternen Mädchen, das Nandalee einst in der Höhle des Schwebenden Meisters kennengelernt hatte, war nichts mehr geblieben. Sie war gertenschlank, ihre Muskeln gestählt, und sie bewegte sich mit der anmutigen Selbstsicherheit einer erprobten Kriegerin.

Bidayn, wie sie jetzt war, erinnerte Nandalee an Lyvianne. Sie hatte etwas Bedrohliches, und selbst wenn sie lächelte, wich die Kälte nicht aus ihren Augen. Sie war nicht hier, um einen Höflichkeitsbesuch abzustatten!

Die Wette

Misstrauisch sah Bidayn zu den Elfen hinter den Schießscharten, die auf den Hof wiesen. Abgesehen von dem Stalltor, dem Eingang zum Palas und dem Festungstor gab es nur noch zwei Treppen hinauf zu den Wehrgängen. Sorgsam prägte sie sich jeden Weg ein, auf dem Krieger zum Hof gelangen konnten.

Als sie nun dem Goldenen hinauf zum Eingang des Palas folgte, zählte Bidayn ihre Schritte. Das Tor zur Alten Veste und der Eingang lagen versetzt zueinander. Es genügte ihr, ein einziges Mal hier gewesen zu sein. Wenn sie wiederkehrte, würde sie den Eingang auch in völliger Dunkelheit finden.

Sie sollte ihre Gedanken beherrschen! Sie besaß nicht die unvergleichliche Gabe Nandalees. Eine Himmelsschlange würde womöglich ihre Gedanken lesen können. Noch war der Dunkle ganz auf seinen Bruder fixiert, aber das mochte sich jeden Augenblick ändern.

Nandalee stützte ihren verkrüppelten Sohn. Auch sie ging in den Palas. Auf der anderen Seite schritt ihre Tochter. Ein hübsches, kleines Mädchen. Eleborn hingegen bedachte Bidayn mit einem abfälligen Blick. Noch so ein Versehrter. Eine Ansammlung von Einbeinigen war das hier, keine furchterregende Kampftruppe.

Noch einmal sah sie unauffällig zu den Schießscharten auf. Ob dort oben Nodon war? Neben Nandalee war er der beste Kämpfer unter den Drachenelfen des Dunklen. Dann trat sie durch das Portal in die dunkle Eingangshalle. Ein niedriger Tisch mit einer großen Kristallschüssel stand in der Mitte des Raums. Schlichte Gläser standen umgedreht rings um die Schüssel. Zwei Treppen führten nach oben zu einer umlaufenden Galerie. An der Wand neben der Treppe zu ihrer Rechten hingen fünf Schwerter. Eines davon war Todbringer, der berüchtigte Bidenhänder Nandalees. Die vier anderen vermochte Bidayn nicht zuzuordnen. Leere Haken in der Wand verrieten, dass noch zwei weitere Schwerter aufgehängt werden konnten. Es waren also sieben Drachenelfen in der Alten Veste untergebracht. Das waren mehr, als sie erwartet hatte.

Bidayn drehte sich langsam, sog jedes Detail des Raums in sich auf. Licht fiel allein durch die offene Tür und zwei schmale Fenster ein. Es war angenehm kühl. Sie fühlte sich an die Weiße Halle erinnert. Auch wenn dort alles viel größer gewesen war.

Emerelle brachte ihr ein Kristallglas mit Wasser. »Magst du etwas trinken?«

Bidayn ging in die Hocke. »Danke, meine Dame.«

Nandalees Tochter lächelte sie an. »Ich bin doch noch gar keine Dame …«

»Ich finde, eine Dame zeichnet sich nicht durch Größe oder Alter, sondern durch gute Manieren aus.« Sie nahm das Kristallglas entgegen und nahm einen Schluck. Das Wasser war kühl. Ein wenig Zitronensaft war beigemischt. »Das schmeckt gut! Was für ein köstlicher Willkommenstrunk. Habt ihr mit Besuch gerechnet?«

»Das Wasser gibt es immer hier. Jeden Morgen wird es ausgewechselt. Alle in der Veste trinken davon. Mit Zitronen und Orangen schmeckt es viel besser als das einfache Brunnenwasser.«

Bidayn trank das Glas aus. »Es ist wirklich köstlich.« Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Nandalee sich gerade um die beiden Krüppel kümmerte. »Deine Mutter und ich, wir kennen uns schon sehr lange, Emerelle. Vor vielen Jahren hat uns ein weißer Drache die Kunst zu zaubern beigebracht. Wir lebten mit den anderen Schülern in seiner Höhle. Er war ein sehr strenger Lehrmeister. Und ein bisschen verrückt.« Sie rollte mit den Augen. »Stell dir vor, abends, wenn er schlafen wollte, hat er sich immer mit dem Kopf nach unten an die Höhlendecke gehängt. Wie eine Fledermaus. Dabei war er ein mächtiger Drache.«

Emerelle kicherte. »Das hat sicher lustig ausgesehen.«

Auch Bidayn lachte leise. »Das sag ich dir. Er fand immer, wir sollten auch so schlafen. Damals haben wir uns alle geschworen, nie wieder in einer Höhle zu leben. Und jetzt sehe ich, ihr lebt doch in einer Höhle.«

Sie sah kurz zum Goldenen. Er ging ein Stück die Treppe hinauf und betrachtete die Schwerter der Drachenelfen. In dem Augenblick, in dem er Nandalees Bidenhänder von der Wand nahm, waren Nachtatem und Nandalee an seiner Seite. In der Halle lag eine bedrohliche Spannung.

»Natürlich leben wir nicht in einer Höhle. Das hier ist doch eine Burg.«

»Aber sie steht in einer Höhle«, beharrte Bidayn. »Ich wette, du musst in einem finsteren Tunnel leben.«

»Nein!« Wieder lachte Emerelle.

»Magst du mir dein Zimmer denn zeigen?«

Schlagartig wurde die Kleine ernst. Sie sah zu ihrer Mutter. »Ich glaube nicht, dass ich das darf …«

Bidayn lächelte schief. »Ich wusste es. Ihr schlaft doch in einer Höhle, und jetzt schämst du dich, sie mir zu zeigen.«

»Nein«, grummelte Emerelle. »Aber ich glaube nicht, dass Mama erlaubt …«

»Ah! So streng war sie früher auch schon …« Bidayn beugte sich vor. »Aber ich kenne einen Trick. Einen Zauber, der es uns erlaubt, hinauf und wieder zurück zu sein, bevor deine Mutter etwas merkt. Machst du mit?«

Die Kleine sah wieder ängstlich zur Treppe. Der Goldene schwang ausgelassen den Bidenhänder und lobte die Ausgewogenheit der Klinge.

»Ich verspreche dir, mit meinem Trick sind wir schneller wieder zurück, als du ein Glas Wasser austrinken kannst.«

Das Mädchen sah sie mit ihren großen Rehaugen ungläubig an. »Das geht?«

Bidayn legte feierlich ihre Rechte auf ihr Herz. »Das geht. Versprochen! Du musst mir nur deine Hände geben.«

Ohne zu zögern streckte Emerelle ihre Arme nach vorne.

Die Drachenelfe sprach ein Wort der Macht und hob die Kleine auf den Arm. Sie spürte die Macht fließen. Spürte, wie das Weltennetz gegen den widernatürlichen Zauber aufbegehrte. Doch nach Jahren der Übung wusste sie sich und das Kind zu schützen. Ruhig nahm sie den linken Treppenaufgang zur Galerie.

»Schneller!«, flüsterte Emerelle ängstlich. »Du musst schneller sein.«

»Sieh doch mal zu deiner Mutter, Kleines.« Sie hörte das Mädchen erschrocken nach Luft schnappen.

»Was hast du gemacht? Sind sie versteinert?«

Bidayn musste schmunzeln. »Sehen sie denn aus wie Steine? Ihnen geht es gut. Solche Zaubersprüche gibt es nur in Märchen. Nein, die Zeit läuft für uns viel langsamer als für sie. Wenn du lange genug hinschaust, wirst du sehen, dass sie sich noch bewegen. Aber im Moment sind Schnecken im Vergleich zu ihnen schnell wie Falken.«

»Werde ich das auch einmal lernen?«

»Wenn du sehr mutig bist.« Bidayn umrundete die Galerie und trat auf den einzigen Gang, der von dort fortführte. Bei jeder Tür, die sie passierten, ließ sie Emerelle den Namen desjenigen nennen, der dort lebte.

Schließlich erreichten sie Nandalees Zimmer. Erst hier trat sie ein. Es war erstaunlich karg. Eine Matratze für die Kinder, ein schmales Bett für sie. Eine schöne grüne Lacktruhe, die mit Delphinen bemalt war, ein schlichter Tisch, auf dem eine Skulptur aus in warmem Bernsteinlicht erstrahlendem Barinstein stand. Daneben lag ein zerknülltes Tuch. Vermutlich, um den Stein bei Nacht abzudecken. Eine Schale mit Obst, ein paar schlichte Tonbecher und ein Wasserkrug. Das war ja fast schon ärmlich!

Auf Haken an der Wand ruhte Nandalees Bogen. Ein Köcher lehnte neben dem Bett.

»Siehst du, wir wohnen nicht in einer Höhle!«, sagte Emerelle triumphierend.

»Ja, ich habe wohl verloren.« Bidayn drehte sich langsam um die eigene Achse. Sie nahm jedes Detail in sich auf. Dann trat sie an das Fenster und sah kurz zum Hof der Festung hinab.

»Wir sollten wieder gehen«, quengelte Emerelle unruhig. »Mutter wird es sonst bemerken. Wir dürfen …«

Bidayn spürte, wie jemand anderes nach der Macht des magischen Netzes griff. Sie trat vom Fenster zurück, drückte Emerelle fester an sich und beeilte sich, in den Flur zu kommen. Diesmal rannte sie. Kaum dass sie die Galerie erreichte, sah sie Nandalee und den Dunklen. Sie waren nicht ganz so schnell wie sie. Sie würde entkommen. Sie lief bis zur Mitte der Treppe auf der linken Seite und sprach ein Wort der Macht. Ein Ruck durchlief sie. Emerelle auf ihrem Arm keuchte erschrocken auf.

Augenblicklich erschienen der Dunkle und Nandalee bei ihr, während Eleborn und Meliander erstaunt zu der Treppe hinaufsahen, die eben noch leer gewesen war.

Nandalee nahm ihr die Tochter vom Arm. »Alles ist gut«, flüsterte sie. »Sie wird dir nichts tun. Mama ist bei dir. Alles ist gut.«

Für sie aber hatte Nandalee kein einziges Wort. Nicht einmal einen Tadel oder eine Drohung. Von früher wusste sie nur zu gut, was Bidayn wirklich verletzte: Schweigen.

Der Dunkle sah Bidayn an, als wollte er sie zerreißen.

»Bitte«, erklang die Stimme des Goldenen. »Nichts ist geschehen. Kein Grund, sich zu streiten.«

»Ihr geht. Sofort! Und ihr kommt nicht wieder! Ihr seid im Jadegarten nicht mehr willkommen!« Die Worte des Dunklen rollten wie Donner durch die Halle.

Der Goldene winkte Bidayn. »Komm, meine Liebe. Ich hatte immer schon den Verdacht, dass mein Bruder ein recht ungastlicher Geselle ist. Und obendrein neigt er zu zügellosen Wutausbrüchen. Fordern wir ihn also nicht heraus.«

Bidayn stieg aufreizend langsam die Treppe hinab. Sie würde nicht fortlaufen. Die drohenden Blicke des Dunklen folgten ihr.

Der Goldene hob seine Rechte. Auf der offenen Handfläche lagen zwei Ringe. »Ein Geschenk für die beiden Kinder.«

»Was ist das?«, fragte Nandalee schroff. Sie drückte Emerelle immer noch fest an sich.

»Schutz. Wenn sie die Ringe tragen und sie drei Mal um ihren Finger drehen, aktivieren sie den Zauber, den ich in das Gold gewoben habe. Eine unsichtbare Kugel entfaltet sich um sie. Kein Pfeil, keine Klinge und kein böser Zauber können diese Schutzaura durchdringen. Es ist ein gutes Geschenk.«

»Ich beschütze sie«, sagte der Dunkle drohend. »Das genügt!«

Bidayn stand nun neben dem Goldenen, der beschwichtigend die Hände hob. »Natürlich, Bruder. Das tust du. Aber diese Welt kann ein sehr gefährlicher Ort sein. Man weiß nie, wann man Schutz braucht.«

Schwebendes Unheil

Der Dunkle folgte seinem Bruder und dessen Elfe durch das Tor der Alten Veste und sah zu, wie sie ihre Adler bestiegen und davonflogen. Als sie schon hoch am Himmel waren, hörte er Schritte hinter sich.

»Was sollte das? Warum waren die hier?« Nandalee war außer sich. Sie war leichenblass, und tödlicher Zorn funkelte in ihren Augen.

»Die Kinder sind nicht in Gefahr, meine Dame«, versuchte er sie zu beruhigen.

»Und warum hat Bidayn das getan? Warum war sie mit Emerelle fort? Wollte sie uns zeigen, wie leicht sie sich die Kinder holen kann?«

Der Dunkle wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Der Besuch seines Bruders war ihm ein Rätsel. Er war eine Drohung, daran konnte es keinen Zweifel geben, aber welche Absicht steckte dahinter?

»Ich werde noch heute die Kinder nehmen und den Jadegarten verlassen. Hier ist es nicht länger sicher für uns.«

»Und wenn sie genau das erreichen wollten? Diese Reaktion ist zu vorhersehbar, meine Dame. Sie werden sie eingeplant haben. Welcher Ort sollte sicherer sein als der Jadegarten? Denkt an Meliander. Ihr werdet Euch mit ihm nicht so bewegen können, wie Ihr es allein tätet. Wenn Ihr flieht, gewinnt Ihr nicht – im Gegenteil, Ihr gebt die letzten Sicherheiten auf.«

Nandalee ging rastlos auf und ab. Nie hatte er sie so aufgewühlt erlebt. »Aber ich kann doch nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Es war eine Drohung. Und dabei wird es nicht bleiben. Als Nächstes folgen Taten. Ich werde nicht warten, bis es so weit ist.«

»Ich glaube, mein Bruder war hier, um seine Brut zu beschnuppern.«

»Seine Brut?«, fuhr sie ihn an. »Was soll das heißen?«

»Das wisst Ihr genauso gut wie ich, meine Dame. Er wollte wissen, ob es vielleicht seine Jungen sind. Er wollte sie nahe bei sich haben. Wollte ihre Aura spüren. Etwas in ihnen finden, das ihm vertraut ist.«

»Nein!« Sie schüttelte entschieden den Kopf.

»Doch, genau so hat er sich verhalten. Und Bidayn war bei ihm, um das Nest auszuspähen. Deshalb hat er Euer Schwert von der Wand genommen, meine Dame. Ihm war klar, dass wir in diesem Augenblick ganz bei ihm sein würden. So hat er seiner Dame Gelegenheit verschafft, Euer Zimmer zu besuchen. Vielleicht solltet Ihr mit den Kindern …« Er zögerte, dachte an den, den er verbarg. »Vielleicht könnte Eleborn Euch in seinem verwunschenen Palast aufnehmen?«

»Und du? Was denkst du?«, fuhr sie ihn an. »Hältst du sie auch für deine Brut? Deine …« Etwas in ihr schien in diesem Augenblick zu zerbrechen. Ihre Schultern sackten herab. Ihr Zorn war verraucht. »Sind sie es?«, fragte sie leise.

»Es sind Eure Kinder, meine Dame. Dies ist die einzige Gewissheit, und sie war mir stets Grund genug, die beiden zu schützen.«

Sie sah ihn durchdringend an, so als vermöge allein ihr Blick die Wahrheit seiner Worte zu ergründen. Plötzlich trat sie dicht vor ihn, küsste ihn auf die Wange und ging.

Verwundert sah er ihr nach. Er würde sie niemals verstehen, die Albenkinder, und auch die Liebe würde ihm ein Mirakel bleiben. Aber er würde Nandalee mit seinem Leben beschützen. Immer!

Er dachte an die beiden Ringe. Er hatte sie seinem Bruder abgenommen. Die Kinder hatten sie nicht einen Augenblick in Händen gehalten. Er glaubte nicht, dass aus einem Geschenk des Goldenen Gutes erwachsen konnte, auch wenn es scheinbar nützliche Geschenke waren. Er würde schon bald wieder fortmüssen. Seine Brüder wollten sich treffen, um über den Krieg auf Nangog zu beraten. Er konnte nicht immer im Jadegarten bleiben. Andererseits traute er seinem Bruder nicht zu, ein Geschenk ohne Hintergedanken zu machen. Es musste mehr geben als das, was er ihnen verraten hatte.

Nachtatem überlegte, wie lange Nandalee wohl brauchen würde, bis sie herausfand, dass er sie belogen hatte. Die Absichten des Goldenen waren eindeutig. Er wollte die Kinder. Nachtatem hatte es in seinen Augen lesen können.

Emerelle

Emerelle lag wach in ihrem Bett und lauschte in die Nacht, wie sie es oft tat. Draußen hörte sie die leisen Schritte der Wachen. Sie mochte das Geräusch. Es vermittelte ihr das Gefühl von Sicherheit. Es tat gut zu wissen, dass es immer jemanden gab, der wachte. Und doch fand sie in dieser Nacht keinen Schlaf.

Ihr war jetzt klar, dass es ein Fehler gewesen war, mit Bidayn hierher in ihr Zimmer zu kommen. Mutter hatte ihr das sehr nachdrücklich klargemacht. Ihr schmerzte jetzt noch der Hintern davon. Was genau aber der Fehler gewesen war, hatte ihr Mutter nicht erklärt. Bidayn war nett gewesen, und der Goldene … Sie seufzte, als sie an ihn dachte. Er war wie Licht! Die beiden waren so anders als ihre Mutter und Nachtatem. Lebendiger …

Sie hörte das Flattern der Felstauben. Irgendetwas hatte sie bei ihren Nestern, draußen an der Steilklippe, aufgeschreckt. Vielleicht ein Marder oder irgendein anderer Nesträuber. Sie lebte hier auch in einem Nest, dachte Emerelle und schlang die dünne Decke enger um sich. Ein Nest aus Stein. Die Alte Veste war in eine große Höhle in eine der Steilwände, die den Jadegarten einfassten, gebaut. Die Tauben konnten fliegen. Sie kam hier nie fort. Nur wenn sie mit Eleborn in dessen verwunschenen Palast am Grund des Sees ging. Den Jadegarten aber hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht verlassen.

Alle, die wichtig waren, mussten immer wieder fort. Die Drachenelfen, die hier in der Veste lebten. Ihre Mutter und Nachtatem. Sie aber war gefangen, und es war immer jemand in der Nähe, der auf sie und Meliander aufpasste. Warum?

Sie lauschte auf die ruhigen Atemzüge ihres Bruders. Ihn kannte sie ganz und gar. Manchmal mussten sie nur Blicke tauschen, um einander zu verstehen. Wenn er nicht in der Nähe war, fühlte sie sich unwohl, als würde ein Teil von ihr fehlen. Und ihm ging es ganz genauso. Wenn er schlief, berührte er sie stets mit einer Hand oder einem Fuß, als brauchte er auch in seinen Träumen die Gewissheit, dass sie in der Nähe war.

Wieder hörte sie die Felstauben. Sie gurrten unruhig. Was ihnen wohl den Schlaf raubte? Es waren seltsame Tiere. Sie verbrachten freiwillig ihr ganzes Leben in der Steilwand. Obwohl sie überall hinfliegen konnten, waren sie nie im Garten. Das verstand Emerelle nicht. Keine Mauern hielten die Tauben, und sie beschränkten sich trotzdem darauf, immer in der Nähe der Veste zu sein. Wie Gefangene.

Die Tauben pickten zwischen den warmen Felsen nach Ameisen und Fliegen oder kamen zu ihnen auf den Hof, um sich füttern zu lassen. Dann beschützten Meliander und sie die Tauben vor Steinmardern und Falken. Allerdings erlaubte Eleborn nicht, dass sie in der Veste Nester bauten. Er mochte die Tauben nicht und beschwerte sich ständig, dass sie auf seine Reliefs im Innenhof schissen, die irgendwie niemals fertig wurden, obwohl er schon, solange Emerelle denken konnte, daran arbeitete.

Jetzt flatterten mehrere Tauben auf. Was war da draußen? Emerelle überlegte, ob sie aufstehen sollte, um nachzusehen. Ihr wurde bewusst, dass sie eine Weile auch keine Schritte der Wache mehr gehört hatte. Wahrscheinlich stand der Posten irgendwo still und spähte den Felshang hinauf.

Sie setzte sich im Bett auf. Meliander murmelte unruhig im Schlaf, als sie sich von ihm zurückzog. Mondlicht fiel durch das Fenster in ihr vertrautes Zimmer. Es war nicht wirklich hell, aber sie konnte alle Möbel sehen.

Sie hörte das Flappen der Taubenflügel. Die Tiere kreisten über der Veste. Gleich würden sie im Innenhof landen und sich verstecken.

Wurden sie hier auch versteckt? Daran hatte Emerelle noch nie zuvor gedacht. Vor wem? Gab es einen Feind, der ihnen Böses antun wollte?

Wieder lauschte sie in die Nacht. Wenn da ein Feind war, wurde vieles klarer. Dass sie bewacht wurden und nicht von hier fort durften …

Draußen war es jetzt ganz still. Es fröstelte Emerelle. Sie zog sich erneut die dünne Decke um die Schultern und lauschte. Sie hörte den Atem ihrer Mutter. Zu ruhig, zu regelmäßig. So atmete sie, wenn sie ihnen vormachen wollte, dass sie schlief.

Vorsichtig setzte Emerelle ihre Füße auf den Boden. Er war eisig. Auf Zehenspitzen tippelte sie zum Bett ihrer Mutter.

»Du bist wach?«, flüsterte Nandalee.

»Du doch auch«, entgegnete Emerelle und kuschelte sich in die Arme ihrer Mutter. »Ist dort draußen etwas.«

»Nein, du musst keine Angst haben. Schlaf.«

Emerelle merkte es immer, wenn Nandalee sie anlog. Eine Weile lag sie ganz still. Sie spürte an ihrem Rücken den Herzschlag ihrer Mutter. Angespannt lauschte sie auf Nandalees Atem.

»Warst du in unseren Vater sehr verliebt?«

Sie spürte ihre Mutter lächeln. »Ja.«

»Wie merkt man das, dass man sehr verliebt ist?«

»Liebe ist, wenn du dich ohne den anderen unvollständig fühlst. Wenn du jemanden immer um dich haben willst …« Ihre Mutter seufzte. Vielleicht wollte sie noch etwas sagen, aber sie schwieg.

»Ich glaube, ich bin in Meliander verliebt«, sagte Emerelle sehr ernst. »Manchmal ist er ein schrecklicher Blödmann, aber wenn er nicht da ist, fange ich sofort an, ihn ganz doll zu vermissen.«

Nandalee lachte leise. »Zwischen mir und Gonvalon war es eine andere Art von Liebe. Es war …« Sie seufzte erneut. »Da gibt es Dinge, die wirst du erst verstehen, wenn du älter bist.«

Das war ihre Lieblingsausrede, wenn sie etwas nicht erklären wollte. Eine Weile schmollte Emerelle, entschied dann aber, dass es klug war, die Zeit noch zu nutzen. Es kam nicht oft vor, dass sie mit Mutter ganz allein war und mit ihr reden konnte, ohne dass Meliander mit seinen blöden Fragen alles kaputt machte. »Du hast immer gesagt, unser Vater sei in ein Licht gegangen. Wann wird er denn aus dem Licht zurückkehren? Ich würde ihn so gerne endlich sehen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie er ist. Mehr wie Eleborn oder wie Nodon? Oder vielleicht sogar ein bisschen wie der Goldene?«

»Er ist ganz anders als sie alle.« Ihre Mutter klang traurig, als sie das sagte. »Ich bin sicher, du wirst ihn sofort mögen, wenn du ihn triffst. Er wird immer für dich da sein. Er …«

»Aber wann? Wann wird er endlich für mich da sein? Ich warte jetzt schon mein ganzes Leben auf ihn.«

»Du weißt, dass er ein Drachenelf ist. Manchmal werden wir auf sehr lange Missionen geschickt, und niemand kann sagen, wann sie zu Ende sind.«

Emerelle bekam plötzlich Angst. »Du wirst aber nicht auf so eine Mission gehen, oder? Letztes Mal war es ganz schrecklich ohne dich. Eleborn sind schon nach drei Tagen keine neuen Spiele mehr eingefallen und …«

Ihre Mutter schlang die Arme um sie. »Ohne euch ist es auch ganz schrecklich für mich. Ich kann nicht noch … Ich …« Statt weiterzureden, drückte Nandalee sie ganz fest.

Emerelle wusste, dass ihre Mutter sie und ihren Bruder liebte, aber irgendetwas stimmte auch da nicht. Wenn Nandalee glaubte, dass sie beide sie nicht beachteten, war ihr Gesicht oft ganz traurig. Bei ihnen zu sein war nicht genug, um sie glücklich zu machen. Bestimmt dachte sie an Gonvalon, wenn sie so war. Auch jetzt. Ihr Atem ging unregelmäßig. Er fühlte sich traurig an.

Emerelle streichelte über die starke Hand, die auf ihrer Brust lag und sie festhielt. Verliebt sein war keine gute Sache, ganz gleich, was Mutter sagte. Es machte zu traurig. Sie würde sich niemals verlieben, schwor sie sich stumm. Sie wollte nicht nachts allein im Bett liegen und traurig atmen. Sie wollte wie der Goldene sein, strahlend und machtvoll.

Der Herrscher, den wir schufen

»Sie sind alle tot, deshalb kam keine Nachricht. Die Menschenkinder waren sehr gründlich.«

»Ihr dürft gehen, meine Dame Valarielle. Wir danken Euch für Eure Hilfe, auch wenn die Nachrichten, die Ihr uns zu überbringen hattet, so tragisch sind.« Deutlich spürte der Goldene den Sturm der Gefühle seiner Nestbrüder. Er hatte Valarielle auf die Suche nach Sekander und seinen Kentauren geschickt. Die Elfe aus dem Gefolge Bidayns hatte nicht sehr lange gebraucht, die Vermissten zu finden. Ihr Grab war unübersehbar. Ein riesiger Aschenfleck inmitten des Graslands.

Noch eine Niederlage, wütete der Rote. Seht ihr die Zeichen nicht? Erst die Schlacht im Goldenen Netz und nun das. Sie löschen uns aus. Und es geht immer schneller.

Sei nicht so ein Kätzchen! Der Nachtblaue bedachte seinen roten Bruder mit einem abfälligen Blick. Wenn so ein dämliches Pferdehirn seine Männer in den Untergang führt, was heißt das schon? Wir haben einen unfähigen Feldherrn verloren. Das macht uns am Ende stärker, nicht schwächer.

Tut es das?, fragte der Smaragdene süffisant. Sekander war ein erfolgreicher Feldherr. Er hat viele Jahre lang die Menschenkinder auf der Messergras-Steppe in Atem gehalten. Kein Viehtrieb und keine Karawane waren sicher. Er war ein erfolgreicher Feldherr. Ihn als Pferdehirn zu verunglimpfen bringt uns nicht weiter.

Wie es scheint, hat er jetzt einen besseren Feldherrn getroffen, entgegnete der Nachtblaue kämpferisch. Wenn es stimmt, was die Elfe erzählt hat, dann kamen auf jedes tote Menschenkind zwanzig tote Kentauren. Wir sollten diesen Feldherrn fürchten.

Nicht fürchten, ich bitte euch, meine Brüder, mischte sich nun der Goldene ein. Seit wann fürchten Himmelsschlangen Menschenkinder? Wir müssen herausfinden, wer es war, und dann schicken wir ihm Bidayn. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Feldherr weitere Schlachten schlägt.

Aber womit wollen wir unsere Schlachten schlagen?, fragte der Flammende in die Runde der Götterdrachen. Seine Niedergeschlagenheit hatte etwas Ansteckendes. Der Goldene hatte seinen Bruder so noch nicht erlebt. Seht hinab ins Tal. Seht das Heer, das uns noch geblieben ist. Jedes Jahr wird es kleiner. Die Menschenkinder aber sehe ich nicht schwächer werden.

Nachtatems Krallen fuhren mit leisem Knirschen über den Fels. Was sagt das schon? Schicke eine Drachenelfe gegen zehn Menschenkinder. Wer wird siegen? Zahlen sind nichts! Es sind die Krieger, die zählen. Unsere Truppen dort unten sind in vielen Schlachten erprobt. Und sie haben nach wie vor den Willen zu siegen. Was wir uns fragen sollten, ist, ob vielleicht wir es sind, die den Willen zum Siegen verloren haben. Er sah seine Brüder der Reihe nach herausfordernd an.

Ich bin derselben Meinung, schlug der Goldene in die gleiche Kerbe, wenn es ihm auch nicht gefiel, dem Erstgeschlüpften recht zu geben. Die Devanthar werden unvorsichtig. Sie sind ins Nichts gekommen, um unsere Drachen zu töten. Locken wir sie noch einmal hervor! Stellen wir ihnen diesmal eine Falle und bringen wir zu Ende, was wir schon so lange planen. Lassen wir sie in unserem Feuer des Zorns vergehen!

Das nenne ich einen Plan, jubilierte der Flammende. Ich bin dabei!

Der Goldene gab nicht viel auf die Meinung seines wankelmütigen Bruders. Wie so oft stimmte der Flammende dem zu, der zuletzt gesprochen hatte. Es waren der Smaragdene und der Nachtblaue, die zählten. Waren sie auf seiner Seite, dann würde er all seine Brüder gewinnen.

Was ist mit dem Frühlingsbringer?, wandte der Smaragdene ruhig ein. Wollen wir nichts unternehmen, um den Leichnam unseres Bruders zu bergen? Überlassen wir ihn einfach den Devanthar?

Was willst du tun?, fragte der Goldene zurück. Auch er war ratlos, was dies anging. So sehr er den Gedanken hasste, dass die Devanthar seinen toten Bruder zur Trophäe machten, so wenig wusste er, was dagegen zu unternehmen war. Sie werden ihn wahrscheinlich in den Gelben Turm gebracht haben. Wenn wir versuchen, die Devanthar dort anzugreifen, dann haben sie alle Vorteile auf ihrer Seite. Es ist aussichtslos.

Wir werden einfach den besseren Plan haben. Wir locken sie aus ihrem Turm und töten sie. Und dann bekommen wir auch den Leichnam. Es ist … Der Dunkle brach ab und sah den Hang hinab.

Der Goldene folgte dem Blick seines Bruders und sah den Zwerg Hornbori zu ihnen hinaufkommen. Wer hat ihn bestellt?, fragte er ungehalten.

Niemand antwortete ihm. Sie alle warteten schweigend ab, bis der Herr aller Tiefen vor ihnen stand. Der Goldene konnte die Angst des Fürsten riechen. Er vermochte kaum, ihnen in die Augen zu sehen.

»Was führt dich hierher, Heermeister?«, fragte der Dunkle. Er bemühte sich, trotz seiner Drachengestalt die Worte der Albenkinder zu formen. Es gelang ihm nicht ganz.

Der Zwerg verneigte sich demütig.

»Allmächtige Herrscher des Himmels, ich bin gekommen, Euch mitzuteilen, dass ich die Tiefe Stadt wieder besiedeln werde.«

Was? Der Rote war so aufgebracht, dass er seine Gedanken statt seiner Zunge nutzte. Sein plötzlicher Zorn brannte wie glühende Lohe in ihrer aller Köpfen.

»Wir verbieten das!«, sagte der Nachtblaue anstelle des Roten.

»Ich bin ein König, kein Bittsteller. Ich bin hier, um Euch mitzuteilen, was ich tun werde, nicht, um Euch um Erlaubnis zu bitten.«

Der Nachtblaue richtete sich drohend auf und weitete die Schwingen. Erschrocken wich ihr Gast ein Stück zurück. Nicht schnell genug. Der Kopf des Nachtblauen stieß nieder. Mit aufgerissenen Kiefern schnappte er nach dem Zwerg, um ihn mit einem einzigen Biss zu verschlingen.

Ein Schwanzhieb des Goldenen wischte den Zwerg zur Seite und rettete ihm das Leben. Beherrsche dich, Bruder!

Ich werde mich von einem Wurm nicht beleidigen lassen! Der Nachtblaue richtete sich auf, um erneut zuzuschnappen.

Nicht! Der Dunkle stellte sich ihm in den Weg. Was wollt ihr? Wir haben einen König erschaffen, und nun wundert ihr euch, dass er wie ein Herrscher auftritt.

Ein König, der sich in die Hose gemacht hat, bemerkte der Smaragdene trocken.

Jetzt roch es auch der Goldene. Voller Ekel sah er auf den Zwerg herab, der sich wieder aufgerichtet hatte. Der Drache hauchte ein Wort der Macht, um in den Gedanken dieses Wurms zu lesen. Doch alles, was er dort sah, waren Erinnerungen an ein dralles, schwarzhaariges Zwergenweibchen. Dieser aufgeblasene Wicht sehnte sich nach nichts so sehr wie danach, mit ihr wieder in einem Bett zu liegen und sich zu paaren. Sie beherrschte all seine Gedanken, ganz wie beim letzten Mal, als er versucht hatte, die innersten Beweggründe des Zwergs zu erforschen. Erstaunlich, wie primitiv seine Begierden waren.

»Warum hältst du es für einen klugen Einfall, diese Stadt der Toten und der dunklen Erinnerungen wieder mit Leben zu füllen?«, fragte Nachtatem.

»Ihr habt mich zum Herrscher aller Zwerge gemacht, doch meine Macht beruht nur auf Worten.«

Willst du etwa sagen, unser Wort gilt bei euch Zwergen nichts, du Wicht! Nun war es der Flammende, der Hornbori ans Leben wollte.

Der Goldene hielt seinen Bruder nur mit Mühe zurück, während Hornbori, der nicht wissen konnte, welche Gedanken sie tauschten, weitersprach: »Ich stamme nicht aus den Ehernen Hallen. Und ich habe Eikin eigenhändig getötet. Wenn ich dort Herrscher sein will, dann wird es nicht lange dauern, bis alle in mir einen Tyrannen sehen, der sich durch einen feigen Mord einen Thron gestohlen hat. Ich brauche eine Stadt, in der ich als ihr natürlicher Herrscher anerkannt werde. Das kann nur die Tiefe Stadt sein.« Der Zwerg spielte nervös mit seinem Bart. »Es gibt aber noch einen zweiten Grund, der viel schwerer wiegt. Habe ich Eure Unterstützung, allmächtige Himmelsherrscher, dann ist es ein Zeichen, dass der alte Groll zwischen Drachen und Zwergen endgültig begraben ist.«

Der Hosenscheißer hat recht, übermittelte ihnen der Erstgeschlüpfte seine Gedanken. Lasst ihn gewähren. Wir vergeben uns nichts dabei.

Warum lassen wir diesen Dreck einfach gewähren? Der Nachtblaue fletschte die Zähne.

Du willst diesen Dreck fressen?, mischte sich der Goldene ein. Umbringen können wir ihn immer noch, wenn sich herausstellt, dass er nicht nützlich ist. Bisher hat er uns gute Dienste geleistet. Er ist ein Glückskind. Die sind selten.

Als keiner seiner Brüder mehr widersprach, wandte er sich an Hornbori. »Wir werden nichts gegen eine Besiedlung der Tiefen Stadt unternehmen. Aber vergiss nicht, dass du als Heermeister in unserer Pflicht stehst. Wir brauchen tausend weitere Krieger aus deinem Volk. Wir erwarten sie binnen Mondesfrist.«

»Das geht nicht …«

»Wenn du Siedler finden kannst, wirst du auch Krieger auftreiben. Du bist nun der Herrscher aller Tiefen. Benutze deine Macht. Und feilsche nicht mit uns. Für heute hast du dein Maß an Glück ausgereizt. Geh! Und enttäusche uns nicht!«

Tausend neue Krieger?, fragte der Dunkle drängend.

Der Goldene spürte auch die Neugier seiner anderen Brüder.

Gobhayn hat das Himmelland fast vollendet. Wenn es so weit ist, werden wir Zwerge brauchen, um die Geschütze zu bemannen. Und Tausende von Kobolden. Er blickte auf das Heer im Tal. Alle dort unten würden im Himmelland Platz finden und noch viel mehr von ihnen! Diese Waffe würde alles verändern. Sie würde den Krieg auf Nangog entscheiden.

Jetzt musste ihnen nur noch gelingen, die Devanthar dazu zu verleiten, sich außerhalb des Gelben Turms an einem Ort zu versammeln.

Die Verwandelten

Lydaine hob ihre Armbrust. Ihre Hand blieb völlig ruhig. Sie zielte auf das junge Kitz, das aus dem Birkenhain getreten war. Ohne auch nur einen Herzschlag zu zögern, zog sie den Abzugshebel durch. Als das Kitz vom wuchtigen Treffer zu Boden gerissen wurde, stieß sie einen leisen Jauchzer aus.

Die zierliche kleine Elfe gab Graumur die Armbrust und nickte ihrer Schwester zu. »Los, Farella, wer als Erste dort ist, bekommt die besten Stücke.«

Die beiden liefen los wie der Wind.

Anerkennend sah Graumur zu Bidayn. »Ihr habt mehr für sie getan als ihr Vater. Ihr habt sie endlich aus dem Gefängnis ihrer Kindheit befreit.«

Die Elfe schüttelte den Kopf. »Ich habe ihnen nur einen Weg gezeigt, Graumur. Sie sind ihn alleine gegangen. Und wir sollten ihnen folgen. Du weißt, wie sie sind, wenn sie ihre Beute ausweiden. Sie werden ein solches Gemetzel anrichten, dass Maya uns keinen Braten, sondern höchstens noch Geschnetzeltes auftischen kann.«

Mit weiten Schritten folgte der alte Minotaur den beiden Mädchen durch das hohe Gras. Es war ein warmer Tag, und seine Knie schmerzten etwas weniger als sonst. Sein Fell wurde grau. Er wusste, er würde Shanadeen nicht mehr lange dienen können. Ein Jahr noch oder vielleicht zwei, und er würde vom gefürchteten Leibwächter endgültig zum unnützen Esser werden. Bevor es so weit war, würde er gehen. Er war ein Leben lang ein Krieger gewesen. Er konnte sich nicht vorstellen, als Greis in einer Ecke des Hofes in der Sonne zu sitzen und anderen zur Last zu fallen. Er würde wie ein Krieger sterben. Die Werber der Himmelsschlangen würden ihm dabei helfen. Es hieß, sie seien so verzweifelt, dass sie jeden nahmen. Sein Leben sollte auf einem Schlachtfeld enden.

Als er Farella und Lydaine erreichte, hatten sie bereits begonnen, das Kitz auszuweiden. Bis zu den Ellenbogen waren ihre Arme mit Blut besudelt. Gerade stritten sie darüber, ob sie die Leber zurücklassen oder für die Kobolde mitnehmen sollten.

»Die Leber gehört mir!«, ging Graumur mit tiefem Bass dazwischen.

»Warum?« Die blonde Lydaine sah ihn herausfordernd an. »Wir haben das Kitz erlegt. Wir bestimmen, wie die Beute verteilt wird.«

»Dann könnt ihr das Kitz auch alleine nach Hause tragen.«

Lydaine tauschte mit ihrer Schwester einen kurzen Blick, dann hielt ihm die schwarzhaarige Farella die Leber hin. Früher einmal war sie ausgesprochen schüchtern gewesen, jetzt liebte sie es, sich mürrisch wie ein alter, schlachterprobter Krieger zu geben.

Graumur nahm die Leber und biss herzhaft hinein. Sie war noch warm. Köstlich! Schmatzend sah er den beiden zu, wie sie dem Kitz gekonnt das Fell abzogen. Sorgsam breiteten sie es im Gras aus. Dann schälten sie ebenso geschickt das Fleisch von den Knochen, legten es auf das Fell und schnürten es schließlich zu einem Sack zusammen.

»Dann schauen wir mal, was Maya uns daraus zaubern wird.« Gut gelaunt hob er die Jagdbeute auf die Schulter und folgte den beiden Mädchen, die ein Stück voraus Seite an Seite mit Bidayn gingen.

Graumur kannte sich nicht gut mit Elfenmädchen aus. Von der Größe schätzte er sie auf irgendwo zwischen acht und zehn Jahren. So sahen sie seit Jahrzehnten aus. Sie waren keinen Zoll gewachsen, seit er vor fast vierzig Jahren als junger Krieger ins Haus Shanadeens gekommen war. Und so wie unausstehliche kleine Mädchen hatten sie sich auch stets benommen. In all der Zeit hatten sie sich nie verändert. Die anderen Diener tuschelten, es sei ihre eigene Mutter, Nevenyll, gewesen, die sie dazu verflucht hatte, auf ewig Kinder zu sein.

Nun, sie sahen vielleicht noch immer aus wie Kinder, aber sie benahmen sich nicht mehr so – dafür hatte Bidayn gesorgt.

Anfangs hatte Graumur die Elfe kaum beachtet. Sie war als unscheinbares Kindermädchen in Shanadeens Haus gekommen. Und dann hatte sie es zur Überraschung aller geschafft, den Kaufherrn zu heiraten. Aber noch viel mehr hatte ihn beeindruckt, was sie mit den Mädchen getan hatte. Wenn er daran dachte, wie Farella und Lydaine zum ersten Mal ein Kaninchen, das sie essen wollten, hatten schlachten müssen, musste er stets schmunzeln. Bidayn war einen harten und guten Weg mit den Mädchen gegangen. Sie hatten dem Fluch, der auf ihnen lastete, etwas von seinem Gewicht genommen.

Graumur war seinem Herrn Shanadeen immer treu gewesen, aber sein Herz gehörte inzwischen Bidayn. Wie hatte er den Schwindel mit dem Kindermädchen nur glauben können? Ihre schmale Taille, die Art, wie sie sich bewegte, ihr Selbstbewusstsein. Sie machte ein Geheimnis daraus, was sie wirklich war, aber ein Kindermädchen war sie ganz gewiss nie gewesen.

Immer wieder verschwand sie für viele Wochen. Und inzwischen nahm sie manchmal auch Lydaine und Farella mit. Selbst die Kleinen verrieten kein Wort darüber, wohin sie mit ihr gingen. Ab und zu erschienen auch noch die seltsamen Freunde Bidayns. Sie alle waren auf ihre Art unheimlich. Sogar der lächelnde Kerl, den sie als ihren Halbbruder Asfahal ausgab, war nicht, was er vorgab zu sein. Anfangs hatte Graumur geglaubt, dass Asfahal seinen Boxkampf mit Fürst Sekander durch schieres Glück überstanden hatte. Heute war er sich ganz sicher, dass nichts von dem, was auf dem Hochzeitsfest geschehen war, Zufall gewesen war. Ein ganzer Trupp mörderischer Elfen folgte Bidayn aufs Wort. Wahrscheinlich war sie die Gefährlichste von allen.

Graumur drückte mit der Zunge gegen eine Zahnlücke, bis sich das Stück Leber löste, das sich dort festgesetzt hatte. Er wünschte, Bidayn würde ihn auch einmal auf eine ihrer geheimnisvollen Reisen mitnehmen. Da, wo sie hinging, gab es sicher Ruhm zu ernten. Oder einen Tod zu finden, der besser war als ein Ende als zahnloser Greis, der nur noch von Gnade und Hafersuppe lebte.

Eine alte Rechnung

Etwas stimmte nicht in der Stadt. Farella und Lydaine hatten es auch bemerkt. Sie scherzten ausgelassener als sonst, spielten die kleinen Mädchen, die sie schon längst nicht mehr waren. Sie hatten keinen einzigen Kentauren gesehen, seit sie Uttika betreten hatten. Das war ungewöhnlich. Es hätten Wachen beim Tor sein müssen oder irgendwelche jungen Flegel auf den Straßen. Aber die Stadt war außergewöhnlich still. Nur ein paar Kobolde waren unterwegs, um Botengänge zu erledigen oder Einkäufe in die Häuser der Reichen zu tragen.

Auf dem Weg zu Shanadeens Stadtpalast hatten sie zwei Schankhäuser passiert. Nirgends wurde gesungen wie sonst.

Bidayn winkte die Mädchen und Graumur an der protzigen Fassade des Stadtpalastes vorbei. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die Fenster. Niemand war zu sehen. Shanadeen war nicht im Haus. Er war mit Alarion, seinem ersten Kapitän, zu einer Reise ins Südmeer unterwegs. Er würde frühestens in drei oder vier Wochen zurückkehren.

Sie erreichten die schmale Gasse an der Rückseite des Hauses. Jetzt wirkte auch Graumur alarmiert. Er sah sie fragend an. Bidayn deutete auf die Axt, die an seinem breiten Gürtel hing. Er lächelte, als freute er sich darauf, sie benutzen zu können.

Trottel, dachte die Elfe. Niemand, der auch nur einen Funken Verstand besaß, freute sich auf einen Kampf, für den er nicht selbst den Ort und die Zeit bestimmt hatte.

Kaum dass sie in die Gasse getreten waren, gab sie den Mädchen ein Zeichen, sich ihre Armbrüste zu holen, die Graumur trug. Farella und Lydaine verhielten sich diszipliniert. Ihr Kichern war verstummt. Ernst spannten sie die Waffen, legten die Bolzen auf und drückten sich dann mit dem Rücken gegen die hohe Hofmauer, die eine Seite der Gasse einnahm.

Bidayn trat an das Tor. Sie drückte mit der Hand dagegen. Der schwere Holzflügel schwang auf, ohne zu quietschen.

Auf dem Absatz der Küchentür saß Maya in der Sonne. Ansonsten war der weite Hof verlassen. Sie grüßte sie mit erhobenem Tonbecher und einem breiten Lächeln.

Eilends stürmte Bidayn über den Hof. »Was ist hier los?«

Das Lächeln der einbeinigen Koboldin wurde noch breiter. »Schlechte Nachrichten.« Ihre Stimme war ein wenig belegt.

Als Bidayn sie erreichte und vor ihr niederkniete, um besser in ihre Augen sehen zu können, roch sie den sauren Wein in Mayas Atem.

»Ihr habt es noch nicht gehört?«, fragte die Koboldin und lachte leise. »Die Alben haben Gerechtigkeit geübt.« Sie klopfte auf ihr Holzbein. »Nach all den Jahren. Endlich! Ich wünschte, Kruppa hätte es noch erlebt. Dann würden wir hier zusammen sitzen und uns betrinken … Jedes ihrer Gebete hat meine Mutter mit einem Fluch auf die dreckigen Kentauren beendet. Manchmal muss man wohl erst im Grab liegen, damit Flüche endlich wirken …«

Es fiel Bidayn schwer, freundlich zu bleiben. »Was ist passiert?«

»Ihr wart zwei Stunden fort, Herrin, da ging die Nachricht um wie ein Lauffeuer. Fürst Sekander ist tot und mit ihm alle Krieger, die ihn zu seinem großen Viehdiebstahl in die fremde Welt begleitet haben … Der Mann, der dafür gesorgt hat, dass der Kentaur, der mich verstümmelt hat, niemals bestraft wurde, ist tot.« Sie hob ihren Weinbecher und nahm dann einen tiefen Schluck. »Auf die Gerechtigkeit!«

Bidayn fragte sich, wie das hatte geschehen können. So viele Jahre war Sekander auf Beutezüge gegangen. Auf wen war er in der Messergras-Steppe getroffen?

Die Elfe schickte die beiden Mädchen und Graumur ins Haus, dann setzte sie sich neben Maya. »Du solltest deinen Zorn auf die Kentauren besser verbergen. Und rede niemals wieder von irgendwelchen Flüchen, oder du wirst in dieser Stadt deines Lebens nicht mehr sicher sein. Wenn die erste Trauer vorüber ist, werden sie nach Erklärungen und Schuldigen suchen. Und sie werden nicht dulden, dass jemand schlecht von Sekander spricht. Ein anderer Sündenbock wird herhalten müssen. Hüte dich also, was du sagst, sonst wirst du dieser Sündenbock sein.«

Maya sah sie enttäuscht an. »Ich dachte, Ihr mögt Sekander auch nicht, Herrin.«

»Das mag so sein oder auch nicht. Ich werde meine Gefühle in meinem Herzen verschließen, und ich rate dir dringend, tu es mir gleich.« Sie nahm den Weinkrug an sich, der neben Maya stand. »Dein Fest endet nun. Geh und kümmere dich um die Küche, bevor die Mädchen oder gar Graumur auf den törichten Gedanken kommen, sie könnten kochen.«

Maya lächelte und erhob sich, um ins Haus zu gehen. »Ich weiß, was Ihr denkt, Herrin.«

Bidayn sah ihr nach. Das war keine gute Entwicklung. Sie mochte die kleine Koboldin, auch wenn sie vor zwei Jahren ihre Mutter Kruppa vergiftet hatte. Für alle anderen hatte es ausgesehen, als wäre die alte Haustyrannin friedlich im Bett entschlafen. Bidayn wusste es besser. Sie hatte der Koboldin einen tödlichen Opiumtrank gemischt. Sie war das mürrische Gerede der Alten leid gewesen. Auch Maya würde sterben müssen, wenn sie es nicht schaffte, ihre Zunge im Zaum zu halten. Sollte sie von den Kentauren wegen ihres Geredes aufgegriffen werden und erzählen, dass auch ihre Herrin einen Groll gegen Sekander gehegt hatte, mochte alles geschehen. Womöglich würden die wütenden Horden das Haus niederbrennen und sie samt der Mädchen steinigen.

Einen Tag würde sie Maya geben, sich wieder zu fangen, dann musste sie entscheiden. Danach würde sie versuchen zu ergründen, was mit den Kentauren geschehen war. Auf Auskünfte der Himmelsschlangen hoffte sie dabei nicht. Längst hatte sie begonnen, ihre eigenen Gefolgsleute als Spitzel nach Nangog zu schicken, selbst wenn das den Befehlen der alten Drachen zuwiderlief. Sie hatte wissen wollen, wer es war, der außer ihr Unsterbliche tötete.

In dieser Stunde war Kyra in der Goldenen Stadt. Auch die Menschenkinder behandelten Märchenerzähler mit Respekt. Und so gelangte die Elfe an Orte, die für alle anderen Spitzel unerreichbar waren.

Die Ausgeburt der Gosse

»Ich muss zum Unsterblichen Aaron«, wiederholte Ilmari zum dritten Mal.

Der Torwächter sah ihn verächtlich an. »Und ich muss dir gleich eins auf die Schnauze hauen, wenn du dich nicht davonmachst. Was bildest du dir eigentlich ein? Glaubst du, du seist der Unsterbliche der Schwimmenden Inseln und dass Aaron nur auf dich gewartet hat. Geh zum Mondtor! Da werden Verrückte und Narren durchgefüttert, weil unser Herrscher ein großes Herz hat, aber empfangen kann er euch Abschaum nicht auch noch.«

»Bitte, lass ihm ausrichten, Lamgi sei gekommen.«

»Eben hast du dich noch Ilmari genannt. Weißt du selbst nicht mehr, wer du bist? Sieh dich doch einmal an, du Ausgeburt der Gosse.«

Ilmari war zu schwach, um noch länger zu streiten. Er stüzte sich schwer auf eine Krücke. Allein der Gedanke, bei Aaron vorzusprechen und Rache für den Betrug des Priesters zu nehmen, hatte ihn auf den Beinen gehalten. Aber jetzt brach alles in sich zusammen. Wenn er ausruhen könnte und ein paar Tage vernünftig essen würde, wäre er wieder der Alte. Aber er hatte kein Geld, und die Goldene Stadt strafte nichts härter als Armut.

Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, etwas zu stehlen. So wie er aussah, würde jeder Händler ihn schon misstrauisch beäugen, lange bevor er an seinen Marktstand trat. Und sollte er doch etwas greifen können, hätte er nicht mehr die Kraft, schnell genug davonzulaufen.

Er hatte den Sturz in den Weißen Schlund überlebt, war den weißen Krokodilen im Leichensee entkommen, war in den unterirdischen Flüssen, durch die er tauchen musste, um aus Tarkons Städten zu entkommen, gegen jede Wahrscheinlichkeit nicht ertrunken und hatte es geschafft, den mörderischen Dschungel zu überleben. Fieber schüttelte ihn. Sein Körper war ausgezehrt und mit verschorften Wunden bedeckt. Geschwüre wucherten in seinem Gesicht, auf dem Rücken und seinen Händen. Er sah aus wie der Tod auf Beinen. Wäre er der Torposten, er hätte eine solche Gestalt auch nicht in den Palast gelassen. Vor sieben Jahren war er reich und mächtig gewesen. Jetzt wagte er es nicht, seinen Besitz einzufordern. Seine Gefährten und Untergebenen von einst würden ihm kurzentschlossen die Kehle durchschneiden, wenn sie ihn so sahen. Von dem Mann, der er damals gewesen war, war nichts mehr geblieben.

»Das Mondtor!« Die Torwache deutete die hohe Palastmauer entlang nach Süden. »Das ist der einzige Ort in dieser Stadt, wo Gestalten wie du mit Essen durchgefüttert werden. Jetzt mach dich davon!«

Während ihn der Torwächter weiterhin misstrauisch beobachtete, tat Ilmari auf den Krückstock gestützt ein paar Schritt und lehnte sich dann an die Mauer aus getrockneten Lehmziegeln. Sie war staubig und warm. Seine Kehle brannte ihm. Er hatte seit Stunden nicht mehr getrunken, und es war ein heißer Spätsommertag. Er schloss die Augen und versuchte, Kräfte zu sammeln. Er hatte noch nie aufgegeben! Sein Ziel war so nah! Es wäre, wie nach einem Schiffbruch, das rettende Ufer vor Augen, zu ertrinken. Er lächelte müde … So etwas geschah. Vielleicht sollte er einfach loslassen. Vielleicht hielt ja die Große Göttin doch ihre schützende Hand über die Städte Tarkons. Hatte Nangog ihm die ganze Zeit über amüsiert zugesehen, wie er sich quälte, um ihn nun vor Aarons Palast verrecken zu lassen?

Überall im Dschungel hatte er grüne Kristalle aus dem Boden wachsen sehen. Die Grünen Geister selbst, die dort früher ihr Unwesen getrieben hatten, waren verschwunden gewesen. Etwas geschah auf dieser Welt … in aller Heimlichkeit.

Doch Heimlichkeit war sein Leben gewesen. Er kannte sich aus mit dem Verborgenen. Etwas ging vor sich, auch wenn er es nicht zu benennen vermochte.

Er lachte, ein trockenes, bellendes Geräusch, das an den Husten eines Siechenden erinnerte. Vielleicht waren das ja nur Fieberfantasien? Vielleicht war sein vorgetäuschtes Leben als Totenträger das Wirklichste gewesen, was er je gehabt hatte. Dort hatte er das kleine Glück gefunden. Das Glück eines einfachen Lebens. Der alte Ilmari, der König der Spitzel, der Mörder, der mit den Unsterblichen verkehrte, hatte dieses Glück nie gekannt.

Das Geräusch von Marschtritten auf trockenem Lehmboden ließ ihn aufblicken. Eine Eskorte prächtig gerüsteter Krieger marschierte auf das Tor zu. Staub lag auf bronzenen Rüstungen und blütenweißen Umhängen. Ilmari kannte diese Krieger. Es waren Himmelshüter, die Leibwachen des Unsterblichen Aaron, wenn er auf einem Wolkensammler reiste. Jetzt jedoch eskortierten sie einen mürrisch dreinblickenden, hageren Mann, dessen Wangen von Stoppeln bedeckt waren.

In einem anderen Leben hatte Ilmari einmal Seite an Seite mit diesem Mann gekämpft. Er wollte seinen Namen rufen, doch nur ein heiseres Krächzen entwand sich seiner ausgedörrten Kehle.

Der Wachposten vom Tor bedachte Ilmari mit einem warnenden Blick.

Der Feldherr war nur noch zehn Schritt entfernt.

Ilmari klemmte sich die Gabel der Krücke unter den linken Arm und schwenkte den rechten Arm. Wieder kam nur ein Krächzen aus seiner Kehle.

Ashot sah ihn. Einen Herzschlag lang blickten sie einander in die Augen, dann sank seine bandagierte Rechte auf sein Schwert, als wollte er die Waffe ziehen. Ein Reflex. Der Feldherr gab einen grunzenden Schmerzenslaut von sich und ließ das Schwert stecken.

Wutentbrannt stürmte der Torwächter auf Ilmari zu. »Nein«, krächzte er, als der Wachposten ihn zu Boden stieß und einen Fuß auf seine Brust setzte.

Ashot war nun auch über ihm. »Was geht hier vor?«

»Ein verrückter Bettler, Herr. Er ist schon über eine Stunde hier. Er verlangt, den Unsterblichen zu sprechen.«

Ashot schnitt eine Grimasse. »Dummkopf«, murmelte er.

Ilmaris Gedanken überschlugen sich. So nah würde er Ashot und damit dem Unsterblichen nie wieder kommen. Er musste ihn hierbehalten. Musste sein Interesse wecken. Er räusperte sich, hoffte seiner Kehle wenigstens ein einziges Wort abringen zu können.

»Nar… Narek.«

»Halt’s Maul!« Der Wachmann verpasste ihm einen Tritt in die Rippen. »Weißt du jetzt, wann es genug ist?«

Ilmari krümmte sich zusammen. »Narek!«, rief er.

Ein weiterer Tritt brachte ihn zum Verstummen. Grelle Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen. Ein übler, galliger Geschmack stieg ihm in den Mund. Er musste würgen.

Plötzlich packte ihn jemand bei der Schulter und zog ihn herum, sodass er wieder auf dem Rücken lag. Ashot beugte sich über ihn. »Was hast du gesagt?«

Ilmari versuchte zu sprechen, aber er schaffte es kaum, bei Bewusstsein zu bleiben. Immer wieder verschwamm das Gesicht des Feldherrn vor seinen Augen. Sein Magen, den der zweite Tritt getroffen hatte, war eine Kugel glühender Lohe.

»Ein Becher Wasser für den Mann! Tragt ihn in die Wachstube beim Tor und lasst ihn nicht aus den Augen.«

Aus dem kleinen Bauern war tatsächlich ein Befehlshaber geworden, dachte Ilmari, als er emporgehoben wurde, dann schwanden ihm die Sinne.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf einer groben Decke in einem halbdunklen Raum. Er sah Füße in Sandalen. Männer unterhielten sich halblaut.

»Er hat die Augen geöffnet, Feldherr!«, sagte jemand, den Ilmari nicht sehen konnte.

Ashot kniete sich neben ihn nieder. »Wer bist du?«

Ilmari leckte sich über die spröden Lippen. Sein Mund war immer noch staubtrocken.

»Gebt ihm zu trinken!«, befahl der Feldherr.

Jemand richtete ihn auf. Ashot selbst setzte ihm den Becher an die Lippen.

Ilmari trank vorsichtig, in kleinen Schlucken. Er stillte nicht seinen Durst. Er trank nur so viel, wie gerade nötig war. Er wusste, er würde sich erbrechen, wenn er jetzt gierig war. Sein Magen schmerzte immer noch von dem Tritt, der ihn getroffen hatte.

»Ich bin Lamgi«, sagte er leise. Das war der Name, unter dem er sich vor der Schlacht auf der Hochebene von Kush in das Heer des Unsterblichen Aaron eingeschlichen hatte.

Ashot musterte ihn misstrauisch. So heruntergekommen, wie er hier lag, konnte er dem Feldherrn seine Zweifel nicht verdenken.

»Was tat Narek während der Schlacht?«, fragte Ashot.

Ilmari lächelte. Das konnten nur die wissen, die ganz nah beim Unsterblichen gestanden hatten.

»Er stand hinter Aaron …« Ilmari schloss kurz die Augen und kämpfte einen Anfall von Übelkeit nieder. »Er hielt die Löwenstandarte …«

»Wo warst du? Du giltst bei Hof als tot.«

»Tarkon … Ich weiß, wo …«

Ashot legte ihm die Hand auf den Mund. »Bringt ihn in den Palast. Er kommt in das Gästehaus für Unsterbliche. Stellt Wachen vor sein Zimmer. Ich wünsche, dass von nun an niemand mehr mit ihm spricht, wenn ich nicht zugegen bin. Und sucht mir einen verdammten Heilkundigen!«

Geschafft, dachte Ilmari unendlich erleichtert. Er schloss die Augen und ließ alles mit sich geschehen. Wieder wurde er getragen. Diesmal jedoch viel vorsichtiger. Nach einer Weile legte man ihn auf eine weiche Matratze in einem Zimmer, das nach Rosenöl duftete.

Behutsame Hände schnitten die Lumpen auf, die er am Leib trug. Seine Haut wurde mit kühlem Wasser abgetupft. Als er die Augen wieder öffnete, brachte gerade eine hübsche Dienerin eine Schale mit duftender Hühnerbrühe und flößte ihm vorsichtig Löffel für Löffel ein.

Es tat so gut, etwas Warmes zu essen. Wochenlang hatte er sich von Dreck ernährt. Käfer und Würmer hatte er im Dschungel gefressen, und wenn er auf Siedlungen gestoßen war, die Abfallhaufen durchwühlt.

Aus den Augenwinkeln sah er Ashot. Der Feldherr blieb die ganze Zeit über in seiner Nähe.

Ein scharfer Ruf erklang irgendwo draußen.

Ilmari hörte, wie zum Gruß Speerschäfte auf den Boden gerammt wurden.

Er konnte spüren, wie sich alles im Raum änderte, als der Unsterbliche eintrat. Jeder war aufmerksamer und auch angespannter.

Die Dienerin tupfte Ilmari die Lippen ab, dann zog sie sich lautlos zurück.

Ashot und der Unsterbliche traten vor das Lager, auf das man ihn gebettet hatte. Tiefe Falten hatten sich in Aarons Antlitz eingenistet. Breite graue Strähnen durchfurchten seinen geölten und zu Locken gedrehten Bart. In seinen Augen lag eine Härte, an die Ilmari sich nicht erinnern konnte. Der Herrscher wirkte müde.

»Du bist also zurückgekehrt, Lamgi. Du warst lange fort.«

»Es war leicht, das Versteck Tarkons zu finden, aber sehr schwer, es wieder zu verlassen.«

»Und du bist willens, uns dorthin zu führen?«

»So wahr ich hier liege, Unsterblicher. Gebt mir ein paar Tage, damit ich wieder zu Kräften komme, und ich bringe Euch zu Tarkon und seinen verborgenen Städten.«

Aaron zog seine breiten Brauen zusammen. Alle Müdigkeit war aus seinem Antlitz gewichen. »Verborgene Städte?«

»Es ist weit mehr als nur ein Piratenversteck, das Ihr angreifen werdet, Beherrscher aller Schwarzköpfe. Tarkon herrscht über ein eigenes Königreich.«

»Wie ist es möglich, dass ein ganzes Königreich verborgen blieb? So viele Jahre suchen wir schon nach ihm. So viele Wolkensammler haben ihm nachgestellt.«

»Die Städte liegen in hohlen Tafelbergen verborgen, mein Herrscher. Ihre einzige Verbindung zur Außenwelt sind weite Felsspalten, durch die Tageslicht hereinfällt. Die Spalten sind durch Bäume und Tarnnetze vor Blicken aus der Luft verborgen.«

Stockend erzählte er von seinem Leben als Totenträger, von der Priesterschaft, von der Höhlenkrankheit. Dass er eine Familie gehabt hatte, verschwieg er ebenso wie sein brennendes Verlangen nach Rache.

Als er endete, nickte der Unsterbliche anerkennend. »Ich gebe dir zehn Tage, Lamgi, dann wird eine Flotte die Goldene Stadt verlassen, um die Schreckensherrschaft des Himmelspiraten für immer zu beenden. Wenn du bis dahin genesen bist, wirst du an Bord meines Flaggschiffs sein.«

Geballte Macht

Der geflochtene Korb glitt zügig nach oben. Fasziniert sah Ilmari zu, wie noch sieben weitere Körbe zum Schiff unter dem Wolkensammler aufstiegen. Ohne zu rucken glitten sie dem hölzernen Rumpf entgegen, dessen Unterseite gleich mehrere gläserne Lotsenkanzeln aufwies. Eine, weit vorne im Rumpf, schien ganz und gar aus Eisen geschaffen zu sein. Galerien für Bogenschützen und Stellungen für mächtige Speerschleudern waren ebenfalls unter dem Schiff angebracht. Es hatte sich viel getan in den sieben Jahren, die er verschwunden gewesen war, dachte er staunend. Dieses Wolkenschiff war ein Gigant, ebenso wie der riesige Rochen, der es trug. Er war so groß, dass sein Schatten ein ganzes Stadtviertel verdunkelte. Er schätzte die Kreatur von Flügelspitze zu Flügelspitze auf mehr als vierhundert Schritt. Das Schiff, das der Wolkensammler trug, hatte nur etwa ein Drittel dieser Abmessungen.

Sein Frachtkorb erreichte den Rumpf und glitt an einem Deck vorbei, auf dem Dutzende silberner Löwen standen. Noch etwas, das er in seiner Zeit im Exil versäumt hatte. Aaron hatte darauf bestanden, dass er lernte, eines dieser magischen Geschöpfe zu fliegen. Es war mit nichts zu vergleichen gewesen, was er je zuvor getan hatte. Am Himmel den Sternen entgegenzufliegen … Er seufzte. Umme hätte das geliebt. Er stellte sich vor, wie er sie vor sich in den Sattel genommen hätte oder wie er mit Talam oder Serin durch den Himmel geritten wäre. Plötzlich saß ihm ein Kloß im Hals. Er sollte nicht solchen Unsinn denken. Diese Zeit war vergangen. Der Frieden war vorüber. Nun würde die Zeit des Blutes, die Zeit des Begleichens alter Rechnungen beginnen.

Mit einem Ruck hielt sein Korb an.

»Hauptmann an Deck!«, brüllte eine Bassstimme, und schrilles Pfeifen begrüßte Ilmari.

Aaron hatte ihm den Rang eines Hauptmanns der Himmelshüter verliehen, damit er sich frei im Palast und an Bord aller Schiffe der Himmelsflotte Arams bewegen konnte. Nun trug er einen Brustpanzer aus Bronze, in den ein großer goldener Löwenkopf geprägt war. Dazu Arm- und Beinschienen aus zähem Leder. Seine Tunika war an den Säumen mit Purpurstreifen geschmückt, die silbern eingefasst waren. Unter den Arm geklemmt, trug er einen Helm mit purpurn gefärbtem Pferdeschweif. Man begegnete ihm mit Respekt.

Was für ein Unterschied zu dem Ilmari, der er vor zwei Wochen gewesen war. Er genoss es, gewaschen zu sein, täglich warm zu speisen und saubere Kleidung zu tragen.

»Hauptmann Lamgi?« Ein junger Scharführer der Himmelshüter grüßte ihn, indem er seine Rechte auf die Brust legte und sich leicht verneigte. »Wenn Ihr mir bitte folgen würdet? Die Unsterblichen erwarten Euch.«

Ilmari stieg aus dem Korb und folgte dem jungen Offizier über das Oberdeck. Er fand es beklemmend, sich unter den sich windenden Tentakeln zu bewegen. Schiffsjungen schrubbten Schleim vom Deck, der von den Fangarmen tropfte. Dann sah er die metallenen Türme, die in den Leib des Wolkensammlers hineinwuchsen, und fast blieb ihm der Mund offen stehen. Er war schon über einige der Himmelsgiganten hinweggeflogen und wusste, dass sie Gefechtsplattformen auf ihrem Rücken trugen, und er hatte auch schon davon gehört, dass Treppen durch die Leiber der Kreaturen führten. Aber davon zu hören und es zu sehen war doch ein Unterschied. Mit wie viel Hingabe mussten diese Kreaturen den Unsterblichen dienen, dass sie es erduldeten, dass metallene Tunnel durch ihre Körper getrieben wurden.

Geschützmannschaften in roten Tuniken schleppten jeweils zu zweit geflochtene Körbe, in denen Steinkugeln lagen, die deutlich größer als Menschenköpfe waren. Torsionsgeschütze in drehbaren Türmen waren auf das Deck verteilt. Ilmari versuchte zu ermessen, wie viele Männer auf diesem Schiff dienten. Es mussten Hunderte sein! Er blickte zu dem Streifen Himmel, den er zwischen der Reling und den sich sanft auf und ab bewegenden Schwingen des Wolkensammlers sah. Es lagen noch zwölf weitere Wolkensammler, die ähnlich groß waren, an den Ankertürmen der Stadt. Und mehr als fünfzig kleinere. Diese Flotte würde die Drachen der Daimonen einfach vom Himmel fegen! Er vermochte sich nichts vorzustellen, was dieser geballten Macht widerstehen könnte.

Der junge Scharführer brachte ihn bis zum Heck, wo sich unter einer Segelplane, die sie vor den Schleimtropfen der Tentakel schützte, die Unsterblichen samt ihrer Heerführer und Schiffskommandanten zusammengefunden hatten und ihn erwarteten. Sie alle waren dort versammelt, im vollen Ornat ihrer Macht, in den Rüstungen, die von Göttern für sie geschaffen worden waren. Ihre Maskenhelme hatten sie vor sich auf dem großen Tisch abgestellt, der das Modell trug, das Ilmari in den vergangenen Tagen gemeinsam mit einigen Elfenbeinschnitzern geschaffen hatte. Alle Tafelberge waren nachgebildet worden. Stäbe aus Ebenholz zeigten an, wo sich die Tunnel befanden, welche die Berge miteinander verbanden. Mit roter Farbe war auf die flachen Bergkuppen die Lage der weiten Felsspalten skizziert, durch die Sonnenlicht auf die verborgenen Städte fiel, wenn der Himmel nicht bewölkt war.

Bisher noch nicht gesehen hatte er die Modelle der Wolkenschiffe, die entlang der Tischränder standen. Jedes einzelne Schiff der Flotte schien ein winziges Gegenstück zu besitzen.

»Hauptmann Lamgi!«, deklamierte ein Priester, der in ein Leopardenfell gekleidet war, laut.

Ilmari verbeugte sich tief. »Herrscher aller Welten!«, begrüßte er die Unsterblichen. Als er sich wieder aufrichtete, verharrte er kurz, um die sieben Herren der Welt zu betrachten. Einige kannte er, wie Labarna, der nach dem unrühmlichen Ende Muwattas der Herrscher Luwiens geworden war. Verwundert hatte er die Geschichte des Söldners Volodi gehört, der nun Drusna beherrschte, und des Feldherrn Arcumenna, der ebenfalls zum Unsterblichen aufgestiegen war. Der Herrscher der Schwimmenden Inseln sagte ihm nichts. Er war ein muskulöser, aber auch überaus nervöser Krieger, dessen Augen immer wieder unstet zum offenen Himmel schweiften, als rechnete er jeden Augenblick mit einem Angriff. Der Herrscher der Ischkuzaia war ein aufgeblasener Wicht, der ihn voller Herablassung musterte. Neben ihm stand der Herrscher der Zapote. Er hatte das Gefühl, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Vielleicht hatte er zu den Kriegern gehört, die für Aaron auf der Hochebene von Kush gekämpft hatten. Er trug das Fell eines schwarzen Leoparden zur Rüstung des Unsterblichen. Plötzlich blieb sein Blick am Waffengürtel des Herrschers haften. Der Dolch! Das konnte doch nicht sein … War das die Waffe, die er einst von Muwatta erhalten hatte, um Aaron zu töten?

»Lamgi?« Der Unsterbliche Aaron sah ihn verwundert an. »Würdest du uns nun darlegen, was du über die verborgenen Städte Tarkons weißt?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Herrscher aller Welten.« Er trat an den Tisch und griff nach einem Zeigestock, der für ihn bereitlag. Dann benannte er der Reihe nach die Städte, die sich in den Tafelbergen verbargen, und erklärte, mit welcher Art von Widerstand jeweils zu rechnen war. Die meisten Krieger Tarkons bewachten die Hochplateaus, um sicherzustellen, dass niemand aus den Städten floh. Die Felsspalten für das Sonnenlicht waren die einzigen Öffnungen, die es gab.

Er warnte die Herrscher, dass vereinzelt vielleicht mit Harpyien zu rechnen sei, allerdings hatte er diese geflügelten Weiber in den letzten Jahren immer seltener gesehen. Es schien, als hätten sie sich aus den Städten zurückgezogen.

Ausführlich beschrieb er die große Höhle hinter dem Wasserfall, in der Tarkons Wolkenschiffe vertäut lagen. Von dort könnte der Himmelspirat einen Gegenangriff führen, wenn der Wasserfall nicht gut bewacht wurde. Über wie viele Schiffe Tarkon verfügte, konnte Ilmari nicht sagen. Er war nur sehr selten in dieser Höhle gewesen, und er hatte dort nie mehr als drei Wolkensammler gesehen.

Die vereinzelten Fragen der Unsterblichen beantwortete er so ausführlich, wie es ihm möglich war.

»Besitzt Tarkon einen Palast, in dem er sich aufhält, wenn er nicht an Bord seiner Schiffe ist?« Es war Arcumenna, der das wissen wollte.

»Ja, in der Tat.« Ilmari deutete auf den Tafelberg, der jenem mit dem Wasserfall am nächsten lag. »Hier liegt sein Palast, hoch über der Stadt, in den Felsen gebaut. Unangreifbar, es sei denn, man kommt aus der Luft. Ich kann nicht wirklich benennen, wie viele Wachen im Palast sind, es sollten aber nicht mehr als zwanzig sein. Seine Lage schützt den Palast besser als Schwerter und Speere.«

»Weißt du, wie viele Diener es gibt? Und hat Tarkon Familie?«, hakte der Unsterbliche Arcumenna nach.

»Über die Dienerschaft kann ich nichts sagen. Allerdings weiß ich, dass er mit einer Priesterin zusammenlebt, die die Seidene genannt wird.«

Leises Murmeln erhob sich. Ilmari war klar, dass die Seidene unvergessen war. Und durch sein Netz aus Spitzeln, das er früher einmal unterhalten hatte, wusste er auch, dass Arcumenna ein großes Interesse an der ehemals kostspieligsten Konkubine der Goldenen Stadt besaß.

Der Unsterbliche von Valesia schob mehrere Wolkenschiffmodelle zum Tafelberg mit dem Palast. »Ich bitte um die Ehre, diesen Angriff führen zu dürfen. Es wäre mir ein besonderes Anliegen, Tarkon persönlich zu stellen. Wie ihr alle wisst, sind sehr viele Himmelsschiffe Valesias durch diesen Piraten gekapert worden.«

Ilmari sah aus den Augenwinkeln, wie Aaron und Labarna schmunzelten. Ihnen war offenbar klar, welche Beweggründe Arcumenna in Wirklichkeit hatte.

»Schnapp dir dich deine Hure, aber vermassele dich nicht nix mit Tarkon!«, sagte Volodi. Das Gesicht des Unsterblichen war aufgedunsen, seine Nase von roten Äderchen durchzogen. Er war nur noch ein Schatten des Mannes, an den Ilmari sich von früher erinnerte.

»Hüte deine Zunge, Drusnier!«, fuhr Arcumenna Volodi an.

»Bitte …« Aaron hob beschwichtigend die Hände. »Wollen wir uns ernsthaft wegen solcher Kleinigkeiten streiten? Seit fast zwei Jahrzehnten terrorisiert Tarkon den Himmel Nangogs. Nun haben wir Gelegenheit, ihn zu vernichten. Gehen wir diesen Plan mit aller Kraft an und vergessen wir alte Feindschaften.«

Während die Unsterblichen beratschlagten, welche Schiffe wo angreifen würden, sah Ilmari zum Himmel. Der Anblick der Flotte berauschte ihn regelrecht. Es war sein Werk, dass sich all diese Schiffe versammelt hatten. Sein Werk, dass nun ein himmlisches Strafgericht über den betrügerischen Priester hereinbrechen würde.

»Hauptmann?« Der Unsterbliche der Zapote winkte ihn heran. »Gibt es Felsspalten, die zu eng sind, um unsere Flieger einzusetzen? Um eine Engstelle sicher passieren zu können, erwarten wir, dass sie mindestens das Fünffache der Flügelspannweite misst. Also mindestens fünfundzwanzig Schritt.«

Ilmari überlegte kurz. Er hatte die Spalten stets nur vom Boden der Höhlen aus gesehen. Aber eigentlich sollten sie deutlich größer sein. Er wollte nicht, dass jetzt noch irgendetwas ins Stocken kam. »Die Spalten sind deutlich größer!«, behauptete er einfach. »Es wird keine Schwierigkeiten geben, Herrscher aller Welten. Gestattet Ihr mir, zwei Bitten vorzutragen?«

Der Zapote sah ihn missbilligend an. Fragen war er von seinen Untergebenen ganz offensichtlich nicht gewohnt.

»Rede!«, sagte Aaron in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Die Männer und Frauen in diesen Städten sind oft verzweifelt. Bei Tarkon zu leben hat ihnen kein Glück gebracht. Es ist etwas in diesen Höhlen, das jedem das Mark aus den Knochen zieht. Kinder sterben, starke Männer vergehen manchmal in wenigen Wochen. Doch wer sich einmal für Tarkon entschieden hat, kann dort nicht mehr fort. Der einzige Weg nach draußen sind die Spalten in den Höhlendecken, und sie werden scharf bewacht. Es gibt nur ein Verbrechen in den sieben Städten, das immer mit dem Tode bestraft wird: der Versuch zu fliehen. Die meisten von ihnen sind Gefangene. Lasst ihnen gegenüber Gnade walten, wenn Ihr sie nicht mit der Waffe in der Hand antrefft.«

»Gnade?« Der Unsterbliche der Ischkuzaia schlug mit der Faust auf den Tisch. »Jeder Einzelne, der dort in den Höhlen lebt, hat uns verraten. Für Verrat kennt mein Volk keine Gnade. Ich werde sie töten. Und wer so feige ist, nicht gegen uns zu kämpfen, der wird einen langen, schweren Tod erleiden.«

»Meine Jaguarmänner kennen ebenfalls keine Gnade«, bemerkte der Zapote. »Wenn ich sie in die Schlacht schicke, vernichten sie unsere Feinde und jeden, der sich in der Nähe unserer Feinde aufhält. Gnade ist Schwäche!«

»Jeder verfährt nach seinem Gutdünken«, erklärte Aaron kühl. »Es ist nicht die Art der Krieger von Aram, Wehrlose zu töten, aber ich mische mich nicht in eure Art, Krieg zu führen, ein, Brüder.« Er sah zu Ilmari. »Du sagtest, du hättest zwei Wünsche.«

Ilmari deutete mit dem Zeigestock auf den Tafelberg, in dem die kleine Stadt Tiefwasser lag. »Ich würde es als große Gunst betrachten, wenn ich hier den Angriff führen dürfte.«

Der Ischkuzaia lachte auf. »Das hört sich für mich ganz so an, als hättest du auch noch blutige Rechnungen zu begleichen.«

Ilmari widersprach ihm nicht.

Unter Geschlagenen

Kyra wendete ihren Mantel. Mit dem roten Futter nach außen sah sie augenblicklich anders aus. Sie nahm den weißen Seidenschal ab und wickelte ihn zu einem Turban. Zuletzt löste sie ihre Augenbinde und ließ sie in einer Tasche ihres Mantels verschwinden. Prüfend rieb sie mit ihren Handflächen über ihre Wangen. Der Stoppelbart würde für eine letzte Täuschung herhalten, befand sie.

Misstrauisch sah sie sich in der einsamen Gasse um. Niemand hatte gesehen, wie aus dem heruntergekommenen Märchenerzähler ein luwischer Kaufmann geworden war. Zwei Monde lang hatte sie es diesmal in der Goldenen Stadt ausgehalten. Es war das fünfte Mal, dass sie für Bidayn hierhergekommen war. Kyra mochte diese riesige, ausufernde Stadt mit all ihren Gerüchen, all den Menschenkindern, die voller Hoffnungen hierherkamen. Sie hatte sich gut eingelebt, ja, es gab sogar eine Handvoll älterer Männer, die regelmäßig zu ihr kamen, um ihren Geschichten zu lauschen. Sie könnte hierhergehören, wenn sie das wollte …

Kyra mochte es unterzutauchen, eins zu werden mit der Menge. Sie hatte es genossen, dass Bidayn sie geschickt hatte, doch das, was jetzt hier geschah, machte ihr Angst. Die Drachenelfe sah zum Himmel hinauf, zählte noch einmal all die riesigen Schiffe. Sechsundsechzig der neuen Wolkensammler lagen an den Ankertürmen über der Stadt. Nie zuvor hatte es eine solche Flotte gegeben. Zu welchem Ziel auch immer diese Schiffe fliegen würden, sie würden dort alles vernichten. Die Himmelsschlangen mussten wissen, was hier geschah!

Kyra schritt durch das Labyrinth der Gassen und stieg die endlosen Treppen der Goldenen Stadt hinauf. Von Terrasse zu Terrasse führte sie ihr Weg, höher und höher. Überall in der Stadt patrouillierten Krieger. Es war ungewöhnlich still. Die Verkäufer an den Marktständen schrien heute nicht heraus, welche Kostbarkeiten sie quasi verschenkten. Immer wieder blickten sie wie alle anderen Menschen zum Himmel. Auch ihnen machte das, was sie dort sahen, Angst.

Heißer Schweiß rann Kyra den Rücken hinab. Seit Tagen schon herrschte eine bedrückende Hitze. Sie gab einem Wasserverkäufer ein Kupferstück und trank einen Becher leicht mit Essig versetzten Wassers. Das half gegen den Staub im Mund.

Endlich erreichte sie den Platz vor der Goldenen Pforte. Wie stets drängten sich hier die Karawanen, die die Schätze Nangogs nach Daia verschleppten, Korn, Reis, Bohnen, Gold, Silber, Eisen … Es war das Blut dieser Welt, das genutzt wurde, um eine andere Welt zu stärken, die, in ihrer Begierde zu wachsen, keine Scham kannte. Wann immer sie das hier sah, wusste Kyra wieder, wofür sie kämpfte. Die Unsterblichen waren gewissenlose Diebe, und wenn sie niemand aufhielt, dann würden sie eines Tages Albenmark dasselbe antun.

