»Ist nicht mein Haus«, bemerkt Haymitch. »Aber ich geh trotzdem zur Tür.«

»Nein, ich gehe schon«, sagt meine Mutter ruhig.

Doch dann folgen wir alle ihr durch den Flur zu dem durchdringenden Klingeln an der Tür. Sie öffnet, aber da steht kein Trupp von Friedenswächtern, sondern eine einzelne, verschneite Gestalt. Madge. Sie reicht mir eine kleine feuchte Pappschachtel.

»Die sind für deinen Freund«, sagt sie. Ich nehme den Deckel von der Schachtel ab und sehe sechs Ampullen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. »Sie gehören meiner Mutter. Sie hat gesagt, ich kann sie nehmen. Bitte gib sie ihm.« Sie läuft zurück in den Schneesturm, ehe ich sie zurückhalten kann.

»Verrücktes Mädchen«, murmelt Haymitch, während wir, meine Mutter voran, in die Küche gehen.

Was meine Mutter Gale auch verabreicht hat, ich hatte recht, es war nicht genug. Er beißt die Zähne zusammen und seine Haut glänzt vor Schweiß. Meine Mutter füllt eine Spritze mit der Flüssigkeit aus einer Ampulle und injiziert sie in seinen Arm. Fast augenblicklich entspannen sich seine Züge.

»Was ist das für ein Zeug?«, fragt Peeta.

»Es kommt aus dem Kapitol. Man nennt es Morfix«, sagt meine Mutter.

»Ich wusste gar nicht, dass Madge Gale kennt«, sagt Peeta.

»Wir haben ihr immer Erdbeeren verkauft«, erkläre ich fast wütend. Worüber bin ich eigentlich wütend? Ganz bestimmt nicht darüber, dass sie die Medizin gebracht hat.

»Die muss sie aber wirklich gern mögen«, sagt Haymitch.

Das ist es, was mich fuchst. Die Andeutung, da könnte etwas zwischen Gale und Madge sein. Das gefällt mir gar nicht.

»Sie ist meine Freundin.« Mehr sage ich nicht.

Jetzt, da Gale mit dem Schmerzmittel entschwebt ist, wirken alle ernüchtert. Prim drängt uns ein wenig Eintopf und Brot auf. Hazelle wird zum Übernachten eingeladen, aber sie muss nach Hause zu ihren anderen Kindern. Haymitch und Peeta sind bereit zu bleiben, doch meine Mutter schickt sie nach Hause ins Bett. Sie weiß, dass das bei mir zwecklos wäre, also nimmt sie es hin, dass ich mich um Gale kümmere, während sie und Prim sich ausruhen.

Als ich mit Gale allein in der Küche bin, nehme ich Hazelles Platz auf dem Hocker ein und halte seine Hand. Nach einer Weile finden meine Finger sein Gesicht. Ich berühre Stellen seines Körpers, die zu berühren ich bisher nie einen Grund hatte. Seine dichten dunklen Augenbrauen, die Wölbung seiner Wange, die Linie seiner Nase, die Mulde unten am Hals. Ich fahre über seine Bartstoppeln und gelange schließlich zu den Lippen. Weich und voll, leicht aufgesprungen. Sein Atem wärmt meine kalte Haut.

Sehen alle Menschen im Schlaf jünger aus? Denn in diesem Moment könnte er der Junge sein, dem ich vor Jahren im Wald in die Arme gelaufen bin, der Junge, der mir vorwarf, ich hätte aus seinen Fallen gestohlen. Was für ein Gespann wir waren - vaterlos, ängstlich und doch wild entschlossen, unsere Familien zu retten. Verzweifelt, aber von jenem Tag an nicht mehr allein, denn wir hatten einander gefunden. Ich denke an hundert Augenblicke im Wald - wie wir eines Nachmittags gemächlich fischen, wie ich ihm das Schwimmen beibringe, wie er mich nach Hause trägt, als ich mir das Knie verdreht habe. Wir haben uns aufeinander verlassen, einander Rückendeckung gegeben, uns gegenseitig gezwungen, mutig zu sein.

Zum ersten Mal stelle ich mir die Situation umgekehrt vor. Ich stelle mir vor, Gale hätte sich bei der Ernte freiwillig gemeldet, um Rory zu retten, er wäre aus meinem Leben gerissen worden, der Geliebte eines fremden Mädchens geworden, um zu überleben, und dann mit ihr zurückgekehrt. Wäre in ein Haus neben ihr eingezogen. Hätte ihr einen Heiratsantrag gemacht.

Der Hass, den ich für ihn empfinde und für das imaginäre Mädchen, der Hass auf alles ist so echt und unmittelbar, dass er mir die Luft abschnürt. Gale gehört mir. Ich gehöre ihm. Alles andere ist undenkbar. Warum musste er erst halb totgepeitscht werden, damit ich es begreife?

Weil ich selbstsüchtig bin. Und feige. Ich bin ein Mädchen, das, wenn es sich wirklich mal nützlich machen könnte, wegläuft, um am Leben zu bleiben, und alle, die nicht mitkommen können, leiden und sterben lässt. Das ist das Mädchen, das Gale heute im Wald getroffen hat.

Kein Wunder, dass ich die Spiele gewonnen habe. Kein anständiger Mensch gewinnt je die Spiele.

Du hast Peeta gerettet, denke ich schwach.

Aber jetzt stelle ich selbst das infrage. Ich wusste sehr wohl, dass mein Leben in Distrikt 12 unerträglich gewesen wäre, wenn ich diesen Jungen hätte sterben lassen.

Ich lege den Kopf auf die Tischkante, überwältigt von Selbsthass. Wäre ich doch in der Arena gestorben. Hätte Seneca Crane mich doch in die Luft gejagt, wie er es nach Präsident Snows Meinung hätte tun sollen, als ich Peeta die Beeren hinhielt.

Die Beeren. Mir wird bewusst, dass die Antwort auf die Frage, wer ich bin, in dieser Handvoll giftiger Früchte liegt. Wenn ich sie herausgeholt habe, weil ich wusste, dass ich verstoßen werde, wenn ich ohne Peeta zurückkehre, bin ich zu verachten. Wenn ich es getan habe, weil ich ihn liebe, bin ich zwar selbstsüchtig, aber es wäre verzeihlich. Doch wenn ich es getan habe, um dem Kapitol die Stirn zu bieten, bin ich etwas wert. Das Problem ist, dass ich nicht genau weiß, was in dem Moment in mir vorging.

Könnte es sein, dass die Leute in den Distrikten recht haben? Dass es ein Akt der Rebellion war, wenn auch unbewusst? Denn im tiefsten Innern weiß ich doch, dass es nicht reicht, wegzulaufen und mich, meine Familie und meine Freunde in Sicherheit zu bringen. Selbst wenn ich könnte. Es würde nichts ändern. Es würde nicht verhindern, dass Menschen so etwas angetan wird wie Gale heute.

Das Leben in Distrikt 12 unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem in der Arena. An einem bestimmten Punkt darf man nicht mehr weglaufen, dann muss man sich umdrehen und sich dem stellen, der einen tot sehen will. Aber man muss den Mut aufbringen, es zu tun, das ist die Kunst. Für Gale ist es keine Kunst. Er ist der geborene Rebell. Ich bin diejenige, die Fluchtpläne schmiedet.

»Es tut mir so leid«, flüstere ich. Ich beuge mich vor und küsse ihn.

Seine Lider flattern und er schaut mich durch einen Opiumschleier an. »Hey, Kätzchen.«

»Hey, Gale«, sage ich.

»Ich dachte, du wärst schon weg«, sagt er.

Die Wahl fällt mir nicht schwer. Ich kann wie ein gejagtes Tier im Wald sterben oder ich kann hier bei Gale sterben. »Ich gehe nirgendwohin. Ich bleibe hier und mache eine Menge Ärger.«

»Ich auch«, sagt Gale. Er bringt noch ein kurzes Lächeln zustande, bevor die Drogen ihn wieder in die Tiefe ziehen.

9

Jemand rüttelt mich an der Schulter und ich setze mich auf. Ich war mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen. Die Falten des weißen Tuchs haben sich in meine unverletzte Wange eingegraben. Die andere, die Thread geschlagen hat, pocht schmerzhaft. Gale ist ohnmächtig, doch seine Finger halten meine umschlossen. Ich rieche frisches Brot, und als ich meinen steifen Hals drehe, sehe ich Peeta, der mich unendlich traurig anschaut. Ich habe das Gefühl, dass er uns schon eine ganze Weile beobachtet.

»Komm, leg dich ins Bett, Katniss. Ich kümmere mich jetzt um ihn«, sagt er.

»Peeta. Was ich gestern gesagt habe, das mit der Flucht …«, setze ich an.

»Ich weiß«, sagt er. »Du brauchst nichts zu erklären.«

Ich sehe die Brotlaibe im schneefahlen Morgenlicht auf der Anrichte liegen. Die dunklen Schatten unter seinen Augen. Ich frage mich, ob er überhaupt geschlafen hat. Jedenfalls nicht viel. Ich denke daran, wie er gestern eingewilligt hat, mit mir wegzulaufen, wie er mir beigestanden hat, um Gale zu beschützen, wie er sein Schicksal ganz in meine Hände legt und so wenig dafür zurückbekommt. Was ich auch mache, ich tue jemandem weh. »Peeta …«

»Geh einfach ins Bett, ja?«, sagt er.

Ich taste mich die Treppe hinauf, krieche unter die Decke und schlafe augenblicklich ein. Irgendwann schleicht sich Clove, das Mädchen aus Distrikt 2, in meinen Traum. Sie verfolgt mich, drückt mich zu Boden und zieht ein Messer. Als sie mir ins Gesicht schneidet, gräbt es sich tief in meine Wange und hinterlässt eine klaffende Wunde. Dann verwandelt Clove sich allmählich, ihre Nase formt sich zu einer Schnauze, dunkles Fell sprießt auf ihrer Haut, ihre Fingernägel werden zu langen Klauen, nur die Augen bleiben unverändert. Sie wird zu einer Mutation, einem der Wolfswesen aus dem Kapitol, die uns in der letzten Nacht in der Arena terrorisiert haben. Sie wirft den Kopf in den Nacken und stößt ein langes, unheimliches Heulen aus, das von anderen Mutationen in der Nähe aufgegriffen wird. Jetzt leckt Clove das Blut ab, das aus meiner Wunde fließt, jede Berührung ihrer Zunge jagt mir einen neuen Schmerz über das Gesicht. Ich stoße einen erstickten Schrei aus und schrecke aus dem Schlaf, schwitzend und zitternd zugleich. Ich wiege die verletzte Wange in der Hand und sage mir, dass nicht Clove, sondern Thread mir die Wunde zugefügt hat. Jetzt würde ich gern von Peeta gehalten werden, aber da fällt mir ein, dass ich mir das nicht mehr wünschen darf. Ich habe mich für Gale und die Rebellion entschieden, und eine Zukunft mit Peeta ist der Plan des Kapitols, nicht meiner.

Die Schwellung an meinem Auge ist zurückgegangen, ich kann es ein wenig öffnen. Ich ziehe die Vorhänge auf und sehe, dass aus dem Schneesturm ein richtiger Blizzard geworden ist. Es gibt nur das Weiß und das Heulen des Windes, das dem der mutierten Wölfe erstaunlich ähnlich ist.

Der Blizzard mit seinen heftigen Winden und den Schneewehen kommt mir gerade recht. Vielleicht kann er die eigentlichen Wölfe, auch bekannt als Friedenswächter, von meiner Tür fernhalten. Ein paar Tage zum Nachdenken. Um mir einen Plan zu überlegen. Mit Gale und Peeta und Haymitch in Reichweite. Dieser Blizzard ist ein Geschenk.

Ehe ich hinuntergehe, um mich dem neuen Leben zu stellen, nehme ich mir jedoch noch ein bisschen Zeit und führe mir vor Augen, was auf mich zukommt. Vor kaum einem Tag war ich noch entschlossen, mitten im Winter mit meinen Lieben in die Wildnis zu gehen, wohl wissend, dass das Kapitol uns wahrscheinlich verfolgen würde. Ein im besten Fall gewagtes Unternehmen. Und jetzt bin ich im Begriff, mich einer noch riskanteren Sache zu verschreiben. Wenn man gegen das Kapitol kämpft, ist eine rasche Vergeltung gewiss. Ich muss darauf gefasst sein, dass sie mich jeden Moment verhaften können. Es wird an der Tür klopfen, genau wie letzte Nacht, und ein Trupp von Friedenswächtern wird mich wegschleppen. Vielleicht werden sie mich foltern. Verstümmeln. Mir auf dem öffentlichen Platz eine Kugel in den Kopf jagen, und dann hätte ich noch Glück, weil das wenigstens schnell geht. Das Kapitol hat unendlich viele Todesarten auf Lager. All das stelle ich mir vor und ich habe schreckliche Angst, aber ganz ehrlich: Es hat sowieso schon in meinem Hinterkopf gelauert. Ich war ein Tribut bei den Spielen. Der Präsident hat mir gedroht. Man hat mir mit der Peitsche ins Gesicht geschlagen. Sie haben es sowieso schon auf mich abgesehen.

Jetzt kommt das Schwierigere. Ich muss der Tatsache ins Auge blicken, dass meine Familie und meine Freunde dieses Los womöglich teilen müssen. Prim. Ich brauche nur an Prim zu denken und meine Entschlusskraft ist dahin. Es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, und mein Atem geht so schnell, dass ich den ganzen Sauerstoff aufbrauche und anfange, nach Luft zu schnappen. Ich kann es nicht zulassen, dass das Kapitol Prim wehtut.

Und dann begreife ich. Das haben sie schon getan. Sie haben ihren Vater in diesen verdammten Bergwerken umgebracht. Haben tatenlos zugesehen, wie sie fast verhungert wäre. Haben sie als Tribut ausgewählt, und sie musste zuschauen, wie ihre Schwester auf Leben und Tod in den Spielen kämpfte. Sie hat schon viel mehr durchlitten als ich mit zwölf. Und selbst das verblasst gegen das Leben, das Rue geführt hat.

Ich schiebe die Decke weg und sauge die kalte Luft ein, die durch die Fensterscheiben dringt.

Prim … Rue … sind nicht gerade sie der Grund dafür, dass ich versuchen muss zu kämpfen? Weil das, was ihnen angetan wurde, so verkehrt ist, so unrecht und gemein, dass ich keine Wahl habe? Weil keiner das Recht hat, sie so zu behandeln, wie sie behandelt worden sind?

Ja. Daran muss ich immer denken, wenn die Angst mich zu überwältigen droht. Was ich auch vorhabe, was auch immer wir ertragen müssen, es wird für sie sein. Rue kann ich nicht mehr helfen, aber vielleicht ist es noch nicht zu spät für die fünf kleinen Gesichter, die auf dem Platz in Distrikt 11 zu mir aufgeschaut haben. Nicht zu spät für Rory und Vick und Posy. Nicht zu spät für Prim.

Gale hat recht. Wenn die Leute den Mut aufbringen, könnte das jetzt die Chance sein. Und er hat recht damit, dass ich, da ich das alles in Gang gesetzt habe, ganz viel bewirken könnte.

Auch wenn ich keine Ahnung habe, was genau das sein soll. Aber der Entschluss, nicht zu fliehen, ist ein entscheidender erster Schritt.

Ich gehe unter die Dusche, und an diesem Morgen stellt mein Gehirn keine Proviantlisten für die Wildnis auf, es versucht sich vorzustellen, wie sie in Distrikt 8 den Aufstand organisiert haben. So viele, die dem Kapitol so deutlich die Stirn bieten. War das überhaupt geplant, oder ist es einfach ausgebrochen, nach Jahren voller Hass und Bitterkeit? Wie könnten wir so etwas hier auf die Beine stellen? Würden die Leute in Distrikt 12 mitmachen oder würden sie ihre Türen verschließen? Gestern hat sich der Platz im Nu geleert, nachdem Gale ausgepeitscht worden war. Aber kommt das nicht daher, dass wir uns alle machtlos fühlen und nicht wissen, was wir tun sollen? Wir brauchen jemanden, der uns führt, der uns versichert, dass es möglich ist. Und ich glaube nicht, dass ich dieser Jemand bin. Ich war vielleicht ein Katalysator für die Rebellion, aber ein Anführer sollte jemand mit Überzeugung sein, und ich bin ja selbst gerade erst bekehrt. Jemand mit bedingungslosem Mut, und ich arbeite immer noch daran, überhaupt Mut aufzubringen. Jemand mit klaren, schlagkräftigen Worten, und ich bringe so oft keinen Ton heraus.

Worte. Ich denke an Worte und ich denke an Peeta. Daran, dass die Leute immer alles begeistert aufnehmen, was er sagt. Er könnte eine Menschenmenge mobilisieren, wenn er wollte. Er würde die richtigen Worte finden. Aber diese Idee ist ihm bestimmt noch nie gekommen.

Ich gehe nach unten, wo meine Mutter und Prim Gale pflegen, der immer noch schwach ist. Er sieht so aus, als ob die Wirkung der Arznei nachlässt. Ich mache mich auf einen weiteren Streit gefasst, versuche jedoch, ruhig zu sprechen. »Kannst du ihm nicht noch eine Spritze geben?«

»Das mache ich, wenn es nötig ist. Wir wollten es erst mit Schneebalsam versuchen«, sagt meine Mutter. Sie hat die Verbände abgenommen. Man kann förmlich sehen, wie die Hitze von seinem Rücken abstrahlt. Sie legt ein sauberes Tuch über sein wundes Fleisch und nickt Prim zu.

Prim kommt zu ihr und rührt etwas in einer großen Schüssel, das aussieht wie Schnee. Doch es ist hellgrün und hat einen süßen, sauberen Duft. Schneebalsam. Behutsam gibt sie etwas davon auf das Tuch. Fast kann ich hören, wie Gales geschundene Haut zischt, als sie mit der Schneemischung in Berührung kommt. Seine Augen öffnen sich flatternd, verdutzt, dann seufzt er erleichtert.

»Ein Glück, dass wir Schnee haben«, sagt meine Mutter.

Ich stelle mir vor, wie es sein muss, sich im Hochsommer von Peitschenschlägen zu erholen, bei sengender Hitze, mit lauwarmem Leitungswasser. »Wie hast du das in den warmen Monaten gemacht?«, frage ich.

Eine Falte erscheint zwischen den Augenbrauen meiner Mutter. »Da hab ich die Fliegen verscheucht.«

Bei der Vorstellung dreht sich mir der Magen um. Sie füllt Schneebalsam in ein Taschentuch und ich halte es an den Striemen auf meiner Wange. Sofort legt sich der Schmerz. Es ist der kalte Schnee, ja. Doch auch die Kräutersäfte, die meine Mutter hinzugefügt hat, wirken betäubend. »Oh. Das tut gut. Warum hast du ihm das nicht gestern Abend schon gegeben?«

»Die Wunde musste sich erst setzen«, sagt sie.

Ich verstehe nicht ganz, was das bedeutet, aber solange es funktioniert, wie kann ich sie da infrage stellen? Sie weiß schon, was sie tut, meine Mutter. Plötzlich habe ich Gewissensbisse wegen gestern, wegen der schrecklichen Sachen, die ich ihr an den Kopf geworfen habe, als Peeta und Haymitch mich aus der Küche gezerrt haben. »Es tut mir leid. Dass ich dich gestern so angeschrien habe.«

»Ich hab schon Schlimmeres gehört«, sagt sie. »Du hast ja gesehen, wie die Leute sind, wenn jemand Schmerzen leidet, den sie lieben.«

Jemand, den sie lieben. Die Worte betäuben meine Zunge, als wäre sie in Schneebalsam eingewickelt worden. Natürlich, ich liebe Gale. Aber was für eine Art Liebe meint sie? Was meine ich, wenn ich sage, dass ich Gale liebe? Ich weiß es nicht. Letzte Nacht habe ich ihn geküsst, in einem Moment, als meine Gefühle sich überschlugen. Aber bestimmt weiß er das nicht mehr. Oder? Hoffentlich nicht. Wenn doch, würde das alles nur noch komplizierter machen, und ich kann wirklich nicht ans Küssen denken, wenn ich eine Rebellion anzetteln soll. Ich schüttele den Kopf ein wenig, um klarer denken zu können. »Wo ist Peeta?«, frage ich.

»Als wir hörten, dass du aufwachst, ist er nach Hause gegangen. Er wollte sein Haus während des Sturms nicht unbeaufsichtigt lassen«, sagt meine Mutter.

»Ist er gut nach Hause gekommen?«, frage ich. Bei einem solchen Schneesturm kann man sich auf wenigen Metern verirren und im Nichts landen.

»Ruf ihn doch an, dann weißt du’s«, sagt sie.

Ich gehe ins Arbeitszimmer, das ich seit der Begegnung mit Präsident Snow weitgehend gemieden habe, und wähle Peetas Nummer. Es klingelt ein paarmal, dann geht er dran.

»Hi. Ich wollte nur wissen, ob du gut nach Hause gekommen bist«, sage ich.

»Katniss, ich wohne drei Häuser von dir entfernt«, sagt er.

»Ich weiß, aber bei dem Wetter …«, sage ich.

»Also, es geht mir gut. Danke der Nachfrage.« Es folgt eine lange Pause. »Wie geht es Gale?«

»Ganz gut. Meine Mutter und Prim behandeln ihn gerade mit Schneebalsam«, sage ich.

»Und dein Gesicht?«, fragt er.

»Ich hab auch ein bisschen abgekriegt«, antworte ich. »Hast du Haymitch heute schon gesehen?«

»Ich war bei ihm. Er war sturzbetrunken. Aber ich hab Feuer gemacht und ihm etwas Brot dagelassen«, sagt er.

»Ich wollte mit … mit euch beiden reden.« Mehr wage ich nicht zu sagen, nicht hier am Telefon, das garantiert abgehört wird.

»Da musst du wohl warten, bis das Wetter sich beruhigt«, sagt er. »Vorher wird sowieso nicht viel passieren.« »Nein, nicht viel«, sage ich.

Es dauert zwei Tage, bis sich der Sturm ausgetobt hat, und danach liegen überall Schneeberge, die höher sind als ich. Ein weiterer Tag, bis der Weg vom Dorf der Sieger zum Platz geräumt ist. Ich helfe so lange Gale zu pflegen, halte mir Schneebalsam an die Wange und versuche, mich an alles über den Aufstand in Distrikt 8 zu erinnern, was ich weiß, denn es könnte für unsere Sache hilfreich sein. Die Schwellung in meinem Gesicht geht zurück, jetzt habe ich nur noch eine juckende Wunde, die langsam verheilt, und ein sehr blaues Auge. Trotzdem frage ich bei der ersten Gelegenheit Peeta, ob er mich in die Stadt begleitet.

Wir wecken Haymitch und schleifen ihn mit. Er beschwert sich, aber nicht so wie sonst. Wir wissen alle drei, dass wir über das sprechen müssen, was passiert ist, und in unseren Häusern im Dorf der Sieger wäre das viel zu gefährlich. Wir warten sogar, bis das Dorf ein ganzes Stück hinter uns liegt, ehe wir überhaupt etwas sagen. Während wir gehen, betrachte ich die drei Meter hohen Schneewände, die zu beiden Seiten des schmalen Weges aufragen, und frage mich, ob sie wohl auf uns einstürzen.

Schließlich bricht Haymitch das Schweigen. »Dann machen wir uns jetzt alle auf ins große Unbekannte, wie?«, sagt er zu mir.

»Nein«, sage ich. »Jetzt nicht mehr.«

»Sind dir die Fehler in deinem Plan aufgefallen, Süße?«, fragt er. »Irgendwelche neuen Ideen?«

»Ich will einen Aufstand organisieren«, sage ich.

Haymitch lacht nur. Es ist noch nicht mal ein fieses Lachen und deshalb umso beunruhigender. Es zeigt, dass er mich überhaupt nicht ernst nimmt. »Also, ich brauch jetzt was zu trinken. Aber halt mich auf dem Laufenden, wie du vorgehen willst«, sagt er.

»Was hast du denn für einen Plan?«, fahre ich ihn an.

»Mein Plan besteht darin, dafür zu sorgen, dass eure Hochzeit perfekt über die Bühne geht«, sagt Haymitch. »Ich hab angerufen und einen neuen Fototermin ausgemacht, ohne allzu viele Einzelheiten zu verraten.«

»Du hast doch gar kein Telefon«, sage ich.

»Effie hat es reparieren lassen«, sagt er. »Weißt du, dass sie mich gefragt hat, ob ich dich gern verraten würde? Ich hab ihr gesagt, je eher, desto besser.«

»Haymitch.« Ich höre selbst, dass ich anfange zu betteln.

»Katniss.« Er ahmt meinen Tonfall nach. »Das haut nicht hin.«

Wir verstummen, als eine Gruppe von Männern mit Schneeschippen an uns vorbei in Richtung Dorf der Sieger geht. Vielleicht können sie etwas gegen die drei Meter hohen Schneewände ausrichten. Als sie außer Hörweite sind, sind wir schon zu nah am Platz. Wir bleiben alle drei gleichzeitig stehen.

Während des Schneesturms wird sowieso nicht viel passieren. Darin waren Peeta und ich uns einig. Aber wir lagen vollkommen falsch. Der Platz ist verwandelt worden. Eine riesige Flagge mit dem Wappen von Panem ziert das Justizgebäude. Friedenswächter in makellos weißen Uniformen marschieren über das ordentlich gefegte Kopfsteinpflaster. Auf den Dächern sind weitere Friedenswächter und besetzen Maschinengewehrnester. Das Schlimmste ist eine Reihe neuer Konstruktionen mitten auf dem Platz: ein offizieller Pfahl für Auspeitschungen, mehrere Pranger und ein Galgen.

»Thread arbeitet schnell«, sagt Haymitch.

Ein paar Straßen weiter sehe ich ein großes Feuer lodern. Keiner von uns muss es aussprechen. Das kann nur der Hob sein, der in Flammen aufgeht. Ich denke an Greasy Sae, an Ripper, an all meine Freunde, die sich dort ihr Brot verdienen.

»Haymitch, du glaubst doch nicht, dass die alle noch dadrin …« Ich kann nicht zu Ende sprechen.

»Nein, so dumm sind die nicht. Das wärst du auch nicht, wenn du schon länger hier wärst«, sagt er. »Na, ich geh jetzt mal lieber zur Apotheke und gucke, wie viel Reinigungsalkohol die erübrigen können.«

Er trottet über den Platz davon und ich schaue Peeta an. »Wofür braucht er den denn?« Dann begreife ich. »Wir müssen verhindern, dass er das Zeug trinkt. Sonst bringt er sich um oder wird mindestens blind. Ich hab zu Hause noch etwas klaren Schnaps beiseitegelegt.«

»Ich auch. Vielleicht kommt er damit hin, bis Ripper sich neue Geschäftswege überlegt hat«, sagt Peeta. »Ich muss jetzt nach meiner Familie sehen.«

»Ich muss zu Hazelle.« Auf einmal mache ich mir Sorgen. Ich hätte gedacht, sie würde bei uns vor der Tür stehen, sobald der Schnee geräumt wäre. Aber bisher ist sie nicht aufgetaucht.

»Ich komme mit. Bei der Bäckerei schaue ich dann auf dem Heimweg vorbei«, sagt er.

»Danke.« Plötzlich habe ich große Angst davor, was ich vorfinden könnte.

Die Straßen sind fast verlassen, was zu dieser Tageszeit nicht so ungewöhnlich wäre, wenn die Leute in den Bergwerken wären, die Kinder in der Schule. Aber das sind sie nicht. Hinter den Eingangstüren und durch die Ritzen in den Rollläden sehe ich Gesichter, die uns beobachten.

Ein Aufstand, denke ich. Was bin ich für ein Dummkopf. Der Plan hat einen Fehler, den weder Gale noch ich erkannt haben, wir waren beide blind. Wenn man einen Aufstand machen will, muss man gegen das Gesetz verstoßen, sich der Obrigkeit widersetzen. Wir und unsere Familien haben das ein Leben lang getan. Wir haben gewildert, auf dem Schwarzmarkt gehandelt, uns im Wald über das Kapitol lustig gemacht. Doch die meisten Bewohner von Distrikt 12 würden nicht mal das Risiko eingehen, auf dem Schwarzmarkt einzukaufen. Und ich erwarte von ihnen, dass sie sich mit Pflastersteinen und Fackeln auf dem Platz versammeln? Schon der Anblick von Peeta und mir reicht aus, dass sie ihre Kinder von den Fenstern wegzerren und die Vorhänge zuziehen.

