SECHSTER TEIL Tariqat

Der Große Mann kam von einem großen Planeten. Er war ebenso ein Besucher auf der Durchreise wie Paul Bunyan, als er ihn entdeckte und anhielt, um sich umzuschauen. Und er war noch da, als Paul Bunyan ankam. Und darum mußten sie kämpfen. Der Große Mann gewann zuerst, wie ihr wißt. Aber nachdem Paul Bunyan und sein großes blaues Stierkalb tot waren, war niemand da, mit dem man hätte reden können; und der Mars warfür den Großen Mann so, als ob er versuchen würde, auf einem Basketball zu leben. Also wanderte er eine Weile herum, zerlegte Dinge und versuchte, sie brauchbar zu machen. Dann gab er auf und verschwand.

Danach verließen die Bakterien im Innern von Paul Bunyan und seinem Stierkalb ihre Körper und trieben sich in der Tiefe in dem warmen Wasser herum, das über dem Urgestein lag. Sie fraßen Methan und-Wasserstqffsulfid und widerstanden dem Gewicht von Milliarden Tonnen Fels, als ob sie auf einem Neutronenplaneten lebten. Ihre Chromosomen begannen sich zu teilen, eine Mutation nach der anderen; und bei der Fortpflanzungsrate von zehn Generationen am Tag dauerte es nicht lange, bis das gute alte Gesetz vom Überleben der Tüchtigsten seine natürliche Auswahl traf. Es vergingen Milliarden Jahre. Und alsbald gab es eine ganze submarine Entwicklungsgeschichte, die sich durch die Risse im Regolith und die Zwischenräume von Sandkörnern nach oben in den kalten kahlen Sonnenschein hinaufarbeitete. Alle Arten von Kreaturen, das alles breitete sich aus. Aber alles war winzig klein. Es gab Raum im Untergrund und im Meer; und sobald sie an die Oberfläche stießen, wurden gewisse Muster geprägt. Aber es gab nicht viel, das da Wachstum ermutigt hätte. So entwickelte sich eine ganze chasmoendolithische Biosphäre, in der alles klein war. Die Wale hatten die Größe von Kaulquappen, die Sequoien wie Geweihflechten und so weiter. Es war, als ob das Verhältnis von zwei Größenordnungen, wonach die Dinge auf dem Mars immer hundertmal größer waren als ihre Entsprechungen auf der Erde, sich endgültig in die andere Richtung entschieden hätte und darauf beharrte.

Und so brachte ihre Evolution das kleine rote Volk hervor. Seine Angehörigen sind wie wir oder sehen uns irgendwie ähnlich, wenn wir sie erblicken. Aber das Hegt daran, weil wir sie immer nur im Augenwinkel sehen. Wenn man ein Exemplar deutlich sieht, wird man erkennen, daß es wie ein ganz kleiner stehender Salamander aussieht, dunkelrot, obwohl die Haut offenbar einige Chamäleoneigenschaften besitzt und sie gewöhnlich die gleiche Farbe haben wie die Steine, zwischen denen sie stehen. Wenn man wirklich deutlich hinsieht, merkt man, daß die Haut Tafelflechten ähnelt, vermischt mit Sandkörnern, und die Augen sind Rubine. Das istfaszinierend; aber man soll sich nicht zu sehr aufregen, weil man in Wahrheit nie dazu kommt, eines so deutlich zu sehen. Das ist einfach zu schwierig. Wenn sie stillhalten, können wir sie überhaupt nicht sehen. Wir würden sie gar nicht sehen, außer einige von ihnen, die, wenn sie in Stimmung sind, so sehr darauf vertrauen, einfrieren und verschwinden zu können, daß sie am Rande des Gesichtsfeldes herumspringen, bloß um einen zu verblüffen. Man sieht das zwar; aber dann hören sie auf, sich zu bewegen, sobald man das Auge auf sie richtet, und man kann sie nie wiederfinden.

Sie leben überall, auch in allen unseren Räumen. Gewöhnlich gibt es ein paar in jedem Staubhaufen in den Ecken. Und wer kann von sich behaupten, keinen Staub in den Zimmerecken zu haben? Und wenn wir zu putzen anfingen, wäre es für sie eine Katastrophe. Die halten uns für verrückte Idioten, die ab und zu Wutanfälle bekommen.

Ja, es stimmt, daß John Boone der erste Mensch war, der die kleinen roten Leute gesehen hat. Was hätte man anderes erwarten sollen? Er hat sie binnen Stunden nach seiner Landung gesehen. Später lernte er, sie zu sehen, selbst wenn sie sich still verhielten. Dann fing er an, zu jenen zu sprechen, die er in seinen Räumen bemerkte, bis sie schließlich durchdrehten und antworteten. John und sie lehrten sich gegenseitig ihre Sprachen; und man kann immer noch hören, daß die kleinen roten Leute allerlei Ausdrücke von Boone in ihrem Englisch benutzen. Schließlich reiste eine ganze Schar von ihnen mit Boone überall hin. Das gefiel ihnen. Und John war keine besonders reinliche Person. Darum hatten sie ihre Stellen, wo sie sicher waren. Ja, in Nicosia gab es einige hundert von ihnen in der Nacht, da er getötet wurde. Sie haben die Araber später erwischt. Eine ganze Armee der Kleinen war hinter ihnen her. Schrecklich.

Jedenfalls waren sie Freunde von John Boone, und sie waren ebenso traurig wie die übrigen, als er getötet wurde. Es hat seither keinen Menschen gegeben, der ihre Sprache gelernt hat oder sie so gut kennenlernen konnte. Ja, John war auch der erste, der Geschichten über sie erzählt hat. Vieles von dem, was wir wissen, stammt von ihm wegen dieser besonderen Beziehung. Man sagt auch, daß übermäßiger Genuß von Omegendorph bewirkt, daß man schwache rote Punkte am Rande des Gesichtsfeldes- herumkriechen sieht. Aber warum fragt ihr?

Jedenfalls lebt seit Johns Tode das kleine rote Volk mit uns und demütigt uns. Es beobachtet uns mit seinen Rubinaugen und versucht herauszufinden, wie wir sind und warum wir was tun. Und wie sie mit uns handeln und bekommen können, was sie wollen: mit welchen Leuten sie reden und Freunde sein können, wer sie nicht alle paar Monate oder Wochen hinausfegt oder den Planeten ruinieren wird. Ganze Karawanenstädte tragen das kleine Volk mit uns herum. Und sie werden bereit, wieder zu uns zu sprechen. Sie stellen sich vor, mit wem sie reden sollten. Sie fragen sich, wer von diesen gigantischen Idioten von Ka weiß.

Ja, das ist ihr Name für Mars. Sie nennen ihn Ka. Den Arabern gefällt das, weil das arabische Wort für Mars Qahira ist; und den Japanern gefallt es auch, weil ihr Name dafür Kasei ist. Es haben aber wirklich auf der Erde viele Namen für den Mars irgendwo den Laut ka in sich; und viele kleine rote Dialekte haben ihn als m’kah, was einen Laut hinzufügt, den es in vielen irdischen Namen auch für ihn gibt. Es ist möglich, daß das kleine rote Volk in früheren Zeiten ein Raumfahrtprogramm hatte und einige von ihnen zur Erde gekommen sind, wo sie unsere Feen, Elfen und kleinen Leute ganz allgemein wurden; und daß sie um jene Zeit einigen Menschen erzählt haben, woher sie kamen, und uns den Namen mitgeteilt haben. Andererseits könnte es sein, daß der Planet selbst auf irgendeine hypnotische Art, die alle Beobachter beeinflußt, den Namen suggeriert, ob diese direkt auf ihm stehen oder ihn als roten Stern am Himmel erblicken. Ich weiß nicht — vielleicht liegt es an der Farbe. Ka.

Und so beobachtet uns der Ka, und sie fragen: Wer kennt Ka? Wer verbringt Zeit mit Ka und lernt Ka kennen und liebt es, Ka zu berühren, und geht auf Ka umher und läßt Ka in sich einströmen und rührt den Staub in seinen Räumen nicht mehr an? Das werden die Menschen sein, zu denen wir sprechen werden, sagen sie. Bald werden wir uns ihnen vorstellen, sagen sie, so vielen von euch, die uns wie Ka zu sein scheinen. Und wenn wir das tun, solltet ihr besser bereit sein. Wir werden einen Plan machen. Es wird dann Zeit sein, alles aufzugeben und auf den Straßen direkt in eine neue Welt zu marschieren. Es wird an der Zeit sein, Ka zu befreien.


Sie fuhren schweigend nach Süden. Der Wagen hüpfte unter den Windstößen. Stunde folgte auf Stunde; und es kam kein Wort von Michel und Maya. Sie hatten komprimierte Funksignale vereinbart, die dem durch Blitze verursachten Rauschen sehr ähnlich klangen — eines für Erfolg und eines für Mißlingen. Aber das Radio zischte nur einmal, über dem brausenden Wind kaum hörbar. Nirgal bekam immer mehr Angst, je länger er wartete. Es schien, daß ein Unheil ihre Gefährten auf der äußeren Bank befallen hatte. Und angesichts dessen, wie extrem ihre eigene Nacht gewesen war — das verzweifelte Kriechen durch die heulende Finsternis, die herumsausenden Trümmer, das wilde Schießen in den zerfetzten Kuppeln —, waren die Möglichkeiten sehr schlecht. Der ganze Plan sah jetzt verrückt aus, und Nirgal wunderte sich über Cojotes Entschluß. Der studierte den Bildschirm seines KI, murmelte vor sich hin und rückte mit seinen verletzten Schienbeinen hin und her … Natürlich hatten die anderen den Plan gebilligt, wie auch Nirgal; und Maya und Spencer hatten bei seiner Formulierung geholfen, zusammen mit den Roten aus Mareotis. Und niemand hatte erwartet, daß der katabatische Orkan so streng sein würde. Aber Cojote war der Anführer gewesen. Da gab es keinen Zweifel. Und jetzt sah er so verwirrt aus, wie Nirgal ihn nie gesehen hatte, ärgerlich, bekümmert und erschrocken.

Dann krächzte das Radio, als gerade ein paar Blitze in der Nähe eingeschlagen hatten, und die Entzifferung der Meldung erfolgte sofort. Erfolg. Sie hatten Sax auf der äußeren Bank gefunden und herausgeschafft.

Die Stimmung im Wagen sprang von Trübsal auf Begeisterung, wie von einer Schleuder gestoßen. Sie brüllten zusammenhanglos, lachten und umarmten einander. Nirgal und Kasei wischten sich Tränen der Freude und Erleichterung aus den Augen, und Art, der während des Überfalls im Wagen geblieben war und es dann auf sich genommen hatte, umherzufahren und sie aus dem schwarzen Wind aufzulesen, klopfte sie so auf den Rücken, daß er sie durch das ganze Abteil stieß, und brüllte: »Gute Arbeit! Gute Arbeit!«

Cojote, von Schmerzkillern vollgepumpt, ließ sein verrücktes Lachen hören. Nirgal fühlte sich physisch leicht, als ob die Schwere in seiner Brust nachgelassen hätte. Solche Extreme von Anstrengung, Besorgnis, Furcht — und jetzt Freude — machten ihm unbewußt klar, daß es Momente gab, die sich einem für immer in den Geist einprägten, wenn man von der schockierenden Gegenwart der Realität getroffen wurde, die man so selten empfand und die jetzt wie eine Rakete im Innern zündete. Und er sah die gleiche Freude in den Gesichtern all seiner Gefährten leuchten. Wilde Tiere, die geistig erglühten.


Die Roten fuhren zu ihrem Versteck in Mareotis ab. Cojote fuhr scharf nach Süden, um sich mit Maya und Michel zu treffen. Das geschah in einer trüben schokoladefarbenen Morgendämmerung weit oben auf Echus Chasma. Die Gruppe von dem Wagen der inneren Bank eilte hinüber in den Wagen von Michel und Maya, um noch einmal zu feiern. Nirgal sprang durch die Schleuse und schüttelte Spencer die Hand, einem kleinen Mann mit rundem Gesicht, dessen Hände zitterten. Nichtsdestoweniger sah er sich Nirgal genau an. Er sagte: »Schön, dich kennenzulernen. Ich habe von dir gehört.«

»Es ist alles wirklich gutgegangen«, sagte Cojote zu einem Chor lauter Proteste seitens Kasei, Art und Nirgal. Tatsächlich waren sie kaum mit dem Leben davongekommen, als sie auf der inneren Bank herumkrochen im Bemühen, den Taifun und die von Panik ergriffene Polizei in der Kuppel zu überleben und den Wagen zu finden, während Art sie zu finden suchte …

Mayas Blick machte ihrer Freude ein jähes Ende. Tatsächlich wurde, nachdem die ursprüngliche Freude des Wiedersehens vorbei war, klar, daß die Verhältnisse in ihrem Wagen nicht in Ordnung waren. Sax war gerettet worden, aber etwas zu spät. Er war gefoltert worden, wie Maya ihnen kurz mitteilte. Es war nicht klar, wieviel Schaden ihm zugefügt wurde, als er bewußtlos war.

Nirgal ging hinten in das Abteil, um nach ihm zu sehen. Er lag apathisch auf der Couch. Sein zerschmettertes Gesicht bot einen erschütternden Anblick. Michel kam zurück und setzte sich hin, benommen wie von einem Schlag auf den Kopf. Und zwischen Maya und Spencer schien ein Streit zu schwelen. Sie erklärten sich nicht, schauten sich aber nicht an und sprachen nicht miteinander. Maya war offensichtlich in übler Stimmung. Nirgal kannte den Blick schon seit seiner Kindheit, obwohl er diesmal schlimmer war. Ihre Miene war hart, und die Mundwinkel waren nach unten gezogen.

»Ich habe Phyllis getötet«, sagte sie zu Cojote.

Es trat Stille ein. Nirgal bekam kalte Hände. Plötzlich, als er sich bei den anderen umsah, merkte er, daß sie alle verlegen waren. Die einzige Frau unter ihnen hatte den Mord begangen; und für eine Sekunde hatte das etwas Seltsames an sich, was sie alle empfanden, einschließlich Maya, die sich, ihrer Feigheit bewußt, zurückhielt. Nichts davon war rational oder gar bewußt bei ihnen, wie Nirgal erkannte, als er ihre Gesichter ansah, sondern etwas Primitives, Instinktives, Biologisches. Und so starrte Maya sie desto heftiger an. Sie verachtete ihr Entsetzen und konfrontierte sie mit der fremdartigen Feindseligkeit eines Adlers.

Cojote trat an ihre Seite und hob sich auf Zehenspitzen, um ihr einen Kuß auf die Wange zu geben, wobei er ihrem Blick unerschütterlich standhielt. Er legte eine Hand auf ihren Arm und sagte: »Du hast Gutes getan. Du hast Sax gerettet.«

Maya schüttelte ihn ab und sagte: »Wir haben die Maschine gesprengt, an die sie Sax angeschlossen hatten. Ich weiß nicht, ob es uns gelungen ist, irgendwelche Aufzeichnungen zu vernichten. Wahrscheinlich nicht. Und ich weiß, daß sie ihn gehabt haben und daß jemand ihn zurückgebracht hat. Also gibt es keinen Grund zum Feiern. Sie werden hinter uns her sein mit allem, was sie bekommen haben.«

»Ich glaube nicht, daß sie so gut organisiert sind«, sagte Art.

»Du hältst den Mund!« fuhr Maya ihn an.

»Nun okay, aber schau, da sie jetzt von dir wissen, brauchst du dich nicht mehr so zu verstecken. Stimmt’s?«

»Wieder im Geschäft«, knurrte Cojote.


Sie fuhren diesen ganzen Tag weiter nach Süden, da der von dem katabatischen Sturm aufgewühlte Staub genügte, sie vor Satellitenkameras zu verstecken. Die Spannung blieb. Maya war in finsterer Wut und nicht ansprechbar. Michel behandelte sie wie eine nicht explodierte Bombe und versuchte, sich immer nur auf die praktischen Angelegenheiten des Augenblicks zu konzentrieren, damit sie die schreckliche Nacht vergäße, die sie draußen erlebt hatten. Aber das war nicht einfach, während Sax im Wohnabteil ihres Wagens auf einer Couch lag, bewußtlos und mit all seinen Verletzungen. Nirgal saß endlose Stunden bei Sax, eine Hand flach auf seine Rippen oder oben auf seinen Kopf gelegt. Etwas anderes konnte man nicht tun. Selbst ohne die schwarzen, blutunterlaufenen Augen hätte er nicht so ausgesehen wie der Sax Russell, den Nirgal als Kind gekannt hatte. Es war ein in die Eingeweide dringender Schock, an ihm die Zeichen körperlicher Mißhandlung zu sehen — ein positiver Beweis dafür, daß sie in der Welt Todfeinde hatten. Darüber hatte sich Nirgal in den letzten Jahren immer wieder gewundert, so daß der Anblick von Sax plötzlich ein häßliches und Übelkeit erregendes Faktum war. Nicht nur daß sie Feinde hatten, sondern es gab sogar Leute, die so etwas tun konnten und es im ganzen Verlauf der Geschichte getan hatten, wie die unglaublichen Erzählungen berichteten. Sie waren also doch real. Und Sax war nur eines von vielen Millionen Opfern.

Während Sax schlief, rollte sein Kopf von der einen Seite auf die andere. Michel sagte: »Ich werde ihm Pandorphin spritzen. Ihm und dann auch mir.«

»Mit seinen Lungen stimmt etwas nicht«, sagte Nirgal.

»Wirklich?« Michel legte das Ohr auf Sax’ Brust, horchte einige Zeit und pfiff. »Es ist etwas Flüssigkeit darin. Du hast recht.«

»Was haben sie mit ihm gemacht?« fragte Nirgal Spencer.

»Sie haben zu ihm gesprochen, während sie ihn in der Mangel hatten. Du weißt, sie haben verschiedene Gedächtniszentren im Hippocampus sehr genau geortet und mit Drogen und sehr feiner Ultraschallstimulation und schnellen Mikrowellen bearbeitet, um das, was sie tun, zu verfolgen … Nun, dann geben die Menschen Antworten auf alle Fragen, oft sehr ausführlich. Das haben sie mit Sax gemacht, als der Wind zuschlug und der Strom ausfiel. Das Notstromaggregat sprang sofort an, aber…« Er zeigte auf Sax. »Dabei, oder als wir ihn aus dem Apparat genommen haben … «

Das war es also, weshalb Maya Phyllis Boyle getötet hatte. Das Ende einer Kollaborateurin. Mord unter den Ersten Hundert…

»Nun«, murmelte Kasei in dem anderen Wagen vor sich hin, »es wäre nicht das erste Mal gewesen.« Es gab Leute, die Maya verdächtigten, die Ermordung von John Boone arrangiert zu haben, und Nirgal hatte von Leuten gehört, die argwöhnten, auch das Verschwinden von Frank Chalmers hätte ihr Werk sein können. Man nannte sie die Schwarze Witwe. Nirgal hatte diese Geschichten als boshaften Klatsch abgetan, der von Leuten verbreitet wurde, die Maya offenbar haßten, wie Jackie. Aber Maya sah jetzt wirklich höchst gefährlich aus, wie sie in ihrem Wagen saß und auf das Radio starrte, als ob sie daran dächte, ihr Schweigen zu brechen und dem Süden eine Nachricht zu schicken. Weißhaarig, mit einer Habichtsnase und einem Mund wie eine Wunde … Es machte Nirgal nervös, auch nur in dem gleichen Wagen zu sein wie sie, obwohl er gegen dieses Gefühl ankämpfte. Sie war immerhin eine seiner wichtigsten Lehrerinnen gewesen. Er hatte viele Stunden damit zugebracht, ihre ungeduldigen Lektionen in Mathematik, Geschichte und Russisch in sich aufzunehmen. Er hatte sie besser kennengelernt als irgendwelchen Lehrstoff und wußte recht gut, daß sie keine Mörderin sein wollte, daß unter ihren Stimmungen, die sowohl kühn wie matt, manisch und depressiv waren, eine einsame Seele litt, stolz und hungrig. Darum war in gewisser Weise dieses Unternehmen eine Katastrophe geworden, trotz des offensichtlichen Erfolgs.

Maya verlangte eisern, daß sie alle sich sofort in die südliche Polregion begeben sollten, um dem Untergrund zu berichten, was geschehen war.

»Das ist nicht einfach«, sagte Cojote. »Sie wissen, daß wir in Kasei Vallis gewesen sind, und da sie Zeit hatten, Sax zum Reden zu bringen, wissen sie wahrscheinlich, daß wir versuchen werden, nach Süden zu gelangen. Sie können genau so gut wie wir Karten lesen und sehen, daß der Äquator praktisch blockiert ist von West-Tharsis bis hin zum Osten der Chaose.«

»Es gibt die Lücke zwischen Pavonis und Noctis«, warf Maya ein.

»Ja, aber es führen einige Pisten und Pipelines hindurch und zwei Windungen des Aufzugs. Ich habe unter denen allen Tunnels gebaut, aber wenn sie nachsehen, könnten sie einige davon finden oder unsere Wagen sehen.«

»Was schlägst du also vor?«

»Ich meine, wir sollten nördlich um Tharsis und Olympus Mons herum und dann nach Amazonis hinunter, um dort den Äquator zu überqueren.«

Maya schüttelte den Kopf. »Wir müssen schnell nach Süden kommen, um sie wissen zu lassen, daß man sie entdeckt hat.«

Cojote dachte darüber nach und sagte: »Wir können uns teilen. Ich habe ein kleines Ultraleichtflugzeug in einem Versteck nahe dem Fuß von Echus Overlook stehen. Kasei kann dich und Michel hinführen und nach Süden zurückfliegen. Wir werden über Amazonis nachfolgen.«

»Was ist mit Sax?«

»Wir werden ihn direkt zu Tharsis Tholus schaffen. Dort gibt es ein Klinikzentrum der Bogdanovisten. Das ist nur zwei Nächte entfernt.«

Maya besprach es mit Michel und Kasei, ohne Spencer auch nur anzuschauen. Michel und Kasei hatten nichts dagegen, und schließlich nickte sie. »Einverstanden. Wir gehen in den Süden. Kommt nach, so schnell ihr könnt!«


Sie fuhren bei Nacht und schliefen bei Tag in ihrer alten Routine und schafften in zwei Nächten den Weg über Echus Chasma nach Tharsis Tholus, einem Vulkankegel am Nordrand des Tharsis-Buckels.

Dort befand sich eine Kuppelstadt der NicosiaKlasse auf der kahlen Flanke ihres Namensvetters. Die Stadt war ein Teil der Demimonde. Ihre meisten Bürger führten ein geregeltes Leben im Netz der Oberfläche; aber viele von ihnen waren Bogdanovisten, die halfen, bogdanovistische Flüchtlinge in der Gegend zu unterstützen, ebenso wie Zufluchtsstätten der Roten in Mareotis und auf der Großen Böschung. Sie halfen auch anderen Leuten in der Stadt, die das Netz verlassen oder ihm nie angehört hatten. Die größte medizinische Klinik der Stadt gehörte den Bogdanovisten und diente auch vielen im Untergrund.

Also fuhren sie direkt zur Kuppel hinauf in die Garage und stiegen aus. Bald kam ein kleiner Ambulanzwagen und eilte mit Sax zur Klinik in der Nähe des Stadtzentrums. Der Rest von ihnen ging über die begrünte Hauptstraße hinterher und genoß die Geräumigkeit nach all diesen Tagen in den Wagen. Art machte große Augen über ihr Verhalten, und Nirgal erklärte ihm kurz die Demimonde, als sie zu einem Cafe gegenüber der Klinik gingen mit einigen sicheren Räumen im Obergeschoß.

In der Klinik beschäftigte man sich sofort mit Sax. Einige Stunden nach ihrer Ankunft wurde Nirgal gestattet, gründlich gereinigt sterile Kleidung anzulegen und hineinzugehen und sich zu ihm zu setzen.

Sie hatten ihn an ein Gebläse angeschlossen, das eine Flüssigkeit durch seine Lungen blies. Man konnte sie in den klaren Röhren und der sein Gesicht bedeckenden Maske erkennen. Sie sah aus wie trübes Wasser. Es war ein schrecklicher Anblick, als ob sie ihn ertränken würden. Aber die Flüssigkeit war eine Mischung auf der Basis von Perfluorkohlenstoff, die Sax dreimal soviel Sauerstoff zuführte, als es Luft getan hätte. Und sie spülte den Dreck heraus, der sich in seiner Lunge angesammelt hatte, blähte zusammengebrochene Luftwege wieder auf und war mit verschiedenen Drogen und Arzneien angereichert. Die an Sax arbeitende Ärztin erklärte Nirgal dies alles während ihrer Tätigkeit. »Er hatte ein Odem, darum ist die Behandlung etwas widersprüchlich, aber sie funktioniert.«

Und so saß Nirgal da, seine Hand auf dem Arm von Sax, und beobachtete die Flüssigkeit in der Maske, die am unteren Teil des Gesichts von Sax festgeklebt war und hinein- und heraussprudelte. »Es ist, als ob er in einem ektogenen Tank läge«, sagte Nirgal.

»Oder«, sagte die medizinische Technikerin mit einem belustigten Blick auf ihn, »in der Gebärmutter.«

»Ja. Wird wiedergeboren. Sieht nicht einmal gleich aus.«

»Halt weiter die Hand auf ihm!« riet die Technikerin und ging fort. Nirgal saß da und versuchte zu fühlen, wie es Sax ging, suchte jene Vitalität in den ihr eigenen Prozessen zu fühlen, das Wieder-zurück-Schwimmen in die Welt empor. Die Temperatur von Sax schwankte in beunruhigenden kleinen Hochs und Tiefs. Es kam weiteres ärztliches Personal, hielt Instrumente Sax an Kopf und Gesicht und sprach leise miteinander. »Einiger Schaden. Vorn links. Wir werden sehen.«

Einige Abende später, als Nirgal da war, kam dieselbe Technikerin und sagte: »Halt seinen Kopf, Nirgal! Linke Seite, ums Ohr. Gerade darüber, ja. Halt ihn dort und … ja, so. Tu jetzt, was du machst!«

»Was?«

»Du weißt schon. Schick Wärme in ihn hinein!« Und sie ging eilends fort, als ob sie über einen solchen Vorschlag selbst verwirrt wäre oder erschrocken.

Nirgal saß da und konzentrierte sich. Er lokalisierte das Feuer im Innern und versuchte, etwas davon in seine Hand und hinüber in Sax hineinströmen zu lassen. Wärme, Wärme, ein zaghafter Schuß von Weiß in das Versehrte Grün geschickt… dann wieder fühlen und der Versuch, die Wärme von Saxens Kopf zu erkennen.

Es vergingen Tage; und Nirgal verbrachte fast alle in der Klinik. Eines Nachts kam er von der Küche zurück, als die junge Technikerin über den Korridor auf ihn zugerannt kam, ihn am Arm faßte und sagte: »Los, komm!« Ehe er es sich versah, war er unten in dem Raum und hielt Sax den Kopf. Dessen Atem ging in kurzen Stößen, und alle seine Muskeln waren wie Drähte. Es waren drei Ärzte da und noch einige Techniker. Ein Doktor streckte Nirgal einen Arm entgegen, und die junge Technikerin trat zwischen sie.

