VIERTER TEIL Der Gelehrte als Held

Halte es zwischen Daumen und Mittelfinger. Fühle die runde Kante. Beobachte die leichten Krümmungen des Glases. Eine Vergrößerungslinse. Sie hat die Einfachheit, Eleganz und Schwere eines steinzeitlichen Werkzeugs. Setz dich mit ihr an einem sonnigen Tage hin und halte sie über einen Haufen trockenem Reisig! Bewege sie auf und ab, bis du unter den Zweigen einen hellen Fleck siehst. Erinnerst du dich an das Eicht? Es ist, als ob die Zweige eine kleine Sonne eingefangen hätten.

Der Amor-Asteroid, der zum Aufzugkabel versponnen worden war, bestand hauptsächlich aus kohlenstoffreichen Chondriten und Wasser. Die beiden Amor-Asteroiden, die von Robotlandern im fahr 2091 abgefangen wurden, bestanden zumeist aus Silikaten und Wasser.

Das Material von New Clarke wurde von ihren Robotmannschaften zu einer einzigen langen Karbonfaser versponnen. Das Material der beiden Silikatasteroiden wurde von ihren Robotmannschaften zu Blechen für Sonnensegel verarbeitet. Siliziumdampf wurde zwischen zehn Kilometer langen Rollen verfestigt und zu Blechen ausgezogen, die mit einer dünnen Schicht aus Aluminium belegt waren. Und diese riesigen Spiegelflächen wurden durch Raumschiffe mit menschlichen Besatzungen zu kreisförmigen Konfigurationen ausgebreitet, die ihre Gestalt durch Rotation und Sonnenlicht beibehielten.

Von einem in eine polare Umlaußahn um den Mars geschobenen Asteroiden, den sie ›Birch‹ nannten, spannten sie die Spiegelflächen zu einem Ring von hunderttausend Kilometern Durchmesser auf. Dieser ringförmige Spiegel war gegen die Sonne gerichtet, so daß das von ihm reflektierte Eicht auf einen Punkt innerhalb der Marsbahn fiel, nahe ihrem Ersten Eagrangepunkt.

Der zweite Silikat-Asteroid, genannt ›Solettaville‹, war in die Nähe dieses Eagrangepunktes gerückt worden. Dort spannten die Hersteller der Sonnensegel die Spiegelflächen in ein komplexes Gewebe aus vergitterten Ringen aus, die alle miteinander verbunden und so in Winkeln angeordnet waren, daß sie aussahen wie eine Linse aus kreisförmigen Jalousieblenden, die sich um eine Nabe drehten, die ein silberner Kegel war, mit der offenen Seite dem Mars zugewandt. Dieses große zarte Objekt von zehntausend Kilometern Durchmesser, hell und imposant, wie es sich zwischen Mars und Sonne drehte, wurde ›die Soletta‹ genannt.

Sonnenstrahlen, die die Soletta trafen, traten durch ihre Blenden und stießen erst auf die Sonnenseite der einen und dann auf die nächste nach draußen, die auf den Mars gerichtet war. Sonnenlicht, das den Ring im polaren Orbit traf, wurde in den inneren Kegel der Soletta reflektiert; und diese entgegengesetzten Drücke hielten ihn in Position — etwa hunderttausend Kilometer vom Mars entfernt, im Perihel näher und im Aphel etwas weiter entfernt. Die Winkel der Gitterteile wurden von dem Computer der Soletta ständig justiert, um Orbit und Focus beizubehalten.

Während der Dekade, in der diese zwei großen Schwungräder aus ihren Asteroiden angefertigt wurden wie Silikatgewebe aus Felsenspinnen, sahen Beobachter auf dem Mars fast nichts von ihnen. Man konnte gelegentlich eine weiße gekrümmte Linie am Himmel erkennen oder zufälliges Aufleuchten bei Tag und Nacht, als ob die Brillanz eines viel größeren Universums durch die losen Nähte im Gewebe unserer Sphäre schiene.

Als dann die beiden Spiegel fertiggestellt waren, wurde das reflektierte Licht des Ringspiegels auf den Kegel der Soletta gerichtet. Deren zirkuläre Latten wurden justiert, und sie bewegte sich in einen etwas abweichenden Orbit.

Und eines Tages sahen die auf der Tharsis-Seite des Mars lebenden Menschen auf; denn der Himmel hatte sich verdunkelt. Sie erblickten eine Sonnenfinsternis, wie sie der Mars noch nie erlebt hatte. Die Sonne wurde angeknabbert, als ob da oben ein Mond von der Größe des irdischen ihre Strahlen blockierte. Dann ging die Finsternis weiter wie auf der Erde. Die dunkle Sichel schnitt immer tiefer in das gleißende Rund, als die Soletta in ihre Position zwischen Mars und Sonne rückte. Aber ihre Spiegel waren noch nicht so ausgerichtet, daß sie das Licht hindurchtreten ließen. Der Himmel wurde tief violett. Die Dunkelheit erfaßte den größeren Teil der Scheibe. Es blieb nur eine schmale leuchtende Sichel, bis auch die verschwand und die Sonne eine dunkle Scheibe am Himmel bildete, umrahmt vom Hauch der Korona. Und dann war sie völlig verschwunden. Eine totale Sonnenfinsternis .. .

In der dunklen Scheibe erschien ein ganz schwaches Moiremuster, wie man es noch nie bei einer natürlichen Sonnenfinsternis gesehen hatte. Alle Leute auf der Tagesseite des Mars schnappten nach Luft und schauten mit zusammengekniffenen Augen nach oben. Und dann, als ob man eine Jalousie aufgezogen hätte, kam die Sonne mit einemmal zurück.

Blendendes Licht!

Und noch blendender als je zuvor, da die Sonne nun merklich heller war als zuvor, ehe die seltsame Finsternis begonnen hatte. Jetzt wandelte man unter einer verstärkten Sonne, deren Scheibe ungefähr so groß aussah wie auf der Erde. Das Licht war um mehr als zwanzig Prozent stärker als vorher — merklich heller und wärmer auf der Haut. Die rote Fläche der Ebenen war leuchtender. Als ob man plötzlich Flutlicht eingeschaltet hätte und sie alle jetzt auf einer großen Bühne spazierten.

Ein paar Monate später wirbelte ein dritter Spiegel, viel kleiner als die Soletta, in die höchsten Bereiche der Marsatmosphäre. Das war eine weitere Linse, aus kreisrunden Latten erbaut. Sie sah aus wie ein silbernes UFO. Sie fing etwas von dem Licht auf, das von der Soletta herabströmte, und bündelte es noch weiter auf ausgesuchte Punkte an der Oberfläche des Planeten von weniger als einem Kilometer Durchmesser. Und sie flog wie ein Segelflugzeug über die Welt und hielt diesen konzentrierten Lichtstrahl im Focus, bis direkt auf dem Land kleine Sonnen zu erblühen schienen und das Gestein schmolz — von fest zu flüssig und dann zu Feuer.


Der Untergrund war nicht groß genug für Sax Russell. Er wollte wieder an die Arbeit gehen. Er hätte sich in die Demimonde begeben können und vielleicht eine leitende Position als Lehrer an der neuen Universität in Sabishii annehmen können, die außerhalb des Netzes lief und viele seiner alten Kollegen deckte und manchen Kindern des Untergrunds Erziehung bot. Aber nach einigem Nachdenken kam er zu der Erkenntnis, daß er weder unterrichten noch an der Peripherie bleiben wollte. Er wollte wieder zum Terraformen zurück, wenn möglich in das Herz des Projektes oder so nahe, wie er nur herankommen könnte. Und das bedeutete die Oberflächenwelt. Kürzlich hatte die Transnationale Behörde ein Komitee zur Koordinierung aller Arbeiten zur Terraformung gegründet; und ein Team unter der Führung von Subarashii hatte den alten Auftrag zur Synthese bekommen, den Sax früher gehabt hatte. Das war ungünstig, da Sax nicht Japanisch sprach. Aber die Führung im biologischen Teil des Unternehmens war den Schweizern übertragen worden und wurde von einem Schweizer Kollektiv aus biotechnischen Firmen namens Biotique betrieben mit Hauptbüros in Genf und Burroughs und engen Verbindungen zur transnationalen Praxis.

Also mußte er sich zunächst unter einem falschen Namen bei Biotique einschleichen und Burroughs zuweisen lassen. Desmond übernahm dies und schrieb eine Computer-Persona für Sax, ähnlich der, die er vor Jahren Spencer gegeben hatte, als dieser nach Echus Overlook gegangen war. Spencers Persona und eine gründliche kosmetische Chirurgie hatten ihm ermöglicht, erfolgreich in den Labors von Echus Overlook und später in Kasei Vallis zu arbeiten, dem eigentlichen Herzen der transnationalen Sicherheitsdienste.

Die neue Persona listete Saxens physische Identitätsmerkmale auf — Genom, Netzhaut, Stimme und Fingerabdrücke —, alle leicht verändert, so daß sie immer noch fast alle auf Sax selbst zutrafen, aber bei allen Vergleichssuchen in komparativen Netzen nicht auffielen. Diese Daten bekamen einen neuen Namen mit vollem terranischem Hintergrund, Kreditstatus und Einwanderungsdokumenten sowie einem viralen Untertext gegen alle konkurrierenden Identitäten für die physischen Daten. Das ganze Paket wurde an das Schweizer Paßbüro geschickt, das solchen Ankommenden ohne Kommentar Pässe geliefert hatte. Und in der balkanisierten Welt der transnationalen Netze schien das zu funktionieren. Desmond sagte: »O ja, der Teil ist unproblematisch. Aber ihr Ersten Hundert seid alle Filmstars. Du brauchst auch ein neues Gesicht.«

Sax ließ mit sich reden. Er erkannte die Notwendigkeit, und sein Gesicht hatte ihm nie etwas bedeutet. Und in diesen Tagen sah sein Gesicht im Spiegel ohnehin dem nicht sehr ähnlich, das er sich gedacht hatte. Also ließ er Vlad an sich arbeiten und betonte die potentielle Bedeutung seiner Anwesenheit in Burroughs. Vlad war ein führender Theoretiker des Widerstandes gegen die Transnationalen geworden und erkannte rasch, worauf es Sax ankam. Er sagte: »Die meisten von uns leben einfach in der Demimonde, aber ein paar Leute, die in Burroughs versteckt sind, wären eine feine Sache. Also könnte ich meine kosmetische Chirurgie auch in einer angespannten Situation wie deiner praktizieren.«

»Eine angespannte Situation«, sagte Sax. »Und mündliche Kontrakte sind bindend. Ich erwarte, hübscher herauszukommen.«

Und es wurde eine wundervolle Arbeit, obwohl man das unmöglich sagen konnte, ehe die erheblichen Konfusionen verschwunden waren. Sie setzten ihm Zahnkronen auf, machten seine dünne Oberlippe kräftiger, verliehen seiner Knopfnase eine erhabene Brücke und eine leichte Krümmung. Sie machten seine Wangen schmaler und gaben ihm mehr Kinn. Sie schnitten sogar einige Muskeln in den Lidern ein, so daß er nicht so oft zwinkerte. Als die Narben verschwunden waren, sah er wie ein richtiger Filmstar aus, meinte Desmond. Wie ein Ex-Jockey, meinte Nadia. Oder ein früherer Tanzlehrer, sagte Maya, die seit vielen Jahren sich lange an die Anonymen Alkoholiker gehalten hatte. Sax, der die Wirkungen des Alkohols nie gemocht hatte, winkte ihr ab.

Desmond machte Fotos von ihm und tat sie in die neue Persona. Dann gab er dieses Konstrukt erfolgreich in die Akten von Biotique ein, zusammen mit einer Versetzungsanweisung von San Francisco nach Burroughs. Die Persona erschien eine Woche später in den Schweizer Paßlisten; und Desmond kicherte, als er sie sah. Er sagte und zeigte auf Saxens neuen Namen: »Steven Lindholm. Schweizer Bürger! Diese Leute decken uns ohne Zweifel. Ich gehe jede Wette ein, daß sie deine Persona dicht gemacht und dein Genom mit alten Akten und sogar mit meinen Veränderungen nachgeprüft haben. Ich wette, daß sie herausgebracht haben, wer du wirklich bist.«

»Bist du sicher?«

»Nein. Sie sagen es ja nicht. Aber ich bin ziemlich sicher.«

»Ist das gut?«

»Theoretisch nicht. Aber in der Praxis ist es gut, wenn jemand es auf dich abgesehen hat, daß sie sich als Freunde verhalten. Und die Schweizer sind gute Freunde. Dies ist das fünfte Mal, daß sie für eine Persona einen Paß ausgestellt haben. Ich besitze sogar selbst einen und bezweifle, daß es ihnen gelungen ist herauszufinden, wer ich wirklich bin, weil ich nie erkennungsdienstlich erfaßt wurde wie ihr von den Ersten Hundert. Interessant, meinst du nicht auch?«

»Doch.«

»Das sind interessante Leute. Sie haben ihre eigenen Pläne, die ich nicht kenne. Aber ich mag sie. Ich glaube, daß sie beschlossen haben, uns zu decken. Vielleicht wollen sie bloß wissen, wer wir sind. Das werden wir nie genau erfahren; denn die Schweizer lieben ihre Geheimnisse sehr. Aber es macht nichts aus, warum, wenn man weiß wie.«

Sax zuckte bei diesem Gefühl zusammen, war aber froh über den Gedanken, daß er unter Schweizer Schirmherrschaft sicher sein würde. Sie waren Leute von seiner Art — rational, vorsichtig und methodisch.

Einige Tage, bevor er sich aufmachte, um mit Peter nach Burroughs zu fliegen, machte er einen Spaziergang rund um den Teich von Gamete, was er während seiner Jahre dort nur selten getan hatte. Der Teich war wirklich ein sauberes Stück Arbeit. Hiroko war eine tüchtige Systemplanerin. Als sie und ihr Team vor so langer Zeit aus Underhill verschwunden waren, war Sax völlig verwirrt gewesen. Er hatte nicht begriffen, warum, und sich lange Sorgen gemacht, daß sie anfangen würden, irgendwie gegen das Terraformen zu kämpfen. Als es ihm gelungen war, eine Reaktion Hirokos dem Netz abzuringen, war er teilweise beruhigt. Sie schien dem Ziel des Terraformens im Grunde nicht abgeneigt zu sein, und ihre besondere Vorstellung von Viriditas war wohl nur eine andere Version des gleichen Themas.

Aber Hiroko schien die Geheimniskrämerei zu lieben, was von ihr sehr unwissenschaftlich war. Und während ihrer Jahre des Versteckens hatte sie sich bis zu falschen Informationen hinreißen lassen. Auch als Mensch war sie keineswegs leicht zu verstehen; und erst nach einigen gemeinsam verbrachten Jahren war Sax davon überzeugt worden, daß auch sie für den Mars eine für Menschen verträgliche Biosphäre wünschte. Das war alles, was er an Übereinstimmung haben wollte. Und er konnte sich in diesem speziellen Projekt keinen besseren einzelnen Verbündeten vorstellen, es sei denn, es wäre der Vorsitzende dieses neuen Übergangskomitees. Und wahrscheinlich war auch der ein Verbündeter. Es gab wirklich nicht allzu viele Gegner.

Aber da am Strand saß jemand, so mager wie ein Kranich. Ann Clayborne. Sax zögerte, aber sie hatte ihn schon gesehen. Und so ging er weiter, bis er neben ihr stand. Sie schaute zu ihm auf und starrte dann wieder auf den weißen Teich. Sie sagte: »Du siehst anders aus.«

»Ja.« Er fühlte noch die wunden Stellen im Gesicht und Mund, obwohl die Narben verschwunden waren. Es war ein bißchen so, als trüge man eine Maske, und das war ihm plötzlich unangenehm. »Ich bin immer noch derselbe«, fügte er hinzu.

»Natürlich.« Sie schaute ihn nicht an. »Also willst du weg in die Oberwelt?«

»Ja.«

»Um wieder an deine Arbeit zu gehen?«

»Ja.«

Sie sah zu ihm auf. »Was denkst du, wozu die Wissenschaft da ist?«

Sax zuckte die Achseln. Das war immer und ewig ihr altes Argument, ganz gleich, wie es anfing. Terraformen oder nicht; Terraformen, das ist die Frage… Er hatte diese Frage schon vor langer Zeit beantwortet und sie auch; und er wünschte, sie könnten sich gerade darauf einigen, daß sie verschiedener Ansicht waren, und damit fertig. Aber Ann war unermüdlich.

Er sagte: »Um Dinge zu klären.«

»Aber Terraformen ist kein Ausrechnen.«

»Terraformen ist nicht Wissenschaft. Ich habe das nie gesagt. Es ist etwas, das die Menschen mittels der Wissenschaft tun. Angewandte Wissenschaft oder Technik. Das hast du. Die Wahl, was du tun willst mit dem, was du von der Wissenschaft lernst. Wie immer du es nennst.«

»Also ist es eine Sache von Werten.«

»Das nehme ich an.« Sax dachte darüber nach und versuchte, seine Gedanken über dieses trübe Thema zu ordnen. »Ich nehme an, daß unsere… Meinungsverschiedenheit nur eine andere Seite von dem ist, was die Leute als Problem des Wertes von Fakten bezeichnen. Die Wissenschaft hat es mit Fakten zu tun und mit Theorien, die Fakten zu Beispielen machen. Werte bilden ein System anderer Art, ein menschliches Konstrukt.«

»Auch Wissenschaft ist ein menschliches Konstrukt.«

»Ja. Aber die Verbindung zwischen beiden Systemen ist nicht klar. Anfangend mit den gleichen Fakten, können wir zu verschiedenen Werten gelangen.«

»Aber die Wissenschaft selbst ist voller Werte«, erklärte Ann hartnäckig. »Wir reden mit Nachdruck und Eleganz über Theorien, wir reden über klare Resultate oder ein schönes Experiment. Und das Verlangen nach Wissen ist besser als Ignoranz oder Geheimnis. Nicht wahr?«

»Das nehme ich an«, erwiderte Sax und dachte darüber nach.

»Deine Wissenschaft ist ein Satz von Werten«, fuhr Ann fort. »Das Ziel deiner Art von Wissenschaft ist die Etablierung von Gesetzen, von Regeln, von Exaktheit und Gewißheit. Du willst alle Dinge erklärt haben. Du willst die Fragen nach dem Warum beantworten, bis hin zum Urknall. Du bist ein Reduktionist. Sparsamkeit und Eleganz und Ökonomie sind Werte für dich; und wenn du die Dinge einfacher machen kannst, ist das ein echter Erfolg, nicht wahr?«

»Aber das ist die wissenschaftliche Methode«, wandte Sax ein. »Das bin nicht nur ich, sondern das ist es, wie die Natur selbst funktioniert. Das tust du auch selbst.«

»Es gibt menschliche Werte, die in der Physik eingebettet sind.«

»Da bin ich nicht so sicher.« Er hielt die Hand hoch, um sie für eine Sekunde anzuhalten. »Ich sage nicht, daß es in der Wissenschaft keine Werte gäbe. Aber Materie und Energie tun das ihre. Wenn du über Werte sprechen willst — bitte sehr! Gewiß ergeben sie sich irgendwie aus Fakten. Aber das ist ein anderes Thema, eine Art Soziobiologie oder Bioethik. Vielleicht wäre es besser, einfach direkt über Werte zu sprechen. Das größte Gute für die größte Anzahl, oder so etwas.«

»Es gibt Ökologen, die sagen würden, das wäre die wissenschaftliche Definition eines gesunden Ökosystems. Eine andere Art, vom Höhepunkt eines Ökosystems zu sprechen.«

»Ich denke, das ist ein Werturteil. Eine Art Bioethik. Interessant, aber …« Sax zwinkerte sie neugierig an und beschloß, den Kurs zu ändern. »Warum nicht hier einen Versuch mit einem optimalen Ökosystem wagen, Ann? Ohne lebende Dinge kann man nicht von Ökosystemen sprechen. Was vor uns hier auf dem Mars war, war keine Ökologie, sondern nur Geologie. Man könnte sogar sagen, daß es hier vor langer Zeit einen Anfang von Ökologie gab und daß dann etwas schiefgegangen ist und erfror, und daß wir jetzt gerade wieder anfangen.«

Sie murrte darüber, und er hielt inne. Er wußte, daß sie an eine Art von innerem, natürlichem Wert für die mineralische Realität des Mars glaubte. Das war eine Version von dem, was die Leute als Landethik bezeichneten, aber ohne die Biota des Landes. Man könnte sagen: Stein-Ethik. Ökologie ohne Leben. Wirklich ein spezifischer Wert!

Er seufzte. »Vielleicht ist es gerade das, wenn man über einen Wert spricht. Die Begünstigung lebender Systeme gegenüber nicht lebenden. Ich meine, daß man Werten nicht entrinnen kann, wie du sagst. Es ist seltsam … Meistens bin ich bestrebt, die Dinge klar zu machen. Warum sie so funktionieren, wie sie es tun. Aber wenn du mich fragst, warum ich das will — oder was ich wünsche, das hätte geschehen sollen, auf was hin ich arbeite …«Er zuckte die Achseln und bemühte sich um Selbstverständnis. »Das ist schwer auszudrücken. Irgend etwas wie einen Nettogewinn an Information. Einen Reingewinn an Ordnung.« Für Sax war das eine gute funktionale Beschreibung des Lebens selbst, von dessen Antagonie zur Entropie. Er hielt Ann die Hand hin in der Hoffnung, daß sie das verstehen und mindestens dem Paradigma ihrer Diskussion zustimmen würde, einer Definition des letzten Zieles der Wissenschaft. Schließlich waren sie doch beide Wissenschaftler, und es war ihr gemeinsames Unterfangen.

Aber sie sagte bloß: »So zerstörst du das Antlitz eines ganzen Planeten. Eines Planeten mit einer klaren, Milliarden von Jahren alten Vergangenheit. Das ist nicht Wissenschaft. Es schafft einen geplanten Naturpark.«

»Es ist Anwendung von Wissenschaft für einen speziellen Wert. Einen, an den ich glaube.«

»Wie die Transnationalen auch.«

»Das vermute ich.«

»Es hilft ihnen sicher.«

»Es hält alles am Leben.«

»Bis es sie tötet. Das Terrain ist destabilisiert. Jeden Tag gibt es Erdrutsche.«

»Stimmt.«

»Und sie töten. Pflanzen, Menschen. Das ist schon passiert.«

Sax wedelte mit der Hand, und Ann sah ihn mit einer jähen Kopfbewegung an.

»Was ist das? Der unvermeidliche Mord? Was für ein Wert ist das?«

»Nein, nein. Ann, es gibt Unfälle. Die Leute müssen auf gewachsenem Fels bleiben, außerhalb der Erdrutschzonen. So etwas. Vorläufig.«

»Aber weite Gebiete werden zu Schlamm werden oder völlig überschwemmt werden. Wir sprechen über den halben Planeten.«

»Das Wasser wird nach unten ablaufen. Wasserscheiden bilden.«

»Du denkst an ertränktes Land. Und einen völlig anderen Planeten. Oh, das ist schon ein feiner Wert! Und die Leute, die den Wert des Mars schätzen, wie er ist… Wir werden auf jedem Schritt des Weges gegen euch kämpfen.«

Er seufzte. »Ich wünsche, ihr tätet das nicht. Gegenwärtig würde eine Biosphäre uns mehr helfen als den Transnationalen. Diese können von den Kuppelstädten aus operieren und die Oberfläche mit Robotern bergmännisch ausbeuten, während wir uns verstecken und die meisten unserer Anstrengungen auf Geheimhaltung und Überleben konzentrieren. Wenn wir überall auf der Oberfläche leben könnten, wäre das für alle Arten von Widerstand viel einfacher.«

»Für alles außer Widerstand der Roten.«

»Ja, aber worauf kommt es jetzt gerade an?«

»Mars. Einfach Mars. Der Ort, den du nie kennengelernt hast.«

Sax schaute zu der weißen Kuppel über ihnen auf und fühlte Schmerz wie einen plötzlichen Anfall von Arthritis. Es war nutzlos, mit ihr zu diskutieren.

Aber irgend etwas in ihm veranlaßte ihn, es weiter zu versuchen. »Schau, Ann, ich bin ein Befürworter von dem, was die Menschen das minimal lebensfähige Modell nennen. Dieses verlangt eine atembare Atmosphäre von nur bis etwa zwei bis drei Kilometern Höhe. Darüber würde die Luft für Menschen zu dünn sein, und es würde überhaupt nicht viel Leben irgendwelcher Art geben — einige Pflanzen für große Höhen, und darüber nichts, oder nichts Sichtbares. Das vertikale Relief des Mars ist so extrem, daß es weite Regionen geben kann, die oberhalb des größten Teils der Atmosphäre bleiben. Das ist ein Plan, den ich für sinnvoll halte. Er drückt eine verständliche Anzahl an Werten aus.«

Sie antwortete nicht. Das war wirklich enttäuschend. Einmal, bei einem Versuch, Ann zu verstehen, mit ihr reden zu können, hatte er sich näher mit der Philosophie der Wissenschaft beschäftigt. Er hatte allerhand Material gelesen und sich besonders auf die LandEthik und das Grenzgebiet von Faktum und Wert konzentriert. Ach, leider hatte sich das nie als besonders hilfreich erwiesen. Im Gespräch mit ihr war er anscheinend nie fähig gewesen, irgendwie nützlichen Gebrauch von dem zu machen, was er gelernt hatte. Wenn er jetzt auf sie hinunterblickte und den Schmerz in seinen Gelenken spürte, erinnerte er sich an etwas, das Thomas Kuhn über Priestley geschrieben hatte — daß ein Wissenschaftler, der immer noch Widerstand leistet, nachdem sich seine sämtlichen Kollegen einem neuen Paradigma zugewendet haben, vollkommen logisch und vernünftig sein könnte, aber ipso facto aufgehört hätte, ein Wissenschaftler zu sein. Etwas derartiges schien Ann passiert zu sein, aber was war sie denn jetzt nun? Eine Konterrevolutionärin? Eine Prophetin?

Sie sah gewiß aus wie eine Prophetin — harsch, hager, zäh, ärgerlich, unversöhnlich. Sie würde sich nie ändern, und sie würde ihm nie verzeihen. Und all das hätte er ihr gerne gesagt, über den Mars, über Gamete, über Peter — über Simons Tod, unter dem Ursula mehr zu leiden schien als sie… All das war unmöglich. Darum hatte er mehr als einmal aufgegeben, mit Ann zu sprechen. Es war so frustrierend, niemals irgendwo hin zu kommen, mit der Abneigung von jemandem konfrontiert zu sein, den er seit über sechzig Jahren kannte. Er hatte jede Diskussion gewonnen, hatte aber nie etwas erreicht. Manche Leute waren nun einmal so; aber dadurch wurde es nicht weniger enttäuschend. Es war wirklich erstaunlich, wieviel physiologisches Unbehagen durch eine rein emotionale Reaktion erzeugt werden konnte.

Ann fuhr mit Desmond am nächsten Tag fort. Bald danach machte Sax mit Peter eine Reise nach Norden in einem der getarnten Flugzeuge, mit denen Peter über den ganzen Mars zu fliegen pflegte.

Peters Route nach Burroughs führte sie über die Hellespontus Montes, und Sax blickte interessiert in das große Becken von Hellas. Sie erwischten einen Schimmer von dem Eisfeld, das Low Point bedeckt hatte, eine weiße Masse auf der dunklen Nachtseite. Aber Low Point selbst blieb über dem Horizont. Das war sehr schade; denn Sax war gespannt zu sehen, was über dem Mohole von Low Point geschah. Das war dreizehn Kilometer tief gewesen, als die Flut es gefüllt hatte. Und es war anzunehmen, daß das Wasser auf dem Boden flüssig geblieben war und vermutlich auch warm genug, um eine erhebliche Strecke anzusteigen. Möglicherweise war das Eisfeld in dieser Gegend ein von Eis bedeckter See mit beachtlichen Unterschieden an der Oberfläche.

Aber Peter wollte seine Route nicht ändern, um eine bessere Aussicht zu bekommen. Er sagte grinsend: »Du kannst hineinschauen, wenn du Stephen Lindholm bist. Du kannst es zu einem Teil deiner Arbeit für Biotique machen.«

Und so flogen sie weiter. Und in der nächsten Nacht landeten sie in den zerklüfteten Bergen südlich von Isidis, noch auf der hohen Seite der Großen Böschung. Dann ging Sax zu einem Tunneleingang, begab sich hinein und kam in die Rückseite eines Abteils im Wartungskeller von Libya Station, die ein kleiner Bahnhofskomplex an der Kreuzung der Strecke Burroughs-Hellas und der neu wieder angelegten Strecke Burroughs-Elysium war. Als der nächste Zug nach Burroughs ankam, erschien Sax aus einer Wartungstür und mischte sich in die Menge, die aus dem Zug stieg. Er fuhr in den Hauptbahnhof von Burroughs, wo er von einem Mann von Biotique empfangen wurde. Und dann war er Stephen Lindholm, ein Neuling für Burroughs und den Mars.

Der Mann von Biotique, ein Personalsachbearbeiter, machte ihm Komplimente über sein geschicktes Gehen und brachte ihn in ein Apartment hoch in Hunt Mesa nahe dem Zentrum der alten Stadt. Die Labors und Büros von Biotique befanden sich auch in Hunt Mesa, mit Fenstern, die auf den Kanalpark unten führten. Eine Gegend mit teuren Mieten, wie es nur der Firma zustand, welche die Bioingenieurarbeiten des Terraformungsprojekts leitete.

Aus den Fenstern der Biotiquebüros konnte er den größten Teil der alten City überblicken, der ziemlich genau so aussah, wie er es in Erinnerung hatte. Nur hatten die Wände der Mesa mehr Glasfenster und bunte horizontale Bänder aus Kupfer, Gold oder metallischem Grün oder Blau, als ob die Mesas wundervolle mineralische Flöze enthielten. Auch waren die Kuppeln, die oben auf den Mesas gestanden hatten, verschwunden. Ihre Gebäude standen jetzt frei unter der viel größeren Kuppel, die nun alle neun Mesas überspannte sowie alles dazwischen und darum herum. Die Technik des Kuppelbaus hatte einen Punkt erreicht, wo man weite Mesokosmen überwölben konnte; und Sax hatte gehört, daß eine Transnationale Hebes Chasma bedecken wollte — ein Vorschlag, über den Sax selbst sich lustig gemacht hatte. Und jetzt taten sie es also. Man sollte nie die Möglichkeiten der Materialkunde überschätzen. Das war klar.

Der alte Kanalpark von Burroughs und die breiten Grasboulevards, die vom Park zu den Mesas hinaufführten, waren jetzt Grünstreifen, die zwischen Dächern mit orangefarbenen Ziegeln verliefen. Die alte Doppelreihe aus Salzsäulen stand noch neben dem blauen Kanal. Dort war sicher viel gebaut worden, aber die Konfiguration der Stadt war noch die gleiche. Nur an den Außenbezirken konnte man deutlich sehen, wie sehr sich die Dinge geändert hatten und wieviel größer die Stadt wirklich war. Die Stadtmauer lag gut außerhalb der neun Mesas, so daß ein ziemlicher Teil des umgebenden Landes geschützt war, worauf man inzwischen schon viel gebaut hatte.

Der Personalmensch machte mit Sax einen schnellen Rundgang durch Biotique und stellte ihn mehr Leuten vor, als er sich merken konnte. Dann wurde Sax gebeten, sich am nächsten Morgen in seinem Labor zu melden. Den Rest des Tages hatte er zur Verfügung, um sich einzugewöhnen.

Als Stephen Lindholm hatte er vor, Zeichen von intellektueller Energie, Umgänglichkeit, Wißbegier und guter Stimmung zu geben. Darum verbrachte er sehr überzeugend den Nachmittag damit, Burroughs kennenzulernen. Er ging von einem Bezirk in den andern und schlenderte über die breiten Rasenflächen, wobei er über das mysteriöse Phänomen des Wachstums von Städten nachdachte. Das war ein kultureller Prozeß ohne gute physikalische oder biologische Analogie. Er konnte keinen deutlichen Grund dafür erkennen, weshalb dieses untere Ende von Isidis Planitia der Sitz der größten Stadt auf dem Mars geworden war. Keiner der ursprünglichen Gründe für die Ortswahl der Stadt war überhaupt ausreichend, das zu erklären. Soweit er wußte, hatte sie als eine gewöhnliche Wegstation auf der Route von Elysium nach Tharsis angefangen. Vielleicht lag es gerade an diesem Mangel an strategischer Lage, daß sie gediehen war; denn sie war die einzige größere Stadt, die 2061 nicht beschädigt oder zerstört worden war. Und so war es vielleicht nur ein Vorsprung an Wachstum in den Nachkriegsjahren gewesen. Man könnte analog zu dem betonten Modell der Evolution sagen, daß diese spezielle Spezies zufällig einen Einsturz überlebt hätte, der die meisten anderen Spezies ausgerottet hatte, und ihr eine offene Ökosphäre zur Expansion geboten.


Und zweifellos bot die bogenförmige Gestalt der Region mit ihrem Archipel aus kleinen Mesas auch einen eindrucksvollen Anblick. Als er auf den breiten begrasten Boulevards herumging, schienen die neun Mesas gleichmäßig verteilt zu sein. Und jede Mesa sah anders aus. Ihre rauhen Felswände unterschieden sich durch charakteristische Vorsprünge, Pfeiler, glatte Wände, Überhänge und Spalten, und jetzt auch durch die horizontalen Bänder aus farbigen spiegelnden Fenstern und die Gebäude und Parks, die auf den flachen Plateaus jeder Mesa saßen. Von jedem Punkt der Straße aus konnte man immer einige Mesas sehen, verteilt wie prächtige Kathedralen; und das erfreute das Auge gewiß. Und wenn man dann einen Aufzug zu einem Gipfel der Mesas nahm, die alle etwa hundert Meter höher lagen als der Boden der Stadt, hatte man eine Aussicht über die Dächer mehrerer verschiedener Distrikte und eine andere Perspektive für die anderen Mesas, und hinter ihnen auf das Land des Mars, weil man sich auf dem Boden einer schüsselartigen Senke befand. Über die flache Ebene von Isidis im Norden und den dunklen Anstieg von Syrtis im Westen; und im Süden konnte man die ferne Erhebung der Großen Böschung selbst sehen, die wie ein Himalaya am Horizont stand.


Natürlich war es eine offene Frage, ob eine hübsche Aussicht bei der Gründung einer Stadt eine Rolle spielte; aber es gab Historiker, die versicherten, daß viele alte griechische Städte grundsätzlich wegen ihrer Aussicht angelegt worden wären, trotz anderen Unbequemlichkeiten. Also war das mindestens ein möglicher Faktor. Und auf jeden Fall war Burroughs jetzt eine stolze kleine Metropole von etwa hundertfünfzigtausend Einwohnern und die größte Stadt auf dem Mars. Und sie wuchs immer noch. Gegen Ende seines Nachmittagsspaziergangs fuhr Sax mit einem der großen äußeren Aufzüge auf Branch Mesa, die nördlich vom Zentralpark lag, und konnte von diesem Plateau aus sehen, daß die nördlichen Ausläufer der Stadt die ganze Strecke bis zur Kuppelbasis mit Bauplätzen übersät waren. Es liefen sogar einige Arbeiten um einige der entfernten Mesas außerhalb der Kuppel. Offenbar war eine kritische Masse im Sinne der Gruppenpsychologie erreicht worden, eine Art Herdeninstinkt, der diese Stadt zur Hauptstadt gemacht hatte, zum sozialen Magneten und dem Herzen der Aktivität. Gruppendynamik war bestenfalls komplex und sogar (er schnitt eine Grimasse) unerklärlich.


Das war wie immer ungünstig, weil Biotique Burroughs wirklich eine sehr dynamische Gruppe bildete. Und in den folgenden Tagen stellte Sax fest, daß es nicht einfach war, seinen Platz in der Fülle von Wissenschaftlern zu bestimmen, die an dem Projekt arbeiteten. Er hatte die Geschicklichkeit verloren, in einer neuen Gruppe seinen Weg zu finden, sofern er sie je gehabt hatte. Die Formel, um die Zahl möglicher Beziehungen in einer Gruppe zu beherrschen, war n(n-l)/2, wo n die Anzahl der Individuen in der Gruppe ist, so daß für die 1000 Menschen in Biotique Burroughs sich 499500 mögliche Beziehungen ergaben. Dies schien für Sax jenseits jeder Möglichkeit zu liegen, es zu begreifen. Selbst die 4950 möglichen Beziehungen in einer Gruppe von 100, die hypothetische ›Planungsgrenze‹ für die Größe menschlicher Gruppen, erschien plump. In Underhill war es wirklich so gewesen, wo sie eine Gelegenheit gehabt hatten, das zu prüfen.


