Jetzt horche ich auf. Ein Doppeldeal. Ein doppeltes Versprechen. Und nur Haymitch weiß, welches ernst gemeint ist. Ich hebe den Kopf und begegne Peetas Blick. »Warum fängst du ausgerechnet jetzt davon an?«

»Weil du nicht vergessen sollst, dass ich in einer ganz anderen Lage bin als du. Wenn du stirbst und ich überlebe, gibt es für mich zu Hause in Distrikt 12 keinen Grund zum Weiterleben mehr. Du bist mein ganzes Leben. Ich könnte nie mehr glücklich sein.« Ich versuche zu widersprechen, doch er legt mir einen Finger auf die Lippen. »Für dich ist das anders. Ich sage nicht, dass es nicht hart wäre für dich. Aber du hast andere Menschen, für die es sich lohnen würde weiterzuleben.«

Peeta zieht die Kette mit dem flachen Goldanhänger an seinem Hals hervor. Er hält sie ins Mondlicht, sodass ich den Spotttölpel deutlich sehen kann. Dann fährt er mit dem Daumen über einen Verschluss, der mir bisher nicht aufgefallen ist, und ein Deckel springt auf. Der Anhänger ist nicht massiv, wie ich dachte, er ist ein Medaillon. Mit Fotos darin. Rechts meine Mutter und Prim, beide lachend. Links Gale. Tatsächlich lächelnd.

Nichts auf der Welt könnte mich in diesem Augenblick mürber machen als diese drei Gesichter. Nach allem, was ich heute Nachmittag mit anhören musste … ist das die perfekte Waffe.

»Deine Familie braucht dich, Katniss«, sagt Peeta.

Meine Familie. Meine Mutter. Meine Schwester. Und Gale, mein angeblicher Cousin. Es ist offensichtlich, was Peeta damit sagen will. Gale ist Teil meiner Familie, oder er wird es sein, falls ich überlebe. Ich werde ihn heiraten. Peeta schenkt mir also sein Leben und Gale obendrein. Damit ich weiß, dass ich daran nie zweifeln soll. Alles soll ich von Peeta nehmen.

Ich erwarte eigentlich, dass er das Baby erwähnt, für die Kameras, doch er schweigt. Und da wird mir bewusst, dass das hier nichts mit den Spielen zu tun hat. Dass er mir seine wahren Gefühle offenbart.

»Mich braucht eigentlich keiner«, sagt er, ganz ohne Selbstmitleid. Es stimmt, seine Familie braucht ihn nicht. Sie werden ihn beweinen, zusammen mit ein paar Freunden, die man an einer Hand abzählen kann. Aber sie werden darüber hinwegkommen. Wie auch Haymitch, mithilfe einer Menge klarem Schnaps. Nur ein einziger Mensch würde unwiderruflich Schaden nehmen, wenn Peeta stirbt. Ich.

»Doch, ich«, sage ich. »Ich brauche dich.« Er wirkt erschrocken. Er atmet tief ein, als wollte er zu einer langen Erklärung ansetzen, und das ist nicht gut, ganz und gar nicht, denn dann spricht er wieder von Prim und meiner Mutter und allem, und das würde mich nur verwirren. Deshalb verschließe ich seine Lippen schnell mit einem Kuss.

Ich spüre es wieder. Was ich erst einmal gespürt habe. Letztes Jahr, in der Höhle, als ich Haymitch dazu bewegen wollte, uns Nahrung zu schicken. Während dieser Spiele und danach habe ich Peeta tausendmal geküsst. Aber nur bei einem Kuss hat sich in mir drin etwas gerührt. Nur bei diesem einen Kuss wollte ich mehr. Doch dann fing meine Kopfwunde wieder an zu bluten, und er meinte, ich solle mich hinlegen.

Diesmal unterbricht uns nichts. Und nach ein paar Ansätzen gibt Peeta auf. In mir wird es immer wärmer, und die Wärme strömt von meiner Brust durch den ganzen Körper, durch Arme und Beine bis in die Spitzen. Doch die Küsse stellen mich nicht zufrieden, im Gegenteil, ich will immer mehr. Ich dachte, in Sachen Hunger wüsste ich Bescheid, aber dies hier ist etwas ganz Neues.

Das erste Krachen des Gewitters - der Blitz, der um Mitternacht in den Baum einschlägt - bringt uns in die Wirklichkeit zurück. Auch Finnick wacht davon auf. Mit einem gellenden Schrei fährt er hoch. Er gräbt die Finger in den Sand und vergewissert sich, dass sein Albtraum nicht Wirklichkeit ist.

»Ich kann sowieso nicht mehr schlafen«, sagt er. »Einer von euch soll sich ausruhen.« Erst dann sieht er unsere Gesichter und dass wir eng umschlungen dasitzen. »Oder beide. Ich kann allein Wache halten.«

Doch das lässt Peeta nicht zu. »Zu gefährlich«, sagt er. »Ich bin nicht müde. Leg du dich hin, Katniss.« Ich protestiere nicht, denn wenn ich dafür sorgen soll, dass er am Leben bleibt, muss ich jetzt schlafen. Er begleitet mich zu den anderen. Dann legt er mir die Kette mit dem Medaillon um und hält seine Hand auf die Stelle, wo angeblich unser Baby heranwächst. »Du wirst bestimmt eine großartige Mutter«, sagt er. Er küsst mich ein letztes Mal und geht zurück zu Finnick.

Seine Bemerkung über das Baby zeigt mir, dass unsere Auszeit von den Spielen vorbei ist. Dass er weiß, dass die Zuschauer sich fragen, wieso er nicht das überzeugendste Argument eingesetzt hat, das ihm zur Verfügung steht. Dass die Sponsoren manipuliert werden müssen.

Oder steckt noch mehr dahinter?, frage ich mich, als ich mich in den Sand lege. Wollte er mich daran erinnern, dass ich eines Tages auch mit Gale Kinder haben könnte? Falls es das gewesen sein sollte, dann war es ein Fehler. Denn erstens hatte ich sowieso nie vor, Kinder zu bekommen. Und zweitens: Wenn einer von uns Kinder haben sollte, dann Peeta, das sieht jeder.

Während ich wegdämmere, versuche ich mir diese Welt vorzustellen, irgendwann in der Zukunft, ohne die Spiele, ohne das Kapitol. Ein Ort wie die Weide in dem Lied, das ich für Rue sang, als sie starb. Wo Peetas Kind in Sicherheit wäre.

25

Als ich aufwache, verspüre ich ein kurzes, köstliches Glücksgefühl, das irgendwie mit Peeta zusammenhängt. Ein absurdes Gefühl, natürlich, denn so, wie die Dinge stehen, werde ich innerhalb des nächsten Tages tot sein. Jedenfalls, wenn alles nach Plan läuft und ich die übrigen Mitspieler einschließlich meiner selbst eliminieren kann, damit Peeta zum Sieger des Jubel-Jubiläums gekürt wird. Trotzdem, dieses Gefühl kommt so unerwartet und ist so süß, dass ich es festhalte, wenn auch nur für wenige Augenblicke. Bis der grobe Sand, die heiße Sonne und meine juckende Haut mich zwingen, in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Die anderen sind schon aufgestanden und beobachten einen Fallschirm, der gerade auf den Strand gesegelt kommt. Ich geselle mich zu ihnen. Wieder eine Lieferung Brot. Exakt das gleiche wie gestern Abend. Vierundzwanzig Brötchen aus Distrikt 3. Damit haben wir insgesamt dreiunddreißig. Jeder nimmt fünf, acht bleiben als Reserve. Nach dem nächsten Toten unter uns ließe sich acht prima teilen, aber das spricht keiner aus. Irgendwie ist der Scherz, wer noch da sein wird, um diese Brötchen zu essen, bei Tageslicht nicht mehr so witzig.

Wie lange können wir dieses Bündnis aufrechterhalten? Es hat wohl keiner damit gerechnet, dass die Anzahl der Tribute so schnell zusammenschmelzen würde. Was, wenn ich mich geirrt habe und die anderen Peeta gar nicht beschützen wollten? Wenn alles nur Zufall war oder Strategie, um unser Vertrauen zu gewinnen, uns zur leichten Beute zu machen, oder wenn ich überhaupt nicht durchblicke, was hier eigentiich vor sich geht? Halt, da gibt es nichts zu deuteln. Ich blicke tatsächlich nicht durch. Und deshalb ist es höchste Zeit für Peeta und mich, von hier zu verschwinden.

Ich setze mich neben Peeta in den Sand und esse meine Brötchen. Aus irgendeinem Grund fällt es mir schwer, ihn anzuschauen. Vielleicht wegen der Küsserei gestern Abend, obwohl das Küssen ja eigentlich nichts Neues für uns ist. Für ihn hat es sich womöglich auch gar nicht anders angefühlt. Vielleicht liegt es auch an dem Wissen, dass uns nur noch so wenig Zeit bleibt. Und dass wir diametral entgegengesetzte Ziele verfolgen werden, sollten nur noch wir beide übrig bleiben.

Nach dem Essen nehme ich seine Hand und ziehe ihn zum Wasser. »Komm, ich bring dir Schwimmen bei.« Ich muss ihn von den anderen weglotsen, um in Ruhe zu besprechen, wie wir von hier verschwinden. Es wird nicht leicht werden, denn sobald die anderen mitbekommen, dass wir uns davonmachen wollen, werden wir umgehend von Verbündeten zu Gejagten.

Wenn ich ihm wirklich das Schwimmen beibringen wollte, müsste er den Gurt ausziehen, der ihn oben hält, aber was spielt das jetzt für eine Rolle? Ich zeige ihm also nur die grundlegenden Bewegungen und lasse ihn zur Übung in hüfthohem Wasser hin und her schwimmen. Anfangs, bemerke ich, lässt Johanna uns nicht aus den Augen, doch irgendwann verliert sie das Interesse und legt sich hin. Finnick knüpft aus Ranken ein neues Netz und Beetee spielt mit seinem Draht. Jetzt.