Hazelle ist zu Hause und pflegt eine sehr kranke Posy. Ich sehe die Flecken auf ihrem Körper, es sind die Masern. »Ich konnte sie nicht allein lassen«, sagt Hazelle. »Ich wusste ja, dass Gale die bestmögliche Pflege bekommt.«

»Natürlich«, sage ich. »Es geht ihm schon viel besser. Meine Mutter meint, in ein paar Wochen kann er wieder in die Bergwerke.«

»Vielleicht sind die dann noch gar nicht wieder in Betrieb«, sagt Hazelle. »Es heißt, dass sie bis auf Weiteres geschlossen wurden.« Sie schaut beunruhigt zu ihrem leeren Waschzuber.

»Haben sie dir auch den Laden dichtgemacht?«, frage ich.

»Nicht offiziell«, erklärt Hazelle. »Aber alle haben jetzt Angst, mir etwas zu geben.«

»Vielleicht wegen des Schnees«, sagt Peeta.

»Nein, Rory hat heute Morgen schnell eine Runde gemacht. Offenbar gibt es nichts zu waschen«, sagt Hazelle.

Rory schlingt die Arme um Hazelle. »Das wird schon.«

Ich nehme eine Handvoll Geld aus der Tasche und lege es auf den Tisch. »Meine Mutter wird etwas für Posy schicken.«

Als wir draußen sind, wende ich mich zu Peeta. »Geh du nach Hause. Ich will noch beim Hob vorbei.«

»Ich begleite dich«, sagt er.

»Nein. Du hast durch mich schon genug Scherereien«, sage ich.

»Und wenn ich jetzt nicht mit dir beim Hob vorbeischaue … dann wird alles wieder gut?« Lächelnd nimmt er meine Hand. Zusammen schlängeln wir uns durch die Straßen des Saums, bis wir zu dem brennenden Gebäude kommen. Sie haben sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, dort Friedenswächter aufzustellen. Sie wussten, dass niemand versuchen würde, es zu retten.

Die Hitze der Flammen lässt den Schnee ringsum schmelzen, ein schwarzes Rinnsal läuft mir über die Schuhe. »Das ist der ganze Kohlenstaub von früher«, sage ich. In jeder Ritze und in jeder Spalte hat er gesteckt. War in die Bodendielen eingegraben. Es ist ein Wunder, dass das Ding nicht schon längst in Flammen aufgegangen ist. »Ich möchte nach Greasy Sae sehen.«

»Nicht heute, Katniss. Ich glaube, wir helfen niemandem, wenn wir bei ihnen reinschneien«, sagt er.

Wir gehen zurück zum Platz. Ich kaufe bei Peetas Vater ein bisschen Kuchen, während sie Belanglosigkeiten über das Wetter austauschen. Niemand erwähnt die hässlichen Folterwerkzeuge wenige Meter vor der Ladentür. Als wir den Platz verlassen, fällt mir noch auf, dass ich unter den Friedenswächtern kein einziges bekanntes Gesicht sehe.

In den folgenden Tagen wird alles nur noch schlimmer. Die Bergwerke bleiben zwei Wochen lang geschlossen und da hungert schon der halbe Distrikt. Die Anzahl der Kinder, die sich für Tesserasteine eintragen, schnellt in die Höhe, doch oft genug bekommen sie ihr Getreide gar nicht. Lebensmittel werden allmählich knapp, und selbst die Leute, die Geld haben, kehren mit leeren Händen aus den Geschäften zurück. Als die Bergwerke wieder öffnen, werden die Löhne gekürzt, die Arbeitszeiten verlängert, die Arbeiter werden an offensichtlich gefährlichen Stellen eingesetzt. Das für den Pakettag versprochene Essen, sehnlichst erwartet, trifft verdorben und von Ratten verseucht ein. Die Werkzeuge auf dem Platz kommen oft zum Einsatz. Menschen werden herbeigeschleift und für Vergehen bestraft, über die so lange hinweggesehen wurde, dass wir sie schon gar nicht mehr als solche betrachtet hatten.

Gale geht nach Hause, ohne dass wir noch einmal über die Rebellion gesprochen hätten. Aber irgendetwas sagt mir, dass alles, was er sieht, ihn in seinem Entschluss zurückzuschlagen nur noch bestärken wird. Die schlimmen Zustände in den Bergwerken, die gequälten Menschen auf dem Platz, der Hunger in den Gesichtern seiner Familie. Rory hat sich für Tesserasteine eingetragen, worüber Gale noch nicht mal sprechen kann, und es reicht immer noch nicht, weil Lebensmittel nicht jederzeit zu haben sind und immer teurer werden.

Der einzige Lichtblick ist, dass ich Haymitch überreden kann, Hazelle als Haushälterin anzustellen. So hat sie ein wenig zusätzliches Geld und Haymitch eine höhere Lebensqualität. Es ist merkwürdig, sein Haus so frisch und sauber zu sehen, mit warmem Essen auf dem Herd. Er merkt es kaum, weil er eine ganz andere Schlacht führt. Peeta und ich haben versucht, den Schnaps, so gut es ging, einzuteilen, aber er ist fast alle, und als ich Ripper das letzte Mal gesehen habe, stand sie am Pranger.

Wenn ich durch die Straßen gehe, komme ich mir vor wie eine Aussätzige. Alle meiden mich in der Öffentlichkeit. Doch zu Hause habe ich reichlich Gesellschaft. Immer neue Lieferungen von Kranken und Verletzten werden in die Küche zu meiner Mutter gebracht und sie nimmt schon lange kein Geld mehr für die Behandlungen. Ihr Vorrat an Heilmitteln ist so knapp geworden, dass sie die Patienten bald nur noch mit Schnee behandeln kann.

Der Wald ist natürlich verboten. Strengstens. Ohne jede Einschränkung. Nicht mal Gale stellt das jetzt infrage. Doch eines Morgens tue ich es. Und es ist nicht das Haus voller Kranker und Sterbender, das mich unter dem Zaun hindurchtreibt, es sind nicht die blutenden Rücken, die ausgemergelten Gesichter der Kinder, die marschierenden Stiefel, es ist nicht das allgegenwärtige Elend. Es ist eine Kiste mit Hochzeitskleidern, die eines Abends ankommt, darin eine Nachricht von Effie, in der sie schreibt, mit dieser Auswahl sei Präsident Snow persönlich einverstanden.

Die Hochzeit. Will er das wirklich durchziehen? Wozu soll das seinem verqueren Denken nach gut sein? Haben die Leute im Kapitol irgendetwas davon? Eine Hochzeit ist ihnen versprochen worden, eine Hochzeit sollen sie bekommen. Und dann bringt er uns um? Als Lektion für die Distrikte? Ich weiß es nicht. Ich werde daraus nicht schlau. Ich wälze mich im Bett hin und her, bis ich es nicht mehr aushalte. Ich muss hier raus. Wenigstens für ein paar Stunden.

Ich taste in meinem Schrank herum, bis ich die wasserdichte Winterausrüstung finde, die Cinna mir für meine Freizeit während der Siegertour gemacht hat. Wasserdichte Stiefel, ein Schneeanzug, der mich von Kopf bis Fuß bedeckt, Thermohandschuhe. Ich liebe meine alte Jagdkleidung, aber für den Marsch, den ich im Sinn habe, ist diese Hightechausrüstung besser geeignet. Auf Zehenspitzen gehe ich nach unten, packe mir die Jagdtasche mit Proviant voll und stehle mich aus dem Haus. Ich schleiche durch Seitenstraßen und abgelegene Gassen, bis ich zu der Lücke im Zaun in der Nähe von Fleischer Rooba gelange. Weil viele Arbeiter auf dem Weg zu den Bergwerken hier endangkommen, wimmelt es im Schnee von Fußspuren. Da fallen meine gar nicht auf. Sosehr Thread die Sicherheit verstärkt hat, den Zaun hat er vernachlässigt. Vielleicht dachte er sich, das raue Wetter und die wilden Tiere würden schon ausreichen, um die Menschen innerhalb der Grenzen zu halten. Trotzdem verwische ich hinter dem Maschendrahtzaun meine Spuren, bis sie sich zwischen den Bäumen verlieren.

Der Tag bricht gerade an, als ich mir Pfeil und Bogen schnappe und durch den hohen Schnee im Wald stapfe. Aus irgendeinem Grund will ich es unbedingt bis zum See schaffen. Vielleicht, um mich von ihm zu verabschieden und von meinem Vater, der glücklichen Zeit, die wir dort verbracht haben, weil ich weiß, dass ich wahrscheinlich nie zurückkehren werde. Vielleicht auch nur, um noch mal richtig durchzuatmen. In gewisser Weise ist es fast egal, ob sie mich erwischen, wenn ich den See nur noch einmal sehen kann.

Ich brauche für den Weg doppelt so lange wie sonst. Die Klamotten von Cinna halten die Wärme sehr gut; als ich ankomme, bin ich schweißnass unter dem Schneeanzug, während mein Gesicht taub ist vor Kälte. Die Wintersonne, die vom Schnee reflektiert wird, hat meinen Augen einen Streich gespielt, und ich bin so erschöpft und in meine trüben Gedanken vertieft, dass ich die Zeichen nicht bemerke. Den Rauchfaden, der aus dem Schornstein kommt, die frischen Fußspuren, den Geruch von dampfenden Kiefernnadeln. Ich bin schon wenige Meter vor der Tür des Betonhauses, als ich abrupt stehen bleibe. Und zwar nicht wegen des Rauchs oder der Fußspuren oder des Geruchs. Sondern wegen des unverkennbaren Klickens einer Waffe hinter mir.

Instinkt. Intuition. Ich drehe mich um und spanne den Bogen, obwohl ich schon weiß, dass meine Chancen schlecht stehen. Ich sehe die weiße Friedenswächter-Uniform, das spitze Kinn, die hellbraune Iris, in der mein Pfeil landen wird. Doch die Waffe fällt zu Boden und die unbewaffnete Frau hält mir mit der behandschuhten Hand etwas hin.

»Halt!«, schreit sie.

Ich schwanke, ich kann diesen Wandel nicht einordnen. Vielleicht haben sie den Befehl, mich lebend zu fangen, damit sie mich durch Folter dazu bringen können, alle zu verraten, die ich kenne. Na, dann viel Glück, denke ich. Meine Finger sind schon fast entschlossen, den Pfeil loszulassen, als ich den Gegenstand in dem Handschuh sehe. Es ist ein kleines weißes Brot, flach und rund. Eigentlich eher ein Kräcker. Grau und pappig am Rand. Doch in der Mitte ist ganz deutlich ein Bild zu erkennen.

Es ist mein Spotttölpel.

Teil 2

Das Jubiläum


10

Das verstehe ich nicht. Mein Vogel in Brot gebacken. Anders als die schicken Darstellungen, die ich im Kapitol gesehen habe, ist das hier ganz bestimmt kein modisches Accessoire. »Was ist das? Was soll das bedeuten?«, frage ich schroff, immer noch bereit zu töten.

»Es bedeutet, dass wir auf deiner Seite sind«, sagt hinter mir jemand mit bebender Stimme.

Ich habe sie nicht gesehen, als ich kam. Sie muss im Haus gewesen sein. Ich lasse mein Ziel nicht aus den Augen. Vielleicht ist die Neue bewaffnet, aber ganz bestimmt will sie nicht das verräterische, meinen Tod verkündende Klicken ertönen lassen, denn sie weiß, dass ich dann auf der Stelle ihre Gefährtin umbringen würde. »Komm herum, damit ich dich sehen kann«, befehle ich.

»Sie kann nicht, sie ist …«, setzt die Frau mit dem Kräcker an.

»Komm herum!«, brülle ich. Ich höre einen Schritt und ein schleifendes Geräusch. Ich höre, wie mühsam sie sich bewegt. Die zweite Frau, oder vielleicht sollte ich besser von einem Mädchen sprechen, denn sie ist etwa in meinem Alter, humpelt in mein Blickfeld. Sie ist mit einer schlecht sitzenden Friedenswächter-Uniform bekleidet, inklusive weißem Pelzmantel, doch die Kleider sind mehrere Nummern zu groß für ihre schmächtige Gestalt. Sie scheint keine Waffe dabeizuhaben. Ihre Hände sind damit beschäftigt, eine improvisierte Krücke zu halten, die aus einem abgebrochenen Ast gemacht ist. Mit der Spitze ihres rechten Stiefels kommt sie nicht über den Schnee, deshalb zieht sie den Fuß nach.

Ich betrachte das Gesicht des Mädchens, knallrot von der Kälte. Sie hat schiefe Zähne und einen Erdbeerfleck über einem ihrer schokoladenbraunen Augen. Das ist keine Friedenswächterin. Und sie stammt auch nicht aus dem Kapitol.

»Wer seid ihr?«, frage ich argwöhnisch, aber weniger angriffslustig.

»Ich heiße Twill«, sagt die Frau. Sie ist älter. Fünfunddreißig vielleicht. »Und das ist Bonnie. Wir sind aus Distrikt 8 geflohen.«

Distrikt 8! Dann wissen sie von dem Aufstand!

»Woher habt ihr die Uniformen?«, frage ich.

»Ich hab sie aus der Fabrik geklaut«, sagt Bonnie. »Wir stellen sie dort her. Allerdings war diese für … für jemand anders gedacht. Deshalb passt sie mir nicht.«

»Das Gewehr stammt von einem toten Friedenswächter«, sagt Twill, als sie meinem Blick folgt.

»Der Kräcker in deiner Hand. Mit dem Vogel. Was soll das?«, frage ich.

»Weißt du das nicht, Katniss?« Bonnie wirkt ernsthaft überrascht.

Sie haben mich erkannt. Natürlich haben sie mich erkannt. Mein Gesicht ist nicht verdeckt, ich stehe hier hinter der Grenze von Distrikt 12 und richte einen Pfeil auf sie. Wer sollte ich sonst sein? »Ich weiß, dass der Vogel genauso aussieht wie der auf der Brosche, die ich in der Arena getragen hab.«

»Sie weiß es nicht«, sagt Bonnie leise. »Vielleicht weiß sie gar nichts davon.«

Auf einmal möchte ich, dass es so aussieht, als wüsste ich Bescheid. »Ich weiß, dass ihr in Distrikt 8 einen Aufstand hattet.«

»Ja, deshalb mussten wir weg«, sagt Twill.

»Na, weg seid ihr jetzt ja. Was habt ihr vor?«, frage ich.

»Wir wollen nach Distrikt 13«, antwortet Twill.

»13?«, sage ich. »13 gibt es nicht. Der wurde von der Landkarte getilgt.«

»Vor fünfundsiebzig Jahren«, sagt Twill.

Bonnie verlagert das Gewicht auf der Krücke und zuckt vor Schmerz zusammen.

»Was ist mit deinem Bein?«, frage ich.

»Ich hab mir den Fuß verknackst. Die Stiefel sind mir zu groß«, sagt Bonnie.

Ich beiße mir auf die Lippe. Mein Instinkt sagt mir, dass sie die Wahrheit sagen. Und hinter dieser Wahrheit stecken viele Informationen, die ich gern hätte. Doch bevor ich den Bogen sinken lasse, gehe ich auf Twill zu und nehme ihr das Gewehr ab. Dann zögere ich einen Moment, denke an einen anderen Tag hier im Wald, als Gale und ich ein Hovercraft gesehen haben, das aus dem Nichts auftauchte und zwei junge Leute einfing, die vor dem Kapitol auf der Flucht waren. Der Junge wurde von einem Speer durchbohrt. Das rothaarige Mädchen wurde, wie ich später im Kapitol herausfand, verstümmelt und als stumme Dienerin, Avox genannt, angestellt. »Ist jemand hinter euch her?«

»Wir glauben nicht. Wahrscheinlich denken sie, wir wären bei einer Fabrikexplosion ums Leben gekommen«, sagt Twill. »Reines Glück, dass das nicht passiert ist.«

»Gut, dann kommt mit rein«, sage ich mit einer Kopfbewegung zu dem Betonhaus. Ich folge ihnen mit dem Gewehr.

Bonnie geht sofort zum Kamin und lässt sich auf dem Mantel eines Friedenswächters nieder, der davor ausgebreitet ist. Sie hält die Hände nah an die schwache Flamme, die an einem Ende eines verkohlten Holzscheits brennt. Bonnie ist so blass, dass ihre Haut durchsichtig ist, ich sehe das Feuer durch ihr Fleisch hindurch. Twill versucht, den Mantel, der wohl ihr gehört, dem zitternden Mädchen umzulegen.

Sie haben eine große Blechdose entzweigeschnitten, die Kante ist gefährlich gezackt. Sie steht in der Asche, darin eine Handvoll Kiefernnadeln, die im Wasser dampfen.

»Kocht ihr Tee?«, frage ich.

»Wir wissen nicht so genau. Vor ein paar Jahren hab ich mal bei den Hungerspielen gesehen, wie jemand so was mit Kiefernnadeln gemacht hat. Jedenfalls glaube ich, dass es Kiefernnadeln waren«, sagt Twill mit gerunzelter Stirn.

Ich denke an unseren Besuch in Distrikt 8, eine hässliche Industriegegend, wo es nach Abgasen stank und die Leute in heruntergekommenen Wohnungen hausten. Kaum ein Grashalm zu sehen. Absolut keine Gelegenheit, zu lernen, wie es in der Natur zugeht. Es ist ein Wunder, dass die beiden so weit gekommen sind.

»Nichts mehr zu essen?«, frage ich.

Bonnie schüttelt den Kopf. »Wir haben mitgenommen, so viel wir konnten, aber es gab so wenig zu essen. Es ist schon eine ganze Weile alle.« Bei dem Zittern in ihrer Stimme schwinden meine letzten Vorbehalte. Sie ist nur ein unterernährtes, verletztes Mädchen, das vor dem Kapitol flieht.

»Na, dann ist heute euer Glückstag«, sage ich und lasse meine Jagdtasche zu Boden fallen. Im ganzen Distrikt hungern die Menschen und wir haben immer noch mehr als genug. Deshalb habe ich die Sachen in letzter Zeit ein bisschen verteilt. Ich habe meine Prioritäten: Gales Familie, Greasy Sae und einige andere Schwarzmarkthändler, denen der Laden dichtgemacht wurde. Meine Mutter hat auch noch ein paar Leute, vor allem Patienten, denen sie helfen möchte. Heute Morgen habe ich meine Tasche absichtlich mit Essen vollgestopft, damit meine Mutter die geplünderte Speisekammer sieht und annimmt, dass ich meine Runde zu den Notleidenden mache. Damit wollte ich Zeit gewinnen, um zum See zu gehen, ohne dass sie sich Sorgen macht. Das Essen wollte ich am Abend nach meiner Rückkehr verteilen, aber jetzt sehe ich, dass das ausfallen muss.

Ich hole zwei frische, mit Käse überbackene Brötchen aus der Tasche. Seit Peeta weiß, dass das meine Lieblingsbrötchen sind, haben wir davon immer jede Menge zu Hause. Ich werfe Twill eins zu und lege das andere Bonnie in den Schoß, da ich bezweifle, dass sie es in ihrem Zustand auffangen kann, und ich möchte nicht, dass das Ding im Feuer landet.

»Oh«, sagt Bonnie. »Ist das alles für mich?«

In meinem Innern zuckt es, als ich an eine andere Stimme denke. Rue. In der Arena. Als ich ihr das Gruslingbein gegeben habe. »Ich hab noch nie ein ganzes Bein für mich allein gehabt.« Das Staunen der chronisch Hungrigen.

»Ja, iss es auf«, sage ich. Bonnie hält das Brötchen, als könnte sie nicht recht glauben, dass es echt ist, dann gräbt sie immer wieder die Zähne hinein, sie kann nicht aufhören. »Es ist besser, wenn du kaust.« Sie nickt und versucht, langsamer zu essen, aber ich weiß, wie schwer das ist, wenn man so ein Loch im Bauch hat. »Ich glaube, euer Tee ist fertig.« Schnell nehme ich die Blechdose aus der Asche. Twill kramt zwei Blechtassen aus ihrem Rucksack und ich schenke den Tee aus und stelle ihn zum Abkühlen auf den Boden. Sie kauern sich zusammen, essen, pusten in ihre Tassen und trinken winzige Schlucke von dem brühend heißen Tee, während ich mich um das Feuer kümmere. Ich warte, bis sie sich das Fett von den Fingern lecken, dann frage ich: »Also, was habt ihr erlebt?« Und sie fangen an zu erzählen.

Seit den Hungerspielen war die Unzufriedenheit in Distrikt 8 immer größer geworden. In gewissem Maß war sie natürlich immer da gewesen. Nur genügte es jetzt nicht mehr zu reden, und die Idee, zur Tat zu schreiten, wurde vom Wunsch zur Realität. In den Textilfabriken, die Panem beliefern, ist es immer laut von den Maschinen, und bei dem Lärm war es ein Leichtes, etwas weiterzusagen, Lippen dicht an einem Ohr, Worte unbemerkt, ungehindert. Twill unterrichtete an der Schule, Bonnie war eine ihrer Schülerinnen, und nach Schulschluss rissen sie zusammen noch eine Vierstundenschicht in der Fabrik ab, die sich auf Uniformen für die Friedenswächter spezialisiert hatte. Bonnie, die in der kalten Fertigungskontrolle arbeitete, brauchte Monate, bis sie die beiden Uniformen beschafft hatte, einen Stiefel hier, eine Hose da. Sie waren für Twill und ihren Mann gedacht, denn wenn der Aufstand größere Kreise ziehen und erfolgreich sein sollte, mussten sie die Nachricht selbstverständlich über Distrikt 8 hinaus verbreiten.

An dem Tag, als Peeta und ich unseren Auftritt bei der Tour der Sieger hatten, fand eine Art Generalprobe statt. Die Leute in der Menge stellten sich in ihren Gruppen auf, an den Gebäuden, die sie ins Visier nehmen wollten, wenn der Aufstand ausbrach. Das war der Plan: die Zentren der Macht in der Stadt zu übernehmen, also das Justizgebäude, das Hauptquartier der Friedenswächter und das Kommunikationszentrum auf dem Platz. Und anderswo im Distrikt: die Eisenbahn, den Kornspeicher, das Elektrizitätswerk und das Waffenlager.

Der Abend meiner Verlobung, der Abend, an dem Peeta auf die Knie fiel und im Kapitol vor laufenden Kameras seine unsterbliche Liebe zu mir gestand, das war der Abend, an dem der Aufstand begann. Das Interview mit Caesar Flickerman auf unserer Tour der Sieger bot einen optimalen Deckmantel. Es war Pflichtprogramm für alle, und so hatte das Volk von Distrikt 8 einen Vorwand, nach Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen zu sein. Sie versammelten sich zum Zuschauen entweder auf dem Platz oder an verschiedenen Treffpunkten in der Stadt. Normalerweise wäre ein solches Treiben zu verdächtig gewesen. So jedoch waren alle zur vorgeschriebenen Zeit, um acht Uhr, zur Stelle, als die Masken aufgesetzt wurden und die Hölle ausbrach.

Anfangs wurden die Friedenswächter von der Menge überwältigt, auf einen solchen Massenaufstand waren sie nicht vorbereitet. Das Kommunikationszentrum, der Kornspeicher und das Elektrizitätswerk wurden sämtlich eingenommen. Die Rebellen nahmen die Waffen der toten Friedenswächter an sich. Es gab Hoffnung, dass das Ganze keine Wahnsinnstat war, dass es, wenn sich die Nachricht in den anderen Distrikten verbreitete, irgendwie möglich wäre, die Regierung zu stürzen.

Doch dann schlug das Kapitol zurück. Friedenswächter kamen zu Tausenden. Hovercrafts zerbombten die Stützpunkte der Rebellen. In dem Chaos, das folgte, waren die Leute schon froh, wenn sie es lebend nach Hause schafften. In weniger als achtundvierzig Stunden war die Stadt bezwungen. Dann wurde sie eine Woche lang abgeriegelt. Keine Lebensmittel, keine Kohle, Ausgangssperre. Nur einmal war im Fernsehen etwas anderes als Schnee zu sehen, das war, als diejenigen, die als Rädelsführer verdächtigt wurden, auf dem Platz gehängt wurden. Dann, eines Nachts, als der gesamte Distrikt zu verhungern drohte, kam plötzlich der Befehl, wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Für Bonnie und Twill bedeutete das, dass sie wieder in die Schule mussten. Weil eine Straße durch die Bombardierung unzugänglich war, kamen sie zu spät zu ihrer Schicht in der Fabrik, und so waren sie hundert Meter entfernt, als das Gebäude in die Luft flog und alle, die darin waren, ums Leben kamen - darunter Twills Mann und Bonnies ganze Familie.

»Irgendjemand muss dem Kapitol gesteckt haben, dass der Plan für den Aufstand dort entstanden ist«, sagt Twill mit schwacher Stimme.

Die beiden flohen zu Twill nach Hause, wo die Uniformen der Friedenswächter noch warteten. Sie kratzten so viel Proviant wie möglich zusammen, bedienten sich bei Nachbarn, von denen sie wussten, dass sie tot waren, und schafften es zum Bahnhof. In einem Lager in der Nähe der Gleise zogen sie sich die Uniformen der Friedenswächter an und schafften es in dieser Verkleidung bis zu einem mit Stoff beladenen Güterwagen. Der Zug hatte Distrikt 6 zum Ziel, sie flohen unterwegs während eines Tankstopps und gelangten vor zwei Tagen ins Randgebiet von Distrikt 12, wo sie einen Halt einlegen mussten, als Bonnie sich den Knöchel verstauchte.

»Ich verstehe, weshalb ihr auf der Flucht seid, aber was erwartet ihr euch in Distrikt 13?«, frage ich.

Bonnie und Twill wechseln einen nervösen Blick. »Das wissen wir nicht genau«, sagt Twill.

»Da sind doch nur Trümmer«, sage ich. »Wir haben alle die Aufnahmen gesehen.«

»Das ist es ja. Solange wir in Distrikt 8 zurückdenken können, zeigen sie immer dieselben Aufnahmen«, erklärt Twill.

»Wirklich?« Ich versuche mich zu erinnern, mir Bilder von Distrikt 13 vor Augen zu führen, die ich aus dem Fernsehen kenne.

»Du weißt doch, dass sie immer das Justizgebäude zeigen?«, fährt Twill fort. Ich nicke. Ich habe es schon tausendmal gesehen. »Wenn du ganz genau hinsiehst, kannst du ihn erkennen. Ganz oben rechts.«

»Wen denn?«, frage ich.

Twill zeigt wieder ihren Kräcker mit dem Vogel. »Einen Spotttölpel. Nur für einen kurzen Moment, wie er vorbeifliegt. Jedes Mal derselbe.«

»In Distrikt 8 denken wir, dass sie immer wieder dasselbe Bildmaterial zeigen, weil sie das, was da wirklich los ist, nicht zeigen können«, sagt Bonnie.

Ich schnaube ungläubig. »Und auf dieser Grundlage wollt ihr nach Distrikt 13? Wegen einer Aufnahme von einem Vogel? Glaubt ihr etwa, ihr findet dort eine neue Stadt mit Leuten, die darin flanieren? Und dass das für das Kapitol völlig in Ordnung ist?«

»Nein«, sagt Twill ernst. »Wir glauben, dass die Leute unter die Erde gezogen sind, als über der Erde alles zerstört war. Wir glauben, dass sie es geschafft haben zu überleben. Und wir glauben, das Kapitol lässt sie in Ruhe, weil vor den Dunklen Tagen die wichtigste Industrie in Distrikt 13 die Entwicklung von Atomwaffen war.«

»Sie haben Grafit gefördert«, sage ich. Doch dann halte ich inne, denn das ist eine Information, die ich aus dem Kapitol habe.

»Es gab dort ein paar kleine Minen, das stimmt. Aber nicht genug, um eine Bevölkerung dieser Größenordnung zu rechtfertigen. Das ist wohl das Einzige, was wir ganz sicher sagen können«, sagt Twill.

