Bernhard Hennen Drachenelfen: Himmel in Flammen

Für Anita,

ohne die es all dies nie gegeben hätte.

Die Jahre kommen und gehen,

Geschlechter steigen ins Grab,

Doch nimmer vergeht die Liebe,

Die ich im Herzen hab.

Heinrich Heine (1797–1856)

Erstes Buch Der Sohn der Göttin

Prolog

Plötzlich war der Tod nichts mehr, was immer nur die anderen traf. Er war so alt wie die Welt. Er war ein Liebling der Götter. Doch nun hatte er ihre Gunst verloren. Deutlich hatte der Dunkle den Zorn der Alben gespürt. Sie hatten gesehen, was auf Nangog geschehen war. Sie wussten, dass es das Werk der Himmelsschlangen war.

Der Flügelschlag des riesigen Drachen wurde schwächer. Kaum vermochte er im Flug dem Goldenen Pfad zu folgen, der durch die endlose Finsternis führte. Blut schoss in pulsierenden Stößen aus den beiden Wunden. Etliche Speere hatten die zähe Lederhaut seiner Flügel durchschlagen. Brandgeschosse die Schuppen seines Leibes versengt. All dies war nichts. Nur ein einziges Geschoss hatte ihn verletzt, hatte sich tief in seinen Leib gegraben, sein Fleisch zerfetzt und war in seinem Rücken wieder ausgetreten. Ein solches Geschoss hätte es nicht geben dürfen.

Seine Lider wurden ihm immer schwerer. Er kämpfte darum, die Augen offen zu halten. Da war ein Lichtpunkt am Ende des Weges. Er musste nicht mehr lange durchhalten. Im Jadegarten würde er genesen. Sein Fleisch würde heilen, das wusste er. Doch die Gewissheit, die Gunst der Alben verloren zu haben, setzte ihm zu. Selbst jetzt noch spürte er ihren Zorn. Er war ihr erstes Geschöpf. Die erste Kreatur, der sie Leben eingehaucht hatten. Seine Seele war mit ihnen verbunden. Zumindest hatte er das immer geglaubt.

Seine Augenlider fielen ihm zu. Einen Herzschlag nur. Erschrocken riss er sie wieder auf. Sein Flug war ins Trudeln geraten. Den großen Schwingen fehlte es an Kraft. Er wollte einfach nur ruhen. Schlafen … Am besten für ein paar Wochen. Fliehen, in Träume, die ihn in eine bessere Wirklichkeit entführten.

Er schnaubte seine Wut und Verzweiflung heraus. Das war er nicht! Er war immer ein Kämpfer gewesen! Er würde nicht aufgeben und niemals fliehen, schon gar nicht in Träume.

Wieder fielen ihm die Augenlider zu. Ihm war schwindelig. Der Blutverlust … Er brauchte dringend einen geborgenen Platz.

Er glitt durch das Licht am Ende des Goldenen Pfades. Halb ohnmächtig spürte er, wie ihn Dämmerlicht und Feuchtigkeit umfingen. Er gab der Erschöpfung nach – und kehrte in die Nacht zurück, in der Nandalee zur Drachenelfe geworden war. Wie sehr er sich nach der Ekstase sehnte, dem Rausch zwischen Lust und Schmerz, den sie mit ihm durchlebt hatte. Würde sie sich ihm doch nur ein einziges Mal noch so hingeben wie in jener Nacht. Deutlich sah er wieder das Bild vor sich, das er ihr in endlosen Stunden in den Rücken gestochen hatte. Es war verwirrend gewesen. Nicht sein klarer Wille hatte es geformt. Es war dem Unbewussten entsprungen. Ein Omen. Ein Rätsel, das er bis heute nicht zu deuten vermochte. Zwei Schlangendrachen rangen miteinander. Ein schwarzer und ein silberner. Oder waren sie im Liebesspiel umschlungen? Im Hintergrund eine Scheibe aus gehämmertem Silber. Davor, unverkennbar, Nandalees Schwert Todbringer.

Sollte die Silberscheibe vielleicht die Silberschale darstellen? Jenes fragwürdige Artefakt, das vermutlich von den Devanthar erschaffen worden war und stets nur die dunkelsten Seiten der Zukunft enthüllte? Nachtatem wusste, wie sehr sein goldener Bruder der Silberschale verfallen war. Er hingegen vertraute ihr nicht. Und in welcher Verbindung stand die Schale zu Nandalee?

Rätselhaft war auch der silberne Drache. Es gab keine Himmelsschlange in dieser Farbe, ja, nicht einmal einer der niederen Drachen war silbern. Resigniert schnaubte der Erstgeschlüpfte. Er bettete sein müdes Haupt auf die gekreuzten Vorderpranken und blickte hinab auf das dunkle Rinnsal aus Blut, das von der Felsinsel, auf der er sich niedergelassen hatte, hinab ins brackige Wasser troff. Seine Wunden begannen sich zu schließen. Er würde überleben. Doch wie hatte das geschehen können? Er war fast göttergleich. Es gab nur zwei Arten von Waffen, die ihm und seinen Brüdern gefährlich werden konnten. Jene, die sie, die Himmelsschlangen selbst, entweder allein oder aber gemeinsam mit dem Schmied Gobhayn erschaffen hatten. Die Waffen, die sie ihren auserwählten Drachenelfen übergaben. Doch in diese war ein Zauber gewoben, der sie in die Weiße Halle zurückbrachte, wenn der Besitzer der Waffe starb. Und er und seine Nestbrüder konnten sie auch zu sich zurückkehren lassen. Es war also unmöglich, dass diese Klingen in falsche Hände gerieten. Außerdem waren nie Pfeile erschaffen worden. Mit Bedacht.

Das Geschoss, das ihn verwundet hatte, musste demzufolge von den Devanthar stammen. Auch sie schmiedeten zaubermächtige Klingen, denen nichts zu widerstehen vermochte. Aber Nachtatem war sich fast sicher, dass der Speer, der ihn so schwer verwundet hatte, aus den eigenen Reihen gekommen war. Paktierten einige Albenkinder etwa heimlich mit den Devanthar?

Das war undenkbar! Warum sollten sie das tun? Die Himmelsschlangen opferten sich auf, um Albenmark zur besten aller Welten zu machen. Sie übten die Gerechtigkeit, die bei den Alben längst durch Ignoranz verdrängt worden war. Niemand vermochte sich das Rätsel um ihr Verschwinden zu erklären. Oft hatte er mit seinen Brüdern darüber gestritten. War es eine Laune? Verabscheuten die Alben ihre Schöpfung? Verstanden sie dies unter völliger Freiheit? Ihre Schöpfer hatten Albenmark sich selbst überlassen. Und sie hatten ihr Tun nie erklärt. Konnte man von Göttern anderes erwarten? Sie schuldeten ihrem Werk keine Erklärungen. Doch die Welt konnte ohne Götter keinen Frieden finden. Und so hatten sie, die Himmelsschlangen, entschieden, die Welt zu ordnen, und sie zu einem Platz mit klaren Regeln gemacht.

Woher also war der Pfeil gekommen? Lange sann er nach. Ganz in sich versunken. Als er schon nahe daran war, an dem Rätsel zu verzweifeln, regte sich tief in ihm eine Erinnerung … Einst hatte Nangog ein Werkzeug besessen, das sie zum Graben genutzt hatte. Die Alben selbst hatten ihr diese Hacke geschenkt, deren Stahl von Magie durchwoben, unzerstörbar war. Niemals wurden die Kanten stumpf. Aber diese Hacke war verloren, seit Nangog in das Herz ihrer eigenen Welt verbannt worden war. Sie war nie gefunden worden. Den Alben bedeutete das Werkzeug ihrer gefallenen Sklavin nichts. Sie hatten nicht danach gesucht. Und wie ihre Schöpfer, so hatten auch die großen Drachen dieses Werkzeug vergessen.

Nachtatem war sich sicher, er oder einer seiner Brüder hätten davon erfahren, wenn eine riesige, undurchdringbare Wand aus Stahl tief in den Eingeweiden irgendeines Gebirges gefunden worden wäre. Eine Wand, an der alle herkömmlichen Werkzeuge zerbrachen. Hatten etwa die Zwerge …?

Als er resignierend die Augen schloss, spürte er, wie das magische Netz vibrierte. Jemand kehrte aus Nangog zurück und hatte dabei einen Drachenpfad benutzt. Überlebende! Sie mussten sich auf eines jener seltsamen Schiffe gerettet haben, die der Schmied und Baumeister Gobhayn den Aalen der Zwerge nachempfunden hatte. Die Zwerge – sie hatten mehr als jedes andere Volk einen Grund, auf Rache zu sinnen, seit die Tiefe Stadt verbrannt worden war. Sie waren dickköpfig genug, ihren Groll niemals aufzugeben. Und sie waren Tunnelbauer. Hatten sie Nangogs Hacke gefunden? Er sollte die Zwergenfürsten einbestellen und in deren Gedanken lesen, sobald er wieder zu Kräften gekommen war.

Die Schlacht um Nangog war entschieden. Nun war es an der Zeit, die Völker Albenmarks wieder strenger zu beobachten. Er sollte zudem seine Brüder überzeugen, die Weiße Halle wieder zu eröffnen. Sie brauchten neue Spitzel, neue Mörder. Zu viele ihrer Auserwählten waren auf Nangog gefallen. Nachtatems Gedanken glitten zurück zu Nandalee. Er wusste, der Goldene würde genau sie als Grund anführen, mit der Weißen Halle für immer zu brechen. Sie war kein Werkzeug so wie die anderen Mörder, die die Weiße Halle bislang hervorgebracht hatte. Nandalee stellte Fragen. Weigerte sich, einen Mord auszuführen, wenn sie ihn für moralisch fragwürdig hielt. Vielleicht waren es gerade Drachenelfen wie sie, die das neue Albenmark nun brauchte? Er vermisste sie. Hatte sie überlebt? Er hatte sie an den gefährlichsten Ort der Menschenwelt geschickt. Allein, ohne Hoffnung auf Unterstützung, ja, sogar ohne das Wissen seiner Brüder. Würde sie zurückkehren? Ihm wieder trotzig die Stirn bieten? Würde er Gelegenheit haben, sie für sich zu gewinnen?

Ungestillte Sehnsucht versetzte seinem Herzen einen Stich. Es war ein süßer Schmerz, der tiefer ging als der Speer, der ihn heute durchbohrt hatte. Ein Schmerz, den kein Zauber bannen konnte. Nur Nandalee allein würde ihn heilen können. Wieder dachte er an die eine Nacht. Mehr als dreißig Elfendamen hatten sich ihm verschrieben, seit die Weiße Halle gegründet worden war. Sie alle hatten dasselbe Ritual durchlaufen. Und doch hatte er bei keiner so empfunden wie bei Nandalee. Sie hatte sich nie wirklich unterworfen. Sie war wild, so wie der eisige Norden, aus dem sie gekommen war. Vielleicht stand der silberne Drache für sie? Sie, die allen anderen Elfen unähnlich war. Die das Herz eines Drachen hatte, auch wenn es ihr an der Weisheit der Himmelsherrscher fehlte.

»Nandalee … Nandalee …« Die Gazala in der weiten Kammer flüsterten ihren Namen. In Trance versunken sprachen sie von der Zukunft. Immer drängender riefen sie Nandalees Namen, raunten von ihrem Verrat.

Nachtatem gab nichts auf ihre Worte. Er wusste, wie unstet die Zukunft war. Wie scheinbar belanglose Kleinigkeiten das Schicksal ganzer Reiche änderten. Wirklich klar sahen die Gazala die Zukunft erst, wenn sie kurz davor stand, Gegenwart zu werden.

»Nandalee!« Immer drängender stießen sie den Namen aus. Einige der Orakelfrauen wiegten sich vor und zurück. Ihre schlanken Gazellenbeine ließen sie dabei zerbrechlich aussehen. Zanah, eine der jüngeren Seherinnen, beugte sich so weit nach hinten, dass ihre gekrümmten Hörner rote Striemen über die Haut ihres Rückens zogen.

»Sie kommt!«

Fünf oder sechs der Orakelfrauen sprachen jetzt mit einer Stimme. Nachtatem hatte so etwas noch nicht erlebt. »Sie kommt!«, schrien die Gazala.

Wieder erbebte das magische Netz. Doch diesmal war es anders, der Albenstern hatte sich geöffnet.

Firaz, die Nandalee durch ihre schwere Schwangerschaft begleitet hatte, eilte zu Nachtatem. Ihre blinden Augen waren weit aufgerissen. »Ihr müsst gehen, Himmlischer. Sie kommt, Nandalee. Ich habe es gesehen! Ihr dürft nicht bleiben!«

Sie warf sich über seine Vorderpranken und versuchte sie anzuheben. »Bitte, Himmlischer! Erhebt Euch! Ich habe es gesehen. Noch ist Zeit. Noch …« Sie drehte sich um. Ließ von ihm ab und wich erschrocken zurück.

Schlagartig wurde es still. Alle Gazala waren verstummt. Sie alle richteten ihre blinden Augen zum Eingang. Dort stand sie, Nandalee.

Die Drachenelfe trug ihr Prunkgewand. Ein langes, ärmelloses Kleid in strahlendem Blütenweiß, gesäumt von goldenen Stickereien. Der Schwanz des schwarzen Drachen wand sich um ihren linken Arm. In der Rechten trug sie den mächtigen Bidenhänder, den sie sich zur Waffe erwählt hatte. Jenes Schwert, von dem Gonvalon geglaubt hatte, es sei verflucht. Die schwere Klinge steckte in einer abgewetzten braunen Lederscheide.

Mit festem Schritt durchquerte die Elfe das flache Wasser. Sie hielt den Kopf stolz erhoben, sah ihm herausfordernd in die Augen. Ihr langes, sommerblondes Haar wallte ihr um die Schultern. Sie schien von innen heraus zu strahlen.

Nachtatem musste schmunzeln. Ihm war bewusst, dass er sah, was er in ihr sehen wollte. »Hattet Ihr Erfolg, meine Dame?«

»Nein«, sagte sie mit klarer, kalter Stimme. »Und doch stehe ich kurz davor, mir meinen geheimsten Wunsch zu erfüllen.«

Nandalee hatte ihn nun fast erreicht. Sie zog die Klinge, die er einst erschaffen hatte. Das Schwert, dem er vor einem ganzen Zeitalter seinen unheilschwangeren Namen gegeben hatte: Todbringer.

Der Herr der Welt

Sieben Jahre früher …

Kolja wusste, dass in diesem Augenblick Tausende zu ihm aufsahen. Er flog hoch über der größten Stadt aller drei Welten, und er flog mit seinem Wolkensammler gegen den Wind. Wind vor regenschwerem Horizont war nicht mehr ein gasgefüllter Hautsack wie all die anderen Himmelstitanen. Das Traumeis hatte ihm die Gestalt gegeben, die er sich gewünscht hatte – wie ein riesiger, tentakelbehangener Rochen sah er nun aus. Es gab keinen zweiten wie ihn auf Nangog. Noch nicht! Doch die Welt würde sich ändern, und er, Kolja, war derjenige, der den Schlüssel dazu in Händen hielt.

Seine Hand ruhte auf der Reling, die von den feinen Wurzeln des Schiffsbaums durchdrungen war. Er wusste, dass Wind vor regenschwerem Horizont an jedem seiner Gedanken teil hatte. Der Wolkensammler selbst hingegen verschloss sich. Seine Schwingen bewegten sich nicht mehr in derselben Eleganz wie bei ihrem Flug über dem Purpurnen Meer. Etwas beunruhigte ihn.

Sie flogen eine weite Kehre über der Goldenen Stadt, deren weiße Mauern vom Abendlicht in Rot- und Zimttönen erstrahlten. Vom Fluss erhob sie sich in unzähligen Terrassen den Hang zum Weltenmund hinauf. Ein unübersehbares Labyrinth aus ärmlichen Hütten, schmutzigen Häusern und himmelragenden Türmen, an denen die Wolkensammler vor Anker gingen. Je höher die Terrassen am Hang lagen, desto häufiger waren sie von Gärten, ja, sogar von ausgedehnten Parkanlagen umgeben. Das Klappern der Wasserräder, die Flusswasser von Terrasse zu Terrasse den Hang hinaufhoben, war bis in den Himmel zu hören, ebenso wie das Rauschen des herabtropfenden Wassers. Immer noch lagen weite Teile der Stadt in Trümmern. Doch mehr und mehr neue Häuser erhoben sich aus dem Schutt. Die Goldene Stadt war ein Symbol für die ganze Welt. Auch wenn die Daimonen ihnen einen schweren Schlag versetzt hatten, so hatten sie doch nicht obsiegen können. Die Menschheit erhob sich gleich den gefallenen Häusern, und am Ende würde sie triumphieren. Und an diesem Triumph hätte er den größten Anteil!

Wind vor regenschwerem Horizont hielt auf den Palast des Statthalters von Drusna zu. Zwei Drittel der lang gestreckten Terrasse um die reetgedeckte Festhalle wurden von einem jungen Eichenwald eingenommen. Dem einzigen Geisterhain, den es auf Nangog gab.

Der Wolkensammler bewegte seine Schwingen nicht länger. Er glitt ruhig auf dem Wind und verlor langsam an Höhe. Deutlich konnte Kolja nun die Menschen in den Gassen erkennen, die innehielten, zum Himmel hinaufsahen und mit ausgestreckten Armen auf die seltsame Kreatur zeigten. Jetzt erklangen auch Hörner in der Stadt. Hielten sie ihn für einen Angreifer?

Kolja lächelte spöttisch. Viel zu spät! Er schwebte schon über dem Herzen der Stadt. Das musste anders werden. Die Unsterblichen mussten begreifen, dass sie auf Nangog nur siegen würden, wenn der Befehl über die Welt in einer einzigen Hand lag. Und es durfte keiner aus ihren Reihen sein. Dafür achteten sie viel zu eifersüchtig darauf, dass sich keiner über die anderen erhob. Kolja hatte erlebt, wie hart Aaron darum gekämpft hatte, der Erste unter Gleichen zu sein, und wie er immer wieder gescheitert war.

Er würde die Herrschaft über Nangog anstreben, dachte er selbstbewusst. Er würde mithilfe des Traumeises eine neue Welt erschaffen. Kolja blickte über das leere Schiff, das Wind vor regenschwerem Horizont mit seinen Fangarmen hielt. Es gab hier niemanden außer ihm und dem Wolkensammler, der wusste, wo sich das Traumeis befand. Wenn die Unsterblichen über die Daimonen obsiegen wollten, dann mussten sie mit ihm reden. Aus dem Augenwinkel sah er, dass kleine Wolkensammler aus dem Frachtdeck eines nahe gelegenen Himmelsschiffes quollen. Unter ihnen hingen Krieger der Ischkuzaia in Ledergeschirren. Der Wind stand günstig für sie. Eine beständige Brise trieb sie in Richtung der fremden Kreatur, die über der Goldenen Stadt erschienen war. Wie Papierdrachen, die dem Firmament entgegenstrebten, näherten sie sich. Sie träumten wohl davon, sein Schiff zu kapern.

»Narren!«, rief Kolja ihnen entgegen.

Wind vor regenschwerem Horizont wusste, was er wollte. Er bewegte die linke Schwinge. Der Luftstrom, der so entstand, wirbelte die kleinen Wolkensammler durcheinander. Die Seile, die sie mit ihrem Mutterschiff verbanden, verstrickten sich. Einige der Krieger ließen fluchend ihre Waffen fallen und versuchten, sich zu befreien, während Koljas Wolkensammler weiterzog und sich den Ankertürmen neben der drusnischen Palasthalle näherte.

Amüsiert beobachtete Kolja, wie nun auf allen Türmen Bogenschützen erschienen. Ja, ihm könnten sie gefährlich werden, aber ein Geschöpf wie Wind vor regenschwerem Horizont ließ sich von Pfeilen nicht beeindrucken. Solche Treffer wären nicht einmal wie Nadelstiche für ihn.

Die Tentakel des Wolkensammlers streckten sich nach den schweren Eichenbalken, die wie Dornen aus der Krone des gemauerten Ankerturms ragten. Manndicke Fangarme schlangen sich um das schleimverkrustete Holz. Langsam zog sich Wind vor regenschwerem Horizont an den Turm heran, bis der Abstand zwischen dem Kampfdeck des Schiffes, das er trug, und der Plattform des Turmes weniger als ein Schritt betrug.

Kolja öffnete eine schmale Tür in der Reling und wagte, ohne zu zögern, den Sprung zum Turm. Eine Laufplanke brauchte er nicht. Das Traumeis hatte nicht nur seinen verlorenen Arm nachwachsen und alle Narben aus seinem Gesicht verschwinden lassen, sein ganzer Leib war wieder so kräftig und geschmeidig, wie er es einst gewesen war, als er zum ersten Mal den Sandplatz einer Arena betrat. Niemand würde in dem jugendlichen Krieger mit dem markant geschnittenen Gesicht den vernarbten Söldnerführer Kolja wiedererkennen, dessen Anblick allein einst schon ausgereicht hatte, um Schrecken in die Reihen seiner Feinde zu tragen.

Schnaufend erreichte ein Krieger in leichter Lederrüstung und einem Eberzahnhelm, auf dem ein schwarzer Rossschweif wippte, die Plattform des Turms. Kolja kannte ihn. Es war Oleg. Einst hatte er zu den Zinnernen gehört. Kolja musterte den schwitzenden Hauptmann. Jetzt musste sich zeigen, ob er wirklich so verändert war, wie er glaubte.

»Was wollt Ihr?«, stieß der Krieger um Atem ringend hervor. »Wer seid Ihr?«

Kolja hob langsam seine Hände, sodass Oleg deutlich sehen konnte, dass er unbewaffnet war. »Ich möchte mich mit meinem Himmelsrochen gerne in den Dienst des Unsterblichen Volodi stellen.«

Der Hauptmann blickte skeptisch zu dem seltsamen Geschöpf, das über ihnen schwebte. Hunderte von Tentakeln zuckten nervös an der Unterseite der Bestie. »Himmelsrochen …«, wiederholte er mit tonloser Stimme, und ihm war anzusehen, dass er wusste, in welcher Gefahr er schwebte. »Folge mir! Ich werde sehen, ob der Unsterbliche Zeit für dich hat.«

Natürlich würde Volodi Zeit haben, dachte Kolja schmunzelnd. Keiner der Unsterblichen würde sich die Gelegenheit entgehen lassen, ein solches Wolkenschiff in seinen Dienst zu stellen und auszurüsten.

Die falsche Dienerin

Bidayn war fasziniert von der Kreatur, die am westlichen Ankerturm angelegt hatte. Ein solches Geschöpf hatte sie nie zuvor gesehen. Ob dieser befremdliche Wolkensammler ihre Pläne in Gefahr bringen konnte? Gewiss war er zu schwerfällig, um auf einen schnellen Angriff zu reagieren. Asfahal und die anderen würden auf ihren Adlern dicht über den Baumwipfeln einfliegen. Und sie kämen erst, sobald es dunkel geworden wäre.

Die Drachenelfe blickte zum flammenden Horizont. Etwas weniger als eine Stunde, dann wäre das letzte Abendrot verloschen, und eine Dunkelheit würde sich über den Palast senken, wie sie die Menschenkinder noch nicht erlebt hatten.

»Steh nicht herum und glotz wie eine dumme Kuh!«, ertönte hinter ihr Vladis Stimme. Der korpulente Drusnier war der Aufseher der Palastdiener. Ein echter Sklaventreiber. Außerdem noch Säufer und Hurenbock.

Bidayn wandte sich zu ihm um und schenkte ihm ein scheues Lächeln. »Dieses Tier da …« Sie deutete zum Ankerturm. »Es wird uns doch nichts tun, Herr, oder? Was ist das?«

»Was weiß ich denn? Eine Himmelsflunder … Es interessiert mich einen Dreck, was sich da oben an den Ankerturm klammert. Gleich wird dort eine ganze Mannschaft den Turm hinabsteigen, und das Gastrecht gebietet, dass wir sie bewirten. Lauf zu den Bierwannen, schöpf ein paar Krüge voll und bring sie in die große Halle.« Er lächelte schmierig und fuhr selbstgefällig fort: »Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich beschützen. Ich bin hier der Einzige, der Hand an euch faules Pack legt.«

Bidayn nickte ergeben und lief dann eilig über den Hof. Vladi machte keine leeren Worte. Zwei Mal schon hatte er sie mit dem Eichenknüppel geschlagen, den er stets bei sich trug. Es machte ihm Spaß, seine Untergebenen zu drangsalieren. Sie stellte sich vor, wie sie ihm den Bauch aufschlitzte, und lächelte versonnen. »Ich freue mich auf unser Wiedersehen, Vladi. Nur eine Stunde noch …«, sagte sie leise, als sie in das Bierhaus trat.

»Was willst du?« Miladin, der Braumeister, blickte zu ihr auf.

Bidayn wusste, dass der verhutzelte, alte Kerl das niedrige Steinhaus, in dem mehr als zwanzig hölzerne Bottiche standen, niemals verließ. Strenger Hefegeruch schlug ihr entgegen. Sie mochte dieses Haus nicht. Stets hielt sie den Atem an, wenn sie hereinkam. »Bier für die Festhalle«, stieß sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor. »Gäste kommen.«

Der Alte runzelte die Stirn. »Hier gehen zu viele verdammte Gäste ein und aus. Ein gutes Bier braucht Zeit, sag das Vladi. Ich kann nicht zaubern!« Miladin strich an seinen Bottichen entlang, rührte mit einer langstieligen Holzkelle darin herum und betrachtete nachdenklich die Hefeklumpen, die er aufwirbelte. Er zog ein kleines Trinkhorn aus der Schlaufe seines Gürtels, schöpfte etwas Bier aus dem Bottich, vor dem er stand, und trank einen kleinen Schluck. Geräuschvoll bewegte er die Flüssigkeit durch den Mund. Endlich nickte er. »Das Bier hier ist für Gäste. Das muss genügen. Davon kannst du vier Krüge voll mitnehmen. Aber untersteh dich, dem Unsterblichen davon einzuschenken. Es hatte noch nicht genug Zeit – unser Herrscher schmeckt das.«

Bidayn nickte. Bald müsste sie Atem holen. Hastig griff sie nach den Bierkrügen auf dem Tisch an der Wand und scheuchte dabei eine ganze Wolke von Fliegen auf. Die Henkel der Tonkrüge waren klebrig. Vermutlich hatte sie seit dem letzten Gebrauch noch niemand ausgespült.

Die Elfe war oft genug im Brauhaus gewesen, um die Marotten des Alten zu kennen. Und so machte sie nicht den Fehler, selbst mit den Krügen aus dem Bottich zu schöpfen, auf den er gedeutet hatte. Sie wartete, bis er irgendwo in der großen, halbdunklen Kammer sein Sieb gefunden hatte. Dann hielt sie Miladin den ersten Tonkrug hin. Mit leicht zitternder Hand schöpfte er Kaskaden goldenen Biers durch das Sieb, wobei das kostbare Nass in Strömen vom Krug hinabtroff. Als er alle Krüge gefüllt hatte, pflückte er die Hefeklümpchen vom Sieb und schnippte sie zurück in den Bottich.

»Mein Leben lang habe ich an dieser Hefe gearbeitet«, sagte er mit versonnenem Lächeln. »Es gibt Fürsten in Drusna, die würden mir mein Trinkhorn mit Gold füllen, nur um etwas davon zu bekommen.«

Bidayn erwiderte das Lächeln. Auch wenn sie den Alten nicht mochte, so musste sie ihm zugestehen, dass sie einander ein klein wenig ähnlich waren. Er hatte sich mit Leib und Seele seinem Bier verschrieben, und es gab nichts anderes in seinem Leben. Mit derselben Leidenschaft brannte sie für den Goldenen. Sie hoffte, dass Miladin ihr nicht in die Quere kommen würde, wenn das Kämpfen begann.

Sie stellte die vier schweren Krüge auf ein Tablett, trat hinaus auf den Hof und atmete tief und lange ein. Lange Schatten krochen bereits über den Platz aus gestampftem Lehm. Sie wich einer Pfütze aus Schleim aus und blickte erneut hinauf zu der seltsamen Kreatur, die am Ankerturm angelegt hatte. Der Goldene musste von diesen Geschöpfen erfahren! Sie würden den Krieg um den Himmel von Nangog verändern.

Noch während sie nach oben sah, troff erneut von einem der großen Tentakel Schleim herab und verfehlte nur knapp ihr Tablett. Bei dem Gedanken, wie Miladin reagieren würde, wenn solcher Schleim den Weg in einen seiner Krüge voll kostbaren Biers finden würde, musste sie schmunzeln.

»Steh nicht herum und träum!«, hallte Vladis Stimme über den weiten Hof. Dieser verdammte Sklaventreiber schien seine Augen überall zu haben.

Bidayn stieg die weite Treppe zu der Terrasse hinauf, auf der die Festhalle errichtet war. Sie war einem Langhaus aus Drusna nachempfunden, mit einem fast bis zum Boden reichenden Reetdach. Damit wirkte die Halle seltsam fremd neben all den anderen Gebäuden des Palastes, die wie die meisten Häuser der Goldenen Stadt aus Stein oder Lehmziegeln errichtet waren. Die Elfe ließ einen kurzen Blick über das Meer der lehmverputzten Häuser mit ihren flachen Dächern schweifen, die den weiten Hof des Palastes umzingelten. Vorratshäuser, Unterkünfte für das Gesinde oder jene kleineren Hallen, in denen Hofbeamte Audienzen gaben. Einige standen für sich allein, die meisten Häuser aber drängten sich zu einem Labyrinth zusammen, in dem selbst sie einmal die Orientierung verloren hatte. Mehrere Ausgänge mündeten von dort auf eine Prachtstraße und eine kleine Gasse, die beide unmittelbar an die Außenmauern des Palastbezirks angrenzten. Und all dies überragte die Festhalle, die Bidayn nun durch einen Nebeneingang betrat.

Hier, im hinteren Teil des Gebäudes, lagen einige private Gemächer, die seit seiner Rückkehr aus dem Eis vom Unsterblichen Volodi und dessen Familie genutzt wurden. Durch eine der Türen zu ihrer Linken hörte Bidayn die Stimme Quetzallis. Sie klang aufgewühlt. Die Elfe widerstand der Versuchung zu lauschen. Sie wusste, dass Vladi irgendwo lauerte und nur auf eine Gelegenheit wartete, seinen Knüppel auf ihrem Rücken tanzen zu lassen … Nicht so kurz, bevor sich erfüllte, wofür sie all die Jahre ausgebildet worden war. Es war unerheblich, was Volodis Weib zu ihm sprach. Weniger als eine halbe Stunde noch und der Unsterbliche würde den Titel verhöhnen, den er trug, wenn er verblutend vor ihr im Staub lag.

Sie trat durch den Vorhang, der diesen Bereich von der großen Festhalle abtrennte, und befand sich in dem rauchverhangenen Saal, in dem die Barbaren ihre Feste feierten. In der Mitte des Raumes waren Feuergruben im gemauerten Boden eingelassen, in denen dunkelrote Glut glomm. Eine stickige Hitze hing in dem weiten Saal, dessen Deckenbalken hinter blaugrauen Rauchschwaden mehr zu erahnen als zu erkennen waren. Mit Goldblechen beschlagene Säulen stützten das hohe Dach. Was für ein plumper Prunk!

Bidayn stellte die vier Krüge auf einer aufgebockten Festtafel ab. »Ich hole noch mehr Bier!«, rief sie, obwohl Vladi nicht zu sehen war. Sie brauchte eine Ausrede, um hinaus auf den Hof zu gelangen. Ihre Gefährten würden ihr Schwert mitbringen. Sie freute sich darauf, ihre Rechte um den lederumwickelten Griff der schlanken, leichten Klinge zu schließen und Blut zu vergießen.

Schlechte Omen

»Die Leber des Hahns war voller schwarzer Flecken!«, sagte Quetzalli noch einmal energisch. »Das verheißt Unglück, Volodi. Du musst Nangog verlassen! Hier wartet nur der Tod auf dich. Er ist schon nah. Die Zeichen waren eindeutig.« Wanya lag nuckelnd an ihrer entblößten Brust. Sie strich ihm sanft über das zarte, rötliche Haar, ließ Volodi dabei aber nicht aus den Augen. Volodi fürchtete den Blick, mit dem Quetzalli ihn bedachte. Er duldete keinen Widerspruch, war voller dunkler Verheißung. Sie würde tagelang mit ihm streiten, wenn er ihr jetzt nicht nachgab. Dennoch, es war einfach lächerlich, wie ein ängstlicher Welpe mit eingekniffenem Schwanz davonzulaufen, nur weil ein dämlicher schwarzer Hahn eine fleckige Leber hatte.

»Wann wirst du aufbrechen?«, fragte sie drohend.

Der Drusnier räusperte sich und wünschte sich, auf irgendeinem Schlachtfeld zu stehen. Inmitten schreiender Männer, die Schwerter schwangen, kam er besser zurecht als mit seiner zornigen Frau. »Das ist eine schwere Entscheidung«, brachte er schließlich zögerlich hervor.

»Was ist daran schwer, mit den Tunichtguten aus deiner Leibwache die Prachtstraße zur Goldenen Pforte hinaufzugehen und Nangog zu verlassen? Es ist ein Weg von weniger als einer Meile. Eine halbe Stunde nur, und du sitzt in der Festhalle unseres Palastes in Drusna.«

Volodi schüttelte unwillig den Kopf. »Ich kann doch nicht vor einer Hühnerleber davonlaufen! Ich mach mich zum …«

»Es war ein Hahn!«, fuhr sie ihm über den Mund. »Du wirst vernünftig sein. Erfinde irgendeinen Grund, warum.«

Volodi schielte zur Tür. Vorhin waren Hörner erklungen. Auf den Ankertürmen des Palastes, aber auch drunten in der Stadt. Er sollte nachsehen, was los war. »Da draußen ist …«

»Draußen ist es wieder still!« Wanya grummelte leise, und Quetzalli legte ihn an die andere Brust. »Was immer da war, hat sich in Wohlgefallen aufgelöst, sonst wäre schon längst ein Bote erschienen, um dich …«

Es klopfte an der Tür ihrer Kammer.

»Unsterblicher?«

Volodi erkannte die Stimme Hauptmann Olegs.

»Ich muss wirklich …« Der Unsterbliche lächelte entschuldigend und stand auf.

»Du wirst diesen Raum nicht verlassen«, sagte Quetzalli bestimmt. »Hör, was dieser Idiot zu sagen hat, und dann reden wir weiter.«

Volodi war sich sicher, dass Oleg draußen mitbekommen hatte, wie Quetzalli ihn nannte. Sich bei ihren Untertanen beliebt zu machen gehörte eindeutig nicht zu ihren Stärken. Volodi war sich wohl bewusst, dass ihre Leberschauen bei schwarzen Hähnen für viel Gerede sorgten. Der größere Teil der Palastdiener war der festen Überzeugung, sie sei eine Hexe.

Als Volodi die Tür öffnete, hatte Oleg einen hochroten Kopf. Sein Atem ging keuchend. »Unsterblicher! Ein seltsamer Wolkensammler hat an einem unserer Ankertürme angelegt …«

Das hörte sich vielversprechend an, dachte Volodi begeistert. Das war ein Grund, zumindest auf den Palasthof hinauszugehen. »Seltsam?«, fragte er gut gelaunt.

»Er ist platt …« Oleg rang sichtlich um Worte. »Wie ein Kuhfladen, aber er kann gegen den Wind fliegen. Sein Navigator will in Euren Dienst treten, Herr.« Der Hauptmann senkte die Stimme. »Der Mann war früher ein Krieger, da bin ich mir ganz sicher. Ich glaube nicht, dass man ihm vertrauen kann.«

»Wo ist er?«

»Er erwartet Euch auf dem Palasthof, Unsterblicher. Ich wollte ihn nicht in das Langhaus bitten … Er hat so etwas an sich …«

»Hörst du, Schatz? Wir haben Besuch.« Er wandte sich halb zu Quetzalli um.

»Ich komme mit auf den Hof«, sagte sie entschieden. »Hüte dich vor dem Fremden! Denk an den Hahn!« Quetzalli stand auf und zog ihr Kleid über die Brüste. Wanya war eingeschlafen. Sie legte ihn in die Wiege neben dem offenen Kamin.

Volodi entschied, dass es klüger war, gar nichts mehr zu sagen. Mit weit ausgreifenden Schritten eilte er an Oleg vorbei Richtung Hof. Erst als er die Terrasse erreichte, wurde ihm bewusst, dass sein Verhalten auf den Hauptmann wirken mochte, als fliehe er vor seiner Frau. Weniger eilig stieg er die Treppen hinab und wäre fast gestolpert, als er das Haupt hob, um den Wolkensammler, der platt wie ein Kuhfladen war, zu bestaunen. Verblüfft blieb er stehen. Die Kreatur war riesig! Größer noch als der größte Wolkensammler, den er je gesehen hatte. Aber das Tier schien nirgends dicker als zwei Mannhöhen zu sein. Von der Mitte seiner Unterseite wucherten Hunderte Tentakel hinab. Es erinnerte Volodi an die großen Rochen, die er aus der aegilischen See kannte. Es besaß ähnlich wie diese einen langen, dünnen Schwanz, der unruhig hin und her schwang. Das Ende des Schwanzes bildete jedoch ganz anders als bei jedem Rochen, den er je gesehen hatte, eine Flosse groß wie ein Segel.

Das Schiff, das dieser merkwürdige Wolkensammler trug, sah hingegen erbärmlich aus. Es wirkte wie notdürftig aus Trümmern zusammengezimmert.

»Es sieht bedrohlich aus, nicht wahr«, flüsterte Oleg hinter ihm.

Volodi wandte sich um und sah, wie Quetzalli ein Zeichen gegen das Böse schlug. Sie bedachte ihn mit einem Blick, der ihn an das Omen erinnern sollte. Hier auf dem Hof, vor seinen Untertanen, würde sie sich mit jeder Kritik an ihm zurückhalten. Sie war eine gute Frau. Er wusste, dass sie ihm nicht das Leben schwer machen wollte, sondern sich wirklich um ihn sorgte.

Volodi zwang sich zu einem unbefangenen Lächeln. Er war der Unsterbliche, eine Inspiration für sein Volk, ein Mensch, der den Göttern nahestand. Er durfte keine Schwäche und keine Zweifel zeigen. Mit festem Schritt ging er die letzten Stufen zum Platz hinab.

Den jungen, blonden Mann, der dort stand, hatte er noch nie zuvor gesehen, und doch kam er ihm vertraut vor. Die ängstliche Stimme Iwars flüsterte in seinem Verstand, sich fernzuhalten.

Diese Stimmen in seinem Kopf, die Geister der anderen Unsterblichen, machten ihm als Herrscher am meisten zu schaffen. Sie alle lebten in ihm weiter, flüsterten ihm zu, berieten und verfluchten ihn. Die stärkste Stimme war jene Iwars, dessen Leibwache er einst befehligt hatte, ohne jedoch verhindern zu können, dass sein Herrscher ermordet wurde. Vergiftet bei dem Treffen der Unsterblichen vor Selinunt. Anfangs hatte Volodi die Stimmen nicht vernommen. Dann hatte es als leises Flüstern begonnen, das er nicht zuordnen konnte. Inzwischen vernahm er sie ganz klar, zu jeder Stunde des Tages, bei jeder Entscheidung, die er traf.

Hüte dich vor dem Fremden, sein Herz ist schwarz wie die Nacht!

Volodi ignorierte die Stimme. Er hatte genug Ratschläge gehört. Er ging auf den Fremden zu. Es würde sich schon zeigen, was für ein Kerl das war. Der Unsterbliche spürte die Anspannung seiner Wachen. Er trug nicht die weiße Lederrüstung und den Maskenhelm, die unverwechselbare Zeichen seines Ranges waren. Er fand sie unbequem und lästig. In seiner Tunika mit Saucenflecken und den ausgetretenen Sandalen hätte er auch irgendein rangniederer Adeliger sein können.

»Es ist schön, dich wiederzusehen«, sagte der Fremde und weitete die Arme, als wollte er Volodi wie einen alten Freund zu sich an die Brust ziehen. Zwei Wachen traten vor und richteten ihre Speere auf den Besucher. Dieser hielt in seiner Bewegung inne, zeigte aber keinerlei Anzeichen von Angst.

Der Unsterbliche stutzte. Er war sich ganz sicher, diesen Mann noch nie gesehen zu haben. Hochgewachsen mit wohlgeformten Muskeln und einem markanten, eckigen Gesicht, war er jemand, den er ganz gewiss in Erinnerung behalten hätte.

»Wir leben hier in einer Welt voller Wunder, Unsterblicher, und ich habe das vielleicht größte aller Wunder entdeckt. Ich möchte dich daran teilhaben lassen.«

Er schwatzt wie ein Krämer, munkelte die Stimme Iwars in Volodis Kopf. Er will Gold und Macht. Vielleicht sogar beides. Du kannst ihm nicht trauen! Sieh nur diese kalten Augen. Und seine Respektlosigkeit. Er spricht zu dir wie zu einem Saufkumpan.

Der Unsterbliche deutete auf den seltsamen Wolkensammler, dessen Schatten fast den gesamten Palasthof füllte. »Ist das dein Wunder? Wo hast du ihn gefunden?«

»Das kann ich dir nur verraten, wenn wir unter vier Augen sprechen, denn es ist das größte Geheimnis Nangogs. Vertraue mir!«

Mit den Worten »vertraue mir« fangen die übelsten aller Intrigen an, warnte die Stimme Iwars.

Darin hast du gewiss Erfahrung, dachte Volodi bitter, denn er hatte einige der Ränkespiele seines Vorgängers in den vergangenen Monden durchschaut. Iwar war keineswegs der freundliche, etwas einfältige dicke Mann gewesen, für den Volodi ihn gehalten hatte.

Der Unsterbliche blickte wieder hinauf zu dem ungewöhnlichen Wolkensammler. Ganz gewiss würden bald schon Boten aus den anderen Palästen eintreffen. Die ganze Stadt konnte diesen fliegenden Kuhfladen sehen. Und alle hätten sie Fragen. Er musste wissen, was es mit diesem Tier und seinem Besitzer auf sich hatte. Aber er würde sich von ihm nicht vorschreiben lassen, in welcher Form ihr Beieinander stattzufinden hatte.

»Wo ist deine Mannschaft, Fremder? Ruf sie herunter. Sie sollen meine Gäste sein.«

»Es gibt keine Mannschaft«, entgegnete sein Gegenüber ruhig. »Ich sagte doch, ich werde dich in das größte Geheimnis Nangogs einweihen. Und Geheimnisse dieser Brisanz dulden keine Mitwisser.«

Volodi hatte noch nie gehört, dass jemand ohne Mannschaft durch den Himmel reiste. Skeptisch musterte er den Fremden, dessen kalte hellblaue Augen seinem forschenden Blick standhielten. Vielleicht hatte er die Mannschaft über Bord gestoßen? Kräftig genug dazu war er. Und so, wie er wirkte, wohl auch skrupellos genug.

»Warum kommst du zu mir? Weil du Drusnier bist?«

»Weil ich eine Schuld begleichen will, Unsterblicher. Und weil ich auf deine Vergebung hoffe.«

Volodi sah ihm in die Augen, suchte nach dem Funken der Lüge, aber da war nichts. Diese Augen – er kannte sie! Aber eingebettet in wulstige Lider, in einem vernarbten Gesicht. Das konnte nicht sein! Nichts an diesem Mann erinnerte an den einarmigen Kolja. Nur die Augen …

»Weißt du nun, wer ich bin, Bruder?«

Die Wachen sahen Volodi verwirrt an. Niemand durfte sich einem Unsterblichen gegenüber so verhalten. Ihn Bruder zu nennen hieß, die Götter zu verhöhnen.

»Wir reden allein«, sagte Volodi entschieden. »Folge mir!« Er sah Oleg an, wie er mit sich rang. Quetzalli bedachte ihn mit einem verzweifelten Blick. Aber niemand wagte es, seine Entscheidung infrage zu stellen.

Der Fremde mit den vertrauten Augen lächelte breit, als wäre er sich vollkommen sicher gewesen, dass ihr Treffen diese Wendung nehmen würde. Er hielt sich an die Etikette des Hofes und blieb einige Schritt hinter Volodi. Mit noch mehr Abstand folgte die Leibwache.

Der Unsterbliche führte seinen sonderbaren Gast in die weite Festhalle. Es roch angenehm nach dem Rauch schwelender Buchenscheite. Eine Dienerin stellte Bierkrüge zu den anderen auf den Tisch nahe dem Hochsitz, dem erhöhten Thron vor dem Vorhang, der die lange Halle abschloss.

Volodi deutete zu einer schön geschnitzten Bank, die bei der Feuergrube stand. »Setz dich!«

Der Fremde gehorchte. Er sah sich aufmerksam um.

Am anderen Ende der Festhalle, nahe dem zweiflügeligen Eichenportal, fegte eine alte Frau mit einem Reisigbesen. Abgesehen von der jungen Dienerin, die bei den Bierkrügen stand und nun mit einem Lumpen Trinkhörner auswischte, war niemand hier. Ein alter Hund döste am Feuer. Seine Pfoten zuckten ab und zu im Schlaf, als wäre er in seinen Träumen auf der Jagd.

»Ich bin Kolja«, sagte der Fremde leise und beobachtete ihn dabei aufmerksam.

»Kolja starb im Tempelgarten der Zapote.« Volodi, der lieber stehen geblieben war, hatte Mühe, seine Stimme im Zaum zu halten. Sein bester Freund hatte ihn ausgeliefert. An die Zapote verschachert, um allein über die Bordelle zu herrschen, die den Zinnernen gehörten.

»Du hast seine Leiche gesehen?«, fragte der Fremde spöttisch.

»Er verschwand an jenem Tag.« Volodi wusste, dass Kolja einer der Befehlshaber gewesen war, die die Truppen des Unsterblichen Aaron in den Tempelgarten geführt hatten. Dort war er zum letzten Mal lebend gesehen worden. Viele Männer waren an diesem Tag spurlos verschwunden. Zerfleischt von dem Schrecken, der sich aus dem Blutteich neben der unterirdischen Pyramide erhoben hatte. Kurz blitzte vor seinem inneren Auge das Bild auf, wie Quetzalli mit dem Opfermesser in der Hand über ihm gestanden hatte. Wann immer er an jenen Tag zurückdachte, überliefen ihn eisige Schauder. Nie war er so hilflos dem Tod ausgeliefert gewesen. Und es war Kolja, der ihn auf den Opferstein der Pyramide gebracht hatte.

»Du gibst dich für einen Mann aus, dessen Gesicht von Narben zerfurcht war, dem ein Arm fehlte und der mindestens fünfzehn Jahre älter ist als du. Mir scheint, du hast dir deine Lügen nicht gut überlegt.«

»Wenn das, was ich sage, für eine Lüge zu dumm ist, muss es dann nicht die Wahrheit sein?«

»Kolja hat niemals so hochtrabend gesprochen. Er war einfach und geradlinig.«

Der Fremde nickte. »Das stimmt. Aber vielleicht kann ein Mann, dem ein Arm nachwächst, ja auch zu Verstand kommen.«

Das war unheimlich. Diese Augen, die ohne zu blinzeln unverwandt zu ihm aufblickten. Sie waren wirklich genau wie die Augen Koljas. Und diese Lügen … Sie waren so dreist. Konnten sie die Wahrheit sein?

Lass ihn fortschaffen und behalte den Wolkensammler. Von diesem Mann geht eine düstere Kälte aus. Er plant Übles, warnten die Stimmen in Volodis Kopf.

»Du erinnerst dich an den Abend nach der Schlacht auf der Hochebene von Kush? Daran, wie ich dich zu den Zapote geschickt habe, um ihnen für ihren Heldenmut zu danken. Sie waren es, die Aarons Heer gerettet haben. Ich hatte ihnen als Lohn versprochen, was sie für ihren Tempel suchen: Männer mit blondem Haar, wie du einer bist.«

Volodi traute seinen Ohren nicht.

»Wer außer Kolja könnte das wissen?«, fuhr der Fremde fort. »Ich habe dich an Necahual verkauft, weil du den Weg verloren hattest. Ich bin nicht stolz auf diese Tat, aber du hast mir keine Wahl gelassen. Das Gemetzel auf der Hochebene von Kush war für uns alle schlimm, Volodi, nicht nur für dich. An jenem Tag, an dem so viele von unseren Zinnernen für ihr Leben von dieser Schlacht gezeichnet waren, wolltest du uns verraten, wolltest aufgeben, was wir in der Goldenen Stadt erschaffen hatten. Du wolltest unsere Männer einem Schicksal als Bettler in der Gosse überlassen!«

Volodis Mund wurde staubtrocken. Was der Fremde sagte, war wahr. »Sie wären alle reich gewesen …«

Der Mann, der sich Kolja nannte, schnaubte verächtlich. »Reich? Du kennst sie! Das Gold wäre ihnen zwischen den Fingern zerronnen. Sie brauchten einen Platz, an den sie immer hätten zurückkommen können. Einen Ort, von dem niemand sie je vertreiben würde. Wir hatten diesen Ort erschaffen, und du wolltest ihn aufgeben. Ich musste mich zwischen dir und den Männern entscheiden, die uns vertraut haben.«

Volodi winkte der jungen Frau bei den Bierkrügen. »Bring uns zu trinken!«

»Glaubst du mir nun?«

Der Unsterbliche fand es immer schwerer, den unerbittlichen Augen des Fremden standzuhalten. »Kolja hat einen Arm verloren«, sagte er bestimmt und griff nach dem linken Arm des Besuchers. Was er spürte, war lebendiges, warmes Fleisch. »Wie kann das zusammengehen? Kolja hat dir all das verraten.«

Sein Gegenüber lächelte. »Kennst du ihn so schlecht? Er ist kein Mann, der das Herz auf seiner Zunge trägt. Selbst unter Folter hätte er mir nicht gesagt, was ich dir gerade erzählt habe. Und du weißt das!«

Die Dienerin stellte den Bierhumpen vor Volodi auf die Bank und reichte ihnen zwei schöne Trinkhörner mit breitem silbernen Rand. »Der Braumeister …«, begann sie mit leiser Stimme.

Volodi winkte ab. »Jetzt nicht! Zieh dich zurück!«

Augenblicklich zog die Dienerin sich zurück. Sie bewegte sich lautlos und mit Anmut. Seltsam, dass sie ihm bisher kaum aufgefallen war.

Der Mann, der vorgab, Kolja zu sein, schenkte sich ein. »Es gibt etwas auf dieser Welt, das alles verändert. Etwas, das jeder Kreatur erlaubt, sich die geheimsten Wünsche zu erfüllen.« Er prostete Volodi zu und fuhr fort: »Was hätte Kolja sich gewünscht?«

Volodi nickte. Jetzt fügte sich das Bild zusammen. »Er hätte sich gewünscht, der Mann zu sein, der er einst war. Der Jüngling, der in die Arenen gegangen war und dem die Frauen zu Füßen lagen, wenn er seine Gegner mit brutalen Hieben zu Boden schickte.«

So oft hatte Kolja ihm von der Zeit in den Arenen erzählt. Wie er Liebling Tausender gewesen war. Wie die vornehmen Frauen ihn heimlich in ihre Betten geholt hatten, bis die bronzebeschlagenen Lederriemen, die sich die Faustkämpfer um ihre Hände wickelten, begannen, ihren Tribut zu fordern. Soweit Volodi wusste, war Kolja niemals besiegt worden. Er hatte sich schließlich selbst bezwungen, indem er so lange gekämpft hatte, bis sein Gesicht zu einer Grimasse voller roter Narben geworden war. Die Hiebe seiner Gegner hatten seine Augenbrauen fortgerissen, seine Ohren zu unförmigen Kugeln schrumpfen lassen. Sie hatten ihm ein Gesicht eingebracht, das zu seinem Innersten passte. Zu seiner zerrissenen Seele. Ein Gesicht, das zum Fürchten aussah.

Der Fremde lächelte. »Ich sehe, du beginnst zu verstehen. Schau mich an – so sah ich aus, als du noch als kleiner Junge mit deinem Bruder auf Bäume geklettert bist.«

»Du …« Volodi packte ihn bei der Tunika und zerrte ihn von der Bank hoch. »Du …du hast mich hintergangen, verschachert und dem Tod ausgeliefert! Du …«

»Ich habe den Mann aus dir gemacht, der du nun bist.« Kolja machte keine Anstalten, sich zur Wehr zu setzen.

»Du …« Volodi ließ los und landete einen krachenden Fausthieb am Kinn des Verräters.

Kolja taumelte einen Schritt zurück, schüttelte sich und wischte sich mit der linken Hand über die aufgeplatzte Lippe. Der Hand, die er gar nicht mehr hätte haben dürfen. Der Hand, die ihm eine Daimonin bei der Kristallhöhle abgehackt hatte.

»Ich habe dich zu einem Ehemann gemacht, zu einem Vater, zum Unsterblichen von Drus. Das alles bist du nur durch mich geworden.«

Volodi stürmte mit einem wilden Schrei vor und rammte dem Verräter eine Faust in die Magengrube. Kolja entwich pfeifend der Atem. Ein nächster Hieb traf ihn auf dem Rippenbogen, dann einer dicht über den Nieren. Volodi schrie. Er hätte immer weiter auf dieses Stück Dreck eindreschen mögen, aber Kolja tat noch immer nichts, um sich zu wehren. Er steckte Hieb um Hieb ein.

Das Bier aus seinem Horn troff von seiner Tunika, aber er ließ das Trinkhorn nicht los. Er machte auch keine Anstalten, es als Waffe zu nutzen.

»Wehr dich!«, zischte Volodi wütend, »oder ist der Mumm aus dir herausgewachsen, als dir ein neuer Arm gesprossen ist.«

»Ich suche meinen Frieden mit dir«, entgegnete Kolja ruhig. »Wie könnte ich da meine Hand gegen dich erheben.«

»Ich werde dich hinausprügeln lassen. Ich werde …« Volodi hatte erneut die Faust erhoben. Er wollte Kolja das Nasenbein zertrümmern. Er wollte dessen Gesicht erneut in die vernarbte Maske des Schreckens verwandeln, die es einst gewesen war.

Doch Kolja stand regungslos vor ihm. Er schien sich vor nichts fürchten zu müssen. Stimmte es vielleicht, dass er die Macht besaß, jede Wunde verschwinden zu lassen?

Volodi ließ die Fäuste sinken. »Was hat dich so verwandelt?«

Trau ihm nicht, tönte die Stimme Iwars schmerzhaft in Volodis Kopf.

Kolja blickte misstrauisch zu der Dienerin, die sich zum Tisch mit den Bierkrügen zurückgezogen hatte. »Ich habe das Traumeis gefunden und wieder versteckt. Damit kannst du alles verändern!«

Flucht

Bidayn flüsterte ein Wort der Macht. Sie war sich sehr wohl bewusst, welcher Gefahr sie sich aussetzte, wenn sie hier, im Palast eines Unsterblichen, einen Zauber wob. Er war wie ein Leuchtfeuer und würde die Devanthar anlocken, wenn er zu lange währte. Aber sie musste wissen, was die beiden tuschelten. Die Elfe hielt nicht viel von den Menschenkindern, doch diese beiden verhielten sich selbst gemessen an ihren niedrigen Erwartungen äußerst ungewöhnlich.

Die Elfe drehte den beiden den Rücken zu, damit ihr Mienenspiel nicht ihre Anspannung und ihr Interesse verriet. Der junge Krieger hatte einen Schatz im äußersten Norden Nangogs entdeckt und erneut versteckt, ohne dass es einen Zeugen gab. Einen Schatz, der es erlaubte, aus den Wolkensammlern, die mit dem Wind trieben, Geschöpfe zu machen, die aus eigener Kraft flogen. Dieses Traumeis ließ abgetrennte Arme nachwachsen und ermöglichte es, seinen Körper nach den tiefsten Wünschen zu verändern. Was würde der Goldene damit tun? Wozu wären die Himmelsschlangen in der Lage, wenn sie dieses Traumeis besäßen?

Der Blonde hatte recht. Dieses Traumeis würde das Schicksal der Welt verändern. Bidayn blickte verzweifelt zur rauchgeschwärzten Decke der Halle. Jeden Augenblick würden die Adler kommen. Wenn die beiden Menschenkinder bei dem Angriff starben, dann bliebe ihr Schatz auf immer verschollen. Sie musste ihre Mörder aufhalten!

Bidayn zerbrach das Band des Zaubers und schlich sich durch den Vorhang am Ende der Halle hinaus ins Freie. Die beiden Monde Nangogs stiegen bereits über den Horizont. Mit fliegender Hast lief sie die Treppe hinab und dann zum nördlichsten der Ankertürme. Von dort würden Asfahal und die anderen einfliegen.

Zwei Wachen standen am Fuß der Treppe, die sich außen am Mauerwerk des Ankerturms emporwand. Blonde Krieger in scharlachroten Umhängen, die sich auf ihre Speere stützten. Der Wachwechsel war zu Sonnenuntergang, sie konnten gerade erst Posten bezogen haben. Es war unmöglich, ungesehen an ihnen vorbei auf die Treppe zu gelangen, und ihr blieb auch keine Zeit, sie mit ausgefeilten Lügengeschichten zu umgarnen, damit die beiden sie entgegen ihren Befehlen den Turm hinaufließen.

Mit einem breiten Lächeln trat Bidayn ihnen entgegen. »Na, lange kein Weib mehr gehabt?« Als die Wachen statt zu antworten nur verlegen lachten, wusste die Elfe, dass sie arglose Tröpfe vor sich hatte. Und tatsächlich, sie stellten keine Fragen, ließen sie dicht an sich heran.

»Fangen wir mit einem Kuss an?«, gurrte sie und legte den Kopf in den Nacken. Die Krieger überragten sie um Haupteslänge.

»Dann lass mal deine Küsse kosten«, antwortete der Linke und beugte sich zu ihr herab.

Augenblicklich rammte Bidayn ihm die Faust mit aller Kraft auf den Kehlknorpel, sodass seine Luftröhre zerquetscht wurde. Mit der Linken griff sie nach dem Dolch an seinem Gürtel, zog die schwere, schlecht ausbalancierte Waffe und warf sie mit fließender Bewegung nach dem zweiten Wachposten. Die Klinge drang tief in sein Auge.

Er war tot, bevor er auf den Boden aufschlug. Ihr erstes Opfer ging in die Knie. Er umklammerte seine Kehle, röchelte, kämpfte verzweifelt um Luft. Seine Augen quollen hervor. Er würde keinen Alarmruf von sich geben können. Bidayn stürmte die Stufen hinauf. Sie nahm immer zwei auf einmal. Ihr Herzschlag beschleunigte sich kaum. Ihr Atem ging ruhig, als sie die Plattform an der Spitze des Turms erreichte. Die endlosen Ausdauerläufe, die zum Unterricht in der Weißen Halle gehört hatten, zahlten sich selbst nach so langer Zeit noch aus.

Plötzlich spürte Bidayn, dass sie beobachtet wurde. Ein Blick, so intensiv wie eine Berührung. Sie drehte sich um. Konnte ihr ein dritter Wächter gefolgt sein? Konnte er völlig lautlos und so schnell wie sie zur Turmspitze gelangt sein? Nein. Da war niemand. Der Blick kam vom gegenüberliegenden Ankerturm! Der seltsame Wolkensammler dort betrachtete sie. Er war nicht nur was das Äußerliche anging anders. Er wirkte aufmerksamer als die anderen Himmelsgiganten, die ihr stets etwas entrückt vorkamen. Seine Tentakel bewegten sich unruhig. Einige streckten sich sogar in ihre Richtung. Die langen Fangarme reichten über den halben Hof hinweg, mehr als sechzig Schritt waren sie lang.

Eine Bewegung zu ihrer Linken ließ sie den Wolkensammler vergessen. Die Adler kamen. Sie trugen große Ringe in ihren Krallen, von denen je ein Krieger mit gestreckten Armen herabhing. Diese Art des Transports ermöglichte den schnellstmöglichen Absprung, und bei Angriffen wie diesem kam es auf jeden Augenblick an.

Bidayn winkte mit erhobenen Armen und gab das Zeichen zum Abbruch. Die großen Adler, die in einer Linie angeflogen kamen, verlangsamten ihren Flug. Nur der vorderste Vogel hielt weiterhin sein Tempo. Sonnenfänger war der stärkste ihrer Adler. Keiner flog höher in den Himmel hinauf, keiner schlug härter mit dem Schnabel zu, keiner vermochte schwerere Lasten zu heben.

Die Elfe spannte sich, sprang ab, und ihre Hände schlossen sich um den Reif, den Sonnenfänger mit seinen Krallen umschlossen hielt. Schon schwebte sie über dem Abgrund jenseits des Ankerturms. Der mächtige Vogel war durch ihr Gewicht ein wenig tiefer gesackt, gewann aber bereits wieder an Höhe. Er folgte den anderen, nun als Letzter in der Reihe, die er eben noch angeführt hatte. Bidayn fragte sich, ob sie das Richtige getan hatte. Wie würde der Goldene darauf reagieren, dass sie den Mord, den er befohlen hatte, nicht ausgeführt hatte? Sie würde ihn davon überzeugen müssen, dass das Geheimnis des Traumeises viel bedeutender war als das Leben eines Unsterblichen. Volodi konnte sie auch an einem anderen Tag töten.

Die großen Adler strebten den beiden Monden am Himmel entgegen, als das vorderste Tier plötzlich ins Trudeln geriet. Seine rechte Schwinge flatterte. Federn stoben in die Nacht. Der Adler und seine Fracht stürzten in trudelnden Kreisen dem Palasthof entgegen.

Adler am Boden

Asfahal sah die wenigen Fackeln auf dem weiten Hof. Er war nur spärlich beleuchtet. Es schien kaum Wachen zu geben. Vielleicht würde er davonkommen. Starkfuß kämpfte verzweifelt darum, in der Luft zu bleiben, aber seine rechte Schwinge schien gebrochen zu sein. Etwas war aus dem Dunkel hervorgeschnellt und hatte den großen Adler mit tödlicher Kraft getroffen. Der Raubvogel stieß leise, keuchende Laute aus. Sein Kampf war aussichtslos. Immer schneller stürzten sie dem Hof entgegen. Noch zehn Schritt bis zum Aufschlag. Sieben …

Asfahal ließ den Ring los, an dem Starkfuß ihn getragen hatte. Obwohl der Elf sich abrollte, war der Aufprall härter gewesen, als er erwartet hatte. Seine Knie und Knöchel fühlten sich an, als hätte ihm jemand glühende Nägel hineingetrieben. Er rappelte sich auf und knickte sofort wieder ein. Sein linker Knöchel. Er war verstaucht, vielleicht sogar gebrochen. Er konnte ihn nicht mehr belasten.

»Alarm!«, schrie eine dunkle Stimme irgendwo über Asfahal.

Starkfuß lag neben dem Elfen auf dem Hof. Der Adler überragte ihn um fast einen Schritt. Sein Flügel war unnatürlich verdreht, er presste ihn gegen seinen Leib. Asfahal spürte die Angst des Tieres. Starkfuß war sich bewusst, dass er von hier nicht mehr lebend fortkommen würde.

Eine Fackel wurde vom Turm südlich von ihnen geworfen. Wie ein Komet zog sie einen Schweif hinter sich her und sprühte Funken in die Nacht. Asfahal zog sein Schwert. Er sollte es dem Adler in die Kehle treiben. Bidayn hätte sicherlich keinen Augenblick gezögert, dies zu tun. Es würde ihm, Asfahal, Gelegenheit geben, vielleicht im Dunkel zu entkommen. Sein Weg war das nicht, dachte der Elf. Ihm fehlte die Fähigkeit, um jeden Preis das Vernünftige zu tun.

»Wir kämpfen zusammen«, sagte der Elf und strich Starkfuß über das zerzauste Gefieder. »Die Menschenkinder werden sich noch lange an uns erinnern.«

Die Fackel schlug dicht neben ihnen auf den Boden. Starkfuß schob seinen Kopf unter den gesunden Flügel wie ein ängstliches Küken.

»Was …? Das ist jetzt nicht dein Ernst! Hast du etwa Angst vor Feuer? Du verschaukelst mich! Spiel hier nicht das Hühnchen. Nicht jetzt!«

Der Adler hob seinen Kopf, blinzelte ihm schelmisch zu und stieß dann ein kämpferisches Krächzen aus.

Ein Scherz! Asfahal hatte schon in den vergangenen Wochen immer wieder das Gefühl gehabt, dass Starkfuß im Gegensatz zu den übrigen Adlern einen gewissen Sinn für Humor hatte.

Anders als Lemuel vermochte sich Asfahal nicht mit den Vögeln zu verständigen. Wie sein Gefährte das vollbrachte, wusste der Elf auch nicht. Lemuel sprach nicht mit den Tieren. Er redete überhaupt kaum. Er sah seinen Adler nur an, und sie schienen einander zu verstehen.

Eine zweite Fackel wurde in den Hof geworfen, und nun erklangen ringsherum aufgeregte Rufe. Asfahal sah sich nach einem Fluchtweg um. Doch alles, was er innerhalb des weitläufigen Hofes sah, waren eine primitive Halle, etliche kleinere Häuser und ein Wald. Ein Tor konnte er nicht entdecken. Was für eine seltsame Palastanlage.

Wenn er sich auf einen der Ankertürme retten könnte, würde er vermutlich lange durchhalten, dachte er. Dort gab es ganz gewiss keinen Schwertkämpfer, der ihn im Duell Mann zu Mann besiegen könnte. Doch Starkfuß würde die enge Treppe nicht hinaufkommen.

Fackellicht schimmerte auf Bronze. Einige Männer, die sich hinter große Schilde duckten und dabei ihre Speere vorreckten, näherten sich ihnen. Die Speere waren lang. Sie könnten dem Adler gefährlich werden. Jetzt schlossen sie die Schilde zusammen. Sie überlappten sich wie die Schuppen eines Fisches und bildeten einen Wall aus Holz und Bronze.

Asfahal sah, dass die Beine der Krieger vom Knie abwärts ungepanzert waren. Er sollte sie reizen, damit sie aus ihrer Formation ausbrachen. Dafür müssten sie aber noch etwas näher kommen. Er erinnerte sich daran, wie Bidayn von den seltsamen Beleidigungen erzählt hatte, die Menschenkinder benutzten. Abstruse Behauptungen über Tiere oder Mütter oder Fäkalien – wenn man die richtigen Worte wählte, dann reagierten Menschenkinder völlig ohne Verstand. Leider hatte er nur ein paar Brocken ihrer Sprache gelernt. Schließlich hatten sie diese Nacht den Tod bringen und nicht plaudern wollen.

Weitere Krieger erschienen auf dem dunklen Hof und reihten sich in den Schildwall ein. »Ich mit Hund eurer Mutter habe geschlafen!«, rief Asfahal den Drusniern entgegen und hoffte, einen wilden Wutausbruch zu provozieren.

Die Worte hatten eine andere Wirkung als erwartet. Der Schildwall verharrte. Asfahal hörte die Krieger tuscheln.

Er durfte nicht länger warten. Immer mehr Kämpfer reihten sich in die Formation ein. Sie würden ihn und Starkfuß einfach umringen, wenn er nichts unternahm. Er stürmte vor, machte eine tiefe Grätsche und stieß sein Schwert unter den Schilden hindurch. Speere zuckten vor und stießen über ihn hinweg, während seine Klinge Fleisch und Knochen zerteilte. Zwei Krieger stürzten schreiend. Eine Lücke klaffte im Wall. In diesem Moment stieß der flügellahme Adler einen wilden Schrei aus, erhob sich und stürmte mit wippenden Schritten ebenfalls den Drusniern entgegen. Sein mächtiger Schnabel schmetterte auf Bronzehelme, seine Krallenfüße rissen Männer zu Boden. Er brach durch die Formation der Feinde, und Asfahal folgte ihm.

Dicht hintereinander liefen sie in Richtung der breiten Terrasse, auf der die lange Halle stand. Männer mit Fackeln sammelten sich dort. Ein Pfeil verfehlte den Elfen um zwei Fingerbreit, Starkfuß hatte weniger Glück. Etliche Geschosse trafen ihn. Der Adler pickte nach Pfeilen, die ihn getroffen hatten, und riss sie sich aus dem Fleisch. Asfahal überholte ihn und versuchte, ihn gegen die Geschosse zu schützen. Einige Pfeile schlug er mit dem Schwert aus der Luft, doch dadurch wurde er selbst mehr und mehr zum Ziel der Bogenschützen. Die Speerträger, die den Schildwall gebildet hatten, hatten sich von ihrem Schreck erholt und gingen erneut gegen sie beide vor.

Als sie bedrohlich nahe waren, ging Starkfuß erneut zum Angriff über. Doch jetzt zeigte sich der Wall aus Bronze unerschütterlich. Die Krieger knieten nieder, ihre Speere auf die Brust des großen Vogels gerichtet, der nicht mehr in den Himmel steigen konnte.

»Nicht!«, schrie Asfahal, als er sah, wie sich Starkfuß mit Todesverachtung den Speerspitzen entgegenwarf. Ein Pfeil schrammte über seinen Handrücken, ein zweites Geschoss zerrte an seinem Haar. Neue Bogenschützen waren aus dem Dunkel der Nacht aufgetaucht. Sie nahmen ihn nun von drei Seiten unter Beschuss.

Noch bevor Starkfuß auf die Linie der Menschenkinder auftraf, steckten schon mehrere Speere tief in seiner Brust. Dennoch riss er einige Krieger mit sich zu Boden. Selbst tödlich verwundet, hackte sein Schnabel nach dem warmen Fleisch der Feinde.

Ein Schatten fiel vom Himmel, mitten in das Getümmel um den sterbenden Vogel. Mondlicht brach sich auf der silbernen Klinge, die Starkfuß durch das linke Auge tief in den Schädel drang. Die Menschenkinder schrien in Panik auf. Und dann gebar die Nacht weitere Schatten und funkelnde Klingen.

Wie in alten Zeiten

»Und wo ist das Traumeis?«

Kolja schenkte ihm ein kühles Lächeln. »Wenn ich dir das sage, welchen Grund hättest du, mich am Leben zu lassen. Ich hatte gehofft, dass du mir verzeihen könntest. Wie ich bereits sagte, es war mein Verrat, der dich zu einem Mann mit Weib und Kind und letztlich sogar zum Unsterblichen gemacht hat.«

Volodi atmete schwer ein. Er sollte Kolja eigentlich nicht verzeihen. Und doch hatte das Schlitzohr es geschafft, ihn für sich zu gewinnen. Das Traumeis – es war wie sein Name. Es beflügelte zu großen Träumen, und zugleich jagte es Volodi eisigen Schrecken ein. Er wusste, er war nicht der Mann, der dazu geschaffen war, mit diesen wundersamen Kristallen die Welt zu verändern. Ihm fehlten die Visionen. Aber Aaron, wenn er an das Traumeis gelangte, würde er es nutzen, um die Daimonen ein für alle Mal zu vertreiben und allen drei Welten Frieden zu schenken! Er dachte an die gefiederte Schlange mit dem Goldenen Kopf, die dem Blutteich bei der Pyramide entstiegen war. Kannten auch die Zapote das Geheimnis dieser Kristalle? Hatten sie so dieses Ungeheuer erschaffen?

»Hast du diesen seltsamen Wolkensammler nach deinem Willen erschaffen?«, fragte er schließlich.

Kolja schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, es waren seine eigenen Wünsche. So wie bei mir. Jeden Tag habe ich dem Gesicht, das ich verloren hatte, nachgetrauert und meinem Arm …«

Es fiel Volodi immer noch schwer, in dem Mann mit dem gelockten, goldenen Haar und dem ausdrucksvollen Gesicht Kolja wiederzuerkennen. Nur die Augen waren ihm vertraut. Und das Gefühl, dass er ihm nicht trauen konnte. Kolja war ein zuverlässiger Gefährte, solange man mit ihm denselben Weg ging und ihm nützlich war. Aber kurz vor dem Ziel wurde es gefährlich. Er war niemand, der teilte. Und im Augenblick vermochte Volodi nicht einmal zu sagen, welches Ziel der Söldner anstrebte.

»Was willst du wirklich?«

Kolja schenkte ihm ein breites Grinsen. »So gefällst du mir. Ein Mann der klaren Worte! Ich will meine Bordelle zurück. Und ich will, dass du bei dem Leben deines Sohnes schwörst, dass du dich niemals an mir rächen wirst. Ich will die Zinnernen um mich versammeln und der Herrscher über alle Hurenhäuser der Stadt sein. Für den Anfang …«

»Und dann?«

Der blonde Hüne zuckte mit den Schultern. »Weiß ich noch nicht. Du kennst mich, ich bin niemand, der die Hände in den Schoß legt. Es wird neue Ziele geben. Vielleicht brauche ich die Unterstützung der anderen Unsterblichen.«

Volodi spürte, dass Kolja ihn anlog. »Nur ein paar Freudenhäuser? Für einen Schatz, der die Welt verändern wird …?«

»Ich habe noch mehr zu bieten. Ich weiß, wo Tarkon Eisenzunge sich versteckt. Was denkst du, wären die anderen Unsterblichen mir nicht wohlgesinnt, wenn ich euch helfen würde, diese Plage vom Himmel zu fegen?«

Hoffte Kolja etwa darauf, den Platz des Piraten einzunehmen, wenn Tarkon durch die vereinigten Wolkenflotten der Unsterblichen besiegt wurde? War er so kühn, davon zu träumen, sich zu einem Herrscher aufzuschwingen? Zu einem achten Unsterblichen vielleicht? Draußen erklangen Hörner.

»Ich habe mich verändert«, sagte Kolja leidenschaftlich. »Es ist nicht nur mein Körper. Ich habe die Dunkelheit abgelegt, die ich in meinem Herzen getragen habe. Sie hat sich dort eingenistet, als mir mein Gesicht in Fetzen geschlagen wurde. Ich will Gutes tun! Die Idee mit den Freudenhäusern, die wir hatten, war durch und durch gut. Wir behandeln die Frauen anständig, nicht so wie diese verdammten Zuhälter aus Truria. Und wir bieten den Männern, die für uns ihre Haut riskiert haben, einen guten Lebensabend. Jeder gewinnt bei dieser Lösung. Warum zögerst du noch? Wir könnten …«

Volodi folgte den Worten kaum noch. Er erinnerte sich noch gut an all die noblen Reden, die sie beide geschwungen hatten. Und daran, wie Kolja die Trurier ertränkt hatte, die versucht hatten zu verhindern, dass die Zinnernen alle Freudenhäuser übernahmen. Der Unsterbliche lauschte auf den Lärm draußen. Mehr Hörner erklangen. Jemand rief Alarm. War da Waffengeklirr?

Nun war auch Kolja verstummt. Unüberhörbar schnitt ein gellender Schrei durch die Nacht. Ein Schrei, wie ihn Volodi auf den Schlachtfeldern seines Söldnerlebens Hunderte Male gehört hatte. Ein Todesschrei!

Volodi sprang auf und stürmte zu seinem Thron. Dort lehnte eines der stählernen Schwerter, die ihm Aaron geschenkt hatte. Er griff die Waffe, zerrte den Vorhang hinter dem Thron zur Seite und hastete den schmalen Gang entlang, der hinaus auf die Terrasse führte. Er hatte die Tür noch nicht erreicht, als sie von außen aufgerissen wurde und ihm Oleg entgegengelaufen kam. »Der Palast wird angegriffen«, rief der Hauptmann atemlos. »Sie sind wie lebende Schatten …«

»Daimonen«, sagte Kolja mit fester Stimme. Er war ihm gefolgt. War wie selbstverständlich an seiner Seite. So wie früher.

Volodis Gedanken überschlugen sich. Er musste Wanya und Quetzalli in Sicherheit bringen, zugleich durfte er seine Männer nicht im Stich lassen. Sie waren der Wall, der seine Familie schützte. »Gib dem Fremden dein Schwert, Oleg. Und dann lauf zu Quetzalli, sie und Wanja sind in unseren Gemächern hier im Langhaus. Sorge dafür, dass meine Familie in Sicherheit ist. Die beiden müssen aus dem Palast heraus. Die Mörder werden überall innerhalb der Mauern nach ihnen suchen. Nimm den Versorgungstunnel unter dem Langhaus, durch den die Amphoren für die Lagerhäuser gebracht werden. Den können die Daimonen nicht kennen!«

Oleg zog sein Schwert und reichte es mit dem Griff voran Kolja. Der blonde Hüne zögerte kurz, die Waffe anzunehmen.

»Ich werde deine Familie mit meinem Leben schützen.« Der Hauptmann salutierte und verschwand.

Volodi eilte auf die Terrasse hinaus und verschaffte sich einen raschen Überblick. Die Bogenschützen hatten sich bereits versammelt. Eiserne Körbe, gefüllt mit glühenden Kohlen, wurden herangetragen, um Brandpfeile entzünden zu können. Der weite Hof hallte vom Geschrei der Kämpfenden und Waffengeklirr. Alle Anspannung fiel von Volodi ab. Er war ein guter Anführer und Krieger. Auf dem Schlachtfeld plagten ihn nie Zweifel, hier waren alle Dinge ganz einfach, nicht so wie im Thronsaal.

Er sollte Kolja in Gnaden aufnehmen, das wäre klug. Aber alles in ihm sträubte sich dagegen. Einst hatte er in dem Faustkämpfer einen Freund gesehen. Das würde er nie wieder tun. Aber als Herrscher musste er kluge Entscheidungen treffen. Seine Gefühle waren dabei Nebensache.

Er blickte auf den Hof hinab. Sah die schattenhaften Gestalten, die zwischen seinen Kriegern wüteten und sich dabei mit einer Leichtigkeit bewegten wie Tänzer in einem Festsaal. Sie schlugen sogar die Pfeile aus der Luft, die auf sie abgeschossen wurden. Verfluchte Daimonen! Wie sollte ein Mann gegen diese Ungeheuer bestehen?

»Keine Brandpfeile!«, befahl er mit volltönender Stimme. Die Bogenschützen hielten inne und sahen ihn verwundert an. Sie wollten den Hof erhellen, um ihre Ziele besser sehen zu können.

»Pfeile, die diese Meuchler als glühenden Schweif auf sich zukommen sehen, werden sie noch leichter abwehren!« Volodi sprach bewusst nicht von Daimonen, um seinen Männern nicht zusätzlich Angst einzujagen. Meuchler waren übel, aber man konnte sie besiegen. Daimonen waren etwas anderes. Es gab zu viele Geschichten über sie! Es hieß, dass hundert Krieger notwendig waren, um einen von ihnen zu besiegen. Volodi wusste, dass das nur Gerede war. Sie bluteten und starben, diese Daimonen, so wie ganz normale Männer und Frauen auch. Er würde seinen Wachen zeigen, wie man diese Schattengestalten tötete.

Der Unsterbliche stieg auf die Brüstung der Terrasse. Bis hinab zum Hof waren es etwas mehr als drei Schritt. Um zur Treppe zu gelangen, müsste er zum anderen Ende der Terrasse laufen. Dafür war keine Zeit mehr. Seine Krieger im Hof wichen bereits zurück. Ihre Verzweiflung konnte jeden Augenblick in Panik und kopflose Flucht umschlagen.

Er drehte sich zu Kolja um. »Seite an Seite? Wie in alten Zeiten? Danach wird alles vergessen sein, was war.«

Seine zurückerlangte Jugend schien Kolja den Schneid gekostet zu haben. Der Hüne, der früher vor keinem Risiko zurückgeschreckt war, zögerte. »Du bist jetzt ein Unsterblicher. Musst du nicht den Überblick behalten und Schlachten vom Feldherrnhügel aus lenken?«

Volodi schnaubte verächtlich. »Was für ein Herrscher wäre ich, wenn ich meinen Männern in der Gefahr nicht beistehen würde?«

»Ein weiser Herrscher!«, entgegnete Kolja entschieden.

»Ich wäre ein Hundsfott.« Volodi wandte sich ab, sprang in den Hof hinab und stürmte einer Schattengestalt entgegen, die mit zwei Schwertern focht. Es gab nur noch diesen Daimonen und ihn.

Hinter sich hörte er Kolja auf dem harten Lehmboden landen. »Verdammter Idiot. Du bringst uns beide um!«, fluchte der Hüne. Dann holte er zu Volodi auf, das Schwert erhoben, bereit zum Kampf.

Flucht ins Dunkel

Bidayn riss ihr Schwert aus Starkfuß’ Auge und zog es mit fließender Bewegung einem der Menschensöhne über die Kehle. Der Adler war nicht mehr zu retten gewesen. Besser er war tot und beeinflusste nicht länger das Denken von Asfahal. Vielleicht war auch das ein Grund, warum ihr Gefährte aus der Weißen Halle verbannt worden war. Seine Gutherzigkeit. In einer Schlacht wie dieser stand sie nur im Weg.

Die Elfe duckte sich unter einem Speerstoß weg und rammte ihre Klinge mit geradem Stoß durch einen Schild. Sie genoss den entsetzten Ausdruck in den Augen des Kriegers, als er begriff, dass ihn weder Schild noch Rüstung schützten und die Waffe der Daimonin geradewegs in sein Herz traf.

»Ich dachte, wir brechen die Mission ab.« Asfahal, der noch immer dicht bei seinem Adler stand, sprach leise, war aber trotz des Waffenklirrens gut zu verstehen.

»Und ich dachte, du hättest meinen Befehl verstanden, dass wir uns kampflos zurückziehen.« Bidayn sah, wie plötzlich ein tiefer Schnitt auf der Wange von Asfahal erschien. Ein Pfeil musste ihn gestreift haben. Es war an der Zeit, etwas gegen die Bogenschützen zu unternehmen. Hier auf dem Hof gaben sie zu gute Ziele ab.

»Bleibt in Bewegung!«, rief sie ihren Gefährten zu.

Rechts von ihr ließ Kyra ihren Klingenstab wirbeln, der den Bambusstock ersetzte, mit dem sie auf dem Übungshof in Uttika gekämpft hatte. Asfahals Schwester trieb die Menschenkinder nur so vor sich her, doch sie achtete zu wenig auf die Pfeile, die inzwischen aus allen Richtungen auf sie niedergingen. Lemuel, der schweigsame Maurawan, der das Band zu den Riesenadlern vom Albenhaupt geknüpft hatte, schlug mit einer seiner beiden kurzen Klingen ein Geschoss zur Seite, dass Kyra ansonsten in den Rücken getroffen hätte.

Lemuel war fast einen Kopf kleiner als Bidayn. Vielleicht lag es an seiner Größe, dass er stets in der Laune war, sich zu beweisen. An schlechten Tagen genügte schon ein unbedachter Blick, um mit ihm in Streit zu geraten. Wie sie alle trug er eng anliegende schwarze Gewänder und einen leichten Brustpanzer aus Leder. Seine Kleider sahen bereits schmuddelig und abgetragen aus, obwohl sie kaum fünf Wochen alt waren.

»Bring uns in Deckung!«, rief Bidayn Valarielle zu.

Die schwarzhaarige, ungewöhnlich blasse Elfe schob mit fließender Bewegung ihr Schwert in die Lederscheide auf ihrem Rücken zurück und trat in den Kreis, den die vier Drachenelfen inmitten des Hofes gebildet hatten. Sie löste ein Band mit silbernen Glöckchen von ihrem Stiefel und warf es Bidayn zu. »Das solltest du tragen, damit ich dir nicht gleich aus Versehen die Kehle durchschneide.«

Bidayn schnappte das Lederband aus der Luft. Ein Pfeil streifte ihren Unterarm. Sie hatte nicht aufgepasst. Schmerz flammte in ihrem Arm. Ob die Menschenkinder ihre Pfeilspitzen vergifteten?

»Deckung!« Asfahal riss den Schild eines toten Kriegers hoch und hielt ihn schützend über sie. Mehrere Geschosse schlugen mit dumpfem Laut in das Holz.

Zwei Menschensöhne sprangen von der Terrasse und stürmten ihnen entgegen. Bidayn sah sie nur flüchtig. Noch immer zogen Brandpfeile durch die Luft, wenn auch weniger als zuvor, und flackerten auf dem Boden. Die Flammen verdarben ihre Nachtsicht. Die Menschenkrieger waren wenig mehr als Schemen in Bronze und Leder. »Lemuel! Halt die beiden dort hinten auf!«

Der Maurawan stach einen Speerträger nieder und eilte dann den Kriegern entgegen, die von der Terrasse kamen. Jetzt folgten auch noch einige der Bogenschützen dem Beispiel der ersten beiden Krieger, die gesprungen waren.

»Das wird übel«, zischte Asfahal Bidayn zu.

Nahe dem Brauhaus war ein weiterer Trupp Krieger erschienen. Sie alle waren wohlgerüstet, und offensichtlich wurden sie gut geführt, denn sie bildeten schnell einen neuen Schildwall und begannen, auf die Mitte des Hofs vorzugehen. Vielleicht war der Unsterbliche dort? Bidayn wusste, dass über dreihundert Krieger im Palast einquartiert waren. Sie waren fünf. Ganz gleich, wie gut sie kämpften, gegen diese Übermacht konnten sie auf dem Hof nicht bestehen.

Ein Prickeln überlief die Elfe. Sie spürte, wie sich das magische Netz veränderte, das, für normale Augen unsichtbar, die Welt durchdrang.

»Achtung!« Kyra warf sich über Valarielle und riss die Elfe zur Seite. Eine Kralle aus bleichem Knochen zerfurchte den gestampften Lehmboden, wo die Zauberweberin eben noch gestanden hatte.

Bidayn sah zum Ankerturm auf. Der Wolkensammler! Seine Tentakel peitschten durch die Luft. Mithilfe der riesigen Fangarme zog er sich am Ankerplatz hinab, um in den Kampf einzugreifen.

»Valarielle!«, schrie Bidayn. »Wir müssen sofort weg hier!«

Ein weiterer Tentakel peitschte über sie hinweg und traf einen der Krieger aus Drus. Der stämmige Mann wurde durch die Knochenkralle zweigeteilt. Doch Valarielle schien wie in Trance. Sie reagierte nicht und blickte, noch immer in Kyras Armen, starr vor sich hin. Es wurde kälter. Plötzlich, so, als wäre von einem Herzschlag zum nächsten klirrender Winter eingekehrt. Die Krieger aus Drus stießen erschrockene Rufe aus. Ihr Atem stand ihnen in weißen Wolken vor dem Gesicht. Valarielle aber atmete Dunkelheit aus. Es waren keine Wölkchen wie bei den ängstlichen Menschenkindern, sondern Schlieren, dicht wie strömendes Wasser. Sie stahlen das Licht der Brandpfeile und Fackeln, weiteten sich aus und verschlangen den Hof. Nichts blieb außer Kälte und Finsternis.

Bidayn öffnete ihr Verborgenes Auge. Die magische Welt war von der Dunkelheit nicht verschlungen worden. Ein Gespinst leuchtender Linien umgab sie, und es fiel der Elfe einen Moment lang schwer, sich zu orientieren. Die Auren der Menschenkinder waren grobe Skizzen aus blauem Licht, der Farbe der Angst, die sie kaum noch zu beherrschen vermochten. Nur wenige schimmerten im reinen Rot der Wut. Andere, in denen sich Angst und Wut die Waage hielten, erstrahlten in purpurnem Licht. Darüber lag ein verwirrendes Gewitter flackernder Lichtblitze. Schemen verwischten und verschwanden.

Bidayn spürte, wie sich ein leiser, bohrender Schmerz tief in ihren Kopf brannte. Eine Nebenwirkung von Valarielles Zauber. Er störte die Harmonie der magischen Welt, hatte die unselige Tendenz, auch hier den Gesichtssinn zu verwirren, wenn auch auf eine andere Art.

»Lass uns gehen«, erklang die vertraute Stimme Asfahals neben ihr. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Bestie uns noch sieht.«

Bidayn sah auf. Dort, wo der Himmel sein sollte, wand sich ein Gewirr gleißend roter Stränge. Die Tentakel des Wolkensammlers. Die Bestie glühte förmlich vor Wut. Bidayn war sich bis zu diesem Augenblick nicht bewusst gewesen, dass die schwebenden Giganten Gefühle hatten.

»Folgt mir!«, forderte sie die anderen auf. »Folgt dem Laut der Glöckchen und lasst eure Sinne nicht verwirren.« Sie hob das Lederband mit den kleinen Silberglöckchen und schüttelte es, sodass ihr leises, unverwechselbares Klingen zu hören war. »Ich kenne einen Gang, der unter dem Palast hindurchläuft. Er mündet auf eine breite Gasse. Dort wird uns so schnell niemand suchen.«

Ein Hauch von Rot mischte sich in eine der blassgoldenen Auren ihrer Gefährten. »Wollten wir nicht einen Unsterblichen töten?«, fragte Valarielle, die wieder aus ihrer Starre erwacht war.

»Der Plan hat sich geändert. Nun kommt!« Bidayn hörte, wie sich Valarielles Glöckchen entfernten. Sie ging in Richtung der Menschenkinder!

»Komm zurück!«, befahl Bidayn.

»Sind wir nicht gekommen, um Angst und Schrecken in die Herzen der Menschen zu säen?«, fragte die Zauberweberin ruhig und ging weiter den Kriegern entgegen.

Bidayn sah im blendenden Spiel der Blitze zwei blaue Auren vergehen. Ein Schrei voller Angst erklang und brach abrupt ab.

»Vorsicht!«, zischte Kyra.

Bidayn wirbelte herum und entging knapp einem gekrümmten roten Lichtstrang. »Der Wolkensammler kann uns sehen«, warnte sie ihren Gefährten und eilte der Terrasse entgegen.

Alle schienen ihr zu folgen; Bidayn hörte deutlich Valarielles Klang unter den Glöckchen heraus. Sie müsste sich etwas einfallen lassen, womit sie der rebellischen Drachenelfe einen Dämpfer verpassen konnte. Sie brauchte Valarielle. Niemand beherrschte diesen Zauber so wie sie. Aber Bidayn konnte nicht dulden, dass ihre Befehle ignoriert wurden.

»Wer da?«, flüsterte eine Stimme unmittelbar vor ihr in der Zunge Drusnas. Ein vages Gespinst silberner Lichtfäden erschien zwischen den Blitzen und verschwand. »Ich höre dich. Du …«

»Still!«, befahl eine andere Stimme. »Das sind Daimon…« Das Wort verging in einem Schmerzenslaut. In das Silber, das Bidayn vor sich sah, mischten sich Blau und Rot. Der Schemen veränderte sich. Da waren noch mehr Menschenkinder.

Die Elfe riss ihre Klinge hoch. Im letzten Augenblick. Stahl kreischte auf Stahl. Bidayn drehte sich zur Seite weg. Spürte den Luftzug eines Schwertstreichs, der sie verfehlt hatte. Sie ging in die Knie und stieß ihre Waffe nach hinten. Fast ohne Widerstand glitt ihr Schwert in Fleisch. Ein niedergerungenes Stöhnen erklang.

»Weiter!«, rief Bidayn und hörte das Geräusch von Klingen, die durch Leder und Leiber schnitten. Die Krieger, die von der Terrasse gesprungen waren, standen ihnen im Weg.

Der Schmerz in ihrem Kopf wurde stärker, gewann an Nahrung durch die Blitze, die sich geradewegs durch ihre Augen in ihr Gehirn brannten. Bidayn kämpfte gegen Übelkeit an. Sie erreichte eine Mauer. Sie schloss ihr Verborgenes Auge. Der Schmerz ließ sofort nach.

Eine Hand an der Wand, tastete sie sich voran und lauschte auf das Klingen der Glöckchen. Valarielle war immer noch die Letzte ihrer kleinen Schar. Krieger stöhnten in Schmerzen, winselten, riefen nach ihren Müttern. Wären die Dummköpfe auf der Terrasse geblieben, hätten sie überlebt!

Die Mauer machte einen scharfen Knick nach links. Bidayn murmelte ein Wort der Macht und öffnete ihr Verborgenes Auge wieder. Blitzgewitter umgab sie. Die magische Welt kämpfte gegen das Ungleichgewicht an, das Valarielles Zauber erzeugte. Bidayn zählte stumm die Schritte. Vier Tage hatte sie als Dienerin verkleidet im Palast verbracht. Sie hatte erkundet, wer sich wann an welchem Ort aufhielt, wie viele Wachen es gab, wann sie wechselten und welche Wege eine Flucht ermöglichten. Sie wusste, dass es siebzehn Schritte bis zu dem Tor waren, hinter dem der Versorgungstunnel begann, der fast nur von der Dienerschaft genutzt wurde.

Der Klang vier verschiedener Schellenbänder folgte ihr. Sie würde all ihre Gefährten lebend zurück nach Albenmark bringen, dachte sie erleichtert, als sie den Eingang zum Tunnel erreichte.

Lebendige Finsternis

Oleg blieb am Treppenabsatz stehen. Er sah sie flehend an. Hinter ihnen war, gedämpft durch die Wände des Langhauses, der Schlachtenlärm zu hören. Quetzalli wusste, dass Oleg für immer sein Gesicht verlieren würde, wenn er als Hauptmann nicht an den Kämpfen teilnahm. »Du kannst gehen«, sagte sie entschieden. Den Rest des Weges würde sie alleine schaffen. Sie wusste, dass sie fort von hier musste. Sie konnte das Böse spüren, das gekommen war. So deutlich, wie sie es nur am Blutsee empfunden hatte.

»Geh!«, bekräftigte sie noch einmal.

Oleg lächelte erleichtert. »Danke.«

Wanya rekelte sich in ihren Armen. Sein Kopf lag auf ihrer Brust gebettet. Quetzalli stützte ihn mit der linken Hand. »Bring mir einen abgeschnittenen Kopf von unseren Feinden, wenn du mir danken willst.«

Einen Augenblick wirkte er irritiert. »Morgen wird ein Dutzend abgeschnittener Köpfe vor Eurem Thron liegen«, sagte er schließlich entschieden. Dann nickte er ihr knapp zu und eilte mit langen Schritten davon.

Quetzalli sah zum Versorgungstunnel hinab. Licht drang von unten die gewundene Treppe hinauf. Sie hörte dort unten Schritte von den gemauerten Wänden widerhallen. Offensichtlich nutzten auch andere den Fluchtweg aus dem Palast. Mit klopfendem Herzen begann sie den Abstieg. Wer griff den Palast an? Hatte der Überfall mit dem seltsamen Wolkensammler zu tun? Der morgige Tag würde Antworten bringen. Nun zählte allein Wanya.

Die enge Wendeltreppe mündete direkt in den Tunnel. Es war angenehm kühl hier unten. Drei Schritt weit und fast zwei Schritt hoch war der Gang mit seiner gewölbten Decke. Weit genug, dass ein Streitwagen hindurchfahren könnte. Sie musste schmunzeln. Diesen Gedanken sollte sie für sich behalten, sonst würde Volodi es ausprobieren.

In Nischen an den Wänden standen in kurzen Abständen Öllampen, die ein angenehmes, warmes Licht spendeten. Quetzalli sah eine alte, grauhaarige Frau aus der Richtung des Hofes auf sich zukommen. Dascha vielleicht? Sie fegte in der großen Halle und sorgte dafür, dass die Glut in den Feuergruben nie gänzlich verlosch. Sie erinnerte sich, dass die Dienerin genagelte Sandalen wie ein Krieger trug. Daher das laute Schrittgeräusch auf dem gepflasterten Boden des Tunnels. Sie sollte Dascha warnen. Doch wenn sie nach ihr rief, würde Wanya aufwachen … Sie musste warten, bis die alte Frau näher bei ihr war.

Plötzlich wurde es kalt. War es eben noch angenehm kühl gewesen, zog nun ein eisiger Luftzug vom Hof durch den Tunnel. Kalt wie der Nordwind, der zu Mittwinter über das erfrorene Land ihres Mannes fegte. Wanya regte sich in ihrem Arm. Er grummelte und versuchte, sich tiefer zwischen ihre Brüste zu drängen.

Von einem Augenblick zum anderen sah Quetzalli die Lichter am Ende des Tunnels verschwinden. Es war aber nicht der Luftzug, der sie löschte. Lebendige Finsternis drang in den Gang. Quetzalli war wie gelähmt vor Entsetzen. Sie wollte wegsehen, weglaufen, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr. Wie Blut, das in Wasser tropfte, sahen die Wirbel aus Dunkelheit aus, die in den Tunnel flossen und immer näher kamen. Sie streckten sich nach den Lichtern in den Nischen, erstickten sie und schienen selbst das Licht der Flämmchen, die sie noch nicht erreicht hatten, zu trinken.

Dascha stieß einen Schrei aus. Die Finsternis hatte sie fast eingeholt. Die alte Dienerin begann zu laufen. Ihre Schritte hallten von den Wänden des Tunnels wider. Sie kam Quetzalli entgegen! Die Feinde mussten den Eingang zum Tunnel gefunden haben.

Nun war auch noch jemand auf der Treppe hinter ihr. Jemand, der wie sie versuchte, aus dem Langhaus zu fliehen. Panik griff nach dem Herzen der Priesterin.

»Papa?« Wanya blinzelte sie verschlafen an.

Sie musste ihn retten! Sie … Ein weiterer Schrei hallte durch den Tunnel. Entsetzt, schmerzerfüllt … Das Geräusch der Schritte brach ab. Jetzt war da ein anderer Laut. Leise. Melodisch. Wie der Klang zarter Glöckchen.

»Papa?« Wanya begann zu weinen.

Der Todesschrei hatte den Bann gebrochen. Quetzalli drehte sich um und lief. Nur weg von der Schwärze! Eisige Kälte biss ihr in den Nacken. Ihr langes, zu eng geschnittenes Kleid behinderte sie. Sie war zu langsam. Wanya weinte immer lauter.

»Still!« Schneller und schneller griff die Finsternis in den Tunnel und löschte Licht um Licht. »Bitte, mein Schatz … still! Es darf uns nicht finden!«

Sie wusste nicht, was ihr da folgte, aber es tötete. Von Dascha war kein Laut mehr zu hören. Nicht einmal ein leises Röcheln. Dafür erklang das leise Glockenspiel immer näher. Wanya hörte natürlich nicht auf sie. Quetzalli legte ihm ihre freie Hand auf Mund und Nase. Erstickte jedes Geräusch. Aber ihre Schritte – sie war barfuß, bewegte sich fast lautlos. Fast war nicht genug.

Die Dunkelheit umfing sie. Es war, als hätte jemand ihr Augenlicht ausgelöscht. Quetzalli sah nichts mehr. Nach zwei Schritten stieß sie mit der Schulter gegen die Wand. Sie hatte die Richtung verloren, dabei müsste sie doch nur geradeaus gehen. Wanya wand sich in ihren Armen. Seine kleinen Füße trommelten gegen ihren Bauch.

Kein Laut, dachte sie. Was immer dort kommt, kann gewiss auch nicht sehen. Es orientiert sich nach Geräuschen. Wenn er nur still genug war, dann würde das Grauen, das mit klingenden Glöckchen durch den Tunnel eilte, ihn nicht entdecken. Sie kauerte sich hin. Beugte sich schützend über Wanya. Ihn durften sie ihr nicht nehmen! Was mit ihr geschah, war ihr gleich. Sie musste ihren Sohn retten. Wie ein Kokon aus lebendem Fleisch umschloss sie ihn. Hielt ihn ganz fest in den Armen. Dann hielt sie den Atem an. Kein Laut. Fest presste sie die Hand auf Wanyas kleines Gesicht. Nicht das geringste Geräusch! So würden sie überleben!

Das Netz zieht sich zu

Valarielle spürte, wie die Welt sich immer machtvoller gegen sie wandte. Der Zauber, den sie gewirkt hatte, widersprach der Ordnung der Natur. Nichts löschte Licht so sehr wie die Dunkelheit, die sie atmete. Sie gebar die Finsternis, wenn sie ausatmete. Sie verströmte sie. Verhöhnte die Ordnung der Welt und genoss es. Das magische Netz bäumte sich dagegen auf, versuchte, den Quell des Ungleichgewichts zum Versiegen zu bringen.

Die Elfe war zurückgefallen, die anderen warteten nicht. Sie wusste, Bidayn war nur zurückgekehrt, um Asfahal zu retten. Für keinen anderen hätte sie das getan. Sie mochte Bidayn nicht. Den üblen Geruch, der sie umfing. Ihre Art, sich für die Auserwählte des Goldenen zu halten. Sie war nichts Besseres! Allerdings war sie unbeirrbar, das Einzige, was Valarielle an ihr schätzte.

Wenn sie ihre Mission abbrach, dann musste etwas Außergewöhnliches geschehen sein. Was hatte sie im Palast in Erfahrung gebracht? Das flackernde Licht stach immer unerbittlicher in ihren Kopf. Valarielle schloss ihr Verborgenes Auge. Sie würde sich nur noch nach dem Klang der Glöckchen richten.

Ihre Haut brannte. Der Kopfschmerz ließ nicht nach. Sie hatte das Gefühl, als würde aus allen Richtungen etwas an ihr zerren. Das magische Netz hatte sie entdeckt! Die Elfe schauderte. Sie wusste, was mit Bidayn geschehen war. Sie wusste um das unauslöschliche Narbenmuster, das sich in deren Haut gebrannt hatte, verborgen unter der Menschenhaut, in die sie geschlüpft war und die trotz aller Zauberkunst langsam auf ihr verfaulte.

So wollte Valarielle nicht enden! Sie fand keinen perversen Gefallen am Töten. Es hatte einen Grund, warum sie das hier tat. Sie stahl ihren Opfern das Licht. Die Energie, die sie mit dem Weltennetz verband. Sie nutzte dieses Licht als Schutzschild zwischen sich und der Macht, die die Ordnung der Welt wiederherstellen wollte. Das Weltennetz war nicht lebendig, und doch reagierte es auf jeden, der sich gegen die Gesetze der Natur stellte.

Da war etwas im Gang. Dicht vor ihr. Sie hatte ein rasches Atmen gehört. Wie von jemandem, der die Luft angehalten hatte und es nicht mehr länger aushielt. Es war links vor ihr gewesen. Am Boden. Jemand kauerte dort.

Valarielle raunte ein Wort der Macht, um bereit zu sein, noch ein Licht zu rauben. Sie hob ihr Schwert. Kurz erwog sie, ihr Verborgenes Auge zu öffnen, um das Gespinst aus Licht zu entdecken, das jedes Lebewesen umgab. Aber sie fürchtete den Schmerz. Wie alle anderen vermochte auch sie in der Finsternis, die sie erschaffen hatte, nicht zu sehen. Sie musste ganz auf ihre Instinkte vertrauen, wenn sie ihr Schwert führte. Sie trat noch einen Schritt vor, dann ließ sie die Klinge in weitem Schwung hinabsausen. Ein Schrei begleitete den Treffer. Eine Hand griff nach ihrem Knöchel. Kraftlos.

Valarielle ärgerte sich über den schlecht gesetzten Hieb, zog die Klinge zurück und stach dahin, wo sie den Brustkorb vermutete. Zugleich griff sie in der magischen Welt nach den sich auflösenden Verbindungen des Menschenkindes. Sie hatte eine Frau getroffen. Ihr Opfer krümmte sich am Boden. Rollte sich zusammen. Valarielle trieb ihre Klinge tiefer in den Leib. Aller Widerstand erschlaffte. Sie spürte Hitze, als sie die verlöschende Lebenskraft gegen das magische Netz lenkte.

»Schneller!«, erklang Bidayns Stimme, die im Tunnel zu hellen Echos zerbrach.

Valarielle zog ihre Klinge zurück und folgte erneut dem Klang der Glöckchen. Die Hitze ließ nicht mehr von ihr ab. Sie brannte. Schien ihre Kleidung ohne Mühe zu durchdringen. Wieder dachte die Elfe an die Geschichten, die man sich über Bidayn erzählte. Ein engmaschiges Rautenmuster war auf ihrem Leib eingebrannt. Überall! Keine Magie vermochte die Narben verschwinden zu lassen. Kein Kraut und keine Tinktur halfen. So wollte sie nicht enden. Sie waren in einem Tunnel. Kein Feind folgte ihnen mehr! Sie brauchten die Dunkelheit, die sie gerufen hatte, nicht länger. Sie ließ den Zauber fahren und öffnete die Augen.

Augenblicklich flammte das Licht der Öllämpchen auf. Geradezu blendend hell erschienen der Elfe die kleinen Flämmchen, nachdem die absolute Finsternis gewichen war. Ihre Gefährten hatten bereits den Ausgang des Tunnels erreicht. Hinter der weit offenen Holztür waren die Sterne am Nachthimmel zu sehen.

Diesmal warteten die vier auf sie. Zwischen der Palastmauer und niedrigen, weiß getünchten Häusern verlief eine weite, menschenleere Gasse.

»Hier entlang!«, befahl Bidayn und wies nach Norden.

Vom Palast her ertönten Hörner und die Schreie Verwundeter. Valarielle spürte, dass sie beobachtet wurden. Hinter den Fensterläden spähten Menschenkinder hervor. Doch sie wagten nicht, etwas zu tun. In allen Häusern entlang des Weges waren die Lichter gelöscht worden.

Schon nach kurzer Zeit mündete die Gasse in eine breite Straße, die von Ruinenfeldern gesäumt wurde. Berge von zerbrochenen Ziegeln türmten sich dort. Dazwischen waren Zelte aufgeschlagen und Sonnensegel gespannt. Es roch nach Gewürzen und Staub. Wieder wusste Bidayn den Weg und winkte sie die steile Straße hinauf zu einer höher gelegenen Terrasse, auf der himmelblaue Häuser mit mondgelben Kuppeldächern standen.

Hinter einer halbhohen Mauer beobachtete sie ein dürrer Kerl, der einen langen Stecken über die Schulter trug, von dem erschlagene Nacktratten herabhingen. Er tuschelte mit einem Wasserverkäufer, der ein breites Lederbandelier über der Brust trug, in dem Tonbecher steckten. Valarielle hatte das Gefühl einer unmittelbaren Bedrohung. Aber diese jämmerlichen Gestalten konnten es nicht sein! Sie warf einen Blick zurück. Die Palastwachen hatten immer noch nicht entdeckt, dass sie durch den Tunnel geflohen waren. Alles war gut.

»Was ist?«, herrschte Bidayn sie an, die bemerkt hatte, wie sie erneut zurückfiel.

Valarielle winkte ab. »Alles gut, wir …«

»Dort!«, rief Lemuel plötzlich und deutete zum Himmel.

Der seltsame Wolkensammler schlug mit den Schwingen. Seine Tentakel wirbelten durch die Luft und peitschten auf die Leinen nieder, mit denen das Schiff, das er trug, am Ankerturm vertäut war.

»Der will uns«, murmelte Valarielle halblaut.

»Unsinn!«, widersprach Kyra entschieden. »Sie interessieren sich für nichts, was sich am Boden bewegt.«

»Er hat uns in dieser Nacht schon zwei Mal angegriffen«, erinnerte Bidayn. »Schnell jetzt! Dort oben, wo die Häuser auf beiden Seiten der Straße abgestürzt sind, holen uns die Adler.«

»Warten wir nicht so lange!«, entschied Lemuel und zog eine dünne silberne Pfeife aus einer Schlaufe an seinem Gürtel. Obwohl er aus Leibeskräften hineinblies, hörte Valarielle keinen Laut.

Die Knochenkrallen des Wolkensammlers durchtrennten das letzte Halteseil. Die Bestie glitt mit weiten Flügelschlägen in ihre Richtung.

»Seht!«

Vor dem kleineren der beiden Monde erschienen die Silhouetten der Adler. Es waren sechs! Die beiden Adler, die als Reserve im Dschungel vor der Stadt zurückgeblieben waren, hatten sich dem kleinen Schwarm angeschlossen, um Starkfuß zu ersetzen.

Auch der Wolkensammler verlor schnell an Höhe. Wütend peitschten seine Tentakel durch die Luft, als könnte er es gar nicht erwarten, sie zu zerfleischen.

Die Adler flogen in gerader Linie die steile Straße an. Kaum zwei Schritt über dem Pflaster glitten sie dahin, die Ringe aus lederumwickeltem Weidengeflecht in ihren Krallen.

In den Ruinen regte sich etwas. Männer krochen aus Schutthöhlen und Zelten. Sie starrten zu den Adlern. »Das sind Daimonen!«, schrie plötzlich jemand.

Im nächsten Augenblick ging ein Steinhagel auf die Vögel nieder. Valarielle rannte, so schnell sie konnte. Ein Stein traf sie in den Rücken. Rings herum zerplatzten Ziegel auf dem Granitpflaster.

Kyra war die Erste, die es schaffte, einen der geflochtenen Ringe zu packen. Mit einem Ruck wurde sie hinauf in den Himmel gezogen.

Valarielle sprang, die Arme weit vorgestreckt. Ihre Hand schloss sich um das Leder. Im selben Augenblick schob sich ein riesiger Schatten vor die Zwillingsmonde am Himmel. Der Wolkensammler hatte sie eingeholt.

Atemlos

Quetzalli lauschte auf die verklingenden Glöckchen. Plötzlich kehrte das Licht zurück. Wie von Zauberhand waren die Öllämpchen wieder entzündet. Die Daimonen waren verschwunden. Erleichtert atmete sie auf und nahm die Hand von Wanyas Mund.

»Sie sind fort, kleiner Prinz«, flüsterte sie. »Alles wird gut.«

Quetzalli setzte sich auf. Keine drei Schritt entfernt, dort, wo die Treppe, die sie hinabgekommen war, in den Tunnel mündete, lag eine Dienerin zusammengekrümmt in einer Blutlache. Quetzalli erinnerte sich nicht an ihren Namen. Sie war jung, ihre Brüste hatten kaum begonnen zu sprießen. Sie hatte am unteren Ende der Tafel in der großen Halle bedient.

Wanya schien eingeschlafen zu sein. Er lag ganz still in Quetzallis Arm. Sie drückte ihn an sich, streichelte sein Haar … Seine großen blauen Augen sahen starr zu ihr hinauf.

»Wanya?« Quetzalli zerzauste ihm das Haar.

Er regte sich nicht.

»Wanya!« Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Hatte sie ihm die Hand zu fest auf den Mund gedrückt? Hatte er nicht mehr atmen können?

Sie bettete ihn auf den Boden und fühlte nach seinem Herzen. Es schlug nicht mehr. »Nein!«, schrie sie auf. »Bei den Göttern! Nein!« Sie drückte auf seine Brust, beugte sich zu ihm hinab und blies mit aller Kraft ihren Atem in seinen Mund.

»Atme!«, beschwor sie ihn keuchend und drückte wieder auf seine kleine Brust. »Atme!«

Ein dünner Faden Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Seine Augenlider flatterten. »Bitte, ihr Götter, lasst ihn mir!«, flehte sie verzweifelt. »Nehmt mein Leben, nicht seins!«

Wanya blinzelte erneut. Doch seine Augen bewegten sich nicht, er blickte einfach starr geradeaus, als würde er etwas über ihr an der Decke des Tunnels betrachten. Deutlich spürte sie wieder seinen Herzschlag.

Unendlich erleichtert presste Quetzalli ihn an sich. »Alles ist gut, mein Schatz. Alles ist gut!«

Sie dachte an ihre Mutter, die immer kühl und abweisend zu ihr gewesen war. Sie konnte sich nicht erinnern, ein einziges Mal von ihr in den Arm genommen und getröstet worden zu sein. Nicht einmal nach jener Nacht, in der sie sich eine Dornenranke eng um die Zunge gewickelt hatte, um den Göttern ihren Schmerz zu schenken. Sie hatte keine Träne vergossen. Nur drei von fast hundert Mädchen hatten das geschafft. Damit hatte sie bewiesen, dass sie eines Tages würdig war, die Weihen einer Hohepriesterin zu empfangen. Als sie in das Haus ihrer Mutter zurückkehrte, hatte sich ihre Zunge entzündet. Sie hatte tagelang im Fieber geglüht und wäre beinahe an ihrer Zunge erstickt. Der Heiler, der ihrer Familie diente, hatte ihr die Zunge herausschneiden wollen. Und ihre Mutter hatte nichts getan, außer ihm zuzuhören und zu nicken. Sie hatte nicht zu ihr gehalten, ihrer eigenen Tochter. Ihre Mutter war immer der Überzeugung gewesen, dass man Liebe niemals zeigen durfte, weil die Götter einem stets das nahmen, was man am meisten liebte.

Es war ihr Vater gewesen, der sie vor dem Messer des Heilers gerettet hatte. Doch nicht, weil er ein freundlicher Mann gewesen wäre. Ohne Zunge hätte sie nicht zu einer bedeutenden Priesterin aufsteigen können.

»Das ist Unsinn, nicht wahr, Wanya? Die Götter stehlen nicht, was man liebt.«

Er lag ganz ruhig in ihrem Arm, strampelte nicht, versuchte nicht, sich aus ihrem Griff zu winden, wie er es sonst immer tat. Er war müde.

Quetzalli fröstelte es. Etwas von der Kälte, die mit der Dunkelheit gekommen war, schien im rußgeschwärzten Mauerwerk zurückgeblieben zu sein. Sie stand auf und ging auf das Tunnelende zu, das sie zum Palasthof führen würde. Quetzalli musste sich zwingen, nicht zu laufen. Unglück haftete an diesen dunklen Wänden. Sie schwor sich, nie wieder diesen Tunnel zu betreten.

Ihr Weg führte sie auch an Dascha vorbei. Die alte Dienerin lag mit dem Gesicht nach unten am Boden. Ein Hieb hatte sie in den Rücken getroffen und mehrere Rippen gespalten. Ein Teil ihrer Lunge hatte sich aus der Wunde gedrückt und hing wie Lappen über ihrem schmuddeligen Kleid. Quetzalli legte Wanya eine Hand über die Augen. Er war viel zu klein, um zu verstehen, und doch, dachte sie, war es besser, wenn er solche Dinge erst gar nicht sah. Tote Krieger – ja. Aber niedergemetzelte Frauen? Ganz sicher nicht. Er würde ein Kämpfer werden wie sein Vater. Aber kein Mörder! Volodi war ein guter Mann, ehrenhaft wie kaum ein anderer, den sie kannte.

Quetzallis Mund war staubtrocken, als sie aus dem Tunnel trat. Immer lauter war nun das Klagen der Verwundeten zu hören. Sie betete leise zur Gefiederten Schlange, dass der Tod nicht Volodis Weg gekreuzt hatte. Als sie um die Ecke der hoch aufgemauerten Terrasse trat, auf der die Festhalle stand, bot sich ihr ein Bild des Schreckens. Überall auf dem weiten Hof lagen Tote und Verwundete. Es waren mindestens dreißig. Wie hatten die Daimonen so wüten können? Es roch nach Blut. Ein Geruch, der ihr als Priesterin der Zapote nur zu vertraut war.

Sie war zwölf gewesen, als sie zum ersten Mal danebenstand, als einem Mann das Herz aus der Brust geschnitten wurde. Vierzehn, als sie es zum ersten Mal selbst tat.

Inmitten der Toten lag der Kadaver eines riesigen Vogels. Überall steckten Pfeile im Lehmboden. So dicht wie auf einem Schlachtfeld, auf dem zwei Heere gegeneinander angetreten waren. Krieger knieten zwischen den Toten. Heiler waren gerufen worden. Sie entdeckte Yuri, den Leibarzt, der einst dem Unsterblichen Iwar gedient hatte. Er kniete bei zwei Männern, die etwas abseits der anderen Toten lagen. Einer von ihnen war der Fremde. Ein Schwerthieb hatte sein Gesicht zerteilt. Den zweiten verdeckte Yuri, der abwehrend die Hände hob, als er sie kommen sah.

»Bringt das Kind nicht hierher! Dies ist ein Ort voller Geister in dieser Nacht. Haltet ihn bei Euch! Geht fort! Schnell!«

Der weißhaarige Heiler mochte sie nicht. Er wollte allein an Volodis Seite sein, um die Bedeutung zurückzugewinnen, die er mit Iwars Tod verloren hatte.

»Lass mich zu meinem Mann«, sagte sie mit schneidend kalter Stimme.

Yuri trat zur Seite. »Wie ich hörte, wolltet Ihr dem Unsterblichen Volodi einst das Herz herausschneiden, Hexe. Mir scheint, nun ist Euch ein anderer zuvorgekommen.«

Der Herrscher von Drus lag hingestreckt auf dem Boden. Sein Wams war von Blut durchtränkt. Ein breiter, tiefer Schnitt lief quer über seine Brust. »Unser Herrscher kämpft noch«, erklärte Yuri feierlich. »Ihr alle wisst, dass er ein starker Mann ist. Doch ich glaube nicht, dass er den Morgen noch erleben wird.«

Stahl auf Stahl

Bidayn verlor fast den Griff um den Weidenring, als Sonnenfänger über den linken Flügel abkippte, mit den äußersten Spitzen seiner Schwungfedern die Brüstung eines Flachdachs streifte, um dann mit kräftigen Flügelschlägen wieder an Höhe zu gewinnen. Er flog dem Gewühl von Tentakeln über ihnen entgegen!

»Das sind keine Regenwürmer, die man aufpicken könnte«, rief Bidayn, obwohl sie wusste, dass der große Adler sie nicht verstand. Er spürte ihre Gefühle. Sie mochten einander, doch Worte spielten keine Rolle in dem Bund, den sie geschlossen hatten.

Sonnenfänger ging tatsächlich zum Angriff über. Verdammtes Spatzenhirn, dachte Bidayn verzweifelt. Er wich einem Fanghaken aus, der ihnen entgegenschwang, sein Schnabel hackte nach weichem Fleisch. Blut sprühte Bidayn ins Gesicht. Die übrigen Adler hielten auf den weiten Platz mit der Goldenen Pforte zu. Jenem Albenstern, der Tag und Nacht geöffnet blieb, um die endlosen Karawanen passieren zu lassen, die nach Nangog zogen, um, mit den Schätzen der neuen Welt beladen, nach Daia zurückzukehren.

Versuchte Sonnenfänger, den Wolkensammler von den anderen Adlern des Schwarms abzulenken? Opferte er sich, damit seine Brüder und Schwestern entkamen? Bidayn fluchte leise. Wunderbare Idee! So würde sie gemeinsam mit Sonnenfänger verrecken.

Mit tollkühnen Manövern kurvte der Adler zwischen den Fangarmen, dann legte er plötzlich die Flügel an und ließ sich wie ein Stein in die Tiefe stürzen. Aus dem Augenwinkel sah die Elfe, wie Federn in die Luft stoben. Lemuels Adler war getroffen, hielt sich aber noch in der Luft.

Es war unglaublich, wie wendig dieser veränderte Wolkensammler trotz seiner Größe war. Gewiss waren die Adler schneller als er, aber dieses riesige Ungeheuer hatte erraten, wohin sie wollten, und war über den Karawanenplatz geflogen. Er versperrte ihnen den Fluchtweg mit einem Wald sich windender Fangarme.

Von unten feuerten inzwischen Tausende Stimmen den Wolkensammler an. Als ihr Adler den Sturzflug beendete und wieder nach oben stieg, sah Bidayn in dem Gedränge aus Lasttieren und Menschenkindern etwas Silbernes. Einer der neuen, der geflügelten Löwen war dort unten. Eigentlich sollte er das Tor offen halten, aber jetzt legte er den Kopf in den Nacken und sah zu ihnen hinauf. Jeden Augenblick würde er sich in den Kampf einmischen. Sie musste ihre Schar hier herausbringen! Der Goldene musste Nachricht von dem Traumeis erhalten!

Bidayn flüsterte ein Wort der Macht. Sie griff nach dem magischen Netz, und sie wusste, welchen Preis sie dafür zahlen würde. Sonnenfänger stieß einen wilden Schrei aus. Wieder schnappte er nach einem Tentakel. Bidayn versuchte, ihren rebellierenden Magen zu beherrschen. Sie zog die Beine an, und ein peitschender Tentakelhieb glitt dicht unter ihren Sohlen vorbei.

Nicht die Konzentration verlieren! Sie wob den Zauber, der ihr vertraut war wie kein zweiter. Augenblicklich spürte sie, wie das magische Netz auf sie reagierte. Es erinnerte sich an sie! Genau hier, am Platz vor der Goldenen Pforte, hatte sie es schon einmal getan. Alles um sie herum wurde langsamer. Die Flügel Sonnenfängers schwangen nur noch träge auf und ab. Die Fangarme des Wolkensammlers bewegten sich so träge wie Seegras in sanfter Dünung. Bidayn veränderte den Zauber, weitete ihn aus. Ließ ihn erst auf Sonnenfänger überspringen und von dort zu Lemuel und dessen Adler. Dann weiter zu Kyra und Asfahal. Zuletzt zu Valarielle.

Ihre Gefährten begriffen sofort. Sie nutzten die unerwartete Gelegenheit. Pfeilschnell schossen ihre Adler auf die Goldene Pforte zu, die von eingerüsteten Götterbildern flankiert wurde. Noch immer war der Schaden, den das große Beben bei den Statuen angerichtet hatte, nicht gänzlich behoben. Die Goldene Stadt trug die Narben, die sie ihr geschlagen hatte, dachte Bidayn in wildem Stolz. Sie war dabei gewesen, als Nangog sich regte. Sie hatte geholfen, die schlafende Göttin in ihrer ewig währenden Ruhe zu stören, auch wenn die Riesin immer noch nicht ganz erwacht war.

Bidayn ließ mehr Macht in ihren Zauber fließen. Sie spürte, wie das Netz nach ihr griff, aber einige Augenblicke würden ihr noch bleiben. Sie schwang am Ring aus Weidenholz vor und zurück, bis ihre Beine den Hals von Sonnenfänger umschlossen. Behände griff sie seitlich in das Gefieder des Adlers, schwang sich herum und zog sich dicht hinter dem Hals des Vogels auf dessen Rücken.

»Lass uns Blut vergießen!« Der Wolkensammler hatte all ihre Pläne in dieser Nacht zerstört. Er sollte spüren, was es hieß, sie herauszufordern. Sie zog ihr Schwert und durchtrennte einen der beindicken Tentakel, die in einer Knochenkralle endeten.

Sonnenfänger genoss es, in tollkühnen Manövern zwischen den Fangarmen hindurchzufliegen. Fast hätte Bidayn den Halt auf seinem Rücken verloren. Ihre Linke krallte sich in das dichte Gefieder, während sie mit der Schwerthand weitere Fangarme kappte.

Plötzlich spürte sie, wie eine zweite Macht nach dem magischen Netz griff. Der Silberlöwe hatte sich neben dem Portal in die Luft geschwungen. Auch er vermochte den Fluss der Zeit zu verändern.

Mit weit aufgerissenen Kiefern flog die Bestie ihr entgegen, und Bidayn sah voller Schrecken, wie die Konturen des geflügelten Löwen verschwammen. Er war schneller als sie. Der Gestank von schwelenden Federn stieg ihr in die Nase. Das Netz zog sich um Sonnenfänger zusammen. Sie musste ihn schützen! Entschlossen sprang sie vom Rücken des Adlers. Sie entließ ihn aus dem Zauber, so wie sie ihre Gefährten entließ, die durch das Weltentor geflogen waren. Nun ballte sie all ihre Kraft, um im Duell mit dem Löwen zu bestehen. Die Konturen der silbernen Bestie wurden wieder scharf. Sein Flügelschlag wurde langsamer. Sie hatte ihn übertrumpft! Das Schwert vorgestreckt, stürzte sie seinem offenen Rachen entgegen.

Der Aufprall war mörderisch. Ihr Schwert spaltete den Oberkiefer des Löwen. Kreischend bog das Metall auseinander. Tief im Kopf der mechanischen Kreatur sah sie, eingebettet zwischen gezahnten Rädern und mechanischen Teilen, etwas grün aufleuchten. Bidayn spürte, dass dies der Quell der Macht war, der das widernatürliche Leben der metallenen Kreatur speiste.

Aufgebogenes Blech schnitt in ihren Unterarm. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, in Flammen zu stehen. Das magische Netz hatte sie gefangen! Rauch stieg von ihren Kleidern auf. Sie schrie. Griff in den aufgeschnittenen Kopf des Löwen hinein. Scharfkantiges Metall schnitt ihr in die Finger, bis sie an etwas wie einem Bügel einen sicheren Griff fand. Mit der Linken riss sie ihr Schwert aus dem Metallschrott. Mit einem weiteren Schrei löste sie den Zauber. Der Silberlöwe machte noch ein paar schwache Schläge mit seinen weiten Schwingen. Dann erstarrten seine Flügel. Wind pfiff unter ihnen hindurch, als er sich in einer weiten Spirale abwärts drehte.

Panik ergriff die Menschen auf dem Platz. Die Tentakel, die Bidayn abgeschnitten hatte, stürzten unter die Lastenträger, Krieger und Karawanenführer. Sie begriffen, dass der große Silberlöwe ebenfalls mitten zwischen ihnen niedergehen würde, und stoben in alle Richtungen auseinander. Doch der Platz war völlig überfüllt. Maultiere keilten aus und stießen gnadenlos nieder, wer ihnen im Weg stand. Sklaven warfen die Bündel fort, die sie auf dem Rücken trugen. Doch für die meisten gab es kein Entkommen. Sie schlugen aufeinander ein, kletterten über Gestürzte hinweg. Sie sah, wie sich Krieger in weißen Umhängen um einen hageren Kaufmann scharten, der ein kleines Mädchen an sich drückte. Ein Hengst durchbrach ihren Schutzwall, und obwohl ein abgebrochener Speer aus der Flanke des Schimmels ragte, stürmte er mit unverminderter Kraft voran. Der Kaufmann und das Mädchen verschwanden unter seinem kräftigen Leib.

Hundert Tragödien sah Bidayn binnen eines Herzschlags. Und sie wusste, ihre eigene Tragödie würde gleich Teil des Dramas werden. Sie hatte keine Kraft mehr, noch einen weiteren Zauber zu weben. Und es gab keinen Fluchtweg vom Kopf des abstürzenden Löwen. Ihr blieb die Wahl loszulassen, um allein in die wogende Menge zu stürzen, oder mit dem Löwen zu fallen.

Die Schwingen der mechanischen Kreatur waren eingerastet. Waagerecht standen sie vom Leib des Löwen ab. Sie würden wie riesige Schwerter mitten in die Menge schneiden.

Bidayn lächelte. An diese Nacht würden die Menschenkinder sich noch lange erinnern. Sie würde nicht loslassen. Sie entschied, gemeinsam mit dem Silberlöwen unterzugehen.

Ein Schlag traf sie in den Rücken. Stechender Schmerz grub sich unter ihre Schulterblätter. Sie wurde hochgerissen. Flog wieder dem Albenstern entgegen. Bidayn ließ den Kopf in den Nacken sinken. Blut rann ihren Rücken hinab. Weite braune Schwingen verdeckten den Nachthimmel.

»Sonnenfänger«, flüsterte sie und rang darum, das Bewusstsein zu behalten.

Der Adler verspottete die Menschenkinder mit einem wilden Schrei. Vereinzelte Pfeile sirrten an ihm vorbei, als er in das Dunkel des magischen Tors flog.

Bidayns Augenlider wurden immer schwerer. Sie durfte nicht das Bewusstsein verlieren. Noch nicht! Sie musste Sonnenfänger den Weg durch das Netz der Goldenen Pfade weisen.

Letzte Worte

Volodi fühlte keinen Schmerz. Das war nicht gut. Er war in seinem Leben schon oft verwundet worden. Meist war im ersten Augenblick kein Gefühl da. Die Gefahr des Kampfes tilgte den Schmerz, vielleicht betäubte ihn auch die Wucht eines Treffers für kurze Zeit. All das hatte er schon erlebt. Aber wenn man am Boden lag, dann kam der Schmerz. Immer. Außer bei jenen, die sich vorbereiteten, zu ihren Ahnen zu gehen.

Er konnte den Wind in den Bäumen des Geisterhains hören. Das Rauschen war sehr deutlich. Neben ihm stand Quetzalli und redete auf Yuri ein. Er verstand nicht, was sie sagte. Es war nur ein gleichförmiges Dröhnen. Volodi verdrehte die Augen. Neben ihm hingestreckt lag Kolja. Er sah übel aus. Sein schönes, neues Gesicht war in der Mitte gespalten. Die Lippen seines alten Weggefährten bebten. Er versuchte zu sprechen.

Volodi wollte etwas sagen, brachte aber keine Silbe heraus. Er war einfach zu schwach.

Kolja sah, dass er nicht verstand. Er rollte sich auf die Seite. Bei den Göttern, sein Gesicht … Der Schwerthieb lief ihm über die Stirn, hatte sein linkes Auge zerstört und die Wange bis zur Mundhöhle aufgeschlitzt. Ein Teil seiner Wange hing herab. Volodi konnte sehen, wie sich Koljas Zunge im Mund bewegte, als er sprach.

»Die Zinnernen … musst helfen! Ich … versprochen.«

Der Unsterbliche war überrascht, dass Kolja seine Söldner so sehr am Herzen lagen. Immer noch war er zu schwach, um zu sprechen. Volodi versuchte, seine Worte in seinen Blick zu legen. Die Zinnernen könnten immer zu ihm kommen. Schon jetzt gab es am Ende der Festtafel in der großen Halle jeden Abend Gedecke für seine alten Weggefährten. Alle wussten, dass er Männer, die einmal für ihn gekämpft hatten, nicht vergaß.

»Dolch …«, stammelte Kolja. »Meinen Dolch! Nehmen … tötet Daimonen …«

Volodi begriff nicht. Was für ein Dolch? Warum hatte der Trottel den Dolch eben nicht benutzt? Volodi versuchte, sich an den Kampf zu erinnern. Er hatte die Daimonen nicht einmal richtig gesehen. Er war auf den Hof hinabgesprungen, und plötzlich war alles Licht verloschen. Er erinnerte sich an die Entsetzensschreie seiner Krieger. Und an ein merkwürdiges Geräusch. Wie leises Glockenklingeln. Dann hatte ihn der Hieb getroffen. Er war aus dem Dunkel gekommen.

Eine zarte Hand strich ihm über das Gesicht. Quetzalli kniete neben ihm. War er bewusstlos gewesen? Eben hatte sie doch noch mit Yuri gestritten. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sie zu ihm gekommen war.

»Du darfst dich nicht bewegen.«

Ihre Stimme klang seltsam, als wäre etwas in ihr zerbrochen. Ihr fehlte die Kraft, die er sonst immer so sehr an ihr bewundert hatte. Quetzalli mochte klein und zierlich sein, aber dieser erste Eindruck täuschte. Sie war härter als die meisten Männer, mit denen er in den Krieg gezogen war.

»Du wirst mir nicht verrecken!«

Volodi musste lächeln. Das war wieder Quetzalli, wie er sie kannte. Er verdrehte die Augen, um nach Kolja zu sehen. Blut und Speichel troffen seinem Freund aus dem Mundwinkel. Er zitterte am ganzen Leib. Sie mussten ihm helfen. Er durfte nicht sterben. Wenn das geschah, dann war sein Geheimnis um das Versteck des Traumeises auf immer verloren.

»Traum…«, stammelte Volodi und brach ab. Ihm fehlte einfach die Kraft.

Kolja sah ihn mit weiten Augen an. Er wollte etwas sagen. Seine Lippen formten ein Wort, das Volodi nicht kannte. Dann wurde sein Blick starr. Die Augen glasig. Das durfte nicht sein! So durfte es nicht enden. Warum tat niemand etwas? Kolja war einer der besten Krieger der sieben Reiche. Er durfte nicht so sterben. Nicht im Vorübergehen von einem Daimon getötet, den sie beide nicht einmal gesehen hatten. So endete das Leben eines Helden und Schurken nicht.

Volodi versuchte sich aufzusetzen.

»Nein!«, schrie Quetzalli auf.

Volodi sah an sich hinab. Ein tiefer Schnitt klaffte in seiner Brust. Dunkles Blut quoll aus der Wunde. Er spürte immer noch keinen Schmerz. Das war nicht gut, dachte er erneut und sah, wie immer mehr Blut aus ihm herausströmte.

Quetzalli nahm ihn in die Arme und zog ihn zurück auf den Boden.

Ihm war schwindelig, obwohl er lag. Alles begann sich zu drehen, als habe er zu viel Bier und gebrannten Wein getrunken. Yuris Gesicht erschien über ihm. Der Heiler drückte ihm einen Lappen auf die Brust. Er redete auf ihn ein, doch Volodi hörte nichts mehr. Er sah nur noch den Mund Yuris auf- und zugehen. Sah, wie sich die Augen des alten Mannes vor Schrecken weiteten. Volodi musste lächeln. Das wäre schon verdammtes Pech, wenn zwei Unsterbliche unter seinen Händen den letzten Atemzug taten. Wer würde noch einen solchen Heiler haben wollen?

Dunkel umfing Volodi. Nicht einmal die Stimmen in seinem Kopf waren da, die ihn sonst so unablässig quälten. Die Welt war still geworden. Nun kam er doch noch, der Schmerz. Wie eine Welle schlug er über ihm zusammen, zerrte an ihm, lockte mit der Verheißung ewigen Friedens, wenn er aufhörte zu kämpfen. Volodi war so müde. Er dachte an all die Schlachten, in denen er gefochten hatte. An die Siege, die er gemeinsam mit Kolja für den Unsterblichen Aaron errungen hatte. Er hatte drei zinnerne Münzen von Aaron erhalten. Seine Schuld war getilgt. Er war frei.

Bei diesem Gedanken hörte er auf, gegen den Schmerz anzukämpfen. Seine Reise war lange genug gewesen. Jetzt wollte er Frieden.

Der verlorene Schatz

Volodi rang keuchend um Atem. Er versuchte sich aufzusetzen, wurde von starker Hand aber sofort zurückgedrückt. Er fühlte sich, als wäre er beinahe ertrunken. Jeder Atemzug war ein Kampf. Blinzelnd sah er sich um. Er war doch gar nicht im Wasser gewesen. Jetzt erinnerte er sich. Das Dunkel, die Daimonen …

»Du solltest hin und wieder die Rüstung tragen, die ich dir gegeben habe«, brummte eine tiefe Stimme. »Das würde dir einigen Ärger ersparen. Und anderen auch …«

Volodi wollte sich erneut aufsetzen, doch die mächtige Hand des Devanthar hielt ihn niedergedrückt. Der Große Bär hatte ausnahmsweise Menschengestalt angenommen. Die Erscheinung eines mächtigen Kriegers mit einem Leib wie ein Fass und gewaltigen Oberarmen. Schwarzes, kurz geschorenes Haar wucherte über einer niedrigen Stirn. Seine Augen hatten die Farbe von dunklem Waldhonig. Sein Bart war genauso kurz geschoren wie das Haupthaar. Er spross so dicht, dass nur wenig sonnengebräunte Haut zu sehen war. Eine breite, mehrfach gebrochene Nase beherrschte das Gesicht.

Volodi sah, wie zwei leblose Gestalten fortgetragen wurden. Er war nicht mehr auf dem Hof. Er lag am Boden neben einem Kamin. Ein Bärenfell war über seine Beine gebreitet. Quetzalli stand neben dem Devanthar. Sie sah schweigend auf ihn hinab. Neben dem Gott in Menschengestalt wirkte sie winzig.

»Wer war das?« Volodis Stimme war nur ein atemloses Flüstern.

»Zwei deiner Krieger. Ich habe mich bei ihrem Blut und ihrer Lebenskraft bedienen müssen, um dich aus der großen Dunkelheit zurückzuholen.«

»Wie sehr bedient?«

»Mehr, als gut für sie war«, entgegnete der Devanthar barsch. »Du warst ausgeblutet wie ein aufgebrochener Hirsch. Und viel besser ausgesehen hast du auch nicht. Deine Rippen waren eingeschlagen. Eine steckte in deiner Lunge … Das alles wäre nicht nötig gewesen. Die Rüstungen, die Langarm für euch Unsterbliche gefertigt hat, schützen vor diesen verdammten Elfenschwertern!«

»Du hast zwei meiner Männer getötet?«

Der Große Bär funkelte ihn wütend an. »Ich? Du warst es mit deiner blinden Unvernunft! Ich hatte keine Wahl. Ich konnte nicht schon wieder einen Unsterblichen verlieren. Ihr werdet lächerlich, wenn ihr verreckt wie die Fliegen.«

»Aber hättest du nicht einen anderen Weg …«

»Was weißt du von Magie, Volodi von Drei Eichen? Was weißt du davon, was ich zu tun vermag und was nicht? Wie immer im Leben ist es leichter, etwas zu nehmen, als etwas zu erschaffen. Ich habe den beiden das Blut und die Lebenskraft gestohlen, die du so leichtfertig vergeudet hast.«

Volodi wollte dieses Geschenk nicht. Er schüttelte matt den Kopf. Dann erinnerte er sich an Kolja. »Hast du meinen Kameraden auch gerettet?«

Der Große Bär runzelte die Stirn. »Welchen Kameraden?«

»Ein Krieger hat ihn besucht«, sagte Quetzalli. »Er ist mit dem seltsamen Wolkensammler gekommen, der über dem Palast ankert. Ich habe ihn nie zuvor gesehen.«

»Ich habe niemand anderen als dich von der Schwelle des Todes zurückgeholt«, brummte der Devanthar. »Was glaubst du? Dass es einfach ist, den Tod um seine Auserwählten zu betrügen? Selbst für uns Devanthar gibt es Grenzen. Warum hätte ich ihn retten sollen?«

»Er kannte ein Geheimnis …« Volodi hatte einen schalen Geschmack im Mund. »Er hat etwas gefunden … Etwas, das Träume wahr werden lässt und die Welt verändern wird.«

Der Bär lachte auf. Es war ein schreckliches, lautes Geräusch. »Die Welt verändern? Da wäre er wohl besser zu dem Unsterblichen Aaron gegangen. Die Welt verändern ist etwas für Wirrköpfe. Ein vernünftiger Mann begnügt sich damit, sie in Ordnung zu halten. Ich habe bisher an dir gemocht, dass du keine verrückten Ideen hattest. Hat sich das etwa geändert, Volodi?«

Volodi nahm sich Zeit für die Antwort, horchte in sich hinein. Dann nickte er. »Ja, ich werde suchen, was Kolja versteckt hat. Ich weiß nicht, wo ich beginnen muss, aber ich bin überzeugt, dass das Traumeis es wert ist, sein Leben dafür zu wagen.«

Der Devanthar schnaubte. Dann plötzlich brach er in schallendes Gelächter aus. »Du kannst nicht einmal aus eigener Kraft stehen und willst schon wieder dein Leben wagen? Du bist verrückt, Volodi von Drei Eichen. Aber es ist eine Art von Verrücktheit, die deine Männer lieben werden. Diese Nacht hat deinen Namen größer gemacht.«

»Was ist an meinen Taten groß gewesen? Sie haben mich niedergemetzelt. Ich habe nicht einmal gesehen, wer es war …«

Der Devanthar grinste breit. »Deine Männer erzählen diese Geschichte schon jetzt anders. Mit nichts als einem Hemd am Leib hast du dich einer ganzen Schar Daimonen entgegengeworfen. Du hast sie vertrieben. Und obwohl sie es versucht haben, konnten sie dich nicht töten. Du bist ein Held! Deshalb war es mir zwei Leben wert, dich nicht sterben zu lassen. Deine Männer sehen zu dir auf. Sie werden dir folgen, wohin auch immer du gehst, und dein Mut wird ihnen Kraft geben. Wir gehen in einen schrecklichen Krieg, der gerade erst begonnen hat. Drusna braucht einen Unsterblichen wie dich. Ganz Nangog braucht dich!«

Volodi wollte diese Last nicht tragen. Er wollte aufbegehren, doch Quetzalli legte ihm ihre Hand über den Mund.

»Er braucht Schlaf, und er ist dir dankbar, Sonne des Nordens.«

»Sonne des Nordens?« Aus dem Grinsen wurde ein breites Lächeln. »So hat mich noch niemand genannt. Der Name gefällt mir.« Er wandte sich ab und ging zur Tür. Neben der großen Truhe am Eingang verharrte er, hob etwas auf und schleuderte es auf Volodis Lager. Es war der Brustpanzer aus weißem Leder, den Langarm für ihn gefertigt hatte. »Wenn du das nächste Mal in die Schlacht ziehst, nimmst du dir gefälligst die Zeit, eine Rüstung anzulegen. Ich werde nicht jedes Mal zur Stelle sein, um dich zu retten, Volodi, und ich werde …« Der Große Bär stutzte, dann hob er den Dolch auf, der auf der Truhe gelegen hatte. »Woher hast du das?«

»Ein Geschenk«, sagte Volodi knapp. Er wollte nicht länger über Kolja sprechen. Er war nicht im Reinen mit sich und seinen Gefühlen. Er hätte Kolja die Zähne einschlagen sollen. Der Drecksack hatte ihn verraten – und dann kam er heute einfach hierher, um mit ihm das Geheimnis um das Traumeis zu teilen. Und er war, ohne zu zögern, hinter ihm auf den Hof gesprungen, um an seiner Seite gegen Daimonen zu kämpfen. Ausgerechnet er, der im Kampf gegen Daimonen seinen Arm verloren hatte. Er hätte oben auf der Terrasse stehen bleiben können. In dieser Schlacht hatte es für ihn nichts zu gewinnen gegeben, aber alles zu verlieren.

Kolja war ein elender Hurenbock gewesen. Und ein wunderbarer Freund. Es würde nie wieder einen wie ihn in seinem Leben geben, dachte Volodi bitter. Und er könnte keinem vernünftig denkenden Menschen erklären, was ihn und Kolja verbunden hatte.

»Pass mit diesem Dolch auf«, unterbrach der Große Bär ernst seine Gedanken. »Er ist ein heimtückisches, kleines Ding. Mir scheint, mein Bruder Langarm hat ihn gemacht. Er ist dafür geschaffen worden zu töten, was nicht sterben soll. Wenn du noch einmal vor einem Daimonen stehst, benutze ihn!«

Der einsame Narr

Nach der Hitze der Wüste war das Grün zwischen den Felsen eine Verheißung. Eleborn wusste, welches Risiko er einging, uneingeladen hierherzukommen. Der Jadegarten war das Refugium des Dunklen, des Erstgeschlüpften unter den Himmelsschlangen. Und seine Drachenelfen galten als besonders schroff und abweisend.

»Ruhig, Sternenkind«, rief er der Pegasusstute zu. Sie spürte, dass dieser Ort mehr als nur eine verborgene Oase war. In weiter Kehre flog sie über die Pyramide, die sich inmitten eines verwilderten Gartens erhob, und hielt auf die Festung zu, die in eine weite Felsnische inmitten einer Steilwand gebaut war.

»Ruhig!« Er zog an den Zügeln. Sternenkind weitete die Schwingen und bremste den Flug ab. Ihre Hufe schlugen Funken aus dem Pflaster, als sie auf dem Plateau vor der Festung landete. Massige, würfelförmige Bauten drängten sich aneinander. Fenster gab es nur im obersten Teil der Gebäude. Und auch sie waren nur so schmal wie Schießscharten. Mehr als zehn Schritt hohe Drachenelfen waren als Reliefs in die Festungsmauern geschlagen. Sie blickten, auf lange, tropfenförmige Schilde gestützt, trotzig hinab auf das Tal, das sie behüten sollten. Ein Teil der Mauer war noch eingerüstet. Noch waren nicht alle Bilder vollendet. Die Arbeiten waren meisterlich ausgeführt, doch fehlte es ihnen an Seele, fand Eleborn.

Das Tor der Festung war halb durch einen vorkragenden Turm verdeckt. Es stand weit offen.

Eleborn löste die Füße aus dem Ledergeschirr, das auf den Rücken von Sternenkind geschnallt war, und sprang hinab. Er spürte, dass er beobachtet wurde, doch niemand trat in das Tor, um ihm den Zugang zu verwehren. Sanft strich er der roten Stute über die beiden sternförmigen Blessen auf ihrer Stirn. Sie mochte es, dort gestreichelt zu werden. Doch diesmal hielt sie die Ohren angstvoll zurückgelegt. Mit großen, dunklen Augen blickte sie zu dem Tor.

Eleborn wusste auch nicht, was ihn dort erwartete. Ein freundlicher Empfang oder doch ein Pfeil in den Rücken? Er gehörte nicht hierher. Doch er gehörte nirgends mehr hin, seit die Blaue Halle zerstört war. Sein Meister, der Himmlische, war in den unterirdischen Hallen, in denen die Weisheit der Welt ein Zuhause gefunden hatte, gestorben. Und mit ihm waren all seine Drachenelfen untergegangen. Nur er war nicht dort gewesen.

Eleborn hatte versucht, zu seiner Sippe zurückzukehren, doch wer vom Schwebenden Meister in die dunkleren Geheimnisse des Zauberwebens eingeweiht worden war und die Weiße Halle als Meister verlassen hatte, für den gab es kein Zurück mehr in seine Vergangenheit. Sie hatten ihn mit Respekt behandelt, ja, manchen hatte Eleborn sogar ihre Furcht angemerkt. Er gehörte nicht mehr zu ihnen. Er gehörte nirgendwo mehr hin.

Nandalee würde das verstehen. Wenn sie ein gutes Wort beim Dunklen für ihn einlegte, dann würde er hier vielleicht Asyl erhalten, so wie Gonvalon es im Jadegarten gefunden hatte, als er verstoßen worden war.

Der Elf blickte hinab auf die wilde Schönheit des Tals. Er mochte diesen Ort. Schon lange hatte kein Gärtner mehr versucht, der Oase seine Vorstellung von Harmonie aufzuzwingen. Wenn ein wenig mehr Licht und vielleicht ein wenig Musik in das Tal Einzug hielten … Er lächelte versonnen. Was war er für ein Narr! Er wusste ja nicht einmal, ob er in diesem Tal Einzug halten würde. Er fasste sich ein Herz, griff nach den Zügeln und trat mit Sternenkind durch den dunklen Torbogen.

Bewundernd betrachtete er die hohen Torflügel aus lauterem Gold. Über die beiden Torflügel zog sich ein kunstvolles Hochrelief. Drachenelfen auf ihren Pegasi begleiteten den Dunklen auf einem Flug durch wolkenverhangenen Himmel. Der Hof hinter dem Torweg lag verlassen. Hoch über ihm wölbte sich der Fels wie eine Kuppel. Nur wenig Sonnenlicht drang in die weite Nische vor, in die die Festung hineingebaut war. Die Luft war angenehm kühl. Zwei weiß gewandete Drachenelfen standen unter weiten Torbögen, hinter denen wohl Stallungen für die Pegasi lagen. Die Elfendamen betrachteten Eleborn mit herausfordernder Gelassenheit. Sie hatten nicht einmal die Hand auf die Schwertknäufe gelegt. Sie sahen in ihm offensichtlich keine Bedrohung. Aber in ihren Blicken las er überdeutlich, dass er kein willkommener Gast war.

Eleborn verneigte sich knapp in Richtung der beiden Kriegerinnen und führte Sternenkind zur Tränke. Gierig trank der Pegasus aus dem großen, gemauerten Becken neben dem Brunnen.

Der Elf war sich nicht ganz sicher, was er als Nächstes tun sollte. Die beiden Kriegerinnen waren in den Stallungen verschwunden. Unschlüssig musterte er das massige Haus, das gegenüber dem Festungstor lag. Das Hauptgebäude der Festung. Ein von schlanken Säulen getragener Vorbau verbarg das Eingangsportal vor Blicken. Noch immer war niemand erschienen, um ihn willkommen zu heißen oder hinauszuwerfen. Er sah zu den schmalen Fenstern hinauf, die auf den Hof blickten. Einige der Wände waren mit Fresken geschmückt. Doch die Ausführung war mangelhaft. Die Farben zu blass. Die Bilder wirkten nicht lebendig. Dem Hof fehlte es an Harmonie. Alles war vor allem zweckmäßig. Der Versuch, die Veste zu verschönern, war nur halbherzig gewesen.

»Gefällt es Euch hier?«

Eleborn drehte sich langsam um. Zwischen den weißen Säulen stand ein Drachenelf. Nodon. Das silberblonde Haar lag offen auf den Schultern des Elfen. Er trug einen eng anliegenden Waffenrock, geschnitten wie das Gewand eines Meisters der Weißen Halle. Nur die Farbe stimmte nicht. Er war bis auf den Stehkragen und die Säume, die mit goldenen Stickereien geschmückt waren, vollständig in Karmesinrot gekleidet. Selbst sein Schwertgurt und das Leder der Scheide waren im Rotton seiner Kleider gehalten.

»Womit kann ich Euch dienen, Eleborn?« Sein Tonfall passte nicht zu den Worten. Er machte klar, dass Nodon niemandem diente außer dem Dunklen.

»Ich wünsche Nandalee zu sehen«, entgegnete Eleborn höflich. »In meiner Sippe ist es üblich, dass Freunde einander gelegentlich besuchen.« Die Spitze hatte er sich nicht verkneifen können.

»Und Drachenelfen pflegen mit ihren Sippen und deren Traditionen zu brechen, da es nur noch eines gibt, das in ihrem Leben Bedeutung hat: der Wille der Himmelsschlange, die sie erwählte. Aber ich weiß, Ihr konntet Euren Drachen nicht schützen … Wollt Ihr die Leere in Eurem Herzen nun mit Zuneigung zur Dame Nandalee füllen?«

Eleborn verschlug es den Atem. So direkt zu fragen war ganz und gar nicht elfische Art. Nicht einmal unter Drachenelfen. »Ich verhehle nicht, dass ich ein Suchender bin. Was Euch an Höflichkeit fehlt, gleicht Ihr durch Scharfsichtigkeit aus, wie mir scheint.«

»Deshalb lebt mein Meister, obwohl er viele Feinde hat.«

Eleborn atmete tief ein. Wollte dieser arrogante Mistkerl andeuten, er und die übrigen Drachenelfen des Himmlischen seien unaufmerksam gewesen? Ihr Meister war umgekommen, weil die Devanthar mit einem Erdbeben die Gewölbe der Blauen Halle hatten einstürzen lassen! Wie hätten die besten Klingen Albenmarks das verhindern können? Ein Angriff dieser Art war nicht vorhersehbar gewesen.

Wollte Nodon ihn mit diesen Beleidigungen zu einem Duell verleiten? Eleborn wusste um den Ruf des Schwertmeisters. Er mochte ein Narr sein, aber er würde sich nicht dazu hinreißen lassen, mit Nodon die Klinge zu kreuzen. Warum beleidigte der Elf ihn? Welchen Nutzen hatte es, ihn zu einem Duell zu verleiten. Er könnte ihn doch einfach fortschicken. Es sei denn – wollte Nodon etwa Gonvalons Platz an Nandalees Seite einnehmen?

»Ich bin nicht hierhergekommen, um Minnedienste zu leisten. Ihr müsst Euch nicht sorgen.«

Nodon schenkte ihm ein schmallippiges Lächeln. »Sehe ich aus wie jemand, der sich wegen eines Mannes, wie Ihr einer seid, Sorgen machen müsste?«

Eleborn wusste, jetzt ein einziges falsches Wort, und er hätte einen Vorwand für ein Duell geliefert oder sich selbst als Feigling bloßgestellt. Wie er solch törichtes Gehabe hasste! »Nein, so seht Ihr wahrlich nicht aus, edler Nodon, und deshalb könnt Ihr mich nun, ohne irgendetwas befürchten zu müssen, zur Dame Nandalee führen, denn ich bin nur ein harmloser Besucher.«

Nodon bedeutete ihm mit einer flüchtigen Geste, ihm zu folgen. Er ließ sich nicht anmerken, ob er über den Ausgang des Wortgeplänkels amüsiert oder verärgert war. Eleborn hätte auf Letzteres gewettet.

Der Schwertmeister führte ihn durch eine weite Eingangshalle über eine Treppe hinauf in einen Seitenflügel des Palas. In einem schmucklosen Flur mit weiß getünchten Wänden hielt er vor einer Tür, die sich durch nichts von den anderen Türen hier unterschied. Nodon klopfte und trat zurück.

Als sich die Tür öffnete, war es, als blickte Eleborn zurück in die Vergangenheit. Nandalee mochte Mutter geworden und durch tausend Gefahren gegangen sein, aber sie sah immer noch aus wie das Mädchen, dem er nachts im Wald begegnet war, als sie einen Eibenstamm für ihren Bogen geschnitten hatte.

»Eleborn!« Sie trat nicht vor, um ihn in die Arme zu nehmen, doch ihre Augen leuchteten auf, als sie ihn sah. »Das ist eine Überraschung … Ich … ich fürchte, ich bin auf Besuch nicht vorbereitet.«

»So wie früher?« Er lächelte. »Und doch konnten geprügelte Schüler und Vögel, die aus dem Nest gefallen waren, stets auf Zuflucht bei dir hoffen.« Er zögerte kurz. Ihm war der bohrende Blick Nodons in seinem Nacken nur zu bewusst. Nichts war mehr wie früher, ganz gleich wie sehr er sich bemühte, mit schönen Worten die Vergangenheit heraufzubeschwören.

Sie bat ihn hinein, und ihm entging der Blick nicht, den sie Nodon zugeworfen hatte. Machte sie dem Schwertmeister einen Vorwurf, weil er ihn zu ihr gelassen hatte?

In dem übersichtlich eingerichteten Zimmer roch es nach Kindern. Drei Fenster sorgten für viel Licht und Luft. Unter dem mittleren stand die grüne Lacktruhe mit den springenden Delphinen, die er ihr geschenkt hatte. Auf dem einzigen Tisch leuchtete ein zu einer abstrakt sich windenden Skulptur geschnittener Barinstein. Hübsch, dachte er und trat an die große Wiege, in der die beiden Kinder lagen. Eines, es hatte rehbraune Augen und kurzes, leicht gelocktes Haar, sah zu ihm auf. Das zweite schlief. Es zu sehen versetzte ihm einen Stich ins Herz. Sein Gesicht war von Narben entstellt, ebenso sein ganzer Oberkörper. Der linke Arm war dicht unter der Schulter abgetrennt.

»Sie heißen Emerelle und Meliander«, sagte Nandalee mit ungewohnt sanfter Stimme. »Meine kleine Prinzessin hier mag nie schlafen.« Mit diesen Worten hob sie den Lockenkopf aus dem Bett und wurde mit einem freudigen Quieken begrüßt. »Dafür schläft Meliander all die Stunden zusätzlich, die sie wach ist.« Sie strich ihrem Sohn sanft über den schwarzen Flaum auf seinem Kopf. »Ich glaube, er sammelt Kraft.«

Eleborn war versucht zu fragen, was Meliander geschehen war.

Nandalee musste es ihm angesehen haben. Sie schüttelte leicht den Kopf, dann ging sie zu dem großen Bett hinüber, das in der Ecke neben der Tür stand. Das Kopfende war mit Schnitzwerk bedeckt, das mit mehr gutem Willen als Können ausgeführt worden war. Es sollte wohl eine Blumenwiese darstellen.

»Ein Geschenk der Kobolde aus dem Jadegarten«, erklärte Nandalee. Es war unheimlich, wie genau sie wusste, was er dachte.

Sie zog ihr Kleid von der Schulter und legte Emerelle an ihre linke Brust.

Eleborn blickte verlegen zu den Fenstern.

»Sei nicht so schüchtern. Es ist nichts dabei, mich anzusehen, wenn ich meine Tochter stille. Dort, wo ich aufgewachsen bin, haben alle Frauen vor den Augen der ganzen Sippe gestillt.«

Der Elf räusperte sich und sah weiterhin zum Fenster. »Und dort, wo ich aufgewachsen bin, habe ich niemals eine Frau mit unverhüllter Brust zu sehen bekommen.« Er hatte das überaus unangenehme Gefühl, gerade rot zu werden.

Nandalee war gut darin, ihn verlegen werden zu lassen. Das hatte sie schon an der Weißen Halle regelmäßig geschafft. Der Elf stellte sich vor, wie sie ihn hinter seinem Rücken belächelte. Er sah zu der Wand zu seiner Linken. Dort hingen ihr Bogen und das verfluchte Schwert Todbringer, ein Zweihänder mit einer langen Geschichte voller Tragödien. Nie hatte jemand diese mörderische Klinge so lange besessen wie sie.

»Ich denke oft an unsere erste Nacht«, sagte Nandalee.

Da tat sie es schon wieder! Seine Wangen glühten noch ein wenig mehr. Es war ganz und gar nicht so gewesen, wie es sich anhörte, wenn sie darüber sprach. Er war durchaus nicht unerfahren im Umgang mit Damen. Aber Nandalee war einfach keine Dame.

»Wirst du gerade rot?«

»Ich war auf dem Weg hierher zu lange in der Sonne.«

Sie lachte leise. »Natürlich.«

Er musste das Gespräch an sich reißen, sonst würde sie so weitermachen. »Was ist eigentlich aus deinem kleinen Vogel geworden? Dieser Misteldrossel, die du in unserer ersten Nacht gefunden hast.«

»Du meinst den kleinen Gefährten, den ich mir ausgebrütet habe.« Nandalee klang plötzlich melancholisch.

Eleborn musste bei der Erinnerung lächeln. Ja, sie hatte das Ei, das sie gemeinsam gefunden hatten, tatsächlich ausgebrütet. »Piep hast du ihn genannt, nicht wahr?«

»Ja, so hieß er«, sagte sie leise.

Aus dem Augenwinkel sah der Elf, wie Nandalee Emerelle von ihrer Brust nahm und das Kleid wieder hochschob. »Er hat mir das Leben gerettet, mein Piep. Er hat Gonvalon zu mir geführt, als ich verloren war.« Sie seufzte. »So viel ist seitdem geschehen. Piep hat mich längst verlassen. Er hat eine Misteldrosseldame gefunden und ist noch manchmal mit seiner Brut zu meiner Fensterbank geflogen, um nach Brotkrumen zu betteln. Erinnerst du dich noch an das dunkle, saure Brot, das es manchmal gab?«

Eleborn nickte.

»Piep hat es geliebt, wenn es hart und krümelig geworden war.«

»Da war er wohl der Einzige.«

»Letzten Winter ist er gestorben. Ich konnte es spüren. Die Welt war plötzlich leerer geworden.« Sie stand vom Bett auf und legte Emerelle zurück in die Wiege. Die Kleine maulte leise.

»Weshalb bist du hier, Eleborn? Ist es die Einsamkeit?«

Er nickte. Er war ein offenes Buch für sie.

»Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut. Das Gefühl, dass es keinen Ort mehr gibt, an den man gehen kann. Keinen Platz, an dem man von Herzen willkommen ist. Bist du sicher, dass du hier eine neue Heimat suchen willst? Gonvalon ist tot, weil er mir hierher folgte.«

»Und doch möchte ich es wagen. Könntest du beim Dunklen ein gutes Wort für mich einlegen?«

»Nein!«, sagte sie entschieden. »Sosehr ich dich mag, Eleborn, aber du verlangst zu viel.«

Die Heftigkeit, mit der sie das gesagt hatte, überraschte ihn. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wusste nicht, was er sagen sollte …

»Ich möchte ihm keinen Gefallen schulden.«

Er nickte, obwohl er nicht verstand, was zwischen ihr und dem Dunklen vor sich ging. Drachenelfen schuldeten ihren Herren keine Gefallen, sondern Gehorsam. Es war undenkbar, den Befehl einer Himmelsschlange zurückzuweisen. Doch hatte Nandalee nicht stets das Undenkbare gereizt?

»Wenn du wirklich im Jadegarten bleiben möchtest, kann ich dir raten, wie du den Dunklen neugierig machst. Doch überlege dir gut, was du dir wünschst. Dies ist ein erstaunlich dunkler Ort dafür, dass er inmitten einer sonnendurchglühten Wüste liegt.«

»Mein Entschluss steht fest. Ich möchte hierbleiben. Du weißt, ich neigte immer schon dazu, nicht das Vernünftigste zu tun.«

Sie lächelte. »Deshalb habe ich dich auch immer schon gemocht, Eleborn. Du musst es schaffen, den Erstgeschlüpften neugierig zu machen. Dies ist seine größte Schwäche. Seiner Neugier gibt er fast immer nach. Und du solltest in allem, was du tust, selbstbewusst sein. Am besten fängst du es auf folgende Art an …«

Vom Kampf um die Schönheit in einer unvollkommenen Welt

Mehr als drei Stunden waren vergangen, seit er gespürt hatte, dass jemand ins Tal gekommen war. Niemand hatte ihm Meldung gemacht, obwohl der Besucher direkt zur Alten Veste geflogen war. Also schienen seine Drachenelfen es für unbedeutend zu halten.

Ihm aber hatte es keine Ruhe gelassen. War es Neugier? Oder die Angst, dass ihm ganz langsam seine Macht entglitt? Er war sich seiner Gefühle nicht sicher. Er wusste, dass der Goldene Intrigen gegen ihn spann und ihm seinen Einfluss im Rat der Himmelsschlangen rauben wollte. Ein törichtes Unterfangen, würde er, Nachtatem, doch immer der Erstgeschlüpfte bleiben. Es sei denn, der Goldene beschloss, ihn zu töten …

Er sollte auf der Hut sein. Er traute es seinem Nestbruder zu, dass er mit diesem Gedanken spielte. Aber würde er es wagen, ihn in die Tat umzusetzen? Gewiss nur, wenn er sich sicher war, dass die anderen Himmelsschlangen den Mord dulden würden.

Begierig zu erfahren, was vor sich ging, hatte er schließlich Elfengestalt angenommen und war zur Alten Veste hinaufgestiegen. Nun stand er auf dem von Hufeisen zernarbten Felsplateau vor der Burg seiner Drachenelfen. Das große Tor stand einladend offen.

Er spürte die Gefühle seiner Drachenelfen. Sie staunten. Was ging dort vor sich?

Nachtatem trat in den Torweg. Die Dunkelheit vertiefte sich. Er war eins mit den Schatten. Unsichtbar für die im Hof. Verwundert sah er, wie sich eine gewundene Schlange aus Wasser und Licht aus dem Trog vor den Ställen erhob. Sie wiegte sich zu den Klängen einer unsichtbaren Flöte, streckte sich, verformte sich. Flügel wuchsen aus ihrem geschuppten Leib. Plötzlich schwebten zwei Tauben aus Wasser über dem Trog, schlugen mit ihren Flügeln und zerstoben plötzlich zu Gischt, unter der kurz zwei kleine Regenbögen aufleuchteten, bevor feiner Sprühregen auf den steinernen Trog niederging.

Alle seine Drachenelfen hatten sich auf dem Hof versammelt und sahen dem Spektakel zu. Selbst Nandalee war gekommen. Sie hatte Meliander und Emerelle mitgebracht, die auf einer Decke lagen und gebannt dem Spiel von Licht und Wasser folgten. Nachtatem erinnerte sich, seinen Bruder, den Himmlischen, von diesem Elfen sprechen gehört zu haben. Es musste Eleborn sein. Ein verschrobener Freigeist, mehr Künstler als Kämpfer, aber beherzt, wenn er sich für eine Sache einsetzte, die er zu der seinen gemacht hatte.

Aus der Tränke erhoben sich zwei Delphine aus schillerndem Wasser. Sie schwebten auf die Mitte des Hofes den beiden Kindern entgegen. Gespannt verfolgte der Dunkle, wie die Kleinen reagierten. Sie beobachteten das Zauberspiel mit weiten Augen, ohne das geringste Anzeichen von Angst. Plötzlich zerstoben die Delphine, und inmitten schillernder Lichtfontänen ging ein feiner Sprühregen auf die beiden nieder. Emerelle lachte auf. Meliander hingegen blieb ernst.

Der Dunkle klatschte. Die fröhliche Stimmung auf dem Hof war schlagartig verflogen. Alle Blicke wandten sich zum Tor.

Er trat vor, und mit ihm breitete sich ein Schatten über den Hof. »Ein erstaunliches Spektakel«, sagte er mit volltönender Stimme. »Was ist sein Nutzen?«

Der Fremde schritt auf ihn zu. Er zeigte keine Furcht, verbeugte sich allerdings respektvoll. »Ich bin Eleborn und stand einst im Dienst Eures Bruders, des Himmlischen, Erhabener. Was meine Zauber angeht: Sie dienen dazu, die Welt schöner zu machen.«

»Wie kann etwas ohne Bestand die Welt schöner machen? Was Ihr darbietet, ist nichts als ein paar sprühende Wassertropfen, ein wenig Licht und Schall. Amüsant vielleicht, doch ohne Gehalt.«

Nachtatem betrachtete den Elfen durch sein Verborgenes Auge. Die Aura, die Eleborn umspielte, war von leuchtendem Gold. Er brannte für das, was er tat, war voll und ganz davon überzeugt.

»Bitte vergebt mir, Erster unter den Mächtigsten, wenn ich die Torheit besitze, Euch zu widersprechen. Doch bitte lenkt Euren Blick tiefer. Meine Zauber vergehen, doch erschaffe ich Augenblicke, die die Herzen meiner Zuschauer berühren. Und jemand, dessen Herz von Schönheit berührt wurde, ist fortan verändert. Dies hat Bestand für ein ganzes Leben.«

Nachtatem musste schmunzeln. Auf den Mund gefallen war Eleborn nicht. »Ihr wollt also aus der Welt einen schöneren Ort machen? Damit stellt Ihr Euch in eine Reihe mit den Alben und uns Himmelsschlangen. Greift Ihr mit Eurem Streben nicht ein wenig hoch?«

Der Dunkle bemerkte, wie Nandalee ihm einen bösen Blick zuwarf. Bei ihr waren Eleborns Zauber und sein Charme ganz offensichtlich auf fruchtbaren Boden gefallen.

»Nichts läge mir ferner, als mich mit den Himmelsschlangen oder gar den Alben zu vergleichen, Quell aller Weisheit.«

Nachtatem schwankte, ob er verärgert oder amüsiert sein sollte. Die Anreden Eleborns waren ein wenig formal, und wenngleich sie auch höflich klangen, haftete ihnen ein Hauch von Ironie an. Hatte der Himmlische seine Drachenelfen ermutigt, auf diese Art mit ihm zu sprechen? Bei all seiner Weisheit war sein Bruder ein wenig seltsam gewesen. Er hatte an Distanz verloren, was ihm letztlich zum Verhängnis geworden war. Er hatte inmitten seiner Diener gelebt und mit ihnen sein Wissen und seine nie zu zügelnde Neugier geteilt.

»Ich bin nur ein Wassertropfen, verglichen mit Euch, der Ihr ein Ozean der Weisheit seid. Doch bitte bedenkt: Kann die Welt nicht nur dann ein Ort des Friedens und der Harmonie sein, wenn jeder Einzelne dieses Ziel verfolgt? Schöne Augenblicke erlebt zu haben, die zu wiederholen erstrebenswert erscheint, ist meine Saat, die ich in die Herzen der Albenkinder trage, um in ihnen das Bestreben keimen zu lassen, es mir gleichzutun und anderen ebenfalls schöne Augenblicke zu bescheren.«

»Was hielt mein Bruder, der Himmlische, von dieser Theorie, ehrenwerter Eleborn?«

»Er hielt mich für einen Träumer«, entgegnete der Elf frei heraus. »Doch gestand er mir zu, dass jede tiefgreifende Veränderung mit dem Traum von einer anderen Welt beginnt.«

»Und habt Ihr die Feinheiten in der Aussage meines Bruders beachtet? Anders ist nicht besser.«

Eleborn senkte das Haupt. »Die Gefahr zu scheitern ist mir wohl bewusst, Allerverständigster. Doch ist jener, der gar nichts wagt, nicht von Anfang an gescheitert? Macht sich nicht jeder, der sich fügt, nicht widerspricht und nicht gegen das ankämpft, was er als falsch erkennt, zum Diener und Befürworter all dessen, was unvollkommen in unserer Welt ist?«

Nachtatem spürte, dass Eleborn die Herzen der meisten Drachenelfen auf dem Hof bereits gewonnen hatte. Er konnte es sich nicht leisten, ihn fortzuschicken. Es wäre schlecht für die Moral. So hochtrabend die Pläne des Elfen auch sein mochten, er hatte tatsächlich die Herzen seiner Zuschauer berührt. Ihn nun davonzujagen wäre dumm. Ganz gewiss würde auch die Mauer zwischen ihm und Nandalee noch höher werden, wenn er Eleborn verweigerte, im Jadegarten zu bleiben. Er sollte diesem Träumer stattdessen Gelegenheit geben zu scheitern.