Während Peeta seine Schwimmübungen macht, fällt mir etwas auf. Der verbliebene Schorf beginnt sich zu lösen. Ich nehme etwas Sand und reibe damit vorsichtig über meinen Arm, bis ich die restliche Kruste abgerubbelt und die darunterliegende neue Haut freigelegt habe. Ich rufe Peeta und zeige ihm, wie auch er sich vom juckenden Schorf befreien kann, und als wir so schrubben, lenke ich das Gespräch auf die Flucht.

»Hör zu, jetzt sind wir nur noch zu acht. Ich denke, es ist Zeit abzuhauen«, flüstere ich, obwohl mich keiner der Tribute hören könnte.

Peeta nickt, und ich sehe, wie er über meinen Vorschlag nachdenkt. Abwägt, wie die Chancen für uns stehen. »Pass auf«, sagt er. »Lass uns hierbleiben, bis Brutus und Enobaria tot sind. Wenn ich richtigliege, tüftelt Beetee gerade an einer Falle für sie. Danach werden wir gehen, ich verspreche es.«

Ich bin nicht ganz überzeugt. Doch wenn wir jetzt gehen, sitzen uns zwei gegnerische Gruppen im Nacken. Vielleicht sogar drei, denn wer weiß, was Chaff im Schilde führt. Plus die Uhr, mit der wir zu kämpfen haben. Und dann ist da noch Beetee. Johanna hat ihn nur meinetwegen hergebracht, und wenn wir weg sind, wird sie ihn mit Sicherheit töten. Da fällt es mir wieder ein. Ich kann Beetee sowieso nicht beschützen. Es kann nur einen Sieger geben und das muss Peeta sein. Das muss ich akzeptieren. Alle Entscheidungen, die ich treffe, müssen auf sein Überleben ausgerichtet sein.

»In Ordnung«, sage ich. »Wir bleiben hier, bis die Karrieros tot sind. Aber dann ist Schluss.« Ich drehe mich um und winke Finnick zu. »He, Finnick, komm ins Wasser! Wir wissen jetzt, wie wir dich wieder schön machen können!«

Zu dritt scheuern wir uns die Krusten vom Körper, helfen einander mit dem Rücken, und als wir aus dem Wasser steigen, sind wir so rosig wie der Himmel. Noch einmal tragen wir die Salbe auf, weil die Haut so wirkt, als brauchte sie einen Sonnenschutz, doch auf weicher Haut sieht sie nicht halb so schlimm aus, und im Dschungel wird sie eine gute Tarnung sein.

Beetee ruft uns zu sich, und wir erfahren, dass er während all der Stunden, die er dagesessen und an seinem Draht gefummelt hat, tatsächlich einen Plan ausgeheckt hat. »Wir dürften uns einig sein, dass wir als Nächstes Brutus und Enobaria töten müssen«, sagt er sanft. »Ich glaube nicht, dass sie uns noch einmal offen angreifen werden, jetzt, da sie so in der Minderheit sind. Wir könnten uns wohl an ihre Fersen heften, aber das wäre gefährlich und anstrengend.«

»Meinst du, sie haben das mit der Uhr rausgekriegt?«, frage ich.

»Wenn nicht, werden sie es bald rauskriegen. Vielleicht nicht so exakt wie wir. Aber sie mussten wissen, dass zumindest einige Sektoren für Angriffe ausgerüstet sind und diese in regelmäßigen Abständen immer wieder auftreten. Und es wird ihnen nicht entgangen sein, dass unser letzter Kampf durch das Eingreifen der Spielmacher unterbunden wurde. Wir wissen, dass das ein Versuch war, uns die Orientierung zu nehmen, doch auch sie werden sich fragen, was der Grund dafür war, und am Schluss könnten sie zu der Erkenntnis gelangen, dass die Arena eine Uhr ist«, sagt Beetee. »Daher denke ich, dass wir ihnen am besten eine Falle stellen.«

»Warte, ich gehe Johanna holen«, sagt Finnick. »Sie wird stinksauer sein, wenn sie mitbekommt, dass wir ohne sie über so wichtige Dinge sprechen.«

»Oder auch nicht«, brumme ich in mich hinein, denn eigentlich ist sie immer sauer. Aber ich halte ihn nicht auf, denn wenn man mich in diesem Augenblick von einem Plan ausschließen würde, wäre ich auch ganz schön stinkig.

Als sie dazugestoßen ist, scheucht Beetee uns allesamt ein Stück zurück, damit er mehr Platz hat. Rasch zeichnet er einen Kreis in den Sand und unterteilt ihn in zwölf Segmente. Das ist die Arena, nicht mit Peetas präzisen Strichen, sondern mit den groben Strichen eines Mannes, der mit anderen, weit komplexeren Dingen beschäftigt ist. »Wenn ihr Brutus und Enobaria wärt und nun über den Dschungel Bescheid wusstest, wo würdet ihr euch am sichersten fühlen?«, fragt Beetee. Seine Stimme hat nichts Herablassendes, trotzdem erinnert er mich an einen Lehrer, der die Schüler zum Mitmachen animieren will. Vielleicht liegt es am Altersunterschied oder einfach daran, dass Beetee wahrscheinlich hunderttausendmal schlauer ist als wir anderen.

»Wo wir sind, am Strand«, sagt Peeta. »Das ist der sicherste Ort.«

»Und warum sind sie dann nicht am Strand?«, fragt Beetee.

»Weil wir hier sind«, sagt Johanna ungeduldig.

»Exakt. Wir sind hier und beanspruchen den Strand für uns. Und wo würdet ihr dann hingehen?«, fragt Beetee.

Ich denke an den tödlichen Dschungel, den besetzten Strand. »Ich würde mich am Rand des Dschungels verstecken. Dann könnte ich fliehen, wenn eine Attacke kommt. Und ich könnte uns ausspionieren.«

»Auch um zu essen«, sagt Finnick. »Im Dschungel wimmelt es von unbekannten Tieren und Pflanzen. Aber wer uns beobachtet, weiß, dass die Nahrung aus dem Meer sicher ist.«

Beetee lächelt uns an, als hätten wir seine Erwartungen übertroffen. »Sehr gut. Ihr habt’s begriffen. Jetzt hört euch meinen Vorschlag an: Wir schlagen um zwölf Uhr zu. Was passiert genau um Mittag und um Mitternacht?«

»Der Blitz schlägt in den Baum ein«, sage ich.

»Genau. Deshalb schlage ich vor, dass wir nach dem nächsten Mittagsblitz und vor dem Mitternachtsblitz meinen Draht von diesem Baum bis ins Salzwasser spannen, das, wie ihr wisst, ein sehr guter Leiter ist. Wenn der Blitz einschlägt, wird die Spannung über den Draht nicht nur ins Wasser geleitet, sondern auch in den umliegenden Strand, der noch von der Zehn-Uhr-Welle feucht sein wird. Jeder, der in diesem Augenblick Wasser oder Sand berührt, wird von dem Stromschlag getötet«, sagt Beetee.

Es entsteht eine längere Pause, in der wir Beetees Plan verdauen. Mir erscheint er fantastisch bis unmöglich. Aber warum eigentlich? Ich habe doch selbst unzählige Fallen gestellt. Ist das nicht einfach eine größere, ausgeklügeltere Falle? Kann sie vielleicht wirklich funktionieren? Dürfen wir das überhaupt infrage stellen, wir Tribute, die darauf abgerichtet sind, Fisch, Holz und Kohle zu gewinnen? Was wissen wir schon darüber, wie man die Kräfte des Himmels nutzbar macht?

Peeta hakt nach. »Hält der Draht das denn aus, so viel Energie weiterzuleiten, Beetee? Er sieht so zart aus, als würde er sofort durchschmoren …«

»Genau das wird er auch. Aber erst, nachdem der Strom hindurchgelaufen ist. Er funktioniert wie eine Sicherung. Nur, dass er Strom leitet«, sagt Beetee.

»Woher weißt du das?«, fragt Johanna, ganz und gar nicht überzeugt.

»Weil ich ihn erfunden habe«, sagt Beetee und klingt leicht überrascht. »Das ist kein herkömmlicher Draht. Genauso wenig, wie der Blitz ein natürlicher Blitz und der Baum ein natürlicher Baum ist. Du kennst dich am besten von uns allen mit Bäumen aus, Johanna. Er müsste doch inzwischen längst zerstört sein, oder?«

»Ja«, sagt sie mürrisch.

»Macht euch keine Sorgen um den Draht - er wird tun, was ich sage«, versichert Beetee uns.

»Und wo werden wir sein, wenn es passiert?«, fragt Finnick.

»Tief genug im Dschungel, dass uns nichts passieren kann«, antwortet Beetee.

»Aber dann kann den Karrieros auch nichts passieren, es sei denn, sie halten sich in der Nähe des Wassers auf«, werfe ich ein.

»Stimmt«, sagt Beetee.

»Aber das ganze Meeresgetier wird dabei doch gekocht«, sagt Peeta.

»Vermutlich mehr als gekocht«, sagt Beetee. »Ziemlich wahrscheinlich, dass wir diese Nahrungsquelle dabei vernichten. Aber du hast im Dschungel doch andere Dinge entdeckt, die man essen kann, nicht wahr, Katniss?«

»Ja. Nüsse und Ratten«, sage ich. »Und wir haben Sponsoren.«

»Na, dann sehe ich darin kein Problem«, sagt Beetee. »Aber da wir Verbündete sind und dieser Plan unsere vereinten Kräfte erfordert, liegt die Entscheidung darüber, ob wir es versuchen wollen oder nicht, bei euch vieren.«

Wir sind wie Schulkinder. Unser Horizont reicht gerade so weit, dass wir seine Theorie unter den elementarsten Gesichtspunkten betrachten können. Und die haben im Grunde gar nichts mit seinem eigentlichen Plan zu tun. Ich schaue in die ratlosen Gesichter der anderen. »Warum nicht?«, sage ich. »Wenn es schiefgeht, schadet’s nicht. Wenn es funktioniert, stehen die Chancen gut, dass sie getötet werden. Und selbst wenn uns das nicht gelingt und wir nur die Fische töten, verlieren Brutus und Enobaria auch eine Nahrungsquelle.«

»Ich sage, wir versuchen es«, sagt Peeta. »Katniss hat recht.«

Finnick hebt die Brauen und sieht Johanna an. Ohne sie wird er nicht zustimmen. »Also gut«, sagt sie schließlich. »Auf jeden Fall besser, als ihnen im Dschungel hinterherzujagen. Und ich glaube nicht, dass sie hinter unseren Plan kommen, wir kapieren ihn ja selbst kaum.«

Bevor Beetee an dem Baum herumbastelt, möchte er ihn in Augenschein nehmen. Dem Stand der Sonne nach ist es etwa neun Uhr morgens. Wir müssen unseren Strand sowieso bald verlassen. Also brechen wir das Lager ab, gehen hinüber zu dem Strand, der an den Gewittersektor grenzt, und dringen in den Dschungel ein. Beetee ist noch immer zu schwach, um den Aufstieg aus eigener Kraft zu bewältigen, deshalb tragen Finnick und Peeta ihn abwechselnd. Ich überlasse Johanna die Führung, denn zum Baum geht es ziemlich geradeaus, sie könnte uns kaum in die Irre führen. Und ich kann mit einem Köcher voller Pfeile sehr viel mehr ausrichten als sie mit den beiden Äxten. Deshalb ist es am klügsten, wenn ich die Nachhut bilde.