Unruhig sah sie zum Albenstern. Vier silberne Löwen wachten dort, als wollten die Unsterblichen ganz sicher sein, dass ihnen kein Spitzel entschlüpfte. Unwillkürlich tastete Kyra über ihre Kleider. Alles, was sie am Leib trug, stammte aus Nangog. Ein schäbiges, schlecht gemachtes Messer war die einzige Waffe, die sie bei sich trug.

Vier Löwen … Kyra zögerte. So viele waren es sonst nie. Sie hatte keinen Zauber gewoben, der ihre Gestalt veränderte und der nun aufgespürt werden konnte. Ihre falschen Bartstoppeln waren angeklebt. Ihre spitzen Ohren unter ihrem Turban verborgen. Wenn die Löwen sie nur flüchtig ansahen, würde sie nicht auffallen. Aber was, wenn sie in die magische Welt blickten? Sahen sie ihre Aura, dann war nicht zu verbergen, was sie war. Da unterschied sie sich so deutlich von den Menschenkindern, wie sich eine Katze von einem Hund unterschied.

Wieder sah sie zum Himmel hinauf. Sollte sie es wagen, den Lauf der Zeit zu verändern? Bidayn war auf diese Weise zwei Mal von hier entkommen. Aber sie hatte auch nicht an vier Löwen vorbeigemusst … Die silbernen Bestien würden sofort auf den Zauber reagieren.

Sie musste das Wagnis eingehen, es auf die unauffällige Art zu versuchen.

Kyra suchte einen der Karawanenführer, die darauf warteten, ins Goldene Netz zu ziehen. Sie kaufte sich einen Platz und schloss sich einem Trupp von Maultieren an, die mit Reissäcken beladen waren und von Männern am Zügel geführt wurden, die in ihre Heimat zurückkehrten. Es waren abgerissene Gestalten, ausgemergelt und mit leerem Blick. Sie hatten in Nangog ganz gewiss nicht ihr Glück gemacht.

Kyra wendete ihren Mantel, sodass wieder die schmuddelige Seite nach außen gekehrt war. Dann reihte sie sich zwischen den Geschlagenen ein und hoffte darauf, genauso gebrochen wie die anderen auszusehen.

Das Vergangene

Artax stand am Rand des Flugdecks und sah sie zweifelnd an. »Kann man die Vergangenheit zurückholen? Ich glaube nicht.«

»Seit wann gibst du auf, ohne es versucht zu haben?«

Er sah sie lange an. Sie war nicht mehr die Shaya, die einst die Leibwache Kanitas, des Statthalters ihres Vaters, befehligt hatte. Ein Daimon hatte ihr Gesicht verändert, um sie vor der Rache Ištas zu schützen. Ein Daimon war ihr Retter gewesen, und eine ihrer Göttinnen wollte ihren Tod. Die Welt war so verdreht, so durch und durch in Unordnung. Seit er Herrscher war, hatte er darum gerungen, die Welt zu ordnen und zu einem gerechten Ort zu machen. Aber vielleicht kämpfte er ja in den falschen Schlachten …

»Mein Geliebter …«

Er nickte. Ein Daimon hatte ihm Shayas Leben geschenkt. Steckte eine verderbte Absicht dahinter? In düsteren Stunden hatte er sich das immer wieder gefragt. Konnte ein Daimon den Menschen etwas Gutes wollen? Oder war Shaya ohne ihr Wissen Teil eines perfiden Plans geworden? Mataan war nie mehr an seinen Hof zurückgekehrt. Artax hatte geglaubt, dass sie beide Freunde waren, doch als er Shaya an den Hof zurückgeholt hatte, war der Satrap in seine Heimat gegangen. Mataan hatte ihn eindringlich vor ihr gewarnt.

»Komm!« Sie nahm ihn bei der Hand und trat mit ihm an den Rand des Flugdecks. »Lass uns in die Vergangenheit reisen, für eine halbe Nacht.«

Außer dem Gesicht hatte sie sich nicht verändert. Sie war die wilde Steppenreiterin, und dann gab es noch ihre geheimnisvolle Seite, die Heilerin. Shaya hatte ihm die Geschichte erzählt. Es war wie mit ihm und den Unsterblichen, die vor ihm in Aram geherrscht hatten. So wie ihr Wissen in ihm fortlebte, lebte die Gelehrsamkeit Shen Yi Miao Shous in Shaya weiter. Nur dass sie nicht von ihm besessen war. Er quälte sie nicht. Er hatte nicht versucht, in ihr weiterzuleben.

»Bereit?«

Artax nickte. Seine Hand schloss sich ein wenig fester um die ihre, und gemeinsam taten sie den Schritt in den Abgrund.

Sofort straffte sich das Fluggeschirr. Dünne Tentakel wanden sich unter seinen Achseln hindurch, hielten ihn, während er sanft nach oben schwebte. Sie waren an zwei junge Wolkensammler angeschirrt. Der Wind blies aus der richtigen Richtung. Sie trieben dem Lastschiff entgegen, das am benachbarten Ankerturm vertäut lag.

Artax stellte sich vor, wie alle Lasten von ihm abfielen und in die Tiefe stürzten. Er sehnte sich so sehr nach Frieden, nach einem Leben ohne die Bürde des Herrschens.

Als Shaya aus der Messergras-Steppe zurückgekehrt war, war sie verändert gewesen. Sie hatte ihm nur in groben Zügen geschildert, dass die Pferdedaimonen keine Gefahr mehr waren. Artax hatte Ashot einbestellen müssen, um zu erfahren, was geschehen war und wie unglücklich ihr Sieg seine Gemahlin gemacht hatte. Dieser Krieg zerstörte sie langsam alle. Er fraß ihre Menschlichkeit auf. Er musste enden!

Könnte es auch nur um Nangog eine letzte Schlacht geben! Eine Schlacht, wie er sie mit Muwatta auf der Hochebene von Kush geführt hatte.

Sie glitten am aufgedunsenen Leib des Wolkensammlers nach oben. Es war einer der alten Himmelsgiganten, die sich geweigert hatten, das Traumeis anzunehmen, den Menschen aber dennoch wohlgesinnt geblieben waren.

Artax war sich sicher, dass einige von Ormus Bogenschützen sie heimlich beobachteten, obwohl er dem Hauptmann ausdrücklich befohlen hatte, in dieser Nacht nicht nach ihm zu sehen. Aber Ormu konnte nicht aus seiner Haut. Die Morde an den Unsterblichen bereiteten dem Hauptmann mehr schlaflose Nächte als ihm, der das Opfer der Daimonen sein sollte. Schon vor Langem hatte Artax entschieden, es einfach zu akzeptieren, wenn seine Stunde gekommen sein sollte, und nicht sein Leben zu vergeuden, indem er es von der Angst vor den Meuchlern bestimmen ließ. Er hatte wahrlich schon Sorgen genug. Diese Sorge wollte er nicht auch noch tragen.

Endlich erreichten sie den Rücken des Wolkensammlers. Shaya hatte einen Enterhaken mitgenommen. Sie hakte sich bei einem der zähen Seile ein, die das Lastschiff an den Wolkensammler fesselten, und zog sich hinab. Dann fing sie mit dem Haken Artax’ Leine und zog auch ihn auf den Rücken des Wolkensammlers. Beide lösten sie ihr Fluggeschirr und vertäuten die jungen Wolkensammler, die sie hier hinaufgebracht hatten.

Artax hatte ganz vergessen, wie es war, auf dem Rücken der riesigen Kreaturen zu gehen. Der Boden unter seinen Füßen war weich und gab bei jedem Schritt ein wenig nach. Er fühlte sich an wie nichts anderes, das er kannte.

Shaya neben ihm hüpfte ausgelassen und jauchzte dabei vor Freude. Sie so zu sehen machte ihm das Herz leicht, und langsam begann auch er, sich frei zu fühlen. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den Zwillingsmonden und dem Sternenmeer am wolkenlosen Himmel hoch. Die drückende Hitze des Tages war gewichen. Nun war die Wärme angenehm.

»Komm, versuch es!«, rief ihm Shaya zu und streckte ihm die Hände entgegen. »Einfach nur zu hüpfen macht den Kopf frei.«

Komm, versuch es, äffte die Stimme in seinem Kopf Shaya nach. Nur selten mischte sich der Aaron, der vor ihm der Unsterbliche gewesen war, in seine Gedanken. Du wirst hier gesehen werden, du dämlicher Bauer! Willst du wirklich, dass man sich erzählt, dass du nachts mit einer nackten Frau auf Wolkensammlern hüpfst.

Sie ist doch noch gar nicht nackt, hielt Artax in Gedanken der Stimme vor.

Geschichten sind immer ein bisschen bunter als die Wahrheit. Du bist der mächtigste unter den Unsterblichen. Ihr Anführer! Setz deinen guten Ruf nicht wegen solcher Albernheiten aufs Spiel.

Artax sah unsicher zu den anderen Wolkensammlern, die an den Ankertürmen lagen. Man konnte sie beide hier oben sehen, da hatte der andere Aaron schon recht. Aber sie waren nur zwei Silhouetten vor dem Sternenhimmel. Ganz sicher würde niemand in den hüpfenden Narren den Unsterblichen Aaron und dessen Gefährtin vermuten.

Im ersten Morgenlicht würde die Flotte die Leinen lösen. Die Lotsen hatten berechnet, dass sie bei den herrschenden Windverhältnissen etwa dreiundzwanzig Stunden bis zu den Tafelbergen mit Tarkons Städten benötigten. Sie sollten also vor dem Morgengrauen des übernächsten Tages eintreffen und würden sofort angreifen.

Noch einmal warf Artax einen Blick zum nächsten Schiff. Sollten sie ihn doch sehen! Eine Nacht wie diese würde so schnell nicht wiederkommen!

Dann griff er nach Shayas Händen, rang die Stimme in sich nieder und hüpfte mit ihr zusammen, so wie sie einst für ihren Vater in der Wandernden Stadt auf der Trommel getanzt hatte.

Und sie hatte recht, wie fast immer. Als er sich ganz auf sie einließ, vergaß er alles andere. Nur die klare Nacht blieb, ihr rasender Herzschlag, der den Rhythmus für ihre wilden Sprünge vorgab.

Schließlich stürzten sie eng umschlungen auf den weichen Untergrund. Küssten sich wild und voller Leidenschaft. Rissen sich die Kleider vom Leib, die ihrer Lust, einander zu erkunden, Grenzen setzen wollten, und liebten sich, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatten.

Sturzflug

Volodi hatte in dieser Nacht nicht getrunken. Auch hatte er sich keine Huren ins Bett geholt, obwohl er etliche auf die Reise mitgenommen hatte. Er war sehr früh erwacht, wie es ihm oft in den letzten Jahren geschah. Den leeren Jahren … Er hatte die Lücke in seinem Herzen niemals schließen können. Keine Frau, die er je getroffen hatte, ersetzte Quetzalli. Manchmal wurde er wach und war sich bewusst, dass er im Schlaf ihren Namen gerufen hatte. Und oft schämte er sich, dass er den Verlust Wanyas nicht ähnlich stark empfand. Doch das Band zu seinem Sohn, seinem eigenen Fleisch und Blut, war nicht annähernd so stark wie jenes, das ihn an die Zapote-Priesterin gefesselt hatte.

Er hatte die letzten Stunden damit verbracht, an sie zu denken. Und ganz bewusst hatte er nicht jene Rüstung angelegt, die ihm der Alte Bär geschenkt hatte. Er wollte nicht länger unsterblich sein. Er wollte da hingehen, wo Quetzalli und Wanya waren und vielleicht auch Kolja. Sollte es aber keinen solchen Ort geben, würde ihm der Tod zumindest Vergessen schenken.

Begleitet von Leibwachen in Bärenfellen, stieg er zum Flugdeck hinab. Im Osten zeigte sich erstes graues Licht über dem Horizont. Das Flugdeck aber wurde noch von Laternen erhellt. Als er zwischen die Reihen der geflügelten Bären trat, ertönten keine schrillen Pfiffe. Niemand stand stramm. Er fand die Zeremonien, die auf den Schiffen Arams, Luwiens und Valesias abgehalten wurden, seltsam. Sie waren eine Bruderschaft von Kriegern. Solche albernen Spielchen waren überflüssig.

»Männer!« Seine tiefe Stimme brachte alle Gespräche zum Verstummen. Seine Krieger wandten sich ihm zu. Es waren stolze und selbstbewusste Männer. Sie waren die Bärenreiter, die Besten der Besten.

»Heute wird sich ein lang gehegter Traum von mir erfüllen. Wir werden bei dem verdammten Bastard Tarkon vorbeischauen, und ich wette meinen Bart, dass wir ihn mit heruntergelassenen Hosen in seinem Bett erwischen werden. Ich habe nur eine Bitte an euch: Tretet dem verdammten Piraten in den Arsch, dass er eure Stiefelsohlen auf der Zunge spürt, und kümmert euch erst dann darum, die hübschen Mädels zu befreien, die zweifellos in seinem Bett liegen werden.«

Die Männer grinsten breit. Volodi wusste, dass er beliebt war. Er war wie sie. Und er wollte nicht anders sein. Den Hochsitz in seiner Festhalle hatte er verbrannt. Wenn sie zusammen aßen oder zechten, saß er mitten unter seinen Männern. Und manchmal, wenn es ein guter Tag war, gelang es ihm dann, Quetzalli für ein paar Stunden zu vergessen.

Der Unsterbliche trat an eine der Kisten mit Sand, die bei den Fliegern aufgestellt waren. Er nahm eine Handvoll davon und verrieb ihn zwischen den Händen, damit sie trocken wurden und ihm die schwere Lanze nicht entgleiten würde.

»Noch was, ihr verdammten Hurensöhne. Lasst euch verdammt noch mal nicht umbringen. Heute Nacht wird es die rauschendste Siegesfeier geben, die ihr je erlebt habt. Und ich habe es geschafft, zwei Wagenladungen mit aegilischem Roten, die für die Löwenreiter des Unsterblichen Aaron bestimmt waren, in unseren Laderaum umzuleiten. Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr mir diese Nacht helft, die Spuren meines kleinen Diebstahls verschwinden zu lassen. Bis zum nächsten Morgengrauen darf keine volle Amphore mehr an Bord sein.« Er nahm seine Lanze aus dem Waffengerüst neben seinem Bären und grüßte seine Krieger. »Gute Jagd, Männer!«

Volodi stieg in den Sattel seines geflügelten Bären. Zwei Krieger halfen ihm, die Ledergurte festzuzurren, die ihn an die hohe Lehne banden. Als sie fertig waren, zog er den geschnitzten Stab aus der Lasche an seinem Gürtel. Seit sieben Jahren trug er ihn jeden Tag bei sich. Das Holz war dunkel geworden. In den tiefen Einkerbungen hatte sich Schmutz abgesetzt, der die geschnitzten Figuren noch deutlicher hervortreten ließ. Sanft küsste er das Abschiedsgeschenk seiner geliebten Priesterin. »Wenn die Götter mir gewogen sind, sehen wir uns gleich wieder.« Er schob den Stab zurück in den Gürtel. Dann beugte er sich vor und klopfte dem Bären auf den Hals. »Ziehen wir in die Schlacht, mein alter Stinker.«

Mit leisem Knirschen setzte sich die widernatürliche Kreatur in Bewegung. Öl trat zwischen ihren Gelenken hervor. Das war eine Eigenart seines Bären. Langarm hatte ihm schon oft angeboten, ihm einen anderen zu geben, doch Volodi wollte nicht. Sein Bär stank wie ein Fass voller Steinöl. Er mochte das.

Mit schweren Schritten trat der Bär in die Mitte des Flugdecks. Volodi würde sich als Erster in die Tiefe stürzen, wie er es bei jedem Angriff tat. Seine Krieger wussten, dass er es nicht schätzte, wenn ihn jemand überholte. In respektvollem Abstand reihten sie sich hinter ihm ein.

Langsam begann Stinker loszulaufen. Volodi spürte stets ein unangenehmes Kribbeln im Bauch, wenn der Bär mit ihm auf dem Rücken dem Abgrund entgegentrottete. Weit über hundert Mal hatte er sich schon in die Tiefe gestürzt, aber je öfter er es tat, desto mehr wunderte er sich, dass man eine solche Narretei überleben konnte.

Das Ende des Flugdecks war erreicht. Sie stürzten. Der Dschungel, der das Hochplateau unter ihnen bedeckte, war eine undeutliche schwarze Masse. Noch war keine Felsspalte zu entdecken.

Stinker weitete seine Schwingen. Ihr Sturz wurde nicht langsamer. Hoffentlich hatte dieser Haufen Metall bessere Augen als er, dachte Volodi.

Der verdammte Bär beugte sich vor. Sein massiger Kopf wies wie eine Pfeilspitze auf das Hochplateau unter ihnen. Volodi sah immer noch nichts als Bäume, und sie kamen viel zu schnell näher. Warum hatte er auch gleich wieder darauf bestanden, den Angriff zu führen? Weil er ein verdammter Idiot war? Sich in eine feindliche Schlachtreihe zu werfen war glorreich. Aber sie warfen sich in dichtes Geäst.

»Schei…!« Sein Schrei erstickte, als ihm ein Ast ins Gesicht peitschte. Volodi riss die Arme hoch. Blätter prasselten ihm entgegen. Der verdammte Bär war nicht aufzuhalten. Sie schlugen mit aller Macht in etwas, das unter ihrem Aufprall federte. Die Luft wurde ihm aus der Lunge gepresst. Die Gelenke Stinkers kreischten noch bedenklicher als sonst. Seine Flügel kämpften gegen Fesseln an. Fesseln?

Im Zwielicht war kaum etwas zu sehen. Über ihm brachen andere fliegende Bären durch die Äste. Schreie erklangen.

Volodi tastete nach dem Geäst, das ihn gefangen genommen hatte. Während Stinker wie ein wütender Dachs um sich biss, den Jagdhunde am Eingang seines Baus gestellt hatten.

Volodis Finger glitten über die seltsam verdrehten Äste. Das war kein Holz. Ein Netz! Seile! Sie waren in ein riesiges Netz geflogen.

Plötzlich gab es einen Ruck, und Stinker gab einen grunzenden Laut von sich. Noch ein Ruck. Sie stürzten wieder. Unter ihnen lag ein weiter Abgrund. Vereinzelte gelbe Lichter erstrahlten in der Finsternis.

Der Bär schlug hektisch mit den Flügeln, und ihr mörderischer Sturz ging in einen kontrollierten Flug über. Jetzt konnte Volodi mehr erkennen. Gerade Linien wuchsen zu Flächen. Die Schemen einer großen Stadt zeichneten sich am Grund der riesigen Höhle ab. Und in die Wand der Höhle, über der Stadt schwebend, war auf Terrassen ein Palast erbaut. Genau dorthin trug ihn Stinker.

Volodi kniff die Augen zusammen, um besser zu erkennen, was ihn erwartete, als ein Horn erklang. Tarkons Wachen hatten sie entdeckt.

Der Drusnier drehte sich, so weit er konnte, im Sattel und blickte zurück. Wie Fledermäuse, die im ersten Morgenlicht heimkehrten, zeichneten sich die Schatten der Himmelsreiter gegen das fahle Stück Himmel ab, das durch den weiten Spalt in der Höhlendecke zu sehen war.

Ein Pfeil prallte klirrend von den Flügeln seines Bären ab. Bogenschützen hasteten auf die Palastterrassen. Es gab deutlich mehr als nur die zwanzig Wachen, die Aarons Spitzel hier vermutet hatte.

Volodi grinste. Er würde seine Schlacht bekommen.

Erwachen

Tarkon schreckte aus dem Schlaf hoch. Hörner wurden geblasen! Er war augenblicklich hellwach. Der Tag, den er so lange gefürchtet hatte, war gekommen. Sie hatten ihn gefunden! Zarah sah ihn erschrocken an. Das Licht der kleinen Öllampe neben dem Bett schmeichelte ihr. Es gab ihr einen goldenen Teint, so als wäre das Alter spurlos an ihr vorübergezogen. Sie war für ihn noch immer die begehrenswerteste Frau, der er je begegnet war.

»Schnell, meine Liebe.« Er war mit einem Satz aus dem Bett, warf sich eine Tunika über und griff nach dem Schwertgurt, der von einem Stuhl hing.

»Schnell!« Er streckte die Hand nach ihr aus, als sie sich ein dünnes Seidenhemd überwarf.

»Die Kinder …«

Draußen auf der Terrasse klirrten Schwerter. Wie hatten die Angreifer so schnell bis hier kommen können?

»Es ist keine Zeit …«

Zarah sah ihn erschüttert an. »Du willst sie zurücklassen?«

»Sie werden ihnen nichts tun! Sie sind zu kostbar. Wir werden sie austauschen.« Er riss die Tür zu dem schmalen Tunnel auf, der tief unter der Ebene zum benachbarten Tafelberg führte.

»Wir können sie nicht zurücklassen«, beharrte Zarah. »Es sind unsere Kinder!«

Sie hatte nicht begriffen, und es blieb auch keine Zeit zu streiten. »Die Feinde sind bereits auf den Terrassen. Wenn wir hinab zum Schlafgemach der Kinder laufen, wird uns der Rückweg abgeschnitten sein. Es ist nicht vernünftig …«

Sie hörte nicht auf ihn, sondern lief hinaus in den dunklen Flur.

Er war Tarkon Eisenzunge, der von den Toten wiedergekehrt war. Wenn er ihr jetzt folgte, würde es keine Wiederkehr mehr geben. Er nahm die kleine Öllampe, öffnete die verborgene Tür, trat in den Tunnel, der ihn in Sicherheit bringen würde, und begann zu laufen.

Er war allein mit der Dunkelheit, dem Geräusch seiner Schritte und seines Atems. Jetzt, da er den ersten Schrecken hinter sich gelassen hatte, vermochte er klar zu denken. Die Unsterblichen selbst mussten mit ihren Himmelsreitern gekommen sein. Anders war nicht zu erklären, dass sie so schnell zu seinem Palast vorgestoßen waren. Und wenn sie dort waren, dann waren sie auch jenseits des Wasserfalls. Sie würden auf ihn warten. Es gab kein Entrinnen mehr. Er hätte mit Zarah gehen sollen, das wäre ehrenhafter gewesen. Nun war es zu spät, noch umzukehren.

Der Weg schien ihm endlos. Fast eine halbe Stunde musste er gelaufen sein, bis es wieder aufwärts ging. In engen Kreisen wand sich eine aus dem Fels geschlagene Treppe hinauf zur Hafenhöhle. Alarmierte Wachen empfingen ihn und geleiteten ihn zu Rubal, seinem Flottenmeister. Nur ein einziger Wolkensammler lag in der weiten Höhle. Es war eine der veränderten Kreaturen. Vor fünf Jahren hatte sie sich ihm angeschlossen. Eine eigenwillige Kreatur. Sie hatte sich einen neuen Namen gegeben, der ungewöhnlich kurz für die Traditionen der Wolkensammler war. Sternenfresser, so nannte er sich, weil seine Schwingen so weit in den Himmel griffen und das Licht der Sterne verschwand, wenn er durch die Nacht glitt. Sie hatten den Durchgang hinter dem Wasserfall erweitern müssen, weil er selbst mit angelegten Schwingen nicht hindurchgepasst hatte. Einen wie ihn hatte Tarkon noch nicht erlebt. Er war schon auf vielen Wolkensammlern gereist, aber Sternenfresser hatte sich nicht nur äußerlich verändert, als er das Traumeis genommen hatte. Er fand Gefallen daran, seine Artgenossen zu töten. Deshalb setzte Tarkon ihn nur selten ein. Er wollte Beute machen, Schiffe plündern und seine Flotte erweitern. Heute dürfte Sternenfresser seinen Gelüsten freien Lauf lassen.

Rubal erschien vor ihm. Sein Flottenmeister hatte eine leichte Lederrüstung angelegt und war offensichtlich bereit für den Kampf. Er trug eine Federkrone, seine Arme waren mit Rautenmustern tätowiert, die vor seiner dunklen Haut nur bei hellem Licht zu sehen waren. Er war im kargen Südwesten Arams geboren und entstammte einer Familie von Priestern, die durch die Schergen des Unsterblichen Aaron ermordet worden waren.

»Dein Schiff ist bereit, Tarkon, wir alle sind bereit. Keiner wird in der Höhle zurückbleiben. Unsere Späher berichten, dass zwei große Wolkensammler vor dem Wasserfall schweben. Weitere sind im Anflug. Noch können wir durchbrechen.«

Der Piratenfürst blickte zu dem schmalen Tunnel zurück, durch den er gekommen war. Er stellte sich vor, wie Zarah ihren Häschern entkam und mit den Kindern die lange Flucht durch die Dunkelheit wagte, um dann in der leeren Höhle zu stehen.

»Ich komme an Bord«, sagte er mit rauer Stimme, »und werde mich von der Gefechtsbereitschaft des Schiffes überzeugen. Dies wird unsere schwerste Schlacht werden. Ich will ganz sichergehen, dass wir wirklich vorbereitet sind.«

Rubal sah ihn erschrocken an. »Du willst was? Zweifelst du an meinen Fähigkeiten, das Schiff zu führen?«

»Gelten meine Befehle nicht mehr für dich?«, entgegnete Tarkon harsch. »Gehen wir an Bord! Ich inspiziere das Schiff!« Wieder blickte er zu der kleinen Öffnung in der Höhlenwand und betete stumm, dass Zarah es schaffte zu entkommen.

Das Unerwartete

Necahual blickte auf den Wasserfall herab, der sich aus einem kleinen See auf dem Hochplateau des Tafelbergs speiste. Dort lag Tarkons Flotte verborgen. Er hatte einige seiner Himmelsreiter ausgeschickt, um auszuspähen, was ihn hinter dem Vorhang aus Wasser erwartete. Es reizte ihn, vorzustoßen und den Ruhm zu ernten, Tarkon erschlagen zu haben. Auf der anderen Seite wollte er nicht die Schmach erleiden, sich wie ein verprügelter Hund zurückziehen zu müssen. Es würde sehr schwer werden, durch die enge Höhlenöffnung einzudringen. Sein Wolkensammler Tanzende Schneeflocken unter Wintermonden war zwar zuversichtlich, dass es ihm gelingen würde, doch während dieses Manövers wären sie so gut wie wehrlos.

Zwei gefiederte Schlangen schossen durch die Silberschleier des Wasserfalls. Schwere Felsbrocken und armdicke Speere folgten ihnen. Die beiden Flieger hielten auf den Bug des Wolkensammlers zu. Schwer mit den Flügeln schlagend, erreichten sie den Unsterblichen. Die Vogelbeine der Schlangenleiber krallten sich in die Reling. Ein Krieger in einem Gewand aus schillernd roten Federn sprang ab und warf sich vor Necahual zu Boden.

»Herr der Himmel, ein großes, wohlbewaffnetes Schiff erwartet uns hinter dem Wasserfall. All seine Geschütze sind auf den Eingang gerichtet. Zwei meiner Brüder sind durch den Beschuss der Schiffsmannschaft umgekommen. Die Decks stehen gedrängt voller Krieger.«

Necahual trommelte nervös mit den Fingern auf die Reling. Es war sein Wunsch gewesen, sich Tarkon zu stellen und den Himmelshafen anzugreifen. Er lächelte zynisch. Was für ein eitles Unterfangen. Nun würde er für seine Ruhmessucht büßen.

Er konnte tollkühn angreifen! Der Himmelspirat wartete offensichtlich darauf. Oder aber er tat das Unerwartete … Leicht versetzt zum Wasserfall wuchs eine turmgroße Felsnadel aus der Steilwand des Tafelberges. Sie war ein natürlicher Ankerturm. Vielleicht konnte er sie sich zunutze machen? Er würde noch weitere Schiffe aus seiner Flotte herbeiordern.

Diese Felsnadel … Der Rhythmus, in dem seine Finger trommelten, verlangsamte sich. Sie mochte noch als etwas anderes dienen als nur als Ankerturm. Er wandte sich an einen der Hauptmänner aus seinem Gefolge. »Ich brauche sofort einen Arbeitertrupp dort unten in der Felswand. Mindestens zweihundert Mann! Landet sie unterhalb der Felsnadel an.«

In Dreck greifen

Natürlich hatten sich die Drusnier nicht an den Schlachtplan gehalten! Arcumenna kochte vor Wut! Diese dämlichen Hinterwäldler waren zu früh losgeflogen! Es sah ganz so aus, als wollte Volodi den Ruhm alleine ernten. Eines Tages würde er nach Drusna zurückkehren, dachte der Unsterbliche finster. Und dann würde er zu Ende bringen, was er einst als Feldherr begonnen hatte. Er würde dieses Königreich der Trottel unterwerfen.

Geschickt lenkte er seinen silbernen Adler durch die weiten Löcher, die von den geflügelten Bären in das riesige, mit Ästen getarnte Netz gerissen worden waren, das die weite Felsspalte vor neugierigen Blicken aus der Luft schützen sollte. Mit grimmiger Genugtuung sah er die Drusnier, die sich mit gebrochenem Genick im Netz verfangen hatten. Im Zwielicht vor der Dämmerung hatten sie vermutlich kaum gesehen, wohin sie flogen.

»Dort links!«, hörte er hinter sich die bellende Stimme seines Hauptmanns Horatius, der den Kriegern die Richtung zum Palast wies. Eigentlich war es nicht nötig. Die schreiend bunten Bauten, die sich an die Steilwand der riesigen Höhle klammerten, waren nicht zu übersehen. Auch die große Stadt, die unter ihnen lag, schmückte sich mit den fantastischsten Farben. Sie bestand überwiegend aus einfachen Lehmhäusern mit flachen Dächern. Doch die Häuser waren in allen Tönen des Regenbogens verputzt. Im Zwielicht des Morgens entfalteten die Farben allerdings nicht ihre Pracht, sondern im Gegenteil, betonten die Tristesse des Ortes noch.

Arcumenna wandte den Blick ab und betrachtete den Palast, auf den sein Adler zuflog. Man konnte Tarkon vieles vorwerfen, aber gewiss nicht, dass er sich mit Pomp und Luxus umgeben hätte. Die Palastbauten unterschieden sich – einmal abgesehen von ihrer Größe – nicht von den einfachen Häusern in der Stadt.

Etliche der drusnischen Bären waren schon gelandet, die Krieger aus den Sätteln gesprungen, und auf allen Terrassen wurde gekämpft. Mutig waren sie, die Himmelspiraten. Obwohl ihre Waffen die schweren Bären nicht wirklich beschädigen konnten, leisteten sie verzweifelten Widerstand.

Ein schlecht gezielter Pfeil verfehlte den Unsterblichen um mehr als einen Schritt. Er ließ seine Lanze in einer Halterung seitlich seines Sattels einrasten und zog aus dem langen Köcher auf der anderen Sattelseite einen leichten Wurfspieß.

Sein Adler wusste, was er wollte. Er flog eine leichte Kehre, dicht über dem Krieger, der geschossen hatte. Arcumenna beugte sich weit zurück und schleuderte dann den kurzen Wurfspeer mit aller Kraft. Er traf den Schützen zwischen Hals und Schlüsselbein. Der Mann taumelte kurz und ging dann zu Boden, ohne dass noch ein Laut über seine Lippen gekommen wäre.

Der Adler flog dicht über einer Brustwehr hinweg und riss mehrere Verteidiger zu Boden, bevor er mit einem wenig eleganten Hüpfer auf dem Flachdach landete. Arcumenna wurde in die Ledergurte gepresst, die ihn an die Sattellehne fesselten. Hastig löste er die Gurte. Dicht neben ihm landeten weitere Adlerreiter.

Der Unsterbliche sah sich kurz um. Seine Männer hielten die wenigen Verteidiger in Schach. Als die Piraten erkannten, dass jeder weitere Kampf aussichtslos war, ließen sie die Waffen sinken.

»Was tun wir mit ihnen?«, fragte Horatius.

Arcumenna war an die Brüstung getreten und blickte über den Palasthof unter ihm. Allenthalben wurde noch gekämpft. Vor einem Eingang hatte sich eine Gruppe von Kriegern mit großen Turmschilden verschanzt. Dort würde er finden, was er suchte!

»Bringt sie um! Wir können uns jetzt nicht mit Gefangenen belasten!«

»Aber wir sollten doch …«, setzte der einäugige Hauptmann an.

»Wir sollten uns nicht mit ihnen belasten!«, wiederholte der Unsterbliche scharf. »Es sind nur Piraten. Sie haben durch ihre Taten ihr Leben verwirkt!« Er stieg die Treppe zum Hof hinab und zog sein Schwert. Einige Drusnier hatten sich um einen Mann geschart, der am Boden lag. Volodi! Zwei Pfeile steckten ihm in der Brust. Verwundert hielt Arcumenna inne und sah auf den blonden Krieger hinab. Blut quoll über seine Lippen. Der Idiot hatte nicht die Rüstung angelegt, die die Götter für ihn erschaffen hatten. Fast hätte der Valesier über so viel Dummheit gelacht. Aber das wäre würdelos. Auch wenn Volodi seinen Tod verdient hatte, durfte er ihn nicht in aller Öffentlichkeit verspotten. Also hob er sein Schwert zum Gruß: »Mögest du einen leichten Tod haben.«

Volodi sah ihn mit müdem Blick an. »Mögen die Piraten dir einen Speer in den Arsch stecken, um dir damit das Hirn aus dem Schädel zu kratzen.«

Arcumenna schnaubte abfällig. Er hätte es wissen müssen. Es war immer ein Fehler, einen Drusnier mit Würde zu behandeln. Reichte man so einem Hinterwäldler die Hand, griff man in Dreck. So waren sie halt.

Ruhig ging der Herrscher den Himmelspiraten entgegen. Er sah die Angst in den Gesichtern der Männer. Sie wussten vielleicht nicht, wer er war, aber sie hatten erkannt, was er war. Ein Unsterblicher! Der Maskenhelm, der einen Adlerkopf darstellte, und die weiße Lederrüstung, die jeden Flecken seiner Haut bedeckte, waren unverwechselbar. Ein silberner Adler mit geweiteten Schwingen schmückte seine Brust. In der Hand hielt er ein Götterschwert. Eine Klinge, der keine Rüstung widerstehen würde.

»Ich schenke euch keine Gnade, aber vielleicht rettet es euch ja, wenn ihr davonlauft.«

Trotz ihrer Angst blieben sie stehen.

»Ich respektiere euren Mut!« Ohne zu zögern ging er auf die Gruppe zu. Er hörte die Schritte seiner Männer hinter sich. Er brauchte sie in seinem Rücken, dessen war er sich bewusst. Er war kein Narr! Wenn die Piraten tapfer genug waren, konnten sie ihn dank ihrer Übermacht zu Boden werfen, seine Arme niederdrücken und ihm einen Dolch durchs Auge stoßen. Davor könnte ihn nicht einmal die Rüstung der Götter bewahren.

Arcumenna führte sein Schwert in weitem Schwung. Die Klingen, die gehoben wurden, um seinen Angriff zu parieren, brachen unter der Wucht des Treffers. Sein Schwert fuhr einem der Piraten in die Schulter.

Mit einem Ruck befreite er die Waffe, ließ sie kreisen, während seine Krieger hinter ihm mit Speeren auf die Verteidiger einstachen.

Ein Schwertstoß traf ihn mit Wucht gegen die Brust. Er taumelte zurück. Seine Klinge fuhr nieder und trennte den Arm des Mannes ab, der ihn angegriffen hatte.

Ein wuchtiger Schlag traf seinen Helm. Arcumenna machte einen Schritt nach vorn. Seine Ohren dröhnten ihm vom Treffer. Er blockte einen zweiten Schwerthieb, der auf seinen Kopf zielte. Mit einer Riposte schlitzte er dem Piraten vor ihm die Kehle auf und brach durch den Schildwall der Verteidiger.

Sich unter einem weiteren Angriff duckend, stach er dem Mann neben ihm sein Schwert tief in die Hüfte. Die Klinge steckte im Leib des Gegners, der schreiend zu Boden ging. Arcumenna entwand dem Sterbenden das Schwert und schmetterte es einem weiteren Gegner in den Nacken. Plötzlich war alles vorbei. Seine Krieger hatten die übrigen Verteidiger niedergemacht. Der Schildwall war zu einem Wall von Leichen geworden.

Entschlossen trat er durch die Tür, die das Piratenpack mit dem Leben verteidigt hatte. Unter seinem Fuß zerbrach eine Reiterfigur aus Ton. Zwei Kinder duckten sich unter die Arme ihrer Mutter, die erschrocken zu ihm aufsah. Sie sagte kein Wort, bat nicht um Gnade. Arcumenna war sich sicher, dass sie wusste, wer er war.

Er nahm seinen Helm ab. »So kreuzen sich unsere Wege also wieder, Zarah.«

Nur wenig Licht drang in das Zimmer. Sie war immer noch atemberaubend schön, die Seidene, die Konkubine, der einst die Statthalter der Goldenen Stadt zu Füßen gelegen hatten. Nun gehörte sie ihm ganz allein.

»Ich bin mir sicher, deine Kinder und ich, wir werden uns sehr gut verstehen, solange wir beide uns verstehen, Zarah.«

Tränen rannen über die Wangen der Hure, doch sie schluchzte nicht. »Wir werden uns verstehen, mein Gebieter«, sagte sie unterwürfig.

Von dem Toten, der zurückkehrte, die Lebenden zu retten

Ilmari landete mit seinem silbernen Löwen auf dem Platz der Scherben. Er war der einzige Himmelsreiter, der nach Tiefwasser gekommen war. Hier gab es keine Krieger. Hier war nicht mit Widerstand zu rechnen.

Er löste die breiten Ledergurte, die ihn an die Rückenlehne fesselten, und sprang aus dem Sattel. Niemand hatte sein Kommen bemerkt, wie es schien. Er lächelte. Das hätte er wissen können. Bei den Bauern siegte die Angst über die Neugier. Sollte jemand gesehen haben, wie ein Krieger auf einem gewaltigen Löwen vom Himmel herabkam, dann hatte er gewiss ein sicheres Versteck gesucht.

Ilmari setzte das Horn, das er am Gürtel getragen hatte, an die Lippen. Er sah zum Tempel hinauf, als er seine Herausforderung herausblies.

Wie zur Antwort verdunkelte sich der Himmel über der Felsspalte hoch über der kleinen Stadt. Ein Wolkensammler war erschienen, und Landungskörbe voller Krieger wurden abgeseilt. Ilmari hatte den Männern eingeschärft, dass er kein Blutbad sehen wollte, dass sie die Menschen zusammentreiben, aber nicht töten sollten. Als Hauptmann der Himmelshüter genoss er Respekt und Autorität, aber ihm war nur zu bewusst, wie wenig all dies bedeutete, wenn die Krieger provoziert wurden.

»Solomon!«, rief er zum Tempel hoch. »Stell dich! Heute ist der Tag, an dem all deine Lügen offenbar werden, denn ein Toter ist zurückgekehrt, um die Lebenden zu retten.«

Nun regte sich doch etwas. In den Türen einiger Häuser nahe am Platz zeigten sich blasse Gesichter.

Ilmari nahm seinen Helm ab. »Seht her, ich bin es, der Totenträger!«

Nun wagten es einige, auf die Gassen hinauszutreten.

Ilmari hob erneut das Horn an die Lippen und ließ seinen Ruf erklingen. »Stell dich, Solomon!«

Endlich erschien der glatzköpfige Gebieter über Leben und Tod. Er trug das Prachtgewand seines Amtes und wurde von seinen Novizen begleitet, die weit weniger selbstsicher wirkten, als ihr Herr es tat.

Solomon trat nicht etwa auf den Platz der Scherben. Er stieg auf die Kanzel, die sich darüber erhob. »Seht ihn euch an!«, setzte er mit Donnerstimme an, wie in einer seiner Predigten. »So sieht das Gesicht des Verrates aus! Dieser Mann, der ein Hauptmann der Unsterblichen ist, hat sich in unsere Mitte geschlichen. Er hat unser Vertrauen missbraucht. Er hat uns alle hintergangen, und nun kommt er mit seinen Meuchlern.« Er hob in großer Geste die Arme der weiten Höhlendecke entgegen. »Ich rufe dich, Große Göttin, lass dein Strafgericht walten. Zermalme den Betrüger und seine Mörder!«

Ein Stück entfernt ging der erste Landungskorb in einem Reisfeld nieder, und grölende Männer sprangen heraus.

»Tötet den Verräter, solange ihr es noch könnt, und ihr werdet die Gunst der Großen Göttin erringen!«, rief Solomon.

Ilmari war erstaunt über den Wahn des Hüters des Lichtes. Er schien tatsächlich zu glauben, den Zorn der Stadtbewohner aufstacheln zu können. Doch als sich niemand regte, um seinem Wunsch Folge zu leisten, ging auch ihm auf, wie sehr er sich verschätzt hatte. Selbst seine Novizen, die bis eben immer in seiner Nähe gewesen waren, zogen sich in den Tempel zurück. Solomon war allein. Und er war der Einzige, der es noch nicht begriffen hatte.

Der Totenträger klopfte seinem Löwen auf die Schulter. »Komm!«

Gemeinsam schritten sie zur Kanzel.

»Ergreift ihn!«, schrie Solomon mit sich überschlagender Stimme. »Straft den Betrüger!«

»Ich werde euch zeigen, wie sehr ihr betrogen worden seid!«, rief Ilmari, hielt aber nicht in seinem Marsch zur Kanzel inne. »Ihr glaubt, ihr seid dazu verdammt, hier im Zwielicht zu leben, weil ihr euch von den Unsterblichen und ihren Göttern abgewandt habt? Ich bin hier, um euch Vergebung zu verkünden. Ich bin hier, um euch alle zum Licht zu erheben.«

Er hatte die kleine Treppe, die zur Kanzel hinaufführte, erreicht und drehte sich um. »Solomon ist es, der euch auf schändliche Weise um das Licht betrogen hat. Das Scherbengericht ist nur eine groteske Komödie!« Ilmari blickte finster in Richtung der versammelten Städter. »Einige von euch wissen das. Sie wissen, welcher Preis dafür zu entrichten war, einen geliebten Menschen ins Licht aufsteigen zu lassen.«

Er entdeckte Jelena, die sich Solomon hingegeben hatte, in der Menge, doch vermied er es, sie durch Blicke oder Gesten zu verraten. Frauen wie sie musste es viele gegeben haben, oder auch Männer, die mit wohlgehüteten Reichtümern das Wohl ihrer Liebsten erkauft hatten. Er kannte sie. Jeden! So oft hatte er auf diesem Platz gestanden. So oft waren andere Namen aufgerufen und all seine Hoffnungen zu Scherben zerschlagen worden.

Er stieg die Kanzel hinauf und zerrte Solomon herunter. Der Priester zeterte und schlug um sich, doch war er seiner Kraft nicht gewachsen. Ilmari wies die Krieger, die aufmarschierten, an, Solomon zu ergreifen.

Es war dieser Augenblick, in dem er gepackt wurde, in dem Solomon aufhörte zu schreien. Der Moment, in dem er sah, dass der Totenträger ein Kommando führte. Er es nun war, der die Macht in Händen hielt. Ilmari genoss es, den Widerstandswillen in Solomon zerbrechen zu sehen.

Er wandte sich erneut an die Menge. »Nun gehen wir zum Tempel, und ich werde euch zeigen, auf welche Weise ihr betrogen worden seid.«

Die Menschen waren erstaunlich still. So still, dass Ilmari sich fragte, wie groß die Zahl der Mitwisser um den Betrug wohl sein mochte.

Beim Tempel befahl er seinen Männern, die Tonkrüge mit den Scherben aus dem Archiv zu holen. Ilmar schritt durch die Reihen der Bauern und Handwerker, der Frauen und Kinder. Alle waren sie gezeichnet vom Leben in den Höhlen. Fahl und ausgemergelt. Er drückte ihnen die Scherben in die Hand. Manche begannen zu weinen, als sie vertraute Namen lasen. Die Namen von Toten, denen das Glück nicht gewogen gewesen war.

Er ließ sie mit den Fingern über die Scherben tasten, bis ihnen klar wurde, auf welche Art sie betrogen worden waren. Wie es dem Priester möglich gewesen war, stets nur den Namen zu ziehen, den er im Voraus als Gewinner bestimmt hatte.

Erste Steine flogen nach Solomon. Einige der Männer hatten ihre Hacken geholt oder Werkzeuge. Immer lauter erscholl der Unmut der Bewohner Tiefwassers. Eine Gruppe von Bauern trieb Solomons Novizen vor sich her. Sie waren wohl dabei entdeckt worden, wie sie über die Mauer des Tempelgartens zu fliehen versuchten.

Ilmari unternahm nichts, um den jungen Priesteranwärtern zu helfen. Mit kaltem Herzen sah er zu, wie sie von der wütenden Menge zu Tode geprügelt wurden. Solomon aber ließ er von Wachen schützen.

Als der Zorn des Volkes sich legte, stieg Ilmari auf den Rücken seines Löwen, sodass er für alle deutlich zu sehen war. »Ich werde für jeden von euch vor dem Unsterblichen Aaron bitten. Ihr seht, seine Krieger sind nicht gekommen, um euch zu töten. Geht in eure Häuser, nehmt das Nötigste, denn heute ist der Tag, an dem die Lügen der Priester endlich enden. Es ist der Tag, an dem ihr alle ins Licht erhoben werdet. Ihr werdet den Höhlen für immer den Rücken kehren. Ihr werdet keine Würmer mehr sein, die sich unter Steinen verkriechen. Nehmt von mir das Geschenk eines neuen Lebens.«

Seine Rede erntete keinen Jubel. Die Bewohner Tiefwassers wirkten unsicher, ja verängstigt. Sie schienen nicht sein Geschenk zu sehen, sondern nur, was er ihnen fortnahm. Das Leben, in das sie sich eingerichtet hatten, so ungerecht und grausam es auch sein mochte, es war ihnen vertraut.

Er wies einige seiner Scharführer an, wie sie die Evakuierung der Stadt umsetzen sollten, dann wählte er zwei besonders große und starke Männer unter den Kriegern aus und ritt zu Solomon, der an der Gartenmauer des Tempels kauerte.

Der Priester empfing ihn mit einem frechen Lächeln. »Hast du gedacht, sie würden dich lieben? Dich? Den Totenträger! Du stehst für sie für das Ende des Lebens, nicht für einen Neuanfang. Selbst wenn du sie nicht belogen haben solltest, dankbar werden sie dir niemals sein.«

»Wie kommst du darauf, dass mich ihre Dankbarkeit interessiert?«

Solomon sah ihn verblüfft an. »Ja, aber … Warum tust du all das?«

»Weil es richtig ist.« Ilmari winkte den beiden Wachen. »Packt ihn und folgt mir.«

Er nahm den vertrauten Weg zum Haus der Toten. Erst dort stieg er von seinem Löwen. Solomon, der wohl ahnte, was ihm bevorstand, sträubte sich gegen die Wachen, war ihrer Kraft aber nicht gewachsen. Sie zerrten ihn hinter Ilmari her durch die große Eingangshalle des Totenhauses die gewundene Treppe hinab bis zu den Steinblöcken, auf denen die Toten gewaschen worden waren.

»Reißt ihm die Kleider vom Leib! Sein Schmuck gehört euch. Sorgt dafür, dass er nackt auf dem Stein liegen bleibt. Ich werde ihn waschen.«

»Nein!«, begehrte Solomon auf. »Das darfst du nicht. Du entweihst diesen heiligen Ort. Ich bin kein Toter!«

Die Wachen nahmen ihm seine kostbare Brustplatte ab, die Armreife und Ringe. Sie würden reiche Männer sein, wenn sie ins Licht zurückkehrten.

Als Ilmari in die Kammer ging, in der Umme früher so gerne geschlafen hatte, hörte er, wie die kostbaren Gewänder des Priesters zerrissen. Er holte ein Leichentuch, eine Schüssel mit Wasser und die große Bronzenadel, mit der er in den letzten sieben Jahren so viele Tote eingenäht hatte.

Zurück am Stein, auf dem Solomon inzwischen ganz nackt lag, sammelte er einige der zerrissenen Lumpen ein, die einmal Priestergewänder aus kostbarstem Leinen gewesen waren. Er tauchte sie in kaltes Wasser und wusch den Leib des Priesters, der sich unablässig im Griff der Wachen wand.

»Bitte, ich lebe doch noch«, stammelte Solomon. »Das ist ein Frevel. Du erzürnst die Göttin. Sie wird euch alle verdammen. Ich bin einer ihrer Auserwählten.« Er sah die Wachen fest an, und plötzlich lag wieder etwas von jener Autorität in seiner Stimme, die er so lange besessen hatte. »Sie würde eure Eingeweide verrotten lassen. Ihr werdet von innen heraus verfaulen, wenn ihr auf diesen Frevler hört.«

»Wo ist deine Göttin, Priester? Unsere Götter, Išta, der Löwenhäuptige, Langarm und all die anderen, sie leben unter uns. Wir sehen sie! Sie zeigen uns unsere Macht, und allzu oft zeigen sie uns unsere Ohnmacht. Deine Göttin aber liegt gefesselt in einem Kerker. Sie hat geduldet, dass du jene hintergehst, die zutiefst an sie glauben. Wovor sollte ich mich fürchten, wenn ein Mann wie du die Große Göttin vertritt?«

»Sie ist hier!«, beharrte Solomon und rollte wie verrückt mit den Augen. »Überall hier! Sie lebt in den grünen Kristallen! Es sind ihre Augen und Ohren.«

»Was sind Augen und Ohren ohne Hände, die schützend über dich gehalten werden, Priester?« Ilmari begann damit, ihn in das Leichentuch einzuwickeln.

»Wenn der Tag des Gerichtes kommt, dann wird sie sich an alles erinnern, Totenträger.«

Er war es leid und stopfte dem Priester einen der Lumpen in den Mund. »Begreifst du es nicht, Solomon? Der Tag des Gerichtes ist bereits gekommen. Ich bin das Gericht!« Er schlug ihm das Leichentuch übers Gesicht und begann es mit groben, weit gesetzten Stichen zu vernähen. Zuletzt stach er ihm die Nadel durch die Nase.

Solomon bäumte sich unter Schmerzen auf und wurde von den Kriegern wieder auf den Stein zurückgedrückt.

Ilmari sah zu, wie sich das Leinen rings um die Nase mit Blut vollsog. »Talam, Serin und Umme«, sagte er bitter. »Wisset, dass auch er nicht mehr ins Licht gehen wird.« Er gab den Wachen ein Zeichen, den Priester anzuheben und ihm zu folgen.

Schweigend verließen sie das Totenhaus und folgten dem Schwarzgürtel bis zum Weißen Schlund. Solomon stieß verzweifelt unartikulierte Laute aus und wand sich in seinem Leichentuch. Er wusste, wo sie waren.

Als ihn die Krieger auf den Boden legten, beugte sich Ilmari zu ihm hinab. »Ich wünsche dir, dass dein Leib nicht auf die Klippen aufschlägt. Du bist nur lose in das Tuch genäht. Du wirst es zerreißen können. Ich hoffe, du hast einen langen Atem, dann wirst du in dem unterirdischen Fluss nicht ertrinken, sondern lebend an den Ort gelangen, an dem ich dich gerne sehen möchte. Zum See der Toten. Zu den weißen Alligatoren. Und ihnen, Solomon, wirst du ganz gewiss nicht entkommen.«

Er trat einen Schritt von dem Priester zurück und gab den Wachen ein Zeichen. Sie packten Solomon bei den Schultern und Füßen. Drei Mal ließen sie ihre Arme hin und her pendeln, um Schwung zu holen, dann warfen sie ihn in weitem Bogen in den Schlund.

Ilmari sah zu, wie der Priester im schäumenden Weiß verschwand.

Die beiden Wachen gingen. Der Totenträger aber kniete am Abgrund nieder, schaute auf den Fluss, dem er als Einziger lebend entstiegen war. Er dachte an die, die er verloren hatte, und daran, dass sich diese Lücke nie mehr schließen würde. Die glücklichen Tage seines Lebens waren verstrichen. Er war nichts mehr als ein lebender Toter.

Sternenfresser

»Sie wird nicht kommen.« Rubal sah ihn flehend an. »Wir müssen fort. Wenn du nicht an Bord kommst, wird Sternenfresser ohne dich aufbrechen. Du weißt, er hat einen freien Willen. Er wird tun, was er für richtig hält. Er will kämpfen.«

Tarkon blickte noch einmal zum Ausgang des Tunnels, durch den er gekommen war. Er hatte mehr als eine Stunde auf Zarah gewartet. Wenn sie es geschafft hätte, hätte sie längst mit den Kindern hier sein müssen. Sternenfresser hatte recht. Sie mussten hier heraus. Je mehr Zeit verstrich, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass sie noch entkommen konnten.

»Gehen wir!« Tarkon ging Rubal voran über die Laufplanke auf das Hauptdeck. Seine Männer sahen ihn erwartungsvoll an. Einige wirkten verängstigt. Sie wussten nicht, was vor sich ging, hatten aber sicherlich schon Gerüchte gehört.

Seiner Erfahrung nach kämpften Krieger besser, wenn sie wussten, wofür sie fochten. Er sollte ihnen reinen Wein einschenken. Tarkon stieg auf ein Podest nahe dem Schiffsbaum, der seine Äste in den Leib des Wolkensammlers streckte und dessen Wurzeln bis in den letzten Winkel des Schiffes reichten. Hier konnten ihn die meisten Männer vom Oberdeck sehen.

»Krieger, wir sind verraten worden! Draußen vor dem Wasserfall erwartet uns der Feind. Die Himmelsreiter der Unsterblichen überfallen in diesem Augenblick unsere Städte. Sie morden Frauen und Kinder. Vielleicht sind wir die Letzten, die noch Widerstand leisten. Noch nie konnten die Tyrannen, die sich Unsterbliche nennen, es ertragen, dass es Männer gibt, die frei denken und handeln. Deshalb sind sie hierhergekommen. Doch die Freiheit stirbt niemals! Und noch sind wir nicht besiegt! Nun werden wir ihnen zeigen, wie freie Männer kämpfen, und sie wieder einmal das Fürchten lehren! Sieg oder Tod!«

»Sieg oder Tod!«, nahmen die Männer seinen Schlachtruf auf. »Sieg oder Tod!«, hallte es durch die weite Hafenhöhle.

Der Wolkensammler löste die letzten Tentakel, mit denen er sich an den Ankerbalken festgeklammert hatte.

Tarkon trat zum Schiffsbaum, legte seine Hand auf die von tiefen Furchen durchzogene Rinde und schloss die Augen.

Eine schöne Rede war das. Die Stimme des Wolkensammlers schmeichelte sich in seine Gedanken. Du hast die Moral deiner Männer wieder aufgerichtet, aber ich fürchte, zu spät. War sie das wirklich wert? Warum hast du auf dein Weibchen so lange gewartet?

»Wenn ich das mit euch Wolkensammlern richtig verstanden habe, könnt ihr euch aus euch selbst heraus fortpflanzen. Ihr seid beides, Männchen und Weibchen, das ist doch richtig?«

Sternenfresser sagte nichts, doch Tarkon spürte die Zustimmung des riesigen Geschöpfs, während es langsam dem Wasserfall entgegenglitt.

Tarkon lächelte und klopfte mit der flachen Hand auf die Rinde des Schiffsbaums. »Genau deshalb wirst du niemals verstehen, warum ich auf Zarah und meine Kinder gewartet habe. Ganz gleich, wie viele Worte ich aufbiete, es überschreitet deinen Horizont.«

Rubal, der den Worten gelauscht hatte, sah ihn besorgt an. »Das ist kein guter Zeitpunkt, um ihn zu verärgern«, flüsterte der Flottenmeister.

»Ist er jemals nicht verärgert?« Tarkon stieg von dem Podest herunter und eilte dem Bug des Schiffes entgegen. Dort waren nebeneinander drei schwere Torsionsgeschütze aufgestellt, die Steine, groß wie ein Brustkorb, verschossen. »Hast du je einen Wolkensammler erlebt, der Gefallen daran findet, seine Artgenossen umzubringen?«

»Vielleicht haben ihn seine Brüder geärgert, als er noch ein kleiner Luftsack war und einem Adler zum Frühstück genügt hätte.«

»So wie sich Sternenfresser aufführt, hätten sie ihn dann wohl mehr als nur ein bisschen geärgert.«

Der Wolkensammler presste seine Flügel eng an den Leib und streckte Tentakel nach dem Höhleneingang aus. Die Fleischstränge spannten sich.

Tarkon griff nach der Reling. »Festhalten, Männer!«, schrie er laut heraus, wohl wissend, wie die Bestie den schützenden Hafen verlassen würde.

Wie ein Pfeil von der Sehne schnellte der Wolkensammler vor. Er brach durch den Schleier des Wasserfalls. Licht blendete Tarkon. Zunächst sah er nur unförmige Schemen, dann klärte sich sein Blick, während Rubal neben ihm Kommandos rief.

»Geschütze voraus ausrichten! Nehmt das vorderste Schiff unter Beschuss. Zielt auf die Bugbatterie!« Zahnräder drehten sich klackend, als die Steinschleudern in der Höhe justiert und ein wenig nach steuerbord ausgerichtet wurden.

Sie rasten mit hoher Fahrt dem Wolkensammler, der direkt vor ihnen lag, entgegen. Steuerbord und backbord von ihm trieben weitere Schiffe, ein viertes und fünftes leicht versetzt über ihnen.

Mit dumpfem Grollen rollten die Steine über die Führungsschienen der Torsionsgeschütze. Tarkon sah die Splitter, die sie aus dem Rumpf des Wolkenschiffes vor ihnen rissen. Eines der Geschosse flog dicht über das Deck hinweg und zerfetzte Wolkenschiffer und Bogenschützen.

Wie Faustschläge auf rohes Fleisch klangen die Treffer, die ihr Wolkensammler einsteckte. Doch er zuckte nicht zurück. Stattdessen schnellten zwei seltsam aussehende Tentakel Sternenfressers nach oben. Im Gegensatz zu seinen übrigen Fangarmen erinnerten sie an jene dicken Adern, die man oberhalb des Herzens fand, wenn man ein Schaf schlachtete. Beide drangen sie tief in die zwei Wolkensammler zu ihren Seiten ein. Warum griff Sternenfresser nicht den Wolkensammler unmittelbar vor ihnen an?

Das Schiff, dem sie entgegentrieben, wendete sanft, sodass es ihnen seine Breitseite zeigte und mehr Katapulte gegen sie zum Einsatz bringen konnte.

Pfeile prasselten rings um Tarkon nieder. Ein Wolkenschiffer, der mit einem Kameraden einen Korb mit einem großen Stein getragen hatte, ging schreiend in die Knie. Tarkon nahm die Stelle des Gefallenen ein und half, die massige Steinkugel auf die Führungsschiene des Geschützes zu wuchten, während der Rest der Besatzung an den Hebelrädern drehte, um die Arme der Steinschleuder erneut zu spannen.

Rubal trat an seine Seite und schützte ihn mit einem großen, wie eine Acht geformten Schild. Zwischen den Geschützen tummelten sich nun auch einige ihrer Bogenschützen. Sie zielten auf das Oberdeck des feindlichen Schiffes, das kaum fünfzig Schritt entfernt war.

Deutlich konnte Tarkon sehen, wie sich mit Federn geschmückte Krieger fertig machten, um ihr Schiff zu entern, sobald sie Bord an Bord lagen. Einige dunkle Gestalten huschten zwischen den Kämpfern. Sie waren in schwarze Felle gekleidet und trugen Helme, die an Jaguarköpfe erinnerten.

Tarkon fluchte stumm. Ausgerechnet ein Schiff der Zapote. Er kannte den Ruf, den diese schwarzen Bestien hatten. Gegen jeden anderen hätte er lieber gekämpft.

Wieder rollten die Steinkugeln grollend davon und sausten dem Schiff vor ihnen entgegen, das mit einer Breitseite aus mindestens zehn Geschützen antwortete. Im nächsten Augenblick verwandelte sich das Deck um ihn herum in ein Chaos aus fliegenden Holzsplittern. Schreiende Verwundete krochen betäubt von den Treffern über Deck und tasteten nach abgetrennten Gliedmaßen, die zwischen den Glücklicheren lagen, die auf der Stelle getötet worden waren.

Tarkon sah einen Wolkenschiffer, dem beide Füße weggerissen worden waren, neben seinem Gefährten weiterhinken, mit dem er einen Korb mit einer behauenen Steinkugel trug.

Der Himmelspirat wischte sich Blut aus dem Gesicht. Eines der drei Geschütze war getroffen und aus der Verankerung an Deck gerissen worden. Ein Wolkenschiffer, der unter dem schweren Holzrahmen eingequetscht lag, schrie gellend nach seiner Mutter.

Tarkon stieg über den Mann hinweg und half an einem der Hebelräder der verbliebenen Geschütze aus. Beide Schiffe waren sich jetzt so nah, dass sich die Tentakel der Wolkensammler zu bekämpfen begannen und vereinzelt Pechvögel von Deck rissen und in die Tiefe schleuderten.

Zwischen den Fleischsträngen hindurch sah Tarkon die beiden Wolkenschiffe schräg über ihnen, die Sternenfresser zuerst angegriffen hatte. Beide Himmelsrochen sahen aus wie Ziegenlederschläuche, aus denen bereits die Hälfte des Wassers ausgelaufen war. Blut sprühte in Fontänen aus den Flanken der Himmelsgiganten, während sie selbst in der kurzen Zeit, die Tarkon zu ihnen aufblickte, noch weiter zusammenschrumpelten. Die Schiffe, die sie trugen, hatten bereits Schlagseite bekommen. Nicht vertäutes Frachtgut stürzte über Bord.

Er wünschte sich, so ginge es dem Gegner, der unmittelbar vor ihnen lag. Dann wäre jetzt der Weg frei, um durch die Linie der Feinde zu brechen. Aber Sternenfresser zog es vor, sich im Gemetzel Wolkensammler gegen Wolkensammler zu bewähren. Dass dies bedeutete, dass sie geentert würden, war ihm offensichtlich egal. An die Besatzung aus Menschen, die er trug, verschwendete er wohl keinen Gedanken.

Die beiden verbliebenen Buggeschütze schossen trotzig auf den Feind. Eine Geste, die eine weitere Salve der Zapote herausforderte. Wieder schlugen die Kugeln blutige Gassen. Eine flog so dicht an Tarkon vorbei, dass er den Luftzug auf dem Gesicht spürte. Dem Mann, der neben ihm am Hebelrad stand, fehlte plötzlich der Kopf.

»Du musst hier weg!«, schrie Rubal ihm ins Ohr.

Tarkon schüttelte trotzig den Kopf. Bisher hatte er immer dort gekämpft, wo es am gefährlichsten war. Das würde er in seiner letzten Schlacht nicht ändern.

Steine, groß wie Taubeneier, prasselten dicht wie Hagelschlag auf sie nieder. Entlang der Reling des Flugdecks der Zapote hatten über hundert Krieger Stellung bezogen, die mit Lederschlingen Steine auf sie schleuderten. Tarkon wünschte, er hätte seinen Helm mitgenommen. Er wusste zu gut, was Treffer mit solchen Steinen anrichten konnten. Sie waren genauso tödlich wie Schwerthiebe.

Ein Fangarm schwang über ihn hinweg. Der Himmelspirat trat zurück und zog sein Schwert. Die beiden Schiffe hatten sich auf weniger als zehn Schritt genähert. Ein abgetrennter Fangarm streifte ihn. Blut und Schleim spritzten über das Deck. Kleine Jungen, kaum zwölf, schleppten Eimer mit Sand heran und streuten ihn über das Deck, damit der Boden nicht zu schlüpfrig für die Kämpfer wurde.

Plötzlich stieß Sternenfresser schrille, pfeifende Laute aus. Goldgelbe, dampfende Flüssigkeit troff dicht an der Reling vorbei von seinem Rücken. Handgroße Hautfetzen glitten durch den dampfenden Vorhang.

»Siedendes Öl«, keuchte Rubal.

Die Schmerzenslaute des Wolkensammlers wurden noch höher, noch dringlicher. Er zuckte zurück. Tarkon sah, wie Tentakel zum Durchgang hinter dem Wasserfall griffen. Die Bestie, die ihr Schlachtschiff trug, versuchte, sich in die Sicherheit des Höhlenhafens zurückzuziehen.

Brandpfeile zogen dünne Rauchfahnen durch den stahlblauen Morgenhimmel. Über ihnen war ein Geräusch zu hören, als würde ein Stück Fleisch in eine heiße Pfanne gelegt.

Eine weitere Salve schwerer Steinkugeln schmetterte in den Schiffsrumpf und ihren Wolkensammler. Die Knäuel kämpfender Tentakel trennten sich.

Dünne Rinnsale aus Flammen troffen vom Rücken Sternenfressers. Als sie durch den Schleier des Wasserfalls glitten, zischte es und Dampfwolken waberten zum Deck hinab. Dann umfing sie das schützende Zwielicht der Hafenhöhle.

Tarkon stützte sich müde auf die Trümmer des zerstörten Geschützes. »Ich brauche einen Bericht, wie viele Männer wir verloren haben und wie stark das Schiff beschädigt ist.« Er blickte zum Geäst des Schiffsbaums, das von Geschossen zerfetzt war. »Ich werde mit Sternenfresser sprechen, wie es ihm geht. In der Nacht werden wir noch einen Ausbruchsversuch wagen.«

Ohne Ruhm

Necahual blickte auf die Trümmer der beiden abgestürzten Schiffe. Die Kadaver der Wolkensammler, die sie einst getragen hatten, verdeckten sie halb. Wie riesige Leichentücher wirkten die Hautsäcke, die alles waren, was von zwei stolzen Himmelsrochen geblieben war. Selbst jetzt, wo ihr erstes Scharmützel seit mehr als drei Stunden beendet war, spürte der Unsterbliche die Empörung und den Schrecken seines Wolkensammlers, auch ohne mit ihm direkt in Verbindung zu stehen.

Er hatte diesen Kampf gewählt, weil er den Ruhm ernten wollte, Tarkon zur Strecke gebracht zu haben, dachte er bitter. Stattdessen hatte er Schande auf sich geladen. Trotz vielfacher Übermacht hatte er den Himmelspiraten nicht besiegt, sondern lediglich in sein Versteck zurückgetrieben. Ganz sicher würde Tarkon im Schutz der Nacht einen zweiten Ausbruchsversuch wagen. Doch mit ein wenig Glück würde er das vereiteln. Was er zu tun gedachte, war zwar nicht ruhmreich, aber effektiv.

Necahual trat an den Rumpf seines Schiffes, das Tanzende Schneeflocken unter Wintermonden trug. Er blickte über die Narben, die Tarkons Geschosse hinterlassen hatten. Die Toten waren fortgeschafft, das Deck war gewischt, doch das Blut hatte dunkle Schatten auf dem Holz hinterlassen. Ebenso wie ein Schatten auf der Seele seines Wolkensammlers verblieben war.

Der Unsterbliche legte die Hand auf einen Wurzelstrang des Schiffsbaums, der sich in die Reling gegraben hatte. Er hoffte darauf, Verbindung zu Tanzende Schneeflocken unter Wintermonden aufzunehmen. Er brauchte ihn. Brauchte, dass er den anderen Wolkensammlern sagte, was zu tun war.

»Willst du deine toten Brüder rächen?« Necahual sprach langsam und leise, betonte jede Silbe überdeutlich. »Willst du den bestrafen, der das getan hat?«

Rache ist kein Teil unseres Denkens …

»Dann wirst du also erlauben, dass es wieder geschieht?«

Schweigen.

Necahual lauschte auf die Rufe der Männer, die in den zerschmetterten Wracks nach Überlebenden suchten. Er selbst war dort unten gewesen. Hatte geholfen, Verletzte zu bergen. Nicht viele hatten den Sturz aus dem Himmel überstanden. Vor allem hatte er sich die toten Wolkensammler angesehen. Er hatte ihre Haut aufgeschnitten, um zu verstehen, was mit ihnen geschehen war. Es gab kein Fleisch mehr, keine Blasen, in die jene Gase eingeschlossen waren, die die Wolkensammler schweben ließen. Alles hatte sich zu einem dünnflüssigen Brei aufgelöst, der überall rings um die toten Himmelsgiganten verspritzt war.

Das Gift, das dies angerichtet hatte, würde die Herrschaft der Wolkensammler über die Himmel Nangogs beenden. Kaum dass sie sich eine Waffe geschaffen hatten, die den Drachen der Daimonen trotzen konnte, hatten sie diese Waffe auch schon wieder verloren. Die Ära der Wolkensammler war beendet, wenn sich herumsprach, wie dieses Gift zu brauen war, das Tarkons Wolkensammler in seine Brüder gepumpt hatte.

Was willst du tun?

Necahual war überrascht, dass Tanzende Schneeflocken unter Wintermonden ihn noch einmal in Gedanken ansprach. Er deutete auf die mächtige Felsnadel über dem Wasserfall. Arbeiter waren dort zugange. Aber sie würden viel zu lange benötigen, um das zu erreichen, was der Unsterbliche im Sinn hatte.

»Es gibt keine Felsspalten auf der Hochebene dieses Plateaus. Soweit ich weiß, führt nur ein einziger Tunnel dorthin. Und es gibt den Ausgang hinter dem Wasserfall.«

Wieder schwieg der Wolkensammler lange Zeit. Necahual wollte sich schon abwenden, um sich anderen Pflichten zu widmen, als schließlich doch noch eine Antwort kam. Ich verstehe. Tun wir es jetzt. Meine Brüder werden helfen.

Ohne einen Befehl erhalten zu haben, schwebte er näher an den Wasserfall heran. Alle Wolkensammler in der Nähe des Tafelbergs folgten ihm. Sie streckten ihre stärksten Tentakel nach dem Felsturm. Fleischstränge, so dick wie Männerleiber. Mehr als ein Dutzend der Himmelsgiganten hatte sich Tanzende Schneeflocken unter Wintermonden angeschlossen.

Die Arbeiter, die mit Hacken den Fuß des Felsturms bearbeitet hatten, flohen in Panik, als das Gestein zu knirschen begann.

Die Wolkensammler schlugen mit ihren weit ausgreifenden Schwingen. Kraftvoll, zornig. Staub und Geröll ergossen sich in Sturzbächen aus Spalten der verwitterten Felsnadel.

Necahual sah, wie Tentakel von innen durch den Wasserfall griffen. Der Feind musste mitgehört haben, was die Wolkensammler abgesprochen hatten.

Plötzlich neigte sich die Felszinne leicht zur Seite. Schwere Felsbrocken stürzten von ihrem Fuß in den Wasserfall. Dann geriet der ganze Felsturm ins Rutschen. Er stürzte vor den Eingang des verborgenen Höhlenhafens. Eine Wolke aus Staub rollte Necahual entgegen und nahm ihm die Sicht.

Das Fell des Löwen

Es war also vorüber, dachte Artax. So viele Jahre hatte Tarkon sie beschäftigt. War unauffindbar, ihnen immer einen Schritt voraus. Und nun würde ihm sein Versteck zum Mausoleum werden.

»Du bist sicher, dass er von dort nicht entkommen kann?«, fragte Labarna misstrauisch. Der Herrscher Luwiens trug ein schäbiges, altes Wolfsfell um seine Schultern, das in seltsamem Gegensatz zur prächtigen Rüstung eines Unsterblichen stand. Artax kannte keinen Mann, der größer als Labarna war. Er war wahrlich ein Hüne unter den Menschen. Den Kopf hatte der Herrscher sich kahl geschoren, nur zwei lange Zöpfe an seinen Schläfen waren von seinem Haar geblieben. Er sah zum Fürchten aus, aber er war gerecht.

»Wir haben einen geheimen Tunnel gefunden, der von Tarkons Palast zur Hafenhöhle führt. Der Tunnel wird bewacht. Durch ihn ist niemand gekommen«, erklärte Arcumenna.

»Und wenn es weitere Tunnel gibt?«, mischte sich Subai ein. »Dein Spitzel hat sich geirrt.« Der Unsterbliche der Ischkuzaia sah an Artax vorbei zu Hauptmann Lamgi. »Vielleicht hat er sich ja auch noch in anderen Dingen geirrt?«

»In welchen?«, fragte Artax herausfordernd. Er konnte Subai nicht leiden. Shaya hätte an seiner Stelle herrschen sollen. Natürlich wäre das nie geschehen, selbst wenn dieser intrigante Drecksack beizeiten gestorben wäre. Nie war eine Frau eine Unsterbliche geworden. Dabei wäre Shaya so unendlich viel geeigneter.

»Er hat zum Beispiel vergessen, uns zu sagen, was dieser verdammte Wolkensammler Tarkons so alles kann«, fuhr Subai fort. »Ich würde mich wirklich gerne für eine Nacht oder zwei alleine mit deinem Hauptmann unterhalten.«

Nun sahen alle Unsterblichen Artax an. Sie waren unzufrieden. Sie hatten gesiegt. Aber es war nicht glorreich gewesen. In den sieben Städten waren sie kaum auf Widerstand gestoßen. Nur Necahual hatte eine Schlacht schlagen müssen, und auch sie war anders verlaufen, als sie erwartet hatten. In gewisser Weise hatten sie sich mit der riesigen Flotte, die über den Tafelbergen schwebte, lächerlich gemacht. Sie hatten einen Löwen aufgeboten, um eine Maus zu jagen. Aber das lag nicht an Lamgi. Sie waren es, die so versessen darauf gewesen waren, Tarkon zu stellen. Jeder Unsterbliche hatte an dem Ruhm teilhaben wollen, den berüchtigten Himmelspiraten zu stellen. Und nun zeigte sich, dass, wenn sieben diesen Ruhm teilten, nichts mehr blieb.

»Wenn einer von euch einen solchen Wolkensammler besäße, mit wie vielen Männern würde er dieses Geheimnis teilen?«, brach Artax schließlich die Stille.

Die Unsterblichen schwiegen weiter. Doch er gab ihnen Zeit, über seine Frage nachzudenken. Sie hatten sich auf dem Schiff, das Tanzende Schneeflocken unter Wintermonden trug, versammelt, dem Flaggschiff der Zapote. Deutlich sah man die Verwüstungen der Schlacht an Bord. Die Reling war von Steinkugeln zerfetzt. Die Trümmer der beiden abgestürzten Schiffe lagen unter ihnen. Sie standen ganz vorne am Bug, sodass sie die Bergflanke, an der einmal der Zugang zu Tarkons Höhlenhafen gelegen hatte, deutlich sehen konnten. Riesige Felsbrocken, zwischen denen ein bräunliches Rinnsal zum Fuß des Tafelbergs floss, waren alles, was von dem Wasserfall und dem so geschickt versteckten Zugang zum Hafen geblieben war.

»Nun? Macht ihr es wirklich unserem Totenträger zum Vorwurf, dass er nicht in die größten Geheimnisse Tarkons eingeweiht war? Wie hätte er von dem Tunnel im Palast wissen sollen? Oder von den Fähigkeiten von Tarkons Wolkensammler? Was stört euch wirklich? Dass das Fell eines Löwen, verteilt unter sieben Herrschern, eine ziemlich kümmerliche Beute ist? Braucht ihr nun einen Sündenbock? Wir sind Unsterbliche! Hier auf diesem Deck stehen die Herrscher über zwei Welten versammelt. Bitte sagt mir, dass wir nicht so klein sind!«

Volodi klatschte. Er war der einzige der Unsterblichen, der saß. Artax hatte gehört, dass der Drusnier verwundet worden war. Es gab Gerüchte, dass er die Rüstung der Götter nicht mehr trug. Artax ahnte, warum.

»Bravo, mein Freund«, rief Volodi. »Er ist sich scharfsinnig wie immer. Ist hier sich noch jemand, der sich möchten pflegen mit sich Eitelkeiten, oder wollen wir uns reden wie Männer? Sehen wir sich Wahrheit in Auge. Dieser Sieg ist sich nicht nix groß. Ich habe mir mich zwei Pfeile gefangen. Das war mich mein Lohn. Was wollt ihr euch geben?« Er grinste die anderen frech an. »Du, Arcumenna, hast dir dich Weib geholt, wie mich hörte. Du redest hier nicht nix mehr. Deine Beute liegt sich schon in dein Bett.«

Auch wenn er zu viel trank und nur noch ein Schatten des Mannes war, der er einmal gewesen, mochte Artax Volodi immer noch unter allen Unsterblichen am liebsten. Er trug sein Herz auf der Zunge. Bei ihm musste er nie eine Intrige befürchten.

»Du versoffener, dreckiger …«, setzte Arcumenna an, wurde aber von Labarna unterbrochen.

»Das genügt! Wir alle wissen, dass es wahr ist, was er sagt. Du hast deine Beute, Arcumenna. Du hast hier nichts mehr zu fordern.«

»Ich fordere, hierbleiben zu dürfen.« Subai deutete mit der Reitgerte, die er stets bei sich trug, auf den Steinschlag. »Ich werde dafür sorgen, dass dort nichts mehr hervorkriecht, was für immer begraben sein soll. Ich lasse die Tunnel verfüllen, die zum Himmelshafen führen. Meine Flotte bleibt hier, bis ich ganz sicher bin, dass es kein Schlupfloch mehr gibt, durch das Tarkon entfliehen kann. Und wenn dies getan ist, fordere ich für mich die Ehre ein, als Tarkons Bezwinger zu gelten. Ich bin dann der Mann, der für seinen Tod verantwortlich ist.«

»Ein dreckiger Leichenfledderer bist du, sonst nichts«, zischte Arcumenna.

Subai bedachte ihn mit einem abfälligen Lächeln. »Ein Hurenbock glaubt, mir Vorhaltungen machen zu können? Du, der du …«

»Das genügt!«, ging Aaron dazwischen. »Ich kann damit leben, Subai diesen Ruhm zu überlassen. Wenn jemand Einwände hat, möge er jetzt sprechen. Dieses Gezänk ist unser nicht würdig! Ich hoffe, ihr erinnert euch, wer ihr seid.«

»Ich bin der Einzige, der hier wirklich eine Schlacht geschlagen hat.« Ihr Gastgeber Necahual sah Artax herausfordernd an. »Ich fordere etwas.«

Der Unsterbliche seufzte leise. Warum war es nie einfach mit diesen Bastarden. »Und was?«

»Ich will die Daimonin, die am Tag unserer Abreise aus der Goldenen Stadt versucht hat, durch die Goldene Pforte zu schlüpfen. Ich möchte sie in Anwesenheit meiner ruhmreichen Krieger dem Gefiederten opfern. Ich weiß, dass sie in deinen Kerkern gefangen gehalten wird, Aaron. Wirst du sie mir bei unserer Rückkehr ausliefern?«

Es lag Artax auf der Zunge zu fragen warum, aber er ahnte, dass er eine Antwort erhalten würde, die nur für einen Zapote einen Sinn ergab, und so schwieg er. Kein anderer der Herrscher erhob Einspruch, obwohl die meisten Necahual verwundert ansahen.

»Sobald wir an den Ankertürmen der Goldenen Stadt anlegen, wird sie dir überstellt werden.« Artax hatte ein ungutes Gefühl bei dieser Entscheidung. Unter allen Unsterblichen war Necahual derjenige, den er am wenigsten einzuschätzen vermochte. Er hatte das Gefühl, dass mehr hinter dieser Bitte steckte als nur ein Opferritual.

Ein leeres Herz

Ilmari hörte dem endlosen Palaver der Unsterblichen nicht länger zu. Diesen Abend hatte er sich anders vorgestellt. Es war vollbracht. Alle Einwohner Tiefwassers waren auf das Flaggschiff des Unsterblichen Aaron gebracht. Sie waren in Sicherheit. Er wusste, dass es bei der Einnahme der anderen Städte rau zugegangen war. Es hatte viele Tote gegeben, Gewaltexzesse jeglicher Art … Er hatte gehört, wie die Hauptleute der anderen Unsterblichen sich mit ihren Untaten auch noch brüsteten. Das Flaggschiff der Zapote war voller Krieger aus allen Teilen Daias. Und die meisten waren weitaus zufriedener als ihre Unsterblichen. Sie waren auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen, hatten geplündert und sich alles genommen, was ihr Herz begehrte. Für sie war heute ein guter Tag gewesen.

Doch Ilmari fühlte sich leer. Er hatte es genossen, Solomon den Tod zu geben, den er verdient hatte. Doch dieses Hochgefühl vermochte die Leere nicht zu füllen, die der Tod seiner Kinder und Ummes in ihm hinterlassen hatte. Wären sie nicht gestorben, er wäre in Tiefwasser geblieben und ein zufriedener Greis geworden. Hätte er wählen können, wäre dies das Leben gewesen, das er begehrt hätte.

Aber er hatte keine Wahl gehabt. Nur seine Rache.

Er blickte in die Runde der streitenden Unsterblichen. Ein Hauptmann Aarons zu sein würde ihn nicht erfüllen. Auf Ansehen und Ehre legte er keinen Wert. Er hatte immer nach seinem ganz eigenen Begriff von Ehre gelebt. Was andere von ihm dachten, war ihm meist egal. Nur vor sich selbst wollte er bestehen.

Aber wie konnte er das noch? Einst hatte er einem Unsterblichen sein Wort gegeben, etwas für ihn zu tun. Dieses einst abgelegte Versprechen war ihm jahrelang egal gewesen. Doch nun, da ihm unmöglich war, der Mann zu sein, der er gerne gewesen wäre, der liebende Familienvater, welche Wahl hatte er da noch? Er konnte nur wieder der Mann sein, der er einst war, der kaltblütige Mörder. Wenn er dies akzeptierte, musste er auch dem Kodex des Mörders folgen. Sein Wort war alles. Und es gab noch einen Mord, den er versprochen hatte, für den er Geld genommen hatte, ohne ihn je auszuführen.

Ilmari trat einen Schritt von Aaron zurück. Dann noch einen. Niemand scherte sich darum. Er wurde hier nicht länger gebraucht. Wenig später verschwand er in der Menge der Hauptleute, Hofschranzen und Krieger. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er sich für den König der Diebe gehalten hatte. Ob dies immer noch galt?

Bestohlen

Endlich waren sie alle fort! Necahual trat durch den Vorhang aus Perlschnüren, der sein Schlafgemach von dem Teil seiner Kabine trennte, in dem er sonst seine Vertrauten und die Priester des Gefiederten empfing. Hierher aber kam niemand. Dieser Ort gewährte ihm die seltenen Momente der Abgeschiedenheit, die er so sehr brauchte, um das Raubtier in sich zu beruhigen. Er war ein Jaguarmann gewesen, und auch wenn er nun zum Unsterblichen erhoben war, würde dieser Teil in ihm nie vergehen. Er sehnte sich danach zu jagen, das Blut seiner Beute zu vergießen. Viel zu lange hatte er das nicht getan. Ihn quälten Träume voll ungestillter Gier. Niederringen konnte er dies nur, wenn er sich in die Einsamkeit eines geschützten Ortes zurückzog und meditierte.

