Es ist immer eine Herausforderung, ein neues Land zu bewohnen. Sobald das Kuppeldach über Nirgal Vallis fertig war, setzte Separation de VAtmosphere einige ihrer größten mesokosmischen Luftmaschinen in Gang, und bald war die Kuppel mit einer Mischung aus Stickstoff, Sauerstoff und Argon bei 500 Millibar gefüllt, die aus der umgebenden Luft herausgezogen und gefiltert worden war, die jetzt bei 250 Millibar lag. Und die Siedler aus Cairo und Senzeni Na und überall sonst auf den zwei Welten zogen ein.
Zuerst wohnten die Leute in mobilen Anhängern dicht bei kleinen transportablen Gewächshäusern; und während sie den Boden des Canyons mit Bakterien und Pflügen bearbeiteten, benutzten sie Gewächshäuser zur Aufzucht ihrer ersten Ernten und der Bäume und Bambusstämme, mit denen sie ihre Häuser bauen wollten, und der Wüstenpflanzen, die sie außerhalb der Farmen verbreiten würden. Die Smektit-Tone der Canyonsohle waren eine sehr gute Basis für einen nutzbaren Boden, obwohl sie Biota, Stickstoff und Pottasche hinzufügen mußten. Es gab reichlich Phosphor und gewöhnlich mehr Salze, als sie brauchten.
So verbrachten sie ihre Tage damit, den Boden anzureichern, Getreide in Gewächshäusern zu ziehen und robuste Pflanzen für Salzwüsten anzusiedeln. Sie trieben im ganzen Tal auf und ab Handel. Kleine Marktweiler bildeten sich fast am Tage des Einzugs. Ebenso Wege zwischen Heimstätten und eine Hauptstrecke, die neben dem Fluß mitten durch das ganze Tal verlief. Nirgal Vallis hatte kein Wasserreservoir an seinem oberen Ende; darum pumpte man über eine Rohrleitung von Marineris genügend Wasser dorthin, um einen kleinen Fluß strömen zu lassen. Sein Wasser wurde am Uzboi-Tor gesammelt und wieder zum oberen Ende des Zeltes zurückgepumpt.
Die Heimstätten waren je etwa ein halbes Hektar und fast ein jeder versuchte, auf dieser Fläche den Großteil seiner Nahrung zu ziehen. Die meisten Leute teilten ihr Land in sechs Miniaturfelder auf und führten in jeder Saison Frucht- und Weidewechsel durch. Jeder hatte seine eigenen Theorien über Ackerbau und Bodenverbesserung. Die meisten erzeugten eine kleine Ernte an Nüssen, Früchten oder Nutzholz zum Verkauf. Manche hielten Schafe, Ziegen, Schweine und Kühe. Die Kühe waren fast alle von sehr kleinwüchsiger Rasse, nicht viel größer als Schweine.
Sie versuchten, die Farmen unten am Canyonboden am Fluß zu halten, und ließen die höheren Flächen unter den Wänden des Canyons wild. Sie führten eine Gruppe von Wüstentieren aus dem amerikanischen Südwesten ein, so daß Eidechsen, Schildkröten und Eselhasen in der Nähe lebten, sowie Cojoten, Rotluchse und Falken, die unter ihren Hühnern und Schafen aufräumten. Sie hatten eine Invasion von Alligatoreidechsen und dann von Kröten. Die Größe der Populationen regulierte sich langsam, aber es gab oft starke Schwankungen. Die Pflanzen begannen, sich selbständig zu verbreiten. Das Land sah bald so aus, als ob Leben ganz natürlich dahin gehörte. Die Wände aus rotem Fels standen unverändert da, kahl und gezackt über der neuen Flußwelt.
Am Samstagmorgen war Markttag, und die Leute fuhren mit vollen Lieferwagen zu den Marktweilern. Eines Morgens im Winter ’42 versammelten sie sich in Playa Blanco unter dunklem, bewölktem Himmel, um Spätgemüse, Meierei-Erzeugnisse und Eier zu verkaufen. »Weißt du, man kann sagen, in welchen Eiern lebende Küken sind. Man nimmt sie alle, tut sie in einen Eimer Wasser und wartet, bis alles ganz still ist. Die Eier, welche dann zittern, sind die mit lebenden Küken darin. Die kann man wieder unter die Hennen legen und den Rest essen.«
»Ein Kubikmeter Wasserstoffperoxid sind zwölfhundert Kilowattstunden! Außerdem wiegt es anderthalb Tonnen. So viel wirst du nie benötigen.«
»Wir versuchen, es in den Bereich von milliardstel Teilen zu bringen, hatten aber noch kein Glück.«
»Centro de Educaciön y Tecnologia in Chile, die haben wirklich mit Fruchtwechsel großartige Arbeit geleistet. Du würdest es nicht glauben. Komm her und sieh es dir an!«
»Es kommt ein Gewitter auf.«
»Wir halten auch Bienen.«
»Maja ist Nepali, Baghram ist Persisch, Mawrth ist Walisisch. Nun ja, es klingt wie Lispeln, aber ich spreche es wahrscheinlich nicht richtig aus. Sie sprechen es wahrscheinlich Moth oder Mort oder Mars aus.«
Dann verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Kunde auf dem Marktplatz: »Nirgal ist hier! Er wird im Pavillon sprechen … «
Und da war er. Er ging schnell am Kopf einer zunehmenden Volksmenge, grüßte alte Freunde und schüttelte die Hände von Leuten, die sich ihm näherten. Jeder im Weiler folgte ihm und drängte sich in den Pavillon und Volleyballplatz am westlichen Ende des Marktes. Wildes Gebrüll übertönte den Lärm der Menge.
Nirgal stieg auf eine Bank und begann zu reden. Er sprach über ihr Tal und das andere neue, mit Kuppeln bedeckte Land auf dem Mars und was das bedeutete. Als er aber zu der Situation der zwei Welten im großen überging, brach das Gewitter über ihren Köpfen mit Getöse los. Blitze schlugen in die Ableiter, und man erlebte in rascher Folge Regen, Schnee, Hagel und danach Schlamm.
Die Kuppel über dem Tal war so steil wie die einer Kirche. Staub und Grus wurden durch die statische Ladung seiner äußeren Schicht abgestoßen. Regen lief einfach ab, und Schnee rutschte herunter und häufte sich unten an den Seiten auf und bildete Haufen, die von riesigen robotischen Schneepflügen mit langen abgewinkelten Blasezusätzen weggepustet wurden, die während Schneestürmen an den Fundamenten auf und ab fuhren. Aber Schlamm war ein Problem. Mit dem Schnee vermischt, bildete er kalte Klumpen, hart wie Beton, auf dem Kuppeldach genau über dem Fundament; und diese dichten Schichten konnten so schwer werden, daß sie die Kuppel beschädigten. Das war im Norden schon einmal vorgekommen.
Als das Unwetter sich verschlimmerte und das Licht im Canyon sich trübte, sagte Nirgal deshalb: »Wir sollten uns lieber nach oben begeben.« Und alle stiegen in die Wagen und fuhren zum nächsten Aufzug, der im Innern der Canyonwand zum oberen Rande führte. Oben angelangt, übernahmen die Leute, die Bescheid wußten, die Schneepflüge und betrieben sie von Hand, so daß die großen Gebläse jetzt Dampf über die Schneewehen sprühten, um sie von der Kuppel herunterzuspülen. Alle anderen bildeten Gruppen und zogen von Hand gezogene Dampfkarren heraus, um die von den Schneepflügen heruntergeholten Haufen aus Schlamm vom Fundament wegzuschaffen. Dabei half Nirgal. Er lief mit einem Dampfschlauch umher, als ob er einen anstrengenden neuen Sport ausüben würde. Niemand konnte mit ihm Schritt halten, aber alle steckten schnell bis zur Hüfte in kaltem wirbelnden Schlamm, wobei die Windstärke über 150 lag und massive tiefschwarze Wolken die ganze Zeit immer mehr auf sie herunterspien. Der Wind stieg auf 180 Kilometer in der Stunde, aber das machte keinem etwas aus. Er half auch mit, die Kuppel vom Schlamm zu säubern. Sie erledigten einen Streifen nach dem andern und bewegten sich mit dem Wind nach Westen, indem sie Ströme von Schlamm in das nicht überdachte Uzboi Vallis jagten.
Als das Unwetter abflaute, war die Kuppel schön klar, aber das Land auf beiden Seiten von Nirgal Vallis war tief von gefrorenem Schlamm bedeckt, und die Leute waren durchnäßt. Sie drängten sich wieder in die Aufzüge und kamen erschöpft und kalt auf dem Boden das Canyons an. Sie schauten sich an — völlig schwarze Gestalten mit Ausnahme ihrer Sichtscheiben. Nirgal legte seinen Helm ab, und da war er wieder, kräftig, lachend und unerschütterlich. Als er von seinem Helm Schlamm abkratzte und auf sie warf, ging das Gerangel los. Die meisten fanden es klug, die Helme aufzubehalten; und es war ein seltsames Bild, wie sich da auf dem dunklen Boden dieses Canyons blinde schlammige Gestalten mit Dreckklumpen bewarfen und in den Fluß hinausliefen, wo sie herumrutschten, als sie rangen und untertauchten.
Maya Katarina Toitovna erwachte in übler Laune, gestört durch einen Traum, den sie absichtlich vergaß, als sie aus dem Bett rollte. Als ob man nach dem ersten Gang ins Bad die Wasserspülung zog. Träume waren gefährlich. Sie zog sich an mit dem Rücken zum Spiegel über dem Ausguß und ging dann hinunter in den Speiseraum. Ganz Sabishii war in dem typisch marsianisch- japanischen Stil erbaut. Ihre Nachbarschaft sah aus wie ein Zengarten, lauter Kiefern und Moos zwischen polierten roten Steinblöcken. Das war schön auf eine karge Art, die Maya unangenehm fand, eine Art Tadel für ihre Runzeln. Sie ignorierte das, so gut sie konnte, und konzentrierte sich auf das Frühstück. Die tote Langeweile der täglichen Notwendigkeiten. An einem anderen Tisch aßen Vlad, Ursula und Marina zusammen mit einer Gruppe der Issei von Sabishii. Diese hatten alle rasierte Köpfe und sahen in ihren Arbeitsjumpern aus wie Zenmönche. Einer von ihnen stellte einen kleinen Schirm über ihrem Tisch an, und es begann eine Nachrichtensendung von der Erde, eine metanationale Produktion von Moskau, die den gleichen Bezug zur Realität hatte wie früher die Pravda. Manche Dinge änderten sich nie. Dies war die Fassung in Englisch. Das Englisch des Sprechers war besser als ihr eigenes, selbst nach all diesen Jahren. »Jetzt die letzten Neuigkeiten von diesem fünften Tage des August 2114.«
Maya versteifte sich in ihrem Sessel. In Sabishii war es Ls 246, der vierte Tag des zweiten Novembers. Die Tage waren kurz und die Nächte ziemlich warm für dies Marsjahr 44. Maya hatte keine Ahnung, was das irdische Datum war, und das schon seit Jahren nicht mehr. Aber da unten war es ihr Geburtstag. Ihr — sie mußte nachrechnen — einhundertdreißigster Geburtstag.
Ihr war übel. Sie runzelte die Stirn, warf ihr halb verzehrtes Frühstück auf den Teller und starrte es an. In ihren Kopf flatterten Gedanken wie Vögel aus einem Baum heraus. Sie konnte sie nicht verfolgen. Es war, als ob sie leer wäre. Was bedeutete dieses schreckliche unnatürliche Alter? Warum hatten sie gerade in diesem Moment den Schirm angestellt?
Sie ließ das halbmondförmig abgebissene Brötchen liegen, das ein ominöses Aussehen angenommen hatte, und ging hinaus in das herbstliche Morgenlicht. Unten an dem lieblichen Hauptboulevard des alten Viertels von Sabishii, grün vom Rasen und rot von Feuerahorn mit breiten Wipfeln, stand ein Ahornbaum vor der tief stehenden Sonne und flammte scharlachrot auf. Auf der ihrer Wohnung gegenüberliegenden Seite des Platzes sah sie Yeli Zudov, der mit einem kleinen Kind, vielleicht Mary Dunkels Ururenkelin, kegelte. Es waren jetzt viele der Ersten Hundert in Sabishii. Das machte sich gut als ihre Demimonde. Alle waren in die lokale Wirtschaft eingebunden und im alten Stadtviertel, mit falschen Identitäten und Schweizer Pässen — alles erstaunlich solide, so daß sie an der Oberfläche leben konnten. Und alles ohne die Erfordernis kosmetischer Chirurgie, die Sax so verändert hatte; denn das Alter hatte dies für sie besorgt. Sie waren unkenntlich so, wie sie waren. Maya konnte durch die Straßen von Sabishii gehen, und die Leute würden nur ein altes Weib neben vielen anderen sehen. Falls die Übergangsbehörde sie anhielt, würde sie sich als eine Ludmilla Novosibirskaya ausweisen. Aber die Wahrheit war, man würde sie nicht anhalten.
Sie ging durch die Stadt und versuchte, von sich selbst loszukommen. Vom Nordende der Kuppel aus konnte sie außerhalb der Stadt die große Halde des Gesteins erkennen, das aus dem Mohole von Sabishii herausgewühlt worden war. Sie bildete einen langen gebogenen Hügel, der aufwärts zum Horizont hin verlief über die großen Krummholzbecken von Tyrrhena. Man hatte die Halde so angelegt, daß sie von oben einen Drachen darstellte, der die eiförmigen Kuppeln der Stadt in seinen Klauen hielt. Eine im Schatten liegende Spalte, die die Halde querte, markierte die Stelle, wo eine Klaue aus dem schuppigen Fleisch der Kreatur heraustrat. Die Morgensonne leuchtete wie das silberne Auge des Drachen, das sie über die Schulter anblickte.
Mayas Armband piepste, und sie nahm ärgerlich den Ruf an. Es war Marina. Sie sagte: »Saxifrage ist hier. Wir werden uns in einer Stunde am westlichen Steingarten treffen.«
»Ich werde dort sein«, sagte Maya und trennte die Verbindung.
Was würde das wohl für ein Tag werden? Sie ging nach Westen am Stadtrand entlang, zerstreut und deprimiert. Einhundertdreißig Jahre alt. Auf der Erde gab es in Georgien am Schwarzen Meer Abkhasier, die solches Alter ohne Behandlung erreicht haben sollten. Vermutlich kamen sie auch jetzt noch ohne so etwas aus — die gerontologische Behandlung war nur partiell auf der Erde verbreitet. Sie folgte den Isobaren von Geld und Macht, und die Abkhasier waren immer arm gewesen. Glücklich, aber arm.
Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie es in Georgien gewesen war, in der Gegend, wo der Kaukasus auf das Schwarze Meer trifft.
Die Stadt hieß Sukhumi. Sie glaubte, sie in der Jugend besucht zu haben. Ihr Vater war Georgier gewesen. Aber sie konnte sich an kein Bild erinnern, nicht im geringsten. Sie konnte sich überhaupt an gar keinen Teil der Erde erinnern — Moskau, Baikonur, die Aussicht von Novy Mir — nichts davon. Das Gesicht ihrer Mutter über dem Küchentisch, grimmig lächelnd, wenn sie bügelte oder kochte. Maya wußte, daß das geschehen war, weil sie die Worte der Erinnerung von Zeit zu Zeit übte, wenn sie traurig war. Aber die aktuellen Bilder … Ihre Mutter war erst zehn Jahre gestorben, ehe die Behandlungen zugänglich wurden, sonst könnte sie vielleicht noch jetzt leben. Sie wäre 150 — keineswegs unsinnig; denn der derzeitige Altersrekord war um 170 und kletterte immer noch höher ohne ein Anzeichen, daß er je aufhören würde. Nur Unfälle, seltene Krankheiten und gelegentlich ärztliche Kunstfehler töteten in diesen Tagen behandelte Personen. Das und Mord. Auch Selbstmord.
Maya kam zu den westlichen Steingärten, ohne eine der sauberen engen Straßen des alten Viertels von Sabishii gesehen zu haben. So endeten die alten Leute, indem sie sich nicht an jüngste Ereignisse erinnerten, weil sie sie beim ersten Mal nicht sahen. Verlorene Erinnerung, noch ehe sie aufkommen konnte, weil man sich so intensiv auf die Vergangenheit konzentrierte.
Vlad, Ursula, Marina und Sax saßen auf einer Parkbank gegenüber den ursprünglichen Habitaten von Sabishii, die noch benutzt wurden, zumindest von Gänsen und Enten. Der Teich, die Brücke und Bänke aus losem Gestein und Bambus konnten direkt einem alten Holzschnitt oder Seidengemälde entnommen sein. Ein Cliche. Jenseits der Kuppelwand blähte sich weiß die große thermische Wolke des Moholes, dichter denn je, wenn das Loch tiefer und die Atmosphäre feuchter wurde.
Maya setzte sich auf eine Bank ihren alten Gefährten gegenüber und sah sie grimmig an. Gefleckte, runzlige alte Knacker und Vetteln. Sie sahen fast wie Fremde aus, wie Leute, denen sie nie begegnet war. Ah, aber da waren Marinas stechende verschleierte Augen und Vlads leichtes Lächeln — nicht überraschend beim Gesicht eines Mannes, der achtzig Jahre lang mit zwei Frauen gelebt hatte, augenscheinlich in Harmonie und sicher in einer vollkommen isolierten Vertraulichkeit. Obwohl es hieß, Marina und Ursula seien ein lesbisches Paar und Vlad nur eine Art Kamerad oder Schoßtier. Aber das konnte niemand sicher sagen. Auch Ursula machte ein zufriedenes Gesicht wie immer. Jedermanns Lieblingstante. Doch, mit Konzentration konnte man sie erkennen. Nur Sax sah ganz anders aus, ein schmucker Mann mit einer gebrochenen Nase, die er noch nicht hatte richten lassen. Sie stand in der Mitte seines frisch verschönten Gesichts wie eine Anklage gegen sie, als ob sie ihm das angetan hätte und nicht Phyllis. Er sah ihr nicht ins Auge, sondern betrachtete ruhig die zu seinen Füßen quakenden Enten, als ob er sie studieren würde. Der Wissenschaftler bei der Arbeit. Nur war er jetzt ein verrückter Wissenschaftler, der alle ihre Pläne über den Haufen warf und mit dem nicht vernünftig zu reden war.
Maya zog den Mund zusammen und sah Vlad an.
Er sagte: »Subarashii und Amexx erhöhen die Zahl der Truppen der Übergangsbehörde. Wir haben von Hiroko eine Nachricht bekommen. Sie haben die Einheit, welche Zygote angegriffen hat, zu einer Art Expeditionstruppe verstärkt, die sich jetzt nach Süden bewegt, zwischen Argyre und Hellas. Sie scheinen nicht zu wissen, wo sich die meisten verborgenen Zufluchtsstätten befinden, kontrollieren aber nacheinander alle heißen Punkte. Sie sind in Christianopolis eingedrungen und haben es als Operationsbasis übernommen. Es sind ungefähr fünfhundert Mann, schwer bewaffnet und aus dem Orbit geschützt. Hiroko sagt, daß sie nur mit Mühe Cojote, Kasei und Harmakhis davon abhalten kann, die Guerilleros des Mars zu einem Angriff gegen sie zu führen. Wenn sie aber noch mehr Sanktuarien finden, sind die Radikalen zum Angriff entschlossen.«
Damit waren die wilden jungen Burschen von Zygote gemeint, dachte Maya bekümmert. Sie hatten sie mühsam großgezogen, die Ektogenen und die ganze Sansei-Generation — jetzt fast vierzig und kampfeslüstern. Und Peter und Kasei und der Rest der Nisseigeneration näherten sich den Siebzigern und hätten im regulären Lauf der Dinge längst die Anführer ihrer Welt sein müssen. Aber sie standen immer noch im Schatten ihrer nicht sterbenden Eltern. Welche Gefühle mochte das bei ihnen wecken? Wie konnten sie mit solchen Gefühlen handeln? Vielleicht dachten sich einige, daß eine neue Revolution gerade richtig wäre, um ihnen ihre Chance zu geben. Revolution war schließlich das Reich der Jungen.
Die Alten saßen da und beobachteten schweigend die Enten. Eine düstere, niedergeschlagene Gruppe. Maya fragte: »Was ist aus den Christen geworden?«
»Einige sind nach Hiranyagarbha gegangen. Der Rest ist dageblieben.«
Falls die Kräfte der Übergangsbehörde die Gebirge im Süden eroberten, dann könnte1 der Untergrund die Städte infiltriert haben. Aber zu welchem Zweck? So dünn verstreut könnten sie nicht der Ordnung zweier Welten trotzen, da diese auf der Erde ihre Basis hatte. Maya hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, das ganze Unabhängigkeitsprojekt wäre nur ein Traum, eine kompensatorische Phantasie für die gebrechlichen Überlebenden einer verlorenen Sache.
»Weißt du, weshalb diese Aufstockung der Sicherheit erfolgt ist?« fragte sie Sax. »Das haben jene großen Sabotagen bewirkt.«
Sax ließ nicht erkennen, ob er ihr zuhörte.
»Es ist jammerschade, daß wir uns in Dorsa Brevia nicht auf einen Aktionsplan festgelegt haben«, sagte Vlad.
»Dorsa Brevia«, sagte Maya ärgerlich.
»Es war eine gute Idee«, widersprach Marina.
»Vielleicht. Aber ohne einen von allen angenommenen Aktionsplan war das konstitutionelle Zeug bloß … « Maya machte eine Handbewegung, »ein Bau von Sandburgen. Ein Spiel.«
»Der Gedanke war«, sagte Vlad, »daß jede Gruppe tun würde, was sie für das beste hielt.«
»Das war der Gedanke im Jahre einundsechzig«, erklärte Maya. »Und wenn jetzt Cojote und die Radikalen einen Guerillakrieg anfangen und es wirklich losgeht, dann sind wir genau wieder so weit wie damals 2061.«
»Was denkst du, das wir tun sollten?« fragte Ursula neugierig.
»Wir sollten selbst die Macht übernehmen! Wir machen den Plan, und wir entscheiden, was zu tun ist. Wir verbreiten das im ganzen Untergrund. Wenn wir dafür nicht die Verantwortung übernehmen, dann ist es unsere Schuld, was immer geschieht.«
»Das ist es, was Arkady versucht hat«, erklärte Vlad.
»Arkady hat es wenigstens versucht! Wir sollten auf dem aufbauen, was an seiner Arbeit gut gewesen ist.« Sie lachte kurz. »Ich hätte nie gedacht, daß ich mich selbst dies würde sagen hören. Aber wir sollten mit den Bogdanovisten zusammenarbeiten und dann mit jedem, der zu uns stoßen will. Wir müssen die Führung übernehmen! Wir sind die Ersten Hundert, wir sind die einzigen mit der Autorität, es zu schaffen. Die von Sabishii werden uns helfen, und die Bogdanovisten werden anrücken.«
»Wir brauchen auch Praxis«, sagte Vlad. »Praxis und die Schweizer. Es muß ein Staatsstreich werden und kein allgemeiner Krieg.«
»Praxis will uns helfen«, sagte Marina. »Was ist aber mit den Radikalen?«
»Wir müssen sie zwingen«, erklärte Maya. »Ihre Versorgung abschneiden, ihnen ihre Mitglieder wegnehmen … «
»Das führt zum Bürgerkrieg«, wandte Ursula ein.
»Nun ja, man muß ihnen Einhalt gebieten! Wenn sie eine Revolte zu früh beginnen und die Metanationalen über uns kommen, ehe wir bereit sind, sind wir verloren. Alle die unkoordinierten Angriffe bei ihnen müßten aufhören. Sie erreichen nichts, sondern erhöhen nur die Unsicherheit und machen die Dinge für uns noch schwieriger. Solche Sachen, wie Deimos aus seiner Bahn stoßen, machen sie nur noch mehr auf unsere Präsenz aufmerksam, ohne sonst etwas auszurichten.«
Sax, der immer noch die Enten beobachtete, sagte in seiner eigenartigen flotten Art: »Es gibt einhundertvierzehn Schiffe für die Verbindung zwischen Erde und Mars. Vierundsiebzig Objekte sind im Orbit — im Orbit um den Mars. Der neue Clarke ist eine voll verteidigte Raumstation. Deimos stand für dasselbe zur Verfügung als militärische Basis. Eine Waffenplattform.«
»Es war ein leerer Mond«, sagte Maya. »Was die Vehikel im Orbit angeht, so werden wir uns damit zu gegebener Zeit beschäftigen müssen*.«
Sax schien wieder nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß sie etwas gesagt hatte. Er starrte auf die verfluchten Enten und blinzelte leicht. Von Zeit zu Zeit sah er Marina an.
Marina sagte: »Es muß eine richtige Enthauptung sein, wie Nirgal und Art in Dorsa Brevia gesagt haben.«
»Mal sehen, ob wir den Hals finden können«, meinte Vlad trocken.
Maya wurde immer noch wütender auf Sax und sagte: »Wir sollten uns jeder eine der größeren Städte vornehmen und das Volk dort zu einem vereinigten Widerstand organisieren. Ich möchte nach Hellas zurückkehren.«
»Nadia und Art sind in South Fossa«, sagte Marina. »Aber wir werden alle der Ersten Hundert brauchen, damit sie sich mit uns vereinigen, wenn das funktionieren soll.«
»Die Ersten Neununddreißig«, sagte Sax.
»Wir brauchen auch Hiroko«, warf Vlad ein. »Und sie wird auch Cojote etwas zur Vernunft bringen.«
»Das schafft keiner«, sagte Marina. »Aber Hiroko brauchen wir wirklich. Ich werde nach Dorsa Brevia gehen und mit ihr reden, und wir werden versuchen, den Süden in Schach zu halten.«
»Sax?« fragte Vlad.
Sax schreckte aus seiner Träumerei auf und blinzelte Vlad an. Immer noch kein Blick für Maya, selbst als sie über ihren Plan diskutierten. Er sagte: »Integrierte Seuchenbekämpfung. Man zieht zwischen dem Unkraut kräftigere Pflanzen. Und dann wird es von diesen verdrängt. Ich werde Burroughs übernehmen.«
Wütend, weil Sax ihr die kalte Schulter zeigte, stand Maya auf und ging um den kleinen Teich herum. Sie blieb am gegenüberliegenden Ufer stehen und packte mit beiden Händen das Geländer am Weg. Sie sah zu den anderen drüben am Wasser hinüber, die auf ihren Bänken saßen wie Rentner, die über Essen, das Wetter, die Enten und das letzte Schachturnier schwatzten. Verdammt Sax! Würde er ihr für immer Phyllis zum Vorwurf machen, dieses abscheuliche Weibsstück?
Plötzlich vernahm sie schwach, aber deutlich ihre Stimmen. Hinter dem Weg befand sich eine gekrümmte Wand, die fast um den ganzen Teich herumlief, und ihre Position war ihnen genau gegenüber. Offenbar wirkte die Wand wie eine perfekte kleine Flüstergalerie. Die zarten Stimmen ertönten einen Sekundenbruchteil später als die kleinen Mundbewegungen.
»Zu schade, daß Arkady nicht mehr lebt«, sagte Vlad. »Die Bogdanovisten würden sehr viel leichter einlenken.«
»Ja«, sagte Ursula. »Er und John und Frank fehlen uns.«
»Frank«, sagte Marina ärgerlich. »Wenn er John nicht getötet hätte, wäre alles dies nicht passiert.«
Maya blinzelte. Das Geländer hielt sie fest.
»Was?« schrie sie, ohne nachzudenken. Über dem Teich fuhren die kleinen Gestalten zusammen und sahen sie an. Maya machte sich mit einer Hand nach der anderen vom Geländer los und rannte halb um den Teich, wobei sie zweimal stolperte.
»Was meinst du damit?« brüllte sie Marina an, als sie näher kam. Die Worte brachen ungewollt aus ihr hervor.
Vlad und Ursula trafen sie einige Schritte vor den Bänken. Marina blieb sitzen und schaute verdrießlich weg. Vlad breitete die Hände aus, und Maya stieß direkt dazwischen hindurch, um an Marina heranzukommen. »Was behauptest du da für üble Dinge?!« schrie sie. Ihre Stimme tat ihr in der eigenen Kehle weh. »Warum? Warum? Es waren Araber, die John getötet haben. Das weiß jeder!«
Marina machte eine Grimasse und schüttelte mit zu Boden gerichtetem Blick den Kopf.
»Na und?« schrie Maya.
»Das war eine Redensart«, sagte Vlad von hinten. »Frank hat in jenen Jahren viel unternommen, John zu untergraben. Du weißt, daß das wahr ist. Manche sagen, er hätte die Muslimbruderschaft gegen John aufgehetzt. Das ist alles.«
»Pah!« sagte Maya. »Wir haben alle untereinander gestritten. Das besagt nichts.«
Dann merkte sie, daß Sax sie direkt anschaute — jetzt endlich, wo sie wütend war —, anschaute mit einer eigenartigen Miene, kühl und schwer zu deuten — ein Blick der Anklage, der Rache, oder was? Sie hatte auf russisch geschrien, und die anderen hatten ebenso geantwortet; und sie nahm nicht an, daß Sax es sprach. Vielleicht war er nur darauf neugierig, was sie alle so erregt hatte. Aber die Antipathie in diesem starren Blick — als ob er bestätigte, was Marina gesagt hatte — es wie einen Nagel in sie einhämmerte!
Maya drehte sich um und floh.
Sie befand sich vor der Tür zu ihrem Zimmer, ohne sich zu erinnern, daß sie Sabishii durchquert hatte, und warf sich drinnen aufs Bett wie in die Arme ihrer Mutter. Aber in dem schönen schlichten Raum fuhr sie bald wieder hoch, schockiert durch die Erinnerung an ein anderes Zimmer, das sie vom Mutterleib an verfolgt hatte in einem anderen Moment von Schreck und Angst… keine Antworten, keine Ablenkung, kein Entrinnen … Über der kleinen Spüle sah sie ihr Gesicht wie in einem eingerahmten Porträt — hager, alt, rotgeränderte Augen wie die Augen einer Eidechse. Ein Alptraum verursachendes Bild. Das war es. Als sie den blinden Passagier auf der Ares erblickt hatte, das Gesicht, das sie durch ein Gefäß mit Algen gesehen hatte. Cojote! Ein Schock, der sich nicht als Halluzination erwiesen hatte, sondern als Realität.
Und so könnte es sein mit dieser Mitteilung über Frank und John.
Sie versuchte, sich zu erinnern. Mit aller Gewalt wollte sie sich an Frank Chalmers richtig erinnern. Sie hatte mit ihm in jener Nacht in Nicosia gesprochen bei einer Begegnung, die sich nicht durch ihre Unbeholfenheit und Spannung auszeichnete. Frank war wie immer bedrückt und abweisend gewesen … Sie waren genau in dem Moment beisammen gewesen, da John bewußtlos geschlagen, in die Farm gezerrt und dort dem Tode überlassen worden war. Frank hätte nicht…
Aber natürlich gab es Surrogate. Man konnte immer Leute dafür bezahlen, daß sie für einen tätig wurden. Nicht, daß die Araber an Geld für sich interessiert gewesen wären. Aber Stolz, Ehre, ehrenhaft bezahlt, oder für irgendeine politische Gegenleistung, die Währung, die Frank immer so geschickt ausgegeben hatte …
Aber sie konnte sich so wenig an jene Jahre erinnern, an die Einzelheiten. Wenn sie sich darauf konzentrierte und dazu zwang, sich zu erinnern, war es erschreckend, wie wenig herauskam. Fragmente, Momente. Scherben einer ganzen Zivilisation. Einmal war sie so wütend gewesen, daß sie eine Kaffeetasse von einem Tisch heruntergestoßen hatte, wobei der abgebrochene Henkel wie ein halb verzehrtes Brötchen auf dem Tisch liegengeblieben war. Aber wo war das gewesen und wann und mit wem? Sie konnte sich nicht sicher sein. »Aahh!« rief sie wider Willen; und das antediluvianische Gesicht im Spiegel widerte sie plötzlich mit seinem pathetischen reptilartigen Schmerz an. Sie war früher einmal eine Schönheit gewesen, sie war darauf stolz gewesen, sie hatte sie wie ein Skalpell benutzt. Jetzt… Ihr Haar hatte sich in den letzten Jahren bei der letzten Behandlung von weiß zu stumpf-grau verändert. Und jetzt wurde es dünner — um Gottes willen! — und nur an einigen Stellen/aber nicht an anderen. Abscheulich. Und früher eine Schönheit. Es war einmal. Dieses falkenartige prächtige Gesicht — und jetzt? Als ob die Baronin Blixen, in ihrer Jugend einst eine erlesene Schönheit, zu der syphilitischen Hexe Isak Dinesen zusammengeschrumpft wäre und dann Jahrhunderte lang weitergelebt hätte wie ein Vampir oder Zombie — eine verwüstete lebende Eidechsenleiche. 130 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
Sie ging zum Ausguß und zog die Seite des Spiegels heraus. Dahinter war ein kleines, überfülltes, medizinisches Fach. Nagelscheren auf dem obersten Regal. Irgendwo auf dem Mars fertigten sie Nagelscheren an, ohne Zweifel aus Magnesium. Sie holte sie herunter, zog sich eine Haarsträhne vom Kopf, bis es weh tat, und schnitt sie dann direkt über der Haut ab. Die Klingen waren stumpf; aber sie zog kräftig genug, daß sie funktionierten. Sie mußte aufpassen, sich nicht in die Kopfhaut zu schneiden. Ein winziger Rest ihrer Eitelkeit würde das nicht zulassen. Also war es ein langer, langweiliger mühsamer und schmerzhafter Job. Aber irgendwie ein Trost, weil er so ablenkend, methodisch und destruktiv war.
Der erste Schnitt war grob genug, um eine Menge von Zurichten erforderlich zu machen, was lange dauerte. Eine Stunde. Aber sie schaffte es nicht, die Haare gleich lang zu kriegen, und holte schließlich den Rasierapparat aus der Dusche und rasierte sich. Mit Toilettenpapier betupfte sie die stark blutenden Schnitte und ignorierte die entblößten alten Narben und Vertiefungen in dem kahlen Schädel so dicht unter der Haut. Es war hart, dies zu tun, ohne je das monströse Gesicht anzuschauen, das sich unter der Vorderseite des Schädels befand.
Als sie fertig war, starrte sie unbarmherzig die Mißgeburt im Spiegel an: androgyn, verwittert, verrückt. Das Gesicht wurde geierhaft: Kahlkopf, lappiger Hals, kleine Augen, Hakennase und der heruntergezogene lippenlose Mund. Während sie dieses häßliche Gesicht anstarrte, gab es sehr lange Momente, wo sie sich an gar nichts über Maya Toitovna erinnern konnte. Sie stand eingefroren in der Gegenwart, allem fremd.
Beim Klopfen an der Tür machte sie einen Sprung. Der Schreck erlöste sie. Sie zögerte, plötzlich beschämt und sogar erschrocken. Ein anderer Teil von ihr krächzte: »Herein!«
Die Tür ging auf. Es war Michel. Er sah sie und blieb auf der Schwelle stehen. »Nun?« sagte sie. Sie sah ihn an und kam sich nackt vor.
Er schluckte und neigte den Kopf. »Schön wie immer.« Mit schiefem Grinsen.
Sie mußte lachen. Dann setzte sie sich aufs Bett und fing an zu weinen. Sie wischte sich die Augen und sagte: »Manchmal wünsche ich, ich könnte aufhören, Toitovna zu sein. Ich bin dessen so überdrüssig, und all dessen, was ich getan habe.«
Michel setzte sich neben sie. »Wir sind in unseren Ichs eingesperrt bis zum Ende. Das ist der Preis, den man für das Denken zahlt. Aber wer möchte lieber — Missetäter oder Idiot sein?«
Maya schüttelte den Kopf. »Ich war unten im Park mit Vlad, Ursula und Marina und mit Sax, der mich haßt. Ich habe sie alle angeschaut, und wir müssen wirklich etwas unternehmen. Aber als ich sie ansah und mich an alles erinnerte — zu erinnern suchte —, da schienen wir alle solch … Versehrte Leute zu sein.«
»Es ist viel geschehen«, sagte Michel und legte seine Hand auf die ihre.
»Hast du Schwierigkeiten, dich zu erinnern?« Maya erschauerte und packte seine Hand wie ein Floß. »Manchmal werde ich so ärgerlich, daß ich alles vergesse.« Sie lachte schniefend. »Das heißt, ich bin entweder eine Verbrecherin oder eine Idiotin — um deine Frage zu beantworten. Wenn man vergißt, ist man von der Vergangenheit frei, aber nichts hat etwas zu bedeuten. Also gibt es kein Entrinnen« — sie fing wieder an zu weinen. »Erinnerung oder Vergessen, beides tut gleich weh.«
Michel sagte sanft: »Probleme mit dem Gedächtnis sind in unserem Alter nicht ungewöhnlich. Besonders Erinnerung auf mittlere Distanz, sozusagen. Es gibt Übungen, die da helfen.«
»Es ist doch kein Muskel.«
»Ich weiß. Aber die Kraft des Gedächtnisses scheint durch Gebrauch stärker zu werden. Und der Akt der Erinnerung kräftigt anscheinend auch das Gedächtnis selbst. Das ergibt Sinn, wenn man darüber nachdenkt. Synapsen werden physisch verstärkt oder ersetzt. So etwas.«
»Aber dann, wenn man das, an was man sich erinnert, nicht ertragen kann — o Michel…« Sie holte tief, aber ungleichmäßig Luft. »Sie haben — Marina hat gesagt, daß Frank John ermordet hätte. Sie sagte es zu den anderen, als sie glaubte, daß ich es nicht hören würde. Sie sagte es so, als ob es allgemein bekannt wäre!« Sie faßte ihn bei der Schulter und drückte, als könne sie mit ihren Fingern die Wahrheit aus ihm herauspressen. »Michel, sag mir die Wahrheit! Ist das richtig? Ist es das, was nach euer aller Meinung geschah?«
Michel schüttelte den Kopf. »Niemand weiß, was geschehen ist.«
»Ich war dort! Ich war in jener Nacht in Nicosia, und sie nicht. Ich war mit Frank zusammen, als es passierte. Er hatte keine Ahnung, das schwöre ich.«
Michel blinzelte unsicher, und sie sagte: »Mach nicht so ein Gesicht!«
»Ich nicht, Maya. Ich will damit gar nichts ausdrücken. Ich muß dir alles mitteilen, was ich gehört habe, und versuchen, mich auch selbst zu erinnern. Es hat Gerüchte gegeben — alle Arten von Gerüchten! — über das, was in jener Nacht geschah. Es stimmt, manche sagen, Frank war — beteiligt. Oder hatte Verbindungen zu den Saudis, die John töteten. Daß er sich mit dem, der später starb, am nächsten Tage traf und so weiter.«
Maya weinte stärker. Sie beugte sich über ihren verkrampften Magen und legte ihr Gesicht Michel auf die Schulter. Ihre Rippen hoben und senkten sich. »Ich kann es nicht aushalten. Wenn ich nicht weiß, was geschah … wie kann ich mich da erinnern? Wie kann ich auch nur an sie denken?«
Michel hielt sie und beruhigte sie durch seine Umarmung. Er drückte immer wieder ihre Rückenmuskeln. »Ah, Maya!«
Nach langer Zeit setzte sie sich auf, ging zur Spüle und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, vermied es aber, in den Spiegel zu blicken. Sie ging wieder zum Bett und setzte sich, äußerst mutlos mit langsam eindringender Schwärze in jedem Muskel.
Michel ergriff wieder ihre Hand. »Ich frage mich, ob es nicht hilft, wenn man weiß. Oder mindestens so viel weiß, wie man kann. Nachzuforschen, weißt du. Über John und Frank zu lesen — es gibt jetzt natürlich Bücher … Und die anderen Leute befragen, die in Nicosia gewesen sind, besonders die Araber, die Selim el-Hayil vor seinem Tod gesehen haben. Es würde dir eine Art von Kontrolle geben. Es wäre keine exakte Erinnerung, aber auch kein Vergessen. Das sind nicht die einzigen zwei Alternativen, so seltsam das scheinen mag. Wir müssen unsere Vergangenheit akzeptieren, verstehst du? Wir müssen sie durch einen Akt der Phantasie zu einem Teil dessen machen, was wir jetzt sind. Das ist ein kreativer, aktiver Prozeß. Der ist nicht einfach. Aber ich kenne dich, und du bist vielleicht besser, wenn du aktiv bist und etwas Kontrolle hast.«
Sie sagte: »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich kann es nicht ertragen, nicht zu wissen, habe aber Angst davor. Besonders, wenn es wahr ist.«
»Sieh zu, wie du dich dabei fühlst«, schlug Michel vor. »Versuche es und sieh zu! Da beide Alternativen zugegebenermaßen schmerzhaft sind, könnte es sein, daß du Aktion der anderen Alternative vorziehst.«
»Nun gut!« Sie schnüffelte und warf einen Blick durch das ganze Zimmer. Aus dem Raum an der anderen Seite des Spiegels starrte sie eine mörderische Fratze an. »Mein Gott, ich bin so häßlich!« sagte sie. Der Widerwillen ließ sie fast sich erbrechen.
Michel stand auf und ging zum Spiegel. Er sagte: »Es gibt etwas, das man körperliche dysmorphe Unordnung nennt. Das hängt zusammen mit durch Besessenheit erzwungener Unordnung und mit Depression. Ich habe schon längst bei dir Anzeichen davon gesehen.«
»Es ist mein Geburtstag.«
»Oh! Das ist ein Problem, mit dem du fertig werden kannst.«
»Geburtstage?«
»Körperliche dysmorphe Unordnung.«
»Ich will keine Drogen nehmen.«
Er hängte ein Handtuch über den Spiegel und sah sie an. »Was meinst du? Vielleicht ist es einfach ein Mangel an Serotonin. Eine biochemische Insuffizienz. Eine Krankheit. Nichts, deswegen man sich schämen müßte. Wir nehmen alle Drogen. Clomipramin ist bei diesem Problem sehr hilfreich.«
»Ich werde es mir überlegen.«
»Und keine Spiegel.«
»Ich bin kein Kind!« knurrte sie. »Ich weiß, wie ich aussehe.« Sie sprang auf und riß das Handtuch vom Spiegel herunter. Verrückter Reptilgeier, Pterodaktylus, wild … Es war irgendwie eindrucksvoll.
Michel zuckte die Achseln. Er zeigte ein leichtes Lächeln. Machte ein Gesicht, das sie schlagen oder küssen wollte. Er liebte Eidechsen.
Sie schüttelte den Kopf, um ihn frei zu machen. »Nun gut. Etwas unternehmen, sagst du.« Sie dachte darüber nach. »Ich ziehe Aktion gewiß der Alternative vor in der gegenwärtigen Situation.« Sie erzählte ihm von der Nachricht aus dem Süden und was sie den anderen vorgeschlagen hatte. »Die machen mich so wütend. Sie warten bloß auf eine Katastrophe, um wieder loszuschlagen. Alle außer Sax; und der ist eine unsichere Kanone mit all seinen Sabotagen. Er berät sich mit niemandem außer diesen Narren, welche er hat. Wir müssen etwas Koordiniertes unternehmen!«
»Gut«, sagte er nachdrücklich. »Ich stimme zu. Das müssen wir tun.«
Sie sah ihn an. »Wirst du mit mir nach Hellas Basin gehen?«
Er lächelte, ein spontanes Grinsen reiner Freude.
Von Entzücken, daß sie gefragt hatte. Es drang in ihr Herz, als sie das sah.
Er sagte: »Ja. Ich habe hier noch etwas zu erledigen, kann das aber rasch tun. Nur ein paar Wochen.« Und er lächelte wieder. Sie sah, daß er sie liebte. Nicht bloß als Freund oder Arzt, sondern auch als Liebhaber. Und doch mit einer gewissen Distanz, einer Michel-Distanz, irgendwie therapeutisch. So daß sie noch atmen konnte. Geliebt zu werden und noch zu atmen. Noch einen Freund zu haben.
»Also kannst du es noch aushalten, mit mir beisammen zu sein, auch wenn ich so aussehe?«
»O Maya!« Er lachte. »Ja, du bist immer noch schön, wenn du das wissen willst. Und das tust du auch noch, Gott sei Dank!« Er zog sie an sich, ging dann zurück und betrachtete sie. »Es ist etwas herb, wird aber reichen.«
Sie stieß ihn fort. »Und niemand wird mich erkennen.«
»Niemand, der dich nicht kennt.« Er stand auf. »Los! Hast du Hunger?«
»Ja. Laß mich nur mich umziehen!«
Er setzte sich auf das Bett und sah ihr dabei zu. Er sog sie in sich ein, der alte Bock. Ihr Körper war erstaunlicherweise immer noch menschlich, auffallend weiblich in diesem lächerlich posthumen Alter. Wenn sie herüberkäme und ihm eine Brust ins Gesicht drückte, würde er wie ein Kind daran saugen. Statt dessen kleidete sie sich an. Sie fühlte, wie sich ihre Stimmung von Grund auf hob. Der beste Moment in der ganzen Sinuswelle, wie die Wintersonnenwende für die Menschen der Steinzeit, wenn man weiß, daß die Sonne eines Tages wiederkommen wird.