Die dichte, feuchtwarme Luft lastet auf mir. Seit die Spiele begonnen haben, sind wir ihr ununterbrochen ausgesetzt. Mir wäre lieber, Haymitch würde statt Brot aus Distrikt 3 mal wieder welches aus Distrikt 4 schicken, in den letzten beiden Tagen habe ich eimerweise Schweiß vergossen, und trotz all des Fischs lechze ich nach Salz. Ein Stück Eis wäre auch nicht schlecht. Oder kaltes Wasser. Ich bin durchaus dankbar für die Flüssigkeit aus den Bäumen, doch sie hat die gleiche Temperatur wie das Salzwasser und die Luft und die anderen Tribute und ich. Wir sind allesamt ein großer warmer Eintopf.

Als wir uns dem Baum nähern, schlägt Finnick vor, dass ich die Führung übernehme. »Katniss kann das Kraftfeld hören«, erklärt er Beetee und Johanna.

»Hören?«, fragt Beetee.

»Nur mit dem Ohr, das im Kapitol wiederhergestellt wurde«, sage ich. Beetee kann ich mit der Story natürlich nicht kommen. Bestimmt erinnert er sich noch daran, dass er mir gezeigt hat, wie man ein Kraftfeld entdeckt, wahrscheinlich ist es sogar unmöglich, Kraftfelder zu hören. Aber er verkneift sich einen Kommentar, aus welchem Grund auch immer.

»Dann lasst unbedingt Katniss vorgehen«, sagt er, während er einen Augenblick stehen bleibt, um seine beschlagenen Brillengläser zu putzen. »Mit Kraftfeldern ist nicht zu spaßen.«

Der Gewitterbaum überragt die anderen so sehr, dass er nicht zu verfehlen ist. Ich suche mir ein Büschel mit Nüssen und lasse die anderen anhalten, während ich langsam den Hang hinaufgehe und Nüsse vor mich werfe. Doch ich sehe das Kraftfeld, noch ehe es von einer Nuss getroffen wird, es ist nur fünfzehn Meter entfernt. Ich entdecke die wellige Fläche hoch oben zu meiner Rechten, als ich die Wand aus Grün vor mir absuche. Ich werfe eine Nuss direkt vor mich und höre sie zur Bestätigung zischen.

»Haltet euch unter dem Gewitterbaum«, rufe ich den anderen zu.

Wir verteilen die Aufgaben. Finnick deckt Beetee, der den Baum untersucht, Johanna zapft Wasser, Peeta sammelt Nüsse, und ich gehe in der Nähe jagen. Die Baumratten scheinen keine Angst vor Menschen zu haben, ich erlege sie mühelos. Das Geräusch der Zehn-Uhr-Welle erinnert mich daran, dass es Zeit ist umzukehren, also gehe ich zurück zu den anderen und nehme die Beute aus. Zur Warnung ziehe ich ein paar Meter vor dem Kraftfeld eine Linie in den Boden, dann lassen Peeta und ich uns davor nieder, um Nüsse zu rösten und Rattenwürfel zu braten.

Beetee ist noch immer mit dem Baum beschäftigt, womit genau, weiß man nicht, er misst wohl irgendwas aus. Irgendwann reißt er ein Stück Rinde ab, kommt zu uns und wirft es Richtung Kraftfeld. Die Rinde prallt zurück und landet glühend auf dem Boden. Nach kurzer Zeit hat sie wieder ihre ursprüngliche Farbe angenommen. »Nun, das erklärt einiges«, sagt Beetee. Ich werfe Peeta einen Blick zu und muss mir auf die Lippe beißen, um nicht zu lachen. Das erklärt gar nichts, außer vielleicht für Beetee.

Da hören wir aus dem benachbarten Sektor die Klickgeräusche. Also ist es jetzt elf Uhr. Im Dschungel sind sie viel lauter als gestern Abend am Strand. Wir lauschen konzentriert.

»Mechanisch ist das nicht«, sagt Beetee entschieden.

»Ich tippe auf Insekten«, sage ich. »Käfer oder so.«

»Irgendwas mit Zangen«, meint Finnick.

Das Geräusch schwillt an, als würden unsere Worte die Nähe von lebendigem Fleisch verheißen. Was immer diese Geräusche verursacht, ich wette, es könnte uns in Sekundenschnelle bis auf die Knochen abnagen.

»Jedenfalls sollten wir zusehen, dass wir hier wegkommen«, sagt Johanna. »In weniger als einer Stunde kommt der Blitz.«

Weit gehen wir nicht. Nur bis zu dem Zwillingsbaum im Blutregensektor. Wir lassen uns zu einer Art Picknick nieder, essen unsere Dschungelnahrung und warten auf den Blitz, der anzeigt, dass es Mittag ist. Als das Klicken nachlässt, klettere ich auf Beetees Geheiß in die Baumkrone. Der Blitzeinschlag ist so grell, dass er selbst mich an meinem Platz blendet, trotz des gleißenden Sonnenlichts. Er umschließt den fernen Baum ganz, lässt ihn blauweiß erglühen und die Luft in der Umgebung elektrisch knistern. Ich klettere wieder hinunter und erstatte Beetee Bericht, der zufrieden wirkt, obwohl ich mich nicht sonderlich wissenschaftlich ausdrücke.

In einem Bogen gehen wir zurück zum Zehn-Uhr-Strand. Der Sand ist weich und feucht und von der jüngsten Welle gesäubert. Den Nachmittag gibt Beetee uns mehr oder weniger frei, während er mit dem Draht hantiert. Da es sich um seine Waffe handelt und wir anderen uns ganz auf sein Wissen verlassen, stellt sich das eigenartige Gefühl ein, als hätten wir früher Schulschluss. Anfangs legen wir uns abwechselnd am Rand des Dschungels in den Schatten und schlafen ein Ründchen, doch am späten Nachmittag sind alle wach und voller Anspannung. Da dies unsere letzte Gelegenheit sein könnte, an Meeresgetier zu kommen, beschließen wir, ein Festmahl auszurichten. Unter Finnicks Führung gehen wir mit dem Speer auf die Jagd nach Fischen und sammeln Muscheln, tauchen sogar nach Austern. Das gefällt mir am besten, aber nicht, weil ich so versessen auf Austern wäre. Ich habe nur einmal welche gegessen, damals im Kapitol, und konnte mich mit ihrer schleimigen Konsistenz einfach nicht anfreunden. Aber es ist schön so tief unten im Wasser, wie in einer anderen Welt. Das Wasser ist sehr klar und Schwärme von Fischen in leuchtenden Farben und merkwürdige Seeblumen zieren den Sandboden.

Johanna hält Wache, während Finnick, Peeta und ich unseren Fang säubern und bereitlegen. Peeta bricht eine Auster auf und muss lachen: »He, schaut euch das mal an!« Er hält eine glänzende, vollkommene Perle hoch, so groß wie eine Erbse. »Du weißt ja, wenn man nur genug Druck auf die Kohle ausübt, werden daraus Perlen«, sagt er ganz ernst zu Finnick.

»Stimmt doch gar nicht«, sagt Finnick abschätzig. Aber ich lache mich halb tot. Ich erinnere mich, wie die unbedarfte Effie Trinket uns letztes Jahr, als uns noch kein Mensch kannte und wir noch keine Berühmtheiten waren, den Zuschauern im Kapitol angepriesen hat. Als Kohle, die durch unsere gewichtige Existenz zu Perlen gepresst wurde. Schönheit, die aus Schmerz entstand.

Peeta spült die Perle im Wasser ab und reicht sie mir. »Für dich.« Ich lege sie auf meine Handfläche und betrachte die im Sonnenlicht schimmernde Oberfläche. Ja, ich werde sie behalten. In den wenigen Stunden, die mir in diesem Leben bleiben, werde ich sie bei mir tragen. Dieses letzte Geschenk von Peeta. Das einzige, das ich auch annehmen kann. Vielleicht gibt es mir im letzten Augenblick die nötige Kraft.

»Danke«, sage ich und schließe die Faust. Ungerührt schaue ich in die blauen Augen des Menschen, der nun mein größter Gegner ist; der mein Leben retten will, und wenn es seins kostet. Und ich gebe mir das Versprechen, dass ich seinen Plan durchkreuzen werde.

Aus seinen Augen weicht das Lachen, und er schaut mich so intensiv an, als könnte er meine Gedanken lesen. »Das Medaillon hat nicht gewirkt, was?«, sagt Peeta, obwohl Finnick dabeisteht. Obwohl jeder ihn hören kann. »Katniss?«

»Es hat gewirkt«, sage ich.

»Aber nicht so, wie ich wollte«, sagt er und wendet den Blick ab. Er hat jetzt nur noch Augen für die Austern.

Als wir uns über das Essen hermachen wollen, kommt ein Fallschirm mit zwei Anhängseln herabgesegelt. Ein kleiner Topf mit einer scharfen roten Soße und noch mehr Brötchen aus Distrikt 3. Finnick zählt sie natürlich sofort durch. »Wieder vierundzwanzig«, sagt er.

Macht insgesamt zweiunddreißig Brötchen. Jeder nimmt wieder fünf, sieben bleiben übrig, die wir niemals gerecht aufteilen können. Brot für den einen, der übrig bleiben wird.