Mein Herz schlägt zu schnell. Und wenn sie nun recht haben? Könnte es stimmen? Gibt es vielleicht außer der Wildnis noch einen Ort, an den man fliehen könnte? Wo man in Sicherheit wäre? Wenn es in Distrikt 13 eine Gemeinschaft gibt, wäre es dann besser, dorthin zu gehen, wo ich vielleicht etwas bewirken könnte, anstatt hier auf den Tod zu warten? Andererseits … wenn es in Distrikt 13 Menschen mit mächtigen Waffen gibt …

»Warum haben sie uns dann nicht geholfen?«, sage ich zornig. »Wenn es stimmt, warum lassen sie uns so leben? Mit dem Hunger und den Morden und den Spielen?« Auf einmal hasse ich diese angebliche unterirdische Stadt in Distrikt 13 und die Leute, die dahocken und uns beim Sterben zusehen. Sie sind nicht besser als das Kapitol.

»Das wissen wir nicht«, flüstert Bonnie. »Im Moment klammern wir uns einfach an die Hoffnung, dass es sie gibt.«

Das katapultiert mich wieder in die Wirklichkeit. Es ist nur eine Illusion. Distrikt 13 gibt es nicht, weil das Kapitol es nie zulassen würde. Wahrscheinlich irren sie sich, was die Fernsehbilder angeht. Spotttölpel sind ungefähr so selten wie Steine. Und auch genauso hart im Nehmen. Wenn sie damals den Bombenangriff auf Distrikt 13 überlebt haben, geht es ihnen jetzt vermutlich besser denn je.

Bonnie hat kein Zuhause. Ihre Familie ist tot. Sie kann unmöglich nach Distrikt 8 zurückkehren oder in einem anderen Distrikt Fuß fassen. Natürlich hat die Vorstellung von einem unabhängigen, blühenden Distrikt 13 für sie eine große Anziehungskraft. Ich bringe es nicht über mich, ihr zu sagen, dass sie einem Traum hinterherjagt, der so wenig greifbar ist wie ein Rauchfaden. Vielleicht können sie und Twill sich im Wald irgendwie ein Leben aufbauen. Ich glaube nicht daran, aber sie sind so bemitleidenswert, dass ich versuchen muss, ihnen zu helfen.

Zuerst gebe ich ihnen das gesamte Essen, das ich im Rucksack habe, vor allem Getreide und getrocknete Bohnen; damit können sie eine ganze Weile auskommen, wenn sie gut haushalten. Dann nehme ich Twill mit in den Wald und versuche ihr die Grundbegriffe der Jagd zu erklären. Sie besitzt eine Waffe, die bei Bedarf Sonnenlicht in tödliche Strahlen umwandeln kann und die also unendlich lange einsetzbar ist. Als Twill ihr erstes Eichhörnchen erlegt, ist das arme Tier ganz verkohlt, weil sein Körper mit voller Wucht getroffen wurde. Doch ich zeige ihr, wie man es häutet und ausnimmt. Mit ein bisschen Übung wird sie es schon lernen. Ich schnitze eine neue Krücke für Bonnie. Im Haus ziehe ich mein zweites Paar Socken aus und gebe es ihr, sie soll die Socken vorn in die Stiefel stecken und nachts anziehen. Schließlich bringe ich ihnen noch bei, wie man ein ordentliches Feuer macht.

Sie wollen Einzelheiten über die Situation in Distrikt 12 erfahren und ich erzähle ihnen von dem Leben unter Thread. Ich merke, dass das für sie wichtige Informationen sind, die sie den Leuten in Distrikt 13 überbringen wollen, und ich spiele mit, um ihnen nicht die Hoffnung zu nehmen. Doch als es am späten Nachmittag zu dämmern beginnt, habe ich keine Zeit mehr, sie weiter aufzubauen.

»Ich muss jetzt gehen«, sage ich.

Sie danken mir überschwänglich und umarmen mich.

Tränen laufen Bonnie über die Wangen. »Ich kann es gar nicht glauben, dass wir dich wirklich kennengelernt haben. Alle reden nur von dir, seit …«

»Ich weiß, ich weiß. Seit ich die Beeren herausgeholt habe«, sage ich müde.

Den Heimweg nehme ich kaum wahr, obwohl nasser Schnee fällt. Mir schwirrt der Kopf von den neuen Informationen über den Aufstand in Distrikt 8 und der unwahrscheinlichen und doch verlockenden Möglichkeit, dass es Distrikt 13 geben könnte.

Die Schilderungen von Bonnie und Twill haben eines bestätigt: Präsident Snow hat mich zum Narren gehalten. Selbst alle Küsse und Zärdichkeiten der Welt hätten die Bewegung, die in Distrikt 8 entstanden war, nicht aufhalten können. Ja, die Sache mit den Beeren war der entscheidende Funke gewesen, doch das Feuer konnte ich nicht eindämmen. Das muss er gewusst haben. Weshalb ist er dann zu mir nach Hause gekommen, warum hat er mir befohlen, die Menschen von meiner Liebe zu Peeta zu überzeugen? Offensichtlich war das eine List, mit der er mich ablenken und von weiteren aufrührerischen Aktionen in den Distrikten abhalten wollte. Und natürlich die Leute im Kapitol unterhalten. Die Hochzeit ist wahrscheinlich nur ein notwendiges Extra.

Ich bin fast am Zaun, als ein Spotttölpel sich auf einem Zweig niederlässt und mir etwas vorsingt. Bei seinem Anblick wird mir bewusst, dass ich gar nicht genau erfahren habe, weshalb der Vogel auf dem Kräcker war und was für eine Bedeutung er hat.

»Es bedeutet, dass wir auf deiner Seite sind«, hat Bonnie gesagt. Es gibt Menschen, die auf meiner Seite sind? Auf was für einer Seite? Bin ich unbeabsichtigt das Gesicht der Rebellion, auf die sie hoffen? Ist der Spotttölpel auf meiner Brosche zum Symbol des Widerstands geworden? Wenn dem so ist, geht es meiner Seite nicht sonderlich gut. Man braucht sich bloß anzuschauen, was in Distrikt 8 passiert ist.

Ich verstaue meine Waffen in dem hohlen Baumstamm in der Nähe meines alten Hauses im Saum und gehe auf den Zaun zu. Ein Knie habe ich schon am Boden, um auf die Weide zu kriechen, und ich bin mit meinen Gedanken immer noch so sehr bei den Ereignissen des Tages, dass ich erst durch den plötzlichen Schrei einer Eule zu mir komme.

In der Dämmerung sieht der Maschendrahtzaun so harmlos aus wie immer. Was meine Hand dennoch zurückzucken lässt, ist ein Geräusch wie das Summen in einem Baum mit mehreren Jägerwespennestern. Es verrät, dass der Zaun unter Strom steht.

11

Instinktiv mache ich einen Satz zurück und verstecke mich zwischen den Bäumen. Ich bedecke den Mund mit dem Handschuh, damit mein Atem nicht als weißer Hauch in der eisigen Luft zu sehen ist. Adrenalin strömt durch meinen Körper und fegt all die Bedenken des Tages aus meinen Gedanken, während ich mich auf die unmittelbare Gefahr vor mir konzentriere. Was soll das? Hat Thread den Zaun als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme eingeschaltet? Oder weiß er irgendwoher, dass ich ihm heute durchs Netz geschlüpft bin? Ist er entschlossen, mich außerhalb von Distrikt 12 auflaufen zu lassen, damit er mich festnehmen und einsperren kann? Will er mich auf den Platz zerren und an den Pranger stellen oder auspeitschen oder hängen lassen?

Ganz ruhig, befehle ich mir. Es ist nicht das erste Mal, dass der Zaun unter Strom steht, wenn ich wieder zurück in den Distrikt will. Im Lauf der Jahre ist das ein paarmal vorgekommen, aber da war immer Gale bei mir. Wir haben uns dann einfach einen gemütlichen Baum gesucht und dort oben gewartet, bis der Strom wieder abgeschaltet wurde, was früher oder später immer geschah. Wenn ich mich verspätete, lief Prim sogar jedes Mal schon zur Weide, um nachzusehen, ob der Zaun unter Strom stand, damit meine Mutter sich nicht unnötig sorgen musste.

Doch heute würde meine Familie nie darauf kommen, dass ich im Wald sein könnte. Ich habe sogar versucht, sie auf die falsche Fährte zu setzen. Wenn ich nicht auftauche, werden sie sich also auf jeden Fall Sorgen machen. Und in gewisser Weise mache ich mir selbst auch Sorgen, denn so sicher bin ich mir nicht, dass es nur Zufall ist - ausgerechnet an dem Tag, an dem ich in den Wald zurückkehre, wird der Strom eingeschaltet. Ich dachte, niemand hätte mich gesehen, als ich unter dem Zaun hindurchgeschlüpft bin, aber wer weiß? Spione gibt es immer. Irgendjemand hat verraten, dass Gale mich genau hier geküsst hat. Allerdings war das am helllichten Tag und damals war ich noch nicht so vorsichtig. Gibt es hier womöglich Überwachungskameras? Das habe ich mich schon einmal gefragt. Weiß Präsident Snow deshalb von dem Kuss? Es war dunkel, als ich mich davongestohlen habe, und ich hatte mir einen Schal um das Gesicht geschlungen. Doch die Liste derjenigen, die man verdächtigen könnte, verbotenerweise in den Wald zu gehen, ist vermutlich nicht lang.

Ich spähe durch die Bäume, am Zaun vorbei, auf die Weide. Ich sehe nichts als den nassen Schnee, der hier und dort von den Lichtern aus den Fenstern am Rand des Saums erhellt wird. Keine Friedenswächter in Sicht, keine Anzeichen dafür, dass ich gejagt werde. Ob Thread nun weiß, dass ich den Distrikt heute verlassen habe, oder nicht, mein Ziel muss dasselbe sein: ungesehen auf die andere Seite des Zauns zu gelangen und so zu tun, als wäre ich nie weg gewesen.

Jede Berührung mit dem Maschendrahtzaun oder mit dem Stacheldraht darüber hätte einen tödlichen Stromschlag zur Folge. Ich bezweifle, dass ich mich unter dem Zaun hindurchgraben kann, ohne entdeckt zu werden, und der Boden ist sowieso festgefroren. Mir bleibt nur eine Möglichkeit. Irgendwie muss ich versuchen hinüberzugelangen.

Ich gehe am Waldrand entlang und suche nach einem geeigneten Baum mit einem langen, hohen Ast. Nach etwa eineinhalb Kilometern komme ich zu einem alten Ahorn, bei dem es glücken könnte. Der Stamm ist jedoch zu dick und zu glatt, um hinaufzuklettern, und er hat keine niedrigen Äste. Ich klettere auf einen benachbarten Baum und mache einen gewagten Sprung auf den Ahorn, beinahe hätte ich an der glatten Rinde den Halt verloren. Doch ich schaffe es, mich festzuhalten, und schiebe mich auf einem Ast, der über den Zaun ragt, langsam vorwärts.

Als ich hinunterschaue, weiß ich wieder, wieso Gale und ich lieber im Wald gewartet haben, als den Zaun in Angriff zu nehmen. Wenn man nicht verkohlt werden will, muss man mindestens sieben Meter Höhe erreichen. Mein Ast ist bestimmt acht Meter hoch. Das ist eine gefährliche Höhe zum Springen, selbst für jemanden, der jahrelange Übung hat. Doch was bleibt mir übrig? Ich könnte nach einem anderen Ast Ausschau halten, aber jetzt ist es schon fast dunkel. Es schneit immer noch, der Mond wird kaum Licht spenden. Hier ist wenigstens ein Schneeberg unter mir, der meine Landung abfedert. Selbst wenn ich einen anderen Ast fände, was zu bezweifeln ist, wer weiß, wo ich dann hineinspringen würde? Ich hänge mir die leere Jagdtasche um den Hals und lasse mich langsam hinab, bis ich mich nur noch mit den Händen am Ast festhalte. Einen Augenblick lang nehme ich allen Mut zusammen. Dann lasse ich los.

Ich spüre, wie ich falle, dann komme ich mit einem heftigen Ruck auf, der mir die Wirbelsäule hochfährt. Eine Sekunde später knalle ich mit dem Hinterteil auf den Boden. Ich liege im Schnee und untersuche den Schaden. Auch ohne aufzustehen, merke ich an dem Schmerz in der linken Hüfte und im Steißbein, dass ich verletzt bin. Die Frage ist nur, wie sehr. Ich hoffe, dass es nur Prellungen sind, aber als ich mich aufrappele, fürchte ich, dass ich mir auch etwas gebrochen habe. Laufen kann ich immerhin, also marschiere ich los und versuche, so wenig wie möglich zu humpeln.

Meine Mutter und Prim können nicht wissen, dass ich im Wald war. Ich muss mir irgendein Alibi beschaffen, wie dürftig auch immer. Ein paar Geschäfte auf dem Platz haben noch geöffnet, also gehe ich in eines hinein und kaufe weißen Stoff für Verbände. Wir haben sowieso fast keine mehr. In einem anderen Geschäft kaufe ich eine Tüte Pfefferminzbonbons für Prim. Ich stecke mir eins in den Mund, spüre, wie es auf meiner Zunge zergeht, und merke, dass es das Erste ist, was ich heute esse. Eigentlich hatte ich am See etwas essen wollen, aber als ich sah, in welcher Verfassung Bonnie und Twill waren, kam es mir nicht richtig vor, ihnen auch nur einen Bissen wegzunehmen.

Als ich zu Hause ankomme, kann ich mit der linken Ferse überhaupt nicht mehr auftreten. Meiner Mutter werde ich erzählen, ich sei beim Versuch, eine undichte Stelle im Dach unseres alten Hauses zu reparieren, abgerutscht. Was die fehlenden Lebensmittel angeht, werde ich mich einfach bedeckt halten, an wen ich sie verteilt habe. Ich schleppe mich zur Tür und stelle mich darauf ein, am Feuer zusammenzuklappen. Stattdessen erwartet mich ein weiterer Schock.

Zwei Friedenswächter, ein Mann und eine Frau, stehen in der Tür zu unserer Küche. Die Frau bleibt ungerührt, doch ich sehe eine Spur von Überraschung über das Gesicht des Mannes huschen. Sie haben nicht mit mir gerechnet. Sie wissen, dass ich im Wald war und dort in der Falle sitzen müsste.

»Hallo«, sage ich unbeteiligt.

Meine Mutter taucht hinter den beiden auf, bleibt jedoch auf Abstand. »Da ist sie ja, gerade rechtzeitig zum Abendessen«, sagt sie eine Spur zu fröhlich. Ich komme viel zu spät zum Essen.

Ich überlege, ob ich die Stiefel ausziehen soll, wie ich es sonst immer mache, aber das kann ich kaum schaffen, ohne dass meine Verletzungen auffallen. Also setze ich nur die nasse Kapuze ab und schüttele den Schnee aus dem Haar. »Kann ich etwas für Sie tun?«, frage ich die Friedenswächter.

»Der Oberste Friedenswächter Thread schickt uns mit einer Nachricht für Sie«, sagt die Frau.

»Sie haben stundenlang gewartet«, fügt meine Mutter hinzu.

Sie haben darauf gewartet, dass ich es nicht schaffe zurückzukehren. Als Bestätigung dafür, dass ich durch einen Stromschlag getötet wurde oder im Wald gefangen bin, und dann hätten sie meine Familie in die Mangel nehmen können.

»Dann muss es ja eine wichtige Nachricht sein«, sage ich.

»Dürfen wir fragen, wo Sie waren, Miss Everdeen?«, fragt die Frau.

»Fragen Sie lieber, wo ich nicht war«, sage ich in genervtem Ton. Ich gehe in die Küche und zwinge mich, normal aufzutreten, obwohl jeder Schritt die reinste Qual ist. Ich gehe zwischen den Friedenswächtern hindurch und schaffe es einigermaßen bis zum Tisch. Ich schleudere meine Tasche hin und wende mich zu Prim, die stocksteif am Kamin steht. Haymitch und Peeta sind auch da, sie sitzen jeder in einem Schaukelstuhl und spielen Schach. Waren sie zufällig hier oder haben die Friedenswächter sie »eingeladen«? So oder so bin ich froh, sie zu sehen.

»Also, wo warst du nicht?«, fragt Haymitch gelangweilt.

»Ich hab nicht mit dem Ziegenmann darüber gesprochen, Prims Ziege zu decken, weil mir jemand eine vollkommen falsche Wegbeschreibung gegeben hat«, sage ich eindringlich zu Prim.

»Hab ich nicht«, sagt Prim. »Ich hab es dir genau erklärt.«

»Du hast gesagt, er wohnt am westlichen Eingang des Bergwerks«, sage ich.

»Am östlichen Eingang«, verbessert mich Prim.

»Du hast ganz eindeutig gesagt, am westlichen Eingang, darauf hab ich nämlich gefragt: >Neben der Abraumhalde?<, und du hast Ja gesagt.«

»Neben der Abraumhalde am östlichen Eingang«, sagt Prim geduldig.

»Nein. Wann willst du das gesagt haben?«, frage ich.

»Gestern Abend«, mischt Haymitch sich ein.

»Sie hat wirklich >östlich< gesagt«, fügt Peeta hinzu. Er guckt zu Haymitch und sie lachen. Ich schaue Peeta wütend an und er versucht, zerknirscht auszusehen. »Tut mir leid, aber ich hab’s dir ja schon immer gesagt. Du hörst einfach nicht zu, wenn dir jemand etwas erklärt.«

»Garantiert haben dir die Leute heute auch gesagt, dass er da nicht wohnt, und du hast wieder nicht zugehört«, sagt Haymitch.

»Halt die Klappe, Haymitch«, sage ich und lasse damit durchblicken, dass er recht hat.

Haymitch und Peeta prusten los und Prim gestattet sich ein Lächeln.

»Na schön. Dann soll sich doch jemand anders darum kümmern, wie wir das blöde Vieh gedeckt kriegen«, sage ich, und da lachen sie noch mehr. Und ich denke: Deshalb haben sie es so weit gebracht, Haymitch und Peeta. Die lassen sich durch nichts aus der Fassung bringen.

Ich schaue die Friedenswächter an. Der Mann lächelt, doch die Frau ist nicht überzeugt. »Was ist in der Tasche?«, fragt sie schneidend.

Ich weiß, dass sie auf Wild oder Pflanzen hofft. Etwas, das mich eindeutig verrät. Ich kippe den Inhalt auf den Tisch. »Bitte sehr.«

»Oh, gut«, sagt meine Mutter, als sie den Stoff sieht. »Wir haben kaum noch Verbände.«

Peeta kommt zum Tisch und macht die Bonbontüte auf. »Mmmh, Pfefferminz«, sagt er und steckt sich eins in den Mund.

»Das sind meine.« Ich versuche die Tüte zu schnappen. Er wirft sie Haymitch zu, der sich eine Handvoll in den Mund stopft, ehe er die Tüte an die kichernde Prim weiterreicht. »Keiner von euch hat Bonbons verdient!«, sage ich.

»Wieso, weil wir recht haben?« Peeta nimmt mich in die Arme. Ich stoße einen kleinen Schmerzenslaut aus, als mein Steißbein protestiert. Ich versuche es wie Empörung klingen zu lassen, aber Peeta weiß, dass ich Schmerzen habe, das sehe ich an seinem Blick. »Na gut, Prim hat >westlich< gesagt. Ich hab es klar und deudich gehört. Und wir sind alle Idioten. Wie wär’s damit?«

»Schon besser«, sage ich und erwidere seinen Kuss. Dann schaue ich zu den Friedenswächtern, als würde mir plötzlich wieder einfallen, dass sie da sind. »Sie haben eine Nachricht für mich?«

»Von unserem Obersten Friedenswächter Thread«, sagt die Frau. »Er lässt Ihnen mitteilen, dass der Zaun um Distrikt 12 von nun an rund um die Uhr unter Strom steht.«

»War das nicht schon immer so?«, frage ich ein wenig zu unschuldig.

»Er dachte, Sie möchten es vielleicht auch Ihrem Cousin ausrichten«, sagt die Frau.

»Vielen Dank. Ich werde es ihm sagen. Bestimmt können wir jetzt alle besser schlafen, da der Sicherheitsdienst dieses Versäumnis behoben hat.«

Jetzt treibe ich es ein bisschen zu weit, das weiß ich, aber es verschafft mir eine gewisse Befriedigung, das zu sagen.

Die Frau reckt das Kinn. Für sie ist es ganz und gar nicht nach Plan gelaufen, aber sie hat keine weiteren Anweisungen. Sie nickt mir kurz zu und geht davon, den Mann im Schlepptau. Als meine Mutter die Tür geschlossen hat, lasse ich mich an den Tisch sinken.

»Was hast du?«, fragt Peeta und hält mich fest.

»Ach, ich hab mir den linken Fuß gestoßen. An der Ferse. Und mein Steißbein hatte auch einen schlechten Tag.« Er führt mich zu einem Schaukelstuhl und ich lasse mich auf das gepolsterte Kissen sinken.

Meine Mutter zieht mir die Schuhe aus. »Was ist passiert?«

»Ich bin ausgerutscht und hingefallen«, sage ich. Vier Augenpaare sehen mich ungläubig an. »Auf einer vereisten Stelle.« Wir wissen alle, dass das Haus wahrscheinlich verwanzt ist und wir es nicht riskieren können, offen miteinander zu sprechen. Nicht hier, nicht jetzt.

Meine Mutter zieht mir die Socke aus und betastet meine linke Ferse. Ich zucke zusammen. »Da könnte etwas gebrochen sein«, sagt sie. Sie untersucht den anderen Fuß. »Der hier scheint in Ordnung zu sein.« Sie stellt fest, dass ich am Steißbein eine schlimme Prellung habe.

Prim bekommt den Auftrag, meinen Schlafanzug und Bademantel zu holen. Als ich mich umgezogen habe, bereitet meine Mutter eine Schneepackung für meine linke Ferse vor und legt meinen Fuß auf einen niedrigen Hocker. So verspeise ich drei Teller Eintopf und einen halben Laib Brot, während die anderen am Tisch sitzen und essen. Ich starre ins Feuer, denke an Bonnie und Twill und hoffe, dass der schwere nasse Schnee meine Spuren verdeckt hat.

Prim kommt und setzt sich neben mir auf den Boden, sie lehnt den Kopf an mein Knie. Wir lutschen Pfefferminzbonbons und ich streiche ihr die weichen blonden Haare hinter das Ohr. »Wie war’s in der Schule?«, frage ich.

»Ganz gut. Wir haben etwas über Nebenerzeugnisse bei der Kohleherstellung gelernt«, sagt sie. Eine Weile starren wir ins Feuer. »Willst du deine Hochzeitskleider mal anprobieren?«

»Nicht heute Abend. Vielleicht morgen«, sage ich.

»Warte, bis ich nach Hause komme, ja?«, sagt sie.

»Klar.« Wenn sie mich nicht vorher verhaften.

Meine Mutter gibt mir eine Tasse Kamillentee mit einer Dosis Schlafsirup und sofort werden meine Lider schwer. Sie verbindet meinen schlimmen Fuß, und Peeta bietet sich an, mich ins Bett zu bringen. Erst versuche ich mich an seine Schulter zu lehnen, aber ich bin so wacklig auf den Beinen, dass er mich einfach hochhebt und nach oben trägt. Er deckt mich zu und wünscht mir eine gute Nacht, doch ich fasse seine Hand und halte ihn fest. Eine Nebenwirkung von Schlafsirup ist, dass man Hemmungen verliert, als hätte man Schnaps getrunken, und ich weiß, dass ich meine Zunge hüten muss. Doch ich möchte nicht, dass er geht. Ich möchte sogar, dass er zu mir ins Bett kommt, dass er heute Nacht da ist, wenn die Albträume zuschlagen. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht ganz benennen kann, weiß ich, dass ich ihn nicht darum bitten darf.

»Geh noch nicht. Nicht bevor ich einschlafe«, sage ich.

Peeta setzt sich an den Bettrand und wärmt meine Hand mit seinen Händen. »Dachte schon fast, du hättest dich anders entschieden. Als du nicht zum Abendessen kamst.«

Ich bin benebelt, aber ich kann mir denken, was er meint. Als der Zaun eingeschaltet wurde und ich nicht auftauchte und die Friedenswächter warteten, da dachte er, ich wäre abgehauen, womöglich mit Gale.

»Nein, das hätte ich dir erzählt«, sage ich. Ich ziehe seine Hand zu mir heran und lege meine Wange an seinen Handrücken. Ich atme den leichten Duft nach Zimt und Dill von den Broten ein, die er heute gebacken hat. Ich würde ihm gern von Bonnie und Twill erzählen, von dem Aufstand und der Vision von Distrikt 13, aber das ist zu gefährlich, und ich merke, wie ich abdrifte. Ich bringe nur noch einen einzigen Satz heraus. »Bleib bei mir.«

Während der Schlafsirup mich mit seinen Ranken in den Schlaf hinabzieht, höre ich noch, wie Peeta etwas zurückflüstert, aber ich verstehe es nicht richtig.

Meine Mutter lässt mich bis zum Mittag schlafen, dann weckt sie mich, damit sie meine Ferse untersuchen kann. Sie verordnet mir eine Woche Bettruhe, und ich widerspreche nicht, weil es mir so miserabel geht. Nicht nur wegen der Ferse und des Steißbeins. Mein ganzer Körper schmerzt vor Erschöpfung. Also lasse ich es zu, dass meine Mutter mich verarztet, mir das Frühstück ans Bett und eine zusätzliche Decke bringt. Dann liege ich nur da, schaue aus dem Fenster in den Winterhimmel, grübele darüber nach, wie um alles in der Welt die Geschichte ausgehen wird. Ich denke viel an Bonnie und Twill und an den Stapel weißer Brautkleider unten; ich frage mich, ob Thread wohl herausfindet, wie ich zurückgekommen bin, und ob er mich verhaften wird. Es ist komisch, denn er könnte mich auch einfach so verhaften, wegen früherer Vergehen, aber vielleicht braucht er irgendetwas Unwiderlegbares, weil ich ja jetzt die Siegerin bin. Und ich überlege, ob Präsident Snow wohl in Kontakt mit Thread steht. Den alten Cray hat er wohl kaum je offiziell wahrgenommen, aber gibt er Thread jetzt, da ich so ein landesweites Problem bin, ganz genaue Anweisungen, was zu tun ist? Oder handelt Thread in eigener Regie? Wie dem auch sei, ganz bestimmt wären sie sich darin einig, dass man mich hier im Distrikt innerhalb der Grenzen des Zauns einsperren muss. Selbst wenn ich eine Möglichkeit fände zu fliehen - zum Beispiel ein Seil an dem hohen Ast des Ahorns befestigen und auf die andere Seite klettern -, so könnte ich meine Familie und meine Freunde nicht mitnehmen. Außerdem habe ich Gale sowieso versprochen, zu bleiben und zu kämpfen.

Wenn es in den nächsten Tagen an die Tür klopft, zucke ich jedes Mal zusammen. Aber keine Friedenswächter tauchen auf, um mich zu verhaften, und allmählich legt sich die Anspannung. Und dann beruhigt es mich, als Peeta beiläufig erwähnt, dass der Zaun teilweise nicht mehr unter Strom steht, weil Trupps damit beschäftigt sind, den Maschendraht am Boden zu schließen. Offenbar denkt Thread, ich sei irgendwie unter dem Zaun hindurchgeschlüpft, trotz des lebensgefährlichen Stroms. So hat der Distrikt eine Verschnaufpause, und die Friedenswächter haben einmal etwas anderes zu tun, als Menschen zu quälen.