Er fühlte, daß sich in Sax etwas rührte, als ob es fortginge oder wiederkäme — irgendeine Passage. Er ließ in Sax jedes bißchen Viriditas einströmen, das er aufbringen konnte, plötzlich erschrocken und berührt von Erinnerungen an die Klinik in Zygote, wo er mit Simon dagesessen hatte. Der Ausdruck von Simons Gesicht in der Nacht seines Todes. Die Flüssigkeit aus Perfluorkohlenstoff wirbelte in raschen flachen Stößen in Sax hinein und heraus. Nirgal sah zu und dachte an Simon. Seine Hand verlor ihre Wärme, und er konnte sie nicht zurückbringen. Sax würde wissen, wer das mit so warmen Händen war. Falls das etwas ausmachte. Aber das war alles, was er tun konnte … Er strengte sich an und drückte, als ob die Welt einfröre, als ob er nicht nur Sax, sondern auch Simon zurückholen könnte, wenn er heftig genug drückte. »Warum Sax?« sagte er leise in das Ohr bei seiner Hand. »Aber warum? Warum Sax? Warum nur?«

Der Perfluorkohlenstoff sprudelte. In dem übermäßig stark beleuchteten Raum summte es. Die Ärzte arbeiteten an den Maschinen und über Saxens Körper, schauten einander und Nirgal an. Das Wort warum wurde zu einem reinen Ton, einer Art von Gebet. Es verging eine Stunde und noch mehr, langsam und furchtsam, bis sie in eine Art von zeitlosem Zustand verfielen. Nirgal hätte nicht sagen können, ob es Tag oder Nacht war. Bezahlung für unsere Körper, dachte er. Wir bezahlen.


Eines Abends, etwa eine Woche nach ihrer Ankunft, pumpten sie die Lungen von Sax aus und nahmen den Ventilator weg. Sax japste laut und atmete dann. Er war wieder ein Luftatmer, ein Säugetier. Sie hatten seine Nase repariert, obwohl sie jetzt anders aussah, fast so flach, wie sie vor seiner kosmetischen Operation gewesen war. Seine Narben waren noch auffällig.

Etwa eine Stunde später, nachdem sie den Ventilator entfernt hatten, kam er zu Bewußtsein. Er blinzelte ständig. Er schaute sich in dem Raum um, blickte dann ganz nahe auf Nirgal und drückte ihm kräftig die Hand. Aber er sprach nicht. Und einen Moment später war er eingeschlafen.

Nirgal ging hinaus in die grünen Straßen der kleinen Stadt, die von dem Kegel des Tharsis Tholus beherrscht wurde, der sich in schwarzer und rostfarbener Majestät wie ein flacher Fuji im Norden erhob. Er lief in seiner rhythmischen Art dahin, immer wieder um die Kuppelwand, etwas von seiner überschüssigen Energie verausgabend. Sax und sein großes unerklärliches …

Sie wohnten in Zimmern über einem Cafe auf der anderen Straßenseite, und dort fand er Cojote, wie er rastlos von Fenster zu Fenster tigerte, murmelte und wortlose Calypsomelodien sang. »Was fehlt?« fragte Nirgal.

Cojote schwenkte beide Hände. »Jetzt, da Sax stabilisiert ist, sollten wir hier abhauen. Du und Spencer, ihr könnt Sax im Wagen betreuen, während wir nach Westen um Olympus herum fahren.«

»Okay«, sagte Nirgal. »Sobald sie sagen, daß Sax bereit ist.«

Cojote starrte ihn an. »Sie sagen, du hättest ihn gerettet. Du hättest ihn von den Toten zurückgeholt.«

Nirgal schüttelte den Kopf, schon durch diesen Gedanken allein erschrocken. »Er war nie gestorben.«

»Das habe ich vermutet. Aber sie sagen es so.« Cojote schaute ihn nachdenklich an. »Du wirst vorsichtig sein müssen.«


Sie fuhren bei Nacht rund um die Flanke von Nordtharsis.

Sax war auf der Couch in dem Abteil zwischen den Fahrern festgemacht. Einige Stunden nach ihrer Abfahrt sagte Cojote: »Ich möchte eines der Bergbaucamps besuchen, die von Subarashii in Ceraunius betrieben werden.« Er schaute Sax an. »Geht das mit dir in Ordnung?«

Sax nickte. Die Waschbärennarben waren jetzt grün und purpurn.

»Warum kannst du nicht sprechen?« fragte ihn Art.

Sax zuckte die Achseln und krächzte.

Sie rollten weiter.

Vom Boden der Nordseite des Tharsisbuckels erstreckt sich eine Gruppe paralleler Canyons, genannt Ceraunus Fossae. Es gibt etwa vierzig dieser Bruchstellen, je nachdem, wie man sie zählt, da manche Einbuchtungen Canyons sind, andere dagegen isolierte Grate oder tiefe Risse oder einfach Wellen im Gelände. Sie alle verlaufen nach Norden und Süden und schneiden ein in ein an Metall reiches Gebiet, eine Basaltmasse, die von unten durch alle Arten von Erzintrusionen durchzogen ist. Darum gab es dort viele Bergbauniederlassungen und mobile Bohranlagen. Als Cojote sie sich jetzt auf seinen Karten ansah, rieb er sich die Hände. »Deine Gefangenschaft hat mir eine Gelegenheit gegeben, Sax. Da sie ohnehin wissen, daß wir hier draußen sind, gibt es keinen Grund, weshalb wir nicht einige von ihnen arbeitslos machen und uns etwas Uran schnappen sollten, während wir da sind.«

Also hielt er eines Abends am südlichen Ende von Tractus Catena, dem längsten und tiefsten Canyon. Sein Anfang bot einen seltsamen Anblick. Die relativ glatte Ebene war von etwas durchbrochen, das wie eine Rampe aussah, die in den Boden schnitt, etwa drei Kilometer weit und am Ende ungefähr dreihundert Meter tief. Sie zog sich in einer vollkommen geraden Linie bis über den Horizont hin.

Sie schliefen während des Morgens und saßen am Nachmittag nervös im Wohnabteil, sahen Satellitenfotos an und lauschten den Anweisungen Cojotes.

Art zupfte an seinem großen Kinn- und Backenbart. »Könnte es sein, daß wir diese Bergleute töten werden?«

Cojote zuckte die Achseln. »Das könnte passieren.«

Sax schüttelte den Kopf heftig vor und zurück.

»Sei nicht so grob mit deinem Kopf!« sagte Nirgal zu ihm.

»Ich stimme Sax zu«, sagte Art rasch. »Ich meine, selbst wenn wir von moralischen Bedenken absehen, was ich nicht tue, ist so ein Vorgehen auch aus rein praktischen Gründen töricht. Es ist töricht, weil es von der Annahme ausgeht, daß deine Feinde schwächer sind als du selbst und tun werden, was du willst, wenn du einige von ihnen umbringst. Aber die Leute sind nicht so. Ich meine, denkt darüber nach, wie es ausgehen wird! Ihr begebt euch in diesen Canyon hinunter und tötet eine Gruppe von Leuten, die ihre Arbeit verrichten. Dann schließt ihr sie im Zufluchtsraum ein und ruiniert ihre Maschinen. Später kommen andere Leute herbei und finden die Leichen. Sie werden euch für immer hassen. Selbst wenn ihr eines Tages die Herrschaft über den Mars gewinnt, werden sie euch noch immer hassen und alles tun, was sie können, um Unheil zu stiften. Und das ist alles, was ihr geschafft habt, weil sie die Bergleute schnell ersetzen werden.«

Art sah Sax an, der sich auf der Couch aufgerichtet hatte, und beobachtete ihn genau. »Andererseits — angenommen, ihr geht da hinunter, tut etwas, das die Bergleute veranlaßt, ihren Schutzraum aufzusuchen, sperrt sie darin ein und ruiniert ihre Maschinen. Sie rufen um Hilfe, hängen da herum, und nach ein paar Tagen kommt jemand, sie zu retten. Sie toben zwar, denken aber auch, daß sie ebensogut tot sein könnten. Die Roten hätten ihr Zeug kaputtgemacht und seien wie der Blitz abgehauen, und sie hätten es nie gesehen. Sie hätten sie töten können, haben das aber nicht getan. Und die Leute, die sie gerettet haben, würden dasselbe denken. Und dann, später, wenn ihr den Mars übernommen hättet oder das versuchtet, erinnern sie sich, werden alle in das Geiselsyndrom verfallen und anfangen, für euch zu wühlen. Oder mit euch zu arbeiten.«

Sax nickte. Spencer sah Nirgal an. Und dann taten das alle außer Cojote, der auf seine Handflächen hinunterschaute, als ob er darin lesen würde. Dann blickte er auf und sah auch Nirgal an.

Für Nirgal war es einfach, und er musterte Cojote etwas besorgt. »Art hat recht. Hiroko wird es uns nie verzeihen, wenn wir anfangen, Menschen ohne Grund zu töten.«

Cojote verzog das Gesicht, als ob er über ihre Milde enttäuscht wäre. Er sagte: »Wir haben gerade in Kasei Vallis eine ganze Menge Menschen getötet.«

»Das war aber etwas anderes!« sagte Nirgal.

»Inwiefern?«

Nirgal zögerte unsicher, und Art sagte rasch: »Das waren Folterknechte der Polizei, die unseren Kumpel hatten und sein Gehirn mit Mikrowellen bearbeitet haben. Sie haben bekommen, was sie verdient haben. Aber diese Burschen da unten im Canyon graben bloß Erz aus.«

Sax nickte. Er starrte sie alle höchst intensiv an, und es schien sicher, daß er alles verstand und tief daran beteiligt war. Aber da er stumm war, konnte man das nur schwer beurteilen.

Cojote sah Art scharf an. »Ist das eine Mine von Praxis?«

»Ich weiß nicht. Das ist mir auch egal.«

»Hmm. Gut…« Cojote sah erst Sax an, dann Spencer und Nirgal, der merkte, daß seine Wangen glühten. »Also gut. Wir werden es auf eure Art versuchen.«


Und so stieg am Ende des Tages Nirgal mit Cojote und Art aus dem Rover. Der Himmel über ihnen war dunkel und voller Sterne, der westliche Quadrant, noch purpurn, warf ein rotes Licht, das ganz deutlich, aber zugleich ungewohnt war. Cojote ging voraus, und Art und Nirgal folgten ihm. Durch seine Visierscheibe sah Nirgal, daß Arts Augen an das Glas gedrückt waren.

Der Boden von Tractus Cartena war an einer Stelle durch ein querlaufendes Störungssystem namens Trac- tus Traction unterbrochen, und das gebrochene Gitter in dieser Zone hatte ein für Fahrzeuge unüberwindliches System von Spalten gebildet. Die Bergleute des Tractus erreichten ihr Camp von der darüber befindlichen Wand des Canyons aus mittels Aufzügen. Aber Cojote sagte, es wäre möglich, Tractus Canyon zu durchqueren, indem man einem die Spalten verbindenden Pfad folgte, den er für sich markiert hatte. Viele seiner Widerstandsaktionen erforderten das Passieren ›unwegsamen‹ Geländes wie diesem hier. Das machte manche seiner besonders legendären ›Besuche‹ möglich und führte ihn durch wildes Gelände, an das sich noch keiner herangewagt hatte. Und mit Nirgal, der manche der Überfälle mitgemacht hatte, hatten sie einige wahrhaft wunderbar erscheinende Abenteuer bestanden — einfach, indem sie herauskamen und zu Fuß reisten.

Also trabten sie den Boden des Canyons entlang in der gleichmäßigen Gangart des Marsbewohners, die Nirgal vervollkommnet und mit einigem Erfolg auch Cojote gelehrt hatte. Art war nicht so geschickt; seine Schritte waren zu kurz, und er stolperte häufig. Aber er hielt mit. Nirgal begann die ungebundene Freude des Laufens zu spüren, das Schnellen von Stein zu Stein und das rasche Zurücklegen großer Strecken aus eigener Kraft. Er genoß auch das rhythmische Atmen, das Hüpfen des Lufttanks auf seinem Rücken und den tranceartigen Zustand, den er im Laufe der Jahre gelernt hatte mit Hilfe des Issei Nanao, der auf der Erde bei einem tibetischen Meister des lung-gom in die Schule gegangen war. Nanao behauptete, daß einige alte lung-gom-pas Gewichte hätten tragen müssen, um nicht davonzufliegen. Und auf dem Mars schien das durchaus möglich. Die Art, wie er über Felsblöcke fliegen konnte, war begeisternd und eine Art Rausch.

Nirgal mußte sich zurückhalten. Weder Cojote noch Art kannten lung-gom und konnten nicht mithalten, obwohl sie recht gut waren. Cojote wegen seines Alters, und Art, weil er erst kürzlich auf den Mars gekommen war. Cojote kannte das Land und lief in kurzen vorsichtigen Tanzschritten, tüchtig und korrekt. Art polterte über das Gelände wie ein schlecht programmierter Roboter und stolperte oft, wenn er im Sternenlicht nicht so recht sah, wo er hintrat. Aber er blieb dennoch recht gut bei Atem. Nirgal lief ihnen voraus wie ein Hund. Art geriet zweimal in eine Staubwolke, und Nirgal rannte hinüber, um nach ihm zu sehen. Aber beide Male stand Art wieder auf, winkte in dem Schweigen des Interkoms Nirgal zu und trabte weiter.

Nachdem sie eine halbe Stunde den Canyon hinuntergelaufen waren, der so gerade war, als ob er nach Plan eingeschnitten worden wäre, erschienen auf dem Boden Risse, die schnell tiefer wurden und sich miteinander verbanden, bis es unmöglich wurde, auf dem eigentlichen Boden des Canyons voranzukommen, da M er jetzt nur noch das gleichmäßige Niveau der Gipfel einer Anzahl von Inseln bezeichnete. Die tiefen Schlitze zwischen diesen Inseln waren stellenweise nur zwei oder drei Meter breit, aber dreißig bis vierzig Meter tief.

Es war merkwürdig, durch diese Gänge mit im allgemeinen flachen Böden zu gehen; aber Cojote führte sie den Weg durch das Labyrinth, ohne an einer der vielen Verzweigungen zu zögern. Er folgte einem Weg, den nur er kannte, und wendete sich dutzendemal nach links oder rechts. Ein Schlitz war so eng, daß sie beide Wände zugleich berühren konnten und bei einer Wendung daran scheuerten.

Als sie auf der Nordseite des Spaltenlabyrinths herauskamen und aus einem schmalen Tal in der zerklüfteten steilen Böschung auftauchten, welches das Ende der Plateau-Inseln bildete, stand vor ihnen, abgehoben von der westlichen Canyonwand, eine Kuppel. Ihr Bogenbau glühte wie der Kolben einer staubigen Glühlampe. In der Kuppel befanden sich mobile Anhänger, Rover, Bohrer, Planierraupen und anderes Bergbaugerät. Es war eine Uranmine, genannt Pechblendengasse, weil der untere Abschnitt des Canyons als Boden ein extrem uranhaltiges Pegmatit war. Es war eine sehr ertragreiche Mine; und Cojote hatte gehört, daß das verarbeitete und dort während der Jahre zwischen den Aufzügen gestapelte Uran noch nicht verschifft worden war.

Cojote lief über den Boden des Canyons zu der Kuppel, und Nirgal und Art folgten ihm. Im Innern war niemand zu sehen. Die einzige Beleuchtung lieferten einige Nachtlampen und die von den erleuchteten Fenstern eines großen Anhängerblocks nahe dem Zentrum kommende Helligkeit.

Cojote ging direkt zum nächsten Schleusentor der Kuppel, und die anderen beiden folgten ihm. Er führte den Stecker seines Armbandgeräts in das Schlüsselloch am Tor ein und fing an, auf seinem Armband zu tippen. Die äußere Schleusentür ging auf. Es schien kein Alarm ausgelöst zu sein, und aus der Tür des Anhängers kamen keine Leute heraus. Cojote ging mit den beiden in die Schleuse, schloß die Außentür, wartete, bis die Schleuse dicht und unter Druck war, und öffnete dann die innere Tür. Dann lief er zu der kleinen Versorgungsanlage neben dem Anhänger. Nirgal rannte zu den Unterkünften und stürmte die Stufen zur Tür des Anhängers hinauf. Er hielt eine von Cojotes ›Brechstangen‹ unter den Türgriff, drehte das Zifferblatt zur Auslösung des Fixativs und drückte die Stange gegen Tür und Wand des Anhängers. Dieser war aus einer Magnesiumlegierung, und das polymere Fixativ würde eine Art keramischer Verbindung zwischen dem Verschlußriegel und dem Anhänger herstellen, so daß die Tür festsaß. Dann lief er um den Anhänger herum, machte dasselbe mit der anderen Tür und eilte dann zum Tor zurück. Er fühlte Adrenalin durch die Adern jagen. Das war so ein toller Streich, daß er sich bewußt an die Sprengladungen erinnern mußte, die Cojote und Art in der ganzen Siedlung verteilten — in den Lagerhäusern, an dem Kuppelstoff und auf dem Parkplatz für die Bergbau-Behemothe. Nirgal stieß zu ihnen, wie sie von einem Fahrzeug zum anderen liefen, die Treppen an deren Seiten emporstiegen, die Türen manuell oder elektronisch öffneten und kleine, von Cojote mitgebrachte Büchsen in die Fahrerhäuser oder Kabinen schleuderten.

Aber da waren auch noch Hunderte von Tonnen an verarbeitetem Uran, die Cojote wegschleppen wollte. Das war zum Glück unmöglich. Sie kamen aber zu einem Lagerhaus, wo sie einige der Robotlastwagen des Bergwerks beluden und darauf programmierten, daß sie in die Canyongebiete nach Norden fahren und ihre Fracht an Stellen abladen sollten, wo die Konzentrationen von Apatit hoch genug waren, um die Radioaktivität des verpackten Urans zu tarnen, so daß dies schwer wiederzufinden sein würde. Spencer hatte bezweifelt, daß diese Strategie funktionieren würde; aber Cojote sagte, daß dadurch das Uran nicht in dem Bergwerk verbleiben würde. Und sie alle freuten sich, bei jedem Plan mitzuhelfen, der ihn hindern könnte, tonnenweise Uran in das Frachtabteil ihres Felsenwagens zu packen, ob dessen Behälter strahlungssicher wären oder nicht.

Als das getan war, liefen sie zum Tor zurück, gingen hinaus und rannten los. Auf halber Entfernung vom Steilabbruch hörten sie von der Kuppel her eine Reihe lauter Explosionen. Nirgal blickte über die Schulter, sah aber keinen Unterschied. Die Kuppel war noch immer schwach beleuchtet, und im Anhänger brannte das Licht.

Er wandte sich um und lief weiter mit einem Gefühl, als ob er flöge. Er war überrascht zu sehen, wie Art vor ihm über den Boden des Canyons schwebte, jeder Schritt ein riesiger wilder Sprung wie ein Gepard auf der ganzen Strecke bis zur Böschung, wo er auf Cojote warten mußte, bis der ihn einholte und sie durch das Spaltenlabyrinth zurückführte. Wieder draußen rannte er erneut los, so daß Nirgal beschloß zu versuchen, ihn zu überholen, nur um zu merken wie schnell er war. Er nahm den Sprintrhythmus auf und beschleunigte immer stärker. Als er an Art vorbeikam, sah er, daß seine eigenen Springbocksätze fast doppelt so weit waren wie die von Art im gleichmäßigen Sprintstil, wo beide Beine so schnell wie möglich zustießen.

Sie kamen lange vor Cojote zu dem Felsenwagen und warteten auf ihn in der Schleuse, kamen wieder zu Atem und grinsten sich durch die Sichtscheiben an. Einige Minuten später war Cojote da und mit ihnen im Innern. Spencer setzte den Rover in Bewegung, als der Zeitschlupf gerade vorbei war und sie noch sechs Stunden Zeit zum Fahren vor sich hatten.

Drinnen lachten sie kräftig über Arts wildes Rennen. Aber der grinste nur und winkte ab. »Ich hatte keine Angst. Ich sage euch, es war diese Marsschwere. Ich lief einfach so wie gewöhnlich, aber meine Beine sprangen los wie die eines Tigers. Erstaunlich!«

Sie rasteten den Tag über und fuhren bei Dunkelheit wieder los. Sie kamen an der Mündung eines langen Canyons vorbei, der von Ceraunius bis Jovis Tholus führte. Da er eigenartigerweise weder gerade noch gewellt war, hieß er Krummer Canyon. Als die Sonne hoch kam, waren sie auf dem Vorfeld des Kraters Qr versteckt, genau nördlich von Jovis Tholus. Dies war ein größerer Vulkan als Tharsis Tholus, ja größer als jeder Vullkan auf der Erde; aber er befand sich auf dem hohen Sattel zwischen Ascraeus Mons und Olympus Mons, die beide im Osten und Westen zu sehen waren, aufragend wie weite Plateaukontinente, im Vergleich mit denen Jovis kompakt, freundlich und verständlich schien — ein Berg, auf den man hinaufgehen konnte, wenn man dazu Lust hatte.

An diesem Tage saß Sax da und starrte stumm auf seinen Schirm, tippte versuchsweise darauf und bekam eine zufällige Folge von Texten, Karten, Diagrammen, Bildern und Gleichungen. Er wandte jedem den Kopf zu ohne ein Zeichen des Erkennens. Nirgal setzte sich neben ihn. »Sax, kannst du hören, was ich sage?«

Sax blickte ihn an.

»Kannst du meine Worte verstehen? Nicke, wenn du sie verstehst!«

Sax neigte den Kopf zur Seite. Nirgal seufzte, gepackt von diesem forschenden Blick. Sax nickte zögernd.


In dieser Nacht fuhr Cojote wieder nach Westen auf Olympus und lenkte gegen Morgen den Rover direkt auf eine Wand aus löchrigem und zermahlenem Basalt zu. Dies war der Rand eines von zahllosen gewundenen Schluchten durchschnittenen Tafellandes, wie Tractus Traction, nur in viel größerem Maßstab, so daß es ein wüstes Terrain bildete wie eine ungeheure Erweiterung des Labyrinths von Traction. Das Tafelland war ein Fächer aus zerbrochener alter Lava, das Überbleibsel eines der frühesten Ströme von Olympus Mons, und bedeckte weicheren Tuff und Asche aus noch früheren Eruptionen. Wo die vom Wind erodierten Schluchten tief genug abgetragen waren, brachen ihre Böden in die Schicht aus weicherem Tuff durch, so daß einige Spalten enge Schlitze bildeten mit Tunnels auf ihrem Grund, abgerundet durch Äonen von Wind. »Wie auf den Kopf gestellte Schlüssellöcher«, sagte Cojote, obwohl Nirgal noch nie ein Schlüsselloch gesehen hatte, das diesen Gebilden auch nur entfernt ähnelte.

Cojote fuhr den Rover direkt in eine der schwarzgrauen Tunnelschluchten hinein. Mehrere Kilometer weiter aufwärts hielt er den Wagen an neben einer Kuppelwand, die in den Tunnel wie eine Embolie eine erweiterte äußere Kurve einschnitt.

Dies war die erste verborgene Zufluchtsstätte, die Art je gesehen hatte, und er machte ein entsprechend erstauntes Gesicht. Die Kuppel war vielleicht zwanzig Meter hoch und umfaßte einen hundert Meter langen Abschnitt der Kurve. Art äußerte sich laut über die Größe, bis Nirgal lachen mußte. Cojote sagte: »Jemand benutzt das schon. Seid also eine Sekunde lang still!«

Art nickte und beugte sich über Cojotes Schulter, um zu hören, was er über das Interkom sagte. Vor der Kuppelschleuse war ein Wagen geparkt, genau so verklumpt und steinig wie der ihre. »Ah!« sagte Cojote und schob Art zurück. »Das ist Vijjika. Die werden Orangen haben und vielleicht etwas Kava. Wir werden heute morgen eine Party veranstalten.«

Sie rollten bis zur Schleuse. Eine Andockröhre trat hervor und klammerte sich um ihre vorgestreckte äußere Tür. Als alle Schleusentüren geöffnet waren, begaben sie sich in die Kuppel. Sie bückten sich und nahmen Sax durch das Rohr mit.

Drinnen empfingen sie acht große, dunkelhäutige Personen, fünf Frauen und drei Männer, eine auffällige Schar, die sich freute, Gesellschaft zu haben. Cojote stellte sie vor, obwohl Nirgal Vijjika schon von der Universität in Sabishii her kannte und fest in die Arme nahm. Sie war erfreut, ihn wiederzusehen, und führte sie alle nach hinten zu der sanften Krümmung der Klippenwand auf einen freien Platz zwischen Anhängern unter einem Oberlicht, das durch einen vertikalen Spalt in der alten Lava gebildet wurde. Unter diesem Strahl diffusen Tageslichts und dem noch diffuseren Licht aus der tiefen Schlucht außerhalb der Kuppel setzten sich die Besucher auf breite flache Kissen um niedrige Tische, während einige ihrer Gastgeber sich an rundbäuchigen Samowaren zu schaffen machten. Cojote sprach mit Bekannten und tauschte Nachrichten aus. Sax sah sich blinzelnd um, und Spencer an seiner Seite machte ein ebenso erstauntes Gesicht. Er hatte seit ’61 an der Oberflächenwelt gelebt, und sein Wissen über die Zufluchtsstätten mußte fast gänzlich aus zweiter Hand stammen. Vierzig Jahre eines doppelten Lebens. Kein Wunder, daß er überrascht war.

Cojote ging an die Samoware und verteilte aus einem freistehenden Schränkchen kleine Becher. Nirgal saß neben Vijjika, einen Arm um ihre Taille gelegt, und sog ihre Wärme und ihr Geflüster ein — und den langen Kontakt ihres Beins mit dem seinen. Art nahm auf ihrer anderen Seite Platz, sein breites Gesicht wie das eines Hundes in die Konversation getaucht. Vijjika stellte sich ihm vor und schüttelte ihm die Hand. Er nahm ihre langen zarten Finger in seine große Pranke, als ob er sie küssen wollte. »Das sind Bogdanovisten«, erklärte Nirgal Art. Er lachte über seine Miene und reichte ihm einen der kleinen irdenen Becher von Cojote. »Ihre Eltern waren vor dem Krieg Gefangene in Korolyov.«

»Ah«, sagte Art. »Wir sind weit davon entfernt, nicht wahr?«

»O ja«, sagte Vijjika, »unsere Eltern haben die Transmarineris-Fernstraße nach Norden befahren, kurz ehe sie überflutet wurde, und kamen schließlich hierher. Da, nimm dieses Tablett von Cojote und teil Becher aus und stell dich jedem vor!«

Also machte Art die Runde, und Nirgal tauschte Neuigkeiten mit Vijjika aus. Sie erzählte ihm: »Du wirst nicht glauben, was wir in einem dieser Tufftunnels gefunden haben. Wir sind ganz phantastisch reich geworden.« Jetzt hatten alle ihre Tassen; darum machten sie einen Moment Pause und taten zusammen ihre ersten Schlucke. Dann kehrten sie nach einigem Hallo und Schlürfen wieder zu ihren Gesprächen zurück. Art begab sich wieder an Nirgals Seite.

»Hier, nimm selbst eine!« sagte Nirgal zu ihm. »Jeder muß sich an dem Toast beteiligen, das ist so Sitte.«

Art nippte von seinem Becher und warf einen mißtrauischen Blick auf die Flüssigkeit, die schwärzer war als Kaffee und übel roch. Er schauderte. »Das ist wie Kaffee mit Lakritze. Giftiger Lakritze.«

Vijjika lachte und sagte: »Es ist Kavajava, eine Mischung von Kava und Kaffee. Sehr stark und riecht wie die Hölle. Und schwer zu bekommen. Gib aber nicht auf! Wenn du es schaffst, eine Tasse hinunterzubringen, wirst du finden, daß es sich lohnt.«

»Wenn du es sagst.« Mutig nahm er noch einen kräftigen Schluck und erschauerte wieder. »Schrecklich!«

»Ja, aber wir mögen es. Manche Leute extrahieren bloß das Kavain aus dem Kava, aber ich halte das nicht für richtig. Rituale sollten auch etwas Unangenehmes an sich haben, sonst weiß man sie nicht richtig zu schätzen.«

»Hmm«, machte Art. Nirgal und Vijjika beobachteten ihn. Nach einer Weile sagte er: »Ich bin in einem Refugium des Untergrundes vom Mars. Werde berauscht durch eine komische fürchterliche Droge in Gesellschaft einiger der sagenhaftesten verlorenen Mitglieder der Ersten Hundert. Und auch junger Eingeborener, von denen die Erde nie gehört hat.«

»Es wirkt schon«, bemerkte Vijjika.