Das salzige Fischfleisch, die saftigen Muscheln. Sogar die Austern schmecken, vor allem jetzt mit der Soße. Wir schlagen uns die Bäuche voll, bis keiner mehr papp sagen kann, trotzdem schaffen wir nicht alles. Aber die Reste werden sich nicht halten, deshalb werfen wir sie zurück ins Wasser, damit die Karrieros sie sich nicht unter den Nagel reißen, wenn wir fort sind.

Keiner achtet auf die Muschelschalen. Die Welle wird sie wegschwemmen.

Jetzt können wir nur noch warten. Peeta und ich sitzen am Wasser, Hand in Hand, wortlos. Er hat gestern Abend seine letzte Rede gehalten, doch sie hat bei mir nicht zu einem Sinneswandel geführt, und nichts, was ich sagen könnte, wird bei ihm einen Sinneswandel bewirken. Für überzeugende Geschenke ist es jetzt zu spät.

Trotzdem habe ich die Perle zusammen mit dem Zapfhahn und der Salbe in einen Fallschirm gewickelt und mit Ranken an meine Hüfte gebunden. Ich hoffe, sie schafft es zurück nach Distrikt 12.

Meine Mutter und Prim werden schon einen Weg finden, sie Peeta zurückzugeben, bevor ich begraben werde.

26

Die Hymne erklingt, doch heute Abend erscheinen keine Gesichter am Himmel. Die Zuschauer werden ungeduldig sein, sie dürsten nach Blut. Aber Beetees Falle ist so vielversprechend, dass die Spielmacher keine weiteren Attacken gestartet haben. Vielleicht sind sie einfach neugierig darauf, wie sie funktioniert.

Als Finnick und ich meinen, es ist neun Uhr, verlassen wir alle gemeinsam das mit Muschelschalen übersäte Lager, gehen hinüber zum Zwölf-Uhr-Strand und machen uns im Mondschein heimlich, still und leise auf den Weg zum Gewitterbaum. Mit vollem Bauch sind wir alle kurzatmig und der Aufstieg fällt uns schwerer als am Morgen. Ich bereue schon das letzte Dutzend Austern.

Beetee möchte, dass Finnick ihm hilft, die anderen halten Wache. Bevor Beetee den Draht am Baum befestigt, wickelt er mehrere Meter ab. Finnick soll sie an einem abgebrochenen Ast festbinden und diesen auf den Boden legen. Dann stellen sie sich rechts und links vom Baum auf und reichen sich abwechselnd die Spule, sodass der Draht viele Male um den Baumstamm gewickelt wird. Erst sieht es planlos aus, dann erkenne ich im Mondlicht auf Beetees Seite ein Muster, wie ein kompliziertes Labyrinth. Ich frage mich, ob es von Bedeutung ist, wie der Draht angebracht wird, oder ob das nur dazu dient, die Spekulationen der Zuschauer anzuheizen. Die meisten von ihnen dürften von Elektrizität genauso wenig Ahnung haben wie ich.

Die Arbeit am Baumstamm ist just in dem Augenblick beendet, als wir die Welle hören. Ich habe bisher nicht herausgefunden, wann genau sie hervorbricht. Irgendwo muss sie sich aufbauen, dann bricht sie hervor, und dann kommen die Nachwirkungen. Der Himmel sagt mir, dass es halb elf ist.

Jetzt verrät Beetee uns, wie es weitergehen soll. Weil Johanna und ich die wendigsten sind, sollen wir die Rolle durch den Dschungel nach unten tragen und unterwegs den Draht abwickeln, ihn quer über den Zwölf-Uhr-Strand verlegen und die Metallrolle mit dem restlichen Draht tief im Wasser versenken. Anschließend wieder in den Dschungel zurückrennen. Wenn wir uns jetzt auf den Weg machen, und zwar sofort, mussten wir auf der sicheren Seite sein.

»Ich möchte als Wache mitgehen«, sagt Peeta sofort. Nach der Sache mit der Perle ist er noch weniger bereit, mich aus den Augen zu lassen.

»Du bist zu langsam. Und außerdem brauche ich dich an diesem Ende. Katniss passt schon auf«, sagt Beetee. »Wir haben jetzt keine Zeit zu diskutieren. Tut mir leid. Wenn die Mädchen lebend da rauskommen sollen, müssen sie jetzt los.« Er gibt Johanna die Rolle.

Mir gefällt der Plan genauso wenig wie Peeta. Wie soll ich ihn aus der Entfernung beschützen? Aber Beetee hat recht. Mit seinem Bein ist Peeta zu langsam, er würde den Abhang nicht schnell genug schaffen. Johanna und ich sind die Schnellsten und haben den sichersten Tritt auf dem Dschungelboden. Ich sehe keine Alternative. Und wenn ich hier irgendwem traue außer Peeta, dann ist es Beetee.

»Das geht in Ordnung«, sage ich zu Peeta. »Wir werfen nur schnell die Rolle ins Wasser und kommen sofort wieder rauf.«

»Aber nicht ins Blitzgebiet«, erinnert mich Beetee. »Rennt zu dem Baum im Ein-bis-zwei-Sektor. Wenn ihr merkt, dass euch nicht genug Zeit bleibt, rückt eins weiter. Aber geht bloß nicht zurück zum Strand, bevor ich den Schaden in Augenschein genommen habe.«

Ich nehme Peetas Gesicht in meine Hände. »Mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns um Mitternacht.« Ich küsse ihn, und ehe er noch etwas einwenden kann, lasse ich ihn los und frage Johanna: »Fertig?«

»Wieso nicht?«, sagt Johanna achselzuckend. Sie ist augenscheinlich nicht erfreuter als ich, dass wir zusammenarbeiten sollen. Aber wir sind alle in Beetees Falle gefangen. »Du passt auf, ich wickele ab. Später können wir mal tauschen.«

Ohne weitere Diskussion machen wir uns auf den Weg. Wir reden überhaupt nicht viel. So schnell es geht, rennen wir den Abhang hinunter, die eine mit der Rolle, die andere Ausschau haltend. Auf halber Strecke hören wir plötzlich das Klicken, es ist also nach elf.

»Lass uns schnell machen«, sagt Johanna. »Ich möchte so weit wie möglich vom Wasser weg sein, wenn der Blitz einschlägt. Nur für den Fall, dass Minus falsch gerechnet hat.«

»Jetzt nehme ich mal die Rolle«, sage ich. Es ist anstrengender, den Draht abzuwickeln, als Ausschau zu halten, und sie hat das jetzt schon lange genug gemacht.

»Bitte sehr«, sagt Johanna und reicht mir die Rolle.

In dem Augenblick, als unsere beiden Hände die Rolle halten, spüren wir ein leichtes Vibrieren. Plötzlich schnellt der dünne goldene Draht von oben zu uns herunter und windet sich um unsere Handgelenke. Das lose Ende schlängelt sich zu unseren Füßen.

Es dauert keine Sekunde, bis wir begriffen haben, was los ist. Johanna und ich schauen uns an, doch keine von uns muss es aussprechen. Jemand, der nicht allzu weit entfernt sein kann, hat den Draht durchtrennt. Und dieser Jemand wird sich jeden Moment auf uns stürzen.

Ich befreie meine Hand aus dem Draht und schließe sie gerade um die Federn eines Pfeils, als mir jemand mit voller Wucht einen Gegenstand gegen den Kopf schlägt. Als Nächstes merke ich, dass ich auf dem Rücken in den Ranken liege und meine rechte Schläfe schrecklich wehtut. Irgendwas stimmt nicht mit meinen Augen. Immer wieder verschwimmt das Bild, als ich versuche, die beiden Monde am Himmel in Deckung zu bringen. Das Atmen fällt mir schwer, und plötzlich sehe ich auch, warum. Johanna sitzt auf meiner Brust und drückt mit den Knien meine Schultern auf den Boden.

Da spüre ich ein Stechen im linken Unterarm. Ich versuche Johanna abzuschütteln, aber ich bin immer noch nicht recht bei Sinnen. Johanna gräbt die Spitze ihres Messers - zumindest nehme ich an, dass es das ist - ins Fleisch meines Unterarms und dreht sie hin und her. Ich spüre ein unerträgliches Reißen, dann rinnt etwas Warmes an meinem Handgelenk herunter und sammelt sich in meiner Handfläche. Johanna drückt meinen Arm nach unten und schmiert mir das halbe Gesicht mit Blut ein.

»Unten bleiben!«, faucht sie. Plötzlich spüre ich nicht länger ihr Gewicht auf mir, ich bin allein.

Unten bleiben?, denkeich. Was soll das? Was ist los? Ich schließe die Augen, sperre die schwankende Welt aus und versuche mir einen Reim auf meine Lage zu machen.

Ich muss daran denken, wie Johanna Wiress auf den Sand stieß. »Einfach unten bleiben, kapiert?« Aber damals hat sie Wiress ja nicht angegriffen. Zumindest nicht so. Und ich bin ja auch nicht Wiress. Ich bin nicht Plus. »Einfach unten bleiben, kapiert?«, echot es in meinem Kopf.

Schritte kommen näher. Zwei Paar. Schwer, versuchen nicht, sich zu verstecken.

Brutus’ Stimme. »Da, die ist so gut wie tot! Weiter, Enobaria!« Schritte, die sich in der Nacht verlieren.

Und ich? Ich dämmere zwischen Bewusstsein und Ohnmacht und suche nach einer Antwort. Bin ich so gut wie tot? Meine Lage erlaubt mir nicht, zu widersprechen. Überhaupt kann ich nur mit Mühe einen klaren Gedanken fassen. So viel steht fest. Johanna hat mich attackiert. Mir diese Drahtrolle an den Kopf geschleudert. In meinen Arm geschnitten und meinen Adern wahrscheinlich irreparable Schäden zugefügt, doch bevor sie mich erledigen konnte, sind Brutus und Enobaria aufgetaucht.

Das Bündnis ist Vergangenheit. Finnick und Johanna müssen sich abgesprochen haben, dass sie heute Nacht über uns herfallen. Ich hab’s doch gesagt, dass wir uns heute Morgen hätten absetzen müssen. Ich weiß nicht, auf welcher Seite Beetee steht. Aber ich bin eine leichte Beute, genau wie Peeta.