So viele Stunden unter Fremden zu sein, ihre Heucheleien zu ertragen, Gespräche durchzustehen, in denen allenfalls eines von hundert Worten zählte, das war nicht seine Art. Zuletzt hatte er sich immer wieder vorgestellt, diesem niederträchtigen Arcumenna die Kehle herauszureißen. Auch dieser Mann wurde von Trieben geleitet, so wie er. Doch dessen Trieb nach Frauen konnte Necahual nicht akzeptieren. Er wusste, dass auch einige seiner Jaguarmänner diesen Begierden huldigten. Ihnen wurde Fleisch vorgeworfen. Frauen, die ihr Leben verwirkt hatten und deren einzige Aufgabe es noch war, den Jaguarmännern und Adlerkriegern zu Gefallen zu sein. Seine Schwester Quetzalli war nach ihrem ersten großen Verrat Fleisch gewesen. Er wusste, was das bedeutete. Er hatte die Narben auf ihrem Leib gesehen.

Mit einem Seufzer wandte er sich zu seiner Wand der stolzen Erinnerungen. Auch sie half ihm, dunkle Gedanken zu vertreiben und das Tier, das in ihm lauerte, niederzuringen. Dort stand seine Jaguar-Rüstung, die er so viele Jahre wie eine zweite Haut getragen hatte. Er legte sie nur noch sehr selten an. Es ziemte sich nicht für einen Unsterblichen, stolz darauf zu ein, wie ein Tier werden zu können, aber er bereute auch nicht, was er getan hatte, als er noch diese Rüstung getragen hatte.

Daneben ruhte auf einem Holzgestell eine Kopie des Stabs, den Quetzalli für ihren barbarischen Ehemann geschnitzt hatte. Necahual hatte nie verstanden, was sie an diesen goldhaarigen Dummkopf gebunden hatte. Aber in den letzten Tagen ihres Lebens hatte sie gehandelt wie eine Hohepriesterin des Gefiederten. Die Art, wie sie versucht hatte, Unglück von ihrem Mann und seinem Reich abzuwenden, war selbstlos und mutig gewesen. Damit hatte sie all seinen Ärger über sie ausgelöscht.

Sein Blick wanderte gerade weiter zum Schädel des ersten Mannes, den er getötet hatte, als er stutzte. Er sah noch einmal zu dem Ständer, auf dem die letzte Nachricht seiner Schwester lag. Auf dem Sockel des kleinen Holzgestells sollte der Dolch liegen, den Volodi ihm geschenkt hatte. Ein Geschenk zweifelhafter Intention. Immer wenn er diese Waffe berührte, überkam ihn das Gefühl, dass etwas Dunkles mit ihr verbunden war. Vielleicht ein Fluch … Vielleicht war sie auch nur für ruchlose Taten genutzt worden. Er trug sie nicht oft.

Nun war der Dolch verschwunden! Jemand war in seiner Abwesenheit in sein Allerheiligstes eingedrungen. Den einzigen Platz an Bord dieses Schiffes, der nur ihm gehörte, den er mit niemandem teilte!

Er spürte, wie das Tier sich in ihm regte. Spürte, wie es danach verlangte, diesen Frevel durch Blut zu sühnen. Wütend blickte er durch den Perlvorhang hindurch zur Tür, die auf den Flur führte. Dort standen ausgesuchte Männer, um über ihn und seinen Frieden zu wachen. Sie hatten versagt! Sie waren nichtswürdige …

Er ließ sich auf sein Bett nieder. Zorn war ein schlechter Ratgeber. Es war ganz gewiss unmöglich, an diesen Wachen vorbeizukommen. Der Dieb musste auf einem anderen Weg hierhergelangt sein.

Aufmerksam sah er sich in der kleinen Kammer um. Es gab zwei Fenster. Beide zu klein, als dass ein Mann oder auch nur ein Kind hätte hindurchsteigen können. Vielleicht war ja ein Daimon gekommen?

Unruhig erhob er sich wieder. Eigentlich waren die Fenster zu seiner Kammer von außen nicht zu öffnen … Er entriegelte das Fenster, das dem Holzgestell näher lag, und untersuchte den Rahmen, in den dünn gegerbte Tierhaut eingelassen war, sodass blasses Licht hindurchfallen konnte. Das Holz war durch die Witterung gedunkelt. Unten am Rahmen fand er eine leichte Schramme. Vielleicht war ein sehr schmaler Dolch durch den Spalt zwischen Rahmen und Bordwand geschoben worden, um von außen den Sperrriegel zur Seite zu drücken. Und da war noch etwas … Er beugte sich vor und griff mit spitzen Fingern danach. Ein Stofffetzen. Prüfend rieb er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Feines Leinen. Das war kein Stoff, wie ihn niedere Handlanger trugen. Es musste ein Hauptmann oder ein Hofbeamter gewesen sein, der sich am helllichten Tag an der Außenwand des Wolkenschiffes abgeseilt hatte, um ihm den Dolch zu stehlen.

Was steckte dahinter? War dieser Einbruch etwa im Auftrag eines der Unsterblichen verübt worden? Sollte er dem nachgehen, oder war es am Ende vielleicht eine günstige Fügung des Schicksals, dass er diesen Dolch nicht mehr besaß?

In den nächsten Tagen würde er keine Zeit haben, sich über den Dieb Gedanken zu machen. Auf der Reise hierher war ihm der Gefiederte erschienen und hatte ihm aufgetragen, die Daimonin zur Opferung in die Kerker des Tempels überstellen zu lassen. Es wäre das Erste, worum er sich kümmern würde, wenn er wieder in der Goldenen Stadt war. Er würde seinen Gott nicht enttäuschen! Allein das zählte jetzt!

In der Scheisse stehen

Sie senkten verängstigt die Köpfe, als Artax das Flugdeck überquerte. Überall waren sie jetzt, Flüchtlinge aus den Himmelsstädten Tarkons. Die meisten einfache Bauern. Ein Bündel Decken, mehr war ihnen nicht geblieben. Er war auch einmal so gewesen. So lange war das nun her.

»Unsterblicher!«

Lamgi bewegte sich durch die Menge auf ihn zu. Er schien gehetzt. Artax seufzte. Dieser Tag sollte endlich zu Ende sein.

»Unsterblicher?«

Artax hob abwehrend die Hände. »Was es auch ist, es wartet bis morgen!«

Lamgi blieb nicht stehen. Ja, er stieß die Flüchtlinge grob zur Seite. Artax hörte, wie eine Frau in seiner Nähe ängstlich vom Totenträger flüsterte. Verärgert wandte er sich Lamgi zu. »Was es auch ist, es kann bis morgen warten«, sagte er entschieden.

Lamgi blieb stehen. Sein Blick schweifte über das Deck. Er wirkte wie ein Mann, der gerade aus einem schweren Traum erwacht war. Langsam nickte er. »Ihr habt recht, Unsterblicher. Bitte verzeiht, dass ich Euch bedrängt habe.«

Artax antwortete darauf nicht. Er war zu müde. An Tagen wie diesen hatte er das Gefühl, dass jeder Blick, der auf ihm ruhte, von seiner Lebenskraft zehrte. Und es sahen ihn Hunderte Flüchtlinge an. Er stieg in den Bauch des Schiffes hinab, folgte Fluren, deren Wände nur aus Segeltuch bestanden und durch die die Gerüche ungewaschener Krieger drangen. Schon ohne die Flüchtlinge war sein Flaggschiff ein ungemütlicher, hoffnungslos überfüllter Ort. Aber jetzt … Endlich, schon nahe dem Heck, wurden die Segeltuchwände durch Holz abgelöst. Hier waren die bedeutendsten Berater und Hauptleute untergebracht. Ganz am Ende des Ganges aber lag die rote Tür, die zu durchschreiten er sich schon seit Stunden gewünscht hatte.

Seine Leibwachen blieben stehen. Die letzten Schritte tat er ohne Begleitung. Er drehte den schweren Messingring, und seine eigene kleine Welt tat sich auf. Seine Kajüte war, gemessen an allen anderen Quartieren an Bord, von verschwenderischem Luxus. Sie erstreckte sich über die gesamte Breite des Schiffes und war sieben Schritt tief. Ein kleiner Palast mit großen Fenstern aus bleigefasstem Kristallglas.

Shaya erwartete ihn. Sie lag unbekleidet auf dem großen Bett vor den Fenstern. Und ohne an ihre Nacktheit zu denken, ließ sie mehrere Lampen brennen. Wolkenschiffe, die womöglich hinter ihnen ankerten, wären Aussichtsplattformen auf alles, was in dieser Kajüte geschah.

Sie sah von einem jener seltsamen Bücher auf, die sie so gerne aus den Städten am Seidenfluss kommen ließ. Sie bestanden aus flachen, beschrifteten Knochen, die durch dünne Fäden miteinander verbunden waren. Ein unbedachter Betrachter mochte sie auf den ersten Blick für eine ausgerollte Fußmatte halten. Doch sie erzählten von den tieferen Geheimnissen der Heilkunst. Sie wurde niemals müde, darin zu lesen, ebenso wie sie nie auf ihre täglichen Waffenübungen verzichtete. Sie war eine seltsame Frau. Den Tag über tat sie alles, um noch besser darin zu werden, Wunden zu schlagen, und ihre Nächte widmete sie der Kunst, Wunden zu heilen.

»Kein erfreulicher Tag, nicht wahr?«

Er lächelte müde und begann, an den Schnüren seitlich seines Brustpanzers zu nesteln. Sie brauchte stets nur einen einzigen Blick, um seine Stimmungen einzuschätzen.

»Wir haben Tarkon lebendig in seinem Berg begraben. Aber es wäre besser gewesen, seinen Kopf zu haben, um ihn herumzuzeigen. Dein nichtsnutziger Bruder wird hierbleiben, um den Berg zu bewachen.«

Sie lachte. »Wollen wir wetten, dass er darauf hofft, doch noch Tarkons Kopf zu bekommen? Sind die Tunnel zur Hafengrotte schon verfüllt?«

»Nein.«

Shaya erhob sich, um ihm zu helfen, seine Rüstung abzulegen. »Möge der Weiße Wolf den Kriegern Ischkuzas gnädig sein. Dir ist klar, was er unternehmen wird?«

Er nickte. »Subai wird versuchen, den Hafen zu stürmen und sich seine Trophäe zu holen.«

»Warum bringen die verfluchten Daimonen ihn nicht um?«, schimpfte Shaya, während sie ihm den geöffneten Lederpanzer abnahm und an das Gerüst neben der Tür hängte.

»Den Daimonen ist klar, dass sie uns einen Gefallen täten. Ganz gleich, wer deinem Bruder folgt, er wäre ein besserer Herrscher.«

Sie schnaubte verächtlich. »Du kennst meine anderen Brüder nicht.«

Er öffnete die mit Schnallen verschlossenen Schaftstiefel. »Manchmal denke ich, ich möchte niemanden mehr kennenlernen. Ich bin schon viel zu vielen Menschen begegnet. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich nach Belbek sehne. Nach einer kleinen Welt, in der ich jeden Menschen schon mein Leben lang kenne.«

»Du hast die Angewohnheit, gelegentlich von diesem Traum zu sprechen …«

Er klatschte ihr mit der flachen Hand auf den Hintern. »Und du hast mal wieder eine viel zu scharfe Zunge.« Er hob die Arme. »Ich bitte um Gnade. Ich bin zu müde für Wortgeplänkel. Du hast gewonnen.«

»Ich bin eine Ischkuzaia. Das Wort Gnade kennt mein Volk nicht.«

Er ließ sich mit einem Seufzer rücklings auf das Bett sinken, und sie zog ihm die Stiefel aus. »Ich würde gerne einen Boten zu den Götterdrachen schicken.«

»Du willst sie füttern?«

»Kannst du heute gar nicht ernst sein?«, murrte er unwillig und ließ zu, dass sie ihm die enge Lederhose vom Leib zog. »Wir haben die Daimonen in drei großen Schlachten besiegt. Erst im Goldenen Netz, dann hast du diese Mannpferde verbrannt, und heute haben wir den liebsten Rebellen der schlafenden Göttin besiegt. Es sieht nicht gut für sie aus. Zu verhandeln wäre klug.«

»Glaubst du, Echsen, ganz gleich wie groß sie sind, denken wie Menschen? Sie werden eine große Schlacht suchen. Ich bin sicher, sie haben begriffen, dass sie einen langen Krieg nicht gewinnen können. Also werden sie alles in einer einzigen, entscheidenden Schlacht wagen. Und wir waren so dumm, ihnen heute zu zeigen, wie mächtig unsere vereinigten Flotten sind. Das wird ihnen helfen.«

Shaya ging zum Tisch in der Mitte des Raums und füllte einen goldenen Becher mit Wein. Sie nippte kurz daran, dann reichte sie ihm den Trunk. »Was würdest du den Götterdrachen denn anbieten, um ihnen einen Frieden schmackhaft zu machen. Einmal abgesehen von deinem Boten …«

»Wir könnten uns langsam aus Nangog zurückziehen. Ich glaube, in zehn Jahren könnten wir es schaffen, jede Siedlung aufzugeben und allen, die hier sind, in ihrer Heimat wieder einen Platz zu geben.« Er kostete von dem Wein. Er schmeckte angenehm beerig. Vielleicht ein klein wenig zu süß.

»Daia kann ohne das Fleisch und Korn Nangogs nicht mehr leben«, bemerkte sie trocken.

»Nein!«, protestierte er leidenschaftlich und verschüttete etwas vom Wein auf die Bettlaken. »Das ist die falsche Art zu denken. Weißt du, warum es uns in der Heimat an Essen mangelt? Weil zu viele Männer unter Waffen stehen und hierherkommen, um zu kämpfen und um viel zu jung zu sterben. Wären sie alle auf den Feldern, um als Bauern und Viehhirten zu arbeiten, dann würde daheim niemand hungern.«

»Du bist ein Bauer«, sagte sie mit einem Lächeln in der Stimme. »Aber es sind nicht Bauern, die die Geschicke der Welt lenken. Der Krieg wird weitergehen. Und die Drachen haben keine andere Wahl, als eine alles entscheidende letzte Schlacht zu suchen, solange ihre Heere noch stark genug sind. Ihnen läuft die Zeit davon, und ich sage es noch einmal: Ich bin mir sicher, dass sie das wissen.«

»Dann wäre es doch umso vernünftiger, wenn sie mit uns über Frieden verhandeln würden.«

»Vernünftig – ja. Aber ihr Stolz wird ihnen im Weg stehen. Und deine Unsterblichen werden auch keinen Frieden wollen. Wir haben zu lange gekämpft und gelitten, um jetzt abziehen zu können.«

»Aber es wird nur immer mehr Tote geben«, begehrte er auf.

»Dreh dich auf den Bauch.« Shaya kniete sich neben ihn auf das Bett. »Vergiss die Zukunft für heute Nacht. Sie wird mit all ihren Daimonen auch morgen noch auf dich warten.« Ihre Hand fuhr sanft seinen Rücken hinab.

Artax spürte, wie sich ihr Gewicht verlagerte und sie nach dem kleinen Tiegel neben dem Bett griff. Kühles Öl tropfte auf seine Schultern, und sie begann, kraftvoll seine verspannten Schultern durchzukneten. Fast augenblicklich spürte er, wie die Last des Tages von ihm abfiel. Ihre starken Hände fanden die Knoten in seinen Muskeln und bearbeiteten sie.

»Wovon träumst du?«, fragte sie plötzlich.

»Von dir«, entgegnete er schläfrig.

»Das weiß ich. Aber wovon noch? Wenn du dir einen Wunsch erfüllen könntest, mächtigster Herrscher der Menschheit, was wäre das? Und komm mir jetzt nicht mit Frieden. Diesmal geht es nur um dich.«

»Ein Gehöft. Weit draußen auf dem Land. Am Rand eines kleinen Dorfs. Ich habe es vermisst, mit nackten Füßen in warmem Mist zu stehen.«

Shaya hielt in ihrer Massage inne. »Was? Du hast vermisst, in Scheiße zu stehen?«

Er nickte. »Ein wohliges Gefühl. Wenn sich der Dung weich und warm zwischen die Zehen schiebt. Und Dung ist ein Schatz. Er macht die Felder fruchtbar.«

»Ich könnte hundert Jahre alt werden und würde euch Männer niemals verstehen. Davon träumen, durch Scheiße zu wandern, während man mit einer wunderschönen Frau im Bett liegt.« Sie versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Wovon träumst du sonst noch?«

»Frisch geerntete Oliven und selbstgemachter Ziegenkäse.« Allein bei der Erinnerung an die Köstlichkeiten lief Artax das Wasser im Munde zusammen. Seit Jahren wurden ihm die besten Speisen aufgetischt, aber nichts, was er je bekommen hatte, konnte es mit einem Mahl aus eigener Ernte aufnehmen. Er vermisste das. Auch den Duft von frischen Fladenbroten, der aus Erdöfen aufstieg.

»Ich werde also zur Bäuerin, wenn du dir jemals deine Träume erfüllst.«

Artax drehte den Kopf und sah sie über die Schulter hinweg an. Er wusste, wie die nomadischen Ischkuzaia über Bauern dachten. In ihren Augen waren sie allesamt geizige Betrüger. »Es ist ja nur ein Traum …«

»Wenn du ein Gestüt hast und wir auch Pferde züchten, komme ich mit dir. Und du bekommst alle Scheiße geschenkt, die meinen stolzen Rössern vom Arsch fällt.« Sie lächelte. »Glaubst du, ich würde dich jemals verlassen? Dazu war mein Weg zu dir zu lang.«

Das Verborgene

Das war es! Es war so einfach, dachte der Dunkle ernüchtert. So selbstverständlich, dass er es all die Tage übersehen hatte. Er schloss sein Verborgenes Auge. Sein Kopf schmerzte. Sein müdes Haupt ruhte auf seinen gekreuzten Vorderpranken. Vor ihm, auf einem kleinen, mit Intarsien geschmückten Tischchen, lagen die beiden Ringe, die sein Bruder Emerelle und Meliander geschenkt hatte. Er war brillant, sein goldener Bruder, das musste er ihm zugestehen.

So viele Stunden hatte er das verschlungene Zaubergewebe studiert. Er war kurz davor gewesen aufzugeben. Die ganze Zeit hatte er nach dem Besonderen gesucht und dabei das Gewöhnliche gänzlich übersehen. In jedes der Schwerter für ihre Drachenelfen hatten sie nicht nur einen Zauber gewoben, der es zurückbrachte, sollte sein Besitzer im Kampf sterben. Es gab auch einen Zauber, der es erlaubte, das Schwert ausfindig zu machen, ganz gleich, wo es sich befand. Dieser Zauber war es, der neben allen Schutzzaubern in den Ringen steckte. Er war so simpel und grundlegend, dass Nachtatem ihn übersehen hatte. Legten die Kinder die Ringe an, würde sein goldener Bruder sie finden, ganz gleich, wohin sie gingen.

Würde er nun versuchen, diesen Zauber zu bannen, würde er alle anderen beschädigen. Es war so aussichtslos, wie einen einzelnen Faden aus einem Spinnennetz ziehen zu wollen, ohne das Netz zu schädigen.

Wie sollte er diesen Zauber umlenken? Ihm fiel nichts ein, und so lauschte er dem Murmeln seiner Gazala, der Orakel, die ihn in seiner Höhle tief unter der Pyramide umgaben. Ohne Unterlass raunten sie von den zahllosen möglichen Zukünften der Welt. Viele von ihnen waren unheilvoll. Und Nandalees Kinder spielten eine bedeutende Rolle. Sie brauchten Schutz. Das war der Grund, weshalb Nachtatem zögerte, ihnen die Ringe einfach zu verweigern!

Der Erstgeschlüpfte schloss die Augen und ließ seine Gedanken schweifen. Die große Schlacht war etwas, wovon die Gazellenfrauen immer häufiger sprachen. Sie nahte. Und sie mochte den Untergang Albenmarks bringen. Das alles verschlingende Feuer war etwas, wovon immer wieder die Rede war. Aber er verstand es nicht. Was für ein Feuer sollte das sein? Selbst wenn er und all seine Brüder ihren Flammenodem vereinten, wie sie es über Selinunt getan hatten, würde keine Flamme entstehen, die alles verschlang.

»Erhabener?«

Nachtatem blinzelte. Firaz war vor ihn getreten. Sie vermochte sich erstaunlich lautlos zu bewegen.

»Erhabener, Ihr dürft nicht länger zögern. Die große Schlacht steht unmittelbar bevor. Handelt, statt darauf zu warten, dass unsere Worte mehr Klarheit schaffen. Wenn die Zukunft Gegenwart geworden ist, ist alle Hoffnung verloren, sie zu verändern.«

Große Worte, dachte er bitter. Darin waren sie gut, die Gazala. Sie waren es ja nicht, die ihr Gewissen unter dunklen Taten begruben. Er reckte sich. Natürlich hatte Firaz recht. Wenn er nicht agierte, überließ er die Zukunft seinem Bruder.

Wieder musste er an all die Prophezeiungen denken. Das Schicksal dreier Welten lag in der Schwebe. Jede einzelne von ihnen konnte in den nächsten Wochen untergehen. Alles hing von den Entscheidungen der nächsten Tage ab.

Wenn die Kunde von den Goldhäuptigen zu seinen Brüdern gelangte, war es zu spät. Noch eines der Mirakel seiner Gazala. Er hatte keine Ahnung, wer die Goldhäuptigen sein sollten. Das Einzige, was er wusste, war, dass, sobald ihr Geheimnis aufgedeckt wurde, die Herrschaft der Vernunft endete. Dann würde seine Zukunft den dunkelsten aller Wege nehmen.

In Stunden wie dieser wünschte Nachtatem sich, er hätte die Gazala nie erschaffen. Ihre Orakelsprüche nahmen ihm die Freiheit, die der Ahnungslose besaß, sein Schicksal zu gestalten.

Ein anderes Leben

Nachdenklich strich Hornbori über die verkohlte Oberfläche der Werkbank, auf der ihm einst ein Gemisch aus Drachenblut und Koboldkäse aus Drashnapur seine berühmte Drachenfaust beschert hatte. Seine unverwundbare Hand, die ihm schon manches Mal das Leben gerettet hatte. Das erste Mal an jenem Tag, an dem Galar versucht hatte, ihm einen Eisendorn in die Stirn zu rammen.

Er beobachtete den stinkenden Schmied, der ganz und gar in seinem Element war, während er zwei Dutzend Arbeitern das Leben sauer machte. Galar hatte die Männer in zwei Gruppen aufgeteilt. Die einen räumten die unbrauchbaren Trümmer aus der Werkstatt, während die anderen damit begonnen hatten, die Höhle zu erweitern, und mit Spitzhacken, Brecheisen und schweren Hämmern an der Westwand arbeiteten.

Ein ohrenbetäubendes Getöse herrschte. Schlimmer als auf einem Schlachtfeld. Immer wieder hielt Galar die Männer, die den Schrott forttrugen, auf und beharrte darauf, die unmöglichsten Gegenstände doch noch zu behalten. Gerade holte er ein halb geschmolzenes, in Spiralen gewundenes Kupferrohr zurück, das wohl einmal zu einer Destille gehört hatte.

Galar war verrückt! Aber das war er ja immer schon gewesen. Und verrückt musste man auch sein, wenn man sich mit den Himmelsschlangen anlegen wollte. Also war er genau sein Mann.

»Galar?« Zu Hornboris natürlichen Gaben gehörte eine wahrlich mannhafte Stimme. Er übertönte den Lärm der Arbeiter mühelos. Der Schmied wandte sich zu ihm um.

»Was …«

Hornbori sah, dass Galar das Wort Schisser auf der Zunge lag. Aber der Schmied beherrschte sich. Vielleicht hauste doch noch ein Hauch von Vernunft in seinem Dickschädel.

»Ich hab etwas für dich.« Er hob die schwere Ledertasche hoch, die er aus den Ehernen Hallen mitgebracht hatte. Die Tasche, die bis zu diesem Augenblick niemand außer ihm hatte berühren dürfen.

Die Arbeiter hielten bei ihren Verrichtungen nicht inne. Ja, Hornbori hatte den Eindruck, dass einige von ihnen erleichtert waren, dass ihr Sklaventreiber abgelenkt war.

»Ich hab jetzt keine Zeit für Gelaber. Ich will auch nichts über Politik hören.«

»In dieser Tasche steckt der interessanteste Teil unserer Zukunft.« Hornbori sprach mit gesenkter Stimme. Bei dem Lärm, den die Steinhauer veranstalteten, konnte er sich sicher sein, dass ihn niemand außer Galar hörte.

»Hier drinnen sind unsere Mitbringsel aus Glamirs Turm. Alle! Mehr als diese Pfeil- und Speerspitzen gibt es nicht mehr. Aber es sind mehr als genug, um die Tyrannen vom Himmel zu holen.«

»Du überraschst mich.« Ein Hauch von Misstrauen lag in Galars Stimme.

»Du und Nyr, ihr seid die Henker. Ihr sollt nicht zu mir kommen und um euer Werkzeug bitten müssen, wenn ihr es braucht. Ich würde vorschlagen, du versteckst diese Kleinode im verborgenen Tunnel in deinem Brunnen, sobald deine Handlanger gegangen sind.«

Galar sah ihn nachdenklich an. »Vielleicht weiß ich noch ein besseres Versteck.«

»Wie du meinst.« Hornbori zuckte mit den Schultern. »Du entscheidest, wo du sie lässt.« Er war froh, diese Waffen nun los zu sein. Er würde es ganz sicher so einrichten können, niemals in der Nähe zu sein, wenn Nyr und Galar sie benutzten. Und sollten die Himmelsschlangen oder ihre Elfen den beiden jemals auf die Spur kommen, würde er einfach alles abstreiten. Er hatte nun ein anderes Leben: Mit Amalaswinthas Hilfe würde die Tiefe Stadt in wenigen Jahren reicher und mächtiger sein, als sie es je gewesen war. Er würde Nyr und Galar heimlich fördern und ihnen Gelegenheit verschaffen, in die Nähe der Himmelsschlangen zu kommen. Das musste genügen.

Er lächelte. Außerdem hatte er einen größeren Posten Koboldkäse aus den verschiedensten Regionen Drashnapurs bestellt. Nun fehlte nur noch Drachenblut, und Galar konnte seine alten Experimente wieder aufnehmen. Mit ein wenig Glück wäre eines Tages nicht nur seine Hand unverwundbar. Und Glück zu haben war bislang die verlässlichste Größe in seinem Leben gewesen.

Ohne Vergangenheit

Nyr saß auf einem Stapel Frachtgut und beobachtete Frar, der mit einer Stange in einem Haufen Schutt und Metallresten herumstocherte.

Amalaswintha stand an einer Anlegestelle und verhandelte energisch gestikulierend mit einem Bootsführer, dessen Aal gerade beladen wurde. Was sie tat, interessierte Nyr nicht sonderlich. Er war froh, den Jungen zu sehen. Bisher hatte er weder in den Ehernen Hallen noch hier auch nur ein einziges Wort mit Frar wechseln können.

Der Junge hatte sich gut entwickelt und war groß für sein Alter. Allerdings wirkte er ungewöhnlich ernst, während er den Abfall untersuchte. Erinnerte er sich vielleicht noch daran, unter welch dramatischen Umständen er aus der Tiefen Stadt geflohen war?

Natürlich nicht, dachte Nyr. Frar war viel zu klein gewesen. Der Richtschütze versank ganz und gar in melancholischen Erinnerungen daran, wie er den Jungen mit Drachenblut gesäugt hatte und wie die Frachtnetze von Aalen seine Wiege gewesen waren.

Wie wohl seine Stimme klang? Ob er ein aufgeweckter Junge war?

»Du wirst ihm nichts erzählen!«, riss ihn eine Stimme, die keinen Widerspruch gewohnt war, aus seinen Tagträumen. Amalaswintha stand plötzlich neben ihm. Der Frachtaal war abgetaucht. Er hatte all das gar nicht mitbekommen.

Nyr räusperte sich. »Was soll ich ihm nicht erzählen?«

»Was ihr drei Deppen mit ihm angestellt habt. Und am wenigsten, wie ihr ihn gefunden habt. Er hält mich für seine Mutter und glaubt, dass sein Vater hier in der Tiefen Stadt beim Angriff der Drachen umgekommen ist. Du wirst ihn nicht mit der Wahrheit verwirren, haben wir uns verstanden?«

Nyr schluckte. »Warum hast du das getan?«

»Glaubst du, die Wahrheit hätte ihm geholfen? Bestimmt will er nicht wissen, dass er ein Waise ist. Und dass die drei Trottel, die ihn hier aus der Tiefen Stadt gerettet haben, ihn dann auch verlassen haben. Er hat keinerlei Erinnerung an euch, an die Reisen oder Glamirs Turm. Und so soll es auch bleiben. Wenn du ein wenig nachdenkst, wirst du vielleicht auch darauf kommen, dass die Wahrheit ihm nicht guttun wird.«

»Du meinst, alles, was wir getan haben – das alles zählt nicht? So darf das nicht sein!«

»Was habt ihr denn getan? Ihr wart sieben Jahre verschwunden. Und auch jetzt haben Galar und Hornbori andere Dinge im Kopf als …«

»Aber Hornbori hat Umgang mit ihm!«, begehrte Nyr auf, der diese Ungerechtigkeit nicht länger ertragen konnte. Er hob wütend die Fäuste. »Ich … ich werde …«

»Beruhige dich, er sieht uns zu!«, sagte Amalaswintha gefasst und zischte ihm nun leiser zu: »Glaubst du, das ist der Weg, sein Herz zu erobern? Seiner Mutter mit der Faust zu drohen.«

»Du bist nicht seine Mutter!«, fauchte Nyr, nahm die Fäuste aber herab.

»Ach?« Die Verachtung in ihrem Blick traf ihn wie ein Axthieb. »Hältst du dich etwa für seine Mutter? Ich habe nicht vergessen, wie du dich in Glamirs Turm aufgeführt hast.«

»Aber Hornbori! Du sagst selbst, der Junge bedeutet ihm nichts. Und er darf …«

»Was denkst du denn, du Trottel. Ich habe ihn mir zum Gefährten erwählt. Er ist gut im Bett, und er ist der Herrscher über alle Zwerge. Das heißt, es verbindet sich das Angenehme mit dem Nützlichen.«

»Ihr beide, ihr passt wirklich zusammen. Ihr beide …« Ihm versagte die Stimme.

»Was willst du? Zu mir ins Bett oder Zeit mit dem Jungen verbringen?«

Nyr war perplex. Sie hatte immer schon eine ordinäre Ader gehabt, aber das hier …Sie sah jetzt zu Frar, und Nyr konnte beobachten, wie eine Veränderung in ihr vorging. Sie wirkte nicht mehr so hart, so skrupellos. Es war der Blick einer besorgten Mutter. Sie mochte sich diese Seite an ihr vielleicht nicht eingestehen, aber es gab sie, das wusste Nyr in diesem Augenblick.

»Er braucht Freunde«, wandte sich Amalaswintha in versöhnlicherem Ton an ihn. »Andere Kinder haben Angst vor ihm. Er ist sehr einsam. Sei sein Freund, hier und jetzt, aber lass das Vergangene ruhen.«

»Aber wie soll ich denn …« Er hob hilflos die Hände. »Ich habe keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht.«

»Das hättest du dir früher überlegen sollen!« Mühsam beherrschte Wut lag in ihrem Blick. »Dass du keine Ahnung hast, hat dich nicht davon abgehalten, dich mit dem Säugling einzulassen. Nun bring zu Ende, was du begonnen hast.«

»Ich habe meinen Marschbefehl bekommen«, sagte er zögerlich und rang mit dem Sturm von Gefühlen, der über ihn hereinbrach. Er durfte zu Frar, endlich, wenn es auch anders war, als er sich vorgestellt hatte. Aber Amalaswintha hatte recht. Der Junge konnte ihn nicht kennen, er war ein Fremder für Frar. Also konnte er auch von vorne beginnen.

»Was zögerst du? Ist dein Wunsch doch nicht so stark, wie du gedacht hast? Von der Einberufung weiß ich. Auch Hornbori wird gehen.«

»Dann weißt du auch, dass es diesmal anders ist.«

Sie bedachte ihn mit einem zynischen Lächeln. »Ist es das? Ihr geht, und keiner weiß, ob ihr jemals wiederkommt. Für mich ist es wie immer.«

Nur dass diesmal alles noch geheimnisvoller war. Sie würden sich nicht in dem Tal versammeln, von dem aus sie zu früheren Feldzügen aufgebrochen waren. Es gab auch das Gerücht, dass es zumindest zunächst nicht nach Nangog gehen würde. Nyr hatte ein ungutes Gefühl dabei. Er mochte es nicht, wenn sich Altvertrautes änderte.

»Und, reicht dein Mut für einen neuen Anfang mit ihm?«

Nyr sah zu dem Jungen. Frar sah so verloren aus. Er war ganz in sein Spiel versunken. Nur einmal hatte er aufgesehen. Dabei hatte Nyr das Gefühl, dass es nicht der Schutthaufen war, der den Jungen so fesselte. Frar rechnete einfach nicht damit, dass jemand etwas von ihm wollte.

Statt Amalaswintha zu antworten, ging Nyr. Er umrundete das Hafenbecken und trat hinter den Jungen.

Frar hatte zwischen den Trümmern eine Axt gefunden. Das Blatt war ausgeglüht, der Schaft schwarz verkohlt.

»Wem sie wohl gehört hat«, sagte Nyr, unsicher, ob es weise war, auf diese Art ein Gespräch zu beginnen.

Frar drehte sich zu ihm um. »Er liegt dort unter dem Schutt. Er hat die Axt immer noch festgehalten. Ich habe sie aus seiner Hand gezogen.«

Nyr ging neben ihm in die Hocke. Er sah nur Schutt, keine Knochen. Der Junge hatte wohl sehr viel Vorstellungskraft. »Es war ein schlimmer Tag, als die Drachen gekommen sind.«

Frar nickte ernst. »Ich weiß.«

Er sagte das in einem Ton, als wäre er selbst dabei gewesen. Und das war er ja auch … Aber er konnte sich doch unmöglich erinnern! »Hat Amalaswintha dir davon erzählt?«

»Meine Mutter redet nicht über diesen Tag. Ich weiß nur, dass mein Vater gestorben ist.« Er stockte. »Aber ich weiß nicht einmal, wie.«

»Viele von uns wissen nicht, wie ihre Liebsten an diesem Tag gestorben sind. Es ging alles zu schnell. In einem Moment waren wir noch mitten im Leben, saßen an einer Werkbank oder einem gedeckten Tisch, und im nächsten Augenblick war das Feuer da.«

Frar strich über die alte Axt. »Er hier hat das erste Feuer überlebt. Er kam hierher, weil er darauf hoffte, noch einen Aal besteigen zu können. Dann hat ihn eine weiße Schlange aus dem Hafenbecken angegriffen. Schwer verletzt ist er zu dieser Stelle gekrochen, als ein Teil der Decke einstürzte und ihn unter sich begraben hat. Er hielt noch im Tod seine Axt umklammert. Als Letztes hat er voller Verbitterung daran gedacht, dass es ihm nicht gelungen war, eine der Echsen auch nur zu verwunden.«

Nyr begann zu begreifen, warum der Junge keine Freunde hatte. »Du denkst dir gruselige Geschichten aus.«

»Das ist keine Geschichte.« Frar klang niedergeschlagen. Er senkte den Kopf und ballte die Fäuste. »Ich dachte, du wärst anders … Du warst doch auch hier! Du weißt, wie es war!«

»Ja, und deshalb dulde ich nicht, dass jemand an der Ehre der Toten rührt und einfach irgendwelche Geschichten erzählt. Nicht einmal einem kleinen, traurigen Jungen werde ich das gestatten!«

»Das sind keine Geschichten!«, schluchzte Frar. »Es ist jedes Wort wahr! Ich weiß, ihr anderen könnt das nicht, aber ich … Ich bin eben anders …«

»Wovon redest du?«

»Die Axt!«, sagte er beschwörend. »Wenn ich sie berühre, bin ich bei ihm. Bei Bodir. So hieß er … Ich fühle mit ihm. Ich weiß von seinem Leben. Von so vielen seiner Gedanken. Und ich sehe ganz deutlich, was er gesehen hat, bevor er starb. Das alles ist einfach da, wenn ich die Axt berühre.«

Nyr betrachtete nachdenklich die alte Waffe. Wie eine Kindergeschichte hörte sich das nicht an. Er streckte die Hand aus, strich sanft über den verkohlten Schaft. Ruß blieb an seinen Fingerspitzen haften, aber Erinnerungen des Toten überkamen ihn nicht.

»Es ist nur bei mir so.« Frar wirkte, als wäre er erneut den Tränen nahe. »Und niemand will mir glauben.«

»Berühre mein Kettenhemd, und dann erzählst du mir etwas über mich.«

Frar schürzte die Lippen, und Nyr ging auf, dass er wahrscheinlich nicht der Erste war, der den Jungen auf diese Weise auf die Probe stellte. Aber nun konnte er seine Worte nicht mehr zurücknehmen. »Komm, versuch es. Ich habe ein abenteuerliches Leben gehabt. Du darfst mich danach fragen, was du willst.«

»Ich habe Hornboris Axt berührt«, flüsterte er ehrfürchtig. »Er weiß nichts davon …«

Nyr lächelte. »Ich werde es ihm nicht verraten. Allerdings bin ich kein so großer Held wie er.«

Zögerlich streckte Frar die Hand aus und ließ seine erstaunlich kräftigen Finger über die Eisenringe gleiten. »Du hast in vielen Schlachten gekämpft«, sagte er entrückt. »Du hast Kobolde und Trolle als Freunde. Und du hast …« Erschrocken sah Frar zu ihm auf. »Du hast Drachen getötet«, flüsterte er.

»Ich war hier, als die Tiefe Stadt brannte. Wie könnte ich da keine Drachen töten.«

Frar nickte ernst. »Und du kennst mich. Schon lange …«

»Ähm …« Das hatte Nyr nicht bedacht.

»Du musst dir keine Sorgen machen.« Er sah zu dem Tunnel, an dessen Eingang Amalaswintha vorhin noch gestanden hatte. »Ich weiß auch, dass sie nicht meine Mutter ist. Aber sie bemüht sich. Sie war immer gut zu mir, trotz all der Dinge …«

»Dinge? Du meinst, was du weißt, wenn du etwas berührst.«

Frar schüttelte den Kopf. »Da ist noch mehr.« Er schloss die Augen, und plötzlich erhob sich die alte Axt und schwebte ein paar Zoll über dem Schutt. Dann sank sie sanft wieder zu Boden. »Manchmal passiert mir das, ohne dass ich es will. Es macht den anderen Angst.«

Nyr rang um Fassung. »Elfen können solche Sachen. Und sehr mächtige Drachen …« Kaum war das Wort über seine Lippen, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. War es das? War er daran schuld, dass der Junge so anders war und gefürchtet wurde? Hatte das Drachenblut, das er ihm gegeben hatte, damit er nicht verhungerte, ihn verändert?

»Jetzt wirst du mich auch meiden, nicht wahr?«

Nyr legte Frar beide Hände auf die Schultern und sah ihn fest an. »Du glaubst, du bist seltsam? Du hast ja ein wenig von meinem Leben gesehen, und ich schwöre dir jeden Eid, dass ich schon weit merkwürdigere Kameraden gehabt habe. Wusstest du, dass Trolle die Herzen ihrer toten Freunde fressen, wenn sie deren Mut bewundert haben? Das ist seltsam, wenn du daneben stehst und deine Kameraden die Brust eines Toten aufschneiden, um einen ganz eigenen Leichenschmaus zu halten. Einer wie du ist da eine echte Erholung.«

Frar sah ihn mit großen Augen an. »Trolle tun so was?«

»Oh, ja! Das und noch ganz andere Sachen. Es ist wirklich nicht leicht, sie zu mögen. Aber ich habe auch gesehen, wie sie tödlich verwundete Zwerge oder Elfen tagelang auf ihren Armen getragen haben, obwohl sie genau wussten, dass niemand die Verletzten mehr retten konnte. Aber sie wollten sie nicht den Grünen Geistern überlassen.«

»Es muss schön sein, so gute Freunde zu haben. Freunde, die immer zu dir stehen, egal, was passiert.« Die Bewunderung in den Augen des Jungen zu sehen berührte Nyr zutiefst. Für ihn war er ein Held. Und nie hatte sich das so gut angefühlt wie in diesem Augenblick.

»Ich würde es so gerne wissen … Ich …« Frar senkte den Blick, als wäre es ihm peinlich, einen gestandenen Krieger mit seinem Kummer zu behelligen.

»Was willst du wissen?«

»Meine Eltern … Wer waren sie? Warum lebe ich und sie nicht? Wie kann das sein?«

Der Richtschütze blickte auf die Axt, dann zum Schutthaufen. »Du suchst nach ihnen. Du hoffst, dass du sie erkennen wirst, wenn du ihre letzten Gedanken erlebst.«

Frar nickte, immer noch schluchzend.

Nyr dachte an das Versteck im Brunnen und die Drachenelfe, die sie dort aufgespürt hatte. Diese Furie hatte Galar einen Dolch in den Hals gestoßen. Aber sie hatte ihnen auch das Kind gebracht. Nur wo sie es gefunden hatte, hatte sie ihnen nicht erzählt. Hatte sie es lange auf ihren Armen getragen? »Ich glaube, wir sollten nicht hier mit der Suche nach deinen Eltern beginnen.«

»Du weißt, wo sie sind?«

Es tat Nyr weh, die Hoffnung in den Augen des Jungen zu sehen. »Nein, ich weiß es nicht. Aber du wurdest uns von einer Elfe gebracht. Ich denke, es ist klüger, mit der Suche in der Nähe des Ortes zu beginnen, an dem wir ihr begegnet sind. Das ist ein ganzes Stück fort von hier.«

»Du wirst mir helfen?«

»Natürlich, das habe ich immer getan. Ich konnte nicht wiederkommen, weil Eikin meinen Tod wollte. Aber ich habe dich jeden Tag in den letzten sieben Jahren vermisst.«

Frar ergriff seine Hand. »Jetzt bist du zurück.«

Nyr schnürte es fast die Kehle zu. Aber er musste es sagen. »In ein paar Tagen werde ich wieder fortmüssen. Ein neuer Feldzug.«

Der Junge sagte nichts. Ihm sank der Kopf auf die Brust. Seine kleine Hand drückte Nyrs schwielige Hand fest.

»Keine Sorge, ich werde wiederkommen. Nichts auf der Welt wird mich davon abhalten können. Und dann gehe ich nie wieder fort. Weißt du, ich bin auch ein seltsamer Kerl. Ich habe nicht viele Freunde. Ich finde, wir beide passen ganz gut zusammen. Wenn du es mit mir aushalten kannst …«

Frar nickte ernst. »Ich glaube schon, dass ich das kann.« Er sah ihn zweifelnd an. »Und du kommst ganz sicher wieder?«

»Ganz sicher! Freunde versetzt man nicht.«

Zwei Worte

Es setzte ihr zu, wenn er so war wie jetzt. Eine Stunde oder noch länger stand sie nun schon im Rosengarten und wartete darauf, dass er Notiz von ihr nahm. Der Goldene hatte Elfengestalt angenommen und sich über die Silberschale gebeugt. Mit verzücktem Antlitz betrachtete er, was immer sie ihm über die Zukunft enthüllte.

Bidayn war erst an diesem Nachmittag aus der Goldenen Stadt zurückgekehrt. Nachdem Kyra nicht zur vereinbarten Zeit nach Uttika gekommen war, hatte sie nach ihrer Gefährtin gesucht. Und hatte die Geschichte von der Daimonin gehört, die gefangen worden war, als sie versuchte, die Goldene Pforte zu passieren. Bidayn hatte nicht herausfinden können, wo Kyra gefangen gehalten wurde oder ob sie überhaupt noch lebte. Und auch sie hatte nicht durch die Goldene Pforte zurückkehren können. Dieser Albenstern wurde zu streng bewacht. Ein Blick zum Himmel hatte alles geklärt: Die Menschenkinder bereiteten einen Angriff vor.

Eine Flotte, wie sie an den Ankertürmen der Stadt vertäut lag, hatte die Elfe nie zuvor gesehen gehabt. Aus Nangog zurückzukehren hatte sich als schwierig erwiesen. Sie war schließlich drei Tage flussabwärts gereist, bis sie einen Albenstern gefunden hatte, durch den sie nach Albenmark reisen konnte, und nun stand sie vor ihrem Meister, der sie nicht beachtete.

Sein Zauber wirkte auf sie. Sie wollte ihm gefallen, wollte seine Anerkennung. Doch sie bekam nichts. Und sie wagte es nicht, näher zu treten, um einen Blick in die Silberschale zu werfen, obwohl sie sich vor Neugier verzehrte zu sehen, was ihn so sehr faszinierte, dass er seine Betrachtung ihr vorzog.

»Ihr seid ohne meine Erlaubnis in Nangog gewesen, Dame Bidayn. Nicht wenige meiner Brüder erzürnt Eure Impertinenz. Es ist keine Bagatelle, sich über die Befehle der Himmelsschlangen hinwegzusetzen. Es ist meine Pflicht, Euren Ungehorsam beim nächsten Treffen mit meinen Brüdern zur Sprache zu bringen. Und ich muss gestehen, ich bin erstaunt über Eure Verwunderung, dass ich einer solchen Dienerin die Gunst meiner Aufmerksamkeit verweigere.«

Die Worte trafen Bidayn ins Herz. Erschrocken kniete sie nieder. »Ich bitte um Verzeihung, mein Gebieter.« Sie zog ihren Dolch und legte ihn vor sich auf die gerissenen Steinplatten des Hofs. »Ein Wort von Euch, und ich werde mit eigener Hand die einzige Strafe vollziehen, die der Größe meiner Verfehlung angemessen ist.«

Er wandte sich ihr zu. »Nehmt die Waffe auf.«

Sie gehorchte augenblicklich. So also ging alles zu Ende. Langsam richtete sie die Spitze des Dolches auf ihre Brust, bereit, den Stahl in ihrem Herzen zu versenken. Besser sie war tot, als mit der Gewissheit leben zu müssen, ihn enttäuscht zu haben.

»Seht mich an, meine Dame!«

Gehorsam, doch mit schwerem Herzen hob sie das Haupt. Sie wollte nicht die Enttäuschung in seinen Augen sehen. Aber was sie dort entdeckte, war Interesse. Er studierte sie.

»Ich nehme an, Ihr habt mit den besten Absichten gehandelt, meine Dame, weil Ihr der Ansicht wart, dass etwas Wichtiges meiner Aufmerksamkeit entgangen sein könnte. Ferner vermute ich, dies ist auch der Grund, aus dem Ihr Euch die Freiheit herausnehmt, Eure Gefährten auf waghalsige Missionen nach Nangog zu schicken.«

»Sie trifft keine Schuld«, beteuerte Bidayn. »Ich habe meine Position ausgenutzt, um ihnen Befehle zu erteilen, die ihrer Auffassung von Loyalität zu Euch zuwiderliefen. Ich verdiene es, nun die Strafe für meine Eigenmächtigkeit zu erfahren.«

»Und wieder maßt Ihr Euch an, meine Entscheidungen für mich zu treffen, Dame Bidayn. Was Ihr verdient und was nicht, obliegt einzig meinem Urteil, nicht dem Euren.«

Jedes dieser Worte war ein Dolchstich in ihre Seele.

»Nun erweist mir die Güte, mich darüber in Kenntnis zu setzen, was mir Eurer Meinung nach entgangen ist.«

Gehetzt berichtete sie von der Elfe, die Unsterbliche ermordete und zuletzt den Herrscher Valesias hingerichtet hatte. »Ich konnte mit einem Krieger sprechen, der sie hat kämpfen sehen. Es muss eine Drachenelfe sein! Welcher Eurer Brüder verfolgt die Mission, die mir und den Meinen zugedacht war?«

Es war unmöglich, in seinen Zügen abzulesen, was er dachte. Er wirkte nicht erzürnt, als er ihr antwortete. »Muss ich Euch darauf hinweisen, dass nicht ich es bin, der Euch Rechenschaft schuldet, meine Dame. Ich muss Euch weder meine Entscheidungen erläutern noch die meiner Brüder.«

»Gewiss«, flüsterte sie. So war es also. Sie hatten schon jemanden gefunden, der sie ersetzen konnte.

»Ihr vergesst, dass ich in Euren Gedanken lesen kann, meine Liebe.«

Das hatte sie in der Tat vergessen, doch bereute sie nichts. Er durfte wissen, was sie fühlte. Diese eine Freiheit beanspruchte sie für sich, auch wenn sie ihm ansonsten ganz und gar ergeben war.

»Ihr seid noch immer meine erste Dienerin, meine Dame, allerdings wäre es schön, wenn Ihr Euer Wohlbefinden weniger abhängig von Bekundungen meines Wohlwollens machen könntet. Und nun seid so gut und schiebt dieses Messer in seine Scheide. Ich werde Eure Eigenmächtigkeiten vor meinen Brüdern verantworten.«

Ihre Hand zitterte, als sie den Dolch in seine Lederscheide gleiten ließ. Bidayn schämte sich dafür, dass er sie hatte rügen müssen. Und zugleich war sie unglaublich erleichtert, nicht seine Gunst verloren zu haben.

»Was habt Ihr mir noch zu berichten? Ich ziehe es vor, es mit Euren eigenen Worten zu hören, statt danach in Euren Gedanken zu suchen.«

In allen Einzelheiten schilderte sie ihm die Flotte aus Wolkensammlern, die sie gesehen hatte. Er zeigte sich wenig beeindruckt. »Es wird eine letzte große Schlacht geben, die unmittelbar bevorsteht. Und Ihr, ebenso wie die zwei Kinder, werdet über die Zukunft Albenmarks entscheiden. Die Stunde, in der Ihr einlösen müsst, worauf Ihr Euch all die Jahre vorbereitet habt, ist nahe. Ihr werdet Euch in höchste Gefahr begeben, doch ich vertraue Euch ganz und gar.«

Er schenkte ihr ein Lächeln, das sie mit Sehnsucht erfüllte. Sich seiner Gunst bewusst zu sein war mit keinem anderen Hochgefühl zu vergleichen, das sie je genossen hatte. Der Goldene war voller Zuversicht, das spürte sie deutlich. Und sie war erleichtert, dass sie nun endlich beweisen könnte, dass sie jeden seiner Wünsche erfüllen konnte.

Er winkte ihr, und ein Verlangen blitzte in seinen Augen, das er ihr allzu lange nicht gezeigt hatte. »Dies ist kein Ort, um über das Schicksal dreier Welten zu parlieren, meine Dame. Wir könnten es gemütlicher und auch intimer haben als auf diesem verfallenen Burghof voller trauriger Erinnerungen. Wollt Ihr mir diese Gunst erweisen, schöne Bidayn?«

Schöne Bidayn, so hatte er sie seit Jahren nicht genannt. Schauder überliefen sie bei der Erwartung dessen, was seine Worte verhießen. Allein um diese zwei Worte zu hören, würde sie alles für ihn tun, auch zwei Kinder auf dem Altar seines Ehrgeizes opfern.

Als der Umhang fiel

»Das wirst du rückgängig machen!« Es war das erste Mal in ihrer an Spannungen so reichen Ehe, dass Shanadeen sie anschrie.

»Ausgeschlossen«, entgegnete Bidayn ruhig.

Wie sehr sie ihren hageren, fantasielosen Mann doch verachtete. Noch immer spürte sie die Berührungen des Goldenen, wenn sie die Augen schloss. Wahrscheinlich nistete noch sein Wohlgeruch in ihrem Haar, und hätte sie sich vor Shanadeen entblößt, könnte er die Spuren der Leidenschaft der Himmelsschlange auf ihrem Rücken sehen. Sich dem Goldenen hinzugeben hieß, eine Wollust zu erleben, die durch Schmerz versüßt wurde. Eine Wollust, wie sie ihr nicht einmal Asfahal zu schenken vermochte, obwohl er ein erlesener Liebhaber war.

»Wenn du nicht gehst, werde ich ihre Namen von der Liste streichen lassen.« Shanadeen sah zu Graumur. »Du weißt, wo dieser verdammte Werber seinen Tisch aufgestellt hat.«

»Ja, Herr.« Es war dem Minotauren anzusehen, wie unwohl er sich in diesem Augenblick fühlte, obwohl er ein tapferer, im Kampf erprobter Krieger war. Er hatte an ihrer Seite gestanden, als die beiden Mädchen ihre Namen auf die Liste gesetzt hatten.

»Worauf wartest du? Bring mich dorthin!«

Graumur wand sich vor Verlegenheit. »Herr, ich glaube, es ist richtig, wenn Lydaine und Farella dein Haus verlassen und ein Abenteuer erleben. Es wird ihnen guttun.«

»Ein Abenteuer?«, fauchte Shanadeen seinen Leibwächter an. »Hast du dir das letzte bisschen Hirn zwischen deinen Hörnern weggesoffen? Ein Abenteuer? Sie werden in einen verdammten Krieg ziehen.«

»Bei allem Respekt, Herr«, beharrte Graumur, »auch wenn sie so aussehen mögen, sind Lydaine und Farella keine Mädchen mehr. Gestatte ihnen, durch ihre Taten die Größe zu erlangen, die ihnen ein grausames Schicksal auf immer verwehren wird.«

»Wer hat dir denn diese Worte in den Mund gelegt?« Shanadeen bedachte Bidayn mit einem hasserfüllten Blick. »Nun, ganz gleich, was ihr beide hier treibt, ich werde dem ein Ende setzen.«

»Ich glaube, du überschätzt deine Möglichkeiten, mein Gemahl. Diese Werber unterstehen dem unmittelbaren Befehl der Himmelsschlangen.«

»Und ich glaube, du hast die erstaunliche Zaubermacht des Goldes immer noch nicht verstanden. Es gibt nichts, das man nicht erreichen kann, wenn nur das Angebot stimmt.«

Bidayn bedachte ihren Gemahl mit einem spöttischen Lächeln. Er war eine solche Krämerseele. Doch die Zeit ihrer Maskerade in seinem Haus war nun vorüber. »Graumur, dies ist der Augenblick, in dem du dich für ihn oder für den Ruhm entscheiden musst. Ich wünsche, dass du die Mädchen als ihr Leibwächter begleitest. Du wirst mit ihnen an der Seite der größten Helden unseres Zeitalters in die Schlacht ziehen.«

Sie sah, wie seine müden Augen aufleuchteten. Sie wusste genau, wovon er träumte.

»Du begleitest mich jetzt, Graumur! Hör nicht auf ihr Geschwätz. Ich habe dich in Dienst genommen. Du bist allein mir verpflichtet!«

Der alte Minotaur rang mit sich. Er schwankte zwischen Loyalität, die sein Leben bestimmt hatte, und der Hoffnung auf unsterblichen Ruhm als Krieger. Obwohl sie ihn so viele Jahre kannte, war Bidayn sich nicht sicher, wie er entscheiden würde. Sie könnte ihren Willen auch ohne ihn durchsetzen, aber sie wollte Shanadeen demütigen. Sie wollte, dass sein Leibwächter, der ihn drei Jahrzehnte lang mit seinem Leben beschützt hatte, die Seiten wechselte. Sie wollte, dass dieser verfluchte Münzenzähler sah, dass er nicht alles kaufen konnte.

Aus diesem Grund hatte sie den ganzen Tag einen weiten Kapuzenumhang getragen. Nun griff sie nach der Brosche, die ihn geschlossen hielt. Mit einer theatralischen Geste, die sie zutiefst genoss, ließ sie den Umhang zu Boden fallen. Darunter trug sie das Gewand einer Meisterin der Weißen Halle: das lange weiße Kleid, an den Säumen bestickt mit Gold, das nur Drachenelfen zu tragen gestattet war. Um die Hüften war das Wehrgehänge geschlungen, von dem das kostbare Schwert hing, das ihr der Goldene überlassen hatte.

Graumur starrte sie mit offenem Maul an und sah wie ein einfältiger Ochse aus. Auch wenn nur die wenigsten Albenkinder je eine leibhaftige Drachenelfe zu Gesicht bekamen, gab es Hunderte Geschichten über sie.

»Du weißt, wer vor dir steht, Graumur?«

Der Minotaur nickte.

»Dann bring Shanadeen nun in den Keller und kette ihn dort an, damit wir unbehelligt das Haus verlassen können. Anderenfalls wäre ich gezwungen, den Willen des Goldenen mit dem Schwert zu vollstrecken.«

»Den Willen des Goldenen«, stammelte Graumur.

Bidayn weidete sich am Entsetzen im Angesicht Shanadeens. »Hast du nun, nach all den Jahren, begriffen, wen du in dein Haus geholt hast? Der Goldene weiß um deine Töchter, und er will sie in seinen Dienst nehmen. Du wirst das nicht verhindern. Die beiden sind stolz darauf, auserwählt worden zu sein. Wenn du klug bist, wirst du nicht nach ihnen suchen.« Sie nickte Graumur zu. »Nun bring ihn fort und erweise ihm einen letzten Dienst, indem du ihn vor sich selbst beschützt.«

»Ich verfluche dich, Betrügerin. Möge das Glück dich meiden. Mögest du alt werden, um alles vergehen zu sehen, was dir jemals etwas bedeutet hat.«

Graumur schlug das Zeichen des schützenden Horns.

Shanadeen hatte keinen Zauber gewoben, doch Bidayn spürte die Kraft, die im Raum schwang. Es war mehr als nur Worte. Sie lachte, um ihre Zweifel zu vertreiben. »Leeres Gerede ist alles, was den Narren am Ende bleibt. Dein Fluch hat sich längst an dir erfüllt, Shanadeen. Mein Leben wird er nicht berühren.«

Sie stieg die Treppe hinauf zu den Zimmern der Mädchen, und mit jeder Stufe, die sie nahm, wurde ihr die Last, die sie in den letzten Jahren getragen hatte, leichter. Die Zeit, sich zu verstecken, war vorüber. Sie würde dieses Haus für immer verlassen, und sie würde wieder offen die Auserwählte des Goldenen sein. Alles änderte sich!

Die beiden Mädchen erwarteten sie in Farellas Zimmer. Es war die blonde Lydaine, die sie ansprach. Wie stets war sie es, die ihre Neugier und ihr Temperament nicht im Zaum halten konnte. »Was hat er gesagt?«

»Er wird euch ziehen lassen, aber es hat ihm nicht gefallen. Es ist besser, wir gehen schnell.«

Beide nickten, ohne zu zögern. Auch sie brannten darauf, Shanadeens Haus zu verlassen. Sie hatten sich ganz und gar ihr verschrieben. Ihrem Vater hatten sie sich völlig entfremdet.

Bidayn zog zwei Kristallphiolen aus ihrem Gürtel und überreichte sie ihnen. »Ihr wisst, was damit zu tun ist. Der Goldene vertraut auf euch. Ihr werdet es sein, die das Tor in ein neues Zeitalter öffnen. Und dies sind die Schlüssel dazu.«

Zu viel der Ehre

Necahual war verärgert, wie lange es gedauert hatte, ihm die Gefangene zu überstellen. Fünf Tage waren sie nun schon zurück in der Goldenen Stadt. Fünf Tage voller Ausflüchte, warum die Daimonin nicht zu ihm gebracht werden konnte. Doch nun stand sie endlich vor ihm. Ashot, der Feldherr des Unsterblichen Aaron, hatte sie mit einer übertrieben großen Eskorte zum Weißen Tor der Tempelstadt gebracht. Dort war sie von seinen Jaguarmännern übernommen und hierher zum Blutsee gebracht worden.

Die Daimonin sah sich aufmerksam um. Sie trug eine schlichte weiße Tunika, die mit ihrem eigenen Blut besudelt war. Langes, blondes Haar wallte über ihre Schultern. Ihr schmales Gesicht war von Schlägen gezeichnet. Eines ihrer Augen war zugeschwollen, das andere, türkisblau, sah ihn herausfordernd an. Angst schien sie nicht zu kennen. Sie war ein würdiges Opfer für die beiden gefiederten Schlangen im See.

»Verstehst du meine Sprache?«

»Um mich mit einem Mann, der einmal eine Katze war, zu unterhalten, wird es genügen.« Ihre Stimme war angenehm, wenngleich etwas zu dunkel für eine Frau.

Necahual nahm die Frechheit mit einem Lächeln. Sie war also darüber unterrichtet, wer er war. Sie war offensichtlich gut als Spitzel.

»Eure Ära endet, Daimonin.« Necahual umrundete seine zierliche Gefangene. Er betrachtete erstaunt die schweren eisernen Fesseln, die sie banden. Ihre Hände waren auf den Rücken gezwungen, ein Eisenring lag um ihren Hals. Eine Kette, die den Rücken hinablief, verband Eisenring und Handfesseln. Auch um ihre Knöchel lagen schwere Eisenringe. Eine Kette dazwischen erlaubte ihr nur kleine, trippelnde Schritte zu machen.

Der Unsterbliche sah die Kraft in den schlanken Gliedern, den unbeugsamen Willen in ihrem Auge. Was für eine Frau! Er selbst würde sie den gefiederten Schlangen zum Geschenk machen.

Plötzlich sanken seine Krieger ergeben auf die Knie. Necahual spürte die Präsenz, ohne dass er sich umdrehen musste. Der Gefiederte war gekommen. Er sollte seinem Gott die Ehre erweisen, doch spürte er auch einen Hauch von Verärgerung, dass es ihm nicht vergönnt war, diesen Augenblick für sich allein zu haben.

»Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt«, begrüßte ihn der Gott, und nun wandte Necahual sich doch um. Sein Gebieter kam in der Gestalt des Vogelmanns mit Adlerkopf, Flügelarmen, einem Menschenleib und Adlerklauen. Jede seiner Bewegungen war voller Kraft. Seine schwarzen Augen funkelten wie Obsidian. Begierig blickte er auf die Daimonin. In der Gestalt des Vogelmanns war der Gott mehr als drei Schritt groß, und alle um ihn herum erschienen wie Kinder.

»Sie ist eine Elfe«, erklärte der Devanthar.

Necahual war das Wort unvertraut.

Der Gefiederte streckte seinen Flügelarm aus und streifte mit seinen Schwungfedern das Antlitz der Daimonin. Sie wich nicht vor dem Gott zurück. Necahual war beeindruckt von so viel Mut.

»Sie gehört zu jenen, die unsere Unsterblichen töten. Euch ist ein ganz besonderer Fang gelungen.«

Der Unsterbliche hatte gehört, welchen Preis dieser Fang gekostet hatte. Neun Krieger hatte sie getötet und einen Silberlöwen zerstört, dabei hatte sie nicht einmal eines der verwunschenen Schwerter mit sich geführt, mit denen die Daimonen sonst kämpften.

»Weißt du, wo du hier bist, Elfe?« Der Gefiederte machte eine weit ausholende Bewegung. »Dies ist der Ort, an dem wir Götter zu Sklaven machen. Du bist eine Drachenelfe, nicht wahr? Du hast dich den Himmelsschlangen verschworen. Was für ein elendes Gewürm. Ich werde dir nun etwas zeigen.« Er gab den Jaguarmännern ein Zeichen, sich zu erheben. »Führt sie zum See.«

Necahual war enttäuscht, dass der Gefiederte kein Wort für ihn hatte. Er erwies der Mörderin zu viel der Ehre. Warum tat er das? Warum war er überhaupt hier?

»Leider siehst du diesen Ort nun nicht in all seiner Pracht. Die Gesetze der Priesterschaft verlangen, dass alle mir geweihten Heiligtümer nach sieben mal sieben Jahren erneuert werden müssen.« Der Devanthar wies auf die mächtigen Steinquader, die nah der Ufermauer aufgereiht lagen.

Necahual hatte schon vor Stunden alle Arbeiter aus der Höhle abziehen lassen. Er hatte nicht gewollt, dass allzu viele seiner Untertanen die Daimonin sahen, bevor sie nackt und in Fesseln zum Altar getragen wurde.

»Wenn dein Blut auf dem Altar dort oben auf der Pyramide vergossen wurde, dann wird der ganze Bau mit einer neuen Schicht aus massigen Steinquadern ummauert.«

Die Daimonin lauschte aufmerksam den Worten des Gottes. Necahual gefiel das ganz und gar nicht. Es war nicht notwendig, dass sie all dies erfuhr. Ihr Leben war verwirkt. Sie musste nicht verstehen, warum und auf welche Weise sie sterben würde. Der Gefiederte hatte ihm den Befehl gegeben, sie einzufordern und zu opfern. Hatte er es getan, um sich diese Daimonin anzusehen, mit ihr zu sprechen?

»Zweifel stehen meinem Unsterblichen nicht gut zu Gesicht«, wandte sich der Devanthar nun überraschend an ihn.

Necahual beugte demütig das Haupt. »Bitte verzeiht, mein Gebieter. Es sind keine Zweifel, die mich umtreiben. Ihr seht mich lediglich verwundert.«

»Nun, so soll es auch sein, Necahual. Bin ich nicht ein Fleisch gewordenes Wunder?«

»Selbstverständlich, Fürst der Winde.«

Sie hatten das Ufer des Sees erreicht. Der Gott rief mit einer Stimme, die Herzen erschütterte, nach den Schlangen. Augenblicklich brachen die goldenen Köpfe durch die Oberfläche des dunklen Wassers.

Eine Geste des Devanthar hieß die beiden riesigen Kreaturen sich aufrichten, wie angriffslustige Schlangen es taten.

»Sieh hin, Elfe! Siehst du die Schuppen unter dem Gefieder? Purpurn beim Linken und lindgrün beim Rechten. Ahnst du, wen du da vor dir hast? Dein Herz und dein Blut werden die beiden nähren. Ein passendes Ende, nicht wahr? Du hast dich als Drachenelfe doch ganz und gar den Himmelsschlangen verschrieben. Sie werden dich fressen, wie meine Adlerritter und Jaguarmänner sich von ihrem Fleisch und ihrem Blute nähren.«

Die Elfe schwieg, doch Necahual sah das maßlose Entsetzen in ihrem türkisfarbenen Auge. Sie wusste, dass der Gefiederte sie nicht angelogen hatte.

»Du hast nun einen Tag, darüber nachzudenken, wem die Zukunft gehören wird. Ein paar Echsen wie jene, die wir uns als Sklaven halten, oder uns, den Devanthar.« Der Gefiederte wandte sich an Necahual. »Ich würde gerne noch ihren Kerker sehen.«

»Euer Wunsch ist mir Befehl.« Das mulmige Gefühl, das Necahual empfand, wollte nicht weichen.

Schweigend gingen sie bis zu den Kerkern nahe der Stufenpyramide. Der Gefiederte inspizierte aufmerksam die Zelle, in die die Daimonin gesperrt werden sollte. Sie war aus dem blanken Fels geschlagen. Der einzige Weg hinaus führte durch eine niedrige Tür, die aus drei Zoll dicken Bohlen aus dem Holz des Knochenbaums gefertigt war. Dieses Holz wurde hart wie Eisen, wenn es gut abgelagert war.

»Das ist der rechte Platz für sie.« Der Devanthar strich mit den Spitzen seiner Flügelarme über den Leib der Daimonin, und alle Eisenringe und Ketten fielen von ihr ab.

Erschrocken hoben die Jaguarmänner die Krallenhände, und Necahual griff nach dem Opferdolch, den er am Gürtel trug. »Mein Gebieter, was tut ihr?«

»Ich bitte dich, in dieser Kerkerzelle ist sie wie lebendig eingemauert. Sie auch noch mit diesen albernen Ketten zu behängen ist zu viel der Ehre. Soll sie denken, dass in der Brust meiner besten Krieger Hasenherzen schlagen?« Der Gott flüsterte ein unverständliches Wort, und die Daimonin sank in sich zusammen.

»Sie schläft nun«, erklärte der Gefiederte. »Fühlst du dich jetzt besser, Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt?«

Der Spott traf Necahual bis ins Mark. Er war kein Hasenherz! Wie hatte der Gefiederte das vor den Kriegern sagen können? Ihm achtlos seine Ehre nehmen können?

»Wenn ich Euch enttäuscht habe, mein Gebieter, dann gehört mein Leben Euch.«

Der Gott berührte ihn mit seinem Flügelarm. »Du bist der Erste unter all meinen Kriegern und der Weiseste unter meinen Priestern. Kein Mann wandelt auf Erden, in den ich mehr Vertrauen setze als in dich, und sollte ich dich je verlieren, werde ich den Himmel in Trauer kleiden und alle Winde ein Klagelied anstimmen lassen. Vertraue mir, Necahual. Ich befehle, dass sie nicht mehr in Ketten geschlagen wird. Für sie ist das ein Zeichen unserer Furcht, und wir nähren ihren Hochmut auf diese Weise. Sie ist nur eine Mörderin, Necahual. Nur Fleisch, das morgen von ihren versklavten Göttern zerfetzt werden wird.« Der Gott wandte sich von ihnen ab und ging zum Blutsee. Noch bevor er dessen Ufermauer erreichte, verschwand er in strahlendem Licht.

Der Unsterbliche blickte auf die schlafende Daimonin zu seinen Füßen. Den Dieb, der in seine Kabine auf dem Flaggschiff eingedrungen war und den Dolch entwendet hatte, hatte er trotz aller Bemühungen nicht aufspüren können. Der Frevel war ungesühnt geblieben, und jetzt sollte er auch noch gegenüber dieser Daimonin Milde walten lassen … Diese Mörderin hatte neun Krieger getötet. Er war nicht bereit, das Leben auch nur eines seiner Männer zu gefährden, bevor sie auf dem Opferstein lag.

»Bring mir einen der schweren Hämmer der Steinmetze«, wies er den Krieger an, der ihm am nächsten stand.

Kurz darauf wog er prüfend das schwere Werkzeug in der Hand. Der Hammerkopf, groß wie ein Ziegelstein, war aus schwarzem Eisen. Prüfend strich er über das kühle Metall. Er würde sein Wort halten. Die Daimonin würde nicht in Eisen geschlagen.

Necahual riss den schweren Hammer hoch und ließ den Hammerkopf auf das linke Schienbein der Mörderin niedersausen. Der Knochen brach, seine Enden ragten aus dem gequetschten Fleisch. Auch das Wadenbein schien zersplittert. Das Glied war unnatürlich zur Seite verdreht.

Keuchend erwachte die Daimonin. Voller Hass sah sie zu ihm auf, wand sich und beherrschte sich zugleich. Kein Schmerzenslaut kam über ihre Lippen.

»Haltet sie fest!«, befahl der Unsterbliche seinen Kriegern. »Vor allem das rechte Bein.«

Sechs Männer waren nötig, um die Furie am Boden zu halten.

Wieder hob Necahual den Hammer. Er zerschmetterte auch das zweite Schienbein. »Bindet die Wunden ab, damit sie uns nicht verblutet«, befahl er. Die Daimonin war in sich zusammengesunken. Der brennende Schmerz schien ihr das Bewusstsein geraubt zu haben.

Necahual sah zu, wie sie in den Kerker geschleppt wurde. Als die schwere Tür sich schloss, war er zufrieden. Sie hatte Unsterbliche hingerichtet! Ihr war widerfahren, was sie verdiente. Und morgen würde er ihr Herz den gefiederten Schlangen vorwerfen.

Fern in Gedanken

Kyra dachte an Dylan, der einst in der Weißen Halle ihr Meister gewesen war. An einem Nachmittag hatte er sich beim Schwertkampf den Arm gebrochen, die Übung aber deshalb nicht beendet. Er hatte sie gelehrt, wie sie aus jedem Gefühl Kraft ziehen konnte, um weiterhin ihre Ziele zu verfolgen. Ganz gleich, ob es Freude, Schmerz oder Liebe war. Er hatte sie darin unterwiesen, doch nie hatte sie einen Schmerz wie in diesen Stunden erlitten. Sie war eine Zauberweberin, doch keine Heilerin. Eine Schnittwunde hätte sie schließen können, aber diese zerschmetterten Knochen, das ging weit über ihre Möglichkeiten hinaus. Sie könnte sich selbst betäuben, doch dann wäre sie völlig wehrlos. Sie könnte die Nerven in ihren Beinen abtöten, sodass sie den Schmerz nicht mehr spürte, doch das war unumkehrbar. Sie würde dann nie wieder Gefühl in ihren Beinen haben, es wäre, als würde sie auf hölzernen Beinen laufen. Also versuchte sie, aus dem Schmerz Kraft zu ziehen, und ein unbändiger Zorn erwuchs in ihr. Der half ihr jedoch nicht, die schwere Holztüre zu öffnen.

Die Stunden zogen sich. Irgendwann hörte sie Schritte. Menschenkinder! Sie flüsterten miteinander. Eine Gruppe von Kriegern und zwei Sklavinnen. Sie sollten kommen, sie ausziehen und waschen. Sie sollte sauber sein, wenn ihr der Unsterbliche Necahual das Herz aus der Brust schnitt. Necahual. Sie malte sich aus, wie sie ihn töten würde.

Der schwere Riegel der Zellentür wurde zurückgezogen. Zwei Schatten glitten hinein. Jaguarmänner. Sie bewegten sich wie Raubkatzen. Sie waren vorsichtig. Kyra roch die Angst der beiden. Und sie konnte hören, wie sich der Herzschlag der beiden beruhigte, als sie sie scheinbar bewusstlos am Boden des Kerkers liegen sahen. Sie kamen näher.

In diesem Augenblick stemmte Kyra beide Hände gegen den Boden. Dann schwang sie sich hoch, machte auf den Händen laufend drei Schritt, schlang ihre Oberschenkel um den Hals des vorderen der beiden Jaguarmänner und brach ihm mit einer raschen Drehung das Genick. Mit ihm stürzte sie zu Boden. Noch während sie fiel, rief sie ein Wort der Macht, das den Fluss der Zeit veränderte. Sie wusste um die Gefahren des Zaubers, den sie wob, also übertrieb sie es nicht. Sie veränderte die Zeit nur so sehr, dass sie den Nachteil durch ihre Verwundung ein wenig ausglich.

Ihr Sturz verlief so langsam, dass es ihr noch im Fallen gelang, sich die Krallenhände des Toten überzustreifen. Dann griff sie an. Der zweite Jaguarmann starb nur zehn Herzschläge nach seinem Gefährten.

Wieder schwang sie sich auf ihre Hände. Die Krallen klackten auf dem Boden, als sie aus der Zelle eilte. Sie war wie im Rausch. Die Kraft, von der Dylan, ihr Meister, gesprochen hatte. Sie war da. Kyra war wie ein verwundetes Raubtier. Schnell und ohne Gnade. Was sie tat, dauerte nur Augenblicke. Als sie den Zauber beendete und wieder ganz bei Sinnen war, sah sie sich umgeben von Toten. Auch die Sklavenmädchen hatten ihren Blutrausch nicht überlebt.

Kyra kroch zu den Werkzeugen bei den behauenen Steinen für den Tempelbau. Sie zog die Schäfte aus langstieligen Hämmern und sammelte die Gürtel der Toten ein. Dann setzte sie sich nieder und dachte an die Weiße Halle. Dachte an das Antlitz ihres Meisters, friedvoll und voller Kraft. Sie versuchte, den Schmerz ganz aus ihren Gedanken zu bannen, doch als sie die gebrochenen Knochen richtete, traten ihr Tränen in die Augen. Sie entging nur knapp einer Ohnmacht. Sie wusste, jetzt die Besinnung zu verlieren bedeutete den sicheren Tod. Es würde nicht lange dauern, bis die Jaguarmänner vermisst wurden.

Als Erstes legte sie die Holzschäfte um ihr rechtes Bein und wickelte die Gürtel darum. Sie keuchte vor Schmerz, als sie die Gürtel straff zog. Halb von Sinnen wiederholte sie die Marter an ihrem linken Bein.

Sie musste es zu den Himmelsschlangen schaffen! Die Götterdrachen mussten wissen, was die Devanthar ihren Brüdern angetan hatten. Diese Barbarei durfte nicht ungestraft bleiben. Wohl nie wieder würde ein Albenkind hier hinabgelangen, vom Blutsee erfahren und entkommen, um anschließend davon berichten zu können. Sie spürte, wie die Enden der gebrochenen Knochen gegeneinander rieben, als sie sich aufrichtete und sich auf den Stiel einer Hacke aufstützte. Wieder dachte sie an Dylan, an die Güte in seinem Gesicht. Sie musste Kraft aus diesem Schmerz ziehen. Kraft!

Kyra fand einen Weg, der nach oben führte. Zwei Mal musste sie sich im tiefen Schatten von Mauernischen verstecken, weil sie Schritte auf der langen Treppe hörte. Als sie im Garten des Tempelbezirks anlangte, war es Nacht. Sie versteckte sich zwischen Bäumen und Büschen, wurde eins mit den Schatten und entging der Aufmerksamkeit der Wachen. Als sie über die hohe Mauer kletterte, die den Garten einfasste, hörte sie Alarmrufe. Die Toten waren entdeckt.

Sie ließ sich in die angrenzende Gasse gleiten. Blut rann aus den offenen Wunden der Brüche. Mit jedem Schritt fühlte sie sich schwächer.

Kyra flüchtete durch Ruinen, die seit dem großen Beben nicht wieder aufgebaut worden waren. Als sie einen schlafenden Bettler fand, erdrosselte sie ihn, stahl ihm seinen Stab und seine Kleider. Es waren erbärmlich stinkende Lumpen. Doch nun passte ihre Gewandung zu dem jämmerlichen Hinken, mit dem sie sich vorwärtsbewegte.

Wenn sie sich versteckte, würden die Aussichten zu entkommen deutlich schlechter. Mit jeder Stunde würden die Zapote mehr Krieger aufbieten, die nach ihr suchten. Vielleicht hatten die Jaguarmänner schon ihre Witterung aufgenommen. Jagten diese Halbmenschen wie Raubtiere? Vermochten sie, einer Duftspur zu folgen? Kyra wusste es nicht, und sie wollte es nicht herausfinden.

Unbeirrt strebte sie dem Platz entgegen, an dem die Goldene Pforte lag. Trotz des Stabes, auf den sie sich stützte, taumelte sie bei jedem Schritt. Ihre Kraft drohte sie endgültig zu verlassen. Gleißende Lichtpunkte tanzten ihr vor den Augen. Gegenwart und Erinnerungen mischten sich zu grotesken Wahnbildern. Sie sah Dylan, er nahm sie beim Arm und führte sie, wie damals, als sie sich bei einem der endlosen Ausdauerläufe in den Wäldern nah der Weißen Halle einen Knöchel gebrochen hatte. Dann erzählte sie ein Märchen. Menschenkinder lachten. Sie wurde durch eine dicht gedrängte Menge geschoben. Unbarmherzige grüne Augen blickten auf sie herab. Dylan flüsterte ihr ins Ohr, dass alles gut werden würde. Der Boden unter ihren Füßen veränderte sich. Weich und federnd war er. Sie wäre fast gestürzt. Undurchdringliche Dunkelheit umfing sie.

Doch Dylan war da. So viele Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen, doch in dieser Stunde höchster Not wies er ihr den Weg. Sie spürte, dass sie allein war. Die Menschenkinder hatten sie verloren. Sie stürzte durch ein Licht. Dann drangen vertraute Stimmen an ihr Ohr. Kobolde! Sie richtete sich auf die Knie auf. Kleine, aufgeregt flüsternde Gestalten umringten sie.

»Bringt mich zu den Himmelsschlangen«, hauchte sie mit letzter Kraft. Dann stürzte sie vornüber, und Dunkelheit umfing sie.

Mit heissem Blut

Kyra endete mit ihrem Bericht, und ein Sturm der Entrüstung brach los. Nie zuvor hatte Nachtatem einen solchen Tumult der Gefühle bei seinen Nestbrüdern erlebt. Der Rote, der leidenschaftlichste von ihnen, der gerne in Elfengestalt den Töchtern der Elfenfürsten nachstellte, weinte in namenloser Trauer. Der Smaragdene, der sich stets um Ausgleich zwischen ihnen bemühte, war fassungslos, er versuchte zu erfassen, was mit ihren beiden Brüdern geschehen war, und fragte sich entsetzt, ob sie sich einen Teil ihrer Vernunft erhalten hatten und wussten, was ihnen angetan worden war.

Der Nachtblaue war erfüllt von Rachegedanken. Er stellte sich vor, die Devanthar zu zerfetzen, ihre Goldene Stadt niederzubrennen und die Kadaver des Frühlingsbringers und des Purpurnen aus dem Blutsee zu retten.

Sein flammender Bruder, der Wankelmütige, schwankte in seinen Gefühlen zwischen Trauer und flammendem Zorn. Wobei der Zorn begann, Überhand zu gewinnen. Auch er wollte Vergeltung.

Kämpfen wir!, sandte der Goldene ihnen allen seine Gedanken. Holen wir unsere toten Brüder zurück.

Nachtatem beugte sich zu der verwundeten Elfe hinab. Kyra hatte einst dem Himmlischen gedient. Dem Hüter des Wissens unter ihnen und dem Wächter über die Blaue Halle, in der er vor Jahren gestorben war, als die Devanthar die Bibliotheken tief unter der Erde einstürzen ließen.

Kyra zitterte. Auch sie empfand all die Gefühle der alten Drachen, wenn auch längst nicht so stark wie er und seine Brüder.

Er sprach ein Wort der Macht, nahm der Elfe ihren Schmerz und ließ sie in einen tiefen Schlaf sinken. Sie sollte nicht mit ansehen, wie die Wächter ihrer Welt stritten.

Nachtatem spürte, dass selbst der Smaragdene kurz davorstand, seine Zurückhaltung aufzugeben und dem Krieg das Wort zu reden.

Habt ihr bedacht, dass die Devanthar vielleicht genau das erreichen wollten, was gerade geschieht? Könnte es nicht ihre Absicht sein, uns zu einem unbedachten Angriff zu verleiten.

Ich habe in Kyras Gedanken gelesen, bestürmte ihn der Nachtblaue. Ich habe unsere Brüder gesehen. Sie sind wirklich dort. Es sind keine Lügengeschichten!