»Das ist gut«, sagte Michel. »Wir brauchen dich wieder als Anführerin, Maya. Siehst du, du besitzt die Autorität. Die natürliche Autorität. Und es ist gut, das Werk zu verbreiten und für dich, dich auf Hellas zu konzentrieren. Ein sehr guter Plan. Aber du mußt wissen — dazu gehört mehr als Ärger …«
Sie zog sich einen Sweater über den Kopf (ihr nackter Skalp fühlte sich merkwürdig kahl und roh an) und schaute ihn dann überrascht an. Er hob mahnend einen Finger. »Dein Ärger wird helfen, kann aber nicht alles sein. Frank war nichts als Ärger. Und du siehst, wohin ihn das geführt hat. Du mußt nicht nur gegen das kämpfen, was du haßt, sondern auch das, was du liebst. Verstehst du? Und darum mußt du herausfinden, was es ist, das du liebst. Du mußt dich daran erinnern oder es erschaffen.«
»Ja, ja«, sagte sie, plötzlich verwirrt. »Ich liebe dich. Aber halt jetzt den Mund!« Sie hob gebieterisch das Kinn. »Laß uns essen gehen!«
Der Zug von Sabishii zur Strecke Burroughs-Hellas war nur vier Wagen lang, eine kleine Lokomotive und drei Passagierwaggons, nicht mehr als halb voll. Maya ging durch bis zu den letzten Sitzen im Schlußwagen. Die Leute schauten sie an, aber nur kurz. Niemand schien durch ihren Mangel an Haar beunruhigt zu sein. Es gab auf dem Mars ja eine Menge Geierweiber, selbst in diesem Zug, die auch Jumper in Kobalt, Rost oder Hellgrün trugen und ebenso alt und verwittert waren. Das war eine Art Cliche für die alten Marsveteranen, die von Anfang da waren, alles gesehen hatten und bereit waren, einen mit Geschichten über Staubstürme und verklemmte Schleusentüren zu Tränen zu langweilen.
Nun, es war so schon recht. Es hätte nichts gebracht, wenn die Leute einander anstießen und riefen: Da ist Toitovna! Dennoch konnte sie nicht umhin, sich alt und vergessen zu fühlen. Das war blöde. Sie mußte vergessen werden. Und dabei half Häßlichkeit. Die Welt liebt es, die Häßlichen zu vergessen.
Sie plumpste in ihren Sitz und starrte nach vorn. Offenbar hatte Sabishii Besuch von einem Kontingent japanischer Touristen gehabt, die sich alle in gegenüberliegenden Sitzen vorn im Wagen zusammendrängten, schwatzten und mit ihren Videobrillen umschauten. Ohne Zweifel zeichneten sie jede Minute ihres Lebens auf, Aufzeichnungen, die niemand je anschauen würde.
Der Zug glitt sanft vorwärts, und sie waren unterwegs. Sabishii war immer noch eine kleine Kuppelstadt im Gebirge; aber das hüglige Land zwischen der Stadt und der Hauptpiste war gefleckt mit behauenen spitzen Steinen und kleinen, in die Klippen gebohrten Schutzräumen. Alle nach Norden gewandten Hänge waren mit dem Schnee der ersten Herbststürme bedeckt, und das Sonnenlicht schoß in blendenden Strahlen von glatten Spiegeln aus Eis, wenn sie an gefrorenen Teichen vorbeischwebten. Die niedrigen dunklen Büsche stammten alle von Vorfahren in Hokkaido, und die Vegetation gab dem Land eine dornenartige schwarzgrüne Struktur. Es war eine Ansammlung von Bonsaigärten, deren jeder eine durch ein rauhes Meer von zerbrochenem Gestein isolierte Insel war.
Die japanischen Touristen fanden diese Landschaft natürlich entzückend. Obwohl sie möglicherweise von Burroughs kamen als neue Einwanderer, die die erste japanische Landungsstelle besuchten, als ob sie eine Reise von Tokyo nach Kyoto machten. Oder vielleicht waren sie Eingeborene und hatten Japan nie gesehen. Das würde sie merken, wenn sie sie gehen sah. Aber das spielte keine Rolle.
Die Piste verlief genau nördlich vom Krater Jarry-Desloges, der von außen wie eine große runde Mesa aussah. Das Vorfeld war ein breiter Fächer aus beschneitem Schutt, punktiert von Bäumen, die sich an den Boden duckten, und eine scheckige Anordnung von dunkel- und hellgrünen Flechten, Alpenblumen und Heidekraut. Jede Art hatte die für sie typische Farbe, und das ganze Feld war besät mit erratischen Blöcken, die bei der Entstehung des Kraters vom Himmel gefallen waren. Das Ergebnis war wie ein Areal aus rotem Gestein, das von unten durch eine regenbogenfarbene Flut ertränkt wurde.
Maya schaute leicht erstaunt auf die lebhafte Bergflanke. Schnee, Flechten, Heidekraut, Kiefern. Sie wußte, daß sich die Dinge geändert hatten, während sie unter der Polkappe versteckt gewesen war, daß es früher anders gewesen war. Und sie in einer Steinwelt gelebt und alle eindrucksvollen Ereignisse jener Jahre erlebt hatte. Ihr Herz war unter deren Ansturm zu Stishovit zerdrückt worden. Aber es war hart, mit etwas davon Verbindung zu finden. Sei es, sich zu erinnern, oder sei es, etwas zu fühlen bei dem, an das sie sich erinnern konnte. Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen und alles auf sich zukommen zu lassen, was auch kommen mochte.
… Es war weniger eine spezifische Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis, als vielmehr ein zusammengesetztes Bild: Frank Chalmers, der wütend denunzierte oder verlachte oder explodierte. Michel hatte recht: Frank war ein zorniger Mensch gewesen. Aber das war nicht alles. Sie wußte das vielleicht mehr als jeder sonst. Sie hatte ihn friedlich erlebt, oder wenn nicht friedlich — vielleicht hatte sie das nie gesehen —, so doch zumindest glücklich. Oder etwas dergleichen. Über sie verärgert, um sie bemüht, in sie verliebt — all das hatte sie erlebt. Und daß er sie wegen eines kleinen Betruges anbrüllte, oder wegen gar nichts — auch das hatte sie sicher erlebt. Weil er sie geliebt hatte.
Aber wie war er nun wirklich gewesen? Oder vielmehr: Warum war er so gewesen? Würde es jemals eine Erklärung dafür geben, warum wir selbst waren? Sie hatte sehr wenig über ihn gewußt, ehe sie sich kennenlernten. Ein ganzes Leben drüben in Amerika, eine Inkarnation, die sie nicht gesehen hatte. Der stämmige schwarze Mann, den sie in Antarctica getroffen hatte — selbst diese Person war für sie fast verloren, überlagert durch alles, was auf der Ares geschehen war und auf dem Mars. Aber davor nichts oder fast nichts. Er war Chef der NASA gewesen, hatte das Marsprogramm ins Leben gerufen — ohne Zweifel mit demselben ätzenden Stil, den er in späteren Jahren gezeigt hatte Er war kurze Zeit verheiratet gewesen, wie sie sich zu erinnern glaubte. Wie mochte das gewesen sein? Arme Frau! Maya lächelte. Aber dann hörte sie wieder Marinas schwache Stimme, die sagte: »Wenn Frank nicht John getötet hätte«, und sie erschauerte. Sie schaute auf das Lektionar in ihrem Schoß. Die japanischen Passagiere vorn im Wagen sangen ein Lied, offenbar ein Trinklied, da sie eine Flasche herumgehen ließen. Jarry-Desloges lag jetzt hinter ihnen, und sie glitten am Nordrand der Iapygia-Senke entlang, einer ovalen Depression, die sie ein gutes Stück lang sehen konnten, ehe der Horizont sie abschnitt. Die Senke war voller Krater, und im Innern eines jeden Ringes gab es eine eigene getrennte Ökologie. Es war, als ob man in einen zerbombten Blumenladen blickte, wo die Körbe überall verstreut und meistens zerbrochen waren. Aber hier war ein Korb mit gelber Tapete, dort mit einem rosa Palimpsest oder weiße, blaue oder grüne Teppiche…
Sie tippte auf ihr Lesegerät und rief Chalmers auf.
Es war eine immense Bibliographie: Artikel, Interviews, Bücher, Videos, eine ganze Bibliothek mit seinen Verlautbarungen an die Erde, diplomatischen, historischen, bibliographischen, psychologischen, psychoanalytischen Inhalts; Komödien und Tragödien in jedem Medium, einschließlich anscheinend einer Oper. Das hieß, da unten auf der Erde gab es eine gräßliche Koloratursängerin, die ihre Gedanken äußerte.
Sie schaltete erschrocken das Gerät aus. Nachdem sie einige Minuten tief geatmet hatte, stellte sie es wieder an und rief die Akte auf. Sie konnte es nicht ertragen, sich Videos oder Standbilder anzuschauen. Sie suchte die kürzesten im Druck erschienenen biographischen Artikel aus populären Magazinen, wählte eines davon aufs Geratewohl aus und fing an zu lesen.
Er war in Savannah, Georgia, 1976 geboren und in Jacksonville, Florida, aufgewachsen. Seine Eltern ließen sich scheiden, als er sieben war. Danach lebte er meistens bei seinem Vater in Apartments nahe Jacksonville Beach, einem Gebiet mit billigen Stuckgebäuden am Strand, die in den 1940er Jahren entstanden waren hinter einer verfallenden Seepromenade mit Shrimpsbuden und Hamburgertreffs. Manchmal lebte er bei einer Tante und einem Onkel nahe der Ortsmitte, die von den großen Wolkenkratzern der Versicherungsgesellschaften beherrscht wurde. Seine Mutter zog nach Iowa, als er acht war. Sein Vater ging dreimal zu den Anonymen Alkoholikern.
Er war Klassensprecher auf dem College und der Kapitän seiner Footballmannschaft, auf der er im Mittelfeld spielte, und seiner Baseballmannschaft, wo er Catcher war. Er leitete ein Projekt, um den St.-Johns- River von den erstickenden Hyazinthen zu säubern. »Die Eintragung in seinem Handbuch der Senioren ist so lang, daß man unbedingt annehmen muß, daß da etwas nicht stimmt.« Er wurde von Harvard angenommen und erhielt ein Stipendium. Nach einem Jahr wechselte er auf das MIT über, wo er als Ingenieur und Astronom graduierte. Fünf Jahre lang lebte er allein in einem Zimmer über einer Garage in Cambridge. Es ist sehr wenig Information über ihn erhalten. Es scheint, daß ihn nur wenige Leute gekannt haben. »Er ist wie ein Geist durch Boston gewandelt.«
Nach dem College nahm er eine Stellung beim National Service Corps in Fort Walton Beach, Florida, an. Und hier stieg er rasch in die nationale Szene auf. Er betreute eines der erfolgreichsten zivilen Arbeitsprogramme, das mit dem National Security Council zusammenhing, und baute Unterkünfte für karibische Immigranten, die durch Pensacola kamen. Hier lernten ihn Tausende kennen, zumindest in seinem Arbeitsleben. »Sie stimmen alle überein, daß er ein begeisternder Anführer war, der sich unablässig den Immigranten widmete, um ihre Eingliederung in die amerikanische Gesellschaft zu fördern.« In diesen Jahren war es, daß er Priscilla Jones heiratete, die schöne Tochter einer prominenten Pensacola-Familie. Die Leute sprachen von einer politischen Karriere. »Er war auf dem Gipfel der Welt.«
Dann wurde 2004 der Dienst im NSC beendet, und 2005 kam er in Huntsville, Alabama, zum Astronautenprogramm. In dem gleichen Jahr scheiterte seine Ehe. Im Jahr 2007 wurde er Astronaut und stieg rasch in eine leitende Position in der Verwaltung auf. Einer seiner längsten Raumflüge dauerte sechs Wochen auf der amerikanischen Raumstation, allein mit dem aufsteigenden Stern des Kameraden John Boone. 2015 wurde er Chef der NASA, während Boone Kapitän der Raumstation wurde. Chalmers und Boone brachten zusammen das ›Mars-Apollo‹-Programm durch die Instanzen der amerikanischen Regierung; und danach schaffte Boone 2020 die erste Marslandung. Sie beide gehörten zu den Ersten Hundert und gingen 2027 zum Mars.
Maya starrte die klaren schwarzen Lettern des lateinischen Alphabets an. Die Leitartikel mit ihren Schlagzeilen und Ausrufungszeichen hatten unzweifelhaft ihre suggestiven Momente. Ein mutterloser Junge mit einem Vater, der trank. Ein schwer arbeitender idealistischer junger Mann, der es zu etwas brachte und dann im gleichen Jahr seine Stellung und seine Frau verlor. Das Jahr 2005 würde es wert sein, in mehr Details betrachtet zu werden. Danach schien er sich über sich selbst ziemlich im klaren zu sein. Das war es, was es im allgemeinen bedeutete, Astronaut zu sein bei der NASA oder Glavkosmos. Man versuchte immer, mehr Zeit im Weltraum zu bekommen, man machte freiwillig Bürodienst, um die Macht zu bekommen, öfter hinauszugehen … Seit dieser Zeit in seinem Leben läuteten in den kurzen Darstellungen die Glocken in Übereinstimmung mit dem Frank, den sie gekannt hatte. Nein, es waren die Jugend, die Kindheit, was man sich nur schwer als Frank vorstellen konnte.
Sie rief wieder den Index auf und ging die Liste des biographischen Materials durch. Da war ein Artikel mit dem Titel: ›Gebrochene Versprechen. Frank Chalmers und das National Service Corps. ‹ Maya gab den Code dafür ein, und der Text erschien. Sie ließ ihn durchlaufen, bis sie seinen Namen sah.
Wie viele Menschen mit grundlegenden Strukturproblemen in ihrem Leben verbrachte Chalmers seine Pensacola-Jahre mit rastloser Aktivität. Wenn er keine Zeit zum Ausruhen hatte, hatte er auch keine Zeit zum Nachdenken. Das war für ihn eine erfolgreiche Strategie schon in der Hochschule gewesen, wo er zusätzlich zu all seinen Schulaktivitäten zwanzig Stunden in der Woche an einem literarischen Programm gearbeitet hatte. Und in Boston machte ihn seine akademische Belastung zu etwas, das ein Klassenkamerad als unsichtbaren Mann« bezeichnete. Wir wissen über diese Periode seines Lebens weniger als über jede andere. Es gibt Gerüchte, wonach er in dem ganzen ersten Winter in Boston in seinem Wagen gelebt und sich der Toiletten einer Turnhalle auf dem Campus bedient hätte. Erst nachdem er den Wechsel zum MIT vollzogen hatte, haben wir eine Anschrift für ihn…
Maya schaltete auf schnellen Vorlauf — klick klick.
Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts war der Entenschnabel von Florida eines der ärmsten Gebiete der Nation — mit starker illegaler karibischer Einwanderung, dem Schließen der lokalen Militärbasen und zusätzlich noch dem Hurrikan Dale, der großes Elend bewirkte. Ein Mitarbeiter des National Service Corps sagte: »Es war, als ob man in Afrika arbeiten würde.« In seinen drei Jahren dort bekommen wir unser bestes Bild von Chalmers als einem sozialen Wesen. Er besorgte Zuweisungen zur Ausweitung eines Beschäftigungsprogramms, das auf die gesamte Küste große Wirkung hatte, und half Tausenden, die nach Dale in Behelfsunterkünfte gezogen waren. Trainingsprogramme lehrten Tausende, sich ihre Heimstätten selbst zu bauen, die inzwischen Fertigkeiten lernten, die sie anderswo gebrauchen konnten. Diese Programme waren bei den Empfängern äußerst beliebt; aber es gab eine Opposition seitens der lokalen Entwicklungsindustrie. Chalmers war deshalb umstritten und scheint in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts oft in den lokalen Medien aufgetreten zu sein, wo er enthusiastisch das Programm verteidigte und als Teil einer volkstümlichen sozialen Aktion befürwortete. In einem Gastkommentar für das Walton Beach Journal schrieb er: »Die offenkundige Lösung ist, alle unsere Energien auf das Problem zu richten und an ihm systematisch zu arbeiten. Wir müssen Schulen bauen, um unsere Kinder das Lesen zu lehren, und sie fortschicken, damit sie Ärzte werden, die uns heilen, und Rechtsgelehrte, um dafür zu sorgen, daß wir unseren gerechten Anteil bekommen. Wir müssen uns eigene Häuser und eigene Farmen schaffen und uns selbst ernähren.«
Die Ergebnisse in Pensacola und Fort Walton Beach zeitigten die größeren lokalen Bewilligungen aus Washington und entsprechende Kredite beteiligter Korporationen. Auf dem Höhepunkt im Jahre 2004 beschäftigte das Pensacola Coast NSC zwanzigtausend Personen und war einer der Hauptfaktoren, die für das, was man die ›Golfrenaissance‹ nannte, verantwortlich waren. Die Ehe von Chalmers mit Priscilla Jones, Tochter einer der alten reichen Familien von Panama City, schien diese neue Synthese von Armut und Privileg in Florida zu symbolisieren, und die beiden waren etwa zwei Jahre lang ein prominentes Paar in der Gesellschaft der Golfküste.
Die Wahlen von 2004 machten dieser Periode ein Ende. Die abrupte Aufhebung des NSC war eine der ersten Amtshandlungen der neuen Regierung. Chalmers verbrachte zwei Monate in Washington, um vor dem Haus und Unterausschüssen des Senats auszusagen.
Er versuchte, ein Gesetz zur Wiederaufnahme des Programms durchzubringen. Das Gesetz wurde angenommen, aber die beiden Senatoren von Florida und der Kongreßabgeordnete des Distrikts von Pensacola befürworteten es nicht, und der Kongreß war außerstande, das Veto der Exekutive zu überstimmen. Die neue Regierung sagte, das NSC ›bedrohe Marktkräfte‹, und so endete es. Die Anklage und Verurteilung von neunzehn Kongreßmännern (einschließlich des Vertreters von Pensacola) wegen lobbyistischer Unregelmäßigkeiten in der Bauindustrie kam acht Jahre später. Inzwischen war das NSC tot und seine Veteranen zerstreut.
Für Frank Chalmers war es eine Wasserscheide. Er zog sich in eine Privatsphäre zurück, aus der er in vielfacher Hinsicht nie wieder herauskam. Die Ehe überlebte den Umzug nach Huntsville nicht; und Priscilla heiratete bald in zweiter Ehe einen Freund der Familie, den sie vor Chalmers’ Ankunft in der Gegend kennengelernt hatte. In Washington führte Chalmers ein einfaches Leben, in dem die NASA sein ausschließliches Interesse gewesen zu sein scheint. Er war berühmt für seine Achtzehnstundentage und den enormen Einfluß, den sie auf das Geschick der NASA hatten. Diese Erfolge machten Chalmers in der Nation berühmt; aber niemand bei der NASA oder anderswo in Washington konnte behaupten, ihn gut zu kennen. Die fanatischen Überstunden dienten wieder als Maske, hinter welcher der idealistische Sozialarbeiter der Golfküste endgültig verschwand.
Eine Störung vorn am Wagen veranlaßte Maya aufzublicken. Die Japaner standen auf, holten Gepäck herunter; und es wurde jetzt klar, daß sie Eingeborene von Burroughs waren. Die meisten waren ungefähr zwei Meter groß, gesellige junge Leute mit beim Lachen blitzenden Zähnen und einheitlich glänzendem schwarzen Haar. Schwerkraft, Diät, was es auch sein mochte, die auf dem Mars geborenen Menschen wurden groß. Diese japanische Gruppe erinnerte Maya an die Ektogenen in Zygote, jene seltsamen Kinder, die wie Unkraut gewachsen waren … Jetzt über den Planeten verstreut. Diese ganze kleine Welt war dahin wie alle anderen vor ihr.
Maya zog eine Grimasse und ließ ihr Lesegerät impulsiv auf die Abbildungen zu dem Artikel vorlaufen. Dort fand sie ein Foto von Frank im Alter von dreiundzwanzig Jahren, zu Beginn seiner Arbeit im NSC. Ein dunkelhaariger junger Mann mit einem entschlossenen, zuversichtlichen Lächeln, der in die Welt schaute, als wäre er bereit, ihr etwas zu verkünden, das sie nicht wüßte. So jung und so klug. Auf den ersten Blick dachte Maya, es wäre die Unschuld der Jugend, so wissend auszusehen: Aber das Gesicht sah in Wirklichkeit nicht unschuldig aus. Er hatte keine unschuldige Kindheit gehabt. Aber er war ein Kämpfer, hatte seine Methode gefunden und war erfolgreich. Eine Macht, die nicht geschlagen werden konnte. Das ungefähr schien das Lächeln zu sagen.
Aber wenn man der Welt einen Tritt gibt, bricht man sich das Bein. So pflegte man in Kamtschatka zu sagen.
Der Zug bremste und glitt zu einem sanften Halt. Sie waren im Bahnhof von Fournier, wo die Nebenstrecke von Sabishii mit der Hauptpiste von Burroughs nach Hellas zusammentraf.
Die Japaner von Burroughs verließen im Gänsemarsch den Wagen, und Maya schaltete ihr Lektionar aus und folgte. Die Station war nur eine kleine Kuppel südlich vom Krater Fournier. Das Innere war einfach, eine T-förmige Kuppel. Leute strömten dutzendweise in Gruppen oder einzeln über die drei Etagen des Innern, die meisten in schlichten Arbeitsjumpern, viele aber auch in Geschäftsanzügen oder Uniformen der Metanationalen oder auch in salopper Kleidung, die in diesen Tagen aus weiten Pantalons, Blusen und Mokassins bestand.
Maya fand den Anblick so vieler Leute etwas beängstigend und bewegte sich unbeholfen an den Reihen der Kioske und den dicht besetzten Cafes vor den Fahrbahnen entlang. Niemand erwiderte den Blick einer solchen kalten verwitterten Androgyne. Sie fühlte den künstlichen Luftzug auf ihrer Kopfhaut und stellte sich vorn an, um den nächsten Zug nach Süden zu bekommen. In Gedanken sah sie immer wieder das Foto aus dem Buch vor sich. War er wirklich einmal so jung gewesen?
Um ein Uhr kam der Zug von Norden her an. Sicherheitswächter kamen aus einem Raum neben den Cafes; und unter deren gelangweilten Blicken legte sie das Handgelenk auf ein tragbares Kontrollgerät und stieg ein. Eine neue Prozedur, aber einfach. Aber als sie ihren Platz gefunden hatte, raste ihr Herz. Offenbar hatten die von Sabishii mit Hilfe der Schweizer das neue Sicherheitssystem der Übergangsbehörde geschlagen. Aber sie hatte immer noch Grund zur Besorgnis. Sie war Maya Toitovna, eine der berühmtesten Frauen in der Geschichte dieser Welt und eine der gesuchtesten Kriminellen auf dem Mars, während die Passagiere auf ihren Plätzen zu ihr aufschauten, als sie nur mit einem blauen Blauwolljumper auf dem nackten Körper zwischen ihren Reihen hindurchschritt.
Nackt, aber unsichtbar wegen Häßlichkeit. Und die Wahrheit war, daß mindestens die Hälfte der Insassen des Waggons ebenso alt aussahen wie die Marsveteranen, die wie siebzig aussahen und doppelt so alt hätten sein können, runzlig, mit grauem Haar, kahl werdend, strahlengeschädigt und mit dunklen Brillen, verteilt unter all den frischen jungen Eingeborenen wie Herbstblätter zwischen Immergrün. Und da unter ihnen jemand, der wie Spencer Jackson aussah. Als sie ihr Gepäck auf das Regal über sich warf, blickte sie auf den dritten Sitz vor ihr. Der kahle Schädel des Mannes sagte ihr wenig, aber sie war sich ziemlich sicher, daß er es war. Pech! Im allgemeinen versuchten die Ersten Hundert (die Ersten Neununddreißig) niemals zusammen zu reisen. Aber es kam immer mal vor, daß sie der Zufall zusammenführte.
Sie setzte sich an den Fensterplatz und fragte sich, was Spencer wohl machte. Zuletzt hatte sie gehört, daß er und Sax im Mohole von Vishniac ein technisches Team gebildet hätten zum Zwecke einer Waffenforschung, über die sie zu niemandem sprachen. So ähnlich hatte Vlad gesagt. So gehörte er also zu Saxens verrücktem gesetzwidrigem Zerstörungsteam, wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Das sah ihm eigentlich nicht ähnlich, und sie fragte sich, ob er der mäßigende Einfluß gewesen wäre, der neuerdings in den Aktivitäten von Sax zu erkennen war. War Hellas sein Ziel, oder kehrte er zu den Sanktuarien im Süden zurück? Nun, das würde sie bestenfalls in Hellas herausbringen, da es Vorschrift war, einander zu ignorieren, sofern man nicht unter vier Augen war.
Also ignorierte sie Spencer — falls er es war, und auch die Passagiere im Wagen. Der Sitz neben ihr blieb frei. Ihr gegenüber waren zwei Männer um die Fünfzig in Anzügen, dem Aussehen nach Einwanderer, die offenbar zusammen mit zwei weiteren ihnen ähnlichen reisten, die vor ihr saßen. Als der Zug aus der Bahnhofskuppel herausfuhr, diskutierten sie über irgendein Spiel, das sie zusammen gemacht hatten: »Er hat über eine Meile geschlagen und hat Glück gehabt, daß er es wiedergefunden hat.« Offenbar Golf. Amerikaner oder so etwas. Metanationale Beamte, die unterwegs waren, um in Hellas etwas zu beaufsichtigen. Sie sagten nicht, was.
Maya nahm ihr Lektionar und setzte die Kopfhörer auf. Sie rief Novy Pravda ab und sah sich die kleinen Bilder von Moskau an. Es war mühsam, sich auf die Stimmen zu konzentrieren, und es machte sie schläfrig. Der Zug eilte nach Süden. Der Reporter klagte über den zunehmenden Konflikt zwischen Armscor und Subarashii über den sibirischen Entwicklungsplan. Das war ein Fall für Krokodilstränen, da die russische Regierung seit Jahren gehofft hatte, die beiden Riesen gegeneinander ausspielen und eine Versteigerungsaktion für die sibirischen Ölfelder in die Wege leiten zu können, anstatt von einer vereinigten metanationalen Front alle Bedingungen diktiert zu bekommen. Es war wirklich erstaunlich, daß diese zwei Metanationalen sich zu so etwas herabgelassen hatten. Maya erwartete nicht, daß das andauern würde. Es lag aber im Interesse der Metanationalen, zusammenzuhalten und sich zu vergewissern, daß es immer darauf ankam, die verfügbaren Ressourcen aufzuteilen und nie um sie zu kämpfen. Falls sie sich zankten, könnte das empfindliche Gleichgewicht der Kräfte bei ihnen zusammenbrechen — eine Möglichkeit, deren sie sich gewiß bewußt waren.
Sie lehnte schläfrig den Kopf zurück und schaute aus dem Fenster auf das vorbeiziehende Land. Sie glitten jetzt in die Senke Iapygia hinab und hatten einen weiten Blick nach Südwesten. Es sah aus wie die Grenze zwischen Taiga und Tundra in Sibirien, so, wie sie in dem Nachrichtenprogramm dargestellt wurde, das sie gerade angesehen hatte. Ein großes, vom Frost zerrissenes und wirres, geneigtes Gelände, ganz von Schnee und Eis verkrustet, wobei der kahle Fels von Flechten und amorphen Haufen olivgrüner und khakifarbener Moose bedeckt war und Korallenkakteen und Zwergbäume jedes flache Loch füllten. In einem flachen Tal verteilte Pingos wirkten wie Akne, die mit einer schmutzigen Salbe bestrichen war. Maya schlummerte einige Zeit.
Das Bild des dreiundzwanzigjährigen Frank riß sie aus dem Schlaf. Sie dachte träge über das nach, was sie gelesen hatte, und versuchte, es sich zusammenzureimen. Der Vater: Was hatte ihn veranlaßt, dreimal zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen und sie zweimal (oder dreimal?) wieder zu verlassen? Das klang nicht gut. Und dann, wie als Reaktion darauf, das arbeitswütige Verhalten, das genau so war, wie der Frank, den sie gekannt hatte, auch wenn die Tätigkeit nicht frankgemäß idealistisch war. Soziale Gerechtigkeit — daran hatte der Frank, den sie kannte, nicht geglaubt. Er war ein politischer Pessimist gewesen, ständig in einem Nachhutgefecht bestrebt zu verhindern, daß aus dem Schlimmen das Schlimmste würde. Eine Art von Schadensbegrenzung und, sofern man manchen Glauben schenken konnte, persönlicher Steigerung. Ohne Zweifel richtig. Obwohl Maya fühlte, daß er immer mehr Macht angestrebt hatte, um mehr Schadensbegrenzung ausüben zu können. Diese beiden Motive konnte niemand trennen. Sie waren verflochten wie das Moos und der Stein draußen in der Senke. Die Macht hatte viele Gesichter.
Wenn Frank nur nicht John getötet hätte… Sie starrte auf das Lektionar, stellte es an und tastete Johns Namen ein. Die Bibliographie war endlos. Sie sah nach; 5146 Eintragungen. Und das war eine Auswahl! Frank hatte höchstens einige hundert gehabt. Sie schaltete auf Index und rief auf: »Tod durch …«
Dutzende Eintragungen, Hunderte! Kalt und dennoch schwitzend sah Maya rasch die Liste durch. Die Berner Verbindung, die Muslimbruderschaft, die MarsErsten, UNOMA, Frank, sie, Helmut Bronski. Sax, Samantha. Allein am Titel konnte sie erkennen, daß alle Theorien von Täterschaft bei seinem Tode vertreten waren. Natürlich. Konspirationstheorien waren immer populär. Die Leute wünschten, daß solche Katastrophen etwas mehr als individuelle Verrücktheit auf sich hätten. Darum ging die Jagd los.
Aus Widerwillen gegen die Vollständigkeit der Liste wollte sie die Akte fast abschalten. Aber — wovor hatte sie eigentlich Angst? Sie öffnete eine der vielen Bibliographien, und auf dem Schirm erschien ein Bild von John. Ein Nachwehen ihres alten Schmerzes durchfuhr sie und hinterließ eine blasse emotionslose Verzweiflung. Sie ging zum Schlußkapitel.
Der Nicosia-Krawall war eine frühe Manifestation der Spannungen, die 2061 explodierten. Es gab schon eine große Anzahl arabischer Techniker, die in minimalen Behausungen lebten und in unmittelbarer Nähe zu ethnischen Gruppen, gegen die sie historischen Groll hegten, und auch gegen Verwaltungsbeamte, deren bessere Wohnverhältnisse und Privilegien beim Reisen und Ausgehen ins Auge stachen. Eine flüchtige Mischung aus verschiedenen Gruppen kam zu ihrer Gründungsfeier nach Nicosia herunter, und die Stadt war einige Tage extrem überfüllt.
klick klick
Die Gewalttätigkeit ist nie befriedigend erklärt worden. Jensens Theorie, wonach der innerarabische Konflikt, angestachelt durch den libanesischen Befreiungskrieg gegen Syrien, den Krawall von Nicosia ausgelöst haben soll, ist nicht ausreichend. Es wurden auch Angriffe auf die Schweizer bezeugt sowie ein hohes Maß an willkürlicher Gewalttätigkeit, die alle unmöglich allein durch den arabischen Konflikt zu erklären sind.
Die offiziellen eidlichen Zeugenaussagen von Bewohnern Nicosias in jener Nacht lassen die Auslösung des Konflikts im dunkeln. Einige Berichte lassen die Anwesenheit eines agent provocateur vermuten, der nie identifiziert wurde.
klick klick
Um Mitternacht, als der Zeitrutsch begann, war Saxifrage Russell in einem Cafe in der Stadtmitte, Samantha Hoyle war auf einer Tour an der Stadtmauer, und Frank Chalmers und Maya Toitovna hatten sich im Westpark getroffen, wo einige Stunden zuvor die Reden gehalten worden waren. In der Medina war es schon zu Kämpfen gekommen. John Boone ging über den Zentralboulevard, um die Störung zu untersuchen, desgleichen Sax Russell aus einer anderen Richtung. Bei etwa zehn Minuten im Zeitrutsch wurde Boone von einer Gruppe aus drei bis sechs jungen Männern bedrängt, die von einigen als ›Araber‹ identifiziert wurden. Boone wurde niedergeschlagen und in die Medina gezerrt, ehe irgendwelche Augenzeugen reagieren konnten; und eine improvisierte Suche ergab kein Anzeichen von ihm. Erst um 0.27 wurde er von einer größeren Suchgruppe in der Farm der Stadt gefunden und von dort in das nächste Krankenhaus gebracht auf dem Zypressenboulevard. Russell, Chalmers und Toitovna halfen, ihn zu tragen …
Eine neue Störung im Wagen brachte Maya aus dem Text. Ihre Haut war feucht und kühl, und sie zitterte leicht. Manche Erinnerungen verschwanden nie, sosehr man sie auch unterdrückte. Wider Willen erinnerte Maya sich genau an das Glas auf der Straße, eine Gestalt im Gras, die auf dem Rücken lag, und Franks verwirrte Miene, sowie das ganz andere Erstaunen bei John.
Plötzlich waren vorn im Wagen Beamte. Sie standen im Mittelgang und bewegten sich langsam voran. Sie prüften Ausweise und Reisedokumente. Andere waren am hinteren Ende das Wagens postiert.
Maya stellte ihr Lesegerät ab. Sie beobachtete die drei Polizisten und fühlte, wie ihr Puls sich leicht beschleunigte. Das war neu. Sie hatte es noch nie erlebt, und die anderen im Wagen anscheinend auch nicht. Es herrschte allgemeines Schweigen. Jeder im Wagen hätte inkorrekte Papiere haben können. Dieser Umstand machte ihr Schweigen irgendwie solidarisch. Aller Augen richteten sich auf die Polizei. Niemand schaute umher, um zu sehen, wer vielleicht blaß wurde.
Die drei Polizisten kümmerten sich nicht darum und schienen auch nicht an den Leuten interessiert zu sein, die sie befragten. Sie machten unter sich Scherze, während sie sich über die Restaurants in Odessa unterhielten, und bewegten sich gelassen von einer Reihe zur nächsten wie Schaffner. Sie machten den Leuten Zeichen, ihre Hände auf das kleine Lesegerät zu legen, prüften dann beiläufig die Ergebnisse, verglichen nur ein paar Sekunden die Gesichter der Leute mit den Fotos, die auf ihren Ausweisen erschienen.
Sie kamen zu Spencer, und Mayas Herz schlug schneller. Spencer (falls er es war) hielt ruhig die Hand auf das Gerät und schien direkt den Sitz vor sich anzusehen. Plötzlich war an seiner Hand etwas sehr vertraut. Da unter den Adern und Leberflecken war zweifellos Spencer Jackson. Sie erkannte ihn an den Knochen. Der Polizist mit dem Stimmenleser hielt diesen kurz Spencer ans Gesicht. Dann warteten alle. Endlich bekam er eine schnelle Zeile auf dem Leser und ging weiter. Zwei Personen von Maya entfernt. Selbst die überschwenglichen Geschäftsleute waren nun gedämpft, als ob es lachhaft wäre, daß solche Maßnahmen jetzt sogar schon im Zug eingeführt wurden. Das gefiel niemandem. Es war ein Fehler, so etwas zu machen. Maya gewann dadurch Mut und blickte aus dem Fenster. Sie stiegen die Südseite der Niederung empor. Der Zug glitt den sanften Anstieg der Strecke über niedrige Hügel hinauf, von denen jeder etwas höher war als der vorige. Er fuhr immer mit der gleichen Geschwindigkeit wie auf einem Zauberteppich über den noch zauberhafteren Teppich der bunten Landschaft.
Jetzt standen sie vor ihr. Der ihr am nächsten Stehende trug über seinem rostfarbenen Uniformjumper einen Gürtel, an dem mehrere Instrumente hingen, einschließlich Betäubungspistole. »Bitte Identitätsprüfung.« Er trug ein Namensschild mit Foto und Dosimeter und einem Etikett, das besagte: Übergangsbehörde der Vereinten Nationen. Ein junger Einwanderer von etwa fünfundzwanzig Jahren mit schmalem Gesicht, der müde aussah. Er drehte sich um und sagte zu dem weiblichen Beamten hinter sich: »Ich liebe den Kalbsparmesan, den sie hier zubereiten.«
Das Lesegerät auf ihrem Handgelenk fühlte sich warm an. Die Beamtin musterte sie genau. Maya ignorierte den Blick und sah auf ihr Handgelenk. Sie wünschte, sie hätte eine Waffe. Dann sah sie in das Kameraauge des Lesers von Stimme und Auge. Der junge Mann fragte: »Was ist Ihr Ziel?«
»Odessa.«
Ein Moment Ungewissen Schweigens.
Dann ein hohes Piepen. »Angenehmen Aufenthalt!«, und sie waren weg.
Maya versuchte langsam und gleichmäßig zu atmen. Die Leser am Handgelenk maßen den Puls; und wenn er über etwa 110 lag, meldeten sie das dem Applikator. Das war eine Art einfacher Lügendetektor. Offenbar war sie unter dem Strich geblieben. Aber ihre Stimme und ihre Netzhaut. Die waren nie geändert worden. Die Schweizer Paßidentität mußte wirklich mächtig sein und die früheren Identitäten überspielen, wenn man sie abfragte, mindestens in diesem Sicherheitssystem. Hatten die Schweizer das getan oder die von Sabishii oder Cojote oder Sax oder eine ihr unbekannte Macht? Hatte man sie wirklich erfolgreich identifiziert und gehen lassen, um ihr so nachzuspüren, daß sie sie zu mehr der flüchtigen Hundert führen würde? Das könnte ebenso wahrscheinlich sein wie das Überwinden der großen Datenbanken — vielleicht sogar noch wahrscheinlicher.
Aber im Moment ließ man sie in Ruhe. Die Polizei war gegangen. Maya klopfte mit den Fingern auf das Lesegerät, und ohne nachzudenken rief sie ihre letzte Lektüre wieder auf. Michel hatte recht. Sie fühlte sich zäh und hart, als sie sich wieder in diesen Stoff versenkte. Theorien zur Erklärung des Todes von John Boone. John war getötet worden; und jetzt wurde sie von der Polizei kontrolliert, während sie in einem gewöhnlichen Zug über den Mars reiste. Es war ganz deutlich zu fühlen, daß es da eine gewisse Ursache und Wirkung gab, daß es nicht so sein würde, wenn John gelebt hätte.
Alle Hauptfiguren dieser Nacht sind angeklagt, hinter dem Mord zu stehen: Russell und Hoyle wegen scharfer Meinungsverschiedenheiten in der MarsErst-Politik; Toitovna wegen eines Streits in Liebessachen; und die ethnischen oder nationalen Gruppen auf Grundlage echter oder eingebildeter politischer Quereten. Aber sicher war im Laufe der Jahre der Hauptverdacht auf die Person von Frank Chalmers gefallen. Obwohl man beobachtet hatte, daß er zur Zeit des Angriffs mit Toitovna beisammen war (wobei in einigen Theorien Toitovna als zusätzliche oder mitwirkende Verschwörerin genannt wird), machen seine Beziehungen mit den Ägyptern und Saudis in Nicosia und sein lange währender Konflikt mit Boone unvermeidbar, daß er oft als letzte Ursache der Ermordung Boones angesehen wird. Wenige, wenn überhaupt einige, bestreiten, daß Selim el-Hayil der Anführer der drei Araber war, die vor ihren Selbstmorden oder Morden ein Geständnis abgelegt haben. Aber das verstärkt nur den Verdacht gegen Chalmers, der ein Vertrauter el-Hayils war. Samisdat und Dokumente für nur einmaligen Gebrauch sollen die Geschichte erzählen, daß sich der ›blinde Passagier« in Nicosia befand und Chalmers in dieser Nacht im Gespräch mit el-Hayil beobachtet haben soll. Da der »blinde Passagier‹ ein mythischer Mechanismus ist, mit dem die Leute die anonymen Wahrnehmungen des gewöhnlichen Marsbewohners verbinden, ist es durchaus möglich, daß eine solche Geschichte die Beobachtungen von Menschen wiedergibt, die Zeugen waren, aber nicht als solche bekannt werden wollten.
Maya klickte auf den Schluß.
El-Hayil war im Spätstadium eines tödlichen Krampfes, als er in das Hotel eindrang, das von den Ägyptern bewohnt war, und den Mord an Boone gestand mit der Versicherung, daß er der Anführer gewesen sei, aber von Rashhid Abou und Buland Besseisso des Ahad- Flügels der Muslimbruderschaft Unterstützung gehabt hätte. Die Leichen von Abou und Besseisso wurden später an diesem Nachmittag in einem Zimmer in der Medina gefunden, vergiftet durch Gerinnungsmittel, die sie sich selbst oder gegenseitig beigebracht zu haben schienen. Die tatsächlichen Mörder von Boone waren damit alle tot. Warum sie das taten und mit wem sie zusammengearbeitet haben könnten, wird man nie erfahren. Es hat nicht zum ersten Mal eine solche Lage gegeben und auch nicht zum letzten Mal, denn wir verbergen ebenso viel, wie wir suchen.
Bei der Durchsicht von Fußnoten wurde Maya wieder davon erschüttert, was für ein Thema das war, diskutiert von Historikern und Forschern und Konspirationsfanatikern jeder Schattierung. Mit einem Schauder des Widerwillens schaltete sie das Gerät ab, wandte sich dem Doppelfenster zu und schloß fest die Augen. Sie bemühte sich, den Frank wiederherzustellen, den sie gekannt hatte, und auch Boone. Sie hatte seit Jahren kaum an John gedacht; so groß war der Schmerz gewesen. Andererseits hatte sie aber auch nicht an Frank denken wollen. Jetzt wünschte sie sich beide zurück.
Der Kummer war zu einem peinigenden Gespenst geworden, und sie mußte sie wiederhaben um ihres eigenen Lebens willen. Sie mußte wissen.
Der ›mythische‹ blinde Passagier … Sie knirschte mit den Zähnen und hatte wieder jene halluzinatorische Angst bei seinem ersten Anblick, sein Gesicht durch das gebogene Glas verzerrt und großäugig. Wußte der etwas? War er wirklich in Nicosia gewesen? Desmond Hawkins, der blinde Passagier, der ›Cojote‹. Er war ein merkwürdiger Mensch. Maya hatte nie mit ihm unbefangen reden können. Schwer zu sagen, ob sie jetzt dazu imstande sein würde, da es sein mußte. Aber sie bezweifelte es.
Was ist los? hatte sie Frank gefragt, als sie das Gebrüll hörten.
Ein hartes Achselzucken, ein abgewandter Blick. Etwas, das in der Hitze des Moments geschehen war. Wo hatte sie das schon einmal gehört? Er hatte weggeblickt, als er das sagte, als ob er ihren Blick nicht ertragen könnte. Als ob er irgendwie zu viel gesagt hätte.
Die Bergketten um das Hellasbecken waren im westlichen Halbmond die ausgedehntesten. Sie hießen Hellespontus Montes, die Gebirge des Mars, die am meisten an irdische erinnerten. Nach Norden, wo die Strecke von Sabishii und Burroughs in das Becken führte, waren die Berge schmaler und weniger hoch. Das lag nicht so sehr am Gebirge, als vielmehr an der ungleichen Senkung zum Boden des Beckens hin. Das Land zog sich in niedrigen konzentrischen Wellen zum Norden hin. Die Piste führte durch diesen hügligen Hang nach unten, oft in Spitzkehren über lange Rampen, die in die Flanken der immer niedriger werdenden Gebirgswellen geschnitten waren. An den Wendepunkten wurde der Zug viel langsamer; und Maya konnte oft minutenlang aus ihrem Fenster entweder direkt auf den kahlen Basalt des Höhenzugs blicken, den sie hinunterfuhren, oder weit über das nordwestliche Hellas, das noch dreitausend Meter unter ihnen lag — eine große flache Ebene, die im Vordergrund ocker-, olivgrün- und khakifarben war und dann fern am Horizont ein Gewirr von schmutzigem Weiß zeigte, das wie ein zerbrochener Spiegel glitzerte. Das war der Gletscher von Low Point. Er war noch größtenteils gefroren, taute aber in jedem Jahr mehr auf, mit Schmelztümpeln an der Oberfläche und tieferen Teichen weit unten. Diese Teiche wimmelten von Leben und brachen gelegentlich an die Oberfläche durch oder sogar auf das benachbarte Land; denn dieser Eiszipfel wuchs schnell an. Man pumpte Wasser aus Reservoiren unter dem umgebenden Gebirge auf den Boden des Beckens. Die starke Depression im nordwestlichen Teil des Beckens, wo Low Point und das Mohole gewesen waren, war das Zentrum des neuen Meeres, das über tausend Kilometer lang und über Low Point bis zu dreihundert Kilometer breit war. Und es lag an der tiefsten Stelle des Mars. Eine vielversprechende Situation, wie Maya schon bei ihrer Landung sofort behauptet hatte.
Die Stadt Odessa war auf dem Nordhang des Beckens angelegt auf der Höhe von –1 km, wo man den Wasserspiegel des Meeres stabilisieren wollte. Es war also ein Hafen, der auf Wasser wartete. Zu diesem Zweck war der Südrand der Stadt auch eine lange Strandpromenade oder Corniche, eine breite begrünte Esplanade, die innerhalb der Kuppel verlief, die in der Ecke von einer hohen Wassermauer geschützt war, die jetzt noch auf kahlem Boden stand. Der Anblick der Wassermauer machte, als der Zug jetzt näher kam, den Eindruck einer halben Stadt, von der ein südlicher Teil abgesplittert und verschwunden war.
Dann rollte der Zug in den Bahnhof der Stadt, und die Aussicht wurde abgeschnitten. Der Zug hielt, und Maya holte ihre Tasche herunter und stieg hinter Spencer aus. Sie sahen sich nicht an. Als sie aber aus dem Bahnhof heraus waren, gingen sie mit einer losen Schar von Leuten zu einer Haltestelle der Straßenbahn und stiegen in den gleichen blauen Wagen, der hinter dem Park der Strandpromenade entlangfuhr, welche an die Wassermauer grenzte. Nahe dem Westende der Stadt stiegen sie beide bei der gleichen Haltestelle aus.