»Verwandelt den Jadegarten in einen besseren Ort, ehrenwerter Eleborn. Ich gebe Euch drei Jahre Zeit, mir zu beweisen, dass Eure Träume Wirklichkeit werden können. Bis dahin seid Ihr ein gern gesehener Gast in diesem Tal.«

Eleborn verbeugte sich tief. »Ich stehe auf ewig in Eurer Schuld, Erhabenster, dessen Weisheit, wie ich nun sehe, noch von seiner Güte übertroffen wird.« Der Elf richtete sich wieder auf und sah ihn geradewegs an. »Bitte entschuldigt meine Kühnheit, doch erwägt Ihr vielleicht die Gnade, mir mitzuteilen, was mit mir geschehen wird, sollte mein ehrgeiziger Traum meine Möglichkeiten übertroffen haben?«

»Dies, ehrenwerter Eleborn, hängt vom Ausmaß Eures Scheiterns ab. Erlaubt mir die Offenheit, Euch zu sagen, dass ich davon ausgehe, dass Ihr in Eurem Bestreben versagen werdet. Keiner weiß besser als ich, welche Last Ihr Euch aufgebürdet habt. Mein ganzes Leben lang versuche ich, gemeinsam mit meinen Brüdern, Albenmark vor Schaden zu bewahren und die Welt zum Besseren zu verändern. Ich bin erfahren darin, zu scheitern und selbst in vermeintlichen Siegen den Keim zukünftiger Niederlagen zu erkennen. Gerade weil es des Wirkens aller bedarf, die Welt zu einem vollkommenen Ort zu machen, wird sie dies niemals sein. Kleingeist, Neid und Gier sind Kräfte, die Ihr nicht unterschätzen dürft, Eleborn. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es weiser ist, alles, was einer erfreulichen Zukunft schadet, ohne Gnade auszumerzen. Ich halte nichts davon, vergängliche Schönheit um ihrer selbst willen zu erschaffen.« Er blickte nacheinander alle anwesenden Elfen an. »Ihr alle seid aus diesem Gedanken geboren. Ihr seid meine und meiner Brüder Schöpfung im Kampf um eine vollkommene Welt. Ihr seid unsere Klingen in diesem immerwährenden Kampf.«

Nachtatem wandte sich wieder an Eleborn. »Ich freue mich darauf, mit Euch demnächst erneut über das Wesen der Schönheit zu disputieren, und hoffe, dass die Flamme Eures Idealismus nicht allzu schnell von der Wirklichkeit erstickt werden wird.«

Der Erstgeborene

Firaz brachte die weiße Ziege, nach der er verlangt hatte. Das Tier blökte erbärmlich. Es schien zu ahnen, was es erwartete. Auf dem Antlitz der blinden Seherin zeigten sich keine Emotionen. Sie kam ihrer Pflicht ohne zu murren nach, obwohl sie den Ziegen nicht unähnlich war.

Wie alle Gazala war sie ein Geschöpf des Fleischschmieds. Er hatte sie aus Elfen und Gazellen erschaffen. Lange, gebogene Hörner reichten ihr über das Haupt bis weit zum Rücken hinab. Ihre Beine waren die von Gazellen. Am ungewöhnlichsten jedoch waren ihre seherischen Fähigkeiten. Nachtatem lauschte oft tagelang ihrem Murmeln, wenn sie in Trance von der ständig sich wandelnden Zukunft erzählten. Vieles von dem, was sie sagten, blieb rätselhaft. Sie sahen einen toten Baum, der eine Bedrohung für Albenmark war, und eine Königin von Licht und Schatten.

Er nahm Firaz die Ziege ab und schickte sie fort. Seit er Nandalees ersten Sohn zu sich genommen hatte, verbrachte er viele Stunden ganz allein in der weiten, halb gefluteten Grotte, tief unter der Pyramide, die den Jadegarten beherrschte. Ein Wort der Macht nahm der Ziege jegliche Angst. Er setzte sie ab. Das brackige Wasser reichte ihr bis zum Bauch. Sie leckte ihm die Hände. Ein weiteres Wort der Macht ließ einen Steinquader in der Rückwand zur Seite gleiten. Niemand außer ihm wusste von diesem Versteck. Er hatte es vor langer Zeit eingerichtet, als die Gazala angstvoll begonnen hatten, von der Bestie zu sprechen, die da kommen würde. Ob die Seherinnen ahnten, dass diese Bestie bereits unter ihnen weilte? Meist waren sie so sehr in ihre Visionen verstrickt, dass ihnen nicht bewusst war, was in der Gegenwart geschah. Auch wussten sie nicht um ihr eigenes Schicksal. Keine von ihnen konnte vorhersehen, wann sie starb.

Nachtatem streichelte der Ziege geistesabwesend über den Kopf. Dann sah er zu dem Quadrat aus Dunkelheit, das in der Wand klaffte. Nichts rührte sich dort. Er war klug. Ob er auch vernunftbegabt war, vermochte der Drache nicht einzuschätzen. Bislang war es die Klugheit eines gefährlichen Raubtieres, die er an ihm beobachtet hatte. Sein Geist blieb ihm verschlossen, so wie bei Nandalee.

Er drang in den Verstand der Ziege ein. Ein wirres Gemenge aus Ängsten und Trieben. Sie hatte Hunger und mochte es nicht, durch das Wasser zu laufen. Er gab ihr die falsche Erinnerung ein, dass es im Dunkel einen Stein gab, an dem sie Salz lecken konnte. Die Gier nach dieser Köstlichkeit verdrängte ihre Angst. Sie roch den Aasgeruch. Er ließ ihn wie Salzgeruch erscheinen.

Der Erstgeschlüpfte dachte an die Prophezeiung, die die Gazala in den letzten Tagen dutzendfach wiederholt hatten. Der Jadegarten würde verwaist sein. Ein Ort, an dem nur noch wilde Tiere lebten. Die Alte Veste verlassen. Die Kobolddiener geflohen. Das Land weit über die jetzige Grenze der Wüste hinaus verbrannt. War dies das Werk der Bestie? Und wo war er selbst? Warum hatte er den Jadegarten verlassen? Würde der Krieg auf Nangog ihn zwingen, auf viele Jahrzehnte in der fremden Welt zu weilen?

Die Ziege streckte den Kopf in den Durchgang, der sich in der Wand geöffnet hatte. Sie meckerte ängstlich, als etwas aus dem Dunkel schnellte. Es sah aus wie eine Sichelkralle. Blut spritzte über das weiße Fell. Binnen eines Herzschlags war die Ziege im Dunkel verschwunden. Das Reißen von Fleisch war zu hören. Knochen, die in einem mächtigen Kiefer zerbarsten. Ein gieriges Hecheln.

Wie er wohl gerade aussah? Seine Gestalt war wandelbar. Der Fleischschmied hätte seine helle Freude an dem Kleinen. Nie hatte Nachtatem von einer solchen Kreatur auch nur gehört. Mal war die Haut des Kindes geschuppt, dann wieder zart wie Pfirsichblüten. Manchmal erinnerten seine Arme an die Beine von Raubvögeln, besetzt mit dolchscharfen Krallen. Dann wieder sahen sie aus wie die runzeligen, dürren Arme von Kobolden. Nur dass die Hände mal vier, fünf oder sieben Finger hatten. Suchte Nandalees Erstgeborener nach einer Form, die er dann behalten würde? Oder war der ständige Wandel seiner Gestalt sein Schicksal? Er schien zumindest teilweise zu beherrschen, welche Gestalt er annahm.

Nachtatem hatte beobachtet, dass, wann immer er den Kleinen fütterte, er ein Äußeres annahm, das ihn dazu befähigte, Beute zu reißen. Bevorzugt echsenähnlich. Und seine Schuppen waren von dunklem Grün oder Schwarz.

War diese Kreatur sein Sohn? Oder ahmte er ihn nach? Er hatte dem Kind keinen Namen gegeben. In seinen Gedanken war es stets nur die Bestie, die Kreatur oder bestenfalls Nandalees Erstgeborener.

Die Fressgeräusche waren verstummt. War er schon fertig? Er hatte einen beängstigenden Appetit. Milch hatte er nie haben wollen. Vom ersten Tag an gierte er nach rohem, blutigem Fleisch. Er war mit Zähnen auf die Welt gekommen und hatte von Anfang an gewusst, wie sie zu benutzen waren. Er hatte schon in Nandalees Leib damit begonnen … Der Dunkle wollte sich nicht an die Nacht seiner Geburt erinnern. War das sein Kind?

Er wuchs ungewöhnlich schnell. Seinen beiden Geschwistern war er weit voraus. Inzwischen brauchte er alle zwei Tage eine Ziege. Etwas regte sich im Dunkel. Ein zierlicher, nackter Junge trat aus dem Versteck. Ein Elfenkind. Mit schlanken Gliedern und heller Haut. Er hatte schulterlanges schwarzes Haar. Würde Meliander so aussehen, wenn er älter wurde?

Der Junge fuhr sich mit der Hand über den blutverschmierten Mund.

»Vater?«

Er hatte eine kristallklare Stimme. Seine großen hellbraunen Augen sahen sehnsüchtig zu ihm herüber.

Dieses Ding versuchte, ihn für sich zu gewinnen, dachte er kalt. Es wusste genau, wie es Gefühle in ihm weckte. Wie als Antwort auf seine Gedanken lächelte der Junge und zeigte ihm einen Mund voller nadelspitzer Zähne, zwischen denen noch Fleischreste hingen. Dann trat er zurück ins Dunkel. Er wusste, dass er eine Grenze überschritten hatte.

Nachtatem ließ den schweren Steinquader zurückgleiten. Vielleicht war es am besten, wenn er diese Wand nie wieder öffnete. Sollte dieses Ding verhungern!

Er nahm wieder seine eigentliche Gestalt an. Im Leib des Drachen fühlte er sich am wohlsten. Er reckte seine Glieder und streckte die mächtigen, ledernen Schwingen. Wie er das warme Wasser in der Grotte liebte! Doch plötzlich fühlte er sich unendlich müde. Er war es leid, immerzu zu kämpfen. Immer wachsam zu sein. Er könnte ein ganzes Jahrhundert verschlafen. Was sollte er mit Nandalees Erstgeborenem anfangen? Er fand ihn gleichermaßen abstoßend und faszinierend. Vermochte dieses Biest in seinen Gedanken zu lesen? War es der Grund dafür, dass der Jadegarten bald vergessen sein würde?

Der Erstgeschlüpfte schob die unlösbaren Fragen von sich und dachte an Eleborn. Der junge Elf würde scheitern. Die Welt brauchte Idealisten wie ihn. Sollte er frischen Wind in die Alte Veste bringen! Seine Drachenelfen würden erleben, wie Träume an der Wirklichkeit zerschellten. Nachtatem schnaubte und blickte über das dunkle Wasser in der Grotte. Auch er hatte einmal Träume gehabt. Er war damals überzeugt gewesen, dass der Verrat an Nangog eine gute Lösung war, um einen dauerhaften Frieden für alle drei Welten zu ermöglichen. Aber nichts war von Dauer. Am allerwenigsten Frieden, das hatten ihn die Jahrhunderte gelehrt. Wenn die Riesin erwachte, mochte es wieder ein Gleichgewicht geben. Aber ohne die zweite Hälfte ihres Herzens würde sie sich niemals erheben.

Sicher verwahrten die Devanthar das Herz Nangogs im Gelben Turm, wo es nicht einmal für die Alben erreichbar war. Aber ihre Götter kämpften ohnehin nicht mehr. Ja, sie zeigten sich nicht einmal mehr. Es würden also Heere ihrer Kinder an ihrer Stelle kämpfen. Ströme von Blut würden fließen. Und es lag an ihm zu entscheiden, wer in diese mörderischen Schlachten ziehen sollte. Zu entscheiden, wer sterben sollte und wer leben. Er hasste diese Aufgabe und doch musste er sich ihr stellen! Er durfte nicht wie die Alben werden, die sich um nichts mehr kümmerten. Er war ihr Statthalter in Albenmark. Also würde er seine Nestbrüder zu einem Rat einberufen und mit ihnen das Unausweichliche besprechen.

Sie hatten den Menschenkindern und Devanthar eine demütigende Niederlage im ewigen Eis von Nangog beigebracht. Doch dabei durften sie es nicht bewenden lassen. Sie mussten weiter angreifen, sie durften ihren Feinden keine Zeit lassen, eine neue Strategie zu ersinnen. Schlag auf Schlag mussten sie ihnen versetzen, bis sie begriffen, dass es nur dann Frieden geben konnte, wenn sie Nangog wieder räumten. Diese Welt sollte keinem gehören außer den Kreaturen der schlafenden Riesin. So hatten es Alben und Devanthar entschieden, als die drei Welten noch jung waren. Er, Nachtatem, würde dafür sorgen, dass die Devanthar sich an den alten Vertrag erinnerten, der dem Zusammenleben der Götter und ihrer Geschöpfe feste Bahnen vorgegeben hatte. Er reckte sich und gähnte. Nicht heute. Er würde ein wenig schlummern. Einen Tag, vielleicht auch zwei. Er war so unendlich müde.

Er hatte noch nicht lange gedöst, als ein ungewohntes, flackerndes Licht selbst durch seine geschlossenen Lider drang. Hatten die Gazala die Fackeln entlang der Wände wieder entzündet? Er blähte die Nüstern. Atmete witternd ein. Es fehlte der Geruch der Seherinnen. Und auch der harzige Rauch der Fackeln.

Verwundert öffnete Nachtatem die Augen und erschrak zutiefst. An der Felswand ihm gegenüber prangten flammende Buchstaben. Eine Schrift, die er seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte, befahl ihn und Nandalee ins Tal der Jahreszeiten in den Mondbergen. Ein Geheimnis, das er angerührt, aber nie aufgeklärt hatte, fiel auf ihn zurück.

Götterdämmerung

Der Dunkle hatte ihr nicht gesagt, wohin sie gehen würden, aber eindringlich darauf bestanden, dass sie mit ihm kam. Anfangs hatte Nandalee sich widersetzt, sie wollte die Kinder nicht alleine lassen. Aber als sie seinen Zorn gespürt hatte, war es ihr klüger erschienen einzulenken. So wütend hatte sie ihn in all den Jahren nie erlebt. Sie verstand auch nicht, warum er sich über den Grund der plötzlichen Reise in Schweigen hüllte.

Jetzt, als er sie durch das Goldene Netz führte, wirkte er ruhig. Er hatte seine Elfengestalt angenommen, wofür sie ihm dankbar war, auch wenn sie es nicht sagte. So erinnerte er nicht jeden Augenblick an ein Raubtier.

Ein Portal öffnete sich, und sie traten hinaus in eine Winterlandschaft. Unter ihnen aber lag ein Tal voller blühender Bäume. Obwohl Jahre vergangen waren, seit sie hierhergekommen war, erkannte Nandalee das Tal sofort wieder. Ja, sie erinnerte sich sogar noch, was der Dunkle damals gesagt hatte, als sie sich über die Bäume wunderte, von deren Ästen viel zu viele Eiszapfen hingen, so als hätte sie jemand geschmückt.

Dies hier ist wie eine romantische Idee vom Winter.

Damals hatte sie nicht ganz verstanden, was dies bedeutete. Nicht begriffen, dass die Albe, eine der Schöpferinnen dieser Welt, romantischen Ideen in der Abgeschiedenheit eines Tales nachhing, das nur über einen Albenpfad zu erreichen war. Das Leben musste einen verwundet haben, um so zu werden. Jetzt wusste Nandalee, wie das war …

Schweigend schritt sie an der Seite des Dunklen durch einen Winter, dessen Kälte nicht in die Glieder schnitt. Hier gab es nur seine schönen Seiten. Wahrscheinlich hätte sie nackt in der weißen Pracht schlafen können, ohne zu erfrieren. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten. Wind heulte in den kahlen Ästen und ließ die Eiszapfen klirrend aneinanderschlagen.

Zwanzig Schritt später standen sie im Frühling. Alle vier Jahreszeiten bestanden zugleich in diesem Tal. Schmetterlinge tanzten über leuchtenden Blüten. Nicht ein einziger Grashalm war vertrocknet. Jede Pflanze stand in saftigem Grün. Obwohl es Schmetterlinge gab, zeigte kein Blatt die Spuren von Raupenfraß. Alles war vollkommen, alles war … Sie stutzte. Nein, etwas war anders. War es in ihr? Sie hatte das Gefühl, belauert zu werden. Bei ihrem ersten Besuch hier hatte sie nicht so empfunden. Im Gegenteil. Das Tal war verlassen gewesen. Nun war es das nicht mehr.

Sie sah zum Dunklen. Er nickte knapp. Ihn überraschte es nicht. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er ihr nicht sagen würde, wer sie hier erwartete. So war er schon bei ihrem ersten Besuch gewesen. Er hatte ihr nie den Namen der Albe genannt, die diesen Ort zu ihrer Zuflucht gemacht hatte. Nur gesagt, sie sei liebenswert und … ein wenig seltsam.

Sie folgten einem Wildwechsel. Roter Klatschmohn und blaue Kornblumen kündigten den Sommer an. Der Weg führte sie in den Wald. Er war dunkler und stiller, als Nandalee ihn in Erinnerung hatte. Sie spähte in die Schatten. Da war nichts. Sie kreuzten keine Tierfährte. Kein Vogel sang ihnen sein Lied. Nur der Wind wisperte in den Ästen. Es lag etwas Bedrohliches in dem Rauschen.

Nandalee war auf Befehl des Dunklen ohne Waffen auf diese Reise gegangen. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte nicht auf ihn gehört. Sie war kein Geschöpf so alt wie die Welt. Sie könnte sich nicht mit Klauen und Zähnen wehren. Und hier war etwas, das ihnen zürnte.

Unvermittelt endete der Weg auf einer Lichtung. Dort standen die Mohnblüten so dicht, dass kein Grashalm zwischen ihnen mehr zu sehen war. Sie waren von dunklerem Rot als der Klatschmohn, den sie eben noch gesehen hatten. Mit einem Mal erschien ihr die Lichtung wie ein blutüberströmter Richtplatz. Auch das geheimnisvolle Tor auf der anderen Seite des Mohnfeldes konnte diesen Eindruck nicht mildern. Es war eine Fläche aus silbernem Licht. Lockend, trügerisch Frieden verheißend.

Nandalee fröstelte es. Dunkle Wolken zogen am Himmel auf und tauchten die Lichtung und das Tal in Schatten. Die Anwesenheit des Dunklen verstärkte den Effekt noch. Selbst im hellen Sonnenschein schien das Licht ihn zu meiden. Wo er war, gab es stets mehr Schatten, so wie umgekehrt sein Bruder, der Goldene, dem Licht durch seine Anwesenheit mehr Glanz verlieh. Böen fielen über den Wald her. Zerrten am Laub, brachen dünne Äste. Und plötzlich waren da Stimmen. Sie kamen von keinem bestimmten Ort. Sie waren überall um sie herum. In den Bäumen, im Klatschmohnfeld und in den Wolken über ihnen.

Warum habt ihr geschwiegen?

Der Dunkle trat in die Mitte der Lichtung. Er hob die Arme zum Himmel und blickte in die wirbelnden Wolken. »Was hätte ich sagen sollen?«

Das Grau der Wolken wurde zu Schwarz. Das letzte Tageslicht floh aus dem Tal. Nandalee schlang fröstelnd die Arme um den Leib. Diese Stimmen … Sie gingen durch und durch. Sie waren kälter als der Nordwind, der zu Mittwinter über die Snaiwamark regierte. Nandalee bewunderte den Dunklen für seine Haltung.

Du warst vor vielen Monden schon einmal hier und mit dir diese Elfe. Warum?

»Ich hatte einen Verdacht. Wir folgten einer Spur. Ich befahl der Dame Nandalee, mit mir zu gehen. Sie hatte keine Wahl. Sie trifft keine Schuld. Sie …«

In dieser Stunde entscheidest nicht du über Schuld oder Unschuld. Sprich von deinem Verdacht, Nachtatem!

Nandalee wollte an die Seite des Dunklen. Die Stimmen machten ihr Angst. Sie trat aus dem Schatten der Bäume, als Äste nach ihr griffen und sie zurückzerrten. Sie kämpfte dagegen an. Wurzelstränge umschlangen ihre Beine. Sie drückten zu, bis ihre Knochen knackten. Sie wand sich, biss in das Holz, als eine Dornenranke ihre Kehle umschloss.

Bleib zurück! Dich befragen wir, wenn die Zeit kommt.

»Ich werde nicht …«

Die Dornen fraßen sich in ihre Kehle. Ein Ast zwang ihre Kiefer auseinander und schob sich wie ein Knebel in ihren Mund.

Schweig!

Sie spürte den kalten Zorn des Dunklen. Er sah zu ihr, und aller Schmerz der Welt lag in seinem Blick.

»Lasst von der Dame Nandalee ab!«

Enthülle, was du weißt!

»Ist ein Verdacht nicht das Gegenteil von Wissen? Wenn ich etwas sage, ohne es beweisen zu können, was ist es dann? Doch nicht mehr als nur üble Nachrede.«

Wen beschützt du?

Allein die Stimmen waren schon Marter. Sie zerrten an Nandalees Verstand, wüteten in ihr, wie der Sturm in dem kleinen Wald wütete. Plötzlich fiel ein seltsames blaues Licht durch die Wolken. Hinter Nandalee im Wald war das Krachen eines splitternden Baumstamms zu hören. Kaskaden von Ästen peitschten auf die Elfe ein. Eine mächtige Eiche stürzte auf die Lichtung nieder. Sie verfehlte den Dunklen nur knapp, der unerschütterlich mit erhobenen Händen stehen blieb.

Am Himmel erschien der Blaue Stern. Das fliegende Schiff, das den Sänger durch die Wolken trug. Das Schiff, auf dem Nandalees lange Reise zu den Drachenelfen begonnen hatte.

Fließende Lichter streiften durch den Wald. Sie waren schöner als alles, was Nandalee je gesehen hatte. Bei ihrem Anblick vergaß sie die Fesseln. Sie wollte ihnen nahe sein. Wollte, dass diese Lichter auf sie fielen. Sie verhießen das Ende allen Leids. Vollkommenheit. Wen dieses Licht berührte, der würde eins werden mit der Welt. Mit einem Mal fielen Nandalees Fesseln ab. Sie wollte nicht mehr an die Seite des Dunklen eilen. Sehen und staunen war alles, was sie noch vermochte.

Wen beschützt du?

Die Stimmen klangen nun freundlich. Wieso wollte der Dunkle nicht antworten? Sie hatten ein Recht, es zu erfahren!

»Kommt und lest in meinen Gedanken«, rief er in diesem Augenblick herausfordernd. »Nichts kann vor euch verborgen bleiben, wenn ihr es wirklich wissen wollt.«

Der Sturm ebbte ab. Die Wolken zerflossen am Himmel. Nandalee hatte das Gefühl, dass die Zeit schneller lief. Klares Mittagslicht erfüllte erneut die Lichtung. Es erschien ihr erbärmlich im Vergleich zu dem Leuchten, das sie zuvor zwischen den Bäumen gesehen hatte. Staubbesudelt ohne Strahlkraft … Sie ahnte, dass kein Licht, das sie je sehen würde, sich mit dem messen konnte, das nun verloschen war. Sie waren verschwunden. Alles, was blieb, war ein vom Sturm verwüsteter Wald in einem einsamen Tal.

Plötzlich brach der Dunkle in die Knie.

Der Bann, der Nandalee gehalten hatte, war gebrochen. Sie stürzte auf die Lichtung, kniete neben dem Erstgeschlüpften nieder. Mit einem Seufzer setzte er sich auf. Es war das erste Mal, dass er schwach wirkte.

»Was ist geschehen?«

Er blickte zum Himmel auf. Der Blaue Stern war verschwunden.

»Sie werden uns nicht helfen«, sagte er müde. »Sie wissen, dass derjenige, der die Refugien der Alben besuchte, seine Reise beendet hat. Vor Jahren schon. Er hat keine Spur hinterlassen, der man noch folgen könnte.«

Nandalee dachte daran zurück, wie nahe sie ihm gekommen waren. Fast hätten sie ihn gestellt, damals in dem Hafen, tief unter dem Berg.

»Hat er …« Sie wagte es nicht, ihren Gedanken auszusprechen. Dennoch spukte diese Frage immerzu in ihrem Kopf herum: Können Alben wirklich getötet werden?

Der Dunkle sah sie lange an. »Du hast sie heute erlebt. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie man einen Alben töten könnte. Sie müssen ihrem Mörder vertraut haben. Sie müssen ihn nah an sich herangelassen haben … bis zum letzten Augenblick arglos gewesen sein …«

»Aber das heißt, sie müssen ihn gekannt haben!«

Nachtatem seufzte. »Ja. Einem Devanthar hätten sie niemals so sehr vertraut. Es muss einer meiner Nestbrüder gewesen sein. Ein Mörder … Oder vielleicht hat er sie auch überredet, ins Mondlicht zu gehen.« Er sah zu dem silbern schillernden Tor, und Sehnsucht lag in seinem Blick. »Es heißt, dort liege eine bessere Welt. Der Ort, den Eleborn so gerne erschaffen möchte, es gibt ihn schon.«

»Aber wir könnten auch Albenmark zu so einer Welt werden lassen. Ich glaube an Eleborns Traum.«

Nachtatem schüttelte den Kopf. »Nein, das können wir nicht. Es liegt nicht in unserer Hand, solange es die Devanthar gibt. Sie haben einst geschworen, dass ihre Kinder niemals nach Nangog kommen würden. Nun leben sie dort zu Zehntausenden, und täglich werden es mehr.«

»Lassen wir sie doch gewähren. Was schert uns das …«

»Was uns das schert?« Seine plötzliche Wut berührte sie wie eine Flamme, der sie zu nahe gekommen war. Nandalee wich vor ihm zurück. Die Gefühle der Himmelsschlangen waren von solcher Intensität, dass sie für einfache Albenkinder körperlich spürbar wurden. Es gab keinen Zauber, der davor schützte. Sie waren den alten Drachen hilflos ausgeliefert.

»Liegt nicht auf der Hand, was die Devanthar tun werden, wenn sich ihre Menschenkinder über alle Maßen vermehrt haben und auch die Äcker Nangogs nicht mehr ausreichen werden, ihre hungrigen Mäuler zu stopfen? Sie werden hierherkommen! Sie werden uns unsere Welt stehlen und jeden niedermachen, der Widerstand leistet. Wenn du klar denkst, stellt sich nicht die Frage, ob das geschehen wird, sondern lediglich, wann. Wir müssen auf Nangog kämpfen. Wenn wir es nicht tun, geben wir schon jetzt unser Recht an unserer eigenen Welt auf.«

»Aber wenn das alles so klar ist, warum helfen die Alben uns dann nicht? Sie könnten die Devanthar doch besiegen!«

»Das habe ich sie auch gefragt.« Er senkte den Blick. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan, denn diesmal haben sie geantwortet. Sie haben uns Albenmark geschenkt. Es ist nicht mehr ihre Welt. Nicht mehr ihre Verantwortung. Was wir hier tun, obliegt allein uns. Diese Welt zu formen … Aber es ist sinnlos, wenn wir die Devanthar nicht besiegen können. Und sie haben uns Himmelsschlangen verboten, nach Nangog zu gehen. Die Alben pochen darauf, dass wir den Vertrag einhalten, den sie einst mit den Devanthar geschlossen haben.«

Nandalee war einen Moment lang sprachlos. Dann brach es voller Entrüstung aus ihr heraus: »Und wenn wir dieses Geschenk gar nicht hätten haben wollen? Niemand hat uns gefragt …«

Nachtatem lachte auf! Es war ein bitteres, zynisches Lachen. »Die Alben sind wie Götter. Mit solchen Bagatellen halten sie sich nicht auf. Sie fragen nicht, sie entscheiden. Und es ist unmöglich, sie umzustimmen.«

Der Verrat

Der Ebermann atmete tief ein. Die Luft hier oben in den Bergen war dünn. Längst hatten sie die Baumgrenze hinter sich gelassen. Sie gingen durch dichtes Schneetreiben einem ihm unbekannten Ziel entgegen. Obwohl er weite Streifzüge durch Daia unternommen hatte, war er hier noch nie gewesen. Drei Tage waren vergangen, seit sie hoch auf einer Klippe, über einem Meerarm, der sich tief ins Landesinnere gefressen hatte, aus dem Goldenen Netz getreten waren. Er verstand nicht, warum sie sich die Mühe machten, seitdem zu Fuß zu gehen. War es, um ihn zu quälen? Oder fürchtete Išta, eine Spur der Magie in der Matrix zu hinterlassen?

Langarm und der Gefiederte begleiteten sie, ohne Fragen zu stellen. Sie hatten ihn zunächst in die Schmiede Langarms gebracht. Dort hatten seine Geschwister ihn in die Knie gezwungen, um einen schweren Balken über seine Schultern zu legen. Sie hatten seine Hände darauf festgenagelt, eiserne Fesseln um die Knöchel seiner Eberbeine geschlossen und Ketten um ihn gewunden, die auf seiner Haut brannten, so sehr waren sie mit Magie durchwoben. Diese Zauber stahlen ihm seine Kraft, seinen Willen zum Widerstand. Alles war anstrengend. Selbst einfach nur zu atmen.

Gerade führte Išta sie über einen Gletscher, der sich an einer Steilwand vorbeischob. Der Ebermann hörte, wie das Eis tief unter ihnen arbeitete. Es schliff den Fels glatt, über den es dahinglitt. Es formte die Täler. Der Devanthar mochte den frischen Wind, der sein struppiges Fell zerzauste. Er linderte das Brennen der Ketten ein wenig. Die drei hatten Angst vor ihm, vor seinem unbändigen Zorn. Sie waren gut vorbereitet gewesen. So leicht hatten sie ihn überrumpelt. Und was sie Lyvianne angetan hatten – ein leises Grollen drang durch seine Lefzen. Die Elfen waren ihre Feinde. Sie zu töten war ihre Aufgabe. Aber nicht auf diese Art. Nicht …

Sie hatte die Marter lange durchgehalten. Wahrscheinlich länger, als er sie ertragen hätte. Ihn schauderte jetzt noch, wenn er an das Zischen dachte, mit dem sich ihr Fleisch in der Säure aufgelöst hatte. Išta war unbarmherzig gewesen. Stundenlang hatte sie Lyvianne verhört. Statt zu reden, hatte die Elfe irgendwann angefangen zu singen: Schattenweber, Träumegeber, schleichen durch die Nacht …

Der Ebermann schüttelte unwillig sein schweres Haupt. Nie wieder würde er dieses Lied vergessen.

»Hier entlang!« Išta deutete auf einen schmalen Felssteig, der sich die Steilwand hinaufschlängelte.

Unsicher trat der Ebermann auf den engen Pfad. »Das ist ein verdammter Ziegenpfad.«

»Dann hast du ja gerade die rechten Füßchen, um es dort hinaufzuschaffen«, zischte der Gefiederte.

»Nehmt mir den verdammten Balken von den Schultern! Der Weg ist zu eng. Wenn ich damit gegen den Fels stoße, werde ich abrutschen.«

»Hast du etwa Sorgen, dass dich das umbringen könnte?« Išta lachte ihm ins Gesicht. »Hast du so viel Zeit mit der Elfe verbracht, dass du deine eigene Unsterblichkeit vergessen hast?«

»Ich bin schon einmal von einem Wolkenschiff gestürzt. Ich weiß, wie es sich anfühlt, sich jeden verdammten Knochen im Leib zu brechen.«

»Dann wirst du jetzt sicher vorsichtig sein«, stichelte nun auch Langarm. »Los, hoch mit dir! Mir ist kalt.«

»Bringen wir es doch gleich hier zu Ende«, verlangte der Gefiederte. »Warum plagen wir uns mit ihm? Er hat uns verraten. Richten wir ihn! Ich verstehe nicht, was diese endlose Wanderschaft in den Bergen soll.«

»Wir bringen ihn zu dem Platz, den ich für ihn vorgesehen habe.« Išta sprach in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Der Ebermann fragte sich, was für ein Ort das sein würde, zu dem sie ihn brachten. Was hatte Išta mit ihm vor? Vorsichtig stieg er auf den vereisten Saumpfad. Wie er befürchtet hatte, war er so eng, dass er sich mit dem Rücken zur Felswand drehen musste, um nicht von dem Balken behindert zu werden, der wie ein Ochsenjoch über seinen Schultern lag.

Išta schwang sich in die Lüfte und flog neben ihm her. Sie war schön. Und sie wusste das. Sie sah ihn lange schweigend an. Er wollte nicht reden. Was gab es auch schon zu sagen? Sie war für all das verantwortlich. Sie hatte zugesehen, wie Langarm ihm Nägel durch die Hände getrieben hatte. Sie hatte ihm diesen Marsch erwählt.

»Die Elfe hat dich verraten, Bruder.«

Er versuchte, den Kopf zu heben, doch das Joch verhinderte es. Das war eine Lüge. Lyvianne war gestorben. Sie wäre niemals zurückgekehrt, wenn sie Verrat geübt hätte.

»Sie hat all eure Geheimnisse ihrem Drachen verraten. Hast du wirklich geglaubt, eine Drachenelfe würde das Wort, das sie einem Devanthar gegeben hat, über die Treue zu ihrer Himmelsschlange stellen. Sag mir, dass du nicht so dumm gewesen bist.«

Er schwieg weiterhin. Er hatte Lyvianne vertraut.

»Ihr Drache hat euch beide verraten.«

Sein Kopf ruckte hoch und schlug hart gegen das Holz. »Ihr Drache!«

»Was glaubst du, woher ich wusste, wo und wann ihr beide zu finden seid?«

Er lehnte sich gegen die Steilwand. Ihn schwindelte. Unter ihm wirbelte Schnee. Der Abgrund war ein Chaos aus tobendem Weiß. Die Felsen, auf denen er zerschellen würde, waren nicht zu sehen. Seine Beine begannen zu zittern. Das Weiß lockte … Doch es würde ihm kein Vergessen schenken. Er würde nicht sterben, wenn er auf den Talgrund schlug. Er würde nur noch mehr Schmerzen leiden. Wollte Išta das? Er dachte an die perfide Strafe, die sie für Anatu ersonnen hatte. Auf ewig gefangen im Schädel des toten Geliebten. Was Išta wohl für ihn bereithielt?

Was immer es war, er würde sich stellen. Er richtete sich auf, ging weiter den vereisten Steig hinauf. Er war nicht Anatu! Er würde nicht wahnsinnig werden!

»Du gibst nie auf zu kämpfen, Bruder. Das habe ich schon immer an dir geschätzt.«

»Wie solltest du vom Goldenen über meine Pläne erfahren haben? Ich nehme nicht an, dass du so töricht warst, dich mit einer Himmelsschlange zu treffen.«

Sie lachte. »Glaubst du wirklich, ich erzähle dir das? Dir, der du so lange hinter meinen Geheimnissen hergeschnüffelt hast. In einem anderen Zeitalter vielleicht …«

Bedeutete die Antwort, dass sie ihn nicht ermorden würde? Alles sprach dafür. Sie hätte ihn in Anatus zerfallenem Palast töten können oder in der Schmiede Langarms. Sie wollte etwas anderes … Wieder dachte er an das Schicksal Anatus, die im Schädel ihres Drachen eingesperrt wahnsinnig geworden war. Manchmal war es besser, tot zu sein.

Der Ebermann zog es vor zu schweigen, und Išta stieg höher in den Himmel hinauf, bis sie im Schneegestöber verschwand. Sie stieg zu den Sternen empor, und er ging am Rand des Abgrunds. Er war kurz davor, alles zu verlieren.

Nach langem Aufstieg, immer wieder angetrieben von seinen beiden Brüdern, erreichte er eine Klamm, die gerade weit genug war, dass er mit seinem Joch hindurchpasste. Es war inzwischen so kalt, dass der Schnee auf seinem struppigen grauen Fell nicht mehr schmolz. Auch die Hitze der Ketten war abgeklungen. Doch die Wunden in seinen Händen bluteten wieder. Die Sicht in der Klamm war schlecht. Alle paar Schritt stieß er mit dem Balken gegen einen Felsvorsprung. Jedes Mal gab es einen schmerzhaften Ruck, dort wo die Nägel sein Fleisch durchdrungen hatten.

Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ganz gleich, welche Niederträchtigkeit ihn hier erwartete, er würde seine Niederlage zumindest erhobenen Hauptes tragen. Als sich die Klamm zu einem kleinen Tal weitete, ging der Gefiederte an ihm vorüber.

»Folge mir!«, befahl er barsch.

Durch die Last auf seinen Schultern in eine gebückte Haltung gezwungen, konnte der Ebermann nicht sehen, was auf dem ansteigenden Pfad vor ihnen lag. Endlich erreichten sie eine Spalte im Fels, in die ihn seine Wächter grob hineindrängten. Sie waren unübersehbar erleichtert, ihr Ziel erreicht zu haben.

Schon nach wenigen Schritten erweiterte sich der schmale, tunnelartige Einstieg zu einer großen Tropfsteinhöhle. Ein Prickeln überlief den Ebermann. Der Ort war durchdrungen von Magie. Schimmerndes Eis bedeckte die Wände. Dahinter schienen Lichter gefangen zu sein. Sie sahen wie kleine Flammen aus und wanderten zur Decke hinauf, wo sich ihr Licht in Hunderten schillernder Eiszapfen verfing. In der Höhle war es fast so hell wie auf einer Wiese an einem wolkenlosen Sommertag.

Staunend sah der Ebermann sich um. Etliche der Tropfsteine waren zu mächtigen Säulen verwachsen. Sie ließen die Höhle wie einen Thronsaal aussehen. Deutlich spürte der Ebermann die Kraftlinien, die sich hier kreuzten. Es waren fünf. Sie bildeten ein Tor, über das jedoch ein machtvoller Zauber gelegt war. Išta schwebte von der hohen Decke herab. Woher war sie gekommen? Eben hatte er sie noch nicht gesehen.

»Gefällt dir das Domizil, das ich für dich auserwählt habe? Es ist von so wilder Schönheit wie dein Charakter.«

Der Ebermann schwieg. Gemeinsam mit Lyvianne hätte er den Krieg zwischen Himmelsschlangen und Devanthar beenden können, wenn sie Ištas Verrat aufgedeckt hätten. Jetzt aber war Išta nicht mehr aufzuhalten. Hatte Lyvianne das am Ende vielleicht gewollt? War sie gekommen, um zu scheitern? Um Išta in ihrer Arroganz zu bestärken? Ihre Erfolge würden seine Schwester leichtfertig werden lassen. Sie hielt sich für unbesiegbar. Išta war schon jetzt so mächtig, dass ihr fast alle anderen Devanthar ohne Widerspruch folgen würden. Hatten die Himmelsschlangen und die Alben bereits eine Falle für seine Brüder und Schwestern vorbereitet? Ja, vielleicht gingen Lyviannes Pläne sogar noch weiter. Hatte die Elfe sich aufgegeben, damit sich die alten Herrscher, die Devanthar und die Alben, in einem blutigen Krieg zerfleischten? Einige seiner Brüder und Schwestern glaubten, dass sich das Zeitalter der Drachen schon bald dem Ende zuneigen würde.

War dieser Krieg am Ende einer Intrige der Elfen entsprungen, die nach der Macht strebten? Er überlegte, ob er Išta etwas sagen sollte. Aber würde das nicht so aussehen, als würde er um Gnade betteln? Und er hatte keinerlei Beweise für seinen Verdacht. Sie würde es als Hirngespinste abtun.

Er blickte auf einen Stoß Holz, der in der Mitte der Höhle lag. »Hast du Angst, dass ich in meinem Gefängnis frieren werde?«

»Ich finde es manchmal tröstlich, in Flammen zu blicken. Du wirst lange hierbleiben, mein Bruder, und du wirst Trost brauchen, deshalb das Holz.«

Was für ein Unsinn, dachte er und öffnete sein Verborgenes Auge. Deutlich sah er den minderen Albenstern, in dem sich fünf Kraftlinien kreuzten. Ein dichtes Gespinst feinerer Linien lag darüber. Išta hatte einen komplexen Zauber gewoben, um das Tor zu versiegeln, aber er war zuversichtlich, dass er ihn brechen konnte. Wenn sie und seine beiden Brüder so dumm waren, ihm nichts zu tun, würde er nicht lange in diesem Gefängnis bleiben.

Das Gefängnis

Es war fast vollbracht. Išta löste sich aus der Gruppe der Zauberweber. Die letzten Fäden konnten der Gefiederte und Langarm auch ohne sie spinnen. Es war der Schmied gewesen, der ihre Idee hatte Magie werden lassen. Er war geschickt. Wenn er nur nicht so hässlich wäre! Auch störte sie seine hündische Unterwürfigkeit. Für die kleinste Gunst von ihr wäre er fast alles zu tun bereit.

Wie anders war da doch der Ebermann. Ja, sein Verstand war kraus. Er versteckte sich hinter der Maske des Tiers. Doch sie sah hinter die Maske, sah seinen Mut und den Willen, seinen Weg ohne Kompromisse zu gehen. Er gefiel ihr. Warum hatte ausgerechnet er herausfinden müssen, was sie Anatu angetan hatte! Sie würde ihm Zeit geben nachzudenken. Wenn er hier herauskam, dann würde er erkennen, dass sie ihn beschützt und nicht bestraft hatte. Würde ruchbar, dass er sich auf eine Drachenelfe eingelassen hatte, würden ihre Brüder und Schwestern seinen Kopf fordern.

Išta blickte zu ihm herab. Seine himmelblauen Augen durchbohrten sie. Es lag kein Hass in ihnen, er versuchte zu ergründen, was sie wollte und was ihn erwartete. Einen Moment lang war sie versucht, es ihm zu sagen. Nein! Sie durfte nichts verraten. Er sollte grübeln. Das würde es ihr leichter machen, ihn zu manipulieren, wenn sie ihn holte oder er sich irgendwann befreite. Sie wusste, die Fesseln würden ihn nicht allzu lange aufhalten. Aber dieser Zauber – das war etwas anderes. Den hatte Langarm meisterlich ersonnen.

»Wir werden uns wiedersehen, wenn die Drachen besiegt und die letzten Alben im Mondlicht verschwunden sind. Wenn du zurückkehrst, werden wir Devanthar in allen drei Welten herrschen. Ein neues Zeitalter wird anbrechen. Dann ist wieder Platz in den drei Welten für dich. Bis dahin, lebe wohl.«

Er sah sie weiter einfach nur an. Sie hatte gehofft, dass er etwas sagen würde. Andererseits, hätte er es getan, dann wäre er nicht der, den sie schätzte. Išta spürte, wie Langarms Zauber mehr und mehr Kraft aus dem magischen Netz zog. Es würde noch kälter in der weiten Höhle werden, als es ohnehin schon war. Sie hatten Tage damit verbracht, den Zauber vorzubereiten. Er sollte ein Zeitalter lang Bestand haben. Er hatte sie viel Kraft gekostet.

Der Gefiederte stand auf und winkte ihr zu. »Komm! Gleich ist es vollbracht!«

Sie bedachte den Ebermann mit einem letzten, langen Blick. Hatte er die verdammte Elfenschlampe geliebt? Oder war sie ihm nur eine nützliche Idiotin gewesen? Er würde es ihr ganz gewiss nicht verraten. Und sie würde ihm nicht sagen, dass Lyvianne ihn nicht hintergangen hatte. Es gab keine Intrige der Elfe. Wahrscheinlich hatte sie ihrem Meister, dem Goldenen, berichtet, doch das war ohne Belang.

Der Drache hatte sie natürlich nicht eingeweiht. Ihr Bruder und die Elfe waren einfach nur zu unvorsichtig gewesen. Es hatte nicht viel Verstand dazu gehört zu erahnen, wann und wo die beiden sich wiedertreffen würden.

Sie wandte sich vom Ebermann ab. Es war alles gesagt. Jedes weitere Wort wäre nur eine hohle Hülse. Sie würden sich wiedersehen, eines Tages, in ferner Zukunft.

Langarm sprang auf. »Schnell jetzt, oder dir gehört eine Ewigkeit mit unserem Bruder, dem Schweinekopf!« Er hastete dem Eingang der Höhle entgegen. Išta sah, wie aus dem Fels ein schillernder Ring aus Eis wuchs.

Sie duckte sich hindurch. Der Sturm draußen hatte nachgelassen. Es fiel nur noch wenig Schnee. Über ihnen stand ein wunderschöner Sternenhimmel.

»Gehen wir!«, drängte der Gefiederte. »Es gilt, die Herrschaft über drei Welten zu erringen.«

»Und das nächste Mittsommerfest ist nicht mehr fern«, ergänzte Langarm und bedachte Išta mit einem Blick, der ihr blanken Ekel verursachte.

Lebe wohl, mein aufrechter Rebell, war ihr letzter Gedanke, bevor sie sich in den Himmel schwang. Sie war sich bewusst, wie schrecklich die Strafe war, die sie verhängt hatte. Er ahnte es noch nicht, aber sie hatten ihn in der Zeit begraben.

Allein

Der Ebermann hielt den Atem an. Der Schmerz war von exquisiter Qualität. Langarm hatte Nägel aus einem weichen Eisen benutzt, um ihm die Hände auf den Balken zu nageln. Seine Hammerschläge hatten den Kopf abgeflacht und nach außen gestülpt. Und krumm waren sie auch noch. Er schrie auf, als er die rechte Hand losriss. Er spürte, wie seine Handknochen auseinandergezwängt wurden, wie die Knochen über das Metall schrammten. Ein Fetzen seines Fleisches war, zusammen mit dem elendigen Nagel, auf dem Holzbalken zurückgeblieben.

Tränen des Schmerzes mischten sich mit Tränen der Wut, als er auf seine zerschundene Handfläche sah. Die Wunde heilte nicht! Seine Verletzungen, ganz gleich wie schwer sie sein mochten, heilten für gewöhnlich, noch während er hinsah. Der Schmerz blieb ihm zwar nicht erspart, aber er war nicht von langer Dauer. Doch nun geschah nichts. Dafür brannten die Ketten, die um seinen Leib gewunden waren, umso mehr. Er würde sie sprengen können, doch nicht sofort. Erst musste er seine zweite Hand befreien und sich ein wenig erholen. Der Ebermann spannte die Muskeln des linken Arms und wappnete sich für den Schmerz. Dann dachte er an Lyvianne, daran, wie sie zu singen begonnen hatte, als ihr Schmerz übermächtig geworden war. Was war sein Leiden im Vergleich zu dem, was Išta ihr angetan hatte.

Er riss die Hand los. Keuchte gegen die Pein an. Dann kämpfte er sich auf die Beine. Er hatte gespürt, dass sich die Magie, die ihn umgab, grundlegend verändert hatte. Nun musste er herausfinden, welche Marter die drei für ihn ersonnen hatten.

Eine Scheibe aus mattem, halb durchscheinendem Eis verschloss den Übergang zwischen der Tropfsteinhöhle und dem kurzen Tunnel, der hinaus ins Tal führte. Durch das Eis konnte er ein Stück des Himmels sehen. Es war Abend, und es wurde ungewöhnlich schnell dunkel.

Seine Krallen glitten über das Eis. Sie hinterließen keine Spur!

Verblüfft betrachtete er die dünne, durchscheinende Wand. Das war kein gefrorenes Wasser. Er stieß mit dem Ellenbogen dagegen. Alles, was ihm das einbrachte, war dumpfer Schmerz. Die Zaubermacht der drei hatte hier etwas erschaffen, das ihm fremd war. Nachdenklich betrachtete er die roten Schlieren, die seine verwundeten Hände auf der Wand hinterlassen hatten. Dieser durchsichtige Schild würde ihn wohl eine Weile aufhalten. Ihm war klar, dass er erst die verhexten Ketten sprengen musste. Noch verlangsamte die dunkle Magie sein Denken und zehrte ebenso von seinen Kräften wie von seiner Fähigkeit, Zauber zu wirken.

Sobald ihm dieser Kraftakt gelungen war, würde er diesem perfide ersonnenen Kerker entfliehen. Er würde den Bann brechen, der den Albenstern versiegelte. Oder er würde sich durch die Wände graben. Seine Krallen waren kaum weniger hart als der Stahl, den sein Bruder Langarm schmiedete. Er würde hier herauskommen, und dann sollten …

Es wurde wieder hell draußen. Wie konnte das sein? Gerade eben war doch erst die Dämmerung der Nacht gewichen. Nun graute der Morgen. Binnen weniger Augenblicke war der Himmel glutrot. Die Sonne erhob sich über die Berge, und er konnte sehen, wie sie am Horizont vorüberzog. Bald schon wurde es erneut dunkel. Er stand wie versteinert, war nicht in der Lage, etwas anderes zu tun, als das schmale Stück Himmel im Blick zu behalten.

Tag um Tag sah er so vergehen. Mehr als eine Woche verstrich, bis er bereit war zu akzeptieren, was ihm so überdeutlich vor Augen stand: In dieser Höhle, die sie ihm zum Gefängnis bestimmt hatten, verstrich die Zeit anders! Ein Tag hier mochte ein ganzer Mond dort draußen sein.

Da erkannte der Ebermann, dass er das Ausmaß seiner Strafe gar nicht ermessen konnte! Er war ein Devanthar. Er würde weder Hunger leiden noch Durst, ganz gleich wie lange er hier gefangen wäre. Er war unsterblich. Zeit spielte für ihn keine Rolle, hatte er bislang immer gedacht … Wie sehr er sich getäuscht hatte! Seine Brüder und Schwestern würden die Welt verändern. Ohne ihn!

Noch immer zweifelte er nicht daran, dass er sich befreien konnte. Doch bis es so weit war, mochten dort draußen Jahrhunderte vergangen sein. Er hatte nach ihrem Sieg die neue Welt ohne Himmelsschlangen und Albenkinder miterschaffen wollen. Er hatte sie wachsen sehen wollen. Hatte Teil der Fehler und Triumphe der Menschenkinder sein wollen. Und sei es nur als Beobachter! Das war sein Lebenszweck gewesen. Und das hatte Išta ihm nun gestohlen.

In blinder Wut und Verzweiflung hämmerte er mit den Fäusten gegen die eisige Wand, die er nicht zu zerbrechen vermochte, während dahinter ein neuer Tag anbrach. Wäre er nur niemals dieser geheimnisvollen Drachenelfe begegnet!

Der letzte Weg

War ihre Freundschaft eine Lüge gewesen? Volodi blickte auf den ganz in weiße Tücher geschlagenen Leichnam. Ein himmelblauer Umhang war über den Leib gebreitet. So blieb verborgen, dass ihm kein Arm mehr fehlte. Er selbst hatte Kolja gewaschen und in seine Leichentücher geschlagen. Er würde seinem Freund eine Lüge auf sein letztes Geleit geben, und er war sich sicher, dass es dem Faustkämpfer gefallen hätte. Es waren stets die derben Scherze gewesen, die ihn hatten lachen lassen.

Quetzalli war dafür gewesen, ihn unauffällig mit all den anderen Toten nach Drusna zu bringen. Sie hatte den großen Begräbniszug ihm zu Ehren bis zuletzt abgelehnt. Sie wollte nicht, dass sein Name genannt wurde. Wollte ihm das Heldenbegräbnis verweigern. Sie hatte ihm nicht verziehen.

Als es nichts mehr zu tun gab, legte Volodi dem Toten die Hände auf die Schultern und küsste dessen mit Leinen bedeckte Stirn. »Lebe wohl, Kamerad. Du hast stets die großen Auftritte geliebt. Die Arena, die Triumphzüge nach den großen Siegen, die Geste in den Hurenhäusern nach den kleinen Siegen. Heute sollst du deinen letzten großen Auftritt haben.«

Der Unsterbliche richtete sich auf. Er war allein in der Festhalle. »Öffnet das Tor!«

Die vergoldeten Türflügel schwangen auf. Sechs Männer mit schweren Bärenfellen auf den Schultern traten ein. Oleg führte sie an. Es waren die Hauptleute seiner Leibwache. Silberne Krallen hielten die Felle über der Brust zusammen. Ein jeder von ihnen hatte eine schwere Axt im Gürtel stecken, deren Blatt aus den Schmieden der Devanthar stammte. Drei von ihnen trugen Speere.

Mit feierlich langsamem Schritt traten sie an die schwere Eichenplatte, auf der Kolja aufgebahrt lag. Sie schoben die Speere durch die Ringe unter der Platte. Dann knieten sie nieder, stemmten die Schultern unter die Speerschäfte und hoben die Tischplatte mit dem Leichnam von den Böcken, auf denen sie geruht hatte.

Schweigend führte Volodi das letzte Geleit seines Freundes aus der Halle. Auf dem Hof unter der Terrasse waren dreiundzwanzig weitere Männer aufgebahrt. Als der Unsterbliche den rechten Arm hob, erklangen Hörner von allen Ankertürmen rings um den Palast. Auf das Signal hin wurden die anderen Krieger angehoben. Auch ihre Leichen waren in weißes Leinen gekleidet. Ihre Waffen lagen ihnen auf der Brust. Auf Stangen drapiert wurden ihre Rüstungen hinter ihnen hergetragen. Bronzepanzer und schwere Eberzahnhelme mit Pferdehaarbüschen. Viele der Rüstungsteile trugen noch die Zeichen ihres letzten Kampfes. Sie würden in die Äste der Eichen gehängt, dort, wo auch die Toten zu ihrer letzten Ruhe aufgebahrt werden würden.

Volodi war sich sicher, dass die Daimonen seinetwegen gekommen waren, um ihn zu ermorden. Das passte zu ihrer Heimtücke. All diese Männer waren gestorben, weil sie verhindern wollten, dass ihr Herrscher gemeuchelt wurde. Deshalb würden sie alle, auch Kolja, die Ehre haben, im Heiligen Hain bei Drei Eichen, seinem Geburtsort, ihren Frieden zu finden. Es sei denn, Verwandte erschienen, die ihre Toten einforderten, um sie in die eigenen Geisterhaine zu bringen.

Koljas Leichnam wurde an der Spitze der Prozession vom Hof getragen. Volodi schritt neben ihm. Sie gingen durch die enge Gasse an der Rückseite des Palastes. Er sah Quetzalli auf der Terrasse vor der Festhalle. Sie würde zurückbleiben. Auch wenn in Drusna nicht mehr so viel über sie geredet wurde, war es besser, kein Öl ins Feuer zu gießen, indem die vermeintliche zapotische Hexe auf einem großen Totenfest erschien.

Nur wenige Männer standen auf den Flachdächern der ärmlichen Häuser und blickten auf den Leichenzug hinab. Volodi hatte darauf gehofft, dass es mehr sein würden. Dass die Stadt endlich zusammenhalten würde. Er presste die Lippen zusammen und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Alle Fürsten wussten von der Leichenprozession – hatten sie mit ihren eigenen Toten zu tun? Volodi hatte gehört, dass es auf dem Platz vor der Goldenen Pforte ein Massaker gegeben hatte. Verdammte Daimonen! Sie würden es ihnen heimzahlen. Was ging nur in deren verrotteten Hirnen vor sich, friedliche Karawanen zu überfallen und ein Gemetzel unter Lastenträgern anzurichten?

Aber das hatten sie ja auch schon in Wanu, im eisigen Norden, getan. Sie mussten sie besiegen! Mussten dafür sorgen, dass sie nie mehr Unschuldige überfielen. Dem würde er sein Leben widmen, schwor sich Volodi stumm, und wenn er dafür bis zum Ende seiner Tage kämpfen musste.

Als sie auf die erste Hauptstraße einbogen, erwartete sie eine Gruppe freizügig gekleideter Damen. Es mussten mehr als fünfzig sein. Einige von ihnen kannte Volodi. Sie hatten in den Hurenhäusern der Zinnernen gearbeitet.

Eine große Rothaarige führte die Gruppe an. Sie hielt etwas silbern Funkelndes in Händen. »Bitte verzeiht, Unsterblicher, wenn ich es wage, Euch in den Weg zu treten.« Sie verbeugte sich demütig und küsste den Saum seines Gewandes. Volodi war das peinlich. Er erinnerte sich, einmal bei ihr gelegen zu haben. Sie wusste ganz genau, wie menschlich er war.

»Wir wollten Kolja ein Geschenk mit auf seine letzte Reise geben«, erklärte sie mit einem Akzent, der verriet, dass sie weit aus dem Osten Drusnas stammte. Ihre mandelförmigen Augen ließen vermuten, dass es auch Steppenreiter aus Ischkuza unter ihren Vorfahren gab. »Er hat uns beschützt und dafür gesorgt, dass seine Häuser sauber und gut geführt waren. Das ist mehr, als die meisten tun.«

Jetzt erst erkannte Volodi, was sie in Händen hielt. Es war ein versilberter Phallus. Er spürte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg. Gut, dass Quetzalli nicht hier war. Er räusperte sich verlegen. »Leg es auf die Bahre, Tonka.«

Sie sah überrascht zu ihm auf. »Ihr erinnert Euch, Unsterblicher?«

»Ich habe nicht so viele schöne Erinnerungen, dass ich es mir leisten könnte, auch nur eine von ihnen zu vergessen.«

Tonka schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. Er war sich nicht ganz sicher, ob es wirklich echt war oder sich darin nur widerspiegelte, dass sie hundertfach erprobt hatte, was Männerherzen höherschlagen ließ. Sie stand auf und legte den schweren silbernen Phallus auf die Bahre. Dann gab sie den Weg frei. Mit den anderen Mädchen säumte sie die weite Straße.

Der Trauerzug setzte sich erneut in Bewegung. Ihr Weg führte sie weiter zu einer breiten Treppe, die aus dem Felsgestein geschlagen war. Sie wurde von bunt bemalten Reliefs gesäumt, die Fischer in ihren flachen Booten auf dem großen Fluss zeigten. Die Häuser hier hatten kaum Schaden genommen.

Kaum dass Volodi den ersten Schritt auf die Treppe tat, erscholl über ihm ein lauter Kommandoruf.

»Achtung!«

Der Unsterbliche beschleunigte die Schritte. Nahm immer zwei Stufen auf einmal. Und dann sah er sie. Hunderte Krieger, sie säumten die Straße, manche waren Krüppel, die sich nur noch auf Krücken hielten. Viele hatten von Narben entstellte Gesichter. Sie alle hatten den harten Blick derjenigen, die zu viele Schlachtfelder gesehen hatten. Nun sahen all diese Augen auf ihn.

Volodi straffte sich. Er spürte einen Kloß im Hals. Er kannte sie. Mit fast allen hatte er gemeinsam gekämpft. Es waren die Zinnernen. Jene Piraten, die sich vor Jahren dem Unsterblichen Aaron angeschlossen hatten, um ihm als Söldner zu dienen. Das kleine Heer von Halunken, das Volodi zusammen mit Kolja befehligt hatte. Die Männer, denen nun die Bordelle der Goldenen Stadt gehörten.

Die Hauptleute, die Kolja trugen, erreichten die oberste Stufe. Einen Herzschlag lang war es totenstill. Dann ertönte ein leises Scheppern. Ein zweites folgte. Ein drittes.

Die Männer schlugen gegen ihre Brustpanzer aus Bronze und Leder. Es war ein langsamer Rhythmus, so wie ein Herz schlug, das müde geworden war. Als die Bahre durch das Spalier der Krieger getragen wurde, warfen die Männer kleine silberne Münzen. Sie prasselten auf den eingewickelten Leichnam nieder. Nur wenige verfehlten ihr Ziel. Jeder Krieger hatte nur eine Münze.

Volodi bückte sich nach einer, die von der Tischplatte hinabgerollt war. Sie zeigte eine Faust, die mit dem messingbeschlagenen Riemen der Faustkämpfer umwickelt war. Auf der Rückseite prangten drei Lorbeerkränze. Zeichen für die drei Siege, die die Zinnernen hatten erringen müssen, um wieder freie Männer zu werden. Kolja hatte sie in jeder dieser Schlachten geführt. Drei Zinnmünzen hatte ein jeder der Zinnernen gebraucht, um sich von Aaron wieder freizukaufen. Nun gab es eine vierte Münze. Die Männer hatten sie Kolja zu Ehren machen lassen.

Stolz ging Volodi durch die von Kriegern gesäumte Prachtstraße. Dies war ein Abschied, wie ihn Kolja sich gewünscht hätte. Der langsame Rhythmus der Fäuste, die auf Rüstungen schlugen, begleitete sie noch, als sie schon längst die Stufen zu nächsten Terrasse erklommen hatten.

Sie waren nun auf dem Weg zur Goldenen Pforte. Hier säumten Bewohner der Stadt ihren Weg, Handwerker und Tempeldiener, Bettler und Gardisten. Tausende standen auf der Straße und auf den Dächern. Sie schwiegen. Lauschten auf das leise Grollen der kampferprobten Fäuste, die nicht müde wurden, ihren letzten Gruß den Toten nachzusenden.

Der Platz vor der Goldenen Pforte war nicht minder gefüllt. Doch es waren die Unsterblichen, die hier warteten. Das Morgenlicht brach sich in funkelnden Löwenstandarten. Den Standarten, unter denen er mit Kolja zusammen auf der Hochebene von Kush gekämpft hatte. Daneben waren die Adler von Valesia zu sehen, die sich windenden seidenen Stoffschläuche der Ischkuzaia, die Federstandarten der Zapote und die Feldzeichen der anderen Großreiche. Fast alle warteten mit aufgebahrten Leichen. Das mussten die Toten des Kampfes hier auf dem Platz sein.

Der Unsterbliche Aaron löste sich aus der Gruppe der Herrscher. Ihm folgten Ashot, der vom Bauern zum Feldherrn aufgestiegen war, und Mataan, der hünenhafte Satrap von Taruad, der für Aaron im Steinhorst fast sein Leben gegeben hatte und so schwer verletzt worden war, dass er nun am Stock ging und nie mehr für Aaron in die Schlacht ziehen würde. Auch Ormu, der rotbärtige Jäger und Bogenschütze, der die Leibwache des Unsterblichen befehligte, war dabei. Er trug ein seltsames Gewand. Ein Jagdhemd aus hellem Leder, das mit Vogelschwingen geschmückt war.

Aaron begrüßte Volodi mit einem Kuss auf die Wange. »Willkommen, Bruder. Wir teilen deinen Schmerz.«

Der Drusnier fühlte sich nicht wohl. Er hasste es, Aaron belügen zu müssen. Aber über die Wahrheit konnten sie nur unter vier Augen sprechen. »Du hast ihn tot auf dem seltsamen Wolkensammler gefunden? Und der Fremde ist seit der Schlacht mit den Daimonen spurlos verschwunden?«

Das war die Lüge, die Volodi gestern im Palast verbreitet hatte. Und all jene, die die Wahrheit erraten hatten, so wie Quetzalli oder Oleg und Yuri, hatte er darauf eingeschworen, dass es ein Geheimnis bleiben sollte. Aber er wusste, dass Aaron Spitzel hatte. Volodi sah über den Platz zu den anderen Unsterblichen. Hatten auch sie ihre Spione in seinem Palast? Iwar hatte auf derlei immer verzichtet. Vielleicht würde er das ändern müssen. Volodi wartete darauf, dass seine inneren Stimmen Einspruch erhoben, doch sie blieben stumm.

Aaron schlug seinen Umhang zurück und zeigte ihm ein Langschwert in einer prächtigen, goldenen Scheide. Es waren Bilder von Streitwagenfahrern und Kriegselefanten in das Gold gearbeitet. Bilder der Schlachten, in denen Kolja gekämpft hatte.

»Sein Ruhm und seine Taten sollen länger währen als sein Leben«, sagte Aaron feierlich. »Möge dieses Schwert allen, die im Geisterhain unter seinem Baum stehen, von Mut und Kühnheit des Feldherrn Kolja, des Ersten unter den Zinnernen, künden.«

Volodi gab den Totenträgern ein Zeichen, und sie knieten nieder. Der Unsterbliche Aaron trat an die Bahre und legte Kolja das Schwert auf die Brust. »Mögest du deinen Frieden finden, wohin auch immer deine Seele gegangen ist.«

Volodi betrachtete staunend das wunderbare Geschenk. Die Goldschmiede Arams waren berühmt, doch wie hatten sie dieses Kleinod in nur einer Nacht erschaffen können?

Die Bahre wurde wieder hochgehoben.

Silberne Fanfaren erschollen. Es kam Bewegung in die Menschenmengen auf dem Platz. Eine weite Gasse hin zum Tor zwischen den Götterbildern öffnete sich. Vor der Goldenen Pforte standen sechs geflügelte Löwen, die wachsam zum Himmel blickten. Als Volodi den Blick hob, sah er, dass dort noch weitere Löwen kreisten. Heute würden die Daimonen gewiss nicht wagen anzugreifen.

»Eigentlich hätte das Geschenk für dich sein sollen«, flüsterte ihm Aaron zu, als hätte der Unsterbliche seine Gedanken erraten. »Meine Schmiede werden ein neues, ein besseres Schwert fertigen.«

»Warum?« Volodi war aufrichtig überrascht. Es gab keinen Grund, warum Aaron ihm Geschenke machen sollte.

Der Unsterbliche lächelte ihn an. »Weil du ein Freund bist. Die Höflichkeit gebot es, heute nicht mit leeren Händen zu kommen.« Er hob die Stimme leicht, um gegen den Klang der Fanfaren anzukommen. »Du bist ein wirklich guter Freund!« Aaron sah zur Bahre mit dem Toten. »Er war …« Der Herrscher Arams machte eine nachdenkliche Pause. »Er war ein herausragender Kämpfer«, schloss er schließlich mit wenig Enthusiasmus.

Volodi fühlte sich niederträchtig. Er hatte Aaron wie alle anderen getäuscht. Aber es war besser, das Geheimnis Koljas zu den Toten zu tragen. Er hatte es mit sich in die Welt der Geister genommen. Niemand würde mehr erfahren, wo das Traumeis versteckt war. Es war besser, das Gespinst von Lügen weiterzuweben. Die Wahrheit war noch viel unerträglicher als die Lügen. Aarons Traum, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, hätte Wirklichkeit werden können, wäre das Traumeis nicht verloren gegangen.

Volodi wandte sich zu dem Wolkensammler um, der hoch über seinem Palast vor Anker lag. Er würde der einzige seiner Art bleiben. Nur er hatte die Freiheit gefunden und konnte fliegen, wohin immer er wollte. Alle anderen würden nur mit dem Wind treiben. Genauso war es mit den Menschen, dachte Volodi bitter. Sie würden mit den Winden des Schicksals treiben, statt es selbst zu bestimmen.

Er küsste Aaron auf die Wange. »Ich werde bestatten, was auf immer verloren ist.«

Der Totenträger

Sie waren ein schönes Paar, die Seidene und der Piratenfürst. Ilmari gönnte sich einen Augenblick, die beiden zu betrachten, wie sie auf ihrer Prunkbarke den Schwarzgürtel hinabgefahren kamen. Die Goldbeschläge des Bootes spiegelten sich im nachtschwarzen Wasser. Die beiden hielten sich bei den Händen und wirkten wie Kinder, die zum ersten Mal von der süßen Frucht der Liebe gekostet hatten. Sie sahen aus wie ein wirkliches Fürstenpaar, die Hure und der Mörder.

Der Unsterbliche Aaron hatte Ilmari eindringlich vor Tarkon gewarnt. Er sollte nicht versuchen, ihn zu töten. Es gab verbürgte Berichte, dass der Himmelspirat mindestens schon drei Mal umgekommen war. Er schonte sich nicht im Kampf, focht stets in der ersten Reihe, doch seine nackten, braungebrannten Arme waren gänzlich ohne Narben.

Als die Barke am moosdunklen Kai anlegte, stürmten Kinder auf das Boot zu. Die Seidene und ihr Geliebter verteilten mit vollen Händen frisches Obst. Sie genossen die Jubelrufe der Kleinen, die herzhaft in die Orangen bissen, sodass ihnen der goldene Saft der Früchte das Kinn hinabtroff.

Ilmari wandte sich ab und stieg die steile Gasse zum Totenhaus hinauf. Es war das prächtigste Gebäude in Tiefwasser. Und das gefürchtetste. Niemand kam freiwillig dorthin, und die dicken Mauern würden das laute und fröhliche Kindergelächter verschlucken. Dort war es immer still. Und Ilmari liebte die Stille. Zwei Monde lang war er durch die sieben Städte gereicht worden. Er war Pflücker in den Pilzgrotten gewesen, hatte die weißen Kaimane gejagt und hoch in den Felsen die großen Fledermäuse. Drei Tage lang hatte er bei den Färbern verbracht, die mit ihren grellbunten Stoffen gegen die Düsternis der sieben Städte ankämpften. Überall war er angeeckt. Er fügte sich schwer ein. Er hatte es nicht anders gewollt.

Er brauchte eine Arbeit, die ihn in alle sieben Städte führte. Denn er sollte sie ausspähen, die verborgene Kolonie des Piratenfürsten, die überall auf Nangog nur die Wolkenstadt genannt wurde. Die Unsterblichen hatten keine Ahnung, wie stark ihr Widersacher wirklich war. Er gebot nicht über eine Stadt, er hatte sich ein kleines Reich aufgebaut. Alles gab es hier: Schmiede und Zimmerleute, Tuchmacher und Töpfer, Buchhalter und Schweinezüchter.

Alle hatten Tarkon unterschätzt. Seine sieben Städte lagen tief in den Herzen großer Tafelberge inmitten des Dschungels verborgen, weit im Westen des Purpurnen Meeres. Unterirdische Flüsse und labyrinthische Tunnelsysteme verbanden die einzelnen Städte miteinander. Ihre Bewohner durften so gut wie nie hinaus ins Tageslicht. Es gab keinen Fluchtweg. Nur die Wolkenschiffe, die im Himmelshafen anlegten, konnten einen in die Freiheit tragen. So hieß es zumindest. Ilmari bezweifelte das. Es gab immer einen Weg hinaus. Und er würde ihn finden. Deshalb war er hier. Er sollte für den Unsterblichen Aaron die Festung Tarkon Eisenzunges ausspähen und einen Plan ersinnen, wie sie zu erstürmen war.

Jetzt, nach zwei Monden, hatte er endlich die Arbeit gefunden, die ihm erlaubte, alle sieben Städte zu bereisen. Eine Arbeit, die ihn auf kurz oder lang in jedes Haus bringen würde. Er war der Totenträger. Es war seine Aufgabe, die Siedlungen zu bereisen und die Toten hierher nach Tiefwasser zu holen. Denn hier lag der Weiße Schlund, der einzige Ort, an dem die Verstorbenen bestattet werden durften.

Im Eingang zum Totenhaus blieb Ilmari stehen. Noch immer war das ausgelassene Lachen der Kinder zu hören. Anfangs war er überrascht gewesen. Nirgends auf Nangog wurden den Menschen Kinder geboren. Kamen schwangere Frauen auf diese verfluchte Welt, dann starb die Frucht in ihrem Leibe ab. Der perfide Fluch der Riesin machte es schwer, auf Dauer Siedlungen in ihrer Welt zu begründen. Doch hier schien er nicht mehr zu gelten. Es musste Hunderte Kinder in diesen Städten geben. Ganz offensichtlich lag der Segen der Göttin auf den Verrätern, die sich von den Unsterblichen abgewandt hatten.

Lauter als das Kinderlachen war nur das Tosen des Weißen Schlunds. Er lag hinter dem stillen Totenhaus. Ilmari besuchte ihn täglich, selbst wenn es keine Leichen gab, die er ihm als Opfergaben darbringen konnte. Eigentlich war er heute schon dort gewesen, doch das Rauschen des stürzenden Wassers lockte ihn. War dies der Fluchtweg aus den Städten des Piraten?

Ilmari folgte mit müdem, bedächtigem Gang dem Fluss. Auf seinen letzten hundert Schritt verwandelte sich der träge Schwarzgürtel in einen Gischt sprühenden Strom, der zwischen Felsen hindurch auf einen bodenlosen Abgrund zufloss. Hier lag das Grab aller sieben Städte. Es war schon seltsam. Wollte man hierher in die verborgenen Höhlenstädte kommen, um ein neues, glücklicheres Leben zu beginnen, musste man auf einem Wolkensammler durch einen Wasserfall schweben, um im Himmelshafen anzulegen. Und wenn das Leben vorüber war, wurde man selbst Teil dieses Wasserfalls hier, um auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen der Erde zu verschwinden.

Lange verharrte er an dem Abgrund. Die Tiefe übte einen Sog auf ihn aus. Sein Leben fühlte sich leer an. Sollte er nicht schon längst dort unten sein? Er hatte kein Ziel. Keine Familie. Ohne einen Ankerturm zu haben, trieb ihn sein Schicksal von Mord zu Mord. Er war ein Werkzeug anderer … Ilmari straffte sich. Die dunklen Städte in den Bergen bekamen ihm nicht. Früher hatten ihn nie solche Gedanken gequält. Er hatte einen klaren Auftrag! Abrupt wandte er sich ab und strebte mit eiligen Schritten dem Totenhaus entgegen.

Angenehme Kühle empfing ihn in der weiten Eingangshalle. Etliche Türen führten aus dem runden Raum. Soweit er wusste, lagen dort Archive. Offensichtlich waren die Rebellen geradezu versessen darauf niederzulegen, wer ihnen einst angehört hatte, wer mit wem verwandt war und welche dieser Verwandten wo auf Daia lebten. Ilmari hatte Tausende von Schrifttafeln gesehen, obwohl er erst in zwei der angrenzenden Räume gewesen war. Urs, sein Gebieter, der Einbalsamierer und Herrscher über die Toten, und dessen Vorgänger hatten akribisch Buch über jeden Verstorbenen geführt, der hierhergekommen war, und über dessen Verbindungen zu den noch Lebenden.

Der Spitzel schritt zur weiten Wendeltreppe, die im Mittelpunkt der großen Eingangshalle des Totenhauses lag. Der Boden rings herum war mit einem schönen Mosaik ausgelegt. Es zeigte schäumendes, sich in einem Strudel windendes Wasser. Es war eine Stein gewordene Version des Weißen Schlundes. Jeder, dem es bestimmt war, seine letzte Reise durch das Wasser anzutreten, kam zunächst hierher.

Erst am Morgen hatte Ilmari einen weiteren Toten gebracht. Nun würde er ihn auf seine letzte Reise vorbereiten. Der neue Totenträger stieg die weit geschwungene Wendeltreppe hinab. Je tiefer er kam, desto stärker wurde ein säuerlicher Geruch.

Am Fuß der Treppe befand sich die Halle der Toten. Sie war wie ein Spiegelbild der oberen Halle. Kreisrund, fast zwanzig Schritt durchmessend. Nah der Treppe erhoben sich Steinblöcke, groß wie Altäre. Hier pflegte er die Toten abzulegen. Meist blieb er aber nicht lange, denn dies war das Reich von Urs.

Während er bedächtig ein paar Schritte in die Halle machte, sah er sich aufmerksam um. Entlang der Wand lagen zwei Reihen von Becken. Sie waren länglich, etwas größer als Wassertröge und mit halbflüssiger, dunkelbrauner Erde gefüllt. Ihnen entstieg dieser Geruch, an den sich Ilmari immer noch nicht gewöhnt hatte. Er betrachtete die rätselhaften Kreidezeichen neben den im Boden eingelassenen Trögen. Urs hatte ihm deren Bedeutung noch nicht verraten. Es schien keine Schrift zu sein. Zumindest keine, die Ilmari gekannt hätte.

Einige Öllämpchen standen zwischen den Schlammbecken.

»Hier, mein Junge«, erscholl es plötzlich dumpf durch den Raum. »Hier, du hast mich fast erreicht.«

Ilmari war sich nicht sicher, woher die Stimme kam. Sieben Portale mündeten in den Raum. Sie führten zu angrenzenden Kammern. Davon hatte er erst eine je betreten. Seine Aufgabe war es, die Toten hier auf den Steinblöcken abzulegen und sie wieder zu holen, wenn sie in Leinen eingewickelt waren, bereit für ihre letzte Reise durch den Weißen Schlund. Manchmal, wenn er die Leichen hier abholte, erschienen sie ihm leichter als zuvor. Er wusste nicht, was Urs mit ihnen machte. Und er hatte keine Fragen gestellt. Er war der Totenträger. Sonst nichts.

»Kommst du, mein Junge?«

Ilmari mochte es nicht, Junge genannt zu werden. Wenn er eines nicht war, dann ein harmloser Junge. Er war nicht einmal jung.

Durch drei der Portale fiel blasses, gelbes Licht. Aus einem davon hörte er Wasser von einem Stein tropfen. Dort musste die Frau sein. Sie war so scheu, dass er sie bislang nur flüchtig gesehen und nicht versucht hatte, Bekanntschaft mit ihr zu schließen. Dies war das Haus der Toten, und die herausragendste Eigenschaft dieses Ortes war, dass alle Bekanntschaften, außer die zu Urs, nur flüchtig sein konnten.

Er zögerte kurz, dann trat er auf gut Glück durch das Portal, das der Wendeltreppe gegenüberlag. Die Kammer dahinter wurde von einem großen Altarstein beherrscht, auf dem der Leichnam eines Knaben lag. Dahinter stand Urs.

»Hast gute Ohren, mein Junge.« Schwer auf einen Steinblock gestützt, begrüßte ihn der Herr des Totenhauses mit einem Lächeln. Drei Öllampen standen auf dem Altar. Ihr Licht strahlte von unten in das feiste Gesicht und ließ es düster und geheimnisvoll erscheinen. Selten hatte Ilmari einen fetteren Menschen als Urs gesehen. Er hatte die blasse Haut aller, die schon lange in den verborgenen Städten lebten. Nur seine tief im Schädel eingesunkenen Augen waren bemerkenswert. Er umrandete sie mit Ruß. So wirkten sie riesig.

Urs war groß, doch das Gewicht seines Leibes hatte ihm den Rücken gekrümmt. Er trug kein Hemd. Sein obszön aufgedunsener Leib war in allem das Gegenteil des hageren Jungen, der vor ihm auf dem Altarstein lag. Nur die unheimlich blasse Haut hatten sie gemeinsam.

»Jetzt sehen wir mal, ob du ein richtiger Mann bist, Ilmari. Bisher hast du ja nur die Arbeit von Jungen gemacht. Schleppen kann jeder … Für das hier braucht man etwas mehr Mumm.« Mit diesen Worten klatschte er dem Jungen mit seiner aufgequollenen Hand auf die Brust. Dabei sickerte dunkles Sekret aus einem schlecht vernähten Schnitt unterhalb des Rippenbogens.

Ilmari war sich sicher, dass der Junge diese Wunde nicht gehabt hatte, als er ihn hierhergebracht hatte.

Der Herr des Totenhauses wies auf ein ordentlich gefaltetes Leintuch, das zu Füßen des Jungen lag. »Einnähen!«

»Sollten wir ihn nicht noch einmal reinigen?« Er deutete auf das Wundsekret, das sich im Bauchnabel des Jungen sammelte.

»Papperlapapp. Die Stumme hat das erledigt. Hier wird keiner zwei Mal gewaschen.« Er strich dem Knaben durch das gelockte, schwarze Haar. »Und du bekommst ganz sicher keinen Besuch mehr. Mit dir ist’s vorüber. Ganz und gar.«

Ilmari versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie abstoßend er fand, was Urs da tat. Er selbst hatte längst aufgehört zu zählen, wen er alles umgebracht hatte. Er war den Lebenden bestenfalls ein launischer Gefährte. Den Toten aber hatte er stets Respekt erwiesen.

Behutsam breitete er das bereitliegende Leintuch über den Jungen, schob es unter seinem Rücken hindurch und faltete es über seiner Brust zusammen. Dann sah er fragend zu Urs auf. Er hatte das hier noch nie getan.

»Zunähen, Junge. Das wirst du doch noch hinbekommen.« Urs deutete auf eine gebogene Bronzenadel, auf die bereits ein Faden aufgezogen war.

Zögerlich begann Ilmari, das Leichentuch von den Füßen aufwärts zu vernähen, damit es sich im Wasser nicht von dem Toten lösen konnte.

»Nicht so zimperlich«, drängte Urs. »Du nähst hier kein Kleidchen für dein Liebchen. Mach gröbere Stiche und lass ruhig Abstände dazwischen.«

Ilmari ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er machte seine Arbeit gut. Ganz gleich, welche.

Plötzlich schlug Urs ihm auf die Hand und nahm ihm die lange Bronzenadel ab. »Da kann man ja nicht bei zusehen. Hab selten so eine Stümperei erlebt.« Er schüttelte den Kopf, dass die drei Fettringe unter seinem Kinn, das längst mit seinem Hals verschmolzen war, hin und her schwabbelten.

»So geht das, mein Junge.« Er war erstaunlich flink. Mit schnellen Stichen nähte er das Leichentuch zusammen. Plötzlich legte er dem toten Jungen seine massige Hand auf das weiß bedeckte Gesicht. »Und jetzt sieh genau hin! Jetzt kommt das Wichtigste.« Er drückte Daumen und Zeigefinger seiner Linken zusammen, sodass sich deutlich die Nase des Jungen unter dem Leintuch abzeichnete. Dann stach er mit der Rechten die Nadel durch die Nase.

»Nur so, mein Junge, kannst du ganz sicher sein, dass nicht versehentlich ein fast Toter in den Schlund wandert. Natürlich ist das nur bei den Frischen erforderlich. Die, die wir ein paar Tage eingelagert haben, regen sich nicht mehr.« Urs beugte sich über den Toten und biss den Faden dicht hinter der Nadel ab. »Ich bin gründlich. Ich mache es immer. So kannst du auch immer gut schlafen.«

Ilmari war fassungslos. Er blickte auf das vernähte Leichentuch und dann wieder auf Urs. Er hatte schon etliche Tote zum Schlund gebracht, und ihm war durchaus aufgefallen, dass die Leichentücher … ungewöhnlich vernäht waren. Zu genau hatte er allerdings nie hingesehen.

»Du wirst das in Zukunft machen. Ich werde hier nicht ewig der Herr des Totenhauses sein. Du musst meine Arbeit ausüben können. Alles davon … Den nächsten, den wir bekommen, den wirst du allein vernähen. Und zwar ordentlich. Mit weiten Stichen und zum Abschluss mit unserem kleinen Nasentrick. Ist gar nicht schwer. Wenn du erst mal die Nasen von ein paar hübschen Mädchen vernäht hast, macht es dir gar nichts mehr aus.« Urs hob vielsagend die Brauen. »Oder magst du lieber die hübschen Jungen?«

Als Ilmari schwieg, plapperte Urs weiter: »Was bist du so still? Du meinst, das hier ist schwer? Dann warte erst mal ab, bis einer aufsteht, wenn du ihm die Nadel durch die Nase ziehst. Sind nicht immer alle richtig tot, die hier landen. Wirst schon sehen, das macht schlechte Träume, das sag ich dir. Vor allem, wenn oben in der Eingangshalle die Verwandten stehen und das Geschrei hören.« Der Dicke grinste ihn an. »Passiert aber zum Glück nicht oft.« Dann legte er mit feierlicher Geste dem Jungen seine Rechte auf die Stirn.

»Tschau, mein Kleiner. Bist durch ’nen Spalt mit ’nem Schwall Wasser in diese Welt gepurzelt und wirst durch ’nen anderen Spalt mit noch viel mehr Wasser wieder hinauspurzeln. Ich hoffe, du hattest ein paar nette Tage dazwischen. Mehr hat das verdammte Leben keinem von uns zu bieten als ab und an ’nen netten Tag. Und gräm dich nicht, dass du so früh abgekratzt bist. Die netten Tage werden seltener, je älter man wird. Lohnt sich kaum der Mühe.«

Urs versetzte dem Toten einen letzten Klaps und sah zu Ilmari. »Ich halte ihnen immer eine kleine Rede, auch wenn niemand sonst da ist, der zuhört. Ich finde, das gehört sich so. Und nun walte deines Amtes, Totenträger. Schlepp ihn hier raus und bring ihn auf den letzten Weg.«

Die Seidene

Ein Gongschlag ertönte. Es war ein tiefer Klang, der in den Bauch fuhr und bei Zarah ein unangenehmes Gefühl hinterließ. Sie sah, wie die Lichtbahnen, die durch die Höhlendecke auf die verborgene Stadt fielen, an Kontur gewannen. Es waren jetzt massive, schräg hinabreichende Säulen, die sich deutlich vom diffusen Licht der Umgebung absetzten. Die Wolkendecke hoch über dem Dschungel war zerrissen. Die Sonne schien durch das Laubdach auf die mit Netzen getarnten Lichtschächte im Fels.

»Kommst du?« Tarkon reichte ihr galant die Hand.

Die Kinder waren schon vorausgelaufen. Auch alle anderen Bewohner von Tiefwasser bemühten sich, die ihnen vorgeschriebenen Plätze zu erreichen. Es geschah nur alle paar Tage, dass es direkte Sonneneinstrahlung gab, und die Hüter des Lichtes achteten streng darauf, dass keiner eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ.

»Du weißt, du darfst nicht direkt ins Licht sehen«, flüsterte Tarkon an ihrer Seite.

Zarah hatte leichtes Spiel mit ihm gehabt. Als eine Eingeweihte der Großen Göttin, eine Priesterin der Grünen Geister, hatte sie von Anfang an seinen Respekt genossen. Wie wenig Bedeutung innerhalb des Kultes sie hatte, hatte sie wohlweislich verschwiegen. Es war ihr nur darum gegangen, ihm allein begegnen zu können. Er war neugierig gewesen, ein guter Anfang. Und dann war alles so weitergegangen wie bei all den anderen Mächtigen, die ihr in der Goldenen Stadt den Hof gemacht hatten.

Männer waren so vorhersehbar, wenn es um Frauen ging. Selbst der so berüchtigte, von allen gefürchtete Himmelspirat. Schon nach ihrem ersten Abend war er ganz versessen auf sie gewesen. Sie hatte das nächste Treffen absichtlich hinausgezögert, hatte sich um die befreiten Gefangenen gekümmert, die mit ihr gekommen waren. Sie nicht beliebig zu seiner Verfügung zu haben hatte Tarkons Begierde noch weiter angestachelt.

Sie traten an einen Platz, wo einer der Lichtpfeiler den Höhlenboden berührte. Sie standen mitten in einem Gemüsebeet. Zarah genoss die Wärme auf ihrer Haut und ließ den Blick über die kleine Stadt schweifen. Tiefwasser war die kleinste Stadt, die sie bisher in Tarkons verborgenem Reich besucht hatte. Auf den Terrassen vor der Stadt lagen Gemüse- und Reisfelder. In der Ferne hörte sie das Rauschen des Weißen Schlundes. Feiner Sprühnebel stieg hinter der Stadt auf, dort, wo der Schwarzgürtel in einen bodenlosen Abgrund stürzte. Das Sonnenlicht zauberte dort mehrere Regenbögen. Die Stadt mit ihren bunt bemalten Häusern war hübsch. Jetzt, wo das Sonnenlicht stark war, leuchteten all die Farben auf. Keine zwei Häuser waren gleich. Sie schienen in ihrer Farbenpracht wie Stein gewordene Regenbögen zu sein.

Tarkon hatte den Befehl gegeben, das Leben in seinen Städten so bunt wie möglich zu halten. Und das meinte er wortwörtlich. Nie zuvor war Zarah an einem Ort gewesen, an dem so verschwenderisch mit Farben umgegangen wurde. Und doch half es nur wenig. Sobald die Sonne wieder hinter den Wolken verschwand, herrschte nur noch Zwielicht in den unterirdischen Städten, und alles erschien grau.

Zarah war sich bewusst, dass sie verstohlen beobachtet wurde. Sie, die geheimnisvolle Priesterin, die neue Frau an der Seite von Tarkon Eisenzunge. Es geschah nicht sehr viel, was den eintönigen Alltag in den verborgenen Städten unterbrach. Jede Neuigkeit, jedes Gerücht machte mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Runde. Zarah schloss ihre Augen und wandte ihr Gesicht dem Spalt in der weiten Höhlendecke zu. Die Sonne liebkoste ihre Haut. Wie gerne würde sie einen Blick in den blauen Himmel riskieren, doch Tarkon hatte sie eindringlich gewarnt. Zu lange ins Licht zu sehen konnte das Augenlicht kosten.

Sie lebte davon, makellos zu sein. Sie würde ganz gewiss keine unnötigen Risiken eingehen.

Seine Hand schloss sich um ihre Rechte. Er drückte sie sanft. Wie stets fühlte sich seine Haut kühl und ein wenig feucht an. Seine Berührungen waren ihr unangenehm. Er hatte etwas an sich – sie konnte es nicht in Worte fassen. Aber er war anders als all die anderen Männer, die sie je berührt hatte. Sie kannte die Geschichten über ihn. Er war schon mehrfach gestorben und wieder zurückgekehrt. Vielleicht lag es daran.

Die kalte, feuchte Hand drückte ein wenig fester zu. »Ich liebe dich«, hauchte er in ihr Ohr.

Sie führte seine Hand hinauf unter ihre linke Brust. »Ich dich auch«, flüsterte sie. »Spürst du es? Mein Herz schlägt nur für dich.«

Die einfachen Bauern und Handwerker, die dicht bei ihnen in dem weiten Kreis aus Licht standen, mussten das gesehen haben. Jene, die am nächsten standen, hatten vermutlich sogar gehört, was sie beide flüsterten. Sie hielten sie für ein Paar, dabei war sie wieder einmal nur eine Gefangene in einem goldenen Käfig. Ihr Herz gehörte ihm nicht. Das gehörte ihr ganz allein. Es schlug nur für sie. Doch er war der beste Mann, den man in diesen verborgenen Städten abbekommen konnte, der Schlüssel zu größtmöglicher Freiheit. Und sie würde ihm dafür die Illusion der Liebe schenken. Er gierte danach …

Und wenn sie dafür bezahlen musste, dann war auch das so wie immer. Jede ihrer Leidenschaften hatte bisher einen Preis gehabt. Sie würde es überwinden, dass sie nachts manchmal an seiner Seite wach wurde und das Gefühl hatte, mit einer Leiche zusammen im Bett zu liegen. Einer Leiche, die die Hand nach ihr ausstreckte. Die nicht genug von ihren gemeinsamen Liebesnächten bekommen konnte.

Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Er war nur ein Mann. So wie all die anderen, die sie zuvor gehabt hatte. Er behandelte sie gut. Er trug sie auf Händen.

»Weitergehen«, ertönte die wohlklingende Stimme des Hüters des Lichtes.

Alle öffneten jetzt die Augen. Sie machten zwei Schritte nach links, folgten der sich langsam bewegenden Lichtsäule.

Aus den Augenwinkeln sah Zarah Ilmari. Er war mit ihr an Bord des Wolkensammlers gewesen, der Barnaba und all die anderen fortgetragen hatte. Ein Gläubiger war er nicht. Sie nickte ihm kurz zu. Er erwiderte ihren stummen Gruß mit einem Lächeln.

Neben ihm ging ein widerlicher Glatzkopf. Selten hatte sie einen Mann gesehen, der so fett war. Fast alle Bewohner der sieben Städte waren schlank, ja, oft sogar hager. Sie lebten hier nicht im Überfluss.

Der Dicke nickte ihr auch zu. Dabei schwabbelten die Fettringe um seinen Hals. Zarah erwiderte diesen Gruß nicht. Sie drückte erneut Tarkons Hand. Sie hatte es gut getroffen, redete sie sich ein. Er war ein starker Mann. Das über seinen Tod war nur dummes Gerede. Sie musste das überwinden. Alles war gut!

Als seine feuchtkalte Hand sanft über ihren Arm strich, schauderte ihr. Alles war gut, ermahnte sie sich erneut in Gedanken. Er ist ein guter Mann. Und mit ein wenig Glück würde sie kein Kind von ihm bekommen. Sie hatte wohl zu viele Kinder fortmachen lassen, denn seit zwei Jahren war sie nicht mehr schwanger geworden. Noch ein Preis für das Leben, das sie gewählt hatte. Dennoch, ein Mann, der gestorben war, konnte doch gewiss kein Leben mehr schenken. Und sie war kein fruchtbarer Acker mehr. Sie würde nicht von ihm schwanger werden. Ganz gewiss nicht. Wieder überlief sie ein Schauer. Ein Kind von ihm in sich zu tragen wäre mehr, als sie erdulden könnte.

Das Ende des Tunnels

Es war vollkommen dunkel. Manchmal schloss Ilmari die Augen. Es spielte keine Rolle, ob er sie offen hatte oder nicht, er konnte nichts sehen. Diese Tunnel zwischen den Städten, sie waren wie ein Pfeilschuss durch den Fels. Schurgerade mit glatten Wänden und einem Boden ohne die geringste Unebenheit. Die Große Göttin musste sie angelegt haben. Das konnte nicht das Werk von Menschen sein. Und auch nicht von irgendwelchen Geschöpfen, denen er bislang auf Nangog begegnet war.

Die einzige Unregelmäßigkeit bestand aus Kristallpfeilern, die manchmal aus den Wänden wuchsen. Nicht so weit, dass sie den Handkarren störten, den er hinter sich herzog. Doch sie waren deutlich zu sehen, wenn sie im Licht seiner Öllampe auftauchten. Kristalle, dick wie sein Arm, die entlang der Tunnelwand verliefen. Sie waren von einem schönen Grün. Er hatte versucht, einen aus der Wand zu brechen, es aber bald wieder aufgegeben. Genauso gut hätte er versuchen können, mit seinem schlichten Bronzemesser ein Stück gewachsenen Fels aus der Tunnelwand zu brechen. Es war aussichtslos.

Ilmari summte leise vor sich hin. Er mochte die Einsamkeit der Tunnel. Nur wenige Bewohner wanderten zwischen den Städten. Die meisten fürchteten sich vor diesen endlosen Gängen. Es hieß, hier gäbe es Geister. Er lächelte verächtlich. Die einzigen Geister, denen man hier begegnen konnte, waren jene, die man in sich trug.

Auf seinen langen Wanderungen hatte er viel Zeit gehabt, über sein Leben nachzudenken. Über all die Morde, die er begangen hatte. Und über den, den er noch begehen würde. Muwatta hatte ihm eine fürstliche Belohnung dafür versprochen, wenn er den Unsterblichen Aaron tötete. Und er hatte ihm einen ganz besonderen Dolch gegeben, der die Rüstung Aarons durchdringen konnte. Nun war Muwatta tot. Hingerichtet durch Išta, deren Günstling er so lange gewesen war. Aber änderte das etwas daran, dass er Muwattas Auftrag angenommen hatte?

Ilmari hatte es geschafft, Aarons Vertrauen zu gewinnen. Er würde vorgelassen werden, wenn er eine Audienz verlangte. Er würde zweifellos nahe genug an Aaron herankommen, um den Dolch zu benutzen. Nur, dass er ihn leider nicht mehr hatte …

Der Meuchler dachte an den Bauern Narek. Sie beide waren Kameraden gewesen, als sie sich auf der Hochebene von Kush auf die Schlacht gegen Muwattas Heer vorbereitet hatten. Sie hatten zusammen gekämpft, aus demselben Wasserschlauch getrunken. Narek war der einzige Tote, den er bedauerte. Der Bauer hatte unmittelbar hinter dem Unsterblichen Aaron gestanden und die Löwenstandarte hochgehalten. Narek hatte gesehen, wie er den Dolch zog. Der Bauer hatte erraten, was er hatte tun wollen, und so war ihm nichts anderes übrig geblieben, als ihn zum Schweigen zu bringen. Die erste Gelegenheit, Aaron zu töten, war damit verstrichen. Doch er hatte den Tod des Unsterblichen versprochen, und er hielt immer sein Wort.

Ilmari lächelte zynisch. Aber zuerst würde er Aaron ein Versprechen erfüllen. Der Herrscher Arams wollte wissen, wo die legendäre Wolkenstadt lag. Er, sein Mörder, würde es ihm verraten. Er würde Pläne aller Städte bringen, Pläne von den getarnten Spalten oben in den ausgehöhlten Tafelbergen. Pläne von jedem Weg, der hinein- und wieder hinausführte.

Seine Arbeit als Totenträger war ideal, um die Geheimnisse der sieben Städte zu ergründen. Er hatte die Möglichkeit, alle Wege kennenzulernen und jede Stadt zu bereisen. Er ging ebenso durch die Palasttore der Reichen und Mächtigen wie durch die Türen der einfachsten Hütten.

Die Städte, die Tarkon hier erschaffen hatte, waren Ilmari unheimlich geworden. Vielleicht sah er es klarer, weil er mit den Toten zu tun hatte. Sie waren so bleich … Und es starben zu viele Kinder. Auf seinem Karren lagen heute sieben Leichen. Sieben! Und fünf davon waren Kinder, die ihr vierzehntes Jahr nicht erreicht hatten. Dies hier war nicht die bessere Welt, die Tarkon so vollmundig versprach. Ja, es stimmte, es wurden hier, im Gegensatz zu allen anderen Städten auf Nangog, Kinder geboren. Aber es starben zu viele von ihnen, bevor sie erwachsen wurden. Und das war nicht alles. Es gab auch nur sehr wenige Alte in den sieben Städten. Etwas hier unten brachte die Menschen um, langsam, schleichend, aber sicher. Man musste sie sich ja nur ansehen. So blass waren sie alle. Als hätte ihnen etwas in diesen verfluchten Tafelbergen bei lebendigem Leib das Blut aus den Adern gesaugt.

Ilmari blinzelte. Weit vor sich sah er einen grauen Lichtpunkt. Das Ende des Tunnels. Fast eine Stunde Weg war es noch. Er ließ die Gedanken schweifen. Dachte an das, was er sich aufgebaut hatte. Er hatte weder Frau noch Kinder. Er war auch nicht gerade hübsch, das wusste er. Eine wie die Seidene würde sich nur dann für ihn interessieren, wenn er reich oder mächtig wäre.

Arm war er nicht. Der Gedanke an all das Gold, das ihm seine Morde und Spitzeldienste eingebracht hatten, ließ ihn schmunzeln. Schon jetzt könnte er bis ans Ende seiner Tage als reicher Mann leben. Sein Gold lag in mehreren sicheren Verstecken vergraben. Niemand außer ihm wusste, wo. Außerdem besaß er noch sein über Jahre aufgebautes Spitzelnetz in der Goldenen Stadt. Es gab keinen Statthalterpalast und keinen Tempel, in dem er nicht Spione hatte. Allerdings wollte so ein Netz gepflegt sein. Er war die Spinne, die inmitten dieses Gespinstes gesessen hatte. Und so wie eine Spinne ihr Netz täglich pflegte, hatte auch er unendlich viel Arbeit in seine Verbindungen gesteckt. Hatte Fäden erneuert, die abgerissen waren, hatte Unrat und Leichen entfernt, damit niemand auf das aufmerksam wurde, was verborgen gewesen war. Er war eine gute Spinne gewesen. Doch jetzt war er zu lange fort. Mehr als drei Monde inzwischen. Sein Netz war gewiss in einem erbärmlichen Zustand.

Dieser Auftrag in den sieben Städten musste ihm genug einbringen, dass er sich endgültig zurückziehen konnte. In eine der schönen Küstenstädte Luwiens vielleicht. Dort ließ es sich gut leben.

Er schloss die Augen und schritt weiter. Einfach nur voran. Besser nicht zurücksehen. So hatte er es immer gehalten. Was hinter ihm lag, war nichts, worauf er stolz sein konnte. Es war die Zukunft, für die er lebte. Sie war nur ein weit entferntes, blassgraues Licht wie das Ende des Tunnels. Doch nichts würde ihn auf seinem Weg dorthin aufhalten.

Unverdrossen setzte er seine Schritte und versuchte, nicht an die toten Kinder auf seinem Karren zu denken. Es gab ja auch die anderen, die Kinder, die lebten und deren Lachen die verborgenen Städte des Himmelspiraten so unendlich viel schöner machte als alle anderen Städte Nangogs. Und wenn es ihnen hier unten gelang, ihren Frieden mit der Großen Göttin zu machen, müssten die Devanthar doch nur die Riesin Nangog töten und alle ihre Bannflüche brechen? Dann wäre es überall so wunderbar wie hier in den sieben Städten Tarkons. Wahrscheinlicher würde das geschehen, dachte Ilmari. Wie man wohl eine Göttin tötete? Mit einer verwunschenen Waffe, wie Muwatta ihm eine gegeben hatte, um den Unsterblichen Aaron zu ermorden?

Wieder tauchte Narek vor Ilmaris innerem Auge auf. Der Dolch war durch den Bronzepanzer des Bauern geschnitten, als wäre dieser nichts als zarte Seide. Überraschung und Enttäuschung hatten in den Augen Nareks gelegen. Der Bauer hatte ihm vertraut. Hatte sich ganz fest darauf verlassen, dass sie beide für dieselbe Sache kämpften.

Ilmari schob die Erinnerung von sich. Fast hatte er das Ende des Tunnels erreicht. Er hörte Gongschläge. Fünf in schneller Folge. Das hieß, dass alle Bewohner der Stadt zum Marktplatz kommen sollten. Er öffnete seine Augen, legte einen Schritt zu, stemmte sich in das Geschirr des Wagens und erreichte bald das Ende des Tunnels. Von nun an ging es zwischen Terrassenfeldern nur noch bergab.

Von überall her strömten die Menschen zusammen. Die Bauern ließen die Arbeit auf den Feldern liegen. Die Handwerker legten ihre Werkzeuge beiseite. Um ihn jedoch machten sie alle einen weiten Bogen. Mit dem Totenträger oder sonst jemandem aus dem Totenhaus mochte niemand etwas zu tun haben. Ilmari ließ den Karren in der Mündung eines Feldwegs zurück. Dann stieg auch er zum Marktplatz von Tiefwasser hinab.

Der Erste Hüter des Lichtes stand bereits in seiner marmornen Kanzel hoch über der Menge. Er hatte den Augenblick gut abgepasst. Eine Säule aus Sonnenlicht fiel von der weiten Höhlendecke direkt auf den Marktplatz. Die goldene Schmucktafel, die er vor seine Brust gebunden trug, schillerte hell im Licht. Sie war mit Edelsteinen in allen Farben des Regenbogens besetzt.

Ein überaus eindrucksvoller Glatzkopf, dachte Ilmari distanziert. Er hatte schon zu viele Priester ergreifende Reden halten hören, um schnell beeindruckt zu sein. Verglichen mit dem Pomp, den die Luwier zur Nacht der Heiligen Hochzeit in Isatami betrieben, war das hier ein lächerlicher Jahrmarktszirkus.

»Freunde!«, rief der Erste Hüter des Lichtes. »Tarkon Eisenzunge schickt mich, um euch allen für die Gastfreundschaft zu danken, die ihr ihm gewährt habt. Und als besonderer Ausdruck seines Dankes werden fünf von euch zur Sonne aufsteigen.«

Ein Raunen ging durch die Menge. Neben Ilmari fiel eine hagere Frau ihrem Mann um den Hals und schluchzte glücklich. Sie beide hatten schmutzverkrustete Beine und kamen offensichtlich gerade von den Reisfeldern.

»Priester! Schafft die Scherben heran!«, befahl der Erste Hüter des Lichtes mit Donnerstimme.

Sofort erschienen hinter der Kanzel einige weiß gewandete Gestalten. Auch sie hatten ihre Augen schwarz umrandet, so wie Urs es gerne tat. Ihre Köpfe waren kahl geschoren und mit Farbtupfern in den Regenbogenfarben bedeckt. Sie schütteten Körbe voller Scherben auf das Pflaster unterhalb der Kanzel.

»Brüder und Schwestern, holt eure Lose. Schreibt eure Namen darauf oder macht euer Zeichen. Und denkt auch an jene, die nicht schreiben können. Helft einander!«

Ilmari war überrascht, wie ruhig und diszipliniert alles verlief. Diejenigen, deren Namen gezogen wurden, würden schon bald von den Hütern des Lichtes geholt, um eine Reise auf einem Wolkenschiff anzutreten. Sie würden direkt unter dem Licht des Himmels reisen und gutes, frisches Essen bekommen. Sie würden das Höhlenweiß ihrer Haut ablegen und gesünder und kräftiger wiederkehren.

Obwohl er keinen Wert auf eine solche Reise legte, reihte auch er sich ein, um eine der Scherben zu nehmen. Sie war leicht gewölbt und rötlich braun. Vermutlich stammte sie von einer zerbrochenen Amphore für Wein oder Olivenöl. Neugierig schnupperte Ilmari daran. Kein Geruch verriet, wozu das Gefäß einmal gedient haben mochte.

Überall auf dem Platz kauerten die Bürger nieder. Kinder tuschelten mit ihren Eltern. Scharfe Kratzgeräusche quälten seine Ohren. Mit Bronzenägeln, kleinen Messern und Steinen ritzten sie krakelige Buchstaben in die Scherben. Ilmari wog seine Scherbe in der Hand. Sie füllte fast seinen ganzen Handteller aus. Er wollte auf keines der Schiffe. Es hatte lange gedauert, den rechten Platz zu finden, um seine Mission erfüllen zu können. Er wäre ein Narr, würde er freiwillig dem Schicksal Gelegenheit geben, alles durcheinanderzubringen.

Zwischen den Kauernden entdeckte er die beiden Reisbauern, neben denen er eben gestanden hatte. »Wie heißt du?«

Die beiden sahen ihn fragend an.

Ilmari deutete auf die blasse, ausgezehrte Frau. »Du, wie heißt du?«

»Roona«, antwortete sie sehr leise mit einem ängstlichen Blick zu ihrem Mann.

»Schöner Name.« Der Totenträger zog sein Messer. »Wird es mit zwei O geschrieben?«

»Was tust du?« Der Bauer sprang auf.

»Ich verbessere die Aussichten deiner Frau, auch den nächsten Winter noch zu erleben.«

Beide schlugen das Zeichen des schützenden Horns. »Du …«, begann der Bauer. Er war nicht wirklich kräftiger gebaut als seine Frau. Die endlose Plackerei in den gefluteten Feldern hatte ihn gezeichnet. Seine Fußknöchel waren geschwollen. Dicke Adern liefen über seine nackten schlammverschmierten Füße.

»Du betrügst die Göttin.« Roona legte eine Hand auf die Scherbe, in die Ilmari bereits ein R geritzt hatte. »Ich vertraue auf die Große Göttin. Wenn es ihr Wille ist, dass ich zur Sonne aufsteige, dann wird es geschehen. Und wenn sie es nicht will …« Sie schüttelte den Kopf. »Bitte rufe ihren Zorn nicht auf meine Familie herab. Ich habe zwei Kinder. Sie brauchen uns.«

Er sah ihr in die tief eingesunkenen Augen. Sie unterschieden sich kaum von denen der Toten, die er holen ging. »Du musst es wissen«, entgegnete er und ließ die Scherbe fallen. Ihr bedingungsloses Vertrauen in die Göttin überraschte ihn.

»Wie kannst du meine Frau …«, grollte der Reisbauer und machte einen Schritt auf Ilmari zu.

»Lass ihn!« Roona schob sich zwischen sie beide. »Er ist der Totenträger«, sagte sie, als würde das alles erklären.

Die anderen rings herum sahen schon von ihren Scherben auf. Ilmari konnte ihre hohlen Augen nicht mehr ertragen. Jeder von ihnen hätte hinauf in die Sonne gemusst! Mit eiligen Schritten verließ er den Marktplatz. Der Erste Hüter des Lichtes rief ihm etwas nach. Er verstand es nicht. Fort von hier, war sein einziger Gedanke. Es war besser, bei den wirklichen Toten zu verweilen als unter diesen lebenden Toten. Urs und die Leichenwäscherin hatten wohl längst ähnlich entschieden. Beide hatte er nicht auf dem Platz gesehen.

In einer Hast, die mit der Würde seines Amtes nicht zu vereinbaren war, zog er den Leichenkarren bis zum Haus der Toten.

Urs schien das Klappern der Räder auf dem Pflaster gehört zu haben. Er stand mit verschränkten Armen am Eingang. »Kein guter Tag?«

Ilmari wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er brachte sieben Tote.

Als er nicht antwortete, umrundete der Fettwanst den Karren und betrachtete die Leichen. Einige drückte er ein wenig. »Ziemlich frisch …« Er sah zu Ilmari. »Ich lobe mir deine Eile. Du machst deine Arbeit gut.« Er zog einen Knaben, der höchstens sechs war, aus dem Gewühl der nackten Leiber hervor. »Den nehm ich.« Er lächelte. »Die Schweren überlasse ich den stärkeren Armen. Bring sie hinunter in die Tröge ohne Kreidezeichen. Ich kümmere mich dann später um sie. Du solltest etwas schlafen, Junge. Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.«

Ilmari griff nach den Armen einer Frau in mittleren Jahren. Mit sanfter Kraft zog er sie in eine aufrecht sitzende Position. Mindestens sie war nicht mehr so frisch. Die Zeit, in der sie als Tote so steif wie Holz gewesen war, war bereits vorüber. Er drehte sich, nahm die kalten Arme vor die Brust und zog sich die Leiche auf den Rücken. Sein Blick fiel auf einen kleinen, silbernen Ring an ihrer Linken. Sie war wohl nicht arm gewesen. Wie eine Schlange wand sich das Schmuckstück in Spiralen um ihren Mittelfinger.

Ilmari streckte sich. Die Arme der Frau knackten. Er spürte, wie sie auf seinem Rücken tiefer sackte und mit einem Mal einen Rülpser ausstieß. Ein bestialischer Gestank zog Ilmari am Gesicht vorbei. Er hielt den Atem an.

Urs lachte auf. »Manchmal rülpsen und furzen sie noch wie die Lebenden.«

»Schlimmer«, murmelte Ilmari halblaut und trat ins Totenhaus. Ungeduldig, seine letzte Arbeit zu erledigen, eilte er auf den dunklen Treppenschacht in der Mitte des Mosaiks zu.

Am Fuß der Wendeltreppe angekommen, suchte er nach einem Trog ohne Markierungen und versenkte die Leiche im schwarzen Schlamm.

»Achte darauf, dass nichts herausschaut«, ermahnte ihn Urs, der ihm erstaunlich behände gefolgt war. Er stand mit dem Knaben im Arm auf der letzten Stufe und beobachtete ihn kritisch.

»Warum legen wir sie eigentlich in den Schlamm?«

»Er verhindert, dass sie verfaulen«, erklärte der Herr des Totenhauses in gönnerhaftem Tonfall. »Allerdings muss man aufpassen. Wenn sie zu lange drinnen bleiben, wird ihre Haut dunkel. Für ein paar Tage sind sie da gut aufgehoben. Länger als zwei Wochen sollten sie allerdings nicht in den Trögen bleiben. Du siehst, ich brauche einen fleißigen Totenträger. Also halt dich ran. Den alten Kerl oben, den bringst du gleich zur Wäscherin. Wenn sie mit dem fertig ist, dann nähst du ihn ein und bringst ihn noch fort, bevor du dich schlafen legst. Die Kinder kommen in den Schlamm. Und nun hurtig, mein Junge.«

»Warum lagern wir die Toten? Wir könnten sie doch alle am selben Tag in den Schlund werfen …«

»Schweig!«, fuhr ihn Urs an und schlug das schützende Horn. »Sprich nicht davon. Das bringt Unglück. Wenn wir den Schlund mit zu vielen Toten füttern, wird er gierig. Dann sterben noch mehr in den Städten.«

Ilmari traute seinen Ohren nicht. Glaubte Urs das wirklich?

»Glotz nicht so! Du bist hier nur der Totenträger. Für mehr reicht dein Verstand nicht. Und jetzt mach dich wieder an die Arbeit!«

Verdammter Sklaventreiber, dachte Ilmari und stieg wieder hinauf zum Karren. Der Alte, der dort lag, war wohl schon etwas länger tot. Ein übler Geruch stieg von ihm auf. Fliegen tummelten sich in seinen Nasenlöchern und in dem weit offen klaffenden Mund.

Ilmari wuchtete ihn sich auf die Schulter und machte sich auf den Weg zur Wäscherin. Sie war eine kleine, zierliche Frau mit großen, braunen Augen. Sooft Ilmari ihr auch begegnete, sie sprach nie ein Wort. Heute hatte er sie noch nicht zu sehen bekommen.

Er legte den Toten auf einen der Steinquader nahe der Treppe und machte sich auf die Suche nach ihr. Mit einer Öllampe in der Hand trat er durch jenes Portal, hinter dem er immer wieder das Geräusch von Wasser gehört hatte. Dort lag eine Kammer mit einem großen Becken.

Er fand sie in einer Wandnische verborgen auf einem Haufen Leichentücher schlafend. Behutsam berührte er sie an der Schulter. Sie fuhr sofort auf. Schrecken lag in ihrem Blick. Dann erkannte sie ihn.

Sie stieß einen langen Seufzer aus und rieb sich die Augen.

»Arbeit!« Er deutete auf den Toten neben dem Becken.

Sie nickte. Plötzlich wirkte sie unruhig und zupfte an ihrem dunkelblauen Kleid. Hatte sie Sorge, dass er darunter geschaut hatte?

Als sie aufstand, knackte ihr Rücken. Sie wand ihre Haare hoch und steckte einen langstieligen Löffel hindurch, um ihnen Halt zu geben. Den seltsamen Löffel trug sie immer bei sich.

»Brauchst du Hilfe?«

Sie schüttelte den Kopf.

Dann eben nicht, dachte sich Ilmari. Er würde sich nicht anbiedern. Sie verhielt sich eigenartig. Stets blieb sie zurückgezogen. Sie beharrte sogar darauf, ihr eigenes Essen zuzubereiten, obwohl Urs ein erstaunlich guter Koch war und sie bei ihnen oben in der Küche hätte essen können.

Ilmari sah ihr zu, wie sie den Alten in das flache, in den Boden eingelassene Becken zog. Sie kniete sich über ihn. Ihr blaues Kleid wogte im Wasser. Nass, wie es war, zeichneten sich überdeutlich ihre Schenkel ab. Sie wandte ihm den Rücken zu. Absichtlich?

Ilmari wurde es warm. Er griff sich eines der Leichentücher, auf denen sie geschlafen hatte. Es duftete nach dem Zimt, mit dem sie gegen den Geruch der Toten ankämpfte. Leise verließ er den Raum, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Er würde seine Totenkammer für den alten Mann vorbereiten, damit er gleich möglichst schnell alles hinter sich brachte. Lag das Tuch auf dem großen Steinblock ausgebreitet und war die Bronzenadel griffbereit, dauerte es nur ein paar Augenblicke, um eine Leiche einzunähen.

Mit einem Schwung breitete er das Tuch aus. Er blickte in die Wandnische mit den Schminktöpfen. Manchmal, wenn Verwandte kamen, um Abschied zu nehmen, bemühten sie sich, die Toten gut aussehen zu lassen. Oft kam das allerdings nicht vor. Sie röteten die Wangen ein wenig und auch die Lippen. Und sie übertünchten alle üblen Gerüche mit Rosenöl.

Ilmari sah nur die Rolle mit Garn vor den Schminktöpfen aufragen. Die große Bronzenadel fehlte. »Urs«, brummte er ärgerlich. Der Herr des Totenhauses borgte sich regelmäßig seine Nadel aus, wenn er die eigene wieder einmal irgendwo verschlampt hatte.

Als er die Kammer betrat, in die Urs mit dem Knaben getreten war, wandte ihm der Herr der Toten den Rücken zu. Diese weite, weiße, fleischige Fläche versperrte fast vollständig den Blick auf den großen Steinquader. Ilmari sah nur die zuckenden Füße des Kindes.

Was tat Urs da? Der Herr der Toten stieß ein zufriedenes, leises Grunzen aus. Er schien ihn nicht gehört zu haben. Ilmari hatte sich nicht absichtlich angeschlichen. Sich leise zu bewegen war ihm nach all den Jahren als Meuchler zur Natur geworden.

Er trat zur Seite, sodass sich der Blickwinkel auf den Steinblock verschob. Urs hatte den Knaben aufgeschnitten. Seine Hand steckte bis über das Gelenk im Leib des Knaben. Er zerrte an etwas, wodurch der zerbrechliche Körper zuckte. Dann glitt die Hand aus der Wunde. Sie hielt etwas Dunkles, fast Schwarzes. Die Leber des Jungen.

»Hab ich dich endlich«, murmelte Urs, als ihm plötzlich bewusst zu werden schien, dass ihn jemand beobachtete. Sein Kopf ruckte zur Seite, und ihrer beider Augen fanden sich.

Der Koch

»Was?«, fragte ihn der Herr der Toten so herausfordernd, als wäre er es, der ein Sakrileg begangen hatte. »Ist das so schwer zu verstehen? Wir werden diesen Jungen wegwerfen. Du wirst ihn in einen Abgrund stürzen. Und wo immer er landet, werden ihn Fische oder Würmer verspeisen. Bin ich weniger wert als ein Fisch oder ein Wurm?«

Ilmari starrte ihn nur an. Er vermochte den Blick nicht von der Leber in Urs’ Hand zu wenden.

»Weißt du, wie es ist, alt zu werden? Wenn alle Zähne locker im Maul sitzen und du dich morgens kaum erheben kannst, weil all deine Gelenke steif sind? Mein Leben ist kein Kinderspiel. Ich kann kein Fleisch mehr essen. Es geht nur noch Suppe und weich gekochtes Gemüse. Und bevor du dich moralisch über mich erhebst. Auch du hast von meinen Suppen gegessen, mein Junge.« Er hob die Leber. »Du weißt, wie das hier schmeckt. Du hast sogar meine Kochkünste gelobt.«

Ilmari wurde übel. Das konnte doch nicht sein …

»Du weißt nicht, wie es hier unten ist. Du bist ja erst ein paar Wochen hier. Dem Reis, dem bisschen Gemüse und den Pilzen, die wir unter alles mischen, fehlt das Sonnenlicht genauso, wie es uns fehlt. Hast du einmal die Schweinezuchten hier unten gesehen? Sogar die Schweine sind weiß! Alles hier ist kränklich. Wir sind frei, ja. Und unsere Frauen können Kinder bekommen. Aber wir bezahlen dafür. Jeden verdammten Tag. Die meisten unserer Kinder werden nicht erwachsen. Die Erwachsenen werden nicht alt. Wie viele Dicke hast du hier gesehen? Dick wird hier nur, wer an besseres Essen kommt. Und ich bestehle niemanden. Ich nehme nur, was ohnehin weggeworfen wird.«

»Du hättest mir sagen müssen, was du ins Essen getan hast.« Es kostete Ilmari Mühe, überhaupt ein Wort über die Lippen zu bekommen. Er konnte es immer noch nicht fassen. Urs hatte ihm Leichenfleisch zu essen gegeben!

»Es macht uns stark. Du weißt, wie anstrengend unsere Arbeit ist.« Er nahm die Leber des Knaben und biss ein Stück heraus. »Das hier ist der Schlüssel zum Leben«, sagte er kauend, und dunkles Sekret troff dabei von seinen Lippen.

Das war zu viel. Ilmari stürmte vor.

Urs versuchte, ihm auszuweichen. Er bekam das Messer zu packen, das auf dem Steinblock neben dem Knaben lag. »Tu nichts, was dir leidtun könnte. Du …« Er begann zu husten. Leberfetzen und Blut sprühten aus seinem Mund und trafen Ilmari ins Gesicht.

Urs taumelte zurück. Er ließ die Leber fallen und griff sich an die Kehle. Seine Linke hielt er immer noch ausgestreckt und bedrohte Ilmari mit dem Messer. Aber die Hand, die die Waffe hielt, zitterte. Die Augen des Herrn der Toten traten hervor. Sein Gesicht wurde rot. Er hustete, würgte. Dann ging er in die Knie.

Ilmari sah einfach nur zu. Es bereitete ihm Genugtuung, dass dieses Ungeheuer letztlich durch den kleinen Jungen sterben würde, den er geschändet hatte. Er dachte daran, wie er Urs in ein Leichentuch schlagen und ihm zuletzt die große Nadel durch die fette Nase stechen würde.

Der Dicke würgte und würgte. Plötzlich wurde es still. Vor Urs lag ein blutiger Klumpen auf dem Boden. Er tat einen tiefen, gierigen Atemzug. Dann hob er den Kopf. »Du hättest mir einfach zugesehen«, stieß er keuchend hervor und stemmte sich hoch. »Hättest mich einfach verrecken lassen. Mich, deinen Wohltäter! Mich, der ich dich hier aufgenommen habe. Den ich an meinem Tisch habe sitzen lassen. Du wirst gehen, Ilmari. Aber nicht auf deinen Füßen. Ich selbst werde dich im Weißen Schlund versenken!«

»Du machst einen Fehler.« Ilmari betrachtete ihn ruhig. Urs bewegte sich schwerfällig. Er war Rechtshänder. Unwahrscheinlich, dass er es schaffte, ihn zu überraschen.

»Ich bin größer als du, ich wiege mehr als das Doppelte, und ich habe ein Messer. Ich kann nicht sehen, welchen Fehler ich mache. Dich hier hereinzulassen und dir zu vertrauen, das war mein einziger Fehler.«

Er war nur noch zwei Schritt entfernt. Ilmari bewegte sich mit einer Drehung links an ihm vorbei. Das Messer schnitt ins Leere. Schnaufend fuhr Urs herum.

Der Meuchler wiegte den Oberkörper zur Seite. Die Klinge stieß an ihm vorbei. Urs machte einen Versuch, ihn mit seinem schwitzenden Leib zu Boden zu stoßen. Ein schneller Schritt nach hinten brachte Ilmari außer Reichweite. Er war sich nicht sicher, was er tun sollte. Urs zu entwaffnen und ihm die eigene Klinge in den Bauch zu rammen sollte nicht zu schwer sein. Aber dann … Was würde geschehen, wenn er der Mörder des Herrn der Toten war? Würde es irgendjemanden interessieren, was Urs getan hatte? Wohl eher nicht. Er sollte seinen Frieden mit dem Dicken machen! »Wollen wir nicht doch reden?«

Urs fluchte und stürmte wie ein wilder Stier auf ihn zu.

Wieder tänzelte der Meuchler zur Seite. Dieses Spiel könnten sie treiben, bis Urs schnaufend am Boden lag. Ein wild nach seiner Kehle geführter Hieb war erneut keine Herausforderung. Ilmari ging in die Knie, und das Bronzemesser schnitt zehn Zoll über ihm durch die Luft.

Urs atmete schwer. »Halt still!«, stieß er prustend hervor. »Kämpfe wie ein Mann!«

Der Meuchler entschied sich, den großen Steinblock zwischen sich und Urs zu bringen.

Der Dicke stöhnte, setzte ihm nach, doch es war für Ilmari ein Leichtes, immer eine Tischweite Abstand zwischen ihnen zu halten.

»Du kommst hier nicht heraus«, schnaufte Urs. Inzwischen floss ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht.

Diese Behauptung reizte Ilmari. Er täuschte an, nach links zu wollen, um dann nach rechts in Richtung Tür zu laufen. Doch dieses Mal fiel Urs nicht auf die Finte herein. Er machte einen Satz in Richtung der Tür. Er würde vor ihm dort sein!

»Hab ich dich!«, rief der Dicke triumphierend und riss dann die Arme hoch. Wie von einer Riesenfaust getroffen, stürzte er nach hinten. Etwas Dunkles flog auf. Er war auf das Stück Leber getreten, das er wieder hervorgewürgt hatte. Mit Wucht schlug sein Hinterkopf auf eine Kante des Steinblocks. Ilmari glaubte, ein Knacken zu hören. Dann lag der Herr der Toten still am Boden, alle viere von sich gestreckt.

Eine Bewegung bei der Tür ließ den Meuchler herumfahren. Dort stand die Totenwäscherin. Sie nickte ihm zu. Das Ableben von Urs schien sie nicht traurig zu machen. Sie kam herein, kniete neben dem Dicken nieder und legte ihre schmale Hand auf seine Brust, als wollte sie seinen Herzschlag fühlen.

Ilmari überlegte, was er tun sollte. Sie auch töten? Wie konnte er den Tod des Herrn in diesem Hause erklären? Urs hatte behauptet, dass er früher einmal zu den Hütern des Lichts gehört hatte. Musste man ein Priester sein, um dieses Amt auszuüben? Und was würden die anderen Priester nun tun? Oder hatte Urs nur angegeben? Hatte er überhaupt Freunde?

Fragen über Fragen. Üblicherweise bereitete Ilmari seine Morde sehr gründlich vor. Er studierte seine Opfer, wusste alles über sie, ihre Gewohnheiten, ihre Lieblingsgerichte, ob sie zu Huren gingen oder prüde waren. Zu improvisieren hasste er. Eine Sache, die man ohne Plan anging, führte selten zu etwas Gutem.

Die Wäscherin holte einen Krug aus einer Ecke der Kammer und schüttete Urs eine klare Flüssigkeit in den Mund. Branntwein! Dann deutete sie hinaus zur Wendeltreppe.

»Er hat getrunken und ist gestürzt?«

Statt zu antworten, lächelte sie. Gemeinsam zogen sie den Leichnam zum Fuß der Treppe. Ilmari übernahm es, ihn so hinzulegen, dass es aussah, als wäre er in betrunkenem Zustand über seine eigenen Füße gestolpert.

Die Wäscherin deutete nach oben. Dann machte sie eine Geste, als würde sie einen Karren ziehen.

»Du meinst, es ist besser, wenn ich nicht hier bin, wenn man ihn findet.« Er zögerte. Damit gab er alle Kontrolle auf. Aber sie wirkte zum ersten Mal, seit er sie kannte, selbstsicher. Da war ein Ausdruck in ihren braunen Augen … Sie wusste, was sie tat! Es war besser, wenn nur sie loszog, um, wem auch immer, verständlich zu machen, dass Urs etwas zugestoßen war.

Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Brust, dann legte sie ihn an die Lippen. Ein Versprechen zu schweigen …

Plötzlich nahm sie seinen linken Arm, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Als er etwas sagen wollte, öffnete sie den Mund. Ihr war die Zunge herausgeschnitten worden. Nur ein Stummel weit hinten im Rachen war übrig geblieben.

»Wer hat das getan?«

Sie deutete auf Urs. Und dann machte sie eine Bewegung mit den Kiefern, als kaute sie etwas.

»Er hat deine Zunge gegessen?«

Sie nickte.

Ilmari wurde übel. Eilig stieg er die Treppe hinauf. Er wollte fort aus der Stadt. Zurück in die Einsamkeit der endlosen Tunnel. Zurück zu den langen Märschen, auf denen Tote seine einzige Begleitung waren und der Wahnsinn der lebenden Menschen nach einer Weile nur noch wie ein böser Traum erschien. Er würde diese Städte vernichten, schwor er sich. Hier sollten keine Menschen leben. Die Große Göttin spielte nur mit ihnen. Sie beschützte sie nicht!

Von Träumen und Herzen

Sie fliegen nicht mehr mit dem Wind, Dame Bidayn?

Der Goldene spürte, dass sie die Wahrheit sagte, und doch … Diese Nachricht war unglaublich. Es würde alles auf Nangog verändern. Die Menschen würden sich den Himmel erobern. Solange die Wolkensammler einfach nur mit dem Wind schweben konnten, waren sie für Drachen leichte Beute. Darauf durften sie dann nicht mehr hoffen.

Und wo ist dieses Traumeis, edle Dame? Habt Ihr es gesehen? Seine Stimme war in ihren Gedanken, und er war versucht, tiefer nach ihren Erinnerungen zu greifen. Doch das wäre unhöflich. Sie würde es spüren, und er wollte sie nicht verärgern. Sie hatte Einsatz gezeigt und sich verdient gemacht, ja, sie war über seine Erwartungen hinausgewachsen. Das geschah selten.

»Nein, der Unsterbliche Volodi und sein Gast haben nur darüber gesprochen. Wenn ich es recht verstanden habe, hat der Besucher es irgendwo versteckt. Ich konnte aber nicht das ganze Gespräch belauschen, mein Gebieter.«

Er blickte auf sie herab. Sie hatte ihren ursprünglichen Auftrag nicht erfüllt, und er spürte ihre Furcht vor seinem Zorn. Er hatte Drachengestalt. Das allein schüchterte die meisten Albenkinder schon ein. Doch Bidayn zitterte nicht. Sie hatte den Kopf erhoben und sah ihm geradewegs in die Augen. Sie war bereit, sich seinem Urteil über ihre Eigenmächtigkeit zu unterwerfen, ganz gleich, wie es ausfallen mochte.

Eure Haut, Dame Bidayn … Er fuhr ihr mit einer Kralle über den nackten Arm und durchtrennte die altersfleckige Haut, unter der sie ihren Makel verbarg. Übler Verwesungsgestank stieg ihm in die Nüstern. Etwas hatte den Zauber gebrochen, mit dem er die Alterung hatte aufhalten wollen. Jetzt verfaulte ihr diese Menschenhaut auf dem Leib. Erstaunlich, dass sie lieber das auf sich nahm, als sich der Welt zu zeigen, wie sie wirklich aussah.

Ihr solltet Euch von dieser Haut trennen, meine Liebe. Sie wird Euch nicht gerecht. Er schnaubte belustigt. Und ich muss gestehen, sie beleidigt meinen Geruchssinn.

Ohne zu zögern, zog sie ihren Dolch, führte einen Schnitt rings um ihren Unterarm und streifte die Menschenhaut ab, als wäre sie nur ein Stulpenhandschuh. Sie löste sich nicht ohne Schmerz. Bidayn versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber er spürte ihre Pein. Und auch ihre Scham darüber, dass er ihre schneeweiße Elfenhaut sah, die unheilbar mit einem Rautenmuster von rötlichen Narben überzogen war. Das war der Preis, den sie dafür gezahlt hatte, als sie zum ersten Mal einen Zauber wirkte, der sich gegen die Ordnung der Welt auflehnte.

Der Goldene wusste, dass sie trotz der Verstümmlung erneut diesen Zauber gewagt hatte. Zuletzt erst vor wenigen Stunden während ihrer Flucht. Sie war außerordentlich mutig. Fast nichts erinnerte mehr an die ängstliche Elfe, die sie gewesen war, als sie vor vielen Jahren zum Schwebenden Meister gebracht worden war.

Ihr habt recht daran getan, von der Ermordung des Unsterblichen Volodi abzusehen. Wir müssen dieses Geheimnis ergründen. Das Traumeis darf nicht in die Hände der Devanthar fallen. Wir müssen es finden. Entweder wir rauben es oder wir vernichten es. Er neigte sein Haupt und wob einen Zauber, der ihren Stolz und ihr Glücksgefühl noch mehrte. Morgen um diese Zeit erwarte ich Euch wieder an diesem Ort, Dame Bidayn. Nun muss ich meine Brüder rufen.

»Vergebt mir, mein Gebieter, wenn ich in dieser Stunde, in der jeder Augenblick zählt, noch ein wenig mehr von Eurer Zeit einfordere.« Sie kniete demütig nieder und berührte mit ihrer Stirn den felsigen Boden. »Aber ich habe noch etwas entdeckt, von dem ich mir erhoffe, dass es Eure Gnade sowie das Interesse Eurer Brüder findet.«

Verwundert betrachtete er sie, wie sie sich wieder aufrichtete und einen kleinen Beutel von ihrem Gürtel löste. Sie öffnete ihn, und noch bevor sie herausholte, was darin verborgen war, spürte er eine überwältigende magische Aura. Der Beutel musste mit einer Bleifolie ausgeschlagen sein, dass ihm dieses machtvolle Artefakt bislang verborgen geblieben war. Es war ein grüner Kristallsplitter, in dem ein blasses, pulsierendes Licht erstrahlte.

Ihr wisst, was dies ist, Dame Bidayn?

»Ein Stück vom Herzen Nangogs?«

So ist es. Wo habt Ihr es gefunden?

Er spürte ihren Stolz. Vielleicht war dies der wahre Makel an Bidayn. Er sollte ein wachsames Auge darauf haben und ihn beizeiten brechen, bevor aus Stolz Überheblichkeit und Auflehnung wurden.

»Ich fand dies im Kopf eines der metallenen Löwen, die von den Devanthar erschaffen werden, um die Menschenkinder zu schützen und ihnen den Weg ins Goldene Netz zu öffnen. Wenn wir Jagd auf diese Löwen machen, werden wir vielleicht langsam die fehlende Hälfte des Herzens zusammensetzen können? Dann wäre es möglich, Eure Pläne zu vollenden, mein Erhabener, und die Riesin zu erwecken.«

Ambitioniert, dachte er. Wollte er wirklich, dass die anderen Himmelsschlangen von diesem Geheimnis erfuhren? Er wusste es noch nicht. Er sollte verhindern, dass Bidayn dem Falschen etwas erzählte. Er vertraute ihr, aber nicht der Gruppe von Drachenelfen, die sie um sich geschart hatte. Insbesondere nicht Asfahal.

Ihr habt Euch bewährt, meine Dame. Ihr habt die Erwartungen, die ich in Euch gesetzt habe, sogar übertroffen. Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mir die Gunst erweisen würdet, ein wenig Zeit mit mir zu verbringen.

Er sah, wie sich Bidayns Augen weiteten. Er spürte, wie sie empfand. Wie sie überging vor Glück.

Schält Euch aus Eurer falschen Haut, meine Schöne. Ich möchte Euch morgen so sehen, wie Ihr wirklich seid. Es gibt nichts, das Ihr vor mir verbergen müsstet. Ich werde erst nach Sonnenaufgang zurückkehren. Er deutete mit dem Kopf auf den Treppenabgang, der aus dem verdorrten Rosengarten hinab zu dem verfallenen Palast führte, den er einst einige Jahrzehnte lang bewohnt hatte. Dort unten werdet Ihr ein Bad finden, und einige der Räumlichkeiten werden immer noch von meinen Dienern bewohnbar gehalten. Es wird Euch an nichts fehlen, meine Dame. Und … wundert Euch nicht über die Apsara, die im Bad lebt. Anjali ist ein friedfertiges Geschöpf, auf dem der Fluch liegt, manchmal in die Zukunft sehen zu können. Sie wird Euch jeden Wunsch von den Lippen ablesen.

Und vielleicht wird sie auch noch tiefer blicken. Anjali besaß die Gabe, manchmal die Zukunft von Albenkindern zu sehen, wenn sie diese berührte. Vielleicht wüsste sie etwas Interessantes über Bidayn zu erzählen, wenn er zurückkehrte.

Nun muss ich Euch leider bitten, Euch zurückzuziehen. Ich möchte einen Augenblick allein in Gedanken verbringen, bevor ich mich auf den Weg zu meinen Nestbrüdern mache.

»Ich fiebere unserer erneuten Begegnung entgegen, strahlendes Licht meines Lebens!«, sagte die Elfe ehrerbietig und zog sich zurück.

Meine Dame?

Sie hatte schon fast die Treppe erreicht. »Mein Gebieter?«

Würdet Ihr mir die Gunst erweisen, den Kristall zurückzulassen? Ich möchte ihn an einen sicheren Ort bringen. Und behaltet das Geheimnis um Nangogs Herz zunächst bitte in Eurem Herzen verschlossen.

»Wie Ihr es wünscht, Allweiser.« Bidayn legte den Kristall auf dem moosbewachsenen, steinernen Geländer ab.

Manchmal schwang in der Ehrerbietigkeit der Drachenelfen ein Unterton von Arroganz mit. Lag es an der altmodisch respektvollen Art der Rede, in der sie einander begegneten, oder trugen sie alle den Keim der Rebellion in sich, der bei Nandalee so groteske Blüten getrieben hatte? Der Goldene betrachtete den Kristall und lauschte auf die Schritte der Elfe.

Ein Stück des Herzens einer Göttin. Bidayn hatte es tatsächlich geschafft, ihn bei einer Begegnung zwei Mal zu überraschen. Wie viele solcher Splitter mussten sie wohl finden, um Nangog zu erwecken?

Er schloss die Augen und ließ die melancholische Stimmung dieses Ortes auf sich wirken. Als er diesen Palast errichtet hatte, wollte er herausfinden, ob er Liebe für eine Frau empfinden konnte. Es war das eine Gefühl, das ihnen als Himmelsschlangen versagt blieb. Die Alben hatten keine weibliche Himmelsschlange erschaffen. Warum das so war, hatte er nie ergründen können. Wollten sie, dass sie sich asketisch allein ihrer Aufgabe des Schutzes ihrer Welt verschrieben? Hatten die Alben befürchtet, dass sie sich fortpflanzen und zu viele werden würden?

Lange hatte er fasziniert beobachtet, wie sich die anderen Albenkinder verhielten, wenn sie verliebt waren. Elfen und Zwerge, Kentauren und Kobolde. Sie alle kannten das Feuer der Liebe, das ein Geschöpf erstrahlen lassen, aber auch vernichten konnte.

Er hatte eine Elfe gefunden, deren Schönheit selbst unter ihrem Volk hervorstach. Aillean war ihr Name gewesen. An sie zu denken erfüllte ihn selbst jetzt noch, so viele Jahre nach ihrem Tod, mit Wehmut. Er war in Elfengestalt zum Gehöft ihrer Sippe gereist. Sie waren weder reich noch in irgendwelchen Künsten bewandert. Aillean war das Schönste, das sie bis dahin hervorgebracht hatten. Natürlich war sie seinem Charme erlegen. Es war seine Eigenart, dass er die Herzen aller berührte, die in seine Nähe kamen. Schnell war er mit den Ältesten übereingekommen, was der Brautpreis sein würde. Er hatte die Sippe zum Fürstengeschlecht von Langollion erhoben, einer Insel im Osten von Alvemer.

Aillean hatte die Farbe Weiß geliebt. Nie hatte er sie in anderen als weißen Gewändern gesehen. So hatte er ihr einen Palast aus strahlend weißem Marmor erbaut, in den Bergen nah der Küste. Und er hatte einen Garten erschaffen, in dem weiße Rosen aus ganz Albenmark blühten.

Sie hatte ihn von Herzen geliebt. Er hatte nie so tief empfunden wie Aillean. Vielleicht war es ihm nicht gegeben. Vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass ihre Verbindung einem Gedanken entsprungen war. Der Suche nach einem Gefühl, das ihm fehlte. Aus seinem Herzen war es nicht geboren.

Irgendwann hatte sie es bemerkt, und ihr Glück war verwelkt wie eine Rose, der das Wasser fehlt. Andere Frauen hätten sich daran berauscht, mächtig zu sein, die Geliebte einer Himmelsschlange, die ihr jeden Wunsch erfüllte. Doch Aillean hatte nur eines gewollt: So geliebt zu werden, wie sie selbst liebte.

Eines Morgens hatte er sie hier, an dieser Stelle, an der er nun lag, tot aufgefunden. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ihr weißes Kleid war rot von ihrem Blut, und auch die weißen Rosen ringsherum hatten von ihrem Blut getrunken und die Farbe ihres Blutes angenommen. Unwissend musste sie einen Zauber gewoben haben, als sie starb, denn die Rosen blieben rot.

Er hatte diesen Palast verlassen. Niemand goss mehr die Rosen. Er hatte es den wenigen Kobolden, die zurückgeblieben waren, unter Androhung eines schrecklichen Todes verboten. Und doch verdorrten sie nie alle. Ganz gleich zu welcher Jahreszeit er kam, stets blühten irgendwo im Dickicht aus Dornenranken zwei oder drei blutrote Rosen.

Auch Ailleans Sippe hatte den Palast aufgegeben und sich an anderer Stelle niedergelassen. Der Rosenturm, wie die Kobolde die Ruinen nach dem größten Gebäude benannt hatten, galt von nun an als verfluchter Ort. Die Kobolde erzählten sich, dass Elfen hier niemals glücklich werden würden.

Der Goldene schmunzelte. Gewiss taten sie das, um die Elfen fernzuhalten und in den Ruinen ihre eigenen Herren zu sein.

Wenn er in melancholischer Stimmung war, kam er gerne hierher. Er hatte gespürt, dass Lyvianne gestorben war. Es war ein schwerer Tod gewesen. Sie hatte lange gekämpft. Einige Male hatte er sie hierhergebracht. Sie hatten sich im Bad und in den Gemächern, die erhalten geblieben waren, geliebt. Er hatte sie gemocht. Aber auch sie hatte sein Herz nicht berührt. Das, was sie, die Elfen und die anderen Völker, Liebe nannten, wollte einfach nicht zu ihm finden.

Nach dem Tod Ailleans war er zutiefst aufgewühlt gewesen. Er hatte um sie getrauert. Und er war zornig gewesen, weil sie sich ihm entzogen hatte und so seiner Suche nach der Liebe ein Ende bereitet hatte.

Der Goldene sah zum Turm hinauf. Ein großer Teil der Marmorverkleidung war inzwischen abgebrochen. Darunter lag grauer Granit. Die Mauern würden noch viele Jahrhunderte überstehen. Ein Zeitalter lang hatte sie währen sollen, seine Liebe. Und für ein Zeitalter hatte er diesen Palast errichtet …

Es nutzte nichts, dem Vergangenen nachzutrauern. Er weitete die Schwingen und flog nach Westen, dem Festland entgegen. Und er berauschte sich an der Vorstellung, wie mächtig er werden würde, wenn er an das Traumeis gelangte und er sich selbst nach seinen eigenen Wünschen neu erschaffen könnte.

Mit Klauen und Zähnen

Wir wissen nicht, wo es ist, erinnerte der Smaragdfarbene. Es ist müßig, von etwas zu träumen, das unerreichbar ist.

Aber sollten wir nicht wenigstens versuchen, es zu finden?, begehrte der Goldene auf. Ihm gefiel ganz und gar nicht, wie seine Nachricht aufgenommen worden war.

Schick deine Elfe zurück und lass sie die Wahrheit aus dem Unsterblichen Volodi herausschneiden, schlug der Nachtblaue vor.

Ich würde ein subtileres Vorgehen …

Subtileres Vorgehen? Der Nachtblaue gebärdete sich, als wollte er dem Smaragdenen an die Kehle gehen. Er war halb aus seiner Höhle gekrochen und bleckte die Zähne. Wir haben Krieg auf Nangog. Das bedeutet das Ende allen subtilen Vorgehens. Lassen wir sie spüren, was es heißt, uns zu Feinden zu haben! Vergießen wir ihr Blut! Subtiles Vorgehen … Er schnaubte verächtlich. Das ist etwas für Lämmer!

Der Smaragdene hatte den Kopf eingezogen, um weniger von seiner verwundbaren Kehle preiszugeben. Der Erste, der aufs Schlachtfeld stürmt, ist nicht zwingend der, der es als Sieger verlässt.

Reden wir lieber über den Krieg, mischte sich der Flammende ein. Wir haben die Menschenkinder im ewigen Eis besiegt. Nutzen wir Angst und Entsetzen unter ihnen und verpassen wir ihnen gleich den nächsten Schlag.

Lasst uns erst entscheiden, was wir gegen das Traumeis unternehmen, verlangte Nachtatem. Ich stimme meinem Bruder zu, es darf den Devanthar auf keinen Fall in die Hände fallen. Eher vernichten wir es.

Der Goldene war überrascht. Es war lange her, dass er vom Erstgeschlüpften unterstützt worden war.

Noch so ein Lämmchen, zischte der Nachtblaue.

Besser ein kluges Lamm als eine hirnlose Echse, konterte Nachtatem herablassend.

Der Nachtblaue senkte angriffslustig den Kopf. Kommst du mit hinauf in den Himmel über den Basaltklippen, Lämmchen?

Brüder …, begann der Frühlingsbringer beschwichtigend, als ein Flammenstoß das weite Rund zwischen den Höhlen füllte, in denen sie lagen. Der Goldene war einen Herzschlag lang geblendet. Als er wieder klar sehen konnte, stockte ihm der Atem. Nachtatem kauerte auf dem Nachtblauen. Ein Krallenfuß drückte den Kopf des Blauen zu Boden, und die Reißzähne des Erstgeschlüpften waren an der Kehle seines Bruders.

Was für ein Drache bist du, dass du dich von einem Lämmchen überrumpeln lässt?, höhnte Nachtatem.

Der Schweif des Blauen peitschte über den Steinboden. Er war jedoch klug genug, nicht den Versuch zu unternehmen, gegen Nachtatem anzukämpfen.

Erwartungsvoll sah der Goldene zu seinen Brüdern. Er spürte ihre Überraschung, aber außer dem Flammenden war niemand erzürnt. Der Smaragdene, der schon oft zur Zielscheibe des Spotts des Nachtblauen geworden war, empfand sogar Genugtuung über das Schicksal seines Bruders.

Möchte noch jemand die Klauen des Lämmchens spüren?

Der Flammende regte sich, er blähte die Nüstern, und kurz schien es, als wollte auch er einen Flammstoß tun, aber dann kam er doch nicht aus seiner Höhle hervor. Die weite, unterirdische Halle, auf die neun Höhlen mündeten, wäre groß genug, um noch weitere Kämpfer aufzunehmen.

Was also werden wir wegen des Traumeises tun, Brüder? Nun erschien Nachtatem wieder völlig beherrscht.

Auch wenn wir uns eigentlich dagegen entschieden hatten, unsere Drachenelfen weiter in die Paläste der Menschenkinder zu schicken, würde ich vorschlagen, einen Spitzel in die Nähe Volodis zu bringen. Jemanden, der die Gabe hat, schnell und unauffällig das Geheimnis an sich zu bringen.

Ich stimme meinem Goldenen Bruder erneut zu, erklärte der Dunkle. Seine Stimme war wie Eis in den Gedanken.

Er war keinen Augenblick in Rage geraten, dachte der Goldene verblüfft. Was er dem Nachtblauen angetan hatte, war ruhigem Kalkül entsprungen.

Nachtatem ließ von seinem Bruder ab und zog sich in seine Höhle zurück. Dabei behielt er den Blauen misstrauisch im Blick, als rechnete er jeden Moment mit einem heimtückischen Angriff.

Nach und nach stimmten sie alle zu. Nur der Nachtblaue enthielt sich der Stimme. Auch er war in seine Höhle zurückgekrochen, von wo aus er den Erstgeschlüpften hasserfüllt anstarrte.

Ich gebe auch unserem Bruder, dem Flammenden, recht, was die Fortführung des Krieges auf Nangog angeht, wandte sich der Dunkle erneut an sie alle. Seine Höhle war ein Loch undurchdringlicher Finsternis, in der er nun verschwunden war. Greifen wir an! Überrumpeln wir die Menschenkinder. Wir brauchen schnelle Siege. Für einen langen Krieg sind wir nicht bereit. Greifen wir sie an sieben oder acht Orten zugleich an. Dann werden sie nicht wissen, wohin sie Entsatztruppen schicken sollen.

Mir scheint, dies ist auch in unserer Runde deine Strategie. Schnelle Angriffe, die alle überrumpeln, kommentierte der Frühlingsspringer spitz.

Der Goldene war von der Ironie seines lindgrünen Bruders überrascht, gehörte er doch sonst eher zu den Ruhigen und Pragmatischen in ihrer Runde. Ich nehme an, dir schweben auch schon einige Ziele vor?

Zumindest bin ich mir sicher, wo wir nicht angreifen sollten. Die Goldene Stadt darf nicht unser Ziel sein. Darauf werden die Devanthar vorbereitet sein.

Sind wir überhaupt vorbereitet?, warf der Rote in die Runde. Welche Truppen sollen wir einsetzen? Unsere Armee ist klein. Wenn wir sie zersplittern, werden wir dann nicht verwundbar? Und wer soll die Truppen führen? Wie sollen sie untereinander Verbindung halten? Wie werden die Befehle des Oberkommandierenden sie erreichen, wenn sie an weit voneinander entfernten Orten kämpfen.

Wir dürfen unsere Feldherren nicht an die Kette legen, entgegnete Nachtatem leidenschaftlich. Dieser Plan kann nur aufgehen, wenn jedes unserer Heere einen eigenen Befehlshaber hat. Wir geben ihm sein Ziel vor, doch es liegt an ihm zu entscheiden, auf welchem Weg er es erreichen will. Wir können nicht zehn Schlachtfelder zugleich unter Kontrolle halten. Versuchen wir es erst gar nicht. Wir legen den Plan fest, und dann vertrauen wir denen, die wir auserwählen, ihn auszuführen.

Schweigen war die Antwort ihrer Brüder.

Der Goldene war nicht überzeugt, doch sein Bruder hatte ihn erstaunlicherweise unterstützt. Nun wollte er ihn auf die gleiche Art überraschen. Dieser Krieg ist größer als jeder, in den wir zuvor ziehen mussten. Wir werden ihn nicht gewinnen, wie wir bisher unsere Schlachten gewonnen haben. Es ist an der Zeit, neue Wege zu gehen. Ich stimme dem Erstgeschlüpften zu. Wagen wir es! Lassen wir die Besten unter den Albenkindern kommandieren. Bedenkt, wie sehr uns Solaiyn überrascht hat. Finden wir heraus, wie viele weitere große Feldherren darauf warten, sich zu bewähren.

Werden nicht auch wir verwundbar, wenn wir versuchen, so viele Orte zu besetzen?, wandte der Smaragdene ein.

Wir wollen keine einzige Stadt besetzen, entgegnete der Dunkle entschieden. Wir werden nicht die Fehler unserer Gegner begehen. Schließlich wollen wir Nangog nicht erobern. Wir wollen die Welt der Riesin befreien.

Warum führen wir diesen Krieg, wenn wir nichts erobern? Der Flammende wirkte ernsthaft verwirrt. Ich gehe doch auch nicht auf die Jagd, um meine Beute dann nicht zu verschlingen.

Die Beute ist zu groß, sprach der Dunkle, nun sanft. Wenn wir versuchen, sie zu verschlingen, werden wir daran verenden. Wir dürfen sie nur nicht unseren Feinden überlassen. Sie würden sie verschlingen, ein ganzes Zeitalter lang, und danach wären sie so mächtig, dass wir sie nicht aufhalten können. Verweigern wir ihnen dies! Die Alben haben uns zu den Hütern ihrer Mark berufen. Wir kämpfen auf Nangog, um unsere Heimat zu schützen. Nach jeder Schlacht werden wir unsere Truppen sofort zurückziehen, damit sie keinem Gegenschlag der Devanthar ausgesetzt sind. Bedenkt, dass die Menschen uns an Zahl weit übertreffen. Wir dürfen ihnen nicht gestatten, dass sie diesen Vorteil nutzen. Denn so zahlreich sie auch sind, auch sie haben sich mit Nangog eine Beute einverleibt, die zu groß für sie ist. Sie können nicht überall zugleich sein. Verbrennen wir ihre Städte, zerstören wir ihre Handelswege, streuen wir Salz auf ihre Felder, schlachten wir ihre Herden. Wenn es nichts mehr gibt, was sich auszubeuten lohnt, werden sie abziehen.

Und an welche Städte hattest du gedacht?, fragte der Frühlingsbringer.

Naga vielleicht. Eine Stadt in der Messergrassteppe. Von dort treiben sie Herden über einen Albenpfad zur Goldenen Stadt. Oder Asugar. Das ist ihr größter Flottenstützpunkt am Purpurnen Meer.

Der Goldene spürte, wie unentschlossen sein Bruder war. Er hatte lediglich geplant, wie sie ihre Schlachten schlagen sollten, doch offensichtlich nicht, wo.

Asugar ist ein Felsen im Meer, gab der Smaragdene zu bedenken. Eine halbe Meile vor der Küste. Wie sollen wir diesen Hafen angreifen, ohne selbst eine Flotte zu besitzen. Dieser Plan ist zu vermessen!

Gerade deshalb werden sich die Menschenkinder dort besonders sicher fühlen. Der Goldene trat einen Schritt aus seiner Höhle hervor. Es sind Orte wie Asugar, an denen wir sie überrumpeln können. Folgen wir dem Wort meines Bruders.

Und wen schicken wir dorthin?, fragte der Nachtblaue verächtlich. Einen Schwarm Apsaras, die die Menschenkinder mit ihren Prophezeiungen zu Tode quatschen?

Jemanden, der gut darin ist, einen Felsen zu erobern. Einen Krieger, der so berühmt ist wie kein zweiter in unseren Heeren …

Der Goldene fand mehr und mehr Gefallen an dieser Debatte. Bidayn würde ein wenig auf ihn warten müssen. Er kannte seine Brüder gut genug, um nicht darauf zu hoffen, dass sie sich an einem einzigen Tag auf zehn Angriffsziele und zehn Heerführer einigen würden.

Männergeschichten

Er war nicht gekommen. Bidayn stand am Fenster im Vorraum des Bades und sah hinauf zu dem vertrockneten Rosengarten. Es regnete, und die toten Blumen sahen noch trostloser aus als sonst. Dort würde er landen, der Goldene, das hatten alle im Palast gesagt.

Vorgestern Abend hatte er sein Versprechen gegeben. Was war geschehen? In den guten Momenten sagte sie sich, dass er sich mit seinen Brüdern traf. Sie berieten über den Krieg auf Nangog und die Geheimnisse, die sie aufgedeckt hatte. Das konnte dauern … In düsteren Momenten aber war sie überzeugt, ihn verärgert zu haben. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie getan haben mochte, aber wie anmaßend wäre es zu glauben, dass sie eine Himmelsschlange verstehen könnte.

»Er wird kommen«, sagte Anjali. Die Apsara trat hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Die Nymphe suchte bei jedem Gespräch auch Berührung. Das mochte in ihrem Volk vielleicht so üblich sein, Bidayn war es unangenehm.

Die Elfe wich ein Stück vor ihr zurück. Anjali war schön. Sie hatte große, braune Augen und verführerisch volle Lippen. Sie strahlte eine Sinnlichkeit aus, um die Bidayn sie beneidete. Vor allem, wenn sie auf das Rautenmuster aus Narben auf ihrer Haut sah. Die Haut der Apsara war sehr hell, aber sie hatte sich mit Bandag bemalt, dem braunroten Pflanzensaft, den die Maurawan so gerne benutzten. Ihr Leib war mit kryptischen Symbolen und Bildern von Meerestieren bedeckt. Wenn sie so eine makellose Haut hätte, würde sie sie ganz gewiss nicht mit irgendwelchen Schmierereien verschandeln, ging es Bidayn jedes Mal durch den Kopf, wenn sie Anjali sah.

»Komm, lass uns zusammen ein Mahl einnehmen. Du hast den ganzen Tag nichts gegessen.«

Sie war auch noch widerwärtig freundlich. Bidayn war sich bewusst, dass dies nicht der wirkliche Grund war, warum sie Anjali verabscheute.

Warum wohl war sie Gast im Palast des Goldenen? Ein ausgesucht schönes Albenkind. Zu allem Überfluss trug die Apsara auch noch ein rotes Kleid aus einem Stoff, der so durchscheinend war, dass sie auch gleich nackt herumlaufen könnte.

Die Elfe folgte der Einladung. Gemeinsam gingen sie in eine angrenzende Kammer, in der ein Feuer im Kamin brannte. Es war angenehm warm. Auf silbernen Tellern lagen Obst und Käse, frisches Brot war in ein Tuch eingeschlagen. In einer Kristallkaraffe funkelte tiefroter Wein.

Lustlos zupfte Bidayn einige Trauben ab und schob sie sich in den Mund. Warum kam er nicht? Bald würde es Nacht. Es drängte, eine Entscheidung wegen des Traumeises zu treffen. Wenn er bis morgen Abend nicht kam, würde sie dem Geheimnis selbst auf den Grund gehen.

»Wie hast du ihn kennengelernt?«

Bidayn bedachte die Apsara mit einem finsteren Blick. Das war nicht ihr Ernst! Glaubte Anjali wirklich, sie würde ihr das anvertrauen? »Er kam in meine Schule. Ich las in seinen Augen, dass er mich begehrte. Wir liebten uns schon in der ersten Nacht.«

»Wirklich!« Die Nymphe sah sie mit offenem Mund an.

Entweder war sie eine vollendete Schauspielerin oder sie glaubte den Unsinn wirklich, den Bidayn ihr aufgetischt hatte.

»Ich hatte dich immer für … etwas scheuer gehalten. Du wirkst so …« Sie wand die Hände.

»Diese Narben hatte ich nicht immer.« Bidayn zupfte noch einige Trauben ab. Diese dämliche Nymphe glaubte ihr tatsächlich. Damit schied leider auch aus, dass sie im Palast war, weil der Goldene gerne tiefschürfende Gespräche mit ihr führte. »Das war mein Preis dafür, einen der silbernen Löwen der Devanthar zerstört zu haben.«

»Du bist eine richtige Kriegerin!«, schwärmte Anjali. »Ich fürchte, ich bin das genaue Gegenteil.« Sie kicherte. »Ich habe ihn in der Lotussee gesehen. Er hatte Elfengestalt angenommen und schwamm im Meer. Zwei Tage habe ich ihn vom Wasser aus beobachtet. Dann erschien wie aus dem Nichts ein Hai. Einer von den großen Weißen. Wir nennen sie die Meergeister, denn wer ihnen begegnet, der wird zum Geist. Ich bin der Korallenküste entgegengeschwommen, so schnell ich konnte. Dort gibt es eine unterseeische Grotte. Ich konnte mich hineinflüchten. Aber der Hai blieb vor dem Eingang. Es gibt in der Grotte Luft. Ich habe geschlafen und dachte, er wäre verschwunden, wenn ich aufwachte. Ein Irrtum. Er blieb da. Nach zwei Tagen dachte ich, ich müsste in der Grotte verdursten. Dann kam er …« Sie schloss die Augen und schwelgte offensichtlich in Erinnerungen.

Widerlich, dachte Bidayn.

»Er hat den Hai vertrieben und mich gerettet.« Sie stieß einen schmachtenden Seufzer aus. »Wenn er einen allein ansieht, erstrahlt die ganze Welt in hellerem Licht. Er hat Wasser geholt, weil ich so erschöpft war. Und dann …« Sie lächelte versonnen.

Das durfte nicht wahr sein! Bidayn lief die Galle über. Dieses Flittchen war tatsächlich gleich am ersten Tag mit dem Goldenen leidenschaftlich geworden!

»Wie ich sehe, verstehen sich beide Damen hervorragend. Was für eine Freude, sie im vertrauten Gespräch zu sehen.«

Bidayn fuhr herum. Sie hatte den Eindruck, dass es heller wurde im Zimmer, als der Goldene eintrat. Er hatte Elfengestalt angenommen. Sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den schön geschwungenen Brauen versinnbildlichte Macht und Schönheit in vollkommener Harmonie. Blondes, leicht gelocktes Haar reichte ihm bis auf die Schultern. In seiner Nähe konnte es kein Dunkel geben. Er warf keinen Schatten. Es schien, als wäre er selbst ein Quell von Licht.

»Mein Gebieter«, hauchte Anjali in schmachtendem Ton.

Bidayn sah es ihr nach. Sie bemerkte, dass der Drache nur Augen für sie hatte. Beklommen dachte sie an die Narben. Ekelte sie ihn an? Es war sein Befehl gewesen, sich zu häuten.

Er trat vor sie und küsste sie sanft auf die Stirn. Ihr Herz wollte ihr vor Glück schier zerspringen.

»Meine Dame, ich vermag nicht in Worte zu fassen, wie sehr es mich erfreut, Euch endlich wieder in Eurer natürlichen Schönheit zu sehen.«

Bidayn räusperte sich nervös vor Aufregung. Auch wenn es nur ein Kompliment gewesen sein sollte, nahm es ihr eine ungeheure Last von der Seele. »Ich danke Euch, Strahlender.«

Er hob beschwichtigend die Hände. »Nein, nein. Ich habe keinen Dank verdient.« Nun sah er auch Anjali an. »Ich stehe in Eurer Schuld. Es ist unverzeihlich, zwei so anmutige Damen zu versetzen.« Er pflückte einige Trauben und schob sie sich in den Mund. »Manchmal sind einige meiner Nestbrüder geradezu unerträglich geschwätzig. Ihr vermögt nicht zu ermessen, wie sehr ich mich nach Euch gesehnt habe, meine Schönen.«

Ein warmes, wohliges Gefühl nistete sich in Bidayns Bauch ein und strahlte von dort in all ihre Glieder. Sie fühlte sich ein wenig behäbig, ja, fast schläfrig. Dass Anjali in die Komplimente des Goldenen mit eingeschlossen war, störte sie nicht, denn der Drache hatte nur Blicke für sie allein. Es waren keine leeren Worte. Er fand sie wirklich schön! All ihre Sorgen wegen ihres Äußeren waren weggewischt. Sie war begehrenswert für den einen, von dem sie mehr als von jedem anderen begehrt zu werden wünschte.

»Kommt mit mir.« Er winkte ihnen zu und führte sie in das Bad mit dem großen Becken, in dem Anjali jeden Tag viele Stunden verbrachte. Im Gehen öffnete er die Schnallen seines Lederpanzers. Noch bevor er die Schwelle der Tür erreichte, ließ er die Rüstung fallen. Darunter trug er ein weißes Seidenhemd.

Anjali war schneller bei ihm. Ihre Hände fuhren unter sein Hemd. Er beugte sich zurück und küsste sie auf den Hals.

Bidayn beschleunigte ihren Schritt. Als sie die beiden erreichte, griff sie nach dem Gürtel seiner Hose. Er lachte leise. »Nicht so schnell, meine Dame. Ich verspreche Euch, wir werden viel Zeit miteinander verbringen.«

Bidayn wollte nicht seine Worte. Sie wollte seine Küsse. Sie packte sein Haar, riss ihn von Anjali fort und küsste leidenschaftlich seine Lippen.

Die Nymphe versuchte nicht, den Goldenen für sich zurückzuerobern. Stattdessen strich sie ihr langsam über den Rücken. Bidayn keuchte auf. Ein unbekanntes Gefühl der Wollust überkam sie. Sie biss dem Goldenen in die Lippen, schmeckte dessen Blut in ihrem Mund. Er drückte sie an sich und erwiderte ihren Kuss mit der Leidenschaft, die sie so lange vermisst hatte. Immer wieder musste sie an die Nacht zurückdenken, in der sie eine Drachenelfe geworden war. Die Nacht, in der er sie tätowiert und geliebt hatte. In der Lust und Schmerz miteinander verschmolzen waren. Asfahal war ein wunderbarer Liebhaber, aber verglichen mit dem Goldenen war er wie ein Kerzenlicht neben der Sonne.

Anjali öffnete die Verschnürung am Rücken von Bidayns Kleid. Der Goldene streifte es von ihren Schultern und hob sie, nackt wie sie war, auf seine Arme. Seine Haut war angenehm warm. Seine Muskeln darunter wie aus Stein gemeißelt. Sie wusste, wie schier grenzenlos seine Kraft war. Er könnte sie ohne Anstrengung zerdrücken wie ein frisch geschlüpftes Küken. Er war ein Raubtier, und manchmal, wenn die Lust ihn übermannte, flackerte seine animalische Seite auf.

Er stieg mit ihr ins Wasser des weiten Badebeckens, ohne seine Hose oder seine Stiefel abgelegt zu haben. Anjali blieb die ganze Zeit an ihrer Seite. Ihr rotes Kleid lag, nun da es nass war, wie eine zweite Haut auf ihrem Körper. Nein, nicht wie eine Haut … Eher das Gegenteil. Das Rot war dunkler geworden, es sah aus, als wäre sie gehäutet.

Der Goldene bog Bidayns Kopf zurück, und die Nymphe küsste sie. Ihre Zunge drang über Bidayns Lippen. Sie wollte das nicht, doch sie spürte, dass es den Goldenen erregte, und ließ es geschehen. Es war wie in der Nacht, in der er sie tätowiert hatte. Sie musste sich hingeben, musste alles über sich ergehen lassen, ohne dagegen anzukämpfen, und würde von ihm als Lohn zu neuen, unbekannten Ekstasen geführt werden.

Eine Hand legte sich auf ihre Scham. Finger streichelten sie scheu. Bidayn drückte dagegen, wollte mehr, doch die Hand verschwand. Sie schmiegte sich an den Goldenen, der immer noch seine Hose trug. Immer und immer wieder brachten die zwei Bidayn an den Rand der Erlösung, um dann ihre Liebkosungen zu unterbrechen. Die Elfe stöhnte, sie schrie, sie warf sich auf den Goldenen und Anjali und erhielt doch nicht, was sie begehrte.

Schließlich sah sie erschöpft zu, wie sich die Nymphe dem Liebesspiel mit dem Drachen hingab. Anjali tat Dinge, die sie noch nie gesehen hatte. Ihre Hände und Lippen waren überall. Sie füllte ihren Mund mit erwärmtem Wein und küsste den Goldenen, der ihre Kunstfertigkeit lobte. Dann forderten die beiden Bidayn auf, es Anjali nachzutun. Sie war eine eifrige Schülerin, und als sie dem Drachen zum ersten Mal Befriedigung verschaffte, empfand sie ein rauschhaftes Glück wie nie zuvor in ihrem Leben.

Schlug ihr Herz vom Liebesspiel wie eine rasende Trommel, änderten die beiden das Tempo. Dann lagen sie zu dritt umschlungen, streichelten und küssten einander nur, bis Bidayn neue Kraft schöpfte. Sie erkundete die verborgenen Geheimnisse der Nymphe, schenkte sich dem Drachen, doch war sie die Einzige, die nie Erfüllung im Liebesspiel fand. Wann immer sie kurz davor stand, die letzten Höhen der Ekstase zu erreichen, nahmen Anjali und der Goldene sich zurück. Die beiden ergötzten sich daran, sie leiden zu sehen. Sie darum betteln zu lassen, auch ihr zu schenken, was sie längst empfangen hatten.

Bidayn verlor jegliches Gefühl für Zeit, und als der Goldene sie schließlich aus dem Wasser zu weichen Laken trug und ihr gab, was sie so sehr begehrte, sank sie nur einen Augenblick danach in tiefen Schlummer.

Blutbad

Als Bidayn erwachte, fühlte sie sich fiebrig. Ihr Körper glühte. Die Glieder schmerzten, und Durst peinigte sie. Ihr Mund war staubtrocken, die Lippen rissig.

Es war dunkel in dem Zimmer, in dem der Goldene ihr seine Leidenschaft geschenkt hatte. Ihre Hand tastete über die seidenen Laken. Das Bett war kalt. Sie war allein. Eine Zeit lang lag sie ganz still, hielt den Atem an und lauschte auf Geräusche. Niemand, der atmete, war mit ihr in diesem Zimmer. Einmal glaubte sie, irgendwo ein Geräusch wie von einer Kelle zu hören, die gegen einen Kessel schlug. Vielleicht waren es die Kobolde, die nach diesem verlassenen Schloss sahen.

Die Elfe schwelgte in Erinnerungen. Hatten sie sich eine Nacht lang geliebt? Oder viel länger? Nagender Hunger ließ sie vermuten, dass vielleicht noch ein ganzer Tag verstrichen war. Oder noch mehr? Wie lange hatte sie geschlafen? Immer noch schmeckte sie die Küsse des Goldenen auf ihren Lippen. Sie setzte sich auf. Vom Schlafgemach musste sie durch das große Badezimmer gehen, um zu dem Raum zu gelangen, in dem die Dienerschaft eine Tafel mit kalten Speisen aufgetragen hatte. Vielleicht war sie ja nicht abgeräumt. Wo die Küche in der Palastruine lag, wusste sie nicht.

Unglaublich, wie dunkel es war. Das Schlafgemach besaß kein Fenster, ebenso wenig das Bad. Dennoch vermochte sie sich nicht zu erklären, warum sie so schlecht sah. Lag es an dem Licht, das den Goldenen stets umgab. Erschien ihr nun, da er nicht mehr an ihrer Seite war, die ganze Welt dunkler?

Sie lächelte in sich hinein. Das waren Gedanken wie die eines verliebten, jungen Mädchens. Sie sollte sich nicht solchem Unsinn hingeben. Wenn sie ein wenig wartete, würden sich ihre Augen schon an die Dunkelheit gewöhnen und sie würde wenigstens Schemen sehen.

Bidayn schloss die Lider und öffnete sich ganz ihren anderen Sinnen. Sie spürte die Feuchtigkeit des warmen Wassers, die in der Luft lag, vermengt mit dem Duft der Liebesnacht. Es war tatsächlich so still, als wäre sie die Einzige, die in diesem verfallenden Palast zurückgeblieben war.

Mit vorgestreckten Armen tastend fand sie die Tür. Sie versuchte sich zu erinnern, wie der Raum geschnitten war. Wo lag das Becken? Mit kleinen Schritten wagte sie sich voran. Ihre Kehle brannte. Sollte sie einen Schluck von dem Wasser nehmen? Dem Wasser, in dem sie zu dritt gebadet und sich geliebt hatten … Das große Becken musste Tausende Liter fassen. Egal, was sie darin getan hatten, das Wasser war sauber.

Behutsam vorwärtsgehend gelangte sie an den Beckenrand und kniete nieder. Sie streckte die Hände vor, schöpfte Wasser und trank es aus den Handflächen. Auch benetzte sie ihr Gesicht und die Haare, um die Glut des Fiebers zu ersticken. Schließlich beugte sie sich vor, steckte den Kopf in das Wasser und trank in gierigen Zügen.

Das Wasser schmeckte leicht metallisch. Ein wenig wie Eisen. Bidayn hob ihr Haupt. Ihr Haar hing ihr in nassen Strähnen ins Gesicht. Ihr war schwindelig. Sie drehte sich herum und streckte sich lang auf den Steinboden des Bades, der angenehm warm war.

»Habt Ihr Euch gut erholt, Dame Bidayn?« Mit der Stimme kam das Licht. Es war so hell, dass sie ihre Augen schließen musste.

»Mein Gebieter«, flüsterte sie und setzte sich auf. Sie war nackt, schoss es ihr durch den Kopf, und dann wurde sie sich bewusst, wie albern dieser Gedanke war, nach all dem, was sie drei getan hatten.

Warum sagte er nichts mehr?

Vorsichtig öffnete Bidayn die Augen. Der Goldene hielt nur eine einfache Laterne in der Hand, doch ihr Licht erschien der Elfe unnatürlich hell. Eine goldene Aura umgab den Drachen in Elfengestalt. Er betrachtete sie mit leicht geneigtem Kopf und versonnenem Lächeln. Amüsierte ihn ihre Nacktheit? Er war angekleidet.

Sie wandte beschämt den Kopf und sah Anjali. Sie schwamm im Wasser und trug wieder ihr rotes Kleid. Das schwarze Haar umfing ihr Haupt wie eine dunkle Wolke. Ihr Gesicht war eingetaucht, Arme und Beine ausgestreckt. Sie trieb ruhig im Wasser, das einen seltsamen Farbton hatte. Sie … Bidayn blinzelte. Nein, Anjali trug diesmal nicht ihr Kleid. Ihre Haut war abgezogen. Das Wasser von ihrem Blut besudelt. »Ihr …«, keuchte Bidayn und wagte es nicht, den Goldenen anzusehen.