Cojote sprach mit einer Frau, deren Gesicht, obwohl sie auf einem Kissen in der Lotoshaltung saß, sich eben knapp unter seiner Augenhöhe befand, als er vor ihr stand. »Sicher hätte ich gern Lauchsamen«, sagte sie. »Aber du mußt für etwas so Kostbares einen Tauschwert festsetzen.«

»So wertvoll sind sie nicht«, sagte Cojote in seiner überzeugenden Art. »Ihr gebt uns schon mehr Stickstoff, als wir verbrennen können.«

»Gewiß, aber du mußt erst Stickstoff haben, ehe du ihn geben kannst.«

»Das weiß ich.«

»Haben, ehe man gibt, und geben, ehe man verbrennt. Und hier haben wir diese enorme Ader von Natriumnitrat gefunden. Das ist reines caliche blanco, und diese Ödländer sind damit gespickt. Es scheint hier ein Flöz davon zu geben zwischen dem Tuff und der Lava, etwa drei Meter stark und sich erstreckend … wir wissen noch nicht, wie weit. Das ist eine riesige Menge Stickstoff, und wir müssen sie loswerden.«

»Fein, fein«, sagte Cojote. »Aber das ist kein Grund, uns mit Geschenken zu überhäufen.«

»Das tun wir nicht. Du wirst achtzig Prozent von dem verbrennen, was wir dir geben.«

»Siebzig.«

»Na ja, siebzig. Und dann werden wir diese Samen haben und endlich anständigen Salat bei unseren Mahlzeiten essen können.«

»Wenn ihr ihn ziehen könnt. Lauch ist sehr empfindlich.«

»Wir werden jeden Dünger haben, den wir brauchen.«

Cojote lachte. »Das nehme ich an. Aber das ist noch nicht alles. Ich sage dir was: Wir geben euch die Koordinaten für einen der Urantransporter, die wir nach Ceraunius geschickt haben.«

»Und du redest von üppigen Geschenken!«

»O nein, denn es gibt keine Garantie, daß ihr das Zeug werdet bergen können. Aber ihr werdet wissen, wo es sich befindet, und wenn ihr es wirklich bergt, könnt ihr bloß noch ein Picobar Stickstoff verbrennen, und wir sind quitt. Wie wäre es damit?«

»Es kommt mir immer noch zu viel vor.«

»Du wirst dich nicht die ganze Zeit so fühlen mit diesem caliche blanco, den ihr gefunden habt. Ist es wirklich eine solche Menge?«

»Tonnen davon. Millionen Tonnen. Diese Ödländer sind durch und durch damit durchsetzt.«

»Na schön, vielleicht können wir von euch auch etwas Wasserstoffperoxid bekommen. Wir werden den Treibstoff für die Fahrt nach Süden benötigen.«

Art beugte sich vor, wie von einem Magneten angezogen. »Was ist caliche blanco?«

Die Frau sagte: »Es ist fast reines Natriumnitrat.« Sie schilderte die Areologie dieser Gegend. Rhyolitischer Tuff — das umgebende helle Gestein — ist von der dunklen Andesitlava überlagert worden, die das Tafelland bedeckt hat. Erosion hat den Tuff überall da ausgehöhlt, wo Risse in dem freigelegten Andesit waren und Senken am Tunnelboden bildeten. Dabei wurden große Flöze von caliche frei, die zwischen den beiden Schichten gefangen waren. »Das caliche ist lockeres Gestein und Staub, zusammenzementiert mit Salzen und den Natriumnitraten.«

»Diese Schicht muß von Mikroorganismen abgelagert worden sein«, sagte ein Mann hinter der Frau, aber die widersprach sofort.

»Es könnte auch aerothermal entstanden sein, oder durch einen Blitz, der von dem Quarz im Tuff angezogen wurde.«

Sie diskutierten weiter, wie es Leute tun, die zum tausendsten Mal eine Debatte wiederholen. Art unterbrach sie wieder mit der Frage nach caliche blanco. Die Frau erklärte, daß es sich um bis zu achtzig Prozent reines Natriumnitrat handle und darum in dieser an Stickstoff armen Welt sehr wertvoll sei. Auf dem Tisch lag ein Block davon, und sie reichte ihn Art. Dann diskutierte sie weiter mit ihrem Freund, während Cojote mit einem anderen Mann über Tauschgeschäfte sprach. Es ging um Wippen und Töpfe, Kilogramme und Kalorien, Äquivalenz und Überlastung, Kubikmeter pro Sekunde und Picobare. Sie feilschten sachkundig und ernteten viel Gelächter von den Zuhörern.

An einer Stelle unterbrach die Frau Cojote mit einem Ruf: »Schau, wir können nicht einfach einen unbekannten Behälter mit Uran nehmen, von dem wir nicht sicher sind, ob wir ihn überhaupt bekommen werden. Das ist entweder ein übertrieben großes Geschenk, oder ihr wollt uns das Fell über die Ohren ziehen, je nachdem, ob wir den Lastwagen finden können oder nicht! Was für ein Geschäft ist das? Ich finde es auf jeden Fall einen lausigen Handel.«

Cojote wackelte boshaft mit dem Kopf. »Ich mußte darauf zu sprechen kommen, sonst würdet ihr mich in caliche blanco begraben, nicht wahr? Wir sind hier draußen unterwegs, wir haben einige Sämereien, aber sonst nicht viel. Bestimmt nicht Millionen Tonnen von frischem caliche. Und wir brauchen das Wasserstoffperoxid und auch die Teigwaren. Die sind keine Luxusware wie Salatsamen. Ich sage euch — wenn ihr den Lastwagen findet, könnt ihr seinen Gegenwert verbrennen und habt uns immer noch anständig bezahlt. Wenn ihr ihn nicht findet, dann schuldet ihr uns einen, das gebe ich zu; aber in diesem Fall könnt ihr ein Geschenk verbrennen, und dann sind wir auch quitt.«

»Es wird uns eine Woche Arbeit kosten und eine Menge Treibstoff, den Lastwagen zu bergen.« »In Ordnung. Wir werden noch zehn Picobar nehmen und sechs davon verbrennen.«

»Gemacht!« Die Frau schüttelte frustriert den Kopf. »Du bist ein harter Bursche.«

Cojote nickte und stand auf, um ihre Becher nachzufüllen.

Art wandte den Kopf und sah Nirgal mit offenem Mund an. »Erklär mir bitte, was hier gerade vor sich gegangen ist.«

»Nun«, sagte Nirgal, der fühlte, wie ihn die Wohligkeit des Kavas durchströmte, »sie handeln. Wir brauchen Nahrung und Treibstoff. Darum waren wir im Nachteil. Aber Cojote hat es sehr gut hingekriegt.«

Art hob den weißen Block hoch. »Aber was heißt das: Stickstoff bekommen und Stickstoff geben und Stickstoff verbrennen? Was — verbrennst du dein Geld, wenn du es bekommst?«

»Nun ja, etwas davon schon.«

»Also haben beide versucht zu verlieren?«

»Zu verlieren?«

»Bei dem Geschäft zu kurz zu kommen?«

»Zu kurz?«

»Mehr zu geben, als sie bekamen?«

»Nun ja, sicher. Natürlich.«

»Oh, natürlich!« Art rollte mit den Augen. »Aber… du kannst doch nicht auch viel mehr geben, als du bekommst. Habe ich das verstanden?«

»Richtig. Das wäre eine rituelle Geschenkverteilung, wie sie bei Indianern üblich ist und potlatching genannt wird.«

Nirgal sah zu, wie sein neuer Freund das verdaute.

»Wenn du aber immer mehr gibst, als du bekommst, wie erhältst du irgendwas zum Geben — wenn du verstehst, was ich meine?«

Nirgal zuckte die Achseln, sah Vijjika an und drückte sie vielsagend um die Taille. »Ich denke, das mußt du herausfinden. Oder machen.«

»Ah!«

»Es ist die Ökonomie des Schenkens«, sagte Vijjika.

»Die Ökonomie des Schenkens?«

»Es ist ein Teil davon, wie wir hier draußen mit den Dingen umgehen. Für das alte System von Kaufen und Bezahlen gibt es eine Geldwirtschaft, wobei Einheiten von Wasserstoffperoxid als Geld dienen. Aber die meisten Leute versuchen, soviel sie können, nach dem Stickstoffstandard zu erledigen, welcher die Geschenkökonomie darstellt. Die Sufis haben damit angefangen und die Leute in Nirgals Heimat.«

»Und Cojote«, ergänzte Nirgal. Obwohl er, wenn er sich seinen Vater ansah, verstehen konnte, daß Art sich Cojote nur schwer als Wirtschaftstheoretiker vorstellen konnte. Im Moment tippte Cojote gerade wild auf einer Tastatur neben einem anderen Mann. Und als er das Spiel, das sie machten, verlor, schubste er den Mann von seinem Sitzkissen und erklärte allen Leuten, daß ihm die Hand ausgerutscht sei. Er sagte: »Ich werde mit dir Armdrücken um doppelt oder nichts.« Dann stemmten die Männer ihre Ellbogen auf den Tisch, spannten ihre Unterarme und fingen damit an.

»Armdrücken!« sagte Art. »Das ist etwas, das ich verstehen kann.«

Cojote verlor binnen Sekunden, und Art setzte sich hin, um den Gewinner herauszufordern. Er gewann nach Sekunden; und es wurde bald offensichtlich, daß ihm niemand widerstehen konnte. Sogar die Bogdanovisten scharten sich ihm gegenüber. Drei oder vier Hände umklammerten seine Faust und sein Handgelenk, aber er klatschte jede ihrer Kombinationen auf den Tisch. »Okay, ich gewinne«, sagte er schließlich und warf sich wieder auf sein Kissen. »Wieviel bin ich euch schuldig?«


Um die Strahlenhöfe zerklüfteten Geländes zu vermeiden, die sich nördlich von Olympus Mons zusammendrängen, mußten sie einen weiten Bogen nach Norden machen. Sie fuhren bei Nacht und schliefen bei Tage.

Art und Nirgal verbrachten viele Stunden dieser Nächte mit Fahren und Plaudern. Art stellte hunderterlei Fragen, und Nirgal fragte ebensooft zurück, da er von der Erde so fasziniert war wie Art vom Mars. Sie waren ein Paar, das gut zusammenpaßte, jeder sehr am anderen interessiert, was immer einen fruchtbaren Boden für Freundschaft bildet.

Nirgal war davor zurückgeschreckt, allein mit Erdenmenschen Kontakt aufzunehmen, als ihm der Gedanken in seinen Studentenjahren gekommen war. Es war sicher eine gefährliche Vorstellung, die ihn eines Nachts in Sabishii befallen und nie wieder losgelassen hatte. Er hatte monatelang viele Stunden damit verbracht, hierüber nachzudenken, und Untersuchungen angestellt, an wen er sich wenden sollte, falls er sich dazu entschließen würde. Je mehr er lernte, desto stärker wurde sein Gefühl, daß das eine gute Idee wäre und daß eine Allianz mit einer irdischen Macht für ihre Hoffnung von kritischer Bedeutung wäre. Und trotzdem war er sich sicher, daß alle Mitglieder der Ersten Hundert keinen Kontakt riskieren wollten. Falls er es täte, müßte er das von sich aus tun. Das Risiko, die Einsätze …

Er versuchte es mit Praxis deshalb, weil er über die Firma gelesen hatte. Das war ein Schuß ins Dunkel, wie die meisten kritischen Unterfangen sind. Ein instinktiver Akt. Die Fahrt nach Burroughs, der Besuch der Praxisbüros in Hunt Mesa, die wiederholten Ersuchen um eine Verbindung zu William Fort.

Er bekam diese Verbindung, obwohl das an sich noch nichts zu bedeuten hatte. Aber dann, im ersten Moment, da er auf der Straße in Sheffield an Art herangetreten war, erkannte er, daß er es richtig gemacht hatte. Schon in dem Aussehen des großen Mannes hatte eine Eigenschaft gelegen, die Nirgal sofort vertrauenerweckend fand — eine gewisse Offenheit und lässige, freundliche Geschicklichkeit. Um das Vokabular seiner Kindheit zu gebrauchen — eine ›Ausgeglichenheit der beiden Welten‹. Ein Mann, dem er vertraute.

Das Zeichen einer guten Tat ist, daß sie im Rückblick unvermeidlich scheint. Jetzt, als die langen Nächte ihrer Reise im Schein der Infrarotsichtgeräte verstrichen, sprachen die beiden Männer zueinander, als sähen sie sich im Infraroten. Ihr Dialog ging immer weiter und weiter, und sie lernten sich kennen — und wurden Freunde. Nirgals impulsiver Griff zur Erde begann sich auszuwirken. Er konnte sie hier Stunde um Stunde vor sich sehen, einfach in der Miene von Art, der Neugier, dem Interesse.

Sie sprachen über alles, so wie Menschen es eben tun. Ihre Vergangenheiten, ihre Ansichten, ihre Hoffnungen. Nirgal brauchte die meiste Zeit, um Zygote und Sabishii zu schildern. »Ich habe einige Jahre in Sabishii verbracht. Die Issei betreiben dort eine offene Universität. Es wurden keine Akten geführt. Man besuchte einfach die Kurse, die man wollte, und hatte es mit seinem Lehrer zu tun und sonst niemandem. Sabishii funktioniert größtenteils in freiem Stil. Es ist die Hauptstadt der Demimonde wie Tharsis Tholus, nur größer. Eine wirklich bedeutende Stadt. Ich habe dort eine Menge Leute vom ganzen Mars kennengelernt.«

Die Romantik von Sabishii durchzog seinen Kopf: Erinnerungen belebten die Sprache in aller Fülle von Ereignissen und Gefühlen. Alle individuellen Emotionen jener Zeit, so widersprüchlich und unvereinbar sie auch sein mochten, wurden noch einmal zugleich in einem gedrängten polyphonen Akkord durchlebt.

»Das muß wirklich sehr eindrucksvoll gewesen sein, nachdem man an einem Ort wie Zygote aufgewachsen war«, bemerkte Art.

»O ja, das war es. Es war wundervoll.«

»Erzähl mir davon!«

Nirgal bewegte sich in seinem Sitz nach vorn, erschauerte und versuchte, etwas von dem zu übermitteln, wie es gewesen war.


Zuerst war es so fremdartig gewesen. Die Issei hatten Unglaubliches vollbracht. Die Ersten Hundert hatten sich gezankt, gekämpft, über den ganzen Planeten verteilt, einen Krieg angefangen und waren jetzt tot oder versteckt. Die erste Gruppe japanischer Siedler, die zweihundertvierzig, die Sabishii gegründet hatten, gerade sieben Jahre nach dem Eintreffen der Ersten Hundert, waren in der Nähe ihres Landeplatzes geblieben und hatten eine Stadt erbaut. Sie hatten alle nachfolgenden Veränderungen absorbiert, einschließlich der Plazierung eines Moholes dicht neben ihrer Stadt. Sie hatten die Grabungen einfach übernommen und die Abfälle als Baumaterial genutzt. Als die dichter werdende Atmosphäre es ermöglichte, hatten sie das umliegende Terrain, das steinig und hoch war, ein keineswegs leichtes Land, zu Gärten gestaltet, bis sie inmitten eines lockeren kleinen Waldes lebten, einem BonsaiKrummholz, mit alpinen Tälern in den Bergen darüber. In den Katastrophen von 2061 hatten sie sich nie gerührt, galten als neutral und waren von den Transnationalen in Ruhe gelassen worden. In dieser Einsamkeit hatten sie das ausgegrabene Gestein ihres Moholes genommen und daraus lange gewundene Hügel gemacht, die alle von Tunnels und Räumen durchzogen waren, bereit, Leute aus dem Süden aufzunehmen.

So hatten sie die Demimonde erfunden, die gebildetste und komplizierteste Gesellschaft auf dem Mars, voller Menschen, die sich auf der Straße wie Fremde begegneten, aber nachts in Räumen zusammenkamen, um zu reden, zu musizieren und sich zu lieben. Und selbst die nicht zur Unterwelt gehörenden Leute waren interessant, weil die Issei eine Universität ins Leben gerufen hatten, die Universität des Mars, wo viele Studenten, vielleicht ein Drittel von allen, jung und auf dem Mars geboren waren. Und ob diese jungen Eingeborenen von der Welt der Oberfläche oder aus dem Untergrund stammten — sie erkannten einander ohne die geringste Schwierigkeit an, wie Menschen der Heimat in Millionen subtiler Weisen, die keinem Erdgeborenen jemals zugänglich sein konnten. Und so plauderten sie, machten Musik und schliefen miteinander; und natürlich wurde eine ganze Anzahl der Eingeborenen der Oberfläche so in das Wissen vom Untergrund eingeweiht, bis es so schien, als ob alle Eingeborenen alles wüßten und natürliche Verbündete wären.

Zu den Professoren gehörten viele Issei und Nisei von Sabishii, ebenso wie hervorragende Besucher vom ganzen Mars und sogar von der Erde. Die Studenten lebten, studierten und spielten in Straßen und Gärten und offenen Pavillons, an Teichen und in Cafes und auf den breiten grasbewachsenen Boulevards in einer Art von marsianischem Kyoto.

Nirgal hatte die Stadt zum ersten Mal bei einem kurzen Besuch mit Cojote gesehen. Er hatte sie zu groß, zu übervölkert und voll zu vieler Fremder gefunden. Aber Monate später, ermüdet von dem Wandern im Süden mit Cojote und die größte Zeit so einsam, war ihm der Ort als einzig mögliches Ziel erschienen. Sabishii!

Er war dorthin gegangen und in ein Zimmer unter einem Dach gezogen, kleiner als sein Bambusraum in Zygote, kaum größer als sein Bett. Er beteiligte sich an Kursen, Läufen, Calypsobands und Cafegruppen. Er lernte, so viel sein Lektionar fassen konnte. Er stellte fest, wie unglaublich provinziell und ignorant er war. Cojote gab ihm Barren von Wasserstoffperoxid, die er den Issei verkaufte für das Geld, welches er brauchte. Jeder Tag war ein Abenteuer, fast ohne Terminplan, bloß etliche Begegnungen von Stunde zu Stunde, immer weiter und weiter, bis er mitunter erschöpft zusammenbrach. Tagsüber studierte er Areologie und ökologisches Ingenieurwesen. Er gab diesen Disziplinen, die er in Zygote zu erlernen angefangen hatte, einen mathematischen Unterbau. In den Übungsstunden mit Etsa und in dem Werk selbst erkannte er, daß er etwas von der Begabung seiner Mutter geerbt hatte, das Ineinandergreifen aller Komponenten eines Systems deutlich zu sehen. Die Tage waren dieser außerordentlich faszinierenden Arbeit gewidmet. So viele Menschenleben, die dem Gewinn dieser Masse des Wissens geweiht gewesen waren! So mannigfach waren die Kräfte, die dieses Wissen ihnen in der Welt gegeben hatte!

Dann konnte es nachts passieren, daß er bei einem Freund auf den Boden krachte, nachdem er mit einem hundertvierzig Jahre alten Beduinen über den Transkaukasischen Krieg gesprochen hatte. Und in der nächsten Nacht spielte er Baß-Stahltrommel oder Marimbas bis zum Morgen mit zwanzig anderen unter Kavajava stehenden Lateinamerikanern oder Polynesiern. In der folgenden Nacht lag er mit einer dunkelhäutigen Schönheit der Band im Bett. Diese Frauen waren so heiter wie Jackie in höchster Form und viel weniger kompliziert. Am nächsten Abend ging er etwa mit Freunden zu einer Aufführung von Shakespeares King John und beobachtete das große X, welches der Aufbau des Spiels machte, worin das Glück Johns hoch begann und tief endete, während das des Bastards unten anfing und oben endete. Zitternd saß er da und schaute die kritische Szene an, wo sich das X kreuzte, worin John den Tod des jungen Arthurs befiehlt. Danach ging er mit seinen Freunden die ganze Nacht in der Stadt spazieren. Sie redeten über das Stück und was es ihnen über das Schicksal gewisser Issei zu sagen hätte oder die verschiedenen Mächte auf dem Mars oder die Situation Mars/Erde selbst. Und dann, in der Nacht danach, nachdem er mit einigen von ihnen den Tag draußen verbracht und in seinem Bemühen, vom Land soviel wie möglich zu sehen, tiefe Becken ausgekundschaftet hatte, blieben sie vielleicht draußen und schliefen in einem kleinen Biwakzelt, kampierten in einem der hohen Ringwälle östlich der Stadt und wärmten sich eine Mahlzeit auf, wenn überall an dem purpurnen Himmel Sterne herauskamen und die alpinen Blumen in der Felswanne verblaßten, die sie alle umspannte wie eine gigantische Handfläche.

Tag um Tag lehrten ihn diese wechselseitigen Beziehungen mit Fremden mindestens ebensoviel wie die Vorlesungen. Nicht, daß Zygote ihn völlig unwissend gelassen hätte. Seine Bewohner hatten eine solche Vielfalt menschlichen Verhaltens geboten, daß für Nirgal in dieser Hinsicht nicht mehr viele Überraschungen übriggeblieben waren. Er war tatsächlich, wie er zu verstehen anfing, in etwas aufgewachsen, das eine Art Asyl von Exzentrikern war, von Menschen, die durch jene überaus anstrengenden ersten Jahre auf dem Mars stark geprägt waren.

Aber es gab trotzdem noch einige Überraschungen. Zum Beispiel waren die Eingeborenen aus den nördlichen Städten — und nicht nur sie, sondern fast jeder, der nicht aus Zygote kam — viel weniger körperlich kontaktfreudig untereinander, als Nirgal gewohnt war. Sie berührten, umarmten und liebkosten sich nicht so sehr, sie schubsten und schlugen sich weniger und badeten nicht zusammen, obwohl manche es in den öffentlichen Bädern von Sabishii lernten. Daher überraschte Nirgal diese Leute immer wieder durch seine Eigenart. Er sagte drollige Dinge. Er liebte es, den ganzen Tag zu laufen. Aus welchen Gründen auch immer — als die Monate vergingen und er an endlos zusammenhängenden Gruppen, Bands, Zellen und Gangs beteiligt war, wurde ihm bewußt, daß er irgendwie herausfiel, daß ihm eine Clique von Cafe zu Cafe und von Tag zu Tag folgte. Daß es so etwas gab wie ›Nirgals Haufe‹. Er lernte rasch, diese Aufmerksamkeit abzuwimmeln, wenn er sie nicht mochte. Aber manchmal gefiel sie ihm doch.

Das geschah oft, wenn Jackie da war.

»Schon wieder Jackie!« stellte Art fest. Es war nicht das erste und auch nicht das zehnte Mal, daß sie aufgetaucht war.

Nirgal nickte und fühlte seinen Puls rasen.

Auch Jackie war nach Sabishii gezogen, bald nach Nirgal. Sie hatte ein Zimmer in der Nähe genommen und besuchte einige der gleichen Kurse. Und in der fluktuierenden Gruppe ihrer Kommilitonen prahlten sie manchmal voreinander, besonders in der sehr häufigen Situation, wenn der eine oder die andere dabei war, jemanden zu verführen oder verführt zu werden.

Aber bald lernten sie, daß sie sich nicht darin tummeln konnten, wenn sie nicht andere Partner vertreiben wollten. Das mochten beide nicht. Also ließen sie einander in Ruhe, außer wenn der (die) eine die Partnerwahl des (der) anderen ernsthaft mißbilligte. So beurteilten sie in gewisser Weise die Partner des anderen und fanden sich mit dem Einfluß des anderen ab. Und alles das ohne ein Wort, mit diesem einzigen sichtbaren Zeichen der Macht über den anderen. Sie trieben es mit vielen anderen Leuten, machten neue Bekanntschaften und Freundschaften und hatten Affären. Manchmal sahen sie sich wochenlang nicht. Aber dennoch, auf einem tieferen Niveau (Nirgal schüttelte unglücklich den Kopf, als er das Art klarzumachen suchte) ›gehörten sie einander‹ wenn einer von ihnen jemals die Bindung bestätigen wollte, antwortete der andere auf die Verführung mit flammender Erregung, und sie explodierten. Das war in den drei Jahren, die sie in Sabishii waren, nur dreimal geschehen; aber Nirgal wußte aus diesen Begegnungen, daß sie beide verbunden waren — sicher durch ihre Kindheit und alles, was darin passiert war, aber auch durch noch mehr. Alles, was sie taten, war anders, als wenn sie es mit anderen taten, viel intensiver.

Unter seinen übrigen Bekanntschaften gab es nichts, das so mit Bedeutung oder Gefahr befrachtet gewesen wäre. Er hatte Freunde — ein Dutzend, hundert, fünfhundert. Er sagte immer ja. Er stellte Fragen und hörte zu und schlief selten. Er ging zu den Versammlungen von fünfzig verschiedenen politischen Organisationen und stimmte ihnen allen zu. Er verbrachte manche Nacht im Gespräch, entschied das Schicksal des Mars und dann der ganzen menschlichen Rasse. Mit manchen Menschen kam er besser aus als mit anderen. Er konnte mit einem Eingeborenen aus dem Norden sprechen und ihn sofort sympathisch finden und eine Freundschaft begründen, die ewig dauern würde. Das ging oft so. Aber gelegentlich wurde er durch eine Handlung höchst überrascht, die sich seinem Verständnis gänzlich entzog und ihn wieder daran erinnerte, was für ein klösterliches und sogar klaustrophobes Leben er in seiner Jugend in Zygote geführt hatte, das ihn in mancher Hinsicht so unschuldig ließ wie eine Fee, die unter einem Schneckenhaus erzogen wurde.

»Nein, es ist nicht Zygote, das mich geformt hat«, sagte er zu Art und schaute sich um, um sich zu vergewissern, daß Cojote wirklich schlief. »Man kann sich seine Kindheit nicht aussuchen. Das geschieht einem einfach. Aber danach kann man eine Wahl treffen. Ich habe mich für Sabishii entschieden. Und das hat mich wirklich gemacht.«

»Vielleicht«, sagte Art und rieb sich das Kinn. »Aber die Kindheit besteht nicht bloß aus diesen Jahren. Es sind auch die Meinungen, die einen danach formen. Das ist der Grund dafür, daß unsere Kindheit so lange währt.«


Eines frühen Morgens erleuchtete der tief pflaumenblaue Himmel den grandiosen Nordgrat von Acheron im Norden, der wie ein Manhattan aus massivem Fels aufragte, noch nicht in individuelle Wolkenkratzer zerschnitten. Das Canyonland darunter hatte verschiedene Farben und verlieh dem zerklüfteten Land ein buntes Aussehen. »Das sind eine Menge Flechten«, sagte Cojote. Sax kletterte in den Sitz neben ihm und drückte fast die Nase an die Frontscheibe. Er zeigte so viel Lebhaftigkeit wie überhaupt seit seiner Rettung.

Unmittelbar unter dem Gipfel der Acheronrippe war eine Reihe von Spiegelfenstern wie eine Diamantkette, und ganz oben auf dem Grat war ein langer grüner Federbusch unter dem flüchtigen Schimmer eines Zeltes. »Es sieht so aus, als ob es wieder in Besitz genommen worden wäre«, rief Cojote.

Sax nickte.

Spencer, der über ihre Schultern blickte, sagte: »Ich möchte wissen, wer da drin ist.«

»Niemand«, sagte Art. Sie sahen ihn an, und er fuhr fort: »Ich habe bei meiner Einweisung in Sheffield davon gehört. Es ist ein Projekt von Praxis. Sie haben es neu gebaut und alles fertig gemacht. Und jetzt warten sie bloß.«

»Warten auf was?«

»Eigentlich auf Sax Russell. Auf Taneev, Kohl, Tokareva, Russell…« Er sah Sax an und zuckte fast um Verzeihung bittend die Achseln.