Dort, hinter und über einem Freiluftmarkt mit Schatten spendenden Platanen, lag ein dreistöckiger Apartmentkomplex in einem ummauerten Hof mit jungen Zypressen an den Seitenwänden. Jedes Stockwerk des Gebäudes war hinter dem unteren zurückgesetzt, so daß die beiden oberen Etagen Balkons hatten, die mit Bäumen in Töpfen und Blumenkästen an den Geländern geschmückt waren. Als Maya die Treppe zum Tor des Hofes emporstieg, erinnerte sie die Architektur des Hauses irgendwie an Nadias eingegrabene Kaskaden. Aber hier, wo die Nachmittagssonne hinter dem Markt stand, sah es mit weiß gekalkten Wänden und blauen Läden aus wie am Mittelmeer oder dem Schwarzen Meer — keineswegs einigen modischen Apartmentblocks mit Meeresblick in Odessa unähnlich. Am Tor wandte sie sich um und blickte über die Platanen des Marktes hinweg. Die Sonne ging über dem Hellespontus-Gebirge im Westen unter; und draußen auf dem fernen Eis schimmerten Sonnenreflexe so gelb wie Butter.
Maya folgte Spencer durch den Garten und in das Haus, meldete sich nach ihm beim Pförtner an und ging in das ihr zugewiesene Apartment. Das ganze Gebäude gehörte Praxis, und einige Apartments galten als sicher, einschließlich des ihrigen und ohne Zweifel Spencers. Sie stiegen zusammen in den Aufzug und fuhren zum dritten Stock, ohne zu sprechen. Mayas Apartment war von dem Spencers vier Türen entfernt. Sie trat ein. Zwei geräumige Zimmer, eines mit einer Kochecke, ein Bad und ein leerer Balkon. Vom Küchenfenster aus konnte man den Balkon und das ferne Eis überblicken.
Sie legte ihre Tasche aufs Bett und ging wieder nach draußen zum Markt, um etwas zum Essen zu holen. Sie kaufte von Händlern mit Karren und Sonnenschirmen, setzte sich auf eine Bank auf dem Gras am Rande der Strandpromenade, aß Souvlakia und trank Retsina aus einer kleinen Flasche, während sie die Menge beobachtete, die lässig ihren Abendspaziergang machte. Die nächste Ecke des vereisten Sees schien etwa vierzig Kilometer entfernt zu sein, und jetzt lag alles bis auf den östlichsten Teil des Eises im Schatten von Hellespontus, der von Dunkelblau nach Osten in das Rosa des Alpenglühens überging.
Spencer nahm neben ihr auf der Bank Platz und bemerkte: »Ein schöner Anblick.«
Sie nickte und aß weiter. Sie bot ihm die Retsinaflasche an, und er sagte: »Nein, danke«, und wies auf sein halb verzehrtes Tamale. Sie nickte und kaute weiter.
Als sie fertig war, fragte sie: »Woran arbeitest du?«
»Teile für Sax. Unter anderem Biokeramik.«
»Für Biotique?«
»Für eine Schwestergesellschaft. Sie stellt ›Meeresmuscheln‹ her.«
»Was?«
»Das ist der Name der Gesellschaft, eine andere Abteilung von Praxis.«
»Da wir gerade von Praxis sprechen…« Sie sah ihn an.
»Ja. Sax braucht diese Teile ziemlich dringend.«
»Für Waffen?«
»Ja.«
Sie schüttelte den Kopf. »Kannst du ihn einige Zeit im Zaum halten?«
»Ich kann es versuchen.«
Sie sahen zu, wie das Sonnenlicht sich aus dem Himmel zurückzog und wie eine Flüssigkeit nach Westen lief. Hinter ihnen gingen in den Bäumen über dem Markt Lichter an, und die Luft wurde kühl. Maya fühlte sich dankbar, daß ein alter Freund neben ihr saß, in behaglichem Schweigen. Spencers Verhalten ihr gegenüber stand zu Sax in starkem Kontrast. In seiner Freundlichkeit lag seine Entschuldigung für seine Beschuldigungen im Wagen nach Kasei Vallis und seine Verzeihung dessen, was sie Phyllis angetan hatte. Das schätzte sie … Und auf jeden Fall war er einer von der Urfamilie; und es war schön, das bei einem weiteren Unternehmen zu haben. Ein neuer Anfang, eine neue Stadt, ein neues Leben — wieviel war das jetzt?
»Hast du Frank sehr gut gekannt?« fragte sie.
»Eigentlich nicht. Nicht so, wie du und John ihn kannten.«
»Denkst du… denkst du, er könnte mit der Ermordung Johns etwas zu tun gehabt haben?«
Spencer blickte weiter auf das blaue Eis am schwarzen Horizont. Endlich nahm er die Retsinaflasche von der Bank neben ihr und trank. »Spielt das jetzt noch eine Rolle?«
Sie hatte viele der frühen Jahre im Hellasbecken gearbeitet. Sie war überzeugt gewesen, daß dessen tiefe Lage es zu einem naheliegenden Platz für Besiedlung machen würde. Inzwischen war das Land oberhalb der –1-Kilometerlinie stellenweise rund um das Becken besiedelt an Stellen, bei deren Erkundung sie unter den ersten gewesen war. Sie hatte ihre alten Aufzeichnungen darüber in ihrem Computer und machte sich jetzt als Ludmilla Novosibirskaya daran, sie zu benutzen.
Ihr Arbeitsplatz war bei der hydrologischen Gesellschaft, die das Becken flutete. Das Team war Teil eines Konglomerates von Organisationen, die das Becken entwickelten, darunter die Ölkompanien der Schwarzmeer-Wirtschaftsgruppe, der russischen Gesellschaft, die versucht hatte, das Kaspische Meer und den Aralsee wiederzubeleben, und die Firma ›Deep Waters‹, die im Besitz von Praxis war. Zu Mayas Aufgaben gehörte die Koordinierung der vielen hydrologischen Arbeiten in der Region. Darum war sie wieder dazu gekommen, das Herz des Hellasprojekts zu sehen, genau wie in den alten Tagen, als sie die treibende Kraft hinter dem ganzen Ding gewesen war. Das war in verschiedener Hinsicht und manchmal sogar auf seltsame Weise befriedigend. Zum Beispiel wurde ihre Stadt Low Point (eine irrtümliche Platzwahl, wie sie zugeben mußte) jeden Tag tiefer unter Wasser gesetzt. Es war hübsch, die Vergangenheit zu ertränken …
Also hatte sie ihre Arbeit und ihr Apartment, das sie mit gebrauchten Möbeln, Küchenzubehör und Topfpflanzen füllte. Und Odessa erwies sich als eine angenehme Stadt. Sie war grundsätzlich aus gelbem Stein und braunen Ziegeln erbaut und an einer Stelle des Beckenrandes gelegen, die sich mehr als üblich einwärts krümmte, so daß jeder Teil der Stadt auf das Zentrum der trockenen Wasserfront blickte und jeder Teil einen großartigen Ausblick über das Becken nach Süden hatte. Die unteren Distrikte waren Läden, Geschäften und Parks gewidmet, und die höheren waren Wohngebiete mit Gärten. Die Stadt lag knapp über 30° südlicher Breite. Darum war sie jetzt vom Herbst in den Frühling gekommen, wobei die große heiße Sonne auf die abgestuften Straßen der oberen Stadt schien und den Schnee des Winters vom Rand der Eismassen wegschmolz und den Gipfeln des Hellespontus-Gebirges am westlichen Horizont. Eine hübsche kleine Stadt.
Und ungefähr einen Monat nach ihrer Ankunft kam Michel von Sabishii herunter und übernahm das Apartment gleich neben ihrem. Auf ihre Bitte hin richtete er eine Verbindungstür zwischen ihren Wohnzimmern ein, und danach gingen sie zwischen den beiden Apartments hin und her, als wäre es eines, und lebten in einer ehelichen Gemeinschaft, die Maya noch nie erfahren hatte, eine Normalität, die sie sehr erholsam fand. Sie liebte Michel nicht leidenschaftlich; aber er war ein guter Freund, ein guter Liebhaber und ein guter Arzt. Wenn sie ihn um sich hatte, war das so, als hätte sie einen Anker in sich, der sie davor bewahrte, in Verzückungen der Hydrologie oder revolutionäre Glut zu verfallen oder auch tief in schreckliche Abgründe politischer Verzweiflung oder persönlichen Widerwillen zu versinken. Das Auf und Ab der Sinuswelle ihrer Stimmungen war eine hilflose Schwingung, die sie haßte; und alles, was Michel hinsichtlich Amplitudenmodulation tat, schätzte sie sehr. Sie hatten keine Spiegel in den Apartments, was zusammen mit Clomipramin half, den Zyklus zu dämpfen. Aber die Böden von Töpfen und die Fenster bei Nacht verkündeten ihr die schlechte Kunde, wenn es sie interessierte. Was oft genug der Fall war.
Mit Spencer unten in der Halle bewirkte das Gebäude einen leichten Anklang an Underhill, gelegentlich verstärkt durch Besuche von außerhalb der Stadt, die ihr Apartment in seiner Eigenschaft als sicheres Haus nutzten. Wenn andere der Ersten Hundert vorbeikamen, gingen sie aus und spazierten an der wasserlosen Wasserfront entlang, sahen auf den Eishorizont und tauschten die Neuigkeiten aus wie alte Leute überall. MarsErst, geführt von Kasei und Harmakhis, wurde immer noch radikaler. Peter arbeitete beim Aufzug, wie eine Motte wieder zu seinem Mond hingezogen. Sax hatte vorerst seine verrückte Sabotagekampagne eingestellt und konzentrierte sich, Gott sei Dank, auf seine industriellen Bemühungen im Mohole von Vishniac, wo er Boden-Orbit-Geschosse und dergleichen baute. Maya schüttelte über diese Nachricht den Kopf. Es war nicht militärische Macht, mit der sie etwas erreichen würden. In dieser Hinsicht war sie mit Nadia, Nirgal und Art einer Meinung. Sie würden etwas anderes brauchen, etwas, das sie sich noch nicht vorstellen konnte. Und diese Lücke in ihren Gedanken war eines der Dinge, das sie auf der Sinuswelle ihrer Stimmungen abwärts zu führen pflegte und zu den Dingen gehörte, die sie wahnsinnig machten.
Ihre Arbeit der Koordinierung der verschiedenen Aspekte des Flutungsprojekts begann interessant zu werden. Sie fuhr mit der Straßenbahn oder ging zu Fuß in die Büros im Stadtzentrum und arbeitete dort schwer, um all die Berichte zu bearbeiten, die von den vielen Tauchermannschaften und Bohrstationen eingingen — alle voll von begeisterten Schätzungen, wieviel Wasser sie in das Becken würden tun können, und begleitet von Anforderungen um mehr Gerät und Personal, bis alles zusammen mehr ergab, als Deep Waters liefern konnte. Vom Büro aus war es schwierig, die wettstreitenden Ansprüche zu beurteilen, und Mayas technischer Stab rollte bloß mit den Augen und zuckte die Achseln. Einer sagte: »Es ist so, als ob man einen Wettbewerb von Lügnern beurteilen würde.«
Und dann gingen auch Berichte aus allen Siedlungen rund um das Becken ein, die in Bau waren. Nicht alle Leute, die daran arbeiteten, kamen von der Schwarzmeergruppe oder den daran beteiligten Metanationalen. Eine Menge war einfach unidentifiziert. Eine Tauchermannschaft würde das Vorhandensein einer Kuppelstadt kundtun, die offiziell nicht existierte, und es dabei belassen. Und die beiden großen Canyonprojekte in Dao Vallis und dem System Harmakhis-Reull waren ganz deutlich von mehr Leuten bevölkert, als aus der offiziellen Dokumentation hervorging — Leuten, die deshalb unter angenommenen Identitäten leben mußten wie sie, oder gar völlig außerhalb des Netzes lebten. Das war wirklich sehr interessant.
Eine Piste rund um Hellas war gerade im vergangenen Jahr fertig geworden, eine schwierige Ingenieurarbeit, da der Rand des Beckens von Spalten und Rissen durchbrochen und von einer schweren Dosis aus dem Orbit abgestürzter Objekte mit Kratern besät war. Aber jetzt war die Strecke fertig, und Maya beschloß, ihre Neugier zu befriedigen und eine Reise zur persönlichen Inspektion aller Tiefwasser-Projekte zu unternehmen und in einige neue Siedlungen hineinzuschauen.
Zur Begleitung auf dieser Reise erbat sie die Gesellschaft einer ihrer Areologinnen, einer jungen Frau namens Diana, deren Berichte aus dem Ostbecken gekommen waren. Diese waren knapp und nicht bemerkenswert; aber Maya hatte von Michel erfahren, daß sie ein Kind von Esthers Sohn Paul war. Esther hatte Paul sehr bald nach dem Verlassen von Zygote bekommen und, soweit Maya wußte, niemals jemandem erzählt, wer Pauls Vater war. Also könnte Kasei Esthers Gatte gewesen sein, in welchem Falle Diana Jackies Nichte und Johns und Hirokos Urenkelin wäre. Oder es hätte Peter gewesen sein können. Dann wäre sie Jackies Halbnichte und Anns und Simons Urenkelin. Maya fand das in jedem Fall interessant, und die junge Frau war bestimmt eine Yonsei, ein Marskind der vierten Generation und als solche für Maya interessant ohne Rücksicht auf ihre Vorfahren.
Sie war auch an sich interessant, wie sich zeigte, als Maya sie einige Tage vor ihrer Reise im Büro von Odessa traf. Mit ihrer Größe (über zwei Meter und trotzdem sehr rundlich und muskulös) und ihrer geläufigen Anmut und asiatischen Zügen mit betonten Backenknochen wirkte sie wie die Angehörige einer neuen Rasse, die dort Maya in diesem neuen Winkel der Welt Gesellschaft leisten sollte.
Es stellte sich heraus, daß Diana von dem Hellasbecken und seinem verborgenen Wasser ganz besessen war. Sie redete stundenlang darüber, so lange und in solchem Detail, daß Maya überzeugt wurde, das Rätsel der Elternschaft sei gelöst. Eine derart vom Mars besessene Person mußte mit Ann Clayborne verwandt sein. Damit ergab sich, daß Paul Peter zum Vater gehabt hatte. Maya saß im Zug neben der großen jungen Frau, beobachtete sie oder schaute aus dem Fenster auf den steilen Nordhang des Beckens. Sie stellte Fragen und sah, wie Diana ihre Knie gegen die Sitzbank vor ihr drückte. Man machte die Züge nicht groß genug für die Eingeborenen.
Was Diana vor allem faszinierte, war, daß das Hellasbecken sich als von viel mehr Wasser unter dem Boden umgeben erwiesen hatte, als die areologischen Modelle hatten erwarten lassen. Diese während der letzten Dekade durch Feldforschung gelungene Entdeckung hatte das laufende Hellasprojekt inspiriert und das hypothetische Meer zu einer greifbaren Möglichkeit gemacht. Es hatte auch die Areologen gezwungen, ihre theoretischen Modelle der Frühgeschichte des Mars zu revidieren, und das Volk veranlaßt, über die Ränder der großen Einsturzbecken des Planeten hinauszuschauen. Es waren Forschungsexpeditionen unterwegs in den Charitum und Nereidum Montes rund um Argyre und dem South Isidis umgebenden Gebirge.
Rings um Hellas stand man fast vor der Fertigstellung der Bestandsaufnahme. Man hatte alles in allem vielleicht dreißig Millionen Kubikmeter gefunden, obwohl manche Taucher erklärten, sie seien noch lange nicht zufrieden. »Gibt es einen Weg festzustellen, wann sie fertig sind?« fragte Maya Diana und dachte an alle Anforderungen, die ihr Büro überschwemmten.
Diana zuckte die Achseln. »Nach einiger Zeit hat man überall hingeschaut.«
»Was ist mit dem Boden des Beckens selbst? Könnte die Flutung alle unsere Möglichkeiten zerstören, dort einige Reservoire herauszubekommen?«
»Nein.« Fast kein Wasser, berichtete sie Maya, war unter dem Beckenboden selbst vorhanden. Dieser war durch den ursprünglichen Aufprall ausgetrocknet und bestand jetzt aus einem etwa ein Kilometer dicken äölischen Sediment und darunter einer harten Schicht aus zu Brekzien verwandeltem Gestein, die sich während der kurzen, aber enormen Drücke des Aufpralls gebildet hatte. Die gleichen Drücke hatten auch rund um den Beckenrand tiefe Brüche bewirkt; und infolge der Brüche hatten aus dem Innern des Planeten ungewöhnlich starke Ausgasungen stattgefunden. Von unten waren flüchtige Substanzen hochgesickert und abgekühlt, und der Wasseranteil davon hatte sich in Wasserreservoiren und vielen Zonen stark gesättigten Permafrostes gesammelt.
»Ein ganz beträchtlicher Aufschlag«, bemerkte Maya.
»Das war er gewiß.« Diana sagte, in der Regel wären die aufschlagenden Brocken etwa halb so groß wie das Kraterbecken, das sie formten (wie historische Gestalten, dachte Maya); darum hätte das aufprallende Planetesimal in diesem Fall ungefähr zweihundert Kilometer Durchmesser gehabt. Es wäre auf einem alten, schon mit Kratern bedeckten Gebirge niedergegangen. Gewisse Anzeichen ließen darauf schließen, daß es wohl ein gewöhnlicher Asteroid gewesen war, größtenteils kohlehaltiger Chondrit mit viel Wasser und etwas Nickel im Innern. Er hatte beim Auftreffen eine Geschwindigkeit von rund 72 000 Kilometern in der Stunde gehabt und war in einem leicht nach Osten gerichteten Winkel aufgeprallt, was die große verwüstete Region östlich von Hellas erklärte sowie die hohen und verhältnismäßig regelmäßigen konzentrischen Ringe der Hellespontus-Berge im Westen.
Dann führte Diana noch eine andere Daumenregel an, die Maya zu frei assoziierten Analogien mit der menschlichen Geschichte veranlaßte: Je größer der aufschlagende Körper, desto weniger von ihm überlebte den Aufprall. So war in diesem Fall fast jedes Stück in dem kataklysmischen Stoß verdampft, obwohl sich unter dem Krater Gledhill ein kleiner Bolide befand, den einige Areologen für höchstwahrscheinlich das Überbleibsel des Planetesimals hielten, vielleicht ein Zehntausendstel des Originals oder noch weniger. Sie erklärten, daß er alles an Eisen und Nickel liefern würde, das sie jemals benötigen würden, falls sie sich die Mühe machen möchten, danach zu graben.
»Ist das zu machen?« fragte Maya.
»Eigentlich nicht. Es ist billiger, die Asteroiden auszubeuten.«
Was ja auch geschah, dachte Maya finster. Ein Gefängnisurteil bedeutete jetzt unter dem jüngsten UNTA-Regime Jahre im Asteroidengürtel auf den streng eingegrenzten Bergwerksschiffen und Robotern.
Wirksam, wie die Übergangsbehörde sagte. Gefängnisse, die zugleich weit entfernt und profitabel waren.
Aber Diana dachte immer noch an die grauenhafte Entstehung des Beckens. Der Aufprall hatte vor etwa dreieinhalb Milliarden Jahren stattgefunden, als die Lithosphäre des Planeten dünner gewesen war und sein Inneres heißer. Die durch das Ereignis freigesetzten Energien konnte man sich schwer vorstellen. Die im Laufe ihrer ganzen Geschichte von den Menschen erzeugte Energie war im Vergleich damit ein Nichts. Und die resultierende vulkanische Aktivität war beträchtlich gewesen. Um Hellas herum gab es eine Anzahl alter Vulkane, die kurz nach dem Aufprall entstanden waren, einschließlich Australis Tholus im Südwesten, Amphitrites Patera im Süden und Hadriaca Patera und Tyrrhena Patera im Nordosten. Man hatte festgestellt, daß alle diese vulkanischen Gebiete in ihrer Nähe Reservoire an flüssigem Wasser hatten.
Zwei dieser Wasserspeicher waren in alten Zeiten an die Oberfläche durchgebrochen und hatten auf dem Osthang des Beckens zwei typische sinusförmige, von Wasser ausgehöhlte Täler hinterlassen: Dao Vallis auf dem welligen abfallenden Gebiet von Hadriaca Patera und weiter südlich ein zusammenhängendes Paar von Tälern, das sogenannte Harmakhis-Reull-System, das sich mehr als tausend Kilometer hinzog. Die Wasserreservoire oberhalb dieser Täler waren seit ihren Ausbrüchen im Laufe von Äonen wieder aufgefüllt worden; und jetzt hatten große Bautrupps Dao überkuppelt und arbeiteten an Harmakhis-Reull. Sie ließen das Wasser aus den Reservoiren die langen eingeschlossenen Canyons zu Auslässen am Boden des Beckens herunterfließen. Maya war an diesen großen Vermehrungen der bewohnbaren Oberfläche höchst interessiert; und Diana, die damit gut Bescheid wußte, beabsichtigte, sie mitzunehmen und einige Freunde in Dao zu besuchen.
Ihr Zug fuhr den ganzen ersten Tag über den Nordrand von Hellas, wobei fast ständig das Eis auf dem Boden des Beckens in Sicht war. Sie passierten eine kleine, am Berghang gelegene Stadt namens Sebastopol, deren Steinwände am Nachmittag in florentinischem Gelb leuchteten. Danach kamen sie zu Hell’s Gate, dem ›Höllentor‹ am unteren Ende von Dao Vallis. Sie verließen spät am Nachmittag den Bahnhof von Hell’s Gate heraus und schauten auf eine große neue Kuppelstadt hinunter, die unter einer riesigen Hängebrücke lag. Diese Brücke trug die Bahnstrecke und die Piste und überspannte Dao Vallis von der Canyonöffnung an, so daß ihre Türme mehr als zehn Kilometer voneinander entfernt waren. Vom Rand des Canyons an der Brücke, wo sich der Bahnhof befand, konnten sie in die sich erweiternde Mündung des Canyons bis zum Boden des Beckens hinunterschauen, über dem eine Gruppe zerzauster, stellenweise von der Sonne beleuchteter Wolken schwebte. In der anderen Richtung konnte man weit in die steile und enge Welt des eigentlichen Canyons hinaufblicken. Als sie auf einer Straße mit Stufen und Zickzackkehren in die Stadt hinuntergingen, war die neue Kuppel über dem Canyon nur als ein roter Dunst zusätzlich zur Farbe des Abendhimmels zu erkennen, was durch feine Staubablagerungen auf der Kuppel selbst zustande kam.
»Wir werden uns morgen auf der Randstraße stromaufwärts begeben, um einen Überblick zu bekommen«, sagte Diana. »Dann kommen wir auf dem Canyonboden zurück, damit du sehen kannst, wie es ist, sich hier zu befinden.« Sie gingen die Straße hinunter, die siebenhundert Stufen hatte. In der Innenstadt von Hell’s Gate gingen sie spazieren und speisten. Dann stiegen sie wieder zum Büro von Deep Waters hinauf, das auf der Talwand gleich unter der Brücke lag. Sie blieben dort in Zimmern. Am nächsten Morgen gingen sie zu einer Garage am Bahnhof und liehen einen kleinen Rover der Firma.
Diana übernahm das Lenkrad und fuhr sie nach Nordosten hinunter, parallel zum Canyonrand auf einer Straße, die dicht bei dem massiven Betonfundament für die Kuppel des Canyons verlief. Obwohl die Gewebe so transparent waren, daß man sie kaum sah, bedeutete das bloße Gewicht des Dachs für den Anker eine starke Beanspruchung. Der Betonblock des Fundaments versperrte ihnen die Sicht in den Canyon selbst; und als sie dann zum ersten Aussichtspunkt kamen, hatte Maya seit Hell’s Gate nicht mehr hineingesehen. Diana fuhr auf einen kleinen Parkplatz auf dem breiten Fundament. Sie parkten, setzten Helme auf und stiegen aus dem Wagen. Dann gingen sie eine Holztreppe hinauf, die freischwebend in den Himmel zu reichen schien, obwohl man bei näherem Zusehen erkannte, daß der klare Aerogelbalken die Treppe trug und danach die Schichten der Kuppel, die sich von ihren Trägern zu anderen hin erstreckten, die man nicht sehen konnte. Am oberen Ende der Treppe war eine kleine Plattform mit Geländer, die einen Blick auf den Canyon viele Kilometer weit stromaufwärts und stromabwärts eröffnete.
Und es war wirklich ein Strom zu sehen. Der Boden von Dao Vallis hatte in der Mitte einen Fluß. Der Canyonboden war grün gefleckt, oder, um genauer zu sein, mit einer Sammlung von Grün. Maya identifizierte Tamarisken, dreiblättrige Pappeln, Espen, Zypressen, Sykomoren, Zwergeichen, Schneebambus — und dann auf dem steilen Vorfeld und den steinigen Hängen am Fuß der Canyonwände mannigfaltiges Buschwerk und niedrige Kletterpflanzen und natürlich Riedgras, Moos und Flechten. Und durch dies ganze erlesene Arboretum strömte ein Fluß.
Das war kein blauer Strom mit weißen Katarakten. Das Wasser in den langsameren Abschnitten war trübe und rostfarben. In den Stromschnellen und Wasserfällen bildete es rosigen Schaum. Klassische Marsfarben, die, wie Diana sagte, durch den Grus bewirkt wurden, der wie glazialer Schlick im Wasser schwebte — und auch durch die reflektierte Farbe des Himmels, die inzwischen eine Art verschwommener Malventönung angenommen hatte und um die verschleierte Sonne herum lavendelfarben wurde, so gelb wie die Iris eines Tigerauges.
Aber ganz gleich, welche Farbe das Wasser hatte, es war ein fließender Strom in einem offensichtlich durch Wasser gebildeten Tal, friedlich an manchen Stellen, wild bewegt an anderen, mit Kiesfurten, Sandbänken, quirligen Abschnitten und bröckligen Inselbögen, hier eine tiefe träge U-förmige Schleife, dann viele Stromschnellen und weit stromaufwärts einige kleine Katarakte. Man konnte erkennen, wie unter dem höchsten Wasserfall der Gischt von Rot fast zu Weiß wurde und weiße Flecken flußabwärts getrieben wurden, um an Felsblöcken und Baumstümpfen hängen zu bleiben, die vom Ufer hereinragten.
»Dao River«, sagte Diana. »Von den Leuten, die hier wohnen, auch Rubinfluß genannt.«
»Wie viele sind es?«
»Einige tausend. Die meisten leben ziemlich nahe von Hell’s Gate. Stromaufwärts gibt es Familienanwesen und dergleichen. Und dann natürlich die Station des Wasserreservoirs, wo ein paar hundert von ihnen arbeiten.«
»Ist es eines der größten Reservoire?«
»Ja. Ungefähr drei Millionen Kubikmeter Wasser. Also pumpen wir es in fließendem Tempo heraus. Du siehst es hier. Ungefähr hunderttausend Kubikmeter jährlich.«
»Also gibt es in dreißig Jahren keinen Fluß mehr?«
»Allerdings. Obwohl sie einiges Wasser wieder in einer Röhre hochpumpen und dann wieder freilassen. Oder wer weiß — wenn die Atmosphäre feucht genug wird, könnten die Flanken von Hadriaca eine hinreichend große Schneedecke ansammeln, daß sie als Wassereinzugsgebiet dienen würde. Dann würde der Fluß mit den Jahreszeiten schwanken, aber das tun Flüsse ja sowieso, nicht wahr?«
Maya blickte auf die Szene hinunter, die so sehr wie etwas aus ihrer Jugendzeit aussah, wie irgendein Fluß … Der obere Rioni in Georgien? Der Colorado, den sie einmal bei einem Amerikabesuch gesehen hatte? Sie konnte sich nicht erinnern. Das ganze Leben damals war so undeutlich. »Es ist schön. Und so… « Sie schüttelte den Kopf. Das Bild hatte eine Eigenschaft, die sie nie gesehen zu haben glaubte, als ob es außerhalb der Zeit läge, ein prophetischer Blick in eine ferne Zukunft.
»Hier, laß uns die Straße ein Stück weiter gehen und Hadriatica anschauen!«
Maya nickte, und sie kehrten zum Wagen zurück. Während sie bergauf fuhren, stieg die Straße ein paarmal hoch genug, um ihnen einen neuen Blick nach unten auf den Canyonboden zu gewähren; und Maya sah, daß der kleine Fluß weiter durch Felsen und Vegetation strömte. Aber Diana machte keine Pause, und Maya sah keine Spuren von Siedlungen.
Am oberen Ende des überkuppelten Canyons lag der große Betonblock einer physikalischen Fabrik, der den Gasaustauschmechanismus und die Pumpenstation enthielt. Ein Wald von Windmühlen stand auf dem ansteigenden Hang nördlich der Station. Die großen Propeller zeigten alle nach Westen und drehten sich langsam. Darüber erhob sich der breite Kegel von Hadriaca Patera, einem Vulkan, dessen Flanken ungewöhnlicherweise von einem dichten Netz sich überschneidender Lavakanäle gefurcht waren, bei denen die späteren die früheren durchbrachen. Jetzt hatte die Schneelast des Winters die Kanäle angefüllt, aber nicht den freiliegenden schwarzen Stein dazwischen, der durch die starken Winde freigeblasen war, welche die Schneestürme begleiteten. Das Resultat war ein enormer schwarzer Kegel, der in den Himmel ragte, bekränzt mit Hunderten verwickelter weißer Bänder.
»Sehr hübsch«, sagte Maya. »Kann man das vom Canyonboden aus sehen?«
»Nein. Aber viele an diesem Ende arbeiten sowieso auf dem Rand, bei der Zisterne oder dem Kraftwerk. So sehen sie das jeden Tag.«
»Diese Siedler, was sind das für Leute?«
Diana sagte: »Wir wollen hingehen und sehen.« Maya nickte. Sie freute sich über Dianas Stil, der sie sehr stark an Anns erinnerte. Die Sansei und Yonsei waren Maya alle fremd, aber Diana viel weniger als die meisten — vielleicht etwas verschlossen, aber im Vergleich mit ihren exotischeren Zeitgenossinnen und den Kindern von Zygote erfreulich normal.
Während Maya dies dachte und Diana beobachtete, fuhr Diana ihren Rover in den Canyon eine steile Straße hinunter, die über einen gigantischen alten Gebirgsausläufer nahe dem oberen Ende von Dao führte. Hier war es, wo der ursprüngliche Wasserausbruch stattgefunden hatte; aber es gab nur sehr wenig chaotisches Terrain — bloß titanische Geröllhänge, die fast den Schüttungswinkel erreichten.
Der Canyonboden selbst war im wesentlichen eben und ungebrochen. Sie fuhren bald darüber hin auf einem Regolithweg, der mit einem Fixativ befestigt war und so nahe wie möglich am Fluß entlang verlief. Nach ungefähr einer Stunde kamen sie an einer grünen Wiese vorbei, die sich in eine scharfe Biegung hineinschmiegte. Im Mittelpunkt dieser Wiese, in einer Gruppe von Kiefern und Espen, waren niedrige Schindeldächer zusammengedrängt. Aus einem einzelnen Kamin stieg schwacher Rauch auf.
Maya betrachtete die Siedlung (Viehstall und Weide, Gemüsegarten, Tenne, Bienenstöcke) und bewunderte ihre Schönheit und archaische Vollständigkeit, ihre scheinbare Abgesondertheit von dem großen Rotsteinplateau über dem Canyon — Abgesondertheit von allem Realen, von Geschichte und der Zeit selbst. Ein Mesokosmos. Was dachte man wohl in diesen kleinen Häusern auf dem Mars von der Erde und all ihren Problemen? Warum sollte man sich darum Sorgen machen?
Diana hielt den Wagen an. Ein paar Leute kamen heraus und gingen über die Wiese, um zu sehen, wer sie waren. Der Druck in der Kuppel betrug fünfhundert Millibar, was half, das Gewicht der Überdachung zu tragen, da der Luftdruck im Freien jetzt bei ungefähr zweihundertfünfzig Millibar lag. Also stieß Maya die Schleuse des Wagens auf und ging ohne ihren Helm hinaus. Sie fühlte sich aber sofort unbekleidet und unbehaglich.
Diese Siedler waren alle junge Eingeborene. Viele von ihnen waren in den letzten Jahren von Burroughs und Elysium gekommen. Wie sie sagten, lebten auch einige von der Erde in dem Tal, nicht viele; aber es gab ein Praxisprogramm, das Gruppen aus kleineren Ländern herbrachte. Und hier im Tal hatte man kürzlich einige Schweizer, Griechen und Navajos begrüßt Es gab auch eine russische Siedlung unten bei Hell’s Gate. Darum hörte man in dem Tal verschiedene Sprachen; aber Englisch war die Lingua franca und für die meisten Eingeborenen ihre erste Sprache. Ihr Englisch hatte Akzente, die Maya noch nicht gehört hatte, und sie machten drollige grammatische Fehler, mindestens für ihr Ohr. Zum Beispiel war fast jedes Verbum nach dem ersten im Präsens. »Wir sind stromab gegangen, und einige Schweizer arbeiten auf dem Fluß. Stabilisieren an manchen Stellen die Ufer mit Pflanzen oder Steinen. Sie sagen, in einigen Jahren ist das Flußbett genügend geglättet, damit das Wasser klar wird.«
»Es wird die Farbe der Klippen und des Himmels haben«, sagte Maya.
»Ja, natürlich. Aber klares Wasser sieht irgendwie besser aus als schlammiges Wasser.«
»Woher wißt ihr das?« fragte Maya.
Sie blinzelten und runzelten die Stirn und dachten nach. »Einfach davon, wie es in der Hand aussieht, nicht wahr?«
Maya lächelte. »Es ist wundervoll, daß ihr so viel Platz habt. Unglaublich, welch weite Räume sie heutzutage überdachen können.«
Sie zuckten die Achseln, als ob sie darüber noch nicht nachgedacht hätten. Einer sagte: »Wir erwarten den Tag, wenn wir die Kuppel endlich abnehmen können. Wir vermissen den Regen und den Wind.«
»Wieso wißt ihr davon?«
Jedenfalls wußten sie.
Maya und Diana fuhren weiter. Sie kamen an sehr kleinen Dörfern vorbei. Isolierte Farmen. Eine Schafweide. Weingärten. Obstgärten. Bebaute Felder. Große volle Gewächshäuser, die wie Labors glänzten. Einmal lief vor ihrem Wagen ein Cojote über den Weg. Dann erblickte Diana auf einem kleinen Rasenstück unter einem Abhang einen Braunbären und später einige Schafe. In den kleinen Dörfern handelten die Leute auf offenen Marktplätzen mit Nahrungsmitteln und Werkzeug und sprachen über die Ereignisse des Tages. Sie verfolgten die Nachrichten von der Erde nicht und kamen Maya in dieser Hinsicht erstaunlich unwissend vor. Bis auf eine kleine russische Gemeinde, die ein schlechtes Russisch sprach, das Maya trotzdem Tränen in die Augen trieb, und die ihr erzählte, daß die Dinge auf der Erde in Stücke gingen. Wie gewöhnlich. Sie waren glücklich, im Canyon zu sein.
In einem der kleinen Dörfer war ein Markt im Freien in vollem Gange, und dort war mitten in der Menge Nirgal, der einen Apfel mampfte und heftig nickte, als jemand mit ihm redete. Er sah Maya und Diana aus dem Wagen steigen, eilte herbei, nahm Maya in die Arme und hob sie hoch. »Maya, was tust du hier?«
»Einen Ausflug von Odessa. Dies ist Diana, Pauls Tochter. Und was machst du hier?«
»Oh, ich besuche das Tal. Die haben einige Probleme mit dem Boden, bei denen ich zu helfen versuche.«
»Erzähl mir davon!«
Nirgal war Ökologie-Ingenieur und schien einiges von Hirokos Talent geerbt zu haben. Der Mesokosmos des Tals war relativ neu, man pflanzte noch allenthalben; und obwohl der Boden präpariert worden war, ließ Mangel an Stickstoff und Pottasche viele Pflanzen nicht gedeihen. Während sie um den Marktplatz gingen, sprach Nirgal darüber, zeigte auf lokale und importierte Erzeugnisse und schilderte die Ökonomie des Tals. »Sie sind also nicht autark?« fragte Maya.
»Nein, nein. Nicht einmal annähernd. Aber sie ziehen eine Menge ihrer Nahrung und handeln mit anderen Produkten oder geben sie ab.«
Nirgal schien sich gut auf Öko-Ökonomie zu verstehen. Und er hatte schon eine Menge Freunde hier. Er kamen Leute, die ihn umarmten, und da er einen Arm um Mayas Schultern gelegt hatte, wurde sie mit einbezogen und einem jungen Eingeborenen nach dem anderen vorgestellt, die sich alle hocherfreut zeigten, Nirgal wiederzusehen. Er erinnerte sich an alle ihre Namen, fragte nach ihrem Befinden und merkte sich die Fragen, während sie weiter über den Markt schlenderten, vorbei an Tischen mit Brot und Gemüse und Säcken voll Gerste und Kunstdünger und Körben voll Beeren und Pflaumen, bis sich um sie herum eine kleine Volksmenge gebildet hatte wie eine mobile Party, die sich schließlich um lange Kieferntische vor einer Kneipe niederließ. Nirgal behielt Maya während des ganzen Restes des Nachmittags an seiner Seite; und sie betrachtete all die jungen Gesichter, entspannt und glücklich. Ihr fiel auf, wie sehr Nirgal John ähnelte, wie die Menschen sich vor ihm erwärmten und dann gegeneinander warm wurden. Jede Gelegenheit wie ein Fest, von seinem Charme angetan. Sie schenkten sich gegenseitig Getränke ein, sie spendierten Maya ein üppiges Mahl ›alles Eigenbau, alles Eigenbau und redeten miteinander in ihrem schnellen Mars-Englisch, schwatzten über Klatsch und erzählten ihre Träume.
Oh, Nirgal war schon ein ganz besonderer Bursche, so weltentrückt wie Hiroko und doch gleichzeitig höchst normal. Zum Beispiel war Diana an seiner anderen Seite einfach eingehängt, und eine Menge der anderen jungen Frauen sahen so aus, als wären sie gern an ihrer oder Mayas Stelle. Vielleicht war das in der Vergangenheit gewesen. Nun, es hatte gewisse Vorteile, eine alte Babuschka zu sein. Sie konnte ihn schamlos bemuttern, und er grinste nur; und sie konnten nichts tun. Gewiß hatte er etwas Charismatisches an sich: schmale Kiefer, beweglicher fröhlicher Mund, weit auseinanderstehende braune und leicht asiatische Augen, starke Augenbrauen, ungewöhnlich schwarzes Haar, ein langer graziöser Körper, obwohl er nicht so groß war wie die meisten von ihnen. Nichts Außergewöhnliches. Es war hauptsächlich sein Verhalten, freundlich, wißbegierig und zu Frohsinn geneigt.
»Was ist mit Politik?« fragte sie ihn spät an diesem Abend, als sie zusammen vom Dorf zum Fluß gingen. »Was sagst du dazu?«
»Ich benutze das Dokument von Dorsa Brevia. Meines Erachtens sollten wir es sofort in Kraft setzen, in unserem alltäglichen Leben. Die meisten Leute in diesem Tal haben das offizielle Netz verlassen, siehst du, und leben in der alternativen Ökonomie.«
»Das habe ich gemerkt. Das ist mir hier besonders aufgefallen.«
»Na schön, und du siehst, was passiert. Den Sansei und Yonsei gefällt es. Sie halten es für ein bei ihnen gewachsenes System.«
»Die Frage ist, was die UNTA davon hält.«
»Was kann sie da machen? Ich glaube nicht, daß sie sich darum kümmert, soweit ich sehe.« Er war ständig auf Reisen und war das schon seit Jahren und hatte viel vom Mars gesehen, viel mehr als Maya, wie ihr klar wurde. »Wir sind schwer zu sehen und scheinen sie nicht herauszufordern. Also machen sie sich um uns keine Gedanken. Sie wissen nicht einmal, wie weit verbreitet wir sind.«
Maya schüttelte zweifelnd den Kopf. Sie standen am Ufer des Flusses, der an dieser Stelle gurgelnd über Untiefen strömte. Seine nächtlich purpurne Oberfläche reflektierte kaum das Licht der Sterne. Nirgal sagte: »Er ist so schlammig.«
»Es ist eine Art politischer Partei, Nirgal, oder eine soziale Bewegung. Du mußt ihr einen Namen geben.«
»Oh! Nun, manche sagen, wir wären Boone-Anhänger oder eine Flügelgruppe von MarsErsten. Ich selbst gebe ihm keinen Namen. Vielleicht Ka. Oder Freier Mars. Wir sagen das als eine Art Gruß. Verbum, Nomen — was immer. Freier Mars.«
»Hmm«, sagte Maya und fühlte den kühlen feuchten Wind auf der Wange und Nirgals Arm um ihre Taille. Eine alternative Ökonomie, die ohne die Regel des Gesetzes funktionierte, war verlockend, aber gefährlich. Sie konnte sich in eine von Gangstern beherrschte schwarze Ökonomie verwandeln; und kein idealistisches Dorf würde viel dagegen ausrichten können. Darum war sie ihres Erachtens als Lösung für die Übergangsbehörde irgendwie illusorisch.
Als sie aber Nirgal gegenüber diese Vorbehalte äußerte, stimmte er zu. »Ich halte es nicht für den endgültigen Schritt. Aber ich denke, es hilft. Es ist das, was wir jetzt tun können. Und dann, wenn die Zeit kommt… «
Maya nickte in der Dunkelheit. Sie gingen zusammen ins Dorf zurück, wo die Party noch im Gange war. Jedenfalls brachten die fünf jungen Frauen es zuwege, daß sie die letzten an Nirgals Seite waren, als die Party endete; und mit einem nur leicht verkrampften Lachen (wenn sie jung wäre, hätten sie keine Chance gehabt) überließ sie ihn ihnen und ging zu Bett.
Nachdem sie zwei Tage lang von dem Marktdorf stromabwärts gefahren waren, immer noch vierzig Kilometer von Hell’s Gate entfernt, kamen sie an eine Windung des Canyons und konnten seine ganze Länge übersehen, bis zu den Türmen der Hängebrücke der Bahn. Wie etwas aus einer anderen Welt, dachte Maya, mit einer völlig anderen Technik. Die Türme waren sechshundert Meter hoch und standen zehn Kilometer voneinander entfernt — eine wahrhaft immense Brücke, die die Stadt von Hell’s Gate zwergenhaft erscheinen ließ, die erst nach einer weiteren Stunde über dem Horizont auftauchte und dann von dessen Rand an in Sicht kam. Ihre Gebäude ergossen sich in den steilen Canyon wie eine dramatische Küstenstadt in Spanien oder Portugal, aber ganz im Schatten der riesigen Brücke. Riesig, ja; aber in Chryse gab es Brücken, die doppelt so groß waren. Und bei den ständigen Verbesserungen im Material war kein Ende abzusehen. Das Karbon-Nanotubenfilament des neuen Aufzugs hatte eine Zugfestigkeit, die selbst die Erfordernisse des Aufzugs in den Schatten stellte. Und damit würde man an der Oberfläche jede Brücke bauen können, die man sich überhaupt nur vorstellen konnte. Man sprach davon, Marineris zu überbrücken; und es gab Witze, daß man zwischen den Vulkanen auf Tharsis Drahtseilbahnen einrichten würde, um den Leuten die vertikalen Abstiege zwischen den drei Piks zu ersparen.
Wieder zurück in Hell’s Gate, lieferten Maya und Diana den Wagen in der Garage ab und hatten ein großes Dinner in einem Restaurant auf halber Höhe der Mauer unter der Brücke. Danach hatte Diana sich mit Freunden verabredet; darum entschuldigte sich Maya und ging zum Büro von Deep Waters und in ihr Zimmer. Aber außerhalb der Glastüren, über ihrem kleinen Balkon wölbte sich der große Bogen der Brücke zwischen den Sternen und erinnerte sie an Dao Canyon und dessen Bewohner; und das schwarze Hadriaca mit den weißen Bändern seiner mit Schnee gefüllten Kanäle. Sie hatte Mühe einzuschlafen. Sie ging ins Freie und setzte sich in eine Decke gekuschelt auf ihrem Balkon in einen Sessel, um während eines großen Teils der Nacht die Unterseite der gigantischen Brücke zu betrachten und über Nirgal und die jungen Eingeborenen nachzudenken und was sie wollten.
Am nächsten Morgen hatten sie den nächsten Zug rund um Hellas nehmen wollen; aber Maya bat Diana, sie statt dessen zum Boden des Beckens hinauszufahren, um selbst zu sehen, was mit dem Wasser geschah, das den Dao-Fluß hinabströmte. Diana gewährte ihr gern diese Bitte.
Am unteren Ende der Stadt ergoß sich der Fluß in ein enges Reservoir, das von einer dicken Betonmauer und einer Pumpe umschlossen war, die sich direkt an der Kuppelwand befanden. Außerhalb der Kuppel wurde das Wasser quer über das Becken in einer dicken isolierten Rohrleitung gepumpt, die auf drei Meter hohen Pfeilern ruhte. Diese Pipeline verlief über den breiten sanften Abhang des Beckens, und sie folgten ihr in einem anderen Rover der Firma, bis die verfallenen Klippen von Hell’s Gate über den niedrigen Dünen hinter ihnen verschwanden. Eine weitere Stunde später waren die Brückentürme immer noch sichtbar und ragten über den Horizont empor.
