»Sie haben sie schießen gesehen«, sagt Peeta lächelnd. »Und ich habe sie auch zum ersten Mal richtig schießen gesehen. Ich trage mich mit dem Gedanken, ebenfalls einen förmlichen Antrag zu stellen.«

»Bist du wirklich so gut?«, fragt Haymitch mich. »So gut, dass Brutus dich will?«

Ich zucke die Schultern. »Aber ich will Brutus nicht. Ich will Mags und die beiden aus Distrikt 3.«

»Das war ja klar«, seufzt Haymitch und bestellt eine Flasche Wein. »Ich werde allen sagen, du überlegst noch.«

Nach meiner Schießdarbietung kommt nur noch hier und da mal eine Stichelei, aber ich fühle mich nicht mehr verspottet. Es kommt mir vor, als wäre ich erst jetzt in den Kreis der Sieger aufgenommen worden. An den folgenden beiden Tagen verbringe ich viel Zeit mit fast jedem, der in die Arena muss. Sogar mit den Morfixern, die mich mit Peetas Hilfe anmalen und in ein Feld aus gelben Blumen verwandeln. Sogar mit Finnick, der mir im Tausch für eine Stunde Bogenschießen eine Stunde lang beibringt, wie man mit dem Dreizack umgeht. Und je besser ich diese Leute kennenlerne, desto schlimmer wird es. Denn ich hasse sie ja nicht. Manche mag ich sogar. Und viele sind so lädiert, dass ich sie eigentlich instinktiv beschützen möchte. Aber sie alle müssen sterben, damit ich Peeta retten kann.

Der letzte Tag des Trainings endet mit unseren Einzelstunden. Jeder hat fünfzehn Minuten, um die Spielmacher mit seinen Fähigkeiten für sich einzunehmen, aber ich weiß nicht, was wir ihnen zeigen könnten. Beim Mittagessen machen wir uns darüber lustig. Darüber, was wir tun könnten. Singen, tanzen, strippen, Witze erzählen. Mags, die ich jetzt ein bisschen besser verstehe, meint, sie werde einfach ein Nickerchen halten. Ich weiß nicht, was ich tun werde. Ein paar Pfeile abschießen, schätze ich mal. Haymitch hat gesagt, dass wir sie möglichst überraschen sollen, nur fällt mir absolut nichts ein.

Ich bin das Mädchen aus Distrikt 12 und deshalb komme ich als Letzte dran. Je mehr Tribute zu ihrem Auftritt gerufen werden, desto stiller wird es im Speisesaal. Zu mehreren fällt es leichter, respektlos und unbesiegbar zu wirken, wie wir es uns alle angewöhnt haben. Bei jedem, der durch die Tür geht, denke ich unwillkürlich, dass er höchstens noch ein paar Tage zu leben hat.

Schließlich sind nur noch Peeta und ich übrig. Er fasst über den Tisch meine Hände. »Hast du dich schon entschieden, was du den Spielmachern zeigen willst?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich kann sie nicht noch einmal als Zielscheibe benutzen, wegen des Kraftfelds. Vielleicht bastele ich ein paar Angelhaken. Und du?«

»Keine Ahnung. Ich wünsche mir die ganze Zeit, ich könnte einen Kuchen backen oder so was«, sagt er.

»Mach was mit Tarnung«, schlage ich vor.

»Falls die Morfixer mir etwas übrig gelassen haben«, sagt er spöttisch. »Das ganze Training über sind sie an dieser einen Station geblieben wie festgeklebt.«

Wir sitzen eine Weile still da, dann platze ich mit der Sache heraus, die uns beiden auf der Seele liegt. »Wie sollen wir es nur anstellen, diese Leute zu töten, Peeta?«

»Ich weiß es nicht.« Er legt die Stirn auf unsere umschlungenen Hände.

»Ich will sie nicht als Verbündete haben. Warum wollte Haymitch, dass wir sie kennenlernen?«, sage ich. »Das wird es viel schwieriger machen als beim letzten Mal. Rue einmal ausgenommen. Aber ich glaube, sie hätte ich sowieso nie töten können. Sie war Prim einfach zu ähnlich.«

Peeta schaut zu mir hoch, die Brauen nachdenklich zusammengezogen. »Ihr Tod war der abscheulichste, nicht wahr?«

»Keiner war besonders schön«, sage ich und muss an Glimmers und Catos Ende denken.

Dann wird Peeta hereingerufen und ich warte ganz allein. Fünfzehn Minuten vergehen, eine halbe Stunde. Erst nach fast vierzig Minuten werde ich aufgerufen.

Als ich hineinkomme, nehme ich den scharfen Geruch von Putzmittel wahr und bemerke, dass eine der Matten in die Mitte des Raums gezogen wurde. Die Stimmung ist ganz anders als letztes Jahr, als die Spielmacher halb betrunken und eigentlich nur damit beschäftigt waren, Leckerbissen vom Büfett zu picken. Sie flüstern miteinander und wirken leicht ungehalten. Was hat Peeta getan? Hat er sie gegen sich aufgebracht?

Plötzlich mache ich mir Sorgen. Das ist nicht gut. Ich möchte nicht, dass Peeta den Zorn der Spielmacher auf sich zieht. Das ist meine Aufgabe. Peeta aus der Schusslinie zu bringen. Aber womit hat er sie bloß gegen sich aufgebracht? Ich würde es ihm gern gleichtun, und noch mehr. Die selbstgefällige Fassade dieser Leute durchbrechen, die ihren Grips darauf verwenden, sich amüsante Todesarten für uns auszumalen. Ihnen klarzumachen, dass nicht nur wir den Grausamkeiten des Kapitols schutzlos ausgesetzt sind, sondern auch sie selbst.

Habt ihr überhaupt eine Ahnung, wie sehr ich euch hasse?, denke ich. Euch, die ihr eure Talente in den Dienst der Spiele stellt?

Ich versuche, Plutarch Heavensbee in die Augen zu schauen, aber er scheint mich genauso demonstrativ zu ignorieren wie während der ganzen Trainingsphase schon. Mir fällt ein, wie er mich zum Tanzen aufgefordert hat, wie erfreut er war, als er mir den Spotttölpel auf seiner Uhr zeigte. Für derartige Freundlichkeiten ist hier kein Platz. Wie auch, schließlich bin ich ein einfacher Tribut und er ist der Oberste Spielmacher. So mächtig, so unerreichbar, so sicher …

Plötzlich weiß ich, was ich tun werde. Etwas, das alles, was Peeta getan haben mag, in den Schatten stellen wird. Ich gehe zur Knotenstation und nehme ein Seil. Ich versuche mich an einem bestimmten Knoten, aber es ist schwer, denn diesen Knoten habe ich noch nie selbst gemacht. Ich habe nur ein Mal Finnicks geschickten Fingern dabei zugeschaut, und damals ist alles so schnell gegangen. Nach zehn Minuten habe ich dann aber doch eine passable Schlinge zustande gebracht. Ich befestige sie an einer Klimmzugstange, ziehe eine der Zielpuppen in die Mitte des Raums, hebe sie hoch und lege ihr die Schlinge um den Hals, sodass sie an der Stange herunterbaumelt. Ich könnte ihr jetzt noch die Hände auf den Rücken binden, das wäre ein nettes Detail, aber dafür wird die Zeit vielleicht zu knapp. Ich renne zur Tarnstation, wo irgendwelche Tribute, bestimmt die Morfixer, eine Riesensauerei veranstaltet haben. Trotzdem finde ich noch einen angebrochenen Behälter mit blutrotem Beerensaft, der für meine Zwecke vollkommen ausreicht. Der fleischfarbene Stoff der Puppenhaut bildet eine gute, aufnahmefähige Leinwand. Sorgfältig und so, dass die Spielmacher es nicht sehen können, male ich mit den Fingern zwei Wörter auf den Puppenkörper. Dann trete ich rasch beiseite, um die Reaktion in den Gesichtern der Spielmacher zu beobachten, als sie den Namen auf der Puppe lesen.