Es war also wichtig, in Biotique eine kleinere Gruppe zu finden, und Sax machte sich so ans Werk. Es war gewiß sinnvoll, sich zuerst auf sein Labor zu konzentrieren. Er war als Biophysiker dort eingetreten, was riskant war, ihn aber dorthin brachte, wo er in der Firma sein wollte. Und er hoffte, daß er sich würde behaupten können. Falls nicht, könnte er erklären, daß er von der Physik zur Biophysik gekommen wäre, was auch stimmte. Sein Boss war eine Japanerin namens Ciaire, dem Aussehen nach mittleren Alters, eine sehr kongeniale Frau, die ihr Labor vorzüglich leitete. Bei seiner Ankunft setzte sie ihn an die Arbeit mit dem Team, das Pflanzen der zweiten und dritten Generation für die vergletscherten Gebiete der nördlichen Hemisphäre entwickelte. Diese neu hydrierten Milieus boten enorme neue Möglichkeiten für botanische Planung, da die Konstrukteure nicht mehr alle Spezies auf Xerophyten der Wüste gründen mußten. Sax hatte das vom allerersten Moment an kommen sehen, als er die Flut sah, die von Ius Chasma nach Melas hinunterdonnerte im Jahr 2061. Und jetzt, vierzig Jahre später, konnte er wirklich etwas dafür tun.


Also stieg er sehr vergnügt in die Arbeit ein. Zuerst mußte er sich aufs laufende bringen über das, was schon dort in den Gletschergebieten ausgesetzt worden war. Er las gierig auf seine übliche Art, sah Videobänder an und erfuhr, daß bei der immer noch so dünnen und kalten Atmosphäre das Ganze auf der Oberfläche freigesetzte Eis sublimierte, bis seine exponierten Flächen zu einem feinen Gitterwerk zerfressen waren. Das bedeutete, es gab Milliarden kleiner und großer Löcher, in denen Leben wachsen konnte, direkt auf dem Eis. Und so gehörten zu den ersten Formen, die weit verbreitet wurden, Spielarten von Schnee- und Eisalgen. Diese Algen waren verstärkt worden durch preatophytische Merkmale; denn selbst wenn Eis zunächst rein war, wurde es von Salz verkrustet durch den allgegenwärtigen vom Wind verwehten Grus. Die genetisch modifizierten salzverträglichen Algen hatten sich sehr gut bewährt. Sie wuchsen in den gelöcherten Oberflächen der Gletscher und manchmal direkt in das Eis hinein. Und weil sie dunkler waren als das Eis, rötlich oder schwarz oder grün, hatte das Eis unter ihnen die Neigung zu schmelzen, besonders an Sommertagen, wenn die Temperaturen deutlich über dem Gefrierpunkt lagen. So hatten tagsüber kleine Rinnsale begonnen, von den Gletschern und entlang ihrer Ränder herunterzuströmen. Diese feuchten moränenartigen Gebiete ähnelten einigen polaren und alpinen Gegenden der Erde. Bakterien und größere Pflanzen aus diesen terrestrischen Landschaften, genetisch verändert, um die penetrante Salzigkeit zu vertragen, waren zuerst vor einigen M-Jahren von Biotique ausgesät worden; und die Pflanzen gediehen zum größten Teil so wie früher die Algen.

Jetzt versuchten die Planungsgruppen auf diesen frühen Erfolgen aufzubauen und eine breitere Menge größerer Pflanzen einzuführen, sowie einige Insekten, die so gezüchtet waren, daß sie den hohen Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre vertrugen. Biotique besaß ein umfangreiches Material an Musterpflanzen zur Entnahme von Chromosomen und außerdem 17 M-Jahre an Daten über Feldversuche. Damit hatte Sax eine Menge zu tun, um aufs laufende zu kommen. In seinen ersten Wochen im Labor und in dem Arboretum der Firma auf dem Hunt-Plateau konzentrierte er sich ganz auf die neue Pflanzenart und war zufrieden, sich seinen Weg in das größere Bild zu gegebener Zeit zu bahnen.

Inzwischen gab es, wenn er nicht an seinem Pult mit Lesen beschäftigt war oder durch die Mikroskope blickte oder in die diversen Gefäße mit Marsgewächsen schaute oder oben im Arboretum war, für Stephen Lindholm noch genug tägliche Arbeit, um ihn beschäftigt zu halten. Im Labor war es nicht allzusehr anders, als wenn er Sax Russell wäre. Aber am Ende der Arbeitstage konnte er sich oft angestrengt bemühen und mit der Gruppe zusammenkommen, die nach oben in eines der Cafes auf dem Plateau ging, um etwas zu trinken und über ihr Tagewerk und auch alles mögliche andere zu plaudern.

Selbst dort fand er es überraschend leicht, Lindholm zu ›sein‹, der, wie er fand, eine Menge Fragen stellte und oft lachte. Dessen Mund das Lachen irgendwie erleichterte.

Fragen der anderen — gewöhnlich von Claire und einer englischen Immigrantin namens Jessica und einem Kenyaner namens Berkina — hatten sehr selten etwas zu tun mit Lindholms Vergangenheit auf der Erde. Wenn es dazu kam, fand Sax es leicht, eine minimale Antwort zu geben. Desmond hatte Lindholm eine Vergangenheit gegeben in Saxens Heimatstadt Boulder in Colorado, was sehr geschickt war. Und dann konnte er die Frage auf den Fragenden zurückwenden in einer Technik, die er oft bei Michel beobachtet hatte. Die Leute waren so glücklich zu plaudern. Und Sax selbst war nie ein besonders Stiller gewesen wie Simon. Er hatte bei Gesprächen immer mit hohem Einsatz gespielt; und wenn er später gelegentlich etwas beigesteuert hatte, war es deshalb, weil er nur interessiert war, wenn die Gewinnchancen ein gewisses Mindestniveau erreichten. Belangloses Geplauder war für gewöhnlich Zeitverschwendung. Aber es ließ immerhin Zeit vergehen, die sonst unangenehm leer gewesen wäre. Es schien auch Gefühle von Einsamkeit zu mildern. Und seine neuen Kollegen führten ohnehin meist recht interessante Fachgespräche. Und so leistete er seinen Beitrag und erzählte ihnen von seinen Spaziergängen um Burroughs herum und stellte ihnen viele Fragen über das, was er gesehen hatte, und nach ihrer Vergangenheit und nach Biotique und der Lage auf dem Mars und so weiter. Das war für Lindholm ebenso sinnvoll wie für Sax.


Bei diesen Gesprächen bestätigten seine Kollegen, besonders Claire und Berkina, was ihm bei seinen Spaziergängen klar geworden war, nämlich daß Burroughs in gewisser Weise de facto die Hauptstadt des Mars wurde, indem die Zentralen aller größten Transnationalen dort ihren Sitz hatten. Die Transnationalen waren derzeit die effektiven Herren auf dem Mars. Sie hatten es der Elfergruppe und den anderen reichen Industrienationen ermöglicht, den Krieg von 2061 zu gewinnen oder mindestens zu überleben; und jetzt waren sie alle in einer einzigen Machtstruktur verflochten, so daß es nicht klar war, wer auf der Erde die Entscheidungen traf, die Länder oder die Suprakorporationen. Aber auf dem Mars war das ganz klar. UNOMA war 2061 zusammengebrochen wie eine Kuppelstadt, und das Amt, welches an ihre Stelle getreten war, die Übergangsbehörde der UN, war eine Verwaltungsgruppe, die mit leitenden Persönlichkeiten der Transnationalen besetzt war auf Grund von Erlassen, die transnationale Sicherheitskräfte erzwungen hatten. »Die UN hat eigentlich nichts damit zu tun«, sagte Berkina. »Damit ist der Name nur eine Tarnung.«

»Jeder nennt sie sowieso nur die Übergangsbehörde«, erklärte Claire.

»Sie können sehen, wer wer ist«, sagte Berkina. Und wirklich sah man in Burroughs häufig uniformierte transnationale Sicherheitspolizei. Sie trug rostfarbene Arbeitspullover mit Armbinden in verschiedenen Farben. Nicht gerade bedenklich, aber sie war da.

»Aber warum?« fragte Sax. »Wovor haben sie Angst?«

Claire sagte lachend: »Sie befürchten, daß Bogdanovisten aus den Bergen herauskommen. Das ist lächerlich.«

Sax zog die Augenbrauen hoch und sagte nichts dazu. Er war neugierig, aber das war ein gefährliches Thema. Lieber bloß zuhören, wenn es von selbst zur Sprache kam. Wenn er aber durch Burroughs spazierte, beobachtete er danach die Leute schärfer und achtete auch bei der Sicherheitspolizei, die unterwegs war, darauf, wozu sie nach Ausweis ihrer Armbinden jeweils gehörte. Consolidated, Amexx, Oroco … Er fand es seltsam, daß sie keine einheitliche Truppe gebildet hatten. Möglicherweise waren die Transnationalen immer noch ebensosehr Rivalen wie Partner. Das würde natürlich zu konkurrierenden Sicherheitssystemen führen. Vielleicht würde das auch die Flut von Identifikationssystemen erklären, welche es Desmond ermöglichte, seine Personae in ein System einzuschleusen und dann anderswohin schleichen zu lassen. Die Schweiz war offenbar geneigt, einige Leute zu decken, die aus dem Nichts in ihr System kamen, wie Saxens Erfahrung mit seiner eigenen Person bewies. Und ohne Zweifel verhielten sich andere Länder und Transnationale genauso.

Also erzeugte bei der jetzigen politischen Lage die Informationstechnik nicht Totalisierung, sondern Balkanisierung. Arkady hatte eine solche Entwicklung vorhergesagt, aber Sax hatte eine solche Möglichkeit für irrational gehalten. Jetzt mußte er einräumen, daß es so weit gekommen war. Die Computernetze konnten mit den Ereignissen nicht Schritt halten, weil sie untereinander im Wettstreit lagen. Und so war es auch mit der Polizei in den Straßen, die nach Leuten wie Sax Ausschau hielt.

Aber er war Stephen Lindholm. Er hatte Lindholms Zimmer in der Hunt Mesa und seine Routinen und Gewohnheiten und seine Vergangenheit. Sein kleines Studio-Apartment sah ganz anders aus als etwas, worin Sax hätte wohnen mögen. Die Kleidung war im Schrank, es gab keine Experimente im Kühlschrank oder auf dem Bett. Es waren nicht einmal Drucke an den Wänden von Escher oder Hundertwasser, nur einige unsignierte Skizzen von Spencer — eine Indiskretion, die gewiß nicht zu entdecken war. Er war in seiner neuen Identität sicher. Und selbst wenn man ihn entdecken sollte, bezweifelte er, daß die Ergebnisse allzu verheerend sein würden. Er könnte sogar in der Lage sein, zu etwas wie seiner früheren Macht zurückzufinden. Er war immer unpolitisch gewesen, nur an Terraformung interessiert. Und er war wegen des Wahnsinns von ’61 untergetaucht, weil es so aussah, als wäre es gefährlich, das nicht zu tun. Ohne Zweifel würden einige der jetzigen Transnationalen es so sehen und versuchen, ihn anzuwerben.

Aber all das war hypothetisch. In Wirklichkeit konnte er sich im Leben von Lindholm etablieren.


Als er das tat, entdeckte er, daß ihm seine Arbeit viel Freude machte. In den alten Tagen als Chef des ganzen Terraformungsprojekts war es unmöglich gewesen, in der Verwaltung nicht steckenzubleiben oder sich über sämtliche Aufgaben zu verzetteln in dem Bemühen, von allem genug zu wissen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Natürlich hatte das zu mangelnder Tiefe in jeder Einzeldisziplin geführt, was zu einem Verlust an Einsicht führte. Aber jetzt war seine ganze Aufmerksamkeit darauf konzentriert, für das einfache Ökosystem, das in den glazialen Regionen befürwortet worden war, neue Pflanzen zu entwickeln. Einige Wochen lang arbeitete er an der Schaffung einer neuen Flechte, welche die Grenzen der neuen Bioregionen erweitern sollte und auf einem Chasmoendolithen aus dem Wright Valley in der Antarktis beruhte. Die ursprüngliche Flechte hatte in den Ritzen des antarktischen Gesteins gelebt; und hier wollte Sax dasselbe machen. Aber er versuchte den Algenteil der Flechte durch eine schnellere Alge zu ersetzen, damit der neue Symbiont schneller wachsen sollte als sein Vorbild, das ungemein langsam war. Gleichzeitig versuchte er, dem Pilzteil der Flechte einige preatophytische Gene aus salzverträglichen Pflanzen wie Tamariske und Gurkenkraut einzufügen. Diese konnten bei einem Salzgehalt dreimal so hoch wie Meerwasser leben, und der Mechanismus, der etwas mit der Durchlässigkeit von Zellwänden zu tun hatte, war irgendwie übertragbar. Wenn ihm das gelänge, würde das Ergebnis eine sehr robuste und schnell wachsende neue Salzflechte sein. Es war sehr ermutigend, den Fortschritt zu sehen, der auf diesem Gebiet erzielt worden war seit ihren ersten Versuchen seinerzeit in Underhill, einen Organismus zu schaffen, der auf der Oberfläche überleben würde. Natürlich war die Oberfläche damals schwieriger gewesen. Aber sie hatten auch große Fortschritte in Genetik und der Fülle ihrer Methoden gemacht.

Ein sehr hartnäckiges Problem war, die Pflanzen der geringen Häufigkeit von Stickstoff auf dem Mars anzupassen. Die meisten großen Konzentrationen von Nitriten wurden nach ihrer Entdeckung freigesetzt und als Stickstoff in die Atmosphäre entlassen. Diesen Prozeß hatte Sax in den 2040er Jahren initiiert und allgemeine Zustimmung gefunden, da die Atmosphäre dringend Stickstoff benötigte. Aber mit dem Boden war es genau so, und der kam zu kurz, wenn das meiste in die Luft geschickt wurde. Damit war das Pflanzenleben benachteiligt. Mit diesem Problem war noch nie eine irdische Pflanze konfrontiert gewesen, daher gab es keine erkennbaren Merkmale, die man in die Gene der Marsflora einfügen könnte.

Das Stickstoffproblem war ein immer wieder auftauchendes Thema in ihren nachmittäglichen Zusammenkünften im Cafe Lowen auf dem Mesaplateau. »Stickstoff ist so wertvoll«, sagte Berkina, »daß er im Untergrund als Tauschmittel dient.« Sax nickte unbehaglich zu dieser Fehlinformation.

Die Cafegruppe drückte ihre Verehrung für die Bedeutung von Stickstoff dadurch aus, daß man N2O aus kleinen Kanistern einatmete, die am Tisch die Runde machten. Man behauptete mit zweifelhafter Richtigkeit, aber in bester Stimmung, daß es der Terraformungsbemühung helfen würde, wenn man dieses Gas ausatmete. Als der Kanister zum ersten Male an Sax ging, beäugte er ihn mißtrauisch. Er hatte bemerkt, daß man diese Kanister in Toiletten kaufen konnte. Es gab jetzt in jeder Herrentoilette eine ganze Apotheke, Automaten an den Wänden, die Kanister mit Stickoxidul ausgaben sowie Omegendorph, Pandorph und andere mit Drogen versetzte Gase. Offenbar war Einatmen derzeit die Mode beim Drogenkonsum. Das interessierte ihn zwar nicht; aber jetzt nahm er den Kanister von Jessica, die sich an seine Schulter lehnte. Dies war ein Gebiet, wo sich die Gewohnheiten von Stephen und Sax offenbar unterschieden. Also atmete er aus und drückte dann die kleine Gesichtsmaske an Mund und Nase, wobei er unter dem Material Stephens glattes Gesicht fühlte.

Er atmete einen kühlen Schwall des Gases ein, wartete kurz und atmete aus. Er hatte das Gefühl, als ob alles Gewicht von ihm abfiele. Das war der subjektive Eindruck. Es war geradezu lustig zu sehen, wie stark die Stimmung auf chemische Manipulation reagierte, trotz allem, was diese für das heikle Gleichgewicht der Emotionen und sogar die Gesundheit ausmachte. Das war zunächst keine angenehme Vorstellung. Aber im Moment kein Problem. Er mußte lächeln. Er blickte über die Brüstung auf die Dächer von Burroughs hinab und bemerkte zum ersten Mal, daß die neuen Bezirke im Westen und Norden zu blauen Ziegeldächern und weißen Wänden übergingen, so daß sie griechisch wirkten, während die älteren Stadtteile eher spanisch waren. Jessica war entschieden bemüht, ihre Oberarme mit ihm in Kontakt zu halten. Vielleicht war ihre Ausgeglichenheit durch Heiterkeit gestört.

»Aber es ist Zeit, über die alpine Zone hinauszugehen!« sagte Claire. »Ich habe die Flechten satt und auch Moose und Gräser. Unsere Felder am Äquator werden zu Wiesen, und wir haben sogar Krummholz, und die bekommen das ganze Jahr über eine Menge Sonnenlicht, und der atmosphärische Druck am Boden der Böschung ist so hoch wie im Himalaya.«

»Auf den Gipfeln des Himalaya«, erklärte Sax und prüfte sich mental. Er konnte fühlen, daß dies eine Bemerkung nach Art von Sax gewesen war. Als Lindholm fügte er hinzu: »Es gibt im Himalaya aber auch hochgelegene Wälder.«

»Stimmt genau. Stephen, seit du dich an die Flechten herangemacht hast, hast du Wunder gewirkt. Warum gehst du mit Berkina, Jessica und C. J. nicht an subalpine Pflanzen heran? Seht zu, ob wir einige kleine Wälder schaffen können.«

Sie stießen auf diese Idee mit einem neuen Schuß Lachgas an, und der Gedanke, daß die salzigen gefrorenen Grenzen der Wasserausbrüche zu Wiesen und Wäldern würden, überkam sie alle als höchst lustig. »Wir brauchen Maulwürfe«, sagte Sax und versuchte sein Grinsen zu verscheuchen. »Maulwürfe und Wühlmäuse sind sehr wichtig, um aus Fellfields Wiesen zu machen. Ich überlege, ob wir eine Art Kohlendioxid vertragender arktischer Maulwürfe bauen könnten.«

Seine Kollegen fanden das lächerlich, aber er war einige Zeit in Gedanken vertieft und nahm das nicht wahr.

»Hör zu, Claire, meinst du, wir können hinausgehen und einen Blick auf einen Gletscher werfen? Arbeiten einige Leute an Ort und Stelle?«

Ciaire hörte auf zu kichern und nickte. »Sicher. Da fällt mir gerade etwas ein. Wir haben eine ständige Versuchsstelle mit einem guten Labor auf dem Arenagletscher. Und eine biotechnische Gruppe von Armscor ist an uns herangetreten, die bei der Übergangsbehörde einen mächtigen Stein im Brett hat. Die möchten hinausgehen, um die Station und das Eis zu sehen. Ich nehme an, sie wollen in Marineris eine ähnliche Station errichten. Wir können mit dieser Gruppe nach draußen gehen, sie herumführen und einige Feldforschung leisten. Dabei schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.«

Pläne für diesen Ausflug gingen vom Cafe Lowen ins Labor und dann zum Frontbüro. Die Genehmigung kam schnell, wie bei Biotique üblich. Also arbeitete Sax einige Wochen heftig, um die Arbeit draußen vorzubereiten. Nach dieser intensiven Periode packte er seine Tasche und nahm eines Morgens die U-Bahn zum Westtor. Dort fand er in der Schweizer Garage einige Leute vom Büro zusammen mit mehreren Fremden. Die Vorstellungen waren noch im Gange. Er kam näher. Claire sah ihn und zog ihn in die Menge. Sie wirkte aufgeregt. »Hier, Stephen, ich möchte dich unserem Gast für den Ausflug vorstellen. Phyllis Boyle. Phyllis, das ist Stephen Lindholm.«

»Wie geht es Ihnen?« sagte Phyllis und hielt ihm die Hand hin.

Sax ergriff ihre Hand und schüttelte sie. Er sagte: »Mir geht’s gut.«

Vlad hatte seine Stimmbänder so präpariert, daß sie ein anderes Vokaltimbre lieferten, falls er je getestet würde, aber in Gamete hatten alle gesagt, daß er noch wie derselbe klänge. Und jetzt neigte Phyllis sich neugierig ihm zu, von irgend etwas alarmiert. Er sagte mit einem Blick auf Ciaire: »Es geht wohl gleich los. Ich hoffe, daß ich Sie nicht aufgehalten habe.«

»O nein, wir warten noch auf die Fahrer.«

»Ah«, entgegnete Sax. »Freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte er höflich zu Phyllis. Sie nickte und wandte sich mit einem letzten neugierigen Blick wieder den Leuten zu, mit denen sie gesprochen hatte. Sax versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was Ciaire über die Fahrer sagte. Offenbar war das "Fahren eines Rovers über freies Gelände jetzt ein spezieller Beruf.

Sax fand, daß er ziemlich kühl geworden war. Natürlich war Kühle ein Charakterzug von Sax. Wahrscheinlich hätte er sich ganz überschwenglich auf sie stürzen müssen und sagen, daß er sie aus den alten Videos kannte und seit vielen Jahren bewunderte etc. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wie jemand Phyllis bewundern könnte. Gewiß war sie recht kompromittiert aus dem Krieg herausgekommen — auf der Seite der Gewinner, aber als einzige der Ersten Hundert, die sich so entschieden hatten. Nannte man so etwas einen Quisling? Irgend so etwas. Nun, sie war nicht die einzige der Ersten Hundert gewesen. Vasili war stets in Burroughs geblieben, und George und Edvard waren mit Phyllis auf Clarke gewesen, als dieser sich von dem Kabel trennte und aus der Ebene der Ekliptik hinausgeschleudert wurde. Das zu überleben war wirklich ein sauberes Stück Arbeit gewesen. Er hätte es nicht für möglich gehalten. Aber da war sie nun und plauderte mit der Schar ihrer Bewunderer. Zum Glück hatte er vor einigen Jahren gehört, daß sie überlebt hatte. Sonst wäre ihr Anblick ein Schock gewesen.

Sie sah immer noch wie etwa sechzig Jahre alt aus, obwohl sie im gleichen Jahr wie Sax geboren war und jetzt also 115 war. Mit silbernem Haar und blauen Augen, ihr Schmuck aus Gold und Blutstein, die Bluse aus einem Stoff, der in allen Regenbogenfarben changierte. Gerade jetzt war ihr Rücken leuchtend blau; er wurde aber smaragdgrün, als sie sich umwandte, um ihn über die Schulter anzusehen. Er tat so, als ob er den Blick nicht bemerkte.

Dann kamen die Fahrer, und sie stiegen in die Rover und waren unterwegs. Glücklicherweise befand Phyllis sich in einem der anderen Wagen. Die Rover waren große, mit Hydrazin betriebene Fahrzeuge, und sie fuhren auf einer Betonstraße direkt nach Norden, so daß Sax nicht sah, warum spezielle Fahrer benötigt würden, außer wenn es darum ging, mit der Geschwindigkeit der Wagen fertig zu werden. Sie rollten mit ungefähr einhundertsechzig Kilometern in der Stunde dahin, und Sax, der an Rovergeschwindigkeiten von einem Viertel dessen gewöhnt war, fand, daß es schnell und glatt voranging. Die anderen Passagiere beklagten sich darüber, wie holprig und langsam die Fahrt wäre. Offenbar glitten jetzt Expreßzüge mit etwa sechshundert Stundenkilometern über die Pisten.

Der Arenagletscher lag etwa achthundert Kilometer nordwestlich von Burroughs. Er ergoß sich von den Bergen der Syrtis Major nach Norden auf Utopia Planitia. Er verlief ungefähr dreihundertfünfzig Kilometer weit in einem Graben der Arena Fossae. Claire, Berkina und die anderen im Wagen erzählten Sax die Geschichte des Gletschers, und er tat sein Bestes, um starkes Interesse zu zeigen. Es war auch wirklich interessant; denn sie wußten, daß Nadia den Ausbruch des Arena-Wasserreservoirs verfolgt hatte. Einige Leute, die damals bei Nadia gewesen waren, waren nach dem Krieg in South Fossa gelandet. Dort war die Geschichte erzählt worden und hatte sich in der Öffentlichkeit herumgesprochen.

Diese Leute schienen tatsächlich zu glauben, daß sie viel über Nadia wüßten. Claire sagte Sax im Vertrauen: »Sie war gegen den Krieg und tat alles, was sie konnte, um ihm Einhalt zu gebieten und den Schaden wieder gutzumachen, noch während es geschah. Menschen, die sie in Elysium gesehen haben, sagten, daß sie überhaupt niemals schliefe, sondern ständig Anregungsmittel nehme, um in Gang zu bleiben. Es hieß, sie hätte sechstausend Leben gerettet in der Woche, da sie um South Fossa tätig war.«

»Was ist aus ihr geworden?« fragte Sax.

»Das weiß niemand. Sie ist aus South Fossa verschwunden.«

»Sie wollte nach Low Point«, sagte Berkina. »Wenn sie dort gerade zur Zeit der Flut angekommen ist, kam sie wahrscheinlich ums Leben.«

»Ah!« Sax nickte feierlich. »Das war eine schlimme Zeit.«

»Sehr schlimm«, sagte Ciaire heftig. »So destruktiv. Ich bin sicher, sie hat die Terraformung um Jahrzehnte zurückgeworfen.«

»Obwohl die Wasserausbrüche nützlich gewesen sind«, murmelte Sax.

»Ja, aber die hätte man auch in kontrollierter Weise erzeugen können.«

»Stimmt.« Sax zuckte die Achseln und ließ die Konversation ohne ihn weitergehen. Nach der Begegnung mit Phyllis war es etwas zu viel, in eine Diskussion über ’61 zu geraten.

Er konnte immer noch nicht recht glauben, daß sie ihn erkannt hatte. Das Passagierabteil, in dem sie waren, hatte über den Fenstern blanke Magnesiumverkleidungen, und dort sah man neben den Gesichtern seiner neuen Kollegen auch das kleine Gesicht von Stephen Lindholm. Ein kahlköpfiger alter Mann mit etwas gebogener Nase, welche die Augen etwas falkenhaft erscheinen ließ. Ausgeprägte Lippen, ein starker Unterkiefer, ein Kinn — nein, das sah ihm gar nicht ähnlich. Kein Grund, weshalb sie ihn hätte erkennen sollen.

Aber das Aussehen war nicht alles.

Er versuchte, nicht daran zu denken, als sie nordwärts über die Straße brummten. Er konzentrierte sich auf die Aussicht. Das Passagierabteil hatte ein kuppeiförmiges Oberlicht sowie Fenster an allen vier Seiten, so daß er eine Menge sehen konnte. Sie fuhren den Abhang von West Isidis empor, einen Teil der Großen Böschung, der wie ein großer rasierter Deich aussah. Die gezackten dunklen Berge von Syrtis Major erhoben sich über dem Nordwesthorizont scharf wie Sägeblätter. Die Luft war klarer als in den alten Tagen, obwohl sie inzwischen fünfzehnmal so dick war. Aber es gab weniger Staub darin, da Schneestürme den Grus hinunterdrückten und auf der Oberfläche in einer Kruste fixierten. Natürlich wurde diese Kruste oft durch starke Winde zerbrochen, und die Partikel gelangten wieder in die Luft. Aber diese Bruchstellen waren auf einzelne Stellen beschränkt, und die den Himmel säubernden Stürme bekamen langsam die Oberhand.

Und auch der Himmel änderte seine Farbe. Ganz oben zeigte er ein üppiges Violett, über den westlichen Bergen war er weißlich, das in Lavendel überging und ein Violett, für das Sax keinen Namen kannte. Das Auge konnte Differenzen der Lichtfrequenz in einigen wenigen Wellenlängen unterscheiden. Darum reichten die paar Namen für die Unterschiede zwischen Rot und Blau keineswegs aus, um die Phänomene zu beschreiben. Aber wie man sie auch benennen mochte oder auch nicht — es gab jetzt ganz andere Himmelsfarben als das Braun und Rosa der frühen Jahre. Natürlich würde ein Staubsturm dem Himmel immer wieder den ursprünglichen Ockerton zurückgeben. Aber wenn die Atmosphäre ausgewaschen wurde, war ihre Farbe eine Funktion ihrer Dichte und chemischen Zusammensetzung. Gespannt darauf, wie sie in der Zukunft aussehen würde, nahm Sax seinen Computer aus der Tasche und fing an zu rechnen.

Er starrte auf den kleinen Kasten und erkannte plötzlich, daß es der von Sax Russell war. Wenn man ihn untersuchte, würde er ihn verraten. Das war so, als ob man einen echten Paß bei sich hätte.

Er verwarf diesen Gedanken, da man jetzt nichts daran ändern konnte. Er konzentrierte sich auf die Farbe des Himmels. Bei sauberer Luft wurde die Himmelsfarbe hauptsächlich durch Lichtstreuung in den Luftmolekülen selbst verursacht. Damit war die Dichte der Atmosphäre kritisch. Der Luftdruck hatte bei ihrer Ankunft etwa 10 Millibar betragen und lag jetzt bei durchschnittlich 160. Aber da der Luftdruck durch das Gewicht der Luft erzeugt wurde, hatte es auf dem Mars ungefähr dreimal so viel Luft erfordert, 160 Millibar über irgendeiner Stelle zu erzielen, als ein solcher Druck auf der Erde erfordert hätte. Also mußten die 160 Millibar hier ebensoviel Licht streuen wie 480 Millibar auf der Erde. Das bedeutete, der Himmel über ihnen sollte etwa die dunkelblaue Farbe haben, wie man sie auf Fotos sieht, die im Gebirge über viertausend Meter Höhe aufgenommen sind.

Aber die Farbe, welche die Fenster und das Oberlicht ihres Rovers erfüllte, war etwas mehr rötlich; und selbst an klaren Morgen nach schweren Stürmen hatte Sax sie nicht so blau wie den irdischen Himmel gesehen. Er dachte weiter darüber nach. Ein anderer Effekt der geringeren Schwere auf dem Mars war, daß die Luftsäule höher reichte als auf der Erde. Es war möglieh, daß die feinsten Gruspartikel praktisch im Schwebezustand waren und über die Höhe der meisten Wolken hinausgetragen wurden, wo sie nicht mehr von Stürmen weggerissen werden konnten. Sax erinnerte sich, daß man Dunstschichten fotografiert hatte, die mindestens fünfzig Kilometer hoch lagen, weit über den Wolken. Ein anderer Faktor könnte die Zusammensetzung der Atmosphäre sein. Kohlendioxidmoleküle streuen das Licht stärker als Sauerstoff und Stickstoff, und der Mars hatte den besten Bemühungen von Sax zum Trotz immer noch mehr CO2 in seiner Atmosphäre als die Erde. Die Effekte dieser Differenz würden sich berechnen lassen. Sax gab die Rayleighsche Gleichung für Streulicht ein, wonach die pro Einheitsvolumen Luft gestreute Lichtenergie der vierten Potenz der Wellenlänge der einfallenden Strahlung proportional ist. Dann kritzelte er seine Schreibtafel voll, änderte die Variablen, sah Handbücher nach oder füllte aus der Erinnerung geschätzte Größen ein.

Er kam zu dem Schluß, daß der Himmel, wenn die Atmosphäre die Dichte von 1 Bar erreicht hätte, wahrscheinlich milchig weiß werden würde. Er bestätigte auch, daß der Marshimmel am heutigen Tage theoretisch viel blauer sein müßte, wenn das blaue Streulicht sechzehnmal stärker war als das rote. Dies ließ darauf schließen, daß Grusteilchen sehr hoch in der Atmosphäre den Himmel wohl röter machten. Wenn diese Erklärung stimmte, konnte man folgern, daß Farbe und Opazität des Marshimmels noch viele Jahre sehr großen Schwankungen unterliegen würden, je nach dem Wetter und anderen Einflüssen auf die Reinheit der Luft…

Und so arbeitete er weiter und versuchte, Strahlungsintensitäten des Himmelslichts, Chandrasekhars Gleichung über Strahlungstransfer, Farbskalen, chemische Zusammensetzung des Aerosols und Legendresche Polynome in die Berechnung einzubeziehen, um die angularen Streuintensitäten zu ermitteln, mit Riccati-Bessel-Funktionen die Streuquerschnitte zu bestimmen und so weiter. Das beschäftigte ihn den größeren Teil der Fahrt zum Arenagletscher, wobei er sich scharf konzentrierte und die Welt und die Situation, in der er sich jetzt befand, ignorierte.

Zeitig an diesem Nachmittag kamen sie zu einer kleinen Stadt namens Bradbury, die unter ihrer Kuppel von der Nicosia-Klasse wie etwas aus Illinois aussah. Schwarz gepflasterte Straßen zwischen Baumreihen, verglaste Verandas vor zweistöckigen Backsteinhäusern mit Schindeldächern, eine Hauptstraße mit Läden und Parkuhren, ein Zentralpark mit einem weißen Aussichtstürmchen unter großen Ahornbäumen …

Sie wandten sich auf einer kleineren Straße nach Westen über den Gipfel von Syrtis Major. Die Straße bestand aus schwarzem Sand, der von Steinen geräumt und mit einem Fixativ besprüht worden war. Die ganze Gegend war sehr dunkel. Syrtis Major war das erste Oberflächenmerkmal der Mars gewesen, das Christiaan Huygens am 28. November 1659 im Fernrohr gesehen hatte; und es war dieses dunkle Gestein, das ihm das ermöglicht hatte. Der Boden war fast schwarz, manchmal etwas auberginenpurpurn. Die Hügel und Gräben und Böschungen, durch die sich die Straße wand, waren schwarz, ebenso die zerfressenen Mesas und die Thulleyas oder kleinen Rippen, eine nach der anderen. Die gigantischen ausgeworfenen Felsblöcke aber waren oft rostrot und erinnerten dadurch zwangsläufig daran, wo sie herkamen.

Dann fuhren sie über eine schwarze Rippe aus Urgestein, und der Gletscher lag vor ihnen. Er durchquerte die Welt wie ein in die Landschaft eingefügter Donnerkeil. Eine Felsrippe auf der gegenüberliegenden Seite lief parallel zu der, wo sie sich befanden; und die beiden Rippen zusammen sahen aus wie alte Seitenmoränen, obwohl sie in Wirklichkeit nur parallele Grate waren, welche die ausbrechende Flut kanalisiert hatten.

Der Gletscher war ungefähr zwei Kilometer breit. Er schien nicht mehr als fünf oder sechs Meter dick zu sein, war aber offenbar in einen Canyon heruntergelaufen, so daß es verborgene tiefe Stellen gab.

Ein Teil seiner Oberfläche war wie gewöhnlicher Regolith, ebenso steinig und staubig, mit einer Art Kiesoberfläche, die nichts von dem darunterliegenden Eis erkennen ließ. Andere Teile sahen aus wie chaotisches Terrain mit Gruppen weißer Eiszacken, die aus einer Art Felsblöcke herausragten. Einige dieser Eisnadeln waren zerbrochene Tafeln, zusammengedrängt wie der Rücken eines Stegosaurus und durchscheinend gelb vor der untergehenden Sonne.

Alles war reglos bis zum Horizont. Nirgends rührte sich etwas. Natürlich nicht, denn der Arenagletscher war dort schon seit vierzig Jahren. Aber Sax mußte sich unfreiwillig des letzten Males erinnern, wo er so etwas gesehen hatte, und blickte unwillkürlich nach Süden, als ob jeden Augenblick eine neue Flut hereinbrechen könnte.


Die Station von Biotique lag ein paar Kilometer stromaufwärts auf dem Rand und Vorsprung eines kleinen Kraters, so daß man eine hervorragende Aussicht über den Gletscher hatte. Ganz kurz vor Sonnenuntergang, als einige ständige Bewohner die Station aktiviert hatten, ging Sax mit Claire und den Gästen von Armscor einschließlich Phyllis in einen großen Beobachtungsraum im Obergeschoß der Station, um in den letzten Momenten des schwindenden Tages die zerbrochene Eismasse zu betrachten.

Selbst an einem relativ klaren Nachmittag wie diesem machten die horizontalen Strahlen der Sonne die Luft dunkelrot, und die Gletscheroberfläche funkelte an tausend Stellen, wo das zerbrochene Eis das Licht zurückspiegelte. Die Mehrheit dieser scharlachroten Blinkstellen lag etwa zwischen der Erde und der Sonne, aber es gab auch anderswo einige solche Stellen auf dem Eis, wo die reflektierenden Flächen in schrägen Winkeln standen. Phyllis wies darauf hin, wieviel größer die Sonne jetzt aussah, da Soletta in Position war. »Ist das nicht wundervoll? Man kann fast die Spiegel erkennen, nicht wahr?«

»Es sieht wie Blut aus.«

»Es sieht entschiedenjurassisch aus.«

Für Sax sah es aus wie ein G-Stern in einer Entfernung von etwa einer Astronomischen Einheit. Natürlich war das bezeichnend, da sie 1,5 Astronomische Einheiten entfernt waren. Was das Gerede von Rubinen oder Dinosaurieraugen anging …

Die Sonne glitt über den Horizont, und alle roten Lichtpunkte verschwanden sofort. Ein großer Fächer von Dämmerungsstrahlen breitete sich über den Himmel. Seine rosa Bündel schnitten durch einen purpurdunklen Himmel. Phyllis jubelte über die Farben, die wirklich sehr klar und rein waren. Sie sagte: »Ich möchte wissen, wie diese prächtigen Strahlen entstehen.« Automatisch machte Sax den Mund auf, um etwas über die Schatten von Bergen oder Wolken am Horizont zu sagen, als ihm einfiel, daß es a (vielleicht) nur eine rhetorische Frage gewesen war und daß b eine technische Antwort genau das wäre, was Russell Sax tun würde. Also schloß er den Mund und überlegte, was Stephen Lindholm in einer solchen Lage sagen würde. Diese Art von Selbstbewußtsein war ihm neu und ausgesprochen unbequem; aber er würde mindestens manchmal etwas sagen müssen, weil lange Pausen ebenso typisch für Sax Russell waren und keineswegs Lindholm ähnlich, so wie er ihn bisher gespielt hatte. Also versuchte er sein Bestes.