Sax krächzte etwas, das wie ein Wort war.

»He!« sagte Cojote.

Sax räusperte sich und versuchte es noch einmal. Sein Mund schürzte sich zu einem kleinen O, und tief aus seiner Kehle kam ein schrecklicher Ton: »W-w-w-w…« Er schaute zu Nirgal hinüber und tat so, als ob dieser es wüßte.

»Warum?« fragte Nirgal.

Sax nickte.

Nirgal fühlte seine Wangen brennen, als ihm plötzlich ein elektrischer Schlag durch die Haut fuhr. Er sprang auf und drückte den kleinen Mann fest an sich. »Du verstehst!«

»Nun, sie haben das als eine Art von Geste gemacht«, sagte Art. »Es war die Idee von Fort, dem Burschen, der Praxis gegründet hat. Vermutlich hat er den Leuten von Praxis in Sheffield gesagt: Vielleicht werden sie zurückkommen. Ich weiß nicht, ob er die praktischen Möglichkeiten bedacht hat oder nicht.«

»Dieser Fort ist ein sonderbarer Kauz«, sagte Cojote, und Sax nickte wieder.

»Stimmt«, sagte Art. »Aber ich wünschte, ihr könntet ihn kennenlernen. Er erinnert mich an die Geschichten, die ihr über Hiroko erzählt.«

»Weiß er, daß wir hier draußen sind?« fragte Spencer.

Nirgals Puls machte einen Sprung, aber Art ließ kein Unbehagen erkennen. »Ich weiß nicht. Er vermutet es. Er wünscht, daß ihr hier draußen seid.«

»Wo lebt er?« fragte Nirgal.

»Ich weiß es nicht.« Art schilderte seinen Besuch bei Fort. »Ich weiß also nicht genau, wo er ist. Irgendwo auf dem Pazifik. Aber wenn ich ihm eine Mitteilung zukommen lassen könnte … «

Niemand antwortete.

»Nun, vielleicht später«, sagte Art.

Sax schaute aus der niedrigen Windschutzscheibe des Rovers auf die entfernte Felsrippe, auf die dünne Linie erleuchteter Fenster, welche die Labors dahinter markierte, leer und still. Cojote langte hin und drückte seinen Nacken. »Du willst es zurückhaben, nicht wahr?«

Sax krächzte etwas.


Auf der leeren Ebene von Amazonis gab es einige Siedlungen jeder Art. Dies war das Hinterland; und sie rollten schnell hindurch nach Süden, Nacht für Nacht. Bei Tage schliefen sie in der verdunkelten Kabine des Wagens. Ihr größtes Problem war, passende Versteckplätze zu finden. Auf flachen freien Ebenen hob sich der Wagen wie ein erratischer Block aus der Eiszeit ab. Und Amazonis war fast ausschließlich freies Gelände. Gewöhnlich verbargen sie sich in dem Vorfeld aus Trümmern um einen der wenigen Krater, an denen sie vorbeikamen. Nach den morgendlichen Mahlzeiten übte Sax manchmal seine Stimme und krächzte unverständliche Worte in dem vergeblichen Bemühen, sich mit ihnen zu unterhalten. Das regte Nirgal noch mehr auf, als es Sax selbst zu kümmern schien, der, obwohl deutlich frustriert, keinen Schmerz zu empfinden schien. Aber er hatte nicht versucht, mit Simon in jenen letzten Wochen zu sprechen …

Cojote und Spencer waren sogar über diesen Fortschritt froh, und sie stellten Sax stundenlang Fragen und unterzogen ihn Tests, die sie dem Computerlektionar entnahmen, um herauszufinden, wo das Problem lag. Spencer sagte: »Offenbar Aphasie. Ich fürchte, daß das Verhör einen Schlag bewirkt hat. Und manche Schläge verursachen das, was man inkohärente Aphasie nennt.«

»Gibt es so etwas wie eine inkohärente Aphasie?« fragte Cojote.

»Offenbar. Inkohärent ist, wenn die Person nicht lesen oder schreiben kann und Schwierigkeiten hat zu sprechen oder die richtigen Worte zu finden, sich aber des Problems durchaus bewußt ist.«

Sax nickte, als ob er die Beschreibung bestätigen wollte.

»Bei kohärenter Aphasie sprechen die Leute zwar eloquent, sind sich aber nicht bewußt, daß das, was sie sagen, sinnlos ist.«

»Ich kenne eine Menge Menschen, die unter so was leiden«, sagte Art.

Spencer ignorierte ihn. »Wir müssen Sax zu Vlad, Ursula und Michel bringen.«

»Das tun wir auch.« Cojote drückte Sax den Arm, ehe er sich auf seine Matte zurückzog.


In der fünften Nacht nach dem Verlassen der Bogdanovisten näherten sie sich dem Äquator und der doppelten Sperre durch das heruntergefallene Kabel des Aufzugs. Cojote war schon früher durch dieses Gebiet gezogen und hatte dabei einen Gletscher benutzt, der von einem der Ausbrüche von Wasserreservoirs in Mangala Vallis 2061 gebildet worden war. Während des Aufruhrs waren Wasser und Eis das alte Trockental hundertfünfzig Kilometer weit hinabgeströmt, und der Gletscher, der zurückblieb, als die Flut gefror, hatte beide Passagen des gefallenen Kabels bei 152° Länge begraben. Cojote hatte eine Route ausfindig gemacht, die über einen ungewöhnlich glatten Streifen dieses Gletschers führte und ihm die Durchfahrt ermöglichte.

Als sie sich dem Mangala-Gletscher näherten, einer langen zerknitterten Masse aus mit Kies bedecktem, braunem Eis, stellten sie leider fest, daß sich die Stelle verändert hatte, seit Cojote dort gewesen war. Er fragte dauernd: »Wo ist diese Rampe? Sie war genau hier.«

Sax krächzte und machte dann mit den Händen knetende Bewegungen, wobei er dauernd durch die Frontscheibe auf den Gletscher blickte.

Nirgal hatte Schwierigkeiten, die Oberfläche des Gletschers zu verstehen. Sie zeigte ein Durcheinander von schmutzigem Weiß, Grau, Schwarz und Braun, so vermischt, daß man kaum Größe, Gestalt oder Entfernung unterscheiden konnte. Er meinte: »Vielleicht ist es nicht die gleiche Stelle.«

Cojote sagte: »Ich weiß es.«

»Bist du sicher?«

»Ja. Ich habe Markierungen hinterlassen. Sieh, da ist eine. Diese in die seitliche Moräne eingesenkte Spur. Aber dahinter sollte eine Auffahrt zu glattem Eis liegen, und es ist nichts als ein Wall aus Eisbergen. Ich benutze diese Route schon seit zehn Jahren.«

»Du hast Glück gehabt, daß du sie so lange gehabt hast«, sagte Spencer. »Diese Gletscher sind zwar langsamer als die auf der Erde, fließen aber genauso bergab.«

Cojote grunzte nur. Sax krächzte und klopfte dann an die innere Schleusentür. Er wollte hinausgehen.

»Meinetwegen«, brummte Cojote und betrachtete eine Karte auf dem Schirm. »Wir müssen den Tag sowieso hier verbringen.«

Also ging Sax frühmorgens über das Geschiebe, welches die Passage des Gletschers aufgepflügt hatte. Eine kleine aufrechte Kreatur mit einem Licht, das aus ihrem Helm schien, wie ein Tiefseefisch auf der Suche nach Nahrung. Irgend etwas bei dem Anblick machte Nirgal besorgt. Er zog sich an und ging nach draußen, um dem alten Mann Gesellschaft zu leisten.

Er wanderte durch den angenehm frischen grauen Morgen, trat von einem Stein auf den anderen und folgte Sax bei seinem gewundenen Kurs durch die Moräne. Eine nach der anderen beleuchtete Saxens Stirnlampe gespenstische kleine Welten. Die Dünen waren von dornigen niedrigen Pflanzen durchsetzt, welche Spalten und Löcher unter Steinen füllten. Alles war grau; aber das Grau der Pflanzen war oliv, khaki oder braun getönt mit gelegentlichen hellen Flecken. Das waren Blüten — in der Sonne zweifellos farbig, aber jetzt nur hellgrau unter dicken behaarten Blättern schimmernd. Über sein Interkom hörte Nirgal, wie Sax sich räusperte. Die kleine Gestalt zeigte auf einen Felsen. Nirgal hockte sich hin, um ihn zu inspizieren. In Spalten gab es da Gewächse wie getrocknete Pilze mit schwarzen Punkten auf ihren verschrumpelten Hüten und von etwas gesprenkelt, das wie eine Schicht Salz aussah. Sax krächzte, als Nirgal eines berührte, konnte aber nicht sagen, was er wollte. »R-r-r…«

Sie sahen einander an. »Das ist okay«, sagte Nirgal, wieder betroffen durch die Erinnerung an Simon.

Sie gingen zu einer anderen Stelle mit Blättern. Die Areale, welche Pflanzen trugen, wirkten wie kleine Räume im Freien, getrennt durch Zonen aus trockenem Gestein und Sand. Sax verbrachte etwa fünfzehn Minuten in jedem Fellfield und stolperte ungeschickt umher. Es gab viele verschiedene Arten von Pflanzen; und erst nachdem sie etliche Schluchten besucht hatten, begann Nirgal zu erkennen, daß einige immer wieder vorkamen. Keine davon ähnelte den Pflanzen, mit denen er in Zygote aufgewachsen war, noch waren sie wie irgend etwas in den Arboreten von Sabishii. Nur die Pflanzen der ersten Generation, die Flechten, Moose und Gräser, sahen durchaus vertraut aus, wie das, was in den hohen Senken über Sabishii den Boden bedeckte.

Sax sprach nicht wieder, aber seine Stirnlampe war wie ein Zeigefinger, und Nirgal richtete seine Stirnlampe oft auf die gleiche Stelle und verdoppelte damit die Beleuchtung. Der Himmel wurde rosa; und es war ihnen, als ob sie sich im Schatten des Planeten befänden, obwohl die Sonne genau über ihren Köpfen stand.

Dann sagte Sax: »Dr…!« und richtete seine Lampe auf einen steilen Kieshang, über dem ein Geflecht hölzerner Zweige wuchs, wie ein Netz, das das Geröll an Ort und Stelle halten sollte.

»Dr…!«

»Dryade«, sagte Nirgal. Er erkannte es.

Sax nickte emphatisch. Die Steine unter ihren Füßen waren mit hellgrünen Flecken aus Flechten bedeckt. Sax deutete auf einen Fleck und sagte: »Ap-fel. Rot. Karte. Moos.«

»He«, sagte Nirgal. »Das hast du recht gut gesagt.«

Das Sonnenlicht warf Schatten über den Kieshang. Plötzlich wurden die kleinen Blüten der Dryade vom Licht hervorgehoben. Die elfenbeinfarbenen Blütenblätter umspannten goldene Staubgefäße. »Dry-ade«, krächzte Sax. Das Licht ihrer Stirnlampen war jetzt nicht mehr zu sehen, und die Blüten strahlten in der Farbe des Tageslichts. Nirgal hörte im Interkom einen Ton und schaute Sax in den Helm. Er sah, daß der alte Mann weinte und ihm Tränen die Wangen herunterströmten.

Nirgal brütete über Karten und Fotos der Region. »Ich habe eine Idee«, sagte er zu Cojote. Und in dieser Nacht fuhren sie zum Nicholson-Krater, vierhundert Kilometer nach Westen. Das herunterfallende Kabel hätte quer über diesem großen Krater herunterkommen müssen, zumindest bei seiner ersten Runde; und Nirgal meinte, daß nahe dem Rand eine Unterbrechung oder Lücke sein könnte.

Als sie dann den niedrigen Berg mit flachem Gipfel hinaufrollten, der die nördliche Moränenböschung des Kraters bildete, kamen sie zu dem erodierten Rand und sahen das unheimliche Bild einer schwarzen Linie, die sich in etwa vierzig Kilometern Entfernung quer mitten über den Krater hinzog und aussah wie das Artefakt einer längst vergessenen Rasse von Riesen. Cojote begann: »Des Großen Mannes …«

»Haarsträhne«, schlug Spencer vor.

»Oder schwarze Zahnbürste«, sagte Art.

Die innere Wand des Kraters war viel steiler als der äußere Vorsprung; es stand aber eine Anzahl von Pässen zur Wahl. Sie fuhren ohne Schwierigkeiten den verfestigten Hang eines alten Erdrutsches hinunter und überquerten dann den Kraterboden, wobei sie der Krümmung der westlichen inneren Wand folgten. Als sie sich dem Kabel näherten, sahen sie, daß es aus einer Vertiefung herausragte, die es in den Rand gedrückt hatte, und sich elegant zum Kraterboden senkte wie das Trägerkabel einer vergrabenen Hängebrücke.

Sie fuhren langsam darunter. Wo es den Rand verließ, befand es sich fast siebzig Meter über dem Kraterboden und berührte ihn erst wieder nach mehr als einem Kilometer. Sie richteten die Kamera des Wagens nach oben und betrachteten gespannt das Bild auf dem Schirm. Aber der schwarze Zylinder zeigte vor den Sternen keine Merkmale, und sie konnten nur darüber spekulieren, was der Brand beim Absturz dem Karbon angetan haben könnte.

»Das ist famos«, bemerkte Cojote, als sie einen glatten Hang von durch Windwirkung entstandenen Ablagerungen hinauffuhren, über einen anderen Paß im Rand und dann aus dem Krater hinaus. »Hoffen wir jetzt, daß es einen Weg über den nächsten Paß gibt.«

Von der Südflanke Nicholsons konnten sie viele Kilometer nach Süden blicken, und in halber Entfernung zum Horizont war die schwarze Linie von der zweiten Runde des Kabels. Dieser Teil war viel stärker aufgeschlagen als der erste, und zwei Streifen von Auswurfmaterial verliefen parallel zum Kabel wie Erdwälle. Wie es schien, ragte das Kabel nur knapp aus dem Graben heraus, den es in das Gelände gedroschen hatte.

Während sie sich zwischen ausgeworfenen Felsblöcken hindurchwanden und näher kamen, sahen sie, daß das Kabel eine zertrümmerte Masse aus schwarzem Schrott war, ein Hügel aus Karbon, drei bis fünf Meter höher als die Ebene ringsum und steil an den Seiten, so daß es nicht möglich schien, im Felsenwagen darüberzufahren.

Aber weiter im Osten war eine Delle in dem Trümmerhügel; und als sie an der Linie entlangfuhren, um das zu erkunden, stellten sie fest, daß ein Meteoriteneinsturz nach dem Fall des Kabels auf den Trümmern selbst gelandet war. Er hatte das Kabel zerschmettert und auch das ausgeworfene Material zu beiden Seiten und einen neuen flachen Krater gebildet, der ganz mit schwarzen Kabelfragmenten und gelegentlichen Diamantbruchstücken, die im Innern des Kabels eine Spirale gebildet hatten, bestreut war. Es war ein unordentlicher Wust von einem Krater ohne definierten Rand, um ihnen den Weg zu versperren. Es sah so aus, als ob es möglich wäre, eine Route hindurch zu finden.

»Unglaublich!« sagte Cojote.

Sax schüttelte heftig den Kopf. »Dei… Dei…«

»Phobos«, sagte Nirgal, und Sax nickte.

»Meinst du?« rief Spencer.

Sax zuckte die Achseln, aber Spencer und Cojote diskutierten leidenschaftlich diese Möglichkeit. Der Krater war oval, ein sogenannter Badewannenkrater, was den Gedanken eines Aufsturzes unter flachem Winkel stützen würde. Und während ein willkürlicher Meteorit, der das Kabel in den vierzig Jahren seit seinem Sturz getroffen hätte, ein ungewöhnlicher Zufall gewesen wäre, waren die Fragmente von Phobos gänzlich in der Äquatorzone heruntergekommen. Darum wäre es weniger überraschend, wenn ein Stück von ihm das Kabel getroffen hätte. »Aber immer noch sehr nützlich«, bemerkte Cojote, nachdem er sie über den kleinen Krater gesteuert und den Wagen nach Süden aus dem Bereich der Auswürfe hinausgebracht hatte.

Sie parkten dicht bei einem der letzten großen ausgeschleuderten Brocken, zogen sich an und gingen hinaus, um einen Blick auf die Stelle zu werfen.

Überall gab es in Brekzien verwandelte Steinklumpen, so daß es nicht deutlich war, welche Stücke des Meteoriten und welche beim Sturz des Kabels herausgerissen worden waren. Aber Spencer verstand sich sehr gut auf das Bestimmen von Mineralien und sammelte mehrere Proben, die er für exotische kohlenstoffhaltige Chondrite erklärte, sehr ähnlich den Stücken des aufgeprallten Meteoriten. Es würde eine chemische Analyse erfordern, um sicher zu sein; aber nachher, wieder im Wagen, betrachtete er sie unter Vergrößerung und erklärte sich zuversichtlich, daß es Stücke von Phobos wären. »Arkady hat mir, als er zum ersten Male herunterkam, ein Stück gezeigt, das genauso war.« Sie reichten ein schwarzes Stück herum, das sehr schwer verbrannt aussah. »Brekzienbildung durch Aufprall hat eine Metamorphose bewirkt«, sagte Spencer und sah sich den Stein genau an, als er wieder zu ihm kam. »Ich nehme an, man müßte es Phobosit nennen.«

»Auch nicht gerade das seltenste Mineral auf dem Mars«, erklärte Cojote.


Südöstlich vom Nicholson-Krater liefen die zwei großen parallelen Canyons der Medusae Fossae über dreihundert Kilometer weit ins Herz der Gebirge des Südens. Cojote beschloß, nach East Medusa hinaufzufahren, dem größeren der beiden Brüche. »Ich liebe es, durch Canyons zu fahren, wenn ich kann, und zu sehen, ob die Wände Überhänge oder Höhlen haben. Auf diese Weise habe ich die meisten meiner Versteckplätze gefunden.«

»Was ist, wenn du auf eine steile Böschung stößt, die quer durch den ganzen Canyon geht?« fragte Nirgal.

»Ich mache kehrt. Das ist mir schon unerhört oft passiert, ohne Zweifel.«

Also fuhren sie den Rest der Nacht den Canyon hinauf, der, wie sich zeigte, größtenteils einen flachen Boden hatte. Als sie in der folgenden Nacht weiter nach Süden gingen, begann der Boden des Canyons anzusteigen in Stufen, die man immer bewältigen konnte. Dann erreichten sie ein neues höheres Niveau des Bodens, und Nirgal, der fuhr, hielt den Wagen an. »Da oben gibt es Häuser!«

Sie alle drängten sich, um durch die Frontscheibe zu blicken. Am Horizont stand schweigend eine Ansammlung kleiner weißer Gebäude aus weißem Stein.

Nachdem sie diese eine halbe Stunde lang mit den verschiedenen Sichtgeräten untersucht hatten, zuckte Cojote die Achseln. »Keine erkennbare Elektrizität oder Wärme. Sieht nicht so aus, als ob dort jemand wohnte. Laßt uns einen Blick darauf werfen!«

Also fuhren sie auf die Gebilde zu und hielten vor einem massiven Stück der Klippenwand an, das bis auf den Boden gerollt war. Sie stellten fest, daß die Gebäude frei dastanden, ohne eine Kuppel um sie herum. Sie schienen solide Blöcke aus weißlichem Gestein zu sein, wie die caliche blanco im Wüstenland nördlich von Olympus. Zwischen den Gebäuden standen reglos kleine weiße Figuren auf weißen, von weißen Bäumen umgebenen Plazas.

»Statuen«, sagte Spencer. »Eine Stadt aus Stein!«

Sax krächzte: »Mu — Muh! — du! sa!«

Spencer, Art und Cojote lachten. Sie klopften Sax auf die Schulter, als ob sie ihn in den Boden hämmern wollten. Dann zogen sie sich alle wieder an und gingen hinaus, um sich genauer umzuschauen.

Die weißen Wände der Gebäude schimmerten unheimlich im Sternenlicht wie gigantische Reklameplakate. Es waren etwa zwanzig Gebäude und viele Bäume und etwa hundert Menschen — und auch einige Dutzend Löwen, die frei unter die Leute verteilt waren. Alles aus weißem Stein gehauen, den Spencer als Alabaster identifizierte. Die zentrale Plaza schien während eines aktiven Morgens versteinert worden zu sein. Es gab einen voll besuchten Bauernmarkt und eine um zwei Schach spielende Männer gescharte Gruppe mit hüfthohen Figuren auf einem großen Brett. Die schwarzen Schachfiguren und die schwarzen Quadrate des Schachbretts hoben sich von ihrer Umgebung dramatisch ab. Onyx in einer Welt aus Alabaster.

Eine andere Gruppe von Statuen schaute einem Jongleur zu, der zu unsichtbaren Bällen aufblickte. Mehrere Löwen beobachteten diese Vorstellung genau, als ob sie bereit wären, etwas aus der Luft zu schlagen, falls der Jongleur zu dicht herankäme. Alle Gesichter der Statuen, menschlich oder katzenartig, waren abgerundet und fast ohne Kennzeichen; aber jede drückte irgendeine Haltung aus.

Spencer sagte über Interkom: »Seht euch die kreisförmige Anordnung der Gebäude an! Das ist bogdanovistische Architektur oder etwas Ähnliches.«

»Kein Bogdanovist hat das je mir gegenüber erwähnt«, sagte Cojote. »Ich glaube nicht, daß jemand von ihnen einmal in dieser Gegend gewesen ist. Das ist hier ziemlich entlegen.« Er schaute sich um, durch die Visierscheibe war ein Grinsen zu erkennen. »Da muß jemand allerhand Zeit damit verbracht haben.«

»Menschen machen seltsame Dinge«, sagte Spencer.

Nirgal wanderte um die Ränder des Konstrukts herum, ignorierte das Gerede im Interkom und schaute in ein undeutliches Gesicht nach dem anderen und in Toreingänge aus weißem Stein und weiße Steinfenster. Sein Blut wallte. Es war, als ob der Bildhauer den Platz angefertigt hätte, um zu ihm zu sprechen, um ihn mit seiner Vision zu treffen. Die weiße Welt seiner Kindheit, die direkt in das Grün hinausstieß — oder hier draußen ins Rot…

Und es war etwas Friedliches an diesem Ort. Nicht einfach die Stille, sondern die wunderbare Entspannung in all diesen Figuren, in der fließenden Ruhe ihrer Haltungen. So konnte der Mars sein. Kein Sichverstecken mehr, kein Streit mehr. Die Kinder liefen auf dem Markt herum, die Löwen spazierten wie Katzen zwischen ihnen …

Nach einem ausgedehnten Rundgang durch die Alabasterstadt kehrten sie zum Wagen zurück und fuhren weiter. Etwa fünfzehn Minuten später entdeckte Nirgal noch eine Statue, nur ein weißes Basrelief, das aus der Klippe gegenüber der Stadt auftauchte. »Die Medusa selbst«, sagte Spencer und unterbrach seinen nächtlichen Trunk. Das basiliskische Starren der Gorgo war direkt zurück auf die Stadt gerichtet, und die steinernen Schlangen ihres Haares wanden sich von ihrem Haupt fort und zurück zur Klippe, als ob der Fels sie bei ihrem Pferdeschwanz aus Schlangen gepackt hätte und verhinderte, daß sie völlig aus dem Planeten herausschwebte.

»Wunderschön«, sagte Cojote. »Erinnere dich an dieses Gesicht! Wenn es nicht ein Selbstbildnis des Bildhauers ist, irre ich mich sehr.« Er fuhr weiter, ohne anzuhalten, und Nirgal starrte neugierig auf das steinerne Gesicht. Es schien asiatisch zu sein, obwohl das vielleicht nur daher rührte, daß das Schlangenhaar nach hinten gezogen war. Er versuchte, sich die Gesichtszüge einzuprägen in dem Gefühl, daß es sich um etwas handelte, das er schon wußte.


Sie kamen vor der Dämmerung aus dem MedusaCanyon heraus und machten halt, um sich den Tag über zu verstecken und ihre nächste Strecke festzulegen. Jenseits des Burton-Kraters, der vor ihnen lag, durchschnitten die Memnonia Fossae das Land von Osten nach Westen über Hunderte von Kilometern und blockierten ihren Weg nach Süden. Sie mußten nach Westen ausweichen, auf die Krater Williams und Ejrikson zu, dann wieder nach Süden in Richtung Columbus-Krater und sich danach weiter südlich durch eine schmale Lücke in den Sirenum Fossae winden — und so weiter. Sie vollführten einen ständigen Tanz um Krater, Spalten, Böschungen und Löcher herum. Die Gebirge des Südens waren äußerst rauh im Vergleich mit den glatten Landschaften des Nordens. Art machte eine Bemerkung über diesen Unterschied, und Cojote sagte mürrisch: »Mensch, das ist ein Planet. Da gibt es alle Arten von Land.«

Jeden Tag erwachten sie nach einem Wecker, der auf eine Stunde vor Sonnenuntergang gestellt war, und verbrachten das letzte Tageslicht mit dem Verzehr eines dürftigen Frühstücks und dem Betrachten der grellen Farben des Alpenglühens, vermischt mit den Schatten über der zerklüfteten Landschaft. Dann fuhren sie jede Nacht, ohne den Autopiloten überhaupt benutzen zu können, Kilometer um Kilometer durch das rauhe Terrain. Nirgal und Art übernahmen meistens zusammen die zweite Nachtschicht und setzten ihre langen Unterhaltungen fort. Wenn dann die Sterne verblaßten und das reine Violett der Frühdämmerung den Osthimmel färbte, suchten sie Stellen, wo der Felswagen unauffällig sein würde — in dieser Breite das Werk eines Augenblicks, da man nur anzuhalten brauchte, wie Art sagte. Sie nahmen eine gemütliche Mahlzeit zu sich und betrachteten das grelle Licht des Sonnenaufgangs und die plötzlich von ihm geschaffenen großen Schattenwürfe. Einige Stunden später nach einer Planungsbesprechung und gelegentlichen Ausflügen ins Freie verdunkelten sie die Frontscheibe und schliefen den ganzen Tag durch.

Am Ende eines solchen langen nächtlichen Gesprächs über ihrer beiden Kindheiten sagte Nirgal: »Ich glaube, daß ich erst in Sabishii von Zygote begriffen habe, daß es… «

»Ungewöhnlich war?« sagte Cojote von seiner Schlafmatte hinter ihnen. »Einzigartig? Bizarr? Hiroko-ähnlich?«

Nirgal war nicht überrascht festzustellen, daß Cojote wach war. Der alte Mann hatte keinen tiefen Schlaf und murmelte oft einen träumerischen Kommentar zu den Gesprächen von Nirgal und Art, den sie im allgemeinen ignorierten, da er meistens gleich wieder einnickte. Aber jetzt sagte Nirgal: »Zygote spiegelt Hiroko wider, denke ich. Sie ist sehr nach innen gekehrt.«

»Oha«, sagte Cojote. »Das war sie früher nicht.«

»Wann war das?« fuhr Art auf und drehte seinen Sessel, um Cojote in ihren kleinen Gesprächskreis einzuschließen.

»Ach, noch vor dem Anfang. In prähistorischen Zeiten damals auf der Erde«, sagte Cojote.

»Hast du sie dort schon kennengelernt?«

Cojote grunzte bejahend.