SENECA CRANE.

17

Die Wirkung auf die Spielmacher ist prompt und zufriedenstellend. Einige stoßen spitze Schreie aus. Anderen fällt das Weinglas aus der Hand und zerschellt mit Getöse auf dem Boden. Zwei scheinen in Ohnmacht fallen zu wollen. Allenthalben erschrockene Gesichter.

Jetzt habe ich die Aufmerksamkeit von Plutarch Heavensbee. Während ihm der Saft des Pfirsichs, den er in der Hand zerquetscht hat, durch die Finger rinnt, starrt er mich schweigend an. Schließlich räuspert er sich und sagt: »Sie können jetzt gehen, Miss Everdeen.«

Ich nicke ehrerbietig und wende mich zum Gehen, doch dann kann ich nicht widerstehen und werfe die Dose mit dem Beerensaft hinter mich. Ich höre, wie der Inhalt gegen die Puppe klatscht, während weitere Weingläser zerschellen. Kurz bevor sich die Tür des Aufzugs schließt, sehe ich gerade noch, dass niemand sich gerührt hat.

Damit haben sie nicht gerechnet, denke ich. Es war unüberlegt und gefährlich und zweifellos werde ich zehnfach und mehr dafür bezahlen müssen. Doch für den Augenblick empfinde ich fast so etwas wie Euphorie und genieße es einfach.

Ich möchte sofort zu Haymitch und ihm von meiner Einzelstunde erzählen, aber es ist niemand da. Vermutlich machen sie sich alle fürs Abendessen zurecht, also beschließe ich, auch zu duschen, denn meine Hände kleben von dem Saft. Unter dem Wasserstrahl überlege ich, ob es klug war, was ich da eben gemacht habe. Mein Handeln sollte jetzt eigentlich immer von der Frage geleitet werden: »Helfe ich damit Peeta, am Leben zu bleiben?« Für diese Aktion trifft das wohl nicht zu, wenn auch indirekt. Was beim Training geschieht, ist streng geheim, und wenn niemand erfährt, was ich angestellt habe, gibt es auch keinen Grund, gegen mich vorzugehen. Letztes Jahr wurde ich für meine Dreistigkeit sogar belohnt. Doch das hier ist eine Art Verbrechen. Wenn die Spielmacher wütend auf mich sind und beschließen, mich in der Arena zu bestrafen, könnte auch Peeta davon betroffen sein. Vielleicht war ich zu impulsiv. Trotzdem … ich kann nicht behaupten, dass ich es bereue.

Als wir uns alle zum Abendessen versammeln, sehe ich Farbflecken auf Peetas Händen, obwohl seine Haare noch feucht sind vom Duschen. Anscheinend hat er doch irgendeine Tarnung vorgeführt. Als die Suppe serviert wird, spricht Haymitch direkt an, was alle beschäftigt. »Und, wie ist eure Einzelstunde gelaufen?«

Ich tausche einen Blick mit Peeta. Irgendwie bin ich nicht so scharf darauf, das, was ich getan habe, in Worte zu fassen. In der Stille des Speisesaals wirkt es so ungeheuerlich. »Du zuerst«, sage ich. »Das muss ja wirklich was Besonderes gewesen sein. Ich musste vierzig Minuten warten, bis ich reindurfte.«

Peeta wirkt ebenso unwillig wie ich. »Also, ich … ich hab diese Tarnungsnummer vorgeführt, wie du vorgeschlagen hast, Katniss.« Er zögert. »Tarnung ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich meine, ich hab was mit Farben gemacht.«

»Und was?«, fragt Portia.

Mir fällt wieder ein, wie ungehalten die Spielmacher wirkten, als ich zu meiner Einzelstunde in die Turnhalle kam. Der Geruch nach Putzmittel. Die Matte über dem Fleck in der Mitte der Turnhalle. Wollten sie damit etwas verdecken, was sich nicht entfernen ließ? »Du hast was gemalt, oder? Ein Bild.«

»Hast du es gesehen?«, fragt Peeta.

»Nein. Aber sie haben sich große Mühe gegeben, es zu verdecken«, sage ich.

»Das ist ja nichts Besonderes. Kein Tribut darf erfahren, was die anderen gemacht haben«, sagt Effie unbeeindruckt. »Was hast du gemalt, Peeta?« Ihr Blick wird weich. »Ein Bild von Katniss?«

»Wieso sollte er ein Bild von mir malen, Effie?«, frage ich leicht verärgert.

»Um zu zeigen, dass er alles Menschenmögliche tun wird, um dich zu beschützen. Das erwarten sowieso alle im Kapitol. Hat er sich nicht freiwillig gemeldet, um mit dir in die Arena zu gehen?«, sagt Effie, als wäre es das Offensichtlichste auf der Welt.

»Ich habe aber ein Bild von Rue gemalt«, sagt Peeta. »Wie sie aussah, als Katniss sie mit Blumen bedeckt hatte.«

Am Tisch bleibt es lange still, während alle die Worte verdauen.

»Und was genau wolltest du damit bezwecken?«, fragt Haymitch, der sich nur mit Mühe beherrschen kann.

»Ich weiß nicht recht. Ich wollte sie zur Verantwortung ziehen, und sei es nur für einen Augenblick«, sagt Peeta. »Dafür, dass sie das kleine Mädchen ermordet haben.«

»Das ist entsetzlich.« Effie hört sich so an, als würde sie gleich anfangen zu weinen. »So zu denken … das ist verboten, Peeta. Absolut. Damit bringst du dich und Katniss nur in Schwierigkeiten.«

»Da muss ich Effie zustimmen«, sagt Haymitch. Portia und Cinna schweigen, aber ihre Gesichter sind todernst. Natürlich haben sie recht. Doch obwohl es mich mit Sorge erfüllt - ich finde das, was Peeta getan hat, bewundernswert.

»Wahrscheinlich ist das jetzt kein guter Moment zu erwähnen, dass ich eine Puppe erhängt und den Namen Seneca Cranes daraufgeschrieben habe«, sage ich. Meine Worte haben den gewünschten Effekt. Nach einem Augenblick der Fassungslosigkeit trifft mich das gesammelte Missfallen im Raum wie ein Hammer.

»Du … hast … Seneca Crane erhängt?«, sagt Cinna.

»Ja. Ich hab meine neuen Knotentechniken vorgeführt und irgendwie ist er in die Schlinge geraten«, sage ich.

»Oh, Katniss«, sagt Effie gedämpft. »Woher weißt du überhaupt davon?«

»Ist das ein Geheimnis? Präsident Snow hat nicht so getan, als ob es eins wäre. Er schien sogar ganz wild darauf zu sein, dass ich davon erfahre«, sage ich. Effie steht vom Tisch auf und rennt hinaus, eine Serviette vors Gesicht gepresst. »Jetzt habe ich Effie aufgeregt. Ich hätte lügen und erzählen sollen, ich hätte ein paar Pfeile abgeschossen.«

»Man könnte meinen, wir hätten das geplant«, sagt Peeta und sieht mich mit einem schwachen Lächeln an.