Er sagte: »Denken Sie nur, wie nahe all diese Photonen gekommen sind, den Mars zu treffen; und jetzt werden sie statt dessen den ganzen Weg durch das Weltall laufen.«

Die Leute blinzelten bei dieser albernen Bemerkung. Aber sie führte ihn in die Gruppe hinein und diente so ihrem Zweck.

Nach einiger Zeit gingen sie in den Speisesaal hinunter, um Pasta und Tomatensoße zu verzehren und dazu frisch gebackenes Brot. Sax blieb am Haupttisch, aß und redete so viel wie die anderen und tat sein Bestes, den schwer definierbaren Regeln gesellschaftlicher Konversation nachzukommen. Er hatte diese nie gut verstanden, und um so schlechter, je mehr er darüber nachdachte. Er wußte, daß man ihn immer für exzentrisch gehalten hatte. Er hatte die Geschichte gehört von den hundert transgenen Ratten, die sein Gehirn übernommen hätten. — Es war ein seltsamer Moment gewesen, als er im Dunkeln vor der Labortür gestanden hatte und hörte, wie diese Geschichte mit großem Vergnügen weitererzählt wurde von einer Generation Promovierter zur nächsten. Er hatte dabei das seltene Unbehagen empfunden, sich als jemand anderen zu sehen, der höchst drollig war.

Aber jetzt Lindholm. Er war ein sympathischer Bursche. Er wußte, wie man zurechtkam. Jemand, der sich an einer Flasche guten kalifornischen Weins beteiligen und seinen Teil dazu beitragen konnte, daß eine Dinnerparty zu einem Fest wurde. Jemand, der intuitiv die geheimen Algorithmen guter Kameradschaft verstand, so daß er das System bedienen konnte, ohne überhaupt daran zu denken.

Also rieb Sax sich den Rücken seiner neuen Nase und trank den Wein, der wirklich sein parasympathetisches Nervensystem so weit hemmte, daß er weniger verklemmt und mehr genießbar wurde. Er plauderte sehr erfolgreich, wie er meinte, dahin, obwohl er mehrfach dadurch alarmiert wurde, wie er von Phyllis ins Gespräch gezogen wurde, die ihm am Tisch gegenübersaß — und die Art, wie sie ihn anschaute und wie er zurückblickte! Auch für so etwas gab es Protokolle; aber die hatte er nie im geringsten begriffen. Jetzt erinnerte er sich daran, wie Jessica sich im Cafe Owen an ihn gelehnt hatte. Er trank noch ein halbes Glas, lächelte, nickte und dachte unbehaglich über sexuelle Anziehung und deren Ursachen nach.

Jemand stellte Phyllis die unvermeidliche Frage, wie sie von Clarke entkommen wäre. Und als sie mit der Geschichte anfing, schaute sie oft Sax an, als ob sie ihm versichern wollte, daß sie das hauptsächlich für ihn erzählen würde. Er paßte höflich auf und widerstand einem Drang zu schielen, was sein Unbehagen hätte verraten können.

Phyllis sagte zu dem, der ihr die Frage gestellt hatte: »Es gab keinerlei Warnung. In der einen Minute umkreisten wir den Mars am oberen Ende des Aufzuges und waren erschüttert über das,- was auf der Oberfläche geschah, bemüht, nach unseren besten Kräften eine Möglichkeit zu finden, der Unruhe ein Ende zu setzen; und in der nächsten Minute gab es einen Stoß wie ein Erdbeben, und wir waren unterwegs hinaus aus dem Sonnensystem.« Sie lächelte und machte eine Pause während des folgenden Gelächters. Sax merkte, daß sie diese Geschichte schon oft genau so erzählt hatte.

Jemand sagte: »Sie müssen einen Schrecken bekommen haben.«

»Nun«, meinte Phyllis, »es ist seltsam, daß in einer Notlage gar keine Zeit für so etwas vorhanden ist. Sobald wir erkannten, was passiert war, wußten wir, daß jede Sekunde, die wir auf Clarke blieben, unsere Überlebenschancen um Hunderte von Kilometern verminderte. Also kamen wir im Befehlszentrum zusammen, zählten die Köpfe und besprachen alles und machten Inventur von allem, was uns zur Verfügung stand. Das war hektisch, aber nicht panisch, wenn ihr versteht, was ich meine. Jedenfalls stellte sich heraus, daß im Hangar die übliche Anzahl von Erde-Mars-Frachtern waren; und die Computerrechnung, daß wir den Schub von allen diesen brauchen würden, um uns wieder so rechtzeitig in die Ebene der Ekliptik zu bringen, daß wir das Jupitersystem kreuzen würden. Unsere Bahn führte ebensosehr nach außen wie nach oben, aber in die allgemeine Richtung auf Jupiter. Das war ein Segen. So war es jedenfalls, als es verrückt wurde. Wir mußten alle Frachter aus den Hangars bringen, neben Clarke fliegen, miteinander verbinden und mit allem beladen, was sie von Luft, Treibstoff und so weiter von Clarke fassen konnten. Und wir waren in diesem improvisierten Rettungsboot nur dreißig Stunden nach dem Start unterwegs, was heute, wenn ich daran zurückdenke, fast unglaublich ist. Diese dreißig Stunden … «

Sie schüttelte den Kopf, und Sax sah, daß in ihre Erzählung plötzlich eine echte Erinnerung einbrach, die sie leicht schüttelte. Dreißig Stunden waren eine bemerkenswert schnelle Evakuierung, und ohne Zweifel war die Zeit in einer traumhaften Hetze von Tätigkeit vorbeigerauscht, in einem Geisteszustand, der von gewöhnlicher Zeit so verschieden war, daß man ihn für Transzendenz halten konnte.

»Danach galt es nur, sich in einigen Aufenthaltsräumen zusammenzuquetschen, wir waren zweihundertsechsundachtzig Personen, und nach draußen zu gehen, um entbehrliche Teile der Frachter wegzuschneiden. Und uns in der Hoffnung, daß der Treibstoff reichen würde, auf Kurs zum Jupiter zu bringen. Es dauerte länger als zwei Monate, bis wir sicher sein konnten, das Jupitersystem zu kreuzen, und weitere zehn Wochen, bis es wirklich so weit war. Wir benutzten den Jupiter selbst als Gravitationshebel und schwangen herum auf die Erde zu, die um diese Zeit näher war als der Mars. Und wir schleuderten so scharf um Jupiter herum, daß wir die Atmosphäre der Erde brauchten und dazu die Schwerkraft des Mondes, um uns abzubremsen, weil wir fast keinen Treibstoff mehr hatten, als wir gerade um einen Faktor zwei die schnellsten Menschen der Geschichte waren. Ich glaube, es waren achtzigtausend Kilometer in der Stunde, als wir zum ersten Mal auf die Stratosphäre trafen. Eine wirklich nützliche Geschwindigkeit, da uns Nahrung und Luft ausgingen. Wir waren am Ende wirklich hungrig. Aber wir haben es geschafft. Und wir haben Jupiter so nahe gesehen.« Sie hielt Daumen und Zeigefinger ein paar Zentimeter dicht zusammen.

Die Leute lachten, und der Glanz in Phyllis’ Auge hatte mit Jupiter nichts zu tun. Aber an ihre Mundwinkel trat ein scharfer Zug. Etwas am Ende der Geschichte hatte den Triumph irgendwie getrübt.

Jemand fragte: »Und Sie waren doch die Anführerin, nicht wahr?«

Phyllis hielt die Hand hoch, um zu sagen, daß sie das nicht abstreiten könne, obwohl sie es wollte. »Es war eine gemeinsame Bemühung«, sagte sie. »Aber manchmal muß jemand entscheiden, wenn man in einer ausweglosen Situation ist, oder auch nur einem Zwang zur Eile. Und ich war vor der Katastrophe die Chefin von Clarke gewesen.«

Sie ließ ihr breites Lächeln aufblitzen in der Zuversicht, daß man ihren Bericht genossen hatte. Sax lächelte mit den übrigen und nickte, wenn sie in seine Richtung schaute. Er dachte, sie wäre eine attraktive Frau, aber nicht besonders helle. Oder lag es vielleicht nur daran, daß er sie nicht besonders mochte. Denn gewiß war sie in verschiedener Hinsicht sehr intelligent, eine gute Biologin, als sie auf dem Gebiet gearbeitet hatte, und sicher mit einem hohen Intelligenzquotienten. Aber es gab verschiedene Arten von Intelligenz; und nicht alle ließen sich analytisch testen. Sax hatte in seiner Studentenzeit diese Tatsache erkannt. Es gab Leute, die bei einem Intelligenztest hervorragend abschneiden mochten und sehr gut in ihrer Arbeit waren, die aber gleichzeitig in ein Zimmer voller Menschen treten konnten, wo dann binnen einer Stunde die Leute darin über sie lachten oder sie sogar schmähten. Das war nicht sehr erfreulich. Tatsächlich schienen für Sax etwa die übermütigsten Applaudierer, die zu jedermann freundlich und deshalb allgemein beliebt waren, eine Intelligenz zu praktizieren, die viel subtiler und variabler war als jede Physik, so etwa wie das neu aufkommende Gebiet der Mathematik, das man kaskadierendes Chaos nannte, nur weniger einfach. Es gab also mindestens zwei Arten von Intelligenz und vielleicht noch mehr: räumlich, ästhetisch, moralisch oder ethisch, international, analytisch, synthetisch und so weiter. Und jene Menschen, die auf verschiedene Weise intelligent waren, waren wirklich Ausnahmeerscheinungen, die als etwas Besonderes herausragten.

Aber Phyllis, die sich in der Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer badete, von denen viele bedeutend jünger waren als sie und, zumindest an der Oberfläche, vor ihrer historischen Erscheinung Respekt hatten — Phyllis war keine jener Vielwisser. Im Gegenteil wirkte sie eher trübe, wenn es darum ging, was die Leute von ihr dachten. Sax, der wußte, daß er diesen Mangel teilte, beobachtete sie mit dem besten Lindholmlächeln, das er aufbringen konnte. Aber es schien von ihrer Seite eine recht eitle Vorstellung zu sein, sogar ein bißchen arrogant. Und Arroganz war immer dumm. Schwer zu erraten, was bei einer so erfolgreichen und attraktiven Person diese Unsicherheit sein könnte. Und attraktiv war sie gewiß.

Nach dem Abendessen gingen sie wieder in den Beobachtungsraum im obersten Stockwerk, und unter einer glitzernden Schüssel von Sternen wandte sich die Schar von Biotique der Musik zu. Es war das, was man Nuevo Calypso nannte, der Hit des Tages in Burroughs. Verschiedene Mitglieder der Gruppe holten Instrumente heraus und spielten, während andere sich in die Mitte des Raums begaben, um zu tanzen. Die Musik lief mit etwa hundert Taktschlägen pro Minute, schätzte Sax. Ein perfektes biologisches Zeitmaß, um die Herzen ein wenig anzuregen. Das Geheimnis der meisten Tanzmusik, nahm er an.

Und dann war Phyllis an seiner Seite, griff nach seiner Hand und zog ihn zwischen die Tänzer. Sax beherrschte sich, ihre Hand nicht wegzustoßen, und war sicher, daß seine Reaktion auf ihre lächelnde Aufforderung bestenfalls kümmerlich war. Er hatte nie im Leben getanzt, soweit er sich erinnern konnte. Aber so war nun einmal sein Leben. Stephen Lindholm hatte sicher viel getanzt. Also fing Sax an, sanft auf und ab zu hüpfen im Takt der Baßstahltrommel. Er schwenkte die Arme unsicher an der Seite und lächelte Phyllis an in einer verzweifelten Nachahmung lässigen Vergnügens.

Später an diesem Abend tanzten die jüngeren Biotiqueleute immer noch, und Sax nahm den Aufzug nach unten, um einige Tuben mit Eismilch aus der Küche zu holen. »Hier, hilf mir damit!« sagte Phyllis und nahm zwei der Plastikbeutel, die ihm an den Fingern baumelten. Als sie sich dann hinunterbeugte (sie war einige Zentimeter größer als er), küßte sie ihn voll auf den Mund. Er küßte zurück; aber es war so ein Schock, daß er nicht richtig zur Empfindung kam, als sie sich abwandte. Dann war die Erinnerung an ihre Zunge zwischen seinen Lippen wie ein zweiter Kuß. Er versuchte, nicht sehr verwirrt auszusehen; aber aus der Art ihres Lachens erkannte er, daß er versagt hatte. »Ich sehe, du bist gar nicht der Ladykiller, nach dem du aussiehst«, sagte sie. Das alarmierte ihn bei der gegebenen Situation noch mehr. Tatsächlich hatte ihm noch nie jemand so etwas angetan. Er versuchte, sich zusammenzunehmen, aber der Aufzug bremste, und die Türen öffneten sich zischend.

Während des Desserts und des Restes der Party näherte sich Phyllis ihm nicht wieder. Als aber der Zeitrutsch begann, ging er zu den Aufzügen, um wieder in sein Zimmer zu gelangen. Und als sich die Türen zu schließen begannen, schlüpfte Phyllis durch sie herein und küßte ihn wieder, als der Aufzug zu sinken anfing. Er legte die Arme um sie und küßte zurück, wobei er sich vorzustellen suchte, was Lindholm in einer solchen Lage tun würde und ob es irgendeinen Ausweg gäbe, der nicht zu Schwierigkeiten führte. Als der Aufzug bremste, lehnte Phyllis sich mit einem träumerischen unscharfen Blick an ihn und sagte: »Komm, bring mich in mein Zimmer!« Sax drehte sich etwas, ergriff ihren Arm wie ein empfindliches Laborgerät und ließ sich zu ihrem Zimmer führen, einer winzigen Kammer wie alle Schlafräume. In der Tür stehend, küßten sie sich wieder, obwohl Sax das sichere Gefühl hatte, daß dies seine letzte Chance zur Flucht war, elegant oder nicht. Aber er merkte, daß er ihre Küsse leidenschaftlich erwiderte. Und als sie sich zurückzog und murmelte: »Du könntest ebensogut hereinkommen«, folgte er ohne Widerrede. Tatsächlich hatte sich sein Penis schon halb versteift in seinem blinden Griff nach den Sternen, und alle seine Chromosomen brummten laut, die dummen Biester, bei seiner Chance zur Unsterblichkeit.

Es war lange her, daß er mit jemand außer Hiroko verkehrt hatte; und diese Kontakte, obwohl freundlich und angenehm, waren nicht leidenschaftlich, sondern mehr eine Verlängerung ihres Badens. Hingegen war Phyllis, die an ihren Kleidern hantierte, während sie sich küssend auf ihr Bett fielen, deutlich erregt. Und diese Erregung übertrug sich auf Sax durch eine Art unmittelbarer Berührung. Seine Erektion sprang ihm prompt frei aus der Hose, als Phyllis sie an seinen Beinen herunterzog, wie zu einer Demonstration der eigenwilligen Gen-Theorie; und er konnte nur lachen und an dem langen Taillenreißverschluß ihres Pullovers ziehen. Lindholm müßte frei von allen Bedenken gewiß durch die Begegnung aufgereizt sein. Also galt das jetzt auch für ihn. Außerdem kannte er Phyllis, auch wenn er sie nicht besonders mochte. Da war das alte Band der Ersten Hundert, die Erinnerung an jene gemeinsamen Jahre in Underhill — es lag etwas Provokatives in der Vorstellung, mit einer Frau Geschlechtsverkehr zu haben, die er schon so lange kannte. Und jeder andere unter den Ersten Hundert war polygam gewesen, wie es schien, jeder außer Phyllis und ihm. Also schickten sie sich jetzt dazu an. Und sie war sehr attraktiv. Es war auch wirklich etwas, das man sich wünschte.

Alle diese nüchternen Überlegungen waren in diesem Moment leicht und wurden im sexuellen Ansturm der Sinne völlig vergessen. Aber unmittelbar nach Ausübung des Aktes machte Sax sich schon wieder Sorgen. Sollte er in sein Zimmer gehen, sollte er bleiben? Phyllis war eingeschlafen mit einer Hand auf seiner Flanke, wie um sich zu vergewissern, daß er bleiben würde. Im Schlaf sahen alle wie Kinder aus. Er betrachtete ihren Körper und war wieder einmal leicht schockiert über den sexuellen Dimorphismus. Sie atmete so ruhig. Als ob sie bloß begehrt sein wollte. Ihre Finger waren noch an seine Rippen gedrückt. So blieb er also, aber er schlief nicht viel.

Sax ging an die Arbeit auf dem Gletscher und seiner Umgebung. Phyllis ging auch manchmal hinaus, war aber in ihrem Verhalten ihm gegenüber immer diskret. Sax zweifelte, ob Claire (oder Jessica) gemerkt hatten, was geschehen war, oder ob sonst jemand es gemerkt hatte oder erkannte, daß es alle paar Tage wieder passierte. Das war eine weitere Komplikation. Wie würde Lindholm auf Phyllis’ offenkundiges Verlangen nach Heimlichkeit reagieren? Aber letztlich kam es nicht darauf an. Lindholm war durch Ritterlichkeit oder Gefälligkeit oder etwas derartiges mehr oder weniger gezwungen, sich so zu verhalten, wie Sax es getan hätte. Und so behielten sie ihre Affäre für sich, ziemlich so, wie sie es in Underhill getan haben würden oder auf der Ares oder in Antarctica. Alte Gewohnheiten sind schwer auszurotten.

Und da der Gletscher Ablenkung bot, war es recht leicht, die Affäre geheimzuhalten. Das Eis und das zerklüftete Land um ihn herum war eine faszinierende Umgebung, und es gab da draußen viel zu studieren und zu versuchen, es zu verstehen.

Die Oberfläche des Gletschers erwies sich als äußerst zerbrochen, wie die Literatur hatte erwarten lassen. Mit Regolith vermischt während der Flut und durchsetzt mit Kohlenstoffeinschlüssen. Steine und Felsblöcke, die auf der Oberfläche eingefangen waren, hatten das Eis unter ihnen schmelzen lassen; und danach war es wieder gefroren in einem täglichen Zyklus, bei dem sie alle zu etwa zwei Dritteln eingetaucht blieben. Alle Eiszacken, die sich wie mächtige Dolmen über die zerrissene Fläche des Gletschers erhoben, erwiesen sich bei näherer Betrachtung als stark mit Löchern bedeckt. Das Eis war wegen der extremen Kälte brüchig und floß wegen der geringen Schwerkraft nur langsam bergab. Nichtsdestoweniger bewegte es sich nach unten wie ein Fluß in Zeitlupe. Und weil ihre Quelle leer war, würde die ganze Masse schließlich auf Vastitas Borealis landen. Und Anzeichen dieser Bewegung konnte man in dem frisch gebrochenen Eis jeden Tag erkennen — neue Spalten, umgefallene Eisnadeln, zerklüftete Eisberge. Diese frischen Flächen wurden rasch von kristallinen Eisblumen bedeckt, deren Salzgehalt die Kristallisation nur beschleunigte.

Durch dieses Milieu fasziniert, nahm Sax die Gewohnheit an, jeden Tag in der Morgendämmerung hinauszugehen. Er folgte mit Flaggen markierten Spuren, die die Stationscrew angelegt hatte. In der ersten Stunde des Tages glühte das ganze Eis in starken rötlichen Tönen, indem es Farben des Himmels reflektierte. Wenn direktes Sonnenlicht die zertrümmerten Flächen des Gletschers traf, begann aus den Spalten und mit Eis bedeckten Tümpeln Dampf aufzusteigen, und die Eisblumen glitzerten wie üppige Juwelen. An windstillen Morgen fing eine Inversionsschicht den Nebel in etwa zwanzig Metern Höhe ab und bildete eine dünne orangefarbene Wolke. Es war deutlich, daß das Wasser des Gletschers sich rasch in die Welt verteilte.

Als er durch die kalte Luft marschierte, erspähte Sax viele verschiedene Spezies von Schneealgen und Flechten. Die dem Gletscher zugekehrten Hänge der beiden seitlichen Grate waren besonders stark bevölkert, gefleckt mit kleinen Stellen von Grün, Golden, Oliv, Schwarz, Rost und vielen anderen Farben — im ganzen vielleicht dreißig oder vierzig. Sax schlenderte vorsichtig über diese Pseudomoränen, als ob er sich ebenso scheute, auf pflanzliches Leben zu treten wie auf irgendein Experiment im Labor. Wenn es auch wohl nicht so aussah, als ob die meisten Flechten es bemerken würden. Sie waren widerstandsfähig. Nackter Fels und Wasser waren alles, was sie brauchten, dazu Licht, obwohl davon nicht viel notwendig zu sein schien. Sie wuchsen unter dem Eis, im Eis und sogar in porösen Brocken durchscheinender Felsen. In etwas so Gastfreundlichem wie einem Spalt in der Moräne gediehen sie prächtig. Jede Spalte, in die Sax blickte, erfreute sich an Knollen isländischer Flechte, gelb und bronze, die unter der Lupe feine gegabelte Stengel zeigten, umrahmt von Dornen. Auf flachen Felsen fand er die Krustenflechten — knopfartig, zapfenförmig, mit Schilden, cancellaria, apfelgrüne und rotorange Flechten, die auf eine Konzentration von Natriumnitrat im Regolith hinwiesen. Unter den Eisblumen ballten sich blasse graugrüne Islandflechten, von denen viele wie zarte Stickereien aussahen. Wurmflechten waren dunkelgrau und zeigten unter der Lupe verwitterte Geweihe, die äußerst zart aussahen. Und selbst wenn Stücke abbrachen, wuchsen die in ihren Pilzfäden eingeschlossenen Algenzellen einfach weiter und entwickelten sich zu noch mehr Flechten, die sich überall anhefteten, wo sie zur Ruhe kamen. Vermehrung durch Zerteilung, in einer solchen Umgebung wirklich nützlich.


Also gediehen die Flechten, und außer den Arten, die Sax identifizieren konnte mit Hilfe des kleinen Bildschirms auf seinem Armbandgerät, gab es noch viel mehr, die keiner verzeichneten Spezies zu entsprechen schienen. Er war an diesen nicht erfaßten so interessiert, daß er einige Proben pflückte, um sie mitzunehmen und Claire und Jessica zu zeigen.

Aber Flechten waren nur der Anfang. Auf der Erde nannte man Gebiete mit gebrochenem Gestein, das kürzlich durch zurückweichendes Eis freigelegt wurde, Blockfelder oder Talus. Auf dem Mars war die entsprechende Zone der Regolith — mithin der größere Teil der Oberfläche des Planeten. Taluswelt. Auf der Erde wurden diese Gebiete zuerst von Mikrobakterien und Flechten besiedelt, welche, zusammen mit chemischer Bewässerung, begannen, den Fels in einen dünnen unreifen Boden zu zerkleinern und langsam die Spalten zwischen Steinen aufzufüllen. Im Laufe der Zeit gab es in diesem Mutterboden genug organisches Material, um andere Pflanzenarten zu tragen. In diesem Stadium sprach man von Fellfields (fell ist das gälische Wort für Stein). Das war ein passender Name; denn es waren im Grunde Steinfelder, ein mit Steinen übersäter Boden, der Boden dazwischen und darunter weniger als drei Zentimeter dick, der eine Gemeinschaft kleiner, sich an den Boden schmiegender Pflanzen trug.

Und jetzt gab es auf dem Mars Fellfields. Claire und Jessica schlugen Sax vor, er möge den Gletscher überqueren und längs der Seitenmoräne stromabwärts klettern. Eines Morgens tat er das auch, entwischte Phyllis und machte nach etwa einer halben Stunde halt an einem kniehohen Steinblock. Unter ihm war ein feuchter Fleck flachen Bodens, der zu dem Felsentrog beim Gletscher abfiel und im späten Morgenlicht schimmerte. An den meisten Tagen lief offenbar Schmelzwasser darüber. Schon in der äußersten Stille des Morgens konnte er unter der Gletscherkante kleine Rinnsale tröpfeln hören. Es klang wie ein Chor aus winzigen hölzernen Glöckchen. Und auf dieser kleinen Wasserscheide waren zwischen den Fäden fließenden Wassers Farbflecken, die überall ins Auge sprangen — Blüten. Also ein Stück Fellfield mit seinem charakteristischen millefleur-Effekt. Die graue Fläche gesprenkelt mit Punkten in Rot, Blau, Gelb, Rosa, Weiß …

Die Blumen saßen auf kleinen Mooskissen zwischen haarigen Blättern. Alle Pflanzen drängten sich an den dunklen Boden, der wohl merklich wärmer war als die Luft darüber. Nur Grashalme ragten mehr als ein paar Zentimeter über den Boden. Sax ging vorsichtig auf Zehenspitzen von Stein zu Stein, um nicht auf eine einzige Pflanze zu treten. Er kniete sich auf den Kies, um einige kleine Gewächse zu betrachten. Die Lupe auf seiner Sichtplatte war auf stärkste Vergrößerung gestellt. Lebhaft hell im Morgenlicht strahlten die klassischen Organismen der Fellfields: Moosfeuernelken mit ihren Ringen aus winzigen roten Blüten auf dunkelgrüner Unterlage, ein Phloxkissen, fünf Zentimeter Sprosse von Blaugras wie Glas im Licht, das die Pfahlwurzel des Phloxes benutzte, um seine eigenen zarten Wurzeln zu verankern… Da war eine purpurne Alpenprimel mit ihrem gelben Auge und tiefgrünen Blättern, welche schmale Tröge bildeten, um Wasser in die Rosette zu leiten. Viele Blätter dieser Pflanzen waren behaart. Da war ein intensiv blaues Vergißmeinnicht, dessen Blütenblätter mit warnenden Anticyaniden so überschwemmt waren, daß sie fast purpurn wirkten — jener Farbe, die der Himmel des Mars bei rund 230 Millibar erreichen würde laut Saxens Berechnungen auf der Fahrt nach Arena. Es war überraschend, daß es für diese Farbe keinen Namen gab. Sie war so ausgeprägt. Vielleicht war es Cyanblau.

Der Morgen verging, während er sich langsam von einer Pflanze zur andern bewegte und den Feldführer seines Armbands benutzte zur Bestimmung von Sandwurz, Buchweizen, Katzenpfoten, Zwergklee und dessen Namensvetter Steinbrech, Saxifraga hirculus. Dessen kleine Zweige waren von langen Blättern bedeckt und endeten in kleinen blaßblauen Blüten.

Was die Flechten betraf, so gab es viele, die er nicht identifizieren konnte. Sie wiesen Merkmale unterschiedlicher Spezies auf, sogar von Arten, oder waren völlig unbekannt, ihre Züge eine seltsame Mischung von Eigentümlichkeiten exotischer Biosphären. Manche sahen aus wie Unterwassergewächse oder neue Arten von Kakteen. Vermutlich genetisch erzeugte Spezies, obwohl es überraschte, daß sie nicht im Führer aufgeführt waren. Vielleicht Mutanten. Ah, aber da, wo eine breite Spalte eine tiefere Humusschicht und ein kleines Rinnsal angesammelt hatte, war ein Klumpen von Kobresia. Diese und die anderen Riedgräser wuchsen, wo es feucht war; und extrem absorbierender Rasen veränderte den Boden chemisch im langsamen Übergang vom Felfield zur alpinen Wiese. Jetzt, da er sie gesichtet hatte, konnte er kleine Wasserläufe erkennen, die durch Populationen von Riedgräsern markiert waren. Sax kniete sich auf ein Polster, schaltete seine Lupe aus und schaute sich um. Und so niedrig, wie er war, konnte er plötzlich eine ganze Reihe kleiner Fellfields sehen, verteilt auf dem Abhang der Moräne wie Flecke eines Perserteppichs, zerzaust durch das vorbeiziehende Eis.


Zurück in der Station verbrachte Sax eine Menge Zeit mit Zurückgezogenheit in den Labors. Er betrachtete Pflanzenproben durch Mikroskope, ließ mannigfache Tests laufen und sprach mit Berkina, Claire und Jessica über die Ergebnisse.

»Sind das meistens Polyploide?« fragte Sax.

»Ja«, erklärte Berkina.

Polyploide waren in großen Höhen auf der Erde recht häufig, darum war es nicht überraschend. Es war ein altes Phänomen — Verdopplung oder Verdreifachung oder sogar Vervierfachung der ursprünglichen Chromosomenanzahl in einer Pflanze. Diploiden Pflanzen mit zehn Chromosomen folgten polyploide mit zwanzig, dreißig oder sogar vierzig Chromosomen. Hybridzüchter hatten dieses Phänomen seit Jahrzehnten benutzt, um phantastische Gartenpflanzen zu schaffen, weil polyploide gewöhnlich größer waren — größere Blätter, Blüten, Früchte, Zellengrößen. Außerdem hatten sie oft einen größeren Spielraum als ihre Eltern. Diese Anpassungsfähigkeit machte sie besser zur Besiedlung neuer Gebiete, wie der Räume unter einem Gletscher. In der Arktis der Erde gab es Inseln, wo achtzig der Pflanzen polyploid waren. Sax nahm an, daß es eine Strategie war, die destruktiven Effekte übermäßiger Mutationsraten zu vermeiden. Das würde erklären, warum es vor allem in Gebieten mit starkem Ultraviolett vorkam. Intensive UV-Strahlung würde wohl eine Anzahl von Genen zerbrechen, aber wenn diese in den anderen Chromosomensätzen repliziert würden, dürfte es keinen genotypischen Schaden geben und kein Hindernis für Vermehrung.

»Wir finden, selbst wenn wir nicht mit Polyploiden angefangen hätten, wie wir gewöhnlich tun, verändern sie sich binnen weniger Generationen.«

»Habt ihr den Auslösemechanismus dafür untersucht?«

»Nein.«

Ein neues Mysterium. Sax schaute ins Mikroskop, verwirrt durch diese recht erstaunliche Lücke in dem bizarr gespaltenen Geflecht der biologischen Wissenschaft. Aber da konnte man nichts machen. Er hatte sich in den 2050er Jahren selbst in seinen Labors in Echus Overlook darum bemüht; und es hatte so ausgesehen, als ob Polyploidie tatsächlich durch mehr UV-Strahlung angeregt würde, als der Organismus gewohnt war. Aber wie Zellen diesen Unterschied erkennen und dann ihre Chromosomenzahl wirklich verzwei-, drei- oder vierfachten …

»Ich muß sagen, ich bin überrascht, wie sehr alles aufblüht.«

Claire lächelte fröhlich. »Ich hatte gefürchtet, daß du nach der Erde dies hier für recht unfruchtbar halten würdest.«

»O nein.« Er räusperte sich. »Ich hatte wohl nichts erwartet. Oder bloß Algen und Flechten. Aber diese Fellfields scheinen zu gedeihen. Ich hatte gedacht, daß das länger dauern würde.«

»Auf der Erde würde es das auch. Aber du mußt bedenken, wir streuen nicht bloß hier und da Samen aus und warten ab, was geschieht. Jede einzelne Spezies ist verstärkt worden, um Härte und Wachstumsgeschwindigkeit zu erhöhen.«

»Und wir haben jeden Frühling neu gesät und mit Stickstoff-fixierenden Bakterien gedüngt«, ergänzte Berkina.

»Ich dachte, entnitrifizierende Bakterien wären der Schlager.«

»Die gibt es speziell in dicken Ablagerungen von Natriumnitrat, um den Wasserstoff in die Atmosphäre freizusetzen.«

»Mir scheint es immer noch zu schnell zu gehen. Und all das muß vor Soletta geschehen sein.«

Jessica sagte von ihrem Pult auf der anderen Seite des Raums: »Es ist so, daß es hier keine Konkurrenz gibt. Die Bedingungen sind rauh, aber es sind sehr widerstandsfähige Pflanzen. Und wenn wir sie hier aussetzen, gibt es keinen Wettbewerb, um sie zu bremsen.«

»Es ist eine freie Nische«, erklärte Ciaire.

»Und die Bedingungen hier sind besser als auf den meisten Stellen des Mars«, ergänzte Berkina. »Im Süden fällt der Winter ins Aphel. Dazu die große Höhe. Die Stationen da unten melden, daß die Sterblichkeit im Winter einfach verheerend ist. Aber der Perihelwinter hier ist viel milder, und wir sind nur einen Kilometer hoch. Das ist wirklich recht günstig. In vieler Hinsicht besser als die Antarktis.«

»Besonders, was das CO2-Niveau betrifft«, sagte Claire. »Ich frage mich, ob das nicht der Grund für einen Teil der Geschwindigkeit ist, von der du sprichst. Es ist so, als ob die Pflanzen übermäßig aufgeladen wären.«

»Ah«, sagte Sax und nickte.

Also wurden die Fellfields zu Gärten. Sie wuchsen unnatürlich schnell. Das hatte er natürlich gewußt — es war überall auf dem Mars der Fall —, aber die so unfruchtbaren und verstreuten Fellfields hatten eigenwillig und wild genug ausgesehen, um ihn momentan zu verwirren. Und selbst wenn er bedachte, daß es sich um Gärten handelte, war er immer noch überrascht, daß sie so kräftig waren.

»Gut, und jetzt ergießt Soletta noch Sonnenlicht auf die Oberfläche!« rief Jessica. Sie schüttelte wie mißbilligend den Kopf. »Die natürliche Sonneneinstrahlung betrug durchschnittlich fünfundvierzig Prozent der auf der Erde; und jetzt, mit Soletta, schätzt man sie auf bis zu vierundfünfzig.«

»Erzählt mir mehr über diese Soletta!« sagte Sax vorsichtig.

Sie taten das gemeinsam. Eine Gruppe Transnationaler unter Führung von Subarashii hatte ein Gitter mit Spiegeln aus Sonnensegeln gebaut, zwischen Sonne und Mars plaziert und so ausgerichtet, daß es Sonnenlicht fokussierte, das normalerweise knapp am Planeten vorbeiliefe. Ein ringförmiger Stützspiegel, der in einer polaren Bahn umlief, reflektierte Licht auf die Soletta zurück, um den Druck des Sonnenlichts auszugleichen. Und dieses Licht wurde auch auf den Mars geworfen. Diese beiden Spiegelsysteme waren wirklich riesig im Vergleich zu den frühen Sonnensegeln von Frachtern, die Sax requiriert hatte, um Licht auf die Oberfläche zu werfen; und das reflektierte Licht, das sie dem System zufügten, war wirklich von Bedeutung. Sax murmelte: »Es muß ein Vermögen gekostet haben, die zu bauen.«

»O ja, allerdings. Die großen Transnats investieren unglaublich.«

»Und sie sind damit noch nicht fertig«, sagte Berkina. »Sie planen, eine Luftlinse ein paar hundert Kilometer über der Oberfläche fliegen zu lassen, die einen Teil des von Soletta kommenden Lichts fokussiert, um die Oberfläche auf phantastische Temperaturen zu erhitzen, wie fünftausend Grad … «

»Fünftausend!«

»Ja, das glaube ich gehört zu haben. Sie planen, den Sand und den Regolith darunter zu schmelzen, wodurch alle flüchtigen Stoffe in die Atmosphäre freigesetzt werden.«

»Aber was ist mit der Oberfläche?«

»Sie wollen das in abgelegenen Gebieten machen.«

»In Reihen«, sagte Claire, »so daß es in Gräben endet?«

»Kanälen?« fragte Sax.

»Ja, das stimmt.« Sie lachten.

»Kanäle mit Glaswänden«, sagte Sax, den der Gedanke an alle diese flüchtigen Stoffe störte. Kohlendioxid würde darunter stark vertreten sein und vielleicht sogar den Hauptanteil bilden.

Aber er wollte nicht allzu viel Interesse an den großen Plänen der Terraformung zeigen. Er ließ das Thema fallen, und bald wandte sich das Gespräch wieder ihrer Arbeit zu. Sax sagte: »Gut, ich nehme an, daß einige Fellfields recht bald zu alpinen Wiesen werden könnten.«

»Oh, das sind sie schon«, sagte"Claire.

»Wirklich?«

»Nun ja, sie sind noch klein. Aber wenn du die Westkante etwa drei Kilometer hinunterkletterst — hast du das schon einmal getan? —, wirst du sehen. Alpine Wiesen und auch Krummholz. Das ist gar nicht so schwer gewesen. Wir haben Bäume gepflanzt, ohne sie auch nur sehr zu verändern, weil es sich zeigte, daß viele Arten von Fichten und Kiefern viel tiefere Temperaturtoleranzen haben, als sie in ihren Habitaten auf der Erde gebraucht hätten.«

»Das ist seltsam.«

»Ein Überbleibsel aus der Eiszeit, nehme ich an. Aber jetzt kommt es uns gerade recht.«

»Interessant«, sagte Sax.