»Ich war so frei, Euch auf Eure nächste Mission vorzubereiten«, erklärte der Drache in so gewinnendem Tonfall, dass sie nun doch in sein Antlitz sah. Und sein Lächeln bannte das Grauen. Was immer er tat, es war richtig. Er war das Maß der Dinge, der Vertraute der Alben, Lenker dieser Welt.

»Ihr müsst für mich herausfinden, wo die Menschenkinder das Traumeis versteckt halten, meine Dame. Ihr seid die Erste unter meinen Spitzeln. Tollkühn und erfahren. Nur Ihr könnt es schaffen!«

Bidayn stand auf. Seine Worte waren ihr Labsal. Der Hunger und das Fieber waren vergessen. Sie fühlte sich stark. Und was war das für ein Funkeln in den Augen des Goldenen. Spiegelte sich dort Begehren? Er fand sie schön.

Sie sah an sich herab. Die Glyphen waren von der Haut gewaschen, die Anjali getragen hatte. Sie war glatt und makellos. Bidayn strich sich über die Arme. Ihre Finger wanderten hinauf zu den Schultern, dann zu ihren Brüsten. Sie stutzte. Ihre Brüste! Sie waren größer als zuvor, und das Haar, das ihr weit über die Schultern fiel, war nicht länger schwarz, sondern golden wie reifer Weizen.

»Ich musste Euch ein wenig verändern, meine Schöne. Habt Ihr es nicht bemerkt? Ich tat es, während ich die Ehre hatte, Eure Gunst zu genießen.« Er klang ehrlich überrascht.

Bidayn schüttelte den Kopf. Kritisch sah sie an sich herab. War sie auch größer?

»Ich wollte das Angenehme mit dem Nützlichen in Einklang bringen. Ihr werdet zurück in den Palast des Unsterblichen Volodi müssen. Dazu müsst Ihr aussehen wie ein Weib aus Drus.«

Erschrocken tastete Bidayn nach ihren Ohren. Sie waren plump und rund! Die Spitzen verschwunden.

»Davon, dass Ihr überzeugend seid, wird Euer Leben abhängen, meine Schöne. Ich habe all meine Kunstfertigkeit aufgeboten, um Euch wie eine Menschenfrau aus dem Norden aussehen zu lassen.«

Bidayn tastete über ihr Gesicht. Die meisten Weiber am Hof Volodis waren große, plumpe Kühe! Ihre Nase war verändert, stellte sie entsetzt fest. Ihre Lippen voller, die Stirn niedriger …

»Anjali habe ich wegen ihrer schönen, hellen Haut erwählt. Sie entspricht der Haut nordischer Frauen. Es gab allerdings einen weiteren Grund, warum sie uns zur Vorbereitung Eurer Mission von großem Nutzen war.«

Voller Schrecken erwartete Bidayn, was ihr der Goldene als Nächstes eröffnen würde.

»Ich weiß, die Dame Lyvianne hat Euch einen ersten Ausblick auf die hohe Kunst der leidenschaftlichen Liebe gegeben. Jener Liebe, die zu einer alles verzehrenden Flamme der Begierde wird und Männer jeglicher Vernunft beraubt. Sie selbst hat mir berichtet, wie Ihr Euch an einem Priester erprobt habt.«

Die Elfe erinnerte sich gut an den plumpen, schwitzenden Mann, der der Leiter der Archive im Tempel der Išta in der Goldenen Stadt gewesen war. Sie hatten versucht, ihm jenes Geheimnis zu entlocken, das sich um die tiefen Tempelgewölbe rankte und um die mit Ketten gesicherten Tore, hinter denen sie letztlich das makabre Gefängnis des Manawayn gefunden hatten. Lyvianne hatte sie gelehrt, wie man die Erinnerungen eines Menschenkindes stahl und den Zauber, den es zu weben galt, mit der Lebenskraft des Opfers nährte. Tuwatis war der Name des Priesters gewesen, dessen Leib unter ihnen beiden verwelkt war, als er um Jahrzehnte alterte.

»Ich weiß, dass es Lyvianne war, die das Begehren des Priesters erfüllte, nicht Ihr, meine Dame. Und ich erinnerte mich an Eure charmante jungfräuliche Unerfahrenheit, als ich die Ehre hatte, Euch beizuwohnen und Euch die letzten Weihen der Drachenelfen zu verleihen.«

Seine Worte waren freundlich, und nicht ein Hauch von Vorwurf schwang in seiner Stimme, doch war Bidayn sich wohl bewusst, wie unerfahren sie gewesen war. Asfahal hatte das geändert, aber …

»Die Dame Anjali war berühmt für ihre Kunstfertigkeit im Spiel der Liebe. Für ihre unerschöpfliche Vielfältigkeit darin, einen Mann oder eine Frau zu erfreuen.« Er lächelte, und ihr Herz schlug schneller. »Ich glaube, in den vergangenen drei Tagen habt Ihr vieles von ihr gelernt, meine Schöne.«

»Drei Tage! Das kann nicht …«

»Im Rausch der Leidenschaft vergeht die Zeit stets wie im Fluge. Ich war überaus erfreut zu erleben, wie hingebungsvoll Ihr sein könnt, meine Dame, und ich sehe voller Ungeduld Eurer Rückkehr entgegen, um erneut Eure Gunst zu genießen.«

Bidayn schämte sich und war zugleich auch überglücklich. Sie wusste, wie erfahren Lyvianne gewesen war, und hätte niemals gewagt, darauf zu hoffen, dass der Goldene sich nach ihrem Liebesspiel verzehrte. Was hatte sie in den letzten drei Tagen alles getan? Sie erinnerte sich nur bruchstückhaft. Wie sie zu ihrer neuen Haut gekommen war und wie der Goldene ihren Leib verändert hatte, um sie wie eine Menschenfrau aussehen zu lassen – sie wusste es nicht mehr.

»Ich habe Euch einen Zauber gelehrt, meine Verehrte. Er beruht auf einer Veränderung Eures Körpers. Sorgt Euch nicht, meine Magie ist so gut mit Eurer natürlichen Aura verwoben, dass er allenfalls einem Betrachter auffallen wird, der schon Argwohn geschöpft hat. Ihr entfesselt die Kraft des Zaubers mit einem geflüsterten Wort der Macht.« Der Goldene schwieg kurz und sah sie aufmerksam an. »Wusstet Ihr, wie sehr unser Begehren von Düften gelenkt wird? Manche verströmen einen Körpergeruch, der sie spontan unsympathisch erscheinen lässt. Und ich meine keinen Gestank. Dieser Duft, der unser Begehren nach leidenschaftlichen Umarmungen weckt, ist so fein, dass unser Bewusstsein ihn kaum zu erfassen vermag. Er umgeht unseren Verstand und macht uns zu von Trieben beherrschten, animalischen Geschöpfen.«

Bidayn war sich nicht sicher, wohin das führen sollte und ob es wirklich ein Geschenk war, sollte ihr Leib nun diese Fähigkeit besitzen.

»Es ist Eile geboten, wenn wir das Traumeis finden wollen, meine bezaubernde Schöne.«

Meinte er das ironisch? Sie sah ihm in die Augen. Nein, da lag wirkliche Sehnsucht in seinem Blick. Wie hatte sie nur argwöhnisch sein können? Was für ein törichtes Geschöpf sie doch manchmal war!

»Der Zauber, den Euch Lyvianne gelehrt hat, ist machtvoll, doch lässt er seine Opfer als stammelnde, vergreiste Narren zurück. Es würde sofort auffallen, was Ihr getan habt. Das können wir uns nicht leisten. Heimlichkeit ist das Gebot der Stunde. Betört Volodi mit Eurem Duft und dann mit all dem, was Ihr in den letzten Tagen gelernt habt. Wenn Ihr dies tut, werdet Ihr ihm jedes Geheimnis entlocken.«

»Aber … ich erinnere mich kaum …«, wandte sie verlegen ein. Sosehr sie sich auch quälte, es war aus ihrem Gedächtnis getilgt, womit sie den Goldenen so sehr erfreut hatte.

»Macht Euch keine Sorgen, Flamme meines Herzens. Sobald Ihr einem Manne beiliegt, wird die Erinnerung zurückkehren. Was zu tun ist, ist so einfach wie zu atmen. Vertraut auf Euch! Ihr seid wahrlich außergewöhnlich.«

Von Hunger und Blutegeln

Shaya hatte Hunger. Die Goldene Stadt war gnadenlos zu denen, die nichts zu bieten hatten. Und sie war mittellos aus dem ewigen Eis des Nordens zurückgekehrt. Sie hatte alles dort zurückgelassen, ihre Kräuter, ihre Hoffnungen, ihre Freundinnen.

Einige der Überlebenden schuldeten ihr Dank. Sie könnte ihn einfordern, doch dadurch würde sie sichtbar werden. Sie fürchtete ohnehin, dass Aaron darauf kommen könnte, dass sie mehr als nur ein Gesicht in seinen Fieberträumen gewesen war. Sie musste fort aus der Goldenen Stadt und durfte um keinen Preis auffallen. Die Geschichte über die Heilerin im Eis war ohnehin schon zu verbreitet.

Leichter Nieselregen setzte ein. Sie drückte sich an einer Hauswand entlang und zog die Kapuze ein wenig tiefer ins Gesicht. Der weite Umhang verschleierte ihre Gestalt. Sie hatte ihn gegen den guten Pelzmantel von Ninwe eingetauscht. Es war ein schlechtes Geschäft gewesen. Aber in der Goldenen Stadt war es zu schwül, niemand brauchte einen Pelz. Der fadenscheinige Umhang, ein paar Hosen, Sandalen und eine Handvoll Kupferstücke, das war alles, was sie vor drei Wochen dafür bekommen hatte. Die Kleider verschleierten ihre Gestalt. Sie ging nicht wie eine Frau. Dafür war sie viel zu lange Kriegerin gewesen. Sie erregte kein Aufsehen, war nur eine weitere unter Tausenden von gesichtslosen Gestalten in dieser wuchernden, maßlosen Stadt.

Shaya presste ihre Faust auf den Magen, um gegen den Krampf anzukämpfen. Sie hatte seit drei Tagen nichts mehr gegessen. Wenn sie noch ein bisschen durchhielt, war das Schlimmste vorüber. Nein, was für ein törichter Gedanke! Sie würde irgendwann vor Schwäche umfallen, und wenn man entdeckte, was sie war … Zu Frauen war die Goldene Stadt ganz besonders unfreundlich! Fast alle Männer hier waren verrückt. Nur wenige Frauen kamen in diese Welt. Eine auf hundert Männer, so hieß es. Sie durfte niemals schwach und wehrlos sein! Sie brauchte Geld, etwas zu essen und einen Platz, an dem sie schlafen könnte, ohne befürchten zu müssen, ausgeraubt zu werden.

Sie dachte an Ninwe, Kira und all die anderen Trosshuren, die darauf gehofft hatten, auf dem glorreichen Feldzug in den Norden schnell reich zu werden. Wenn sie sich verkaufte, würde sie schnell einen Platz finden. Und man musste hier nicht mal immer mit den Männern ins Bett gehen. Manche kamen und wollten einfach nur mit einer Frau reden oder mit ihr zusammen essen. Sie hatte so viele absonderliche Geschichten von den Huren gehört, denen sie mit ihren Kenntnissen gegen all die Übel geholfen hatte, die der Umgang mit zu vielen Männern nach sich zog. Sie könnte sich als Heilerin in den Bordellen der Stadt verdingen.

Schlechte Idee, schalt sie sich stumm. Auch das würde bald Aufsehen erregen. Sie musste fort aus der Goldenen Stadt, an einen Ort, der so weit entfernt war, dass Aaron ganz sicher nie wieder etwas von ihr hören würde. Und auch nicht ihr Bruder Subai.

Er war der Einzige, der bei dem Feldzug in den Norden etwas gewonnen hatte. Nach dem Heldentod ihres Vaters war er zum Unsterblichen aufgestiegen, zum Herrscher der Ischkuzaia und der Völker am Seidenfluss. Auch er durfte niemals erfahren, dass sie noch lebte und nicht auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden war, damit ihre Asche auf den Äckern Luwiens verstreut wurde. Subai würde sie, ohne zu zögern, an Išta ausliefern, allein, damit die Göttin ihm eine Gefälligkeit schuldete.

Die Straße, der Shaya gefolgt war, mündete auf den Platz der tausend Zungen. Er war von vier langen Säulenhallen eingefasst, welche in unzählige Kammern unterteilt waren, die sich alle zum Platz hin öffneten. Dort fanden sich Übersetzer aus allen Ländern Daias. Es hieß, dass es keine Sprache gebe, die hier nicht gesprochen wurde. Shaya konnte die Kammern, die ohne eine Vorderwand angelegt waren, gut einsehen. Fast alle waren sie besetzt, obwohl nicht viele Kunden zugegen waren. In einigen feilschten Kaufleute miteinander und bedienten sich dabei der Hilfe des Übersetzers, anderswo wurden Briefe in weichen Ton geritzt, der dann zu einem Brennofen an der Südseite des Platzes getragen wurde.

Die Prinzessin beherrschte vier Sprachen. Ganz gewiss könnte sie hier gut ihren Unterhalt verdienen, doch wie überall auf Nangog beherrschten Männer das Geschäft. Eine Frau, die die Zunge der weiten Steppe sprach, verschiedene Dialekte vom Seidenfluss beherrschte und darüber hinaus auch die Sprachen Arams und Luwiens ganz passabel verstand – nein, das ging ebenso wenig.

Sie folgte der von Obelisken gesäumten Allee, die nach Nordosten zu den Randbezirken der Goldenen Stadt führte. Etliche Ankertürme ragten hier über die terrassierte Bergflanke. Schleim, der von den Tentakeln der Wolkensammler getropft war, klebte in langen, vom Staub dunkel gewordenen Streifen auf den Häuserwänden, und Gallertklumpen, an denen hagere Hunde leckten, lagen auf der mit großen Steinquadern gepflasterten Straße. In Ruinen lockten kleine Imbissstände unter bunt geflickten Sonnensegeln, von denen jetzt dünne Regenschnüre troffen. Der unverwechselbare Duft von frisch gebratenem Echsenfleisch stieg Shaya in die Nase. Wieder zog sich ihr Magen krampfhaft zusammen. Speichel füllte ihren Mund. Sie musste essen!

Eiligen Schrittes folgte sie der Allee, drängte sich an einer Kolonne von Lastenträgern vorbei, die Bündel des süßlich duftenden Lakme-Holzes auf ihren Schultern trugen, aus dem sich ein zäher, köstlich schmeckender, schwarzer Sirup kochen ließ.

Nicht an Essen denken, befahl sie sich, doch ihr Mund füllte sich erneut mit Speichel. Sie hielt am Schlangenbrunnen, nahe dem Goldschmiedebasar, und kämpfte mit Wasser gegen ihren Hunger an. Der Regen wurde stärker. Es kühlte ab. Pferdeäpfel dampften auf dem Pflaster. Etliche Karawansereien lagen am Rand der Stadt. Die Straßen hier waren mit einer dicken Schicht aus Tierexkrementen bedeckt. Übler Geruch zog vom Gerberviertel herauf, das nicht weit entfernt am Fluss lag. Die Quartiere hier waren günstig, aber auch das half nichts, wenn man kein einziges Kupferstück besaß. Doch Shaya hoffte, hier ihr Wissen einsetzen zu können. Sie wählte die Karawanserei, deren hohe Hofmauern nahe dem Torhaus mit zwei steigenden Pferden bemalt waren. Hierher kamen Viehhändler aus der Messergrassteppe. Es gab in dem Mauergeviert weite Pferche, in denen ganze Herden untergebracht wurden, bevor sie zu den Schlachthäusern eine Meile südlich am Fluss getrieben wurden.

Niemand hielt Wache am Tor. Shaya trat auf den Hof und suchte nach den wenigen Stallungen, in denen Pferde untergebracht waren, die ihre Besitzer so sehr schätzten, dass auch sie ein Dach über dem Kopf erhielten. Hier gab es Wachen.

Shaya schlug ihre Kapuze zurück, sodass im Zwielicht des schwindenden Tages ihr Antlitz zu erkennen war, ihr langes Haar und das, was die Schrecken des Eises ihr noch an Weiblichkeit gelassen hatten. Nach dem Schnitt der Bärte und den Adlerbroschen ihrer Umhänge schätzte sie die Wächter als Luwier ein. »Ich bin die Heilerin, die nach den Pferden sehen soll. Werdet ihr mich durchlassen oder muss ich erst euren Herren aus seiner Ruhe aufscheuchen, um hier meine Arbeit tun zu können.«

Die Männer tauschten einen verblüfften Blick. Dann gaben sie ihr den Weg frei.

Shaya liebte den Geruch von Ställen, den Laut stampfender Hufe, die großen schwarzen Augen, die sie musterten. Sie hatte fast ihr ganzes Leben mit Pferden verbracht. Sie hatte zu reiten gelernt, kaum dass sie laufen konnte. Sie liebte Pferde von ganzem Herzen. Die Tiere spürten das und erwiderten ihre Zuneigung.

Sie trat in einzelne Verschläge, betrachtete die Tiere, so gut es im schwindenden Licht möglich war. Beim fünften fand sie, wonach sie gesucht hatte. Sie ging in die Knie und betastete vorsichtig das linke hintere Bein. Knapp über dem Huf war es geschwollen. Die Stute reagierte mit einem Schnauben auf leichten Druck. Shayas tastende Fingerspitzen spürten die Wärme. Ein weiteres Zeichen für eine Entzündung.

»Wer bist du?«, erklang hinter ihr eine ärgerliche, tiefe Stimme.

Sie lächelte. Die beiden Wachen waren also keine arglosen Tröpfe. Sie hatten ihren Herrn unterrichtet, dass die Heilerin gekommen war, nach der er nie geschickt hatte.

Die Prinzessin richtete sich auf und sah dem hochgewachsenen Mann, der sich nun vor ihr aufbaute, in seine dunkelbraunen Augen. »Ich schätze, Eure Rotschimmelstute liegt Euch am Herzen, Herr. Sie bekommt Hafer zu fressen und steht in einem guten Stall. Wahrscheinlich habt Ihr für Sattel und Zaumzeug mehr ausgegeben, als eine zehnköpfige Bauernfamilie in einem ganzen Jahr erwirtschaften kann. Habt Ihr bemerkt, dass sie lahmt? Oder hat sie es bis zuletzt vor Euch verborgen?«

»Wovon redest du, Weib?«

»Von der entzündeten Beugesehne Eurer Stute. Kommt und seht. Seid Ihr lange durch tiefen Grund geritten? Grasland im Regen, aufgewühlt durch die Hufe einer Herde?«

Der Handelsherr trat neben die Stute. Er strich ihr sanft über die Nüstern und flüsterte ihr kurz etwas ins Ohr. Er mochte sein Pferd, ganz wie Shaya vermutet hatte.

Ohne auf den Schmutz zu achten, der seinen kostbar bestickten Umhang besudelte, ging er in die Hocke und betrachtete die Schwellung.

»Du hast recht, Weib. Sie sollte Bandagen bekommen …«

»Nein, bei allem Respekt, aber das wird nicht genügen. Ihr werdet sie zuschanden reiten, wenn Ihr es nur mit Bandagen versucht und sie zu schnell wieder bewegt.«

Er sah ärgerlich zu ihr auf. Seine Brauen waren über der Nase zusammengewachsen. Er konnte wahrlich finster dreinblicken. Sein schmales Gesicht mit der langen, leicht gebogenen Nase und dem kurz geschorenen Bart hatte etwas Raubvogelhaftes. Ganz offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass Frauen ihm widersprachen. »Und was schlägst du vor, Quell aller Weisheit?«

»Blutegel. Und Ihr solltet sie einen Mond lang nur wenig bewegen, auch wenn dies vermutlich Eure Pläne durchkreuzt.«

»Blutegel?« Er runzelte die Stirn.

»Schockiert? Wenn Ihr mir gestattet, sie zu verwenden, wird die Entzündung deutlich schneller abheilen.«

Er strich sich nachdenklich über den Bart. »Ich habe davon gehört. Die Ischkuzaia verwenden Blutegel … Kommst du aus der Steppe?«

Shaya war sich des schlechten Rufes, den ihr Volk genoss, durchaus bewusst. Insbesondere Handelsherren schätzten die räuberischen Steppenreiter nicht. »Sehe ich so aus?«, entgegnete sie selbstsicher. Der Daimon, der sie im Bergkloster gerettet hatte, war sehr gründlich gewesen, als er ihr Gesicht veränderte.

Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Aber warum sollte ich dir das Wohl eines Pferdes anvertrauen, das doppelt so viel wert ist, wie ich für dich bekäme, würde ich dich auf einem Sklavenmarkt verkaufen.«

Shaya musste lächeln. Sie dachte daran, wie der Unsterbliche Muwatta einst tausend Pferde aus den königlichen Gestüten als Kaufpreis für sie gezahlt hatte. Und nun schätzte man sie nur noch auf ein halbes Pferd.

»Was amüsiert dich?«

»Dass Ihr Pferde besser einschätzen könnt als Frauen, Herr. Ihr könnt meine Hilfe annehmen oder einem Heiler vertrauen, der Euch nach dem Mund redet. Eine straffe Bandage wird für kurze Zeit helfen. Und wenn Eure Stute dann ruiniert ist, werdet Ihr so weit von der Goldenen Stadt entfernt sein, dass Ihr nicht mehr umkehren könnt, nur um einen Quacksalber zur Verantwortung zu ziehen.«

Er lachte leise, wobei sich tiefe Fältchen um seine Augen bildeten. »Das könnte wohl geschehen. Du bist ungewöhnlich, Weib. Du redest offener als die meisten Männer, die ich kenne.«

»Dann umgebt Ihr Euch mit den falschen Männern, Herr.«

Sein Lächeln gefror. »Du sollst Gelegenheit haben zu beweisen, ob du eine Maulheldin bist oder eine Heilerin. Ich gebe dir drei Tage, um meine Stute zu heilen. Gelingt es dir, wirst du drei Silberstücke bekommen, solltest du aber …«

»Wenn Ihr Wunder erwartet, betet zu Išta, Herr. In meiner Macht liegt es, dafür zu sorgen, dass die Schwellung infolge der üblen Säfte, die sich dort gesammelt haben, deutlich zurückgeht. Geheilt ist sie dann aber noch lange nicht. Außerdem brauche ich ein Silberstück sofort, um die richtigen Blutegel kaufen zu können.«

Zwei tiefe Falten erschienen im Dickicht seiner Brauen oberhalb der Nasenwurzel. »Du führst den Namen der Göttin leichtfertig im Munde, Weib.«

»Išta gefällt es, wenn wahr gesprochen wird. Was also hätte ich zu befürchten?«

»Du bist wohl nie um eine Antwort verlegen.« Er erhob sich und strich der Stute durch die Mähne. »Du bekommst drei Tage, um die üblen Säfte aus dem Bein der Stute zu holen. Bist du erfolgreich, erhältst du drei Silberstücke, abzüglich des einen, das du für deine unverschämt teuren Blutegel ausgibst. Tritt keine sichtbare Verbesserung ein, betrachte ich dich als Betrügerin. Dann lasse ich dich nackt an eine der Säulen draußen auf dem Markt binden, und ich werde dir höchstselbst dreißig Stockhiebe verabreichen.«

Der harte Zug um seine Lippen ließ sie ahnen, dass er es genießen würde, sie öffentlich zu demütigen. Er war ein Mann, der von Frauen Demut erwartete. Aber so sehr verstellen konnte sie sich nicht. Shaya war sich bewusst, dass sie ein besseres Angebot nicht bekommen würde. Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Der Handel gilt, Herr … Wie heißt Ihr?«

»Pithana ist mein Name. Wenn du Pferde so gut kennst, wie du vorgibst, solltest du schon von mir gehört haben. Ich beliefere die Gestüte des Unsterblichen Labarna.« Er schlug nicht ein. Stattdessen drückte er einem der beiden Wächter ein Silberstück in die Hand. »Natan, du gehst mit ihr. Du zahlst an ihrer Stelle, und du lässt sie keinen Augenblick aus den Augen. Sie erinnert mich an eine Diebin, deren Hinrichtung ich im letzten Sommer beiwohnte. Versucht sie mit dem Geld zu fliehen, verfährst du mit ihr, wie mit der Diebin verfahren wurde.«

Der Traum von einer besseren Welt

Sie zog das kleine Messer über den Wetzstein und prüfte dann mit dem Daumen die Schärfe der Klinge. Dies war der einzige Schatz, den sie aus dem ewigen Eis gerettet hatte. Ein gutes Eisenmesser, das sie einem erfrorenen Krieger aus Truria abgenommen hatte.

»Haltet die Stute still«, befahl sie den beiden Kriegern, die sie auf Pithanas Geheiß keinen Moment aus den Augen ließen.

Shaya strich der Stute über die Kruppe. »Ruhig, meine Schöne. Ich werde dir helfen.«

Der Rotschimmel peitschte nervös mit dem Schwanz, als sie niederkniete. Vorsichtig rasierte sie eine Stelle an der geschwollenen Hinterröhre. Die Blutegel würden besseren Halt finden, wenn sie das Fell entfernte.

Die Stute schnaubte. Jede Berührung an der Schwellung musste sie schmerzen. Natan redete auf sie ein und hielt dabei die Zügel. Mit Pferden konnte er ganz gut umgehen, dachte Shaya. Wie er sie ansah, gefiel ihr hingegen weniger. Sein Blick war wie der eines ausgehungerten Wolfs.

Wenig später hatte sie sechs kleine Flecken auf beiden Seiten der Schwellung freirasiert. Sie säuberte die Klinge an ihrem Hosenbein und steckte sie weg. Dann griff sie in die Schale mit den sich windenden Blutegeln. Sie glänzten feucht und waren von braunschwarzer Farbe. Mit spitzen Fingern nahm sie eines der kleinen Biester und setzte es an das Pferdebein, wo es sich augenblicklich festsaugte. Die Stute spürte nichts. Das war eines der Mysterien der Egel, dass ihr Biss, obwohl er blutige Wunden verursachte, nicht von Schmerzen begleitet wurde.

Nach und nach setzte sie alle sechs Blutegel an die rasierten Stellen und beobachtete, wie die Leiber der Würmer anschwollen.

Bald ließ sich der erste vollgesogen zu Boden fallen. Shaya las ihn aus dem Streu und gab ihn in die Schale zurück. Als auch der letzte Egel von der Stute abgelassen hatte, streckte sie sich.

Sie fühlte sich unendlich müde. Ihr Bauch war voll, und sie war an einem Ort, wo sie ohne Angst schlafen konnte. Und genau das würde sie jetzt tun. Sie sah abschätzend zu Natan. Aus ihm wurde sie nicht schlau. War er menschenscheu, oder verachtete er seinesgleichen?

»Ich werde mich jetzt zurückziehen. Achte darauf, dass die Stute sich nicht zu viel bewegt.«

Er sagte nichts, aber sie war sicher, dass er alles für das Pferd seines Herrn tun würde. Erschöpft hüllte sich Shaya in ihren weiten Umhang, zog die Kapuze über den Kopf und trat aus den Ställen. Ihre Glieder waren schwer wie Blei. Sie ging am Brunnen mit der großen Tränke vorbei zum anderen Ende des Hofes, wo unter einem Schutzdach Waren gestapelt lagen, die nicht feucht werden durften. Etliche Reisende und Hirten hatten dort bereits vor dem ununterbrochen andauernden Nieselregen Zuflucht gesucht.

Niemand dort schenkte ihr Beachtung. Die Kapuze verbarg ihre Züge. Sie fand eine Ecke, in der Wollballen gestapelt lagen, und streckte sich darauf aus. Mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit fand ihre Hand zum Griff des Messers.

»Wenn ich es doch sage«, beharrte die Stimme eines Knaben. »Sie nehmen auch Viehhirten. Gerade Viehhirten! Wen gibt es in dieser stinkenden Stadt schon, der von Rindviechern eine Ahnung hat. Metzger, die ihnen das Fell über die Ohren ziehen, Gerber und ein paar Rüstungsmacher. Aber wie viele wissen, was zu tun ist, wenn die Viecher keine Milch geben?«

»Also nach allem, was ich gehört habe, ist Asugar nur ein Felsen im Meer«, erklang eine müde, ältere Stimme. »Da gibt es gar keinen Platz für Rinder.«

»Es ist eine Provinz!«, beharrte der Junge. »Sie ist riesig. Ich hab es gestern selbst gehört, wie Arcumenna …«

»Seit wann verstehst du denn das Geplapper von Valesiern?«

Nach einer kurzen Pause klang der Junge deutlich betreten. »Hat man mir übersetzt … hinterher. Aber ich war selber da! Der war ein Feldherr und ist nun für seine Dienste mit der Provinz belohnt worden. Hat wohl Unmengen von Drusniern den Schädel eingeschlagen … Jedenfalls will er aus Asugar die schönste Stadt von Nangog machen. Er hat Künstler mitgebracht, die wunderschöne Steinbilder erschaffen, Steinmetze, Baumeister, Gelehrte …«

»Hört sich nicht so an, als bräuchte der Viehhirten!«

»Doch!« Der Knabe klang zunehmend verzweifelt. »Es werden ausdrücklich Bauern und Hirten gesucht. Und Bronzegießer und Schmiede und auch Heiler. Es gibt dort sogar einen Palast für die Kranken, und der Fürst bezahlt für deren Behandlung …«

»Ja, ja. Und jeder hat einen goldenen Nachttopf neben seinem Lager stehen.«

»Mir ist ganz egal, was du denkst. Ich werde hingehen!«

»Träum davon, Subar, aber überleg es dir noch mal. Diese Valesier und ihre prächtigen Städte – du kennst doch die Geschichte vom Weißen Selinunt? Mit ihrem Glanz locken sie nur die Drachen an. Komm mit mir zurück in die Messergrassteppe. Dorthin verirrt sich ganz gewiss kein Drache.«

»Und wir werden immer arm wie die Bettler sein. Pithana zahlt zu schlecht …«

»Münzen«, schnaubte der Alte verächtlich. »Davon wird man nicht satt. Bei Pithana hast du immer einen vollen Bauch. Und wenn der Winter kommt, schenkt er all seinen Hirten warme Decken. Du weißt doch gar nicht, was dich in Asugar erwartet, Junge. Ein kluger Mann setzt auf das, was er kennt!«

»Ich werde …«

»Haltet endlich das Maul dahinten!«, rief eine dritte Stimme. »Sonst komm ich rüber und lass meinen Knüppel tanzen!«

Der junge Hirte grummelte noch etwas, das Shaya nicht mehr verstand, dann wurde es still. Ein Palast für die Kranken? Von so etwas hatte die Prinzessin noch nie gehört. Aber die Valesier waren berühmt für ihre seltsamen Einfälle. Sie würde versuchen, mehr über das Vorhaben des neuen Provinzfürsten zu erfahren. Eine große Stadt am Meer, in der ein alter Feldherr ein neues, friedlicheres Leben beginnen wollte. Vielleicht war das der Ort, nach dem sie suchte, auch wenn der Palast für die Kranken nur ein Märchen war.

»Asugar«, wiederholte sie leise den Namen der Stadt, und sein Klang begleitete sie in ihre Träume.

Der Pfahl im Hof

Der strahlende Sonnenschein der Mittagsstunde hatte den Schatten des Pfahls verschlungen, der am Morgen in der Mitte des großen Innenhofs der Karawanserei aufgestellt worden war. Pithana persönlich hatte die Arbeiten beaufsichtigt.

Beklommen sah Shaya zu Natan. Der Krieger stand breitbeinig vor dem Pfahl. Er hielt ein langes Bambusrohr, das er gelegentlich in die offene Handfläche seiner Linken klatschen ließ, als wollte er sich vergewissern, dass es wirklich für eine Züchtigung geeignet war.

Seitdem sie erwacht war, hielten sich stets vier Karawanenwachen in Shayas Nähe. Große, grobschlächtige Kerle mit wild wuchernden, schwarzen Bärten. Ihr war bewusst, dass sie bei der Stute kein Wunder gewirkt hatte. Dazu hatte die Zeit einfach nicht gereicht.

»Komm, Weib!« Einer der Wächter winkte ihr mit seiner Pranke.

Was immer nun auch kommen mochte, sie würde es mit Fassung tragen, dachte sie stolz, reckte das Kinn vor und folgte dem Wächter.

Die anderen drei Wachen bildeten ein Karree um sie. Und um ihr die letzte Hoffnung auf Flucht zu nehmen, wurde gerade das große, zweiflügelige Tor der Karawanserei geschlossen. Nun gab es keinen Fluchtweg mehr von dem von hohen, lehmverputzten Mauern umgebenen Hof.

Shaya tastete nach dem Messer an ihrem Gürtel. Vielleicht würde sie mit den vier Wächtern fertig? Vielleicht gelänge ihr sogar die Flucht vom Hof, aber dann würde die Geschichte von der Kriegerin, die sich als Viehheilerin ausgegeben hatte, wie ein Lauffeuer die Runde durch die Stadt machen. Wie lange würde es dauern, bis Aaron davon hörte? Zwei Tage? Drei? Er würde alles in Bewegung setzen, um sie zu finden. Das konnte sie nicht riskieren. Die Geschichte von der großmäuligen Heilerin, die mit Knüppel gezüchtigt worden war, würde weit weniger Aufsehen erregen. Sie würde die Suppe auslöffeln, die sie sich eingebrockt hatte.

Natan schien bemerkt zu haben, wie ihre Finger sich kurz um den Dolchgriff geschlossen hatten. Er schüttelte sacht den Kopf, als wollte er sie davor warnen, eine Dummheit zu begehen.

Shaya erreichte die Mitte des Platzes. Überall lungerten Viehtreiber und Lastenträger herum. Im Säulengang vor dem Haupthaus standen etliche fein herausgeputzte Kaufleute und die Hauptleute der Karawanenwachen, aus deren breiten Bauchgurten juwelenbesetzte Dolchgriffe ragten.

Inmitten der Gruppe stand Pithana. Er überragte alle außer einem rotgesichtigen Krieger, der lässig die Arme über den Stiel seiner Axt auf den Schultern gelegt hatte. »Dieses Weib hat mich überredet, mein bestes Pferd mit Würmern zu behandeln!«, erklang plötzlich laut und klar seine Stimme. Ganz offensichtlich hatte Pithana Übung darin, vor größeren Menschenmengen zu sprechen.

Auf einen Wink des Händlers wurde der Rotschimmel aus dem Stall vorgeführt. Es war unübersehbar, dass er immer noch hinkte.

»Frech wie eine Hure auf dem Markt hat sie sich mir angeboten.« Pithana zuckte theatralisch mit den Schultern. »Und was soll ich euch sagen, Freunde? Ich bin ein Mann … ich konnte ihr nicht widerstehen.«

Leises Gelächter erklang.

Shaya musste den Drang niederkämpfen, wieder nach ihrem Dolch zu tasten. Eine Hure hatte sie schon lange keiner mehr genannt.

Natan ließ neben ihr den Bambusstab in seine offene Hand klatschen. Bei dem Geräusch zuckte sie innerlich zusammen. Am Wandernden Hof, der Zeltstadt, die der Königssitz ihres Vaters gewesen war, hatte sie gesehen, wie Verurteilte mit Knüppeln geschlagen worden waren. Wenn Natan auf ihre Leber und ihre Nieren zielte, würden dreißig Hiebe ausreichen, sie zu töten.

Sie blickte zum Holzpfahl. Das Holz war frisch geschlagen. Es duftete nach Harz, der golden aus einigen Astlöchern quoll.

Allgemeines Gelächter erklang. Pithana hatte wohl einen weiteren Scherz auf ihre Kosten gemacht. Jetzt löste sich der große Kaufmann aus der Gruppe der Kaufleute und ging zu seiner Stute hinüber, die unruhig mit den Hufen scharrte.

Er hielt dem Rotschimmel einen Apfel hin und kraulte ihn, als er fraß, zwischen den Ohren. Plötzlich deutete der Kaufherr mit ausgestrecktem Arm auf sie. »Dieses Weib hat mich getäuscht«, verkündete er mit Donnerstimme.

Shaya sah die Schadenfreude in den Augen der Männer, die den Hof säumten. Die Erwartung auf das grausame Spektakel, das nun folgen würde. Die Prinzessin stellte sich vor, wie sie sich ganz und gar an ihre kostbarsten Erinnerungen klammern würde, wenn der Stock ihr Fleisch schändete. Sie würde an die Nacht denken, in der sie für Aaron auf dem Rücken des Wolkensammlers getanzt hatte, und daran, wie er sie in seinem Thronsaal wiedererkannt hatte, obwohl ihr Gesicht gänzlich verändert gewesen war.

Bedrohliche Stille hatte sich über den Hof gesenkt. Eine Stille, die all ihre tröstenden Gedanken löschte. Sie wandte den Kopf. Sah den Kaufherrn an, dem sie ganz und gar ausgeliefert war.

Plötzlich kniete er sich neben die Stute und strich über die entzündete Sehne.

»Sie ist nicht geheilt, aber die Schwellung ist deutlich zurückgegangen. Erstaunlich! Dieses vorlaute Weibsstück hat wahr gesprochen. Ihre Blutegel haben meiner Stute geholfen. Sie mag aussehen wie eine windige Trosshure, aber sie ist tatsächlich eine Heilerin. Das Einzige, was ich ihr vorhalten kann, ist, dass sie mir einen völlig überzogenen Preis für ihre Künste abverlangt hat.« Pithana blickte in die Runde.

Shaya traute ihren Ohren nicht. Sie sah die Enttäuschung in den Gesichtern der Männer ringsherum.

»Mir bleibt nur, mich selbst zu schelten. Meine Schläfen sind grau, und doch bin ich nicht weise. Ich hätte wissen müssen, dass es für einen Mann immer kostspielig wird, wenn er eine Frau trifft, die ihm mit schönen Reden kommt und dabei frech in die Augen sieht.«

Damit hatte er sie rumgekriegt. Die meisten Zuschauer, die eben noch enttäuscht waren, grinsten nun.

Pithana öffnete mit großer Geste seinen Geldbeutel, trat zu ihr und zählte ihr drei Münzen in die Hand. Shaya war immer noch überwältigt und sprachlos. Sie sah zu dem Pfahl, zu dem Bambusstab, den Natan hielt. »Warum?«

»Komm mit mir mit, Weib. Teile Salz und Brot mit mir, und du wirst deine Antwort bekommen.«

Die Wachen öffneten das Tor der Karawanserei. Etliche Schaulustige verließen den Hof. Shayas Hand schloss sich um die Münzen.

»Du kannst gehen. Du bist frei.« Pithana lächelte selbstsicher. »Aber dann wirst du niemals erfahren, warum ich es tat.«

Ohne auf ihre Antwort zu warten, ging er zurück zum Gästehaus. Die übrigen Kaufherren wirkten nicht minder verblüfft, als sie es war. Ein tätowierter Händler in grellbunten Gewändern schimpfte sogar lautstark, als Pithana an ihm vorüberging.

Natan nahm den Rotschimmel beim Zügel und führte ihn zurück in die Stallungen. Er nickte ihr lächelnd zu. Im Gegensatz zu den Männern um Pithana wirkte er erleichtert über den Ausgang.

Shaya folgte dem Kaufherrn zum Gästehaus. Sie hatte das Gefühl, dass Pithana sein böses Spiel noch weiter treiben würde. Doch es war der tätowierte Kerl, der schon Pithana beleidigt hatte, der nun auch sie anfuhr. Er schien von den Schwimmenden Inseln zu kommen. Seine Zähne waren zugefeilt, sein Gesicht mit den Reißzähnen eines Hais bemalt. Als er nach ihr greifen wollte, bedachte Shaya ihn mit einem eisigen Blick, in den sie all ihren Zorn legte. Erschrocken wich der Händler einen Schritt vor ihr zurück und schlug mit der Linken ein Schutzzeichen gegen das Böse.

Shaya blieb zwei Herzschläge lang stehen, hielt ihn mit ihrem Blick gebannt. Doch er wagte es nicht mehr, ihr in die Augen zu sehen. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Kantubo«, sagte sie mit fester Stimme. Das bedeutete nichts, aber sie genoss es, ihn erbleichen zu sehen, weil er sich nun verflucht wähnte. Eben noch hatte er sich an ihrem Elend ergötzt. Hatte sich gewünscht, sie wehrlos an einen Pfahl gefesselt zu sehen. Nun sollte er am eigenen Leibe erfahren, wie das war. Shaya wandte sich ab und trat ins Gästehaus. Im Halbdunkel der Eingangshalle stand Pithana. Er lächelte. Hatte er durchschaut, dass sie nur ein böses Spiel mit dem Tätowierten getrieben hatte?

»Du bist wirklich eine außergewöhnliche Frau. Ich wünschte, uns bliebe die Zeit, deine Geheimnisse zu ergründen.« Er öffnete eine Tür und winkte sie in eine Kammer, die mit prächtigen Teppichen und bunt bestickten Kissen ausgelegt war. Auf silbernen Platten dampften frisch gekochter Reis und köstlich duftende Brotfladen. Kaltes Fleisch lag aufgeschnitten in dunkler Sauce, Äpfel und Trauben türmten sich in weiten Schalen. Schneeweißer Käse schwamm in trübem Salzwasser.

Der Anblick des Essens verfehlte seine Wirkung nicht. Shaya knurrte der Magen so laut, dass der Kaufherr es gehört haben musste. Ärgerlich darüber, dass Pithana um ihren Hunger wusste, hob sie den Kopf und sah sich um. Sie würde ganz sicher nicht wie ein ausgehungerter Wolf über das Essen herfallen. Und so betrachtete sie, statt sich am Anblick der reichhaltigen Speisen zu erfreuen, die Wandgemälde. Sie zeigten eine Jagdszene. Bogenschützen streiften durch hohes Schilf auf der Suche nach einem Löwen. Auf dem Wasser schwammen Enten. Der Löwe hatte eine Gazelle gerissen und trug sie zu seinem Versteck.

»Hübsche Bilder, nicht wahr?« Pithana setzte sich, griff nach dem Reis, formte eine kleine Kugel und schob sie sich in den Mund. »Köstlich«, erklärte er kauend. »In Butter gekocht. Du solltest davon kosten. Ich kenne übrigens noch nicht einmal deinen Namen.«

»Ninwe«, log sie und setzte sich Pithana gegenüber auf einen Teppich. »Du wolltest mir etwas über die Vorstellung dort draußen erzählen.«

Der Kaufmann schob sich genüsslich noch eine weitere Reiskugel in den Mund. Er musterte sie aus dunklen Augen, sodass Shaya sich bald fühlte wie eine Stute auf dem Pferdemarkt. Statt zu antworten, formte er eine dritte Reiskugel und deutete einladend auf das Essen.

Warum nicht, dachte sie schließlich. Sie könnte so viel essen, dass sie den Rest des Tages nichts mehr brauchte. Vielleicht auch morgen nicht. Sie musste ihr Geld zusammenhalten. Sie würde ein neues Kleid brauchen, in dem sie besser aussah. Und ein Besuch in einem Badehaus würde auch nicht schaden. Das Gespräch, das sie in der ersten Nacht bei Pithana mitgehört hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie wollte nach Asugar und dort ein neues Leben als Heilerin beginnen.

Sie legte ihren Umhang ab, nahm drei Brotfladen und einige Äpfel und wickelte sie in den groben Stoff.

Der Kaufmann lachte leise. Es klang herzlich, nicht herablassend. »Einer Frau wie dir bin ich wahrlich noch nicht begegnet. Dein Umgang mit der Stute hat mich überzeugt. Ich habe noch nie gesehen, dass eine Entzündung so schnell zurückging.«

Shaya nahm sich von dem Reis. Er war wirklich köstlich. Sie schob sich Kugel auf Kugel in den Mund und trank zwischendurch etwas Wasser, das mit Zitronensaft und Honig veredelt worden war.

»Du machst nicht den Eindruck, als würde deine Kunst dich gut ernähren.«

Shaya blickte vom Essen auf. Sie mochte nicht, was er sagte, doch es war offensichtlich, dass er recht hatte.

»Ich habe überlegt, wie ich dich etwas bekannter machen könnte. Natürlich hätte ich dich einfach nur empfehlen können, doch Worte haften oft nicht allzu gut in unseren Erinnerungen. Und sich an dich erinnern, das sollten sie. Die Männer, die mit mir bei den Säulen standen, haben über hundert Pferde hier in der Karawanserei. Manche sind nur elende Lasttiere mit durchgehangenem Rücken, aber es gibt auch edlere Rösser in den Ställen. Ich habe ein paar Mal abends von unserem besonderen Handel erzählt, und ich habe den Ruf, ein gestrenger Zuchtmeister zu sein. Als ich heute Morgen den Pfahl aufstellen ließ, haben sich alle ein Spektakel versprochen.« Er hielt inne und stocherte mit seinen langen Fingernägeln zwischen seinen Zähnen.

»Der Pfahl war mein Köder, mit dem ich für dich die Fliegen gefangen habe. Alle sind sie gekommen, um zu sehen, was passiert.« Er hob entschuldigend die Hände. »Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe, aber für dein Geschäft wird es von Nutzen sein.«

Zum ersten Mal sah die Prinzessin ihm direkt in die Augen. Was für ein eingebildetes Arschloch! Sagen würde sie ihm das erst, wenn sie genug gegessen hatte.

»Ich bewundere dich. Du scheinst gut zurechtzukommen in dieser Welt der Männer. Ich schätze, du kannst auch Kehlen aufschneiden, wenn es sein muss. Ich habe dein Messer bemerkt.«

Shaya hielt im Kauen inne und sah ihn durchdringend an. Er hatte keine Angst vor ihr. Was erwartete er, dass sie sich ihm dankbar an den Hals warf?

»Ich muss noch einmal zurück zu meinen Herden auf der Messergrassteppe. Die Rotschimmelstute wird hierbleiben. Wenn du dich um sie kümmerst, zahle ich dir ein Silberstück in der Woche. Ein wahrlich fürstlicher Lohn, um nach einem Pferd zu sehen.«

Shaya kostete von dem Ziegenkäse im Salzwasser. Er war nicht so gut wie der, den sie aus ihrer Kindheit kannte, aber durchaus der beste, den sie seit Langem zu essen bekommen hatte. Salzig und ein wenig sauer, mit lang anhaltendem Aroma.

»Du bist nicht sehr gesprächig, Ninwe.« Der Kaufmann wirkte enttäuscht. »Ich schätze, du wirst wohl gehen. Du liebst deine Freiheit, nicht wahr? Aber Freiheit bedeutet, immerzu zu kämpfen. Wenn du eines Tages müde bist, dann komm nach Luwien. Es gibt dort eine große Tempelstadt. Sie heißt Isatami. Du hast gewiss schon von ihr gehört.«

Shaya verschluckte sich fast. Isatami! Nie würde sie diesen Namen vergessen. In der heiligen Stadt war sie vom Unsterblichen Muwatta vor den Augen Tausender jubelnder Pilger in der Nacht der Himmlischen Hochzeit vergewaltigt worden. Wenn es einen Ort gab, an den sie ganz gewiss nie mehr zurückkehren würde, dann war es diese verfluchte Stadt.

»Wenn du dort nach Pithana fragst, wird man dir den Weg zu meinem Gutshof weisen. Jeder kennt mich in Isatami. Mein Gestüt liegt etwa dreißig Meilen vor der Stadt.« Er erhob sich und verneigte sich knapp. »Es war mir eine Ehre, dich kennengelernt zu haben, Ninwe. Ich hoffe, wir werden uns wieder begegnen.«

An der Tür der Kammer drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Ich habe dich nicht allzu freundlich behandelt. Aber ich hoffe, du hast verstanden, dass es zu deinem Besten war. Unter dem Kissen dort vorne findest du ein kleines Abschiedsgeschenk. Vielleicht gewinne ich damit deine Gunst.«

Pithana verließ die Kammer. Shaya lauschte auf seine Schritte. Er ging hinaus auf den Hof. Kurz hörte sie seine Stimme, als er einem Diener einen Befehl zurief, dann war es still.

Neugierig hob sie das Kissen auf. Darunter lag ein gefalteter gelber Seidenschal, auf den rote Rosen gestickt waren. In den Schal eingeschlagen fand sie ein Goldstück. Wütend warf sie Schal und Gold von sich. Was bildete er sich ein? Dass er sie kaufen konnte? Sollte das ein Brautgeschenk sein? Was hatte er sich von diesem gemeinsamen Mahl versprochen?

Das Goldstück funkelte im Licht der Sonne, das durch ein schmales Fenster fiel. Sie atmete tief ein. Solch dummen Stolz konnte sie sich nicht leisten, dachte sie ruhig. Sie aß einige Oliven, konnte den Blick aber nicht vom Gold wenden.

Schließlich nahm sie alle Brotfladen und noch einige Äpfel, packte sie zu der Beute in ihrem Umhang und knotete ihn zu. Dann hob sie den Seidenschal auf und schlang ihn sich um den Nacken. Zuletzt nahm sie auch das Gold. Es würde ihr den Weg in ein neues Leben öffnen.

Hocherhobenen Hauptes verließ sie die Karawanserei, sich der Blicke der Wachen und Stallknechte wohl bewusst, die ihr folgten.

Himmlischer Frieden

Es war bereits später Nachmittag, als Shaya sich dem Palastviertel der Valesier näherte. Dort, so hoffte sie, würde sie eine Passage auf einem der Wolkenschiffe erhalten. Als sie sich durch die vielen Menschen schob, die die Straßen bevölkerten, musste sie an Aaron denken. Daran, wie oft er ihr von seinen Träumen von einer besseren Welt erzählt hatte. Vielleicht war es selbst für einen Unsterblichen zu kühn, gleich die ganze Welt verbessern zu wollen. Ob Arcumenna mehr Glück haben würde? Er wollte eine vollkommene Stadt. Danach eine Provinz. Kleine Schritte – so sollte auch ihr Leben künftig aussehen. Sie würde nur kleine Schritte machen, nichts Besonderes sein und unauffindbar für Aaron werden.

Schon am Mittag hatte sie damit begonnen. Sie hatte wieder einmal, wie eine Schlange, ihre Haut abgestreift. War eine andere geworden. Niemand hätte in der gut gekleideten, fast schon schönen Frau die armselige Pferdeheilerin vermutet. Shaya hatte für ihr Gold ein Kleid aus rot gefärbtem Leinen und ein paar weiche Stiefel gekauft. Auch für eine Tasche und einen kleinen Vorrat an Kräutern und Tinkturen hatte es noch gereicht.

Am Himmel über ihr ankerten unzählige Wolkensammler. Es war eine ganze Flotte, die an den hohen Türmen des Palastviertels versammelt lag. Hunderte Männer drängten sich vor den Wachposten. Shaya reihte sich geduldig in die lange Schlange und sah sich unauffällig um. Frauen gab es nur wenige. Sie wurde angepöbelt. Vielleicht war Rot nicht die klügste Wahl für das Kleid gewesen.

Die meisten Männer, die an Bord der Wolkenschiffe wollten, wurden abgewiesen. Shaya konnte sich vorstellen, warum. Gewiss wollte Arcumenna nur die jungen und kräftigen und jene, die ein Handwerk gelernt hatten. Mit harten Augen und zusammengekniffenem Mund gingen die Enttäuschten entlang der Menschenschlange zurück in die Stadt. Wieder einmal von Nangog um einen Traum betrogen.

Dann endlich stand sie vor einem schwitzenden Hauptmann mit kurz geschorenem, grauem Haar. »Wem gehörst du, Weib?«

»Mir!«, entgegnete sie verärgert.

Der Hauptmann musterte sie mit müdem Blick. »Was willst du in Asugar?«

»Ich bin eine Heilerin.«

Er nickte und wies auf einen der Ankertürme. »Du fliegst auf der Himmlischer Frieden. Steig dort den Turm aus gelblichen Ziegeln hinauf. An Bord wird man dir einen Platz zeigen, an dem du schlafen kannst.«

Ein wenig überrascht trat sie durch den Ring aus Wachen und sah dann unsicher noch einmal zu dem Hauptmann zurück. Der beschäftigte sich schon mit dem nächsten Träumer.

Sie konnte kaum glauben, dass es das schon gewesen war. Eilig strebte sie durch das Gedränge dem genannten Turm entgegen und erklomm die Treppe, die sich in weiten Spiralen entlang der Außenmauer wand. Auf der Treppe überholte sie etliche Männer, denen die Höhe zu schaffen machte. Sie hingegen konnte es kaum erwarten. So lange war sie schon nicht mehr geflogen! Mit festem Schritt passierte sie die breite Planke und war an Bord.

Einst hatte sie die Wolkensammler Kanitas befehligt, des Statthalters ihres Vaters Madyas. Eine Ewigkeit schien seitdem vergangen zu sein. Shaya suchte sich einen Platz an der Reling und genoss es, hinab auf die Stadt zu blicken. Endlich einmal hatte sie nicht kämpfen müssen, um ein Ziel zu erreichen. Es war fast unheimlich, wie leicht sie an Bord gekommen war. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, als sie auf die Menschenmenge blickte. Tausende warteten noch darauf, auf eines der Wolkenschiffe zu dürfen. Mehr als zwei Dutzend Menschenschlangen drängten sich in den Gassen des Viertels. Jeder Ankerturm wurde von Männern belagert, die an den Traum von Asugar glaubten. Der Stadt, die vollkommen sein würde.

Shaya beobachtete, wie Frachter mit Amphoren und lebendem Vieh beladen wurden. Einige Schiffe waren mit Kriegern gefüllt. Die Sonne funkelte auf ihren Bronzehelmen. Entlang der Reling hängten sie ihre großen Rundschilde auf. Ein jeder war mit einem anderen Bild bemalt. Einige zeigten die Schreckensgestalten, die sich aus dem Schoß Nangogs erhoben hatten. Frauenhäupter, auf denen sich Schlangen wanden, Kreaturen, halb Mensch, halb Vogel, oder Löwen und Pferde. Plante Arcumenna einen Feldzug? Es waren erstaunlich viele Bewaffnete, die ihm in seine Provinz folgten.

In der Abenddämmerung löste die Himmlischer Frieden endlich ihre Tentakel vom Ankerturm. Letzte Taue wurden eingeholt, die Segel an den Masten, die seitlich aus dem Rumpf des Schiffes ragten, gesetzt. Eine sanfte Brise trieb die Wolkenschiffe nach Süden.

Shaya mochte sich gar nicht sattsehen. Nach und nach legten alle Schiffe ab. Lange hatte sie keine so große Flotte mehr gesehen. Sie verkörperte die Macht der sieben Reiche. Und die Hoffnung.

Die Schatten der Schiffe glitten tief unter ihr über die Stadt. Keine hundert Schritt entfernt sah sie den seltsamen neuen Wolkensammler über dem Palast des Unsterblichen Volodi. Ob es noch mehr solcher Tiere am unendlichen Himmel gab? Dieser Wolkensammler glich einem Rochen. Nur dass ihm Tentakel von der Unterseite hingen. Selbst jetzt, wo er vor Anker lag, bewegten sich seine Schwingen schwach.

An Bord des Schiffes, das die Tentakel trugen, war nur ein einziger Mann zu sehen. Ein Krieger mit langem, blondem Haar, der nach Süden blickte, dorthin, wo Shayas Zukunft lag.

Offenbarung

Volodi sah den Wolkensammlern nach, die nach Süden flogen. Er wusste, dass die Flotte unter dem Befehl von Arcumenna, dem Laris von Truria, stand. Viele Jahre lang war Arcumenna der Heerführer des Unsterblichen Ansur gewesen. Er hatte den Krieg nach Drusna getragen und war der Sieger etlicher Schlachten und Scharmützel. Kein anderer Valesier hatte sein Volk so sehr gedemütigt wie Arcumenna, dachte Volodi bitter. »Mögen dich die Mücken und die Schlangen des Fieberdschungels verschlingen, blutsaufender Mistkerl.« Er überlegte, ob er Quetzalli darum bitten sollte, Arcumenna mit einem Fluch zu belegen. Sie war gut in solchen Dingen!

Die Ankerseile von Wind vor regenschwerem Horizont knarrten. Der Wind drehte, und der Wolkensammler schwang ein wenig nach Westen. Volodi beobachtete, wie die lange Reihe der Wolkenschiffe ebenfalls nach Westen abdriftete. Sie hatten die Goldene Stadt kaum hinter sich gelassen, und schon flogen sie nicht mehr auf dem richtigen Kurs, hilflos den Launen des Windes ausgeliefert. Wenn sie Pech hatten, würde es eine sehr lange Reise nach Asugar werden.

Der Drusnier lächelte zufrieden. Er gönnte Arcumenna jedes Missgeschick von ganzem Herzen. Vielleicht würde seine Flotte ja noch von Harpyien angegriffen oder von Tarkon Eisenzunge. »Mögen dir blutige Geschwüre am Arsch wachsen, auf dass es dir auf deinem neuen Thron als Provinzfürst so gar nicht gefällt!«

Das Fluchen hob seine Laune nicht. Die abdriftende Flotte erinnerte ihn daran, wie viel sie alle verloren hatten: den Schlüssel dazu, endgültig die Himmel Nangogs zu erobern und nicht mehr länger Sklaven der Winde zu sein. Unglücklich sah er zu Wind vor regenschwerem Horizont hinauf. »Du wirst der einzige deiner Art sein.« Irgendwie passte es zu Kolja, den größten Schatz dieser Welt zu finden und dann alles Wissen darüber für sich zu behalten. Für immer …

Volodi ging an der Reling entlang. Das Schiff war immer noch in einem erbärmlichen Zustand. Es sah aus, als wäre es aus irgendwelchen Wrackteilen zusammengezimmert. Auch der Schiffsbaum war in schlechtem Zustand. Er hatte kein einziges Blatt mehr, aber wenigstens begann er zu knospen. Er war nicht tot, was immer ihm auch zuvor widerfahren war.

Volodi lehnte sich rücklings an die Reling und blickte über das Schiff. Er sollte es umbauen. Besser bewaffnen. Vielleicht konnte er mit Wind vor regenschwerem Horizont endlich Tarkon stellen? Oder er könnte die Drachen der Daimonen vom Himmel holen. Er sollte den Großen Bären darum bitten, dass er seinen Bruder Langarm, den Götterschmied, schickte. Jener sollte neue Waffen ersinnen. Waffen, die es erlaubten, alle Feinde vom Himmel Nangogs zu vertreiben. Volodi dachte an Speerschleudern, die auf drehbaren Plattformen standen, sodass sie in jede Richtung schießen konnten. Fast jede – was über dem Wolkensammler war, würde für die Schiffsbesatzung unsichtbar sein. Das war schon immer das Problem der Wolkenschiffe gewesen. Wer von oben auf sie hinabstieß, der hatte gute Aussichten auf einen leichten Sieg.

Als er sich umdrehte, war die Flotte Arcumennas zu tiefschwarzen Schatten vor dem glühenden Horizont geworden. Die Finger des Unsterblichen klammerten sich um das verwitterte graue Holz des Handlaufs. Sie waren mächtig und zugleich ohnmächtig, ihre Wolkensammler. Zwanzig Himmelsriesen wie Wind vor regenschwerem Horizont würden den Unterschied machen. Aber das waren nur Träume.

Und willst du deine Träume leben, Unsterblicher Volodi?

Der Drusnier sah verblüfft auf. Noch nie hatte ein Wolkensammler zu ihm gesprochen! Die Stimme war in seinem Kopf. Sie klang undeutlich, war verzerrt wie ein Echo. Konnte die Kreatur etwa all seine Gedanken lesen?

Das wäre unhöflich. Ich schürfe nicht in deinen Erinnerungen, es sei denn, du lädst mich dazu ein.

»Warum jetzt?«

Weil ich deine Verzweiflung und deine Trauer spüre, und weil du ein anderer Mann bist als Kolja. Außerdem hast du deine Hand auf die richtige Stelle der Reling gelegt. Du bist nicht sehr empfänglich für die Sprache der Gedanken. Wenn ich dich berühren dürfte, könnte ich deine Gefühle noch intensiver teilen.

Volodi sah zum Handlauf hinab. Das verwitterte Holz war von einem frischen Wurzelspross des Schiffsbaums durchdrungen. Die Krone des Baums wuchs in den Leib des Wolkensammlers hinein. Und sie waren auf irgendeine Art miteinander verbunden. Der Himmelsgigant steuerte den Wurzelwuchs des Baums. Allerdings hatte Volodi bislang immer geglaubt, dass die Wolkensammler nur zu den Lotsen sprachen.

Wir sprechen zu denen, denen wir uns mitteilen möchten.

»Und warum ich?«

Darf ich dich berühren? Es würde mir leichterfallen, mit dir zu sprechen, wenn es nicht den Umweg über den Baum gäbe.

Volodi blickte zweifelnd auf das Gewühl sich windender Tentakel. Sie waren an Bord der Wolkenschiffe nie mehr als zwei Schritt entfernt. Manchmal erinnerte ihr Anblick ihn an die Schale sich windender Würmer, mit denen er als Junge zum Fischen gegangen war. Es war beklemmend, sie immer so nah zu sehen. Wer eines der fliegenden Schiffe betrat, lieferte sich ihnen aus. Er hatte gesehen, wie Tarkon Eisenzunge in den Leib seines Wolkensammlers aufgenommen worden war. Dieses Bild hatte er nie mehr vergessen können.

Keine Sorge, ich fresse nur sehr selten Menschen.

»War das ein Scherz?« Hatten Wolkensammler Sinn für Humor? Davon hatte Volodi noch nie gehört. Ein dünner Tentakel ringelte sich zu ihm hinab. Er war anders als die übrigen Fangarme. Blass, von schleimbedeckter, milchiger Haut überzogen und ohne Saugnäpfe oder Fanghaken. Sah es so aus, wenn einem ein Wolkensammler die Hand reichte?

Zögerlich berührte der Unsterbliche den Tentakel mit seinen Fingerspitzen. Er war überraschend kühl.

So ist es viel besser!

Die Stimme in Volodis Kopf war nun ganz klar zu verstehen.

Mir gefällt deine Idee, Waffen in den Kampf zu tragen, die von einem Devanthar geschaffen wurden. Wir werden sie brauchen, denn ich sehe einen schrecklichen, langen Krieg kommen. Ich werde das Leben vieler meiner Freunde retten können, wenn ich sie gegen die Drachen verteidigen kann, die unsere Welt heimsuchen werden.

Volodi hatte das Gefühl, dass Wind vor regenschwerem Horizont sich bemühte, seine Gedanken klar und einfach zu formulieren, so, als spräche er mit einem Kind. Zudem fand er den Gedanken, dass die Wolkensammler untereinander befreundet waren, verstörend. Bislang hatte er in ihnen nichts weiter als besonders große und auf ihre Art recht nützliche Tiere gesehen. »Sie werden versuchen, dich von oben anzugreifen, dagegen wirst auch du dich nicht wehren können.«

Ich habe dieses Problem länger bedacht. Es ist in der Tat eine große Gefahr. Aber ich kann meinen Körper verändern. Es dauert lange und ist schmerzhaft, aber möglich. Ihr könntet eine Röhre mit einer engen Treppe durch meinen Leib legen, um von den unteren Flugdecks auf meinen Rücken zu gelangen. Entlang meines Rückgrats wäre Platz für ein schmales Deck, auf dem einige Speerschleudern stehen könnten. Auch wäre es nützlich, wenn eure Silberlöwen sich oberhalb meiner Brüder hielten und versuchten, Drachen abzufangen.

Volodi dachte an den toten Drachen, den er in Wanu gesehen hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass einige silberne Löwen ausreichen würden, um solch ein Ungeheuer aufzuhalten. Er hatte gesehen, dass Subais Ischkuzaia Hunderte Pfeile benötigt hatten, um den Drachen zu töten. Noch befremdlicher fand er jedoch den Vorschlag des Wolkensammlers, eine Treppe durch seinen Leib bauen zu lassen. Er musste sich ihrer Sache wirklich sehr verbunden fühlen, wenn er bereit war, so etwas auf sich zu nehmen.

»Ich möchte dich nicht beleidigen, aber ich glaube nicht, dass du und einige silberne Löwen ausreichen werden, um die Herrschaft am Himmel zu behalten. Wir hätten das Traumeis gebraucht. Aber Kolja hat das Geheimnis um sein Versteck mit in den Tod genommen.«

Ich war es, der Kolja zu seinem Versteck getragen hat. Aber man muss wahrlich ein finsteres Herz haben, um von diesem Wächter die Erlaubnis zu erhalten, den Schatz zurückzuholen. Kolja hat ihn darauf eingeschworen, das Traumeis niemand anderem als ihm zu geben.

Neue Hoffnung keimte in Volodi. »Du weißt also, an welchem Ort es versteckt ist, und könntest mich dorthin bringen?«

Auch wenn mir die Feinheiten eurer Sprache nicht geläufig sind, glaube ich, dass es falsch ist, das Versteck als »Ort« zu bezeichnen …

Der Drusnier verstand nicht, was der Wolkensammler meinte. Egal, welch schrecklicher Wächter das Traumeis nun bewachte, Kolja hatte es an irgendeinem Ort versteckt – ob es nun tief in der Erde vergraben war, es in einer Höhle lag oder in einem See versenkt war.

Wenn du deine Augen schließt, sodass deine Sinne nicht abgelenkt sind, kann ich ein Bild in deine Gedanken pflanzen. Ich könnte dir, glaube ich, mit Worten nicht verständlich machen, wo es ist. Besser, du siehst es.

Volodi fand das verwunderlich, aber genau genommen war es ja auch schon verwunderlich, sich mit einem riesigen, schwebenden Rochen zu unterhalten. Also folgte er dem Wunsch von Wind vor regenschwerem Horizont.

Kaum dass er die Augen geschlossen hatte, stieg nicht ein einzelnes Bild in seinen Gedanken auf. Es waren Hunderte. Er konnte sehen, wohin Kolja gegangen war, was er getan hatte. Vor Schrecken taumelte der Drusnier von der Reling fort. Er strauchelte, ließ den Tentakel los und riss die Augen auf, um nicht weiter sehen zu müssen.

Selbst jetzt, da er zum freundlichen Abendhimmel aufblickte, wollten ihn die Bilder nicht mehr loslassen. Kolja hatte wahrlich einen Ort gefunden, an den Menschen nicht gehen sollten. Und ja, der Wolkensammler hatte recht. Ort konnte man es eigentlich nicht nennen … Es war … Allein der Anblick der Augen grauste Volodi. Dieser Wächter …

»Ich kann nicht dorthin!«, sagte er entschieden.

Dann … wir Nangog verlieren! Wir brauchen … Traumeis! Die Stimme von Wind vor regenschwerem Horizont war ein undeutliches Echo, kaum noch verständlich.

»Nein!« Volodi wollte vergessen, was er gesehen hatte. Er eilte zu der Planke, die hinüber zum Ankerturm führte. Er war sich bewusst, dass es eine regelrechte Flucht war. Er hatte von diesem Wächter schon gehört. Aber all diese Geschichten waren nicht im Mindesten an die Wirklichkeit herangekommen. Vermutlich lag es daran, dass niemand mehr lebte, der ihm wirklich nahe gekommen war. Wie hatte Kolja nur …

Nein, er wollte es nicht wissen! Volodi taumelte immer noch, benommen von der Wucht der Bilder. Koljas Herz musste noch viel finsterer gewesen sein, als er jemals geahnt hatte, wenn dieses Ungeheuer in ihm einen Seelenverwandten gesehen hatte. Volodi wollte alles vergessen. Er wollte seinen Sohn in den Armen halten, wollte Quetzalli küssen und sie leidenschaftlich lieben. Er wollte diese Erinnerung um jeden Preis tilgen. Wollte vergessen, dass es dort draußen etwas gab, das jede Normalität binnen eines Herzschlags auslöschen konnte.

Anisja

Bidayn kniete auf dem Flur vor den Gemächern des Unsterblichen. Sie konnte Quetzalli hinter der nächsten Tür auf und ab gehen hören. Volodi war nicht zu ihr gekommen, als er am frühen Abend aus Drusna zurückgekehrt war. Er war auf den Ankerturm gestiegen, zu dem veränderten Wolkensammler, und hatte zugesehen, wie die Luftflotte die Goldene Stadt verlassen hatte.

Inzwischen war es dunkel, und in der großen Halle lärmten die Krieger. Sie betranken sich allzu oft. Bidayn verstand das nicht. Abend für Abend saßen sie zusammen, erzählten sich Geschichten, von denen jeder wusste, dass der größte Teil erstunken und erlogen war, und besoffen sich dabei. Ein Dreck waren sie! Asfahal und ihr Gefolge würden nur wenige Augenblicke brauchen, um diese Aufschneider niederzumetzeln. Was für Krieger waren das?

Wahrscheinlich war es ein Fehler zu versuchen, die Menschen zu verstehen. Sie waren schmutzig, ohne Moral und, was das Schlimmste war, so dumm, dass es zum Himmel stank. Als sie vorgestern an den Hof zurückgekehrt war, hatte sie bei Vladi, dem Aufseher der Dienerschaft, vorsprechen müssen. Sie hatte Sorge gehabt, er könne sie wiedererkennen. Ihre Augen waren unverändert, die Art, wie sie sich bewegte. Er hätte es durchschauen können, doch statt aufmerksam zu sein, hatte er ein zweites Mal eine Mörderin in das Haus seines Herrn eingeladen.

Bidayn wrang den Putzlappen über der Schale mit schmutzigem Wasser aus. Sie hoffte, dass das hier schnell vorbei sein würde. Sie hasste es, die demütige Dienerin geben zu müssen. Sie war die Auserwählte des Goldenen. Die Elfe rutschte ein Stück vorwärts und schwang den Putzlappen in weitem Bogen über die Steinplatten. Eine Öllampe spendete ihr kümmerliches gelbes Licht. Ihr war klar, wie wichtig diese Mission war. Dennoch hätte sie früher ein Streiter der Blauen Halle übernommen. Drachenelfen waren dazu ausgebildet, Blut zu vergießen.

Etwas hatte sich verändert. Bidayn hielt den Atem an. Sie durfte sich nicht ihrer Wut hingeben. Sie musste jeden Augenblick achtsam sein. Wenn sie einen Fehler beging, würde es niemanden geben, der käme, um sie zu retten. Die Schritte! Das hatte sich verändert. Quetzalli hatte in ihrem unruhigen Marsch hinter der Zimmertür innegehalten. Vielleicht um das Kind aus der Wiege zu heben. Wanya war ungewöhnlich ruhig heute Abend. Von ihrem ersten Besuch kannte Bidayn ihn als quengelndes Balg, das hundert Mal am Tag Mama oder Papa stammelte und irgendwelche unverständlichen Worte vor sich hin brabbelte, die Quetzalli ein Lächeln auf die Lippen lockten.

Wahrscheinlich hatte er den Tag über so viel gestammelt, dass ihm nun die Puste ausgegangen war, dachte Bidayn. Plötzlich sah sie ganz deutlich Lydaine und Farella vor ihrem inneren Auge. Sie waren ihre Töchter, seit sie in Uttika den Kaufherrn Shanadeen geheiratet hatte. Und sie hatten beobachtet, wie sie sich in der Nacht ihrer Hochzeit mit Asfahal im Bett ihres Vaters vergnügt hatte. Ob die beiden es ihm erzählt hatten?

Es hatte Augenblicke gegeben, in denen sie die Mädchen gemocht hatte. Nicht sehr viele … Ob sie sie noch einmal wiedersehen würde?

Die Tür am Ende des Flurs öffnete sich. Volodi trat ein. Endlich! Er taumelte, stützte sich mit beiden Händen an der Wand ab. Sein Atem ging keuchend.

»Herr?« Bidayn erhob sich.

Fast erschrocken sah er auf. Augenblicklich straffte er sich. Im Dunkel des Flurs sah sie ihn nicht sehr deutlich. Er kam auf sie zu.

Bidayn flüsterte das Wort der Macht, das der Goldene sie gelehrt hatte. Sie roch ihren Duft nicht. Sie konnte nur darauf hoffen, dass er wirkte.

Jetzt trat Volodi in den Lichtkreis der Öllampe. Sein Gesicht wirkte blass. Er hatte etwas Gehetztes an sich.

»Was hast du gesagt, Mädchen? Du hast doch gerade etwas gemurmelt …«

Sie blickte auf den Putzlappen vor ihr auf dem Boden. »Ich fragte, ob es euch gut geht, Herr.«

Er blieb eine Antwort schuldig. Stattdessen ging er zu der Tür, hinter der Quetzalli wartete. Plötzlich drehte er sich noch einmal um. »Ich habe dich noch nie zuvor gesehen.« Seine Stimme klang weicher.

Lag da Sehnsucht in seinen Augen? Oder war das nur Wunschdenken?

»Wie heißt du, Mädchen?«

»Anisja, Erhabener. Ich hatte das Glück, dass Euer Hofmeister Vladi mich in Euren Dienst aufnahm, Herr.«

»Ich glaube, ich war es, der Glück hatte, Anisja. Du bist so schön wie ein frischer Rehbraten. Allein dich anzusehen gibt einem unruhigen Herzen Frieden.«

»Ihr seid ein Dichter, Erhabener.«

Er lachte leise. »Ich bin vieles, aber ganz gewiss kein Dichter.« Er öffnete die Tür und trat in sein Gemach.

Schön wie ein frischer Rehbraten, dachte Bidayn. Auf so ein Kompliment konnte nur ein Drusnier kommen. Wenn sie Asfahal davon erzählte, würde er am Boden liegen vor Lachen. Der Gedanke an den Elfen versetzte ihr einen Stich. Sie mochte ihn. Er brachte sie zum Lachen und war ein guter Liebhaber. Und er würde sie betrügen. Sie sollte sich nicht auf ihn einlassen, das würde sie nur unglücklich machen. Sie gehörte allein dem Goldenen.

Vom Vergangenen und dem, das kommen soll

Das Treffen war wichtig. Es war das erste Mal seit der Niederlage im ewigen Eis, dass alle Unsterblichen sich versammelt hatten. Sie beratschlagten, wie sie in Zukunft gegen die Daimonen vorgehen konnten. Gerade sprach der Unsterbliche Ansur. Er war ein Langweiler. Seine Stimme monoton. Artax vermochte einfach nicht mit den Gedanken bei ihm zu bleiben oder bei dem Übersetzer, der ihm ins Ohr flüsterte, was Ansur sagte.

Artax sah dem Unsterblichen ins Antlitz, damit es weniger auffiel, dass seine Gedanken nicht in der kleinen Halle waren, in der sie auf schlichten Bänken um eine Feuergrube versammelt saßen. Das Treffen war geheim gehalten worden. Nur wenige Vertraute aus dem engsten Umfeld der Unsterblichen wussten davon. Schließlich hatte es erst kürzlich einen Überfall der Daimonen auf ausgerechnet diesen Palast gegeben. So hatten sich allein die Unsterblichen und ihre Übersetzer in der Halle eingefunden.

Artax sah zu Volodi. Er hatte den Eindruck, dass auch sein Freund mit seinen Gedanken nicht bei der Sache war.

»Und deshalb genügt es nicht, unsere Truppen zu verstärken«, flüsterte der Übersetzer. »Wir müssen die Befestigungen der Städte stärken, die Türme, die Mauern …«

Unsinn, dachte Artax. Was halfen Mauern gegen Feinde, die auf riesigen Adlern ritten? Volodi hatte ihm vom Überfall auf seinen Palast berichtet. Die Daimonen kamen und gingen, wie es ihnen gefiel. Mauern waren das Letzte, was sie aufhalten würde.

Wie tödlich die fliegenden Daimonen waren, hatte er am eigenen Leib erfahren. Manchmal verfolgte ihn der rot gewandete Krieger in seinen Träumen, der auf seinem fliegenden Pferd gegen ihn gekämpft hatte. Der Daimon hatte den Unsterblichen Madyas getötet und auch ihn fast ermordet. Nie würde er die kalten, völlig schwarzen Augen seines Gegners vergessen und wie hilflos er sich gefühlt hatte, als der silberne Löwe, auf dem er zusammen mit Madyas geritten war, aus dem Himmel stürzte.

Daran, was nach dem Kampf im Himmel geschehen war, hatte er fast keine Erinnerung. In seinen Fieberträumen war Shaya bei ihm gewesen. Ormu hatte eine Heilerin geholt, die ihm in der Nacht, bevor sie das ewige Eis verließen, das Leben rettete. Er musste sie gesehen haben, konnte sich an ihr Gesicht aber nicht erinnern. Ormu sprach nicht viel über sie. Der Bogenschütze war ohnehin nicht sonderlich gesprächig, aber was diese Nacht anging, war er besonders verschlossen.

Artax hatte inzwischen mit anderen Überlebenden gesprochen. Viele hatten ihm von einer dunkelhaarigen Frau berichtet, die man auf dem Rückzug »die Trösterin« genannt hatte. Unermüdlich hatte sie den Verwundeten und Sterbenden geholfen. Doch nun war sie spurlos verschwunden. War sie am letzten Tag noch umgekommen?

An diesen Tag konnte er sich noch gut erinnern. An die Lawinen, die gleich tosenden weißen Wolken die Hänge hinabgeglitten waren und Hunderte, die schon das rettende Weltentor vor Augen hatten, noch in den Tod gerissen hatten. Er hatte überlebt, weil er gegen die grauen Riesen und die Zwerge auf den eisernen Schlitten gekämpft hatte.

Wahrscheinlich war die Trösterin bei den Verwundeten und Nachzüglern an den Hängen gewesen. Artax haderte damit, dass die Götter so ungerecht waren. Er hatte seine Spitzel beauftragt, nach der Trösterin zu suchen oder zumindest jemanden zu finden, der wusste, wo sie in jenen letzten Stunden im ewigen Eis gewesen war. Er wollte nicht akzeptieren, dass die Frau, die ihm das Leben gerettet hatte, wenige Stunden später gestorben sein sollte.

Er seufzte leise. Warum nur spielte ihm seine Erinnerung so verrückte Streiche? Warum sah er Shaya in jener Nacht an seiner Seite. War er dem Tod so nahe gewesen, dass er sich von der Wirklichkeit gelöst hatte und seine Wünsche das Einzige gewesen waren, was für ihn noch Gestalt hatte?

Seine Gedanken wanderten weiter zu Lamgi, dem kahlköpfigen, schlaksigen Krieger, der Scharführer unter den Kushiten geworden war. Er hatte Talent gezeigt, besonders unauffällig zu sein. Ashot mochte ihn nicht, doch Artax war überzeugt, dass Lamgi ein ausgezeichneter Spitzel sein könnte. Deshalb hatte er ihn beauftragt, die Wolkenstadt von Tarkon Eisenzunge zu finden. Als sie den Kult, der die Grünen Geister anbetete, zerschlagen hatten, war er auf ein Wolkenschiff gestiegen und verschwunden. Inzwischen bereute Artax, Lamgi auf diese Mission geschickt zu haben. Er hatte seit vielen Wochen nichts mehr von ihm gehört. Wäre er hier, er wäre der Mann gewesen, der die verschwundene Trösterin gefunden oder einen Zeugen für ihren Tod aufgespürt hätte.

»Reden wir nicht länger über Mauern, hinter denen wir uns verstecken wollen, Brüder!«, unterbrach der Unsterbliche Acoatl den Vortrag Ansurs. Der Herrscher der Zapote deutete mit ausgestrecktem Arm auf Volodi. »Dein Wolkenschiff, Drusnier, woher kommt das? Wo finden wir weitere solche fliegenden Rochen? Warum sind wir ihnen bisher nicht begegnet?«

Ein Augenblick verging, während die Übersetzer den Unsterblichen zuraunten, was Acoatl gesagt hatte.

»Nun …« Volodi drehte unschlüssig das Methorn, das er in Händen hielt.

Artax war aufgefallen, dass sein Freund während des Treffens ungewöhnlich viel getrunken hatte, und Volodis Zunge klang schwer, als er antwortete.

»… mir scheint, er ist der einzige Flugrochen.«

»Scheint es so, oder ist es so? Ich weiß, du warst an Bord. Du hast mit ihm gesprochen, nicht wahr?«

»Nur die Lotsen sprechen mit den Wolkensammlern«, wandte Artax ein. »Das sollte selbst dir bekannt sein, Acoatl.«

»Wenn ich von dir etwas wissen will, dann frage ich dich, Tempelschänder. Oder bist du nun die Zunge des Unsterblichen Volodi?«

Bevor Artax etwas erwidern konnte, hob Volodi die Stimme. »Ich konnte mit ihm sprechen. Acoatl hat recht. Seine Adlermänner haben wohl sehr scharfe Augen.« Der Drusnier nahm sein Methorn und trank in tiefen Zügen.

Artax hatte nicht das Gefühl, als tränke sein Freund aus Lust am Zechen. Er kämpfte damit gegen etwas an …

»Er ist der Einzige seiner Art«, sagte der Drusnier müde. »Es wäre zwecklos, den Himmel nach weiteren fliegenden Rochen zu durchsuchen.«

»Das müssen wir auch nicht«, trumpfte Subai auf. Der neue Unsterbliche der Ischkuzaia strotzte vor Stolz und Selbstgefälligkeit. Trotz der Hitze trug er einen Umhang aus Schneeleopardenfell. Auch war er der Einzige, der die weiße Lederrüstung der Unsterblichen trug, was einem Affront nahekam, konnte man es doch so deuten, dass er sich im Palast Volodis nicht sicher fühlte. Artax hingegen vermutete, dass Subai lediglich mit den Insignien seiner neuen Macht protzen wollte.

»Wir selbst werden den Himmel erobern. Langarm wird mir zwanzig silberne Wölfe anfertigen. Die ersten zehn sind schon vor einer Woche gekommen. Meine besten Reiter üben sich an einem verborgenen Ort darin, mit ihnen den Himmel zu stürmen.«

»Silberne Wölfe?«, fragte Labarna, der hünenhafte Herrscher Luwiens.

Subai grinste breit. »Wir verehren den Weißen Wolf. Auf silbernen Löwen zu reiten hieße, unseren Gott zu beleidigen. Das hat auch Langarm verstanden, deshalb hat er uns geflügelte Wölfe erschaffen. Aber sei unbesorgt, sie stehen den silbernen Löwen in nichts nach.« Er sah zu Acoatl. »Vielleicht wird er für dich geflügelte Schlangen machen, wenn du ihn nett bittest.«

»Ich krieche in niemandes Arsch, nicht einmal in den eines Gottes«, erklärte Acoatl kühl.

»Wenn du die Bitte um einen Gefallen mit Arschkriecherei verwechselst, wirst du sicherlich noch mehr verlieren als nur den Quell deines weißen Goldes. Dein Volk tut mir leid. Wir sind unsterblich, wir genießen jeden Luxus, aber wir sind auch die ersten Diener unseres Volkes.«

Artax sah Subai verwundert an. Sprach da einer der vorherigen Unsterblichen aus der Herrscherlinie der Ischkuzaia durch seinen Mund? Diese Rede klang so gar nicht nach dem Subai, den er kannte.

»In zwei Tagen seid ihr alle in meinen Palast eingeladen. Ihr werdet dann meine neue, fliegende Leibgarde bewundern können: die Drachentöter!«

Artax dachte an den Verdacht Ormus, dass es nicht die Pfeile von Subais Reitern gewesen waren, die den großen roten Drachen in Wanu getötet hatten. Aber die seltsame Pfeilspitze, die hätte beweisen können, dass es eine unbekannte Macht gab, die ihnen im Kampf gegen die Drachen half, hatte Artax während des Angriffs des rot gewandeten Daimons verloren. Erneut an den Luftkampf erinnert, kamen ihm Zweifel, dass zwanzig silberne Wölfe ihre Feinde aufhalten könnten. Nein, sie bräuchten Hunderte davon oder weitere Wolkensammler wie diesen geheimnisvollen Himmelsrochen.

Himmelsrochen würde es nicht geben. Artax ballte die Fäuste. Also brauchten sie Schwärme von geflügelten Löwen!

Ansur fing wieder davon an, dass sie ihre Städte befestigen mussten. Er wollte mehr Krieger. Mehr Speerschleudern und einen Riesen, der die Adler der Daimonen zerquetschte wie Fliegen …

Artax sah überrascht auf. Das war mal etwas Neues! »Wir müssen die Devanthar rufen«, sagte er entschieden. »Vor allem Langarm. Wir müssen wissen, was möglich ist. Vielleicht kann er uns ja sogar einen silbernen Drachen bauen?« Er lächelte Ansur zu. »Du hast recht, Bruder. Wir müssen einfach größer denken. Warum sollten wir uns mit Löwen zufriedengeben, wenn Riesen möglich wären? Wenn es nur einen dieser Himmelsrochen gibt, warum sollten wir uns damit abfinden? Vielleicht kann Langarm auch Himmelsrochen bauen?«

Artax sah, wie dieser Gedanke alle begeisterte. Selbst Acoatl nickte ihm zu. »Ja, wir müssen als Erstes die Grenzen unseres eigenen Denkens überwinden. Wenn Langarm einem Löwen aus Metall Leben einhauchen kann, dann kann er alles bauen.«

»Mich verlässt mein Leben gleich«, murmelte Volodi. »Habt ihr auch Hunger? Großen Reden zuzuhören finde ich anstrengender, als große Schlachten zu schlagen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich könnte einen ganzen Ochsen verschlingen.«

Labarna klopfte ihm auf die Schulter. »Man sollte nie das Wesentliche aus dem Blick verlieren. Ich bin dabei. Und ich glaube, für heute gibt es nichts mehr zu besprechen, oder? Der nächste Schritt ist ein Treffen mit Langarm.« Er sah zu Acoatl. »Ich hoffe, dass es nicht selbst für einen Gott zu viel ist, wenn sieben Unsterbliche versuchen, ihm in den Arsch zu kriechen. Oder bist du nicht dabei, Bruder?«

Acoatl blieb ihm eine Antwort schuldig.

Volodi ging zur Tür und tuschelte kurz etwas mit jemandem, der draußen gewartet hatte.

»Ist es weise, wenn wir uns erneut alle an einem Ort wie diesem versammeln? Vor vielen Zeugen? Beim nächsten Mal sollten wir nicht in einem Palast zusammenkommen. Besser wäre ein Ort irgendwo in der Wildnis, den nur wir Unsterbliche auf unseren fliegenden Löwen erreichen können«, wandte Eloni, der neue Herrscher der Schwimmenden Inseln, ein. Es war das erste Mal, dass er während des Treffens sprach. Er war ein großer Mann mit bronzefarbener Haut voller dunkelblauer Tätowierungen. Sein Gesicht war so stark mit Schlangenlinien geschmückt, dass es schwerfiel, die Regungen darin abzulesen. Am auffälligsten jedoch waren seine Tätowierungen auf Brust und Bauch, die zwei Krokodile zeigten, die sich gegenseitig verschlangen.

»Dann kommen wir doch jeder auf unserem eigenen Palastschiff«, schlug Ansur vor. »So können die Daimonen uns nicht alle zugleich angreifen. Und die Kunstfertigkeit von fliegenden Steppenreitern lässt sich vielleicht auch am besten vom Himmel herab beurteilen.«

Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung, und als Diener Böcke hereintrugen, auf die breite Holzplatten für das Festmahl gelegt wurden, herrschte eine gelöste Stimmung.

Quetzalli war mit dem Gefolge gekommen und beaufsichtigte persönlich, was aufgetragen wurde. Erst als alles zu ihrer Zufriedenheit war, nahm sie neben Volodi Platz. Es versetzte Artax einen Stich, die beiden in trauter Zweisamkeit zu sehen. So kurz war sein Glück mit Shaya gewesen.

Er sollte Langarm um einen Schwarm fliegender Löwen bitten. Auch er wollte am Himmel kämpfen und den Tod von Madyas rächen. Schließlich hatte er nichts mehr zu verlieren.

Ein wenig wunderte sich Artax, dass seine inneren Stimmen schwiegen. Aber vielleicht hofften auch sie auf seinen baldigen Tod. Er winkte einer Dienerin, einer üppigen Blondine, und ließ sich Met in sein Trinkhorn gießen. Eigentlich mochte er dieses süßliche Gebräu nicht, aber heute war er in der Stimmung, sich zu betrinken. Vielleicht würde ihm dann Shaya wenigstens in seinen Träumen begegnen.

Eine Leber voller Würmer

Quetzalli war erstaunt zu sehen, wie viel der Unsterbliche Aaron trank. Früher war er stets sehr zurückhaltend gewesen. Sie zerteilte ein Stück Rehbraten und schob es Volodi auf den Teller. Ihr Mann hatte sich verändert, seit er Kolja in den Heiligen Hain von Drei Eichen gebracht hatte. Er sprach nicht mit ihr darüber, was geschehen war. Dass er sich zudem kaum um Wanya kümmerte, war hingegen nicht schlecht. Der Kleine musste sich erholen …

Sie nahm einen Schluck von dem Honigbier, das die Drusnier so sehr liebten. Warm und klebrig war es. Sie konnte sich daran nicht begeistern. Der Reihe nach betrachtete sie die Unsterblichen. Für die mächtigsten Männer der Welt waren sie recht gewöhnlich. Es war gut, dass sie meist Masken trugen, wenn sie sich vor dem Volk zeigten.

Acoatl trank nicht, und er aß auch nicht von den Speisen, die ihm aufgetragen wurden. Keinen Herzschlag wichen seine Augen von ihr. Sie war unberührbar für ihn. Und sie verkörperte seine größte Demütigung. Quetzalli war sich sicher, dass er darüber nachsann, wie er sie in seine Hände bekommen könnte. Wenn es nach ihm ginge, würde sie noch heute auf dem Altar im verborgenen Tempel im Weltenmund liegen. Und Volodi neben ihr.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie diesen Tag nicht überlebt hätte. Sie war sich bewusst, dass viele Drusnier sie fürchteten. Doch ab und an einen schwarzen Hahn zu schlachten, um dessen Leber zu betrachten, schadete niemandem. Sie war eine Herrscherin! Es war ihre Pflicht, nach Vorzeichen für die Zukunft zu suchen, damit sie auf die Stürme, die da kommen würden, vorbereitet war.

Erst heute Morgen hatte sie erneut einen Hahn geschlachtet. In seiner Leber hatte sie Würmer gefunden. Das war ihr erst ein einziges Mal passiert. Eine Woche, bevor Volodi zum Tempel beim Blutsee gebracht worden war und man ihr befohlen hatte, ihm das Herz herauszuschneiden. Damals hatte Aaron sie gerettet. Und sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass auch noch eine andere Macht eingegriffen hatte. Vielleicht die Götter selbst.

Nun zog ein neues Unglück herauf. Sie wusste, dass es kommen würde. Eine Leber voller Würmer, das war eine überdeutliche Warnung.

Acoatl erhob sich. Seine Blicke waren wie Messerstiche. Er nickte Volodi zu. Sagte aber kein Wort. Auch Eloni stand jetzt auf. Wie es schien, hatte Acoatl im neuen Unsterblichen der Schwimmenden Inseln erneut einen Verbündeten gefunden. Zumindest besaß Eloni die Höflichkeit, sich wortreich von Volodi zu verabschieden.

Volodis Antwort war ein Rülpser und ein etwas unbeholfenes Gestammel. Er war betrunken. Dennoch hätte er zumindest versuchen sollen, die Form zu wahren. Jetzt winkte er schon wieder die neue Dienerin zu sich, damit sie ihm das Methorn auffüllte. Quetzalli gefiel nicht, wie Volodi diese Blondine ansah. Da war etwas Verträumtes in seinem Blick, das zwischen ihnen verloren gegangen war. Dieses Flittchen gefiel ihm. Und Quetzalli hatte den Eindruck, dass die kleine Hure sich bemühte, ihrem Mann zu gefallen. Wann immer sie ihm nachschenkte, beugte sie sich besonders weit vor, sodass ihr die drallen Brüste fast aus dem tief ausgeschnittenen Kleid quollen. Und Volodi starrte jedes Mal hin.

Gestern, in der großen Halle, war ihr zum ersten Mal aufgefallen, dass ihr Mann diesem Weibsbild nachsah. Vladi hatte ihr gesagt, dass sie Anisja hieß. Der Hofmeister hatte das Flittchen ebenfalls in höchsten Tönen gelobt. So sehr, dass sie ihm nicht hatte befehlen können, Anisja davonzujagen. Ihre Eifersucht wäre zu offensichtlich gewesen und hätte zu Gerede bei Hof geführt. Es reichte, dass man sie für eine Hexe hielt, sie brauchte nicht auch noch Tratsch darüber, dass Volodi seiner Hexe überdrüssig geworden war.

Lange würde es nicht mehr unbemerkt bleiben, wie der Unsterbliche diese Dienerin ansah. Vielleicht waren die Würmer in der Leber eine Warnung vor Anisja gewesen? Sie bewegte sich mit erstaunlicher Anmut, musste Quetzalli eingestehen.

»Ich werde nach Wanya sehen«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Er nickte. »Ich komme sofort nach, wenn die Gäste gegangen sind.« Sein Atem stank nach Met. Ob er wohl ohne Hilfe ins Bett fand?

Als Quetzalli das Gästehaus verließ, hielt sie sich links und machte einen weiten Umweg durch den Heiligen Hain und an den Schweinepferchen vorbei zu den Quartieren der Würdenträger bei Hof. Dort wartete sie lange ab und beobachtete den Hof, bevor sie zu der Tür ging, neben der der Schild mit dem Eberkopfwappen hing. Sie hatte ihren dunklen Umhang über den Kopf gezogen. Von Ferne sah sie nicht anders aus als irgendeine Dienerin.

Sie klopfte leise. Drinnen hörte sie ein ärgerliches Murren, dann Schritte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und ein verschlafenes Gesicht erschien.

Als er sie erkannte, war Oleg schlagartig hellwach. »Das ist keine gute Idee, Herrin. Man darf Euch hier nicht sehen. Der Unsterbliche wird mich …«

»Lass mich herein, wenn du nicht willst, dass ich gesehen werde.« Sie schob sich durch die Tür und schloss sie hinter sich.

Der Hauptmann wich vor ihr zurück, als fürchtete er, dass sie die Pest in sein Haus trage.

»Ihr solltet nicht hier sein.«

»Dir ist bewusst, dass du es meiner Fürsprache verdankst, dass du Hauptmann in der Leibwache des Unsterblichen bist?«

Oleg sah sie finster an. »Ihr habt mich bereits mehrfach erinnert, Herrin.«

»Du schuldest mir einen Gefallen.«

Er schnaubte ärgerlich. »Ja, ich weiß.«

»Du kennst die neue Dienerin in der Festhalle? Anisja? Sie ist blond. Und sie ist leidlich hübsch.«

»Sie ist mir durchaus aufgefallen, Herrin.«

»Ich wünsche, dass sie verschwindet. Ich möchte nicht wissen, wie oder wohin, aber diese kleine Hure darf nie wieder hier bei Hof erscheinen.«

Oleg konnte sich ein anzügliches Grinsen nicht verkneifen. »Ich verstehe.«

»Du wirst das noch in dieser Nacht erledigen.«

Er rollte mit den Augen.

»Ist dir das nicht möglich?«, fragte sie scharf.

»Die Kleine wird nie wieder das Sonnenlicht sehen.«

Quetzalli hielt den Hauptmann nicht für sonderlich fähig. Er hatte zwar zu den Zinnernen gehört, aber seine hervorstechende Leistung war es gewesen, alle Schlachten ohne die leichteste Wunde zu überstehen. Sie hatte sich mit Bedacht um seine Beförderung gekümmert. Sie brauchte Männer bei Hof, die ihr etwas schuldeten, denn außer Volodi hatte sie hier keinen Rückhalt. Aber ein schwaches Weib zu entführen sollte wohl im Rahmen seiner Möglichkeiten liegen.

Sie verabschiedete sich knapp, spähte durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür über den Hof und verschwand dann eilig in die tiefen Schatten des Heiligen Hains. Als sie wenig später in der großen Halle in den Flur trat, an dem ihre Gemächer lagen, war sie guter Dinge. Sie hatte die Gefahr, die ihrem Ehefrieden drohte, gebannt.

Die beiden Wachen grüßten sie freundlich.

»Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«

»Nein, alles war ruhig. Wanya schläft. Man hört keinen Laut von ihm. Yuri war kurz bei ihm, um nach ihm zu sehen, wie Ihr es ihm aufgetragen hattet, Herrin.«

»Gut.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. Sie hatte diesen Scharlatan nicht geschickt! Quetzalli hielt den ehemaligen Leibarzt des Unsterblichen Iwar für ein dummes Großmaul und hatte dafür gesorgt, dass er nicht in Volodis Gunst stand. Was hatte er mit Wanya zu schaffen? Hatte er etwas bemerkt?

Sie trat in ihr Gemach, ganz darauf bedacht, ruhig zu wirken. Doch kaum, dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, stürzte sie zur Wiege. Wanya war wach. Er sah sie an, ohne zu blinzeln, ohne ein Zeichen des Erkennens. Er gab keinen Laut von sich. Sein kleines Gesicht war wie eine Maske. Und auf seiner Decke lag ein Dolch mit schwarzer Obsidianklinge und goldenem Griff. Ein Opfermesser ihres Volkes. Sie selbst hatte einst ein solches Messer benutzt, um den goldhaarigen Männern, die zur Gefiederten Schlange gingen, das Herz herauszuschneiden.

Acoatl musste einen seiner Jaguarmänner geschickt haben. Vielleicht sogar ihren eigenen Bruder Necahual? Sie zweifelte nicht daran, dass der Bote Acoatls zusammen mit dem ehemaligen Leibarzt gekommen war. Der Flur draußen war dunkel. Und Jaguarmänner vermochten durch die Schatten zu gehen. Nur so konnte der Dolch hierher gelangt sein. Es gab kein Fenster in diesem Zimmer. Wer herein wollte, musste durch die Tür.

Quetzalli nahm den Dolch aus der Wiege. Ihre Hand zitterte. Sie war von Feinden umstellt, und ihr Mann saß im Gästehaus und betrank sich. Die Götter hatten sie gewarnt. Eine Leber voller Würmer bedeutete Verderben.

Begehrt

Bidayn glaubte es nicht. Volodi hatte ihr die Hände um die Hüften gelegt und sie zu sich auf den Schoß gezogen! Er spielte mit ihrem Haar und stank entsetzlich nach Honigbier und Rauch. Der Unsterbliche Aaron legte den Kopf schief und beobachtete sie verwundert.

»Ein hübsches Mädchen hast du dir da geholt …«, lallte Labarna.

Bidayn spürte, wie Volodi sich versteifte. Er schob sie sanft von sich.

»Tja …« Schwankend erhob er sich. »Also ich glaube, ich habe genug für heute.« Er unterstrich seine Worte mit einem erstaunlich lang gezogenen Rülpser. »Saufen wir an einem anderen Tag.« Schwankend ging er zur Tür.

Subai maulte etwas über mangelnde Gastfreundschaft, die anderen Unsterblichen blieben friedlicher. Ansur musste von seinen beiden Übersetzern gestützt werden, weil ihn offensichtlich seine Beine nicht mehr trugen.

Bidayn zog sich zur Wand zurück, wo auf einer Holzplatte ein halb aufgeschnittenes, gebratenes Wildschwein lag, dem irgendein Scherzbold einen Hasenkopf ins Maul gesteckt hatte. Ihr Blick blieb auf dem Bronzemesser haften. Man brauchte keine Adler und Drachenelfen. In diesem Augenblick könnte sie mit diesem schlichten Bronzemesser fünf Unsterbliche ermorden, wenn sie es nur wollte. Volltrunken und ohne Leibwachen könnte sich höchstens Aaron zur Wehr setzen, der noch einigermaßen nüchtern wirkte.

Aber tot nutzte ihr Volodi nichts. Es ging um etwas Größeres. Sie musste sich beherrschen!

Der Drusnier verließ als Erster den kleinen Festsaal. Er sah zu ihr, bevor er ging. Sehnsucht und Schuldbewusstsein lagen in seinem Blick. Er würde zu ihr kommen! Der Zauber wirkte.

Sie war sich bewusst, dass auch Labarna sie anstarrte. Außerdem noch einige der Übersetzer. Der Raum war zu klein. Ihr Duft hatte nicht nur auf Volodi gewirkt.

Kaum dass Volodi sich zurückgezogen hatte, ging auch sie. Doch Bidayn hatte noch keine zehn Schritte getan, als hinter ihr die Stimme Vladis erklang. »Das Fest ist noch nicht beendet, Anisja. Deine Arbeit auch noch nicht.«

Sie wandte sich um und schenkte dem Hofmeister ihr bezauberndstes Lächeln. »Ich muss gehen, um das Eigentum des Unsterblichen Volodi zu schützen.«

Vladi runzelte fragend die Stirn.

»Mich. Nun, da er den Saal verlassen hat, fehlt es mir an Schutz. Einige der Männer haben mir begehrliche Blicke zugeworfen und mir unsittliche Angebote zugeflüstert.« Sie war sich sicher, dass Vladi nicht entgangen war, wie Volodi sie ansah und dass sie auf dem Schoß des Herrschers gesessen hatte.

Der Hofmeister wirkte verärgert. »Geh!« Er unterstrich das Wort mit einer fahrigen Geste. »Aber sei zu Sonnenaufgang in der großen Halle. Auch wenn der Erhabene Gefallen an dir gefunden hat, bedeutet das nicht, dass du irgendeiner deiner Pflichten enthoben bist.«

Bidayn verbeugte sich artig und verließ das Gasthaus. Nach der rauchgeschwängerten Luft in der Halle genoss sie die Kühle des Abends. Müde sah sie zu den Zwillingsmonden empor. Die Nächte auf Nangog konnten sehr schön sein. Ob diese Welt jemals Frieden finden würde? Ihre Mission würde dazu beitragen, den Krieg zu beenden.

Sie ging durch den Heiligen Hain in Richtung der Quartiere der Dienerinnen. Wind rauschte in den Ästen der Eichen. Sie hörte Metall auf Metall schlagen. Nur wenige Krieger Drusnas waren hier bestattet worden. Wer es sich leisten konnte, hatte dafür vorgesorgt, dass sein Leichnam in die Heimat gebracht wurde.

Bidayn beschleunigte die Schritte. Sie mochte diesen Weg nicht. In den Duft des Eichenlaubs und den schweren Geruch des Waldbodens mischte sich der Verwesungsgestank der Leichen, die in den Bäumen aufgebahrt lagen, und wenn der Wind ungünstig stand, kam auch noch der Jauchemief der Schweinepferche hinzu.

Unmittelbar hinter den Pferchen lag das Haus der Dienerinnen. Es war nicht sonderlich groß. In einem einzelnen Raum waren siebzehn Frauen untergebracht. Wenig für so einen großen Palast, doch unter den besonderen Umständen hier auf Nangog war Vladi stolz, so viele Frauen in seinen Diensten zu haben. Deshalb hatte er sie auch ohne zu zögern aufgenommen. Er brüstete sich gerne damit, dass es hier fast so wie zu Hause war und Statthalter und Fürsten von Weibern ihr Essen vorgelegt bekamen.

Mit Abscheu dachte Bidayn an das Bett, das sie erwartete. Es war das von Dascha, der alten Dienerin, die beim Angriff auf den Palast gestorben war. Die Elfe war sich sicher, dass Dascha nicht durch ihre Klinge umgekommen war. Sie bedauerte die Alte nicht. Im Krieg starben auch Unschuldige. So war das nun mal. Das Einzige, was sie bedauerte, war, Daschas Bett zugeteilt bekommen zu haben. Natürlich war kein frischer Strohsack hineingelegt worden. Und auch die Wolldecke war nicht gewaschen. Wenn sie sich in das Bett legte, umfing sie der Geruch der Alten. Aber lange müsste sie hier nicht mehr ausharren. Volodi hatte sie an sich gezogen! Sehr bald würde sie ihn sich pflücken.

Eine Bewegung im Schatten der Bäume schreckte sie aus den Gedanken. Jemand erwartete sie, dicht an den Stamm einer Eiche gepresst.

Bidayn entschied sich, so zu tun, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Leichten Schrittes ging sie dem Quartier der Frauen entgegen, als die Gestalt ihr plötzlich in den Weg trat. Ein hochgewachsener, rothaariger Krieger. Sie kannte ihn vom Sehen. Er gehörte zur Leibwache des Unsterblichen.

»So allein …« Er griff nach ihrem Arm und zog sie zu sich.

»Bitte … ich muss gehen. Sie erwarten mich im Frauenhaus.«

Er lachte leise. »Die sind es gewohnt, wenn eine mal was später kommt.« Er griff nach ihrer Brust und drückte sie fest. »Wir werden jetzt einen kleinen Spaziergang machen.«

»Ich möchte nicht, dass …« Eine riesige Hand legte sich auf ihren Mund.

»Egal, was du möchtest, wir machen jetzt, was ich möchte. Und wenn du nicht hörst – ich habe ein langes Messer bei mir.«

War es diese Welt? Oder haftete ihr noch der Duft ihres Zaubers an? Mussten Männer sich immer wie brünstige Eber verhalten! Sie biss ihm in die Hand.

Der Krieger fluchte, ließ sie los und holte zu einer wütenden Ohrfeige aus.

Bidayn duckte sich unter dem Schlag hinweg.

Er bekam sie am Kleid zu packen, zog sie wieder zu sich heran.

»Lass mich los, oder ich schreie.«

Plötzlich hatte er sein Messer in der Hand. »Du wirst nie wieder schreien, Hure.«

Die Elfe drehte sich um ihre Achse. Ihr Fuß traf seine Hand und hämmerte sie mit einer Wucht gegen den Eichenstamm, dass sie die Knochen knacken hören konnte.

Der Krieger keuchte auf. »Das wird dir leidtu…« Ein zweiter Tritt traf ihn in der Kniekehle. Er knickte ein. Sofort war sie hinter ihm, legte ihre Arme um seinen Kopf und riss ihn mit einem Ruck zur Seite. Wieder knackte es. Der Körper wurde schlaff in ihrem Griff.

»Verdammter Idiot«, zischte sie. Sie musste ihn loswerden. Weit würde sie ihn nicht tragen können. Wütend blickte sie auf ihn hinab. »Trottel!«

Ein Plan nahm Gestalt in ihrem Kopf an. Sie musste zurück zur Küche und essen. Und einen halben Krug von diesem verfluchten Honigbier würde sie auch trinken müssen. Davon würde ihr speiübel werden. Doch genau das brauchte sie jetzt!

Schweinerei

Volodi hatte ein Gefühl, als tobte sich ein tollwütiger Schmied mit seinem Hammer in seinem Kopf aus. Selbst die leichteste Kopfbewegung war eine Qual, und das Morgenlicht stach wie Dolche in seine Augen. Wie hatte er sich nur so unglaublich besaufen können? Quetzalli hatte ihn in der Nacht aus seinem Bett geworfen, weil er so sehr stank.

Natürlich wusste er genau, warum er sich betrunken hatte. Er hatte es genossen, wenn Anisja kam, um ihm nachzuschenken. Er wusste auch nicht, was es war, aber etwas an ihr machte ihn vollkommen verrückt. Sie zu sich auf den Schoß zu ziehen war dämlich gewesen. Es vor den anderen Unsterblichen zu tun sogar unglaublich dämlich!

»Da vorne«, sagte Oleg und wies zu den Schweinepferchen.

»Was denn?« Der Hauptmann hatte Volodi beim ersten Morgengrauen aus seinem Bett holen lassen. Oder genauer gesagt, Volodi hatte sich vom Fußboden vor seinem Ehebett erhoben.

Er hatte eine Weile gebraucht, um auf die Beine zu kommen, dann den Kopf in kaltes Wasser gesteckt und seinen besudelten Bart gewaschen. Die Kleider hatte er noch angehabt.

Oleg hatte ihn geradezu unanständig bedrängt, nach draußen zu kommen. Dennoch hatte Volodi einen Umweg zum Brauhaus gemacht und sich von Meister Miladin erst einmal einen Krug Met geholt. Der Alte hatte genau gewusst, welcher Met gegen die grässlichen Kopfschmerzen half. Jetzt war zwar noch dieser tollwütige Schmied in Volodis Kopf, der einen wummernden Schmerz verursachte. Aber es fühlte sich nicht mehr so an, als hätte man ihm ein halbes Dutzend Dolche durch den Schädel gestoßen und dann stecken gelassen. Jedenfalls nicht, solange er nicht den Fehler machte, direkt in die Sonne zu blicken.

»Vorsicht!«, warnte ihn Oleg und deutete auf eine Lache von Erbrochenem.

Volodi trat mit einem langen Schritt darüber hinweg und stützte sich auf das Gatter des Schweinepferchs. Der vorderste Stall war leer geräumt. Die Viecher drängten sich in den benachbarten Pferchen, schoben ihre Köpfe zwischen den Brettern hindurch und glotzten neugierig auf das, was unter dem Umhang im Schlamm lag.

Volodi blinzelte. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er da sah. Ein Fuß lugte unter dem Umhang hervor. »Wer ist das?«

»Ich glaube, es war Jascha … ganz sicher bin ich mir nicht. Sein Gesicht … Es ist kaum noch zu erkennen.«

»Jascha von den Zinnernen?« Volodi starrte auf den Fuß. Jascha sollte von Schweinen gefressen worden sein? Jascha war ein ausgezeichneter Krieger, Raufbold und Kamerad. Er hatte alle Schlachten der Zinnernen ohne die kleinste Schramme überstanden, und jetzt sollte er so gestorben sein? Das war lachhaft! »Wer hat das getan?«

»Wie es scheint, er selbst …« Oleg drehte sich um und deutete auf die Lache mit Erbrochenem. »Seine Kotze stinkt nach Met. Er scheint sich betrunken zu haben. Manche Männer gehen zu den Schweinepferchen, wenn … wenn der Met wieder hoch will.«

Volodi traute seinen Ohren nicht. »Was?«

»Sie kotzen in den Pferch. Die Schweine sind ganz verrückt danach.«

Der Unsterbliche schwor sich stumm, dass er hier nie wieder einen Bissen Schweinefleisch anrühren würde. Die Kopfschmerzen wurden wieder stärker. Er rieb sich mit den Fäusten die pochenden Schläfen. »Und wie kann ihn das getötet haben?«

Oleg sah ihn zerknirscht an. »Ganz sicher bin ich mir nicht. Aber Jascha war ein großer Mann, er könnte vornübergekippt sein, als er sich über den Zaun gelehnt hat. Sturzbetrunken da drinnen zu landen ist nicht gut. Schweine sind nicht nett. Und nicht sehr zimperlich, was ihr Fressen angeht.«

Das Wort sturzbetrunken bekam in diesem Zusammenhang einen wirklich üblen Beigeschmack, dachte Volodi. Dann öffnete er das Gatter und kniete sich in den schwarzen Schlamm. Mit einem Ruck zog er den Umhang zur Seite und wünschte sich noch im selben Augenblick, er hätte es nicht getan. Die Schweine hatten nicht alles gefressen, aber am Gesicht, den Händen und den Innereien schienen sie besonderen Gefallen gefunden zu haben.

Volodi kämpfte gegen einen Anfall von Übelkeit und richtete sich auf. Es stank erbärmlich nach Schweinescheiße, dicke, schillernde Fliegen summten in der Luft, und die verfluchte Sonne am Himmel stach ihm ein weiteres Paar Dolche durch die Augen. Er machte einen Schritt zurück, lehnte sich schwer gegen den Zaun und sah Oleg an, der ebenfalls in den Pferch getreten war und nun den Umhang wieder über den Leichnam zog.

»Ihr habt ihn auch nicht wiedererkannt, Erhabener?«

»Lass den Scheiß mit dem Erhabenen«, fuhr er den Hauptmann an. »Wir haben nebeneinander im Dreck gelegen, geblutet und gesoffen und zusammen die Hurenhäuser der Stadt gekauft. Wenn hier kein ganz großes Tamtam läuft und die Würdenträger anderer Reiche zu Dutzenden um mich herumlungern, bin ich Volodi. Geht das in deinen Schädel?«

»Ja …«

Der Hauptmann wirkte gequält. Volodi hatte das Gefühl, es lag nicht an der Zurechtweisung. »Na los, spuck’s aus!«

Oleg sah ihn überrascht an. Einen Herzschlag lang wirkte er regelrecht in Panik. Dann brach es aus ihm heraus. »Das kann doch nicht sein! Da geht einer durch mehr als dreißig Schlachten, und dann passiert das hier. Ein Mann wie ein Baum von Schweinen gefressen!«

Volodi legte ihm den Arm um die Schultern. »Manchmal haben die Götter einen eigenartigen Sinn für Humor. Was du jetzt brauchst, ist ein Schluck Met. Lass uns noch einmal zu Miladin gehen.« Der Unsterbliche wandte sich an die übrigen Krieger, die in kleinen Grüppchen um den Pferch standen und ungläubig auf das starrten, was sich durch den Umhang im Schlamm abzeichnete.

»Kommt alle mit! Wir wollen Jaschas Andenken feiern. Ich möchte, dass ihr mir von seinen Kämpfen erzählt, von seinen Weibern und wie er beim Würfeln betrogen hat. Ich erinnere mich noch gut, wie er auf dem Arsch gelandet ist, als er zum ersten Mal versuchte, einen Streitwagen zu besteigen, damals, als der Unsterbliche Aaron uns ausgeschickt hat, den Luwiern ihre Schmiede zu stehlen. Und bei den Göttern, als es auf der Hochebene von Kush hart auf hart ging, da hat er gewusst, wie ein Mann von einem Wagen herab kämpft.«

Einige der Männer nickten. Manchen standen sogar Tränen in den Augen. »Verabschieden wir ihn, wie Drusnier es tun, diesen verdammten Hurenbock und Helden.«

Von Dichtern und Trollen

Galar hatte ein klammes Gefühl im Bauch. Er blickte über das Tal, in dem das riesige Heer lagerte. Kolonnen marschierten auf das schillernde Weltentor zu. Alles schien in Bewegung geraten zu sein.

»Geht wieder los«, murmelte Nyr. »Wohin sie uns wohl diesmal schicken?«

»Wohin die da gehen, weiß ich nicht, aber ich wette, uns schicken sie wieder direkt in die Scheiße.« Immer noch kochte die Wut in Galar auf, wenn er daran dachte, wie sie im ewigen Eis als Köder für das Heer der Menschenkinder missbraucht worden waren. Sie hatten um eine Stadt gekämpft, die mit Vogelscheiße handelte! Dafür war Glamir verreckt. Glamir, der verdammt gescheiteste Drecksack, der ihm in seinem Leben begegnet war. Glamir, der den Grünen Spinnen ihren geheimnisvollen Schatz entrissen hatte und dafür mit einem Arm und einem Bein bezahlt hatte. Glamir, der Drachentöter und der geniale Schmied. So vieles hätten sie beide zusammen noch erschaffen können!

»Da kommen die anderen.« Nyr deutete den Hang hinab.

Che, der Kobold, der die berüchtigten Eisbärte anführte, ging neben dem Troll Groz. Beide waren mit neuen Waffen ausgestattet. Groz trug eine Keule auf seine breiten Schultern gestützt, die wahrscheinlich mehr wog als zwei Zwerge, und Che hielt eine Armbrust in Händen, die sich Nyr sicher gerne einmal genauer angesehen hätte. Er würde seinen Arsch darauf verwetten, dass es eine Waffe des Elfenschmieds Gobhayn war, dachte Galar.

Das ungleiche Paar erklomm den steilen Hang, wobei der Kobold sich ordentlich ins Zeug legen musste, um mit Groz mitzuhalten.

»Wir gehen.«

Das grobschlächtige graue Gesicht des Trolls zeigte keine Regung, als er vor ihnen stehen blieb. Zum ersten Mal bemerkte Galar, dass Groz einige ausgekochte Menschenschädel an Lederriemen von seinem breiten Gürtel hängend trug, der seinen Lendenschurz hielt.

Leicht keuchend erreichte sie Che. »Wir sind abkommandiert«, stieß er hervor. »Natürlich hat man uns nicht gesagt, wohin. Die Trolle sind zu einem anderen Truppenteil beordert worden. Ist ein übles Durcheinander dort unten. Sieht so aus, als würden wir an einem halben Dutzend Stellen zugleich angreifen.«

Galar nickte. »Groz sagte das schon.«

Che sah ihn ungläubig an. Alle wussten, dass der Troll nicht sonderlich gesprächig war.

»Mit seinen Worten …«, lenkte Galar ein. Er hätte das kleine Schlitzohr gerne an seiner Seite gehabt. Vor ein paar Monden hätte er nicht geglaubt, dass er einmal Wert darauf legen würde, dass ein Zwergenmörder ihm mit seiner Armbrust den Rücken freihielt. Er blickte zu Groz. Die Totenschädel baumelten Galar nun direkt vor der Nase. Er reichte dem mehr als drei Schritt großen Troll nur zwei Handbreit über das Knie.

»Er hat sie gestern Nacht ausgekocht«, zischte ihm Che ins Ohr. »Die Schädel. Er hatte sie in dem grässlichen Beutel, den er hinten am Gürtel trägt. Zusammen mit einigen Herzen. Du hättest das sehen sollen. Die ganze Trollbande hat zusammengehockt. Sie haben sich irgendwas erzählt und dann die Herzen gefressen. Und aus den Schädeln haben sie die Gehirne gepult, um dann …«

»Groz hat große Ohren.«

Che blickte zu dem Troll auf. »Hab Galar doch nur von eurem netten Abendessen erzählt. Ich finde, er sollte wissen, was für harte Jungs ihr seid.«

»Nicht Abendessen«, grollte er. »Ehre für Tote. Isst du Herz von Tapferen, kommt Tapferkeit zu dir. Isst du Verstand von Schlauen, kommt Schläue zu dir.«

»Was würdest du denn von mir essen?«, fragte Che mit provozierendem Grinsen. »Mein Herz oder meinen Verstand?«

»Du bist ein Happen, kleiner Mann.«

Galar lachte laut auf. »Ich werde dich vermissen, Groz.«

Der Troll kniete vor ihm nieder. »Komme wieder, Flickenbart.«

Jetzt lachte Che. »Flickenbart. Wie charmant.«

Galar bedachte den Kobold mit einem ärgerlichen Blick. Ches loses Mundwerk würde er nicht vermissen! Groz hatte recht. Galars Bart war eine Katastrophe, dünn, mit Flecken durchsetzt, an denen einfach kein Haar sprießen wollte. Schon seit ihm der erste Flaum gesprossen war, war sein Bart das Ziel von spöttischen Bemerkungen gewesen. Aber der Zwerg wusste, dass Groz es nicht böse gemeint hatte.

Der Troll versetzte ihm einen Knuff auf die Brust, der Galar fast von den Beinen holte. »Von dir Herz essen.« Er tippte sich an die Stirn. »Dein Kopf zu verrückt.«

»Mach so weiter, Groz, und dieser Abschied endet mit einer Blutfehde«, feixte Che.

Der Troll ignorierte ihn, wandte sich an Nyr und versetzte auch ihm einen Knuff mit der Faust. »Komme wieder, Adlerauge.«

Galar war nicht ganz klar, ob der Troll meinte, dass er wiederkommen würde, oder ob er ihnen gerade den Befehl gegeben hatte zu überleben, damit sie wiederkommen würden. Aber wahrscheinlich war diese Überlegung schon viel zu kompliziert für ein Trollhirn.

Groz stand auf und stapfte ohne ein weiteres Wort wieder den Hang hinab.

»Tja …« Che zog eine rote Wollmütze aus seiner Tasche und zog sie auf.

Galar betrachtete sie mit Abscheu. Rotmützen, so hatten die Zwerge von Ishaven die Schlimmsten unter den Koboldrebellen genannt. Es hieß, dass sie ihre Mützen im Blut ermordeter Zwerge gefärbt hatten.

»Wenn ich wiederkomme, darfst du mal meine neue Braut streicheln, Nyr.« Bei diesen Worten tätschelte Che über den Schaft seiner Armbrust. »Damit schießt du auf hundert Schritt einer Maus ein Auge weg.«

»Wenn man Kobold ist. Ich schätze, ich würde mit dem guten Stück auf hundert Schritt einer Fliege den Rüssel abschießen«, konterte Nyr.

Che lachte. »Eines Tages wetten wir darauf, Großmaul.« Er wandte sich an Galar. »Na, Flickenbart, froh, mich gleich von hinten zu sehen?«

»Verlass dich nicht darauf, dass ich gegenüber Zwergenmördern, die Witze über meinen Bart machen, die gleiche Langmut besitze wie gegenüber Trollen.«

Che umarmte ihn überraschend. »Ich mag dich auch, Flickenbart.«

Galar wollte ihm eine verpassen, aber der Kobold duckte sich unter dem Hieb weg und war mit zwei tänzelnden Schritten außer Reichweite. »Möge die Erinnerung an uns besser sein, als wir es sind, Zwerg.«

Bevor Galar etwas erwidern konnte, eilte Che bereits den Hang hinab.

»Ich hätte nicht gedacht, dass er so tiefsinnig ist«, sagte Nyr ergriffen.

Galar seufzte. Manchmal ging ihm sein Freund mit seiner Leichtgläubigkeit auf die Nerven. »Das hat der bestimmt irgendwo aufgeschnappt. Das ist nicht von ihm. Ganz sicher nicht.«

»Und wenn doch?«

»He, eher lernt mein Arsch Arien zu singen, als dass dieser kleine Mistkerl ein Dichter ist.«

»Wohin sie uns wohl schicken?«

Galar war froh, es noch nicht zu wissen. »Garantiert dahin, wo die Scheiße am höchsten über uns zusammenschlägt.«

Schädelspalter und Kalbsleberbällchen

Hornbori war nervös. Er war zu dem großen scharlachroten Zelt auf dem Hügel gerufen worden. Und es war wirklich groß! Mehr als achtzig Schritt lang und mit Hunderten von Tauen abgespannt, damit der Wind es nicht davontrug. Eine Himmelsschlange hätte sich vermutlich darin verstecken können, ohne dass auch nur die Schwanzspitze herausgelugt hätte. Nicht dass er je eine Himmelsschlange gesehen hätte. Oder vielleicht doch … Es hieß ja, sie konnten alle möglichen Gestalten annehmen.

Einige Elfen standen auf dem Hügel Wache. Ob es Drachenelfen waren? Er blickte verstohlen auf, in ihre Gesichter. Unnahbar wirkten sie. Ein eisiger Klumpen rollte in seinem Magen hin und her. Nicht jeder, der in dieses Zelt berufen worden war, war wieder zurückgekehrt. Und die, die es wieder verließen, redeten nicht darüber, was dort geschah.

»Du bist Hornbori?« Eine Elfenkriegerin war aus dem Zelt getreten und blickte auf ihn hinab, als wäre er nichts als ein interessanter Käfer.

»In der Tat, holde Maid, das bin ich, und es ist mir …«

»Ich bin weder hold noch eine Maid. Komm mit!«

Hornbori schluckte. Er fand, dass sie … er? … ziemlich weiblich aussah. Gut, die Brust war unter dem Kettenhemd verborgen, das ziemlich flach anlag … Verfluchte Elfen! Warum trugen sie auch keine Bärte wie vernünftige Männer!

Er trat durch die Zeltklappe und musste einen erstaunten Ausruf unterdrücken. Hier hätte ein Riese stehen können, ohne mit dem Kopf an die Zeltdecke zu stoßen. Der Zelthimmel war von dunklem Blau und mit Perlen und kleinen goldenen Sternen bestickt. Beklommen sah Hornbori sich um. Er fühlte sich klein und unbedeutend. Ein geflügelter Stier mit einem bärtigen Männerkopf starrte finster auf ihn herab, einige aufrecht gehende Echsen fixierten ihn mit geschlitzten Pupillen. Kobolde, die feierlich Räucherfässer schwangen, gingen zwischen den Wartenden hindurch. Hornbori sah eine Kreatur mit dem massigen Leib eines Trolls, doch auf dem Körper saß ein Stierkopf. Verwirrt sah er zurück zu dem geflügelten Stier mit dem Männerkopf. Die Alben hatten seltsame Dinge getan, dachte er mit mulmigem Gefühl.

»Hier entlang!«, befahl die Elfe mit langem Haar, die keine Maid war. Sie zog einen Seidenschleier zur Seite und winkte ihm, ihr tiefer in das riesige Zelt zu folgen.

In diesem Teil war es vollkommen leer bis auf eine andere Elfe. Diese saß auf einem grünen Teppich, spielte auf einem Zupfinstrument, das nur eine einzige Saite hatte, und entlockte ihm die schauerlichsten Töne. Neben ihr auf dem Teppich lag ein gezogenes Schwert.

Sein Führer legte warnend den Zeigefinger an die Lippen.

Überflüssig, dachte Hornbori. Er würde hier ganz gewiss niemanden ansprechen. Er hielt sogar den Atem an und war darauf bedacht, so lautlos wie möglich durch diesen Abschnitt zu huschen.

Ein weiteres Seidentuch wurde zur Seite gezogen, und helles Licht blendete Hornbori. In der neuen Zeltkammer war ein langer Tisch aufgestellt, der sich unter den köstlichsten Speisen bog. Ein einzelner Elf stand dort. Einer, wie ihn Hornbori noch nie gesehen hatte, mit schulterlangem, leicht gelocktem goldenen Haar. Er trug eine weiße Lederrüstung, auf deren Brustpanzer eine goldene Sonne geprägt war. Licht schien diesen Elf zu umspielen. Er nahm einen Apfel von der Festtafel und drehte ihn prüfend, als suchte er irgendeinen Makel.

»Du kannst gehen.« Der Elf entließ Hornboris Führer mit einer flüchtigen Geste.

»Ich habe einiges von dir gehört.« Sein Gegenüber biss in den Apfel und sah ihn durchdringend an. Der Elf hatte geschlitzte Pupillen!

Hornbori keuchte. Er wusste, was das bedeutete.

Sein Gegenüber grinste, und Saft troff ihm aus einem Mundwinkel. »Du hast mich also erkannt«, sagte er kauend. »Gut, das enthebt mich der Pflicht, mich vorzustellen. Ich finde es immer etwas peinlich, wenn ich das selbst tun muss. Was sollte ich sagen? Ich bin der Goldene, einer der Herren der Welt? Ich bin in der Stunde der Schöpfung geschlüpft. Die Alben selbst haben mich großgezogen.« Er lächelte schief. »Solches Geschwätz liegt mir nicht sonderlich.«

Er biss erneut in den Apfel und ließ sich Zeit, Hornbori eingehend zu betrachten. Der Zwerg fragte sich, ob der alte Drache wohl in seinen Gedanken las. Fand er dort die Wahrheit über die Schlacht im Eis? Besser nicht daran denken. Hornbori versuchte, sich einen köstlichen Braten vorzustellen. Er sah zu der Festtafel. Dort stand alles, was ein Zwergenherz begehren mochte.

»Du bist also unser Held aus dem ewigen Eis«, sagte der Goldene schließlich. »Ich hab von der Geschichte gehört, wie du todesmutig, mit der Standarte in der Hand, als letzter Überlebender den Menschenkindern entgegengestürmt bist. Die Geschichte macht im ganzen Heerlager die Runde. Du bist ein berühmter Krieger, Hornbori.«

Der Zwerg strich sich über seinen üppigen, leicht geölten schwarzen Bart und entschied, alles zu wagen. »Mut und der Wille zur Aufopferung sind die Voraussetzungen, den großen Krieg um Nangog für Albenmark zu entscheiden.«

Der Drache sah ihn durchdringend an. »Ganz genau so sehe ich das auch.«

Seine Stimme war Balsam in Hornboris Ohren. Das Lob des Goldenen gab ihm das Gefühl, vom hintersten Härchen in seinem Nacken bis zur Spitze des kleinen Zehs in Wohlgenuss zu baden. Es war besser als jedes andere Vergnügen, das er bislang genossen hatte. Ein leichter Seufzer entfuhr ihm. Und dann stieg ihm ein Duft in die Nase, den er seit Jahren nicht mehr gerochen hatte. »Liegen dort Kalbsleberbällchen auf der Festtafel?«

»Gleich neben den überbackenen Bananen. Bedien dich nur. Einem Helden, der sein Leben zum Wohle Albenmarks wagt, sollte nichts verwehrt bleiben.«

Hornbori hatte zwar keine Ahnung, was Bananen waren, war aber fest entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen. Er fand die Kalbsleberbällchen auch so. Sie schwammen in köstlicher Sauce. Ein Stück weiter lag frisches, helles Brot, das er in die Sauce tunkte. Für einen Moment vergaß er, wo er war, und schwelgte ganz in dem lang vermissten Genuss.

Hunger litten sie im großen Lager nicht, aber das Essen war alles andere als gut. Fast jeden Tag bekamen sie weiches, pappiges Brot und irgendwelches Gemüse, das stets schmeckte, als wäre es bereits drei Mal aufgewärmt worden, um dann wieder zu erkalten. Irgendwann mussten Brot und Gemüse einmal frisch gewesen sein. Und der Zwerg hatte selbst gesehen, dass unten im Tal Tausende Brote in riesigen Öfen gebacken wurden. Legten die Bäcker ihre Brote danach für zwei Tage in feuchte Vorratskammern, damit sie jeglichen Geschmack verloren? Er konnte nicht begreifen, warum das Brot für weniger als eine Meile Luftlinie so lange brauchte, dass es fast ungenießbar war, wenn es seine Männer erreichte. Zum Zelt des Goldenen, das wesentlich weiter von den Öfen entfernt lag, kam es schließlich auch frisch.

Ein leiser Rülpser entfuhr ihm, und schlagartig wurde sich Hornbori wieder bewusst, wo er war. »’tschuldigung …«, murmelte er errötend.

»Es freut mich, dass es dir schmeckt.«

Die Worte klangen so herzlich, als wären sie schon seit Langem die besten Freunde.

»Sicherlich hast du schon Gerüchte gehört, dass es neue Feldzüge geben wird«, erklärte ihm der alte Drache.

Hornbori nickte. »Meine Männer sind kampfbereit … Jedenfalls die, die mir noch verblieben sind. Die Trolle und Kobolde, die mir unterstellt waren, dienen nun anderswo.«

»Gräme dich nicht, diese unzuverlässigen Gesellen verloren zu haben. Ich weiß, dass du nach wahrer Größe strebst. Dabei würden sie dir nur im Wege stehen. Ich habe anderes mit dir im Sinn. Du sollst fortan der Heermeister der Zwerge sein.«

Heermeister auf Befehl des Goldenen! Hornboris Herz machte einen Satz. Das war ein großer Schritt auf dem Weg zum Königsthron einer der großen Zwergenbingen. »Die Krieger welcher Stadt soll ich für Euch in die Schlacht führen, mein strahlender Gebieter.«

Der Drache tat einen tiefen Seufzer und wiegte den Kopf. »Ach, Hornbori …«

Die unüberhörbare Enttäuschung war wie ein Dolchstoß in seine Brust. Hornbori verstand nicht, was er falsch gemacht hatte. Lag es an der Anrede, die er gewählt hatte?

»Ihr Zwerge müsst euren fatalen Hang zum Kleingeist überwinden. Dieser Makel hindert euer Volk daran, zu wahrer Größe aufzusteigen. Natürlich bist du nicht der Heermeister einer Stadt. Du bist der Heermeister aller Zwerge, die auf Nangog kämpfen werden. Sie alle unterstehen von nun an deinem Befehl.«

Hornbori musste sich an der Festtafel festhalten. »Aller Zwerge …«

»So ist es. Es sind bereits schriftliche Befehle an alle Zwergenhauptleute in diesem Tal auf dem Weg. Bald werden Nachrichten an die Zwergenkönige und Ältestenräte folgen. Du hast deine Entschlossenheit bewiesen, Hornbori. Entschlossenheit ist es, die Kriegern die Größe gibt, jeden Widerstand zu überwinden. Diese Eigenschaft, geknüpft an gebündelte Macht, wird dich zu weiteren Ruhmestaten beflügeln. Ich vertraue auf dich, Hornbori.«

Der Goldene klatschte laut in die Hände, und der Vorhang hinter dem Buffet teilte sich. Ein Elf mit langem, weißem Haar trat ein. Sein Gesicht war fein geschnitten und wirkte doch härter als das Antlitz der meisten Elfen, denen Hornbori bislang begegnet war. Er war lediglich mit einer Hose und einer speckigen Lederschürze gekleidet. Vor der Brust hielt er eine zweiflügelige Axt.

»Gobhayn!«, entfuhr es Hornbori. Der legendäre Schmied hatte für ihn die mit Panzerplatten verstärkten Schlitten entworfen, die es ihm erlaubt hatten, den Rückzug der Menschen aufzuhalten, bis die Mistkerle unerwartete Verstärkung erhalten hatten.

»Es hat mich gefreut zu hören, dass meine Schlitten zu großem Nutzen eingesetzt werden konnten. Ich hoffe, du wirst auch diese Waffe hier berühmt machen. Ein Zwerg, der ein Held wie aus alten Liedern ist, sollte auch die Waffe eines Helden besitzen.« Feierlich überreichte er ihm die Axt. »Ich hoffe, der Schaft hat die richtige Länge für dich, ansonsten kann ich ihn leicht durch einen anderen ersetzen.«

Hornbori strich über das Axtblatt. Ein Bild war in eine Hälfte der Klinge eingraviert. Es zeigte einen Zwergenkrieger, der ein Drachenbanner hochreckte und dabei auf einem großen Schlitten stand.

»Es ist noch Platz für drei weitere Heldentaten von dir, Hornbori«, sagte Gobhayn. »Bring sie mir zurück, wenn es an der Zeit ist, wieder an ihr zu arbeiten.«

»Das wird der Anfang einer großen Legende in deinem Volk werden, Hornbori. Bist du dir dessen bewusst?« Der Goldene stand unmittelbar vor ihm und sah zu ihm herab. »Gobhayn war so freundlich, mir zu erlauben, auch ein wenig an der Axt zu arbeiten. Ich habe Magie hineingewoben. Sie ist von der Beschaffenheit jener Zauber, mit denen auch die Waffen der Drachenelfen belegt sind. Und ich habe der Axt einen Namen gegeben. Schädelspalter. Ich denke, er macht sich gut in einer Heldensaga.«

Hornbori war überwältigt. Er wusste nicht, was er sagen sollte. All seine Träume waren in dieser Stunde wahr geworden. Er war der Heermeister der Zwerge und führte eine verwunschene Axt, die vom Goldenen selbst geschmiedet war. Er würde es schaffen, er würde König werden! Vielleicht würde er sogar König aller Zwerge werden? Das hatte es bisher noch nie gegeben.

»Und nun zu deiner Aufgabe.«

Hornbori sah zuversichtlich in die geschlitzten Pupillen des Drachen. Doch als der Goldene ihm sagte, was er von ihm verlangte, zerstoben all seine Träume. Das war unmöglich!

Der Menschenfeind

Galar betrachtete fasziniert das Modell der Stadt, die sie angreifen sollten. Eine wunderbare Arbeit. Es war gewiss von Elfen geschaffen. Auf das Gerede der anderen hörte er kaum. Seine Finger glitten über das Modell. Über die Terrassen, die ins obere Viertel des steilen Felsens geschlagen waren, um die Paläste der Hochmütigen zu tragen. Er legte den Kopf flach auf den Tisch, um in die riesige Grotte zu blicken, die sich zum Meer hin öffnete. Selbst das Innere war ausgearbeitet. Er sah Schiffssilhouetten und Ladekräne. Gerne hätte er den Meister kennengelernt, der dies erschaffen hatte. Wahrscheinlich hatte er Magie genutzt. Galar überlegte, ob er ihn dafür verachten sollte. Aber letztlich zählte nur das Werk und nicht, wie es erschaffen worden war.

Plötzlich wurde er sich der Stille bewusst. Sie alle standen um ihn herum und starrten ihn an, wie er da kniete, den Kopf auf die Tischplatte gelegt hatte und die Grotte betrachtete. Er kannte fast keinen der anwesenden Zwerge, aber er hatte von fast allen schon einmal gehört. Es waren berühmte Krieger oder Kapitäne, die ihre Aale an Orte gelenkt hatten, wo vor ihnen noch niemand gewesen war. Jeder Einzelne von ihnen war verdienter als Hornbori, dieser elende Schisser, und sie alle mussten damit leben, dass er sie anführen würde.

»Wenn wir siegen, wird die Geschichte dieser Schlacht bis ans Ende aller Zeiten überdauern«, erklärte Hornbori schließlich mit einem giftigen Seitenblick zu Galar.

»Diese Stadt ist uneinnehmbar!«, widersprach Ulur.

Galar sah den Graubart an. Er war der Einzige, der hier mit nacktem Oberkörper stand. Er galt als verrückt, denn sein ganzer Leib war voller Tätowierungen. Die Bilder zeigten ferne Küsten Albenmarks, Routen durch unterirdische Flüsse, mit unzähligen nautischen Zeichen versehen, die nur Ulur zu deuten wusste. Er hatte schon vor Jahren einen großen Aal bauen lassen. Wirklich groß! Wahrscheinlich, damit das Tauchboot ihn tragen konnte. Ulur war fett wie ein gestrandeter Wal und seine Haut so weiß wie das Fell einer neugeborenen Robbe. Er war, was Hornbori erst noch werden wollte. Eine Legende. Sein Wort hatte Gewicht. Er war der erste Zwerg, der mit Aalen hinaus in die weiten Ozeane gefahren war.

»Keine Stadt ist uneinnehmbar. Ich habe schon einige Ideen …«, begann Hornbori erneut.

»Dann erzähl uns doch mal davon, Heermeister, statt nur hohle Phrasen zu dreschen.« Ulur ging neben Galar in die Knie und blickte ebenfalls in die Grotte am Fuß des Felsens, der sich aus dem Meer erhob. »Es ist eine Sache, sich heldenhaft mit einer Handvoll Krieger zu schlagen, und eine ganz andere, eine Stadt zu belagern.«

»Wir könnten zum Beispiel die gegenüberliegende Küste besetzen und dort schwere Katapulte aufstellen …«

»Nee!«, unterbrach Nyr Hornboris Ausführungen. »Du sagst, die Küste sei mehr als eine halbe Meile entfernt. Hast du eine Vorstellung, was für Katapulte das sein müssten, die so weit schießen?«

»Und Aushungern können wir sie auch nicht«, erklärte Ulur neben Galar. »Im Hafen in der Grotte werden jeden Tag neue Schiffe anlegen, die die Menschenkinder mit allem versorgen werden, was sie brauchen. Ich sehe schon, wie sie uns über die Meerenge hinweg mit wohlgefüllten Weinbechern zuprosten.«

»Euch fehlen die Visionen für Größe!«, begehrte Hornbori leidenschaftlich auf. »Ihr müsst über das hinausdenken, was ihr bisher getan habt! Ich werde euch den Weg weisen!«

Galar sah Hornbori an. Er sah aus wie der vollkommene Held mit seinem dichten schwarzen Bart und dem langen, leicht gelockten Haar. Galar spürte, wie die Meinung umschwang. Einige der Hauptleute wollten Hornbori folgen. Sie begannen seinen Worten Glauben zu schenken, allein aufgrund seines Aussehens. Er war stark, hatte gute Zähne, konnte saufen wie ein Loch und hatte eine eiserne Verdauung. Kurz und gut, er war ein Bild von einem Zwerg.

»Wir sollten den Angriff mit Drachen beginnen«, sagte Galar ruhig. »Sie werden auf die Stadt hinabstoßen und Flammen speien.«

Totenstille folgte seinen Worten.

Wieder sahen alle ihn an.

»Du kommst doch aus der Tiefen Stadt«, sagte Ulur vorwurfsvoll. »Wie kannst du so etwas nur denken? Du hast es doch selbst erlebt, wie …«

»Es sind Menschenkinder!«, fuhr Hornbori dazwischen. »Sie haben diesen Krieg angezettelt.«

»Und du glaubst, die Himmelsschlangen werden dir diesen Sieg anrechnen, wenn es allein Drachen waren, die die Stadt bezwangen.«

»Die Drachen dienen nur zur Ablenkung«, ergriff Galar erneut das Wort. Er war sich bewusst, dass Nyr ihn verwundert ansah. Noch nie hatte er Hornbori in der Öffentlichkeit unterstützt. Und es wäre so leicht gewesen, den verfluchten Aufschneider hier und jetzt scheitern zu lassen. »Wir Zwerge werden unsere Banner auf dem Felsen hissen. Die Himmelsschlangen wollen den Hafen. Ich habe gehört, dass dort die größte Flotte des Purpurnen Meers vor Anker liegt. Wir werden sie den Himmelsschlangen unversehrt schenken. Sie ist der eigentliche Schatz der Stadt. Und wir werden ihn auf folgende Art gewinnen …«

Galar skizzierte seinen Plan in allen Details. Als er schließlich endete, nahm Hornbori ihn demonstrativ in den Arm. »Danke, Bruder! Besser hätte ich auch nicht ausführen können, was wir gestern Nacht ersonnen haben.«

»Ihr seid wahnsinnig!«, rief Ulur. Dann schlug er sich mit der Faust auf die tätowierte Brust. »Wunderbar wahnsinnig! Diese Schlacht wird in die Geschichte unseres Volkes eingehen.«

Galar las in den Gesichtern der anderen Hauptleute. Die meisten waren weit weniger begeistert als Ulur. In einigen der Gesichter spiegelte sich blanke Angst.

»Nun, meine Gefährten«, verkündete Hornbori in feierlichem Tonfall. »Ihr wisst, was zu tun ist. Bereitet euch vor. Wir brechen auf, sobald die Drachen versammelt sind.«

Die Versammlung löste sich auf. Auch Hornbori ging.

Galar aber blieb, legte wieder den Kopf auf den Tisch und blickte in die große Grotte am Fuß des Felsens.

»Wie konntest du das tun?« Nyr war der Einzige, der mit Galar im Zelt des Heermeisters zurückgeblieben war.

Der Richtschütze hieb mit der Faust auf den Tisch, dass das Modell der Stadt erbebte. »Hörst du mich? Wie konntest du das tun? Wir haben es selbst erlebt, die Flammen, all die Toten, das Grauen. Und nun bist du es, der all dies noch einmal heraufbeschwört.«

»Wir werden den Menschenkindern letztlich einen Gefallen tun.« Er hob den Kopf vom Tisch und blickte zu seinem Freund auf. Die Abscheu vor ihm in Nyrs Gesicht zu sehen verletzte ihn.

»Einen Gefallen tust du ihnen? Welchen? Die Last des Lebens von ihren Schultern zu nehmen?«

»Wir sind dort, Nyr. Und Drachen. Große Drachen.«

Jetzt endlich schien sein Freund zu begreifen. »Du willst …«

»… Drachen töten. So ist es. Es wird ein schwerer Kampf werden. Niemand wird sich wundern, wenn am Ende auch Drachen sterben. Ja, ich opfere Menschen. Ich bin nicht ihr Freund. Sie bedeuten mir nicht viel. Doch zumindest wird ihr Opfer nicht vergebens gewesen sein. Nach allem, was ich von ihnen gesehen habe, sind sie ja kaum in der Lage, mit den großen Adlern vom Albenhaupt fertigzuwerden. Sie werden keine Drachen töten. Wir tun das für sie. Und damit es geschehen kann, müssen wir dafür sorgen, dass du, ich und eine Menge Drachen am selben Ort sind.«

»Das ist unmoralisch«, wandte Nyr ein.

Galar lachte bitter auf. »Ich bitte dich. Wir sind mitten in einem Krieg. Die Moral ist uns schon vor Langem abhandengekommen. Jetzt geht es nur noch ganz nüchtern darum, das Richtige zu tun. Ja, ich liefere eine Stadt an die Drachen aus, damit sie dasselbe Schicksal erleidet wie unsere Heimat. Der große Unterschied ist, dass diesmal auch Drachen sterben werden.«

Nyr stand der Widerwillen immer noch ins Gesicht geschrieben, doch Galar kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er letztlich dabei sein würde.

»Mit etwas Glück werden wir dort einige der Mörder unserer Verwandten töten.«

Der Richtschütze hob abwehrend die Hände. »Ich will davon nichts mehr hören.« Verzweifelt blickte er auf das Modell. »Wie heißt die Stadt überhaupt? Hornbori hat nicht einmal ihren Namen genannt.«

»Der Name steht winzig klein dort unten am Felsen. Die Stadt, der wir das Drachenfeuer bringen werden, heißt Asugar.«

Zu gut

Shaya blickte staunend zu den hohen, bunt bemalten Gewölbedecken auf. Es gab ihn wirklich, den Palast für die Kranken. Nie zuvor hatte sie eine Stadt wie Asugar gesehen. Sie schien eine Stein gewordene Ode an die Schönheit zu sein.

In den frühen Morgenstunden hatte die Luftflotte des Arcumenna den steilen Felsen im Meer erreicht. Sie waren mit mehr Wolkensammlern gekommen, als es Ankertürme gab, und so hatte ihre Ankunft einiges Aufsehen erregt, als sich die Himmelsgiganten mit ihren Tentakeln in Fensteröffnungen und Torgewölben festgekrallt hatten, um vom Wind nicht landeinwärts getrieben zu werden. Auch Shaya war auf einem Schiff gewesen, für das es keinen Ankerturm gegeben hatte, sodass zuletzt alle Reisenden und die Fracht mit großen Körben hatten abgeseilt werden müssen. Es hatte Stunden gedauert, bis sie an der Reihe gewesen war, das Wolkenschiff zu verlassen. Doch dann war das Schicksal ihr hold gewesen. Jeder in der Stadt kannte den Palast für die Kranken. Immer wieder war ihr auch der Name Hattu genannt worden. Er war der erste Heiler im Palast für die Kranken, ein Mann von größtem Ansehen in der Stadt.

Obwohl sie müde war, war Shaya endlose Treppen zu dem Palast hinabgestiegen, der sich wie ein Schwalbennest an den steilen Felsen klammerte. Niemand hatte sie aufgehalten, als sie durch das hohe Portal geschritten war. Und nun wandelte sie durch die Hallen. Hohe Räume, deren geschwungene Decken von einem Wald von Pfeilern getragen wurden. Dutzende Krankenlager waren entlang der Wände vorbereitet. Strohsäcke mit feinem weißen Leinen bezogen. Einige der Krankenlager waren sogar durch Wandschirme vor den Blicken Neugieriger geschützt.

Nur wenige der Lager waren belegt. Ein angenehmer Duft nach Zitrone hing in der Luft. Es war wahrlich ein Ort, der den Kranken an die Schönheit des Lebens erinnerte und seinen Willen bestärkte, mit aller Kraft gegen die üblen Säfte und Verletzungen anzukämpfen, die seine Gesundheit niederringen wollten. Shaya musste an Shen Yi Miao Shou denken. Dem alten Heiler vom Seidenfluss, dem sie all ihr Wissen verdankte, hätte dieser Palast sicherlich gefallen.

Ein kleiner Mann trat aus dem Schatten einer Tür und musterte sie. Sein Haar war an den Schläfen ergraut. »Kann ich dir helfen, schöne Fremde?«

Dieses verfluchte rote Kleid, dachte sie. Sie hatte es auf den ersten Blick geliebt und auf ihrer Reise hundertfach bereut, ihrer Liebe nachgegeben zu haben. »Ich suche den Ersten Heiler, Hattu.«

»Du hast ihn gefunden.«

Dieser Blick aus seinen dunklen Augen. Als wollte er ihr damit das Kleid vom Leib reißen.

»Suchst du nach einem Kranken? Ich werde dir gerne helfen.«

Er schaffte es, allein durch seinen Tonfall diesen harmlosen Worten etwas Schlüpfriges zu geben. Shaya zwang sich zur Ruhe. Er war der Gebieter über den Palast der Kranken. Sie durfte ihn nicht verärgern, wenn sie hierbleiben wollte.

»Ich bin eine Heilerin. Ich möchte dir gerne meine Dienste anbieten.«

Er lächelte breit. »Deine Dienste anbieten … Das höre ich gerne aus dem Mund einer so hübschen Frau.«

Shaya zwang sich, ruhig zu atmen. Hattu war höchstens zwei Fingerbreit größer als sie. Er war schlank, hatte etwa ihr Gewicht. Ihr fielen seine Hände auf. Die Finger ungewöhnlich zierlich und lang. Dunkle Haare wucherten darauf. Ebenso auf seinem Handrücken. Die Hände erinnerten sie an große Spinnen. Shaya war sich sicher, dass sie ihn mit einem einzigen Fausthieb niederstrecken könnte. Sie sollte so etwas nicht mehr denken. Das Leben der Kriegerin hatte sie hinter sich gelassen. Sie war hier, um ein neues, anderes Leben zu beginnen. Sie war jetzt eine Heilerin. Ganz gleich, was geschah, sie würde dieser lüsternen Kreatur mit den Spinnenhänden nichts antun!

»Eine Heilerin?«, fuhr Hattu fort, als sie beharrlich schwieg. »Das heißt, du kannst ihnen den Schweiß von der Stirn tupfen und ihnen die Scheiße abwischen, wenn sie sich nachts besudelt haben?«

»Ich meine, ich kann Kranke wieder gesund werden lassen.«

Er hob die Brauen. »So? Nun gut, ein Mann liegt vor dir. Er hat eine stark blutende Schnittwunde im Bauch. Was tust du?«

»Ich knie nieder und presse beide Hände auf die Wunde, um die Blutung zu stillen. Ich prüfe, wie tief die Wunde ist. Ich taste mit meinen Fingern. Ist die große Ader im Bauch verletzt, bete ich für ihn. Quillt mir der Inhalt seiner Därme entgegen, bete ich für ihn und werde ihm ein Rauschmittel geben. Wann er dann sterben wird, hängt davon ab, wie stark er um sein Leben kämpft. Aber er wird sterben. Ist es nur ein oberflächlicher Schnitt, werde ich die Wunde säubern, sie vernähen und Moos darauf legen, damit keine üblen Säfte im geschundenen Fleisch entstehen.«

Der Blick Hattus veränderte sich, während sie sprach. Er war nicht mehr abfällig. Jetzt lag etwas Kaltes, Lauerndes darin.

»Wer hat dich geschickt, Weib?«

»Ich komme, weil ich vom Palast der Kranken gehört habe. Wie ich sagte: Ich will dem Wohl der Kranken dienen.«

Er schüttelte den Kopf. »Frauen wissen so etwas nicht. Kein Heiler würde sie so sehr ins Vertrauen ziehen … und dann dieses Kleid …«

»Ich werde es nicht im Dienst tragen.«

»Frauen wissen, wie man Kräutersud kocht und zu welchen Göttern man beten muss. Sie können Sterbenden die Hand halten. Sie verbreiten Hoffnung. Sie sind wichtig! Aber sie haben keine Ahnung von Schnittwunden …«

»Beruhigt es dich, wenn ich dir aufzähle, welche Kräuter ich in welcher Menge für einen fiebersenkenden Sud verwenden würde, wann ich kalte Wickel benutzen würde und wann nicht?«

Er kniff die Lippen zusammen. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. »Wo hast du das gelernt, Weib?«, blaffte er sie plötzlich an.

»Bei den Heilern vom Seidenfluss.«

Hattu schüttelte entschieden den Kopf. »Nicht einmal diese giftmischenden Schlitzaugen führen Weiber in die höheren Weihen ein.«

Zwei weitere Männer kamen in den Saal. Einer war fast noch ein Knabe, der andere alt und gebeugt. Er stützte sich auf einen Stock. Von seinem Haar war nur noch ein schütterer weißer Kranz geblieben. Seine Glatze war mit Leberflecken gesprenkelt.

»Hier steht eine Hochstaplerin, Herr!«, rief Hattu.

»Verbreitest du diese Lügen über mich, weil du mich nicht in eine dunkle Ecke drängen und betatschen konntest?«

»Hüte deine Zunge, Weib!« Der Alte näherte sich und hob drohend seinen Stock. »Hattu ist ein Mann von makellosem Ruf. Dich kenne ich nicht. Und deshalb bist du ein Nichts für mich.«

»Wer bist du, dass du mich verurteilst, ohne mich zu kennen?«

»Ich bin der Schöpfer dieses Spitals. Ich bin das Geld, das euch nährt. Ich bin euer Segen und eure Verdammnis. Mein Name ist Elias. Ich habe diese Stadt erschaffen. Arcumenna mag hier herrschen, aber es geschieht hier nur wenig ohne meine Billigung. Und ich billige nicht, dass sich in meinem Spital hergelaufene Flittchen anbiedern!«

»Stell mir eine Frage und prüfe mein Wissen!«, forderte Shaya ihn heraus.

»Oh, sie weiß viel. Zu viel für ein Weib. Sie muss bei den Leichenschändern gelernt haben, oder sie ist eine Hexe! Wir werfen sie hinaus!«, warf Hattu ein.

»Nein!«, sagte der Alte scharf. »Wenn wir das tun, dann läuft sie zu Arcumenna. Und du weißt, wie er entscheiden wird, wenn ein hübsches Weib vor ihn tritt und sich darauf versteht, schön zu reden. Sie soll sich beweisen.« Der Alte sah sie mit harten, müden Augen an, die zu viel Leid gesehen hatten. Shaya kannte solche Augen. Die Älteren unter ihren Veteranen hatten genau solche Augen gehabt.

»Hattu hat sieben Jahre seines Lebens gegeben, um dieses Spital aufzubauen, Weib. Er hat sich hier aufgeopfert. Er hat Hunderte geheilt. Keine Stunde verstreicht in dieser Provinz, ohne dass ein Gebet für ihn gesprochen wird. Wir führen hier Buch über die, die kommen, und die, die wieder gehen. Neun von zehn Kranken verlassen dieses Haus lebend. Dieses Maß werden wir an dich anlegen, Weib. Bist du so gut? Wirst du bestehen? Wenn nicht, dann verlasse nun das Spital.«

»Ich bin ganz gewiss keine schlechtere Heilerin als ihr«, entgegnete Shaya stolz.

»Bedenke deine Wahl, Weib. Wenn du scheiterst, werde ich zu Arcumenna gehen und Klage gegen dich erheben. Ich werde dich eine Hochstaplerin nennen und vielleicht auch eine Mörderin. Bist du ersteres, wird man dich an einen Schandpfahl binden, dir deinen Kopf kahl rasieren und dir das Mal der Lügnerin auf deine Stirn brennen. Bist du aber eine Mörderin …« Er sah sie drohend an. »Mörderinnen haben einen schweren Tod.«

»Ich werde mich eurer Prüfung stellen.« Sie hatte keine Wahl. Sollte sie versuchen, auf eigene Faust als Heilerin durchzukommen, würden der Alte und Hattu gegen sie hetzen. Sie würde hier in Asugar keinen Fuß auf den Boden bekommen, wenn die Heiler des Spitals schlecht über sie sprachen. Sie wollte nicht als Bettlerin in der Gosse landen.

»Mutig bist du.« Elias bedachte sie mit einem kalten Lächeln.

Es schien, als wollte Hattu gegen die Entscheidung aufbegehren, doch der Alte brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

»Enak?« Elias wandte sich an den Jüngling, der mit ihm gekommen war. »Bring unseren Gast in den Saal der Fremden. Sie sollen nun ihrer Obhut unterstehen. Eine Woche lang, dann werden wir die Lebenden und die Toten zählen.«

»Herr, das könnt Ihr nicht …«

Der Alte stieß hart mit seinem Krückstock auf den Mosaikboden. »Du hast hier nichts zu sagen, Kleiner. Und von dir, Weib, erwarte ich, dass du ein anderes Kleid anlegst, wenn wir dich in unserem Palast dulden. Das hier ist ein Spital und kein Hurenhaus!«

Shaya entging der triumphierende Blick Hattus nicht. Ebenso wenig wie die Sorge des jungen Heilers. Was hatte es mit dem Saal der Fremden auf sich?

»Bring sie zu ihren Kranken!«, befahl Hattu dem Jüngling.

Shaya überkam ein mulmiges Gefühl. Sie wusste, sie hatte einen Fehler gemacht. Wieder einmal. Sie hätte sich unterordnen und die dummen Sprüche Hattus ertragen sollen. Aber sie konnte einfach nicht zurückstecken, wenn ihr Unrecht widerfuhr.

Der Saal der Fremden

Enak führte sie über Treppen immer tiefer in den Palast hinein, bis er sie schließlich durch eine Tür in einen dunklen Raum brachte. Shayas erster Eindruck war der Gestank. Ganz anders als die hohen Säle, die sie durchquert hatten, lag dieser Raum im Zwielicht und wurde wohl kaum belüftet. Räucherwerk brannte in flachen Kupferschalen. Ein alter Mann begrüßte die Steppenreiterin freundlich.

»Wir kämpfen hier gegen das Unausweichliche«, flüsterte Enak. »Meine Meister haben dich betrogen. Alle hier sind dem Tod geweiht. Selbst die Kranken haben sich aufgegeben.«

»Was fehlt ihnen denn?« Shaya fragte mehr aus Höflichkeit, denn der Geruch, den auch das Räucherwerk nicht zu vertreiben vermochte, war unverwechselbar.

»Sie haben die Gliederfäule«, erklärte Enak niedergeschlagen.

Die Heilerin trat in den düsteren Saal. Neben jedem der Lager brannte ein Öllämpchen. Sie ging von einem Kranken zum anderen. Es waren ausschließlich Männer. Ihre Gesichter von Entbehrungen gezeichnet. Die meisten schliefen. Jene wenigen, die wach waren, starrten sie mit ausdruckslosen Augen an. Enak hatte recht. Die Kranken hatten sich aufgegeben.

»Woher kommen sie?«, wollte Shaya wissen.

»Das ist eine merkwürdige Geschichte … Eines Tages hat ein Wolkensammler, wie ihn noch nie jemand zuvor gesehen hatte, an einem der Ankertürme angelegt. Ein großer, blonder Mann hat uns gebeten, nach seiner Mannschaft zu sehen. Er hat jeden Einzelnen selbst zu uns ins Spital getragen und uns für jeden von ihnen fünf Goldstücke gegeben, damit wir sie versorgen. Er wollte wiederkommen und seine Mannschaft holen. Er hat Hattu für jeden Geheilten noch fünfzehn weitere Goldstücke versprochen …« Enak machte eine weitschweifige Geste durch den Saal. »Aber du siehst ja ….« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Wir konnten ihnen nicht helfen. Ihre Glieder faulen, und sie sind völlig ausgezehrt. Wir haben viele Stunden für sie gebetet. Sieben von ihnen sind bereits verstorben. Und die anderen werden ihnen bald folgen. Es ist ohne Hoffnung. Du solltest aus dem Palast fliehen und mit dem nächsten Wolkenschiff die Stadt verlassen.«

Der alte Mann, der über die Kranken wachte, kam mit einem Becher voll Wasser zu ihr. »Darf ich Euch etwas zu trinken anbieten, Herrin?«

Shaya nahm an. Erst jetzt bemerkte sie, wie durstig sie war. Es war heiß hier in Asugar, und sie hatte seit dem Morgen nichts mehr getrunken. Das Wasser schmeckte leicht nach Essig. Es war angenehm und löschte ihren Durst.

»Ich brauche Zitronensaft. Außerdem Obst. Wir werden daraus einen Brei für die Kranken kochen. Des Weiteren benötige ich weiches Brot und Milch.« Sie sah den Alten an. Er wirkte zäh. Sein graues Haar war zu einem fettigen Zopf zusammengebunden, der ihm weit auf den Rücken reichte. Seine schlichte Tunika war fleckig, seine Hände aber sauber. »Wie heißt du?«

»Saham, Herrin.«

»Zu welchen Zeiten des Tages kann ich mit deiner Hilfe rechnen?«

»Immer, Herrin.« Saham deutete auf ein Lager nahe der Tür. »Ich schlafe hier. Sie brauchen mich. Sind wie meine Kinder, wisst Ihr … kranke Kinder lässt man doch auch nicht alleine.«

Gerührt sah Shaya den Alten an. Das war der richtige Geist, dachte sie.

»Enak, kann ich auch auf deine Hilfe zählen?«

Der junge Heiler sah betreten zu Boden. »Ich … Sie werden mich hinauswerfen, wenn ich …« Er wand sich vor Scham. Aber Shaya war entschlossen, ihm seine Feigheit nicht durch verständnisvolle Worte zu erleichtern, und schwieg.

»Ich werde in den Nächten kommen«, sagte er schließlich.

»Gut! Nun besorge mir die Dinge, um die ich dich gebeten habe. Und bringe sie bitte nicht erst in ein paar Stunden, wenn Hattu schläft. Wir brauchen sie jetzt. Der Fremde mit dem Goldhaar hat schließlich für das Wohlergehen seiner Männer bezahlt.« Sie wandte sich an Saham. »Bring mir Licht!«

Im Schein einer Öllampe ging sie zum ersten Lager. Ein junger Mann, dessen Gesicht nur noch aus Haut und Knochen bestand, lag dort. Seine Stirn glühte im Fieber. Das schmuddelige Gewand, das er trug, war von kaltem Schweiß durchtränkt. Shaya zog die dünne Leinendecke zur Seite. Die Hände und Füße des Kranken waren mit Lumpen umwickelt, die von getrockneten Salben und dunklem Wundsekret verklebt waren.

Shaya brauchte ihr Messer, um den Verband zu entfernen. Der Kranke stöhnte vor Schmerz, als sie die letzten Leinenfetzen entfernte, die mit nässenden Wunden verklebt waren. Übler Gestank schlug ihr entgegen. Die ganze Hand war verfärbt. Der kleine Finger und der Ringfinger ganz schwarz, die obersten Glieder von Mittelfinger und Zeigefinger waren ebenfalls abgestorben.

Die Prinzessin fluchte leise. »Wir werden ihm einige Finger amputieren müssen.«

»Das geht nicht«, wandte Saham ein. »Hattu hat das verboten. Es steht uns Menschen nicht zu, Glieder unserer Artgenossen zu entfernen und damit die Schöpfung der Götter zu verunstalten.«

»Was?«

»So sagt es Hattu«, erklärte der Alte kleinlaut. »Wenn die Götter wollen, dass ihre Kinder wieder gesund werden, dann werden sie ihnen die Kraft dazu geben. Wir helfen, indem wir sie mit Kräutern behandeln, ihnen gutes Essen geben und sie pflegen. Der Erfolg gibt ihm recht.«

Shaya traute ihren Ohren nicht. Sie kannte diesen Ansatz in der Heilkunde, aber hätte niemals erwartet, dass der Palast der Kranken nach diesen Grundsätzen geführt wurde. Sie selbst war schon einem Gott begegnet. Der Weiße Wolf hatte sie auf seinem Rücken getragen. Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass es ihn störte, wenn jemandem ein Finger oder gar ein Bein amputiert wurde, um ihm das Leben zu retten.

War auch Arcumenna so? War das die Vorstellung von Schönheit, auf der diese Provinz gegründet werden sollte?

Shaya strich dem Fiebernden über die Stirn. »Du bist nicht verloren, ganz gleich, was man dir eingeredet hat.« Dann ging sie von einem Lager zum anderen. Alle Männer waren in schlechtem Zustand. Manche waren zumindest halb bei Sinnen. Sie stammelten vom Eis, und Shaya begriff. Sie hatte solche Wunden schon dutzendfach gesehen. Vor Kurzem erst, nur dass sie noch nicht zu stinken begonnen hatten. Das waren Erfrierungen! Zumindest hatte es so begonnen. Unbehandelte Erfrierungen.

Jetzt, wo sie es wusste, fand sie immer mehr Indizien. Sie fand auch Schäden an Ohren und Nasenspitzen. Und sie wusste, es gab nur einen Weg. In spätestens zwei Wochen würde keiner dieser Männer mehr leben, wenn sie nicht den Mut hatte, diesen Weg zu gehen.

»Warum ist hier alles verdunkelt, Saham?«

»Sie quälte das Licht«, erklärte der Heiler. »Das Licht über dem Meer ist wirklich sehr hell. Hattu hat die Läden anfertigen lassen. Vorher gab es hier gar keine.«

Shaya erinnerte sich an das gleißende Leuchten über dem Eis. Sie trat an die Läden und spähte durch einen Ritz im Holz. Die Sonne war untergegangen. Hoch über der See standen die Doppelmonde. Shen Yi Miao Shou war davon überzeugt gewesen, dass faulende Luft Krankheiten in sich trug. So wie es war, durfte es hier nicht bleiben. »Wir werden die Fenster öffnen. Zumindest bei Nacht. Die Seeluft wird ihnen guttun.«

»Und die Geister vertreiben!«, bestätigte Saham.

»Geister?«

»Natürlich!« Er sah sie an, als wäre sie ein Kind, das die einfachsten Dinge nicht begreift. »Man muss den Geistern einen Weg öffnen, auf dem sie gehen können. Sonst bleiben sie.«

Shaya wollte dieses Thema lieber nicht vertiefen. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie von Geistern halten sollte. Nicht nach den Dingen, die sie im Eis gesehen hatte. Die Grünen Geister Nangogs waren zu den Schwachen und Verwundeten gekommen und hatten etwas von ihnen gestohlen und in sich aufgenommen. War es deren Lebenskraft, oder waren es ihre Seelen? Es gab etwas, das sie aus den Menschen herauszogen und das nicht stofflich war. Sie sah sich in dem dunklen Saal um. Dies wäre ganz gewiss ein Ort für Geister.

Entschlossen stieß sie den hölzernen Laden auf und zog den schweren Vorhang zur Seite. Das Fenster reichte bis zum Boden. Es war eher eine Tür. Sie führte auf eine Terrasse. Tief unter ihr lag die See. Ein frischer Wind trieb Wellen gegen den Felsen, auf dem Asugar lag. Das Rauschen der Brandung hatte etwas Beruhigendes. Sie sah zum Himmel hinauf in all die Sterne und dachte einen Moment an ihre Nächte mit dem Unsterblichen Aaron.

Sie seufzte. Dieses Leben lag hinter ihr. Es war nicht gut, Erinnerungen nachzuhängen. Das brachte nichts, sie musste vorwärtsgehen!

Saham öffnete die anderen Fenster, während Shaya die Terrasse abschritt. Sie wäre breit genug, um die Schlaflager der Kranken nach hier draußen zu bringen. Sie trat zur Brüstung und sah den Felsen hinauf. Es gab noch weitere Terrassen, die versetzt zu jener lagen, auf der sie nun stand. Es war ein wunderbarer Ort. Vielleicht vermochte die Aussicht über dieses freundliche, warme Meer die Seelen zu heilen, die der grausame Frost des Nordens verletzt hatte.

Sie würde Eisenringe in den Fels schlagen lassen und ein paar starke Rundhölzer aufstellen. Es war möglich, hier ein Sonnensegel zu spannen. Da war sie sich ganz sicher.

Als sie zurück in den Krankensaal trat, schleppte Enak einen großen Korb mit Früchten herein und sah sie lobheischend an.

»Gut gemacht.« Sie musste ihn für sich gewinnen. Sie brauchte Verbündete im Palast. »Vor uns liegt eine Schlacht. Wirst du an meiner Seite stehen?«

Der Junge sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Eine Schlacht?«

»Wir ziehen in den Kampf gegen Krankheit und Tod. Es ist ein Kampf, der uns alles abverlangen wird. Hattu wird mich für die Dinge hassen, die ich tun werde. Vielleicht auch einige der Männer hier … Aber all das zählt nicht. Wir werden dem Tod seine sichere Beute entreißen.« Sie senkte die Stimme. »Auch wenn er am Ende immer siegt.«

»Du willst …« Enak sah sie erschrocken an.

»Ja, ich werde amputieren. Du wirst mir einen Satz scharfer Messer bringen. Es muss hier im Palast so etwas geben. Dazu Aderpressen, heißes Pech und eine Knochensäge.«

»Du kannst doch nicht …«

»Ich habe das Herz einer Kriegerin, Enak. Das Einzige, was ich in meinem Leben nicht kann, ist aufzuhören zu kämpfen.«

Der Duft der anderen

Volodi sah müde in die Flammen des Feuers. Wenn er sich nicht betrank, fand er einfach keinen Schlaf mehr. Sobald er die Augen schloss, erwachten in ihm die Bilder, die Wind vor regenschwerem Horizont mit ihm geteilt hatte. Er bekam sie einfach nicht mehr aus dem Kopf. Dieses Ungeheuer lebte in ihm, da war er sich ganz sicher. Und wenn er schlief, dann streckte es die Arme nach ihm aus.

»Du denkst an sie, nicht wahr?«

Er wandte sich zu Quetzalli um. Sie saß auf dem Bett und gab Wanya die Brust. Sie tat das in letzter Zeit wieder öfter, dabei hatte der Kleine eigentlich schon angefangen, Brei zu essen. Bald würde er ihm ein schönes, weich gekochtes Stückchen Fleisch in den Mund schieben, wenn sie nicht hinsah. Quetzalli hatte einige sehr seltsame Vorstellungen über die Ernährung von Kindern. Jungs brauchten Fleisch! Sonst wurden sie zu Weichlingen.

»Bin ich dir nicht einmal mehr einer Antwort würdig?«

»Äh, was …«

Er hatte ihr nicht richtig zugehört. Das tat er viel zu oft in den letzten Tagen. Dieses verfluchte Ungeheuer. Er war ihm nie begegnet, und doch warf es einen Schatten auf sein Leben.