Das war der Punkt, wo er immer abbrach, wenn er mit Nirgal sprach. Aber jetzt hier mit Art, da sie alle drei in der ganzen Welt munter waren in einem kleinen Kreis, der vom Infrarotschirm beleuchtet wurde, zeigte Cojotes entstelltes Gesicht einen anderen Ausdruck als seine gewöhnliche eigensinnige Abweisung; und Art beugte sich zu ihm hinüber und fragte nachdrücklich: »Wie bist du überhaupt zum Mars gekommen?«

»O Gott!« sagte Cojote, rollte sich zur Seite und stützte den Kopf auf eine Hand. »Es ist schwer, sich an etwas zu erinnern, das so lange her ist. Es ist fast wie ein Epos, das ich einmal auswendig gelernt habe, aber nicht mehr aufsagen kann.«

Er schaute zu ihnen auf und schloß dann die Augen, als ob er sich die Anfangsverse ins Gedächtnis riefe. Die beiden jüngeren Männer sahen ihn erwartungsvoll an.

»Das lag natürlich alles an Hiroko. Sie und ich waren befreundet. Wir haben uns jung kennengelernt, als wir in Cambridge studierten. Uns beiden war in England kalt, darum haben wir einander gewärmt. Das war, ehe sie Iwao traf und lange bevor sie die große Muttergöttin der Welt wurde. Und wir hatten damals dort vieles gemeinsam. Wir waren in Cambridge Außenseiter und waren gut bei unserer Arbeit. Und so lebten wir dort einige Jahre zusammen. Ganz ähnlich dem, was Nirgal über Sabishii gesagt hat. Sogar dem, was er über Jackie sagte. Obwohl Hiroko…«

Er schloß die Augen, als ob er es mit seinem geistigen Auge zu sehen bemüht wäre.

»Seid ihr beisammen geblieben?« fragte Art.

»Nein. Sie kehrte nach Japan zurück, und ich ging für einige Zeit mit ihr, mußte dann aber, als mein Vater starb, wieder nach Tobago gehen. So änderten sich die Verhältnisse. Aber sie und ich blieben in Kontakt. Wir trafen uns bei wissenschaftlichen Kongressen. Dort stritten wir oder versprachen einander, uns ewig zu lieben. Oder beides. Wir wußten nicht, was wir wollten. Oder wie wir es bekommen konnten, wenn wir uns eingestanden, was wir wollten. Und dann begann die Auswahl der Ersten Hundert. Aber ich saß in Trinidad im Gefängnis, weil ich gegen die Gesetze der Gefälligkeitsflaggen protestiert hatte. Aber selbst wenn ich frei gewesen wäre, hätte ich keine Chance gehabt, ausgewählt zu werden. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt gehen wollte. Aber Hiroko erinnerte sich entweder an unsere Gelöbnisse oder dachte, daß ich ihr nützlich sein würde. Ich bin mir nie darüber klar geworden, was von beidem. Also setzte sie sich mit mir in Verbindung und teilte mir mit, daß sie mich, falls ich Lust hätte, in der Farm der Ares und dann in der Marskolonie verstecken würde. Sie hat immer kühne Ideen gehabt, das muß ich ihr lassen.«

»Ist dir dieser Plan nicht verrückt vorgekommen?« fragte Art mit großen Augen. »O doch!« sagte Cojote lachend. »Aber alle guten Pläne sind verrückt, nicht wahr? Und wenn ich mich nicht dazu entschlossen hätte, würde ich Hiroko nie wiedergesehen haben.« Er sah mit verschmitztem Lächeln Nirgal an. »Also sagte ich zu. Ich war noch im Gefängnis, aber Hiroko hatte in Japan einige ungewöhnliche Freunde; und so wurde ich eines Nachts von drei maskierten Männern aus meiner Zelle geführt, während alle Wärter schliefen. Wir nahmen einen Hubschrauber zu einem Tanker, und ich fuhr darauf nach Japan. Die Japaner bauten damals die Raumstation, welche die Russen und Amerikaner für die Montage der Ares brauchten; und ich wurde in einem der neuen Shuttles für die Verbindung zwischen Erde und Weltraum hinaufgeflogen und schlüpfte in die Ares, als der Bau gerade beendet war. Sie stopften mich hinein mit Teilen der Ausrüstung, die Hiroko bestellt hatte; und danach war ich mir selbst überlassen. Von jenem Augenblick an bis jetzt lebte ich von meiner geistigen Wendigkeit! Deshalb war ich manchmal sehr hungrig, bis die Ares startete. Danach kümmerte sich Hiroko um mich. Und als sie die Crew der Farm ins Vertrauen gezogen hatte, stellte sie mich denen vor, und es war noch einfacher. Schwierig wurde es auf dem Boden in den ersten Wochen nach der Landung. Ich kam herunter in einem Lander, der nur mit der Farmcrew besetzt war, und die Leute halfen mir, in einem Schließfach in einem Anhänger unterzukommen. Hiroko ließ die Gewächshäuser sehr schnell errichten, hauptsächlich, um mich aus diesem Versteck herauszubringen. So etwa hat sie es mir wenigstens erzählt.«

»Du hast in einem Schrank gelebt?«

»Einige Monate lang. Das war schlimmer als Gefängnis. Aber danach wohnte ich in dem Gewächshaus und begann mit der Arbeit, indem ich einen Vorrat der Materialien anlegte, die wir für uns mitnehmen mußten. Iwao hatte gleich zu Beginn den Inhalt etlicher Frachtkisten versteckt. Und nachdem wir einen Rover aus Ersatzteilen gebaut hatten, verbrachte ich die meiste Zeit außerhalb von Underhill. Ich erkundete das chaotische Terrain, fand einen guten Platz für unser geheimes Versteck und schaffte Sachen dorthin. Ich war mehr als jeder andere auf der freien Oberfläche, sogar mehr als Ann. Als dann die Farm dorthin umgezogen war, pflegte ich einen großen Teil meiner Zeit auf eigene Faust zu verbringen. Nur ich und der Große Mann wanderten über den Planeten. Ich sage euch, das war wie der Himmel. Nein, nicht Himmel, sondern Mars, Mars pur. Ich glaube, ich habe dabei irgendwie den Kopf verloren. Aber ich liebte es so … Ich kann gar nicht darüber sprechen.«

»Du mußt eine Menge Strahlung abbekommen haben.«

Cojote lachte. »O ja! Zwischen jenen Fahrten und dem Sonnensturm auf der Ares habe ich mehr Rems erwischt als jeder von den Ersten Hundert, außer vielleicht John. Vielleicht ist es das gewesen. Jedenfalls… « — er zuckte die Achseln und sah zu Art und Nirgal auf — »bin ich hier. Der blinde Passagier.«

»Erstaunlich!« sagte Art.

Nirgal nickte. Er hatte seinen Vater nie dazu gebracht, auch nur ein Zehntel soviel Informationen über seine Vergangenheit preiszugeben; und jetzt schaute er von Art zu Cojote und wieder zurück und fragte sich, wie Art das geschafft hatte. Und auch für ihn; denn Nirgal hatte versucht, nicht nur das zu erzählen, was ihm geschehen war, sondern auch, was es bedeutet hatte. Und das war viel schwieriger. Offenbar war das ein besonderes Talent, das Art besaß, obwohl es sich sehr schwer festlegen ließ. Vielleicht war es irgendwie seine Miene, das nach innen schielende Interesse, seine nüchternen kühnen Fragen, die auf Nettigkeiten verzichteten und direkt in das Wesen der Dinge zielten — die Annahme, daß ein jeder sprechen und den Sinn seines Lebens ausdrücken möchte. Selbst wortkarge alte Einsiedler wie Cojote.

»Nun, so hart war es gar nicht«, fuhr Cojote fort. »Sich zu verbergen ist nie so schwierig, wie die Leute meinen. Das müßt ihr verstehen. Der schwierige Teil ist zu handeln, während man sich verbirgt.«

Bei diesem Gedanken runzelte er die Stirn und zeigte dann mit dem Finger auf Nirgal. »Das ist es, weshalb wir gelegentlich herauskommen und offen kämpfen müssen. Das ist es, weshalb ich dafür gesorgt habe, daß du nach Sabishii gegangen bist.«

»Was? Du hast mir gesagt, ich sollte nicht gehen! — Du hast gesagt, es würde mich ruinieren!«

»Genau! Und so habe ich dich dazu gebracht, daß du gingst.«

Sie behielten diese nächtlichen Gespräche über den größeren Teil einer Woche bei. Als diese vorbei war, näherten sie sich einer kleinen bewohnten Region, die das Mohole umgab, welches in der Mitte der Krater Hipparchus, Eudoxus, Ptolemäus und Li Fan gegraben worden war. Auf den Ausläufern dieser Krater gab es einige Uranminen; aber Cojote hatte keine Sabotageversuche mehr vor, und sie fuhren dicht an dem Ptolemäusmohole vorbei und entfernten sich so schnell wie möglich aus der Gegend. Bald kamen sie zu den Thaumasia Fossae, dem fünften oder sechsten großen Bruchsystem, das ihnen auf ihrer Reise begegnet war. Art fand es bemerkenswert, aber Spencer erklärte ihm, daß der Tharsis-Buckel von Bruchsystemen umgeben war, die seine Erhebung verursacht hatten. Und da sie den Buckel praktisch umrundeten, müßten sie ständig darauf stoßen. Thaumasia war eines der größten dieser Systeme. Und hier befand sich die große Stadt Senzeni Na, die nahe einem anderen der Moholes auf 40° südlicher Breite gegründet worden war, einem der ersten, die man gegraben hatte, und das immer noch eines der tiefsten war. Sie waren über zwei Wochen zu diesem Punkt unterwegs gewesen und mußten sich bei einem der Verstecke Cojotes neu versorgen.

Sie fuhren in den Süden von Senzeni Na und wanden sich gegen Morgen zwischen alten steinigen Hügeln hindurch. Als sie aber von einer niedrigen gebrochenen Böschung zu dem unteren Ende eines Erdrutsches kamen, fing Cojote an zu fluchen. Der Boden war gezeichnet von Roverspuren und einem Haufen zertrümmerter Gaszylinder, Nahrungskisten und Treibstoffbehälter.

Sie starrten das Bild an. »Dein Versteck?« fragte Art und rief damit eine neue Flut von Verwünschungen hervor.

»Wer war das?« fragte Art. »Polizei?«

Keiner antwortete sofort. Sax ging zu einem Fahrersitz, um die Treibstoffanzeigen zu prüfen. Cojote fluchte wütend immer weiter und ließ sich in den anderen Fahrersitz fallen. Schließlich sagte er zu Art: »Das war keine Polizei. Außer sie hätten angefangen, Vishniac-Rover zu benutzen. Nein. Diese Diebe kamen aus dem Untergund, verdammt sollen sie sein! Wahrscheinlich ein Haufen, der in Argyre seine Basis hat. Ich kann mir sonst niemanden vorstellen, der das tun würde. Aber diese Bande weiß, wo sich einige meiner alten Verstecke befanden, und sie sind mir spinnefeind, seit ich eine Bergwerkssiedlung in den Charitums sabotiert habe, weil die danach geschlossen wurde und sie damit ihre Hauptversorgungsquelle verloren.«

»Ihr solltet versuchen, auf der gleichen Seite zu bleiben«, sagte Art.

»Halt’s Maul!« fauchte ihn Cojote an.

Dann startete Cojote den Felsenwagen und fuhr weg. Er sagte bitter: »Es ist immer dieselbe alte Geschichte. Der Widerstand fängt an, sich selbst zu bekämpfen, weil das der einzige Gegner ist, den er schlagen kann. Passiert immerzu. Man kann keine Bewegung größer als fünf Personen machen, ohne mindestens einen verdammten Idioten mit dabei zu haben.«

In diesem Stil machte er noch einige Zeit weiter. Endlich klopfte Sax auf eine Treibstoffuhr, und Cojote knurrte: »Ich weiß!«

Es war taghell, und er hielt in einer Schlucht zwischen zwei alten Hügeln an. Sie verdunkelten die Fenster und lagen im Finstern auf ihren schmalen Matratzen.

»Wie viele Untergrundgruppen gibt es?« fragte Art.

»Das weiß niemand«, sagte Cojote.

»Du machst Witze!«

Nirgal antwortete, ehe Cojote wieder anfing. »In der südlichen Hemisphäre sind es ungefähr vierzig. Und einige seit langem bestehende Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen werden gefährlich. Es gibt hier draußen einige harte Gruppen. Radikale Rote, Schnellingsche Splittergruppen, Fundamentalisten verschiedener Prägung … Das macht Ärger.«

»Aber arbeitet ihr nicht alle für die gleiche Sache?«

»Ich weiß nicht.« Nirgal erinnerte sich an nächtelange Diskussionen in Sabishii, die manchmal recht heftig wurden, unter Studenten, die eigentlich Freunde waren. »Vielleicht nicht.«

»Aber habt ihr das nicht gründlich besprochen?«

»Nein, nicht offiziell.«

Art machte ein erstauntes Gesicht und sagte: »Das solltet ihr aber tun.«

»Was tun?« fragte Nirgal.

»Ihr solltet ein gemeinsames Treffen aller Untergrundgruppen veranstalten und sehen, ob ihr euch darüber einig seid, was ihr alle zu tun versucht. Wie man Streitfragen klärt und dergleichen.«

Außer einem skeptischen Brummen von Cojote gab es hierauf keine Antwort. Nach langer Zeit sagte Nirgal: »Ich habe den Eindruck, daß manche dieser Gruppen Gametes überdrüssig sind, weil die Ersten Hundert darin sind. Niemand möchte irgendeine Autonomie gegenüber etwas aufgeben, das schon als das mächtigste Sanktuarium angesehen wird.«

»Aber sie könnten bei einer Versammlung daran arbeiten«, sagte Art. »Das wäre ein Teil von deren Zweck. Unter anderem. Ihr alle müßt zusammenarbeiten, besonders wenn die transnationale Polizei aktiver wird nach dem, was sie aus Sax herausgeholt haben.«

Sax nickte dazu. Der Rest erwog es schweigend. Irgendwann während des Nachdenkens fing Art an zu schnarchen. Aber Nirgal blieb noch stundenlang wach und überlegte.

Sie näherten sich Senzeni Na in einiger Bedrängnis. Ihre Nahrungsvorräte reichten aus, wenn sie sie rationierten; und die Wiederaufbereitung von Wasser und Gasen des Wagens war so leistungsfähig, daß nur wenig verlorenging. Aber es fehlte einfach Treibstoff für den Wagen. Cojote sagte: »Wir brauchen etwa fünfzig Kilo Wasserstoffperoxid.«

Er fuhr zum Rand des größten Canyons von Thaumasia hinauf. Dort in der gegenüberliegenden Wand lag Senzeni Na hinter großen Glasscheiben, die Arkaden alle voller hoher Bäume. Der Boden des Canyons davor war bedeckt mit Gehröhren, kleinen Kuppeln, dem großen Fabrikkomplex des Moholes und dem Mohole selbst, welches ein riesiges schwarzes Loch am Südende des Komplexes bildete, und der Schutthalde, die im Canyon weit nach Norden hinaufreichte. Dies galt als das tiefste Mohole auf dem Mars, so tief, daß das Gestein auf dem Grund etwas plastisch wurde. Es ›matschte sich‹ — wie Cojote es ausdrückte — achtzehn Kilometer tief hinein, wobei die Lithosphäre in diesem Gebiet ungefähr fünfundzwanzig Kilometer stark war.

Der Betrieb des Moholes lief fast völlig automatisch, und die Mehrheit der Stadtbevölkerung näherte sich ihm fast nie. Und viele der Robotlastwagen, die Gestein aus dem Loch heraufschafften, arbeiteten mit Wasserstoffperoxid als Treibstoff. Darum würden die Lagerhäuser unten auf dem Canyonboden das haben, was sie benötigten. Und die Sicherheitsorgane dort stammten noch aus der Zeit vor den Unruhen und waren zum Teil von Boone organisiert. Darum dürften sie Cojotes Methoden nur kümmerlichen Widerstand leisten können, zumal da er in seinem Computer alle alten Programme von John besaß.

Der Canyon war aber außergewöhnlich lang, und der beste Weg für Cojote, auf den Canyonboden hinunterzukommen, war eine Kletterpiste, die etwa zehn Kilometer vom Mohole entfernt war.

»Das ist fein«, sagte Nirgal. »Ich werde es zu Fuß schaffen.«

»Fünfzig Kilo?« meinte Cojote.

»Ich werde mit ihm gehen«, sagte Art. »Ich bin wahrscheinlich keiner mystischen Levitation fähig, kann aber laufen.«

Cojote dachte darüber nach und nickte. »Ich werde euch die Klippe hinunterbringen.«

Das tat er, und während des Zeitrutsches brachen Nirgal und Art auf mit leeren Rucksäcken über ihren Lufttanks und liefen locker über den glatten Boden des Canyons nördlich von Senzeni Na. Nirgal hatte den Eindruck, daß es eine leichte Unternehmung sein würde. Sie kamen ohne Probleme zu dem Moholekomplex. Das Sternenlicht wurde hier verstärkt durch das diffuse Licht der Stadt, das aus dem Glas drang und an der gegenüberliegenden Wand reflektiert wurde. Cojotes Programm führte sie so schnell durch eine Garagenschleuse und in den Bereich des Lagerhauses, als ob sie jedes Recht hätten, dort zu sein, und ohne ein Anzeichen, daß sie Alarm ausgelöst hätten. Als sie aber im Lagerhaus selbst drin waren und kleine Behälter mit Wasserstoffperoxid in ihre Rucksäcke stopften, gingen plötzlich alle Lichter an, und Türen von Notausgängen schlossen sich.

Art rannte sofort zu der der Tür gegenüberliegenden Wand, brachte eine Ladung an und ging zur Seite. Die Ladung explodierte mit lautem Knall und sprengte ein beträchtliches Loch in die dünne Wand des Lagerhauses. Schon waren beide draußen und schlichen sich zwischen riesigen Schleppseilen zur Außenwand. Aus der Schleuse des Gehrohres liefen Gestalten in Schutzanzügen von der Stadt heraus; und die beiden Eindringlinge mußten sich hinter eine Schleppleine ducken, die so groß war, daß sie in dem Spalt zwischen zwei einzelnen Traktorkabeln stehen konnten. Nirgal fühlte, wie sein Herz gegen das Metall pochte. Die Gestalten drangen ins Lagerhaus ein, und Art rannte heraus und brachte eine weitere Ladung an. Deren Lichtblitz blendete Nirgal, und er kroch durch das Loch im Zaun und rannte los, ohne etwas zu sehen und ohne die dreißig Kilo der Treibstoffbehälter zu spüren, die auf seinem Rücken hüpften und ihm die Lufttanks ins Kreuz stießen. Art war wieder vor ihm, bei der Marsgravitation schlimm außer Kontrolle. Aber dennoch rannte er in großen hohen Sprüngen vorwärts. Nirgal mußte fast lachen, als er es schaffte, ihn einzuholen. Er fand seinen Rhythmus, und als er kurz vor ihm war, zeigte er durch sein Beispiel, wie er seine Arme richtig gebrauchen müßte — in einer Art von Schwimmbewegung anstelle des schnellen Pumpens, das Art so oft aus dem Gleichgewicht brachte. Trotz der Dunkelheit und ihrem Tempo schien es Nirgal, daß Art allmählich langsamer würde.

Und sie liefen dahin. Nirgal übernahm die Führung und versuchte, die sauberste Route über den Canyonboden zu finden, die am wenigsten mit Steinen bestreut war. Das Licht der Sterne erschien mehr als ausreichend, ihren Weg zu erhellen. Art stampfte zu seiner Rechten voran und drängte ihn zur Eile. Es wurde fast ein Wettrennen, und Nirgal lief viel schneller, als er es von sich aus oder unter normalen Verhältnissen getan hätte. So war ein großer Teil davon Rhythmus, Wärme und deren Abgabe aus dem Rumpf in die Haut und dann den Schutzanzug. Es war überraschend zu sehen, wie Art mit ihm Schritt hielt, ohne den Vorteil irgendeiner Ausbildung. Er war ein kräftiger Kerl.

Sie liefen fast an Cojote vorbei, der hinter einem Felsen hervortrat und sie so erschreckte, daß es sie wie Kegel umhaute. Dann erklommen sie gemeinsam die steinige Piste, die er auf der Wand der Klippe markiert hatte, und befanden sich auf dem Rand wieder unter der Kuppel voller Sterne. Die hellen Lichter von Senzeni Na waren wie ein Raumschiff, das in die gegenüberliegende Klippe getaucht war.

Zurück im Felsenwagen schnappte Art nach Luft, noch außer Atem von dem Lauf durch den Canyon. Er sagte zu Nirgal: »Du mußt mir … dieses lung-gom beibringen. Mein Gott, läufst du schnell!«

»Nun, du auch. Ich weiß nicht, wie du das machst.«

»Angst.« Er schüttelte den Kopf und sog die Luft ein. »So etwas ist gefährlich«, beklagte er sich bei Cojote.

Cojote erwiderte heftig: »Es war nicht meine Idee. Wenn diese Schufte nicht meine Vorräte gestohlen hätten, hätten wir das nicht tun müssen.«

»Nun ja, aber du leistest dir doch die ganze Zeit solche Stücke, nicht wahr? Und das ist gefährlich. Ich meine, du solltest etwas anderes machen als Sabotage im Hinterland. Etwas, das zum System paßt.«


Es stellte sich heraus, daß fünfzig Kilo das absolute Minimum waren, welches sie brauchten, um nach Hause zu kommen. Darum krochen sie dahin nach Abschaltung aller nicht lebensnotwendigen Systeme. Darum war das Innere des Wagens dunkel und recht kalt. Draußen war es auch kalt. Wegen der länger werdenden Nächte des frühen südlichen Winters erschien Reif auf dem Boden, und es gab Schneetreiben. Salzkristalle in dem Gestöber dienten als Keime für Eisflocken, die so dick wie Eisblumen wurden. Zwischen diesen weißen Kristallfeldern, die im Sternenlicht matt schimmerten, navigierten sie, bis diese zu einer großen Decke von Schnee, Rauhreif und Eisblumen verschmolzen. Sie fuhren langsam darüber hin, bis eines Nachts das Wasserstoffperoxid zu Ende ging. Art sagte: »Wir hätten mehr holen sollen.«

»Halt den Mund!« knurrte Cojote.

Sie fuhren weiter mit Batteriekraft, die nicht lange vorhalten würde. Im Dunkel des unbeleuchteten Wagens war das von der weißen Welt draußen kommende Licht gespenstisch. Keiner von ihnen sagte etwas, außer um wichtige Punkte des Fahrens zu besprechen. Cojote war zuversichtlich, daß die Batterien sie weit genug bis nach Hause bringen würden. Und wenn etwas schiefgehen sollte, wenn eines der von Eis blockierten Räder mit seiner Achse steckenbleiben würde, hätten sie es mit Gehen versuchen müssen, dachte Nirgal. Laufen. Aber Spencer und Sax würden nicht weit laufen können.

In der sechsten Nacht nach dem Überfall auf Senzeni Na aber wurde gegen Ende des Zeitrutsches der frostige Boden vor ihnen zu einer rein weißen Linie, die am Horizont dicker wurde und sich dann von ihm löste. Weiße Klippen der Südpolkappe. Art sagte ginsend: »Das sieht wie eine Hochzeitstorte aus.«

Sie hatten die Batteriekraft fast ganz erschöpft, so daß der Wagen langsamer zu werden anfing. Aber Gamete lag nur ein paar Kilometer im Uhrzeigersinn um die Polkappe entfernt. Und so lenkte Cojote den Wagen kurz nach Tagesanbruch in die außerhalb liegende Garage im Nadia-Komplex am Kraterrand. Das letzte Stück marschierten sie. Frischer Reif knirschte unter ihren Füßen im Morgenlicht mit seinen langen Schatten unter dem großen weißen Überhang von Trockeneis.

Gamete gab Nirgal das gleiche Gefühl wie immer, nämlich daß er versuchen würde, sich Kleider anzuziehen, die viel zu klein waren. Aber diesmal war Art bei ihm, und so war der Besuch dadurch interessant, daß er einem neuen Freund sein altes Heim zeigte. Jeden Tag führte Nirgal ihn herum, erklärte Besonderheiten des Platzes und machte ihn mit Leuten bekannt. Wenn er den Wandel von Mienen beobachtete, die in Arts Gesicht offen zum Ausdruck kamen, von Erstaunen bis hin zu Unglauben, so empfand er das als wirklich eigenartig. Die weiße Eiskuppel, die Winde, Nebel, Vögel, der Teich, das stets unter Frost stehende Dorf, seltsam ohne Schatten, seine weißblauen Gebäude, die von der Sichel aus Bambusbaumhäusern umrahmt wurden … Es war ein ungewöhnlicher Ort. Und Art fand sämtliche Issei ebenso erstaunlich. Er schüttelte ihnen die Hände und sagte: »Ich habe euch im Video gesehen und freue mich sehr, euch kennenzulernen.« Nachdem er Vlad und Ursula, Marina und Iwao vorgestellt worden war, bemerkte er leise zu Nirgal: »Das ist wie ein Wachsfigurenkabinett.«

Nirgal brachte ihn zu Hiroko hinunter; und sie war wie üblich freundlich und distanziert. Sie behandelte Art mit etwa der gleichen Herzlichkeit, die sie Nirgal zukommen ließ. Muttergöttin der Welt… Sie waren in ihren Labors; und da sie sich von ihr irgendwie beunruhigt fühlten, führte Nirgal Art zu den Ektogentanks und erklärte, um was es sich handelte. Art machte ganz runde Augen, wenn er überrascht war, und jetzt waren sie wie weißblaue Kugeln. »Die sehen aus wie Kühlschränke«, sagte und starrte Nirgal an. »War es einsam?«

Nirgal zuckte die Achseln und schaute nach unten auf die kleinen klaren Fenster wie Bullaugen. Einstmals hatte er darin geschwommen, träumend und strampelnd … Es war schwer, sich die Vergangenheit vorzustellen, und schwer, an sie zu glauben. Milliarden von Jahren lang hatte er nicht existiert. Und dann eines Tages, in diesem kleinen schwarzen Kasten… eine plötzliche Erscheinung, Grün im Weiß, Weiß im Grün.

»Es ist hier so kalt«, bemerkte Art, als sie wieder hinausgingen. Er trug einen großen geliehenen Mantel mit Textilfutter und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen.

»Wir müssen eine Schicht aus Wassereis aufrechterhalten, die das Trockeneis bedeckt. So bleibt die Luft gut. Darum ist sie immer ein wenig unter dem Gefrierpunkt, aber nicht viel. Mir selbst gefällt es. Ich halte es für die beste Temperatur von allen.«

»Kindheit.«

»Allerdings.«


Sie besuchten Sax jeden Tag, und er krächzte dann zum Gruß »Hallo!« oder »Lebt wohl!« und versuchte sein Bestes, um zu sprechen. Michel arbeitete jeden Tag stundenlang mit ihm. Er sagte ihnen: »Es ist entschieden Aphasie. Vlad und Ursula haben ihn gescannt; der Schaden steckt im linken vorderen Sprachzentrum. Er hat Mühe, das Wort zu finden, und denkt manchmal, daß er es erwischt hat. Aber was herauskommt, sind synonyme, antonyme oder tabuisierte Wörter. Ihr solltet hören, wie er sagen kann: ›Schlimme Resultates Es ist für ihn frustrierend, aber die Verbesserung gegenüber seiner speziellen Versehrtheit ist oft gut. Allerdings langsam. Es ist im Grunde so, daß andere Teile des Gehirns lernen müssen, die Funktionen des geschädigten Teils zu übernehmen. So — arbeiten wir daran. Es ist hübsch, wenn es gut vorangeht. Und es könnte natürlich schlimmer sein.«

Sax, der sie währenddessen angeschaut hatte, nickte seltsam und sagte: »Ich will lehren. Sprechen.«


Von allen Leuten in Gamete, mit denen Nirgal Art bekannt machte, kam dieser am besten mit Nadia zurecht. Sie waren zu Nirgals Überraschung sofort voneinander angezogen. Aber er freute sich darüber und sah seine alte Lehrerin zärtlich an, als sie in Beantwortung des Schwalls von Arts Fragen ihrerseits ein Geständnis ablegte. Ihr Gesicht wirkte sehr alt im Vergleich zu ihren auffallenden hellbraunen Augen mit den grünen Flecken um die Pupillen — Augen, die freundliches Interesse und Intelligenz ausstrahlten und Belustigung über Arts Fragen.