Und er verbrachte den Rest des Tages damit, daß er in die Mikroskope starrte, ohne etwas zu sehen, in Gedanken verloren. Das Leben ist so viel Geist, pflegte Hiroko zu sagen. Es war eine ganz eigenartige Angelegenheit, die Vitalität lebender Dinge, ihre Tendenz zur Fortpflanzung, was Hiroko ihre grüne Woge nannte, ihre Viriditas. Ein Streben nach einem Muster, das ihn sehr neugierig machte.


Bei der Morgendämmerung des nächsten Tages wachte er im Bett von Phyllis auf, die sich in die Laken neben ihm gewickelt hatte. Nach dem Dinner hatte sich die ganze Gesellschaft wie gewöhnlich in den Beobachtungsraum zurückgezogen; und Sax hatte das Gespräch mit Claire, Jessica und Berkina fortgesetzt. Jessica war sehr freundlich zu ihm gewesen, wie es ihre Art war. Phyllis hatte das gesehen und war ihm mit dem Aufzug in die Baderäume gefolgt. Sie hatte ihn mit jener verführerischen Umarmung überfallen, und dann waren sie schließlich in das Stockwerk der Schlafräume und zu ihrem Zimmer gegangen. Und obwohl es Sax nicht gefallen hatte zu verschwinden, ohne den anderen gute Nacht zu sagen, gab er ihrem Drängen nach, und sie liebten sich bis zur Erschöpfung.

Als er sie jetzt ansah, erinnerte er sich mit Mißmut ihres überhasteten Aufbruchs. Es genügte die elementarste Soziobiologie, um so ein Verhalten zu erklären. Wettbewerb um Partner, eine sehr fundamentale animalische Aktivität. Natürlich war Sax noch nie vorher das Subjekt einer solchen Konkurrenz gewesen, aber es gab nichts, auf das er bei dieser plötzlichen Manifestation stolz sein konnte. Es geschah ganz sicher wegen Vlads kosmetischer Chirurgie, die seinem Gesicht ein anziehendes Aussehen verliehen hatte. Obwohl es ihm völlig unklar war, warum die eine Anordnung von Gesichtszügen attraktiver sein sollte als die andere. Er hatte über soziobiologische Erklärungen sexueller Attraktivität gehört, und er konnte sich vorstellen, daß manche davon eine gewisse Gültigkeit haben mochten. Ein Mann würde sich nach einem Weib mit breiten Hüften umsehen, damit es seine Kinder sicher zur Welt bringen konnte, mit beachtlichen Brüsten, um seine Kinder zu stillen, mit langen Beinen, um diese in Sicherheit zu bringen, wenn Gefahr drohte, und so weiter. Eine Frau würde sich nach einem starken Mann umsehen, um ihre Kinder gut zu ernähren und zu schützen und starken Kindern ein Vater zu sein, und so weiter und so fort. Das ergibt irgendwie Sinn. Aber nichts davon hat etwas mit Gesichtszügen zu tun. Für diese werden soziobiologische Erklärungen recht dünn. Weit auseinanderstehende Augen für besseres Sehvermögen? Gute Zähne zur Förderung der Gesundheit? Eine ausgeprägte Nase, um nicht so leicht einen Schnupfen zu bekommen? — Nein! So einfach war das nicht. Es war eine Sache zufälliger Konfigurationen, von etwas, das das Auge anspricht. Ein ästhetisches Urteil, in dem kleine nichtfunktionale Merkmale einen großen Unterschied ausmachen können, was darauf hinweist, daß praktische Anliegen keine Rolle spielen. Ein solcher Fall war ein Paar Zwillingsschwestern, die sich sehr ähnlich sahen; und dennoch war die eine unauffällig gewesen, die andere hingegen schön. Nein, es ging um Millimeter Fleisch und Knochen und Knorpel, die zufällig in Muster paßten, die gefielen oder nicht.

Nun hatte Vlad also einige Veränderungen an seinem Gesicht vorgenommen, und jetzt wetteiferten Frauen um seine Aufmerksamkeit, obwohl er die gleiche Person war wie schon immer. Eine Person, an der Phyllis nie zuvor Interesse gezeigt hatte, als er so ausgesehen hatte, wie die Natur ihn geschaffen hatte. Es war schwer, deshalb nicht ein wenig zynisch zu sein. Begehrt zu werden — aber wegen Trivialitäten …

Er stieg aus dem Bett und zog einen der neuesten Leichtgewichtsanzüge an, die so viel bequemer waren als die alten aus Stretchgewebe. Man mußte sich gegen die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt isolieren und natürlich einen Helm und Lufttank tragen, aber es war keinerlei Notwendigkeit mehr, für Druck zu sorgen, um nicht die Haut zu schädigen. Dafür genügten schon 160 Millibar. Darum kam es nur noch auf warme Kleidung, Stiefel und den Helm an. Also dauerte das Ankleiden nur wenige Minuten, und dann war er wieder draußen auf dem Gletscher.

Er ging über den knirschenden Rauhreif auf dem ausgeflaggten Hauptweg über den Eisstrom und wandte sich dann auf dem Westufer stromabwärts, vorbei an den kleinen millefleur-Fellfields, die mit Reif bedeckt waren, der schon im Licht begonnen hatte zu schmelzen. Er kam an eine Stelle, wo der Gletscher eine kleine Böschung hinabfiel in einem kurzen rissigen Wasserfall. Er wandte sich auch ein paar Grad nach links und folgte den begrenzenden Graten. Plötzlich erfüllte die Luft ein lautes Krachen, dem ein dumpfes Geräusch folgte, das in seinem Magen vibrierte. Er blieb stehen und lauschte. Er hörte den entfernten Glockenton eines Stroms unter dem Eis. Er ging weiter und fühlte sich mit jedem Schritt leichter und fröhlicher. Das Morgenlicht war sehr klar und der Dampf auf dem Eis wie weißer Rauch.

Und dann kam er im Schutz einiger großer Felsblöcke zu einem Fellfield, das wie ein Amphitheater aussah und mit Blumen wie von Farbflecken übersät war. Und am Boden des Feldes war eine kleine alpine Wiese, nach Süden gewandt und verblüffend grün. Die Matten aus Gras und Ried waren alle von weiß bedeckten Wasserläufen durchzogen. Und rings um den Rand des Amphitheaters, in Spalten und unter Steinen geschützt, duckte sich eine Anzahl Zwergbäume.

Das also war Krummholz, das nach alpinen Wiesen die nächste Station der Entwicklung von Gebirgslandschaften bildete. Die Zwergbäume, die er erspäht hatte, waren tatsächlich Mitglieder gewöhnlicher Arten, zumeist weiße Kiefer, Pinus contorta, die sich in dieser rauhen Umgebung von selbst zu einer Zwergform entwickelt hatte und die geschützten Räume umgab, in denen sie aufgeschossen war. Das waren die am meisten Kälte vertragenden Bäume der Erde; und offenbar hatte das Team der Biotique Salzverträglichkeit von Bäumen wie Tamarisken hinzugefügt. Alle wissenschaftlichen Methoden waren eingesetzt worden, um ihnen zu helfen. Und dennoch behinderten die extremen Bedingungen ihr Wachstum, bis Bäume, die dreißig Meter hoch hätten werden können, sich in kleinen geduckten Schutzflecken zusammendrängten, von Winden und Schneelasten abgeschoren wie von Heckenscheren. Daher der Name Krummholz, deutsch für ›krummes Holz‹, oder vielleicht ›Elfenholz‹ für die Zone, wo es Bäumen zuerst gelang, aus der Boden schaffenden Tätigkeit von Fellfields und alpinen Wiesen Nutzen zu ziehen. Baumgrenze.

Sax ging langsam durch das Amphitheater, trat auf Steine, inspizierte die Moose, Riedgräser und jeden einzelnen Baum. Die knorrigen kleinen Dinger waren verdreht, als ob sie von verrückten Bonsai-Gärtnern gezogen worden wären. »Oh, wie hübsch!« sagte er mehr als einmal laut, wenn er einen Zweig oder Stamm betrachtete oder ein Stück lameliierte Borke, die sich wie Blätterteig abschälte. »Oh, wie hübsch! Jetzt fehlen nur einige Maulwürfe, Wühlmäuse, Murmeltiere, Nerze und Füchse.«

Aber das Kohlendioxid betrug immer noch fast dreißig Prozent in der Luft, vielleicht fünfzig Millibar für sich allein. Alle Säugetiere würden in einer solchen Luft rasch sterben. Darum hatte er sich immer dem Zweistufenplan der Terraformung in einer solchen Luft widersetzt, der vor allem anderen einen massiven Zuwachs an CO2 forderte. Als ob die Erwärmung des Planeten das einzige Ziel wäre! Das Ziel waren aber Tiere auf der Oberfläche. Das war nicht nur an sich gut, sondern auch gut für die Pflanzen, von denen viele Bedarf an Tieren hatten. Die meisten dieser Fellfieldpflanzen verbreiten sich natürlich allein; und es gab einige veränderte Insekten, die Biotique freigesetzt hatte, die da draußen nach stupider Überlebensart von Insekten umherschwirrten, nur halb lebendig und nur ihre Aufgabe der Befruchtung erfüllend. Aber es gab viele andere symbiotische ökologische Funktionen, die Tiere erforderten, wie die Durchlüftung des Bodens durch Maulwürfe und Wühlmäuse, oder die Verbreitung von Samen durch Vögel, ohne die Pflanzen nicht gedeihen konnten und manche überhaupt nicht lebensfähig wären. Nein, man mußte den Kohlendioxidgehalt der Luft reduzieren, wahrscheinlich bis auf die zehn Millibar wie bei ihrer Ankunft, als es die einzige Luft gewesen war, die es gab. Darum war der Plan, den seine Kollegen erwähnt hatten, den Regolith mit einer Linse in der Luft zu schmelzen, so beunruhigend. Das könnte ihre Probleme nur verschärfen.

Inzwischen war da diese unerwartete Schönheit. Es vergingen Stunden, während er die Exemplare eines nach dem anderen inspizierte und besonders den spiraligen Stamm und die Zweige bewunderte, die flockige Borke und Verästelung der Nadeln bei einer kleinen Drehkiefer — wirklich wie das Stück einer prächtigen Skulptur. Und er hockte auf den Knien mit dem Gesicht im Ried und dem Hintern in der Luft, als Phyllis und Ciaire und eine ganze Schar in die Wiese hereinströmten, über ihn lachten und sorglos auf das lebendige Gras traten.

Phyllis blieb an diesem Nachmittag bei ihm wie schon zwei oder drei Male zuvor, und sie gingen zusammen zurück. Sax versuchte zuerst, die Rolle eines naiven Führers zu spielen und zeigte auf Pflanzen, die er gerade erst in der vorigen Woche kennengelernt hatte. Aber Phyllis stellte keine Fragen danach und schien nicht einmal zuzuhören, wenn er sprach. Es schien, daß sie in ihm nur ein Publikum haben wollte, einen Zeugen für ihr Leben. Also verzichtete er auf die Pflanzen, stellte Fragen, hörte zu, und fragte weiter. Das war immerhin eine gute Gelegenheit, etwas über die derzeitige Machtstruktur auf dem Mars zu erfahren. Selbst wenn sie ihre eigene Rolle darin übertrieb, war es doch informativ. Sie sagte: »Ich war erstaunt, wie schnell Subarashii den neuen Aufzug gebaut und in Stellung gebracht hat.«

»Subarashii?«

»Sie waren der Hauptkontraktor.«

»Und wer hat über den Kontrakt entschieden, UNOMA?«

»O nein. UNOMA ist durch die Übergangsbehörde der UN ersetzt worden.«

»Als du Präsidentin der Übergangsbehörde warst, bist du also effektiv die Präsidentin des Mars gewesen.«

»Nun, die Präsidentschaft wechselt unter den Mitgliedern. Sie gewährt nicht viel mehr Macht, als die anderen Mitglieder haben. Es ist nur für die Medien und zur Veranstaltung der Konferenzen. Routinearbeit.«

»Aber dennoch… «

»Oh, ich weiß.« Sie lachte. »Es ist eine Position, die viele meiner alten Kollegen begehrten, aber nie bekommen haben. Chalmers, Bogdanov, Boone, Toitovna. Ich frage mich, was sie gedacht haben würden, wenn sie es erlebt hätten. Aber sie haben auf das falsche Pferd gesetzt.«

Sax wandte den Blick von ihr ab. »Warum also hat Subarashii den neuen Aufzug bekommen?«

»Das Lenkungskomitee der Übergangsbehörde hat dafür gestimmt. Praxis hatte sich beworben, und keiner mag Praxis.«

»Jetzt, wo der Aufzug wieder da ist, glaubst du, daß sich die Dinge wieder verändern werden?«

»Ja gewiß! Sicher! Seit den Unruhen haben viele Dinge an Einfluß gewonnen. Emigration, Bauen, Terraformen, Handel — das ist alles langsamer geworden. Wir haben es kaum geschafft, einige der zerstörten Städte wieder aufzubauen. Es ist eine Art von Kriegsrecht, natürlich notwendig, wenn man bedenkt, was geschehen ist.«

»Natürlich.«

»Aber jetzt! Alle die aufgestapelten Metalle aus den letzten vierzig Jahren sind bereit für den Markt der Erde, und das wird die ganze Ökonomie der zwei Welten unglaublich stimulieren. Wir werden jetzt mehr Produktion von der Erde erleben und mehr Investitionen hier, auch mehr Emigration. Wir sind endlich bereit, mit den Dingen fertig zu werden.«

»Wie Soletta?«

»Genau! Das ist ein perfektes Beispiel für das, was ich meine. Es gibt hier Pläne aller Art für große Investitionen.«

»Kanäle mit gläsernen Wänden«, sagte Sax. Das würde die Moholes trivial aussehen lassen.

Phyllis sagte etwas über die glänzenden Aussichten für die Erde, und er schüttelte den Kopf, um ihn von Joules pro Quadratzentimeter frei zu machen. Er sagte: »Aber ich dachte, die Erde hätte einige ernste Schwierigkeiten.«

»Oh, die Erde hat immer ernste Schwierigkeiten. Daran werden wir uns gewöhnen müssen. Nein, ich bin sehr optimistisch. Ich glaube, daß die Rezession sie da unten hart getroffen hat, besonders die kleinen Tiger und die Babytiger und natürlich die weniger entwickelten Länder. Aber der Einstrom industrieller Metalle von hier wird die Wirtschaft für jedermann anregen, einschließlich der Umweltkontrollindustrien. Und leider sieht es so aus, als ob das Baumsterben für sie eine Menge anderer Probleme lösen wird.«

Sax konzentrierte sich auf den Teil der Moräne, den sie emporstiegen. Hier hatte Solifluktion, das tägliche Schmelzen von Grundeis auf einer Neigung, bewirkt, daß das lockere Regolith in einer Reihe von Vertiefungen und Rinnen nach unten gerutscht war; und obwohl alles grau und leblos aussah, verriet ein leichtes Muster wie winzige Kacheln, daß es tatsächlich mit blaugrauen Flockenflechten bedeckt war. In den Vertiefungen gab es Klumpen von etwas, das wie graue Asche aussah. Sax blieb stehen, um eine kleine Probe zu pflücken. »Schau!« sagte er brüsk zu Phyllis, »Schneelebermoos.«

»Es sieht aus wie Schmutz.«

»Das kommt, weil ein parasitärer Schwamm darauf wächst. Die Pflanze ist eigentlich grün. Siehst du diese kleinen Blätter? Das ist ein neues Wachstum, das der Pilz noch nicht bedeckt hat.« Unter Vergrößerung sahen die neuen Blätter aus wie grünes Glas.

Aber Phyllis machte sich nicht die Mühe hinzuschauen. Sie fragte: »Wer hat das konstruiert?« Der Ton ihrer Stimme klang so, als ob der Planer schlechten Geschmack bewiesen hätte.

»Ich weiß nicht. Könnte niemand gewesen sein. Eine ganze Anzahl der Spezies hier draußen sind nicht konstruiert worden.«

»Kann Evolution so schnell arbeiten?«

»Nun, du weißt ja, es ist polyploidale Entwicklung.«

»Kenne ich nicht.«

Phyllis ging weiter, nicht sonderlich interessiert an dem kleinen grauen Exemplar. Schneeleberwurz. Wahrscheinlich sehr wenig behandelt oder sogar überhaupt nicht konstruiert. Testexemplare, die hier unter den anderen ausgesetzt waren, um zu sehen, wie es ihnen ergehen würde. Und nach Meinung von Sax somit sehr interessant.

Aber irgendwo auf der Strecke hatte Phyllis das Interesse verloren. Sie war einmal eine erstklassige Biologin gewesen, und Sax fand es hart, sich den Verlust an Neugier vorzustellen, der an der Wurzel der Wissenschaft liegt und die einen drängt, die Dinge zu verstehen. Aber sie wurden alt. Im Verlauf ihres unnatürlichen Lebens lag es nahe, daß sie alle sich verändern würden, vielleicht sogar grundlegend. Sax gefiel dieser Gedanke nicht, aber er war da. Wie alle anderen neuen Hundertjährigen hatte er immer mehr Schwierigkeiten, sich an Einzelheiten seiner Vergangenheit zu erinnern, besonders in den mittleren Jahren, an Dinge, die sich vor dem Alter von rund fünfzig ereignet hatten. So verblaßten für ihn die Jahre vor ’61 und seine meisten Jahre auf der Erde. Und ohne voll funktionierende Erinnerungen würde man sich gewiß verändern.


Als sie zur Station zurückkehrten, ging er verwirrt ins Labor. Er dachte, vielleicht wären sie polyploidal geworden, nicht als Individuen, sondern kulturell — eine internationale Anordnung, die hier auftrat und dieselben Fasern effektiv vervierfachte und so die Anpassungsfähigkeit lieferte, in diesem fremdartigen Terrain trotz aller durch Stress bewirkten Mutationen zu überleben …

Aber nein. Das war eher eine Analogie als eine Homologie. Was man in den Geisteswissenschaften ein heroisches Gleichnis oder eine Metapher nannte, falls er den Fachausdruck richtig verstand, oder eine andere Art literarischer Analogie. Und Analogien waren meistens bedeutungslos, eher eine Sache des Phänotyps als des Genotyps (um eine andere Analogie zu benutzen). Das meiste in Poesie und Literatur, tatsächlich alle Geisteswissenschaften, von den Sozialwissenschaften ganz zu schweigen, waren, soweit Sax das sehen konnte, phänotypisch. Sie gesellten sich zu einem riesigen Kompendium bedeutungsloser Analogien, die nicht halfen, Dinge zu erklären, sondern nur eine verzerrte Vorstellung von ihnen förderten. Man könnte sagen, eine ständige konzeptuelle Betrunkenheit. Sax selbst bevorzugte sehr Exaktheit und begriffliche Kraft — und warum nicht? Wenn draußen 200 Kelvin herrschten, warum sollte man das nicht so sagen, anstatt über die Titten von Hexen und dergleichen zu reden und das ganze große Gepäck der unwissenden Vergangenheit herbeizuholen, um jede Begegnung mit sensorischer Realität zu verdunkeln? Das war absurd.

Also okay, es gab keine kulturelle Polyploidie. Es gab nur eine bestimmte historische Situation, die Konsequenz von allem, was vorhergegangen war — getroffene Entscheidungen, deren Resultate sich völlig ungeordnet über den Planeten verbreiteten und sich planlos entwickelten, wenn man so sagen konnte. Planlos. In dieser Hinsicht bestand eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Geschichte und Evolution, insofern beide von Kontingenz und Zufall bestimmt wurden, aber auch Entwicklungsstrukturen bildeten. Aber die Differenzen waren besonders im Zeitmaßstab so kraß, daß Ähnlichkeit wieder nicht mehr als eine Analogie wurde.

Nein, man sollte sich lieber auf Homologien konzentrieren, jene strukturellen Ähnlichkeiten, die auf aktuelle physikalische Beziehungen hinwiesen und wirklich etwas erklärten. Das führte natürlich wieder in die Wissenschaft zurück. Aber nach einer Begegnung mit Phyllis war es genau das, was er wollte.

Also vertiefte er sich wieder in das Studium von Pflanzen. Viele der von ihm gefundenen Fellfieldpflanzen hatten behaarte Blätter mit sehr dicken Oberflächen, was half, die Gewächse vor der scharfen UV-Strahlung des Sonnenlichts auf dem Mars zu schützen. Diese Anpassungen konnten recht gut Beispiele für Homologien sein, bei denen Spezies mit den gleichen Vorfahren alle familiären Züge bewahrt hatten. Oder es konnten Beispiele von Konvergenz sein, bei denen Spezies aus getrennten Stämmen durch funktionale Notwendigkeit zu den gleichen Formen gekommen waren. Und in diesen Tagen konnten sie auch einfach ein biotechnisches Produkt sein, bei dem die Züchter unterschiedlichen Pflanzen die gleichen Merkmale verliehen, um die gleichen Vorteile zu erzielen. Es kam darauf an herauszufinden, worauf es ankam, um die Pflanze zu identifizieren, und dann in den Akten nachzusehen, ob sie von einem terraformenden Team geplant worden war. In Elysium gab es ein Labor von Biotique unter Leitung von Harry Whitebook, das viele der erfolgreichsten Pflanzen plante, besonders die Riedgräser; und eine Suche im Whitebook-Katalog ergab oft, daß seine Hand am Werk gewesen war. In diesem Fall beruhten die Ähnlichkeiten oft auf künstlicher Konvergenz, indem Whitebook etwa behaarte Blätter in fast jede Blattpflanze einführte, die er züchtete.

Ein interessanter Fall von Geschichte, die Evolution nachahmt. Und da sie auf dem Mars eine Biosphäre schaffen wollten in kurzer Zeit, vielleicht 107mal schneller, als es auf der Erde gedauert hatte, mußten sie ständig in den Evolutionsakt selbst eingreifen. Daher würde die Biosphäre des Mars nicht ein Fall von Phylogenie sein, der Ontogenie wiederholt, auf jeden Fall kein in Mißkredit geratener Begriff, sondern eine Geschichte, welche Evolution wiederholt. Oder vielmehr nachahmt, soweit es im Milieu des Mars möglich ist. Oder sogar leitet. Geschichte, die Evolution lenkt. Das war ein erschreckender Gedanke.

Whitebook ging mit viel Spürsinn an die Aufgabe.

Zum Beispiel hatte er preatophytische Flechtenriffe gezogen, welche die Salze aufbauten, die sie in eine feinporige Kristallstruktur einbauten, so daß die resultierenden Pflanzen olivfarbene oder dunkelgrüne Massen halbkristalliner Blöcke waren. Wenn man durch einen Fleck von ihnen ging, war es, als ob man durch ein liliputanisches Gartenlabyrinth ginge, das zerdrückt, verlassen und halb von Sand bedeckt war. Die individuellen Blöcke der Pflanzen waren zerbrochen oder gespalten und sahen geradezu von einer Krankheit befallen aus, die Pflanzen zu versteinern schien, während sie noch lebten und einen Existenzkampf führen mußten im Innern von zerbrochenen Schichten aus Malachit und Jade. Seltsam aussehend, aber sehr erfolgreich. Sax fand, daß eine ganze Anzahl dieser Flechten auf dem Grat der westlichen Moräne wuchs und in dem trockneren Regolith dahinter.

Er verbrachte einige Vormittage mit der Suche danach, und als er eines Morgens beim Überqueren des Grats über den Gletscher zurückblickte, sah er, wie sich ein sandiger Wirbelwind über dem Eis drehte, ein funkelnder kleiner rostfarbener Tornado, der sich stromabwärts bewegte. Gleich danach wurde er von einem starken Wind mit Böen von mindestens hundert und dann sogar hundertfünfzig Kilometern in der Stunde getroffen. Sax duckte sich schließlich hinter einem Flechtenriff und hob die Hand, um die Windgeschwindigkeit zu schätzen. Es war schwer, eine genaue Angabe zu versuchen, weil die dichter werdende Atmosphäre die Kraft der Winde verstärkt hatte, so daß sie kräftiger schienen und schneller, als sie in Wirklichkeit waren. Alle Schätzungen aus den Eindrücken aus den Tagen in Underhill lagen jetzt weit daneben. Die Böen, die ihn jetzt trafen, könnten sogar nur achtzig Kilometer in der Stunde langsam sein. Aber sie waren voller Sand, der gegen sein Visier prallte und die Sicht auf etwa hundert Meter verringerte. Nachdem er eine Stunde lang darauf gewartet hatte, daß der Sandsturm nachließ, gab er es auf und kehrte zur Station zurück. Er überschritt den Gletscher, indem er sich sehr vorsichtig von einer Flagge zur nächsten bewegte, um nicht die Spur zu verlieren. Das war wichtig, wenn man gefährliche Stellen mit Spalten vermeiden wollte.

Einmal über das Eis gelangt, kehrte Sax schnell zur Station zurück und dachte über den kleinen Tornado nach, der die Ankunft des Windes verkündet hatte. Das Wetter war merkwürdig. Drinnen rief er den meteorologischen Kanal und ging alle Information über das Wetter des Tages durch. Dann betrachtete er ein Satellitenfoto der Gegend. Eine Zyklonzelle kam von Tharsis herunter auf sie zu. Bei der dichter werdenden Luft waren die von Tharsis kommenden Winde wirklich kräftig. Sax fürchtete, daß der Buckel immer ein Ankerpunkt in der Klimatologie des Mars bleiben würde. Während der meisten Zeit würde sich der Strahlstrom der nördlichen Hemisphäre um sein Nordende herumwinden, wie es der Jetstrom der Erde bei den Rocky Mountains tat. Aber ab und zu würden sich Luftmassen zwischen den Vulkanen über den Tharsiskamm schieben und beim Aufsteigen ihre Flüssigkeit über dem Osthang abregnen. Dann würden diese dehydrierten Massen den Osthang hinunterrasen als Mistral des Großen Mannes oder Schirokko oder Föhn mit Winden so schnell und stark, daß sie mit zunehmender Dichte der Atmosphäre zum Problem wurden. Einige Kuppelstädte auf der freien Fläche würden so sehr gefährdet sein, daß sie sich in Krater oder Canyons zurückziehen oder mindestens nach und nach ihren Kuppelbau verstärken müßten.

Während Sax darüber nachdachte, wurde das ganze Thema des Wetters so aufregend, daß er seine botanischen Studien aufgeben und sich die ganze Zeit ihm widmen wollte. In den alten Tagen hätte er das gemacht und wäre einen Monat oder ein Jahr in die Klimatologie eingetaucht, bis seine Wißbegier befriedigt wäre und er über einen Beitrag zu allen auftretenden Problemen nachgedacht hätte.

Aber das war, wie er jetzt sah, ein recht undiszipliniertes Unterfangen gewesen, das zu einer Art Schrotschußmethode und sogar einem gewissen Dilettantismus führte. Jetzt, als Stephen Lindholm und für Ciaire und Biotique tätig, mußte er die Klimakunde aufgeben mit einem sehnsüchtigen Blick auf die Satellitenfotos und ihre suggestiv wirbelnden neuen Wolkensysteme und konnte den anderen nur von dem Wirbelwind berichten und im Labor oder beim Essen erholsam über Wetter plaudern, während seine hauptsächliche Bemühung sich wieder ihrem kleinen Ökosystem zuwandte und seinen Pflanzen und wie man ihnen weiterhelfen konnte. Und als er gerade das Empfinden hatte, er würde die Besonderheiten von Arena lernen, waren diese durch seine neue Identität erzwungenen Beschränkungen gar nicht übel. Sie bedeuteten, daß er gezwungen war, sich auf eine einzige Disziplin zu konzentrieren in einer Weise wie nie nach seiner Arbeit, die der Promotion gefolgt war. Und es wurde ihm immer klarer, welchen Lohn die Konzentration bot. Er konnte dadurch ein besserer Wissenschaftler werden.


Am nächsten Tage zum Beispiel, als die Winde bloß frisch waren, ging er wieder hinaus und fand den Fleck mit Korallenflechten, den er untersucht hatte, als der Sandsturm ausbrach. Alle Spalten der Struktur waren mit Sand gefüllt, was den größten Teil der Zeit der Fall gewesen sein mußte. Also wischte er einen Spalt sauber und sah mit der zwanzigfachen Vergrößerung seiner Sehscheibe hinein. Die Wände der Spalten waren mit sehr feinen Wimpern bedeckt, ähnlich den winzigen Härchen auf exponierten Blättern des alpinen Fingerkrauts. Es bestand offenbar keine Notwendigkeit, diese schon gut versteckten Flächen zu schützen.

Vielleicht sollten sie überschüssigen Sauerstoff aus den Geweben der halbkristallinen äußeren Masse freisetzen. Spontan oder geplant? Er las in Beschreibungen auf seinem Handgelenk und ergänzte sie mit diesem Exemplar, das wegen der Wimpern noch nicht erfaßt zu sein schien. Er nahm eine kleine Kamera aus der Schenkeltasche und machte eine Aufnahme, legte eine Probe der Wimpern in einen Beutel, tat diesen und die Kamera in die Tasche und ging weiter.

Er ging nach unten, um den Gletscher anzusehen. Er traf dort auf eine der vielen Verbindungen, wo die abfallende Flanke sich glatt mit dem ansteigenden Hang der Moränenrippe traf. Um Mittag war es auf dem Gletscher hell, als ob Teile des zerbrochenen Spiegels überall das Sonnenlicht darauf reflektierten. Eisstücke knirschten unter den Füßen. Kleine Rinnsale vereinigten sich zu tief eingebetteten Strömen, die jäh in Löchern im Eis verschwanden. Diese Löcher hatten wie die Spalten mannigfache Schattierungen von Blau. Die Rippen der Moräne schimmerten wie Gold und schienen in der zunehmenden Wärme zu hüpfen. Irgend etwas an dem Anblick erinnerte Sax an den Soletta-Plan, und er pfiff durch die Zähne.

Er richtete sich auf und reckte seinen Rücken. Er fühlte sich sehr lebendig und wißbegierig, absolut in seinem Element. Der Wissenschaftler bei seiner Arbeit. Er lernte die immer frische primäre Bemühung von ›Naturgeschichte‹ zu schätzen, ihre nahe Beobachtung von Dingen in der Natur: Beschreibung, Einordnung, Taxonomie — der erste Versuch zu erklären oder vielmehr dessen erster Schritt, einfach zu beschreiben. Wie glücklich waren ihm immer die Naturhistoriker vorgekommen in ihren Schriften — Linne und sein wildes Latein, Lyell und seine Steine, Wallace und Darwin und ihr großer Schritt von Kategorie zu Theorie, von Beobachtung zu Paradigma. Sax konnte das fühlen, gerade hier auf dem Arenagletscher im Jahre 2101, mit all den neuen Spezies, diesem blühenden Prozeß von Spezifikation, der halb menschlich und halb zum Mars gehörig war — einem Prozeß, der später seine eigenen Theorien erfordern würde, irgendeine Art von Evo-Historie, von historischer Evolution oder Okopoesis oder einfach Marskunde, Areologie. Oder vielleicht Hirokos Viriditas. Theorien des Terraformungsprojekts — nicht nur, was es anstrebte, sondern wie es wirklich funktionierte. Genaugenommen eine Naturgeschichte. Sehr wenig von dem, was geschah, konnte mit experimenteller Laborwissenschaft studiert werden. Darum würde die Naturgeschichte auf ihren Platz unter den Wissenschaften zurückfinden müssen als eine unter gleichen. Hier auf dem Mars waren alle Arten von Hierarchien zum Fall verurteilt; und das war keine sinnlose Analogie, sondern einfach eine präzise Beobachtung von dem, was alle sehen konnten.

Was alle sehen konnten. Würde er das verstanden haben vor seiner Zeit hier draußen? Würde Ann verstehen? Während er auf die wilde zerklüftete Fläche des Gletschers blickte, stellte er fest, daß er an sie dachte. Jede kleine Scholle und Spalte ragte hervor, als hätte er noch die zwanzigfache Vergrößerung eingeschaltet, aber mit unendlicher Tiefenschärfe. Jede Tönung von Elfenbein und Rosa in den eingebuchteten Flächen, jeder spiegelnde Schimmer von Schmelzwasser, die buckligen Hügel am fernen Horizont — alles war in diesem Augenblick chirurgisch klar und scharf. Und er hatte den Eindruck, daß sein Sehvermögen nicht eine Sache des Zufalls war (zum Beispiel der Linsenwirkung von Tränen über seiner Hornhaut), sondern das Ergebnis eines neuen zunehmenden Verständnisses der Landschaft. Es war eine Art kognitiver Vision, und er konnte nicht umhin, sich zu erinnern, daß Ann ärgerlich zu ihm gesagt hatte: Mars ist der Ort, den du nie gesehen hast.

Er hatte das als eine Redeweise verstanden. Aber jetzt dachte er an Thomas Kuhn, der versicherte, daß Wissenschaftler, die unterschiedliche Paradigmen benutzten, in wortwörtlich unterschiedlichen Welten existierten, und daß Epistemologie eine so integrale Komponente der Realität wäre. So haben Aristoteliker das Galileische Pendel einfach nicht gesehen, das für sie ein mit einiger Schwierigkeit fallender Körper war. Und allgemein redeten Wissenschaftler, die über die relativen Verdienste konkurrierender Paradigmen diskutierten, einfach aneinander vorbei, indem sie die gleichen Wörter für unterschiedliche Realitäten benutzten.

Auch das hatte er für eine Redewendung gehalten. Wenn er aber jetzt, absorbiert in der Klarheit des Eises, darüber nachdachte, mußte er zugeben, daß es bestimmt das beschrieb, wie Ann immer empfunden hatte. Es war für sie beide eine Enttäuschung gewesen; und als Ann geschrien hatte, er habe nie den Mars gesehen, eine Feststellung, die in verschiedener Hinsicht offenbar falsch war, hatte sie vielleicht nur sagen wollen, daß er ihren Mars nicht gesehen hätte, den Mars, welchen ihr Paradigma geschaffen hatte. Und das war ohne Zweifel richtig.

Aber jetzt sah er einen Mars wie nie zuvor. Nur war die Verwandlung dadurch gekommen, daß er sich wochenlang gerade auf jene Teile der Landschaft des Mars konzentriert hatte, die Ann verabscheute, die neuen Lebensformen. Also zweifelte er, ob der Mars, den er sah mit seinen Schnee-Algen und Eisflechten und den entzückenden kleinen Flecken von Perserteppich, die den Gletscher säumten, der Mars von Ann wäre. Es war auch nicht der Mars seiner Kollegen bei der Terraformung. Es war eine Funktion von dem, was er glaubte und was er wünschte — es war sein Mars, der sich direkt vor seinen Augen entwickelte, immer dabei, etwas Neues zu werden. Er empfand wie einen Stich im Herzen den Wunsch, in genau diesem Moment Ann packen und am Arm zur westlichen Moräne hinunterführen zu können und laut zu rufen: Siehst du? Siehst du?


Statt dessen hatte er Phyllis, vielleicht die am wenigsten philosophische Person, die er je kennengelernt hatte. Er vermied sie, wenn er es tun konnte, ohne daß es so aussah, und verbrachte seine Tage auf dem Eis, im Wind unter dem weiten Himmel des Nordens oder auf den Moränen, wo er umherkroch und Pflanzen suchte. Wieder in der Station, plauderte er beim Essen mit Claire, Berkina und den anderen über das, was sie draußen fanden und was es bedeutete. Nach dem Dinner zogen sie sich in den Beobachtungsraum zurück und redeten weiter. An manchen Abenden, besonders freitags und samstags, tanzten sie. Die Musik, die sie spielten, war immer Nuevo Calypso — Gitarren und Stahltrommeln in schnellen, fast simultanen Melodien, die komplexe Rhythmen erzeugten, deren Analyse Sax große Schwierigkeiten bereitete. Es waren oft 5/4-Takte, die mit 4/4 wechselten oder zugleich da waren. Offenbar ein Schema, das darauf abzielte, ihn aus dem Takt zu bringen. Zum Glück war der aktuelle Tanzstil eine Art freier Bewegung, die zum Takt nur wenig Beziehung hatte. Wenn es Sax also nicht gelang, im Rhythmus zu bleiben, war er ziemlich sicher, daß er allein es merkte. Tatsächlich war es eine recht nette Unterhaltung, ganz für sich bloß im Zeitmaß zu bleiben und in einer kleinen Gigue zum 5/4-Takt herumzuhopsen. Als er an die Tische zurückkehrte und Jessica ihm sagte: »Stephen, du bist wirklich ein guter Tänzer«, brach er in Gelächter aus, erfreut, obwohl er wußte, daß darin nichts zum Ausdruck kam als Jessicas Inkompetenz, über Tanz zu urteilen, oder ihr Versuch, ihm eine Freundlichkeit zu erweisen. Obwohl vielleicht das tägliche Wandern über das Steinfeld sein Gleichgewicht und Zeitgefühl verbesserte. Jede körperliche Tätigkeit konnte, wenn sie richtig studiert und ausgeübt wurde, ohne Zweifel mit beträchtlicher Geschicklichkeit, wenn nicht gar Eleganz, vollbracht werden.