Ein paar Kilometer weiter verlief die Pipeline über einer rötlichen Fläche aus zerbrochenem Eis — wie ein Gletscher, nur daß sie sich nach links fächerartig über die Ebene verbreitete, so weit sie sehen konnten. Das war faktisch die derzeitige Küste ihres neuen Sees oder mindestens eine Bucht davon, die an Ort und Stelle gefroren war. Die Rohrleitung führte über das Eis und senkte sich dann darunter, um einige Kilometer vom Ufer entfernt zu verschwinden.
Ein kleiner, fast versunkener Kraterring ragte aus dem Eis hervor wie eine doppelte gekrümmte Halbinsel. Diana folgte Fahrspuren auf die eine Halbinsel, bis sie im Eis so weit draußen waren, wie sie kommen konnten. Die sichtbare Welt vor ihnen war völlig von Eis bedeckt; und hinter ihnen lag die ansteigende Böschung aus Sand. »Diese Bucht erstreckt sich jetzt sehr weit hinaus«, sagte Diana und zeigte auf ein silbriges Flimmern am westlichen Horizont.
Maya nahm einen Feldstecher vom Armaturenbrett. Am Horizont konnte sie etwas ausmachen, das wie der Nordrand der Eisbucht zu sein schien, dort, wo er wieder ansteigendem Sand und Dünen Platz machte. Vor ihren Augen kippte an dieser Grenze ein Stück Eis um. Es sah aus wie ein Gletscher in Grönland, der ins Meer kalbt; nur daß es beim Auftreffen auf den Sand in Hunderte weißer Stücke zerbrach. Dann kam ein Wasserschwall, der dunkel über den Sand strömte. Staub wirbelte auf vom Fluß weg und wurde vom Wind nach Süden getragen. Die Ränder des neuen Flusses begannen sich weiß zu färben; aber Maya sagte, das wäre nichts gegenüber der erschreckenden Geschwindigkeit, mit der 2061 die Flut in Marineris eingefroren war. Hier blieb es fast ohne jeden Eisnebel minutenlang flüssig in der freien Luft! Oh, die Welt war schon wärmer und die Atmosphäre dichter. Manchmal hier unten im Becken bis zu 260 Millibar; und die Außentemperatur betrug im Moment 271 K. Ein sehr angenehmer Tag! Maya musterte mit dem Feldstecher die Eisfläche und sah, daß sie weithin von dem hellen weißen Schimmer der Schmelzwasserpfützen gesprenkelt war, die sauber und glatt wieder gefroren waren.
»Die Dinge verändern sich«, sagte Maya, wenn auch nicht zu Diana, welche auch nicht antwortete.
Schließlich war die Flut aus neuem dunklen Wasser auf ihrer ganzen Fläche weiß geworden und hörte auf, sich zu bewegen. »Es kommt jetzt von irgendwo anders heraus«, sagte Diana. »Es wirkt wie Sedimentation in einem Flußdelta. Der Hauptkanal für diese Bucht befindet sich südlich von hier.«
»Ich bin froh, daß ich dies gesehen habe. Laß uns zurückkehren!«
Sie fuhren wieder nach Hell’s Gate und aßen wieder gemeinsam zu Abend auf der gleichen Restaurantterrasse unter der großen Brücke. Maya stellte Diana viele Fragen über Paul, Esther, Kasei, Nirgal, Rachel, Emily, Reull und den Rest von Hirokos Brut und deren Kinder und Kindeskinder. Was machten sie jetzt? Was hatten sie vor zu tun? Hatte Nirgal viele Anhänger?
»O ja, natürlich. Du hast gesehen, wie es ist. Er reist die ganze Zeit umher, und es gibt ein ganzes Netz von Eingeborenen in den nördlichen Städten, die sich um ihn kümmern. Freunde und Freunde von Freunden und so weiter.«
»Und du meinst, diese Leute wären bereit, eine …«
»Eine neue Revolution zu unterstützen?«
»Ich wollte sagen ›Unabhängigkeitsbewegung‹.«
»Wie immer du es nennst, sie werden es unterstützen. Sie werden Nirgal unterstützen. Die Erde ist für sie ein Alptraum, der uns verschlingen will. Das wollen sie nicht.«
»Sie?« fragte Maya lächelnd.
»Oh, ich auch.« Diana lächelte zurück. »Wir.«
Während sie weiter rund um Hellas fuhren, hatte Maya Grund, sich an dieses Gespräch zu erinnern. Ein Konsortium aus Elysium ohne jede Verbindung mit Metanationalen oder UNTA, die Maya entdecken konnte, hatte gerade die Überdachung der Harmakhis- Reull-Täler beendet mit der gleichen Methode, die bei Dao angewendet worden war. Jetzt befanden sich Hunderte von Menschen in diesen zwei miteinander verbundenen Canyons damit beschäftigt, die Belüftungsanlagen einzurichten, Boden aufzubereiten und die entstehende Biosphäre im Mesokosmos der Canyons zu säen und zu pflanzen. Ihre Gewächshäuser und Fabriken vor Ort produzierten viel von dem, was sie für ihre Arbeit brauchten, und Metalle und Gase wurden aus dem Ödland von Hesperia im Osten gewonnen und an der Mündung des Harmakhis-Tales, genannt Sukhumi, in die Stadt gebracht. Diese Leute verfügten über die Starterprogramme und die Sämereien und schienen nicht viel von der Übergangsbehörde zu halten. Sie hatten sie nicht um Erlaubnis gebeten, sich bei ihrem Projekt zu beteiligen, und zeigten offenen Widerwillen gegen die offiziellen Crews der Schwarzmeergruppe, die gewöhnlich metanationale Repräsentanten der Erde waren.
Aber sie waren erpicht auf Arbeitskräfte und freuten sich, von Deep Waters mehr Techniker und vielseitige Kräfte zu bekommen und jedes Gerät, das sie von deren Hauptquartier schnorren konnten. Praktisch jede Gruppe, die Maya in der Region Harmakhis-Reull traf, war auf Hilfe versessen; und die meisten waren junge Eingeborene, die zu denken schienen, daß sie die gleiche Chance mit der Ausrüstung hätten wie jeder andere, selbst wenn sie nicht mit Deep Waters oder einer anderen Firma verbündet waren.
Und überall südlich von Harmakhis-Reull in den zerklüfteten Hügeln aus Material von Meteoriteneinstürzen hinter dem Rand des Beckens gab es Wünschelrutengänger auf der Suche nach Wasserlagern. Wie in den überdachten Canyons waren die meisten dieser Leute auf dem Mars geboren und viele erst nach 2061. Und sie waren völlig anders. Ihre Interessen und Enthusiasmen ließen sich absolut keiner anderen Generation vermitteln, als ob eine generische Drift oder disruptive Selektion eine bimodale Verteilung bewirkt hätte, so daß Mitglieder des alten Homo sapiens jetzt den Planeten gemeinsam mit einem neuen Homo ares bewohnen würden, mit Kreaturen, die groß, schlank, graziös und völlig heimisch waren und die in tiefer Selbstversenkung miteinander plauderten, wenn sie die Arbeit verrichteten, die aus dem Hellas-Becken ein Meer machen würde.
Und dieses gigantische Projekt war für sie eine ganz natürliche Arbeit. Bei einem Halt auf der Piste stiegen Maya und Diana aus und fuhren mit einigen Freunden Dianas auf einen der Grate von Zea Dorsa, der sich zum südöstlichen Viertel des Beckengrundes hinzog. Jetzt waren die meisten dieser Dorsa oder Bergrücken Halbinseln, die unter einer anderen Eisbucht endeten; und Maya schaute auf die Gletscherspalten zu beiden Seiten hinunter und versuchte, sich eine Zeit vorzustellen, da die Meeresoberfläche tatsächlich Hunderte von Metern über ihr liegen würde, so daß diese zerklüfteten alten Basaltrippen nur noch Ausschläge auf dem Sonar eines Schiffes sein würden, bewohnt von Seesternen, Garnelen, Krill und vielerlei Arten künstlich gezüchteter Bakterien. Diese Zeit war nicht mehr weit entfernt, so erstaunlich dieser Gedanke war. Aber Diana und ihre Freunde, besonders die von griechischer — oder war es türkischer? — Abstammung, diese jungen Rutengänger des Mars waren weder von dieser nahe bevorstehenden Zukunft noch der ungeheuren Größe ihres Projekts eingeschüchtert. Es war ihr Werk, ihr Leben. Für sie hatte das menschliche Ausmaße und nichts Unnatürliches an sich. Ganz einfach — auf dem Mars bestand Menschenwerk aus pharaonischen Projekten wie diesem. Meere erschaffen. Brücken bauen, neben denen die Golden Gate Bridge sich wie ein Spielzeug ausnahm. Sie beachteten nicht einmal diese Hügelkette, die nur noch für einige Zeit zu sehen sein würde. Sie sprachen über andere Dinge, über gemeinsame Freunde in Sukhumi und dergleichen.
»Das ist ein ungeheures Unterfangen!« sagte Maya ihnen energisch. »Das übertrifft um Größenordnungen alles, was irgendein Volk bisher hat schaffen können! Dieses Meer wird die Ausmaße des Karibischen haben. Auf der Erde hatte es nie ein Projekt wie dieses gegeben. Auch nicht annähernd!«
Eine nette Frau mit schöner Haut lachte und sagte: »Ich gebe keinen Pfifferling für die Erde.«
Die neue Strecke bog um den südlichen Rand und überquerte steile Grate und Schluchten, die Axius Valles hießen. Diese Unebenheiten verliefen von den Randbergen bis in das Becken hinunter und zwangen die Strecke abwechselnd zu großen Brückenbauten oder tiefen Schneisen oder Tunnels. Der Zug, den sie nach Zea Dorsa bestiegen hatten, war ein kurzer privater, der dem Büro in Odessa gehörte, so daß Maya ihn an den meisten kleinen Bahnhöfen entlang dieser Strecke halten lassen und aussteigen konnte, um die Wassersucher und Bautrupps kennenzulernen und mit ihnen zu sprechen. An einer Station waren nur auf der Erde geborene Einwanderer, für Maya viel besser zu verstehen als die fröhlichen Eingeborenen. Es waren Menschen von mittlerer Größe, die erstaunt und begeistert umherliefen oder enttäuscht und sich beklagend, aber auf jeden Fall sich der Ungeheuerlichkeit ihres Vorhabens bewußt waren. Sie führten Maya in einen Tunnel im Bergrücken; und es stellte sich heraus, daß diese Bodenwelle ein Lavatunnel war, der von Amphitrites herunterführte. Seine zylindrische Höhlung war ebenso groß wie die von Dorsa Brevia, aber sehr stark geneigt. Die Ingenieure pumpten das Wasser aus dem Reservoir von Amphitrite hinein und benutzten sie als Pipeline zum Boden des Beckens. Als daher jetzt die grinsenden, auf der Erde geborenen Wasserbautechniker sie in eine in die Seite der Lavaröhre gehauene Aussichtsgalerie führten und schwarzes Wasser den riesigen Tunnel hinabraste, wobei es selbst mit zweihundert Kubikmetern in der Sekunde kaum den Boden bedeckte und das Dröhnen seines Gusses in dem leeren Basaltzylinder widerhallte, fragten die Emigranten: »Ist das nicht großartig?« Und Maya nickte, erfreut, mit Menschen zusammenzusein, deren Reaktionen sie verstehen konnte. »Gerade wie ein verdammt großer Gewitterabfluß, nicht wahr?«
Aber wieder im Zug nickten die jungen Eingeborenen zu Mayas Ausrufen — Lavaröhre als Pipeline — sehr groß, ja gewiß — ersparte ihnen eine Rohrleitung für die weniger begünstigten Unternehmen, ja? Und dann diskutierten sie weiter über etwas auf dem Boden des Beckens, das Maya nicht sehen konnte.
Der Zug führte sie weiter um den Südwestbogen des Beckens, und die Strecke führte nach Norden. Sie überquerten vier oder fünf größere Pipelines, die sich aus hohen Canyons in den Hellespontus Montes zu ihrer Linken herausschlängelten. Diese Canyons lagen zwischen kahlen gezackten Felsgraten wie etwas aus Nevada oder Afghanistan. Ihre Gipfel waren weiß von Schnee. Aus den Fenstern zur Rechten auf dem Boden des Beckens breiteten sich noch mehr Flecken aus zerbrochenem Eis aus, oft gekennzeichnet durch die flachen weißen Flecken neuer Ergüsse. Auf den Hügeln neben der Piste war man dabei, kleine Kuppelstädte zu bauen, die an die Toscana erinnerten. Maya sagte zu Diana: »Auf diesen niedrigen Hügeln wird es sich gut leben lassen. Sie liegen zwischen dem Gebirge und dem Meer, und aus einigen dieser Canyonmündungen könnten kleine Häfen werden.«
Diana nickte. »Gut für die Schiffahrt.«
Nach der letzten Kurve ihrer Rundfahrt mußte die Strecke den Niesten-Gletscher überqueren, den gefrorenen Rest des mächtigen Ausbruchs, der 2061 Low Point überschwemmt hatte. Diese Passage war schwierig gewesen, da der Gletscher an seiner schmalsten Stelle fünfunddreißig Kilometer breit war und noch niemand Zeit und Gerät aufgebracht hatte, eine Hängebrücke darüber zu bauen. Statt dessen waren mehrere Pylonen durch das Eis gerammt und im Gestein darunter verankert worden. Diese Pfeiler hatten stromaufwärts Eisbrecher; und an der anderen Seite war eine Art Pontonbrücke befestigt, die über das fließende Eis des Gletschers glitt mittels glatter Unterlagen, die sich ausdehnten oder zusammenzogen, um Senkungen und Hebungen im Eis zu kompensieren.
Der Zug wurde langsamer, um über diesen Ponton zu fahren. Als sie darüberfuhren, blickte Maya stromaufwärts. Sie konnte erkennen, wo der Gletscher aus der Lücke zwischen zwei krallenartigen Berggipfeln kam, ganz nahe beim Niesten-Krater. Rebellen, die man nie identifizieren hatte können, hatten das Wasserreservoir von Nielsen mit einer thermonuklearen Explosion aufgebrochen und einen der fünf oder sechs größten Ausbrüche von ’61 ausgelöst, fast so groß wie derjenige, welcher die Marineris-Canyons heimgesucht hatte. Das Eis darunter war immer noch etwas radioaktiv. Aber es lag unter der Brücke still und gefroren da. Die Nachwirkung jener schrecklichen Flut war nur ein erstaunlich zerbrochenes Feld von Eisblöcken. Neben Maya sagte Diana etwas über Kletterer, die gern zum Spaß die Eisfälle des Gletschers emporstiegen. Maya erschauerte vor Entsetzen. Die Menschen waren so verrückt. Sie dachte an Frank, der von der Marinerisflut hinweggerissen worden war, und fluchte laut.
»Das gefällt dir nicht?« fragte Diana.
Sie fluchte wieder.
Eine isolierte Rohrleitung führte auf der Mittellinie des Eises unter dem Ponton durch und nach unten auf Low Point zu. Sie waren immer noch dabei, den Boden des gebrochenen Reservoirs trockenzulegen. Maya hatte den Bau von Low Point beaufsichtigt. Sie hatte dort viele Jahre gelebt, mit einem Ingenieur, an dessen Namen sie sich jetzt nicht erinnern konnte. Und jetzt pumpten sie hoch, was am Boden des Niestenreservoirs übrig geblieben war, um es dem Wasser über jener versunkenen Stadt zuzufügen. Der große Ausbruch von ’61 war jetzt auf die Wassermenge einer kleinen Pipeline reduziert worden, kanalisiert und reguliert.
Maya fühlte in sich den turbulenten Mahlstrom von Emotionen aufgerührt durch alles, was sie auf ihrer Rundreise gesehen hatte, und durch alles, was geschehen war und noch geschehen würde … Ah, die Fluten in ihr, die Stoßwellen in ihrem Gemüt! Wenn sie bloß ihren Geist ebenso einzäumen könnte wie die es mit diesem Wasserlager getan hatten — es trockenlegen, kontrollieren, besänftigen! Aber die hydrostatischen Drücke waren so stark und die Ausbrüche, wenn sie kamen, so wild. Keine Pipeline konnte das verkraften.
»Die Dinge verändern sich«, sagte sie zu Michel und Spencer. »Ich glaube, daß wir die Dinge nicht mehr verstehen.«
Sie richtete sich wieder in ihrem Leben in Odessa ein, froh, zurück zu sein, aber auch verwirrt und wißbegierig sah sie alles neu. An der Wand über ihrem Tisch im Büro hatte sie eine Zeichnung Spencers von einem Alchemisten, der einen großen Band in eine turbulente See schleuderte. Unten hatte er geschrieben: »Ich werde mein Buch ertränken.«
Sie verließ jeden Morgen früh ihr Apartment und ging die Corniche hinunter zum Büro von Deep Waters nahe der trockenen Uferfront, neben einer anderen Firma von Praxis namens Separation de l’Atmosphere. Dort arbeitete sie tagsüber in der Leitung des Synthese-Teams. Sie koordinierte die Feldeinheiten und konzentrierte sich jetzt auf die kleinen mobilen Operationen, die sich um den Boden des Beckens bewegten und in letzter Minute Minerale schürften und das Eis wieder herrichteten. Gelegentlich arbeitete sie am Entwurf dieser kleinen unterwegs befindlichen Weiler und genoß die Rückkehr zur Ergonomie, ihrer ältesten Disziplin außer der Kosmonautik. Eines Tages, als sie am Austausch von Raumabteilen arbeitete, blickte sie auf ihre Skizzen und fühlte einen Ansturm von deja vu. Sie überlegte, ob sie genau diese Arbeit schon früher einmal gemacht hätte, irgendwann in der verlorenen Vergangenheit. Sie fragte sich auch, warum diese Fertigkeiten in der Erinnerung so festsaßen, während Wissen so vergänglich war. Sie konnte sich um keinen Preis an die Ausbildung erinnern, die ihr diese ergonomische Erfahrung vermittelt hatte; aber dennoch besaß sie sie trotz den vielen Dekaden, die vergangen waren, seit sie diese zum letzten Mal angewandt hatte.
Aber ihr war eigenartig zumute. An manchen Tagen kam das Gefühl des dejä vu so fühlbar wie ein Stich wieder, so daß jedes einzelne Ereignis des Tages den Eindruck erweckte, es sei schon einmal geschehen. Das war eine Empfindung, die um so unangenehmer wurde, je länger sie anhielt, bis die Welt zu einem akuten schrecklichen Kerker wurde und sie nur noch eine Kreatur des Schicksals war — ein Uhrwerk, unfähig, etwas zu tun, das sie in einer vergessenen Vergangenheit schon einmal gemacht hatte. Einmal, als das fast eine Woche andauerte, war sie davon fast gelähmt. Sie hatte den Sinn des Lebens noch nie so sehr in Frage gestellt. Michel war deswegen recht besorgt und versicherte ihr, daß es sich wahrscheinlich um die mentale Manifestation eines physischen Problems handelte. Das glaubte Maya irgendwie, half praktisch aber wenig, da nichts, was er verordnete, ihr dazu verhalf, dieses Gefühl zu lindern. Sie konnte nur durchhalten und darauf hoffen, daß die Erregung vergehen würde.
Wenn es vorbei war, tat sie ihr Bestes, um diese Erfahrung zu vergessen. Wenn sie aber wieder kam, sagte sie zu Michel: »O mein Gott, ich fühle es wieder.« Und er sagte dann: »Ist das nicht schon früher passiert?« Sie lachten beide, und sie gab sich große Mühe. Sie versenkte sich in die Details ihrer laufenden Arbeit, machte Pläne für die Teams der Wassersucher und gab ihnen ihre Anweisungen auf Grund der Meldungen von Areographen am Rande und der eingehenden Resultate anderer Suchtrupps. Das war eine interessante und sogar aufregende Arbeit, eine Art gigantischer Schatzsuche, die eine ständige Fortbildung in Areographie erforderte, in die geheimen Verhaltensweisen von Wasser unter der Oberfläche des Mars. Diese intensive Beschäftigung half schon ziemlich beim dejä vu; und nach einiger Zeit wurde es nur eine von vielen eigenartigen Regungen, die ihr der Geist bescherte. Schlimmer als die Aufheiterungen, aber besser als die Depressionen oder die gelegentlichen Momente, wenn sie, anstatt zu fühlen, daß etwas schon vorher passiert war, durch die Empfindung getroffen wurde, daß etwas Derartiges noch nie geschehen wäre, auch wenn sie etwas so Triviales tat wie das Besteigen einer Straßenbahn. Michel nannte das mit besorgter Miene jamais vu. Offenbar sehr gefährlich. Aber man konnte nichts dagegen tun. Manchmal war es nicht gerade hilfreich, mit jemandem zu leben, der in psychologischen Fragen ausgebildet war. Man könnte leicht nur noch zu einem interessanten Studienobjekt werden. Sie würde einige Pseudonyme brauchen, um sich zu beschreiben.
Auf jeden Fall, an den Tagen, da sie sich glücklich und wohl fühlte, arbeitete sie völlig hingegeben und hörte irgendwann zwischen vier und sieben müde und befriedigt auf. Sie ging heim in dem charakteristischen Licht des späten Tages in Odessa. Die ganze Stadt lag im Schatten von Hellespontus, der Himmel war deshalb hell und bunt, und die Wolken waren leuchtend bestrahlt, wenn sie über das Eis nach Osten zogen und alles darunter im reflektierten Licht schimmerte, in jener unendlichen Farbskala zwischen Blau und Rot, jeden Tag und jede Stunde verschieden.
Maya schlenderte lässig unter den belaubten Bäumen im Park und durch das verschlossene Tor in das Praxisgebäude, dann hinauf ins Apartment, um mit Michel zu Abend zu essen, der gewöhnlich einen langen Tag hinter sich hatte, an dem er heimwehkranke, neu von der Erde Angekommene oder Oldtimer mit mannigfachen Beschwerden wie Mayas dejä vu oder Spencers Bewußtseinsspaltung behandelte: Erinnerungsverlust, Anomie, Phantomgerüche und dergleichen — seltsame gerontologische Probleme, die sich bei kürzer lebenden Menschen selten eingestellt hatten und bedrohlich warnten, daß die Behandlungen das Gehirn nicht so voll erfaßten, wie sie sollten.
Es kamen immer nur sehr wenige Nisei oder Yonsei, ihn zu konsultieren, was ihn überraschte. »Ohne Zweifel ist das ein gutes Zeichen für die langfristigen Aussichten der Besiedlung des Mars«, sagte er eines Abends, als er von einem ruhigen Tag aus seinem Büro im Erdgeschoß heraufkam.
Maya zuckte die Achseln. »Sie könnten verrückt sein, ohne es zu wissen. Ich hatte einen so ähnlichen Eindruck, als ich um das Becken gereist bin.«
Michel sah sie prüfend an. »Meinst du verrückt oder bloß anders?«
»Ich weiß nicht. Sie scheinen sich bloß nicht dessen bewußt zu sein, was sie tun.«
»Jede Generation ist ihre eigene geheime Gesellschaft. Und diese Leute sind etwas, das man Are- Urgen, also Marswerker, nennen könnte. Es ist ihre Natur, den Planeten zu bearbeiten. Das mußt du ihnen lassen.«
Gewöhnlich duftete das Apartment, wenn Maya heimkam, von Michels Versuchen mit Küche der Provence, und auf dem Tisch stand eine offene Flasche Rotwein. Den größten Teil des Jahres speisten sie draußen auf dem Balkon. Und wenn er in der Stadt war und Lust hatte, kam Spencer zu ihnen, ebenso wie häufig andere Besucher. Beim Essen sprachen sie über die tägliche Arbeit und die Ereignisse rund um die Welt und auf der Erde.
So lebten sie nun die gewöhnlichen Tage eines gewöhnlichen Lebens, la vie quotidienne. Michel genoß es mit ihr mit seinem verschmitzten Lächeln, ein kahlköpfiger Mann mit elegantem gallischen Gesicht, ironisch und gut gelaunt und immer objektiv. Das Licht des Abends konzentrierte sich auf den Streifen des Himmels über den schwarzen gezackten Gipfeln von Hellespontus. Strahlende rosa, silberne und violette Töne wurden gedämpft zu dunklem Indigo und tiefem Schwarz; und ihre Stimmen wurden oft leiser im letzten Teil der Dämmerung, den Michel entre chien et loup nannte. Dann nahmen sie ihre Teller, gingen wieder hinein und säuberten die Küche — alles gewohnheitsmäßig, alles bekannt, tief in jenem dejä vu, das man selbst bestimmt und das einen glücklich macht.
Und dann hatte Spencer an manchen Abenden für sie den Besuch eines Meetings vorgesehen, gewöhnlich bei einer Gemeinschaft in der oberen Stadt. Diese hatten lose Verbindung mit MarsErst; aber die Leute, die zu den Versammlungen kamen, sahen den MarsErsten kaum ähnlich, die Kasei beim Kongreß in Dorsa Brevia geführt hatte. Sie waren mehr wie Nirgals Freunde in Dao, jünger, weniger dogmatisch, mehr in sich gekehrt und glücklicher. Es beunruhigte Maya, sie zu sehen, obwohl sie es wollte; und sie verbrachte den Tag vor einer Versammlung im Zustand rastloser Erwartung. Dann pflegte sie im Praxisgebäude nach dem Dinner eine kleine Schar von Spencers Freunden aufzusuchen und auf ihrem Weg durch die Stadt zu begleiten. Sie nahmen Straßenbahnen und gingen dann zu Fuß, gewöhnlich bis in die oberen Bereiche von Odessa, wo die Apartments mehr übervölkert waren.
Hier wurden ganze Häuser allmählich zu alternativen Festungen, in denen die Bewohner ihre Miete bezahlten und einige Jobs unten in der Stadt hatten, sich aber sonst von der offiziellen Ökonomie absonderten. Sie trieben Ackerbau in Gewächshäusern und auf Terrassen und Dächern, beschäftigten sich mit Programmierung, Konstruktion und Herstellung von kleinen Geräten und Werkzeug für den Ackerbau, um sie unter sich zu verkaufen, zu tauschen oder zu schenken. Ihre Zusammenkünfte fanden in Wohnräumen der Gemeinschaft statt oder draußen in den kleinen Parks und Gärten der Oberstadt unter Bäumen. Manchmal kamen Gruppen von Roten außerhalb der Stadt zu ihnen.
Maya bat zunächst Leute, sich vorzustellen, und erfuhr dann mehr. Die meisten von ihnen waren in ihren Zwanziger-, Dreißiger- oder Vierzigerjahren, geboren in Burroughs, Elysium oder Tharsis oder in Lagern auf Acidalia oder der Großen Böschung. Es gab auch immer einen kleinen Prozentsatz an alten Marsveteranen und einige neue Einwanderer, oft aus Rußland, die Maya gefielen. Es gab Agronomen, Öko-Ingenieure, Bauarbeiter, Techniker, Technokraten, Stadtbeamte und Dienstleistungspersonal. In ihrer sich entwickelnden Wirtschaft wurden immer mehr derartige Arbeiten geleistet. Die Gebäude in ihrer Gemeinschaft waren zunächst Mietskasernen mit Einzimmerwohnungen und gemeinsamen Baderäumen. Sie gingen oder fuhren mit der Straßenbahn zu ihren Jobs in der Innenstadt, vorbei an den festungsartigen Villen hinter der Corniche, die von den auf Besuch befindlichen leitenden Beamten der Metanationalen belegt wurden. (Jeder bei Praxis wohnte in derartigen Apartments, was beifällig vermerkt wurde.) Sie hatten alle die Behandlung erhalten und hielten das für normal. Sie waren schockiert zu hören, wie diese auf der Erde als Instrument der Kontrolle gehandhabt wurde, fügten das dann aber ihrer Liste von Übeln auf der Erde hinzu. Sie waren hervorragend gesund und wußten nur sehr wenig über Krankheit oder überfüllte Kliniken. Es war unter ihnen ein beliebter Brauch, in einem Schutzanzug ins Freie zu gehen und dann einen einzigen Atemzug der umgebenden Luft zu tun. Es hieß, daß man damit jedes erdenkliche Leiden abtöten könne. Sie waren groß und kräftig. Sie hatten in ihren Augen einen Blick, den Maya eines Abends erkannte. Es war der Ausdruck in den Augen des jungen Frank auf dem Foto, das sie in ihrem Archiv gesehen hatte — dieser Idealismus, diese zornige Schärfe, dieses Wissen, daß die Dinge nicht in Ordnung waren, diese Zuversicht, sie regeln zu können. Die Jungen, so dachte sie, bildeten die natürliche Wählerschaft der Revolution.
Und da waren sie nun in ihren kleinen Zimmern und kamen zusammen, um die vorliegenden Themen zu erörtern. Sie sahen müde aus, aber glücklich. Parties gehörten wie alles andere zu ihrem sozialen Leben. Es war wichtig, das zu verstehen. Und Maya ging öfters mitten ins Zimmer, setzte sich, wenn möglich, auf einen Tisch und sagte: »Ich bin Toitovna. Ich war hier von Anfang an.«
Sie pflegte darüber zu sprechen, wie es in Underhill gewesen war. Sie war bestrebt, sich zu erinnern, bis sie sich in ihrer Rolle als personifizierte Geschichte ereiferte im Versuch zu erklären, warum die Dinge auf dem Mars so waren, wie sie waren. Sie sagte ihnen: »Schaut, es führt kein Weg zurück.« Physiologische Veränderungen hatten ihnen die Erde für immer verschlossen, Einwanderern und Eingeborenen gleichermaßen, aber besonders den Eingeborenen. Sie waren jetzt auf jeden Fall Bewohner des Mars. Sie mußten ein unabhängiger Staat sein, vielleicht souverän, mindestens halbautonom. Halbautonomie könnte genügen angesichts der Realitäten der zwei Welten und würde es rechtfertigen, von einem freien Mars zu sprechen. Aber bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge waren sie nicht mehr als Eigentum und hatten keine reale Macht über ihr eigenes Leben. Entscheidungen wurden für sie in hundert Millionen Kilometern Entfernung getroffen. Ihr Heim war in Metallstücke zerhackt und fortgeschafft worden. Das war eine Vergeudung, die niemandem diente außer einer kleinen metanationalen Elite, die die zwei Welten wie feudale Lehen betrieb. Nein, sie mußten frei sein — und keineswegs so, daß sie sich von der schrecklichen Situation der Erde abkoppelten, sondern um imstande zu sein, einen realen Einfluß auf das auszuüben, was da drunten geschah. Andernfalls wären sie nur hilflose Zeugen der Katastrophe und würden nach den ersten Scharen von Opfern in den Mahlstrom hineingezogen. Das war unerträglich. Sie mußten handeln.
Die kommunalen Gruppen waren für diese Botschaft sehr aufgeschlossen, wie auch die mehr traditionellen Gruppen der MarsErsten und die urbanen Bogdanovisten und sogar einige Rote. Für sie alle unterstrich Maya bei jedem Meeting die Wichtigkeit, ihre Aktionen zu koordinieren. »Revolution ist kein Ort für Anarchie! Wenn wir Hellas jeder von sich aus zu füllen versuchten, könnten wir leicht die Arbeit jedes anderen zunichte machen und vielleicht sogar die Minus-Eins-Kontur überschreiten und alles zerstören, für das wir gearbeitet haben. Hiermit ist es ebenso. Wir müssen zusammenarbeiten. Das haben wir 2061 nicht getan, und darum war das ein solches Fiasko. Es war gegenseitige Interferenz statt Synergie, versteht ihr? Das war töricht. Diesmal müssen wir zusammenarbeiten.«
»Erzähl das den Roten!« pflegten die Bogdanovisten zu sagen. Und Maya durchbohrte sie dann mit einem Blick und sagte: »Jetzt spreche ich zu euch. Ihr mögt nicht hören, wie ich zu denen spreche.« Darüber mußten sie lachen und beruhigten sich bei dem Gedanken, wie sie einen anderen tadelte. Daß man sie für die Schwarze Witwe hielt, die Böse, die sie verfluchen könnte, die Medea, die sie töten könnte, war ein unwichtiger Teil ihres Einflusses auf sie; sie ließ aber ab und zu die Messer erkennen. Sie stellte ihnen harte Fragen; und obwohl sie gewöhnlich hoffnungslos naiv waren, waren ihre Antworten wirklich eindrucksvoll, besonders wenn sie über den Mars selbst sprachen. Einige von ihnen sammelten enorme Mengen an Information. Inventar metanationaler Rüstkammern, Flughafensysteme, Pläne von Kommunikationszentren, Listen und Standortprogramme für Satelliten und Raumfahrzeuge, Netzwerke und Datenbasen. Wenn man ihnen zuhörte, schien bisweilen das ganze Unternehmen möglich zu sein. Natürlich waren sie jung und in vielem unwissend, so daß es leicht war, sich ihnen überlegen zu fühlen. Aber sie verfügten über animalische Vitalität, Gesundheit und Energie. Und schließlich waren sie doch Erwachsene, so daß Maya, wenn sie sie beobachtete, bei anderen Gelegenheiten verstand, daß die gerühmte Erfahrung des Alters nur eine Sache von Wunden und Narben war und daß sich junge Geister zu alten Geistern ebenso wie junge Körper zu alten Körpern verhalten könnten: stärker, vitaler, weniger durch Schaden verkrümmt.
Also behielt sie das im Sinn, auch wenn sie ihnen so streng Lektionen erteilte wie seinerzeit den Kindern in Zygote. Und nach ihren Unterrichtsstunden war sie bemüht, sich unter sie zu gesellen und bloß zu plaudern, gemeinsam etwas zu essen und ihren Geschichten zu lauschen. Nach einer solchen Stunde pflegte Spencer zu verkünden, daß sie gehen müsse. Damit sollte immer angedeutet werden, daß sie aus einer anderen Stadt zu Besuch wäre; obwohl sie, da sie manche ihrer Gesichter in den Straßen von Odessa gesehen hatte, auch sie gesehen haben mußten und mindestens annahmen, daß sie viel Zeit in der Stadt zubringen würde. Aber später führten Spencer und seine Freunde mit ihr eine raffinierte Routine durch, um sicher zu sein, daß man ihnen nicht folgte. Und der größte Teil der Gruppe verkrümelte sich in den mit Treppen versehenen Gassen der oberen Stadt, ehe sie das westliche Viertel und das Haus von Praxis erreichten. Dann schlüpften sie durch das Tor hinein, das sich mit einem lauten Ton schloß und sie daran erinnerte, daß das sonnige Doppelapartment, welches sie mit Michel teilte, eine sichere Behausung war.
Eines Abends nach einem sehr lebhaften Treffen mit einer Gruppe junger Ingenieure und Areologen tippte sie auf ihrem Lektionar und fand das Foto des jungen Frank in jenem Artikel und druckte eine Kopie davon aus. Der Aufsatz hatte das Bild einer damaligen Zeitung entnommen, und es war schwarzweiß und recht körnig. Sie klebte das Foto neben den Schrank über der Küchenspüle und fühlte sich alt und verwirrt.
Michel blickte von seinem Computer auf, schaute es an und nickte zustimmend. »Es ist erstaunlich, wieviel man aus den Gesichtern der Leute lesen kann.«
»Frank war nicht dieser Ansicht.«
»Er fürchtete einfach diese Fähigkeit.«
»Hmm«, sagte Maya. Sie konnte sich nicht entsinnen. Statt dessen erinnerte sie sich an die Gesichter der Leute bei der Versammlung dieses Abends. Es stimmte, sie hatten alles offenbart. Sie waren wie Masken gewesen, die genau die Sätze ausdrückten, die ihre Herren gesprochen hatten. Die Metanationalen waren außer Kontrolle. Sie setzten die Dinge unter Druck. Sie waren selbstsüchtig. Metanationalismus ist eine neue Art von Nationalismus, aber ohne jedes Heimatgefühl. Er ist eine Art von Geldpatriotismus, eine Art von Krankheit. Die Menschen leiden, nicht so sehr hier, wie vielmehr auf der Erde. Und wenn es sich nicht ändert, wird das auch hier geschehen. Man wird uns anstecken.
Mit dem Blick auf dem Foto war das alles gesagt, jener wissende, zuversichtliche, redliche Glanz. Er konnte sich zu Zynismus wandeln, ohne Zweifel. Frank war der Beweis dafür. Es war möglich, diese Glut zu brechen oder zu verlieren. Und Zynismus konnte sehr ansteckend sein. Sie würden handeln müssen, ehe das geschah. Nicht zu früh, aber auch nicht zu › spät. Die Zeitplanung wäre am wichtigsten. Aberwenn sie es richtig abpaßten …
Eines Tages traf im Büro eine Nachricht von Hellespontus ein. Sie hatten ein neues Wasserreservoir entdeckt, sehr tief im Vergleich mit den anderen, sehr weit vom Becken entfernt und sehr groß. Diana vermutete, daß frühere Eiszeiten westlich der Gebirgskette von Hellespontus verlaufen sein und dort unter der Oberfläche zur Ruhe gekommen sein könnten — mehr als zwölf Millionen Kubikmeter, mehr als jedes andere Wasserlager. Damit stieg die Menge des lokalisierten Wassers von achtzig auf hundertzwanzig Prozent der Menge, die nötig war, um das Becken bis zur Linie von minus einem Kilometer zu füllen.
Das war eine aufregende Nachricht, und die ganze Schar des Hauptquartiers versammelte sich in Mayas Büro, um darüber zu diskutieren und es in den großen Karten einzutragen. Die Areographen trugen schon Routen der Pipelines über das Gebirge ein und debattierten über die relativen Vorteile verschiedener Arten von Rohrleitungen. Das Low-Point-Meer, im Büro ›der Teich‹ genannt, ernährte schon eine kräftige biotische Gemeinschaft, die auf der Nahrungskette des antarktischen Krills beruhte; und es gab am Boden eine sich ausdehnende Schmelzzone, die vom Mohole und dem zunehmenden Gewicht der vielen Tonnen Eis erwärmt wurde, die von oben drückten. Zunehmender Luftdruck und ständig steigende Temperaturen bedeuteten, daß auch an der Oberfläche immer mehr geschmolzen wurde. Damit gab es mehr freie Oberflächen und Erwärmung durch Licht und Sonnenschein, bis es zu Packeis und dann Trümmereis kam. An diesem Punkt würde frisch hineingepumptes Wasser, das korrekt gezielt war, um die Corioliskräfte zu verstärken, eine entgegen dem Uhrzeigersinn laufende Strömung in Gang setzen.
Sie redeten immer weiter darüber und trieben das Spiel immer noch weiter voran, bis sie schließlich loszogen, um mit einem üppigen Lunch zu feiern. Es war fast ein schockierender Anblick, wie die Corniche über der steinigen Ebene des leeren Beckenbodens stand. Aber heute würde man sich nicht durch die Gegenwart abschrecken lassen. Sie hatten beim Lunch eine Menge Wodka getrunken und gaben sich darum für den Rest des Nachmittags frei.
Als Maya dann wieder in ihr Apartment kam, war sie nicht recht in Form, mit dem Anblick von Kasei, Jackie, Antar, Art, Harmakhis, Rachel, Emily, Frantz und einigen Freunden von ihnen fertig zu werden, die sich alle in ihrem Wohnzimmer versammelt hatten. Sie waren auf der Durchreise bei einem Ausflug nach Sabishii, wo sie sich mit Freunden von Dorsa Brevia treffen wollten und dann nach Burroughs gehen, um dort einige Monate zu arbeiten. Sie gratulierten — bis auf Art — beiläufig zur Entdeckung des neuen Wasserlagers, waren aber nicht wirklich interessiert. Dies und die jähe Überfüllung ihres Apartments machten Maya mürrisch, und es half auch nicht, daß sie noch unter dem Einfluß des Wodkas stand oder daß Jackie so überschäumend war. Diese hatte ihre Hände zugleich über Antar (den ungeschlagenen Ritter des vorislamischen Epos, wie er ihr einmal verkündet hatte) und dem verdrießlichen Harmakhis, die sich beide unter ihrer Berührung räkelten, ohne daß es ihnen etwas auszumachen schien, ob sie sich mit dem anderen beschäftigte oder mit Frantz spielte. Maya ignorierte das. Wer wußte, welcher Perversion die Ektogenen fähig waren, die wie ein Wurf Katzen aufgezogen worden waren. Und jetzt waren sie Landstreicher, Zigeuner, Radikale, Revolutionäre oder was auch immer — wie Nirgal. Nur hatte dieser einen Beruf und einen Plan, während dieser Haufen — nun, sie zwang sich, mit ihrem Urteil zurückhaltend zu sein. Aber sie hatte ihre Zweifel.
Sie sprach mit Kasei, der gewöhnlich seriöser war als die jüngeren Ektogenen — ein grauhaariger reifer Mann, der im Aussehen, aber nicht in der Diktion, John etwas ähnlich war. Sein steinerner Eckzahn war entblößt wie ein Hauer, als er finster das Benehmen seiner Tochter ins Auge faßte. Unglücklicherweise steckte er diese ganze Zeit voller Pläne, die Welt von dem Kasei-Vallis-Komplex zu befreien. Offenbar hatte er die Rückverlegung von Korolyov in das Tal, welches seinen Namen trug, als eine Art persönlicher Kränkung empfunden; und der Schaden, den der Komplex durch ihren Überfall zur Rettung von Sax bewirkt hatte, hatte nicht genügt, ihn zu besänftigen. Er hatte ihm wohl nur Appetit auf mehr gemacht. Kasei war ein temperamentvoller, Unheil ausbrütender Mann — vielleicht war das von John gekommen —, obwohl er eigentlich nicht sehr wie John oder Hiroko war, was Maya liebenswert fand. Aber sein Plan, Kasei Vallis zu vernichten, war ein Fehler. Offenbar hatten er und Cojote ein Dechiffrierprogramm entwickelt, das alle Codes für Kasei Vallis geknackt hatte. Und nun plante er, die Wachen zu stürmen, die Bewohner der Stadt in Rover mit einem festen Kurs nach Sheffield zu sperren und dann alle Gebäude und Einrichtungen im Tal in die Luft zu jagen.
Das könnte klappen oder auch nicht, war aber in jedem Fall eine Kriegserklärung und ein sehr ernster Verstoß gegen die schroffe Strategie, die man eingehalten hatte, seit Spencer es geschafft hatte, Sax daran zu hindern, weiter Objekte aus dem Himmel zu schießen. Die Strategie bestand darin, einfach von der Oberfläche des Mars zu verschwinden. Keine Repressalien, keine Sabotage, niemanden anzutreffen in irgendwelchen Zufluchtsstätten, auf die sie zufällig stießen… Selbst Ann schien diesem Plan wenigstens einige Beachtung zu schenken. Maya erinnerte Kasei daran, während er seinen Plan hoch lobte. Sie ermunterte ihn, bei gegebener Zeit darauf zurückzukommen.
Kasei jammerte: »Aber dann würden wir bestimmt nicht in der Lage sein, die Codes zu knacken. Es ist eine einmalige Gelegenheit. Und es ist nicht so, als ob sie nicht wüßten, daß wir hier draußen sind nach dem, was Sax und Peter mit der Luftlinse und Deimos gemacht haben. Sie halten uns wahrscheinlich für noch größer, als wir sind.«
»Aber sie wissen es nicht. Und wir wollen diesen Eindruck von Geheimnis und dieser Unsichtbarkeit beibehalten. Unsichtbar ist unbesiegbar, wie Hiroko sagt. Bedenk aber, wie sehr sie die Präsenz ihrer Sicherheitstruppen erhöht haben, seit Sax losgeschlagen hat! Und wenn sie Kasei Vallis verlören, könnten sie eine riesige Streitmacht an dessen Stelle setzen. Und das macht es nur schwieriger, am Ende zu siegen.«
Kasei schüttelte hartnäckig den Kopf. Jackie kam quer durch den Raum dazwischen und sagte fröhlich: »Maya, mach dir keine Sorgen! Wir wissen, was wir tun.«
»Das ist etwas, worauf du stolz sein kannst. Die Frage ist: Was halten die anderen von uns davon? Oder bist du jetzt die Marsprinzessin?«
»Nadia ist die Marsprinzessin«, sagte Jackie und ging in den Küchenwinkel. Maya machte hinter ihr ein mürrisches Gesicht und merkte, daß Art sie merkwürdig ansah. Er zuckte nicht mit der Wimper, als sie ihn anstarrte; und sie ging in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Michel war dort, um aufzuräumen und Platz für Leute zu machen, die auf dem Fußboden schlafen sollten. Es dürfte eine ungemütliche Nacht werden.
Als Maya am nächsten Morgen früh aufstand, um ins Bad zu gehen, fühlte sie sich verkatert. Art war schon auf. Er flüsterte über die auf dem Boden schlafenden Körper: »Willst du ausgehen und Frühstück besorgen?«
Maya nickte. Als sie angezogen war, gingen sie die Treppen hinunter, durch den Park und über die Corniche, die in den horizontalen Strahlen der Morgensonne fahl aussah. Sie machten bei einem Cafe halt, das gerade seinen Abschnitt des Fußweges abgespült hatte. Auf der von der Dämmerung gefärbten weißen Wand des Hauses war mit einem Stift sauber, klein und leuchtend rot etwas geschrieben.
ES FÜHRT KEIN WEG ZURÜCK.
»Mein Gott!« rief Maya.
»Was ist?«
Sie zeigte auf das Graffito.
»O ja«, sagte Art. »Das siehst du heutzutage in ganz Sheffield und Burroughs angemalt. Prägnant, nicht wahr?«
»Ka Wow.«
Sie saßen in der kühlen Luft an einem kleinen runden Tisch, aßen Pasteten und tranken Kaffee. Das Eis am Horizont blitzte wie Diamanten und ließ einige Bewegung darunter erkennen. »Was für ein phantastischer Anblick!« sagte Art.