Peeta kommt jeden Tag vorbei, er bringt mir Käsebrötchen und hilft mir, an dem Familienbuch zu arbeiten. Es ist ein altes Stück aus Pergament und Leder. Eine naturheilkundige Vorfahrin mütterlicherseits hat es vor vielen Jahren angelegt. Seite für Seite sind darin Pflanzen in Tuschezeichnungen dargestellt, dazu die Beschreibung ihres medizinischen Nutzens. Mein Vater hat einen Teil über essbare Pflanzen hinzugefügt, mein Ratgeber, mit dem ich uns nach seinem Tod das Überleben gesichert habe. Ich wollte schon lange mein eigenes Wissen in dem Buch festhalten. Alles, was ich aus Erfahrung oder von Gale gelernt habe, und die Informationen, die ich beim Training für die Spiele aufgeschnappt habe. Ich habe es nicht getan, weil ich keine Künstlerin bin und die Bilder ganz genau gezeichnet sein müssen. Und an dieser Stelle kommt Peeta ins Spiel. Manche der Pflanzen kennt er schon, von anderen haben wir getrocknete Vorlagen, und wieder andere muss ich ihm beschreiben. Er fertigt Skizzen auf Schmierpapier an, bis ich zufrieden bin, dann darf er sie in das Buch übertragen. Anschließend schreibe ich sorgfältig alles auf, was ich über die jeweilige Pflanze weiß.

Es ist eine stille Arbeit, die meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt und mich von den vielen Problemen ablenkt. Ich schaue gern seinen Händen zu, während er arbeitet, wie er eine weiße Seite mit ein paar Tuschestrichen zum Blühen bringt, wie er dem Buch, das bisher nur schwarz und gelblich war, Farbe verleiht. Wenn er sich konzentriert, nimmt sein Gesicht einen ganz bestimmten Ausdruck an. Sein sonst so gelassener Blick wird intensiv und fern, als wäre eine ganze Welt in ihm verborgen. Diesen Ausdruck habe ich schon öfter aufblitzen sehen: in der Arena oder wenn er zu einer Menschenmenge spricht oder als er in Distrikt 11 die Gewehre der Friedenswächter von mir wegschob. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Und ich kann kaum den Blick von seinen Wimpern wenden, die normalerweise nicht so auffallen, weil sie ganz hell sind. Doch von Nahem, wenn das Sonnenlicht ins Zimmer fällt, sind sie hellgolden und so lang, dass ich mich frage, wieso sie sich nicht verheddern, wenn er blinzelt.

Eines Nachmittags, als Peeta gerade eine Blüte schraffiert, schaut er so plötzlich auf, dass ich zusammenfahre, als hätte er mich dabei ertappt, wie ich ihn heimlich beobachte, was ich auf seltsame Weise vielleicht auch getan habe. Doch er sagt nur: »Ich glaube, das ist das erste Mal, dass wir etwas Normales zusammen machen.«

»Ja«, sage ich. Unsere ganze Beziehung ist durch die Spiele verdorben worden. »Normal« kam darin nicht vor. »Auch mal schön.«

Jeden Nachmittag trägt er mich nach unten, damit ich ein bisschen Abwechslung habe, und ich gehe allen damit auf die Nerven, dass ich den Fernseher einschalte. Normalerweise sehen wir nur fern, wenn es vorgeschrieben ist, weil die Mischung aus Propaganda und Darstellungen der Macht des Kapitols - zum Beispiel Ausschnitte von vierundsiebzig Jahren Hungerspielen - so abscheulich ist. Aber jetzt halte ich nach etwas Besonderem Ausschau. Nach dem Spotttölpel, auf den Bonnie und Twill all ihre Hoffnungen gründen. Mir ist klar, dass es wahrscheinlich idiotisch ist, aber dann möchte ich es auch widerlegen können. Und die Vorstellung von einem blühenden Distrikt 13 für immer aus meinen Gedanken verbannen.

Den ersten Hinweis entdecke ich in einem Bericht über die Dunklen Tage. Man sieht die schwelenden Überreste des Justizgebäudes in Distrikt 13, und ich erhasche so eben noch die schwarz-weiße Unterseite vom Flügel eines Spotttölpels, der oben rechts durch das Bild fliegt. Das ist aber noch kein Beweis. Es ist nur eine alte Aufnahme, die zu einer alten Geschichte gehört.

Ein paar Tage später jedoch fällt mir etwas anderes auf. Der Nachrichtensprecher liest eine Meldung über Grafitknappheit, welche sich auf die Produktion in Distrikt 3 auswirke. Es folgt ein Bericht, angeblich der Originalfilm einer Reporterin, die, in einen Schutzanzug gehüllt, vor den Ruinen des Justizgebäudes in Distrikt 13 steht. Durch ihre Maske hindurch berichtet sie, eine Untersuchung habe heute leider ergeben, dass die Minen in Distrikt 13 immer noch zu giftig seien, um sich ihnen zu nähern. Ende des Beitrags. Doch kurz vor dem Schnitt zurück zu dem Nachrichtensprecher sehe ich denselben Flügel desselben Spotttölpels aufblitzen, unverkennbar.

Die Reporterin wurde einfach in das alte Bildmaterial hineinmontiert. Sie ist überhaupt nicht in Distrikt 13. Und das wirft die Frage auf: Was ist dort?

12

Von da an fällt es mir schwerer, ruhig im Bett liegen zu bleiben. Ich will etwas tun, will mehr über Distrikt 13 herausfinden oder dabei helfen, das Kapitol zu stürzen. Stattdessen sitze ich da, stopfe Käsebrötchen in mich hinein und schaue Peeta beim Zeichnen zu. Hin und wieder kommt Haymitch vorbei und bringt Neuigkeiten aus der Stadt, immer schlechte. Noch mehr Menschen, die bestraft werden oder vor Hunger umfallen.

Der Winter ist allmählich auf dem Rückzug, als mein Fuß wieder einsatzfähig ist. Meine Mutter verordnet mir Übungen und ich darf schon ein bisschen allein laufen. Eines Nachts nehme ich mir beim Schlafengehen fest vor, am nächsten Morgen in die Stadt zu gehen, doch als ich aufwache, grinsen mich Venia, Octavia und Flavius an.

»Überraschung!«, kreischen sie. »Wir sind früher gekommen!«

Nach dem Peitschenschlag hatte Haymitch ihren Besuch bei mir um einige Monate verschoben, damit die Wunde verheilen konnte. Ich hatte frühestens in drei Wochen mit ihnen gerechnet. Aber ich tue so, als freute ich mich darüber, dass endlich das Fotoshooting für die Hochzeit stattfindet. Meine Mutter hat alle Kleider aufgehängt, sie sind also einsatzbereit, aber ehrlich gesagt, habe ich bisher noch kein einziges anprobiert.

Nach dem üblichen Gezeter über mein desolates Außeres machen die drei sich sofort an die Arbeit. Ihr Augenmerk gilt vor allem meinem Gesicht, obwohl ich finde, dass meine Mutter es ganz gut hinbekommen hat. Nur einen blassrosa Streifen habe ich noch über dem Wangenknochen. Nicht alle wissen von dem Peitschenschlag, also erzähle ich ihnen, ich sei auf dem Eis ausgerutscht und hätte mir die Wange aufgeratscht. Da wird mir bewusst, dass ich dieselbe Ausrede für die Fußverletzung benutzt habe, wegen der mir die hohen Absätze Probleme bereiten werden. Aber Flavius, Octavia und Venia sind von Natur aus gutgläubig, ich bin also auf der sicheren Seite.

Da ich nicht mehrere Wochen, sondern nur einige Stunden lang ohne Körperbehaarung sein muss, benutzen sie kein Wachs, sondern den Rasierer. Trotzdem muss ich in eine Wanne mit irgendeinem Zeug steigen, aber wenigstens stinkt es nicht, und ehe ich michs versehe, sind schon meine Frisur und mein Make-up dran. Wie immer haben sich die drei lauter Neuigkeiten zu erzählen, die ich versuche auszublenden. Aber dann macht Octavia eine Bemerkung, die mich aufhorchen lässt. Sie habe für eine Party keine Garnelen bekommen können, sagt sie, eigentlich nur nebenbei, trotzdem verblüfft es mich.

»Wieso konntest du keine Garnelen bekommen? Gibt es die zu dieser Jahreszeit nicht?«, frage ich.

»Ach, Katniss, schon seit Wochen sind keine Meeresfrüchte zu haben!«, sagt Octavia. »Weil das Wetter in Distrikt 4 so schlecht ist, weißt du.«

Mir schwirrt der Kopf. Keine Meeresfrüchte. Seit Wochen. Aus Distrikt 4. Die kaum verhohlene Wut der Menge während der Tour der Sieger. Und auf einmal bin ich mir ganz sicher, dass es in Distrikt 4 einen Aufstand gegeben hat.

Beiläufig frage ich, welche Härten dieser Winter noch mit sich gebracht hat. Sie sind es nicht gewohnt, auf etwas zu verzichten, deshalb ist es für sie schon bemerkenswert, wenn einmal etwas nicht zu haben ist. Bis ich bereit zum Ankleiden bin, haben sie mir so viel von den Schwierigkeiten vorgejammert, bestimmte Sachen zu bekommen - von Krebsfleisch über Musikchips bis hin zu Bändern -, dass ich mir ausrechnen kann, welche Distrikte sich möglicherweise im Aufstand befinden. Meeresfrüchte aus Distrikt 4. Elektrogeräte aus Distrikt 3. Und natürlich Stoffe aus Distrikt 8. Der Gedanke an eine Rebellion von solchem Ausmaß lässt mich schaudern vor Angst und Erregung.

Ich würde gern noch mehr Fragen stellen, aber da kommt Cinna, umarmt mich und begutachtet mein Make-up. Sofort fällt sein Blick auf die Narbe. Ich habe das Gefühl, dass er mir die Glatteis-Geschichte nicht so ganz abkauft, aber er sagt nichts dazu. Er pudert mein Gesicht noch ein wenig nach, und das bisschen, was man von dem Striemen noch sehen kann, verschwindet.

Unten ist das Wohnzimmer ausgeräumt und für die Aufnahmen ausgeleuchtet worden. Effie gefällt sich darin, alle herumzukommandieren und darauf zu achten, dass wir im Zeitplan bleiben. Das ist wohl auch gut so, denn es gibt sechs Brautkleider und auf jedes Kleid muss alles andere abgestimmt werden: Kopfbedeckung, Schuhe, Schmuck, Frisur, Make-up, Kulisse und Beleuchtung. Cremefarbene Spitze, rosa Rosen und Ringellocken. Elfenbeinfarbener Satin, Goldtattoos und grüne Blätter. Diamantenkleid, Juwelenschleier und Mondschein. Schwere weiße Seide, Ärmel vom Handgelenk bis zum Boden, Perlen. Sobald eine Aufnahme gelungen ist, bereiten wir schon die nächste vor. Ich komme mir vor wie ein Teig, der immer wieder geknetet und neu geformt wird. Meiner Mutter gelingt es, mir ein bisschen zu essen und ein paar Schluck Tee zu geben, während die anderen sich an mir zu schaffen machen, doch als alles erledigt ist, bin ich trotzdem ausgehungert und erschöpft. Ich hoffe, jetzt ein wenig Zeit mit Cinna verbringen zu können, aber Effie scheucht alle zur Tür hinaus, und ich muss mich mit dem Versprechen zu telefonieren begnügen.

Es ist Abend geworden, und von all den verrückten Schuhen tut mir der Fuß weh, also verwerfe ich die Idee, in die Stadt zu gehen. Stattdessen begebe ich mich nach oben, entferne die Make-up-Schichten und wasche Festiger und Farbe aus den Haaren, dann gehe ich wieder nach unten, um die Haare am Feuer trocknen zu lassen. Prim, die rechtzeitig von der Schule nach Hause gekommen ist, um die letzten beiden Kleider zu sehen, plaudert darüber mit meiner Mutter. Sie scheinen beide richtig zufrieden mit dem Fotoshooting zu sein. Als ich ins Bett falle, wird mir klar, dass sie glauben, mir könne jetzt nichts mehr passieren. Sie glauben, das Kapitol sieht mir mein Verhalten bei Gales Auspeitschung nach, denn für jemanden, der sowieso umgebracht werden soll, würde ja niemand so einen Aufwand treiben. Genau.

In meinem Albtraum trage ich das seidene Brautkleid, aber es ist zerrissen und matschverschmiert. Ich renne durch den Wald und dabei verfangen sich die langen Ärmel immer wieder in Dornen und Zweigen. Das Rudel der mutierten Tribute kommt immer näher, bis sie mich mit ihrem heißen Atem und ihren triefenden Lefzen überwältigen und ich schreiend erwache.

Weil es schon fast Morgen ist, versuche ich erst gar nicht, wieder einzuschlafen. Außerdem muss ich heute wirklich hier raus und mit jemandem reden. Gale wird im Bergwerk sein, unerreichbar. Aber ich muss mit Haymitch oder Peeta oder irgendjemandem die Last all dessen teilen, was ich seit dem Tag am See erlebt habe. Gesetzlose auf der Flucht, Zäune unter Strom, ein unabhängiger Distrikt 13, Lieferschwierigkeiten im Kapitol. Alles.

Ich frühstücke mit meiner Mutter und Prim und gehe dann hinaus auf der Suche nach jemandem, dem ich mich anvertrauen kann. Draußen ist es warm, eine Hoffnung auf Frühling liegt in der Luft. Frühling wäre bestimmt eine gute Zeit für einen Aufstand. Wenn der Winter überstanden ist, fühlen die Menschen sich nicht mehr so schutzlos. Peeta ist nicht zu Hause. Wahrscheinlich ist er bereits in der Stadt. Aber Haymitch steht zu meiner Überraschung um diese Zeit schon in der Küche. Ohne anzuklopfen, gehe ich hinein. Ich höre Hazelle im ersten Stock, sie wischt den Boden in dem jetzt blitzsauberen Haus. Haymitch ist nicht volltrunken, aber allzu nüchtern wirkt er auch nicht gerade. Die Gerüchte, dass Ripper ihre Geschäfte wieder aufgenommen hat, scheinen zu stimmen. Gerade denke ich, dass Haymitch sich lieber ins Bett legen sollte, als er einen Gang in die Stadt vorschlägt.

Haymitch und ich haben gelernt, in Stichworten miteinander zu sprechen. In wenigen Minuten bringe ich ihn auf den neuesten Stand und erfahre, dass es auch in den Distrikten 7 und 11 Aufstände gibt. Wenn ich mit meinen Annahmen richtig liege, hat fast die Hälfte der Distrikte zumindest versucht zu rebellieren.

»Meinst du immer noch, dass es hier nicht klappen würde?«, frage ich.

»Jetzt noch nicht. Die anderen Distrikte sind viel größer. Selbst wenn sich da die Hälfte der Leute in ihren Häusern verkriecht, haben die Rebellen eine Chance. Hier in 12 müssen schon alle mitmachen, sonst ist es zwecklos«, sagt er.

Daran habe ich noch nicht gedacht. Dass wir einfach nicht genug Leute sind. »Aber vielleicht irgendwann?«, beharre ich.

»Vielleicht. Aber wir sind klein, wir sind schwach, und wir entwickeln keine Atomwaffen«, sagt Haymitch mit leisem Sarkasmus. Meine Geschichte über Distrikt 13 hat keinen riesigen Eindruck auf ihn gemacht.

»Was glaubst du, was sie tun werden, Haymitch? Mit den aufständischen Distrikten?«, frage ich.

»Tja, du hast ja gehört, was sie in 8 getan haben. Du hast gesehen, was sie hier getan haben, und das ganz ohne Provokation«, sagt Haymitch. »Falls die Sache wirklich aus dem Ruder läuft, dann hätten sie bestimmt kein Problem damit, noch einen Distrikt zu vernichten, wie sie es mit 13 gemacht haben. Als abschreckendes Beispiel, verstehst du?«

»Dann glaubst du also, 13 ist wirklich zerstört worden? Aber Bonnie und Twill hatten doch recht mit der Aufnahme von dem Spotttölpel«, sage ich.

»Schon, aber was beweist das? Eigentlich gar nichts. Es könnte jede Menge Gründe dafür geben, dass sie altes Filmmaterial verwenden. Wahrscheinlich sieht es beeindruckender aus.

Und es ist auch viel einfacher, oder? Nur ein paar Knöpfe im Schneideraum drücken, anstatt den langen Flug dorthin zu machen und zu drehen«, sagt er. »Dass Distrikt 13 sich irgendwie wieder aufgerappelt hat und dass das Kapitol dabei wegschaut, klingt wie eins von diesen Gerüchten, an die sich Verzweifelte gern klammern.«

»Ich weiß. War nur so eine Hoffnung«, sage ich.

»Genau. Weil du verzweifelt bist«, sagt Haymitch.

Ich widerspreche nicht, denn natürlich hat er recht.

Prim kommt von der Schule nach Hause und sprudelt nur so über vor Aufregung. Die Lehrer in der Schule haben gesagt, dass es heute Abend Pflichtfernsehen gibt. »Bestimmt deine Fotoaufnahmen!«

»Das kann nicht sein, Prim. Die haben sie doch erst gestern gemacht«, erwidere ich.

»Das hat aber jemand gehört«, sagt sie.

Ich hoffe, dass sie sich irrt. Ich hatte noch keine Zeit, Gale darauf vorzubereiten. Seit der Auspeitschung sehe ich ihn nur, wenn er zu meiner Mutter kommt, damit sie nachschaut, wie seine Wunden verheilen. Häufig muss er sieben Tage die Woche im Bergwerk arbeiten. Wenn ich ihn einmal zurück in die Stadt begleitet habe und wir ein paar Minuten für uns hatten, habe ich herausgehört, dass die beginnenden Unruhen in Distrikt 12 durch Threads hartes Durchgreifen unterdrückt worden sind. Gale weiß, dass ich nicht mehr vorhabe zu fliehen. Aber er wird auch wissen, dass ich, wenn wir in 12 keinen Aufstand machen, Peetas Frau werden muss. Wie wird er es aufnehmen, wenn er mich im Fernsehen sieht, wie ich in prächtigen Brautkleidern posiere?

Als wir uns um halb acht vor dem Fernseher versammeln, stelle ich fest, dass Prim recht hat. Da ist tatsächlich Caesar Flickerman vor einer Menschenmenge am Trainingscenter und erzählt dem dankbaren Publikum von meiner bevorstehenden Hochzeit. Er präsentiert Cinna, der bei den Spielen wegen seiner Kostüme für mich über Nacht zum Star wurde, und nach einer Minute freundlichem Geplänkel wird unsere Aufmerksamkeit auf eine riesige Leinwand gelenkt.

Jetzt verstehe ich, wie sie es geschafft haben, mich gestern zu fotografieren und heute bereits die Sondersendung zu bringen. Ursprünglich hatte Cinna zwei Dutzend Brautkleider entworfen. Seitdem ist die Auswahl der Entwürfe immer kleiner geworden, die Kleider wurden geschneidert und die Accessoires ausgewählt. Anscheinend konnten die Leute im Kapitol in jedem Stadium über ihre Favoriten abstimmen. Als abschließender Höhepunkt werden Aufnahmen von mir in den endgültigen sechs Kleidern präsentiert, die sich garantiert im Handumdrehen in die Sendung einfügen ließen. Jede Aufnahme wird von der Menge bejubelt. Die Zuschauer kreischen und juchzen, wenn ihre Lieblingskleider gezeigt werden, andere Kleider buhen sie aus. Da die Leute abgestimmt und vermutlich auch Wetten abgeschlossen haben, sind sie an meinem Brautkleid hochinteressiert. Es ist ein absurdes Spektakel, wenn ich bedenke, dass ich mir noch nicht mal die Mühe gemacht habe, ein Kleid anzuprobieren, ehe die Kameras auftauchten. Caesar verkündet, dass man seine Stimme bis morgen zwölf Uhr mittags abgeben kann.

»Sorgen wir dafür, dass Katniss Everdeen mit Stil heiratet!«, brüllt er in die Menge. Ich will den Fernseher schon ausschal ten, aber da sagt Caesar, wir sollen dranbleiben für das nächste große Ereignis des Abends. »Genau, in diesem Jahr jähren sich die Hungerspiele zum fünfundsiebzigsten Mal, und das heißt, das dritte Jubel-Jubiläum steht bevor!«

»Was soll das?«, fragt Prim. »Es sind doch noch Monate bis dahin.«

Wir schauen zu unserer Mutter, deren Blick ernst und abwesend wirkt, als würde sie sich an etwas erinnern. »Wahrscheinlich wird die Karte verlesen.«

Die Nationalhymne ertönt, und als Präsident Snow die Bühne betritt, ist meine Kehle vor Ekel wie zugeschnürt. Ihm folgt ein Junge im weißen Anzug, der einen schlichten Holzkasten trägt. Die Hymne verklingt und Präsident Snow beginnt mit seiner Rede. Er erinnert uns an die Dunklen Tage, aus denen die Hungerspiele hervorgegangen sind. Als die Gesetze für die Spiele aufgestellt wurden, so sagt der Präsident, schrieben sie vor, dass alle fünfundzwanzig Jahre ein Jubel-Jubiläum gefeiert werden solle. Dann sollte es eine großartigere Version der Spiele geben, um die Erinnerung an jene aufzufrischen, die in den Aufständen der Distrikte getötet worden waren.

Deutlicher könnten seine Worte nicht sein, denn ich nehme an, dass sich mehrere Distrikte gerade im Aufstand befinden.

Dann erzählt Präsident Snow uns von den vergangenen Jubel-Jubiläen. »Am fünfundzwanzigsten Jahrestag, als Erinnerung für die Rebellen daran, dass ihre Kinder sterben mussten, weil sie den Weg der Gewalt beschritten hatten, wurde in jedem Distrikt eine Wahl abgehalten, in der darüber entschieden wurde, welche Tribute den jeweiligen Distrikt vertreten sollten.«

Ich frage mich, was für ein Gefühl das gewesen sein muss.

Die jungen Menschen auszusuchen, die gehen müssen. Von den eigenen Nachbarn ausgeliefert zu werden, das muss noch schlimmer sein, als wenn man bei der Ernte ausgelost wird.

»Beim fünfzigsten Jubiläum«, fährt der Präsident fort, »musste jeder Distrikt, als Erinnerung daran, dass für jeden Bewohner des Kapitols zwei Rebellen starben, doppelt so viele Tribute entsenden.«

Ich stelle mir vor, ich hätte es mit siebenundvierzig statt mit dreiundzwanzig Gegnern zu tun. Schlechtere Chancen, weniger Hoffnung und am Ende noch mehr Tote. Das war das Jahr, in dem Haymitch gewonnen hat …

»Ich hatte eine Freundin, die in dem Jahr gehen musste«, sagt meine Mutter leise. »Maysilee Donner. Ihre Eltern waren die Besitzer des Süßwarengeschäfts. Sie haben mir danach ihren Singvogel geschenkt. Einen Kanarienvogel.«

Prim und ich tauschen einen Blick. Es ist das erste Mal, dass wir von Maysilee Donner hören. Vielleicht, weil meine Mutter wusste, dass wir würden erfahren wollen, wie sie gestorben ist.

»Und jetzt begehen wir in allen Ehren das dritte Jubel-Jubiläum«, sagt der Präsident. Der kleine, weiß gekleidete Junge tritt vor, hält dem Präsidenten den Kasten hin und hebt den Deckel hoch. Wir sehen lauter vergilbte Briefumschläge in ordentlichen Reihen. Die, die sich das Prinzip des Jubel-Jubiläums ausgedacht haben, waren davon ausgegangen, dass die Hungerspiele ewig währen würden. Der Präsident nimmt einen Umschlag aus dem Kasten, auf dem deutlich eine »75« zu lesen ist. Er fährt mit dem Finger unter die Lasche und zieht eine kleine Karte heraus. Ohne zu zögern, liest er: »Am fünfündsiebzigsten Jahrestag werden als Erinnerung für die Rebellen daran, dass nicht einmal die Stärksten unter ihnen die Macht des Kapitols überwinden können, die männlichen und weiblichen Tribute aus dem bestehenden Kreis der Sieger ausgelost.«

Meine Mutter stößt einen leisen Schrei aus, und Prim verbirgt das Gesicht in den Händen, doch ich komme mir eher so vor wie jemand aus dem Publikum, das ich im Fernsehen sehe. Leicht verdattert. Was soll das heißen? Der bestehende Kreis der Sieger?

Dann begreife ich, was es heißt. Jedenfalls für mich. Distrikt 12 hat nur drei Sieger, aus denen man auswählen kann. Zwei männlich. Einer weiblich …

Ich muss wieder in die Arena.

13

Mein Körper reagiert schneller als mein Verstand, und ich renne zur Tür hinaus, über den Rasen in die Dunkelheit hinter dem Dorf der Sieger. Vom Wasser des durchweichten Bodens werden meine Strümpfe nass und ich spüre den schneidenden Wind, doch ich bleibe nicht stehen. Wohin? Wohin soll ich laufen? In den Wald natürlich. Ich bin schon am Zaun, als das Summen mich daran erinnert, wie sehr ich in der Falle sitze. Keuchend weiche ich zurück, mache auf dem Absatz kehrt und renne wieder los.

Kurz darauf befinde ich mich auf Händen und Knien im Keller eines der unbewohnten Häuser im Dorf der Sieger. Durch die Kellerschächte über mir scheinen schwache Streifen von Mondlicht herein. Mir ist kalt, ich bin nass und erschöpft, doch mein Fluchtversuch hat die Hysterie, die in mir aufsteigt, kein bisschen gedämpft. Wenn sie nicht herauskann, werde ich daran ersticken. Ich knülle mein T-Shirt vor der Brust zusammen, stopfe es mir in den Mund und schreie los. Ich weiß nicht, wie lange das so geht. Doch als ich aufhöre, habe ich fast keine Stimme mehr.

Auf der Seite zusammengekauert liege ich da und starre auf die Flecken des Mondlichts auf dem Zementboden. Zurück in die Arena. Zurück an den Ort der Albträume. Dort soll ich hin. Ich muss zugeben, dass ich das nicht habe kommen sehen.

Ich habe vieles andere gesehen. Wie ich öffentlich gedemütigt, gefoltert und hingerichtet werde. Wie ich durch die Wildnis fliehe, während Friedenswächter und Hovercrafts hinter mir her sind. Wie ich Peeta heirate und unsere Kinder in die Arena gezwungen werden. Doch nie habe ich daran gedacht, dass ich selbst wieder an den Spielen teilnehmen müsste. Warum nicht? Weil es das noch nie gegeben hat. Sieger sind bei der Ernte für immer aus dem Spiel. Das ist die Regel, wenn man gewonnen hat. Bis jetzt.

Ich finde eine Art Plane, wie man sie für Malerarbeiten benutzt, und nehme sie als Decke. In der Ferne ruft jemand meinen Namen. Doch im Moment erlaube ich mir, noch nicht mal an die zu denken, die ich am meisten liebe. Ich denke nur an mich. Und an das, was mir bevorsteht.

Die Plane ist steif, aber sie hält warm. Meine Muskeln entspannen sich, mein Herzschlag wird langsamer. Ich sehe den Holzkasten in den Händen des kleinen Jungen, sehe, wie Präsident Snow den vergilbten Umschlag herauszieht. Kann dies wirklich das Jubel-Jubiläum sein, wie es vor fünfundsiebzig Jahren niedergeschrieben wurde? Das kommt mir unwahrscheinlich vor. Es ist eine allzu passende Antwort auf die Probleme, denen sich das Kapitol heute gegenübersieht. Damit können sie mich loswerden und gleichzeitig alle Distrikte auf einen Streich bezwingen.

Ich habe die Stimme von Präsident Snow im Ohr. »Am fünfundsiebzigsten Jahrestag werden als Erinnerung für die Rebellen daran, dass nicht einmal die Stärksten unter ihnen die Macht des Kapitols überwinden können, die männlichen und weiblichen Tribute aus dem bestehenden Kreis der Sieger ausgelost.«

Ja, die Sieger sind unsere Stärksten. Sie haben die Arena überlebt und sich aus der Schlinge der Armut gewunden, die den Übrigen die Luft abschnürt. Sie, oder sollte ich sagen wir, sind die Verkörperung von Hoffnung, wo es keine Hoffnung gibt. Und jetzt sollen dreiundzwanzig von uns getötet werden, zum Zeichen, dass selbst diese Hoffnung eine Illusion war.

Ein Glück, dass ich erst im letzten Jahr gewonnen habe. Sonst würde ich alle anderen Sieger kennen, nicht nur aus dem Fernsehen, sondern weil sie bei allen Spielen zu Gast sind. Selbst wenn sie nicht als Mentoren arbeiten, wie Haymitch es immer muss, kommen die meisten von ihnen jedes Jahr zu diesem Ereignis ins Kapitol. Bestimmt sind viele von ihnen miteinander befreundet. Während es bei mir nur einen einzigen Freund geben wird, den ich womöglich töten muss - Peeta oder Haymitch. Peeta oder Haymitch!