Sax und Phyllis sprachen oder tanzten miteinander nur so viel wie mit jedem anderen. Nur in der Geborgenheit ihrer Zimmer umarmten, küßten und liebten sie sich. Es war die alte Geschichte einer geheimen Beziehung; und eines Morgens gegen vier Uhr, als Sax aus ihrem Zimmer in seines zurückkehrte, durchfuhr ihn jähe Furcht. Er hatte plötzlich den Eindruck, daß sein nicht diskutiertes Komplizentum bei diesem Verhalten ihn für Phyllis deutlich als einen der Ersten Hundert verraten haben müsse. Wer anders könnte so bereitwillig auf ein so bizarres Verhalten kommen, als wenn es die natürlichste Sache der Welt wäre?

Aber wenn er nachdachte, schien Phyllis nicht auf derartige Nuancen zu achten. Sax hatte es fast aufgegeben, ihre Denkweise und Motivationen zu verstehen, da die Daten widersprüchlich und trotz der Tatsache, daß sie ziemlich regelmäßig die Nacht miteinander verbrachten, ziemlich dürftig waren. Sie schien hauptsächlich an den intertransnationalen Manövern interessiert zu sein, die in Sheffield und auf der Erde stattfanden — Verschiebungen im Führungspersonal, Tochtergesellschaften und Immobilienpreisen, die sicher ephemer und bedeutungslos waren, für sie aber höchst fesselnd. Als Stephen blieb er an all diesem deutlich interessiert und stellte ihr Fragen, um seine Anteilnahme zu zeigen, wenn sie darauf zu sprechen kam. Wenn er aber fragte, was diese täglichen Veränderungen in einem größeren strategischen Sinne zu bedeuten hätten, war sie entweder nicht imstande oder nicht willens, erklärende Antworten zu geben. Offenbar war sie mehr an dem persönlichen Ergehen ihrer Bekannten interessiert als an dem System, das durch deren Laufbahnen zum Ausdruck kam. Ein früher bei Consolidated beschäftigter leitender Angestellter, der jetzt bei Subarashii war, war zum Leiter von Aufzugsoperationen befördert worden, und ein Manager von Praxis war im Busch verschwunden. Armscor hatte vor, Dutzende von Wasserstoffbomben im Megaregolith unter der nördlichen Polkappe explodieren zu lassen, um Wachstum und Erwärmung des Meeres im Norden anzuregen. Und dieser letzte Umstand war für sie nicht interessanter als die beiden vorhergehenden.

Und vielleicht ergab es Sinn, die individuellen Karrieren der Leute zu verfolgen, die die größten Transnationalen betrieben, und die Mikropolitik des Wettrennens um Macht zwischen ihnen. Schließlich waren sie ja die derzeitigen Herrscher der Welt. Also lag Sax an der Seite von Phyllis, hörte ihr zu und machte Bemerkungen nach Art von Stephen. Er bemühte sich, alle die Namen zu ordnen, und fragte sich, ob der Gründer von Praxis wirklich ein seniler Surfer wäre, ob Shellalco von Amexx übernommen werden würde und ob die leitenden Teams der Transnationalen wirklich so scharfe Konkurrenten wären, da sie doch ohnehin die Welt beherrschten und alles hatten, was sie sich in ihrem persönlichen Leben wünschen könnten. Vielleicht lag die Antwort wirklich in der Soziobiologie, und es war alles Dominanzgebaren von Primaten, bei dem man seinen Erfolg bei der Fortpflanzung in der Gemeinschaft steigern wollte. Das war vielleicht keine bloße Analogie, wenn man die Firma als sein Kind ansah. Und dann konnte es wiederum in einer Welt, wo man unbegrenzt lange leben konnte, einfacher Selbstschutz sein. ›Überleben der Tüchtigsten‹ war Sax immer als eine leere Tautologie erschienen. Wenn aber Sozialdarwinismus an die Macht käme, dann könnte dieses Konzept als religiöses Dogma der herrschenden Ordnung an Bedeutung gewinnen …

Und dann rollte Phyllis sich zu ihm herüber und küßte ihn, und er trat in den Bereich von Sex ein, wo andere Regeln zu herrschen schienen. Obwohl er Phyllis immer weniger liebte, je besser er sie kennenlernte, entsprach dem nicht das Maß, in dem er von ihr angezogen wurde, sondern schwankte nach geheimnisvollen eigenen Gesetzen, ohne Zweifel von Hormonen angetrieben und begründet, so daß er sich manchmal anstrengen mußte, ihre Berührungen zu akzeptieren, während er ein anderes Mal von einer Lust angetrieben wurde, die um so stärker schien, je weniger sie mit Zuneigung vermischt war. Oder was noch sinnloser war — eine durch Abneigung noch gesteigerte Lust. Diese letzte Reaktion war selten; und als sich der Aufenthalt in Arena hinzog und die Neuigkeit ihrer Affäre verblaßte, fand Sax sich immer häufiger von ihrem Liebesspiel distanziert und neigte dazu, während dessen zu phantasieren und tief in Stephen Lindholm zu verfallen, der anscheinend mit Frauen zu schmusen schien, die Sax nicht kannte oder von denen er kaum gehört hatte, wie Ingrid Bergman oder Marylin Monroe.


Eines Morgens stand Sax nach einer beunruhigenden Nacht dieser Art auf, um aufs Eis zu gehen und Phyllis rührte sich, wachte auf und beschloß mitzukommen.

Sie zogen sich an und traten hinaus in eine reine purpurne Morgendämmerung. Schweigend kletterten sie die nahe Moräne an der Flanke des Gletschers hinunter und stiegen auf einer Reihe von Stufen ins Eis. Sax nahm den südlichsten ausgeflaggten Weg über den Gletscher, um die westliche Seitenmoräne so weit stromaufwärts zu besteigen, wie er an einem Vormittag gehen konnte.

Sie gingen zwischen kniehohen Auskerbungen von Eis dahin, die alle Löcher hatten wie Schweizer Käse und von Schneealgen rosa gefleckt waren. Phyllis war wie immer über das phantastische Gewirr entzückt und machte Bemerkungen über die ungewöhnlichsten Eisnadeln. Sie verglich die, an denen sie an diesem Morgen vorbeikamen, mit einer Giraffe, dem Eiffelturm, der Fläche Europas etc. Sax blieb oft stehen, um Stücke aus Jadeeis zu untersuchen, die von Eisbakterien durchzogen waren. An ein paar Stellen lag das Jadeeis frei wie kalifornische Nachtkerzen, die von Schneealgen rötlich gefärbt waren. Das war ein seltsamer Effekt, wie ein großes Feld von Pistazieneis.

Also kamen sie nur langsam voran und waren noch auf dem Gletscher, als eine Reihe kleiner gedrängter Wirbelwinde hintereinander auftrat wie durch einen Zaubertrick. Braune Staubtromben, die von Eisteilchen glitzerten in einer rohen Linie, die vom Gletscher auf sie zu führte. Dann brachen die Wirbelwinde in einer Art Fluktuation zusammen, und sie wurden von einem rauhen Windstoß getroffen, der pfeifend so stark bergab raste, daß sie sich hinknien mußten, um das Gleichgewicht zu bewahren. »Was für ein Sturm!« rief Phyllis ihm ins Ohr.

»Ein katabatischer Wind«, sagte Sax und sah eine Gruppe von Eisnadeln im Staub verschwinden. »Er kommt von Tharsis herunter.« Die Sicht verschlechterte sich. »Wir sollten versuchen, zur Station zurückzukommen.«

Also machten sie sich längs des beflaggten Pfades auf den Weg und stapften von einen smaragdfarbenen Punkt zum nächsten. Aber die Sicht wurde immer schlechter, bis sie nicht mehr von einer Markierung zur nächsten sehen konnten. Phyllis sagte: »Hier, laß uns in den Schutz dieser Eisberge gehen!«

Sie ging auf die unscharfe Gestalt eines Vorsprungs im Eis zu, und Sax rannte hinter her und sagte: »Sei vorsichtig! Viele Eisnadeln haben an ihrer Basis Spalten.« Er langte hin, um ihre Hand zu ergreifen, als sie wie durch eine Falltür nach unten stürzte. Er bekam ein hochgerecktes Handgelenk zu fassen, wurde hart zu Boden gerissen und stieß sich die Knie schmerzhaft auf dem Eis. Phyllis sackte noch weiter ab. Sie rutschte einen Schacht am Ende einer flachen Spalte hinunter. Er hätte sie loslassen können, hielt aber instinktiv fest und wurde mit dem Kopf voran über die Kante gezogen. Sie glitten beide in den dicht gepackten Schnee am Boden der Spalte, und der Schnee gab unter ihnen nach, so daß sie weiter fielen und nach einem kurzen, aber fürchterlichen Sturz auf frostigen Sand prallten.

Sax, der größtenteils auf Phyllis gelandet war, richtete sich unverletzt auf. Über das Interkom kamen alarmierende saugende Töne von Phyllis; aber bald wurde es klar, daß es ihr nur die Luft aus den Lungen gepreßt hatte. Als sie ihre Atmung wieder im Griff hatte, prüfte sie unsicher ihre Gliedmaßen und erklärte, sie sei okay. Sax bewunderte ihre Zähigkeit.

In dem Stoff über seinem rechten Knie war ein Riß, aber sonst war er in Ordnung. Er nahm aus seiner Schenkeltasche etwas Klebeband und verschloß den Riß. Das Knie war noch ohne Schmerz gekrümmt. Also vergaß er es und stand auf.

Das Loch, das sie durch den Schnee über ihnen gestoßen hatten, befand sich etwa zwei Meter über seiner ausgestreckten Hand. Sie befanden sich in einer länglichen Blase, der unteren Hälfte einer Spalte, die ungefähr wie eine Sanduhr geformt war. Die stromabwärts liegende Wand ihrer kleinen Blase bestand aus Eis, während die stromaufwärts liegende Wand mit Eis überzogenes Gestein war. Der rohe Kreis des über ihren Köpfen sichtbaren Himmels hatte dunkle Pfirsichfarbe, und die bläuliche Eiswand der Spalte schimmerte mit Reflexen des staubigen Sonnenlichts, so daß der Endeffekt etwas opaleszierend und recht malerisch war. Aber sie saßen fest.

»Unser Piepsignal wird abgebrochen sein«, mutmaßte Sax, »und dann werden sie kommen, um nachzusehen.«

»Ja, aber werden sie uns finden?« sagte Phyllis.

Sax zuckte die Achseln. »Der Piepser liefert eine Richtungsangabe.«

»Aber der Wind! Die Sicht kann auf Null heruntergehen.«

»Wir müssen hoffen, daß sie damit zurechtkommen werden.«

Die Spalte zog sich gen Osten wie ein enger flacher Gang hin. Sax duckte sich unter einer niedrigen Stelle und beleuchtete mit seiner Stirnlampe den Raum zwischen Eis und Fels. Er reichte so weit man sehen konnte in Richtung auf die Ostseite der Gletschers. Es war möglich, daß er bis zu einer der kleinen Höhlen an der Seite des Gletschers reichte. Darum dachte er nach Absprache mit Phyllis daran, die Spalte auszukundschaften, und Phyllis da zu lassen, um sicher zu sein, daß etwaige Sucher, die das Loch fanden, auch jemanden auf seinem Boden finden würden.

Außerhalb des starken Lichtkegels seiner Stirnlampe war das Eis intensiv kobaltblau, ein Effekt, der durch die Rayleighstreuung verursacht wurde, die auch das Himmelsblau hervorrief. Auch bei ausgeschalteter Stirnlampe war es ziemlich hell, was darauf schließen ließ, daß das Eis über ihnen nicht sehr dick war. Wahrscheinlich ebenso dick wie die Tiefe ihres Sturzes, so schien es ihm jetzt.

Die Stimme von Phyllis in seinem Ohr fragte, ob mit ihm alles in Ordnung wäre.

»Mir geht es gut. Ich denke«, erwiderte er. »Dieser Raum könnte dadurch entstanden sein, daß der Gletscher über eine querliegende Böschung geflossen ist. So könnte er bis nach draußen führen.«

Aber dem war nicht so. Hundert Meter weiter schloß sich das Eis auf der linken Seite und traf die steinige Seite rechts. Eine Sackgasse.

Auf dem Rückweg ging er langsamer und hielt an, um Risse im Eis zu untersuchen und Felsenstücke unter den Füßen, die vielleicht von der Böschung losgerissen waren. In einer Spalte wurde das Kobalt des Eises blaugrün. Als er mit einem Finger im Handschuh hineinlangte, zog er eine lange dunkelgrüne Masse heraus, die an der Oberfläche gefroren, aber darunter weich war. Es war eine lange dendritische Masse blaugrüner Algen.

Er sagte: »Oho!«, pflückte einige gefrorene Strähnen ab und schob den Rest wieder an seine Stelle. Er hatte gelesen, daß Algen sich in das Gestein und Eis des Planeten einbohrten und Bakterien noch tiefer gingen. Aber einige hier unten wirklich eingegraben zu finden, so weit entfernt von der Sonne, genügte, um einen in Erstaunen zu versetzen. Er schaltete seine Stirnlampe wieder aus, und das helle Kobaltblau des eisigen Lichtes leuchtete um ihn herum, sanft und üppig. So dunkel und so kalt — wie konnte hier ein Lebewesen existieren? Wie schaffte es das?

»Stephen?«

»Ich komme«, sagte er zu Phyllis und kehrte wieder an ihre Seite zurück. »Schau, die ganze Strecke da unten sind blaugrüne Algen.«

Er hielt es hin, damit sie es ansehen könnte, aber sie verwandte darauf nur den knappsten Blick. Er setzte sich hin, holte aus seiner Schenkeltasche einen Probebeutel und tat eine kleine Algensträhne hinein. Dann schaute er sie mit seiner zwanzigfachen Vergrößerungslinse an. Diese war nicht stark genug, um alles zu zeigen, was er sehen wollte; aber sie ließ die langen Fasern von dendritischem Grün erkennen, die schleimig wirkten, als sie auftauten. Sein Lesegerät enthielt Kataloge mit Fotos bei ähnlicher Vergrößerung; aber er konnte nicht die Spezies finden, die dieser in jedem Detail ähnelte. »Es könnte noch nicht erfaßt sein«, sagte er. »Wäre das nicht etwas? Man muß sich wirklich fragen, ob die Mutationsrate hier höher ist als der Standard. Wir sollten Experimente anstellen, um das zu bestimmen.«

Phyllis antwortete nicht.

Sax behielt seine Gedanken für sich, während er weiter in den Katalogen suchte. Er war noch dabei, als sie in ihrem Radio rauhes Quäken und Zischen hörten. Phyllis rief auf der allgemeinen Frequenz. Bald konnten sie in der Interkom Stimmen vernehmen, und nicht lange danach füllte ein runder Helm das Loch über ihnen. »Hier sind wir!« rief Phyllis.

»Wartet eine Sekunde!« rief Berkina. »Wir bringen eine Strickleiter für euch.«

Und nach einer unbequemen schaukelnden Kletterei waren sie wieder auf der Oberfläche des Gletschers, blinzelten in dem staubigen wechselnden Tageslicht und duckten sich gegen die Böen, die immer noch ziemlich stark waren. Phyllis lachte und erklärte in ihrer üblichen Art, was geschehen war. »Wir hielten uns an den Händen, um uns nicht zu verlieren, und — rums! — ging es nach unten!« Ihre Retter beschrieben die brutale Gewalt der stärksten Windstöße. Alles schien wieder normal zu sein. Aber als sie in die Station kamen und die Helme abnahmen, warf Phyllis Sax einen kurzen forschenden Blick zu, der wirklich sehr sonderbar war, als ob er ihr etwas enthüllt hätte, das sie wachsam machte, als ob er sie da unten in der Spalte an etwas erinnert hätte. Als ob er sich auf eine Weise verhalten hätte, die ihn ohne Widerrede als ihren alten Kameraden Saxifrage Russell verriet.

Während des nördlichen Herbstes arbeiteten sie rund um den Gletscher und sahen die Tage kürzer und die Winde kälter werden. Jede Nacht wuchsen auf dem Gletscher große komplizierte Eisblumen und schmolzen erst am frühen Nachmittag kurz, wonach sie sich verhärteten und als Basis für noch kompliziertere Blätter dienten, die am nächsten Morgen erschienen. Die kleinen scharfen Kristallflocken brachen nach allen Richtungen von den größeren Flächen und Zacken darunter ab. Sie konnten nicht vermeiden, mit jedem Schritt ganze fraktale Welten zu zerdrücken, wenn sie über das Eis stampften und nach den jetzt von Reif bedeckten Pflanzen Ausschau hielten, um zu sehen, wie sie mit der kommenden Kälte zurechtkamen. Wenn Sax über die unebene weiße Wüste blickte und fühlte, wie der Wind durch einen der dickeren isolierten Schutzanzüge biß, schien es ihm, als ob ein Sterben großen Ausmaßes im Winter unausweichlich wäre.

Aber der Augenschein täuschte. Natürlich könnte es ein winterliches Sterben geben. Aber die Pflanzen wurden härter, wie die überwinternden Gärtner es nannten. Sie akklimatisierten sich an den kommenden Winter. Wie Sax erfuhr, was das ein dreistufiger Prozeß, als er in dem dünnen, hart gepackten Schnee nach den Zeichen suchte. Zuerst spürten phytochrome Uhren in den Blättern die kürzeren Tage — und die wurden jetzt rasch kürzer mit dunklen Wetterfronten, die etwa jede Woche durchzogen und schmutzigweißen Schnee aus schwarzen, bauchigen Cumulunimbuswolken abluden. In der zweiten Stufe hörte das Wachstum auf, Kohlenhydrate wanderten in die Wurzeln, und abschneidende Säure sammelte sich in einigen Blättern, bis diese abfielen. Sax fand Mengen von diesen Blättern, die vergilbt oder braun noch an ihren Stengeln hingen, den Boden bedeckten und der noch lebenden Pflanze mehr Isolation boten. Während dieser Stufe bewegte sich Wasser aus den Zellen in interzellulare Eiskristalle, und die Zellmembranen wurden dicker, während Zuckermoleküle in einigen Proteinen Wasser ersetzten. Dann, in der dritten und kältesten Stufe, bildete sich glattes Eis um die Zellen herum, ohne sie zu zerbrechen, in einem Prozeß, den man als Vitrifikation (Verglasung) bezeichnete.

An dieser Stelle konnten die Pflanzen Temperaturen bis hinab zu 220 Kelvin vertragen, was ungefähr die durchschnittliche Temperatur auf dem Mars vor ihrer Ankunft gewesen war, aber jetzt auch noch oft erreicht wurde. Und der Schnee, der in den immer häufiger werdenden Stürmen fiel, diente den Pflanzen praktisch zur Isolation, indem er den Boden, auf dem er lag, wärmer hielt als die windige Oberfläche.

Während Sax mit taub gewordenen Fingern in dem Schnee wühlte, fand er das Milieu darunter faszinierend, besonders die Anpassungen an das spektral blau gefilterte Licht, das durch drei Meter Schnee drang — wieder ein Beispiel für Rayleighstreuung. Er hätte diese Winterwelt gern alle sechs Monate der Saison selbst studiert. Es gefiel ihm unter den niedrigen dunklen Wolkenwellen auf der weißen Fläche des beschneiten Gletschers, wenn er sich gegen den Wind stemmte und durch Driften stapfte. Aber Claire wollte, daß er nach Burroughs zurückkehrte und in den dortigen Labors an einer Tundra-Tamariske arbeitete, mit der sie unter simulierten Freiland-Bedingungen kurz vor dem Erfolg standen. Und Phyllis und der Rest der Gruppe von Armscor und der Übergangsbehörde gingen auch zurück. So überließen sie eines Tages die Station einer kleinen Mannschaft von Forschern und Gärtnern, bestiegen eine Wagenkarawane und fuhren zusammen nach Süden.

Sax hatte gemurrt, als er hörte, daß Phyllis und ihre Gruppe mit ihnen zurückkehren würden. Er hatte gehofft, daß bloße physische Trennung die Beziehung mit Phyllis beenden und ihn von diesem kontrollierenden Auge entfernen würde. Da sie aber beide gemeinsam zurückgingen, sah es so aus, als sollte irgendeine Maßnahme ergriffen werden. Er müßte also Schluß machen, wenn er ein Ende wollte. Und das tat er auch. Die ganze Idee eines Verhältnisses mit ihr war von Anfang an schlecht gewesen. Reden über die Flut des Unerklärlichen! Aber die Flut war vorbei, und ihm blieb die Gesellschaft einer Person, die bestenfalls aufreizend war und schlimmstenfalls gefährlich. Und natürlich war es kein angenehmer Gedanke, daß er die ganze Zeit in falscher Überzeugung gehandelt hatte. Kein Schritt auf dem Weg war ihm mehr als nur unbedeutend erschienen, aber alle zusammen ergaben etwas ziemlich Monströses.

Als daher an ihrem ersten Abend in Burroughs sein Armband piepte und Phyllis erschien, um ihn zum Dinner herauszubitten, sagte er zu, beendete den Anruf und knurrte mürrisch vor sich hin. Es würde ungemütlich werden.

Sie gingen aus in ein Patiorestaurant, das Phyllis auf dem Ellis-Hügel kannte, westlich von Hunt Mesa. Auf Phyllis’ Wunsch hin erhielten sie einen Ecktisch mit Blick auf den hohen Distrikt zwischen Ellis und Table Mountain, wo die Haine von Princess Park von neuen Häusern umgeben waren. Gegenüber dem Park hatte Table Mountain so gläserne Wände, daß er wie ein riesiges Hotel aussah. Und die entfernteren Mesas waren nicht weniger glänzend.

Kellner und Kellnerinnen brachten eine Karaffe mit Wein und das Essen. Dadurch wurde das Geplapper von Phyllis unterbrochen, in dem es zumeist über die Neukonstruktion auf Tharsis ging. Sie schien aber sehr gern mit den Kellnern und Kellnerinnen zu plaudern.

Sie signierte Servietten für sie und fragte, woher sie kämen, wie lange sie schon auf dem Mars wären und so weiter. Sax aß ruhig und beobachtete Phyllis sowie Burroughs. Er wartete darauf, daß das Mahl ein Ende nehmen würde. Es schien stundenlang zu dauern.

Aber endlich waren sie fertig und fuhren mit dem Aufzug zum Talboden hinunter. Der Aufzug brachte Erinnerungen an ihre erste gemeinsame Nacht zurück, was Sax wirklich unangenehm war. Vielleicht fühlte Phyllis ähnlich, denn sie rückte in die andere Seite der Kabine, und die lange Fahrt nach unten verging in Schweigen.

Und dann auf dem Rasen des Boulevards küßte sie ihn flüchtig auf die Wange, drückte ihn kurz fest an sich und sagte: »Stephen, es war ein schöner Abend und auch eine schöne Zeit draußen in Arena. Ich werde nie unser kleines Abenteuer unter dem Gletscher vergessen. Aber jetzt muß ich wieder zurück nach Sheffield und mich mit allem beschäftigen, das sich da anhäuft, weißt du. Ich hoffe, du wirst mich besuchen kommen, wenn du einmal da oben bist.«

Sax bemühte sich, seine Miene zu beherrschen, und suchte sich vorzustellen, wie Stephen fühlen und was er sagen würde. Phyllis war eine eitle Frau, und es war möglich, daß sie die ganze Affäre schneller vergessen würde, wenn sie es vermied, an die Verletzung zu denken, die sie jemandem zugefügt hatte, indem sie ihn hatte fallenlassen, anstatt darüber zu grübeln, warum er so erleichtert gewirkt hatte. Also versuchte Sax, die Stimme der Minderheit in seinem Innern zu lokalisieren, die über eine solche Behandlung gekränkt war. Er spannte seine Mundwinkel und schaute zur Seite. Er sagte bloß: »Ah!«

Phyllis lachte wie ein Mädchen und nahm ihn zärtlich in die Arme. Sie mahnte ihn: »Mach schon! Es hat doch Spaß gemacht, nicht wahr? Und wir werden uns wiedersehen, wenn ich Burroughs besuche oder du einmal nach Sheffield kommst. Inzwischen — was können wir sonst tun? Sei nicht traurig!«

Sax zuckte die Achseln. Das war so einleuchtend, daß man sich kaum vorstellen konnte, daß niemand außer dem hartgesottensten Liebhaber etwas dagegen haben würde; und er hatte nie vorgegeben, ein solcher zu sein. Schließlich waren sie doch beide über hundert. »Ich weiß«, sagte er mit einem nervösen reuigen Lächeln. »Ich bin nur traurig, daß die Zeit gekommen ist.«

»Ich weiß.« Sie küßte ihn noch einmal. »Ich auch. Aber wir werden uns wieder begegnen, und dann werden wir sehen.«

Er nickte und schaute wieder nach unten. Wieder wurden ihm die Schwierigkeiten bewußt, mit denen Schauspieler konfrontiert werden. Was sollte man tun?

Aber mit einem schnellen Lebewohl war sie weg. Sax sagte den Abschied mit einem raschen Blick über die Schulter.


Er ging über den Großen Böschungsboulevard auf Hunt Mesa zu. Das wär’s also gewesen. Gewiß leichter, als er erwartet hatte. Tatsächlich sogar höchst bequem. Aber ein Teil von ihm war immer noch beunruhigt. Er blickte auf sein Spiegelbild in den Schaufenstern, an denen er in den unteren Stockwerken von Hunt vorbeikam. Ein schlampiger alter Kauz? Hübsch? Nun, was immer das bedeutete. Hübsch für manche Frauen, manchmal. Von einer aufgegriffen und einige Wochen als Bettpartner benutzt, dann beiseite gestoßen, wenn es Zeit war, weiterzuziehen. Wahrscheinlich war das im Laufe der Jahre so vielen passiert, ohne Zweifel öfters Frauen als Männern in Anbetracht der Ungleichheit von Kultur und Fortpflanzung. Aber jetzt, wo Fortpflanzung nicht mehr in Frage kam, und die Kultur in Scherben lag… Sie war wirklich ziemlich schrecklich. Aber hinwiederum hatte er kein Recht, sich zu beklagen. Er hatte ihr bedingungslos zugestimmt und sie von Anfang an belogen, nicht nur über seine Identität, sondern auch über seine Gefühle. Und jetzt war er frei davon und von allem, was damit zu tun hatte. Und von allem, das es bedrohte.

Er fühlte eine Art Stimmungsaufschwung durch Stickoxydul und ging über die große Treppe in der Vorhalle von Hunt zu seiner Etage und in sein kleines Apartment.


Spät in diesem Winter, während ein paar Wochen im Februar, fand in Burroughs die alljährliche Konferenz über das Terraformungsprojekt statt. Es war die zehnte derartige Konferenz, von den Veranstaltern als ›M-38‹ bezeichnet, und es ging über neue Ergebnisse und neue Richtlinien. Es würden Wissenschaftler vom ganzen Mars teilnehmen, insgesamt fast dreitausend Personen. Die Zusammenkünfte fanden in dem großen Konferenzzentrum in Table Mountain statt, während die teilnehmenden Forscher in Hotels der ganzen Stadt wohnten.

Jedermann in Biotique Burroughs ging zu den Versammlungen. Wer Experimente laufen hatte, um die er sich kümmern mußte, lief zwischendurch nach Hunt Mesa. Sax war verständlicherweise an jedem Aspekt der Konferenz höchst interessiert und ging an ihrem ersten Morgen zu Canal Park, kaufte sich Kaffee und Gebäck und ging dann zum Konferenzzentrum hinauf, wo er fast der erste am Tisch für die Einschreibung war. Er empfing sein Päckchen an Programm information, steckte sich sein Namensschild an die Jacke und ging durch die Gänge außerhalb der Konferenzräume, nippte an seinem Kaffee, las das Programm dieses Morgens und schaute auf die an bestimmten Stellen der Gänge angeschlagenen Poster.

Hier, und zum ersten Mal seit mehr Jahren, als an die er sich erinnern konnte, fühlte Sax sich bestens in seinem Element. Wissenschaftliche Konferenzen waren zu allen Zeiten und an allen Orten immer gleich, sogar bis hin zu der Weise, wie sich die Leute anzogen. Die Männer in konservativen, etwas schäbigen professoralen Jacken, alle in braun getönten Farben, und die Frauen, vielleicht dreißig Prozent von allen, in ungewöhnlich monotonen und strengen Businesskostümen. Viele Leute trugen noch Brillen, obwohl es kaum noch ein Sehproblem gab, das nicht chirurgisch behoben werden konnte. Die meisten hatten ihre Programmpäckchen bei sich, und alle hatten ihr Namensschild auf dem Revers. In den verdunkelten Konferenzräumen kam Sax an Vorträgen und Diskussionen vorbei, die gerade anfingen; und auch hier war alles so wie immer. Redner standen vor Videoschirmen, die ihre Graphiken, Tabellen, Molekularstrukturen und so weiter zeigten. Sie sprachen in gestelzten Kadenzen, die zeitlich auf den Rhythmus ihrer Bilder abgestimmt waren, und benutzten einen Zeigestock, um auf die wichtigen Teile überfüllter Diagramme hinzuweisen … Die Zuhörer, bestehend aus den dreißig oder vierzig Kollegen, die am meisten an der dargestellten Arbeit interessiert waren, saßen in Stuhlreihen nahe bei ihren Freunden, lauschten aufmerksam und bereiteten Fragen vor, die sie nach Ende der Darbietung stellen wollten.

Für Menschen, die diese Welt liebten, war das ein sehr erfreulicher Anblick. Sax steckte den Kopf in mehrere Räume, aber keine der Ausführungen interessierte ihn so, daß er teilnehmen wollte. Bald befand er sich in einem Flur voller Poster und schnupperte weiter.

›Auflösung polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe in monomeren und gemischten surfaktanten Medien. ‹ ›Senkung nach dem Pumpen in der südlichen Vastitas Borealis.‹ ›Epithelischer Widerstand gegen gerontologische Behandlung im dritten Stadium. ‹ ›Auftreten radialer gebrochener Wasserlager in den Rinnen von Aufprallbecken.‹ ›Schwachstrom-Elektroporation langer Vektorplasmide. ‹ ›Katabatische Winde in Echus Chasma.‹ ›Basisgenom für neue Kaktusarten.‹ ›Wiederherstellung der Oberflächen von Marsgebirgen in der Region von Amenthes und Tyrrhena.‹ › Ablagerung der Natriumnitratschichten von Nilosyrtis.‹

›Ein Verfahren zur Bestimmung beruflicher Exposition durch Chlorophenate mittels Analyse kontaminierterArbeitskleidung. ‹

Wie immer boten die Poster ein entzückendes Sammelsurium. Aus verschiedenen Gründen gab es mehr Poster als Vorträge — oft die Arbeit graduierter Studenten an der Universität in Sabishii oder über Themen am Rande der Konferenz. Aber es gab da alles und war immer sehr interessant zu schmökern. Und es hatte bei dieser Konferenz keinen ernsten Versuch gegeben, die Poster in den Gängen thematisch zu ordnen, so daß ›Verteilung von Rhizocarpon geographicum in den Ostcharitumbergen‹, was das Schicksal einer Krustenflechte in großen Höhen behandelte, die bis zu viertausend Jahren leben konnte, sich gegenüber einer ziemlich wichtigen meteorologischen Studie befand über ›Entstehung von Graupelschnee in Salzpartikeln, die in Cirrus-, Altostratus- und Altocumuluswolken in zyklonalen Wirbeln in Nordtharsis gefunden wurden‹.

Sax interessiere sich für alles, aber am längsten beschäftigten ihn die Poster, welche Aspekte des Terraformens beschrieben, die er initiiert hatte oder bei denen seine Hand im Spiel gewesen war. Eines davon, Abschätzung der kumulativen Wärme, die von den Underhill-Windmühlen freigesetzt wird‹, hielt ihn auf. Er las es zweimal durch und empfand dabei eine leichte Entmutigung.

Die mittlere Temperatur der Marsoberfläche hatte vor ihrer Ankunft etwa 220 K betragen; und es war ein allgemein angenommenes Ziel, sie auf etwas über den Gefrierpunkt des Wassers zu heben, der bei 273 K liegt.

Die Steigerung der Oberflächentemperatur eines ganzen Planeten um mehr als 53 K war eine sehr beängstigende Unternehmung, die, wie Sax ausgerechnet hatte, langfristige Zuführung von nicht weniger als 3,5 x 106 Joule pro Quadratzentimeter der Marsoberfläche erforderte. Sax hatte bei seinen Modellen immer einen Mittelwert von ungefähr 274 K angestrebt, weil damit der Planet warm genug sein würde, um einen großen Teil des Jahres eine aktive Hydrosphäre zu haben und damit eine Biosphäre. Viele Leute befürworteten eine noch stärkere Erwärmung, aber Sax sah das Bedürfnis dafür nicht ein.

Auf jeden Fall wurden alle Verfahren, dem System Wärme zuzuführen, danach beurteilt, wie stark sie die globale mittlere Temperatur gesteigert hatten. Und dieses Poster, das die Wirkung von Saxens kleinen Windmühlenerhitzern prüfte, schätzte, daß diese während mehr als sieben Jahrzehnten nicht mehr als 0,05 K beigetragen hätten. Und er konnte nichts Falsches in den verschiedenen Annahmen und Berechnungen des Posters finden. Natürlich war Erwärmung nicht der einzige Grund gewesen, weshalb er die Windmühlen verteilt hatte. Er hatte auch Wärme und Schutz für einen früh manipulierten Kryptoendolithen schaffen wollen, den er auf der Oberfläche testen wollte. Aber alle diese Organismen waren kurz nach ihrer Freisetzung gestorben oder bald danach. Somit konnte man das Projekt nicht gerade zu seinen besseren Bemühungen zählen.

Er ging weiter. ›Anwendung von chemischen niveaumanipulierten Daten bei hydrochemischem Modellieren: Dao Vallis Watershed Hellas.‹ ›Erhöhung von CO2-Toleranz bei Bienen. ‹ ›Epilimnetische Säuberung von Comptonausfall in den glazialen Seen von Marineris.‹ Beseitigung von Grus aus Reaktionsspurschienen. ‹ ›Globale Erwärmung als Folge freigesetzter Karbone.‹

Dies ließ ihn wieder innehalten. Das Poster war die Arbeit des Atmosphärenchemikers S. Simmon und einiger seiner Studenten. Seine Lektüre bewirkte, daß Sax sich erheblich besser fühlte. Als er 2042 zum Chef des Terraformungsprojekts gemacht wurde, hatte er sofort den Bau von Fabriken zur Produktion und Freisetzung in die Atmosphäre von einer besonderen Gewächshausgasmischung veranlaßt, die hauptsächlich aus Karbontetrafluorid, Hexafluoräthan und Schwefelhexafluorid bestand, neben etwas Methan und Stickoxid. Das Poster bezeichnete dieses Gemisch als ›russischenCocktail‹, wie sein Echus-Overlook-Team es in den alten Tagen genannt hatte. Die Halokarbone darin waren starke Gewächshausgase; und das Beste an ihnen war, daß sie nach außen gehende planetare Strahlung im Bereich von acht bis zwölf Mikron absorbierten, in dem sogenannten ›Fenster‹, wo weder Wasserdampf noch Kohlendioxid viel absorbierende Kraft besaßen. Dieses Fenster hatte, wenn es offen war, phantastische Wärmemengen wieder in den Weltraum entweichen lassen; und Sax hatte schon früh den Versuch befürwortet, es zu schließen, indem er genug von dem Cocktail freiließ, daß er zehn oder zwanzig Teile pro Million der Atmosphäre ausmachen würde, gemäß dem alten klassischen Modell von McKay et al. Darum wurden von 2042 an große Anstrengungen unternommen, automatisierte Produktionsstätten für Kohlenstoff, Schwefel und Fluorit zu errichten, deren Ertrag in die Atmosphäre entlassen wurde. Die hinausgepumpten Mengen waren jedes Jahr gesteigert worden, auch nachdem die zwanzig Teile pro Million erreicht waren, weil man diese Proportion in der immer dichter werdenden Atmosphäre beibehalten wollte und auch weil man die ständige Zerstörung von Halokarbonen durch UV-Strahlung ausgleichen mußte.

Und wie die Tabellen in dem Simmon-Poster verdeutlichten, hatten die Fabriken über 2061 und in den folgenden Dekaden weiter gearbeitet. Sie hielten das Niveau bei etwa sechsundzwanzig Teilen pro Million. Das Poster folgerte, daß diese Einleitung die Atmosphäre um rund 12 K erwärmt hätte.

Sax ging weiter mit einem kleinen Lächeln im Gesicht. Zwölf Grad! Nun, das war etwas — mehr als zwanzig Prozent der ganzen Wärme, die sie brauchten. Und das alles durch die frühe und ständige Freisetzung eines hübsch konzentrierten Gascocktails. Das war wirklich elegant. Einfache Physik hatte etwas so Tröstliches an sich …


Aber inzwischen war es zehn Uhr, und H. X. Borazjani, einer der besten Atmosphärenphysiker auf dem Mars, begann eine grundsätzliche Rede über die globale Erwärmung. Offenbar hatte er vor, seine Berechnungen über die Beiträge aller Versuche zur Erwärmung kundzutun, die bis 2100 gemacht worden waren, dem Jahr, ehe die Soletta in Tätigkeit getreten war. Nach der Beurteilung individueller Beiträge versuchte er herauszubekommen, ob irgendwelche synergistische Effekte abliefen. Sein Vortrag war darum einer der entscheidenden Beiträge zur Konferenz, da die Arbeit so vieler anderer Leute darin erwähnt und beurteilt werden würde.