Maya schaute den stämmigen Erdenmenschen genau an, erfreut über seine Reaktion. Er war ein Optimist wie Michel, aber besonnener und natürlicher. Bei Michel war es Politik, bei Art Temperament. Sie hatte ihn immer für einen Spion gehalten, seit dem ersten Moment, als sie ihn aus seiner allzu bequemen Panne draußen auf ihrem Weg gerettet hatten. Ein Spion für William Fort, für Praxis, vielleicht für die Übergangsbehörde und vielleicht auch für andere. Aber jetzt war er so lange unter ihnen gewesen — ein enger Freund von Nirgal, von Jackie und auch von Nadia —, und sie arbeiteten jetzt wirklich mit Praxis zusammen, hingen für Nachschub, Schutz und Nachrichten von der Erde davon ab. Sie war sich nicht mehr so sicher, nicht nur, ob Art ein Spion wäre, sondern was in diesem Falle ein Spion war.
Sie sagte: »Du mußt sie veranlassen, diesen Angriff auf Kasei Vallis nicht durchzuführen.«
»Ich glaube nicht, daß sie auf meine Erlaubnis warten.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Na schön«, sagte Art. »Ich nehme an, sie sind besorgt, den Code nicht noch einmal knacken zu können. Aber Cojote scheint sehr zuversichtlich, daß er das Protokoll hat. Und Sax war es, der ihm dabei geholfen hat.«
»Sag das ihnen!«
»Sie hören mehr auf dich als auf mich.«
»Stimmt.«
»Wir könnten einen Wettbewerb machen, auf wen Jackie am wenigsten hört.«
Maya lachte laut auf. »Den würde jeder gewinnen.«
Art grinste. »Du solltest deine Ratschläge dem PC Pauline eingeben und ihn dazu bringen, Boones Stimme nachzuahmen.«
Maya lachte wieder. »Eine gute Idee.«
Sie sprachen über das Hellasprojekt, und sie erläuterte die Bedeutung der neuen Entdeckung westlich von Hellespontus. Art hatte mit Fort Kontakt gehabt und schilderte die Feinheiten der letzten Entscheidung des Weltgerichtshofs, von denen Maya noch nicht gehört hatte. Praxis hatte einen Prozeß gegen Consolidated angestrengt, weil die ihren Raumaufzug für die Erde in Columbien festmachen wollten, was der Stelle in Ecuador zu nahe war, die Praxis ins Auge gefaßt hatte, so daß beide Stellen gefährdet wären. Das Gericht hatte zugunsten von Praxis entschieden, war aber von Consolidated ignoriert worden, die weiter gemacht und eine Basis in ihrem neuen Klientellande eingerichtet hatten. Sie waren schon darauf vorbereitet, ihr Aufzugskabel dort herunterkommen zu lassen. Die anderen Metanationalen freuten sich, daß der Weltgerichtshof eine Schlappe erlitten hatte, und unterstützten Consolidated aufjede mögliche Weise, was für Praxis Ärger bedeutete.
»Aber diese Metanationalen stänkern doch immerzu, nicht wahr?« sagte Maya.
»Das stimmt.«
»Man sollte einen großen Streit zwischen einigen von ihnen einfädeln.«
Art hob die Augenbrauen. »Ein gefährlicher Plan!« »Für wen?«
»Für die Erde.«
»Ich kümmere mich den Teufel um die Erde«, sagte Maya und ließ jedes Wort auf der Zunge zergehen.
»Willkommen im Club!« sagte Art kleinlaut; und sie lachte wieder.
Zum Glück reiste Jackies Schar bald nach Sabishii ab. Maya beschloß, zum Ort des neu entdeckten Wasserlagers zu fahren. Sie nahm einen Zug entgegen dem Uhrzeigersinn um das Becken, über den Gletscher Niesten und dann nach Süden den großen Westhang hinab an der Bergstadt Montepulciano vorbei zu einem winzigen Bahnhof, der Yaonisplatz hieß. Von dort fuhr sie in einem kleinen Wagen auf einer Straße, die einem Gebirgstal durch die mächtigen Schluchten von Hellespontus folgte.
Die Straße war nicht mehr als ein grober Einschnitt im Regolith, durch Fixativ gesichert, von Transpondern markiert und an schattigen Stellen durch Wehen aus hartem Sommerschnee behindert. Sie führte durch eine merkwürdige Gegend. Aus dem Weltraum wirkte Hellespontus visuell und areomorphologisch ziemlich gleichmäßig, da das ausgeworfene Material in konzentrischen Ringen heruntergefallen war. Aber an der Oberfläche waren diese konzentrischen Ringe kaum wahrzunehmen. Übriggeblieben waren unregelmäßig verteilte Haufen von Steinen, die chaotisch vom Himmel gefallen waren. Und die phantastischen Drücke, die der Aufprall gezeitigt hatte, hatten zu vielerlei bizarren Metamorphosen geführt. Am häufigsten waren gewaltige Schuttkegel, konische Felsblöcke, die durch den Aufprall in Stücke jeder Größe gebrochen waren, so daß manche Lücken hatten, in die man hineinfahren konnte, während andere einfach als Kegel auf dem Boden standen, mit mikroskopischen Fehlstellen, die wie bei altem Porzellan jeden Zentimeter ihrer Oberfläche bedeckten.
Maya fuhr durch diese zerstückelte Landschaft und fühlte sich etwas beunruhigt durch die häufigen kami- Steine. Da waren Schuttkegel, die auf der Spitze gelandet waren und darauf balancierten, bei anderen war weicheres Material darunter erodiert, bis sie zu riesigen Dolmen wurden; gigantische Reihen von Fangzähnen, große Lingam-Säulen mit einer Kappe darauf wie zum Beispiel die als ›Phallus des Großen Mannes ‹ bekannte; wild aufgeschichtete Platten, deren berühmteste ›Teller in der Spüle‹ genannt wurde; große Wände aus hexagonalem Säulenbasalt; andere Wände, die so glatt und blank waren wie riesige Stücke von Jaspis.
Der äußerste konzentrische Ring der Auswurfstücke ähnelte am ehesten einer gewöhnlichen Bergkette und sah an diesem Nachmittag aus wie etwas aus dem Hindukusch, kahl und gewaltig unter rasch dahinziehenden Wolken. Die Straße kreuzte diese Kette in einem hohen Paß zwischen zwei massigen Bergspitzen. In dem zugigen Paß hielt Maya an und schaute zurück. Sie sah nichts als eine ganze Welt spitzer Berge — Piks und Grate, alle ganz kahl mit Wolkenschatten und Schnee, und hier und da ein gelegentlicher Kraterring, der den Dingen ein echt unirdisches Aussehen verlieh.
Voraus senkte sich das Land zu dem von Kratern vernarbten Noachis Planum. Dort unten war ein Lager von Bergleuten mit Rovern, die wie eine Wagenburg kreisförmig angeordnet waren. Maya fuhr über die rauhe Straße zügig bis zum Camp und erreichte es am späten Nachmittag. Dort wurde sie von einer kleinen Schar alter Beduinenfreunde begrüßt sowie von Nadia, die auf Besuch war, um sich über den Bohrturm für das kürzlich entdeckte Wasserlager zu beratschlagen. Sie alle waren davon beeindruckt. »Es zieht sich über den Proctor-Krater hinaus und wahrscheinlich bis zu Kaiser«, sagte Nadia. »Und es sieht so aus, als reiche es weit nach Süden, so weit, daß es ebenso ausgedehnt wäre wie das Reservoir von Australis Tholus. Habt ihr dafür je eine nördliche Grenze festgestellt?«
»Ich denke, ja«, sagte Maya und fing an, auf ihrem Handgelenk zu tippen, um das herauszufinden. Sie redeten während eines frühen Dinners die ganze Zeit über Wasser und machten nur gelegentlich eine Pause, um andere Neuigkeiten auszutauschen. Danach saßen sie in Zeyks und Naziks Rover und erholten sich mit Sherbet, den Zeyk herumgehen ließ, und starrten in die Glut eines kleinen Kohlenfeuers, auf dem Zeyk vorher frischen Kebab gebraten hatte. Das Gespräch drehte sich zwangsläufig um die gegenwärtige Lage; und Maya sagte wieder, was sie zu Art gesagt hatte, nämlich daß sie Zwist zwischen den Metanationalen auf der Erde stiften sollten.
»Das bedeutet Weltkrieg«, sagte Nadia scharf. »Und wenn das Muster zutrifft, würde es der bisher schlimmste werden.« Sie schüttelte den Kopf. »Es muß einen besseren Weg geben.«
»Wir brauchen uns nicht einzumischen, um das auszulösen«, sagte Zeyk. »Sie sind schon jetzt auf der Spirale nach unten.«
»Meinst du?« fragte Nadia. »Nun, wenn es passiert … werden wir eine Chance für einen Coup hier haben, vermute ich.«
Zeyk schüttelte den Kopf. »Dies ist ein Fluchtloch. Es wird Zwang erfordern, um die Machthaber dazu zu bringen, einen solchen Ort aufzugeben.«
»Es gibt verschiedene Arten von Zwang«, sagte Nadia. »Auf einem Planeten, wo die Oberfläche noch tödlich ist, sollten sich Möglichkeiten finden, bei denen man keine Menschen erschießen muß. Es müßte eine ganz neue Technik der Kriegsführung geben. Ich habe mit Sax darüber gesprochen, und er stimmt zu.«
Maya knurrte, und Zeyk grinste. »Seine Methoden ähneln den alten, soweit ich sehe. Diese Luftlinse herunterzuholen — das hat uns gefallen! Deimos aus der Bahn schießen — gut. Aber ich kann zu einem gewissen Grad erkennen, worauf er aus ist. Wenn die Marschflugkörper herauskommen … «
»Wir müssen uns vergewissern, daß es nicht soweit kommt.« Nadia machte das störrische Gesicht, das sie aufsetzte, wenn ihre Ideen konkretisiert wurden; und Maya schaute sie überrascht an. Nadia eine revolutionäre Strategin — das hätte sie nicht für möglich gehalten. Nun, ohne Zweifel dachte sie daran, um ihre Bauprojekte zu schützen. Oder an ein Bauvorhaben selbst, in einem anderen Medium.
»Du solltest kommen und zu den Gemeinden in Odessa sprechen«, riet ihr Maya. »Die sind im Grunde Anhänger von Nirgal.«
Nadia stimmte zu und bückte sich, um mit einem kleinen Schürhaken eine Kohle wieder in die Mitte des Beckens zurückzuschieben. Sie sahen dem brennenden Feuer zu, ein seltener Anblick auf dem Mars; aber Zeyk liebte Feuer so sehr, daß er die Mühe in Kauf nahm. Feine Schichten grauer Asche flatterten über das marsartige Orange heißer Kohlen. Zeyk und Nazik sprachen leise und schilderten die arabische Lage auf dem Planeten, die komplex war wie gewöhnlich. Die Radikalen unter ihnen waren fast alle in Karawanen draußen unterwegs, suchten nach Metallen und Wasser und areothermalen Stellen, sahen harmlos aus und taten nie etwas, das enthüllen könnte, daß sie nicht zur metanationalen Ordnung gehörten. Aber sie waren draußen, warteten und waren bereit zur Tat.
Nadia stand auf, um zu Bett zu gehen. Als sie fort war, sagte Maya zögernd: »Erzählt mir von Chalmers!«
Zeyk sah sie ruhig und ungerührt an. »Was willst du wissen?«
»Ich möchte wissen, wer mit der Ermordung Boones zu tun hatte.«
Zeyk blinzelte unbehaglich und klagte: »Das war eine sehr komplizierte Nacht in Nicosia. Man redet unter Arabern endlos darüber. Es wird ermüdend.«
»Was sagen sie also?«
Zeyk schaute zu Nazik, und die sagte: »Das Problem ist, daß sie alle etwas anderes sagen. Niemand weiß, was wirklich geschah.«
»Aber ihr wart dort. Ihr habt etwas davon gesehen. Erzählt mir erst einmal, was ihr gesehen habt!«
Da sah Zeyk sie scharf an und nickte. »Sehr wohl.« Er holte Atem und faßte sich. Feierlich, als ob er Zeugnis ablegte, sagte er: »Wir waren nach den Reden, die ihr gehalten habt, in Hajr el-kra Meshab versammelt. Die Leute waren gegen Boone erbost wegen eines Gerüchts, er habe den Plan zum Bau einer Moschee auf Phobos gestoppt; und seine Rede hatte nichts genützt. Uns hat die neue Gesellschaft des Mars, über die er sprach, nie gefallen. Also murrten wir, als Frank vorbeikam. Ich muß sagen, es war ein ermutigender Anblick, ihn in diesem Moment zu sehen. Uns schien, er wäre der einzige mit einer Chance, sich Boone zu widersetzen. So blickten wir auf ihn; und er ermutigte uns. Er mißachtete Boone auf subtile Art und machte Witze, die unseren Ärger gegen Boone verstärkten, während Frank als einziges Bollwerk gegen ihn erschien. Ich war über Frank wirklich verstimmt, weil er die jungen Leute noch mehr aufhetzte. Selim el-Hayil und einige seiner Freunde vom Ahad-Flügel waren da, und sie waren aufgebracht — nicht bloß gegen Boone, sondern auch gegen den Fetah-Flügel. Weißt du, die Ahad und die Fetah waren über verschiedene Themen zerstritten — Panaraber gegen Nationalisten, Beziehungen zum Westen, Verhalten gegenüber Sufis… In jener jüngeren Generation der Bruderschaft gab es eine fundamentale Spaltung.«
»Sunniten und Schiiten?« fragte Maya.
»Nein. Eher konservativ und liberal, wobei die Liberalen sich für säkular hielten und die Konservativen für religiös, sowohl Sunniten wie Schiiten. Und el Hayil war ein Führer der konservativen Ahad. Und er hatte der Karawane angehört, mit der Frank in diesem Jahr gereist war. Sie hatten oft miteinander gesprochen, und Frank hatte ihm viele Fragen gestellt, sich in ihn direkt hineingedrängt, wie das seine Art war, bis er fühlte, jemanden oder dessen Partei zu verstehen.«
Maya nickte und verstand diese Beschreibung.
»Also hatte Frank ihn gekannt. Und in dieser Nacht hätte el-Hayil fast über einen Punkt gesprochen, entschied sich aber, es nicht zu tun, als Frank ihm einen Blick zuwarf. Ich habe das gesehen. Dann ging Frank fort, und el-Hayil fast unmittelbar danach.«
Zeyk machte eine Pause, um von seinem Kaffee zu trinken und nachzudenken.
»Das war in den nächsten paar Stunden das Letzte, was ich von ihnen gesehen habe. Es fing an häßlich zu werden, kurz bevor Boone getötet wurde. Jemand ritzte Slogans auf die Fenster der Medina, und die Ahads dachten, es wären Fetahs; und einige Ahads griffen eine Gruppe von Fetahs an. Danach kämpften sie in der ganzen Stadt, auch gegen einige amerikanische Bautrupps. Es geschah einiges. Es fanden auch andere Kämpfe statt. Es war, als ob alle plötzlich verrückt geworden wären.«
Maya nickte. »Daran erinnere ich mich auch.«
»Nun gut, wir hörten, daß Boone verschwunden wäre, und gingen zum syrischen Tor hinunter, um die Schleusencodes zu überprüfen, ob jemand dort hinausgegangen wäre. Wir fanden, daß jemand hinausgegangen und nicht zurückgekommen war. Darum waren wir auf den Weg nach draußen, als wir die Nachricht über ihn hörten. Wir konnten es nicht glauben. Wir gingen in die Medina. Dort waren alle versammelt, und alle sagten, daß es wahr sei. Ich ging in das Krankenhaus, nachdem ich mich etwa eine halbe Stunde durch die Menge bewegt hatte. Ich sah ihn. Du warst dort.«
»Ich erinnere mich nicht.«
»Nun, du warst da, aber Frank war schon gegangen. Also sah ich John und ging wieder hinaus und sagte den anderen, daß es wahr wäre. Sogar die Ahads waren schockiert, dessen bin ich sicher — Nasir, Ageyl, Abdullah… «
»Ja«, sagte Nazik.
»Aber el-Hayil und Rashid Abou und Buland Besseisso waren dort nicht mit uns. Und wir waren wieder zurück in der Wohnung gegenüber Hajr el-kra Meshab, als sehr laut an die Tür geklopft wurde. Als wir öffneten, fiel el-Hayil in den Raum. Ihm war schon sehr übel. Er schwitzte und versuchte sich zu übergeben. Seine Haut war ganz gerötet und fleckig. Seine Kehle war geschwollen, und er konnte kaum sprechen. Wir halfen ihm ins Bad und sahen, daß er an Erbrochenem erstickte. Wir riefen Yussuf herein und versuchten, Selim in unserem Wagen zur Klinik zu schaffen, als er uns stoppte. Er sagte: ›Sie haben mich getötete Wir fragten ihn, wie er das meinte, und er sagte: ›Chalmers‹.«
»Das hat er gesagt?« fragte Maya.
»Ich sagte: ›Wer hat das getan?‹, und er sagte: ›Chalmers.‹«
Wie aus großer Entfernung hörte Maya, wie Nazik sagte: »Aber da war noch mehr.«
Zeyk nickte. »Ich sagte: ›Was meinst du damit?‹, und er sagte: ›Chalmers hat mich getötet. Chalmers und Boone.‹ Nazik und ich jammerten, als wir das hörten, und Selim packte mich am Arm.« Zeyk holte mit beiden Händen aus und ergriff einen unsichtbaren Arm. »›Er wollte uns vom Mars verjagen.‹ Das sagte er auf eine Weise, die ich nie vergessen werde. Er glaubte das sicher. Daß Boone vorhatte, uns irgendwie vom Mars zu verjagen!« Zeyk schüttelte den Kopf, immer noch ungläubig.
»Was geschah dann?«
»Er …« Zeyk breitete die Hände aus. »Er hatte einen Anfall. Er faßte sich an die Kehle, dann alle seine Muskeln…« Zeyk ballte die Fäuste. »Er verkrampfte sich und hörte auf zu atmen. Wir versuchten, ihn wieder zum Atmen zu bringen, aber vergeblich. Ich wußte nicht — Tracheotomie? Künstliche Beatmung? Antihistamine?« Er zuckte die Achseln. »Er starb in meinen Armen.«
Es herrschte ein langes Schweigen, während Maya zusah, wie Zeyk sich erinnerte. Seit jener Nacht in Nicosia war fast ein halbes Jahrhundert vergangen, und Zeyk war damals schon alt gewesen.
»Ich bin überrascht, wie gut du dich erinnerst«, sagte sie. »Meine eigene Erinnerung, selbst an Nächte wie diese… «
»Ich erinnere mich an alles«, sagte Zeyk düster.
»Er hat das entgegengesetzte Problem wie alle anderen«, sagte Nazik und sah ihren Gatten an. »Er erinnert sich an zu viel. Er schläft nicht gut.«
»Hmm.« Maya überlegte. »Was war mit den anderen zwei?«
Zeyk zog den Mund zusammen. »Das kann ich nicht sicher sagen. Nazir und ich haben den Rest der Nacht damit verbracht, uns mit Selim zu beschäftigen. Man diskutierte darüber, was mit seiner Leiche geschehen sollte. Ob man sie zur Karawane hinausschaffen und dann verheimlichen solle, was geschehen war, oder sofort die Behörden einschalten.«
Oder mit einem einzelnen toten Mörder zu den Behörden gehen, dachte Maya und beobachtete Zeyks beherrschte Miene. Vielleicht war auch darüber diskutiert worden. Er erzählte die Geschichte nicht in der gleichen Weise. »Ich weiß nicht, was wirklich mit ihnen geschah. Ich habe das nie herausgebracht. In jener Nacht waren viele von Ahad und Fetah in der Stadt, und Yussuf hatte gehört, was Selim gesagt hatte. Es hätten also ihre Feinde, ihre Freunde oder sie selbst sein können. Sie starben später in jener Nacht in einem Zimmer in der Medina. Gerinnungsmittel.«
Zeyk zuckte die Achseln.
Wieder Schweigen. Zeyk seufzte und füllte seine Tasse nach. Nazik und Maya lehnten ab.
»Aber seht ihr«, sagte Zeyk, »das ist bloß der Anfang. Das ist es, was wir gesehen haben und was wir dir zuverlässig mitteilen konnten. Danach… oje!« Er schnitt eine Grimasse. »Diskussionen, Spekulationen, Verschwörungstheorien jeder Art. Das übliche, nicht wahr? Es ist noch nie jemand einfach ermordet worden. Schon seit euren Kennedys kommt es immer darauf an, wie viele Geschichten man erfinden kann, um das gleiche Tatsachenmaterial zu erklären. Das ist das große Vergnügen bei der Verschwörungstheorie — nicht Erklärung, sondern Story. Es ist wie bei Scheherazade.«
»Du glaubst an keine dieser Geschichten?« fragte Maya und fühlte sich plötzlich hoffnungslos.
»Nein. Dafür habe ich keinen Grund. Die Ahad und Fetah hatten einen Konflikt. Das weiß ich. Frank und Selim standen irgendwie in Verbindung. Wie das Nicosia beeinflußte — ob es das tat…« Er atmete tief aus. »Ich weiß es nicht und sehe auch nicht, wie jemand das wissen könnte. Die Vergangenheit… Allah verzeih mir, die Vergangenheit schien ein Dämon zu sein, um hier meine Nächte zu peinigen.«
»Es tut mir leid.« Maya stand auf. Der helle kleine Raum wirkte plötzlich beengt und überladen. Sie erhaschte einen Blick auf die abendlichen Sterne in einem Fenster und sagte: »Ich werde draußen etwas Spazierengehen.«
Zeyk und Nazik nickten, und Nazik half ihr beim Anlegen des Helms. »Bleib nicht zu lange!« sagte sie.
Der Himmel war dicht bedeckt mit den gewöhnlichen eindrucksvollen Sternbildern. Am Westhorizont lag ein malvenfarbenes Band. Hellespontus ragte im Osten auf. Spätes Alpenglühen verlieh seinen Gipfeln ein tiefes Rosa, das an das Indigo darüber grenzte. Beide Farben waren so rein, daß die Übergangslinie zu vibirieren schien.
Maya ging langsam auf eine Erhebung in vielleicht einem Kilometer Entfernung zu. In den Ritzen unter ihren Füßen war etwas im Wachsen. Flechten oder darauf sitzendes Moos, deren Grün ganz schwarz erschien. Wo es ging, trat sie auf Steine. Pflanzen hatten es auf dem Mars schwer genug, ohne daß man auch noch darauf trat. Alles Lebewesen. Die Kühle der Dämmerung drang in sie ein, bis sie beim Gehen das X der Heizfilamente in den Hosen an ihren Knien fühlte. Sie stolperte und zwinkerte, um deutlicher zu sehen. Der Himmel war voller verschwommener Sterne. Irgendwo im Norden im Aureum Chaos lag der Körper von Frank Chalmers in einem Durcheinander von Eis und Sedimenten mit seinem Schutzanzug als Sarg. Getötet, während er die übrigen von ihnen davor rettete, hinweggespült zu werden. Allerdings würde er einer solchen Darstellung energisch widersprochen haben. Er würde hartnäckig erklären, daß es nur ein durch falsche Zeiteinteilung verursachter Unfall gewesen wäre. Es war aber das Resultat davon, daß er mehr Energie hatte als jeder sonst, Energie, die durch seine Wut genährt wurde — auf sie, auf John, auf UNOMA und alle Mächte auf der Erde. Auf seine Frau. Auf seinen Vater. Auf seine Mutter und sich selbst. Auf alles. Der zornige Mann. Der zornigste Mann, der je gelebt hatte. Und ihr Liebhaber. Und der Mörder ihres anderen Liebhabers, der großen Liebe ihres Lebens, John Boone, der sie vielleicht alle hätte retten können. Der für immer ihr Partner hätte sein können.
Und sie hatte sie gegeneinander gehetzt.
Jetzt war der Himmel schwarz und voller Sterne. Nur noch ein tief purpurnes Band war am westlichen Horizont verblieben. Mayas Tränen waren mit ihren Gefühlen dahin. Es war nichts mehr übrig als die schwarze Welt und ein schmaler Stich purpurner Bitterkeit, wie eine in die Nacht hinein blutende Wunde.
Manche Dinge muß man vergessen. Shikata ga nai.
Wieder in Odessa tat Maya das einzige, was sie mit dem tun konnte, das sie gelernt hatte, und vergaß es. Sie stürzte sich in die Arbeit am Hellasprojekt, verbrachte lange Stunden im Büro über Berichten und bestimmte Teams für die verschiedenen Bohr- und Baustellen. Mit der Entdeckung des westlichen Wasserlagers hatten die Wünschelrutengruppen an Dringlichkeit eingebüßt; und es wurde mehr Nachdruck auf das Anzapfen und Auspumpen der schon gefundenen Reservoire gelegt und die Infrastruktur der Siedlungen am Rande. So folgten Bohrmannschaften auf die Wassersucher. Nach diesen kamen Leute für Pipelines; und auf der ganzen Strecke gab es Zeltgruppen, sowie auf dem Reull-Canyon oberhalb Harmakhis, die den Sufis bei einer schlimm zerfressenen Canyonwand halfen. Auf einem zwischen Dao und Harmakhis gebauten Raumhafen trafen neue Immigranten ein. Diese zogen in das obere Dao und halfen bei der Umgestaltung von Harmakhis- Reull und auch bei der Errichtung der anderen neuen Kuppelstädte rings um den Rand. Das war eine massive logistische Aufgabe und entsprach in fast jeder Hinsicht Mayas altem Traum für die Entwicklung von Hellas. Aber jetzt, da es tatsächlich geschah, fühlte sie sich äußerst häßlich und einsam. Sie war sich nicht länger sicher, was sie für Hellas wollte oder für den Mars oder für sich selbst. Oft fühlte sie sich der Gnade der Flügel ihrer Launen ausgeliefert, welche in den Monaten nach dem Besuch bei Zeyk und Nazik (obwohl sie diese Zuordnung vermied) besonders heftig waren, eine unregelmäßige Schwankung zwischen Hochstimmung und Verzweiflung, wobei die Zeit der Ausgeglichenheit durch das Wissen verdorben wurde, entweder auf dem Weg nach oben oder nach unten zu sein.
Sie war in diesen Monaten oft unfreundlich zu Michel, oft gereizt durch seine Gelassenheit, die Art, wie er mit sich in Frieden zu sein schien und durch sein Leben trödelte, als ob seine Jahre mit Hiroko alle seine Fragen beantwortet hätten. Um eine Reaktion zu erzielen, sagte sie zu ihm: »Du bist schuld. Wenn ich dich brauchte, warst du nie da. Du hast nicht deine Pflicht erfüllt.«
Michel pflegte das zu ignorieren und besänftigte sie so lange, bis sie wütend wurde. Er war jetzt nicht ihr Therapeut, sondern ihr Liebhaber. Wenn man seinen Liebhaber nicht ärgerlich machen konnte, was für ein Liebhaber war er dann? Sie erkannte die schreckliche Verbindung, in der man steckte, wenn der Liebhaber auch der Therapeut war, so daß ein objektives Auge und eine besänftigende Stimme zu dem distanzierenden Verhalten eines professionellen Benehmens wurden. Ein Mann, der seinen Job tat — es war unerträglich, von einem solchen Auge beurteilt zu werden, als ob er allein über allem stünde und selbst keinerlei Probleme und Emotionen hätte, die er nicht beherrschen könnte. So etwas war zu mißbilligen. Und so (im Versuch zu vergessen): »Ich habe sie beide getötet! Ich habe sie eingefangen und gegeneinander ausgespielt, um meine eigene Macht zu stärken. Ich habe es vorsätzlich getan, und du warst überhaupt keine Hilfe! Es war alles auch dein Fehler!«
Er murmelte etwas und begann besorgt zu werden, als er sah, was kommen würde, wie einer der häufigen Stürme, die über Hellespontus in das Becken bliesen. Und sie lachte und schlug ihn heftig ins Gesicht. Sie gab ihm einen Stoß, als er zurückwich. Sie brüllte: »Komm her, du Feigling, rapple dich auf!«, bis er auf den Balkon hinauslief und die Tür mit dem Absatz geschlossen hielt. Dabei starrte er auf die Bäume im Park und schimpfte laut auf französisch, während sie gegen die Tür hämmerte. Einmal zerbrach sie sogar eine Scheibe, daß ihm das Glas über den Rücken rieselte. Da riß er die Tür auf und drängte sich, immer noch auf französisch fluchend, an ihr vorbei und durch die Zimmertür ins Freie.
Aber gewöhnlich wartete er bloß, bis sie zusammenbrach und anfing zu weinen. Dann kam er zurück und redete englisch, was die Rückkehr seiner Gelassenheit anzeigte. Und mit nur leicht enttäuschter Miene nahm er die unerträgliche Therapie wieder auf. Er sagte dann etwa: »Schau, wir standen damals alle unter einem großen Druck, ob wir es merkten oder nicht. Es war eine höchst künstliche Situation und auch gefährlich. Wenn wir in irgendeiner Anzahl verschiedener Wege versagt hätten, hätten wir alle sterben können. Wir mußten Erfolg haben. Einige von uns kamen mit Druck besser zurecht als andere. Ich war da nicht so gut und du auch nicht. Aber jetzt sind wir hier. Und die Drücke gibt es immer noch, manche anders, manche dieselben. Aber wir kommen besser mit ihnen zurecht, wenn du mich fragst. Die meiste Zeit.«
Und dann ging er weg zu einem Cafe an der Corniche und hockte eine oder zwei Stunden über einem Cassis und entwarf Gesichter auf seinem Lektionar, bissige Karikaturen, die er löschte, sobald sie fertig waren. Sie wußte das; denn an manchen Abenden ging sie nach draußen und fand ihn. Sie saß schweigend bei ihrem Glas Wodka neben ihm und entschuldigte sich durch die Haltung ihrer Schultern. Wie konnte sie ihm sagen, daß es ihr half, ab und zu zu streiten, daß es sie wieder auf den nach oben führenden Ast der Kurve brachte — wie konnte sie ihm das sagen, ohne dieses zynische Lächeln bei ihm auszulösen, das Melancholie und Bedrückung verriet? Außerdem wußte er Bescheid. Er wußte und verzieh. Er sagte dann: »Du hast sie beide geliebt, aber auf verschiedene Weise. Und es gab bei ihnen auch Dinge, die dir nicht gefielen. Außerdem, was immer du gemacht hast, du konntest nicht die Verantwortung für ihre Taten übernehmen. Sie haben erwählt, was sie taten, und du warst nur ein Faktor.«
Es half ihr, das zu hören. Und es half ihr zu kämpfen. Es würde alles in Ordnung sein. Sie würde sich besser fühlen, wenigstens ein paar Wochen oder ein paar Tage lang. Die Vergangenheit war ohnehin so mit Löchern gespickt, eine struppige Sammlung von Bildern. Schließlich würde sie wirklich vergessen. Obwohl die am festesten haftenden Erinnerungen durch einen Leim aus Schmerz und Gewissensbissen gebunden zu sein schienen. Darum dürfte es einige Zeit dauern, sie zu vergessen, auch wenn sie so nagend, schmerzlich und nutzlos waren. Nutzlos! Besser sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Während sie eines Nachmittags, allein in ihrem Apartment, diese Überlegungen anstellte, starrte sie lange auf des Bild des jungen Frank an der Spüle. Sie überlegte, es herunterzunehmen und wegzuwerfen. Ein Mörder. Sich auf die Gegenwart konzentrieren. Aber auch sie war eine Mörderin. Und auch der, welcher ihn zum Mord getrieben hatte. Wenn man immer alles auf alles zurückführte. Auf jeden Fall war er dabei irgendwie ihr Gefährte gewesen. Als sie lange darüber nachgedacht hatte, entschied sie sich, das Foto hängen zu lassen.
Aber im Lauf der Monate und des langen Rhythmus der Tage mit dem Zeitrutsch und der sechs Monate währenden Jahreszeiten wurde das Bild nicht mehr als ein Teil der Ausstattung, wie das Gestell mit Zangen und hölzernen Schaufeln oder die aufgehängte Reihe von Töpfen und Pfannen mit kupfernen Böden oder die kleinen Salz-und-Pfeffer-Behälter in Schiffsform. Das war alles ein Teil der Bühne, die für diesen Akt des Spiels eingerichtet war, wie sie manchmal dachte. So dauerhaft das auch schien, es würde völlig verschwinden, wie alle vorgegangenen Einrichtungen verschwunden waren, während sie zur nächsten Inkarnation fortschritt. Oder auch nicht.
So vergingen die Wochen und dann die Monate, vierundzwanzig im Jahr. Der Monatserste fiel hintereinander so viele Monate lang auf einen Montag; daß das für immer festgelegt zu sein schien. Und dann war ein Drittel eines Marsjahres vergangen, und endlich erschien eine neue Jahreszeit; es verging ein Monat von siebenundzwanzig Tagen, und plötzlich fiel der Erste auf einen Sonntag, und nach einer Weile würde das auch als ewige Norm erscheinen, einen Monat nach dem anderen. Und so ging es immer und immer weiter. Die langen Jahre des Mars drehten sich langsam im Kreise.
Draußen rings um Hellas schien man die meisten wichtigen Wasserlager entdeckt zu haben, und die Bemühungen verschoben sich völlig auf bergmännische Arbeiten und Rohrbau. Die Schweizer hatten kürzlich etwas erfunden, das sie eine gehende Pipeline nannten, eigens für die Arbeit in Hellas gemacht und oben auf Vastitas Borealis installiert. Diese verrückten Apparate rollten durch die Gegend und verteilten das Grundwasser gleichmäßig über das Land, so daß man den Boden des Beckens erfassen konnte, ohne direkt am Ende fester Pipelines Berge von Eis zu erzeugen, wie man es zuvor zu tun pflegte.
Maya zog mit Diana los, um eines dieser Rohre in Tätigkeit zu sehen. Aus einem darüber schwebenden Luftschiff sah es fast aus wie ein auf dem Boden liegender Gartenschlauch, der sich unter dem hohen Druck des herauschießenden Wassers hin und her schlängelte.
Unten auf dem Boden war es noch eindrucksvoller und sogar bizarr. Die Pipeline war riesig groß und rollte majestätisch über Schichten aus glattem Eis, das schon abgelagert war. Auf flachen Pylonen, die in mächtigen Ponton-Skis endeten, wurde das Rohr einige Meter über dem Eis gehalten und bewegte sich mit mehreren Kilometern in der Stunde, gestoßen durch den aus seiner Düse schießenden Wasserstrahl, die in verschiedene, durch Computer bestimmte Richtungen zeigte. Wenn die Pipeline bis zum Ende ihres Bogens geglitten war, drehten Motoren die Düse; und die Pipeline wurde langsamer, hielt an und kehrte die Richtung um.
Das Wasser schoß in einem dicken weißen Strahl aus der Düse, der einen Boden bildete und in einem Sprühregen aus rotem Staub und weißen Reifschwaden auf die Oberfläche schlug. Dann floß das Wasser über den Grund in großen schlammigen schleifenförmigen Güssen, wurde langsam, setzte sich flach ab, wurde weiß und wandelte sich langsam zu Eis. Das war allerdings kein reines Eis; sondern Nährstoffe und verschiedene Stämme von Eisbakterien waren dem Wasser aus großen Bioreservoiren hinzugefügt worden, die hinten an der Küstenlinie lagen. Darum hatte das neue Eis eine milchig rosige Färbung und schmolz schneller als reines Eis. Ausgedehnte Schmelzteiche, praktisch seichte Seen von vielen Quadratkilometern Fläche, waren in diesem Sommer ein tägliches Ereignis und auch an sonnigen Tagen im Frühling und Herbst. Die Hydrologen meldeten auch große Schmelzteiche unter der Oberfläche. Und als die Temperaturen weltweit zu steigen begannen und die Eisablagerungen im Becken dicker wurden, schmolzen die Bodenschichten anscheinend unter dem Druck. So glitten große Eisschollen über diese Schmelzzonen auch die sanftesten Hänge hinunter und sammelten sich in großen Haufen über allen besonders tief gelegenen Punkten des Beckenbodens in Gebieten, die phantastische Ödländer aus Druckgraten, Eiszacken und Schmelztümpeln waren, die jede Nacht einfroren, und Eisblöcken wie umgestürzte Wolkenkratzer. Diese großen instabilen Eishaufen verschoben sich und zerbrachen, wenn sie in der Wärme des Tages schmolzen, mit donnernden Explosionsschlägen, die man in Odessa und jeder anderen am Rang gelegenen Stadt hörte. Dann froren die Haufen in jeder Nacht mit dröhnendem Krachen wieder ein, bis an vielen Stellen auf dem Boden des Beckens ein unvorstellbares Trümmerchaos herrschte.
Über solche Flächen zu fahren war unmöglich, und der einzige Weg, die Vorgänge auf dem größten Teil des Beckens zu beobachten, war aus der Luft. In einer Woche im Herbst M-48 beschloß Maya, mit Diana, Rachel und einigen anderen einen Ausflug zu der kleinen Siedlung auf der Anhöhe im Zentrum des Beckens zu unternehmen. Man nannte sie schon Insel Minus Eins, obwohl sie noch nicht ganz eine Insel war, da die Zea Dorsa noch nicht überflutet waren. Aber es war nur eine Sache von Tagen, bis das letzte Stück davon bedeckt sein würde. Und Diana dachte, wie auch einige andere Hydrologen im Büro, es wäre eine gute Idee, hinauszugehen und das historische Ereignis zu beobachten.
Kurz vor dem geplanten Abreisetermin erschien Sax selbst in ihrem Apartment. Er war unterwegs von Sabishii nach Vishniac und war vorbeigekommen, um Michel zu besuchen. Maya freute sich, daß sie bald fort sein und deshalb während seiner Anwesenheit, die sicher kurz sein würde, nicht anwesend sein müßte. Es war ihr immer noch unangenehm, in seiner Nähe zu sein; und es war klar, daß das auf Gegenseitigkeit beruhte. Er vermied weiter, ihrem Blick zu begegnen, und redete mit Michel und Spencer. Niemals ein Wort für sie! Natürlich hatten er und Michel Hunderte von Stunden während Saxens Rehabilitierung verbracht; aber es erboste sie trotzdem.
Als er von ihrer bevorstehenden Reise zu Minus Eins hörte und fragte, ob er mitkommen dürfe, war sie darum sehr unangenehm überrascht. Aber Michel warf ihr blitzartig einen beschwörenden Blick zu; und Spencer fragte, ob auch er mitkommen könne, ohne Zweifel, um zu verhindern, daß sie Sax aus dem Luftschiff stoßen würde. Und so stimmte sie mürrisch zu.
Als sie dann einige Morgen später starteten, hatten sie ›Stephen Lindholm‹ und ›George Jackson‹ dabei, zwei alte Männer, über die Maya sich nicht bemühte, den anderen Auskunft zu geben, da sie sah, daß Diana, Rachel und Frantz alle wußten, wer sie waren. Die jungen Leute waren alle etwas gedämpft, als sie in die lange Gondel des Luftschiffs kletterten, weshalb Maya die Lippen mißmutig zusammenzog. Es würde nicht dieselbe Reise werden, wie sie ohne Sax geworden wäre.
Die Fahrt von Odessa zur Insel- Minus Eins dauerte etwa vierundzwanzig Stunden. Das Luftschiff war kleiner als die pfeilspitzenförmigen Behemothe der frühen Jahre. Dieses war ein zigarrenförmiges Vehikel, genannt Drei Diamanten; und die Gondel, welche den Kiel bildete, war lang und geräumig. Obwohl die ultraleichten Propeller stark genug waren, um einige Geschwindigkeit zu entwickeln und recht starken Winden zu widerstehen, kam es Maya doch vor wie eine kaum kontrollierte Drift. Das Summen der Motoren war unter dem Brausen des Westwindes kaum vernehmbar. Sie trat an ein Fenster und schaute nach unten, den Rücken Sax zugekehrt.
Der Blick aus den Fenstern war vom Moment des ersten Aufstiegs an wunderbar; denn Odessa bot in seiner Kuppel am nördlichen Abhang ein hübsches Bild mit seinen schrägen Ziegeldächern und belaubten Bäumen. Und nachdem man sich einige Stunden nach Südosten durch die Luft gepflügt hatte, bedeckte die Eis-Ebene des Beckens die ganze sichtbare Fläche der Welt, als ob sie über einen arktischen Ozean oder eine Eiswelt flögen.
Sie fuhren in etwa tausend Metern Höhe mit ungefähr fünfzig Kilometern in der Stunde dahin. Während des Nachmittags am ersten Tag war die zerklüftete Eislandschaft unter ihnen schmutzigweiß und reichlich gefleckt von Schmelztümpeln von himmelpurpurner Farbe, die gelegentlich wie Silber aufblitzten, wenn sie die Sonne spiegelten. Einige Zeit konnten sie im Westen ein Muster spiralförmiger eisfreier Stellen sehen, wo lange schwarze Streifen offenen Wassers die Stelle des überfluteten Moholes von Low Point anzeigten.
Bei Sonnenuntergang wurde das Eis zu einem Gewirr von Dunkelrot, Orange und Elfenbeinfarben mit Streifen aus langen schwarzen Schatten. Danach flogen sie durch die Nacht unter den Sternen über eine helle, rissige weiße Landschaft. Maya schlief unbequem auf einer der langen Bänke unter den Fenstern und wachte vor der Morgendämmerung auf, die ein neues Wunder an Farben darstellte. Das Purpur des Himmels erschien viel dunkler als das Rosa darunter, eine Umkehrung, die alles unwirklich erscheinen ließ.
Gegen Mitte des Morgens an diesem Tag kam wieder Land in Sicht. Über den Horizont schwebte ein Oval ockerfarbener, aus dem Eis ragender Berge, etwa hundert Kilometer lang und fünfzig breit. Diese Erhebung war das Gegenstück von Hellas zu dem zentralen Buckel, den man auf dem Boden mittelgroßer Krater fand, und hoch genug, um gut über dem geplanten Wasserspiegel zu bleiben. Damit erhielt das künftige Meer eine recht beträchtliche zentrale Insel.
Die Siedlung Minus Eins auf der Nordwestspitze des Hochlandes war von hier aus nicht mehr als eine Ansammlung von Startbahnen, Luftschiffmasten und einer unordentlichen Gruppe kleiner Gebäude, von denen einige unter einer kleinen Stationskuppel und die übrigen isoliert und ungeschützt dastanden, wie vom Himmel geworfene Betonklötze. Dort lebte niemand außer einem kleinen technischen und wissenschaftlichen Stab, obwohl Areologen ab und zu auf Besuch einfielen.
Die Drei Diamanten kurvte herum, machte an einem der Masten fest und wurde zu Boden gezogen. Die Passagiere verließen die Gondel durch eine Landebühne und wurden vom Leiter der Station zu einem kurzen Rundgang durch den Flughafen und den Wohnkomplex geführt.
Nach einem Dinner im Speisesaal des Habitats, das nicht der Rede wert war, zogen sie sich an und machten einen Spaziergang im Freien. Sie wanderten durch die verstreuten Nutzgebäude und bergab dahin, wo nach Aussage eines Einheimischen die endgültige Küste verlaufen würde. Als sie dort waren, stellten sie fest, daß aus dieser Höhe kein Bis zu sehen war. Bis zum nahen Horizont in einigen Kilometern Entfernung war alles eine sandige, mit Geröll übersäte Ebene.
Maya schlenderte ziellos hinter Diana und Frantz her, der eine Romanze anzufangen schien. Neben ihnen ging ein anderes Paar, das auf der Station wohnte, beide noch jünger als Diana, Arm in Arm und sehr zärtlich. Sie waren beide gut über zwei Meter groß, aber nicht geschmeidig und gertenschlank wie die meisten jungen Eingeborenen. Dieses Paar hatte mit Gewichten hantiert, bis sie trotz ihrer Größe so stämmig waren wie Schwerathleten auf der Erde. Sie waren riesig und dennoch sehr leichtfüßig. Sie führten eine Art Felsblockballett über die zerstreuten Steine dieser leeren Küste auf. Maya sah ihnen zu und staunte wieder über die neue Spezies. Hinter ihr kamen Sax und Spencer, und sie sagte etwas darüber auf der alten Frequenz der Ersten Hundert. Aber nur Spencer sagte etwas über Phänotyp und Genotyp. Sax ignorierte die Bemerkung und ging zur Ebene hinunter.
Spencer kam mit, und Maya folgte ihnen. Sie bewegte sich langsam über all den neuen Arten. Da gab es Grasbüschel auf dem Sand zwischen den Geröllsteinen und auch niedrige Blütenpflanzen, Unkraut, Kakteen, Büsche und sogar einige kleine verkrüppelte Bäume, an die Seite von Felsblöcken geschmiegt. Sax ging behutsam umher, bückte sich, um Pflanzen zu betrachten, und stand mit unsicherem Blick auf, als ob ihm das Blut aus dem Kopf geströmt wäre, als er in die Hocke gegangen war. Oder vielleicht war das eine Miene der Überraschung, wie Maya sie noch nie bei Sax gesehen hatte. Es war wirklich überraschend, hier draußen ein so üppiges Leben zu finden, wo niemand etwas angebaut hatte. Oder vielleicht hatten es die auf dem Flughafen stationierten Wissenschaftler getan. Und das Becken lag tief, war warm und feucht… Die jungen Marsleute weiter oben tanzten über alles hinweg und vermieden graziös die Pflanzen, ohne von ihnen irgendwie Notiz zu nehmen.
Sax blieb vor Spencer stehen und neigte seinen Helm nach hinten, um in Spencers Gesichtsscheibe zu blicken. »Diese Pflanzen werden alle ertrinken«, sagte er mürrisch, fast als ob er eine Frage stellte.
»Das stimmt«, sagte Spencer.