Am Ende verbrachten sie drei Stunden miteinander in Nirgals Zimmer. Sie plauderten und schauten auf das Dorf hinunter oder durch die äußeren Fenster zum Teich. Art ging in dem kleinen Zylinder zwischen Tür und Fenstern hin und her und betastete die Einschnitte in dem glänzenden grünen Holz. »Nennt ihr das Holz?« fragte er mit Blick auf den Bambus. Nadia lachte und sagte: »Ich nenne es Holz. Es ist Hirokos Idee, in diesen Dingern zu leben. Und die ist gut. Gute Isolation, unglaubliche Festigkeit, keine Zimmermannsarbeit außer Installation von Tür und Fenstern … «

»Ich vermute, diesen Bambus hättest du gern in Underhill gehabt, nicht wahr?«

»Die Räume waren dort zu klein. Vielleicht in den Arkaden. Im übrigen ist diese Spezies erst kürzlich entwickelt worden.«

Sie richtete jetzt Fragen an ihn und stellte dutzendweise Erkundigungen über die Erde an. Was benutzten sie jetzt als Baumaterial für Häuser? Würden sie Fusionsenergie kommerziell verwenden? War die UN durch den Krieg von ’61 unwiederbringlich geschädigt? Würden sie versuchen, einen Raumaufzug für die Erde zu bauen? Wieviel Prozent der Bevölkerung haben Altersbehandlung bekommen? Welche der großen Transnationalen waren am mächtigsten? Kämpften sie unter sich um die Vorherrschaft?

Art beantwortete diese Fragen so ausführlich er konnte; und obwohl er wegen der Unzulänglichkeit seiner Antworten den Kopf schüttelte, lernte Nirgal für sich daraus eine Menge, und Nadia schien dasselbe zu empfinden. Und beide mußten recht oft lachen. Als Art seinerseits Nadia Fragen stellte, waren ihre Antworten freundlich, aber sehr unterschiedlich in ihrer Ausführlichkeit. Wenn sie über ihre laufenden Projekte sprach, ging sie ins Detail. Sie freute sich, die Dutzende von Bauvorhaben zu beschreiben, an denen sie in der Südhemisphäre arbeitete. Wenn er ihr aber in seiner kühnen, direkten Art Fragen stellte nach den frühen Jahren in Underhill, zuckte sie gewöhnlich bloß die Achseln, selbst wenn er sich nach Details der Bauten erkundigte. Sie sagte meistens: »Ich kann mich wirklich nicht sehr gut erinnern.«

»Na, mach schon!«

»Nein, das ist die Wahrheit. Das ist wirklich ein Problem. Wie alt bist du?«

»Fünfzig. Oder einundfünfzig, schätze ich. Ich habe das Datum nicht verfolgt.«

»Nun, ich bin einhundertzwanzig. Mach kein so entsetztes Gesicht! Mit den Behandlungen ist das gar nicht so alt — du wirst sehen! Ich habe gerade erst vor zwei Jahren die Behandlung wiederholt und bin nicht gerade wie ein Teenager, fühle mich aber recht gut. Sogar sehr gut. Aber ich denke, das Gedächtnis ist das schwache Glied. Es könnte sein, daß das Gehirn nicht so viel faßt. Oder vielleicht versuche ich es auch bloß nicht. Aber ich bin nicht der einzige Mensch mit diesem Problem. Maya geht es noch schlimmer als mir. Und jeder in meinem Alter beklagt sich darüber. Vlad und Ursula werden besorgt. Ich bin überrascht, daß sie damals, als sie die Behandlungen entwickelten, nicht daran gedacht haben.«

»Vielleicht haben sie es danach vergessen.«

Wohl zu ihrer eigenen Überraschung mußte sie lachen.

Später beim Essen, als sie wieder über ihre Baupläne gesprochen hatten, sagte Art ihr: »Du solltest wirklich versuchen, eine Zusammenkunft all dieser Untergrundgruppen zustande zu bringen.«

Maya saß an ihrem Tisch und sah Art so mißtrauisch an wie schon in Echus Chasma. »Das ist nicht möglich«, erklärte sie. Sie sah viel besser aus als damals, als sie sich getrennt hatten, dachte Nirgal — ausgeruht, groß, geschmeidig, graziös, strahlend. Sie schien die Schuld des Mordes abgeschüttelt zu haben wie einen Mantel, den sie nicht mochte.

»Warum nicht?« fragte Art sie. »Ihr hättet es sehr viel besser, wenn ihr auf der Oberfläche leben könntet.«

»Das ist klar. Und wir könnten in die Demimonde einziehen, wenn das so einfach wäre. Aber auf der Oberfläche und im Orbit gibt es eine große Polizeitruppe; und das letztemal, als sie uns gesehen haben, versuchten sie, uns so schnell wie möglich zu töten. Und die Art, wie sie Sax behandelt haben, gibt mir keine Zuversicht, daß sich die Dinge gewandelt haben.«

»Das sage ich auch nicht. Aber ich denke, daß es Dinge gibt, die du tun könntest, um ihnen wirksamer entgegenzutreten. Zum Beispiel sich zusammenzuschließen und einen Plan zu machen. Kontakt mit Organisationen an der Oberfläche aufnehmen, die euch helfen würden. So etwas.«

»Wir haben solche Kontakte«, sagte Maya kühl. Aber Nadia nickte. Und in Nirgals Kopf tobten Bilder seiner Jahre in Sabishii. Ein Treffen des Untergrunds …

»Die von Sabishii würden bestimmt kommen«, sagte er. »Sie machen schon die ganze Zeit solche Sachen. Das ist eben praktisch die Demimonde.«

»Du solltest auch daran denken, Verbindung mit Praxis aufzunehmen«, sagte Art. »Mein früherer Chef William Fort würde an einer solchen Zusammenkunft sehr interessiert sein. Und alle Mitglieder von Praxis sind mit Neuerungen beschäftigt, die dir gefallen würden.«

»Deinfrüherer Chef?« sagte Maya.

»Gewiß«, sagte Art mit leichtem Lächeln. »Jetzt bin ich mein eigener Chef.«

»Ich denke, daß du eher unser Gefangener bist«, erklärte Maya scharf.

»Wenn du von Anarchisten gefangen bist, ist es dasselbe, nicht wahr?«

Nadia und Nirgal lachten, aber Maya machte ein brummiges Gesicht und wandte sich ab.

»Ich meine, ein Meeting wäre eine gute Idee«, sagte Nadia. »Wir haben Cojote zu lange allein das Netzwerk betreiben lassen.«

»Das habe ich gehört!« rief Cojote vom nächsten Tisch.

»Gefällt dir diese Idee nicht?« fragte ihn Nadia.

Cojote zuckte die Achseln. »Wir müssen etwas tun, das ist ohne Zweifel richtig. Sie wissen jetzt, daß wir hier unten sind.«

Das löste ein nachdenkliches Schweigen aus.

Nadia sagte zu Art: »Ich gehe in der nächsten Woche nach Norden. Wenn du willst, kannst du mit mir kommen. Du auch, Nirgal, wenn du Lust hast. Ich werde eine Menge Zufluchtsstätten besuchen, und wir können mit ihnen über eine Versammlung sprechen.«

»Sicher«, sagte Art mit erfreuter Miene. Und Nirgals Geist raste los, als er an die Möglichkeiten dachte. Daß er wieder in Gamete war, machte einen schlafenden Teil seines Geistes wieder lebendig, und er sah deutlich die zwei Welten als eine einzige. Das Weiß und Grün, in zwei verschiedene Dimensionen gespalten, durchdrangen einander — wie der Untergrund und die Oberflächenwelt, unbeholfen in der Demimonde vereint. Eine Welt ohne Brennpunkt…


Also kamen in der nächsten Woche Art und Nirgal mit Nadia zusammen und fuhren nach Norden. Wegen der Verhaftung von Sax wollte Nadia nicht riskieren, in einer offenen Stadt längs ihres Weges zu bleiben, und schien noch nicht einmal den anderen versteckten Zufluchtsstätten zu trauen. Sie gehörte zu den Konservativsten unter den Alten, was Geheimhaltung betraf. Während der Jahre des Verstecktseins hatte sie wie Cojote ein ganzes System eigener Schutzräume geschaffen; und jetzt fuhren sie von einem zum nächsten, verbrachten die kurzen Tage mit Schlafen und Abwarten in relativem Komfort. Während der Wintertage konnten sie nicht fahren, weil der Nebel dünner geworden war und ein kleineres Areal umfaßte; und in diesem Jahr war er oft nicht mehr als ein leichter Dunst oder niedriges flockiges Gewölk, das über das rauhe klumpige Land wirbelte. Eines Morgens fuhren sie nach zehn Uhr im Nebel einen unebenen Steilhang hinunter, und Nadia erklärte, daß Ann ihn als den Rest eines früheren Chasma Australe identifiziert hätte. »Sie sagt, es gibt hier unten buchstäblich Dutzende fossile Chasma Australes, die zu früheren Zeiten im Zyklus der Präzession in unterschiedlichen Winkeln eingeschnitten wurden.« Und der Nebel verzog sich, so daß sie plötzlich viele Kilometer weit sehen konnten, bis hin zu den gezackten Eiswänden an der Mündung des jetzigen Chasma Australe, das in der Ferne schimmerte. Sie waren bloßgestellt. Dann schlössen sich die Wolken wieder über ihnen und hüllten sie in düsteres fließendes Weiß, als ob sie in einem Schneesturm führen, in dem die Flocken so fein waren, daß sie der Schwerkraft spotteten und ständig in der Schwebe dahingetrieben wurden.

Nadia verabscheute diese Art von Bloßlegung, wie kurz sie auch sein mochte, und fuhr daher fort, sich tagsüber zu verstecken. Sie blickten aus den kleinen Fenstern ihrer Schutzräume auf wirbelnde Wolken, die manchmal das Licht in funkelnden Gruppierungen brachen, so hell, daß es mitunter schmerzte. Sonnenstrahlen brachen durch Wolkenlücken und trafen die langen Ketten und Grate des blendend weißen Landes. Einmal erlebten sie sogar eine volle Schneeblindheit, als alle Schatten verschwanden und auch alles sonst. Eine rein weiße Welt, in der nicht einmal der Horizont ausfindig zu machen war.

An anderen Tagen warfen Eisbögen blaß pastellfarbene Kurven auf das intensive Weiß; und als einmal die Sonne tief über dem Land durchbrach, war sie von einem ebenso hellen Ring umgeben. Die Landschaft flammte bei diesem Schauspiel weiß auf, nicht gleichmäßig, sondern an Stellen, die sich in den unablässigen Winden rasch verschoben. Art lachte, als er das sah, und jubelte ständig über die Eisblumen, die jetzt so groß waren wie Büsche und besetzt mit Nadeln und Fächern wie aus Spitzen, die an den Ecken zusammenwuchsen, so daß an manchen Stellen der Boden völlig verschwand. Dann fuhren sie über eine knisternde Fläche aus Blütenblättern, die sie zu Hunderten unter ihren Rädern zerdrückten. Nach solchen Tagen waren die langen dunklen Nächte fast eine Erholung.

Die Tage vergingen, einer wie der nächste. Nirgal fand es sehr bequem, mit Art und Nadia zu reisen. Sie waren beide ausgeglichen, ruhig und lustig. Art war 51, Nadia 120 und Nirgal erst 12, was ungefähr 25 Erdjahren entsprach. Aber trotz der großen Altersunterschiede verhielten sie sich zueinander auf gleieher Stufe. Nirgal konnte seine Ideen an ihnen ungehindert ausprobieren, und sie lachten oder murrten nie, selbst wenn sie Probleme sahen und darlegten. Und ihre Ideen fügten sich tatsächlich meistenteils recht gut zusammen. Sie waren in der politischen Sprache des Mars gemäßigte grüne Assimiliationisten — Booneaner, wie Nadia es nannte. Und sie hatten ähnliche Temperamente, was Nirgal noch nie bei jemandem erlebt hatte, weder beim Rest seiner Familie in Gamete noch bei seinen Freunden in Sabishii.

Während sie allnächtlich plauderten, besuchten sie kurz einige der großen Zufluchtsstätten des Südens, stellten Art den Leuten dort vor und schnitten den Gedanken einer Zusammenkunft oder eines Kongresses an. Sie brachten ihn in das bogdanovistische Vishniac und setzten ihn in Erstaunen über den gewaltigen Komplex, der tief in das Mohole eingelassen war — viel größer als jedes Asyl. Arts große Augen waren so ausdrucksvoll wie Worte und vermittelten Nirgal deutlich das Gefühl, das er als Kind gehabt hatte, als er mit Cojote zum ersten Mal dort gewesen war.

Die Bogdanovisten waren deutlich an einer Zusammenkunft interessiert, aber Mikhail Yangel, der einzige von Arkadys Kameraden, der 2061 überlebt hatte, fragte Art, was der langfristige Sinn eines solchen Meetings sein würde.

»Die Oberfläche wieder in Besitz zu nehmen.«

»Ich verstehe.« Mikhail machte große Augen. »Nun, ich bin sicher, daß ihr dafür unsere Unterstützung haben würdet. Die Leute haben sich gefürchtet, dies Thema überhaupt zur Sprache zu bringen.«

»Sehr gut!« sagte Nadia, als sie weiter nach Norden fuhren. »Wenn die Bogdanovisten ein Meeting befürworten, wird es wohl zustande kommen. Die meisten versteckten Zufluchtsstätten sind entweder bogdanovistisch oder stark von ihnen beeinflußt.«

Von Vishniac aus besuchten sie die Asyle um den Holmes-Krater herum, die als das industrielle Herzland‹ des Untergrundes bekannt waren. Auch diese Kolonien waren meistens bogdanovistisch mit jeder Menge kleiner sozialer Variationen, beeinflußt durch frühe Sozialphilosophen auf dem Mars wie den Gefangenen Schnelling oder Hiroko oder Marina oder John Boone. Andererseits hatten die frankophonen Utopisten in Prometheus ihre Siedlung auf Ideen gegründet, die von Rousseau und Fourier bis Foucault und Nemy reichten — Feinheiten, die Nirgal bei seinem ersten Besuch entgangen waren. Derzeit wurden sie stark beeinflußt durch die Polynesier, die kürzlich auf dem Mars eingetroffen waren und deren große warme Kammern Palmen und flache Teiche beherbergten, so daß es Art mehr wie Tahiti vorkam als Paris.


In Prometheus stieß Jackie Boone persönlich zu ihnen, die dort von Freunden, die nach Süden reisten, zurückgelassen worden war. Sie wollte eigentlich direkt nach Gamete weiterfahren, war aber bereit, lieber mit Nadia zu reisen, als noch länger zu warten. Und Nadia war bereit, sie mitzunehmen. Als sie also weiterfuhren, hatten sie Jackie dabei.

Die lässige Kameraderie des ersten Teils ihrer Reise verschwand. Jackie und Nirgal hatten sich in Sabishii mit ihrer Beziehung in ihrem üblichen ungeregelten und unbestimmten Zustand getrennt; und Nirgal mißfiel es, wenn das Wachstum seiner neuen Freundschaften unterbrochen wurde. Art war offenbar angetan von ihrer physischen Präsenz. Sie war größer als er und schwerer als Nirgal. Und Art beobachtete sie auf eine Weise, die er für verstohlen hielt, die alle anderen aber bemerkten, natürlich einschließlich Jackie selbst. Nadia rollte deswegen mit den Augen, und sie stritt sich mit Jackie über Kleinigkeiten wie Schwestern. Als dies wieder einmal der Fall gewesen war und Jackie und Nadia sich anderswo in einem Asyl befanden, flüsterte Art Nirgal zu: »Sie ist genau wie Maya! Kommt dir das nicht so vor? Die Stimme, das Gehabe … «

Nirgal lachte. »Wenn du ihr das sagst, bringt sie dich um.«

»Ah!« sagte Art und sah Nirgal von der Seite an. »Ihr beide seid also immer noch …?«

Nirgal zuckte die Achseln. In gewisser Weise war das interessant. Er hatte Art genug von seiner Beziehung zu Jackie erzählt, daß dieser wissen mußte, es gab etwas Fundamentales zwischen ihnen beiden. Jetzt war Jackie sich fast sicher, daß sie bei Art Anklang finden und ihn der Schar ihrer Günstlinge zufügen würde, wie sie es mit Männern zu tun pflegte, die sie mochte oder für wichtig hielt. Sie hatte bis dahin noch nicht herausgefunden, wie wichtig Art war; aber danach würde sie auf ihre übliche Weise handeln, und was würde Art dann tun?

So war ihre Reise nicht mehr die gleiche. Jackie prägte den Dingen wie immer ihren Stempel auf. Sie stritt mit Nirgal und Nadia, sie machte sich beiläufig an Art heran, indem sie ihn gleichzeitig becircte und kritisierte, wie es bei einer Bekanntschaft zu sein pflegte. Sie zog ihr Hemd aus, um sich in Nadias Schutzräumen mit einem Schwamm zu waschen, oder legte eine Hand auf seinen Arm, wenn sie ihm Fragen stellte über die Erde. Ein andermal ignorierte sie ihn völlig und schwenkte um in nur ihr eigene Welten. Es war, als ob man in dem Rover mit einer großen Katze lebte, einem Panther, der einem im Schoß schnurren mochte oder einen quer durchs Zimmer jagen konnte — alles mit vollendeter nervöser Grazie.

Ja, so war Jackie. Und dann war da ihr Lachen, das durch den Wagen ertönte zu Dingen, die Art oder Nadia sagten. Und ihre Schönheit und ihr starker Enthusiasmus bei Diskussionen der Lage auf dem Mars.

Als sie entdeckte, was sie auf dieser Reise vorhatten, war sie darum sofort dafür begeistert. Das Leben bekam mehr Schwung, wenn sie da war, ohne Zweifel. Und Art hatte, obwohl er Stielaugen machte, wenn sie badete, etwas, das Nirgal wie eine verschmitzte Schärfe in seinem Lächeln vorkam beim Genuß ihrer hypnotisierenden Aktivitäten. Einmal erwischte Nirgal ihn, wie er Nadia einen Blick zuwarf, der entschieden belustigt war. Obwohl Art also Jackie recht gut leiden konnte und sie gern anschaute, schien er nicht hoffnungslos hingerissen zu sein. Das hing möglicherweise mit seiner Freundschaft mit Nirgal zusammen. Nirgal konnte nicht sicher sein, aber ihm gefiel dieser Gedanke, der weder in Zygote noch in Sabishii verbreitet gewesen war.

Jackie ihrerseits schien geneigt, Art als einen Faktor in der Organisierung einer allgemeinen Versammlung abzuschreiben, als ob sie das selbst übernehmen wollte. Aber dann besuchten sie eine kleine neomarxistische Zufluchtsstätte im Gebirge von Mitchell (das nicht gebirgiger war als das des Südens. Der Name war ein Relikt aus der Fernrohrzeit), und es stellte sich heraus, daß diese Neomarxisten mit der Stadt Bologna in Italien in Verbindung standen und mit der indischen Provinz Kerala — und mit Büros von Praxis an diesen beiden Stellen. Also hatten sie mit Art eine Menge zu besprechen und hatten offensichtlich ihre Freude daran. Am Ende des Besuches sagte einer von ihnen zu ihm: »Es ist wundervoll, was du tust, und du bist genau wie John Boone.«

Jackie riß den Kopf herum, um Art anzublicken, der verlegen den Kopf schüttelte. Sie sagte automatisch: »Nein, das ist er nicht.«

Aber danach behandelte sie ihn ernsthafter. Nirgal konnte bloß lachen. Jede Erwähnung des Namens John Boone war für Jackie wie ein Zauberspruch. Wenn sie mit Nadia Johns Theorien diskutierten, konnte er ein bißchen verstehen, warum sie so empfand. Vieles von dem, was Boone für den Mars gewollt hatte, war höchst sinnvoll; und Nirgal hatte den Eindruck, daß Sabishii insbesondere ein Ort von Boone war. Aber für Jackie ging es über eine rationale Reaktion hinaus. Es hatte zu tun mit Kasei und Esther und Hiroko, sogar mit Peter — mit einem Komplex von Gefühlen, die sie auf einer Ebene angesprochen hatten wie sonst nichts.


Sie zogen weiter nach Norden, in Gebiete, die noch stärker mitgenommen waren als die, welche sie hinter sich gelassen hatten. Es war vulkanisches Land, wo zu der rauhen Höhe des südlichen Gebirges noch die alten zerfallenen Piks von Australis Tholus und Amphitrites Patera hinzukamen. Diese beiden Vulkane umklammerten ein Gelände aus Lavaströmen, wo der schwärzliche Fels des Landes zu grotesken Klumpen, Wellen und Strömen erstarrt war. Einst hatten sich diese Ströme weißglühend über die Oberfläche ergossen. Und selbst jetzt noch, hart, schwarz und im Lauf der Zeiten zertrümmert, war der flüssige Ursprung ganz deutlich erkennbar.

Am auffallendsten von diesen Lavaresten waren lange niedrige Hügelketten wie zu festem schwarzen Fels versteinerte Drachenschwänze. Sie schlängelten sich viele Kilometer weit über das Land. Oft verschwanden sie in beiden Richtungen am Horizont und zwangen die Reisenden zu langen Umwegen. Diese Gesteinsrücken waren alte Lavakanäle. Der Fels, aus dem sie bestanden, hatte sich als härter erwiesen als das Land, das sie ursprünglich überschwemmt hatten. Und in den nachfolgenden Äonen war das Land abgetragen worden und hatte die schwarzen Hügel auf der Oberfläche liegen lassen, ähnlich dem heruntergefallenen Aufzugskabel, nur viel größer.

Einer der Rücken in der Dorsa-Brevia-Region war kürzlich zu einem geheimen Asyl ausgebaut worden. So fuhr Nadia ihren Rover auf einem gewundenen Weg durch vorspringende Lavawülste und dann in eine geräumige Garage in der Seite des größten schwarzen Berges, den sie gesehen hatten. Sie stiegen aus und wurden von einer kleinen Gruppe freundlicher Fremder empfangen, von denen Jackie einige schon getroffen hatte. In der Garage gab es keinen Hinweis darauf, daß der angrenzende Raum sich irgendwie von anderen unterscheiden würde, die sie schon besucht hatten; und so gingen sie in eine große zylindrische Schleuse und zur anderen Tür hinaus. Es war für sie ein großer Schock, daß sich vor ihnen ein freier Raum befand, der offenbar das ganze Innere des Hügels einnahm. Dieser war nämlich hohl. Der leere Innenraum war etwa zylindrisch, eine Röhre, die vielleicht hundert Meter vom Boden bis zur Decke maß, dreihundert Meter von Wand zu Wand, und sich so weit erstreckte, wie sie in beiden Richtungen sehen konnten. Arts Mund war wie ein Querschnitt des Tunnels. Er rief dauernd: »Oha, seht euch das an! Donnerwetter!«

Eine ganze Anzahl der Gesteinsrücken war hohl, wie ihre Gastgeber ihnen sagten. Lavatunnels, wie es viele auf der Erde gab; aber der gewohnte Sprung um zwei Größenordnungen galt auch hier. Und diese Röhre war wirklich hundertmal so groß wie die größte irdische. Wie eine junge Frau namens Ariadne Art erklärte, hatten sich die Lavaströme, als sie noch flossen, an den Rändern abgekühlt und verhärtet. Danach war heiße Lava weiter durch den Ärmel geflossen, bis die Fluten aufgehört hatten. Und die restliche Lava hatte sich in einen Teich aus Feuer entleert und zylindrische Höhlen zurückgelassen, die bisweilen fünfzig Kilometer lang waren.

Der Boden dieses Tunnels war nahezu eben und jetzt bedeckt von Dächern und Parks, Teichen und Hunderten junger Bäume, die in Hainen aus Bambus und Kiefern gepflanzt waren. Lange Risse im Dach des Tunnels hatten als Basis für gefilterte Oberlichter gedient aus geschichteten Materialien, die dieselben visuellen und thermischen Merkmale boten wie der übrige Bergrücken, aber in den Tunnel lange Streifen sonniger brauner Luft hineinließen, so daß selbst die dunkelsten Teile des Tunnels nur so trübe waren wie an einem wolkigen Tag.

Der Tunnel von Dorsa Brevia war vierzig Kilometer lang, wie Ariadne ihnen mitteilte, als sie eine Treppe hinuntergingen, obwohl es auch Stellen gab, wo das Dach sich nach innen wölbte oder Lavapfropfen die Höhlung fast ausfüllten. »Wir haben natürlich nicht das ganze Ding abgedichtet. Es ist mehr, als wir brauchen, und auch mehr, als wir überhaupt warm und unter Druck halten könnten. Aber wir haben jetzt ungefähr zwölf Kilometer dichtgemacht in Segmenten von je einem Kilometer Länge mit Schotts aus Zeltstoff dazwischen.«

»Donnerwetter!« sagte Art wieder. Nirgal war ebenso beeindruckt, und Nadia war deutlich begeistert. Selbst Vishniac war nichts im Vergleich hiermit.

Jackie war schon nahe dem unteren Ende der langen Treppe, die von der Garagenschleuse zu einem Park unter ihnen führte. Als sie ihr folgten, sagte Art: »Jede Kolonie, zu der du mich geführt hast, habe ich für die größte gehalten. Und ich habe mich immer geirrt. Warum sagst du mir nicht einfach, ob die nächste so wie Hellas sein wird oder etwas dergleichen?«

Nadia lachte. »Dies ist die größte, die ich kenne. Die allergrößte!«

»Warum bleibt ihr da alle in Gamete, wo es so kalt und düster ist? Würden nicht die Menschen aus allen Zufluchtsstätten hier hereinpassen?«

»Wir wollen nicht, daß alle an einer Stelle sind«, entgegnete sie. »Was diesen Ort hier betrifft, so hat es ihn vor einigen Jahren noch gar nicht gegeben.«

Unten auf dem Boden des Tunnels schienen sie sich in einem Wald zu befinden, unter einem Himmel aus schwarzem Stein, der von langen gezackten hellen Spalten zerrissen war. Die vier Reisenden folgten einer Gruppe ihrer Gastgeber zu einem Komplex von Gebäuden mit dünnen Holzwänden und steilen, an den Ecken hochgebogenen Dächern. In einem davon wurden sie einer Schar älterer Frauen und Männer in bunten, bauschigen Gewändern vorgestellt und zu einem gemeinsamen Mahl eingeladen.

Beim Essen erfuhren sie mehr über die Stätte, zumeist von Ariadne, die neben ihnen saß. Sie war erbaut und in Besitz genommen worden durch die Nachkommen von Menschen, die zum Mars gekommen waren und sich in den 2050ern mit den Verschwundenen zusammengetan hatten. Sie hatten die Städte verlassen und in dieser Gegend kleine Refugien besiedelt, in ihren Bemühungen unterstützt durch die Sabishiianer. Sie waren von Hirokos Areophanie stark beeindruckt, und ihre Gesellschaft wurde von manchen als Matriarchat bezeichnet. Sie hatten einige alte matriarchalische Kulturen studiert und einige ihrer Bräuche auf die alte minoische Kultur und die nordamerikanischen Hopi gegründet. Darum verehrten sie eine Göttin, die das Leben auf dem Mars repräsentierte, eine Art Personifikation von Hirokos Viriditas oder eine Vergöttlichung von Hiroko selbst. Der Sitte gemäß gehörte der Haushalt der Frau des Hauses und wurde von ihr an die jüngste Tochter weitergegeben in ultimo genitur, wie Ariadne es nannte, einen Brauch der Hopi. Und wie bei den Hopi zogen die Männer bei der Heirat in die Häuser der Frauen.