Der Vortrag fand in einem der größten Konferenzräume statt, und der Saal war bei dieser Gelegenheit mit einigen tausend Personen dicht besetzt. Sax schlüpfte gerade zu Beginn hinein und stand im Hintergrund hinter der letzten Sitzreihe.

Borazjani war ein kleiner Mann mit dunkler Haut und weißem Haar, der mit einem Zeigestock vor einem großen Schirm sprach, der jetzt Videobilder der verschiedenen Erwärmungsmethoden zeigte, die man versucht hatte. Schwarzer Staub und Flechten an den Polen, die orbitalen Spiegel, die vom Erdmond herübergesegelt waren, die Moholes, die Fabriken für Gewächshausgase, die Eisasteroiden, welche in der Atmosphäre verbrannten, die denitrifizierenden Bakterien und alle übrigen Biota.

Sax hatte in den 2040er und 50er Jahren jeden einzelnen dieser Prozesse initiiert und betrachtete das Video mit noch mehr Interesse als das übrige Auditorium. Die einzige naheliegende Strategie zur Erwärmung, die er in den frühen Jahren vermieden hatte, war die massive Freisetzung von Kohlendioxid in die Atmosphäre. Deren Befürworter hatten einen wilden Gewächshauseffekt auslösen und eine CO2-Atmosphäre bis hin zu 2 Bar schaffen wollen mit dem Argument, daß dadurch der Planet mächtig aufgeheizt werden und UV-Strahlung abgehalten und ein rasantes Pflanzenwachstum die Folge sein würde. Das war ohne Zweifel alles wahr, aber für Menschen und andere Tiere würde es giftig sein; und obwohl Befürworter des Planes von einer zweiten Phase sprachen, die das Kohlendioxid aus der Atmosphäre hinausfegen und durch ein atembares Gas ersetzen würde, waren ihre Methoden ebenso vage wie ihre Zeitskalen, die von einhundert bis zu zwanzigtausend Jahren schwankten. Und der Himmel würde während dieser ganzen Zeit milchweiß sein.

Sax hielt das nicht für eine elegante Lösung des Problems. Er bevorzugte sein Einphasenmodell, das direkt auf das letzte Ziel hinstrebte. Es bedeutete, daß sie etwas knapp an Wärme gewesen waren; aber Sax hielt diesen Nachteil der Mühe für wert. Und er hatte sein Bestes getan, um Ersatz für die Wärme zu finden, die das Kohlendioxid zusätzlich erbracht haben würde, wie zum Beispiel die Moholes. Leider lag Borazjanis Abschätzung der von den Moholes gelieferten Wärme recht niedrig. Sie hatten alles in allem vielleicht 5 K zur mittleren Temperatur beigetragen. Nun, da konnte man nichts machen, dachte Sax, als er in seinen Computer Notizen eingab. Die einzige gute Wärmequelle war die Sonne. Darum seine aggressive Einführung der orbitalen Sonnenspiegel, die jährlich wuchsen, indem Sonnensegler von Luna kamen, wo ein sehr leistungsfähiger Produktionsprozeß sie aus lunarem Aluminium herstellte. Diese Flotten waren, wie Borazjani sagte, so groß geworden, daß sie inzwischen mehr als 8 K zur mittleren Temperatur beitrugen.

Die reduzierte Albedo, eine Bemühung, die nie sehr streng verfolgt worden war, hatte etwas mehr als 2 Grad hinzugefügt. Die etwa zweihundert Kernreaktoren rings um den Planeten hatten weitere 1,5 Grad geliefert.

Dann kam Borazjani auf den Cocktail aus Gewächshausgasen zu sprechen. Aber anstatt die Zahl von 12 K aus Simmons Poster zu benutzen, schätzte er sie auf 14 K und zitierte einen zwanzig Jahre alten Aufsatz von J. Watkins, der diese Annahme stützte. Sax hatte Berkina in der Reihe hinter ihm sitzen sehen. Jetzt rutschte er hinüber und beugte sich nach unten, bis sein Mund an Berkinas Ohr lag. Er flüsterte: »Warum benutzt er die Arbeit von Simmon?«

Berkina grinste und flüsterte zurück: »Vor ein paar Jahren hat Simmon einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er einen sehr komplexen Wert für die Wechselwirkung von UV mit Halokarbonen von Borazjani angenommen hatte. Er hat ihn leicht verändert und das jenes erste Mal Borazjani zugeschrieben. Aber als er ihn später benutzte, hat er nur seinen eigenen Artikel zitiert. Das machte Borazjani wütend, und er denkt, daß Simmons Aufsätze über dieses Thema ohnehin von Watkins abgeleitet sind. Also geht er immer, wenn er über Erwärmung spricht, auf Watkins’ Werk zurück und tut so, als ob es das Zeug von Simmon überhaupt nicht gäbe.«

»Ah!« sagte Sax. Er richtete sich auf und lächelte wider Willen über Borazjanis subtile, aber vielsagende Rache. Und Simmon saß mit einem mürrischen Gesicht im Auditorium.

Inzwischen war Borazjani zu den erwärmenden Wirkungen von Wasserdampf und Kohlendioxid übergegangen, welche in die Atmosphäre freigesetzt wurden. Er schätzte, daß das insgesamt weitere 10 K beitrüge. Er sagte: »Einen Teil davon könnte man als synergistischen Effekt bezeichnen, da die Desorption von CO2 hauptsächlich durch andere Erwärmung zustande kommt. Aber ich glaube nicht, daß wir anderweitig Synergie als einen nennenswerten Faktor bezeichnen können. Die Summe der von allen einzelnen Verfahren erzielten Erwärmung paßt sehr gut zu den Temperaturen, die ringsum vom Planeten gemeldet werden.«

Der Videoschirm zeigte seine letzte Tabelle, und Sax machte sich eine vereinfachte Notiz davon:

Von Borazjani am 14. Februar 2102:

Halokarbone: 14

H2O und CO2: 10

Moholes: 5

Vor-Soletta-Spiegel: 5

Reduzierte Albedo: 2

Kernreaktoren: 1,5

Borazjani hatte die Windmühlenerhitzer nicht einmal berücksichtigt. Sax tat es in seiner Notiz. Alles in allem kam er auf 37,55 K, ein sehr respektabler Schritt, wie er meinte, auf ihr Ziel einer Zunahme um 53 K zu. Sie arbeiteten erst seit sechzig Jahren daran; und schon erreichten die meisten Sommertage Temperaturen über dem Gefrierpunkt, so daß arktisches und alpines Pflanzenleben gedieh, wie er es im Gebiet des Arenagletschers gesehen hatte. Und das alles noch vor Einführung der Soletta, welche die Sonneneinstrahlung um zwanzig Prozent steigerte.

Inzwischen hatte die Frageperiode begonnen, und jemand kam auf die Soletta zu sprechen. Er fragte Borazjani, ob sie notwendig wäre, da der Prozeß ja auch mit anderen Methoden zu schaffen wäre.

Borazjani zuckte die Achseln genau so, wie Sax es getan hätte. Er entgegnete: »Was heißt notwendig? Das hängt davon ab, wie warm man es haben will. Nach dem von Russell in Echus Overlook aufgestellten Standardmodell ist es wichtig, die Kohlendioxidniveaus so niedrig wie möglich zu halten. Wenn wir das tun, müssen andere Verfahren eingesetzt werden, um den Verlust an Wärme auszugleichen, den das CO2 erbracht hätte. Man könnte sich die Soletta denken als einen Ausgleich für die endliche Reduktion von Kohlendioxid auf atembare Niveaus.«

Sax nickte widerwillig.

Dann stand jemand auf und sagte: »Meinen Sie nicht, daß das Standardmodell inadäquat ist angesichts der Menge an Stickstoff, von der wir jetzt wissen, daß wir sie haben?«

»Nicht, wenn der ganze Stickstoff in die Atmosphäre gebracht wird.«

Aber das war schwerlich zu schaffen, wie der Fragende rasch darlegte. Ein erheblicher Prozentsatz vom Ganzen würde im Boden bleiben und würde dort auch wirklich für Pflanzen gebraucht. Also bestand ein Mangel an Stickstoff, wie Sax immer gewußt hatte. Und wenn sie den prozentualen Anteil an Kohlendioxid in der Luft so niedrig wie überhaupt möglich hielten, wäre der Anteil von Sauerstoff in der Luft gefährlich hoch wegen seiner Feuergefährlichkeit. Jemand stand auf und sagte, es wäre möglich, den Mangel an Stickstoff durch Einführung anderer träger Gase, hauptsächlich Argon, auszugleichen. Sax spitzte den Mund. Er hatte seit 2042 Argon in die Atmosphäre eingeführt, da er dies Problem hatte kommen sehen; und es gab auch erhebliche Mengen von Argon im Regolith. Aber die waren nicht leicht freizusetzen, wie seine Ingenieure herausgefunden hatten und andere Leute jetzt betonten. Nein, die Balance von Gasen in der Atmosphäre entwickelte sich zu einem echten Problem.

Eine Frau stand auf und bemerkte, daß ein von Armscor geleitetes Konsortium Transnationaler ein ständiges Shuttlesystem errichtete, um Stickstoff aus der fast reinen Stickstoffatmosphäre von Titan zu gewinnen, ihn zu verflüssigen, zum Mars zu fliegen und in der oberen Atmosphäre zu verklappen. Sax zwinkerte dazu und stellte einige schnelle Berechnungen auf seinem Computer an. Seine Augenbrauen hoben sich, als er das Ergebnis sah. Es würde eine sehr große Anzahl von Shuttleflügen erfordern oder aber extrem große Shuttles. Es war bemerkenswert, daß jemand die Investierung für lohnend gehalten hatte.

Jetzt diskutierten sie wieder über die Soletta. Sie hatte sicher die Fähigkeit, die 5 oder 8 K wettzumachen, die verloren gingen, wenn man den jetzigen Betrag an Kohlendioxid aus der Luft entfernte. Wahrscheinlich würde sie noch mehr Wärme liefern. Sax rechnete aus, daß es sogar 22 K sein könnten. Die Reinigung würde nicht einfach sein, wie jemand ausführte. Ein nahe bei Sax stehender Mann aus einem Subarashii-Labor erhob sich, um zu verkünden, daß später in der Konferenz ein Demonstrationsgespräch über die Soletta und die Luftlinse stattfinden würde, wo einige dieser Punkte großenteils geklärt werden sollten. Ehe er sich wieder setzte, fügte er hinzu, daß etliche Fehler im Einphasenmodell die Schaffung eines Zweiphasenmodells als fast geboten erscheinen ließen.

Die Leute rollten dabei die Augen, und Borazjani erklärte, daß die nächste Zusammenkunft im Raum anfangen müsse. Niemand hatte zu diesem geschickten Modell Bemerkungen gemacht, das alle Beiträge zu den verschiedenen Wärmemethoden so plausibel aussortiert hatte. Aber in gewisser Weise war das ein Zeichen von Respekt. Niemand hatte das Modell in Frage gestellt. Borazjanis Überlegenheit auf diesem Gebiet galt als sicher. Jetzt standen die Leute auf, und einige gingen hin, um mit ihm zu sprechen, und tausend Gespräche brachen aus, als sich der Rest der Teilnehmer aus dem Raum ergoß und sich in die Gänge verteilte.


Sax ging mit Berkina zum Essen in einem Cafe am Fuße der Branch Mesa. Um sie herum aßen Wissenschaftler aus allen Gegenden des Mars und sprachen über die Ereignisse des Morgens. »Wie nehmen an, es ist ein Teil pro Milliarde.«

»Nein, Sulfate verhalten sich konservativ.« Es klang so, als ob die Leute am Nachbartisch annahmen, es würde ein Übergang zum Zweiphasenmodell stattfinden. Eine Frau sagte etwas über die Erhöhung der mittleren Temperatur auf 295 K, sieben Grad höher als der Durchschnitt auf der Erde.

Sax verdrehte die Augen bei all diesen Eindrücken von Eile oder Gier nach Wärme. Er sah keinen Grund, über den Fortschritt enttäuscht zu sein, der bisher erreicht wurde. Das letzte Ziel des Projekts war schließlich nicht einfach Wärme, sondern eine annehmbare Oberfläche. Die bisherigen Resultate schienen keinen Grund zur Klage zu geben. Die Atmosphäre hatte jetzt durchschnittlich 160 Millibar als Normalwert und bestand etwa zu gleichen Teilen aus Kohlendioxid, Sauerstoff und Stickstoff, mit Spuren von Argon und anderen Gasen. Das war nicht die Mischung, welche Sax am Ende sehen wollte. Aber sie war das Beste, das sie dem Fundus an flüchtigen Stoffen für den Anfang zu geben vermochten. Es stellte einen substantiellen Schritt auf dem Weg zu der endgültigen Mischung dar, die Sax beabsichtigte. Sein Rezept für diese Mischung war nach der frühen Formulierung von Fogg:

300 Millibar Stickstoff

160 Millibar Sauerstoff

30 Millibar Argon, Helium etc.

10 Millibar Kohlendioxid.

Mithin Gesamtdruck am Normalpunkt: 500 Millibar.

Alle diese Beträge waren durch physikalische Erfordernisse und Beschränkungen verschiedener Art festgelegt worden. Der Gesamtdruck mußte hoch genug sein, um Sauerstoff ins Blut zu drücken; und 500 Millibar erhielt man auf der Erde in Höhen von ungefähr viertausend Metern, nahe der Obergrenze, bei der Menschen ständig leben konnten. Wenn das nun die Obergrenze war, dann wäre es am besten, wenn eine solch dünne Atmosphäre mehr als den irdischen Prozentsatz an Sauerstoff enthielte. Aber es durfte nicht zu viel mehr sein, weil sonst Feuer schwer zu löschen sein würden. Inzwischen mußte der Sauerstoff unter 10 Millibar gehalten werden, da er sonst giftig wäre. Was Stickstoff betraf, je mehr, desto besser. Tatsächlich wären 780 Millibar ideal; aber der gesamte Bestand an Stickstoff auf dem Mars wurde jetzt auf weniger als 400 Millibar geschätzt. Also waren 300 Millibar so viel, wie man vernünftigerweise in die Luft schicken könnte, und vielleicht noch mehr. Mangel an Stickstoff war in der Tat eines der größten Probleme, mit denen die Terraformungsbemühung konfrontiert war. Man brauchte mehr, als man hatte, sowohl in der Luft wie im Boden.

Sax starrte auf seinen Teller und aß schweigend. Er dachte angestrengt über alle diese Faktoren nach. Die Diskussionen des Vormittags hatten ihm Grund zur Frage gegeben, ob er damals 2042 die richtigen Entscheidungen getroffen hatte, ob der Bestand an flüchtigen Stoffen seinen Versuch rechtfertigen würde, direkt in einer einzigen Stufe eine für Menschen erträgliche Oberfläche anzusteuern. Nicht, daß man jetzt sehr viel daran tun könnte. Und wenn er alles bedachte, glaubte er immer noch, daß diese Entscheidungen richtig gewesen waren; shikata ga nai, wirklich, wenn sie noch bei ihren Lebzeiten frei auf der Oberfläche des Mars herumgehen wollten. Selbst wenn ihre Lebensdauer erheblich verlängert sein sollte.

Aber es gab Leute, denen mehr an hohen Temperaturen gelegen zu sein schien als an Atembarkeit. Offenbar waren sie zuversichtlich, den Kohlendioxidpegel erheblich hochjagen zu können und dann das CO2 problemlos zu senken. Sax hatte darüber seine Zweifel. Jede Zweiphasenoperation würde schiefgehen, und zwar so, daß Sax nicht umhin kam sich zu fragen, ob sie nicht bei den Skalen von zwanzigtausend Jahren hängenbleiben würden, die bei den ersten Zweiphasenmodellen vorhergesagt worden waren. Der Gedanke bereitete ihm Kopfschmerzen. Er sah die Notwendigkeit nicht ein. Waren die Menschen wirklich gewillt, es mit einem so langfristigen Problem aufzunehmen? Konnten sie von den neuen gigantischen Techniken, die sich abzeichneten, so beeindruckt sein, daß sie glaubten, alles sei möglich?

»Wie war die Pastrami?« fragte Berkina.

»Die was?«

»Die Pastrami. Das ist die Art von Sandwich, die du gerade gegessen hast, Stephen.«

»Oh, fein, fein. Sie muß fein gewesen sein.«


Die Sitzungen des Nachmittags galten hauptsächlich den Problemen, die durch die Fortschritte in der Bemühung um globale Erwärmung aufgeworfen wurden. Während die Oberflächentemperaturen stiegen und die Biota darunter tiefer in den Regolith einzudringen begannen, schmolz der Permafrost darunter, wie man gehofft hatte. Aber das erwies sich in einigen an Permafrost reichen Gebieten als katastrophal. Eines davon war unglücklicherweise gerade Isidis Planitia.

Ein gut besuchter Vortrag einer Areologin von einem Praxislabor in Burroughs beschrieb die Lage. Isidis war eines der großen alten Einsturzbecken, ungefähr so groß wie Argyre, dessen Nordseite völlig abgetragen war und dessen Südrand jetzt einen Teil der Großen Böschung bildete. Eis unter der Oberfläche war von der Böschung heruntergerutscht und hatte seit Jahrmilliarden im Becken Wasseransammlungen gebildet. Aber jetzt schmolz das Eis nahe der Oberfläche und gefror im Winter wieder. Jetzt bewirkte dieser Zyklus von Frost und Tauen eine Bodenbewegung in noch nie dagewesenem Ausmaß. Sie kam der üblichen Ausdehnung von zwei Größenordnungen, wie man sie von ähnlichen Phänomenen der Erde her kannte, ziemlich nahe. Karste und Dolinen, hundertmal größer als auf der Erde, ergaben große Löcher und Hügel. Über ganz Isidis bedeckten diese riesigen Mißbildungen die Landschaft. Und nach ihrem Vortrag und einer Reihe aufwühlender Dias führte die Areologin eine große Schar interessierter Wissenschaftler an das Südende von Burroughs am Moeris Lacus Mesa vorbei zur Kuppelwand, wo die Nachbarschaft aussah, als wäre sie von einem Erdbeben verwüstet worden. Der Boden war aufgerissen und zeigte eine ansteigende Masse von Eis, die wie ein kahler runder Hügel aussah.

»Das ist ein feines Beispiel für einen Pingo«, sagte die Areologin mit der Miene eines Besitzers. »Die Eismassen sind relativ rein gegenüber der Permafrostmatrix, und sie wirken in der Matrix wie Felsen. Wenn der Permafrost im Winter wieder gefriert, dehnt er sich aus, und alles, was in dieser Expansion festsitzt, wird zur Oberfläche hinaufgedrückt. In der Tundra der Erde gibt es eine Menge Pingos, aber keinen so großen wie diesen.« Sie führte die Gruppe über den zerbrochenen Beton hinauf, der eine ebene Straße gewesen war; und sie blickten von einem Kraterrand aus Gestein auf einen Hügel aus schmutzigweißem Eis. »Wir haben ihn wie eine Beule gestartet. Jetzt schmelzen wir ihn und leiten ihn in die Kanäle.«

»Draußen im Land würde aus so einem bald eine Oase werden«, sagte Sax zu Jessica. »Er würde im Sommer schmelzen und den Boden darunter bewässern. Wir sollten eine Gemeinschaft von Samen, Sporen und Rhizomen entwickeln, die wir draußen im Land auf solche Stellen ausstreuen könnten.«

»Stimmt«, sagte Jessica. »Um aber realistisch zu sein — das Permafrostgelände wird auf jeden Fall unter der Vastitas aufhören.«

»Hmm.«

Die Wahrheit war, daß Sax zeitweilig das Bohren und den Abbau in Vastitas vergessen hatte. Als sie zum Konferenzzentrum zurückgekehrt waren, sah er sich ausdrücklich nach einem Vortrag um, der einen Aspekt dieser Arbeit beschrieb. Um vier Uhr gab es einen: »Kürzliche Fortschritte bei Pumparbeiten im Permafrost der nördlichen Polarlinse.«

Er verfolgte den Diavortrag des Redners ohne innere Beteiligung. Die Eislinse, die sich von der nördlichen Polkappe unter der Oberfläche nach Süden ausdehnte, war wie der eingetauchte Teil eines Eisbergs und enthielt mehr als zehnmal soviel Wasser wie die sichtbare Kappe. Der Permafrost von Vastitas enthielt noch mehr. Aber das Wasser an die Oberfläche zu schaffen — wie die Bergung von Stickstoff aus der Atmosphäre des Titan — war ein so gewaltiges Projekt, daß Sax es in den frühen Jahren gar nicht erwogen hatte. Es war damals einfach nicht möglich gewesen. Alle diese großen Vorhaben — die Soletta, der Stickstoff von Titan, die Anbohrung des nördlichen Ozeans, das häufige Eintreffen von Eis-Asteroiden — hatten eine Größenordnung, mit der Sax kaum zurechtkam. Man dachte in diesen Tagen in großem Stil, die Transnationalen. Gewiß waren es die neuen Möglichkeiten in der Konstruktion und Materialkunde und das Aufkommen sich selbst reproduzierender Fabriken, welche die Projekte technisch machbar erscheinen ließen. Aber die Anfangsinvestitionen waren immer noch enorm.

Was die damit verbundenen technischen Möglichkeiten anging, so stellte er fest, daß er sich recht schnell an diese Idee gewöhnte. Es war eine Erweiterung von dem, was sie in den alten Tagen gemacht hatten. Einige Anfangsprobleme hinsichtlich Material, Konstruktion und homöostatischer Kontrolle lösen, wonach die Kräfte wirklich beträchtlich anwuchsen. Man könnte sagen, daß ihre Reichweite nicht mehr ihre Zugriffsmöglichkeit überstieg. Das war angesichts der von ihnen bisweilen erstrebten Ziele ein erschreckender Gedanke.

Auf jeden Fall befanden sich jetzt mehr als fünfzig Bohrplattformen in den nördlichen sechziger Breiten, die Brunnen bohrten und an ihren unteren Enden Einrichtungen zum Schmelzen von Permafrost einbrachten, die von geheizten Sammelgängen bis hin zu nuklearen Sprengstoffen reichten. Das neue Schmelzwasser wurde hochgepumpt und über die Dünen von Vastitas Borealis verteilt, wo es wieder gefror. Schließlich würde dieses Eis schmelzen, zum Teil unter seinem eigenen Gewicht; und dann hätten sie einen Ozean in Form eines Ringes um die nördlichen sechziger und siebziger Breitengrade. Ohne Zweifel eine gute thermische Senke, wie alle Ozeane waren, obwohl es, solange es ein Eismeer blieb, durch seine zunehmende Albedo einen Nettowärmeverlust für das globale System bedeuten würde. Wieder ein Beispiel dafür, wie ihre Maßnahmen einander widersprachen. Und so war auch die Lage von Burroughs selbst gegenüber diesem neuen Meer. Die Stadt lag etwas unter dem am häufigsten zitierten Meeresniveau, dem Nullbezugspunkt. Die Leute redeten von einem Deich oder kleineren See; aber niemand war sich sicher. Interessant.

Also besuchte Sax jeden Tag die Konferenz, lebte in den stillen Räumen und Korridoren des Zentrums, schwatzte mit Kollegen und den Autoren von Postern sowie seinen Nachbarn in Hörsälen. Mehr als einmal mußte er so tun, als ob er alte Kameraden nicht kennen würde. Er wurde recht nervös, weil er ihnen aus dem Weg gegangen war, wenn er konnte. Aber die Leute schienen nicht zu fühlen, daß er sie an jemanden erinnerte, den sie kannten; und er konnte sich größtenteils auf die Wissenschaft konzentrieren. Das tat er mit Genuß. Menschen plauderten, stellten Fragen, diskutierten sachliche Details und Konsequenzen — alles unter der gleichförmigen fluoreszierenden Helligkeit beim leisen Summen von Ventilatoren und Videomaschinen, als ob sie sich in einer Welt außerhalb von Zeit und Raum befänden, im imaginären Raum reiner Wissenschaft, gewiß einer der größten Errungenschaften des menschlichen Geistes — einer Art utopischer Gemeinschaft, behaglich, hell und geschützt. Für Sax war eine wissenschaftliche Konferenz Utopie.


Aber die Sitzungen bei dieser Konferenz hatten einen anderen Ton, eine Art nervöser Spannung, die Sax noch nie zuvor erlebt hatte und die ihm nicht gefiel. Die Fragen nach den Referaten waren aggressiver und die Antworten schnell defensiv. Das reine Spiel wissenschaftlicher Disputation, das er so genoß (und das zugegebenermaßen nie ganz ungetrübt war), wurde jetzt immer mehr durch reine Argumentierungen verdünnt, durch offensichtliche Machtkämpfe, die durch mehr als nur den üblichen Egoismus motiviert waren. Es war nicht wie Simmons unbewußte Unterstützung durch Borazjani und Borazjanis erlesene Entgegnung. Es war mehr eine Sache direkten Angriffs. Wie am Ende einer Präsentation tiefer Moholes und der Möglichkeit, den Mantel zu erreichen, als ein kleiner kahler Mann von der Erde aufstand und sagte: »Ich denke nicht, daß das Grundmodell der Lithosphäre hier zutrifft.« Dann verließ er den Raum.

Sax beobachtete das ohne jedes Verständnis. »Was ist denn mit dem los?« flüsterte er Claire zu.

Sie schüttelte den Kopf. »Er arbeitet für Subarashii an der Luftlinse, und die mögen keine mögliche Konkurrenz für Programme zum Schmelzen von Regolith.«

»Mein Gott!«

Das Frage-und-Antwort-Spiel ging weiter, erschüttert durch diese Vorstellung von Wahnsinn. Aber Sax schlüpfte aus dem Raum und starrte in der Halle neugierig dem Wissenschaftler von Subarashii nach. Was mochte der wohl denken?

Aber dieser Andersdenker war nicht der einzige, der sich seltsam benahm. Die Leute standen unter Stress, ihre Nerven waren angespannt. Natürlich stand sehr viel auf dem Spiel. Wie der Pingo unter Moeris Lacus in kleinem Maßstab zeigte, würde man auf der Konferenz bald üble Nebeneffekte bei den untersuchten Verfahren behandeln müssen. Nebeneffekte, die Geld, Zeit und vielleicht sogar Menschenleben kosten würden. Und es gab finanzielle Motivationen …

Und jetzt, als die abschließenden Tage näher rückten, verlagerte sich das Programm von sehr speziellen Themen auf die allgemeineren Darbietungen und Workshops, einschließlich einiger Veranstaltungen im Hauptsaal über die großen neuen Projekte, die die Leute als ›Monsterprojekte‹ bezeichneten. Diese würden so große Auswirkungen haben, daß sie fast alle anderen Programme in Mitleidenschaft zogen. Als man sie diskutierte, argumentierte man praktisch politisch und sprach eher darüber, was als nächstes zu tun wäre, denn darüber, was schon geschehen war. So etwas pflegte immer zu einem Gezänk zu führen, aber nie mehr als gerade jetzt, wo die Leute anfingen, die Information aus den früheren Referaten zur Befürwortung ihrer eigenen Anliegen zu verwenden, um was es sich auch handeln mochte. Sie betraten jene unglückliche Zone, wo Wissenschaft in Politik hinüberzugleiten begann und wo Vortragsskripten zu Kreditanträgen wurden. Es war enttäuschend zu sehen, wie diese minderwertige Dunkelzone in das bis dahin neutrale Terrain einer Konferenz eindrang.

Wie Sax bei einem einsamen Frühstück überlegte, war ein Teil davon ohne Zweifel durch die Big-Science- Dimension der Monsterprojekte bedingt. Die waren alle so aufwendig und schwierig, daß sie verschiedenen Transnationalen kontraktlich zugewiesen werden mußten. Das war oberflächlich eine plausible Strategie, ein zweckmäßiges Vorgehen. Es bedeutete aber leider auch, daß die verschiedenen Angriffswinkel für das Terraformungsproblem jetzt interessierte Parteien hatten, die sie als die ›besten‹ Methoden verteidigten und Daten verzerrten, um ihre eigenen Ideen zu verteidigen.

Zum Beispiel war Praxis zusammen mit der Schweiz führend in der sehr extensiven Bioingenieurbemühung. Darum verteidigten deren repräsentative Theoretiker das Modell der Ökopoiesis, wonach zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein weiterer Zustrom von Wärme oder flüchtigen Stoffen notwendig wäre, und daß biologische Prozesse allein, unterstützt durch ein Minimum an ökologischer Technik, genügen würden, den Planeten auf die Niveaus zu terraformen, die in dem frühen Russell-Modell ins Auge gefaßt worden waren. Sax hielt diese Beurteilung für wahrscheinlich korrekt in Anbetracht des Eintreffens der Soletta, obwohl er ihre Daten für zu optimistisch einschätzte. Und außerdem arbeitete er für Biotique, darum war sein Urteil vielleicht voreingenommen.

Aber die Wissenschaftler von Armscor waren unerbittlich, daß der geringe Stickstoffbestand alle ökologischen Hoffnungen zuschanden machen würde. Sie beharrten darauf, daß ständiges Eingreifen erforderlich sei. Und natürlich war es Armscor, der die Shuttles zum Herbeischaffen von Stickstoff aus Titan baute. Leute von Consolidated, denen die Bohrarbeiten in Vastitas unterstanden, betonten die vitale Bedeutung einer aktiven Hydrosphäre. Und Leute von Subarashii, die die neuen Spiegel unter sich hatten, hoben die große Energie der Soletta und der Luftlinse hervor, um Wärme und Gase in das System zu pumpen, wodurch alles beschleunigt werden könnte. Es war immer ganz klar, welche Leute das eine oder das andere Programm befürworteten. Man brauchte nur auf ihre Namensschilder sehen und ihre institutionelle Zugehörigkeit erkennen und damit voraussagen, was sie unterstützen oder angreifen würden. Daß Wissenschaft so eklatant verzerrt wurde, bereitete Sax großen Kummer, und es schien ihm, daß es jedermann dort unangenehm wäre, sogar denen, die das praktizierten, was zu der allgemeinen Reizbarkeit und Abwehrhaltung beitrug. Ein jeder wußte, was vor sich ging, aber niemandem gefiel es; und dennoch wollte keiner es zugeben.

Dies war nirgendwo deutlicher als in der Podiumsdiskussion des letzten Vormittags über die CO2-Frage. Daraus wurde rasch eine Verteidigung der Soletta und der Luftlinse, welche die beiden Wissenschaftler von Subarashii vehement vortrugen. Sax saß im Hintergrund und hörte sich ihre enthusiastische Beschreibung der großen Spiegel an, wobei er sich immer unbehaglicher fühlte. Die Soletta an sich gefiel ihm, die nichts weiter war als die logische Fortsetzung der Spiegel, die er ganz zu Beginn in den Orbit gebracht hatte. Aber die tief fliegende Luftlinse war ganz deutlich ein äußerst mächtiges Instrument und würde, wenn man sie mit voller Kapazität auf die Oberfläche richtete, Hunderte Millibar an Gasen in die Atmosphäre verdampfen lassen, zumeist Kohlendioxid, das sie nach Saxens Einphasenmodell nicht brauchten und das mit großer Wahrscheinlichkeit im Regolith gebunden bleiben würde. Nein — über die Wirkungen dieser Luftlinse würde man etliche sehr scharfe Fragen stellen müssen; und die Leute von Subarashii würden streng kritisiert werden müssen, weil die das Schmelzen des Regoliths angefangen hatten, ohne irgendwen außerhalb ihres bürokratischen UNTA-Komitees zu befragen. Aber Sax wollte die Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken und konnte deshalb nur da sitzen mit Ciaire und Berkina und seinem elektronischen Notizbuch. Er druckste in seinem Sessel herum und hoffte, daß ein anderer für ihn die harten Fragen stellen würde.

Und da es offenbar sehr harte Fragen gab, wurden sie auch gestellt. Ein Wissenschaftler von Mitsubishi, der mit Subarashii einen ständigen Privatkrieg führte, stand auf und erkundigte sich sehr höflich nach dem außer Kontrolle geratenen Gewächshauseffekt, der durch zu viel Kohlendioxid bewirkt werden könnte. Sax nickte energisch. Aber die Wissenschaftler von Subarashii entgegneten, daß dies gerade das wäre, worauf sie hofften, und daß es gar nicht genug Wärme geben könnte und daß ein letztlicher atmosphärischer Druck von sieben- oder achthundert Millibar auf jeden Fall fünfhundert vorzuziehen wäre. »Aber nicht, wenn es Kohlendioxid ist!« knurrte Sax Ciaire zu, die nickte. H. X. Borazjani stand auf und erklärte dasselbe. Ihm folgten andere. Viele im Raum benutzten noch Saxens Originalmodell als Schema für ihre Aktionen und betonten auf viele verschiedene Weisen die Schwierigkeit, jeden großen Überschuß an CO2 aus der Luft zu entfernen. Aber es gab auch eine ganze Reihe Wissenschaftler von Armscor und Consolidated wie auch Subarashii, die entweder erklärten, daß die Säuberung nicht schwierig sein würde oder daß eine an Kohlendioxid reiche Atmosphäre gar nicht so schlimm sein würde. Ein Ökosystem, das hauptsächlich aus Pflanzen bestünde mit gegen Kohlendioxid resistenten Insekten und vielleicht einigen genetisch manipulierten Tieren würde in der warmen dichten Luft gedeihen; und die Leute könnten in Hemdsärmeln herumspazieren mit keiner größeren Behinderung als einer Gesichtsmaske.

Das brachte Sax auf die Palme, und zum Glück war er nicht der einzige, so daß er sitzen bleiben konnte, während andere sich erhoben, um diese fundamentale Änderung beim Ziel des Terraformens in Frage zu stellen. Die Diskussion wurde rasch hitzig und sogar ruppig.

»Wir haben es nicht auf einen Dschungelplaneten abgesehen!«

»Ihr macht heimlich die Annahme, daß man Menschen genetisch so manipulieren kann, daß sie höhere Niveaus an Kohlendioxid vertragen. Aber das ist lächerlich!«

Es wurde sehr bald deutlich, daß nichts zustande kommen würde. Niemand hörte wirklich zu, und jeder hatte seine eigene Meinung, die eng nach den Interessen der jeweiligen Firma ausgerichtet war. Es war wirklich häßlich. Ein gegenseitiger Widerwille gegen den Ton der Debatte veranlaßte alle außer den unmittelbar Beteiligten, sich zurückzuziehen. Um Sax herum falteten Leute ihre Programme zusammen, stellten ihre Notizgeräte ab und flüsterten mit ihren Kollegen, während immer noch Menschen da standen und redeten … ohne Zweifel ein schlechtes Benehmen. Aber nach kurzem Nachdenken wurde klar, daß sie jetzt über politische Entscheidungen stritten, die ohnehin nicht auf der Ebene aktiver Wissenschaftler zu treffen waren. Das gefiel niemandem; und die Leute fingen auch an aufzustehen und den Raum zu verlassen mitten in der Diskussion. Der überwältigte Moderator der Sitzung, eine überhöfliche Japanerin, die jämmerlich aussah, übertönte die lauter werdenden Stimmen und regte an, die Sitzung zu beenden. Die Menschen strömten in kleinen Gruppen in die Korridore. Manche redeten noch heftig mit ihren Verbündeten und trugen ihre Fälle jetzt vor, da sie sich nur bei ihren Freunden beklagen konnten.

Sax folgte Ciaire und Jessica und den anderen Leuten von Biotique über den Kanal und zu Hunt Mesa. Sie nahmen den Aufzug zum Plateau und speisten bei Antonio.

Sax, der seine Zunge nicht mehr länger im Zaum halten konnte, sagte: »Sie werden uns mit Kohlendioxid überfluten. Ich glaube nicht, daß sie verstehen, welchen fundamentalen Schlag das dem Standardmodell versetzen wird.«

»Es ist ein völlig anderes Modell«, sagte Jessica. »Ein zweiphasiges und schwerindustrielles.«

»Aber es wird Menschen und Tiere auf unbestimmte Zeit in Kuppeln gefangen halten«, gab Sax zu bedenken.

»Vielleicht ist das den Transnationalen egal«, meinte Jessica.

»Vielleicht gefällt es ihnen sogar«, meinte Berkina.

Sax zog ein Gesicht.