Sax warf einen kurzen Blick auf Maya. Seine Hände in den Handschuhen waren erregt zusammengepreßt. Was, wollte er sie auch des Mordes an Pflanzen beschuldigen?
»Aber die organische Substanz wird später Leben im Wasser erhalten, nicht wahr?« sagte Spencer.
Sax sah sich bloß um. Als sein Blick sie streifte, sah Maya, daß er wie bekümmert zwinkerte. Dann machte er sich wieder auf den Weg durch den verschlungenen Teppich aus Pflanzen und Steinen.
Spencer begegnete Mayas Blick und hob die Hände, als ob er sich dafür entschuldigen wollte, daß Sax sie ignorierte. Maya machte kehrt und ging wieder hangaufwärts zurück.
Schließlich ging die ganze Gruppe den Hang auf einem spiraligen Grat nach oben, über die Minus-Eins- Kontur zu einem Buckel gleich nördlich der Station, wo sie hoch genug waren, um einen Blick auf das Eis am Westhorizont zu bekommen. Der Flughafen lag unter ihnen und erinnerte Maya an Underhill oder die antarktischen Stationen — ungeplant, ungegliedert, ohne jedes Gefühl für das, was die Inselstadt sicher werden würde. Während sie graziös über die Steine schritten, spekulierten die jungen Leute darüber, wie diese Stadt aussehen würde — eine Küstenferienstätte, dessen waren sie sich sicher, jeder Hektar bebaut oder mit Gärten, mit Bootshäfen in jeder kleinen Einbuchtung längs der Küste, mit Palmen, Stränden und Pavillons … Maya schloß die Augen › und versuchte sich vorzustellen, was die jungen Leute beschrieben. Dann öffnete sie sie wieder und sah Fels, Sand und verkümmerte kleine Pflanzen. Nichts davon war ihr in den Sinn gekommen. Was auch immer die Zukunft bringen mochte, es würde für sie eine Überraschung sein. Sie konnte sich kein Bild davon machen, es war eine Art von jamais vu, das die Gegenwart bedrängte. Eine plötzliche Vorahnung des Todes überkam sie; und sie kämpfte darum, sie abzuschütteln. Niemand konnte sich die Zukunft vorstellen. Eine leere Stelle in ihrem Kopf bedeutete da nichts Das war normal. Nur die Anwesenheit von Sax störte sie und erinnerte sie an Dinge, an die zu denken sie sich nicht leisten konnte. Nein, es war ein Segen, daß die Zukunft leer war. Die Freiheit von deja vu. Ein außerordentlicher Segen.
Sax trödelte hinterher und schaute weg in das Becken unter ihnen.
Am nächsten Tage stiegen sie wieder in die Drei Diamanten und fuhren nach Südosten, bis der Kapitän einen Anker genau westlich von Zea Dorsa auswarf. Es war ziemlich lange her, seit Maya mit Diana und deren Freunden nach dort hinausgefahren war; und jetzt waren die Bergketten nur noch kahle steinerne Halbinseln, die sich in das zerbrochene Eis auf Minus Eins erstreckten und nacheinander unter das Eis tauchten mit Ausnahme der größten, die noch eine ungebrochene Leiste darstellte, welche zwei rauhe Eismassen teilte, von denen die westliche deutlich zweihundert Meter tiefer lag als die im Osten. Dies, sagte Diana, war die letzte Landverbindung zwischen Minus Eins und dem Rand des Beckens. Wenn dieser Isthmus überflutet war, würde die Erhebung in der Mitte eine wirkliche Insel sein.
Die Eismasse auf der Ostseite des restlichen Rückens befand sich der Kammlinie sehr nahe. Der Luftschiffskapitän gab mehr Ankertau aus, und sie schwebten unter dem herrschenden Wind nach Osten, bis sie sich direkt über dem Kamm befanden, wo sie deutlich sehen konnten, daß nur noch einige Meter Gestein zu überwinden waren. Und weiter im Osten war eine wandernde Pipeline, ein blauer Schlauch, der auf seinen Ski-Pylonen langsam vorwärts und rückwärts glitt, während seine Düse Wasser auf die Oberfläche sprühte. Unter dem Dröhnen der Propeller konnten sie von unten her gelegentliches Donnern und Stöhnen hören, einen gedämpften Krach, einen lauten Knall wie von einem Kanonenschuß. Unter dem Eis gab es flüssiges Wasser, wie Diana erklärte; und das Gewicht neuen Wassers darüber ließ einige Eisblöcke über leicht untergetauchte Rücken scharren. Der Kapitän deutete nach Süden; und Maya sah, wie eine Reihe von Eisbergen in die Luft flog wie von Sprengstoff hochgejagt, die nach verschiedenen Richtungen flogen und wieder auf das Eis stürzten, wo sie in tausend Stücke zerbrachen. Der Kapitän sagte: »Wir sollten uns lieber ein bißchen zurückziehen. Es wäre besser für meinen Ruf, wenn wir nicht von einem Eisberg abgeschossen würden.«
Die Düse der wandernden Pipeline zeigte ihnen den Weg. Und dann war mit einem leichten seismischen Krachen die letzte vollständige Bergkette überwunden. Ein Schwall dunklen Wassers schoß den Fels hinauf und ergoß sich dann über die Westseite des Kamms in einem einige hundert Meter breiten Wasserfall. Das Wasser fiel in einer langsamen lässigen Fläche zweihundert Meter in die Tiefe. Im Vergleich mit der großen Eiswelt, die sich in jeder Richtung bis zum Horizont erstreckte, was das nur ein Rinnsal; aber es floß stetig dahin. Das Wasser auf der östlichen Masse war jetzt zu beiden Seiten von Eis kanalisiert, die Katarakte donnerten, und das Wasser auf der westlichen Seite fächerte sich in hundert Strömen über das gebrochene Eis aus. Maya sträubten sich vor-Angst die Haare im Nacken. Wahrscheinlich eine Erinnerung an die Marineris-Flut, meinte sie, konnte es aber nicht sicher sagen.
Langsam nahm das Volumen des Wasserfalls ab; und in weniger als einer Stunde war alles langsam geworden und dann gefroren, zumindest an der Oberfläche. Obwohl es ein sonniger Herbsttag war, waren da unten achtzehn Grad unter Null, und eine Reihe zerfetzter Cumulunimbuswolken näherte sich von Westen und zeigte eine Kaltfront an. So kam der Wasserfall zum Stehen. Aber zurückgeblieben war ein frischer Eisfall, der die Bodenwelle mit tausend glatten weißen Zöpfen bedeckte. Damit war die Hügelkette zu zwei Vorgebirgen geworden, die sich nicht ganz vereinigten wie alle anderen Ketten der Dorsa, die wie Gruppen zusammengehöriger Rippen in das Eis eintauchten. Halbinseln, die zusammenpaßten. Das Hellasmeer war jetzt geschlossen und Minus Eins wirklich eine Insel.
Danach machten die Bahnfahrten um Hellas herum und die verschiedenen Fernflüge auf Maya einen anderen Eindruck, als sie das verflochtene Netzwerk von Gletschern und Eiswüsten als das neue Meer selbst erkannte, das anstieg, auffüllte und herumplatschte. Und tatsächlich wuchs der flüssige See unter dem Oberflächeneis nahe Low Point im Frühling und Sommer viel schneller an, als er im Herbst und Winter schrumpfte. Und starke Winde wirbelten an den eisfreien Stellen Wellen auf, die im Sommer das Eis zwischen sich zerbrachen und Gebiete von losem Packeis schufen mit schwimmenden Schollen, die, wenn sie die steilen kleinen Schwellen hinabglitten, ein solches Getöse machten, daß Gespräche in Luftschiffen darüber schwierig wurden.
Und im Jahr M-49 erreichten die Fließmengen aus allen angezapften Wasserlagern ihre Höchstwerte. Zusammengenommen pumpten sie täglich 2500 Kubikmeter in das Meer — ein Betrag, der in ungefähr sechs Marsjahren das Becken bis zur Linie von minus einem Kilometer anfüllen würde. Maya kam das gar nicht so lang vor, besonders da sie den Fortschritt direkt hier am Horizont von Odessa sehen konnten. In Winterzeiten würden die schwarzen Stürme, die über das Gebirge zogen, den ganzen Boden des Beckens mit einer Decke aus aufregend weißem Schnee einhüllen. Im Frühling würde der Schnee schmelzen, aber der neue Rand des Eismeeres wäre näher als im vorangegangenen Herbst.
In der nördlichen Hemisphäre war es ziemlich genau so, wie Nachrichten und Mayas gelegentliche Reisen nach Burroughs besagten. Die großen nördlichen Dünen von Vastitas Borealis wurden rasch überschwemmt, da die wahrhaft enormen Reservoire unter Vastitas und der Polgegend auf die Oberfläche gepumpt wurden von Bohrplattformen, die mit dem Eis höher stiegen, wenn sich das Eis unter ihnen ansammelte. In den Nordsommern ergossen sich große Flüsse von der abschmelzenden Polkappe herunter, schnitten Kanäle durch die Sandschichten und liefen abwärts, bis sie sich mit dem Eis vereinigten. Und einige Monate, nachdem Minus Eins zur Insel geworden war, zeigten die Nachrichten ein Video von einem nackten Landstrich in Vastitas, der unter einer dunklen Flut aus Westen, Osten und Norden verschwand. Das schuf offenbar die letzte Verbindung zwischen den Eislappen. Also gab es jetzt ein die Welt umschließendes Meer im Norden. Natürlich war es noch lückenhaft und bedeckte nur etwa die Hälfte des Landes zwischen den sechziger und siebziger Breiten; aber nach Ausweis von Satellitenfotos gab es schon große Buchten aus Eis, die nach Süden in die tiefen Senken von Chryse und Isidis hineinreichten.
Die Überflutung des Restes von Vastitas würde noch ungefähr zwanzig weitere Marsjahre erfordern, da die Menge des zum Füllen von-Vastitas Borealis erforderlichen Wassers viel größer war als die für Hellas benötigte. Aber die Pumparbeiten da oben waren auch größer, so daß die Dinge zügig vorangingen. Und alle Sabotageakte der Roten konnten nur eine Kerbe in diesen Fortschritt schlagen. Tatsächlich beschleunigte sich der Fortschritt noch, trotz zunehmender Störversuchen, denn einige der neuen Bergbauverfahren, die angewandt wurden, waren recht radikal und wirkungsvoll. Die Nachrichtenprogramme zeigten ein Video der jüngsten Methode, die mit großen thermonuklearen Explosionen tief unter Vastitas arbeitete. Dadurch wurde der Permafrost auf großen Arealen geschmolzen und belieferte die Pumpen mit mehr Wasser. Auf der Oberfläche äußerten sich diese Sprengungen als plötzliche Eisbeben, welche das Eis an der Oberfläche in einen blasigen Matsch verwandelten. Das flüssige Wasser gefror schnell an der Oberfläche, pflegte aber darunter flüssig zu bleiben. Ähnliche Explosionen unter der nördlichen Polkappe bewirkten Fluten, die fast so stark waren wie die großen Ausbrüche von 2061. Und all dieses Wasser strömte in Vastitas hinunter.
Unten im Büro von Odessa verfolgte man all dies mit professionellem Interesse. Eine kürzliche Neuabschätzung der Menge von Wasser unter der Oberfläche hatte die Ingenieure von Vastitas ermuntert, ein endgültiges Meeresniveau sehr nahe beim genormten Wert anzustreben, dem früher in den Zeiten der Marsforschung aus dem Himmel festgesetzten NormalNull. Diana und andere Hydrologen in Deep Waters dachten, daß Senkung des Landes in Vastitas als Folge des Abbaus von Wasserlagern und von Permafrost dazu führen würde, daß sie dort am Ende ein Meeresniveau etwas unter der Norm haben würden. Aber da oben schienen sie zuversichtlich, daß sie das bei der Rechnung berücksichtigt hätten und die Marke erreichen würden.
Das Herumspielen mit verschiedenen Meeresniveaus auf einer Karte aus der KI des Büros machte es klar, welche Gestalt der kommende Ozean haben würde. An vielen Stellen würde die Große Böschung seine südliche Küstenlinie bilden. Das würde manchmal einen sanften Abhang bedeuten, im zerrissenen Gelände Archipele und an gewissen Stellen dramatische Meeresklippen. Angeschnittene Krater würden gute Häfen ergeben. Das Elysium-Massiv würde ein Inselkontinent werden und die Reste der nördlichen Polkappe ebenfalls. Das Land unter der Kappe war im Norden das einzige Gebiet gut oberhalb der Null-Kilometer-Kontur.
Ganz gleich, für welches Meeresniveau sie sich entschieden, ein großer südlicher Arm des Ozeans würde Isidis Planitia bedecken, das tiefer lag als der größte Teil von Vastitas. Und es wurden auch Reservoire in den Gebirgen um Isidis hineingepumpt. Es würde also eine große Bucht die alte Ebene füllen; und deswegen errichteten Bautrupps einen langen Deich in einem Bogen um Burroughs herum. Diese Stadt lag der Großen Böschung recht nahe; lag aber knapp unter der Normhöhe. Darum würde sie genau so eine Hafenstadt werden wie Odessa — eine Hafenstadt an einem die Welt umspannenden Ozean.
Der Deich, den sie um Burroughs bauten, war zweihundert Meter hoch und dreihundert Meter breit. Maya fand das Projekt, einen Deich zu errichten, um die Stadt zu schützen, beunruhigend, obwohl nach den Luftbildern klar war, daß es sich um ein weiteres pharaonisches Monument handelte, hoch und massiv. Es verlief hufeisenförmig mit beiden Enden oben auf dem Hang der Großen Böschung und war so groß, daß es Pläne gab, darauf Bauten zu errichten und einen modischen Lido daraus zu machen, mit kleinen Bootshäfen an der Wasserseite. Aber Maya erinnerte sich, wie sie einstmals in Holland auf einem Deich gestanden hatte mit dem Land auf der einen Seite, das niedriger war als die Nordsee auf der anderen. Das war ein sehr verwirrender Eindruck gewesen, mehr von Ungleichgewicht als Schwerelosigkeit. Und auf mehr rationaler Ebene war es so, daß Nachrichtenprogramme von der Erde jetzt zeigten, wie alle Deiche dort ständig durch einen ganz langsamen Anstieg des Meeresspiegels bis an die Grenzen beansprucht wurden infolge der zwei Jahrhunderte früher bewirkten globalen Erwärmung. Schon ein Anstieg um ein Meter gefährdete viele tiefliegende Gebiete der Erde; und der nördliche Ozean des Mars sollte im kommenden Jahrzehnt um einen vollen Kilometer steigen. Wer konnte sagen, daß sie imstande sein würden, das endgültige Niveau so fein hinzukriegen, daß ein Damm ausreichen würde? Mayas Arbeit in Odessa hatte sie gegenüber einer solchen Kontrolle mißtrauisch gemacht, obwohl sie es in Hellas natürlich auch selbst probierten und glaubten, es geschafft zu haben. Allerdings hatten sie es besser, da die Lage von Odessa keinen großen Fehlerspielraum ließ. Die Hydrologen sprachen auch davon, den ›Kanal‹, den die Luftlinse vor ihrer Zerstörung gebrannt hatte, als Ablauf in den nördlichen Ozean zu benutzen, falls ein solcher nötig sein sollte. Fein für sie, aber der nördliche Ozean würde keinen solchen Rücklauf haben.
»Oh«, sagte Diana, »sie pumpen jeden Überschuß immer in das Argyre-Becken.«
Auf der Erde wurden Revolten, Brandstiftung und Sabotage tägliche Waffen der Leute, die die Behandlung nicht bekommen hatten — die Sterblichen, wie man sie nannte. Um alle großen Städte entstanden ummauerte Siedlungen, Festungsvororte, wo jene, die die Behandlung bekommen hatten, ihr ganzes Leben verbringen konnten mit Benutzung von Fernverbindungen, Fernbedienungen, tragbaren Generatoren und sogar Gewächshausnahrung, ja sogar Luftfiltriersystemen. Faktisch wie in den Kuppelstädten auf dem Mars.
Eines Abends ging Maya, die von Michel und Spencer genug hatte, aus, um allein zu essen. Sie hatte oft das Bedürfnis, allein zu sein. Sie ging zu einem Eckcafe am Fußweg gegenüber der Corniche und setzte sich an einen Tisch im Freien unter Bäumen, die mit Lampions behängt waren. Sie bestellte Antipasto und Spaghetti und aß zerstreut, wozu sie eine kleine Karaffe Chianti trank und dem Spiel einer kleinen Band lauschte. Der Leader spielte eine Art Akkordeon mit lauter Knöpfen, ein sogenanntes Bandonion, und seine Kameraden spielten Violine, Gitarre, Piano und Baß. Eine Schar runzliger alter Männer, Burschen ihres Alters, tobten umher mit einer flotten Attacke durch melancholisch lustige Lieder — Zigeunermelodien, Tangos, alte Schmachtfetzen, die sie gemeinsam zu improvisieren schienen … Nach dem Essen blieb sie noch lange Zeit sitzen, hörte ihnen zu, genoß ein letztes Glas Wein und dann einen Kaffee. Sie sah den anderen beim Essen zu und hatte über sich die Blätter und hinter der Corniche die ferne Eislandschaft. Über Hellespontus wälzten sich Wolken heran. Sie versuchte so wenig wie möglich zu denken. Das funktionierte eine Weile, und sie machte einen wonnevollen Ausflug in ein älteres Odessa, in ein Europa des Geistes, das so süß und traurig war wie die Duette von Geige und Akkordeon. Aber dann fingen die Leute am Nebentisch an, darüber zu diskutieren, ein wie hoher Prozentsatz der Erdbevölkerung die Behandlung erhalten hätte — die einen meinten zehn Prozent, andere vierzig —, ein Zeichen des Informationskrieges oder einfach des Maßes an Chaos, das dort herrschte. Als sie sich von ihnen abwandte, bemerkte sie eine Schlagzeile auf dem Nachrichtenschirm über der Bar und las die Sätze, die von rechts nach links abrollten. Der Weltgerichtshof hatte seine Tätigkeit unterbrochen, um von Den Haag nach Bern umzuziehen; und Consolidated hatte die Gelegenheit dieser Unterbrechung genutzt, um gewaltsam die Besitztümer von Praxis in Kaschmir an sich zu bringen, was praktisch den Beginn eines Staatsstreichs oder Kleinkriegs gegen die kaschmirische Regierung von der Basis von Consolidated in Pakistan aus bedeutete. Indien würde natürlich mit hineingezogen werden. Und Indien hatte in letzter Zeit auch mit Praxis gute Geschäftsbeziehungen gepflegt. Indien contra Pakistan, Praxis contra Consolidated — der größte Teil der Weltbevölkerung nicht behandelt und verzweifelt…
Als Maya an diesem Abend nach Hause kam, sagte Michel, daß dieser Überfall für den Weltgerichtshof eine Hebung seines Ansehens bedeute, insofern Consolidated seine Aktion zeitlich auf den Umzug des Gerichts abgestimmt hätte. Aber angesichts der Verwüstung in Kaschmir und der Umkehrentwicklung für Praxis war Maya nicht in der Stimmung, ihm zuzuhören. Michel war so stur optimistisch, daß es ihr manchmal unklug erschien oder zumindest erschwerte, ihm nahe zu sein. Eines mußte man zugeben: Sie lebten in einer sich verdüsternden Situation. Der Zyklus von Wahnsinn kam auf der Erde wieder in Gang in seiner unerbittlichen Sinuswelle, einer Welle, die noch schlimmer war als die Mayas. Bald würden sie wieder in einem jener unkontrollierten Paroxysmen stecken und darum ringen, der Vernichtung zu entgehen. Das konnte sie fühlen. Sie erlebten einen Rückfall.
Maya machte sich zur Gewohnheit, regelmäßig in dem Eckcafe zu speisen, die Band zu hören und allein zu sein. Sie saß mit dem Rücken zur Bar; aber es war unmöglich, sich nicht Gedanken zu machen über die Erde, ihren Kurs und ihre Erbsünde. Sie versuchte zu verstehen, sie versuchte, es so zu sehen, wie Frank es gesehen hätte, und versuchte, seine Stimme zu hören, wie er es analysierte. Die Gruppe der Elf (die alte G-7 plus Korea, Azania, Mexico und Rußland) hatte noch nominell das Kommando über einen großen Teil der Macht der Erde in Form von Militär und Kapital. Die einzigen echten Konkurrenten für diese alten Dinosaurier waren die großen Metanationalen, die wie Athene aus den Transnationalen hervorgegangen waren. Die großen Transnationalen — und in der Ökonomie der zwei Welten war definitionsgemäß nur für etwa ein Dutzend von ihnen Raum — waren natürlich daran interessiert, Länder in der Elfergruppe zu übernehmen, wie sie es mit so vielen kleineren Ländern schon getan hatten. Die Metanationalen, die bei diesem Bemühen Erfolg hätten, würden wahrscheinlich das Spiel um die Vorherrschaft untereinander gewinnen. Darum versuchten einige von ihnen, die G-11 zu teilen und zu erobern. Dabei taten sie ihr Bestes, die Elf gegeneinander aufzuhetzen oder einige zu bestechen, um die Reihen zu brechen. In dieser ganzen Zeit konkurrierten sie gegeneinander, so daß, während einige sich mit G-11-Ländern verbündet hatten, um sie sich unterzuordnen, andere sich auf ärmere Länder oder die Babytiger konzentriert hatten, um deren Kraft zu stärken. So gab es ein komplexes Gleichgewicht der Kräfte. Die stärksten alten Nationen standen gegen die größten neuen Metanationalen; und die Islamische Liga, Indien, China und die kleineren Metanationalen existierten als unabhängige Kraftzentren und Mächte, über die man nichts voraussagen konnte. Somit war das Gleichgewicht der Kräfte wie jedes momentane Gleichgewicht zerbrechlich. Das mußte so sein, da die Hälfte der Erdbevölkerung in Indien und China lebte — ein Umstand, den Maya nie ganz glauben oder verstehen konnte. Geschichte war so seltsam; und man konnte nicht wissen, zu welcher Seite dieser Hälfte der Menschheit sich die Waage neigen würde.
Und natürlich warf das zuerst die Frage auf, warum es so viel Streit gab. Warum nur, Frank? dachte sie, während sie dasaß und den ergreifenden melancholischen Tangos lauschte. Was ist die Motivation dieser metanationalen Herrscher? Aber sie konnte sein zynisches Grinsen sehen aus den Jahren, da sie ihn gekannt hatte. Reiche haben lange Halbwertszeiten, hatte er ihr gegenüber einmal bemerkt. Und die Idee des Imperiums hat die längste Halbwertszeit von allen. Darum saßen da Leute herum und versuchten noch, Dschingis Khan zu sein und die Welt ohne Rücksicht auf die Kosten zu regieren — leitende Angestellte in den Metanationalen, Anführer in der Gruppe der Elf, Generale in den Armeen …
Nun hatte die Erde, wie ihr mentaler Frank ruhig und brutal zu verstehen gab, eine begrenzte Fassungskraft. Die Menschen hatten sie überzogen. Viele würden deshalb sterben. Das wußte ein jeder. Der Kampf um Rohstoffe war entsprechend verbissen. Die Kämpfer waren völlig rational. Aber verzweifelt.
Die Musiker spielten weiter. Ihre schroffe Nostalgie war im Verlauf der Monate noch bitterer geworden, und der lange Winter kam; und sie spielten im schneeigen Dämmerlicht, während sich die ganze Welt verdunkelte, entre chien et loup. In diesem so kleinen und mutigen Bandoniongewinsel, in diesen leichten Melodien, die allen entgegentönten, war normales Leben, an das man sich hartnäckig klammerte in einem Lichtfleck unter Bäumen mit kahlen Zweigen.
Diese Besorgnis war ihr so vertraut. So hatte man sich in den Jahren vor ’61 gefühlt. Obwohl sie sich nicht an irgendwelche einzelnen Ereignisse und Krisen der letzten Vorkriegsperiode erinnern konnte, konnte sie sich dennoch jenes Gefühls entsinnen, als ob es durch einen vertrauten Geruch angeregt würde. Wie nichts eine Rolle zu spielen schien, wie selbst die besten Tage blaß und kühl waren unter den schwarzen Wolken, die sich im Westen zusammenballten. Wie die Freuden der Stadt eine groteske verzweifelte Schärfe gewannen. Alle saßen sozusagen mit dem Rücken zur Bar und taten ihr Bestes, um einem Gefühl von Einschränkung und Hilflosigkeit entgegenzuwirken. O ja, das war echtes dejä vu.
Wenn sie dann durch Hellas reisten und mit Gruppen des Freien Mars zusammenkamen, war Maya den Leuten dankbar, die kamen und sich bemühten zu glauben, daß ihre Aktionen einen Unterschied bewirken könnten, selbst angesichts des großen Wirbels, der sich unter ihnen drehte. Maya erfuhr von ihnen, daß Nirgal, wohin er kam, offenbar gegenüber den anderen Eingeborenen darauf beharrte, daß die Lage auf der Erde für ihr eigenes Schicksal kritisch wäre, so groß die Entfernung auch scheinen mochte. Und das hatte Wirkung. Jetzt waren die Leute, die zu den Versammlungen kamen, voll von Nachrichten über Consolidated, Amexx und Subarashii und die jüngsten neuen Einfälle der UNTA-Polizei in das Gebirge des Südens, welche dazu gezwungen hatten, Overhangs und viele versteckte Zufluchtsstätten aufzugeben. Der Süden wurde entleert. Alle, die sich versteckt gehalten hatten, strömten nach Hiranyagarbha, Odessa oder in die Canyons von Ost-Hellas.
Einige der jungen Eingeborenen, die Maya traf, schienen zu denken, daß die Aneignung des Südens durch die UNTA im Grunde gut wäre, da sie den Countdown auslösen würde. Sie wandte sich sofort gegen solche Auffassungen und sagte ihnen: »Es sind nicht sie, die den Zeitplan bestimmen dürften. Das liegt bei uns, und wir müssen auf unseren Augenblick warten. Und dann alle zusammen handeln. Wenn ihr das nicht einseht…«
Dann seid ihr Narren!
Aber Frank hatte bei seinen Auftritten immer wild um sich geschlagen. Diese Leute brauchten etwas mehr — oder, um genauer zu sein, sie verdienten etwas mehr. Etwas Positives, etwas, das-sie ebenso zog wie antrieb. Frank hatte das auch gesagt, aber selten danach gehandelt. Sie mußten verführt werden wie die nächtlichen Tänzer an der Corniche. Wahrscheinlich waren diese Menschen an allen anderen Abenden der Woche draußen bei der Promenade an der Wasserfront. Und Politik mußte etwas von jener erotischen Energie hinzugewinnen, sonst handelte es sich nur um ressentiment und Schadensbegrenzung.
Also verführte Maya sie. Sie tat es selbst dann, wenn sie besorgt, erschrocken oder in schlechter Stimmung war. Sie stand zwischen ihnen und dachte an Sex mit diesen großen geschmeidigen jungen Männern; und dann setzte sie sich in ihrer Mitte hin und stellte ihnen Fragen. Sie sah ihnen in die Augen, ihnen, die so groß waren, daß sie, wenn sie auf einem Tisch saß, mit ihnen in Augenhöhe war, wenn sie auf Stühlen saßen. Sie verwickelte sie in eine Konversation, die so vertraulich und vergnüglich war, wie sie es nur machen konnte. Was verlangten sie vom Leben, vom Mars? Oft lachte sie laut auf bei ihren Antworten, überrascht durch ihre Harmlosigkeit oder ihren Witz. Sie hatten selbst schon von Marsbildern geträumt, die radikaler waren als alles, an das Maya glauben konnte. Von einem Mars, der wirklich unabhängig war, gleichmacherisch, gerecht und fröhlich. Und in mancher Weise hatten sie diese Träume schon verwirklicht. Viele von ihnen hatten jetzt ihre kleinen Bauten zu geräumigen kommunalen Apartments umgestaltet; und sie arbeiteten in ihrer alternativen Wirtschaft, die immer weniger Verbindung mit der Übergangsbehörde oder den Metanationalen hatte — einer Ökonomie, die beherrscht wurde von Marinas Öko-Ökonomie und Hirokos Areophanie, von den Sufis und Nirgal und diesem vagabundierenden Zigeunerregiment der Jungen. Sie hatten das Gefühl, für immer zu leben. Sie fühlten sich in einer Welt sinnlicher Schönheit. Ihre Gefangenschaft in Kuppeln war normal, aber nur ein Übergang. Eine Geborgenheit in warmen mesokosmischen Mutterschößen, auf die unausweichlich ihr Hinaustreten auf eine freie lebendige Oberfläche folgen würde — durch ihre Geburt, jawohl!
Sie waren embryonische Are-urgen, um Michels Ausdruck zu gebrauchen, junge Götter, die ihre Welt betrieben und wußten, daß sie frei werden sollten, und zuversichtlich waren, dahin zu kommen, und zwar bald.
Es kamen schlechte Nachrichten von der Erde, und der Besuch der Versammlungen stieg an. Und in diesen Meetings herrschte keine Stimmung von Angst, sondern von Entschlossenheit wie in der Miene von Frank auf dem Foto über ihrer Spüle. Ein Kampf zwischen den früheren Verbündeten Armscor und Subarashii um Nigeria führte zum Einsatz biologischer Waffen (beide Seiten lehnten die Verantwortung ab), so daß Menschen, Tiere und Pflanzen in Lagos und seiner Umgebung von schrecklichen Krankheiten heimgesucht wurden. In den Versammlungen jenes Monats sprachen die jungen Leute wütend und mit blitzenden Augen vom Mangel jeder Gesetzlichkeit auf der Erde, dem Fehlen jeglicher Autorität, der man vertrauen könnte. Die metanationale Weltordnung war zu gefährlich, als daß man ihr gestatten dürfe, den Mars zu beherrschen!
Maya ließ sie eine Stunde lang reden, ehe sie etwas anderes sagte als: »Ich weiß.« Und ob sie es wüßte! Ihr kamen fast die Tränen, wenn sie sah, wie entsetzt sie über Ungerechtigkeit und Grausamkeit waren. Dann nahm sie die Punkte der Erklärung von Dorsa Brevia einzeln vor und schilderte, wie ein jeder ausdiskutiert war und was er besagte und wie sich seine Verwirklichung in der realen Welt für ihr Leben auswirken würde. Die jungen Leute wußten darüber mehr als sie; und diese Teile der Diskussion feuerten sie mehr an als alles Jammern über die Erde. Weniger besorgt und mehr begeistert. Und bei dem Versuch, eine auf die Deklaration gegründete Zukunft zu schildern, brachte sie sie oft zum Lachen. Lustige Szenarien einer kollektiven Harmonie, alle zufrieden und glücklich. Sie kannten die ärgerliche gedrängte Realität ihrer gemeinsamen Apartments, und so war es wirklich lustig. Das Licht in den Augen lachender junger Marsmenschen — selbst Maya, die nie lachte, fühlte, wie ein leichtes Lächeln die unsichtbare Karte von Runzeln veränderte, die ihr Gesicht darstellte.
So pflegte sie dann die Versammlung zu beenden in dem Gefühl, daß eine gute Arbeit geleistet worden war. Wozu nützte schließlich eine Utopie ohne Freude? Was war der Sinn all ihres Bemühens, wenn es nicht das Lachen der Jungen einschloß? Dies war es, was Frank nie begriffen hatte, zumindest nicht in seinen späteren Jahren. Und so würde sie Spencers Sicherheitsmaßnahmen aufgeben und die Leute bei den Meetings aus ihren Zimmern führen, hinab zu den trockenen Küsten oder in Parks oder Cafes, um spazierenzugehen oder zu trinken oder ein spätes Mahl zu sich zu nehmen, in dem Gefühl, daß sie einen der Schlüssel zur Revolution gefunden hatte, einen Schlüssel, von dessen Existenz Frank nie gewußt, sondern sie nur vermutet hatte, wenn er John ansah.
»Natürlich«, sagte Michel, als sie nach Odessa zurückkehrte und versuchte, ihm davon zu erzählen. »Aber Frank hat überhaupt nicht an Revolution geglaubt. Er war ein Diplomat, ein Zyniker, ein Konterrevolutionär. Freude lag nicht in seinem Wesen. Für ihn war alles Schadensbegrenzung.«
Aber Michel war mit ihr in diesen Tagen oft entzweit. Er neigte dazu, zu explodieren, anstatt zu besänftigen, wenn sie erkennen ließ, daß sie einen Kampf brauchte; und das gefiel ihr so gut, daß sie feststellte, sie brauchte nicht annähernd so oft zu streiten. »Mach schon!« entgegnete sie auf seine Charakterisierung von Frank und schob Michel auf ihr Bett und vergewaltigte ihn, nur weil es Spaß machte und um ihn ins Reich der Freude zu ziehen und ihn zu zwingen, das zuzugeben. Sie wußte ganz genau, daß er es für seine Pflicht hielt, sie immer auf die mittlere Linie ihrer Stimmungsschwankungen zu drängen. Das konnte sie verstehen und schätzte den Halt, den er ihr zu geben suchte. Aber manchmal, wenn sie auf den Höhepunkt der Kurve zuraste, sah sie keinen Grund, diese kurzen Momente eines Flugs ohne Schwere nicht zu genießen, so etwas wie einen spirituellen Orgasmus … Und so griff sie nach seinem Penis und rubbelte ihn auf dieses Niveau und schaffte es, daß er eine oder zwei Stunden lang lächelte. Dann war es ihnen möglich, durch den Park in einer Stimmung von Entspannung und Frieden zum Cafe zu gehen und dort mit dem Rücken zur Bar zu sitzen und dem Flamenco-Gitarristen oder der alten Tangokapelle zu lauschen, die ihre piazzollas spielte. Sie plauderten beiläufig über die Arbeiten rund um das Becken. Oder sie redeten überhaupt nicht.
Eines Abends im Spätsommer des Jahres M-49 gingen sie mit Spencer zum Cafe hinunter und blieben während der langen Dämmerung sitzen bei der Betrachtung von dunkel-kupfrigen Wolken, die unter dem purpurnen Himmel unbewegt über dem fernen Eis glühten. Die vorherrschenden Westwinde trieben Luftmassen über Hellespontus, so daß sich dramatische Wolkenfronten über dem Eis aufbauten, die bald ein Teil ihres alltäglichen Lebens waren. Aber einige Wolken waren anders — metallische geschweifte feste Objekte wie steinerne Statuen, die nie von einem Wind einfach weggeblasen werden konnten. Von ihren schwarzen Unterseiten schossen Blitze auf das darunterliegende Eis.
Während sie diese eigenartigen Statuen beobachteten, hörten sie ein tiefes Dröhnen, und der Boden bebte leicht unter den Füßen, und das Besteck klapperte auf dem Tisch. Sie nahmen ihre Gläser und standen auf wie alle anderen in dem Cafe. In der bestürzten Stille sah Maya, daß alle automatisch nach Süden blickten, hinaus aufs Eis. Die Leute strömten aus dem Park zur Corniche und standen dann schweigend mit dem Blick nach draußen an der Kuppelwand. Dort im verschwindenden Indigo des Sonnenuntergangs unter den kupfernen Wolken konnte man soeben eine Bewegung erkennen, ein blinkendes Schwarz und Weiß am Rande der weißen und schwarzen Masse, das sich auf die Ebene zu bewegte. »Wasser«, sagte jemand am Nebentisch.
Alle bewegten sich wie unter einem Traktorstrahl mit den Gläsern in der Hand. Alle anderen Gedanken waren verschwunden, als sie an den Rand der Wasserfront kamen und vor der brusthohen Kuppelmauer standen und in die Schatten auf der Ebene blinzelten. Schwarz auf Schwarz, das mit weißen Flecken durchsetzt hin und her schwankte. Zum zweiten Mal erinnerte Maya sich wieder an die Marinerisflut und erschauerte. Die Erinnerung bedrängte sie wie Sodbrennen in der Speiseröhre. Die Säure benahm ihr fast den Atem und war sehr wirksam, diesen Teil ihrer Gedanken auszulöschen. Es war das Hellasmeer, das auf sie zukam — ihr Meer, ihre Idee, die jetzt den Hang des Beckens überschwemmte. Eine Million Pflanzen starb, wie Sax ihr ins Gewissen gerufen hatte. Die Ansammlung von Schmelzwasser bei Low Point war immer größer und größer geworden, hatte sich mit anderen Schmelzwasserlagern vereinigt und das mürbe Eis dazwischen und darum herum geschmolzen, erwärmt durch den langen Sommer, die Bakterien und die Dampfstrahlen von Explosionen, die man in dem umgebenden Eis ausgelöst hatte. Ein Eiswall im Norden mußte gebrochen sein, und jetzt schwärzte die Flut die Ebene südlich von Odessa. Der nächste Rand war nicht mehr als fünfzehn Kilometer entfernt. Jetzt war das meiste, was man vom Becken sehen konnte, ein pfeffer- und salzfarbenes Durcheinander, wobei sich der im Vordergrund dominierende Pfeffer zusehends immer mehr in Salz verwandelte. Das Land wurde in der gleichen Zeit heller, wie der Himmel dunkler wurde, was den Dingen ein unnatürliches Aussehen verlieh. Reifdämpfe stiegen vom Wasser auf und glühten in dem, was von Odessa selbst reflektiertes Licht zu sein schien.
Es verging vielleicht eine halbe Stunde, während der alle auf der Corniche schweigend dastanden und beobachteten, in einer Erstarrung befangen, die erst nachließ, als die Flut gefroren und die Dämmerung vorbei war. Dann ertönten plötzlich wieder menschliche Stimmen und elektrische Musik aus einem Cafe weiter unten. Lachen klang auf. Maya ging in prickelnder Laune an die Bar und bestellte Champagner für den Tisch. Denn mit einemmal war ihre Stimmung im Einklang mit den Ereignissen; und sie war geneigt, den bizarren Anblick ihrer entfesselten Kräfte zu feiern, die sich draußen in der Gegend zu allgemeiner Besichtigung darboten. Sie brachte einen Trinkspruch für das ganze Cafe aus:
»Auf das Hellasmeer und alle Seeleute, die darauf fahren werden, Eisbergen und Stürmen trotzend, um die andere Küste zu erreichen!«
Alle stießen Hochrufe aus; und die Menschen längs der ganzen Corniche griffen es auf und jubelten auch in wilder Erregung. Die Zigeunerkapelle stimmte die Tangoversion eines Shantys an, und Maya fühlte, wie das kleine Lächeln die steife Haut ihrer Wangen für den ganzen Rest des Abends lockerte. Selbst eine lange Diskussion über die Möglichkeit einer neuen Flut, die den Schutzdeich von Odessa überspülen könnte, konnte das Lächeln nicht von ihrem Gesicht verscheuchen. Unten im Büro hatten sie die Möglichkeiten wirklich sehr genau berechnet, und jedes Überschwappen, wie sie es nannten, war unwahrscheinlich oder sogar unmöglich. Odessa würde nichts passieren.
Aber aus der Ferne kamen Nachrichten, die sie erschütterten. Auf der Erde hatten die Kriege in Nigeria und Azania einen schweren weltweiten Konflikt zwischen Armscor und Subarashii ausgelöst. Christliche, islamische und hinduistische Fundamentalisten sahen sich gezwungen, die Langlebigkeitsbehandlung für ein Werk Satans zu erklären. Viele Nichtbehandelte traten diesen Bewegungen bei, übernahmen lokale Regierungen und führten direkte Massenangriffe gegen die metanationalen Maßnahmen in ihrem Bereich durch. Inzwischen versuchten alle großen Metanationalen, die UN wieder zum Leben zu erwecken und als Alternative zum Weltgerichtshof zu propagieren. Viele der größten metanationalen Klienten und jetzt auch die Elfergruppe machten dabei mit. Michel hielt das für einen Sieg, da es wieder die Angst vor dem Weltgerichtshof anzeigte. Und er sagte, jede Stärkung einer internationalen Körperschaft wie der UN wäre besser als nichts. Aber jetzt waren zwei konkurrierende Schlichtungssyteme in Kraft, von denen das eine durch die Metanationalen kontrolliert wurde, was es leichter machte, demjenigen zu entgehen, das einem nicht gefiel.
Und auf dem Mars standen die Dinge nicht viel besser. Die UNTA-Polizei trieb sich im Süden herum, ungehindert, außer durch gelegentliche überraschende Explosionen bei ihren Robotfahrzeugen; und Prometheus war das letzte versteckte Sanktuarium, das entdeckt und geschlossen worden war. Von all den großen Verstecken blieb nur Vishniac verborgen. Dort hatte man sich schlafend gestellt, um so durchzuhalten. Das Südpolgebiet war nicht mehr ein Teil des Untergrunds.
In dieser Lage war es nicht überraschend, wie erschreckt manchmal die Leute waren, die zu den Versammlungen kamen. Es gehörte Mut dazu, bei einem Untergrund mitzumachen, der sichtlich schrumpfte wie die Minus-Eins-Insel. Maya nahm an, daß die Menschen durch Ärger, Empörung und Hoffnung dazu getrieben wurden. Aber sie hatten auch Angst. Es gab keine Gewißheit, daß diese Bewegung etwas würde ausrichten können.
Und es wäre leicht, einen Spion in diese neu Hinzukommenden einzuschleusen. Maya fand es manchmal schwer, ihnen zu vertrauen. Konnten sie alle das sein, was sie zu sein vorgaben? Es war einfach unmöglich, dessen sicher zu sein. Eines Abends begegnete sie einem jungen Mann, dessen Aussehen ihr nicht gefiel; und nach dem Meeting, das ohne Höhepunkte verlief, war sie mit Spencers Freunden gleich ins Apartment gegangen und hatte Michel davon erzählt. Der sagte: »Mach dir keine Sorge!«
»Was meinst du damit, keine Sorge?«
Er zuckte die Achseln. »Die Mitglieder beobachten sich gegenseitig ständig. Sie bemühen sich darum, alle miteinander bekannt zu sein. Und Spencers Team ist bewaffnet.«
»Das hast du mir nie gesagt.«
»Ich dachte, du wüßtest es.«
»Mach schon! Du kannst mich nicht für dumm verkaufen.«
»Das tue ich nicht, Maya. Jedenfalls ist das alles, was wir tun können, falls wir uns nicht völlig verstecken.«
»Das schlage ich nicht vor. Hältst du mich etwa für feige?«
Michel machte ein saures Gesicht und sagte etwas auf französisch. Dann holte er tief Luft und schleuderte ihr einen seiner französischen Flüche entgegen. Maya bemerkte aber, daß er das vorsätzlich tat. Er war zu der Ansicht gekommen, daß die Streitigkeiten für sie gut wären und kathartisch für ihn, so daß man sie, falls unvermeidlich, als eine Art therapeutischer Methode fortsetzen könnte. Das war für Maya unerträglich. Ohne weiter zu überlegen, ging sie in die Küche, nahm einen kupfernen Topf und schwang ihn gegen ihn. Er war so überrascht, daß es ihm kaum gelang, ihn wegzustoßen.
Er brüllte: »Putaine! Pourquoi ce ga? Pourquoi?«
»Ich will nicht gönnerhaft behandelt werden«, sagte sie, darüber befriedigt, daß er jetzt richtig wütend war, aber auch selbst rasend. »Du verdammter Seelenklempner, wenn du in deinem Job nicht so schlecht wärst, hätten die Ersten Hundert nicht so durchgedreht, und diese Welt wäre nicht so im Eimer. Das ist alles deine Schuld.« Und sie schlug die Tür zu und ging ins Cafe, um darüber zu brüten, wie schrecklich es war, einen Schrumpfkopf als Partner zu haben, aber auch über ihr häßliches Benehmen, daß sie so schnell die Beherrschung verloren hatte und ihn angegriffen hatte. Diesmal kam er nicht herunter, um ihr Gesellschaft zu leisten, obwohl sie bis zum Ladenschluß dort sitzen blieb.
Und dann, kurz nachdem sie heimgekommen war, sich auf die Couch gelegt hatte und eingeschlafen war, klopfte es an der Tür schnell und zart auf eine sofort erschreckende Weise. Michel rannte hin und sah durch das Guckloch. Es war Marina.
Marina setzte sich gewichtig neben Maya auf die Couch und sagte, während sie zitternd ihre Hände hielt: »Sie haben Sabishii erobert. Sicherheitstruppen. Hiroko und ihr ganzer innerer Kreis waren da zu Besuch und auch alle aus dem Süden, die seit Beginn der Überfälle hergekommen waren. Und auch Cojote. Sie alle waren dort. Auch Nanao, Etsu und alle Issei… «
»Haben sie sich nicht gewehrt?« fragte Maya.
»Sie haben es versucht. Am Bahnhof wurden etliche Leute getötet. Das hat sie gehemmt; und ich denke, daß einige in das Labyrinth der Moholehalde gelangt sind. Aber sie haben das ganze Gebiet abgesperrt und sind durch die Kuppelwände eingedrungen. Es war genau wie einundsechzig in Cairo. Das schwöre ich.«
Plötzlich fing sie an zu weinen. Maya und Michel setzten sich zu beiden Seiten von ihr hin. Sie hielt die Hände vors Gesicht und stöhnte. Das war für die gewöhnlich so starke Marina so ungewöhnlich, daß die Realität ihrer Mitteilung betroffen machte.