Steht das etwa im Widerspruch zu meinen Worten?, entgegnete Nachtatem kühl und ahnte, wie es weitergehen würde. Zu oft hatten sie schon gestritten.

Du bist also bereit zu dulden, was unseren Brüdern angetan wurde?, kam es lauernd vom Goldenen.

Ich bin bereit zu denken, bevor ich zu Taten schreite. Es kostete Nachtatem Überwindung, die Ruhe zu bewahren. Er spürte, wie sich Stimmung gegen ihn aufbaute. Er durfte sie nicht noch weiter anheizen.

Was lässt dich zögern? Wenn wir jetzt angreifen, werden wir sie überrumpeln. Wenn wir warten, lassen wir ihnen Zeit, sich vorzubereiten. Kriege werden von den Kühnen gewonnen!

Der Erstgeschlüpfte wusste, dass die Worte des Nachtblauen genau das waren, was seine Brüder hören wollten.

Fragt ihr euch nicht, warum Kyra bei ihrem ersten Versuch, die Goldene Pforte zu passieren, gefasst wurde, beim zweiten Mal aber ungehindert passieren konnte? Warum haben die Zapote nicht als Erstes die Wachen vor dem Albenstern verstärkt, als sie entkommen ist? Warum waren die Wachen, die dort schon standen, plötzlich so unaufmerksam?, fragte er.

Vielleicht scheuten die Zapote davor zurück, es die anderen Völker wissen zu lassen, dass ihnen eine so bedeutsame Gefangene entfliehen konnte, entgegnete der Goldene. Für sie ist es sehr wichtig, unter allen Umständen ihr Gesicht zu wahren. Aaron von Aram hätte anders gehandelt, aber ich sehe in den Ereignissen keine Widersprüche. Es war, wie unser Bruder sagte – es sind die Kühnen, die gewinnen. Kyra hat alles gewagt, und sie hat es zu uns geschafft.

Schicken wir das Himmelland, forderte der Nachtblaue. Dazu wurde es geschaffen. Wir können nicht verlieren. So wie Kyra berichtete, wurde die gesamte Kriegsflotte der Unsterblichen versammelt, um den Piraten Tarkon zu vernichten, was glückte. Noch liegen all diese Wolkensammler an einem Ort. Zerstören wir diese Schiffe. Ihr werdet sehen, dieser Angriff zwingt die Devanthar einzugreifen. Und wenn sie das tun, werden wir sie vernichten. Wir erwarten sie, so wie wir es in Selinunt getan haben. Und dieses Mal werden sie kommen. Verlieren sie ihre Flotte, dann werden sie auch Nangog verlieren. Die Gedanken seines kriegerischen Bruders entsprangen einem kühlen Gemüt, was es dem Dunklen umso verlockender machte zuzustimmen.

Aber das Himmelland ist noch nicht bereit, in die Schlacht zu ziehen, wandte der Smaragdene ein. Es ist noch nicht fertig gebaut.

Es wird niemals fertig sein, wenn wir auf seinen Baumeister hören. Er vergrößert es ohne Unterlass. Dabei ist es mehr als zwei Meilen lang. Es würde die Hälfte der Goldenen Stadt unter sich begraben, wenn es landet. Wie groß muss es noch werden? Der Nachtblaue fauchte ärgerlich. Lasst keinen Baumeister über Schlachten entscheiden. Ich bin ein Krieger, und ich sage euch, unsere Waffe ist bereit.

Es fehlt auch noch an eingewiesener Besatzung …

Wie lange muss man eingewiesen werden, um in ein Laufrad steigen zu können? Der Goldene schnaubte verächtlich, als er dem Smaragdenen das Wort abschnitt. Suchen wir doch bitte nicht länger nach Ausreden, die uns davon abhalten, das Richtige zu tun. Treiben wir ein paar Tausend Kobolde für die Laufräder zusammen und die Zwerge, um die Geschütze zu bedienen und mechanische Teile zu warten. Dann können wir losschlagen.

Nachtblauer, du bist der größte Krieger unter uns … Der Dunkle sprach nun direkt zu seinem Bruder. Die Devanthar haben den Ort und die Zeit für diese Schlacht bestimmt. Wie gut sind die Aussichten, dass wir gewinnen werden und dies keine Falle ist?

Ausreden!, fauchte der Goldene.

Meine Gazala reden immer öfter vom Ende der Welt. Bitte, Brüder, denkt nach! Wir sind nicht gezwungen, unsere Entscheidungen mit heißem Blut zu treffen.

Der Schweif des Goldenen knallte auf den Felsboden. Genug! Denkt an das, was dem Purpurnen und dem Frühlingsbringer angetan wurde. Was interessiert uns das Geschwätz der blinden Seherinnen? Ich habe die Zukunft in der Silberschale gesehen. Wir werden die Devanthar vernichten. Die Zukunft gehört uns, wenn wir das Herz haben, nach ihr zu greifen, statt zu zaudern.

Du vertraust der Silberschale, die vielleicht von den Devanthar erschaffen wurde, Bruder? Nachtatem wandte sich an die anderen. Ich bitte euch nur um einen Tag. Bedenkt euer Handeln, meine Brüder. Er spürte die Ablehnung in ihren Herzen.

Der Goldene sah ihn lange an. Auch er schien zu spüren, dass die Entscheidung bereits gefallen war. Ich vertraue vor allem darauf, dass ich es bin, der meine Zukunft schmiedet. Wer von euch ist wie ich der Meinung, dass wir das Himmelland in die Schlacht schicken sollen? Wer will, dass noch in dieser Stunde alle Befehle ergehen, die letzte Schlacht zu schlagen?

Alle stimmten sie zu. Nachtatem fühlte den Triumph des Goldenen. Er gab sich keine Mühe, dieses Gefühl zu verbergen. Er hatte nun die Führung der Himmelsschlangen übernommen, und er würde sie nicht mehr abtreten.

Wirst du mit uns kämpfen, Bruder?

Ich bin der Erstgeschlüpfte. Euch alle habe ich unter meinen Schwingen beschützt. Ich gehe, wohin ihr gehen werdet.

Ausgesetzt

Nachtatem sah in die flehenden, dunklen Augen. Er hatte in den letzten Jahren verstanden, sein Wachstum zu beherrschen. Sein Sohn sah aus, wie man es bei einem Jungen zwischen sieben und acht erwartete. Er wirkte hager und zerbrechlich. Und diese Augen vermochten ohne Worte Herzen zu gewinnen.

Nachtatem wusste, dass sein Sohn es schon erprobt hatte. Er wusste, dass sein Äußeres nicht mit seinen tatsächlichen Fähigkeiten übereinstimmte. Allerdings war ihm nicht klar, was dieses Spiel nun sollte.

Sein Sohn war alles, aber ganz gewiss nicht harmlos. Und mochten die Alben jedem Gnade schenken, der darauf hereinfiel.

»Ich werde dich holen, wenn alles vorüber ist. Du bist im Jadegarten nicht länger sicher.«

Warum?

Nachtatem lag in Drachengestalt auf der Lichtung inmitten des Eichenhains nahe dem Albenhaupt, den er als Zuflucht gewählt hatte. Der Duft von gesplittertem Holz lag in der Luft. Seine Schwingen hatten einige der Stämme zerschmettert, als er gelandet war. Er zog es vor, mit seinem Sohn zu sprechen. In seinen Gedanken zu sein hatte er immer schon als unangenehm empfunden.

»Mein Bruder, der Goldene, wünscht sich sein Leben lang, der Erstgeschlüpfte zu sein. Dieser Wunsch kann sich nicht erfüllen. Aber er kann der Älteste unter den Lebenden werden, und ich fürchte, dass er dies beabsichtigt.«

Warum tötest du ihn dann nicht, Vater?

»Weil er mein Bruder ist und ich mir nicht ganz sicher bin. Ich bin auf das Schlimmste vorbereitet und hoffe auf das Beste.«

Damit begibst du dich freiwillig in die schwächere Position, Vater. Ist das klug?

»Nein, das ist Bruderliebe. Ein Gefühl, das du nicht kennst.«

Weil du es mir verweigert hast. Ich weiß um meine beiden Geschwister in der Alten Veste.

Nachtatem hatte lange geahnt, dass es so war. In den letzten Jahren waren drei Kobolde spurlos im Jadegarten verschwunden. Er hatte immer befürchtet, dass sein Sohn etwas damit zu tun gehabt hatte. Dass er wissen wollte, was er vor ihm verborgen hielt. »Sie sind nicht wie du. Du würdest dich nicht mit ihnen verstehen.«

Ich wünschte mir, du hättest mir Gelegenheit gegeben, es selbst herauszufinden.

»Du hattest die Gelegenheit im Leib deiner Mutter. Du hast dich bereits damals gegen deine Geschwister entschieden.«

Weil mich mein Instinkt lenkte, Vater.

Nachtatem schüttelte bedächtig seinen schweren Kopf. Sie beide wussten, dass er seinen Instinkten zwar gerne nachgab, aber sich niemals von ihnen beherrschen ließ. »Es gibt in diesem Wald nichts, was dir gefährlich werden könnte. Aber gehe nicht nach Westen, zu den Slanga-Bergen. Solltest du auf die Weiße Frau treffen, wird sie nicht zögern, dich zu töten.«

Wer ist das?

»Sie ist fast so alt wie wir Himmelsschlangen und uns nicht wohlgesinnt. Es gibt kein zweites Geschöpf wie sie, und ich habe sie stets gemieden, also weiß ich nichts über sie. Betrachte dies einfach als einen langen Jagdausflug. Wir beide wissen, wie gerne du jagst und wie sehr du es genießen wirst, dass ich nicht in der Nähe bin, um über dich zu wachen.«

Sein Sohn legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Ein Lächeln spielte um seine schmalen Lippen. Es gibt hier Wölfe. Ich habe ihre Witterung.

Nachtatem dachte daran, dass die Jäger vermutlich den Fehler machen würden, seinen Sohn für leichte Beute zu halten. Unter anderen Umständen hätte er ihn nicht unbeaufsichtigt in der Wildnis zurückgelassen. Aber er mochte sich nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn der Goldene ihn fand. Sein Bruder würde die schlechtesten Seiten des Jungen zum Vorschein bringen, während er sich stets darum bemüht hatte, die Dunkelheit in dem Kind zu beherrschen. »Ich weiß um deine Fähigkeiten als Zauberweber. Ich vermute, wenn du es wolltest, könntest du einen Drachenpfad erschaffen und in dein Versteck in der Pyramide im Jadegarten zurückkehren. Glaube mir, dass dies keine kluge Entscheidung wäre.«

Sind nicht auch meine Geschwister in Gefahr?

»Um dich habe ich mich zuerst gekümmert.«

Ich bin also gefährdeter als der kleine Krüppel?

Nachtatem hasste es, wenn er so war. »Ziehe deine Schlüsse aus meinen Taten.«

Das habe ich bereits, Vater. Er lächelte. Dann werde ich mir nun den Wald ansehen, den du mir auserwählt hast. Damit wandte er sich ab und schlenderte betont lässig davon. Nach ein paar Schritten begann er ein Lied zu pfeifen. So zerbrechlich sah er aus. So fehl am Platz in dieser Wildnis.

Sein Sohn drehte sich nicht mehr nach ihm um, bis er im Unterholz verschwunden war. Nachtatem hatte ihm nie einen Namen gegeben, doch manchmal verglich er ihn mit Sonnentau. Er war süß, verlockend und ebenso tödlich, wie Sonnentau für Insekten war. Nur dass es seinen Sohn immer schon nach Beute gelüstet hatte, die sich ihm überlegen wähnte.

Er weitete die Schwingen und erhob sich in die Luft. Er verließ den Alten Wald voller unguter Gefühle. Ihn hierherzubringen war die beste unter schlechten Lösungen gewesen. Gut war es nicht.

Eine unfehlbare Falle

»Die Drachenelfe ist entkommen«, erklärte der Gefiederte. »Obwohl Necahual ihre Flucht fast verhindert hätte.«

»Gehorcht dein Unsterblicher dir etwa nicht?«

Langarm, der bislang als stummer Zuhörer zugegen gewesen war, fragte sich, wer diese impertinente Frage gestellt hatte. Sie alle hatten sich im Saal von Licht und Dunkelheit versammelt. Dem Raum, der in bedrückender Finsternis lag, die von Lichtsäulen durchbrochen wurde, die in unregelmäßigem Rhythmus von der hohen, gewölbten Decke herabstachen. Dieses Licht schnitt nur eng abgezirkelte Inseln in die Dunkelheit, es reichte trotz seiner Intensität nicht aus, die Finsternis zu vertreiben. So war nie klar, wie viele von ihnen sich in dem weiten Saal aufhielten, und oft konnte man nicht sehen, wer sprach.

Die Art des Einwurfs erinnerte Langarm an den Ebermann. Aber es war unmöglich, dass sich sein Bruder jetzt schon aus seinem einsamen Gefängnis befreit hatte.

»Mein Unsterblicher leidet daran, ein vernünftiger, selbstständig denkender Mann zu sein«, entgegnete der Gefiederte ruhig. »Natürlich habe ich ihn nicht in unsere Absichten mit der Drachenelfe eingeweiht. Und er war besorgt über meinen leichtfertigen Umgang mit ihr. Völlig zu Recht. Er konnte ja nicht ahnen, dass es unser Wunsch war, dass sie entkommt.«

»Und sie hat alles gesehen?«, fragte eine andere Stimme aus dem Dunkel.

»Alles, was sie sehen sollte. Sie weiß um das Schicksal der beiden Himmelsschlangen. Aber sie ahnt nichts von dem Verderben, das auf ihre Gebieter lauert.«

»Aber wie könnt ihr euch so sicher sein, auf welche Weise sie angreifen werden«, meldete sich der Löwenhäuptige mit seiner unverwechselbaren, sonoren Stimme zu Wort.

»Sie haben im Grunde nur eine Wahl.«

Langarm überlief jedes Mal ein wohliger Schauder, wenn er Išta sprechen hörte. So lange würde es noch bis zur nächsten heiligen Hochzeit dauern. So lange, bis die herrschsüchtige Göttin sich ihm, dem meistverspotteten der Götter, wieder fügen musste.

»Die Drachenelfen werden die mächtigen Körper der gefiederten Schlangen nicht aus dem Blutsee befreien können, um sie fortzubringen«, erklärte Išta. »Sie werden also eine Streitmacht aufbieten müssen, um sich bis zur Tempelhöhle der Zapote durchzukämpfen. Letztlich aber gebührt es eigentlich nur den Himmelsschlangen, ihre Brüder zu holen. Der einzig erfolgversprechende Weg ist ein Angriff aus der Luft. Nach unseren Informationen gebieten sie über etwa zehn der neuen Wolkensammler und eine unbekannte Anzahl von Drachen. Die Flotte über unserer Stadt ist ihnen mit Gewissheit überlegen. Es wird also nicht genügen, wenn die Himmelsschlangen ihre Handlanger schicken. Sie werden selbst eingreifen müssen. Genau darauf warten wir.«

»Und wenn ihnen klar ist, dass dies nur eine Falle sein kann.«

Der Einwand des Löwenhäuptigen ärgerte Langarm. Wie konnte er nur in jeder Brühe nach einem Haar suchen!

»Können sie es sich leisten, nicht zu kommen?«

Langarm konnte Išta zwar nicht sehen, aber so wie ihre Stimme klang, war er sich sicher, dass sie lächelte.

»Würden wir einen von uns so vegetieren lassen, wenn er von den Himmelsschlangen gefangen worden wäre?«, fragte der Gefiederte in die Dunkelheit. »Sie haben keine Wahl. Sie werden kommen.«

»Und wenn sie auch eine List ersinnen?«, setzte der Löwenhäuptige nach.

»Wie sollten sie siegen? Unsere Flotte ist stärker. Sollte das nicht genügen, schicken wir den Reißzahn. Und sollte auch er nicht triumphieren, gehen wir das Wagnis ein und erscheinen höchstselbst auf dem Schlachtfeld. Entweder um die Himmelsschlangen untergehen zu sehen oder um ihnen, falls nötig, den Todesstoß zu versetzen.«

Die Worte Ištas verletzten Langarm. Während unter seinen Brüdern und Schwestern verärgertes Gemurmel losbrach, dass sie ihr Leben wagen sollten, trat er in eine der Lichtsäulen. »Der Reißzahn ist unvergleichlich! Ihr habt ihn nicht gesehen. Es gibt nichts, was ihm gleichkommt. Er wird mit Leichtigkeit eine Himmelsschlange zerfetzen. Dafür stehe ich mit meinem Leben ein.«

»Ein Leben, das sich schon die Himmelsschlangen geholt haben werden, wenn du dich irrst!«, spottete der Löwenhäuptige.

Langarm spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. »Komm mit mir und sieh ihn dir an. Dann wirst du nicht mehr schwafeln. Ihr alle seid eingeladen, den Reißzahn anzusehen. Er ist unvergleichlich! Ich mache keine großen Worte.«

Einige seiner Brüder und Schwestern traten zu ihm ins Licht. Sie waren neugierig.

»Bevor sich diese Versammlung auflöst, gilt es noch eine Warnung auszusprechen«, sagte der Gefiederte gebieterisch. »Ganz gleich, auf welche Art diese Schlacht letztlich ausgefochten wird, sie wird über der Goldenen Stadt und in ihren Straßen stattfinden. Sollte es Menschenkinder geben, deren Leben wichtig für die Zukunft ist, solltet ihr erwägen, sie nach Daia zu bringen. Die Stadt und ihre Bewohner werden in Mitleidenschaft gezogen werden. Aber geht mit Bedacht vor! Schafft nicht zu viele Höflinge fort. Wir dürfen unsere Absichten den feindlichen Spitzeln nicht kundtun, indem wir die Paläste und Handelskontore evakuieren. Bringt nur jene fort, die wirklich unersetzlich sind.«

Langarm musste an sich halten, um dazu nichts zu sagen. Er war kein Freund der Menschenkinder. Er empfand nichts für sie und hatte sich nie darum bemüht, einer ihrer Götter zu sein. Allerdings war der Zynismus, den der Gefiederte und auch Išta an den Tag legten, verabscheuungswürdig. Die Stadt und ihre Bewohner werden in Mitleidenschaft gezogen werden, drückte nicht einmal annähernd aus, was geschehen würde, wenn der Reißzahn sich erhob. Gerade die beiden wussten das ganz genau.

Der Traum der Göttin

Sie spürte ihr Herz. Die fehlende Hälfte. Es war nah! Nangog war sich bewusst, dass sie träumte. Doch es war ein Traum am Rande des Erwachens. Einer jener Träume, deren Verlauf man lenken konnte. Und sie war sich sicher, dass ihr Herz wirklich in der Nähe war. Die Albenkinder hatten ihr demütig zurückgebracht, was sie ihr genommen hatten. Doch die Devanthar würden dies niemals tun. Sie verstand nicht, warum sie so leichtfertig waren, die zweite Hälfte ihres Herzens nach Nangog zurückgebracht zu haben. Es war alles da, nicht nur winzige Splitter wie in der Vergangenheit.

Sie hatte begonnen, ihre Kinder um sich zu sammeln. Jene, die gerne gekommen waren, und auch jene, deren Willen sie hatte brechen müssen. Ihre Macht wuchs. Dass die Devanthar Splitter ihres Herzens auf ihre Welt gebracht hatten, hatte das Gleichgewicht verschoben. Sie war nicht mehr ganz so gelähmt wie früher. Sie hatte begonnen zu lenken. Im Traum … Aber sie wusste, dass manche dieser Träume Wahrheit geworden waren.

Die Grünen Geister gab es nicht mehr. Sie hatten sich in Fleisch gekleidet, und sie hatte sie alle zu sich befohlen. Sie waren in der weiten Höhle im Herzen der hohlen Welt versammelt. Sie klammerten sich an den Fels, trauten ihrem Versprechen, dass dieser Albtraum schon bald vorüber war. Die Stunde des Erwachens war nah. Sie musste nur noch die fehlende Hälfte ihres Herzens finden. Und es war hier! Sie spürte es.

Würde ihr Sohn doch noch leben. Er würde es ihr bringen. Seinen Tod hatte sie lange nicht verwunden. Die Mörder würden es ihr büßen, sobald ihr Herz wieder vollständig war. Die verlorenen Splitter in den Köpfen der fliegenden Kreaturen spielten keine Rolle. Das große Stück, das die Devanthar gebracht hatten – das musste sie aufspüren!

Die Göttin streckte ihre Fühler aus. Ihre grünen Kristalle. Zu Zehntausenden wuchsen sie ihr aus dem Hinterkopf. Ein Gespinst, das in alle Winkel ihrer Welt reichte. Sie brauchte mehr davon … Sie sammelte ihre Kraft. Trieb neue Kristalle durch den Fels. In jene Gegend, die von den Menschenkindern der Weltenmund genannt wurde. Mächtige, baumdicke Stränge schoben sich durch das Gestein. Es dauerte quälend lange – ein paar Tage noch.

Doch was waren Tage? Ihre Gefangenschaft währte ein Zeitalter. Sie musste sich gedulden. Musste ganz genau sehen, wo ihr Herz verwahrt wurde. Es schien in Metall eingeschlossen zu sein. Doch das würde ihre Kinder nicht aufhalten. Sobald sie den verborgenen Ort fand, würde sie ihr Heer entfesseln. In dichten Trauben hingen sie im Fels. Und sie waren alle wieder folgsam und brannten darauf, sich vor ihr zu beweisen.

Sie spürte die Kristalle wachsen. Viele. Nicht mehr lange …

Brutpflege

Nandalee spürte ihn kommen. »Eleborn, nimm die Kinder und zieh dich mit ihnen zurück. Und sorg dafür, dass sie nicht aus den Fenstern sehen.«

»Was ist denn los, Mama?«, fragte Emerelle.

Sie antwortete ihr nicht. Ein überwältigendes Gefühl der Beklommenheit eilte ihm voraus. Dann war er auf dem Landeplatz vor dem Tor zur Festung. Er musste den mühsamen Weg durch die Felsen gewählt haben. Wahrscheinlich, weil er seine Gedanken noch einmal ordnen wollte, bevor er mit ihr sprach.

Eleborns Krücke klackte auf den Steinen. Die Kinder liefen an seiner Seite durch das Portal des Palas, als der Schatten in den Hof fiel. Die Dunkelheit, die den Erstgeschlüpften stets umgab.

Nandalee fröstelte es. Etwas war heute anders.

Die schlanke, hochgewachsene Gestalt trat aus dem Tortunnel. »Die Zeit, in der sich alles verändern wird, ist angebrochen, meine Dame«, sagte er, ohne sich mit den üblichen Höflichkeiten aufzuhalten. »Es ist wichtig, dass Ihr genau tun werdet, was ich Euch sage, auch wenn mir bewusst ist, dass dies zutiefst Eurem Naturell entspricht.«

»Und was ändert sich?«

»Nodon und der größere Teil meiner Drachenelfen werden binnen der nächsten Stunde die Festung verlassen, und auch ich werde nicht mehr lange im Jadegarten weilen. Ich wünsche, dass Ihr die Kinder in die Pyramide bringt. Dort werden sie vor den meisten Feinden sicher sein.«

»Welchen Feinden?«

Er machte eine ärgerliche Geste, als wollte er ihre Worte aus der Luft wischen. »Ihr wisst, dass der Goldene Emerelle und Meliander holen will.« Er schnippte mit den Fingern, und plötzlich waren da die beiden Ringe. Sie lagen in seiner ausgestreckten Hand. »Ich habe entdeckt, was mein Bruder mit diesem Geschenk bezweckt. Wann immer die Kinder die Ringe tragen, weiß er bis auf zehn Schritt genau, wo sie sich aufhalten. Wenn die Ringe aber für längere Zeit aufhören, sich zu bewegen, wird er wissen, dass die Kinder sie abgelegt haben, und seine Pläne vielleicht überstürzt in die Tat umsetzen. Ihr seht, es ist ein Geschenk voller Heimtücke. Dennoch würde ich empfehlen, die Ringe den Kindern zu geben. Zumindest vorerst. Dann wird mein Bruder glauben, dass seine List unentdeckt geblieben ist.«

»Ihr glaubt, er wird hierherkommen?« Sie hatte gewusst, dass dies eines Tages geschehen würde, aber so schnell … »Wenn die Kinder schlafen, bewegen sie sich auch nicht.«

»Ihr wollt mir erzählen, dass die beiden völlig still in ihren Betten liegen, wenn sie sich zur Ruhe begeben? Habt Ihr vergessen, dass ich gelegentlich die Freude hatte, über ihren Schlaf wachen zu dürfen? Er wird es merken, wenn die Ringe sich für eine Stunde lang nicht einmal mehr um einen Zoll bewegen. Sie sind ein Geschenk voller Heimtücke.«

Nandalee begriff. Sobald sie den Kindern die Ringe abnahm, würde der Goldene wissen, dass sie auf der Flucht waren. Und wenn sie es nicht tat, wusste er zu jeder Zeit, wo sie sich aufhielten.

»Könnt Ihr den Zauber brechen, mein Gebieter?«

»Auch das wird er bemerken, Dame Nandalee. Die letzte Schlacht, jene, die uns den Tod oder den ewigen Frieden bringen wird, steht unmittelbar bevor. Mein Bruder wird abgelenkt sein. Und auch die Devanthar. Alle werden mit all ihrer Kraft an der Vernichtung der jeweils anderen wirken. Deshalb ist dies die Stunde, Euch noch einmal von der Seite Eurer Kinder zu reißen, meine Dame. Dieses eine Mal tue ich es jedoch nur, um eine Schuld bei Euch zu tilgen. Ihr müsst nach Daia gehen. An einen Ort, den noch nie zuvor ein Albenkind betreten hat.«

Er erklärte Nandalee, was er von ihr erwartete.

»Nun, werdet Ihr diese Mission annehmen?«

Sie verbeugte sich vor ihm, aufgewühlt von widerstreitenden Gefühlen. Sie hatte Angst um die Kinder, aber auch vor dem, was sie erwarten würde. Und zugleich hoffte sie zum ersten Mal seit Langem wieder darauf, dass es für ihre kleine Familie eine glückliche Zukunft geben könnte.

»Warum, mein Gebieter, soll ich die Kinder in die Pyramide bringen? Wären sie nicht auch hier in der Alten Veste oder am Grund des Sees in Eleborns verborgenem Reich in Sicherheit.«

»Nein!«

Nandalee war überrascht von der Heftigkeit des Ausbruchs, und sie hatte den Eindruck, dass es ein Geheimnis hinter der Entscheidung Nachtatems gab.

»Ihr müsst in die Grotte unter der Pyramide. Dies ist mein Nest. Es ist mein letzter Rückzugsort. Er ist meinen Brüdern heilig. Sie würden es nicht wagen, dieses uralte Gesetz zu brechen. Nicht einmal der Goldene wäre so unverfroren, denn er weiß, er würde die Unterstützung all meiner anderen Brüder verlieren, wenn er dort eindringt. Noch kann er sich das nicht leisten. Schickt sie mit Eleborn dorthin, damit sie jemanden um sich haben, dem sie vertrauen. Und schärft den Kindern ein, dass sie die Pyramide unter keinen Umständen verlassen dürfen. Das Tal ist nicht sicher. Am wenigsten die Alte Veste. Der Goldene und Bidayn kennen sie nun.«

Nandalee war ergriffen von der Fürsorge des Erstgeschlüpften – bis ihr der Gedanke kam, dass auch er Meliander und Emerelle als seine Brut betrachtete. Eine Vorstellung, die ihr zutiefst missfiel. Und dennoch würde sie ohne Widerspruch gehorchen. Die anstehende Mission übertraf alle Verrücktheiten ihres Lebens. Wenn sie in die Welt der Menschen reiste, um dort den verbotensten aller Orte heimzusuchen, wollte sie zumindest ihre Kinder in Sicherheit wissen.

Vor den Schöpfer treten

Was für eine Einöde! Hornbori hatte, bevor er durch den Albenstern geschritten war, aufgeschnappt, dass es zum Himmelland gehen sollte. Das Wort war nur beiläufig gefallen. Wirklich unterrichtet hatte ihn niemand. Er war verbittert darüber. Immerhin war er der Herrscher aller Zwerge! Wer musste man denn noch werden, damit die Himmelsschlangen und die wenigen Elfen, die ihr Vertrauen genossen, einen in ihre Pläne einweihten.

Er trat ein wenig beiseite, damit er den Zwergen, die aus dem Albenstern traten, nicht im Weg stand. Siebenhundert erfahrene Krieger hatte er mitgebracht. Und bald würden noch weitere folgen.

Galar und Nyr gesellten sich zu ihm. Sie blickten so missmutig, wie er sich fühlte.

»Was ist das denn für ein löchriger Kuhfladen«, grollte der Schmied.

Seine wie stets etwas zu bildhafte Sprache traf es auf den Punkt. Vor ihnen lag eine weite Ebene, die mit großen, wassergefüllten Kratern übersät war. Das gesamte Erdreich wirkte aufgerissen. Kein Baum wuchs hier, nur zerzaustes Buschwerk und Disteln. Ein tiefer Himmel hing über der Ebene. Dichte blassgraue Wolken, die zum Greifen nahe wirkten. Zwischen einigen der Krater stiegen Dunstschwaden auf.

»Herr aller Tiefen?« Ein Elf erschien zwischen den Zwergen, die aus dem Albenstern traten. Hornbori erinnerte sich, dass sich der Kerl ihm in der Tiefen Stadt vorgestellt hatte. Allerdings hatte er den Namen schon wieder vergessen. Es war irgendetwas gewesen, das auf yn endete. Wer konnte sich schon Elfennamen merken?

»Was?«

Der Elf verbeugte sich. »Willkommen auf der Ebene von Forlon. Würdet Ihr mir gestatten, dass ich Eure stolzen Krieger in Gruppen ordne, damit es gleich zügiger vorangehen kann? Es wäre auch von Vorteil, wenn ich sie schon an die Plätze bringen würde, von denen sie abgeholt werden.«

»Dachte mir schon, dass dies hier nicht das Himmelland sein kann.«

Der Elf wirkte überrascht. »Ihr seid also eingeweiht …«

»Natürlich«, log Hornbori. »Immerhin bin ich der Herr aller Tiefen.« Aus den Augenwinkeln sah er, wie ihn seine beiden Gefährten anstarrten. Nyr überrascht, Galar verärgert.

Landekörbe sanken aus der dichten Wolkendecke herab. Hornbori kannte solche Körbe von den Schiffen der wenigen Wolkensammler, die sich den Albenkindern angeschlossen hatten. Er hatte schon ein paar überaus unangenehme Fahrten in den Himmeln Nangogs in solchen Körben hinter sich. Dass es nun auch in Albenmark Wolkensammler gab, wunderte ihn. Wieder blickte er über die zahlreichen Körbe, von denen die ersten bereits den zerschundenen Boden berührten. Es waren genug, um alle siebenhundert Zwerge aufzunehmen.

»Du wolltest meine Männer aufteilen. Aber sag mir doch zuerst, wohin ich mit meinen beiden Kameraden soll.«

Der Elf hob abwehrend die Hände. »Nein, Ihr könnt doch nicht in einem Korb in den Himmel fahren. Ihr werdet überdies erwartet. Nur ein König soll einen König tragen, wenn er vor den Schöpfer tritt.«

Diese Formulierung fand Hornbori überaus beunruhigend. »Ich trete vor den Schöpfer?«

»Der Königsfurz tritt vor seinen Schöpfer«, mischte sich jetzt Galar ein und legte eine Hand an seine Axt am Gürtel.

»Nein, so habe ich das nicht gesagt«, wehrte der Elf entschieden ab. »Er tritt vor den Schöpfer. So nennen wir ihn alle. Den Schöpfer des Himmellandes.« Ein verklärter Glanz trat in seine Augen. »Er ist einfach unvergleichlich, auch wenn sein Name ein Geheimnis bleiben muss.« Er sah auf Galar hinab, und der Glanz wich aus seinem Blick. »Ihr zwei werdet in einem Korb nach oben fahren und … Ah!« Er streckte den Arm aus und wies zur Wolkendecke.

Hornbori drehte sich um und erblickte den größten Adler, der ihm je begegnet war. Auf weit ausgebreiteten Schwingen glitt er majestätisch vom Himmel herab und landete nur wenige Schritt von ihnen entfernt.

»Darf ich Euch bekannt machen? Dies ist Streiter, der neue König der Schwarzkopfadler.« Der Elf verneigte sich tatsächlich vor dem Vogel. »Und dies, Majestät, ist Hornbori, der Herr aller Tiefen.«

»Du willst dich wirklich dem Federhaufen anvertrauen?«, raunte Galar. »Der sieht aus, als würde er überlegen, dich zu frühstücken.«

In der Tat drehte der Adler ruckartig den Kopf und sah mit seinen schwarzen Augen überaus verächtlich auf ihn herab, wie es Hornbori erschien. Er könnte dem riesigen Vogel zwischen den Beinen hindurchlaufen und zwischen seinem Helm und dem Federkleid wäre noch ein halber Schritt Platz.

»Ähm … Wie reist man denn auf so einem Adler?«

»In Anbetracht Eurer Größe würde ich vorschlagen, Ihr steigt auf einen Fuß und haltet Euch am Bein fest. Ihr werdet doch nicht höhenkrank, Herr aller Tiefen?« Der Elf wirkte plötzlich sehr besorgt.

»Natürlich nicht«, murmelte Hornbori in seinen Bart, ohne sich sicher zu sein.

»Bekomme ich deine Axt, wenn du verreckst?«, fragte Galar grinsend.

Hornbori bedachte ihn mit einem bösen Blick. »Wir sehen uns im Himmel«, sagte er, trat auf den Fuß des Adlers und umklammerte mit beiden Armen das knochige Bein.

Der König der Adler weitete die Schwingen und machte einige Hüpfer, bei denen Hornbori fast abgeworfen worden wäre. Dann hoben sie ab. Mit kräftigen Flügelschlägen gewann der Raubvogel rasch an Höhe, und sie verschwanden in den Wolken.

Für Augenblicke schien es Hornbori, als stünden sie still in der Luft, obwohl der Adler immer noch mit den Flügeln schlug. So dicht war der Dunst, dass der Zwerg seine eigenen Füße nicht sehen konnte.

Ein großer Schatten erschien zu seiner Linken und verschwand. Dann war rechts etwas Dunkles in den Wolken. Hornbori hatte das Gefühl, dass sie zwischen Felsen hindurchflogen, was natürlich völliger Unsinn war, da unter ihnen eine Ebene lag, auf der sich kein einziger Berg erhoben hatte.

Feuchtigkeit benetzte sein Gesicht, und schon schimmerten feine Wasserperlen auf seinem Bart, als plötzlich der Dunst zerriss. Der Adler schwenkte ruckartig nach links, und Hornbori klammerte sich verzweifelt an das Bein – und dann hätte er fast losgelassen. Vor ihnen schwebte ein graubrauner Fels, von dem Kondenswasser troff. Ein schwebender Fels! Und daneben noch einer und noch einer … Aus einer Felsspalte blickte ein Kobold zu ihm herab.

Der Adler flog eine weitere Kehre und stieg dann in eine weite Höhlung inmitten eines der Felsen auf. Sie flogen zwischen den Flügeln einer mehr als fünfzehn Schritt durchmessenden Schiffsschraube hindurch. Sie lag waagerecht und still! Das Metall war von rotbraunem Flugrost überzogen. Sie sah aus wie die Schiffsschrauben der Aale, nur dass sie hundertfach größer war. Ein Kranz aus Eisen, der im Fels eingebettet war, fasste die Schiffsschraube ein.

Die Schwingen des Adlers streiften über die Wand der Höhlung, durch die sie flogen, dann erreichten sie eine Grotte. Über einem holzbeplankten Deck erhob sich eine Vogelstange, die aus einem dicken Eichenstamm gefertigt war. Dort kauerte bereits ein weiterer Schwarzkopfadler.

Streiter landete auf der Stange neben ihm.

Augenblicklich schoben Kobolde eine rollende Treppe herbei. Erst als sich die frechen kleinen Diener räusperten, löste Hornbori seine Arme vom Adlerbein. Staunend sah er sich um. Dann trat er mit weichen Knien auf die Treppe und legte beide Hände auf die Handläufe. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen, ja, er hatte nicht einmal davon gehört. Schwebende Felsen!

»Der Schöpfer erwartet Euch, Herr aller Tiefen«, sprach ihn einer der Kobolde an, klang aber nicht im Mindesten so demütig, wie seine Worte hätten vermuten lassen. Verärgert blickte Hornbori herab und sah in ein vertrautes Gesicht.

»Che?«

Der Kobold grinste ihn breit an. Er trug immer noch seine rote, in Zwergenblut getränkte Mütze. »Heermeister. Du bist jetzt also der Obermotz aller Zwerge. Das lässt hoffen! Vielleicht kannst du ja eines Tages deinen vertrottelten Brüdern in Ishaven klarmachen, dass es nicht klug ist, sich mit den Eisbärten anzulegen.«

Hornbori seufzte. Da war die Hoffnung größer, dass eines Tages die Sonne im Westen aufgehen würde. »Vielleicht wenn Ginnar eines Tages der Alte in der Tiefe wird.«

Che zog die Stirn in Falten. Seine Rebellen hatten Ginnar vor langer Zeit seinen Bart samt der Haut darunter aus dem Gesicht geschnitten. Das würde er ihnen niemals vergeben. Allerdings hatten sie in der Vergangenheit schon gemeinsam gekämpft. Der Krieg in Nangog hatte ihnen keine andere Wahl gelassen.

»Er ist hier an Bord«, sagte Che kühl. »Wenn du ihn triffst, kannst du ihm gleich ausrichten, dass wir trotz aller Männer, die wir nach hier oben gebracht haben, noch über genügend Krieger verfügen, um seine Zwergenbrut weitere zwanzig Jahre zu bekriegen.« Plötzlich grinste er wieder. »Und wir haben Freunde im Volk der Trolle, die gerne Zwerge frühstücken. Groz ist mit ein paar seiner Kumpels in derselben Grotte zum Dienst eingeteilt wie ich mit meinen Männern.«

Hornbori erinnerte sich noch lebhaft an den Troll. Einst hatte der Fleischberg Galar vorgeschlagen, ihn, den Heermeister, mit dem Kopf voran in die Jauchegrube unter einem Donnerbalken zu tunken.

»Schön, alte Bekannte um sich zu wissen«, bemerkte Hornbori knapp. »Aber ich würde gerne …«

»Natürlich!«, unterbrach ihn Che beflissen. »Du bist ja hier, um vor den Schöpfer zu treten. Er erwartet dich bereits. Komm!«

Der Kobold führte ihn durch einen Tunnel, zwei kleinere Grotten, die von Dutzenden Kobolden bevölkert wurden, und dann über eine Brücke aus dicken Eisenträgern. Bewundernd betrachtete Hornbori die von Rost überzogene Konstruktion. Sie war aus gutem Stahl gefertigt. Der Rost hatte zwar die ganze Oberfläche rotbraun überpudert, er fraß sich aber an keiner Stelle in die Tiefe, sodass er die Stabilität des Bauwerks nicht gefährdete.

»Da ist er«, flüsterte Che, und zum ersten Mal, seit sie sich wiederbegegnet waren, klang er respektvoll.

»Prüfst du meine Arbeit, Herr aller Tiefen«, erklang eine melodische Stimme.

Hornbori sah auf. Und er traute seinen Augen kaum …

Das Himmelland

Hornbori starrte den hochgewachsenen Elfen fassungslos an. Es war das erste Mal, dass er ihn ohne eine Lederschürze sah. »Ich dachte, dich hätten die Grünen Geister zerrissen.«

Gobhayn erwiderte das Lächeln. »Es heißt auch, ich sei mit einer Dryade in den Dschungeln des Waldmeers verschollen oder dass der Nachtblaue mich in einem Anfall von Jähzorn gefressen hätte. Wenig gefallen hat mir die Geschichte, dass ich in einem Sturm in der Jadesee ertrunken sei.« Er hob die Hände in nonchalanter Geste. »Wie du siehst, ist die Wirklichkeit viel unglaublicher als jede Geschichte, die die Himmelsschlangen über mich verbreiten ließen.«

»Du bist der Schöpfer?«

»Ich finde den Namen etwas hochtrabend und mag ihn nicht sonderlich. Ich würde mich freuen, wenn du mich weiterhin mit meinem richtigen Namen ansprechen würdest.«

»Was ist das alles hier?« Hornbori konnte noch immer nicht glauben, dass er im Inneren eines schwebenden Felsens stand. Fels sollte fest mit der Erde verbunden sein. Alles andere war ihm unheimlich.

»Komm, lass uns an einem gastlicheren Ort reden. Wie ich hörte, haben sich unsere gepanzerten Schlitten gut geschlagen.«

Darüber sprach Hornbori nicht gerne. Er war der einzige Überlebende der einzigen Schlacht, in der die Schlitten des Elfen zum Einsatz gekommen waren. Alle hielten ihn deshalb für einen Helden. Er wusste, was wirklich geschehen war. Nichts, was ihm schlechte Träume beschert hätte, aber er schwieg dazu lieber.

Gobhayn schien es zu bemerken. Jedenfalls stellte er keine weiteren Fragen, sondern führte ihn über die Brücke hinweg in einen Tunnel, dessen Wände verputzt waren. Ein prächtiges Fresko, das eine weite Flusslandschaft zeigte, war an die Wände gemalt. Mitten in der Landschaft erhob sich eine schwarze Tür, mit Perlmuttintarsien geschmückt, die hauchzarte Rosen zeigten.

»Manchen ist der Gedanke unerträglich, dass diese Felsen hoch in der Luft schweben«, erklärte Gobhayn und öffnete die Tür. »Ich trage mich mit dem Gedanken, alle Tunnel und Gewölbe mit Bildern zu schmücken, die das Auge erfreuen und die Ängste vergessen lassen. Was meinst du?«

»Ein guter Plan«, stimmte Hornbori aus tiefster Überzeugung zu. Er würde zusehen, dass er hier so schnell wie möglich wieder verschwinden könnte. Doch vorerst folgte er dem Elfen in eine weitläufige Kammer, die so aussah, wie er sich immer den verschwenderischen Palast eines Elfenfürsten vorgestellt hatte. Auch hier waren die Wände verputzt und bemalt, doch nur in dezenten Pastellfarben. Mehrere Bilder waren aufgehängt. Schwere Möbel, geschmückt mit erlesenem Schnitzwerk, füllten den Raum, dessen Rückwand ganz von großen Bogenfenstern eingenommen wurde, um die schwere blaue Samtvorhänge drapiert waren.

»Am liebsten sitze ich an den Fenstern.« Gobhayn wies auf zwei mit Leder gepolsterte Stühle. Einer war so gefertigt, dass ein Zwerg bequem darauf sitzen konnte. Es wirkte ganz so, als hätte der Elfenschmied dieses Treffen lange vorbereitet.

Hornbori gefiel es, dass ihm so viel Aufmerksamkeit zuteilwurde. Er nahm auf dem Stuhl Platz und blickte über eine leuchtend weiße Wolkenlandschaft. Dieses Anblicks würde man wohl niemals müde werden, dachte er bei sich.

»Was möchtest du trinken? Ich könnte dir einen gekühlten aegilischen Roten anbieten. Es ist der Wein, der auf den Tafeln der Unsterblichen serviert wird, und, für ein Getränk der Menschenkinder, von wahrhaft erlesener Güte. Ein Freund war so aufmerksam, mir einige Amphoren zukommen zu lassen, die er auf Nangog erbeutet hat.«

Der Zwerg fragte sich, ob das ein Scherz sein sollte. Aber so, wie er Gobhayn kannte, waren Scherze nicht seine Sache. »Wäre es möglich, auch ein Pilz zu bekommen?«

Der Elf lächelte breit. »Selbstverständlich. Auf dem Himmelland gibt es drei zwergische Braumeister. Möchtest du ein Ispilz, ein Schwarzpilz oder lieber ein mildes Goldpilz.«

Hornbori traute seinen Ohren nicht. »Du kannst mir drei verschiedene Pilzsorten bringen lassen?«

»Ich sagte doch, es gibt drei Braumeister an Bord. Natürlich habe ich Spezialisten für verschiedene Biere ausgewählt. Allerdings wäre das Ispilz wahrscheinlich warm, bis es uns erreicht hat. Es wird am anderen Ende des Himmellands gebraut und gelagert.«

Der Zwerg schüttelte den Kopf. Wie es schien, war er in jeder Hinsicht im Himmel angekommen. »Ein Goldpilz wäre schön.«

Gobhayn klatschte in die Hände, und eine junge Elfendame erschien. Sie musste sich in einer angrenzenden Kammer aufgehalten haben. »Ein Goldpilz und einen Pokal des aegilischen Roten bitte, meine Liebe.«

Die Dienerin verbeugte sich und verschwand ebenso lautlos, wie sie gekommen war. »Steht dir der Sinn nach einem kleinen Imbiss, mein Freund? Wie ich hörte, hast du eine besondere Vorliebe für Koboldkäse aus Drashnapur. Ich könnte dir eine Auswahl verschiedener Käse bringen lassen.«

Hornbori winkte ab. Er wäre im Leben nicht darauf gekommen, diesen Käse zu essen. Und er war erschrocken, wie gut Gobhayn über ihn informiert war.

Der Elf lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stieß einen wohligen Seufzer aus. »Ich bin mir sicher, dir brennen tausend Fragen auf den Lippen, Hornbori, aber ich glaube, es ist zielführender, wenn ich zusammenhängend erzähle. In gewisser Weise bist du schuld daran, dass es das Himmelland gibt.«

Der Zwerg setzte sein gut einstudiertes, unverfängliches Lächeln auf, obwohl ihm ein einzelner eisiger Schweißtropfen den Nacken hinabrann. Er hatte das Gefühl, dass die Worte des Elfen nichts Gutes bedeuten konnten.

»Begonnen hat alles nach der Schlacht um Asugar. Die rätselhaften Tode der Drachen dort haben für eine Panik unter unseren geschuppten Freunden geführt. Gerade die großen unter diesen Bestien waren es bislang nicht gewohnt, dass sie von einem Augenblick zum anderen tot vom Himmel fallen konnten. Wie man mir berichtete, wurden sie der Länge nach von rätselhaften Geschossen durchbohrt, von denen sich nicht die geringste Spur fand, obwohl die Himmelsschlangen selbst Nachforschungen über diese neuen Waffen anstellten.«

Inzwischen rann Hornbori ein ganzer Strom aus eiskaltem Schweiß den Rücken hinab.

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie ihm, Galar und Nyr auf die Schliche kamen. Er wollte irgendetwas Unverfängliches sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Stattdessen blickte er zu dem Winkel des weiten Raums, aus dem vorhin die Dienerin erschienen war. Wartete dort schon sein Scharfrichter auf ihn?

Ein Bild drängte sich ihm in Gedanken auf, wie Nyr und Galar gerade hingerichtet wurden und man ihre Köpfe hinab in das Wolkenmeer warf.

»Wegen der Ereignisse bei Asugar haben mich die Himmelsschlangen einbestellt. Unsere Drachen waren keine zuverlässige Waffe mehr. Ihre Moral war erschüttert, und die Himmelsschlangen sahen es ihnen nach. Sie baten mich, eine andere Waffe zu ersinnen. Einige Wolkensammler waren zu diesem Zeitpunkt schon in unser Lager gewechselt. Doch obwohl sie in den letzten Jahren bereits mehrfach für uns gekämpft haben, haben die Himmelsschlangen ihnen nie wirklich vertraut. Gerade in dieser Stunde werden alle Schiffsbesatzungen von unseren Wolkensammlern abgezogen und hierhergebracht, weil die Drachen argwöhnen, diese Himmelsquallen könnten im entscheidenden Augenblick noch einmal die Seiten wechseln.«

Hornbori grub nervös seine Fingernägel in das weiche Leder der Armlehnen. Wann würde Gobhayn auf seinen Verrat zu sprechen kommen? Auf die Drachentöterpfeile? Wenn die Himmelsschlangen einen von ihnen auf dem Meeresboden vor Asugar gefunden hatten, würden sie sich sicherlich zusammengereimt haben, woher sie kamen.

»Die alten Drachen wünschten sich von mir eine Flotte fliegender Schiffe. Allerdings sollten diese Schiffe nicht von Magie durchwoben sein, denn sie befürchteten, dass die Devanthar sie dann durch Bannzauber leicht aus dem Himmel stürzen lassen könnten.« Gobhayn seufzte. »Dieser Wunsch hat mir viele schlaflose Nächte bereitet, mein Freund. Irgendwann entsann ich mich einiger Geschichten über die Knallholzbäume aus Forlon. Angeblich sollten einige dieser Bäume schweben, wenn man sie von ihrem Wurzelwerk trennte. Das stimmte. Allerdings schwebten sie alle unterschiedlich hoch. Manche blieben ein paar Schritt über dem Boden in der Luft hängen, andere stiegen bis zu den Wolken empor. Und sie hatten eine äußerst unangenehme Eigenschaft. Jene, die ihnen ihren Namen gegeben hatte. Wenn sie Feuer fingen, explodierten sie.«

Die junge Elfe erschien und brachte ihnen ihre Getränke. Für Hornbori hatte sie gleich einen ganzen Krug Goldpilz mitgebracht. Der Zwerg entspannte sich ein wenig. Zumindest im Augenblick sah es nicht mehr so aus, als würde das Gespräch eine für ihn bedrohliche Wendung nehmen.

Gobhayn nippte an seinem Wein und wartete, bis die Dienerin gegangen war, bevor er weitersprach: »Ich hatte nun also ein Material gefunden, aus dem ich fliegende Schiffe bauen konnte. Schiffe, auf denen ich nicht wirklich gerne an Bord gehen wollte. Ein Feuer an Bord würde zur Katastrophe führen. Und wie lange mochte es dauern, bis unsere Feinde das herausfanden? Zu dem Zeitpunkt entsann ich mich der Schlitten, die wir gebaut hatten. Ich entschied, auch die Schiffe zu panzern.« Der Elf schnitt eine säuerliche Grimasse und nippte erneut an seinem Wein. »Es zeigte sich jedoch, dass das Knallholz selbst mit einer Metallpanzerung dünn wie Pergamentseiten zu schwer wurde, um noch zu fliegen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es war, hier in der Einsamkeit von Forlon zu sitzen und immer zu scheitern. Schließlich bat ich die Himmelsschlangen, mir Zauberweber aus dem kleinen Volk der Lamassu zu schicken, die als besonders findig beim Ersinnen neuer Spielarten der Magie galten. Wir fanden heraus, dass die Bäume schwebten, weil in ihrem Holz Gasblasen eingeschlossen sind. Die Zauberweber manipulierten einige der Bäume, sodass die Zahl der Gasblasen zunahm und die einzelnen Blasen größer wurden. Übertrieb man es, starben die Bäume ab. Drei Jahre haben wir daran gearbeitet, bis eines Morgens ein Baum mit einem großen Felsblock in seinen Wurzeln unweit unseres Lagers schwebte. Der Auftrieb des Baumes war so stark geworden, dass er den Fels aus dem Boden gerissen hatte. Der Felsbrocken mit dem Baum schwebte höher und höher und verschwand in den Wolken. An jenem Morgen wurde das Himmelland geboren.«

Gobhayn strahlte eine Zufriedenheit aus, wie Hornbori sie nur empfand, wenn er eine Liebesnacht mit Amalaswintha verbrachte. Und die letzte dieser Nächte war schon viel zu lange her.

»Erinnerst du dich an die Begeisterung, mit der wir deine gepanzerten Schlitten gebaut haben.« Der Elf lächelte verschwörerisch. »Diese Begeisterung durfte ich in den letzten vier Jahren an jedem Tag empfinden. Sehr schnell gaben wir den Plan auf, eine Flotte zu bauen, denn ein einziges, gewaltiges Schiff würde viel unverwundbarer sein. Wir haben Felsbrocken in unserem Verbund, die so groß sind, dass kleine Wälder auf ihnen wachsen. Und selbst wenn mehrere dieser Wälder abbrennen sollten, würde das Himmelland nicht abstürzen, weil der Auftrieb durch die anderen Bäume immer noch groß genug ist.«

»Aber wenn es einen wirklich großen Brand geben sollte, dann stürzen die Felsen ab, nicht wahr?« Hornboris Unwohlsein verstärkte sich wieder bei diesem Gedanken.

»Wenn wir viele Bäume verlieren sollten, beginnen wir langsam zu sinken. Sollte es sich aber zeigen, dass unser Sinkflug unkontrollierbar wird, besitzen wir noch die liegenden Luftschrauben. Du musst mit Streiter durch eine der Schrauben geflogen sein, als du an Bord gekommen bist. Dieser verrückte Federball fliegt jedes Mal durch die Luftschrauben, selbst wenn sie sich drehen … Nun, sie arbeiten ganz ähnlich wie die Schiffsschrauben, mit denen sich eure Aale bewegen. Sie erlauben, das Himmelland langsam aufwärts oder abwärts zu bewegen.«

Er bedachte Hornbori mit einem ernsten Blick. »Zu einem großen Brand kann es unmöglich kommen. Schließlich kämpfen die feuerspeienden Drachen auf unserer Seite, und Wolkensammler haben eine natürliche Abneigung gegen Flammen.«

»Und wie groß ist diese Ansammlung von fliegenden Felsen?« Hornbori begann zu ahnen, dass er bislang nur einen Bruchteil des Schiffes gesehen hatte.

»Der Stand von gestern Abend liegt bei dreihundertvierundsiebzig verbundenen Felsen. Wir haben zwar noch mehr als vierzig weitere Felsen so weit vorbereitet, dass sie aufsteigen könnten, aber wir sollen baldmöglichst Kurs auf den nächsten Albenstern nehmen.«

Die Zahl der Felsen half Hornbori immer noch nicht, sich dieses fliegende Monstrum vorstellen zu können. »Wie groß ist das Schiff?«

»Etwas weniger als drei Meilen in der Länge. An den meisten Stellen ist es etwa eine halbe Meile breit und nirgends höher als neunzig Schritt. Bei der Höhenangabe sind die Schraubenmasten schon eingerechnet.« Gobhayn war sichtlich stolz, diese Zahlen nennen zu können.

Hornbori begriff, dass er nicht auf ein paar Felsen, sondern auf einer regelrechten fliegenden Insel stand. »Schraubenmasten?«

»Was glaubst du, was mit schwebenden Felsen geschieht? Es ist dasselbe Dilemma wie mit den alten Wolkensammlern. Der Wind könnte uns treiben, wohin es ihm gefällt – was natürlich nicht akzeptabel ist. Wir haben auf allen Felsen drehbare Masten errichtet, an denen senkrecht ausgerichtete Windschrauben angebracht sind. Auch sie sind den Schiffsschrauben eurer Aale nicht unähnlich. Die Kraft dieser Schrauben zieht uns durch den Himmel. Sie werden durch Laufräder gedreht, die sich im Inneren der Felsen befinden. Wir sind wahrlich nicht sehr schnell. Jeder Spatz kann uns mit Leichtigkeit davonfliegen. Aber wir bewegen uns in die Richtung, in die wir wollen.«

Hornbori goss sich einen zweiten Becher Pilz ein. »Ich bin wirklich neugierig, mir dein Himmelland anzusehen.«

»Das solltest du auch sein, schließlich wirst du heute Abend das Kommando übernehmen.«

Hornbori verschluckte sich und spie eine Fontäne goldenen Pilzbräus aus. »Ich soll was?«, stieß er prustend hervor.

»Nun, es ist nicht das Himmelland, das uns Probleme macht. Es erfüllt all unsere Erwartungen. Die Besatzung ist …« Gobhayn rang eine Weile um das richtige Wort. »Sie ist schwierig. Wir haben mehr als siebentausend Kobolde aus allen Gegenden Albenmarks an Bord und etwa zwölfhundert Zwerge. Ein Gemisch aus allen Tiefen Städten. Dazu kommen rund achthundert Trolle und mehr als tausend Besatzungsmitglieder aus allen übrigen Völkern. Wir haben sogar zwei Apsaras in Wasserbecken untergebracht, die uns das Wetter der nächsten Tage vorhersagen. Wobei wir dank der Wolkenrufer aus dem Volk der Lamassu auch in der Lage sind, in einem gewissen Umfang unser eigenes Wetter zu machen. Vor allem, um sicherzustellen, dass der Pegelstand unserer Zisternen nie unter die kritische Grenze sinkt. Wir können …«

»Halt!«, unterbrach Hornbori den Redefluss des Elfen. »Du willst mir sagen, dass wir mehr als zehntausend Besatzungsmitglieder an Bord haben?«

Zum ersten Mal wirkte Gobhayn beschämt. »Ja, ich weiß, wir haben noch nicht volle Gefechtsstärke erreicht. Aber in den nächsten zweiundsiebzig Stunden werden wir die Mannschaft noch mehr als verdoppeln.«

Hornbori ließ sich gegen die Lehne seines Stuhls sinken und versuchte, die aufkeimende Panik mit einem tiefen Schluck aus seinem Becher zu bekämpfen, was leider nicht glückte. »Es werden mehr als zwanzigtausend Albenkinder an Bord sein?« Ihm schwindelte es. »Wer in der Alben Namen ist auf die Idee gekommen, dass ich der geeignete Kommandant für dieses Völkergemisch bin?«

»Die Himmelsschlangen. Dir eilt ein gewisser Ruf voraus, mein Freund. Du hast es geschafft, dass Zwerge aus Ishaven Seite an Seite mit Kobolden aus den Völkern der Eisbärte gekämpft haben. Du hast Todfeinde auf dem Schlachtfeld zu Kameraden gemacht.«

Hornbori stöhnte. Das hatte die Elfe Ailyn vollbracht. Er wollte Gobhayn gerade über diesen Irrtum aufklären, als er es sich anders überlegte. Er hatte gar nicht gewusst, dass ihm der Ruf vorauseilte, ein Zaubermeister der Völkerverständigung zu sein. Daraus ließe sich in Zukunft sicher noch Nutzen ziehen.

»Dies erfordert einige Zeit und die richtigen Berater. Ich brauche die Elfe Ailyn. Außerdem sollten ein Vertreter der Kobolde und einer der Trolle benannt werden.« Kurz erwog er, auch Nyr und Galar als Berater zu beschäftigen, verwarf es aber schnell. Galar würde Ärger machen, statt Streit zu schlichten. »Ich hörte, der Kobold Che von den Eisbärten ist an Bord und der Troll Groz. Sie sollen die Sprecher ihrer Völker werden.« Die beiden würde er im Griff haben, hoffte er. Zumindest kannte er sie. Aber er brauchte noch mehr Berater! Sollte das alles schiefgehen, würde eine stolze Anzahl von Beratern auch eine stolze Zahl von Sündenböcken liefern, denen er sein mögliches Versagen in die Schuhe schieben konnte.

»Ailyn ist verschollen«, unterbrach ihn der Elf. »Ansonsten wähle als Berater, wen immer du willst.«

»Verschollen?« Hornbori war überrascht. Ihm war die schwarzhaarige Meisterin aus der Weißen Halle immer unbesiegbar erschienen. Es gab das Gerücht, dass sie einmal mit bloßen Händen ein ganzes Rudel Trolle niedergerungen hatte.

»Seit Jahren hat sie niemand mehr gesehen. Man wird wohl davon ausgehen müssen, dass sie tot ist.« Gobhayn sagte das so sachlich, als würde er über einen verlegten Hammer in seiner Werkstatt sprechen.

Hornbori konnte immer noch nicht recht fassen, dass ihm der Oberbefehl über das größte Heer, das Albenmark je in eine Schlacht geschickt hatte, anvertraut worden war. »Warum bist du nicht der Befehlshaber? Du hast all dies hier erschaffen.«

Der Elf setzte seinen Pokal ab. Ein wenig zu heftig, wie es Hornbori erschien.

»Ich bin ein Schmied und Erfinder. Ich werde alle Hände voll damit zu tun haben, dass im Himmelland alles reibungslos funktioniert.«

Hornbori war sich sicher, dass da auch ein Hauch von Verbitterung in der Stimme Gobhayns lag. »Entschuldige, wenn ich frage, aber was ist denn noch alles für dich zu tun? Das … ähm … Schiff … ist gebaut und fliegt. Deine Arbeit ist doch vollendet.«

Der Elf stieß ein Schnaufen aus, dem sein Ärger nun deutlich anzuhören war. »Du hast keine Ahnung. Ich muss als Erstes entscheiden, welche Geschützstellungen mit Ballisten bestückt werden. Wir haben mehr befestigte Bastionen, als wir Stein- und Speerschleudern haben. Du solltest dir das mit den anderen Decksoffizieren überlegen. Wie willst du das Himmelland im Kampf einsetzen? Zur Verteidigung oder zum Angriff? Willst du viele Geschütze auf die Goldene Stadt ausrichten oder dich besser rundherum verteidigen? Aber das sind Kleinigkeiten. Ich werde mehr als zehntausend neue Helfer auf Posten verteilen müssen, wo sie einen nützlichen Dienst verrichten oder zumindest kein Unheil anrichten. Die meisten von ihnen werden in die Laufräder steigen, die unsere Luftschrauben antreiben. Aber man kommt auch mit Bagatellen wie überlaufenden Latrinen und einem Brand in einer Garküche zu mir. Der Tag hat nicht genug Stunden, um sich um alles zu kümmern. Da muss ich nicht noch militärische Entscheidungen treffen.«

Hornbori war sich sicher, dass noch etwas unausgesprochen geblieben war. Dies alles hörte sich vernünftig an. Warum also war Gobhayn so aufgebracht? Er entschied, diese Frage direkt anzugehen. »Willst du mir sagen, was dich ärgert? Wir werden besser zusammenarbeiten, wenn ich es weiß.«

Der Elf starrte in seinen leeren Weinpokal. Seine Lippen bebten vor mühsam unterdrücktem Zorn. »Warum siehst du das Problem und die Himmelsschlangen sehen es nicht? Es tut gut, dich hierzuhaben. Und ja, du hast recht, du solltest wissen, was mir Sorge bereitet. Das Himmelland ist riesig. Es ist furchteinflößend. Es erscheint als die ultimative Waffe. Aber diese Waffe ist nicht erprobt. Würdest du dein Leben einem Schwert anvertrauen, mit dem noch nie ein Streich geführt wurde? Einer Klinge, die noch nicht bewiesen hat, dass sie nicht bricht, wenn sie auf Stahl schlägt? Sie hätten mir mindestens noch einen Mond geben sollen, um das Schiff zu vollenden. Dann hätten wir alle Geschütze an Bord und unsere Mannschaft hätte Gelegenheit gehabt, sich in ihre Pflichten einzufinden. Wir werden jede Menge Trottel an Bord haben, die bei Gefahr nicht wissen, was zu tun ist. Ich habe jahrelang am Himmelland gebaut, und nun verweigert man mir dreißig Tage, um es auf seinen ersten Einsatz vorzubereiten! Morgen werden wir uns in Richtung des Albensterns bewegen, durch den wir Nangog erreichen sollen. Einen großen Teil der fehlenden Besatzung nehmen wir an Bord, während wir bereits fliegen. Ich verstehe diese Hast nicht. Der Krieg um Nangog währt nun schon fast acht Jahre. Was hätte es gekostet, einen Mond lang zu warten?«

Darauf wusste Hornbori auch keine Antwort.

»Und weißt du, was besonders spannend wird?« Ein todesverachtendes Lächeln spielte um Gobhayns Lippen. »Es ist noch nie etwas, das auch nur annähernd so groß ist wie das Himmelland, durch einen Albenstern bewegt worden. Niemand kann vorhersagen, ob es uns zerreißt.«

Hornbori schloss verzweifelt die Augen und wünschte sich, er würde in Amalaswinthas Bett liegen. Er sollte einen Weg finden, erst nach diesem Steinhaufen den Albenstern zu passieren. Auch wenn sein guter Name dabei mit Sicherheit Schaden nahm.

Myrella

Myrella wischte sich mit dem Arm über die schweißnasse Stirn. Es war drückend heiß auf dem Ladedeck. Gerade verschwanden die letzten vorlauten Kobolde mit einer Gruppe von Veteranen, die ihnen den Weg zu ihren Quartieren weisen würden.

»Müde, Süße?« Che schenkte ihr ein breites Lächeln. »Ich hoffe, du hast dich bis heute Abend wieder halbwegs erholt.«

»Warum?«

»Ich dachte, wir sind verabredet.«

Myrella lachte. Das versuchte Che jetzt mindestens zum zwanzigsten Mal. »Wieso weiß ich nichts davon?«

Der Kobold machte ein bestürztes Gesicht. »Wie konntest du das vergessen?«

Sie setzte ihm einen ihrer schlanken Finger auf die Nasenspitze. »Du wirst jetzt damit aufhören.«

Che hörte nicht auf zu grinsen. »Für den Augenblick tue ich das. Morgen geht es weiter. Und eines Tages wirst du Ja sagen zu unserer Verabredung, nur damit ich aufhöre.«

»Das hast du wohl schon oft ausprobiert.«

Der Kobold lachte. »Es klappt am Ende immer.« Dann folgte er den anderen, um die Neuankömmlinge über das Leben im Himmelland zu unterrichten.

Dylan winkte ihr von der anderen Seite der Frachtluken zu. »Braucht Ihr Hilfe mit ihm?«

»Nein!« Myrella wurde ganz aufgeregt. Endlich hatte er sie angesprochen! Es war das erste Mal, dass sie beide auf demselben Deck Dienst hatten. Schon an ihrem ersten Tag hier an Bord war er ihr aufgefallen. Er war anders als alle anderen Elfen, denen sie je begegnet war. Dylan wirkte wie aus Licht und Wind gewoben. Ätherisch, nicht greifbar. Er war von schlanker Gestalt. Dass er ein berühmter Krieger, ein Drachenelf, ja, sogar ein Meister der Weißen Halle gewesen war, hatte sie erst später erfahren. An ihrem ersten Tag war sie an ihm vorübergegangen, hatte in seine verwunschenen Augen geblickt und sich unsterblich verliebt.

Diese Augen! Sie hatten eine silberfarbene Iris mit himmelblauen Einsprengseln.

Und nun sah er sie an. Er wirkte besorgt. Aber sie wollte nicht wie ein kleines Mädchen erscheinen, das beschützt werden musste. Sie wollte begehrenswert für ihn sein! Also war es wichtig, dass sie alles im Griff hatte. So wandte sie sich ab, machte ihre Einträge in die Liste über die Neuankömmlinge und genoss es, seinen Blick in ihrem Rücken zu spüren.

Ein kleines Mädchen hatte sie aufgehört zu sein, als sie damals auf Tanthalia im Wald ihrer Mutter jener geheimnisvollen Elfe begegnet war. Sie hatte sie mitnehmen wollen und es dann doch nicht getan. An jenem Tag hatte Myrella beschlossen, das Erbe ihres verstorbenen Vaters zu leben. Er war Seemann gewesen, Kapitän auf einem stolzen Segler, und hatte es geliebt, in die Welt hinauszugehen, Wunder und fremde Städte zu sehen und allen Gefahren zu trotzen, die sich ihm in den Weg stellten. Sie war auch so! Oder sie wollte zumindest so sein. Fünf Jahre hatte ihre Mutter sie noch in ihrer kleinen Welt gefangen gehalten. Eine Welt, die nicht über die Grenzen des Waldes hinausreichte, in dem ihre unscheinbare Hütte stand. Dann war sie durchgebrannt. Sie hatte sich als Wäscherin verdingt, als Näherin, als Übersetzerin. Wer auf sie aufmerksam geworden war, hatte sie nie erfahren. Doch eines Tages war ein Fürst Arkadiens an sie herangetreten: Solaiyn, der Mann, der angeblich Bilder aus Stein mehr schätzte als Geschöpfe aus Fleisch und Blut. Er hatte sie gefragt, ob sie eine unvergleichliche Reise wagen wolle. Und sie hatte, ohne Fragen zu stellen, sofort zugestimmt. So war sie hierher auf das Himmelland gekommen. Und sie hatte es noch an keinem Tag bedauert. Sie bekleidete den Rang einer Hauptfrau und führte das Kommando auf diesem Felsen, auf dem sie gerade stand. Gut, es war nur einer von fast vierhundert, aber dies war ihr Felsen, und sie kannte jeden Zoll von ihm. Dylan war nur als Wache hier.

Tief unter ihnen erklang ein langgezogener Hornruf. Die Trolle an den Seilwinden begannen klaglos mit ihrer Arbeit und hoben die drei Frachtkörbe aus der Tiefe. Myrella griff nach dem Seil der Schiffsglocke neben ihr und läutete zwei Mal kurz. Es war das Signal, dass weitere Kobolde aus dem Speisesaal kommen sollten, um ihre neu eintreffenden Kameraden abzuholen.

Auch wenn sie einen recht derben Humor hatten, mochte sie die kleinen Gesellen. Sie waren das Herz des Himmellandes. Ihrer unermüdlichen Arbeit in den Laufrädern war es zu verdanken, wenn sich das Schiff bewegte. Bislang hatten sie nur kleinere Reisen von mehreren Meilen unternommen, oder aber dagegen ankämpfen müssen, von Winden abgetrieben zu werden. Aber überall im Himmelland ging das Gerücht um, dass sie schon sehr bald eine große Reise antreten würden. Endlich!

Sie blickte wieder zu Dylan. Der Meister der Weißen Halle lächelte ihr zu. Hoffentlich fand er sie nicht aufdringlich. Rasch wandte sie sich ab und sah in die Schächte im Fels, durch die ihre Frachtkörbe aufstiegen. Diesmal waren es nicht nur Kobolde. Sie erkannte einen blonden Haarschopf und die alle überragenden Glatzen mehrerer Trolle.

Diese grauen Hünen waren ihr unheimlich. Einige standen unter ihrem Kommando, aber es fiel ihr schwer, Geschöpfe zu befehligen, die sie manchmal so ansahen, als dächten sie darüber nach, sie zu fressen. Obendrein waren sie fast doppelt so groß und ganz gewiss zehn Mal so schwer wie sie.

Sie straffte sich. Ihr Unbehagen den neuen Mannschaftsmitgliedern gegenüber sollte man ihr nicht ansehen. Dylan würde sie sonst bestimmt für ein dümmliches, kleines Mädchen halten, wenn sie mit ihrer Aufgabe nicht zurechtkam.

Noch fünf Schritt. Die Trolle wirkten unruhig. Die meisten von ihnen mochten die Frachtkörbe nicht. Und um ihre Angst zu überspielen, gaben sie sich besonders rüpelhaft.

Die Seilwinden rasteten ein. Schwingend kamen die Körbe dicht über dem Deck zum Halt.

Es war, wie sie befürchtet hatte. Einer der Hünen zerquetschte beinahe zwei Kobolde, als er sich aus dem Korb zwängte. Seine Gesichtsfarbe war von fahlem Grau. Kaum an Deck, ging er in die Knie und kotzte ihr vor die Füße.

Myrella trat einen Schritt zurück. »Du wischst den Dreck durch den Schacht. Sofort!«

Der Troll sah aus blutunterlaufenen Augen zu ihr auf. »Mit dein Haar wisch isch!«

Sie hatte es gewusst und flüsterte ein Wort der Macht. Sie hatte nicht viele Zauber zu weben erlernt, doch dieser hier wirkte fast immer. Ohne Vorwarnung brüllte sie ihn an wie ein gereizter Silberlöwe. Einer von den ganz großen mit den Säbelzähnen.

Der Troll machte einen Satz zurück und wäre fast in den Schacht gestürzt.

»Du …«, grollte er wütend.

Eine schlanke Klinge legte sich unter das Kinn des Hünen. »Nein du, mein Freund. Du wirst dich benehmen. Deine Kameraden da vorne werden dich in deine neue Höhle bringen, sobald du hier sauber gemacht hast. Und ich bin mir sicher, sie haben dort etwas Bekömmlicheres zu essen als Hauptmann Myrella.«

Die Elfe war verlegen. »Das wäre nicht nötig gewesen«, sagte sie leise, als der Troll nach einem bösen Blick in ihre Richtung zu den anderen Hünen bei den Seilwinden ging. »Ich wäre allein mit ihm klargekommen.«

»Daran habe ich keinen Zweifel, meine Dame. Ich hatte lediglich Sorge um meine Trommelfelle und auch ein wenig Angst, Ihr könntet ihn in den Frachtschacht stoßen, wenn er Euch erzürnt.«

Myrella spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. »Meine Dame« war sie noch nicht oft genannt worden. »Ich … ich bin normalerweise nicht so laut.« Bei den Alben, was hatte sie da gerade gesagt? Fiel ihr denn wirklich nichts Gescheiteres ein?

Dylan lächelte sie an. »Ich habe in meinem Leben schon viel gesehen, aber noch nie, wie eine junge Elfe so mit Trollen umsprang. Ein wirklich bemerkenswerter Trick!«

Das war besser als in ihren Träumen. Wenn ihr jetzt nur irgendetwas halbwegs Kluges einfallen würde. Zwanglose Plaudereien waren nicht ihre besondere Begabung. Sie stammte nun einmal nicht aus einem Palast, sondern aus einer Waldhütte, und sie … Alle Gedanken an Dylan waren wie weggeblasen. Aus dem Landekorb stiegen zwei kleine Elfenmädchen in Seidenkleidern!

»Bei den Alben, was macht ihr denn hier?«, entfuhr es ihr. »Das ist kein Ort für Kinder.«

Eines der Mädchen hatte goldblondes Haar wie sie. Die Kleine sah zu ihr auf. »Wir sind hier, um unseren Großvater zu besuchen.«

Myrella hob abwehrend die Hände. »Das geht nicht. Ihr steigt sofort wieder in den Korb und fahrt nach unten. Das ist kein Platz für Kinder. Los!«

»Unser Großvater ist Fürst Solaiyn!«, sagte das schwarzhaarige Mädchen ruhig.

Myrella biss sich auf die Lippen. Ausgerechnet Solaiyn! Er, dem sie zu verdanken hatte, dass sie hierhergekommen war. Solaiyn gehörte zu den Befehlshabern im gläsernen Pavillon. Hatte er die Mädchen etwa eingeladen? Das konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen. Und doch wagte sie es nicht, ihn zu erzürnen.

»Ich kann das Kommando hier übernehmen, während Ihr unsere beiden Gäste zum Fürsten Solaiyn geleitet, meine Dame«, bot ihr Dylan an.

»Das ist sehr großmütig von Euch, Meister.« Myrella gefiel gar nicht, wie die Blonde den Drachenelfen ansah. Dieser Blick passte gar nicht zu einem kleinen Mädchen. »Ihr beiden kommt mit mir!«, sagte sie barsch. »Soll euer Großvater entscheiden, was mit euch geschieht.«

Weltensprung

»Das hier ist ein Luftaal«, erklärte Solaiyn flüsternd. »Ihr müsst dieses Luk aufklappen und von innen wieder verriegeln. Im Inneren werdet ihr gut gepolsterte Sitze finden. Ihr benutzt die Ledergürtel, die daran hängen, um euch festzubinden. Erst wenn ihr das getan habt, sagt ihr laut: Liuvar. Dann verlässt der Aal das Himmelland, findet seinen Weg zum nächsten Albenstern und bringt euch in Sicherheit.«

»Sind wir denn in Gefahr, Großvater?«, fragte Farella und blickte mit großen Augen zu ihm auf.

Solaiyn bemerkte, wie Aloki lächelte. Er hasste es, so genannt zu werden.

»Nein, natürlich sind wir das nicht! Aber jeder im Himmelland bekommt erklärt, wie die Luftaale eingesetzt werden. Nur für den Fall der Fälle.«

»Das Luk sieht so klein aus«, bemerkte Lydaine. »Da passt sicher niemals ein Troll hinein. Dürfen die Trolle sich nicht retten, weil sie große Stinker sind? Ich mag mir gar nicht vorstellen, mit einem Troll in so einem Aal zu sitzen.«

»Das wird auch nicht geschehen, meine Kleine. Siehst du hier im Pavillon einen Troll? Dort, wo Trolle arbeiten, gibt es natürlich größere Luftaale. Sie werden auch gerettet werden.« Insgeheim hatte Solaiyn seine Zweifel, dass es auch nur für die Hälfte der mehr als fünfundzwanzigtausend Albenkinder auf diesen Felsen Luftaale gab. Das Himmelland wurde zu früh in den Kampf geschickt, das hatte ihm Hornbori anvertraut.

Er blickte zu den beiden Mädchen hinab, die endlich einmal keine Fragen stellten. Wäre er doch nur nicht so weichherzig gewesen! Er hätte ihnen nicht erlauben dürfen, an Bord zu bleiben. Aber er hatte es auch nicht geschafft, noch einmal Kinder seines Sohns Asfahal abzuweisen.

Anfangs hatte er seine Zweifel gehabt, ob Farella und Lydaine tatsächlich seine Enkeltöchter waren. Er hatte sie über seinen Sohn ausgehorcht. Und sie hatten so viel von ihm erzählen können … Sie kannten diesen verdammten Bruder Leichtfuß wirklich gut. Wie viele Frauen er wohl noch geschwängert hatte?

Wenn Solaiyn daran zurückdachte, wie er die geschundene Elfe mit dem Kind im Arm abgewiesen hatte, wurde ihm ganz übel. Jahre waren seitdem vergangen. Der Krieg in Nangog hatte ihn verändert. Je mehr Albenkinder er sterben sah, desto deutlicher erkannte er, welchen Schatz er einmal besessen hatte. Seine Familie war zerstört. Und das war einzig sein Werk. Asfahal hatte geschworen, nie wieder einen Fuß über seine Schwelle zu setzen. Sein zweiter Sohn Talawain war auf Daia verschollen. Auch von seinen Töchtern Maylin und Kyra fehlte jede Spur. Nicht einmal die Elfe, die mit ihrem Kind zu ihm gekommen war, hatte er wiederfinden können. Alles was er wusste, war der Name seines Enkelsohns: Falrach.

Er blickte auf die beiden wunderbaren Mädchen. Nein, er hatte sie nicht fortschicken können. Und er brauchte keine Beweise für ihre Abstammung. Diesen Fehler würde er in seinem Leben nicht mehr wiederholen! Ihr Wort und ihre Geschichten über Asfahal genügten ihm.

Die beiden unterhielten sich jetzt flüsternd mit Aloki. Er bestaunte ihren Mut. In ihrem Alter hätte er es nicht einmal im selben Zimmer mit der Schlangenfrau ausgehalten. Aber die Kinder zeigten keinerlei Scheu vor ihr.

Solaiyn trat näher an das Frontfenster und vermied es dabei, zu Boden zu sehen. Er mochte den Pavillon nicht. Dieses Gebilde war ganz und gar aus Glas gebaut, von dem Gobhayn behauptete, es sei unzerbrechlich. Der Pavillon lag am Ende eines zehn Schritt langen Tunnels, der ebenfalls aus Glas gefertigt war. Die ganze Konstruktion ragte aus dem vordersten Felsen des Himmellands. Dieser Granitklumpen war flach und keilförmig. Er erinnerte Solaiyn an den Kopf einer Kobra. Und der verdammte Pavillon war die gläserne Zunge dieser Kobra.

Dennoch, von hier aus hatte er eine unvergleichliche Sicht auf den vorderen Teil des Himmellands. Er sah die gedeckten Geschützstellungen, die Knallholzbäume und die Luftschraubenmasten, die zu Hunderten aus dem Granit wuchsen.

Eine halbe Meile vor ihnen leuchtete ein helles Licht im Grau der Abenddämmerung.

»Es beginnt!«, erklärte Hornbori überflüssigerweise. Auch der Zwerg stand an der Frontscheibe des Pavillons. Dicht neben ihm Gobhayn. Der Elfenschmied wirkte angespannt.

Solaiyn rang um Gleichmut. Es waren nur vier Schritt bis zu den Luftaalen. Wenn etwas schiefging, würde er mit den Kindern entkommen.

Würde er? Er räusperte sich und gab Nodon einen Wink. Sein Leibwächter stand ein kleines Stück hinter ihm. Wie ein treuer Hund kam er auf das Zeichen. Ein Hund mit unheimlichen Augen. Wie stets war der Drachenelf ganz in Scharlachrot gewandet.

»Mein Fürst.«

»Du bist mir für die Mädchen verantwortlich«, flüsterte Solaiyn. »Wenn etwas …« Er räusperte sich erneut, rang um die Formulierung, schließlich wollte er kein Unglück heraufbeschwören. »Wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, kümmerst du dich um die beiden. Kann ich mich darauf verlassen?«

Sollte es Nodon unangenehm sein, als Kindermädchen verpflichtet worden zu sein, so gelang es ihm meisterhaft, sich nichts anmerken zu lassen. »Du holst sie hier heraus!«, sagte Solaiyn mit Nachdruck.

Nodon nickte.

»Noch hundert Schritt«, murmelte Hornbori. Dem Zwerg zitterten die Hände. Er hakte die Daumen in seinen breiten Gürtel, um es zu verbergen.

»Siebzig Schritt«, sagte Gobhayn. Der Schmied klang sehr gefasst.

Das Licht vor ihnen begann sich zu weiten. Der Durchgang ins Nichts wuchs. Aber wuchs er schnell genug? Würde dieses ungeheuerliche Schiff hindurchpassen?

Solaiyn trat unwillkürlich einen Schritt von der Frontscheibe zurück. Er wünschte, seine Enkeltöchter wären nicht hier. Bislang hatte er dem Tod gefasst ins Auge blicken können, doch sie veränderten alles.

Der Fürst spürte, wie sein Herz schneller schlug. Was er nicht spürte, war der Goldene. Bislang hatte der Zweitgeschlüpfte jeden bedeutsamen Augenblick durch ihn verfolgt. Warum war er jetzt nicht hier? Vielleicht weil es kein bedeutsamer Augenblick war? Wusste er, dass sie es schaffen würden?

Nur noch zwanzig Schritt. Das Tor ins Nichts war noch nicht so groß wie das Himmelland. Solaiyn trat wieder dicht vor die Scheibe und blickte auf den Zwerg neben sich. »Nervös?«

Hornbori räusperte sich. Er versuchte, seine Angst zu verstecken, aber Solaiyn konnte sie riechen. Auch war die Stirn des Oberbefehlshabers mit Schweiß bedeckt. Und so einer führte das Kommando …

Als der Pavillon die Grenze ins Nichts durchstieß, kniff der Zwerg die Augen zusammen. Solaiyn sah tief unter ihnen den Goldenen Pfad, dem sie folgten. Keine Schreie ertönten. Kein Knirschen von Felsbrocken, die aus dem Verbund des Himmellands gerissen wurden. Nicht einmal ein Ruckeln war zu spüren. Sie glitten durch die große Dunkelheit.