»Es könnte auch einfach sein, daß sie, da sie diese Soletta und die Linse nun mal haben, sie auch benutzen wollen«, erklärte Ciaire. »Als ob man mit Spielsachen hantiert. Es erinnert so an das Vergrößerungsglas, mit dem man Feuer anzündet, wenn man zehn Jahre alt ist. Aber dies Ding ist zu gewaltig. Sie können es sich nicht leisten, es nicht zu benutzen. Und dann nennen sie die verbrannten Zonen Kanäle — na ja!«

»Das ist so was von blöd«, sagte Sax in scharfem Ton. Und als die anderen ihn etwas überrascht anschauten, versuchte er, seinen Ton etwas zu mildern. »Nun, wißt ihr, es ist einfach zu dämlich. Es ist eine Art von verschwommener Romantik. Es wird keine Kanäle geben in dem Sinne nützlicher Verbindung von Wasserläufen. Und selbst wenn sie versuchen sollten, die zu benutzen, würden die Ufer aus Schlacke bestehen.«

»Glas, wie sie behaupten«, sagte Ciaire. »Und es ist immerhin einfach die Idee von Kanälen.«

»Es ist aber kein Spiel, was wir hier betreiben«, sagte Sax. Es war äußerst schwer, Stephens Sinn für Humor dabei zu behalten. Aus irgendeinem Grund war es für ihn ärgerlich und richtig betrüblich. Sie hatten hier so gut angefangen, sechzig Jahre solider Leistung; und jetzt murksten verschiedene Leute mit verschiedenen Ideen und verschiedenen Spielsachen herum, stritten sich und arbeiteten gegeneinander. Sie brachten immer mächtigere und aufwendigere Methoden zum Einsatz, aber mit immer weniger Koordination. Sie würden seinen Plan ruinieren!

Die Abschlußsitzungen am Nachmittag waren geschäftsmäßig und bewirkten nichts, um seinen Glauben an die Konferenz als nicht interessierte Wissenschaft wiederherzustellen. Am Abend in seinem Zimmer verfolgte er die Lokalnachrichten im Fernsehen genauer denn je und suchte nach Antworten, die er nicht ganz formuliert hatte. Klippen stürzten ein. Steine aller Größen wurden durch den Zyklus von Tauen und Gefrieren aus dem Permafrost gedrückt, wobei sich die Felsen von selbst zu charakteristischen polygonalen Mustern gruppierten. Steingletscher bildeten sich in Schluchten und Rinnen, in denen die Steine durch Eis freigepreßt wurden und dann in Massen hinabglitten, als wären sie richtige Eisgletscher. Pingos funkelten in den Ebenen des Nordens, ausgenommen natürlich dort, wo die gefrorenen Meere aus den Bohrplattformen herausquollen und das Land bewässerten.

Es war eine Veränderung in massivem Maßstab, die jetzt überall deutlich wurde und sich jedes Jahr beschleunigte, als die Sommer wärmer wurden und die Biota unter der Oberfläche mehr in die Tiefe wuchsen — während in jedem Winter immer noch alles steif gefror und auch in fast jeder Sommernacht ein bißchen einfror. Ein so intensiver Zyklus von Gefrieren und Auftauen würde jede Landschaft in Stücke reißen. Und die Landschaft des Mars war dafür besonders empfänglich, weil sie Jahrmillionen in dürrer Kältestarre verbracht hatte. Die Vergeudung von Massen führte täglich zu vielen Erdrutschen, und Katastrophen und Fälle von unerklärtem Verschwinden waren nicht ungewöhnlich. Das Fahren quer übers Land war gefährlich geworden. Canyons und frische Krater waren keine sicheren Plätze mehr, um eine Stadt anzusiedeln oder auch nur eine Nacht zu verbringen.

Sax stand auf, ging zum Fenster seines Zimmers und blickte auf die Lichter der Stadt hinunter. All das war genau so, wie Ann es ihm vor langer Zeit vorhergesagt hatte. Ohne Zweifel nahm sie Meldungen von allen diesen Veränderungen mit Widerwillen zur Kenntnis, sie und alle anderen Roten. Für sie war jeder Zusammenbruch ein Anzeichen dafür, daß die Dinge schiefgingen anstatt richtig. In der Vergangenheit hätte Sax darüber die Achseln gezuckt. Die Vergeudung von Masse setzte gefrorenen Boden der Sonne aus, erwärmte ihn und offenbarte mögliche Nitratquellen und dergleichen. Jetzt, mit der frischen Erinnerung an die Konferenz, war er sich nicht mehr so sicher.

Im Fernsehen schien sich niemand darüber Sorgen zu machen. Rote traten da nicht auf. Der Zusammenbruch von Landformen galt nicht mehr denn als eine Gelegenheit, nicht nur fürs Terraformen, was als das ausschließliche Geschäft der Transnationalen angesehen wurde, sondern auch für Bergbau. Sax verfolgte die Meldung von einer frisch aufgefundenen Goldader mit gedämpften Gefühlen. Es war seltsam, wie viele Leute dem Reiz des Schürfbetriebes zugänglich waren.

Das war der Mars zu Beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts gewesen. Als der Aufzug wiederkam, war anscheinend auch die alte Goldrauschmentalität wieder erwacht, als ob es wirklich ein offenkundiges Geschick wäre, mit großen Werkzeugen, die man nach links und rechts schwang, hinaus an die Grenze zu gehen — kosmische Ingenieure, die schürften und bauten. Und das Terraformen, das sein Werk gewesen war, praktisch der einzige Zielpunkt seines Lebens seit sechzig Jahren und mehr, schien sich in etwas anderes zu verwandeln …

Sax begann unter Schlaflosigkeit zu leiden. Das hatte er früher nie erlebt, und er fand es recht unangenehm. Immer wieder wachte er auf, wälzte sich herum, in seinem Geist rasteten Getriebe ein, und alles fing an zu wirbeln. Wenn klar war, daß er nicht wieder einschlafen würde, stand er auf, stellte den Computerschirm an und sah sich Videoprogramme an, sogar die Nachrichten, die er früher nie beachtet hatte. Er erkannte auf der Erde Anzeichen einer soziologischen Fehlfunktion. Zum Beispiel schienen sie nicht einmal versucht zu haben, ihre Gesellschaften dem Ansturm des Bevölkerungsanstiegs infolge der gerontologischen Behandlungen anzupassen. Das hätte elementar sein sollen — Geburtenkontrolle, Quoten, Sterilisierung —, aber die meisten Länder hatten nichts dergleichen getan. Es schien sich wirklich eine permanente Unterklasse der Nichtbehandelten zu entwickeln, besonders in den stark bevölkerten armen Ländern. An Statistiken war jetzt schlecht heranzukommen, da die UN im Sterben lag. Aber eine Untersuchung des Weltgerichtshofs behauptete, daß siebzig Prozent der Bevölkerung der entwickelten Nationen die Behandlung bekommen hätten, dagegen nur zwanzig Prozent in den armen Ländern. Sax dachte, wenn dieser Trend lange anhielte, würde das zu einer Art von Klassenphysikalisation führen — einem späten Auftreten oder einer rückwirkenden Offenbarung der schwarzen Vision von Marx —, nur noch extremer als bei Marx selbst, weil Klassenunterschiede jetzt als echte Unterschiede infolge bimodaler Verteilung zum Ausdruck kommen würden, die schon fast an Artendifferenzierung grenzte …

Diese Divergenz zwischen arm und reich war gewiß gefährlich, schien aber auf der Erde als gegeben angenommen zu werden, als wäre sie ein Teil der Natur. Warum konnten sie nicht die Gefahr erkennen?

Er verstand die Erde nicht mehr, falls das je der Fall gewesen sein sollte. Er saß zitternd in seinen schlaflosen Nächten da, zu müde, um zu lesen oder zu arbeiten. Er konnte nur ein Programm der Erde nach dem anderen abrufen und besser zu verstehen suchen, was dort geschah. Denn das müßte er, wenn er den Mars verstehen wollte, da das Verhalten der Transnationalen hier letztlich durch irdische Ursachen angetrieben wurde. Er mußte einfach verstehen. Aber die Nachrichtenvideos schienen sich rationalem Verständnis zu entziehen. Dort unten gab es — noch dramatischer als auf dem Mars — keinen Plan.

Er benötigte eine Geschichtswissenschaft, aber leider gab es so etwas nicht. Geschichte ist lamarckisch, wie Arkady zu sagen pflegte, eine Bemerkung, die ominös eindrucksvoll war angesichts der durch die ungleiche Verteilung der gerontologischen Behandlung bewirkten PseudoSpezifikation. Aber das war keine echte Hilfe. Psychologie, Soziologie, Anthropologie — alle waren sie verdächtig. Die wissenschaftliche Methode konnte auf keine Weise bei menschlichen Wesen angewandt werden, um nützliche Information zu erhalten. Es war das Problem von Faktum und Wert in anderer Form. Menschliche Realität konnte nur mit Werten erklärt werden. Und Werte waren gegenüber wissenschaftlicher Analyse sehr resistent. Isolation von Faktoren zwecks Untersuchung, falsifizierbare Hypothesen, wiederholbare Experimente — der ganze in der Laboratoriumsphysik entwickelte und praktizierte Apparat konnte einfach nicht zum Tragen kommen. Werte trieben die Geschichte an, welche ganz, unwiederholbar und kontingent ist. Man könnte das als ein lamarckisches oder chaotisches System charakterisieren; aber auch das waren nur Vermutungen. Denn über welche Faktoren redeten sie, welche Aspekte konnten durch Lernen erworben und weitergegeben werden — oder kreisten auf eine sich nicht wiederholende, aber vorgezeichnete Weise?

Niemand konnte das sagen.

Er fing wieder an, über die Disziplin der Naturgeschichte nachzudenken, die ihn auf dem Arena-Gletscher so gefesselt hatte. Sie benutzte wissenschaftliche Methoden zum Studium der Geschichte der natürlichen Welt. Und in vielfacher Hinsicht war diese Geschichte ein ebensolches methodologisches Problem wie die menschliche Geschichte, gleichermaßen nicht wiederholbar und gegen Experimente resistent. Und wo menschliches Bewußtsein nicht hineinspielte, war die Naturgeschichte oft recht erfolgreich, selbst wenn sie hauptsächlich auf Beobachtungen und Hypothesen beruhte, die nur durch weitere Beobachtungen nachgeprüft werden konnten. Es war eine echte Wissenschaft. Sie hatte außer Kontingenz und Unordnung einige gültige allgemeine Prinzipien der Evolution entdeckt — Entwicklung, Anpassung, Komplexifizierung und noch viele weitere spezifischere Prinzipien, die durch die diversen Unterdisziplinen bestätigt wurden.

Was er brauchte, waren ähnliche Prinzipien, die die menschliche Geschichte beeinflussen. Das wenige, was er über Historiographie gelesen hatte, war nicht ermutigend. Es war entweder eine traurige Imitation der wissenschaftlichen Methode oder schlicht und einfach Kunst. Ungefähr alle zehn Jahre revidierte eine neue historische Interpretation alles, was vorausgegangen war. Aber Revisionismus bot offenbar Freuden, die nichts mit der realen Beurteilung des jeweiligen Falles zu tun hatten. Soziobiologie und Bioethik erschienen aussichtsreicher. Aber sie neigten dazu, die Dinge am besten mit evolutionären Zeitskalen zu erklären. Aber Sax wollte etwas für die vergangenen und die nächsten einhundert Jahre. Oder mindestens die letzten und kommenden fünfzig.

Jede Nacht wachte er auf und konnte nicht wieder einschlafen. Er stand auf, setzte sich an den Bildschirm und grübelte über diese Dinge, zu müde, um richtig nachzudenken. Und als diese Nachtwachen anhielten, kam er immer mehr auf die Shows von 2061 zurück. Es gab jede Menge Videozusammenschnitte über die Ereignisse jenes Krieges, und einige davon scheuten sich nicht, ihn beim Namen zu nennen: Der Dritte Weltkrieg! So hieß die längste, etwa sechzig Stunden umfassende Videoserie aus diesem Jahr. Sie war allerdings schlecht redigiert und zeitlich geordnet.

Man brauchte sich diese Serie nur einige Zeit anzuschauen, um zu erkennen, daß der Titel nicht reine Sensationshascherei war. In jenem verhängnisvollen Jahr hatten Kriege auf der ganzen Erde getobt; und die Analytiker, die sich sträubten, vom Dritten Weltkrieg zu sprechen, schienen zu denken, daß er nur nicht lange genug gedauert hätte, um dafür in Betracht zu kommen. Oder daß er nicht der Wettstreit zweier großer globaler Allianzen gewesen, sondern eher konfus und komplex gewesen wäre. Unterschiedliche Quellen würden ihn als Nord gegen Süd erklären oder Jung gegen Alt oder UN gegen Nationen oder Nationen gegen Transnationale oder Transnationale gegen Gefälligkeitsflaggen oder Armeen gegen Polizei oder Polizei gegen Bürger — so daß jeder Konflikt gleichzeitig herrschte. Für eine Dauer von sechs oder acht Monaten war die Welt ins Chaos versunken.

Im Zuge seiner Streifzüge durch Politikwissenschaft war Sax auf die Tabelle eines gewissen Herman Kahn gestoßen, genannt ›Eskalationsleiter‹, welche Konflikte nach ihrer Natur und Schärfe zu kategorisieren suchte. Kahns Leiter hatte vierundvierzig Stufen, die von der ersten, Deutliche Krise, über Kategorien wie Politische und Diplomatische Maßnahmen, Feierliche und Formale Deklarationen und Offene Mobilmachung steiler über Stufen wie Demonstration von Gewalt, Quälende Gewaltakte, Dramatische Militärische Konfrontationen, Großer Konventioneller Krieg in die unerforschten Zonen von Knapper Nuklearer Krieg, Exemplarische Attacken gegen Privatbesitz, Ziviler Vernichtungsangriff bis hin zu Nummer vierundvierzig: Kampf oder Brutaler Krieg. Das war sicher ein interessanter Versuch mit Taxonomie und logischer Sequenz; und Sax begriff, daß die Kategorien aus vielen Kriegen der Vergangenheit abgeleitet waren. Und nach den Definitionen der Tabelle war 2061 direkt auf Stufe vierundvierzig emporgeschossen.

In diesem Mahlstrom war der Mars nicht mehr als ein spektakulärer Kriegsschauplatz unter fünfzig anderen gewesen. Sehr wenige allgemeine Programme über ’61 widmeten ihm mehr als ein paar Minuten; und diese einfachen Zusammenschnitte hatte Sax die ganze Zeit gesehen. Die erfrorenen Wächter in Korolyov, die zerbrochenen Kuppeln, der Sturz des Aufzugs und dann der Fall von Phobos. Versuche zur Analyse der Lage auf dem Mars waren bestenfalls seicht. Der Mars hatte eine exotische Seitenschau geboten mit einigen guten Videos, aber sonst nichts, was ihn von dem allgemeinen Morast unterschiede. Nein. In einer schlaflosen Nacht wurde ihm klar: Wenn er 2061 verstehen wollte, mußte er es sich selber zusammenstückeln aus den Primärquellen der Videobänder von allen wackligen Schnappschüssen wütender Massen, die Städte in Brand setzten, und den gelegentlichen Pressekonferenzen mit verzweifelten frustrierten Anführern.

Selbst das in chronologische Reihenfolge zu bringen war kein einfaches Unterfangen. Und es wurde auch sein Hauptinteresse für ein paar Wochen (in seinem Echus-Stil), da die zeitliche Einordnung von Ereignissen der erste Schritt war, um das zusammenzufügen, was geschehen war. Erst danach konnte man sich Gedanken über das Warum machen.

Im Laufe der Wochen begann er einen Sinn dafür zu entwickeln. Sicher war die allgemeine Meinung korrekt. Das Aufkommen der Transnationalen in den 2040er Jahren hatte die Bühne vorbereitet und war die tiefste Ursache des Krieges. In jener Dekade, als Sax seine ganze Aufmerksamkeit auf das Terraformen des Mars konzentriert hatte, war eine neue Ordnung auf der Erde entstanden, als die Tausende multinationaler Korporationen in die Reihen kolossaler Transnationaler aufzugehen begannen. Wie bei der Entstehung eines Planeten, dachte er eines Nachts, wenn aus Planetesimalen Planeten werden.

Es war allerdings keine völlig neue Ordnung. Die Multinationalen waren zumeist in den reichen Industrienationen aufgekommen, und so waren die Transnationalen in gewisser Hinsicht Ausdruck dieser Nationen, eine Ausdehnung von deren Macht in den Rest der Welt auf eine Weise, die Sax ein wenig an das wenige erinnerte, was er von den kolonialen und imperialen Systemen wußte, die ihnen vorangegangen waren. Frank hatte so etwas gesagt. Der Kolonialismus sei nie ausgestorben, pflegte er zu erklären, er habe nur die Namen geändert und lokale Polizisten angeheuert. Wir sind alle Kolonien der Transnationalen.

Das war Franks Zynismus, wie Sax feststellte (mit dem Wunsch, diesen harten und bitteren Geist vor sich zu haben, um ihn zu unterweisen), denn nicht alle Kolonien waren gleich. Aber eins stimmte: Die Transnationalen waren so mächtig, daß sie nationale Regierungen zu wenig mehr als zahnlosen Lakaien gemacht hatten. Und keine Transnationale hatte gegenüber einer bestimmten Regierung oder der UN eine besondere Loyalität gezeigt. Aber sie waren Kinder des Westens — Kinder, die sich nicht mehr um ihre Eltern kümmerten, sie aber dennoch unterstützten. Denn die Archivdaten zeigten, daß die Industrienationen unter den Transnationalen aufgeblüht waren, während die Entwicklungsnationen keinen Rückhalt gehabt hatten, als gegeneinander um den Status der Gefälligkeitsflagge zu kämpfen. Und als daher 2060 die Transnationalen von verzweifelten armen Ländern unter Beschüß gerieten, war es die Gruppe der Sieben und deren militärische Macht gewesen, die ihnen zur Verteidigung gekommen war.

Aber die unmittelbare Ursache? Nacht für Nacht durchstöberte er Videos der 2040er und 2050er nach Spuren von Mustern. Schließlich kam er zu der Entscheidung, daß es die Langlebigkeitsbehandlung gewesen war, welche das Faß zum Überlaufen gebracht hatte. Während der 2050er hatte sich die Behandlung durch die reichen Länder ausgebreitet und damit die krasse Ungleichheit in der Welt wie einen Farbfleck unter dem Mikroskop illustriert. Und als sich die Behandlung ausbreitete, war die Lage immer gespannter geworden und auf der Leiter von Kahns Krisen emporgeklettert.

Die unmittelbare Ursache der Explosion von ’61 schien, seltsam genug, ein Gerangel um den Weltraumaufzug zu sein. Der Aufzug war von Praxis betrieben, aber nach Aufnahme seiner eigentlichen Tätigkeit im Februar 2061 von Subarashii in einem Akt offener feindlicher Übernahme okkupiert worden. Subarashii war damals eine Konglomeration der meisten japanischen Firmen gewesen, die nicht in Mitsubishi aufgegangen waren, und eine aufsteigende Macht, sehr aggressiv und ehrgeizig. Nach Erwerb des Aufzugs — einer von UNOMA gebilligten Übernahme — hatte Subarashii sofort die Einwanderungsquoten erhöht, wodurch die Lage auf dem Mars kritisch wurde. Gleichzeitig hatten die Konkurrenten von Subarashii auf der Erde sich gegen das gewandt, was praktisch eine ökonomische Eroberung des Mars war. Und obwohl Praxis seine Bedenken auf legale Aktionen gegen die unglückliche UN beschränkt hatte, war eine von Subarashiis Gefälligkeitsflaggen, nämlich Malaysia, von Singapore angegriffen worden, das eine Basis für Shellalco darstellte. Im April 2061 war schon ein großer Teil von Südasien im Krieg. Bei den meisten Kämpfen handelte es sich um schon lange bestehende Konflikte wie Kambodscha gegen Vietnam oder Pakistan gegen Indien. Aber manche waren Angriffe auf Gefälligkeitsflaggen wie in Birma und Bangladesch. Ereignisse in der Region hatten die Leiter der Eskalation mit tödlicher Geschwindigkeit erklommen, als alte Feindschaften zu den neuen transnationalen Konflikten hinzukamen. Und im Juni hatte sich der Krieg über die ganze Erde ausgedehnt und dann auf den Mars übergegriffen. Bis Oktober waren fünfzig Millionen Menschen gestorben, und weitere fünfzig Millionen sollten unter den Nachwirkungen sterben, da viele Basisdienste unterbrochen oder zerstört waren und eine frisch ausgebrochene Malaria ohne wirksame Vorbeugung oder Heilung blieb.

Sax schien das zu genügen, um trotz der Kürze die Bezeichnung als ›Weltkrieg‹ zu rechtfertigen. Es war, wie er folgerte, eine tödliche synergistische Kombination von Kämpfen unter den Transnationalen gewesen und von Revolutionen einer Fülle entrechteter Gruppen gegen die transnationale Ordnung. Aber die chaotische Gewalttätigkeit hatte die Transnationalen überzeugt, ihre Dispute zu lösen oder mindestens darzulegen. Und alle Revolutionen hatten versagt, besonders nachdem die Militärs der Gruppe der Sieben intervenierten, um die Transnationalen vor Zerstückelung in ihren Gefälligkeitsflaggen zu bewahren. Alle die gigantischen militärisch industriellen Nationen standen schließlich auf der gleichen Seite, was half, es zu einem sehr kurzen Weltkrieg zu machen gegenüber den beiden vorherigen. Kurz, aber schrecklich. 2061 waren ungefähr ebenso viele Menschen gestorben wie in den beiden anderen Weltkriegen zusammengenommen.

Der Mars war in diesem Dritten Weltkrieg nur ein Nebenschauplatz gewesen, eine Kampagne, in der einige Transnationale gegen eine flammende, aber unorganisierte Revolte überreagiert hatten. Als es vorbei war, befand sich der Mars fest im Griff der großen Transnationalen, mit dem Segen der Gruppe der Sieben und der anderen Klienten der Transnationalen. Und die Erde war weitergetaumelt, um hundert Millionen Menschen weniger.

Aber sonst hatte sich nichts geändert. Keines der Probleme war angegangen worden. Also könnte alles wieder passieren. Das war durchaus möglich. Man könnte sogar sagen, daß es wahrscheinlich wäre.

Sax schlief weiterhin schlecht. Und obwohl er die Tage in den gewöhnlichen Routinen von Arbeit und Gewohnheit verbrachte, schien es ihm, daß er einige Dinge nun anders sah als vor der Konferenz. Ein weiterer Beweis, wie er mürrisch feststellte, für die Vorstellung einer Vision als paradigmatisches Konstrukt. Aber jetzt war es so deutlich, daß die Transnationalen überall waren. Hinsichtlich Autorität gab es kaum etwas anderes. Burroughs war eine Stadt der Transnationalen, und nach dem, was Phyllis gesagt hatte, traf das auch für Sheffield zu. Es gab keine nationalen wissenschaftlichen Teams, die in den Jahren vor der Konferenz fruchtbar gewesen wären. Und mit den Ersten Hundert — tot oder versteckt — war der Mars als Forschungsobjekt erloschen. Was es an Forschung gab, diente dem Projekt der Terraformung; er hatte gesehen, was für eine Wissenschaft da entstand. Nein, es gab in diesen Tagen nur noch angewandte Forschung.

Und als er sich umsah, gab es nur noch sehr wenige andere Anzeichen der alten Nationalstaaten. Die neuen machten den Eindruck, größtenteils bankrott zu sein, sogar die Gruppe der Sieben. Und die Transnationalen waren die Gläubiger, wenn überhaupt jemand. Einige Berichte legten Sax den Gedanken nahe, daß die Transnationalen in gewisser Weise sogar kleinere Länder als Kapitalanlage betrachteten in einem neuen Arrangement, das weit über die alten Kontrakte der Gefälligkeitsflaggen hinausging.

Ein Beispiel für dieses neue Arrangement in etwas anderer Form war der Mars selbst, der effektiv im Besitz der großen Transnationalen zu sein schien. Und jetzt, da es wieder einen Aufzug gab, hatten sich der Export von Metallen und der Import von Menschen und Gütern enorm beschleunigt. Effektenkurse auf der Erde blähten sich hysterisch auf, um die Aktion zu markieren, ohne daß ein Ende abzusehen war, trotz der Tatsache, daß der Mars die Erde nur mit bestimmten Metallen in bestimmten Mengen versorgen konnte. Also war der Effektenmarkt wohl nur eine Seifenblase; und wenn er platzte, könnte alles sehr wohl wieder zusammenkrachen — oder vielleicht auch nicht. Die Ökonomie war ein höchst bizarres Gebiet, und es gab Hinweise, wonach der ganze Börsenmarkt einfach zu irreal war, um über sich hinaus Wirkung zu zeigen. Aber wer wußte, wann das geschehen würde? Sax, der durch die Straßen von Burroughs wanderte und sich die Aushänge der Börsenkurse in den Fenstern der Geschäfte ansah, behauptete bestimmt nicht, es zu wissen. Menschen waren eben nun mal keine rationalen Systeme.


Diese Grundwahrheit wurde bestätigt, als Desmond eines Abends an seiner Tür erschien. Der berühmte Cojote persönlich, der blinde Passagier, stand da ruhig und einfach im grellbunten Pullover eines Bauarbeiters, wobei diagonale Streifen von Aquamarin und Königsblau das Auge nach unten zu zitronengrünen Stiefeln eines Schutzanzuges führten. Viele Bauarbeiter in Burroughs, und es gab deren eine Menge, trugen die neuen leichten und geschmeidigen Schutzstiefel immer als eine Art modischer Aussage, und alle hatten helle Farben. Aber nur wenige erreichten die erstaunliche Qualität des fluoreszenten Grüns von Desmond.

Er grinste auf seine verrückte Art, als Sax diese Stiefel anstarrte. »Ja, sind sie nicht wunderschön? Und sehr ablenkend.«

Was auch stimmte, da seine Haarzotteln in eine weite, rot-gelb-grüne Mütze gestopft waren. Überall auf dem Mars ein ungewöhnlicher Anblick. »Komm, gehen wir einen trinken!«

Er führte Sax in eine billige Bar an der Kanalseite, die in die Flanke eines massiven entleerten Pingos eingebaut war. Die Bauarbeiter dort saßen dicht gedrängt an langen Tischen und klangen meistens australisch. An der Kanalseite selbst warf eine besonders ruppige Gruppe Eisbrocken in der Größe von Kanonenkugeln in den Kanal hinaus. Ab und zu prallte einer davon auf das Gras am anderen Ufer, was Hurragebrüll und oft eine Runde Stickoxydul für das Haus auslöste. Spaziergänger am anderen Ufer machten an dieser Stelle einen großen Bogen.

Desmond bestellte ihnen vier Gläschen Tequila und einen Inhalator für Lachgas. »Wir werden hübsch bald Kakteen auf der Oberfläche wachsen haben, nicht wahr?«

»Ich denke, das könntest du schon jetzt schaffen.«

Sie setzten sich ans Ende eines Tisches mit polternden Ellbogen, und Desmond redete Sax ins Ohr, während sie tranken. Er hatte einen ganzen Wunschzettel von Dingen, die Sax für ihn von Biotique stehlen sollte. Sämereien, Sporen, Rhizome, bestimmte Wachstumsmedien und schwer zu synthetisierende Chemikalien … »Hiroko sagt, ich müßte dir mitteilen, daß sie das wirklich alles braucht, aber ganz besonders die Sämereien.«

»Kann sie die nicht selbst züchten? Ich mag nicht klauen.«

Desmond sagte und unterstrich den Gedanken mit einer kräftige Prise Gas und danach einem Schluck Tequila: »Das Leben ist ein gefährliches Spiel. Ahhh!«

»Es ist nicht die Gefahr. Ich mag das einfach nicht tun. Ich arbeite mit diesen Leuten zusammen.«

Desmond zuckte die Achseln und antwortete nicht. Sax kam auf den Gedanken, daß diese Skrupel Desmond verletzen könnten, der den größten Teil des einundzwanzigsten Jahrhunderts als Dieb und Straffälliger gelebt hatte. Schließlich sagte Desmond: »Du wirst es nicht diesen Leuten wegnehmen. Du wirst es der Transnationalen wegnehmen, die Biotique besitzt.«

»Aber das ist ein Schweizer Kollektiv und Praxis«, entgegnete Sax. »Und Praxis sieht gar nicht so schlecht aus. Sie ist ein sehr lockeres egalitäres System und erinnert mich wirklich an Hiroko.«

»Außer, daß sie Teil eines globalen Systems sind, in dem eine sehr kleine Oligarchie die Welt regiert. Du muß den Kontext bedenken.«

»Oh, glaube mir, das tue ich«, versicherte Sax und erinnerte sich wieder an seine, schlaflosen Nächte. »Aber auch du mußt unterscheiden.«

»Ja, ja. Und eine Unterscheidung ist, daß Hiroko diese Materialien braucht und nicht herstellen kann angesichts der Notwendigkeit, sich vor der Polizei zu verstecken, die von deiner wundervollen Transnationalen bezahlt wird.«

Sax zwinkerte mürrisch.

»Außerdem ist Diebstahl von Material eine der wenigen Widerstandsaktionen, die uns in diesen Tagen noch verblieben sind. Hiroko ist sich mit Maya einig, daß offene Sabotage nur die Verkündung der Existenz des Untergrundes wäre und eine Aufforderung für Repressionen und die Ausschaltung der Demimonde. Sie hält es für besser, eine Weile zu verschwinden und sie auf den Gedanken zu bringen, daß wir nie in größerer Zahl existiert haben.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Sax. »Aber ich bin überrascht, daß du tust, was Hiroko sagt.«

»Sehr komisch!« sagte Desmond grinsend. »Jedenfalls halte ich es auch für eine gute Idee.«

»Wirklich?«

»Nein. Aber sie hat mich dazu beschwatzt. Es könnte dem Besten dienen. Auf jeden Fall gibt es noch eine Menge Material, das besorgt werden muß.«

»Würde nicht schon der Diebstahl an sich der Polizei einen Hinweis geben, daß wir noch da draußen sind?«

»Keineswegs. Der ist so weit verbreitet, daß unsere Taten vor dem Niveau des Hintergrundes gar nicht auffallen werden. Es gibt eine Menge Jobs für Insider.«

»Wie mich.«

»Ja, aber du tust es doch nicht für Geld, nicht wahr?«

»Er gefällt mir trotzdem immer noch nicht.«

Desmond lachte. Er entblößte seinen steinernen Eckzahn und die alte Asymmetrie seines Kinnbackens und seiner ganzen unteren Gesichtshälfte. »Es ist das Geiselsyndrom. Du arbeitest mit ihnen, lernst sie kennen und entwickelst eine Sympathie für sie. Du mußt aber bedenken, was sie hier machen. Los, mach den Kaktus fertig, und ich werde dir direkt hier in Burroughs einige Dinge zeigen, die du noch nicht gesehen hast.«

Es gab einen Aufruhr, als ein Eisbrocken das andere Ufer getroffen hatte, das Gras hinauf und über einen alten Mann gerollt war. Die Leute jubelten und hoben die Frau, welche den Wurf getan hatte, auf die Schultern; aber die Gruppe mit dem alten Mann rannte zur nächsten Brücke los. Desmond sagte: »Das wird mir zu laut. Komm, trink das und laß uns gehen!«

Sax kippte den Schnaps hinunter, während Desmond den Rest des Inhalators zu sich nahm. Dann verschwanden sie rasch, um dem sich anbahnenden Tumult zu entgehen. Sie gingen den Weg an der Seite des Kanals hoch an den Reihen der Bareißsäulen entlang und zum Princess Park hinauf. Nach einer halben Stunde wandten sie sich nach rechts und erstiegen den begrünten Toth Boulevard. Hinter Table Mountain gingen sie nach links und kamen zum westlichsten Teil der Kuppelwand, die sich in einem großen Bogen um Black Syrtis Mesa hinzog. »Schau, sie kommen auf die alten Sargquartiere für Arbeiter zurück«, erläuterte Desmond. »Das ist jetzt die Standardbehausung bei Subarashii. Sieh aber, wie diese Einheiten in die Mesa eingefügt sind! In den alten Tagen von Burroughs enthielt Black Syrtis eine Plutoniumverarbeitungsanlage, als sie noch reichlich außerhalb der Stadt lag. Aber jetzt hat Subarashii Arbeitersiedlungen gleich daneben errichtet. Und sie haben die Aufgabe, die Fabrikation zu beaufsichtigen und für die Entfernung des Abfalls nach Norden zu Nili Fossae zu sorgen, wo ihn einige integrale Schnelle Reaktoren verwenden werden. Die Aufräumaktion pflegte damals fast rein robotisch zu sein, aber die Roboter sind schwer zu kontrollieren. Sie fanden es billiger, für viele Tätigkeiten Menschen einzusetzen.«

»Aber die Strahlung …«, sagte Sax zwinkernd.

»Ja«, sagte Desmond mit seinem wilden Grinsen. »Sie erhalten jährlich vierzig Rem.«

»Du machst Witze!«

»Keineswegs. Das sagen sie den Arbeitern, zahlen ihnen Erschwernislohn, und nach drei Jahren bekommen sie einen Bonus, der in der Behandlung besteht.«

»Wird ihnen diese sonst verwehrt?«

»Sax, sie ist teuer. Und es gibt Wartelisten. Auf diese Weise kann man die Liste übergehen und die Kosten decken.«

»Aber vierzig Rem! Man kann keineswegs sicher sein, ob die Behandlung den dadurch angerichteten Schaden gutmacht.«

»Das wissen wir«, sagte Desmond mürrisch. Es war nicht nötig, auf Simon zu verweisen. »Das tut sie aber nicht.«

»Und Subarashii macht das bloß, um die Kosten zu senken?«

»Sax, bei einer so großen Kapitalanlage ist das wichtig. Es treten alle Formen zur Kostensenkung auf. Die Abwassersysteme in Black Syrtis sind zum Beispiel alle von dem gleichen System — die medizinische Klinik und die Särge und die Pflanzen in der Mesa.«

»Das ist wohl ein Witz!«

»Leider nicht. Meine Witze sind lustiger.«

Sax winkte ab.

»Schau«, sagte Desmond. »Es gibt keine behördlichen Regelungen mehr. Keine Bauvorschriften oder dergleichen. Das ist es, was der Erfolg der Transnationalen von einundsechzig wirklich bedeutet. Sie machen jetzt ihre eigenen Gesetze. Und du weißt, wie eines davon lautet.«

»Das ist doch aber einfach dumm.«

»Nun, du weißt, daß diese spezielle Abteilung von Subarashii von Georgiern geführt wird, und diese sind hier im Griff einer großen Stalin-Renaissance. Es ist eine patriotische Geste, daß sie ihr Land so stupide wie möglich regieren. Das bedeutet auch Geschäft. Und natürlich sind die Spitzenmanager von Subarashii immer noch Japaner, und die glauben, daß Japan nur durch Härte groß geworden ist. Sie sagen, sie hätten ’61 das gewonnen, was sie im Zweiten Weltkrieg verloren haben. Sie sind hier oben die brutalsten Transnationalen; aber alle übrigen ahmen sie nach, um erfolgreich konkurrieren zu können. Praxis ist hierbei eine Anomalie. Das mußt du immer bedenken.«

»Also belohnen wir sie, indem wir sie bestehlen.«

»Du bist derjenige gewesen, der sich angeschickt hat, für Biotique zu arbeiten. Vielleicht solltest du den Job wechseln.«

»Nein.«

»Glaubst du, daß du diese Materialien von einer der Firmen Subarashiis bekommen kannst?«

»Nein.«

»Aber von Biotique ginge das.«

»Wahrscheinlich. Aber die Sicherheit ist sehr streng.«

»Aber du könntest es machen.«

»Wahrscheinlich.« Sax dachte darüber nach. »Ich will etwas als Gegenleistung haben.«

»Ja?«

»Wirst du mich nach draußen fliegen, damit ich einen Blick auf diese Brandzone der Soletta werfen kann?«

»Sicher! Ich möchte sie selbst gern wiedersehen.«


Also verließen sie am nächsten Nachmittag Burroughs mit dem Zug und fuhren die Große Böschung hinauf. In Libya, siebzig Kilometer von Burroughs entfernt, stiegen sie aus, schlüpften in den Keller und die Tür ihres Verschlages, dann den Tunnel hinunter und hinaus auf die steinige Landschaft. In einem flachen Graben fanden sie dort einen Wagen von Desmond. Und als die Nacht kam, fuhren sie entläng der Böschung nach Osten zu einem kleinen Versteck der Roten im Rand des Du-Martheray-Kraters, nahe einem Streifen von flachem Urgestein, den die Roten als Startbahn benutzten. Desmond identifizierte Sax ihren Gästen nicht. Sie wurden in einen kleinen Hangar am Rand der Klippe geführt. Dort stiegen sie in eines der alten getarnten Flugzeuge von Desmond ein, rollten auf den Felsenstreifen und starteten schlingernd nach unten. Einmal in der Luft, flogen sie langsam durch die Nacht nach Osten.