Marina setzte sich auf und wischte sich Augen und Nase. Michel gab ihr ein Taschentuch. Sie fuhr ruhig fort: »Ich fürchte, daß viele von ihnen getötet worden sind. Ich war mit Vlad und Ursula draußen in einer jener entfernten Steinblockklausen. Wir blieben dort drei Tage lang, gingen dann zu einer versteckten Garage und entkamen in Felswagen. Vlad ging nach Burroughs und Ursula nach Elysium. Wir versuchen, so viele der Ersten Hundert zu benachrichtigen, wie wir können. Besonders Sax und Nadia.«
Maya stand auf, zog sich an, ging dann durch den Gang und klopfte bei Spencer an die Tür. Dann ging sie wieder in die Küche und setzte Teewasser auf, wobei sie es vermied, das Bild von Frank anzuschauen, der ihr zusah und sagte: Ich habe es dir gesagt. So pflegt das zu geschehen. Maya kam mit den Teetassen ins Wohnzimmer und sah, wie ihre Hände zitterten, daß ihr die heiße Flüssigkeit über die Finger floß. Michels Gesicht war blaß und verschwitzt, und er hörte überhaupt nichts von dem, was Marina sagte. Natürlich — wenn Hirokos Gruppe dort gewesen war, hatten sie seine ganze Familie erwischt, entweder gefangen oder getötet.
Maya verteilte die Teetassen; und als Spencer hereinkam und man ihm die Geschichte erzählt hatte, nahm Maya ein Kleid und legte es Michel über die Schultern und schämte sich sehr für den jämmerlichen Zeitpunkt ihrer Attacke gegen ihn. Sie setzte sich neben ihn, tätschelte seinen Schenkel und versuchte, ihm durch die Berührung mitzuteilen, daß sie da war, daß sie auch seine Familie war und daß alle ihre Spiele vorbei waren, soweit sie dazu imstande wäre. Ihn nicht mehr wie ein Schoßtier oder einen Sandsack zu behandeln…
Daß sie ihn liebte. Aber sein Schenkel war wie warme Keramik; und er bemerkte offenbar nicht die Berührung ihrer Hand und war sich kaum ihrer Anwesenheit bewußt. Sie kam auf den Gedanken, daß gerade in Momenten größter Not die Menschen am wenigsten füreinander tun konnten.
Sie stand auf und gab Spencer etwas Tee. Dabei vermied sie, das blasse Bild ihres Gesichts im Küchenfenster anzuschauen, das verkniffene harte Geierauge, das sie nie ertragen konnte. Man kann nie zurückschauen.
Im Moment konnte man nichts weiter tun als dazusitzen und die Nacht herumzubringen. Zu versuchen, die Nachricht zu verarbeiten und ihr zu widerstehen. So saßen sie nur da, redeten und hörten zu, wie Marina die Geschichte in immer größerem Detail erzählte. Sie tätigten auf den Verbindungen von Praxis Anrufe, um mehr herauszufinden. Sie waren schlapp und stumm in ihren eigenen Überlegungen, jeder in seinem einsamen Universum gefangen. Die Minuten vergingen wie Stunden und die Stunden wie Jahre. Es war die höllisch verschlungene Raumzeit der gänzlichen Nachtwache, das älteste der menschlichen Rituale, wenn Menschen ohne Erfolg einer blinden Katastrophe Sinn abzugewinnen suchen.
Als endlich die Dämmerung kam, war der Himmel bedeckt und die Kuppel mit Regentropfen besprüht. Einige qualvoll langsame Stunden später begann der Prozeß, mit allen Gruppen in Odessa Verbindung aufzunehmen. Im Laufe dieses und des nächsten Tages verbreitete sich die Nachricht, die von Mangalavid und den anderen Nachrichtendiensten unterdrückt worden war. Aber allen war klar, daß etwas geschehen war wegen des plötzlichen Fehlens von Sabishii bei den gewöhnlichen Gesprächen, sogar in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse. Gerüchte flogen hin und her und gewannen an Schwung mangels verläßlicher Nachrichten. Sie reichten von Sabishiis Unabhängigkeit bis zu seiner Ausradierung. Aber in den angespannten Versammlungen der folgenden Woche berichteten Maya und Spencer jedem, was Marina gesagt hatte; und dann verbrachten sie die anschließenden Stunden mit Beratungen, was man machen könnte. Maya tat ihr Bestes, um die Leute zu überreden, sich nicht zu Aktionen drängen zu lassen, ehe sie bereit wären. Aber das war ein mühsames Unterfangen. Die Leute waren wütend und erschreckt, und es gab in dieser Woche viele Vorfälle in der Stadt und Umgebung von Hellas und auf dem ganzen Mars — Demonstrationen, kleinere Sabotagen, Angriffe auf Stellungen und Personal des Sicherheitsdienstes, Ausfälle großer Computer, Verlangsamungen bei der Arbeit. »Wir müssen ihnen zeigen, daß wir uns so etwas nicht gefallen lassen können!« sagte Jackie im Netz. Sie schien überall gleichzeitig zu sein. Selbst Art stimmte ihr zu: »Ich denke, zivile Proteste durch die allgemeine Bevölkerung, soviel wir nur aufbringen können, könnte sie bremsen. Könnte bewirken, daß diese Schufte es sich zweimal überlegen, ehe sie wieder so etwas tun.«
Nichtsdestoweniger stabilisierte sich die Lage nach einiger Zeit. Sabishii kehrte ins Netz und zu Bahnfahrplänen zurück, und das Leben fing dort wieder an, obwohl es nicht mehr dasselbe war wie zuvor, da eine große Polizeimacht als Besatzung dablieb, welche die Tore und den Bahnhof überwachte und sich bemühte, alle Hohlräume im Labyrinth der Halde aufzufinden. Während dieser Zeit führte Maya eine Reihe langer Gespräche mit Nadia, die in South Fossa arbeitete, und mit Nirgal und Art und sogar mit Ann, die von einem ihrer Verstecke in Aureum Chaos anrief. Sie waren sich alle einig, daß sie sich, ganz gleich, was in Sabishii geschehen wäre, im Moment jedes Versuchs einer allgemeinen Erhebung enthalten müßten. Sogar Sax rief bei Spencer an, um zu sagen, daß er ›Zeit brauchen Was Maya tröstlich fand, da es ihre Überzeugung stützte, daß die Zeit noch nicht gekommen war. Daß man sie provozieren würde in der Hoffnung, vorzeitig eine Revolte zu versuchen. Ann, Kasei, Jackie und die anderen Radikalen — Harmakhis, Antar, sogar Zeyk — waren über das Warten unglücklich und pessimistisch hinsichtlich seines Sinnes. Maya sagte ihnen: »Ihr versteht nicht. Da draußen wächst eine ganze neue Welt heran, und je länger wir warten, desto stärker wird sie. Haltet nur durch!«
Dann bekamen sie etwa einen Monat nach der Schließung von Sabishii auf ihren Armbandgeräten eine kurze Mitteilung von Cojote — einen kurzen Ausschnitt mit seinem schiefen Gesicht, das ungewöhnlich ernst aussah, wonach er durch das Labyrinth geheimer Tunnels in der Moholehalde entkommen wäre und sich jetzt in einem seiner Verstecke befände. »Was ist mit Hiroko?« fragte Michel sofort. »Was ist mit Hiroko und den übrigen?«
Aber Cojote war schon weg.
»Ich glaube nicht, daß sie Hiroko geschnappt haben«, sagte Michel sofort. Er ging im Zimmer herum, ohne zu merken, daß er sich bewegte. »Weder Hiroko noch sonst jemand von ihnen! Wenn man sie gefangen hätte, so hätte die Übergangsbehörde das bestimmt verkündet. Ich wette, daß Hiroko die Gruppe wieder in den Untergrund geführt hat. Sie waren seit Dorsa Brevia nicht mit den Dingen zufrieden, sie sind eben nicht gut bei Kompromissen. Darum sind sie als erste abgehauen. Alles, was seither geschehen ist, hat nur ihre Ansicht bestärkt, daß sie uns nicht zutrauen können, die Welt zu erbauen, die sie anstreben. Also haben sie diese Chance genutzt, wieder zu verschwinden. Vielleicht hat sie der Überfall auf Sabishii gezwungen, dies zu tun, ohne uns zu benachrichtigen.«
»Vielleicht«, sagte Maya und bemühte sich glaubhaft zu klingen. Das klang wie eine Ablehnung seitens Michels. Aber wenn es ihm half — wen kümmerte das? Und Hiroko war zu allem fähig. Maya mußte aber ihre Antwort plausibel und Maya-ähnlich machen, sonst würde er merken, daß sie ihn nur beruhigte. »Aber wohin würden sie gehen?«
»Zurück ins Chaos, möchte ich annehmen. Viele der alten Zufluchtsstätten gibt es noch.«
»Aber was ist mit dir?«
»Sie werden es mich wissen lassen.«
Er dachte darüber nach und sah sie an. »Oder vielleicht denken sie, daß du jetzt meine Familie bist.«
So hatte er in jener ersten schrecklichen Stunde ihre Hand doch gespürt. Aber er schenkte ihr ein so trauriges schiefes Lächeln, daß sie zusammenzuckte und versuchte, ihn mit einer Umarmung an sich zu drücken, ihm richtig eine Rippe zu brechen, um ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn liebte und wie wenig sie eine so traurige Miene liebte. »Damit haben sie recht«, sagte sie grob. »Aber sie müßten auf jeden Fall mit dir Kontakt aufnehmen.«
»Das werden sie. Dessen bin ich mir sicher.«
Maya hatte keine Ahnung, was1 sie von dieser Theorie Michels halten sollte. Cojote war also wirklich durch das Labyrinth in der Halde entkommen und dürfte so vielen seiner Freunde geholfen haben, wie er konnte. Und Hiroko würde wahrscheinlich als erste auf dieser Liste stehen. Sie würde Cojote deshalb sicher das nächste Mal, wenn sie ihn traf, die Hölle heiß machen. Aber er hatte ihr vorher nichts erzählt. Tot, gefangen oder im Versteck, ganz gleich was — es war ein grausamer Schlag gegen die Sache, da Hiroko das natürliche Zentrum für einen so großen Teil des Widerstandes war.
Aber sie war so eigenartig gewesen. Maya war, größtenteils unbewußt und ungewollt, nicht völlig unglücklich darüber, daß Hiroko von der Bildfläche verschwunden war, wie auch immer es dazu gekommen sein mochte. Maya war nie imstande gewesen, mit Hiroko zu kommunizieren und sie zu verstehen. Obwohl sie sie geliebt hatte, machte es sie nervös, daß eine so starke unberechenbare Kraft umherzog und die Lage kompliziert machte.
Und es war beunruhigend gewesen, daß es unter den Frauen eine andere große Kraft gab, auf die sie absolut keinen Einfluß hatte. Natürlich wäre es schlimm, wenn ihre ganze Gruppe gefangen genommen oder, noch schlimmer, getötet worden wäre. Wenn sie sich aber entschlossen hatten, wieder zu verschwinden, war das gar keine so schlechte Sache. Es würde die Dinge vereinfachen zu einer Zeit, da sie verzweifelt um Vereinfachung bemüht waren, und würde Maya mehr potentielle Kontrolle über die kommenden Ereignisse geben.
Also hoffte sie von ganzem Herzen, daß Michels Theorie stimmen möge, und nickte ihm zu und tat so, als ob sie auf eine reservierte realistische Weise seiner Analyse zustimmen würde. Und dann ging sie fort zur nächsten Versammlung, um wieder einmal eine Kommune wütender Eingeborener zu beruhigen. Es vergingen Wochen und dann Monate. Es schien so, als hätten sie die Krise überlebt. Aber auf der Erde wurde die Lage immer noch schlimmer; und Sabishii, ihre Universitätsstadt, das Juwel der Demimonde, stand unter einer Art Kiegsrecht. Und Hiroko war verschwunden. Hiroko, die ihr Herz war. Selbst Maya, die sich zunächst in gewisser Weise gefreut hatte, sie los zu sein, fühlte sich durch ihre Abwesenheit immer mehr bedrückt. Die Konzeption des Freien Mars war schließlich doch ein Teil der Areophanie gewesen — und sollte auf bloße Politik, auf das Überleben der Tüchtigsten reduziert werden …
Der Geist schien aus den Dingen gewichen zu sein. Und während der Winter verging und die Nachrichten von der Erde von eskalierenden Konflikten berichteten, stellte Maya fest, daß die Leute immer verzweifelter nach Zerstreuung strebten. Die Parties wurden lauter und wilder, die Corniche war eine nächtliche Orgie, und an besonderen Abenden wie Fastnacht oder Neujahr war sie mit allen Einwohnern der Stadt vollgestopft, die mit wilder Fröhlichkeit tanzten, tranken und sangen, unter den kleinen roten Mottos, die auf jede Wand gepinselt waren: ES FÜHRT KEIN WEG ZURÜCK! — FREIER MARS. Aber wie nur? Wie?
Das Neujahr war in diesem Winter besonders wild. Es war M-Jahr 50; und die Leute feierten den großen Jahrestag stilvoll. Maya ging mit Michel die Corniche auf und ab und sah hinter ihrem Domino neugierig zu, wie die Reihen der Tanzenden in Wellen vorbeizogen. Sie schaute auf alle die langen jungen tanzenden Leiber, die Gesichter maskiert, aber zumeist bis zur Taille nackt wie aus einem alten indischen Bild. Brüste und Glieder graziös hüpfend zu dem neuen Calypso dröhnender Stahltrommeln … Oh, es war wunderbar! Und diese jungen Fremden waren unwissend, aber schön. Wie schön! Und diese Stadt, die über der trockenen Wasserfront stand, hatte sie geholfen zu erschaffen … Sie fühlte sich hineingezogen, vorbei am Äquinoktium und in den strahlenden Ansturm auf Euphorie. Vielleicht war es nur ein Vorfall in ihrer Biochemie, wahrscheinlich ausgelöst durch die trübe Lage der zwei Welten, entre chien et loup, aber jedenfalls war es da, und sie fühlte es in ihrem Körper. Also zog sie Michel in eine Tanzreihe und tanzte immer weiter, bis sie vor Schweiß glänzte. Es war ein großartiges Gefühl.
Sie saßen eine Weile in ihrem Cafe beisammen. Das stellte sich geradezu als ein Treffen der Ersten Neununddreißig heraus. Sie, Michel und Spencer, Vlad, Ursula und Marina und Yela Zukov und Mary Dunkel, die einem Monat nach der Schließung aus Sabishii entkommen waren. Ferner Mikhail Yangel von Dorsa Brevia und Nadia, die von South Fossa herunter gekommen war. Sie waren ihrer zehn. »Eine dezimierte Anzahl«, wie Mikhail bemerkte. Sie bestellten eine Flasche Wodka nach der anderen, als ob sie die Erinnerung an die anderen neunzig ertränken könnten, einschließlich ihrer armen Farmgruppe, die bestenfalls wieder verschwunden, schlimmstenfalls aber ermordet worden war. Die Russen unter ihnen, die in dieser Nacht erstaunlich in der Mehrheit waren, begannen alle die alten heimatlichen Toasts auszubringen: Auf unsere Gesundheit! Laßt uns einen hinter die Binde gießen! Laßt uns saufen, bis uns die Augen übergehen! Laßt uns saufen, bis der Nabel glänzt! Laßt uns alles auslecken bis zum letzten Tropfen! Und so weiter und so weiter, bis Michel, Mary und Spencer erstaunte und entsetzte Gesichter machten. Mikhail sagte ihnen, das wäre wie mit Eskimos und Schnee.
Und dann gingen sie wieder hinaus, um zu tanzen. Die zehn bildeten eine eigene Reihe und schlängelten sich riskant durch die jungen Leute. Fünfzig lange Marsjahre; und sie lebten noch und tanzten noch! Das war ein Wunder!
Aber wie immer bei der nur zu sicher fälligen Schwankung von Mayas Launen kam am Gipfel der tote Punkt, der plötzliche Absturz. An diesem Abend war es, als sie hinter den anderen Masken die vom Rausch getrübten Augen bemerkte und sah, wie alle dabei waren, sich davonzumachen, und ihr Bestes taten, um sich in ihre private Welt zu flüchten, wo sie mit niemandem mehr Verbindung haben würden als mit dem/der Geliebten dieser Nacht. Und da gab es keine Unterschiede. »Laß uns nach Hause gehen!« sagte sie zu Michel, der noch im Takt der Musik vor ihr herumhüpfte und sich am Anblick all der jungen schlanken Leute von Mars erfreute. »Ich halte das nicht länger aus.«
Er wollte aber bleiben und auch die anderen. Darum ging sie schließlich allein heim, durch das Tor, den Garten und die Treppe hinauf in ihr Apartment. Hinter ihr ertönte laut der Lärm der Feier.
Und da an dem Schrank über der Spüle lächelte der junge Frank über ihren Kummer. Natürlich nimmt es diesen Verlauf, sagte der scharfe Blick des jungen Mannes. Auch ich kenne diese Geschichte und habe sie auf dem harten Weg gelernt. Geburtstage, Hochzeiten, glückliche Momente — sie verfliegen. Sie sind dahingegangen. Sie hatten nie etwas zu bedeuten. Das knappe, stechende und entschlossene Lächeln, und die Augen… Es war, als blickte man in die Fenster eines leeren Hauses. Mary stieß eine Kaffeetasse von der Anrichte. Sie zerbrach auf dem Fußboden. Der Griff drehte sich, und sie schrie laut auf, sank zu Boden, klammerte die Arme um die Knie und weinte.
Im neuen Jahr kamen dann Meldungen über verstärkte Sicherheitsmaßnahmen in Odessa selbst. Es schien, daß die UNTA die Lektion von Sabishii gelernt hatte und sich anschickte, die anderen Städte vorsichtiger anzugehen. Neue Pässe, Sicherheitskontrollen an jedem Tor und jeder Garage, beschränkter Zugang zu den Zügen. Man raunte, daß sie besonders auf die Ersten Hundert Jagd machten und sie beschuldigten, die Übergangsbehörde stürzen zu wollen.
Nichtsdestoweniger wollte Maya, daß die Versammlungen für den Freien Mars weitergingen, und Spencer war immer noch bereit, sie mitzunehmen. »So lange wir können«, sagte sie. Und so gingen sie eines Nachts zusammen die langen Steintreppen der oberen Stadt hinauf. Michel war bei ihnen zum ersten Mal seit dem Angriff auf Sabishii; und Maya schien es, daß er sich recht gut von dem Schock der Nachricht erholte, von jener schrecklichen Nacht, in der Marina an die Tür geklopft hatte.
Aber bei diesem Meeting kamen noch Jackie Boone und der Rest ihrer Gruppe hinzu, sowie Antar und Leute aus Zygote, die mit dem um Hellas herum fahrenden Zug eingetroffen waren auf der Flucht vor den UNTA-Truppen im Süden und sehr wütend nach dem Angriff auf Sabishii, kriegerischer denn je. Das Verschwinden von Hiroko und ihrer inneren Gruppe hatte die Ektogenen zum Äußersten getrieben. Hiroko war doch für viele von ihnen die Mutter; und sie alle schienen sich einig zu sein, daß die Zeit gekommen wäre, aus der Deckung herauszugehen und eine Rebellion großen Stils zu veranstalten. Jackie sagte der Versammlung, es sei keine Zeit mehr zu verlieren, wenn sie die Leute von Sabishii und die versteckten Kolonisten retten wollten.
»Ich glaube nicht, daß sie Hirokos Leute erwischt haben«, sagte Michel. »Ich denke, sie sind mit Cojote in den Untergrund gegangen.«
»Das wünschst du dir«, sagte Jackie zu ihm; und Maya fühlte, wie sich ihre Oberlippe zusammenzog.
»Sie hätten uns ein Zeichen gegeben, wenn sie ernstlich in Schwierigkeiten stecken würden«, erwiderte Michel.
Jackie schüttelte den Kopf. »Sie würden nicht wieder ins Versteck gehen, jetzt, da die Lage kritisch zu werden beginnt.« Harmakhis und Rachel nickten. »Und außerdem, was ist mit den Sabishiianern und dem Gefängnis von Sheffield? Und auch hier wird es passieren. Nein, die Übergangsbehörde ergreift überall die Macht. Wir müssen jetzt handeln!«
Jackie machte bloß ein ärgerliches Gesicht, als ob Michel ein Narr wäre, ein schwacher optimistischer verängstigter Idiot. Mayas Puls machte einen Sprung, und sie merkte, daß sie mit den Zähnen knirschte.
»Wir können jetzt nicht handeln! Wir sind nicht bereit«, sagte sie scharf.
Jackie blitzte sie an. »Wenn es nach dir ginge, wären wir nie bereit! Wir würden warten, bis sie den ganzen Planeten dicht gemacht haben, und wären dann nicht imstande, irgend etwas zu tun, selbst wenn wir es wollten. Genau so hättest du es gern, dessen bin ich sicher.«
Maya schoß aus ihrem Sitz hoch. »Es gibt kein ›sie‹ mehr. Es gibt vier oder fünf Metanationale, die um den Mars kämpfen, genau so, wie sie um die Erde kämpfen. Wenn wir uns mitten darin erheben, werden wir im Kreuzfeuer einfach niedergeschossen. Wir müssen unseren Augenblick wählen; und das muß geschehen, wenn sie einander verletzt haben und wir eine echte Chance auf Erfolg haben. Sonst wird man uns erdrücken; und es ist genau wie einundsechzig. Es gibt nur wildes Getümmel und Chaos und Tote!«
Jackie schrie: »Einundsechzig, das ist bei dir immer dasselbe. Die perfekte Ausrede für Nichtstun! Sabishii und Sheffield sind stillgelegt, und Burroughs ist geschlossen, und Hiranyagarbha und Odessa werden als nächste drankommen, und der Aufzug schafft jeden Tag noch mehr Polizei herunter, und sie haben Hunderte von Menschen getötet oder eingesperrt wie meine Großmutter, die die wahre Führerin von uns allen ist. Und du redest nur über einundsechzig! Einundsechzig hat dich zum Feigling gemacht!«
Maya holte aus und schlug sie heftig ins Gesicht. Jackie sprang sie an, so daß Maya gegen die Tischkante fiel und ihr die Luft aus der Lunge gepreßt wurde. Trotzdem gelang es ihr, ein Handgelenk von Jackie zu packen, und sie biß in den angespannten Unterarm so fest sie konnte in der ernsten Absicht, ihr eine Verletzung beizubringen. Dann zerrte man sie auseinander und hielt sie fest. Der Raum tobte, alle brüllten einschließlich Jackie, die schrie: »Weibsbild! Verfluchtes Weibsbild! Mörderin!« Und Maya hörte auch aus ihrer Kehle zwischen Atempausen Worte kommen wie: »Blöde Schlampe, du blöde kleine Schlampe!« Die Leute hielten ihr und auch Jackie die Hände vor den Mund und zischten: »Pst, pst! Still! Sie werden uns hören, sie werden uns melden. Die Polizei wird kommen!«
Endlich nahm Michel seine Hand von Mayas Mund, und sie fauchte ein letztes Mal: »Blöde kleine Schlampe!« Dann setzte sie sich wieder hin und sah sie alle mit einem scharfen Blick an, der traf und mindestens die Hälfte von ihnen zur Ruhe brachte. Jackie wurde freigelassen und fing an, leise zu fluchen. Maya fuhr so wild dazwischen: »Halt’s Maul!«, daß Michel wieder zwischen sie trat. Flüsternd krächzte Maya: »Alle deine Boys am Schwanz herumziehen und sich einbilden, eine Führerin zu sein, und das ohne einen einzigen Gedanken in deinem leeren Kopf …«
»Das höre ich mir nicht an!« schrie Jackie, und alle machten: »Psst!«, und sie rannte in den Gang hinaus. Das war ein Fehler, ein Rückzug; und Maya stand wieder auf und benutzte die Zeit, um die anderen mit aufreibendem Flüstern wegen ihrer Dummheit zu beschimpfen. Und dann, als sie ihr Temperament ein wenig im Griff hatte, plädierte sie dafür, Zeit zu gewinnen. Die quälende Schärfe ihrer Wut lag knapp unter der Oberfläche einer rationalen Bitte um Geduld, Zielstrebigkeit und Beherrschung — ein Argument, das keiner Antwort bedurfte. Während dieser ganzen Beschwörung starrten sie natürlich alle im Raum an, als wäre sie eine blutige Gladiatorin, wirklich die Schwarze Witwe. Und da ihr die Zähne weh taten, weil sie sie in Jackies Arm geschlagen hatte, konnte sie kaum den Anspruch erheben, das perfekte Muster einer intelligenten Diskussionsteilnehmerin zu sein. Sie fühlte, ihr Mund müsse geschwollen sein, so sehr pochte er; und sie kämpfte gegen ein zunehmendes Gefühl von Erniedrigung an und machte weiter, kühl, leidenschaftlich und anmaßend. Das Meeting endete mit einer trüben und größtenteils nicht ausgesprochenen Übereinkunft, jeden Massenaufstand zu verschieben und weiterhin unten zu bleiben.
Als nächstes erinnerte sie sich, auf einen Sitz in der Straßenbahn geplumpst zu sein zwischen Michel und Spencer und versucht zu haben, nicht zu weinen. Sie würden Jackie und den Rest ihrer Gruppe aufnehmen müssen, solange sie in Odessa waren. Schließlich war ihr Haus ja sicher. Es war also eine Situation, in der sie nicht entkommen konnte. Inzwischen würden Polizeibeamte vor der Versorgungsfabrik und den Büros der Stadt stehen und die Handgelenke kontrollieren, ehe sie Leute einließen. Wenn sie nicht wieder zur Arbeit ginge, könnte man sehr wohl versuchen, ihr nachzuspüren und nach dem Grund zu fragen; wenn sie aber zur Arbeit ginge und kontrolliert würde, war es nicht sicher, ob ihre Identifikation auf dem Handgelenk und ihr Schweizer Paß ausreichen würden, daß man sie passieren lassen würde. Es gab Gerüchte, daß die nach ’61 erfolgte Balkanisierung von Information allmählich auf größere integrierte Systeme zurückgeführt würde, die einige Vorkriegsdaten bewahrt hatten. Darum die Forderung neuer Pässe. Und falls sie in eines dieser Systeme geriete, wäre sie geliefert. Man würde sie nach den Asteroiden oder Kasei Vallis verfrachten, foltern und ihren Geist zerstören wie bei Sax. »Vielleicht ist es an der Zeit«, sagte sie zu Michel und Spencer. »Wenn sie alle Städte und Strecken blockieren, was haben wir da für eine Wahl?«
Sie antworteten nicht. Sie wußten ebenso wenig, was zu tun wäre, wie sie selbst. Plötzlich schien das ganze Unabhängigkeitsprojekt wieder ein Phantasiegebilde zu sein, ein Traum, der jetzt genauso unmöglich war wie damals, als Arkady dafür eingetreten war. Arkady, der so fröhlich gewesen war und so sehr im Unrecht. Sie würden nie von der Erde frei sein — nie. Sie waren da hilflos.
»Ich möchte erst mit Sax sprechen«, sagte Spencer.
»Und Cojote«, sagte Michel. »Ich muß ihn noch nach mehr von dem fragen, was in Sabishii geschehen ist.«
»Und Nadia«, sagte Maya beklommen. Nadia hätte sich für sie geschämt, wenn sie sie bei dieser Versammlung gesehen hätte. Und das tat weh. Sie brauchte Nadia, die einzige Person auf dem Mars, deren Urteil sie noch vertraute.
Als sie die Straßenbahnen wechselten, beklagte sich Spencer Michel gegenüber: »Mit der Atmosphäre ist etwas Merkwürdiges im Gange. Ich will hören, was Sax dazu zu sagen hat. Die Sauerstoffwerte steigen schneller, als ich erwartet hätte, besonders auf Nord- Tharsis. Es ist so, als wäre ein wirklich erfolgreiches Bakterium ohne jede selbstmöderischen Gene eingeschleust worden. Sax hat sein altes Team von Echus Overlook praktisch wieder beisammen, alle noch am Leben, und sie haben in Acheron und Da Vinci an Projekten gearbeitet, über die sie uns nichts erzählen. Das ist wie damals bei diesen verdammten Windmühlenheizern. Darum will ich mit ihm sprechen. Wir müssen uns dabei zusammentun, sonst… «
»Sonst einundsechzig«, betonte Maya.
»Ich weiß, ich weiß. Du hast damit recht, Maya. Das heißt, ich stimme zu. Ich hoffe, daß das auch für hinreichend viele des Restes von uns gilt.«
»Wir werden mehr tun müssen als bloß hoffen.«
Das bedeutete, sie würde hinausgehen und es selbst machen. Völlig in den Untergrund gehen, von Stadt zu Stadt reisen, von Unterschlupf zu Unterschlupf, wie Nirgal es schon seit Jahren tat, ohne einen Job oder ein Heim, mit so vielen revolutionären Zellen zusammenkommen, wie sie konnte, und versuchen, sie bei der Stange zu halten. Oder sie mindestens davon abhalten, daß sie es zu früh täten. Arbeit am Hellasprojekt würde nicht mehr möglich sein.
Somit war also dieses Leben vorbei. Sie stieg aus der Straßenbahn und blickte kurz über den Park zur Corniche, machte dann kehrt und ging durch das Tor und den Garten, die Treppe hinauf und über den vertrauten Korridor. Sie fühlte sich schwer und alt und äußerst erschöpft. Sie steckte den richtigen Schlüssel ins Schloß., ohne nachzudenken, ging in das Apartment und sah ihre Sachen an, Michels Haufen von Büchern, den Kandinsky-Druck über der Couch, Spencers Zeichnungen, den abgenutzten Kaffeetisch, den abgenutzten Eßtisch mit den Stühlen, die Kochecke, wo alles an seinem Platz war einschließlich des kleinen Gesichtes am Schrank über der Spüle. Vor wie vielen Lebenszeiten hatte sie dieses Gesicht kennengelernt? Alle diese Möbelstücke würden ihrer Wege gehen. Sie stand mitten im Zimmer, aufgebraucht und vereinsamt, bekümmert wegen dieser Jahre, die fast unmerklich verstrichen waren, fast eine Dekade produktiver Arbeit, voll echten Lebens, die jetzt dieser letzte Sturm der Geschichte wegblasen würde in einem Paroxysmus, den sie jetzt versuchen müßte zu lenken oder mindestens zu überdauern. Sie müßte ihr Bestes tun, um ihn in die Wege zu lenken, die ihnen erlauben würden zu überleben. Verdammt sei die Welt, verdammt ihre Zudringlichkeit, ihre gedankenlose Last, ihr unerbittlicher Lauf durch die Gegenwart, der Leben zerstörte, wie es so kam… Sie hatte dieses Apartment, diese Stadt und dieses Leben gern gehabt, mit Michel, Spencer, Diana und allen ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen, allen ihren Gewohnheiten, ihrer Musik und ihren kleinen täglichen Freuden.
Sie schaute traurig Michel an, der in der Tür hinter ihr stand und umherblickte, als ob er den Platz seiner Erinnerung einprägen wollte. Ein gallisches Achselzucken. Er sagte: »Nostalgie im Anrücken« und versuchte zu lächeln. Auch er hatte dieses Gefühl. Er verstand, es war diesmal nicht einfach ihre Stimmung, sondern die Realität selbst.
Sie machte eine Anstrengung und lächelte zurück, ging hin und faßte seine Hand. Unten im Treppenhaus war ein Gepolter zu hören, als die Zygotegruppe heraufkam. Sie konnten in Spencers Apartment bleiben, diese Kerle. »Wenn es gelingt, werden wir eines Tages zurückkommen«, sagte Maya.
Sie gingen im frischen Morgenlicht zum Bahnhof hinunter, vorbei an all den Cafes, bei denen noch die Stühle auf den feuchten Tischen standen. Am Bahnhof riskierten sie ihre alten Personalausweise und bekamen ohne Schwierigkeiten Tickets. Sie nahmen einen entgegen dem Uhrzeigersinn fahrenden Zug nach Montepulciano, legten gemietete Schutzanzüge und Helme an und gingen aus dem Zelt hinaus bergab und verschwanden von der Karte der Oberflächenwelt in einer steilen Schlucht der Vorberge. Dort wartete Cojote auf sie in einem Felsenwagen und fuhr sie mitten durch Hellespontus ein sich verzweigendes Netz von Tälern hinauf über einen Paß nach dem anderen in dieser chaotischen Bergkette, die genau so wild war, wie vom Himmel fallendes Gestein erwarten ließ, ein alptraumhaftes Labyrinth, bis sie auf der Höhe des westlichen Hanges waren, am Rabe-Krater vorbei und auf den von Kratern umgebenen Bergen des Noachis-Gebirges. Und so waren sie wieder außerhalb des Netzes und reisten so, wie Maya es noch nie getan hatte.
Cojote half ihnen sehr beim ersten Teil dieser Unternehmung. Maya hatte den Eindruck, daß er nicht mehr derselbe war — bedrückt und sogar besorgt durch die Eroberung von Sabishii. Er wollte ihre Fragen nach Hiroko und den versteckten Kolonisten nicht beantworten. Er sagte so oft »Ich weiß es nicht«, daß sie anfing, ihm zu glauben, besonders als sich sein Gesicht endlich in einen erkennbaren menschlichen Ausdruck von Kummer verwandelt hatte. Die berühmte unerschütterliche Unbekümmertheit war verschwunden. »Ich weiß wirklich nicht, ob sie herausgekommen sind oder nicht. Ich war schon draußen in dem Labyrinth der Halde, als der Angriff begann; und ich bin so schnell wie möglich in einem Wagen hinausgekommen. Doch aus diesem Ausgang ist sonst niemand gekommen. Aber ich war auf der Nordseite, und sie könnten nach Süden hinausgegangen sein. Auch sie befanden sich in dem Haldenlabyrinth, und Hiroko hat Notschutzräume genau wie ich. Aber ich weiß es einfach nicht.«
»Dann wollen wir losgehen und sehen, ob wir es herausfinden können«, sagte Maya.
Also fuhr er sie nach Norden zu einem Punkt unter der Strecke von Sheffield nach Burroughs durch einen langen Tunnel, der gerade etwas breiter war als sein Wagen. Die Nacht verbrachten sie in diesem schwarzen Loch, ergänzten ihre Vorräte aus eingelassenen Geheimkammern und schliefen den unbehaglichen Schlaf von Höhlenforschern. In der Nähe von Sabishii fuhren sie in einen anderen verborgenen Tunnel hinunter und legten einige Kilometer zurück, bis sie in eine kleine Garagenhöhle gelangten. Die war ein Teil des Haldenlabyrinths der Leute von Sabishii, und die klotzigen Steinhöhlen dahinter waren wie neolithische Ganggräber. Sie wurden durch Neonlampen beleuchtet und von Vulkanschloten erwärmt.
Sie wurden dort von Nanao Nakayama begrüßt, einem Issei, der so fröhlich wie immer schien. Sabishii war mehr oder weniger zu ihnen zurückgekehrt; und obwohl sich UNTA-Polizei in der Stadt und besonders an den Toren und dem Bahnhof befand, hatte sie immer noch keine Ahnung von dem vollen Umfang der Haldenkomplexe und war daher nicht imstande, die Bemühungen Sabishiis, dem Untergrund zu helfen, völlig zu verhindern. Sabishii war, wie er es ausdrückte, nicht mehr eine offene Demimonde; aber sie waren noch aktiv.
Indessen wußte auch er nicht, wie es Hiroko ergangen war. Er sagte: »Wir haben nicht gesehen, daß die Polizei irgendwelche von ihnen abgeführt hat. Aber wir haben Hiroko und ihre Gruppe auch nicht hier unten gefunden, nachdem sich die Lage beruhigt hatte. Wir wissen nicht, wohin sie gegangen sind.« Er zupfte an seinem Türkisohrring, offensichtlich verwirrt. »Ich denke, die haben sich wohl zu eigenen Plätzen begeben. Hiroko war immer darauf bedacht, überall, wohin sie kam, ein Schlupfloch anzulegen. Das hat Iwao mir einmal erzählt, als wir am Ententeich eine Menge Sake getrunken haben. Und mir scheint, daß das Verschwinden eine Gewohnheit Hirokos ist, aber nicht eine der Übergangsbehörde. Wir können also vermuten, daß sie sich dazu entschlossen hat. Aber jetzt wollt ihr sicher ein Bad nehmen und etwas zu essen haben. Und dann könnt ihr mit einigen Sansei und Yonsei sprechen, die mit uns ins Versteck gegangen sind. Das würde ihnen guttun.«
So blieben sie über eine Woche im Labyrinth, und Maya kam mit verschiedenen Gruppen der kürzlich Verschwundenen zusammen. Sie verbrachte die meiste Zeit damit, sie zu ermutigen und ihnen zu versichern, daß sie recht bald wieder auf die Oberfläche und sogar nach Sabishii würden hinauskommen können. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden schärfer, aber die Netze waren leicht zu durchdringen und die alternative Ökonomie zu ausgedehnt, um eine totale Kontrolle zu ermöglichen. Die Schweiz würde ihnen neue Pässe geben, Praxis würde ihnen Arbeit beschaffen, und sie würden wieder im Geschäft sein. Es war aber wichtig, daß sie ihre Anstrengungen koordinierten und der Versuchung widerständen, zu früh loszuschlagen.
Nanao sagte Maya nach einem solchen Treffen, daß Nadia in South Fossa ähnliche Appelle äußerte und daß das Team von Sax sie um mehr Zeit bäte.
Es gab also einige Übereinstimmung hinsichtlich der Politik, zumindest unter den Oldtimern. Es waren also die radikaleren Gruppen, die am schwierigsten von ihnen im Zaum zu halten waren; und hier hatte Cojote den größten Einfluß. Er wollte persönlich einige Flüchtlinge der Roten besuchen, und Maya und Michel kamen mit, um nach Burroughs zu gelangen.
Das Gebiet zwischen Sabishii und Burroughs war von Krateraufschlägen gesättigt, so daß sie sich bei Nacht zwischen runden Hügeln mit flachen Gipfeln hindurchwanden und bei der Dämmerung jedesmal in kleinen Schutzräumen an den Rändern anhielten, die gedrängt voller Roter waren, die sich Maya und Michel gegenüber nicht besonders gastfreundlich zeigten. Aber sie hörten Cojote sehr aufmerksam zu und tauschten mit ihm Nachrichten aus über Dutzende von Orten, von denen Maya nie gehört hatte. In der dritten derartigen Nacht kamen sie den steilen Hang der Großen Böschung hinunter durch einen Archipel von Mesa-Inseln und dann jäh auf die glatte Ebene von Isidis. Sie konnten weit über das Becken blicken bis dahin, wo ein Hügel wie der der Moholes von Sabishii quer über das Land verlief in einer großen Kurve vom Krater Du Martheray auf der Großen Böschung nach Nordwesten auf Syrtis zu. Das war der neue Deich, wie Cojote ihnen sagte, erbaut von einer Robotermannschaft aus dem Elysium- Mohole. Der Deich war wirklich massiv und sah aus wie einer der Basalt-Dorsa des Südens, nur verriet seine samtige Struktur, daß er aus aufgehäuftem Regolith bestand und nicht aus hartem vulkanischem Gestein.
Maya betrachtete die lange Bodenwelle. Die sich überstürzenden Konsequenzen ihrer Aktionen schienen irgendwie außer Kontrolle geraten zu sein.
Sie konnten versuchen, Bollwerke zu errichten, um sie zusammenzuhalten. Aber würden diese Dämme halten?
Dann waren sie wieder in Burroughs, hineingelangt durch das südöstliche Tor mit ihren Schweizer Ausweisen und sicher in einem Haus, das von Bogdanovisten aus Vishniac betrieben wurde, die jetzt für Praxis arbeiteten. Das geschützte Haus war ein luftiges helles Apartment etwa halbwegs auf der nördlichen Mauer von Hunt Mesa mit einem Blick über das zentrale Tal bis zu Branch Mesa und Double Decker Butte. Das Apartment darüber war ein Tanzstudio, und viele Stunden des Tages lebten sie mit einem schwachen bum — bum-bum — bum — bum-bum. Direkt über dem Horizont markierte eine unregelmäßige Wolke aus Staub und Dampf, wo die Roboter noch am Deich arbeiteten. Jeden Morgen schaute Maya nach dort hinaus und dachte über die Nachrichten von Mangalavid und die langen .Berichte von Praxis nach. Dann ging es an das Tagewerk, das völlig im Untergrund stattfand und sich oft auf Zusammenkünfte im Apartment beschränkte oder die Arbeit an Videonachrichten. Es war also durchaus nicht so ähnlich wie das Leben in Odessa, und es war schwer, irgendwelche Gewohnheiten zu entwickeln, was ihr eine ungute und düstere Stimmung bereitete.
Aber sie konnte immer noch durch die Straßen der großen Stadt gehen als eine anonyme Bürgerin wie tausend andere. Sie spazierte am Kanal entlang oder saß in Restaurants um den Princess Park oder auf einem der weniger beliebten Mesagipfel. Und wohin sie auch ging, sah sie die klaren roten Buchstaben ihrer Graffiti: FREIER MARS! Oder MACHT EUCH BEREIT! Oder, als ob sie eine Halluzination einer Warnung durch ihre eigene Seele hätte: ES FÜHRT KEIN WEG ZURÜCK. Diese Mitteilungen wurden, soweit sie sehen konnte, von der Bevölkerung ignoriert und oft durch Putzkolonnen entfernt; aber sie tauchten immer wieder in ihrem hellen Rot auf, gewöhnlich auf englisch, manchmal aber auch auf russisch, dessen altes Alphabet ihr wie ein lange verlorener Freund war, wie ein unterschwelliger Blitz aus dem kollektiven Unterbewußtsein der Leute, falls sie eines hatten. Und irgendwie verloren die Botschaften nie ihren kleinen elektrischen Schock. Es war erstaunlich, welch starke Effekte mit so einfachen Mitteln erzielt werden konnten. Man könnte die Menschen wohl zu allem veranlassen, wenn man lange genug davon sprach.
Ihre Begegnungen mit kleinen Zellen der verschiedenen Widerstandorganisationen verliefen gut, obwohl ihr immer klarer wurde, daß es darunter tiefe Unterschiede aller Art gab, besonders die Abneigung, welche die Roten und Leute von MarsErst gegen die Bogdanovisten und Frei-Mars-Gruppen hegten, die die Roten als Grüne und somit eine neue Manifestation des Gegners ansahen. Das konnte Ärger geben. Aber Maya tat, was sie konnte; und mindestens hörte ihr jeder zu, so daß sie glaubte, einigen Fortschritt zu erzielen. Und langsam erwärmte sie sich für Burroughs und ihr verborgenes Leben darin. Michel arrangierte für sie eine Routine mit den Schweizern und Praxis und mit den Bogdanovisten, die jetzt in der Stadt versteckt waren — eine sichere Routine, die ihr gestattete, recht häufig mit Gruppen zusammenzukommen, ohne jemals die Integrität der sicheren Häuser zu gefährden, die sie eingerichtet hatten. Und jedes Meeting schien ein wenig zu helfen. Das einzige unlösbare Problem war, daß so viele Gruppen nach sofortiger Revolution riefen — Rot oder Grün, sie neigten dazu, der radikalen Führung von Anns Roten im Hinterland zu folgen und den jungen Heißspornen um Jackie. Es gab immer mehr Fälle von Sabotage in den Städten, was eine entsprechende Verschärfung der polizeilichen Überwachung auslöste, bis es sehr möglich erschien, daß es bald voll losgehen würde. Maya begann sich als eine Art Bremse zu sehen, und es raubte ihr den Schlaf, wenn sie sich darüber Sorgen machte, wie wenig Leute diese Botschaft hören wollten. Andererseits war sie auch diejenige, welche die alten Bogdanovisten und andere Gruppen von Veteranen über die Macht der Eingeborenenbewegung in Kenntnis setzen mußte und sie aufzuheitern hatte, wenn sie deprimiert wurden. »Ann im Ödland und ihre Roten zerstören grimmig Stellungen. Das darf nicht geschehen!« sagte Maya ihnen immer und immer wieder, obwohl es kein Anzeichen gab, daß Ann diese Botschaft bekam.
Es gab aber auch ermutigende Anzeichen. Nadia war in South Fossa und baute dort eine starke Bewegung auf, die unter ihrem Einfluß zu stehen schien und eng verbunden war mit Nirgal und dessen Gruppe. Vlad, Ursula und Marina hatten ihre alten Labors in Acheron unter der Ägide der nominell leitenden Biotechfirma von Praxis wieder besetzt. Sie waren in ständiger Verbindung mit Sax, der mit seinem alten Terraformungsteam in einem Refugium im Krater Da Vinci war und von den Minoern in Dorsa Brevia unterstützt wurde. Die Besiedlung dieser großen Lavaröhre war viel weiter nach Norden ausgedehnt worden als während des Kongresses; und die meisten der neuen Segmente dienten als Zuflucht für die Flüchtlinge aus den weiter südlich gelegenen zerstörten oder aufgegebenen Zufluchtsstätten. Außerdem waren dort viele Fabriken eingerichtet worden. Maya sah Videos von Leuten, die in kleinen Wagen von einem überkuppelten Segment ins andere fuhren und unter dem klaren braunen Licht arbeiteten, das von den gefilterten Oberlichtern herunterstrahlte. Sie waren mit etwas beschäftigt, das man nur als Rüstungsproduktion bezeichnen konnte. Sie bauten getarnte Flugzeuge, getarnte Wagen, Boden-Orbit-Flugkörper, verstärkte Bunkerblocks (von denen einige schon in der Lavaröhre selbst installiert waren, falls sie je angegriffen würde) sowie Luft-Boden-Abwehrflugkörper, Antisatellitenwaffen, Handwaffen und, wie die Minoer Maya verraten hatten, eine Vielfalt ökologischer Waffen, die Sax selbst entwarf.