Peeta! Panisch reiße ich die Augen auf. Peeta wartet oben am Baum, völlig arglos. Vielleicht hat Finnick ihn bereits getötet. »Nein«, flüstere ich. Den Draht haben die Karrieros ganz in der Nähe durchtrennt. Finnick und Peeta und Beetee - sie können nicht wissen, was hier unten vor sich geht. Sie können sich nur fragen, was passiert ist, warum der Draht schlaff geworden ist, falls er sich nicht aufgrund der Zugspannung sogar um den Baum gewickelt hat. Das allein kann doch kein Zeichen sein, loszuschlagen, oder? Bestimmt hat Johanna allein beschlossen, dass es Zeit ist, mit uns zu brechen. Mich zu töten. Vor den Karrieros abzuhauen. Und dann Finnick so schnell wie möglich dazuzuholen.

Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich zurück zu Peeta muss, um ihn zu retten. Mit letzter Willenskraft setze ich mich auf, ein Baumstamm ganz in der Nähe hilft mir, mich hochzurappeln. Ich bin heilfroh, dass ich etwas zum Anlehnen habe, denn der Dschungel schwankt hin und her. Ohne Vorwarnung beuge ich mich vor und erbreche das üppige Festmahl, so lange, bis keine einzige Auster in meinem Körper zurückgeblieben sein kann. Zitternd und schweißbedeckt prüfe ich meinen körperlichen Zustand.

Als ich meinen verletzten Arm hebe, spritzt mir das Blut ins Gesicht und die Welt kippt wieder bedenklich. Ich schließe die Augen und klammere mich an den Baum, bis meine Umgebung etwas stabiler geworden ist. Ich mache ein paar Schritte auf den Nachbarbaum zu, zupfe etwas Moos ab und wickele es fest um meinen Arm, ohne die Wunde näher zu untersuchen. Besser so. Es ist ganz sicher besser, wenn ich sie nicht anschaue. Dann erlaube ich meiner Hand, vorsichtig die Wunde am Kopf zu betasten. Eine große Beule, aber nur wenig Blut. Offenbar liegt der Schaden innen, aber Gefahr zu verbluten besteht wohl nicht. Zumindest nicht durch den Kopf.

Ich wische die Hände an Moos ab und greife mit dem verletzten linken Arm unsicher nach dem Bogen. Lege einen Pfeil in die Sehne ein. Befehle meinen Füßen, den Hang hinaufzustapfen.

Peeta. Mein letzter Wunsch. Mein Versprechen. Sein Leben zu retten. Ein bisschen leichter ums Herz wird mir, als mir einfällt, dass keine Kanone abgefeuert wurde und er also noch leben muss. Vielleicht hat Johanna auf eigene Faust gehandelt, weil sie wusste, dass Finnick sich ihr anschließen würde, wenn ihre Absichten erst mal klar wären. Obwohl man einfach nicht durchblickt, was zwischen den beiden läuft. Ich muss daran denken, wie er zu ihr hinsah und ihre Zustimmung abwartete, bevor er sich mit Beetees Falle einverstanden erklärte. Das Bündnis zwischen ihnen geht viel tiefer, es beruht auf jahrelanger Freundschaft und wer weiß was noch. Wenn Johanna mich angegriffen hat, darf ich Finnick nicht länger über den Weg trauen.

Ich bin kaum zu dieser Schlussfolgerung gelangt, da höre ich, wie jemand den Hang heruntergerannt kommt. Peeta oder Beetee können es nicht sein, so schnell sind sie nicht. Gerade noch rechtzeitig ducke ich mich hinter einem Vorhang aus Ranken. Finnick fliegt an mir vorbei, seine Haut ist fleckig von der Salbe, er springt durchs Unterholz wie ein Hirsch. Im Nu erreicht er den Ort der Attacke, jetzt muss er das Blut entdeckt haben. »Johanna! Katniss!«, ruft er. Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis er fort ist, in die Richtung, die Johanna und die Karrieros eingeschlagen haben.

Ich bewege mich, so schnell ich kann, ohne dass die Welt sich wieder dreht. In meinem Kopf hämmert es im Rhythmus meines rasenden Herzschlags. Das Klicken der Insekten, die wahrscheinlich vom Blutgeruch erregt sind, schwillt in meinen Ohren zu einem steten Gebrüll an. Oder nein. Vielleicht klingeln mir auch die Ohren von dem Schlag mit der Drahtrolle. Ich werde erst Gewissheit haben, wenn die Insekten still sind. Doch wenn die Insekten verstummen, kommt der Blitz. Ich muss schneller laufen. Ich muss zu Peeta.

Der Knall einer Kanone lässt mich abrupt stehen bleiben. Einer ist gestorben. Jetzt, da alle bewaffnet und voller Angst durch die Gegend laufen, könnte es jeder sein. Aber wer immer es auch sein mag, sein Tod wird der Startschuss für ein allgemeines Gemetzel heute Nacht sein. Die Leute werden erst töten, über ihre Motive werden sie dann hinterher nachdenken. Ich zwinge meine Beine zu rennen.

Etwas verhakt sich in meinen Füßen und ich falle der Länge nach hin. Ich spüre, wie sich etwas um mich wickelt, und plötzlich bin ich in Fasern gefangen, die in die Haut schneiden. Ein Netz! Das muss eins von Finnicks tollen Netzen sein, die er ausgelegt hat, um mich zu fangen, und er wartet bestimmt schon ganz in der Nähe mit erhobenem Dreizack. Ich schlage wild um mich, wodurch ich mich nur noch mehr in dem Netz verheddere. Dann betrachte ich es im Mondlicht genauer. Verwirrt hebe ich den Arm und sehe, dass es aus schimmernden Goldfaden besteht. Das ist gar keins von Finnicks Netzen, das ist Beetees Draht. Vorsichtig stehe ich auf und stelle fest, dass ich über ein Stück Draht gestolpert bin, das sich an einem Baumstamm verheddert hat, als es zum Gewitterbaum zurückgeschnellt ist. Vorsichtig befreie ich mich, halte von nun an einen Sicherheitsabstand zum Draht ein und haste weiter bergauf.

Die gute Nachricht ist, dass ich auf dem richtigen Weg bin und durch die Kopfverletzung immerhin nicht meinen Orientierungssinn verloren habe. Die schlechte ist das drohende Gewitter, an das der Draht mich erinnert hat. Noch höre ich die Insekten, aber sind sie nicht schon leiser geworden?

Beim Rennen halte ich mich an den Draht, der ein paar Meter links von mir in Schleifen daliegt, aber ich gebe gut acht, dass ich ihm nicht zu nah komme. Sobald die Insekten verstummen und der erste Blitz in den Baum einschlägt, wird er sich mit voller Wucht in diesen Draht entladen, und jeder, der damit in Berührung kommt, wird sterben.

Der Baum kommt in Sicht, sein Stamm ist wie mit Gold verziert. Ich bremse ab, versuche mich unauffällig zu bewegen, aber ich kann von Glück sagen, dass ich nicht umkippe. Ich suche nach Lebenszeichen der anderen. Nichts. Keiner da. »Peeta?«, rufe ich leise. »Peeta?«

Als Antwort kommt ein leises Stöhnen. Ich fahre herum und entdecke weiter oben auf dem Boden eine Gestalt. »Beetee!«, rufe ich. Ich renne zu ihm und knie hin. Das Stöhnen muss unwillkürlich gekommen sein. Er ist nicht bei Bewusstsein, obwohl ich keine Wunde sehe außer einem tiefen Schnitt unterhalb der Armbeuge. Ich klaube etwas Moos zusammen und verbinde damit provisorisch den Arm, während ich versuche, ihn wach zu rütteln: »Beetee! Beetee, was ist hier los? Woher hast du diese Wunde? Beetee!« Ich schüttele ihn, wie man einen Verletzten niemals schütteln sollte, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Er stöhnt wieder auf und hebt kurz die Hand, um mich abzuwehren.

Da erst bemerke ich das Messer in seiner Hand, ein Messer, das, soweit ich weiß, zuvor Peeta bei sich trug und das nun lose mit Draht umwickelt ist. Verdutzt stehe ich auf, ziehe an dem Draht und stelle fest, dass er mit dem Baum verbunden ist. Erst da fällt mir das zweite Stück Draht ein, das Beetee ganz am Anfang, bevor er sich dem Stamm widmete, um einen Ast gewickelt und Finnick gereicht hatte, damit der es auf den Boden legt. Ich hatte gedacht, das Stück hätte irgendeine Funktion für die Falle und Beetee wollte es später einbauen. Aber offenbar hatte er etwas anderes im Sinn, denn hier liegt es noch, gut zwanzig bis fünfundzwanzig Meter Draht.

Ein Blick den Hügel hinauf sagt mir, dass wir uns ganz in der Nähe des Kraftfelds befinden. Da ist die verräterische freie Stelle, weit rechts über mir, genau wie heute Morgen. Was hatte Beetee vor? Hat er tatsächlich versucht, das Messer in das Kraftfeld zu stoßen, wie Peeta, nur mit voller Absicht? Und was soll das mit dem Draht? War das sein Plan B? Wollte er für den Fall, dass es nicht gelingen sollte, das Wasser unter Strom zu setzen, die Blitzenergie ins Kraftfeld leiten? Was würde dann wohl geschehen? Nichts? Oder die Katastrophe? Würden wir alle gegrillt? Ich nehme an, dass auch das Kraftfeld hauptsächlich aus Energie besteht. Das im Trainingscenter war unsichtbar gewesen. Dieses hier scheint irgendwie den Dschungel widerzuspiegeln. Doch als es von Peetas Messer und meinen Pfeilen getroffen wurde, habe ich gesehen, wie es ins Wanken geriet. Die wahre Welt liegt gleich dahinter.