Hornbori stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann sah er zu ihm auf. »Hattet Ihr keine Sorgen, Fürst?«

»Ich pflege Dinge, die ich nicht zu ändern vermag, mit Gelassenheit zu nehmen. Ihr solltet Euch auch darin üben. Es ist schlecht für die Moral, wenn ein Anführer wegen jeder Lappalie schweißnasse Achseln bekommt.«

Der Zwerg bedachte ihn mit einem finsteren Blick und wandte sich dann abrupt Gobhayn zu. Solaiyn war von seinen Worten selbst überrascht. War er eifersüchtig auf Hornbori? All die Jahre hatte er sich eingeredet, als Feldherr aufzutreten sei ihm eine Last, da er in Wirklichkeit ja nur dem Goldenen die Augen lieh. Doch nun, da ein anderer der Feldherr in der letzten Schlacht sein würde, führte er sich so auf.

Er würde sich nicht entschuldigen, dachte er, während der Pavillon durch ein zweites Tor glitt und vor ihnen ein Himmel mit zwei Monden sichtbar wurde. Nangog! Einen Augenblick lang hielt er den Atem an. Er wartete, ob etwas mit dem Himmelland geschah, doch die fliegende Insel trat genauso reibungslos in die fremde Welt ein, wie sie Albenmark verlassen hatte.

Im Westen schimmerte ein letzter blasser Abglanz des Abendrots am Himmel. Etwas erhob sich von einem einige Meilen entfernten Bergzug, dessen Gipfel wie schwarze Scherenschnitte vor dem Abendrot aufragten. Nun spien diese Gipfel Schatten in den Himmel. Hunderte davon. Auf großen, ledrigen Schwingen flogen sie dem Himmelland entgegen. Die Drachen Albenmarks.

Fast alle waren gekommen, um in der letzten Schlacht zu kämpfen. Doch sechs fehlten. Die unverwechselbaren Silhouetten der Himmelsschlangen vermochte Solaiyn in dem Schwarm, der ihnen entgegenstrebte, nicht zu entdecken.

Wenn du wüsstest …

Emerelle wollte sich gar nicht mehr aus der Umarmung lösen. Eleborn musste sie schließlich mit sanfter Gewalt von ihr fortziehen. »Es ist doch kein Abschied für immer«, sagte Nandalee lächelnd und kämpfte zugleich gegen den Kloß in ihrem Hals.

»Warum sind wir hier?«, fragte Meliander kühl. »Ich mag diesen Ort nicht.« Er stand ein paar Schritt entfernt auf seine Krücke gestützt und machte keine Anstalten, ihr zum Abschied auch nur die Hand zu geben.

»Ihr seid doch nicht zum ersten Mal hier«, versuchte Nandalee, seine Bedenken auszuräumen. »Dieser Ort ist einfach sicherer …«

»Wovor müssen wir denn in Sicherheit gebracht werden?«, setzte er nach.

Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Die Grotte unter der Pyramide war wahrlich kein gastlicher Ort. Die Gazala standen im seichten Wasser, ihre Köpfe so weit in den Nacken gelegt, dass ihre gewundenen Hörner ihren Steiß berührten. Unablässig murmelten sie vor sich hin. Sie schienen die neuen Gäste auf der flachen Insel, auf der der Dunkle sonst in Drachengestalt ruhte, gar nicht wahrgenommen zu haben.

»Geh bitte nicht, Mama!« Eleborn konnte Emerelle, die sich in seinen Armen wand, kaum noch halten. »Bitte, Mama! Ich habe ein ganz dunkles Gefühl …«

Ein dunkles Gefühl. Sie seufzte. Das traf genau ihre Stimmungslage. Aber sie musste gehen. Die Gelegenheit, alles wieder zum Guten zu wenden, würde sie nur in diesen Stunden erhalten. Wenn sie bliebe, würde sie es sich den Rest ihres Lebens nicht verzeihen können.

Mit schwerem Herzen wandte sie sich ab und strebte, ohne sich noch einmal umzusehen, dem Ausgang aus der Grotte entgegen.

»Mutter!«, rief Emerelle mit sich überschlagender Stimme.

Nandalees Schritte wurden langsamer, als sie den Durchgang zum Labyrinth aus Tunneln erreichte, die hinauf zum Jadegarten führten. Schwer wie ein Fels lastete der Bidenhänder Todbringer auf ihren Schultern. Sie hatte ihren Bogen zurückgelassen. Dort, wo sie hinging, würde ihr nur die Drachenklinge helfen können. Kein Pfeil könnte töten, was dort vielleicht auf sie lauerte.

Sie hörte jemanden hinter sich im Wasser.

»Warte!«, rief Eleborn.

Sie drehte sich nicht um. Wenn sie es täte und noch einmal die Gesichter ihrer Kinder sähe, würde sie nicht mehr gehen können. Langsam schritt sie in den Tunnel. Das Klacken der Krücke ertönte in schnellen, kurzen Abständen auf dem steinernen Boden. Dann war der Elf an ihrer Seite.

»Was ist mit Emerelle?«

»Firaz kümmert sich um sie.«

Nandalee nickte. Die Gazala hatte ihr bei der Geburt ihrer Kinder beigestanden. Ihr vertraute sie wie keiner zweiten dieser seltsamen Gazellenfrauen.

»Bitte, Nandalee, sag mir, was vor sich geht.«

»Der Dunkle ist zur letzten Schlacht aufgebrochen. In den nächsten Stunden werden die Kämpfe beginnen …«

Er sah sie scharf an. In den letzten Jahren hatte sie mehr Stunden mit ihm verbracht, als ihr einst mit Gonvalon vergönnt gewesen waren. Er kannte sie gut.

»Aber du wirst nicht dort sein, nicht wahr? Was hast du vor? Was …«

»Wenn du wüsstest, wohin ich gehen will, würdest du alles tun, um mich aufzuhalten.« Sie lächelte traurig. »Und doch muss ich meinen Weg gehen. Alles, was ich je getan habe, lief darauf hinaus, mich für das vorzubereiten, was mich nun erwartet.«

»Aber die Kinder. Du musst …«

»Nein!« Sie unterbrach ihn mit einer herrischen Geste. »Ich muss gehen.« Sie begann zu laufen. Es war wie eine Flucht. Sie wusste, er würde sie nicht einholen. Nicht mit nur einem Bein. Auch daran war sie schuld.

Sie trat aus der Pyramide. Unter dem weiten Nachthimmel erwartete sie Sternauge. Ihr Pegasus begrüßte sie mit leisem Schnauben. Vor ihr lag der Tag, an dem sie all ihre Schuld begleichen würde.

Düstere Omen

Shaya verließ die Palastställe. Die Pferde waren unruhig. Sie spürten, dass ein Unheil heraufzog. Sie keilten aus, wieherten und bissen sich gegenseitig in den Nacken.

Hunderte Fackeln brannten auf dem weiten Hof. Überall waren Menschen. Unablässig wurden Frachtkörbe zu den Wolkensammlern hochgezogen, die über dem Palast ankerten.

Vor einer Stunde hatte Aaron den Befehl gegeben, die Wolkenschiffe gefechtsbereit zu machen. Warum, hatte er ihr nicht gesagt. Er hatte niedergeschlagen ausgesehen, und sie hatte den Eindruck gehabt, dass sein überraschend anberaumtes Treffen mit den anderen Unsterblichen ihm ein willkommener Anlass war, vor ihr zu fliehen.

In dem Durcheinander entdeckte sie Ashot, der einige Abteilungen der Palastwache der Kushiten hinauf zum Flaggschiff des Unsterblichen schickte.

Shaya trat an die Seite des Feldherrn, der müde wirkte, und sprach ihn an: »Das wird Ärger geben. Dort oben sind die Himmelshüter Aarons Leibwache. Sie werden die Kushiten nicht gerne an Bord sehen.«

»Aaron wird morgen gar nicht genug Leibwachen um sich haben können.«

Wusste der Feldherr etwa mehr als sie? »Was steht uns bevor?«

»Ein Heer von Daimonen, Hunderte Drachen …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich kenne auch nur Gerüchte. Aber da die Unsterblichen sich mitten in der Nacht versammeln, erwartet uns etwas.« Er seufzte. »Es gibt den geheimen Befehl, die höchsten Würdenträger sofort durch die Goldene Pforte in Sicherheit zu bringen. Wusstest du, dass Mataan den Palast besucht hatte? Ich habe vorhin Befehl gegeben, auch ihn fortschaffen zu lassen.« Er schmunzelte. »Arcumenna hat nur seine Konkubinen und deren Kinder fortgeschickt. Ich hab sie vor der Goldenen Pforte gesehen. Eine ganze Karawane war das. Aaron hingegen …«

Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Erschrockene Schreie erklangen von allen Seiten. Aus dem südlichen Ankerturm brachen Ziegelsteine und stürzten am Mauerwerk hinab.

»Ein Beben!«, keuchte Shaya.

»Ein böses Omen«, entgegnete Ashot düster. »Ich fürchte, Aaron wird kämpfen wollen. Er wird an der Spitze der Truppen auf seinem silbernen Löwen reiten.«

»Du musst ihn davon abhalten!«

Der Feldherr legte den Kopf in den Nacken. »Es ist Blut auf den Monden. Noch ein schlechtes Omen.«

Shaya sah ebenfalls zum Himmel hinauf. Sie hatte noch gar nicht bemerkt, dass in dieser Nacht ein rötlicher Schleier über den Monden lag. Das kam selten vor. Aber sie weigerte sich, in allem ein Omen sehen zu wollen.

Die Unruhe auf dem Hof hatte sich gelegt. Es war nur ein kurzes Vibrieren gewesen. Die Stimmen von Hauptleuten erschallten. Die Ordnung wurde wiederhergestellt.

»Ich habe ihn bedrängt, auf dem Kommandodeck zu bleiben.« Er seufzte erneut. »Aber wenn wirklich Drachen kommen, wird es nirgends am Himmel einen sicheren Ort geben.«

»Er sollte gar nicht hier sein! Das Reich braucht ihn! Er sollte mit den Höflingen durch die Goldene Pforte gehen«, ereiferte sich Shaya.

Ashot sah sie an, als wäre sie von Sinnen. »Kennst du ihn wirklich so schlecht? Nichts wird ihn davon abhalten, das zu tun, was er für seine Pflicht hält.«

»Das kannst du nicht zulassen!« Sie packte ihn bei den Armen. »Hörst du! Du bist sein bester Freund! Du musst ihn aufhalten. Er geht zu viele Risiken ein. Wenn er morgen dort oben ist, dann wird er sterben.«

Der Kopf sank dem Feldherrn auf die Brust. »Ich weiß«, sagte er traurig. »Aber er ist ein Unsterblicher. Niemand gibt ihm Befehle. Niemand wird ihn aufhalten. Nicht einmal du.«

Ein Wunsch

Artax landete auf einem der Seitenhöfe des Palastes. Dennoch waren sofort Diener zur Stelle, die ihm aus dem Sattel helfen wollten. Der ganze Palast glich einem aufgescheuchten Ameisennest.

Er befreite sich allein von den Ledergurten und saß ab. Kurz nach Sonnenuntergang war ihm der Löwenhäuptige erschienen und hatte ihn aufgefordert, seine Flotte gefechtsbereit zu machen, da die Goldene Stadt am nächsten Morgen angegriffen werden würde. Er hatte noch etwas von Drachen gemurmelt und war dann wieder verschwunden.

Artax hatte gerade seine Befehle erteilt, als ihn eine Botschaft von Labarna erreicht hatte. Die Unsterblichen sollten sich auf dem Flaggschiff des Luwiers versammeln. Tatsächlich waren alle gekommen. Aber neue Erkenntnisse hatte das Treffen ihnen nicht gebracht. Sie alle hatten Besuch von ihrem Devanthar erhalten. Alle waren sie vor Drachen gewarnt worden. Necahual und Subai jedoch hatten noch den zusätzlichen Hinweis erhalten, dass der Himmel trotz der Drachen am nächsten Tag der sicherste Ort sein würde. Außerdem hatte das Lebende Licht Arcumenna etwas von einem steinernen Schiff gesagt, das erscheinen würde. Aber darunter konnte sich keiner von ihnen etwas vorstellen. Subai hatte ihnen berichtet, wie es ihm noch gelungen war, sich Tarkons Kopf zu holen. Auch wenn es sich in seiner Erzählung so anhörte, als hätte er das fast allein vollbracht, war sich Artax sicher, dass Hunderte von Subais Kriegern dabei ihr Leben gelassen hatten. Danach gab es nichts mehr zu besprechen, und so hatte ihr Treffen nicht lange gedauert. Sie kehrten zu ihren Palästen zurück, um die Morgendämmerung abzuwarten.

Artax sah zu den Ankertürmen. Unablässig wurden Geschosse und Ausrüstung zu den riesigen Himmelsschiffen hinaufgetragen. Alles ging seinen Lauf. Auch ohne ihn. Ashot war ein guter Feldherr geworden. Auch wenn er immer noch nicht wusste, wem er in Wahrheit diente. Er sollte ihm sagen, was aus seinem verschollenen Freund Artax geworden war. Aber zunächst galt es, noch etwas anderes zu erledigen.

Er strebte den Quartieren der Hauptleute entgegen und hoffte, dass er den Mann, den er suchte, noch antreffen würde. Als er an die unscheinbare Türe klopfte, öffnete ihm niemand. Doch matter Lichtschein fiel unter dem Türspalt hindurch. Ohne eingeladen zu sein, trat er ein. Das Zimmer des Hauptmanns war nicht groß. Er war zugegen. Saß auf seinem Lager und blickte auf eine Öllampe hinab, die zwischen seinen Füßen stand. Mit leeren Augen sah er zu Artax auf.

»Ich weiß, was du verloren hast, Totenträger.«

Lamgi reagierte nicht auf seine Worte.

»Deine Frau und die beiden Kinder. Die Flüchtlinge aus Tiefwasser haben mir davon erzählt. Die Flüchtlinge, die dank dir nun ein besseres Leben haben werden. Sie würden dich gerne noch einmal sehen.«

Lamgi schüttelte müde den Kopf. »Ich habe nichts mit ihnen zu bereden.«

»Du wolltest Rache nehmen. Deshalb hast du uns Unsterbliche zu Tarkons Städten geführt. Geht es dir jetzt besser?« Artax hatte versucht, nicht vorwurfsvoll zu klingen, während er das sagte.

Jetzt sah Lamgi ihn an. Der Hauptmann straffte sich. »Ihr seid hier, um mir Mut zuzusprechen? Das ist großmütig von Euch. Aber ich glaube, nur Pflichterfüllung kann die Leere in mir besiegen. Würdet Ihr mir eine Gunst erweisen?«

Etwas im Blick des Hauptmanns beunruhigte Artax. Er vermochte es nicht zu benennen, doch leer waren diese Augen nicht mehr. Lamgi wirkte gefasst, ja sogar zielstrebig. »Wenn es im Rahmen meiner Möglichkeiten liegt, werde ich dir gerne eine Gunst gewähren.«

»Ich möchte in der Zeit zurückgehen. Ich möchte mein Leben neu erfinden … Ich kann Umme, Serin und Talam nicht zurückholen. Aber vielleicht den Mann, der ich einst war. Während der Schlacht auf der Hochebene von Kush stand ich in Eurem Rücken, um über Euch zu wachen. Es war ein stolzer Tag für mich. Lasst mich noch einmal so wie damals der Mann sein, der Euren Rücken beschützt.«

Artax zögerte. Eigentlich hatte er auf seinem Löwen in die Schlacht reiten wollen. Er konnte sich aber vorstellen, was Ashot und Shaya davon hielten. Wenn er auf dem Kommandodeck seines Flaggschiffs blieb, würde das die beiden beruhigen. Von dort hätte er vermutlich auch einen besseren Überblick über die Schlacht. Er dachte an eine Lehre, die Ashot niemals müde wurde zu wiederholen: Ein Feldherr kämpft nicht in der vordersten Reihe, wo er nur ein Schwert mehr ist, er führt das Kommando von seinem Hügel aus, behält den Überblick und hat so die Bedeutung von tausend Schwertern.

»Als Hauptmann der Himmelshüter steht dir ein Platz in meiner Nähe zu. Dein Wunsch ist dir gewährt, Lamgi. Zumindest zu Beginn der Schlacht werde ich auf dem Kommandodeck stehen. Ich hoffe, du findest zu dem Mann zurück, der du einmal gewesen bist.«

Lamgi erhob sich von seinem Bett und kniete demütig vor ihm nieder. »Ihr habt mir gerade den Weg dazu geebnet. Ich danke Euch, Aaron, Herr aller Schwarzköpfe.«

»Dann sehen wir uns im Morgengrauen auf dem Flaggschiff.« Artax verließ die Unterkunft des Hauptmanns. Lamgi hatte nicht glücklich geklungen, als er ihm seinen Wunsch erfüllt hatte. Er war ein seltsamer Mann. Und er musste ihn nicht verstehen.

Zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass er mehr an Shaya als an ihn gedacht hatte, als er dem Wunsch Lamgis zugestimmt hatte. Sie zumindest würde glücklich sein, wenn er ihr gleich offenbarte, dass er den Schutz des mächtigen Flaggschiffs nicht verlassen würde.

Daron

Ashot hob den Sack neben seinem Bett auf und schulterte ihn. Er hatte in der Nacht keine Ruhe gefunden, nur gedöst. Die Gedanken an seine Taten ließen ihn keinen Frieden finden, obwohl er meist in seinem Leben richtig gehandelt hatte. Aber das war nicht der Augenblick, besinnlich zu werden. Er verließ sein Quartier und ging über den Hof. Entlang der westlichen Mauer lagen etliche junge Krieger hingestreckt. Sie hatten dort die Nacht verbracht und erwachten langsam im ersten Morgenlicht. Einer von ihnen winkte ihm zu. Daron!

»Komm her!«, rief er dem Jungen zu und verlagerte den Sack auf seinem Rücken ein wenig, weil der Helm darin unangenehm auf seine Schulter drückte.

Daron kam mit dem Elan jugendlicher Begeisterung zu ihm gelaufen.

»Feldherr!« Daron versuchte, wie ein Veteran strammzustehen.

»Warum seid ihr hier unten? Ich hatte eure Gruppe doch gestern Abend auf das Flaggschiff befohlen.«

»Es sind zu viele Männer an Bord, Feldherr! Man hat uns wieder heruntergeschickt. Wir sollen den Palast bewachen.«

Ashot knurrte leise. Er hatte ausdrücklichen Befehl gegeben, die Knaben an Bord zu nehmen. Wie viele Männer waren jetzt wohl dort oben? Er hatte schlechte Laune, weil er an diesem Morgen nicht den Kräutersud getrunken hatte, mit dem er üblicherweise den Tag begann. Er vermisste die wohlige Wärme in seinem Magen und die Kraft, die er daraus schöpfte. Eigentlich sollte er sich nicht mit solchen Bagatellen herumschlagen. Heute hatte er wahrlich ganz andere Herausforderungen zu meistern.

Wieder spürte er den Boden unter seinen Füßen vibrieren. Seit gestern Nacht war es mindestens das zwanzigste Mal. Einmal, in der Stunde vor Sonnenaufgang hatte er geglaubt, ein metallisches Kreischen tief unter sich im Fels gehört zu haben. Er schüttelte den Kopf … Wahrscheinlich war er in Wirklichkeit in Halbschlaf gesunken und hatte das nur geträumt.

Er sah Daron an. Und sah seinen alten Freund Narek in den Zügen des Jungen. Er konnte ihn nicht hier zurücklassen. »Du kommst mit mir. Du wirst heute zur Leibwache des Unsterblichen gehören. So wie dein Vater in der Schlacht bei Kush, wirst auch du neben Aaron stehen.«

Die Augen des Jungen wurden groß. »Aber ich bin doch nicht einmal …«

»Ich bin der Feldherr Arams, es ist vollkommen egal, was du einmal warst. Ich kann dich jederzeit in die Leibwache des Unsterblichen aufnehmen. Und jetzt schwafel mir nicht die Ohren voll, sondern folge mir schweigend, wie es sich für einen Mann der Leibwache unseres Herrschers geziemt!«

Ashot konnte sehen, wie der Knabe fast platzte, weil er noch tausend Dinge loswerden wollte, aber Daron presste die Lippen zusammen.

Schmunzelnd wandte Ashot sich ab. Er dachte an seine Kindheit in Belbek, daran, wie er mit Artax und Narek im Palmgarten von Behruz Datteln gestohlen hatte. An ihre Angst vor der Strafe. Könnte er doch noch einmal zu jenen glücklichen Tagen zurückkehren.

Der lange Weg den Ankerturm hinauf ließ ihn ganz wach werden. Es war ein angenehmer Morgen. Eine leichte Brise kam von Westen über den großen Fluss. Es würde ein schöner Tag werden, wäre da nicht ein Heer von Drachen im Anflug, um die Goldene Stadt und die Flotte an ihrem Himmel in Flammen vergehen zu lassen.

Tödliche Langeweile

Es war tödlich langweilig! Meliander hatte in der Nacht schlecht geschlafen. Immerzu murmelten diese hässlichen Gazellenfrauen. Nie war es still. Außerdem herrschte eine drückende, schwüle Hitze in dieser Grotte. Warum hatte Mutter sie nur hierhergebracht? Sie hätte es ihnen sagen sollen! Schließlich waren sie beide keine Kleinkinder mehr.

Mutter konnte hinaus in die Welt, auf ihren zwei Beinen. Bestimmt würde sie wieder großartige Abenteuer bestehen. In dem weißen Gewand der Drachenelfen, mit dem Bidenhänder auf den Rücken geschnallt, sah sie aus wie eine Heldin. Auch der stille Nodon mit seinen unheimlichen Augen war ein Held und all die anderen Drachenelfen in der Alten Veste. Nur er, er würde niemals ein Held sein. Schon bei seiner Geburt hatte er nur einen Arm gehabt und war mit Narben bedeckt gewesen. Und seine Beine waren so zerschunden, dass sie ihn nur, wenn er sich auf eine Krücke stützte, gerade einmal trugen. Ihm ging es nicht besser als Eleborn. Aber der hatte zumindest seine ruhmreichen Tage gehabt. Eleborn war ein Drachenelf gewesen. Meliander rang gegen Tränen der Wut. Er war ein Krüppel, der unter Helden aufwuchs. Manchmal wünschte er sich, er wäre tot.

Emerelle stand zwischen den Gazala und sprach mit Firaz. Er hörte die beiden lachen. Es fiel seiner Schwester so leicht, auf andere zuzugehen und deren Herzen zu gewinnen. Er war da ganz anders. Er mochte nicht, wie er angestarrt wurde. Er spürte ihr Mitleid. Nur bei Eleborn war es nicht so. Der Elf hatte sich in Decken eingerollt und schlief. Dabei gab er leise, röchelnde Laute von sich. Bei ihm fühlte sich Meliander besser. Aber er war oft fort.

Missmutig blickte er zu dem dunklen Tor, dem Ausgang aus der Grotte. Niemand beachtete ihn gerade. Vielleicht sollte er die Gelegenheit nutzen und einen Ausflug machen. Ein wenig frische Luft schnappen. Er war dieses Gefängnis hier so leid.

Er nahm seine Krücke und kämpfte sich auf die Beine. Er wartete, bis das Zittern vorüber war. Dann stapfte er los. Das Wasser am Boden der Grotte schluckte das verräterische Klacken seiner Krücke. Er schlich die Wände entlang. Die blinden Gazala beachteten ihn nicht, Emerelle und Firaz waren in ihr Gespräch vertieft und Eleborn schlief noch immer.

Meliander erreichte den Ausgang, ohne dass ihn jemand bemerkte. Von da an stützte er sich gegen die Tunnelwand. Hier, auf festem Boden, wollte er die Krücke noch nicht benutzen. Wollte nicht im letzten Augenblick jemanden auf sich aufmerksam machen. In die Wände waren Bilder geschnitten. Seine Finger krallten sich in die Vertiefungen. So fand er Halt und zog sich vorwärts, rang seinen zitternden, schwächlichen Beinen Schritt um Schritt ab.

Erst als er ein gutes Stück vorangekommen war und an einer Gabelung des Tunnels stand, gestattete er sich wieder den Luxus, auf seine Krücke gestützt zu gehen.

Rechts oder links? Er konnte sich nicht erinnern, welchen Weg sie hinab genommen hatten. Also entschied er aus einer Laune heraus. Links war gut. Für den Rückweg prägte er sich die Bilder an den Wänden ein. So würde er sich nicht verlaufen.

Der Tunnel, dem er folgte, stieg leicht an. Die Wände hier waren aus Steinquadern gefügt und nicht mehr aus dem gewachsenen Fels geschlagen, wie es weiter unten der Fall war. Die Bilder zeigten Landschaften, Schiffe in stürmischer See, manchmal auch Städte. Sie führten ihm vor Augen, wie groß die Welt war, und er fühlte umso schwerer die Bürde seiner Gefangenschaft. Nie hatte er den Jadegarten verlassen. Ein Entdecker sein, jemand, der überall hinreiste und Geheimnissen auf den Grund ging, das war sein Traum. Und heute wollte er beginnen, diesen Traum zu leben. Er würde den Geheimnissen der Pyramide des Dunklen nachstellen.

Wieder gelangte er an eine Gabelung. Wieder wählte er den linken Weg. Es war dunkel hier. Keine Fackeln brannten. Aber davon würde er sich nicht abhalten lassen, dachte Meliander und sprach ein Wort der Macht. Augenblicklich erschien ein blasses, vor ihm schwebendes Licht. Nicht so hell wie eine Fackel, aber hell genug, um die Bilder an den Wänden weiterhin betrachten zu können.

Dieses Mal zeigten die Reliefs Schlachten. Hochgewachsene Männer mit Tierköpfen, die zwischen Schlachtreihen aus Speerträgern auftauchten. Weiß gewandete Drachenelfen, die zwischen ihren Feinden zu tanzen schienen. Ob es hier auch Bilder von seiner Mutter gab?

Er hielt inne. Ein leichtes Prickeln überlief ihn. Ein Zauber war gewoben worden. Nicht weit entfernt! Hatte Eleborn bemerkt, dass er fort war, und suchte schon nach ihm?

Ein kalter Lufthauch zog den Tunnel hinab. Er kam von vorne! Und er war viel zu kühl, um von einem Ausgang in den Jadegarten zu stammen. Meliander schluckte. Jetzt hatte er sein Abenteuer. Wollte er entdecken, was da vor ihm war? Oder doch lieber in Sicherheit flüchten?

Vielleicht könnte er sich ja erst einmal anschauen, was dort war, und dann entscheiden. Er ließ seine flackernde Lichtkugel den Gang hinaufschweben. Plötzlich war sie verschwunden.

Er starrte in die Finsternis. Sie war viel dichter, als sie hätte sein sollen. War das der Zauber? Versteckte sich dort jemand in einem Kokon aus Dunkelheit.

»Komm!«, rief ihn eine Knabenstimme.

Schritte entfernten sich.

Er würde nicht fortlaufen, entschied Meliander. Wer auch immer dort war, er hatte ihm seinen Wunsch erfüllt. Er hatte ein echtes Geheimnis aufgespürt, und wenn er dieses Geheimnis aufklärte, war er auch ein Held und nicht nur ein Krüppel.

So schnell ihn seine Krücke trug, eilte er den Gang weiter hinauf, der Finsternis entgegen.

Da war wirklich ein Zauber, ganz ähnlich der Aura, die den Dunklen umgab. Etwas, das Licht trank. Nach ein paar Schritten hatte er es überwunden. Jetzt war es so kalt, dass ihm der Atem vor dem Mund stand. Licht sickerte aus den Wänden. Fahlgrün und unnatürlich. Wieder teilte sich der Tunnel. Der linke Gang lag in dieses verderbte Licht getaucht. Der rechte war dunkel.

Meliander zögerte. Licht hatte noch niemanden verletzt. Und außerdem wollte er kein Feigling sein! Wenn es nur nicht so kalt wäre. Plötzlich vermisste er Emerelle. Sein ganzes Leben lang war sie immer in seiner Nähe gewesen. Es wäre schön, sie auch jetzt an seiner Seite zu haben.

Helden mussten nicht von ihrer Schwester beschützt werden! Er trat in den grün leuchtenden Tunnel. Ihm klapperten die Zähne vor Kälte. Ganz kurz öffnete er sein Verborgenes Auge, um die Beschaffenheit des Zaubers zu durchschauen. Es war, wie er es sich gedacht hatte: Er zog seine Kraft aus der Wärme der Luft. Das war nicht bedrohlich, nur unangenehm.

»Komm, mein Bruder!«

Was sollte das? Jetzt zeigte sich eine schattenhafte Gestalt vor ihm im Gang. Das Licht wurde langsam stärker. Dort stand ein Junge in seinem Alter. Er hatte freundliche Gesichtszüge und rabenschwarzes Haar. Der fremde Junge streckte ihm die Hand entgegen. Noch nie hatte er außer seiner Schwester ein anderes Kind getroffen. Einen Spielkameraden.

»Willst du mit mir fortgehen?«

Da lag eine Traurigkeit in der Stimme des Jungen, die Meliander vertraut war. Nur dass die Augen nicht zu diesem Ton passten. Sie wirkten hart, ja grausam.

»Willst du nicht von hier fort?«

Doch, entschied Meliander. Aber zunächst musste er etwas anderes wissen. »Wie kannst du mein Bruder sein?«

Der fremde Junge winkte ihn näher. Er war von schlanker, fast zerbrechlicher Gestalt. Jetzt leckte er sich über die Lippen. »Komm mit mir, und du wirst alles verstehen.«

Die schwebende Insel

»Verdammter Bärenschiss!« Volodi saß auf seinem silbernen Bären, der ganz am Rand des Flugdecks stand. Vor einer halben Stunde war ihm sein Devanthar erschienen und hatte ihm eingeschärft, dass er den Daimonen nicht entgegenfliegen durfte. Kein einziger Wolkensammler, kein silberner Löwe, nichts sollte sich von der Stelle rühren. Nie zuvor hatte der Große Bär so eindringlich zu ihm gesprochen. Und er hatte es mitten unter seinen Hauptleuten getan. Jeder an Bord würde wissen, dass er gegen einen Befehl des Devanthar verstieß, wenn er früher losschlug.

Der Große Bär hatte darauf bestanden, dass die Schlacht über der Goldenen Stadt geschlagen werden musste. Warum, hatte er nicht erklärt. Volodi erinnerte sich nur zu gut, was der Stadt drohte, wenn an ihrem Himmel gekämpft wurde. Er hatte den Aufstand der Wolkensammler nie vergessen. Es war der Tag gewesen, an dem Quetzalli und Wanya gestorben waren. Schiffstrümmer waren überall in die Stadt gestürzt. Es hatte Brände gegeben. Aber das alles war nichts im Vergleich zu dem, was die Goldene Stadt erwartete, wenn der Kampf gegen die Daimonen an ihrem Himmel geführt wurde.

Der Feind am Horizont war nur eine undeutliche, dunkle Masse. Sie kam langsam näher. Etwas stimmte mit der verdammten Daimonenflotte nicht. Sie war kleiner, als er erwartet hatte. Und die Schiffe flogen so dicht zusammen, dass sie wie ein Klumpen erschienen. Warum taten sie das?

Nervös trommelten seine Finger auf den Hals des Bären. Die Sonne stand hoch am Himmel. Gerade war die Mittagsstunde verstrichen. Er hasste es, einfach nur dazusitzen. Und er wusste, die meisten seiner Männer empfanden ähnlich.

Er sah zu den anderen Schiffen, die an den Ankertürmen lagen. Fast zweihundert Himmelsreiter warteten auf den Flaggschiffen der Unsterblichen darauf loszuschlagen. Sie waren die ungestümsten Krieger der sieben Königreiche. Volodi wünschte sich, dass endlich einer von ihnen die Befehle missachtete. Dann würde auch er losfliegen, ganz gleich, was der Große Bär von ihm verlangt hatte.

»Kommt schon«, murmelte er. »Einer von euch bricht jetzt den Befehl!«

Er suchte den Himmel mit Blicken ab. Kein Silber glänzte dort. Nun denn, auch so würde er die Ehre haben, als Erster zu kämpfen. Wenn die Angriffsflotte nicht im letzten Moment abschwenkte, würde sie genau in seinem Abschnitt über der Goldenen Stadt ankommen. Seine Schiffe würden als erste im Gefecht stehen. Seine … Etwas berührte ihn kühl und glitschig an der Wange. Ein Tentakel. Die Gedanken von Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer flossen in seinen Kopf.

Sie haben keine Wolkensammler. Sie greifen mit einer fliegenden Insel an. Weißt du, wie man einen großen Steinhaufen besiegt?

Volodi musste an das steinerne Schiff denken, von dem Arcumenna beim Treffen der Unsterblichen gesprochen hatte.

»Verdammter Bärenschiss!«, fluchte er erneut.

Wie sollen uns die Fäkalien von verfluchten Bären helfen, in dieser Schlacht zu gewinnen?, erkundigte sich Wind vor regenschwerem Horizont sehr ernsthaft. Der Wolkensammler mochte ein Philosoph und unglaublich intelligent sein, aber er hatte nie verstanden, dass er nicht alles, was Menschen sagten, wörtlich nehmen sollte.

»Es wird bestimmt genügen, wenn wir alle umbringen, die auf diesem Steinschiff hocken. Und natürlich auch die, die stehen«, ergänzte er, bevor es eine weitere Frage gab.

Dann werde ich das meinen Brüdern sagen und … Oh, sie haben auch schon Befehle erhalten. Subai will alle Daimonen mit Pfeilen spicken. Und Necahual fordert gerade seine Männer auf, ihm die Köpfe der Daimonen zu bringen.

»Da sehe ich keinen Widerspruch – Hauptsache, sie sind tot.« Volodi kniff die Augen zusammen, um das Ding am Horizont besser zu erkennen. Es war furchteinflößend groß. Aber groß waren ihre Wolkensammler auch. Sie würden siegen.

Der Feind war weniger als eine Meile entfernt. Deutlich konnte Volodi die Drachen erkennen, die um die schwebende Insel herum ihre Kreise zogen. Es sah so aus, als hätten auch sie den Befehl bekommen, nicht voranzustürmen.

Darf ich gleich den Ankerturm loslassen?

Spürte er da so etwas wie Angst bei Wind vor regenschwerem Horizont? Das kannte er bisher noch nicht von seinem Wolkensammler.

Ich fürchte mich nicht, aber diese fliegende Insel hat eine viel größere Masse als ich. Meine Tentakel werden zerreißen, der Ankerturm wird auf deinen Palast stürzen, und auch ich und dieses Schiff werden erheblich beschädigt werden, wenn wir zusammenstoßen. Und all das, ohne diese Insel in ihrem Flug nennenswert aufzuhalten. Steine nehmen in aller Regel sehr wenig Schaden, wenn man mit Fleisch auf sie einschlägt.

»Dann lass den Turm los«, sagte Volodi halblaut. Augenblicklich spürte er die Erleichterung des Wolkensammlers.

Die Insel war jetzt so nah, dass er erkennen konnte, dass sie aus verschiedenen Felsblöcken zusammengefügt war. Wahrscheinlich wurden sie von Tauen oder Ketten zusammengehalten. Etwas, das so hell in der Sonne funkelte, dass er es nicht erkennen konnte, ragte aus dem vordersten Felsblock. Auf den Steinen wuchsen Bäume. Und zwischen den Bäumen war etwas, das sich drehte. Windmühlenflügel? Er würde gar nicht erst versuchen zu verstehen, was die Daimonen dort in den Himmel gesetzt hatten. Er würde es einfach nur zerstören.

Volodi gab seinem Bären ein Zeichen, sich ein wenig zu drehen, sodass er nun auf seine Männer blicken konnte. Sie waren ein wilder Haufen! Angeber, Kraftprotze, großartige Säufer und Weiberhelden. Mit ihren prächtigen Bärten, den bronzenen Kürassen und den Helmen, die sie mit Vogelschwingen geschmückt hatten, boten sie einen großartigen Anblick. Sie waren die besten Männer, die je ein Fürst Drusnas befehligt hatte.

»Sieht so aus, als wären den Daimonen ihre Wolkensammler davongeflogen«, rief er über das Flugdeck. »Ein paar Drachen und ein Haufen schwebender Steine sind ihr letztes Aufgebot. Heute wird der Tag sein, an dem wir ihnen derart die Scheiße aus den Därmen prügeln, dass sie niemals wiederkehren. Ich weiß, ihr brennt darauf genauso sehr wie ich. Also zeigt es ihnen! Ich weiß, wir können siegen. Sie haben nur eine einzige Waffe, die euch gefährlich werden kann: hübsche Mädels, die euch bezaubernd anlächeln, um euch die Kehle durchzuschneiden, sobald ihr versucht, sie zu küssen. Also, Jungs, das Knutschen kommt nach der Schlacht mit den Schankmaiden, die in der Großen Halle auf euch Hurenböcke warten. Jetzt gilt es, Klinge gegen Klinge zu fechten!«

Zufrieden sah Volodi die Kampflust in den Augen seiner Männer. Sie würden ihm überallhin folgen. Er wendete seinen Bären. Das verdammte Steinschiff war nur noch hundert Schritt entfernt. Schon schwärmten ihnen die ersten Drachen entgegen. Länger zu warten würde heißen, seine Männer der Gefahr auszusetzen, dass ein Flammenstrahl sie auf dem engen Flugdeck erwischte. Er löste die Lanze aus der Halterung an der Flanke des Bären, stieß sie in die Luft und schrie aus Leibeskräften. »Los, ihr Bastarde! Ziehen wir ihnen die Schuppen über die Ohren!«

Er schlug seinem Bären mit der flachen Hand auf den Hals. »Los, Stinker! Auf in den Kampf.«

Schwerfällig und mit knirschenden Gelenken setzte sich sein metallener Kampfgefährte in Bewegung. Kaum machte er einen Schritt über die Kante des Flugdecks, war es wie immer. Er stürzte wie ein Stein der Stadt entgegen. Volodi schloss die Augen und stieß einen inbrünstigen Fluch aus, während Stinker schwerfällig mit seinen Flügeln schlug. Als der Bär sich fing, waren sie höchstens zwei Schritt über den flachen Häuserdächern der Stadt.

Er war sich nicht sicher, ob dieser verfluchte Bär das absichtlich machte oder ob er tatsächlich so ein lausiger Flieger war. Hart gegen die Schwerkraft ankämpfend, gewann Stinker wieder an Höhe. Flammenstrahlen schossen durch den wolkenlosen Himmel. Nur ein paar Schritt entfernt stürzte einer seiner Männer, zur Unkenntlichkeit verbrannt, der Stadt entgegen.

Ein Drache mit Augen wie aus Glas kam Volodi entgegen. Der Drusnier hielt die Lanze waagrecht neben dem Bären. Der Drache näherte sich ihm leicht von links. Vielleicht war ihm die Waffe noch nicht aufgefallen.

Als das Biest sein Maul mit dolchlangen Fängen aufriss, hob Volodi die Lanze quer vor den Körper. Nicht die ideale Position, einen Drachen abzustechen, dachte er noch, als die Lanzenspitze dem Biest in den Rachen drang. Der Schaft der Waffe wurde ihm so hart vor die Brust geschlagen, dass ihm pfeifend die Luft aus der Lunge entwich.

Der Ruck riss die Lanze aus seiner Hand. Der Drache stieß ein gurgelndes Geräusch aus. Blut spritzte aus seinem Schlund. Er stürzte der Stadt entgegen.

Volodi war von dem Treffer noch ganz benommen. Grelle Lichtpunkte tanzten ihm vor den Augen. Stinker stieg weiter in den Himmel hinauf. Die Masse aus schwebenden Felsen war nun dicht vor ihnen. Wind vor regenschwerem Horizont wich vor der fliegenden Insel zurück. Steinkugeln aus den Bordgeschützen des Wolkensammlers schlugen gegen die Felsflanken, richteten aber keinen nennenswerten Schaden an.

Stinker stieg immer noch höher. Überall um sie herum waren Himmelsreiter und Drachen. Aus Gefechtsständen in den Felsen wurden Speere abgeschossen. Pfeile schwirrten durch die Luft. Gellende Schreie tönten Volodi in den Ohren.

Jetzt war er an der fliegenden Insel vorbei und sah von oben auf sie herab. Der Atem setzte ihm aus. Die verfluchte Insel war mehr als zwei Meilen lang.

Wie eine Sense durch Korn schnitt sie durch die Wolkensammler über der Stadt. Die Himmelsgiganten Nangogs wichen dem steinernen Ungetüm aus. Gleichzeitig schossen alle Geschütze auf die Insel. Flammenstrahlen zuckten über den Himmel.

Einer der alten quallenförmigen Wolkensammler griff das Daimonenschiff mit seinen Tentakeln an. Seine Fangarme rissen Männer aus ihren Geschützstellungen und schleuderten sie zur Stadt hinab, während hinter ihm zwei große rote Drachen erschienen.

Wie Stangen aus glühendem Stahl bohrte sich ihr Feuerodem in den Rücken des Wolkensammlers. Volodi zog einen kurzen Wurfspeer aus dem Köcher an der Bärenflanke und schleuderte ihn einem der Drachen entgegen. Die stählerne Spitze stanzte ein Loch in die Lederschwinge. Er schien es nicht bemerkt zu haben, drehte einfach ab und flog den Wolkenschiffen über der Stadt entgegen.

Der verwundete Wolkensammler stieß schrille Laute aus, die wie Nadeln in Volodis Ohren stachen. Immer noch hielt sich der Himmelstitan mit seinen Tentakeln an der fliegenden Insel fest. Er schlug gegen die Felsen. Das Schiff, das er trug, zersplitterte. Dutzende Männer stürzten schreiend in den Abgrund. Volodi flog zu hoch. Er konnte nichts unternehmen, um ihnen zu helfen.

Etwas tief im Inneren des Wolkensammlers schien durch die Drachenflammen Feuer gefangen zu haben. Die Gase in ihm explodierten. Fontänen aus brennendem Fett und kochendem Wasser schossen aus seinem zuckenden Leib, den er mit letzter Kraft zur Oberseite des steinernen Schiffes schleppte.

Das brennende Fett setzte Bäume und Windmühlen in Flammen. Kochende Brühe aus seinem Inneren versickerte in Felsspalten. Volodi sah kleine Daimonen in den Wäldern der beiden Felsen, auf denen der sterbende Wolkensammler ruhte, todesmutig gegen die Flammen ankämpfen. Dann zerplatzte ein großer Baum. Brennende Äste wurden in andere Waldstücke geschleudert. In Todeszuckungen pflückten die Tentakel Windmühlenräder von starken Holzmasten, als wären sie nur Strohhalme.

»Heilige Scheiße!«, fluchte Volodi. Er war nur einen Moment lang abgelenkt gewesen. Einen Atemzug hatte er nicht aufgepasst. Er riss an den Zügeln, doch er wusste, es war zu spät. Ein Schwanzhieb schmetterte auf Stinkers linken Flügel. Der Bär geriet ins Trudeln, und Drachenzähne schnappten nur wenige Zoll vor Volodis Brust ins Leere. Ein weiterer Schwanzhieb des Drachen traf die hohe Rückenlehne seines Sattels. Holz splitterte. Etwas traf auf die Rüstung des Großen Bären, und Volodi war froh, dass er sie heute angelegt hatte. Er musste leben, denn er hatte gesehen, wie man dieses steinerne Schiff besiegen konnte.

Unter ihm explodierten weitere Bäume in der Feuersbrunst, die der sterbende Wolkensammler verursacht hatte.

Der Überblick

Hornbori presste sich an die Scheibe des Pavillons und sah zu dem brennenden Ungeheuer, das auf seinem Schiff hing.

»Das darf nicht noch öfter passieren«, bemerkte Gobhayn ruhig.

Hornboris Gedanken überschlugen sich. Da draußen waren weit über hundert Wolkensammler. Noch zehn, die brennend auf dem Himmelland lagen, und sie würden auf die Stadt unter ihnen stürzen. Hatten die Menschenkinder das auch begriffen?

»Die Drachen …«, stammelte er. »Sie dürfen keinen Wolkensammler in der Nähe mehr angreifen. Das darf sich nicht wiederholen. Am besten, sie stecken gar keinen Wolkensammler mehr in Brand.« Er fühlte sich von den Ereignissen am Himmel überfordert. Er konnte eine Schlacht auf dem Boden führen – und auch dabei hatte er in der Vergangenheit schon bedauerliche Fehler gemacht –, aber das hier überstieg bei Weitem seine Fähigkeiten. Es geschah zu viel gleichzeitig. Und obwohl er im Pavillon stand, hatte er das Gefühl, keinen Überblick zu haben.

Eine kopfgroße Steinkugel prallte gegen die Scheibe, an der er stand. Er schreckte zurück. Ein Richtschütze auf dem Wolkensammler, der hundert Schritt entfernt trieb, hatte ihn entdeckt und mit einem Geschütz auf ihn gezielt.

»Eure Befehle, Herr aller Tiefen«, ermahnte Gobhayn ihn.

Hornbori sah hilfesuchend zu Solaiyn. Doch der erprobte Feldherr wirkte abwesend, wie schon so oft in der Vergangenheit. Er schwankte leicht, und die Schlangenfrau stützte ihn.

»Nodon!«

»Herr!«, hörte er die Stimme des rot gewandeten Elfen hinter sich.

»Du nimmst die Adlerreiter. Alle Adlerreiter! Und du sorgst dafür, dass sich nicht noch ein brennender Wolkensammler an das Himmelland klammert.«

»Mit Verlaub, Herr, wir werden einen brennenden Wolkensammler mit Adlern nicht aufhalten können. Aber wenn es Euer Wunsch ist, wird der Befehl selbstverständlich ausgeführt.«

»Nodon hat recht!«, raunte Gobhayn neben ihm.

Hornbori war versucht, darauf zu bestehen, dass seine Befehle ausgeführt wurden. Aber vielleicht würde er noch einen der Adler brauchen, um zu flüchten. Diesen Luftaalen wollte er sein Leben nicht anvertrauen.

»Das Feuer!«, ermahnte ihn Gobhayn.

»Was können wir tun?« Selten zuvor hatte sich Hornbori so hilflos in einer Schlacht gefühlt.

»Die Telepathen. Sie sollen den Drachen befehlen, keinen weiteren Wolkensammler in der Nähe des Himmellands in Flammen zu setzen.«

»Genau! Das hatte ich auch schon gedacht.« Hornbori wandte sich an die Adjutanten, die hinter ihm darauf warteten, seine Befehle weiterzugeben. »Also, ihr habt es gehört. Informiert die Telepathen. Und ein bisschen hurtig, wenn ich bitten darf!«

Solaiyn hatte nicht mehr die Kraft, auf den Beinen zu stehen. Er lag in den Armen seiner unheimlichen Schlangenfrau. Warum nur beharrten diese verdammten Drachen darauf, diesem unfähigen Kerl Befehlsgewalt zu geben? In jeder zweiten Schlacht kippte er um.

Hornbori hatte ein wenig von seinem Selbstvertrauen zurückgewonnen. »Wie löschen wir jetzt den Brand?«, wandte er sich an Gobhayn.

»Das können wir nicht. Dazu fehlt es uns an Löschwasser und Männern.«

Hornbori traute seinen Ohren nicht. »Es fehlt uns an Männern? Wir haben doch weit über zwanzigtausend …«

»Und damit ist das Himmelland immer noch dramatisch unterbesetzt. Wir sollten erst einmal an Höhe gewinnen.«

Hornbori sah zwar nicht ein, warum, aber Gobhayn würde es schon wissen. »Also …« Er wandte sich zu seinen restlichen Adjutanten um.

Der Elf packte ihn bei der Schulter. »Solche Befehle gehen direkt raus. Dort!« Er deutete auf das vergoldete Rohr, das neben Hornbori aus dem Boden ragte. »Dafür haben wir das Sprachrohrsystem.«

Leicht verärgert zog der Zwergenfürst den Stöpsel aus dem Rohr. »Ähm … Achtung.« Er fand es immer noch seltsam, mit einem Rohr zu sprechen, obwohl er es, seit er an Bord gekommen war, mehrfach geübt hatte. »Also … ähm … Befehl an alle Felsen: Wir steigen auf. Sofort!«

Durch das ganze Himmelland erstreckte sich eine Kette von mehr als dreißig Ohrengrotten. In diese Befehlsstände mündeten die Sprachrohre. Sobald ein Befehl eintraf, wurde er in das Hauptrohr an der gegenüberliegenden Seite der kleinen Grotte weitergesprochen. So wurden die Befehle binnen kürzester Zeit von einem Ende des Himmellands an das andere weitergegeben. Erst wenn der Befehl über das Hauptrohr an die nächste Ohrengrotte weitergegeben war, wurden all die anderen Sprachrohre geöffnet, um den Befehl nun auch an die unmittelbar angrenzenden Felsen zu übermitteln. Umgekehrt konnten über dieses Rohrsystem auch Meldungen aus jedem Felsen an das Erste Ohr, die Grotte, die vor dem Eingang zum Pavillon lag, weitergegeben werden.

Ein Bote kam durch den Glasgang gelaufen und überreichte Gobhayn mehrere Papiere. Der Elf blickte flüchtig darüber, während der Bote sich bereits wieder zurückzog. Hornbori war leicht verärgert. Er hätte diese Papiere bekommen sollen.

Wieder knallte eine große Steinkugel gegen die Scheiben des Pavillons, und er zuckte zusammen. Gobhayn nicht. Wie schaffte es dieser verdammte Elfenschmied nur, so kaltblütig zu sein?

Endlich würdigte Gobhayn ihn eines Blickes. »Es sind die Felsen zweiundfünfzig und dreiundfünfzig, auf denen die Brände am schlimmsten toben. Auf fast allen angrenzenden Felsen sind bereits kleinere Feuer ausgebrochen, die wir aber noch beherrschen können.«

»Dann lassen wir die Felsen am besten sofort evakuieren.«

»Nein, das wäre unklug. Dann flüchtet die Besatzung der Felsen über die Brücken und Stahlträger, die wir abtrennen müssen. Das wird das ganze Prozedere erheblich verlangsamen. Wir benachrichtigen die Besatzungen der beiden Felsen nicht.« Er beugte sich über das Sprachrohr. »Sprechverbindung zu den Felsen zweiundfünfzig und dreiundfünfzig kappen«, befahl er knapp. Dann setzte er sorgfältig den Stöpsel auf das Rohr und blickte missbilligend auf Hornbori herab. »Nachdem wir gesprochen haben, muss das Rohr immer zugestöpselt werden. Sonst hören sie im Ersten Ohr alles mit, was hier im Pavillon gesprochen wird. Und denen fehlt der Überblick, um die Entscheidungen zu verstehen, die hier getroffen werden.«

Ihm fehlte dieser Überblick auch, dachte Hornbori. »Wie viele Männer sind auf den beiden Felsen?«

Gobhayn schloss kurz die Augen, als müsste er einige Zahlen im Kopf überschlagen. »Etwa sechshundert«, sagte er schließlich. »Es sind äußere Felsen mit Geschützstellungen, deshalb gibt es dort mehr Männer.«

»Wir können doch nicht einfach …«

»Wir können nicht nur, wir müssen!«, unterbrach ihn der Elfenschmied. »Die beiden Felsen entsprechen etwa einem Prozent unserer Schiffsmasse. Wir verlieren gerade die Bäume, die das Gewicht der Felsen tragen, und es besteht die Gefahr, dass sich die Feuer von dort weiter ausbreiten. Wenn fünf Prozent des Himmellands keinen Auftrieb durch Bäume mehr haben und dies ein zusammenhängendes Stück ist, bekommen wir Schlagseite. Und es wird ein zusammenhängendes Stück sein, wenn das Feuer von Fels zu Fels springt. Verlieren wir zehn Prozent unserer Bäume, zieht es uns nach unten. Wir können das dann auch nicht mehr durch den Betrieb der liegenden Luftschrauben aufheben. Wir werden zu Boden sinken. Und dort sind wir wehrlos.«

Hornbori vermochte den Ausführungen nicht ganz zu folgen. Er starrte hinaus in den Himmel. Ganz offensichtlich hatten noch nicht alle Drachen die Botschaft der Telepathen erhalten. Zwei weitere der alten Wolkensammler standen bereits in Flammen.

Plötzlich erschien ein Krieger mit wildem Bart und irrem Blick in den Augen unmittelbar vor ihm. Er ritt auf einem geflügelten Bären, der es schaffte, in der Luft stehen zu bleiben, während sein Reiter einen riesigen Hammer aus einem Sattelholster zog und damit nach Leibeskräften auf die Scheibe eindrosch.

»Er kann keinen Schaden anrichten«, bemerkte Gobhayn.

»Herr?«, meldete sich Nodon hinter ihm zu Wort. »Soll ich mit den Adlern abfliegen, oder habt Ihr Euch anders entschieden.«

Ein Bote mit neuen Papieren lief an Hornbori vorbei und reichte sie dem Elfenschmied. Und draußen hämmerte der verrückte Menschensohn immer noch mit dem Hammer gegen die Scheibe.

Hornbori schloss die Augen. Das war zu viel!

»Die Felsen zweiundfünfzig und dreiundfünfzig werden aus dem Verband gelöst«, hörte er Gobhayn langsam und überdeutlich sprechen. »Ich wiederhole: die Felsen zweiundfünfzig und dreiundfünfzig werden aus dem Verband gelöst. Es sind sofort Arbeitstrupps auszuschicken, um den Befehl auszuführen.«

Als Hornbori die Augen öffnete, traf eine Steinkugel den Mann vor der Scheibe und riss seinen Rumpf entzwei. Blut klatschte auf die Scheibe und rann daran herab. Gobhayn stand über das Sprachrohr gebeugt und setzte gerade wieder den Stöpsel ein.

Hornbori musste an die sechshundert Mann denken, die bald in den Tod stürzen würden und ihr Schicksal nicht einmal kommen sahen. Er war kein sonderlich guter Heerführer. Seine Befehle hatten viele tapfere Männer das Leben gekostet. Aber so etwas Kaltblütiges hatte er niemals getan. Und er würde nicht heute damit beginnen. »Gobhayn, ich übertrage dir das Kommando hier im Pavillon«, sagte er so laut, dass es jeder der Anwesenden hören konnte. »Ich trete nicht den Oberbefehl ab, dass das klar ist. Aber du entscheidest hier.«

»Und du?«, fragte der Elf verblüfft.

»Ich inspiziere jetzt die Geschützstellungen steuerbord. Ich glaube, man kann deren Leistungen noch verbessern.«

»Die Felsen zweiundfünfzig und dreiundfünfzig liegen steuerbord«, bemerkte Gobhayn. »Willst du etwa …«

Hornbori wandte sich an Nodon. »Du bist zwar der Leibwächter Solaiyns, aber da ich in der Befehlshierarchie über Solaiyn stehe, kann ich auch dir Befehle erteilen. Richtig?«

Nodon zögerte kurz, dann nickte er. »So ist es, Herr.«

»Gut. Sollte Gobhayn den Befehl geben, einen Felsen abzuwerfen, auf dem ich gerade stehe, wirst du ihn sofort enthaupten. Hast du das verstanden?«

»Ja, Herr!«, entgegnete Nodon, ohne sich anmerken zu lassen, was er von diesem Befehl hielt.

»Du kannst nicht …«, setzte Gobhayn an.

»Ich kann!« Hornbori funkelte ihn wütend an. »Vergiss nicht, ich bin der Oberkommandierende hier an Bord.« Dann wandte er sich ab und verließ den Pavillon durch den Glastunnel. Natürlich würde er nicht zu den Felsen zweiundfünfzig und dreiundfünfzig gehen. Er war ja nicht lebensmüde! Aber das konnte Gobhayn nicht wissen.

Als er den Glastunnel hinter sich ließ und in die vertraute Sicherheit massiver Felswände trat, fühlte er sich unglaublich erleichtert. Ihm war klar, dass er nichts gegen das Chaos der Schlacht, die um sie herum tobte, unternommen hatte. Aber diesen Wahnsinn nicht mehr mit ansehen zu müssen tat gut.

Das Richtige tun

»Die Hubschrauben antreten!«, rief Myrella in ihr Sprachrohr und stöpselte es wieder zu. Neugierig trat sie an den Abgrund. Zwanzig Schritt unter ihr war der große rostrote Rotor in den Fels eingelassen. Sie hörte das Metall in seiner Fassung knirschen, als die Kräfte der Laufräder auf die Hubschraube zu wirken begannen.

Da war eine Bewegung tief unter der Schraube. Etwas blitzte silbern. Als sich der große Rotor langsam zu drehen begann, schnellte zwischen seinen Flügeln ein silberner Wolf hervor. Ein Menschensohn saß auf einem Sattel, der aussah wie ein großer Stuhl. Fasziniert beobachtete Myrella, wie der Wolf in engen Kehren durch den Rotorschacht aufstieg.

Der Menschensohn im Sattel wirkte zerzaust. Er hatte strähniges schwarzes Haar, das im Flugwind flatterte. In den Händen hielt er einen kurzen Reiterbogen, auf dessen Sehne schussbereit ein Pfeil lag.

Eine der Schwingen des fliegenden Wolfs war mit Blut besudelt. Plötzlich traf sie der Blick des Reiters. Er hob den Bogen, zog die Sehne durch und passte sich der Bewegung des Wolfs an. Der Pfeil schnellte ihr entgegen.

Myrella wurde zur Seite gerissen. Das Geschoss verfehlte sie um Haaresbreite. Als sie hinab in den Schacht blickte, sah sie, dass dem Reiter ein Messer in der Brust steckte.

»Ihr müsst vorsichtiger sein, meine Dame. Ihr seid ganz offensichtlich keine Kriegerin.« Es war Dylan, der sie gerettet hatte. »Bitte entschuldigt mich nun. Ich habe die Befehle gehört …« Er schüttelte den Kopf. »Für das Schiff mag es das Richtige sein, moralisch ist es das nicht. Ich kann nicht zusehen, wie sechshundert Mann dem Tod überantwortet werden, ohne dass jemand den geringsten Versuch unternommen hat, sie zu retten.«

Myrella war noch völlig überwältigt von den Ereignissen. Dylan nahm den Tunnel, der zur Brücke zweiundfünfzig führte. Mehrere Trolle folgten ihm.

»Meister!«, rief sie schließlich so laut sie konnte und folgte ihm ebenfalls.

Er nahm keine Notiz von ihr. Erst auf der Terrasse, von der die Brücke zum benachbarten Felsen führte, hielt er inne. Myrella blieb dicht bei ihm. Hier, in der Kluft zwischen zwei Felsen, war ein Stück Himmel zu sehen. Es war nur ein schmaler Streifen, der Abstand zwischen den Felsen betrug wenig mehr als vier Schritt. Die Brücke, die zum benachbarten Steinbrocken hinüberführte, war ganz und gar aus Stahl gefertigt. Dylan wies die Trolle an, die Halterungen der Brücke im Fels zu zerschlagen. Die grauen Hünen hatten gewaltige Hämmer mitgebracht. Ohne zu zögern folgten sie dem Befehl des Elfen.

Myrella sah Rauchschwaden am Himmel treiben. Dann schoss eine Fontäne brennender Flüssigkeit durch ihr Blickfeld. Silberlöwen jagten vorbei, ohne von ihnen Notiz zu nehmen.

An zwei der drei Stahlbögen, die den benachbarten Felsen auf Abstand hielten, standen ebenfalls schon Trolle. Auf ein Zeichen des Elfen begannen sie ebenfalls ihr Zerstörungswerk.

»Was tut Ihr, Meister?«

Dylan wirkte angesichts der Umstände ungewöhnlich ruhig. »Die Felsen abzuwerfen ist für das Himmelland eine vernünftige Entscheidung.« Er legte seine Rechte auf sein Herz. »Aber was richtig und falsch ist, entscheide ich seit Langem allein hier, und ich bin kein Mann für blinden Gehorsam. Sechshundert Albenkinder zu opfern ist falsch.«

Er trat an eine Felsnische, in der ein Stundenglas stand, und winkte den Befehlshaber der Trolle herbei. »Wenn der Sand durchgelaufen ist, trennt ihr auch den dritten Träger vom Himmelland.« Er wandte sich ab, setzte mit elegantem Sprung auf den stählernen Bogen und lief hinüber zu Fels zweiundfünfzig.

Ohne zu zögern folgte Myrella ihm. Auch sie hörte auf ihr Herz.

Wir machen den Himmel brennen

Volodi landete auf dem Flugdeck des Flaggschiffs von Aram. Auf seinem Weg hierher war es ihm gelungen, zumindest einen Teil seiner Bärenreiter um sich zu scharen.

Hektisch löste er die Ledergurte seines Sattels, sprang ab und fragte den erstbesten Hauptmann nach Aaron. »Auf dem Kommandodeck, aber …«

Volodi wartete nicht. Es war unüblich, auf dem Deck eines fremden Flaggschiffs zu landen. Das Chaos, das ohnehin schon herrschte, wurde dadurch noch größer.

Er kam an einem Behelfslazarett vorbei, in dem sich Heiler um schreiende Verwundete kümmerten. Aarons Flaggschiff zeigte deutliche Spuren des Kampfes. Schanzkleider waren von schweren Steinkugeln zersplittert. Blut troff durch Spalten in den Decks.

Volodi stieg eine der überfüllten Treppen zu den oberen Decks hoch. Hauptleute brüllten Befehle. Ein Wolkensammler, der keine hundert Schritt entfernt flog, stand in Flammen. Doch all seine Geschütze schossen noch auf das nahe Steinschiff. Volodi kam es so vor, als würde man mit Erbsen und einem Blasrohr einen wütenden Stier aufhalten wollen.

Zwei Geschütztürme, die er passierte, drehten sich knirschend auf ihrem gefetteten Laufkranz. Bislang hatte Volodi ihre Flotte für unbesiegbar gehalten. Und gegen die Drachen allein wären sie vielleicht auch angekommen, aber dieses Steinschiff … Es erfüllte ihn mit stiller Genugtuung zu sehen, dass auch die Daimonen den Brand auf ihren Felsen nicht beherrschen konnten. Bis hier hörte er die explodierenden Bäume, und er sah, wie brennendes Astwerk weit durch die Luft geschleudert wurde, um anderswo neue Brandherde zu schüren.

Er passierte einen Decksabschnitt, auf dem ein toter grüner Drache lag. Es war nicht einmal ein besonders großer. Etliche Speere ragten aus seinem Leib. Doch der Preis dafür war schrecklich gewesen: Himmelshüter lagen um ihn herum, ihre schneeweißen Umhänge von Blut durchtränkt. Die Drachenkrallen hatten ihre bronzenen Brustpanzer mit einer Leichtigkeit zerfetzt, als wären sie aus dünnem Pergament.

Endlich entdeckte er Aaron auf einem noch höher gelegenen Deck, umringt von Kriegern, über denen die Löwenstandarten aufragten, in deren Schatten auch er einst gefochten hatte. Ein weiterer toter Drache versperrte den Weg, bevor er Aaron erreichte. Es sah aus, als hätte die Bestie versucht, den Unsterblichen zu töten. Einige der Leibwachen waren verwundet. Misstrauische Blicke verfolgten Volodi.

Aaron beriet sich mit einer Gruppe von Hauptleuten.

»Achtung!«, rief plötzlich der Mann, der hinter Aaron stand. »Der Unsterbliche Volodi betritt das Deck!« Jetzt erkannte er den Mann. Es war der Kerl, der Tarkon ans Messer geliefert hatte. Das mochte nützlich gewesen sein, doch schätzte Volodi Verräter nicht. Seltsam, dass Aaron ihn in seiner Nähe duldete.

»Mein Freund, gut zu sehen, dass du noch lebst!« Aarons Stimme klang blechern durch den Maskenhelm. Er trug die volle Rüstung, sogar mit Handschuhen. Wahrscheinlich klüger an diesem Tag.

»Ich weiß, wie wir sich Steinschiff holen vom Himmel«, kam der Drusnier augenblicklich auf den Punkt, während keine drei Schritt entfernt eine Steinkugel durch die Leibwachen pflügte und gleich drei Mann den Kopf abriss.

»Feuer! Müssen wir sich Wald in Flammen machen. Sind sich besonders, die Bäume. Zerplatzen sie sich mit Donnerschlag, wenn sie sich brennen. Und haben die sich Daimonen Angst vor sich brennende Bäume. Sind sich viele Helfer oben auf Steinen, um zu machen sich Schutz für Bäume. Schützt man sich nicht nix, was ist sich nicht wichtig!«

Der Maskenhelm machte es unmöglich, in Aarons Gesichtszügen zu lesen. Er stützte sich schwer auf einen kleinen Tisch, auf dem etliche Tontafeln lagen. »Dieses Steinschiff schießt uns in Stücke«, sagte er niedergeschlagen. »Unsere Geschosse hingegen scheinen fast keinen Schaden anzurichten. Und die Drachen … Wir haben jetzt schon fünf Wolkensammler verloren, und die Schlacht dauert noch nicht einmal eine halbe Stunde.«

»So wie sich Drachen machen Wolkensammler kaputt, machen wir uns Steinschiff kaputt!«, beharrte Volodi. »Musst du dich geben Befehle an alle. Wenn sich ein Wolkensammler brennt, muss sich werfen auf Steinschiff. Darfst du dir nicht nix Steine schießen. Musst du dich Feuerkrüge nehmen! Und lass die Himmelsreiter sich Brandtöpfe werfen. Feuer! Feuer und noch mal Feuer! Das muss sich sein unsere Antwort.«

»Und warum kommst du damit zu mir?«

Volodi fand befremdlich, dass Aaron das fragte. »Weil sich andere Unsterbliche nie nix hören auf mich. Musst du dich sagen ihnen, dann ist sich Rat klug. Ich weiß mich, wie sie nennen mich. Saufkopf von Drusna. Ist mir mich egal … Aber musst du dich ihnen guten Rat geben. Feuer ist sich auch unser Weg. Wir machen den Himmel brennen.«

Aaron nickte. »Ich werde die Nachricht verbreiten. Und nach der Schlacht wird jeder von mir zu hören bekommen, dass es dein Rat gewesen ist, der die Schlacht gerettet hat.«

»Musst du dich machen nicht nix Mühe, mein Freund.«

Aarons dunkle Augen funkelten ihn durch die Sehschlitze der silbernen Maske an. »Wie meinst du das, Volodi.«

»Ist sich großes Schlacht gutes Ende für großes Krieger. Ich werde mir mich Quetzalli suchen und Wanya. Glaub ich mich, kann ich finden die beiden in Herz von Steinschiff.«

Aaron trat vor und packte ihn beim Arm. »Tu das nicht!«

Volodi machte sich los. »Warst du dich guter Freund, Aaron, Herr aller sich Schwarzköpfigen.«

Aaron machte keinen weiteren Versuch, ihn aufzuhalten. Als Volodi sich abwandte, fiel ihm auf, dass Shaya gar nicht an Deck war. Er lächelte in sich hinein. Bestimmt hatte sie das Kommando über einen eigenen Wolkensammler an sich gerissen.

Hinter sich hörte er Aaron schon lauthals nach Schreibern rufen. Er würde dafür sorgen, dass der Befehl, das steinerne Schiff abzubrennen, in der Flotte verbreitet wurde. In solchen Dingen war er gut, dachte Volodi.

Ein zuckender Tentakel fiel ihm vor die Füße – Aarons Schiff wurde erneut beschossen! Fünf Schritt vor Volodi nagelte ein Speer einen Wolkenschiffer gegen die Holzwand eines Geschützturms. Der Mann zuckte wie ein Frosch, der auf eine Knochennadel aufgespießt worden war. Dann hingen seine Glieder plötzlich schlaff. Mehrere Kugeln zerfetzten die Reling und ließen einen Hagel von Splittern über das Deck sprühen. Zwei streiften seine Rüstung. Die Männer ringsherum warfen sich zu Boden. Er nicht. Dies war nicht der Ort, an dem der Tod auf ihn lauerte, da war er sich ganz sicher.

Auf dem Flugdeck angelangt, suchte er sich einen Mann, der wie ein Hauptmann aussah. »Du wirst mir mich holen Amphoren voll mit sich Lampenöl.«

Der Kerl schüttelte unwillig den Kopf.

Volodi packte ihn bei seinem üppigen schwarzen Bart und zog ihn zu sich heran. »Muss ich dich aufmachen Loch von Arsch, oder willst du dich hören auf Befehl von sich Unsterblichem Volodi.« Er stieß den Mann von sich.

»Gewiss, Unsterblicher …«, stammelte der Hauptmann.

»Dann machst du dich schnell!«

Volodi wandte sich seinen Männern zu, die bei den Bären warteten. Sie sollten Amphoren voll Öl auf jeden Brand abwerfen, den sie auf dem steinernen Schiff entdecken konnten. Er aber würde einen anderen Weg suchen. Er hatte Adler aus dem Steinschiff herausfliegen sehen. Da, wo die herauskamen, würde er ganz sicher mit seinem Bären auch hineinkommen. Er würde so viele Amphoren mit sich nehmen, wie Stinker tragen konnte. Und er würde ganz sicher im Inneren des steinernen Schiffes auch noch etwas finden, das sich verbrennen ließ.

Unvorschriftsmässige Geschosse

Nyr sah den Mann zucken, den er mit dem Speer getroffen hatte. Das Geschoss hatte ihn an die hölzerne Außenwand eines der Geschütztürme genagelt. Eines Geschützturms, dessen Öffnungen in ihre Richtung wiesen. Er war sich sicher, dass da drin einer stand, der jetzt genau die kreuzförmige Schießscharte anvisierte, hinter der er an seiner Speerschleuder stand.

Galar drehte bereits wieder aus Leibeskräften an der Kurbel und spannte ihr Geschütz. Sie beide hatten Glück gehabt und waren in eine Kammer eingeteilt worden, die leicht versetzt unter der Hauptgeschützstellung dieses Felsens lag. Hier konnten sie für sich schalten und walten, ohne dass ihnen jemand auf die Finger sah. Jedenfalls die meiste Zeit. Alle halbe Stunde schaute der Hauptmann vorbei, der über ihnen das Kommando führte. Dann gab er ihnen ein paar stumpfsinnige Ratschläge und stieg wieder zur großen Geschützstellung hinauf.

Ein Menschensohn auf einer fliegenden Schlange flog dicht an ihrem Felsen vorbei und schleuderte einen Wurfspeer nach ihnen, der sich klappernd in der schmalen Schießscharte verfing.

Nyr sah, wie sich Schatten vom Geschützturm lösten, und riss Galar mit sich zu Boden. Der Aufschlag der schweren Steinkugeln ließ den Felsen erzittern. Putz rieselte von der Decke. Die Salve der Menschenkinder hatte wohl die Geschützstellung über ihnen getroffen.

Galar rieb sich die Augen. »Dem Kerl, der auf die Scheißidee gekommen ist, hier die Decke zu kalken, werde ich die Eier abschneiden, wenn das hier alles vorüber ist. Dem haben sie wohl einen Scheißkübel ins Hirn entleert …«

»He, ihr beiden, hört auf, mit dem Boden zu kuscheln, und macht eure Arbeit!«

Nyr wandte den Kopf. In der Tür zur Geschützstellung stand ihr Hauptmann. Hor hatte schon an den beiden vorangegangenen Tagen nicht durch gute Umgangsformen geglänzt. Der schwarzbärtige Hauptmann war ungewöhnlich klein, machte diesen Mangel aber mit seinem Stimmvolumen mehr als wett. Wenn er losschrie, konnte man ihn vermutlich auch zwei Felsen weiter noch hören.

Nyr rappelte sich auf. »Jawohl, Hauptmann! Sind wieder ganz bei der Sache. Der Treffer hat uns von den Beinen gerissen. Wird nicht wieder vorkommen.« Nyr blickte zu einem unbestimmten Punkt über dem Kopf Hors und gab ganz den arglosen, dienstbeflissenen Dummkopf. Die Jahre auf den Feldzügen in Nangog hatten ihn gelehrt, dass man so mit den meisten Vorgesetzten hervorragend zurechtkam.

»Weitermachen!«, knurrte Hor und trat in die Geschützkammer.

Galar rieb sich immer noch leise fluchend die geröteten Augen, während der Hauptmann zu den großen Köchern mit Speeren trat, die an der Wand lehnten. »Was ist denn das hier?« Er deutete auf den einen Lederköcher, den sie mitgebracht hatten. Den, in dem sie ihre Drachentöterspeere verwahrten.

Neugierig schlug der Hauptmann die Lederklappe zurück.

Galar hörte auf, sich die Augen zu reiben. Seine Hand sank auf die Axt an seinem Gürtel. Nyr schob sich zwischen ihn und den Hauptmann, der nun einen der kurzen Speere aus dem Köcher gezogen hatte. »Das ist kein vorschriftsmäßiges Geschoss«, murmelte er verärgert und sah zu ihnen auf. »Die Spitze ist viel zu leicht. Da steckt doch kein Wums dahinter, wenn ihr damit trefft.« Er schob den Speer wieder zurück und schüttelte ärgerlich den Kopf. »Solche Eigenmächtigkeiten sind der Anfang vom Untergang. Ich beschlagnahme diese Speere. Ihr werdet die Feinde Albenmarks gefälligst mit den eigens dafür gefertigten Speeren umbringen.«

Galar versuchte, Nyr zur Seite zu schieben. »Der wird gar nichts an sich nehmen …«, zischte er seinem Freund ins Ohr.

»Was sagst du?« Hor sah sie beide herausfordernd an. »Ihr mögt ja berühmte Kriegshelden sein, aber hier an Bord des Himmellands herrscht Disziplin, und ihr werdet tun, was ich euch beiden sage.« Er hob den Köcher auf und machte einen Schritt in Richtung der Schießscharte.

Nyr trat zur Seite. Er würde nicht dulden, dass dieser bornierte Drecksack ihre Drachentöterspeere über Bord warf. Sollte Galar ihm doch den Schädel spalten!

»Du wirst jetzt …«, brüllte Galar los.

»Achtung!«, rief eine vertraute Stimme von der Eingangstür. »Alter aus der Tiefe an Deck!«

Hor fuhr herum, und Nyr sah den Hauptmann erbleichen, als er erkannte, wer da gekommen war.

»Herr aller Tiefen«, stieß er stammelnd hervor.

»Sie haben vollkommen recht, Hauptmann. Übertriebener Individualismus ist der Anfang vom Untergang. Wenn Sie gestatten, werde ich diese beiden Rebellen unter meine Aufsicht stellen und ihnen zeigen, wie man vorschriftsmäßig eine Speerschleuder bedient.«

Ein glückliches Lächeln spielte um die Lippen des Hauptmanns.

Hornbori trat ein und nahm Hor den Köcher mit den Speeren ab. »Sie sollten auf dem oberen Geschützdeck nach dem Rechten sehen, Hauptmann. Ihre Männer haben einen üblen Treffer abbekommen. Da wird eine ordnende Hand gebraucht.«

»Wie Ihr befehlt, Herr aller Tiefen!« Hor beeilte sich, die enge Treppe hinaufzukommen.

Als seine Schritte verklungen waren und Nyr hörte, wie er weiter oben seine Untergebenen anschrie, nahm Nyr Hornbori den schweren Köcher ab und lehnte ihn wieder an die Wand. »Danke!«

»Glaub ja nicht, dass wir uns von dir die vorschriftsmäßige Bedienung einer Speerschleuder zeigen lassen, Klugscheißer«, fuhr Galar den Herrscher an.

Hornbori lachte. »Keine Sorge. Ich bin hier, weil ich danebenstehen möchte, wenn ihr die Drachen vom Himmel holt, die die Tiefe Stadt niedergebrannt haben.« Er zwinkerte ihm zu. »Außerdem möchte ich verhindern, dass man den Felsen abwirft, auf dem ihr hier steht.«

»Den Felsen abwerfen, auf dem wir stehen«, äffte Galar ihn nach. »Was für ein gequirlter Schwachsinn, Schisser!«

Da konnte Nyr nur zustimmen. Felsen abwerfen. Das ergab doch keinen Sinn. Ihm war ein Rätsel, wie Hornbori es geschafft hatte, zum Herrscher aller Zwerge zu werden.

Fischsuppe und Luftaale

Che half einem seiner Männer aus dem sechs Schritt hohen Laufrad. Rauch zog in ihre Höhle. Etliche der Kobolde, die über den Wald oben auf dem Felsen wachen sollten, hatten sich nach unten geflüchtet.

»Fischstinker!«, rief ihm Groz zu.

Der Troll beaufsichtigte einige seiner Brüder, die in einem weiteren massigen Laufrad dafür sorgten, dass sich die Hubschraube drehte.

»Sie sind Feiglinge!«, schimpfte Che. Und tatsächlich, mit den Fliehenden zog ein Geruch wie von Fischsuppe in die Höhle. Es war Che äußerst peinlich, dass nur Kobolde nach unten gekommen waren. Zu den Wächtern des Waldes hatten auch Faune und sogar eine Dryade gehört. Sie waren wohl lieber in den Flammen umgekommen, als vor ihrer Aufgabe zu flüchten. »Ich hätte dort oben sein sollen.«

»Höhenangst?«

Groz sagte selten mehr als ein paar Worte, aber das musste er auch nicht, denn die wenigen Worte saßen in der Regel. Ja, er hatte Höhenangst, dachte Che verärgert. Deshalb war er zum Dienst tief im Inneren des Felsens eingeteilt. Aber vielleicht hätte er seine Angst ja überwinden können.

Ärgerlich betrachtete er die fünf Laufräder. Hundert Kobolde standen unter seinem Befehl, damit er die Luftschrauben an den Masten hoch über ihnen in Bewegung hielt. Es war seine Verantwortung, die Erschöpften rechtzeitig aus den Rädern zu holen, bevor sie zusammenbrachen und niedergetrampelt wurden oder womöglich sogar in die Aufhängung des Rades gerieten.

Gellende Schreie rissen ihn aus seinen Gedanken. Aus der Decke ihrer Grotte sprühte dampfende Flüssigkeit auf das mittlere der Laufräder.

»Räumen«, schrie Che. »Alle raus aus dem Rad!« Er lief zu dem Hebel, der das Laufrad abbremste, und stemmte sich mit aller Macht dagegen. So würden seine Männer leichter abspringen können. Immer mehr Schreie gellten durch die Grotte.

Groz war plötzlich an seiner Seite. Für den Troll mit seinen Bärenkräften war es ein Leichtes, den Bremshebel bis zum Anschlag durchzudrücken. Bedenklich knirschend kam das Laufrad zum Stehen.

Groz trat an das hölzerne Rad, strich mit einem Finger über einen der heißen Spritzer auf dem Holz und leckte daran. »Fischbrühe«, murmelte er.

»Der Wolkensammler!«, rief einer der geflüchteten Kobolde. »Heißes Wasser und Fett sprudeln aus seinem Körper. Oben waren überall Pfützen.«

Che blickte zur verputzten Decke ihrer Grotte. Der weiße Kalk war mit Rissen durchsetzt, durch die noch immer kochendes Wasser auf das Laufrad niedersprühte. Dampfschlieren wogten durch die Grotte und verbreiteten einen Geruch, der ihn erneut an Fischsuppe erinnerte.

Der Kobold rang mit sich. Mochten die Alben wissen, wie viel kochendes Wasser schon in die Felsen gesickert war. Er konnte warten, bis es mit Macht durch die Decke brach und seine Männer bei lebendigem Leib verbrüht wurden, oder er konnte befehlen, die Grotte zu räumen. Wenn sie jetzt wegliefen, taten sie dasselbe, was die Kobolde oben im Wald getan hatten. Mitten in der Schlacht ihren Posten aufgeben. Er fluchte stumm.

»Raus hier!«, schrie er. »Groz, hilf mir, alle Laufräder anzuhalten.« Er wandte sich an seine Männer, die ihn verblüfft ansahen. »Raus hier!«, wiederholte er. »Springt aus den Laufrädern! Bringt euch tiefer im Himmelland in Sicherheit. Wir verlassen Fels dreiundfünfzig!«

Seine Männer gehorchten. Groz gab auch den Trollen Befehl zu flüchten. Dann hielt er alle Räder an. Mit schlechtem Gewissen betrachtete Che die stillstehende Anlage.

»Komm!« Groz winkte ihm.

Der Kobold stieß einen Seufzer aus. Jetzt kam schon an drei Stellen in der Decke kochend heißes Wasser herab. Er hatte richtig entschieden!

Plötzlich war vor ihnen lautes Geschrei zu hören. Seine Männer im Tunnel gingen nicht mehr weiter. Ja, sie sprangen zurück. Schmerzhaft heißer Wasserdampf quoll in den Tunnel.

»Der Fluchtweg ist versperrt!«, schrie jemand vorne in der Menge. Zugleich erzitterte der ganze Felsen. Vielleicht lag es daran, dass ihre Laufräder stillstanden.

»Hier entlang!« Eine blonde Elfe erschien zwischen seinen Männern. Myrella, die nie mit ihm hatte ausgehen wollen. »Los, folgt mir! Schnell!« Sie deutete auf einen kleinen Seitentunnel.

Che fluchte leise. Das war nicht gut. Dort ging es zu den Luftaalbuchten.

Myrella hatte ihn entdeckt und eilte ihm entgegen. Sie packte ihn bei den Armen und hob ihn hoch. Gestern noch hätte er sich das gewünscht, aber jetzt, vor all seinen Männern, war es ihm trotz der Katastrophe, die sich gerade ereignete, unglaublich peinlich.

»Sie werden den Felsen abwerfen«, zischte sie ihm ins Ohr. »Ihr müsst die Aale nehmen!«

»Aber der Fels sollte langsam zu Boden sinken …«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Wird er nicht. Es sind zu viele Bäume zerstört. Er wird sich so verhalten wie jeder andere Felsen. Wer hierbleibt, wird sterben.«

Ohne auf Befehle zu warten, waren schon etliche seiner Männer in den Tunnel zur Aalbucht gelaufen.

Tropfen kochenden Wassers sprühten über seinen Arm und verbrühten Myrellas linke Hand. Mit einem Schmerzensschrei ließ sie ihn los. Che landete vor ihren Füßen und zog sie mit sich. Sie wirkte wie jemand, der noch nie verwundet worden war. Desorientiert sah sie auf ihre Hand.