»Gefällt das den Männern?« fragte Art wißbegierig.

Ariadne lachte über seine Miene. »Es gibt nichts, um Männer glücklicher zu machen als glückliche Frauen. So sagen wir.« Und sie warf Art einen Blick zu, der ihn über die Bank zu ihr hinzuziehen schien.

»Das finde ich sinnvoll«, sagte Art.

»Wir alle teilen uns die Arbeit — Verlängerung der Tunnelsegmente, Landwirtschaft, Kindererziehung, alles was getan werden muß. Jede und jeder versucht, nicht nur in seiner Spezialisierung tüchtig zu sein. Das ist eine Sitte, die, wie ich meine, von den Ersten Hundert stammt und von den Sabishiiern.«

Art nickte. »Und wie viele seid ihr hier?«

»Derzeit etwa viertausend.«

Art stieß überrascht einen Pfiff aus.

An diesem Nachmittag wurden sie im Tunnel durch einige Kilometer ausgebauter Segmente geführt, viele davon bewaldet und alle mit einem großen Fluß, der den Tunnelboden herunterströmte und sich in einigen Segmenten zu großen Teichen verbreiterte. Als Ariadne sie wieder zu der ersten Kammer zurückbrachte, die den Namen Zakros trug, erschienen fast tausend Personen zu einem Essen im Freien im größten Park. Nirgal und Art gingen umher, sprachen mit den Leuten und genossen ein schlichtes Mahl aus Brot, Salat und gebratenem Fisch. Die Menschen hier schienen der Idee eines Untergrundkongresses zugänglich zu sein. Sie hatten vor Jahren etwas Ähnliches versucht, aber damals nicht viel Anklang gefunden — sie hatten Listen der Zufluchtsstätten in der Region. Jetzt sagte eine der älteren Frauen mit Autorität, daß sie gern dabei Gastgeber sein würden, da sie genügend Platz hatten, um eine große Zahl an Gästen zu beherbergen und zu betreuen.

»Oh, das wäre wundervoll!« sagte Art mit einem Blick auf Ariadne.

Später stimmte auch Nadia zu und sagte: »Das wäre sehr hilfreich. Viele Leute werden sich der Idee einer Zusammenkunft widersetzen, weil sie argwöhnen, die Ersten Hundert würden versuchen, die Leitung des Untergrundes zu übernehmen. Wenn die Veranstaltung aber hier abgehalten wird und die Bogdanovisten dahinter stehen … «

Als Jackie hinzukam und von dem Anerbieten hörte, drückte sie Art an sich. »Oh, es wird stattfinden! Und das ist genau das, was John Boone gemacht hätte. Es ist wie das Meeting, das er auf Olympus Mons einberufen hat.«

Sie verließen Dorsa Brevia und wandten sich auf der Ostseite des Hellasbeckens wieder nach Norden. Während der Nächte dieser Fahrt holte Jackie oft John Boones KI Pauline hervor, den sie studiert und katalogisiert hatte. Sie spielte Ausschnitte seiner Gedanken über einen unabhängigen Staat ab. Diese waren ungeordnet und weitschweifig — Überlegungen eines Mannes mit mehr Enthusiasmus (und Omegendorph) als analytischer Begabung. Aber manchmal schlüpfte er in eine Rolle und improvisierte in der Art seiner berühmten Reden. Und das konnte faszinierend sein. Er hatte ein Geschick für freie Assoziationen, durch die seine Ideen wie eine logische Folge klangen, auch wenn sie es nicht waren.

»Schaut, wie oft er über die Schweizer spricht!« sagte Jackie. Sie klang wie John, stellte Nirgal plötzlich fest. Sie hatte lange ausgiebig mit Pauline gearbeitet, und ihr Verhalten war davon beeinflußt. Johns Stimme, Mayas Wesen — auf solche Weise trugen sie die Vergangenheit mit sich. »Wir müssen uns vergewissern, daß einige Schweizer an dem Kongreß teilnehmen.«

»Wir haben Jürgen und die Gruppe bei Overhangs«, sagte Nadia.

»Aber die sind doch nicht wirklich so schweizerisch?«

»Man wird sie fragen müssen«, sagte Nadia. »Aber wenn du an Schweizer Beamte denkst, so gibt es davon eine Menge in Burroughs; und die haben uns hier geholfen, ohne uns überhaupt nur etwas davon zu sagen. Etwa fünfzig von uns haben jetzt schweizerische Pässe. Sie bilden einen großen Teil der Demimonde.«

»Wie bei Praxis«, warf Art ein.

»Ja ja. Jedenfalls werden wir mit der Gruppe in Overhangs sprechen. Die dürften Kontakte mit den Schweizern an der Oberfläche haben, dessen bin ich sicher.«

Nordöstlich des Vulkans Hadriaca Patera besuchten sie eine Stadt, die von Sufis gegründet worden war. Die Originalstruktur war in die Seite einer Canyonklippe eingebaut in einer Art von Mesa Verde HighTech. Eine dünne Reihe von Gebäuden, die an der Stelle eingefügt waren, wo der imposante Überhang der Klippe zurückzuweichen und sich auf den Boden des Canyons hinabzusenken begann. Steile Treppen in Gehrohren verliefen von dem unteren Hang zu einer kleinen Betongarage; und um diese herum war eine Anzahl von Blasenkuppeln und Gewächshäusern entstanden. In diesen Kuppeln lebten Leute, die bei den Sufis studieren wollten. Einige kamen von den Zufluchtsstätten, einige aus den Städten des Nordens. Viele waren Eingeborene, aber es gab auch manche, die neu von der Erde angekommen waren. Zusammen hofften sie, den ganzen Canyon zu überdachen mit Verwendung von Material, das für das neue Kabel entwickelt worden war, um eine enorme Verbreitung von Kuppelmaterial zu fördern.

Nadia wurde sofort bei den Diskussionen der Konstruktionsprobleme, die bei einem solchen Projekt auftreten würden, hinzugezogen, die, wie sie ihnen vergnügt sagte, mannigfach und streng sein würden. Ironischerweise machte die dicker werdende Atmosphäre alle Kuppelprojekte schwieriger, weil die Kuppeln nicht mehr durch den Luftdruck unter ihnen so weit aufgeblasen werden konnten wie früher. Und obwohl die extrem zugfesten und außerordentlich belastbaren neuen Karbonverbindungen mehr als genug leisten würden, wären Ankerpunkte, die solche Gewichte halten könnten, fast unmöglich zu finden. Aber die Ingenieure vor Ort waren zuversichtlich, daß leichtere Zeltstoffe und neue Verankerungsverfahren helfen könnten; und die Wände des Canyons, so sagten sie, wären solide. Sie befanden sich im oberen Bereich von Reull Vallis, und alte Minierungen waren in sehr hartes Material eingedrungen. Gute Ankerpunkte könnte es überall geben.

Es wurde kein Versuch gemacht, irgendeine dieser Aktivitäten vor Satellitenbeobachtung zu verheimlichen. Die runde Mesawohnstätte der Sufis in Margaritifer und deren Hauptsiedlung im Süden, Rumi, waren ebenso unverborgen. Dennoch waren sie nie irgendwie von irgendwem belästigt noch von der Übergangsbehörde kontaktiert worden. Deshalb dachte einer ihrer Anführer, ein kleiner schwarzer Mann namens Dhu el-Nun, daß die Angst des Untergrundes übertrieben wäre. Nadia widersprach höflich. Als Nirgal sie in die Enge trieb, sah sie ihn fest an. »Sie jagen die Ersten Hundert.«

Sie dachten darüber nach, während die Sufis sie durch die Treppenrohre zu ihrer Klippenwohnung hinaufführten. Sie waren schon vor der Morgendämmerung angekommen, und Dhu hatte die Besucher alle nach oben auf die Klippe zu einem Willkommensfrühstück eingeladen. Also folgten sie den Sufis und setzten sich an einem großen Tisch in einem langen Raum nieder, dessen Außenwand ein durchgehendes großes Fenster mit Blick auf den Canyon war. Die Sufis waren weiß gekleidet, während die Leute aus den Kuppeln im Canyon gewöhnliche Jumper trugen, meistens rostfarben. Die Menschen gössen sich gegenseitig Wasser ein und plauderten beim Essen. »Ihr seid auf unserer tariqat«, sagte Dhu el-Nun zu Nirgal. Er erklärte, daß dies der geistige Weg eines Menschen sei, sein Pfad zur Realität. Nirgal nickte, betroffen durch die Gelungenheit der Definition. Sie war genau, wie ihm das Leben immer vorgekommen war. »Du mußt dich glücklich fühlen«, erwiderte Dhu. »Du mußt achtgeben.«

Nach einer Mahlzeit aus Brot, Erdbeeren und Yoghurt und schlammig dickem Kaffee wurden die Tische und Stühle weggeräumt, und die Sufis tanzten eine sema oder Wirbeltanz. Sie psalmodierten und sangen zur Musik eines Harfenisten und einiger Trommler und dem Gesang der Canyonbewohner. Wenn die Tänzer an ihren Gästen vorbeikamen, legten sie ihre Handflächen ganz sanft an die Wangen der Gäste. Die Berührungen waren so leicht wie das Vorbeistreifen eines Flügels. Nirgal schaute zu Art in der Erwartung, daß er genau solche Stielaugen machen würde wie gewöhnlich bei den mannigfachen Phänomenen des Lebens auf dem Mars; aber der lächelte vielsagend und schlug Zeigefinger und Daumen zusammen im Rhythmus des Taktes und sang mit den anderen. Und am Ende des Tanzes trat er vor und rezitierte etwas in einer Fremdsprache, woraufhin die Sufis lächelten und ihm danach laut applaudierten.

»Einige meiner Lehrer in Teheran waren Sufis«, erklärte er Nirgal, Nadia und Jackie. »Sie bildeten einen großen Teil von dem, was man die persische Renaissance nennt.«

»Und was hast du rezitiert?« fragte Nirgal.

»Ein persisches Gedicht von Jalaluddin Rumi, dem Meister der tanzenden Derwische. Ich habe die Übersetzung nie sehr gut gelernt:

›Ich starb als Mineral und wurde Pflanze Starb als Pflanze und gewann fühlende Form Starb als Tier und kleidete mich als Mensch — Bis durch mein Sterben ich immer weiter schwand …‹

Ach, ich kann mich an den Rest nicht erinnern. Aber manche dieser alten Sufis waren gute Ingenieure.«

»Es wäre gut, wenn sie das hier wären«, sagte Nadia und deutete mit einem Kopfnicken auf die Leute, mit denen sie über die Überkuppelung des Canyons gesprochen hatte.

Auf jeden Fall zeigten sich die Sufis hier sehr begeistert hinsichtlich der Idee eines Untergrundkongresses. Wie sie erklärten, war ihre Religion synkretistisch. Sie hatte manche Elemente nicht nur aus den mannigfachen Typen und Nationalitäten des Islams entlehnt, sondern auch von den älteren asiatischen Religionen, denen der Islam begegnet war, und auch von neueren wie den Baha’i. Hier würde man etwas ähnlich Flexibleres brauchen, sagten sie. Inzwischen hatte sich ihre Konzeption des Gebens schon im ganzen Untergrund als einflußreich erwiesen, und einige ihrer Theoretiker arbeiteten mit Vlad und Marina über Öko-Ökonomie. Als der Morgen verstrich und sie auf den spätwinterlichen Aufgang der Sonne warteten und über den dunklen Canyon nach Osten schauten, machten sie sehr rasch einige praktische Vorschläge bezüglich des Treffens. Dhu sagte ihnen: »Ihr solltet so bald wie möglich zu den Beduinen und den anderen Arabern gehen. Die möchten in der Liste der Befragten nicht untenan stehen.«

Dann erhellte sich der Osthimmel sehr langsam von dunklem Pflaumenblau zu Lavendel. Die gegenüberliegende Klippe war niedriger als die, auf der sie standen. Darum konnten sie über das dunkle Plateau einige Kilometer weit nach Osten blicken zu einer niedrigen Hügelkette, die den Horizont bildete. Die I;" Sufis deuteten auf den Spalt in den Hügeln, wo die Sonne aufsteigen würde. Einige begannen wieder zu psalmodieren. »In Elysium gibt es eine Gruppe Sufis, die unsere Wurzeln im Mithraismus und Zoroastrismus zurück erforschen«, berichtete Dhu. »Manche sagen, es gäbe jetzt Mithraisten auf dem Mars, die Ahura Mazda, die Sonne, verehren. Sie halten die Soletta für religiöse Kunst wie ein Glasfenster in einer Kathedrale.«

Als der Himmel intensiv rosa war, sammelten sich die Sufis um ihre vier Gäste und schoben sie sanft in eine Anordnung vor den Fenstern: Nirgal dicht bei Jackie, Nadia und Art hinter ihnen. »Heute seid ihr unser buntes Glas«, sagte Dhu ruhig. Hände erhoben Nirgals Unterarm, bis er den von Jackie berührte und er ihn ergriff. Sie wechselten einen raschen Blick und schauten dann nach vorn auf die Berge am Horizont. Art und Nadia hielten sich ebenso an den Händen, und ihre freien Hände wurden auf Nirgals und Jackies Schultern gelegt. Das Psalmodieren um sie herum wurde lauter. Der Chor der Stimmen intonierte Worte in Farsi. Die langen wohltönenden Vokale zogen sich endlose Minuten lang hin.

Und dann durchstieß die Sonne den Horizont, und die Fontäne aus Licht explodierte über dem Land, strömte in das weite Fenster und über sie, so daß sie blinzeln mußten und ihre Augen tränten. Durch Soletta und die dicker werdende Atmosphäre war die Sonne sichtlich größer als in der Vergangenheit, bronzefarben, zusammengedrückt und durch die verschiedenen Inversionsschichten schimmernd. Jackie drückte fest Nirgals Hand, und er schaute sich impulsiv um. Auf der weißen Wand bildeten alle ihre Schatten eine Art zusammenhängender Tapete, schwarz auf weiß. Und bei der Intensität des Lichts war das ihren Schatten am nächste Weiß am hellsten von allem, nur leicht getönt durch die Farben des Regenbogens, der sie alle umfing.


Als sie aufbrachen, folgten sie dem Rat der Sufis und nahmen das Lyell-Mohole als Ziel, eines der vier auf 70° südlicher Breite liegenden Moholes. In diesem Gebiet hatten die Beduinen aus Westägypten einige Karawansereien eingerichtet, und Nadia war mit einem ihrer Führer bekannt. Also beschlossen sie, es zu versuchen und ihn zu finden.

Während sie fuhren, dachte Nirgal intensiv über die Sufis nach und darüber, was ihre einflußreiche Präsenz über den Untergrund und die Demimonde aussagte. Die Menschen hatten die Oberfläche aus vielen verschiedenen Gründen verlassen, und es war wichtig, das zu bedenken. Sie alle hatten alles aufgegeben und ihr Leben riskiert. Aber sie hatten sehr angespannt ganz verschiedene Ziele verfolgt. Manche hofften, radikal neue Kulturen zu installieren wie in Zygote oder Dorsa Brevia oder den Sanktuarien der Bogdanovisten. Andere wie die Sufis wollten an alten Kulturen festhalten, die sie in der globalen Ordnung der Erde bedroht sahen. Jetzt waren alle diese Teile des Widerstandes im Bergland des Südens verstreut, vermischt, aber dennoch getrennt. Es gab keinen offensichtlichen Grund, warum sie sich eine Vereinigung wünschen sollten. Viele von ihnen hatten sich speziell darum bemüht, von herrschenden Mächten loszukommen — Transnationalen, dem Westen, Amerika, dem Kapitalismus —, allen Machtsystemen mit Totalitätsanspruch. Gerade von zentralen Systemen hatten sie weite Distanz gewinnen wollen. Das eröffnete schlechte Aussichten für Arts Plan; und als Nirgal diese Besorgnis äußerte, stimmte ihm Nadia zu. »Ihr seid Amerikaner, das ist für uns die Schwierigkeit.« Art machte große Augen. Aber dann fuhr Nadia fort: »Nun, Amerika gilt auch als Schmelztiegel. Darum konnten Menschen von überall her kommen und ein Teil von ihm werden. So war die Theorie. Es gibt für uns da manches zu lernen.«

»Das Ergebnis, zu dem Boone schließlich kam, war, daß es nicht möglich ist, eine Marskultur ganz von vorn zu erfinden«, sagte Jackie. »Er sagte, sie sollte eine Mischung des Besten von jedem sein, der hierhergekommen ist. Das ist der Unterschied zwischen BooneAnhängern und Bogdanovisten.«

»Ja«, sagte Nadia stirnrunzelnd. »Aber ich denke, wir sind beide im Unrecht. Ich glaube nicht, daß wir sie von Anfang an erfinden können; und ich denke nicht, daß es ein Gemisch geben wird. Zumindest nicht auf lange Zeit. In der Zwischenzeit wird es eine Menge koexistierender verschiedener Kulturen geben, meine ich. Aber ob so etwas möglich ist…« Sie zuckte die Achseln.


Die Probleme, denen man sich stellen mußte, gewannen Gestalt bei ihrem Besuch in der Karawanserei der Beduinen. Diese Beduinen beuteten die Gegend weit südlich zwischen den Kratern Dana und Lyell, den Sisyphi Cavi und Dorsa Argentea bergmännisch aus. Sie fuhren umher in mobilen Abbaugerüsten in der Art, wie sie auf der Großen Böschung entwickelt worden und jetzt allgemein üblich waren. Sie brachten Lagerstätten an der Oberfläche ein und zogen dann weiter. Die Karawanserei war bloß eine kleine Kuppel, die wie eine Oase an Ort und Stelle gelassen wurde, um in Notfällen benutzt zu werden oder wenn sie sich ausruhen wollten.

Niemand hätte einen größeren Kontrast zu den ätherischen Sufis bilden können als die Beduinen. Diese zurückhaltenden unsentimentalen Araber trugen moderne Jumper und schienen in der Mehrzahl meistens männlich zu sein. Als die Reisenden dort ankamen, war eine Bergbaukarawane gerade dabei aufzubrechen; und als sie hörten, was die Reisenden besprechen wollten, machten sie ein mürrisches Gesicht und fuhren trotzdem weg. »Noch mehr Booneismus. Damit wollen wir nichts zu tun haben.«

Die Reisenden speisten mit einer Gruppe aus Männern in dem größten in der Karawanserei verbliebenen Rover. Frauen erschienen aus einem Rohr vom nächsten Wagen, um die Schüsseln zu servieren. Jackie sah das mit einer finsteren Miene an, die Mayas hätte sein können. Als einer der jüngeren Araber, der neben ihr saß, ein Gespräch in Gang zu bringen versuchte, fand er das wirklich schwierig. Nirgal unterdrückte dabei ein Lächeln und wandte sich Nadia und einem alten Bedu namens Zeyk zu, dem Anführer dieser Gruppe, den Nadia schon kannte. Er sagte freundlich: »Ach, die Sufis. Niemand belästigt die, weil sie offenbar harmlos sind. Wie Vögel.«

Später beim Essen erwärmte Jackie sich natürlich für den jungen Araber, weil er ein bestechend hübscher Mann war mit langen dunklen Wimpern, die klare braune Augen säumten, einer Adlernase, vollen roten Lippen, einem scharfen Kinn und einer leicht vertraulichen Art, die durch Jackies Schönheit nicht eingeschüchtert zu sein schien, die der seinen in gewisser Hinsicht ähnlich war. Sein Name war Antar, und er entstammte einer bedeutenden Bedu-Familie. Art, der an dem niedrigen Tisch ihnen gegenüber saß, schien über diese sich entwickelnde Freundschaft entsetzt zu sein; aber Nirgal hatte das nach ihren Jahren in Sabishii noch eher als Jackie kommen sehen, und es bereitete ihm auf eigenartige Weise fast Vergnügen, Jackie in Tätigkeit zu sehen. Es war wirklich ein eindrucksvoller Anblick — sie, die stolze Tochter der größten Matriarchie seit Atlantis, und Antar, der stolze Erbe der extremsten Patriarchie auf dem Mars, ein junger Mann mit so reiner Grazie und Verhaltensweise, als wäre er der König der Welt.

Nach dem Essen verschwanden die beiden. Nirgal lehnte sich fast ohne schmerzliche Empfindungen zurück und plauderte mit Nadia, Art, Zeyk und Zeyks Frau Nazik, die zu ihnen herausgekommen war. Zeyk und Nazik waren alte Hasen auf dem Mars, die John Boone persönlich gekannt hatten und mit Frank Chalmers befreundet gewesen waren. Im Gegensatz zu der Vorhersage der Sufis standen sie der Idee eines Kongresses wohlwollend gegenüber und stimmten zu, daß Dorsa Brevia ein guter Ort für seine Veranstaltung sein würde.

»Was wir brauchen, ist Gleichheit ohne Gleichförmigkeit«, sagte Zeyk an einer Stelle und zwinkerte ernsthaft bei der Wahl dieser Worte. Das kam dem nahe genug, was Nadia auf der Fahrt dorthin gesagt hatte, daß es Nirgals Aufmerksamkeit in besonderem Maße fesselte. »Es ist kein leichtes Unterfangen, das zu arrangieren, aber wir müssen es sicher versuchen und Streit vermeiden. Ich werde die Kunde in der arabischen Gemeinschaft verbreiten. Oder mindestens bei den Bedus. Ich muß sagen, im Norden gibt es Araber, die sich sehr stark mit den Transnationalen, speziell Amexx, engagiert haben. Alle arabischen Länder fallen an Amexx, eines nach dem anderen. Eine sehr seltsame Paarung. Aber Geld …« Er rieb die Finger aneinander. »Ihr wißt schon. Jedenfalls werden wir uns mit unseren Freunden in Verbindung setzen. Und die Sufis werden uns helfen. Sie sind dabei, hier unten die Mullahs zu werden; und den Mullahs gefällt das nicht, aber mir.«

Andere Entwicklungen machten ihm Sorge. »Armscor hat die Schwarzmeergruppe übernommen, und das ist eine sehr schlimme Kombination — alte Afrikaanderführung und Sicherheitsorgane aus allen Mitgliedstaaten, von denen die meisten Polizeistaaten sind — Ukraine, Georgien, Moldawien, Aserbeidschan, Armenien, Bulgarien, Türkei, Rumänien.« Er zählte sie an den Fingern auf und rümpfte die Nase. »Denkt einige Zeit über diese Geschichten nach! Und sie haben auf der Großen Böschung Basen errichtet, praktisch ein Band um den ganzen Mars. Und sie stehen fest zur Übergangsbehörde.« Er schüttelte den Kopf. »Die werden uns zerschmettern, wenn sie können.«

Nadia nickte zustimmend, und Art, der von dieser Aussage überrascht zu sein schien, bombardierte Zeyk mit hundert Fragen.

Einmal sagte er: »Ihr verbergt euch aber nicht.«

»Wir haben Zufluchtsstätten, wenn wir sie brauchen«, sagte Zeyk. »Und wir sind bereit zu kämpfen.«

»Glaubst du, daß es dazu kommen wird?« fragte Art.

»Dessen bin ich sicher.«


Viel später, nach etlichen weiteren Täßchen schlammigen Kaffees, sprachen Zeyk, Nazik und Nadia miteinander über Frank Chalmers. Alle drei lächelten dabei besonders freundlich. Nirgal und Art hörten zu; aber es war schwer, von diesem Mann eine Vorstellung zu bekommen, der schon tot war, lange ehe Nirgal geboren wurde. Es war wirklich ein schockierender Gedanke, wie alt die Nissei waren und daß sie eine solche Gestalt nur durch Videobänder kennengelernt hatten. Schließlich platzte Art heraus: »Aber wie war er eigentlich?«

Die drei Alten dachten darüber nach.

Zeyk sagte langsam: »Er war ein zorniger Mann. Er hat allerdings den Arabern zugehört und uns respektiert. Er hat einige Zeit mit uns gelebt und unsere Sprache erlernt. Es gibt gewiß nur wenige Amerikaner, die das je getan haben. Und so haben wir ihn gern gehabt. Aber er war nicht leicht zugänglich. Und er war zornig. Ich weiß nicht, warum. Etwas in seinen Jahren auf der Erde, vermute ich. Er hat nie darüber gesprochen. Er hat überhaupt nie über sich selbst gesprochen. Aber in ihm steckte ein Gyroskop, das sich wie ein Pulsar drehte. Und er hatte finstere Stimmungen. Sehr finstere. Wir haben ihn in Erkundungsrovern hinausgeschickt, um zu sehen, ob er sich selbst helfen könnte. Das klappte nicht immer. Ab und zu hat er uns beschimpft, obwohl er unser Gast war.« Zeyk lächelte bei der Erinnerung. »Einmal hat er uns Sklavenhalter genannt — direkt ins Gesicht beim Kaffee.«

»Sklavenhalter?«

Zeyk machte eine Handbewegung. »Er war wütend.«

»Er hat uns dann am Ende gerettet«, sagte Nadia zu Zeyk, aus tiefen Gedanken erwachend. »Das war ’61.« Sie erzählte ihnen von einer langen Fahrt die Valles Marineris hinunter, die zu der gleichen Zeit stattfand, da der Ausbruch des Compton-Reservoirs den großen Canyon überschwemmte, und wie die Flut, als sie von ihr fast frei geworden waren, Frank erfaßt und davongerissen hatte. »Er stieg bei einem Felsen aus dem Wagen; und wenn er nicht so rasch gehandelt hätte, wäre der ganze Wagen verloren gewesen.«

»Oh«, sagte Zeyk, »ein glücklicher Tod.«

»Ich glaube nicht, daß er so gedacht hat.«

Die Issei lachten alle kurz, griffen dann zu ihren leeren Tassen und brachten einen kleinen Toast auf ihren verstorbenen Freund aus. »Ich vermisse ihn«, sagte Nadia, als sie ihre Tasse absetzte. »Ich habe nie gedacht, daß ich das sagen würde.«

Sie verstummte, und Nirgal, der sie ansah, hatte das Gefühl, als ob die Nacht sie verwöhnte und versteckte. Er hatte sie nie über Frank Chalmers sprechen hören. Eine Menge ihrer Freunde waren in der Revolte gestorben. Auch ihr Partner Bogdanov, dem immer noch so viele Menschen folgten.

»Wütend bis zum Ende«, sagte Zeyk. »Für Frank ein glücklicher Tod.«


Von Lyell aus bewegten sie sich weiter entgegen dem Uhrzeigersinn um den Südpol, machten bei Asylen oder Kuppelstädten halt und tauschten Neuigkeiten und Waren aus. Christianopolis war die größte Zeltstadt in der Region, Handelszentrum für alle kleineren Siedlungen südlich von Argyre. Die Zufluchtsstätten in der Gegend waren meistens von Roten besiedelt. Nadia bat alle Roten, die sie trafen, Ann Clayborne Mitteilungen über den Kongreß zu überbringen. »Ich nehme an, daß wir eine telefonische Verbindung haben, aber sie antwortet mir nicht.« Eine Menge der Roten hielten ein Meeting deutlich für eine schlechte Idee oder zumindest Zeitvergeudung. Südlich vom Schmidt-Krater hielten sie bei einer Siedlung von Bologna-Kommunisten, die in einem ausgehöhlten Berg lebten, verloren die Orientierung in einer der wildesten Zonen der südlichen Gebirge, einer Region, in der das Reisen sehr schwierig war wegen der vielen wandernden Grate und Gräben, die Rover nicht bewältigen konnten. Die Bologneser gaben ihnen eine Karte, in der einige Tunnels und Aufzüge verzeichnet waren, die sie in der Gegend installiert hatten, um die Gräben zu passieren oder auf Grate hinauf- und wieder herunterzukommen. »Wenn wir die nicht hätten, würden unsere Ausflüge nur aus Umwegen bestehen.«

Nahe einem ihrer verborgenen Grabentunnels war eine kleine Kolonie von Polynesiern, die in einem kurzen Lavatunnel lebten, dessen Boden sie mit Wasser und drei Inseln versehen hatten. Der Graben war auf seiner Südseite hoch mit Eis und Schnee bedeckt. Aber die Polynesier, von denen die meisten von der Insel Vanuatu stammten, hielten das Innere ihres Asyls bei gemütlichen Temperaturen; und Nirgal fand die Luft so heiß und feucht, daß sie schwer zu atmen war, selbst wenn man bloß auf einer Sandbank saß zwischen einem schwarzen Teich und einer Reihe geneigter Palmen. Gewiß, so dachte er, als er sich umschaute, konnte man die Polynesier zu denen rechnen, welche eine Kultur zu schaffen suchten, die einige Aspekte ihrer archaischen Vorfahren verwirklichte. Es zeigte sich auch, daß sie sich mit primitiven Regierungsformen überall in der Geschichte der Erde beschäftigt hatten. Sie waren begeistert über die Idee, das, was sie in diesen Studien gelernt hatten, bei dem Kongreß mitzuteilen. Darum war es kein Problem, ihre Zustimmung zur Teilnahme zu erhalten.