»Habt ihr das nicht?«, fragt Portia. Sie hält sich mit den Fingern die Lider zu, als müsste sie die Augen vor einem grellen Licht schützen.

»Nein«, sage ich und schaue Peeta mit neuer Hochachtung an. »Als wir reingingen, hatten wir noch gar keine Ahnung, was wir machen sollten.«

»Und übrigens, Haymitch«, sagt Peeta. »Wir haben beschlossen, dass wir in der Arena keine weiteren Verbündeten haben wollen.«

»Das ist gut. Dann bin ich nicht dafiir verantwortlich, wenn ihr mit eurer Dämlichkeit einen meiner Freunde umbringt«, sagt er.

»Genau das haben wir uns auch gedacht«, sage ich.

Schweigend essen wir zu Ende, aber als wir aufstehen, um in den Salon zu gehen, legt Cinna mir den Arm um und drückt mich. »Komm, jetzt holen wir uns die Bewertungen für die Einzelstunde ab.«

Wir versammeln uns um den Fernseher und Effie gesellt sich mit verweinten Augen dazu. Die Gesichter der Tribute erscheinen, ein Distrikt nach dem anderen, und unter den Porträts leuchten die Punktzahlen auf. Von eins bis zwölf. Die erwartungsgemäß hohen Wertungen für Cashmere, Gloss, Brutus, Enobaria und Finnick. Mittel bis niedrig für die Übrigen.

»Gab es auch schon mal null Punkte?«, frage ich.

»Nein, aber es gibt immer ein erstes Mal«, antwortet Cinna.

Und damit hat er recht. Denn Peeta und ich bekommen beide eine Zwölf und das ist in der Geschichte der Hungerspiele noch nie vorgekommen. Doch niemandem ist nach Feiern zumute.

»Warum haben sie das gemacht?«, frage ich.

»Damit den anderen gar nichts anderes übrig bleibt, als euch ins Visier zu nehmen«, sagt Haymitch rundheraus. »Geht ins Bett. Ich kann euch jetzt nicht mehr sehen.«

Schweigend begleitet Peeta mich zu meinem Zimmer, doch bevor er Gute Nacht sagen kann, schlinge ich die Arme um ihn und lege den Kopf an seine Brust. Seine Hände wandern meinen Rücken hoch und seine Wange ruht an meinem Haar. »Tut mir leid, wenn ich alles noch schlimmer gemacht hab«, sage ich.

»Nicht schlimmer als ich. Warum hast du das denn getan?«, sagt er.

»Ich weiß nicht. Vielleicht, um ihnen zu zeigen, dass ich mehr bin als eine Figur in ihren Spielen.«

Er lacht leise, bestimmt denkt er an letztes Jahr, an die Nacht vor den Spielen. Da waren wir auf dem Dach, keiner von uns konnte schlafen. Damals hat Peeta auch so etwas in der Art gesagt, aber ich verstand nicht, was er meinte. Jetzt verstehe ich es.

»Ich auch«, sagt er. »Und ich will auch gar nicht sagen, dass ich es nicht versuchen werde. Dich nach Hause zu bekommen, meine ich. Aber wenn ich ganz ehrlich sein soll …«

»Wenn du ganz ehrlich sein sollst, dann glaubst du, dass Präsident Snow Anweisung gegeben hat, dafür zu sorgen, dass wir ohnehin in der Arena sterben«, sage ich.

»Diesen Gedanken hatte ich, ja«, sagt Peeta.

Auch mir ist dieser Gedanke gekommen. Und nicht nur einmal. Doch während ich mir sicher bin, dass ich die Arena auf keinen Fall lebend verlassen werde, hoffe ich noch immer, dass Peeta es schafft. Schließlich hat nicht er die Beeren herausgeholt, sondern ich. Niemand hat je daran gezweifelt, dass Peeta dem Kapitol nur aus Liebe Widerstand geleistet hat. Also lässt Präsident Snow ihn vielleicht lieber am Leben - niedergeschmettert, mit gebrochenem Herzen, als lebende Warnung für andere.

»Aber selbst wenn, werden alle wissen, dass wir gekämpft haben, stimmt’s?«, sagt Peeta.

»Genau«, sage ich. Und zum ersten Mal habe ich Abstand zu meiner eigenen Tragödie, die mich seit der Verkündung des Jubel-Jubiläums beschäftigt hat. Ich denke an den alten Mann, den sie in Distrikt 11 niedergeschossen haben, und an Bonnie und Twill und die Gerüchte über die Aufstände. Ja, alle in den Distrikten werden mir zuschauen, um zu sehen, wie ich mit dieser Todesstrafe umgehe, mit dieser letzten Machtdemonstration von Präsident Snow. Sie werden nach einem Zeichen Ausschau halten, dass ihre Kämpfe nicht vergebens waren. Wenn ich deutlich machen kann, dass ich mich dem Kapitol bis zum Ende widersetze, dann wird man zwar mich getötet haben … nicht jedoch meinen Geist. Gibt es eine bessere Möglichkeit, den Rebellen Hoffnung zu machen?

Das Schöne an dieser Idee ist, dass schon meine Entscheidung, Peeta zu retten, indem ich mein eigenes Leben opfere, einen Akt des Widerstands darstellt. Eine Weigerung, die Hungerspiele nach den Regeln des Kapitols zu spielen. Meine privaten Interessen sind im Einklang mit meinen politischen. Und wenn ich Peeta wirklich retten könnte … Für eine Revolution wäre das optimal. Denn tot bin ich mehr wert als lebendig. Sie können mich zu einer Märtyrerin erheben und mein Gesicht auf Fahnen malen, und das wird die Leute besser mobilisieren, als eine lebende Katniss es könnte. Aber Peeta wird lebendig mehr wert sein, als tragischer Held wird er seinen Schmerz in Worte fassen können, die die Menschen verändern.

Peeta würde ausrasten, wenn er wüsste, dass ich so etwas denke, deshalb sage ich nur: »Und was sollen wir mit unseren letzten Tagen anfangen?«

»Ich würde gern jede Minute meines restlichen Lebens mit dir verbringen«, antwortet er.

»Dann komm«, sage ich und ziehe ihn in mein Zimmer.

Es ist der reine Luxus, wieder mit Peeta in einem Bett zu schlafen. Erst jetzt merke ich, wie sehr es mich nach menschlicher Nähe verlangt. Nach seinem Körper neben mir in der Dunkelheit. Hätte ich die letzten Nächte doch nicht vergeudet, indem ich ihn aussperrte. Ich lasse mich in den Schlaf sinken, eingehüllt in seine Wärme, und als ich die Augen öffne, flutet das Tageslicht durch die Fenster herein.

»Keine Albträume«, sagt er.

»Keine Albträume«, bestätige ich. »Und du?«

»Auch keine. Ich hatte schon ganz vergessen, wie es ist, eine Nacht richtig zu schlafen.«

Eine Weile liegen wir da, wir haben es nicht eilig, den Tag zu beginnen. Morgen Abend sind die Fernsehinterviews, also werden Effie und Haymitch uns heute darauf vorbereiten. Schon wieder hochhackige Schuhe und sarkastische Bemerkungen, denke ich. Doch dann bringt uns das rothaarige Avoxmädchen einen Zettel von Effie, auf dem steht, dass sie und Haymitch nach der Tour durch die Disktrikte der Meinung seien, dass wir uns in der Öffentlichkeit angemessen zu verhalten wüssten. Die Vorbereitungssitzungen sind gestrichen.