»Tu nicht so! Denkst du, ich weiß nicht, dass du die blonde Schlampe fickst? Und jetzt träumst du von ihr. Ich bin nur noch Luft für dich …«

Volodi fühlte sich völlig überrumpelt. »Das ist nicht wahr. Ich …«

»Red dich nicht raus!« Quetzalli erhob sich vom Bett, kam ein paar Schritt auf ihn zu und wandte sich dann abrupt wieder ab. »Glaubst du, ich sehe nicht, wie du sie anstarrst?«

»Es ist nicht so …«

»Wenn ich nicht dabei bin, holst du sie dir auf den Schoß und betatschst sie. Und das vor unseren Gästen! Was habe ich dir getan, dass du mich so sehr demütigst?«

»Ich …« Er stand auf. »Ich war betrunken. Es tut mir leid.«

Sie legte Wanya in sein kleines Bett und deckte ihn zu. Dabei zuckte ihr Rücken auf und nieder. Volodi hörte keinen Schluchzer. Sie wäre viel zu stolz, um vor seinen Augen zu weinen. Sie hatte ihm einmal gesagt, wenn es ihm je einfallen würde, sie zu betrügen, dann würde sie ihm im Schlaf die Kehle durchschneiden. Ein schreiendes, aufgewühltes Weib – das war nicht sie.

Er trat von hinten an sie heran und wollte sie in die Arme schließen, doch sie entwand sich ihm, kaum dass er sie berührte.

»Glaubst du, ich möchte die Hände auf mir spüren, mit denen du sie begrabscht hast? Hattest du wenigstens den Anstand, dich zu waschen, seit du das letzte Mal bei ihr gelegen hast, oder werde ich gleich im Bett ihren Hurenmief an dir riechen?«

»Ich schwöre dir, ich war nicht …«

»Hab wenigstens den Anstand, mir nicht auch noch ins Gesicht zu lügen, verdammter Bastard!«

Es geschah schneller, als er dachte. Eigentlich hatte er es gar nicht gewollt. Seine Hand schnellte vor. Klatschte ihr ins Gesicht. Der Schlag war so heftig, dass Quetzalli auf Wanyas Bettchen geschleudert wurde. Fassungslos starrte er auf seine Finger. Sie waren ganz rot und brannten von dem Schlag.

»Für mich die Prügel und für sie deine Küsse. Wird es jetzt so sein?«

Volodi erhob erneut die Hand. Diesmal beherrschte er sich. »Was ist in dich gefahren, Weib?«

»Dass ich nicht blind bin, du Hurenbock!«

»Ich werde dir beweisen …«

»Ich rieche ihren Geruch an deinen Kleidern. Was willst du mir noch beweisen? Steh wenigstens zu dem, was du tust, statt mich zu belügen. Glaubst du, ich kenne das nicht? Ich habe als Kind gesehen, wie mein Vater meine Mutter betrogen hat. Aber er hatte Anstand dabei. Er hat nie eine Frau angerührt, wenn es irgendjemand sehen konnte. Meine Mutter hat nie ihr Gesicht verloren. Sie musste nie erdulden, dass die Dienerinnen tuschelten und kicherten, wenn sie vorüberging. Mein Vater hat ihr ganz ehrlich gesagt, dass er ins Bett einer anderen stieg. Ich weiß, Männer brauchen das manchmal. Man kann es mit Anstand tun – oder so wie du!«

»Ich habe nicht …«

Quetzalli spie vor ihm auf den Boden. »Lügner!«

Er ballte die Faust. Er musste gehen. Volodi wusste, er würde Quetzalli wieder schlagen, und das wollte er nicht! Aber sie würde ihn so lange reizen, bis es geschah. Er verstand auch nicht, was sie so aufregte. Sie sagte, es würde sie nicht stören, wenn er mit einer anderen ins Bett ging, aber so wie sie sich aufführte … »Ich werde mir deine irren Reden nicht länger anhören. Geh ins Bett, Weib. Und halte dein Schandmaul!«

»Du kannst mir meine Ehre nehmen, aber den Mund, den kannst du mir nicht verbieten!«

»Ich werde mir das nicht länger anhören!« Er trat zur Tür, riss sie auf und stürmte hinaus auf den Flur, der zum großen Saal des Langhauses führte.

Quetzalli kreischte hinter ihm etwas, das er nicht richtig verstand. Was war nur in sie gefahren? Ja, er hätte Anisja nicht zu sich auf den Schoß ziehen dürfen. Er konnte sich das selbst nicht erklären. Es war ein Fehler gewesen.

Die große Halle lag verlassen. Er fand einen Krug mit warmem Honigbier und setzte sich an die ersterbende Glut der Feuergrube. Der Rauch, der zum Giebel aufstieg, brannte so sehr in seinen Augen, dass sie sich mit Tränen füllten. Was war los mit Quetzalli? Er liebte sie. Und was war los mit ihm? Andere Frauen hatten ihn nie interessiert, bis Anisja gekommen war. Sie hatte etwas an sich … Er konnte es nicht richtig beschreiben. Wenn sie in seiner Nähe war, dachte er nicht mehr an das Ungeheuer. Und er fühlte sich mehr wie ein Mann … Dabei war sie eigentlich zu üppig für seinen Geschmack.

Er hob den Krug an die Lippen und trank. Der Met war zu klebrig. Er hatte das Gefühl, als wollte er ihm nicht richtig die Kehle hinabrinnen.

»Soll ich Euch nicht einen frischen Krug vom Braumeister holen, Herr aller Wälder?«

Bei den Göttern! Was machte sie hier? Es war mitten in der Nacht! Warum war sie nicht im Quartier der Dienerinnen.

»Herr?«

Dieser Duft! Volodi schloss die Augen und gab sich ihm ganz und gar hin. Allein sie zu riechen beflügelte seine Fantasie. Er wollte sie berühren. Er wollte sie mit allen seinen Sinnen spüren.

»Soll ich gehen, Herr?«

»Nein«, stieß er hervor. Es war ein atemloses Keuchen, als wäre er gerade viele Meilen gelaufen.

Sie kniete vor ihm nieder. Er starrte auf ihren Ausschnitt. Die üppigen Brüste. Er sollte nicht … Aber warum eigentlich? Quetzalli strafte ihn für etwas, das er nicht getan hatte. Er hatte Ärger wegen einer Affäre, die er gar nicht hatte. Warum sollte er sich nicht ein wenig Spaß gönnen? Was konnte schlimmer werden?

Er griff nach Anisjas Brüsten. Sie waren wunderbar weich, schmiegten sich in seine schwieligen Hände. Die Dienerin keuchte lustvoll auf. Er wollte sie! Sie hatte etwas an sich, das all seine Gedanken auslöschte. Volodi beugte sich vor, küsste sie leidenschaftlich. Und sie erwiderte seine Küsse. Schob ihm ihre Zunge über die Lippen. Eine Hand fuhr ihm über die Innenseite seiner Schenkel. Jedes Haar an seinem Körper richtete sich auf.

»Ich weiß einen Ort, an dem wir allein sind«, flüsterte sie ihm ins Ohr, und Wellen von Wohlgefühl und Wollust übermannten ihn.

In der dunkelsten Stunde

Quetzalli hielt sich tief im Schatten der Eichen des Heiligen Hains. Konnte man ihr ansehen, dass sie geweint hatte? Sie hätte Volodi nicht so hart angehen sollen. Eigentlich war ihr Plan ein anderer gewesen. Sie hatte Anisja verschwinden lassen wollen, um nie mehr über diese Sache reden zu müssen. Einfach den Quell des Übels aus der Welt schaffen, um ihn dann ganz zu vergessen. Der Streit in dieser Nacht würde jedoch noch zwischen ihnen stehen, wenn die kleine Schlampe längst in einem namenlosen Grab vermodert war. Wie hatte sie sich nur so gehen lassen können? Und wie hatte er sie schlagen können? Quetzalli stiegen erneut Tränen in die Augen.

Da bewegte sich etwas zwischen den Bäumen. Sie beobachtete den Schatten, bis sie sich ganz sicher war. »Hier!« Rasch wischte sie sich die Tränen ab.

»Herrin?«

»Warum lebt diese kleine Nutte noch? Was ist passiert?«

»Ihr wisst, was meinem Mann zugestoßen ist, Herrin.« Er klang vorwurfsvoll. Was nahm er sich da heraus! »Ich glaube nicht, dass Jascha in den Schweinepferch gestürzt ist, ohne dass nachgeholfen wurde. Er war ein guter Krieger …«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass diese dumme Dienerin …«

»Ich glaube nicht, ich bin mir sicher, dass wir sie unterschätzt haben, und deshalb ist einer meiner Schwertbrüder tot. Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen.«

»Schön«, entgegnete Quetzalli süffisant. »Und wann gedenkst du sie aus dem Weg zu schaffen?«

»Noch heute Nacht. Diesmal habe ich drei Männer auf sie angesetzt. Sie behalten alle Ausgänge des Langhauses im Blick. Sie wird uns nicht entkommen.«

»Sie ist immer noch im Langhaus? So spät? Was macht sie da noch?«

Oleg räusperte sich verlegen. »Sie ist in einem der Gästezimmer.«

»Mit Volodi?«

Der Hauptmann nickte.

Einen Moment lang stellte sich Quetzalli vor, wie sie in dieses Zimmer trat. Wie sie Volodi mit seinen frechen Lügen konfrontierte. Sie schüttelte den Kopf, als reichte das, einen lästigen Gedanken loszuwerden. Das wäre nicht klug. Sie hatte in dieser Nacht mit ihrem dummen Streit einer glücklichen Zukunft schon einen Stein in den Weg gelegt. Sie wollte diesen Weg nicht ganz vermauern. Wenn sie Volodi mit diesem Weibsbild neben sich im Bett zur Rede stellte, dann schuf sie Tatsachen, die nie wieder umzukehren waren. Blieb sie hingegen geduldig, ließ sie ihm den Weg offen, seine Liebschaft immer weiter zu leugnen. Irgendwann konnte sie ihm diese Lüge dann zum Schein abkaufen, und es würde wieder Frieden zwischen ihnen herrschen.

»Wann wirst du Anisja verschwinden lassen?« Quetzalli bemühte sich, freundlich zu klingen, obwohl sie Oleg im Grunde ihres Herzens für einen Versager hielt. Aber ein Mann, der sich wertgeschätzt fühlte, erfüllte seine Pflichten besser.

»Anisja wird das Frauenquartier nicht mehr erreichen. Wir holen sie uns noch in dieser Nacht. Sie wird Euch nie wieder unter die Augen kommen, Herrin. Drei Männer stehen bereit, Eure Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen.«

Das glaubte sie erst, wenn sie ein Mahl in der großen Halle eingenommen hatte, bei dem diese Hure ihrem Mann keine schönen Augen machte.

Oleg schien ihre Zweifel bemerkt zu haben. »Ihr könnt mir vertrauen, Herrin. Es sind gute Männer. Einer stammt sogar aus Eurem Volk. Er ist ein Meister seines Fachs.«

Erstaunt hörte sie zu, als er mehr über die drei erzählte. Am Ende war sie zwar nicht davon überzeugt, dass der Zapote, den Oleg angeworben hatte, ein Meister war. Ein Meister würde sich niemals einem Drusnier verdingen! Er würde einzig der Priesterschaft oder gar dem Unsterblichen Acoatl selbst dienen. Dennoch war sie zuversichtlich, dass sie Anisja wirklich nicht wiedersehen würde. In dieser Nacht hatte ihr die kleine Hure zum letzten Mal den Mann gestohlen. Dafür war gründlich gesorgt.

Gedankendiebin

Bidayn klammerte sich an den starken Körper. Er war über ihr. Stieß sie mit verzweifelter Leidenschaft, stöhnte und schwitzte. Ihre Hände krallten sich in seinen Rücken. Sie dachte sich fort. Fort von dem kratzenden Bart, seinem Geruch. In ihren Gedanken war sie bei dem Goldenen. Sie tat das hier für ihn. Sie musste erfolgreich sein! Allein sein Lächeln war all das hier wert. Volodi schrie auf. Er zuckte aus. Dann sank er schwer auf sie nieder. Drückte sie auf die strohgefüllte Matratze. Sein Atem wurde ruhiger. Streifte feuchtwarm ihren Hals. Er roch nach Honigbier. Bidayn hatte den klebrigen Geschmack des Biers selbst noch auf den Lippen. Sie hatte mit ihm trinken müssen.

Anfangs hatte es ausgesehen, als wollte er nur reden. Er hatte endlos über seine Frau gesprochen. Darüber, wie sie sich kennengelernt hatten. Über einen Winter, den sie auf der Flucht gewesen waren. Wie tapfer sie war. Was für einen wunderbaren Sohn sie ihm geboren hatte.

Zwei Mal hatte sie den Zauber gewoben, der sie mit einem unwiderstehlichen Duft umgab, bis er schließlich über sie hergefallen war. Er hatte ihr das schlichte Kleid aus grob gewebtem Leinen vom Leib gerissen. Volodi war leidenschaftlich gewesen. Ganz anders als der Priester Tuwatis, den sie gemeinsam mit Lyvianne verführt hatte. Volodis Liebe hatte etwas von einem Ertrinkenden gehabt, der sich verzweifelt an ein Wrackteil klammerte.

Jetzt ging sein Atem regelmäßig. Er war eingeschlafen! Bidayn fluchte leise und ertappte sich dabei, dass sie elfisch gesprochen hatte. Sie musste aufpassen! Und sie wollte fort von hier. Bisher hatte sie großes Glück gehabt. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie dem Devanthar der Drusnier begegnete. Er kam manchmal hierher, um sich mit Volodi zu besprechen, und zeigte sich dann auch in der großen Halle des Langhauses. Wenn er auch nur einen Blick auf sie warf, dann würde er erkennen, was sie war. Ganz gleich, wie fein der Zauber des Goldenen auch gesponnen sein mochte. Sie musste Volodi sein Geheimnis entlocken. Noch heute Nacht. Sie wollte nicht wieder mit ihm ins Bett.

Es war seltsam. Sie hätte keine Gewissensbisse, wenn sie ihm jetzt einen Dolch ins Herz stieße. Und trotzdem hatte sich etwas verändert. Mit ihm im Bett zu liegen … seine starken Hände auf sich zu spüren. Seine Leidenschaft. Es war erregend gewesen. Obwohl er ein Mensch war.

Sie schob ihn von sich. Jetzt, schlafend, schien er noch schwerer zu sein als eben. Sie knuffte ihn. Er musste aufwachen. Wie könnte sie ihn dazu bringen, dass er von dem verborgenen Traumeis sprach, ohne dass sie seinen Verdacht erregte? Sie strich ihm sanft über den Nacken. Seine Haut war noch nass vom Schweiß der Leidenschaft. Er murmelte etwas in die zerknüllte Decke hinein.

»Wach auf, mein Gebieter.« Sie küsste ihn in den Nacken, hauchte die Worte in sein Ohr.

»Ich liebe dich, Quetzalli«, murmelte er.

Bidayn setzte sich auf. Erstaunt darüber, dass seine Worte sie verletzt hatten. Er war nur ein Menschensohn! Ein Auftrag! Nichts, was Gefühle wert gewesen wäre. Hatte der Duftzauber etwa auch ihre Sinne vernebelt? Sie fuhr mit einem Finger über eine wulstige rote Narbe an seinem Arm. Sein ganzer Körper war bedeckt mit Narben. Sie hatte sie gezählt, als er sie liebkost hatte, um mit den Gedanken zu fliehen. Um nicht seinen starken und zugleich zärtlichen Händen zu verfallen. Diese Mischung aus Wildheit und Einfühlungsvermögen hatte sie nicht erwartet.

Er war nur ein Auftrag, ermahnte sie sich in Gedanken. Dann kniff sie ihn in den Arm. Er reagierte nicht. Bidayn schob ihre Hand unter seinen Leib und begann, sein Glied zu massieren. Es wurde größer, aber nicht richtig hart.

Endlich drehte sich der Unsterbliche auf die Seite, wandte ihr das Gesicht zu und begann zu schnarchen. Bidayn wurde endgültig klar, dass er in dieser Nacht nicht mehr reden würde. Aber ihr lief die Zeit davon. Was, wenn Volodi die Stadt verließ und sich auf die Suche nach dem Traumeis machte? Sie würde er ganz gewiss nicht mitnehmen. Sie musste es wissen! Jetzt!

Bidayn legte ihm sanft die Hand auf die Stirn, und dann murmelte sie jenes Wort der Macht, das Lyvianne sie gelehrt hatte. Jenes Wort, das der Goldene ihr verboten hatte. Was zählte, war nur der Erfolg. Nicht der Weg dorthin.

Seine Erinnerungen strömten auf sie ein. Bilder von Quetzalli. Wie sie zankten und sich liebten. Der blonde Mann, der mit dem Wolkensammler gekommen war. Und dann …

Sie riss die Hand zurück. Volodi keuchte auf.

Bidayn zitterte am ganzen Leib. Sie hatte es gesehen. Und sie wusste, dass man das Traumeis von dort nicht holen könnte. Sie versuchte, ruhig zu atmen und ihr wild schlagendes Herz wieder zu beherrschen. Er hätte ihr davon erzählen sollen. Diese Gedanken … sie waren nicht von Volodi. Irgendjemand hatte ihm die Erinnerung an diese Kreatur in den Kopf gepflanzt.

Die Elfe raffte ihr Kleid vom Boden und streifte es über. Es war zerrissen. Sie hielt den Stoff vor ihren Brüsten zusammen. Sie musste fort von hier. Nach Volodi sah sie sich nicht mehr um. Es war ihr gleich, ob er noch atmete und wie viele Jahre der Zauber ihm gestohlen hatte.

Bidayn wurde sich bewusst, dass sie taumelte. War es der Schrecken? Oder nur das Honigbier? Sie lehnte sich an die kühle Wand des Flurs. Sie musste ruhiger werden! Still stehen bleiben und einfach nur atmen. Einmal, zweimal … zehnmal.

Sie sah zu der Tür, die sie jeden Abend nahm, wenn sie das Langhaus verließ, um zum Quartier der Frauen zurückzukehren. Dieser Weg war ihr versperrt. Sie durfte nicht bleiben. Wenn Volodi erwachte, würde er sich vielleicht erinnern, was sie getan hatte. Sie musste auf dem schnellsten Weg zurück zum Goldenen.

Bidayn schlich zu der Treppe, die hinab zum Versorgungstunnel führte. Sie hatte ihre Schuhe neben dem Bett vergessen. Die steinernen Stufen, die hinabführten, waren angenehm kühl. Wieder kamen die Bilder zurück, die sie Volodi gestohlen hatte. Sie überlagerten die Wirklichkeit. Die enge Wendeltreppe rückte fort von ihr. Die kühlen Stufen waren nur eine Erinnerung, und die gestohlene Erinnerung war real. Sie sah den blonden Mann, blickte von oben auf ihn herab. Er versenkte versiegelte Amphoren. Er war auf dem …

Eine Hand legte sich um ihre Kehle. »Du läufst fort, Kleine«, zischte ihr eine Stimme ins Ohr.

Sie leistete keinen Widerstand. Er sollte denken, dass sie aufgegeben hatte. Die Bilder des Ungeheuers waren versiegt. Sie war mit allen Sinnen zurück im Hier und Jetzt. Eine Gürtelschnalle drückte gegen ihren Rücken. Es war die rechte Hand, die sich um ihren Hals gelegt hatte. Sie war rau und schwielig. Die Linke glitt an ihrem Körper hinab.

»Fühlst dich gut an.«

Der Gürtel hing leicht schief. Er neigte sich zur linken Seite. Ein Gewicht zog ihn herab. Ein Schwert? Wahrscheinlich. Es war die Hand eines Kriegers, die auf ihrer Kehle lag. Das Schwert war zu lang, um es in dieser Situation nutzen zu können.

Die rechte Hand war zwischen ihre Schenkel gewandert. Sie drückte sich gegen den Krieger. »Ja!«, stieß sie lustvoll hervor. Im selben Augenblick tastete sie nach rechts. Ihre Finger glitten den Gürtel entlang, fanden den Griff seines Dolches. Sie riss die Waffe heraus und rammte sie dem Krieger dicht über der Hüfte in den Leib, sodass die Klinge die Niere fand.

Die Hand an ihrer Kehle glitt hinab. Sie löste sich, drehte sich um und packte nach dem Schwert. Ohne zu zögern, riss sie es aus der Scheide und zog es dem Sterbenden über die Kehle. Dann stürmte sie in den Tunnel hinein.

Warum war sie erwartet worden?

Die Öllämpchen im Tunnel brannten. Goldenes Licht tanzte über die grob behauenen Steine. Sie war allein hier. Aber lauerten bei dem Ausgang zur Stadt weitere Feinde?

Bidayn hielt immer noch das Schwert in der Hand. Sie durfte sich nicht aufhalten lassen. Leise lief sie den Tunnel entlang, das Schwert bereit zum Kampf. Wer hatte geahnt, dass sie auf diesem Weg fliehen würde? Sie war durchschaut! Eine andere Erklärung konnte es nicht geben! Aber warum hatte dann nur ein einzelner Mann auf sie gewartet? Die Menschenkinder und vor allem die Palastwachen wussten doch aus bitterer Erfahrung, dass sie einer Daimonin nicht gewachsen waren. Sie hätten ihr mit einem Dutzend Krieger auflauern sollen und nicht nur mit einem. Das alles passte nicht zusammen!

Sie erreichte den Ausgang, spähte vorsichtig in die Gasse, die an der Mauer des Heiligen Hains entlangführte. Niemand zeigte sich. Bidayn blickte in den Tunnel zurück. Es gab keine Verfolger.

Sie drückte das Schwert eng an ihren Leib, damit es weniger auffiel. Dann trat sie in die Gasse. Es war der Weg, auf dem sie mit ihren Gefährten geflohen war. Sie hielt sich im Schatten. Leicht geduckt, stets auf der Hut. Als sie die Prachtstraße erreichte, die hinauf zum Platz vor der Goldenen Pforte führte, begann sie sich zu entspannen. Die Zwillingsmonde standen tief am Himmel. Die Straße war verlassen. Eine streunende Katze kreuzte ihren Weg und betrachtete sie kurz mit glosenden Augen.

Bevor der neue Tag anbrach, würde sie diese Welt bereits verlassen haben. Sie dachte an Volodi und biss sich auf die Lippen. Sie durfte nicht zulassen, dass die gestohlene Erinnerung wieder in ihr aufstieg. Bidayn begann zu laufen. Ihre nackten Füße klatschten auf den steinernen Platten des Weges. Sie hastete die Stufen zur nächsten Terrasse hinauf, ohne langsamer zu werden. Wie sehr sie die grausamen Läufe, zu denen sie in der Weißen Halle gezwungen worden war, gehasst hatte. Vor allem, wenn sie mit Nandalee gelaufen war. Ihre Gefährtin schien niemals zu ermüden. Nandalee war wie ein Wolf gelaufen, der seine Beute hetzte. Sie hingegen hatte sich schon nach einer Meile so gefühlt, als hätte man Dolche in ihre Seiten gerammt und Glut in ihre Kehle gefüllt.

Bidayn schnaubte. Das verzärtelte Mädchen, das sie einmal gewesen war, gab es nicht mehr. Mühelos erklomm sie eine weitere Treppe.

Weit vor sich sah sie die Goldene Pforte. Sie war geöffnet. Ein Torbogen aus Licht verschluckte die nie enden wollende Karawane, die die Schätze Nangogs in die Welt der Menschenkinder trug. Bidayn wurde langsamer, bis sie nur noch gemessenen Schrittes ging. Wenn sie lief, würde sie auffallen. Hier gab es zu viel Licht. Männer mit Fackeln und Laternen, die die Karawanen begleiteten.

In einem unbeachteten Augenblick lehnte sie ihr erbeutetes Schwert an eine Hauswand und ging einfach weiter. Der Platz war voller Menschen und Vieh. Hunderte Rinder stampften und schissen. Sie konnte die Angst der Tiere riechen. Sie ahnten, dass sie jenseits des Tores aus Licht nichts Gutes erwartete.

Etwas stach in ihren Hals. Eine Mücke? Bidayn schlug nach dem Insekt und zuckte zusammen. Da war ein Splitter. Sie zog ihn aus dem Hals. Er war kaum größer als ein Rosendorn. Ein bitterer, fremder Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Sie machte noch drei Schritte auf das Tor aus Licht zu. Dann hatte sie das Gefühl, als würde das Pflaster unter ihr hinwegrutschen. Sie fiel und war zu benommen, um die Hände nach vorn zu reißen, um den Sturz abzufangen. Sie schlug mit dem Gesicht auf das Pflaster. Ein Schatten fiel auf sie. Hände packten sie. Jemand sprach auf sie ein, doch sie verstand nichts mehr.

Sie hob erschöpft den Kopf. Das Tor aus Licht! Es war so nah gewesen. Bidayn spürte, wie sie hochgehoben wurde. Dann schwanden ihr die Sinne.

Fliegende Wölfe

Artax lehnte sich weit über die Reling des Palastschiffes, doch die Flieger auf den silbernen Wölfen verschwanden erneut aus seinem Blickfeld.

»Schlecht«, zischte er. »Sehr schlecht. Sie werden uns in Stücke hacken.«

»Übertreibst du dich nicht?« Volodi hatte den ganzen Morgen so gewirkt, als wäre er nicht recht bei der Sache. »Das sind sich nur ein paar lumpige Steppenreiter. Sie sind sich …«

»Und nun, meine Freunde, werde ich euch zeigen, was noch möglich ist!«, unterbrach ihn Subai mit erstaunlich lauter Stimme. Fünf große Wolkenschiffe ankerten über dem Statthalterpalast der Ischkuzaia. Die übrigen Unsterblichen waren alle mit einem eigenen Wolkensammler gekommen. Nur Aaron hatte mit Volodi einen zweiten Unsterblichen an Bord.

Er hatte viel über die Vorführung, die Subai angekündigt hatte, nachgedacht. Er war der Überzeugung gewesen, dass sie den Sieg über die Daimonen in der Luft erringen würden. Ja, er hatte extra eine Aussichtsplattform unter dem Rumpf seines Palastschiffes, fast auf einer Höhe mit der gläsernen Lotsenkanzel, anbringen lassen. Aber einige der herabhängenden Tentakel behinderten die Sicht. Über ihm war der riesige Rumpf des Schiffes. Oben auf den Decks war es nicht besser. Dort konnte man weder sehen, was unter dem Rumpf vor sich ging, noch was oberhalb des aufgeblähten Leibs des Wolkensammlers geschah. Wenn sie ihre ersten drei oder vier Jahre überlebten, erreichten die Wolkensammler eine Größe, dass es für sie keine natürlichen Feinde auf Nangog gab.

Das hatte sich nun geändert. Die Drachen würden sie in der Luft zerreißen, und die Wolkenschiffe, die von den riesigen Kreaturen getragen wurden, würden wehrlos in die Tiefe stürzen.

»Verdammter Bastard! Sieh dir dich nur an!« Volodi deutete aufgebracht nach unten. Der Palast Subais war ein großes Zelt, das auf einer Grasfläche auf einem Felsgrat lag, der sich aus der Flanke des Weltenmundes erhob. Frauen in weißen Gewändern marschierten auf der Grasfläche auf. Die meisten waren nicht sonderlich anmutig. Eine jede von ihnen hielt eine Zielscheibe hoch, die nicht viel größer als ihr Kopf war.

»Wer ist das?«

»Hast du dich ihm nicht gehört?« Volodi klang verärgert. »Hat er sich gerade gesagt. Sind sich Frauen und Töchter von Flieger.«

»Was?«

»Ja, genau – was?! Ist sich tollwütiger Steppenfloh! Hat sich nichts als Scheiße in Hirn. Mag ich mich gar nicht hinsehen …«

Volodi sah allerdings auch nicht weg, wie Artax feststellte. Der erste Krieger auf einem fliegenden Wolf stieß steil vom Himmel hinab. Er flog an der Reihe der Frauen vorbei, drehte sich im Sattel, spannte mit fließender Bewegung seinen Bogen und schoss. Der Pfeil verfehlte das faustgroße rote Herz in der Mitte der Strohscheibe um etwa zwei Fingerbreit. Dennoch war es ein exzellenter Schuss. Der Schütze hatte den Treffer aus mehr als fünfzig Schritt erzielt. Artax dachte, dass er froh wäre, wenn er auf diese Entfernung mit beiden Füßen auf dem Boden stehend überhaupt die Scheibe treffen würde.

Ein Krieger nach dem anderen stürzte aus dem Himmel hinab und beteiligte sich an dem grausamen Spektakel. Jene, die getroffen hatten, jauchzten und schwangen wild ihren Bogen über dem Kopf.

Es war der Achte oder Neunte, der verfehlte. Sein Pfeil bohrte sich in die Brust eines jungen Mädchens. Sie starrte einen Augenblick auf das Geschoss. Dann entglitt ihr die Zielscheibe. Ihre Hände schlossen sich um den Pfeil, während sich ein immer größer werdender roter Fleck auf ihrem schneeweißen Kleid ausbreitete.

»Timur!«, erklang Subais spöttische Stimme. »Du solltest nicht saufen, bevor du fliegst. Du hast deine Tochter durchbohrt. Zum Glück bist du noch jung und kannst noch viele Mädchen machen.«

Der Krieger riss seinen fliegenden Wolf herum. Er landete neben der Sterbenden. Lauthals redete er auf sie ein. Er hielt ihre Hände.

Männer aus Subais Drachengarde erschienen und zerrten ihn fort.

»Ist sich das unsere Zukunft?« Volodi hatte von irgendwoher ein Trinkhorn aufgetrieben. Er stank nach Met. Das hatte er schon getan, als er gekommen war. »Die Götter schenken sich einem Irren fliegende Wölfe, und Väter morden sich ihre Töchter.«

»Es liegt an uns, es besser zu machen.« Artax legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Wenn wir mehr Wolkensammler wie deinen hätten …«

»Du willst gar nicht wissen, wo das Traumeis ist.«

Artax sah seinem alten Kampfgefährten tief in die Augen. Volodi war verzweifelt. Artax hatte keine Ahnung, was seinen Freund peinigte, und er kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er Nächte mit ihm zechen müsste, um zu erfahren, was los war. »Wenn du es holst, werde ich an deiner Seite sein, ganz gleich, wohin wir dafür gehen müssen.« Er deutete auf das Mädchen, das hingestreckt im Gras lag. »Wie viele Wölfe soll Subai bekommen? Wie oft soll sich dieses Spektakel wiederholen, wenn er uns einen neuen Schwarm vorstellt.«

»Langarm hat sich fliegende Bären abgelehnt. Fand er sie sich lächerlich.« Volodi nahm noch einen Schluck aus dem Methorn.

»Du brauchst keine fliegenden Bären. Was wir brauchen, sind mehr Wolkensammler wie Wind vor regenschwerem Horizont

»Findest du dich?« Feine Tröpfchen von Met sprühten von Volodis Lippen, während er sprach. »Dann will ich dir dich sagen, was musst du dich.« Der Drusnier bohrte Artax einen Zeigefinger in die Brust. »Aber kommst du dich nicht an und flennst dich mich an. Können wir nix nicht holen. Es ist sich …«

Artax legte ihm die Hand auf den Mund. »Leise«, zischte er.

Und dann flüsterte Volodi es ihm ins Ohr. Sein feuchtwarmer Atem streichelte den Hals der Unsterblichen. Der Drusnier sprach schneller und schneller. Als sei ein Damm gebrochen, hinter dem er allzu viele Worte zurückgehalten hatte.

Als sein Freund schließlich fertig war, war auch Artax danach zu trinken. »Kolja war ein verdammter Bastard. Warum hat er das getan?«

»Weil er sich war ein Söldner …« Volodi goss ein wenig Met aus dem Horn über die Reling. »Für dich, Bastard. Mögest du dich hübsches Gesicht mit dich genommen haben, wo immer du dich nun bist.«

»Ich werde dorthingehen«, sagte Artax ernst.

»So? Wirst du dich? Und dann?« Volodi hob erneut seinen Zeigefinger. »Weißt du, was ist sich dort? Nicht Traumeis. Ist sich Ende von Träume. Dort wirst du dich sterben.«

Artax dachte über den Tod nach. Er hatte keinen Schrecken mehr für ihn. Der Unsterbliche Aaron zu sein war einzig eine Bürde. Sie hatte ihm das genommen, was er in seinem Leben am meisten hatte haben wollen. Ein Leben mit Shaya. Was galt es da noch zu fürchten? Der Tod wäre eine Erlösung! So platt konnte er das seinem Freund natürlich nicht sagen. Volodi bekam man mit einem Appell an seine Ehre herum. »Wir sind Unsterbliche, Kamerad. Die Götter haben uns erschaffen, damit wir tun, was normalen Sterblichen unmöglich ist.«

Der Drusnier rollte mit den Augen. »Hab ich dir dich nicht klar gesagt, was sich uns blüht. Ist sich Vieh groß wie Berg. Sind sich Rüstungen ein Scheiß wert. Wird es sich uns zerquetschen wie Fliegen.«

»Kolja hat es auch überlebt.«

Volodi grunzte. »Weißt du dich, warum? Wind vor regenschwerem Horizont hat mir gesagt. Kolja durfte sich hin, weil war er sich Loch von Arsch. War er ohne Moral. Hat sich das Vieh gefallen. Wenn es mag sich Mann wie Kolja, wird es dir dich hassen, Herrscher aller Schwarzköpfe.«

»Dann werde ich das Vieh wohl umbringen müssen.«

»Bist du dich verrückt?«, herrschte Volodi ihn an. »Kannst du dich tot machen Berg? Das nix nicht geht.«

»Wenn das nötig wäre, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, dann würde ich alles daransetzen, es zu tun.« Er sah zu Mataan hinüber. Der Satrap von Taruad war einst ein hünenhafter Krieger gewesen. Weil er ihm, seinem Herrscher, im Steinhorst das Leben gerettet hatte, war er zum Krüppel geworden.

Wenn er das Traumeis fand, dann könnte er ihm zurückgeben, was er verloren hatte, dachte Artax. Er würde es nicht nur nutzen, um die Wolkensammler zu verändern. Es hatte Kolja einen Arm nachwachsen lassen und ihm seine Jugend zurückgegeben. Welche Wunder es wohl sonst noch wirken konnte?

»Du willst es dich wirklich tun, nicht wahr?« Volodi wirkte plötzlich nüchtern.

»Wenn du mir Wind vor regenschwerem Horizont ausleihst, werde ich mich auf die Suche nach dem Vieh machen.«

»Du bist dich verrückt!« Volodi grinste. »Das warst du dich immer schon. War sich auch verrückt, du dich allein kämpfen mit Heer von Piraten, König Geisterschwert.«

»Es war das Risiko wert, Volodi, der über den Adlern schreitet. In jener Nacht habe ich einen guten Freund gewonnen.«

»Du meinst dich wohl dummen Freund, der sich jedes Mal, wenn du dich losläufst, um dich stürzen in Tod, kommt sich hinterher, um aus Scheiße holen dich.«

Artax schmunzelte. »Ich erinnere mich an jemanden, der nackt auf einem Opferstein lag, ein Messer über seinem Herzen.«

»Da wär ich mich schon wegkommen … Hättest du dich nix Aufstand …«

Artax glaubte das nicht, dennoch nickte er. »Du hast Talent darin, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.«

Volodi hob abwehrend die Hände. »Du kannst dich aufhören. Ich komme mich mit. Aber spüre ich mich, wir werden nicht nix zurückkehren. Nicht nix diesmal.«

»Das ist doch …«

Volodi hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. »Nix sich schöne Worte. Ich dich bitten eins. Wenn ich mich sterbe, nimmst du dich Quetzalli und Wanya an Hof? Sie werden sich Schutz brauchen. Mögen meine Leute sie sich nicht sehr.«

»Dir wird nichts geschehen!«

Der Drusnier schüttelte den Kopf. »Ich hab mich etwas getan …« Seine Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Ich hab mich mein Glück wegmachen. Diesmal ich nix nicht komme zurück, wenn ich mir mich gehe in Schlacht mit dich.«

Artax wollte das nicht stehen lassen, doch plötzlich ging ihm eine Bauernweisheit durch den Kopf, die sein Vater gerne zitiert hatte: Trunkner Mund tut Wahrheit kund. Er sah seinen Freund an und musste an all die Tausende denken, die für seine Träume bereits gestorben waren.

Und genau um ihretwillen musste er gehen! Wenn er seinen Traum von einer besseren Welt jetzt aufgab, dann waren sie alle vergebens gestorben.

Ein ganz besonderes Mädchen

»Du solltest ihr nicht die Fesseln abnehmen. Sie ist gefährlich.«

»Keine Sorge, wir haben auch Gäste, die so etwas mögen.«

Bidayn war sich nicht sicher, ob sie noch träumte. Ihr war übel. Eiserne Fesseln schnitten in ihre Handgelenke. Sie war so hoch an eine feuchte Wand gekettet, dass sie gerade eben auf Zehenspitzen stehen konnte.

Das musste ein verdammter Albtraum sein!

Eine grobe Hand schloss sich um ihre linke Brust. »Fass doch mal an. Sie hat schöne, weiche Titten.«

Jetzt wusste sie, dass es kein Traum war. Ihr Kopf hing herab. Ihr Kinn ruhte auf ihrer Brust. Sie blinzelte, sah aus halb geschlossenen Lidern auf eine haarige Hand.

»Du musst sie nicht anpreisen wie einen alten Gaul auf einem Pferdemarkt. Ich sehe, was sie ist.«

»Nein, das siehst du nicht!«, zischte der andere, und seine Hand quetschte ihre Brust. »Sie hat zwei meiner Männer umgebracht. Du darfst ihr auf gar keinen Fall die Fesseln abnehmen!«

»Ich weiß vielleicht nicht, was sie jetzt ist, dafür weiß ich sehr genau, was sie in ein paar Monden sein wird. Wenn sie hier lange genug wie ein Schinken an einem Haken gehangen hat, dann wird sie alles dafür tun, ein vernünftiges Essen und ein richtiges Bett zu bekommen. Und nicht länger den Kerlen zu Willen sein zu müssen, die hier herunterkommen.«

»Die ist anders.«

»Du bist ein verdammt schlechter Geschäftsmann, Oleg. Du handelst mit deinem Gerede den Preis herunter, den ich dir für sie zahlen wollte.«

»Ich bin auch Teilhaber, du Idiot. Ich will nicht, dass es hier Ärger gibt. Halt sie weggeschlossen!«

Jemand strich ihr über das Haar. »Dabei sieht sie aus wie ein harmloses Blondchen.«

»Die hat einen meiner Männer an Schweine verfüttert. Jascha. Du kanntest ihn vielleicht.«

»Meinst du den glücklichen Jascha? Den, dem nie etwas passiert ist, egal, wie hart es zuging. Der beim Marschieren nicht einmal Blasen an den verdammten Füßen bekommen hat?«

»Als er sie getroffen hat, hat ihn sein Glück verlassen.«

Ihr Käufer pfiff leise. »Und die soll ihn umgebracht haben? Jascha ist doch zwei Köpfe größer als sie …«

»Er war zwei Köpfe größer. Sah nicht gut aus, was die Schweine von ihm übrig gelassen haben.«

Die beiden schwiegen jetzt. Bidayn rührte sich nicht. Es war besser, wenn sie nicht merkten, dass sie wieder bei Bewusstsein war. Oleg … Den Namen kannte sie. So hatte ein Hauptmann am Hof des Unsterblichen Volodi geheißen.

»Ich habe ein paar sehr eigenwillige Kunden«, sagte der Fremde schließlich. »Man kann sie nicht zu den normalen Mädchen lassen. Wie heißt sie denn, die kleine Hure?«

»Anisja.«

»Ich glaube, ich kenne jemanden, der zahlt mir doppelt so viel, wie ich dir jetzt geben werde, wenn er sich eine Nacht lang an ihr verausgaben kann.«

»Ich werde Jascha davon erzählen, wenn ich ihn im Geisterhain besuche«, sagte Oleg, und Bidayn konnte seiner Stimme anhören, dass er lächelte. »Ich bin sicher, er wird seine Freude daran haben.«

Die Elfe hörte ein Klopfen wie ein Knöchel, der auf Holz schlug. Das Geräusch eines Riegels, der zurückglitt, erklang. Eine Tür scharrte über steinernen Boden. Sie wurde wieder geschlossen. Jetzt erst wagte sie es, erneut zu blinzeln. Sie war allein in der Zelle. Ihr Gefängnis war nicht sonderlich groß. Vielleicht zwei mal drei Schritt. Durch ein Gitterfenster in der schweren Holztür fiel gelbes Licht herein. Direkt neben der Tür stand ein schmaler Tisch. Darunter ein Eimer, auf dem Gefangene wohl ihre Notdurft verrichten konnten, wenn sie nicht an die Wand gekettet waren.

Die Elfe versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Die Goldene Pforte. Sie hatte sie fast erreicht gehabt. Aber was hatte sie aufgehalten? Sie erinnerte sich nicht. Verzweifelt sah sie zu den engen Eisenringen hinauf. Sie versuchte, ihre Linke herauszuziehen, zerrte an der Fessel, bis Blut auf ihr Gesicht tropfte. Wütend schlug sie mit den Fäusten gegen die Wand. Sie würde hier nicht warten, bis dieser ganz besondere Kunde erschien. Eher würde sie sich ihren linken Daumen abbeißen, um die Hand aus der Fessel ziehen zu können.

Der Feldherr und die Kriegerin

Enak kam in den Saal der Fremden gelaufen, Panik lag in seinem Blick. »Er kommt, Herrin! Völlig unangemeldet. Und er ist auf dem Weg hierher! Er wollte von Hattu nichts hören. Er hat den Meister übergangen …«

Shaya erhob sich von dem Krankenlager, an dem sie kniete, und gab Saham ein Zeichen, den Verband zu erneuern, den sie entfernt hatte. Sie war überaus zufrieden mit den Amputationen, die sie durchgeführt hatte. Keiner der Kranken war verstorben, während sie Gliedmaßen abgetrennt hatte. Und keiner hatte danach Wundfieber bekommen. Sie erholten sich, aber sie war sich sehr wohl bewusst, dass Seelen langsamer heilten als Wunden. Einige hatten noch nicht verwunden, dass sie mit einem Arm oder einem Bein dafür hatten zahlen müssen, am Leben bleiben zu dürfen.

»Wer kommt denn so Bedeutendes, Enak?«

Der junge Heiler hob die Arme. »Bei den Göttern, habt Ihr es nicht verstanden, Herrin? Der Laris von Truria. Arcumenna, unser Fürst und Gebieter!«

Shaya wischte ihre Hände an der Schürze ab, die sie umgebunden hatte, um ihr Kleid zu schützen. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, den Palast der Kranken zu verlassen und sich ein neues Gewand zu kaufen. Immer noch trug sie das rote Kleid, in dem sie vor einer Woche angekommen war. Müde strich sie sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. Nun war es also so weit, es würde sich entscheiden, ob sie an diesem Ort bleiben durfte oder sich Hattus Wunsch erfüllen würde, sie öffentlich gedemütigt zu sehen.

Schritte hallten im angrenzenden Flur. Sie hörte die Stimme Hattus, der aufgeregt auf seinen Herrscher einredete. Shaya hatte von Arcumenna gehört. Er war der erfolgreichste Feldherr des Unsterblichen Ansur, und es war ihm gelungen, weite Teile von Drus zu erobern, bevor die beiden Reiche Frieden geschlossen hatten.

Der Herrscher und sein Gefolge traten durch die große Flügeltür in den Krankensaal. Shaya war überrascht. Sie hatte einen anderen Mann erwartet. Arcumenna war klein, von drahtiger Gestalt, mit beginnender Stirnglatze. Seine scharf geschnittene Adlernase gab seinem Gesicht Härte. In seltsamem Widerspruch dazu standen seine vollen, sinnlichen Lippen. Obwohl er nur ein einfaches weißes Gewand und geflickte Sandalen trug, von deren Schnüren Talismane hingen, war er unverwechselbar der Herrscher. Eine Aura von Macht und Selbstbewusstsein umgab ihn. Der einäugige Krieger an seiner Seite mit seinem polierten Bronzekürass und dem prächtigen Federhelm unter dem Arm war ohne Zweifel ein kampferfahrener Veteran, dem auf dem Schlachtfeld Hunderte von Kriegern gehorchten, doch er verblasste neben dem schlicht gekleideten Mann, der Shaya nun musterte.

»Du also bist die Hure, die sich als Heilerin ausgibt.« Ein süffisantes Lächeln spielte um die vollen Lippen. »Dies sind nicht meine Worte. Du ahnst sicherlich, wen ich zitiere. Was hast du zu den Vorwürfen von Hattu zu sagen?«

»Worte sind billig, Herr. Ich lasse lieber Taten sprechen.« Sie deutete mit weit ausholender Geste in den Krankensaal. »Keiner der Männer in meiner Obhut ist gestorben. Ich habe ihr Fieber besiegt, indem ich ihnen die faulenden Glieder abgeschnitten habe.«

Arcumenna nickte. »Ich habe schon davon gehört. Du hast hier ein Gemetzel angerichtet, das eines mittelgroßen Schlachtfeldes würdig gewesen wäre.« Er sah sich um. »Spricht einer von euch meine Sprache?«, rief er laut.

»Ich.«

Shaya schloss die Augen. Ausgerechnet Vibius! Sie hatte ihm gegen seinen Willen ein Bein und zwei Finger abgenommen. Er hasste sie.

Arcumenna trat an das Lager des Siechen. Vibius hatte sein Fieber überwunden, aber er war immer noch ausgezehrt und schwach.

»Sie hat mich verstümmelt …« Seiner Stimme war deutlich anzuhören, wie viel Kraft es ihn kostete, die Worte hervorzubringen. »Ich wollte das nicht. Wollte lieber tot sein …«

»Warum?«, fragte Arcumenna.

Shaya sah den Fürsten aufmerksam an. Was sollte diese Frage?

Auch Vibius war offensichtlich verwirrt. »Ich … ich bin nichts mehr wert.«

»Dein Bein und diese beiden Finger, das warst du? So gering schätzt du dich ein? Alles, was noch geblieben ist, ist nichts mehr wert?«

»Ich bin ein Krüppel«, begehrte Vibius auf. »Sie werden mich auf keinem Wolkenschiff mehr anheuern. Ein Bettler werde ich sein und, bevor das Jahr vorüber ist, in der Gosse verrecken.«

Arcumenna legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du bist hier in Asugar. Hier gibt es keine Bettler. Da, wo ich herrsche, hat ein jeder seinen Platz. Woher kommst du in Valesia?«

»Cisra.«

»Die Stadt ist berühmt für ihren Weinanbau. Ein exzellenter, sehr dunkler Roter, nicht wahr?«

Vibius sah den Fürsten mit weiten Augen an. »Ihr kennt Cisra?«

»Ich bin viel gereist. Verstehst du etwas vom Weinanbau?«

»Meinem Vater gehörte ein halber Hang. Wir haben unsere eigenen Trauben gezogen und gekeltert. Es war ein guter Tropfen.«

»Und warum bist du fortgegangen?«

Vibius schnaubte. »Ich war der dritte Sohn. Das Gut war zu klein, um es zu teilen. Ich war zu viel. Der erste erbt, der zweite dient dem Erben und der dritte ist zu viel.«

»Nicht weit von hier gibt es Hügelland am Fluss. Man muss dort noch roden, aber ich habe schon Rebstöcke in Truria bestellt. Aber mir fehlt es an Weinbauern. Glaubst du, man kann mit einem Bein ein Weinbauer werden, Junge?«

Vibius schien jetzt von innen heraus zu strahlen. »Das kann ich, Herr. Ihr werdet es sehen! Ich werde mit einem Bein jeden verdammten Weinberg hinaufkommen, und ich werde ihn Tag und Nacht hüten, meinen Berg.«

Arcumenna lächelte. »Das glaube ich dir. Und nun sieh zu, dass du gesund wirst und nicht unnötig im Bett herumlungerst. Eine Aufgabe wartet auf dich.« Der Fürst erhob sich und sah sich im Saal um. »Sieht so aus, als wären hier etliche Männer aus Luwien und Aram. Und der da hinten könnte sogar aus Ischkuza kommen. Sprichst du ihre Sprache, Junge?«

»Nur ein paar Brocken Luwisch, Herr«, sagte Vibius verlegen.

»Ich spreche diese Sprachen, Herr«, mischte Shaya sich ein.

Arcumenna sah sie mit kalten Augen an. So freundlich er auch zu Vibius gewesen sein mochte, er verfolgte ein Ziel und nutzte alle Mittel, es zu erreichen. »Du hast viele Talente, wie mir scheint, Heilerin. Hast du auch einen Namen?«

»Shaya«, antwortete sie, ohne zu zögern. Sie wollte sich nicht länger verstecken. Niemand würde in ihr die Tochter des Unsterblichen Madyas erkennen, so sehr war ihr Gesicht verändert worden.

»Nun, Shaya. Dann sag deinen Männern, dass ich auf keinen verzichten kann, der bereit ist, mit mir dieses Fürstentum aufzubauen. Auch ein Einbeiniger ist für mich ein Mann. Nur Faulpelze sind hier fehl am Platze. Jeder von ihnen wird eine Arbeit bekommen, anständiges Essen und einen Platz zum Schlafen. Wer fleißig ist, der wird hier sein Glück machen und als ein reicher Mann in seine Heimat zurückkehren.«

»Ich werde es ihnen sagen, Herr.«

Arcumenna ließ erneut seinen Blick durch den Saal schweifen. »Kannst du mir sagen, was dich dazu treibt, als Heilerin in einem roten Kleid herumzulaufen?«

»Auf dem roten Stoff sieht man die Blutflecken nicht so gut.«

Er wandte sich abrupt zu ihr um. Eine tiefe Furche stand zwischen seinen Brauen. Plötzlich lächelte er. »Ich glaube dir kein Wort, auch wenn das eine gute Antwort war. Also, noch einmal: Was soll das Kleid?«

»Es gefällt den Männern. Sie sehen mir gerne nach, und glückliche Kranke werden schneller gesund.«

Der Fürst lachte leise. »Du erinnerst mich an eine Frau, die ich sehr gemocht habe. Sie war genauso frech wie du. Und jetzt zur Abwechslung die Wahrheit.«

Auch Shaya lächelte. »Dies Kleid ist ein Kompromiss zwischen meinem Geldbeutel und dem, was es gab.«

»Deine anderen Antworten haben mir besser gefallen. Ich schicke dir morgen eine Schneiderin. Unterhalte dich mit ihr darüber, was du brauchst. Du wirst einige Kleider von mir als Willkommensgeschenk bekommen.«

Shaya sah, wie Hattu dem Gespräch mit wachsendem Entsetzen lauschte. »Aber, Herr, sie hat gegen den Kodex dieses Hauses verstoßen. Wir schneiden niemandem Glieder ab und verunstalten die Schöpfung der Götter.«

»Du meinst also, ich vergehe mich gerade am Willen der Götter?« Die Stimme des Fürsten war eisig geworden.

»Ich … nein … Es ist …«

»Du widersprichst mir nie wieder in der Öffentlichkeit, Hattu. Du bist ein guter Heiler. Du wirst weiterhin dieses Haus leiten, aber in diesem Saal hier hast du von nun an nichts mehr zu sagen. Er gehört Shaya. Sie wird tun, was sie für richtig hält, und wenn du klug bist, Hattu, arbeitest du mit ihr zusammen und versuchst nicht, ihr das Leben schwerzumachen. Wir leben im Krieg mit den Daimonen. Jeden Tag werden Männer verstümmelt, und die Schöpfung der Götter wird verhöhnt. Ich brauche eine Heilerin, die die Gabe hat, gute Männer am Leben zu erhalten. Ich bin Feldherr, und es wird nicht lange dauern, bis der Unsterbliche Ansur mich wieder ruft, um seine Heere zu befehligen. Dann werde ich Shaya mit mir nehmen. Bis dahin wünsche ich, dass sie hier verweilt und anständig behandelt wird. Haben wir uns verstanden, Hattu?«

Der Heiler verbeugte sich demütig. »Eure Weisheit hat mich erleuchtet, mein Fürst. Alles wird so sein, wie Ihr es wünscht.«

»Dann wäre das also geklärt.« Arcumenna ergriff Shayas Rechte und hauchte einen Kuss darauf. »Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen.«

Shaya verkrampfte sich innerlich. Was würde jetzt kommen? Eine Einladung in den Palast des Fürsten, um mit ihm ein Nachtmahl einzunehmen? Oder wäre er diskreter und würde das nicht vor all den anderen aussprechen und ihr einen Boten schicken?

Arcumenna wandte sich von ihr ab. »Man hat mir erzählt, dass du einen Mann behandelst, der sich für einen Vogel hält, Hattu? Ist das richtig?«

»Ja, Herr. Er ist im Saal der Verwirrten. Wir mussten ihn an die Wand ketten, weil er sonst …«

Der Fürst und sein Gefolge verließen den Saal. Shaya blickte ihnen erstaunt nach. Arcumenna sah nicht einmal zu ihr zurück. Konnte es sein, dass er einfach nur höflich war, ganz ohne Hintergedanken?

Saham klatschte leise. Außer den Kranken war nur er geblieben. Enak hatte sich dem Gefolge des Fürsten angeschlossen.

»Was für ein Duell. Der Feldherr gegen die Kriegerin. Ich würde wetten, Ihr werdet schon bald einen festen Platz im Gefolge unseres Fürsten haben.«

Shaya zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin keine Kriegerin.«

»Ich erkenne eine Kämpferin, wenn ich sie sehe. Ihr wart großartig, Herrin.«

»Ich bin eine Kämpferin gegen Krankheit und Tod.« Sie versuchte, nicht verärgert zu klingen. »Und manchmal auch gegen schlechtes Benehmen.«

Saham schüttelte den Kopf. »Die meisten Männer in dieser Stadt hätten es nicht gewagt, so mit dem Fürsten zu reden. Ihr seid eine Kriegerin, ganz gleich, was Ihr mir erzählt. Ihr könntet Schlachten lenken, da bin ich mir sicher.«

»Na, dann widmen wir uns doch der Schlacht um das Leben unserer Kranken. Ich brauche frisches Wasser, um die Bettlägerigen zu waschen. Mach dich auf den Weg und hol mir zwei Eimer voll.«

Der Alte schlug sich mit der Faust vor die Brust, wie Krieger es manchmal taten, wenn sie ihren Fürsten grüßten. »Jawohl, Gebieterin!« Lachend und mit zackigen Schritten eilte er aus dem Saal.

Shaya wurde sich bewusst, wie die Kranken sie anstarrten. Die meisten von ihnen konnten nicht verstanden haben, was gesprochen worden war.

Plötzlich schlug sich auch Vibius vor die Brust und grüßte sie, als wäre sie seine Feldherrin. Einer nach dem anderen taten die Männer es ihm gleich. Die Schwachen deuteten den Gruß mehr an. Selbst jene, die sich schreiend gegen die Amputationen gewehrt hatten, schlossen sich an.

Shaya schluckte. Sie war gerührt. Und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Mit einem verlegenen Lächeln zog sie sich auf die Terrasse zurück. Noch war sie leer, doch zur Abendstunde wurden die Betten der Verwundeten wieder herausgetragen. Saham und Enak fluchten über diese zusätzlichen Mühen. Aber der Erfolg war es ihr wert. Müde blickte Shaya über die weite See. Die Sonne war fast im Meer versunken.

In den letzten Tagen hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, bei Sonnenuntergang hinauszutreten, um das Schauspiel der Farben zu genießen und für kurze Zeit mit sich allein zu sein. Eine Meile voraus erhob sich ein einsamer Wachturm auf einer kleineren Klippe im Meer. Wie jeden Abend wurde auf seiner Plattform ein Signalfeuer entzündet, um den Schiffen ihren Weg nach Asugar zu weisen. Shaya liebte den Frieden dieser Sonnenuntergänge. Sie war froh, sich ihren Platz erobert zu haben, auch wenn es um den Preis war, wohl bald wieder in den Krieg zu ziehen. Der Weiße Wolf, der Devanthar ihres Volkes, trieb wohl seine Scherze mit ihr. Frieden gönnte er ihr nicht.

Saham hatte recht. Sie war eine Kriegerin, und ihr Leben war untrennbar mit Schlachtfeldern verbunden. Sie atmete tief ein und genoss den leichten Salzgeschmack auf ihren Lippen. Ein großer schwarzer Schatten näherte sich dem Grottenhafen der Stadt. Eine Kriegsgaleere. Ihre langen Ruder wühlten die dunkle See auf. Ein Heer war schon in der Stadt. Angeblich lagen unten im Hafen fünfzig Kriegsschiffe vor Anker. Hoffentlich führte das Schicksal sie nicht hinaus auf die See. Sie konnte nicht einmal schwimmen.

»Herrin?«

Saham war mit seinen Wassereimern zurückgekehrt, und Shaya war froh, sich ihren Pflichten widmen zu müssen, statt sich weiter fruchtlosen Grübeleien hinzugeben.

Ein ganz besonderer Gast

Die Arme hoch über dem Kopf an die Wand gekettet, stand Bidayn auf Zehenspitzen und vermochte sich kaum zu bewegen. Sie streckte sich, bis sie die Finger ihrer Rechten fest um den Daumen ihrer linken Hand schließen konnte, und begann zu ziehen. Zugleich drehte sie den Daumen. Mit scharfem Knacken sprang er aus dem Gelenk. Der Schmerz ließ die Elfe in sich zusammensacken. Tränen standen ihr in den Augen. Dennoch drückte sie den ausgekugelten Daumen in ihre Handfläche und zog die Linke aus der eisernen Fessel. Es war immer noch eng. Das raue Eisen schrammte ihre Haut auf. Dann war sie frei.

Sie blickte zu dem Ring in der Wand, durch den die Kette geführt war, an der ihre Handfesseln hingen. Jetzt, da sie einen Arm befreit hatte, könnte sie die Kette einfach durch den Ring ziehen. Sie könnte sich auf dem Boden ausstrecken, statt weiter an der feuchten Wand zu hängen. Doch dann würde sie einschlafen, dachte sie bitter, und wenn man sie entdeckte, würde sie so gefesselt werden, dass sie sich nicht noch einmal befreien könnte. Sie musste also stehen bleiben.

Bidayn biss die Zähne zusammen und renkte sich den Daumen wieder ein. Dann streckte sie sich und griff mit der verletzten Hand nach der eisernen Schelle. Wer nur flüchtig hinsah, würde nichts bemerken. Sie versank in Trance. Die Stunden zogen sich. Als Durst sie zu quälen begann, versuchte sie, den Gedanken an einen Schluck Wasser auszublenden, doch es fiel ihr immer schwerer.

Lachen riss sie aus einer Fantasie von einer klaren, sprudelnden Bergquelle. Benommen sah sie hoch. Licht fiel durch das kleine Gitterfenster der Tür.

»Du wirst dich anständig benehmen!«

Ein sympathisches, warmes Lachen erklang. »Dann wäre ich wohl nicht in diesem Haus.«

»Du weißt, was ich meine«, kam es ärgerlich zurück.

»Nein.«

»Das letzte Mädchen, das du besucht hast, konnte eine Woche lang nicht mehr arbeiten.«

Wieder dieses Lachen, das eigentlich herzlich klang. »Manchmal geht die Leidenschaft mit mir durch. Aber ich verspreche, ich werde diesmal keine bleibenden Spuren hinterlassen. Außerdem habe ich fürstlich bezahlt.«

»Die Kleine ist ganz neu.«

»Und ihr verkauft sie an mich? Die Arme.«

Der Riegel an der Kerkertür wurde zurückgezogen. »Du klopfst drei Mal, wenn du wieder heraus willst.«

Gelächter. »Du stehst also draußen und lauschst? Ich werd sie ein bisschen quieken lassen für dich.«

Die Kerkertür ging auf. Ein leicht untersetzter Glatzkopf trat ein. Bidayn sah ihm ruhig entgegen. Er hatte Lachfältchen um die Augen und wirkte nett. Er verneigte sich sogar vor ihr. »Es freut mich sehr, dass wir einander kennenlernen, Anisja.«

Die Tür schloss sich. Der Wächter, der draußen warten wollte, hatte sich nicht blicken lassen.

»Verstehst du meine Sprache?« Ihr Besucher sprach langsam und artikulierte jedes Wort überdeutlich. Er sprach luwisch.

Bidayn schwieg.

»Also nicht.« Er strich sich über die Glatze. »Schade, es macht immer so viel mehr Spaß, wenn man einander versteht.« Er trug ein zusammengerolltes Stoffbündel unter dem linken Arm, das er nun auf dem Tisch neben der Tür ablegte.

Der Fremde löste den breiten Ledergürtel um seine Hüften. Bidayn sah, dass er keine Waffe trug. Nur ein praller Lederbeutel hing vom Gürtel. Vermutlich irgendein reiches Schwein, dachte sie.

Er streifte sich seinen Chiton über den Kopf. Sie hatte diese Gewänder immer schon affig gefunden. Wie ein ärmelloses Kleid sahen sie aus und reichten den Männern etwa bis zur Mitte der Oberschenkel.

»Wie du siehst, bin ich kein Hungerleider.« Er patschte sich mit beiden Händen auf den Wanst. Seine Haut war ungewöhnlich hell. Was immer er machte, an die Sonne musste er dafür nicht.

Er begann zu summen, drehte ihr den Rücken zu und machte sich an dem Stoffbündel auf dem Tisch zu schaffen. Bidayn starrte auf den hängenden Arsch des Mannes und stellte sich vor, wie sie ihn umbringen würde. Er durfte keine Gelegenheit mehr bekommen zu schreien. Das ließ nicht viele Optionen offen.

»Schau einmal, was ich uns mitgebracht habe.« Er trat von dem Tisch zurück, sodass sie sehen konnte, was fein säuberlich aufgereiht auf dem Stoff lag. Eine Sammlung von neun seltsamen Pflöcken. Sie alle waren unterschiedlich lang und dick. Einer lief besonders spitz zu und war mit Goldblech beschlagen.

»Wirklich zu schade, dass du mich nicht verstehst. Mir scheint, du hast gar keine Angst …« Er lächelte. »Das kommt noch, das verspreche ich dir. Wir fangen mit dem Kleinsten an. Danach wirst du wissen, was dich erwartet. Und dann wirst du beginnen, für mich zu singen. Ich mag es, wenn Frauen weinen und betteln. Natürlich wird das nicht helfen, aber du wirst es trotzdem tun.«

Er nahm einen Pflock aus dunklem Holz, streichelte mit der Hand über die polierte Spitze und trat dann auf sie zu.

Bidayn ließ die Schelle los, an der sie sich festgehalten hatte. Sie riss den rechten Arm hinab. Rasselnd glitt die Kette durch den Eisenring an der Wand. Dann holte sie aus. Wie eine Peitschenschnur schnellte die Kette vor und wickelte sich um den Hals ihres entsetzten Besuchers.

Die Elfe trat dicht vor ihn und rammte ihm ihr Knie zwischen die Schenkel. »Ich verstehe dich sehr gut, Bastard. Dies war dein letzter Besuch bei einer Frau. Und ich war noch nie so froh wie heute, dass ich gelernt habe, dies hier zu tun.« Mit diesen Worten trat sie hinter ihn, packte ihn beim Kinn und riss seinen Kopf mit einem scharfen Ruck zur Seite. Knackend brach sein Genick.

Sie ließ den leblosen Körper zu Boden sinken, kniete neben ihm nieder und wickelte die Kette vom Hals des Toten. Sie wünschte sich, sie hätte mehr Zeit gehabt, ihn zu töten. Aber ihre Wünsche mussten zurückstehen. Das hier hatte schnell und lautlos geschehen müssen.

Bidayn schlang sich die Kette um den rechten Arm, dann zog sie den roten Chiton ihres Besuchers an. Er duftete nach Veilchen! Wäre sie diesem Irren auf der Straße begegnet, hätte sie ihn für einen Langweiler mittleren Alters gehalten. Kopfschüttelnd hob sie den Gürtel auf und schlang ihn um ihre Hüfte. Die Geldkatze daran war schwer. Arm war der Kerl nicht gewesen.

Bidayn trat an den Tisch und betrachtete die eigenartigen Pflöcke. Sie alle waren makellos sauber. Die Elfe mochte sich gar nicht vorstellen, wozu sie dienten. Angewidert nahm sie den spitzen, mit Goldblech beschlagenen Pflock an sich und hieb ihn drei Mal vor die Kerkertür.

»So schnell fertig?«, ertönte die Stimme des Wärters auf dem Gang.

Die Elfe stellte sich seitlich der Tür dicht an die Wand, sodass sie durch das kleine Gitterfenster nicht zu sehen war. Der Hebel glitt zurück. Die Tür schwang auf.

»Wo steckst du …«

Als der Zuhälter über die Schwelle trat, rammte Bidayn ihm den Pflock ins Auge. Doch nicht tief genug, er schrie auf. Ein Stoß mit dem Handballen auf das Ende des Pflocks ließ ihn für immer verstummen. Jetzt war das Folterinstrument fast gänzlich in seinem Schädel verschwunden.

Nervös trat Bidayn aus der Tür und sah sich um. Vor ihr lag ein dunkler, schmaler Kellergang, von dem noch etliche weitere Türen abgingen. Nirgends war ein zweiter Wächter zu sehen. Am Ende des Gangs lag eine schmale, hölzerne Treppe, die nach oben führte. Daran, wie sie hierhergekommen war, hatte die Elfe nicht die geringste Erinnerung. Sie lauschte, doch alles war still. Kein Laut drang aus den anderen Kerkern. Was sie wohl oben an der Treppe erwartete?

Bidayn bückte sich, nahm dem toten Wärter seinen Dolch ab und einen weißen Seidenschal, den sie sich als Turban um den Kopf wand. So konnte sie ihr langes Haar verschwinden lassen. Dann sah sie auf die Kette, die sie um ihren rechten Arm gewickelt hatte. Unauffällig war das nicht gerade. Bidayn wog den Dolch in ihrer Linken. Sie konnte den Daumen kaum krümmen. Bis er sich erholte, würde einige Zeit vergehen. Sie sollte besser nicht versuchen, mit links zu kämpfen.

Einen Moment erwog sie, den Zauber zu weben, der sie schneller werden ließ. Aus diesem Haus würde sie so sicher leicht entkommen. Aber sie wusste nicht, wie weit sie von der Goldenen Pforte entfernt war. Wäre sie zu nah, würden die Devanthar oder die silbernen Löwen auf sie aufmerksam werden. Nach dem Kampf bei Volodis Palast wurde die Stadt sicherlich besser bewacht. Sie durfte dieses Risiko nicht eingehen, denn der Goldene musste erfahren, wo das Traumeis versteckt war!

Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ ihn hin und her pendeln. Dann streckte sie die Arme, die von den Stunden, die sie an der Wand gehangen hatte, noch steif waren. Ihre Schultergelenke knackten.

Entschlossen sah sie zur Treppe und zu der Tür hinauf, zu der diese führte. Sie war eine Drachenelfe! Ganz gleich, was sie dort oben erwartete, sie würde damit fertigwerden!

Sie schlich die Treppe hoch, ohne dass eine einzige der Holzstufen unter ihren Füßen knarrte. Es roch auch hier noch intensiv nach Schimmel und Feuchtigkeit, so, als hätte der Keller einmal unter Wasser gestanden.

Einen Herzschlag lang verharrte Bidayn vor der dunklen Tür und lauschte. Von draußen waren gedämpfte Stimmen zu hören. Einmal erklang ein abgehacktes, affektiertes Lachen. Entschlossen schob sie die Tür auf. Ein Vorhang aus schwerem Stoff versperrte ihr die Sicht. Vorsichtig zog sie ihn zur Seite und spähte durch einen kurzen Flur auf einen sonnendurchfluteten Innenhof. Um einen Brunnen rekelten sich mehrere halbnackte Frauen. Männer standen im Schatten und redeten. Einige hielten Pokale in der Hand und nippten gelegentlich daran.

Bidayn sah wieder auf die Ketten an ihrem Arm. Sollte sie sich ihren rechten Daumen auch noch auskugeln, um dieses verfluchte Ding loszuwerden? Sie entschied sich dagegen.

Ein von Säulen gesäumter Kreuzgang umgab den Innenhof. Dieses Haus war eindeutig für wohlhabende Gäste geschaffen. Vielleicht würden die sie mit ihrer Verkleidung gar nicht beachten.

Und tatsächlich, die anwesenden Männer ignorierten Bidayn. Doch die Elfe war sich bewusst, dass einige der Frauen beim Brunnen sie aufmerksam beobachteten.

»Suchst du Unterhaltung?« Eine zierliche Schwarzhaarige war überraschend hinter einer Säule hervorgetreten. Sie trug einen weiten, mit falschen Perlen bestickten Umhang und sonst nicht sehr viel.

Die Hure strich lasziv über die Kette an Bidayns Arm. »Oh! Hast du das mitgebracht, um mich zu fesseln?«

»Ich … äh … bin fertig für heute …« Sagte man das so? Bidayn wollte fort, aber sie musste verhindern, Aufsehen zu erregen.

»Ich bin mir sicher, ich kann dort noch ein kleines Wunder wirken. Du musst nur …«

Bidayn packte die Hand der Hure, kurz bevor diese ihr zwischen die Schenkel griff. »Nicht heute. Aber dein Umhang, er gefällt mir.«

Das Mädchen klimperte kokett mit ihren langen Wimpern. »Den kann ich wirklich nicht hergeben. Ich wäre ja nackt ohne ihn.«

Die Elfe verkniff sich eine Antwort und öffnete die gestohlene Geldbörse. Ohne die Hure aus den Augen zu lassen, tastete sie nach den Münzen. Schließlich hielt sie ihr fünf Silberstücke hin. »Das sollte reichen.«

Ein gieriges Glitzern trat in die Augen des Mädchens. Sie hatte begriffen, dass Bidayn auf jeden Fall den Umhang wollte, warum auch immer. »Leg noch zwei Münzen dazu, und wir sind handelseinig.« Sie strich Bidayn mit ihrem Zeigefinger über das Kinn. »Ich habe eine Schwäche für bartlose Jünglinge mit schönen Augen.« Sie machte eine ärgerliche Geste zum Hof hin. »Keiner der alten Hurenböcke hier hätte ihn von mir bekommen.«

Natürlich, dachte Bidayn zynisch und kramte noch zwei Münzen hervor.

Das Mädchen biss prüfend in jedes einzelne Silberstück, bevor sie sich aus dem Umhang schälte. »Ich hoffe, ich sehe dich bald wieder, mein Hübscher.« Sie legte Bidayn den Umhang um die Schultern und gab ihr einen Kuss, der nach Apfel schmeckte.

»Ich … ähm, bin ein wenig verwirrt.«

Die Hure lächelte. »Das kann geschehen, wenn ich küsse. Und glaub mir, es ist erst der Anfang deiner Verwirrung.«

»Sicher … Aber ich meinte, wo war auch gleich der Ausgang?«

»Wie uncharmant.« Sie wies quer über den Hof. »Dort hinten. Nimm den mittleren Durchgang.«

Sie küsste Bidayn erneut, diesmal etwas leidenschaftlicher. Als sich ihre Lippen lösten, hatte sie verstanden, dass bei diesem Gast heute nichts mehr zu holen war. Sie schloss die Hand um ihre sieben Silberstücke zur Faust. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, mein Schöner.« Mit diesen Worten lief sie den Kreuzgang entlang und verschwand durch eine der zahlreichen Türen, die sich auf den Innenhof öffneten.

Bidayn folgte dem Weg, den ihr das Mädchen gezeigt hatte. Den mit der Kette umwickelten Arm hielt sie nun sorgsam unter dem neu erworbenen Umhang verborgen.

Natürlich war der Ausgang bewacht. Ein großer, breitschultriger Türsteher lehnte an der Wand und musterte sie skeptisch. »An dich erinnere ich mich gar nicht«, sprach er sie in der Zunge Drusnas an.

»Muss daran liegen, dass ich gestern Abend früh gekommen bin«, entgegnete sie frech und benutzte den breiten, schwerfälligen Dialekt, den man in den östlichen Wäldern Drusnas sprach.

»Dann hattest du wohl viel Spaß.«

»Den hatten die Mädels. Nächstes Mal sollte ich mich für meine Liebesdienste bezahlen lassen. Sie haben mir alle gesagt, ich sei wie ein Hengst.«

Der Drusnier lachte. »Natürlich. Wir haben hier nur Hengste zu Besuch.«

Er öffnete die Tür, und Bidayn trat hinaus auf die Straße. Sie konnte es kaum glauben, sie war entkommen! Gegen die helle Sonne blinzelnd, blickte sie den terrassierten Hang hinauf und orientierte sich an den Ankertürmen, um einzuschätzen, wo die Goldene Pforte lag. Sie war näher am Fluss, als sie erwartet hatte.

Ohne Eile begann sie den Anstieg durch enge Gassen und über die marmornen Stufen breiter Prachtstraßen. Immer wieder hielt sie inne und sah zurück, ob sie verfolgt wurde. Doch noch schien niemand die beiden Toten im Keller des Freudenhauses entdeckt zu haben.

Als Bidayn den Platz der tausend Zungen erreichte, fühlte sie sich so sicher, dass sie sich bei einer der zahlreichen Garküchen erst einen großen Krug Wasser und dann drei kleine, würzige Hühnerspieße kaufte, um ihren schlimmsten Hunger zu lindern.

Eine halbe Stunde später erreichte sie den weiten Platz vor dem Albenstern. Wie sie erwartet hatte, wachten noch mehr silberne Löwen als zuletzt. Die Elfe verhielt sich unauffällig. Noch zwei Mal kaufte sie einen Becher Wasser bei einem fliegenden Händler. Dann bestach sie einen Viehtreiber einer Karawane, die nach Luwien ging, und schloss sich dem langen Zug aus Menschen und Packeseln an.

Sie achtete darauf, weit hinten zu gehen. Schließlich war sie die Letzte auf dem Goldenen Pfad, der das Nichts teilte. Niemand bemerkte, wie sie verloren ging und sich einen Weg nach Albenmark suchte.

Eine Rose

Er war noch immer im verfallenden Palast seiner verlorenen Liebe. Obwohl sie froh war, ihn gleich gefunden zu haben, gefiel Bidayn das nicht. Warum kam er so oft nach Langollion? Warum konnte er Aillean nicht vergessen?

Leise näherte sie sich ihm. Der Goldene lag in Drachengestalt zwischen den verdorrten Rosen. Sein Blick war weit auf das Meer gerichtet. Er schenkte ihr keine Beachtung. Welche Gedanken ihn wohl quälten? Dachte er an die Zukunft Albenmarks oder an Aillean?

Lange stand Bidayn schweigend an der Seite der Himmelsschlange. Sie fühlte sich winzig und begriff, wie unbedeutend sie für ihn war. Sie war nicht die Auserwählte, deren Weg er mit Stolz verfolgte. Sie war nur eine weitere in einer langen Reihe von Närrinnen, die sich für ihn aufopferten. Wie hatte er Lyvianne gedankt? Sie war einfach vergessen.

»Ihr habt den Ort gefunden, an dem das Traumeis versteckt wurde, meine Dame?«

Er sah sie nicht an, aber allein die Tatsache, dass er endlich mit ihr sprach, machte sie schon glücklich.

»Es ist kein Ort, Herrscher der Himmel. Es ist eine Kreatur. Sie ist groß wie ein Berg. Ein Ungeheuer, das anzusehen schon unerträglich ist. Mit Tentakeln behangen wie die Wolkensammler, aber auf zwei Beinen gehend. Manche Menschenkinder glauben, es sei der Sohn der Göttin Nangog. Andere nennen die Kreatur einfach nur den Meerwanderer. Er ist der Schrecken des Purpurnen Meeres. Ein Schiffeverschlinger, der schon ganze Küstendörfer vernichtet haben soll. Auf seinem Rücken gibt es Poren in der Haut, die groß wie kleine Gruben sind. Dort hat der Drusnier das Traumeis in versiegelten Amphoren versteckt. Der Meerwanderer wird es nur ihm überlassen. Jeden anderen, der versucht, den Schatz zu stehlen, wird er töten.«

»Dann werden wir eben jemanden schicken, der ihn tötet.« Endlich wandte er ihr den Kopf zu. Seine geschlitzten Pupillen erschienen der Elfe wie Mäuler, die sie verschlingen wollten. »Ich spüre Eure Angst, Dame Bidayn. Sorgt Euch nicht, ich werde nicht Euch entsenden.«

Sie war erleichtert und zugleich enttäuscht. War sie nicht länger seine Auserwählte?

»Ihr werdet Euch zurück nach Uttika zu Eurem Ehemann und Euren beiden Stieftöchtern begeben.«

»Aber …«

»Liebe Bidayn, ich möchte Euch nicht verletzen. Mein einziges Anliegen ist es, Euch in Sicherheit zu wissen. Eure Gefährten sind ebenfalls in Uttika. Ihr werdet dort warten, bis ich Euch neue Befehle zukommen lasse.«

Das Wohlgefühl, das seine Ausstrahlung und seine Stimme hervorriefen, vermochte Bidayn nicht über die Zurückweisung hinwegzutrösten.

Der Drache regte sich. Mit erstaunlichem Geschick griff seine riesige Pranke nach der einzigen Rose in Blüte in dem verdorrten Busch vor ihm. Behutsam brach er sie ab. »Bitte missversteht mich nicht, meine Dame. Ihr werdet meine schärfste Klinge sein, wenn der Tag kommt, die Verräter in unseren Reihen ihrem Schicksal zuzuführen, doch für den Kampf gegen diese Bestie habe ich Euch nicht erschaffen. Dies wird gröbere Mittel erfordern und den Einsatz von Albenkindern, deren Ableben bedauerlich, aber nicht unverwindbar wäre.«

Er überreichte ihr mit anmutiger Geste die Rose. »Ich muss Euch in Sicherheit wissen, um meinen Kampf fortsetzen zu können, schöne Bidayn. Ich weiß, Ihr werdet Euch in Uttika langweilen und mit Eurem Schicksal hadern, doch ist dies ein Ort, an dem Euch gewiss kein Leid geschehen wird. So kann ich ruhigen Herzens sein.« Er senkte den Blick. »Verzeiht, dass ich so selbstsüchtig bin.«

Sie würde ihm alles verzeihen, dachte Bidayn und nahm die Rose. Es war keine Zurücksetzung! Wie hatte sie in seinen Augen Mäuler sehen können? Sie waren doch so voller Wärme und Güte. Sie wusste, wen er mit den Verrätern meinte. Sie wusste, wie gefährlich Nandalee war. Sie würde mit ihren Gefährten üben. Mit aller Härte, und sie würde niemals aufhören, auch wenn es Jahre dauern sollte, bis er sie rief. Sie wollte bereit sein, wenn die Stunde der Abrechnung kam.

Während der Drache sich wieder abwandte und zum Meer hinausblickte, roch Bidayn an der Rose. Sie schuldete dem Goldenen ihre Hingabe. Sie war seine beste Mörderin. Und sie würde ihn nicht enttäuschen! Ungeschlachte Bestien sollten andere jagen. Sie würde die schwer zu entdeckenden Bestien ausmerzen, die sich bei den Drachenelfen eingeschlichen hatten. Die Zauderer und Intriganten. Jene, denen das Wort der Himmelsschlangen nicht mehr Gesetz war.

Labarna, vor allen Menschen geliebt von Išta

»Der Unsterbliche Labarna, vor allen Menschen geliebt von Išta, aber zog nach Naga, der Stadt, in der die Kinder sterben. Er tat dies, weil die grauen Riesen gekommen waren und hässliche Zwerge und Männer, die zu Pferden geworden waren. Und er stellte sie auf dem Feld vor der Stadt, als sie ihre Beute fortschaffen wollten. Sie waren Elende und kämpften mit zerbrochenem Herzen. Sie waren Räuber ohne Mut, wenn sie auf einen Mann starken Herzens trafen. Und Labarna schlug sie auf das Haupt! Und er stellte seinen Fuß in den Nacken der grauen Riesen! Und er trug den Krieg zu ihnen, und er hat ihre Frauen erbeutet und ihre Leute fortgeführt! Und er warf die erschlagenen Riesen in ihre Brunnen, auf dass ihr Gift das Wasser tränkte, und er erschlug ihr Vieh, und er hat das Getreide ausgerissen und mit eigener Hand Feuer daran gelegt, auf dass die Daimonen lernen, was es heißt, Labarna, vor allen Menschen geliebt von Išta, herauszufordern!«

Inschrift auf der Siegesstele von Naga, verwahrt in der Bibliothek von Iskendria, Saal der Versunkenen Königreiche.

ANMERKUNG: »Folgt man den Forschungen des Meliander, muss der Wahrheitsgehalt der Inschrift angezweifelt werden, fand der Überfall auf Naga doch im ersten Jahr des Drachenkrieges statt, ein Jahr der glanzvollen Siege für die Heere der Himmelsschlangen. Womöglich schildert der Text den Überfall auf eine Teilstreitmacht, die Beute nach Albenmark bringen sollte. Dass der unsterbliche Labarna den Königsstein, die einzige grössere Siedlung der Trolle (graue Riesen), überfallen hat, um deren Weiber in die Sklaverei zu führen, kann mit Sicherheit ins Reich der Fabel verwiesen werden.«

Die wilde Sau

Hornbori stand oben im Turmluk der Wilden Sau. Es war größer als bei den anderen Aalen, in denen er bisher gefahren war. Wahrscheinlich, damit der dicke Ulur hindurchpasste. Alles an diesem Tauchboot war größer als normal. Es war nicht dafür geschaffen, durch unterirdische Ströme und Seen zu tauchen, sondern es sollte in der Weite des Meeres bestehen. Dort, wo es keine vorgegebenen Wege gab. Keine leuchtenden Barinsteine, die gefährliche Passagen markierten.

Hornbori schluckte hart. Genau das würden sie heute tun. Die festgelegten Wege verlassen. Das ging ganz und gar gegen die Natur der meisten Krieger in seinem Heer. Hornbori war sich bewusst, wie sehr sie ihn hassten. Er blickte zu den beiden großen Eisenbügeln, die kurz vor dem Luk auf die Außenhaut des Aals genietet waren. Auch dafür hassten sie ihn. Er hatte ihre Schiffe verändert. Fast eine Woche hatte es gedauert, all die Tauchboote zusammenzubekommen, die nun in dem weiten Bergsee dümpelten.

Überall ringsherum waren die Luke geöffnet. Seine Männer warteten, so wie er. Sie sahen nach Westen, wo die Sonne die Berge berührte und mit rosa Abendlicht übergoss.

Hornboris Finger trommelten auf den rostigen Ring, der das Luk einfasste. Das verriet, wie nervös er war. Die Männer auf den benachbarten Aalen würden es sehen. Seine Hände schlossen sich fest um den Ring. Er musste die Fassung bewahren. Er war ihr Heermeister. Wenn er sich gut schlug, dann würde ihm dieser Rang alle Tore aufstoßen. Seine Zukunft war golden, wenn er die Gegenwart überlebte.

»Da kommen sie!« Einer der Zwerge deutete mit ausgestrecktem Arm nach Südwesten. Schwarze Silhouetten erschienen am Himmel. Die Drachen!

»Alle in die Aale!«, befahl Hornbori mit lauter Stimme. Erfreut stellte er fest, wie selbstsicher er klang. »Die Luke dicht!«

Er stieg als Letzter die schmale eiserne Leiter hinab, die ins Innere der Wilden Sau führte. Seine Rechte zitterte leicht, als er nach dem kupfernen Deckel des Luks griff und das Rad an seiner Unterseite drehte, bis es blockierte. Dann hielt er sich an den Holmen der Leiter fest, die glatt poliert waren, nahm die Füße von den Sprossen und ließ sich hinab ins Boot rutschen. Er wusste, dass das gut aussah. Er musste Eindruck hinterlassen.

Im Aal kommandierte Ulur. Der dicke, tätowierte Seefahrer sah ihn spöttisch an. »Als wärst du auf einem Aal geboren!« Er blickte über die Reihen der Krieger, die entlang der gewölbten Wände des Rumpfs saßen. »Alle Mann auf ihre Plätze«, bellte er in einer Lautstärke, als würde er auf einem Schlachtfeld stehen und nicht in einer knapp dreißig Schritt langen Metallröhre. »Und lasst mir die Füße von der Kurbel! Heute bewegt sich die Wilde Sau ausnahmsweise mal, ohne dass ihr schwitzt!«

Hornbori nahm seinen Platz neben Nyr und Galar ein. Seine Hände krallten sich in die Lehnen seines Sitzes. Ulur hatte seinen Aal luxuriös ausgestattet. Die Sitze waren mit Leder gepolstert und mit Armlehnen ausgestattet. Das hatte Hornbori zuvor noch in keinem Tauchboot gesehen.

Nyr sah ihn vorwurfsvoll an. »Wir sind tot! Das ist ein Scheißplan!« Schweißperlen standen dem Richtschützen auf der Stirn. »Wir werden alle …«

Ein Ruck durchfuhr den Rumpf. Das ganze Tauchboot erzitterte.

Hornbori spürte, wie sich das Boot vorwärtsbewegte.

Ulur klatschte begeistert in die Hände. »Das nenn ich Geschwindigkeit. Ich wünschte, ich würde im Luk stehen und sehen, wie die Gischt von unserem Rumpf spritzt. So viel Fahrt werden wir nie wieder machen. Vor allem nicht, wenn die Wilde Sau nur von der Kraft eurer tattrigen Greisenbeine angetrieben wird.«

Hornbori war Ulur dankbar für seine Sprüche. Das lenkte ab. So musste er nicht darüber brüten, dass Drachenkrallen nach den aufgenieteten Bögen auf dem Rumpf gegriffen hatten.

Deutlich spürte Hornbori den zweiten Ruck. Er war anders als der erste. Sein Magen machte einen Satz.

»Scheiße«, flüsterte Nyr an seiner Seite. »Jetzt ist es passiert. Wir sind tot!«

Hornbori spürte, wie ihm Schweiß den Nacken hinabrann. Zwerge waren nicht dafür geschaffen zu fliegen! Und schon gar nicht im Inneren eines Aals.

Die fliegende Sau

Jeder Atemzug konnte sein letzter sein. Die Enge des Aals machte ihn wahnsinnig. Dabei saß er schon im größten Tauchboot der ganzen Flotte. Nyr schloss die Augen. Besser nichts sehen – es war ein großer Sarg aus Eisen und Kupfer. Machte es all den anderen denn so viel weniger aus als ihm? Er könnte aufspringen und schreien.

Ein Drache hatte sie hochgehoben, und nun flogen sie mit ihm durch die Lüfte. Es war schon schlimm genug, in diesen verfluchten Aalen durch irgendwelche unterirdischen Flüsse zu tauchen. Den Launen der Strömungen ausgeliefert. Dem Geschick des Steuermanns. Aber einem Drachen ausgeliefert zu sein? Die Bestie musste riesig sein, wenn sie die Wilde Sau tragen konnte. Ob er einer von denen war, die alles Leben in der Tiefen Stadt dem Feuer übergeben hatten? Hatte auch er seine Flammen durch die Luftschächte hinabgespien? Wie konnte Hornbori, der all dies überlebt hatte, Drachen rufen, um eine andere Stadt zu verbrennen? Nyr verstand das einfach nicht. Er würde das Grauen niemals vergessen können. Den Gestank nach verbranntem Fleisch, der über allem lag. Die Bestien, die durch die Tunnel gekrochen waren, um nach letzten Überlebenden zu suchen und sie zu zerfleischen.

Er tat einen tiefen Seufzer, aber der Druck auf seiner Brust wollte nicht weichen.

»Schiss?«, fragte Galar an seiner Seite.

»Nee.« Es kostete Nyr Mühe, nur dieses eine Wort herauszubringen. Er wollte nicht mit Galar reden. Warum hatte er Hornbori unterstützt? Ja, es würde Gelegenheit geben, Drachen zu töten. Sie würden Rache nehmen können. Aber um welchen Preis! Eine weitere Stadt, die im Drachenfeuer versank.

»Also ich habe Schiss«, sagte Galar sehr leise.

Nyr öffnete die Augen und sah seinen Gefährten an. Galar wirkte wie immer. Sagte er das am Ende nur, um es ihm leichter zu machen? Nein, so kompliziert dachte der Schmied nicht. Hatte er wirklich vor etwas Angst? Nyr atmete schwer aus. Er konnte jetzt nicht reden. Konnte nicht mit Worten all das herauslassen, was in ihm war. Außerdem gab es hier zu viele Ohren. Wenn sie bei ihrem Feldzug gegen die Drachen Erfolg haben wollten, dann sollten so wenige Albenkinder wie möglich davon wissen.

Galar sagte nichts mehr. Schnürte auch ihm die Angst die Kehle zu? Nyr wusste, dass der Schmied kein Feigling war. Er hatte Drachen Auge in Auge gegenübergestanden und mit kaltem Blut auf den besten Augenblick für seinen Schuss gewartet, selbst wenn das bedeutete, dass das Drachenfeuer ihn erreichte. Aber das hier war anders. Einfach ausgeliefert zu sein … Flogen sie schon über einen Albenpfad durch das Nichts? Auch diese Vorstellung erfüllte ihn mit kaltem Grauen. Zwerge und Drachen, das passte nicht zusammen. Was, wenn die Drachen die Aale einfach nur ins Nichts warfen. Es hieß, man würde endlos stürzen.

Nyrs Finger krallten sich in die Armlehnen. Das war Unsinn! Wenn es so wäre, würde niemand zurückkehren, um darüber zu berichten. Er spürte den Schweiß von seinem Nacken den Rücken hinabströmen. Er sollte unbedingt an etwas anderes denken!

Er vermisste Frar. Was der Kleine wohl machte. Ihn bei Amalaswintha zu lassen war keine gute Lösung gewesen. Sie war sicherlich eine aufregende Bettgefährtin, aber als Mutter konnte er sie sich nicht vorstellen. Ob sie sich um Frar kümmerte oder ihn immer nur irgendwelchen Dienerinnen überließ?

Nyr erinnerte sich, wie er Frar in den Armen gehalten hatte. Wie sie ihn mit Drachenblut gesäugt hatten, als es nichts anderes gegeben hatte. Daran, wie sehr Galar geflucht hatte, sein kostbares Drachenblut dem unersättlichen Durst des Kleinen opfern zu müssen. Aber er hatte es gegeben.

Nyr tastete nach der Hand des Schmiedes auf der benachbarten Lehne. »Bist ein guter Kerl«, murmelte er.

Galar sah ihn überrascht an. »Bist du besoffen?«

So war er, dachte Nyr. So machte man sich keine Freunde, selbst wenn man eigentlich gar kein übler Kerl war. So hatte er bisher jeden vergrault, bevor sie sein wirkliches Wesen entdeckten.

»Hast du auch ’nen Schluck für mich? Ich könnte jetzt was brauchen.«

»Bin nüchtern.«

Nyr schloss erneut die Augen und dachte daran, wie Frar manchmal in seinen Armen erwacht war. Wie sehr der Kleine übers ganze Gesicht gestrahlt hatte, wenn er ihn erkannte. Ob das wohl immer noch so wäre, wenn er zu ihm zurückkehrte? Wohl nicht. So schnell konnten sie nicht zurück in die Ehernen Hallen. Sie waren zum Tode verurteilt. Wahrscheinlich würde er den Jungen niemals wiedersehen können.

Einzig Hornbori konnte ihnen helfen. Nyr passte es gar nicht, diesen Schleimer und Aufsteiger unterstützen zu müssen, doch das Wort des Heermeisters würde künftig viel bewegen können. Er musste also auf Hornbori aufpassen. Ihm durfte nichts geschehen, und es wäre gut, wenn …

Ein schriller Drachenschrei ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er klang herausfordernd, ja triumphierend.

Nyrs Magen machte einen Satz seine Kehle hinauf. Der Aal schwebte nicht länger, er stürzte und neigte sich dabei steil mit dem Rumpf nach vorn. Alles, was nicht festgezurrt war, geriet in Bewegung, purzelte durch den Innenraum hinab in Richtung des Platzes, an dem der Steuermann lag.

Hornbori schrie auf. Der Zwerg, der Nyr gegenübersaß, wurde leichenblass und kotzte dann auf die Kurbel.

»Festhalten, Männer!«, schrie Ulur. »Das wird …«

Ein mörderischer Schlag riss Nyr von seinem Sitz. Er prallte auf die massige, eiserne Kurbel, die sich längs durch den Bootsrumpf zog. Die dicken Eisenplatten, aus denen der Aal gefertigt war, kreischten. Seitlich sprühte durch eine aufgeplatzte Naht Wasser ins Boot.

Ulur war einer der Ersten, die wieder auf den Beinen waren. »Galar, kümmer dich um das Leck. Stopf die in Pech getränkten Leinenfetzen aus dem Fass dort drüben in den Spalt. Nyr, die Leiter hoch. Ich erwarte umgehend einen Bericht, was du siehst. Alle anderen, räumt die Kurbel klar. Ich will, dass die Wilde Sau in hundert Herzschlägen fahrbereit ist.« Er klatschte in die Hände. »Los, die Herren! Auf die Beine! Jammert nicht wie alte Waschweiber!«

Nyr war noch ganz benommen. Blut troff ihm von einer Platzwunde an der Stirn. Er tastete nach den Holmen der Leiter und zog sich hoch.

Einen Augenblick kämpfte er mit dem Drehrad, das das Ausstiegsluk verschloss. Hornbori hatte es erstaunlich fest zugedreht. Er mochte ein Feigling sein, aber ein Schwächling war er nicht.

Endlich gab das Rad nach. Ein paar Drehungen, und Nyr konnte das Luk aufstoßen. Salzig-warme Luft schlug ihm entgegen. Er schob den Kopf ins Freie. Die Wilde Sau schwamm in einem Meer von Blut, so schien es. Im Westen versank eine glühend rote Sonne im Meer. Die See war spiegelglatt. Kein Lufthauch regte sich. Es war so warm, dass Nyr sofort zu schwitzen anfing.

Rings um sie herum, auf etwa eine halbe Meile verteilt, sah er Dutzende von Aalen im Wasser treiben. Bei den meisten spähte bereits ein Ausguck aus dem Luk.

»Was siehst du?«, rief Ulur von unten.

»Die Sonne geht unter. Ruhige See …«

»Ich meine den Felsen, du Idiot. Wo liegt der Felsen?«

Nyr drehte sich suchend um. Da war er! Etwa zweihundert Schritt entfernt gab es einen Felsen mit einem Festungsturm darauf. Er konnte Gestalten hinter den Zinnen erkennen. Während er noch hinsah, flammte ein Signalfeuer auf. Nein, der Fels war zu klein …

»Was jetzt?«, rief Ulur ungeduldig. »Hier sitzen alle an den Pedalen. Ich muss wissen, welchen Kurs ich anlegen muss!«

Nun sah es Nyr: da, hinter dem Turm, eine halbe Meile entfernt!

»Kurs Südsüdwest. Ich sehe die Stadt!« Nyr schluckte. Sie war eindrucksvoll groß. Zu groß für fünfhundert Zwerge.

Jetzt hörte er andere Zwerge den Kurs zu ihren Steuerleuten hinunterrufen. Die Flotte richtete sich zu einem weiten Fächer aus, der auf den Grottenhafen von Asugar zusteuerte.

Fünfzig Schritt voraus schoss eine Wasserfontäne auf. Nyr fluchte. Der Turm musste mit Katapulten bestückt sein.

»Wir werden beschossen!«, rief er ins Boot hinab.

»Habt ihr gehört, Jungs?« Ulur klang, als wäre das alles nur ein aufregendes Spiel. »Die schmeißen mit Kieseln nach uns. Tretet die Kurbel! Schnelle Ziele sind schwerer zu treffen!«

Das Wasser am Heck des Aals schäumte auf.

»Siehst du irgendwelche Klippen?«, erklang es von unten.

»Nein!«

Die See war ruhig. Nur nahe dem Turm ragten ein paar Felsen aus dem Wasser, aber wenn sie ihren jetzigen Kurs beibehielten, würden sie um mehr als hundert Schritt steuerbord am Turm vorbeifahren.

Nyr hörte die Schreie der Menschenkinder. Sie versuchten, in aller Eile das Katapult nachzuladen. Immer panischer klangen die Stimmen, und dann begriff der Zwerg, dass es nicht die Aale gewesen waren, auf die sie gezielt hatten.

Schatten am Horizont

Vibius war anstrengend. Shaya war froh, dem nicht enden wollenden Geschwätz des Valesiers zu entgehen, als sie auf die Terrasse vor dem Saal der Fremden trat. Vibius sah sich schon als Besitzer eines großen Weinguts und gern gesehenen Gast an der Tafel des Arcumenna. Die Heilerin lächelte. Träume halfen, das Trauma der Amputation zu überwinden. Es wäre nur schön, wenn Vibius ein wenig stiller träumen könnte.

Shaya genoss die kühle Brise, die über das Meer kam. Der Wind spielte mit ihrem weiten Kleid. Sie stützte sich auf das steinerne Geländer und sah hinaus auf die See. Bewunderte die tausend Rottöne, die der Sonnenuntergang in Meer und Himmel wob. Solange ihr Leben währte, hatte sie gekämpft. Um die Liebe ihres Vaters, um Anerkennung in einem Kriegervolk, in dem Frauen außerhalb der Jurten wenig zählten, um ihre Würde, als sie in die Intrigen Ištas verstrickt worden war, um die Liebe des Unsterblichen Aaron und ihr Überleben im ewigen Eis. Nun musste sie nur noch für andere kämpfen. Für ihre Kranken. Sie selbst durfte sich erlauben, Frieden zu finden.

Eine Bewegung am nördlichen Himmel erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ein dunkles, samtiges Blau, in dem erste Sterne schimmerten, war dort als Vorbote der Nacht am Himmel aufgezogen. Schatten glitten aus dem Blau.

Das Signalfeuer auf dem kleinen, vorgelagerten Wachturm im Meer flammte auf. Im Licht des Feuers sah Shaya, dass die Zinnen besetzt waren. Plötzlich stach ein Flammenstrahl vom Himmel herab. Dann noch einer! Eine Gestalt mit brennenden Armen stieg auf die Zinnen und stürzte sich in die See.

Jetzt sah Shaya Kreaturen mit weiten, ledernen Schwingen um den Turm kreisen. Und andere, die auf Asugar zuhielten.

Die Heilerin verließ die Terrasse und rief Saham zu sich. »Alles aus den Betten!«, rief sie. Das Spital lag tief an der Steilklippe, und doch würden die geflügelten Schrecken sicher auch hier angreifen.

Saham sah sie verwundert an. »Herrin, was …«

»Es ist keine Zeit zu reden! Wer gehen kann, der hilft denen, die bettlägrig sind. Sofort!« Sie beugte sich neben Vibius. »Hoch mit dir.«

Der Valesier sah sie verwundert an, schlang aber seinen Arm um ihren Nacken und ließ sich aufhelfen.

Ein Schatten glitt an den großen Fenstern des Krankensaals vorbei.

»Sie sind hier«, keuchte Vibius. »Sie sind uns aus dem Eis gefolgt.«

Ein weiterer Mann schrie auf und rief etwas in einer Sprache, die Shaya nicht verstand.

Jetzt waren alle Kranken auf den Beinen. Panik stand in ihren Augen.

»Hier entlang!« Shaya zog Vibius mit sich zur großen Tür des Krankensaals. »Wir nehmen die Treppen hinab zu den Vorratskammern!«

Die Lagerräume des Spitals waren tief in den Fels geschlagen. Dort war es immer kühl, und das Feuer könnte sie dort nicht erreichen. Dumpfe Schreie waren aus den höher gelegenen Bereichen der Stadt zu hören, doch Shaya blickte nicht zurück. Gegen das, was oben in der Stadt geschah, konnte sie nichts tun. Sie konnte nur ihren Kranken helfen.

»Schneller!«, rief sie, bückte sich und legte sich Vibius über die Schultern. Dann hastete sie auf den Flur hinaus, der zum Treppenhaus führte.

Sie lief, so schnell ihre Beine sie trugen, doch die Schreie folgten ihr, wurden immer lauter.

Als sie das Treppenhaus erreichte, setzte sie Vibius auf den Stufen ab. »Hier bist du in Sicherheit.«

Der Wolkenschiffer weinte. Er versuchte, ihre Hand festzuhalten. »Wir sind nirgendwo sicher. Die Geister aus dem Eis sind uns gefolgt. Jetzt kommen sie uns alle holen.«

Shaya löste seinen Griff. Für solchen Unsinn war jetzt keine Zeit. Sie lief den Flur zurück, trieb die Flüchtenden an und hob einen weiteren Beinamputierten auf ihre Arme, der sich auf Saham gestützt hatte. Mit fliegenden Schritten trug sie auch ihn zum Treppenhaus. Schritte und Schreie hallten nun weiter oben auf der weiten Wendeltreppe. Shaya wusste, warum: Weitere Heiler und Kranke flohen wie sie tiefer in den Fels.

»Enak!«, keuchte Saham. Der alte Pfleger war völlig außer Atem. »Er ist noch im Saal.«

Shaya fluchte. Der junge Heiler kam nachts gerne zu ihnen, um auf einem unbelegten Lager zu schlafen. Shaya vermutete, dass er in sie verliebt war, wenngleich er sich stets sehr zurückhielt. In aller Regel war er so erschöpft, dass er, kaum, dass er sich hingelegt hatte, einschlief. Und er schlief wie ein Kind. Licht oder Lärm vermochten ihn nicht zu stören. Man musste ihn sanft rütteln, um ihn aufzuwecken.

»Kümmere dich um unsere Kranken!«, wies sie Saham an. »Je weiter ihr hinabkommt, desto besser. Ich hole Enak.« Sie lief den Flur zurück.

Vor der großen, zweiflügeligen Tür hielt sie an. Unsteter Flammenschein fiel durch den weiten Spalt auf die Wand des Flurs. Deutlich war das Fauchen des Feuers in der Stadt zu hören. Die Schreie vom Beginn des Angriffs waren verstummt.

Vorsichtig spähte Shaya um die Ecke. Durch die großen Fenster im Saal konnte sie Schatten über den rot glühenden Himmel huschen sehen. Augenblicklich ließ sich die Prinzessin auf alle viere nieder. Sie wollte nicht bei einem zufälligen Blick hinein entdeckt werden.

Wo war der Junge? Auf den Betten entlang der Fensterwand konnte sie ihn nicht sehen. Hatte Saham sich am Ende geirrt? Sie sah zu den Wandnischen. Die Hälfte von ihnen war durch Sichtschirme verstellt. Shaya wusste, dass Enak sich gerne einen dieser Plätze aussuchte. Stumm fluchend kroch sie tiefer in den Saal. Wenn er nicht hier war, würde sie Saham den Hals umdrehen!

Die erste Nische war verlassen. Shaya legte den Kopf auf den Boden und blickte durch den schmalen Spalt am unteren Ende des Sichtschirms. Bei keinem der drei verbliebenen Schlafplätzen stand ein Paar Sandalen auf dem Boden. War er also fort? Sie wusste, dass er oft so müde war, dass er in seinem Chiton schlief. Darauf, wie er es mit seinen Sandalen hielt, hatte sie nie geachtet.

Sie schob den Wandschirm zur Seite und kroch weiter zur nächsten Schlafnische. Dort konnte Enak nicht sein, denn dies war ihr Lager. Draußen vor den Fenstern hörte sie das Flattern großer Schwingen. Shaya hatte den Eindruck, die Ungeheuer flogen sehr nah am Fels vorbei. Bloß nicht aufblicken. Sie schob den zweiten Wandschirm beiseite, sorgfältig darauf achtend, dass er nicht umstürzte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Ganz gewiss war das nur eingebildet. Wie hätten die Bestien wissen sollen, dass sie hier war. Außerdem, was bedeutete sie schon? Sie war eine in einer Stadt, in der Tausende lebten.

Sie erreichte den dritten Wandschirm und rückte ihn ein wenig zur Seite. Er wackelte. Shaya hielt ihn fest, bis er still stand.

In dieser Nische lag Enak zusammengerollt wie ein schlafendes Kind. Die Kleider hatte er angelassen. Ebenso die Sandalen. Shaya musste lächeln. Darüber würden sie eines Tages reden müssen. Heiler gingen nicht mit Schuhen ins Bett. Jedenfalls nicht, solange sie im selben Zimmer mit den Kranken schliefen.

»Enak.« Sie griff nach seiner Schulter und schüttelte ihn sanft. Kaum dass er die Augen aufschlug, presste sie ihm die Hand auf den Mund. »Du gibst keinen Laut von dir und folgst mir.«

Seine großen Augen sahen sie fragend an.

»Keinen Laut!«, schärfte sie ihm erneut ein.

Er nickte.

Vorsichtig zog Shaya die Hand zurück. »Du kriechst hinter mir her. Auf keinen Fall richtest du dich auf.«

Er runzelte die Stirn und setzte sich auf. Er wirkte noch ein wenig benommen vom Schlaf.

»Los«, zischte Shaya und kroch von ihm fort. Als sie kein Geräusch hinter sich hörte, drehte sie sich um. Enak stand aufrecht. Er lehnte sich ans Mauerwerk und presste sich eine Hand auf den Magen. Dabei sah er gar nicht gut aus. Plötzlich rannte er los, stieß den Wandschirm vor sich um und hielt auf das Fenster zu, das ihm gegenüberlag.

»Nein!«, schrie Shaya auf. Augenblicklich war sie auf den Beinen, doch Enak hatte bereits das Fenster zur Terrasse erreicht. Lautstark übergab er sich.

Flügel rauschten in der glühenden Nacht.

Shaya packte ihn im Nacken, bei seinem Chiton, und riss ihn zurück.

»Bitte«, jammerte er. »Ich … was soll …«

Ein schlanker Kopf stieß durch das weite Fenster. Keinen Zoll vor Enaks Nase schnappten dolchlange Zähne zusammen. Es war eine Echse, wie jene, die sie bei den Ankertürmen von Wanu gesehen hatte. Nur deutlich kleiner. Ihre Schuppen waren grün, nicht rot.

Bösartige gelbe Augen mit geschlitzten Pupillen musterten sie. Dieses Tier besitzt Verstand, dachte Shaya erschrocken. Es überlegt, auf welche Art es uns beide töten soll.

»Was ist …«

Shaya zerrte Enak mit sich in Richtung der großen Flügeltür. »Das ist unser Tod! Lauf, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Auch sie selbst rannte los. Es waren fast zehn Schritt bis zur Tür. Ein rasselndes Geräusch ließ sie über die Schulter sehen. Der Drache kam nicht durch das enge Fenster, doch er wirkte völlig selbstsicher, überzeugt, dass er sie beide noch erreichen würde, obwohl eindeutig war, dass er weder Zähne noch Krallen in sie schlagen könnte. Er holte Atem. Sein mächtiger Brustkorb weitete sich.

Shaya machte einen Satz nach vorn und riss Enak zu Boden. Fast im selben Augenblick schoss ein Flammenstrahl über sie hinweg. Glühende Hitze brannte auf ihrer Haut. Es stank nach verbranntem Haar. Ihr ganzer Rücken schmerzte. Sie sollte sich aufrichten, aber der Schmerz nagelte sie auf den Boden.

Die Flammen schossen durch das weite Tor, prallten auf die gegenüberliegende Wand und schlugen einige Schritt weit in den Krankensaal zurück. Shaya schloss die Augen. Das gleißende Licht brannte sich selbst durch die Lider.

Enak rollte sich unter ihr weg. »Komm«, keuchte er. »Bei den Göttern, nein … das …« Er hob sie hoch. Sie sah in seine schreckgeweiteten Augen. Dann ergab sie sich der friedvollen Dunkelheit, die nach ihr griff. Ein gellender, langer Schrei Enaks war das Letzte, was sie hörte.

Himmlisches Feuer

Arcumenna mochte den billigen, sauren Wein. Dazu das ofenfrische Brot und die Oliven, die eindeutig nicht die erste Wahl gewesen waren. Er kam gerne in die kleine Garstube, die an einem schattigen Ort zwischen den Felsen lag. Einem Ort ohne Blick auf das Meer, der nicht zu viel Sonne abbekam. Der Fisch war hier immer frisch. Der Wirt, Nethun, stets gut gelaunt und voll des Lobes für die neuen Köstlichkeiten des Tages.

Horatius saß ihm gegenüber und sah ihn sauertöpfisch an. Er verabscheute die einfachen Gaumenfreuden. Der Hauptmann seiner Leibwache war der Einzige, dem Arcumenna gestattete, ihn zu begleiten, wenn er hierherkam. Ein Privileg, auf das Horatius gerne verzichtet hätte, wie er schon mehrfach überdeutlich zum Ausdruck gebracht hatte.

Arcumenna vertraute keinem so wie dem einäugigen Krieger. Seit mehr als zwanzig Jahren fochten sie zusammen. In über hundert Kämpfen hatten sie Seite an Seite gestanden. In den Wäldern Drusnas, auf der Jagd nach den Piraten der aegilischen See, im Kampf gegen die Grünen Geister. Sie hatten vieles gemeinsam erlebt, und doch würde ihre Kindheit für immer ein letzter Graben zwischen ihnen bleiben. Horatius stammte aus einer Familie von altem Adel. Seine Sippe stand immer schon dem Unsterblichen Ansur nahe. Arcumenna hingegen war dem einfachen Volk entsprungen. Er hatte einiges an Geld aufgeboten, seine Herkunft zu verwischen und Gerüchte darüber in Umlauf zu bringen, dass er einer Adelssippe entstammte, die bei einem Piratenüberfall ausgelöscht worden war. Die Mehrheit seines Gefolges bei Hof glaubte das inzwischen.

Arcumenna tupfte mit einem Stück trockenem Weißbrot durch die Lachen aus Olivenöl in seiner Holzschale. Horatius hatte sein Essen kaum angerührt. Der Hauptmann hatte die Arme über der Brust verschränkt. Sein verbliebenes Auge musterte rastlos die anderen Gestalten, die sich in der Schenke ein billiges Mahl gönnten.

»Die einfachen Freuden sind das Salz des Lebens, Horatius.«

Ein zynisches Lächeln war die einzige Antwort, die er bekam. Horatius bemühte sich nie darum, ihm gefällig zu sein, gerade deshalb mochte er ihn. Und wenn es darauf ankam, war er ohne Wenn und Aber zuverlässig.

»Du solltest wirklich von den Oliven kosten.«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf und sah zum Himmel hinauf. »Da war etwas.«

»Sag bloß, dass du dir Sorgen machst, dass uns Möwen ins Essen scheißen.«

»Keine Möwen.« Horatius stand auf. Er tastete nach dem langen Messer an seinem Gürtel. Er legte Wert darauf, wenn möglich als Erster zuzuschlagen. Dass er ein Auge verloren hatte, machte ihn verwundbar. Er konnte Abstände nicht mehr so gut einschätzen. Ein tödliches Manko, wenn er auf einen guten Kämpfer traf. Deshalb war er meist der Erste, der die Klinge zog. Und wie zum Ausgleich für das fehlende Auge hatte er sich einen untrüglichen Instinkt dafür zugelegt, wann etwas nicht stimmte. Er irrte sich nur sehr selten.

Auch Arcumenna tastete kurz nach seinem Dolch.

»Stimmt etwas mit dem Essen nicht?« Nethun hatte die plötzliche Anspannung seiner beiden Gäste bemerkt.

Arcumenna vermutete schon seit einer Weile, dass der Wirt trotz der Maskerade durchschaut hatte, wer da gelegentlich seine bescheidene Stube beehrte. Aber offenbar hatte er es nicht weitererzählt, denn außer ihm warf ihnen hier niemand verstohlene Blicke zu. Nethun hatte sich zwar einigen Speck angefressen, doch war er unübersehbar einmal ein athletischer Mann gewesen. Narben auf seinem rechten Arm ließen vermuten, dass er einmal Krieger gewesen war. Sie sahen nach Schnitten aus, wie man sie sich einfing, wenn der Schwertarm aus dem Schildwall vorschnellte, um einem Gegner den Bauch aufzuschlitzen. Auch hatte er einen Adler auf den rechten Unterarm tätowiert. Das war beliebt unter den Kriegern Valesias. Vielleicht hatte Nethun sogar einmal unter ihm gedient.

Arcumenna wandte sich ihm zu und hob beschwichtigend die Hände. »Alles gut.« Kaum waren die Worte über seine Lippen, zerteilte ein gleißender Flammenstrahl den Himmel.

Für einige Herzschläge war Arcumenna sprachlos. Jetzt hatte der Himmel wieder die fahlblaue Farbe wie stets in den letzten Augenblicken, bevor die Nacht die Dämmerung besiegte. Für einen Moment war es, als wäre gar nichts geschehen. Vielleicht hatte er sich die Flammen nur eingebildet. Dann hörte er die Schreie, und weitere Flammenstrahlen zerteilten das Zwielicht.

Im nächsten Moment war Horatius an seiner Seite. »Was ist das?«

Arcumenna musste an den Angriff auf Selinunt denken. Hatte es so ausgesehen, als die großen Drachen gekommen waren? Es gab keine Überlebenden, die davon hätten berichten können, wie die Weiße Stadt binnen weniger Augenblicke zu einem Ruinenfeld geworden war.

Er wandte sich erneut an den Wirt. »Du nimmst all deine Gäste, sofort! Ihr sucht den nächsten Abstieg zu den Zisternen und versteckt euch dort. Nehmt jeden mit, den ihr unterwegs trefft. Wer hier oben in der Stadt bleibt, wird sterben.«

Nethun sah ihn völlig verdattert an. »Aber ich kann doch nicht …«

»Du weißt, wer ich bin!«, fuhr Arcumenna ihn an. »Folge meinen Befehlen, Krieger. Sofort! Dies hier ist eine Schlacht, und wir sind überrumpelt worden.« Der Fürst wandte sich an Horatius.

»Komm mit. Wir retten, was noch zu retten ist.« Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppe hinauf, die aus der Felsspalte in die Oberstadt führte.

Arcumenna war dankbar dafür, dass Horatius nicht vorschlug, ebenfalls in die Zisternen zu fliehen. Als Fürst der Stadt musste er wissen, was vor sich ging. Wer griff an? Und wo?

Es war nicht wie in Selinunt, wo ein einziger mächtiger Flammenstrahl vom Himmel gefahren war und jeden hatte erblinden lassen, der ihn aus weniger als zwei Meilen Abstand gesehen hatte. Wäre dies hier wie der Angriff auf die Weiße Stadt, dann wären sie schon alle tot. Da es also anders war, konnte man auch dagegen ankämpfen.

Sie erreichten das Ende der Treppe. Arcumenna folgte der Straße der Safranhändler, an deren Ende sich die nächstgelegenen Ankertürme befanden. Nur wenige Passanten waren auf der Straße. Sie reckten die Köpfe, tuschelten, fühlten sich aber nicht bedroht, wie es schien. Sie hatten nicht begriffen, was sie sahen. Wie auch! Keiner von ihnen hatte, wie er aus der Ferne, den Untergang von Selinunt gesehen.

Die drei Wolkenschiffe, die über der Stadt vor Anker lagen, hatten bereits die Taue gekappt und ihre Tentakel von den dicken Eichenbalken gelöst. Eines stand in Flammen. Arcumenna sah, wie die Tentakel durch die Luft peitschten, um sich gegen die Angreifer zu wehren. Mehr als zwei Dutzend Drachen kreisten über der Stadt. Doch was geschah in der Stadt selbst? Die Häuser auf beiden Seiten versperrten ihm die Sicht. Er musste höher hinauf. Auf einen der Ankertürme, auch wenn das hieß, den Drachen entgegenzulaufen.

Rechts von ihnen glühte der Himmel in hellem Flammenschein.

»Der Palast«, sprach Horatius das Offensichtliche aus.

Natürlich war der Palast eines der ersten Angriffsziele. Sie wollten ihn, den Feldherrn und Provinzfürsten. Wäre er tot, würde es weniger Widerstand geben. Aber er würde diesen verfluchten Daimonenechsen in die Suppe spucken!

Jetzt strömten überall Menschen aus den Häusern. »Lauft zu den Zisternen!«, rief Arcumenna. »Ein großes Feuer ist ausgebrochen. Wir können es nicht löschen. Lauft! Rettet euer Leben.«

Sie sahen ihn an, als wäre er irre. Für sie war er irgendein Kerl in einem abgetragenen Chiton. Stünde er mit Prunkharnisch und einem Umhang aus Löwenfell hier, dann würden sie laufen. Nun, er hatte ihnen die Gelegenheit gegeben, ihr Leben zu retten. Zum ersten Mal war Arcumenna froh, dass es keine Kinder in der Stadt gab.

»Los, wir müssen zum nächstgelegenen Ankerturm«, rief er Horatius zu.

»Werden sie dort nicht zuerst angreifen?«

»Ich brauche einen Überblick, was geschieht.«

Sein Hauptmann schnitt eine Grimasse, sagte aber nichts mehr, sondern half ihm voranzukommen. Immer mehr Menschen strömten jetzt aus den Häusern, und plötzlich waren auch Schreie zu hören.

Von einem Augenblick zum anderen änderte sich alles. Sie hatten begriffen, dass dies kein Spektakel war, das man einfach angaffen konnte. Es betraf jeden. Jeder konnte in dieser Nacht sterben.

»Zu den Zisternen!«, rief Arcumenna noch einmal. »Zu den Zisternen! Dort seid ihr sicher vor den Flammen.«

Endlich erreichte der Feldherr den Fuß des Ankerturms. Weit und breit war keine Wache mehr zu sehen. Die hatten wohl früher begriffen, was hier geschah. Er sah nach oben, die gewundene Treppe an der Außenmauer des Turms hinauf.

Zwei Schritt entfernt klatschte etwas auf ein flaches Hausdach. Ein abgetrennter Tentakel. Er zuckte noch. Der brennende Wolkensammler über ihm stieß seltsam zischende Laute aus. Oder war es das Geräusch von heißem Fett, das die Haut aufplatzen ließ?

Die beiden anderen Himmelsschiffe standen noch nicht in Flammen, ihre Besatzungen versuchten, mit den Wolkensammlern zu entkommen. Aber wie sollte das gelingen? Es wehte nur eine sanfte Brise. Sie trieben mit dem Wind, konnten keine Ausweichmanöver fliegen, wie die Daimonenechsen. Arcumenna sah, wie sich die meisten Drachen nun oberhalb des aufgedunsenen Leibs der Wolkensammler hielten. Dort, wo die friedlichen Himmelswanderer keine Augen hatten. Voller Furcht schlugen sie mit ihren Tentakeln blind um sich, doch die Fangarme peitschten ins Leere. Die Flammenstrahlen der Drachen schnitten wie brennende Schwerter in das Fleisch der Wolkensammler.

Die drei Himmelsriesen versuchten höherzusteigen. Arcumenna war schon vor einer Weile aufgefallen, dass es ab einer bestimmten Flughöhe keine Vögel mehr gab. Vielleicht konnten sie so ja den Echsen entkommen? Wenn sie schnell genug an Höhe gewannen und wenn …

Ein dumpfer Knall beendete seine Gedanken. Der brennende Wolkensammler war zerplatzt. Einfach so! Abgetrennte Gliedmaßen wurden in alle Himmelsrichtungen geschleudert.

Zugleich sprangen verzweifelte Wolkenschiffer aus dem brennenden Wrack, das wie ein Stein vom Himmel stürzte. Einer von ihnen hatte selbst schon Feuer gefangen. Er streckte Arme und Beine weit von sich. Vor dem Dunkel des Himmels sah er aus wie ein brennendes Kreuz, das auf die Stadt hinabfiel.

»Bei den Göttern«, stammelte Horatius.

»Lauft!«, erklang es nun dutzendfach auf der Straße der Safranhändler. Die Menschen rannten durcheinander. Stießen sich gegenseitig nieder. Wer am Boden lag, wurde zu Tode getrampelt.

Bretter und Körperteile hagelten auf die Stadt nieder.

Eine Daimonenechse flog eine Parallelstraße entlang und spie einen langen Flammenstrahl. Schreckliche Schreie ertönten. Arcumenna hatte in ungezählten Schlachten gefochten. Doch dies hier war anders. Es war ein neues, ungekanntes Grauen, das selbst ihn erschauern ließ. Verfluchte Bestien! Warum waren sie hierhergekommen, in seine Stadt? Welches Ziel war hier so wichtig? Er eilte die Treppen des Ankerturms hinauf. Er brauchte nicht ganz bis nach oben zu laufen. Nur weit genug, um die Stadt überblicken zu können. Er musste wissen, wo die Drachen angriffen. Das würde ihm verraten, was ihr Plan war. Und wenn er das wusste, dann konnte er überlegen, wie er sie bekämpfen konnte.

Der Fürst stieg etwa ein Drittel des Turmes hinauf. Dabei behielt er die Drachen im Auge. Es waren mehr als zwei Dutzend. Wie viele genau, konnte er im Dunkeln nicht sehen. Einige streiften über die Stadt und schienen wahllos Menschen zu jagen. Die meisten aber umkreisten die beiden Wolkenschiffe, die noch zu fliehen versuchten. Eines von ihnen brannte bereits. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es abstürzte. Zum Glück hatte der Wind beide Wolkensammler nun auf die See hinausgetrieben. Arcumenna blickte über das Trümmerfeld inmitten seiner Stadt. Er sollte sich all dies hier gut einprägen. Dies war die Zukunft!

Es würde nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Drachen die großen Himmelsschiffe angriffen. Doch beim nächsten Mal, wenn der Himmel über Nangog in Flammen stand, würden sie vorbereitet sein! Der Feldherr wusste, dies hier war nur ein erstes Scharmützel, in dem die Drachen ihre Kräfte erprobten.

Arcumenna straffte sich. Jetzt zählte allein die Gegenwart! Er musste das Muster des Angriffs erkennen, um zu wissen, wie sie sich verteidigen konnten.

»Du solltest nicht zu lange dort oben bleiben«, rief Horatius, der ihm nur ein paar Stufen hinauf gefolgt war. »Diese Bestien greifen sich jetzt wahllos Opfer, und du bietest dich da oben geradezu an.«

Arcumenna schob auch diesen Gedanken zur Seite. Er musste das Muster erkennen! Alles andere konnte warten. Der Wachturm auf der vorgelagerten Insel brannte. Ebenso sein Palast und etwas weiter im Westen die größte Kaserne. Außerdem die Katapultstellungen oberhalb der Einfahrt zum Hafen. Ein Wolkensammler war vernichtet. Die beiden anderen wurden von den meisten der fliegenden Echsen verfolgt. Was sagte ihm das?

»Komm herunter, verflucht!« Nun stürmte Horatius doch die Treppe hinauf. Er hielt einen schweren Wurfspeer in der Hand.

Arcumenna fragte sich kurz, wo sein Gefährte die Waffe wohl aufgetrieben hatte. Dann ließ er erneut den Blick über die Stadt schweifen. Sie mussten Spitzel gehabt haben, dachte er. Sie hatten gewusst, wohin sie wollten. Aber sie wussten nichts über den Kampfgeist seiner Männer. Sie hatten ihn überrascht, aber noch nicht besiegt. Er eilte Horatius entgegen. »Wir müssen zum Feigenmarkt!«

Horatius sah ihn überrascht an. »Ich würde sagen …«

Arcumenna schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Wie viele unserer Männer sind so früh am Abend, drei Tage nach Soldausgabe, in ihren Quartieren?«

Jetzt lächelte der Hauptmann. »Höchstens ein Drittel. Die anderen tragen ihren Sold zu den Spelunken und Huren am Feigenmarkt.«

»Wir müssen sie in die Zisternen bringen und hinab zum Hafen. Dort sind wir vorläufig in Sicherheit …« Er verstummte, eilte aber weiter die Stufen hinab. Jetzt sah er das Muster. Es ging nicht darum, die Stadt zu vernichten. Alles war hier anders als in Selinunt. Sie jagten die Wolkensammler, um zu verhindern, dass sich schnell Kunde über den Überfall verbreitete. Wären sie nur hier, um zu plündern und zu brandschatzen, dann wäre ihnen das egal. Sie wollten Asugar besetzen!

Auf den von Trümmern übersäten Straßen waren nun weniger Menschen zu sehen. Sein Befehl, in die Zisternen zu steigen, war hoffentlich befolgt worden. Als sie die Straße kreuzten, über die zuvor der Drache geflogen war, hielt Arcumenna kurz inne. Sie lag voller verkrümmter, schwarz verkohlter Gestalten. Der Fürst ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Er würde überleben, und er würde einen Weg finden, diese verdammten Bestien vom Himmel zu holen.

Aus den Augenwinkeln sah er eine kleine Daimonenechse, die einen Mann in ihren Krallen hielt, in den Himmel hinaufstieg und ihn dann fallen ließ.

»Bestie«, zischte Horatius. »Wie eine Möwe, die Muscheln auf Felsen fallen lässt, damit die Schale zerbricht.«

Über dem Meer zerriss es den zweiten Wolkensammler. Es mussten die Gase in ihrem Körper sein, die sie explodieren ließen, dachte Arcumenna. Auf einem Wolkensammler in den Kampf gegen Daimonenechsen zu ziehen war etwa so, als würde man in einem Lager voller Olivenölamphoren darauf hoffen, einen Großbrand unbeschadet zu überstehen.

»Sie kommen zurück!«

Es war das erste Mal, dass der Fürst einen Anflug von Panik in Horatius’ Stimme hörte. Dabei war der Hauptmann selbst in den Wäldern von Drus, als sie den Barbaren in eine Falle gegangen und umzingelt worden waren, die Ruhe selbst geblieben.

»Steig in die Höhlen oder Zisternen hinab!«, rief Arcumenna einem alten Mann zu, der sich in einen Hauseingang gekauert hatte. »Sie werden wiederkommen, und dann brennt die ganze Stadt.«

Je näher sie dem Feigenmarkt kamen, desto voller wurde es. Nahe beim Marktplatz gab es einen großen Abstieg zum Hafen. Der ganze Felsen war von Hunderten von Höhlen durchzogen. Viele waren natürlichen Ursprungs, aber etliche waren in den letzten fünfzig Jahren auch von Menschenhand erschaffen worden. Da der Platz auf der Steilklippe sehr begrenzt war und es kaum einen Ort gab, an dem man noch ein Haus hätte errichten können, wichen immer mehr der Neuankömmlinge in die Höhlen aus. So hatte sich inzwischen eine zweite, kleinere, unterirdische Stadt entwickelt. Diese Höhlen sowie die Zisternen, in denen das Regenwasser gesammelt wurde, waren nun ihre Rettung. Das schienen viele der Bewohner schon von alleine begriffen zu haben.

Überall, wo es Abstiege zu eben diesen Höhlen und Zisternen gab, drängten sich Menschentrauben. Die meisten hatten nichts als ihre Kleider auf dem Leib. Nur wenige hatten Säcke oder Kisten zusammengerafft.

Arcumenna blickte zu seinem brennenden Statthalterpalast, der keine zweihundert Schritt entfernt auf dem höchsten Punkt der Steilklippe lag. Bis hinab zum Feigenmarkt konnte er die Hitze der Feuer spüren. Dann wandte er sich seinem Hauptmann zu.

Horatius hatte begonnen, Krieger um sich zu scharen. Wie erwartet, wimmelte es am Markt nur so von Veteranen, die ihren Sold hatten durchbringen wollen. Erfreulicherweise waren nur die wenigsten bei Beginn des Angriffs pflichtbewusst zu ihren Quartieren geeilt, sondern auch sie hatten nach Abstiegen in die Tiefe gesucht. Arcumenna schritt durch die Männer und suchte nach Unterführern, die er von den Feldzügen kannte. Jedem von ihnen gab er jeweils eine Handvoll Krieger zur Seite. Sie sollten das Gedränge vor den Treppen organisieren. Stiegen die Flüchtenden geordnet hinab, würden sie wesentlich schneller entkommen, als wenn sie Menschenknäuel bildeten, in denen jeder darum kämpfte, als Erster die Treppen zu erreichen.

Eine Flammensäule schoss etwa hundert Schritt links von ihnen vom Himmel. Ein breiter, blendender Feuerstrom. Deutlich sah Arcumenna den Drachen, der dort angriff. Es war ein großer roter.

Etwas westlich griffen weitere Drachen die Felsenstadt an.

»Die Bibliothek und das Spital«, sagte Horatius mit belegter Stimme.

Sie zerstören zuerst die Prachtbauten, dachte Arcumenna, und im selben Augenblick wurde ihm endgültig klar, warum die Drachen gekommen waren: Es ging nicht um die Stadt. Es ging um die Kriegsflotte, die unten im Grottenhafen vor Anker lag. Es war die mit Abstand größte Flotte auf dem Purpurnen Meer. Wer sie kontrollierte, der beherrschte die See.

Wie ein Schwarm Haie

Hornbori hielt sich am Kupferbogen fest, der auf den Rumpf der Wilden Sau genietet worden war, damit die Drachen den großen Aal tragen konnten. Sie liefen mit voller Geschwindigkeit in den Grottenhafen ein. Er staunte über die gewaltigen Ausmaße der natürlichen Höhle. Sie übertraf jeden Hafen, den er bislang in den Zwergenstädten gesehen hatte, bei Weitem. Die Einfahrt zur Höhle mochte an die dreißig Schritt hoch sein und fast hundert Schritt weit. Sie hatte etwas von einem gewaltigen Maul, in das sie sich nun freiwillig warfen.

Hornbori überlief ein Schauder. Es ist nur eine Höhle!

Ein seltsames blaues Zwielicht herrschte hier, obwohl draußen inzwischen die Nacht hereingebrochen war. Es ging von den Wänden und der Decke aus, schillerte an den Kais und einigen der Schiffsrümpfe. Als sie weiter in die Hafenhöhle fuhren, erhob sich ein wahrer Wald von Masten vor ihnen. Dickbauchige Lastschiffe lagen neben schlanken Fischerbooten. Hornbori war überrascht, wie variantenreich die Schiffe der Menschenkinder waren. Es gab doppelrümpfige Boote mit einem einzelnen Mast auf der Brücke, die die beiden Schiffskörper verband, schnittige Galeeren, deren bronzebeschlagene Rammsporne halb unter der Wasseroberfläche verborgen lagen, Segler, die so plump und unförmig aussahen wie ein durchgeschnittenes Fass oder kleine Boote, deren Rumpf aus Leder gefertigt war.

Und es waren überraschend wenig Menschen auf den Kais. Noch hatte niemand die seltsamen, nur knapp aus dem Wasser ragenden Gefährte bemerkt, die wie ein Schwarm Haie in den Hafen glitten.

Sein Plan ging auf, dachte Hornbori erleichtert und rief leise eine erste Kurskorrektur durch das Luk. Der Angriff der Drachen hatte die Menschenkinder abgelenkt. Sicherlich verbreitete sich die Nachricht darüber, dass sich die Stadt auf den Klippen in ein flammendes Inferno verwandelt hatte, bereits überall im Hafen.

Tatsächlich sah er etwas entfernt eine kleine Gruppe Menschenkinder bei einem Lastkran stehen und heftig diskutieren. Er hatte den Himmel in Flammen setzen müssen, um hier, tief unter der Klippe, seinen Angriff führen zu können.

Sie waren schon knapp eine Viertelmeile weit in den Hafen eingelaufen. Wieder rief er eine Kurskorrektur hinab, damit sie eine der großen, steinernen Säulen umrundeten, die aus dem Hafenbecken ragten. Es waren Bastionen aus gewachsenem Fels, die die Höhlendecke weit über ihnen trugen. Wieder wunderte sich der Heermeister über das seltsame Licht, das aus den Wänden sickerte. Glamir, der einbeinige Schmied, hatte ihm einmal erzählt, dass es Höhlen gab, die ganz und gar von Algen überwuchert waren, die ein seltsam diffuses Licht abgaben. Vielleicht war es hier ja genauso? Die Menschen hatten Glück, hier ohne Fackeln und Öllampen auszukommen.

Es gab noch etwas, worin sich dieser Hafen bereits auf den ersten Blick von jedem Zwergenhafen unterschied: Die Menschenkinder bauten gerne mit Holz. Die meisten der Kais waren einfache Holzstege, die von mit faulenden Algen überwucherten Pfählen getragen wurden. Die Plattformen, die an den Felssäulen klebten und wohl als Aussichtspunkte dienten, waren aus Holz. Die wenigen Wachtürme ebenso. Weiter hinten in der Höhle erkannte Hornbori Lagerhäuser und Quartiere für Schiffer. Alles war aus Holz gefertigt. Nicht für die Ewigkeit gebaut, wie Zwerge es taten.

Irgendwo weit hinten in der Grotte erklang ein Horn. Hornbori zuckte zusammen. Hatte man sie entdeckt? Ein weiteres Horn ertönte. Sein klagender Ruf wurde durch die Felswände gebrochen. Unmöglich zu sagen, wo der Hornbläser stand.

Als Menschen von den Schiffen liefen, die Kais entlangrannten und dort Trauben bildeten, ahnte Hornbori, dass der Alarm wegen des Drachenangriffs gegeben worden war. Dennoch schlug sein Herz immer noch wie eine Trommel in seiner Brust. Es konnte, es durfte nicht anders sein! Bestimmt wurden die Wachen vom Hafen abgezogen, um gegen die Drachen zu kämpfen.

Sollten sie nur gehen, diese verdammten Narren! Gegen Drachen kämpfte man nicht. Zumindest nicht mit Speeren und Schwertern. Wer das versuchte, wurde zu Asche. Er musste an die Kämpfe in der Tiefen Stadt zurückdenken, und ihm zog sich der Magen zusammen. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass er eines Tages einen Drachenangriff auf eine Stadt befehligen würde. Ausgerechnet er, der das Grauen und das Leid so gut kannte.

Es waren nur Menschenkinder, ermahnte er sich in Gedanken. Und sie hatten den verdammten Krieg angefangen! Kurz fragte er sich, ob die Drachenelfen, die damals den Angriff auf die Tiefe Stadt unterstützt hatten, genauso gedacht hatten? Es sind nur Zwerge. Und sie haben den Krieg angefangen. Warum waren sie auch so dumm, Drachen zu ermorden?

»Was ist das für ein Lärm?«

Hornbori war dankbar, von Ulurs Stimme aus seinen Gedanken aufgeschreckt zu werden. »Die Drachen … sie tun ihr Werk und verbreiten Schrecken.«

Von unten kam ein undeutliches Gebrummel. Wahrscheinlich Ulurs Kommentar, was er davon hielt, mit Drachen zusammen zu kämpfen.

Ihr Boot steuerte eine breite Felssäule an, bei der es zu beiden Seiten eine lange Kaimauer gab, an der nur wenige Schiffe vertäut lagen. Ein guter Platz, um anzulegen. In regelmäßigen Abständen führten dort Steintreppen bis zur Wasserlinie hinab. Hornbori winkte den anderen Zwergen zu, die als Ausguck auf den Aalen standen, und deutete zu dem Kai.

Ihre Flotte teilte sich und umrundete rechts und links die fast dreißig Schritt breite Felssäule. Hornbori mochte diese riesige Grotte. Er stellte sich vor, was er ändern würde, wenn er der Fürst von Asugar wäre. Dieser Ort hier war wie geschaffen für eine Zwergenstadt. Ob die Himmelsschlangen ihm die Stadt überlassen würden? Der Goldene hatte mit keinem Wort erwähnt, was zu tun war, wenn sie Asugar erobert hatten. Sollten sie bleiben oder wieder abziehen?

Plötzlich ertönte fast direkt über ihnen ein Horn. Es klang anders als die übrigen. Der Wächter blies drei kurze Stöße. Hornbori fuhr herum. Keine fünf Schritt über ihnen standen zwei Männer auf einem Felssims. Der Linke, eine korpulente, pausbackige Gestalt, griff nach einem Bogen, zog einen Pfeil auf die Sehne und schoss. Er verfehlte Hornbori um mehrere Schritt. Der Zwerg sah, wie dem Menschensohn vor Aufregung die Hände zitterten, als er in seinen Köcher griff und einen weiteren Pfeil hervorzog.

Noch nahm kein weiterer Hornbläser das Signal auf. Der Alarm schien im Lärm, den die übrigen Signalbläser machten, untergegangen zu sein. Sie mussten jetzt schnell sein, dachte Hornbori, ohne die beiden auf dem Sims aus den Augen zu lassen. Sein ganzer Plan beruhte darauf, dass sie die Menschenkinder überraschten und zumindest den unterirdischen Teil der Stadt im Sturm eroberten.

»Schneller!«, rief der Heermeister durch das Luk hinab. »Stemmt euch in die Pedale!«

Ulur kam grummelnd die Leiter hoch, schob den Kopf durch das Ausstiegsluk und sah sich um. »Verdammt gute Sicht«, murmelte er überrascht und beugte sich vor. »Zwei Strich backbord! Halbe Fahrt!«, rief er zur Mannschaft herab.

Das durfte nicht wahr sein! Sie wurden langsamer statt schneller, jetzt, da es auf jeden Augenblick ankam. Der nächstgelegene Anlegeplatz war noch fast hundert Schritt entfernt. Schon zogen die ersten Aale an ihnen vorbei und strebten den vorderen Liegeplätzen am Kai entgegen. »Wir sollten nicht langsamer …«

»Das ist mein Boot, Heermeister. Und ich werde es nicht gegen die verdammte Hafenmauer dort vorne rammen, nur weil du es eilig hast!«

Etwas prallte mit einem metallischen Pling vom Rumpf ab. »Wir sind ein gutes Ziel«, erklärte Hornbori und musste sich zwingen, nicht den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen. »Wir sind der größte Aal. Ich wette, wir werden am meisten abbekommen.«

»Angst?« Ulur grinste breit und zeigte ihm dabei überraschend weiße Zähne.

»Ich bin Hornbori Drachenfaust«, entgegnete der Heermeister großspurig, auch wenn ihm eigentlich das Herz in die Hose gerutscht war. Er sah, wie der Bogenschütze auf dem Felssims einen weiteren Pfeil auf die Sehne legte. Sie sollten hier weg. Und das nicht mit halber Fahrt!

»Ich glaube nicht, dass mich hier irgendetwas umbringen kann.«

Jedenfalls nicht, wenn es meine unverwundbare Hand trifft, dachte der Heermeister bei sich und legte in feierlicher Geste seine Hand auf sein Herz. Es war Zeit, dass er an seiner Legende arbeitete. Wenn er Ulur beeindruckte, würde das seinem Ruf guttun. Der Kapitän der Wilden Sau war selbst eine legendäre Gestalt. Wenn der Dicke lobend über ihn sprach, dann würde das weite Kreise ziehen. »Ich kann es nicht erwarten, meine Männer zum Sieg zu führen. Schnell und tödlich, so soll dieser Angriff verlaufen.«

Wieder prallte etwas vom Rumpf des Aals ab. Zum Glück war der Kerl dort oben ein lausiger Schütze. Dennoch spürte Hornbori, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Zu voller Größe aufgerichtet war er ein erstklassiges Ziel. Ulur hingegen streckte nur den Kopf aus dem Luk. Er musste ihn hier hochlocken. Der fette Kapitän gab ein wesentlich besseres Ziel ab, als er es war.

»Du siehst, ich stehe unter Beschuss, ohne zu weichen. So wie auf der Eisebene. Nicht jeder tut das. Ich bin meinen Männern ein Beispiel!«

Ulurs buschige Brauen ruckten zusammen. Er stieß einen schnaubenden Laut aus und stemmte sich aus dem Luk hoch. »Willst du etwa andeuten …«

»Andeuten?«, fragte Hornbori unschuldig. »Ich sage immer geradeheraus, was ich denke.«

Der massige Kapitän baute sich vor ihm auf. Sehr gut! Er verstellte dem verdammten Schützen fast vollständig das Schussfeld. Allerdings war es besser, wenn dem Dicken nichts geschah. Er war ein guter Bootsführer.

»Nyr! Komm herauf und bring deine Armbrust mit. Es gibt Arbeit für dich. Ein bisschen hurtig, wenn ich bitten darf.«

Wieder ertönten die drei kurzen, abgehackt klingenden Hornrufe. Zugleich legte der erste Aal an der steinernen Mole an. Noch fünfzig Schritt, dann hätte auch die Wilde Sau einen Ankerplatz erreicht. Es konnte fast nichts mehr schiefgehen.

Erneut ertönte das Hornsignal. Diesmal klang es lauter und deutlicher. Der übrige Lärm nahm ab. Die langen Hornstöße, die vom Überfall auf die Oberstadt kündeten, verebbten.

Nyr kam durch das Luk gestiegen.

»Bring den da oben zum Schweigen!«, befahl Hornbori und deutete auf den Wächter mit dem Horn. »Daneben ist ein Bogenschütze, der auf uns zielt.«

Ein weiterer Pfeil flog in ihre Richtung und prallte zwei Schritt vor Ulur auf die Eisenplatten des Aals. Nyr lächelte breit, während er seine Armbrust spannte. »Verstehe, mieser Schütze.« Er hob die Armbrust und schien nicht einmal zielen zu müssen. Nyr zog den Abzug durch, und im nächsten Augenblick wurde der Hornbläser nach hinten gerissen.

Ein Seil wurde ihnen vom Kai aus zugeworfen. Ulur fing es geschickt auf und zog den Aal dicht an den Landungssteg. Sie lagen so tief im Wasser, dass die schmutzige Mauer knapp drei Schritt über ihnen aufragte.

Etwas schrammte über Hornboris Wange, und ein metallisches Klirren erklang.

Nyr pfiff durch die Zähne. »Jetzt hat er sich eingeschossen. Zwei Fingerbreit weiter links und du lägst tot im Hafenbecken.«

Ungläubig tastete sich der Heermeister über die Wange. Helles Blut war auf seinen Fingern.

»Ja, der Idiot da oben hat dich fast erledigt.«

Nyr hatte nachgeladen und hob die Armbrust. Diesmal ließ er sich einen Augenblick Zeit zu zielen. Erneut zog er den Abzugshebel durch. Der Bogenschütze zuckte. Die Waffe entglitt seiner Hand, aber er blieb aufrecht an der Felssäule stehen. In seine Stirn war ein blutiges Loch gestanzt. Der Armbrustbolzen schien den Toten auf den Fels genagelt zu haben.

»So geht das, Junge.« Nyr sagte das völlig beiläufig, als hätte er dem anderen nur eine freundschaftliche Lektion erteilt.

Hornbori war einigermaßen überrascht. Diese Seite des sonst so stillen Richtschützen kannte er kaum. Es schien Nyr überhaupt nichts auszumachen, gerade zwei Menschenkinder getötet zu haben, die ihm im Grunde wehrlos ausgeliefert gewesen waren. War das derselbe Nyr, der es verwerflich gefunden hatte, diese Stadt dem Drachenfeuer zu überlassen?

»Alles in Ordnung?«, fragte der Richtschütze und sah ihn besorgt an.

Hornbori nickte und tastete noch einmal über seine Wange. »Ist nur ’ne kleine Schramme«, sagte er mit fester Stimme. Dann griff er auf seinen Rücken und zog seine neue Axt, Schädelspalter, aus den Halteschlaufen. Es fühlte sich gut an, die Waffe in Händen zu halten. Sie war gut ausgewogen und erstaunlich leicht. Schon während der Reise hatte sie die Aufmerksamkeit der Besatzung erweckt, und er hatte ein Geheimnis daraus gemacht, woher er sie hatte. Sollten die Männer ruhig irgendwelche Geschichten erfinden. Alles war besser als die Wahrheit. Zwerge, die Geschenke von Drachen annahmen, waren nicht sonderlich beliebt.

Galar kam aus dem Luk geklettert. Ihm stand die Mordlust in die Augen geschrieben. Er durfte ihm nicht die Heldenrolle überlassen. Also ging Hornbori zum Bug und war mit einem weiten Schritt auf der Steintreppe, die hinauf zum Kai führte. Entschlossen erklomm er die Stufen. Oben auf der Anlegestelle waren bereits andere Zwerge. Es war ungefährlich … Und dennoch war er als Erster von seiner Besatzung beim Angriff von Bord gegangen. Er grinste zufrieden. Das war gut für seinen Ruf.

Er sah sich nach einem seiner Hauptleute um und entdeckte Ginnar aus Ishaven. Ginnar schickte gerade einen Trupp Armbrustschützen die Mole hinauf, um ihre Anlegestellen gegen einen Angriff der Menschenkinder zu sichern.

»Widerstand?«

Ginnar drehte sich zu ihm um. Er hatte ein Gesicht wie ein Totenschädel. Die untere Hälfte war rot vernarbt, seit die Kobolde der Eisbärte ihn schwer verwundet hatten. Sie hatten ihn für tot gehalten und ihm seinen Bart samt der Haut darunter abgezogen, um daraus eine ihrer widerwärtigen Trophäen zu fertigen.

»Kein organisierter Widerstand, Heermeister. Wir haben sie bei den Eiern.«

»Dann ist es an der Zeit, ihre Eier ein bisschen zu quetschen!« Hornbori hob die Axt hoch über den Kopf. »Vorwärts, Männer. Stürmen wir die Aufgänge zur Oberstadt!«

Jetzt erklang auch vor ihnen das Alarmsignal aus den drei kurzen Hornstößen, aber es war zu spät. Hornbori sah über seine Schulter. Schon fast hundert Zwerge waren auf dem Kai.

»Vorwärts, Männer!« Er rannte los und achtete sorgsam darauf, nicht aus Versehen der Vorderste in der Angriffsreihe zu sein.

Säulentrommeln

»Scheiß auf Vorsicht!«, fluchte Galar und stürmte um die Ecke.

Nyr setzte ihm sofort nach, die Armbrust im Anschlag. Der Schmied war einfach zu ungeduldig! Das Gewölbe, das sie betraten, war finster. Hier, tief im Berg, gab es dieses seltsame blaue Licht, das die Hafengrotte erhellt hatte, nicht mehr.

Den Hafen hatten sie einfach gestürmt, aber in dem Labyrinth aus Höhlen, Tunneln und Zisternen, das die Steilklippe durchzog, leisteten die Menschenkinder überraschend zähen Widerstand.

»Schön, dass ihr flucht, bevor ihr angreift!«, erklang eine müde Zwergenstimme vor ihnen im Dunkel.

Die Blende einer Laterne wurde geöffnet, und ein Keil aus Licht schnitt durch die Finsternis. Nyr erkannte mehrere Krieger, die neben dem Eingang zu einem weiteren Tunnel an der Felswand lehnten.

»Was ist los?«, ging Galar sie an. »Keinen Mumm mehr?«

Der Lichtstrahl schwenkte zur Seite und beleuchtete mehrere steinerne Zylinder, die zwischen zerknüllten Decken und Lumpen lagen. Das Gewölbe schien als Schlafsaal gedient zu haben.

»Du kannst gerne vorgehen, Großmaul. Wirst über fünf meiner Männer hinwegsteigen müssen. Aber ich denke, allzu hoch musst du deine Füße dabei nicht mehr heben. Die Menschenkinder haben sie plattgemacht. Richtig platt …«

»Mit welchem Schisser spreche ich?«

Nyr seufzte. Galar war wütend. Seit Stunden hatten sie sich Schritt um Schritt durch den Berg höhergekämpft und keine einzige Schießscharte gefunden. Keine Öffnung nach außen, nichts. Dabei musste es sie geben, denn die Luft im Tunnelsystem war einigermaßen gut.

Wieder schwenkte der Strahl der Laterne. Er beleuchtete ein grässliches, rot vernarbtes Kinn und zornige, dunkle Augen. »Ich bin Ginnar. Nenn mich noch einmal Schisser, und du bist ein toter Mann.«

»Was hält euch auf?«, fragte Nyr, bevor Galar mit der nächsten Frechheit die Stimmung anheizte.

»Da oben muss es eine Steinmetzwerkstatt geben. Die Stümper fertigen ihre Säulen aus mehreren Segmenten, die jeweils unter einem Schritt hoch sind. Die werden übereinandergestapelt, und fertig ist die Säule. Vernünftige Arbeit ist was anderes … Ich bin Steinmetz, ich weiß, wovon ich spreche. Und meine Säulen sind aus einem Stück. Nur die Kapitelle und Sockel fertige ich gesondert. So gehört sich das, wenn …«

»Und weshalb stürmt ihr die verfluchte Werkstatt nicht? Liegt es daran, dass du mehr Steinmetz als Krieger bist?«

Nyr seufzte. Warum konnte sich Galar nicht ein einziges Mal diplomatisch verhalten?

Ginnar machte eine einladende Geste in Richtung des Tunneleingangs. »Weißt du was, Großmaul. Geh doch einfach rein und finde es selbst heraus.«

Galar hob seine Axt. »Genau das werde ich jetzt tun.«

»Wollen wir nicht …«

»Bist du jetzt auch ein Schisser?«, fuhr Galar ihn an und stürmte in den Tunnel.

Nyr hasste es, wenn sein Freund so war. Mit schwerem Herzen wollte er ihm folgen, als Ginnar ihm in den Weg trat. »Tu das nicht, Kamerad. Nach ein paar Schritt kommt eine steile Treppe. Wenn ihr etwa auf der Mitte seid, rollen sie die nächste Säulentrommel hinab. Lass den Idioten alleine sterben. Ihr müsst nicht beide draufgehen.«

Der Rechenfehler

Als Galar keine Schritte hinter sich hörte, war er ernstlich überrascht. Nyr hatte er bislang nicht für einen Schisser gehalten. Dass sein Kamerad ihm nicht folgen würde, hätte er nicht für möglich gehalten. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht.

Es war so dunkel in dem verdammten Tunnel, dass er kaum die Axt in seinen Händen sah. Er spürte einen leichten Luftzug auf dem Gesicht. Irgendwo dort vor ihm musste es eine Öffnung im Felsen geben. Sie mussten sie erreichen, bevor es zu spät war. Seit Stunden schon fragte er sich, was wohl in der Oberstadt geschah. Was würden die Drachen tun, wenn sie alles niedergebrannt hatten? Er kannte die Befehle nicht, die Hornbori den verfluchten Bestien erteilt hatte. Falls der aufgeblasene Angeber ihnen überhaupt Befehle erteilen durfte und nicht bloß schleimerisch um ihre Hilfe gebettelt hatte.

Galar spuckte aus und ging rascher vorwärts. Er durfte sich nicht aufhalten lassen, dachte er und spürte zugleich, wie sich sein Innerstes vor Anspannung zusammenzog. Natürlich war es nicht klug, hier alleine vorzustürmen. Aber wer klug war, blieb im Krieg besser gleich zu Hause. Er musste irgendeine Öffnung in diesem verdammten Felsen finden! Einen Platz, von dem aus man den Himmel sehen konnte.

Wenn es hier nichts mehr zu verbrennen gab, dann würden die Drachen abziehen. Sie würden einfach nach Albenmark zurückkehren. Galar dachte daran, wie er Hornboris Pläne unterstützt hatte. Er, ein Zwerg aus der Tiefen Stadt, hatte dafür gestimmt, eine weitere Stadt dem Drachenfeuer zu übergeben. Er hatte es nur deshalb getan, weil er ganz sicher davon ausgegangen war, dass er und Nyr Gelegenheit haben würden, zwei oder drei der Bestien umzubringen. Aber die Menschenkinder leisteten zäheren Widerstand, als alle erwartet hatten. Und bisher gab es keine verfluchten Luftschlitze und Schießscharten in diesem beschissenen Felsen. Tränen der Wut traten dem Schmied in die Augen. Er hatte für die Vernichtung dieser Stadt gestimmt! Er schuldete den Toten mindestens einen Drachen. Mindestens … Sein Fuß stieß gegen festen Stein. Er geriet aus dem Gleichgewicht, riss die Arme nach vorn und schlug hart auf Treppenstufen.

Fluchend rappelte er sich wieder auf und dachte an die Säulentrommeln. War klar, dass es hier eine Treppe oder eine Rampe hatte geben müssen. Jetzt kam der Teil seines törichten Plans, der nichts für Schisser war.

»He, ihr Menschengesocks! Hört ihr Weichärsche mich? Hier kommt ein Zwerg, der euch ausweiden wird.« Absichtlich fest aufstampfend, stürmte er die Treppe hinauf.

Es waren viele Stufen. In dem engen Aufstieg gab es eine seltsame Akustik. Seine eigenen Schritte hörte er kaum, obwohl er trampelte wie ein Auerochse. Dafür schienen überall um ihn herum wispernde Stimmen zu sein, so, als kämen sie direkt aus dem Felsgestein.

Es waren die Stimmen der Menschenkinder. Sie klangen angespannt, ängstlich, beratschlagten etwas. Das waren keine kampferfahrenen Krieger, da war sich Galar ganz sicher. Warum leisteten sie so heftigen Widerstand? Ihnen würde nichts geschehen, wenn sie die Waffen niederlegten.

Die Dunkelheit veränderte sich. War da ein Hauch grauen Lichts vor ihm? Jedenfalls konnte er jetzt seine Axt sehen. Nur als vagen Schemen, aber eben noch war sie in der Finsternis verborgen gewesen. Das war kein Licht von Fackeln oder Laternen. Dort oben, am Ende der Treppe, musste es einen Raum geben, in den Tageslicht fiel. Ein Fenster zum Himmel! Er musste es sich erobern. Er war ohnehin schon zu weit, um jetzt noch umzukehren.

Die Treppe machte eine lange, sanfte Kehre. Galar trat auf etwas Weiches. Ginnars Worte über die Toten kamen ihm wieder in den Sinn. Er würde nicht nach unten blicken. Etwas knirschte unter seinen Stiefelsohlen. Der verbogene Stahl einer Axt.

Schwarz wurde zu dunklem Grau. Und er kam nicht umhin zu sehen, was auf den Treppenstufen vor ihm lag. Die grässlich verformten Köpfe, die flach gedrückten Brustkörbe. Das Blut, das gegen die Wände gespritzt war.

So also würde er aussehen, wenn er sich geirrt hatte. Galar stieß einen trotzigen, knurrenden Laut aus. Er hatte sich die Säulentrommeln genau angesehen. Sie waren nicht einmal einen halben Schritt hoch. Der Fehler war, vor ihnen wegzulaufen. Man musste ihnen entgegenrennen und im entscheidenden Augenblick springen. Das war zu schaffen, wenn man kein Schisser war. Zu fliehen hieß sterben.

Galar folgte der weiten Kehre. Oben hörte er das Knirschen von Stein auf Stein. Gewiss brachten sie gerade die nächste Säulentrommel in Position. Er würde es schaffen, dachte Galar. Er würde es schaffen!

Endlich hatte er das Ende der Kehre erreicht. Vielleicht hundert Stufen lagen noch vor ihm. Deutlich sah er nun ein Rechteck aus grauem Licht, in dem sich Schatten bewegten. Sie ließen ihn kommen. Sie wollten diesmal wohl mit eigenen Augen ansehen, wie ihre Säulen die Feinde zermalmten.

»Ich schaffe das«, wiederholte Galar wie ein Gebet. Er wechselte seine Axt nervös von einer Hand in die andere und zurück. »Ich schaffe das.«

Er stieg zügig die Treppe weiter hinauf. Ein gellender Befehl erklang. Stein knirschte. Die Säulentrommel wurde über die Kante der obersten Stufe gestoßen. Den Aufschlag auf die zweite Stufe spürte Galar als ein Vibrieren, obwohl er noch mehr als fünfzig Treppenstufen entfernt war. Die Steinwalze füllte fast die gesamte Breite des Aufgangs. Rechts wie links war allenfalls noch eine Handbreit Platz.

Mit erschreckender Geschwindigkeit kam die Walze auf ihn zu. Galar hatte das Gefühl, dass seine Gedärme sich in Wasser verwandelten. So wie sie die Treppe hinabdonnerte, sah sie deutlich eindrucksvoller aus als die Säulentrommeln, die er eben noch im Gewölbe bei Ginnar gesehen hatte.

Er fluchte und rannte weiter. Sie wurde immer größer, diese verfluchte Steinwalze. Nur noch zwanzig Treppenstufen trennten ihn von ihr. Und jetzt begriff er, welchen verhängnisvollen Fehler er gemacht hatte. Er musste nicht allein die Säulentrommel überspringen. Es ging treppauf. Er musste, selbst wenn er bis zum allerletzten Augenblick abwartete, noch mindestens eine Treppenstufe zur Höhe, die er überspringen wollte, hinzurechnen. Besser zwei. Die Stufen waren aber jeweils zwei Handbreit hoch. Mit der Erkenntnis wich ihm alle Kraft aus den Beinen. Das war zu viel! So hoch konnte er nicht aus dem Stand springen …

Der Boden vibrierte jetzt so stark, dass sich das Zittern in seinen ganzen Leib fortsetzte. Oder schlotterten ihm einfach die Glieder vor Angst? Er wurde langsamer. Dann blieb er ganz stehen. Nur noch zehn Stufen und das Schicksal würde ihn überrollen. Todesursache: Hochmut und mangelnde Rechenkünste. Und das ihm, dem Tüftler und Erfinder.

Dieser Gedanke fachte neue Wut in ihm an. Galar schleuderte seine Axt über die mahlende Säulentrommel hinweg die Treppe hinauf. Dann fasste er sich ein Herz. Er würde es zumindest versuchen und nicht einfach nur dastehen und sich plattwalzen lassen.

Noch drei Treppenstufen.

Er riss die Arme hoch. Einfach hochzuhüpfen war keine Option. Er rannte gegen die Trommel an. Legte die Hände flach gegeneinander und machte einen Hechtsprung. Das Gesicht voran schoss er über die Säule. Seine Knie krachten auf den Stein. Einen Herzschlag lang rutschte er nach hinten. Seine Hände griffen nach vorn, fanden Halt in der Riffelung der Säule. Er stieß sich nach vorne ab und prallte mit der Nase voran auf die Kante einer Stufe. Mit sprödem Knacken brach der Nasenknochen. Seine Lippen platzten, als er auf die nächsttiefere Stufe aufschlug. Sein Mund füllte sich mit Blut. Aus seiner Nase troff Blut und rann seinen Bart hinab.

Galar lehnte sich an die Wand und zog sich hoch. Der Schmerz in seinen Knien trieb ihm Tränen in die Augen. Ohne Stütze könnte er nicht stehen. Seitlich, im Krebsgang, den Rücken am rauen Fels, wankte er vier Stufen hinauf. Dann hob er seine Axt auf. Den lederumwickelten Griff in Händen zu halten gab ihm Kraft. Er lehnte sich zurück, atmete tief durch und versuchte, den Schmerz in den Knien einfach zu ignorieren.

Oben, am Ende der Treppe, sah er Schattengestalten. Waren sie neugierig, ihr Werk zu sehen? Erneut flammte Wut in ihm auf. Er war nicht tot! Jetzt war es an diesen verfluchten Drecksäcken zu sterben!

Er kämpfte sich vorwärts, biss die Zähne zusammen, dass sie wie Kiesel zwischen Mühlsteinen knirschten.

Über ihm ertönte ein erstaunter Ruf. Die Panik in der Stimme war unüberhörbar. Ihre Angst war Balsam auf Galars Wunden. Er stapfte voran, steifbeinig, immer wieder schwankend und doch unerbittlich.

Zum zweiten Mal war oben das Schleifen von Stein auf Stein zu hören. Sie rückten eine weitere Säulentrommel heran. Galar wusste, dass er nicht noch einmal davonkommen würde, hinkte schneller und strauchelte. Fluchend, auf die Axt gestützt, kämpfte er sich wieder auf die Beine. Noch etwa zwanzig Stufen. Deutlich sah er nun die Gesichter der Menschenkinder. Ein Grauhaariger mit Oberarmen, dick wie Oberschenkel, hatte das Kommando. Das musste der Steinmetz sein.

Deutlicher hörte Galar jetzt auch das Schleifen. Er sah, wie der stattliche Menschensohn gebückt an etwas zerrte.

Die Angst verlieh dem Schmied Flügel. Plötzlich war der Schmerz in den Knien vergessen. Schneller und schneller ging es voran. Kaum, dass er den Fuß auf die oberste Stufe setzte, ging der Grauhaarige mit erhobener Brechstange auf ihn los. Es war ein ebenso kraftvoller wie plumper Angriff. Galar duckte sich zur Seite und hämmerte dem Steinmetz den Griff seiner Axt in die Lederschürze.

Der Menschensohn stieß einen Laut aus, der wie das Zischen eines undichten Blasebalgs klang. Er taumelte von Galar fort. Die schwere Eisenstange entglitt seinen Händen.

Drei Gehilfen standen um den Meister versammelt. Allesamt kräftige, junge Kerle. Allesamt Handwerker, so wie er einer war, dachte Galar. Er wollte nicht gegen sie kämpfen!

Mit einem rasenden Schrei stürzte ein Jüngling, dem kaum der erste Flaum auf den Wangen wuchs, auf ihn los, mit nichts als einem Hammer bewaffnet. Galar unterlief ihn, rammte ihm den Kopf in den Magen und ließ seine Axt zur Seite schwingen, um die anderen auf Abstand zu halten.

Der verletzte Steinmetz sah kurz zu seinem Lehrling, der sich den schmerzenden Bauch hielt, und wollte nach der Brechstange greifen, die am Boden lag, doch Galar setzte den Fuß darauf. Er hob die Axt und deutete an, dass es ihm ein Leichtes wäre, den Grauhaarigen niederzumachen. Einen Moment lang begegneten sich ihre Augen. Die des Steinmetzen waren von hellem, frühlingshaftem Grün. Sein Gesicht, von den feinen Narben eines Lebens zerfurcht, in dem Steinsplitter in dieses Antlitz gespritzt waren. Er war ohne Zweifel ein harter, starker Mann. Doch der Menschensohn begriff auch, dass dieser Fremde ihm überlegen war. Dass Blut fließen musste, wenn er noch einmal versuchte anzugreifen.

Galar nickte in Richtung der Tür, die dem Durchgang, den er erstürmt hatte, gegenüberlag. Er las in den Augen des Steinmetzen, dass dieser verstanden hatte.

Der Menschensohn rief etwas. Seine Männer wirkten gleichermaßen überrascht wie erleichtert. Dann nahmen sie die Beine in die Hand und stürmten aus der Werkstatt.

Galar stützte sich mit einem erleichterten Seufzer auf die Säulentrommel, die bis fast an den Rand der Treppe gerückt war. Er war einfach zu zerschunden zum Kämpfen gewesen. Aber das war es nicht allein. Er hatte in dem Steinmetz ein Spiegelbild seiner selbst gesehen. Ein Handwerker, der mit dem Mut der Verzweiflung focht, als die Drachen kamen. Er tastete nach seiner Nase, und ein stechender Schmerz trieb ihm erneut Tränen in die Augen. Sie war gebrochen. Er zog den Rotz und das geronnene Blut hoch und spie es auf den Boden.

»He, ihr Schisser da unten! Ich hab den Weg frei gemacht. Kommt rauf.«

Dann sah er sich um. Die Steinmetzwerkstatt war erstaunlich groß. Eine Kaverne, mehr als zehn Schritt lang und fünf Schritt weit. Auf der einen Wand war ein Hochrelief begonnen worden. Eine Arbeit, die Schiffe vor einer Hafenstadt zeigte. Offensichtlich hatte der Künstler aber bald die Lust verloren. Sieben weitere Säulentrommeln in verschiedenen Stadien der Bearbeitung lagen herum. Der Boden war mit feinem Steinmehl und Hunderten Splittern bedeckt. Rechts neben dem Eingang gab es einen weiten Durchgang auf ein Felssims. Galar trat hinkend durch diesen Ausgang und blickte zum grauen Morgenhimmel. Immer noch kreisten Drachen über der Stadt.

Hoch über dem Sims ragte ein Kran über die Steilklippe hinaus. Soweit Galar sehen konnte, war er nicht vom Drachenfeuer beschädigt. Ein dickes Hanfseil reichte bis zum Sims hinab, auf dem noch acht weitere Säulentrommeln standen, offensichtlich bereit, hochgezogen zu werden, um ihren Platz in irgendeinem Prachtbau zu finden.

Galar betrachtete das Seil, das leicht in der Morgenbrise hin und her schwang. Wenn man halbwegs lebensmüde war und bereit, etwa vierzig Schritt hochzuklettern, gelangte man auf diesem Weg zu den unteren Ausläufern der Oberstadt. Galar blickte hinab. Er hielt etwas Abstand vom Rand des Simses, denn es gab keine Mauer oder auch nur ein Geländer. Es ging geradewegs in die Tiefe. Etwa achtzig Schritt? Er war nicht gut darin zu schätzen. Das dunkle Meer streckte weiße Gischtfinger den Fels hinauf.

Galar wurde ein wenig schwindelig, und er trat hastig einen Schritt zurück. Nein, in einen Abgrund zu blicken, das war nichts für ihn … Ein gellender Schrei unterbrach seine Gedanken. Vom Meer aus flog ein grüner Drache geradewegs auf ihn zu. Ein Bullenwürger! Leicht zu erkennen an den Hornplatten, die aufrecht, fast wie ein Krönchen, von seinem Kopf aufragten. Die Bestie riss das Maul auf.

Galar ließ sich fallen. Ihm war bewusst, dass es hier draußen auf dem Sims, ganz ohne Deckung gegen das Feuer, kaum helfen würde.

Ein zweiter Schrei erklang. Dunkler, kehliger. Der Bullenwürger drehte ab. Über dem Sims ruderte ein roter Sonnendrache mit ausgebreiteten Schwingen. Sein Schweif peitschte unruhig. Hatte er den Bullenwürger zurückgerufen?

»Ich schulde dir gar nichts«, murmelte Galar. »Gar nichts.« Er stemmte sich auf alle viere hoch. Links von ihm war eine steil abfallende Rampe in das Sims geschlagen. Wahrscheinlich wurde hier der Bruchstein aus der Werkstatt hinabgefegt.

»Huldigst du den Drachen, oder hat dich ihr Anblick einfach nur umgehauen, Schisser?«

Neben Galar erschien ein Paar stämmiger Beine in Wickelgamaschen. Der Schmied drehte sich zur Seite und sah zu Ginnar auf. Der vernarbte Zwerg streckte ihm eine Hand entgegen. »Dafür, dass du die Treppe gestürmt hast, spendier ich dir irgendwann einmal ein Fass Pilz. Aber nur, wenn du mir erzählst, wie du die Begegnung mit der Säulentrommel überlebt hast.«

Galar stand nicht der Sinn nach Verbrüderung. »Harter Schädel, das ist das ganze Geheimnis.«

Ginnars gehäutetes Gesicht verzog sich zu einem abstoßenden Grinsen. »Siehst wirklich so aus, als hättest du versucht, den Stein mit deiner Fresse aufzuhalten.« Er machte eine Geste zum Höhlengewölbe. »Wo sind die Toten?«

»Die hatten längere Beine als ich. Als sie gesehen haben, dass sie mich nicht umbringen konnten und ich stinksauer die Treppe hinaufkam, haben sie lieber das Weite gesucht.«

Ginnar strich sich nachdenklich über das rote Kinn. »Nicht dumm, die Menschenkinder. Nicht dumm.«

Galar erhob sich. Verscheißerte ihn Ginnar? Er konnte diesen Zwerg aus Ishaven überhaupt nicht einschätzen.

Als der Schmied vom Sims zurück in die Werkstatt humpelte, war auch Nyr dort. Sein Freund wirkte verlegen und wich seinem Blick aus. Sollte er sich ruhig noch etwas schämen.

»Wir ziehen uns zurück, Jungs.« Ginnar trat an den Durchgang zur Treppe nach unten.

»Was?« Galar traute seinen Ohren nicht. »Fünf deiner Männer sind tot … gestorben für diese Höhle.«

Ginnar zuckte mit den Schultern. »So ist das im Krieg. Als du hier heraufgelaufen bist, hat uns ein Bote des Heermeisters erreicht. Wir sollen uns sammeln, um mit geballter Kraft einen Durchbruch zu versuchen, statt uns im Labyrinth zu verzetteln.«

»Schön, dass du mir nichts zu befehlen hast, Ginnar.«

Der Bartlose sah zu dem Aufstieg, durch den die Menschen geflohen waren. »Zwei Mann sollten ausreichen, diesen Durchgang zu verteidigen. Irgendwelche Freiwilligen außer diesem Verrückten hier?«

Nyr trat vor. »Ich bleibe bei ihm.«

Galar war überrascht von dieser Wendung, blieb aber misstrauisch. »Brauchst du meinen Namen, um mich beim Heermeister zu melden?«

»Galar der Schmied hat einen gewissen Ruf, du brauchst dich nicht vorzustellen.« Er nickte Nyr zu. »Dann wäre also klar, wer die Freiwilligen sind.« Ginnar winkte seinen Männern. »Gehen wir, die Zeit drängt. Es ist heller Tag, und wir haben diese verfluchte Klippe noch immer nicht erobert. Wir, die Tunnelkämpfer, stecken in diesem verfluchten Labyrinth fest.«

Seine Krieger folgten dem Bartlosen ohne Widerworte, doch Galar konnte in ihren Augen den Zorn sehen. Fünf ihrer Kameraden waren gestorben. Zerquetscht! Wofür?

Ginnars schwere Schritte verhallten auf der Treppe nach unten.

»Wirst du aus ihm schlau?« Nyr lehnte seine Armbrust an die Wand und öffnete den Beutel mit den Bolzen.

»Muss ich das?«

Sein Freund sah ihn nachdenklich an. »Aus dir werde ich auch nicht mehr schlau. Du hast sie laufen lassen, die Mörder unserer Kameraden, nicht wahr?«

»Sie hatten längere Beine als ich. Und hinken taten sie auch nicht.« Er sah Nyr an, dass er ihm das nicht abnahm. »Also gut … Sie hatten es nicht drauf. Ein Trupp Steinmetze. Handwerker, keine Krieger. Ich hätte sie alle niedermachen können, aber … Ich konnte es nicht. Sie verteidigen doch nur ihre Stadt. So wie wir damals.« Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern gewesen. Er fühlte sich, als hätte er einen kopfgroßen Granitblock im Magen.