Ich setze mich kerzengerade auf und werfe die Plane ab. Was habe ich da gerade gedacht? Eine Situation, in der ich Peeta oder Haymitch töten würde, ist völlig undenkbar. Aber einer von den beiden wird mit mir in der Arena sein, das ist eine Tatsache. Vielleicht haben sie sogar schon ausgehandelt, wer von ihnen gehen wird. Wenn doch der andere ausgelost wird, kann der eine freiwillig seinen Platz einnehmen. Ich weiß schon, wie es kommen wird. Peeta wird Haymitch bitten, ihn um jeden Preis mit mir in die Arena ziehen zu lassen. Um meinetwillen. Damit er mich beschützen kann.

Ich stolpere durch den Keller und suche nach einem Ausgang. Wie bin ich hier überhaupt hereingekommen? Ich taste mich die Treppe hinauf in die Küche und sehe, dass die Scheibe in der Tür eingeschlagen ist. Deshalb fühlt meine Hand sich also an, als ob sie blutet. Schnell laufe ich wieder hinaus in die Nacht, direkt zu Haymitchs Haus. Er sitzt allein am Küchentisch, eine halb leere Flasche Schnaps in einer Hand, das Messer in der anderen. Sturzbetrunken.

»Ah, da ist sie ja. Fix und fertig. Hast du endlich eins und eins zusammengezählt, Süße? Hast du kapiert, dass du da nicht allein reingehst? Und jetzt kommst du, um mich … was zu fragen?«, sagt er.

Ich gebe keine Antwort. Das Fenster steht weit offen, und der Wind ist so schneidend, als wäre ich draußen.

»Der Junge hatte es leichter, das gebe ich zu. Er war schneller hier, als ich die Flasche öffnen konnte. Hat mich um eine weitere Chance gebeten, in die Arena zu gehen. Aber was willst du mir schon sagen?« Er ahmt meine Stimme nach. »Geh an seiner statt, Haymitch, denn wenn schon, dann soll lieber Peeta den Rest seines Lebens erleben als du?«

Ich beiße mir auf die Lippe, denn jetzt, da er es ausgesprochen hat, muss ich mir eingestehen, dass ich genau das will. Dass Peeta lebt, selbst wenn es Haymitchs Tod bedeutet. Nein, das will ich nicht. Er ist natürlich ein grässlicher Kerl, aber er gehört jetzt zur Familie. Wieso bin ich hergekommen?, denke ich. Was will ich hier überhaupt?

»Ich bin gekommen, weil ich einen Drink brauche«, sage ich.

Haymitch prustet los und knallt die Flasche vor mir auf den Tisch. Ich wische mit dem Ärmel darüber und trinke ein paar Schlucke, bis mir die Luft wegbleibt. Es dauert eine Weile, bis ich wieder zu Atem komme, und selbst dann noch läuft mir das Wasser aus Augen und Nase. Aber in meinem Innern brennt der Alkohol wie Feuer und das ist ein gutes Gefühl.

»Vielleicht solltest du gehen«, sage ich sachlich und ziehe mir einen Stuhl heran. »Du verabscheust das Leben doch sowieso.«

»Wie wahr«, sagt Haymitch. »Und da ich letztes Mal versucht habe, dir das Leben zu retten … da ist es doch meine Pflicht, diesmal dem Jungen zu helfen.«

»Noch ein guter Grund«, sage ich, putze mir die Nase und hebe wieder die Flasche.

»Peeta argumentiert, dass ich, da ich mich für dich entschieden hatte, jetzt ihm einen Gefallen schulde. Egal, welchen. Und er will die Chance, wieder in die Arena zu gehen und dich zu beschützen«, sagt Haymitch.

Ich wusste es. In dieser Hinsicht ist Peeta ziemlich berechenbar. Während ich mich in dem Keller auf dem Boden gewälzt und nur an mich gedacht habe, war er hier und hat - auch nur an mich gedacht. Das Wort Scham reicht nicht aus, um das zu beschreiben, was ich empfinde. »Und wenn du hundert Leben hättest, du würdest ihn immer noch nicht verdienen, weißt du das?«, sagt Haymitch.

»Jaja«, sage ich schroff. »Keine Frage, er ist der Beste von uns dreien. Und, was willst du jetzt machen?«

»Ich weiß nicht.« Haymitch seufzt. »Vielleicht mit dir in die Arena gehen, wenn ich kann. Es spielt keine Rolle, ob bei der Ernte mein Name gezogen wird. Er wird sich einfach freiwillig melden.«

Eine Weile sitzen wir schweigend da. »Es war schlimm für dich in der Arena, oder? Wo du doch alle kennst«, sage ich.

»Ach, ich glaub, wir können beruhigt annehmen, dass es überall unerträglich ist, wo ich bin.« Er macht eine Kopfbewegung zu der Flasche. »Kann ich die jetzt mal wiederhaben?«

»Nein«, sage ich und schlinge die Arme darum. Haymitch holt eine weitere Flasche unter dem Tisch hervor und öffnet sie. Doch mir wird klar, dass ich nicht nur zum Trinken gekommen bin. Da ist noch etwas, das ich von Haymitch will. »Also gut, ich weiß jetzt, worum ich dich bitten will«, sage ich. »Wenn Peeta und ich bei den Spielen mitmachen, dann versuchen wir diesmal, ihm das Leben zu retten.«

Irgendetwas flackert in seinen blutunterlaufenen Augen auf. Schmerz.

»Wie du schon gesagt hast, schlimm wird es so oder so. Und ganz egal, was Peeta will, diesmal ist er dran. Das sind wir ihm beide schuldig.« Meine Stimme nimmt einen flehenden Ton an. »Außerdem hasst mich das Kapitol so sehr, ich bin sowieso schon so gut wie tot. Er hat vielleicht noch eine Chance. Bitte, Haymitch. Sag, dass du mir hilfst.«

Mit gerunzelter Stirn schaut er auf seine Flasche, denkt über meine Worte nach. »Also gut«, sagt er schließlich.

»Danke«, sage ich. Jetzt müsste ich zu Peeta gehen, doch ich will nicht. In meinem Kopf dreht sich alles vom Alkohol, und ich bin so fertig - wer weiß, wozu er mich überreden könnte? Nein, jetzt muss ich nach Hause und meiner Mutter und Prim gegenübertreten.

Als ich die Stufen zu unserem Haus hinauftaumele, geht die Tür auf und Gale nimmt mich in die Arme. »Ich hatte unrecht. Wir hätten abhauen sollen, als du es gesagt hast«, flüstert er.

»Nein«, sage ich. Ich kann kaum geradeaus gucken, und immer wieder schwappt Schnaps aus meiner Flasche und läuft Gale hinten über die Jacke, aber das scheint ihm nichts auszumachen.

»Es ist nicht zu spät«, sagt er.

Über seine Schulter hinweg sehe ich meine Mutter und Prim in der Tür, die sich in den Armen halten. Wir laufen weg. Sie sterben. Und jetzt muss ich auch Peeta beschützen. Damit ist das Thema vom Tisch. »Doch, es ist zu spät.« Meine Knie geben nach und er hält mich. Als der Alkohol mein Denken überwältigt, höre ich die Glasflasche klirrend zu Boden fallen. Es erscheint mir passend, denn ganz offensichtlich habe ich nichts mehr im Griff.

Als ich wieder aufwache, schaffe ich es gerade noch zur Toilette, bevor mir der Schnaps wieder hochkommt. Er brennt genauso wie beim Runterschlucken und schmeckt doppelt so übel. Nachdem ich mich übergeben habe, zittere und schwitze ich, aber wenigstens ist jetzt der größte Teil von dem Zeug wieder draußen. Trotzdem ist so viel in meinem Blut gelandet, dass ich pochende Kopfschmerzen habe, einen ausgetrockneten Mund und ein heißes Gefühl im Magen.

Ich drehe die Dusche auf und stelle mich eine Minute unter den warmen Regen, bis ich merke, dass ich immer noch in Unterwäsche bin. Meine Mutter hat mir wohl nur die schmutzige Oberbekleidung ausgezogen und mich dann ins Bett gesteckt. Ich werfe die nasse Unterwäsche ins Waschbecken und kippe mir Shampoo auf den Kopf. Meine Hände brennen und da sehe ich die kleinen, gleichmäßigen Schnitte in der einen Hand und an der Seite der anderen. Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich gestern Nacht eine Fensterscheibe eingeschlagen habe. Ich schrubbe mich von Kopf bis Fuß ab und halte nur inne, um mich mitten in der Dusche erneut zu übergeben. Es ist hauptsächlich Galle, die zusammen mit dem süß duftenden Schaum im Abfluss verschwindet.

Als ich endlich sauber bin, ziehe ich den Bademantel über und gehe wieder ins Bett, obwohl ich klatschnasse Haare habe. Ich krieche unter die Decke und denke, dass es sich so anfühlen muss, wenn man eine Vergiftung hat. Als ich Schritte auf der Treppe höre, kommt meine Panik von gestern Nacht zurück. Ich bin nicht dafür gewappnet, meine Mutter und Prim zu sehen. Ich muss mich zusammenreißen, um ruhig und zuversichtlich zu wirken, so wie beim Abschied am Tag der letzten Ernte. Ich muss stark sein. Mühsam setze ich mich auf, streiche mir die nassen Haare von den pochenden Schläfen und reiße mich zusammen. Sie erscheinen mit Tee und Toast und sorgenvollen Gesichtern in der Tür. Ich öffne den Mund zu einer witzigen Bemerkung und breche in Tränen aus.

So viel zum Thema Starksein.

Meine Mutter setzt sich auf den Bettrand und Prim schmiegt sich an mich, und sie halten mich, trösten mich leise, bis ich mich einigermaßen ausgeweint habe. Dann holt Prim ein Handtuch und trocknet mir die Haare ab, kämmt die Knoten heraus, während meine Mutter mir Tee und Toast aufdrängt. Sie ziehen mir einen warmen Schlafanzug an und legen mir noch mehr Decken aufs Bett und ich dämmere wieder ein.

Als ich aufwache, verrät mir das Licht, dass es spät am Nachmittag ist. Auf meinem Nachttisch steht ein Glas Wasser und ich stürze es durstig hinunter. Ich fühle mich immer noch wackelig im Magen und im Kopf, aber viel besser als vorher. Ich stehe auf, ziehe mich an und flechte die Haare zu einem Zopf. Bevor ich nach unten gehe, bleibe ich auf der Treppe stehen. Ich schäme mich ein wenig dafür, wie ich auf die Neuigkeit vom Jubel-Jubiläum reagiert habe. Meine ziellose Flucht, die Sauferei mit Haymitch, die Tränen. Unter den Umständen ist es wohl in Ordnung, dass ich mich einen Tag habe gehen lassen. Trotzdem bin ich froh, dass keine Kamera in der Nähe war.

Unten umarmen meine Mutter und Prim mich abermals, doch sie wirken nicht übertrieben bewegt. Ich weiß, dass sie sich beherrschen, um es mir leichter zu machen. Wenn ich Prim ins Gesicht sehe, kann ich mir kaum vorstellen, dass sie dasselbe schwache kleine Mädchen ist, das ich vor neun Monaten am Tag der Ernte zurückgelassen habe. Diese Tortur und all das, was danach kam - die Grausamkeiten im Distrikt, der Aufmarsch der Kranken, die sie jetzt häufig selbst behandelt, wenn meine Mutter alle Hände voll zu tun hat -, hat sie um Jahre altern lassen. Sie ist auch ganz schön gewachsen; wir sind jetzt fast gleich groß, aber das ist es nicht, was sie so viel älter erscheinen lässt.

Meine Mutter schöpft mir Brühe in einen Becher und ich bitte sie um einen zweiten Becher für Haymitch. Dann gehe ich über den Rasen zu seinem Haus. Er ist gerade erst aufgewacht und nimmt den Becher kommentarlos entgegen. Beinahe friedlich sitzen wir da, nippen unsere Brühe und schauen durch sein Wohnzimmerfenster zu, wie die Sonne untergeht. Im Stockwerk über uns höre ich jemanden herumlaufen und nehme an, dass es Hazelle ist, doch ein paar Minuten später kommt Peeta herunter. Mit einer endgültigen Geste wirft er einen Pappkarton mit leeren Schnapsflaschen auf den Tisch.

»So, das hätten wir«, sagt er.

Haymitch braucht seine gesamte Energie, um den Blick auf die leeren Flaschen zu richten, also übernehme ich das Reden. »Was hätten wir?«

»Ich hab den ganzen Schnaps weggekippt«, sagt Peeta.

Das scheint Haymitch aus seiner Starre zu reißen, ungläubig wühlt er in dem Karton. »Du hast was?«

»Ich hab alles weggekippt«, sagt Peeta.

»Er kauft sich doch einfach neuen«, sage ich.

»Das wird er nicht«, sagt Peeta. »Ich hab heute Morgen Ripper ausfindig gemacht und ihr gesagt, ich zeige sie an, sobald sie einem von euch beiden was verkauft. Sicherheitshalber hab ich ihr auch was gezahlt, aber ich glaube nicht, dass sie scharf darauf ist, wieder von den Friedenswächtern geschnappt zu werden.«

Haymitch holt mit seinem Messer aus, doch Peeta wehrt es so mühelos ab, dass es erbärmlich wirkt. Wut steigt in mir auf. »Was geht es dich an, was er macht?«

»Das geht mich sogar sehr viel an. Ganz gleich, wie es ausgeht, zwei von uns müssen in die Arena und der Dritte wird Mentor sein. Wir können uns in diesem Team keine Säufer leisten. Dich schon gar nicht, Katniss«, sagt Peeta zu mir.

»Was?«, stoße ich empört hervor. Es würde überzeugender klingen, wenn ich nicht immer noch so verkatert wäre. »Gestern Nacht war ich zum ersten Mal in meinem Leben betrunken.«

»Ja, und schau dir an, in was für einem Zustand du bist«, sagt Peeta.

Ich weiß nicht, was ich von meiner ersten Begegnung mit Peeta nach der Verkündung erwartet hatte. Ein paar Umarmungen und Küsse. Vielleicht ein wenig Trost. Nicht das hier. Ich wende mich an Haymitch. »Keine Angst, ich besorg dir schon was zu trinken.«

»Dann zeige ich euch beide an und ihr könnt am Pranger ausnüchtern«, sagt Peeta.

»Was soll das?«, fragt Haymitch.

»Zwei von uns werden aus dem Kapitol zurückkommen. Ein Mentor und ein Sieger«, sagt Peeta. »Effie schickt mir Aufnahmen aller lebenden Sieger. Wir werden uns ihre Spiele anschauen und alles Menschenmögliche darüber lernen, wie sie kämpfen. Wir werden an Gewicht zulegen und stark werden. Wir werden uns aufführen wie die Karrieros. Und einer von uns wird wieder gewinnen, ob es euch beiden passt oder nicht!« Er saust aus dem Zimmer und knallt die Haustür hinter sich zu.

Haymitch und ich zucken zusammen.

»Ich kann selbstgerechte Menschen nicht leiden«, sage ich.

»Wer redet hier von leiden können?«, sagt Haymitch und saugt den letzten Rest aus den leeren Flaschen.

»Wenn es nach ihm geht, sollen wir beide nach Hause zurückkehren, du und ich«, sage ich.

»Tja, dann ist er der Gelackmeierte«, sagt Haymitch.

Doch nach ein paar Tagen erklären wir uns einverstanden, die Karrieros zu spielen, denn das ist die beste Methode, auch Peeta einzustimmen. Jeden Abend schauen wir uns die alten Zusammenfassungen der vergangenen Spiele und ihre Sieger an. Mir wird bewusst, dass wir auf der Tour der Sieger keinen von ihnen kennengelernt haben, was mir im Nachhinein merkwürdig vorkommt. Als ich das erwähne, sagt Haymitch, Präsident Snow wollte auf keinen Fall zeigen, wie Peeta und ich - vor allem ich - uns mit anderen Siegern in möglicherweise aufständischen Distrikten verbünden. Sieger haben einen besonderen Status, und wenn sie meinen offenen Ungehorsam gegen das Kapitol unterstützt hätten, wäre das politisch gefährlich gewesen. Mir wird bewusst, dass einige unserer Gegner schon betagt sein könnten, was einerseits traurig ist, andererseits beruhigend. Peeta macht ausgiebig Notizen, Haymitch liefert Informationen über die Persönlichkeit der Sieger, und langsam lernen wir die Konkurrenz kennen.

Jeden Morgen machen wir Übungen, um unsere Körper zu trainieren. Wir laufen, heben Gewichte und dehnen unsere Muskeln. Nachmittags üben wir uns in Kampftechniken, im Messerwerfen und Ringen; ich bringe ihnen sogar bei, auf Bäume zu klettern. Offiziell sollen die Tribute nicht trainieren, aber niemand versucht uns davon abzuhalten. Selbst in den gewöhnlichen Jahren zeigt sich, dass die Tribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 mit dem Speer und mit dem Schwert umgehen können. Dagegen ist das hier gar nichts.

Nach so vielen Jahren des schlechten Lebenswandels will Haymitchs Körper sich nicht erholen. Er hat immer noch erstaunliche Kräfte, aber wenn er nur ein kleines bisschen läuft, gerät er gleich außer Atem. Und man sollte doch meinen, dass jemand, der jede Nacht mit einem Messer schläft, in der Lage sein sollte, eine Hauswand damit zu treffen, aber seine Hände zittern so schlimm, dass es Wochen dauert, bis er wenigstens das zustande bringt.

Peeta und mir dagegen bekommt der neue Tagesablauf sehr gut. So habe ich etwas zu tun. So haben wir alle etwas zu tun, etwas anderes, als uns geschlagen zu geben. Meine Mutter stellt unsere Ernährung um, damit wir zunehmen. Prim behandelt unsere geschundenen Muskeln. Madge stibitzt für uns die Zeitungen, die das Kapitol ihrem Vater schickt. Bei den Prognosen, wer der Sieger der Sieger wird, gehören wir zu den Favoriten. Selbst Gale taucht sonntags auf, obwohl er weder Peeta noch Haymitch ins Herz geschlossen hat, und zeigt uns alles, was er über das Fallenstellen weiß. Für mich ist es merkwürdig, mit Peeta und Gale gleichzeitig zu reden, aber die beiden scheinen ihre Konkurrenz um mich beiseitelassen zu können.

Eines Abends, als ich Gale zurück in die Stadt begleite, gibt er sogar zu: »Zu dumm, dass es so schwer ist, ihn zu hassen.«

»Wem sagst du das«, antworte ich. »Wenn ich ihn in der Arena einfach hätte hassen können, hätten wir jetzt nicht so ein Chaos. Dann wäre er tot und ich eine glückliche kleine Siegerin, ganz allein.«

»Und wo wären wir dann, Katniss?«, fragt Gale.

Ich zögere, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ja, wo wäre ich mit meinem angeblichen Cousin, der nicht mein Cousin wäre, wenn es Peeta nicht gäbe? Hätte er mich trotzdem geküsst und hätte ich seinen Kuss erwidert, wenn ich frei gewesen wäre? Hätte ich mich ihm geöffnet, wenn ich mich durch Geld und Lebensmittel in Sicherheit gewiegt hätte, wenn ich an die Illusion von Unverwundbarkeit geglaubt hätte, wie man es als Sieger unter anderen Umständen tun könnte? Doch auch dann hätte die Ernte über uns, über unseren Kindern gelauert. Ganz gleich, was ich gewollt hätte …

»Auf der Jagd. Wie jeden Sonntag«, sage ich. Ich weiß, dass er die Frage nicht wörtlich gemeint hat, aber mehr als das kann ich nicht sagen, wenn ich ehrlich sein will. Gale weiß, dass ich ihn Peeta vorgezogen habe, als ich nicht weggelaufen bin. Ich sehe keinen Sinn darin, über das zu reden, was hätte sein können. Selbst wenn ich Peeta in der Arena getötet hätte, würde ich niemanden heiraten wollen. Ich habe mich nur verlobt, um Leben zu retten, und das ist nach hinten losgegangen.

Auf jeden Fall habe ich Angst, dass ein Gefühlsausbruch Gale zu einer drastischen Handlung treiben könnte. Dass er zum Beispiel einen Aufstand in den Minen anzetteln könnte. Denn, wie Haymitch sagt, dafür ist Distrikt 12 noch nicht bereit. Womöglich sogar noch weniger als vor der Verkündung des Jubel-Jubiläums, denn am Morgen darauf sind weitere hundert Friedenswächter mit dem Zug angekommen.

Da ich nicht vorhabe, ein zweites Mal lebend aus der Arena herauszukommen, ist es gut, wenn Gale mich so bald wie möglich loslässt. Nach der Ernte möchte ich ihm ein, zwei Sachen sagen, wenn sie uns eine Stunde zum Abschiednehmen gewähren. Er soll wissen, wie wichtig er all die Jahre für mich war. Wie viel besser mein Leben war, weil ich ihn gekannt habe. Und ihn geliebt habe, wenn auch nur auf die eingeschränkte Art, zu der ich fähig bin.

Aber dazu soll ich keine Gelegenheit bekommen.

Am Tag der Ernte ist es heiß und schwül. Schwitzend und schweigend warten die Bewohner von Distrikt 12 auf dem Platz, während Maschinengewehre auf sie gerichtet sind. Ich stehe allein in einer kleinen abgesperrten Ecke, Peeta und Haymitch neben mir, auch sie eingepfercht. Die Ernte dauert nur eine Minute. Effie mit einer metallic glänzenden Goldperücke lässt den üblichen Schwung vermissen. Sie muss die Loskugel der Mädchen eine ganze Weile herumdrehen, ehe sie den einzigen Zettel herauszieht, auf dem, wie alle wissen, mein Name steht. Dann erwischt sie Haymitchs Namen. Er hat kaum Zeit, mir einen unglücklichen Blick zuzuwerfen, da hat Peeta sich schon freiwillig gemeldet.

Wir werden sofort ins Justizgebäude geführt, wo der Oberste Friedenswächter Thread auf uns wartet. »Neues Verfahren«, sagt er mit einem Lächeln. Wir werden zur Hintertür hinausgebracht und dann mit einem Wagen zum Bahnhof gefahren. Keine Kameras auf dem Bahnsteig, keine Zuschauer, die uns verabschieden. Haymitch und Effie tauchen auf, begleitet von Wachen. Friedenswächter scheuchen uns alle in den Zug und knallen die Türen zu. Die Räder setzen sich in Bewegung.

Und mir bleibt nichts anderes übrig, als aus dem Fenster zu starren, während Distrikt 12 aus meiner Sicht verschwindet und der Abschied auf meinen Lippen hängen bleib

14

Ich bleibe noch lange am Fenster stehen, auch als sich schon längst der Wald zwischen mich und meine Heimat geschoben hat. Diesmal habe ich nicht die geringste Hoffnung auf Rückkehr. Damals, vor meinen ersten Spielen, hatte ich Prim versprochen, dass ich alles tun würde, um zu gewinnen, aber nun habe ich mir selbst geschworen, alles zu tun, damit Peeta am Leben bleibt. Diesmal wird es kein Zurück geben.

Ich hatte mir sogar schon letzte Worte an meine Angehörigen zurechtgelegt. Hatte mir überlegt, wie ich die Türen am besten verschließen und meine Lieben voller Trauer, aber in Sicherheit hätte zurücklassen können. Doch auch das hat das Kapitol mir gestohlen.

»Wir schreiben ihnen, Katniss«, sagt Peeta hinter mir. »Das ist bestimmt sowieso besser. Dann haben sie etwas von uns, woran sie sich festhalten können. Haymitch wird die Briefe für uns überbringen, falls … sie überbracht werden müssen.«

Ich nicke. Dann gehe ich auf direktem Weg in mein Abteil und setze mich aufs Bett. Ich weiß, dass ich diese Briefe nie schreiben werde. Wie die Rede, die ich niederzuschreiben versucht habe, um Rue und Thresh in Distrikt 11 zu ehren. In meinem Kopf und auch als ich zu der Menge sprach, war alles klar, aber aus dem Stift wollten die Worte einfach nicht herausfließen. Abgesehen davon mussten diese Worte von Umarmungen und Küssen begleitet werden, ich müsste Prim dabei übers Haar fahren, Gale übers Gesicht streichen, Madge die Hand drücken. Unmöglich können sie zusammen mit einer Holzkiste überbracht werden, in der mein erkalteter steifer Körper liegt.

Ich bin zu traurig, um zu weinen. Ich will mich nur noch auf dem Bett zusammenkauern und schlafen, bis wir morgen früh das Kapitol erreichen. Aber ich habe eine Mission. Nein, mehr als eine Mission. Es ist mein Letzter Wille. Peeta retten. So unwahrscheinlich es angesichts der Wut des Kapitols auch scheinen mag, dass mir das gelingt, so wichtig ist es, dass ich alles gebe. Und das kann ich nur, wenn ich meinen Lieben zu Hause nicht länger nachtrauere. Lass sie los, sage ich mir. Sag Lebewohl und vergiss sie. Ich gebe mein Bestes, denke an jeden Einzelnen, entlasse sie wie Vögel aus den schützenden Käfigen in mir und verschließe die Türen, damit sie nicht zurückkönnen.

Als Effie anklopft und mich zum Abendessen ruft, fühle ich mich leer. Aber diese Leichtigkeit kommt mir nicht ganz ungelegen.

Die Stimmung beim Essen ist gedrückt. So gedrückt, dass lange Zeit überhaupt niemand etwas sagt und das Schweigen nur durch das Abräumen des einen Gangs und das Auftragen des nächsten unterbrochen wird. Eine kalte passierte Gemüsesuppe. Fischfrikadellen in Limonencreme. Diese Hühnchen in Orangen-Sahne-Soße, dazu Wildreis und Brunnenkresse. Schokoladenpudding, garniert mit Kirschen.

Ab und zu versuchen Peeta und Effie eine Unterhaltung in Gang zu bringen, die aber bald erstirbt.

»Ich finde deine neue Frisur toll«, sagt Peeta.

»Danke. Sie sollte extra zu Katniss’ Brosche passen. Wenn wir noch ein goldenes Armkettchen für dich finden und für Haymitch vielleicht einen goldenen Armreif oder so was, dann sehen wir aus wie ein Team, dachte ich«, erklärt Effie.

Offenbar weiß sie nicht, dass meine Spotttölpelbrosche inzwischen den Rebellen als Erkennungszeichen dient. Zumindest in Distrikt 8. Im Kapitol ist der Spotttölpel immer noch eine nette Erinnerung an eine besonders aufregende Ausgabe der Hungerspiele. Was auch sonst? Echte Rebellen tragen ihre geheimen Erkennungszeichen doch nicht auf etwas so Beständigem wie einem Schmuckstück. Sie prägen sie in ein Stück Brot, das notfalls binnen einer Sekunde aufgegessen werden kann.

»Ich halte das für eine großartige Idee«, sagt Peeta. »Was meinst du, Haymitch?«

»Von mir aus«, sagt Haymitch. Er verkneift sich das Trinken, aber ich weiß, dass er es nur zu gern täte. Als Effie bemerkt, wie viel Kraft es ihn kostet, hat sie auch ihr eigenes Glas Wein abräumen lassen, aber Haymitch geht trotzdem auf dem Zahnfleisch. Wäre er selbst der Tribut, dann wäre er Peeta nichts schuldig und könnte sich nach Herzenslust betrinken. So jedoch muss er alles daransetzen, dass Peeta in einer Arena überlebt, in der es von alten Freunden wimmelt, und wahrscheinlich wird er scheitern.

»Vielleicht können wir für dich ja auch eine Perücke bekommen?«, sage ich und bemühe mich, ungezwungen zu klingen. Haymitch schleudert mir nur einen Blick zu, der besagt, dass ich ihn in Ruhe lassen soll, und wir essen schweigend unseren Pudding auf.

»Wollen wir uns jetzt die Zusammenfassung der Ernten anschauen?«, fragt Effie in die Runde, während sie sich mit einer weißen Leinenserviette die Mundwinkel abtupft.