»Echt?«, sagt Peeta, nimmt mir den Zettel aus der Hand und wirft einen Blick darauf. »Weißt du, was das heißt? Wir haben den ganzen Tag für uns!«

»Schade, dass wir nirgendwohin können«, sage ich wehmütig.

»Wer sagt das?«, fragt er.

Das Dach. Wir bestellen jede Menge Essen, schnappen uns ein paar Decken und verziehen uns zu einem Picknick aufs Dach. Ein Picknick von morgens bis abends im Blumengarten, in dem überall die Windspiele klimpern. Wir essen. Wir liegen in der Sonne. Ich breche herabhängende Lianen ab und nutze mein neues Wissen aus dem Training, um Knoten zu machen und Netze zu knüpfen. Peeta zeichnet mich. Wir erfinden ein Spiel mit dem Kraftfeld, von dem das Dach umgeben ist - einer wirft einen Apfel hinein, und der andere muss ihn fangen.

Niemand stört uns. Am späten Nachmittag liege ich mit dem Kopf in Peetas Schoß und flechte einen Blumenkranz, während er die Hände in meinem Haar hat, um Knoten zu üben, wie er behauptet. Nach einer Weile verharren seine Hände. »Was ist?«, frage ich.

»Am liebsten würde ich diesen Augenblick anhalten, hier und jetzt, und für immer darin leben«, sagt er.

Normalerweise bekomme ich jedes Mal ein schlechtes Gewissen und fühle mich schrecklich, wenn er solche Bemerkungen macht und auf seine unsterbliche Liebe zu mir anspielt. Doch in diesem Moment fühle ich mich so warm und entspannt, so weit entfernt von der Sorge um eine Zukunft, die ich niemals haben werde, dass ich das Wort einfach hinausschlüpfen lasse. »Okay.«

Ich höre das Lächeln in seiner Stimme. »Dann lässt du es zu?«

»Ich lasse es zu«, sage ich.

Er vergräbt die Finger wieder in meinem Haar, und ich döse ein, doch zum Sonnenuntergang weckt er mich. Es ist ein spektakulärer gelborangefarbener Lichtschein hinter der Skyline des Kapitols. »Den willst du dir bestimmt nicht entgehen lassen, dachte ich mir«, sagt er.

»Danke«, sage ich. Ich kann die Sonnenuntergänge, die mir noch bleiben, an den Fingern abzählen, und keinen davon möchte ich versäumen.

Zum Abendessen gehen wir nicht zu den anderen, es ruft uns auch niemand.

»Ein Glück. Ich bin es leid, alle um mich herum so unglücklich zu machen«, sagt Peeta. »Zum Weinen zu bringen. Und Haymitch …« Er braucht nicht weiterzusprechen.

Wir bleiben auf dem Dach, bis es Zeit zum Schlafengehen ist, dann huschen wir leise hinunter und in mein Zimmer, ohne jemandem zu begegnen.

Am nächsten Morgen werden wir von meinem Vorbereitungsteam geweckt. Der Anblick von Peeta und mir, wie wir nebeneinander schlafen, ist zu viel für Octavia, sie bricht sofort in Tränen aus. »Denk daran, was Cinna uns gesagt hat«, sagt Venia eindringlich. Octavia nickt und geht schluchzend aus dem Zimmer.

Peeta muss zur Vorbereitung in sein Zimmer und ich bleibe mit Venia und Flavius allein. Das übliche Geplapper fällt heute aus. Es wird überhaupt kaum geredet, höchstens wenn ich das Kinn heben soll oder wenn etwas über eine Schminktechnik gesagt wird. Es ist fast Mittag, als ich merke, dass etwas auf meine Schulter tropft, und als ich mich umdrehe, sehe ich Flavius, wie er mir die Haare schneidet, während ihm stumm die Tränen über das Gesicht laufen. Venia wirft ihm einen strengen Blick zu und da legt er die Schere vorsichtig auf dem Tisch ab und geht.

Dann ist nur noch Venia übrig, ihre Haut ist so blass, dass die Tattoos herauszuspringen scheinen. Fast starr vor Entschlossenheit frisiert sie mich, sie manikürt mir die Nägel und schminkt mich mit schnellen Fingern, so macht sie das Fehlen ihrer Kollegen wett. Die ganze Zeit weicht sie meinem Blick aus. Erst als Cinna kommt, um mich zu begutachten, nimmt sie meine Hände, schaut mir direkt in die Augen und sagt: »Wir möchten dir alle sagen, was für eine … Ehre es war, dich schön machen zu dürfen.« Dann geht sie eilig aus dem Zimmer.

Mein Vorbereitungsteam. Meine albernen, oberflächlichen, liebevollen Schätzchen mit ihren Feder-und Partyticks brechen mir mit ihrem Abschied fast das Herz. Venias letzte Worte zeigen es deutlich: Wir alle wissen, dass ich nicht zurückkehren werde. Weiß es die ganze Welt?, frage ich mich. Ich schaue Cinna an. Er weiß es, ganz bestimmt. Doch er hält sein Versprechen, von ihm drohen keine Tränen.

»Also, was ziehe ich heute Abend an?«, frage ich mit einem Blick auf die Tasche, in der mein Kleid steckt.

»Präsident Snow höchstpersönlich hat die Kleiderordnung festgelegt«, sagt Cinna. Er zieht den Reißverschluss auf, und zum Vorschein kommt eins der Hochzeitskleider, die ich beim Fototermin getragen habe. Schwere weiße Seide mit tiefem Ausschnitt, eng anliegender Taille und Ärmeln, die vom Handgelenk bis zum Boden fallen. Und Perlen über Perlen. Eingestickt in das Kleid und in die Bänder, die ich um den Hals trage, ebenso wie auf der Krone für den Schleier. »Am Abend des Fotoshootings wurde zwar das Jubel-Jubiläum verkündet, aber die Leute haben trotzdem über ihr Lieblingskleid abgestimmt, und das hier hat gewonnen. Der Präsident sagt, du musst es heute Abend tragen. Unsere Einwände blieben ungehört.«

Ich reibe ein Stück Seide zwischen den Fingern und versuche Präsident Snows Gedankengang nachzuvollziehen. Da mich die größte Schuld trifft, will er offenbar meinen Schmerz, meinen Verlust und meine Erniedrigung in den Mittelpunkt rücken. Und hiermit glaubt er das deutlich machen zu können. Es ist so barbarisch, mein Hochzeitskleid zu meinem Totenhemd zu machen, dass es mich hart trifft und einen dumpfen Schmerz in meinem Innern hinterlässt. »Tja, es war ja auch schade um das schöne Kleid«, ist alles, was ich sage.

Vorsichtig hilft Cinna mir in das Kleid. Als ich es auf den Schultern spüre, ziehe ich sie unwillkürlich hoch. »War das immer schon so schwer?«, frage ich. Ich erinnere mich, dass einige der Kleider aus dickem Stoff waren, aber dieses scheint einen Zentner zu wiegen.

»Ich musste es wegen der Beleuchtung ein wenig ändern«, sagt Cinna. Ich nicke, ohne zu verstehen, was das damit zu tun hat. Er zieht mir die Schuhe an und schmückt mich mit Perlen und Schleier. Verleiht meinem Make-up den letzten Strich. Lässt mich ein paar Schritte gehen.