»Du hast also doch so etwas wie ein Gewissen.«

Galar schwieg. Was sollte er dazu sagen? Er hatte getan, was getan werden musste.

Angepisst

Nyr fand in einer Ecke eine zerfetzte Decke. Nur ein Lumpen, voller Dreck und Steinstaub, der ursprünglich einmal grau gewesen war. Genau so etwas brauchte er jetzt.

Er sah kurz zu Galar, der trotz seines lädierten Beins nervös auf und ab ging. Nyr hatte seinen Freund selten in so aufgekratzter Stimmung erlebt. Er war ein Veteran, sie hatten in zahllosen Kämpfen Seite an Seite gefochten. In einer Schlacht zu stehen sollte ihn also nicht so nervös machen. War es die Erinnerung an die Tiefe Stadt, die Galar den Frieden nahm?

Nyr hob die Decke auf, darauf bedacht, dass möglichst kein Schmutz abfiel.

»Was wird das?« Galar wirkte sichtlich irritiert und hielt in seinem endlosen Marsch inne.

»Deckung.«

»Versteh ich nicht.«

Nyr deutete auf den Durchgang. »Ich muss hinaus auf diese Rampe. Das ist ein idealer Ort, um auf einen Drachen zu warten, der unter mir vorbeifliegt.«

Galar runzelte die Stirn. »Ein beschissener Ort ist das. Du wirst da hinabrutschen, du hirnloser …«

»Ich seile mich an«, entgegnete Nyr ruhig. »Genau so, wie ich es mache, wenn ich in einem Baum auf der Lauer liege. Du wirst die Decke über mich breiten und Steinsplitter darauf streuen. Und dann wirst du dich unsichtbar machen. Hier drinnen muss alles ruhig und verlassen wirken. Denn wenn wir den ersten Drachen gemeuchelt haben, werden sie misstrauisch werden und alles noch genauer absuchen. Am besten gehst du ein Stück die Treppe hinab.«

Galar schnitt eine Grimasse. »Das ist nicht meine erste Drachenjagd. Ich …«

»Du führst dich aber so auf. Ich möchte hier lebend herauskommen, verstehst du?«

Der Schmied grummelte etwas vor sich hin.

Nyr entschied sich, ihn zu ignorieren. Galar konnte einem gelegentlich den letzten Nerv rauben, aber er war kein Idiot. Er würde es nicht vermasseln. Der Schütze löste das dünne Seil von seinem Gürtel, das er fast jedes Mal mit in die Schlacht nahm. Ein Ende schlang er um seinen rechten Knöchel, dann prüfte er die Schlinge und reichte Galar zufrieden das andere Ende des Seils. »Dort hinten ist eine Eisenstange in den Boden gerammt. Mach das Seil daran fest. Und tarne es mit Schutt und Dreck, sodass es unsichtbar wird.«

Galar drehte das Seilende unschlüssig in der Hand. »Bist du sicher, die Bolzen werden ausreichen, sie zu töten?«

»Bei den Alben! Natürlich sind die Bolzen tödlich! Hast du vergessen, was Glamir getan hat? Der Drache auf dem Marktplatz von Wanu? Was wäre ein besserer Beweis?«

»Er konnte ihn nicht verfehlen«, sagte Galar mit trübseliger Stimme. »Der Drache hat sich unmittelbar vor ihm aufgerichtet. Aber ein fliegender Drache … Und sie werden ein ganzes Stück entfernt sein.«

»Aus diesem Grund schieße ich und nicht du.« Nyr lächelte. »Du bist der Schmied, ich der Schütze. Wie kannst du den Bolzen misstrauen, die du selbst erschaffen hast?« Er zog eines der Geschosse aus dem ledernen Beutel an seinem Gürtel. »Wenn es dich beruhigt, werde ich keinen Bolzen mit einer Vierkantspitze nehmen, sondern einen von diesen hier.«

Ehrfürchtig betrachtete Nyr das kleine Geschoss. Wie Glamir und Galar das schier unzerstörbare Metall aus der geheimnisvollen Wand, tief unter Glamirs Turm, in diese Form gezwungen hatten, war ihm ein Rätsel. Die beiden hatten nie darüber reden wollen. Die Spitze des Bolzens war so beschaffen, dass, sobald sie aufschlug, seitlich Klingen ausklappten, die ein wenig länger als ein Fingernagel waren. Nichts hielt diese Geschosse auf. Sie durchschlugen sogar etliche Schritt dicke Felswände. »Weißt du, was das hier anrichten wird?«

Galar grunzte etwas Unverständliches.

»Ein Armbrustbolzen dreht sich im Flug um seine eigene Achse. Dieses Geschoss wird ein Loch so groß wie mein Handteller in einen Drachen reißen … Nein, kein Loch – es wird ein Tunnel durch sein Fleisch sein. Diese Pfeile können einen Drachen auf ganzer Länge durchschlagen. Das würde nicht einmal eine Himmelsschlange überleben.«

Der Schmied zog eine Grimasse. »Himmelsschlangen sind was Besonderes …«

»Ja, aber hier haben wir es mit ganz normalen Drachen zu tun. Sie sind zwar groß, aber wir werden sie vom Himmel holen!«

»Ganz sicher?«

Es schmerzte Nyr, die Qual in den Worten seines Freundes zu hören. Der Schmied hatte eine ganze Stadt dem Flammentod überantwortet, um Gelegenheit zu haben, Drachen zu töten. Es musste gelingen! Die Tyrannen mussten bluten! Und selbst das würde ihm sein Gewissen kaum erleichtern, auf dem nun Hunderte Tote lasteten, die er ihrer Fehde mit den Drachen geopfert hatte.

Der Geruch des Flammentods zog von der Stadt herab und nistete sich in Nyrs Nase ein. Es roch nach Gebratenem. Lange hatte er nach dem Untergang der Tiefen Stadt kein Fleisch mehr essen können. Der Geruch hatte ihn einfach nicht mehr verlassen wollen, als hätte das Feuer ihn in seine Nase eingebrannt. Das Fleisch der Menschen roch nicht anders als jenes der Zwerge damals.

Übelkeit stieg in ihm auf. Er versuchte, sich auf die Drachen zu konzentrieren. Ein Bullenwürger flog dicht an den Felsen vorbei. Er schien Galar misstrauisch zu beäugen. Dieses kleine Biest war kein Ziel, entschied Nyr. Er wollte einen großen Drachen, einen, bei dem es sich auch lohnte, den unersetzlichen Armbrustbolzen zu verlieren. Am liebsten einen der großen roten Sonnendrachen.

Nyr legte sich in Lauerstellung auf das abschüssige Sims, die Armbrust vor sich. »Deck mich zu«, forderte er Galar auf.

Sein Freund breitete die alte Wolldecke über ihm aus und streute Dreck und Steinsplitter darüber. »Sieht aus wie der Abfallhaufen einer Steinmetzwerkstatt«, erklärte der Schmied schließlich zufrieden.

Nyr hätte sich das Werk gerne selbst angesehen, doch hieße das, alle Arbeit zunichtezumachen. Er musste darauf vertrauen, dass Galar das schon hinbekommen hatte.

Der Schütze ertappte sich dabei, wie seine Finger nervös gegen den Schaft der Armbrust trommelten. Ganz ruhig, ermahnte er sich stumm. Alles wird gut gehen! Er atmete langsam aus und stellte sich vor, wie er mit der Waffe dem Flug eines Drachen folgte, vor ihn zielte, um seine Flugbewegung auszugleichen, und dann den Abzugshahn durchdrückte. Und dann? Es würde nur Augenblicke dauern, bis etliche Drachen herangeflogen kamen, um sich um ihren Gefährten zu kümmern. Sie würden oben in der Stadt nach dem Schützen suchen, aber auch in den Höhlen, die sich zum Meer hin öffneten. War sein Versteck sicher genug? Konnten sie ihn vielleicht durch die Wolldecke hindurch sehen? Einige der Drachen waren immerhin Zauberweber. Oder würden sie bemerken, wie sich die Decke leicht hob und senkte, wenn er atmete?

»Galar?«, flüsterte er.

»Hm. Was ist?«

»Gut, dass du noch nicht gegangen bist. Piss auf die Decke.«

»Was?«

»Du sollst über die Decke pinkeln. Wenn es hier stinkt und die Drachen denken, dass hier immer die Steinmetze austreten, dann werden sie vielleicht weniger genau hinsehen. Vielleicht rettest du mir so das Leben …«

»Ich rette dir das Leben, indem ich dich anpisse?« Galar stieß ein kurzes, abgehacktes Lachen aus. »Wie du willst.«

Nyr hörte es plätschern und spürte das warme Nass durch die Decke sickern. Er presste die Lippen zusammen. Es ging darum, einen großen Drachen zu töten und mit dem Leben davonzukommen.

»Sieh zu, dass du außer Sicht kommst!«, zischte er. Ein Rinnsal aus Pisse und Dreck floss an ihm vorbei und troff die Steilklippe hinab. Er hörte, wie sich Schritte entfernten. Hoch über ihm ertönten die schrillen Schreie der Drachen, die das Inferno feierten, das sie veranstaltet hatten. Verfluchte Brut, dachte Nyr. Ohne euch wird Albenmark ein besserer Ort sein.

In diesem Moment flog ein Drache mit zerfasernden gelben Flecken auf seinen weiten grünen Lederschwingen unter ihm vorbei. So einen hatte Nyr noch nie gesehen – doch auch er war zu klein. Es sollte einer der ganz Großen sein!

Warten. Die Zeit zog sich. Nyr betrachtete das Meer, das in prächtigem Türkis glänzte. Ein Stück vor der Steilklippe gab es eine karmesinrote Korallenbank. Manchmal sah er die Schatten großer Fische durch das klare Wasser gleiten. Eine Gestalt in einer sandfarbenen Tunika trieb im Wasser. Die Arme weit ausgebreitet, als wäre sie gekreuzigt worden. Vielleicht hatte sie versucht, sich durch einen Sprung von der Klippe vor dem Drachenfeuer zu retten.

Wieder zog der Drache mit den gelbfleckigen Flügeln unter ihm vorbei. Seine schmalen Augen musterten den Fels. Er suchte nach Beute.

Nyr folgte seinem Flug mit der Armbrust. Der Drache schwebte langsam, mit weit ausgebreiteten Schwingen. Er war etwa dreißig Schritt entfernt, kaum zehn Schritt unter Nyrs Stellung. Es wäre ein leichter Schuss. Er müsste nicht einmal vorhalten und berechnen, dass sich die Echse in der Zeit, in der der Armbrustbolzen flog, noch ein Stück vorwärtsbewegte. Nyrs Zeigefinger krümmte sich um den Abzugshebel. Er biss sich auf die Lippen. Die Versuchung war groß, er wollte endlich einen dieser Mörder fallen sehen.

Der Richtschütze atmete aus. Ließ los, sein Finger entspannte sich. Er brauchte ein lohnendes Ziel, einen … Da war er! Einer der großen Roten. Ein Fürst unter den Drachen! Ein Sonnendrache aus Ischemon. Er flog nicht weit hinter dem Gelbgefleckten. Schneller, aber nicht zu schnell. Nyr musste die Waffe nur ein winziges Stück zur Seite schwenken.

Der Zwerg zog den Abzug durch. Er hatte etwa drei Schritt vor den Drachen gezielt. Zu viel? Er schloss kurz die Augen und murmelte ein Stoßgebet. Ein schrilles Kreischen ertönte. Der rote Drache. Er trudelte. Seine Schwingen wirbelten kraftlos durch die Luft. Er drehte sich im Flug und stürzte rücklings der See entgegen. Einer seiner ledrigen Flügel wickelte sich halb um seinen Leib. Dann schlug er ins Wasser, sank und zog eine dunkle Wolke von Blut hinter sich her. Nyr sah, wie sich zwei Schatten durch das Wasser auf den Drachen zubewegten.

»Verrecke!«, murmelte er voller Inbrunst, zog die Armbrust unter seinen Leib und senkte den Kopf, sodass seine Wange auf dem kühlen Fels lag. Die Decke schob sich ein wenig vor. Dunkelheit senkte sich über ihn. Der dichte Stoff reichte nun auch vor seinem Gesicht bis auf den Boden. Seine Tarnung war vollkommen. Er war jetzt nur noch ein Häuflein aus Dreck und Steinsplittern, das nach Pisse stank. Kein Drache würde sich für ihn interessieren. Sie würden ihn nicht finden!

Nyr lauschte. Die Luft war erfüllt von Flügelschlagen. Er hörte Zischen und schrille, trillernde Schreie. Wie viele Drachen jetzt wohl da waren? Fünf? Zehn? Noch mehr? Konnte der Wind, den die mächtigen Schwingen aufwirbelten, seine Decke einfach zur Seite fegen? Angst fraß sich in seinen Magen, kroch durch sein Gedärm und sog die Kraft aus all seinen Gliedern. Er spürte die Böen der Flügelschläge. War da ein Schnuppern? Etwas platschte ins Wasser, so laut, wie ihre Aale ins Wasser geschlagen waren, als die Drachen sie abgeworfen hatten.

Versuchten sie, ihren toten Bruder aus dem Meer zu holen?

Plötzlich hörte er ein Kratzen auf Fels. Ganz nah. War einer der Drachen auf dem Sims gelandet? Da war noch ein anderes Geräusch. Ein Schnuppern, dicht hinter ihm. Hatte der Drache das Seil entdeckt, das zu seinem Knöchel führte?

Ein schriller Schrei erklang. Starker Wind peitschte über die Decke. Nyr war froh, dass er eingenässt war und so die Wolldecke umso mehr an seinem Körper pappte. Das Schnuppern hatte aufgehört. Jetzt hörte er die Drachen weit unten am Felsen. Was machten sie?

Nein, er durfte die Decke nicht anheben! Wie drängend das Verlangen auch war, zu sehen, was um ihn herum vor sich ging.

Sehr vorsichtig holte er einen weiteren Drachentöterbolzen aus seinem Köcher an der Hüfte. Er tastete im Dunkel nach der Armbrust und legte das Geschoss auf die Führungsschiene. Spannen konnte er die Waffe nicht. Die Sehne würde ausleiern, wenn er sie stundenlang unter Spannung hielt, ohne zu schießen.

Er dachte wieder an Frar, träumte sich fort von dieser verdammten Klippe in dieser verfluchten Welt, in der sie nichts zu suchen hatten. Er erinnerte sich, wie der Kleine hungrig an seinen Fingern genuckelt hatte. Wie tapfer er alles Ungemach erduldet hatte. Ihre Flucht, die Fahrten in den stinkenden Aalen, das nasskalte Gefängnis, das Glamirs Turm gewesen war. Ob er Frar jemals wiedersehen würde? Wohl nicht, solange Eikin in der Ehernen Stadt herrschte. Der Zwergenfürst hatte versucht, sie umzubringen. Und er würde es wieder tun, wenn sie in seine Nähe kamen.

Wie schon im Aal war Nyr klar, dass er nur mit Hornboris Hilfe den Jungen dort herausholen konnte. Und dass er sich genau deshalb mit dem unerträglichen Schleimer gutstellen musste. Der Schütze seufzte. Er war nicht wie Galar. Er würde Hornbori alles verzeihen, auch, dass er gewissenlos seine Männer in den Tod schickte, wenn er ihm nur ein paar Stunden mit dem Jungen schenkte.

Die Sonne stieg weiter den Himmel hinauf. Nyr spürte, wie ihre Strahlen die Decke trockneten. Sein Mund war nun staubtrocken. Er hatte keine Wasserflasche. Er würde das aushalten. Ebenso wie den Gestank der eintrocknenden Pisse. Schweiß sammelte sich in seinem Nacken.

Irgendetwas hatte sich verändert! Nyr lauschte angespannt – er hörte kein Flügelschlagen mehr. Waren die Drachen wieder oben über der Stadt? Nur ein tiefer, kehliger Laut, der auf- und abschwoll, war zu vernehmen. Sangen sie ein Totenlied? Trauerten die Bestien? Vorsichtig hob der Zwerg die Decke einen Fingerbreit an. Er musste es wissen. Zum Henker mit der Vorsicht. Die Bestien würden es schon nicht merken!

Als Erstes sah er Himmel und ein Stück Meer dicht beim Horizont. Er müsste näher an die Kante des abschüssigen Simses rutschen, wenn er sehen wollte, was unten an der Steilwand vor sich ging. Kurz verharrte Nyr. Hatte einer der Drachen etwas bemerkt, als er die Decke gehoben hatte? Die Zeit dehnte sich endlos, bevor er es wagte, einen Zoll weit nach vorne zu rutschen. Dann noch einen und noch einen. Endlich konnte er auf die schäumende Gischt am Fuß der Klippe blicken. Der tote Drache lag auf einem flachen Felsen, der sich zwei Schritt über das Wasser erhob. Daneben kauerte ein zweiter roter Drache. Er brachte die kehligen Laute hervor. War es das Weibchen? Es war größer als die Bestie, die er erlegt hatte. Vielleicht das Muttertier? So lange er nun schon Drachen jagte, er wusste fast gar nichts darüber, wie sie zusammenlebten. Gab es Familien? Fanden sie sich nur für die Brut und die Aufzucht der Jungen zusammen?

Nyr sah hoch und entdeckte noch zwei Drachen. Mit weit ausgebreiteten Schwingen segelten sie hoch am Himmel im Aufwind über der brennenden Stadt. Waren die anderen auch dort oben, außerhalb seines Gesichtsfelds?

Er hatte ein gutes Schussfeld auf den trauernden Drachen. Vorsichtig begann er die Kurbel der Windenarmbrust zu drehen. Das leise metallische Klicken erschien ihm so laut wie Trommelklang. Unten schlug die Brandung gegen den Fels. Unmöglich, dass der Drache das Geräusch hörte!

Mit einem scharfen Klacken rastete der Sehnenzug ein. Die Waffe war wieder gespannt.

Der Drache hob den Kopf.

Er konnte ihn nicht gehört haben, dachte Nyr, und doch blickte die Bestie geradewegs zu ihm herauf.

Einen Wimpernschlag später weitete der Sonnendrache die Flügel. Sprühwasser der Brandung perlte von den mächtigen Lederschwingen. Immer noch sah ihm das Ungeheuer unverwandt in die Augen. Es stieß keinen Schrei aus, fauchte nicht. Langsam hob es vom Fels ab.

Nyr sah, wie sich der Hals des Drachen aufblähte wie ein Blasebalg. Der Sonnendrache würde jeden Augenblick einen Flammenstrahl speien.

»Scheiß der Hund drauf!«, zischte Nyr, warf die Decke zur Seite und richtete sich auf. Sollte die Bestie nur sehen, wer ihrem Gefährten das Leid angetan hatte. Er hob die Armbrust in fließender Bewegung zur Schulter, verharrte einen Herzschlag und zog den Abzugshebel durch.

Der Bolzen traf den Drachen dicht oberhalb der langen Schnauze, knapp eine Handbreit unter den Augen. Die Bestie war noch zwanzig Schritt unter ihm. Nyr hatte schräg von oben getroffen. Mit angehaltenem Atem sah er zu, wie das mörderische Geschoss den riesigen Schädel durchschlug, ohne an Wucht zu verlieren. Der Zwerg wusste, wie die Schussbahn weiterverlaufen würde: Der Bolzen hatte beim Aufprall die seitlichen Klingen ausgefahren. Er würde sich nun durch die Kehle abwärts, an Herz und Lunge vorbei fräsen, um dann irgendwo im Bauchbereich wieder auszutreten.

Der Sonnendrache stieß einen gurgelnden Laut aus. Schrittlange Flammen spielten um sein Maul und seine Nüstern. So heiß, dass Nyr trotz der Entfernung ein Stück zurückwich. Es sah aus, als hätte der Drache sich an seinem eigenen Flammenstrahl verschluckt. Obwohl eine Blutfontäne aus seinem Unterleib sprühte, lag blanker Hass in seinem Blick. Wütend schlug er mit den Flügeln und kämpfte sich höher.

Nyr wich weiter zurück. Er drehte die Winde auf seiner Armbrust, bis der Abzug einrastete. Die Finger, die nach dem Ledersack mit den Bolzen griffen, zitterten. Er hatte keinen Drachentöterbolzen mehr!

Eine riesige Kralle griff nach dem Sims. Dann tauchte der Kopf des Drachen auf. Allein die Schnauze war mehr als zwei Schritt lang. Die Bestie könnte ihn mit einem einzigen Bissen verschlingen. Der Drache keuchte, und heißer Atem schlug Nyr ins Gesicht.

Warum spuckte die Bestie kein Feuer? Fehlte ihr die Kraft?

Die Pupillen des Sonnendrachen waren nur noch fingerbreite Schlitze. Seine Augen drehten sich nach oben. Blut troff ihm aus den Winkeln des Mauls. Er bleckte die dolchlangen Reißzähne. Auch sie waren von Blut benetzt.

Plötzlich rutschten die Pupillen nach oben. Die Augen waren nur noch schwefelgelb, durchzogen von einem Netz feiner roter Adern. Knirschend glitt die Kralle auf dem Fels zurück. Der Drache stürzte, fiel hinab in die Tiefe, ohne noch einen Laut von sich zu geben.

Nyr stand mit dem Rücken am Fels, dicht neben dem Durchgang zur Steinmetzwerkstatt. Er atmete schwer. Zwei Sonnendrachen, zwei Mörder weniger … Er fühlte sich müde, nicht erleichtert oder stolz. Seine Hand am Beutel mit den Bolzen zitterte immer noch.

Als ihn ein Windstoß fast umwarf, sah er nach oben. Sein ganzes Gesichtsfeld von gelb gefleckten Flügeln ausgefüllt. Im nächsten Moment traf ihn ein Schwanzhieb quer über die Brust, schleuderte ihn zu Boden und ließ ihn auf der Rampe dem Abgrund entgegenschlittern, bis die Fangleine an seinem Knöchel sich spannte und kurz vor der Kante den Sturz ins Meer verhinderte.

Grelle Lichtpunkte tanzten Nyr vor den Augen. Er rang um Atem, tastete nach der Armbrust, die ihm aus den Händen geglitten war. Benommen sah er, wie der Drache eine weite Kehre flog und seine Schwingen aufspreizte. Gleich würde er auf dem Sims landen, um ihm den Rest zu geben.

Nyr setzte sich auf. Ihm wurde übel, und sein Kopf sackte ihm auf die Brust. Schon knirschten Krallen über Fels. Er zwang sich, nach oben zu sehen. Das verdammte Biest klammerte sich ans Sims. Es faltete die Flügel zusammen und streckte seinen langen Hals vor. Geifer troff ihm von den Lefzen. Nyr zog seinen Dolch. Er würde nicht kampflos sterben!

Der Drache vor ihm war um einiges kleiner als die Sonnendrachen. Dicke Hornplatten schützten seinen langen, keilförmigen Kopf. Er ließ die Kiefer auf- und zuklappen, zeigte sein Arsenal an Reißzähnen, als wollte er mit seinem lächerlichen Getue Nyr verhöhnen. Die Bestie hielt den Kopf dicht über dem Felsboden. Sie war klug! So war es unmöglich, ihre weniger geschützte Kehle zu erreichen.

Nun legte sie den Kopf schief, sah ihn aus bernsteinfarbenen Augen an.

Wenn er eines dieser Augen erwischte, könnte er sie vielleicht töten, dachte Nyr. Aber er würde niemals nahe genug herankommen, da auf dem Sims kein Platz war, um zur Seite auszuweichen. Es gab nur eine einzige Hoffnung, er musste den Dolch werfen! Nyr wechselte den Griff. Das Vieh durfte nicht erahnen, was er vorhatte. Er grinste es an. »Wir kämpfen doch auf derselben Seite. Was willst du von mir?«

Ihm war klar, dass der Drache gesehen haben musste, wie er dessen roten Bruder getötet hatte. Wenn diese Geschichte die Runde machte, würde das vielleicht alle Zwerge im Heer den Kopf kosten. Ja, vielleicht würden die Drachen zur Rache noch eine weitere unterirdische Stadt einäschern. Das durfte nicht geschehen!

Nyr durchtrennte mit einem raschen Schnitt das Halteseil, stieß einen schrillen Schrei aus und stürmte vor. Wenn er es schaffte, sich an den Drachen zu klammern und ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, würden sie vielleicht gemeinsam die Klippe hinab in den Tod stürzen.

Er hatte erst einen Satz getan, als aus dem Auge des Drachen ein Schwall Blut quoll. Rotgallertige Klumpen und etwas Längliches schossen aus dem Echsenschädel hervor. Die Bestie brach augenblicklich zusammen. Nyr blieb ruckartig stehen.

»Das sah nach einem verdammt dämlichen Plan aus«, erklang Galars Stimme aus den Schatten der Werkstatthöhle. »Gut, dass ich auch noch zwei Drachentöterpfeile hatte. Und jetzt lass uns verschwinden, bevor noch einer der Himmelstyrannen sieht, dass es nicht die Menschenkinder waren, die ihnen zugesetzt haben.«

Während Nyr noch einen Augenblick brauchte, um sich zu fassen, kletterte Galar zu ihm auf den kleinen Vorsprung. Ächzend stemmte er sich gegen den Körper des toten Drachen. »Los, hilf mir!«

Der klare Befehl erlöste Nyr aus seiner Erstarrung. Gemeinsam stürzten sie den Kadaver die Klippe hinab. Galar sah sich unruhig um. Schatten glitten über sie hinweg. Weitere Drachen kreisten am Himmel, doch schien ihre Aufmerksamkeit ganz der brennenden Stadt zu gelten.

Galar klaubte zwei Armbrustbolzen auf, die aus Nyrs Lederbeutel gefallen waren, als ihn der Drachenschwanz getroffen hatte. »Steck die ein! Wir dürfen keine Spuren hinterlassen.«

Dann packte ihn der Schmied beim Arm und zerrte ihn in die Werkstatt zurück. »Verschwinden wir. Und hoffen wir, dass die Drachen so viel Schiss vor diesem Felsen und den Schützen darin bekommen, dass sie sich nicht zu genau ansehen, wie ihre Brüder zu Tode gekommen sind. Lass uns im Schlachtgetümmel verschwinden! Dort werden sie uns niemals aufspüren.«

Von den Dingen, die notwendig sind

»Sie kommt wieder zu sich. Endlich, den Göttern sei Dank!«

Die Stimme in Shayas Kopf schien aus weiter Ferne zu kommen. Sie konnte sie nicht zuordnen. Sie war zu leise, und lautes Stöhnen und Dutzende andere Stimmen überlagerten sie. Shaya spürte, dass sie von vielen Menschen umgeben war. Es roch nach Schweiß, Kräutern und fettigen Salben, irgendwo glomm Weihrauch, um die Vielzahl der Gerüche zu überlagern. Doch er vermochte den schrecklichsten von allen nicht verschwinden zu lassen: den Geruch nach verbranntem Menschenfleisch, der so fatal an Gebratenes erinnerte.

Shaya hielt die Augen geschlossen. Ihre Lider waren schwer wie Blei. Alle Kraft hatte sie verlassen. War aus ihr herausgebrannt … Sie erinnerte sich an den Flammenstrahl. »Enak«, flüsterte sie.

»Dem geht es gut. Der Lump hat wieder mal mehr Glück als Verstand gehabt. Ein paar blaue Flecke auf den Knien, das ist alles, was er abbekommen hat, Herrin.«

Jetzt erkannte Shaya die Stimme. Es war der alte Saham. Der Pfleger, der ihr mit den Überlebenden des geheimnisvollen Wolkensammlers geholfen hatte. Sie wollte sich aufrichten, wollte etwas sagen, doch kaum, dass sie sich bewegte, verwandelte sich ihr Rücken in eine Fläche sengenden Schmerzes.

»Liegen bleiben!«, befahl eine zweite, harte Stimme. Ihr Kopf wurde zurück auf das Lager gedrückt. Irgendwelche verbrannt riechenden Fetzen dienten als ihr Kissen. Sie lag auf dem Bauch. Und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nackt sein musste.

»Alles brandig. Wir werden amputieren müssen.«

»Am Rücken?«, fragte Saham ungläubig.

»Wir haben keine andere Wahl!«

Shaya riss die Augen auf. Die zweite Stimme gehörte Hattu, dem Ersten Heiler, dem Herrscher im Palast der Kranken! Hattu, mit dem sie vom ersten Tag an in Fehde gelegen hatte, weil sie bei den Männern mit den Erfrierungen das einzig Richtige getan hatte.

Sie stemmte sich hoch, und wieder brandete Schmerz über sie hinweg. Sie keuchte, kämpfte gegen die Schwäche an, die aus dem Schmerz geboren wurde. Ihre Arme zitterten.

Eine Hand legte sich auf ihren Hinterkopf und drückte sie erneut zurück auf das Lager. Zwischen Haarsträhnen hindurch sah sie den kleinen Spitalleiter. Er lächelte. »Tut mir leid, Shaya, aber ich konnte mir diesen Scherz nicht verkneifen. Natürlich werden wir nicht amputieren. Ich werde dir nun den Rücken mit Hasenfett einreiben. Es gibt nichts Besseres gegen Verbrennungen. Ich habe dich in der Nacht schon einmal damit eingerieben. Ich kann sehen, dass es bereits wirkt. Die Verbrennungen sind nur oberflächlich. In ein paar Tagen wirst du wieder auf den Beinen sein. Allerdings werden ein paar Narben zurückbleiben …«

Shaya ließ sich auf das Bett sinken. Die Vorstellung, dass Hattu sie nackt sah, war ihr zuwider. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er sie schier mit Blicken ausgezogen. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Schon diese kleine Bewegung reichte aus, um einen stechenden Schmerz durch die Haut über ihren Schulterblättern fahren zu lassen.

Hattu beugte sich dicht über sie. »Du hast ungewöhnliche Narben für eine Heilerin«, flüsterte er. »Du scheinst recht streitbar zu sein.«

Shaya schwieg. Sie war ihm ausgeliefert. Als Heiler kannte er Narben aus Kämpfen. Ihm etwas vormachen zu wollen wäre sinnlos.

»Dein Geheimnis ist bei mir wohl verwahrt.« Er hob die Hand, als wollte er ihr über das Haar streichen, hielt dann aber inne. »Keine Sorge. Ich bin nicht das, was du denkst. Als Heiler habe ich einen Kodex, und ich werde ihn auch bei der Frau nicht vergessen, die nichts unversucht lässt, um mich zur Verzweiflung zu treiben. Ich lasse den Tiegel mit dem Hasenfett hier. Sollen Saham oder Enak dich einreiben. Auf mich warten noch Dutzende andere Verletzte.«

Er ging ohne ein weiteres Wort. Shaya wandte den Kopf und sah ihm nach. Hatte sie sich wirklich so sehr in ihm getäuscht? Oder trieb er nur ein Spiel mit ihr?

»Er gönnt sich keine Ruhe«, sagte Saham, der sich nun neben sie kniete, ehrfurchtsvoll. »Auch er ist ein Krieger, genau wie Ihr es seid, Herrin. Seit dem Angriff ist er auf den Beinen. Ihr solltet ihm befehlen zu rasten. Ich glaube, Ihr seid die Einzige hier, auf die Hattu hören würde, Herrin.«

Sahams krumme Finger strichen über ihren Rücken. Sie zuckte zusammen. Seine streichenden Bewegungen hinterließen Bahnen aus flammendem Schmerz.

»Tut mir leid, dass es wehtut«, murmelte er zerknirscht. »Aber unser Gebieter Hattu ist wirklich sehr bewandert, was Kräuter und Salben angeht. Euer Rücken sieht schon viel besser aus als in der Nacht.«

Shaya fragte sich, wer sie wohl alles noch nackt gesehen hatte.

Als würde der Alte ihre Gedanken lesen, fuhr er fort: »Sogar der Laris war hier, um nach Euch zu sehen.« Während er sprach, zog Saham mit seinen Händen weitere Flammenbahnen über ihren Rücken. »Er hat sich sehr besorgt um Euch gezeigt! Er hat mir aufgetragen, nicht von Eurem Lager zu weichen und Euch mit allem zu versorgen …«

»Würdest du mich bitte zudecken?«

»Ähm … das … Ich weiß nicht …« Saham hielt mit seinen Bewegungen inne. »Der Erste Heiler hat es mir verboten. Er sagt, Eure Wunden müssen atmen, um zu heilen. Ich darf Euch nur bis zu …«, er räusperte sich verlegen, »nur bis zu dem Körperteil, auf dem Ihr sitzt, zudecken, Herrin.«

Shaya wusste, dass diese Anweisungen vernünftig waren, fühlte sich aber dennoch unangenehm berührt, dass Hattu nun über ihre Nacktheit gebot. Wieder versuchte sie, sich aufzurichten, aber die Schmerzen im Rücken trieben ihr Tränen in die Augen, und sie gab auf.

Sie blinzelte und wandte den Kopf zur anderen Seite. Hier waren überall aus Lumpen und Stroh notdürftige Lager auf dem Boden hergerichtet. Menschen liefen umher, kümmerten sich um Verletzte, von denen die meisten übler aussahen als sie. Shaya sah von Brandverletzungen entstellte Gesichter und Krieger mit blutdurchtränkten Verbänden. Keine drei Schritt entfernt führte Enak im blakenden Licht einer Öllampe eine Armamputation durch.

Nur wenige Lampen brannten. Der notdürftige Verbandsplatz lag in einer lang gestreckten Höhle. Shaya fielen seltsame, mit Kupferstangen vergitterte Löcher auf, durch die angenehm kühle Luft aufstieg. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, wo diese Höhle lag. Wohl irgendwo tief im Herzen des Berges. Aber woher kam dann die frische Luft, die von unten in die Höhle strömte?

Als Saham die kreisenden Bewegungen auf ihrem Rücken beendete, wandte sich Shaya wieder ihm zu. Der alte Mann wischte sich die Hände an seiner schmuddeligen Tunika ab. »Ich werde jetzt versuchen, etwas zu essen für Euch zu finden, Herrin. Das wird ein wenig dauern. Am besten, Ihr schlaft noch.«

Sie lächelte ihm zu. »Ja, das ist sicher am besten. Und danke, Saham. Du bist ein guter Freund.«

Er grinste sie an. Es war unübersehbar, wie gut ihm das Kompliment getan hatte.

»Sagst du mir noch, wie lange ich geschlafen habe?«

»Eine Nacht und einen Tag, Herrin. Nun ist die zweite Nacht hereingebrochen.«

»Und die Drachen? Wie steht die Schlacht?«

»Arcumenna hat sie vertrieben und die Angriffe der Daimonen zum Stehen gebracht. Ihr müsst Euch keine Sorgen machen, Herrin, hier unten seid Ihr sicher. Ihr …« Er runzelte die Stirn. »Ihr denkt doch nicht etwa daran zu kämpfen?«

Sie lachte und wurde sofort mit reißenden Schmerzen im Rücken bestraft. »Nein, natürlich nicht. Keine Sorge, ich werde nicht mit dem Schwert in der Hand in die Tunnel stürmen.« Obwohl sie gelacht hatte, war Shaya besorgt. Anfangs waren die Anspielungen darauf, dass sie eine Kriegerin sei, nur Scherze gewesen, weil sie so selbstbewusst neben Arcumenna aufgetreten war. Aber jetzt war sie sich nicht sicher, ob Saham es ernst meinte. Auch er musste ihre Narben aus den Kämpfen im weiten Grasland und an den Himmeln Nangogs gesehen haben.

Für den Augenblick jedoch wirkte der alte Pfleger erleichtert. Er nahm sie beim Wort. »Mindestens etwas Brot werde ich auftreiben. Vielleicht auch ein wenig Käse oder einen Apfel. Bleibt einfach hier, Herrin, und ruht Euch aus.«

Schrille Schreie erklangen. Als Shaya ihren Kopf drehte, sah sie, dass Enak tief in das Fleisch oberhalb des Armgelenks des verwundeten Kriegers geschnitten hatte. Nun griff er nach der Knochensäge. Zwei Mann waren nötig, um den Krieger zurück auf den Tisch zu drücken. Enak wischte sich mit der blutigen Hand über die Stirn. Er sah verzweifelt aus. Für diese Art der Heilung war er nicht geschaffen.

Saham war nirgends zu sehen, also setzte sich Shaya auf. Sie würde kein Schwert aufnehmen, was das anging, hatte sie nicht gelogen. Aber sie würde niemals aufhören zu kämpfen. Die Männer hier brauchten sie. Sie durfte die Verwundeten nicht allein Enak überlassen.

Sie griff nach dem verbrannten Fetzen, der einmal ihr Kleid gewesen war, und streifte ihn über. Als sie dabei die Arme anhob, traten ihr Tränen in die Augen, so sehr schmerzte ihr Rücken. Keuchend stemmte sie sich auf die Beine. Sie musste die Schmerzen besiegen. Steif ging sie zum Tisch, an dem Enak am Oberarmknochen des Kriegers sägte. Der Verletzte kämpfte nicht mehr länger gegen seine Peiniger an. Er war ohnmächtig geworden.

Shaya stützte sich schwer auf dem Tisch auf.

Enak hielt inne und sah sie erschrocken an. »Du solltest …«

Ein Blick von ihr genügte, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Hast du ihm Laudanum gegen die Schmerzen gegeben?«

»Natürlich!« Der junge Heiler sah sie entrüstet an. »Das ist doch wohl …«

»Wo ist es?«

Er nickte in Richtung eines jungen Manns, der fest die Augen zugekniffen hielt, um nicht zu sehen, was hier vor sich ging. Gut, dachte Shaya beeindruckt. Enak hatte dafür gesorgt, dass der Flakon nicht von einem um sich schlagenden Verwundeten vom Tisch gefegt werden konnte.

Sie wandte sich an einen der Krieger, die eben noch den bewusstlosen Amputierten gehalten hatten. »Du wirst mir einen Tisch besorgen. So groß wie dieser hier.« Sie wies auf die blutbeschmierte Holzplatte. »Besser noch etwas länger, sodass ein Mann ganz darauf liegen kann und die Beine nicht herabhängen.«

»Du hast mir nichts zu sagen, Weib«, grollte der Mann. »Du …« Blut sickerte aus einer tiefen Schnittwunde dicht unter seinem Haaransatz. Er sprach mit starkem Akzent. Wahrscheinlich ein Drusnier, der die Seiten gewechselt hatte.

»Sie ist …«, begann Enak zaghaft.

Shaya schnitt dem jungen Heiler mit einer harschen Geste das Wort ab. Dann sah sie dem Krieger in die Augen. »Du solltest den Göttern danken, dass ich dich schicke, einen Tisch zu suchen. Glaubst du, ich weiß nicht, dass Männer, die Verwundete vom Schlachtfeld tragen, mehr bewegt als reine Barmherzigkeit? Der Schnitt an deiner Stirn ist mit ein paar Stichen genäht. Dann kannst du zurück in die Schlacht. Arcumenna braucht sicher jeden Mann.«

Der Krieger erbleichte. Seine Hand fuhr zum Schwert.

»Um gegen ein Weib zu kämpfen, reicht dein Mut also noch.«

»Du verdammte Schlampe!« Als er die Waffe aus der Scheide riss, fiel ihm sein Gefährte in den Arm und zog ihn zurück.

Shaya nahm eines von Enaks Messern vom Tisch und baute sich breitbeinig vor den beiden Kriegern auf. »Du hast jetzt zwei Möglichkeiten, Drusnier. Entweder du bist ein kluger Mann, schiebst dein Schwert in die Scheide und tust fortan, was ich sage. Oder du legst dich mit einem zierlichen Weib mit einem Messer in der Hand an. Stichst du mich nieder, gewinnst du keinen Ruhm. Sollte ich aber gewinnen, wird der Spott deiner Kameraden ewig währen. Deine Entscheidung!«

Ohne zu zögern, holte er mit der Waffe aus. Er versuchte, mit der breiten Seite des Schwertes ihre Hand zu treffen, um ihr das Messer aus den Fingern zu prellen. Genau damit hatte Shaya gerechnet. Sie ließ die Klinge sinken. Das stählerne Schwert schnitt wirkungslos durch die Luft. Blitzschnell trat sie vor und setzte ihm das Messer in den Schritt. »Irgendwie hatte ich schon den Verdacht, dass du kein kluger Mann bist.«

Gelächter erklang. Alle in der Höhle sahen ihnen zu.

»Du hast erneut die Wahl. Lass deine Waffe fallen, und sie wird fortan mir gehören. Oder behalte sie, und etwas anderes wird zu Boden fallen, und du wirst aufhören, ein Mann zu sein.«

»Das wagst du nicht!« Der Krieger stank nach saurem Wein. Er hatte sich vor den Kämpfen oben in der Stadt Mut angetrunken. Ein dämlicher Fehler, den allerdings die Hälfte aller Männer machte, denen sie begegnet war. Auch wenn er sich trotzig gab, sah sie die Angst in seinen großen himmelblauen Augen.

»Kannst du es riskieren, dich noch einmal in mir zu irren?« Sie verstärkte den Druck der Klinge und spürte, wie sie durch die grobe Wollhose schnitt.

Der Krieger keuchte auf. Klirrend fiel sein Schwert zu Boden.

»Deine erste kluge Entscheidung. Nun nimmst du deinen Kumpel, und ihr beide sucht mir den Tisch, um den ich euch vorhin gebeten hatte. Und wenn ihr ihn gefunden habt, habe ich noch weitere Aufgaben für euch. Solltest du aber glauben, du könntest dich einfach verdrücken, dann sei dir sicher, ich werde dich finden, und dann bringen wir zu Ende, was wir hier begonnen haben.« Sie trat einen Schritt zurück.

Im Gesicht des Drusniers spiegelten sich Angst und Zorn.

Shaya setzte einen Fuß auf die Klinge am Boden, damit der blonde Trottel nicht auf die Idee kam, Dummheiten zu machen.

Der Krieger warf Enak einen verzweifelten Blick zu.

»Du machst besser, was sie sagt, denn du kannst dich darauf verlassen, dass sie immer Wort hält. Üblicherweise rettet sie Leben – aber wer das tut, weiß auch, wie man Leben nimmt.« Während er das sagte, hob er beiläufig seine blutigen Hände, was seine Wirkung nicht verfehlte. Die beiden Krieger machten sich auf den Weg.

Kaum war die Gefahr überstanden, meldete sich der sengende Schmerz in Shayas Rücken zurück. Sie musste sich an den Tisch lehnen und die Hände aufstützen, um zu verbergen, wie schlecht es ihr ging.

»War das wirklich nötig?«, flüsterte Enak ihr zu. »Du solltest ruhen und gesund werden.«

»Wir schlagen eine Schlacht«, zischte sie wütend zurück. »Bist du blind? Siehst du nicht, was um uns herum geschieht? Die Drachen und die Daimonen sind gekommen, um uns alle zu vernichten. Ich habe das schon einmal gesehen, im ewigen Eis des Nordens. Wer sich hinlegt, der wird sterben. Asugar brennt! Mörder bestürmen die Tunnel. Wir haben kein Schwert in der Hand, aber wir kämpfen um das Leben eines jeden, der hier heruntergebracht wird. Ausruhen werden wir erst, wenn die letzte Wunde versorgt ist.« Während sie sprach, war sie immer lauter geworden, damit jeder in der Höhle ihre letzten Worte deutlich verstehen konnte.

Leiser, sodass nur Enak sie hören konnte, fügte sie hinzu: »Es war nötig, den Drusnier vorzuführen. Jeder, der es gesehen hat, weiß nun, dass es klüger ist, meinen Anweisungen zu folgen, auch wenn ich nur ein Weib bin. Ich werde ab sofort den Befehl hier unten übernehmen. Wir müssen besser werden, wenn wir mehr Leben retten wollen. Wir brauchen zwei Tische für jeden von uns. Und Tücher und Wasser und Träger und mehr saubere Lager …« Keuchend hielt sie inne und kämpfte gegen den Schmerz an.

»Ich sehe, wie du dich am Tisch festhältst«, flüsterte Enak. »Du kannst nicht …«

»Du holst mir jetzt einen Becher voll Wasser und gibst zwei Tropfen Laudanum hinein. Das ist genug, um meinen Schmerz etwas zu dämpfen, und zu wenig, um mich benommen zu machen. So wird es gehen.«

Enak widersprach nicht, aber sie konnte in seinen Augen lesen, was er davon hielt. Shaya senkte den Blick. Sie wusste, dass sie sich zu viel zumutete und dass sie dafür würde bezahlen müssen. Doch einen Tag lang würde sie durchhalten. Ein Tag, an dem sie noch viele Leben retten konnte.

»Saubere Arbeit, Enak!« Sie musterte den frisch vernähten Armstumpf des Amputierten. »Ich habe den gesplitterten Knochen gesehen. Das wäre nicht mehr zusammengewachsen. Du hast das einzig Richtige getan.«

Statt zu antworten, presste der junge Heiler die Lippen zusammen. Er war kein Kämpfer, dachte sie. Aber hier unten genügte es, wenn sie kämpfte.

Sie winkte zwei Männern, die abgesehen von ihren rußgeschwärzten Gesichtern nicht sonderlich mitgenommen wirkten. »Hebt den hier vom Tisch und sucht einen Platz für ihn!«

Die beiden gehorchten ohne Widerworte.

»Das Laudanum, Enak!« Shayas Finger krallten sich um die Tischkante. Kalter Schweiß rann ihren Rücken hinab und brannte in den Wunden. »Jetzt!« Sie schob das Schwert des Drusniers mit dem Fuß unter den Tisch, wo es nicht im Weg war.

Das Klirren des Metalls ließ Enak zusammenzucken, und er gehorchte.

Müde

Kreischend schrammte Metall über Metall. Arcumenna wurde zurückgerissen. Einer der kurzen, dicken Pfeile, die die Daimonen verschossen, hatte seinen Helm geschrammt. Immer noch klang das kreischende Geräusch in seinen Ohren. Es übertönte den Lärm der Schlacht. Die niederen Daimonen waren schon drei Mal gegen den Wall aus Speeren angestürmt. Ihre Äxte hatten die Schäfte etlicher Speere zersplittert; der Beschuss durch die verfluchten Kreuzbögen der Daimonen setzte ihnen übel zu, aber sie hielten stand! Endlich!

Der Tunnel, den sie verteidigten, war nur drei Schritt breit. Hier war die Flut der Feinde zum Stehen gekommen. Arcumenna kniete, wie alle Männer rings um ihn herum. Er duckte sich hinter einen Rundschild, auf dem er einen Speer aufstützte. Der Rand des Schilds wies ein ausgefranstes Loch auf. Der Pfeil der Daimonen hatte die Bronze einfach durchschlagen. Zumindest hatte der Schild den Schuss abgefälscht. Ansonsten hätte ihn der Bolzen wohl mitten in die Stirn getroffen.

Blut umspülte Arcumennas Knie. Etliche seiner Männer hatten weniger Glück gehabt. Eine neue Salve Pfeile surrte über den Kopf des Feldherrn hinweg. Einige der kleinen Daimonen hatten fünf oder sechs Pfeile in ihren langen Hemden aus Eisenringen stecken und kämpften immer noch weiter. Es waren exzellente Rüstungen, die sie trugen. Besser als die Bronze- und Leinenpanzer seiner Männer.

Und dennoch zeigte auch ihr andauernder Beschuss Wirkung. Die kleinen Daimonen zogen sich zurück. Das letzte dieser kleinen Ungeheuer hob zum Abschied drohend seine Axt. Er war besonders unansehnlich. Im Gegensatz zu den anderen trug er keinen Bart. Sein Kinn und seine Wangen waren mit hässlichen roten Narben bedeckt. Er schrie ihnen etwas entgegen, wovon Arcumenna kein Wort verstand. Dann verschwand auch er hinter einer Kehre des Tunnels.

Die Daimonen hatten keinen einzigen Toten zurückgelassen, aber die Blutspuren am Boden legten Zeugnis davon ab, dass auch sie gelitten hatten.

Erleichtert und unendlich müde ließ Arcumenna sein Haupt auf den Schildrand sinken.

»Sieg«, knurrte Horatius neben ihm selbstzufrieden.

Arcumenna war da weit weniger optimistisch, beeilte sich aber, die Fehleinschätzung seines Hauptmanns zu bekräftigen. »Sieg!«, rief er mit lauter Stimme, und die erschöpften Männer rings herum griffen seinen Triumphruf auf. »Sieg!«, schallte es aus rauen Kehlen. »Sieg!«

Arcumenna erhob sich von den Knien, weitete die Arme und brachte sie zum Schweigen. »Wir haben die Daimonen aufgehalten, die unsere Stadt niedergebrannt haben. Ihre Drachen sind geflohen, der Himmel über der Stadt gehört wieder uns. Die Ruinen gehören uns. Und nun werden wir uns Tunnel für Tunnel zurückholen!«

Er sah in die müden, rußgeschwärzten Gesichter der Überlebenden. Nicht einmal ein Drittel der Männer waren Krieger. Die übrigen waren Bäcker, Schauerleute, Ruderer und Zuhälter. Gesindel und ehrbare Bürger. Seite an Seite hatten sie die Daimonen mit langen Speeren auf Abstand gehalten. Hatten auf Knien gekämpft, damit die Bogenschützen über ihre Köpfe hinweg freies Schussfeld hatten.

Arcumenna war außer sich vor Zorn über die Daimonen, die sie ihm geschickt hatten. Kleine, missgestaltete Männer mit langen Bärten. Er hatte Geschichten von Frauen gehört, deren Schönheit die Seele verbrannte, wenn ein Mann sie betrachtete. Das traf auf diese Daimonen hier wahrlich nicht zu. Eigentlich sollte er den Devanthar dankbar sein, dass er nur gegen diese niederen Kreaturen hatte kämpfen müssen. Diese Weiber, so hieß es, seien unüberwindlich, sie tauchten ihre verfluchten Schwerter sogar in das Blut der Unsterblichen. Doch statt sich zu freuen, war er verärgert.

»Horatius, du hältst die Stellung, falls sie zurückkehren.«

Der einäugige Hauptmann nickte ergeben.

»Sieh zu, dass die Männer ein wenig ausruhen. Morgen werden wir dieses verfluchte Pack weiter zurücktreiben, bis wir die letzten von ihnen schließlich im Hafen ersäufen.«

Der grimmige Krieger lächelte breit. »So wird es sein, Herr.«

Zufrieden las Arcumenna die Zuversicht in den Gesichtern der Männer, die seine Worte gehört hatten. Sie würden es weitererzählen, würden den Willen der Überlebenden stählen und ihren Hoffnungen neue Nahrung geben. Die Daimonen waren zu besiegen!

»Herr, auch Ihr solltet ein wenig schlafen«, raunte ihm Horatius zu. »Ihr seid unsere schärfste Waffe. Schont Euch!«

Der Hauptmann hatte recht. Er musste mit seinen Kräften haushalten. Arcumenna wandte sich an die Überlebenden. Seine Stimme zitterte vor Erschöpfung, als er sprach: »Ich werde Pläne schmieden für den Untergang dieser kurzbeinigen Brut. Und ich werde dafür sorgen, dass euch Wasser gebracht wird und Brot.«

Die Männer nickten dankbar. Die meisten von ihnen hatten seit Stunden nichts mehr getrunken, und hier, in den Tunneln dicht unter der Stadt, war es heiß wie in einem Backofen. Immer noch brannte die Stadt, und der Fels, auf dem sie stand, hatte die Hitze der Feuersbrünste in sich aufgenommen.

Arcumenna sah ein letztes Mal in Richtung Horatius und bahnte sich dann einen Weg durch die Krieger. Kaum, dass der Tunnel eine Kehre machte, lehnte er sich erschöpft an eine Wand. Seine Beine würden ihm bald den Dienst verweigern. Seine Knie waren trotz der Beinschienen aufgescheuert, und die Kniegelenke schmerzten, als hätten ihm die Daimonen Nägel hineingeschlagen. Er hatte seit zwei Tagen und anderthalb Nächten nicht mehr geschlafen. Sein Alter machte ihm zu schaffen. Auf den Feldzügen seiner Jugend hatte er solche Entbehrungen einfach weggesteckt.

Der Fels war unangenehm warm unter seinen Handflächen. Der Feldherr richtete sich auf. Ihm war wohl bewusst, dass der Sieg noch in weiter Ferne war. Alles, was sie sich erkämpft hatten, war eine Atempause. Er ignorierte die Schwäche und ging mit weit ausgreifenden Schritten bis zu der Stelle, an der sich der Tunnel in drei Gänge aufteilte. Er nahm den linken, stieg über einen toten Krieger hinweg und erreichte nach zwanzig Schritt eine Lagerhöhle, in der sich Hunderte von Amphoren mit erlesenen Weinen stapelten. Flüchtig dachte er daran, was die Hitze den edlen Tropfen wohl angetan haben mochte.

»Feldherr!« Ein junger Hauptmann mit dürren Beinchen und schmalem Gesicht eilte ihm entgegen. Trotz seiner Jugend begann sein schwarzes Haar bereits aus der Stirn zu weichen.

»Gaius?«

Der Hauptmann verneigte sich. »Herr, die Drachen sind nicht wiedergekehrt.«

Arcumenna war nicht gewillt, das als eine gute Nachricht aufzufassen. Er verstand nicht, warum die Bestien sich zurückgezogen hatten – und allem, was er nicht begreifen konnte, misstraute er. »Irgendeine Ahnung, warum?«

»Unsere Späher berichten von drei toten Drachen, die nahe der Hafeneinfahrt im Meer treiben.«

»Drei sind tot?« Das war zu schön, um wahr zu sein! »Und haben sich die Drachentöter gemeldet?«

Gaius schüttelte den Kopf. »Vielleicht sind sie bei ihrer Heldentat umgekommen.«

Arcumenna schnaubte gereizt. Tote Helden hatten sie schon genug. Sie brauchten lebende Heroen, die den erschöpften Männern als leuchtendes Beispiel dienten. Sein Blick wanderte zu einem niedrigen Amphorenstapel, über den mehrere Decken ausgebreitet waren. Er nahm darauf Platz. Es tat gut, nicht mehr auf den Beinen zu stehen. Einen Herzschlag lang rang er mit der Versuchung, sich lang hinzustrecken. Er wusste, er würde augenblicklich einschlafen.

»… ist es mir gelungen, die Überlebenden zu organisieren.«

Arcumenna stutzte. War er im Sitzen kurz eingenickt? Er hatte nicht mitbekommen, was Gaius zuvor gesagt hatte. »Wie, zu organisieren?« Er klang genauso müde, wie er sich fühlte.

»In Männer, die kämpfen können, und Männer, die andere Aufgaben wahrnehmen sollten. Lastenträger, Späher …«

»Wie steht es um unsere Vorräte?«, unterbrach Arcumenna ihn und blickte wieder auf das verlockende Deckenlager.

»Nicht so gut«, gestand der Hauptmann. »In diesem Teil der Tunnel und Höhlen gibt es zwar ausreichend Zisternen und auch jede Menge Olivenöl und Wein …«, er machte eine resignierende Geste in Richtung der Amphorenstapel, »aber kaum Mehl, Hirse, Oliven, Trockenfleisch … Wir werden gewiss nicht verdursten, aber wir werden das Essen rationieren müssen. Wie sich herausstellte …« Er hüstelte verlegen und fuhr dann fort: »… gibt es auch ein erstaunlich großes Lager an Schlafmohn. Wir haben es vor zwei Stunden entdeckt. Auf den Tontafeln des Lagermeisters waren lediglich Heilkräuter verzeichnet. Ich glaube, wir haben einen Schmuggel von erstaunlichem Ausmaß aufgedeckt.«

Arcumenna kämpfte gegen ein Gähnen an. Schmuggelware war das Letzte, was ihn jetzt interessierte. Hatten sich die verfluchten Daimonen vielleicht zurückgezogen, weil sie wussten, dass es in diesem Teil der Höhlen keine Lebensmittel gab? Hatte ihre verfluchte Magie ihnen das verraten? Oder das Warenverzeichnis unten in den Hallen des Hafenmeisters? Wusste diese verfluchte Brut, dass sie ihren Widerstand nicht mehr lange zu fürchten hatten?

»Die Heilerin Shaya hat anfragen lassen, ob Ihr ihr Zugriff auf den Mohn gewährt. Sie benötigt ihn für die Verletzten.«

»Shaya?« Er traute seinen Ohren nicht. Er hatte sie gesehen. Sie lag schwer verletzt in den Kavernen, tief im Fels. War es gestern gewesen, dass er an ihrem Lager gekniet hatte? Oder war es länger her? Er hatte in der Dunkelheit der Tunnel und im Lauf der verzweifelten Abwehrschlachten jegliches Zeitgefühl verloren. »Sie ist wieder auf den Beinen?«

Gaius lächelte gequält. »Nicht nur das. Sie hat mehr Arme als ein Oktopus. In den unteren Ebenen geschieht nichts ohne ihren Willen. Sie hat den Befehl über alles und jeden übernommen. Krieger wie Lastenträger. Alle gehorchen ihr. Ja, sie vergöttern sie. Mir ist absolut unbegreiflich, wie sie das in so kurzer Zeit geschafft hat. Einen beträchtlichen Teil der Ordnung hier unter unserer zerschlagenen kleinen Schar hat sie wiederhergestellt«, gestand der Hauptmann.

Arcumenna musste lächeln. Er dachte an seine erste Begegnung mit der Heilerin. An ihren Mut und ihre Dickköpfigkeit. Es war ein Wunder, dass sie wieder auf den Beinen war. Aber Wunder geschahen dieser Tage. Schließlich hatte irgendjemand drei Drachen getötet und damit die restliche Brut vertrieben. Jetzt blieb nur noch, diese kurzbeinige Daimonenbrut zu vertreiben. Das würde sein Wunder werden.

Er streckte sich lang auf den Amphoren aus. Er wusste, wie sie dieses Wunder wirken konnten. Die Pedanterie dieses Hauptmanns hatte ihn darauf gebracht. Sie hatten nichts zu beißen, aber alles, was sie für ein drittes Wunder brauchten.

»Richte Shaya aus, ich tausche den Schlafmohn gegen all ihre Lastenträger. Sie sollen sich in einer Stunde hier einfinden.« Er gähnte. »In einer Stunde weckst du mich, Gaius. Ich brauche ein wenig Schlaf, und dann werden wir der Daimonenbrut heimzahlen, was sie uns angetan haben. Sorge dafür, dass Shaya das Verwundetenlager räumt. Wir brauchen diese Höhle. Und stelle fest, wo die nächste Zisterne zu dieser Höhle liegt. Besorg mir ein paar Steinmetze. Steinmetze sind besonders wichtig …« Er streckte die Glieder. Es tat so gut zu liegen!

»Steinmetze und Lastenträger. Sie werden die Daimonen besiegen.«

Fleischfresser

Bidayn duckte sich im Sattel, obwohl der Torbogen zum vorderen Hof des Kaufmannshauses so hoch war, dass es nicht notwendig gewesen wäre. Ein dienstbeflissener Silen kam von den Stallungen auf sie zugelaufen. »Es ist schön, dass Ihr wieder hier seid, Herrin!«

Sie ignorierte ihn. Müde schwang sie sich aus dem Sattel und überließ dem bockbeinigen Diener die Zügel. Schön, hier zu sein … Ganz und gar nicht! Es war der letzte Ort in Albenmark, an dem sie sein wollte.

Der Stadtpalast des Kaufherrn Shanadeen, ihres Ehemanns! Hier zu sein bedeutete, gescheitert zu sein. Sie konnte nicht verstehen, warum der Goldene sie zurückgeschickt hatte. Warum hatte er keine neuen Aufgaben für sie? Hatte sie sich denn nicht bewährt? Hatte sie das verschollene Traumeis nicht aufgespürt? Wen würde er schicken, um es zu holen?

Sie ballte wütend die Fäuste. Sie hatte da einen Verdacht. Es gab eine Elfe, deren Klinge jede Kreatur zu töten vermochte. Eine Elfe, die keine Angst kannte und so verrückt war, sich selbst gegen die Himmelsschlangen zu stellen, statt ihnen eine treue Dienerin zu sein, was die erste Pflicht eines jeden Drachenelfen war.

Ja, ganz gewiss würden sie Nandalee schicken! Aber vielleicht war ihre frühere Freundin ja dumm genug, diese Ehre zurückzuweisen. Bidayn lächelte. Es war das erste Mal, seit der Goldene sie fortgeschickt hatte. Nandalees Dummheit, das war der letzte Trumpf, auf den sie setzen konnte. Wenn Nandalee den Befehl, nach Nangog zu gehen, ablehnte, dann würde der Goldene nach ihr schicken, um das Ärgernis Nandalee aus der Welt zu schaffen. Für immer! Vielleicht war das ja der geheime Plan des Goldenen?

Nur war Nandalee leider sprunghaft und vermutlich sogar inzwischen verrückt, bei allem, was Bidayn über sie gehört hatte. Vielleicht nahm sie an?

Die große doppelflügelige Tür des Kaufmannspalastes öffnete sich, noch bevor sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. Kaum, dass sie über die Schwelle trat, verbeugte sich eine Schar devoter Kobolddiener vor ihr. Nur die kleine, rundliche Kruppa, die unumschränkte Herrscherin über Shanadeens Küche, buckelte nicht vor ihr. Sie versuchte nicht einmal, ihr Missfallen aus ihren Zügen zu bannen. Die Köchin mochte sie nicht, und Bidayn wäre jede Wette eingegangen, dass Kruppa ihr ins Essen spuckte, wenn sie Gelegenheit dazu hatte.

Farella und Lydaine, Shanadeens Töchter, führten hingegen einen Freudentanz auf. Sie jubelten, fassten sich bei den Händen und tanzten im Kreise. Bidayn sah ihnen einen Augenblick lang verblüfft zu. Die beiden hatten sie bespitzelt, und sie waren alles andere als Freunde. »Es geht hier nicht um mich, richtig?«

Die beiden Mädchen hielten inne, taten so, als hätten sie sie eben erst bemerkt. »Oh, Mutter, du bist wieder da?«

Sie nannten sie sonst nie Mutter. Die beiden mochten aussehen wie Kinder, aber in Wahrheit waren sie vielleicht sogar älter, als Bidayn es war. Ihre Mutter hatte sie verflucht, bevor sie gestorben war. Sie wuchsen nicht mehr, waren auf ewig in ihrer Kindheit gefangen. Und alle im Haus behandelten sie auch wie Kinder.

Farella und Lydaine waren verrückt. Und gehässig, und Bidayn war nicht in der Stimmung, sich von diesen beiden kleinen Kröten auf der Nase herumtanzen zu lassen.

»Und, was macht euch zwei Hübschen so glücklich?«

Die zwei sahen sie mit festem Blick an. Farella mit ihrem langen schwarzen Haar und Augen wie dunklen Abgründen. Sie trug stets Weiß, was ihre Blässe unterstrich. Sie war die Unheimlichere der zwei und die Stillere. Lydaine hingegen war strohblond. Sie trug ein buntes Kleid, auf das allerlei Blumen gestickt waren, und hatte sich ihr Haar mit mohnroten Bändern zu zwei Zöpfen geflochten.

Farella blickte zu ihr auf. »Kruppa wird heute ihr Kaninchenragout für uns kochen. Das ist ein Festtag!«

»Wirklich, ein Festtag«, entgegnete Bidayn eisig. Sie sah zu der korpulenten Köchin. »Leben die Kaninchen noch?«

»Natürlich!« Die Koboldin war sichtlich auf der Hut. »Ich koche nur frisches Fleisch. Was Totes kommt mir nicht in meine Küche.«

»Dann sollten wir uns die niedlichen, kleinen Kaninchen mal ansehen.«

»Ja, sehen wir sie uns an!«, jubelte Lydaine.

»Das muss doch nicht sein …« Kruppa hob abwehrend die Hände. Ganz offensichtlich hatte sie verstanden, worauf das hier hinauslief.

»Ich bestehe darauf.« Bidayn legte die Arme um die Schultern der Mädchen und schob sie Richtung Küche. Das Koboldgesinde folgte ihnen mit respektvollem Abstand.

Nur Kruppa lief schwer atmend an ihnen vorbei. »Meine Küche ist nicht aufgeräumt, Herrin. Bitte gebt mir ein wenig Zeit …«

»Ein wenig Unordnung macht mir nichts.« Schon hatten sie die Küchentür erreicht. Bidayn schob die Mädchen hinein.

Wie immer war in Kruppas Küche alles in bester Ordnung. Die kupfernen Töpfe und Pfannen glänzten frisch poliert, der Arbeitstisch war blitzsauber und die Asche im großen Kamin zu einem ordentlichen Häufchen zusammengekehrt.

Neben dem Hackblock standen zwei kleine Käfige aus Weidengeflecht. Zwei junge Kaninchen kauerten darin. Sie knabberten an gezackten Löwenzahnblättern und sahen mit großen schwarzen Augen zu ihnen auf.

»Sind die niedlich!«, rief Lydaine entzückt.

»Und doch willst du sie heute Abend essen.«

Das Mädchen runzelte die Stirn.

»Ja, Lydaine, dort in dem Käfig kauert dein köstliches Kaninchenragout. Und nun sei so freundlich und hilf Kruppa ein wenig.« Bidayn zog ihr Messer aus dem Gürtel und drückte es dem Mädchen in die Hand.

»Das ist keine Aufgabe für die jungen Herrschaften!«, mischte sich Kruppa ein. »Sie werden sich noch ihre schönen Kleider besudeln.«

»Dann sei es so.«

Lydaine schüttelte den Kopf und versuchte, das Messer fallen zu lassen, doch noch bevor ihr das gelang, umschloss Bidayn mit ihrer Hand die zarten Finger. »Ich werde dir helfen. Du musst dem Kaninchen die Kehle durchschneiden und es ausbluten lassen. Maya?« Sie sah sich nach der einbeinigen Tochter der Köchin um. »Bring eine Schale, in der ihr das Blut auffangt. Ich weiß, dass ihr aus Blut und Speck gerne Wurst macht.«

Bidayn hörte das Klacken des Holzbeins hinter sich. Maya gab sich demütig, aber Bidayn sah ihr an, dass sie nicht schlecht fand, was gerade geschah. Die meisten Kobolde standen mit verschränkten Armen in der Küche und beobachteten das Geschehen stumm. Einzig Kruppa protestierte, als Bidayn den ersten Käfig öffnete, das Kaninchen bei seinem Nackenfell packte und hochhob.

Lydaine kämpfte noch immer gegen das Messer in ihrer Hand an, das sich erbarmungslos der Kehle des Kaninchens näherte, während Farella wie versteinert zusah.

Der scharfe Stahl fuhr durch Fell und Fleisch. Hellrotes Blut spritzte über die Klinge. Lydaine schrie auf. Das Kaninchen schlug trommelnd mit den Läufen gegen die Tischkante. Ein paar Herzschläge nur, dann erschlaffte es, und das Blut troff von seinem Fell herab in die Schale, die Maya hingestellt hatte.

Bidayn ließ Lydaine los. Das Mädchen krümmte sich, stieß stoßweise Schluchzer aus. Erbarmungslos griff sich die Drachenelfe Farella. Das dunkelhaarige Mädchen leistete keinen Widerstand. Wie eine Marionette ließ sie sich willenlos führen. Blut sprühte ihr ins Antlitz und über ihr blütenweißes Kleid.

Als das zweite Kaninchen ausgeblutet war, legte Bidayn es auf den Hackklotz. Sie sah sich nach Kruppas Tochter um. »Maya, weißt du, wie man ein Fell abzieht und die Gedärme ausnimmt?«

Die kleine Koboldin nickte eifrig.

»Dann zeige es doch bitte meinen beiden entzückenden Töchtern, damit sie wissen, was sie als Nächstes lernen werden.«

Maya erwies sich als überaus geschickt. Ein Schnitt genügte ihr, und sie begann, mit kräftigen Bewegungen das Fell zu lösen und dem Kaninchen über die Ohren zu ziehen. Als sie dann die Eingeweide aus der Bauchhöhle holte, begann Lydaine zu würgen.

Bidayn hielt die beiden Mädchen bei den Haaren gepackt, sodass sie den Blick nicht abwenden konnten. Als Maya mit beiden Kaninchen fertig war, führte die Elfe ihre Töchter hinaus.

»Wer Kaninchenragout liebt, sollte wissen, wo es herkommt«, sagte sie scharf. »Ihr beide seid zu verwöhnt. Von heute an weht hier ein anderer Wind. Ich erwarte euch zum Abendessen. Solltet ihr euch einfallen lassen, nicht zu erscheinen, war das hier ein Klacks im Vergleich zu dem, was euch erwartet.«

Fast eine Familie

Farella und Lydaine stocherten in ihrem Essen herum. Beide hatten noch keinen Bissen zu sich genommen. Sollten sie sich nur zieren, dachte Bidayn amüsiert. Sie hatte dafür gesorgt, dass ihnen kein Kobold etwas anderes zu essen bringen würde. Nicht einmal Kruppa. Wenn sie ihr Kaninchen verschmähten, bekamen sie nichts bis zum nächsten Abendessen.

»Köstlich, Kruppa!« Bidayn nickte der Köchin, die ein Stück von der Festtafel entfernt stand, anerkennend zu.

»Ein wirklich gelungenes Mahl«, bestätigte auch Shanadeen. Sein schmales Gesicht zeigte keinerlei Emotion. Wieder einmal wirkte er, als wäre er in Gedanken gar nicht hier. Plante er seine nächste Reise? Er war oft für viele Wochen unterwegs und überließ seine beiden Töchter dem Gesinde.

Elfenmädchen sollten nicht von Kobolden erzogen werden, dachte Bidayn verärgert. Ihr war unbegreiflich, warum er die beiden so vernachlässigte. Lag es an dem Fluch, der auf den Mädchen lastete? Hatte er etwa selbst etwas damit zu tun? Lief er deshalb vor ihnen davon? Auf seinen Handelsreisen betrat ihr Ehemann nie die Albenpfade, er war auf dem Meer zu Hause. Ihm gehörten mehrere Schiffe, und er kannte die entferntesten Karawanenrouten. Eigentlich müsste er ein interessanter, redseliger Mann sein, so weit gereist wie er war. Aber er behielt alles für sich, strahlte eine kühle Strenge aus, und selbst wenn er sich mit anderen in einem Raum befand, war er irgendwie nicht anwesend.

Die beiden Mädchen warfen ihm hilfesuchende Blicke zu, doch er bemerkte es nicht, sah nicht, dass sie ihr Lieblingsgericht, Kaninchenragout an schneeweißem Reis, heute kaum anrührten.

Shanadeen erhob sich, kaum dass er sein Mahl beendet hatte. »Ich wünsche euch eine gute Nacht.« Er hauchte seinen beiden Töchtern einen Kuss auf das Haar und übersah auch jetzt die Verzweiflung in ihren Blicken. »Ich werde mich noch einige Stunden ins Kontor zurückziehen und wünsche nicht gestört zu werden.« Er sah zu Bidayn. »Auf ein Wort, meine Gemahlin.« Er deutete mit flüchtiger Geste zur Tür.

War ihm doch etwas aufgefallen? Die Drachenelfe erhob sich. Sie dachte daran, wie sie in ihrer Hochzeitsnacht Asfahal in ihr Ehebett geholt hatte, während Shanadeen betäubt in tiefem Schlummer neben ihnen gelegen hatte. Er mochte ein guter Händler sein, aber er hatte nichts an sich, was ihren Respekt verdient hätte.

»Ich wünsche nicht, dass Ihr in dieser Nacht in unserem Schlafgemach erscheint«, erklärte er, kaum dass sich die Tür zum Speisesaal hinter ihnen geschlossen hatte.

Bidayn hob überrascht die Brauen. »Gefalle ich dir nicht mehr? Oder möchtest du die Nacht ungestört mit einer Geliebten verbringen?«

Er verzog angewidert das Gesicht. »Eine Geliebte? Wie könnt Ihr nur so von mir denken?«

»Ihr verstoßt mich, nachdem ich lange fort war, aus unserem Schlafgemach, mein Gemahl. Was soll ich da anderes denken?«

Shanadeen hob abwehrend die Hände. »Nicht! Kommt mir nicht nahe! Es ist das Gegenteil von dem, was Ihr denkt. Ihr seid eine schöne Frau, Bidayn, und Ihr wisst das. Und Ihr seid eine gefährliche Frau. Ich bin nicht blind, und ich werde keine Fragen stellen. Ich weiß, der Goldene steht hinter Euch. Und ich habe gesehen, Ihr tragt eine Tätowierung auf dem Rücken …«

Sie setzte an, etwas zu sagen, doch er fuhr ihr über den Mund.

»Keine Lügen! Ich frage nicht, was Ihr seid, und Ihr müsst keine Geschichten für mich erfinden. Ich möchte Euch nicht in meinem Bett. Wir sind zwar verheiratet, aber Ihr wart nie die meine und Ihr werdet es auch nie sein. Eine schöne Frau neben mir liegen zu haben, die aber nicht von mir berührt werden will, zerrüttet meinen Seelenfrieden. Ihr müsst Euch also keine Mühe geben. Verbringen wir künftig die Nächte in getrennten Schlafgemächern. Nur eine Bitte habe ich an Euch. Erfüllt sie, und ich werde ohne zu murren die Rolle spielen, die mir in dieser Farce einer Ehe zugedacht wurde.«

Bidayn sah ihn herausfordernd an. Nicht mehr in ein Bett mit diesem langweiligen Spießer steigen zu müssen passte ihr bestens.

»Bitte seid großherzig zu meinen Mädchen. Sie haben Euch nichts getan. Es bricht mir das Herz, sie so zu sehen wie heute Abend.«

Bidayn lächelte. »Habt keine Sorge, mein Gemahl. Wir werden eine Familie sein. Und ich werde mich fast wie eine Mutter um Farella und Lydaine kümmern. Ihr wisst gut, wie sehr Ihr bei der Erziehung der beiden versagt habt. Ich werde ihnen helfen, auf eigenen Beinen zu stehen. Zu akzeptieren, was ihnen widerfahren ist, und daraus endlich das Beste für ihr Leben zu machen.«

Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, vermochte Shanadeen seine Gefühle nicht zu beherrschen. »Das werdet Ihr tun?«, fragte er aufgewühlt. »Was habt Ihr vor?«

»Die beiden sind erwachsene Frauen in den Körpern von Kindern. Ich werde sie fortan wie Erwachsene behandeln. Nur dann können sie zumindest innerlich wachsen. Habt Ihr daran nie gedacht?«

Shanadeen öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor. Bidayn konnte an seinem Antlitz nicht ablesen, ob er entrüstet oder einer Meinung mit ihr war und ihm einfach die Worte fehlten.

»Ihr seid meine Familie!«, sagte sie entschieden. »Und genauso werde ich mich verhalten. Es wäre schön, wenn Ihr, mein Gemahl, zumindest nach außen hin auch diese Fassade erhalten könntet. Ich habe das Gefühl, dass unser Fürst Sekander mir nicht wohlgesinnt ist. Ich werde Eure Unterstützung brauchen. Darf ich darauf vertrauen, dass Ihr immer hinter mir stehen werdet?«

Shanadeen zögerte einige Zeit, doch schließlich nickte er. Es war ein kurzes, abgehacktes Nicken. Unübersehbar widerwillig. Sofort danach ging er, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren. Bidayn war sich sicher, dass er im Kontor nicht über Warenlisten brütete, sondern darüber, wo er Hilfe für seine Töchter finden konnte. Was zu tun war, um den Fluch ihrer Mutter endlich zu brechen.

Sie hatte sich geirrt, seine Kinder waren ihm nicht egal. Im Gegenteil: So viele Jahre hatte er das schon getan. Ohne den geringsten Erfolg. Daran würde sich sicherlich auch in nächster Zeit nichts ändern. Und das war ihr nur recht, denn sie hatte Pläne mit Farella und Lydaine. Und die würden nur aufgehen, wenn sie weiterhin aussahen wie Kinder, aber endlich die Fähigkeiten und das Selbstvertrauen von Erwachsenen erlangten.

Ein neues Kommando

Die purpurnen Segel erschlafften, kaum dass sie den Eingang zur Hafenhöhle passiert hatten. Solaiyn zupfte ein parfümiertes Tuch hinter seinem Gürtel hervor, das er wohlweislich vorbereitet hatte. Ein übler Gestank herrschte in der riesigen Höhle. Eine Mischung aus Teer, verfaultem Fisch, Brackwasser, kaltem Rauch und anderen, subtileren Dingen, die er nicht zuordnen konnte und wollte.

Nodon rief einen Befehl, und das mit einer goldenen Sonne bestickte Segel wurde eingeholt. Die Sommerlicht war ein überaus schönes Schiff. Sie machte ihn fast so stolz wie seine Statuen. Er selbst hatte das Holz für ihren Rumpf ausgewählt und in den Küstenwäldern Arkadiens nach den Zedern gesucht, aus denen die Masten gefertigt worden waren. Die Sommerlicht vereinte auf das Vollkommenste Schönheit und Zweckmäßigkeit. Der Katamaran mit den zwei Masten erreichte eine erstaunliche Geschwindigkeit, wenn er vor dem Wind lief, und hatte für ein Schiff, das nur so über die Wogen dahinflog, eine erstaunlich große Ladekapazität. Und die war auch notwendig! Dieses Mal wollte er nicht auf den Luxus verzichten, mit dem er sich üblicherweise umgab. Er würde ihm helfen, schneller wieder zu sich zu finden, wenn die Schlangenfrau Aloki ihn mit ihren langen Nadeln behandelte. Auch sie gehörte zur Fracht. Gut verborgen lag sie eingerollt in einer der Kisten unter Deck. Ihr Anblick hätte zu viele Albenkinder beunruhigt.

Solaiyn verstand diese Vorbehalte nicht. In seinen Augen war auch sie ein Geschöpf voller Anmut. Ganz im Gegensatz zu Kobolden oder Trollen. Oder gar Zwergen. Er schnitt eine Grimasse. Natürlich war es nicht gut gegangen, einem Zwerg ein eigenes Kommando anzuvertrauen. Sie waren ohne Zweifel zähe Kämpfer und talentierte Tunnelbauer, aber das Zeug zu Heerführern hatten sie nicht. Schon gar nicht dieser Ränkeschmied Hornbori.

Ruder wurden aus den Flanken der Doppelrümpfe der Sommerlicht ausgefahren. Sie glitt durch das dunkle Wasser des stinkenden Hafens der Mole entgegen, auf dem sich ein Trupp Zwerge versammelt hatte.

Solaiyn hatte sein Kommen ankündigen lassen, damit Hornbori Gelegenheit hatte, sich damit anzufreunden, dass sein Oberbefehl zurückgenommen war. Sicherlich hatte er sich bereits allerlei Ausflüchte für sein Versagen zurechtgelegt.

Langsam näherte sich der stolze Segler dem steinernen Landungssteg. Solaiyn war überrascht, wie viele Kampfschiffe der Menschenkinder hier versammelt waren. Primitive Galeeren mit Rammspornen ohne jede Eleganz, aber immerhin, sie waren zahlreich. Vielleicht ließen sich die Schiffe ja mit Kobolden oder Trollen bemannen.

Die Ruder der Sommerlicht wurden eingezogen. Ein besonders unförmiger Zwerg, der nur eine Hose trug, um seinen abscheulich tätowierten Leib zur Schau zu stellen, warf ihnen ein Seil zu. Der Katamaran wurde vertäut, eine Laufplanke angelegt.

Solaiyn verließ als Erster das Schiff. Der wie stets ganz in Rot gewandete Nodon folgte ihm auf dem Fuß. Sein Leibwächter maß die Zwergenschar mit unverhohlen misstrauischen Blicken.

»Es ist eine Freude, wenngleich auch eine Überraschung, Euch hier zu sehen, Feldherr!«, begrüßte ihn Hornbori mit sehr überzeugender Freundlichkeit. Ahnte der Zwerg etwa nicht, warum die Himmelsschlangen ihn geschickt hatten?

»Auch ich freue mich, dich wiederzusehen, Heermeister«, entgegnete er ein wenig distanziert, aber noch nicht unhöflich, auch wenn er mit Bedacht darauf verzichtete, den Zwerg formal anzusprechen. »Die Himmelsschlangen haben mich geschickt, weil sie zu erfahren wünschen, warum es dir nicht möglich war, die Stadt Asugar einzunehmen.«

Der Heermeister hob abwehrend die Hände. »Da sind die unergründlichen Herrscher der Himmel falsch unterrichtet worden. Die Stadt Asugar wurde dem Erdboden gleichgemacht. Wir beherrschen ihre Ruinen und ihren Hafen. Es gibt nur ein paar Höhlen, in denen die Menschenkinder noch Widerstand leisten. Es ist eine Sache von höchstens zwei Tagen, sie auch dort zu besiegen.«

Solaiyn spürte einen stechenden Kopfschmerz. So kündete sich an, wenn der Goldene ihn nutzte, um durch seine Augen zu sehen und durch seine Ohren zu hören. Eine unangenehme Schwäche überkam ihn. Seine Beine zitterten leicht.

Der Elf klatschte in die Hände. »Bringt mir meinen Stuhl!« Dann wandte er sich wieder Hornbori zu. »Gibt es eine Karte von diesen Höhlen?«

Der Zwerg nickte beflissen. »Selbstverständlich, Feldherr. Natürlich konnten wir nur jene Tunnel und Höhlen verzeichnen, in denen wir bereits gekämpft haben …«

Ein prächtiger Lehnstuhl wurde vom Katamaran getragen. Erleichtert nahm Solaiyn darauf Platz. Er konnte die Abneigung der Zwerge fast spüren. Ein bartloser Kerl mit vernarbtem Kinn wagte es sogar auszuspucken. Verdammte, undisziplinierte Bande!

»Bringt den Plan!« Solaiyn fiel das Sprechen bereits schwerer. Der Goldene übernahm ihn immer mehr. Gleich wäre er nur noch Zuschauer bei dem, was geschah. Der Drache würde durch ihn zu den Zwergen sprechen. Und was er zu sagen hatte, würde ganz gewiss nicht dafür sorgen, dass die Zwerge ihn, ihren elfischen Feldherrn, ins Herz schlossen. Solaiyn lächelte zynisch. Auch wenn er in gewissem Sinne nur stummer Gast bei diesem Schauspiel war, blieb ihm wenigstens die Genugtuung, dass er im Gegensatz zu den Zwergen und allen anderen wusste, was geschah.

Hornbori wirkte einen Augenblick lang unschlüssig, fasste sich aber schnell wieder. Er flüsterte einem Krieger aus seinem Gefolge etwas zu, und der Mann entfernte sich, zeigte aber keinerlei Eile.

Solaiyn fühlte sich inzwischen so erschöpft, dass es ihn all seine Kraft kostete, aufrecht in dem Lehnstuhl sitzen zu bleiben. Eisiges Schweigen breitete sich zwischen ihm und der Zwergengesandtschaft aus. Nicht einmal Hornbori versuchte, etwas gegen die unterkühlte Atmosphäre zu unternehmen.

Solaiyn sah seinen Männern zu, wie sie Truhe um Truhe aus dem Katamaran trugen und ein Stück entfernt am Ende der Mole sein Zelt aufschlugen. Es war größer und schöner als jenes, das ihn auf seinem Feldzug in die Eiswüste begleitet hatte. Von tiefem Moosgrün und mit goldenen Stickereien. Eine Farbe, die er stundenlang betrachten konnte und die ihn an die Wälder Arkadiens erinnerte. Auch wurden mehrere kleine Bronzeskulpturen über den Landungssteg getragen. Keine wirklich erstklassigen Arbeiten, und nur eine, ein sehr dynamisch gestalteter Speerwerfer, war höher als einen Schritt. Sie mussten ihm ein ärmlicher Ersatz für die Flure voller Skulpturen in seinem Palast sein, in denen er so gerne lustwandelte.

Er richtete sich mühsam auf, als die Zwerge etwas herantrugen, das wie die Bretterwand eines Schuppens aussah. Deutlich spürte Solaiyn das Befremden des Goldenen, der durch seine Augen sah. Ja, eine leise, sengende Wut begann sich in seine Glieder zu ergießen. Ein Gefühl, als hätte er tief in seinem Innersten Feuer gefangen.

»Was soll das?«, herrschte er die Zwerge an, ohne dass es seine Worte gewesen wären.

Hornbori rollte eine Karte aus und befestigte sie mit zwei Dornen an der Schuppenwand. »Die Menschenkinder haben ein überraschend kluges Tunnelsystem ersonnen, das es schwierig macht, gänzlich in seinen Besitz zu kommen. Hier liegt der Hafen, in dem wir uns nun befinden.« Der Zwerg machte eine kreisende Bewegung um eine riesige Höhle am unteren Ende der Karte. »Verschiedene Treppen und in sanften Spiralen ansteigende Tunnel führen von hier nach oben. Quergänge verbinden diese Aufstiege mit Zisternen, Lagerräumen und ärmlichen Löchern, in denen die Menschenkinder wie Ratten hausen.«

Solaiyn spürte die Anspannung des Goldenen.

Hornbori fuhr mit weit ausgreifenden Gesten über das Labyrinth, das mit Holzkohle auf die Karte skizziert worden war. »Was wir hier sehen, ist jedoch nur eine Hälfte des Höhlensystems.« Er schlug mit der flachen Hand auf die linke Seite des Plans, die auffällig leer war. »Hier gibt es weitere Höhlen. Sie stehen jedoch nicht in Verbindung mit dem Hafen, der unter ihnen liegt. Keiner der Aufgänge, die wir erstürmt haben, führt uns dorthin. Diesen Teil des Labyrinths erreicht man durch Abstiege, die in der brennenden Stadt liegen, und durch einige wenige Quertunnel, die sich nicht tief unter der Oberfläche des Felsens befinden. Diese Quertunnel verteidigen die Menschen mit erstaunlicher Verbissenheit. Nur wenige entschlossene Männer können dort eine ganze Armee aufhalten.«

»Eine Armee von Zwergen«, bemerkte der Goldene bissig.

Ärgerliches Grummeln erhob sich in den Reihen der Krieger und Hauptleute.

»Jede Armee, verehrter Solaiyn«, erklärte Hornbori höflich, aber bestimmt. »Wir müssen uns dort Schritt um Schritt unseren Weg erkämpfen.«

»Und die Schisser von Drachen sind uns keine Hilfe dabei«, empörte sich ein Zwerg mit lichtem, strähnigem Bart. »Sie sind davongeflogen, als sie verstanden haben, dass Siege mit Blut erkauft werden. Die Drachen haben das Kämpfen uns überlassen!«

Solaiyn fragte sich, ob diesem Narr bewusst war, auf welch dünnem Eis er sich bewegte. Er erinnerte sich an den Krieger. Der Zwerg war auf dem Feldzug in der Eiswüste dabei gewesen. Ein Schmied, der in seinem Volk einen widerwilligen Respekt genoss.

»Was hat die Drachen getötet?«, sprach der Goldene über Solaiyns Lippen.

Hornbori machte eine vage Geste. »Das wissen wir nicht.«

»Dann bergt ihre Leichen! Bringt sie in den Hafen und lasst sie nicht im Meer, den Haien zum Fraß!«

»Was ist unsere vordringliche Aufgabe hier, Herr Elf?«, fragte der Zwerg mit dem rot vernarbten Kinn. »Sollen wir diesen Fels erobern oder tote Drachen bestatten?«

»Hüte deine Zunge, Ginnar aus Ishaven!«, empörte sich der Goldene.

»Wir werden die Verteidiger niederringen und dann die toten Drachen bergen«, mischte Hornbori sich ein. »Es wird nur ein paar Stunden dauern, bis wir …«

»Es ist nicht mehr an dir, diese Entscheidung zu treffen, Heermeister«, sagte der Goldene ruhig. Solaiyn ließ hilflos über sich ergehen, wie die Macht des Goldenen ihn zwang, die Hand zu heben und mit den Fingern zu schnippen. »Nodon, überreiche dem Heermeister das Schreiben der Himmelsschlangen.«

Der Schwertmeister überreichte dem Zwerg einen mit goldenem Wachs gesiegelten Brief. »Dort wirst du schriftliche Bestätigung finden, dass du deines Kommandos enthoben bist. Ich übernehme hier nun den Befehl, um euch zum Sieg zu führen. Dir, Hornbori, haben die Himmelsschlangen eine andere Aufgabe übertragen, über die ich nicht unterrichtet wurde. Alle Anweisungen findest du in dem Schreiben. Du darfst dich nun zurückziehen und dich auf deinen Aufbruch vorbereiten.«

Hornbori sah aus, als wäre in ihm etwas zerbrochen. Er straffte sich, nahm das versiegelte Schreiben entgegen und zog sich durch die Reihen seiner Hauptleute zurück. Solaiyn fand die Art, wie der Zwerg verabschiedet wurde, ungebührlich. Die Himmelsschlangen sollten ihre Diener besser behandeln. Er mochte Hornbori nicht sonderlich, und doch hatte er Mitleid mit ihm. Dann wurde Solaiyn bewusst, dass niemand diese Demütigung den Himmelsschlangen anlasten würde. Niemand – außer der Schlangenfrau Aloki – wusste, dass er nicht er selbst war. Nur die Marionette des Goldenen. Alle würden davon sprechen, wie kaltherzig ihr elfischer Heerführer war.

Was scherte ihn das Geschwätz von Zwergen, dachte er, und doch umfing ihn tiefe Melancholie. Er wollte nicht hier sein. Er war kein Heerführer!

Ihm war nur zu bewusst, dass er allein deshalb ausgewählt worden war, weil er es überlebte, wenn der Goldene Besitz von ihm ergriff. Weil die Wunden heilten, die der flammende Verstand des Goldenen tief verborgen in sein Innerstes brannte.

Er achtete nicht mehr auf die Worte, die über seine Lippen kamen. Es waren ja ohnehin nicht seine. Er träumte von seinen Skulpturengalerien. Von den unvergleichlichen Arbeiten, die der elfische Bildhauer Salhayn erschaffen hatte. Und er träumte von der langen Haarnadel Alokis, die ihm schon bald, wenn er sich in sein Zelt zurückzog, die Schwermut nehmen würde. Sie würde aus ihm abfließen, so wie der Eiter aus einem Furunkel abfloss, den man aufstach.

Feuer mit Feuer

»Wir haben einen Durchbruch zur nächstgelegenen Zisterne«, erklärte der graubärtige Steinmetz. »Barrieren aus Geröll und mit Sand gefüllten Säcken werden das Wasser hierherleiten, sobald wir den Pfropf aus Segeltuch und Teer aus dem Mauerwerk ziehen.«

»Gut!« Arcumenna gab dem Steinmetz einen Klaps auf den staubbedeckten Arm. »Sehr gute Arbeit. Bis der Tag zu Ende ist, werden durch dein Werk mehr Daimonen sterben als durch die Schwerter meiner besten Krieger. Dein Name wird auf immer mit der Geschichte von Asugar verbunden sein.«

Der Alte lächelte verlegen. »Ich hab nur ein Loch in eine Wand geschlagen …«

»Manchmal ist nicht mehr nötig, um zu siegen.«

»Herr!« Horatius trat an seine Seite. »Sie macht Ärger, Herr.«

Arcumenna klopfte dem Steinmetz noch ein weiteres Mal auf den Arm, dann folgte er dem Hauptmann die Treppen hinab. Sie gingen genau den Weg, den schon bald das Wasser nehmen würde. Er hatte mit Shayas Protest gerechnet. Aber der Weg zum Sieg führte durch die Halle der Kranken.

Noch bevor sie das Spital erreichten, rochen sie es. Es stank nach Schweiß, verbrannten Körpern und dem Eiter entzündeter Wunden. Der Weihrauch, der in Räucherschalen abgebrannt wurde, vermochte diese Ausdünstungen des Elends nicht zu überdecken.

Begleitet wurde dieser Odem des nahen Todes von einer Kakophonie aus Schreien, lautem Wehklagen, halb ersticktem Weinen, gezischten Flüchen und sinnlosem Gelalle. Arcumenna war es schleierhaft, wie Shaya es ertragen konnte, an solch einem Ort zu arbeiten.

Die Schrecken des Schlachtfeldes waren ihm nicht fremd. Er blieb stets inmitten seiner Männer, ganz gleich, wie dicht das Getümmel der Krieger war. Doch selten blieb man länger als einen Tag auf einem Schlachtfeld. Shaya hingegen hatte das Spital, das tägliche Elend, als ihre Heimat gewählt. Die Heilerin hatte ein hartes Gesicht, aber sie war durchaus nicht unansehnlich. Er verstand nicht, warum sie nicht den Weg beschritten hatte, den die Natur Frauen vorherbestimmte. Warum hatte sie keinen Mann? Keine Kinder? Und dann waren da die Narben an ihrem Körper. Spuren von Kämpfen. Und die Leichtigkeit, mit der sie sich durchsetzte und anderen ihren Willen aufzwang. Wenn all dies hier vorüber war, würde er sie zu einem fürstlichen Mahl einladen und ihren Geheimnissen nachspüren.

»So ernst ist es dir also«, empfing ihn Shaya inmitten des Spitals. Ein alter Mann in besudelter Tunika schüttete gerade einen Eimer Wasser über den blutverklebten Tisch, neben dem die Heilerin stand. »Hier sind Männer, die so schwer verletzt sind, dass sie es vielleicht nicht überleben werden, wenn man sie die Treppen hinaufträgt.«

»Das ist tragisch, doch ich nehme es in Kauf.«

»Würdest du so reden, wenn dein Sohn hier liegen würde?«

Arcumenna überging, dass sie die Etikette ignorierte. Nicht aber Horatius, der verärgert die Brauen zusammenzog. »Ich habe hier keinen Sohn. Was also zählt eine Antwort auf diese Frage? Wenn du wissen willst, ob es mir leichtfällt, das Leben der Männer zu gefährden, die mir treu gedient haben, so kann ich nur mit Nein antworten. Und genau deshalb habe ich keine andere Wahl. Unsere Verteidiger oben in den Tunneln werden den Angriffen nicht mehr lange standhalten. Uns geht das Essen aus. Die Daimonen werden uns besiegen. Entweder überrennen sie uns oder sie hungern uns aus. In spätestens drei Tagen sind wir alle ihrer Gnade ausgeliefert, wenn ich jetzt nicht handele. Ich sehe nur einen einzigen Weg, die drohende Niederlage abzuwenden. Und dazu brauche ich diese Höhle. Ich werde das Spital also räumen lassen.«

Sie stieß einen langen Seufzer aus. Dann ließ sie den Kopf sinken. »Wir brauchen Tragen. Und ich will verstehen, warum es diese Höhle sein muss. Was ist an ihr so besonders?«

Er nahm sie zur Seite und ging ein paar Schritte mit ihr, bis sie vor einem der vergitterten Schächte im Boden standen. »Dies hier führt bis zur Decke der großen Hafenhöhle hinab. Unsere Höhle hier ist mehr als hundert Schritt lang. Sie zieht sich quer über den mittleren Teil des Hafens. Deshalb ist es hier so feucht, und deshalb haben wir den Raum auch nie als Lager genutzt.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Wir werden kochendes Olivenöl durch die Schächte leiten und in Brand setzen.«

Er sah, wie sich ihre Augen weiteten. »Du …«

»Das ist erst der Anfang. Hast du jemals erlebt, wie jemand versucht hat, eine Pfanne mit brennendem Öl mit Wasser zu löschen? Wenn sich das Öl im Hafen ausgebreitet hat, werden wir Wasser durch die Schächte leiten. Die Daimonen sind mit Feuer über unsere Stadt gekommen. Wir werden ihnen Feuer mit Feuer vergelten. Nun sollen sie in Flammen sterben. Alle!«

Ein Zischen wie von Bratenfett

Hornbori stand auf der Leiter im Luk der Wilden Sau und blickte zu dem grünen Zelt auf der Hafenmole. Drei Stunden nur hatte es gedauert, alles zu verlieren. All seine Träume waren dahin. In Schande seines Kommandos enthoben! Und darüber hinaus verstand er seinen neuen Befehl nicht. Er sollte sich auf den Weg zu einer Inselgruppe knapp fünfzig Meilen entfernt machen und ein Meeresungeheuer erlegen. Dazu durfte er dreißig Aale aus der Flotte mitnehmen. Dreißig Aale! Was für eine Verschwendung. Mit den tückischen Pfeilen von Galar und Nyr würde ein einziger Aal ausreichen, um dieses Ungeheuer zur Strecke zu bringen! Aber sollte dieser arrogante Elf nur sehen, wie er ohne sie zurechtkam.

Hornbori hatte die besten Schiffe und Mannschaften ausgewählt. Vielleicht waren die halbe Zwergenstreitmacht und ein paar Drachenelfen ja genug, um sich durch die Linien der Verteidiger zu schlagen. Er hätte es auch geschafft!

Wütend schlug er mit der Faust auf den Fassungsring des Luks. Ein oder zwei Tage noch, dann wäre dieser verfluchte Fels sein gewesen! Die Menschenkinder hätten nicht mehr lange durchgehalten. Das spürte er. Er hatte hier die Drecksarbeit gemacht, und dieser verfluchte Elf Solaiyn würde den Ruhm ernten. Das war die Dankbarkeit der Drachen. Er wusste genau, warum ihm das hier geschah. Weil zwei der Sonnendrachen umgekommen waren. »Soll mir nur recht sein«, murmelte er. Sie hatten es sich verdient, und er würde auch in Zukunft dabei helfen, Drachen zu meucheln. Ohne diese Brut war Albenmark besser dran.

»Worauf warten wir?«, drang Ulurs Stimme von unten herauf.

Ja, worauf? Auf ein Wunder? Wieder sah Hornbori zu dem grünen Zelt, das wie eine riesige Laterne leuchtete. Er sah die Schatten der Elfen im Inneren. Würde Solaiyn herauskommen? Würde er ihn doch noch auffordern, gemeinsam die Menschenkinder niederzumachen? Natürlich nicht! Es wäre ein Wunder, wenn sich der Elfenfürst gegen die Befehle der Himmelsschlangen stellte. Aber Solaiyn war verrückt. Vielleicht …

»Wir verpassen die Ebbe«, drängte Ulur.

Überall rechts und links entlang der Mole hatten die ausgesuchten Aale bereits abgelegt. Wie ein Schwarm riesiger, kupferner Fische strebten sie dem Ausgang des Höhlenhafens entgegen. Dem beklemmend weiten Himmel dieser Welt. Fort aus dem Schutz, den ihnen die weite Höhle geboten hatte.

Etwas troff vor ihm auf den Rumpf des Aals und zischte wie Fett in einer Bratenpfanne.

Hornbori kniff die Augen zusammen, um im Halbdunkel zu erkennen, was es war. Es roch nach heißem Öl. Verwundert sah er zur Höhlendecke hinauf. Kochte dort oben jemand?

Jetzt zischte das Wasser links neben der Wilden Sau. Der Zwerg sah sich erstaunt um. Überall im Hafenbecken stiegen kleine Schwaden von Wasserdampf auf. Plötzlich schrie jemand wie am Spieß. Es waren die gellenden, sich überschlagenden Schreie eines Mannes in Todesqualen.

Verfluchte Trollkacke! Das war heißes Öl, das da in trüben, rauchumflorten Säulen von der Höhlendecke troff.

Wieder perlte Blasen schlagendes Öl über den Rumpf des Aals.

»Alles an die Kurbelwelle. Tauchen, wir müssen tauchen! Sofort!«, schrie Hornbori mit schriller Stimme, als er begriff, was geschehen würde. Hastig ließ er sich halb die Leiter hinabrutschen und griff nach dem Rad an der Unterseite des Luks.

»Tauchen!«, fuhr er Ulur an. »Bei den Alben. Schnell, oder wir alle sind tot!« Der Aal glitt ein Stück ins Hafenbecken hinaus, als Hornbori im letzten Augenblick, bevor er das Luk schloss, sah, wie sich das trübe Öl in Flammensäulen verwandelte.

Feuer und Wasser

Nodon musste sich beherrschen, um nicht nach seinem Schwertgriff zu tasten. Diese Truhe, vor der Solaiyn niedergekniet war. Ein leichter Geruch nach Nelkenöl ging von ihr aus. Doch da war noch was. Er war sich sicher, dass das Öl nur dazu diente, etwas anderes zu überlagern. Dieser kaum wahrnehmbare zweite Duft erinnerte Nodon an den Geruch der großen Drachen. Es war …

Das Schloss der mit schweren Eisenbändern beschlagenen Truhe sprang auf. Der Deckel hob sich, ohne dass Solaiyn ihn berührt hätte. Der Fürst wäre wahrscheinlich nicht einmal in der Lage gewesen, den schweren Truhendeckel zu öffnen.

Eine kahlköpfige Elfe erhob sich aus dem unkomfortablen Versteck. Nein, keine Elfe! Auch wenn ihr Unterleib noch in der Truhe verborgen war, war sie unverwechselbar: Aloki, die Schlangenfrau. Sie hatte, ganz abgesehen von ihrer unheimlichen Erscheinung, etwas an sich, das Nodon erschauern ließ. Da war etwas, an das er sich erinnern sollte und das sich ihm doch versagte.

»Du siehst nicht sehr erfreut aus, mir wieder zu begegnen, Schwertmeister.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, hinter dem nadelspitze Schlangenzähne aufblitzten.

Aloki erhob sich zu ihrer vollen Größe. Sie überragte Nodon um mehr als zwei Köpfe. Von der Hüfte abwärts besaß sie den Leib einer Schlange. Sie war nackt, abgesehen von zwei schweren, goldenen Armreifen. Anmutig beugte sie sich vor und öffnete zwei Scharniere, die es ihr erlaubten, eine Seitenwand der Kiste umzuklappen. Mit leisem Zischeln glitt sie auf Solaiyn zu, der erwartungsvoll die Arme öffnete.

Nodon hatte den Feldherrn in den Armen der Schlangenfrau schlafen sehen, dennoch war er sich nicht ganz sicher, wie ihr Verhältnis zueinander war. War sie nur eine mütterliche Helferin oder auch seine Geliebte?

Unwillkürlich sank Nodons Hand auf den Griff seines Schwertes. Aloki erinnerte ihn an eine Kobra, die sich aufgerichtet hatte, bereit, jederzeit zuzustoßen und ihre Feinde mit ihrem tückischen Gift zu töten.

»Du wirkst so angespannt, Schwertmeister.« Sie neigte den Kopf ein wenig und bedachte ihn mit einem herablassenden Lächeln. »Bist du nur dann in Harmonie mit der Welt, wenn du kämpfst?«

Ihre gelben Augen mit der geschlitzten Pupille erinnerten an Drachenaugen. Doch in ihnen strahlte nicht selbstbewusste Macht, sondern üble Heimtücke.

Vielleicht bildete er es sich auch nur ein, dachte Nodon. Doch dann hatte er wieder die Bilder vor Augen, was sie Solaiyn antat, auf welch groteske Weise sie ihn von seiner Melancholie heilte. Mit einer Nadel, die sie ihm am Auge vorbei in den Schädel stieß – sie war ein Ungeheuer!

Ein Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Ein dunkler Fleck erschien über ihnen auf dem Zeltdach. Etwas golden Schimmerndes tropfte durch die Naht auf den Tisch neben ihnen.

Alokis Nasenflügel weiteten sich wie bei einem Raubtier, das Witterung aufnahm.

Tropfen von Licht fielen hoch über ihnen von der Höhlendecke, so hell und groß, dass sie durch den dunkelgrünen Stoff klar zu erkennen waren. Sie wuchsen an zu Säulen.

Einen Herzschlag lang verharrte Nodon verwundert, bis er begriff, was er dort sah. Dann packte er Solaiyn beim Arm, zog sein Schwert und zerteilte mit einem Hieb die Zeltwand. »Raus! Wir müssen so schnell wie möglich hinauf in den Berg!«

Der Feldherr sah ihn verwundert an, leistete aber keinen Widerstand, sondern stammelte nur etwas Unverständliches. Nodon wusste, welchen Preis der Elfenfürst dafür bezahlte, dass der Goldene durch dessen Augen sehen konnte. Der Zauber, den der Drache wirkte, zerstörte Teile des Gehirns. Er verwandelte jeden, der dem Drachen seinen Körper lieh, binnen kurzer Zeit in einen stammelnden Idioten. Nur Solaiyn, dessen Körper die rätselhafte Eigenschaft besaß, dass selbst schrecklichste Wunden in wenigen Tagen wieder heilten, hatte die nötige Widerstandskraft, um den Himmelsschlangen über einen längeren Zeitraum zu dienen. Doch das, was ihn dazu qualifiziert hatte, der Heerführer der Albenkinder zu werden, hatte ihn nun wehrlos gemacht. Ausgebrannt von der Macht des Drachenzaubers, der durch ihn geflossen war. Wenig mehr als ein störrisches Kind an der Hand seiner Eltern.

Inseln von entflammtem Öl trieben auf dem Wasser. Eine Flammensäule stieß auf das Zelt hinab, kaum dass sie es verlassen hatten, und beißender Rauch lag in der Luft. Etliche Schiffe der Menschenkinder hatten Feuer gefangen. Nodon sah, wie sich die Brände mit erschreckender Geschwindigkeit in das trockene Holz fraßen.

»Die Sommerlicht«, schrie Solaiyn entsetzt auf. Eine Wand von Flammen trieb durch das Hafenbecken auf den Katamaran zu. Die Mannschaft kappte die Leinen, goss Wasser über die Segel und stieß das elegante Schiff mit Stangen von der gemauerten Mole ab. Sie würden versuchen, durch den großen Höhleneingang auf die offene See zu entkommen.

Noch hätten sie mit einem gewagten Sprung an Bord des Seglers gelangen können, doch Nodon entschied sich dagegen. Zu ungewiss war ihm der Fluchtweg durch den Hafen. Schon versperrte dichter Rauch die Sicht auf die Fahrrinne hinaus zum Meer.

Solaiyn begann, würgend zu husten.

»Euer Umhang, Feldherr. Benetzt ihn mit Wasser und haltet ihn Euch vor den Mund.«

Solaiyn sah ihn nur verwundert an.

Sie hatten lange genug gezögert, entschied Nodon. Obwohl kaum fünf Herzschläge seit ihrer Flucht aus dem Zelt vergangen waren, geschah alles so schnell, dass die Zeit sich zu dehnen schien.

Flammen schossen aus dem Zeltdach. Binnen eines einzigen Augenblicks sank der grüne Stoff in sich zusammen.

Nodon zog Solaiyn hinter sich her.

Ein Zwerg, der mit beiden Händen wild auf seinen brennenden Bart einschlug, erschien vor ihnen. Ein anderer schlug mit einer Decke auf einen Elfen ein, der sich schreiend am Boden wälzte.

»Schneller!« Nodon wandte sich zu Solaiyn um. Der Feldherr sah sich mit großen Augen um. Dann blickte er zur Sommerlicht, die in eine dichte Bank aus treibendem Rauch hineingerudert wurde. »Wir müssen an Bord«, sagte er traurig.

»Dort gibt es kein Entkommen«, entgegnete Nodon energisch. Sie passierten ein brennendes Lagerhaus, aus dessen aufgebrochener Tür eine Gruppe Zwerge kostbare Seidenballen schleppte. Diese Narren! Alles hier unten war verloren!

Der Schwertmeister strebte einer der weiten Treppen zu, die nach oben führten. Auch der Rauch stieg auf und sammelte sich unter der weiten Höhlendecke. Nodon wusste, er würde durch die Aufstiegstunnel wie durch Schornsteine abziehen. Aber in den weiten Treppentunneln gab es Durchbrüche zur Felswand hin. Dort könnten sie hinaussteigen, um dem Verderben zu entrinnen.

Sie drängten sich an einer Gruppe von Zwergen vorbei, die Kisten und Säcke schleppten. Sie nahmen Lebensmittel mit! Das war vernünftiger, als Seidenballen zu schleppen.

Ein jüngerer Zwerg mit blondem Bart griff Solaiyn beim Arm. »Herr, was sollen wir tun?« Er sah den Fürsten mit großen, erwartungsvollen Augen an. »Führt uns!«

»Du darfst keinen Rauch atmen«, sagte Solaiyn mit dem Ernst eines altklugen Kindes.

»Keinen Rauch atmen?« Der Zwerg wirkte fassungslos. »Wie ….«

»Er ist ein Elf! Was hast du erwartet?«, zischte einer seiner Kameraden.

»Wir müssen die Treppen hinauf!« Nodon hielt Solaiyn dicht bei sich. Der Fürst machte den Eindruck, als wollte er den Zwergen noch weitere, kostbare Ratschläge erteilen. Doch das würde sich herumsprechen, dachte Nodon beklommen. Und niemand würde den Fürsten mehr ernst nehmen, wenn sie ihn so erlebten. Er hielt das Handgelenk des Herrschers mit eisernem Griff umklammert und zerrte ihn mit sich.

Endlich erreichten sie eine Treppe, die sich entlang einer weiten Felssäule nach oben wand. Überall im Hafen brannten inzwischen Schiffe. Die Hitze wurde immer unerträglicher. Die Höhle würde zu einem riesigen Backofen werden, wenn erst einmal die ganze Flotte brannte. Niemand hier unten konnte darauf hoffen zu überleben.

Dunkler Rauch zog in wirbelnden Spiralen an ihnen vorbei. Er schien von der Öffnung in der Höhlendecke über ihnen förmlich angezogen zu werden.

Nodons Augen brannten. Tränen rannen ihm über die Wangen. Solaiyn hustete und rang keuchend um Atem. Sie eilten die Treppe hinauf. Ohne Geländer schmiegte sie sich an die riesige Felssäule. Immer wieder führte sie die Spirale am Wasser vorbei. Jetzt, aus der Höhe, war überdeutlich zu sehen, was sich im Hafen abspielte. Wie die Flammen auf immer neue Schiffe übergriffen.

Vor ihnen lag ein Zwerg auf den Stufen hingestreckt. Er hielt mit beiden Händen die Kehle umklammert, als versuchte er, einen unsichtbaren Würgegriff zu sprengen. Sein Mund war weit aufgerissen wie bei einem Fisch, der auf dem Trocknen lag. Er sah sie flehend an.

Nodon stieg mit einem weiten Schritt über ihn hinweg. »Weiter!«, drängte er den Fürsten, wohl wissend, dass ihnen das schlimmste Stück des Weges noch bevorstand.

Dreißig Schritt oder mehr befanden sie sich nun schon über dem Wasser des Hafenbeckens. Die Hitze unter ihnen nahm immer weiter zu. Doch etwas hatte sich verändert: Der Rauch zog nicht länger an ihnen vorbei. Stattdessen strich ein kühler Luftzug aus dem Treppenschacht über ihnen herab, streichelte ihre Gesichter, spielte mit dem zarten Stoff ihrer Gewänder. Ein leises Heulen begleitete den Wind. Ein dunkler, Unheil verkündender Ton.

Nodon kam der absurde Gedanke, dass das Feuer unter ihnen atmete. Dass es Luft durch den Treppentunnel sog.

Noch während er das dachte, gewann die Brise an Stärke. Das Heulen wurde lauter.

»Hinab!« Wie aus dem Nichts stand Aloki plötzlich neben ihnen. Die Schlangenfrau deutete zum Hafen hinunter, auf dessen schwarzem Wasser tosende Flammen tanzten. »Hinab! Schnell!« Sie griff nach Solaiyn.

»Wir müssen durch den Tunnel!«, beharrte Nodon.

Plötzlich verschwamm die Gestalt der Schlangenfrau vor seinen Augen. Ein Schlag traf mit so großer Wucht auf sein rechtes Handgelenk, dass sich sein Griff öffnete. Im nächsten Augenblick sah er Solaiyn und die Schlangenfrau den dunklen Fluten entgegenstürzen.

Wie hatte sie ihn so übertölpeln können? Das musste der Zauber sein, den auch Bidayn zu weben vermochte!

Solaiyn stieß einen gellenden Schrei aus, der abrupt abbrach, als die beiden vom Wasser verschlungen wurden.

Nodon zögerte. Er war der Leibwächter des Fürsten. Er sollte hinterherspringen. Doch überall krochen Flammenteppiche über das Wasser.

Der Wind, der von der Treppe hinabpfiff, war noch stärker geworden. Nodon hob den Kopf und sah, wie sich einige Zwerge mit vorgebeugten Köpfen durch den Eingang in den Fels kämpften. Der Sturm, den das Feuer entfesselt hatte, zerrte und zupfte an ihren Kleidern, als wollte er sie ihnen von den Leibern reißen.

Nodon wandte sich ab und beugte sich zögerlich vor, um besser zum Hafenbecken hinabblicken zu können. Aloki und Solaiyn tauchten nicht wieder auf. Sie waren …

Kaskaden schäumenden Wassers schossen aus der Decke der Hafenhöhle.

Der Elf riss schützend die Arme vor sein Gesicht. Statt das Feuer zu löschen, fachte das Wasser es an! Ohrenbetäubendes Zischen wurde hundertfach von den Wänden der weiten Höhle zurückgeworfen. Eine Flammenwolke stieg vom Wasser auf, weitete sich aus, füllte die Höhle gänzlich aus.

Nodon hielt den Atem an, dennoch versengten kochendes Wasser und heiße Fetttröpfchen seine Naseninnenwände. Glühende Luft drängte ihm mit Gewalt in Mund und Kehle. Er biss die Zähne zusammen, presste die Lippen aufeinander und zwang sich, nicht zu schreien. Sein Innerstes würde gekocht werden, wenn er den Mund aufriss. Er durfte nicht …

Eine sengend heiße Faust traf ihn. Riss ihn mit sich, wie Sturmwind ein Herbstblatt davonträgt. Er wirbelte durch die Luft. Spürte, wie seine Haut durch die Kleidung hindurch verbrannte. Hatte das Gefühl, dass die Tränen in seinen Augen zu kochen begannen.

Dann schlug er ins Wasser. Und auch das brachte keine Linderung. Er sank, durfte immer noch nicht den Mund öffnen. Er bewegte sich. Wollte nach oben. Wollte auftauchen, doch wusste nicht, wo oben und unten war. Seine Augen versagten ihm den Dienst. Zeigten immer noch gleißendes Licht. Vorsichtig bewegte er sich. Dabei fühlte es sich an, als wäre ihm seine Haut zu eng geworden. Allumfassender Schmerz umfing ihn. Ein Schmerz, wie er ihn noch nie gekostet hatte. So durchdringend, so intensiv, dass er die baldige Erlösung von allen Qualen verhieß.

Unter Drachenschwingen

Kühle Lippen berührten seinen Mund. Warmer Atem drängte in seine Kehle. Ein starker Arm umfing ihn. Die Umklammerung entfachte den Schmerz, riss Nodon aus seiner Benommenheit. Er wurde im Wasser emporgehoben.

Über ihnen wütete wogendes Licht. Nichts war deutlich zu erkennen. Bis auf eine dunkle Linse direkt über ihnen. Was er sah, war wie das Auge Alokis. Unstetes Gelb, das eine geschlitzte Pupille umschloss. Er fantasierte. Nur der Schmerz, dort, wo der starke Arm ihn umschlungen hielt, war real.

Nodon schloss die Augen. Seine Brust wurde ihm wieder eng. Atmen … Dem Wasser gestatten, dorthin zu dringen, zu fließen, wo nur Atem sein sollte. Das wäre Erlösung. So leicht wäre es, die Pein zu beenden.

Er öffnete die Augen. Die Pupille wuchs an. Er fiel ihr entgegen. Schneller und schneller. Jetzt füllte das Dunkel fast sein ganzes Gesichtsfeld. Sein Kopf erhob sich über das Wasser. Er war umfangen von stickiger Finsternis. Seine Hände tasteten über etwas Raues. Holzmaserung?

»Wo bin ich?« Sein Mund brannte. Ein öliger Geschmack hatte sich darin eingenistet. Nodon hörte ängstliches Atmen.

»Ein umgestürztes Fischerboot«, erklärte eine zischelnde Stimme. »Wir werden unter dem Rumpf nicht lange sicher sein. Wahrscheinlich hat das Holz schon Feuer gefangen. Pass auf Solaiyn auf. Halt ihn fest!«

Nodon spürte die Hitze durch das Holz. Das Boot bewegte sich. Wieder einmal war er überrascht von der Kraft und Schnelligkeit der Schlangenfrau.

Kein Licht drang durch den Rumpf. Es war finster wie inmitten eines Bergs.

Solaiyn tastete nach ihm, klammerte sich an seine Arme. »Nodon? Du wirst mich retten, nicht wahr? Du bringst uns hier heraus.«

»Ja«, krächzte er. Sein Mund und seine Zunge schmerzten.

»Es tut so weh«, jammerte Solaiyn. Die Stimme des Fürsten hatte sich verändert. Sie klang heller, fast wie die eines Kindes.

Etwas schlug hart auf den Bootsrumpf. Begann die Höhle einzustürzen? Ließ die Hitze den Fels der Decke aufplatzen? Solaiyn schluchzte leise. Er schmiegte seinen Kopf an Nodons Wange. Das Gesicht des Feldherrn fühlte sich klebrig an. Der Schwertmeister war froh, es nicht sehen zu müssen.

Aloki blieb still. Nodon hörte sie kaum atmen. Er hatte einmal eine große Wasserschlange in den Mangroven des Waldmeers gesehen. Sie hatte sich voller Anmut und erstaunlich schnell durch das flache Wasser bewegt. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Schlangenfrau mit kraftvollen Schwanzbewegungen das Boot antrieb.

Im Hafen erklangen keine Schreie mehr. Auch das Tosen des Feuers war durch das Holz des Bootsrumpfs kaum zu hören. Nur ab und zu vernahm Nodon das Geräusch von Felsbrocken, die ins Wasser stürzten. Es war jetzt weniger warm, und er glaubte die Kraft der Flut zu spüren, die frisches Meerwasser in den brennenden Hafen drückte.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Aloki ermüdete nicht. Nicht einmal ihr Atem ging unruhig. Ihre Ausdauer schien unerschöpflich zu sein. Nur die Luft unter dem Boot wurde schlechter. Nodon hatte das Gefühl, immer schneller atmen zu müssen. Solaiyn hechelte wie ein Hund. Dann drang ein neues Geräusch zu ihnen vor. Das Tosen der Brandung.

»Wir brauchen das Boot nicht länger«, sagte die Schlangenfrau plötzlich. »Haltet euch an mir fest.« Sie schlang einen Arm um Nodons Hüften. »Tief einatmen! Wir werden ein kurzes Stück tauchen. Bei drei!« Sie zählte langsam.

Nodon wollte sie fragen, wohin sie flüchten wollte. Wollte einwenden, dass es nicht klug war, das Boot zu verlassen, da wurde er schon unter Wasser gezogen.

Sie tauchten ins Licht. Über ihnen spannte sich strahlend blauer Himmel. Möwen flogen dicht am Felsen entlang, auf dem die Menschenkinder ihre Stadt erreichtet hatten. Das Licht blendete Nodon. Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder. Er vermochte nicht klar zu sehen. Es war, als läge ein Gazeschleier vor seinen Augen.

Nicht weit entfernt bemerkte er eine dreieckige Rückenfinne, die das Wasser durchpflügte.

»Das Blut im Wasser lockt sie an. Ich konnte es auch schmecken.«

Nodon sah zu der Schlangenfrau. Es gab Dinge, die wollte er erst gar nicht über sie wissen.

»Wir werden uns dort verstecken!« Sie deutete zu einem flachen Riff am Fuß der Steilklippe, das nur wenige Handbreit über das Wasser ragte. Dort lag einer der toten Sonnendrachen. Ein Flügel von ihm hing schlaff ins Wasser, auch sein langer Drachenschwanz und ein Teil seines Unterleibs. Der mächtige rot geschuppte Körper zuckte, als wäre sein Todeskampf immer noch nicht vorüber.

»Das ist kein guter Platz«, entschied Nodon.

»Es ist der beste!« Aloki ließ ihn los, sodass er nun selbst mit den Armen rudern musste, um über Wasser zu bleiben. Das Salzwasser schmerzte auf seiner verbrannten Haut. Jetzt sah er zum ersten Mal Solaiyns Antlitz. Eine Hälfte war grausam verbrannt. Eine einzige offene, schwärende Wunde. Der Schwertmeister musste sich zwingen, den Blick nicht abzuwenden.

»Ihm ist Öl ins Gesicht gespritzt«, erklärte die Schlangenfrau zischelnd. »Ich habe ihn nicht gut beschützt.« Ihre Pupillen verengten sich. »Du auch nicht! Du hättest ihn nicht die Treppe hinaufbringen sollen. Das Wasser beschützt uns. Und die Drachen.«

»Tote Drachen beschützen uns?«

»Glaubst du, dort wird jemand suchen? Die Menschenkinder fürchten sie, ganz gleich, ob sie leben oder tot sind.«

Nodon blickte zu dem zuckenden Kadaver. Die Menschen hatten den Sonnendrachen getötet. Warum sollten sie ihn fürchten?

»Es ist nicht immer alles so, wie es scheint«, sagte Aloki bestimmt. »Dort sind wir in Sicherheit. Auf dem offenen Meer werden wir ertrinken oder von Haien angegriffen. Im Hafen werden uns die Menschenkinder jagen, wenn sie aus ihren Höhlen herabsteigen. Aber dort …« Sie nickte in Richtung des Riffs. »Dort können wir ausruhen, unsere Wunden pflegen und neue Kräfte sammeln.«

Nodon war nicht überzeugt. Aber er hatte geschworen, an Solaiyns Seite zu bleiben. Also folgte er Aloki, als sie mit ihrem Herrn zum Riff schwamm.

Die Schlangenfrau tauchte unter dem Drachenflügel hinweg, der ins Wasser hing, und verschwand.

Verwundert sah der Schwertmeister sich um. Wo zum Henker war sie geblieben?

Er tauchte unter. Das Meerwasser war kristallklar. Deutlich sah er den Drachen. Dicke weiße Darmschlingen hingen ihm aus dem Leib und bewegten sich in der Strömung. Sie … nein, sie bewegten sich nicht mit der Strömung. Nodon schwamm näher an den Kadaver heran. Aale! Sie hatten sich in ein Loch im Unterleib des Drachen gefressen. Dort drängten sie hinein, zerrten Brocken von Fleisch hinaus und verschwanden erneut im Drachenleib, um Fraß zu finden. Abgesehen von dieser Wunde war der Drachenleib unversehrt. Es schien, als könnten die Aale ihm selbst jetzt nichts anhaben und mit ihren scharfen Zähnen weder seine Schuppen noch die zähe Lederhaut an seinem Unterleib durchdringen.

Welche Waffe hatten die Menschenkinder genutzt, um diese eine tödliche Wunde zu schlagen? Er dachte an den Drachen im ewigen Eis. Den Drachen, den sie über und über mit ihren Pfeilen gespickt hatten. War die Zeit der Himmelsherrscher vorüber?

Aloki tauchte unter dem Flügel auf, der ins Wasser hinabhing. Sie winkte ihm zu. Mit einigen kräftigen Schwimmstößen war er bei ihr, und die Schlangenfrau half ihm auf den Felsen des Riffs hinauf. Die Schwinge des toten Sonnendrachen spannte sich wie eine Zeltplane über ihnen und verbarg sie vollständig vor neugierigen Blicken.

»Vielleicht ist das hier doch ein guter Platz«, gestand Nodon ein.

Die Schlangenfrau bedachte ihn mit einem Lächeln. »Ist das deine Art, Danke zu sagen?«

Wofür hätte er sich bedanken sollen? Sie waren auf der Flucht, und sie hatte ein gutes Versteck gefunden. Man half sich gegenseitig, wenn einem der Feind naherückte. Sie hatte seltsame Vorstellungen von Kameradschaft! Genau aus diesem Grund war Nodon am liebsten allein. Er hasste es, über die seltsamen Anwandlungen anderer nachgrübeln zu müssen.

Müde kroch er den Felsen hinauf und legte sich neben Solaiyn. Der Fürst war eingeschlafen. Seine Mundwinkel zuckten, als wollte er lachen. Ein Traum? Im wachen Zustand hatte Nodon ihn noch nie lachen gesehen.

Auf unheimliche Weise erinnerte ihn das Zucken der Mundwinkel an die Bewegungen des toten Drachen. Er beugte sich vor. Hatte etwas den Fürsten befallen? War ein Meerestier in seinen Mund eingedrungen?

Die Lederhaut des Drachenflügels war halb durchscheinend. Er verwandelte den strahlenden Sonnenschein in rotes Zwielicht. Da war tatsächlich etwas an der Wange des Fürsten! Ein Wurm? Solaiyns geschundenes Fleisch erzitterte. Nodon beugte sich weiter vor, um es besser sehen zu können. Die Haut war am Rand der Verbrennung aufgedunsen. Etwas Bleiches, Wulstiges bewegte sich darunter, kroch an der Wange hinauf. Nein, das war kein Tier! Er schloss die Lider. Seine Augen trogen ihn, da war er sich sicher. Da war immer noch dieser Schleier, der ihn daran hinderte, ganz deutlich zu sehen.

»Es ist unheimlich, wenn man es zum ersten Mal sieht, nicht wahr?«

Nodon spürte den Atem der Schlangenfrau in seinem Nacken, so nah war sie an ihn herangekrochen. Er öffnete die Augen, starrte auf das verbrannte Fleisch des Feldherrn. Gesunde, helle Haut kroch vom Wundrand her über das verbrannte Fleisch. Langsam nur, aber unübersehbar.

»Du wirst nicht so schnell genesen«, sagte Aloki leise. »Aber ich könnte dir helfen.« Es lag etwas Anzügliches in ihren letzten Worten. Sie hatte in einem Ton gesprochen, der nicht zu den lauteren Absichten einer Heilerin passte. Oder lag es an dem Zischeln, das jedes ihrer Worte begleitete?

»Keine Sorge, nicht plötzlich erwachter Edelmut ist der Grund meiner Fürsorge. Ich weiß, was du bist, Nodon. Ein Mörder. Ein Mann des Schwertes, wie es kaum einen zweiten gibt. Wir werden deine Fähigkeiten brauchen, wenn wir überleben wollen.«

»Hast du das zweite Gesicht?« Er drehte sich halb zu ihr um. Sie war ihm so nahe gerückt, dass ihr blasses Antlitz kaum zwei Zoll entfernt war. Ihre geschlitzten Pupillen hatten sich im Zwielicht so sehr geweitet, dass es beinahe aussah, als hätte sie normale Augen.

»Ich bin nicht wie die Gazala oder die Apsara … Manchmal sehe ich Dinge, die noch kommen werden. Wie ein Blitz das Dunkel des Nachthimmels zerteilt, erscheinen sie hinter der Wirklichkeit. Bilder, die zu schnell verschwinden, um sie klar zu erkennen. Doch eines weiß ich ganz gewiss! Die Schlacht um diese verfluchte Stadt ist noch nicht vorüber. Der größte Schrecken steht uns allen noch bevor. Und wenn er kommt, dann möchte ich, dass du im Vollbesitz deiner Kräfte bist, um Solaiyn und mich zu schützen. Und selbst das wird vielleicht nicht genügen …«

Im Gewand der Drachen

Ein breiter Balken aus Licht stach unter dem Felsen hindurch und erhellte den Hof der Alten Veste. Nandalee saß im Schatten und sah den beiden Kleinen zu. Sie waren nackt, saßen auf einer Decke und bewunderten das Licht. Emerelle streckte ihre Hand aus und versuchte, die goldenen Staubkörnchen zu fangen, die im Licht tanzten.

Nandalee genoss die Ruhe. Die letzten Tage hatte sich Eleborn daran versucht, die Wand neben dem Stall mit einem Relief zu schmücken. Stunden um Stunden hatte er gearbeitet. Der Hof hatte vom Klang des Hammers, der auf den Meißel traf, widergehallt. Selbst jetzt hatte sich der Staub, den Eleborn bei der Arbeit am Stein aufgewirbelt hatte, noch nicht gänzlich gelegt. Der Geschmack von Stein lag ihr auf der Zunge.

»Pling. Pling!« Emerelle lachte. Sie versuchte, das Geräusch des Hammers nachzumachen.

»PLING

Nandalee sah reflexartig zu der Wand, an der das Bild im Stein entstand. Da war niemand! Doch das Geräusch hatte sich so echt angehört, als wäre wirklich gerade ein Hammer auf einen stählernen Meißel geschlagen.

»PLING

Meliander! Er war es, der dieses Geräusch nachahmte. Wie …? Nandalee zwang sich, nicht aufzustehen. Es war nicht das erste Mal, dass er sich seltsam verhielt. Nicht wie ein Kleinkind. Wie sollte sie damit umgehen? Immer fragte sie sich das. Wie sollte sie mit seiner Verstümmlung umgehen? Wie hatte so etwas in ihrem Leib geschehen können?

Emerelle gab es auf, das Geräusch der Steinmetzarbeit nachzuahmen. Sie ließ sich vornüberkippen, streckte die Arme vor, landete auf den Handflächen und begann, mit erstaunlicher Geschwindigkeit zu dem Haufen von Steinsplittern vor dem Stall zu krabbeln.

Der Blick, mit dem Meliander seiner Schwester nachsah, brach Nandalee schier das Herz. Er würde niemals krabbeln, so verstümmelt wie er war. Manchmal war er unbeholfen auf dem Bauch gerobbt. Seit jedoch seine Schwester krabbelte, saß er nur noch. Er hatte es aufgegeben, sich auf diese Art fortbewegen zu wollen.

So denkt kein Kleinkind, ermahnte sich Nandalee. Es war Zufall! Aber dieser Blick von Meliander. Er wirkte so verständig. Und unheimlich …

Das Licht im Hof wurde blasser. Es verlor von seiner Strahlkraft. Meliander blickte zum Tor und lächelte. Nandalee wandte den Kopf. Sah den Schatten, der fast mit dem Dunkel verschmolz. »Was willst du?«

Statt zu antworten, trat Nachtatem auf den Hof. Er hatte Elfengestalt angenommen, wie stets, wenn er in die Nähe der Kinder kam.

Emerelle ließ davon ab, weiter in Richtung des Schutthaufens zu krabbeln. Sie wandte den Kopf und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Dann krabbelte sie dem Erstgeschlüpften entgegen.

Meliander stieß einen unwilligen Laut aus, als würde er nicht wollen, dass seine Schwester den Drachen erreichte. Immer öfter hatte Nandalee das Gefühl, dass ihr Sohn sich zum Dunklen hingezogen fühlte.

Als Emerelle innehielt und ihren Bruder ansah, war sich Nandalee ganz sicher, dass die beiden sich auch ohne Worte verständigen konnten. Manchmal sahen sie sich beunruhigend lange an und nickten dann. Genau im gleichen Augenblick, als hätten sie in stummem Zwiegespräch etwas vereinbart.

Der Dunkle nahm keine Notiz von den beiden. Er betrachtete die Arbeit Eleborns. Der Elf hatte ein Muster ineinander verschlungener Linien in den Stein geschlagen. Keine Gestalt. Keine Blüte.

»Er wird daran scheitern, die Welt zu einem schöneren Ort zu machen«, sagte er, und mit einem Blick auf Meliander fügte er hinzu: »Eleborn schafft es nicht einmal, hier Vollkommenheit einziehen zu lassen.«

»Wie kannst du es wagen?«, fuhr Nandalee ihn an. »Er ist …«

Der Dunkle hob das Haupt. Sein Blick traf sie. Seine Augen hatten das Blau eines Winterhimmels, der sich in Eis spiegelt. Sie stahlen ihr die Worte, machten sie sprachlos. Doch ihre Wut konnten sie ihr nicht nehmen.

»Ich meinte nur das … Werk. Eleborns Arbeit. Meliander kann er nicht helfen. Das weiß ich so gut, wie Ihr es wisst, meine Dame.«

Nandalee hasste diese gestelzte Höflichkeit.

»Was willst du?« Sie war sich sehr wohl bewusst, dass er es nicht mochte, dass sie so direkt und formlos sprach.

»Nun, da ich nicht davon ausgehe, dass Ihr mir Euer Ohr leihen werdet, wenn ich Euch um eine Gefälligkeit bitte, und da ich weiß, dass ich noch weniger auf Eure Unterstützung hoffen dürfte, wenn ich Euch einen Befehl geben würde, bin ich gekommen, um Euch darum zu bitten, Meliander zu helfen.«

Nandalee schwieg. Was wollte der Dunkle von ihr? Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Emerelle in seinen Schatten kroch. Den Schatten, der zu lang und zu finster war. Der alte Drache lächelte auf das Mädchen hinab. Er sah sie seltsam an, und Nandalee hatte das Gefühl, dass er um Emerelles Zukunft wusste. Sie schob den Gedanken beiseite. Er würde sein Wissen sicherlich nicht mit ihr teilen, so wie sie ihn behandelt hatte. »Was kann ich für Meliander tun?« Die Elfe bemühte sich, ein wenig höflicher zu klingen.

Nachtatem ging in die Hocke und streckte Emerelle eine Hand hin. Sie kroch weiterhin auf ihn zu. Ganz ohne Scheu.

»Es gibt einen Weg, Meliander zu heilen, meine Dame. Vielleicht muss er etwas älter sein, damit es gelingen kann. Er sollte sich bereits darüber bewusst sein, wer er ist und was er will. Dann besteht Hoffnung für ihn.«

Emerelle hatte Nachtatem erreicht. Sie legte ihre Hand in die seine und gab einen leisen, vergnügten Laut von sich.

Nandalee rang mit sich. Sie hatte sich geschworen, nie wieder für ihn zu kämpfen. Und sie war sich vollauf bewusst, dass sie diesen Eid brechen würde, wenn sie fragte, was er von ihr wollte. Vielleicht erwuchs Meliander wirklich ein Vorteil aus der Mission, in die er sie hineinziehen wollte, aber sie kannte die Himmelsschlangen nun gut genug, um zu wissen, dass stets sie es waren, die am meisten gewannen, wenn Drachenelfen für sie töteten. Auch wenn dies nicht immer auf den ersten Blick offensichtlich war.

»Wovon sprecht Ihr?« Sie schaffte es nicht, freundlich oder gar demütig zu klingen, aber sie fügte sich wenigstens dem formalen Getue, auf das die Drachen so großen Wert legten.

Nachtatem sah zu ihr auf. Ein flüchtiges Lächeln spielte um seine Lippen. Deutlich spürte sie den Zauber, der ihn umgab. Sie hatte an seinen Gefühlen teil. Seine Freude war echt, und obwohl sie es besser wusste, berührte sie, was er empfand. Sie war sich bewusst, dass er genau das wollte: Sie zu manipulieren, nur dazu hatte er sie und all die anderen Drachenelfen in der Weißen Halle erschaffen.

Er nahm Emerelle auf den Arm. Das Glücksgefühl, das von ihm ausging, wurde noch stärker. Auch ging Wohlgeruch von ihm aus, der Gefühle in ihr weckte, von denen sie geglaubt hatte, sie längst aus ihrem Herzen gerissen zu haben. Sie musste an die Nacht denken, in der er sie tätowiert hatte. Die Nacht, in der sie sich ihm unterworfen hatte wie niemals zuvor und danach. Den köstlichen Schmerz, den sie empfunden hatte, den Rausch der Sinne. Sie fühlte sich schlecht bei der Erinnerung daran. Sosehr sie Gonvalon geliebt hatte, so war es mit ihm nie gewesen.

Nachtatem ging zu Meliander, kniete vor ihm nieder und setzte Emerelle ab. Beide Kinder lächelten ihn an, waren seinem Zauber ganz und gar verfallen. Sie ahnten nicht, was für ein Raubtier dort vor ihnen kauerte. Ahnten nicht, wie die wirkliche Gestalt dieser Kreatur aussah.

»Wovon sprecht Ihr?«, fragte sie noch einmal, eindringlicher nun.

»Ihr müsst zurück nach Nangog, meine Dame.«

Das hatte sie befürchtet. »Soll ich zur Riesin?« Nie würde sie vergessen, wie sie auf dem Auge der gewaltigen Kreatur gestanden hatte. Winzig wie ein Staubkorn hatte sie sich gefühlt.

»Nicht zur Riesin selbst sollt Ihr gehen. Doch müsst Ihr etwas finden, das sie erschaffen hat. Und wie es scheint, wird es nun von ihrem Sohn bewacht. Er ist riesig. Pfeil und Bogen werden ihm nichts anhaben. Es gibt wahrscheinlich nur weniges, das ihn töten kann … Was er für seine Mutter hütet, nennen die Menschenkinder das Traumeis. Es sind Kristalle, die es, richtig angewandt, erlauben, den eigenen Körper nach seinen Wünschen zu verändern. Ein verlorener Arm könnte nachwachsen, und noch viel mehr wäre möglich …«

Nandalee spürte seine Leidenschaft. Was er ihr vortrug, war ihm wichtig, doch beschlich sie das Gefühl, dass es ihm noch mehr bedeutete, dass sie ihm endlich wieder zuhörte.

All die Monde hatte sie es vermieden, sich der Magie, die von ihm ausging, auszusetzen. Er hatte nichts unternommen, um Gonvalon zu retten. Und das durfte sie ihm niemals verzeihen! Durfte nicht … Sie sah in seine Augen. Sie waren voller Gefühl, nicht die Augen eines Ungeheuers.

»Ich werde Euch nichts vormachen, meine Dame. Es ist eine gefährliche Mission, auf die ich Euch schicke. Ich habe lange mit mir gerungen … Und ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Ihr die einzige Drachenelfe seid, die vielleicht Hoffnung auf Erfolg hat. Ihr gebt niemals auf, meine Dame. Nur der Tod vermag Euren Willen zu brechen, und Euer Schwert wurde dazu erschaffen, Gegner zu überwinden, die unbezwingbar erscheinen.«

Spürte sie Verzweiflung in seinen Gefühlen? Nandalee sah auf Meliander hinab. Sein Gesicht war von tiefen roten Narben entstellt, ein Arm fehlte ihm … Wie könnte sie zögern, alles zu tun, wenn auch nur die geringste Hoffnung bestand, aus ihm ein gesundes Kind werden zu lassen?

»Geht nicht!« Eleborn trat auf den Hof hinaus.

»Ihr seid hier nur ein Gast, Meister Eleborn«, fuhr der Dunkle ihn an. »Wie könnt Ihr es wagen, Euch einzumischen?«

»Wie könnt Ihr es wagen, Nandalee auf eine Mission zu schicken, die Emerelle und Meliander zu Waisen machen könnte. Ich gehe an ihrer Stelle!«

Nachtatem lachte. »Seht Euch diese Wand an, Elf, mit der Ihr die ganze Welt zu einem schöneren Ort machen wollt. Was Ihr dort erschaffen habt, ist erbärmlich. Ein Werk, das nicht im Mindesten an Eure hochtrabenden Absichten heranreicht. Und nicht minder groß ist die Diskrepanz zwischen Eurer Absicht, Nandalee beschützen zu wollen, und Eurer Fähigkeit, es auch tun zu können. Nodon wäre dazu vielleicht in der Lage, Ihr jedoch ganz gewiss nicht.«

Nandalee spürte die kalte Wut des Drachen. Er hatte sich so sehr verändert. Wo war der Nachtatem, mit dem sie vor einer Ewigkeit dem geheimnisvollen Mörder der Alben nachgespürt hatte? Einst war er von unerschütterlicher Ruhe gewesen. Jetzt befürchtete sie, dass er Eleborn töten würde, wenn ihr Freund auch nur noch ein einziges falsches Wort sagte. Nandalee stellte sich schützend vor den Elfen.

»Ich werde gehen.« Sie sah dem Dunklen tief in die Augen, suchte nach dem unausgesprochenen, dem geheimen Grund für diese Mission. Sie sah nur blaue Abgründe.

Dann kniete sie nieder und strich Meliander über sein schwarzes Haar. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, fühlte sie sich schuldig. Was hatte sie falsch gemacht? Warum hatte sie nicht zwei Kinder wie Emerelle? Was war mit ihm in ihrem Leib geschehen? Sie würde alles tun, um ihm die Narben zu nehmen und seinen zweiten Arm zu geben.

Schon jetzt bemerkte sie, wie einige der Drachenelfen der Alten Veste ihn voller Abscheu betrachteten, wenn sie glaubten, sie würde es nicht bemerken. Was würde Meliander durchmachen müssen, wenn er größer wurde?

»Ich werde dieses Traumeis finden«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich gehe hinauf auf mein Zimmer und packe meine Sachen.«

Sie spürte die Erleichterung des Dunklen über ihren Entschluss. Eleborn hingegen wandte sich ab und verließ den Hof.

»Ihr, mein Gebieter, dürft diese Stunde mit den Kindern verbringen. Solange ich verreist bin, werdet Ihr Euch ihnen nicht mehr nähern. Dies ist meine einzige Bedingung. Werdet Ihr sie akzeptieren?«

Der Dunkle zögerte. War das also die verborgene Absicht hinter seinem Angebot gewesen? Wollte er an ihre Kinder heran?

»Ihr verhandelt hart, meine Dame«, sagte er ohne jede Emotion in der Stimme. »Wenn Ihr es so wollt, soll es so sein. Ich werde dem Wohl von Meliander niemals im Wege stehen.«

Dieser letzte Satz versetzte ihr einen Stich ins Herz. Meinte er es aufrichtig? Oder hatte er es nur gesagt, damit sie sich schlecht fühlte? Vielleicht hatte er auch ganz andere Hintergedanken.

Kein Elf würde jemals die Himmelsschlangen verstehen. Je länger sie die alten Drachen kannte, desto rätselhafter und undurchschaubarer erschienen sie ihr. Nandalee zog sich in den Palas der Alten Veste zurück und stieg zu ihrem Zimmer hinauf. Entlang der Treppe waren die Waffen der Drachenelfen aufgehängt, ganz ähnlich, wie es früher in der Weißen Halle gehandhabt worden war. Sie blieb vor Todbringer stehen und strich mit der Hand über die kalte Klinge. Sie dachte an Gonvalon. Er hatte Angst vor diesem Schwert gehabt, es verflucht genannt. Und er hatte recht behalten. Das Schwert hatte auch jenen, die Todbringer im Kampf führten, stets Tod oder Verderben gebracht.

Nandalee hob den schweren Zweihänder von der Wand. Sie würde die Waffe brauchen. Ihr blieb gar keine Wahl.

Auf ihrem Zimmer angelangt, starrte sie lange Zeit auf die Kleidertruhe. Nachtatem hatte letztlich also gewonnen. Sie war wieder seine Drachenelfe. Nun lag es bei ihr, ob sie sich ganz und gar dazu bekannte oder weiterhin trotzig blieb.

Sie kniete vor der grün lackierten Truhe mit den springenden Delphinen nieder, öffnete den Deckel und griff ganz nach unten in den Kleiderstapel. Zarte Seide schmiegte sich an ihre Hand. Sie holte das weiße Kleid hervor, das der Dunkle ihr einst geschenkt hatte, und legte es auf ihr Bett. Die Säume waren mit goldenen Stickereien geschmückt. Sie erinnerte sich noch genau, wie stolz sie gewesen war, als sie es zum ersten Mal getragen hatte. Diese Gewänder waren einzig den Drachenelfen vorbehalten. Wer Weiß und Gold trug, dem begegnete man auf allen drei Welten mit Ehrfurcht, Respekt und auch Angst.

Nandalee streifte ihre einfache Kleidung ab und wusch sich an der flachen Schale auf dem Tisch neben dem Bett. Es tat gut, das kalte Wasser auf dem Leib zu spüren. Es spülte die letzten Zweifel hinweg. Wenn sie eine Mission für die Himmelsschlangen erfüllte, dann sollte sie ganz und gar Drachenelfe sein.

Vorsichtig schlüpfte sie in das Kleid. Es saß nicht mehr perfekt. Sie war dünner geworden. Die Seide schmeichelte ihrer Haut. Nur die Stickereien kratzten ein wenig. Sie war überrascht, wie gut es sich anfühlte, dieses Gewand zu tragen.

Sie schloss die kleinen Haken am Stehkragen und betrachtete ihr Spiegelbild in der Wasserschale. Ihr Gesicht war schmaler geworden. Ihre Augen wirkten müde. Das weizenblonde Haar wallte auf ihre Schultern hinab. Sie überlegte, es hochzustecken, entschied sich aber dagegen, obwohl es zweifellos praktischer war, ihre wilde Mähne nicht offen zu tragen. Doch Nandalee mochte es offen. Mochte, wenn es ihr ins Gesicht wehte.

Wieder griff sie nach dem Schwert. So wie sie den Dunklen verstanden hatte, war es diese Waffe, auf die es ankam. Sie würde gegen einen Feind ziehen, gegen den mit Pfeil und Bogen nicht anzukommen war, wenn Nachtatem nicht irrte. Und Himmelsschlangen irrten sich nur selten. Sollte sie den Bogen also hierlassen? Lange Jahre war er das Symbol ihres Widerstandes gewesen. So viel Streit hatte es um diesen Bogen gegeben. In der Weißen Halle und auch später.

Sie streckte die Hand nach ihm aus … zögerte … Und zog sie dann wieder zurück. Wahrscheinlich würde er sie im Kampf gegen das Ungeheuer behindern. Sie würde ihn ablegen müssen. Warum sollte sie ihn dann überhaupt mitnehmen. Allein um ihres Trotzes willen? Sie begriff, dass heute der Tag gekommen war, vor dem sie sich so lange gefürchtet hatte. Der Tag, an dem all ihr Widerstand zusammenbrach. Sie hatte sich geschworen, nie wieder einfach eine Mörderin der Himmelsschlangen zu sein. Eine Vollstreckerin der Willkür der alten Drachen, die ihre Taten nicht hinterfragte.

Nun würde sie losziehen, um den Sohn der Göttin Nangog zu töten. Und das allein, damit ihr Sohn ein besseres Leben führen konnte. Die Elfe ließ den Kopf sinken. Sie gewandete sich in edles Weiß und Gold, sah aus wie eine Heldin und war doch das genaue Gegenteil. Zuletzt hatten die Himmelsschlangen gesiegt. Sie war zu einer Mörderin in ihren Diensten geworden.

Sie nahm das Schwert und verließ ihre Kammer.

Draußen im Flur erwartete sie Eleborn. Auch er hatte das weiße Gewand eines Drachenelfen angelegt. »Ich werde mit dir kommen.« Er sagte es mit einer Bestimmtheit, die jeden Widerspruch sinnlos erscheinen ließ.

Nandalee nickte. Sie war froh, dass sie diesen Weg nicht allein gehen musste.

Gegen den Wind

Artax genoss den Flugwind. Inzwischen war ihm ein Ritt auf seinem silbernen Löwen ein Vergnügen. Ein Ausflug von seinen erdrückenden Pflichten und eine Flucht vor all den Fragen, auf die es keine klaren Antworten gab. Mit jedem Tag wurde ihm das Amt des Unsterblichen mehr zur Last. Er schaffte es nicht, all die Entscheidungen zu treffen, die anstanden. Und ebenso wenig vermochte er es, den Problemen seines Reiches einfach den Rücken zu kehren, wie Subai es tat. Ihn interessierte es nicht, ob eine Überschwemmung an den Ufern des Seidenflusses Tausende Leben kostete und ob Dammbauten künftigem Unglück vorbeugen würden. Er ritt zur Jagd aus, wenn ihm danach war, blieb tagelang in seinem Harem oder zog von Festmahl zu Festmahl.

Artax konnte das nicht. Selbst wenn er sich nun eine kleine Flucht hin auf den seltsamen Wolkensammler erlaubte, hatte er lange darüber gebrütet, wie er sie vor sich rechtfertigen konnte. Er musste einfach wissen, wie es war, auf diesem neuen Wolkensammler zu reisen. Und er musste gemeinsam mit Volodi das Traumeis zurückholen! Damit würden sie die Welt verändern. Eine ganze Flotte dieser neuen Wolkensammler würde ihnen die Herrschaft über den Himmel Nangogs sichern – das wäre ein großer Schritt hin zum endgültigen Sieg über die Daimonen.

Außerdem hatte er bereits zwei Truhen mit Tontafeln an Bord des Wolkenschiffes bringen lassen. Die Sorgen seines Reiches würden ihn also bis in den Himmel Nangogs verfolgen.

Er ließ den Löwen spüren, dass er sich um seine eigene Achse drehen sollte. Ein völlig unnötiges Flugmanöver in dieser Situation, aber eines, das ein wunderbares Kribbeln im Bauch aufsteigen ließ. Er hörte Ashot auf seinem Löwen hinter sich fluchen. Sein Freund aus Jugendtagen hatte sich bislang nicht wirklich für das Fliegen begeistern können. Er meisterte es gut, doch er tat es nicht mit Leidenschaft. Ganz anders Mataan, der hoch am Himmel vergessen konnte, welch hohen Preis er dafür gezahlt hatte, seinem Herrscher das Leben gerettet zu haben. Er genoss die Freiheit, das wilde Ungestüm.

Artax hatte nur eine kleine Gruppe Löwenreiter als Eskorte. Ein Dutzend Krieger und seine wichtigsten Berater. Nun steuerte er das Flugdeck von Wind vor regenschwerem Horizont an. Das Schiff, das der Wolkensammler trug, war in nur wenigen Tagen gezimmert worden. Es war ein Gerüst, eine Notlösung, damit sie schnell die Reise beginnen konnten. Kein Vergleich zu den aufwendigen Palastschiffen der Unsterblichen.

Das unterste Deck war das Flugdeck. Der Landeplatz für ihre geflügelten Löwen und die fliegenden Bären der Drusnier. Sechzig Schritt in der Länge und knapp zwanzig Schritt in der Breite maß es. Es war fünf Schritt hoch. Sein Boden aus drei Zoll dicken Eichenbohlen gefertigt.

Als es noch auf Volodis Palasthof gelegen hatte, war es Artax riesig vorgekommen. Doch nun, da sein Löwe darauf zuflog, erschien es ihm lächerlich niedrig. Wie ein schmaler Spalt sah es von ferne aus. Das Hochgefühl des Fliegens wich Beklommenheit. Artax senkte seine lange Reiterlanze und malte sich aus, wie der Löwe zu hoch anflog und ihm der Kopf von der Kante des Oberdecks abgerissen wurde, während sein Reittier unbeschadet landete.

Nur noch fünfzig Schritt. Das verdammte Wolkenschiff lag vertäut an einem der Ankertürme von Volodis Palast. Artax fragte sich, warum er nicht wie jeder Mann mit Verstand über die Treppe des Turms hinaufgestiegen war.

Noch dreißig Schritt. Der Löwe streckte seine Schwingen und ging in den Sinkflug über. Etliche Schaulustige standen an der Reling des Oberdecks und sahen den anfliegenden Reitern zu.

Noch zehn Schritt. Artax zog unwillkürlich den Kopf ein.

Noch drei Schritt. Der Unsterbliche kniff die Augen zusammen.

Es gab einen Ruck. Metallene Löwenpranken trommelten über Eichenholz.

Artax atmete erleichtert aus.

Der Löwe lief dem Ende des Decks entgegen. Hier unten auf dem Flugdeck gab es nur rechts und links eine Reling. Beide Enden waren offen, damit die Bären und Löwen ungehindert landen und wieder davonfliegen konnten.

Artax hörte hinter sich weitere Pranken auf Holz treffen. Sein Löwe ging inzwischen nur noch im Schritt. Dann scherte er nach links aus und stellte sich neben einen der massigen silbernen Bären, auf denen die Männer Volodis flogen.

Der Unsterbliche schwang sich aus dem Sattel. Seine Knie zitterten ihm ein wenig, und er stützte sich an der Flanke des Löwen auf. Die Hand, in der er die Lanze hielt, war jedoch ruhig. Er schob die Waffe in eine Silberhülse am Hals des Löwen.

Du bist ein Narr, schalt ihn die Stimme seines Vorgängers in Gedanken. Mach so weiter, und bald wirst du, so wie ich, nur noch eine Stimme in den Gedanken des nächsten Narren sein, den der Löwenhäuptige zum Unsterblichen von Aram erhebt.

Dieses eine Mal musste Artax ihm stumm zubilligen, dass er recht hatte.

Mataans Löwe kam neben dem von Artax zum Stehen. Der Satrap stieg schwerfällig ab und zog seinen Krückstock aus einer Lederschlaufe am Sattel. »Das war mal ein Spaß«, erklärte er breit grinsend.

Artax hatte ihn schon lange nicht mehr so gut gelaunt gesehen.

Weitere Löwen landeten hinter ihnen, in schnellerer Folge nun. Ashot stieg leichenblass von seinem Reittier. Der Feldherr zitterte am ganzen Leib. »So werden wir keine Daimonen besiegen. Diese verfluchten Biester werden uns alle umbringen.« Er schlug seinem Löwen mit der flachen Hand auf die Mähne, dass es nur so schepperte. »Das Mistvieh hätte mich fast enthauptet, als wir gelandet sind.« Er zeigte mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von knapp einem Zoll. »So viel hat gefehlt! Ich schwöre es euch. Nur so viel. Diese Bestie wollte mich umbringen.«

»Du hättest doch den Kopf einziehen können.« Ormu, der rotbärtige Jäger aus Garagum trat zu ihnen. »Ich bin hinter dir geflogen. Du hast so steif im Sattel gesessen, als hättest du einen Stock verschluckt.«

»Du meinst, ich hätte diesem Haufen aus Eisenschuppen meine Angst zeigen sollen? Mich wegducken? Im Leben nicht!« Ashot bedachte seinen Löwen mit einem finsteren Blick. »Glaub mir, nicht ich werde es sein, der hier am Ende klein beigibt!«

Artax musste schmunzeln. Ashot redete mit dem Löwen wie mit einem störrischen Esel. Schon in ihrer gemeinsamen Kindheit hatte sich sein Freund mit einem Esel angelegt, ihn beschimpft und zuletzt mit einer Rute geschlagen. Dafür hatte sich Ashot einen Tritt eingefangen, der ihn zur Stalltür hinausfliegen ließ. Eine Ewigkeit war seitdem vergangen. Mehr als zwanzig Jahre, und doch schien dieser Nachmittag nur einen Augenblick zurückzuliegen. Ashot war nun ein Feldherr. Aber er hatte sich nicht verändert.

Der letzte der Löwen war inzwischen gelandet. In langer Reihe standen sie an der Seite des Flugdecks. Jetzt erschienen sie wie metallene Statuen. Unbeweglich. Tot. Sie waren unheimlich. Aber das waren ihre Gegner, die Daimonen, auch. Sie brauchten solche Schreckenskreaturen, wenn sie siegen wollten.

Artax wandte sich zu einer der Leitern, die hinauf zum Oberdeck führten. Entschlossen, dem Flugdeck so rasch es ging zu entkommen, stieg er die Sprossen hoch. Das Holz war klebrig von Harz. Es war noch ganz hell, erst im Sommer geschlagen.

Auf dem Oberdeck herrschte reges Treiben. Wolkenschiffer spannten Netze über Vorratsamphoren, die an Bord getragen wurden. Überall standen Zelte, die der Mannschaft bei Nacht Zuflucht bieten sollten. Die Zeit hatte nicht gereicht, richtige Quartiere zu zimmern. Überall wurde improvisiert. Volodi hatte möglichst schnell aufbrechen wollen. Warum er so in Eile war, hatte er Artax nicht verraten wollen. Er wirkte getrieben. Ganz so, als würde er vor etwas davonlaufen.

Der Unsterbliche entdeckte seinen Freund zwischen zwei großen Speerschleudern an der Reling stehend. Volodi war allein, den Kopf gesenkt. Seine Leibwachen hielten einige Schritt Abstand zu ihm. Artax ließen sie passieren, sein Gefolge nicht.

»Was ist los?« Artax hatte Volodi selten in einer solchen Stimmung erlebt. Eigentlich war er immer unbeschwert, ja, fast schon leichtfertig.

»Ist sich Ärger mit fleckige Leber«, murmelte der Drusnier. »Glaubst du, kann sich verstecken Schicksal von mich in sich Leber von Hahn?«

Artax verstand nicht, was er meinte.

»Sie sagt, hat sich gefunden Zukunft von mich, versteckt in sich Leber von Hahn?«

Der Unsterbliche wusste nicht, was er seinem Freund darauf erwidern sollte. Er hatte nicht einmal im Ansatz verstanden, was für ein Problem Volodi hatte.

»Seit sie hat sich gefunden Leber, liegt sich ein Schatten auf mich. Und ich selbst habe mich meine Ehre besudelt. Und jetzt ist sich Quetzalli nicht hier. Habe ich mich wohl nicht besser verdient.« Er gab den Befehl, die Leinen zu lösen. Einer der dünneren Tentakel des Wolkensammlers senkte sich zu Volodi herab, und der Drusnier griff danach. Er schloss die Augen und sah aus wie jemand, der angestrengt versuchte, geflüsterten Worten zu lauschen.

Das Schiff trieb ein paar Schritt vom Ankerturm fort, dann weitete der Wolkensammler seine Schwingen und flog gen Süden. Nur zwei Frauen standen auf dem Turm. Sie sahen aus wie Dienerinnen. Wild schwenkten sie mit den Armen. Quetzalli und Wanya waren nirgends zu sehen.

Artax hoffte, dass für Volodi alles wieder in Ordnung kommen würde. Vielleicht half eine Trennung ja … Dann dachte er, was für ein Narr er war. Er wusste es besser! Eine Trennung half nicht!

Fast vertrauenswürdig

Quetzalli sah zu, wie der Wolkensammler gegen den Wind drehte und mit kräftigen Flügelschlägen gen Süden strebte. Sie stand im Eingang des Langhauses. Schon mehr als eine Stunde. Sie hatte gesehen, wie Volodi auf dem Hof nach ihr Ausschau gehalten hatte, dann auf der Treppe des Ankerturms und schließlich vom Oberdeck des Wolkenschiffes. Es war das erste Mal, dass sie ihn nicht verabschiedet hatte, wenn er auf eine Reise ging.

Sie kämpfte gegen den Kloß, der ihr im Hals steckte. Gegen das Gefühl, dass ihr die Brust zu eng zum Atmen war. Sie wusste, er würde es auf Anisja schieben. Aber mit dieser Schlampe war sie durch. Dieses falsche Luder mit ihren schweren Titten und dem goldenen Haar würde nie wieder zwischen ihr und ihrem Mann stehen. Dafür hatte Hauptmann Oleg gesorgt.

Sie konnte wegen Wanya nicht hinaus. Sie hätte Volodi gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn verabschieden müssen. Doch es ließ sich nicht mehr verheimlichen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Sie durfte nicht zulassen, dass der ganze Hofstaat ihn sah. Dass es zu Gerede kam … Quetzalli war ratlos. Lange konnte sie dieses Geheimnis nicht mehr wahren. Was sollte sie tun? Der Wolkensammler strebte dem Horizont entgegen und verschwand im Blau des endlosen Himmels. Sie hätte Volodi verabschieden müssen. Sie wusste, dass ihm große Gefahr drohte, dass er vielleicht nicht wiederkommen würde. Am Morgen hatte sie noch einmal einen Hahn geopfert und die Götter nach einem Zeichen befragt. Die Leber dieses Tiers war voller Würmer gewesen. Deutlicher hätte die Antwort der Götter nicht ausfallen können. Volodi war in Gefahr, zu einem Fraß der Würmer zu werden. Dort, irgendwo im Süden würde er dem Tod begegnen.

Quetzalli wand sich ab und trat ins Langhaus. Niedergeschlagen hielt sie den Blick zu Boden gerichtet. Sie wollte mit niemandem sprechen. Sie nahm den kurzen Weg durch die große Halle und trat von dort in den Flur, der zu ihren Gemächern führte. Erst als sie ihre Kammer schon fast erreicht hatte, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Die Wachen, die vor der Tür stehen sollten, waren verschwunden. Und die Tür stand offen!

»Wanya!«, schrie sie auf, zog das Messer aus ihrem Gürtel und rannte los.

Neben der Wiege stand Yuri. Der Heiler hielt ihren Sohn auf dem Arm und wiegte ihn fürsorglich. Doch in seinen Augen lag keine Liebe. »Ihr habt dem Unsterblichen lange nachgeblickt, Herrin«, sagte er höhnisch. »Ich dachte, ich sehe derweil nach dem Kleinen. Ein hübscher Junge.« Er lächelte nachdenklich und legte ihn dann zurück in die Wiege.

Quetzalli hob den Dolch. Sie würde ihm die Kehle aufschlitzen. Leider musste es schnell gehen. Eigentlich sehnte sie sich danach, ihm einen klaffenden Schnitt unter dem Rippenbogen zu setzen und nach seinem schlagenden Herzen zu greifen, es in ihrer Hand zusammenzupressen, bis es erschlaffte. Er hatte sich keinen leichten Tod verdient, dieser überhebliche Bastard.

»Euer Sohn erinnert mich an eine hübsche Blüte, Herrin. Er ist wirklich bezaubernd anzusehen, und er hat etwa so viel Verstand, nicht wahr?«

Sie machte einen Schritt auf ihn zu und hob drohend ihren Dolch.

»Ich habe Oleg heute Morgen ein Kästchen mit einem Brief auf Birkenrinde bringen lassen. Stellt Euch nur vor, Herrin, dieser Tunichtgut von einem Hauptmann kann lesen. Ich war sehr überrascht, als ich davon hörte.«

»Von dem Ungemach, überrascht zu werden, kann ich dich erlösen, Yuri. Endgültig.«

»Ich hatte befürchtet, dass unser Treffen eine solche Wendung nehmen könnte, Herrin. Deshalb steht in dem Brief, wie sehr ich fürchte, dass Ihr mich ermorden werdet, weil ich entdeckt habe, dass Ihr den Sohn des Unsterblichen vergiftet habt. Ich habe auch beschrieben, was er tun soll, um festzustellen, dass sich Wanya nicht wie ein normales Kind verhält.«

Quetzalli trat einen weiteren Schritt vor. Sie setzte dem Heiler die Spitze des Dolches auf die Kehle. »Worte werden dich nicht retten.«

»Er wird dieses Kästchen öffnen, wenn ich es nicht zur Abendstunde abhole, Herrin. Könnt Ihr Euch leisten, dass sich herausstellt, dass ich nicht gelogen habe? Was glaubt Ihr, werden sie mit Euch tun? Ihr wisst, wie viele Euch für eine Hexe halten. In meinem Volk verbrennt man Hexen und streut die Asche in einen Fluss. Glaubt Ihr, sie werden damit warten, bis Volodi zurück ist?«

Quetzalli ließ den Dolch sinken. Diese Art Krieg suchte er also. »Ich könnte die Wachen rufen und behaupten, dass du Wanya ein Leid angetan hast.«

Sein überhebliches Lächeln wurde noch breiter. »Das könntet Ihr, Herrin. Natürlich würde ich entschieden widersprechen. Ich würde ihnen sagen, dass Ihr einen bösen Zauber mit einem Hahn gewirkt habt und Ihr den Jungen Euren Ahnen geopfert habt, wie es in Eurem Volk mit jedem Erstgeborenen geschieht.«

»Unsinn!«, widersprach sie entschieden.

»Vielleicht. Aber hier im Palast leben einfache Menschen, was wissen sie schon über Eure Bräuche, Herrin.«

»Es sind meine Leibwachen. Ein Befehl von mir, und sie legen dir deinen Kopf vor die Füße.«

»Glaubt Ihr? Es sind die Leibwachen Volodis. Euch mag hier keiner. Ich hingegen kenne die meisten dieser Männer schon viele Jahre. Es ist kaum einer dabei, dem ich nicht schon eine Wunde vernäht oder einen Trank gegen Fieber gebraut habe. Mir gegenüber sind sie verpflichtet. Wollt Ihr wirklich auf die Probe stellen, wie sie Euch gegenüber empfinden?« Er wies mit leichter Geste zur Tür hin. »Wie Ihr seht, konnte ich die Wachen einfach fortschicken, weil sie meinem Wort vertrauen. Ruft sie nur. Finden wir heraus, wem von uns beiden sie glauben werden, wenn wir ihnen zwei verschiedene Geschichten darüber erzählen, was Wanya widerfahren ist.«

Quetzalli öffnete den Mund … Dann schloss sie ihn wieder. Es war zu ungewiss, wie ein solcher Streit ausgehen würde. Wenn in ihrem Volk Priestertöchter vermählt wurden, dann nahmen sie stets ein großes Gefolge mit an den Hof ihrer neuen Familie. Dienerinnen und Köche, einen Heiler, einige Leibwächter. Nie war ihr so klar wie in diesem Augenblick gewesen, warum es diese Tradition gab. Volodi liebte sie, daran hegte sie nicht den geringsten Zweifel. Aber er war der Einzige hier, der so für sie empfand. Jetzt, da er fort war, hatte sie hier keine Freunde. Keinen Verbündeten.

Sie war die Herrscherin von Drusna. Aber sie beherrschte hier niemanden. Selbst dieser intrigante alte Heiler besaß mehr Macht am Königshof als sie, wenn Volodi nicht zugegen war, um seine schützende Hand über sie zu halten. Sie hatte zu häufig nur auf Innereien geschaut, statt sich darum zu kümmern, Herzen zu erobern. Das war ein Fehler gewesen. »Was willst du?«, fragte sie frostig.

»Berufe mich auf einen Ehrenplatz an deiner Festtafel. So wird jeder bei Hof sehen, dass mein Ansehen wiederhergestellt ist.«

»Und wenn ich das nicht tue?«

Er hob resignierend die Hände. »Wollt Ihr Eurem Sohn helfen, Herrin?«

»Ihr könnt ihn heilen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich verspreche nichts. Um an bestimmte Kräuter zu kommen, braucht man nicht allein Gold, sondern auch Ansehen …«

Sie traute ihm nicht. Er würde alles tun, um wieder in Amt und Würden zu gelangen. Er hatte kein Gewissen! Und doch – vielleicht wusste er etwas. Iwar hatte ihm vertraut. Er war lange Zeit der bedeutendste Heilkundige des Reiches gewesen. Es musste doch ein Fundament geben, auf dem sein Aufstieg gründete.

»Du kannst Wanya heilen?«, fragte sie erneut, drängender.

Er schüttelte den Kopf. »Ich verspreche Euch nichts, Herrin. Aber ich werde alles versuchen. Und vor allem werde ich Euer Geheimnis wahren und verteidigen.«

So wie er dastand, aufrecht mit seinem ehrwürdigen weißen Bart und dem herausfordernden Blick, wirkte er fast vertrauenswürdig.

»Ich erwarte dich am Abend an der Festtafel.« Sie musste ihm Honig ums Maul schmieren. Wenn sie Zeit gewann, dann würde sie auch einen Weg finden, ihn loszuwerden. Sie blickte in die Wiege. Wanya lag reglos. Er starrte sie mit offenen Augen an, in denen keine Emotion lag. Nichts an diesen Augen erinnerte noch an das Kind, das er gewesen war, bevor die Daimonen diesen Palast heimgesucht hatten.

Das Geschenk

Sie mochte das Langhaus nicht. Das ausgelassene Lärmen der Krieger. Sie wusste, dass sich die Männer noch zügelten, solange sie hier war. Sie soffen nicht, bis sie rücklings von den groben Bänken stürzten, und grölten nicht ihre Lieblingslieder über Frauen, die für ein paar Kupferstücke die ungeheuerlichsten Dinge taten.

Sie spürte, wie ihre Anwesenheit auf dem Festsaal lastete. Spürte die verstohlenen Blicke. Manche hatten auch Angst vor ihr. Für eine Hexe gehalten zu werden brachte durchaus Vorteile. Nur wenige dieser Kerle waren Manns genug, ihrem Blick standzuhalten.

Sie hatte auf dem Hochsitz Platz genommen. Jenem mit prächtigen Schnitzarbeiten geschmückten Thron, auf dem sonst Volodi saß. Ihre Hände lagen auf den Armlehnen, die in Bärenköpfen endeten. Sie trug ein leichtes Gewand aus ihrer Heimat, das in schillernden Farben die Gefiederte Schlange zeigte. Es war eine der Gestalten, die der Devanthar ihres Volkes annahm. Halb im Schlund der Schlange verschwunden, steckte ein Mann mit goldenem Haar, der flehend die Arme emporstreckte. Volodi mochte dieses Kleid nicht. So genoss sie es umso mehr, es in seiner Abwesenheit endlich tragen zu können. Ihr war bewusst, was für eine Provokation das war. Aber sollten sie nur die Hexe fürchten, die sie in ihr sahen.

Rauch zog aus der langen Feuergrube in der Mitte der Halle. An drei Drehspießen hingen Schweine über der Glut. Zischend troff ihr Fett in die Holzkohlen. Zwei Mägde schnitten mit langen Messern Streifen von der Schwarte und tischten sie den Kriegern zusammen mit dunklem Brot auf.

Zwei Tischreihen standen rechts und links der Feuergrube. Eine dritte am Ende des Saals, quer dazu. Hier gab es nur acht Plätze. Sie waren besonderen Gästen und Würdenträgern des Reiches vorbehalten. Quetzalli hatte dafür gesorgt, dass an diesem Abend einer der begehrten Plätze frei blieb.

Ihr Thron stand auf einem Podest unmittelbar hinter den Ehrenplätzen. So überblickte sie die Halle, und jeder vermochte sie gut zu sehen.

Immer wieder blickte Yuri zu ihr auf. Er saß nicht weit von der Tür. Damit stand er im Rang nicht höher als irgendein junger Krieger aus der Leibwache Volodis, der noch keine Gelegenheit hatte, Ruhm im Kampf zu erringen. Er bedachte sie mit unangemessen fordernden Blicken, deshalb hatte sie sich bislang Zeit gelassen.