Groz flüchtete ebenfalls, doch er bewegte sich gemessenen Schritts zwischen den Kobolden. Der Tunnel führte sie in weiten Spiralen tief hinab in den Felsen. Immer wieder wurden sie durchgerüttelt. Noch schien der Stein nicht abgeworfen worden zu sein.

Endlich erreichten sie eine kreisrunde Grotte, in deren Wandnischen Aale standen. Myrella hatte sich so weit gefasst, dass sie den Kobolden zeigen konnte, wie die Luftaale zu bedienen waren. Che hatte als einer der Hauptleute an Bord schon vor etlichen Monden eine Einweisung bekommen.

Einer nach dem anderen verschwanden die Aale durch die Fluchttunnel. Der Kobold war überrascht, wie schnell sie fast hundert seiner Männer gerettet hatten. Nur er, Groz und die Elfe waren noch übrig.

»Wir nehmen diesen Aal dort!«, sagte sie entschieden und deutete auf das letzte Schiff in der Grotte. Es hatte im Gegensatz zu den anderen eine große, rot gestrichene Frontklappe.

»Wo sind Trollaale?«, fragte Groz gereizt.

Myrella wirkte sichtlich verlegen. »Es muss einen Fehler gegeben haben, als dieser Aalhafen geplant wurde.«

»Keine Trollaale …«

Obwohl Che seinen Gefährten nun schon seit Jahren kannte, fand er es immer noch schwer, in seinem Gesicht zu lesen. War er wütend? Oder machte es ihm nichts aus, dass die Elfen vergessen hatten, Fluchtschiffe für Trolle bereitzustellen?

»Wir sollten jetzt nicht streiten!« Mehr als nur ein Anflug von Panik lag in Myrellas Stimme. »Wir werden jeden Augenblick abgeworfen.« Sie trat vor den Aal, öffnete die rote Klappe und keuchte auf. Es war offensichtlich, dass sie nicht zu dritt darin Platz haben würden. Vermutlich nicht einmal Groz alleine. Dieses Schiff war darauf ausgelegt, sechs eng beieinandersitzende Elfen auf schmalen, an den Wänden befestigten Sitzen aufzunehmen. Ein Stück über dem Boden verlief eine Tretkurbel.

»Hinein mit dir!« Myrella schob den Troll auf den Aal zu.

»Ist eng.« Groz versuchte tatsächlich, sich in das kleine Rettungsschiff zu zwängen.

»Das ist ein roter Aal«, bemerkte Che und rührte sich nicht von der Stelle.

»Na und? Rein mit dir!«, befahl Myrella.

»Die sind nur für Elfen. Die sind … verhext.«

»Verzaubert«, verbesserte ihn die Elfe.

»Nur, dass ich nicht zaubern kann.« Che hatte die wildesten Gerüchte über die Dinger gehört. Ein einziges Mal hatte er bei einer Übung mitbekommen, wie so ein Luftaal eingesetzt worden war. Und er war mitten im Flug verschwunden! Die Elfen, die darin gesessen hatten, hatte er nie wiedergesehen.

Myrella packte ihn einfach, hob ihn hoch und trug ihn zum Aal.

Groz kämpfte immer noch damit, seinen massigen Körper zwischen die Sitze zu falten. Fast hatte er es geschafft.

Die Elfe schob Che am Troll vorbei in den Aal. Und als Groz seinen linken Arm in das Schiff zog, quetschte er Che damit so fest in einen Sitz, dass er kaum noch atmen konnte.

Myrella stand nun über sie gebeugt. »Ihr müsst keine Zauberweber sein, um den Aal zu fliegen.«

»Was?«, japste der Kobold in höchster Atemnot. »Kommst du nicht mit?«

Sie lächelte auf ihn herab. »Ich werde nicht mehr hineinpassen. Mein Volk hat mir Schande gemacht, als es vergessen hat, hier Aale für Trolle unterzubringen. In einem Felsen mit einem Laufrad für Trolle. Es ist an mir zurückzubleiben.«

»Das Quatsch!«, protestierte Groz und versuchte aufzustehen, was ihm, so verkeilt, wie er in dem Aal lag, aber nicht gelingen wollte.

»Wenn ihr Liuvar sagt, sobald ich die Klappe geschlossen habe, löst sich der Aal. Sagt ihr es ein zweites Mal und bedient zeitgleich die Kurbelwelle, bringt euch der Aal an den Ort, an den ihr gerade denkt. Die Himmelsschlangen selbst haben die Zauber in diese besonderen Luftaale gewoben. Sie vermögen nur ein einziges Mal zu fliegen. Ihr werdet gerettet sein.« Mit diesen Worten schloss sie die schwere rote Metallklappe.

Groz grunzte, als er am Ellenbogen getroffen wurde.

Che konnte Myrellas Gesicht durch ein winziges Fenster in der Luke sehen. Sie winkte ihm.

»Wie war das?«, murmelte Che halblaut. Er hatte die Sprache der Elfen stets als ein ohrenpinselndes Gesäusel empfunden. »Lüwar!«, rief er, und nichts geschah.

»Ging anders«, kommentierte Groz seine Bemühungen, als ein mächtiger Ruck durch den Felsen lief.

Die haben uns wirklich abgeworfen, dachte Che erschrocken. »Lünwar!«, rief er erschrocken. »Luiwahr!«

Myrella sah sie verwundert durch die Scheibe an. Dann schlug sie mit der flachen Hand auf den Luftaal und schrie etwas, was Che durch die dicke Metallwand nicht hören konnte.

Plötzlich stürzten sie. So schnell und so unvermittelt, dass Che darum ringen musste, sein Frühstück bei sich zu behalten. Dann sah er die Unterseite ihres Felsens über sich. Er fiel. Sie aber stürzten noch viel schneller.

Zauberworte und Adlerschreie

Myrella stand inmitten der Aalbucht. Kein einziges der Schiffe war mehr übrig geblieben. Aber vielleicht war es besser, zusammen mit dem Felsen in die Tiefe zu stürzen und zerschmettert zu werden. Die einfachen Aale würden nicht sehr weit fliegen. Sie würden irgendwo im Umfeld der Goldenen Stadt niedergehen. Und dann bräuchten die Kobolde wohl sehr viel Glück, um nicht von wütenden Menschenkindern niedergemetzelt zu werden.

Das Geräusch von Schritten riss sie aus ihren Gedanken. Dylan! Wie aus dem Nichts stand er im Durchgang zur Aalbucht. Er packte sie und zerrte sie zu dem Schacht, durch den der Aal mit dem Troll und Che verschwunden war.

»Alles wird gut!«, sagte er so selbstsicher, dass sie ihm glaubte – selbst dann noch, als er sie fest an sich presste und in den Schacht sprang.

Einige Augenblicke fielen sie mit rasender Geschwindigkeit, dann verlangsamte Dylan mit gespreizten Beinen an der Schachtwand ihren Sturz, bis sie kurz vor der Mündung ganz anhielten. Der Felsen stürzte doch nicht so schnell zu Boden, wie sie erwartet hatte. Ein paar Bäume hatten den Flammensturm wohl noch überlebt. Unter sich sah Myrella den Aal mit der roten Klappe. Er fiel trudelnd der Stadt entgegen. Konnten die beiden etwa das Zauberwort nicht aussprechen?

Dylan stieß einen schrillen Schrei aus, der an das Kreischen eines Adlers erinnerte.

Myrella beobachtete immer noch unglücklich den stürzenden Luftaal. All die anderen Schiffe wurden durch die Kraft der eingebauten Kurbeln davongetragen. Nach dem Austritt aus den Startschächten hatten sie Flügel ausgefahren, und die großen Luftschrauben an ihrem Heck hielten sie erstaunlich stabil in der Luft.

Ein Schatten erschien unter ihnen, und Dylan ließ sich fallen. Sie landeten auf dem Rücken eines großen Adlers, der in rasendem Flug aus dem Schatten des Felsens davoneilte und dann steil nach oben stieg.

Mit angehaltenem Atem sah Myrella das Schauspiel am Himmel: Die Wolkensammler, die an Rochen erinnerten, umzingelten inzwischen das Himmelland. Schwere Steine und mächtige Speere hämmerten gegen die Felsen. Menschenkinder auf silbern schimmernden Kreaturen lieferten sich Luftkämpfe mit Elfen, die auf Adlern ritten. Einige Drachen hatten sich in Flugrochen festgekrallt und zerfetzten die fleischigen Flügel mit Krallen und Zähnen.

Eines der Schiffe, das von den Himmelsrochen getragen wurde, stand in hellen Flammen, und die Tentakel der Kreatur peitschten verzweifelt darauf ein und versuchten, es sich vom Leib zu reißen.

Dylan hielt sie immer noch mit der Rechten fest an sich gedrückt. Seine Linke war in das Gefieder gekrallt. Ein Krieger auf einem fliegenden Wolf versuchte, sie mit seiner Lanze aufzuspießen, doch der riesige Adler wich ihm geschickt aus.

Myrella wurde sich bewusst, dass Pfeile um sie schwirrten. Sie sah eine ganze Gruppe von Bogenschützen, die auf einer langen, schmalen Plattform entlang der Wirbelsäule auf dem Rücken eines Himmelsrochens standen.

Zwei Pfeile steckten im Flügel des Adlers, der aber nicht langsamer wurde, bis sie die Schluchten zwischen den schwebenden Felsen erreichten. Glücklich landeten sie in einer weiten Nische, wo noch andere Schwarzkopfadler kauerten.

Dylan klopfte dem mächtigen Adler auf den Hals. »Danke, Streiter.« Dann ließ er sich mit ihr im Arm vom Rücken des Vogels gleiten. »Würdet Ihr mir einen Wunsch erfüllen, meine Dame?« Er sprach sehr ernst und sah sie durchdringend mit seinen silbernen Augen an. »Bleibt bitte in meiner Nähe, bis diese Schlacht geschlagen ist. Ich möchte nicht, dass Euch ein Ungemach widerfährt. Es liegen gewiss noch einige schlimme Stunden vor uns. Aber wir werden siegen.«

»Euer Wunsch ist mir Befehl, Meister Dylan.« Warum war sie nur so schrecklich förmlich, dachte sie verzweifelt. Sie sollte ihn umarmen, ihn überschwänglich auf die Wangen küssen und sich für ihre Rettung bedanken.

»Mein Herz wird leichter sein, wenn ich Euch um mich weiß, Dame Myrella. Es war sehr mutig, wie Ihr Euer Leben gewagt habt, um die Besatzung von Fels dreiundfünfzig zu retten. Nicht viele hätten so gehandelt. Es ist mir eine Ehre, an der Seite einer jungen Heldin zu kämpfen.« Er drückte ihre Hand, um seine Worte zu bekräftigen, und sie brachte gar keinen Ton mehr heraus

Ein Vorhang aus brennendem Öl troff an ihrer Felsnische vorbei. Die Adler kreischten ängstlich, doch sie hatte nur Augen für Dylan. Er strahlte eine Ruhe aus, die ihr die Gewissheit gab, dass er jede Gefahr meistern konnte. Schließlich war er ein Meister der Weißen Halle und eine lebende Legende.

Fremdsprachenkenntnisse

»Lühwar!«, schrie Che mit sich überschlagender Stimme. Ihr Luftaal drehte sich rasend um die eigene Achse. Deutlich konnte der Kobold durch das kleine Fenster die Stadt unter sich sehen. Sie waren höchstens noch hundert Schritt von den Dächern entfernt. Überall lagen Trümmer zwischen den Häusern, Drachenkadaver und Tentakel, die immer noch zuckten, obwohl sie schon längst zu keinem Leib mehr gehörten.

»Du musst die verdammte Kurbel bedienen. Sonst wirkt das Zauberwort nicht«, schimpfte Che. Unglaublich, wie lethargisch der Troll war. »Warum kurbelst du nicht?«

»Ist unter Arsch.«

»Dann beweg dich doch, bei den Alben. Schieb dir eine Hand unter den Arsch!«

Der Troll ruckte hin und her, was ihren Luftaal noch mehr ins Trudeln brachte. Che hatte das Gefühl, dass der Hüne ihm gleich alle Rippen brechen würde, als er den Arm bewegte, der ihm quer über der Brust lag.

»Hab’s gleich.«

»Bitte nicht gleich, sondern sofort!«, zeterte Che. »Li Uh Wahr!«, versuchte er es erneut. »Lüfhaar! Scheiße, warum passiert denn nichts! Verdammtes Lui Nahr. Li Hüh wa!« Die Flachdächer waren höchstens noch zehn Schritt entfernt. Mit aller Klarheit sah er einen Sonnendrachen von Ischemon auf einem Haus liegen. Sein Kiefer klaffte weit auf. Die Zunge hing zwischen zersplitterten Zähnen hervor. Ein Hund, der irgendwie seinen Weg auf das Dach gefunden hatte, zerrte daran.

»Liwawa …«, schrie Che in heller Verzweiflung, und auch Groz sagte etwas. Plötzlich war der Drache verschwunden. Er sah nur noch strahlendes Weiß durch das Fenster. Dann schlug der Luftaal auf. Sie rutschten, wie ein Schlitten rutschte.

Durch Weiß rutschen, dachte Che verwundert. So hatte er sich den Tod nicht vorgestellt.

Irgendwann hörte die Bewegung einfach auf.

»Dein Elfisch ist scheiße!«, empörte sich der Troll.

Che stieß einen tiefen Seufzer aus. Er war verflucht! Er musste das Leben nach dem Tod mit einem Troll verbringen. Er hatte auf Besseres gehofft. Er war ein Held! Er hatte in den Bergen von Ishaven fünf Zwerge mit eigenen Händen umgebracht … Na ja, genau genommen mit der Armbrust.

Groz regte sich. Er stemmte sich gegen die rote Metallklappe, die schließlich mit einem grässlichen Kreischen aufschwang. Eisige Luft drang in den Aal.

Der Troll wuchtete sich aus dem Aal. Che war verwundert, einen bleigrauen Himmel über sich zu sehen.

»Kannste laufen?«

Was für eine blöde Frage, dachte der Kobold. Er war sich nicht einmal sicher, ob er noch lebte. Jeder Knochen in seinem Körper schmerzte, als er sich aufrichtete.

Groz packte ihn, hob ihn aus dem Aal und setzte ihn ab. Che versank bis über die Knie in Schnee.

»Wo sind wir hier, verdammt?«

Der Troll wies mit dem Arm auf eine zerklüftete Felsformation. »Mordstein.« Er klang stolz. »Mein Rudel da.«

»Wie jetzt?« Che sah sich fassungslos um. Die Felsen waren das einzige auffällige Geländemerkmal in einer tief verschneiten, leicht hügeligen Landschaft.

Groz machte eine Bewegung, als wollte er das ganze Land umarmen. »Snaiwamark!«

Der Kobold dachte an die Anweisung der Elfe. Offenbar hatte er doch noch das richtige Wort hinbekommen. Aber der verfluchte Aal musste kaputt gewesen sein. Er hatte nicht an die Snaiwamark gedacht, als er geschrien hatte, nur daran, wie sie jeden Augenblick zwischen den Häusern der Goldenen Stadt zerschellen würden.

»Wort von Elfe hieß Frieden.«

»Ja und?« Der Kobold wunderte sich, dass Groz die Bedeutung elfischer Worte kannte. Und dann noch ausgerechnet das Wort Frieden!

»Hab’s in Trollsprache gesagt. Klappte.« Groz packte ihn und hob ihn sich auf die Schultern. »Mein Rudel dich mögen.«

Was für wunderbare Aussichten! Trolle, die ihn mögen würden. Wo doch schon jedes Koboldkind wusste, dass die grauen Hünen alles fraßen, was sich bewegte.

Che sah sich um. Die Eiswüste würde ihn umbringen. Abzuhauen war keine Option. Er war den Trollen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

»Bist mutig und klug. Wenn tot, wir essen dein Herz und dein Hirn.«

Der Kobold atmete erleichtert auf. Das war so ziemlich das größte Kompliment, das man von einem Troll bekommen konnte. Trolle glaubten, dass man die Eigenschaften von Toten übernahm, wenn man sie fraß. Das Herz eines tapferen Mannes machte den, der es auffraß, mutiger, und das Hirn eines klugen Anführers verlieh auch einem Troll mehr Weisheit. Am besten war es jedoch, jeden, der über solche herausragenden Eigenschaften verfügte, lebendig im Rudel zu haben. Sie würden ihm nichts tun, da war sich Che jetzt ganz sicher, und zum ersten Mal seit Langem sah er mit ein wenig Optimismus seiner Zukunft entgegen.

Vielleicht, wenn er sehr viel Glück hatte, würden die Trolle ihn nach Norden in seine heimatlichen Berge bei Ishaven bringen. Er stellte sich vor, wie ihn Groz auf seinen Schultern dorthin trug. Einen Troll zu reiten, das hatten nur die allergrößten Helden seines Volkes vollbracht.

Ein Ort für Götter

Schnee stach Nandalee wie tausend eisige Nadeln ins Gesicht. Tückische Böen zwischen den Bergen warfen Sternauge hin und her. Der große Rappe kämpfte hart gegen den Sturm an, in den sie beide geraten waren, als sie aus dem Albenstern flogen.

Nandalee sprach ein Wort der Macht, und ein schützender Kokon aus Wärme legte sich um sie und Sternauge. Nachtatem hatte ihr verboten, Zauber zu weben, weil die Devanthar sonst auf sie aufmerksam würden. Doch ohne den Schutz hätten sie in einer Höhle Zuflucht suchen müssen, um abzuwarten, dass der Sturm vorüberzog, und dazu blieb ihnen keine Zeit. Jede Stunde zählte!

Der Dunkle hatte ihr die Berge beschrieben, in denen sie suchen sollte, doch die Sicht betrug kaum hundert Schritt. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie kannte nur einen Namen. Irgendwo im Osten der Provinz Garagum sollte sie sein.

Während sie verzweifelt nach ihrem Ziel Ausschau hielt, pulsierte der Schwarze Stab, den sie sich in den Gürtel geschoben hatte, vor Kraft. Der Dunkle hatte ihn ihr zum Abschied gegeben und ihr eingeschärft, ihn nur in höchster Gefahr zu nutzen.

Wie weiße Fahnen wogte Schnee um die nahen Gipfel, wenn der Nordwind ihn davonblies. Sternauge flog durch Hochtäler von eisiger Pracht. Stunden suchten sie nun schon. Das Schneetreiben hatte nachgelassen. Sie spürte, wie der Pegasushengst langsam ermüdete. Immer heftiger geriet er ins Trudeln, wenn Fallböen ihm zusetzten. Zwei Mal wären sie fast gegen eine Bergwand gedrückt worden.

Erst als die Schatten der Dämmerung von Osten in die verschneiten Täler griffen, entdeckte sie ihn: den Sensengipfel. Wind und Frost hatten das verwitterte Gestein so lange verformt, bis der Berg wie ein aufrecht stehendes Sensenblatt aussah.

»Das Tal im Westen!«, rief Nandalee Sternauge zu. Der lange Ritt hatte auch ihre Kräfte erschöpft. Ihr zitterten die Beine, während sie im Sattel zwischen den Schwingen des Pegasus stand.

Wieder drückte eine Bö sie vom Kurs, und sie kamen der Granitsense gefährlich nah. Und dann sah sie ihn! Den Ort, an den nicht einmal die Himmelsschlangen zu gehen wagten: der Gelbe Turm. Eisverkrustet schien er direkt aus den Felsen zu wachsen, selbst groß wie ein Berg. Die Festung der Devanthar.

Nandalee ließ Sternauge etwa eine Meile vom Turm entfernt im Tal landen und folgte dann allein dem Pfad, der an einer Bergflanke vorbei in schwindelnder Höhe zum Turm führte. Ihre Müdigkeit war vergessen. Verbissen kämpfte sie sich den eisigen Pfad entlang. Dort oben, hinter den himmelhohen gelben Mauern lagen ihre verlorenen Hoffnungen begraben.

Bald sah sie den Torbogen, der ins Innere des Festungsbaus führte. Es gab keine Torflügel, die zugeschlagen werden konnten. Nur den dunklen Tunnel, der ins Innere des Gemäuers führte. Einige Schießscharten waren die einzigen weiteren Öffnungen in den Mauern. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden – tief im Turm war etwas, das spürte, dass sie gekommen war.

Der Dunkle hatte ihr versprochen, dass alle Devanthar fort sein würden. Ein paar Stunden nur. In dieser Zeit musste sie das Unmögliche vollbringen und die Götter der Menschenkinder bestehlen. Eine zweite Gelegenheit würde es nicht mehr geben. Aber Nachtatem hatte sich getäuscht. Etwas war zurückgeblieben.

Nandalee trat in den Tunnel. Ein letztes Mal spielte der Wind mit ihrem weiten Umhang, dann fiel er still herab. Sie zog ihr Schwert aus der Scheide auf dem Rücken und folgte entschlossen dem Weg ins Innere des Turms. Alles hier war so gebaut, dass sie sich winzig und bedeutungslos fühlte. Als sie die erste Treppe erreichte, fand sie kniehohe Stufen vor. Sie war schon einem Devanthar begegnet. Einer Kreatur halb Mann, halb Eber. Er war groß gewesen, doch nicht so riesig. Wie mochten seine Brüder und Schwestern aussehen?

Nicht lange, und Nandalee hatte das Innere des Turms erreicht. Einem weiten Saal, aus dem mehrere Treppenschächte in die Tiefe führten, folgte ein Labyrinth aus Hallen, schwebenden Stiegen und tief ins Mauerwerk eingeschnittenen Nischen. Sie konnte nichts entdecken, das an Möbel erinnerte. Nirgends gab es eine Tür, die geschlossen werden konnte. Die Götter schienen keinen Platz zu benötigen, an den sie sich zurückzogen, um allein zu sein. Zumindest nicht hier im Turm.

Als sie dann doch noch ein doppelflügeliges Portal entdeckte, wusste sie, dass sie sich dem dunklen Herzen des Turms näherte. Mit einem Quietschen wie ein lang gezogener Schrei öffnete sich das Tor, und sie blickte auf das abgetrennte Haupt des Frühlingsbringers. Es lehnte an einer Wand. Staub hatte sich auf die Schuppen gelegt. Große gelbe Augen starrten sie an, als wäre der Kopf eben erst vom Rumpf getrennt worden, ja, als gäbe es hinter den Pupillen immer noch einen schwachen Lebensfunken.

»Elfe«, zischelte es aus einem dunklen Winkel am anderen Ende der Halle.

Erschrocken fuhr Nandalee herum. Im Halbdunkel erkannte sie einen weiteren Drachenkopf. Einen Schädel. Von dort war die Stimme gekommen. Vorsichtig, das Schwert erhoben, trat sie näher. Sie sah zwei schlanke, knochige Hände, die an einem der unteren Schneidezähne im Schädel rüttelten. Er schien lose im Kiefer zu sitzen.

»Wer bist du?«

Die Gestalt im Schädel zischelte etwas Unverständliches. Dann löste sie die Hände vom Zahn und zog sich ganz in den Schatten zurück. Nandalee öffnete ihr Verborgenes Auge und prallte erschrocken zurück. Nie hatte sie so gleißendes Licht gesehen. Benommen beendete sie den Blick in die magische Welt. Nicht nur die Kreatur im Schädel, die Wände dieses Bauwerks selbst waren durchdrungen von Magie, und der angrenzende Saal hatte etwas ganz und gar Widernatürliches an sich. Auch hatte sie gespürt, dass das, was sie suchte, tief in den Gewölben unter dem Turm verborgen sein musste. Es war fremd in dieser Welt, genau wie sie. Nicht mit der magischen Matrix Daias im Einklang. Doch machtvoll!

Wieder ertönte das Zischeln im Schädel. Herausfordernd und zugleich auch vorwurfsvoll.

Nandalee wandte sich ab. Sie wollte nicht unnötig lange verweilen. Sie war nicht neugierig darauf, die Geheimnisse der Devanthar zu ergründen. Sie wollte lediglich etwas stehlen.

In großer Hast eilte sie aus der Halle und wieder die Treppen hinab. Abwärts ging es schneller über die großen Stufen. Bald erreichte sie den Saal hinter dem Tortunnel und nahm eine der Treppen hinab zu den Kellergewölben. Erst jetzt, während sie in die Tiefe des gewachsenen Felsens stieg, fiel ihr auf, dass überall im Turm graues Zwielicht herrschte, obwohl es nur schmale Fenster gab. Hier im Fels nun hätte es völlig finster sein müssen. Doch das Licht war in der Luft, als hätte es ein Zauber hineingewoben.

Bald betrat sie ein weites Gewölbe. Es musste sich tief im Felsgestein befinden. Es war eiskalt, und es roch nach erkalteter Holzkohle und ausgeglühtem Metall. Haufen von Blechen und merkwürdig gezahnten Rädern lagen auf dem Boden verteilt. Gemauerte Schmelzöfen standen hinter Kränen, deren Arme bis unter die hohe Gewölbedecke reichten. Die Werkstatt war riesig. Ihr anderes Ende verlor sich im grauen Zwielicht.

Als Nandalee sich vorsichtig umsah, entdeckte sie zwischen den Schrottbergen ein protziges, außerordentlich großes Bett mit zerwühlten Laken. Die Devanthar kannten also doch Möbelstücke, dachte sie schmunzelnd. Zumindest der eine, der hier wirkte.

Ein Metallrohr löste sich aus einem der Schrotthaufen und rollte in ihre Richtung. Wieder quälte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Jetzt war es noch viel stärker als draußen auf dem Weg zum Turm. Etwas lauerte hier.

Für einen Moment war sie versucht, noch einmal ihr Verborgenes Auge zu öffnen. Doch dann überkam sie Angst. Sie dachte an die Lektionen des Schwebenden Meisters über die Macht der Magie. Vorhin, als sie geblendet worden war, hatte sie noch Glück gehabt. Ein leichter Kopfschmerz war ihr davon geblieben, doch darüber hinaus schien sie keinen Schaden genommen zu haben. Das konnte ganz anders enden. Nie würde sie vergessen, wie einst ihr Mitschüler Sayn gestorben war. Sein Innerstes hatte sich nach außen gekehrt, als ihm beim Zauberweben ein Fehler unterlaufen war. Ebenso konnte sie von innen heraus verbrennen, wenn sie durch ihr Verborgenes Auge in ein Licht blickte, das Sterbliche nicht hätten sehen dürfen.

Hier unten war etwas Bedeutsames erschaffen worden. Wieder sah sie zu den Kränen auf. Etwas sehr Großes war hier entstanden. Und es war von Magie durchdrungen. Ein Nachhall der Zauber, die hier gewirkt worden waren, hing noch in dem weiten Gewölbe.

In dem Haufen, neben dem sie stand, knirschte Metall. Etwas bewegte sich darin.

Nandalee fasste ihr Schwert fester und ging weiter. Rastlos getrieben, untersuchte sie Schrottberg um Schrottberg. Und dann – endlich – fand sie orangerote Tonscherben, an denen Teerreste klebten und der weiße Kranz einer Seepocke. Sie lagen auf einem Haufen mit Abfällen. Ihr Herz machte einen Satz, als sie weitere Seepocken und sogar eine zerbrochene Muschel auf den anderen Scherben entdeckte. Diese Amphore hatte zumindest einige Zeit im Meer gelegen. Sie hatte fast gefunden, was sie suchte!

Nandalee erhob sich und ließ ihren Blick umherschweifen. War da nicht ein grünes Blitzen unter einer Reihe von Werkbänken, auf denen filigrane Metallarbeiten verstreut lagen? Etwas knirschte tief im Inneren des Schrottbergs links von ihr. Metall rieb an Metall. Alarmiert hob sie ihr Schwert. Darauf bedacht, keinen verräterischen Laut zu verursachen, schlich sie zu den Werkbänken und duckte sich darunter. Zwischen all den Abfällen lag ein grüner Kristallsplitter! War es das? War das alles, was geblieben war?

Ihr Herz schlug wie eine Trommel, als sie mit spitzen Fingern über den Kristall tastete. Sie spürte die Macht, die dem Stein innewohnte. Eine Macht, die ihr vertraut war, weil sie sie bereits in Händen gehalten hatte. Dies musste ein Splitter vom Herzen Nangogs sein! War es dieser Splitter gewesen, dessen Präsenz sie oben in der Halle mit den beiden Drachenköpfen empfunden hatte? Sie legte ihn auf die Werkbank. Für sie hatte er keinen Wert. Es gab nur eins, das sie hier finden wollte. Die Amphoren, denen sie vor sieben Jahren so nahe gekommen war.

Nandalee erhob sich und suchte weiter. Immer verzweifelter. Sie fand Kisten voller Werkzeuge. Einen Schrank, in dem seltsame Gewänder verwahrt wurden. Nur das, weswegen sie gekommen war, vermochte sie nicht zu entdecken.

Aus den Augenwinkeln sah sie etwas unter dem Schrottberg, den sie eben untersucht hatte, hervorkriechen. Es war flach wie ein verbogenes Blech, unter dem einige Eisenstangen hervorragten. Aber diese Stangen bewegten sich, sie besaßen Gelenke! Bevor Nandalee dieses Ding näher in Augenschein nehmen konnte, war es unter dem nächsten Schrotthaufen verschwunden.

Sollte sie vergebens gekommen sein? Oder lag das, was sie suchte, vielleicht unter einem der Schrotthaufen. Sie dachte an die Amphorenscherben. Sie waren der Beweis. Selbst wenn sie es fortgebracht hatten, es war zumindest eine Zeit lang hier gewesen.

Ein rhythmisches Quietschen schreckte sie aus ihren Gedanken. Nur fünf Schritt entfernt löste sich eine Spinne aus dem Schrott. Eine Spinne, mit einem Leib so groß wie der eines Ponys, stelzte auf langen Beinen zur Treppe, die Nandalee herabgekommen war. Und dort warteten schon weitere Spinnen. Sie alle waren aus silbern glänzendem Metall gefertigt.

Ihre Zeit hier unten lief ab, begriff Nandalee. Aber sie konnte nicht mit leeren Händen in den Jadegarten zurückkehren. Nicht schon wieder!

Wollten diese metallenen Geschöpfe ihr den Weg hinauf versperren? Oder gab es noch einen anderen Grund für ihre Wanderschaft?

Nandalee schlug einen weiten Bogen um die Spinnen. Dabei entdeckte sie große Nischen, die unter der Treppe in die Felswand geschlagen waren. Dort hatte sie noch nicht gesucht.

Entschlossen ging sie darauf zu. Dabei behielt sie aufmerksam die Schrotthaufen im Blick. Überall krochen nun Metallspinnen, Tausendfüßler und Kreaturen, die an große Kellerasseln erinnerten, hervor. Doch keines der Geschöpfe versuchte, sie anzugreifen. Vielleicht waren sie ja friedlich … Nandalee vermochte sich nicht vorzustellen, welchen Nutzen sie für die Devanthar hatten. Hoffentlich waren sie nur eine verrückte Spielerei.

In den Nischen stapelten sich Güter, die unter grauen Filzdecken verborgen waren. Aufgeregt zog sie die erste der Decken fort. Darunter lagen Rohre aus Kupfer, und in einer offenen Kiste befanden sich Dutzende Goldbarren.

Kaum dass sie die Decke angerührt hatte, kam Bewegung in die Metallspinnen. Klirrend schnappten die ersten Mandibeln zu, und eine Metallassel versuchte, ihre Fußknöchel zu rammen. Eine Kreatur, die größer als die anderen war und an einen Krebs erinnerte, kam mit hocherhobenen Scheren auf sie zugetippelt.

Die Elfe schob die Spinnen mit ihrem Fuß beiseite, ging zur zweiten Nische und zog die Decke fort. Dort stapelten sich Kisten und Säcke. Eilends trat sie zur dritten Nische, als sie der Krebs erreichte.

»Weg mit dir!«, fuhr sie die Kreatur an und machte einen Ausfallschritt.

Das Ding versuchte, ihr mit seinen langen Scheren ein Bein abzukneifen. Sie wich aus. Todbringer sauste nieder und trennte mit einem einzigen Schlag beide Scheren ab. Nandalee tänzelte zur Seite und versetzte dem Krebs einen weiteren Hieb. Kreischend schnitt der Elfenstahl durch den Rückenpanzer, und die metallene Kreatur blieb mit zuckenden Beinen liegen.

Eine kleinere Spinne hatte sich mit ihren Mandibeln im Lederschaft ihres linken Stiefels verbissen. Mit der Breitseite des Schwertes schlug Nandalee das Ding weg, das mit verbogenen Beinen neben einem Schrotthaufen liegen blieb. Doch immer mehr der Kreaturen umringten sie nun. Und einige von ihnen bewegten sich erschreckend schnell.

Nandalee zog die dritte Decke fort und keuchte auf. In dieser Nische lehnten fünf unversehrte Amphoren. Sie waren mit Seepocken und Muscheln bewachsen. Ihre Münder mit Teer versiegelt. Das musste der Rest der Gefäße sein, die der Unsterbliche Aaron vor sieben Jahren vom Rücken des Meerwanderers geborgen hatte!

Aus den Augenwinkeln sah sie gleich mehrere der großen Spinnen über ihre kleineren Geschwister hinweg auf sie zustaksen. Die Schrottberge schienen als Ganzes lebendig geworden zu sein. Überall in dem weiten Gewölbe waren nun Metalltiere erwacht. Die weitaus meisten ähnelten Spinnen, aber es gab auch Tausendfüßler, Ameisen und Käfer aus silbern glänzendem Stahl. Keines der Geschöpfe war mit Rost behaftet. Es sah aus, als würde sie jemand sehr gut pflegen.

Nandalee trat gegen die vorderste der Amphoren. Der rote Ton splitterte, und Stoffröllchen fielen aus dem Inneren des Gefäßes. Ohne den Blick von den Metallkreaturen zu wenden, hob Nandalee eines der Röllchen auf. Darin eingeschlagen fand sie etwas, das an eine dicke Kerze erinnerte. Kein Kristall? Jetzt ließ sie alle Vorsicht fahren, kniete nieder und öffnete noch eines der Stoffröllchen und noch eines. Überall fanden sich die dicken Wachsrollen. Gerade entdeckte sie in einer Rolle einen Schatten, als ihr eine Spinne in die Hand biss.

Sie war umstellt! Wütend hob sie das Schwert und führte einen Rundumschlag durch. Etliche der Metallspinnen wurden durch die Wucht des Hiebes davongeschleudert. Einige büßten ihre langen Glieder ein oder wurden schlicht gespalten.

Eine Spinne eilte mit einem der Wachsröllchen davon. Ein Tausendfüßler packte eine zweite. Nandalee ließ den Knauf des Schwertes auf den Rücken des Insekts niederfahren. Metall knirschte. Das Ding wurde so stark zerquetscht, dass es zuckend liegen blieb.

Weitere Metallbestien drangen auf sie ein. Jetzt versuchten sie auch die Stoffröllchen zu bergen, die noch in der zerschlagenen Amphore steckten. Nandalee packte eine der Wachsstangen und schlug sie gegen die Wand der Nische. Da war etwas im Wachs – ein länglicher grüner Kristall. Und das war kein weiterer Splitter vom Herzen Nangogs. Das musste das Traumeis sein! Es durfte nichts anderes sein! Ihr traten Tränen in die Augen. Alles würde wieder gut. Sie musste es nur noch schaffen, hier herauszukommen.

Ein Scherenarm schnappte nach ihren Augen. Sie zuckte zurück, hob das Schwert und verschaffte sich mit einigen wuchtigen Schlägen gegen die Metallkreaturen Platz. In fliegender Eile sammelte sie einige der Stoffröllchen ein. Vier, fünf. Eine der großen Spinnen war jetzt ganz nah. Sie durfte sich nicht in die Nische drängen lassen. Es waren zu viele von diesen stählernen Biestern. Aber sie war eine Drachenelfe – sie würde kämpfend untergehen oder siegen.

Nandalee schob sich ihren lang gesuchten Schatz in den Lederbeutel an ihrem Gürtel. Mehr als vier der sorgfältig verpackten Traumeiskristalle passten nicht hinein. Das würde genügen.

Mit einem wilden Schrei schleuderte sie die fünfte Wachsrolle weit in das Gewölbe hinein, dann brach sie aus der Nische hervor. Gnadenlos hämmerte Todbringer in die Reihen der Metallbiester. Sie hackte der großen Spinne die linken Beinpaare ab und beförderte sie mit einem Tritt in die Reihen der anderen Angreifer. Bei jedem Schritt trat sie auf kleinere der Kreaturen. Etwas durchdrang den Schaft ihres linken Stiefels und bohrte sich in ihre Wade. Sie schüttelte ein Ding ab, das wie eine Mücke ohne Flügel aussah. Blut sammelte sich in dem Stiefel.

Endlich erreichte sie die Treppe. Die hohen Stufen waren eine Barriere für viele der Metallkreaturen, aber längst nicht für alle. Sie sah Tausendfüßler, die sogar an Wänden entlanglaufen konnten. Und aus der Tiefe des Gewölbes rückten immer mehr der ponygroßen Spinnen an. Auch eine zweite Treppe, die ein Stück weiter hinten nach oben führte, war dicht von den Bestien bevölkert.

Nicht zögern! Jeder Augenblick, den sie verlor, machte es schlimmer. Sie hob die Klinge, der keines dieser Viecher zu widerstehen vermochte, und kämpfte sich die Stufen empor. Nur noch der Saal, dann wäre sie im Tortunnel.

Eine der flügellosen Mücken sprang Nandalee, kaum dass sie die Treppe hinter sich gelassen hatte, aus einer dunklen Nische heraus an. Ihr Stachel traf sie dicht über dem rechten Handgelenk. Mit der Linken packte sie das heimtückische Biest und schlug es hart gegen die Wand, wo es zerbarst.

Vor ihr bewegte sich der Boden. Metall schimmerte im Zwielicht. Der Saal vor dem Tunnel war von Hunderten Metallkreaturen bevölkert. Ganze Heerscharen von ihnen quollen aus den anderen Treppenschächten hervor, die hinab zur Werkstatt in der Tiefe des Gelben Turms führten. Nandalee wusste, sie würde sich durch diese silberne Brut nicht hindurchkämpfen können.

Ohne zu zögern, wandte sie sich um und nahm die Treppe nach oben, die sie bereits kannte. Es gab nur noch einen Fluchtweg: die Turmplattform! Dort würde Sternauge sie holen können.

»Das schaffe ich!«, sagte sie laut, während sie hinter sich das Kratzen metallener Insektenbeine auf den Treppenstufen hörte. »Das schaffe ich!«, wiederholte sie, und schon der Klang der Worte machte ihr neuen Mut.

Sie lief weiter. Höher und höher, bis sie erneut den Saal mit den beiden Drachenschädeln erreichte. Eine der großen Spinnen hatte so dicht zu ihr aufgeschlossen, dass sie die Bedrohung nicht länger ignorieren konnte. Sie drehte sich um, wartete und stoppte das Ungeheuer mit einem wuchtigen Schwerthieb zwischen die Mandibeln. Die kleinen Zangen zuckten noch, als sie ihre Klinge aus dem Leib befreite, ebenso wie die langen Beine. Doch das Biest würde ihr nicht weiter folgen.

Aus den Augenwinkeln sah sie einen Tausendfüßler, der leise rasselnd über die Wand neben dem skelettierten Drachenschädel glitt. Vielleicht würde der sich ja das Ding vornehmen, das in diesem Schädel saß. Das Ding, das sie … All ihre Gedanken waren wie weggewischt. Der lose Schneidezahn! Er fehlte! Was immer in dem Schädel eingesperrt gewesen war, hatte sich befreit.

An A Tu

Immer mehr Tausendfüßler wanden sich über die Wände des Saals. Nandalee riss sich vom Anblick des Drachenschädels los. Es ging sie nichts an, was dort herausgekrochen war. Sollten sich die Devanthar damit herumschlagen, wenn sie zurückkehrten. Sie musste es nur noch zur Turmspitze schaffen, dann war es vorbei. Sie würde von den Zinnen aus in den Sattel springen.

Sie tastete nach dem Beutel an ihrem Gürtel. Alles würde gut, redete sie sich ein und sah noch weitere Tausendfüßler. Dann nahm sie mit langen Schritten Stufe um Stufe. Der Turm schien bis in die Wolken zu reichen. Sie durchquerte immer neue Säle. Und immer gab es noch eine Treppe, die weiter nach oben führte.

Plötzlich, sie bog gerade um einen Treppenabsatz, stand eine hagere, große Frau vor ihr. Erschrocken blieb Nandalee stehen. Die Fremde überragte sie um zwei Köpfe. Sie hielt einen riesigen Schneidezahn in ihren knochigen Händen. Aus hohlen Augen starrte sie auf Nandalee herab.

»An A Tu«, sagte sie, und Speichel troff ihr von den Lippen, während sie sprach. Mit Spinnweben durchsetztes schwarzes Haar hing ihr wirr ins Gesicht und weit über die Schultern hinab. Sie war nackt. Ihr Leib entsetzlich ausgezehrt. »An A Tu!«, wiederholte sie, drängender, als könnte sie nicht verstehen, dass Nandalee nicht begriff, was sie ihr mitzuteilen versuchte.

Eine der ponygroßen Spinnen holte auf – gleich würde sie den Treppenabsatz erreichen. Jetzt war nicht die Zeit, sich mit dieser Devanthar zu beschäftigen. Denn nichts anderes konnte die Frau sein. So elend sie auch aussah, Nandalee spürte die ungeheuerliche Macht, die in ihr schlummerte, auch ohne ihr Verborgenes Auge zu öffnen.

Nandalee wollte weiter, doch die Devanthar vertrat ihr den Weg. Sie bewegte sich beängstigend schnell. »An A Tu!«

Die Elfe verstand nicht, was die Göttin ihr damit sagen wollte. Sie zögerte, ihr Schwert zu heben. Sie konnte nicht einschätzen, wie mächtig die Devanthar noch war. Schnell war sie jedenfalls ganz gewiss.

»Bitte, lass mich vorbei.« Weitere Tausendfüßler glitten die Wände entlang. Nandalee wusste, die Biester würden sie auf der Turmspitze erwarten. Auch die nächste große Spinne hatte sie jetzt fast erreicht. »Bitte lass mich ziehen. Ich habe nicht alles Traumeis gestohlen. Ich muss die retten, die ich liebe.«

Der Blick in den leeren Augen der Göttin veränderte sich. »Lie Be?« Es kostete sie sichtlich Mühe, das Wort zu wiederholen. »Liebe!«

Die Spinne hatte sie beide fast erreicht, als die Devanthar plötzlich vorschnellte. Mit bloßer Hand griff sie zwischen die klickenden Mandibeln. Sie zerteilte Metall, als wäre es nichts als weicher Schlamm. Bis zum Ellenbogen griff sie in die Spinne hinein, zog einen winzigen grünen Splitter heraus, und die Bestie sackte augenblicklich reglos zu Boden.

»Geh!«, befahl die Devanthar. »Ret Te Liebe!«

Nandalee war verblüfft, als sie die so hinfällig wirkende Frau zur nächsten Wand eilen sah, wo sie sich einen Tausendfüßler, so lang wie ihr Arm, griff und in mehrere Teile zerbrach. Doch jetzt war nicht die Zeit, sich über eine Devanthar den Kopf zu zerbrechen. Sie musste Meliander und Eleborn retten. Deshalb war sie hierhergekommen.

Sie nahm weitere Treppen. Unter sich hörte sie metallisches Scheppern. Es war gut, diese Devanthar hinter sich zu wissen. Und sie fühlte sich schlecht beim Gedanken daran, was sie würde tun müssen. Der Dunkle war sehr deutlich gewesen, als er ihr den Stab gegeben hatte.

Endlich erreichte Nandalee die Plattform des Turms. Eisiger Wind empfing sie. Es war Nacht. Der Sturm hatte sich gelegt, und ein pockennarbiger, voller Mond stand tief hinter den Bergen.

Etwas Eisiges wand sich ihr Bein hinauf. Nandalee ließ Todbringer fallen. Ein Tausendfüßler glitt mit schnappenden Mandibeln an ihr hoch. Sie packte das Biest, doch seine Beine stemmten sich gegen ihren Leib. Das Metall durchdrang den Stoff. Schnappende Fresszangen gierten nach ihrer Kehle.

»Sternauge!«, rief sie aus Leibeskräften und griff nach ihrem Gürtel. Schon glitt ein zweiter Tausendfüßler ihr Bein hinauf. Sie zog ihr Messer. Rammte die Klinge in den Kopf des ersten Tiers, dessen Beine in ihren Todeszuckungen in Nandalees Leib stachen. Ohne auf den Schmerz zu achten, packte sie den zweiten Tausendfüßler, riss ihn sich vom Bein und schleuderte ihn über die Zinnen des Turms davon.

Gehetzt sah sie sich um. Sie waren überall. Mit einem heftigen Tritt zerstampfte sie einen metallischen Kopf unter dem Stiefelabsatz und trat an den Mauerkranz.

»Sternauge!«, schrie sie erneut in die Nacht, dabei trat sie nach einigen der kleineren Metallkreaturen.

Sie kämpfte die Panik nieder, nahm ihr Schwert auf und kämpfte. Der Pegasus musste sie gehört haben. Er würde kommen. Sie musste nur durchhalten.

Es war ein brutaler Kampf, ohne Raffinesse. Es gab keine Finten, keine eleganten Ausweichmanöver. Nur kurze, harte Schläge. Sie hielt sich in der Mitte der Turmplattform und drehte sich unablässig um die eigene Achse. Kurzen Ausfallschritten folgten schnelle Rückzüge. Es beeindruckte die Metallkreaturen nicht im Geringsten, wie viele sie von ihnen tötete. Immer neue Tausendfüßler und Spinnen schoben sich über die Körper ihrer zerschmetterten Gefährten.

Endlich hörte Nandalee Flügelschlagen. Sternauge war gekommen. Sie versuchte, den Tausendfüßler abzuschütteln, der ihre Verteidigung durchbrochen hatte und nun ihr Bein heraufkletterte. Er war nur klein. Sie entschied, ihn zu ignorieren, zog den kurzen schwarzen Stab aus ihrem Gürtel und rammte ihn mit seinem Ende mit aller Kraft auf den Boden.

Das Mauerwerk unter ihren Füßen erzitterte. Sie spürte Schockwellen den Turm hinablaufen. Einige Zinnen gaben nach und rutschten ab. Immer neue Wellen gingen vom Stab aus und ließen den Turm regelrecht vibrieren.

Nandalee wartete nicht ab, was noch geschehen würde. Weitere Tausendfüßler kletterten nun an ihr hinauf, als wäre sie die Rettung. Ihre metallenen Glieder stachen durch den Stoff ihres Kleides. Sie hatte jetzt Mühe, sich auf den Beinen zu halten, so sehr zitterten die Mauern.

Sie erklomm eine der intakten Zinnen, breitete die Arme aus, um ihr Gleichgewicht zu halten. Fast wäre ihr Todbringer entglitten, den sie wieder aufgenommen hatte und nun in der Rechten hielt. Mit geübter Bewegung schob sie das große Schwert in die Halteschlaufe auf ihrem Rücken.

Dann glitt der Schatten des Rappen unter ihr vorbei. Ohne zu zögern sprang die Drachenelfe und landete auf dem Sattelbrett. Mit den Armen rudernd, ging sie in die Knie und griff nach den ledernen Fußschlaufen des Sattels.

Die Tausendfüßler, die sich auf ihr wanden, ließen von ihr ab. Vielleicht wollten die Biester ja nahe beim Turm bleiben. Mit kurzen Tritten beförderte sie alle in die Tiefe, die sie entdecken konnte. Dann wandte Nandalee sich um und sah zurück zum Turm, den sie mit hoher Geschwindigkeit hinter sich ließen. Ein großes Stück Mauerwerk löste sich aus der Flanke und stürzte in die Tiefe.

Sternauge wieherte schrill. Nandalee sah nach dem Hengst. Ein Tausendfüßler, kaum länger als eine Hand, klammerte sich an den Kopf des Pegasus. Dann stach er auf das linke Auge des Hengstes ein und schob sich durch das zerlaufende Gallert in die Augenhöhle. Nandalee reagierte sofort. Ohne auf ihre Sicherheit zu achten, warf sie sich nach vorn, um den Tausendfüßler zu packen, doch er glitt ihr durch die frostklammen Finger und verschwand ganz im Kopf von Sternauge. Der Pegasus warf sich von Schmerz gepeinigt in der Luft hin und her, schlug mit seinen Schwingen nach seinem Kopf und stürzte schließlich wie ein Stein in die Tiefe.

Als sie fast den Boden erreicht hatten, sprang Nandalee mit einem Rückwärtssalto vom Sattelbrett. Sie landete federnd auf den Beinen und versank bis zu den Waden im Schnee.

Sternauge hatte weniger Glück gehabt. Mit gebrochenen Flügeln lag er am Boden. Seine Hufe scharrten im Schnee. Das schrille Wiehern war zu einem leisen, wimmernden Laut erstorben.

Nandalee tastete nach dem Beutel mit dem Traumeis. Seine Verschnürung hatte sich geöffnet, doch drei der Stoffröllchen waren noch da. Sie hatte nur eines verloren.

Sorgsam klopfte sie sich ab, ob sich noch einer der Tausendfüßler in ihren Kleidern verfangen hatte. Dann erst kniete sie sich neben Sternauge. Sein gesundes Auge starrte sie an. Sie fühlte sich elend. Sie hatte ihm den Tod gebracht. Noch ein Opfer mehr auf ihrer Suche nach dem Traumeis.

Sanft strich sie ihm über die Stirn. »Bitte verzeih mir, mein Freund.«

Warme Atemwolken aus seinen Nüstern umschmeichelten ihre Hand. Er lag jetzt ganz still und blinzelte ihr einmal mit dem Auge zu.

Ein Getöse wie von einer Lawine rollte das Tal hinab.

Sie sah nicht auf. War ganz bei ihrem Weggefährten, der sie so viele Jahre unerschrocken getragen hatte. Nandalee dachte an den Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie hatte mit Gonvalon verborgen in einem Busch darauf gewartet, dass die Pegasi zu einem Wasserloch kamen. »Ich werde nie vergessen, wie du gegen den Rotrücken gekämpft hast, der deine Herde angegriffen hat. Wie du bereit warst, dich zu opfern, um die anderen zu retten.«

Es stieg kein Atem mehr von seinen Nüstern auf. Die Schneeflocken, die der Wind in sein offenes Auge blies, schmolzen nicht länger.

Nandalee blieb keine Zeit für einen langen Abschied. Erstes Morgenlicht stand schon fahl hinter den Bergen, als sie sein Auge zudrückte und sich erhob. »Liuvar, mein Freund.«

Sie zog ihren Umhang vor der Brust zusammen. In ihrer Trauer hatte sie vergessen, einen Zauber zu wirken, um sich vor der Kälte zu schützen. Jetzt waren ihre Glieder steif, und der Frost hatte sich tief in ihr Innerstes gefressen.

Wieder tastete sie nach dem Traumeis. Sie spürte die Stoffrollen durch das Leder.

Müde sah sie zum Ende des Tals. Der Gelbe Turm war verschwunden. Dort, wo er gestanden hatte, reichte ein Trümmerfeld eine halbe Meile den verschneiten Hang hinab. Nandalee dachte an die Devanthar, die ihr geholfen hatte. Die so ganz anders gewesen war als ihr Bild von den Göttern der Menschen. Ohne ihre Hilfe wäre sie vielleicht nicht entkommen. Und ihr Dank war gewesen, die Devanthar zu opfern.

Nandalees Bild von der Ordnung in den drei Welten brach auseinander. Was war noch gut? Was war böse? Nobel waren ihre Taten in dieser Nacht ganz sicher nicht gewesen.

Sie verbeugte sich in Richtung des Trümmerfeldes und hauchte einen Abschiedsgruß in das Tal. »Liuvar.«

Dann machte sie sich auf den Weg. Bis zum nächsten Albenstern hatte sie mindestens dreißig Meilen unwegsames Bergland vor sich. Es würde ein erbarmungsloser Wettlauf werden, dort anzukommen, bevor die Devanthar zurückkehrten, wo immer diese gerade auch waren.

Nangogs Kinder

Obwohl das Geschehen ihn erschreckte, war der Löwenhäuptige von dem Schauspiel, das sich ihm über dem spiegelglatten Blutsee darbot, begeistert. Figuren aus Licht fochten den Kampf, der sich hoch über der Höhle, vor ihren Blicken verborgen, am Himmel der Goldenen Stadt abspielte. Drei Schritt lang schwebte die fliegende Insel der Albenkinder über dem dunklen Wasser. Dutzende Drachen umkreisten sie, dazu winzige Gestalten auf Adlern und fliegenden Löwen. Ihre Wolkensammler hatten die Insel eingekreist, doch es wollte ihnen nicht gelingen, sie zu besiegen. Sieben der großen Himmelsschiffe waren schon abgestürzt, und die Wolkeninsel hatte drei der Felsbrocken, aus denen sie bestand, abgeworfen.

Das Lebende Licht, der Devanthar Valesias, hatte dieses Spektakel erschaffen, und der Löwenhäuptige vermochte sich nicht einmal im Ansatz vorzustellen, welche Zauber zu wirken waren, um diese beweglichen Bilder zu kreieren.

Sie alle standen um den weiten See versammelt. Er hatte seine Brüder und Schwestern überzeugen können, dass dies hier der sicherste Ort in allen drei Welten war, denn schließlich drehte sich die Schlacht um die beiden Himmelsschlangen, die als willenlose Sklaven am Boden des Sees ruhten. Wenn es einen Ort gab, den die Götterdrachen ganz gewiss nicht mit ihrem vernichtenden Flammenstrahl angreifen würden, dann war es dieser. Ging es für sie doch darum, die Kadaver ihrer toten Brüder zu retten.

»Sie werden unsere Flotte vernichten«, sagte Išta laut, was sie alle dachten. »Wenn es so weitergeht, werde ich hochgehen und kämpfen.«

»Das wirst du nicht!«, fuhr der Löwenhäuptige sie an. Wie konnte sie nur daran denken, all ihre Pläne über den Haufen zu werfen. »Noch ist nichts verloren!«

»Wie lange willst du denn noch zusehen?«, entgegnete sie nicht minder scharf. »Wie viele unserer Menschenkinder müssen noch in den Tod stürzen?«

»Wie viele habt ihr beide auf der Hochebene von Kush für weit weniger geopfert?«, mischte sich das Lebende Licht ein. »Warten wir noch etwas ab. Wenn wir in die Schlacht eingreifen, werden die Himmelsschlangen argwöhnen, dass wir ihnen eine Falle stellen.«

»Aber wir könnten doch …«, begann der Gefiederte, wurde aber augenblicklich von Langarm unterbrochen.

»Nein, wir können nicht!«, rief der Götterschmied mit hochrotem Gesicht. »Der Reißzahn wurde erschaffen, um die Himmelsschlangen zu zerfetzen. Ihn wegen der paar schwebenden Steine dort oben loszuschicken wäre eine unverzeihliche Dummheit.«

»Und wenn sie nicht kommen?« Ištas Hände lagen auf der steinernen Einfassung des Blutsees. Ihre mächtigen Schwingen zuckten nervös. Sie machte eine ausholende Geste hin zu den bewegten Bildern über der Wasseroberfläche. »Vielleicht haben sie uns schon längst bemerkt, weil wir unsere Neugier nicht beherrschen konnten und diesen dummen Zauber wirken mussten.«

»Dieser dumme Zauber stört die Harmonie des Goldenen Netzes nicht«, bemerkte das Lebende Licht gekränkt. »Er wird die Aufmerksamkeit der Himmelsschlangen ganz gewiss nicht erwecken.«

»Warten wir noch ein wenig!«, forderte der Löwenhäuptige erneut. »Das ist nun einmal das Los der Feldherren. Manchmal muss man ein paar Einheiten sehenden Auges in den Tod schicken, damit am Ende eine Schlacht gewonnen werden kann, und wir …« Er stockte. Eine seltsame Gestalt lief in höchster Eile durch den hinteren Bereich der Höhle. Sie war größer als ein Troll, hatte aber lange, schlanke Glieder, fast wie eine Elfe. Ihre Haut war von fahlgrüner Farbe. Kein einziges Haar wuchs auf ihrem Kopf, aus dem sich zwei lange, gekrümmte Knochenspiralen dem Rücken entgegenstreckten. Große schwarze Augen lagen neben einer flachen Nase. Die Lippen waren nur ein schmaler Strich. Fast wie eine Narbe. Die Gestalt war nackt.

Der Löwenhäuptige kannte diese Kreaturen aus Berichten seiner Brüder und Schwestern, hatte bisher aber noch keine leibhaftig gesehen. Es musste sich um einen der Fleisch gewordenen Grünen Geister handeln.

Išta hatte seinen verwunderten Blick bemerkt. In Gedankenschnelle erschien sie an der Seite der Kreatur und enthauptete sie mit ihrem Sichelschwert.

Plötzlich erzitterte der Boden unter ihren Füßen, und Wellen kräuselten sich auf dem Blutsee. Eine gefiederte Schlange brach durch das Wasser und blickte mit ihrem goldenen Haupt auf die versammelten Devanthar herab. Neben ihr schob sich ein großer grüner Kristall aus dem See. Er wuchs mit beängstigender Geschwindigkeit. Weitere, dünnere Kristalllanzen sprossen aus dem Wasser hervor. Sie alle waren stark nach links geneigt.

»Da kommen noch mehr«, rief Išta erstaunt.

Der Löwenhäuptige eilte an ihre Seite. Aus dem langen Tunnel, der von der Opferhöhle hinab in die Tiefe führte, liefen ihnen weitere Grüne Geister entgegen.

Der Gefiederte gesellte sich zu ihnen. Er hob beide Arme, und der Löwenhäuptige spürte, wie sein Bruder nach der Macht der magischen Matrix griff.

»Nicht!«

»Was soll das? Lass sie uns in einem Feuersturm vernichten!«

Immer mehr der Kinder Nangogs erschienen in dem Tunnel. Sie schenkten ihnen keine Beachtung. Es schien, als wollten sie an einen anderen Ort.

»Der Reißzahn!«, schrie Langarm.

Der Schmied war am Ufer des Blutsees zurückgeblieben. Er deutete auf die Kristalle, die der Höhlendecke entgegenwuchsen. Noch zwei weitere, sehr massige Kristallkörper hatten sich aus dem Wasser geschoben.

»Dort oben ist die Höhle des Reißzahns!« Langarm zeigte auf den Abschnitt der Decke, dem die Kristalle entgegenstrebten. »Versteht ihr nicht? Nangog! Sie will sich ihr Herz zurückholen.«

Išta hob ihr Sichelschwert und ging dem Tunneleingang entgegen. »Ich brauche keinen Feuersturm, um diese Biester zu töten. Kommt!«

»Wir müssen den Reißzahn fliegen lassen!«, beharrte Langarm. »Wenn die Kristalle durch die Decke stoßen, werden sie ihn aufspießen. Dann wird es zu spät sein, ihn noch loszuschicken.«

Der erste der fassdicken Kristalle hatte jetzt fast die Höhlendecke erreicht.

Der Löwenhäuptige konnte Išta ansehen, wie sie mit sich rang. Dann nickte sie. »Lass ihn aufsteigen, Langarm.«

»Aber ihr müsst diese Dinger aufhalten.« Der Schmied deutete auf die Kristallbündel. »Ich brauche noch ein wenig Zeit.«

»Dann beeilst du dich besser!«, fuhr ihn der Löwenhäuptige an.

Sein Bruder hatte sich in den letzten Monden zu sehr in seine Arbeit verkrochen. Offensichtlich war er nicht auf dem Laufenden. Sie hatten bereits an anderen Orten versucht, die Kristalle zu zerstören. Versuchte man sie zu zerbrechen, wuchs der Stumpf, der blieb, danach mit doppelter Geschwindigkeit weiter. Keiner ihrer Zauber vermochte ihnen etwas anzuhaben, denn Nangog selbst ließ sie erstehen. Wozu, konnte sich der Löwenhäuptige nicht vorstellen. Doch hatte er die Riesin auch früher schon nicht verstanden.

Er sah zu dem Tunnel in die Tiefe. Immer dichter wurde der Strom von Nangogs Kindern. Sie vermochten selbst über die Wände und die Decke zu krabbeln. Er hatte das Gefühl, eine Welle aus grünem Fleisch auf sich zukommen zu sehen. All ihre Pläne waren damit zunichtegemacht. Ein neues Zeitalter war angebrochen. Nangog begann, um ihre Welt zu kämpfen. Und sie durfte auf keinen Fall die zweite Hälfte ihres Herzens erbeuten, das Langarm so leichtfertig hierhergebracht hatte.

Er ließ die Krallen aus seinen kräftigen Fingern fahren und folgte Išta, um sich gegen die grüne Flut zu stemmen.

Der Gefangene

Er wandte den Kopf zur Seite, ohne dass er es gewollt hätte. Solaiyn hasste es, ein Gefangener in seinem eigenen Körper zu sein. Er spürte den Goldenen in sich. Die Himmelsschlange beherrschte ihn ganz und gar. Er war nur noch Zuschauer dessen, was andere für seine Taten hielten.

Dass der Herr aller Tiefen einfach desertiert war, hatte den Goldenen bis zur Weißglut gereizt. Solaiyn wusste zwar nicht, was der alte Drache dachte, aber er hatte Anteil an all seinen Gefühlen. So spürte er auch die sich langsam verbessernde Stimmung des Zweitgeschlüpften. Die Schlacht dauerte nun seit mehr als drei Stunden mit unvermittelter Härte an. Das Himmelland hatte einige schwere Treffer einstecken müssen. Auf fünf neuen Felsen wüteten schwere Brände. Doch die Verluste der Menschenkinder wogen schwerer. Überall in der Stadt zeigten sich die Spuren des unbarmherzigen Kampfes am Himmel. Brennende Wracks hatten Häuserblocks eingeebnet. Tote Drachen lagen auf Dächern und Straßen. Fetzen zerstörter und verwundeter Wolkensammler prasselten unablässig auf die geschundene Stadt nieder. Wolkenschiffer und Krieger wurden von den Decks der Schlachtschiffe in die Tiefe hinabgeschleudert, wenn Salve auf Salve des Himmellands die schweren Planken der Geschützstellungen zerschmetterte.

Der Pavillon sah längst nicht mehr aus wie ein funkelnder Kristall, der wie ein Rammsporn aus der fliegenden Insel ragte. Die Scheiben waren mit Blut bespritzt. Rußspuren hatten schwarze Streifen auf dem Glas hinterlassen. Sie waren mit allem beschossen worden, was die Arsenale der Menschen zu bieten hatten: Steinkugeln, Feuerkrüge und unzählige Pfeile. Doch der Pavillon hatte widerstanden.

Über ihnen lag ein Wolkenschiffer auf dem Glas hingestreckt, der in den Tod gestürzt war. Solaiyn hatte den Kopf des Mannes beim Aufprall wie eine überreife Melone zerplatzen sehen. Hirnmasse war in langen Spritzern über ihnen auf den Scheiben eingetrocknet und behinderte die Sicht.

Manchmal, wenn der Goldene zufällig seinen Kopf in die richtige Richtung drehte, erhaschte er einen kurzen Blick auf die beiden Mädchen. In ihren Seidenkleidern wirkten sie völlig deplatziert. Er wünschte, sie hätten das Grauen hier nie mit ansehen müssen.

Tief unter ihnen war ein seltsamer Laut zu hören. Ein unangenehmes Knirschen, als schliffe Metall über Stein. Nur dass es absurd laut war. Solaiyn sah, wie Häuserblocks eines ganzen Viertels erzitterten. Nein, nicht eines Viertels, das Beben lief über den gesamten Hang des Weltenmundes!

Plötzlich stürzte das Dach der großen Halle, die zum Palast Drusnas gehörte, in sich zusammen. Die Ankertürme neigten sich zur Seite und begruben die Stuben der Palastschreiber unter sich.

Der Goldene zwang Solaiyn niederzuknien und durch den gläsernen Boden des Pavillons zu blicken. Entsetzt sah der Elf, wie sich der Fels des Hangs hochwölbte. Ganze Straßenzüge wurden fortgerissen. Lawinen aus Staub und Ziegelsteinen prasselten den Hang hinab. Er sah, wie eines der großen Wasserräder aus seiner Verankerung gerissen wurde und die Prachtallee zu einem Statthalterpalast hinabrollte. Dutzende Männer, die wegen des Bebens in Panik aus ihren Häusern geflohen waren, wurden von den Schaufeln des wohl acht Schritt hohen Schöpfrades zerquetscht. Selbst aus gut zweihundert Schritt Höhe war die Blutspur auf dem Pflaster zu sehen.

In den Staubwolken, die sich über dem Schutt erhoben, erschien etwas silbern Strahlendes. Ein Segel aus Metall? Nein, es war größer als jedes Segel, das er je gesehen hatte. Vor seinen Augen entfaltete sich eine gewaltige silberne Schwinge. Die Uferquartiere der Goldenen Stadt verschwanden unter dem weiten Schatten des Flügelpaars. Zwei Köpfe schoben sich aus dem Staub, und große bernsteinfarbene Augen sahen zum Himmelland empor. Dann erschien noch ein Kopf. Und noch einer. Zuletzt waren es fünf Drachenköpfe, die zu ihnen hinaufblickten. Ein jeder von ihnen so groß wie ein kleines Frachtschiff.

Solaiyn spürte das Entsetzen des Goldenen. So groß war der Schreck der Himmelsschlange, dass sie für einen Augenblick die Kontrolle über ihn aufgab.

»Nodon!« Solaiyn wandte sich zum Schwertmeister um. »Du nimmst die Mädchen und verlässt mit ihnen das Himmelland. Sofort. Dieses Ungeheuer wird uns …« Seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Doch zu seiner Erleichterung sah er, wie der Drachenelf Farella und Lydaine in den Luftaal schob.

»Auch Ihr solltet gehen, Herr«, sprach Nodon ihn an.

Nur zu gerne, dachte Solaiyn, doch der Augenblick, den der Goldene ihn freigelassen hatte, war bereits verstrichen. Er musste mit ansehen, wie der silberne Drache seine Flügel streckte und deren Kraft erprobte. Jeder war wohl eine Meile weit. Dieses Ungeheuer stand dem Himmelland in nichts nach. Vielleicht war es ihrer Insel auch weit überlegen. Solaiyn wollte nicht verweilen, um es zu sehen.

Mehr als die halbe Stadt war während der Geburt des Silberdrachen aus dem Fels zerstört worden. Das Flattern der Schwingen ließ einen Staubsturm durch alles fegen, was von der Goldenen Stadt noch übrig geblieben war. Ein Kopf des Drachen schnellte vor. Erstaunlich, wie weit er seinen Hals recken konnte. Wie eine Forelle eine Fliege schnappt, holte er sich ein Quarzauge. Beide Flügel wurden glatt abgetrennt, als die stählernen Kiefer aufeinandertrafen. Auch der Kopf des Drachen stürzte in den aufgewirbelten Staub. Der Rest aber verschwand im Schlund des Silbernen.

Gierig beteiligten sich auch die anderen Köpfe an der Drachenjagd. Ein Sonnendrache schwärzte mit seinem Feuerstrahl die Schnauze des Silberkopfes, der ganz links außen aus dem Rumpf wuchs. Allein es half ihm nichts – auch er wurde mit einem einzigen Bissen verschlungen.

Diese metallene Bestie würde es mit ihnen aufnehmen können, dachte Solaiyn. Und dass sie unter der Stadt gewartet hatte, konnte nur eines bedeuten: die Devanthar hatten gewusst, dass sie kommen würden.

Sanft berührten Alokis Lippen seinen Nacken. Ein warmer Kuss, gefolgt von einem kurzen Schmerz, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Ein Lebenswerk

»Speer!«, sagte Nyr vollkommen ruhig.

Hornbori konnte nicht fassen, dass seine beiden Kameraden nicht im Mindesten beunruhigt wirkten.

»Wir sollten wirklich …«

»Halt’s Maul, Schisser, und kurbel weiter. Hier will keiner hören, was du glaubst, was wir tun sollten«, fuhr ihn Galar an.

Hornbori biss sich auf die Lippen. Es war immer dasselbe mit den beiden. Sie begriffen einfach nicht, wann es angebracht war, den Schwanz einzuziehen und sich zu verpissen. Sieben Jahre lang hatte Hornbori geglaubt, dass er nie mehr etwas sehen würde, was auch nur annähernd so groß war wie der Meerwanderer. Dummer Irrtum! Aber einen Fehler würde er ganz sicher nicht wiederholen: Er würde nicht abwarten, wie dieser Kampf ausging. Ihm war bewusst, was für ein unglaubliches Glück er gehabt hatte, die Begegnung mit dem Meerwanderer zu überleben. Und Glück war endlich!

Der eiserne Schlitten, der die Sehne über die Führungsschiene der schweren Speerschleuder zurückgezogen hatte, rastete ein. Galar legte einen der Drachentöterspeere in das Geschütz.

»Den legen wir flach«, murmelte Galar selbstsicher, und Nyr nickte dazu.

Sorgfältig drehte der Richtschütze an zwei Stellrädern, um sein Ziel ins Visier zu nehmen.

Hornbori spähte an ihm vorbei zu dem Drachen. Wer hatte dieses Ding gebaut? Die Götter der Menschen. Es wirkte wie Stahl gewordener Zorn auf ihn. »Ähm … wenn das Ding nicht lebendig ist, sondern nur etwas aus Metall … Wie soll man es dann töten?«

»Immer schöne Worte parat, um deine Feigheit zu verstecken, nicht wahr«, schnarrte Galar ihn an. Es war unübersehbar, dass der Schmied diese Herausforderung genoss. Verdammter Idiot!

Nyr zog den Abzug durch. Angespannt spähte er über die Führungsschiene des Geschützes.

»Und?«, bedrängte Galar ihn.

»Er lebt noch«, murmelte der Richtschütze, und Hornbori spürte, dass zumindest an ihm Zweifel nagten.

»Dann versuchen wir es eben noch mal.« Galar zog den nächsten Drachentöterspeer aus dem Köcher. »Diesmal solltest du auf ein Auge zielen. Du musst sein Gehirn zerstören.«

Hornbori sah, wie die Steinkugeln ihrer Geschütze wirkungslos an den Schuppen des Drachen abprallten. Das Biest ignorierte sie alle! Stattdessen schnappte es sich Drachen aus Fleisch und Blut aus der Luft.

»Das ist nur etwas Gebautes«, versuchte Hornbori es ein letztes Mal. »Das Ding da unten hat gar kein Gehirn, das du zerstören könntest. Ein Schiff oder eine Festung hat auch kein Gehirn.«

Nyr wirkte nachdenklich.

»Kurbel!«, zischte Galar ihn an. »Das ist das Einzige, wovon du etwas verstehst. Der Drache bewegt sich von alleine. Also hat er auch ein Gehirn. Dass du ihn mit einem Schiff vergleichst, zeigt schon, wie beschränkt du bist.«

»Und in welchem der fünf Köpfe vermutest du das Gehirn?« Hornbori ließ die Kurbel los und trat von der Speerschleuder zurück. Es gab nur ein Ende, das dieser Kampf nehmen konnte. Und dieses Ende wollte er nicht erleben. »Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, sich einen Luftaal zu nehmen. Kämpfen wir an einem anderen Tag! Retten wir die Drachentöterpfeile.«

»Du verstehst es einfach nicht, Schisser.« Galar nahm seinen Platz an der Kurbel ein. Vielleicht auch, um Nyr daran zu hindern, seinen Posten zu verlassen. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wie das hier ausgehen kann. Entweder wir legen diesen stählernen Drachen um und sind diejenigen, die das Himmelland retten. Oder aber wir schaffen es nicht. Und wenn das geschieht – und ehrlich gesagt hoffe ich darauf –, dann werden die Himmelsschlangen erscheinen. Sie werden nicht tatenlos dabei zusehen, wie ihr Himmelland zerstört wird. Dann ist endlich die Stunde der Rache gekommen. Dann werden sie dafür bluten, was sie der Tiefen Stadt angetan haben.«

»Ihr werdet nicht lange genug überleben, dass es so weit kommt.«

Jedes weitere Wort an diese beiden Narren war verschwendet! Hornbori wandte sich ab, trat durch die schmale Tür und stieg die Wendeltreppe hinauf. Sie führte ihn an der großen Geschützstellung vorbei, in der Hauptmann Hor immer noch den Befehl führte. Die fest gemauerten Stellungen hatten einige üble Treffer abbekommen. Ein großes Loch klaffte in der Außenwand. Zwei Geschütze waren aus ihren Bodenhalterungen gerissen. Die weiß gekalkte Decke darüber war mit Blut bespritzt. An der Wand neben der Tür lagen fünf Tote aufgereiht. Hor trieb unermüdlich die Geschützbedienungen an weiterzuschießen. Keiner bemerkte Hornbori, und er stieg weiter die Treppe hinauf, bis er zu dem Gang gelangte, der ihn hinab zur Aalbucht führte. Krieger mit aufgerollten Tragen über den Schultern kamen ihm entgegen. Sie grüßten ihn ehrerbietig. Er war zu bekannt, dachte er besorgt. Das war nicht gut.

Die Aalbucht war eine kreisrunde Kammer tief im Fels. Zwei Dutzend der Luftaale hingen hier über Abwurfschächten, um den Felsen zu verlassen. Sieben Aale fehlten bereits. Überall auf dem Boden kauerten Verwundete. In erster Linie Zwerge, aber es waren auch Kobolde darunter, zwei Faune, ein alter Minotaur und ein Troll mit schrecklichen Verbrennungen.

Einige Helfer hoben die Schwerverletzten in Aale und sorgten dafür, dass genügend leichter verletzte Männer hinzustiegen, um die Kurbelwelle zu betreiben. Überrascht sah Hornbori, dass lediglich Aale mit roten Ladeluken genutzt wurden. Eigentlich waren sie allein Elfen vorbehalten.

»Der Herr aller Tiefen.« Es lag kein Respekt in der Stimme, die hinter ihm erklang.

Hornbori drehte sich um, entschlossen, diesen Schnösel zurechtzustutzen. Es war ein Zwerg mit üppigem, blondem Bart und verbittertem Blick. Er war ihm schon einmal begegnet … Doch konnte er sich nicht erinnern, wo.

»Ihr wollt zurück ins Bett Amalaswinthas, Herr aller Tiefen? Erstaunlich, was Ihr an einer Frau findet, die schon mein Großvater gehabt hat.«

»Das wird für einen Mann, der noch nie eine Frau gehabt hat, auch immer ein Rätsel bleiben, Virfir!« Jetzt erinnerte er sich wieder. Dieser aufgeblasene Bastard war der Enkel Eikins, des Alten aus der Tiefe in den Ehernen Hallen. Er hätte ihn damals zusammen mit seinem Großvater köpfen sollen! Was für ein verdammtes Pech, ausgerechnet ihn hier zu treffen!

»Bisher haben nur Verwundete das Himmelland verlassen. Was fehlt Euch denn, Herr aller Tiefen? Mut?«, setzte Virfir seine impertinenten Sticheleien fort.

»So redet man nicht mit dem größten Helden unseres Volkes«, stieß ein übel zugerichteter Rotbart hervor, der neben Hornbori auf einer Trage lag. Seine Hände lagen auf seinem Bauch gefaltet, der mit breiten Leinenstreifen verbunden war. Blut rann durch den Verband. Der Krieger war aschfahl. »Ich war mit ihm in Asugar«, stieß er schwer atmend hervor. »Ich sah, wie er den Meerwanderer tötete. Er ist ein … Held.« Nach dem letzten Wort stieß er einen langen Seufzer aus.

Hornbori kniete neben dem Rotbart nieder und strich ihm über die schweißnasse Stirn. »Sie werden dich hier herausbringen, Kamerad. Das verspreche ich dir!« Er erinnerte sich nicht an den Krieger, war aber sicher, dass dem Rotbart das nicht auffallen würde. Niemand mochte es, dass man sich nicht an ihn erinnerte.

Der Zwergenherrscher richtete sich wieder auf. »Mir war zu Ohren gekommen, dass du die Luftaale der Elfen stiehlst, Virfir. Mach weiter damit!«

Eikins Enkel starrte ihn mit offenem Mund an.

»Wenn ihr in die Luftaale steigt, die die Elfen uns zugedacht haben, werdet ihr irgendwo nahe der Goldenen Stadt landen. Der Stadt, die schon jetzt nur noch ein Trümmerhaufen ist. Die Menschenkinder werden euch die Kehlen durchschneiden.« Er blickte in die Runde und ließ seine Worte wirken. »Mir sind Zwergenkehlen kostbarer als Elfenkehlen. Raubt ihnen ihre Aale, und du, Virfir, bist mir dafür verantwortlich, dass all unsere Jungs hier unten es sicher in die Tiefen Städte schaffen. Haben wir uns verstanden?«

»Ja«, stammelte Virfir überrumpelt.

Er erklärte ihm, wie die magischen Luftaale zu bedienen waren und dass die Gefährte sie an jenen Ort bringen würden, an den derjenige, der zum zweiten Mal Liuvar aussprach, in diesem Moment dachte. Virfir war verblüfft, dann bedankte er sich überschwänglich.

»Drachenfaust!«, riefen ihm die Verwundeten voller Begeisterung zu. »Drachenfaust!«

»Ich wünsch euch Glück, Männer! Ich muss zurück in die Schlacht. Wir sehen uns bei einem Pilz auf der Siegesfeier. Das ist ein Befehl! Dass sich hier also keiner untersteht abzukratzen.«

Schweren Schrittes verließ er die Aalbucht, während die Männer immer noch Drachenfaust riefen. Was würde er nicht darum geben, im nächsten Aal zu sitzen, der in die Heimat zurückkehrte. Fast alles! Aber wenn er jetzt flüchtete, würde es ihn das Einzige kosten, was er nicht mehr aufgeben wollte. Sein Ruhm hatte ihn zum Herrn aller Tiefen gemacht. Wenn es den nicht mehr gab, dann war es auch mit seiner Herrschaft vorbei. Und wenn er kein Herrscher mehr war, dann war es mit Amalaswintha vorbei, da brauchte er sich nichts vorzumachen.

Sie war nicht in ihn verliebt, sondern in seine Macht. Im Grunde waren sie sich ziemlich ähnlich. Er war mehr geworden, als er sich je hatte träumen lassen. Wenn er aus dieser letzten Schlacht mit dem Ruf heimkehrte, ein Feigling zu sein, dann würde es nicht lange dauern, bis er wieder ein Niemand war. Und das könnte er nicht ertragen, nachdem er zum Herrscher aller Zwerge aufgestiegen war.

Hornbori war sich bewusst, dass es nicht helfen würde, in die Aalbucht eines anderen Felsens zu flüchten. Überall würde es Männer geben, die ihn kannten, den größten Helden der Zwerge, und die mit der Geschichte von seiner feigen Flucht heimkehren würden, wenn er sich jetzt verdrückte.

Wieder kam er an der oberen Geschützbatterie vorbei. Der Fels der Kammer erbebte unter den Treffern der Menschenkinder. Steinsplitter spritzten durch die Schießscharten. »Durchhalten, Männer!«, rief er mit volltönender Stimme. »Wir werden dieses Stück Stahl da unten plattmachen! Wir sind Zwerge. Wenn einer weiß, wie man mit Stahl umgeht, dann sind wir es, nicht wahr, Hauptmann Hor!«

Der Kommandant der Batterie wandte sich zu ihm um. Ein Holzsplitter, groß wie ein Stuhlbein, steckte in seiner Schulter. Sein Kettenhemd war dunkel von Blut, und er schwankte leicht, aber er lächelte ihn an. »So ist es, Herr aller Tiefen«, stieß er unter Schmerzen hervor. »Wir machen ihn platt.«

Die abgekämpften Geschützmannschaften sahen ihn dümmlich grinsend an. Seine Worte bedeuteten ihnen wohl viel. Dabei waren Worte billig. »Weitermachen, Männer! Ich steig zum unteren Geschützdeck und seh zu, dass ich dem Stahlding da unten auch ein paar nette Beulen verpasse.«

Sie nickten ihm zu. »Wir gehen hier eher drauf, als dass wir flüchten«, rief ihm ein junger Zwerg zu, der eine Steinkugel zu einem Geschütz rollte. »Hier gibt es keine Schisser!«

»Ich weiß«, sagte Hornbori. Dann stieg er tiefer hinab.

Aus den Augen

Wir müssen ihnen helfen, hallten die Gedanken seines dunklen Bruders im Kopf des Goldenen. Wir können nicht einfach zusehen, wie das Himmelland zerstört wird. Und dieser Drache wird es zerstören!

Zugleich drangen die Worte Gobhayns in sein Bewusstsein. Der Schöpfer, wie ihn alle an Bord des Himmellands nannten, zählte auf, auf welchen Felsen es Feuer gab. Drei neue Brände waren nicht mehr zu beherrschen. Die Felsen, auf denen sie wüteten, würden bald abgeworfen werden.

Auch hatte das Erscheinen des stählernen Drachen eine Panik unter ihren kleinen Brüdern ausgelöst. Etliche flohen vom Schlachtfeld, nachdem sie gesehen hatten, mit welcher Leichtigkeit das Ungeheuer, das die Devanthar erschaffen hatten, sie töten konnte.

Alles geht schief, lamentierte der Flammende. Nichts läuft mehr, wie wir es geplant haben. Wir sollten aufgeben.

Das werden wir nicht tun! Die Gedanken des Nachtblauen stachen wie Schwerter in ihre Köpfe, und er gab sich nicht die mindeste Mühe, seinen Zorn zu mäßigen. Diese Schlacht ist noch nicht verloren. Zerstören wir den Drachen! Alle Zauber sind gewoben. Wir können binnen eines Augenblicks dort sein. Worauf wartet ihr noch? Wir sind Krieger! Wir sind zum Kämpfen geboren.

Wir haben das Himmelland geschickt, um die Devanthar aus ihren Verstecken zu locken. Der Goldene konnte spüren, wie sein smaragdener Bruder bereits alles verloren gab. Sie sind leider klüger, als wir gedacht haben. Sie sind nicht erschienen, stattdessen haben sie dieses stählerne Ding geschickt, von dem der Goldene berichtet. Ein Drache! Sie verhöhnen uns damit! Und ich sehe nicht, was wir dagegen tun könnten.

Sie sind da!, beharrte der Goldene. Ganz sicher beobachten sie in diesem Augenblick, was ihr Drache tut. Und ich verwette mein Leben, dass sie nahe dem Teich stehen, in dem die toten Leiber unserer Brüder, des Purpurnen und des Frühlingsbringers, in Knechtschaft gehalten werden.