In meinen Ohren klingelt es nicht mehr. Also waren es die Insekten. Das weiß ich jetzt, weil sie rasch leiser werden und ich nur noch die üblichen Dschungelgeräusche höre. Beetee ist keine Hilfe. Ich bekomme ihn einfach nicht wach. Ich kann ihn nicht retten. Ich weiß nicht, was er mit dem Messer und dem Draht vorhatte, und er ist nicht in der Lage, es mir zu erklären. Die Moosbandage um meinen Arm hat sich mit Blut vollgesogen, ich brauche mir nichts vorzumachen. Ich bin so benommen, dass ich in den nächsten Minuten das Bewusstsein verlieren werde. Ich muss machen, dass ich von diesem Baum wegkomme, und - »Katniss!« Ich höre seine Stimme, obwohl er weit weg ist. Was tut er denn da? Auch Peeta muss doch inzwischen begriffen haben, dass jetzt alle hinter uns her sind. »Katniss!«

Ich kann ihn nicht beschützen. Ich kann mich weder schnell noch weit bewegen, und meine Schießkünste sind bestenfalls fragwürdig. Ich tue das Einzige, womit ich die Aufmerksamkeit der Angreifer von ihm abziehen und auf mich lenken kann. »Peeta!«, schreie ich. »Peeta! Ich bin hier! Peeta!« Ja, ich werde sie anlocken, alle her zu mir, weg von Peeta, zu mir und dem Gewitterbaum, der bald selbst zur Waffe werden wird. »Ich bin hier! Ich bin hier!« Er wird es nicht schaffen. Nicht mit seinem Bein bei Dunkelheit. Er wird es nie und nimmer rechtzeitig schaffen. »Peeta!«

Es funktioniert. Ich höre sie kommen. Sie sind zu zweit. Sie brechen durch den Dschungel. Meine Knie geben nach und ich sacke neben Beetee zusammen, mein Gewicht ruht auf den Fersen. Ich hebe Pfeil und Bogen. Wenn ich sie erledige, wird Peeta die Übrigen überleben?

Enobaria und Finnick erreichen den Gewitterbaum. Sie können mich nicht sehen, weil ich oberhalb von ihnen sitze, am Hang, und durch die Salbe auf meiner Haut getarnt bin. Ich ziele auf Enobarias Hals. Wenn ich Glück habe, wird Finnick sich, sobald ich sie getötet habe, genau in dem Augenblick hinter dem Gewitterbaum verschanzen, wenn der Blitz einschlägt. Und das wird jeden Moment geschehen. Nur noch vereinzeltes Klicken der Insekten. Ich kann sie jetzt töten. Ich kann sie beide töten.

Noch ein Kanonendonner.

»Katniss!« Peeta schreit meinen Namen. Aber diesmal antworte ich nicht. Neben mir atmet Beetee immer noch schwach. Er und ich werden gleich sterben. Finnick und Enobaria werden sterben. Peeta ist am Leben. Zwei Kanonen sind abgefeuert worden. Brutus, Johanna, Chaff. Zwei von ihnen sind bereits tot. Peeta braucht dann nur noch einen Tribut zu töten. Mehr kann ich nicht für ihn tun. Ein Feind.

Feind. Feind. Das Wort zerrt an einer frischen Erinnerung. Zieht sie in mein Bewusstsein. Der Ausdruck auf Haymitchs Gesicht. »Katniss, wenn du in der Arena bist …« Der finstere Blick, die Zweifel. »Was dann?« Ich höre, wie meine Stimme schärfer wird, gereizt wegen des unausgesprochenen Vorwurfs. »Dann vergiss nicht, wer der Feind ist«, sagt Haymitch. »Das ist alles.«

Haymitchs letzter Rat für mich. Wieso sollte er mich daran erinnern müssen? Ich habe immer gewusst, wer der Feind ist. Der, der uns hungern lässt und quält und in der Arena tötet. Der bald alle töten wird, die ich liebe.

Ich lasse den Bogen sinken, als mir der Sinn seiner Worte klar wird. Ja, ich weiß, wer der Feind ist. Und es ist nicht Enobaria.

Endlich sehe ich klar und deudich, was es mit Beetees Messer auf sich hat. Mit zitternden Händen schiebe ich den Draht vom Griff des Messers, wickele ihn genau unterhalb der Federn um den Pfeil und sichere ihn mit einem Knoten, den ich beim Training gelernt habe.

Ich stehe auf, wende mich dem Kraftfeld zu. Ich zeige mich in voller Größe, aber das ist mir jetzt egal. Ich konzentriere mich einzig und allein darauf, wohin ich die Spitze richten muss, wohin Beetee das Messer geworfen hätte, wenn er gekonnt hätte. Ich richte den Bogen auf das flimmernde Viereck, die Schwachstelle, den … wie hat er es damals genannt? Den wunden Punkt. Ich schieße den Pfeil ab, sehe, wie er sein Ziel trifft und mit dem goldenen Faden im Schlepptau verschwindet.

Im selben Augenblick stehen mir plötzlich buchstäblich die Haare zu Berge und der Blitz schlägt in den Baum ein.

Ein weißer Lichtstrahl rast den Draht entlang und einen Augenblick lang erstrahlt die Kuppel in grellblauem Licht. Ich werde rückwärts zu Boden geschleudert, mein Körper reglos, gelähmt, die Augen aufgerissen, während kleine flauschige Stückchen auf mich herabregnen. Ich kann nicht zu Peeta. Ich kann nicht mal meine Perle hervorholen. Meine Augen weiten sich, um ein letztes Bild der Schönheit einzufangen, das ich mitnehmen werde.

Kurz bevor die Explosionen einsetzen, entdecke ich einen Stern.

27

Alles scheint auf einmal zu explodieren. Die Erde zerplatzt in Schauern aus Schmutz und Pflanzenteilen. Bäume werden zu Fackeln. Sogar der Himmel füllt sich mit leuchtend bunten Lichtblüten. Ich begreife nicht, weshalb der Himmel beschossen wird, bis mir der Gedanke kommt, dass die Spielmacher ein Feuerwerk abschießen, zur Untermalung der Zerstörung, die sich am Boden abspielt. Nur für den Fall, dass es nicht unterhaltsam genug ist, die Vernichtung der Arena und der verbliebenen Tribute anzuschauen. Vielleicht soll auch unser blutiges Ende hell erleuchtet werden.

Werden sie einen von uns überleben lassen? Wird es einen Sieger der fünfundsiebzigsten Hungerspiele geben? Diesmal womöglich nicht. Denn gedacht ist dieses Jubel-Jubiläum … Wie las es Präsident Snow noch von seiner Karte ab? »… als Erinnerung für die Rebellen daran, dass nicht einmal die Stärksten unter ihnen die Macht des Kapitols überwinden können.«

Nicht mal der Stärkste der Starken wird triumphieren. Vielleicht war es nie geplant, dass diese Spiele überhaupt einen Sieger haben. Oder vielleicht hat mein letzter Akt der Auflehnung sie in Zugzwang gebracht?

Tut mir leid, Peeta, denke ich. Tut mir leid, dass ich dich nicht retten konnte. Ihn retten? Als ich das Kraftfeld zerstörte, habe ich ihn wahrscheinlich noch um seine letzte Chance gebracht.

Hätten wir uns alle an die Spielregeln gehalten, hätten sie ihn vielleicht am Leben gelassen.

Ohne Vorwarnung erscheint das Hovercraft über mir. Wäre es still gewesen und ein Spotttölpel in der Nähe, dann hätte ich vielleicht gehört, wie der Dschungel verstummt wäre, und dann den Vogelschrei, der das Erscheinen der Luftfähre ankündigt, die vom Kapitol geschickt wurde. Aber in all dem Krach muss ein so zartes Geräusch untergehen.

Der Greifer wird aus der Luke an der Unterseite gefahren, bis er direkt über mir hängt. Die stählernen Zähne schieben sich unter mich. Ich möchte schreien, weglaufen, mir einen Weg bahnen, doch ich bin wie erstarrt und kann nichts tun, als inständig zu hoffen, dass ich sterbe, bevor ich die schemenhaften Gestalten erreicht habe, die mich dort oben erwarten. Sie haben mein Leben nicht verschont, um mich zum Sieger zu küren, sondern damit ich so langsam und öffentlich sterbe wie möglich.

Meine schlimmsten Befürchtungen werden bestätigt, als Plutarch Heavensbee persönlich mich willkommen heißt, der Oberste Spielmacher. Was habe ich nur angerichtet mit diesen schönen Spielen mit der ausgeklügelten Uhr und der Siegerschar. Er wird für sein Versagen bezahlen müssen, wahrscheinlich wird er mit dem Leben bezahlen, aber vorher wird er mich bestrafen. Er streckt die Hand aus - um mich zu schlagen, denke ich, aber dann tut er etwas, das noch schlimmer ist. Mit Daumen und Zeigefinger schließt er meine Lider und verurteilt mich zur Finsternis. Jetzt bin ich schutzlos, sie können alles mit mir anstellen und ich werde es nicht einmal kommen sehen.

Mein Herz pocht so heftig, dass das Blut unter meinem vollgesogenen Moosverband heraussickert. Mein Denken wird vernebelt. Wahrscheinlich werde ich verblutet sein, ehe sie mich wiederbelebt haben. Ich danke Johanna still für die perfekte Wunde, die sie mir beigebracht hat, dann werde ich ohnmächtig.

Als ich langsam wieder zu Bewusstsein komme, liege ich auf einem gepolsterten Tisch. Ich spüre das Zwicken von Schläuchen in meinem linken Arm. Sie versuchen, mich am Leben zu erhalten, denn wenn ich heimlich, still und leise in den Tod hinübergleiten würde, hätte ich ja gewonnen. Ich kann mich immer noch nicht rühren, die Augen öffnen oder den Kopf heben. Dafür ist ein bisschen Kraft in meinen rechten Arm zurückgekehrt. Er hängt schlaff über meinem Körper, wie eine Flosse, nein, lebloser, wie eine Keule. Ich habe keine Koordination, keinen Beweis, dass ich noch Finger besitze. Immerhin schaffe ich es, den Arm so weit zu bewegen, dass ich die Schläuche herausreiße. Ein Piepsen ertönt, doch ich bleibe nicht lange genug bei Bewusstsein, um mitzubekommen, wen es herbeiruft.