Arbeiten dieser Art und die Zerstörung der Zufluchtsstätten im Süden hatten etwas geschaffen, das von weitem wie eine Art Kriegsfieber in Dorsa Brevia aussah; und auch das machte Maya Sorgen. Sax, der mittendrin steckte, war eine sture, brillante, hirngeschädigte, entsicherte Kanone, ein gutgläubiger wahnsinniger Wissenschaftler. Er hatte niemals direkt mit ihr gesprochen; und seine Schläge gegen die Luftlinse und Deimos, obwohl sehr wirksam, hatten nach ihrer Ansicht die Verstärkung der Angriffe von UNTA gegen den Süden verursacht. Maya schickte ständig Botschaften, die zu Zurückhaltung und Geduld mahnten, bis Ariadne ärgerlich antwortete: »Maya, das wissen wir. Wir arbeiten hier mit Sax und wissen, was wir vorhaben; und was du sagst, ist entweder selbstverständlich oder falsch. Wenn du helfen willst, sprich zu den Roten! Aber wir brauchen das nicht.«
Maya fluchte über das Video und sprach mit Spencer darüber. Der sagte: »Sax denkt, daß wir, wenn wir losschlagen, einige Waffen brauchen werden, sei es auch nur als Reserve. Laß ihn mit mir reden, ja?«
»Was ist aus der Idee der Enthauptung geworden?«
»Vielleicht glaubt er, die Guillotine zu bauen. Schau, sprich mit Nirgal und Art darüber! Oder sogar Jackie.«
»Gut! Schau, ich möchte mit Sax reden. Er muß mit mir einmal reden, zum Donnerwetter! Bring ihn dazu, willst du?«
Spencer versprach, es zu versuchen, und arrangierte eines Morgens einen Anruf über seine private Leitung zu Sax. Art nahm ihn entgegen, versprach aber, Sax an die Leitung kommen zu lassen. »Maya, er ist in diesen Tagen beschäftigt. Das gefällt mir. Die Leute nennen ihn General Sax.«
»Um Himmels willen!«
»Das geht schon in Ordnung. Sie reden auch von General Nadia und General Maya.«
»So nennen sie mich bestimmt nicht.« Die Schwarze Witwe oder noch wahrscheinlicher das Biest. Die Mörderin. Sie wußte Bescheid.
Und Arts Zwinkern verriet ihr, daß sie recht hatte. Er sagte: »Na schön, wie auch immer. Bei Sax ist es eine Art Scherz. Die Leute reden von der Rache der Labor-Ratten und dergleichen.«
»Mir gefällt das nicht.« Die Idee einer neuerlichen Revolution schien jetzt ein Eigenleben zu entfalten, einen Impuls bar jeder realen Logik. Man machte einfach, was man schon immer gemacht hatte. Außer Mayas Kontrolle und auch außerhalb der Kontrolle jedes anderen. Selbst ihre kollektiven Bemühungen, zerstreut und versteckt, wie sie waren, schienen nicht koordiniert oder mit einer klaren Vorstellung dessen konzipiert zu sein, was sie unternehmen sollten und warum. Es geschah einfach.
Maya versuchte, etwas davon Art darzulegen, und er nickte. »Ich nehme an, das ist Geschichte. Das ist widerwärtig. Man muß auf dem Tiger reiten und ihn festhalten. Du hast in diesem Moment eine Menge verschiedener Leute, und die alle haben ihre eigenen Vorstellungen. Aber schau, ich denke, wir machen es besser als beim letztenmal. Ich arbeite an einigen Initiativen unten auf der Erde und verhandle mit der Schweiz und einigen Leuten beim Weltgerichtshof und so weiter. Und Praxis hält uns gut auf dem laufenden darüber, was auf der Erde zwischen den Metanationalen geschieht. Dies bedeutet, daß wir nicht einfach in etwas hineingerissen werden, das wir nicht verstehen.«
»Gewiß«, räumte Maya ein.
Die von Praxis heraufgeschickten Nachrichten und Analysebündel waren weit gründlicher als alle kommerziellen Nachrichtensendungen. Und als die Metanationalen fortfuhren, in das hineinzutreiben, was man Metanatricid nannte, waren sie hier in ihren Zufluchtsstätten und sicheren Häusern imstande, dem Schlag auf Schlag zu folgen. Subarashii übernahm Mitsubishi und dann seinen alten Gegner Armscor und zerstritt sich dann mit Amexx, das schwer daran arbeitete, die Vereinigten Staaten aus der Elfergruppe herauszubrechen. Das sahen sie alles von innen her. Nichts hätte der Situation in den 2050ern weniger ähnlich sein können. Und das war ein Trost, allerdings nur ein geringer.
Und dann war Sax auf dem Bildschirm hinter Art und sah sie an. Er sah, wer das war, und sagte: »Maya!«
Sie schluckte heftig. Hatte er ihr also wegen Phyllis verziehen? Verstand er, warum sie das getan hatte? Sein neues Gesicht ließ nichts erkennen. Es war so teilnahmslos, wie sein altes gewesen war, und noch schwerer zu deuten, weil es noch so ungewohnt war.
Sie nahm sich zusammen und fragte, welches seine Pläne wären.
»Plan?« sagte er. »Wir sind noch mit Vorbereitungen beschäftigt. Wir müssen auf ein auslösendes Ereignis warten. Einen Auslöser. Sehr wichtig. Es gibt eine Anzahl Möglichkeiten, die ich im Auge habe. Aber bis jetzt noch nichts.«
»Fein!« sagte sie. »Aber hör zu, Sax!« Und dann erzählte sie ihm alles, was ihr Sorgen machte — die Stärke der UNTA-Truppen, die von den großen zentristischen Metanationalen gehalten wurden; das ständige Drängen auf Gewalt in den radikaleren Flügeln des Untergrunds und das Gefühl, daß sie in das gleiche alte Verhaltensmuster verfielen. Und während sie sprach, zwinkerte er auf seine alte Art, so daß sie erkannte, daß wirklich er es war, der ihr unter diesem neuen Gesicht zuhörte — daß er ihr endlich wieder zuhörte. Darum wurde sie ausführlicher, als sie beabsichtigt hatte, und sprudelte alles heraus, ihr Mißtrauen gegen Jackie, die Angst, wieder in Burroughs zu sein — alles. Es war, als spräche sie zu einem Beichtvater oder vor Gericht. Sie flehte den rein rationalen Wissenschaftler an, es nicht wieder so weit kommen zu lassen. Nicht selbst wieder durchzudrehen. Sie hörte sich stammeln und erkannte, wie verängstigt sie war.
Und er blinzelte mit einer Art neutraler Sympathie, aber am Ende zuckte er die Achseln und sagte wenig. Das war jetzt General Sax, distanziert und schweigsam, der zu ihr aus der fremden Welt innerhalb seines neuen Verstandes sprach.
Er sagte ihr: »Gib mir zwölf Monate! Ich brauche noch zwölf Monate.«
»Okay, Sax.« Sie fühlte sich irgendwie ermutigt. »Ich werde mein Bestes tun.«
»Danke, Maya.«
Und er war fort. Sie saß da und starrte auf den kleinen Schirm der KI. Sie fühlte sich leer, zu Tränen gerührt und erleichtert. Vorerst freigesprochen.
Sie ging also entschlossen wieder an die Arbeit, traf sich fast jede Woche mit Gruppen und machte gelegentliche Ausflüge außerhalb des Netzes nach Elysium und Tharsis, um zu Zellen in den hohen Städten zu sprechen. Cojote kümmerte sich um ihre Reisen und flog sie nächtlicherweise über den Planeten, was sie an einundsechzig erinnerte. Michel kümmerte sich um ihre Sicherheit und beschützte sie mit Hilfe eines Teams von Eingeborenen einschließlich etlicher Ektogener von Zygote, die sie von einem sicheren Haus zum anderen schafften in jeder Stadt, die sie besuchten. Und sie redete und redete und redete. Es kam nicht nur darauf an, sie zum Warten anzuhalten, sondern auch sie zu koordinieren und zu zwingen zuzugeben, daß sie auf der gleichen Seite standen. Manchmal schien es, als ob sie Wirkung erzielte. Das konnte sie an den Gesichtern der Leute sehen, die kamen, um sie zu hören. Bei anderen Gelegenheiten galt ihr ganzes Bemühen, den radikalen Elementen Zügel anzulegen. Es gab jetzt viele davon, und es wurden täglich mehr: Ann und die Roten, Kaseis MarsErst-Leute, die Bogdanovisten unter Mikhail, Jackies ›Booner‹, die arabischen Radikalen unter Führung von Antar, der einer von vielen Liebhabern Jackies war, Cojote, Harmakhis, Rachel… Es war, als versuche sie, eine Lawine aufzuhalten, in der sie selbst gefangen war und nach Klumpen griff, während sie mit ihnen hinabrollte. In einer solchen Situation begann das Verschwinden von Hiroko immer mehr und mehr als Verhängnis aufzuragen.
Die Anfälle von deja vu kamen stärker denn je wieder. Sie hatte schon früher in einer solchen Zeit in Burroughs gelebt. Vielleicht war das alles. Aber das Gefühl war so verwirrend, wenn es auftrat, diese tiefe, unerschütterliche Überzeugung, daß alles vorher schon genau passiert wäre, so unausweichlich, als ob es eine ewige Wiederkehr gäbe … So wachte sie dann auf und ging ins Bad; und ganz gewiß war all dies schon früher geschehen, einschließlich der ganzen Steifheit und kleinen Schmerzen. Dann ging sie hinaus, traf Nirgal und einige seiner Freunde und erkannte, daß es ein echter Anfall war und nicht bloß eine Koinzidenz. Alles war schon einmal so passiert. Alles war wie ein Uhrwerk. Schicksalsschläge. Nun gut, sie würde nachdenken und es ignorieren. Das ist also Realität. Wir sind Kreaturen des Schicksals. Mindestens weiß man nicht, was als Nächstes geschehen wird.
Sie redete endlos mit Nirgal, darum bemüht, ihn zu verstehen und selbst von ihm verstanden zu werden. Sie lernte von ihm, ahmte ihn jetzt bei Versammlungen nach — sein strahlendes, freundliches und ruhiges Vertrauen, das die Menschen so zu ihm hinzog. Sie waren beide berühmt, man sprach über sie beide in den Nachrichten, sie beide waren bei der UNTA auf der Liste der meistgesuchten Personen. Sie durften sich beide nicht auf der Straße sehen lassen. Also hatten sie eine Bindung; und sie lernte von ihm alles, was sie konnte, und glaubte, daß er auch von ihr lernen würde. Jedenfalls hatte sie Einfluß. Es war eine gute Beziehung, ihre beste Verbindung zu den Jungen. Er machte sie glücklich und gab ihr Hoffnung.
Daß das alles aber im erbarmungslosen Griff eines übermächtigen Schicksals geschehen mußte! Das Wiederzusehen-Glauben, das Schon-einmal-Gewesen war laut Michel nur eine chemische Erscheinung des Gehirns, eine neurale Verzögerung oder Wiederholung, eine neurale Schleife, die den Eindruck vermittelte, daß die Gegenwart auch eine Art von Vergangenheit wäre. Vielleicht war es das. Also akzeptierte sie diese Diagnose und nahm ohne Klage und ohne Hoffnung alles ein, was er ihr verschrieb. Jeden Morgen und jeden Abend öffnete sie die Tasche in dem Behälterstreifen, den er jede Woche für sie herrichtete, und nahm alle Art von Pillen, die darin waren, ohne Fragen zu stellen. Sie schlug nicht mehr auf ihn ein. Sie fühlte sich nicht mehr dazu gedrängt. Vielleicht hatte er endlich den richtigen medizinischen Cocktail für sie gemixt. Das hoffte sie. Sie ging mit Nirgal aus zu Versammlungen und kam erschöpft wieder nachHause in das Apartment unter dem Tanzstudio. Aber oft fand sie dann keinen Schlaf. Ihre Gesundheit verschlechterte sich. Sie war oft krank. Verdaungsbeschwerden, Ischias, Brustschmerzen… Ursula empfahl ihr eine Wiederholung der gerontologischen Behandlung. Das hilft immer, sagte sie. Und mit den neuesten genomischen Scan-Verfahren schneller denn je. Aber Maya glaubte, daß sie keine Woche auslassen dürfe. Später, sagte sie Ursula. Wenn dies alles vorbei ist.
In manchen Nächten, wenn sie nicht schlafen konnte, las sie etwas über Frank. Sie hatte das Foto aus der Wohnung in Odessa mitgebracht, und es hing jetzt an der Wand neben ihrem Bett in dem sicheren Haus in Hunt Mesa. Sie empfand immer noch den Druck dieses elektrisierenden Blickes; und so las sie manchmal in den schlaflosen Stunden etwas über ihn und versuchte, mehr über seine diplomatischen Bemühungen zu erfahren. Sie hoffte, Dinge zu finden, in denen er gut gewesen war, um sie nachzuahmen, und auch das herauszubringen, was ihrer Meinung nach falsch gewesen war.
Nach einem anstrengenden Besuch in Sabishii und der noch in seinem Haldenlabyrinth versteckten Kommune fiel sie eines Nachts in ihrem Apartment über ihrem Lektionar in Schlaf, das ein Buch über Frank gezeigt hatte. Dann wurde sie durch einen Traum über Frank aufgeweckt. Ruhelos ging sie hinaus ins Wohnzimmer des Apartments, holte sich einen Becher Wasser und fuhr fort, in dem Buch zu lesen.
Es handelte besonders von den Jahren zwischen der Vertragskonferenz von 2057 und dem Ausbruch der Unruhen im Jahr 2061. Das waren die Jahre, in denen Maya ihm am nächsten gewesen war; aber sie erinnerte sich nur lückenhaft daran, wie in Lichtblitzen — Momente elektrischer Intensität, getrennt durch lange Perioden äußerster Finsternis. Und die Darstellung in diesem Buch zündete in ihr überhaupt keine Gefühle des Wiedererkennens, obwohl sie ziemlich oft im Text erwähnt wurde. Eine Art von historischem jamais vu.
Cojote schlief auf der Couch und stöhnte in einem Traum auf. Dann erwachte er und sah sich um, um die Lichtquelle zu finden. Er tappte auf dem Weg zum Bad hinter ihr her und blickte ihr über die Schulter. »Ah«, sagte er bedeutungsvoll. »Man sagt viel über ihn.« Und er ging den Korridor hinunter.
Als er zurückkam, sagte Maya: »Ich nehme an, du weißt es besser.«
»Ich weiß über Frank manches, das viele nicht wissen. Soviel ist sicher.«
Maya starrte ihn an. »Sag mir nichts! Auch du bist in Nicosia gewesen.« Dann fiel ihr ein, daß sie das irgendwo gelesen hatte.
»Das war ich, jetzt, da du es erwähnst.«
Er setzte sich schwer auf die Couch und starrte auf den Fußboden. »Ich habe Frank in jener Nacht gesehen, wie er Ziegelsteine durch Fenster warf. Er hat den Krawall eigenhändig gestartet.«
Er schaute hoch und begegnete ihrem Blick. »Er sprach mit Selim el-Hayil im Apexpark etwa eine halbe Stunde, ehe John angegriffen wurde. Nun kannst du dir selbst ein Bild machen.«
Maya biß die Zähne zusammen und sah auf das Lektionar, ohne ihn zu beachten.
Er streckte sich auf der Couch aus und fing an zu schnarchen.
Das war wirklich ein alter Hut. Und wie Zeyk klargemacht hatte, würde niemand je diesen Knoten entwirren, ganz gleich, was sie gesehen hatten oder nach ihrer Erinnerung gesehen zu haben glaubten. Niemand konnte so weit in der Vergangenheit einer Sache sicher sein, nicht einmal der eigenen Erinnerungen, die sich bei jeder Wiederholung leicht veränderten. Die einzigen Erinnerungen, denen man vertrauen konnte, waren jene ungebetenen Ausbrüche aus der Tiefe, die memoires involuntaires, die so lebhaft waren, daß sie wahr sein mußten. Sie betrafen aber oft unwichtige Ereignisse.
Nein. Cojote war auch nur ein weiterer unzuverlässiger Zeuge wie alle anderen.
Als die Worte des Textes wieder erschienen, las sie weiter.
Chalmers’ Bemühungen, den Ausbruch der Gewalt zu stoppen, waren nicht erfolgreich, weil er den vollen Umfang des Problems einfach nicht kannte. Wie die meisten der restlichen Ersten Hundert konnte er sich nie den vollen Umfang der Marsbevölkerung in den 2050er Jahren vorstellen, die damals bereits über einer Million lag. Und während er dachte, der Widerstand würde von Arkady Bogdanov geführt, weil er ihn kannte, bemerkte er nicht den Einfluß von Oskar Schnelling in Korolyov oder die weitverbreiteten roten Bewegungen wie Freies Elysium oder die namenlosen Verschwundenen, die zu Hunderten die etablierten Siedlungen verließen. Infolge von Unwissenheit und mangelnder Vorstellungskraft wandte er sich nur einem kleinen Bruchteil des Problems zu.
Maya hielt inne, reckte sich und schaute zu Cojote hinüber. Was war nun wirklich wahr? Sie versuchte, sich in jene Jahre zurückzuversetzen und zu erinnern. Frank hatte es nicht gemerkt, oder doch? Mit Nadeln spielen, wenn die Wurzeln krank sind. Hatte Frank ihr das gesagt, irgendwann zu jener Zeit?
Sie konnte sich nicht entsinnen. Mit Nadeln spielen, wenn die Wurzeln krank sind. Diese Äußerung stand im Raum, getrennt von allem anderen, von jedem Kontext, der ihr Sinn verleihen könnte. Aber sie hatte den sehr starken Eindruck, daß Frank gewußt hatte, was es da draußen für einen riesigen unsichtbaren Kreis von Unzufriedenheit und Widerstand gab. Niemand hatte das tatsächlich besser gewußt! Wie konnte das diesem Autor entgangen sein? Überhaupt, wie konnte ein Historiker, der in einem Sessel saß und die Aufzeichnungen sichtete, jemals das wissen, was sie gewußt hatten, jemals erfassen, was sie damals gefühlt hatten, die brüchige kaleidoskopische Natur der täglichen Krise? Jeden Moment des Sturms, den sie gekämpft hatten …
Sie suchte sich an Franks Gesicht zu erinnern; und da kam ihr ein Bild von ihm in den Sinn, wie er am Tisch eines Cafes kläglich vorgebeugt saß und sich der weiße Henkel einer Kaffeetasse unter seinen Füßen drehte; und sie hatte die Tasse zerbrochen. Aber warum? Sie konnte sich nicht erinnern. Sie tippte das Buch auf dem Schirm weiter nach vorn, überflog mit jedem Absatz Monate. Die trockene Analyse war weit entfernt von allem, an das sie sich erinnern konnte. Dann fiel ihr ein Satz ins Auge; und sie las weiter, als ob eine Hand an ihrer Kehle läge und sie dazu zwingen würde:
Seit ihrer ersten Liaison in Antarctica hatte Toitovna einen Einfluß auf Chalmers, den er nie aufgab, ganz gleich, wie sehr das seinen eigenen Plänen schadete. Als er daher im letzten Monat vor Ausbruch der Unruhen aus Elysium zurückkehrte, traf Toitovna mit ihm in Burroughs zusammen; und sie blieben eine Woche beisammen, während der andere erkannten, daß sie sich stritten. Chalmers wollte in Burroughs bleiben, wo der Konflikt kritisch war; aber Toitovna wollte, daß er nach Sheffield zurückkehrte. Eines Abend erschien er in einem Cafe am Kanal so wütend und aufgeregt, daß die Kellner Angst bekamen und, als Toitovna erschien, erwarteten, daß er explodieren würde. Aber er saß bloß da, als sie ihn an jede Verbindung erinnerte, die sie zusammen gehabt hatten, und was sie einander schuldig waren und überhaupt ihre ganze Vergangenheit. Schließlich beugte er sich ihren Wünschen und kehrte nach Sheffield zurück, wo er nicht imstande war, die zunehmende Gewalttätigkeit in Elysium und Burroughs unter Kontrolle zu bringen. Und so kam es zur Revolution.
Maya starrte auf den Schirm. Das war falsch! Alles falsch! Nichts dergleichen war geschehen! Eine Liaison in Antarctica? Nein, niemals!
Aber sie hatte einmal in einem Restaurant mit ihm eine Auseinandersetzung gehabt… Es war ohne Zweifel möglich, daß man das beobachtet hatte… Schwer zu sagen. Aber dieses Buch war blöde, vollgestopft mit unerwiesener Spekulation, überhaupt keine Geschichte. Oder vielleicht waren alle Geschichten so, wenn man wirklich dort gewesen war und so ein richtiges Urteil haben konnte. Alles Lügen. Sie versuchte, es sich wieder zu vergegenwärtigen. Sie biß die Zähne zusammen, versteifte sich, und ihre Finger krümmten sich, als ob sie damit Gedanken ausgraben könnte. Aber es war, als ob man an einem Stein kratzen würde. Und als sie sich jetzt an diese besondere Konfrontation in einem Cafe zu erinnern versuchte, kam ihr überhaupt kein visuelles Bild in den Sinn. Die Phrasen aus dem Buch überlagerten das. Sie erinnerte ihn an jede Verbindung, die sie jemals gehabt hatten. Nein! Eine über einen Tisch gebeugte Gestalt — da war das Bild —, und es blickte schließlich zu ihr auf …
Aber es war das jugendliche Gesicht von ihrer Küchenwand in Odessa.
Sie stöhnte und fing an zu weinen. Sie knabberte an ihren geballten Fäusten und schluchzte.
»Ist was nicht in Ordnung? Kann ich dir helfen?« fragte Cojote undeutlich von der Couch her.
»Nein.«
»Etwas holen?«
»Nein.«
Frank war durch Bücher ausgelöscht. Und durch Zeit. Die Jahre waren vergangen; und für sie, sogar für sie, wurde Frank Chalmers zu einer winzigen historischen Figur neben anderen. Er stand da wie eine Person, die man durch das falsche Ende eines Fernrohrs anblickt. Ein Name in einem Buch. Jemand, über den man etwas lesen konnte, zusammen mit Bismarck, Talleyrand und Machiavelli. Und ihrem Frank … dahin.
An den meisten Tagen verbrachte sie ein paar Stunden damit, mit Art die Berichte von Praxis durchzugehen im Bemühen, Verhaltensmuster zu finden und zu verstehen. Durch Praxis bekamen sie solche Mengen an Daten, daß sie vor dem Gegenteil des Problems standen, welches sie in der Krise vor ’61 gehabt hatten — nicht zu wenig Information, sondern zu viel. Jeden Tag wurden die Schrauben in einer Vielfalt von Krisen enger angezogen; und Maya war oft am Rand der Verzweiflung. Einige Länder, die der UN angehörten, sämtlich Klienten von Consolidated oder Subarashii, verlangten, den Weltgerichtshof abzuschaffen, da seine Funktionen überflüssig wären. Die meisten Metanationalen erklärten sofort ihre Unterstützung für diese Idee; und da der Weltgerichtshof vor langer Zeit als eine Agentur der UN angefangen hatte, gab es Leute, die diese Aktion als legal erklärten und ihr eine gewisse historische Berechtigung zuschrieben. Aber das erste Ergebnis war der Abbruch einiger laufender Verfahren, was zu Kämpfen in der Ukraine und Griechenland führte. »Wer ist verantwortlich?« fragte Maya Art. »Gibt es jemanden, der so etwas veranlaßt?«
»Natürlich. Einige Metanationale haben Präsidenten, und alle haben Verwaltungsräte. Sie kommen zusammen und besprechen die Dinge und entscheiden, welche Anweisungen zu erteilen sind. Das ist wie mit Fort und den achtzehn Unsterblichen bei Praxis, aber Praxis ist demokratischer als die meisten. Und dann ernennen die metanationalen Ausschüsse das Exekutivkomitee für die Übergangsbehörde. Diese trifft einige lokale Entscheidungen. Ich könnte dir die Namen nennen, aber ich glaube nicht, daß die so mächtig sind wie die Leute daheim.«
»Macht nichts.« Natürlich waren Menschen verantwortlich. Aber niemand hatte die Kontrolle. Das war zweifellos auf beiden Seiten der Fall. Sicher war es beim Widerstand so. Sabotage, besonders gegen die Plattformen des Vastitas-Ozeans, war jetzt allgemein verbreitet; und sie wußte, wessen Idee das war. Sie sprach mit Nadia darüber, mit Ann in Verbindung zu kommen, aber Nadia schüttelte bloß den Kopf. »Keine Chance. Ich habe seit Dorsa Brevia nicht mehr mit Ann sprechen können. Sie ist eine der radikalsten Roten, die es gibt.«
»Wie immer.«
»Nun, ich denke, daß sie das früher nicht gewesen ist. Aber jetzt spielt das keine Rolle.«
Maya schüttelte den Kopf und ging wieder an die Arbeit. Sie verbrachte jetzt immer mehr Zeit in Zusammenarbeit mit Nirgal. Sie nahm seine Weisungen entgegen und beriet ihn ihrerseits. Er bildete mehr denn je den besten Kontakt unter den Jungen und war auch der Einflußreichste und obendrein gemäßigt. Er wollte auf einen Auslöser warten und dann genau wie sie eine konzertierte Aktion organisieren. Und das war natürlich einer der Gründe, der sie zu ihm hinzog. Aber es lag auch an seinem Charakter, seiner warmen und fröhlichen Haltung und seiner Achtung vor ihr. Er hätte nicht stärker von Jackie verschieden sein können, obwohl Maya wußte, daß die beiden eine sehr enge und komplexe Beziehung hatten, die bis in die gemeinsame Kindheit zurückreichte. Aber sie schienen jetzt einander entfremdet zu sein, was ihr gar nicht unlieb war, und politisch höchst uneinig. Jackie war wie Nirgal eine charismatische Führungspersönlichkeit und rekrutierte große neue Scharen in ihren ›Booneschen‹ Flügel von MarsErst, der sofortige Aktion befürwortete und sie daher mehr in die Richtung von Harmakhis als von Nirgal rückte, auf jeden Fall in politischer Hinsicht. Maya tat alles, was sie konnte, um Nirgal in dieser Spaltung unter den Eingeborenen zu unterstützen. Bei jeder Versammlung argumentierte sie für grün, gemäßigt, gewaltlos und zentral koordiniert. Aber sie sah deutlich, daß die Mehrheit der neuerdings politisierten Eingeborenen in den Städten von Jackie und MarsErst angezogen wurden, die im allgemeinen rot, radikal, gewalttätig und anarchisch waren. Jedenfalls sah sie es so. Und die zunehmenden Streiks, Demonstrationen, Straßenkämpfe und Sabotagen konnten ihre Analyse nur bestärken.
Es waren aber nicht bloß die meisten der neuen eingeborenen Hinzugekommenen, die zu Jackie gingen, sondern auch Scharen unzufriedener Einwanderer, die zuletzt eingetroffen waren. Diese Tendenz verblüffte sie; und sie beklagte sich darüber bei Art, als sie eines Tages den Praxisbericht durchgegangen waren.
»Nun«, sagte er diplomatisch, »es ist gut, so viele Einwanderer wie möglich auf unserer Seite zu haben.«
Wenn er nicht gerade in direkter Verbindung zur Erde stand, verbrachte er natürlich viel seiner Zeit damit, zwischen Widerstandsgruppen hin und her zu eilen und sie zur Zustimmung zu bewegen. Das war seine Parteipolitik. »Aber warum gehen sie zu ihr?« fragte Maya.
»Nun… du weißt, diese Einwanderer kommen an, und einige von ihnen hören von den Demonstrationen oder sehen eine«, erklärte Art. »Dann fragen sie herum und hören Geschichten, und manche hören, daß die Eingeborenen, wenn sie loszögen und sich an einer Demonstration beteiligten, sie deswegen gern haben würden. Verstehst du? Vielleicht könnten manche der jungen eingeborenen Frauen, die sie anhören, freundlich zu ihnen sein, nicht wahr? Sehr freundlich. Also machen sie mit in der Erwartung, daß vielleicht eines dieser großen Mädchen, wenn sie mithelfen, sie am Ende des Tages mit nach Hause nehmen wird.«
»Oho!« sagte Maya.
»Nun, du weißt doch. Das passiert bei einigen von ihnen.«
»Und so bekommt Jackie alle die neuen Rekruten.«
»Na ja, ich bin nicht sicher, ob das nicht auch für Nirgal eine Rolle spielt. Und ich weiß nicht, ob die Leute zwischen ihnen einen großen Parteienunterschied machen. Das ist ein feiner Punkt, dessen du dir mehr bewußt bist als sie.«
»Hmm.«
Sie erinnerte sich, daß Michel ihr einmal gesagt hatte, es käme ebenso sehr darauf an, für das zu argumentieren, was sie liebte, wie gegen das, was sie haßte. Und sie liebte Nirgal. Das war sicher. Er war ein wunderbarer junger Mann, der feinste Eingeborene von allen. Gewiß war es nicht recht, jene Arten von Motivierungen aufzustacheln, jene erotische Energie, die die Leute auf die Straßen lockte… Wenn die Menschen nur sensibler wären! Jackie tat ihr verdammt Bestes, sie in eine zweite ungeplante Revolte zu führen, deren Folgen verheerend sein konnten.
»Ein Teil der Leute folgt auch dir, Maya.«
»Was?«
»Du hast mich gehört.«
»Mach schon! Sei kein Narr!«
Obwohl das ein hübscher Gedanke war. Vielleicht konnte sie den Kampf um Kontrolle auch auf diese Ebene ausdehnen. Allerdings hätte sie einen Nachteil. Eine Partei der Alten gründen. Nun, das waren sie ja praktisch schon. Das war damals in Sabishii ihre ganze Idee gewesen, daß die Issei den Widerstand übernehmen und auf den richtigen Weg leiten sollten. Und eine große Anzahl von ihnen hatte viele Jahre ihres Lebens gerade diesem Ziel gewidmet. Aber im Endeffekt hatte es nicht funktioniert. Sie waren an Zahl weit unterlegen. Und die neue Majorität war eine neue Spezies mit eigenen Gedanken. Die Issei konnten nur den Tiger reiten und ihr Bestes tun. Sie seufzte.
»Müde?«
»Erschöpft. Diese Arbeit bringt mich noch um.«
»Gönn dir etwas Ruhe!«
»Wenn ich zu diesen Leuten spreche, fühle ich mich manchmal wie ein vorsichtiger, konservativer, feiger Neinsager. Immer tu dies nicht, tu das nicht! Davon wird mir übel. Ich frage mich manchmal, ob Jackie nicht im Recht ist.«
»Machst du Witze?« sagte Art mit großen Augen. »Du bist die einzige, die diese Show zusammenhält, Maya. Du und Nadia und Nirgal. Und ich. Aber du bist die mit der — der Aura.« Er meinte den Ruf als Mörderin. »Du bist bloß müde. Ruh dich etwas aus! Es ist gleich der Zeitrutsch.«
In einer anderen Nacht weckte Michel sie auf. Auf der anderen Seite des Planeten hatten Sicherheitskräfte von Armscor, die Subarashii einverleibt worden sein sollten, der regulären Polizei von Subarashii die Kontrolle des Aufzugs entrissen; und in der Stunde der Ungewißheit hatte eine Gruppe von MarsErsten die neue Steckdose außerhalb Sheffield zu erobern versucht. Der Anschlag war fehlgeschlagen, die meisten des Sturmtrupps wurden getötet, und schließlich hatte Subarashii wieder die Kontrolle von Sheffield und Clarke und allem, was dazwischen lag, übernommen und auch noch von dem größten Teil von Tharsis. Jetzt war dort später Nachmittag, und auf den Straßen von Sheffield war eine große Menschenmenge erschienen, um gegen die Gewalt oder die Eroberung zu demonstrieren. Das war unmöglich zu sagen. Es hatte keinen Zweck. Maya sah mit Michel benommen zu, wie Polizeitrupps in Schutzanzügen und mit Helmen die demonstrierenden Massen zerteilten und mit Tränengas und Gummiknüppeln vertrieben. »Idioten!« rief Maya. »Warum tun sie das? Sie werden das ganze Militär der Erde auf uns hetzen!«
Michel sagte, während er auf den kleinen Schirm schaute: »Es sieht so aus, als ob sie sich zerstreuten. Wer weiß, Maya? Bilder wie diese könnten das ganze Volk elektrisieren. Sie gewinnen diese Schlacht, büßen aber überall an Unterstützung ein.«
Maya streckte sich vor dem Schirm auf einer Couch aus. Sie war noch nicht wach genug, um nachzudenken. Sie sagte: »Vielleicht. Aber es wird schwieriger denn je, die Leute so lange zurückzuhalten, wie Sax wünscht.«
Michel winkte mit dem Gesicht zum Bildschirm ab. »Wie lange kann er erwarten, daß du das schaffst?«
»Ich weiß nicht.«
Sie sahen zu, wie die Reporter von Mangalavid die Krawalle als von Terroristen gesponsorte Gewaltakte bezeichneten. Maya stöhnte. Spencer saß vor einem anderen Computerschirm und sprach mit Nanao in Sabishii.
»Der Sauerstoff nimmt so rasch zu. Da draußen muß etwas ohne Selbstmordgene sein. Die Kohlendioxidniveaus? Ja, sie sinken fast ebenso schnell… Ein Heer wirklich gut Kohlenstoff fixierender Bakterien da draußen, die sich explosionsartig vermehren. Ich habe Sax danach gefragt, und er blinzelt bloß … Jawohl, er ist wie Ann außer Kontrolle. Und die ist draußen und sabotiert jedes Projekt, an das sie herankommen kann.«
Als Spencer ausschaltete, sagte Maya zu ihm: »Wie lange will Sax uns eigentlich noch hinhalten?«
Spencer zuckte die Achseln. »Bis wir etwas bekommen, das er für einen Auslöser hält. Oder eine kohärente Strategie. Wenn wir aber die Roten und die MarsErsten nicht stoppen können, spielt es keine Rolle mehr, was Sax will.«
So schlichen die Wochen dahin. In Sheffield und South Fossa begann eine Kampagne regulärer Straßendemonstrationen. Maya dachte, das würde ihnen nur noch mehr Sicherheitspersonal bescheren, aber Art sprach zu deren Gunsten. »Wir müssen die Übergangsbehörde wissen lassen, wie weit der Widerstand verbreitet ist, damit, wenn der Moment kommt, sie nicht versuchen, uns aus Unwissenheit zu vernichten, Verstehst du, was ich meine? An dieser Stelle müssen sie sich verhaßt und an Zahl unterlegen fühlen. Zum Teufel, große Volksmassen in den Straßen sind ungefähr das einzige, was Regierungen angst macht, wenn du mich fragst.«
Und ob Maya zustimmte oder nicht, sie konnte nichts daran ändern. Jeder Tag verging, und sie konnte nur so hart wie möglich arbeiten, indem sie reiste und mit einer Gruppe nach der anderen zusammenkam, während in ihrem Körper ihre Muskeln sich infolge der Anspannung verkrampften und sie nachts kaum schlafen konnte, nicht mehr als eine oder zwei Stunden der Erschöpfung vor der Dämmerung.
Eines Morgens im nördlichen Frühling des M-Jahres 52, Erdjahr 2127, wachte sie erfrischter auf als sonst. Michel schlief noch. Sie zog sich an und ging allein hinaus, quer über die große Zentralpromenade zu den Cafes am Kanal. Das war das Schöne an Burroughs: Trotz verstärkter Sicherheit an den Toren und Bahnhöfen konnte man in manchen Stunden noch frei in der Stadt umhergehen, und unter der Menge war wenig Gefahr, herausgegriffen zu werden. So setzte sie sich hin, trank Kaffee und aß Gebäck und schaute auf die großen grauen Wolken, die über ihr dahinzogen, den Hang von Syrtis hinab und auf den Deich im Osten zu. Die Luftzirkulation in der Kuppel war stark, was dem darüber zu Sehenden eine gewisse kinetische Anpassung gab. Das war seltsam. Wie sehr hatte sie sich daran gewöhnt, daß die Bilder am Himmel nicht zu dem Gefühl des Windes unter dem Kuppeldach paßten. Die lange, schlanke, gebogene Röhre der Brücke zwischen Ellis Butte und Hunt Mesa war gefüllt mit den ameisenähnlichen Gestalten von Menschen, die zu ihrer morgendlichen Arbeit strebten. Sie führten ein normales Leben.
Sie stand eilends auf, zahlte ihre Rechnung und machte einen langen Spaziergang. Sie schlenderte an den Reihen der weißen Bareissäulen entlang und durch den Princess Park zu den neuen Kuppeln, um die Pingohügel herum, wo sich die derzeit in Mode befindlichen Apartments befanden. Hier in dem hohen westlichen Distrikt konnte man weit hinunterblicken und die Stadt in ihrer ganzen Ausdehnung sehen, die Bäume und Dächer getrennt durch die Promenade und ihre Kanäle, die großen, weiträumig verteilten Mesas, die riesigen Kathedralen ähnelten. Ihre Seiten aus nacktem Gestein waren rissig und gefurcht. Horizontale Reihen blitzender Fenster waren der einzige Hinweis, daß jede von ihnen eine eigene Stadt war, eine kleine Welt, die gemeinsam mit anderen auf der roten Sandebene unter der immensen unsichtbaren Kuppel lebte und mit ihnen verbunden war durch aufsteigende Fußgängerbrücken, die wie Seifenblasen blitzten. Ah, Burroughs!
So ging sie mit den Wolken zurück, durch enge Straßen zwischen Asphaltblocks und Gärten, zu Hunt Mesa und ihrer Wohnung unter dem Tanzstudio.
Michel und Spencer waren nicht da; und längere Zeit stand sie einfach am Fenster und sah zu, wie die Wolken über die Stadt eilten. Sie versuchte, Michels Aufgabe zu übernehmen, nämlich ihre Launen zu bändigen und sich selbst in ein stabiles Zentrum zurückzuziehen. Von der Decke kamen kleine ungeordnete Klopftöne. Eine neue Klasse begann. Dann war das Klopfen im Gang vor der Tür, und zwar ziemlich laut. Sie ging hin. Ihr Herz pochte wie die Decke.
Es waren Jackie und Antar, Art und Nirgal, Rachel und Frantz und der Rest der Ektogenen von Zygote, die hereinströmten und mit Schallgeschwindigkeit redeten, so daß sie sie nicht ganz verstehen konnte. Sie begrüßte sie so herzlich, wie sie konnte, da Jackie dabei war. Dann nahm sie sich zusammen und entfernte allen Haß aus ihren Augen und sprach mit allen, auch mit Jackie, über ihre Pläne. Sie waren nach Burroughs gekommen, um bei der Organisation einer Demonstration unten im Kanalpark zu helfen. Man hatte durch die Zellen Mitteilung gemacht, und sie hofften, daß auch viele der nicht angeschlossenen Bürger zu ihnen stoßen würden. Maya sagte: »Hoffentlich wird das keine Maßregelungen beschleunigen.«
Jackie lächelte ihr zu, natürlich triumphierend. Sie sagte: »Bedenke immer, es führt kein Weg zurück.«
Maya rollte mit den Augen und ging, um Wasser auf den Herd zu stellen. Sie versuchte ihre Bitterkeit zu unterdrücken. Sie würden mit allen Zellenleitern in der Stadt zusammenkommen; und Jackie würde das Meeting leiten und alle zu sofortiger Rebellion anstiften, ohne daß Sinn oder Strategie beteiligt waren. Und Maya würde nichts dagegen tun können. Die Zeit war leider vorbei, da sie ihr den Mist austreiben konnte.
Also ging sie herum, nahm den Leuten die Mäntel ab, gab ihnen Bananen und stieß ihre Füße von den Sofakissen. Sie fühlte sich wie ein Dinosaurier unter Säugetieren, ein Dinosaurier in einem neuen Klima, unter flinken heißen Kreaturen, die ihr triumphierendes Einherstolzieren haßten, ihren langsamen Hieben trotzten und hinter ihrem nachschleppenden Schwanz Wettrennen veranstalteten.
Art kam lässig heraus, um ihr beim Austeilen der Teetassen zu helfen, strubbelig und schlapp wie immer. Sie fragte ihn, was er von Fort gehört hätte, und er gab ihr den täglichen Bericht von der Erde. Subarashii und Consolidated wurden von fundamentalistischen Armeen angegriffen, von etwas, das wie eine fundamentalistische Allianz aussah, obwohl das nur eine Illusion sein konnte, da die christlichen und islamischen Fundamentalisten einander haßten und beide die fundamentalistischen Hindus verachteten. Die großen Metanationalen hatten die neue UN benutzt, um zu warnen, daß sie ihre Interessen mit entsprechender Stärke verteidigen würden. Praxis, Amexx und die Schweiz hatten auf Einschaltung des Weltgerichtshofes gedrängt und Indien desgleichen, aber sonst niemand. Michel sagte: »Mindestens haben sie noch Angst vor dem Weltgerichtshof.« Aber für Maya sah es eher so aus, als ob sich der Metanatricid zu einem Krieg zwischen den Wohlhabenden und den ›Sterblichen‹ entwickelte, der viel explosiver sein könnte — totaler Krieg anstelle von Enthauptungen.
Maya und Art besprachen die Lage, während sie den Leuten im Apartment Tee servierten. Ob Spion oder nicht, Art kannte die Erde und hatte ein scharfes politisches Urteilsvermögen, was sie hilfreich fand. Er war wie ein voll ausgereifter Frank. Stimmte das? Irgendwie wurde sie an Frank erinnert; und obwohl sie nicht genau sagen konnte, weshalb, gefiel es ihr irgendwie. Niemand sonst hätte eine Ähnlichkeit in diesem plumpen, listigen Mann gesehen. Es war ihre Auffassung und allein die ihre.
Dann strömten noch mehr Leute in das Apartment, Zellenleiter und Besucher von außerhalb der Stadt. Maya saß hinten und hörte zu, als Jackie zu ihnen sprach. Ein jeder im Widerstand, dachte Maya beim Zuhören, war um seiner selbst willen dabei. Die Art, wie Jackie ihren Großvater als Symbol gebrauchte und wie eine Fahne schwenkte, um ihre Truppen zu sammeln, war widerlich. Nicht John war es gewesen, der ihr ihre Anhänger verschafft hatte, sondern ihre weiße pralle Bluse, dieses Luder! Kein Wunder, daß Nirgal von ihr entfremdet war.
Jetzt redete sie ihnen dringend zu mit ihrer gewöhnlichen zündenden Botschaft, die enthusiastisch sofortige Rebellion empfahl ungeachtet der vereinbarten Strategie. Und für diese sogenannten Boone-Anhänger war Maya nichts weiter als eine alte Liebschaft dieses großen Mannes oder vielleicht der Grund dafür, daß er getötet wurde; eine fossile Odaliske, ein historisches Ärgernis, ein Objekt menschlichen Begehrens wie Helena von Troja, die von Faust wieder herbeizitiert wurde, substanzlos und geisterhaft. Ach, das war zum Verrücktwerden! Aber Maya behielt eine kühle Miene, stand auf und ging mit abgewandtem Gesicht in der Küche ein und aus. Sie tat, was Liebchen so machten, sie machte es den Leuten gemütlich und verpflegte sie gut. Mehr konnte sie im Moment nicht tun.
Sie stand in der Küche und blickte aus dem Fenster auf die Dächer hinab. Sie hatte jeden Einfluß auf den Widerstand verloren, den sie je gehabt hatte. Das ganze Ding würde losgelassen, ehe Sax oder sonstweiche der übrigen, auf die es ankam, bereit waren. Jackie redete im Wohnzimmer geschwollen weiter daher, um eine Demonstration zu organisieren, die zehntausend, vielleicht fünfzigtausend Leute in den Park bringen könnte. Wer könnte das sagen? Und wenn die Sicherheit mit Tränengas, Gummigeschossen und Gummiknüppeln reagierte, würden Menschen verletzt und einige Personen getötet werden. Getötet ohne einen strategischen Zweck, Personen, die tausend Jahre hätten leben können. Und Jackie machte immer noch weiter, strahlend und begeistert. Sie brannte wie eine Flamme. Oben brach die Sonne durch eine Wolkenlücke wie helles Silber und verdächtig groß. Art kam in die Küche, setzte sich an den Tisch, schaltete seine KI ein und steckte das Gesicht hinein. »Ich habe auf dem Handgelenk eine Nachricht von Praxis daheim bekommen.« Er las den Schirm ab, wobei seine Nase ihn fast berührte.
Maya fragte unsicher: »Bist du kurzsichtig?«
»Ich glaube, nicht. O Mann! Ka bum. Ist Spencer da draußen? Hol ihn her!«
Maya ging zur Tür und machte Spencer ein Zeichen. Er kam herein. Jackie ignorierte die Störung und redete weiter. Spencer setzte sich neben Art, der sich jetzt mit runden Augen und rundem Mund zurückgelehnt hatte, an den Küchentisch. Spencer las ein paar Sekunden und lehnte sich dann auch zurück. Er sah mit einer seltsamen Miene zu Maya hinüber und sagte: »Das ist es!«
»Was?«
»Der Auslöser.«
Maya ging zu ihm hin und las über seine Schulter.
Sie hielt sich an ihm fest in einer bizarren Empfindung von Schwerelosigkeit. Die Lawine war nicht mehr aufzuhalten. Sie hatte ihre Arbeit getan, wenn auch nur knapp. Im Moment des Versagens hatte sich das Schicksal gewendet.
Nirgal kam in die Küche, um zu fragen, was los wäre, angezogen durch etwas in ihren leisen Stimmen. Art sagte es ihm; und seine Augen leuchteten auf. Er konnte seine Erregung nicht verhehlen. Er wandte sich an Maya und fragte: »Ist das wahr?«
Sie hätte ihn dafür küssen können. Statt dessen nickte sie, da sie sich nicht zu sprechen getraute, und ging zur Tür des Wohnzimmers. Jackie war noch mitten in ihrer Ansprache, und es machte Maya die größte Freude, sie zu unterbrechen. »Die Demonstration fällt aus.«
»Was soll das heißen?« fragte Jackie aufgebracht und ärgerlich. »Warum?«
»Weil wir statt dessen eine Revolution haben.«