Warum?, fragte der Rote. Auch seine Stimmung war niedergeschlagen. Es reizte den Goldenen bis aufs Blut, zu spüren, wie seine Brüder die Schlacht um Nangog einer nach dem anderen verloren gaben. Warum sollten sie dort sein?

Weil sie, genau wie wir, wissen wollen, wie die Schlacht verläuft. Es kostete den Goldenen Mühe, seine Wut im Zaum zu halten.

Wir schaffen es, durch Solaiyn die Schlacht sogar aus einer anderen Welt zu beobachten. Glaubst du wirklich, dass nicht auch die Devanthar solche Möglichkeiten haben?, wandte der Smaragdene ein.

Warum sollten sie das tun, wenn sie in nächster Nähe des Schlachtfeldes einen Ort haben, an dem sie in Sicherheit sind. Sie sind überzeugt, dass wir die Körper unserer toten Brüder bergen werden. Also können wir keinen Angriff wie in Selinunt unternehmen.

Wollen wir das denn? Der Flammende klang ernsthaft überrascht.

Zum ersten Mal spürte der Goldene nun auch Nachtatems Ärger. Der Erstgeschlüpfte hatte sich bislang zurückgehalten, doch damit war es nun vorbei.

Wofür streiten wir eigentlich?, fuhr er den Flammenden an. Für die Toten oder für die Lebenden? Was, glaubst du, würden unsere Brüder wollen? Dass wir sie rächen und den Kampf gegen die Devanthar für immer beenden oder dass wir ihre Leichen bergen, um diesen Krieg dann noch endlos weiterzuführen?

Und wenn sie nicht dort sind, die Devanthar …, wandte der Smaragdene ein. Du hast sie nirgends entdecken können. Alles, was wir haben, sind Vermutungen. Das ist keine Basis, auf der man …

Plötzlich sah der Goldene nichts mehr. Eben noch hatte er seinen Brüdern gelauscht und den großen fünfköpfigen Drachen vor Augen gehabt, doch jetzt war da nichts mehr. Ein Schauer überlief ihn, und ihm wurde bewusst, dass all seine Brüder das spüren mussten.

Was ist geschehen?, bedrängte ihn Nachtatem.

Mein Band zu Solaiyn ist durchtrennt … Der Goldene fühlte sich durch die abrupte Trennung von dem Elfenfürsten benommen.

Das Himmelland! Der Flammende war in Panik. Haben sie das Himmelland zerstört?

Ich sehe nichts mehr …, murmelte der Goldene und kämpfte blinzelnd darum, wieder mit all seinen Sinnen bei seinen Brüdern zu sein.

Hat der stählerne Drache das Himmelland angegriffen? Was hast du als Letztes gesehen?, setzte Nachtatem ihm zu. Der Goldene spürte, dass sein Bruder kurz davorstand, sich in seine Erinnerungen zu drängen. Ungefragt die letzten Augenblicke, die er mit Solaiyn verbunden gewesen war, aus seinem Gedächtnis abzurufen.

Der Stahldrache hat zum Himmelland aufgeblickt. Ich glaube, er wollte angreifen. Das ist das Letzte, was Solaiyn gesehen hat.

Retten wir das Himmelland! Es war keine Frage, die Nachtatem stellte. Er nahm sich heraus, ihnen Befehle zu geben. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie mehr als fünfundzwanzigtausend Albenkinder für uns sterben. Die Alben haben uns erschaffen, um ihre Kinder und ihre Welt zu hüten. Hören wir auf zu reden und tun wir endlich, wozu wir geboren wurden.

Nachtatem sprach ein Wort der Macht und öffnete den Drachenpfad, der sie zum Himmel über der Goldenen Stadt bringen würde. Ohne auf ihre Antwort zu warten, stürzte er sich hindurch.

Der letzte Schuss

Nyr klammerte sich an sein Geschütz, als ein entsetzlicher Tatzenhieb ihren Felsen traf. Er hörte Stein bersten und Galar fluchen, der von den Beinen gerissen wurde. Über ihnen schrien die Männer der oberen Geschützstellung. Der Prankenhieb schien ihnen gegolten zu haben.

Der Richtschütze sah Steine aus dem Mauerwerk der Geschützbastion in die Tiefe stürzen. Und er sah Leiber zwischen den Steinen.

Ihr Felsen, in den die Stellungen hineingebaut waren, bewegte sich seltsam. Er taumelte, drehte sich halb.

»Die Verbindungen zum Himmelland müssen gerissen sein«, sagte Hornbori mit zitternder Stimme. Erschrocken drehte sich Nyr zu ihm um. Der Herr aller Tiefen stand in der Tür zur Wendeltreppe. Er stützte sich mit beiden Händen im Türrahmen ab.

»Was machst du hier, Schisser?«, fuhr in Galar an. »Hatten schon alle Luftaale abgelegt?«

»Ich bin zurückgekommen, um dafür zu sorgen, dass ihr nicht vergesst, was wir uns einmal geschworen haben … Wir wollen nur eins, die Tiefe Stadt …« Ein weiterer Tatzenhieb traf ihren Felsen, und er wurde gegen das Himmelland geschleudert, während sich kreischend Stahl in Gestein bohrte.

Diesmal wurde auch Nyr von den Beinen gerissen. Galar kugelte quer durch die kleine Geschützkammer, und Hornbori stürzte auf die Treppenstufen hinter ihm.

Plötzlich stach ein breiter Lichtstrahl durch die weiß gekalkte Decke. Im vorderen Bereich des Gewölbes klaffte ein Loch.

»Er muss die ganze obere Bastion aus dem Fels gerissen haben«, stammelte Galar erschüttert.

Nyr zog sich an seinem Geschütz hoch. Die Waffe war gespannt, bereit, den nächsten Schuss abzugeben. Ihr Fels taumelte durch die Luft wie ein Stück Kork, das auf Wellen treibt.

»Gib mir den nächsten Speer!«, forderte er. Ihm war schwindelig. Durch den schmalen Kreuzschlitz der Schießscharte sah er abwechselnd das blaue Firmament, funkelnden Stahl, Drachen, zersplitterte Bäume, die im Himmel trieben, und Wolkensammler. Und noch etwas. Da war ein Schatten am Himmel. Lebendig gewordene Dunkelheit.

»Hör auf damit, auf dieses Stahlmonster zu schießen!« Hornboris Stimme klang ungewohnt schroff. »Wie viele Speere hast du schon gegen das Ungeheuer vergeudet?«

»Vier«, gab Nyr zu.

»Und hast du den Stahldrachen damit aufhalten können?«

»Nein, aber ich …« Es stimmte, ihr Beschuss schien überhaupt nichts bewirkt zu haben. Er hatte ein Auge zerstört und einem der Köpfe ein Loch in die Stirn gestanzt. Ein Speer musste auf voller Länge durch den Leib des Ungeheuers gedrungen sein. Sein vierter Schuss war fehlgegangen. Und alles, was sie erreicht hatten, war, das Ungeheuer zu reizen. Wahrscheinlich waren es seine Treffer, die das Schicksal der oberen Batterie besiegelt hatten.

Wieder knirschte Stahl über Stein. Der Drache schien einen weiteren Abschnitt des Himmellands anzugreifen.

»Du bist dem Schisser keine Rechenschaft schuldig!« Galar reichte ihm einen weiteren Speer, warf einen Blick durch die Schießscharte und erstarrte.

Für einen Herzschlag war das ganze Blickfeld von einem bernsteinfarbenen Auge ausgefüllt. Der Stahldrache hatte sie entdeckt. Jetzt zog sich der Kopf zurück. Das Ungetüm flog eine Kehre. Es würde angreifen.

Etwa dreihundert Schritt entfernt zerfetzte ein großer, schattenhafter Drache einen der Himmelsrochen. Wie ein wütendes Kind ein Stück Pergament zerreißt, vernichtete er den Himmelstitanen, dessen Tentakel gegen die Drachenwut nicht ankamen.

»Du weißt, worauf du schießen musst«, meldete sich Hornbori von der Treppe. »Ich hab ihn gesehen. Er dort draußen, der Dunkle. Er ist ihr Anführer! Ein Wort von ihm, und die Tiefe Stadt wäre niemals zerstört worden. Denk an unseren Eid! Das wird unser letzter Schuss sein.«

Nyr wollte nicht. Dreihundert Schritt! Die Entfernung war groß, und ihr Fels taumelte immer noch, auch wenn es langsam nachließ. Es wäre ein Glücksschuss. Er wollte nicht bei seinem letzten Schuss sein Ziel verfehlen.

Er sah den Stählernen. Ihn würde er treffen. Es blieben nur noch Augenblicke zur Entscheidung. Das Monstrum hob schon seine Pranke. Ein Schuss, der traf, aber nicht zählte, oder ein Schuss, der mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Ziel verfehlte. Womit sollte es enden?

Nyr legte das Geschoss auf, das Galar ihm gereicht hatte.

Kaum, dass es die Führungsschiene berührte, zog Nyr den Abzugshebel durch. Der Speer schnellte davon.

Dann traf sie der Tatzenhieb. Krallen zerteilten das dicke Mauerwerk. Ihre Bastion wurde aus dem Hang gerissen. Sie stürzten der verwüsteten Stadt entgegen.

Nyr wusste nicht, ob er getroffen hatte. Es war ihm egal. Galar, der mit ihm in der Lawine aus Steinschutt stürzte, schrie.

Nyr fiel an einem schwebenden Baum vorbei. Sonne glänzte auf den Schuppen des Stählernen. Es hätte ein schöner Tag sein können. Nun war es der Tag, an dem er sein Versprechen an Frar gebrochen hatte. Er würde nicht mehr wiederkommen.

Auf der Flucht

Nachtatem ließ von dem Wolkensammler ab, der keinen Widerstand mehr leistete. Sein Maul war voller Blut. Sengender Schmerz hatte ihn durchbohrt, und er wollte nicht mehr weichen.

Er schlug noch mit den Flügeln, hielt sich in der Luft, doch seine Kraft schmolz dahin.

Er schloss die Augen, wurde eins mit dem Schmerz, fühlte den Weg, den er genommen hatte. Etwas hatte ihn im Unterleib getroffen und war pfeilgerade durch ihn hindurchgeglitten. Hatte seine Brust, seinen vorderen Unterkiefer durchschlagen und einen Reißzahn seines Oberkiefers zerschmettert, bevor es ins Blau des Himmels verschwunden war.

Er kannte keine Waffe, die so etwas vermocht hätte. Und doch war es geschehen. Er sah an sich hinab. Sah das Blut, das aus seiner Brust sprudelte und seine schwarzen Schuppen glänzen ließ.

Er würde das überstehen! Er war der Erstgeschlüpfte! Ein Pfeil konnte ihn nicht töten. Das war unmöglich!

Die Geschosse der Menschenkinder hatten auch Löcher in seine Schwingen gerissen. Aber das waren nur leichte Wunden, die bald wieder heilen würden.

Nachtatem hörte die Rufe auf einem nahen Wolkenschiff. Schwenktürme richteten sich auf ihn aus. Zwei Herzschläge später trafen ihn steinerne Kugeln in die Flanke. Sie prallten an seinen Schuppen ab. Nur ein wenig Steinstaub blieb zurück. Doch eines der Geschosse hatte einen Punkt getroffen, von dem sich Schwingungen in seinem Leib fortsetzten. Die Wunde, die sich quer durch seinen Leib zog, erzitterte. Er keuchte vor Schmerz.

Keiner seiner Brüder war ihm über den Drachenpfad gefolgt. Er kämpfte allein.

Wieder trafen ihn Steinkugeln. Speere zupften an seinen Schwingen. Pfeile prasselten gegen seinen Leib. Er musste sich erholen.

In weiten Kreisen schraubte er sich höher. Einige der Himmelsrochen folgten ihm. Die Menschenkinder setzten den Beschuss fort. Sollte er flüchten? Er brauchte eine Atempause. Seine Wunde würde schnell heilen. Lange müsste er nicht ruhen. Es würde genügen, wenn er auf ausgebreiteten Schwingen im Aufwind schwebte.

Aber die neuen Wolkensammler ließen nicht locker. Sie wollten Rache für ihren Bruder, den er getötet hatte. Rache – was für ein törichter, ewiger Kreislauf. Sie waren hier, um Rache für den Purpurnen und den Frühlingsbringer zu nehmen, und mit jedem Wolkensammler, den er tötete, säte er künftige Kriege, geboren aus dem Wunsch nach Rache.

Die stählerne Bestie, die die Devanthar erschaffen hatten, ignorierte ihn. Es war auch besser so. Sie war deutlich größer als er, und er war verwundet. Und doch traf es seinen Stolz. Sein stählerner Bruder sah in ihm eine kleinere Bedrohung als im Himmelland. Die Bestie hatte sich auf der schwebenden Insel aus Felsen niedergelassen, und Gobhayns Schöpfung hatte bedenklich Schlagseite bekommen.

Lange Krallen zerschmetterten das Felsgestein. Die fünf Mäuler rupften Windschrauben und Bäume von den Felsen, wie eine weidende Kuh Gras rupft. Er sollte den Drachen aufhalten, doch er wusste, dass seine Kräfte nicht ausreichen würden. Das war ein neues Gefühl. Er hatte seit der Riesin Nangog nie wieder einem Feind gegenübergestanden, dem er sich nicht gewachsen fühlte. Diesen Drachen würde er allein ganz gewiss nicht besiegen! Vielleicht würden sie es nicht einmal alle gemeinsam schaffen.

Mit diesem Gedanken kam noch ein weiteres neues Gefühl. Angst! Er fürchtete sich nicht vor dem Tod. Den konnte er sich gar nicht vorstellen. Es war die Gefahr, das zu werden, was der Frühlingsbringer und der Purpurne schon waren. Ein Schaustück, an dem die Devanthar sich belustigten. Nicht mehr lebendig, aber auch nicht wirklich tot.

Diese Angst weckte neue Kräfte in ihm. Er stieg höher. Der Abstand zu den Himmelsrochen wurde ein wenig größer. Er sah hinab zu dem Silberdrachen, der das Himmelland verwüstete, als ihm ein grüner Kristall ins Auge fiel. Er wuchs zwischen den Trümmern am Hang empor. In jenem Krater in der Flanke des Weltenmundes, aus dem der fünfköpfige Drache geschlüpft war. Unglaublich schnell wucherte die Kristallsäule dem Himmelland entgegen. Etwas bewegte sich auf der glatten Oberfläche. Er flog schon zu hoch, um es deutlich zu erkennen.

Steinkugeln hämmerten in seine Flanken, und wieder war da der stechende Schmerz. Besorgt sah er, dass sich immer noch ein Strom von Blut aus seinen Wunden ergoss. Sie heilten nicht, solange er keine Ruhe fand. Solange er von Menschenkindern gejagt wurde.

Wieder dachte er an die Erzählung über die Himmelsschlangen mit den goldenen Köpfen. So wollte er auf keinen Fall enden! Eher würde er das Drachenfeuer, das in seinem Innersten loderte, gegen sich selbst wenden.

Unzerbrechlich

»Fels dreiundsiebzig hat den Großteil seines Waldes verloren.«

»Geschützbatterien siebenundvierzig, achtundvierzig und neunundvierzig sind ausgefallen.«

»Fels zweihundertzwölf ist abgerissen!«

Unablässig drangen die Katastrophenmeldungen aus dem Sprachrohr vor ihm. Gobhayn versuchte, sich ein Bild vom Zustand seines Himmellands zu machen, doch die Nachrichten kamen so schnell, dass es seine Vorstellungskraft übertraf, wie das Himmelland nun aussah. Der stählerne Drache war im vorderen Drittel seiner Insel gelandet, und seitdem hatte sie so stark Schlagseite, dass sich Solaiyn am Sprachrohr festhalten musste, um noch stehen zu können.

Das Gewicht des Drachen, verbunden mit den Verwüstungen, die dieses Ungeheuer unter dem Baumbestand anrichtete, drückte das Himmelland langsam zu Boden. Und dort zeigte sich eine neue Gefahr: Aus dem Krater, der alles war, was von der nördlichen Hälfte der Goldenen Stadt geblieben war, wuchsen Kristallsäulen fast so massig wie Festungstürme dem Himmelland entgegen. Vor seinem geistigen Auge sah Gobhayn schon, wie die Kristalle seine Insel aufspießen würden und wie sie sterbend daran hinabglitten.

Seltsame grüne Kreaturen wimmelten auf den Kristalltürmen. Sie quollen aus dem Krater hervor, und das Ganze erinnerte den Elfen an Ameisen, die, übereinander krabbelnd, wütend einen Stock emporeilten, den ein Wanderer in ihren kunstvoll geschichteten Hügel gestoßen hatte. Nur dass diese grünen Ameisen mehr als drei Schritt lang waren.

»Fels zwölf ist abgebrochen!«, schallte es aus dem Sprachrohr.

Gobhayn spürte seine Insel unter den Bewegungen des Drachen rucken. Nie war er auf etwas, das er erschaffen hatte, so stolz gewesen. Er konnte immer noch nicht fassen, dass dieser stählerne Drache über ihn triumphieren sollte. Wo war die Genialität bei diesem Ding? Es war nichts weiter als eine besonders große Maschine.

Der erste Kristall berührte jetzt fast das Himmelland. Zwei weitere wuchsen bereits turmgroß aus dem Krater. Und etliche dünnere sprossen aus dem Schutt der verschwundenen Nordstadt. Diese grünen Kreaturen, die daran heraufkletterten, waren größer als seine Trolle. Und an ihrer Spitze lief eine kleinere weiße Gestalt, mit wirrem, schwarzem Haar. Vielleicht eine Drachenelfe, die den Sturz aus dem Himmelland überlebt hatte.

»Feuer auf Fels dreiundneunzig wurde gelöscht.«

Gobhayn lächelte. Es gab also nicht nur schlechte Nachrichten.

Der Kristall hatte das Himmelland erreicht. Jetzt würden die grünen Riesen über seine Besatzung herfallen. Der Elf legte die Linke auf das Schwert an seiner Seite. Sollten sie es bis in den Pavillon schaffen, würde er ihnen zeigen, dass er mehr als nur ein Schmied war.

Über den besudelten Deckenscheiben des Pavillons erschien eines der fünf Drachenhäupter. Wer immer das gebaut hatte, hatte Sinn für Anmut und Zweckmäßigkeit gehabt. Es war mehr als nur eine plumpe, große Maschine, musste er sich eingestehen.

Eine der grünen Gestalten stieg zu einem Auge des Drachen hinab, der unwillig sein Haupt schüttelte. Der grüne Hüne glitt ab, schlug auf die Glasplatten der Pavillondecke, fand keinen Halt und rutschte schreiend in die Tiefe.

Gobhayn stutzte. Dann fing er lauthals an zu lachen. Jetzt verstand er, was hier vor sich ging. Diese Hünen waren die Kinder Nangogs! Und sie waren gekommen, um sich zu holen, was in einem der fünf Köpfe stecken musste. Ein großer Splitter des Herzens ihrer Göttin. Wenn sie das schafften, würde der Drache sterben. Na ja, nicht sterben, er würde aufhören, sich zu bewegen. Die Schlacht war also noch nicht verloren.

Er überlegte fieberhaft, ob es vielleicht eine Möglichkeit gab, den Kindern der Riesin zu helfen, als sich das Drachenhaupt zum Pavillon hinabbeugte. Die Kiefer des Ungetüms klafften auf. Stählerne Zähne kratzten über das Glas. Der Drache hatte den ganzen Pavillon im Maul.

»Versuch’s nur!« Gobhayn lachte dem Ungeheuer entgegen. Über lange Jahre hatte er daran gearbeitet, unzerbrechliches Glas zu erschaffen. Zuletzt hatte der Smaragdene ihm geholfen, machtvolle Zauber in die Glasplatten zu weben.

Der ganze Pavillon erzitterte unter dem Druck der Kiefer. Doch nicht eine Schramme zeigte sich, obwohl es überall knirschte.

»Du wirst uns nicht …« Die Worte blieben Gobhayn im Hals stecken. Eine Glasplatte senkte sich in den Tunnel zum Himmelland. Dann zerbarst der ganze Pavillon.

Es war nicht das Glas, das den Kiefern des Drachen nachgegeben hatte. Es waren die Fassungen zwischen den Glasplatten.

Sein Glas war unzerbrechlich, war Gobhayns letzter Gedanke, als er unter der Deckenplatte des Pavillons zerquetscht wurde.

Das Glückskind

Hornbori stand immer noch in der Tür zur Geschützkammer, die es nicht mehr gab. Er hatte Glück gehabt, wieder einmal. Aber dieses Mal hatte das Glück sein Ende nur hinausgezögert. Er trieb auf einem Felsen, in dem es keine Luftaale mehr gab, am Himmel von Nangog. Und alle Gesetze der Welt waren aus den Angeln gehoben worden. Es regnete Blut. Hoch über ihm kämpfte der Erstgeschlüpfte gegen mehrere Wolkensammler, die er dazu verführt hatte, ihm in den Himmel hinauf zu folgen. Allem Anschein nach war Nyrs letzter Schuss ins Leere gegangen. Hornbori lächelte bitter. Das würde niemand mehr erfahren.

Er konnte den Ort am Firmament ausmachen, durch den der Erstgeschlüpfte erschienen war. Dort gab es einen seltsamen Wirbel in der Luft, der ein kreisrundes Stück Himmel umfing, das deutlich dunkler war als der übrige Himmel.

Das Himmelland war inzwischen tiefer als die meisten seiner verlorenen Felsen gesunken. Zersplitterte Äste und Baumstämme trieben am Himmel. Manche von ihnen brannten und zerbarsten irgendwann mit einem dumpfen Knall, als fiele eine schwere Tür ins Schloss. Die schwebende Insel trieb vielleicht siebzig Schritt unter Hornboris Felsen. Der Schweif des stählernen Drachen peitschte auf eine Kristallsäule nieder, die sich von unten in das Himmelland gebohrt hatte. Er wirkte, als wollte er sich von der Insel abstoßen. Er verlagerte sein Gewicht nach hinten und warf seine fünf Köpfe hin und her. Auf irgendeine Weise schienen ihm die in Fleisch gekleideten Grünen Geister zu schaffen zu machen, die überall auf ihm herumkrochen.

Ein gezielter Flügelschlag des Stahldrachen zerschmetterte Hunderte Bäume, und ein dichtes Gewirr gesplitterter Äste stieg in den Himmel hinauf.

Unter all den Grünen Geistern war eine Elfe. Sie strebte dem mittleren Kopf des Stahldrachen entgegen.

Hornbori hatte einmal einen geflügelten Wolf auseinandergenommen. Er war aus dem Himmel gestürzt und konnte sich nicht mehr wehren. In seinem Kopf hatte er einen grünen Kristallsplitter, kleiner als ein Fingernagel, gefunden. Trug auch der Drache einen solchen Kristall in sich? War es das, was die Elfe dort suchte? Er sah sie mit ihrem Schwert auf den Kopf des Drachen einschlagen, doch das half nicht. Einige der Grünen Geister versuchten, durch die Lücken, die es bei den Flügelgelenken des Drachen gab, ins Innere seines Rumpfs zu gelangen. Die meisten von ihnen wurden zerquetscht.

Das Stahlbiest rutschte ein Stück weit zum Rand des Himmellands. Immer noch drosch sein Schweif auf die Kristallsäule ein. Kaum einer der Geister schaffte es nun noch hinauf, und große Splitter flogen aus der Säule.

Hornbori strich über seine Axt. Bis heute hatte sie ihrem Namen alle Ehre gemacht. Sie hatte jeden Schädel gespalten, an dem er sich mit ihr versucht hatte. Er konnte hier oben auf dem Felsen bleiben, im Himmel Nangogs gefangen, wo er irgendwann verhungern würde. Oder er konnte etwas wirklich Verrücktes tun. Wenn das da unten eine Drachenelfe war und er ihr half, würden sie beide vielleicht irgendwie entkommen. Ja, vielleicht würde das Himmelland diese Schlacht doch noch überstehen, wenn er nur den Drachen tötete?

Er spähte zu den treibenden Ästen hinab. Im ungünstigsten Fall hatte er einen schnellen Tod. Langsam dahinsiechen wäre nicht seine Sache. Er dachte an Amalaswintha. Das war der Weg zu ihr oder in die ewige Nacht. Er sprang. Und sofort tat es ihm leid.

Mit einem gellenden Schrei stürzte er in die treibenden Äste und versuchte, einen von ihnen zu packen zu bekommen. Seine Hände glitten ab. Etwas schlug ihm hart gegen die Rippen. Ein dünner Stamm! Er krümmte sich darum, hustete. Beim Aufprall hatte er sich die Unterlippe durchgebissen. Blut rann ihm in den Bart.

Mit seinem zusätzlichen Gewicht sank der Knallbaumstamm dem Himmelland entgegen.

Der Drache schüttelte in diesem Moment wild sein mittleres Haupt. Die Grünen Geister wurden davongeschleudert. Nur die Elfe schaffte es, sich an einem Augenlid des Monsters festzuhalten. Wenn das Biest jetzt bloß nicht sein Maul aufsperrte. Hornbori trieb genau auf den Kopf zu. Er konnte es schaffen! Noch fünf Schritt. Gleich konnte er sich fallen lassen.

Die Elfe bemerkte ihn nicht. Sie stach mit ihrem Schwert auf das Drachenauge ein. Metall kreischte über Glas. Es bewirkte nichts.

Noch zwei Schritt. Hornbori ließ los. Er landete auf der Stirn des Drachen. Jetzt musste es schnell gehen! Ein erster wuchtiger Hieb trieb einen Spalt ins Metall der Stirnplatte. Ja! Genau so hatte er sich das gedacht. Ein zweiter Hieb. Er würde dem Stahlbiest eine Tür in den Schädel hämmern!

Plötzlich zuckte der Drache. Seine Flügel klappten herunter. Was war das? Jetzt nicht von deinem Plan ablassen, machte sich Hornbori Mut. Der nächste Axthieb sauste nieder. Er hatte ein U in die Stirn geschlagen. Ein Hieb noch, und es gäbe ein passabel großes Loch. Er würde nicht hindurchpassen, aber diese schlanke Elfe konnte es schaffen.

Der vierte Hieb traf. Ein quadratisches Metallstück löste sich und fiel ins Innere des Drachenkopfes. Grüne Hände streckten sich Hornbori entgegen. Sie schoben einen Kristall, groß wie eine Schweinehälfte, durch den Spalt.

Hornbori grinste. Er war einfach ein Glückskind. Dieser dämliche Fleisch gewordene Geist dachte, er gehörte zu ihm. Der Zwerg kniete nieder, legte seine Axt neben sich und nahm den Kristall entgegen. Der Grüne Geist war viel zu groß. Er würde niemals durch dieses Loch passen.

Er hielt das Herz einer Göttin in Händen, dachte er aufgewühlt. Was würde das für eine Geschichte geben! Und die Elfe konnte alles bezeugen. Besser noch, er würde das Herz als Trophäe in die Tiefe Stadt bringen. Wer könnte es ihm jetzt noch abnehmen!

Zufrieden richtete er sich auf und trat einen Schritt von dem Loch zurück, damit der Grüne ihn nicht noch mit seinen langen Armen zu packen bekam, wenn er merkte, wem er das Herz gegeben hatte.

Hornbori hörte Schritte hinter sich. Er drehte sich um. Die Elfe hatte es hinauf zur Stirn geschafft. »Ich würde sagen, ich habe den Drachen erlegt«, stellte er mit fester Stimme klar. Es war besser, solche Dinge sofort zu klären.

Seine neue Gefährtin trug das weiße Gewand einer Drachenelfe. Allerdings war es in einem ziemlich üblen Zustand. Ihr schwarzes Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Sie kam ihm bekannt vor.

Sie hob ihr Schwert und deutete auf den Kristall. »Du lügst!«

Was für eine Stimme! Dunkel, unheilschwanger und irgendwie seltsam. Sie klang so, als hätte sie Mühe, die Worte zu finden.

Hornbori wich einen Schritt zurück und setzte einen Fuß auf seine Axt. Bei den Alben! Jetzt erst erkannte er die abgerissene Elfe. Er war ihr nach dem Feldzug in Wanu nicht mehr begegnet. Wenn er sich richtig erinnerte, war sie eine Meisterin der Weißen Halle. »Ailyn?«

Sie strich sich die Haare aus der Stirn, sodass er ihre Augen sehen konnte. Augen wie zerschrammtes Eis.

Ihm war klar, dass nun der Augenblick gekommen war, an dem sein Glück endete. »Also eigentlich brauche ich diesen Kristall nicht. Willst du ihn haben? Da können wir drüber reden. Ich bin der Drachentöter, und du hast den Kristall gerettet.«

»Nein!«

Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie ihm die Kehle durchschneiden würde, sobald sie den Kristall hatte. Und nun wurde ihm auch klar, warum dieses Ding, das nicht Ailyn war, hier oben war. Dieser Grüne Geist, der der Elfe ihren Körper gestohlen hatte, würde Nangog ihr Herz zurückbringen. Das Herz … Es war der Schlüssel zu allem!

Er wich ein wenig vor der Elfe zurück. Es gab noch einen letzten Weg, hier herauszukommen. Er wich noch ein Stück zurück. Der Drachenkopf ruhte am Rand eines Felsens. Es gab einen drei Schritt weiten Spalt bis zum nächsten Felsen.

»Wenn du nicht nett zu mir bist, könnte mir das Herz aus den Händen rutschen. Das willst du doch sicher nicht. Wir finden jetzt eine Lösung, die uns beide glücklich macht. Ich bin gut in so was.«

Die Elfe kam energisch auf ihn zu. »Keine Lösung. Das Herz ist härter als du.« Mit diesen Worten versetzte sie ihm einen Stoß, der ihn von den Beinen riss.

Hornbori stürzte durch den Spalt und weiter hinab zur sterbenden Stadt.

Die Hand im Himmel

Hornbori stürzte durch weiteres Knallbaumholzgeäst. Er ließ den Kristall fahren, griff wie wild um sich und fand keinen Halt. Ein Ast schlug ihm gegen die Stirn. Benommen sah er den Krater unter sich. Das war es.

Plötzlich endete sein Sturz mit einem Ruck. Etwas hielt den Ledergurt, in dem er seine Axt auf dem Rücken getragen hatte, wenn er besonders martialisch aussehen wollte.

»Du bist wohl nicht totzukriegen, Schisser.«

Galar! Der Schmied zog ihn auf einen schwebenden Stamm, der allerdings unter ihrer beider Gewicht zu sinken begann.

»Wo ist Nyr?«

Galar presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

Jetzt war nicht der Augenblick zu trauern, entschied Hornbori. Er blickte hinauf zu dem Spalt, durch den er gestürzt war. Dort oben auf dem Drachenkopf lag noch seine Axt. Die konnte er wohl abschreiben.

»Hast du gesehen, wie ich diesem Stahlmonster den Schädel gespalten habe?«

»Du?« Galar runzelte die Stirn. »Im Leben nicht. Wenn du glaubst, ich werde deine Lügengeschichten unterstützen, hast du dich geirrt. Ich hab gesehen, wie du von unserem Felsen gesprungen bist. Das fand ich ziemlich mutig. Aber wahrscheinlich wolltest du nur Selbstmord begehen, nicht wahr?«

»Nein!«, empörte sich Hornbori. »Ich wollte den stählernen Drachen töten.«

Galar grinste zynisch. »Natürlich.« Er griff nach einem größeren treibenden Baum und zog daran. »Da hinten, im Wurzelwerk. Siehst du das?«

Hornbori blickte den Stamm entlang. Dieser Baum war wirklich groß. Und in seinen Wurzeln hatte sich ein Luftaal verfangen.

»Das Ding ist herausgefallen, als der Stahldrache unseren Felsen des Himmellands zerschmettert hat. Damit werden wir nach Hause kommen. Los jetzt!« Galar schwang sich auf den größeren Stamm und streckte ihm dann die Hand entgegen. »Komm, Schisser!«

Hornbori ergriff die Hand. Hintereinander schritten sie den Stamm hinab.

Ein Pfeil schlug dicht vor Galar ins Holz. Etwas mehr als hundert Schritt entfernt schwebte einer der riesigen Himmelsrochen. Löwenbanner flatterten über seinen Decks. Die großen Steinschleudern schossen wieder auf das Himmelland. Und ihre schwebende Insel, übel angeschlagen, mit brennenden Wäldern und einem stählernen Koloss auf dem Rücken, der sie langsam zu Boden drückte, erwiderte die Schüsse.

»Gaff nicht, komm!«, fuhr Galar ihn an.

Sie liefen den restlichen Stamm hinab und kletterten durch das Wurzelwerk. Der Luftaal, der sich dort verfangen hatte, besaß keine rote Klappe. »Scheiße«, murmelte Hornbori.

»Was denn?« Galar öffnete die Einstiegsklappe. »Ist irgendwas kaputt?«

»Das ist kein Elfenaal. Damit kommen wir nicht nach Hause. Alles, was der uns bringt, ist ein kontrollierter Absturz.«

»Kontrollierter Absturz? Du hast dir wohl den Kopf angeschlagen.« Galar nahm ihn bei der Hand und zog ihn durch die Einstiegsklappe.

Hornbori nahm auf einem der harten Holzsitze Platz. Leder gab es natürlich nur für Elfen. »Wir werden damit nicht weit kommen …«

»Ich find, hundert Meilen sind ein gutes Stück. Natürlich nur, wenn er sich aus dem Wurzelwerk löst.« Galar stellte sich in die Mitte des Aals, ein Bein auf jede Seite der Kurbelwelle, und fing an, wie ein Verrückter auf und ab zu hüpfen.

Hornbori konnte spüren, wie sich der Aal im Wurzelwerk zu bewegen begann. »Das reicht!«, zischte er. »An die Kurbel! Wir stürzen sonst ab. Das ist ein Boot für acht Mann, ich hoffe, wir können es zu zweit überhaupt in der Luft halten.«

Galar lachte und hüpfte einfach weiter. »Du hast mal wieder nichts begriffen, nicht wahr.«

»Ich habe begriffen, dass wir gleich unten im Schutt liegen, umringt von Hunderten mordlustigen Menschenkindern, die uns für die Zerstörung ihrer Stadt vierteilen werden.«

Der Luftaal löste sich. Glitt mit der Spitze voran ein Stück in die Tiefe, wurde langsamer und stürzte nicht ab.

Breit grinsend setzte sich Galar auf den Holzsessel gegenüber von Hornbori. »Diese Luftaale sind aus Knallbaumholz gefertigt und nur mit einem dünnen Blech verkleidet. Hast du wirklich geglaubt, die Stummelflügel und die Luftschraube würden genügen, um sie fliegen zu lassen.« Er lachte wieder. »Du solltest dir öfter von mir die Welt erklären lassen, vielleicht wirst du dann am Ende noch ein ganz passabler Herrscher, Hornbori.«

Er war überrascht, dass der Schmied ihn nicht Schisser nannte, sondern seinen Namen benutzte. »Egal, warum dieser Aal fliegt. Hauen wir von hier ab!«

Galar nickte. »Kannst du das Ding steuern?«

Hornbori ahnte, was kommen würde. Glamir hatte sie auf ihren Reisen durch die unterirdischen Flüsse Albenmarks nie an die Steuerknüppel seines Aals gelassen. Und Ulur hatte sich auf der Wilden Sau nicht anders verhalten. »Natürlich kann ich das nicht.«

»So ein Pech.« Galar erhob sich gut gelaunt von seinem Sitzplatz. »Dann wirst du wohl alleine die Kurbel treten müssen. Ich hoffe, deine Beine sind so kraftvoll wie deine Worte, wenn du schlaue Reden schwingst.«

Mit einem Seufzer setzte Hornbori seine Füße auf die Pedale und begann, die Kurbel zu treten. Langsam richtete sich der Luftaal auf, bis seine Schnauze in den Himmel wies. »Dort oben ist ein Wirbel. Eine Stelle, die dunkler aussieht … Dort ist der Erstgeschlüpfte erschienen. Vielleicht ist es ein Tor zu unserer Welt. Wäre doch besser, als hier irgendwo im Dschungel zu landen.«

»Du meinst, es gibt einen Drachenpfad?« Galars Stimme klang ganz anders als eben noch. Nachdenklich, fast verwirrt.

»Ich hoffe es.« Hornbori war nicht danach, noch länger mit dem Schmied zu plaudern. Er stemmte sich mit aller Kraft in die Pedale. Bald rann ihm Schweiß den Rücken hinab, und er schwor sich stumm, dass er in seinem ganzen weiteren Leben in keinem Aal mehr sitzen würde, wenn sie es hier herausschafften.

»Ich sehe den Drachenkopf …« Galars Tonfall war immer noch seltsam. Die Kanzel mit den Steuerhebeln hatte mehrere kleine Fenster, das wusste Hornbori. So war es auch bei den Aalen, die unter Wasser fuhren.

»Ich sehe deine Axt und das Loch … Hast du etwa wirklich …?« Galar klang wie jemand, für den gerade eine Welt zusammengebrochen war.

»Ich habe dir gesagt, was geschehen ist. Was deine Wahrheit ist, Schmied, musst du dir selbst aussuchen.«

Beklommenes Schweigen, nur unterbrochen von seinem leisen Keuchen, herrschte nun im Aal. Er war für diesen Scheiß nicht gemacht, dachte Hornbori müde. Hier sollten acht Mann an der verfluchten Kurbelwelle sitzen, nicht nur einer! Und es sollten …

Der Luftaal erbebte. Dann fühlte es sich an, als wäre er in eine starke Strömung geraten. Hornbori packte nach den beiden Haltegriffen rechts und links von seinem Sitzplatz.

»Scheiße!«, klang es gedehnt aus der Steuerkanzel.

Ihr Himmelsboot wurde gepackt und im Kreis gewirbelt wie Wasser, das im Abfluss eines Beckens verschwand. Hornbori wurde schwindelig, dann übel. Die Geräusche aus der Steuerkanzel verrieten, dass es Galar nicht besser ging.

Genauso plötzlich, wie sie begonnen hatten, waren die Turbulenzen wieder vorbei.

»Treten!«, klang es halb erstickt von vorne.

Hornbori stemmte sich in die Pedale. Er konnte spüren, wie der Luftaal in einen sanften Sinkflug überging. Dann setzten sie hart auf.

Schwankend stemmte sich Hornbori aus dem Sitz hoch und drückte die Einstiegsklappe des Aals auf. Über ihm spannte sich ein dunkler, wolkenverhangener Himmel, in dem sich inmitten von Turbulenzen ein Loch zeigte, aus dem ihm ein helles Sommerhimmelblau entgegenstrahlte. Um diese Öffnung kreisten fünf Drachen, und die Tatsache, dass er sie auf diese Entfernung noch so deutlich erkannte, konnte nur bedeuten, dass es Himmelsschlangen waren. Zwei waren rot, eine von dunklem Blau, die vierte tiefgrün. Die letzte aber funkelte wie Gold, auf dem sich Sonnenlicht brach.

Der Goldene war der erste, der durch die himmelblaue Öffnung flog. Dann folgten ihm seine Brüder.

»Mögen sie allesamt in der anderen Welt verrecken«, brummte Galar, der sich aus der Steuerkanzel geschoben hatte und nun neben ihm stand. Blut rann dem Schmied aus einer Platzwunde an der Stirn. »War meine erste Landung mit so einem Luftaal«, murmelte er. Plötzlich spielte ein Lächeln um seine Lippen. »War eigentlich gar nicht so übel, nicht wahr?«

Hornbori entschied, dazu nichts zu sagen. Sie waren am Hang über einem weiten Tal gelandet. Weiter unten erkannte er unzählige Baracken. Es war der Ort, an den sich die Heere Albenmarks zwischen den Feldzügen in Nangog immer wieder zurückgezogen hatten.

Wir sind zu Hause, dachte Hornbori unendlich erleichtert. Sie waren zwar Hunderte Meilen von der nächsten Zwergenstadt entfernt, aber wenigstens hatten sie ihre Heimat erreicht. Und sie waren nicht die Einzigen. Auf den umliegenden Hängen entdeckte er noch weitere Luftaale. Und während er aus dem Gefährt stieg, das sie letztlich sicher nach Albenmark gebracht hatte, trudelte ein weiterer Luftaal durch das himmelblaue Loch über ihnen.

Wenn er sehr viel Glück hatte, würde es vielleicht doch noch ein Augenzeuge seiner letzten Heldentat nach hier schaffen. Diese Geschichte vom Silberdrachen würde seine Herrschaft für immer festigen. Er sah Galar von der Seite an. Am besten wäre es, wenn er sie erzählte. Aber da würde wohl eher nachts die Sonne scheinen, bevor Galar ein gutes Wort über ihn verlor.

Er brauchte ihn nicht, entschied Hornbori. Er würde auch ohne ihn zurechtkommen. Und in aller Heimlichkeit würde er jeden unterstützen, der gegen die verfluchten Drachen kämpfte, sollten sie es schaffen, aus Nangog zurückzukommen. Vielleicht konnte er weiteres Metall für Speerspitzen aus der stählernen Wand tief unter Glamirs Turm abbauen lassen.

»Wollen wir langsam nach Hause gehen?«, grummelte Galar. »Ich glaub, wir haben noch einen verdammt weiten Weg vor uns!«

Hornbori nickte. Und er registrierte, dass er schon wieder nicht als Schisser angesprochen worden war. Vielleicht änderte sich ja etwas zwischen ihnen. Ganz sicher hatten sie noch einen langen Weg vor sich. Doch der erste Schritt war getan. Und es war überraschenderweise Galar gewesen, der sich dazu aufgerafft hatte.

Wenn die Toten in die Schlacht ziehen

Es war ein Schrei blanker Panik, der Ilmari zum Himmel blicken ließ. Noch weitere der großen Drachen erschienen nun am Himmel über Nangog.

»Das sind die Götter der Daimonen«, flüsterte der Krieger an seiner Seite eingeschüchtert. »Wann werden sich unsere Götter endlich zeigen?« Er war ein einfacher Mann aus den kargen Tälern des südlichen Garagum. Ein Mann, der von seiner Geburt an ein hartes Leben voller Entbehrungen gewohnt war. Jemand, dem nichts so leicht Angst machte.

Vor wenigen Augenblicken noch war der Sieg zum Greifen nahe gewesen. Doch jetzt rührte sich der stählerne Drache nicht mehr, der der fliegenden Insel mehr Schaden zugefügt hatte als all ihre Wolkensammler zusammen.

»Bleibt ruhig!«, ermahnte Aaron seine Leibwache. Unerschütterlich stand der Unsterbliche an der dem Schiff zugewandten Reling des Kommandodecks, während etliche seiner Himmelshüter nach steuerbord eilten, um einen besseren Blick auf die Götterdrachen zu haben.

Auch der Krieger aus Garagum trat zwei Schritt vor, um besser sehen zu können. Nur der Junge, der die Löwenstandarte hielt, blieb auf seinem Posten hinter dem Unsterblichen.

Das war der Augenblick, dachte Ilmari, seine letzte offene Pflicht zu erfüllen. Er tastete nach dem Dolch an seinem Gürtel.

Niemand beachtete ihn. Der Ring aus Leibwächtern, den bislang kein Daimon und kein Drache hatte durchbrechen können, war verschwunden. Für ein paar Herzschläge … Jetzt oder nie!

Er zog den Dolch, und im selben Moment drehte sich der Junge zu ihm um. Es war unglaublich! War er dazu verflucht, dass sich das Unglück von Kush nun wiederholte? Der Junge sah Narek sogar ähnlich.

Ohne zu zögern trat Ilmari vor.

Der Junge ließ die Standarte fallen und griff nach dem großen Schwert, das er über dem Rücken trug.

Zu langsam. Schon war Ilmari bei ihm, presste ihm die Linke fest auf den Mund, während er dem Jungen die schlanke Klinge in den Bauch rammte. Warmes Blut rann ihm über die Hand. Es war so leicht gewesen, den Bronzepanzer mit dem meisterlichen Stahl zu durchdringen. Er befreite die Waffe und zog sie dem Jungen noch über die Kehle, während er ihn zu Boden drückte.

Der Mann aus Garagum schrie auf.

Der Unsterbliche Aaron drehte sich um. Ilmari sah die dunklen Augen des Herrschers hinter der Maske seines Helms aufblitzen.

Schon war er bei ihm. Und als Aaron nach seinem berüchtigten Geisterschwert griff, traf ihn der Dolch unter dem Rippenbogen. Die Waffe schnitt durch die Götterrüstung.

Ilmari richtete die Klinge beim Stoß nach oben. Selbst wenn sie das Herz verfehlte, konnte niemand eine solche Wunde überleben. Hatte der Unsterbliche Pech, lebte er eben noch ein paar Stunden, falls nicht die Götterdrachen bis dahin ihnen allen ein Ende bereitet hatten.

Aaron taumelte zurück, wollte sein Schwert erheben, doch die Hand, die es hielt, zitterte. Dunkles Blut quoll über seine leuchtend weiße Lederrüstung.

»Schnappt den Mörder!«, schrie der Krieger aus Garagum.

Ilmari rannte los. Er wusste, dass sein Leben verwirkt war, doch er wollte nicht in die Hände dieses wütenden Mobs geraten. Er lief nach backbord, sprang auf die Reling und stürzte sich in die Tiefe. Am Weißen Schlund hatten die Götter ihn nicht zu sich nehmen wollen, als er sich dem Abgrund anvertraut hatte. Heute würde es anders sein.

Ein Speer zischte an ihm vorbei. Er sah nach oben, in die hasserfüllten Gesichter der Leibwächter über der Reling, die allesamt unfähig gewesen waren, ihren Herrscher zu beschützen. Dann verschwanden sie hinter einem seltsamen Fluggerät, das knapp über Ilmari durch den Himmel zog. Ein mumifiziertes Antlitz mit leeren Augenhöhlen blickte zu ihm herab. Ein Krieger in leichter Lederrüstung war mit weit ausgebreiteten Armen unter ein Fluggerüst gebunden. Es war einer jener toten Helden, die am Himmel des Weltenmundes bestattet worden waren. Mitunter trieben sie jahrelang in den warmen Aufwinden des Kraters.

Ilmari blickte nach Osten. Ein Teil des Kraterrandes war eingestürzt. Durch die breite Kluft trieben noch etliche andere Tote hinaus auf das Schlachtfeld, als hätten sie nur darauf gewartet, noch einmal in der letzten aller Schlachten in den Kampf zu ziehen.

Die Welt endete, dachte der Meuchler. Er hätte Aaron nicht töten müssen. Aber es war ihm vorherbestimmt gewesen! Warum sonst hätte er den Dolch wiedergefunden. Die Götter wollten es so. Er war nur ihr Werkzeug gewesen.

Er dachte an seine Toten. An Umme, Serin und Talam. Daran, wie sie mit Regenbogenfarben bemalt um ihn herumgetanzt waren, als er nach einer langen Reise mit einem Karren voller Leichen zum Haus der Toten zurückgekehrt war. Wenn es eine andere Welt nach dieser gab, dann hoffte er, dass sie ihn noch einmal so empfangen würden.

Gleich würde er es wissen.

Das Herz der Göttin

Išta zog sich aus der vordersten Reihe der kämpfenden Götter zurück. Sie waren nur eine Insel, umringt von einer grünen Flut, die Klingen allein nicht aufhalten konnten. Sie alle waren überrascht, wie zahlreich die Kinder Nangogs waren. Sie hatten mit einigen Tausend gerechnet, doch egal, wie viele sie auch töteten, es wurden immer mehr. Ja, sie hatten sogar zwei ihrer Brüder an die grünen Hünen verloren.

Die geflügelte Göttin stieg auf einen Hügel von Toten, der inmitten des Runds lag, jenes kleinen Fleckens der Welt, der in diesem Augenblick noch ganz ihnen gehörte.

Etwas in der Bewegung der grünen Masse hatte sich verändert. Jubelrufe wurden laut. Die ersten begannen, sich in den weiten Tunnel zurückzuziehen, der sie ausgespien hatte.

Und dann sah Išta, warum es so war: Eine Elfe war dort inmitten der Kinder Nangogs. Die grünen Hünen trugen sie auf ihren Schultern. Und die Elfe hielt triumphierend einen grünen Kristall hoch über ihren Kopf erhoben. Sie hatten es also geschafft! Das Herz Nangogs! Sie hatten es dem stählernen Drachen entrissen.

Išta weitete ihre Schwingen und erhob sich in die Luft. Sie musste das Herz zurückgewinnen! Sonst war alles verloren. Wenn die Riesin Nangog erwachte, würden sie ihr ihre Welt niemals mehr entreißen können.

Die Elfe sah sie kommen und ließ sich von den Schultern der Hünen gleiten. Augenblicklich war sie in der wütenden Menge verschwunden.

Išta hieb mit ihrem Sichelschwert auf Köpfe und erhobene Arme ein. Sie musste das Herz finden! Um jeden Preis!

Sie flog ein wenig höher, vermochte die Elfe aber nicht mehr zu entdecken.

Entschlossen griff sie nach der Macht tief in ihrem Innersten. Der Macht, derer sie sich so lange nicht bedient hatte und aus der einst, gemeinsam mit der Macht ihrer Brüder und Schwestern, eine ganze Welt geboren worden war.

Ein Gedanke von ihr genügte, und die Luft um sie herum veränderte sich – und dann ließ sie sie mit der Wucht eines Berge entwurzelnden Sturms auf die Kinder Nangogs niederschmettern.

Tausend Kehlen schrien auf, als tausend Leiber zerschmettert wurden, als wären sie zwischen Hammer und Amboss geraten. Die Druckwelle riss auch jene noch von den Beinen, die dem Zentrum der Vernichtung nicht nahe gestanden hatten.

Inmitten des Durcheinanders von ineinander verschlungenen Leibern entdeckte sie die Elfe. Selbst im Tod hielt sie das Herz der Göttin noch fest umklammert.

»Was hast du getan!« Der Löwenhäuptige war mit einem weiten Satz an ihrer Seite. »Was hast du nur getan? Nun werden die Himmelsschlangen wissen, dass wir hier sind.«

»Ich habe uns gerettet!«, entgegnete sie ihm bestimmt. »Es war notwendig!«

Doch noch während sie das sagte, erhoben sich jene unter den Kindern Nangogs, die der Sturmschlag nicht getötet hatte, und die Wände der weiten Höhle hallten wider von ihrem Wutgeschrei.

»Wir müssen zurück in unsere Welt!« Auch der Löwenhäuptige ließ nun alle Vorsicht fahren und griff nach der alten Macht. »Nur auf Daia, im Gelben Turm, wird das Herz noch sicher sein.«

Die Flamme, die Welten verschlingt

Sie sind da, ganz wie ich es gesagt habe!

Wie Flammenspeere stießen die Worte des Goldenen in seine Gedanken. Als seine Brüder erschienen waren, hatten die Himmelsrochen von ihm abgelassen und waren in die Sicherheit des großen Flottenverbandes über der Goldenen Stadt geflüchtet.

Nachtatem sah, wie seine Brüder zu kreisen begannen.

Er spürte, wie sie ihre Macht sammelten.

Müde legte der Erstgeschlüpfte seine Flügel an und ließ sich aus der sicheren Höhe hinabstürzen, die er mit letzter Kraft erreicht hatte. Noch immer bluteten seine Wunden. Das Blut, das ihn am Leben erhielt, hatte er allzu freizügig auf die Erde Nangogs regnen lassen. Es fiel ihm schwer, gegen die Müdigkeit zu bestehen. Mit offenen Augen träumte er von dem Felsen unter der Pyramide im Jadegarten. Davon, wie ihm das endlose Gemurmel der Gazala zum Schlaflied wurde.

Er weitete die Schwingen, um seinen Sturzflug abzufangen. Der Ruck ließ ihn vor Schmerz aufkeuchen.

Schnell, Bruder!, erscholl der Nachtblaue in seinen Gedanken. Sie versuchen zu fliehen!

Der Erstgeschlüpfte spürte es. Die Devanthar griffen nach dem Goldenen Netz, auf dem die Ordnung der Welten beruhte. Sie versuchten, es zu verzerren, sich hindurchzuzwängen, gegen die Gesetze, die sie einst selbst festgeschrieben hatten. Ganz wie wir es mit dem Drachenpfad getan hatten, dachte er.

Sie haben Nangogs Herz! Auch in den Gedanken des Smaragdenen lag brennende Hast.

Sie hätten ihn nicht erinnern müssen. Der Dunkle wusste, dass sie die Devanthar kein zweites Mal zu einer solchen Schlacht stellen konnten. Entweder sie triumphierten jetzt über die Götter der Menschenkinder oder sie hatten die Zukunft verloren, obwohl sie diese Schlacht gewannen.

Seine Macht war aus der Sorge um die Welt geboren, die ihm die Alben einst anvertraut hatten. Es war das glühende Verlangen, nicht in der wichtigsten aller Aufgaben zu versagen: jedes Übel von den Kindern ihrer Götter abzuwenden.

Ihm war bewusst, dass die Macht seiner Brüder aus anderen Beweggründen geboren wurde. Aus Zorn und Ehrgeiz, aus der Lust zu kämpfen und dem Verlangen nach Rache. All diese Gefühle vereinten sie zu einer einzigen Flamme. Er aber gab Hoffnung hinzu. Die Hoffnung, dass dies wirklich die letzte Schlacht sein würde.

Nachtatem verschloss die Lider vor der gleißenden Helligkeit, die jedes ungeschützte Auge schmelzen ließ.

Und das Feuer, das sie einst gegen Selinunt gerichtet hatten, fuhr nun auf den Krater in der Goldenen Stadt hinab, um die Götter der Menschen Schatten werden zu lassen und ihren geschundenen Brüdern im Blutsee den letzten Frieden zu schenken.

Licht war der Anfang

Išta spürte, wie sich die Flammen der Himmelsschlangen vereinten, und hielt den Blick abgewandt. Das Tor in ihre Heimat hatte begonnen, sich zu öffnen. Drei Herzschläge zu spät.

Der Gefiederte und Langarm schrien Worte der Macht, versuchten aufzuhalten, was auf sie herabkam. Tatsächlich war es, als träfe das Himmelsfeuer auf einen unsichtbaren Schild.

Doch die drei riesigen Kristallsäulen, die dem Blutsee entsprossen waren, nahmen das Licht der Drachen in sich auf und vergingen in einer Helligkeit, der auch die Zaubermacht ihrer Brüder nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Der Fels, der die Kristalle einschloss, schmolz, wurde rot glühende Magma. Der Boden unter ihnen erbebte. Išta spürte, wie sich das Licht der Drachen weiter durch die Kristalle fraß, die diese ganze Welt durchdrungen hatten.

Alles war verloren, dachte sie ohne Bedauern und spürte ihr Sein vergehen, trotz all der verzweifelten Versuche ihrer Brüder und Schwestern, sie alle zu retten. Lange waren sie nicht mehr ein Gedanke gewesen. Zu spät hatten sie zu sich gefunden.

Licht war einst das Erste gewesen, das sie aus den verwobenen Fäden ihrer Zaubermacht hatten erstehen lassen, kaum dass sie ihrer selbst bewusst geworden waren. In dieses Licht hatten sie ihre Welt gepflanzt. Ihr größtes Werk. Es würde weiter bestehen, hoffte Išta, während sich für sie der Kreis nun schloss.

Licht war der Anfang. Licht war das Ende, war Ištas letzter Gedanke.

Ein Ast

Eleborn war erleichtert, als er Meliander wieder in die Grotte zurückkehren sah. Zwei Stunden hatte er mit sich gerungen, ob er den Jungen suchen sollte. Ihm war bewusst, dass es Meliander nicht passte, hier unten zu sein. Und dass es ihm noch viel weniger gefallen hatte, dass Nandalee es einfach entschieden hatte, ohne auch nur mit ihnen zu reden. Meliander hatte es gebraucht, mit seiner kleinen Flucht zu rebellieren. Und was sollte ihm hier auch schon geschehen? Die Pyramide im Jadegarten war ganz gewiss einer der sichersten Orte in Albenmark.

Auch Emerelle hatte ihren Bruder entdeckt. Sie hatte eine Ewigkeit mit Firaz gesprochen. Jetzt brach sie die Unterhaltung abrupt ab und eilte zu Meliander.

Verwundert beobachtete Eleborn, wie ihr Bruder, so gut es mit der Krücke ging, gestikulierend auf sie einredete. Etwas schien ihn zutiefst aufgewühlt zu haben. Und so, wie Meliander zwischendurch zu ihm herübersah, war sich Eleborn ganz sicher, dass ihm der Junge nicht erzählen würde, was der Grund dafür war.

Seit er nicht mehr unbeschwert herumlaufen konnte, hatte Eleborn sich mit vielen Spielarten der Magie beschäftigt. Keineswegs nur mit Spielereien mit Licht und Wasser, wie die meisten glaubten. Er hauchte ein Wort der Macht und konzentrierte sich ganz auf Meliander und Emerelle. So gelang es ihm, nacheinander alle Stimmen der Gazala auszublenden, bis er nur noch die beiden hörte, obwohl sie sich bemühten zu flüstern.

»Ich glaube dir kein Wort!«

»Dann komm doch einfach mit mir und sieh ihn dir an. Er wartet auf uns.«

Emerelle blickte unsicher zu ihm herüber, und Eleborn winkte ihr flüchtig zu, als wäre er mit etwas anderem beschäftigt.

»Er wird merken, wenn wir weglaufen.«

»Na und?«, kam es patzig von Meliander. »Wenn wir schnell sind, dann wird der Krüppel uns nicht einholen.«

Eleborn schluckte. Das hätte er von Meliander nicht erwartet.

»Du nennst ihn einen Krüppel. Das sagt ja gerade der Richtige.«

»Er kann uns von hier fortbringen. Er hat ein Tor geöffnet, keinen Albenpfad. Er kennt die geheime Magie der Drachen.«

Eleborn lief es kalt den Rücken herunter. Von wem sprach Meliander? Hatte sich etwa der Goldene in die Pyramide geschlichen? Nein, das konnte nicht sein. Beim Goldenen würde der Junge ganz gewiss nicht betonen, dass er die geheime Magie der Drachen beherrschte. Wer also war er?

»Er hat uns beide in seinen Wald eingeladen. Es ist schön dort. Er hat ihn mir gezeigt. Dort ist es auch nicht so heiß. Er sagt, es wäre viel sicherer als hier.«

»Und du glaubst ihm das einfach?« Emerelle schüttelte den Kopf. »Ich nicht.«

»Aber er sagt die Wahrheit!«, entgegnete Meliander trotzig. »Er ist so alt wie wir. Die Großen belügen uns alle. Er meint es nur ehrlich.«

»Wer belügt uns?«

»Hat uns Mutter etwa gesagt, warum sie uns hier versteckt? Es muss uns irgendeine Gefahr drohen. Ich wette, Eleborn weiß es. Warum sollten wir es nicht auch wissen? Und wohin musste Mutter so dringend, dass sie uns verlassen hat, obwohl sie befürchtet, dass wir in Gefahr sind? Und warum hat sie uns die schönen Ringe abgenommen, die wir vom Goldenen bekommen haben?«

»Etwas nicht zu sagen und jemanden zu belügen sind zwei ganz verschiedene Dinge«, entgegnete Emerelle und klang dabei, als wäre sie selbst nicht ganz überzeugt von ihren Worten.

»Haarspalterei. In beiden Fällen wird die Wahrheit vor uns versteckt. Ich mach da keinen Unterschied mehr.«

»Sind das seine Worte? So was hast du vorher noch nie gesagt.«

Meliander nickte widerstrebend. »Aber er belügt uns nicht, denn er versteht uns besser als jeder andere.«

»Ach«, sagte Emerelle auf ihre schnippische Art, die Eleborn schon so manches Mal zur Verzweiflung getrieben hatte.

»Er ist unser Bruder, Emerelle. Noch so eine Lüge der Großen. Man hat ihn aus dem Bauch unserer Mutter gerissen und seitdem vor uns versteckt. Er wollte immer bei uns sein. Er hat gewusst, dass es uns gibt. Und sie haben ihn nicht zu uns gelassen.«

Eleborn dachte daran, wie er Nodon mehrmals auf die Geburt der beiden angesprochen hatte. Der schwarzäugige Elf hatte immer sehr abweisend darauf reagiert. Eleborn hatte das nie verstanden. Auch Firaz sprach nicht über die Nacht der Geburt. Er hatte schon lange geahnt, dass es ein Geheimnis geben musste. Aber ein drittes Kind … konnte das wirklich sein? Und dieses Kind sollte geheime Drachenmagie beherrschen?

Emerelle hatte sichtlich Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass sie noch einen zweiten Bruder haben sollte.

Meliander lächelte. »Er wusste, dass du mir nicht glauben würdest, dass er mich in seinen Wald mitgenommen hat.« Er griff hinter seinen Rücken und holte etwas hervor, das er sich in den Gürtel gesteckt haben musste.

Emerelle war überrascht.

Eleborn aber keuchte auf. Selbst auf die Entfernung erkannte er die Eichenblätter an dem Ast, den Meliander seiner Schwester zeigte. Im Jadegarten gab es keine Eichen! Die Geschichte vom Bruder war vielleicht eine Lüge, aber nun war er überzeugt, dass etwas im Dunkel der Gänge auf die beiden Kinder lauerte.

Meliander sah zu ihm herüber. »Eleborn hat etwas bemerkt!« Er ließ den Ast fallen und nahm Emerelle bei der Hand. »Lauf! Unser Bruder wartet auf uns!«

Eleborn hielt den Atem an – wie würde sich Emerelle entscheiden?

Als sie mit einem letzten, fast entschuldigenden Blick zu ihm davonlief, wusste er, dass er handeln musste.

»Firaz!«

Die Gazala sah überrascht zu ihm auf.

Eleborn humpelte zum Ausgang der Grotte, so schnell seine Krücke ihn trug, doch er wusste, er würde sie nicht mehr einholen.

»Fang die Kinder! Lass sie nicht los, ganz gleich, was sie dir sagen. Dort in den Gängen ist etwas Dunkles, und es will sie holen.«

Ohne Fragen zu stellen oder auch nur einen Augenblick zu zögern, lief die Gazala los. Ihre schlanken Gazellenbeine ließen das Wasser der Grotte aufspritzen. Sie bewegte sich so sicher durch die Reihen ihrer Schwestern, als hätte sie niemals ihr Augenlicht für ihre Sehergabe geopfert. Bald schlugen ihre Hufe einen schnellen Takt auf das Pflaster des Ganges, der in die Dunkelheit führte.

Nie war sich Eleborn seiner Langsamkeit so schmerzlich bewusst gewesen wie jetzt. Wie hatte Nandalee ihm die Kinder anvertrauen können? Wenn Firaz sie einholte, würde er die Pyramide verlassen! Sofort! Die Alte Veste war viel geeigneter, um auf die beiden aufzupassen.

Ihm war ganz gleich, was er Nandalee versprochen hatte. Hier war etwas, das er fürchten sollte. Als er den Tunnel erreichte, strich kühle Luft über sein Gesicht. Ganz sicher kam sie von dort, wo auch der Eichenast herstammte.

Warum nur hatte ihre Mutter die beiden hierher geschickt? Was war hier sicherer? Nachtatem hatte nach dem Besuch des Goldenen eigens einen Fluchttunnel aus der Veste angelegt. Einen Tunnel, den außer ihm nur noch Nodon und Nandalee kannten. Hier aber gab es keinen zweiten Ausweg!

Der Hufschlag der Gazala verstummte abrupt. Dann hörte er Meliander aufschreien.

Die sich verzehrende Welt

Seine Brüder flohen! Alle hatten sie gespürt, dass der Flammenstrahl ein Unheil heraufbeschworen hatte, das alles, was sie beabsichtigt hatten, bei Weitem übertreffen würde. Die Devanthar waren vergangen. Doch nun sah es so aus, als würde mit ihnen diese ganze Welt vergehen.

Er hätte fliehen sollen, doch Nachtatem konnte den Blick nicht von dem lösen, was sie entfesselt hatten. Die Säulen aus grünem Kristall hatten ihr Feuer aufgenommen, und sie trugen es tief unter die Goldene Stadt hinein. Es folgte den Kristalladern bis zum Herzen der Welt.

Der Krater, den der stählerne Drache in die Flanke des Weltenmunds gerissen hatte, wuchs an. Doch nun stülpte er sich nach innen. Ja, es schien, als hätte die hohle Welt der Riesin Nangog beschlossen, sich selbst zu verschlingen.

Mit verzweifelten Schlägen seiner mächtigen Schwingen stemmte Nachtatem sich gegen den Sog aus der Tiefe. Die Welt starb, und sie wollte ihn mit sich reißen, hinab in ihr lichtloses Grab. Felsbrocken, groß wie Türme, wirbelten leicht wie Ascheflocken durch den Himmel.

Er winkelte die Flügel an, wollte höher steigen, um nicht an der himmelhohen Steilwand des Weltenmunds zu zerschellen, doch noch bevor er sie erreichte, sackte sie in den Abgrund. Das Getöse von berstendem Gestein und ein unheimliches Heulen aus dem weltenverschlingenden Schlund löschten jedes andere Geräusch.

Er kämpfte vergebens. Immer tiefer wurde er hinabgezogen, und dann verschlang ihn die Staubwolke aus zermahlenem Fels, die der Abgrund emporspie. Steinsplitter prasselten wie Hagelschlag auf ihn ein. Geblendet öffnete Nachtatem sein Verborgenes Auge und sah, wie die Magie der Welt in einem gleißenden Feuerwerk verging. Das Goldene Netz, in das sie eingebunden war, zerriss.

Der Sog wurde stärker, und er fauchte ihm ein Wort der Macht entgegen. Sein Sturz verlangsamte sich. Weit breitete er die Flügel aus. Steinsplitter durchschlugen das zähe Leder seiner Schwingen. Er verschloss sich gegen den Schmerz der peinigenden Wunde, die er hoch am Himmel empfangen hatte. Kraftvoller schlugen seine Schwingen und zorniger. Er triumphierte über den Abgrund und kämpfte sich dem Himmel entgegen. Glühend rot leuchtete die Sonne durch den Staub. Bald hätte er es geschafft. Ein paar Flügelschläge noch, und er würde in den Himmel entkommen.

Tentakel peitschten die Luft, streiften ihn, griffen nach ihm, als schrien sie, er möge sie halten, retten, mit sich nehmen, hinauf in die endlose Weite. Er wich ihnen aus. Die Sonne kam näher. Nein, sie stürzte ihm entgegen! Das Entsetzen kam wie ein Donnerschlag und lähmte ihn. Nur einen Wimpernschlag lang, doch zu lang. Hitze wogte durch den Staub, Tentakel schlangen sich um seine Flügel, seine Fesseln, seinen Hals. Die Sonne kam näher.

Er wollte leben!

Nachtatem schnappte nach den Fangarmen, zerriss zähes Fleisch, sammelte tief in seinem Innersten all seine Glut und beherrschte sich doch. Ein Feuerstoß inmitten der Staubwolke mochte den Himmel rings um ihn herum in Brand setzen.

Endlich konnte er sich aus der Umklammerung befreien. Wie ein Ertrinkender durch die Wasseroberfläche stieß er durch die Staubwolke. Keine hundert Schritt entfernt stürzte ein brennendes Schiff aus dem Himmel. Stetig sank es dem Abgrund entgegen. Der Wolkensammler, der es getragen hatte, vermochte sich nicht mehr vom tödlichen Ballast des Schiffes zu befreien. Hunderte mit Draht verstärkte Seile hielten die riesige, aufgedunsene Kreatur an den hölzernen Rumpf gefesselt. Seine Tentakel peitschten die Luft und suchten Halt, wo es keine Rettung geben konnte: Die Kreatur selbst fing Feuer. Ein ganzer Schwarm kleinerer Wolkensammler quoll aus einem der Flugdecks hervor. Hunderte. Und an jedem von ihnen hing zappelnd ein Menschenkind.

Auch sie entgingen dem Mahlstrom des Untergangs nicht. Während der Erstgeschlüpfte langsam in den freien Himmel emporstieg, sah er, wie die kleineren Wolkensammler in den Strudel aus Staub und Fels hinabgerissen wurden – schneller noch als das große Schiff, dem sie entflohen waren.

Selbst das riesige Himmelland vermochte sich den Kräften des Verderbens nicht zu widersetzen. Seine Wälder standen in Flammen, Flugrochen hatten es umringt, um es mit Brandgeschossen einzudecken, als wollten sie es um jeden Preis mit sich in den Untergang ziehen. Der Stählerne lag reglos auf der Insel, die stark Schlagseite hatte. Einzelne abgerissene Felsen schwebten über ihr. Nachtatem konnte sehen, wie ihm Albenkinder aus Felsöffnungen zuwinkten, in der Hoffnung, er könne ihre Rettung sein.

Ein baumlanger Speer durchschlug seinen rechten Flügel. Die Wunde schmerzte nicht, doch ein großes Loch klaffte inmitten des Flügels. Er würde nun noch langsamer höher steigen. Das Wolkenschiff unter ihm war auf die Seite gekippt, und das Feuer breitete sich über immer mehr Decks aus. Stichflammen aus entzündeten Gasen entwichen der sterbenden Kreatur, die das riesige Schiff so lange durch den Himmel getragen hatte. Einige der Drehtürme, in denen die Geschütze standen, hatten auf ihn eingeschwenkt. Löwenbanner flatterten von den Masten, die seitlich aus dem Schiffsrumpf ragten. Ein Bogenschütze in einem Mastkorb zielte auf ihn, blind für den eigenen Untergang und offenbar nur noch von dem Gedanken beherrscht, den großen Drachen zu verwunden.

Die Menschenkinder an Bord hatten begriffen, dass sie ihrem Tod nicht mehr entfliehen konnten. Und der Erstgeschlüpfte erkannte, dass sie mit Freuden ihren letzten Atemzug geben würden, um ihn mit sich in den Abgrund zu ziehen, so groß war ihr Hass.

Ein weiterer Speer, massig wie ein Rammbock, verfehlte ihn knapp. Dann war er außer Reichweite, und das prächtige Schiff wurde vollends von der Staubwolke verschlungen.

Nachtatem stieg in weiten Kreisen höher. Er musste nun kaum noch mit den Flügeln schlagen. Der Aufwind trug ihn in den Himmel. Geschafft! Er würde … Der Drachenpfad! Er war verschwunden. Seine Brüder mussten das Tor hoch im Himmel verschlossen haben, vielleicht aus Angst, die Kräfte des Untergangs könnten durch den magischen Tunnel auch nach Albenmark greifen. Oder hatten sie ihn opfern wollen?

Kurz ließ er sich treiben, holte Atem, sammelte sich und verschloss die Ohren vor dem ungeheuerlichen Tosen, in dem die Welt versank. Erst hoch vom Himmel herab sah er das ganze Ausmaß der Zerstörung.

Tief unter ihm, inmitten des Mahlstroms aus Felsgestein, Staub und Tod verglomm das brennende Wolkenschiff in glutrotem Licht wie eine sterbende Sonne. Immer mehr weitete sich der Strudel aus Fels und Staub aus, fraß unerbittlich, was eben noch sicherer Boden gewesen war. Spalten, weit wie Täler, griffen ins Land hinaus. Am Horizont stürzte der Große Fluss in meilenweiten silbernen Kaskaden in den Abgrund.

Ja, die Welt verschlang sich wirklich selbst.

Nachtatem wandte sich ab. Stieg weiter in den Himmel hinauf und flog schließlich gen Osten. Er wusste, dass dieses Unheil unumkehrbar war und welchen Anteil er daran hatte. Er hatte seine Macht zu zögerlich gebraucht, es anderen überlassen, seinen Kampf zu führen. Er hatte gewusst, dass die Devanthar den alten Vertrag brachen. Gleich als sie die ersten Menschen hierherbrachten, hätte er seine Brüder zum Kampf rufen sollen. Doch er hatte sich entschieden abzuwarten. Er hatte darauf vertraut, dass sie von einer Welt, in der keine Kinder geboren wurden, wieder ablassen würden. Er hatte sich in den Menschen getäuscht. Vielleicht hätte er auch viel früher seine Stimme erheben müssen … Schon damals, als Alben und Devanthar die Riesin Nangog bestraften.

Warum hatten die Götter der Riesin keine eigene Welt gönnen können? Hätte sein Einspruch den Lauf aller Dinge verändern können? Damals hatte er das Urteil gegen die Riesin als ungerecht empfunden. Warum hatte er geschwiegen? Wie nie zuvor empfand er sein langes Leben als Last. Diese Schlacht heute hätte nicht geschlagen werden dürfen … Nie zuvor hatte er erleben müssen, wie sich ein Sieg in eine so verheerende Niederlage verwandelte.

Der Erstgeschlüpfte suchte nach einem der Albensterne. Er war müde. Lange flog er durch den blutroten Himmel, bis er einen Albenstern fand – weit entfernt vom Mahlstrom des Verderbens, auf einer Lichtung bei einem dunklen Teich voller Seerosen. Hier war das Beben nicht zu spüren. Noch nicht.

Ein Wort der Macht, ein Gedanke, und zwei Lichtschlangen entsprangen dem Wasser. Sie neigten sich einander zu und formten ein Tor, hinter dem ein Goldener Pfad durch die Finsternis führte.

Tausende Male war er auf Pfaden wie diesem gegangen, und ohne Mühe fand er den Weg zurück in den Jadegarten, wo tief unter einer Pyramide, alt wie die Welt, die weite Grotte lag, die seine Zuflucht geworden war.

Dort rollte er sich zusammen und überließ sich seinem Schmerz.

Der letzte Kuss

Dylan hielt den Arm um sie gelegt, das war alles, was er noch tun konnte. Myrella war tapfer. Die Tränen, die über ihre Wangen liefen, hatten nichts mit dem nahen Ende zu tun. Es war der grelle Lichtblitz, der sie weinen ließ. Obwohl sie sich beide abgewandt hatten, war das Licht durch ihre geschlossenen Lider geschossen wie sengende Pfeile. Es war ein letzter Schmerz, der sie daran erinnerte, dass sie noch am Leben waren.

Beide saßen sie in einer Nische in einem der äußeren Felsen. Es war verlassen hier. Die Adler waren längst fortgeflogen. Die meisten Besatzungsmitglieder des Himmellands hatten versucht, mit Luftaalen zu entkommen, oder aber sich tief ins Innere der Felsen zurückgezogen.

Dylan blickte in den Abgrund. Die Erde brach immer weiter auf. Spalten streckten sich meilenweit ins Umland. Der Fluss wurde in die Tiefe gerissen. Die Wolkensammler wurden vom Sog ergriffen und verschlungen. Nur einige Himmelsrochen hatten fliehen können. Doch für wie lange?

Dylan war überzeugt, dass das Unglück alle einholen würde, die noch auf Nangog waren. Er war ein guter Zauberweber, doch fliegen konnte er nicht. Er hätte Myrella gerne gerettet, das unausgesprochene Versprechen, dass er sie immer beschützen würde, eingelöst.

Das Schwert war sein Leben gewesen. Manche hielten ihn für weise, blickte er aber durch den verklärenden Schleier, mit dem sie seine Taten umgaben, war er stets den Weg des Schwertes gegangen, um Lösungen zu finden. Dieser Weg war es, der ihn hierher geführt hatte. An den Ort, an dem sein Schwert nichts auszurichten vermochte.

Myrella drückte sich noch fester an ihn. So gerne hätte er ihr über das Haar gestrichen und ihr gesagt: Alles wird gut. Er würde sie nicht belügen. Sie war schön. Er mochte sie. So gerne wäre er der für sie gewesen, den sie in ihm sah.

Das Himmelland neigte sich noch steiler dem Abgrund entgegen. Ein infernalischer Lärm stieg von dort unten auf. Dylan hatte nicht gewusst, dass Wolkensammler schreien konnten. Sie waren zu hören – die Menschenkinder nicht. Ihre Schreie wurden vom Donner gegeneinanderschlagender Felsen übertönt. Er war vergleichbar mit dem Tosen eines Wasserfalls, nur dass hier nicht Wasser stürzte, sondern ein Strom aus Felsen, Häusern, Erde und Bäumen. Alles, was fest sein sollte, war beweglich geworden. Es gab keinen Halt mehr.

An der Weißen Halle hatte er oft mit Gonvalon gestritten. Er hatte es stets für unverantwortlich gehalten, wenn er eine Affäre mit jenen begann, die ihm anvertraut waren. Er hätte ihnen ein Vorbild, ein weiser Lehrer, sein müssen. Bewundert zu werden war erstrebenswert. Doch die Grenze aufzugeben war eines Meisters der Weißen Halle unwürdig. So hatte Dylan immer gedacht. Hatte er sich geirrt? Stand aufrichtige Liebe über dieser Regel?

Es war diese Regel, die ihn in der kurzen Zeit, die er Myrella kannte, immer einen Abstand hatte halten lassen, obwohl er gespürt hatte, dass sie sich wünschte, diese Distanz überwinden zu können. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, mit ihr zu sprechen. Das Getöse der einstürzenden Welt würde jedes Wort verschlingen, bevor es ihr Ohr erreichte.

Er beugte sich zu ihr hinab. Suchte in ihren Augen nach Widerspruch … Stattdessen zog sie ihn an sich und küsste ihn. Ihre warmen Lippen zu spüren löschte die Welt aus. Er schloss die Augen. Da war nur noch sie. Ihre unschuldige Sehnsucht. Ihr … Hätte er nur früher seiner Sehnsucht nachgegeben!

Plötzlich änderte sich etwas. Ihre Lippen …

Er sah sie an. Sie wirkte überrascht. Traurig … Silbernes Licht umspielte sie. Sie war nur noch Licht. Eine ätherische Erscheinung, die binnen Augenblicken verblasste. Myrella versuchte, weiter seine Hand zu halten. Wollte sie bleiben oder ihn mit sich nehmen? Ihre Finger glitten durch ihn hindurch. Dann war sie fort. Ihr Leben hatte sich erfüllt. Sie war ins Mondlicht gegangen.

Aufgewühlt strich er mit der Rechten über seinen Leib. Er war noch ganz hier. Er würde bleiben. Mochte er auch in diesem Leben seinen letzten Kampf gefochten haben, das Ziel seines Seins hatte er noch nicht gefunden. Er würde wiedergeboren werden, den Weg von Neuem gehen, bis er das Schicksal fand, das ihm vorherbestimmt war. Myrella aber würde ihm nie wieder begegnen. Ihre Seele war aus dem Zyklus von Tod und Wiedergeburt getreten.

Gefasst sah er in den Abgrund. Er sah, wie andere Albenkinder von benachbarten Felsen sprangen, um dem Grauen schneller ein Ende zu bereiten. Das würde er nicht tun. Er würde bis zuletzt auf seinem Posten verharren. Aber er erlaubte sich, seine Augen zu schließen und das Bild Myrellas in seinem Inneren erstehen zu lassen. Er spürte ihre Lippen noch auf den seinen. Und war ganz bei ihr, wo immer sie jetzt auch sein mochte.

Metamorphose

Der Goldene landete hinter der Felsoase, in der sein dunkler Bruder sein Refugium hatte. Er hatte sich Zeit gelassen hierherzukommen. Mehr als zwei Stunden waren seit seiner Flucht von der sterbenden Welt vergangen. Die meisten Wunden, die er empfangen hatte, waren geheilt.

Er faltete seine weiten Schwingen, dann tastete er nach dem Schmerz an seinem Rumpf. Er saß dicht unter dem Ansatz seines rechten Flügels. Sehr vorsichtig hatte er das Schwert dort unter seine Schuppenhaut geschoben. Es hatte ihn geschwächt, unbarmherzig von seiner Lebenskraft getrunken, obwohl er seine Kräfte genutzt hatte, es mit einer Haut zu umgeben, die es von seinem Muskelfleisch trennte. Er hatte es isoliert und doch nicht ganz beherrschen können. Es war erschaffen, nicht zu beherrschen zu sein.

Seine Krallen schlitzten die Schuppen. Vorsichtig zog er die Waffe hervor, wie einen langen Dorn, der in ihm steckte. Todbringer! Er hatte das Schwert in der Alten Veste in die Hand genommen, um jedes seiner Geheimnisse zu ergründen. Nicht nur das kunstvolle Blattwerk, mit dem die Parierstange des Bidenhänders geschmückt war, oder die Windungen des Silberdrahts, der um den mit Leder umwickelten Griff geschlungen war, damit die Hand besseren Halt fand. Dies war Nandalees Werk gewesen, das hatte er ebenso gespürt wie alle Zauber, die in den Silberstahl gewoben worden waren. Es war eine bösartige Waffe. Der Tod war auch jenen, die diese Klinge führten, stets nahe. Erstaunlich, dass Nandalee immer noch lebte.

Nun, es war sein Glück! Vorsichtig legte der Goldene die Waffe in den Sand zu seinen Füßen. Dann begann er die Metamorphose. Es war ein schmerzhafter Vorgang, sich auf den viel kleineren Körper einer Elfe zu reduzieren. Als dies vollbracht war, war es eine Kleinigkeit, sich das Prachtgewand einer Drachenelfe erstehen zu lassen.

Nun rief er in Gedanken den Hengst, den er sich schon vor Wochen im Bainne Tyr erwählt hatte. Einen prächtigen Rappen, der Sternauge, abgesehen von einer Kleinigkeit, vollkommen glich.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis der Pegasus an seiner Seite landete. Er war erhitzt vom Flug. Schaum bedeckte seine Flanken, so eilig hatte er es gehabt, dem Zauberzwang zu folgen, den er auf ihn gelegt hatte. Er war ein schönes Tier. Man merkte ihm nicht an, dass er es ganz und gar seinem Willen unterworfen hatte. Nun ließ er Zaumzeug und ein Sattelbrett erstehen, wie die Drachenelfen es nutzten. Der Hengst scheute vor der ungewohnten Last.

Sanft strich der Goldene ihm über die Nüstern und ließ seine Hand zur Stirn hinaufgleiten. Ein letztes Wort der Macht ließ im Fell eine sternförmige Blesse erscheinen, ganz wie jene, die Sternauge auf seiner Stirn trug.

Der alte Drache verharrte. Er sah an sich hinab. Nun war er ganz und gar sie geworden, die Rebellin, die jeder seiner Brüder kannte und deren Namen bis in die entferntesten Elfensiedlungen getragen worden war. Er wusste durch die Bilder, die ihm die Silberschale gezeigt hatte, wie gefährlich Nandalee werden würde, wenn ihr nicht Einhalt geboten wurde. Und er wusste auch, dass Nachtatem dies nicht tun würde.