Quetzalli genoss es, ihn zappeln zu lassen. Außer verärgert dreinzuschauen konnte Yuri im Augenblick nichts tun. Es mochte ein Viertel von einer Stunde verstrichen sein, als sie sich schließlich erhob und nach dem schweren, silbernen Methorn im Ständer auf dem kleinen Tisch neben ihrem Thron griff. »Männer!« Ihre Stimme übertönte mühelos den Lärm der Zecher. Als Priesterin war sie ausgebildet worden, zu großen Menschenmengen zu sprechen. Sie hob das Trinkhorn hoch über ihr Haupt.

»Auf Volodi, der über den Adlern schreitet! Möge er siegreich zurückkehren!«

»Auf Volodi!«, ertönte es aus begeisterten Kriegerkehlen. Alle hoben sie ihre Trinkhörner und blickten nach Süden, dorthin, wo vor vielen Stunden der Wolkensammler verschwunden war. Viele bedauerten es, nicht an Bord zu sein.

Volodi hatte ein Geheimnis daraus gemacht, wohin die Reise ihn führen würde. Das war ein schlechtes Zeichen! Bislang hatte er vor Quetzalli immer schon im Voraus mit den Heldentaten angegeben, die er zu begehen gedachte. Auch dass der Unsterbliche Aaron ihn begleitete, verhieß nichts Gutes. Etwas Bedeutendes würde geschehen! Und etwas Gefährliches. Sie musste wieder an die Leber denken. An all die Würmer.

Die Jubelrufe verstummten langsam. Die Männer sahen zu ihr auf. Sie erwarteten, dass sie noch etwas sagte. Quetzalli hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als jene Worte auszusprechen, die sie sich den ganzen Abend über zurechtgelegt hatte.

»In eurer Mitte gibt es einen Mann, der hundertfach dem Tod entgegengetreten ist. Und auch wenn er manche Niederlage erlitt, nimmt er den Kampf stets furchtlos aufs Neue auf.«

Die Krieger wirkten verwundert. Niederlagen endeten für sie meist tödlich.

»Es ist ein Mann, der weder Schwert noch Axt in Händen hält, wenn er in den Kampf zieht. Ein Mann, für den die Schlacht auch dann nicht vorüber ist, wenn für alle anderen längst die Waffen ruhen.«

Sie sah die Ratlosigkeit in den Gesichtern der Männer. Einige wirkten sogar verärgert. Glaubten sie etwa, sie mache einen Spaß auf ihre Kosten?

»Der Mann, von dem ich spreche, ist Yuri, der Heiler des Unsterblichen Iwar. Ein Mann in unserer Mitte – kein Krieger! Und doch ist er so wichtig wie der Mann an eurer Seite, wenn ihr im Schildwall steht.« Quetzalli sah, wie einige der Männer beifällig nickten. Es war still im Saal. Niemand machte Scherze über ihren Akzent, der sonst so oft zur Zielscheibe des Spottes der Drusnier wurde. Natürlich nur, wenn sie glaubten, dass sie es nicht bemerkte.

»Yuri, mein Mann hat dir unrecht getan, als er dich von der Ehrentafel verbannte. Erhebe dich, Heiler!«

Der weißhaarige Mistkerl stand auf. Die Männer, die neben ihm saßen, klopften ihm auf die Schultern oder knufften ihn mit den Fäusten. Yuri verbeugte sich. »Ich bin … überwältigt. Ich … Wirklich, ich … Es ist nicht notwendig. Ich bin wie die Krieger um mich. Ich bin einer von ihnen. Ich sitze gerne in ihrer Mitte.«

Verlogener Arsch, dachte Quetzalli. Doch sie lächelte. »Wem in dieser Halle hat Yuri schon geholfen? Hebt einen Arm, Männer, wenn der Heiler euch je zu Diensten war.«

Der Heiler bedachte sie mit einem ärgerlichen Blick. Ja, so war das nicht abgesprochen. Aber sie war kein Püppchen, das an Fäden tanzte. Sie wollte wissen, wie groß der Rückhalt des Heilers wirklich war.

Nicht einmal ein Drittel der Männer hob den Arm. Manche prosteten dem Heiler dabei mit ihren Trinkhörnern zu. Es waren deutlich weniger, als er behauptet hatte, aber immer noch zu viele, um Yuris Einfluss zu ignorieren.

»Nun, Männer«, fuhr sie fort. »Er ist einer von euch. Es ist selbstsüchtig von mir, wenn ich ihn eurer Mitte entreiße. Er ist gerne bei euch. Ich weiß, es wird viel über mich geredet. Manche nennen mich eine Hexe. Einige haben wahrscheinlich noch weniger schmeichelnde Bezeichnungen für mich.« Sie machte eine kurze Pause und genoss die Totenstille, die nur vom Zischen des Fetts unterbrochen wurde, das in die Glut troff. Kaum einer dieser schlachterprobten Bastarde wagte es, ihr in die Augen zu sehen. »Mir liegt euer Wohl genauso am Herzen wie dem Unsterblichen. Deshalb frage ich euch: Gibt es einen, der nicht wünscht, dass ich Yuri aus eurer Mitte reiße, damit er einen Ehrenplatz an meiner Tafel einnimmt? Wenn ja, dann spreche er jetzt!«

Sie genoss das Entsetzen im Blick des Heilers.

Leises Raunen setzte ein. Sie waren noch nie gefragt worden, das wusste Quetzalli. Unsterbliche trafen ihre Entscheidungen einsam. Sie beteiligten höchstens ihre engsten Berater. Ganz sicher aber nicht die einfachen Krieger.

»Ich höre!«, rief sie fordernd.

Yuri redete auf einige der Männer an seiner Seite ein. Lag da Panik in seinem Blick?

Niemand erhob das Wort. Die Entscheidung war gefallen. »Nun denn, Yuri. Tritt aus den Reihen der Männer und nimm den Platz ein, der dir gebührt!« Sie wies auf den leeren Sitzplatz an der Ehrentafel.

Yuri erhob sich. Er schaffte es, ganz wunderbar verlegen zu wirken. Verdammter Heuchler! Sie würde einen Weg finden, ihm diesen erschlichenen Ehrenplatz wieder abzunehmen, schwor sich Quetzalli.

Als Yuri seinen Platz an der Ehrentafel erreichte, setzte er sich nicht. Er sah zu Quetzalli hinauf, und sie hatte das Gefühl, eine Herausforderung in seinem Blick zu sehen. Nur drei oder vier Herzschläge verharrte der Heiler so, maß sie mit kalten, berechnenden Augen, dann wandte er sich zu den Kriegern um. »Dies ist eine der größten Stunden meines Lebens. Mir fehlen die Worte, zu sagen, wie stolz und dankbar ich bin. Also möchte ich meiner Dankbarkeit auf andere Art Ausdruck verleihen.« Er klatschte in die Hände. Eine Geste, die in eklatantem Gegensatz zu seinen bescheidenen Worten stand. »Mascha!«

Eine der Dienerinnen bei den Bratenspießen sah erschrocken auf. Sie war eine ein wenig pummelige Rothaarige, die den Platz von Anisja eingenommen hatte. Quetzalli war sich sicher, dass dieses schlichte Bauernmädchen nicht Volodis Aufmerksamkeit erwecken würde.

»Geh in meine Kammer, Mascha, und hole die Dinge, die ich dort auf den Tisch gelegt habe. Ich möchte sie unserer Herrin schenken.«

Die Dienerin verließ eilig und mit hochrotem Kopf die Halle. Alle Augen lagen auf ihr.

Quetzalli ertappte sich dabei, dass die Finger ihrer rechten Hand auf die Armlehne des Hochsitzes trommelten. Was führte Yuri im Schilde? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass von ihm eine freundliche Geste zu erwarten war. Oder täuschte sie sich in ihm? Würde er ihr die Gnade, die sie ihm erwiesen hatte, mit Loyalität vergelten?

Er sah wieder zu ihr auf. Der Heiler lächelte, doch waren seine Lippen dabei zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

Mascha kehrte erstaunlich schnell zurück. Sie trug ein schweres Fell auf beiden Armen. Dazwischen lugte weißes Leinen hervor.

»Sehr gut, Mädchen«, lobte Yuri. »Komm zu mir!«

Leises Murmeln begleitete Mascha auf ihrem Weg zu den Ehrenplätzen. Dem Mädchen stand der blanke Schweiß auf der Stirn. So im Mittelpunkt zu stehen war offensichtlich die reinste Folter für sie. Quetzalli war sich sicher, auch das war Teil von Yuris Plan. Er mochte ein Heiler sein, aber ein Menschenfreund war er ganz gewiss nicht.

Was immer Yuri auch ausgeheckt hatte, er hatte die volle Aufmerksamkeit aller im Saal.

Als Mascha den Heiler erreichte, bedeutete er ihr, vor den Hochsitz zu treten. »Gestattet, Herrin, dass ich Euch diese Geschenke als Zeichen meiner unverbrüchlichen Dankbarkeit zu Füßen lege.« Er versetzte der Dienerin, die wie gelähmt vor Entsetzen war, einen Knuff mit dem Ellenbogen. Offenbar fürchtete sich das Mädchen, ihr auch nur nahe zu kommen.

Schließlich nahm Yuri Mascha die Gaben von den Armen und legte sie vor dem Hochsitz nieder. Dann zog er das Leinen aus dem Fellstapel. Es war ein weißes Kleid, bestickt mit goldenen Ähren und bunten Blüten. »Dies ist ein Gewand, wie es die edelsten Damen unseres Reiches zu großen Festen tragen«, erklärte er. Dann strich er mit der Hand über das schwarze Fell. »Und dies, meine Gebieterin, ist das Fell eines riesigen Schwarzbären, tief aus den Wäldern meiner Heimat. Es ist allein Herrschern vorbehalten, solche Umhänge zu tragen. Legt Eure barbarischen Kleider ab und diese Gewänder an, Herrin. Öffnet Euer Herz für uns. Setzt ein Zeichen und werdet eine von uns!«

Quetzalli verschlug die Dreistigkeit des Heilers schier die Sprache. Wie konnte er es wagen, hier vor den versammelten Getreuen Volodis zu fordern, dass sie diese bäurischen Kleider anlegte. Sie war eine Zapote! In diesen Kleidern würde sie lächerlich aussehen!

»Was meint ihr, Männer? Soll sie eine von uns sein? Werdet ihr sie willkommen heißen?«

Quetzalli traute ihren Ohren nicht. Sie erhob sich von ihrem Hochsitz und wollte etwas sagen, doch das leise Murmeln unter den Kriegern schwoll zu donnernden Rufen an.

»Ehrt uns, Herrin! Seid unsere Fürstin. Ehrt den Großen Bären und Drusna!«, riefen die Krieger durcheinander und stampften dazu mit den Füßen auf den Boden.

Yuri trat an ihre Seite. »Tut es!«, zischte er leise. »Oder ich werde fordern, dass Wanya jeden Abend zum Mahl neben Euch sitzen soll. Die Männer wollen ihren Prinzen sehen. Sie werden keine Ruhe mehr geben, wenn ich einmal damit anfange … Geht Euch umziehen! Dann erspare ich Euch dies.«

Ein Geschmack wie Galle lag in Quetzallis Mund. Dieser verfluchte Bastard hatte sie übertölpelt. Sollte die Gliederfäule ihn befallen! Sollten Maden in seinem schwärenden Fleisch nisten, sollte er in den Wahnsinn gleiten, während er zusah, wie sich das Gewürm an ihm mästete! Sie hob die Arme und gebot den Männern in der Halle zu schweigen.

»Krieger Drusnas!«, rief sie. »Es ehrt mich, dass ihr mich zu einer eures Volkes machen wollt. Voller Stolz sehe ich, wie ihr mir eure Herzen öffnet. Es ist das größte Geschenk, das ich je erhalten habe. Wenn ich nun gehe, wird die Zapote, die eine Fremde an eurem Hof war, für immer verschwinden. Die Frau, die in diese Halle zurückkehrt, wird eine von euch sein.« Sie versuchte, das Beste aus dem zu machen, was Yuri ihr angetan hatte.

»Heil dir, Königin!«, rief ein einzelner Krieger weit unten an der Tafel, und Hunderte Füße stampften auf den Boden, um seine Worte zu unterstreichen.

Sie winkte Mascha. »Trage die Kleider in mein Gemach.«

Dann folgte sie der Dienerin, innerlich zerfressen vor Zorn. Nie zuvor hatte sie sich so gedemütigt gefühlt. Nicht einmal als ihr Bruder ihr verkündet hatte, dass die Priester entschieden hatten, dass sie nur noch Fleisch für die Jaguarmänner wäre.

Das war eine gerechte Strafe für ihre Verfehlungen gewesen. Aber dies hier …

Als sie ihre Kammer erreichte, schickte sie Mascha umgehend hinaus. Keiner von diesen Bauerntrampeln sollte sie nackt sehen! Wütend zog Quetzalli ihr kostbares Gewand aus. Dann nahm sie das Kleid aus Leinen. Die Stickarbeiten waren nicht unterfüttert. Sie würden auf ihrer Haut kratzen. Sie wusste, dass selbst drusnische Näherinnen in der Lage waren, bessere Arbeit zu leisten. Ganz gewiss hatte Yuri nicht die Absicht, dass sie sich in diesem Kleid wohlfühlte. Er musste das hier schon lange geplant haben. Dieses Kleid war gewiss nicht innerhalb weniger Tage entstanden.

Quetzalli streifte es über den Kopf. Es saß erbärmlich schlecht! Die Ärmel waren zu lang, sodass sie halb über ihre Hände reichten. Die Schultern zu weit geschnitten. Sie hätte auch einen Sack tragen können!

Tränen der Wut standen ihr in den Augen. Es gab keinen Weg mehr aus der Falle, in die sie hineingetappt war. Sie musste in den Saal des Langhauses zurück. Und wenn sie nicht diese Gewänder trug, dann würde der unterschwellige Hass der Höflinge in offene Feindschaft gegen die fremde Herrscherin umschlagen. Also musste sie sich auf dieses böse Spiel einlassen.

Sie blieb neben Wanyas Wiege stehen. Ihr Sohn starrte sie aus blicklosen Augen an. Es war das erste Mal, dass sie ihn hasste. Er hatte sie erpressbar gemacht. Ohne ihn wäre sie nicht in dieser verzweifelten Lage.

Sie ballte die Hände zu Fäusten. So fest, dass sich ihre Fingernägel in die Handflächen gruben. Wie konnte sie so denken! Sie musste ihre Gefühle beherrschen. Sie war es, die ihn zu dem gemacht hatte, was er nun war! Ihre Angst! Hätte sie ihm die Hand nicht so fest auf Mund und Nase gepresst, als die Daimonen gekommen waren, alles wäre noch gut. Es war allein ihre Schuld. Eine Schuld, die sie niemals tilgen konnte. Ihr blieb nur noch, ihn zu beschützen. Und deshalb musste sie hinaus in die Festhalle, auch wenn sie sich dort der Lächerlichkeit preisgab.

Sie nahm den schweren Umhang aus Bärenfell und legte ihn sich um die Schultern. Das Fell stank. Es war hart und schlecht gepflegt. Kein Adliger oder Priester in Zapote hätte so etwas getragen. Zudem war der Umhang zu lang. Er schleifte hinter ihr über den Boden. Die Schultern waren so breit, dass ihr Kopf winzig wirken musste. Diese Kleider machten sie zur grotesken Witzfigur. Niemand würde sie nach diesem Abend mehr fürchten.

Sie beugte sich über die Wiege und küsste Wanya auf die Stirn. »Bitte vergib mir«, flüsterte sie. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie straffte sich. Mit durchgedrücktem Rücken und hocherhobenem Haupt machte sie sich auf den Weg zum Festsaal.

Sie wurde pflichtschuldig mit Hochrufen begrüßt. Aber sie sah, wie die Männer bald die Köpfe zusammensteckten und lachten. Noch unerträglicher war jedoch die zufriedene Miene, die Yuri aufgesetzt hatte. Diese Nacht war sein großer Triumph.

Es sollte sein letzter sein, entschied Quetzalli. Wenn sie ihn nicht aus dem Weg schaffte, dann würde er weitere Demütigungen für sie ersinnen.

Machtlos

Sie hatte lange im Schatten der Eichen des Geisterhains gewartet. Hin und wieder traten grölende Krieger aus dem Langhaus, suchten den Weg zu ihren Quartieren oder erleichterten sich ungehemmt mitten auf dem Hof. In die Nähe des Geisterhains wagte sich keiner von ihnen. Die Bäume waren ihnen heilig. Selbst im Vollrausch vergaßen sie das nicht.

Die Nacht war mehr als halb verstrichen, bis der eine aus dem Langhaus trat, auf den Quetzalli gewartet hatte. Ihr einziger Vertrauter. Hauptmann Oleg. Er hatte sichtlich Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Auf der breiten Treppe hinab zum Hof strauchelte er beinahe.

Mehr als zwei Stunden hatte Quetzalli unter den Bäumen gestanden und auf das Wispern des Windes in den Blättern gelauscht. Die Drusnier glaubten, dass Auserwählte die Stimmen der Ahnen in den Heiligen Hainen hörten. Sie war gewiss keine Auserkorene. Sie hatte keinen Rat im Raunen des Windes vernommen. Doch sie wusste auch so, was richtig war. Was getan werden musste. Gut, dass es Oleg gab!

Viel lieber hätte sie sich an ihren Bruder Necahual gewandt. Er war ein Jaguarmann. Einer ihrer Anführer. Er könnte Yuri einfach zerfetzen. Doch jeder Weg zu den Zapote war ihr versperrt. An dem Tag, an dem sie über dem Altarstein stehend gezögert hatte, Volodi das Herz herauszuschneiden, hatte sie für immer mit ihrem Volk gebrochen. Sie hatte ihren Gott verraten. Die Priesterfürsten und der Unsterbliche Acoatl würden ihr das niemals verzeihen. Sie hatte ihr Volk verloren, und sie wusste, sie würde die Drusnier nie für sich gewinnen. Ihre Liebe zu Volodi hatte sie heimatlos, ja, schlimmer noch, zur Ausgestoßenen gemacht. Aber sie würde darum kämpfen, respektiert zu werden. Und sei es, dass dieser Respekt aus Angst geboren war.

Oleg hatte fast die Mitte des Hofs erreicht, als sie die Deckung der Bäume verließ. Das lächerliche Bärenfell hatte sie gegen einen Umhang aus schwarzer Wolle getauscht, der sie zu einem Schatten in der Nacht werden ließ. Oleg zuckte sichtlich zusammen, als sie an seine Seite trat.

»Herrin?«, lallte er, als er sie erkannte.

»Ich schulde Euch Dank, Hauptmann.« Sie neigte das Haupt, auch wenn es ihr schwerfiel, sich vor diesem versoffenen Barbaren demütig zu zeigen.

»Häh?« war alles, was dem Krieger dazu einfiel.

»Ihr habt mir sehr geholfen, als Ihr Anisja beigestanden habt, den Palast zu verlassen.«

»Beigestanden habt …?« Er schnaubte ärgerlich. »Das trifft es nicht so ganz. Ich hab sie umgebracht, weil sie so dämlich war, sich in das Bett des Unsterblichen zu schleichen, ohne dich um Erlaubnis zu bitten, Herrin.« Er spuckte aus. »Das hätt ich vielleicht lassen sollen. Ich glaub, Volodi hat sie wirklich gemocht.« Er blinzelte. »Sie hatte etwas an sich …«

»Nein, Ihr habt das Richtige getan, Hauptmann!«, unterbrach Quetzalli die weinseligen Grübeleien des Kriegers. »Und ich möchte Euch um einen weiteren Gefallen bitten.«

»Yuri?«

Auch wenn er betrunken war, war sein Hirn offensichtlich noch nicht ganz vernebelt. Das warf die Frage auf, ob er sie absichtlich nicht ansprach, wie es einer Herrscherin gebührte, oder ob er tatsächlich so betrunken war, dass er die Feinheiten der Anrede nicht mehr zusammenbrachte.

Oleg lachte auf. Es war ein verzweifelter, freudloser Laut. »Er ist es! Du hast mich hier erwartet, um mich wieder um einen Mord zu bitten.«

»Es wird nicht Euer Schaden sein, Hauptmann. Wovon träumt Ihr? Land? Vielleicht ein Fürstentitel?«

Er machte eine abwehrende Geste. »Du kannst mir keinen Fürstenthron verschaffen …«

»Ich kann Volodi davon überzeugen, dass Eure treuen Dienste eine besondere Belohnung verdienen.«

Er schüttelte übertrieben den Kopf. »Schweig!«

Er hatte das so laut ausgerufen, dass Quetzalli sich besorgt umsah, ob sie die Neugier anderer geweckt hatten. Doch der Palasthof schien verwaist zu sein.

»Folgt mir in die Schatten!« Sie griff ihn energisch am Arm und zog ihn mit sich in den Schutz der Eichen. Sie war sich bewusst, wie das für etwaige heimliche Beobachter aussehen musste. Aber sollten sie nur tratschen. Volodi würde niemals an ihrer Treue zweifeln. Aus dieser Richtung drohte keine Gefahr.

»Ihr müsst es tun, Hauptmann«, beharrte sie. »Lasst Yuri verschwinden. Ganz gleich, wie Ihr es anstellt. Ich würde es begrüßen, wenn er in die Schweinestallungen fällt. Dieses Schwein gehört zu seinesgleichen. Solch ein Ende wäre für ihn angemessen.«

»Dieses Schwein hat mir zwei Mal geholfen. Einmal war ich so schwer verletzt, dass ich ohne seine heilenden Hände vielleicht gestorben wäre. Ich kann ihn nicht töten!«

Quetzalli verfluchte sich stumm dafür, dass sie nicht darauf geachtet hatte, ob Oleg sich gemeldet hatte, als sie danach gefragt hatte, wer in der Schuld des Heilers stand.

»Denk nicht mal darüber nach, Herrin. Bitte, ich beschwöre dich. Zu viele Männer sind ihm verpflichtet. Versuch keinen anderen zu finden …«

»Yuri hat mich heute lächerlich gemacht. Mich, die Frau des Unsterblichen Volodi, Eure Herrscherin! In meinem Volk ist das ein todeswürdiges Verbrechen. Niemand würde es auch nur wagen …«

»Wir sind Drusnier, keine Zapote, Herrin. Versuch das endlich zu verstehen, und du hältst den Schlüssel zu unseren Herzen in Händen. Nimm uns als das, was wir sind. Die meisten Männer fanden deinen Sinneswandel gut …«

»Sie haben über mich gelacht! Ich habe es doch gesehen. In diesen Kleidern habe ich mich lächerlich gemacht!«

»Ja, sie waren nicht sehr vorteilhaft …«, lenkte Oleg ein. »Aber du hast etwas anderes gezeigt. Du bist uns einen Schritt entgegengekommen. Du hast zum ersten Mal versucht, eine von uns zu sein. Darüber hat niemand gelacht. Es war eine große Geste.«

»Ich sehe schon, ich kann auf Eure Dienste nicht hoffen …«

»Herrin!« Oleg griff sie bei beiden Armen. »Begeh keine Dummheit. Deine Blicke heute Abend haben lauter als Worte gesprochen. Jeder hat begriffen, dass du Yuri nicht wohlgesinnt bist. Wenn dem Heiler etwas zustößt oder er verschwindet, dann wird jeder als Erstes an die rachsüchtige Zapotehexe denken, die sich ins Bett des Unsterblichen gezaubert hat.«

»Ihr denkt, ich habe einen Liebeszauber nötig, um Volodi …?«

Oleg senkte den Blick. »Es wird viel über dich geredet. Du solltest kein Öl ins Feuer gießen. Yuri hat an diesem Hof ohne Zweifel mehr Freunde als du.«

»Meine Mutter hätte am Hof des Unsterblichen Acoatl mit einem Wimpernschlag das Schicksal eines Bastards wie Yuri besiegelt …«

»Aber dies ist der Hof des Unsterblichen Volodi. Hier wird niemand blind einem Mordbefehl von dir folgen.« Er stockte, wurde sich offensichtlich bewusst, dass es zumindest auf ihn nicht zutraf. Dann schüttelte er wieder den Kopf. »Jedenfalls nicht, wenn es um Yuri geht. Lass ihn, Herrin, ich rate dir das als Freund. Jedes Unglück, das du für den Heiler ersinnst, wird mit doppelter Macht auf dich zurückfallen.« Er ließ ihre Arme los. »Ich wünsche dir eine friedliche Nacht, Herrin.«

Quetzalli unternahm keinen Versuch, Oleg zurückzuhalten, als er den Eichenhain verließ. Niedergeschlagen kehrte sie zu ihren Gemächern zurück. Die beiden Wachen an der Tür grüßten sie, doch glomm da ein Funke Verachtung in ihren Augen? Hatten sie vielleicht eben noch darüber geflüstert, wie sie in einem Bärenfell ausgesehen hatte? Glaubten auch sie, sie habe sich Volodi mit einem Liebeszauber gefügig gemacht?

Die Herrscherin schloss die schwere Eichentüre hinter sich. Sie trat an die Wiege und sah in das friedlich schlafende Gesicht ihres Sohnes. Wie viel hatte sie in dieser Nacht verloren? Sie würde hier in ihren vier Wänden bleiben, bis Volodi zurückkehrte. Beim Gedanken an ihn wurde Quetzalli die Kehle eng. Wohin hatte er sich aufgemacht? Sie wünschte sich, sie hätte nicht mit ihm gestritten. Diese kleine Schlampe war es nicht wert gewesen. Wieder dachte sie an die Hahnenleber, die voller Würmer gewesen war. Dunkle Vorahnungen überwältigten sie. Sie kniete nieder, rief sich die Steinbilder der Gefiederten Schlange in den Tempeln ihrer Heimat vor Augen und begann mit einer Inbrunst zu beten, wie sie es seit Kindertagen nicht mehr getan hatte.

Ausgebrannt

»Leer.« Arcumenna fasste mit dem einen Wort zusammen, was sie alle sahen und wovon die Späher schon berichtet hatten. Ihre kleine Gruppe stand auf dem obersten Absatz der weiten Treppe, die sich um einen Felspfeiler herum zum Hafen hinabwand. Das Bild der Verwüstung, das sich ihnen darbot, erfüllte Shaya mit stummer Trauer.

Zwei Tage waren seit dem Hafenbrand vergangen. Shaya gehörte ebenso wie Hattu und Horatius zu den fünf Auserwählten, die den Feldherrn begleiten durften. Was sie hier sahen, musste ein Geheimnis bleiben.

Als Arcumenna die Stufen hinabzusteigen begann, folgten alle schweigend. Wieder einmal mussten sie über die zusammengekrümmten Leiber von Daimonen hinwegsteigen. Die Toten hatten keine Wunden. Sie sahen aus wie von Geistern gemeuchelt. Ihre bartgesäumten Mäuler aufgerissen, mit angstweiten Augen. Sie waren erstickt, als sie versucht hatten, vor dem Feuer zu fliehen. Weniger als zwanzig von ihnen hatten überlebt. Sie hatten Arcumennas Kriegern in den Tunneln einen verzweifelten, letzten Kampf geliefert.

Shaya stützte sich an der mit Rußschlieren bedeckten Felswand ab. Sie ging steif. Ihr Rücken schmerzte bei jeder Bewegung, und sie war todmüde. In den letzten Tagen hatte sie selten mehr als drei Stunden geschlafen.

»Sie haben alles nach unten gebracht«, stellte Horatius fest. »Genau wie ich es gesagt habe.«

»Wir gehen dennoch weiter«, beharrte Arcumenna. »Vielleicht haben irgendwelche Vorräte das Feuer überstanden.«

Der Hauptmann sah Arcumenna mit seinem verbliebenen Auge finster an. »Das wäre ein Wunder, Herr.«

»Und Wunder geschehen!« Der Feldherr war aschfahl. Auch er war völlig übermüdet.

»Wir sollten besser den Tatsachen ins Auge sehen.«

Shaya wunderte sich über den Mut des Einäugigen. Oder war es Verzweiflung? So wie es aussah, gab es noch für höchstens fünf Tage Lebensmittel auf dem Felsen. Die Vorräte in der Stadt waren zum größten Teil im Drachenfeuer verbrannt. Und die Vorratslager oberhalb des Hafens waren von den Daimonen ausgeplündert worden. Wie es schien, hatten sie alles, was sich tragen ließ, zum Hafen hinabgeschafft, wo ohnehin schon die größten Vorratslager gewesen waren.

»Die toten Drachen – war das kein Wunder? Irgendetwas ist hier auf dem Felsen, das seine schützende Hand über uns hält«, sagte Arcumenna, ohne stehen zu bleiben.

Horatius wollte etwas sagen, doch ein Blick des Feldherrn genügte, um den Krieger stumm zu machen. Je tiefer sie kamen, desto ernüchternder war der Anblick, der sich ihnen in der Hafenhöhle bot. Immer noch hing kalter Rauch in der Luft. Er brannte in den Augen und beizte bei jedem Atemzug die Kehle.

Shaya hob einen Zipfel ihres Umhangs vor den Mund, um durch den Stoff zu atmen.

»Ihr solltet euch zurückziehen, meine Dame«, murmelte Arcumenna, der kurz stehen geblieben war und über den verwüsteten Hafen blickte. »Dies ist kein Anblick für …«

»Für jemanden, der Arme und Beine Schwerverletzter abtrennt? Für jemanden, der auf dem Rückzug aus der Eiswüste dabei war?«

Arcumenna sah zu ihr auf. »Entschuldigt. Ich vergaß. Ich …« Er stieß einen langen Seufzer aus. »Sieht jemand ein Schiff, das von den Flammen verschont geblieben ist?«

Alle Schiffe, die Shaya entdecken konnte, waren bis zur Kiellinie abgebrannt und gesunken. Es war hoffnungslos. Sie hatten so gut wie nichts mehr zu essen, und es gab keine Möglichkeit, von der Felseninsel zu fliehen. Das Meer um den steilen Felsen war von Haien verseucht. Sie hatten die Daimonen vernichtet und sich selbst auch.

Arcumenna schien sich bewusst zu sein, was sie dachte. Er wandte sich ab und stieg weiter zum Hafen hinab. »Das ist nicht das Ende!«, sagte er laut. »Wir werden einen Weg finden! Es gibt immer einen Weg! Es sind die Verzagten, die untergehen.«

Hattu hielt Shaya bei der Schulter zurück. »Lass ihn ziehen«, sagte er niedergeschlagen. »Es heißt, er habe nie eine Schlacht verloren. Er kann das nicht akzeptieren. Noch nicht … Es bringt doch nichts, in der Asche zu stochern.«

»Du willst also lieber warten und verhungern?«

Der Erste Heiler schüttelte müde den Kopf. »Was leben will, das strebt zum Licht. Wir sollten hinauf zu den Ruinen. In eingestürzten Häusern nach Vorratskellern suchen. Möwen erlegen … Auf Hilfe warten. Die brennende Stadt muss weithin sichtbar gewesen sein. Jemand wird kommen …«

»Die Drachen, die über der Stadt schwebten, waren sicherlich auch weithin sichtbar. Wer sollte kommen, um sie sich aus der Nähe anzusehen?«

»Die mit aufrechtem Herzen.« Er zwinkerte ihr zu. »Und die, die gute Augen haben. Die Drachen sind seit Tagen verschwunden. Es wird Hilfe kommen. Lass uns wieder nach oben gehen. Es gibt noch viele Verwundete, die auf uns warten.«

»Nein.« Sie wollte sich ihm gegenüber nicht erklären, wandte sich einfach ab. Ihr lag es nicht, ihr Schicksal anderen zu überlassen. Sie würde zusammen mit Arcumenna nach einem Fluchtweg suchen.

»Läufst du vor ihnen davon?« Hattu sagte das ganz ruhig, ohne Zorn oder Häme. »Du wirst oben gebraucht.«

Er hatte recht, dachte Shaya, ohne ihre Schritte die Treppe hinab zu verlangsamen. Sie wurde oben gebraucht. Und sie hatte in den letzten Tagen bis zur völligen Erschöpfung gearbeitet. War sie doch mehr Kriegerin als Heilerin?

Sie konnte kein Glied mehr amputieren. Keinem Mann, der Wundbrand bekommen hatte, mehr in die Augen sehen und sagen, dass er nur noch die Wahl hatte, als Krüppel zu leben oder zu sterben. Hier unten würde sie vielleicht einen Fluchtweg für alle finden. Oder aber nichts … Sie ging weiter.

Gaius, ein junger Hauptmann, der nicht sonderlich kriegerisch aussah, und Horatius waren Arcumenna gefolgt. Hattu und der kleine, dicke Kerl, der die Kaufleute der Stadt vertrat, zogen sich zurück. Shaya hatte sich nicht einmal seinen Namen gemerkt, nur den schwammigen Händedruck und die Arglist in seinen Augen, die er mit geübtem Lächeln überspielte. Er war sicher ein erfolgreicher Kaufmann.

Am Fuß der Treppe lagen verkohlte Daimonen. Die Hitze hatte ihre Körper zusammenschrumpfen lassen. Ihre Überreste waren kaum größer als Säuglinge. Die Leichen wie Holzkohle.

Arcumenna, Horatius und Gaius standen bei einem großen Becken, das im hinteren Bereich des Hafens lag. Tausende tote Fische schwammen mit den bleichen Bäuchen nach oben darin.

Gaius hatte eine tote Makrele aus dem Wasser gezogen. Er zerdrückte sie in der Hand. »Gekocht«, stellte er fest. »Das Becken ist nicht sonderlich tief. Die Fischer haben einen Teil ihres Fangs lebend hierhergebracht. So blieben sie länger frisch …«

»Das mit dem frisch hat sich wohl erledigt«, bemerkte Horatius lapidar.

»Kann man sie noch essen?«, fragte Shaya.

»Wenn man mutig ist.« Arcumenna lächelte gegen seine Verzweiflung an. »Ich glaube, ich werde lieber fasten.«

Sie ließen das Fischbecken hinter sich und stiegen durch die Trümmer eines ausgebrannten Lagerhauses, dessen Boden knöchelhoch mit den Scherben geplatzter Amphoren bedeckt war. Immer wieder fanden sie die verkohlten Leichen ihrer Feinde.

Shaya sah auf einen größeren Daimon herab. Selbst verbrannt war zu erkennen, dass es eine Frau gewesen sein mochte. An ihrer Seite lag ein ausgeglühtes Schwert. Die Klinge hatte sich blaurot verfärbt. Die Leiche wirkte, als wäre sie im Schlaf ein Raub der Flammen geworden. Hatte der Rauch sie ohnmächtig werden lassen?

Shaya sah auf und ließ den Blick durch die verwüstete Hafengrotte schweifen. War dies alles eine Warnung? Ein Omen? Würde so der Streit um Nangog enden? Würden sie alle – Menschen und Daimonen – verlieren, bis nur noch die Kinder der Riesin übrig blieben?

Die Heilerin erreichte das Ende einer Mole und blickte hinab aufs Wasser. Dort lag eines jener wunderlichen metallenen Schiffe, mit denen die Daimonen gekommen waren. Es sah aus wie ein Fass, das zu mehr als drei Vierteln im Wasser versunken war. Sie entdeckte ein zweites, ein drittes Daimonenschiff. Vielleicht …

Sie betrachtete die gesunkenen Rümpfe der Holzschiffe. »Flöße«, sagte sie leise. Es gab einen Weg, dem Felsen zu entkommen! Das war die Lösung. Sie würden Planken von den halb verkohlten Schiffsrümpfen reißen und mit Seilen auf den Daimonenschiffen festzurren.

Sie winkte den drei Kriegern. »Kommt her und seht!«, rief sie aufgeregt. »Die Daimonen werden uns letztlich zur Flucht verhelfen.«

Arcumenna war als Erster bei ihr. Sie erläuterte ihm den Plan. Er seufzte. Und dann war da wieder dieses Strahlen in seinen Augen, das seit Tagen verschwunden gewesen war. »Du bist eine Frau mit vielen Talenten, Shaya. Gaius!« Er wandte sich an den schlaksigen, jungen Hauptmann. »Ich will jeden Mann, der noch in der Lage ist zuzupacken, in drei Stunden hier unten haben. Wir werden Flöße bauen und zum Festland übersetzen!«

Der Funke der Begeisterung sprang nicht über.

»Was?«, fuhr Arcumenna ihn an, als Gaius behäbig den Kopf schüttelte.

»Unsere Späher, Herr. Sie haben beobachtet, wie etwa dreißig dieser seltsamen Schiffe entkommen sind, als das Feuer über die Daimonen kam.« Er blickte in Richtung des weiten Höhlenausgangs. »Sie sind irgendwo da draußen. Und wahrscheinlich warten sie nur darauf, an uns Rache zu nehmen.«

Glück gehabt

Er hatte Glück gehabt, wieder einmal, dachte Hornbori und betrachtete die kleine Inselgruppe am Horizont. Asugar hatten sie weit im Westen hinter sich gelassen. Selbst die himmelhohe Rauchsäule, die über der Klippe gestanden hatte, war inzwischen außer Sicht. Vielleicht hatte der Wind sie fortgetragen.

»Der Elf, der sich diesen Mist hat einfallen lassen, hat nur Scheiße im Hirn«, fluchte Ulur, der ein Stück weiter vorn breitbeinig auf dem Rumpf der Wilden Sau stand. »Das Ding wird uns nicht nur Fahrt nehmen, wir werden damit hängen bleiben, wenn wir durch Tunnel tauchen. Und überhaupt, es verschandelt meine wunderschöne Sau

»Außerdem wird das Salzwasser binnen kürzester Zeit die Mechanik ruinieren«, stieß Nyr ins selbe Horn. »Speerschleudern auf Aalrümpfe zu montieren ist wirklich eine Furzidee!«

Hornbori war das Gerede leid. Seit Stunden ging es so! Und wahrscheinlich war es bei keinem der dreißig Aale anders. Die kleine Flotte war aufgetaucht und hielt mit langsamer Fahrt auf die Inselgruppe vor ihnen zu. Überall hallten Hammerschläge auf Kupferrümpfen, Flüche waren zu hören und der eintönige Singsang der Lotsen. Die Speerschleudern hatten von Anfang an zu ihrer Ausrüstung gehört, und bis Hornbori heute Morgen den Befehl gegeben hatte, sie vor den Ausstiegsluken der Aale zu befestigen, hatten sich alle gefragt, wozu die Waffen dienen sollten. Für den Kampf in den Höhlen von Asugar taugten sie nicht.

Ärgerlich tastete Hornbori nach dem Schreiben, das er unter sein Wams geschoben hatte. Hatten die Himmelsschlangen ihn so demütigen müssen? Vor aller Augen. Was erwartete ihn, wenn er von dieser Mission zurückkehrte? Und was erwartete ihn hier?

Misstrauisch ließ er den Blick über die Wellen schweifen. Sie befanden sich im Delta des Sepano. Das gelbbraune Wasser des gewaltigen Stroms vermengte sich mit den Fluten des Purpurnen Meers. Schmutzschlieren trieben wie Nebel im Wasser. Die See war flach und tückisch. Am Bug jeden Aals stand ein Lotse mit Senkblei. Selten war das Wasser tiefer als sieben Schritt. Überall lauerten tückische Sandbänke in den trüben Fluten. Es gab erstaunlich viele Fische hier. Manche waren erschreckend groß.

Ihr Bestimmungsort war im Befehl der Himmelsschlangen recht deutlich beschrieben. Eben hatten sie die Insel mit dem verfallenen Leuchtturm aus weißem Korallenstein passiert. Es war das einzige Bauwerk von Menschenhand, das sie im Delta bisher gesehen hatten.

Hornbori spürte, wie sich Schweiß unter seinen Achseln sammelte. Warum konnten diese verfluchten Drachen den Ort hier so exakt beschreiben, aber nicht das Meeresungeheuer, das hier lauerte? Sie sollten die Bestie töten und irgendwelche Amphoren bergen, die auf ihrem Rücken festgebunden waren.

Ein Schwarm großer weißer Vögel erhob sich von einer Sandbank an Steuerbord. Es waren Hunderte. Jeder von ihnen groß wie eine fette Gans.

»Wir sollten mal was Anständiges essen«, murmelte Ulur, der wieder neben ihm stand, und sprach damit aus, was Hornbori dachte.

Es wäre gut für die Moral der Männer, wenn die ganze Flotte einen dieser Strände anlaufen würde, um Jagd auf die fetten Vögel zu machen und sie über offenen Feuern zu braten. Und wenn sie dann noch ein paar Fässer Pilz hätten … Im Schatten eines der seltsamen astlosen Bäume mit der Krone aus riesigen Blättern zu liegen und zu dösen … Vielleicht mit Amalaswintha im Arm …

Eine Steilklippe erschien im Dunst am Horizont und schreckte Hornbori aus seinen Tagträumen. Ein Fels, so groß wie der von Asugar. Von dieser Landmarke war im Befehl der Drachen keine Rede. Seltsam, es war ein guter Orientierungspunkt. Hatten sie etwa ihr Ziel verfehlt? Unruhig blickte Hornbori zurück. Die Insel mit der Ruine lag weniger als eine Meile hinter ihnen. Sie sollten von dort aus einen östlichen Kurs halten. Nach etwa zwei Meilen sollten sie nach dem Seeungeheuer Ausschau halten. Das musste dort bei der Steilklippe sein. Lauerte die Bestie dort? Vielleicht in einer Höhle, ähnlich der Hafengrotte von Asugar? Oder hatte sie sich im Schlick eingegraben wie diese seltsamen, platten Fische, von denen sie gestern einige gefangen hatten.

»Sollen wir Kurs auf die Klippe nehmen?«, fragte Ulur. Der dicke Kapitän der Wilden Sau trug nur noch ein Tuch um die Lenden geschlungen und schwitzte dennoch so sehr, dass ihm der Schweiß in Strömen über den Körper lief.

»Ja, nehmen wir Kurs auf den Fels«, murmelte Hornbori. Er konnte seinen Blick nicht von den Tätowierungen auf Ulurs Körper abwenden. Vor allem ein Tier dicht über dem Bauchnabel faszinierte ihn. Es sah aus wie ein Fass mit Flossen, aus dem ein langer, schlangenhafter Hals herausragte, der einen erstaunlich kleinen Kopf trug.

Ulur kratzte sich ungeniert im Schritt. »Das ist kein gutes Zeichen«, grummelte der Kapitän. »Kein gutes Zeichen.«

»Was?«, fragte Hornbori. Auch ihm wurde immer heißer, dabei hatte die Sonne noch nicht einmal den Zenit erreicht. Fahrig fuhr er sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn.

»Na, wenn es mich da juckt«, murrte Ulur. »Wenn kein Weib in der Nähe ist und es mich juckt und kribbelt, dann ist Ärger im Verzug.« Er sah sich misstrauisch um. »Und die Himmelsschlangen haben nichts darüber geschrieben, was für ein Ungeheuer hier lauert?«

»Nichts.« Hornbori wurde sich bewusst, dass alle Zwerge, die in der Hitze auf dem Rumpf des Aals herumlungerten, ihrem Gespräch lauschten. »Egal, was es ist, dreißig Aale mit Speerschleudern sind mehr als genug, um es blutend auf den Grund des Meeres zu schicken.«

»Wenn die Himmelsschlangen glauben, wir brauchen dreißig Speerschleudern, muss das Vieh aber ziemlich groß sein.«

Hornbori hätte Nyr für diesen Spruch am liebsten ersäuft. Er wollte seine Männer beruhigen und nicht weiter ängstigen!

»Also, ich hab mal gesehen, wie so ein Speer ein wütendes Mammut niedergestreckt hat«, mischte sich nun auch Ginnar ein. »Hat ganz schön Wums, so ein Speer. Hat den Schädel des Mammuts durchschlagen, als wär der weich wie Grütze.«

»Wie weit waren die Schützen denn entfernt?«, fragte Nyr interessiert.

Ginnar grinste breit, was das Narbengeflecht um sein Kinn und seinen Mund in ein grausiges Labyrinth aus Wülsten und Falten verwandelte. »Die Jungs hatten Blut wie Eiswasser. Waren meine Jungs … Sie haben erst geschossen, als der Bulle nur noch zehn Schritt entfernt war.«

Nyr stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

»Dann gehen die Drachen also von einem Biest aus, das größer als dreißig Mammuts ist«, sagte Ulur und nahm einen Schluck aus seinem Wasserschlauch.

»So einfach kann man das nicht rechnen«, wandte Nyr ein. »So ein Speer kann auch ein viel größeres Tier als ein Mammut aufhalten, wenn man nur richtig trifft.«

Unbehagliche Stille breitete sich unter den Männern auf dem Rumpf aus.

»Wahrscheinlich fürchten die Drachen, dass euch vor Angst die Händchen zittern, wenn ihr das Ungeheuer seht. Deshalb schicken sie dreißig, damit vielleicht einer trifft.« Es war Galar, der sprach. Er lag auf seinem Umhang, dicht beim Bug des Aals, hinter dem Lotsen mit dem Senkblei. Bislang hatte der Schmied kein Wort gesagt. Er döste in der Sonne und schnitt, wie meist, ein mürrisches Gesicht. Dennoch hätte Hornbori ihn in diesem Augenblick umarmen mögen. Das war die richtige Art, ihren Auftrag zu sehen.

»Zeigen wir den Drachen, dass wir Männer und keine Memmen sind!«, forderte Hornbori entschlossen. »Wir lassen uns doch nicht von einem großen Fisch einschüchtern, oder?«

»Wir könnten das Vieh auch rammen«, meinte Ulur. »Das hier«, er zeigte mit seinen schwitzigen Fingern auf das Untier über seinem Bauchnabel, »das haben wir ausmanövriert und es mit voller Fahrt am Hals getroffen.« Er schnalzte lautstark mit der Zunge. »Sein Genick ist wie ein dürres Ästlein gebrochen. Dabei war das Biest dreimal so lang wie die Wilde Sau

»Zwei Faden abnehmend!«, rief der Lotse am Bug.

Ulur fluchte. »Zwei Strich steuerbord«, rief er durch das offene Luk ins Innere des Aals. Das Boot schwenkte ein wenig nach rechts.

»Zwei Faden!«, ertönte es wieder vom Bug.

»Verdammtes Delta«, zischte der Kapitän.

»Warum der Ärger? Das sind doch noch fast vier Schritt«, wandte Hornbori ein. Die Wilde Sau hatte einen Tiefgang von etwas mehr als zwei Schritt, und sie war das mit Abstand größte Schiff ihrer Flotte.

»Wir haben Flut, verdammter Tunnelwurm. Wenn die Ebbe kommt, sitzen wir auf Grund, wenn wir keine tiefere Fahrrinne finden.«

Hornbori war versucht, den Befehl zu geben, eine der flachen Inseln anzulaufen. Sollten sie alle ein wenig ausruhen. Aber wie würde er vor den Himmelsschlangen dastehen, wenn die großen Drachen davon erfuhren, wie wenig pflichteifrig er bei der Ausführung ihrer Befehle gewesen war? Er konnte sich eine solche Nachlässigkeit nicht leisten. Vielleicht wenn sie das Ungeheuer zur Strecke gebracht und die Amphoren geborgen hatten.

»Zweieinhalb Faden«, erklang es vom Bug. »Drei Faden!«

Ulur seufzte erleichtert.

Die kleine Flotte der Aale folgte ihrer Kursänderung. Sie waren das vorderste der Boote. Eine Tatsache, die Hornbori nicht gefiel. Sie würden die Ersten sein, die dem Ungeheuer begegneten. Aber hatten Nyr und Galar nicht zwei große Sonnendrachen vom Himmel geholt? Was galt es also zu fürchten? Sie waren viel besser bewaffnet, als die Himmelsschlangen es ahnten. Dennoch wollte das mulmige Gefühl nicht weichen. Und Ulur schien es nicht besser zu ergehen. Aus den Augenwinkeln sah Hornbori, wie sich der Kapitän wieder im Schritt kratzte.

Der Heermeister heftete den Blick auf den Horizont. Sie waren vorbereitet! Beide, Galar und Nyr, hatten ihre Armbrüste mit nach oben gebracht.

Ihre kleine Flotte beunruhigte eine Vogelschar auf einer Insel, etwa dreißig Schritt backbord. Ein lang gezogenes Eiland voll dichtem Gestrüpp und seltsamen, astlosen Bäumen. Laut mit den Flügeln schlagend, stieg der Schwarm auf und flog vor ihnen davon, der Steilklippe entgegen. Doch sie ließen sich nicht auf dem fernen Felsen nieder, sondern schlugen einen weiten Bogen und wichen ihm aus.

Nyr trat an seine Seite. »Können wir reden?«, raunte ihm der Schütze ins Ohr und deutete zum Heck des Aals.

Hornbori gefiel das nicht. Das Boot war zu klein. Auch am Heck würden sie flüstern müssen, wenn sie nicht von den anderen gehört werden wollten. Und das würde die Männer beunruhigen.

Nyr bedachte ihn mit einem drängenden Blick. Also gut, dachte sich Hornbori und folgte seinem Gefährten.

»Wie gut hast du dir den zerstörten Leuchtturm angesehen?«, flüsterte Nyr.

Der Heermeister zuckte mit den Schultern. »Gab es was Besonderes zu sehen?«

»Durchaus!«

Der drängende Ernst in Nyrs Stimme verstärkte das flaue Gefühl Hornboris noch.

»Der Turm ist nicht verlassen worden und verfallen. Er sah eher so aus, als hätte ihn etwas enthauptet.«

»Den Turm enthauptet?« Hornbori hatte versehentlich laut gesprochen, und mindestens Ulur hatte ihn gehört. Der Kapitän sah ihn stirnrunzelnd an. »Bist du dir darüber im Klaren, was für einen Unsinn du erzählst?«, fuhr Hornbori leiser fort.

»Es war dieses Biest, da bin ich mir sicher. Und um so etwas zu tun, muss es ziemlich groß sein. Größer als ein Sonnendrache, würde ich schätzen.«

»Damit hatten wir doch gerechnet …«

Nyr nickte in Richtung des Felsens. »Hast du die Vögel gesehen? Sie mochten nicht auf der Klippe landen. Unsere Beute liegt dort irgendwo auf der Lauer. Und wenn wir nicht verdammt vorsichtig sind, dann werden wir zu seiner Beute werden.«

Hornbori blickte zu der Felseninsel. Sie war noch zu weit entfernt, um deutlich zu erkennen zu sein. Irgendwie sah sie seltsam aus. Das Gestein wirkte wie erstarrte Kaskaden.

»Dort wächst kein Baum«, sagte Nyr. »Und die Vögel meiden die Insel. Wir sollten aufpassen.«

Jetzt hatte der Schütze endgültig erreicht, dass Hornbori ein Schauder über den Rücken lief. »Wir werden Angriffsformation einnehmen«, entschied er. »Ulur! Gib den anderen Aalen das Zeichen, sich zum Angriff bereitzumachen.«

Der Kapitän nickte ihm zu. »Fahrt drosseln!«, rief er durch das Luk, und die wenigen Mann, die noch unten an der Kurbelwelle saßen, legten sich noch weniger ins Zeug. Dann hob er die Arme hoch und winkte den übrigen Aalen zu. »Angriffsformation«, brüllte er in einem tiefen Bass, der wohl noch in einer halben Meile zu hören war.

Die übrigen Boote schlossen zu ihnen auf, bis sie einen weiten Halbkreis bildeten, in dessen Mitte die Wilde Sau lag.

»Jeder, der hier oben nichts verloren hat, unter Deck!«, befahl Ulur.

Hornbori gesellte sich zu dem schmerbäuchigen Kapitän.

»Angriffsgeschwindigkeit!«, rief dieser nun lang gedehnt, während neben ihm Krieger durch das offene Luk hasteten. Dann griff er sich wieder in den Schritt und murmelte: »Mir schmeckt das nicht.«

Hornbori ignorierte den Einwand. Jetzt waren sie hier. Sie würden die Schlacht schlagen, in die die Himmelsschlangen sie geschickt hatten. Und vor allem: Die Wilde Sau war nicht mehr das vorderste Boot in der Formation. In der Mitte des Halbmonds hatte sie den Platz, der am weitesten hinten lag.

Die benachbarten Boote nahmen an Fahrt auf.

»Fünf Faden!«, rief der Lotse vom Bug.

Hornbori grunzte zufrieden. Sie hatten freies Fahrwasser für die Schlacht. Das war gut!

»Macht die Geschütze klar!«

Dutzendfach erklang das metallische Klacken der Speerschleudern, die gespannt wurden.

»Sechs Faden!«, erklang es am Bug. »Achtung!«

Eine kniehohe Welle lief ihnen durch das seichte Gewässer entgegen. Der Rumpf der Wilden Sau hob und senkte sich.

»Bei den Eiern der Alben!«, keuchte Ulur.

Hornboris Herz setzte für einen Schlag aus. Die Insel! Sie hatte sich bewegt. Hoch oben in der Klippe blickte ein Auge auf sie herab. Ein Auge, groß wie ein Ententeich.

Wir sind tot!

»Wir sind tot!«

Galar fluchte. Er hatte den Spruch von Nyr nun wirklich schon oft genug gehört. Doch nie hatte der Richtschütze so recht damit gehabt wie dieses Mal.

Weitere Wellen rollten auf die Aale zu, als das Ungeheuer sich bewegte. Dieses Biest übertraf alles, was er sich bislang hatte vorstellen können. Das war kein Ungeheuer mehr, es war eine Fleisch gewordene Naturgewalt.

Die Wellen prallten gegen den Rumpf der Wilden Sau und ließen das Boot bocken, als würde auch sein Metallleib von Angst geschüttelt.

»Vorwärts!«, erklang Hornboris Befehl, wenn auch mit zittriger Stimme.

Galar traute seinen Ohren nicht. Der Schisser gab einen Angriffsbefehl? Jetzt?

Auch Ulur blickte zweifelnd zu ihrem Heermeister.

»Vorwärts!«, befahl Hornbori ein weiteres Mal, drängender und entschlossener.

»Volle Kraft voraus!«, rief der Kapitän durch das Luk hinab.

»Aye! Volle Kraft voraus!«, ertönte die Bestätigung aus dem Schiffsrumpf.

Galar fasste es nicht. Hornbori führte sie in einen Angriff. Nicht nur das – es war der reine Selbstmord! Das musste dem Schisser doch klar sein, oder verließ er sich darauf, dass er wieder einmal Glück hatte?

»Ich wünschte, wir hätten eine der Speerspitzen, die Eikin uns gestohlen hat.« Nyr legte einen der normalen Speere auf die Führungsschiene des Geschützes.

»Ich wünschte, wir wären gar nicht erst hier. Wir haben Krieg mit den Drachen. Nicht mit dem Ding da …«

»Vielleicht haben die Himmelsschlangen das auch erraten und uns deshalb hierhergeschickt.«

»Wie?«

Nyr lachte auf. »Hornbori war bei ihnen. Sie können in Gedanken lesen.«

Galar hieb mit der Faust auf die Speerschleuder. »Ich hab es immer gewusst. Dieser Schisser ist unser Untergang. Ich …«

»Verreiß das Geschütz nicht!«

»Wie kannst du so gelassen bleiben, Nyr?«

»Das bin ich nicht. Ich bepiss mich gleich vor Angst … Aber was hilft es? Wir sind hier. Alles, was wir noch tun können, ist, mit Ehre unterzugehen.«

Galar griff nach seiner Armbrust. »Ich stanze dem Biest ein Loch ins Hirn. Der wird sich für immer an mich erinnern. Die Drachentöterpfeile …«

Nyr stieß ein freudloses Lachen aus. »Sieh ihn dir an. Der merkt das nicht mal, dass wir ihn getroffen haben.«

Weitere Wellen brandeten gegen die Aale. Die Bestie drehte sich nun ganz zu ihnen um. Hunderte Tentakel hingen von ihr hinab. Manche groß wie Festungstürme. Selbst die kleineren der Fangarme hatten noch den Durchmesser der Stämme von hundertjährigen Eichen. Gelbe Augen mit riesigen Pupillen blickten auf sie herab.

Ein Geräusch wie das Seufzen eines beschädigten Blasebalgs hallte über die See. Sie waren noch etwa dreihundert Schritt von dem Ungeheuer entfernt.

»Schießt auf die Augen der Bestie!«, schrie Hornbori.

»Das wird nicht helfen«, murmelte Nyr. »So ein Speer im Auge stört das Vieh nicht mehr als unsereins ein Wimpernhärchen.« Dennoch richtete er die Speerschleuder auf eines der Augen aus, wartete, bis sie die nächste Welle abgeritten hatten, und schoss.

Etliche Speere sirrten dem Ungeheuer entgegen. Die meisten waren schlecht gezielt. Sie verschwanden im Gewirr der Tentakel oder in den tiefen Falten, die das Auge umgaben. Nur wenige fanden ihr Ziel. Das Ungeheuer gab einen zischenden Laut von sich.

»Immerhin hat es gemerkt, dass wir angreifen«, murmelte Galar, während Nyr erneut die Speerschleuder spannte.

Die Bestie hob einige ihrer Fangarme. Es sah aus, als wollte das Ungeheuer die Wolken vom Himmel reißen. Dann schnellten die Fangarme in ihre Richtung. Sie waren lang! Viel länger, als Galar erwartet hätte. Ohne Mühe griffen sie die beiden Aale auf den äußersten Flanken ihrer Halbmondformation und zogen sie aus dem Wasser. Metall kreischte, als die Tentakel die kupferbeschlagenen Rümpfe zerquetschten.

Galar sah die Schützen fallen und einige Männer aus dem Turmluk springen. Für die meisten jedoch wurde das Tauchboot zum Grab.

Der Lotse, der vor ihnen am Bug gekauert hatte, wich zurück.

»Wir müssen abhauen!«, brüllte Ulur. »Zurück, Männer! Volle Kraft zurück.«

Galar blickte zum Heermeister. Es war höchste Zeit, dass er Führungskraft zeigte. Er sollte einen Befehl an die Flotte geben. Doch er kommandierte nicht einmal ihr Boot. Er überließ es Ulur zu befehlen und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu dem Ungeheuer empor.

Die Kreatur schwenkte immer noch die zerstörten Tauchboote.

Ihr Aal wurde langsamer, stockte kurz in der Bewegung und begann sich dann, ohne gewendet zu haben, rückwärts von dem Ungeheuer fortzubewegen.

Einzelne Speere schossen der Bestie entgegen. Die meisten Aale hatten ebenfalls den Angriffskurs aufgegeben. Dennoch war der Kampfgeist der Krieger nicht völlig erloschen.

Das Ungeheuer schleuderte eines der Bootswracks in ihre Richtung. Es verfehlte die Wilde Sau um einige Schritt, doch schlug es nahe genug aufs Wasser, dass Galar sehen konnte, wie Blut aus dem deformierten Rumpf troff. Gischt sprühte über sie hinweg.

Galar strich sich über das Gesicht. Endete hier alles?

»Zweihundert Schritt, was meinst du?« Nyr betätigte den Auslöser des Geschützes, ohne einen Speer eingelegt zu haben. »Er ist in Reichweite der Armbrüste. Wollen wir ihn bluten lassen?«

»Allein schon für unsere toten Kameraden!« Galar war dankbar, aus seinen Gedanken gerissen zu werden. Wenn sie schon untergingen, dann zumindest kämpfend. Er griff nach der Armbrust, die er mit einer Schnur an den Sockel der Speerschleuder gebunden hatte.

»Wohin schießen wir?«

»Mitten durch den Kopf kann eigentlich nicht schaden, oder?« Nyr drehte die Kurbel seiner Windenarmbrust, bis die Sehne einrastete, und legte einen Bolzen auf.

Plötzlich war Hornbori hinter ihnen. »Ihr legt ihn um, nicht wahr? Jetzt …« Er sah auf die Armbrüste, und Panik stand in seinem Blick.

»Ja, sie sind klein unsere Armbrustbolzen,« sagte Nyr gelassen.

»Ihr schafft das, nicht wahr?«

Nyr hob die Waffe an die Schulter.

»Stör uns nicht, Schisser!« Galar hob ebenfalls seine Waffe.

Er hätte schwören mögen, dass die Bestie in diesem Augenblick genau auf sie hinabsah. Sie wusste, was sie wollten.

Der Schmied zielte auf die hochgewölbte Stirn über den Tentakelbündeln. Nyr und er schossen fast gleichzeitig.

»Lasst den Scheiß!«, rief Ulur. »Los, steigt durchs Luk! Wir brauchen jedes Paar Beine an der …«

Die Bestie stieß ein hohes, zirpendes Geräusch aus. Wie ein Messer stach es Galar in die Ohren. Nyr ließ seine Armbrust fallen und presste sich beide Hände auf die Ohren.

Hornboris Mund klaffte auf. Er schrie, doch Galar hörte nichts mehr außer den hohen Schmerzenslauten des Ungeheuers. Dann sah er Blut aus den Ohren des Heermeisters tropfen. Hornbori packte ihn und Nyr bei den Haaren und zog sie mit sich.

Ulur war schon durch das Luk verschwunden.

Der Schrei der Bestie veränderte sich und klang nun wie Kreide, die über eine Schiefertafel kratzte. Es war ein Geräusch, bei dem sich Galar sämtliche Haare am Körper aufrichteten. Es ging durch und durch, nistete sich tief im Inneren der Knochen ein und drohte sie bersten zu lassen.

Nyr blutete inzwischen auch aus der Nase. Seine Augen waren nach oben verdreht, sodass fast nur noch das Weiße zu sehen war. Nur mit Hilfe von Hornbori gelang es Galar, den halb bewusstlosen Richtschützen durch das Luk zu bugsieren. Anschließend warf er Ulur, der unten an der eisernen Leiter stand, ihre Armbrüste zu.

Alle Tentakel der Bestie waren in Bewegung. Sie peitschten das Wasser zu flachen Wellen auf oder streckten sich in ihre Richtung. Nur nach ihnen. Die anderen Aale schienen das Ungeheuer nicht mehr zu interessieren. Es wusste genau, wer ihm den Schmerz zugefügt hatte.

Die Wilde Sau lief nun mit voller Kraft rückwärts. Ganz langsam vergrößerte sich der Abstand zu diesem Berg aus lebendem Fleisch. Das Ungeheuer war nicht sonderlich schnell. Vielleicht war das Wasser zu seicht, um zu schwimmen? Es ging nicht auf seinen Tentakeln, aber Galar vermochte nicht hinter den Vorhang aus zuckenden Fleischsträngen zu blicken. Hatte es Beine? Wenn es durch das flache Wasser watete, dann sollten sie besser nicht versuchen, an Land zu gehen. Es könnte ihnen auch dorthin folgen. Und in tiefes Wasser wagten sie sich besser auch nicht. Dort war dieser zu groß gewordene Tintenfisch sicherlich in seinem Element.

Was sie brauchten, war eine Höhle. Ein Ort, an dem sie tief in die Eingeweide der Erde kriechen konnten, um dem Zorn der Bestie zu entkommen. Sie mussten zurück nach Asugar! Nur dort waren sie sicher.

Eins mit dem Ozean

Vorsichtig schob Nodon sich unter der Lederschwinge des Sonnendrachen hindurch. Die Haut des Flügels war hart und zäh geworden. Verwesungsgestank lag über dem flachen Riff am Fuß der Steilklippe.

Als er das Ende der riesigen Schwinge erreicht hatte, blickte er über das Wasser. Eine halbe Meile entfernt sah er die Menschenkinder gegen den Gezeitenstrom kämpfen. Sie hatten zwei große Flöße gebaut und versuchten, das Festland zu erreichen.

Nodon drehte sich auf den Rücken und blickte den Steilhang hinauf. Hoch über sich entdeckte er weitere Menschen, die von kreischenden Möwen umkreist wurden. Sie hingen an langen Seilen und plünderten Vogelnester. Litten auch sie Hunger?

Gestern Nacht war er hinabgetaucht und hatte einen der Aale erlegt, die sich in die Eingeweide des toten Drachen wühlten. Er hatte keinen Bissen von diesem schlangenartigen Fisch essen können. Er war ein Drachenelf! Wie hätte er etwas verspeisen können, was sich vom Aas seiner Herren genährt hatte? Aloki und Solaiyn jedoch waren hocherfreut gewesen. Vier Tage verbargen sie sich nun schon unter der Schwinge des Drachen. Der Elfenfürst hatte sich erstaunlich gut erholt. Seine Verbrennungen waren gänzlich verschwunden. Nodon hingegen hatte noch immer bei jeder Bewegung das Gefühl, die Haut, in der er steckte, sei ihm zu eng geworden. Es war kein unerträglicher Schmerz, aber er war stetig präsent.

Das Leder der Drachenschwinge knarzte. Aloki schob sich an seine Seite.

»Und?« Ihre zischelnde Stimme verursachte Nodon immer noch Unbehagen. Die Schlangenfrau hatte ihm das Leben gerettet, als sie ihn unter das gekenterte Boot gezogen hatte. Dennoch traute er ihr nicht.

»Was machen die Menschenkinder?«

»Sie verlassen den Felsen. Sie …« Er stutzte. Auf dem weiter entfernten Floß hatte ein Ruderer angefangen, wild zu rufen. Nodon verstand kein Wort. Sie waren zu weit entfernt, und die Brandung, die klatschend ans Riff schlug, überlagerte jedes andere Geräusch. Der Ruderer deutete sichtlich aufgeregt nach Osten. Wenig später machten beide Flöße kehrt und steuerten wieder auf den Eingang der Hafengrotte zu.

»Hornbori kehrt zurück«, sagte Aloki.

Nodon sah die Schlangenfrau überrascht an. »Wie konntest du sie verstehen?«

Sie schenkte ihm einen tiefen Blick aus ihren geschlitzten Pupillen. »Ich sehe gut und kann von den Lippen lesen.«

»Wir müssen ihn warnen, dass ihre Rückkehr entdeckt wurde.«

Aloki schüttelte den Kopf. »Nicht wir. Du! Was glaubst du, was die Zwerge tun werden, wenn ich neben einem ihrer Aale aus dem Wasser auftauche.«

Nodon konnte es sich vorstellen. Er blickte nach Osten über das Meer. Von den kaum über das Wasser ragenden Zwergenbooten war nur eine weiße Bugwelle zu sehen. Hinter ihnen, weit am Horizont, nahte eine Sturmwolke. Ein unförmiger Schatten, der bis zum Wasser hinabreichte.

Nahe dem Riff zogen die grauen Finnen von drei Haien durch das Wasser. Die Kadaver der getöteten Drachen hatten sie schon vor Tagen angelockt. Inzwischen waren sie überall rings um die Steilklippe.

»Ich werde zu den Zwergen schwimmen und sie warnen«, entschied Nodon.

Aloki bedachte ihn mit einem Lächeln, in dem er nicht zu lesen vermochte. War es spöttisch oder anerkennend?

»Und was wirst du tun?«, fragte er.

»Ich werde dort sein, wo ich am meisten gebraucht werde. Und nun gib mir dein Schwert.«

Er traute seinen Ohren nicht. Sein Schwert! Die Waffe, die ihm Nachtatem anvertraut hatte!

»Es wird dich beim Schwimmen behindern. Und du wirst schnell schwimmen müssen.« Sie warf einen vielsagenden Blick auf die drei grauen Finnen und schob ihm ihren Dolch zu. Eine fremdartige, alte Waffe mit geflammter Klinge, in die seltsame Zeichen geritzt waren. »Mein Pfand. Du wirst dein Schwert zurückbekommen, wenn du zurückkommst.«

Nodon wusste, selbst wenn ihm etwas geschah, würde das Schwert nicht verloren sein. Der Zauber, der in der Klinge lag, würde sie zurück zum Dunklen bringen. So löste er wortlos den Waffengurt, streifte seine versengten Kleider ab, band Alokis Klinge samt Lederscheide an seinen linken Oberarm, sodass der Griff nach unten zeigte, und glitt lautlos vom Riff ins Wasser.

Mit kräftigen, ruhigen Zügen schwamm er gen Osten, den Zwergen entgegen. Er kannte einige Geschichten über Haie. Angeblich lockten unruhige Bewegungen sie an – alles, was an das Zucken eines verwundeten Tiers erinnerte. Nodon sprach ein Wort der Macht, griff in Gedanken nach dem fremdartigen Netz der Magie, das über diese Welt gesponnen lag. Er wurde eins mit dem Wasser, war wie der Ozean, fließend und machtvoll.

Wie sehr er dieses Gefühl liebte – das Leben zu spüren, das ihn umgab. Die Muscheln auf dem Riff, die wilde Lust der Aale, die sich an den gefallenen Drachen labten. Den Hunger der Haie, die Aufmerksamkeit der Krebse und die Hoffnung der Sardinen, die wie ein Wolke aus lebendem Silber in vollkommener Harmonie miteinander durch das lichtdurchflutete Wasser glitten.

Flache Wellen schlugen Nodon in stetem Rhythmus ins Gesicht, als wollte der Ozean ihn für seine Vermessenheit züchtigen, so sein zu wollen wie er: unermesslich und ein Hort von Leben und Tod.

Der Elf schwamm unbeirrt weiter. Es waren nur Wellen, dachte er. Nur Wellen.

Da spürte er es. Den Hunger, der einen Blick auf ihn gerichtet hatte. Ein keilförmiger Kopf, der in seine Richtung schwang. Ein Maul mit Reihen voller messerscharfer Zähne.

Die Aale der Zwerge waren noch mindestens dreihundert Schritt entfernt. Nodon blickte über die Schulter und sah die Finne, die auf ihn zuhielt. Erschreckend schnell. Er würde ihr niemals davonschwimmen können. Würde die Aale nicht erreichen.

Nodon füllte seine Lunge mit Luft und tauchte unter. Deutlich sah er den Räuber im sonnendurchfluteten Wasser. Er hatte einen weißen Bauch. Vorsichtig näherte er sich und wich ihm dann aus. Schwarze Knopfaugen musterten Nodon. Augen wie seine Augen. Der Hai umkreiste ihn und kam wieder zurück.

Der Elf griff sich an den Arm und zog das Messer der Schlangenfrau. Dann breitete er die Arme aus und ließ sich mit dem Kopf nach unten im Wasser treiben.

Plötzlich beschleunigte der Räuber. Sein Maul klaffte auf.

Nodon rollte um die eigene Achse.

Als das gierige Maul ins Leere schnappte, fuhr die Klinge dem Hai in den Unterleib. Sie durchtrennte die zähe Haut. Die Schwimmbewegung verlieh dem Messer noch mehr Kraft, und ein langer Schnitt klaffte im Unterleib des Räubers. Wolken dunklen Bluts wogten im Wasser.

Während der Hai einem Wald aus wogendem Seetang entgegentrudelte, schob Nodon die Klinge zurück in die Lederscheide am Arm.

Zwei kräftige Züge, und sein Haupt durchstieß das Wasser. Gierig atmete Nodon die salzige Meeresluft ein und orientierte sich. Noch zweihundert Schritt bis zu den Aalen.

Doch ruhig zu schwimmen würde nicht helfen. Der Zauber, den er gewoben hatte, verband ihn noch immer mit dem magischen Netz. Er spürte den Zorn. Spürte, wie diese Welt ihn als Eindringling betrachtete. Oder war es Nangog, die er spürte?

Er sah zwei weitere Rückenfinnen in seine Richtung schnellen. Und voraus, aus der Richtung, aus der die Aale kamen, hielt eine dritte Finne auf ihn zu. Er war entdeckt!

Nodon schwamm dem dritten Räuber entgegen. Einen einzelnen mochte er vielleicht besiegen. Vielleicht auch zwei. Doch da war etwas – ein anderer Zauber, der von der Kraft des magischen Netzes zehrte. Ein Zauber, der die Haie der Küste rief, um ihn zu richten.

Von der Magie der Elfen

Schon wieder dieses grauenvolle Geräusch. Hornbori presste sich die Faust zwischen die Zähne und biss zu. Er konnte es nicht mehr ertragen! Das Kreischen sich verziehenden Metalls. Nie hätte er gedacht, dass Wasser Laute so weit tragen würde. Es hatte wieder eines der Boote geschnappt! Wie nah war es schon?

Verzweifelt trat Hornbori in die Kurbelwelle. Er war am Ende seiner Kräfte, so wie alle anderen auch. Zwei seiner Männer waren schon ausgefallen, als sie vor Erschöpfung abgerutscht und mit den Beinen in die Kurbelwelle geraten waren, die sich durch den gesamten Rumpf zog. Nun lagen sie mit zerquetschten Beinen in den Frachtnetzen unter der Decke und wimmerten leise. Die anderen hatten kaum etwas für sie tun können. Die Mannschaft durfte nicht aufhören, die Schiffsschraube anzutreiben. Durfte nicht anhalten!

»Es kann nicht mehr weit sein.« Hornboris Stimme war kraftlos. Sie vermochte kaum das schleifende Quietschen der Kurbelwelle zu übertönen. Keiner seiner Gefährten hatte auch nur die Kraft, den Kopf zu heben.

Das Quietschen des Metalls hallte in Hornboris Ohren nach, begleitet vom dumpfen Geräusch schwerer Schritte. Er ging sehr langsam, ihr Verfolger. Wenn er einen Fuß auf den Meeresboden setzte, gab es ein Geräusch, das mehr im Bauch zu spüren war, als dass man es wirklich hörte.

Anfangs hatten sie über die Schwerfälligkeit des Ungeheuers gespottet. Sie waren ihm in ihren Aalen davongefahren. Waren glücklich gewesen, dem selbstmörderischen Angriff lebend entkommen zu sein. Es war am frühen Abend des Kampftages gewesen, als sie die Schritte zum ersten Mal gehört hatten. Sie waren überrascht gewesen. Alle hatten geglaubt, dass die Bestie die Verfolgung längst aufgegeben hatte.

Hornbori hatte die Boote zusammengerufen. Unter langsamer Fahrt waren die Aale in dichter Formation zusammengekommen. Der Heermeister hatte sich auf dem Rumpf der Wilden Sau stehend mit Ulur und allen anderen Kapitänen beraten. Einige waren dafür gewesen auszuschwärmen. Wenn ihre achtundzwanzig verbliebenen Aale alle in unterschiedliche Richtungen fuhren, dann könnte dieses riesige Ungeheuer nur noch einen einzigen erwischen. Hornbori hatte der Vorschlag nicht gefallen. Er war sich sicher zu wissen, welchem Aal das Vieh folgen würde. Seinem! Zum Glück hatte Ulur die anderen überzeugt, sich nicht zu trennen.

Wohin sollten die Tauchboote auch fahren? Sie alle kannten dieses Meer nicht, waren von den Drachen ausgesetzt worden – ohne Kenntnis von Schlupflöchern oder Wasser- und Nahrungsquellen. Ohne Karten! Zudem wäre eine einzelne Aalbesatzung selbst für Menschenkinder kein unüberwindlicher Gegner. Nur gemeinsam würden sie nach Albenmark zurückkehren können. Und selbst wenn sie Albensterne finden sollten, würden sie dieser verfluchten Welt nicht entkommen. Keiner von ihnen vermochte Zauber zu weben und ihnen einen Weg ins Goldene Netz zu öffnen …. Sie mussten zusammenbleiben oder würden jeder für sich allein untergehen in dieser fremden Welt.

Wieder hatte das Ungeheuer einen Schritt gemacht. Wieder spürte Hornbori den dumpfen Druck im Bauch. Er war sich sicher, dass es jetzt den meisten seiner Gefährten leidtat, dass sie sich nicht getrennt hatten. Lieber verhungern oder verdursten, als noch einmal dieser Kreatur ins Angesicht sehen.

Er trat das linke Bein hinunter. Das rechte wurde von der Kurbelwelle angehoben. Dann wieder das rechte Bein hinuntertreten, in endlosem zermürbenden Gleichklang. Sie hatten sich gründlich verschätzt. Sie durften keine Pause machen, wenn sie den Abstand zum Ungeheuer halten wollten. Die Bestie hingegen schien unermüdlich zu sein.

Zwei Tage und zwei Nächte traten sie nun schon die Kurbelwelle. Aber das Ziel war nun zum Greifen nah. Sie würden sich tief im Fels von Asugar verkriechen. Irgendwann würde das Ungeheuer es aufgeben. Irgendwann …

Ein fremdes Geräusch schreckte Hornbori aus seinen Gedanken, die sich wie die Kurbelwelle unermüdlich um die eigene Achse drehten. Etwas bewegte sich außen an der Hülle des Aals. Waren da Schritte auf den Kupferplatten?

Jemand hämmerte auf das Einstiegsluk.

Er tauschte einen Blick mit Ulur. Der Kapitän sah zur Leiter. »Du gehst«, sagte er matt.

Hornbori empfand es als Erlösung, die Füße von der Kurbelwelle nehmen zu können. Er griff in eines der Staunetze, um sich hochzuziehen. Seine Beine wollten ihn kaum tragen, so stark zitterten sie.

Langsam schleppte er sich an den anderen vorbei.

Wieder hämmerte jemand auf das Luk. Jetzt hörte er auch eine Stimme. Doch die Worte waren nicht zu verstehen. Immerhin hatte der Zwischenfall seine Kameraden aus ihrer Lethargie gerissen. Sie starrten ihn an. Stachelten ihn mit Blicken auf, endlich die Leiter hinaufzusteigen.

Der Heermeister griff nach den von feinem Rost überzogenen Sprossen. Immer noch fühlten sich seine Beine kraftlos an. In beiden Waden kündigten sich Krämpfe an. Er nutzte die Kraft seiner Arme, um sich die schmale Leiter hinaufzuziehen, dann entriegelte er das Luk und öffnete es vorsichtig einen Spalt weit. Frische Seeluft schlug ihm entgegen. Er atmete in tiefen, gierigen Zügen, als eine helle Hand nach dem kupfernen Lukendeckel griff und ihn weit aufriss. Über Hornbori stand ein nackter Elfenkrieger. »Der Hafen ist in der Hand der Feinde. Ihr müsst umkehren!«

Hornbori brauchte einen Augenblick, um den Inhalt der Worte zu erfassen. Zwei Tage lang hatte er an nichts anderes als die Sicherheit der Hafenhöhle gedacht, und nun sollte dieser Weg versperrt sein?

»Ihr müsst umkehren«, wiederholte der Elf noch einmal.

Der Heermeister fühlte sich, als würden im nächsten Moment seine Beine unter ihm nachgeben. Er schob die Ellenbogen über den Rand des Luks und stemmte sich durch die enge Öffnung nach draußen. Das helle Licht blendete ihn nach dem Zwielicht im Inneren des Aals.

Er kroch an Deck, kam wackelig auf die Beine und rutschte auf den nassen Kupferplatten aus.

Der Elf fing ihn auf. Er ging vor ihm in die Knie, sah ihn durchdringend an. Diese schwarzen Augen … Hornbori kannte sie. Das war der Leibwächter des Feldherrn Solaiyn.

»Könnt. Ihr. Mich. Verstehen?« Der Krieger sprach ganz langsam und betonte jede Silbe überdeutlich.

»Natürlich«, grummelte Hornbori. Jetzt erst bemerkte er die Finnen, die das Boot umkreisten. Sieben oder acht … Wie war der Elf all den Haien entkommen?

»Ihr könnt nicht in den Hafen!«

Hornbori wandte sich nach Osten. Am Horizont war das Ungeheuer zu sehen. Nur ein blassblauer Schatten, wie ein ferner Berg. Im Wasser hatten seine Schritte so nah geklungen. Der Zwerg sah nach vorne und stöhnte erleichtert auf. Der rettende Eingang zur Hafengrotte war nur zweihundert Schritt entfernt.

»Wir müssen in den Hafen. Dort werden wir vielleicht sterben. Hier draußen ganz gewiss.«

»Ihr versteht nicht …«, begann der Elf ärgerlich.

»Nein, du bist es, der nicht versteht!« Hornbori deutete zum Horizont. »Das ist kein Wolkenturm oder ein fernes Gebäude. Es ist ein Ungeheuer, groß wie die Klippe, auf der Asugar liegt. Es wird sich jeden von uns holen. Unsere einzige Hoffnung zu überleben sind die tiefsten Höhlen oberhalb der Hafengrotte.«

Der Drachenelf stand auf und blickte zum Horizont, und Hornbori konnte sehen, wie sich etwas im Gesicht des Kriegers verhärtete.

»Ihr habt es hierhergelockt …«, sagte er mit tonloser Stimme.

»Gelockt?«, stieß Hornbori schrill hervor. »Wir werden es nicht los!« Er stampfte mit dem Fuß auf und beugte sich dann über das Luk. »Noch hundertfünfzig Schritt, Männer. Durchhalten! Wir haben es fast geschafft. Allerdings erwarten uns im Hafen die Menschenkinder. Wir werden kämpfen müssen. Doch wir haben Verbündete. Hier oben steht der Drachenelf Solaiyns!« Er wandte sich an Nodon. »Wie viele von euch sind noch übrig? Wo seid ihr? Wir sollten gemeinsam angreifen.«

»Ich bin ein Drachenelf«, erklärte der blutbesudelte Krieger mit einer Arroganz, als würde er eine ganze Armee aufwiegen.

»Das glaube ich ja.« Hornbori unterdrückte seinen Ärger. »Aber wo sind die anderen?«

»Es gibt keine anderen.«

Der Heermeister schluckte. »Wie …«

»Nur Fürst Solaiyn und seine Dienerin haben außer mir überlebt, Heermeister. Ihr seht, ich bin die einzige Klinge, auf die Ihr zählen könnt.«

»Koboldkacke!« Hornbori konnte es nicht glauben. Warum musste es immer so sein? Warum landete er am Ende immer dort, wo man bis über beide Ohren in der Scheiße steckte? Vor sich Hunderte wütende Menschensöhne, hinter sich eine Fleisch gewordene Naturgewalt.

»Wie meint Ihr?«, fragte der Elf und klang ganz und gar nicht so, als würde er einen dämlichen Witz machen.

»Wir stürmen den Hafen!« Hornbori legte den Kopf in den Nacken und sah Nodon herausfordernd an. »Und du bist die Speerspitze des Angriffs.«

Die Augen des Drachenelfen verengten sich. »Ihr habt mir nichts zu befehlen, Heermeister. Ich kämpfe in vorderster Reihe, weil es mir so gefällt.«

Rede es dir nur schön, dachte Hornbori und beugte sich über das Luk. »Noch knapp hundert Schritt, Männer. Nicht nachlassen.« Er stieg durch das Luk. Es war besser, im Aal zu kauern, bis sie eine Mole erreichten. Vorher konnten sie ohnehin kaum etwas ausrichten.

Der Elf folgte ihm und schloss den Lukendeckel. Geduckt verharrte er auf der Leiter. Er schnitt eine Grimasse. Zugegeben, es herrschte ein etwas strenger Geruch in dem Aal. Immerhin waren hier zwei Dutzend Zwerge seit zwei Tagen auf engstem Raum eingepfercht und traten bis zur völligen Erschöpfung die Kurbelwelle des Aals. Doch dieser Nodon übertrieb! Er machte ein Gesicht, als hätte er seine Nase geradewegs in einen Misthaufen gesteckt.

Ulur hatte bisher nach Südweiser navigiert. Hornbori misstraute diesem kleinen Ding. Eine dünne Eisennadel darin wies stets nach Süden, und Ulur behauptete, dies habe nichts mit Magie zu tun. Bislang waren sie damit gut gefahren. Auch die seeerprobten Gefährten, mit denen der Kapitän sich ab und an bei den Steuerhebeln abwechselte, vertrauten dem Südweiser. Aber für die enge Einfahrt in den Hafen wollte Ulur niemand anderem die Wilde Sau überlassen. Er schob sich an Hornbori vorbei in den engen Bug des Aals und schloss die Fäuste um die Hebel, mit denen er das Tiefen- und das Seitenruder steuerte.

»Signal absetzen!«, rief er von seinem Posten, und Hornbori nahm den Hammer, mit dem sich die Boote untereinander verständigten. Er saß als Nächster hinter dem Platz des Navigators. Drei Mal schlug er kräftig auf die eine Stelle, an der die Hülle des Aals ganz und gar aus Metall bestand und nicht nur ein kupferbeschlagenes, riesiges Fass war.

Leise zählte er bis fünf und schlug noch drei Mal auf das Metall. Es war das Zeichen für die anderen Aale, dass die Einfahrt zum Grottenhafen fast erreicht war und sie tauchen sollten.

Die Fahrt unter Wasser ließ sie langsamer werden, doch die Mannschaft trat mit neuer Kraft die Kurbelwelle. Ihr Martyrium war nun fast beendet. Das rettende Ziel zum Greifen nahe.

»Gut, dass wir bei Tageslicht ankommen«, murmelte Ulur vor sich hin.

Hornbori verkniff es sich zu fragen, was der Kapitän damit meinte. Ulur mochte es nicht, angesprochen zu werden, wenn er an den Steuerhebeln lag und angespannt durch die dicken Glasfenster in die verwunschene Welt unter den Wogen blickte.

Draußen waren verzerrte Hammerschläge zu hören. Die anderen Aale gaben den Befehl weiter. Es wäre wohl besser, wenn sie alle in kurzem Abstand hintereinander in den Hafen einliefen, ging es Hornbori durch den Kopf. Sie könnten dann mit größerer Durchschlagskraft angreifen. Aber ihre kleine Flotte war mehr als eine Meile auseinandergezogen. Zweifelnd sah er zu dem Elfen auf der Leiter. Würde es genügen, ihn an die Spitze des Angriffs zu stellen?

Ein dumpfes Platschen war im Wasser zu hören, gefolgt von einem beunruhigenden, gurgelnden Geräusch.

»Schiss am Bein!«, fluchte Ulur und zerrte an den Steuerhebeln. »Los! Legt euch ins Zeug, ihr Memmen!«

Etwas traf den Schiffsrumpf, hart wie ein Hammer, der auf einen Amboss niederging.

Hornbori spürte, wie die Wilde Sau nach unten gedrückt wurde. Dann schrammte etwas Hartes über die Außenhaut.

»Strampelt!«, schrie Ulur. »Sie können unseren Schatten im Wasser sehen. Sie haben auf uns gewartet! Und hier sind überall Haie. Wir müssen …« Ein zweiter Schlag traf das Boot, und jetzt hörte Galar das Holz unter den Kupferplatten bedenklich knacken.

Der Heermeister stemmte sich mit aller Kraft in die Pedale auf der Kurbelwelle.

»Wasser!«, schrie Nyr. »Wassereinbruch!«

Jetzt sah auch Hornbori die beiden dünnen Wasserfontänen, die zwischen den Frachtnetzen an der Decke sprühten.

»Steine«, sagte der Elf mit eigentümlich beherrschter Stimme. Man mochte den Eindruck haben, als würde ihn das alles nichts angehen. Als wäre er ein Betrachter aus weiter Ferne und nicht mitten in dem Aal, der nun Wasser nahm.

Das musste er lernen, dachte Hornbori. Wenn sie hier lebend herauskamen, dann wollte er so kaltblütig werden wie dieser verfluchte Drachenelf. Bestimmt gab es einen Trick!

»Steine trifft es nicht ganz«, erklang es vom Steuerplatz. »Das sind Felsbrocken, groß wie Mühlräder, die sie ins Wasser stürzen.« Wie um seine Worte zu untermauern, hörten sie erneut ein Platschen, gefolgt von gurgelnden Geräuschen.

»Strampelt!«, schrie Ulur erneut. »Los, ihr Memmen! Strampelt um euer Leben!«

»Kapitän?« Es war das zweite Wort, das Nodon sprach, seit er ins Boot gestiegen war, und Hornbori wunderte sich, dass der arrogante Kerl sich überhaupt dazu herabließ, mit einem anderen Zwerg als ihm zu sprechen.

»Was?«

»Wäre es möglich, dieses Tauchboot rückwärts an der Mole vor Anker gehen zu lassen?«

»Warum?«, fragte Ulur verärgert. »Damit wir uns schneller wieder verpissen können?«

»Ich wüsste es zu schätzen, wenn ich den Kupferdeckel des Luks vor der Brust hätte, wenn ich aussteige, und nicht im Rücken. Ich rechne nicht mit einem freundlichen Empfang.«

Hornbori rechnete damit, dass Ulur gleich wutschnaubend aus seiner Steuermannskanzel kriechen würde. Der Elf legte es mit seinem süffisanten Ton darauf an, sich Ärger einzuhandeln. Wobei er die finsteren Blicke, die ihm die übrigen Zwerge zuwarfen, komplett ignorierte.

Immerhin, dachte Hornbori, stachelte dieser Nodon mit seiner provokanten Höflichkeit den Kampfeswillen der Besatzung an.

Es schien sogar, als würden sie jetzt kräftiger die Kurbelwelle treten.

»Ich glaubte, ihr Elfen erledigt immer alles mit Magie«, kam es nach einer Weile in genauso provozierendem Tonfall von Ulur zurück.

»Schlichtere Gemüter halten es in der Tat immer wieder für Magie, wenn man denkt, bevor man handelt.«

Hornbori stöhnte leise. Nicht das noch. Sie brauchten nicht auch noch offenen Streit untereinander. Ginnar, der ihm gegenübersaß, knirschte so laut mit den Zähnen, dass er selbst das schleifende Geräusch der Kurbelwelle übertönte. Galar sah zu dem Elfen hoch, als wollte er ihm die Kehle durchschneiden. Und Ulur … Er lachte!

»Guter Spruch. Gefällst mir. Du sollst deinen Willen haben. Mal sehen, ob es hilft. Ich möchte nicht als Erster durch dieses Luk gehen. Alle verdammten Menschenkinder in dieser Grotte werden dich umbringen wollen.«

Hornbori hatte ein Gefühl, als wollte ihm sein Herz jeden Augenblick in die Eingeweide rutschen. Er saß als Nächster an der Leiter, und er war der verdammte Anführer dieser verlorenen Schar. Alle würden von ihm erwarten, dass er als Zweiter durch das Luk stieg.

Schon malte er sich aus, wie hundert Krieger ihre Bögen spannten und auf ihn zielten.

Der Heermeister spürte, wie das Boot herumschwang. Ulur hielt also tatsächlich Wort. Der Aal schrammte an der steinernen Mole entlang. Langsam schob sich das Boot aus dem Wasser.

»Jetzt!«, rief Ulur.

Nodon öffnete den Deckel des Luks. Die Kurbelwelle des Aals kam mit einem Ruck zum Stillstand.

Hornbori hörte Pfeile in den massiven Kupferdeckel schlagen.

»Los!«, drängte Galar und griff nach der Axt, die hinter ihm an der Wand hing. Auch die übrigen Zwerge erhoben sich bereits von ihren Plätzen.

»Vorwärts, ihr verfluchten Tunnelwürmer!« Ulur schob sich vom Steuerplatz im Bug des Aals zurück in die Röhre mit der Kurbelwelle. »Wir wollen dem Elfen doch nicht allen Ruhm allein überlassen.«

Hornbori erhob sich von seinem Sitz. Seine Beine waren schwer wie Blei. Er hätte aufmunternde Reden schwingen sollen! Er war hier der Anführer. Der Zwerg griff nach der Leiter. Draußen erklangen wütende Schreie. Weitere Pfeile schlugen gegen den Deckel. Nodon war bereits aus dem Luk verschwunden.

Der Zwerg biss die Zähne zusammen und stieg Sprosse für Sprosse die Leiter hinauf. Ich werde hier nicht sterben, versprach er sich in Gedanken. Ich werde hier nicht sterben!

Er streckte den Kopf hinaus. Der Deckel versperrte ihm die Sicht. Jemand klatschte ihm auf den Hintern und rief: »Weiter!«

Unwillig stieg er durch das Luk. In der riesigen Grotte herrschte Zwielicht, ähnlich wie im Rumpf des Aals, den nur ein einziger kleiner Barinstein ausgeleuchtet hatte.

»Vorwärts!«, erklang es wieder hinter ihm.

Das war Galar, da war sich Hornbori ganz sicher. Der Heermeister richtete sich auf, und ein Pfeil surrte um Haaresbreite an seinem Gesicht vorbei.

Hastig schob sich der Zwerg am Luk vorbei. Sie lagen an einer von schleimigen Algen überwucherten Hafenmauer. Es stank nach Abfällen, und immer noch lag der Geruch kalten Rauchs und ausgekohlter Balken in der Luft.

Hornbori hob seine Axt. Er wollte irgendeinen tollkühnen Schlachtruf schmettern, doch die Angst lähmte seinen Verstand. Ihm fiel nichts ein! Er starrte zu dem Elfen, der vom Heck über eine Treppe an der Hafenmauer hinauf zu einer Gruppe Bogenschützen stürmte. Er war so schnell, dass seine Bewegungen verschwammen. Sein geflammter Dolch war eine Fläche aus fließendem Silber. Pfeile sirrten um Nodon wie wütende Hornissen. Doch er ignorierte sie einfach.

Könnte er doch nur auch so tollkühn wie der Drachenelf sein! Er wollte ein Held sein … Aber seine Beine verweigerten ihm den Dienst, wenn es darum ging, in den Kampf zu stürmen.

»Mach Platz, Schisser!«

Galar drängte ihn zur Seite. Dem Schmied folgten Nyr und Ginnar.

Tosend schlugen Felsbrocken ins Wasser. Etwas dröhnte wie eine angeschlagene Glocke. Hornbori fuhr erschrocken herum. Auf einer Felsterrasse direkt über der Hafeneinfahrt standen Dutzende Menschenkinder. Mit langen Stangen hebelten sie Steine hinab ins Wasser, in dem sich deutlich die Umrisse der einfahrenden Aale abzeichneten.

Noch ein Boot wurde getroffen. Die Menschenkinder jubelten. Dicke Luftblasen stiegen aus der Tiefe auf. Hornbori stellte sich vor, was in dem beschädigten Aal vor sich gehen musste. Wie Wasser den Fußraum mit der Kurbelwelle füllte, alle verzweifelt zu der einen Leiter zum Luk hinaufstürmten.

Er umklammerte seine Axt mit beiden Händen.

»Vorwärts!«, rief er grimmig und stapfte der Treppe an der Mauer entgegen, als der Krieger, der vor ihm ging, plötzlich zurücktaumelte. Ein Pfeil hatte seine Oberlippe durchdrungen, die Zähne zersplittert und steckte ihm so tief im Rachen, dass er mit verzweifelt gurgelnden Lauten Blut spie.

Der Sterbende taumelte Hornbori in die Arme und sah mit großen grauen Augen verzweifelt zu ihm auf. Er wollte etwas sagen, doch er brachte nur unverständliches Gestammel hervor.

Hornbori sah in die sterbenden Augen. Das hätte er sein können! Hätte er nicht zurückgeblickt oder wäre er ein wenig entschlossener gewesen.

Ein Pfeil schlug zwei Handbreit neben ihm auf die Kupferplatten.

Wann hörten diese verrückten Kämpfe endlich auf?

Der Kamerad in seinen Armen war verstummt. Hornbori wusste fast nichts über ihn, nicht einmal den Namen, obwohl sie sich vier Tage lang in einem engen, stinkenden Aal gegenübergesessen hatten. Der Tote hatte eine schöne Singstimme gehabt. Das war dem Heermeister aufgefallen, als sie sich die endlose Monotonie des Kurbeltretens mit Liedern vertrieben hatten.

Er legte den Toten ab und stand auf. Ulur wuchtete seinen massigen Leib durch das Luk. Er war der Letzte, der das Boot verließ. So war es immer.

»Noch hier, Heermeister?«

Lag da gehässiger Spott in seiner Stimme? Hornbori trat Ulur entschlossen entgegen und streckte die Hand nach ihm aus, um ihm an Deck zu helfen, als er in eine Blutlache trat und ausrutschte. Er fing sich, doch dann wurde ihm bewusst, dass das die Lösung war! Übertrieben ruderte Hornbori mit den Armen und ließ seine Axt auf eine Stelle des Decks fallen, von der sie nicht ins Wasser rutschen würde. Dann ließ er sich laut fluchend nach hinten kippen, schlug seitlich auf das Deck und rutschte hinab ins Wasser.

Bis zum Hals ins lauwarme Nass zu tauchen war ihm so willkommen wie die Umarmung einer Geliebten. Es würde ihm Zeit verschaffen. Der Kampf auf der Mole dauerte gewiss nicht lange. Und hier im Wasser würden die Bogenschützen ihn wahrscheinlich ignorieren. Jeder Zwerg mit einer Axt in der Hand auf der Mole war ein wichtigeres Ziel.

Gellende Schreie ließen ihn zurück zur Hafeneinfahrt blicken. Jetzt stürzten nicht Felsbrocken, sondern Menschenkinder von der Terrasse. Etwas bewegte sich hinter ihnen. Es war größer als die Menschen und beängstigend schnell, aber kein Elf, da war sich Hornbori sicher. Er sah die huschende Gestalt nur als Schattenriss. Sie hatte etwas Schlangenhaftes. Was natürlich Unsinn war. Dieser eine Kämpfer machte den Menschen so viel Angst, dass sie lieber ins Wasser sprangen, als sich ihm zu stellen.

Doch die Schreie hörten nicht auf. Und dann sah Hornbori es: Im Wasser der Hafendurchfahrt wimmelte es von Haien. Überall waren die unheimlichen Rückenflossen zu sehen. Männer wurden hinabgezogen oder von mehreren der Räuber zugleich regelrecht zerfleischt, wenn sie um ihre Beute stritten.

Und er war im Wasser! Hornbori spähte über die dunkle Fläche. Überall legten jetzt Aale an den Hafenmauern an. Doch da waren auch Haie, die die großen Tauchboote begleiteten und nun an den Liegeplätzen entlangstrichen.

Kalte Angst griff nach seinem Herzen. Er versuchte, sich auf die Wilde Sau zu ziehen, doch an dem glatten, metallbeschlagenen Rumpf fand er keinen Halt. Strampelnd hielt er auf die Hafenmauer zu. Die Treppe. Wenn sie bis unter die Wasserlinie reichte, dann würde er dort herauskommen.

Er war kein guter Schwimmer. Hornbori ruderte wild mit den Armen und schluckte doch das dunkle, brackige Wasser. Dazu strampelte er nach Leibeskräften mit den Beinen. Quälend langsam kam er der Hafenmauer näher, während der Sog in die Tiefe mit jedem Herzschlag stärker wurde. Das war ganz gewiss nicht die Art, wie er abtreten würde! Spurlos in diesem Hafenbecken verschwunden! Erst jetzt fiel ihm auf, dass niemand bemerkt zu haben schien, dass er über Bord gestürzt war. Oder schlimmer noch, es war allen egal.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis er die Stufen erreichte. Sie waren über und über mit zotteligen Algen bewachsen. Anders als er gehofft hatte, reichten sie nicht bis unter die Wasserlinie. Mit letzter Kraft griff Hornbori über seinen Kopf. Gerade eben schaffte er es, die unterste Stufe zu berühren. Seine Finger krallten sich in das Grün der Algen und glitten ab. Kurz sackte er mit dem Kopf unter Wasser, um strampelnd und prustend wieder an die Oberfläche zu kommen.

Und da sah er sie – die Flosse, die in gerader Linie auf ihn zusteuerte.

»Zapple nicht so! Das lockt sie an«, rief ihm plötzlich Ulur zu.

Der Schiffsführer musste noch einmal hinab in den Aal gestiegen sein. Er hielt nun ein Tau in Händen. »Fang das!«

Doch Hornbori hatte nur Augen für den Hai. Die Bestie war keine zwanzig Schritt mehr entfernt. Noch einmal versuchte er, die Stufe hinaufzukommen. Seine Nägel kratzten über den Stein, brachen und fanden doch keinen Halt. Da war keine Fuge, kein Riss, nichts, das ihn hätte retten können. Er sackte erneut ins Wasser. Wieder tauchte er unter. Länger diesmal.

Etwas Helles, Schlangenhaftes tanzte über ihm im Wasser. Das Seil! Der Zwerg ruderte mit den Armen. Eine Hand schloss sich um das Ende des Taus. Er spürte einen Ruck, wurde über die Wasseroberfläche gezogen und rang keuchend um Atem. Ulur holte das Seil ein und zog ihn damit auf den Hai zu. Die Bestie war keine drei Schritt mehr entfernt.

Als sie ihr Maul aufriss, schrie Hornbori, ließ das Seil los und versank augenblicklich wieder im Wasser.

Die Bestie war auf Armlänge heran, als sie eine Bewegung ausführte, als duckte sie sich unter einem plötzlichen Schlag auf den Rücken. Ihre Schnauze streifte Hornboris Beine, doch biss sie nicht zu. Verblüfft sah der Zwerg, wie sie zum schlammigen Hafenboden hinabsank.

Über ihm tanzte erneut das Seil im Wasser. Er würde leben! Mit letzter Kraft strebte er noch einmal der Wasseroberfläche entgegen, versagte sich dem Sog der Tiefe, der mit Frieden lockte. Seine Finger umklammerten das Tau. Er wurde zum Aal hingezogen, schrammte über den von Muscheln verkrusteten Rumpf des Tauchbootes. Dann lag er auf dem Bauch. Fäuste hämmerten in seinen Rücken. Er erbrach Wasser.

»Sie sind durchgebrochen!«, rief Ulur zwischen zwei Fausthieben.

Hornbori wollte etwas fragen, doch ein weiterer Schwall Hafenwasser trug seine Worte davon.

Endlich half ihm der Kapitän auf. Hornbori war so schwach, dass er nicht einmal aus eigener Kraft sitzen konnte. »Dieser verdammte Elf!« Ulur grinste breit. »Ich mag seinesgleichen nicht. Arrogante Brut. Aber dieser Kerl hat uns den Tag gerettet. Du hättest sehen sollen, wie die Menschenkinder vor ihm Reißaus genommen haben. Er hat an der Spitze unserer Männer den Hafen gestürmt, aber ich glaube, er hätte es auch ganz alleine geschafft.« Hornbori sah zum Felssims über der Hafeneinfahrt.

»Es fehlt noch die Hälfte der Aale«, erklärte Ulur, der offenbar nicht ahnte, wonach er Ausschau hielt. »Aber dieser verdammte, wandelnde Berg hat uns noch nicht erreicht. Die kommen schon noch … Wir werden es schaffen! Jetzt setzen wir erst einmal den Menschenkindern nach und kämpfen ein paar Höhlen frei, in denen wir uns verkriechen können. Und dann warten wir ab, bis dieses Ungeheuer das Weite sucht.«

Er hätte so reden sollen, dachte Hornbori. Das war die Aufgabe eines Anführers. Aber er konnte die Kreatur nicht vergessen, die er oben auf der Terrasse gesehen hatte. »Oben über der Hafeneinfahrt … äh, hast du da nicht etwas Seltsames bemerkt?«

Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Nein. Was denn?«

»Nun, einen Schatten? Etwas wie …« Hornbori zögerte. Es war klüger, nicht von dieser schlangenhaften Gestalt zu sprechen. So etwas gab es nicht! Sie würden ihn für verrückt halten. »Also einen Schatten eben. Etwas, das den Menschenkindern Angst gemacht hat.«

Ulur schnaubte. »Sie hatten Angst vor dem Elfen. Siehst du die Treppe dort hinten im Fels? Sie führt auf die Terrasse. Ich selbst war dort oben, als wir den Hafen zum ersten Mal erobert haben. Die Mistkerle sind getürmt, weil sie verstanden haben, dass sie die Nächsten auf der Todesliste sind.«

»Sie haben ihn so sehr gefürchtet, dass sie lieber in das Hafenbecken voller Haie gesprungen sind …« Hornbori konnte das nicht glauben. Er hätte es nicht getan. Und mit Furcht kannte er sich wahrlich aus.

Der Kapitän zuckte mit den Schultern. »Er ist ein Drachenelf.« Mehr sagte er nicht, als würde das alles erklären.

Hornbori betrachtete die breite Bank im Felsgestein. Sie hatten Glück gehabt. Dort lagen noch mindestens fünfzig große Felsbrocken, bereit, hinab ins Wasser gestürzt zu werden. Hatte er sich am Ende getäuscht? Oder hatten sie es mit zwei Ungeheuern zu tun?

»Komm!« Ulur streckte ihm die Hand hin. »Es ist an der Zeit, zu Tunnelwürmern zu werden. Schnell jetzt!«

»Die Verwundeten … Habt ihr sie aus den Staunetzen gehoben.«

Ulur wich seinem Blick aus. »Natürlich«, sagte er mit gepresster Stimme. »Sie sind schon weiter vorn. Und nun beeile dich!«

Zum Greifen nah

Sie flogen so dicht über dem Wasser, dass die Hufe der Pegasi fast die sanften Wellen berührten. Es war ein wunderschöner Tag. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, und das Meer erstrahlte in hellem Türkis. Nandalee genoss den Flug auf Sternauge. Sie stand im Fluggeschirr, spürte den Wind auf der Haut und im offenen Haar und gab sich ganz dem Augenblick hin.

Es hatte lange gedauert, hierher zu finden, obwohl Nachtatem ihr sehr genau beschrieben hatte, welchen Weg sie nehmen sollte. Sie hatten im Labyrinth des goldenen Netzes an siebenundzwanzig größeren Albensternen den rechten Weg wählen müssen, um mit ihren Pegasi schließlich durch einen Stern dicht über dem Purpurnen Meer zu fliegen. Das Delta des Sepano musste wenige Meilen vor ihnen liegen.

Sie blickte zu Eleborn. Vielleicht hätte sie ihn bei den Kindern lassen sollen. Er wirkte angespannt. Sie wusste nicht, auf wie vielen Missionen er bereits gewesen war. Über wie viel Kampferfahrung er – abgesehen von seiner Ausbildung an der Weißen Halle – verfügte. Nachtatem hatte ihr das Ungeheuer, das sie töten sollten, nur ungefähr beschreiben können. Es musste gewaltig sein. Aber Todbringer war dafür geschmiedet worden, solche Bestien zu richten. Es würde ein kurzer Kampf, wenn sie nur nahe genug an das Ungeheuer herankäme.

Ein Schwarm Möwen tanzte knapp hundert Schritt entfernt über dem Meer. Es waren ungewöhnlich viele Tiere. Eleborn schwenkte ab und rief ihr etwas zu, doch seine Worte gingen im Kreischen der Vögel unter.

Nandalee folgte ihm verärgert. Sie wichen von ihrem Ziel ab.

Die Möwen versuchten, sie beide zu verscheuchen. Sie flogen auf sie zu, spreizten unmittelbar vor ihnen die Flügel, kreischten sie an.

Sternauge scheute. Nandalee war froh, die Füße in den Lederschlaufen des Reitgeschirrs auf seinem Rücken zu haben. Der Hengst flog eine steile Kehre, gewann an Höhe, und die Möwen folgten ihnen nicht.

»Siehst du das?«, rief Eleborn, der ihr gefolgt war, und deutete hinab aufs Meer.

Die Frage war überflüssig. Das dort unten war nicht zu übersehen. Etwas hatte eine breite Schneise der Verwüstung durch die Korallenriffe im seichten Wasser gezogen und einen reich gedeckten Tisch für die Möwen hinterlassen. Tang, zerfetzte Seeanemonen, tote Krebse und Fische trieben im Wasser. Sand und Schlamm waren aufgewühlt worden und hatten sich als Schleier über jene Korallenbänke gesenkt, die unbeschädigt waren. Es sah aus, als wäre ein riesiger Pflug durch das Meer gezogen worden.

Unwillkürlich musste Nandalee an Nangog denken. Mit ihrer Hacke, mit der sie Gebirge aufgeschichtet hatte, hätte sie wohl eine solche Spur ziehen können. Doch die Riesin war nicht ganz erwacht. Noch hielt der Bann der Devanthar und der Alben sie inmitten der Welt gefangen, die sie sich erschaffen hatte. Wer also war das gewesen?

»Es ist nach Westen gezogen!«, rief Eleborn ihr zu.

Sein Bedürfnis, das Unübersehbare noch in Worte kleiden zu müssen, war ärgerlich. Sie war die Jägerin und Fährtensucherin! War diese Geschwätzigkeit ein Zeichen der Angst? Sie hatte ihm grob geschildert, was sie beide erwartete. Jetzt wäre es ihr lieber, allein auf der Jagd zu sein.

»Folgen wir der Spur!« Sie konnte ihm ansehen, dass er Fragen hatte, doch schien er gespürt zu haben, dass sie nicht antworten würde. Jetzt war nicht die Zeit zu reden. Wenn die Jagd vorüber war … Wenn sie zurück in der Alten Veste waren … Sie dachte an Meliander. Alles würde gut!

Wie sehr sie sich getäuscht hatte, begriff sie, als sie ihn zum ersten Mal sah. Sie und Eleborn waren weniger als eine Stunde geflogen, als der Fels in Sicht kam. Und das Ding, das entschlossen schien, ihn einzureißen.

Eleborn versuchte gar nicht erst, seinen Schrecken zu überspielen. »Das sollen wir töten?«

»Flieg höher!«, wies sie ihn ruhig an und zog leicht an Sternauges Zügeln, um ihn weiter hinauf in den Himmel steigen zu lassen. Nandalee spürte, dass auch der Pegasus Angst hatte. Kein Lebewesen wagte sich ohne Not in die Nähe dieser Kreatur.

Der Meerwanderer war unverkennbar der Sohn Nangogs. Nandalee dachte daran, wie sie auf dem mit Kalk überzogenen Auge der Göttin gestanden hatte. Er war winzig im Vergleich zu Nangog und doch gewiss das größte lebende Geschöpf nach der Göttin. Aber was war in ihr vorgegangen, als sie ihn erschaffen hatte? Ihr Sohn hatte kräftige Beine und einen Rumpf, der Nandalee an die stämmigen Körper der Zwerge erinnerte. So sah es von hinten aus. Doch aus diesem Rumpf wucherten zahllose Fleischstränge. Tentakel ersetzten Schultern und Arme. Einen Kopf konnte sie nicht erkennen. Zumindest nicht von hinten.

Seine Fangarme umschlossen den Fels, der sich vor ihm aus dem Meer erhob. Die Bestie stieß plötzlich schrille, zirpende Laute aus. Laute, die nicht dazu geschaffen waren, sich zu verständigen. Außer der Göttin gab es nichts, das diesem Geschöpf glich. Niemanden, mit dem es etwas teilte. Das Zirpen stach wie glühende Nadeln in Nandalees Ohren. Es fraß sich in ihren Verstand. Machte nun auch ihr Angst.

Jetzt sah Nandalee die rußgeschwärzten Ruinen auf der Klippe. Dort hatte sich einst eine stolze Stadt erhoben, doch Tentakel, massig wie Festungstürme, pflügten durch das Mauerwerk.

Nandalee vermochte niemanden in den Ruinen zu entdecken. Die Stadt war verlassen. Was gab es dort unten, das die Kreatur derart in Raserei versetzte?

Sternauge flog eine enge Kehre. Nun hielten sie frontal auf das Ungeheuer zu, und Nandalee erkannte, dass die meisten der zahllosen Fangarme die Steilklippe umklammerten, auf der die Ruinenstadt lag. Die Bestie gebärdete sich, als würde sie den Felsen aus dem Meeresboden reißen wollen.

»Da hinten!«, rief Eleborn und deutete nach Norden.

Nandalee sah eine schmale Linie am Horizont. Etwas flog dort hoch über dem Meer, aber es konnte keiner der großen Wolkensammler sein, die über den Himmel von Nangog trieben. Dazu passte die flache Silhouette nicht. Sonnenlicht brach sich silbern funkelnd auf etwas, das schnell näher kam.

»Silberlöwen!« Es mussten mehrere sein. Außer den Lichtreflexen war noch nichts zu erkennen. Doch schienen sie genau auf sie zuzuhalten. Wie hatten die Menschenkinder so schnell wissen können, dass sie hier waren?

»Diese Löwen aus lebendem Silber?«

Eleborn klang eher neugierig als besorgt. Nodon hatte ihnen von seiner Begegnung mit den Löwen über der Eiswüste erzählt. In seinen Augen waren sie keine besonders guten Luftkämpfer. Er hatte voller Verbitterung gesprochen, und Nandalee war sich nicht sicher, inwieweit sie und Eleborn seinem Urteil trauen konnten. Immerhin hatten die Löwen seinen Pegasus Mondschatten getötet.

Dicht nebeneinander überflogen die beiden Drachenelfen den Rücken der Bestie. Er war zerfurcht, voller tiefer Schrunden. Kurz glaubte Nandalee sogar, die Amphoren zu sehen. Jenen Schatz, der ihr Leben zum Besseren wenden würde. So nah und doch unerreichbar. Sie konnten dort nicht landen. Nicht jetzt. Nicht, solange die silbernen Löwen den Himmel beherrschten. Es galt zuerst diesen Kampf zu gewinnen.

Sie verfluchte sich stumm dafür, ihren Langbogen nicht mitgenommen zu haben. Der schwere Bidenhänder würde ihr im Luftkampf kaum nutzen. Sie müsste gefährlich nahe an die Menschenkinder heran, um ihn einsetzen zu können. Zu nah – die Flügel der metallenen Kreaturen waren es gewesen, die Mondschatten verwundet hatten.

Jetzt waren die Menschenkinder als kleine Punkte am Himmel zu erkennen.

»Holen wir uns ein paar Lanzen von ihnen, und dann stechen wir sie ab!«, rief Nandalee.

Eleborn gab ihr ein Zeichen, dass er verstanden hatte.

Sie kehrten dem Meerwanderer den Rücken und flogen den Kreaturen der Devanthar entgegen. Als sie deutlicher zu erkennen waren, wunderte sich Nandalee, wie groß und plump sie waren. Erst auf etwa hundert Schritt sah sie, dass sie gar keine Löwen vor sich hatte, sondern geflügelte Bären. Was für ein Irrsinn! Warum hatten die Devanthar solche Kreaturen erschaffen?

Ein Unsterblicher in voller Rüstung mit silbernem Maskenhelm, unter dem ein blonder Bart hervorquoll, führte den Schwarm an. Dreizehn Bären. Ihre Sättel sahen wie die Stühle in einem Festsaal aus. Mit hohen Lehnen, die den Rücken und Nacken abschirmten. Die Krieger waren mit Lederbändern daran festgeschnallt. Sehr bewegliche Flieger waren das gewiss nicht. Jeder der Männer trug eine lange Lanze, von deren Spitze ein schmales Banner aus grüner Seide flatterte.

Auf dem silbernen Löwen, den Nodon beschrieben hatte, hatten zwei Krieger Rücken an Rücken gesessen. Das gab es bei den Bärenreitern nicht. Sie würden leichtes Spiel mit ihnen haben.

»Von hinten?«, rief ihr Eleborn zu.

Sie hob die Hand, um zu bestätigen, dass sie verstanden hatte. Dann zog sie die Zügel von Sternauge herum und schwenkte nach rechts. Die fliegenden Bären bildeten eine Keilformation, so wie Zugvögel es taten.

»Schneller, mein Schöner!«, rief sie ihrem Pegasus zu. Eleborn flog links am Keil vorbei, sie rechts, dann zwang sie Sternauge in eine enge Kehre.

Die Menschenkinder lösten ihre Formation auf und versuchten zu wenden, doch ihre Bären waren viel schwerfälliger als die Pegasi. Nandalee näherte sich einem der Krieger von hinten. All ihre Feinde drehten verzweifelt die Köpfe, um zu sehen, was in ihrem Rücken vor sich ging, doch die hohen Sattellehnen behinderten ihre Sicht.

Nandalee beugte sich weit vor. Der Menschensohn, den sie als Opfer auserkoren hatte, hielt seine Lanze aufrecht. Der Seidenwimpel tanzte im Wind. Noch ein Stück. Ihre Hand schloss sich um den Schaft der Waffe, dicht unter dem Stichblatt. Sie hebelte die Lanze zur Seite. Der Menschensohn stieß einen überraschten Schrei aus. Jetzt erst sah Nandalee die Lederschlinge am Schaft. Sie lag um das Handgelenk des Kriegers.

Die Elfe drehte den Schaft noch weiter, brach dem Mann das Handgelenk und sah die Schlaufe über die Hand des Kriegers gleiten. Kaum dass sie die Lanze sicher in Händen hielt, setzte Sternauge zu einem Sturzflug an, um sie außer Reichweite der anderen Bärenreiter zu bringen.

Nandalee hörte den Krieger über sich fluchen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass auch Eleborn eine Waffe erbeutet hatte. Mit Lanzen einen Luftkampf zu führen, das hatten sie selbst als Drachenelfen nie gelernt. Zumindest bewegten sich die Menschenkinder auf ihren Bären noch schwerfälliger, als sie es auf ihren zwei Beinen am Boden taten. Ihre Formation hatte sich aufgelöst. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Der Unsterbliche rief wütende Befehle, doch viel nutzte das nicht.

Nandalee schwenkte die Lanze, um ein Gefühl für ihr Gewicht zu bekommen. Sie war kopflastig und viel zu schwer. Auch war der Elfe bewusst, dass sie sich wohl kaum im Sattel halten würde, wenn ihr ein Treffer gelang.

Sternauge wich gerade den Bären, die zu ihm hinabstießen, mit Leichtigkeit aus und gewann an Höhe, als ein Pfeil seinen linken Flügel durchschlug. Das Geschoss hatte nur die äußersten Schwungfedern getroffen. Der Pegasus war nicht verwundet. Dennoch riss Nandalee alarmiert den Kopf in den Nacken. Hoch über ihnen kreisten nun auch Löwen am Himmel, und im Norden war ein seltsames Wolkenschiff zu sehen. Es wurde von einer Kreatur getragen, die wie ein fliegender Rochen aussah. Dieser Wolkensammler flog aus eigener Kraft und war nicht den Launen des Windes ausgesetzt. Er hielt auf sie zu. Und wahrscheinlich gab es dort noch Dutzende weitere Bogenschützen an Bord.

Nandalee hätte schreien mögen vor Wut. Sie waren dem Traumeis so nahe gekommen.

»Locken wir sie zum Meerwanderer!«, rief sie Eleborn zu. »Es sind zu viele. Soll er uns mit seinen Fangarmen helfen, sie vom Himmel zu holen.«

Und wenn sich eine Gelegenheit fand, würde sie auf den Rücken der Kreatur springen. Aber das musste Eleborn nicht wissen. Dorthin sollte er ihr besser nicht folgen.

Eine kleine Gruppe von Löwenreitern kam ihnen entgegengeflogen. Sie mussten sie in großer Höhe überholt haben, um ihnen nun den Weg abzuschneiden. Seit dem Gefecht mit Nodon hatten die Menschenkinder augenscheinlich im Luftkampf dazugelernt. An der Spitze der Löwenreiter entdeckte sie einen weiteren Unsterblichen. Sie erkannte ihn, es war Aaron von Aram. Verkleidet als einer seiner Krieger hatte sie beim Angriff auf den Tempel der Zapote in der Goldenen Stadt teilgenommen.

Sie wippte mit der Lanzenspitze in Richtung des Unsterblichen. Er erwiderte ihren Gruß. Sollte er nur denken, sie hätte sich ihn zum Gegner gewählt. Er wurde von zwei Kriegern begleitet, die dicht an seiner Seite flogen.

Ohne langsamer zu werden, ließ sie Sternauge den dreien entgegenfliegen. Die Menschenkinder richteten ihre Lanzen auf sie aus. Und zum ersten Mal beschlich sie ein beklemmendes Gefühl. Auf festem Boden würde sie die drei mit Leichtigkeit besiegen, doch hier am Himmel gab es zu viele Unwägbarkeiten.

Eleborn wich jedem Kampf aus. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er mit tolldreisten Flugmanövern den Lanzen der Menschenkinder entging und seinerseits gar nicht erst versuchte, einen seiner Gegner aus dem Sattel zu holen.

Nandalee starrte auf den Mann mit dem Löwenhelm. Sie wusste, wie wichtig er für die Sache der Menschenkinder war. Wenn er starb, würde sie den Sieben Reichen einen schweren Schlag versetzen. Sie hielt unbeirrt auf den Unsterblichen zu.

Auch Aaron machte keine Anstalten auszuweichen. Seine Lanzenspitze deutete auf ihre Brust. Noch zehn Schritt. Sieben … Sie schwenkte die Lanze und duckte sich. Die eiserne Spitze traf den Krieger links von Aaron mitten in den offenen Helm. Nandalee hielt die Lanze fest umklammert, spürte, wie das Stichblatt den Kopf des Kriegers durchbohrte und hart in die Rückenlehne des Sattels traf. Die Wucht des Treffers wurde auf die Lanze übertragen, die sich leicht durchbog. Nandalee wurde von den Beinen gerissen und stürzte seitlich vom Pegasus. Aarons Lanzenspitze stach knapp über sie hinweg, als sie aus dem Stehsattel stürzte. Wie jeder Pegasusreiter trug sie eine Fangleine, die mit dem Sattel verbunden war. Ihr Sturz endete mit einem schmerzhaften Ruck. Die Löwen waren an ihr vorübergeflogen.

Nandalee hing im Seil etwa zwei Schritt unter Sternauges Hufen. Der Pegasus warf ihr einen kurzen Blick zu, achtete dann aber wieder darauf, den erneut angreifenden fliegenden Löwen auszuweichen. Sie bewegten sich geschickter als die Bären. Die Elfe sah einen rotbärtigen Reiter mit dem Bogen auf sie anlegen. Nandalee beeilte sich, nach dem Seil zu greifen und sich wieder hinauf in den Sattel zu ziehen.

Der Bärtige blieb an ihr dran. Er benutzte nicht einmal Zügel. Es schien, als wisse der Löwe einfach, wie er fliegen sollte. Ihr Verfolger ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Sie wusste, er würde treffen. Erneut ließ sich Nandalee fallen. Diesmal erwischte sie jedoch eine der Lederschlaufen ihres Sattels. Das Geschoss verfehlte sie knapp. Aber dieser Kerl war gut. Sie hatte nicht erwartet, dass es unter Menschenkindern einen solchen Schützen geben konnte. Er saß auf einem fliegenden Löwen und versuchte, ein zweites fliegendes Ziel zu treffen. Das wäre selbst für sie ein schwerer Schuss.

Nandalee zog sich über den Sattel bis zu Sternauges Mähne. »Bring mich zu dem Monster! Wir müssen es schaffen!«

Sie schuldete Meliander ein Leben, in dem er kein Krüppel war. Sie hatte sich nie erklären können, was in ihrem Leib mit ihm geschehen war, aber es war ihre Schuld. Dieses Gefühl vermochte sie einfach nicht in sich abzutöten. Sie würde diese Schuld tilgen. Heute!

Der Pegasus stieg hoch in den Himmel hinauf. Er ließ all seine Verfolger hinter sich zurück. Jedoch nicht sehr weit. So grotesk die geflügelten Löwen und Bären auch aussahen, die Devanthar hatten machtvolle Zauber in die Leiber aus Metall gebunden. Nandalee hatte den Eindruck, dass diese Geschöpfe lernten. Dass sie das Verhalten des Pegasus abschauten und ihre eigenen Flugeigenschaften anpassten und verbesserten. Wenn das stimmte, dann würden sie bald besser sein als fliegende Pferde und die Adler vom Albenhaupt.

Also mussten möglichst viele dieser Dinger zerstört werden.

Der Meerwanderer tief unter ihr kämpfte weniger verbissen gegen die Steilklippe an. Einige seiner Tentakel wandten sich in ihre Richtung. Es waren bleiche, nur armdicke Stränge, auf denen jeweils ein Auge, groß wie ein Kinderkopf, saß. Nandalee überlegte fieberhaft, wie sie an die Amphoren gelangen könnte.

Das schrille Zirpen erstarb. Die Bestie war stumm. Mehrere Augen sahen in Richtung des merkwürdigen Wolkensammlers. Nandalee bemerkte, dass die Löwen und Bären aufgeschlossen hatten. Sie flogen erstaunlich schnell und würden sie jeden Moment einholen.

»Was sollen wir tun?«, rief Eleborn. Er stieg dicht neben ihr aus der Tiefe auf. »Das sind zu viele! Gegen die kommen wir nicht an!«

»Wir haben die Bestie bald erreicht. Flieg näher an ihren Rücken heran. Und lass dich von keinem Tentakel erwischen.«

Eleborn war anzusehen, wie wenig er von diesem Befehl hielt. Dennoch blieb er an ihrer Seite, als Sternauge in den Sturzflug ging.

»Hol mich da runter, wenn ich es nicht alleine schaffe!«

»Was?«

Nandalee richtete sich wieder auf dem Sattel auf. Doch diesmal schob sie ihre Füße nicht in die Lederschlaufen. Sie würde springen.

Ein Zittern lief über den Rücken des Meerwanderers, als plagten ihn Krämpfe. Das Ungeheuer war nun keine zwanzig Schritt unter ihr. Es bewegte sich mit bedächtiger Behäbigkeit, soweit sie das bisher gesehen hatte. Schnelle Reaktionen waren nicht seine Sache. Vielleicht konnte sie wirklich über seinen Rücken laufen und eine der Amphoren stehlen, bevor die Tentakel sie in Stücke rissen.

Ein Pfeil flog dicht an ihrer Hüfte vorbei. Dieser rotbärtige Bogenschütze hatte aufgeholt. Mit ihm waren nun auch etliche andere Löwenreiter über dem Meerwanderer.

Plötzlich erklang ein Zischen wie von einem Kessel voll kochendem Wasser, dessen Deckel dem Druck nachgab. Schlagartig war die Luft rings herum erfüllt von unterarmlangen Hornsplittern. Sternauge zuckte auf. Aus dem Augenwinkel sah Nandalee, dass Eleborns Pegasus von drei der Splitter in die Brust getroffen wurde. Weitere hatten ihm die Flügel durchschlagen. Klirrend schlugen die Hornsplitter gegen die silbernen Schwingen ihrer Verfolger. Einer der Reiter sackte nach vorn. Ein Splitter hatte ihm die Kehle durchbohrt.

Eleborn stieß einen gellenden Schrei aus, als sein Pegasus dem Meer entgegenstürzte. Im letzten Augenblick schaffte es der Drachenelf, seine Stiefel aus den Sattelschlaufen zu befreien und in die aufgewühlte See zu springen. Er verschwand zwischen Tentakeln, die das Wasser zu sprühender Gischt aufwühlten.

Ohne zu zögern, sprang Nandalee ihm nach. Eleborn war bereit gewesen, sein Leben für sie und damit Meliander zu wagen. Sie musste ihn dort herausholen!

Wie ein Blatt im Herbststurm

Eine Stunde zuvor …

Nodon stürmte die Treppe zur Terrasse über der Hafeneinfahrt. Die wenigen Menschenkinder, die ihm entgegenkamen, drückten sich gegen die Felswand, wenn er vorüberhastete. Dann rannten sie weiter.

Die Zwerge hatten sich einen der Aufgänge ins Höhlensystem freigekämpft. Sie begannen bereits den Hafen zu verlassen, obwohl immer noch Aale einliefen. Jene, die jetzt aus den Booten stiegen, waren weit weniger kämpferisch als Hornboris Mannschaft. Die Krieger waren blass und vermochten sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen zu halten.

Aber er würde ihnen nicht helfen. Das war nicht sein Kampf. Er war der Leibwächter Solaiyns. Ihm allein schuldete er Treue. Und er musste hier auf der Terrasse sein. Aloki hätte sich niemals weiter als ein paar Schritt von ihm entfernt. Er begriff nicht, was ihr der Fürst bedeutete. War sie in ihn verliebt? Hatte sie ihm einen Treueeid geschworen? Oder erpresste er sie gar? Doch was zählte das? Sie war dem Fürsten gegenüber bedingungslos loyal, einzig das war von Bedeutung. Und ihm war von den Himmelsschlangen aufgetragen worden, Solaiyns Leben zu schützen. Er hatte bislang jede seiner Missionen erfüllt.

Aloki kauerte bei einem Felsspalt, durch den helles Tageslicht in die Grotte fiel. Vor ihr auf dem Boden lag ein Leichnam mit aufgeschnittener Brust. Nodons Schwert lehnte gegen die Felswand. Die Klinge war blutbesudelt. Aloki hielt einen Streifen rohes Fleisch in der Linken. Ihre Lippen waren blutig.

»Mein Schwert …« Nodon traute seinen Augen nicht.

»Wirklich sehr scharf, deine Klinge.« Sie lächelte, wobei ein Tropfen Blut aus ihrem Mundwinkel rann, zwei Herzschläge lang zitternd an ihrem Kinn hängen blieb und dann auf den Felsboden tropfte. »Schockiert?«

Nodons Hand krampfte sich um den Griff des geflammten Dolchs. »Du isst das Fleisch von Toten!«

»Nun, Fleisch von Lebenden abzuschneiden, um es zu verspeisen, hielte ich doch für ziemlich makaber.«

»Du …« Wütend schleuderte er Aloki ihren Dolch vor die Füße.

»Ich bitte dich, Nodon, spiel dich nicht so auf. Ich hatte genug Muscheln und Krebse. Und Aale … Ein schönes, blutiges Stück Fleisch ist einfach unübertroffen.« Sie hielt ihm ihre Beute hin. »Möchtest du nicht auch einmal versuchen?«

»Wo ist Solaiyn?«

Sie deutete auf den Spalt im Fels. »Draußen. Er ist nicht ganz bei sich. Erzählt von seinen Kindern und glotzt dabei aufs Meer.«

Nodon trat hastig zu der Öffnung im Fels. »Und wenn er springt? Das Wasser ist voller Haie.«

»Ich hab ihn angebunden«, erklärte Aloki gleichmütig. »Vertraust du mir nicht mehr?«

Ich habe dir noch nie vertraut, dachte der Elf grimmig und zwängte sich durch die Felsspalte. Tatsächlich kauerte Solaiyn ein kleines Stück tiefer in der Steilwand. Er war mit seinem eigenen Gürtel an eine abgestorbene Wurzel gefesselt. Und das war gut so. Er hatte sich halsbrecherisch weit vorgebeugt, um hinter einen Felsvorsprung zu blicken.

»Fürst!«

Solaiyn wandte sich zu ihm um. Er wirkte aufgewühlt. »Nangog ist auferstanden!«, verkündete er mit sich überschlagender Stimme. »Sieh nur, Nodon, von welch erlesener Hässlichkeit sie ist. Kein Wunder, dass sich Alben und Devanthar einig waren, diese Abscheulichkeit lebendig zu begraben.«

Nodon hörte nicht auf ihn. Was für ein wirres Gerede! Er löste die Fesseln, und dann erlag er doch der Versuchung, um den Felsvorsprung zu blicken. Was er sah, erschreckte ihn bis ins Mark. Hastig zog er sich zurück und zerrte Solaiyn durch den Felsspalt ins Innere des Grottenhafens.

»Die Zwerge haben Nangog geweckt!«, erklärte der Fürst ernst der Schlangenfrau.

Aloki wirkte beunruhigt. Sie tauschte einen Blick mit Nodon. »Dieses Mal dauert es ungewöhnlich lange, bis sich sein Verstand wieder von der Präsenz des Goldenen erholt.«

»Die Zwerge haben tatsächlich etwas aufgescheucht … Es folgt ihnen hierher. Und es ist groß wie ein Berg.«

Sie legte den Kopf schief und sah ihn mit ihren unergründlichen gelben Augen lange an, als versuchte sie zu ergründen, ob er einen Scherz mit ihr trieb. »Dann sollten wir uns besser ganz unauffällig verhalten. Wenn diese Kreatur so riesig ist, dann sind wir nicht mehr als Ameisen für sie. Völlig unbedeutend. Lassen wir den Sturm vorüberziehen.«

Ihr Gleichmut erstaunte Nodon. Ja, er hätte vielleicht sogar Respekt vor ihr empfunden, hätte sie sich nicht wieder niedergekauert, um einen weiteren Streifen Fleisch von dem Toten abzuschneiden, den sie sich zum Mahl auserkoren hatte.

Sie kauerten sich nahe der Felsspalte auf den Boden und warteten. Nodon säuberte sein Schwert mit einem Stofffetzen, den er aus der Tunika eines toten Kriegers geschnitten hatte. Aloki hatte hier oben auf der Terrasse ein regelrechtes Massaker angerichtet. Mehr als fünfzehn Tote lagen am Boden. Nodon musterte sie aus den Augenwinkeln und schwor sich insgeheim, sie nie mehr zu unterschätzen.

Die Zeit verstrich quälend langsam. Nodon beobachtete, wie einzelne Aale in den Hafen einliefen. Die Mannschaften waren so erschöpft, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. Aufeinander gestützt, schleppten sich die Zwerge den Treppen entgegen, die hinauf in die Eingeweide der hohen Klippe führten.

Aus einigen der Tauchboote war leises Stöhnen zu hören. Sie ließen ihre Kameraden im Stich. Das hatte er bei Zwergen noch nie erlebt!

Aloki wirkte völlig ruhig, als wäre sie sicher, dass ihnen keine Gefahr drohte. Aber sie hatte das Ungeheuer ja nicht gesehen. Diese gewaltige Silhouette vor dem Horizont. Wie hatten die Zwerge nur so vermessen sein können, den Zorn dieser Kreatur zu erwecken.

Wellen schwappten in den Hafen. Nodon hörte, wie das Geräusch der Brandung lauter wurde, so als zöge ein Sturm herauf. Der Elf spähte durch den Spalt im Felsen. Noch war die Kreatur nicht zu sehen. Sie näherte sich aus dem toten Winkel. Aber er sah, wie die Möwen ihre Felsnester verließen und dem Festland entgegenstrebten.

Ein weiterer Aal näherte sich dem Hafen. Die Dünung ließ das Boot schlingern. Es machte kaum noch Fahrt.

Und dann plötzlich war sie da. Eine Gestalt, die den Himmel verschwinden ließ. Eine Mauer aus sich windendem Fleisch. Nodon war angewidert und doch nicht in der Lage, den Blick abzuwenden. Nichts, was er in seinem langen Leben gesehen hatte, reichte auch nur im Geringsten an diese groteske Kreatur heran. Sie war eine obszöne Verhöhnung dessen, was Leben sein sollte. Kaskaden von Tentakeln wucherten aus ihr und ließen keinen Leib erkennen, so dicht überlagerten die Fleischstränge einander. Und dann hoben sie sich. Alle zugleich. Sie streckten sich der Steilklippe entgegen. Umschlangen sie wie eine Geliebte.

Nodon trat von der Spalte zurück. Tentakel tasteten über die Felswand.

Unten im Hafen hörte er den hohlen Klang der Aale, die entlang der Mole gegeneinanderstießen, als die Wassermassen, die die Kreatur mit jedem Schritt in Bewegung setzte, in die Grotte strömten. Das Geräusch erinnerte an den Klang einer großen Totenglocke. Monoton und trostlos.

Tentakel schoben sich durch den Eingang zum Grottenhafen. Sich windende, mit Saugnäpfen bewehrte Fleischstränge. Manche von ihnen endeten in mannlangen Krallen und Fanghaken. Sie tasteten über die ausgekohlten Balken der Lagerhäuser, die verlassenen Molen, die versunkenen Schiffsrümpfe. Und sie fanden die Aale. Nodon glaubte die Schreie der Mannschaft selbst durch den mit Holz und Kupfer versiegelten Schiffsrumpf zu hören, als die Bestie den Aal zu packen bekam, der kurz vor ihr den Hafen erreicht hatte. Gnadenlos wurde das kleine Tauchboot durch den Grotteneingang gezerrt und verschwand.

Mit Getöse stürzten außen am Hang lose Steinbrocken die Klippe hinab. Nodon spürte, wie der ganze Fels unter dem Ansturm des Ungeheuers erzitterte. Kleine Steine lösten sich aus der Höhlendecke und stürzten in den Hafen, durch den immer noch riesige Fangarme tasteten.

Solaiyn presste sich zitternd gegen die Felswand. Er stammelte Bannzauber, doch er war viel zu durcheinander, um wirklich etwas bewirken zu können. Selbst Aloki, die sich stets so kaltblütig und distanziert gab, wirkte beeindruckt.

Ein Fangarm mit einem Auge an seinem Ende schob sich durch die Felsspalte. Es erinnerte Nodon ein wenig an die Augen von Schnecken auf ihren beweglichen Stängeln. Groß und lidlos blickte es auf sie hinab.

Nodon hob sein Schwert, doch Aloki fiel ihm in den Arm. »Du wirst die Kreatur nicht angreifen! Nicht, solange sie uns nichts zuleide tut!«

»Aber …«

»Sie sieht uns nur an!«, zischte die Schlangenfrau. »Und das ist gut so. Dieses Ding hat Verstand. Es sucht hier jemanden. Und das sind nicht wir.«

Das Auge auf dem Fleischstrang schwebte näher. Nur wenige Zoll vor Nodons Gesicht verharrte es. Ein unangenehmer Geruch ging von ihm aus. Es stank nach Algen und verfaulenden Muscheln.

Lange starrte es auf ihn herab, während unter ihnen die Tentakel den Hafen abtasteten und einige der Aale hin zum Ausgang zerrten.

Endlich wandte sich das Auge ab. Aloki und Solaiyn bedachte es nur mit einem kurzen Blick, dann zog es sich durch den Felsspalt zurück.

»Du kannst nicht gegen eine Naturgewalt ankämpfen, Nodon«, sagte die Schlangenfrau nun ruhiger. »Im Waldmeer, dort wo ich herkomme, gibt es alle paar Jahre schreckliche Stürme. Sie entwurzeln Bäume, denen über Jahrhunderte kein Unwetter etwas anhaben konnte. Sie lassen kleine Inseln verschwinden, um sie an anderer Stelle, aus Sand, Schlick und totem Geäst, neu entstehen zu lassen. Wenn sich ein solcher Sturm ankündigt, dann zieht sich alles, was lebt, in Erdlöcher oder dichtes Buschwerk zurück. Wir besinnen uns auf unser Leben und beten um die Gnade der Alben. Das ist alles, was man tun kann. Und warten, dass der Sturm vorüberzieht. Wer hinausgeht, wer keinen Schutz sucht und die Naturgewalten herausfordert, der kommt um. Diese Narren verschwinden auf immer. Davongerissen wie ein Blatt in einem Herbststurm. Fordere dieses Ding nicht heraus, Nodon! Wir sind ihm nicht gewachsen. Wir können nur demütig abwarten und zu den Alben beten, dass es bald wieder von uns ablässt.«

Demütig abwarten … Das war nicht seine Sache. Solaiyn jedoch fügte sich. Er kauerte sich dicht neben die Schlangenfrau, schlang die Arme um seine Knie, wiegte sich dabei vor und zurück und betete zu den Alben.

Nodon beobachtete, wie die Tentakel die Aufstiege in die Klippe fanden. Die Treppen und Rampen, die zu den Höhlen tief im Inneren des Felsens führten. Die Fleischstränge streckten sich. Würden sie die Zwerge finden?

Er wandte sich zu dem Spalt im Fels und blickte nach draußen. Alles, was er sah, waren zuckende Tentakel und ein Stück aufgewühlte See, dicht vor der Hafeneinfahrt.

Immer wieder löste sich Gestein und stürzte polternd die Klippe hinab. Auch Mauerbrocken waren dabei und einmal sogar schneeweiße Säulentrommeln. Das Ungeheuer schien von der Stadt Asugar keinen Stein mehr auf dem anderen zu lassen. Nodon stellte sich vor, dass, wenn die Bestie abzog, die Klippe wieder so karg und unberührt sein würde wie vor der Ankunft der Menschenkinder. Vielleicht hatte er angefangen, der Krieg der Göttin. Vielleicht holte sie sich ihre Welt zurück. Vielleicht … Ein Lichtreflex ließ ihn aufblicken. Einen Lidschlag lang war ein Stück Himmel zu sehen gewesen, doch dann war Nodons Blickfeld wieder ausgefüllt von sich windenden Tentakeln.

Plötzlich ging ein Schauer von unterarmlangen Pflöcken auf das Wasser nieder. Und dann stürzte Eleborn aus dem Himmel. Keine zwanzig Schritt von ihm entfernt! Was ging da vor sich? Er zwängte sich durch die Felsspalte.

»Nodon, was tust du?«, erklang hinter ihm die alarmierte Stimme Alokis.

Da war Nandalee! Die Arme eng an den Körper gelegt, stürzte sie dem Wasser entgegen. Nein, ging es ihm auf. Das war kein Sturz. Sie war gesprungen, um Eleborn beizustehen. Hinab in die aufgewühlte See voller Haie und mörderischer Tentakel.

»Was tust du da, Nodon?«, wiederholte Aloki. Die Schlangenfrau zwängte sich durch den Spalt. Sie würde versuchen, ihn aufzuhalten, da war er sich sicher.

»Jemandem helfen, eine Naturgewalt herauszufordern!«, entgegnete er trotzig und sprang.

Der weisse Wolf

»Los, schneller!«, schrie Shaya und drängte Enak vor sich her, der mit einer verletzten Frau in den Armen aus dem Palast der Kranken floh.

Stumm verfluchte sich die Heilerin für den schrecklichen Fehler, den sie gemacht hatte. Nach den Tagen in der beengten Höhle über der Hafengrotte, Tagen des Elends, des Gestanks und der Angst, hatte sie ihren Verwundeten Licht und Seeluft schenken wollen. Als Arcumenna für seine Schreckenstat die Höhle räumen ließ, hatte sie befohlen, dass alle Genesenden hinauf in den Palast der Kranken geschafft wurden.

Trotz des Drachenfeuers war das Hospital noch weitestgehend intakt. Wie hätte sie ahnen können, dass das hier geschah? Überall tasteten Tentakel. Sie drangen durch die großen Fenster und Lichtschächte. Einige der Verwundeten hatten sie nicht mehr retten können. Sie waren hinausgezerrt und zum Fraß des Ungeheuers geworden.

»Nicht!«, rief Enak hinter ihr, als sie zurückging, um einem Amputierten aufzuhelfen, der von seinem Lager in Richtung der rettenden Treppen kroch. Sein rechtes Bein war unterhalb des Knies abgetrennt. Der Verband blutig. Seine Wunde schien wieder aufgebrochen zu sein. Während er vorwärtskroch, zog er eine Spur blutiger Schlieren über den Steinboden.

Shaya packte ihn unter den Achseln.

»Danke!«, stöhnte der Krieger und sah sie aus weiten rotbraunen Augen unendlich erleichtert an. »Danke!«

Er war so schwer, dass Shayas Rückenwirbel knackten, als sie ihn mit sich zog. Sie vermochte ihn kaum schneller in Richtung der Treppe zu ziehen, als er aus eigener Kraft gekrochen war. Sie sollte ihn hochziehen, damit er auf seinem verbliebenen Bein, gestützt von ihr, vorwärtshüpfen konnte.

Ein Tentakel glitt dicht über der Blutspur über den Boden. Er bewegte sich seltsam zögernd. Sein Verhalten erinnerte Shaya an einen Wolfshund, der Witterung aufnahm. Weitere Fangarme, die in Haken endeten, schoben sich durch die Fenster.

Shaya mühte sich verzweifelt ab, den Krieger aufzurichten, doch reichten ihre Kräfte nicht, den massigen Mann auf sein verbliebenes Bein zu bringen.

»Lass mich zurück«, flüsterte er verzweifelt. Er blickte über die Schulter und sah, dass der Tentakel, der dicht über dem Boden schwebte, sie fast erreicht hatte. Jetzt erschien ein Fangarm, der an seinem Ende in ein großes Auge auslief.

Shaya hatte schon vieles in ihrem Leben gesehen, aber dieses riesige Auge, das sie anstarrte, machte ihr Angst. Plötzlich schossen zwei Tentakel vor. Fanghaken gruben sich in den Rücken des Kriegers, und er wurde ihr mit einem Ruck aus den Armen gerissen. Seine verzweifelten Schreie waren nutzlos, die Kreatur zerrte ihn durch das Fenster.

»Du …« Shaya war einige Herzschläge wie gelähmt vor Schock und Wut. Ein neuer Fangarm mit einem knöchernen Haken an seinem Ende glitt in ihre Richtung. Er richtete sich auf wie eine Viper, die jeden Moment zustoßen wollte.

Die Heilerin duckte sich und griff nach einem der eisernen Messer, die zwischen den Trümmern eines zerschmetterten Tischs lagen. »Du hast dich mit der Falschen angelegt, Wurmarm.«

Der Tentakel mit dem Haken schnellte vor. Shaya wartete bis zum letzten Augenblick, warf sich zur Seite und kam behände wieder auf die Beine. Sie war die Tochter eines Unsterblichen! Eine Kriegerprinzessin aus dem Volk der Ischkuzaia. Sie würde nicht einfach kampflos davonlaufen! Geduckt stürmte sie vor, wich einem peitschenden Fangarm aus und rammte das Messer in das Auge. Die gallertartige Masse zerlief. Der Tentakel, der das Auge getragen hatte, zuckte aus dem Fenster zurück. Die anderen Fangarme schlugen ziellos durch das große Krankenzimmer.

Shaya warf sich flach auf den Boden und robbte in Richtung des Ausgangs, während draußen ein hoher, zirpender Schrei ertönte. Ein Geräusch, das bis tief in die Knochen ging und die Kriegerin kurz innehalten ließ. Alle anderen Laute waren ausgelöscht. Da war nur noch der Schrei, der in ihren Ohren nachklang, als sie etwas am Oberschenkel streifte. Einer der tastenden Fangarme hatte sie gefunden.

Shaya rollte sich nach links und entging knapp einem Tentakel mit Fanghaken, der dort, wo sie gerade eben noch gelegen hatte, hart auf den Boden stieß.

Plötzlich splitterten Fensterrahmen, und ein Arm, dick wie ein Pferdeleib, schob sich durch eines der großen Fenster zum Meer, krümmte sich und schob sich drei Fenster weiter wieder ins Freie.

Shaya sprang auf und versuchte, zum Ausgang zu gelangen, der zur Treppe führte, doch drei Tentakel peitschten dort blindlings in die Luft. Ganz augenscheinlich hatte sich die Bestie gemerkt, wo der einzige Fluchtweg für seine Beute lag.

Die Heilerin fluchte leise. Sollte sie es wagen, zwischen den Fangarmen hindurchzustürmen? Einfach auf ihr Glück zu vertrauen? Sie richtete sich auf, spannte die Muskeln, bereit loszusprinten, als mit ohrenbetäubendem Getöse die Wand hinter ihr zusammenbrach. Der große Fangarm hatte das Mauerwerk hinab in den Abgrund gerissen. Über der Lücke schwebten mehrere Augen, die auf sie hinabblickten.

Die Tentakel, die eben noch den Ausgang versperrt hatten, schnellten in ihre Richtung. Shaya wich nach hinten aus und hielt das Messer schützend vor ihrer Brust. Einer der Tentakel streifte die Klinge. Er wurde auf mehr als einer Elle aufgeschlitzt. Dünnflüssiges Blut spritzte aus der Wunde.

Shaya stach nach einem zweiten Fangarm, dessen Ende sich um ihren Knöchel schlang. Sie wurde von den Beinen gerissen und schlug so hart auf den Boden auf, dass gleißende Lichtpunkte vor ihren Augen tanzten.

Das Ungeheuer zerrte sie in Richtung des Lochs in der Fensterwand. Keinen Schritt vor dem Abgrund hielt das Ungeheuer inne.

Shaya stach mit ihrem Messer auf den Muskelstrang ein, der sich um ihr Bein wand. »Rette mich, Weißer Wolf!«, stammelte sie. »Rette mich!«

Die Augen über der Öffnung starrten auf sie herab, als plötzlich hoch in der Luft etwas Kupfernes erschien. Ein mit Muscheln verkrusteter Schiffsrumpf. Eines der Schiffe, das die Daimonen benutzt hatten – und es stieß auf die Öffnung im Mauerwerk nieder! Sauste auf sie zu, als würde das Ungeheuer den Schiffsrumpf wie ein riesiges Messer nutzen wollen, um Rache zu nehmen für das Auge, das es an ihr Messer verloren hatte.

Shayas Linke klammerte sich um den Tentakel, der ihren Knöchel umfing. Hektisch versuchte sie, den Fangarm zu durchtrennen.

In diesem Augenblick stieß der Schiffsrumpf nieder. Steinsplitter prasselten auf sie nieder. Die Heilerin schloss die Augen zu spät. Zu …

Ein hohles Ächzen ertönte. Der Schiffsrumpf hatte sich im Mauerloch verkantet!

Shaya blinzelte gegen den Mörtelstaub in der Luft. Weniger als ein Schritt fehlte und das Daimonenschiff hätte sie zerquetscht. Gestein bröckelte aus dem Loch in der Mauer. Schon zog die Bestie das Tauchboot zurück, um noch einmal zuzustoßen. Shaya kämpfte immer verzweifelter gegen den zähen Tentakelstrang an ihrem Knöchel, als ein weiterer Fangarm nach ihr ausholte. Sie duckte sich unter einer Kralle, als sie etwas von hinten traf. Ein langer Dorn trat dicht unter ihrem Magen aus ihrem Bauch. Sie keuchte auf. Ihr Messer entglitt ihrer Hand.

Shaya sah, wie eine verzogene Luke im Daimonenschiff aufsprang. Bärtige, kleinwüchsige Krieger hüpften heraus. Sie waren übel mitgenommen, aber ihrem Zorn tat das keinen Abbruch. Mit großen Äxten hieben sie auf die Fangarme ein, die durch den Krankensaal zuckten.

Das Boot glitt knirschend aus dem Loch in der Wand. Zwei der Daimonen wagten noch zu springen. Einer kam unglücklich auf. Shaya hörte seine Beckenknochen krachen.

Die Daimonen schrien wild durcheinander. Sie verstand kein Wort von ihrer Sprache.

Der Dorn, der aus ihrem Bauch ragte, glitt zurück. Shaya stürzte nach hinten. Gesteinsbrocken schlugen rings um sie herum auf den Boden.

Sie wurde unter den Achseln gepackt. Hattus verkniffenes Gesicht erschien über ihr. »Was für eine selten dämliche Idee, sich mit diesem Ungeheuer anzulegen«, zischte er verärgert und versuchte, sie in Richtung Treppe zu ziehen.

Die Bestie stieß erneut einen zirpenden Schrei aus. Es fühlte sich an, als würde ihr kochendes Blei in die Ohren gegossen. Shaya schnappte nach Luft, worauf ein stechender Schmerz durch ihren Leib fuhr.

Einer der Daimonenkrieger hackte auf den Tentakel ein, der ihren Fuß umfangen hielt.

Der Schiffsrumpf stieß erneut durch das Mauerwerk.

Shaya wurde mit einem Ruck nach hinten gerissen. Metall schmetterte knirschend auf den Boden. Splitternde Muschelschalen spritzten in ihr Gesicht. Der Zwerg, der sie befreit hatte, war unter dem Schiffsrumpf verschwunden. Nur eine Hand, die eine Axt hielt, und daneben ein durchtrennter Tentakel waren zu sehen.

»Bei den Göttern!«, stieß Hattu hervor. »Dein Weißer Wolf hat dir wirklich beigestanden.« Er zog sie hoch und drückte ihr eine Hand fest auf den Rücken.

Sie spürte, wie warmes Blut über ihre Schenkel rann. Ihre Beine waren kraftlos. Sie ließ sich von Hattu ziehen. Dass ausgerechnet er gekommen war … Vielleicht war das das eigentliche Wunder, das der Weiße Wolf gewirkt hatte.

»Los, folgt mir!«, schrie Hattu den Daimonen zu.

Nur vier der kleinen Krieger waren noch auf den Beinen. Einen fünften, der beide Beine verloren hatte, zogen sie mit sich.

»Wir müssen die Blutung stillen!«

Das war Enaks Stimme. Shaya blinzelte verwundert. Sie war nicht mehr in dem Krankensaal, durch den sich die Fangarme der Bestie wanden. Sie musste kurz ohnmächtig geworden sein.

»Sauberes Leinen!«, sagte Hattu ruhig. »Bringt mir Leinen. Und ich brauche Honig, um die üblen Säfte zu bannen.«

Ihr Bauch schmerzte. Es fühlte sich an, als hätte sich eine Ratte darin eingenistet und versuchte, mit Nagezähnen und Krallen wieder zu entkommen.

Hattu beugte sich zu ihr hinab. »Du wirst es schaffen. Die Dummen haben immer Glück!«, sagte er mit fester Stimme, die völlig überzeugt klang. Doch seine Augen vermochten nicht zu lügen. In ihnen schimmerten Tränen.

Auf dem Flugdeck

Das Knirschen im Flügelgelenk wurde mit jeder Bewegung schlimmer.

»Du bleibst oben!«, schrie Artax. »Du wirst es schaffen!« Er wusste nicht, ob sein silberner Löwe ihn verstand. Er wusste so vieles nicht über die Geschöpfe der Devanthar. Etwas Dunkles troff aus dem Leib der metallenen Kreatur. Einer der Hornsplitter, die der Meerwanderer aus seinem Rücken geschossen hatte, steckte in dem Gelenk, das den rechten Flügel seines Löwen mit der Schulter verband. Der Flug des Löwen war schlingernd und unsicher.

»Du schaffst es!«, schrie Artax erneut. Es war nicht mehr weit bis zum Flugdeck des Wolkensammlers.

Volodi hatte zu ihm aufgeschlossen. »Du musst dich springen!«

Artax lachte bitter. Er wusste, dass er springen musste, aber er konnte nicht. Er starrte auf das aufgewühlte, schlammfarbene Meer.

»Mein Bär ist sich stark! Wird er uns beide tragen. Los, spring dich, verdammt!«

Artax dachte an den Tag im Dschungel, als sein Vorgänger ihm vor die Füße gefallen war.

Ja, spring, höhnte die Stimme in seinem Kopf. Das ist unser Schicksal, aus dem Himmel zu fallen.

Der Löwe sackte ein Stück ab. Mühsam kämpfte er sich hoch. Er wusste, dass das Flugdeck der einzig sichere Ort war, den er erreichen konnte. Aber würde er es schaffen zu landen? Oder würde er ihn enthaupten oder unter seinem massigen Leib zerquetschen?

Artax löste die Schultergurte, die ihn an die hohe Lehne seines Sattels fesselten.

»Gut!«, schrie Volodi. Der Drusnier flog etwa drei Schritt unter ihm. Leicht versetzt. Er weitete die Arme, als wollte er ihn fangen. »Komm! Fass dich ein Herz. Du kannst dich das!«

Artax sah wieder hinab auf die See. Wie weit war sie entfernt? Fünfhundert Schritt? Sechshundert? Würde er einen solchen Sturz überleben? Und wenn ja, würde ihn dann seine lederne Rüstung hinab auf den Meeresgrund ziehen?

»Was zögerst du dich. Du musst dich jetzt …« Volodis Worte gingen in einem Klirren unter. Wieder war der Löwe weggesackt. Seine Krallen waren über die Schwingen des Bären geschrammt, woraufhin die massige Kreatur abdrehte.

Volodi fluchte und schlug mit der blanken Faust in den Nacken seines Bären, doch die metallene Kreatur schien entschieden zu haben, dass es zu gefährlich war, seinem Löwenbruder nahe zu kommen.

Das machte es einfacher, dachte Artax mit einem verzweifelten Lächeln. Die Gelegenheit zu springen war verstrichen. Das Flugdeck fast schon zum Greifen nahe.

Der Löwe schlug verzweifelt mit seinen Schwingen. Immer bedrohlicher wurde das Kreischen des Metalls. Dann löste sich etwas am Ansatz des Flügels und stürzte hinab in die See. Der Löwe drehte sich halb um die eigene Achse.

Sie flogen zu hoch! Sie rasten auf die massiven Balken des Hauptdecks über der Landeplattform zu.

Artax’ Hände zitterten. Der letzte Gurt, der, der wie ein Schwertgurt um seine Hüften geschlungen war, wollte sich nicht lösen. Er musste nur noch den Dorn aus der Gürtelschnalle … Ein Schlag. Holz splitterte. Die Löwenschwingen hatten die Balken des Hauptdecks gestreift. Die metallene Kreatur wurde halb herumgerissen. Der Aufprall schleuderte Artax aus dem Sattel. Er landete hart auf dem Deck, schlitterte etliche Schritt weit über den Boden, während sein Löwe auf die zolldicken Planken stürzte und sich mehrfach überschlug. Scharfkantige Federn sausten über das Deck. Ein Bein des Löwen wurde abgerissen. Zwei Schützen, die an einer Speerschleuder standen, gingen schreiend zu Boden. Metallene Gefiederfragmente steckten ihnen in den Beinen.

Artax spürte, wie auch er von Trümmern getroffen wurde, doch vermochte nichts seine lederne Rüstung zu durchschlagen. Jene Rüstung, in die der Löwenhäuptige seine Zauber gewoben hatte, um ihn vor den Schwertern der Daimonen zu schützen.

Der Unsterbliche schlug hart mit dem Helm gegen die Bordwand. Ein stechender Schmerz fuhr durch seine linke Schulter. Die Wucht von Treffern vermochte auch der Zauber des Devanthar nicht zu bannen.

Krieger seiner Leibwache stürmten ihm entgegen. Männer in funkelnder Bronze, deren weiße Umhänge im Laufen wie Banner hinter ihnen wogten.

Artax hob die Hand, gebot ihnen anzuhalten. Er schüttelte den Kopf, fühlte sich leicht benommen. Seine Rechte griff nach der Reling, und er zog sich an der Bordwand hoch. »Alles in Ordnung!«, sagte er mit fester Stimme. »Alles in Ordnung.«

Er sah die Erleichterung in den Gesichtern der Männer. Der Unsterbliche blickte zu den Holzverstrebungen des Oberdecks über ihm. Wenn er jemals solch einen Wolkensammler besitzen sollte, dann würde das Flugdeck mindestens doppelt so hoch sein!

Volodi landete, sprang aus dem Sattel und kam zu ihm gelaufen. »Bei den Göttern, du lebst dich!« Der Drusnier zog ihn an sich und drückte ihn, als wollte er ihm alle Rippen brechen.

»Nach einer Begrüßung von dir habe ich mehr Prellungen als nach so einem kleinen Missgeschick.«

Artax blickte über die Trümmer, die überall verteilt lagen. Einen Flügel des Löwen hatte es völlig zerfetzt, ihm fehlten zwei Beine, und der Rumpf war so verzogen, dass kaum noch zu erkennen war, was für ein Tier er einmal dargestellt hatte.

»Ich hoffe mich, ist sich deine Schatzkammer wohlgefüllt.« Volodi löste den Lederriemen seines Maskenhelms und nahm ihn ab. Sein langes, blondes Haar klebte ihm in nassen Strähnen an Schläfen und Stirn.

»Wie meinen?« Auch Artax nahm den Helm ab.

»Drusnische Zimmerleute sind sich teuer.«

Artax lächelte. »Dann schicke ich dir ein paar von meinen Männern. Die bringen deinen Jungs dann auch bei, wie man gerade Bretter sägt und ein vernünftiges Wolkenschiff baut.«

»Klingt da sich Neid von Mann ohne Mittel in dich Worten?« Der Drusnier grinste breit und zeigte dabei makellos weiße Pferdezähne.

Jetzt musste Artax lachen. »Ja, dein Wolkensammler weckt den Neid jedes Unsterblichen und vielleicht sogar den der Götter.« Er deutete auf den hinteren Bereich des Flugdecks. »Ist alles vorbereitet?«

Das Lächeln verschwand aus Volodis Antlitz. »Du willst dich das wirklich tun? Das ist sich verrückt!«

»Deshalb bin ich mir ja sicher, dass du mitmachen wirst.« Artax fühlte sich nicht annähernd so selbstsicher, wie er klang. Bevor er den Meerwanderer gesehen hatte, war er überzeugt gewesen, dass sie der Bestie die Amphoren mit dem Traumeis stehlen konnten. Sie würden es so machen wie Kolja. Wind vor regenschwerem Horizont hatte versprochen, ihnen zu helfen. Aber jetzt, da diese wütende Naturgewalt weniger als eine halbe Meile entfernt war, hatte er das Gefühl, dass sich jeden Augenblick seine Gedärme in Wasser verwandeln würden. Er wollte nicht zu der großen Frachtluke, die im Boden des Flugdecks geöffnet worden war. Sechs Dreibeine umstellten die Öffnung. Kräne, von denen über Winden armdicke Taue hingen.

»Ruft die Bären und Löwen zurück!«, befahl Volodi ärgerlich seinen Männern. »Gegen diesen Fleischturm können sie ohnehin nichts ausrichten.«

Artax spürte, wie der Wolkensammler seinen Flügelschlag verlangsamte. Sie waren keine dreihundert Schritt vom Meerwanderer entfernt und flogen etwa eine halbe Meile über der See. Das war zu hoch!

Hörner erklangen auf den Decks des Wolkenschiffes. Die Silberlöwen und Bären, die noch draußen waren, kreisten in einiger Höhe über dem Meerwanderer, und ihre Reiter schleuderten Wurfspieße auf ihn hinab. Vermutlich war das genauso effektiv wie der Versuch, einen Elefanten mit Nadelstichen aufhalten zu wollen.

»Dein Versuch, auf der Hochebene von Kush den Unsterblichen Muwatta und sein unbesiegbares Heer mit einem Haufen von Bauerntölpeln aufzuhalten, die noch nie ein Schwert in Händen gehalten hatten, erscheint mir im Vergleich hierzu wie ein außerordentlich genialer Plan.«

Artax musste sich nicht umdrehen. Er erkannte die Stimme sofort. So wagte es nur Ashot, mit ihm zu sprechen. »Das sagt ein Bauerntölpel, der zum Feldherrn aufgestiegen ist.«

Ashot gesellte sich an seine Seite. Wie üblich trug er eine sauertöpfische Miene zur Schau. »Solche Dinge geschehen, wenn ein Königreich von einem verrückten Unsterblichen regiert wird.«

Das Wolkenschiff machte fast keine Fahrt mehr.

Artax hörte ein Zischen über sich. Wind vor regenschwerem Horizont ließ ein wenig von dem Gas in seinen Flügeln ab. Langsam begannen sie zu sinken. Der Unsterbliche atmete schwer aus. Durch die Ladeluke sah er das Gewühl der Tentakel unter sich. Wieder sirrten Hornsplitter vom Haupt des Meerwanderers. Mit dumpfem Klacken prallten sie von der Unterseite des Flugdecks ab. Noch waren sie zu hoch, als dass die Splitter Schaden anrichten konnten.

Volodi stand an der Reling. Sein Freund hatte die Augen geschlossen und streckte die Arme hoch. Er rief Wind vor regenschwerem Horizont. Ein Fangarm senkte sich zu dem Drusnier hinab. Dünn wie ein Finger und schneeweiß. Er streifte leicht die Hand des Unsterblichen.

Ein gellender Schrei ließ Artax erneut in die Tiefe blicken. Der Meerwanderer hatte einen Krieger auf einem fliegenden Bären zu packen bekommen. Plötzlich klaffte ein Loch mitten im Schädel der riesigen Kreatur. Die Tentakel wichen zur Seite. Ein Schlund tat sich auf, der sich nach unten hin verjüngte. Er war besetzt mit Reihen gekrümmter Zähne, lang wie Schwerter.

Der Fangarm öffnete sich. Geflügelter Bär und Reiter stürzten in den Schlund. Die Zähne bewegten sich wie Reißzähne an einem Sägeblatt. Sie zerfetzten das Metall und den Reiter. Drei Herzschläge nur, dann schloss sich der Schlund und verschwand unter Bündeln sich windender Fangarme.

Artax griff nach einem der Taue, die von den Frachtkränen hingen. Ein Ledergeschirr war daran befestigt. Sonst nutzten die Krieger, die mit jungen Wolkensammlern in den Himmel stiegen, solche Geschirre. Der Unsterbliche schluckte. Plötzlich sah er Shaya deutlich vor Augen. Als er ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte sie in einem solchen Geschirr gehangen.

»Ihr müsst nicht mit mir hinab«, sagte er leise. Dann sah er auf. Ashot und Mataan waren an die Frachtluke getreten und Ormu, der rotbärtige Jäger aus Garagum.

Der Wolkensammler sank noch immer tiefer. Das Ungeheuer war nun kaum mehr zweihundert Schritt entfernt.

»Wir könnten versuchen, die Bestie mit Feuer zu bekämpfen«, schlug Mataan vor. »Wir haben genug Öl an Bord.«

Artax schüttelte den Kopf. »Wir werden nichts tun, womit wir das Traumeis zerstören könnten. Wenn wir hinabgehen, dann so, wie Kolja es getan hat. In einem Fluggeschirr hängend.«

»Nein!«, schrie Volodi in seiner Muttersprache so laut, dass es auf dem ganzen Flugdeck zu hören war. »Dieser Plan … Es ist nicht mehr so, wie es zuvor war. Dieses Biest … Wind vor regenschwerem Horizont hat es mir gesagt. Der Meerwanderer, er hat sich verändert. Kolja muss ihm etwas von dem Traumeis gegeben haben. Diese Splitter. Das ist neu. Und er ist schneller geworden. Seine Schwächen, die Kolja erlaubt haben, auf seinen Rücken zu steigen … Vielleicht hat er sie abgelegt. Er wird nicht vergessen haben, wie Kolja ihn sich gefügig gemacht hat. Vielleicht wird es kein zweites Mal gelingen.«

Artax nahm das Fluggeschirr und stieg mit den Beinen in die breiten Lederschlaufen. »Gehen wir hinab und finden heraus, ob sich etwas verändert hat.«

Der Irrtum

Kaum dass sie ins Wasser eingetaucht war, begriff Nandalee, wie groß der Fehler gewesen war, den sie begangen hatte. Sie sah nichts! Aufgewühlter Schlamm und Sand reduzierten die Sicht auf wenige Zoll. Ein Tentakel streifte sie. Sie wurde herumgewirbelt, wusste plötzlich nicht mehr, wo oben und unten war.

Sie musste wieder auftauchen. Ein Wort der Macht würde helfen. Doch es musste ausgesprochen sein. Es gab Zauberweber, die an ein solches Wort nur denken mussten, um ihre Kunst zu üben. Sie war nicht so gut.

Sie ruderte mit den Armen. Aber bewegte sie sich in die richtige Richtung? Sie sah sich um und vermochte nicht auszumachen, woher das Licht kam. Wo stand die Sonne?

Die Brust wurde ihr eng. Sie musste atmen. Wenn sie jetzt die falsche Entscheidung traf … So tief konnte sie doch nicht ins Wasser eingetaucht sein. Sie machte ein paar Züge und wurde sich bewusst, wie gefährlich das war, wenn sie nicht wusste, wohin … Etwas Großes schnellte nahe an ihr vorbei. Wasserwirbel trieben sie ein Stück nach oben. Oben?

Ihre Lunge begann zu brennen. Sie musste atmen!

Etwas traf sie wuchtig vor die Brust. Sie keuchte, spie silberne Luftblasen. Ihre kostbare Luft! Die Blasen krochen an ihrer Brust hinab zu ihren Beinen. Hinab? Sie war in die falsche Richtung geschwommen! Dem Meeresboden entgegen statt zur rettenden Oberfläche.

Sie wendete. Kämpfte sich mit kräftigen Schwimmzügen durch das trübe Wasser. In ihrer Kehle hockte ein Tier. Etwas, das mit jedem Herzschlag mächtiger wurde. Etwas, das sie zwingen wollte einzuatmen. Ganz gleich, ob sie ihre Lunge mit Schlammwasser flutete. Ihre Lunge, diese luftlosen, leeren Säcke.

Zugleich behinderte sie das Schwert auf ihrem Rücken. Todbringer zog sie nach unten. Wollte sie zurück in die Tiefe reißen. Wie hatte sie so dumm sein können, einfach zu springen! Und wie hätte sie es nicht tun können? Sie war es Eleborn schuldig, der sein Leben für Meliander wagte. Er müsste nicht hier sein. Ob er noch lebte?

Ihr Kopf schoss durch die Wasseroberfläche. Gierig atmete sie in tiefen Zügen. Die salzige Seeluft war kühlender Balsam in ihrer Kehle.

Etwa sechzig Schritt entfernt ragte der Meerwanderer auf. Der Sohn Nangogs. Trotz der Distanz glitten rings um sie Tentakel durch die See. Fangarme, mächtig wie Seeschlangenleiber. Sie sah, wie er einen Felsvorsprung von der Steilklippe riss. Und dann sah sie das seltsame Wolkenschiff zum ersten Mal aus der Nähe. Es schwebte fast unmittelbar über dem Meerwanderer. Und es war grundverschieden von allen Wolkensammlern, die sie bisher gesehen hatte. Nicht quallenartig wie die anderen. Es erinnerte mit seinen weiten, fleischigen Schwingen an einen Rochen, nur dass entlang seiner Körpermitte Hunderte Tentakel hinabhingen. Es konnte nur einen Grund geben, warum die Menschenkinder auf diesem Himmelsgiganten hierhergekommen waren. Auch sie wollten das Traumeis!

Nandalee zischte ein Wort der Macht, und die Welt um sie herum veränderte sich. Konturen verschwammen. Licht wich einem Dunkel, durchsetzt von leuchtenden Linien. Sie sah die magische Welt, die Kraftlinien, die alles durchdrangen. Und sie sah es nicht mit ihren wirklichen Augen. Diese Welt offenbarte allein das Verborgene Auge. Jenes Auge hinter der Stirn. Sein Blick konnte nicht durch schlammiges Wasser getrübt werden.