Um die Idee des Kongresses zu feiern, hatten sie sich am Strand zu einem Fest versammelt. Art, der zwischen Jackie und einer polynesischen Schönen namens Tanna saß, strahlte entzückt, während er an einer Kokosnußschale mit Kava nippte. Nirgal lag vor ihnen ausgestreckt im Sand und hörte zu, wie Jackie und Tanna lebhaft über das sprachen, was Tanna als Eingeborenenbewegung bezeichnete. Das war, wie sie sagte, keine einfache Nostalgie zurück in die Vergangenheit, sondern vielmehr ein Versuch, neue Kulturen zu erfinden, die Aspekte früherer Zivilisationen in HighTech- Formeri des Mars integrierten. »Der Untergrund ist selbst eine Art Polynesien«, erklärte Tanna. »Kleine Inseln in einem großen Ozean aus Stein. Einige davon stehen in den Karten, andere nicht. Und eines Tages wird es ein richtiger Ozean sein, und wir werden draußen auf den Inseln sein und unter dem Himmel gedeihen.«

»Darauf trinke ich«, sagte Art und tat es. Ein Teil der archaischen polynesischen Kultur, den sie, wie Art hoffte, integrierten, war offenbar ihre berühmte sexuelle Freundlichkeit. Aber Jackie machte die Dinge auf ungeschickte Art kompliziert, indem sie sich auf Arts Arm stützte, entweder um ihn aufzureizen oder mit Tanna zu konkurrieren. Art sah glücklich, aber besorgt aus. Er hatte seine Schale mit dem verderblichen Kava ziemlich rasch geleert und schien so und zwischen den zwei Frauen in einer wonnigen Konfusion zu stecken. Nirgal hätte beinahe laut gelacht. Es schien möglich, daß auch einige andere der jungen Frauen beim Fest daran interessiert sein könnten, an der archaischen Weisheit teilzuhaben — nach ihren auf ihn gerichteten Blicken zu schließen. Andererseits könnte Jackie aufhören, Art zu reizen. Das machte nichts aus. Es dürfte eine lange Nacht werden, und der kleine Tunnelozean von Neu-Vanuatu war so warm wie die alten Bäder in Zygote. Nadia war schon da draußen und schwamm in dem flachen Wasser mit einigen Männern, die ein Viertel so alt waren wie sie. Nirgal stand auf, legte seine Kleidung ab und ging hinaus ins Wasser.


Es wurde schon so spät im Winter, daß selbst auf 80° Breite die Sonne für eine oder zwei Stunden um Mittag herauskam. Und während dieser kurzen Intervalle erglühten die dahinziehenden Nebel in pasteiloder metallfarbenen Tönen — an manchen Tagen rosa, an anderen kupfern, bronze und golden. Und stets wurden die zarten Farben von dem Reif auf dem Boden eingefangen und reflektiert, so daß es manchmal schien, als durchquerten sie eine Welt, die gänzlich aus Juwelen bestünde, aus Amethysten, Rubinen und Saphiren.

An anderen Tagen brüllte der Wind und belud den Rover mit einer Ladung Frost und verlieh der Welt ein fließendes Aussehen wie unter Wasser. In den kurzen Stunden mit Sonnenlicht arbeiteten sie daran, die Räder des Rovers freizumachen. Die Sonne sah in dem Nebel aus wie ein Fleck gelber Flechte. Einmal, nachdem ein solcher Sturm aufgehört hatte, war auch die Nebelkappe verschwunden, und das Land bildete bis zum Horizont eine malerische Vielfalt von Eisblumen. Und über dem nördlichen Horizont dieses zerklüfteten Diamantfeldes stand eine hohe schwarze Wolke, die in den Himmel aufstieg aus einer Quelle, die nicht weit hinter dem Horizont zu liegen schien.

Sie hielten an und gruben einen der kleinen Schutzräume Nadias aus. Nirgal sah zu der dunklen Wolke und dann auf die Karte. Er sagte: »Ich denke, dies könnte das Rayleigh-Mohole sein. Cojote hat dort auf der ersten Reise, die ich mit ihm gemacht habe, die Robotbagger gestartet. Ich möchte wissen, ob dabei etwas herausgekommen ist.«

»Ich habe hier in der Garage einen kleinen Erkundungsrover verstaut«, sagte Nadia. »Du kannst den nehmen und hinfahren, wenn du willst. Ich würde es auch gern tun, muß aber nach Gamete zurück. Ich soll dort übermorgen mit Ann zusammenkommen. Sie hat offenbar von dem Kongreß gehört und will mir einige Fragen stellen.«

Art drückte sein Interesse aus, Ann Clayborne kennenzulernen. Er war von einem Video beeindruckt, das er von ihr auf seinem Flug zum Mars gesehen hatte. »Es wäre so, als träfe man Jeremiah.«

»Ich werde mit dir kommen«, sagte Jackie zu Nirgal.


So verabredeten sie, sich in Gamete zu treffen, und Art und Nadia setzten sich in dem großen Rover dorthin in Marsch, während Nirgal und Jackie in Nadias Aufklärer losfuhren. Die hohe Wolke stand immer noch vor ihnen über der Eislandschaft, eine dicke Säule aus dunkelgrauen Ballen, flach gedrückt in der Stratosphäre, zu verschiedenen Zeiten in verschiedene Richtungen. Als sie näher kamen, erschien es immer sicherer, daß die Wolke aus dem schweigenden Planeten aufstieg. Und als sie an die Kante einer Bodenwelle kamen, sahen sie, daß das Land in der Entfernung frei von Eis war. Der Boden war so steinig wie im Hochsommer, aber dunkler — ein fast rein schwarzer Fels, der aus langen orangefarbenen Rissen in seiner kissenartig geblähten Oberfläche Rauch ausstieß. Und genau hinter dem Horizont, der sechs Kilometer entfernt war, wälzte sich die schwarze Wolke empor wie ein Mohole, das zur Nova geworden war. Der heiße Gasrauch explodierte nach außen und flatterte rasch in die Höhe.

Jackie fuhr ihren Wagen auf den Gipfel der höchsten Erhebung in der Gegend. Vor dort konnte sie bis zur Quelle der Wolke sehen; und es war genau so, wie Nirgal im ersten Moment vermutet hatte, als er sie erblickte. Das Rayleigh-Mohole war jetzt ein niedriger Hügel, schwarz bis auf seine orangefarbenen Risse. Die Wolke strömte aus einem Loch in diesem Hügel aus. Der Rauch war dunkel, dicht und trübe. Eine Zunge aus nacktem schwarzem Fels erstreckte sich bergab gen Süden, in ihrer Richtung, und dann nach rechts zur Seite.

Während sie im Wagen saßen und stumm hinsahen, kippte ein großer Teil des niedrigen schwarzen Hügels über dem Mohole zur Seite und brach ab, und flüssiges orangefarbenes Gestein ergoß sich, gelbe Funken sprühend, schnell zwischen die schwarzen Brocken. Das intensive Gelb wurde rasch orange und dann noch dunkler.

Danach bewegte sich nur noch die Rauchwolke. Über dem Ventilator und Motorgeräusch konnten sie einen dröhnenden Basso continuo hören, interpunktiert durch laute Explosionen, die zeitlich zu plötzlichen Raucheruptionen aus dem Schlot paßten. Der Wagen vibrierte leicht auf seinen Stoßdämpfern.

Sie blieben auf dem Hügel und beobachteten. Nirgal hingerissen, Jackie erregt und gesprächig. Sie machte viele Bemerkungen und wurde dann still, als Stücke der Lava von dem Hügel abbrachen und weitere Ergüsse von geschmolzenem Gestein zur Folge hatten. Wenn sie durch das Infrarotgerät des Wagens blickten, war der Hügel ein strahlender Smaragd mit blendend weißen Rissen; und die Zunge aus Lava, die über die Ebene floß, war hellgrün. Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis der orangefarbene Fels im visuellen Licht schwarz wurde, aber im Infrarot wurde das Smaragdgrün binnen etwa zehn Minuten dunkelgrün. Grün ergoß sich empor in die Welt; und das Weiß brach durch es hindurch.

Sie verzehrten eine Mahlzeit; und als sie die Teller wuschen, bewegte Jackie Nirgal in der engen Küche mit den Händen herum, sanft, wie sie in Neu-Vanuatu gewesen war, mit hellen Augen und einem leichten Lächeln. Nirgal kannte diese Zeichen und liebkoste sie, als sie sich in den kleinen Raum hinter den Fahrersitzen begab, erfreut über die erneuerte Intimität, die so selten und so kostbar war. Er sagte: »Ich wette, daß es draußen warm ist.«

Ihr Kopf flog herum, und sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Ohne ein weiteres Wort zogen sie sich an und gingen in die Schleuse. Sie hielten sich bei den behandschuhten Händen, während sie darauf warteten, daß sie sich öffnete. Danach traten sie aus dem Wagen und gingen über das trockene rostfarbene Geröll. Sie drückten sich fest die Hände und schlängelten sich um Buckel, Löcher und brusthohe Felsblöcke auf das neue Areal zu. Jeder trug in der freien Hand ein dünnes Isolationspäckchen. Sie hätten sprechen können, taten das aber nicht. Die Luft schob sie hin und wieder nach vorn; und sogar durch die Schichten seines Schutzanzugs konnte Nirgal fühlen, daß sie warm war. Der Boden unter ihren Füßen zitterte leicht, und das Dröhnen war weit entfernt, vibrierte aber in seinem Magen. Es war alle paar Sekunden durch einen dumpfen Knall akzentuiert oder einen schärferen krachenden Laut. Ohne Zweifel war es gefährlich, hier draußen zu sein. Da war ein kleiner runder Hügel, sehr ähnlich dem, auf dem ihr Wagen geparkt war, welcher einen Blick auf die Zunge heißer Lava aus etwas geringerer Entfernung gestattete. Ohne sich zu besprechen, gingen sie auf ihn zu. Sie erklommen den letzten Hang mit großen Schritten, sich immer fest an den Händen haltend.

Vom Gipfel des Hügels aus konnten sie weit über den neuen schwarzen Strom blicken und sein sich verschiebendes Netzwerk aus orangefarbenen Rissen. Der Lärm war beträchtlich. Es schien klar, daß jede neue Lavaeruption von der anderen Seite der schwarzen Masse hinunterrinnen würde. Sie befanden sich auf einem hohen Punkt am Ufer eines Stroms, wobei ein offenkundiger Wasserlauf von links nach rechts führte, wenn sie darauf hinunterblickten. Natürlich konnte eine plötzliche große Flut sie überwältigen. Aber das war eher unwahrscheinlich. Und auf jeden Fall waren sie hier in keiner größeren Gefahr, als in der sie im Wagen geschwebt hatten.

Alle diese Überlegungen brachen ab, als Jackie ihre Hand von der seinen frei machte und anfing, ihren Handschuh auszuziehen. Nirgal tat dasselbe und rollte den Stoff hoch, bis Handgelenk und Daumen frei waren. Der Handschuh löste sich von seinen Fingerspitzen und fiel herunter. Er rechnete, daß es etwa 278 K wären, frisch, aber nicht besonders kalt. Und dann wehte ihn ein Schwall warmer Luft an und danach von heißer Luft, vielleicht 315 K, der schnell vorbeiging. Es folgte wieder die kühlere Luft, der seine Hand zuerst ausgesetzt gewesen war. Während er seinen anderen Handschuh herunterzog, wurde ihm klar, daß hier überall diese hohe Temperatur herrschte, aber bei jedem Windstoß etwas anders war.

Jackie hatte schon ihre Jacke vom Helm getrennt und den Reißverschluß vorn ganz geöffnet. Und während Nirgal jetzt zusah, zog sie sie aus und entblößte ihren Oberkörper. Die Luft traf sie, und eine Gänsehaut lief über ihren Körper. Sie beugte sich vor, um ihre Stiefel auszuziehen, und ihr Lufttank lag in der Höhlung ihres Rückgrats. Die Rippen traten unter ihrer Haut hervor. Nirgal ging zu ihr und zog ihr von hinten die Hose herunter. Sie griff nach hinten, zog ihn an sich und drückte ihn auf den Boden. Sie fielen beide eng umschlungen hin und drehten sich schnell, um auf die isolierenden Unterlagen zu kommen. Der Boden war sehr kalt. Sie legten ihre Kleidung ab, und sie lag auf dem Rücken mit dem Lufttank über ihrer rechten Schulter. Er lag auf ihr. In der kühlen Luft war ihr Körper erstaunlich warm. Er strahlte Hitze aus wie Lava. Wärmewellen trafen ihn von unten und von der Seite. Ihr rosiger, muskulöser Körper umklammerte ihn fest mit Armen und Beinen, im Sonnenlicht aufregend greifbar. Sie drückten die Visierscheiben aneinander.

Ihre Helme stießen heftig Luft aus, um die undichten Stellen an Schultern, Rumpf und Schlüsselbein auszugleichen.

Sie schauten sich einige Zeit in die Augen, getrennt durch eine doppelte Glasschicht, welche das einzige zu sein schien, das ihr völliges Verschmelzen in ein einziges Wesen verhindern konnte. Die Empfindung war so stark, daß sie gefährlich wurde. Sie stießen immer wieder mit den Köpfen zusammen, um den Wunsch nach Verschmelzung auszudrücken. Aber sie wußten, daß sie sicher waren. Jackies Augen hatten einen seltsamen Rand zwischen Iris und Pupille. Deren kleine schwarze Fenster waren tiefer als jedes Mohole, eine Senke ins Zentrum des Universums. Nirgal mußte einfach wegschauen! Er richtete sich von ihr hoch, um ihren langen Körper zu betrachten, der, so überwältigend er war, dennoch weniger überwältigend war als die Tiefe ihrer Augen. Breite geschmeidige Schultern, ein ovaler Nabel, die so feminine Länge ihrer Schenkel… Er schloß die Augen. Es war wie ein Zwang. Und dann war er in ihr. Der Boden bebte unter ihnen in einer zarten, aber intensiven seismischen Verzückung. Dieser lebende Fels. Als Nirgals Nerven und Haut anfingen zu trommeln und singen, wandte er den Kopf, um auf die fließende Lava zu blicken. Und dann fügte sich alles zusammen.


Sie verließen den Rayleigh-Vulkan und fuhren zurück in die Dunkelheit der Nebelkapuze. In der zweiten Nacht, nachdem sie Rayleigh verlassen hatten, näherten sie sich Gamete. In dem dunklen Grau einer besonders tiefen Mittagsdämmerung kamen sie heran und unter den großen Überhang aus Eis. Plötzlich beugte Jackie sich mit einem Schrei vor, schaltete den Autopiloten aus und trat voll die Bremse durch.

Nirgal hatte vor sich hin gedöst, wurde unsanft wach, als er gegen das Lenkrad stieß, und schaute hinaus, um zu sehen, was da los war.

Die Klippe, wo die Garage gewesen war, war zertrümmert. Ein großer Eissturz war von der Klippe abgebrochen und hatte die Stelle verschüttet, wo die Garage gewesen war. Das Eis zuoberst war sehr inhomogen, wie durch eine Explosion. Jackie schrie: »Oh, sie haben es in die Luft gejagt! Sie haben sie alle getötet!«

Nirgal war, als hätte man ihm einen Schlag in den Magen versetzt. Er wunderte sich, welchen physischen Schock Furcht auslösen konnte. Sein Geist war taub. Er schien nichts zu fühlen — weder Angst noch Verzweiflung, nichts. Er griff hinüber und drückte Jackies Schulter — sie zitterte — und starrte besorgt durch den dichten wehenden Nebel.

»Dort ist der Notausgang«, sagte er. »Man hat sie bestimmt nicht kalt erwischt.« Der Tunnel führte durch einen Arm der Polkappe zu Chasma Australe, wo es in der Eiswand eine Zuflucht gab. »Aber …«, sagte Jackie und schluckte. »Aber wenn sie keine Warnung bekommen haben?«

Nirgal übernahm das Steuer und sagte: »Laß uns zu dem Asyl in Australe fahren!«

Er polterte über die Eisblumen mit der Höchstgeschwindigkeit, die der Wagen hergab, konzentrierte sich auf das Terrain und versuchte nicht zu denken. Er hatte nicht einmal Lust, zu der anderen Zufluchtsstätte zu fahren — um sie dann womöglich leer vorzufinden. Damit wäre seine letzte Hoffnung dahin, der einzige Weg, diese Katastrophe abzuwenden. Er wäre am liebsten gar nicht angekommen, sondern für immer um die Polkappe gefahren, ungeachtet der quälenden Besorgnis. Jackies Atem ging pfeifend, und von Zeit zu Zeit stöhnte sie. Bei Nirgal war es nur eine Benommenheit, eine Unfähigkeit zu denken. Ich fühle überhaupt nichts, dachte er verwundert. Aber alle möglichen Bilder von Hiroko blitzten ständig vor ihm auf wie auf den Bildschirm geworfen oder standen wie Gespenster draußen im treibenden Nebel. Es war sehr gut möglich, daß der Angriff aus dem Weltraum oder durch ein Projektil aus dem Norden erfolgt war. In diesem Falle hätte es keine Warnung gegeben. Die grüne Welt wurde ausgelöscht, und nur die weiße Welt des Todes wäre übriggeblieben. Die Farben aus allem herausgezogen wie in dieser Winterwelt aus grauem Nebel.

Er straffte die Lippen und konzentrierte sich auf die Eislandschaft. Er fuhr mit einer Rücksichtslosigkeit, die ihm bisher fremd gewesen war. Die Stunden vergingen, und er bemühte sich nach Kräften, nicht an Hiroko, Nadia, Art oder Sax oder sonst einen der übrigen zu denken. Seine Familie, Nachbarn, seine Stadt und Nation — alle unter dieser einen kleinen Kuppel. Er krümmte sich über seinen verkrampften Magen und konzentrierte sich auf das Fahren, auf jeden kleinen Buckel und jedes Loch, dem er trotzen mußte in dem vergeblichen Bemühen, die Fahrt weniger holprig zu machen.

Sie mußten etwa dreihundert Kilometer im Uhrzeigersinn fahren und dann den größten Teil der Länge von Chasma Australe hinauf, wo sich der Weg im Spätwinter verengte und so von Eisblöcken versperrt war, daß es nur eine einzige Route hindurch gab, die durch schwache kleine Transponderbaken markiert war. Hier war er gezwungen langsamer zu werden. Aber unter dem dunklen Nebel konnten sie alle Stunden durchfahren. Das taten sie, bis sie die niedrige Wand erreichten, die das Asyl bezeichnete. Es waren erst vierzehn Stunden seit ihrer Abfahrt von dem Tor von Gamete vergangen — eine große Leistung bei so zerklüftetem eisigem Terrain —, aber Nirgal bemerkte das nicht einmal. Wenn das Asyl leer war …

Wenn es leer war … DieTaubheit in ihm verschwand rasch, als sie sich der niedrigen Wand am Anfang der Schlucht näherten. Kein Zeichen war zu sehen, daß irgendwer oder irgendwas da wäre. Nirgals Furcht brach wie weißes Magma aus Rissen in schwarzer Lava hervor. Sie spritzte heraus und schwappte durch ihn hindurch und wurde zu einer unerträglichen Zerreißprobe in jeder seiner Zellen …

Dann flackerte unten an der Wand ein Licht auf, und Jackie schrie »Ah!«, als hätte man sie mit einer Nadel gestochen. Nirgal beschleunigte, und der Wagen raste auf die Eiswand zu. Er hätte ihn beinahe daraufkrachen lassen. Im letzten Moment erst trat er auf die Bremse. Die großen Drahträder rutschten ganz kurz und kamen zum Stehen. Jackie stülpte ihren Helm auf und kletterte in die Schleuse. Nirgal kam nach, und nach einem quälend langsamen Druckausgleich ließen sie sich auf den Boden fallen und rannten zu der Schleusentür in einer flachen Nische des Eises. Die Tür ging auf, und zwei Gestalten in Schutzanzügen sprangen mit Gewehren in der Hand heraus. Jackie rief etwas über die allgemeine Frequenz; und binnen einer Sekunde drückten die sie an sich.

So weit, so gut, obwohl man sich vorstellen konnte, daß sie sie bloß trösteten. Nirgal war immer noch von banger Erwartung gequält, als er hinter einer Frontscheibe Nadias Gesicht erblickte. Sie machte ihm ein Zeichen mit erhobenem Daumen, und er merkte, daß er den Atem seit einer Zeit angehalten hatte, die ihm wie die ganzen letzten fünfzehn Stunden vorkam. Jackie weinte vor Erleichterung, und Nirgal fühlte sich auch dazu geneigt; aber das völlige Verschwinden der Taubheit und dann die Furcht hatten ihn bloß erschüttert und erschöpft gemacht, jenseits von Tränen.

Nadia führte ihn an der Hand in die Zufluchtsstätte, als ob sie dies verstünde. Und als die Schleuse geschlossen war und unter Druck gesetzt wurde, begann Nirgal erst die Stimmen auf der allgemeinen Frequenz zu verstehen: »Ich hatte solche Angst. Ich dachte, ihr wäret tot.«

»Wir sind aus dem Fluchttunnel gekommen, wir haben sie kommen sehen … «

Im Innern nahmen sie die Helme ab und ließen sich hundertmal umarmen. Art klopfte Nirgal auf die Schulter. »So froh, euch beide zu sehen!« Er drückte Jackie fest an sich, hielt sie dann auf Armeslänge vor sich und blickte mit Zustimmung und Bewunderung in ihr verrotztes, rotäugiges, mädchenhaftes Gesicht, als ob er gerade in diesem Moment erkennen würde, daß auch sie menschlich war und keine katzenhafte Göttin.

Während sie durch den engen Tunnel zu den Räumen des Asyls gingen, erzählte ihnen Nadia mit finsterem Gesicht die Geschichte. »Wir sahen sie kommen und zogen uns durch den Nottunnel zurück. Dann ließen wir beide Kuppeln und alle Tunnels einstürzen Damit haben wir wohl eine ganze Anzahl von ihnen getötet, aber ich weiß nicht, wie viele sie hineingeschickt hatten oder wie weit sie gekommen sind. Cojote ist draußen und beschattet sie, um zu sehen, ob er etwas sagen kann. Jedenfalls ist es geschehen.«

Am Ende des Tunnels war ein enges Asyl aus einigen kleinen Räumen mit rohen Wänden, Böden und Decken aus isolierenden Tafeln, die direkt an Hohlräume im Eis grenzten. Jedes Zimmer lag strahlenförmig um eine zentrale Kammer, die als Küche und Speisesaal diente. Jackie umarmte dort alle außer Maya bis hin zu Nirgal. Sie hielten einander fest, und Nirgal fühlte sie zittern und merkte, daß auch er selbst zitterte in einer Art von synchroner Vibration. Die schweigsame, verzweifelte und angstvolle Fahrt würde ihre Verbindung ebenso stärken wie ihr Liebesspiel am Vulkan oder noch mehr — das war schwer zu sagen. Er war zu müde, um die starken unbestimmten Emotionen, die ihn durchströmten, zu verstehen. Er machte sich von Jackie frei und setzte sich hin, plötzlich bis zu Tränen erschöpft. Hiroko saß neben ihm, und er hörte ihr zu, wie sie ausführlich erzählte, was geschehen war.

Der Angriff hatte begonnen mit dem plötzlichen Auftauchen einiger Raumflugzeuge, die sich in einer Gruppe auf die Ebene vor dem Hangar stürzten. Darum bekamen sie drinnen zunächst keine Warnung, denn die Leute im Hangar hatten mit Verwirrung reagiert. Sie telefonierten zwar nach drinnen, um die anderen zu warnen, versäumten aber, Cojotes Verteidigungssystem zu aktivieren, das sie offenbar einfach vergessen hatten. Cojote war darüber sehr empört, wie Hiroko sagte, und das konnte Nirgal sich gut vorstellen. Er sagte: »Man muß Angriffe von Luftlandetruppen gleich im ersten Ansatz stoppen.« Statt dessen hatten sich die Leute im Hangar in die Kuppel zurückgezogen. Nach einigem Durcheinander waren sie alle im Fluchttunnel beisammen, und sobald sie über den Explosionspunkt hinaus waren, hatte Hiroko befohlen, die Schweizer Verteidigung zu ergreifen und die Kuppel zum Einsturz zu bringen. Kasei und Harmakhis hatten gehorcht, und so war die ganze Kuppel heruntergekommen und hatte alle Angreifer, die sich in ihrem Innern befanden, getötet und unter Millionen Tonnen Trockeneis begraben. Strahlungsmessungen deuteten darauf hin, daß der Rickover-Reaktor nicht aufgeschmolzen war, obwohl er sicher mit allem anderen zermalmt worden war. Cojote war mit Peter durch einen Seitentunnel verschwunden aus einem eigenen Fluchtloch. Hiroko wußte nicht genau, wohin sie gegangen waren. »Aber ich denke, daß diese Raumflieger jetzt in schauerlichen Schwierigkeiten stecken.«

Also war Gamete dahin und die Hülle von Zygote auch. Irgendwann in der Zukunft würde die Polkappe durch Sublimation verschwinden und ihre plattgedrückten Überreste freigeben, dachte Nirgal zerstreut. Aber vorerst war alles begraben und völlig unzugänglich.

Und hier waren sie nun. Sie waren nur mit einigen KIs und den Schutzanzügen auf dem Rücken herausgekommen. Und jetzt waren sie im Krieg mit der Übergangsbehörde (vermutlich), mit einem Teil der Macht, die sie schon da draußen angegriffen hatte.

»Wer waren sie?« fragte Nirgal.

Hiroko schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht. Cojote hat gesagt, die Übergangsbehörde. Aber es gibt im Sicherheitsdienst der UNTA eine Menge verschiedener Einheiten; und wir müssen herausfinden, ob das jetzt die neue Polizei der Übergangsbehörde ist oder ob irgendeine Einheit wild geworden ist.«

»Was werden wir tun?« fragte Art.

Zuerst antwortete niemand.

Schließlich sagte Hiroko: »Wir werden um Asyl bitten müssen. Ich denke, Dorsa Brevia hat den meisten Platz.«

»Was ist mit dem Kongreß?« fragte Art, der durch die Erwähnung von Dorsa Brevia daran erinnert wurde.

»Ich meine, wir brauchen ihn jetzt mehr denn je«, sagte Hiroko.

Maya runzelte die Stirn und erklärte: »Es könnte gefährlich sein zusammenzukommen. Du hast einer Menge Leute davon erzählt.«

»Das mußten wir«, sagte Hiroko. »Darauf kommt es ja gerade an.« Sie sah sich bei allen um; und nicht einmal Maya wagte, ihr zu widersprechen. »Jetzt müssen wir das Risiko auf uns nehmen.«

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