Sie flogen einige Zeit, ohne zu sprechen. Sax sah nur dreimal Lichter auf der dunklen Seite des Planeten. Einmal war es ein Bahnhof im Krater Escalante, einmal die dünne, sich bewegende Linie eines um die Welt fahrenden Zuges, und zuletzt ein nicht identifiziertes Blinken in dem rauhen Land hinter der Großen Böschung. Sax fragte: »Was denkst du, was das ist?«

»Keine Ahnung.«

Nach einigen Minuten sagte Sax: »Ich habe Phyllis getroffen.«

»Wirklich? Hat sie dich erkannt?«

»Nein.«

Desmond lachte. »Meinst du wirklich?«

»Eine Menge alter Bekannter haben mich nicht erkannt.«

»Nun ja, aber Phyllis … Ist sie immer noch Präsidentin der Ubergangsbehörde?«

»Nein. Sie schien das sowieso nicht für einen einflußreichen Posten zu halten.«

Desmond lachte wieder. »Ein verrücktes Weib. Aber sie hat jene Gruppe auf Clarke wieder in die Zivilisation zurückgebracht. Das muß ich ihr lassen. Ich habe selbst gedacht, daß sie dahin wären.«

»Weißt du mehr darüber?«

»Nun ja, ich habe mit zwei Leuten gesprochen, die dabei waren. Das war eines Abends in der Pingo-Bar. Man konnte sie darüber gar nicht zum Schweigen bringen.«

»Ist gegen Ende ihres Fluges etwas passiert?«

»Am Ende? Na ja, da ist jemand gestorben. Ich nehme an, daß eine Frau sich die Hand zerquetscht hat, als sie Clarke evakuierten. Und Phyllis war das, was einer Ärztin am nächsten kam, und hat sich deshalb während des ganzen Flugs um sie gekümmert. Sie glaubte wohl, es zu schaffen; aber ich vermute, daß ihr etwas ausging — die beiden, die mir die Geschichte erzählt haben, haben sich darüber nicht allzu deutlich geäußert. Und der Patientin ging es immer schlechter. Phyllis rief eine Gebetsversammlung für sie ein; aber sie starb doch, ein paar Tage, ehe sie in das System der Erde eintraten.«

»Ah!« sagte Sax. »Phyllis scheint jetzt aber nicht mehr so … religiös zu sein.«

Desmond knurrte. »Das ist sie nie gewesen, wenn du mich fragst. Ihre Religion war das Geschäft. Du kannst richtige Christen besuchen wie die Leute unten in Christianopolis oder Bingen, und wirst feststellen, daß sie beim Frühstück nicht über Profite sprechen und das mit jener salbungsvollen Rechtschaffenheit bewältigen, die sie besitzen. Rechtschaffenheit — mein Gott — ist bei einer Person eine höchst unerfreuliche Eigenschaft. Du weißt doch, es muß sein wie ein auf Sand gebautes Haus? Aber die Christen der Demimonde sind nicht so. Es sind Gnostiker, Quäker, Baptisten, Baha’i, Rastafarianer, was auch immer. Die angenehmsten Menschen im Untergrund, wenn du mich fragst. Und ich habe mit allen gehandelt. So hilfreich. Und ohne Prätentionen, daß sie mit Jesus die besten Freunde sind. Sie halten eng zu Hiroko und auch den Sufis. Da unten entwickelt sich eine Art von mystischem Netzwerk.« Er kicherte. »Aber jetzt Phyllis und all diese Businessfundamentalisten — sie benutzen Religion, um Wucherei zu tarnen. Das hasse ich. Ich habe Phyllis tatsächlich nach unserer Landung nie etwas Religiöses sagen hören.«

»Hattest du, nachdem wir gelandet waren, viel Gelegenheit, Phyllis sprechen zu hören?«

Wieder ein Gelächter. »Mehr, als du dir denken könntest! Ich habe in jenen Jahren mehr gesehen als du, mein lieber Labormensch! Ich hatte überall meine kleinen Verstecke.«

Sax machte ein skeptisches Geräusch, und Desmond lachte und klopfte ihn auf die Schulter. »Wer sonst könnte dir sagen, daß du und Hiroko in den Jahren von Underhill ein Thema gewesen seid?«

»Hmm.«

»O ja, ich habe viel gesehen. Natürlich konnte man diese spezielle Beobachtung bei praktisch jedem Mann in Underhill machen und im Recht sein. Diese Hexe hat uns alle als Harem benutzt.«

»Polyandrie?«

»Zweifach, zum Teufel! Oder zwanzigfach!«

»Hmm.«

Desmond lachte ihn an.


Gleich nach der Frühdämmerung erblickten sie eine weiße Rauchwolke, die die Sterne auf einem ganzen Quadranten des Himmels verdunkelte. Einige Zeit war diese dichte Wolke die einzige Anomalie, die sie in der Landschaft erkennen konnten. Als sie dann weiterflogen und der Terminator des Planeten unter ihnen dahinglitt, erschien am Osthorizont vor ihnen ein breiter Streifen hellen Bodens. Ein orangefarbener Streifen oder Trog, der ungefähr von Nordost nach Südwest über das Land lief, verdunkelt von Rauch, der einem Abschnitt davon entströmte. Der Trog unter dem Rauch war weiß und turbulent, als ob eine kleine vulkanische Eruption auf diesen Fleck beschränkt wäre. Darüber stand ein Lichtstrahl oder eher ein Strahl aus erleuchtetem Rauch, so dicht und massiv, daß er wie eine physische Säule war, die sich direkt nach oben erstreckte und weniger deutlich wurde, als die Rauchwolke dünner und schwächer wurde und dort verschwand, wo der Rauch seine größte Höhe von rund zehntausend Metern erreichte.

Zuerst gab es kein Anzeichen von dem Ursprung dieses Strahls am Himmel. Die Luftlinse befand sich immerhin mehr als vierhundert Kilometer über ihnen. Dann glaubte Sax, etwas zu sehen wie den Geist einer Wolke, die sehr weit oben aufstieg. Vielleicht war es das, vielleicht auch nicht. Desmond war sich nicht sicher.

Aber am Fuß der Lichtsäule war die Sichtbarkeit keine Frage. Die Lichtsäule hatte eine Art biblischer Präsenz, und der geschmolzene Fels unter ihr glühte wirklich in einem sehr strahlenden Weiß. Das war, was nach 5000 K aussah, wenn sie der freien Luft ausgesetzt wurden. Desmond sagte: »Wir müssen vorsichtig sein. Wenn wir in diesen Strahl fliegen, ginge es uns wie einer Motte in einer Flamme.«

»Ich bin sicher, daß der Rauch auch sehr turbulent ist.«

»Ja. Ich werde auf seiner Luvseite bleiben.«

Unten, wo die weiße Säule des beleuchteten Rauchs auf den orangefarbenen Kanal traf, wurde frischer Rauch in kräftigen Stößen ausgeworfen, der von unten her unheimlich erhellt wurde. Im Norden des weißen Flecks, wo das Gestein eine Gelegenheit hatte, sich abzukühlen, erinnerte der geschmolzene Kanal Sax an einen Film von den Ausbrüchen der Vulkane auf Hawaii. Helle gelborangefarbene Wellen stiegen in dem Kanal aus flüssigem Fels nach Norden auf, trafen gelegentlich auf Widerstand und platschten auf die dunklen Ufer des geschmolzenen Kanals. Der Kanal war ungefähr zwei Kilometer breit und verlief nach beiden Richtungen über den Horizont. Sie konnten etwa zweihundert Kilometer davon sehen. Südlich der Lichtsäule war das Kanalbett fast völlig von sich abkühlendem schwarzen Gestein bedeckt, durchzögen von dunkelorangefarbenen Rissen. Der gerade Verlauf des Kanals und die Lichtsäule selbst waren die einzigen deutlichen Anzeichen, daß es sich nicht um einen natürlichen Lavakanal handelte. Aber diese Zeichen waren mehr als genug. Außerdem hatte es auf der Oberfläche des Mars seit vielen tausend Jahren keinerlei vulkanische Tätigkeit mehr gegeben.

Desmond flog dicht heran, kippte dann das Flugzeug scharf und nahm Nordkurs auf. »Der Strahl von der Luftlinse bewegt sich nach Süden, darum sollten wir weiter oben auf der Linie dichter herangehen können.«

Viele Kilometer weit verlief der Kanal aus geschmolzenem Gestein nach Nordosten, ohne sich zu verändern. Als sie sich dann weiter von der aktuellen Brandzone entfernten, wurde das Orange der Lava dunkler und begann, sich von den Seiten her mit einer schwarzen Kruste zu bedecken, die durch hellere Spalten unterbrochen war. Jenseits davon war die Oberfläche des Kanals so schwarz wie die Ufer zu beiden Seiten. Ein rein schwarzer Streifen, der über die rostfarbenen Gebirge von Hesperia verlief.

Desmond ging wieder auf Südkurs und flog näher an den Kanal heran. Er war ein grober Pilot, der das leichte Flugzeug rücksichtslos herumjagte. Als die orangefarbenen Flecken wieder erschienen, stieß eine aufsteigende thermische Bö die Maschine kräftig an, und er glitt ein wenig zur Seite. Das Licht des geschmolzenen Gesteins erhellte die Ufer des Kanals, die wie sehr schwarze rauchende Reihen von Hügeln aussahen. Sax sagte: »Ich dachte, die sollten aus Glas bestehen.«

»Es ist Obsidian. Ich habe deutlich mehrere Farben gesehen. Wirbel aus verschiedenen Mineralien in dem Glas.«

»Wie weit erstreckt sich dieser Brand?«

»Sie schneiden von Cerberus bis Hellas, genau westlich von Tyrrhena und den Hadrica-Vulkanen.«

Sax stieß einen Pfiff aus.

»O ja, aber sie verflüchtigen Karbonate viel zu schnell.«

»Das verdickt die Atmosphäre, nicht wahr?«

»Ja, aber mit CO2! Sie ruinieren den Planeten. Wir werden auf Jahre hinaus nicht imstande sein, die Luft zu atmen. Wir werden in den Kuppeln festsitzen.«

»Vielleicht glauben sie, das Kohlendioxid hinausdrängen zu können, wenn die Dinge warm geworden sind.« Desmond schaute ihn an. »Hast du genug gesehen?«

»Mehr als genug.«

Desmond stieß wieder sein unangenehmes Lachen aus und neigte das Flugzeug scharf zur Seite. Sie folgten dem Terminator nach Westen und flogen niedrig über die langen Schatten des Geländes in der Frühdämmerung.

»Sax, denk darüber nach! Die Menschen sind gezwungen, eine Weile in den Städten zu bleiben, was günstig ist, wenn man die Dinge im Griff haben will. Man brennt Einschnitte mit diesem fliegenden Vergrößerungsglas und hat sehr rasch seine Atmosphäre von einem Bar und seinen warmen, feuchten Planeten. Dann hat man ein Verfahren, um das Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu beseitigen. Man muß da etwas im Sinn haben — industriell oder biologisch oder beides. Und presto hat man eine zweite Erde, und das sehr schnell. Es könnte kostspielig sein …«

»Es ist ganz bestimmt kostspielig! Alle diese großen Projekte müssen die Transnationalen um riesige Beträge zurückwerfen; und das tun sie, obwohl wir einen guten Schritt unterwegs sind zu zweihundertdreiundsiebzig Kelvin. Ich verstehe das nicht.«

»Vielleicht halten sie das für zu bescheiden. Schließlich ist es doch etwas kühl, wenn man sich um den Gefrierpunkt bewegt. Man könnte es eine Art des Terraformens in einer Vision ä la Sax Russell nennen. Praktisch, aber …« Er kicherte. »Oder vielleicht fühlen sie sich gehetzt. Sax, die Erde ist ein Schlamassel.«

»Das weiß ich«, sagte Sax heftig. »Ich habe sie studiert.«

»Gut für dich! Nein, wirklich. Du weißt also, daß Leute, die die Behandlung nicht bekommen haben, verzweifelt werden. Sie werden älter, und ihre Chancen, sie je zu bekommen, scheinen sich zu verschlechtern. Und diejenigen, welche die Behandlung bekommen haben, besonders die an der Spitze, schauen sich um im Versuch herauszufinden, was sie tun sollen. Das Jahr einundsechzig hat sie gelehrt, was passieren kann, wenn die Dinge außer Kontrolle geraten. Also kaufen sie Länder auf wie schlechte Mangos am Ende des Markttags. Aber das scheint nicht zu helfen. Und hier gleich nebenan sehen sie einen frischen leeren Planeten, noch nicht ganz bereit zur Inbesitznahme, aber dicht davor. Voller Potential. Es könnte eine neue Welt werden. Außer Reichweite der nicht behandelten Milliarden.«

Sax dachte darüber nach. »Du meinst eine Art von Wetterloch. Zum Entweichen, wenn es Schwierigkeiten gibt.«

»Genau. Ich denke, in diesen Transnationalen gibt es Leute, die den Mars so schnell wie möglich terrageformt haben wollen. Notfalls mit allen erdenklichen Mitteln.«

»Ah!« sagte Sax. Und schwieg während der ganzen Rückreise.

Desmond begleitete ihn nach Burroughs zurück; und als sie vom Südbahnhof zu Hunt Mesa gingen, konnten sie über die Baumwipfel des Canal Parks blicken, durch den Schlitz zwischen Branch Mesa und Table Mountain zu Black Syrtis. »Machen die wirklich auf dem ganzen Mars so blödsinnige Dinge?« fragte Sax.

Desmond nickte. »Ich werde dir das nächste Mal eine Liste bringen.«

»Tu das!« Sax schüttelte den Kopf, als er darüber nachdachte. »Es ergibt keinen Sinn. Es berücksichtigt nicht die lange Laufzeit.«

»Die denken kurzfristig.«

»Sie werden aber lange zu leben haben! Vermutlich werden sie noch an der Macht sein, wenn diese Politik über ihnen zusammenbricht.«

»Vielleicht sehen sie das anders. Sie ändern oben an der Spitze oft die Jobs. Sie versuchen, sehr schnell durch Gründung einer Firma Reputation aufzubauen, werden dann von jemand anderem angeheuert und versuchen es dann wieder. Da oben gibt es Spiele, das Bäumchen zu wechseln.«

»Es spielt keine Rolle, auf welchem Platz sie gerade sind. Der ganze Raum wird einstürzen! Sie berücksichtigen nicht die Gesetze der Physik.«

»Natürlich nicht. Hattest du das nicht schon früher bemerkt, Sax?«

»… wohl nicht.«

Natürlich hatte er gesehen, daß menschliche Angelegenheiten irrational und unerklärlich waren. Das konnte keinem entgehen. Aber jetzt erkannte er, daß er fälschlicherweise angenommen hatte, die Menschen, die sich mit Regieren befaßten, bemühten sich in bestem Glauben, die Dinge rational laufen zu lassen mit Hinblick auf das langfristige Wohl der Menschheit und das sie tragende biophysische System. Desmond lachte, als Sax ihm das zu erklären suchte. Er rief erregt: »Aber warum sonst sollte man ein so kompromittiertes Werk angehen, wenn nicht zu diesem Ziel?«

»Macht«, sagte Desmond. »Macht und Gewinn.«

»Ah!«

Sax war an solchen Dingen immer so wenig interessiert gewesen, daß er nur schwer -verstand, warum jemand so sein sollte. Was war persönlicher Gewinn anders als die Freiheit zu tun, was man wollte? Und was war Macht anders als die Freiheit zu tun, was man wollte? Und wenn man einmal diese Freiheit besaß, begann jedes Mehr an Reichtum oder Macht tatsächlich, die Ansprüche anderer einzuschränken und deren Freiheit zu mindern. Man wurde ein Sklave seines Reichtums oder seiner Macht, darauf beschränkt, dies die ganze Zeit zu beschützen. So war, richtig gesehen, die Freiheit eines Wissenschaftlers, mit einem Labor zur Verfügung, die höchste überhaupt mögliche Freiheit. Noch mehr Reichtum und Macht würden das nur behindern.

Desmond schüttelte den Kopf, als Sax diese seine Philosophie darstellte. »Manche Leute lieben es, anderen zu sagen, was sie tun sollen. Das geht ihnen noch über Freiheit. Hierarchie, verstehst du. Und ihr Platz in der Hierarchie. Solange er hoch genug ist. Alle an ihre Plätze gebunden. Das ist sicherer als Freiheit. Und viele Menschen sind Feiglinge.«

Sax schüttelte den Kopf. »Ich denke, es ist einfach die Unfähigkeit, den Begriff der sinkenden Erträge zu verstehen. Als ob es von etwas Gutem nie zu viel geben könnte. Das ist sehr unrealistisch. Ich meine, in der Natur gibt es keinen Prozeß, der konstant wäre ohne Rücksicht auf Quantität.«

»Die Lichtgeschwindigkeit.«

»Puh! Irrelevant. Physikalische Realität ist offenkundig kein Faktor bei diesen Berechnungen.«

»Gut formuliert.«

Sax schüttelte frustriert den Kopf. »Wieder Religion. Oder Ideologie. Wie pflegte Frank zu sagen? Eine imaginäre Beziehung zu einer realen Situation.«

»Der war ein Mann, der Macht liebte.«

»Gewiß.«

»Aber er hatte viel Phantasie.«


Sie hielten bei Saxens Apartment an und zogen sich um. Dann gingen sie auf den Gipfel der Mesa, um bei Antonio zu frühstücken. Sax dachte noch über ihre Diskussion nach. »Das Problem liegt darin, daß Leute mit übertriebener Sucht nach Reichtum und Macht Positionen erreichen, die ihnen diese im Übermaß bescheren, und dann finden sie, daß sie ebenso deren Sklaven sind wie deren Herren. Danach werden sie enttäuscht und verbittert.«

»Wie Frank, meinst du.«

»Ja. Also scheinen die Mächtigen immer ein gestörtes Verhältnis zu haben. Alles von Zynismus bis hin zu ausgewachsener Destruktivität. Sie sind nicht glücklich.«

»Aber sie sind mächtig.«

»Allerdings. Und das ist nun unser Problem. Menschliche Angelegenheiten …« — Sax machte eine Pause, um eines der Brötchen zu essen, die gerade aufgetischt wurden. Er hatte großen Hunger — »du meinst, sie sollten nach den Prinzipien der System-Ökologie betrieben werden.«

Desmond lachte laut los und griff hastig nach einer Serviette, um sich das Kinn abzuwischen. Er lachte so laut, daß Leute an den Nachbartischen zu ihnen herüberschauten, was Sax etwas beunruhigte. Desmond setzte zu einer Antwort an, hielt inne und fing wieder an zu lachen: »Was für eine Vorstellung! Ah ha ha! O mein Saxifrag! Wissenschaftliches Management, he?«

»Nun, warum nicht?« sagte Sax hartnäckig. »Ich denke, die Prinzipien, die das Verhalten der dominanten Spezies in einem stabilen Ökosystem bestimmen, sind, soweit ich mich entsinne, recht einfach. Ich wette, daß ein Ausschuß von Ökologen ein Programm aufstellen könnte, das in einer stabilen gutartigen Gesellschaft resultieren würde.«

»Wenn du nur die Welt regieren würdest!« rief Desmond und fing wieder an zu lachen. Er legte die Stirn auf die Tischkante und prustete los.

»Nicht gerade ich.«

»Nein, ich scherze.« Er richtete sich auf und beruhigte sich wieder. »Du weißt, Vlad und Marina arbeiten jetzt schon seit Jahren an ihrer Öko-Ökonomie. Sie haben mich sogar beim Handel zwischen den Kolonien des Untergrundes eingesetzt.«

»Das wußte ich nicht«, sagte Sax überrascht.

Desmond schüttelte den Kopf. »Du mußt mehr Aufmerksamkeit walten lassen, Sax. Im Süden haben wir jetzt schon seit Jahren durch Öko-Ökonomie gelebt.«

»Darum muß ich mich kümmern.«

»Ja.« Desmond grinste breit und wäre fast wieder losgeplatzt. »Du mußt noch eine Menge lernen.«

Ihr Frühstück wurde serviert, zusätzlich eine Karaffe Fruchtsaft, und Desmond schenkte ihre Gläser voll. Er stieß mit Sax an und sprach einen Toast aus: »Willkommen in der Revolution!«

Desmond fuhr in den Süden, nachdem er Sax ein Versprechen entlockt hatte, daß er für Hiroko von Biotique abstauben würde, was er könnte. »Ich muß mich jetzt mit Nirgal treffen.« Er drückte Sax an sich und war verschwunden.

Es verging etwa ein Monat, während dessen Sax über alles nachdachte, was er von Desmond und durch die Videos erfahren hatte. Er sichtete das vorsichtig und wurde dabei immer beunruhigter. Sein Schlaf wurde immer noch fast jede Nacht durch Stunden des Wachseins unterbrochen.

Dann erhielt er eines Morgens nach einer solchen ergebnislosen und ruhelosen Runde von Schlaflosigkeit einen Anruf auf seinem Armband. Es war Phyllis, die zu Sitzungen in der Stadt war und sich mit ihm zum Dinner treffen wollte.

Sax sagte zu, mit seiner Überraschung und Stephans Enthusiasmus. Er traf sie an diesem Abend bei Antonio. Sie küßten sich auf europäische Art und wurden zu einem Ecktisch mit Blick auf die Stadt geführt. Dort aßen sie ein Mahl, das Sax kaum bemerkte, und plauderten unverbindlich über die letzten Ereignisse in Sheffield und bei Biotique.

Nach dem Dessert hockten sie über Brandies. Sax hatte es nicht eilig zu gehen, da er sich nicht sicher war, was Phyllis für nachher vor hatte. Sie hatte kein deutliches Zeichen gegeben und schien es auch nicht eilig zu haben.

Jetzt lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und sah ihn fröhlich an. »Du bist es doch wirklich, nicht wahr?«

Sax neigte den Kopf als Zeichen von Unverständnis.

Phyllis lachte. »Es ist wirklich schwer zu glauben.

Sax Russell, du bist in den alten Tagen nie so gewesen. Ich hätte in hundert Jahren nicht geahnt, daß du so ein Liebhaber sein würdest.«

Sax zwinkerte unbehaglich und schaute sich um. Er sagte mit Stephens Sorglosigkeit: »Ich möchte hoffen, daß dir das mehr über dich sagt als über mich.« Die Tische in der Nähe waren alle frei, und die Kellner ließen sie allein. Das Restaurant würde in etwa einer halben Stunde schließen.

Phyllis lachte wieder; aber ihre Augen hatten einen strengen Ausdruck, und Sax erkannte plötzlich, daß sie wütend war. Ohne Zweifel darüber ärgerlich, von einem Mann zum Narren gehalten worden zu sein, den sie seit mehr als achtzig Jahren kannte. Und auch darüber, daß er sich entschlossen hatte, sie zu täuschen. Und warum nicht? Das zeigte einen sehr tiefen Mangel an Vertrauen, besonders von jemandem, der mit einem schlief. Das schlechte Gewissen wegen seines Verhaltens in Arena kam ihm wieder hoch und machte ihn ganz bedenklich. Aber was war da zu tun?

Er erinnerte sich an jenen Moment im Aufzug, wo sie ihn geküßt hatte und er ähnlich verblüfft gewesen war. Abgestoßen erst durch ihr Nichterkennen und jetzt durch ihr Wiedererkennen. Das hatte eine gewisse Symmetrie. Und beide Male hatte er mitgespielt.

»Hast du noch mehr zu sagen?« fragte Phyllis.

Er spreizte die Hände. »Wie kommst du auf diesen Gedanken?«

Wieder lachte sie ärgerlich und sah ihn dann mit schmalen Lippen an. Sie sagte: »Jetzt ist das so leicht zu sehen. Sie haben dir einfach eine Nase und ein Kinn verpaßt, wie ich annehme. Aber die Augen sind dieselben und die Kopfform. Es ist drollig, an was man sich erinnert und was man vergißt.«

»Das stimmt.«

Tatsächlich war es keine Sache des Vergessens, sondern der Unfähigkeit, sich zu erinnern. Sax glaubte eher, daß die Erinnerungen noch irgendwie gespeichert waren.

»Ich kann mich an dein altes Gesicht wirklich nicht erinnern«, sagte Phyllis. »Für mich warst du immer in einem Labor, die Nase an einen Bildschirm gedrückt. Du hättest ebensogut einen weißen Labormantel tragen können, so wie ich dich in meinen Erinnerungen sehe. Eine Art gigantischer Labor-Ratte.« Jetzt begannen ihre Augen zu funkeln. »Aber irgendwo im Laufe der Zeit hast du es geschafft, recht gut menschliches Verhalten nachzuahmen, nicht wahr? Gut genug, um eine alte Freundin zu täuschen, der es gefallen hat, wie du aussahst.«

»Wir waren keine alten Freunde.«

»Nein«, platzte sie heraus. »Ich denke nein. Du und deine alten Freunde haben versucht, mich zu töten, und haben den größten Teil dieses Planeten zerstört. Und offenbar sind sie noch irgendwo da draußen, sonst würdest du nicht hier sein. Sie müssen tatsächlich weit verbreitet sein; denn als ich einen DNACheck deines Spermas machen ließ, führten die offiziellen Akten dich als Stephen Lindholm. Das hat mich einige Zeit von der Spur abgebracht. Aber es war etwas an dir, das mich verwunderte. Als wir in diese Spalte fielen. Das war es. Es erinnerte mich an etwas, das geschah, als wir in Antarctica waren. Du, Tatiana Durova und ich waren auf dem Nußbaum-Riegel, wo Tatiana sich den Knöchel verrenkte und es windig wurde und spät und sie uns mit dem Helikopter zur Basis zurückbringen mußten. Und während wir warteten, hast du eine Art Felsenflechte gefunden … «

Sax schüttelte ehrlich überrascht den Kopf. »Daran erinnere ich mich nicht.« Und so war es auch. Das Jahr des Trainings und der Auswahl in den trockenen Tälern von Antarctica war anstrengend gewesen, für ihn aber jetzt nur noch eine undeutliche Angelegenheit; und dieser Vorfall wollte auf keinen Fall wiederkommen. Es war schwer zu glauben, daß das geschehen war. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie die arme Tatiana Durova ausgesehen hatte.

In seine Gedanken versunken und in konzentrierter Suche nach seinen Erinnerungen aus jenem Jahr entging ihm etwas von dem, was Phyllis sagte. Aber dann bekam er mit: »… immer wieder mit meinen alten Kopien aus meinem PC verglichen — und da warst du.«

»Die Speicher deines Computers verschlechtern sich vielleicht«, sagte er geistesabwesend. »Man stellt fest, daß die Stromkreise durch kosmische Strahlung geschädigt werden, wenn man sie nicht von Zeit zu Zeit wieder auffrischt.«

Sie ignorierte diese schwache Bemerkung. »Worauf es ankommt, ist, daß Leute, die derartige Akten der Übergangsbehörde verändern können, beobachtet werden müssen. Ich fürchte, daß ich das nicht durchgehen lassen kann. Selbst wenn ich es wollte.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich bin mir nicht sicher. Das hängt davon ab, was du tust. Du könntest mir einfach sagen, wo du dich versteckst und mit wem und was vor sich geht. Du bist schließlich vor einem Jahr bei Biotique aufgekreuzt. Wo bist du vorher gewesen?«

»Auf der Erde.«

Ihr Lächeln war verzerrt. »Wenn das dein Kurs ist, werde ich gezwungen sein, einige meiner Kollegen um Hilfe zu bitten. In Kasei Vallis gibt es Sicherheitsbeamte, die in der Lage sein werden, deinem Gedächtnis etwas aufzuhelfen.«

»Na, na!«

»Ich meine das nicht metaphorisch. Sie werden die Information nicht aus dir herausprügeln oder etwas dergleichen tun. Es ist mehr eine Sache des Herausziehens. Sie legen dich darunter, stimulieren den Hippocampus und die Mandel und stellen Fragen. Die Menschen antworten einfach.«

Sax dachte darüber nach. Der Mechanismus des Gedächtnisses war immer noch wenig erforscht, aber ohne Zweifel konnte etwas Grobes auf die Gebiete angewendet werden, von denen man wußte, daß sie damit zu tun hatten. Schnelle Mikrowellen, punktgenauer Ultraschall — wer wußte was? Es wäre sicherlich gefährlich. Indessen …

»Nun?« fragte Phyllis.

Er starrte in ihr ärgerliches und triumphierendes Lächeln. Ein höhnisches Grinsen. Ungeordnete Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Desmond, Hiroko, die Kinder in Zygote, die riefen: Warum, Sax, warum? Er mußte sein Gesicht ruhig halten, um seinen Widerwillen gegen sie zu verbergen, der ihn plötzlich wie eine Welle durchflutete. Vielleicht war diese Art von Abneigung das, was die Menschen Haß nannten.

Nach einiger Zeit räusperte er sich. »Ich denke, ich sollte es lieber dir erzählen.«

Sie nickte energisch, als ob sie diese Entscheidung selbst getroffen hätte. Sie schaute sich um. Das ganze Restaurant war jetzt leer. Die Kellner saßen an einem Tisch und tranken Grappa. »Los!« sagte sie. »Gehen wir in mein Büro.«

Sax nickte und stand steif auf. Sein rechtes Bein war eingeschlafen. Er hinkte hinter ihr her. Sie sagten den Kellnern, die sich jetzt rührten, gute Nacht und gingen.

Sie stiegen in den Aufzug, und Phyllis drückte den Knopf für die U-Bahn-Etage. Die Tür ging zu, und sie sanken hinab. Wieder in einem Aufzug. Sax holte tief Luft und warf dann den Kopf nach unten, als ob er etwas Ungewöhnliches auf dem Kontrollpaneel ansehen wollte. Phyllis folgte seinen Blick, und mit einer ruckartigen Bewegung schlug er sie auf die Seite des Kinnbackens. Sie prallte gegen die Seite des Aufzugs und brach benommen und japsend zusammen. Die zwei größten Knöchel seiner rechten Hand schmerzten Sax furchtbar. Er drückte den Knopf für die zweite Etage über der U-Bahn, die einen langen Korridor nach Hunt Mesa hatte mit Läden zu beiden Seiten, die um diese Stunde geschlossen sein würden. Er packte Phyllis bei den Achselhöhlen und zog sie hoch. Sie war größer als er, schlaff und schwer; und als die Tür des Lifts aufging, bereitete er sich darauf vor, um Hilfe zu rufen. Aber draußen stand niemand, und er schlang sich einen ihrer Arme um den Hals und zerrte sie hinüber zu einem der kleinen Wagen, die dort zur Bequemlichkeit der Gäste standen, die die Mesa schnell oder mit einer Last passieren wollten. Er ließ Phyllis auf den Rücksitz fallen. Sie stöhnte. Es klang, als ob sie zu sich käme. Er setzte sich vor ihr auf den Fahrerplatz und trat das Pedal bis zum Boden durch. Das kleine Fahrzeug brummte den Korridor entlang. Sax fand das Atmen mühsam und schwitzte.

Er kam an zwei Toiletten vorbei und hielt an. Phyllis rollte hilflos vom Sitz und auf den Boden. Sie stöhnte noch lauter. Bald würde sie das Bewußtsein wiedererlangen, falls das nicht schon der Fall war. Sax stieg aus und lief hinüber, um zu sehen, ob die Herrentoilette frei war. Das war der Fall. Also rannte er wieder zum Wagen, zog Phyllis an den Schultern hoch und legte sie sich auf den Rücken. Er stolperte unter ihrem Gewicht, bis er die Tür der Toilette erreichte. Dann warf er sie hin. Ihr Kopf krachte auf den Betonfußboden, und ihr Stöhnen hörte auf. Sax öffnete die Tür und zog sie hindurch. Dann schloß und verriegelte er sie.

Er setzte sich neben ihr auf den Fußboden des Waschraums und rang nach Luft. Sie atmete noch, und ihr Puls war schwach, aber gleichmäßig. Sie schien in Ordnung zu sein, aber noch stärker benommen, als nachdem er sie geschlagen hatte. Ihre Haut war blaß und feucht, und ihr Mund stand offen. Sie tat ihm leid, bis er daran dachte, daß sie gedroht hatte, ihn den Sicherheitstechnikern zu übergeben, um ihm seine Geheimnisse zu entreißen. Deren Methoden waren fortschrittlich, aber eine Tortur war es trotzdem. Und falls sie Erfolg hätten, würden sie über die Flüchtlinge im Süden und alle übrigen Bescheid wissen. Sobald sie eine allgemeine Vorstellung von dem hatten, was er wußte, wäre es nicht möglich, ihren Kombinationen von Drogen und Verhaltenssteuerung zu widerstehen.

Und selbst jetzt wußte Phyllis schon zu viel. Die Tatsache, daß er eine so gute falsche Identität hatte, ließ auf eine ganze Infrastruktur schließen, die bis dahin verborgen gewesen war. Wenn sie einmal von deren Existenz wußten, könnten sie sie wahrscheinlich aufspüren. Hiroko, Desmond, Spencer, die in Kasei Vallis tief im System steckten, alle exponiert… Nirgal und Jackie, Peter, Ann… sie alle. Weil er nicht geschickt genug gewesen war, einem stupiden schrecklichen Weib wie Phyllis aus dem Wege zu gehen.

Er schaute sich um. Der Raum hatte die Größe von zwei Toilettenkabinen — eine Kabine mit der Toilette und eine andere mit einem Ausguß, einem Spiegel und der üblichen Wand mit Automaten für Sterilitätspillen und Erfrischungsgas. Er betrachtete diese, atmete tief durch und überdachte die Lage. Als ihm Pläne in den Kopf kamen, flüsterte er seinem Armbandcomputer Anweisungen zu. Desmond hatte ihm einige sehr verheerende Virusprogramme gegeben. Er stöpselte sein Armband in das von Phyllis und wartete, daß die Übertragung stattfand. Mit einigem Glück würde er ihr ganzes System zerstören. Persönliche Sicherheitsmaßnahmen waren nichts gegenüber Desmonds militärisch fundierten Viren. Das behauptete jedenfalls Desmond selbst.

Aber da war immer noch Phyllis. Die Automaten für Erfrischungsgase an der Wand enthielten größtenteils Stickoxydul, jeder etwa zwei oder drei Kubikmeter davon. Der Raum hatte, wie er schätzte, ungefähr fünfunddreißig bis vierzig Kubikmeter. Das Ventilationsgitter befand sich nahe der Decke und konnte mit einem Streifen des neben der Spüle auf einer Rolle sitzenden Handtuchs verstopft werden.

Sax steckte Geldchips in den Automaten und kaufte alle darin enthaltenen Gase auf. Zwanzig kleine Flaschen von Taschengröße mit Masken für Nase und Mund. Und Lachgas würde etwas schwerer sein als die Luft in Burroughs.

Er nahm die kleine Schere aus dem Schlüsselfach seines Armbands und schnitt von der Endlosrolle des Handtuchs einen Streifen ab. Dann kletterte er auf den Toilettentank und verdeckte das Lüftungsgitter, indem er den Streifen in die Schlitze stopfte. Es gab noch Lücken, aber die waren klein. Er kletterte wieder herunter und ging zur Tür hinüber. Dort am Boden war ein fast ein Zentimeter großer Spalt. Er schnitt noch einige Streifen von dem Handtuch ab. Phyllis schnarchte. Er ging zur Tür, öffnete sie, beförderte die Gasflaschen mit einem Tritt hinaus und trat nach ihnen auf den Korridor. Er warf einen letzten Blick auf Phyllis, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Dann schloß er die Tür. Er stopfte die Handtuchstreifen unter die Tür und ließ nur an einer Ecke eine kleine Öffnung. Nachdem er sich beiderseits auf dem Korridor umgeschaut hatte, setzte er sich hin, nahm eine Flasche, paßte die flexible Maske dem Loch an und schoß den Inhalt in die Herrentoilette. Das tat er zwanzigmal und stopfte die leeren Flaschen in seine Taschen, bis die voll waren. Dann machte er für den Rest eine kleine Tragetasche aus dem letzten Streifen des Handtuchs. Er stand auf, ging zum Wagen und nahm im Fahrersitz Platz. Er trat auf das Pedal, und der Wagen sprang nach vorn in einer Bewegung entgegen derjenigen, die Phyllis aus dem Rücksitz auf den Boden geworfen hatte. Das hatte wohl weh getan.

Er hielt wieder an, stieg aus und lief klapprig zur Toilette zurück. Er riß die Tür auf, ging mit angehaltenem Atem hinein, packte Phyllis bei den Fußknöcheln und zerrte sie in die Luft hinaus. Sie atmete noch und zeigte ein leichtes Lächeln. Sax widerstand der Versuchung, ihr einen Tritt zu versetzen, und lief zum Wagen zurück.

Er fuhr in vollem Tempo zur anderen Seite von Hunt Mesa und nahm dann den Lift zur U-Bahn-Etage. Er bestieg den nächsten Zug und wartete bis zum Südbahnhof. Er merkte, daß seine Hände zitterten. Die beiden großen Knöchel seiner rechten Hand waren geschwollen und fingen an, sich blau zu verfärben. Sie schmerzten stark.

Am Bahnhof kaufte er ein Ticket nach Süden. Aber als er dies und seinen Personalausweis dem Mann an der Sperre gab, machte der runde Augen, und er und seine Kollegen zogen sofort ihre Pistolen, um ihn festzunehmen. Dabei riefen sie nervös nach Leuten in einem anderen Raum um Hilfe. Offenbar war Phyllis schneller zu sich gekommen, als ihn seine Berechnungen hatten annehmen lassen.

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