Als ich das nächste Mal zu mir komme, sind meine Hände am Tisch festgebunden und die Schläuche stecken wieder in meinem Arm. Dafür kann ich die Augen öffnen und den Kopf etwas heben. Ich befinde mich in einem großen, in silbriges Licht getauchten Raum mit niedriger Decke. Zwei Reihen Betten stehen einander gegenüber. Ich höre ein Atmen, das vermutlich von den anderen Mitspielern stammt. Direkt gegenüber erkenne ich Beetee, der an mindestens zehn Apparate angeschlossen ist. Lasst uns doch einfach sterben!, schreie ich innerlich. Ich schlage den Kopf, so fest ich kann, gegen den Tisch und sacke wieder weg.

Als ich endgültig aufwache, sind die Fesseln nicht mehr da. Ich hebe die Hand und sehe, dass meine Finger mir wieder gehorchen. Mit einem Ruck setze ich mich auf und halte mich an dem gepolsterten Tisch fest, bis ich den Raum scharf sehe. Mein linker Arm ist verbunden, die Schläuche baumeln an Gestellen neben dem Bett.

Ich bin allein, nur Beetee liegt noch immer mir gegenüber und wird durch ein Heer von Apparaten am Leben erhalten. Aber wo sind die anderen? Peeta, Finnick, Enobaria und … und … noch einer, oder? Entweder Johanna oder Chaff oder Brutus waren noch am Leben, als es mit den Bomben losging. Ich bin sicher, dass sie an uns allen ein Exempel statuieren wollen. Aber wohin haben sie sie gebracht? Aus dem Krankenhaus ins Gefängnis?

»Peeta …«, flüstere ich. Ich hätte ihn so gern beschützt. Bin immer noch fest dazu entschlossen. Wenn es mir schon nicht gelungen ist, ihm ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen, muss ich ihn jetzt finden und töten, bevor das Kapitol eine sadistische Todesart für ihn ausgewählt hat. Ich schwinge die Beine vom Tisch und sehe mich nach einer Waffe um. Auf einem Tisch neben Beetees Bett liegen ein paar steril verpackte Spritzen. Perfekt. Jetzt brauche ich nur noch ein bisschen Luft, und dann hinein damit in seine Vene.

Ich halte einen Moment inne und überlege, ob ich auch Beetee töten soll. Aber dann fangen bestimmt die Monitore an zu piepsen, und ich werde geschnappt, bevor ich Peeta gefunden habe. Ich leiste das stille Versprechen, dass ich zurückkommen und ihn töten werde, falls ich kann.

Ich trage nur ein dünnes Nachthemd, darunter bin ich nackt. Deshalb verstecke ich die Spritze unter dem Verband, der die Wunde an meinem Arm bedeckt. Die Tür ist unbewacht. Bestimmt bin ich Kilometer unter dem Trainingscenter oder an irgendeinem Stützpunkt des Kapitols und die Chancen auf Flucht sind gleich null. Egal. Ich will nicht fliehen, ich will nur meine Aufgabe zu Ende fuhren.

Ich schleiche einen schmalen Flur entlang bis zu einer angelehnten Metalltür. Dahinter ist jemand. Ich hole die Spritze hervor und halte sie ganz fest. Ich drücke mich gegen die Wand und lausche auf die Stimmen in dem Raum.

»Kein Kontakt zu 7, 10 und 12. Dafür hat 11 inzwischen die Verkehrswege unter Kontrolle, jetzt haben wir zumindest Hoffnung, dass sie ein paar Lebensmittel rausschaffen können.«

Plutarch Heavensbee. Denke ich sofort. Obwohl ich eigentlich nur einmal mit ihm gesprochen habe. Eine heisere Stimme stellt eine Frage.

»Nein, tut mir leid. Ich kann dich auf keinen Fall nach 4 bringen. Aber ich habe einen Sonderbefehl gegeben, sie rauszuholen, falls möglich. Mehr kann ich nicht tun, Finnick.«

Finnick. Mein Hirn müht sich, den Sinn der Unterhaltung zu begreifen, die Tatsache, dass sie zwischen Plutarch Heavensbee und Finnick stattfindet. Ist er dem Kapitol so lieb und teuer, dass er von seinen Verbrechen freigesprochen wird? Oder hatte er wirklich keine Ahnung, was Beetee vorhatte? Krächzend fügt er etwas hinzu. Etwas Gewichtiges, voller Verzweiflung.

»Sei nicht töricht. Das ist das Schlimmste, was du tun könntest. Das wäre ihr sicherer Tod. Solange Au am Leben bist, werden sie sie am Leben lassen, als Köder«, sagt Haymitch.

Haymitch! Ich platze durch die Tür und taumele in den Raum. Haymitch, Plutarch und ein übel zugerichteter Finnick sitzen um einen Tisch, auf dem eine Mahlzeit steht, die keiner angerührt hat. Tageslicht fällt durch die gewölbten Fenster und in der Ferne sehe ich einen Wald - von oben. Wir fliegen.

»Na, hast du dich selbst ausgeknockt, Süße?«, fragt Haymitch, und der Verdruss in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Doch als ich vorwärtsstürze, springt er auf, packt meine Handgelenke und hält mich fest. Er schaut auf meine Hand. »Ach nee, du und eine Spritze gegen das Kapitol? Jetzt weißt du, warum keiner dich mit der Planung betraut.« Ich starre ihn an und begreife nicht. »Lass fallen.« Ich spüre, dass der Druck auf mein rechtes Handgelenk zunimmt, bis ich notgedrungen die Hand öffne und die Spritze loslasse. Er drückt mich auf einen Stuhl neben Finnick.

Plutarch stellt mir eine Schale mit Brühe hin. Legt ein Brötchen dazu. Steckt mir einen Löffel in die Hand. »Iss«, sagt er viel freundlicher als Haymitch.

Haymitch sitzt mir direkt gegenüber. »Ich erklär dir jetzt, was passiert ist, Katniss. Und du stellst keine Fragen, ehe ich fertig bin. Hast du verstanden?«

Ich nicke wie betäubt. Und dann legt er los.

Schon von dem Moment an, da das Jubel-Jubiläum verkündet wurde, bestand der Plan, uns dort herauszuholen. Die Siegertribute aus den Distrikten 3, 4, 6, 7, 8 und 11 waren eingeweiht, manche mehr, manche weniger. Plutarch Heavensbee gehört seit mehreren Jahren einer Untergrundorganisation an, deren Ziel es ist, das Kapitol zu stürzen. Er hat dafür gesorgt, dass Draht unter den Waffen war. Beetees Aufgabe war es, ein Loch in das Kraftfeld zu sprengen. Das Brot, das wir in die Arena geschickt bekamen, war ein geheimer Code für den Zeitpunkt der Rettung. Der Distrikt, aus dem das Brot kam, zeigte den Tag an: drei. Die Anzahl der Brötchen die Uhrzeit: vierundzwanzig. Das Hovercraft stammt aus Distrikt 13. Bonnie und Twill, die Frauen aus Distrikt 8, denen ich im Wald begegnet bin, hatten recht mit ihrer Vermutung, dass Distrikt 13 existiert und besondere Verteidigungswaffen besitzt. In diesem Augenblick fliegen wir auf Umwegen nach Distrikt 13. Mittlerweile befinden sich fast alle Distrikte Panems in Aufruhr.

Haymitch unterbricht sich. Er schaut, ob ich folgen kann. Vielleicht ist er auch nur etwas erschöpft.

Es ist verdammt viel, was ich verstehen soll, dieser ausgefeilte Plan, in dem ich eine Spielfigur war, so wie ich eine Figur bei den Hungerspielen sein sollte. Ohne meine Zustimmung, ohne mein Wissen. Nur dass ich bei den Hungerspielen wenigstens wusste, dass ich ihr Spielball war.

Meine angeblichen Freunde waren deutlich geheimniskrämerischer.

»Ihr habt mir nichts davon gesagt.« Meine Stimme klingt genauso ramponiert wie Finnicks.

»Weder du noch Peeta seid eingeweiht worden. Das Risiko wäre zu groß gewesen«, sagt Plutarch. »Ich hatte sogar Angst, du könntest während der Spiele die Unbesonnenheit mit meiner Uhr erwähnen.« Er holt seine Taschenuhr hervor und fährt mit dem Daumen über das Glas, sodass der Spotttölpel aufleuchtet. »Ich wollte dir natürlich einen Tipp über die Arena geben. Dir als Mentor. Ich dachte, es wäre ein erster Schritt, dein Vertrauen zu gewinnen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass du noch mal ein Tribut werden würdest.«

»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb Peeta und ich nicht in den Plan eingeweiht wurden«, sage ich.

»Weil ihr beide die Ersten gewesen wärt, die sie zu fangen versucht hätten, nachdem das Kraftfeld in die Luft gegangen wäre. Es war besser, ihr wusstet so wenig wie möglich«, sagt Haymitch.

»Die Ersten? Warum?« Ich versuche seinem Gedankengang zu folgen.

»Aus dem gleichen Grund, aus dem wir anderen einwilligten zu sterben, damit ihr am Leben bleibt«, sagt Finnick.

»Stimmt nicht. Johanna hat versucht, mich zu töten«, sage ich.

»Johanna hat dich k.o. geschlagen, um den Aufspürer aus deinem Arm herauszuschneiden und Brutus und Enobaria von dir abzulenken«, sagt Haymitch.

»Was?« Mein Kopf tut unheimlich weh, sie sollen aufhören, so viel sinnloses Zeug zu reden. »Was willst du damit …«

»Wir mussten dich retten, weil du der Spotttölpel bist, Katniss«, sagt Plutarch. »Solange du lebst, lebt die Revolution.«

Der Vogel, die Brosche, das Lied, die Beeren, die Uhr, der Kräcker, das Kleid, das in Flammen aufgeht. Ich bin der Spotttölpel. Die, die den Plänen des Kapitols zum Trotz überlebt. Das Symbol der Rebellion.

Das war es, was ich vermutet hatte, als ich Bonnie und Twill auf der Flucht im Wald traf. Obwohl ich die Größenordnung nie richtig begriffen habe. Aber das sollte ich ja auch gar nicht. Mir fällt ein, wie Haymitch meinen Plan, aus Distrikt 12 zu fliehen und meinen eigenen Aufstand zu machen, und die bloße Idee, Distrikt 13 könne existieren, verspottet hat. Nichts als List und Täuschung. Wenn er das hinter seiner Maske aus Sarkasmus und Trunkenheit so überzeugend und lange tun konnte, worüber hat er dann noch gelogen? Ich weiß, worüber.