Peeta geht hinaus, um seine Notizen über die noch lebenden Sieger zu holen, und wir versammeln uns in dem Abteil mit dem Fernseher, um zu sehen, mit wem wir es in der Arena zu tun bekommen. Die Hymne erklingt und die alljährliche Zusammenfassung der Erntezeremonien in den zwölf Distrikten beginnt.

Die Geschichte der Spiele weist fünfundsiebzig Sieger aus. Neunundfünfzig von ihnen sind noch am Leben. Ich erkenne viele der Gesichter wieder, entweder weil ich sie bei früheren Spielen als Tribute oder Mentoren gesehen habe, oder von den Siegervideos, die wir uns vor Kurzem angeschaut haben. Manche Sieger sind so alt oder von Krankheit, Drogen und Alkohol derart gezeichnet, dass ich sie nicht einordnen kann. Wie zu erwarten, stellen die Karrieretribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 die stärkste Gruppe. Doch immerhin kann jeder Distrikt einen weiblichen und einen männlichen Sieger vorweisen.

Die Ernten sind rasch vorbei. Peeta macht in seinem Notizblock hinter die Namen der Ausgelosten eifrig Sternchen. Haymitch schaut mit ausdruckslosem Gesicht zu, wie seine Freunde hervortreten und auf die Bühne steigen. Effie gibt leise, bekümmerte Kommentare von sich wie »Oh nein, nicht Cecelia« oder »Na, Chaff hat ja noch nie einen Kampf ausgelassen« und seufzt häufig auf.

Ich für meinen Teil versuche mir die anderen Tribute, so gut es geht, einzuprägen, aber wie letztes Jahr bleiben nur ein paar Gesichter hängen. Aus Distrikt 1 kommt das Geschwisterpaar, klassische Schönheiten, sie gewannen die Spiele in zwei aufeinanderfolgenden Jahren, als ich noch klein war. Brutus, ein Freiwilliger aus Distrikt 2, der mindestens vierzig sein muss und es augenscheinlich gar nicht erwarten kann, wieder in die Arena zu kommen. Finnick, der hübsche Junge aus Distrikt 4 mit dem bronzefarbenen Haar, der vor zehn Jahren im Alter von 14 zum Sieger gekrönt wurde. Ebenfalls in Distrikt 4 wird eine hysterische junge Frau mit wallendem braunen Haar ausgelost, jedoch rasch durch eine Freiwillige ersetzt, eine etwa Achtzigjährige, die einen Gehstock braucht, um zur Bühne zu kommen. Dann ist da noch Johanna Mason, die einzige überlebende Siegerin aus Distrikt 7, die vor einigen Jahren gewann, indem sie so tat, als könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Die Frau aus Distrikt 8, die Effie Cecelia nennt, sieht aus wie dreißig und muss sich von drei Kindern lösen, die sich an sie klammern. Chaff, ein Mann aus Distrikt 11, von dem ich weiß, dass er zu Haymitchs engen Freunden gehört, ist auch dabei.

Ich werde aufgerufen, dann Haymitch. Und Peeta meldet sich freiwillig. Die Sprecherin bekommt eine weinerliche Stimme, weil die Chancen mal wieder schlecht stehen für uns, das tragische Liebespaar aus Distrikt 12. Dann reißt sie sich zusammen und verkündet allen, sie gehe jede Wette ein, dies würden »die besten Spiele aller Zeiten!«.

Wortlos verlässt Haymitch das Abteil. Effie macht noch ein paar zusammenhanglose Kommentare über diesen und jenen Tribut und sagt dann Gute Nacht. Ich sitze nur da und sehe Peeta zu, wie er die Seiten der Sieger herausreißt, die nicht ausgelost wurden.

»Warum legst du dich nicht ein bisschen hin?«, fragt er.

Weil ich mit den Albträumen nicht fertigwerde. Nicht ohne dich, denke ich. Und heute Nacht werde ich mit Sicherheit entsetzliche Albträume haben. Aber ich kann Peeta schlecht fragen, ob er bei mir schläft. Wir haben uns kaum berührt seit dem Abend, an dem Gale ausgepeitscht wurde. »Was hast du vor?«, frage ich.

»Ich will meine Notizen noch mal durchgehen. Mir ein genaues Bild machen, mit wem wir es zu tun bekommen. Morgen früh können wir das Ganze besprechen. Geh schlafen, Katniss«, sagt er.

Also gehe ich schlafen und wache natürlich nach wenigen Stunden aus einem Albtraum auf, in dem die alte Frau aus Distrikt 4 sich in ein großes Nagetier verwandelt und an meinem Gesicht knabbert. Ich muss geschrien haben, aber niemand kommt. Nicht Peeta, nicht mal einer von den Dienern des Kapitols. Um die Gänsehaut, die über meinen Körper kriecht, zu vertreiben, ziehe ich einen Bademantel über. Ich kann unmöglich in meinem Abteil bleiben, deshalb beschließe ich, jemanden aufzutreiben, der mir einen Tee oder Kakao oder sonst was macht. Vielleicht ist Haymitch ja noch wach. Er schläft bestimmt nicht.

Bei einem Diener bestelle ich eine warme Milch, das Beruhigendste, was mir einfällt. Ich höre Geräusche aus dem Fernsehabteil, gehe hinein, und da ist Peeta. Neben ihm auf dem Sofa steht die Kiste voller Videos mit Aufzeichnungen früherer Hungerspiele, die Effie zusammengestellt hat. Ich erkenne die Folge, als Brutus Sieger wurde.

Als Peeta mich sieht, steht er auf und holt das Band heraus. »Konntest du nicht schlafen?«

»Nicht sehr lange«, sage ich. Ich muss wieder an die alte Frau denken, die sich in ein Nagetier verwandelt hat, und ziehe den Bademantel fester um mich.

»Möchtest du darüber reden?«, fragt er. Manchmal hilft das, aber ich schüttele nur den Kopf und fühle mich schwach, weil ich schon jetzt von Leuten heimgesucht werde, mit denen ich noch gar nicht gekämpft habe.

Als Peeta die Arme ausstreckt, lasse ich mich sofort hineinfallen. Es ist das erste Mal seit der Verkündung des Jubel-Jubiläums, dass er mir irgendeine Art von Zuwendung gewährt. Bisher war er eher ein sehr strenger Trainer gewesen, der Haymitch und mich ständig angetrieben und gefordert hat, damit wir schneller rennen, mehr essen, Details über unseren Feind erfahren. Keine Spur mehr vom einstigen Geliebten. Er tat nicht einmal mehr so, als wäre er mein Freund. Schnell schlinge ich die Arme fest um seinen Hals, bevor er mir befehlen kann, Liegestütze zu machen oder so. Er zieht mich an sich und vergräbt sein Gesicht in meinem Haar. Von dort, wo seine Lippen meinen Hals berühren, breitet sich langsam Wärme in mir aus. Es fühlt sich so gut an, so unfassbar gut, dass ich weiß, ich werde mich bestimmt nicht als Erste aus der Umarmung lösen.

Warum auch? Ich habe Gale Lebewohl gesagt. Ich werde ihn nie wiedersehen, das ist ganz sicher. Was ich auch tue, ihn kann es nicht mehr verletzen. Er wird es nicht sehen, oder er wird denken, ich schauspielere für die Kameras. Immerhin eine Last weniger auf meinen Schultern.

Der Diener kommt herein und wir lösen uns voneinander. Er stellt ein Tablett mit einem dampfenden Keramikkrug warmer Milch und zwei große Tassen auf den Tisch. »Ich hab noch eine Tasse mitgebracht«, sagt er.

»Danke«, antworte ich.

»Ich habe Honig in die Milch getan, zum Süßen. Und etwas Gewürz …« Er sieht uns an, als wollte er noch etwas sagen, dann schüttelt er nur leise den Kopf und verlässt den Raum.

»Was ist denn mit dem los?«, frage ich.

»Wahrscheinlich tun wir ihm leid«, meint Peeta.

»Ganz bestimmt«, sage ich und gieße die Milch ein.

»Das meine ich ernst. Im Kapitol sind bestimmt nicht alle froh darüber, dass wir noch mal in die Arena müssen«, sagt Peeta. »Oder die anderen. Sie haben ihre Sieger lieb gewonnen.«

»Schätze, sie werden drüber wegkommen, wenn erst mal Blut fließt«, halte ich dagegen. Wenn ich für eins nun wirklich keine Zeit habe, dann, darüber nachzudenken, wie sich das Jubel-Jubiläum auf die Stimmung im Kapitol auswirkt. »Und, schaust du dir alle Bänder noch mal an?«

»Nein. Ich will nur herausfinden, welche Kampftechnik die Leute so draufhaben«, sagt Peeta.

»Welches kommt als Nächstes?«, frage ich.

»Nimm irgendeins«, sagt Peeta und hält mir die Kiste hin.

Auf den Bändern stehen das Jahr der Spiele und der Name des Siegers. Ich krame ein bisschen und halte plötzlich ein Band in der Hand, das wir noch nicht angeschaut haben. Nummer fünfzig. Das Jahr des zweiten Jubel-Jubiläums. Und der Name des Siegers lautet: Haymitch Abernathy.

»Das haben wir noch nicht gesehen«, sage ich.

Peeta schüttelt den Kopf. »Nein. Haymitch würde es auch nicht wollen, das wusste ich. Wir würden ja auch nicht gern unsere Spiele noch mal durchleben müssen. Und da wir im gleichen Team sind, dachte ich nicht, dass es wichtig wäre.«

»Ist der, der die fünfundzwanzigste Ausgabe gewonnen hat, dabei?«, frage ich.

»Ich glaube nicht. Wer immer das war, er muss inzwischen gestorben sein, denn Effie hat mir nur die Bänder der Sieger geschickt, mit denen wir es möglicherweise zu tun bekommen.« Peeta wiegt Haymitchs Band in der Hand. »Wieso? Meinst du, wir sollten es uns anschauen?«

»Es ist das einzige Jubel-Jubiläum, das wir haben. Vielleicht erfahren wir etwas Brauchbares darüber, was die da so machen«, sage ich. Aber mir ist nicht wohl dabei. Es kommt mir vor wie ein schwerwiegender Eingriff in Haymitchs Privatsphäre. Ich weiß zwar nicht, wieso, das Ganze war schließlich öffentlich, aber trotzdem. Gleichzeitig bin ich wahnsinnig neugierig. »Wir müssen Haymitch ja nicht erzählen, dass wir es uns angeschaut haben.«

»Okay«, stimmt Peeta zu. Er legt das Band ein, und ich kauere mich mit meiner gesüßten und gewürzten Milch, die wirklich köstlich ist, neben ihn und versinke in den fünfzigsten Hungerspielen. Nach der Hymne sieht man Präsident Snow, der den Umschlag für das zweite Jubel-Jubiläum zieht. Er sieht jünger aus, aber genauso abstoßend. Mit der gleichen Grabesstimme wie bei uns liest er von seinem Blatt ab und teilt Panem mit, dass zu Ehren des Jubel-Jubiläums doppelt so viele Tribute teilnehmen werden wie sonst. Schnitt auf die Ernten, wo Name auf Name aufgerufen wird.

Als wir zu Distrikt 12 kommen, bin ich schon überwältigt von der Anzahl der Kinder, die dem sicheren Tod entgegengehen. Eine Frau, allerdings nicht Effie, ruft die Namen von Distrikt 12 auf, und auch sie sagt: »Ladies first!« Sie ruft den Namen eines Mädchens auf - man sieht ihm an, das es aus dem Saum stammt -, und dann höre ich den Namen: »Maysilee Donner.«

»Oh!«, sage ich. »Das war eine Freundin meiner Mutter.« Die Kamera macht sie in der Menge ausfindig, während sie zwei Mädchen umarmt. Alle blond. Und eindeutig Kaufmannstöchter.

»Das ist doch deine Mutter, die sie da umarmt«, sagt Peeta leise. Er hat recht. Als Maysilee Donner sich tapfer löst und zur Bühne geht, erhasche ich einen Blick auf meine Mutter, die damals so alt war wie ich heute. Was ihre Schönheit angeht, hat man nicht übertrieben. Ein zweites Mädchen, das Maysilee sehr ähnlich sieht, hält ihre Hand und weint. Aber dieses Mädchen sieht noch jemandem ähnlich, den ich kenne.

»Madge«, sage ich.

»Ihre Mutter. Sie und Maysilee waren Zwillinge oder so«, sagt Peeta. »Das hat mein Dad mal erzählt.«

Ich denke an Madges Mutter. Die Frau von Bürgermeister Undersee. Die die Hälfte der Zeit von unerträglichen Schmerzen ans Bett gefesselt ist und die Welt ausblendet. Mir ist nie bewusst gewesen, dass es diese Verbindung zwischen ihr und meiner Mutter gibt. Ich denke daran zurück, wie Madge in dem Schneesturm aufgetaucht ist, um das Schmerzmittel für Gale zu bringen. Denke an meine Spotttölpelbrosche und daran, dass sie eine andere Bedeutung hat, seit ich weiß, dass Madges Tante, Maysilee Donner, sie einst getragen hat - ein Tribut, der in der Arena ermordet wurde.

Als Letzter wird Haymitch aufgerufen. Ihn zu sehen, schockiert mich noch mehr als der Anblick meiner Mutter eben.

Jung. Stark. Es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber er sieht echt toll aus. Dunkle Locken, die grauen Augen klar und schon damals gefährlich.

»Mensch, Peeta, er wird doch nicht Maysilee getötet haben, oder?«, bricht es aus mir heraus. Ich weiß nicht, warum, aber die Vorstellung ist mir unerträglich.

»Bei achtundvierzig Spielern? Nicht sehr wahrscheinlich, würde ich behaupten«, sagt Peeta.

Die Wagenparade - bei der die Kinder aus Distrikt 12 in grauenhaften Bergarbeiteroutfits stecken - und die Interviews rauschen vorbei. Man hat kaum Zeit, sich auf einen zu konzentrieren. Aber weil Haymitch der spätere Sieger ist, wird ein Wortwechsel zwischen ihm und Caesar Flickerman gezeigt, der in seinem nachtblauen Glitzeranzug exakt so aussieht wie immer. Nur die dunkelgrün gefärbten Haare, Lider und Lippen sind anders.

»Also, Haymitch, was hältst du davon, dass bei diesen Spielen hundert Prozent mehr Mitstreiter dabei sind als sonst?«, fragt Caesar.

Haymitch zuckt die Achseln. »Ich sehe da keinen großen Unterschied. Sie werden hundert Prozent so dumm sein wie sonst auch und deshalb schätze ich meine Chancen eigentlich gleich ein.«

Die Zuschauer lachen, Haymitch schenkt ihnen ein halbes Lächeln. Höhnisch. Arrogant. Gleichgültig.

»Dafür hat er sich nicht sonderlich verstellen müssen, oder?«, sage ich.

Schnitt auf den Morgen, an dem die Spiele beginnen. Wir erleben aus der Perspektive einer Spielerin mit, wie sie vom Starträum durch den Zylinder in die Arena hinauffährt. Ich schnappe nach Luft. Unglauben zeichnet sich auf den Gesichtern der Spieler ab. Sogar Haymitch hebt erfreut die Augenbrauen, zieht sie dann aber sofort wieder zu einer finsteren Miene zusammen.

Die Szenerie ist atemberaubend. Das goldene Füllhorn thront mitten auf einer grünen Wiese mit lauter prächtigen Blumen. Der Himmel ist azurblau mit bauschigen weißen Wolken. Singvögel flattern fröhlich über den Köpfen der Tribute, von denen einige schnuppernd die Nase recken. Der Duft muss fantastisch sein. Eine Luftaufnahme zeigt, dass die Wiese sich über viele Kilometer erstreckt. In der Ferne liegt in der einen Richtung ein Wald, in der anderen ein schneebedeckter Berg.

Die Spieler lassen sich von der Schönheit des Anblicks verzaubern, und als der Gong ertönt, sehen die meisten aus, als würden sie aus einem Traum erwachen. Nicht so Haymitch. Im Nu ist er beim Füllhorn, hat sich Waffen und einen Rucksack mit Vorräten gesichert. Ehe die anderen auch nur die Metallscheibe verlassen haben, ist er schon auf dem Weg in den Wald.

Achtzehn Tribute werden beim Gemetzel des ersten Tages getötet. Die anderen sterben wie die Fliegen, denn rasch zeigt sich, dass fast alles an diesem bezaubernden Ort - die köstlichen Früchte, die an den Sträuchern baumeln, das Wasser in den kristallklaren Bächen, sogar der Duft der Blumen, wenn man ihn von Nahem einatmet - tödlich giftig ist. Nur das Regenwasser und die Nahrungsmittel aus dem Füllhorn lassen sich gefahrlos konsumieren. Es gibt auch eine große, gut ausgerüstete Karrierotruppe aus zehn Tributen, die auf der Suche nach Opfern die Bergregion durchstreift.

Haymitch in seinem Wald kommt ganz schön in Bedrängnis, weil die flauschigen goldenen Eichhörnchen sich als rudelweise attackierende Fleischfresser herausstellen und die Stiche der Schmetterlinge Höllenqualen hervorrufen - wenn sie nicht sogar tödlich sind. Aber er kämpft sich immer weiter vorwärts, weg von dem fernen Berg hinter ihm.

Maysilee Donner erweist sich als ganz schön erfinderisch für ein Mädchen, das am Füllhorn lediglich einen kleinen Rucksack ergattert hat. Darin findet sie eine Schale, etwas getrocknetes Rindfleisch und ein Blasrohr mit zwei Dutzend Pfeilen. Sie nutzt die üppig vorhandenen Gifte und verwandelt das Blasrohr in eine tödliche Waffe, taucht die Pfeile in hochgiftige Substanzen und schießt sie ins Fleisch ihrer Gegner.

Nach vier Tagen bricht der malerische Berg aus und eliminiert ein weiteres Dutzend Spieler, darunter die Hälfte aller Karrieretribute. Da der Berg flüssiges Feuer spuckt und die Wiese keinerlei Versteck bietet, haben die verbliebenen dreizehn Tribute - einschließlich Haymitch und Maysilee - keine andere Wahl: Sie müssen in den Wald.

Haymitch scheint entschlossen, immer der gleichen Richtung zu folgen, fort von dem Berg, der zum Vulkan geworden ist, doch ein Labyrinth aus dichten Hecken zwingt ihn in einem Bogen zurück in die Mitte des Waldes, wo er auf drei der Karrieretribute trifft. Haymitch zückt sein Messer. Sie sind vielleicht größer und stärker, aber er ist sehr schnell und hat bereits zwei getötet, als er vom dritten überwältigt wird. Der Karriero will ihm gerade die Kehle aufschlitzen, da streckt ihn ein Pfeil zu Boden.

Maysilee Donner tritt zwischen den Bäumen hervor. »Zu zweit würden wir länger leben.«

»Schätze, das hast du soeben bewiesen«, sagt Haymitch und reibt sich den Hals. »Verbündete?« Maysilee nickt. Und mir nichts, dir nichts haben sie plötzlich eins dieser Bündnisse geschlossen, die man irgendwann notgedrungen brechen muss, wenn man jemals zurück nach Hause und seinen Distrikt wiedersehen will.

Wie Peeta und ich sind sie zu zweit besser dran. Sie schlafen mehr, denken sich gemeinsam eine Methode aus, wie sie mehr Regenwasser gewinnen können, kämpfen im Team und teilen das Essen aus den Rucksäcken der toten Tribute. Trotzdem, Haymitch ist immer noch entschlossen, weiterzumarschieren.

»Warum?«, fragt Maysilee immer wieder, doch er ignoriert sie, bis sie sich schließlich weigert, auch nur noch einen Schritt zu machen, solange sie keine Antwort bekommt.

»Weil es doch irgendwo ein Ende geben muss, oder?«, sagt Haymitch. »Die Arena kann nicht unendlich sein.«

»Und was, glaubst du, wirst du dort finden?«, fragt Maysilee.

»Ich weiß nicht. Aber vielleicht ist da etwas, das wir gebrauchen können«, antwortet er.

Als sie mithilfe eines Schneidbrenners, den sie aus dem Rucksack eines der toten Karrieros haben, endlich die schier unüberwindliche Hecke hinter sich gebracht haben, treten sie auf eine ausgetrocknete Ebene hinaus, die an einer Klippe endet. Weit unten sind zerklüftete Felsen zu erkennen.

»Das ist alles, Haymitch. Lass uns umkehren«, sagt Maysilee.

»Nein, ich bleibe hier«, erwidert er.

»Gut. Nur noch fünf von uns sind übrig. Dann können wir auch jetzt und hier Lebewohl sagen«, sagt sie. »Ich möchte nicht, dass am Ende bloß noch wir beide übrig sind.«

»Okay«, willigt er ein. Mehr nicht. Er hält ihr nicht die Hand hin oder sieht sie an. Und so geht sie fort.

Haymitch folgt dem Rand der Klippe, als grübelte er über etwas. Unter seinem Fuß löst sich ein kleiner Stein, der in den Abgrund fällt, augenscheinlich für immer verschwunden. Aber eine Minute später, Haymitch hat sich inzwischen hingesetzt, um auszuruhen, wird der Stein plötzlich zurückgeschleudert und landet neben ihm. Verdutzt starrt Haymitch den Stein an, dann wird seine Miene seltsam angespannt. Er wirft einen faustgroßen Stein über die Klippe und wartet. Als auch dieser Stein zurückgeflogen kommt und wieder genau in seiner Hand landet, lacht er los.

In diesem Augenblick hört man Maysilee schreien. Das Bündnis ist Vergangenheit, sie hat es gebrochen, deshalb könnte ihm niemand einen Vorwurf machen, wenn er sich nicht um sie kümmern würde. Trotzdem rennt Haymitch los. Er kommt gerade noch rechtzeitig, um mit anzusehen, wie der letzte aus einer Schar bonbonrosafarbener Vögel mit seinem langen, dünnen Schnabel ihren Hals durchbohrt. Während sie stirbt, hält Haymitch ihre Hand, und ich muss die ganze Zeit an Rue denken und dass auch ich zu spät gekommen bin, um sie zu retten.

Später an diesem Tag wird noch ein Tribut im Kampf getötet und ein dritter von einem Rudel dieser flauschigen Eichhörnchen aufgefressen, sodass nur noch Haymitch und ein Mädchen aus Distrikt 1 um den Sieg wetteifern. Sie ist größer als Haymitch und genauso schnell, und als es zu dem unvermeidlichen Kampf kommt, ist er blutig und schrecklich, und beide haben bereits Verletzungen erlitten, die tödlich sein könnten. Da steht Haymitch plötzlich ohne Waffe da. Er taumelt durch den schönen Wald, drückt die Eingeweide zurück in den Bauch, während das Mädchen hinter ihm herstolpert, in der Hand die Axt, mit der sie ihm den Todesstoß versetzen will. Auf kürzestem Weg steuert Haymitch auf seine Klippe zu und ist eben an der Felskante angekommen, als das Mädchen die Axt schleudert. In diesem Augenblick lässt Haymitch sich fallen und die Axt fliegt über ihn hinweg in den Abgrund. Jetzt, da sie ebenfalls unbewaffnet ist, steht das Mädchen nur da und versucht das Blut zu stillen, das aus ihrer leeren Augenhöhle rinnt. Vielleicht denkt sie, sie könne Haymitch, der sich auf dem Boden windet, überleben. Aber im Gegensatz zu ihm kennt sie das Geheimnis des Abgrunds nicht, und als die Axt plötzlich wieder über die Kante geflogen kommt, gräbt sie sich in den Schädel des Mädchens. Die Kanone knallt, die Leiche wird fortgeschafft, die Fanfaren verkünden Haymitchs Sieg.

Peeta schaltet das Band ab, wir bleiben eine Zeit lang schweigend sitzen.

Endlich sagt Peeta: »Dieses Kraftfeld unterhalb der Klippe erinnert mich an das Kraftfeld rings um das Dach des Trainingscenters. Das schleudert einen auch zurück, wenn man versucht, hinunterzuspringen und sich umzubringen. Haymitch hat einen Weg gefunden, es als Waffe einzusetzen.«

»Und nicht nur gegen die anderen Tribute, auch gegen das Kapitol«, sage ich. »Damit hatten sie bestimmt nicht gerechnet. Es war nicht als Teil der Arena gedacht. Sie haben nie geplant, dass irgendjemand das Kraftfeld als Waffe einsetzen sollte. Als Haymitch es dennoch schaffte, standen sie ganz schön dumm da. Es hat bestimmt eine Weile gedauert, bis sie sich eine passende Story dazu ausgedacht haben. Wahrscheinlich habe ich es deshalb auch nicht im Fernsehen gesehen. Das ist ja fast so schlimm wie wir mit den Beeren!«

Ich pruste los, zum ersten Mal seit Monaten kann ich richtig lachen. Peeta schüttelt nur den Kopf, als hätte ich den Verstand verloren - vielleicht ist es auch ein bisschen so.

»Fast, aber nicht ganz«, sagt Haymitch hinter uns. Ich fahre herum und befürchte, er könne verärgert sein, weil wir sein Band angesehen haben, aber er grinst nur und nimmt einen tiefen Schluck aus einer Weinflasche. So viel zum Thema nüchtern bleiben. Wahrscheinlich müsste ich jetzt wütend sein, weil er wieder trinkt, doch mich beschäftigt etwas anderes.

In den zurückliegenden Wochen habe ich mich nur darum gekümmert zu erfahren, wer meine zukünftigen Konkurrenten sind, und keinen Gedanken daran verschwendet, wer meine Teamkameraden sind. Jetzt aber macht sich eine neue Art von Zuversicht in mir breit, weil ich glaube, dass ich endlich über Haymitch Bescheid weiß. Und ich weiß allmählich auch, wer ich bin. Und zwei Leute, die dem Kapitol so viel Ärger eingebrockt haben, werden bestimmt einen Weg finden, Peeta lebend wieder nach Hause zu bringen.

15

Ich habe ja schon einige Vorbereitungssitzungen mit Flavius, Venia und Octavia hinter mir, weshalb das für mich eigentlich alles Routine sein müsste, die ich nur irgendwie überstehen muss. Aber die emotionale Tortur, die mich diesmal erwartet, habe ich nicht vorausgesehen. Mindestens zweimal im Verlauf der Vorbereitung bricht jeder von ihnen in Tränen aus und Octavia wimmert den ganzen Vormittag über vor sich hin. Offenbar haben sie mich tatsächlich ins Herz geschlossen, und die Vorstellung, dass ich noch einmal in die Arena zurückmuss, macht sie völlig fertig. Dass sie zusammen mit mir auch die Zutrittsberechtigung zu all den großen gesellschaftlichen Anlässen - insbesondere meiner Hochzeit - verlieren werden, macht es vollends unerträglich. Der Gedanke, für einen anderen stark zu sein, ist ihnen noch nie gekommen, und daher bin jetzt plötzlich ich es, die sie trösten muss. Das nervt ein bisschen, schließlich soll ich mich abschlachten lassen, nicht sie.

Aber es ist doch interessant, was Peeta über den Diener im Zug gesagt hat - er sei nicht glücklich darüber, dass die Sieger noch mal kämpfen müssen. Und es gebe auch Leute im Kapitol, die das nicht gut fänden. Meiner Meinung nach wird all das zwar vergessen sein, sobald der Gong ertönt und die Spiele beginnen, aber dass die Leute im Kapitol überhaupt etwas für uns empfinden, ist schon eine kleine Offenbarung. Mit anzusehen, wie Jahr für Jahr aufs Neue junge Menschen getötet werden, bereitet ihnen anscheinend keinerlei Problem. Aber über die Sieger und besonders über die, die seit ewigen Zeiten Berühmtheiten sind, wissen sie vielleicht zu viel, um zu vergessen, dass wir auch Menschen sind. Plötzlich müssen sie selbst den eigenen Freunden beim Sterben zusehen. Als hätten sich die Distrikte die Spiele ausgedacht!