»Du siehst hinreißend aus«, sagt er. »Katniss, das Oberteil ist so passgenau, dass ich dich bitte, die Arme nicht über den Kopf zu heben. Jedenfalls nicht, ehe du dich drehst.«

»Soll ich mich wieder drehen?«, frage ich und denke an mein Kleid vom letzten Jahr.

»Bestimmt wird Caesar dich darum bitten. Und wenn nicht, schlag es selbst vor. Aber nicht gleich. Bewahr es dir für das große Finale auf«, sagt Cinna.

»Gib mir ein Zeichen, damit ich Bescheid weiß, wann es so weit ist«, sage ich.

»Mach ich. Hast du dir für das Interview irgendwas überlegt? Ich weiß, dass Haymitch es ganz euch überlassen hat«, sagt er.

»Nein, dieses Jahr werde ich einfach improvisieren. Komischerweise bin ich überhaupt nicht aufgeregt.« Das bin ich wirklich nicht. Sosehr Präsident Snow mich auch hassen mag, das Publikum im Kapitol gehört mir.

Wir treffen Effie, Haymitch, Portia und Peeta vor dem Aufzug. Peeta trägt einen eleganten Smoking und weiße Handschuhe. So zieht man sich hier im Kapitol als Bräutigam an.

Bei uns zu Hause ist alles so viel bescheidener. Die Frau leiht sich normalerweise ein weißes Kleid, das schon unzählige Male getragen wurde. Der Mann zieht irgendetwas Sauberes an, das er nicht im Bergwerk trägt. Sie füllen im Justizgebäude ein paar Formulare aus und dann wird ihnen ein Haus zugewiesen. Freunde und Verwandte kommen zu einem Essen oder etwas Kuchen zusammen, wenn man es sich leisten kann. Und auch wenn nicht, ein traditionelles Lied wird immer gesungen, wenn das Paar über die Schwelle zum neuen Heim tritt. Und dann haben wir eine kleine Zeremonie: Das Brautpaar zündet sein erstes Feuer an, röstet ein wenig Brot und teilt es. Es mag altmodisch sein, aber bevor man das Brot nicht geröstet hat, fühlt man sich in Distrikt 12 nicht richtig verheiratet.

Die anderen Tribute haben sich bereits hinter den Kulissen versammelt und reden leise miteinander, doch als Peeta und ich kommen, verstummen sie. Ich merke, dass sie alle mein Brautkleid anstarren. Sind sie neidisch, weil es so schön ist? Darauf, dass es vielleicht die Macht hat, die Massen zu beeinflussen?

Schließlich sagt Finnick: »Ich fasse es nicht, dass Cinna dich in dieses Ding gesteckt hat.«

»Er hatte keine Wahl. Präsident Snow hat ihn gezwungen«, sage ich trotzig. Ich lasse es nicht zu, dass jemand etwas gegen Cinna sagt.

Cashmere wirft die blonde Lockenmähne zurück und giftet: »Du siehst lächerlich aus!« Sie fasst ihren Bruder bei der Hand und zieht ihn mit sich, damit sie die Prozession auf die Bühne anführen können. Auch die anderen Tribute stellen sich auf. Ich bin verwirrt, denn irgendwie sind alle wütend, aber manche klopfen uns trotzdem mitfühlend auf die Schulter, und Johanna Mason bleibt sogar stehen, um meine Perlenkette zu richten.

»Zahl es ihm heim, ja?«, sagt sie.

Ich nicke, aber ich weiß nicht, was sie meint. Erst als wir alle auf der Bühne sitzen und Caesar Flickerman, Haare und Gesicht dieses Jahr lavendelfarben, seinen Eröffnungssermon hinter sich gebracht hat und die Tribute mit den Interviews beginnen - erst da wird mir bewusst, wie betrogen sich die meisten Sieger fühlen und wie wütend sie sind. Doch sie sind gerissen, sie drücken es so gekonnt aus, dass alles auf die Regierung und besonders auf Präsident Snow zurückfällt. Zwar gilt das nicht für alle, zum Beispiel nicht für die Unverbesserlichen, Brutus und Enobaria, für die dies einfach nur irgendwelche Spiele sind, und einige andere, die zu verwirrt oder betäubt oder verloren sind, um bei dem Angriff mitzumachen. Doch es gibt genügend Sieger, die den Mut und die Geistesgegenwart besitzen, um zu kämpfen.

Cashmere bringt die Sache ins Rollen, indem sie erzählt, dass sie gar nicht aufhören kann zu weinen, wenn sie daran denkt, wie sehr die Menschen im Kapitol leiden müssen, weil sie uns verlieren werden. Gloss erinnert an den freundlichen Empfang, der ihm und seiner Schwester hier zuteilwurde. Beetee zieht in seiner nervösen, unruhigen Art die Rechtmäßigkeit des Jubel-Jubiläums in Zweifel, er fragt sich, ob die Angelegenheit in letzter Zeit einmal von den Experten überprüft worden sei. Finnick trägt ein selbst verfasstes Gedicht für seine einzige wahre Liebe im Kapitol vor, und an die hundert Damen fallen in Ohnmacht, weil sie sich angesprochen fühlen. Johanna Mason steht auf und fragt, ob man nichts an der Lage ändern könne. Sicher hätten die Erfinder des Jubel-Jubiläums nicht geahnt, dass sich zwischen den Siegern und dem Kapitol eine solche Liebe entwickeln würde. Niemand könne so grausam sein, eine solch tiefe Verbundenheit zu zerstören. Seeder sinniert ruhig darüber, dass in Distrikt 11 alle davon ausgingen, Präsident Snow sei allmächtig. Doch wenn er allmächtig sei, warum schaffe er dieses Jubel-Jubiläum dann nicht ab? Und Chaff, der gleich nach ihr dran ist, behauptet, der Präsident könne dieses Jubel-Jubiläum abschaffen, wenn er wollte, aber er glaube wohl nicht, dass es jemandem viel bedeute.

Als ich vorgestellt werde, ist das Publikum schon völlig fertig. Die Leute weinen, einige sind zusammengebrochen, sogar eine Änderung des Programms wird gefordert. Als ich in meinem Brautkleid aus weißer Seide auftrete, bricht ein Tumult los. Mein Ende, das Ende des tragischen Liebespaars, das glücklich bis in alle Zeit lebt, das Ende der Hochzeit. Selbst Caesars Professionalität bekommt Risse, als er vergeblich versucht, die Menge so weit zu beruhigen, dass ich sprechen kann, doch meine drei Minuten schrumpfen schnell zusammen.

Schließlich tritt eine Ruhepause ein und er kann anbringen: »Tja, Katniss, offenbar ist das für alle eine sehr bewegende Nacht. Möchtest du etwas sagen?«

Als ich spreche, zittert meine Stimme. »Nur, dass es mir so leidtut, dass Sie alle nicht zu meiner Hochzeit kommen können … aber ich bin froh, dass Sie mich wenigstens in dem Kleid sehen können. Ist es nicht … einfach wunderschön?« Ich muss Cinna nicht anschauen, um das Zeichen zu bekommen. Ich weiß, dass jetzt der richtige Moment ist. Langsam beginne ich mich im Kreis zu drehen und hebe die Ärmel des schweren Kleides über den Kopf.