»Peeta«, flüstere ich, und das Herz rutscht mir in die Hose.

»Die anderen haben Peeta gerettet, weil wir wussten, dass du das Bündnis aufgekündigt hättest, wenn er gestorben wäre«, sagt Haymitch. »Und wir konnten nicht das Risiko eingehen, dich ohne Schutz zu lassen.« Seine Worte sind sachlich, seine Miene ist unverändert, nur die Graufärbung im Gesicht kann er nicht verbergen.

»Wo ist Peeta?«, fauche ich ihn an.

»Er wurde zusammen mit Johanna und Enobaria vom Kapitol geschnappt«, sagt Haymitch. Endlich hat er den Takt, seinen Blick zu senken.

Objektiv gesehen bin ich unbewaffnet. Aber man sollte nicht unterschätzen, welchen Schaden man mit Fingernägeln anrichten kann, besonders wenn das Opfer nicht darauf vorbereitet ist. Mit einem Satz springe ich über den Tisch und grabe meine Nägel in Haymitchs Gesicht, Blut quillt hervor, und ein Auge wird verletzt. Dann schreien wir einander schreckliche, wirklich schreckliche Dinge entgegen, während Finnick versucht, mich fortzuzerren, und ich weiß, dass Haymitch seinen ganzen Willen aufbringen muss, um mich nicht in Stücke zu reißen, doch ich bin der Spotttölpel. Ich bin der Spotttölpel, und es ist so schon schwer genug, mein Leben zu retten.

Andere Hände kommen Finnick zu Hilfe, und kurz darauf liege ich wieder auf meinem Tisch, den Körper festgeschnallt, die Handgelenke festgebunden, und deshalb schlage ich vor Wut immer und immer wieder mit dem Kopf gegen den Tisch. Eine Nadel bohrt sich in meinen Arm, und mein Kopf tut so weh, dass ich aufgebe und nur noch entsetzlich vor mich hin jaule, wie ein sterbendes Tier, bis meine Stimme versagt.

Das Beruhigungsmittel zeigt Wirkung, doch ich schlafe nicht, ich dämmere vor mich hin, bin für immer - oder so kommt es mir vor - gefangen in einem verschwommenen, dumpf schmerzenden Elend. Sie stecken mir wieder ihre Schläuche in den Arm und sprechen beruhigend auf mich ein, doch ihre Stimmen erreichen mich nicht. Ich kann nur an Peeta denken, der irgendwo auf einem ähnlichen Tisch liegt, während sie versuchen, seinen Willen zu brechen und Informationen aus ihm herauszupressen, die er gar nicht hat.

»Katniss. Katniss, es tut mir leid.« Finnicks Stimme kommt von dem Bett neben mir und schiebt sich in mein Bewusstsein. Vielleicht, weil wir einen ähnlichen Schmerz empfinden. »Ich wollte zurück und ihn und Johanna holen, aber ich konnte mich nicht bewegen.«

Ich gebe keine Antwort. Finnicks gute Absichten haben keinerlei Bedeutung.

»Er ist besser dran als Johanna. Die werden bald merken, dass er nichts weiß. Und sie werden ihn nicht töten, solange sie denken, sie können ihn gegen dich einsetzen«, sagt Finnick.

»Als Köder?«, sage ich zur Zimmerdecke. »So, wie sie Annie als Köder benutzen werden, Finnick?«

Ich höre ihn weinen, aber das ist mir egal. Wahrscheinlich werden sie sie nicht mal befragen, sie ist schon zu weit abgedriftet. Seit damals bei ihren Spielen. Sehr gut möglich, dass ich auf dem gleichen Weg bin. Vielleicht bin ich schon dabei, verrückt zu werden, und keiner hat den Mut, es mir zu sagen. Verrückt genug fühle ich mich.

»Wenn sie doch nur tot wäre«, sagt er. »Wenn sie alle tot wären und wir auch. Das wäre das Beste.«

Tja, darauf weiß ich keine Antwort. Ich kann es auch schlecht bestreiten, schließlich bin ich eben noch mit einer Spritze rumgerannt, um Peeta zu töten. Will ich wirklich, dass er tot ist? Am liebsten … am liebsten hätte ich ihn wieder. Aber ich werde ihn nie mehr wiederhaben. Selbst wenn die Rebellentruppen das Kapitol irgendwie stürzen könnten, wäre es garantiert Präsident Snows letzte Tat, Peeta die Kehle durchzuschneiden. Nein. Ich werde ihn nie mehr zurückbekommen. Also ist tot das Beste.

Weiß Peeta das oder wird er weiterkämpfen? Er ist so stark und kann so gut lügen. Ob er glaubt, dass er eine Chance hat? Bedeutet ihm das Überleben überhaupt etwas? Er hat sowieso nicht damit gerechnet. Er hatte schon mit dem Leben abgeschlossen. Wenn er erfährt, dass ich gerettet wurde, ist er vielleicht sogar glücklich. Dann weiß er, dass er seine Mission, mir das Leben zu retten, erfüllt hat.

Ich glaube, ich hasse ihn noch mehr als Haymitch.

Ich gebe auf. Sage nichts mehr, antworte nicht mehr, verweigere Nahrung und Wasser. Sollen sie mir doch in den Arm pumpen, was sie wollen, es braucht mehr als das, um einen Menschen am Leben zu erhalten, wenn er erst einmal den Lebenswillen verloren hat. Mir kommt sogar ein lustiger Gedanke. Denn falls ich sterben sollte, darf Peeta vielleicht weiterleben. Nicht als freier Mensch, aber als Avox oder so, der die zukünftigen Tribute aus Distrikt 12 bedient. Vielleicht findet er dann eines Tages eine Möglichkeit zu fliehen. Mein Tod könnte ihn noch immer retten.

Und wenn nicht, ist es auch egal. Es gibt genug Gründe zu sterben. Um Haymitch zu bestrafen, der von allen Menschen in dieser verfaulenden Welt Peeta und mich zu Figuren in seinen Spielchen auserkoren hat. Ich habe ihm vertraut. Ich habe alles, was wertvoll war, in Haymitchs Hände gelegt. Und er hat mich verraten.

Jetzt weißt du, warum keiner dich mit der Planung betraut, hat er gesagt.

Das stimmt. Niemand, der bei Verstand ist, würde mich mit der Planung betrauen. Denn offensichtlich kann ich Freund und Feind nicht unterscheiden.

Viele Leute kommen vorbei und wollen mit mir reden, aber ich lasse ihre Worte einfach so klingen wie das Klicken der Insekten im Dschungel. Bedeutungslos und fern. Gefährlich, aber nur von Nahem. Immer, wenn die Wörter verständlich werden, stöhne ich, bis sie mir noch mehr Schmerzmittel geben und alles wieder in Ordnung kommt.

Bis ich auf einmal die Augen öffne und jemand zu mir herunterschaut, den ich nicht ausblenden kann. Jemand, der nicht drängt oder erklärt oder denkt, er könnte mich durch Beschwörungen von meinem Vorhaben abbringen, weil nur er allein wirklich weiß, worauf ich anspreche.

»Gale«, flüstere ich.

»Hallo, Kätzchen.« Er streckt die Hand aus und streicht mir eine Haarsträhne aus den Augen. Auf einer Seite des Gesichts hat er eine frische Brandnarbe. Sein Arm steckt in einer Schlinge und unter dem Bergarbeiterhemd erkenne ich einen Verband. Was ist ihm zugestoßen? Wie kommt er überhaupt hierher? Zu Hause müssen schlimme Dinge passiert sein.

Das größte Problem ist nicht, Peeta zu vergessen, sondern mich nicht an die anderen zu erinnern. Ich brauche Gale nur einmal anzuschauen und sie kommen alle herauf in die Gegenwart und fordern Beachtung. »Prim?«, stoße ich hervor.

»Sie lebt. Deine Mutter auch. Ich habe sie rechtzeitig rausgeschafft«, sagt er.

»Sie sind nicht in Distrikt 12?«, frage ich.

»Nach den Spielen haben sie Flugzeuge geschickt. Brandbomben abgeworfen.« Er zögert. »Na, du weißt ja, was mit dem Hob passiert ist.«

Ja, das weiß ich. Ich habe gesehen, wie er in Flammen aufging. Das alte Lagerhaus voller Kohlenstaub. Der ganze Distrikt ist mit dem Zeug bedeckt. Ein neues Grauen steigt in mir auf, als ich mir vorstelle, wie die Brandbomben den Saum treffen.

»Sie sind nicht mehr in Distrikt 12?«, frage ich noch einmal. Als könnte ich die Wahrheit damit irgendwie abwenden.

»Katniss«, sagt Gale sanft.

Ich kenne diese Stimme. Mit dieser Stimme geht er auf verletzte Tiere zu, bevor er ihnen den Todesstoß versetzt. Instinktiv hebe ich die Hand, um seine Worte abzuwehren, doch er packt sie und hält sie fest.

»Nein«, flüstere ich.

Aber Gale ist keiner, der etwas vor mir geheim halten würde. »Katniss, es gibt keinen Distrikt 12 mehr.«

ENDE DES ZWEITEN BUCHS


Impressum

Die Tribute von Panem.


Gefährliche Liebe


von Suzanne Collins (Autor),


Sylke Hachmeister (Übersetzer),


Peter Klöss (Übersetzer)


Preis: EUR 17,95


Gebundene Ausgabe: 400 Seiten


Verlag: Verlag Friedrich Oetinger (19. Mai 2010)


Sprache: Deutsch


ISBN-10: 3789132195


ISBN-13: 978-3789132193


Originaltitel: The Hunger Games 2. Catching Fire

ebook Erstellung - Mai 2010 - TUX

Ende


Table of Contents

Die Tribute von PANEM Gefährliche Liebe

Teil 1

Der Funke 1

2

3

4

5

6

7

8

9

Teil 2

Das Jubiläum 10

11

12

13

14

15

16

17

18

Teil 3

Der Feind 19

20

21

22

23

24

25

26

27

Impressum


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