Nandalee holte tief Luft, dann tauchte sie unter und schwamm dem Ungeheuer entgegen. Sie sah die Tentakel im Wasser als Schläuche aus rotgoldenem Licht. Die Bestie war erzürnt. Sie litt Schmerz, sie war nicht sonderlich klug, aber sie war auch nicht böse. Ihre Aura verriet alles über sie. Dieses Biest so zu reizen war töricht gewesen. Vielleicht hätte sie das Traumeis völlig unbemerkt stehlen können, während das Ungeheuer schlief. Nun musste sie den Meerwanderer töten. Und Nangog würde wissen, dass sie es gewesen war, da war sich Nandalee ganz sicher.

Als sie mit kräftigen Zügen dem Ungeheuer entgegenschwamm, fiel ihr auf, dass die großen Fangarme sich erstaunlich behäbig bewegten. Wurde das Ungeheuer vielleicht müde?

Nandalee tauchte auf und atmete erneut. Noch zwanzig Schritt. Das Wasser wimmelte nur so von Tentakeln. Die Elfe griff nach dem Schwert auf ihrem Rücken und vergewisserte sich, dass die Lederscheide sich im Wasser nicht verzogen hatte und die eingefettete Klinge leicht hinausgleiten würde.

Sie dachte an Eleborn. Wo steckte er? Hatte er sich in die Grotte gerettet? Sie konnte ihn nicht suchen. Die Menschenkinder würden sich das Traumeis holen. Das durfte sie nicht zulassen. Eleborn war ein Drachenelf. Er hatte gelernt, auf sich aufzupassen.

Mit schlechtem Gewissen nahm sie einen tiefen Atemzug und tauchte hinab in das Gewirr der Fangarme. Es wurde immer schwieriger voranzukommen, ohne von der Bestie berührt zu werden. Kurz fragte sie sich, ob es der Meerwanderer überhaupt bemerken würde, wenn einer der gewaltigen Tentakel sie leicht streifte?

Gleich würde er wissen, dass sie dort war. Todbringer, ihr Schwert, war dazu geschaffen, jeder Kreatur das Leben zu rauben. Sie musste sich nicht einmal vor einem Devanthar fürchten, wenn sie ihm mit dieser Waffe in der Hand gegenübertrat.

Wieder einmal würde ein unschuldiges Leben ausgelöscht.

Der Stahl glitt aus der Lederscheide. Sie strampelte mit den Füßen, hielt die Klinge mit beiden Händen und stieß sie in einen der Fangarme. Die Bestie zuckte auf. Etliche Herzschläge verstrichen. Dann schüttelte sich der Tentakel träge.

Nandalee riss die Waffe aus der Wunde. Ihr Atem wurde wieder knapp. Sie drehte sich auf der Stelle, schwamm ein Stück weiter und beobachtete, wie der Meerwanderer reagierte. Jeder andere Gegner, dem sie den Bidenhänder in den Leib gerammt hatte, war gestorben. Doch dieses Biest hielt es aus. Die Aura des verwundeten Fangarms begann zu verblassen. Doch das war alles. Müsste sie das Ungeheuer Glied für Glied zerhacken, wenn sie es töten wollte? War es mit mehr Lebenskraft erfüllt, als ihr Schwert zu rauben vermochte?

Ein Tentakel tastete dorthin, wo sie eben noch geschwommen war. Die Kraftlinien im Wasser veränderten sich. Sie pulsierten. Etwas zog an ihnen, stahl von ihrer Kraft. Ein Zauber!

Sie fuhr herum. Zu spät. Direkt hinter ihr war eine Kugel von gleißender Helligkeit, gesponnen aus Hunderten dicht miteinander verwobenen Lichtfäden. Etwas packte sie am Fuß und zog sie ins Licht.

Der Wandelbare

Nandalee riss ihr Schwert hoch, doch ihr Arm wurde festgehalten, bevor sie zuschlagen konnte. Es war zu hell. Das Licht brannte sich durch das Verborgene Auge bis tief in ihr Hirn. Sie geriet in Panik, schnappte nach Luft … Luft! Sie konnte atmen. Sie war im Trockenen.

»Du solltest den Blick von der magischen Welt abwenden«, sagte eine vertraute Stimme. »Dann wirst du auch nicht geblendet.«

»Nodon?« Nandalee öffnete die Augen. Es war der Schwertmeister des Dunklen, der ihren Arm gepackt hatte. Neben ihm kauerte Eleborn. Er wirkte angespannt und bewegte die Hände in langsamen, kreisenden Bewegungen.

»Erinnerst du dich, wie ich verspottet wurde, weil ich mich ganz der Zauberei mit Licht, Luft und Wasser verschrieben habe? Hast du eine Ahnung, wie viele widerstrebende Kräfte ich miteinander verweben musste, um eine Kugel aus Licht zu erschaffen, die uns trägt, als stünden wir auf festem Boden, die sich nach meinem Willen durch das Wasser bewegt und in der sich die Luft, die wir atmen, stets erneuert?«

Jetzt war nicht der Augenblick für schöngeistige Betrachtungen, dachte Nandalee ärgerlich. »Kann deine Kugel auch fliegen? Wir müssen hinauf auf den Rücken des Meerwanderers. Die Menschenkinder sind mit einem Wolkensammler gekommen. Sie werden das Traumeis vor unseren Augen erbeuten, wenn wir uns nicht beeilen.«

»Die Kugel durch die Luft schweben zu lassen ist etwas ganz anderes, als sie hier im Wasser zu bewegen. Das ist keine Bagatelle …«

»Kannst du es?«

»Nein«, gestand Eleborn ärgerlich.

»Dann hilft das alles nichts. Wir müssen hinauf, auf den Rücken des Meerwanderers. Und das so schnell wie möglich.«

»Das werden wir nicht schaffen, Nandalee. Wir können mit unseren Waffen nichts gegen ihn ausrichten. Er wird uns zerquetschen.«

»Wir sind Drachenelfen!«, entgegnete sie trotzig.

»Was uns nicht unsterblich macht.«

Die sachliche Art Nodons reizte Nandalee bis aufs Blut. Sie würde nicht einfach hier sitzen und gar nichts tun. Sie würde …

»Er spricht mit sich selbst«, sagte Eleborn fasziniert. »Wartet einen Moment. Ich muss euch etwas zeigen.«

Die Lichtkugel stieg höher. Sie drängte sich zwischen Tentakeln hindurch. Ein riesiges Auge glotzte sie an und verschwand wieder im schlammigen Wasser. Etwas kratzte über die Kugel. Eine Kralle, länger als ihr Bidenhänder.

»Sollten wir nicht etwas mehr Abstand zu dem Biest halten?«, fragte Nodon beklommen.

»Dann sehen wir es doch nicht.« Eleborn wirkte geistesabwesend. »Es ist ganz nah. Ich kann es deutlich spüren. Es spricht von uns. Es zeigt ihm ein Bild der Kugel.«

Was er da murmelte, war selbst für Eleborns Verhältnisse ziemlich verrückt, dachte Nandalee. Aber solange ihr Gefährte die Kugel nach oben steigen ließ, würde sie ihn nicht unterbrechen. Wenn sie die Wasseroberfläche erreichten, würde sie einen Weg hinauf zum Rücken des Ungeheuers finden. Wenn sie nur schnell genug wäre, könnte sie vielleicht an den Tentakeln hinaufsteigen.

Eine graue Felswand erschien vor ihnen im Wasser. Sie war bedeckt mit Muscheln und Seetang.

»Was seht ihr hier?«, fragte Eleborn voller Begeisterung.

Nandalee sah Nodon an. Der Schwertmeister des Dunklen war von der Frage offensichtlich genauso überrascht wie sie.

»Ein Bein!«, rief Eleborn aus, als sie nicht antworteten, »ein riesiges Bein. Wir befinden uns dicht über seinem Kniegelenk. Aber lassen wir das. Wirklich von Interesse ist der Wulst dort oben. Diese Wucherung unter dem Knochenschild.«

Nandalee sah eine Beule groß wie ein Mammutschädel. »Und was ist daran besonders?«

»Er ist ein Telepath. Nangog ist einfach genial. In allen Geschichten, die ich über sie kannte, wird sie als tumbe Riesin geschildert. Aber das ist sie nicht. Diese Kreatur ist ein einziges Wunder! Dass ihre Knochen das gewaltige Gewicht tragen können. Die vielen Augen. Er hat mehrere Mägen und Münder, sonst könnte er gar nicht genug essen und trinken, um am Leben zu bleiben. Und das ist nicht das Einzige, was er mehrfach besitzt.« Eleborn strahlte vor Begeisterung. »Ratet ihr es nicht?«

»Sag mir nur, wie man das Biest umbringen kann. Alles andere interessiert mich nicht.« Nandalee fiel es schwer, ihren Ärger zu beherrschen. Wie konnte er nur vergessen, weshalb sie hier waren!

»Unter diesem Wulst, eingebettet in eine Knochenschale, liegt ein Gehirn. Er hat ein Dutzend oder noch mehr davon. Sie alle stehen in telepathischer Verbindung mit dem Haupthirn, das nahe dem oberen Fressschlund liegt. Sein Körper ist zu groß, als dass ein Gehirn ihn noch bewegen könnte. Das Ganze ist …«

»Du bist ein Telepath?«, fragte Nodon argwöhnisch.

»Der Himmlische hat dieses Talent in mir erweckt, so wie er es bei vielen Elfen tat, die der Blauen Halle dienten.«

»Kannst du seine Gedanken beherrschen und ihm deinen Willen aufzwingen?« Neue Hoffnung keimte in Nandalee auf. »Kannst du ihn zwingen, das Traumeis zu uns ins Meer zu werfen?«

Eleborn schnaubte ärgerlich. »Ich bitte dich! Ich hatte mich dem Himmlischen verschrieben. Glaubst du, er hätte uns die dunkelsten Spielarten der Telepathie gelehrt? Wir waren …«

»Kannst du wenigstens seine Gedanken stören oder ihn von uns ablenken?«, fragte Nodon ruhig.

»Er flüstert mit so vielen Stimmen …« Eleborn wirkte verzagt. »Viele seiner Gedanken verstehe ich gar nicht. Er kann seine Form verändern. Gerade lässt er einige seiner Fangarme länger werden.«

Er wird das Wolkenschiff angreifen, wenn sie den Fehler machen, zu tief über ihm zu fliegen, dachte Nandalee. Noch war der Kampf um das Traumeis nicht verloren. »Lass mich aus dieser Kugel, Eleborn.«

»Aber hier sind wir sicher!«

»Wenn es mir um Sicherheit ginge, wäre ich im Jadegarten geblieben«, entgegnete sie eisig. »Mir scheint, du hast vergessen, weshalb wir hierhergekommen sind.«

»Wie könnte ich Meliander vergessen!«

»Wenn du dich wirklich um ihn sorgst, dann hilf mir jetzt, statt dieses Ungeheuer zu studieren.«

»Das tue ich doch nur, um einen sicheren Weg auf seinen Rücken zu finden. Wir könnten …«

»Wir könnten aufbrechen«, schnitt ihm Nandalee das Wort ab. »Uns läuft die Zeit davon.«

»Ich könnte das Gehirn dort am Knie vielleicht lähmen. Wenn das gelingt, dann werden uns die Tentakel, die mit ihm verbunden sind, nicht mehr gefährlich und …«

»Ich weiß, wie ich dieses Gehirn daran hindere, uns noch gefährlich zu werden. Wir müssen …«

»Ich habe verstanden.« Eleborn berührte die Wand der Blase. »Los, steck deinen Kopf hier hindurch. Jetzt!«

Nandalee gehorchte, erleichtert, dass es endlich weiterging. Die Haut, die sie gegen das Meer schützte, war gallertartig. Statt aufzureißen, beulte sie sich aus, als sie versuchte, den Kopf hindurchzustrecken. Plötzlich gab sie dann doch nach. Eine Blase hatte sich um ihren Kopf gebildet. Sie konnte atmen. Wie ein durchsichtiger, großer Helm umschloss das Gallert ihr Haupt. Und nur ihren Kopf.

Nandalee glitt hinaus ins Wasser. Ohne sich umzusehen, ob die anderen ihr folgten, strebte sie dem Wulst über dem Knie des Meerwanderers entgegen. Sie würde die Gedanken dieser Bestie nicht stören. Sie würde dafür sorgen, dass sie aufhörte zu denken. Zumindest dieser Teil von ihr.

Das Grauen

Hornbori blieb atemlos stehen. Er war am Ende seiner Kräfte. Selbst die Erinnerung an das Grauen der letzten Stunde vermochte ihn nicht mehr vorwärtszutreiben. Er konnte nicht mehr.

»Heh, Schisser. Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für ein Schönheitsschläfchen.«

Hornbori konnte es nicht mehr hören! Dieses ewige Gestichel! Seine Hände klammerten sich um den Schaft von Schädelspalter. Wie gerne würde er Galars Schädel spalten!

Sie liefen eine endlose Rampe nahe der Außenwand der Klippe hinauf. Zehn Schritt hinter ihnen fiel ein goldener Lichtstreifen durch eine verborgene Felsspalte. Deutlich konnte er sehen, wie sich die Tentakel hinter ihnen den Weg hinaufwanden.

Vier Fleischstränge, besetzt mit Saugnäpfen, groß wie seine Handfläche. Darüber schwebte an einem dünneren Strang ein Auge.

»Ich bleibe hier«, keuchte er. Sollte ihn die Bestie doch zerreißen. Er konnte keinen Schritt mehr laufen. Vielleicht würde er ein oder zwei Tentakel durchhacken, bevor ihn die Krallen zerfetzten. Diese knöchernen Fleischerhaken, denen heute schon so viele Zwerge zum Opfer gefallen waren.

»Ich werde dich nicht tragen, Schisser. Entweder nimmst du die Beine in die Hand, oder das war’s.«

Hornbori winkte matt. »Haut ab. Ich halt dieses Ding auf.« Er lachte erschöpft. »Für ein oder zwei Atemzüge vielleicht.«

Galar packte ihn bei der Schulter. »Das ist jetzt nicht der Augenblick, mein Weltbild durcheinanderzubringen, Schisser. Du bist der verdammte Drecksack, der immer die anderen verrecken lässt. Der davonläuft und den Ruhm der Toten stiehlt. Jetzt tu also, was du immer getan hast! Nimm die Beine in die Hand. Lauf!«

Die Tentakel bewegten sich etwas langsamer. Sie taten, was Hornbori auf seiner Flucht schon mehrfach beobachtet hatte. Sie zitterten, streckten sich, wurden dünner und länger. Diese Bestie ließ ihre Arme wachsen! Ganz gleich, wie weit sie liefen, sie würden ihr niemals entkommen. Diese immer länger werdenden Tentakel würden sie auch im hintersten Winkel der Höhlen erreichen. Es war sinnlos zu fliehen!

»Ich schlag hier meine letzte Schlacht … Und diesmal mit Mut und Ehre.« Er traute selbst kaum seinen Ohren, als diese Worte über seine Lippen kamen. Das war die Erschöpfung. Wenn er auch nur noch einen Schritt laufen könnte, dann würde er das tun, keine Frage. Aber es ging nicht mehr. Er lehnte gegen die Wand des Tunnels, hielt die Axt hoch vor der Brust und wartete.

»Wir gehen zusammen«, sagte auch Nyr. Er legte den bewusstlosen Krieger, den er gestützt hatte, auf den Boden. Den einen, den sie hatten retten können. Hornbori hatte seine beiden Gefährten überredet, zum Boot zurückzugehen, um die Verwundeten zu bergen. Alle anderen waren gerannt.

Als sie den ersten der beiden Verletzten geborgen hatten, war die Flutwelle gekommen. Die Wilde Sau war nicht vertäut gewesen. Sie war ins Hafenbecken gezogen worden. Unerreichbar für sie. Und dann hatten sich die Tentakel in den Grottenhafen geschoben. Riesig, tödlich, alles unter sich zermalmend und sich auch noch verändernd. Er hatte so etwas noch nie zuvor bei einem Tier gesehen. Es konnte Krallen aus den Enden der Fangarme wachsen lassen.

Seitdem waren sie nur noch gelaufen. Sie hatten die anderen Zwerge erst nicht eingeholt. Sie waren die Letzten auf der Treppe, die hinauf in die Höhlen führte. Aber nicht für lange. Bald hatten sie Verwundete getroffen und Krieger, die die Tage an den Kurbelwellen bis ins Mark erschöpft hatten. Den Ersten hatten sie noch versucht zu helfen. Sie hatten sie ermutigt oder ihnen Angst gemacht. Aber es hatte nicht geholfen. Hornbori konnte sie jetzt besser verstehen. Es gab einen Grad von Erschöpfung, der einem den Tod wie eine Erlösung erscheinen ließ. Sie hatten ihre Kameraden zurückgelassen. Und dann hatten sie die Schreie gehört … Diese Schreie hatten Hornbori noch einmal vorangetrieben. Hatten ihm die Kraft gegeben, gegen das Unausweichliche aufzubegehren. Bis jetzt. Sollten ihn die Krallen doch zerfleischen! Ihm war alles egal.

Weitere Tentakel schoben sich durch den Tunnel.

»Macht, dass ihr wegkommt!«, schrie Hornbori. Ihm standen Tränen in den Augen. Was für ein Scheißende! Alle würden sie hier verrecken. Nyr und Galar waren zu dämlich, um zu begreifen, dass niemand dem Ungeheuer entkommen würde. Niemand würde das Heldenlied über Hornbori Drachenfausts letzten Kampf singen.

Ein Tentakel wand sich auf Hornbori zu. Die Kralle am Ende des Fangarms wippte auf und nieder, als wollte sie ihm einen spöttischen Gruß entrichten.

»Für die Tiefe Stadt!«, hallte es durch den Tunnel. Galar stürmte vor und durchtrennte den Fangarm mit einem wuchtigen Hieb.

Weitere Tentakel stießen vor. Nyr war plötzlich neben ihnen, und auch Hornbori schlug mit letzter Kraft auf einen mächtigen Fleischstrang. Sein Axtblatt zerteilte den Fangarm so leicht, als schnitte es durch Luft. Hornbori schrie seine Wut und seine Verzweiflung heraus. Blut spritzte ihm ins Gesicht, troff von seinem Bart und durchtränkte seine Kleider. Wie von Sinnen hieb er um sich. Ein Rausch packte ihn. Er drängte vor, hackte, schrie. Blut spritzte ihm in den weit offenen Mund.

Doch ganz gleich, wie viele Fangarme er auch abschlug, es drängten immer neue nach, und er sah, wie die Tentakel nachwuchsen. Wie sich Krallen und Knochendornen aus den blutigen Stümpfen schoben. Es war ein Albtraum.

Der abschüssige Boden war mit abgetrennten Gliedern bedeckt und schlüpfrig vom Blut. Hornbori brach in die Knie. Erschöpft von der Raserei. Galar nahm ihn und zog ihn ein Stück zurück.

»Gar nicht übel für einen Schisser«, grummelte der Schmied.

»Wenn du dein Amt als Heermeister niederlegst, würdest du einen erstklassigen Fleischhauer abgeben.« Nyr bedachte ihn mit einem breiten Grinsen. Seine Zähne leuchteten unnatürlich weiß in seinem blutbeschmierten Gesicht.

Hornbori war alles egal. Er rang keuchend um Atem. Ihm fehlte die Kraft, auch nur ein einziges Wort zu sprechen.

Wieder griffen die Tentakel an. Galar und Nyr stellten sich ihnen in den Weg. Doch ihr Mut und ihr Geschick richteten weit weniger Schaden an als die Axt, die der Goldene ihm geschenkt hatte. Er sollte aufstehen, dachte Hornbori, schaffte es aber nicht.

Galar und Nyr hätten nicht hier sein sollen. Er hatte alleine sterben wollen. Und nun musste er ihnen zusehen, wie sie vor ihm gingen. Er versuchte aufzustehen. Es wollte nicht gelingen. Es … Eine Bewegung dicht unter der Decke des Tunnels fiel ihm auf. Ein Tentakel kroch unter dem grob behauenen Felsen entlang. Er sah anders aus als jene, die Galar und Nyr bedrängten. Dünner, von fahlem Weiß und ganz ohne Saugnäpfe. Er senkte sich auf den Verwundeten hinab. Der Ohnmächtige erwachte mit einem gellenden Schrei, als sich das Ende des Tentakels auf sein rechtes Auge senkte.

Hornbori sah, wie ein Klumpen durch den Tentakel glitt. Und dann vollführte der Fangarm rhythmische Kontraktionen. Es sah aus, als pumpte er etwas ab. Die Schreie des Verwundeten steigerten sich zu einem gellenden Crescendo und brachen plötzlich ab. Sein Kopf sackte in sich zusammen wie ein leerer Weinschlauch. Sein Leib zuckte. Immer noch pumpte etwas durch den Fangarm.

Hornbori vergaß seine Müdigkeit. So etwas hatte er noch nie gesehen. Dieses Biest saugte den Krieger aus, bis nur noch ein Hautsack übrig blieb.

Der Heermeister sprang auf und begann zu laufen.

»Hornbori!«, hörte er Nyrs verzweifelte Stimme hinter sich.

Er konnte den beiden nicht helfen. Er hatte sie nicht hier zurückhalten wollen. Sollten sie jetzt allein auf sich aufpassen! Das war nicht seine Aufgabe. Er lief an dem grässlichen, saugenden Tentakel vorbei. Rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Schneller und schneller.

Er überholte erschöpfte Nachzügler, die in dem gewundenen Tunnel kauerten und ihm verwundert nachsahen. Immer weiter, bis Kampflärm vor ihm erklang. Er sah Ulur mit seinem tätowierten Leib, der eine Hand auf eine tiefe Schnittwunde in seiner Brust presste. Sah Ginnar, dem die Kobolde den Bart abgezogen hatten, wie man ein Kaninchen häutete. Sah die Krieger der Menschenkinder, die sich seinen Zwergenbrüdern in einer dünnen Schlachtlinie entgegenstellten. Er wollte fort. So weit es ging, vor diesem dünnen weißen Fangarm fliehen, der einem das Hirn aus dem Schädel saugte.

Mit einem gellenden Schrei warf er sich den Menschen entgegen, hackte wütend auf Schilde ein, zerbrach Schwertklingen unter den wuchtigen Hieben seiner Axt und spaltete Schädel, wie ein Kind Nüsse aufknackte.

Der Schildwall der Menschenkinder zerbrach. Er sah das Entsetzen in den Augen der Männer, die eben noch hatten kämpfen wollen. Ein einäugiger Kerl schrie auf die Flüchtenden ein, wagte es aber nicht, sich ihm in den Weg zu stellen.

Hornbori hieb auf einen großen Krieger in einem Bronzekürass ein, der ihm einen flachen Schnitt am Arm zugefügt hatte. Seine Axt spaltete den Helm. Der Sterbende spie Blut. Hornbori schlug erneut zu. Und wieder und wieder …

»Der ist tot!« Kräftige Arme packten ihn. Dann erschien Ginnar. »Aufhören!«, schrie ihn der Zwerg aus Ishaven an. »Bei den Alben, komm zu dir! Es ist vorbei. Du hast sie in die Flucht geschlagen, ganz allein, Heermeister.« Er sprach den Titel voller Hochachtung aus, auch wenn Misstrauen in seinen Augen glomm.

Hornbori kämpfte gegen die Arme an, die ihn gepackt hielten. »Wir müssen weg hier. Weiter nach oben. Es folgt mir!«

»Was folgt dir?«

Der Heermeister starrte mit angstweiten Augen den Tunnel hinab, durch den er geflohen war. »Das Grauen, Ginnar. Das Grauen!«

Nicht besiegt

Das war das Ende. Arcumenna hatte in zu vielen Schlachten gekämpft, um sich etwas vormachen zu können. Seine Männer würden keinen Schildwall mehr bilden. Ihr Wille zum Widerstand war zerschmettert. Der rasende Daimon mit der Axt hatte das getan. Ein einziger Krieger hatte über das Schicksal Asugars entschieden.

Arcumenna hielt seinen Schild hoch. Das Gesicht dem Feind zugewandt, ging er langsam rückwärts. Er war in seinem ganzen Leben noch nicht geflohen. Er hatte sich gelegentlich zurückziehen müssen, aber er würde nicht in wilder Panik davonlaufen.

»Herr, schneller!«, drängte Horatius. Der Hauptmann war der Einzige, der an seiner Seite geblieben war. Alle anderen waren fort.

»Du darfst gehen«, sagte der Feldherr ruhig.

Horatius stieß einen Fluch aus, für den ihn das Lebende Licht bei lebendigem Leib verbrannt hätte. Ihr Devanthar verstand keinen Spaß bei lästerlichen Worten über die Götter oder die Unsterblichen.

Schritt um Schritt ging der Feldherr, ohne seine Feinde aus den Augen zu lassen. Der Boden des Tunnels war bedeckt mit Toten und Verwundeten. Letztere würden sie den Daimonen überlassen müssen. Ihr Schildwall war zu plötzlich zerbrochen. Niemand hatte mehr an seine Kameraden gedacht. Die Männer, die ihm vielleicht in einer anderen Schlacht das Leben gerettet hatten.

Seltsamerweise hielten sie den Daimon mit der Axt fest und folgten ihnen nicht. Noch nicht …

Horatius fluchte immer noch leise vor sich hin, aber der Hauptmann machte keinen Versuch mehr, ihn umzustimmen. Sein Kamerad hielt sich rechts von ihm, bereit, mit seinem Schild seine Brust zu decken. Sie wichen in langsamem Gleichschritt zurück.

Wohin sollten sie gehen? Hinauf in die verwüstete Stadt, auf die die Fangarme des Ungeheuers einschlugen? Oder in das System aus Tunneln und Zisternen, in das sie schon einmal geflohen waren? Bei dem, was er den Daimonen angetan hatte, durfte er nicht auf Gnade hoffen. Er würde auch nicht darum bitten. Er würde mit dem Schwert in der Hand sterben.

Der Krieger mit der Axt, der ihren Schildwall zerbrochen hatte, machte sich los. Er schrie etwas und deutete mit seiner Waffe in ihre Richtung. Vielleicht hatte er Freunde im Feuer verloren? Für ihn war der Kampf noch nicht zu Ende. Er wollte Rache!

»Mein Fürst!« Eilige Schritte begleiteten den Ruf. »Mein Fürst!«

Arcumenna sah flüchtig über seine linke Schulter. Es kam keine Verstärkung. Nur ein einzelner Mann mit einer Fackel. Eine dürre Gestalt. Er trug nicht einmal einen Helm. Sein schwarzes Haar hing ihm in nassen Strähnen in die Stirn. Gaius, der Hauptmann der Stadtwache von Asugar. »Herr … ein Wolkensammler. Sie greifen das Ungeheuer an!«

Arcumenna schloss die Augen. Einen Herzschlag lang nur. Die Götter hatten ihn also doch nicht verlassen. Es musste ein Kampfschiff sein. Kein Kauffahrer hätte es gewagt, sich mit der Bestie anzulegen.

»Silberne Löwen sind in den Ruinen gelandet. Sie bringen die Verwundeten hoch auf das Schiff.«

Das gefiel ihm nicht. Es roch nach Flucht und Niederlage. Auch die Daimonen waren fast am Ende ihrer Kräfte. Er würde nur hundert Krieger benötigen. Das wäre genug, um ihre Feinde zurück in die Fangarme der Bestie zu treiben.

»Verstärke unseren Schildwall!«, befahl er entschlossen.

Gaius sah ihn verwundert an.

»Dies ist ein geordneter Rückzug. Unsere Schlachtlinie ist ungebrochen! Willst du dich einem Befehl deines Fürsten widersetzen?«

Wortlos reihte sich Gaius in ihren Schildwall ein.

Arcumenna bemerkte den Blick, den der junge Hauptmann mit Horatius tauschte. Sollten die beiden ihn nur für verrückt halten. Ihm war bewusst, dass drei geschlagene Gestalten, die langsam rückwärtsgingen, allenfalls als traurige Parodie auf eine Kampflinie durchgingen. Aber hier ging es ums Prinzip! Disziplin war alles, woran sie sich noch klammern konnten. Er hatte stets durch ein gutes Vorbild geführt. Seinen Männern nie etwas befohlen, was er nicht selbst getan hätte, und er hatte in den meisten seiner Schlachten zumindest in den kritischsten Augenblicken in den vorderen Kampfreihen gestanden. Dies war ein Teil des Geheimnisses seiner Siege. Er war sich sicher, bevor sie das Plateau mit der verwüsteten Stadt erreichten, würden sich zumindest einige der Flüchtenden wieder ihrem Schildwall anschließen.

»Was für ein Schiff ist uns zu Hilfe geeilt, Hauptmann? Hast du es mit eigenen Augen gesehen?«

»Ja, Herr. Ich habe es gesehen. Es ist nicht nur ein Gerücht. Es ist der seltsame, flache Wolkensammler, der vor einigen Wochen schon einmal hierherkam. Er hat ein Schiff aus Trümmern getragen, und seine Fracht waren allein verletzte Wolkenschiffer. Jetzt aber trägt er ein anderes Schiff. Es hat viele fliegende Löwen und Bären an Bord.«

Arcumenna seufzte. Es schien der Wolkensammler zu sein, den er über dem Palast des Unsterblichen Volodi gesehen hatte. Und all die Löwen und Bären … Das waren keine guten Nachrichten. Wo diese verdammten neuen Flieger waren, musste man mit Unsterblichen rechnen, und die würden sich von ihm nichts sagen lassen. Aber vielleicht hatte er ja Glück … Auf jeden Fall war der Kampf um Asugar noch nicht entschieden!

Es kam, wie er es vorhergesehen hatte. Als sie die letzten Schritte hinauf aufs Plateau taten, war ihre Truppe auf fast vierzig Mann angewachsen. Die Verzagten und die leicht Verwundeten hatten sich ihnen angeschlossen. Doch die Daimonen folgten ihnen. Sie waren langsam. Auch sie wurden durch ihre Verwundeten aufgehalten, doch sie schienen entschlossen zu sein, eine Entscheidung herbeizuführen.

Arcumenna blickte zu dem Wolkensammler auf. Das Schiff, das er trug, war nicht sonderlich eindrucksvoll. Allerdings waren viele der geflügelten Schöpfungen der Devanthar in der Luft. Mit ihrer Hilfe sollte er die Daimonen vernichten können.

Sie waren am südlichen Ende des Plateaus aus der unterirdischen Stadt gestiegen. Hier hatte das Ungeheuer offensichtlich noch nicht gewütet. Die Häuser waren zwar vom Drachenfeuer verbrannt, doch hatten keine Fangarme sie bis auf die Grundmauern eingeebnet. In einem Säulengang, der einmal Teil des großen Marktplatzes gewesen war, hatte Hattu ein Lazarett eingerichtet. Ganz in der Nähe waren zwei silberne Bären gelandet, und zwei schwer bewaffnete Krieger standen zwischen den Krankenlagern.

»Gaius!«

»Mein Fürst.«

»Geh zu diesen Drusniern und richte ihnen aus, ich möchte ihren Befehlshaber sprechen. Ich werde ihm erklären, wie wir unsere Truppen gemeinsam zum Sieg führen können.«

Der junge Hauptmann bedachte ihn mit einem verschmitzten Lächeln, war aber klug genug, nichts zu sagen. Arcumenna war klar, dass er eigentlich nicht in der Position war, gegenüber den Drusniern irgendwelche Forderungen zu stellen, aber wenn man nur dreist genug auftrat, war einem auch das Glück hold. Die Hälfte seiner Siege hatte er seiner Frechheit zu verdanken.

»Horatius, nimm dir ein paar Männer, such in den Tunneln nach Nachzüglern und behalte die Daimonen im Auge. Ich wünsche nicht, dass sie uns noch einmal überraschen. Wir werden ihnen hier oben eine Falle stellen.«

Sein alter Kampfgefährte grinste. »Mir ist auch nach noch einem Tänzchen mit den Mistkerlen!«

Zufrieden sah Arcumenna zu, wie Horatius wieder ins Zwielicht der Tunnel hinabstieg, denen sie gerade erst entkommen waren. Er war ein tapferer Mann. Hoffentlich überlebte er den Tag.

Voller neuer Zuversicht blickte er zu dem Ungeheuer, das seine Fangarme dem Himmel entgegenstreckte und die Stadt fast nicht mehr behelligte. Eine Wolke riesiger Pfeile schoss dem schwebenden Schiff entgegen. Der Fürst sah, wie sich eine Klappe im Unterdeck öffnete. Einige Männer standen dort und blickten auf den Meerwanderer hinab. Wahrscheinlich würden sie gleich etwas auf das Ungeheuer hinabwerfen.

»Mein Fürst …« Ein alter Mann verbeugte sich demütig vor ihm.

Arcumenna war verärgert über die Ablenkung. »Was?«

»Der Heiler Enak dachte, Ihr möchtet vielleicht Abschied nehmen …«

Jetzt erkannte er den Alten. Er war einer der Pfleger im Palast der Kranken. Wie kam er darauf, dass er sich inmitten des Kampfgetümmels von einem Sterbenden verabschieden wollte? Sah er aus wie ein sentimentaler Weichling? »Ich habe eine Schlacht zu lenken …«

»Ich hatte Enak gesagt, dass Ihr so antworten würdet. Ich war vor langer Zeit Krieger … Dies ist nicht meine erste Schlacht mit Euch, Herr. Ich weiß, eine Heilerin ist nicht so bedeutend wie ein Sieg.«

»Eine Heilerin? Diese aufsässige neue …«

»Ihr Name ist Shaya, Herr.«

»Wo ist sie?«

»Darf ich Euch zu ihr führen?«

Arcumenna bedachte den Alten mit einem scharfen Blick. War der Kerl unglaublich einfältig oder erstaunlich gerissen? Hatte der Pfleger ihn manipuliert? Er entschied sich, das nicht zu glauben. Der Alte war wenig mehr als ein Sklave. Hätte er einen scharfen Verstand, würde er nicht niedere Dienste verrichten.

»Wohin gehst du? Hattu und die Verwundeten sind drüben bei der Agora.«

»Sie hat ihren eigenen Platz, Herr. Etwas weiter fort von den Kämpfen, mit einem schönen Blick über das Meer.« Die Stimme des Dieners stockte. »Dort muss sie das Ungeheuer nicht sehen, sollte sie noch einmal zu sich kommen.«

Sie gingen nur ein kurzes Stück Weg. Schmale Stufen führten sie an der Flanke der Klippe hinab zu einem Pavillon, der in den Fels geschlagen war. Ein Busch mit sternförmigen roten Blüten wucherte dort. Shaya lag auf einem Lager aus Decken. Ihre Lider waren geschlossen. Neben ihr kauerte Enak. Tränen rannen dem jungen Heiler über die Wangen.

Blutige Verbände waren um Shayas Bauch geschlungen. Neben ihrem Lager standen verschiedene Töpfe und Tiegel. Arcumenna erkannte nur den schlanken schwarzen Flakon. In solchen Gefäßen wurde besonders reiner Schlafmohn gehandelt. Eine Droge, die friedlichen Nachtschlaf oder immerwährende Ruhe schenkte, wenn man zu viel von ihr nahm. Sieben Tropfen genügten für einen Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr gab. Der Fürst sah den kleinen Bronzepokal, gefüllt mit Wein. Und er sah, dass das Siegel des schwarzen Flakons zerbrochen war.

»Du willst sie vergiften?«, fuhr er den Heiler an.

»Sie hat starke Schmerzen.«

»Ich …« Arcumenna hielt inne. Er hatte genug Männer sterben sehen, denen in der Schlacht die Eingeweide zerschnitten worden waren. Entweder starb man schnell, oder der Tod zog sich über viele, schmerzhafte Stunden. Aber vielleicht …

»Ist es nur ein Schnitt?«

Der junge Heiler schüttelte den Kopf. »Ihre Eingeweide sind zerfetzt. Shaya ist nur deshalb noch nicht tot, weil sie zu dickköpfig ist zu sterben. Doch diesen Kampf kann sie nicht gewinnen. Sie wird den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben.«

Koljas Schatz

Artax blickte hinab auf das Ungeheuer. Es war verrückt, das hier zu tun! Er hob den Arm und gab Volodi damit das vereinbarte Zeichen. Augenblicklich sackte ihr Wolkensammler noch ein Stück tiefer. Die überraschende Bewegung riss Ashot von den Beinen. Er stürzte durch den Schacht, doch das Fluggeschirr, das er angelegt hatte, verhinderte seinen Sturz in die Tiefe.

Auf dem Flugdeck kamen einige der gelandeten Löwen und Bären ins Schlingern. Ein Fass rollte über Deck und zerschellte krachend an der Reling. Überall gingen Wolkenschiffer und Krieger zu Boden.

Artax umklammerte das Seil, das sein Fluggeschirr mit dem Lastkran verband. Er hatte das Gefühl, sein Magen wollte ihm die Kehle hinaufspringen. Etliche Tentakel ihres Wolkensammlers stießen auf den Meerwanderer hinab. Der Unsterbliche sah, wie bläuliche Blitze aufflackerten, wo sie das Meeresungeheuer berührten. Und dann das Unglaubliche. Die Fangarme, die gerade noch in den Himmel hinaufgegriffen hatten, sackten kraftlos herab. Nur wenige Tentakel vermochten sich noch zu rühren.

»Abwärts!«, rief Artax mit fester Stimme und trat durch die offene Bodenluke. Sirrend glitt das Seil über die Kranwinden. Er stürzte dem Rücken des Meerwanderers entgegen. Erst wenige Schritt über dem bebenden Fleisch verlangsamte sich sein Fall. Er federte in die Knie, als er aufschlug. Ein Griff genügte, um das Fluggeschirr vom Seil zu lösen. Artax zog sein Geisterschwert.

Der Boden unter ihm hob und senkte sich. Doch kein Fangarm streckte sich nach ihm. Sie lagen in haushohen Knäueln durcheinander. Ein kopfgroßes Auge starrte ihn an. Die Pupille verengte sich, als er näher trat. Er war sich sicher, dass das Ungeheuer ihn bewusst wahrnahm, ganz gleich, was Volodi ihm über den Angriff auch erzählt hatte. Wind vor regenschwerem Horizont hatte behauptet, dass der Meerwanderer mehrere Gehirne besäße. Der Wolkensammler wollte sie durch Schläge mit diesem bläulichen Licht lähmen. Artax hatte nicht ganz verstanden, was da vor sich gehen sollte, und so chaotisch, wie Volodi es erzählt hatte, war er sich ziemlich sicher, dass der Drusnier auch nicht verstanden hatte, was sein Wolkensammler genau beabsichtigt hatte. Doch dies war nun nebensächlich. Der Plan ging auf. Der Meerwanderer war gelähmt, zumindest größtenteils. Sie hatten mindestens eine Stunde Zeit, um das Traumeis zu holen und die Überlebenden Asugars zu retten.

Artax kletterte durch das Labyrinth der Tentakel. Es stank erbärmlich. Schon hatten sich erste Möwen auf dem Meerwanderer niedergelassen. Gierig pickten sie in das lebende Fleisch, rissen Fetzen heraus und sprühten Blutspritzer über ihr schneeweißes Gefieder.

Da endlich sah er sie. Weiße Krater im Rücken der Bestie. Seepocken, groß wie Fässer, hatten sich in das Fleisch des Ungeheuers gegraben. Einige der Kalkwülste waren durchstoßen. Mit Pech verklebte Netze hingen über den Öffnungen der Parasiten, die sich ins Fleisch des Ungeheuers gegraben hatten.

»Das ist es sich!«, rief Volodi begeistert, der hinter Artax durch das Gewühl sich windenden Fleischs gestiegen war. Ihm folgten Ashot und Ormu. »Verdammt, wir haben es uns geschafft. Und wir müssen uns dieses verdammte Vieh nicht einmal sich umbringen.«

»Ich würde eher sagen, wir können es nicht«, mischte sich Ashot ein. »Bringen wir das hinter uns! Ich möchte dem Biest nicht mehr auf dem Rücken stehen, wenn es aufwacht.«

Artax kniete neben einer der Seepocken nieder. Er zog sein Messer und zertrennte die zähen Seile. Dann griff er hinab in die Öffnung und zog eine schlanke, mit geflochtenem Stroh umhüllte Amphore heraus. Ihr Mund war mit einem Klumpen aus klebrigem Pech verschlossen. Voller Ungeduld hebelte er den Pfropfen herunter, musste noch ein Korkstück aufspießen, und dann endlich war sie offen. Vorsichtig kippte Artax die Amphore zur Seite. Etwas Bleiches fiel heraus.

Artax biss sich auf die Lippen. Das war kein Kristall! Das war Wachs!

Der Unsterbliche hob die Amphore an. Weitere längliche Wachsstangen fielen durch die Öffnung.

Hatte Kolja sie hereingelegt?

»Dieser verdammte Bastard!«, fluchte Volodi. Auch er hatte eine Amphore hervorgeholt. Statt sie umständlich zu öffnen, hatte er den schlanken Hals des Gefäßes eingeschlagen. Zwischen den Scherben lagen ebenfalls Stangen. »Was ist sich das? Haben sich diese Kerzen nicht einmal einen Docht. Sind sich völlig nutzlos. Ich könnte mich Kolja …«

Artax hob eine der Wachsrollen auf und hielt sie gegen die Sonne. Da war etwas in ihrem Inneren. Etwas Dunkles, das gänzlich vom Wachs umhüllt war.

Er nahm sein Messer und schnitt vorsichtig dicke Späne von der schlecht gezogenen Kerze, die keinen Docht hatte. Das eiserne Messer stieß knirschend auf etwas Hartes. Vorsichtig schob Artax letzte Wachsreste zur Seite, und ein grüner Kristall funkelte im hellen Mittagslicht. »Er hat sie in Wachs gebettet, damit sie nicht zerbrechen«, sagte er erstaunt. So viel Umsicht hätte er dem derben Faustkämpfer nicht zugetraut. »Wir haben Koljas Schatz!« Triumphierend hielt er den Kristall hoch. »Nun werden wir die Welt verändern und diesen verfluchten Krieg beenden!«

Blutspur

Durch ihr Verborgenes Auge sah Nandalee das Hirn, das sich unter dem Wulst verbarg, als einen Knoten aus pulsierendem, goldenem Licht. Ein Muster feiner, silberner Linien behinderte ihre Sicht. Es war die Matrix jenes Zaubers, mit dem Eleborn den Helm aus Gallert erschaffen hatte, der ihren Kopf umschloss und ihr erlaubte, unter Wasser zu atmen. Umständlich zog die Elfe das lange Schwert aus der Scheide auf ihrem Rücken. Sie ruderte dabei mit den Füßen, um nicht in die Tiefe zu sinken. Sie hätte besser ein Messer mitgenommen. Die große Waffe lag schwer in ihren Händen.

Sie paddelte, bis sie sich oberhalb des Lichtknotens befand, und setzte die Spitze Todbringers auf das Fleisch. Die Klinge war von dunkellila Licht umspielt. Sie hatte keine Ahnung, welche Zauber die Himmelsschlangen in den Stahl gebunden hatten, doch zweifellos entstammten sie den dunkleren Spielarten der Magie.

Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen den Schwertknauf. Todbringer drang durch Fleisch und Knochen. Einen Herzschlag lang erstrahlte das Licht des Knotens noch heller. Dann lief es aus, rann ins Meerwasser und umtanzte sie in blasser werdenden Schlieren.

Die goldenen Lichtbahnen, die von dem Knoten ausgegangen waren, erloschen. Nandalee sah das Fleisch des Meerwanderers in Krämpfen zucken. Sie fühlte sich schlecht. Diese Bestie war nicht böse. Sie war es, die dunkle Taten beging.

Etwas streifte sie. Nandalee stieß sich mit den Füßen von dem riesigen Bein ab. Sie musste höher aufsteigen, musste den nächsten Nervenknoten finden und zerstören, dann brauchte sie die Tentakel des Ungeheuers nicht zu fürchten.

Selbst mit etwas Abstand fühlte sie die mächtigen Muskeln zucken. Der ganze Körper des Meerwanderers schien von Krämpfen geschüttelt zu werden. Vielleicht war die Wunde, die sie ihm zugefügt hatte, doch schwerer als erwartet.

Das verblassende Gold folgte ihr im Wasser. War es im Blut des Ungeheuers? Das vermochte Nandalee durch ihr Verborgenes Auge nicht zu erkennen. Die Welt, die sie jetzt sah, bestand nur aus Auren und Lichtsträngen.

Jetzt war nicht der Augenblick, um sich mit törichten Gewissensbissen aufzuhalten. Sie sollte weiter … Etwas rammte sie. Sie erkannte die klare, silberne Aura Eleborns. Und da war noch etwas. Ein langer Keil aus dunklem, dumpfem Rot. Das Silber. Es flackerte. Und dann begann es zu zerfließen.

Erschrocken öffnete sie die Augen. Sie sah Eleborn dicht vor sich. Sah ihn unter seinem Gallerthelm schreien. Und sie sah den Schatten, der im trüben Wasser erneut auf sie zuglitt. Sie hob ihr Schwert und richtete es wie einen Speer auf den großen Hai. Sein keilförmiger Kopf hielt genau auf sie zu. Etwas hing aus seinem Maul, das er nun endgültig verschluckte. Ein Stiefel!

Eleborn neben ihr sackte in die Tiefe. Überall war Blut im Wasser.

Nandalee stieß mit dem Schwert nach dem Hai, der mit fast höhnischer Leichtigkeit auswich. Er drehte und änderte seinen Kurs, folgte der Blutspur Eleborns.

Kalte Wut packte Nandalee. Sie wusste, dass sie dem im Meer geborenen Jäger niemals an Geschick auch nur nahekommen würde. Dies war sein Revier, und er würde sich seine Beute holen. Eleborn! Und schon waren da andere Schatten im Wasser. Das Blut lockte sie.

Nandalee rief ein Wort der Macht. Ein Wort, das sie fürchtete. Das eine Wort, das Bidayns Leben verändert hatte. Der Fluss der Zeit verlangsamte sich. Die Blutwolken im Wasser bewegten sich schwerfälliger, fast wie Nebel, der an einem Herbstmorgen an einem Flussufer hinaufkroch. Die Schatten waberten träge durch die trübe See. Nur sie war nicht langsam. Sie beherrschte alles um sie herum. Und sie spürte, wie das magische Netz sofort auf sie reagierte. Auf die Anomalie inmitten der magischen Welt. Es würde versuchen, sie zu vernichten. Kurz hatte Nandalee Bidayn vor Augen.

Mit kräftigen Stößen tauchte die Elfe hinab. Folgte dem Hai, der Eleborn schon fast eingeholt hatte. Es war ein mächtiger, fünf Schritt langer Räuber. Ein König in diesen Gewässern. Todbringer schlitzte seinen Leib auf ganzer Länge auf, als sie unter ihm hinwegschwamm und mit der freien Hand nach Eleborn griff.

Hastig strebte sie dem Riff entgegen, das sie bei ihrem Flug nahe dem Eingang zum Grottenhafen gesehen hatte. Dem Riff, auf dem der Drachenkadaver lag. Dort würde sie leicht aus dem Wasser steigen können. Überall sonst gab es nur steile Felsen. Sie musste die Wunde Eleborns schnell versorgen.

Als ihr Kopf durch die Wasseroberfläche stieß, zerfiel der Gallerthelm, den sie trug. Mit einem Arm hielt sie Eleborn umschlungen, in der freien Hand hatte sie das Schwert. Sie schwamm nur mit der Kraft ihrer Beine. Es war ein Kampf. Und ein Wettlauf gegen die Zeit. Nandalee wagte es nicht, ihr Verborgenes Auge zu öffnen. Sie wollte nicht sehen, wie die magische Welt gegen ihren Frevel, den Gesetzen zu trotzen, aufbegehrte. Sie konnte es ohnehin schon spüren. Das Brennen auf der Haut. Ihr blieben nur noch Augenblicke, bis das Netz sich, wie aus glühenden Stahlfäden gewoben, um sie schließen würde.

Sie kämpfte gegen die Distanz. Kämpfte dagegen, dass sie sich nicht richtig bewegen konnte. Sie würde nicht alles auf das Riff retten. Nandalee ließ das Schwert los. Todbringer versank in die Tiefe.

Nur ein paar Schwimmzüge noch. Die Hitze, die sie einschloss, wurde immer unerträglicher. Erst würde das sich zusammenziehende Netz aus Kraftlinien ihr ein unauslöschliches Rautenmuster auf den Leib brennen, und schon im nächsten Augenblick würde ihr Fleisch in Hunderte Würfel zerschnitten.

Ihre Finger berührten den Fels der Klippe. War da Rauch? Sie schrie das Wort der Macht, das diesen Zauber beendete. Sofort schwand die Hitze.

Ihre Finger krallten sich in einen Felsspalt. Sie zog Eleborn neben sich auf den flachen Felsen. Die blutigen Augenhöhlen eines großen Drachen starrten sie an. Der Herrscher an den Himmeln Albenmarks war zum Fraß der Möwen geworden.

Nandalee richtete sich auf und zog Eleborn ganz aus dem Wasser. Schon kreisten große Rückenfinnen vor dem Riff, angelockt vom Blut im Wasser.

Eleborn war ohnmächtig. Sein linkes Bein mitten in der Wade durchtrennt. Aus den zerfetzten Muskeln ragten zwei bleiche Knochen. Blut strömte über den Fels.

Die Elfe schnallte den breiten Waffengurt von ihrem Rücken und schlang das Leder dicht über dem Knie um den Oberschenkel. Sie zog und zerrte mit all ihrer Kraft, verfluchte die Welt, die sich gegen sie verschworen hatte. Dann biss sie nur noch die Zähne zusammen. Sie stellte einen Fuß auf den Brustkorb Eleborns und zerrte mit beiden Händen am Gürtel. Endlich versiegte der Blutstrom der Wunde.

Tränen der Wut standen ihr in den Augen. Eleborn hatte helfen wollen. Er hatte Mitleid mit Meliander gehabt, und nun war er genauso verstümmelt wie ihr Sohn.

Klirrend landete ihr Schwert neben ihr auf dem Riff. Nodon stieg aus dem Wasser. »Du gehst leichtfertig mit den Geschenken der …« Er verstummte, als er Eleborn sah.

»Du musst bei ihm bleiben«, sagte Nandalee entschlossen.

»Und du?«

Sie deutete hinauf zum Wolkenschiff. Amphoren schwebten an Seilen dem Ladeschacht des Schiffes entgegen. Dabei verhielt sich der Meerwanderer erstaunlich ruhig. Nur wenige seiner Tentakel bewegten sich noch. »Die Menschenkinder haben das Traumeis gefunden. Wir haben das Rennen verloren.«

Nodon nickte. Es ärgerte Nandalee, wie emotionslos und gefasst er wirkte. Sie würde diese Niederlage nicht hinnehmen!

»Wir sollten uns unter den Schutz der Drachenflügel zurückziehen«, sagte der Schwertmeister. »Dort liegt Eleborn im Schatten. Bei Nacht können wir vielleicht fliehen.«

»Ich werde dann nicht mehr hier sein.«

Er bedachte sie mit einem strengen Blick. »Nicht?«

Nandalee riss sich den bestickten Kragen ihres weißen Kleids ab. Dann machte sie sich an den Stickereien an den kurzen Ärmeln zu schaffen.

»Was tust du da?«

»Ich kann nicht aufgeben! Das hieße, Meliander aufzugeben.«

»Wir kämpfen an einem anderen Tag …«

»An welchem denn?«, fuhr sie ihn an. »Wenn dieser Schatz geborgen ist, dann werden die Devanthar ihn sich nehmen. Dort, wo sie ihn hinbringen, werden wir ihn niemals mehr erreichen. Entweder ich hole mir jetzt zumindest einige der Kristalle oder ich lasse die Hoffnung für immer fahren. Jetzt entscheidet sich, ob Meliander ein Leben mit Krücke führen muss. An diesem Tag. Vielleicht sogar in dieser Stunde.«

»Und was willst du tun?«

Sie riss sich die Stickereien von der Knopfleiste an der Brust des Kleides. Das gelang nicht gut. Der Stoff franste aus. Zwei der Knöpfe rissen ab. Was blieb, war ein allzu freizügiges Dekolleté.

Nodon zog ein Messer aus seinem Gürtel. »Nimm das, damit wirst du weniger Verwüstung anrichten.«

Überrascht griff sie nach der Waffe. »Du willst mich nicht aufhalten?«

»Könnte ich das?« Er sah sie durchdringend mit seinen schwarzen Augen an.

Nandalee kniete sich hin und machte sich an den Goldborten zu schaffen, die die Seitenschlitze des Kleides säumten. »Ich muss es tun, Nodon. Ich würde mir niemals verzeihen können, wenn ich es nicht zumindest versucht hätte.«

»Ich weiß.«

Sie war überrascht, wie warmherzig er plötzlich klang.

»Du solltest mein Messer mitnehmen. Es ist kein Zauber in die Klinge gewoben. Sie wird dich nicht verraten, aber …«

Nandalee wusste, was er unausgesprochen ließ. Sollte sie in die Nähe der Devanthar kommen, war sie so gut wie tot. Ein Blick auf ihre Aura würde verraten, was sie war. Vielleicht vermochten sogar die Silberlöwen sie zu erkennen.

»Ich muss es wagen«, sagte sie entschieden. Sie hatte jetzt alle Goldborten von ihrem Kleid entfernt. Es sah nur noch wenig besser als ein Lumpen aus, auch wenn der Stoff viel zu gut war, um von einer Webbank der Menschenkinder zu stammen. Sie sollte es so schnell wie möglich loswerden, wenn es ihr gelang, sich einzuschleichen.

Nandalee beugte sich über Eleborn. Er war ohnmächtig geworden. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Danke. Ich werde auch für dich das Traumeis holen.« Dann richtete sie sich auf und blickte zu der Steilklippe. Es würde ein schwerer Aufstieg werden.

Sie nickte Nodon zu.

»Das Glück ist den Verrückten wohlgesinnt.« Der Schwertmeister sagte das nüchtern, ohne jedes Lächeln.

»Ich weiß«, entgegnete sie knapp. Dann sprang sie ins Wasser und schwamm der Klippe entgegen.

Der Held

Sie leisteten keinen Widerstand mehr. Die Menschenkinder waren besiegt. Hornbori stürmte dem Licht entgegen. Die anderen Zwerge konnten kaum mit ihm Schritt halten. Seine Müdigkeit war wie aus seinem Leib gebrannt.

Wenn dort oben Bogenschützen auf ihn warteten? Sein Schritt stockte einen Augenblick lang. Nein! Er hatte einen Lauf! Nichts konnte ihn aufhalten. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er empor. Dann stand er auf einem Platz, der von Reihen geborstener, rußgeschwärzter Säulen umgeben war. Er stieß einen unartikulierten Schrei aus. Niemand hatte ihn erwartet! Das Glück pulste wie Branntwein in seinen Adern. Es war ein Rausch.

Atemlos kam Ginnar neben ihm zum Stehen. Sein Kamerad presste sich die Hände in die Hüften. Sein Atem ging keuchend. »Du läufst wie auf Flügeln«, stieß er hechelnd aus.

Still zu stehen tat Hornbori nicht gut. Sein Rausch wich langsam Ernüchterung. Warum kämpften die Menschen nicht mehr? Voller Sorge betrachtete er das Wolkenschiff, das über dem Ungeheuer am Himmel hing. Sie bargen Amphoren! Es schien, als holten sie sie aus dem Leib der Bestie. Und das Viech rührte sich nicht mehr.

Der Heermeister schritt zwischen den Säulen hindurch und blickte über das Ruinenfeld, das einst Asugar gewesen war. Berge regloser Tentakel füllten die menschenleeren Straßen. Nur hier und da zuckte einer der kleineren Fangarme.

Krieger auf geflügelten Löwen und Bären zogen über den Himmel. Und sie ignorierten ihn! Ihr ganzes Augenmerk schien auf die Flüchtlinge gerichtet zu sein, die sie hinauf zum Wolkenschiff brachten.

Weitere Zwerge kamen erschöpft aus den Tiefen der Klippe heraufgewankt. Es war an der Zeit, dass er etwas für seinen Ruhm tat, dachte Hornbori. Mit wütendem Gebrüll stürmte er den Bergen von Tentakeln entgegen und hieb seine Axt in das reglose Fleisch. »Erzittere vor dem Zorn der Zwerge, niederträchtiges Schlangengezücht! Schmecke den Zorn meiner Axt!«

Mit einem schmatzenden Geräusch verschwand das breite Blatt der Waffe in einem Fangarm, der hoch wie ein Haus war. Blut träufelte aus der tiefen Wunde. Immer und immer wieder hieb er auf das Ungeheuer ein und verfluchte es.

Plötzlich erschien über ihm ein Auge am Ende eines Fangarms. Ein klein wenig Leben war also doch noch in der Bestie. Das war gut! Er würde sich dieses Auge holen, das ihn mit weiter dunkler Pupille anstarrte.

Hornbori griff nach einem Saugnapf, groß wie ein Wagenrad. Er krallte sich in das weiche, wabbelige Fleisch und kletterte dem Auge entgegen, das langsam vor ihm zurückwich. Wurde der Tentakel, auf dem diese starrende Kugel saß, etwa länger? Egal! Er wollte eine Trophäe! Und da es hier keinen Kopf zu holen gab, würde er mit diesem verdammten Auge vorliebnehmen.

Endlich erreichte er das obere Ende der Fleischwand. Er schob sich voran, kam mühsam auf die Beine und suchte das Auge. Es war weiter vor ihm zurückgewichen. Zwei Schritt neben ihm schlug ein kurzer Wurfspeer ein. Die Reiter am Himmel waren auf ihn aufmerksam geworden.

Keiner seiner Männer war ihm auf diesen mächtigen Tentakel gefolgt. Hornbori zögerte, wich aus, als er sah, dass ein weiterer Wurfspeer zu ihm hinabsauste.

»Lass es, Hornbori!«, rief Ulur zu ihm hinauf.

»Geht in Deckung!«, befahl Hornbori in seinem gebieterischsten Tonfall. »Ich bin mit dem Mistviech noch nicht fertig. Es soll bluten für das, was es uns angetan hat.«

»Aber es regt sich doch nicht mal mehr …«, wandte Ulur ein.

Der Heermeister ignorierte ihn. Er brauchte seine Trophäe! Nur damit wurde er zum Sieger, und es war egal, was mit der Kreatur geschehen war. Das Auge hatte sich erneut einige Schritt von ihm zurückgezogen.

Er stapfte über das schleimbedeckte Fleisch. Einige kleinere Tentakel bewegten sich zwischen den massigen Fangarmen. Er sah, wie ihre Spitzen sich verjüngten, wuchsen, sich wie Keimlinge dem Licht des Himmels entgegenstreckten.

Wieder verfehlte ihn ein Pfeil knapp. Hoch oben an der Reling des Wolkenschiffs sah Hornbori Bogenschützen. Sie waren zu weit entfernt, um einen gezielten Schuss auf ihn abgeben zu können. Ihretwegen musste er sich keine Sorgen machen. Im Gegenteil, wenn sie auf ihn anlegten, taten sie ihm einen Gefallen. Es würde Eindruck auf seine Männer machen, wenn er dem vermeintlichen Pfeilhagel trotzte.

»Ist das alles, was ihr könnt?« Er hob drohend seine Axt dem Wolkenschiff entgegen. Wie erwartet, erntete er als Antwort einen Schwarm Pfeile, die all ihre Durchschlagskraft verloren hatten, als sie weit um ihn herum niedergingen.

»Reiz die nicht, du verdammter Idiot!«, ertönte Galars unverwechselbare Stimme.

Hornbori blickte über die Schulter zurück. Der Schmied und Nyr hatten es also geschafft, den Tentakeln zu entkommen. Das machte es umso wichtiger, dass er sich vor allen als furchtloser Held zeigte. Galar würde bestimmt gleich damit beginnen herumzuerzählen, wie er die beiden im Stich gelassen hatte. Aber wer würde Galar schon glauben, wenn alle sehen konnten, dass ihr Heermeister ein Held war?

Hornbori führte ein paar provozierende Tanzschritte hoch oben auf dem erschlafften Tentakel aus. Dann drehte er dem Wolkenschiff den Rücken zu, beugte sich vor und zog die Hose hinab, um den Menschenkindern sein nacktes Hinterteil entgegenzustrecken.

Sein Auftritt verfehlte die gewünschte Wirkung nicht. Seine Kameraden grölten vor Begeisterung, reckten ihre Äxte in die Höhe und schrien dem Wolkensammler Schmähungen entgegen.

Hornbori zog seine Hose wieder hoch. Er schloss gerade den Gürtel, als ihn ein beklemmendes Gefühl überkam. Etwas war hinter ihm. Hastig drehte er sich um. Das Auge! Es hatte sich ihm bis auf einen Schritt genähert.

»Hab ich dich!«, zischte er, holte mit der Axt aus und machte einen Ausfallschritt. Sein Fuß trat mitten in einen Schleimhaufen. Er rutschte vorwärts, vollführte unfreiwillig fast einen Spagat und stürzte dann vornüber den mächtigen Tentakel hinab.

Hornbori fiel weich, auf sich windendes Fleisch. Sofort tastete er nach der Axt, die ihm entglitten war. Doch kaum, dass seine Finger den Schaft der Waffe umschlossen, schob sich ein Tentakel um seine Brust und zog sich zusammen wie die Schlinge eines Galgens.

Der Zwerg schrie auf, doch der Schrei blieb ihm schier in der Kehle stecken, als der Fangarm ihn immer fester umfing und hochhob. Seine Rippen knackten unter dem Druck. Zum Glück hielt der Tentakel ihn dicht unter den Achseln umschlungen, und so konnte er seine beiden Arme relativ frei bewegen. In der Rechten hielt er seine Axt, die er gerade noch zu packen bekommen hatte.

Doch als Hornbori das Blatt der Klinge auf den Fangarm über seiner Brust setzte, zögerte er … Die Bestie hatte ihn schon mehr als zehn Schritt in die Höhe gehoben. Wenn er den Muskel durchtrennte, der ihn hielt, würde er zu Tode stürzen.

Der Tentakel schwenkte auf den Bereich unmittelbar unterhalb des Wolkenschiffes zu. Höhnische Rufe der Menschenkinder begleiteten ihn. Hornbori wollte etwas erwidern, aber der Druck auf seine Brust war so stark, dass er nur ein Flüstern hervorbrachte. Jetzt öffnete sich zu seinen Füßen ein Schlund. Ein kreisrunder Abgrund, gesäumt von Zähnen lang wie Krummschwerter. »Bitte lass das«, flüsterte Hornbori. »Ich bring all meine Männer von hier fort. Keiner wird je wieder seine Axt gegen dich erheben. Ich will dir auch nichts tun.«

Der Tentakel senkte sich der Öffnung entgegen.

»Hast du Angst vor der Axt? Ich schenk sie dir. Setzt du mich dann ab? Sieh her, ich will dir nichts tun!« In weitem Bogen warf er die Axt von sich. Sie wirbelte durch die Luft. Mit der Schneide voran traf sie den Hügel oberhalb des Fressschlunds. Ohne Mühe durchdrang sie Haut und Knochen und versank im Kopf der Bestie.

Der Tentakel, der Hornbori hielt, zog sich in einem Krampf zusammen.

»Das … das wollte ich nicht. Ich …« Knackend brach mindestens eine seiner Rippen. Dann plötzlich erschlaffte der Tentakel und sank kraftlos dem Fressschlund entgegen.

Ein ungutes Gefühl

Artax landete nahe der kleinen Schar von Verteidigern, die von den Truppen der stolzen Stadt Asugar geblieben war. Ein drahtiger Krieger kam ihm entgegen. Der Mann hatte den Helm unter den Arm geklemmt. Sein graumeliertes Haar hing ihm nass in die Stirn. Artax kannte ihn. Arcumenna war einer der fähigsten Kriegsherren der sieben Königreiche.

»Gut, dass Ihr kommt, Unsterblicher!« Arcumenna wies zu den übrigen Löwen und Bären, die gelandet waren. »Und danke, dass Ihr helft, meine Verwundeten in Sicherheit zu bringen.« Er seufzte. »Die Daimonen sind auch zurückgekehrt. Aber ihre Krieger sind genauso abgekämpft wie meine Männer. Wann werdet Ihr Eure Truppen landen, Unsterblicher Aaron? Ich möchte Euch keine Ratschläge erteilen, aber wenn wir schnell angreifen würden, dann könnten wir sie sicherlich überrumpeln.«

Artax traute seinen Ohren nicht. »Du willst weiterkämpfen?«

»Ich habe noch nie einen greifbaren Sieg verschenkt«, entgegnete der Feldherr, und blanker Hass blitzte in seinen Augen. »Die Daimonen sind gekommen und haben meine Stadt niedergebrannt. Wenn wir sie dafür bis auf den letzten Mann niedermetzeln, dann ist dies ein Zeichen für alle anderen, die Widerstand leisten. Wir zeigen den Zögerlichen, dass die Daimonen nicht unbesiegbar sind. Nach der Katastrophe im Eis ist ein Sieg hier bei Asugar gar nicht hoch genug einzuschätzen.«

Artax blickte über das Ruinenfeld. Kein Haus war unbeschädigt. Die halbe Stadt war unter den mächtigen Fangarmen des Meerwanderers begraben. Einige seiner Glieder zuckten noch. Bald würde das Ungeheuer erwachen, und dann wollte er weit fort von diesem Felsen sein.

»Ich werde hier nicht weiterkämpfen. Für diese Ruinen werde ich nicht einen meiner Männer opfern. Wenn das Ungeheuer wieder erwacht, dann kann es hier keinen Sieg mehr geben, dann kennt diese einsame Klippe im Meer nur noch Verlierer.«

»Eine Stunde, Unsterblicher. Gib mir deine Männer nur für eine einzige Stunde …«

Aus dem Augenwinkel sah Artax, wie ein beunruhigendes Zucken durch die Glieder des Meeresungeheuers lief. Es erinnerte ihn an einen Schläfer, der unruhig träumte. »Nein, Feldherr. Die Kämpfe dieses Tages sind entschieden. Wir werden jeden mitnehmen, der diesen Felsen verlassen will, aber wir werden nicht den Daimonen entgegentreten. Warum bist du so versessen darauf zu kämpfen? Das Ungeheuer wird deine Männer niedermachen, wenn es erwacht. Für sie gibt es dann kein Entrinnen mehr.«

»Das ist nicht dasselbe«, zischte der Feldherr. »Das ist …«

»Es ist alles besprochen.« Artax wandte sich ab und ging zu seinen Männern, die sich um die Verwundeten kümmerten. Er entdeckte Ashot unter ihnen. Sein Freund stand inmitten des Durcheinanders, erteilte mit ruhiger Stimme Befehle und ordnete das Chaos. Ashot hatte seine griesgrämige Art nie ganz abgelegt, aber er hatte sich doch verändert. Aus dem landlosen Bauern, der auf die Hochebene von Kush gekommen war, um in einer aussichtslosen Schlacht zu kämpfen, war einer seiner fähigsten Berater geworden. Der einzige, der nie ein Blatt vor den Mund nahm.

»Arcumenna will weiterkämpfen«, erklärte Artax.

»Der Kerl hat sich wohl sein Hirn weggesoffen!«, schnauzte Ashot. »Das soll der größte Feldherr unserer Zeit sein?« Er kniff die Augen zusammen und sah Artax durchdringend an. »Du wirst doch nicht etwa nachgeben und mit ihm in die Schlacht ziehen?«

»Ich hab mir mein Hirn noch nicht weggesoffen«, entgegnete Artax ruhig und lauschte kurz auf die hämischen Kommentare der Stimmen in seinem Kopf. »Wie lange wirst du brauchen, bis wir alle oben an Bord haben?«

Ashot strich sich über die Stoppeln an seinem Kinn und sah zu den Löwen und Bären, die von einigen Kriegern auf einen nahe gelegenen Marktplatz gewunken wurden, wo sie in unablässiger Folge starteten und landeten. »Wenn Arcumenna mit seinen Kriegern hierbleiben will, werden wir sehr schnell fertig sein. Und selbst wenn er sich uns doch noch anschließt, werden wir weniger als eine halbe Stunde brauchen.«

Artax legte die Hand auf den Oberarm seines Freundes. »Es ist gut, dich zu haben.« Er warf einen besorgten Blick auf das Ungeheuer, das jetzt völlig reglos dalag. »Pass auf dich auf, Ashot.«

Sein Gefährte wirkte überrascht von so viel Nähe. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem spöttischen Grinsen. »Ich kann deinen Palast doch nicht Mataan überlassen. Er würde ihn in ein Paradies für Schreiber und Linsenzähler verwandeln. Wir kommen hier heraus«, setzte er mit fester Stimme nach. »Außer den Trotteln, die nicht begreifen, wann eine Schlacht beendet ist.«

»Ich vertraue dir.« Artax wandte sich ab und ging zu seinem Löwen zurück. Er hatte ein ungutes Gefühl. Das hier war zu leicht gegangen. Sie hatten dem mächtigsten Ungeheuer Nangogs seinen Schatz gestohlen und dabei fast keine Verluste gehabt. Mit dem Traumeis würde er die Welt verändern. So etwas hatte immer seinen Preis. So billig würde er nicht davonkommen. Wieder sah er zu dem Ungeheuer. Es lag ganz still. Einige der kleinen, gedrungenen Daimonen erklommen die Wälle aus Fleisch. Sie machten keine Anstalten, Arcumennas Krieger oder irgendjemand anderen anzugreifen. Es schien, als suchten sie nach etwas. Er würde sie im Auge behalten, entschied Artax, stieg in den Sattel und strich dem Löwen über die Mähne aus gehämmertem Silber.

Er fühlte sich ein wenig unwohl auf seinem neuen Reittier, das er anstelle des Löwen flog, der bei seiner unglücklichen Landung auf dem Flugdeck zerstört worden war. Bei dem Gedanken an die nächste Landung überlief ihn ein Schauer. Er griff nach dem Gurtzeug und schnallte sich an der hohen Rückenlehne fest.

»Flieg!«, rief er mit fester Stimme.

In steiler Kurve strebten sie dem Himmel entgegen. Sie flogen so dicht am Wolkensammler vorbei, dass Artax sehen konnte, wie die Amphoren mit dem Traumeis unter der Aufsicht von Mataan sicher vertäut wurden. Seine Leibwachen in ihren strahlend weißen Umhängen umringten den Schatz.

Alles schien gut, und doch verließ ihn seine Unruhe nicht. Er zog weite Schleifen um die Klippe und wartete auf weitere Anzeichen darauf, dass der Meerwanderer erwachte. Doch das Ungeheuer blieb regungslos.

Zufrieden sah Artax, wie Arcumenna und seine Krieger sich nun doch zum Wolkenschiff hinauftragen ließen. Nur eine kleine Schar von Kämpfern wartete noch auf dem Marktplatz. Und die Daimonen unternahmen nichts, um ihren Rückzug zu behindern. Alles würde gut laufen! Artax fühlte sich unendlich erleichtert.

Da bemerkte er die Frau an der Steilwand. Ihr langes, blondes Haar wehte im Seewind zur Seite. Sie stieg mit großem Geschick zwischen den Fangarmen die Steilwand hinauf. Immer wieder sah sie dabei nach oben. Ihr schien bewusst zu sein, dass das große Wolkenschiff bald ablegen würde. Mit aller Kraft versuchte sie es noch zu erreichen.

Ashot hob als Letzter vom Marktplatz ab. Schon lösten sich die ersten Tentakel von Wind vor regenschwerem Horizont. Die Fangarme, mit denen er seinen Bruder, den Meerwanderer, mit blauen Blitzen traktiert hatte, bis er bewusstlos geworden war.

Artax brachte den Löwen näher an die Klippe heran und winkte der Frau zu. »Dort vorne!« Er deutete auf ein Sims, das aussah, als wäre es einmal eine von Mauern gesäumte Terrasse gewesen. Dort würde er mit ein wenig Glück seinen Löwen landen können.

Die Frau schien verstanden zu haben. Sie änderte die Richtung. Bald stand sie auf dem Sims, zwischen mächtigen Tentakeln, die sich durch eine Fensterfront tief ins Innere des Felsens streckten.

Artax flog so dicht wie möglich an den Fels heran, doch sein silberner Löwe scheute zurück. Er hatte Angst, mit den Flügeln den Stein zu streifen. Es war aussichtslos, hier konnten sie nicht landen. Und zu warten, bis die Frau hinauf in die Stadt geklettert war, wäre töricht. Er durfte nicht das Leben aller gefährden, um eine Einzige zu retten.

Die Frau hob flehend die Hände und rief etwas, das er nicht verstand. Dann plötzlich rannte sie auf ihn zu. Voller Todesverachtung sprang sie vom Sims. Sie ruderte mit Armen und Beinen durch die Luft. Artax drängte seinen Löwen etwas näher an die Steilwand. Funken sprühten von der Flügelspitze, als ihr Metall kreischend über das Gestein streifte.

Die Frau sprang zu kurz. Sie verfehlte den Sattelknauf, nach dem sie hatte greifen wollen. Ihre Augen begegneten einander. In ihrem Blick lag keine Angst. Nur Entschlossenheit.

Ihre rechte Hand bekam Artax’ Stiefel zu packen. Er beugte sich so weit es ging hinab, streckte ihr den Arm entgegen. Die zweite Hand der Frau packte nach Artax’ Bein. Mit erstaunlicher Kraft zog sie sich hoch, ergriff seine Hand und zog sich hinter ihn in den Sattel.

Artax atmete erleichtert auf, zog am Zügel und ließ den Löwen in Richtung des Flugdecks abdrehen.

»Du bist wirklich besonders«, rief er der Frau zu, die nun hinter der hohen Rückenlehne seines Sattels außerhalb seines Gesichtsfelds saß. Ihren rechten Arm hatte sie um seine Brust geschlungen. Ihre Haut war ungewöhnlich weiß.

»Ich danke Euch, Unsterblicher.«

Artax richteten sich die Haare im Nacken auf. Etwas an dieser Stimme war seltsam. Ihre Sprachmelodie eigenartig … Und wie kam es, dass eine einfache Frau aus einer valesischen Stadt in der Zunge Arams sprach?

Vielleicht war sie eine Adelige, dachte er und verdrängte sein Unbehagen. Dies war nicht der Tag, sich über Bagatellen den Kopf zu zerbrechen. Es war der Tag, an dem ein neues Zeitalter für Nangog anbrach.

Und doch. Ein Rest Unbehagen blieb. Wieder blickte er auf den seltsam bleichen Arm. Sie hat wohl fern der Sonne in den Höhlen der Stadt gelebt, sagte ihm sein Verstand.

Sie löste ihre Umklammerung. Warum? Warum verließ ihn dieses ungute Gefühl nicht?

Den Dolch in der Hand

Nandalee tastete nach dem Dolch, den Nodon ihr gegeben hatte. Ihr Retter war der Unsterbliche Aaron, der Mann, den die Himmelsschlangen für den gefährlichsten unter den Herrschern Daias hielten. Sie waren sich im Luftkampf begegnet. Erstaunlich, dass er sie nicht wiedererkannt hatte. Doch wie sah sie jetzt auch aus – mit zerzaustem Haar, einem zerrissenen und blutbesudelten Kleid. Von der stolzen Drachenelfe, die ihm vor weniger als einer Stunde auf ihrem Pegasus begegnet war, war nicht mehr viel geblieben.

Sie hatte ihre Hand von seiner Brust nehmen müssen. Zu unangenehm war es, die Magie der Devanthar zu spüren, die in seine Rüstung gewoben war. Sie brannte schon in ihren Beinen, dort, wo ihre nackte Haut das Metall des silbernen Löwen berührte. Diese Zauber waren ganz anders als die Magie Albenmarks. Sie strebten nach Herrschaft, nicht nach Harmonie.

Sie hatte auch die Schwachstelle der Rüstung gespürt. Unter der Achsel. Dort würde Nodons Dolch die Nähte im Leder durchdringen können. Ihre Klinge konnte das Herz des Unsterblichen erreichen.

Nandalee spürte, wie ihre Hand, die den Griff der Waffe umschloss, zu schwitzen begann. Ein Dolchstoß, und die Geschichte dreier Welten würde einen anderen Verlauf nehmen. Für Albenmark wäre es ein großer Sieg. Und für Meliander würde es bedeuten, auf immer verstümmelt zu bleiben.

Die Elfe blickte an der hohen Lehne des Sattels vorbei zu dem Deck, auf dem sie jeden Augenblick landen würden. Sie sah die Amphoren, die dort vertäut waren. Und sie sah all die silbernen Bären und Löwen. Und die Krieger mit den wehenden Umhängen. Vielleicht hätte sie sich mit Todbringer einen Weg bis zum Traumeis freikämpfen können, aber nur mit einem Dolch bewaffnet …

Der Löwe setzte hart auf dem Deck des Wolkenschiffs auf. Nandalee ruckte nach vorne und schlug gegen die Sattellehne. Leicht benommen glitt sie vom Rücken des silbernen Raubtiers. Es war so nah, das Traumeis, und doch unerreichbar.

Der Unsterbliche sah sich nach ihr um. Sie verbeugte sich vor ihm. »Danke, Herr! Ich werde nun nach Überlebenden meiner Familie suchen. Vielleicht …«

»Kann ich dir helfen? Soll ich jemanden rufen, der …«

Sie hob abwehrend die Hand. »Nein, Herr. Ihr habt schon so viel getan.« Sie kniete nieder und küsste den Saum des Rocks, den er zu seiner weißen Lederrüstung trug. »Danke.«

Er griff sie sanft bei den Schultern und half ihr auf. »Du bist sicher, dass du alleine zurechtkommst?«

Seine Augen! Darin lag echtes Mitgefühl, dachte Nandalee überrascht. Aaron nahm tatsächlich Anteil am Schicksal einer unbedeutenden Frau. Plötzlich war sie froh, dass sie den Dolch nicht benutzt hatte. Er verdiente es zu leben.

»Ich danke Euch, Herrscher aller Schwarzköpfe.«

Er lächelte, als sie seinen formalen Titel nannte. »Verlange, vor mich geführt zu werden, wenn du doch noch Unterstützung brauchst.« Er strich über eine ihrer von geronnenem Blut verklebten Locken. »Sagt den Palastwachen, die Frau mit dem Goldhaar verlangt vorgelassen zu werden. Ich werde mich an dich erinnern.«

Hinter ihnen wurde hitzig debattiert. Ein drahtiger Krieger in der Rüstung eines Feldherrn stand vor dem Unsterblichen Volodi und forderte energisch Krüge voller Öl.

Aaron sah in Richtung der beiden. »Ich fürchte, ich muss einen aufziehenden Krieg schlichten. Lebe wohl.«

Nandalee war erleichtert, als er ging. Was hatte er in ihr gesehen? Sie durfte keine Aufmerksamkeit erregen und hatte doch das genaue Gegenteil erreicht. Die Elfe war sich bewusst, dass auch andere Männer auf dem Flugdeck sie anstarrten. Erkannten sie, was sie war?

Das konnte nicht sein – es lag kein Hass in diesen Blicken. Da war Begehren, Sehnsucht, Melancholie … Aber kein Hass. Und dann begriff sie. Sie war eine Frau und noch dazu mit goldenem Haar! Diese Blicke würden ihr folgen, ganz gleich, wohin sie an Bord des Wolkensammlers ging.

»Darf ich dich zu den anderen Geretteten bringen?«, fragte ein stoppelbärtiger Mann mit müden Augen. Auch er trug die prächtige Rüstung eines Heerführers. »Sie befinden sich auf dem oberen Deck.« Er deutete in Richtung einer schmalen Wendeltreppe, die hinaufführte.

»Danke, Herr. Ich … Bitte, habt Ihr vielleicht ein Tuch, mit dem ich meine Haare bedecken kann?«

»Deine Haare sind wunderschön. Warum willst du sie verstecken? In dem Land, in dem ich lebe, gilt goldenes Haar als ein Geschenk der Götter.«

»Aber manche hier sehen mich an, als wäre ich eine Hure. Ich … ich möchte es verstecken.«

Wortlos nahm er seinen Umhang ab und reichte ihn ihr. Er war aus fein gewobenem, weißem Leinen mit einem breiten, purpurnen Streifen am Saum. Nandalee fluchte innerlich. Mit diesem Umhang würde sie kaum weniger Aufsehen erregen als mit ihren goldenen Locken. Sie nahm das Geschenk, legte den Umhang wie ein Kopftuch über ihr Haupt und faltete den Saum nach innen. »Dank, Herr«, flüsterte sie unterwürfig.

Der Feldherr geleitete sie noch bis zur Treppe, doch drängte er sich ihr nicht auf.

Eilig stieg sie die Stufen hinauf. Ihr Gönner folgte ihr nur mit Blicken. Das Oberdeck war dicht gedrängt von Menschen. Voller Beklommenheit sah Nandalee die Tentakel, die sich knapp zwei Schritt über den Häuptern der Menschenkinder wanden. Niemand außer ihr schien den Fangarmen des Ungeheuers, welches das Wolkenschiff trug, Beachtung zu schenken.

Es waren nicht viele Frauen an Bord. Bald fand sie eine gesprächige Wirtin, die ihr lange ihr Leid über ihre verlorene Schenke klagte. Mit ihr tauschte Nandalee ihren prächtigen Umhang gegen eine fadenscheinige braune Decke. Dann zog sich die Elfe ans andere Ende des Decks zurück, kauerte sich zwischen fest vertäute Vorratsfässer und versuchte, niemandes Aufmerksamkeit zu erwecken.

Ihre Gedanken waren bei Meliander. Sie war dem Traumeis so nahe! Ein wenig Geduld noch. Bei Nacht würde sie wieder auf das Flugdeck steigen. Es musste ihr gelingen, wenigstens einige dieser Kristalle zu stehlen. Die Nacht würde ihre Verbündete sein.

Der letzte Akt

»So werden wir Asugar nicht verlassen!«, herrschte Arcumenna Volodi an.

Artax war verblüfft, was der Feldherr sich seinen Rettern gegenüber herausnahm. Gerade erst war der Valesier an Bord des Wolkenschiffes, und schon lag er in Streit mit einem der Unsterblichen, die ihn gerettet hatten.

»Kann ich helfen?«, fragte Artax höflich.

»Das hoffe ich doch!«, entgegnete Arcumenna ohne Umschweife. »Ich kenne Euch als einen Mann von Ehre. Ihr werdet mein Anliegen verstehen. Dort unten auf der Klippe vor der Einfahrt zum Höhlenhafen liegt ein toter Drache. Ich bin mir sicher, wenn wir fort sind, werden seine Drachenbrüder die Leiche bergen.«

Artax konnte sich das nicht vorstellen. Für ihn waren Drachen nichts als riesige Raubtiere. Doch glücklicherweise hatte er mit ihnen auch noch nicht viel zu tun gehabt.

»Wir uns haben schon abgelegt«, wandte Volodi ein.

Wind vor regenschwerem Horizont hatte zwar noch nicht begonnen, mit seinen mächtigen Schwingen zu schlagen, doch drifteten sie bereits von dem steilen Felsen fort, auf dem Arcumennas zerstörte Stadt lag.

»Lass ihm seinen Willen«, entschied Artax. Es war besser, sich Arcumenna gewogen zu halten. Der Feldherr würde in künftigen Kriegen eine bedeutendere Rolle spielen als der Unsterbliche, dem er diente. Ansur, das Lebende Licht, war ein Mann, der mehr Enthusiasmus für Kunst aufbrachte als für die Feldzüge auf Nangog. Arcumenna war der Mann, der von Bedeutung war, wenn er Valesias Unterstützung im Krieg suchte.

Artax sah Volodi deutlich an, dass er gar nichts von dieser Entscheidung hielt. Widerwillig nickte der Drusnier. Dann trat er an die Reling und strich über eine der Wurzeln des Schiffsbaums, die sich um den Handlauf wand. Nur Augenblicke später änderte der Wolkensammler, schwer mit seinen Flügeln schlagend, den Kurs. Das große Himmelsschiff schwang herum und näherte sich der Hafeneinfahrt.

»Überlasst ihnen zehn Amphoren mit Öl«, befahl Volodi seinen Männern. »Bringt eine Feuerschale und Lumpen.«

Arcumenna verneigte sich steif. »Danke. Das ist das erste Mal, dass ich mich bei einem Drusnier für irgendetwas bedanke. Diese Drachen zu verbrennen bedeutet mir viel.«

»Ist sich das erste Mal, dass ich mich einem Valesier tue einen Gefallen«, entgegnete Volodi frostig. »Und es wird sich ganz sicher nicht geschehen schnell ein zweites Mal.«

Artax schob sich zwischen die beiden. »Fackeln wir die Drachen ab und hoffen wir, dass wir den Sohn der Göttin mit dem Feuer nicht aufwecken.«

Arcumenna hatte viele Jahre lang die Truppen Valesias entlang der Grenze zu Drusna befehligt und hatte Dutzende glänzende Siege errungen. Kaum ein Mann war im Waldkönigreich so verhasst wie er. Vielleicht würde diese Geste helfen, alte Wunden zu heilen.

Die angefragten Amphoren waren nicht sonderlich groß. Kaum länger als ein Unterarm. »Wickelt Lumpen darum«, befahl Volodi seinen Männern, die dem Befehl nur widerstrebend nachkamen.

Arcumennas Krieger hatten sich dicht um ihren Anführer geschart. Sie beobachteten die Drusnier misstrauisch. Der Feldherr selbst öffnete vorsichtig die letzte Amphore. Er tränkte die Lumpen, die um die Tongefäße gewickelt worden waren, mit Öl.

Eine Kupferschale auf einem Dreibein wurde herangebracht. Glühende Kohlen schwelten darin.

Arcumenna wählte einige seiner Männer aus. Sie hoben die Amphoren auf die Reling des Flugdecks. »Unsterbliche?« Der Feldherr sah zu Volodi, dann zu Artax. »Wollt Ihr an diesem letzten Akt der Schlacht um Asugar teilhaben?«

»Ja!«, sagte Artax, bevor Volodi irgendeine Dummheit machen konnte. Er packte den Drusnier beim Arm und nahm ihn mit zur Reling. »Das ist Diplomatie«, flüsterte er seinem Freund ins Ohr. »Versuche zu lächeln und mach das Beste daraus.«

»Ich scheiß mich auf verlogenes Lächeln und Heuchelei«, brummte Volodi, doch er kam mit.

Artax griff nach dem ölglänzenden Henkel einer Amphore. Unter ihnen lag das Riff mit dem Kadaver.

»Fackeln!«, befahl Volodi.

Einige Drusnier hielten Fackeln in das Kohlebecken. Als Flammen nach dem mit schwarzem Pech bestrichenen Stroh leckten, reichten sie sie an die Valesier weiter.

»Du hast Feuer in unsere Stadt getragen«, rief Arcumenna mit lauter Stimme. »Möge das Feuer nun dich verschlingen!« Er hielt die Fackel an die Lumpen seiner Amphore und stieß sie von der Reling, sobald die Flammen übergesprungen waren.

Himmelsfeuer

Nodon griff nach dem muschelverkrusteten Fels und zog sich aus dem Wasser. Er war zu der mächtigen Klippe geschwommen, um sie zu erklimmen und nach Nandalee zu suchen. Sie war bei ihrem Aufstieg in der Steilwand bald aus seinem Sichtbereich geraten. Er hoffte inständig, dass sie es nicht an Bord des Wolkensammlers geschafft hatte und dass er sie oben in den Ruinen finden würde. Eleborns Wunden waren fürs Erste versorgt. Er lag vor der Sonne und den Blicken der Menschenkinder verborgen unter den Schwingen des toten Drachen und war eingeschlafen. Er würde für ein paar Stunden keine Hilfe mehr benötigen.

Mit Befremden sah er, wie das große Wolkenschiff der Menschenkinder seinen Kurs änderte. Sie hielten auf ihn zu. Das konnte nicht sein! Es musste einen anderen Grund für den Kurswechsel geben. Sie konnten ihn doch unmöglich gesehen haben … Nicht auf diese Entfernung …

Er stieg ganz auf den Felsen, um den Haien zu entgehen. Seine ganze Aufmerksamkeit war bei dem Wolkenschiff. Keine Flieger schwärmten von dort aus. Aber eine Gruppe von Kriegern stand an der Reling des unteren Decks. Es war erstaunlich, wie schnell der geflügelte Wolkensammler näher kam.

Jetzt hoben die Menschenkinder irgendwelche Gefäße auf die Reling. Der Wolkensammler flog etwas mehr als hundert Schritt hoch. Ein paar Augenblicke noch, und er hätte ihn erreicht. Nodon entschied sich, ins Wasser zu springen. Trotz der Haie. Dort wäre er ein schwerer zu treffendes Ziel, sollte es tatsächlich um ihn gehen.

Kaum im Wasser, tastete er nach seinem Messer und fluchte. Es war bei Nandalee! Vorhin, als er zur Steilklippe geschwommen war, hatte er die Haie einfach gemieden. Er hatte sich ruhig bewegt, ihnen seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt und hatte kein Messer benötigt. Aber jetzt … Er sah zum Wolkenschiff auf. Die Sonne stand hinter dem schwebenden Ungeheuer. Der Schatten des Schiffes hatte ihn schon erreicht. Plötzlich stürzten brennende Tonkrüge über die Reling.

»Eleborn!«, schrie Nodon und schluckte Salzwasser.

Krachend zerplatzten die Amphoren auf dem Riff und dem Kadaver des toten Sonnendrachen. Das Öl entflammte an den brennenden Stofffetzen, mit denen die Gefäße eingewickelt gewesen waren. Nun wurden auch noch Fackeln von Bord des Schiffes geworfen, um das Öl weiter zu befeuern.

Nodon schwamm jetzt, ohne auf die Haie zu achten. »Eleborn!«

Er sah, wie sich etwas unter den ledernen Schwingen bewegte, dann versperrte ihm eine Flammenwand die Sicht.

Speere stießen um ihn herum in die See. Die Krieger auf dem Wolkensammler hatten ihn entdeckt. Er fing eine der Waffen im Flug, zerbrach den Schaft und behielt das Stichblatt. Das war kein Vergleich zu seinem Dolch, aber es war zumindest eine Waffe.

Auf dem Riff inmitten des tosenden Feuers erschien eine schwankende Gestalt. Eleborn benutzte Todbringer als Krücke. Seine Kleider standen in Flammen. Sein langes Haar war verschwunden. Das Gesicht entstellt. Dicht neben ihm schlug ein Speer auf den Fels. Der Drachenelf achtete nicht darauf. Er machte noch einen Schritt, dann ließ er sich aus dem lodernden Feuer ins Wasser fallen. Doch selbst da war er nicht in Sicherheit. Ein Teil des Öls war von dem Riff gelaufen und trieb in brennenden Lachen auf der Oberfläche der See.

Nodon tauchte. Er sah seinen Gefährten in die Tiefe trudeln. Eleborn machte gar nicht erst den Versuch zu schwimmen. Er ließ sich sinken.

Entschlossen folgte ihm Nodon, schwamm mit kräftigen Zügen dem Dunkel entgegen, und dann sah er den Hai. Zu nah. Er wollte ein Wort der Macht rufen, doch seinem Mund entstiegen nur Luftblasen. Eleborn weitete die Arme. Es sah aus, als würde er die Bestie erwarten. Ganz ruhig trieb er im Wasser. Ein Flehen lag in seinen Augen.

Der Hai drehte ab. Nodon griff nach der Hand seines Gefährten. Er zog ihn hinauf, bis sie beide prustend die Wasseroberfläche durchbrachen. Sie waren auf halbem Weg zwischen dem Riff und dem Eingang zum Grottenhafen. Ein Stück entfernt trieb brennendes Öl. Der Wolkensammler hatte abgedreht und flog gen Norden.

»Warum?«, keuchte Eleborn. »Warum kannst du mich nicht gehen lassen?«

»Weil wir Drachenelfen sind.«

»Das bin ich nicht mehr. Sieh mich doch an. Mir ist ein Bein abgebissen. Ich bin verbrannt. Ich … Lass mich. Mein Weg endet hier. Gib mich frei, auf dass ich wiedergeboren werde und ein neues, ein besseres Leben beginnen kann.«

Nodon hielt ihn fest und zog ihn mit sich. Dabei achtete er argwöhnisch auf die Haie.

»Bitte, Nodon. Lass mich zurück!«

»Ich kann nicht. Wir sind zu wenige. Es kommt auf jeden von uns an.«

Die Menschen hatten das Traumeis. Sie würden sich Nangog nehmen, da war er sich sicher. Und dann würden sie nach Albenmark greifen. Ihre Welt würde bald alle ihre Krieger brauchen.

Säbelzähne

Dieses Vieh hatte Mundgeruch. Hornbori versuchte, den Atem anzuhalten. Im Vergleich zu diesem Gestank war ein Ziegenfurz das reinste Duftwasser. Beklommen sah er in den Schlund. Sah die rotierenden Zahnreihen. Wieso hörte das nicht auf? Seine Axt hatte getan, wozu sie erschaffen war. Sie hatte dem Ungeheuer den Schädel gespalten. Zumindest hatte es so ausgesehen … Wenigstens ein kleines bisschen. Bei diesem Riesenschädel bräuchte man eigentlich eine Axt mit einer Schneide lang wie ein Galeerenrumpf. Dennoch sollte das Ungeheuer tot sein …

Der Tentakel, der ihn umschlungen hielt, ruckte leicht. Hornbori sackte ein Stück tiefer in den Schlund. Er zog die Beine an. Zwei Handbreit trennten ihn noch von diesen Zähnen. Groß wie Krummsäbel zuckten sie vor und zurück. Ihre Spitzen waren nach unten gebogen. Was sie zu packen bekamen, das zerrten sie immer tiefer hinab in den Fressschlund des Meerwanderers. Sie durchbohrten, durchtrennten, zerstückelten und beförderten abwärts.

Hornbori spürte, wie sich die Schlingen des Tentakels lockerten, der ihn umwunden hielt. »Bitte nicht«, flüsterte er. »Bitte …« Eben noch hatte der Fangarm ihn so fest umklammert, dass er ihm mindestens eine Rippe gebrochen hatte. Jetzt würde Hornbori alles dafür geben, dass es wieder so war. Wer brauchte schon gesunde Rippen …

Deutlich sah er einen halben silbernen Bärenkopf auf einem der Säbelzähne im Schlund. Er hatte das dicke Blech so leicht durchschlagen, als wäre es nur ein Stück morsches Pergament. Der Zwerg stellte sich vor, was diese Zähne mit seinem Leib anstellen würden.

Wieder ruckte es, und er glitt etwas tiefer. Gleich würde es nicht mehr helfen, dass er die Beine angezogen hielt. Seine Oberschenkel brannten, so sehr waren seine Muskeln angespannt. Er tastete nach dem Fleisch des Schlunds. Es war fest, glatt und voller Schleim. Sosehr er sich abmühte, er fand keinen Halt.

Hornbori hob die Arme und griff nach dem Tentakel, der ihn hielt. Das Fleisch war weicher, doch auch hier gab es keinen Halt. Der Fangarm war mit einer dünnen Schicht durchsichtigen Schleims überzogen. Hornbori wusste, dass er langsam abrutschen würde.

Immer mehr ließ die Umklammerung nach.

»Bitte, ihr Alben«, flehte er leise. »Wenn ihr mich jetzt rettet, dann werde ich mein Leben ganz eurem Ruhme widmen. Bitte helft mir hier heraus! Ich werde tapfer sein und euer willfährigster Diener. Was wollt ihr, ich werde alles …«

»Du könntest mir die Scheiße, in die ich gelatscht bin, vom Stiefel lecken.«

Sprachen die Schöpfer zu ihm? So? Hornbori blickte auf und sah Galar über sich am Rand des Fressschlundes stehen. »Den Alben sei Dank!«

»Ich glaube, du irrst dich gerade. Mich haben ganz gewiss nicht unsere Schöpfer geschickt.« Galar setzte die Schneide seiner Axt auf den dünnen Tentakel, der Hornbori hielt. »Du hast mich einmal zu oft hintergangen, Schisser. Uns einfach im Stich gelassen, als wir dich gerettet haben, du Drecksack! Es wird mir eine Freude sein zu sehen, wie diese Zähne dich in kleine Stücke säbeln, wenn du stürzt.«

Der Tentakel gab nach, ohne dass die Schneide der Axt ihn berührt hatte. Hornbori sackte nach unten. Ein Zahn schlitzte eine Stiefelsohle und riss sie fort. Der scharfe Zahn hatte auch seinen Fuß aufgeschnitten. Hornbori kreischte auf.

»Galar, was machst du da? Du kannst doch nicht …« Nyr packte die Axt des Schmieds und entwand sie seinem Griff.

»Der hat uns zum Verrecken zurückgelassen. Nun sehe ich ihm dabei zu, wie er draufgeht.«

»Das hast du falsch verstanden«, rief Hornbori. »Du …« Der Säbelzahn unter ihm zog eine zweite, blutige Furche durch seine Fußsohle. »Bitte … Ihr könnt doch nicht …«

Nyr griff nach dem Tentakel, an dem Hornbori hing, und versuchte, ihn hinaufzuziehen. Der glitschige Muskelstrang glitt ihm durch die Hände.

»Er wusste, dass wir dort fortkommen«, sagte Nyr voller Überzeugung. »Er kennt uns. So lange kämpfen wir nun schon zusammen. Hornbori wusste, dass er oben gebraucht wurde. Er war es, der die Schlachtlinie der Menschenkinder aufgebrochen hat. Frag Ulur oder Ginnar, wenn du mir nicht glauben willst.«

»Das ist sicherlich nur geschehen, weil er beim Weglaufen nicht rechtzeitig anhalten konnte«, knurrte Galar.

»Bitte! Hörst du dich reden?« Nyr versuchte erneut, den Tentakel hinaufzuziehen. Diesmal gelang es ein wenig besser, und als der Säbelzahn zum dritten Mal nach Hornboris Fuß schnappte, verfehlte er ihn knapp.

»Nyr hat recht! Hör ihm zu! Wir mussten es hinauf auf das Plateau schaffen, um den Tentakeln zu entkommen«, schrie Hornbori.

»Hast du nicht gesehen, wie er mit letzter Kraft seine Axt nach dem Ungeheuer geschleudert hat, statt sich zu retten?«, sagte Nyr nun.

»Das hat nur so ausgesehen«, schnauzte Galar. »Sie ist ihm bestimmt nur aus den Händen geglitten …«

»Red keinen Stuss! Du hast genauso gut wie ich gesehen, dass die Axt in weitem Bogen geflogen ist. Jetzt pack an und rette den größten Helden von Albenmark.«

»Ich …«

Ulur, Ginnar und noch andere Zwerge erschienen am Schlund.

»Verdammte Koboldkacke!« Ginnar warf sich auf den Bauch und griff mit beiden Händen nach dem Tentakel. »Los, alle zusammen. Holen wir ihn da hoch!«

Etliche Hände griffen nach dem Tentakel. Endlich ging es aufwärts. Hornbori hätte vor Erleichterung weinen mögen. Er streckte beide Hände nach oben. Ulur und Nyr ergriffen sie und zogen ihn ganz aus dem Schlund.

»Das war der verdammt beste Kampf, den ich je gesehen habe!« Ginnar klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Ich muss gestehen, dass ich alle Hoffnung aufgegeben hatte. Ich hab gedacht, dass nichts dieses Biest umbringen könnte.«

»Ich hab deine Axt zurückgeholt.« Ulur hielt ihm die Waffe entgegen. Erst jetzt bemerkte Hornbori, dass der Seefahrer über und über mit Blut und einer schlierigen roten Masse bedeckt war.

»Hast dem Biest das Hirn zerschnibbelt«, erklärte Ulur breit grinsend. »Steckte ganz schön tief in der Matsche, deine Axt.«

Hornbori gaben die Knie nach. Er konnte kaum fassen, dass er dem Schlund des Ungeheuers entkommen war.

»Na, nach so einem Abenteuer ist man entweder blass um die Nase oder nass um die Blase.« Ginnar klopfte ihm schon wieder auf die Schulter. »Los, bringen wir unseren Helden nach unten!«

Bevor Hornbori etwas einwenden konnte, packten ihn Nyr, Ginnar und Ulur und hoben ihn sich auf die Schultern. Auf gewundenen Wegen trugen sie ihn über das Gewirr toter Tentakeln hinweg zu dem Marktplatz, auf den er getreten war, als er das Labyrinth aus Tunneln, Grotten und Höhlen hinter sich gelassen hatte. Dort waren die letzten Überlebenden seiner Heerschar versammelt. Nicht einmal fünfzig Mann hatten es geschafft. Aber sie begrüßten ihn mit freudigen Rufen.

»Heil, Hornbori, dem Heermeister und Siegbringer!«, schrie Ginnar, und alle überlebenden Krieger stimmten in den Jubelruf ein. Nur Galar hielt sich abseits und betrachtete ihn misstrauisch.

Ihn würde er auch noch überzeugen, dachte Hornbori. Er sah seinem Gefährten an, dass er sich selbst nicht mehr ganz sicher war. Sein Zorn bröckelte.

Inmitten der Zwergenschar wurde er abgesetzt. Alle drängten sich um ihn, klopften ihm auf die Schultern oder knufften ihn in die Seite. Hornbori genoss es. Er hatte den Zenit seines Ruhmes erreicht. Er hatte … Plötzlich wurde es still. Die Männer erstarrten. Sie blickten auf etwas, das hinter ihm war.

Die Fäuste des Heermeisters schlossen sich fester um den Schaft der blutbesudelten Axt. Warum konnte es nicht einfach vorbei sein? Alles war so gut gelaufen. Zumindest zuletzt. Mit einem tiefen Seufzer drehte er sich um und sah ein neues Ungeheuer. Ein Weib, halb Schlange, halb Elfe, wand sich ihnen entgegen. Sie war groß und bewegte sich mit der Gewandtheit einer erprobten Kämpferin.

Die Schlangenfrau verharrte etwa zwanzig Schritt entfernt und deutete eine Verbeugung an. »Im Namen meines Herrn grüße ich Euch, Heermeister, und gratuliere Euch zu Eurem strahlenden Sieg. Ihr habt gerettet, was verloren schien, und getötet, was unüberwindlich war. An diesem Tag seid Ihr zur Legende geworden.«

Hornbori räusperte sich. Es war ja nett, was diese Schlange so erzählte, doch hätte er sich deutlich wohler gefühlt, wenn er gewusst hätte, wer sie war. »Im Namen welches Herrn sprecht Ihr?«

Sie drehte sich um und gab ein Zeichen. Darauf erschien eine zerlumpte Gestalt zwischen den Ruinen. Hinkend kam sie näher. Ein Elf. Solaiyn.

Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Alle Arroganz war verschwunden, sein Glanz verblichen. »Sie spricht wahr, sie ist meine Leibwächterin, und das schon seit dem Feldzug im Eis. Ich habe sie stets verborgen gehalten, da ich befürchtete, dass ihr Anblick nicht in jedem Herzen Freude erweckt.«

Das war die Untertreibung des Tages, dachte Hornbori und maß die Schlangenfrau erneut mit Blicken. Sie wiegte sanft ihren Oberkörper, wirkte angespannt und stets auf der Hut.

»Wo steckt denn Euer roter Elf?«, fragte Ginnar herablassend. »Ist er mit all den anderen unter Eurem Kommando im Hafen verbrannt?«

»Er hat überlebt. Er verließ mich, um neuen Befehlen der Himmelsschlangen zu folgen.«

»Wäre hilfreich gewesen, wenn sich die Himmelsschlangen mal hätten blicken lassen«, mischte sich Galar ein. Der Schmied stapfte heran und baute sich mit in die Hüften gestemmten Händen vor dem Elfen auf. »Es ist leicht, aus der Ferne Befehle zu erteilen. Viel leichter, als Feuer unter dem Arsch gemacht zu bekommen, fast zerquetscht zu werden und bis zu den Knöcheln im Blut zu waten. Wo sind die Drachen, wenn man sie braucht? Kaum hatten sie drei Tote, sind sie vom Schlachtfeld geflohen.« Er spuckte aus. »Elende, hochnäsige Schisser sind sie. Ich kenne Kobolde, die sich mutiger in der Schlacht geschlagen haben. Und am schlimmsten von allen sind die Himmelsschlangen. Sie trauen sich nicht einmal in diese Welt. Sieh uns an, Elf. Nur jeder Zehnte von den Männern, die hierherkamen, lebt noch. Und sind wir fortgelaufen? Sag mir also, Elf, warum sollten wir je wieder akzeptieren, von Feiglingen in die Schlacht geführt zu werden? Ganz gleich, ob sie nun spitze Ohren oder Lederschwingen haben. Der Dreck unter meinen Fingernägeln ist mehr wert als diese Bande …«

Hornbori packte den Schmied beim Arm. Der Irre redete sie alle noch um Kopf und Kragen. »Es reicht, das war genug. Wir werden …«

Galar riss sich mit einem Ruck los. »Ich werde mit der Wahrheit nicht hinter dem Berg halten. Wir sind hiergeblieben und haben am Ende gesiegt. Wir haben das Recht, unsere Meinung zu sagen!«

Voller Sorge sah Hornbori, wie eine Veränderung mit Solaiyn vor sich ging. Der Elf straffte sich, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und wirkte plötzlich verändert. Eine Aura natürlicher Macht umgab ihn.

»Es ist das Recht der Sieger, eine offene Rede zu führen.« Die Stimme Solaiyns klang verändert. So, als käme sie aus großer Ferne. Auch passten die Bewegungen seiner Lippen nicht zu den Worten, die er sprach.

Hornbori lief ein Schauder über den Rücken. Er zog Galar zurück in die Gruppe der Zwerge.

»Ich werde ein Schiff schicken, um euch zurückzuholen.«

»Schick uns lieber Kupferbleche und Handwerker aus den Zwergenwerften«, sagte Ulur stolz. »Wir werden auf unseren Aalen zurückkehren, sobald sie wieder seetüchtig sind. Wir brauchen kein Schiff der Elfen oder von wem auch immer.«

Solaiyn lachte. Auch das klang seltsam falsch. Er blieb dabei stocksteif stehen. »Immer rebellisch. Aber gut, ihr sollt euren Willen haben. Ihr habt den Sohn der Göttin erschlagen. Das war nicht diplomatisch, aber doch eine außerordentliche Heldentat. Die Heimkehr aus eigener Kraft sei euch gewährt. Bringt eure Aale zum nächsten Albenstern. Er wird für euch geöffnet werden. Und noch weitere Ehren sollen euch zuteilwerden, denn die Himmelsschlangen sind näher, als ihr denkt. Sie haben alles gesehen.«

Bei diesen Worten bedachte der Elf Hornbori mit einem brennenden Blick. Ja, einen Herzschlag lang erschien es dem Heermeister, als leuchtete ein Licht hinter den Augen des Elfenfürsten.

Plötzlich sackte der Fürst kraftlos in sich zusammen. Die Schlangenfrau war mit erschreckender Schnelligkeit an seiner Seite und fing ihn mit ihren Armen auf.

»Da war irgendeine Hexerei im Gange«, sprach Ulur aus, was sie wohl alle dachten. Der Rausch des Sieges war verflogen.

Schlangenzunge

Die Klinge schabte über das Holz. Geschickt kerbte Quetzalli die Federn der Schlange in den hellen Buchenstab. Im Geiste wiederholte sie die Worte, die sich hinter den Bildern verbargen. Der Stab würde sagen, was sie nicht auszusprechen wagte. Die verborgenen Worte würden ihr Leben überdauern, das wusste sie.

Drei Tage lang war sie nun schon den abendlichen Essen im Langhaus ferngeblieben. Sie hatte sich in ihre Kammer eingeschlossen und nur von Obst und Wasser gelebt. Bald würde Volodi zurückkehren, dann galt es, eine Entscheidung zu treffen.

Sie hörte wieder die Stimmen vor der Tür. An jedem der Tage, die sie sich dem Hof verweigert hatte, war Yuri gekommen. Und jeden Tag hatte er lauter geflucht, wenn sie sein Toben vor der Tür ignorierte.

»Dem Kind ist etwas geschehen!« Das war Yuri, der da sprach. »Es ist eure verdammte Pflicht, den Sohn unseres Unsterblichen zu beschützen. Ich fürchte das Schlimmste! Habt ihr das Kind in den letzten Tagen weinen gehört? Kleine Kinder weinen! Jetzt schlagt die Tür ein! Wir sehen nach, was die Zapotehexe getan hat.«

Die Antwort der beiden Wachen fiel so leise aus, dass Quetzalli deren Worte nicht verstand.

»Wenn ihr es nicht macht, werde ich draußen schon Männer finden, die treu zu unserem Herrscher und dessen Sohn stehen!«, polterte Yuri los. »Entweder ihr schlagt die Tür ein, oder ich bringe ein paar Krieger, die erst eure Dickköpfe und dann die Tür einschlagen.«

Quetzalli wollte nicht warten, bis sich die Barbaren dem Drängen des Heilers fügten. Sie trat an die Tür, schob den schweren Sperrriegel zurück und öffnete sie.

»So geht das nicht!« Yuri trat über die Schwelle und bohrte ihr einen seiner dicken Finger in die Brust. »Du kannst nicht einfach …«

»Ist das der Ton, in dem Drusnier zu ihrer Königin sprechen?«

»Es ist der Ton, in dem Drusnier mit Hexen reden!« Yuri schob sie grob zur Seite.

Ihre beiden Türwachen unternahmen nichts, um den alten Heiler aufzuhalten. Im Gegenteil, sie traten ebenfalls ins Zimmer und gingen zur Wiege.

»Ist er wach?« Der Größere der beiden beugte sich tief über die große Wiege und wedelte mit der Hand vor Wanyas Gesicht.

Quetzalli konnte sich die Namen der wechselnden Wachen nicht merken. Für sie sahen die Krieger alle ähnlich aus. Groß, bärtig, mit goldenem oder rotem Haar, und meist stanken sie nach Honigbier und ungewaschenen Kleidern.

»Geh von der Wiege weg!«, sagte sie leise.

»Das ist doch nicht normal. Er hat die Augen auf, aber er reagiert gar nicht auf meine Hand.« Der Krieger wandte sich zu Quetzalli um. »Was hast du mit ihm gemacht, du …«

»Darf ich mal, Makar?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich Yuri an dem Leibwächter vorbei. Er legte Wanya die Hand auf die Stirn. »Fieber«, erklärte er. »Da sind die Kleinen schon mal durch den Wind. Los, gib mir mal deine Hand. Wanya glüht regelrecht.«

Das konnte nicht sein, dachte Quetzalli. Wanya hatte sich heute Morgen zwar ein wenig wärmer als üblich angefühlt. Aber …

Yuri warf ihr einen warnenden Blick zu.

»Na, hast du Angst, den kleinen Prinzen zu berühren«, neckte er den Krieger. Dann griff er nach Makars Rechter und führte die Fingerspitzen zur Stirn des Kindes.

»Er scheint wirklich etwas erhitzt zu sein …« Der Krieger wirkte unsicher.

»Wie viele Kinder hast du großgezogen, Makar?« Yuri bedachte den baumlangen Kämpfer mit einem warmherzigen Lächeln.

»Keines …«

Der Heiler nickte. »Dachte ich mir. Du hast mit anderen Worten keine Ahnung. Manchmal bekommen sie für ein paar Stunden Fieber, und dann ist alles wieder gut. Dabei schlafen sie auch gerne mal mit offenen Augen. Sie sind schon seltsam, diese kleinen Würmchen. Und sie halten verdammt ’ne Menge aus … Willst du Wanya mal auf den Arm nehmen?« Ohne die Antwort abzuwarten, hob Yuri den Kleinen hoch und drückte ihn Makar in die schaufelgroßen Hände. Der Krieger wirkte verlegen, grinste, und Quetzalli bemerkte, dass er vor Anspannung den Atem anhielt.

Sie wusste, warum Yuri das tat, aber es gefiel ihr ganz und gar nicht, ihren Sohn in den Händen dieses Tollpatschs zu sehen.

»Makar, Makar.« Der Heiler schüttelte übertrieben den Kopf. »Du machst ja ein Gesicht, als hätte ich dir ’nen frischen Kuhfladen in die Hand gedrückt.« Er nahm den Jungen wieder an sich, wiegte ihn kurz und legte ihn zurück in sein Bett »Ich denke mal, ihr beiden geht jetzt besser wieder auf eure Posten.« Er seufzte. »Und entschuldigt den Wirbel, den ich veranstaltet habe.«

Yuri verneigte sich demütig vor Quetzalli. »Bitte vergebt mir, Herrin. Ich hätte niemals daran zweifeln dürfen, dass Ihr eine vorbildliche Mutter seid. Doch bitte, haltet Euch nicht dem Hof fern. Die Menschen brauchen es, Euch zu sehen. Wir alle waren in tiefer Sorge um Euch und Wanya.«

Makar und sein Kamerad zogen sich eilig zurück und schlossen die Tür hinter sich. Kaum, dass sie verschwunden waren, wich auch alle Demut aus Yuris Antlitz. »Du glaubst, du kannst mit mir spielen, Hexe?«

»Du glaubst, du kannst mir sagen, was ich zu tun habe, Heiler?«

Yuri zog die Brauen zusammen, bis sie ein einziger buschiger weißer Strich wurden. »Hast du nicht begriffen, was ich dir gerade gezeigt habe? Ich hätte deine Leibwächter dazu bringen können, deine Türe aufzubrechen. Sie waren voller Sorge um ihren Prinzen. Sie haben gemerkt, dass hier etwas nicht stimmt. Und ich habe den Sturm, den ich heraufbeschworen habe, dank ein paar geschickter Worte zu einem lauen Lüftchen abklingen lassen. Wecke nicht meinen Zorn, Weib! Ich erwarte, dich an diesem Abend mit Wanya im Langhaus zu sehen. Du wirst dich kleiden, wie es sich für eine drusnische Herrscherin geziemt. Und du wirst mich vor aller Augen mit deiner Freundlichkeit ehren. Du wirst mir einschenken und mir mein Fleisch auf das Holzbrett legen.«

»Was willst du? Sollen sie denken, dass ich dich ehre wie Volodi? Willst du seinen Platz?«

»Ich will den Ehrenplatz zurück, den dein Mann mir gestohlen hat. Du wirst ihn mir geben. Und weißt du was, du wirst ihn sogar vor deinem Mann verteidigen! Solltest du hoffen, dass all dies vorüber ist, wenn Volodi zurückkehrt, dann hast du dich getäuscht. Er liebt dich. Er wird alles für dich tun. Obwohl …« Er hob in gespielter Resignation die Hände. »Was man so hört, liegt er auch gerne im Bett einer heißblütigen Drusnierin. Vielleicht ist seine Liebe zu dir ja gar nicht so groß, wie du vermutest. Vielleicht sollte ich zu ihm gehen und ihm erzählen, dass du die Seele seines Sohnes deinen blutdürstigen Göttern geopfert hast. Wird er mir glauben oder dir? Dein Sohn isst und atmet, aber er hat so viel Verstand wie eine Pflanze. Hast du es ihm gesagt, bevor er gen Süden gezogen ist?«

Quetzalli hielt Yuris Blick mit unbewegter Miene stand. »Bist du sicher, dass du dich zwischen uns beide drängen kannst? Glaubst du wirklich, dein Wort wiegt schwerer als meines?«

»Ich bin geneigt, es herauszufinden«, entgegnete der Heiler mit entmutigender Ruhe.

»Was willst du? Wozu treibst du dieses böse Spiel?«

»Heute Abend in der Halle werden Bittsteller vor dich treten. Frag mich um Rat, wenn sie zu dir gesprochen haben.«

Quetzalli traute ihren Ohren nicht. »Du willst herrschen?«

»Vielleicht bin ich ja ein weiser Berater? Finde es heraus! Womöglich werden wir ja sogar eines Tages Freunde sein, wenn du meinen Wert zu schätzen weißt. Oder verweigere dich und sorge dafür, dass die Herrschaft deines Mannes in Schimpf und Schande vergehen wird. Dass alle von ihm als dem Trottel reden, der eine Hexe neben sich auf den Thron holte, die ihr eigenes Kind verzaubert hat. Oder geschah diese Untat vielleicht sogar mit seinem Wissen … Wenn Gerüchte erst einmal in Umlauf sind, sind sie nicht mehr zu beherrschen.«

»In meinem Volk hat man ein Wort für Kreaturen wie dich, Yuri. Man nennt sie Schlangenzunge.«

Der Heiler zuckte mit den Schultern. »Was juckt mich dein Volk? Ich lebe hier. Es interessiert mich auch nicht, was du mit Wanya angestellt hast. Ich weiß von den Dienerinnen, die du aus deiner Kammer verbannt hast, dass er vor ein paar Wochen noch ein ganz normales Kind gewesen ist. Was immer du ihm angetan hast, die Götter strafen dich dafür, indem sie dein Schicksal in meine Hand gegeben haben.«

Quetzalli hatte das Gefühl, dass ihr der Kopf platzen müsste. Sie war gefangen. Und es war ihre Feigheit, die ihr dieses Gefängnis errichtet hatte. Ihre Angst vor den Schwertern der Daimonen. Wäre sie nur oben in der Halle geblieben, dann wäre Wanya noch gesund. Oder hätte sie ihm die Hand nicht auf Mund und Nase gedrückt. Was immer Yuri ihr antat, sie verdiente es. Sie hatte Schuld auf sich geladen und die Gunst der Götter verloren. Und ihr Schicksal würde auch Volodis Glück zerstören. Sie war ihm eine schlechte Frau …

Dennoch, vor diesem Mann würde sie davon kein Wort sagen. Stattdessen zischte sie: »Was glaubst du, wie lange Wanyas Zustand dem Hofstaat verborgen bleibt? Was glaubst du, wie lange du dein böses Spiel mit mir treiben kannst? Zwei Wochen? Einen Mond? Ganz gleich, was ich tue, das Ende steht fest. Alles wird herauskommen. Warum sollte ich das Letzte aufgeben, was mir noch geblieben ist? Meinen Stolz und meine Selbstachtung.«

»Lass deinen dummen Stolz hinter dir. Lass uns vor aller Augen Freunde sein. Und wenn die Zeit gekommen ist, in der meine Stellung bei Hof meinen Wünschen entspricht, dann werde ich erklären, dass Wanya ein plötzliches Fieber bekam. Er wird über Nacht sterben. Ich werde hart um sein Leben gekämpft haben und genauso gebrochen sein wie du, wenn Volodi vor dem Hofstaat den Tod seines Erstgeborenen verkündet. Aber solche Tragödien geschehen. Es wird kein Schatten auf dem guten Ruf deines Mannes zurückbleiben, ja, nicht einmal auf die Zapotehexe wird ein Verdacht fallen.«

Quetzalli rang um Worte. »Du willst Wanya töten?«

»Mütter bringen so etwas gemeinhin schwer über ihr Herz.« Yuri warf einen Blick in die Wiege und lächelte. »Es wird ein leichter Tod sein. Er wird keine Qualen erleiden. Und du hast keine andere Wahl. Wenn herauskommt, was mit ihm ist, wird es Volodi schaden. Ein Volk erwartet von seinem Herrscher Weisheit. Doch wie weise ist ein Unsterblicher, dessen Samen ein Kind ohne Verstand gezeugt hat? Es wird Gerede geben. Auch über dich. Und wie ich schon sagte, wenn Gerüchte erst einmal geboren sind, verschwinden sie niemals wieder ganz. Ich überlasse dich nun ganz deinem kleinen Pflänzchen.« Er tätschelte Wanya über den Kopf, der dabei keine Regung zeigte. »Ich vertraue auf deine Weisheit.«

Die Herrscherin im Federmantel

Quetzalli betrat den Festsaal des Langhauses in ihrem Federumhang. Kaum, dass sie erschien, wurde es still. Die Drusnier liebten sie nicht, aber sie hatten Respekt vor ihr, dachte sie voller Genugtuung. Das war fast so gut wie der Anblick Yuris, der sichtlich darum kämpfte, nicht die Fassung zu verlieren. Die Priesterin hatte lange mit sich gerungen. Eigentlich hätte sie lieber das Kleid getragen, auf dem eine Opferszene mit einem goldhaarigen Mann dargestellt war. Erst im letzten Augenblick hatte sie entschieden, nicht unnötig Öl ins Feuer zu gießen, und ein Kleid angelegt, das mit langen roten Federn geschmückt war. Und natürlich war sie ohne Wanya gekommen. Ihr einziges Zugeständnis an Yuri war, dass sie hier war. In allem anderen hatte sie sich nicht gefügt.

Sie hob die Hände in einer priesterlich segnenden Geste. »Macht weiter, meine Freunde! Lasst euch nicht stören.« Vielleicht sollte sie sich doch öfter unter ihr Volk mischen. Die Überraschung in den Gesichtern war einfach köstlich.

Sie nahm Platz auf ihrem Hochsitz und winkte dem Haushofmeister Vladi. Der korpulente Säufer beeilte sich, zu ihr zu kommen. »Ich hätte gern ein Stück Fleisch. Schön blutig, dazu etwas von dem Brot, das ihr mit Zwiebeln würzt, und ein Horn voller Honigbier.«

Der Mund Vladis klappte auf und zu wie bei einem Fisch, der auf dem Trocknen lag. »Sofort, Herrin!«, stieß er schließlich hervor und machte sich auf den Weg, ihre Wünsche zu erfüllen.

Yuri erhob sich von seinem Platz. Selbst der Tisch für die bevorzugten Gäste, an dem sie ihm wieder einen Platz verschafft hatte, stand noch fast zwei Schritt von ihrem Hochsitz entfernt. »Darf ich vor Euch treten, Herrin?«

Sie winkte ihm mit zwei Fingern. So wie er aussah, war es möglich, dass ihn schon bald der Schlagfluss hinwegraffen würde. Vielleicht brach er ja zusammen, wenn sie ihn noch ein wenig mehr reizte.

»Wie kannst du es wagen, herausgeputzt wie ein Vögelchen hierherzukommen?«, zischte er sie an, ohne dabei sein falsches Lächeln aufzugeben.

Heucheln konnte sie auch, dachte Quetzalli und erwiderte das Lächeln. »Ich denke, als Herrscherin sollte ich die Freiheit haben zu tragen, was mir gefällt. Und mich als eine dicke Dorfkuh unter einem Bärenfell zu verkleiden ist nicht mein Stil.«

»Das wirst du …«

»Bereuen?« Ihr Lächeln wurde breiter. »Ganz sicher nicht. Du willst deinen Ehrenplatz dort unten an der Tafel behalten? Und du möchtest dich gerne als weiser Ratgeber aufspielen?« Sie richtete sich ein Stück weit auf und spähte zum anderen Ende des Festsaals. Blauer Rauch behinderte die Sicht, und die Halle war nur unzureichend beleuchtet, aber sie konnte Schattenrisse vor dem Haupttor erkennen. Bittsteller! Yuri war sich also ganz sicher gewesen, dass sie kommen würde, und hatte ein paar Auserwählte in die Halle eingeladen. Sie würde ihren Federmantel darauf verwetten, dass Männer dabei waren, denen er noch einen Gefallen schuldete.

»Du glaubst, du kannst mit mir spielen. Du …«

»Du bist nicht die Sorte Mann, die mein Wohlgefallen erregt. Mit einem wie dir würde ich niemals spielen. Und bevor du noch mehr von deinem nach Fisch stinkenden Atem vergeudest: Ich sehe nur zwei Wege für dich. Entweder nennst du mich in aller Öffentlichkeit eine Hexe und deckst auf, was mit Wanya ist. Dann werde ich vermutlich ein ziemlich unrühmliches Ende nehmen – ich weiß, dass ihr Drusnier leicht zu unbedachten Grausamkeiten zu verleiten seid. Aber was wird dann aus deinen hochtrabenden Träumen? Glaubst du, Volodi will den Mann in seiner Nähe haben, der für den Tod seiner Frau verantwortlich ist? Wenn ich nicht mehr bin, wirst auch du ein Nichts sein. Dein zweiter Weg ist, dich zu fügen. Ich gebe dir ein wenig von dem, was du dir wünschst, und du unterstützt mich nach Kräften.« Sie sah ihn herausfordernd an. Das Lächeln war von ihren Lippen verschwunden. »Du glaubst, ein weiser Mann zu sein, Yuri. Wie entscheidest du dich?«

»Es wird dir noch leidtun«, stieß er voller Zorn hervor.

»Glaubst du? Bist du dir darüber im Klaren, wen du herausgefordert hast? Ich bin Quetzalli, Tochter einer der edelsten Familien meines Volkes. Ich bin Priesterin der Gefiederten Schlange. Mir war es bestimmt, einst die Hohepriesterin meines Volkes zu sein. Ich habe mehr Männern, als ich mich zu erinnern vermag, den Brustkorb geöffnet, um meine Hand um ihr noch schlagendes Herz zu legen. Vermagst du zu ermessen, was es heißt, meinen Zorn auf dich zu lenken.«

Yuri schien um eine Spur blasser zu werden. »Ich wähle den zweiten Weg, für heute Nacht«, sagte er leise.

»Eine Entscheidung von bestechender Weisheit.« Quetzalli wusste, dass Yuri nicht einfach so aufgeben würde. Aber zumindest für diese Nacht hatte sie gewonnen. Und sie war fest entschlossen, sich nie wieder zur Sklavin seiner Launen machen zu lassen.

Die Halskette

»Sie ist eine Diebin!«

Ilmari schob den Toten in das Becken voller Schlamm und sah zur weiten Wendeltreppe, die nach oben führte.

»Holt den Hüter des Lichtes! Er wird wissen, was zu tun ist.«

Mit fliegenden Schritten eilte der Totenträger die Treppe hinauf. In der großen Eingangshalle lag die Totenwäscherin am Boden. Blut troff von ihrer aufgeplatzten Lippe, ihre linke Wange war rot und begann anzuschwellen. Es war einer der wenigen Tage, an denen Gäste in das Totenhaus gekommen waren, um Abschied zu nehmen. Sie standen um den schön geschnitzten Tisch versammelt, auf dem die Leiche einer alten Frau lag. Die Tote war bereits in ein Leinentuch eingeschlagen. Nur ihr Gesicht war noch zu sehen.

»Sie hat meine Mutter bestohlen!« Vor Ilmari baute sich ein großer, bulliger Kerl auf. Helle Narben zogen sich über seine Arme. Sein Gesicht war flach, die breite Nase krumm und offensichtlich mehrfach gebrochen. Seine sonnenverbrannte Haut verriet, dass er ein Wolkenschiffer war. Vermutlich einer von Tarkons Auserwählten.

»Dort, wo ich herkomme, schlägt man keine Frauen«, sagte Ilmari ruhig. »Ich möchte euch bitten, euren Zorn zu zügeln. Wir stehen neben einer Toten.« Er blickte zu den übrigen Gästen, zwei etwas pummeligen Frauen und einem jungen Mann, der ebenso sonnengebräunt war wie der Wortführer. Nur dass es ihm an den Muskeln des Schlägers fehlte.

»Da, wo ich herkomme, tut man mit Diebinnen noch ganz andere Dinge, als ihnen nur eine gehörige Backpfeife zu versetzen. Und jetzt machst du mir Platz, Totenträger. Ich werde aus der Kleinen schon herausprügeln, wo die Kette meiner Mutter steckt.«

Ilmari vertrat ihm den Weg. »Ich glaube nicht, dass sie zu dir sprechen wird.«

»Reize mich nicht, Totenträger. Mit dir habe ich keinen Streit.«

»Sie hat keine Zunge mehr.«

»Sie hat Beine, das genügt! Sie wird mich zum Versteck ihres Diebesguts bringen!«

»Rufus, bitte …«, flehte die ältere der beiden Frauen. »Vielleicht ist die Kette ja verloren gegangen.«

Er fuhr herum, und so, wie die Frau zusammenzuckte, war Ilmari sich sicher, dass auch sie schon Erfahrungen mit den Fäusten dieses tobenden Fleischklopses gemacht hatte.

»Verloren? So eine Kette geht nicht verloren. Die wird geklaut. Ich begreife immer noch nicht, warum ihr sie Mutter nicht abgenommen habt. Was habt ihr nur im Hirn, ihr dämlichen Gänse? Die Kette ist ein Vermögen wert. Das gibt man nicht einfach auf.«

»Es war ihr letzter Wunsch, die Kette auf ihrer letzten Reise zu tragen«, entgegnete die Frau kleinlaut. Sie hielt sich dabei geduckt, als würde sie jeden Augenblick mit Schlägen rechnen.

Ilmari erinnerte sich an die Kette. Sie war aus schweren Goldstreifen gefertigt gewesen, die sich wie ein Fächer über der Brust der Toten ausgebreitet hatten. Die Hälfte der Streifen war mit dunkelblauem Emaille geschmückt gewesen. Der Schläger hatte recht. Dieses Schmuckstück war ein Vermögen wert.

»Letzter Wunsch, Papperlapapp. Blanker Unsinn.«

»Dem du zugestimmt hast«, erinnerte ihn die jüngere der beiden Frauen.

»Natürlich widerspricht man einer Sterbenden nicht. Aber bei allen Göttern, man setzt den Unsinn doch nicht in die Tat um, den sich eine Sterbende auf dem Totenbett zusammenbrabbelt.« Er wandte sich wieder an Ilmari. »Ich war nur ein paar Tage außer Haus. Dringende Geschäfte … Als ich wiederkomme, höre ich, dass meine Mutter tot ist und du schon da warst, Totenträger. Den Rest der Geschichte kennst du. Ich habe meinen Sohn losgeschickt, der ein ausdauernder Läufer ist, damit er verhindert, dass unsere Mutter das letzte Stück des letzten Weges geht. Ich bin ihm mit diesen beiden nichtsnutzigen Weibern gefolgt, so schnell uns unsere Beine getragen haben.«

Der dunkelhaarige Junge, der am Morgen völlig außer Atem im Totenhaus erschienen war, war nicht mehr zugegen. Ilmari ahnte, wo er steckte. Der Junge hatte ihn darum gebeten, seine Großmutter noch nicht dem Weißen Schlund zu übergeben. Allerdings hatte er behauptet, dass der Sohn der Toten kommen wolle, um von ihr Abschied zu nehmen. Von der Kette war nicht die Rede gewesen.

»Ich könnte das Leichentuch aufschneiden«, bot Ilmari an. »Vielleicht hat sich die Kette vom Hals der Toten gelöst und ist …«

»Da wirst du nichts finden«, unterbrach ihn der Wolkenschiffer barsch. »Ich habe sie schon ganz abgetastet. Außer meiner Mutter steckt nichts in diesem Leichentuch.« Er hob drohend eine Faust in Richtung der Wäscherin. »Ich bin mir ganz sicher, dass die weiß, wo das Schmuckstück steckt. Und wenn sie damit nicht herausrückt, dann nähe ich sie in das Leichentuch meiner Mutter, und sie kann mit ihr zusammen die Reise in den Weißen Schlund antreten.«

Ilmari sah auf die kleine und zierliche Wäscherin, die immer noch am Boden kauerte und ihre Arme halb erhoben hatte, um sich vor weiteren Schlägen zu schützen. Ihr dunkles Haar hatte sich gelöst. Der langstielige Löffel, mit dem sie ihr Haar normalerweise zu einem Knoten hochsteckte, hing schief herab. Sie wirkte so zerbrechlich, so ausgeliefert. Sie hatte ganz gewiss nichts gestohlen!

»Deine Mutter hat hier viele Stunden lang aufgebahrt gelegen. Jeder aus dem Dorf hätte Gelegenheit gehabt, hierherzukommen und die Kette zu nehmen. Ich verbürge mich für die Wäscherin. Hier im Totenhaus gibt es keine Diebe!«

»Worte sind billig, Totenträger.« Der Wolkenschiffer blickte verächtlich auf ihn herab. »Die Halskette wird wiedergefunden. Mir ist egal, wie ihr das anstellt. Und es wird einen Schuldigen geben, der vor meinen Augen seine Strafe erhält.«

»Mir ist nicht egal, auf welche Weise in meiner Stadt Recht gesprochen wird!«, ertönte eine laute Stimme. Alle blickten zum großen Eingangstor des Totenhauses, wo Solomon, der Hüter des Lichtes, mit seinem Gefolge eintrat.

Ilmari mochte den selbstgefälligen Priester eigentlich nicht, aber heute war er froh, ihn zu sehen. An Solomons Seite stand der dunkelhaarige Junge, der am Morgen den Wunsch von Rufus vorgetragen hatte, seine Mutter noch einmal zu sehen.

»Ilmari?«

Das salbungsvolle Getue des kahlköpfigen Priesters ärgerte den Totenträger. »Ja, Herr«, entgegnete er leicht gereizt.

Solomon bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Kannst du mir schwören, dass du die Kette der Toten nicht angerührt hast?«

»Nein!«, entgegnete Ilmari entschieden. Er wusste, dass das dumm war, aber er konnte nicht anders. Vor diesem eingebildeten Schwätzer würde er nicht buckeln.

»Du hast …« Rufus schoss das Blut ins Gesicht.

»Ich habe deine Mutter getragen. Natürlich habe ich dabei die Kette berührt. Ich habe nichts gestohlen. Mir sind Worte nicht billig, Rufus. Ich sage die Wahrheit. Immer.«

Solomon presste die Lippen zusammen und versuchte, seinen Ärger zu überspielen. »Meine Männer werden das Totenhaus durchsuchen. Wenn die Halskette hier ist, dann werden sie sie finden. Bis dahin möchte ich euch alle hinausbitten.«

Wenig später saß Ilmari auf einem der großen Steine am Ufer des Schwarzgürtels und blickte auf die träge fließenden, dunklen Fluten. Die Wäscherin hielt sich in seiner Nähe, während der Hüter des Lichtes leise mit Rufus sprach.

Es dauerte lange, bis die kahlköpfigen Priester durch das Tor des Totenhauses traten. Sie hatten nichts gefunden.

»Und das war es jetzt?«, rief Rufus wutentbrannt. »Es tut euch leid? Ich werde zu Tarkon gehen und ihm sagen, was für eine Bande diebischer Elstern sich in Tiefwasser eingenistet hat.«

Solomon sah ihn lange an. »Nun, wenn Menschen die Wahrheit nicht zu ergründen vermögen, dann können die Götter uns manchmal einen Fingerzeig geben. Ich schlage ein Gottesurteil vor. Du sagst, die Wäscherin sei die Diebin und forderst ihre Bestrafung. Lassen wir zwei Kämpfer gegeneinander antreten. Willst du für deine Mutter streiten? Willst du mit deinem Leib dafür einstehen, dass deine Anschuldigungen rechtens sind, Rufus?«

»Mit Vergnügen.« Der Wolkenschiffer ließ seine Faust in die offene Linke klatschen. »Ich fordere einen Faustkampf. Einen Kampf, wie man ihn in den Arenen von Luwien und Aram sieht.«

Solomon wirkte nicht sonderlich begeistert. Diese Kämpfe waren berüchtigt dafür, dass es immer wieder Tote gab. »Und wer will für die Wäscherin eintreten?« Er blickte zu seinen Priestern, die geflissentlich zu Boden sahen.

»Nun«, sagte Solomon lächelnd. »Wenn es niemanden gibt, der für die Wäscherin eintritt, dann steht sie nicht in der Gnade der Götter. Ihre Schuld ist also bewiesen. Sie gehört dir, Rufus. Du kannst …«

»Ich werde für sie kämpfen!«, sagte Ilmari mit fester Stimme und erhob sich von seinem Stein. Er war überzeugt, dass sich Rufus und Solomon auf diese Möglichkeit, den Streit beizulegen, geeinigt hatten, als sie vorhin miteinander gesprochen hatten. Diese Heimtücke passte zum Hüter des Lichtes.

Rufus schüttelte ärgerlich den Kopf. »Nicht du, Totenträger. Ich habe keinen Streit mit dir.«

»Ich glaube nicht, dass ich in Gefahr bin, Wolkenschiffer. Ich bin von der Unschuld der Wäscherin überzeugt. Also sollten die Götter mich doch beschützen.«

Er sah die Angst in den Augen der stummen Frau und war gerührt. Vielleicht war es das erste Mal, dass sie erlebte, dass jemand für sie eintrat. Er wusste, dass er sie eigentlich ihrem Schicksal überlassen sollte. Er war hier, um im Dienste des Unsterblichen Aaron die verborgenen Städte auszukundschaften. Aber wenn er diese zerbrechliche, wehrlose Frau sah, konnte er nicht anders. Er hatte so oft in seinem Leben aus den falschen Gründen gekämpft. Es war an der Zeit, zumindest einmal für die Gerechtigkeit einzutreten.

Solomon wirkte nicht unzufrieden mit dieser Wendung. »Dann sollen die Götter entscheiden, wann gekämpft wird. Sobald der Marktplatz der Stadt das nächste Mal in hellem Licht liegt, ist die Stunde eures Zweikampfes gekommen.«

Das Gottesurteil

Ilmari prüfte den Sitz der messingbeschlagenen Lederbänder. Sie waren um seine Fingerknöchel, die Handrücken, die Handgelenke und die Unterarme gewickelt. Die Bänder bildeten ein netzförmiges Muster. Zwei der Messingplättchen auf dem Leder waren mit dicken, angeschliffenen Wülsten versehen. Sie würden Wunden reißen, wenn man die Schläge richtig setzte.

Ilmari war ein wenig mulmig. Er hatte Dutzende Faustkämpfe bestanden, aber nie einen, bei dem diese verdammten Lederriemen zum Einsatz gekommen waren. Er blickte zu Rufus, der am anderen Ende des Marktplatzes auf einem Marmorblock saß. Der Wolkenschiffer wirkte entspannt. Seine beiden Söhne standen an seiner Seite. Rufus hob eine Hand und grüßte Ilmari.

Der Wolkenschiffer hatte ihm schon an dem Tag, an dem das Gottesurteil beschlossen worden war, reinen Wein eingeschenkt. Er hatte einige Erfahrung in dieser Form des Faustkampfes. Er war in Arenen aufgetreten und hätte vielleicht sogar berühmt werden können, wäre er nicht eines Tages von einem goldhaarigen Drusnier in einem Faustkampf derart zusammengeschlagen worden, dass zwei Monde verstrichen waren, bis er sich wieder vom Krankenlager erhoben hatte.

Alles, was Ilmari dem entgegensetzen konnte, waren seine Erfahrungen als Meuchler. Es würde kein leichter Kampf werden. Außerdem musste er auch darauf achten, keine zu gute Figur zu machen. Erweckte er den Eindruck, ebenfalls ein erfahrener Kämpfer zu sein, dann warf das Fragen auf, auf die er keine guten Antworten hätte.

Die Wäscherin kam zu ihm, kauerte sich vor ihm nieder und sah ihm eindringlich in die Augen. Dann schüttelte sie sacht den Kopf. In den drei Tagen, die es gedauert hatte, bis die Wolken über den Tafelbergen aufgebrochen waren und eine Säule aus strahlendem Licht auf den Marktplatz von Tiefwasser fiel, hatte sie immer wieder versucht, ihn von diesem Zweikampf abzubringen. Seit seiner Kindheit hatte Ilmari nicht mehr erlebt, dass sich jemand um ihn sorgte.

»Mach dir keine Sorgen. Die Götter beschützen die Gerechten.« Er glaubte das zwar nicht wirklich, aber er hoffte, ihr so ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Wenn er doch wenigstens ihren Namen wüsste! Sie konnte nicht schreiben, konnte sich nur durch Gesten mitteilen. Zu wenig, um einen Namen zu verraten. »Alles wird gut«, sagte er sanft und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

In ihrem Blick lag nun blanke Panik. Sie schüttelte wieder energisch den Kopf. Seltsam, dass sie kein Vertrauen in die Götter hatte. Dabei trug sie ein billiges Amulett mit einer schlecht gefertigten Flügelsonne aus Bronze. Abergläubisch war sie ganz offensichtlich.

»Seid ihr bereit, uns den Willen der Götter zu offenbaren?«, erklang die volltönende Stimme Solomons über den Marktplatz.

Alle Bewohner der kleinen Stadt hatten sich um den Markt versammelt, um dem Spektakel beizuwohnen. Ilmari erhob sich, streckte sich und dehnte seine Sehnen. Durch Kraft würde er nicht gewinnen. Ohne seine Tunika sah Rufus noch mehr aus wie ein Bulle. Seine Brust war mit dichtem schwarzen Haar bedeckt. Darunter wölbten sich mächtige Muskeln. Seine Fäuste wirkten, als könnte er damit Marmorplatten zerschmettern.

Rufus hatte ihm in den letzten Tagen mehrfach angeboten, einfach aufzugeben. Vielleicht hätte er annehmen sollen?

»Die Regeln des Kampfes sind sehr einfach«, erklärte Solomon und bedachte Ilmari mit einem gehässigen Seitenblick. »Es gibt keine Regeln. Wer zu Boden geht und in der Zeit, die ich benötige, um bis drei zu zählen, nicht wieder aufstehen kann, ist der Verlierer. Sollte Rufus unterliegen, war die Wäscherin des Totenhauses keine Diebin. Ist es hingegen der Totenträger Ilmari, der niedergestreckt wird, dann gilt die Schuld der Wäscherin als erwiesen, und es ist Rufus erlaubt, mit ihr zu verfahren, wie es ihm beliebt.«

Solomon machte eine Pause und ließ seinen Blick über das Publikum wandern. »Die Augen der Götter ruhen auf uns!« Er hob theatralisch die Arme, legte den Kopf weit in den Nacken und sah hinauf zu der Öffnung in der Höhlendecke, über der ein türkisblauer Himmel leuchtete. »Mögen sie die Wahrheit ans Licht bringen!« Er gab einem seiner Priester ein Zeichen, und ein Gongschlag ertönte.

Rufus kam, ohne zu zögern, auf Ilmari zu. Er hatte beide Fäuste erhoben. Etwas zu lässig. Er rechnete nicht damit, dass sein Gegner ihm gewachsen sein könnte.

Ilmari hob ebenfalls die mit Lederriemen umwickelten Fäuste. Er tat so, als ahmte er den hünenhaften Wolkenschiffer nach. Leicht tänzelnd wich er zur Seite aus. Rufus bewegte sich mit ihm. Der Wolkenschiffer lächelte überlegen. Für ihn musste es so aussehen, als liefe er fort.

Plötzlich machte Rufus ein paar rasche Schritte nach vorn. Seine Fäuste schnellten vor.

Ilmari ließ es so aussehen, als strauchle er bei dem Versuch auszuweichen. Die Fausthiebe verfehlten ihn knapp.

Das Publikum begleitete den Angriff mit begeisterten Rufen. Die meisten standen auf der Seite des Wolkenschiffers.

Rufus trat zurück und gab Ilmari Gelegenheit, wieder auf die Beine zu kommen. Dafür erntete der Hüne noch mehr Beifall.

Nun hob er die Arme und spannte die Bauchmuskeln. »Komm, Totenträger. Du hast einen Hieb frei. Der Kampf ist zu ungleich. Es liegt keine Ehre in ihm.«

Zögerlich kam Ilmari näher. War es eine Falle? Aber das hatte Rufus nicht nötig. Also gut! Er versetzte ihm einen schnellen Hieb auf die kurze Rippe, in den er all seine Kraft legte.

Rufus keuchte überrascht auf und knickte sogar kurz ein. Doch sofort hatte der Wolkenschiffer sich wieder in der Gewalt. Im Reflex nahm er die Arme herab und deckte nun mit den Ellenbogen seine Rippen, doch Ilmari setzte nach und landete einen zweiten Treffer mitten im Sonnengeflecht.

Rufus grunzte wütend. Seine Fäuste schnellten vor. Es waren Hiebe, die Ochsen niedergestreckt hätten, doch Ilmari tänzelte zurück. Mit Genugtuung hörte der Totenträger, wie ein Raunen durch die Menge ging. Er hatte sie überrascht. Und dennoch war es schlecht! Er durfte sich nicht offenbaren.

Wieder wich er einem Hieb aus und duckte sich dieses Mal bewusst ein klein wenig zu langsam. Rufus’ Faust streifte ihn an der Schulter. Selbst das genügte, um ihn herumzureißen. Für einen Moment verlor er die Kontrolle, und der Wolkenschiffer setzte gnadenlos nach. Ein zweiter Hieb traf Ilmari in den Rücken, schleuderte ihn nach vorne und presste ihm die Luft aus der Lunge. Er spürte, wie die Haut unter den Bronzebeschlägen der Faustriemen aufplatzte und warmes Blut zu seiner Hüfte hinabrann.

Eilig floh er vor weiteren Treffern. Rufus hastete ihm hinterher. Die Zuschauer grölten. Sie standen auf den Steinblöcken, die den Marktplatz einfassten. Und sie feuerten nun beide an. Sie wollten noch mehr Blut fließen sehen.

Ilmari drehte sich um. Er wusste, dass er nicht endlos fortlaufen konnte. Solomon würde ihn dann einfach zum Verlierer erklären. Er duckte sich unter dem nächsten Hieb, schlug einen schnellen Konter, doch Rufus achtete nun auf seine Deckung, und so traf Ilmari nur den Unterarm, der jetzt die Rippen abschirmte.

Der Wolkenschiffer schlug aus der Deckung heraus eine schnelle Folge.

Ilmari wiegte den Oberkörper hin und her. Er schwankte wie eine Ähre im Wind.

Rufus überraschte ihn mit einem Tritt, der auf sein Knie zielte. Diesmal gelang es Ilmari nicht, schnell genug zu reagieren. Er spürte die Knochen im Gelenk krachen, knickte in sich zusammen und bekam gleich noch einen Schlag gegen die rechte Wange, der ihm fast den Kiefer brach. Er landete im Staub, und sofort war Solomon neben ihm.

»Eins«, rief der Priester mit ungebührlicher Begeisterung.

»Zwei!« Er machte keine Pause zwischen den Zahlen. Er wollte Ilmari verlieren sehen.

Der Totenträger kämpfte sich hoch.

»Lass das«, zischte ihm Rufus zu. »Es ist besser für dich, wenn du liegen bleibst. Ich will dich nicht zum Krüppel machen.«

»Sie hat die Kette nicht gestohlen«, entgegnete Ilmari. »Es gibt nur einen Weg, es zu beweisen …« Er stand nun wieder. Sein Mund war voller Blut, das er in den Staub spuckte.

»Du hast gerade den besten Rat ausgeschlagen, den du in deinem Leben bekommen hast«, sagte Solomon spöttisch lächelnd. »Aber um Tote zu tragen, braucht man ja nicht sonderlich viel Verstand. Lass Rufus nur weiter auf deinen Schädel einprügeln.«

Ilmari drückte den Rücken durch und hob die Fäuste, bereit zur Abwehr.

Solomon gab ein Zeichen, und erneut ertönte der Gong.

Ohne zu zögern, stürmte Rufus vor. Ilmari war immer noch leicht benommen. Es fiel ihm schwerer, den Schlägen auszuweichen. Seine Bewegungen waren fahriger. Kaum einmal schaffte er es, einen Schlag zu landen. Und wenn es doch einmal glückte, hämmerten seine Fäuste stets nur gegen die mit Leder umwickelten Unterarme des Wolkenschiffers. Er musste einen anderen Weg zum Sieg finden. Er wich zurück. Ließ sich treiben.

Rufus’ Gesicht war eine schweißüberströmte Maske kontrollierten Zorns. Sein Atem ging immer noch ruhig. Die Arbeit auf den Wolkenschiffen hatte aus ihm einen Mann aus Eisen gemacht. Ilmari ging in die Knie, wirbelte zur Seite und versetzte dem Hünen einen Schlag auf die Sehnen der Kniekehle. Abgesehen von einem wütenden Grunzen zeigte der Treffer keine Folgen.

Rufus versuchte, ihn mit einem Kick in den Staub zu schicken. Mit einem wenig eleganten Hüpfer brachte sich der Totenträger in Sicherheit. Rufus wechselte nun die Strategie. Er hatte offensichtlich begriffen, dass Ilmari kein leichter Gegner war. Jetzt versuchte der Hüne, ihn gegen die Publikumsränge abzudrängen, den steingefassten Rand des Marktplatzes. Dort hätte Ilmari nur noch eingeschränkte Möglichkeiten auszuweichen.

Der Totenträger überlegte fieberhaft, wie er dem nahenden Unheil entkommen konnte. Er musste die Strategie des Wolkenschiffers gegen ihn wenden. Aber wie? Indem er seinen Zorn anfachte? Rufus war ein einfacher Mann … Ilmari duckte sich unter einen Hieb weg. Es musste kein komplizierter Plan sein.

»Deine Mutter war eine hübsche Frau!«

Es klappte. Der Hüne hielt in der Bewegung inne und runzelte die Stirn.

Ilmari wich noch einen Schritt zurück. Er war nur noch ein kleines Stück von den massigen Steinen entfernt, die den Platz begrenzten.

»Sie hatte immer noch volle Brüste. Das ist selten in ihrem Alter.«

Rufus lief rot an. »Schweig! Das ist nichts, worüber man vor all den Menschen spricht!«

Ilmari hörte, wie einige der Männer unter den Zuschauern kicherten.

»Warum? Ich wette, deine Mutter hat es gerne gehabt, wenn man über sie gesprochen hat und sie bewundernde Blicke auf sich wusste. Diese Brüste …« Er leckte sich über die Lippen. Ilmari machte das nicht gerne. Rufus war im Grunde ein aufrechter Mann. Aber er musste ihn besiegen! Und das auf eine Art, die ihn nicht zu sehr wie einen erfahrenen Kämpfer aussehen ließ.

»Ich wette, vor deiner Geburt wurde sie von vielen Männern begehrt. Weißt du eigentlich, wer dein Vater ist?«

»Halt dein dreckiges Maul, Totenträger!« Rufus stürmte vor und griff ihn mit wütenden Schlägen an.

Ilmari schwang zur Seite, wich den Schlägen aus und tänzelte zurück, bis er mit dem Hintern an den niedrigen Wall aus Steinquadern stieß.

»Weißt du, die Tragödie aller Kinder ist, dass wir immer ganz genau wissen, wer unsere Mütter sind. Aber die Väter … Ist es wirklich der Mann, der nett zu uns ist und sich für die Familie krummmacht? Oder hat unsere Mutter vielleicht ein paar schöne Stunden in fremden Armen gesucht. War diese Halskette ein Geschenk? Dein Vater war doch sicher nicht reich genug dafür. Du bist doch ein Bauernsohn, oder?«

»Schweig!« Rufus warf sich mit seinem ganzen Körper nach vorne und drängte ihn gegen die Umfassungsmauer.

Ilmari versuchte sich zu entwinden, doch der Körper des Wolkenschiffers drückte fest gegen den Stein. Der Totenträger rutschte ein wenig hinab. Sein Kopf lag nun auf der Kante der Umfassungsmauer. Rufus könnte ihm mit einem wuchtigen Hieb das Genick brechen.

»Allzu viele Frauen sind leider Huren!«, sagte Ilmari laut.

Rufus stieß einen unartikulierten Schrei aus. Seine Faust sauste nieder, um Ilmari für immer zum Schweigen zu bringen.

Im letzten Augenblick ruckte der Totenträger den Kopf zur Seite. Der Schlag, der ihn hatte töten sollen, schmetterte mit aller Wucht auf den Stein. Er hörte die Knochen in der Hand von Rufus brechen und das Handgelenk krachen.

Er versetzte dem Wolkenschiffer einen Stoß. Der massige Leib seines Gegners taumelte ein Stück zurück. Ilmari befreite sich aus der Umklammerung. Blitzschnell setzte er beide Hände auf den flachen Stein der Umfassungsmauer, stemmte sich mit einem Schwung hoch und ließ seine genagelten Sandalen gegen das Kinn des Hünen krachen.

Rufus’ Lippen platzten auf. Er wurde niedergerissen und schlug schwer auf den gepflasterten Boden des Marktplatzes.

»Die Götter haben entschieden!«, rief Ilmari keuchend.

»Noch nicht«, wandte Solomon ein. Bestürzt kniete sich der Priester neben den Wolkenschiffer und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. »Komm zu dir! Rufus! Steh wieder auf.«

»Zähle!«, forderte Ilmari.

»Rufus!« Der Priester hämmerte dem Wolkenschiffer nun mit der Faust auf die Brust. Die Augenlider des Kämpfers flackerten. Er kam wieder zu Bewusstsein.

»Eins«, rief jemand deutlich vernehmbar im Publikum.

»Zwei!« Jetzt waren es schon viele Stimmen.

Rufus versuchte sich auf seinen Ellenbogen hochzustemmen, doch Ilmari trat an die Seite Solomons, setzte dem Wolkenschiffer einen Fuß auf die Brust und drückte ihn auf das Pflaster zurück.

»Drei!«, erklang es aus Dutzenden Kehlen.

Solomon erhob sich. »Die Götter haben zu uns gesprochen!«, rief er mit wenig Enthusiasmus. »Die Totenwäscherin ist unschuldig.«

Die Menge stürmte den Platz. Männer und Frauen, deren Namen er nicht einmal kannte, klopften Ilmari auf die Schultern und beglückwünschten ihn zu seinem Sieg. Aber er fühlte keinen Triumph. Er hatte sich beschmutzt. Es war ein Triumph ohne Ehre. Die Niedergeschlagenheit wunderte ihn. Schließlich war er ein Meuchler. Ein Mörder, der noch nie gefragt hatte, ob eines seiner Opfer den Tod auch verdiente. Aber diese Bluttaten hatte er in aller Heimlichkeit begangen. Er hatte sie nur vor sich verantworten müssen.

Nie zuvor hatte er vor Publikum gekämpft. Sahen die anderen denn nicht, was er getan hatte? Rufus mochte ein aufbrausender Kerl mit üblen Manieren sein, aber im Kampf hatte er sich ehrenhaft verhalten.

Ilmari antwortete seinen vielen neuen Freunden nur mit knappen Worten. Er fühlte sich müde.

Plötzlich war da die Totenwäscherin. Ihr standen Tränen in den Augen. Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn an ihren ausgemergelten Leib. Dann küsste sie ihn.

Ein warmes, wohliges Gefühl machte sich in seinem Bauch breit. Er mochte den falschen Weg beschritten haben, doch das änderte nichts daran, dass er das Richtige getan hatte. Sie war unschuldig. Sie war immer ein Opfer gewesen.

Heute nicht!

Wahrer Reichtum

Narek starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Seine Hände tasteten nach dem Dolch, der so leicht seinen Bronzekürass durchdrungen hatte. Dann brach sein Blick, und Blut sprudelte über die goldene Rüstung. Ilmari hatte das nicht gewollt. Der Bauer hätte nicht sterben sollen. Sie beide waren Freunde gewesen … fast. Narek hatte ein reines Herz gehabt. Sein Blick … Er war so unendlich enttäuscht von ihm gewesen.

Ilmari schreckte hoch. Etwas hatte ihn berührt! War der Geist des Bauern zurückgekehrt, um sich … Ein schmales Gesicht beugte sich über ihn. Die Wäscherin. Sie tupfte ihm mit einem Tuch über die Stirn.

Ilmari war in Schweiß gebadet, wie immer, wenn die Albträume von der Schlacht kamen. Hatte er geschrien?

Die Wäscherin sah ihn traurig an. Dann streckte sie ihm eine Hand hin und nickte in Richtung der Tür. Was wollte sie?

Jetzt ergriff sie eine seiner Hände. Es lag etwas Flehendes in ihrem Blick. Etwas quälte sie. Und irgendwie schien sie zu hoffen, dass er sie erlösen könnte. Oder bildete er sich das alles nur ein? Er war nicht gut darin, Blicke und Gesten von ihr zu deuten. Doch das war alles, was er je bekommen würde. Es sei denn, er stand auf und ging mit ihr.

Er wollte nicht wieder schlafen. Nicht in den Albtraum zurück. Er wusste, das Grauen lauerte auf ihn hinter der Mauer des Schlafes. Und es würde wiederkehren. Es war besser, sich nicht in seine Arme zu werfen. Ilmari fühlte sich schwach. Der Kampf gegen Rufus hatte ihn mehr Kraft gekostet, als er zunächst hatte wahrhaben wollen.

Der Totenträger hielt die Hand der Wäscherin fest umschlossen und richtete sich auf. Seine Beine waren wie Blei. Die Wunden, die ihm die Messingbeschläge der Faustriemen eingebracht hatten, brannten. Und doch musste er lächeln. Der scheue Blick der Wäscherin, ihre eigenartige geduckte Haltung, als erwartete sie, für irgendetwas bestraft zu werden, all dies weckte in ihm den Instinkt, sie zu beschützen.

»Alles ist gut«, sagte er freundlich. Seine Stimme klang so rau, dass die Wäscherin zusammenzuckte.

Sie zog ihn zur Tür hin.

Ilmari hatte sich ein Quartier in den oberen Räumen des Totenhauses gesucht. Er schlief in einem der Archivräume neben einem Regal voller Tontafeln. Nun folgte er der Wäscherin hinaus in die große Eingangshalle. Er trat auf das Mosaik, das den gewaltigen, schäumenden Strudel zeigte, dessen Mittelpunkt die Öffnung der Treppe nach unten war.

Ilmari fühlte sich ein wenig benommen. Als er die Stufen der Wendeltreppe hinabstieg, ließ er eine Hand über den kühlen Stein des zentralen Stützpfeilers gleiten. Noch halb in seinem Traum gefangen, hatte er das Gefühl, im Strudel zu versinken, als er tiefer stieg.

Die Wäscherin brachte ihn in die Kammer, in der sie arbeitete und schlief. Sie kniete neben einer großen Wasserschüssel auf dem Boden nieder. Das Licht einer einzelnen Öllampe spiegelte sich im Nass. Bedächtig schob sie die Schüssel zur Seite, dann holte sie einen Bronzedolch, den sie in ihrem Lager verborgen gehalten hatte. Als sie zu der Schüssel zurückkehrte, wirkte sie zögerlich. Schon kniend sah sie zu Ilmari auf, und es kam ihm vor, als flehten ihre Augen um Verzeihung. Dann schob sie den schmalen Dolch in eine Spalte zwischen den Bodenplatten. Vorsichtig hebelte sie eine Platte hoch. Darunter war ein Loch, in dem es golden funkelte. Sie nahm die Öllampe und hielt sie so, dass Ilmari ganz deutlich sehen konnte, was sich in dem geheimen Versteck verbarg.

Dort lagen allerlei Armreife, Ringe und Broschen und zuoberst die prächtige Halskette, die verschwunden war.

Ilmari musste lächeln. Sie war also doch eine Diebin. Jetzt begriff er, warum sie so verzweifelt versucht hatte, ihn von dem Zweikampf abzuhalten. Sie hatte Todesangst um ihn gelitten. Würden die Götter sich wirklich für die kleinlichen Streitereien der Menschen interessieren, dann hätte er sterben müssen.

Eigentlich hätte er wütend sein sollen. Doch wie sie so vor ihm kauerte, geduckt und den Blick gesenkt, als erwartete sie, dass er sie für ihre Lügen schlagen würde, konnte er nicht anders, als sich vorzubeugen und sanft über ihr struppiges Haar zu streichen. Er würde ihr niemals etwas antun!

Als sie zu ihm aufsah, hob er einen Finger an die Lippen, um ihr zu bedeuten, dass er schweigen würde.

Ihre Augen weiteten sich. Die Wäscherin blickte so unendlich erleichtert und dankbar zu ihm auf, wie Ilmari in seinem ganzen Leben noch nicht angesehen worden war.

Dieser Blick … Nie zuvor hatte ihn ein Mensch so angesehen. So voller Wärme und Erleichterung. So glücklich. In diesem Moment begriff er, wie arm sein Leben trotz all der Reichtümer war, die er durch seine Bluttaten erworben hatte.

Er kniete nieder, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Ich werde bleiben und dich beschützen und all deine Geheimnisse mit dir teilen«, sagte er sanft.

Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Dann spürte er ihre Tränen auf seiner Haut. Eine Diebin und ein Mörder, dachte er. Sie passten zusammen. Vielleicht würden sie einander Frieden schenken können.

Ein verlorener Kampf

Wind vor regenschwerem Horizont glitt mit ruhigem Flügelschlag dem Sonnenuntergang entgegen. Hinter ihnen breitete die Nacht ihren dunklen Umhang über die Welt. Schon blitzte das erste Sternenlicht im samtenen Blau.

Artax war unruhig. Sie hatten gesiegt. Der Sohn der Göttin würde in einigen Stunden wieder aus seiner Lähmung erwachen. Die Daimonen hatten nur eine Felsklippe voller Ruinen erobert. Aber er, er hatte den höchsten Preis errungen. Das Traumeis! Er hatte es allen anderen entrissen. Es zu besitzen war das Einzige, das zählte.

Unruhig sah er zu den Wachen bei den Amphoren. Krieger aus Drusna und auch etliche seiner eigenen Männer standen dort. Er misstraute Volodi nicht, aber mehr Wachen waren besser. Er wünschte, sie wären schon in der Goldenen Stadt. Wünschte, die Götter würden ihm diesen Schatz und diese Bürde nehmen.

Wieder sah er auf zum Horizont. Der Tag verglühte wie ein ersterbendes Feuer. Die Nacht hatte fast schon gesiegt.

Jemand begann zu singen. Es war eine klare, helle Stimme. Artax verstand die Worte nicht, und doch berührte der Gesang ihn zutiefst. Es klang traurig. Wie ein Abschied.

Es ist ein Totenlied, sagte eine der Stimmen in seinem Kopf. Es war nicht der Aaron, der sich sonst zu Wort meldete und ihn so oft mit seinen gehässigen Kommentaren gequält hatte. Es sind die Heilkundigen Valesias, die dieses Lied erlernen. Wenn sie wissen, dass sie ihren Kampf verloren haben und der Tod nahe ist, dann singen sie es. Es soll den Sterbenden den Übergang ins große Dunkel erleichtern.

»Du bist anders …«

Wir waren nicht alle so wie dein Vorgänger. Er ist nur der mit der mächtigsten Stimme, weil er als Letzter hierherkam. Es gab auch weisere Herrscher als ihn.

»Aber warum sprecht ihr nicht zu mir?«

Vielleicht tun wir das, und du hörst unsere Stimmen nicht.

Das war Artax zu hoch.

Wenn du einen ganz neuen Einfall hast, einen Gedanken, der dir noch nie zuvor gekommen ist und der sich nicht aus der Summe der Erfahrungen deines Lebens erklären lässt, hast du dich dann noch nie gefragt, woher das kommt?

Artax gefiel das nicht. War dies eine neue, perfide Art, ihn zu quälen? »Du meinst, nicht all meine Gedanken sind wirklich von mir?«

Du hörst Stimmen in deinem Kopf. Wie kannst du da so eine naive Frage stellen?

»Ist sich unheimlich, dieses Lied.« Wie ein Geist war Volodi aus den Schatten des Flugdecks erschienen. Selten war Artax so froh gewesen, den Drusnier seine Sprache verdrehen zu hören. Er hatte sich in den letzten Wochen manchmal in Volodis Muttersprache mit ihm unterhalten. Sie war in ihm gewesen. Plötzlich …

Nein, nicht plötzlich. Immer schon, seit du zum Unsterblichen Aaron geworden bist.

Artax verbannte die Stimme. Er wollte keine Toten mehr hören. Nicht, solange dieses Lied erklang, das ihn so tief berührte.

»Sollte ich mich befehlen, still zu sein mit diesem Lied.«

Artax brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was sein Freund sagen wollte. »Nein. Sie nehmen Abschied von einem Sterbenden. Wir sollten uns da nicht einmischen.«

»Versteh ich mich nicht. Warum muss sich Sterbender als Letztes ein Geflenne solches anhören? Wenn sterbe ich, Quetzalli soll sein an meiner Seite. Soll sie mir flüstern in Ohr. Will ich mich hören Geschichten von besten Liebesnächten unseren. Ist sich sehr besonders mit ihr. Kann sie tun Dinge …« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich mich vermisse sie. Weißt du …«

Artax hob abwehrend die Hände. Er war sich ganz sicher, dass er nicht wissen wollte, was Volodi und Quetzalli in ihren besten Liebesnächten getan hatten.

Damit Volodi nicht auf die Idee kam, doch noch länger in Erinnerungen zu schwelgen, ging Artax in Richtung des kleinen Lagers für Verwundete, das Arcumennas Leute zwischen den fliegenden Bären aufgeschlagen hatten. Vielleicht war es auch einfach die Stimme, die ihn anzog. Dieses traurige Lied entsprach seinen Gefühlen. Er könnte ihm die ganze Nacht lauschen.

»Stören wir dich?« Arcumenna vertrat ihm den Weg. Etwas Herausforderndes lag in der Stimme des Feldherrn. Er hatte ihm wohl noch nicht verziehen, dass er den sinnlosen Kampf um die Ruinenstadt nicht hatte fortführen wollen.

»Ich mag das Lied«, sagte der Unsterbliche ruhig. Ihm war nicht nach kleinlichem Streit.

Volodi schob sich an seine Seite und bedachte Arcumenna mit einem finsteren Blick. Er wartete nur darauf, dass der Feldherr etwas Falsches sagte. Zu lange war Arcumenna der meistgehasste Mann in Drusna gewesen.

»Ihr seid gerne eingeladen, unseren Sterberiten beizuwohnen«, sagte Arcumenna frostig.

Artax atmete tief durch und blickte zu Volodi, doch der Drusnier hatte die Worte offensichtlich nicht als ironische Spitze empfunden.

Es waren nur wenige Verwundete auf das Schiff gebracht worden. Einige Krieger, die im Kampf gegen die Daimonen verletzt worden waren. Es war das letzte Lager, an dem der melancholische Sänger saß. Ein junger Mann mit schulterlangem, schwarzem Haar. Dieses Lager war abseits der anderen. Zwischen zwei geflügelten Bären, deren metallenes Fell Narben von den Hornsplittern aufwies, die der Meerwanderer verschossen hatte.

Nahe beim Sänger stand eine einzelne Öllampe. Artax sah die Tränen in den Augen des jungen Valesiers. Ein hagerer Mann tupfte mit einem Tuch über das Gesicht des Sterbenden. Es lag im Schatten, war kaum zu erkennen. Noch ein dritter Mann kauerte in stummer Trauer dort. Er hielt eine Hand des Verwundeten.

»Wer ist sich das?«

»Eine Heilerin …«

Lag da Bitternis in der Stimme des hartherzigen Feldherrn?

»Ist sich sehr beliebt?«

»Sie war einzigartig«, sagte Arcumenna mit rauer Stimme. »Es sind die Guten, die es immer zuerst erwischt. Sie ist zurückgegangen, um einen ihrer Kranken zu retten, als das Ungeheuer angegriffen hat. Sie hätte einfach fortlaufen können. Stattdessen hat sie sich der Gefahr gestellt wie eine Kriegerin … Sie wurde durchbohrt. Ihre Eingeweide sind zerfetzt. Eigentlich hätte sie schon tot sein sollen. Aber sie hört nicht auf zu kämpfen. Fast könnte man meinen, sie warte auf etwas. Als wollte sie noch Abschied nehmen …«

Artax musste unwillkürlich an die geheimnisvolle Heilerin denken, die ihn während des Feldzugs im ewigen Eis gerettet hatte. Er hatte sie nie gesehen, hatte in tiefer Bewusstlosigkeit gelegen, als sie um sein Leben kämpfte. Und er hatte sie trotz aller Mühen nicht finden können. Nur die Geschichten über sie. Ihren Mut, ihre Opferbereitschaft … So viele waren ihr begegnet.

»Wie heißt sie?«, fragte er leise, besorgt, das Sterbelied mit seinen Worten zu stören.

»Shaya«, raunte der Feldherr.

Für einen Moment lang stand Artax wie versteinert. Das konnte nicht sein! Das … Er beugte sich vor, hob die Öllampe auf und leuchtete ihr ins Gesicht. Sie war es! Die Lampe entglitt seinen Händen und schlug auf die Decken. Hastig hob sie der Alte, der Shayas Hand hielt, auf und bedachte ihn mit einem bösen Blick.

Artax schob ihn zur Seite, kniete sich nieder.

Das durfte nicht wahr sein! So grausam war das Schicksal nicht! So kurz er ihr Gesicht nur im Licht der kleinen Flamme gesehen hatte, es konnte keinen Zweifel geben. Es war seine Shaya! Und sie lag im Sterben. Ihr Gesicht war schmal und von Schmerzen gezeichnet.

Er nahm ihre Hand. Sie fühlte sich kalt an, als wäre das Leben schon von ihr gewichen.

»Shaya«, hauchte er in ihr Ohr. »Ich habe dich gefunden. Endlich. Ich …« Ihm versagte die Stimme. Heiße Tränen rannen über seine Wangen. Wie hatte er zu spät kommen können!

Sie schlug die Augen auf. Ein Lächeln lag in ihrem Blick. »Aaron …«, hauchte sie kraftlos.

»Sie kennt ihn«, hörte er Arcumenna hinter sich flüstern.

Volodi antwortete etwas, doch Artax hörte nicht hin. »Ich werde dich nie wieder gehen lassen, hörst du. Du wirst wieder gesund …«

Ein Zittern lief durch ihren Körper. Ihr Blick veränderte sich. Er hatte das Gefühl, als würde sie ihn um Verzeihung bitten. Arcumennas Worte drängten in seine Erinnerung und löschten jeden anderen Gedanken. Fast könnte man meinen, sie warte auf etwas. Als wollte sie noch Abschied nehmen …

»Du wirst nicht gehen!«, schrie er auf. Er wandte sich zu Volodi. »Das Traumeis! Hol einen Splitter davon. Wir werden sie damit heilen.«

Sein Freund folgte, ohne zu zögern, dem Befehl.