Als ich Schreie in der Menge höre, denke ich, es ist, weil ich so umwerfend aussehe. Da merke ich, dass um mich herum Rauch aufsteigt. Rauch von einem Feuer. Nicht das flackernde Zeug wie letztes Jahr bei der Wagenparade, sondern echte Flammen, die mein Kleid verschlingen. Panik erfasst mich, als der Rauch dichter wird. Verkohlte Fetzen geschwärzter Seide wirbeln in die Luft, Perlen prasseln auf die Bühne. Irgendwie traue ich mich nicht, stehen zu bleiben, denn meine Haut brennt ja gar nicht, und ich weiß, dass Cinna hinter alldem stecken muss. Also drehe ich mich rundherum, rundherum. Kurz bekomme ich keine Luft mehr, bin eingehüllt in die seltsamen Flammen. Dann ist das Feuer ganz plötzlich aus. Langsam bleibe ich stehen, ich frage mich, ob ich wohl nackt bin und warum Cinna es so eingerichtet hat, dass mein Hochzeitskleid verbrennt.

Aber ich bin nicht nackt. Ich trage ein Kleid, das genauso aussieht wie mein Hochzeitskleid, nur dass es die Farbe von Kohle hat und aus winzigen Federn besteht. Erstaunt hebe ich die langen, fließenden Ärmel und in diesem Moment sehe ich mich auf dem Bildschirm. Ganz in Schwarz bis auf die weißen Flecken auf den Ärmeln. Oder sollte ich sagen, auf den Flügeln? Cinna hat mich in einen Spotttölpel verwandelt.

18

Ich glimme immer noch ein wenig, deshalb streckt Caesar die Hand etwas zögerlich aus, um meinen Schleier zu berühren. Das Weiß ist abgebrannt, übrig geblieben ist ein glatter schwarzer Schleier, der hinten über den Halsausschnitt des Kleides fällt. »Federn«, sagt Caesar. »Du siehst aus wie ein Vogel.«

»Wie ein Spotttölpel, oder?«, sage ich und schlage ein wenig mit den Flügeln. »Das ist der Vogel auf der Brosche, die ich als Glücksbringer getragen habe.«

Ein Schatten der Erkenntnis huscht über Caesars Gesicht, er weiß, dass der Spotttölpel nicht nur mein Glücksbringer ist. Dass er jetzt für so viel mehr steht. Dass das, was im Kapitol als spektakulärer Gag wahrgenommen wird, in den Distrikten einen ganz anderen Widerhall findet. Doch er macht das Beste daraus.

»Also, Hut ab vor deinem Stylisten. Es wird wohl keiner bestreiten, dass wir so etwas Spektakuläres in einem Interview noch nie zu sehen bekommen haben. Cinna, eine Verbeugung bitte!« Caesar gibt Cinna mit einer Geste zu verstehen, dass er sich erheben soll. Er tut es und macht eine kleine, elegante Verbeugung. Und auf einmal habe ich riesige Angst um ihn. Was hat er getan? Etwas furchtbar Gefährliches. Ein rebellischer Akt. Und er hat es für mich getan. Ich erinnere mich an seine Worte …

»Keine Bange. Ich lasse meine Gefühle in meine Arbeit einfließen. Auf diese Weise tue ich niemandem weh außer mir selbst.«

Und ich fürchte, er hat sich so wehgetan, dass es nicht wiedergutzumachen ist. Die tiefere Bedeutung meiner feurigen Verwandlung kann Präsident Snow nicht entgangen sein.

Das Publikum ist erst starr vor Staunen und applaudiert dann heftig. Ich höre kaum den Signalton, der anzeigt, dass meine drei Minuten um sind. Caesar dankt mir und ich gehe wieder zu meinem Platz, mein Kleid fühlt sich jetzt leichter an als Luft.

Ich begegne Peeta, der nach mir dran ist, aber er weicht meinem Blick aus. Vorsichtig setze ich mich hin, doch abgesehen von einigen Rauchspuren scheine ich unversehrt zu sein, und so richte ich meine Aufmerksamkeit auf ihn.

Seit ihrem Auftritt vor einem Jahr sind Caesar und Peeta ein eingespieltes Team. Die Leichtigkeit, mit der sie sich die Bälle zuspielen, die treffsicheren Pointen und der gekonnte Übergang zu Herz und Schmerz wie damals, als Peeta seine Liebe zu mir eingestanden hat, haben ihnen großen Erfolg beim Publikum beschert. Mühelos eröffnen sie das Gespräch mit ein paar witzigen Bemerkungen über Feuer und Federn und verbranntes Geflügel. Aber man sieht, dass Peeta mit den Gedanken weit weg ist, deshalb spricht Caesar direkt das Thema an, das allen am Herzen liegt.

»Erzähl mal, wie das war, Peeta, als du, nach allem, was du durchgemacht hattest, die Neuigkeit vom Jubel-Jubiläum erfuhrst«, sagt Caesar.

»Es war ein Schock für mich. Eben noch hatte ich Katniss gesehen, so wunderschön in all den Hochzeitskleidern, und im nächsten Augenblick …« Der Satz bleibt in der Luft hängen.

»Da wurde dir klar, dass es niemals eine Hochzeit geben wird?«, fragt Caesar sanft.

Peeta schweigt lange, als müsse er etwas überdenken. Er sieht zu den gebannten Zuschauern, dann auf den Boden, dann schließlich zu Caesar. »Caesar, meinst du, unsere Freunde hier können ein Geheimnis für sich behalten?«

Ein unbehagliches Lachen ist im Publikum zu hören. Was meint er wohl damit? Vor wem sollen sie ein Geheimnis bewahren? Die ganze Welt schaut uns zu.

»Da bin ich mir ganz sicher«, sagt Caesar.

»Wir sind bereits verheiratet«, sagt Peeta ruhig. Das Publikum reagiert mit Erstaunen, und ich muss das Gesicht in meinem Kleid verbergen, damit man meine Verwirrung nicht sieht. Worauf will er bloß hinaus?

»Aber … wie ist das möglich?«, fragt Caesar.

»Oh, es war keine offizielle Hochzeit. Wir sind nicht zum Justizgebäude gegangen oder so. Aber wir haben in Distrikt 12 so ein Hochzeitsritual. Ich weiß nicht, wie es in den anderen Distrikten ist. Wir machen da etwas ganz Spezielles«, sagt Peeta und beschreibt kurz die Sache mit dem Brot.

»Waren eure Familien dabei?«, fragt Caesar.

»Nein, wir haben niemandem davon erzählt. Nicht einmal Haymitch. Und Katniss’ Mutter wäre bestimmt nicht einverstanden gewesen. Aber wir wussten ja, wenn wir im Kapitol heiraten, dann findet das Ritual nicht statt. Und wir wollten beide nicht länger warten. Also haben wir es eines Tages einfach gemacht«, sagt Peeta. »Und wir fühlen uns mehr verheiratet, als wir es durch irgendein Stück Papier oder eine große Feier könnten.«

»Dann war das also vor der Ankündigung des Jubel-Jubiläums?«, fragt Caesar.