Vielleicht war sein Bruder ja nicht zurückgekehrt. Er hatte es nicht zum Drachenpfad geschafft, bevor sie ihn hatten verschließen müssen. Wenn er es aber auf anderen Wegen in den Jadegarten geschafft haben sollte, dann war nun zu tun, was notwendig war, um das Zeitalter der Schwäche zu beenden. Der Erstgeschlüpfte war kein Anführer mehr. Den aber würde Albenmark brauchen, denn ihre Götter waren anders als die der Menschenkinder. Die Alben zeigten sich nicht, und sie griffen nicht mehr in das Schicksal der Welt ein. Es gab keine Ordnung mehr, und das Gefühl behütet zu sein, wenn man sich nur an die Regeln hielt, war den Völkern Albenmarks verloren gegangen.

Er würde ihnen eine neue Ordnung schenken. Mit ihm würde das Goldene Zeitalter seiner Welt beginnen.

Todbringer

Firaz stand vor ihm. Ihre blinden Augen waren weit aufgerissen. »Ihr müsst gehen, Himmlischer. Sie kommt, Nandalee. Ich habe es gesehen! Ihr dürft nicht bleiben!«

Die Gazala warf sich über seine Vorderpranken und versuchte, sie anzuheben. »Bitte, Himmlischer! Erhebt Euch! Ich habe es gesehen. Noch ist Zeit. Noch …« Sie drehte sich um. Ließ von ihm ab und wich erschrocken zurück.

Nachtatem blickte auf. Und wie stets berührte es ihn, sie zu sehen. Sie war seine Auserwählte. Schon als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte er gewusst, dass es so kommen musste. Er mochte ihren rebellischen Geist. Mochte, dass sie immer schon mehr gewesen war als eine Mörderin in Diensten der Himmelsschlangen. So wie sie hätten die neuen Drachenelfen sein sollen. Stolz, mit einem freien Willen erfüllt. Elfen, die von dem überzeugt waren, was sie taten, und nicht nur Befehle empfingen, ohne sie zu hinterfragen. Sie war immer so gewesen. Die strahlende Erste einer Zukunft, die nicht mehr kommen würde.

Nandalee trug ihr Prunkgewand. Ein langes, ärmelloses Kleid in strahlendem Blütenweiß, gesäumt von goldenen Stickereien. Der Schwanz des schwarzen Drachen wand sich um ihren linken Arm. In der Rechten trug sie den mächtigen Bidenhänder, den sie sich zur Waffe erwählt hatte. Die schwere Klinge steckte in einer abgewetzten braunen Lederscheide.

Mit festem Schritt durchquerte Nandalee das flache Wasser. Sie hielt den Kopf stolz erhoben, sah ihm herausfordernd in die Augen. Ihr langes sommerblondes Haar wallte ihr um die Schultern. Sie schien von innen heraus zu strahlen.

Nachtatem musste schmunzeln. Ihm war bewusst, dass er sah, was er in ihr sehen wollte. »Hattet Ihr Erfolg, meine Dame?«

»Nein«, sagte sie mit klarer, kalter Stimme. »Und doch stehe ich kurz davor, mir meinen geheimsten Wunsch zu erfüllen.«

Nandalee hatte ihn nun fast erreicht. Sie zog die Klinge, die er einst erschaffen hatte. Das Schwert, dem er vor einem ganzen Zeitalter seinen unheilschwangeren Namen gegeben hatte: Todbringer.

Nachtatem hob verwundert sein müdes Haupt. Etwas war fremd an ihr. Sie sollte nach Winter riechen, dem der Welt der Menschenkinder, doch es ging gar kein Geruch von ihr aus. Und sie …

Ohne zu zögern rammte sie ihm die lange Klinge in die Kehle. Sein Blut schoss in dunklen Fontänen über den schimmernden Stahl. Er wollte etwas sagen, doch die Wunde machte es ihm unmöglich, noch Worte zu formen.

Die Gazala schrien auf – doch eilten sie ihm nicht zu Hilfe. Was hätten sie auch tun können?

Er spürte, dass diese Wunde ihm nach all den anderen Verletzungen des Tages das Leben nehmen würde. Er hatte nicht länger die Kraft zu kämpfen.

Er sah der Elfe in die Augen. Ihr, der er mehr vertraut hatte als selbst seinen Brüdern. Und er erkannte seinen Irrtum. Ihm begegnete ein Blick, der Jahrhunderte hatte vorüberziehen sehen.

Nachtatem spürte, wie die Klinge seine Lebenskraft stahl. Wie war er an Nandalees Schwert gekommen?

Zorn wallte in ihm auf. Sie musste tot sein. Nandalee hätte niemals ihr Schwert aufgegeben! Er wollte … Sein Kopf sank herab.

Er hatte sie nicht beschützen können, dachte er verzweifelt. Nicht einmal das.

»Du warst immer ein Träumer, Bruder. Die Welt braucht Träumer, doch sie sollten nicht herrschen. Ich musste das ändern. Endgültig. Es tut mir leid.«

Der Erstgeschlüpfte hörte ihre Stimme, doch das täuschte ihn nicht. Er wusste, wer da zu ihm flüsterte, so leise, dass die Gazala diese letzten Worte nicht hören konnten.

Nachtatem wurde sich bewusst, dass sein eigener Hochmut ihn getötet hatte. Ihm war immer klar gewesen, was sein Bruder wollte: herrschen. Er hätte ihn aufhalten können. Aber er war so dumm gewesen zu glauben, dass noch ein anderer Weg möglich gewesen wäre als jener, den der Goldene nun beschritten hatte.

Er sah noch, wie der Goldene den Griff Todbringers packte, um das Schwert zurückzuholen. Er spürte den Ruck der Klinge. Dann spürte er nichts mehr.

Die Mörderin

Nodon stieß die Luke auf und stieg aus dem Luftaal. Ihre Landung war hart gewesen. Solaiyn jammerte, während Aloki sich mit überraschender Leichtigkeit aus dem Aal erhob. Die Schlangenfrau sah sich neugierig um. »Dies also ist der Jadegarten.«

Der Schwertmeister beobachtete sie misstrauisch, während die beiden Mädchen aus dem Aal stiegen und Solaiyn halfen.

»Glaubst du, du musst Nachtatem vor mir beschützen?«, fragte sie zischelnd.

Er entspannte sich ein wenig. Der Gedanke, dass der Erstgeschlüpfte Schutz benötigen könnte, war in der Tat absurd.

»Nie wieder setze ich einen Fuß in so einen verfluchten Luftaal«, murrte Solaiyn. »Mir ist speiübel.«

»Ich fand es toll!« Lydaine lachte begeistert. »Immer im Kreis und im Kreis. Ich würde es sofort noch mal machen.«

»Sie fliegen nur einmal.«

Solaiyn hörte sich jetzt versöhnlicher an. Wenn er sich den Mädchen zuwandte, war er ein anderer, dachte Nodon. Er erklärte den beiden geduldig, dass Zauber der Himmelsschlangen nur in die Luftaale mit den roten Luken gewoben waren, die einzig von den Elfen benutzt werden durften. Sie alle hatten die Fähigkeit besessen, ein Mal einen Tunnel zwischen die Welten zu reißen. Einen Drachenpfad. Nur leider waren die Reisen auf diesen Pfaden äußerst turbulent. Was das anging, konnte Nodon dem Fürsten nur zustimmen. Auch er wollte nie wieder in einem Luftaal sitzen.

»Nodon?«

Der Schwertmeister sah sich erschrocken um. Nah am See, etwa zweihundert Schritt entfernt, stand eine Gruppe von Elfen. Sie hatten Schutz im Schatten eines großen Mangobaums gesucht. Der Ruf war von dort gekommen.

Er war zu leichtfertig, schalt sich Nodon und musterte aufmerksam die Umgebung. Auf der Wiese nah der Pyramide war ein weiterer Luftaal gelandet. Drachenelfen aus der Alten Veste, dachte er. Aber sie waren ganz gewiss nicht allein gekommen. Bestimmt waren alle kostbaren Elfenaale so gut es ging besetzt worden. Das hieß, es gab zehn oder mehr Fremde im Jadegarten. Nachtatem hasste es, hier Besuch zu haben.

Er ging zum Mangobaum. Sheryll, eine ausgezeichnete Fechterin, die bevorzugt zwei kurze, gekrümmte Schwerter benutzte, grüßte ihn. Als sie bemerkte, wie er die anderen, die mit ihr gekommen waren, ansah, senkte sie ihren Blick. »Ich konnte sie doch nicht zurücklassen«, sagte sie leise.

Wer war er, über Sheryll zu urteilen, dachte Nodon. Schließlich hatte er die verdammte Schlangenfrau hierhergebracht. Sie war gefährlich, das wusste er, auch wenn sie sich jetzt so gab, als wäre sie nur die Leibdienerin Solaiyns.

Nervös griff Nodon nach seinem Schwert. Etwas im Jadegarten stimmte nicht. Es war nur ein unbestimmtes Gefühl, aber seine Gefühle hatten ihn in der Vergangenheit selten getrogen.

Er bemerkte den Pegasusrappen, der im Schatten der Pyramide graste.

»Nandalee ist vorhin hineingegangen«, sagte Sheryll, die erneut seine Gedanken erriet.

Solaiyn ging von Aloki begleitet ebenfalls zur Pyramide. Was nahm der Fürst sich heraus? Nodon querte mit einer Eile, die kaum mit seiner Würde zu vereinbaren war, die Wiese. »Fürst Solaiyn, was tut Ihr da?«

»Nun, wonach sieht es denn aus, mein Freund? Ich mache dem Drachen, in dessen Garten ich gefallen bin, meine Aufwartung, um mich zu entschuldigen.«

Nodon vertrat ihm den Weg. »Nachtatem mag es nicht, in seinem Refugium gestört zu werden.«

»Was wir schon getan haben.« Der Fürst sah ihn herausfordernd an. »Also gebietet es mir die Höflichkeit, mich bei ihm zu entschuldigen und ihm zuzusagen, dass wir seinen Garten auf dem schnellsten Weg wieder verlassen werden.«

Schritte erklangen auf dem Weg, der tief ins Herz der Pyramide führte. Eine Drachenelfe in ihrem weißen Prachtgewand trat aus dem Halbdunkel der Tunnel, ein blutbesudeltes, langes Schwert in der Hand.

»Nandalee?«

Sie sah nur kurz zu Nodon auf, hielt aber auf ihrem Weg nicht inne. Sternauge kam zu ihr gelaufen. Sie sprang auf das Sattelbrett und flog davon, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.

Aloki beugte sich nieder, fuhr mit dem Finger durch einen einzelnen Blutstropfen auf den Steinplatten und leckte daran. »Drachenblut«, bemerkte sie ruhig.

Nodon hörte die Rufe der Gazala durch die Gänge unter der Pyramide hallen.

Ohne der Schlangenfrau noch einen weiteren Blick zu schenken, lief er hinab ins Halbdunkel.

Einige verstörte Prophetinnen kamen ihm entgegen. »Nandalee!«, riefen sie durcheinander. Und auch: »Drachentöterin!«

Nodons Gedanken überschlugen sich in heillosem Chaos. Das konnte nicht sein. Bei allem Streit, der zwischen den beiden immer wieder ausgebrochen war, sie hätte ihn niemals getötet. Das war undenkbar! Und doch befürchtete er es. Alles, was er gesehen hatte, sprach dafür. Wie hatte sie …?

Er erreichte die weite Grotte. Nur wenige Gazala waren noch dort. Nodon erkannte Firaz, die neben Nachtatem kauerte. Er sah friedlich aus. Sein großes Haupt war auf seine Vorderpfoten gesunken, fast so, als würde er schlafen. Aber Nodon wusste, dass er das nicht tat. Er spürte die dunkle Macht nicht mehr, die jeden Ort erfüllt hatte, an dem sein Meister sich aufhielt.

Er stieg auf die Insel hinauf. Sah das Blut, das den Fels hinablief und sich mit dem Wasser der weiten Grotte vermengte.

»Sie hat ihn getötet!«, entfuhr es Solaiyn.

Nodon war so aufgewühlt gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass der Fürst ihm gefolgt war.

»Sie war es! Ich habe ihr blutiges Schwert gesehen. Und sieh dort, an seinem Hals! Die Stichwunde. Er muss ihr bis zuletzt vertraut haben, dass er sie so nah an sich herangelassen hat.«

Plötzlich war sein Schwert in seiner Hand. »Geh!«, fuhr er Solaiyn an. »Geh!«

Aloki schob sich schützend vor ihren Herrn.

»Geht beide«, sagte er ein wenig beherrschter. »Und lasst niemanden mehr hier hinab. Ihr steht in der Gruft des Erstgeschlüpften. Es geziemt sich nicht, hier zu sein und ihn anzugaffen.«

Aloki verneigte sich sanft vor dem toten Drachen. Solaiyn tat das nicht. Dann verließen die beiden die Grotte.

Nodon vermochte nicht zu begreifen, was geschehen war. Alles schien so eindeutig, und doch passte nichts zusammen. Nandalee konnte das nicht getan haben. Er sollte sie befragen. Und er musste sicherstellen, dass niemand etwas Übereiltes unternahm. Gewiss war sie zur Alten Veste geeilt, um nach ihren Kindern zu sehen. Dort würde er sie stellen.

Aber Solaiyn … wenn der Goldene durch die Augen des Fürsten sah … Hatte er es vielleicht schon getan? Wenn er jetzt noch retten wollte, was zu retten war, musste er schnell sein. Er wusste, wozu die Himmelsschlangen fähig waren. Sie würden vor nichts zurückschrecken, um die Mörderin des Erstgeschlüpften zu strafen.

Er lief durch die Tunnel, versuchte Solaiyn einzuholen, doch der Fürst hatte schon den Ausgang erreicht und verkündete keuchend, was geschehen war.

»Sheryll«, wies der Schwertmeister die Drachenelfe an. »Du nimmst die beiden Enkeltöchter des Fürsten Solaiyn mit dir zur Alten Veste.« Er hielt mit gezogenem Schwert Aloki auf Abstand. »Mach schnell!«

»Du willst die Mörderin verteidigen?«, fuhr ihn der Fürst an. »Bist du von Sinnen?«

»Es kann nicht so gewesen sein, wie es scheint«, beharrte der Schwertmeister.

Farella und Lydaine leisteten keinen Widerstand, als Sheryll sie mit sich zog. Die wenigen Drachenelfen der Veste, die in den Jadegarten zurückgefunden hatten, folgten ihr, ohne Fragen zu stellen.

»Wir beide haben die Mörderin gesehen, mit ihrem Schwert in der Hand, von dem das Blut des Erstgeschlüpften troff. Welchen Grund gibt es, sie zu decken, Nodon? Bist du etwa Teil dieses Komplotts?«

Dieser absurde Vorwurf war ihm keine Antwort wert. Ohne Aloki aus den Augen zu lassen, wich er langsam zurück. Er musste zur Alten Veste und Nandalee stellen.

Nur Kinder

»Was soll das heißen, sie war nicht hier?«

Farella war überrascht, Nodon so aufgeregt zu sehen. Niemals hätte sie erwartet, dass er seine kalte Ruhe verlieren könnte. Im Pavillon hatte sie ihn bewundert. Er war nicht in Panik geraten, und nie hatte er auch nur mit einer Wimper gezuckt, wenn Steinkugeln direkt neben ihm gegen die Fenster geschmettert waren. Doch seit der Einbeinige aus dem Palas gekommen war, hatte er völlig die Fassung verloren.

»Wo sind die Kinder?«, wollte Nodon nun wissen.

»In Sicherheit!«

»Was heißt das?«

Der Krüppel nahm Nodon beiseite und redete flüsternd auf ihn ein, sodass Farella kein Wort mehr verstand. Und sie wagte es nicht, näher an die beiden heranzutreten. Das hätte nur Verdacht erregt. Kein Kind schlich sich an streitende Fremde heran.

So blieb ihr nichts, als neben ihrer Schwester auf der steinernen Bank neben den Ställen sitzen zu bleiben. Auch Lydaine beobachtete den Schwertmeister und den Krüppel.

Farella war ein wenig enttäuscht. Sie hatte sich die Alte Veste größer vorgestellt.

Sheryll und die übrigen Drachenelfen, die mit Nodon gekommen waren, verbreiteten die Geschichte vom Tod des Erstgeschlüpften. Farella glaubte förmlich zu spüren, wie Entsetzen Einzug in die Burg hielt. Es war ihre Aufgabe gewesen, über Nachtatem zu wachen. Sie waren nicht nur darin gescheitert, es war auch noch eine aus ihren eigenen Reihen, die den Erstgeschlüpften getötet hatte.

»Die werden Nandalee und ihre Kinder gefangen nehmen«, raunte ihr Lydaine zu. Farella hoffte, dass es nicht so kommen würde. Sie wollte den Kampf erleben, auf den Bidayn sich so lange vorbereitet hatte und in dem sie eine so wichtige Rolle spielen sollte.

Sie blickte zum Palas. An einem der Fenster entdeckte sie zwei Kindergesichter. Sie winkte hinauf, doch die beiden reagierten nicht. So also sahen Meliander und Emerelle aus. Zwei richtige Kinder. Bald würde sie ihnen begegnen.

Nodon hatte sich ihr gegenüber sehr ehrenhaft verhalten. Auf dem Weg zur Festung hatte er sich drei Mal dafür entschuldigt, dass er sie als Geiseln genommen hatte, und ihnen zugesichert, dass sie sich frei in der Alten Veste bewegen durften, solange sie nicht versuchen würden, sie zu verlassen. Natürlich hatte sie feierlich mit Lydaine geschworen, dass sie das niemals tun würden.

Jetzt trat der Schwertmeister mitten in den Hof. Er richtete verzweifelte Worte an seine Gefährtinnen und Gefährten. Beschwor sie, besonnen zu bleiben und ihre Gemeinschaft nicht zerbrechen zu lassen.

»Nandalee wird kommen! Ihre Kinder sind hier. Sie wird sie nicht im Stich lassen. Und die Himmelsschlangen werden uns nicht angreifen, solange die Enkeltöchter des Feldherrn Solaiyn unsere Gäste sind. Bitte, Brüder und Schwestern, vertraut unserer Gemeinschaft. Das kann nur ein Komplott sein. Ihr alle kennt Nandalee seit vielen Jahren. Sie kann es nicht getan haben!«

Farella war sich nicht sicher, ob er die Drachenelfen überzeugt hatte, doch das Tuscheln unter den Kriegern begann nicht von Neuem. Sie bezogen ihre Posten in der kleinen Burg, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. War es das, was einen Drachenelfen ausmachte: Gehorsam ohne Zweifel. Eine unheilvolle Stille legte sich über den Hof.

Es war ein heißer Tag. Die Luft zerfloss über dem Pflaster zu glasigen Schlieren. Das war gut. »Jetzt«, raunte sie Lydaine zu. Dann erhob sie sich und setzte ihr unschuldigstes Kleinmädchengesicht auf. Mit zögerlichen Schritten ging sie zu Nodon und dem Krüppel, die erneut leise miteinander redeten. »Mir ist so heiß …. Darf ich in den schattigen, kühlen Palas, Schwertmeister?«

»Selbstverständlich, junge Dame.« Nodon schlug einen ausgesucht höflichen Ton an. »Es tut mir wirklich aufrichtig leid, dass ihr beide unter diesen Umständen hierhergekommen seid. Ich werde mit meinem Leben dafür haften, dass euch kein Leid geschieht.« Er deutete in Richtung des Portals. »Ich habe dir versprochen, dass du dich frei bewegen darfst. Möchte deine Schwester nicht mit dir kommen.«

Farella schüttelte den Kopf und vermied es, dem Schwertmeister in seine unheimlichen Augen zu sehen. »Sie mag die Sonne. Sie will hierbleiben.«

Mit einem artigen Knicks verabschiedete sie sich und ging hinüber zum Eingangsportal. Die Tür ließ sich leicht öffnen. Zwei Lichtbahnen fielen durch Schießscharten in die Eingangshalle. An dem Platz, den Bidayn ihr beschrieben hatte, stand die tiefe Schüssel mit dem Wasser. Farella füllte sich einen kleinen Becher. Limonensaft war unter das Wasser gemengt worden, das angenehm kühl ihre Kehle hinabrann.

Argwöhnisch sah Farella sich um. Sie war ganz allein. Hier in der Alten Veste gab es keine Kobolddiener, die sie vielleicht aus verborgenen Winkeln bespitzeln würden.

Entschlossen zog das Mädchen die Phiole hervor, die Bidayn ihr gegeben hatte, und ließ das Schlafgift darin in die Wasserschüssel träufeln. Es war geruchs- und geschmackslos. Und es war wohlbemessen. Niemand würde einschlafen, aber wer von diesem Wasser trank, würde im Kampf benommen und ein leichter Gegner sein.

Lydaine würde in den Brunnen im Hof ein stärkeres Gift schütten.

Farella war ein wenig enttäuscht. Alles war so einfach gewesen. Und wenn Bidayn in einigen Stunden kam, würde es keinen richtigen Kampf geben, nur ein Gemetzel.

Ich weiss, du hast mich geliebt

Schon als sie durch den Albenstern getreten war, hatte Nandalee gespürt, dass etwas nicht stimmte. Mit gezogenem Schwert ging sie auf die flache Insel zu, auf der Nachtatem schlief. Alle Gazala bis auf Firaz waren verschwunden. Sie kauerte beim Kopf des Erstgeschlüpften, als wachte sie über seinen Schlaf. Unheimliche Stille hatte sich über die weite Grotte gelegt, die sonst vom Murmeln der Orakel erfüllt war.

Lautlos schritt Nandalee durch das flache Wasser. »Was ist hier geschehen?«

Firaz zuckte erschrocken zusammen. Die blinden Augen der Seherin starrten in ihre Richtung. »Du? Wie kannst du es wagen, noch einmal zurückzukehren?«

»Was ist hier geschehen?«

»Geh!«, fauchte die Gazala sie an und kam ihr entgegen. »Geh! Ich verfluche den Tag, an dem du hierhergekommen bist. Den Tag, an dem er dir sein Vertrauen geschenkt hat.«

Nandalee verstand nicht. Warum erwachte der Dunkle nicht? Sie hatte es geschafft. Dank ihm, das war ihr bewusst. Er hatte an sie geglaubt, und er hatte ihr die Gelegenheit verschafft, nach Daia zu gehen.

»Ich verfluche dich!«

Nandalee trat einen Schritt zurück. Firaz schlug nach ihr. Es waren unbeholfene Faustschläge, denen die Elfe leicht ausweichen konnte. Die Gazala war keine Bedrohung. Aber der Dunkle … Nandalee wurde sich bewusst, dass seine alles beherrschende, düstere Präsenz fehlte. Die Aura seiner Macht, durchwoben von einer Melancholie, wie man sie wohl nur empfinden konnte, wenn man alt wie die Welt war.

Die Grotte war nicht länger ein magischer Ort.

Nandalee stieß Firaz zur Seite und lief zum flachen Felsen hinauf. Sie berührte das Haupt des Dunklen, strich sanft über die schweren Lider, die über seine Augen gesunken waren. Sie hätten warm sein müssen. Dann sah sie das Blut auf dem Fels, entdeckte die Wunde. Es war offensichtlich, und doch weigerte sich ihr Verstand, es zu akzeptieren. Er war ewig! Eine Welt ohne ihn hatte es nie gegeben! Er war das erste Geschöpf der Alben. Der Tod existierte für ihn nicht, so zumindest war es Nandalee immer erschienen. Er war älter als der Tod.

»Mörderin!« Firaz, die ihr gefolgt war, schlug mit Fäusten auf sie ein. Nandalee spürte es kaum.

Die Elfe ließ Todbringer zu Boden gleiten und legte eine zweite Hand auf das kalte Augenlid des Drachen. »Ich weiß, du hast mich geliebt«, sagte sie leise. »Und ich habe es dir schlecht vergolten. Ich …« Ihr fehlten die Worte. Es wäre noch so vieles zu sagen gewesen, hätte er noch gelebt. Jetzt musste sie an die denken, die noch nicht tot waren. An jene, für die sie in den Gelben Turm gegangen war. So würde sie sein Andenken wahren. Er hätte es nicht anders gewollt.

Sie beugte sich vor und hauchte dem Dunklen einen Kuss auf das Augenlid. »Danke.«

Firaz hatte sich an sie geklammert. Noch immer schlug die Gazala auf sie ein. Eine Hand griff in Nandalees Gesicht, kratzte ihr die Haut blutig und verfehlte nur knapp ihr rechtes Auge. Sie schüttelte die Gazala ab.

»Ich wünschte, du und deine Brut, ihr wärt allesamt bei der Geburt verreckt. Ich verfluche die Stunde, in der ich euch geholfen habe …«

Nandalee nahm ihr Schwert und rannte. Sie musste zu den Kindern. Und sie musste begreifen, wie das hatte geschehen können. Sie hätte blind den Weg aus der Pyramide gefunden. Sie dachte daran, wie sie hier eine Gefangene gewesen war. Daran, wie Nachtatem sie erwählt hatte, und den Rausch aus Schmerz und Leidenschaft, als er sie tätowierte. Wie konnte er tot sein?

Benommen von dem, was sie nicht begreifen konnte, trat sie aus der Pyramide. Da waren andere Elfen. Und eine schlangenhafte Kreatur …

»Ergreift sie!«, rief eine befehlsgewohnte Stimme. Das musste Solaiyn sein. Nodon hatte ihr von dem Fürsten erzählt. »Packt die Mörderin!«

Nandalee sprach ein Wort der Macht und nahm der Zeit ihre Hast. Die Worte des Elfenfürsten wurden zu gedehnten, unverständlichen Lauten. Seine Bewegungen verlangsamten sich.

Sie wollte nicht kämpfen. Sie wollte ihre Kinder retten. Ihre Kinder! Warum waren sie nicht mehr in der Pyramide? Sie blickte auf zu der Alten Veste, die sich in die weite Höhle in der Steilwand duckte. Dort würde sie alle Antworten finden.

Sie begann zu laufen, wie sie noch nie in ihrem Leben gelaufen war.

Im Zweifel

Nodon hatte geahnt, dass es so kommen musste. Er hätte es so getan. Und er war vorbereitet. Die anderen hatten nichts bemerkt. Für sie stand er nur reglos Wache, doch hatte er den Puls der Zeit verlangsamt. Es war ein gefährliches, kräftezehrendes Spiel. Das magische Netz, das unsichtbar die Welt durchdrang, kämpfte gegen ihn an. Er hatte begonnen, sich diesem Zauber zu widmen, als er gesehen hatte, wie schnell Aloki war. Er hatte sich ihr nie mehr ausgeliefert fühlen wollen. Und auch nicht Bidayn. Manche Geschichten aus der Welt der Menschen waren selbst bis zu ihm gedrungen. Die Art, wie ihre Unsterblichen starben. Er wusste, was dort geschehen war. Und er wusste, dass es auch hier geschehen würde. Alles lief darauf hinaus. Die einzige Frage, die blieb, war, wer zuerst kommen würde: Nandalee oder Bidayn.

Nandalee gab ihm die Antwort. Er erwartete sie beim Tor. Angespannt. Er wusste, wie tödlich sie war. Es wäre ungefährlicher, sie mit gezogenem Schwert zu erwarten. Aber er brauchte Antworten.

Sie kam den Weg zur Veste hinauf, so schnell, dass ihre Konturen zu einem weißen Schemen verschmolzen, und das, obwohl auch er für sich den Lauf der Zeit verändert hatte.

Nodon ließ alle Vorsicht fahren und verstärkte seinen Zauber gegen den Widerstand der magischen Welt.

Keinen Augenblick zu früh. Sie kam durch das Tor. Seinen Fausthieb sah sie nicht kommen. Sie musste blind vor Sorge um ihre Kinder sein.

Der Treffer wirbelte Nandalee herum, ließ sie hart gegen die Mauer des Torturms schlagen. Doch sie war nicht benommen. Sofort hob sie Todbringer, bereit zum Gegenangriff.

Nodon sah ihren gehetzten, verzweifelten Blick. Er wusste, dass ihm nur ein Herzschlag blieb, bevor sie auf ihn losgehen würde. »Reden oder kämpfen?«

Sie ließ die Waffe nicht sinken, griff aber auch nicht an. »Der Dunkle … Wer?«, schrie sie ihn an.

Er sah, dass ihr Gewand zerfetzt war. Sie blutete aus vielen leichten Wunden. Ein Umhang lag um ihre Schultern, und in ihrem Haar schmolz Eis gewordener Schnee. Sie sah ganz anders aus als vor der Pyramide.

»Alle glauben, du hättest Nachtatem getötet.«

»Lügen!« Sie trat einen Schritt vor.

Nodon legte die Hand an den Schwertgriff. Noch einen Schritt durfte er ihr nicht gewähren, sonst könnte er nicht mehr schnell genug ziehen, um ihren Angriff abzuwehren. »Ich selbst sah dich mit blutigem Schwert aus der Pyramide kommen.«

Ihre Augen weiteten sich. Sie wirkte erschüttert. »Das kann nicht sein«, sagte sie leise.

Nodon blickte hastig zu den anderen Wachen. Auch wenn sie beide die Zeit beschleunigt hatten, würden sie für die anderen sichtbar werden, wenn sie zu lange an einer Stelle stehen blieben.

Nandalee hatte sofort begriffen. »Zieh dein Schwert, lass uns einander umkreisen, so verschwimmen wir zu Schemen.«

Eben noch war Nodon unsicher gewesen, doch nun hatte er das Gefühl, dass es klüger war, ihr nicht länger unbewaffnet gegenüberzustehen. Da war immer noch der gehetzte Blick in ihren Augen. Sie wollte zu ihren Kindern. Viel Zeit zum Reden würde ihm nicht bleiben.

Leise zischend glitt sein Schwert aus der Scheide. Er wusste, wie sie kämpfte. Wusste, welche Vorteile ihm seine kürzere, schnellere Klinge gewährte. Wenn sie es herausforderte, würde er nicht zögern, sie zu töten. »Alle halten dich für eine Mörderin. Ich war nicht der Einzige, der dich aus der Pyramide kommen sah. Solaiyn und etliche andere waren ebenfalls dort.«

»Alles fügt sich ganz wunderbar, nicht wahr?«, sagte sie bitter. »Ich lag viele Jahre im Streit mit Nachtatem, und nun habe ich die Gunst der Stunde genutzt und ihn getötet.«

»Genau so werden es viele sehen.«

»Der Erstgeschlüpfte hat mich nach Daia geschickt. Ich war im Gelben Turm und habe das Traumeis gestohlen.« Sie deutete mit einem Nicken zu dem Lederbeutel an ihrem Gürtel.

»Es sind Stunden vergangen, seit du aus der Pyramide gekommen bist. Du kannst die Zeit dehnen. Du hättest es …«

»Wenn ich vor dem Gelben Turm die Zeit gedehnt hätte, wäre ich wie ein Leuchtfeuer für die Devanthar gewesen.«

»Die Devanthar, die alle auf Nangog waren, um zu kämpfen?« Er wollte ihr glauben, aber er brauchte bessere Beweise.

Nandalee ließ den Bidenhänder sinken. »Ich trete vor den Rat der Himmelsschlangen«, sagte sie entschieden.

Misstrauisch beobachtete Nodon, wie sie in die Hocke ging. Seine Klinge folgte ihren Bewegungen. Er war gefasst auf einen plötzlichen Angriff, der nicht kam. Sie legte das Schwert auf den Boden und richtete sich wieder auf. »Ich ergebe mich dir.«

War das ein Trick? Er war sich nicht sicher.

Die Elfe trat von ihrem Schwert zurück, sodass er einen Fuß auf die Klinge stellen konnte. Würde sie das tun, wenn sie schuldig war? Vielleicht … Bei jeder anderen Elfe hätten die Himmelsschlangen in den Erinnerungen geforscht. Sie hätten sich mithilfe von Magie den Zugang zu ihrem Gedächtnis erzwungen und gewusst, was Wahrheit war und was Lüge. Doch bei Nandalee war das unmöglich, das wusste er. Auch argwöhnte er, dass vielleicht einigen der Himmelsschlangen an einer schnellen Verurteilung der Elfe gelegen sein konnte. Er aber wollte kein Urteil. Er wollte die Wahrheit über den Tod des Drachen, dem er so lange gedient hatte.

»Hast du noch irgendeinen anderen Beweis für die Wahrheit deiner Geschichte?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Warum kommst du so spät?«

»Sternauge wurde getötet. Ein metallener Tausendfüßler drang durch sein Auge in sein Hirn. Ich hatte einen langen Weg bis zum nächsten Albenstern.«

Der Schwertmeister seufzte. Auch das konnte einfach nur eine Geschichte sein. Und doch, vor der Pyramide war sie mit ihrem Pegasus erschienen und in unversehrter Kleidung. Nachtatem hatte sie geliebt, obwohl sie seine aufsässigste Dienerin war. Vielleicht auch gerade deshalb. Er hingegen hatte sich selbst immer als den hingebungsvollsten Diener des Erstgeschlüpften gesehen. Das wollte er auch über den Tod seines Gebieters hinaus sein. Alles, was er jetzt noch für Nachtatem tun konnte, war, so lange an Nandalees Seite zu stehen, bis er ganz sicher wusste, ob sie die Wahrheit sprach oder ihn anlog. Niemand sonst würde sich diese Mühe machen. Die Beweise gegen Nandalee waren zu erdrückend. Die Himmelsschlangen würden sie schnell aburteilen. Nachtatem hätte gewollt, dass er sie beschützte. Sie und ihre Kinder. Er würde sich allerdings …

Schlieren von Dunkelheit tasteten sich durch den Torbogen in die Alte Veste. Langsam, wie Tentakel aus Fleisch gewordener Nacht, schoben sie sich in den Hof. Der Angriff hatte begonnen. Nodon stieß den Bidenhänder mit dem Fuß zu Nandalee. »Nimm Eleborn und die Kinder, ich werde sie so lange aufhalten, wie ich kann.«

Die im Dunkel

Bidayn sah, wie Valarielle Dunkelheit durch den Torbogen der Alten Veste blies. Die schwarzen Rauchschlieren griffen schnell in den Hof hinein und füllten ihn. Keiner ihrer Feinde war zu sehen, aber ihre Gefährten wussten, wo die Wachen stehen würden. Bidayn hatte mit Bedacht bis zur Dämmerung gewartet. So hatte die Besatzung der kleinen Burg Zeit genug gehabt, von dem mit Schlafgift versetzten Wasser zu trinken. Jetzt tat es ihr leid, zu dieser Kriegslist gegriffen zu haben. Womöglich würde ihr Kampf zu leicht werden.

Lemuel, der ihre Adler hütete, lief als Erster durch das Tor. Sie hatten die großen Vögel am Fuß der Felsen zurückgelassen, um durch ihren Anflug keine Aufmerksamkeit zu erwecken. Dort unten hatten sie auch den Zauber gewirkt, der die Zeit ihrem Willen unterwarf. So war es möglich gewesen, so schnell den schmalen Weg zur Veste hinaufzukommen, dass keine Wache sie bemerken konnte.

Kyra folgte ihm. Lemuel sollte sich links halten, die Märchenerzählerin, die in den letzten Jahren ihre Schwertkunst noch weiter verbessert hatte, ging durch die Mitte. Als sie schwer verletzt aus Nangog zurückgekehrt war, hatte Bidayn befürchtet, im letzten Kampf auf sie verzichten zu müssen, doch der Goldene selbst hatte Kyra geheilt.

Bidayn entschied, sich rechts zu halten, um in den Ställen das zu tun, wovor ihre Gefährten vielleicht zurückschrecken würden. Asfahal aber würde im Tor bleiben, um jeden aufzuhalten, der es vielleicht schaffte, den Schwertern der Angreifer zu entkommen. Die größte Stärke der Alten Veste war auch ihre größte Schwäche: Es gab nur einen Weg hinein oder hinaus. Niemand würde diesem Angriff entkommen.

Bidayn sprach ein weiteres Wort der Macht, dann trat sie ins Dunkel. Valarielle hatte ihren Zauber so lange verfeinert, dass selbst das Verborgene Auge, dem sich sonst die magische Welt offenbarte, nicht die Finsternis durchdringen konnte. Das Einzige, was half, war, die anderen Sinne zu schärfen, was Bidayn mit einem weiteren Zauber getan hatte. Deutlich hörte sie nun das feine Klingeln der Silberglöckchen, die sie alle um ihre Fußknöchel gebunden hatten. Links von ihr traf Stahl auf Stahl. Lemuel musste einem Feind begegnet sein, der auf sie vorbereitet war. Kyra würde dem Adlerreiter zu Hilfe eilen.

Bidayn trat in die Stallungen für die Pegasi. Der Geruch der Tiere überwältigte fast ihre überempfindliche Nase. Doch da war noch ein anderer Duft. Waffenöl! Der Geruch einer gut gepflegten Klinge.

Bidayn durchstach die Finsternis gleich neben der Stalltür. Ihre Klinge traf auf Widerstand. Wer immer dort stand, starb, bevor er sie nur hatte bemerken können. Sie stieß ihr Schwert hoch in den Leib, zog es heraus und versetzte dem Feind, den der Duft seines Schwertes verraten hatte, zur Sicherheit noch einen zweiten Stich.

Ein Rumoren lag in der Luft. Die Pegasi waren unruhig, doch für Bidayn gab es kein Wiehern, kein Stampfen mit Hufen, nur bis zur Unkenntlichkeit gedehnte Laute. Es stank nach Fell und Pferdeäpfeln, darunter mischte sich nun der Duft frisch vergossenen Blutes. Eine zweite Wache war in den Ställen nicht zu erwarten. So ließ Bidayn sich Zeit und trat vor den ersten Pegasus, ertastete seinen Hals und streichelte ihn sanft. Das Fell fühlte sich samtig und warm an. »Es tut mir leid«, sagte sie sanft und schnitt mit ihrer Klinge tief in die Kehle des Pegasus.

Ruhig ging sie weiter zum nächsten Verschlag. Es musste getan werden. Nandalee und ihren Kindern durfte keine auch noch so kleine Möglichkeit zur Flucht gelassen werden. Ihre Gefährten hätten vor dem Mord an den Pegasi vielleicht zurückgeschreckt. Außer Asfahal hatten sie alle einst einen geflügelten Hengst besessen. Und wie alle Drachenelfen hatten sie ihre stolzen Himmelsrösser geliebt. Dass sie jetzt auf den großen Schwarzkopfadlern flogen, war allein der Art geschuldet, wie sie kämpften. Ihrer Liebe zu den Pegasi hatte dies keinen Abbruch getan. Doch heute durften solche Befindlichkeiten keine Rolle spielen.

Die Elfe tötete alle sechs Rösser.

Als sie auf den Hof trat, kam ihr das leise Klingeln von Silberglöckchen entgegen.

»Bidayn?«

Kyras Stimme klang ruhig und dunkel.

»Ja?«

»Die Wachen auf dem Wehrgang und im Turm sind tot. Sie müssen vom Wasser getrunken haben. Es war, als würde ich Schlafende abstechen.« Nicht der leiseste Hauch des Bedauerns lag in ihrer Stimme. Das, was Kyra durch den Unsterblichen der Zapote widerfahren war, hatte den letzten Funken von Mitgefühl in ihr ausgelöscht. »Die beiden Mädchen sind im Turm. Sie werden uns nicht im Weg sein, wenn wir es zu Ende bringen.«

Vom Palas erklang Schwertergeklirr.

Bidayn begann zu laufen. Sie hatte sich zu lange auf diesen Tag vorbereitet. Nun wollte sie mindestens einen echten Kampf haben, bevor es vorüber war.

Ein offensichtliches Geheimnis

Nodon berührte Sheryll sanft am Arm und bedeutete ihr mit einer weiteren Berührung, nach links zu gehen. Er hörte das leise Klingeln von mindestens zwei Angreifern.

Sheryll war die Letzte, die noch lebte. Die einzige unter seinen Drachenelfen, die den Zauber gemeistert hatte, der für sie die Zeit dehnte.

Nodon wich zur Treppe zurück und stieß mit dem Fuß gegen einen Körper am Boden. Kalte Wut stieg in ihm auf. Statt mit Nandalee zu reden, hätte er die anderen auf den Angriff vorbereiten sollen. Es war das zweite Mal, dass er heute versagt hatte. Nachtatem war tot, ebenso wie es nun auch die meisten seiner Drachenelfen waren.

Schwerter klirrten. Sheryll stöhnte auf. Er hastete zu ihr hinüber. Verfluchte Finsternis. Er sollte den Quell dieses Zaubers finden. Dann wären sie den Angreifern nicht ganz so hoffnungslos unterlegen.

Vielleicht hielt die Zauberweberin sich ja aus dem Kampf zurück? Nodon hielt inne. Er hörte gepresstes Atmen. So wie man atmete, wenn man einen Schmerz unterdrückte. Sheryll musste verwundet sein.

Wieder ertönten Schwertklingen. Er konnte hören, dass Sheryll in der Defensive war, nur noch zurückwich und mit ihren beiden Klingen verzweifelt versuchte, den Feind aufzuhalten.

Glocken flüsterten neben ihm. Er hielt den Atem an. Dann ließ er sein Schwert ins Dunkel wirbeln. Er hasste es, zuzuschlagen und nicht zu sehen, was er angriff. Doch es war nicht nur Dunkelheit, die sein Schwert durchschnitt.

Ein kurzer, japsender Laut erklang. Jemand fiel zu Boden. Neuerlicher Schwertersturm übertönte die Geräusche. Nodon kniete nieder, als er Sheryll aufschreien hörte.

Seine Hände ertasteten einen Leib vor ihm auf dem Boden. Ein leises Frauenkeuchen erklang. Er drückte ihr die Hand auf den Mund und schnitt ihr die Kehle durch.

»Valarielle?«, rief jemand leise.

Nodon erinnerte sich, vor vielen Jahren bei einem Besuch in der Weißen Halle einem schwarzhaarigen Mädchen begegnet zu sein, das diesen Namen getragen hatte. Die Meister hatten damals gesagt, sie habe das Talent, einst zu einer großen Zauberweberin zu werden. Doch sie konnte es nicht gewesen sein, die die Dunkelheit herbeigerufen hatte. Es wurde nicht heller.

Stattdessen hörte Nodon zwei weitere Kämpfer mit Glöckchen an den Knöcheln durch das Portal eintreten. Gegen drei würde er nicht bestehen. Es gab nur noch eine Hoffnung! Er griff nach den Glöckchen am Fußgelenk der Toten. Vorsichtig löste er sie. Dann pirschte er zur Treppe, die rechts des Portals hinauf zur Galerie führte.

Auch auf der Treppe auf der gegenüberliegenden Seite der Halle ertönte feiner Silberklang.

Nodon strebte dem Flur entgegen, an dem die Zimmer der Drachenelfen lagen.

Der Silberklang war nun unmittelbar vor ihm. Und da war noch ein nur allzu vertrauter Laut. Das Geräusch einer Klinge, die durch Luft schnitt. Er warf sich zurück.

Zu spät! Der Stahl traf seinen rechten Oberarm und schnitt bis auf den Knochen. Den Schmerz ignorierend, warf er sich nach vorn. Seine Stirn traf mitten ins Gesicht des Angreifers. Er hörte dessen Nasenbein knirschen, packte ihn und drängte ihn gegen das Geländer der Galerie, das unmittelbar hinter ihnen lag. Ein zweiter Stoß, und sein Gegner verlor das Gleichgewicht. Mit einem entsetzten Schrei stürzte er in die Tiefe.

Nodon ließ das Band mit den Silberglöckchen fallen, das er noch in der Linken hielt. Es hatte ihm nicht geholfen, sondern ihn verraten. Der Klang der Glöckchen musste sich um eine feine Nuance unterscheiden, sodass die Angreifer stets wussten, wer von ihnen wo stand. Und damit, dass er nicht geantwortet hatte, hatte er verraten, dass er nicht Valarielle war.

Sein Gegner schlug auf den Boden der Eingangshalle und fluchte leise. Der verdammte Bastard hatte auch noch Glück! Offenbar hatte er sich nicht das Genick gebrochen.

Nodon floh in den Gang in Richtung seines Zimmers. Er riss eine Tür auf und ließ sie wieder zufallen. Dann schlich er weiter, sorgsam darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen.

Die Angreifer konnten nun nicht sicher sein, ob er sich nicht in eines der Zimmer am Flur geflüchtet hatte. Das würde sie ein wenig aufhalten.

Lautlos schob er sein Schwert in die Scheide und tastete nach seinem Arm. Die Wunde blutete stark. Sobald die anderen die Dunkelheit bannten, würde seine Blutspur verraten, wohin er gegangen war. Er erreichte das Ende des Flurs. An der Stirnseite hing ein Gobelin, der einen Pegasus-Schimmel zeigte. Nodon schob den schweren Wandteppich zur Seite und tastete nach dem Stein, der sich ins Mauerwerk hineindrücken ließ. Diese verborgene Tür war ein so offensichtliches Geheimnis, dass es nicht lange dauern würde, bis seine Verfolger sie fanden. Aber so sollte es auch sein.

Lautlos glitt die Stirnwand zur Seite, und Nodon trat in einen Tunnel, der nach Felsstaub roch. Auch hier herrschte absolute Finsternis. Er hielt inne, löste seinen Schwertgurt und schlang ihn so eng es ging um seinen rechten Oberarm, um die Blutung zu stillen.

Erst als er sich halbwegs sicher war, keine Spur verräterischer Blutströpfchen zu hinterlassen, stand er auf und folgte dem Tunnel. Sorgsam zählte er die Schritte. Bei dreiunddreißig hielt er inne. Bevor er über die unebene Felswand tastete, wischte er seine blutbesudelte Linke sorgfältig an seiner Hose ab. Er durfte keine Spur hinterlassen!

Bald fand er den Felsvorsprung, der sich groß wie ein Hühnerei in seine Hand schmiegte, und drehte ihn leicht nach links. Eine zweite verborgene Tür öffnete sich. Ein Meisterwerk der Tarnung. Nodon hatte sie im Fackelschein betrachtet, als der Dunkle diesen Tunnel vollendet hatte. Wer nicht wusste, wo er suchen musste, würde es schwer haben, sie zu finden.

Niedergeschlagen trat er in den Tunnel, der ihn in die Wüste jenseits des Jadegartens führen würde.

Die Vogelfreundin

Bidayn kniete neben Valarielle. In der Dunkelheit konnte sie die Wunden ihrer Gefährtin nur ertasten. Die Zauberweberin war tot, daran konnte es keinen Zweifel geben. Aber ihr Zauber dauerte an. Wie war das möglich? Die Dunkelheit wollte einfach nicht weichen. Und wie hatten Nodon, Nandalee, der Krüppel und die Kinder entkommen können?

Angst überkam Bidayn. Jahrelang hatten sie sich auf diesen Angriff vorbereitet. Und er war missglückt! Sie wagte kaum, sich auszumalen, was geschehen würde, wenn sie dem Goldenen unter die Augen treten musste, um das zu berichten.

Ob sie noch hier waren? In irgendeinem geheimen Unterschlupf in der Veste? Asfahal hatte geschworen, dass niemand an ihm vorbeigekommen war, und sie glaubte ihm. Also musste es noch einen zweiten Ausgang geben.

Valarielles Mörder war nach oben in den Flur entkommen. Dort musste das Versteck sein. Sie durfte jetzt nicht aufgeben! Sie würde das Loch finden, in dem Nandalee und die anderen sich verkrochen hatten.

»Bringt sie hinaus!«, befahl sie Asfahal und Lemuel. Der Adlerreiter hinkte. Nichts Ernstes, aber bei einer Verfolgung würde er sie nur aufhalten. »Du kommst mit mir, Kyra. Ich vertraue auf deine Instinkte. Du wirst mir den Rücken freihalten.«

Bidayn schritt die Treppe hinauf. Von dem Besuch, den sie hier gemacht hatte, wusste sie sogar noch die Zahl der Stufen. Vom Treppenabsatz waren es achtundzwanzig Schritte bis zur Tür von Nandalees Zimmer. Dort war sie schon gewesen. In jedem Zimmer an diesem verfluchten Flur. Aber Nandalee und ihre Gefolgschaft blieben unauffindbar. Wenn sie wenigstens Licht hätten! Die Dunkelheit, die sie gerufen hatten, hatte sich gegen sie gewandt, dachte Bidayn bitter. Sie wollte nicht mehr weichen.

Das Geheimnis der Entflohenen verbarg sich in diesem Flur. Schritt um Schritt tastete sich Bidayn vorwärts. Ihr Stiefel rutschte. Ganz leicht nur. Etwas Schmieriges war auf dem Boden. Vorhin war ihr das nicht aufgefallen. Aber vorhin war sie auch auf der anderen Seite des Flurs gegangen.

Die Elfe ging in die Hocke und tastete über den Boden. Da war Blut. Ein wenig klebrig, schon leicht angetrocknet. Lemuel hatte also die Wahrheit gesagt. Er hatte seinen Gegner verwundet. Und er war sich sicher gewesen, dass er gegen einen Mann gekämpft hatte. Das konnte nur Nodon gewesen sein. Bidayn seufzte erleichtert. Das war ein Hoffnungsschimmer. Ihr vielleicht gefährlichster Gegner war geschwächt. Und er würde ihr den Weg weisen.

Sie sprach ein Wort der Macht, und der metallische Duft des Blutes war für ihre Sinne hundertfach verstärkt. Sie vermochte ihm nun so leicht zu folgen wie einem Lichtstrahl durch die Dunkelheit.

Die Blutspur führte sie zur Wand am Ende des Flurs. Ihre tastenden Hände strichen über den Wandteppich. Kyra zog ihn schon zur Seite. Etwas klackte leise.

»Du bist schnell«, bemerkte Bidayn anerkennend.

»Es war beleidigend simpel«, entgegnete sie, doch schwang auch ein wenig Stolz in ihrer Stimme.

Bidayn spürte einen leichten Luftzug auf dem Gesicht, als sie in den Tunnel trat. Die Wände waren nicht geglättet. Es war eine hastige Arbeit.

Die Drachenelfe witterte, ging ein Stück vor und kam wieder zurück. Der Blutgeruch wurde im Tunnel schwächer. Sie ging in die Hocke, tastete über den Boden und fluchte. Unmittelbar hinter der Tür konnte sie eine kleine Blutlache ertasten. Das bedeutete, Nodon hatte hier verharrt und seine Wunde abgebunden.

Aber es gab noch eine letzte Möglichkeit. Sie konnte die Kinder finden. Und dort, wo Meliander und Emerelle waren, befand sich sicher auch Nandalee. Bidayn schloss die Augen und wob den Zauber, den der Goldene sie nur widerstrebend gelehrt hatte. Sie wusste nicht, warum er ein solches Geheimnis darum machte. Es dauerte ein wenig, doch dann fand sie eine Verbindung zu den beiden Ringen, die der Goldene den Kindern geschenkt hatte. Sie waren nicht weit fort. Sie konnte zwei einzelne Fäden im Gespinst der magischen Matrix erspüren, die sie nun mit den Ringen verbanden. Sie musste sie nicht einmal sehen. Sie konnte ihnen blind folgen.

»Den Tunnel entlang«, sagte sie zuversichtlich.

Mit den Händen über die unebenen Wände tastend, arbeiteten sie sich langsam vorwärts. Es war ein langer Weg, der in geschwungenem Bogen zur Steilwand, die sich über dem Jadegarten erstreckte, führte. Bald sahen sie ein rechteckiges Stück Sternenhimmel.

Bidayn spürte, wie sie den Kindern näher und näher kam. Der Tunnel endete auf einem Felssims hoch über dem Tal. Doch hier war nichts! Es gab keinen Weg hinab oder hinauf.

Sie standen quasi im Himmel. Dennoch spürte sie die Ringe.

Tauben gurrten leise. Sie hatten sie in ihrem Schlaf aufgeschreckt.

Bidayn blickte auf und sah ein Pärchen, ganz nah auf einem Felsvorsprung. Ihr Nest bestand nur aus einem Kreis dürrer Äste. Die beiden drückten sich gegeneinander, als gäben sie sich gegenseitig Halt. Und da sah die Elfe etwas an ihren Füßen im Licht der Sterne funkeln. Die beiden Ringe. Nandalee hatte sie den Tauben aufgesteckt, und obwohl Bidayn damit endgültig die Spur ihrer einstigen Freundin verloren hatte, konnte sie nicht anders und musste lachen. Sie dachte an ihre Zeit in der Weißen Halle zurück. Daran, wie Nandalee das Ei der Misteldrossel bebrütet hatte und wie sehr sie den kleinen Vogel später umhegt hatte.

Auch sie hatte den Vogel manchmal gefüttert. Piep hatte Nandalee ihn genannt. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihrer Freundin im selben Bett geschlafen hatte, wenn sie sich fürchtete. So viele Jahre waren seitdem vergangen. So verschieden waren ihre Wege gewesen.

»Du kehrst besser zu den anderen zurück«, sagte sie Kyra. »Ihr solltet den Jadegarten verlassen. Wenn ihr klug seid, werdet ihr schnell und weit reisen. Ich werde dem Goldenen die Nachricht überbringen, dass wir die Spur von Nandalee und ihren Kindern verloren haben. Und ich weiß nicht, wie er es aufnehmen wird.«

Ein Hauch von Hoffnung

Wieder sah Nandalee die kreisenden Schatten am Nachthimmel. Für Geier waren sie zu groß. Für Drachen zu klein. Und Pegasi hatte sie so nie fliegen sehen.

Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Der Wüstenstreifen, der den Jadegarten umgab, war viele Meilen breit. Und bis zum nächsten Albenstern waren es mehr als fünfzig Meilen. Sie würden ihn nicht vor dem nächsten Nachmittag erreichen. Aber schon im Morgengrauen würden ihre Verfolger damit beginnen, in der Wüste nach ihnen zu suchen. Da war sie sich sicher.

Wegen der Kinder sprach sie nicht darüber, aber sie konnte es an den Gesichtern von Eleborn und Nodon ablesen, dass auch sie wussten, was sie alle erwartete. Ihre Spur im Sand war sehr auffällig. Es war unmöglich, sie nicht zu bemerken.

Der Schwertmeister stützte Eleborn, der mit seiner Krücke immer wieder im Sand eingesackt war. Dennoch kamen sie nur langsam voran. Sie selbst trug Meliander auf ihren Schultern. Er war eingeschlafen.

»Ich bin müde«, sagte Emerelle leise.

Sie hatte sich bisher gut gehalten. Nicht gejammert und keine Fragen gestellt. Aber sie war solche Märsche nicht gewöhnt.

»Nur ein kleines Stück noch. Siehst du die Schatten am Himmel?«

Müde hob die Kleine den Kopf.

»Was glaubst du, was das ist.«

»Pegasi«, antwortete Emerelle ohne zu zögern.

»Aber die Himmelspferde kommen normalerweise nicht in die Wüste. Was glaubst du, warum sie hier sind? Sieh nur, einige landen jetzt. Und andere steigen wieder in den Himmel.«

Ihre Tochter beobachtete eine Weile die Schatten. »Ich glaube, sie haben ein Geheimnis.«

Das dachte Nandalee auch. Und sollten die Himmelsrösser entgegen ihrer Gewohnheiten nicht sofort davonfliegen, wenn sich Elfen zeigten, gab es vielleicht noch einen Hauch von Hoffnung.

»Sollen wir dem Geheimnis nachspüren?«

»Ja!« Emerelles Müdigkeit schien vergessen. Für den Augenblick. Aber es lag noch mindestens eine Meile Weg vor ihnen.

Ihre Tochter drückte fest ihre Hand. Sie hatte den beiden nicht gesagt, dass Nachtatem tot war und sie nun gejagt wurden. Eleborn hatte angedeutet, dass etwas in der Pyramide geschehen war, aber in Anwesenheit der Kinder hatte er nicht darüber reden wollen. Wozu auch viele Worte machen? Ihr Schicksal war ohnehin unausweichlich.

Auch Nodon zog es vor zu schweigen. Hatte er ihr geglaubt? Oder hielt auch er sie für die Mörderin Nachtatems? Die Intrige gegen sie war wohldurchdacht. Sie würde sie niemals entkräften können. Bis ans Ende aller Zeiten würde man sie unter den Elfen als die heimtückische Verräterin kennen, die den Erstgeschlüpften ermordet hatte.

Der Goldene hatte am Ende obsiegt. Er würde die Himmelsschlangen nun anführen. Und er würde sich die Kinder holen. Nandalee ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Sie konnte nichts dagegen tun. Zumindest würden die zwei überleben. Schließlich hielt er sie für seine Brut.

Sie versuchte, all diese Gedanken zu vergessen. Dies war ihre letzte Nacht. Sie sollte sie genießen. Jetzt drückte sie Emerelles Hand. Ihre Tochter sah zu ihr auf und lächelte.

»Wir ergründen ein Geheimnis, und Meliander wird es verschlafen«, sagte sie gut gelaunt.

Nandalee konnte nicht anders, als auch zu lächeln.

Nun, da sie alles losgelassen hatte und sie sich ihrem Schicksal stellte, war ihr Herz ein wenig leichter. Es war eine wunderschöne Nacht. Sie erfreute sich am Licht der Sterne und der kühlen Brise, die den Sand um ihre Knöchel tanzen ließ.

Ein Wiehern störte die Stille der Nacht. Eine weiße Pegasusstute kam auf sie zugaloppiert. Etwa zehn Schritt entfernt blieb sie stehen und weitete die Flügel. Es schien, als wollte der Schimmel sie warnen, näher zu kommen.

»Ich glaube, sie wird uns treten«, sagte Emerelle eingeschüchtert.

Nandalee kniete nieder und legte Meliander behutsam in den warmen Sand. »Ich gehe zu ihr. Passt du auf deinen Bruder auf?«

Emerelle nickte.

Nandalee gab Nodon und Eleborn ein Zeichen, stehen zu bleiben. Dann hob sie beide Hände und ging langsam auf die Stute zu, wobei sie beruhigend auf sie einsprach.

Das Tier stampfte nervös und schnaubte herausfordernd. Kurz bevor Nandalee es erreichte, weitete es bedrohlich seine mächtigen Schwingen.

»Wir werden deine Herde nicht stören«, sagte sie leise. »Ruhig, meine Schöne. Ganz ruhig.« Sie wob Magie in ihre Worte und verstärkte den Geruch Sternauges, der noch an ihren Kleidern haftete. Pegasi waren zugänglicher, wenn man roch wie sie.

Immer noch stampfte die Stute mit den Hufen. Nandalee war jetzt bis auf drei Schritt an sie heran.

Ein zweiter und dritter Pegasus landeten hinter der Stute und kamen mit bedrohlich geweiteten Schwingen näher.

»Ich bin verwundet«, sagte Nandalee. »Und ich bin auf der Flucht. Drachen jagen mich.« Ihr war bewusst, dass die Stute sie nicht verstand, aber sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie musste die Pegasi friedlich stimmen. Die Himmelsrösser würden über ihr Leben oder ihren Tod entscheiden.

»Bitte, ich muss meine Jungen retten.« Zoll um Zoll arbeitete sie sich an die Stute heran. Zwei Mal scheute sie zurück, dann gestattete sie es, dass Nandalee ihre Nüstern berührte.

Die beiden anderen Pegasi waren nur noch einen Schritt entfernt. Beide hatten die Ohren angelegt. Eine falsche Bewegung, und sie würden sie mit trommelnden Hufen angreifen.

Doch die Stute schien Vertrauen zu ihr gefasst zu haben. Sie ließ es zu, dass Nandalee ihre Stirn streichelte. Und nun wagte sie etwas, das sie oft mit Sternauge getan hatte. Sie presste ihre Stirn an die der Stute und versuchte, sie an all ihren Gefühlen teilhaben zu lassen. An ihrem Zorn und ihrer Angst wegen der Himmelsschlangen. An ihrer Trauer um Sternauge und an der Sorge um ihre Kinder.

Auch sie spürte etwas. Trauer. Dieses Gefühl teilten sie beide. Als sie in die großen schwarzen Augen der Stute aufblickte, war alle Scheu daraus verschwunden. Sie wandte den Kopf zur Seite, ging zwei Schritte und blickte dann zu Nandalee zurück, als wollte sie sie auffordern, ihr zu folgen. Auch die beiden anderen Pegasi wirkten nicht mehr so nervös wie vorhin noch.

Nandalee erklomm eine flache Düne. Auf der Rückseite sah sie einen dunklen Körper, halb im Flugsand versunken. Ein Rappe.

Die Stute hielt neben ihm an. Sanft stieß sie mit den Nüstern gegen den leblosen Körper, als hoffte sie, sie könne ihn so aufwecken.

Die Elfe stieg zu dem toten Hengst herab. Sie streichelte ihn. Sein Kopf war schon halb im Sand versunken. »Es tut mir leid«, sagte sie leise und dachte an Sternauge. Nicht einmal ein Tag war vergangen, seit sie von ihm Abschied genommen hatte.

Nach einiger Zeit stand sie auf und ging zu den anderen zurück. Die drei Pegasi blieben bei ihrem Toten.

»Und, hast du das Geheimnis herausgefunden?«, bestürmte Emerelle sie.

»Ja.«

»Darf ich es auch sehen? Bitte!«

»Manche Geheimnisse sind traurig, wir jagen ihnen nach, doch wenn wir sie finden, stecken wir uns an ihrer Traurigkeit an. Dieses ist so ein Geheimnis. Willst du es wirklich wissen?«

Emerelle zögerte kurz, dann nickte sie.

Nandalee nahm sie bei der Hand und führte sie zum Kamm der Düne. Dort verharrte sie kurz, bis sie sich sicher war, dass die Stute erlaubte, dass sie noch einmal zurückkam.

»Ein toter Pegasus?«, sagte Emerelle leise und klang weniger erschüttert als enttäuscht.

»Ich glaube, es war ihr Gefährte oder ihr Bruder«, sagte Nandalee, und als sie den Eindruck hatte, dass die Stute es gestattete, dass sie sich noch einmal näherten, ging sie mit Emerelle hinab.

Ihre Tochter kniete sich neben den Kopf, so wie sie es eben getan hatte. Sie schob Sand zur Seite. »Er sieht aus wie Sternauge«, sagte sie leise, ohne in ihrer Arbeit innezuhalten.

Jetzt erst sah Nandalee die Blesse, die eben noch unter dem Sand verborgen gewesen war. Sie ähnelte der von Sternauge nicht nur. Sie war genau gleich!

Plötzlich gab Emerelle einen halb erstickten Laut von sich und sprang auf. Sofort scheuten die Pegasi und wichen zurück. Nandalee zog ihre Tochter zu sich in die Arme. Und dann sah sie, was Emerelle erschreckt hatte: Ein tiefer, sandverklebter Schnitt klaffte im Hals des Pegasus.

»Wer tut so etwas?«, schluchzte sie. »Das ist so böse!«

»Ich weiß es nicht.« Nandalee drückte ihre Tochter an sich und strich ihr über das Haar, bis sie sich beruhigte.

Aus den Augenwinkeln sah sie Nodon und Eleborn, die zum Kamm der Düne heraufgestiegen waren. Die beiden hatten alles gesehen.

»Kannst du ihm den Sand aus der Mähne streichen, oder graut es dir zu sehr vor ihm? Ich glaube, die Stute würde es mögen, wenn du das tust.«

Emerelle nickte, doch Tränen standen ihr in den Augen.

Als sie sich wieder neben dem toten Hengst niederließ, stieg Nandalee die Düne hinauf.

»Er sieht aus wie Sternauge«, sagte Nodon kalt, und es war überdeutlich, dass all seine Zweifel an ihrer Geschichte wieder erwacht waren.

»Es ist nicht Sternauge! Benutze deinen Verstand. Warum hätte ich ihn hier töten sollen? Wie wäre ich von hier zum Albenstern im Jadegarten gelangt?«

»Du kannst sehr schnell sein, wenn du willst.«

Er klang noch distanzierter. Würde er sie zum Kampf herausfordern? Hier, vor den Kindern?

»Sternauge starb in dem Tal, in dem der Gelbe Turm steht«, erklärte sie beschwörend. »Glaubst du wirklich, ich würde meinen Pegasus ermorden? Welchen Grund hätte ich dazu?«

Die letzte Frage schien ihn zum Nachdenken zu bringen. Jedenfalls nickte er zögerlich.

»Ich werde versuchen, die Pegasi dazu zu bringen, uns zu helfen. Vielleicht tragen sie uns zu einem Albenstern.«

»Besser, unsere Wege trennen sich schon hier, und sie tragen uns zu drei verschiedenen Albensternen«, warf Nodon ein. »Das wird es den Himmelsschlangen schwerer machen, uns zu verfolgen.«

Das war ein vernünftiger Einwand, doch Nandalee spürte, dass es dem Schwertmeister vor allem darum ging, fort von ihr zu kommen. Er konnte ihre Nähe nicht länger ertragen.

Sie griff nach dem Lederbeutel an ihrem Gürtel, nahm eines der Stoffröllchen heraus und überreichte es Eleborn. »Ich habe das Traumeis gefunden. Ich werde dir nie genug für all das danken können, was du für die Kinder und auch für mich getan hast.« Sie stockte. »Vielleicht wird dir das Traumeis helfen, wieder der zu sein, der du einst warst.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich werde mir mehr als nur ein Bein wachsen lassen. Ich werde mich von Grund auf verändern. Nach allem, was geschehen ist, bedauere ich, jemals ein Drachenelf gewesen zu sein.«

Nandalee bemerkte den verächtlichen Blick Nodons. Er würde immer ein Drachenelf bleiben, ganz gleich wie viel Zeit verging. Sie war sich auch sicher, dass er sich keinen neuen Meister suchen würde. Seine Treue gehörte allein Nachtatem. Sie gab auch ihm eines der Stoffröllchen. »Wann immer du an mir zweifelst, nimm dies in die Hand. Ich war im Gelben Turm, und ich habe Nachtatem niemals verraten.«

Es war unmöglich, in seinen schwarzen Augen zu lesen, was er dachte. Nandalee hoffte, dass sie ihn niemals zum Feind haben würde. Er würde sie finden, wenn er zu der Überzeugung gelangte, dass sie die Mörderin seines Herrn war. Und wenn es dazu kam, würde es keine Gelegenheit zu reden mehr geben.

»Ich weiß, wohin ich gehen werde«, durchbrach Eleborn das beklemmende Schweigen zwischen ihnen. »Ich werde …«

»Lass uns nicht voneinander wissen!«, unterbrach ihn Nodon schroff. »Die Himmelsschlangen werden uns nachstellen. Sollten sie einen von uns finden, ist es besser, wenn wir nicht verraten können, wo die anderen sind.«

Er hatte recht, und doch fand es Nandalee niederschmetternd, sich so zu trennen.

Sie ging zu den Pegasi. Noch einmal stand sie Stirn an Stirn mit der Stute. Und schließlich gestatteten die beiden Hengste Eleborn und Nodon aufzusteigen. Ohne ein weiteres Wort des Abschieds flogen sie in den Nachthimmel davon.

Nandalee hob Meliander auf, der noch immer schlafend im Sand ruhte. Mit ihm in den Armen ging sie zu Emerelle.

Ihre Tochter hatte die Mähne des toten Hengstes mit den Fingern ausgekämmt und den tiefen Schnitt im Hals wieder unter Sand verschwinden lassen. Die Stute trat hinter sie und stupste sie sanft mit der Schnauze in den Nacken, als wollte sie sich bedanken.

»Wohin gehen wir, Mama?«

Nandalee sah all die anderen unausgesprochenen Fragen in den Augen ihrer Tochter und wusste, dass sie schweigen würde. Zumindest in dieser Nacht. Manchmal war sie schon zu erwachsen, dachte sie bedrückt. »Wir machen eine weite Reise. Ihr beide wolltet doch immer schon fort aus dem Jadegarten. Wir werden Wüsten und Dschungel erkunden, ich werde euch den Winter in Carandamon zeigen, wo ich gelebt habe, als ich Kind war, und die Basare von Drashnapur. Alle Wunder dieser Welt werde ich mit euch teilen.«

Emerelles Augen strahlten.

Was sie ihr nicht sagen würde, war, dass sie gleich beim ersten Durchschreiten eines Albensterns absichtlich einen Fehler machen würde. Sie wollte nicht allein an einen anderen Ort. Sie wollte in die Zukunft gehen. Zehn, vielleicht fünfzehn Jahre.

Nachtatem hatte gesagt, Meliander und Emerelle würden eine große Zukunft haben. Der sollten sie etwas näher kommen, denn eine Gegenwart hatten sie alle drei nicht mehr.

Ohne Mass

Der Zorn der Himmelsschlangen kannte kein Maß. Wohin Bidayn auch blickte, der Horizont stand in Flammen. Seit Stunden schon wüteten die Drachen über dem Bainne Tyr, und obwohl das Grasland viele Meilen entfernt war, trieb der Wind die Asche bis zu den Felsen des Jadegartens.

Der Goldene hatte allen befohlen, hier hinaufzusteigen, um dem Strafgericht beizuwohnen. Solaiyn war da und seine Schlangenfrau, Farella, Lydaine und die anderen Elfen, die sich mit den Luftaalen hierher gerettet hatten, alle Kobolddiener der verborgenen Oase, ja selbst die Gazala, die von ihnen allen am meisten darunter litten, den ganzen Tag unter der sengenden Sonne zu stehen.

Keiner wagte es, ein Wort zu sagen oder gar in die Oase hinabzusteigen, um Wasser zu holen.

Die Himmelsschlangen waren spät am Morgen gekommen. Bidayn vermutete, dass sie sich noch beraten hatten. Sie wussten, dass ihr Bruder Nachtatem tot war. Der Goldene hatte sogar gewusst, dass Nandalee entkommen war. Sein Zorn war ausgeblieben, und er hatte vielmehr lobende Worte für ihren harten Kampf gefunden und ihr sein Beileid für Valarielle ausgesprochen.

Dann waren die Himmelsschlangen hinaus in die Wüste geflogen, und als sie wiederkamen, war alles anders gewesen. Ihr Zorn hatte keine Grenzen mehr gekannt. Sie hatten die Spuren von Nandalee und den Kindern gefunden. Die Mörderin und ihre Helfer waren in der Wüste auf Pegasi getroffen. Dort, wo es eigentlich keine Pegasi hätte geben dürfen. Und die Himmelsrösser hatten die Flüchtlinge davongetragen, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Sie alle waren hier versammelt, weil ihnen der Goldene eine Lektion erteilen wollte: Das Strafgericht, das sich vor ihren Augen abspielte, würde künftig jeden treffen, der der Mörderin half. Und sie sollten es in die Welt hinaustragen, damit alle erfuhren, was hier geschehen war.

Was die Himmelsschlangen so erzürnt hatte, konnte Bidayn nur erraten. Vielleicht hatte der Goldene in der Silberschale eine Zukunft gesehen, in der er Nandalee in der Wüste stellte, sie tötete und ihre Kinder zu sich nahm? Dabei hätte doch gerade er wissen müssen, wie trügerisch die Bilder waren, die jene verfluchte Schale zeigte.

Ein weiterer Flammenstrahl erhellte den Horizont.

Bidayn sah die Angst in den Gesichtern der anderen. Nandalee würde es künftig schwer haben, einen Unterschlupf zu finden.

Kaum dass der Feuerschein verschwunden war, stand ein Blauer Stern über dem brennenden Grasland. Das Himmelsschiff des Sängers! Kaum ein Albenkind hatte es nicht mindestens ein Mal in seinem Leben gesehen. Der Blaue Stern stand für Hoffnung. Und auch wenn der Sänger sich nie leibhaftig zeigte, so ließ er sie durch sein Himmelsschiff doch als Einziger wissen, dass die Alben mehr waren als nur Geschichten.

Der blaue Stern

Der Blaue Stern war wie aus dem Nichts am rauchverhangenen Himmel erschienen.

Der Goldene landete zwischen den Kadavern verbrannter Pegasi. Der Geruch des gebratenen Fleischs ließ Speichel von seinen Lefzen tropfen. Herausfordernd sah er zum Himmelsschiff des Sängers empor. Sollten sie nur kommen, die Alben.

Wir müssen nicht kommen, wir sind immer da. Die Worte waren in seinem Kopf. Ein Stück voraus erschien ein unstet tanzendes silbernes Licht.

Sie wagten es nicht, sich in seiner Gegenwart in Fleisch zu kleiden, dachte er abfällig.

Du irrst. Wir ehren dich nicht damit, uns zu offenbaren. Du und deine Brüder, ihr seid ohne Maß und ohne Weisheit. Nichts von dem, was ihr heute begonnen habt, wird Bestand haben.

»Wir sind der Schild eurer Welt. Wir tun, was ihr längst aufgegeben habt.«

Wir haben nie eine Welt zerstört. Auch haben wir niemals Tausende unserer Kinder auf dem Altar unseres Stolzes geopfert. Albenmark war behütet. Nangog war euch verboten. Habt ihr all dies vergessen?

»Ihr habt uns Macht gegeben, um uns dann zu verlassen. Also wundert euch nicht, dass wir diese Macht nun nutzen. Eure vermeintliche Freiheit führt nur zu Unsicherheit und Chaos. Heute ist der erste Tag der neuen Ordnung. Und auf die Schrecken dieses Tages werden Frieden und Sicherheit folgen.«

Frieden, wie ihn die Pegasi erfahren haben? Ihr habt sie alle gefunden. Es gibt keine Pegasi mehr in Albenmark. Was für ein Gefühl ist das, etwas für immer in dieser Welt vernichtet zu haben? Der Welt, die zu schützen wir euch Himmelsschlangen erschaffen haben.

Leere Worte, dachte er verärgert. Phrasen, hinter denen sich jene versteckten, die längst aufgegeben hatten, die Welt zu ordnen. »Am Anfang aller Ordnung steht ein Opfer. Ein paar tote Pferde erscheinen mir ein geringer Preis für den Frieden zu sein.«

Das Licht wurde so grell, dass der Goldene den Blick senken musste.

Du träumst von einem Zeitalter der Drachen. Einem Zeitalter, in dem du dich vom Hüter zum Herrscher aufschwingst. Nun wisse: Wir Alben haben der Ordnung heute auch ein Opfer gebracht, und auch wenn du es noch nicht spürst, ist es bereits vollzogen. Du und deine Brüder, ihr habt unsere Gunst verloren. Wir haben euch Himmelsschlangen die Gnade genommen, alterslos zu sein. Ihr werdet erfahren, wie es ist, euch jeden Tag ein wenig zu verlieren. Jene anderen Drachen aber, denen wir Vernunft geschenkt hatten, werden dazu verflucht sein, dass ihre Brut in Zukunft das sein wird, als das ihr euch heute gebärdet habt: Raubtiere! Statt des Verstandes, den ihre Eltern nicht zu nutzen wussten, werden Instinkte ihr Leben beherrschen.

Das Licht verblasste. Der Blaue Stern verschwand, und der Goldene blieb zurück inmitten von Rauch und Asche.

Ein geschenkter Traum

Artax bäumte sich auf. Es war dunkel. Er war so eng eingeschnürt, dass er sich kaum bewegen konnte, und ein mit Speichel vollgesogenes Stück Stoff steckte in seinem Mund.

»Ist ja schon gut, ich hab gesehen, dass du erwacht bist.«

Ein Ruck, und er schlug auf einen festen Untergrund. Dann wurde er herum und herum gewirbelt. Die Dunkelheit wich einem grenzenlosen blauen Himmel, dessen ferner Horizont in blassem Rosa verging. Artax tastete um sich. Er lag auf einem Teppich. Über ihm stand breitbeinig Shaya.

»Versuch jetzt nichts Dummes. Ich kenne mehr gemeine Tricks als du, und ich würde dir nur ungern wehtun.« Sie grinste ihn breit an, auf eine Art, wie sie es lange nicht mehr getan hatte. Ganz mit sich und der Welt im Reinen.

»Wo bin ich?« Das Land, das ihn umgab, war flach und steinig. Gesprenkelt von vertrockneten Grasbüscheln und kräftig lila blühenden Disteln. Ein Land, das ihm seltsam vertraut vorkam und dessen Anblick ihn mit Sehnsucht erfüllte. »Wo bin ich?«, fragte er erneut.

»Das Königreich heißt Aram, die Provinz Nari, und wie das nächste Kaff heißt, wissen allein die Götter.«

Artax setzte sich auf. »Was hast du getan?«

»Das einzig Richtige. Übrigens waren Ashot und ich darin ausnahmsweise einmal einer Meinung. Er war es, der dir hinterrücks den Schlag auf den Kopf gegeben hat. Mich wollte er das nicht machen lassen. Er hatte wohl Angst, dass ich dir den Schädel einschlage.«

»Wie konntest du …«

»Es war Blut auf den Monden! Das war ein überaus schlechtes Omen. Ashot war derselben Meinung. Er fand auch, dass die Erdbeben ein schlechtes Omen waren. Da war ich mir nicht ganz so sicher …«

»Weil die Monde rot waren und die Erde gebebt hat, dachtest du, du entführst mich. Mich, den Unsterblichen? Und das am Abend vor der Schlacht!«

Shaya sah ihn beleidigt an. »So leicht habe ich es mir natürlich nicht gemacht. Ich war bei Volodi und habe ihm davon erzählt. Er hat mir gezeigt, was Quetzalli gemacht hat, wenn sie den Schleier der Zukunft zerreißen wollte. Wir haben gemeinsam einen schwarzen Hahn geschlachtet.«

Artax stöhnte. »Lass mich raten – die Leber war voller schwarzer Flecke und Würmer.«

Shaya schüttelte den Kopf. »Nein, sie war völlig in Ordnung, aber nachdem ich mit Volodi ein wenig getrunken hatte, waren wir übereinstimmend der Meinung, dass nur Zapote auf diese Weise die Zukunft bestimmen sollten und Hühnerlebern für alle anderen keine Aussagekraft haben. Er fand es übrigens eine gute Idee, dich vom Schlachtfeld fernzuhalten. Er meinte, du seist zu sehr in den Tod verliebt.«

Das sagte der Richtige, dachte Artax, sprach es aber nicht aus. »Ich habe für immer mein Gesicht verloren«, sagte er erschüttert.

»Du meinst diese stählerne Maske unter dem Löwenhelm? Ashot hat deine Rüstung angelegt. Der Unsterbliche Aaron hat also auf dem Kommandodeck gestanden und seine Flotte befehligt, wie es die Pflicht verlangt. Niemand wird bemerkt haben, dass du fehlst.«

»Ich bin mehr als eine Rüstung«, sagte er gekränkt.

Shaya ergriff seine Hände. »Endlich sind wir einer Meinung. Du bist unendlich viel mehr. Du bist der Mann, der seinem Königreich all seine Träume geopfert hat. Der selbstlose Herrscher, den alle lieben und der doch an seiner Selbstlosigkeit schon fast zerbrochen ist. Glaubst du, ich hätte nicht gesehen, wie du dir Tag für Tag neue Bürden auferlegt hast? Und weißt du, worin Ashot und ich noch einer Meinung waren?«

Sie ließ ihm keine Zeit, darauf zu antworten.

»Wir beide waren überzeugt, dass es dir egal wäre, ob du in einer Schlacht stirbst oder nicht. Wer so denkt, der kommt nicht mehr zurück.«

Artax fühlte sich ertappt. Manchmal hatte er wirklich gedacht, der Tod sei ein Segen, so unendlich müde machte ihn die Herrschaft.

Shaya wies in weit ausholender Geste über das Land. »Ich hoffe, das hier entspricht deinen Vorstellungen. Du hast mir so oft von der Schönheit von Distelblüten vorgeschwärmt. Also bitte, Distelblüten bis zum Horizont.«

Er mochte das Lila der Blüten. Wenn der Wind über ein Distelfeld blies und es auf und nieder wogte, sah es aus wie ein lila Ozean.

»Gefällt es dir auch?«

Shaya sah ihn überrascht an. »Ob mir ein Meer von Disteln gefällt? Dieses Land ist keinen Hundefurz wert. Hier kann man keine Pferde weiden. Nicht einmal eine Ziege, die auch nur ein bisschen Hirn in ihrem Schädel trägt, würde sich in so ein Distelfeld wagen. Das hier ist dein Traum, nicht meiner.«

»Dann ist es nichts wert. Ich habe mir immer vorgestellt, dass wir zusammen ein Gehöft …«

»Ja, ja. Du hast mir öfter als einmal erzählt, wie wunderbar es ist, mit nackten Füßen in warmem Mist zu stehen. Noch so ein Traum, den wir nicht teilen …« Sie lächelte, wie nur sie lächeln konnte. Dann deutete sie nach Osten. »Ein paar Meilen in diese Richtung soll es einen Bach geben und an seinen Ufern ganz passables Weideland.«

»Das ganz bestimmt schon jemandem gehört …«

Shaya blickte zu den beiden Packtieren, die auf der staubigen Straße standen. »Wir haben ein paar Beutel Gold dabei. Ich bin zuversichtlich, dass am Ende alle zufrieden sein werden. Und sollte jemand uneinsichtig sein …« Sie legte die Hand auf die Dornaxt an ihrem Gürtel. »Du weißt ja, dass ich sehr überzeugend sein kann.«

Er lachte und dachte bei sich, dass er die Verhandlungen führen würde.

»Der Löwenhäuptige wird kommen und uns holen.« Und wahrscheinlich bestrafen …

Sie wirkte verärgert. »Du könntest aufhören, dich zu waschen, deinen Bart nicht mehr ölen und eine schmutzige Tunika tragen. Dann siehst du aus wie tausend andere Bauern auch.«

»Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt, weil du so unglaublich charmant sein kannst.«

Ihr Ärger war verflogen, aber ihre Augen wirkten traurig. »Ich weiß, dass der Löwenhäuptige uns finden wird, wenn er es will. Wahrscheinlich haben wir nur diesen einen Abend für unseren Traum. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Zeit gut nutzen und nicht hier herumstehen und reden. Ich möchte mit dir am Ufer des Flusses liegen, dem Wasser lauschen, zu viel Wein trinken und dich lieben, bis die Sonne wieder aufgeht.«

Er ergriff ihre Hand. So viele Jahre hatte er versucht, anderen ein gutes Leben zu schenken. Seine eigenen Träume hatte er dabei längst aufgegeben. »Gut, dass es dich gibt«, sagte er leise. »Nutzen wir diese eine Nacht.«

Загрузка...