Als Cinna sich blicken lässt, bin ich vom vielen Trösten gereizt und erschöpft, vor allem, weil das ständige Geheule mich an die Tränen erinnert, die zweifellos zu Hause um uns vergossen werden. Wie ich so in meinem dünnen Gewand dastehe und auf der Haut und im Herzen die Stiche spüre, wird mir bewusst, dass ich noch so einen mideidvollen Blick nicht ertrage. Deshalb blaffe ich Cinna, als er durch die Tür kommt, sofort an: »Wenn du jetzt auch noch weinst, bringe ich dich auf der Stelle um, das schwöre ich.«

Cinna lächelt nur. »War’s feucht heute Vormittag, oder was?«

»Du könntest mich auswringen«, erwidere ich.

Cinna legt mir den Arm um die Schultern und führt mich an den Mittagstisch. »Keine Bange. Ich lasse meine Gefühle nur in meine Arbeit einfließen. Auf diese Weise tue ich niemandem weh außer mir selbst.«

»Ich steh das nicht noch mal durch«, warne ich ihn.

»Ich weiß. Ich werde mit ihnen reden«, sagt Cinna.

Das Mittagessen tut mir gut. Fasan in juwelenfarbenem Aspik, Miniaturausgaben echter Gemüse, in Butter geschwenkt, sowie Kartoffelbrei mit Petersilie. Zum Nachtisch tunken wir Obststücke in einen Topf mit flüssiger Schokolade. Ich löffele das Zeug pur in mich hinein, sodass Cinna einen zweiten Topf bestellen muss.

»Und was werden wir bei der Eröffnungsfeier tragen?«, frage ich schließlich, während ich den zweiten Topf auskratze. »Stirnlampen oder Feuer?« Ich weiß, dass Peeta und ich während der Wagenparade irgendetwas an uns haben müssen, das mit Kohle zu tun hat.

»Etwas in der Art«, sagt Cinna.

Als es Zeit ist, die Kostüme für die Eröffnungsfeier anzulegen, erscheint mein Vorbereitungsteam wieder, doch Cinna schickt sie fort mit der Bemerkung, sie hätten ihren Job am Vormittag so fantastisch erledigt, dass nichts mehr zu tun sei. Dankbar ziehen sie sich zurück, um sich zu erholen, und überlassen mich Cinnas Händen. Als Erstes steckt er mein Haar in Zöpfen hoch, wie meine Mutter es gezeigt hat, dann widmet er sich meinem Make-up. Letztes Jahr hat er nur sehr wenig benutzt, damit das Publikum mich in der Arena wiedererkennt. Doch jetzt wirkt mein Gesicht mit den dramatischen Highlights und dunklen Schatten ganz fremd. Stark gewölbte Augenbrauen, markante Wangenknochen, glühende Augen, tiefviolette Lippen. Mein Outfit macht auf den ersten Blick nicht viel her, ein maßgeschneiderter schwarzer Overall, der mich vom Hals abwärts umschließt, mehr nicht. Cinna setzt mir eine halbe Krone auf den Kopf, die so aussieht wie die Krone, die ich als Siegerin aufgesetzt bekommen habe, nur dass diese hier nicht aus Gold ist, sondern aus schwerem schwarzem Metall. Dann dimmt er das Licht im Raum zu einem Halbdunkel und drückt auf einen Knopf im Stoff unten am Ärmel. Ich schaue nach unten und sehe fasziniert, wie mein Kostüm langsam zum Leben erwacht, ein sanftes goldenes Licht, das sich nach und nach in das Orangerot eines Kohlenfeuers verwandelt. Ich sehe aus, als wäre ich in glühende Kohle gekleidet - nein, ich bin ein Stück glühende Kohle aus dem Kamin. Die Farben werden heller und dunkler, wechseln und verschmelzen, wie bei Kohle.

»Wie hast du das denn hingekriegt?«, frage ich staunend.

»Portia und ich haben viele Stunden ins Feuer geguckt«, sagt Cinna. »Jetzt kannst du dich anschauen.«

Er dreht mich zu einem Spiegel hin, damit ich die Wirkung im Ganzen erkennen kann. Was ich sehe, ist kein Mädchen und auch keine Frau, sondern eine überirdische Erscheinung, die aussieht, als wäre sie in dem Vulkan zu Hause, der bei Haymitchs Jubiläumsspielen so viele Tribute vernichtet hat. Die schwarze Krone, die nun glühend rot ist, wirft seltsame Schatten auf mein dramatisch geschminktes Gesicht. Katniss, das Mädchen, das in Flammen stand, hat Feuerzungen, juwelenverzierte Umhänge und sanfte Kerzenlichtkleider abgelegt. Sie ist so gefährlich wie das Feuer selbst.

»Ich glaube … genau das habe ich gebraucht, um den anderen gegenüberzutreten«, sage ich.

»Ja, ich finde, die Zeit der roten Lippenstifte und Haarbänder liegt hinter dir«, sagt Cinna. Er berührt den Knopf an meinem Ärmel noch einmal und löscht das Licht. »Damit die Batterie nicht zu sehr strapaziert wird. Wenn du diesmal auf dem Wagen stehst, dann kein Winken, kein Lächeln. Ich möchte, dass du nur geradeaus schaust, als würdest du all die Zuschauer gar nicht wahrnehmen.«

»Endlich mal etwas, was ich gut kann«, sage ich.

Cinna muss sich noch um Verschiedenes kümmern, deshalb beschließe ich, ins Erdgeschoss des Erneuerungsstudios hinunterzufahren, wo die Tribute und ihre Wagen in einer riesigen Halle daraufwarten, dass die Eröffnungsfeier beginnt. Ich hatte gehofft, dort Peeta und Haymitch zu treffen, aber sie sind noch nicht da. Anders als letztes Jahr, als die Tribute praktisch an ihren Wagen klebten und keinen Kontakt suchten, geht es diesmal regelrecht gesellig zu. Die Sieger, also die Jubiläumstribute und ihre Mentoren, stehen in Grüppchen zusammen und unterhalten sich. Natürlich, sie kennen sich ja alle, nur ich kenne niemanden, aber ich bin sowieso nicht der Typ, der herumgeht und sich vorstellt. Deshalb tätschele ich nur einem meiner Pferde den Rücken und versuche, nicht aufzufallen.

Klappt aber nicht.

Ich höre ein krachendes Kauen, noch ehe ich merke, dass er neben mir steht: Ich drehe den Kopf und da sind die berühmten meergrünen Augen von Finnick Odair nur wenige Zentimeter von meinen entfernt. Er wirft sich noch einen Zuckerwürfel in den Mund und lehnt sich gegen mein Pferd.

»Hallo, Katniss«, sagt er, als würden wir uns seit Jahren kennen. Dabei sind wir uns noch nie begegnet.

»Hallo, Finnick«, sage ich beiläufig, obwohl mir in seiner Nähe unwohl ist, besonders weil er so viel nackte Haut zeigt.

»Möchtest du einen?«, fragt er und hält mir die Hand hin, auf der ein ganzer Berg Zuckerwürfel liegt. »Sind eigentlich für die Pferde, aber was soll’s? Sie haben noch viele Jahre Zeit, Zucker zu essen, während du und ich … na, wir zwei sollten ja wohl besser zugreifen, wenn wir was Süßes sehen.«

Finnick Odair ist eine Art lebende Legende in Panem. Mit vierzehn hat er die fünfundsechzigsten Hungerspiele gewonnen, und deshalb ist er immer noch einer der jüngsten Sieger überhaupt. Er stammt aus Distrikt 4 und war ein Karrieretribut, weshalb die Chancen sowieso gut für ihn standen. Aber was kein Trainer für sich verbuchen konnte, war Finnicks außergewöhnliche Schönheit. Groß gewachsen, athletisch, mit goldener Haut und bronzefarbenem Haar und diesen unglaublichen Augen. Während andere Tribute dieses Jahrgangs von den Sponsoren kaum mal eine Handvoll Getreide oder Streichhölzer geschenkt bekamen, mangelte es Finnick weder an Essen noch an Medikamenten oder Waffen. Als seine Konkurrenten nach einer Woche endlich begriffen hatten, dass sie vor allem ihn töten mussten, war es schon zu spät. Mit den Speeren und Messern, die er im Füllhorn gefunden hatte, konnte er schon geschickt umgehen. Aber als er einen silbernen Fallschirm mit einem Dreizack bekam - wohl das teuerste Geschenk, das ich je gesehen habe -, war die Sache gelaufen. Distrikt 4 lebt für die Fischerei. Sein ganzes Leben hat Finnick auf Booten verbracht. Der Dreizack war eine natürliche, tödliche Verlängerung seines Arms. Aus Lianen knüpfte er ein Netz, wickelte seine Gegner darin ein und durchbohrte sie mit dem Dreizack. Innerhalb weniger Tage hatte er die Krone errungen.

Seitdem waren die Bewohner des Kapitols ihm verfallen.

Aufgrund seiner Jugend durften sie ihn in den ersten ein, zwei Jahren nicht anrühren. Aber seit er sechzehn ist, wird er während seiner alljährlichen Aufenthalte im Rahmen der Hungerspiele von glühenden Verehrerinnen geradezu belagert. Keiner schenkt er seine Gunst lange. Manchmal hat er in einem Jahr vier oder fünf Liebschaften nacheinander. Ob alt oder jung, hübsch oder hässlich, reich oder megareich - er leistet ihnen Gesellschaft und nimmt ihre extravaganten Geschenke an, aber er bleibt nie, und wenn er einmal fort ist, kommt er nie zurück.

Ich kann nicht bestreiten, dass Finnick einer der umwerfendsten und sinnlichsten Menschen auf unserem Planeten ist. Und doch ist es die Wahrheit, wenn ich sage, dass ich ihn nie anziehend fand. Vielleicht, weil er zu hübsch ist, vielleicht auch, weil er zu leicht zu haben ist - oder zu leicht zu verlieren.

»Nein danke«, sage ich zu dem angebotenen Zucker. »Aber dein Outfit würd ich mir gern irgendwann mal ausleihen.«

Er ist nur in ein goldenes Netz gehüllt, das geschickt in der Leiste zusammengeknotet ist, sodass man ihn streng genommen nicht als nackt bezeichnen kann. Viel nackter könnte er aber nicht sein. Sein Stylist hält es offenbar für vorteilhaft, wenn das Publikum so viel wie möglich von Finnick zu sehen bekommt.

»In dieser Aufmachung jagst du mir echt Angst ein. Was ist aus den hübschen Kleinmädchen-Kleidern geworden?«, fragt er. Er benetzt mit der Zunge leicht die Lippen. Wahrscheinlich macht das die meisten Leute völlig verrückt. Aber aus irgendeinem Grund muss ich an den alten Cray denken, der über einer armen, hungernden jungen Frau geifert.

»Bin rausgewachsen«, sage ich.

Finnick fasst an den Kragen meines Overalls und reibt den Stoff zwischen den Fingern. »Zu dumm, diese Sache mit dem Jubiläum. Du hättest im Kapitol wie die Made im Speck leben können. Schmuck, Geld, alles, was du willst.«

»Ich mag keinen Schmuck, und Geld habe ich mehr, als ich ausgeben kann. Wofür gibst du deins denn so aus, Finnick?«, frage ich ihn.

»Och, mit so gewöhnlichen Dingen wie Geld habe ich seit einer Ewigkeit nichts mehr am Hut«, antwortet er.

»Und womit lässt du dir dann das Vergnügen deiner Gesellschaft vergüten?«, frage ich.

»Mit Geheimnissen«, sagt er sanft. Er neigt den Kopf nach vorn, sodass sich unsere Lippen fast berühren. »Was ist eigentlich mit dir, Mädchen in Flammen? Hast du irgendwelche Geheimnisse, die meine Zeit wert wären?«

Aus irgendeinem albernen Grund werde ich rot, aber ich zwinge mich, nicht zurückzuweichen. »Nein, ich bin ein offenes Buch«, flüstere ich zurück. »Anscheinend glaubt jeder, meine Geheimnisse zu kennen, bevor ich selbst sie kenne.«

Er lächelt. »So leid es mir tut - aber ich glaube, das stimmt.« Sein Blick zuckt zur Seite. »Da kommt Peeta. Schade, dass ihr eure Hochzeit abblasen müsst. Ich weiß, wie niederschmetternd das für dich sein muss.« Er wirft sich noch einen Zuckerwürfel in den Mund und schlendert davon.

Peeta stellt sich neben mich, er ist genauso gekleidet wie ich. »Was wollte der denn?«, fragt er.

Ich drehe mich um, bringe meine Lippen ganz nah an Peetas und senke die Lider genau wie Finnick. »Er hat mir Zucker angeboten und wollte alle meine Geheimnisse erfahren«, sage ich, so verführerisch ich kann.

Peeta lacht. »Igitt. Das gibt’s doch nicht.«

»Oh doch«, antworte ich. »Den Rest erzähl ich dir, wenn die Gänsehaut weg ist.«

»Meinst du, wenn nur einer von uns beiden gewonnen hätte, wären wir auch so geendet?«, fragt er und wirft einen Blick auf die anderen Sieger. »Als Teil dieser Freakshowr?«

»Na klar. Vor allem du«, sage ich.

»Ach, und warum vor allem ich?«, fragt er und lächelt.

»Weil du eine Schwäche für die schönen Dinge hast und ich nicht«, sage ich mit einem Anflug von Überlegenheit. »Wenn sie dich mit der Lebensart des Kapitols locken würden, wärst du vollkommen verloren.«

»Einen Sinn für Schönheit zu haben, ist doch keine Schwäche«, sagt Peeta. »Außer vielleicht, was dich betrifft.« Die Musik beginnt, die großen Tore öffnen sich für den ersten Wagen, die Menge tobt. »Wollen wir?« Er reicht mir die Hand und hilft mir auf den Wagen.

Ich klettere hinauf und ziehe ihn nach. »Halt still«, sage ich und richte seine Krone. »Hast du deinen Overall in eingeschaltetem Zustand gesehen? Wir werden wieder fantastisch aussehen.«

»Und ob. Portia sagt, wir sollen diesmal über allem stehen. Kein Winken oder so was«, sagt er. »Wo stecken die beiden eigentlich?«

»Ich weiß nicht.« Ich suche die Prozession der Wagen ab. »Vielleicht sollten wir uns lieber selbst einschalten.« Das tun wir, und sobald wir aufleuchten, deuten die anderen auf uns und fangen an zu tuscheln. Ich weiß, dass wir auch diesmal das Gesprächsthema Nummer eins der Eröffnungsfeier sein werden. Wir sind fast am Tor. Ich recke den Hals, doch weder Portia noch Cinna, die voriges Jahr bis zur letzten Sekunde bei uns waren, sind irgendwo zu sehen. »Sollen wir dieses Jahr auch Händchen halten?«, frage ich.

»Ich glaube, das wollen sie uns überlassen«, sagt Peeta.

Ich schaue in diese blauen Augen, die kein noch so dramatisches Make-up gefährlich erscheinen lassen kann, und denke daran, dass ich noch vor einem Jahr bereit war, ihn zu töten. Weil ich überzeugt war, dass er versuchen würde, mich zu töten. Nun ist es genau umgekehrt. Ich bin entschlossen, ihn zu retten, und ich weiß, dass es mich mein eigenes Leben kosten wird, aber der Teil von mir, der nicht so tapfer ist, wie ich es gern hätte, ist froh, dass jetzt Peeta neben mir steht und nicht Haymitch. Ohne weitere Diskussion finden sich unsere Hände. Keine Frage, wir werden uns dieser Sache gemeinsam stellen.

Als wir in die Abenddämmerung hinausrollen, bricht die Menge in Geschrei aus, aber keiner von uns beiden reagiert. Ich starre einfach auf einen Punkt in der Ferne und tue so, als gäbe es keine Zuschauer, keine Hysterie. Unwillkürlich fällt mein Blick auf die riesigen Bildschirme entlang der Strecke und ich erhasche ein paar Bilder von uns: Wir sind nicht nur schön, wir sind düster, mächtig. Mehr noch. Das tragische Liebespaar aus Distrikt 12, das so viel gelitten hat und die Früchte des Sieges so wenig hat auskosten dürfen, sucht nicht nach der Gunst der Fans, schenkt ihnen kein Lächeln, fängt nicht ihre Küsse auf. Wir sind unversöhnlich.

Und ich genieße es. Endlich mal ich selbst sein.

Als wir in den Kreisverkehr des Zentralen Platzes einbiegen, stelle ich fest, dass ein paar von den anderen Stylisten Cinnas und Portias Idee geklaut und ihre Tribute beleuchtet haben. Die mit kleinen elektrischen Lämpchen übersäten Outfits aus Distrikt 3, wo Elektronik hergestellt wird, haben ja noch einen gewissen Sinn. Aber die Viehhüter aus Distrikt 10, die angezogen sind wie Kühe mit brennenden Gurten um den Bauch? Wollen die sich selbst grillen? Lächerlich.

Peeta und ich dagegen in unserem sich dauernd verändernden Kohle-Kostüm wirken so hypnotisierend, dass die meisten anderen Tribute uns nur anstarren. Besonders fasziniert ist offenbar das Paar aus Distrikt 6, von dem bekannt ist, dass sie Morfixer sind: beide klapperdürr und mit schlaffer gelblicher Haut. Sie können die übergroßen Augen gar nicht abwenden, selbst dann nicht, als Präsident Snow auf seinem Balkon zu reden beginnt und uns alle zum Jubel-Jubiläum willkommen heißt. Die Hymne erklingt, und während wir das letzte Stück fahren - irre ich mich? Oder starrt sogar der Präsident mich an?

Peeta und ich warten, bis die Tore des Trainingscenters sich wieder hinter uns geschlossen haben. Erst dann entspannen wir uns. Cinna und Portia erwarten uns, sie sind angetan von unserem Auftritt, und dieses Jahr ist sogar Haymitch erschienen, nur dass er nicht zu uns kommt, sondern am Wagen von Distrikt 11 steht. Ich sehe, wie er in unsere Richtung nickt, und dann kommen sie allesamt herüber, um uns zu begrüßen.

Chaff kenne ich vom Sehen, ich habe jahrelang im Fernsehen verfolgt, wie er sich mit Haymitch die Flasche teilt. Er ist dunkelhäutig, gut eins achtzig groß, und einer seiner Arme endet in einem Stumpf, weil er die dazugehörige Hand in den Hungerspielen verloren hat, die er vor dreißig Jahren gewann. Bestimmt hat man ihm künstlichen Ersatz angeboten wie Peeta, als dem der Unterschenkel amputiert werden musste, aber wie es aussieht, hat er abgelehnt.

Die Frau, Seeder, sieht mit ihrer olivfarbenen Haut und dem glatten schwarzen Haar mit den silbernen Strähnen fast aus, als stammte sie aus dem Saum. Nur ihre goldbraunen Augen verraten den fremden Distrikt. Sie dürfte um die sechzig sein, aber sie sieht immer noch stark aus, und nichts deutet darauf hin, dass sie sich über die Jahre in Alkohol oder Morfix oder sonst eine chemische Substanz geflüchtet hätte. Bevor einer von uns etwas sagen kann, umarmt sie mich. Wegen Rue und Thresh, denke ich. Ich kann mich nicht bremsen und flüstere: »Und was ist mit den Familien?«

»Sie leben«, erwidert sie sanft und lässt mich los.

Chaff schlingt seinen gesunden Arm um mich und drückt mir einen Schmatz direkt auf den Mund. Erschrocken zucke ich zurück, während er und Haymitch schallend loslachen.

Mehr Zeit bleibt uns nicht, denn die Bediensteten des Kapitols scheuchen uns in Richtung Aufzüge. Ich habe den Eindruck, dass ihnen eine solche Verbrüderung unter den Siegern nicht recht ist, aber denen ist das vollkommen egal. Während ich mich, immer noch Hand in Hand mit Peeta, auf den Weg zu den Aufzügen mache, pirscht sich noch jemand an mich heran, eine junge Frau, die ihre Kopfbedeckung aus Blätterzweigen abzieht und achtlos hinter sich wirft.

Johanna Mason. Aus Distrikt 7. Holz und Papier, deshalb das Geäst. Sie hat ihre Spiele gewonnen, indem sie sich sehr überzeugend als schwach und hilflos darstellte, sodass die anderen sie weitgehend ignorierten. Aber dann bewies sie ein gemeines Talent zum Morden. Sie fährt sich durchs dornige Haar und verdreht die weit auseinanderstehenden braunen Augen. »Ist das nicht ein grässliches Kostüm? Ich habe die dämlichste Stylistin des Kapitols. Seit vierzig Jahren staffiert sie unsere Tribute als Bäume aus. Ich hätte auch mal gern so einen wie Cinna. Du siehst fantastisch aus.«

Mädchengeplapper. Was ich schon immer schlecht konnte. Meinungen äußern über Kleidung, Haare, Make-up. Also lüge ich. »Ja, er hat mir geholfen, meine eigene Kleiderkollektion zu entwerfen. Du müsstest mal sehen, was er aus Samt alles machen kann.« Samt. Der einzige Stoff, der mir auf die Schnelle eingefallen ist.

»Hab ich. Auf deiner Siegertour. Das Schulterfreie, das du in Distrikt 2 anhattest? Das Tiefblaue mit den Diamanten? Es war so umwerfend, dass ich am liebsten durch den Bildschirm gegriffen und es dir vom Leib gerissen hätte«, sagt Johanna.

Das glaube ich gern, denke ich. Und ein paar Zentimeter meines Fleisches gleich mit.

Während wir auf die Aufzüge warten, schält Johanna sich aus dem Rest ihres Baums, lässt ihn zu Boden fallen und kickt ihn angewidert weg. Bis auf ihre waldgrünen Slipper trägt sie jetzt keinen Fetzen mehr am Leib. »So ist’s besser.«

Wir fahren im selben Aufzug, und die ganze Fahrt bis in den siebten Stock plaudert sie mit Peeta über seine Gemälde, während das Licht seines noch immer glühenden Kostüms von ihren nackten Brüsten reflektiert wird. Als sie ausgestiegen ist, tue ich so, als wäre nichts, aber ich weiß, dass er grinst. Erst als sich die Tür hinter Chaff und Seeder schließt und wir allein sind, stoße ich seine Hand weg. Er prustet los.

»Was ist?«, fahre ich ihn an, als wir auf den Gang treten.

»Das ist deinetwegen, Katniss. Merkst du das nicht?«, sagt er.

»Was ist meinetwegen?«, frage ich zurück.

»Na, dass die sich alle so benehmen. Finnick mit seinen Zuckerwürfeln und Chaff, der dich küsst, und der Striptease von Johanna.« Er versucht, etwas ernsthafter zu klingen, aber es will ihm nicht gelingen. »Sie spielen mit dir, weil du so … du weißt schon.«

»Nein, weiß ich nicht«, sage ich. Ich habe wirklich keinen Schimmer, wovon er redet.

»Na, damals in der Arena, da wolltest du mich nicht mal nackt angucken, als ich schon halb tot war. Du bist so … rein«, sagt er schließlich.

»Bin ich nicht!«, entgegne ich. »Letztes Jahr habe ich dir doch jedes Mal, wenn eine Kamera in der Nähe war, die Kleider vom Leib gerissen!«

»Schon, aber … ich meine, für das Kapitol bist du rein«, sagt er beschwichtigend. »Für mich bist du genau richtig. Sie wollen dich nur ein bisschen aufziehen.«

»Nein, die wollen sich über mich lustig machen, genau wie du!«, rufe ich.

»Nein.« Peeta schüttelt den Kopf, aber er unterdrückt noch immer ein Lächeln. Ich bin drauf und dran, noch mal zu überdenken, wer von uns beiden lebend aus diesen Spielen rauskommen soll, als sich der andere Aufzug öffnet.

Haymitch und Effie gesellen sich zu uns und sehen irgendwie zufrieden aus. Plötzlich verhärtet sich Haymitchs Gesichtsausdruck.

Was habe ich jetzt schon wieder angestellt?, will ich gerade sagen, aber da merke ich, dass er über meine Schulter hinweg auf den Eingang zum Speisesaal starrt.

Effie guckt in die gleiche Richtung, doch sie strahlt, als sie sagt: »Offenbar bekommt ihr dieses Jahr zwei im Partnerlook.«

Ich drehe mich um und sehe das rothaarige Avoxmädchen, das mich letztes Jahr bis zum Beginn der Spiele bedient hat. Ich freue mich schon, hier eine Freundin zu haben, als mir auffällt, dass der junge Mann neben ihr, auch ein Avox, ebenfalls rotes Haar hat. Das muss Effie mit Partnerlook gemeint haben.

Dann überläuft mich ein Schauer. Ihn kenne ich auch. Nicht aus dem Kapitol, sondern vom Hob, wo wir all die Jahre miteinander geplaudert und bei einer Suppe von Greasy Sae gescherzt haben, und von diesem letzten Tag, als er bewusstios auf dem Platz lag, während Gale zu verbluten drohte.

Unser neuer Avox ist Darius.

16

Haymitch packt mich am Handgelenk, als wollte er mich zurückhalten, aber ich bin so unfähig zu sprechen wie Darius. Haymitch hat mir mal erzählt, dass die Folterknechte des Kapitols irgendwas mit den Zungen der Avoxe anstellen, damit sie nie mehr sprechen können. In meinem Kopf höre ich Darius’ Stimme, wie sie hell und ausgelassen über den Hob schallt und mich aufzieht. Aber nicht so, wie die anderen Sieger mich jetzt hänseln, denn wir mochten uns wirklich. Wenn Gale ihn sehen könnte …

Jede Bewegung auf Darius zu, jede Geste des Erkennens würde ihm unweigerlich eine Bestrafung einbringen, das weiß ich. Und so starren wir einander nur an. Darius, der jetzt ein stummer Sklave ist; ich, die dem Tod entgegengeht. Was sollten wir uns auch sagen? Dass es uns um das Schicksal des anderen leidtut? Dass wir mit dem anderen leiden? Dass wir froh sind, dass wir uns kennenlernen durften?

Nein, Darius hat keinen Grund, froh darüber zu sein, dass er mich kennengelernt hat. Wäre ich damals da gewesen und hätte Thread gestoppt, wäre er nicht vorgetreten, um Gale zu retten. Dann wäre er jetzt kein Avox. Wäre er jetzt nicht mein Avox, um genau zu sein, denn Präsident Snow hat ihn zweifellos zu meinem ganz persönlichen Wohlbefinden hierher beordert. Ich winde mein Handgelenk aus Haymitchs Griff, stapfe zu meinem alten Schlafzimmer und schließe die Tür hinter mir ab. Ich setze mich auf die Bettkante, die Ellbogen auf den Knien, die Stirn auf den Fäusten, betrachte meinen in der Dunkelheit glühenden Overall und stelle mir vor, ich säße in meinem alten Zuhause in Distrikt 12, zusammengekauert neben dem Kamin. Die Batterie wird schwächer und langsam wird der Lichtschein von Schwarz überlagert.

Als irgendwann Effie an die Tür klopft, um mich zum Abendessen zu rufen, stehe ich auf und ziehe meinen Anzug aus, falte ihn ordentlich und lege ihn zusammen mit der Krone auf den Tisch. Im Bad wasche ich mir die dunklen Make-up-Streifen aus dem Gesicht. Ich ziehe ein einfaches T-Shirt und eine Hose an und gehe hinunter in den Flur zum Speisesaal.

Während des Essens bekomme ich nicht viel mit, außer dass Darius und das rothaarige Avoxmädchen uns bedienen. Effie, Haymitch, Cinna, Portia und Peeta sind da und unterhalten sich, vermutlich über die Eröffnungsfeier. Doch wirklich anwesend bin ich eigentlich nur ein einziges Mal, als ich absichdich eine Schüssel mit Erbsen zu Boden fallen lasse und mich, bevor jemand eingreifen kann, bücke, um sie aufzulesen. Darius hockt sich neben mich, ich schiebe die Schüssel zu ihm hin, und für kurze Zeit arbeiten wir Seite an Seite, für niemanden sichtbar, und sammeln die Erbsen ein. Einen kurzen Augenblick lang berühren sich unsere Hände. Unter der butterigen Soße der Erbsen spüre ich seine raue Haut. In der kurzen, verzweifelten Verschränkung unserer Finger drücken wir all die Worte aus, die wir uns niemals werden sagen können. Dann gackert Effie hinter mir: »Das ist nicht deine Aufgabe, Katniss!«, und er lässt los.