»Ja, natürlich war das vorher. Bestimmt hätten wir es niemals getan, nachdem wir davon wussten«, sagt Peeta. Er redet sich in Rage. »Aber wer hätte das kommen sehen? Niemand. Wir haben die Spiele durchgemacht, wir wurden Sieger, alle schienen so begeistert zu sein, uns zusammen zu sehen, und dann, aus dem Nichts - ich meine, wie hätten wir das vorhersehen können?«

»Das konntet ihr nicht, Peeta.« Caesar legt ihm einen Arm um die Schultern. »Wie du sagst, das konnte niemand. Doch ich muss zugeben, ich bin froh, dass ihr beide wenigstens ein paar glückliche Monate miteinander hattet.«

Tosender Applaus. Als wäre ich dadurch ermutigt, hebe ich den Blick von den Federn und zeige dem Publikum zum Dank ein tragisches Lächeln. Von dem Rauch in den Federn tränen mir passenderweise die Augen.

»Ich bin nicht froh«, sagt Peeta. »Mir wäre es lieber, wir hätten bis zur offiziellen Trauung gewartet.«

Das überrascht sogar Caesar. »Aber selbst eine kurze Zeit ist doch besser als gar nichts, oder?«

»Vielleicht würde ich auch so denken, Caesar«, sagt Peeta bitter. »Wenn das Baby nicht wäre.«

Da. Er hat es schon wieder geschafft. Hat eine Bombe hochgehen lassen, die alle Anstrengungen der Tribute vor ihm zunichtemacht. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht hat er dieses Jahr nur eine Bombe gezündet, die die Sieger selbst gebaut haben. In der Hoffnung, dass jemand sie zur Explosion bringen würde. Zum Beispiel ich in meinem Brautkleid. Sie wissen ja nicht, wie abhängig ich von Cinnas Talenten bin, während Peeta nur seinen Grips benötigt.

Als Echo auf die Bombe fliegen Vorwürfe in alle Richtungen: ungerecht, barbarisch, grausam. Selbst der Kapitolhörigste, Spielehungrigste, Blutrünstigste im Publikum kann nicht übersehen, wenigstens für einen Augenblick, wie entsetzlich das alles ist.

Ich bin schwanger.

Die Zuschauer können die Neuigkeit nicht sofort erfassen. Sie muss erst geschluckt und verarbeitet und von anderen Stimmen bestätigt werden, ehe Laute zu hören sind wie von einer Herde verwundeter Tiere, sie stöhnen, schreien und rufen um Hilfe. Und ich? Ich weiß, dass mein Gesicht in Großaufnahme auf dem Bildschirm zu sehen ist, doch ich unternehme keine Anstrengung, es zu verbergen. Denn einen Moment lang muss selbst ich das verarbeiten, was Peeta gerade gesagt hat. Ist es nicht genau das, was mich am meisten an der Hochzeit, an der Zukunft geängstigt hat - dass ich meine Kinder an die Spiele verlieren könnte? Und jetzt könnte es Wirklichkeit werden. Wenn ich nicht mein Leben lang Abwehrmauern errichtet hätte, bis ich schon bei der bloßen Andeutung von Heirat oder Familie zurückschrecke.

Caesar bekommt die Menge nicht mehr in den Griff, nicht einmal, als das Signal ertönt. Peeta nickt zum Abschied und geht ohne ein weiteres Wort zurück zu seinem Platz. Ich sehe, wie Caesars Lippen sich bewegen, doch im Publikum herrscht der reinste Aufruhr und ich verstehe kein Wort. Einzig das Getöse der Nationalhymne, so laut aufgedreht, dass es mir durch Mark und Bein geht, zeigt uns an, wo wir mit dem Programm angekommen sind. Ich stehe automatisch auf und spüre, dass Peeta nach meiner Hand fasst. Als ich sie ergreife, laufen ihm Tränen über das Gesicht. Wie echt sind die Tränen? Sind sie ein Zeichen dafür, dass er von denselben Ängsten verfolgt wird wie ich? Wie jeder Sieger? Wie alle Eltern in jedem Distrikt von Panem?

Ich schaue wieder ins Publikum, doch die Gesichter von Rues Mutter und Vater schieben sich vor meine Augen. Ihre Trauer. Ihr Verlust. Ich drehe mich spontan zu Chaff um und reiche ihm die Hand. Meine Finger schließen sich um den Stumpf, in dem sein Arm jetzt ausläuft, und halten ihn fest.

Und dann geschieht es. Von einem Ende der Reihe bis zum anderen reichen sich die Sieger die Hände. Einige spontan, wie die Morfixer und Wiress und Beetee. Andere unsicher, aber mitgerissen durch die Aufforderung der anderen, wie Brutus und Enobaria. Als die letzten Töne der Hymne erklingen, stehen wir alle vierundzwanzig in einer geschlossenen Reihe - seit den Dunklen Tagen ist das wohl die erste öffentliche Demonstration von Einheit unter den Distrikten. Man sieht, wie diese Erkenntnis durchdringt, als die Bildschirme einer nach dem anderen schwarz werden. Doch zu spät. In der allgemeinen Verwirrung haben sie uns nicht rechtzeitig abgeschaltet. Alle haben es gesehen.

Auch auf der Bühne bricht Chaos aus, die Scheinwerfer erlöschen, und wir stolpern zurück zum Trainingscenter. Ich habe Chaff verloren, aber Peeta führt mich zu einem Aufzug. Finnick und Johanna wollen mit hinein, doch ein gestresster Friedenswächter versperrt ihnen den Weg, und wir sausen allein nach oben.

In dem Moment, als wir den Aufzug verlassen, fasst Peeta mich bei den Schultern. »Wir haben nicht viel Zeit, also sag es mir jetzt. Muss ich mich für irgendetwas entschuldigen?«

»Für gar nichts«, sage ich. Es war ein gewagter Schritt ohne meine Einwilligung, aber ich bin nur froh, dass ich nichts davon wusste und keine Zeit hatte, ihm reinzureden; froh, dass mein schlechtes Gewissen Gale gegenüber meine Gefühle für das, was Peeta getan hat, nicht schmälern konnte. Und ich fühle mich gestärkt.

Irgendwo in weiter Ferne gibt es einen Distrikt 12, wo meine Mutter, meine Schwester und meine Freunde mit den Folgen dieses Abends leben müssen. Nur einen kleinen Flug mit dem Hovercraft entfernt liegt eine Arena, wo auf Peeta und mich und die anderen Tribute unsere Strafe wartet. Doch selbst wenn wir alle ein schreckliches Ende finden, ist heute Abend auf der Bühne etwas passiert, das nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann. Wir Sieger haben unseren eigenen Aufstand inszeniert und vielleicht, ganz vielleicht, wird es dem Kapitol nicht gelingen, ihn zu unterdrücken.

Wir warten auf die anderen, doch als die Fahrstuhltür aufgeht, erscheint nur Haymitch. »Das ist Wahnsinn da draußen. Sie haben alle nach Hause geschickt und die Zusammenfassung der Interviews im Fernsehen ist gestrichen.«

Peeta und ich laufen schnell zum Fenster und versuchen, in dem Tumult weit unter uns auf den Straßen etwas zu erkennen. »Was sagen sie?«, fragt Peeta. »Fordern sie den Präsidenten auf, die Spiele zu stoppen?«

»Ich glaube nicht, dass sie wissen, was sie fordern sollen. Die ganze Situation ist beispiellos. Schon die Vorstellung, sich den Plänen des Kapitols zu widersetzen, verwirrt die Leute hier«, sagt Haymitch. »Aber es ist ausgeschlossen, dass Snow die Spiele absetzt. Das wisst ihr doch, oder?«

Ich weiß es. Natürlich kann er jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zurückzuschlagen, und zwar mit voller Härte. »Sind die anderen nach Hause gegangen?«, frage ich.