»Löse ihren Verband!«, herrschte er den hageren Mann an, der Shayas Stirn abgetupft hatte.

Der Heiler schüttelte den Kopf. »Das ist eine unnötige Qual. Sie ist nicht mehr zu retten. Ich werde das nicht tun.«

»Du wirst meinem Befehl gehorchen!« Artax vermochte seinen Zorn kaum zu bändigen. Fast hätte er den Mann geohrfeigt.

»Das ist der Unsterbliche Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe. Folge seinen Wünschen, Hattu«, sagte Arcumenna hinter ihnen.

»Ein unsterblicher Narr ist er«, murmelte Hattu, schlug aber die Decke zurück.

Artax zerriss es das Herz, als er den blutdurchtränkten Verband sah.

Der Heiler zog ein kleines Messer und durchtrennte die Leinenstreifen. Mit spitzen Fingern zog er sie zurück. Sie waren mit der Wunde verklebt. Als er sie schließlich gänzlich entfernt hatte, rann wieder Blut aus dem zerfetzten Bauch.

Hattu bedachte Artax mit einem vorwurfsvollen Blick.

Der Unsterbliche fühlte sich, als wäre ihm selbst eine Klinge in die Eingeweide gerammt worden. Es war nicht das erste Mal, dass er eine solche Verletzung sah. Seine Finger schlossen sich fest um Shayas Hand.

Der Blick der Prinzessin war leer. Ihre Augen waren noch offen, doch sie war nicht mehr hier.

Eilige Schritte erklangen auf dem Holzdeck. Volodi brachte ihm einen Kristallsplitter, etwa so groß wie sein kleiner Finger. Behutsam legte ihn Artax in die offene Wunde und drückte ihn in das geschundene Fleisch.

Shaya zuckte zusammen. Für einen Herzschlag wurde ihr Blick wieder klar. Er war voller Schmerz.

»Es wird gleich wieder gut«, stammelte Artax. »Er wird dich heilen, der Kristall. Er hat magische Kräfte. Du wirst sehen … Du brauchst nur ein wenig Zeit. Vertraue mir. Ein wenig Zeit …«

Hattu schnalzte abfällig mit der Zunge. »Heilende Kristalle«, murmelte er. »Bauernaberglaube!« Dann wandte er sich zu dem jungen Heiler, der verstummt war. »Sing weiter, Enak. Er tut alles, um sie noch schneller durch das letzte Tor zu geleiten.«

Artax blickte auf die schreckliche Wunde. Er hatte erwartet, dass etwas zu sehen sein würde. Ein Leuchten wie das Licht der Grünen Geister. Oder dass die Wunde sich vor seinen Augen wie von Zauberhand berührt verschloss. Doch gar nichts geschah … Er musste sich gedulden, ermahnte er sich. Die Macht des Kristalls brauchte wohl ein wenig. Sie hatte Kolja einen neuen Arm wachsen lassen!

»Bitte, Shaya, halte durch. Der Kristall wird dich retten …« Ihr Blick war wieder leer geworden. Plötzlich hatte Artax das Gefühl, als würde das traurige Lied des Jungen Shaya mit sich ziehen.

»Still!«, fuhr er den Sänger an.

»Ihr Atem geht immer flacher«, sagte Hattu und klang dabei seltsam friedlich, so, als hätte er das schon unzählige Male erlebt. »Ihr solltet jetzt von ihr Abschied nehmen, Unsterblicher. Es ist fast vorüber.«

Das konnte er nicht! Artax tastete nach der Wunde. Nichts geschah! Das Traumeis half nicht. In verzweifelter Wut ballte er die Fäuste. Dann schrie er den Namen des Löwenhäuptigen heraus. Sollte er kommen! Er war ein Gott. So lange schon diente Artax ihm und hatte nie um etwas gebeten. Sollte der Devanthar erscheinen und Shayas Leben retten.

Als nichts geschah, ließ Artax die Hand der Prinzessin los. Er konnte nicht einfach hilflos neben ihr sitzen und zusehen, wie ihr Leben verrann. Wenn sie gehen musste, dann würde sie das nicht allein tun. Er könnte es nicht ertragen, sie noch einmal zu verlieren.

Er stand auf und ging.

Volodi griff nach seinem Arm und wollte ihn zurückhalten, doch er streifte die Hand des Freundes ab. »Ich will allein sein«, sagte er barsch. »Sorge dafür, dass mir niemand folgt!«

Entschlossen ging Artax auf das Ende des Flugdecks zu. Er konnte es nicht ertragen, sie gehen zu sehen und hilflos zu sein. Aber wenn sie sterben sollte, dann wäre er an dem Ort, zu dem sie hingehen würde. Er würde sie erwarten. Er wollte nie wieder ohne sie sein.

Ein Leben für ein Leben

Er stand am Rand des Flugdecks. »Komm! Tu es sofort, oder alles wird enden, wie es begonnen hat, mit einem Sturz aus dem Himmel!«

Artax blickte wild um sich, doch der Löwenhäuptige war nicht da. Nur einige Wachen und Wolkenschiffer blickten verstohlen zu ihm herüber. Volodi hob den Arm und hielt sie zurück. Niemand bewegte sich oder wagte es auch nur, ihn anzusprechen. Er war ein Unsterblicher. Was er tat und warum, war normalen Menschen ein Rätsel.

»Wenn sie stirbt, dann endet auch mein Leben.«

Gleißendes Licht flutete das Deck. Erschreckte Rufe erklangen. Ein Schatten wurde aus dem Licht geboren. Eine mächtige Gestalt mit einem Löwenkopf trat Artax entgegen.

»Findest du das nicht ein wenig melodramatisch?« Der Löwenhäuptige bleckte die Zähne. Wenn das ein Lächeln sein sollte, dann fehlte ihm jede Warmherzigkeit.

»Ich hatte dich gerufen, aber du hast mich nicht gehört.«

Der Devanthar schüttelte sein mächtiges Haupt. »Nein, Aaron. Ich habe dich gehört, aber ich bin nicht gekommen.«

»Aber du musstest kommen …«

»Du glaubst, du kannst mir, deinem Schöpfer, deinen Willen aufzwingen?« Der Löwenhäuptige machte einen Schritt auf ihn zu. »Hältst du es für weise, mich zu verärgern, wenn du etwas von mir willst?«

»Bitte, ich brauche sie …«

»Du bist eine ganze Weile ohne sie ausgekommen.« Der Devanthar trat bis ganz an die Kante des Decks und sah hinab.

Etwa eine halbe Meile unter ihnen schimmerte das Meer silbern im Licht der Zwillingsmonde.

»Du bist anstrengend, Artax. Glaubst du, mir ist entgangen, dass du den Tod suchst, seit sie fort ist. Du lieferst dir Luftkämpfe mit Daimonen. Du spielst dich noch mehr als Held auf als sonst … Tief in deinem Herzen möchtest du, dass es vorbei ist, nicht wahr?«

Artax senkte den Blick. Es war sinnlos, einen Gott belügen zu wollen. »Ohne Shaya ist mein Leben voller Schatten.«

»Phrasen! Leeres Gewäsch! Aber du glaubst daran.«

Grollend legte ihm der Devanthar seine große Hand auf die Brust. Ein kleiner Stoß von ihm, und er würde hinab ins Meer stürzen. Artax sah zu den Kriegern und Wolkenschiffern. Sie waren außer Hörweite, konnten aber gut sehen, was vor sich ging. Alle waren sie demütig niedergekniet. Nun senkten sie die Häupter, wagten es nicht, diesen zornigen, löwenhäuptigen Gott länger anzuschauen. Nur Volodi stand noch. Seine Hand lag auf dem Schwertgriff. Hoffentlich beging er keine Dummheit.

»Du hast mich oft überrascht, Artax. Du bist ein Mann von Macht geworden. Ein Mann mit Visionen.« Der Devanthar schnalzte mit der Zunge. »Die Hälfte der Zeit geht dir zwar unrealistischer Unsinn durch den Kopf, aber du hast die Gabe, andere für dich und deine verrückten Ideen zu begeistern. Du hast tatsächlich begonnen, die Geschicke dreier Welten durch deine Taten zu verändern. Es wäre sehr bedauerlich, müsste ich mich von dir trennen. Wenn du nur noch eine Stimme im Kopf irgendeines arglosen Tropfs wärst, den ich zu deinem Nachfolger mache, würde ich viel verlieren. Andererseits, wer braucht einen Diener, der versucht, seinen Herrn zu erpressen?«

»Bitte, ich tue alles, was du willst … Ich …« Die Hand des Devanthar schloss sich um Artax’ Kehle. Der Löwenhäuptige hob ihn hoch. Seine Füße baumelten nun über dem Abgrund.

»Ich spüre, wie dieser verdammte Wolkensammler darüber nachdenkt, mich anzugreifen, um dich zu retten. Und dieser dämliche Drusnier hat gerade sogar schon sein Schwert gezogen.«

Der Devanthar stieß einen langen Seufzer aus und setzte ihn wieder ab. »Wie machst du das bloß, Artax? Sogar die Bestien Nangogs mögen dich.« Er lachte leise. »Ein Gedanke von mir, und dieses Vieh wäre tot. Und ihr alle würdet mit dem Wolkenschiff ins Meer stürzen. Und das Traumeis wäre verloren … Ich bin geneigt, dich am Leben zu lassen, obwohl du mich wirklich verärgert hast.«

Das war nicht, was Artax wollte. »Ich werde …«

Der Devanthar hob gebieterisch die Hand. »Stell mir nicht schon wieder irgendein Ultimatum. Selbst meine Geduld kennt Grenzen. Ich werde Shaya retten, aber dein Preis ist, dass du von nun an ein gefügiger Diener sein wirst. Du wirst keine tollkühnen Angriffe mehr anführen. Deine Spiele mit dem Tod müssen endgültig vorbei sein.«

»Wenn Shaya lebt, habe auch ich allen Grund, mein Leben zu lieben.«

Der Devanthar sah ihn durchdringend an. »In diesem Augenblick bleiben ihr noch drei Herzschläge.«

Ohne zu zögern, trat Artax an den Rand des Flugdecks. Er war es leid, zu betteln und zu feilschen. Entschlossen tat er den Schritt in den Abgrund.

Eine Hand packte ihn im Genick, wie man einen jungen Welpen packte. »Du sollst deinen Willen bekommen, Sterblicher.«

Eisige Kälte ging von der Hand aus, die ihn hielt. Etwas hatte sich verändert. Aus den Augenwinkeln sah er Volodi. Er hatte den Mund weit aufgerissen und stürmte vorwärts. Doch nichts bewegte sich mehr. Die Wolkenschiffer und Wachen waren erstarrt. Einige Tentakel, die zur Mitte des Flugdecks hin griffen, als wollten sie den Devanthar ergreifen, verharrten reglos in der Luft.

»Ihr bleiben noch zwei Herzschläge. Das war selbst für mich knapp. Ich habe uns ein wenig Zeit verschafft. Doch nicht viel. Die Magie der Welt bäumt sich gegen uns auf. Es ist nie gut, die natürliche Ordnung zu stören. Komm jetzt!« Er ging zwischen den reglosen Gestalten auf dem Flugdeck hindurch zu Shayas Lager. Dort kniete er nieder. Seine Hand strich über die Wunde. Er zog das Traumeis heraus. »Du hast es nicht verstanden, nicht wahr?«

Artax war wie in Trance. Alles war so unwirklich. Die erstarrte Welt. Die Macht der Devanthar. Er hatte sich gegen einen Gott aufgelehnt. Das war ein Fehler, für den er bezahlen würde, da war er sich jetzt ganz sicher. »Was hab ich nicht verstanden?«

Der Löwenhäuptige hielt das Traumeis hoch. »So kann man es nicht nutzen. Da muss ein Wille sein, um zu formen. Sterbende haben dazu nicht mehr die Kraft. Jedenfalls nicht, wenn sie dem Tod schon so nahe sind wie deine Prinzessin. Verstand und Wille sind die Schlüssel. Wer diese Schlüssel nicht besitzt, für den ist das Traumeis nichts weiter als ein Kristall.« Er drückte Artax das Traumeis in die Hand. »Bewahre es für mich, Unsterblicher.«

Artax’ Hand schloss sich um den Kristall. »Aber du wirst …«

»Ich stehe zu meinem Wort!« Die goldenen Löwenaugen ruhten auf dem Unsterblichen. »Wir brauchen dich. Du bist der eine, der die sieben zusammenhält. Ich hoffe, auch du hältst dein Versprechen. Versuche nie wieder, in den Tod zu fliehen.«

Artax nickte, und der Devanthar griff mit der Rechten nach einer Hand des Sängers. Die Linke legte er auf Shayas klaffende Bauchwunde.

Etwas erglühte in der Steppenreiterin. Ein grelles weißes Licht durchdrang ihren Körper von innen heraus. So hell war es, dass ihre Knochen als Schatten zu sehen waren. Ein grässliches Stöhnen entwand sich ihrer Kehle. Ihr Kopf sackte in den Nacken, und eine Säule weißen Lichts schlug aus ihrem Mund.

Artax musste die Augen schließen, doch selbst durch die geschlossenen Lider sah er noch das Leuchten, das Shaya durchdrang. Und dann war da plötzlich Finsternis. Und der Gestank von verbranntem Fleisch.

Blinzelnd versuchte Artax, etwas zu erkennen. Seine Augen tränten und schmerzten, als wären sie von glühenden Eisen berührt worden. »Shaya«, flüsterte er.

»Ein Leben für ein Leben, Unsterblicher. Das ist der Preis für das, worum du mich gebeten hast. Ihr Gefäß war leer. Ich musste es wieder füllen …« Die Stimme verging wie ein fernes Echo. Der Devanthar war verschwunden.

Gegenwart stürzte auf Artax ein. Sein Blick war noch immer von Tränen verschleiert. Er spürte Bewegung mehr, als dass er sie sah.

»Was hast du getan?«

Das war die Stimme des alten Heilers.

»Bei den Göttern, Unsterblicher, was hast du Enak angetan?«

Artax wandte den Kopf. Jemand hielt eine Öllampe dicht vor das Gesicht des Sängers. Rauch stieg aus dem offenen Mund des jungen Mannes. Er stank nach verbranntem Fleisch. Jetzt spürte Artax die Hitze, die von dem toten Körper ausging.

»Was …«

»Schweig!«, fuhr Arcumenna den Heiler an. »Schweig und lerne. So ist es, wenn du einem Unsterblichen nahe kommst. Glaubst du, sie seien noch wie wir, Hattu? Du bist der Narr hier, denn du hast Aaron, den Herrn der Schwarzköpfe, gereizt. Nun schweig still!«

Die Schleier vor Artax’ Augen lichteten sich. Shayas Wunde hatte sich geschlossen. Sie wirkte erholt, als läge sie in tiefem Schlaf. Doch der Sänger. Er war nur noch eine ausgebrannte Hülle.

Er musste sie von hier fortbringen, dachte Artax. Sie dem Hass Hattus entziehen. Sie war unschuldig. Sie sollte nicht wissen, welchen Preis er für sie gezahlt hatte. Er beugte sich vor und schloss sie sanft in die Arme. Dann hob er sie hoch. Es tat so gut, ihren warmen Körper zu spüren. Zu sehen, wie sich ihre Brust unter regelmäßigen Atemzügen hob und senkte.

Er hatte sie zurück, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Sie war ein Geschenk der Götter, und er würde sie nie wieder ziehen lassen!

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Volodi das Zeichen des Horns schlug. Das Zeichen, um Böses von sich fernzuhalten.

Er war ein Barbar, dachte Artax. Der Drusnier hatte nicht begriffen, was geschehen war. Sie alle konnten es nicht verstehen. Der Löwenhäuptige war aus der Zeit herausgetreten. Nur er, Artax, war Zeuge des grausamen Wunders gewesen.

Er hielt Shaya fest umklammert und zog sich dorthin zurück, wo das Traumeis war. Dorthin, wo seine Wachen standen und die silbernen Löwen nah waren. Er wusste, es würde geredet werden. Aber diesmal würde er es ignorieren. Es würde nicht sein wie beim letzten Mal. Er würde Shaya nie wieder dem Gerede jener opfern, deren Geist zu beschränkt war, um die Wahrheit zu sehen.

Ein Schatten zwischen Schatten

Sie hatte ihn gespürt. So deutlich, wie sie Kleider auf ihrer Haut spürte. Jetzt war er wieder fort. Hatte auch er ihre Gegenwart bemerkt? Auf dem Flugdeck unter ihr war es unheimlich still. Der Sänger, dem sie seit Einbruch der Dämmerung gelauscht hatte, war verstummt.

Nandalee hielt den Kopf gesenkt. Sie war nur ein Schatten zwischen Schatten. Er durfte sie nicht finden. Sie würde hier sitzen bleiben und sich vom Schiff schleichen. Jetzt zu versuchen, an das Traumeis zu gelangen, war zu gefährlich.

Sie hatte die Wolkenschiffer belauscht. Sie glaubten, in spätestens vier Tagen in der Goldenen Stadt zu sein. Dann würde sie zuschlagen. Zwei oder drei Kristalle. Mehr würde sie nicht nehmen. Einen für Meliander, einen für Eleborn und einen für die Unwägbarkeiten, die die Zukunft verbarg. Sie war nicht gierig.

Sie legte die Hände auf ihre Knie. Sie wollten einfach nicht aufhören zu zittern. Mit jeder Faser ihres Körpers hatte sie die Macht des Devanthar gespürt. Er hatte den Lauf der Welt angehalten und sich gegen den Tod aufgelehnt. Warum hatte er das getan? Der Dunkle hatte sie eindringlich vor dieser Spielart des Zauberwebens gewarnt. Vor der Dunkelheit, die solche Zauber anzogen. Sie wusste nur zu gut um den Schatten, der auf der Seele Bidayns lag. Diesen Schatten hatte ihre Freundin aus Nangog mitgebracht. Er war an jenem Tag auf sie gefallen, als auch sie den Lauf der Zeit verändert hatte.

Solche Taten zogen Tragödien nach sich. Keiner, der damals zugegen gewesen war, war glücklich geworden.

»Gonvalon«, flüsterte sie leise. Die Leere, die er in ihr hinterlassen hatte, hatte sie nie wieder füllen können. Selbst Emerelle und Meliander vermochten ihr nicht zu geben, was sie an ihm verloren hatte. Manchmal, wenn sie aus tiefen Träumen erwachte, hatte sie das Gefühl, dass er noch neben ihr lag. Sie tastete dann nie mit der Hand zur Seite. Sie genoss den Augenblick der Illusion. Manchmal war ihre Einbildungskraft so stark, dass sie glaubte, ihn zu riechen und die Wärme seiner Hände auf ihrer Haut zu spüren.

Wenn das Schicksal ihr gnädig war, schlief sie dann, in wohlige Erinnerungen gehüllt, noch einmal ein, und er begegnete ihr im Traum. Doch Gnade war selten.

Ob sie den Menschenkindern zuteilwerden würde, die zugegen waren, als der Devanthar sich an der Ordnung der Welt verging? Wohl kaum. Auch auf ihre Seelen würde ein Schatten fallen, da war sie sich sicher.

Das Glück auf dem Ankerturm

Volodi war unendlich erleichtert, als er die Ankertürme der Goldenen Stadt am Horizont sah. Schnell kamen sie näher. Eine beklemmende Stimmung lag über dem Schiff. Die Valesier hatten sich abgesondert. Sie sprachen kaum noch mit den anderen Besatzungsmitgliedern. Neue Geschichten über König Geisterschwert machten die Runde. Geschichten, die noch düsterer waren als jene, die man sich über die Eroberung des Steinhorsts erzählte.

Volodi war damals ein Gefangener der Zapote gewesen. Er hatte keinen Anteil an der Schlacht gegen die rebellischen Satrapen Bessos und Eleasar gehabt. Und er hatte die Geschichten über Aarons Bluttaten nie glauben wollen. Doch jetzt war er sich nicht mehr sicher.

Sein Freund hatte das Leben Shayas gegen das des Heilers Enak eingetauscht. Daran konnte kein Zweifel bestehen.

Shayas raues Lachen hallte über das Flugdeck. Sie wusste wohl nicht, was geschehen war. Sie und Aaron sahen glücklich miteinander aus. Beide ignorierten die verstohlenen Blicke, die ihnen folgten. Oder waren sie in ihrem Glück blind geworden?

Hörner erklangen in der fernen Stadt. Sie waren gesichtet worden.

Volodi dachte an Quetzalli. Es war unverzeihlich, was er ihr angetan hatte. Jetzt, mit etwas Abstand, konnte er sich nicht mehr erklären, was er an Anisja gefunden hatte. Quetzalli war die eine, die er begehrte wie keine andere. Wie hatte er nur ein solcher Dummkopf sein können?

Seit Tagen hatte er sich eine Rede für sie zurechtgelegt. Er würde sie zurückerobern. Auf Knien würde er sie um Verzeihung bitten, selbst wenn der ganze Hofstaat dabei zusah. Er war entschlossen, sich auch sein Glück zurückzuerobern. Und es war ihm egal, was die anderen über ihn reden würden.

Volodi schloss die Augen. Er genoss den Wind auf seinem Antlitz und dachte daran zurück, wie er Quetzalli zum allerersten Mal begegnet war. Sie hatte ihm auf einem Markt der Goldenen Stadt zugelächelt, und er war ihr vom ersten Augenblick an verfallen gewesen, ohne zu ahnen, dass sie eine Menschenfängerin für die blutgierige Priesterschaft der Zapote gewesen war. Seit damals waren sie beide einen langen Weg gegangen.

Stumm betete Volodi zum Großen Bären, flehte den Devanthar darum an, dass Quetzalli sich in diesem Augenblick ihren geliebten Federumhang um die Schultern warf, Wanya auf den Arm nahm und über den Hof des Palastes zum Ankerturm eilte. Wenn sie dort oben auf ihn wartete, dann würde alles wieder gut werden.

Er wagte es nicht, die Augen wieder zu öffnen, aus Angst, der Enttäuschung ins Angesicht zu sehen. Er kannte Quetzalli nur zu gut. Zu vergeben gehörte nicht zu ihren Stärken.

Der Unsterbliche spürte, wie der Flügelschlag von Wind vor regenschwerem Horizont langsamer wurde. Deutlich hörte er jetzt auch das Plätschern und Knarren der großen Wasserräder der Stadt. Die Decksoffiziere riefen Befehle, die Ankertaue bereitzuhalten.

Es war töricht, es noch länger herauszuzögern, dachte Volodi bitter. Er musste sich den Konsequenzen seines Fehltritts mit Anisja stellen. Hoffentlich ließ Quetzalli ihm wenigstens Zeit mit Wanya. Er hatte den Jungen vor dem Aufbruch sträflich vernachlässigt. Er durfte seinen Sohn nicht nur den Weibern überlassen. Er sollte sich Zeit für ihn nehmen, ihn ein wenig Honigbier von seinen Fingern lecken lassen, damit er lernte, was gut war. Ihm gefiel der Gedanke, mit Wanya auf dem Schoß auf dem Hochsitz im Langhaus zu sitzen.

Ein Lächeln stahl sich auf die Lippen des Unsterblichen, und er öffnete die Augen. Der Ankerturm lag weniger als hundert Schritt steuerbord von ihm. Deutlich sah er Oleg, eine Schar von Kriegern und Hofbeamte. Den schillernden Federmantel Quetzallis sah er nicht.

Er straffte sich, kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals. Er hatte es geahnt. Sie war zu tief verletzt. Und das war ganz und gar seine Schuld. Wie hatte er Trottel darauf hoffen können, sie auf dem Turm zu sehen? Er würde sich ihre Liebe wieder verdienen müssen.

Auf den anderen Ankertürmen seines Palastes wurden Hörner geblasen, um ihn zu grüßen. Früher war er stolz gewesen, wenn er so empfangen worden war. Jetzt fühlte er gar nichts. Seine Seele war taub vom Schmerz, den er Quetzalli zugefügt hatte.

Schillerndes Rot drängte sich zwischen den Höflingen auf der gewundenen Außentreppe des Ankerturms hindurch. Ein Umhang aus den Federn dieser widerborstigen Vögel, die die Zapote so gerne in ihren Häusern hielten. Offenes Haar, schwarz wie die Nacht, breitete sich über das Rot. Quetzalli! Sie war doch gekommen. Mit Wanya im Arm erreichte sie die Plattform des Ankerturms. Volodi konnte sehen, wie sehr sie außer Atem war.

Das Wolkenschiff war keine zwanzig Schritt mehr entfernt. Tentakel griffen nach den schweren, goldverkleideten Balken, die aus dem Mauerwerk ragten.

Volodi hatte nur Augen für Quetzalli. Ihre Wangen waren rot. Sie musste gelaufen sein, um noch rechtzeitig die Turmspitze zu erreichen. Sie hob den freien Arm und winkte ihm.

Volodi atmete schwer aus. Er konnte sich nicht erinnern, in seinem Leben jemals so erleichtert gewesen zu sein. Dort oben auf dem Ankerturm stand das Glück, und es winkte ihm zu.

Nur ein Schritt

Quetzalli machte einen weiten Schritt von der schwingenden Laufplanke, die das Schiff mit dem Ankerturm verband, und hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Volodi nahm sie in die Arme, kaum dass sie einen Fuß an Deck gesetzt hatte. Er küsste sie leidenschaftlich vor aller Augen. Sie ließ sich fallen, genoss es, in seinen starken Armen geborgen zu sein. So leidenschaftlich war er schon lange nicht mehr gewesen.

»Es tut gut, dich zu sehen«, hauchte er ihr ins Ohr. »Bitte verzeih mir meine Dummheit. Ich habe es bereut. Ich …«

Sie legte ihm sanft die Hand auf die Lippen. »Wie könnte ich verzeihen, was ich vergessen habe.« Sie lächelte und befreite sich aus seiner Umarmung. Immer noch hielt sie Wanya an sich gedrückt.

Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück. Sie war sich bewusst, dass sie angestarrt wurden. Eine so leidenschaftliche Begrüßung ziemte sich nicht für ein Herrscherpaar. Zwischen den Höflingen, die ebenfalls an Bord gegangen waren, entdeckte sie auch Yuri, der ihnen mit kalten Augen zusah. Da war sie wieder, die Wirklichkeit. Nichts war mehr so, wie es noch vor einem Mond gewesen war. Bevor die Daimonen den Palast angegriffen hatten. Nicht Volodi war es gewesen, der ihr Leben zerstört hatte. Nicht einmal Yuri. Sie hatte es getan. Ihre Angst hatte ihre Zukunft gefressen. Wäre sie doch nur nicht in den Versorgungstunnel geflohen. Sie hätte einfach nur im Langhaus ausharren müssen, und alles wäre gut gewesen.

»Komm, lass uns wo hingehen, wo wir nicht allen im Weg stehen«, sagte Volodi sanft und führte sie hinab auf das Flugdeck des Wolkenschiffs.

Quetzalli genoss es, ihn zu betrachten. Seinen großen, muskulösen Leib. Sein edel geschnittenes Gesicht, die tiefblauen Augen und das Haar, hell wie Sonnenstrahlen an einem Sommernachmittag. Sie hatte sich in ihn verliebt, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Auch wenn sie es sich damals noch nicht eingestanden hatte. Er war ein guter Mann gewesen. Er war gekommen, um sie aus der Sklaverei der Jaguarmänner zu befreien. Er hatte nie gefragt, was sie ihr angetan hatten, und er hatte ihr verziehen, dass sie versucht hatte, ihn zu den Opferaltären ihres Volkes zu locken. Sie wusste, wie wenige Frauen in ihrem Volk das Glück hatten, einen Mann zu finden, der so zu ihnen stand, wie Volodi immer zu ihr gestanden hatte. Ihr Glück hätte nur ein weniger länger dauern dürfen …

An seiner Seite schritt sie zwischen den Reihen von geflügelten Löwen und Bären hindurch zum Ende des Flugdecks. Sie hatte gute Jahre mit Volodi gehabt. Sie durfte ihm jetzt nicht zur Last werden. Was mit Wanya geschehen war, würde für immer als ein Schatten über seinem Königtum liegen. Entweder würde es heißen, die Zapotehexe habe die Seele des Königssohns geopfert, oder aber, der König sei schwach und seine Schwäche würde sich in dem Kind zeigen, das er gezeugt hatte. Yuri würde sie vielleicht loswerden können, aber andere würden dem Heiler folgen. Es wäre ein Kampf, der niemals enden würde. Wenn sie ihn wirklich liebte, dann durfte sie nicht zulassen, dass seine Herrschaft in den Schmutz gezogen wurde. Sie blieb stehen.

»Umarme mich, mein Geliebter«, sagte sie voller Wärme.

Volodi sah sie verwundert an. »Was ist los mit dir?«

»Es tut mir leid, dass wir gestritten haben. Wegen nichts …«

Er senkte den Kopf. Sie konnte sich vorstellen, was er jetzt dachte. Es war nicht ganz nichts. Es hatte die eine Liebesnacht mit Anisja gegeben, doch was bedeutete das schon?

»Ich …«, begann er, doch sie brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen. Sie wollte nichts mehr von dem hören, was zwischen ihnen gestanden hatte.

Lange verharrten sie eng umschlungen. Wanya zwischen sich. Sie drei waren eins. Ein letztes Mal.

Es fiel Quetzalli schwer, sich aus der Umarmung zu lösen. So gerne wäre sie mit ihm den Ankerturm hinabgestiegen. Sie hätten sich zusammen in ihren Gemächern im Langhaus eingeschlossen. Sie wären einfach nur für sich allein gewesen, wie damals, als sie sich in den Wäldern Drusnas versteckt hatten.

Quetzalli tastete nach dem Buchenholzstab, den sie sich in den Gürtel geschoben hatte. So viele Stunden hatte er sie gekostet. Doch jede einzelne war es wert. Er war jetzt über und über mit Schnitzereien bedeckt. Der Stab würde Volodi in den dunkelsten Stunden ein Licht sein. »Dies ist mein Geschenk an dich. Es erzählt von einer geheimen Geschichte.«

Volodi nahm das Kleinod entgegen und betrachtete es bewundernd. Seine Finger glitten über die Schlangen und Fabelwesen, die das helle Holz schmückten, die Zeichen und Symbole, die allein die Priester der Zapote zu deuten wussten.

»Er ist schön«, sagte er anerkennend. Er deutete auf eine Schlange, aus deren Schlund ein Frauenleib ragte. »Und ein wenig unheimlich.« Er lächelte. »Er passt zu dir, meine blutgierige Priesterin.«

Sie schluckte. Das wollte sie nicht hören. Nicht jetzt …

»Es war ein Scherz«, sagte er hastig. Er schien in ihrem Gesicht gelesen zu haben. Er kannte sie so gut. Sie seufzte. Sie schmeckte noch seine Küsse auf ihren Lippen. Eng drückte sie Wanya an ihre Brust. »Bitte, versprich mir eins, Volodi, vergiss niemals, was ich dir nun sage.«

Er legte die Stirn in Falten. »Was …«

»Ganz gleich, was du über mich hören wirst, all meine Taten wurden aus Liebe zu dir geboren.« Sie wich vor ihm zurück. Einen Schritt. Zwei …

Erst sah er sie nur verwundert an. Dann weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. »Nicht!«

Sie machte noch einen Schritt und trat ins Leere. Sie hielt Wanya eng umschlungen, als sie fiel. Die Zeit schien langsamer zu laufen. Überdeutlich sah sie die Höflinge und Lastenträger auf der Treppe des Ankerturms. Den Schrecken in ihren Gesichtern.

Sie stürzte, ohne zu schreien. Sie war eine Priesterin der Zapote. Beherrscht bis in den Tod. Beherrscht bis …

Am Rand des Flugdecks erschien Volodi. Das Grauen, das sie in seinen Zügen sah, brach ihr das Herz. Und doch, sie hatte keine andere Wahl gehabt. Sie bedauerte nichts.

»Lebe wohl, mein wunderschöner M…« Der Aufprall löschte all ihre Ängste.

Kampf um den Himmel

Artax sah Volodi am Abgrund schwanken. Er ließ Shaya los und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, über das Flugdeck. Als er seinen Freund beim Umhang packte, wollte der Drusnier gerade den Schritt tun, der ihn von Quetzalli trennte.

»Nicht!« Artax zerrte ihn zurück und warf ihn zu Boden. Er kniete sich auf Volodis Brust, drückte ihn mit aller Kraft auf das Deck. Sein Freund machte keine Anstalten, Widerstand zu leisten.

»Warum …« Volodis Stimme war ohne jede Kraft. »Sie hatte mich gerade noch geküsst … Alles war gut. Ich konnte es deutlich spüren. Alles war gut …« Immer und immer wieder sprach er diese drei Worte, als wären sie eine Zauberformel, die Quetzalli und Wanya zurück ins Leben holen könnte.

Artax wusste nicht, was er sagen sollte. Es gab keine Worte, die ihm Trost spenden konnten. Er legte Volodi einfach nur die Hand auf die Schulter und hörte ihm zu.

»Alles war gut …«

Das Wolkenschiff erbebte. Schreie gellten vom Palasthof. Verwundert blickte Artax auf. Etwa zweihundert Schritt entfernt lag ein anderer Wolkensammler vertäut. Er trug ein großes Lastschiff. Die Tentakel der Kreatur lösten sich von den Strebebalken des Turms. Fanghaken durchtrennten Ankerleinen. Tentakel griffen nach Wolkenschiffern, um sie von Bord zu zerren und in den Palasthof hinabzuschleudern.

Hörner erklangen südlich des Palastes.

»Bei den Göttern …« Shaya deutete nach Süden. Überall in der Stadt lösten sich Wolkensammler von den Ankertürmen. Einige bekämpften sich gegenseitig. Überall waren Todesschreie zu hören.

Ein Fangarm schlang sich um den Hals von Artax. Etwas drang in ihn ein. War in seinen Gedanken.

Shaya zog das Schwert, das er am Gürtel trug. Sie holte aus, um den Tentakel zu durchtrennen.

»Nicht!« Etwas versuchte, Worte in seinen Gedanken zu formen. Wind vor regenschwerem Horizont, er wollte ihm etwas mitteilen.

Der Hof … Alle müssen fort …

»Shaya, bleibt bei Volodi!« Der Unsterbliche sprang auf. Der Tentakel um seinen Hals löste sich nicht. Wie ein angeleinter Hund fühlte er sich, schob den Ärger beiseite und lief zur Reling.

»Räumt den Hof! Sofort!«, schrie er hinab. »Im Namen der Götter! Räumt den Hof.« Und dann sah er, warum Wind vor regenschwerem Horizont ihm diesen Gedanken gegeben hatte. Der Wolkensammler am anderen Ende des Palasthofs hielt sich nur noch mit wenigen Tentakeln am Ankerturm fest. Er schwang im Wind herum in ihre Richtung. Und er hatte begonnen, die mit Kupferdrähten verstärkten Seile zu durchtrennen, die das schwere Lastschiff an seinen Leib fesselten.

»Das Schiff, es wird in den Hof stürzen!«, rief Artax, doch seine Stimme ging im allgemeinen Geschrei unter. Jetzt hatten die Drusnier auch bemerkt, was vor sich ging. Sie liefen in alle Himmelsrichtungen auseinander. Nicht schnell genug.

Das große Wolkenschiff stürzte in die Tiefe und begrub etliche der einfachen Ziegelbauten, die als Lagerhäuser dienten, unter sich. Der halbe Hof verschwand unter dem Wrack. Drei der seitlich aus dem Rumpf ragenden Masten zerschmetterten das Dach des Langhauses.

Fassungslos betrachtete Artax das Chaos. Fangarme des tobenden Wolkensammlers griffen nach Überlebenden auf dem Ankerturm, an dem eben erst Volodis Schiff angelegt hatte. Sie schleuderten die Menschen hoch in den Himmel hinauf, sodass die Unglücklichen auf den Dächern und Gassen der Stadt zerschmettert wurden.

»Was geht hier vor sich …«

Es war mein Fehler, hauchte die Stimme von Wind vor regenschwerem Horizont in seinen Gedanken. Ich habe ihnen gesagt, dass wir das Traumeis geborgen haben und sie alle sich verändern können. Dass wir noch heute damit beginnen würden … Dass sie fliegen könnten, so wie ich, statt nur vor dem Wind zu treiben.

»Du hast es allen gesagt? Wann? Wie?«

Wir reden in Gedanken miteinander, so wie ich nun mit dir spreche. Doch ich muss sie nicht berühren. Wir verstehen uns so. Über viele Meilen hinweg. Alle Wolkensammler über der Stadt haben mir zugehört. Und auch einige, die im Anflug waren …

»Wie viele rebellieren? Sag mir …« Der Tentakel um seinen Hals riss ihn zu Boden. Ein Fangarm, der in einem blutverschmierten Hornhaken endete, schnellte über ihn hinweg, änderte die Richtung und durchschlug das Deck über ihm.

Ich werde kämpfen müssen. Sie wollen mich töten. Ich verstehe ihren Zorn nicht. Ich … All dieser Hass. Sie werfen mir vor, dass ich mich an Nangogs Schöpfung vergehen will, dass ich mich gegen unser aller Mutter, die Große Göttin, gestellt hätte. Sie sind so blind! Sie wollen nicht sehen, dass es kein Verrat ist, wenn man etwas verbessert. Sie … Nein, es ist anders. Sie fürchten, eure Devanthar werden sie zwingen, sich zu verwandeln und sich gegen Nangog zu stellen. Artax spürte die tiefe Bestürzung des Wolkensammlers. Würden die Devanthar das tun?

Darauf vermochte der Unsterbliche dem Wolkensammler keine Antwort zu geben. Und Wind vor regenschwerem Horizont spürte seine Zweifel. Der Tentakel löste sich von Artax’ Hals und glitt seinen Nacken hoch.

Rette Volodi! Bring ihn vom Schiff!

Der Kontakt zum Wolkensammler brach ab.

Dutzende Fangarme griffen über den Hof hinweg nach Wind vor regenschwerem Horizont. Er versuchte, einige der Arme abzuwehren, während auch er sich vom Ankerturm löste.

Artax sah mit dem Wind von Norden her noch zwei weitere große Wolkensammler auf sie zutreiben. Ein mörderischer Kampf würde entbrennen, und dann waren sie besser nicht mehr an Bord.

Artax lief zu Shaya, die noch immer bei Volodi stand. »Wir müssen runter vom Schiff.«

Schon trieben sie vom Ankerturm fort. Wind vor regenschwerem Horizont versuchte, an Höhe zu gewinnen, als Fangarme mit manngroßen Widerhaken in seine Flügel schlugen.

»Volodi?«

Sein Freund sah ihn mit leerem Blick an.

»Volodi! Jetzt ist nicht die Zeit zu trauern!« Er zerrte den Drusnier auf die Beine. »Einige Wolkensammler versuchen, Wind vor regenschwerem Horizont zu zerfleischen. Wir müssen von Bord, sofort!«

Der Unsterbliche nickte teilnahmslos.

»Du steigst jetzt auf deinen Bären und suchst dir irgendwo einen sicheren Platz.« Es sah nicht so aus, als wäre sein Freund zu irgendeiner vernünftigen Handlung fähig. Aber er musste fliegen! Er konnte ihn nicht auch noch auf seinem Löwen mitnehmen. Drei Reiter würde der Löwe nicht tragen können.

»Wenn du nicht entkommst, wer soll sich dann um das Begräbnis von Quetzalli und deinem Sohn kümmern.« Shaya versetzte dem Drusnier eine schallende Ohrfeige. »Besinn dich, Mann. Du schuldest es den beiden, dich um ihre Leichen zu kümmern!«

Ihre Worte zeigten Wirkung. Volodi nickte. Er schien aus seiner Erstarrung zu erwachen. Einen Moment lang wirkte er orientierungslos, dann wandte er sich zu den Bären. »Ich werde fliegen«, sagte er entschieden.

Fangarme zerfetzten das Tauwerk, das ihr Schiff mit Wind vor regenschwerem Horizont verband. Das Flugdeck neigte sich sanft, während der Wolkensammler verzweifelt versuchte, an Höhe zu gewinnen. Die Laufstege, die zum Ankerturm führten, stürzten in die Tiefe. Einige letzte Flüchtlinge und Wolkenschiffer versuchten, mit todesmutigen Sprüngen von der Reling auf den Turm zu gelangen.

Artax sah Ashot, der sich verzweifelt an einen der goldbeschlagenen Querbalken klammerte. Von den Kriegern, die ausgebildet waren, die silbernen Löwen und Bären zu fliegen, war niemand mehr an Bord. Sie waren die Eskorte für das Traumeis gewesen und hatten als Erste das Schiff verlassen.

Das Deck erbebte erneut. Die Schräglage verschlimmerte sich. Einige ungesicherte Wasseramphoren schlitterten über den zerfurchten Holzboden und stürzten über die Kante des Flugdecks in die Tiefe.

»Schnell!« Er nahm Shaya bei der Hand und lief zu seinem Löwen. Hastig schob er sie hinter der hohen Sattellehne auf den Rücken des silbernen Reittiers. »Leg die Ledergurte an und schnall sie so eng, dass du glaubst, dir muss das Blut in den Adern stocken. Das wird ein wilder Ritt!«

Ohne sich die Zeit zu nehmen, darauf zu achten, ob sie seine Befehle befolgte, stieg er auf. Überall an Bord war das Geräusch splitternden Holzes und zerschellender Amphoren zu hören. Die Löwen und Bären begannen ebenfalls langsam zu rutschen.

»Steigt in den Himmel!«, schrie Artax sie an, doch die magischen Kreaturen regten sich nicht. Sie waren darauf ausgelegt, auf ihre Reiter zu warten. Nur von ihnen nahmen sie Befehle entgegen. Selbst die Silberlöwen. Um sie zu beherrschen, hätte er sie berühren müssen, so wie er es mit seinem neuen Reittier getan hatte.

Volodi preschte auf seinem Bären an ihm und Shaya vorbei. Erste Tentakel griffen auf das Flugdeck, doch er vermochte ihnen auszuweichen.

»Vorwärts, mein Starker!« Artax klopfte seinem Löwen auf die silberne Mähne, als wäre er ein Reittier aus Fleisch und Blut. »Rette die Frau, die ich liebe.«

Die Kreatur riss den Kopf in den Nacken und weitete die Flügel. Mit kräftigen Schritten trat sie in die Mitte des Flugdecks. Mit einem Ruck neigte sich der Boden ein weiteres Stück. Das Wolkenschiff hing bereits so schief in seiner Vertäuung, dass Artax den Palasthof unter sich sehen konnte.

Flügelschlagend rannte der Löwe los, als hinter ihnen metallisches Kreischen ertönte.

»Schneller!«, schrie Shaya auf.

Die hohe Sattellehne verhinderte, dass Artax hinter sich blicken konnte. Trümmer rauschten an ihnen vorbei, dann ein Fass, an dem sich ein schreckensstarrer Wolkenschiffer festklammerte.

Das Geräusch hinter ihnen wurde immer lauter. Es klang, als würden Riesen mit Schwertern aufeinander einschlagen.

Artax hielt die Zügel fest umklammert. Er konnte nichts tun, außer zu hoffen. Die Pranken des Löwen hämmerten auf das Flugdeck, und dann stürzten sie über die Kante in die Tiefe.

Der Löwe drehte sich wie ein Pfeil im Flug um seine eigene Achse. Diese Biester mochten das, das wusste Artax. Er hingegen hasste dieses Flugmanöver, bei dem ihm jedes Mal schwindelig wurde. Die silbernen Schwingen schlugen mit solcher Kraft, dass die Metallverbindungen knirschten.

Der Löwe schwenkte in eine horizontale Flugbahn und machte erneut eine wilde Rolle. Dicht neben ihnen stürzte ein silberner Bär dem Palasthof entgegen.

Sein Silberlöwe scherte zur Seite aus und nahm einen westlichen Kurs, fort vom Palast der Drusnier. Und nun sah Artax, was geschehen war. Wie eine Kaskade aus gehämmertem Silber stürzten die Löwen und Bären aus dem Flugdeck. Nicht eine der Kreaturen regte sich. Ihre massigen Leiber schlugen gegeneinander. Die Flügel verbogen. Das Gesicht eines Löwen war fortgerissen. Ohne ihre Reiter waren sie nicht mehr als leblose Skulpturen.

Scheppernd zerschellten sie auf dem Palasthof. Aus den Augenwinkeln sah Artax, wie zwischen dem Silber ein abgetrennter Tentakel aus dem Himmel fiel. Ein Fangarm, dick wie sein Oberkörper. Blut sprühte aus dem Himmel über ihnen. Der Angreifer hatte Wind vor regenschwerem Horizont bereits viele Wunden geschlagen. Und die beiden anderen Wolkensammler waren schon fast in Tentakelreichweite.

Artax überlegte, wie er Wind vor regenschwerem Horizont helfen könnte. Aber was für einen Unterschied machte ein einzelner Mensch schon, wenn vier Wolkensammler miteinander rangen? Sein Einsatz wäre nicht mehr als eine noble Geste. Entscheiden würde er nichts. Außer, dass er sich den Ärger des Löwenhäuptigen zuziehen würde. Er hatte dem Devanthar versprochen, auf allzu tollkühne Kämpfe zu verzichten.

Bring uns zu meinem Palast, dachte er. Der Löwe würde den Weg kennen, er war oft genug über der Goldenen Stadt geflogen.

Der Löwe reagierte sofort und änderte seinen Kurs ein wenig, sodass er nun auf den Palast von Aram zuhielt. Artax fühlte sich schlecht. Er kam sich wie ein Verräter an dem Wolkensammler vor. Er hätte zumindest versuchen sollen, ihm zu helfen. Ein letztes Mal sah er zu ihm zurück. Wind vor regenschwerem Horizont trennte sich gerade von dem Wolkenschiff, das er trug, um im Kampf besser manövrieren zu können. Der Palasthof lag schon jetzt voller abgetrennter Fangarme.

»Ich liebe diese neue Art zu fliegen!«, rief Shaya hinter ihm voller Begeisterung.

Er durfte jetzt nur an sie denken! Sie lebte, weil er ein Versprechen gegeben hatte. Wenn er es brach, dann würde sie sterben. Er änderte den Kurs des Löwen nicht, dachte mit aller Kraft an seinen Palast in dieser verwüsteten Stadt. Dann griff er nach hinten, fand Shayas Hand und drückte sie fest. Er wusste, wie sehr sie es liebte, am Himmel zu reisen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie im Fluggeschirr unter einem jungen Wolkensammler gehangen und an der Spitze einer Schar von Ischkuzaia das herrenlose Wolkenschiff geentert, das er in Schlepp genommen hatte.

Er blickte zum weiten Himmel über der Goldenen Stadt. Überall trieben Wolkensammler davon. Doch zumindest kämpften sie nicht mehr gegeneinander wie anfangs. Sie hatten es nur noch auf Wind vor regenschwerem Horizont abgesehen.

Wracks von abgeworfenen Wolkenschiffen lagen in der Stadt. An mehreren Orten waren Brände ausgebrochen. Die Goldene Stadt am Rand des Weltenmunds war immer noch gezeichnet vom großen Beben. Wann würden ihre Bewohner endlich friedliche Zeiten erleben? Wie viele Schlachten mussten sie noch schlagen, bis der Krieg um Nangog endete? Wie viele zerstörte Städte wie Asugar würde er noch sehen?

Ein gleißendes Licht erweckte seine Aufmerksamkeit. Dann noch eins. Und noch eins. Sie alle leuchteten bei Volodis Palast auf. Die Devanthar kamen. Sie wollten das Traumeis, dachte Artax bitter. Sie waren ganz sicher nicht gekommen, um zu helfen. Das taten sie nie.

Der Löwe setzte zur Landung auf dem inneren Hof des Palastes des Statthalters von Aram an, den Artax nun so lange schon als seine Residenz nutzte. Nangog ließ ihn nicht mehr los. Wenn er in seine Welt zurückkehrte, dann nie länger als für wenige Tage, um drängende Staatsgeschäfte zu erledigen. Sein Platz war hier, ob er es wollte oder nicht.

Auf den Terrassen der weitläufigen Palastanlage drängten sich Hunderte Schaulustige, um das Spektakel am Himmel über der Stadt zu betrachten. Wut brandete in ihm auf. Statt zu helfen, gafften sie einfach nur. Doch dann ging ihm auf, dass auch er einen Teil Schuld daran trug. Er hatte Ashot, den Befehlshaber seiner Truppen, mitgenommen und Mataan, der die Verwaltung des Palastes führte.

Der Löwe landete hart im Sand des Hofes. Er lief noch ein paar Schritt aus, dann blieb er stehen. Einige Palastwachen eilten herbei, hielten jedoch respektvollen Abstand, als sie ihren Herrscher erkannten.

Artax stieg ab und wollte Shaya vom Rücken des Löwen helfen, doch sie hatte ihre Ledergurte bereits gelöst und sprang elegant ab. »Wunderbar! Ich brauche auch so einen Löwen!« Ihre Unterlippe blutete.

»Was …«

Sie machte eine wegwerfende Geste. »Nichts. Hab mir auf die Lippe gebissen, als wir gelandet sind. Bisschen ruppig, dein Löwe. Fast wie ein junger Hengst, der zugeritten werden muss.«

Er mochte diese Art an ihr. Raubeinig wie ein Krieger. In ihrer ersten Nacht hatten sie sich gegenseitig ihre Narben gezeigt und Geschichten von Kämpfen und Unfällen erzählt. Er musste lächeln. Sie waren nicht gerade ein gewöhnliches Liebespaar gewesen.

Plötzlich wirkte Shaya verändert. Sie versteifte sich.

Die Schaulustigen auf den Terrassen sahen nun auf den Hof. Wunderten sich, ihren Unsterblichen, der sonst so keusch wie ein Säulenheiliger lebte, an der Seite einer Frau zu sehen. Er konnte sehen, wie sie miteinander tuschelten.

Artax griff nach Shayas Hand. Er zog sie dicht an sich heran und gab ihr vor aller Augen einen langen Kuss. »Ich werde nie wieder dulden, dass du gehst. Es ist mir egal, was über uns geredet wird. Eher gebe ich mein Königreich auf, als dass ich dich noch einmal verliere. Du bist mein Leben.« Wie um seine Worte zu besiegeln, küsste er sie noch einmal, wilder jetzt, voller Leidenschaft.

Als sich ihre Lippen trennten, war ihr Blick weich. »Keine Sorge. Ich werde nie wieder gehen.« Plötzlich lächelte sie schelmisch. »Zumindest so lange nicht, wie du gutes Essen und ein ausreichend großes Bett zu bieten hast.«

Er musste lachen. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, dass sie eine Heilerin in Asugar geworden war, aber die alte Shaya, die Kriegerin, die stets ein lockeres Mundwerk führte und unter Männern die derbsten Witze von allen machte, gab es noch. Jene Shaya, die so hart wie diese neue Welt war und ihn dann damit überraschte, dass sie nur für ihn unter dem Licht der Zwillingsmonde auf dem Rücken eines Wolkensammlers getanzt hatte.

Als er Seite an Seite mit ihr zum Portal des Palastes hinaufstieg, wurde er sich bewusst, dass er glücklich war. In diesem Augenblick, an dem die Wolkensammler am Himmel rebellierten und die Devanthar in die Stadt eilten, um ihren größten Schatz zu bergen, interessierte ihn nur noch eins. Ein paar Stunden mit Shaya allein zu sein.

Die Meuchlerin

Artax verfluchte sich stumm dafür, wie wenig er sich an seine eigenen Entscheidungen hielt. Ein paar Stunden nur hatte er mit Shaya verbracht, dann hatte es ihn aus seinen Gemächern in den kleinen Beratungssaal gezogen. Dort hatten nur die höchsten Befehlshaber und Hofbeamten Zugang. Er hatte wissen müssen, wie die Schlacht über der Goldenen Stadt geendet hatte, welcher Schaden entstanden war und wie viele seiner Männer hatten entkommen können Sosehr er die Stunden mit Shaya genossen hatte, plagte ihn sein schlechtes Gewissen. Er war mitten in der Schlacht desertiert.

Muwatta ordnete eine Reihe von Wachstafeln, die eben erst gebracht worden waren, während Ashot an der Tür bereits weitere Tafeln in Empfang nahm. Von überall in der Stadt erreichten sie Berichte von Spitzeln, befreundeten Kaufleuten und Gesandten an den Höfen der anderen Unsterblichen.

»Nun haben wir die abschließenden Zahlen«, sagte Mataan bedrückt. »Von dreiundsiebzig Wolkensammlern, die bei unserer Ankunft über der Stadt an den Ankertürmen vertäut lagen, sind sechsundvierzig davongeflogen. Sie alle haben ihre Wolkenschiffe abgeworfen. Und das ist nicht das Ende. Sie werden die Rebellion auf ganz Nangog verbreiten.«

»Wie viele Tote gab es?« Artax blickte hinaus zum Himmel. Die Zwillingsmonde standen schon tief. Er wollte zurück in seine Gemächer.

»Schwer zu sagen …« Mataan hob eine der Tafeln auf und überflog flüchtig die Zeilen darauf. »Allein im Statthalterpalast von Drusna sind wohl mehr als zweihundert gestorben. Wind vor regenschwerem Horizont ist zurückgekehrt. Er scheint schwer verletzt zu sein.«

Artax fluchte innerlich. Wie hatte der Wolkensammler nur so leichtfertig seinen Brüdern mitteilen können, wozu das Traumeis dienen sollte.

Ashot schickte den Boten an der Tür fort. »Im Palast der Drusnier gehen seltsame Dinge vor sich. So wie es scheint, führen dort der Hauptmann der Leibwache und ein Heiler das Kommando. Volodi hat sich in die Trümmer des Langhauses zurückgezogen und lässt niemanden zu sich vor …«

Das wunderte Artax nicht. Hätte er nicht eingegriffen, wäre Volodi auf dem Deck des abstürzenden Wolkenschiffes sitzen geblieben. »Können wir den Drusniern im Augenblick helfen?«

»Wir könnten Heiler und Verbandsmaterial schicken«, sagte Mataan. »Und morgen vielleicht Arbeiter. Der ganze Palast dort ist ein Trümmerfeld. Überall liegen die Bären und unsere Löwen. Die Götter werden erzürnt sein, dass wir so schlecht auf ihre Geschenke achtgegeben haben.«

»Das sind die Sorgen von morgen«, entschied Artax. »Gönnt euch auch ein wenig Ruhe.«

»Eines noch …« Ashot stand breitbeinig in der einzigen Tür. »Du wirst sie doch nicht im Palast behalten, oder?«

Artax schob das Kinn vor und sah seinen Jugendfreund durchdringend an. Wie hatte er so dumm sein können, darauf zu hoffen, dass sich dieses Thema erledigt hatte. »Sie wird bleiben!«, sagte er entschieden.

Ashot stieß einen langen Seufzer aus. »Sie ist ein Küchenmädchen …«

»Sie ist die Heilerin, die mir im ewigen Eis das Leben gerettet hat. Du wusstest das, nicht wahr?«

Der Feldherr senkte den Kopf. »Ja.«

»Alle Satrapen, die darauf hoffen, eine ihrer Töchter mit dir zu vermählen, werden verprellt sein, wenn du ein Küchenmädchen in dein Bett holst. Wenn sie nur für ein paar Nächte …«

»Sie wird bleiben, und wir werden eine große Hochzeit feiern«, schnitt er Mataan das Wort ab.

»Das ist nicht klug. Du magst der mächtigste aller Menschen sein, aber in dieser Entscheidung bist du nicht frei«, setzte ihm jetzt wieder Ashot zu. »Du musst an das Wohl des Reiches denken.«

»Nein!«, entgegnete Artax knapp. Das würde er ganz sicher nicht tun. »Sie ist eine geheimnisvolle Frau. Sorgt dafür, dass die wandernden Geschichtenerzähler Dinge über sie erzählen, die mir passen. Streut selbst Gerüchte aus. Die Heilerin, die im ewigen Eis so vielen Männern geholfen hat, ist schon längst eine Figur in vielen Erzählungen über den gescheiterten Feldzug geworden. Sorgt dafür, dass bekannt wird, dass Shaya das war. Macht denen dort draußen klar, dass sie mehr ist als nur ein Küchenmädchen. Lasst sie geheimnisvoll erscheinen. Verbreitet meinetwegen, dass sie eine geflohene Fürstentochter ist. Denkt euch etwas aus. Nur eines will ich von euch nicht mehr hören, und das sind Gründe, warum sie nicht hier bei mir sein darf! Ihr seid meine Berater. Erfindet gefälligst Gründe, warum sie die eine Frau ist, die mein Herz erobert hat, und warum das nie einer anderen gelingen kann. Macht sie zur Heldin einer Geschichte, die zu Herzen geht.«

Artax schob sich an Ashot vorbei. Für heute hatte er genug Ärger gehabt. Zum ersten Mal seit langer Zeit freute er sich darauf, sich in seine Gemächer zurückziehen zu können. Jetzt waren sie endlich eine Zuflucht. Shaya machte sie dazu, und sie würde ihm helfen, für ein paar Stunden alle Sorgen hinter sich zu lassen.

Er trat auf den langen Flur hinaus, der zu seinen Gemächern führte. In regelmäßigen Abständen standen Wachen an den Wänden. In der Nacht wurden sie alle zwei Stunden ausgetauscht. Ashot und Ormu waren geradezu besessen davon, dass die Daimonen ihm nach dem Leben trachten könnten. Seit dem Angriff auf Volodis Palast hatten sie die Wachen sogar noch weiter verstärkt.

Artax sah das mit gemischten Gefühlen. Manchmal fühlte er sich in seinem eigenen Palast wie ein Gefangener. Außerdem war er davon überzeugt, dass man die Daimonen wohl nicht würde aufhalten können, wenn sie ihm wirklich ans Leben wollten.

Der Unsterbliche nickte den Wachen zu, wenn er sie passierte. Er kannte nur noch von der Hälfte der Männer die Namen, so viele waren es inzwischen geworden.

Am Ende des Flures öffneten zwei Krieger die große Flügeltür zu seinen privaten Gemächern. Müde trat er ein und löste den Schwertgurt. Er hatte ihn aus Gewohnheit angelegt. Eine Gewohnheit, die auf Ormu und Ashot zurückging, die beide so oft darauf bestanden hatten, dass er niemals unbewaffnet sein sollte, dass er inzwischen, ohne noch darüber nachzudenken, sein Schwert umgürtete, sobald er seine Gemächer verließ.

Er schritt durch den weiten Raum mit den Arbeitstischen, in dem er gelegentlich einige Vertraute empfing, und trat in die Schlafkammer. Fahles Mondlicht fiel durch die offene Tür zur Terrasse. Der Vorhang dort war zurückgezogen.

Das Licht stanzte ein langes Rechteck in die Dunkelheit, dessen Ende gerade eben das Fußende seines Bettes berührte. Er sah Shayas Füße. Sie sahen seltsam aus. Gekrümmt, als hätte sie einen Krampf.

Besorgt trat er zum Bett. Da war etwas! Eine Gestalt kauerte am Kopfende. Sie presste eine Hand auf die Stirn der Steppenreiterin. Die zweite auf ihr Herz!

Artax griff nach seinem Schwert. Ein Griff ins Leere.

Ohne zu zögern, warf er sich auf den Eindringling, doch dieser kam ihm zuvor. Er bewegte sich geradezu beängstigend schnell. Das konnte kein Mensch …

Artax wurde gepackt und aufs Bett geworfen. Die Gestalt kauerte sich auf seine Brust. Sie war nicht sehr schwer. Eine Strähne goldenen Haars löste sich unter der schwarzen Kapuze, die das Gesicht des Meuchlers im Schatten verbarg.

Eine schlanke Hand legte sich fest auf Artax’ Mund. »Du warst es, der mich hierhergebracht hat«, sagte eine fremde Stimme mit melodischem Akzent. Der Angreifer schlug die Kapuze zurück. Es war die Frau, die er aus Asugar gerettet hatte.

Artax versuchte, sich unter ihr hervorzuwinden, aber sie war trotz ihrer zierlichen Gestalt stärker als er. Gnadenlos hielt sie ihn nieder.

Er verdrehte die Augen, sah zu Shaya. Seine Geliebte lag grotesk verkrümmt im Bett. Ihre Augen und ihr Mund waren weit aufgerissen. Sie regte sich nicht.

»Ich werde dir nun weh tun.« Die Stimme klang tatsächlich bedauernd. »Ich hoffe, du hast ein starkes Herz, Menschensohn.« Sie griff seitlich an seinen Hals und drückte zu. Ein Schmerz, als würden all seine Adern zu weißglühenden Drähten, durchfuhr ihn. Er bäumte sich auf, drückte den Rücken durch und verharrte von Krämpfen gepeinigt. Jegliche Kontrolle über seinen Körper war verloren.

Die Meuchlerin zog die Hand von seinem Mund. Er vermochte nicht einmal mehr zu röcheln.

»Nun beginnt der unangenehme Teil.« Sie sagte das weder zynisch noch gehässig. Ihre Stimme war sachlich. »Ich bin leider nicht sehr bewandert in dem, was ich nun tun werde. Ich hoffe, du bist stärker als diese Frau.«

Die Fremde flüsterte ein Wort, das die Schöpfung verhöhnte. Artax war sich sicher, dass dies keine Sprache aus seiner Welt war. Sie war voller dunkler Verheißung.

Die Meuchlerin legte ihm eine Hand auf die Stirn und eine auf die Brust, dorthin, wo sein Herz schlug. Und es war, als ergriffe sie durch seine Rippen hindurch das lebende, schlagende Herz und als senkten sich die Finger der anderen Hand tief in seinen Verstand.

Und sie hatte nicht gelogen. Der Schmerz, der Artax überfiel, war von solcher Intensität, dass die Welt vor ihm verlosch und er in undurchdringliche Finsternis geschleudert wurde.

Kinderherzen

»Es gab eine Eigenart, die die Rebellin unter den Drachenelfen mehr kennzeichnete als alle anderen. Es war ihre Unfähigkeit, eine Niederlage zu akzeptieren. Nach allem, was ich über sie weiß – ein Wissen, dessen größerer Teil aus den Erzählungen Fremder stammt –, hat sie niemals einen Kampf aufgegeben. Selbst die Alben fürchteten ihre Starrsinnigkeit. Es war gefährlich, sie zum Feind zu haben. Fast so gefährlich, wie ihr Freund zu sein.

Sie hat Eleborn Unglück gebracht und meinem Vater den Tod. Ihre Kinder sind von Fremden erzogen worden. Es gab immer einen Kampf, der wichtiger war, als an der Seite von Emerelle und Meliander zu sein. Wenn sie im Jadegarten weilte, wurde sie schnell rastlos. Es war nicht der Dunkle, der sie mit Missionen von ihren Kindern fernhielt. Sie war es, die zu ihm ging und darum bat, fortgeschickt zu werden.

Und dennoch liebten wir unsere Mutter. Nur Kinderherzen sind zu einer solchen Liebe fähig, blind für alle Zurückweisung und Fluchten. Heute weiß ich, dass sie keine Ruhe finden konnte, weil sie sich schuldig fühlte. Schuldig an dem, was mein dunkler Bruder mir im Mutterleib angetan hat. Schuldig am Schicksal Eleborns, der ihr helfen wollte und so grausam verstümmelt zurückkehrte, dass wir Kinder, die wir ihn geliebt hatten, bei seinem Anblick zu weinen begannen und fortgebracht werden wollten. Auch so können Kinderherzen sein, voll grausamer Ungerechtigkeit. Eleborn hat uns dies nie nachgetragen. In einer anderen Zeit hat er uns verborgen und sein Leben für uns gewagt, als wären wir sein eigen Fleisch und Blut.

In jenen Tagen aber suchten wir die Nähe des Dunklen, wenn Mutter wieder einmal zu einer ihrer Missionen aufbrach und wir uns nicht erklären konnten, warum sie uns immer wieder verließ. Freilich zeigte er sich uns nie in seiner wirklichen Gestalt. Wenn er vor uns trat, dann als ein Elf mit dunkler Aura. So lässt sich sagen, dass unsere Kindheit geprägt wurde von ihm, einem Drachen, der sich für den Herrscher der Welt hielt, und von Nodon, der ein kaltblütiger Mörder war, uns gegenüber aber stets etwas unbeholfen wirkte. Erst als wir schon älter waren, lernten wir unsere Mutter kennen, eine Mutter auf der Flucht. Bedenkt man dies, fällt es weniger schwer zu verstehen, was aus Emerelle und mir geworden ist. Und es wird auch offensichtlich, was unser vielleicht einziges Erbe ist: Nandalees rebellischer Geist und, daraus resultierend, das Unvermögen, einfach zu akzeptieren, was andere für unvollbringbar halten. Meine Schwester machte dieses Erbe zur Königin und mich zu Emerelles liebendem Feind …«

Verwundete Seelen, Auszug aus dem VII. Kapitel: Die Wege der Alben, verfasst durch: Meliander, Fürst von Arkadien

Letzte Hoffnung

Nandalee betrachtete den kleinen See neben der Pyramide Nachtatems. Hierher hatte sich Eleborn zurückgezogen, so hatte Nodon ihr berichtet. Der Erstgeschlüpfte hatte den Elfen versorgt, obwohl er nicht zu seinem Gefolge gehörte. Doch viel hatte der Drache nicht tun können. Die Kinder ertrugen Eleborns Anblick nicht, obwohl sie noch so klein waren. Sie fingen an zu weinen, sobald er in ihre Nähe kam, und so hatte er sich zurückgezogen.

Nandalee zögerte. Sie wusste nicht, ob sie in den See steigen sollte. Wie würde er es auffassen, wenn sie kam? Er hatte sich ihr zuliebe der Suche nach dem Traumeis angeschlossen, und er hatte einen Preis gezahlt, der vielleicht schrecklicher als der Tod war.

Sie bemerkte ein geheimnisvolles Leuchten in der Mitte des Sees. Nodon hatte gesagt, dass Eleborn einen Palast aus Licht und Luft erschaffen wollte. Die Drachenelfe musste lächeln. Er gab diesen Traum einfach nicht auf.

Plötzlich teilte sich das Wasser vor ihr. Es sah aus, als flöhe das dunkle Nass vor etwas, und vom schlammigen Grund des Sees erhob sich eine Gestalt, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Zerfetzt und von Schmutz besudelt hingen die Kleider vom Leib des Geschöpfes, in dem Nandalee nur noch mit Mühe einen Elfen zu erkennen vermochte.

Auf eine Krücke gestützt, hinkte die Erscheinung über den schlammigen Grund dem Ufer entgegen. Nandalee musste sich zwingen, nicht vor dieser Gestalt zurückzuweichen. Ein modriger Geruch ging von ihr aus.

»Erkennst du mich nicht mehr?« So viel Bitternis und Enttäuschung lag in dieser Stimme. Eleborns Gesicht war von Brandnarben entstellt. Seine Nase verschwunden. Geblieben war ein klaffendes Loch, wie bei einem Totenschädel. Eines seiner Augen besaß kein Lid mehr, sodass es sie unnatürlich groß anstarrte. Eine Seite seines Schädels war kahl, die Haare bis zur Kopfhaut abgebrannt. Auf der anderen Seite reichte ihm das Haar noch bis zu den Schultern, doch war es so sehr von Schlamm und Algen verklebt, dass seine ursprüngliche weißblonde Farbe nicht mehr zu erkennen war.

»Ich bin zur Antithese dessen geworden, was ich erreichen wollte.« Er lachte. Ein Geräusch wie ein Schleifstein, der über eine Schwertschneide glitt. »Ich wollte dies Tal zu einem schöneren Ort machen. Nun habe ich es um ein Ungeheuer bereichert. Wenn es die Alben sind, die unser Schicksal bestimmen, dann haben sie Sinn für Humor.« Während er sprach, drangen schmatzende Laute durch das Loch über seiner Oberlippe.

»Es … es tut mir leid.« Sie war sich bewusst, wie lächerlich wenig diese Worte bedeuteten in Anbetracht dessen, was er verloren hatte.

»Du hast Mut, hierherzukommen, um mir das zu sagen.«

Sie senkte beschämt den Blick. Mutig wäre es gewesen, ihn sofort nach ihrer Ankunft aufzusuchen. Stattdessen hatte sie zwei Tage mit den Kindern verbracht. Sie hatte Emerelle und Meliander vermisst, aber sie war sich auch bewusst gewesen, dass sie die Begegnung mit ihm hinausschob. »Ich hätte früher …«

»Immerhin bist du überhaupt gekommen.« Er griff nach ihrem Kinn und hob es an, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. »Ich weiß nicht, ob ich mich getraut hätte.« Seine verbrannten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich fand mich immer recht hübsch. Das Feuer hat meine Eitelkeit weggebrannt. Vielleicht hilft es mir bei der Kunst weiter, wenn ich mich nun ganz auf sie beschränken werde. Mein Bedürfnis, Schönes zu erschaffen, ist nur noch größer geworden. Ich werde dich einladen, wenn ich glaube, etwas gewirkt zu haben, das vorzeigenswert ist. Bis dahin solltest du dir nicht mehr die Last aufbürden, zu mir zu kommen. Ich habe mein Antlitz im Spiegel gesehen. Und ich bin froh, dass ich nicht in mein Gesicht blicken muss, es sei denn, ich entscheide mich dazu. Ich will anderen nicht zumuten, was ich selbst unerträglich fände.«

Nandalee schluckte. »Bitte verzeih mir. Ich …«

»Du hast mir weder ein Bein abgebissen noch mich angezündet. Da gibt es nichts zu verzeihen. Ich bin aus freien Stücken mit dir gegangen. Und nun verzeiht mir, Dame Nandalee.« Er beugte sich vor, ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf, wobei Schlamm aus seinen Haaren auf ihren Handrücken troff. »Ich werde mich nun zurückziehen und versuchen, diesem stinkenden Weiher Schönheit zu schenken.«

»Ich werde es finden«, sagte sie entschlossen und kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals. Sie würde sich erst dann aus ihrer Schuld entlassen fühlen, wenn sie auch ihm das Traumeis brachte.

»Bitte jage nicht für mich diesem Traum nach. Ich glaube, es ist mehr Fluch als Segen. Opfere dich nicht in dieser sinnlosen Suche. Du hast zwei wunderbare Kinder. Sei für sie da, solange sie dich brauchen. Das wiegt schwerer als irgendein magischer Kristall.« Er trat zurück in den See, und wieder floh das Wasser vor ihm. Es teilte sich, und er schritt über den abschüssigen Grund tiefer, bis das Wasser schließlich über seinem Kopf zusammenschlug.

Mit klammen Gefühlen blieb Nandalee am Ufer stehen. »Ich werde nicht aufgeben, Eleborn«, sagte sie leise. »Ich werde dir zurückerobern, was du durch mich verloren hast.«

Sie wandte sich vom dunklen See ab. Blind für die Schönheit des Jadegartens im blassrosa Licht des frühen Abends, ging sie zur Stufenpyramide. Niemand stellte sich ihr in den Weg, als sie hinab zu jener weiten Höhle stieg, in der Nachtatem dem niemals verstummenden Flüstern der Gazala lauschte.

Der Drache schien sie erwartet zu haben. Die Seherinnen hatten die weite Grotte verlassen. Nur eine kleine weiße Ziege war noch zugegen, die an einem Eisenring an der Rückwand angebunden war.

Ihr habt lange gebraucht, um zu mir zu finden, meine Dame.

Dort, wo er auf seinem flachen Felsen über dem seichten Wasser lag, schien das Licht der Fackeln an den Wänden seine Strahlkraft zu verlieren. Ein Gespinst tanzender Schatten umgab ihn, verschmolz mit dem tiefen Schwarz seiner Schuppen und ließ ihn selbst zu einem Schattenriss werden. Er lag völlig reglos. Seine Stimme klang nur in Nandalees Kopf. Ein Schauder überlief sie bei seinen Worten. Sie spürte seine Gefühle. Er war enttäuscht von ihr.

Sie wappnete sich gegen die Emotionen, die der Drache in ihr weckte. »Der Weg zur Alten Veste ist nicht weit«, entgegnete sie spitz.

Genauso weit wie der Weg hier hinab.

Kurz war Nandalee versucht, von den Kindern zu sprechen. Von den schönen Stunden, die wie im Fluge vergangen waren, doch es mochte ein Fehler mit unabsehbaren Folgen sein, die beiden als ihren Schutzschild zu missbrauchen. Sie war vor allem deshalb nicht gekommen, weil sie ihm ihre Niederlage nicht eingestehen wollte.

Obwohl der Dunkle nicht in ihren Gedanken lesen konnte, entschied sie sich, die Wahrheit zu sagen. Er hatte ein zu feines Gespür für Lügen. »Ich habe versagt, mein Gebieter. Die Botschaft von Triumphen eilt auf Adlerflügeln, doch die Kunde von Niederlagen reist als Krähe mit gebrochenen Flügeln.«

Ihr solltet Euch nicht an poetischen Bildern versuchen, Dame Nandalee. Ihr habt viele Talente, doch eine Dichterin seid Ihr gewiss nicht. Auch muss ich sagen, dass mir die Kunde von Eurem Wagemut nicht gefallen hat. Es war leichtfertig, auf einem Wolkenschiff der Menschenkinder zu reisen. Und ich vermute, auch dieses Risiko wurde nicht von Erfolg belohnt.

»Wir werden nicht mehr an das Traumeis gelangen können, mein Gebieter. Die Devanthar haben es an sich genommen und nach Daia in den Gelben Turm gebracht.«

Sein Ärger stach wie glühende Klingen in ihr Bewusstsein.

»Allerdings kam es zu einem Aufstand der Wolkensammler. Die meisten dieser Kreaturen wollten sich nicht verwandeln lassen. Sie rebellierten gegen die Menschenkinder und haben ihre Schiffe abgeworfen. Ihre Himmelsflotte ist so schwach wie seit vielen Jahren nicht mehr.«

Wollt Ihr mir einen Angriff empfehlen, meine Dame?

Nandalee war sich bewusst, auf welch dünnem Eis sie stand. Nachtatem war wie ein Gott. Er brauchte ganz gewiss nicht den Rat einer Elfe. »Ich berichte nur, mein Gebieter. Welche Schlüsse Ihr aus meinen Worten zieht, liegt ganz bei Euch.«

So höflich? So bescheiden, meine Dame? Irre ich mich, wenn ich daraus den Schluss ziehe, dass Ihr mir noch eine Bitte vortragen wollt.

Er schnaubte, und Nandalee vermochte nicht zu deuten, ob er damit Ärger oder Herablassung ausdrückte.

Bevor Ihr mit mir zu feilschen beginnt, als wäre ich ein Koboldhändler auf einem schmierigen Basar, lasst mich doch bitte wissen, wie Ihr zu der Erkenntnis gelangt seid, dass das Traumeis zum Gelben Turm gebracht wurde.

Nandalee berichtete ihm, wie sie sich in den Palast des Unsterblichen Aaron geschlichen und in dessen Schlafgemach die Erinnerungen seiner Geliebten gelesen hatte. Doch sie verschwieg, dass diese Menschentochter eine Prinzessin aus dem Volk der Ischkuzaia war, der Išta nach dem Leben trachtete. Nandalee wollte nicht, dass Shaya zum Spielball der Interessen der Himmelsschlangen wurde. Das Opfer, das der geheimnisvolle Elf, der an ihrer Stelle in den Tod gegangen war, für Shaya gebracht hatte, sollte nicht vergebens sein. Allerdings verriet sie, dass Aaron nur ein Bauernsohn war.

Es war Aaron, aus dessen Gedanken sie wusste, wohin das Traumeis gebracht worden war. Doch viel wichtiger war, was sie durch Shaya erfahren hatte. Sie war den Männern begegnet, die das Traumeis gefunden hatten.

Lange schwieg Nachtatem, nachdem Nandalee gesprochen hatte. Er sah sie auf seltsame Art an. Lag da Trauer in seinem Blick? Oder sogar Enttäuschung? Als er endlich wieder sprach, tat er es ohne Emotion.

Diesen Zauber, Gedanken und Erinnerungen zu stehlen, habe ich Euch nicht gelehrt, meine Dame. Euch ist bewusst, dass Ihr damit den dunkleren Spielarten des Zauberwebens huldigt. Wie kamt Ihr dazu?

»Bidayn hat mir von diesem Zauber erzählt. Sie hat ihn von Lyvianne erlernt. Ich fürchte jedoch, dass ich ihn nur unvollkommen angewendet habe. Ich habe den Menschenkindern große Schmerzen bereitet.«

Nandalee war sich nicht einmal sicher, ob die beiden noch lebten. Als sie sich davongeschlichen hatte, waren beide noch im Schmerz gefangen gewesen. Ob sie die Grenze dessen, was Menschen ertragen konnten, überschritten hatte? Sie wusste es nicht. »Ich muss Euch gestehen, ich habe dies für Meliander und Eleborn getan und nicht für Euch, mein Gebieter. Die Beweggründe meines Handelns waren selbstsüchtig.«

So nah, wie sie vor Nachtatem stand, spürte sie die Gefühle des Erstgeschlüpften. Und sie war überrascht, dass er ihr nicht zürnte. Er empfand Mitgefühl.

Manchmal, meine Dame, vermag nichts in der Welt einen Schicksalsschlag ungeschehen zu machen. Es bleibt uns nur, mit ihm zu leben. Dies gilt selbst für uns Himmelsschlangen. Lernt zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die unabänderlich sind. Und Ihr werdet sehen, in dem Augenblick, in dem Ihr Euch fügt, wird Euch das Herz leichter werden.

»Noch kann ich den Pfad der Demut nicht beschreiten, mein Gebieter. Die Menschentochter im Schlafgemach des Unsterblichen war eine Heilerin. Und sie hat jene Wolkenschiffer behandelt, die das Traumeis gefunden haben. Es stammt aus einem Krater im höchsten Norden Nangogs. Bitte gestattet mir, dorthin zu reisen, mein allweiser Gebieter. Es ist gar nicht nötig, sich Gedanken über den Gelben Turm zu machen. Ich kenne die Quelle des Traumeises.«

Der Dunkle hob den großen Drachenkopf von seinen überkreuzten Pfoten. Die gelben Augen mit den geschlitzten Pupillen verengten sich. Ich bin geneigt, hinter zu außergewöhnlichen Zufällen eine Intrige der Devanthar zu vermuten.

»Wie hätten sie wissen können, dass ich in den Gedanken der Heilerin lesen werde?«, begehrte Nandalee auf.

Die Devanthar haben die Silberschale erschaffen. Sie wissen, wie man den Schleier der Zukunft zerreißt.

»Aber den Schleier der Zukunft zu zerreißen oder die Zukunft so zu formen, dass ein gewünschtes Ereignis eintrifft, sind zwei verschiedene Dinge. Es waren so viele Zufälle, die mich zu der Heilerin geführt haben. Das kann doch unmöglich geplant gewesen sein …«

Sie sind Götter, meine Dame, vergesst das nicht. Es ist ein Fehler, sie nach den Maßstäben Sterblicher zu messen.

»Ich werde gehen!«, sagte sie entschieden.

Was sonst? Die Stimme in ihren Gedanken klang resignierend. Womöglich ist es keine Falle … Vielleicht ist es wirklich ein glücklicher Zufall, der Euch auf diese Spur geführt hat. Doch wie dem auch sei, daran, Euch ziehen zu lassen, Nandalee, ist eine Bedingung geknüpft. Ihr reist nicht allein! Euch muss ein Drachenelf begleiten.

Damit hatte sie gerechnet. »Ich weiß Eure Sorge um mein Wohl sehr zu schätzen, mein Gebieter. Zu groß sind die Opfer, die der Jadegarten bereits für mich gebracht hat. Ich werde also niemanden aus Eurem Gefolge als Begleitung für diese Reise ins Ungewisse erbitten. Ich habe eine andere Wahl getroffen.« Sie nannte den Namen.

Der Dunkle lachte auf. Ihr versteht es stets aufs Neue, mich zu überraschen, meine Dame. Solltet Ihr in dieser Begleitung nach Nangog gehen, werde ich mich nicht um Eure wohlbehaltene Rückkehr sorgen. Doch gestattet mir ein offenes Wort: Ich bin zuversichtlich, wenn Ihr an diesem Entschluss festhaltet, werdet Ihr niemals gehen.

Stinkender Fuß

Volodi hatte geglaubt, dass er kommen würde. Den ganzen Tag hatte er auf ihn gewartet. Nur auf ihn! Er war der letzte Freund, der ihm geblieben war, so hatte er gedacht. Er hatte sich geirrt. Der Unsterbliche Aaron hatte wohl Besseres zu tun …

Volodi hielt eines von Quetzallis Kleidern in Händen. Immer wieder vergrub er sein Gesicht darin. Ihr Geruch haftete noch an dem Stoff, der nun nass von seinen Tränen war. Er hatte dieses Kleid nicht gemocht, weil es eine Opferszene zeigte. Er hatte nie begreifen können, was sie daran so wunderbar fand. Und er konnte nicht begreifen, warum sie es getan hatte. Mit Wanya in den Tod zu springen … Je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass sie ihm immer ein Rätsel geblieben war. Schon zu Anfang hatte er nicht erkannt, dass sie nur deshalb freundlich zu ihm gewesen war, weil sie ihn zu einem ihrer Opferaltäre hatte locken wollen. Und dann hatte sie sich in ihn verliebt. Ihr eigenes Leben hatte sie für ihn aufgegeben. Warum? Was war so liebenswert an ihm, dem Barbaren?

Er saß zusammengesunken in dem großen Stuhl gegenüber von Wanyas Wiege. Eigentlich war der Junge schon zu groß für dieses Bett gewesen. Quetzalli hatte nicht gewollt, dass er zu schnell erwachsen wurde.

Heiße Tränen rannen über Volodis Wangen. Jetzt hatte sie es erreicht. Sie hatte Wanya einfach mit sich genommen. Er würde für immer ein Kind bleiben.

»Warum?«, schrie er die Wiege an. »Warum?«

Er hatte mit Dienern und Höflingen gesprochen. Er hatte erfahren, dass Quetzalli gestern Abend erst Gericht gehalten hatte. Und sie hatte es gut gemacht. Zusammen mit Yuri. Warum sie den alten Heiler ins Vertrauen gezogen hatte, hatte er nicht verstanden. Er mochte Yuri nicht und hatte geglaubt, dass Quetzalli seine Abneigung gegen den Alten teilte. Aber Yuri schien sie sogar dazu bekommen zu haben, einen Abend lang in drusnischen Gewändern auf dem Hochsitz zu thronen. Er hatte sie nie dazu überreden können. Ich kleide mich doch nicht wie eine reich gewordene Barbarenmagd, hatte sie stets gesagt und dann sehr deutlich gezeigt, dass es für sie nichts mehr zu besprechen gab.

Allerdings hatte Volodi auch gehört, dass Quetzalli sich für mehrere Tage ganz auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Er starrte die umliegenden Wände an. Was war hier vorgefallen? Diese Mauern kannten Quetzallis Geheimnis, da war er sich sicher.

Wieder vergrub er sein Antlitz in Quetzallis Kleid. »Warum, meine Geliebte? Warum?«

Lange verharrte er so, unfähig, seine Trauer zu beherrschen. Lediglich das Bersten der Scheite durchbrach die Stille, immer schwächer erhellte das sterbende Feuer im Kamin den Raum. Volodi war es recht so. Er zog es vor, im Dunkeln zu sitzen. Mit einem Mal lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Er hatte das beklemmende Gefühl, nicht mehr allein im Zimmer zu sein.

Er sah zur Tür, die verschlossen war.

Plötzlich regte sich etwas hinter ihm. Seine Hand fuhr zu dem Dolch, der neben ihm auf dem Tisch lag. Dem verfluchten Dolch, der Kolja gehört hatte und von dem Quetzalli überzeugt gewesen war, dass er Unglück brachte. Sie hatte recht behalten.

»Heute müssen wir einander nicht bekämpfen.« Die Stimme sprach mit einem harten Akzent, der Volodi nur zu vertraut war.

Langsam drehte er sich um. In der Ecke hinter ihm stand eine Gestalt, die fast vollständig mit den Schatten verschmolzen war. Nur ein Kopf mit Reißzähnen schob sich aus dem Dunkel. Das Gesicht im Maul des Jaguarhelms war kaum zu erahnen.

»Necahual?«

»Mein Schwager.«

So hatte ihn der Anführer der Jaguarmänner noch nie genannt.

»Stimmt es, was geredet wird, Volodi?«

»Sie ist …« Er brachte es nicht über sich, es auszusprechen.

»Ich bin hier, um sie zu holen.«

Volodi war augenblicklich alarmiert. Immer noch hielt er den Dolch in der Hand. »Sie holen? Du? Für euch ist sie doch nur Fleisch. Eine Verräterin.«

»Das alles war sie«, entgegnete der Jaguarmann ruhig. »Aber wir beurteilen die Toten nach den letzten Taten in ihrem Leben. Sie war die Herrscherin an deiner Seite. Nie ist eine Zapote so weit aufgestiegen. In unserem Volk hat sie den Rang einer Hohepriesterin. Wir werden sie in allen Ehren bestatten.«

»Und du glaubst, du könntest sie gegen meinen Willen …«

»Es spielt keine Rolle, was ich glaube oder vielleicht auch kann. Du sagst, du liebst sie, Volodi. Was hätte sie gewollt?«

Er kannte die Antwort. Sie hatte die Vorstellung gehasst, eines Tages als Aas für die Vögel in den Ästen einer Eiche aufgebahrt zu sein. Die Heiligen Haine seines Volkes waren für sie Orte des Grauens gewesen. Die schlimmsten Ausgeburten drusnischer Barbarei. Mehr als einmal hatte sie ihn bedrängt, niemals auf diese Weise beigesetzt zu werden.

»Ich werde bei ihrem Totenfest mit einer Gesandtschaft zugegen sein.«

Necahual schüttelte den Kopf. »Das wird der Unsterbliche Acoatl niemals dulden. Er hasst dich fast ebenso wie den Unsterblichen Aaron. Du bist der Grund, dass unser Tempel geschändet wurde.«

»Ich werde bei ihrem Totenfest zugegen sein«, beharrte Volodi.

»Kaum ist sie tot, und schon bedeuten dir ihre Wünsche nichts mehr?«, begehrte der Jaguarmann auf. »Und du behauptest von dir, du hättest sie geliebt. Du …« Er wirkte plötzlich wie versteinert.

»Ich werde sie bestatten, wie es sich für eine Hohepriesterin geziemt. Ich werde einen großen Scheiterhaufen errichten.« Volodi war bewusst, welche Schwierigkeiten das machen würde. Im Heiligen Hain durfte kein Scheiterhaufen entzündet werden. Außerhalb aber sollte es keine Totenfeiern geben. Selbst jetzt noch sträubte sich Quetzalli gegen die drusnischen Bräuche.

»Darf ich mir das einmal ansehen?« Necahual ging nicht auf Volodis Worte ein, wie gebannt blickte er zum Tisch.

Volodi sah erst ihn, dann den geschnitzten Stab an.

»Deine Schwester hat ihn mir unmittelbar vor ihrem Tod als Geschenk überreicht.«

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Necahual. »Darf ich?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er den Stab, trat dicht ans Feuer und betrachtete lange die Schnitzarbeiten.

Volodi sah schweigend in die sterbenden Flammen. Die Worte des Zapote hallten in ihm nach. Kaum ist sie tot, und schon bedeuten dir ihre Wünsche nichts mehr. Der Unsterbliche wusste, was Quetzalli sich gewünscht hätte. Aber alles in ihm sträubte sich dagegen, sie an die Zapote zurückzugeben. Nicht einmal ihren toten Leib. Es fühlte sich an, als hätten jene, die sie einst nichts weiter als nur noch Fleisch hatten sein lassen, am Ende doch noch gewonnen.

Und dennoch, Quetzalli hätte es nicht gewollt, auf einem Baum in Drusna bestattet zu sein. Was sollte er tun? Jeder Weg schien der falsche zu sein.

Necahual war dichter an das Feuer getreten und drehte den Holzstab langsam in seinen Händen. »Sie hat deinen Sohn getötet«, sagte er beklommen.

»Natürlich!«, fuhr Volodi auf. »Sie ist mit ihm in den Armen von einem Wolkenschiff gesprungen!«

»Nein, es war früher …« Der Zapote sah unverwandt auf den Stab. »Er hat sie gequält. Er wusste es. Sie war seine Gefangene, als du gegangen bist. Aber sie hat gekämpft …« In den letzten Worten Necahuals schwang Stolz mit.

»Was meinst du? Wovon redest du?« Volodi erhob sich aus seinem Stuhl. Seine Glieder fühlten sich an, als wären sie aus Blei gegossen. Selbst die paar Schritt zum Feuer erschöpften ihn.

Necahual erzählte ihm von der Nacht, in der die Daimonen gekommen waren. Von Quetzallis einsamer Flucht durch den Tunnel. Davon, wie sie Wanya die Hand auf Mund und Nase gepresst hatte, damit er sie beide nicht durch einen Laut verraten konnte. Und davon, dass dies die Seele seines Sohnes getötet hatte. Sie, die einst nur hatte Fleisch sein sollen und dies alles mit wachem Verstand hatte erleben müssen, hatte ihr Schicksal an ihrem Sohn erfüllt. Wanya hatte die Nacht überlebt, aber alles, was ihn ausgemacht hatte, war gegangen. »Er war wie ein lebender Toter, Volodi.«

Der Drusnier dachte daran, wie ruhig sein Sohn in seinem Bettchen gelegen hatte. Wie er weder weinte noch lächelte. Und daran, wie er Wanya einfach nur für ein braves Kind gehalten hatte, ohne zu ahnen, was tatsächlich mit ihm geschehen war. »Warum hat sie es mir nicht gesagt?«

»Fragst du dich das wirklich?« Necahual drehte sich zu ihm um. Er deutete mit dem Holzstab wie mit einer Klinge auf ihn. »Horche in dein Herz! Weißt du wirklich nicht, warum sie geschwiegen hat?«

Hatte sie ihn gefürchtet? Das wollte Volodi nicht glauben. Sie hatten immer wieder gestritten, ja. Aber Quetzalli hatte niemals Angst vor ihm gehabt, und so anstrengend es gewesen war, wenn sie einander nicht verstanden hatten, er hätte keine andere Frau haben wollen. Warum also hatte sie geschwiegen?

»Du kommst wirklich nicht darauf?« Necahual schnaubte abfällig. »Sie wollte dich beschützen. Vor dem Gerede, das ihr gefolgt ist wie ein Schatten. Ihr war klar, was deine Untertanen gedacht hätten, wenn bemerkt worden wäre, dass dein Sohn, den du mit der Zapotehexe gezeugt hattest, keine Seele hat.«

»Das ist doch Unsinn!«, begehrte Volodi auf und riss Necahual den Stab aus der Hand. Verzweifelt starrte er auf die Schnitzarbeit. Für ihn waren dies nur Bilder. Er konnte nichts darin lesen. Sie erzählten ihm keine Geschichte.

»Es gibt einen Mann an deinem Hof, der erkannt hat, wie es um Wanya stand. Er hat sich das zunutze gemacht und meine Schwester erpresst.«

»Wer?« Volodi schrie die Frage heraus. Er wollte etwas haben, das greifbar war. Dieser Kerl … Er würde ihn dazu bringen zu reden. Er wollte es aus seinem Munde hören. Nicht von einem Holzstab, der nicht zu ihm sprechen wollte, aber zu Quetzallis Bruder. Warum hatte sie ihm nichts gesagt? Sie hätten einen Weg gefunden. Er war der Unsterbliche! Er hätte den alten Bären rufen können, den Devanthar, der über Drusna wachte. Sie hätte die Hilfe eines Gottes haben können. »Wer?«, fuhr er den Zapote erneut an, als dieser immer noch nicht antwortete.

Necahual hob resignierend die Hände. »Was das angeht, sind mir die Zeichen meiner Schwester ein Rätsel. Sie nennt den Mann, der sie erpresst hat, stinkender Fuß. Ist das vielleicht ein Spitzname? Für eure drusnischen Namen gibt es keine Zeichen in unserer Schrift.«

»Stinkender Fuß?« Volodi zermarterte sich das Hirn. Vom größeren Teil seiner Höflinge kannte er nicht einmal die Namen, geschweige denn die Spitznamen. Er war ein Krieger. Mit den Männern seiner Leibwache war er vertraut, ebenso mit den meisten Hauptleuten an seinem Hof und den Kriegsfürsten aus den Provinzen. Aber all die anderen Höflinge – die Schreiber und Verwalter, Diener und Stallknechte. Das waren Hunderte. Wer von ihnen konnte es gewesen sein? Wer hatte Quetzalli überhaupt nahe genug kommen können, um sie anzusprechen und zu erpressen? Plötzlich fiel ihm Jascha ein. Der Krieger, den sie eines Morgens tot in den Schweinepferchen gefunden hatten. Es hatte geheißen, er sei betrunken dort hineingestürzt. Volodi hatte sich das nie wirklich vorstellen können …

Hatten damals die Intrigen vielleicht schon begonnen, und ein Mitwisser war beseitigt worden? Er hasste diese Spiele. Er wusste, dass an jedem der großen Fürstenhöfe intrigiert wurde. Doch er war stets ein Mann für das offene Wort gewesen. Lügner, die auf diese niederträchtige Art um Vorteile kämpften, konnte er nicht leiden. Hatte er davor einfach die Augen verschlossen? Hätte er sehen können, was auf Quetzalli zukam?

»Ich kenne niemanden, der so genannt wird«, sagte er schließlich resignierend. »Was genau liest du dort?«

»Stinkender Fuß hatte mein Geheimnis entdeckt, und er hat mir damit gedroht, Schande über dich zu bringen, mein Geliebter. Ich hoffe, du wirst mir verzeihen können, was ich getan habe. Ich habe keinen anderen Weg gesehen, deine Ehre zu beschützen«, trug Necahual stockend vor.

Volodi traten Tränen in die Augen, als er das hörte, als Quetzalli ein letztes Mal durch den Mund ihres Bruders zu ihm sprach. Er erinnerte sich daran, dass ihr die drusnischen Namen oft Schwierigkeiten bereitet hatten. »Wie spricht man das aus? Was sind die Worte für stinkender Fuß?«

Necahual sah ihn nur verwundert an.

»Sag es in deiner Sprache zu mir. Los!«

»Juh Rie.«

Volodi keuchte.

»Yuri!« Er hätte es wissen müssen! Dass sie ihn zu ihrem Berater gemacht hatte, passte ganz und gar nicht zu Quetzalli. Sie hatte ihn nicht gemocht. Genauso wenig, wie er den Heiler hatte leiden können.

»Du weißt, wer der Mann ist?« Necahual stand wie eine Raubkatze vor ihm, bereit zum Sprung. »Überlass ihn mir. Ich weiß ihm ein Ende zu bereiten, das seiner würdig ist.«

»Nur unter einer Bedingung!«, entgegnete Volodi kühl.

Die letzte Gabe

Tiefer Trommelschlag grollte in der weiten Höhle. Es war ein Ton, der etwas in Volodis Innerstem vibrieren ließ. Fast so, als griffe eine unsichtbare Hand in ihn hinein, um etwas in ihm wach zu rütteln. Etwas, das besser verborgen geblieben wäre. Er schloss seine Fäuste. Die Krallen auf seinen Händen klickten leise. Er blickte zwischen den Zahnreihen des Jaguarhelms hinauf zur Tempelspitze. Den Kopf zu heben wagte er nicht. Er durfte nicht auffallen, stand er doch in der vordersten Reihe von mindestens dreihundert Jaguarkriegern.

Volodi hatte nicht gewusst, dass die Zapote über so viele dieser Bestien geboten, die fast all ihre Menschlichkeit abgestreift hatten. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des von Mauern eingefassten, künstlichen Sees, standen die Adlerkrieger mit gefalteten Flügeln. Sie waren noch zahlreicher als die Jaguarmänner.

Necahual hatte ihm die Rüstung eines Jaguarmanns verschafft und ihn in aller Heimlichkeit hier hinab in die Höhle gebracht. In jene Höhle, in der er einst hätte sterben sollen. Getötet von Quetzallis Hand. Sie hätte ihm nach dem Willen des Unsterblichen Acoatl und seiner Priesterschaft bei lebendigem Leib das Herz herausreißen sollen. Volodi zweifelte nicht im Mindesten daran, dass diese Bastarde das sofort nachholen würden, wenn sie herausfanden, wer sich in den Reihen der Jaguarmänner verbarg.

Verstohlen blickte er zu der Stufenpyramide am Ende des Sees, während er den Kopf stur geradeaus gerichtet hielt, so wie all die anderen Jaguarmänner. Auf der mittleren der sieben großen Stufen, zu denen sich das Bauwerk erhob, war ein Scheiterhaufen errichtet, groß wie ein Haus. Zuoberst lag eine zierliche Gestalt. Volodi wusste, dass Quetzalli in feinste Seide gewickelt worden war. Ihr schwarzes Haar war gekämmt und mit Duftölen behandelt. Wie ein weiter Fächer hing es über das aufgeschichtete Holz. Sie trug den schweren Goldschmuck einer Hohepriesterin.

Das Bild verschwamm Volodi vor den Augen. Er blinzelte gegen die Tränen an. Ihr hätte das hier gefallen, versuchte er sich zu trösten. Er wusste, dass sie all das hier schmerzlich vermisst hatte. Sie war ein Leben lang darauf vorbereitet worden, eine der wenigen Auserwählten zu sein, die nun auf der obersten Terrasse der Stufenpyramide erschienen. Vier Priesterinnen, ganz in Weiß, flankierten den Unsterblichen Acoatl, der seine Adlerrüstung trug. Neben dem Herrscher der Zapote stand ein nackter Mann mit einer mächtigen Federkrone. Er war von gedrungener, muskulöser Gestalt, ein Krieger. Als ihm ein Priester eine brennende Fackel brachte, reckte er sich und hielt die Fackel hoch empor. Dann schritt er mit katzenhafter Anmut die Stufen hinab. Trotz der Entfernung erkannte Volodi den blauschwarzen, stilisierten Jaguarkopf, der fast die ganze Brust des nackten Mannes ausfüllte. Es war Necahual.

Der Anführer der Jaguarmänner blieb vor dem Scheiterhaufen stehen, und der Trommelwirbel verstummte. Laut rief er den Namen Quetzallis. Dann hielt er eine Rede über seine tote Schwester. Volodi hatte die Sprache der Zapote nie wirklich gelernt. Er verstand nur einzelne Worte. Es ging um Ehre und Verrat.

Leises Murren lief durch die Reihen der Jaguarmänner. Sprach Necahual von dem Verrat, den Quetzalli an ihrem Volk begangen hatte, als sie mit Volodi gegangen war? Oder sprach er von dem Verrat, den Quetzalli erfahren hatte, als Yuri sie erpresste?

Womöglich hatte sein Schwager ihm ja etwas vorgemacht, damit er allein hierherkam und zuletzt doch noch auf dem Opferaltar landete? Er war zu unbedarft, was Intrigen anging, dachte Volodi erschauernd, während die Jaguarmänner rechts und links von ihm jetzt ein wütendes Knurren ausstießen. Auch die Adlermänner stimmten ein. Sie stießen schrille Schreie aus, ganz wie die Raubvögel, denen sie sich verschrieben hatten. Jetzt setzte auch wieder das Grollen der Trommeln ein. Was immer es war, das Necahual dort oben sagte, seine Rede schien sich ihrem Höhepunkt zu nähern, als er mit einem schrillen, letzten Ruf die Fackel in den Scheiterhaufen stieß.

Im selben Augenblick drehten sich alle Jaguarmänner in Richtung der Pyramide. Volodi reagierte um zwei Herzschläge zu spät. Er spürte, wie er verwundert von den Kriegern ringsherum angesehen wurde.

Necahual schrie ein weiteres Wort heraus, das der Drusnier nicht verstand.

Alle verbeugten sich.

Diesmal verneigte sich Volodi im selben Augenblick wie die anderen Jaguarmänner. Und er erinnerte sich, das Wort, das Necahual gerufen hatte, schon einmal gehört zu haben. Ehrt sie, würde es in der Sprache Drusnas heißen. Auch wenn er sich dagegen gesträubt hatte, dass Necahual seine Schwester hierherholte, war es doch die richtige Entscheidung gewesen. Quetzalli war wieder in ihrer Heimat angekommen. Die Zapote überraschten ihn. Sosehr sie die abtrünnige Priesterin gehasst hatten, der Tod hatte sie mit ihr ausgesöhnt.

Ein weiterer Befehl seines Schwagers ließ die Krieger sich wieder aufrichten. Sie alle sahen zur Stufenpyramide und mit ihnen noch Tausende andere Zapote. Alle aus ihrem Volk, die in der Goldenen Stadt lebten, schienen gekommen zu sein.

Hohe Flammen schlugen aus dem Scheiterhaufen. Sie griffen nach der zarten Seide, die binnen eines Herzschlags zu Asche wurde.

Auf Wiedersehen, meine wunderschöne, kriegerische Geliebte, dachte Volodi und lächelte wehmütig. Quetzalli mochte vermisst haben, dort oben zu stehen, aber sie hatte es niemals bereut, ihm nicht das Herz herausgeschnitten zu haben. Das wusste er ganz sicher. Sie hatte sein Herz auch so in ihren Händen gehalten, ohne dass sie ihm den Brustkorb hatte öffnen müssen.

Als sich Wellen in dem weiten Becken vor der Pyramide kräuselten, erklang plötzlich ein Schrei. Er klang ganz anders als das Geschrei der Tiermänner. Er war in Todesangst ausgestoßen. Und dann sah er ihn. Yuri! Einige kahlköpfige Priester zerrten ihn zu einem Altar, der unmittelbar am Rand des künstlichen Sees lag. Der alte Heiler wurde mit Gewalt auf den dunklen Stein herabgedrückt. Schlingen wurden ihm um die Arme gewunden.

Fluchend und strampelnd kämpfte er gegen seine Peiniger an.

Necahual stieg vom Scheiterhaufen die Stufen der Pyramide herab. Er hatte die Fackel gegen einen dieser Ritualdolche mit einer Klinge aus schwarzem Stein getauscht. Ob es jene Waffe war, die einst so viel Unglück über ihn und Quetzalli gebracht hatte, konnte Volodi auf die Entfernung nicht erkennen.

Der Jaguarmann beugte sich über Yuri und zog dem Heiler das Messer in einem flachen Schnitt über die Brust. Volodi war überrascht. Necahual hatte ihm nicht sagen wollen, was heute geschehen sollte. Der Drusnier hatte damit gerechnet, dass dem Heiler das Herz aus der Brust gerissen wurde, doch die Zapote schienen andere Pläne zu haben.

Zwei lange, hölzerne Masten wurden rechts und links des Altarsteins aufgerichtet, und dann zogen zwei Priester Yuri an seinen Armfesseln zwischen den Masten hoch. Der Heiler schrie und bäumte sich gegen seine Fesseln auf. Sie hatten ihm alle Kleider vom Leib gerissen.

Jetzt senkten sich die Masten dem See entgegen, bis Yuri fünf Schritt über der Wasseroberfläche hing. Blut troff von seiner Brust in den See. Wieder kräuselten sich Wellen, und Wasser spritzte über die Einfassungsmauer. Etwas Großes bewegte sich auf die Masten zu. Dann schnellte ein goldener Drachenkopf aus dem Wasser. Er erwischte Yuri nur an einem Bein, als die metallenen Kiefer zuschnappten. Einen Augenblick lang hing der Drache wie ein Fisch an der Angel. Die beiden Masten bogen sich leicht durch.

Deutlich konnte Volodi den mit Federn bedeckten, schlangenhaften Leib unterhalb des Drachenkopfs erkennen. Zwischen dem Gefieder schimmerte es purpurn, als würde sich unter dem Federkleid noch eine zweite Haut verbergen.

Der Drache stürzte ins Wasser zurück. Er hatte Yuris Bein dicht unterhalb des Knies abgebissen. Der Leib des Heilers wurde hochgerissen, als die beiden Masten in ihre aufrechte Position zurückschnellten. Yuri drehte sich um seine eigene Achse, gehalten von den Armfesseln. Dabei kugelte er sich beide Schultergelenke aus. Seine Schreie klangen wie von einem Tier. Alles Menschliche war ihm verloren gegangen. In pumpenden Stößen pulsierte sein Blut aus dem Beinstumpf.

Volodi empfand kein Mitleid mit dem Alten. Hätte Yuri selbst Quetzalli und Wanya vom Flugdeck gestoßen, er hätte sich nicht schuldiger am Tod der beiden gemacht.

Wieder schoss der goldene Drachenkopf aus dem Wasser empor. Diesmal verschlangen die gierigen Kiefer den Heiler bis unter den Rippenbogen. Als sie sich schlossen, endeten Yuris Schreie abrupt.

Mit einem Knall zerbrach einer der beiden Masten unter dem Gewicht des zerrenden Schlangendrachen. Die Bestie riss am toten Fleisch, bis nur noch ein abgetrennter Arm vom Seil am verbliebenen Mast hing. Dann verschwand sie mit ihrer Beute im dunklen See. Augenblicke später war die Wasseroberfläche wieder glatt wie ein Spiegel, als wäre nie etwas geschehen.

Necahual erhob noch einmal seine Stimme. Und dieses Mal verstand Volodi jedes Wort, denn der Zapote hatte ihm zuvor erklärt, was er sagen würde.

»Gehe in Frieden, Schwester, und empfange die Seele des Juh Rie als unsere letzte Gabe an dich, auf dass er dir im Reich der Schatten auf ewig als Sklave dienen möge.«

Der Fluch

Eingekeilt zwischen den anderen Jaguarmännern, wurde Volodi den engen Tunnel hinaufgeschoben. Sie drängten und stießen einander. Manche fauchten wie Raubkatzen. Offenbar zogen sie sich in ihre Quartiere zurück. Er konnte nicht aus ihren Reihen ausscheren, ohne Verdacht zu erwecken. Und jedes Mal, wenn er versuchte, sich ein wenig zurückfallen zu lassen, wurde er von den Männern hinter ihm derb nach vorne gestoßen.

Er erinnerte sich gut, was Quetzalli ihm über diese Männer erzählt hatte. Sie waren keine richtigen Menschen mehr. Die Priester hatten die Seelen von Jaguaren in sie hinabgerufen. Sie waren wild und unberechenbar, und nicht selten kam es vor, dass sie in ihrer ungehemmten Lust eine der Frauen zerfleischten oder verstümmelten, deren Strafe es war, diesen Halbmännern zu Willen zu sein.

Er wollte diese Quartiere nicht sehen. Den Ort, an dem Quetzalli so lange gelitten hatte. Und doch zog ihn der dunkle Strom aus fellbedeckten Leibern beständig mit sich. Immer weiter ging es hinauf.

Ein harscher Befehl ließ das drängelnde Rudel schlagartig verharren. In einer tiefen Wandnische sah Volodi eine schattenhafte Gestalt. Ein krallenbewehrter Arm deutete aus dem Dunkel auf ihn.

Die Jaguarmänner in seiner Nähe zogen sich von ihm zurück.

Ein weiteres unverständliches Wort ließ die Meute davoneilen. Sie teilten sich vor ihm, als wäre er ein Fels in der Brandung. Jene, die an ihm vorüberhuschten, streiften ihn nicht einmal sanft.

Als der letzte Krieger im Tunnel verschwunden war, trat der Krieger aus der Nische.

»Bereust du es, ihn mir überlassen zu haben?«, fragte Quetzallis Bruder ruhig.

»Nein. Ich hätte mir gewünscht, dass es länger gedauert hätte.«

Volodi hatte Yuri vor drei Tagen am frühen Abend mit dem Befehl, feines Leinen für Verbände einzukaufen, auf den großen Stoffmarkt nahe der Goldenen Pforte geschickt. Er hatte gewusst, dass der Heiler von diesem Einkauf niemals zurückkehren würde. Necahual und einige andere Jaguarmänner hatten dem Heiler in einer dunklen Gasse aufgelauert und ihn in die Höhlen tief im Weltenmund verschleppt.

»Ich bin mir sicher, meine Schwester wird keine gnädige Gebieterin über Juh Ries Seele sein. Er wird den Tag verfluchen, an dem er zum ersten Mal zu ihr gekommen ist.«

»Ja«, sagte Volodi lahm. Die Befriedigung, die er im Augenblick von Yuris Tod empfunden hatte, war nun fast verflogen. Er fühlte sich leer. Und er fürchtete die leere Kammer, in die er zurückkehren würde. Noch hing dort Quetzallis Geruch in der Luft. Zumindest manchmal … Vielleicht wurde er auch verrückt und bildete es sich nur ein.

Der Unsterbliche griff unter das Jaguarfell und zog einen Dolch hervor, den er dort verborgen getragen hatte. Er reichte die Waffe seinem Schwager. »Quetzalli war überzeugt davon, dass diese Klinge verflucht ist. Sie hat mich eindringlich gebeten, sie nicht zu tragen. Damals habe ich es für dummen Aberglauben gehalten …« Er schwieg einen Augenblick lang und wünschte sich wieder einmal, er hätte auf sie gehört. Seit er Koljas Dolch an sich genommen hatte, war ihm alles verloren gegangen, was ihm im Leben wichtig gewesen war.

Necahual zog die Klinge zur Hälfte aus der Lederscheide und betrachtete sie lange. »Eine schöne Waffe.«

»Ich habe dich vor ihr gewarnt«, sagte Volodi matt. »Ich kann es nicht mehr ertragen, sie in meiner Nähe zu wissen. Hätte ich sie nur ins Meer geworfen, als ich gen Süden gereist bin. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen.«

»Ich werde sie einem unserer Feinde schenken.« Der Jaguarmann schob die Klinge in die Scheide zurück. »Ich glaube, ich weiß schon, wer sie sich verdient hat.« Er verneigte sich knapp. »Ich danke dir für diese überaus nützliche Gabe, Volodi, der über den Adlern schreitet. Und nun folge mir. Ich werde dich hinauf zu den Gärten führen, zu einer verborgenen Pforte in der Mauer, die unsere Tempelstadt umfasst. Wir wollen unser Glück nicht herausfordern. Es ist besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden.«

Träume aus Kristall

Artax fühlte sich zu schwach, um zu stehen. Er sah zu Shaya. Sie war bleich und ausgezehrt. Er sah ihr an, dass auch sie sich nicht erholt hatte, obwohl sie ihm schon seit zwei Tagen vormachte, dass es ihr wieder gut ging.

Sie beide warteten im kleinen Empfangssaal des Palastes auf Mataan, den er hierher befohlen hatte. Auf dem Thronpodest stand nun ein zweiter vergoldeter Sessel mit hoher Lehne für seine Königin. Artax wusste, dass es deshalb über kurz oder lang Ärger geben würde. Kein anderer Unsterblicher hatte eine Frau an seiner Seite, die so offensichtlich ihm gleichgestellt war. Es widersprach den Plänen der Devanthar. Sie wollten die Unsterblichen als über alle Menschen erhaben herausstellen. Eine Sterbliche an seiner Seite, die mit ihm herrschte, relativierte seine Einzigartigkeit. Artax würde sich diesem Streit stellen. Er wollte Shaya nie wieder verlieren.

Die doppelflügelige rote Tür öffnete sich. Mataan trat ein. Kaum, dass er über die Schwelle geschritten war, schlossen sich hinter ihm die schweren Flügeltüren. Der Satrap war sichtlich nervös. Außer ihm war niemand anwesend.

An den Thron gelehnt stand das Schwert, das Artax seinen Beinamen König Geisterschwert eingebracht hatte. Seit dem Erlebnis mit der Daimonin, die ihn und Shaya überfallen hatte, hielt er die Klinge stets in Griffweite.

Mataan ging schwer auf seinen Stock gestützt. Vom athletischen, sonnengebräunten Fischerkönig, der er einst gewesen war, war nichts geblieben. Seine Haut war bleich und wirkte teigig. Er war dick geworden. Und in seinen Augen stand Furcht. Dabei waren sie einmal fast Freunde gewesen.

Drei Schritt vor dem Thron hielt Mataan inne und versuchte niederzuknien.

»Bitte lass das«, sagte Artax sanft. Er erhob sich unter Schmerzen von seinem Thron und griff nach seinem Schwert. Auch Shaya stand auf. Vorsichtig hob sie das kleine, mit Perlmuttintarsien verzierte Kästchen aus ihrem Schoß. Seite an Seite traten sie vor Mataan, dem blanker Schweiß auf der Stirn stand.

»Es freut mich zu sehen, dass es Euch besser geht, Unsterblicher.« Sein Blick wanderte zu dem Schwert, das Artax in Händen hielt.

Trotz seiner unübersehbaren Furcht wich Mataan um keinen Zoll zurück. Manche Dinge hatten sich doch nicht geändert, dachte Artax zufrieden.

»Ich möchte mich auf ganz besondere Weise für die langen Jahre treuer Dienste bei dir bedanken, Mataan.« Er deutete zu Shaya, die dem Satrapen nun das kleine Holzkästchen entgegenhielt. »Der Löwenhäuptige hat mir gestern auf meinen ausdrücklichen Wunsch ein Geschenk für dich gebracht. Es soll dich für das entschädigen, was du für mich erlitten hast.«

Mataan nahm das Kästchen entgegen. Seine Hände zitterten, er hatte Schwierigkeiten, den Verschluss zu öffnen. Endlich klappte der Deckel auf. Auf weißer Seide lag ein grüner Kristall, halb so dick wie ein Kinderfinger. Verwirrt sah der Satrap zu ihm auf.

»Dies ist ein Stück Traumeis«, erklärte ihm Shaya. »Du wirst es in deinen Körper stoßen müssen, um es zu nutzen. Es wird dir ermöglichen, dich in den Mann zu verwandeln, der du einst warst. Einen Mann, der keinen Stock mehr braucht, auf den er sich stützt.«

Mataan wirkte unsicher. Er blickte auf den Kristall, dann sah er wieder sie beide an. »Ich weiß nicht …«

»Du musst es tun!«, beharrte Artax. »Du sollst wieder der Mann sein, der mich einst zur Pirateninsel Kyrna gebracht hat. Der, der sich im Steinhorst schützend vor mich warf und sein Leben für mich wagte. Es war mir eine Qual anzusehen, welch hohen Preis du dafür gezahlt hast. Wie du verstümmelt wurdest und nur noch ein Schatten deiner selbst bist.«

Mataans Hände zitterten noch stärker. »Der Kristall wird mir meine Kraft zurückgeben?« Seine Stimme bebte.

»Mehr als das, mein Freund. Er wird dich zu dem Mann machen, der du sein willst. Es sind deine Wünsche, die bestimmen, auf welche Art du dich veränderst. Ich weiß, dieser Kristall hat die Kraft, einem verstümmelten Mann einen Arm nachwachsen zu lassen. Er kann all deine Narben verschwinden lassen, ja, er vermag dir sogar eine jugendliche Gestalt zu verleihen, wenn du dies wünschst. Er erlaubt dir, alle Lasten, die Krieg und Alter uns aufbürden, abzustreifen.«

Mataan sah erneut auf den Kristall. Sein Antlitz war eine Maske des Zweifels.

»Ich weiß von Männern, die Zeugen einer solchen Verwandlung waren«, warf Shaya ein. »Es werden Tage voller Schmerzen vergehen, bis du dich neu erschaffen hast. Aber es ist nicht nur eine Geschichte. Es ist die Wirklichkeit.«

Der Satrap klappte das Kästchen zu. »Ich werde es tun, mein Gebieter«, sagte er steif, als würde er einem Befehl folgen. »Doch habe ich eine Bitte an Euch, Herrscher aller Schwarzköpfe. Gestattet mir, mich nach Taruad zurückzuziehen. Ich möchte es auf meiner Insel tun. Ich vermisse das Meer, die Möwenschreie, mit meinen Fischern hinauszufahren. Ich war zu lange in Nangog und an Eurem Fürstenhof in Akšu. Ich will die einfachen Freuden meiner Heimat genießen und unter den meinen sein.« Er senkte demütig den Blick. »Ich bin der Kämpfe und Intrigen müde geworden.«

Artax hatte das Gefühl, dass noch viel Unausgesprochenes in den Worten schwang. Wenn er ihn jetzt ziehen ließ, dann würde er Mataan nicht mehr wiedersehen. »Kehre heim, mein Freund.«

Mataan seufzte erleichtert. Nachdem er sich verbeugt hatte, zog er sich demütig zur Flügeltür zurück. Das schwere Klacken seines Krückstocks war das einzige Geräusch, das zu hören war. Wieder öffneten sich die Türen wie von Geisterhand bewegt.

Als das Klacken draußen auf dem Flur verhallt war, setzte sich Artax auf die Stufen vor seinem Thron. Er wünschte, auch er könnte einfach so gehen. Aber das Versprechen, mit dem er Shayas Leben erkauft hatte, würde ihn für immer an sein Amt binden.

Die Prinzessin ließ sich an seiner Seite nieder und ergriff seine Hand. »Woran denkst du?«

Er lachte leise. »An den Geruch der Erde nach einem schweren Regen. An das Leben in einem Bauerndorf. Einfache Freuden …«

Shaya schürzte die Lippen. »Bauern … Sind das nicht alles Betrüger? Sie wollen für alles entlohnt werden. Wenn Nomaden ihre Herden an ihren Flüssen tränken, verlangen sie ein Stück Vieh. Gehört das Wasser nicht allen? Sie zerteilen das Land in kleine Stücke und wachen eifersüchtig darüber.« Die Reiterprinzessin schüttelte den Kopf.

»Und doch gäbe es ohne sie nicht das Mehl für eure Brotfladen«, wandte Artax ein.

»Man kann sich auch von Fleisch und Milch, Nüssen, Obst und Pilzen ernähren.«

»Nie wieder Brot oder Reis. Oder Hafer für die Pferde. Pferde, die mit Hafer gefüttert werden, laufen länger und ausdauernder.«

Shaya nickte widerwillig. Plötzlich grinste sie. »Ich ertrage dich als mürrischen Bauern, wenn du mich Pferde züchten lässt.«

Es würde niemals geschehen, und doch ließ ihn die Vorstellung lächeln. Allein darüber zu reden bereitete ihm schon Freude. Er dachte an Almitra zurück. Jene Frau, die es nur in seiner Vorstellung gegeben hatte. Als armer Bauer, ohne Hoffnung, jemals reich genug für eine Hochzeit zu sein, hatte er sie sich in Gedanken erschaffen und mit ihr endlose Zwiegespräche über das Leben, das er sich erträumte, geführt. Nun saß neben ihm eine wunderschöne Frau aus Fleisch und Blut, mit der er diese Gespräche führte. Sie war dickköpfig, altklug und zugleich doch auch weise. Und sie hatte ihm das Leben gerettet. Sie war so viel mehr, als Almitra je gewesen war. Vielleicht sollte er Augenblicke wie diesen mehr zu schätzen lernen, statt immer nur zu träumen.

Er nahm sie in seine Arme und küsste sie lang und leidenschaftlich.

Als sich ihre Lippen trennten, sah Shaya ihn verwundert an. »Wofür war das?«

»Dafür, dass es dich gibt.« Nie war er sich so bewusst gewesen, dass trotz aller Fesseln, die ihm auferlegt waren, die Wirklichkeit all seine Träume übertroffen hatte.

Lotussee

Nandalee zog an Sternauges Zügeln. Der Pegasus schwenkte in weitem Bogen nach Westen ab, fort von dem Lager, das sie in der Ferne entdeckt hatten. Von hier aus sahen die leuchtenden Zelte dort wie Laternen aus, die an einem Hang abgestellt waren. Hell strahlende Punkte in einer Landschaft, die sich in die Schatten der Dämmerung zurückzog. Der Abend brachte eine leichte Brise vom Meer, und doch war es immer noch bedrückend schwül. Nie zuvor war Nandalee so weit in den Süden gereist. Die Lotussee war bisher nicht mehr als nur ein Wort für sie gewesen. Ein Ort, um den sich vage Vorstellungen von seltsamen Völkern und Kreaturen rankten, die hier lebten. Bedrückende Fiebersümpfe, orgiastische Feste, bei denen nackte Nymphen in endlosem Reigen tanzten, während Kreaturen des Fleischschmieds – für die man im Norden noch nicht einmal Namen kannte – sich auf seidenbezogenen Lagern rekelten und den zierlichen Tänzerinnen zusahen. Zumindest zu Beginn der schwülen Nächte.

Der Lotussee fehlte die kalte Klarheit ihrer Welt. Niemals wäre Nandalee hergekommen, würde sich nicht hier ihre letzte Hoffnung verbergen. Der Dunkle hatte ihr gesagt, dass sie hier suchen sollte. Sie hatte ihm anfangs nicht glauben wollen, aber er wusste um alle Verstecke der Drachenelfen.

Sternauge fand einen Landeplatz auf einer breiten Schneise, die in das Buschland geschlagen war. Der Boden war hier zerfurcht, als wären riesige Krallenhände über die Erde gefahren. Nandalee sprang aus dem Sattel. Kurz untersuchte sie die Spuren. Baumstämme waren hier entlanggezogen worden. Bauholz? Sie hatte den Steinbruch nahe dem Lager gesehen. Die behauenen Blöcke. Aber es gab dort kein Bauwerk.

Die Elfe strich Sternauge über die Nüstern. »Warte hier auf mich, mein Großer. Bin ich bis zum Sonnenaufgang nicht zurück, fliegst du heim in den Jadegarten. Wenn der Dunkle erfährt, dass du ohne mich zurückkehrst, dann wird er wissen, dass ich in Schwierigkeiten bin.« Sie flüsterte ein Wort der Macht und öffnete Sternauges Verstand für ihre Befürchtungen.

Der große Hengst schnaubte nervös. Seine Ohren standen aufrecht. Mit weiten Augen sah er sie an. Er mochte es nicht, im Ungewissen zu warten. Er fürchtete nicht, mit ihr auf seinem Rücken in die Schlacht zu fliegen. Aber zu warten, ohne etwas tun zu können, war ihm zutiefst zuwider. Er war ein Kämpfer. Sie dachte daran, wie sie ihm das erste Mal begegnet war. Wie er für seine Herde gegen den Rotrücken gekämpft hatte, den gierigen Drachen, der die Pegasi an der Wasserstelle im Bainne Tyr, dem Milchland, der weiten Steppe nahe dem Jadegarten, angegriffen hatte.

»Mir wird nichts geschehen«, sagte sie mit fester Stimme.

Sternauge stampfte mit den Vorderhufen, als wollte er andeuten, dass er mitten in dieses Lager preschen würde, um sie herauszuholen, wenn sie nicht Wort hielt.

Nandalee klopfte ihm noch einmal mit der flachen Hand auf den Hals, dann schlich sie, tief zwischen die Büsche mit ihren schweren roten Blüten geduckt, zum Lager.

Die Albenkinder schienen sich sehr sicher zu fühlen. Es gab nur drei Wachposten, und die waren allesamt nicht sonderlich aufmerksam. An ihnen ungesehen vorbeizukommen war für die Elfe keine Herausforderung. Es war fast schon zu einfach. Lief sie vielleicht in eine Falle? Oder gab es hier schlicht keine Feinde, die es zu fürchten galt?

Nandalee duckte sich in ein Gebüsch am Rande des Lagers und beobachtete das Treiben dort. Nie zuvor hatte sie eine so gemischte Schar von Albenkindern gesehen. Stierhäuptige Minotauren gingen Seite an Seite mit Kobolden, die ihnen kaum bis zu den Knien reichten. Gedrungene Echsenmänner wateten in die großen Teiche, die auf dem terrassierten Hügelhang angelegt worden waren. Es sah aus, als würden sie sich dort im Schlamm zur Ruhe legen wollen. Hoch am Hügel, nahe den drei großen Kränen, die dort standen, entdeckte Nandalee einen Riesen. Er schwenkte einen gewaltigen Kupferkessel, der von dicken Eisenketten hing. Flammen schlugen aus dem Kessel, und Nandalee hatte das Gefühl, dass der Riese Signale an irgendjemanden draußen auf der Lotussee sandte, als wäre er ein lebendiger Leuchtturm.

Eine Gruppe kichernder Apsaras ging dicht am Versteck der Jägerin vorbei. Die Nymphen sahen fast aus wie Elfen. Sie waren etwas weniger zierlich und ihre Gesichter ein wenig runder. Sie trugen kurze weiße Kleider, die ihre Reize eher betonten als verhüllten. Durch den zarten Stoff schimmerte das rotbraune Bandag, mit dem sie ihre Leiber über und über mit schlangengleichen Glyphen beschrieben hatten. Nandalee erinnerte sich dunkel, was sie an der Weißen Halle über die Nymphen gelernt hatte. Es hieß, sie besäßen außergewöhnliche Kräfte als Heilerinnen und Seherinnen. Ihr größtes Mirakel aber waren die Schriftzeichen auf ihren Leibern. Wer sie zu entschlüsseln vermochte, dem blieben sie treu, bis der Weg ins Mondlicht die Entrückten auf immer von den Suchenden trennte.

Nandalee entschied, dass sie in diesem Durcheinander der Völker nicht sonderlich auffallen würde, auch wenn sie unter all den Bewohnern des Lagers keine einzige Elfe entdeckt hatte. Sie zog sich aus ihrem Versteck zurück und schlenderte dann über den Hauptweg ins Lager, als würde sie dazugehören. Neu eingekleidet in das weiße Prachtgewand einer Drachenelfe und mit dem großen Bidenhänder, den sie auf ihrem Rücken trug, hob sie sich deutlich von allen anderen ab. Einige Blicke folgten ihr, doch sprach sie niemand an.

Nandalee vermied es, geradewegs auf das große blaue Zelt weiter oben am Hang zuzusteuern. Stattdessen blieb sie eine Weile bei einer Gruppe Kobolde stehen, die einen blutigen Hahnenkampf veranstalteten, kaufte für drei Kupferstücke an der Bräterei gleich nebenan den Schenkel eines Verlierers vergangener Kämpfe und sah eine Zeit lang einem fuchsköpfigen Kobold zu, der einem Minotauren zwei gekreuzte Äxte auf den Oberarm tätowierte.

Langsam, auf Umwegen, näherte sie sich dabei dem Zelt. Als sie nur noch wenige Schritt entfernt war, kauerte sie sich an einem der Teiche nieder, beobachtete die Dunstschwaden, die über dem dunklen Wasser trieben, und lauschte auf ein Gespräch mehrerer Apsaras, die sich vor dem Zelt über die Fortschritte beim Bau des Turms unterhielten, was Nandalee einigermaßen eigentümlich fand, denn es gab weit und breit keinen Turm zu sehen.

Irgendwo im Lager erklang das melancholische Spiel einer Hirtenflöte. Die Apsaras verstummten. Nandalee blickte über das trübe Wasser. Hin und wieder konnte sie ein einzelnes Augenpaar der Echsenkrieger im Mondlicht aufblitzen sehen. Sie lagen flach im Wasser wie Krokodile, die zwischen Wachen und Schlaf im Uferschlamm verborgen auf Beute lauerten.

Es war an der Zeit! Die Elfe erhob sich. Im Vorübergehen grüßte sie die Apsaras mit einem Kopfnicken, als wären sie alte Bekannte. Dann ging Nandalee zum Zelt. Vorsichtig spähte sie durch den Eingang. Ein schmales Feldbett, eine schlichte Kleidertruhe und ein großer Tisch, bedeckt mit Pergamenten, waren das einzige Mobiliar.

Noch einmal sah die Elfe sich um. Zur Flötenmusik hatte sich der Klang von Trommeln und Zimbeln gesellt. Das Lagervolk strebte einem großen Feuer im Herzen der Zeltstadt entgegen. Zwischen den Gestalten entdeckte Nandalee sich ekstatisch wiegende Tänzer. Niemand beachtete sie.

Sie würde im blauen Zelt warten, entschied die Jägerin. Dort war sie vor Blicken geschützt. Sie wollte kein Aufsehen erregen. Schließlich wusste sie nicht, wie ihre Auserwählte reagieren würde. Freunde waren sie nie gewesen.

Sie trat ein und blickte auf die Pergamente. Es waren Baupläne für einen großen, fensterlosen Turm. Verwundert betrachtete sie das Bauwerk und die vielen Skizzen für Schmuckelemente im Mauerwerk. Alle Zeichnungen waren mit Anmerkungen in einer kleinen, akkuraten Handschrift versehen. Turm der mondbleichen Blüten stand über dem Bauplan.

Plötzlich berührte sie eine kühle Hand im Nacken. Sie spürte einen kurzen Druck, wollte herumfahren, vermochte sich aber nicht mehr zu bewegen.

Die Meisterin

Es war ein Déjà-vu. Genauso wehrlos war Nandalee gewesen, als sie Ailyn gleich an ihrem ersten Tag dort vor der Weißen Halle begegnet war. Die Meisterin hatte sie gnadenlos mit dem Übungsschwert verdroschen. Nein, jetzt war es sogar noch schlimmer. Damals hatte sie zumindest noch die Illusion gehabt, sich wehren zu können. Sie hatte sich bewegen können. Jetzt stand sie wie versteinert. Kein einziger Muskel ihres Körpers wollte ihr noch gehorchen.

»Du erscheinst mit einem Schwert in meinem Zelt?«

Als Ailyn vor sie trat, konnte Nandalee nichts anderes tun, als sie anzusehen. Die Meisterin war feingliedrig und von zierlicher Gestalt. Ein wenig kleiner als Nandalee. Sie hatte sich mit Bandag bemalt, und so wie die Apsaras trug auch sie ein kurzes weißes Kleid. Doch ihrem knabenhaften Körper schmeichelte es nicht. Ihr Antlitz war hart, wie aus Granit geschlagen. Es gab keine weichen Rundungen in diesem Gesicht, nur gerade Linien und Winkel. Die Fähigkeit zu Gefühlsregungen schien das Leben aus diesen Zügen herausgemeißelt zu haben.

»Du bist mir vorhin im Lager aufgefallen. Außerordentlich frech, hier einfach reinzuspazieren.« Ailyn löste den Schwertgurt vor Nandalees Brust und nahm ihr die schwere Waffe ab.

»Todbringer.« Respekt schwang in Ailyns Stimme, als sie die Waffe auf ihren Kartentisch legte. »Wie ich hörte, hast du mit der Klinge so einiges angerichtet. Sollte ich nun auch einen Platz auf der langen Liste deiner Toten bekommen?«

Nandalee kämpfte gegen die Lähmung an, die Ailyns Berührung verursacht hatte. Zugleich wusste sie, dass es vergebens war. Die Wirkung würde noch mehr als eine Stunde anhalten, wenn Ailyn sie nicht aufhob.

»Eine Meuchlerin schleicht nachts in mein Zelt.« Ganz dicht trat Ailyn an sie heran. »Welchen Schluss sollte ich daraus wohl ziehen?« Sie lachte kalt. »Ich konnte mir nie erklären, ob Überheblichkeit oder Dummheit dein Handeln bestimmt, Nandalee. Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich überraschen?«

Sie legte ihr die Hand auf die Stirn. Ein ziehender Schmerz erwuchs in Nandalees Kopf. Es fühlte sich an, als würden glühende Fäden durch ihr Hirn gewoben, um sie dann langsam herauszuzerren. Ailyn versuchte, in ihren Gedanken zu lesen, um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Sollte sie nur! Das war nicht einmal den Himmelsschlangen gelungen. Nandalee hatte sich nie erklären können, warum nichts und niemand in ihren Erinnerungen zu lesen vermochte. Doch so war es schon immer gewesen.

Endlich zog Ailyn die Hand zurück. »Dieses Gerücht über dich stimmt also auch.«

Lag da ein Hauch von Bewunderung in ihrer Stimme?

»Du wirst mir also erzählen müssen, was du von mir willst. Fasse dich kurz. Meine Langmut ist äußerst begrenzt. Und versuche nicht, mich zu belügen, ich habe ein feines Gespür für Unwahrheiten. Solltest du hier sein, um mich zu ermorden, machen wir nicht viele Worte. Dann schlage ich ein Duell vor. Ich hoffe, du hast dazugelernt, seit du zum letzten Mal vor mir im Dreck gelegen hast.« Ailyn griff ihr erneut in den Nacken. Ein zweiter leichter Druck, und die Erstarrung endete. Die Meisterin trat einen Schritt von Nandalee zurück. Sie war bereit zu kämpfen.

Nandalee konnte die überhebliche Elfe nicht leiden, und doch kniete sie nieder. Sie könnte kaum eine mächtigere Verbündete für ihre Reise ins Ungewisse finden. Alles, was einmal zwischen ihnen gewesen war, musste nun hintanstehen.

»Ich bin hierhergekommen, um dich um deine Hilfe zu bitten, Ailyn, denn ich kann auf die Unterstützung von niemand anderem mehr zählen.« Die Worte waren wie Glassplitter auf ihrer Zunge. Sie sprach langsam und stockend. »Der Dunkle weiß, dass ich zu dir gehe, und er hat mir dringend davon abgeraten. Die Himmelsschlangen werden mir nicht ihre Unterstützung gewähren. Ich muss nach Nangog. In den äußersten Norden. Noch weiter als jene Stadt Wanu, in der du gekämpft hast. Alle haben mich davor gewarnt. Vor der ewigen Dunkelheit, der tödlichen Kälte, den Grünen Geistern und noch etwas Anderem, Unsichtbarem, das dort über die Eisebenen zieht, um jedem Tod und Verderben zu bringen. Ich will dort das Traumeis ernten. Ich brauche es für meinen Sohn Meliander, der verstümmelt geboren wurde, und für meinen Freund Eleborn, der durch meine Schuld ebenfalls zum Krüppel wurde. Verlange von mir, was immer du willst, Ailyn, aber bei den Alben, schenk mir deine Hilfe.«

»Ich habe den Apsaras versprochen, ihnen einen Turm tief im Meer zu errichten. Einen Turm, gebaut für die Ewigkeit. Mehr als siebenhundert Albenkinder sind hier versammelt. Ich soll sie alle verlassen, um jemandem einen Gefallen zu tun, den ich nicht einmal mag?« Die Elfe schnaubte verächtlich. »Glaubst du, ich werde all dies aufgeben, um dir zu helfen? Für wen hältst du mich?«

»Ich halte dich für eine Kriegerin, Ailyn. Vielleicht bist du die bedeutendste Kämpferin, die die Weiße Halle je hervorgebracht hat. Und du würdest es nicht für mich tun, sondern für Meliander und Eleborn.« Nandalee wusste, dass Ailyn Eleborn gemocht hatte. Meliander hatte die Meisterin nie gesehen.

»Stimmen die Geschichten, die man über deinen Sohn erzählt?«, fragte Ailyn unvermittelt.

Nandalee sah überrascht auf. »Welche Geschichten?«

»Die, dass er in deinem Leib verstümmelt wurde. Dass ihn dort etwas angegriffen hat …«

»Woher weißt du davon?«

»Düstere Geschichten reisen auf nimmermüden Flügeln. Und jetzt steh auf. Du bist keine Schülerin mehr. Wir haben den gleichen Rang.«

Nandalee erhob sich. »Wirst du mit mir kommen?«

»Bist du dir sicher, dass das Traumeis deinem Sohn helfen kann?«

»Es hat einem verstümmelten Menschensohn den Arm nachwachsen lassen.«

Ailyn machte eine wegwerfende Geste. »Geschichten.«

»Ich weiß es aus den Erinnerungen eines Unsterblichen!«, begehrte Nandalee auf. »Das Traumeis ist so machtvoll, dass die Devanthar es an sich genommen haben und es nun im Gelben Turm verwahren.«

»Aber dort willst du nicht hin.«

»Nein, ich weiß, wo die Menschenkinder die Kristalle geerntet haben. Es ist ein von Geistern heimgesuchter Ort mitten im Nichts. Also, wirst du mit mir gehen?«

Ailyn wiegte den Kopf. »Ich bin bei Weitem nicht so versessen darauf zu kämpfen, wie man mir nachsagt. Und ich habe nicht viel übrig für Verzweiflungstaten. Du bist in meinem Lager nicht willkommen, Nandalee. Entferne dich nun. Ich brauche einen Tag Bedenkzeit. Dann werde ich dir mitteilen, wie ich mich entschieden habe. Bis dahin bleibt dein Schwert hier. Ich werde es mitbringen, wenn ich zu dir komme.«

Nandalee wollte aufbegehren, doch ein einziger Blick der Meisterin brachte sie zum Schweigen. Ein einziges falsches Wort mochte ihre ohnehin schon geringe Hoffnung ganz zerstören. Es gefiel Ailyn offensichtlich immer noch, sie zu quälen. Also schluckte die Jägerin ihren Ärger und zog sich zurück.

Der Tag der Närrinnen

Sie war unheimlich. Nandalee blickte zur Seite. Ailyn flog nur wenige Schritt neben ihr. Das grüne Licht, das über den Nordhimmel tanzte, ließ ihr ohnehin schon fahles Gesicht noch blasser aussehen. Nicht einen, drei Tage hatte sie sich Zeit gelassen, und sie hatte kein Wort darüber verloren, warum sie sich letztlich entschieden hatte, mit ihr zu kommen. Ailyn hatte ihr einfach Todbringer überreicht und gesagt: Gehen wir. Das war alles gewesen.

Die Meisterin war vorbereitet gewesen. Sie hatte Nandalee zum nächsten Albenstern geführt, und sie hatte gewusst, welchen Weg sie durch das Goldene Netz nehmen mussten, um so weit wie nur eben möglich nach Norden zu gelangen. Nun flogen sie über die Eiswüste unter einem Nordhimmel, der sich mit endlosen Bahnen grünen Lichts schmückte. Nandalee kannte diese Himmelserscheinung aus ihrer Kindheit in der Snaiwamark und Carandamon. Und dennoch – hier auf Nangog waren die Nordlichter anders. Sie wirkten intensiver.

Es waren drei breite Bahnen, die sich in schlangengleichen Bewegungen nach Norden zogen. Ganz so, als wollten sie ihnen den Weg weisen. Dorthin, wo der Abgrund lag, in den sie hinabsteigen musste.

Wieder blickte Nandalee verstohlen zur Seite. Ihre neue Gefährtin stand unbewegt auf dem Rücken einer schneeweißen Pegasusstute. Ailyn hatte das Gewand einer Drachenelfe angelegt. Das hautenge, hochgeschlitzte Kleid mit dem Stehkragen. Ihres war mit silberner Stickarbeit geschmückt. Auf dem Rücken trug sie ein gekrümmtes Schwert, das in einer weißen Lederscheide steckte. Ob sie es brauchen würde? Niemals würde Nandalee das Bild vergessen, wie Ailyn im Schnee zurückgeblieben war. Damals, in jener Nacht, als sie und Gonvalon gekommen waren, um sie vor den Trollen zu retten, und der Blaue Stern hoch am Himmel gestanden hatte. Als sie fliehen wollten, war Ailyns Pegasus getötet worden. Sie war allein und waffenlos unter den Trollen zurückgeblieben. Wie sie es geschafft hatte zu entkommen, hatte sie nie erzählt. Aber eines war gewiss. Sie brauchte keine Waffe. Sie war selbst eine Waffe.

Seitdem sie den Albenstern verlassen hatten, flogen sie schweigend nebeneinander. Nur einmal hatte Nandalee ein Wort der Macht gesprochen und um sich und Sternauge einen Kokon aus warmer Luft gesponnen, der die Eiseskälte des Winters von ihnen fernhielt.

Der Schlund, in den die Menschenkinder hinabgestiegen waren, konnte nicht mehr weit sein. Sie sollte euphorisch sein. Aber da war etwas im Wind … Sie wagte es nicht, Ailyn darauf anzusprechen, aus Furcht, sich lächerlich zu machen. Aber Nandalee hatte das Gefühl, dass etwas mit ihnen reiste. Unsichtbar im Sternenlicht. Etwas, das auf den Schwingen der Nacht ritt und zum Greifen nahe war, ohne sich zu zeigen.

Die Elfe spürte, wie nervös Sternauge war. Auch er schien es zu bemerken. Oder war es ihre Angst, die ihn unruhig werden ließ?

»Dort!«, rief Ailyn plötzlich und deutete nach Nordost. Ein schmaler Strich erhob sich senkrecht über die Eisebene.

Nandalee wusste aus Shayas gestohlenen Erinnerungen, dass es bei dem Abgrund eine Felsnadel gegeben hatte. Die Wolkenschiffer hatten der Heilerin davon erzählt. Ohne dass sie auch nur am Zügel gezogen hatte, schwenkte Sternauge auf den Felsen hin ab. Der Wind schien schärfer zu werden, als sie die Richtung änderten. Er heulte in ihren Ohren. War da eine Stimme, die ihr zuraunte? Nandalee verschloss sich gegen den Unsinn. So etwas gab es nicht. Sie hielt den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet.

Es dauerte noch lange, bis die beiden Pegasi nahe der Felsnadel auf dem Eis landeten. In diesem seltsamen Licht über der spiegelnden Ebene waren Entfernungen schwer einzuschätzen.

Unmittelbar vor ihnen erhob sich eine primitive Unterkunft, die mit Segelplanen abgespannt war. Wie hatten die Menschenkinder hier nur überleben können? Nandalee sprang von ihrem Hengst und sah hinüber zu dem Trümmerhaufen am Fuß der Felsnadel. Es wäre genug Holz vorhanden gewesen, um Hütten zu bauen, die besser vor der Kälte geschützt hätten.

Sternauge schnaubte unruhig. Die Elfe strich ihm über den Hals. »Ruhig, mein Großer. Alles ist in Ordnung.«

»Nein, das ist es nicht!« Ailyn führte ihre Stute am Zügel heran. »Etwas ist hier und beobachtet uns.«

»Du spürst es auch?«

Die Meisterin sah Nandalee verwundert an. »Natürlich. Seit über einer Stunde.« Ailyn schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Aber wenn es sich nicht zeigt, hat es vielleicht auch Angst vor uns? Immerhin sind wir Drachenelfen. Vernunftbegabte Geschöpfe sollten uns fürchten.«

Sie hatte Humor! Nandalee konnte es nicht glauben. Die unnahbare Ailyn scherzte. Sie lächeln zu sehen war die beste Waffe gegen das, was da draußen war.

Schweigend gingen sie zum Krater. Von Raureif überzogen, stand ein primitiver Kran am Rand des Schlunds des bodenlosen Abgrunds, aus dem das Traumeis geborgen worden war. Das grüne Himmelslicht ließ die Innenwände des Kraters erkennen. Schnee lag auf schmalen Simsen. Kristalle vermochte Nandalee nicht zu entdecken.

»Da ist etwas im Wrack«, flüsterte Ailyn.

Die Jägerin blickte auf.

»Dort neben dem geborstenen Mast, wo der Rumpf aufgerissen ist. Ich konnte nur kurz einen Schattenriss sehen, aber es ist groß.«

Nandalee vermochte nichts Verdächtiges zu entdecken. Nur steif gefrorene Taue und zerfetzte Segelplanen, die sich im Wind bewegten. Aber da war ein Wispern. Gewiss war das nur der Wind, der durch geborstene Spanten und zersplitterte Planken strich, sagte sie sich und wusste es doch besser.

»Bist du sicher, dass du das für deinen Sohn willst?«

»Was?«

Die Meisterin deutete auf den in sich zusammengesunkenen Hautsack, umwunden von vertrockneten Tentakeln, der von der Felsnadel hing. »Wird Meliander das durchmachen müssen, wenn du ihn mit diesen Kristallen heilst? Wird er wie ein Schmetterling aus der Larve seines alten Körpers schlüpfen? Was wird er erleiden, bevor es so weit ist? Und wird das, was da schlüpft, wirklich noch dein Junge sein?«

»Es ist anders …«

»Und woher weißt du das? Hast du es gesehen?«

»Die Heilerin. Sie hat Männern geholfen, die Zeugen waren. Sie haben gesehen, wie einem Verstümmelten ein Arm neu gewachsen ist.«

»Das ist alles.« Ailyn sprach leise, resignierend. »Gestohlene Gedanken. Erinnerungen an Geschichten …«

»Das wusstest du doch schon zu Beginn unserer Reise. Was hat sich für dich geändert?«

Die Meisterin deutete erneut auf den riesigen Hautsack am Felspfeiler. »Das dort! Woher nimmst du die Gewissheit, dass nicht so etwas mit deinem Sohn geschieht?«

»Es gibt keine Gewissheit. Nur verzweifelte Hoffnung. Du weißt nicht, wie es ist, Meliander jeden Tag so zu sehen. So …« Nandalee stockte. Sie vermochte ihre Gefühle nicht in Worte zu fassen.

»Nein, ich weiß nicht, wie es ist, Kinder zu haben.« Ailyns Stimme klang fremd. Weich. »Ich kann mir nicht vorstellen, was du leidest. Ich sehe nur, dass deine Vernunft aussetzt. Er ist dein Sohn, und er lebt. Wie kannst du ernsthaft erwägen, ihm dieses Traumeis zu geben, ohne sicher zu wissen, ob es ihm helfen wird?«

Nandalee verschloss sich vor Ailyns Worten. Sie würde das Traumeis finden. Und dann würde sie es Eleborn geben. Bislang hatte sie sich vorgemacht, dass sie an ihm ihre Schuld abtragen wollte. Aber vielleicht war das nur die halbe Wahrheit. Vielleicht wollte sie sehen, wie es an ihm wirkte, bevor es Meliander bekam.

Etwas bewegte sich im Schiffswrack. Zwischen den gebrochenen Spanten trat eine Gestalt hervor, die sich auf einen Speerschaft stützte. Hinkend kam sie auf sie zu. Ein Menschensohn von kleiner, gedrungener Statur. Seine Bewegungen wirkten seltsam. So, als fiele es ihm schwer, seine Glieder zu beherrschen und in Harmonie miteinander wirken zu lassen. Er trug einen zerrissenen Wickelrock, der im Wind flatterte. Auf sein abgewetztes Lederwams war eine stilisierte Schwalbe gestickt.

»Vorsicht«, flüsterte Ailyn und zog ihr Schwert.

Jetzt sah es auch Nandalee. Das Gesicht des Manns. Es war zur Hälfte weggerissen. Lippen und Wange fehlten auf der rechten Hälfte. Es war nur noch blanker Knochen übrig, und sein Kiefer hing, als wäre er im Gelenk gebrochen.

Nandalees Rechte schnellte zum Griff von Todbringer, der über ihrer Schulter aufragte.

Der Wind erstarb. Das Raunen, das darin gelegen hatte, verstummte.

Ich grüße euch. Das Ding, das auf sie zukam, sprach! Nein. Es bewegte den Mund, aber die Bewegung seiner zerfetzten Lippen passte nicht zu den Worten. Die Stimme war in ihrem Kopf!

»Wer bist du?«, fuhr Ailyn die hinkende Kreatur an.

Eine gute Frage. Was du hier siehst, diesen Körper, er heißt Nabor. Ach, sie machen uns so wütend, diese Menschenkinder. Unvorstellbar, wie schlecht sie mit ihren Leibern umgehen! Das Ding schüttelte den Kopf, der auf groteske Weise hin und her pendelte. Diesen hier haben sie einfach in den Abgrund geworfen. Ihr hingegen habt schöne Leiber. Auch diese Flügelpferde gefallen meinen Brüdern und Schwestern sehr gut.

Trotz des Zaubers spürte Nandalee, wie es kälter wurde, als die Kreatur sich näherte. Ihre Augen sahen aus wie zerschrammtes Eis. Sternauge hinter ihr schnaubte ängstlich. Auch Ailyns Stute scheute.

»Was willst du von uns?« Nandalee zog ihr Schwert. Der Fremde war jetzt kaum mehr als fünf Schritt entfernt. Auf diese Distanz konnte die Elfe deutlich erkennen, wie zerschunden der Körper war. Sein linker Oberarm war gebrochen. Der Knochen ragte aus dem gefrorenen Fleisch.

Eure Götter haben verhindert, dass unsere Mutter uns die Leiber schenken konnte, die sie schon für uns erschaffen hatte. Nun, nach Jahrhunderten, waren eure Götter zumindest so freundlich, uns ein paar andere Körper zu schicken.

»Glaubst du wirklich, du kannst dir meinen Leib nehmen?«, fragte Ailyn herablassend.

Ja.

Die Eisaugen hatten etwas an sich, das Nandalee zutiefst erschauern ließ. Diese Kreatur war fest überzeugt, dass sie siegen würde.

»Wir wollen nur ein paar Kristalle aus dem Abgrund holen. Wir werden nicht lange bleiben.«

Nicht? Das zerstörte Antlitz verzog sich zur Parodie eines Lächelns. Ihr werdet sehr tief hinab müssen. Falls es überhaupt noch Traumeis gibt. Die Menschenkinder waren sehr gründlich. Danach haben wir alle Kristalle zerstört, die wir noch finden konnten. Aber wer weiß … Wenn ihr sehr lange Seile und viel Geduld habt …

Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! »Du wirst dich nicht an den Werken deiner Göttin vergangen haben!«, fuhr Nandalee ihn an.

Nicht? Du würdest dich wundern, was enttäuschte Geister tun. Jetzt bedauere ich es. Wir haben unseren Frieden mit Nangog gemacht. Sie wird jedem von uns einen neuen Leib geben. Sie beginnt zu wachsen. Bald wird sie überall sein.

Nandalee dachte an ihre Begegnung mit der Riesin. Sie hatte Augenwimpern, groß wie Festungstürme, gehabt, und jetzt wollte sie noch weiter wachsen? Was sollte das bedeuten?

»Wenn du deinen wunderbaren Körper behalten willst, solltest du dich nun verziehen«, drohte Ailyn.

Der geschundene Leib wippte nach vorn wie eine Puppe, die man an Fäden tanzen ließ. Was er da aufführte, sollte wohl eine Verbeugung gewesen sein. Wir sind immer ein wenig näher, als ihr denkt. Bald schon werden wir in euch wohnen. Wenn der Schlaf euch übermannt oder ein Schneesturm aufzieht und ihr die Hand nicht vor Augen seht. Wir werden kommen … Hinkend zog er sich zurück zum zerschellten Wolkenschiff. Bald war er ganz aus ihrem Blickfeld verschwunden.

»Wir sollten jetzt gehen!«, sagte Ailyn entschieden. »Hier gibt es nichts mehr zu finden.«

»Er lügt! Ich muss nur tief genug steigen …«

»Begreifst du es nicht, Nandalee? Sie haben das Traumeis zerstört! Er hat erst dann gesagt, dass sie vielleicht etwas übersehen haben, als ihm aufgegangen ist, dass wir gehen werden, wenn wir keine Hoffnung mehr haben. Sie wollen, dass wir bleiben, weil sie überzeugt sind, dass sie uns dann kriegen werden.«

»Vielleicht ist es so …« Im Grunde ihres Herzens wusste Nandalee, dass Ailyn recht hatte. »Und dennoch werde ich hinabsteigen. Ich könnte mir niemals verzeihen, wenn ich es nicht getan hätte. Solange der kleinste Funken Hoffnung besteht, werde ich ihm nachjagen. Dich aber entlasse ich aus allen Pflichten. Du sollst nicht dein Leben wagen, weil ich eine Närrin bin.«

Die Meisterin fluchte. »Los, steig hinab, bevor ich es mir anders überlege. Heute scheint der Tag der Närrinnen zu sein.«

Am Abgrund

Die Stimmen im Wind wurden lauter. Es waren mehr von ihnen hier. Ailyn blinzelte gegen das Schneetreiben an und gegen die Müdigkeit. Seit sie hier waren, war nicht ein einziges Mal die Sonne am Horizont erschienen, aber es mussten mehr als zwei Tage vergangen sein, da war sie sich ganz sicher. Der Zwillingsmond war vor ein paar Stunden zum dritten Mal aufgegangen. Seit ihrer Ankunft hatte sie kein Auge zugetan. Nandalee war in den Krater gestiegen, und sie hatte nichts mehr von ihr gehört. Lebte sie noch?

Leise verfluchte sich Ailyn dafür, dass sie sich auf diesen Unsinn eingelassen hatte.

War da ein neues Geräusch? Klang das Flappen der steifgefrorenen Segelfetzen anders? Es fiel ihr schwer, zum Schiffswrack zu blicken. Der Wind kam aus Richtung des gestrandeten Wolkenschiffs, und er trieb mit dem Schnee auch feine Eiskristalle vor sich her, die wie Nadeln in ihr Gesicht und ihre Augen stachen.

Manchmal drehte sie ihr Antlitz mutwillig in den Wind. Der feine Schmerz hielt sie wach. Immer wieder fielen ihr für zwei oder drei Herzschläge die Augen zu. Das war, worauf die Geister warteten.

»Nandalee!«, rief sie aus Leibeskräften in den Abgrund hinab. »Komm zurück!« Ihre Stimme brach sich in Dutzende Echos. Sie lauschte. Wieder kam keine Antwort. Wo steckte die Jägerin? War sie in den Abgrund gestürzt? Es war eine Ewigkeit vergangen, seit sie das letzte Mal geantwortet hatte. Kurz danach hatte sie sich vom Sicherungsseil gelöst, um noch tiefer zu steigen. War Nandalee etwa gesprungen, um Nangog noch einmal zu begegnen?

Diese Elfe war verrückt! Das hatte sie schon gewusst, als sie ihr zum ersten Mal begegnet war. In jener Nacht, als die Jägerin nackt vor Heerscharen von Trollen durch den Schnee geflüchtet war. Ailyn war dagegen gewesen, sie in der Weißen Halle aufzunehmen. Sie hatte gehofft, dass Nandalee von sich aus gehen würde. Deshalb hatte sie sie auch in ihrem ersten Duell so gnadenlos mit dem Übungsschwert verprügelt. Aber diese zähe, kleine Närrin gab niemals auf. Diese Eigenschaft hatte Ailyn von ihrer ersten Begegnung an widerwilligen Respekt vor Nandalee abgerungen. Sie hatte …

Der Kopf der Meisterin ruckte hoch. Er war ihr auf die Brust gesunken. Sie war eingeschlafen! Es konnte nicht länger als ein Augenblick gewesen sein. Argwöhnisch sah sie sich um. Waren da Spuren im Schnee?

Nein. Sie blinzelte. Wieder wollten ihr die Augen zufallen. »Nandalee!«

Nur die Echos antworteten ihr aus dem Abgrund.

»Bald holen wir dich.«

Die Stimme klang im Wind. Wie machten sie das? Gab es noch andere Kreaturen als den besessenen Menschensohn, der sie bei ihrer Ankunft aufgesucht hatte? Sie sollte in dem Schiffswrack nachsehen, um sich endlich Gewissheit zu verschaffen. Aber dann müsste sie die Pegasi unbeaufsichtigt lassen. Und die Kreatur hatte ja gedroht, dass sie auch die Leiber der fliegenden Pferde begehrten.

Ailyn fluchte. Wie lange sollte sie noch warten?

Wieder rief sie Nandalees Namen. Und wieder erhielt sie keine Antwort.

Es schien mit jedem Augenblick kälter zu werden. Das mochte daran liegen, dass sie ihre Kräfte bis zum Rand des Zusammenbruchs strapaziert hatte. Der Zauber, den sie gewoben hatte, um sich vor dem tödlichen Frost zu schützen, verlor an Kraft. Schon zeigte sich Raureif im Gefieder der beiden Pegasi, die sie neben sich an den massiven Balken des Krans angeleint hatte, der über den Abgrund hinausragte. Die beiden Tiere drängten sich eng aneinander. Auch sie schienen noch nervöser als zuvor zu sein. Etwas ging dort drüben in dem Wrack vor sich.

Die Zwillingsmonde waren so klar zu sehen wie nie zuvor. Das ohnehin nur leichte Schneetreiben erstarb. Der Schatten des Felspfeilers fiel über den Abgrund. Mondstrahlen, die durch das Gerippe des Wolkenschiffs stachen, zeichneten ein scharf umrissenes Mosaik aus Schwarz und Weiß in den verharschten Schnee.

Sternauge schnaubte nervös. Beide Pegasi blickten unverwandt auf das Wrack. Ailyn konnte dort nichts entdecken.

Die Kälte nahm weiter zu, während das Doppelgestirn dicht über den Horizont wanderte. Jetzt stand es fast unmittelbar hinter dem Wolkenschiff. So schnell? War sie wieder eingenickt? Sie durfte nicht … Ailyns Blick gefror. Da, zwischen den Schatten der Spanten, die immer länger wurden, war eine Krallenhand.

Im Reflex zog die Elfe ihr Schwert und trat dem Schatten entgegen. Die Hand war verschwunden. Hatte sie sich das nur eingebildet?

Der Schatten des Wracks reichte nun fast bis zum Kran am Abgrund. Sie sollte nicht bleiben, bis er sie erreichte! Ailyn lachte auf. Was für ein absurder Gedanke. Gut, dass es keine Zeugen für ihre grotesken Ängste gab. Was hätte sie schon von einem Schatten zu befürchten!

»Nandalee!«, schrie sie aus Leibeskräften in den Abgrund.

»Lee … lee … lee«, hallten die Echos.

Apfelblüte, ihre Stute, stieß ein schrilles Wiehern aus. Beide Pegasi wichen, so weit es ihre Zügel erlaubten, vor den Schatten zurück.

Ailyn sah wieder die Krallenhand. Sie reckte sich zwischen den Schatten hindurch. Nur zwei Schritt war sie noch entfernt. Und die Schatten des Wolkenschiffs wurden immer länger.

Mit zusammengekniffenen Augen spähte die Elfe zum Wrack. Wenn es einen Schatten gab, dann musste dort doch ein Körper zu sehen sein, zu dem er gehörte. Aber da war nichts.

Ihr Atem stand ihr in dichten weißen Wolken vor dem Mund. Auf der Klinge ihres Schwertes bildeten sich Eisblumen. Ailyn spürte, wie ihr Herz schneller und schneller schlug. Wie sollte sie etwas bekämpfen, das unsichtbar war?

War es die Müdigkeit, die aus ihr so eine Mimose machte? Noch nie war sie vor einem Kampf geflohen. »Komm und stell dich!«, rief sie in Richtung des Wracks.

Leises Lachen lag im Wind. Eine Bö traf sie wie ein Schlag. Sie taumelte zurück, ängstlich darauf bedacht, nicht in die Schatten zu treten. Da war sie wieder, die Schattenhand. Ein Blinzeln lang nur, dann war sie verschwunden. Aber im Schnee blieben vier Furchen von Krallen zurück, als gälte es zu beweisen, dass die Hand mehr war als ein Schatten.

Die Kälte war vergessen. Sie musste diese Kreatur stellen! »Apfelblüte?«

Die Stute wendete den Kopf und sah sie an.

»Du bist mir in so viele Schlachten gefolgt. Ich habe dich immer beschützt. Vertrau mir.« Mit diesen Worten versetzte sie dem Pegasus einen Schlag mit der flachen Hand auf die Kruppe.

Die Stute machte einen Satz von ihr fort und trat in die langen Schatten. Ailyn blieb an ihrer Seite. Da war sie, die Krallenhand!

Das Schwert der Elfe schnitt durch die Luft. Nichts! Kein Widerstand.

Die Schatten des Wracks griffen nach der Flanke von Apfelblüte. Sie keilte aus, wieherte … Dann war sie still.

»Also doch nichts«, murmelte Ailyn erleichtert. »Nur Hirngespinste.«

Apfelblüte wandte den Kopf. Augen aus zerschrammtem Eis blickten auf die Elfe.

Ailyn schnappte nach Luft. Blankes Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu.

Das Opfer

Das winzige Licht, das sie gerufen hatte, verlosch. Sie hatte ihre Zauberkraft erschöpft. All ihre Kräfte waren erschöpft. Sie krallte sich in den Fels. Todmüde … Sie durfte nicht schlafen. Nur ein paar Herzschläge einzunicken hieße zu sterben. Wenn sie sich entspannte, würde sie aus der Felswand stürzen. Weiter oben hatte es noch Hunderte von Höhlen und Felsnischen gegeben. Hier war nichts. Kein Ort, der ihr erlaubte zu ruhen.

Sie spürte einen leichten, warmen Luftzug, der aus der Tiefe heraufstieg. Nangogs Atem? Wie weit war die Riesin entfernt? Immer wieder hatte Nandalee daran gedacht, einfach loszulassen. Würde Nangog ihr zuhören, wenn sie sie ein zweites Mal besuchte?

Die Elfe hatte kein Traumeis finden können. Wie lange sie jetzt schon suchte, wusste sie nicht mehr. Sie blickte nach oben. Da war nur Schwärze. Nicht einmal ein blasser Abglanz der Sterne zeigte sich noch auf dem Gestein. Vorsichtig tastete ihre Rechte über den Fels, bis sie einen schmalen Riss fand. Sie schob die schmerzende Hand hinein. Ihre Finger waren wund von den endlosen Stunden, die sie geklettert war. Ihre Nägel längst gesplittert.

Nandalee spannte die Muskeln, zog sich hoch. Ihr linker Fuß tastete nach einem Halt. Quälend langsam kämpfte sie sich die Felswand hinauf. Sie war zerschunden. Der Krater hatte sie zerbrochen. Es gab kein Traumeis mehr. Ihre verzweifelte Suche war zu Ende. Hier gab es nichts zu finden außer dem Tod. Sie konnte Meliander nur noch ein einziges Geschenk machen. Sich! Sie würde ihm eine liebende Mutter sein, so gut sie es vermochte. Ihre Träume würden hier zurückbleiben, so wie die Träume der Göttin, die in diesem Krater vor langer Zeit zu Eis geworden waren.

Verbissen kämpfte sie sich voran. Sie musste leben! Musste zurück zu ihren Kindern. Sie hätte erst gar nicht hierherkommen dürfen. Tränen hilfloser Wut standen ihr in den Augen. Sie hatte den Kampf einfach nicht verloren geben können.

Die Zeit floss träge. Es war ihr unmöglich zu sagen, wie lange der Aufstieg dauerte. Ihre letzten Kräfte waren aufgebraucht. Immer häufiger musste sie verharren. Sie stellte sich vor, mit dem Felsen zu verschmelzen, ein Teil von ihm zu sein. Nicht in die Tiefe zu stürzen … Ihre Kinder. Immer wieder sah sie ihre Gesichter vor ihrem inneren Auge, und dann schaffte sie es, erneut ihre Armmuskeln zu spannen und sich ein paar Zoll höherzuziehen, obwohl ihre Kraft längst aufgebraucht war.

Es waren Emerelle und Meliander, die sie aus der Dunkelheit bis zum Ende des Seils geleiteten. Erschöpft schlang sie es sich zweimal um den Leib.

»Ailyn.« Sie brachte nur heiseres Flüstern heraus. Unmöglich, dass die Drachenelfe es hörte. Aber sie vermochte auch nicht, noch weiter zu klettern. Energisch zog sie am Seil. Ailyn musste doch bemerken, wie es ruckte … Müde legte Nandalee den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Sternenhimmel, der vom Kraterrand zu einem engen Kreis zusammengestutzt wurde. Ailyn war nirgends zu sehen. Nandalee ließ sich in das Seil sacken. Wie konnten der stets so aufmerksamen Drachenelfe die Bewegungen des Seils entgangen sein? Waren die Kinder Nangogs zurückgekehrt? Hatten die Grünen Geister Ailyn bezwungen?

Das Seil bewegte sich. Langsam wurde es nach oben gezogen. Nandalee war so unendlich erleichtert, dass sie sich erlaubte, ihre Augen zu schließen. Die Müdigkeit übermannte sie. Ihre Gefährtin holte sie aus dem Abgrund herauf. Sie war gerettet!

Sie erwachte, als starke Hände sie griffen und über den Rand des Kraters zogen. Benommen blinzelte sie, als sich etwas Schweres auf ihre Brust legte. Mit einem Schlag war sie hellwach. Über ihr stand Apfelblüte. Die Stute hatte ihr einen ihrer Hufe auf die Brust gesetzt und drückte sie nieder.

Schön, dass du noch gekommen bist. Wir hatten auf dich gehofft. Es wird eine Offenbarung sein, einen Leib wie den deinen zu bewohnen, und wir werden sehr viel über euch lernen können. Die Stimme in ihrem Kopf klang freundlich. Jetzt sah Nandalee den zerschundenen Menschensohn. Er stand bei dem Pegasus. Und hinter ihm war noch etwas … In den langen Schatten, die das Schiffswrack warf, war eine dunkle Bewegung. Eine Hand?

Nandalee versuchte, sich zur Seite wegzurollen, doch der Huf drückte sie so fest aufs Eis, dass sie sich kaum regen konnte. Selbst zu atmen fiel ihr schwer. Sie tastete nach dem Dolch an ihrer Seite, als der verstümmelte Menschensohn einen Fuß auf ihre Hand stellte.

Du musst nicht mehr lange warten, Elfe. Du wirst es kaum spüren, wenn er in dich eindringt und deine Seele frisst.

Etwas stürzte aus dem Himmel. Eine lange Klinge blitzte im Sternenlicht, bevor sie zwischen den Schulterblättern von Apfelblüte verschwand. Die Stute bäumte sich auf.

Nandalee rollte sich unter den trommelnden Hufen hinweg. Kaum dass sie auf den Beinen war, landete Ailyn federnd neben ihr. Mit einem kraftvollen Rückhandhieb trennte sie dem Menschensohn den Kopf vom Rumpf. »Lauf!«, schrie die Drachenelfe und packte Nandalee bei der Hand.

Nicht weit entfernt landete Sternauge und preschte ihnen entgegen.

Ailyns Stute folgte ihnen. Jetzt erst bemerkte Nandalee die Augen aus Eis.

»Lauf!«, befahl ihr Ailyn erneut. Dann ließ die Drachenelfe sie los.

Die Jägerin zog Todbringer aus der Scheide auf ihrem Rücken. Sie hatte keine Kraft zu flüchten. Sie würde Ailyn beistehen.

Ohne Furcht rannte die Meisterin ihrer Stute entgegen. Eis spritzte unter den schweren Hufen. Als der Pegasus sie fast erreicht hatte, ließ Ailyn sich auf die Knie fallen und führte einen mächtigen Hieb gegen das linke Vorderbein Apfelblütes. Die Klinge durchtrennte das Bein dicht unter dem Rumpf. Die Stute strauchelte. Sofort war die Drachenelfe über ihr und rammte ihr Schwert seitlich durch ein Auge tief in den Schädel. Wie vom Blitz getroffen brach der Pegasus zusammen. Grüner Nebel stieg aus ihren Nüstern und dem durchbohrten Auge.

Ailyn befreite hastig ihre Klinge und trat ein paar Schritte zurück.

Inzwischen hatte Sternauge Nandalee erreicht. Er stupste sie mit seinen warmen Nüstern gegen die Wange. Nandalee versuchte, auf den Sattel zu steigen, doch schaffte sie es nicht.

Ailyn war plötzlich hinter ihr und schob sie hinauf auf das Sattelbrett aus zähem Leder. Dann war sie hinter ihr auf dem Rücken des Pegasus.

Nandalee kniete. Sie schaffte es nicht, sich aufzurichten.

»Lauf, Sternauge. Trage uns in den Himmel.« Panik klang in Ailyns Stimme.

Nandalee lehnte sich an die Meisterin, die hinter ihr im Sattel stand. Ihr sackte der Kopf zur Seite. Und da sah sie es. Grünes Licht loderte im Schiffswrack auf. Nebel quoll aus dem geborstenen Rumpf. Zäh wogte er gegen den Wind. Die Kinder Nangogs folgten ihnen!

»Steig auf! Schneller!«, rief Ailyn erneut.

Den mächtigen Schwingen Sternauges fehlte es an Kraft. Die Tage im Eis hatten auch an ihm gezehrt. Er würde sie nicht beide zu den Sternen tragen können.

»Hast du deine Kristalle gefunden?« Ailyn hatte sich zu ihr hinabgebeugt. Ihre Lippen berührten fast Nandalees Ohr.

»Nein.«

»Du musst zu deinen Kindern zurück. Sie brauchen dich …«

»Wir schaffen das zusammen«, begehrte Nandalee auf.

»Erzähl ihnen nicht nur die schlimmen Geschichten über mich.«

»Du wirst nicht …«

»Lass uns nicht im Streit scheiden«, sagte Ailyn weich. »Sieh zurück!«

Der Nebel holte zu ihnen auf. Die Geister würden sie alle bekommen, wenn Sternauge nicht fliegen konnte.

»Geh zu den Himmelsschlangen! Sag ihnen, dass Nangog für alle, die ihre Welt stehlen wollen, nichts als Verderben bereithält. Du hast gehört, was der Geist sagte. Sie wächst. Sie wird am Ende über alle triumphieren. Diesen Krieg können weder Alben noch Devanthar gewinnen. Sag es ihnen.« Mit diesen Worten sprang sie über die Kruppe ab. Leichtfüßig landete sie auf dem Eis, zog ihr Schwert und wartete auf den grünen Nebel.

Sofort wurde Sternauge schneller. Nandalee spürte, wie ihr Hengst mit verzweifelter Kraft mit seinen Schwingen schlug. Dann endlich hob er ab! Er strebte nach Süden, dem Albenstern entgegen, durch den sie hierhergekommen waren, in diese verfluchte Welt, die ihnen nicht einmal Gräber gönnte.

Als die Jägerin zurückblickte, war Ailyn im grünen Nebel verschwunden.

Nandalee hatte keine Tränen. Alles in ihr war wie tot. Ailyn war für nichts gestorben, dachte sie verzweifelt. Sie kehrte mit leeren Händen in den Jadegarten zurück. So wie alle Albenkinder, die hierherkamen, letztlich mit leeren Händen heimkehrten.

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