Als wir hinübergehen, um uns die Aufzeichnung der Eröffnungsfeier anzusehen, zwänge ich mich zwischen Haymitch und Cinna aufs Sofa, ich will nicht neben Peeta sitzen. Das schreckliche Erlebnis mit Darius gehört zu mir und Gale, vielleicht noch zu Haymitch, aber nicht zu Peeta. Vielleicht kannte er Darius vom flüchtigen Grüßen, aber Peeta gehörte nicht auf den Hob wie wir. Abgesehen davon bin ich immer noch sauer auf ihn, weil er mich zusammen mit den anderen Siegern ausgelacht hat, und Mitgefühl und Trost von ihm ist das Letzte, was ich jetzt möchte. Ich will ihn in der Arena retten, das ja, aber mehr bin ich ihm nicht schuldig.

Es ist ja in normalen Jahren schon schlimm, dass sie uns in Kostüme stecken und auf Wagen durch die Straßen ziehen lassen, überlege ich, während ich mir die Prozession um den Zentralen Platz anschaue. Jugendliche in Kostümen sind schon lächerlich, aber alternde Sieger sind, wie man sieht, einfach nur bemitleidenswert. Ein paar Jüngere wie Johanna und Finnick oder solche, deren Körper noch nicht vom Verfall gezeichnet sind, wie Seeder und Brutus, können immerhin ein wenig Würde wahren. Aber die, die Opfer von Alkohol, Morfix oder Krankheit sind, und das sind die meisten, sehen in ihren Kostümen, die Kühe oder Bäume oder Brotlaibe darstellen, einfach grotesk aus. Letztes Jahr haben wir uns über jeden Konkurrenten ausführlich unterhalten, aber heute fällt nur hier und da mal ein Kommentar. Kein Wunder, dass die Menge durchdreht, als Peeta und ich erscheinen, denn in unseren fantastischen Kostümen sehen wir wahnsinnig jung und stark und schön aus. Genau so, wie Tribute aussehen sollen.

Sobald die Sendung vorüber ist, stehe ich auf, danke Cinna und Portia für ihre tolle Arbeit und gehe schlafen. Effie erinnert noch daran, dass wir uns zeitig zum Frühstück treffen wollen, um unsere Trainingsstrategie zu besprechen, aber selbst ihre Stimme klingt hohl. Arme Effie. Mit Peeta und mir hatte sie endlich mal ein anständiges Jahr bei den Spielen, und jetzt ist alles so durcheinandergeraten, dass selbst sie das Ganze nicht ins Positive drehen kann. Und das, nehme ich an, ist für Leute aus dem Kapitol eine echte Tragödie.

Gleich nachdem ich mich hingelegt habe, klopft es leise an meine Tür, aber ich ignoriere es. Ich möchte Peeta heute Nacht nicht bei mir haben. Schon gar nicht, wenn Darius in der Nähe ist. Das ist fast so schlimm, als ob Gale hier wäre. Gale. Wie könnte ich ihn loslassen, während Darius durch die Flure spukt?

In meinen Albträumen sind diesmal Zungen die Hauptdarsteller. Erst schaue ich starr und hilflos zu, wie behandschuhte Hände die blutige Amputation in Darius’ Mund ausführen. Dann bin ich auf einer Party, wo alle Masken tragen und jemand mit einer zuckenden nassen Zunge - Finnick, nehme ich an - mir nachstellt, doch als er mich fängt und seine Maske abzieht, ist es Präsident Snow, und von seinen Wulstlippen tropft blutiger Speichel. Schließlich bin ich wieder in der Arena, meine Zunge ist so trocken wie Sandpapier, während ich versuche, einen Wassertümpel zu erreichen, der jedes Mal, wenn ich ihn berühren will, zurückweicht.

Ich wache auf, taumele ins Bad, trinke Wasser aus dem Hahn, bis ich nicht mehr kann. Ich streife die verschwitzten Kleider ab, lasse mich nackt zurück ins Bett fallen und schlafe irgendwie wieder ein.

Am nächsten Morgen trödele ich so gut es geht, denn ich habe nicht die geringste Lust, unsere Trainingsstrategie zu besprechen. Was gibt es da zu besprechen? Jeder Sieger weiß doch bereits, was die anderen draufhaben. Oder mal draufgehabt haben. Peeta und ich werden weiter die Verliebten spielen, mehr nicht. Irgendwie ist mir nicht danach, darüber zu reden, besonders wenn Darius stumm dabeisteht. Ich dusche ausgiebig, ziehe gemächlich die Sachen an, die Cinna mir fürs Training bereitgelegt hat, und bestelle über eine Sprechanlage von der Speisekarte Essen aufs Zimmer. Kurz darauf erscheinen Würstchen, Eier, Bratkartoffeln, Brot, Saft und heiße Schokolade. Ich esse mich satt und versuche das Ganze bis zehn Uhr in die Länge zu ziehen, wenn wir hinunter ins Trainingscenter müssen. Um halb zehn wummert ein offenbar stinksaurer Haymitch gegen die Tür und befiehlt mir, in den Speisesaal zu kommen, und zwar SOFORT! Aber ich putze mir erst noch gemächlich die Zähne, bevor ich mich aufmache, den Flur hinunterzuschlendern, womit ich weitere fünf Minuten schinde.

Der Speisesaal ist leer bis auf Peeta und Haymitch, dessen Gesicht von Alkohol und Ärger gerötet ist. Am Arm trägt er einen massiv goldenen Armreif mit Flammenmuster, den er unglücklich dreht - das muss sein Beitrag zu Effies Partnerlook-Plan sein. Ein wirklich hübscher Armreif, aber die Bewegung lässt ihn so aussehen wie etwas, das einengt, eher eine Fessel als ein Schmuckstück. »Du kommst zu spät«, schnauzt Haymitch mich an.

»Tut mir leid. Ich hab verschlafen, nachdem ich die halbe Nacht von verstümmelten Zungen geträumt habe.« Ich möchte feindselig klingen, doch am Ende des Satzes stockt meine Stimme.

Haymitch wirft mir einen finsteren Blick zu, dann lenkt er ein. »Okay, macht nichts. Heute beim Training hast du zwei Aufgaben. Nummer eins: verliebt sein.«

»Natürlich«, sage ich.

»Nummer zwei: Freundschaften schließen«, fährt Haymitch fort.

»Nein«, sage ich. »Ich traue keinem von denen, die meisten kann ich nicht ausstehen. Ich würde mich lieber nur auf uns beide verlassen.«

»Das habe ich auch erst gesagt, aber …«, hebt Peeta an.

»Aber das wird nicht reichen«, sagt Haymitch mit Nachdruck. »Diesmal werdet ihr mehr Verbündete brauchen.«

»Warum?«, frage ich.

»Weil ihr im Nachteil seid. Eure Konkurrenten kennen einander seit Jahren. Was glaubst du also, wen werden sie als Erste ins Visier nehmen?«, fragt er.

»Uns. Und gegen alte Freundschaften kommen wir sowieso nicht an«, sage ich. »Warum also einen Gedanken darauf verschwenden?«

»Weil ihr kämpfen könnt. Die Leute mögen euch. Das könnte euch durchaus zu erstrebenswerten Verbündeten machen. Aber nur, wenn ihr den anderen zeigt, dass ihr bereit seid, euch mit ihnen zusammenzutun«, sagt Haymitch.

»Wir sollen dieses Jahr also mit der Meute der Karrieros gemeinsame Sache machen?«, frage ich und kann meinen Widerwillen nicht verhehlen. Traditionell schließen sich die Tribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 zusammen, nehmen manchmal noch ein paar herausragende Kämpfer von den anderen in ihren Kreis auf und machen Jagd auf die Schwächeren.

»War das nicht unsere Strategie? Zu trainieren wie die Karrieros?«, entgegnet Haymitch. »Und wer zur Meute der Karrieros gehört, das wird normalerweise schon vor Beginn der Spiele ausgemacht. Letztes Jahr hat Peeta es nur mit Ach und Krach noch geschafft, aufgenommen zu werden.«

Ich erinnere mich gut, welchen Abscheu ich bei den letzten Spielen empfand, als ich mitbekam, dass Peeta mit den Karrieros gemeinsame Sache machte. »Wir sollen uns also mit Finnick und Brutus gut stellen - willst du das sagen?«

»Nicht unbedingt. Alle dort sind Sieger. Wenn ihr es für richtig haltet, könnt ihr auch eure eigene Meute zusammenstellen. Nehmt, wen ihr wollt. Ich schlage Chaff und Seeder vor. Und Finnick sollte man auch nicht außer Acht lassen«, sagt Haymitch. »Tut euch mit denen zusammen, die euch nützlich sein können. Vergesst nicht, ihr seid nicht mehr Teil einer bibbernden Kinderschar. Diese Leute sind allesamt erfahrene Killer, auch wenn sie nicht so aussehen.«

Möglicherweise hat er recht. Nur, wem könnte ich trauen? Seeder vielleicht. Aber möchte ich mit ihr wirklich einen Pakt schließen, nur um sie später womöglich töten zu müssen? Nein. Obwohl, mit Rue habe ich mich damals unter den gleichen Umständen auch verbündet. Ich sage Haymitch, dass ich es versuchen werde, doch insgeheim denke ich, dass ich dabei ziemlich schlecht aussehen werde.

Effie erscheint ein bisschen früher, um uns nach unten zu bringen, denn im vergangenen Jahr waren wir die Letzten, obwohl wir pünktlich kamen. Aber Haymitch möchte nicht, dass sie mit uns hinunter in die Turnhalle fährt. Keiner der anderen Sieger wird in Begleitung eines Babysitters erscheinen, und da wir die Jüngsten sind, ist es umso wichtiger, selbstsicher aufzutreten. So muss sie sich damit zufriedengeben, uns zum Aufzug zu begleiten und den Knopf zu drücken, während sie sich über unsere Frisuren aufregt.

Die Fahrt ist so kurz, dass keine Zeit für eine Unterhaltung bleibt, doch als Peeta meine Hand nimmt, ziehe ich sie nicht weg. Gestern Nacht habe ich ihn zurückgewiesen, aber beim Training müssen wir als Einheit auftreten.

Effie hätte sich gar keine Sorgen machen müssen, dass wir zu spät kommen. Nur Brutus und Enobaria, die Frau aus Distrikt 2, sind da. Enobaria ist um die dreißig, und ich weiß über sie nur noch, dass sie in einem Handgemenge einen Tribut getötet hat, indem sie ihm mit den Zähnen die Kehle aufgerissen hat. Dadurch wurde sie so berühmt, dass sie sich nach ihrem Sieg die Zähne neu machen ließ. Sie laufen jetzt alle spitz zu wie Reißzähne und haben ein Goldinlay. Über fehlende Bewunderer im Kapitol kann Enobaria sich nicht beklagen.

Um zehn Uhr ist erst etwa die Hälfte der Tribute da. Atala, die das Training leitet, lässt sich davon nicht beeindrucken und beginnt pünktlich mit ihrer Ansprache. Vielleicht hatte sie schon damit gerechnet, dass viele nicht auftauchen würden. Ich bin irgendwie erleichtert, denn das bedeutet, dass ein Dutzend weniger Leute da ist, denen ich Freundschaft vorheucheln muss. Atala geht die einzelnen Stationen mit den Kampf-und Überlebenstechniken durch und entlässt uns ins Training.

Ich schlage Peeta vor, dass wir uns aufteilen, um auf breiterer Front vorzugehen. Er gesellt sich zu Brutus und Chaff, gemeinsam schleudern sie Speere, während ich zur Knotenstation gehe.

Kaum jemand macht sich je die Mühe, dort vorbeizuschauen. Ich mag den Trainer, und er ist beglückt, mich zu sehen, vielleicht weil ich letztes Jahr schon bei ihm war. Er freut sich, als ich ihm zeige, dass ich immer noch die Falle beherrsche, durch die der gefangene Feind an einem Bein von einem Baum baumelt. Bestimmt hat er mitbekommen, welche Fallen ich letztes Jahr in der Arena gestellt habe, und sieht in mir nun eine fortgeschrittene Schülerin. Deshalb bitte ich ihn, alle Knoten zu wiederholen, die nützlich sein könnten, sowie ein paar, die ich wahrscheinlich nie anwenden werde. Ich wäre froh, wenn ich den Vormittag mit ihm allein verbringen könnte, aber nach anderthalb Stunden legt mir jemand von hinten die Arme um und vollendet mit seinen Fingern mühelos den komplizierten Knoten, mit dem ich mich gerade abgemüht habe. Finnick natürlich, der in seiner Kindheit offenbar nichts anderes getan hat, als Dreizacke zu schwingen und Schnüre auf raffinierte Weise zu Netzen zu verknoten. Eine Weile schaue ich zu, wie er ein Tauende nimmt, eine Schlinge macht und dann mir zu Gefallen so tut, als würde er sich erhängen.

Ich verdrehe die Augen und gehe weiter zur nächsten leeren Station, wo die Tribute lernen können, wie man Feuer macht. Ich kann schon hervorragend Feuer machen, aber nicht ohne Streichhölzer. Deshalb lässt mich der Trainer mit Feuerstein, Stahl und verkohlten Lumpen üben. Das ist viel schwerer, als es aussieht, und obwohl ich so konzentriert wie möglich arbeite, brauche ich eine Stunde, bis ich ein Feuer in Gang habe. Als ich mit triumphierendem Lächeln aufschaue, stelle ich fest, dass ich Gesellschaft bekommen habe.

Die beiden Tribute aus Distrikt 3 stehen neben mir, mühen sich mit Streichhölzern ab und entfachen doch nur ein bescheidenes Feuerchen. Am liebsten würde ich weitergehen, aber erstens möchte ich zu gern noch mal den Feuerstein ausprobieren, und außerdem muss ich Haymitch nachher ja berichten können, dass ich versucht habe, mich anzufreunden, und die zwei scheinen erträglich zu sein. Beide sind klein, haben aschgraue Haut und schwarzes Haar. Wiress, die Frau, ist etwa so alt wie meine Mutter, sie spricht mit ruhiger, intelligenter Stimme. Aber mir fällt sofort auf, dass sie oft mitten im Satz abbricht, als ob sie die Anwesenheit ihres Gegenübers völlig vergessen hätte. Beetee, der Mann, ist älter und ein unruhiger Typ. Er trägt eine Brille, guckt aber die ganze Zeit drunter durch. Die beiden sind irgendwie schräg, doch immerhin kann ich bei ihnen ziemlich sicher sein, dass sie mir die Peinlichkeit ersparen werden, sich nackt auszuziehen. Und außerdem sind sie aus Distrikt 3. Vielleicht können sie meine Vermutung bestätigen, dass es dort einen Aufstand gegeben hat.

Ich sehe mich im Trainingscenter um. Peeta steht inmitten einer lärmenden Runde von Messerwerfern. Die Morfixer aus Distrikt 6 befinden sich an der Tarnstation und bemalen einander die Gesichter mit hellrosa Kringeln. Der männliche Tribut aus Distrikt 5 ist bei den Schwertkämpfern und erbricht gerade einen Schwall Wein. Finnick und die alte Frau aus seinem Distrikt üben sich im Bogenschießen. Johanna Mason ist wieder nackt und reibt sich für die Ringerübung die Haut mit Öl ein. Ich beschließe zu bleiben, wo ich bin.

Wiress und Beetee entpuppen sich als unaufdringliche Zeitgenossen. Sie wirken freundlich, horchen mich aber nicht aus. Wir unterhalten uns über unsere Talente; sie erzählen, dass sie beide Erfinder sind, was mein vermeintliches Interesse an Mode ziemlich schwach erscheinen lässt. Wiress erwähnt irgendein Nähutensil, an dem sie gerade tüftelt.

»Es spürt selbstständig die Dicke des Stoffes und wählt danach die Stärke …«, sagt sie, doch bevor sie weitersprechen kann, wird sie von einem trockenen Grashalm abgelenkt.

»… die Stärke des Fadens«, führt Beetee die Erläuterung zu Ende. »Automatisch. Menschliches Versagen ausgeschlossen.« Dann spricht er über seinen jüngsten Erfolg, einen Musikchip, der so klein ist, dass er Platz in einer Glitzerpaillette hat und trotzdem mehrere Stunden Musik speichern kann. Ich erinnere mich, dass Octavia während der Hochzeitsaufnahmen davon gesprochen hat, und ich sehe eine Chance, auf den Aufstand anzuspielen.

»Oh ja. Mein Vorbereitungsteam war vor ein paar Monaten ganz sauer darüber, dass sie nicht mehr zu kriegen waren«, sage ich beiläufig. »Ich schätze, eine Menge Bestellungen aus Distrikt 3 mussten warten.«

Beetee mustert mich unter seiner Brille hindurch. »Allerdings. Hattet ihr in der Kohleförderung dieses Jahr auch solche Verzögerungen?«, fragt er.

»Nein. Wir haben nur ein paar Wochen verloren, als wir einen neuen Obersten Friedenswächter samt Mannschaft bekommen haben, aber nichts Gravierendes«, sage ich. »Was die Produktion betrifft, meine ich. Zwei Wochen zu Hause herumzusitzen und nichts zu tun, bedeutet für die meisten Leute allerdings, zwei Wochen zu hungern.«

Ich glaube, sie verstehen, was ich sagen will. Dass es bei uns keinen Aufstand gegeben hat. »Oh. Das ist aber schade«, sagt Wiress leicht enttäuscht. »Ich fand euren Distrikt sehr …« Sie verstummt, abgelenkt von irgendeinem Gedanken.

»… interessant«, ergänzt Beetee. »Fanden wir beide.«

Ich bin etwas betreten, denn ich weiß, dass ihr Distrikt viel mehr gelitten haben muss als unserer. Ich fühle mich genötigt, meine Leute in Schutz zu nehmen. »Wisst ihr, wir sind nicht viele in Distrikt 12«, sage ich. »Das kann man heutzutage ja nicht mehr an der Truppenstärke der Friedenswächter erkennen. Aber ich glaube, wir sind interessant genug.«

Als wir zur Schutzstation hinübergehen, bleibt Wiress stehen und sieht hoch zu den Tribünen, auf denen die Spielmacher herumschlendern, essen und trinken und manchmal auch zu uns herunterschauen. »Guck mal«, sagt sie und nickt sachte in ihre Richtung. Ich schaue auf und sehe Plutarch Heavensbee in seinem prächtigen purpurfarbenen Gewand mit dem Pelzkragen, das ihn als Obersten Spielmacher kennzeichnet. Er nagt an einem Truthahnbein.

Ich weiß zwar nicht, weshalb das der Erwähnung wert ist, aber ich sage trotzdem: »Ja, er ist dieses Jahr zum Obersten Spielmacher befördert worden.«

»Nein, nein. Da, an der Tischecke. Du kannst es gerade noch …«, sagt Wiress.

Beetee schielt unter seiner Brille hindurch. »… erkennen.«

Ratlos starre ich in die angegebene Richtung. Aber dann sehe ich es. An der Ecke des Tisches ist ein Fleck, der fast zu vibrieren scheint, etwa fünfzehn Quadratzentimeter groß. Als würde sich die Luft in winzigen sichtbaren Wellen kräuseln und dabei die scharfen Kanten des Holzes und das Weinglas verzerren, das jemand dort abgestellt hat.

»Ein Kraftfeld. Sie haben ein Kraftfeld zwischen den Spielmachern und uns installiert. Ich frage mich, weshalb«, sagt Beetee.

»Wegen mir wahrscheinlich«, gestehe ich. »Letztes Jahr habe ich während meiner Einzelstunde einen Pfeil auf sie abgeschossen.« Beetee und Wiress schauen mich neugierig an. »Sie haben mich provoziert. Haben denn alle Kraftfelder so einen Fleck?«

»Punkt«, sagt Wiress vage.

»Einen wunden Punkt gewissermaßen«, erklärt Beetee. »Im Idealfall wäre das Kraftfeld unsichtbar, nicht wahr?«

Ich würde gern noch mehr darüber erfahren, doch da werden wir zum Mittagessen gerufen. Ich suche Peeta, aber er hat sich einer Gruppe von ungefähr zehn Siegern angeschlossen, deshalb beschließe ich, mit Distrikt 3 zu essen. Vielleicht stößt Seeder ja noch dazu.

Als wir in den Speisesaal kommen, wird deutlich, dass ein paar aus Peetas Gruppe etwas anderes vorhaben. Sie schieben die kleinen Tische zu einer großen Tafel zusammen, sodass wir alle zusammen essen müssen. Jetzt bin ich aufgeschmissen. Schon in der Schule habe ich es immer vermieden, an einem voll besetzten Tisch zu essen. Wahrscheinlich hätte ich immer allein gesessen, wäre nicht Madge dazu übergegangen, sich zu mir zu setzen. Am liebsten hätte ich wohl mit Gale gegessen, aber er war zwei Klassen über mir und wir hatten unterschiedliche Pausenzeiten.

Ich nehme ein Tablett und gehe an den mit Essen beladenen Wagen entlang, die ringsum stehen. Beim Eintopf gesellt sich Peeta zu mir. »Wie läuft’s?«

»Gut. Prima. Die Sieger aus Distrikt 3 finde ich nett«, sage ich. »Wiress und Beetee.«

»Wirklich?«, fragt er. »Die anderen machen sich über sie lustig.«

»Wieso überrascht mich das nicht?«, sage ich. Ich erinnere mich daran, dass Peeta in der Schule immer mit einer Schar Freunde herumhing. Komisch, dass er mich überhaupt wahrgenommen hat außer als irgendwie merkwürdig.

»Johanna nennt sie nur Plus und Minus«, sagt er. »Ich glaube, Wiress ist Plus und Beetee ist Minus.«

»Aha, ich bin also blöd, weil ich glaube, dass sie nützlich sein können. Wegen irgendeines Spruchs, den Johanna Mason von sich gegeben hat, während sie ihre Brüste fürs Ringen eingeölt hat«, entgegne ich scharf.

»Ich glaube, ehrlich gesagt, diese Spitznamen tragen sie schon seit Jahren. Und ich hab’s nicht als Beleidigung gemeint. Ich gebe nur Informationen weiter«, sagt er.

»Wiress und Beetee sind schlau. Sie sind Erfinder. Sie erkennen mit bloßem Auge, dass zwischen uns und den Spielmachern ein Kraftfeld installiert wurde. Wenn wir schon Verbündete brauchen, dann möchte ich sie.« Ich werfe den Schöpflöffel zurück in den Topf und spritze uns beide mit Suppe voll.

»Wieso bist du so sauer?«, fragt Peeta, während er sich die Suppe vom T-Shirt wischt. »Weil ich dich im Aufzug geneckt habe? Das tut mir leid. Ich dachte, du würdest darüber lachen.«

»Vergiss es«, sage ich und schüttele den Kopf. »Es hat viele Gründe.«

»Darius«, sagt er.

»Darius. Die Spiele, Haymitch, der meint, wir mussten uns mit anderen verbünden«, sage ich.

»Wir beide allein ginge auch, das weißt du«, sagt er.

»Ich weiß. Vielleicht hat Haymitch ja auch recht«, sage ich. »Sag’s ihm bitte nicht weiter, aber was die Spiele anbelangt, hat er eigentlich immer recht.«

»Na ja, du kannst ja das letzte Wort haben, was unsere Verbündeten betrifft. Ich für meinen Teil gehe jetzt zu Chaff und Seeder«, sagt Peeta.

»Seeder ist genehmigt, Chaff nicht«, sage ich. »Zumindest noch nicht.«

»Komm und iss mit ihm. Ich verspreche, ich werde verhindern, dass er dich noch mal küsst«, sagt Peeta.

Beim Mittagessen macht Chaff gar keinen schlechten Eindruck. Er ist nüchtern. Er spricht zwar zu laut und reißt dauernd schlechte Witze, aber die meisten gehen auf seine Kosten. Ich begreife, warum er Haymitch mit seinen düsteren Gedanken guttut. Aber ich weiß noch nicht recht, ob ich bereit bin, mich mit ihm zu verbünden.

Ich bemühe mich, geselliger zu sein, nicht nur, was Chaff betrifft, sondern gegenüber der ganzen Gruppe. Nach dem Essen gehe ich an die Essbare-Insekten-Station, wo schon die Tribute aus Distrikt 8 stehen: Cecelia, die drei Kinder zu Hause hat, und Woof, ein alter Bursche, der schwerhörig ist und offenbar nicht recht weiß, worum es hier geht, denn er versucht, sich giftige Käfer in den Mund zu stopfen. Ich würde gern meine Begegnung mit Bonnie und Twill in den Wäldern erwähnen, aber ich weiß nicht, wie. Cashmere und Gloss, das Geschwisterpaar aus Distrikt 1, winken mich zu sich, und wir flechten eine Weile Hängematten. Die beiden sind höflich, aber kühl, und ich muss die ganze Zeit daran denken, wie ich letztes Jahr Glimmer und Marvel, die beiden Tribute aus ihrem Distrikt, getötet habe.

Wahrscheinlich kannten sie sie, vielleicht waren sie sogar ihre Mentoren. Sowohl meine Hängematte als auch mein Versuch, Kontakt herzustellen, gelingen mehr schlecht als recht. Ich gehe zu Enobaria beim Schwertkampf, wir wechseln ein paar Bemerkungen, doch es ist offensichtlich, dass sich keine mit der anderen verbünden will. Ich bekomme gerade Tipps zum Fischen, als Finnick wieder auftaucht, aber diesmal möchte er mir einfach nur Mags vorstellen, die ältere Frau, die wie er aus Distrikt 4 stammt. Wegen ihres Distriktakzents und ihrer brabbeligen Aussprache - vemudich hat sie einen Schlaganfall hinter sich - verstehe ich nur ein Viertel von dem, was sie sagt. Aber dafür kann sie buchstäblich aus allem Angelhaken herstellen - aus Dornen, dem Schlüsselbein eines Vogels, einem Ohrring. Nach einer Weile höre ich nicht mehr auf das, was der Trainer sagt, sondern versuche nur noch nachzumachen, was Mags tut. Als ich aus einem krummen Nagel einen ordentlichen Haken fabriziere und ihn an eine Schnur aus Strähnen meiner Haare binde, schenkt sie mir ein zahnloses Lächeln und einen unverständlichen Kommentar, möglicherweise ein Lob. Plötzlich fällt mir wieder ein, wie sie sich anstelle der hysterischen jungen Frau aus ihrem Distrikt freiwillig gemeldet hat. Bestimmt nicht, weil sie sich Chancen ausgerechnet hat, die Spiele zu gewinnen. Sie wollte das Mädchen retten, so wie ich mich letztes Jahr gemeldet habe, um Prim zu retten. Ich beschließe, dass Mags zu meinem Team gehören soll.

Großartig. Jetzt muss ich Haymitch sagen, dass ich eine Achtzigjährige sowie Plus und Minus als Verbündete haben will. Das findet er bestimmt toll.

Ich geb’s auf, Freunde finden zu wollen, und gehe zur Erholung hinüber zum Bogenschießstand. Es ist wunderbar, all die verschiedenen Bogen und Pfeile auszuprobieren. Als Tax, der Trainer, merkt, dass stehende Ziele für mich keine Herausforderung sind, wirft er Stoffvögel hoch in die Luft, und ich muss sie abschießen. Erst kommt mir das albern vor, aber dann macht es doch Spaß. Sogar mehr, als ein Lebewesen zu jagen. Da ich alles treffe, was er hochwirft, beginnt er mehrere Vögel gleichzeitig zu werfen. Ich vergesse die Turnhalle um mich herum und die Sieger und mein Unglück und gebe mich ganz dem Schießen hin. Als ich fünf Vögel auf einmal abschieße, wird es um mich herum so ruhig, dass ich höre, wie sie einzeln auf dem Boden aufschlagen. Ich drehe mich um und sehe, dass fast alle Sieger ihr Treiben unterbrochen haben und mir zuschauen. In ihren Gesichtern spiegelt sich alles, von Neid über Hass bis zu Bewunderung.

Nach dem Training lungern Peeta und ich herum und warten, dass Haymitch und Effie erscheinen. Als wir zum Abendessen gerufen werden, stürzt sich Haymitch sofort auf mich. »Mindestens die Hälfte der Sieger hat ihre Mentoren angewiesen, dich als Wunschverbündete anzugeben. Kann mir nicht vorstellen, dass es wegen deines sonnigen Wesens ist.«

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