»Das wurde ihnen befohlen. Ich weiß nicht, ob sie heil durch die Menschenmenge kommen«, sagt Haymitch.

»Dann werden wir Effie nie wiedersehen«, sagt Peeta. Im letzten Jahr haben wir sie am Morgen der Spiele nicht getroffen. »Richte ihr unseren Dank aus.«

»Mehr als das. Mach etwas ganz Besonderes daraus. Es ist schließlich Effie«, sage ich. »Sag ihr, wie sehr wir ihre Hilfe zu schätzen wissen, dass sie die beste Betreuerin aller Zeiten war, und sag ihr … sag ihr ganz liebe Grüße.«

Eine Zeit lang stehen wir nur schweigend da und zögern das Unvermeidliche hinaus. Dann spricht Haymitch es aus. »Und jetzt müssen wir uns wohl auch verabschieden.«

»Irgendeinen letzten Ratschlag?«, fragt Peeta.

»Bleibt am Leben«, sagt Haymitch schroff. Das ist schon fast ein Running Gag zwischen uns. Er nimmt uns beide kurz in den Arm, und ich weiß, dass es das Äußerste ist, was er ertragen kann. »Geht ins Bett. Ihr müsst euch ausruhen.«

Ich weiß, dass ich Haymitch eine ganze Menge sagen müsste, aber mir fällt nichts ein, was er nicht schon weiß, und außerdem ist meine Kehle so zugeschnürt, dass ich wahrscheinlich sowieso keinen Ton herausbringen würde. Also lasse ich schon wieder Peeta für uns beide sprechen.

»Pass auf dich auf, Haymitch«, sagt er.

Wir sind schon im Flur, als Haymitchs Stimme uns aufhält. »Katniss, wenn du in der Arena bist«, sagt er. Dann stockt er. Er blickt so finster, dass ich mir sicher bin, ihn jetzt schon enttäuscht zu haben.

»Was dann?«, frage ich abwehrend.

»Dann vergiss nicht, wer der Feind ist«, sagt Haymitch. »Das ist alles. Jetzt los. Raus mit euch.«

Wir gehen den Flur entlang. Peeta will in sein Zimmer, um die Schminke abzuwaschen, und in ein paar Minuten nachkommen, aber das lasse ich nicht zu. Wenn eine Tür zwischen uns zugeht, wird sie garantiert verschlossen, und dann muss ich die Nacht ohne ihn verbringen. Außerdem gibt es in meinem Zimmer auch eine Dusche. Ich weigere mich, seine Hand loszulassen.

Schlafen wir? Ich weiß es nicht. Wir verbringen die Nacht eng umschlungen, in einem Land zwischen Träumen und Wachen. Wir reden nicht. Keiner will den anderen stören und wir hoffen, so ein paar kostbare Minuten der Ruhe zu gewinnen.

Cinna und Portia kommen mit dem Morgengrauen, und ich weiß, dass Peeta gehen muss. Die Tribute müssen allein in die Arena. Er gibt mir einen flüchtigen Kuss. »Bis bald«, sagt er.

»Ja, bis bald«, antworte ich.

Cinna, der mir beim Ankleiden für die Spiele helfen wird, begleitet mich hinaus aufs Dach. Ich will schon die Leiter ins Hovercraft hinaufsteigen, als es mir einfällt. »Ich hab mich nicht von Portia verabschiedet.«

»Ich werde es ihr ausrichten«, sagt Cinna.

Der elektrische Strom hält mich oben auf der Leiter, bis der Arzt mir den Aufspürer in den linken Unterarm einpflanzt. Damit können sie mich in der Arena jederzeit finden. Das Hovercraft hebt ab, und ich schaue aus dem Fenster, bis es schwarz wird. Cinna drängt mich zu essen und dann, als er damit keinen Erfolg hat, zu trinken. Ich schaffe es, kleine Schlucke Wasser zu trinken, ich denke an die Tage im letzten Jahr, als ich so ausgetrocknet war, dass ich fast gestorben wäre. Und ich denke daran, dass ich meine Kraft brauche, um Peeta zu retten.

Als wir im Startraum der Arena ankommen, gehe ich unter die Dusche. Cinna flicht mir einen Zopf, ich ziehe einfache Unterwäsche an, und Cinna hilft mir mit dem Rest. In diesem Jahr gehen die Tribute in einem eng anliegenden blauen Overall aus hauchdünnem Stoff, der vorn mit einem Reißverschluss zugezogen wird. Dazu ein fünfzehn Zentimeter breiter gepolsterter Gurt aus glänzendem lila Plastik. Nylonschuhe mit Gummisohlen.

»Was hältst du davon?«, frage ich und halte Cinna den Stoff hin, damit er ihn fühlen kann.

Mit gerunzelter Stirn reibt er das dünne Material zwischen den Fingern. »Ich weiß nicht. Er wird wenig Schutz gegen Kälte oder Nässe bieten.«

»Und gegen Sonne?«, frage ich und stelle mir gleißende Sonne über einer öden Wüste vor.

»Vielleicht. Wenn er behandelt ist«, sagt er. »Ach, das hier hätte ich fast vergessen.« Er holt meine goldene Spotttölpelbrosche aus der Tasche und steckt sie mir an den Overall.

»Mein Kleid gestern Abend war wundervoll«, sage ich. Wundervoll und waghalsig. Aber das weiß Cinna natürlich.

»Ich dachte mir, dass es dir gefallen könnte«, sagt er mit einem gezwungenen Lächeln.

Genau wie letztes Jahr sitzen wir Hände haltend da, bis die Stimme mir sagt, ich soll mich startklar machen. Er begleitet mich zu der runden Metallplatte und zieht den Reißverschluss oben ganz zu. »Nicht vergessen, Mädchen in Flammen«, sagt er. »Ich setze immer noch auf dich.« Er küsst mich auf die Stirn und tritt zurück, als sich die Glasglocke über mich senkt.

»Danke«, sage ich, obwohl er mich wahrscheinlich nicht hören kann. Ich hebe das Kinn, trage den Kopf hoch, wie er mir immer rät, und warte darauf, dass die Metallplatte abhebt. Aber nichts passiert. Und immer noch nicht.

Ich schaue Cinna an und hebe fragend die Augenbrauen. Er schüttelt nur leicht den Kopf, genauso verwirrt wie ich. Weshalb die Verzögerung?

Plötzlich wird die Tür hinter ihm aufgerissen und drei Friedenswächter stürmen in den Raum. Zwei drehen Cinna die Arme auf den Rücken und legen ihm Handschellen an, während der dritte ihm mit solcher Gewalt gegen die Schläfe schlägt, dass er auf die Knie sinkt. Doch sie schlagen ihn mit ihren metallbesetzten Handschuhen immer weiter, bis er überall im Gesicht und am Körper klaffende Wunden hat. Ich schreie wie am Spieß, schlage gegen das Glas, das nicht nachgibt, und versuche, zu ihm zu gelangen. Die Friedenswächter beachten mich gar nicht, sie ziehen Cinnas schlaffen Körper aus dem Raum. Nur die Blutspuren auf dem Boden bleiben übrig.

Elend und panisch merke ich, wie die Metallplatte abhebt. Ich bin immer noch an das Glas gelehnt, als mir eine Brise in die Haare fährt und ich mich zwinge, aufrecht zu stehen. Gerade noch rechtzeitig, denn jetzt entfernt sich das Glas und ich stehe ungeschützt in der Arena. Irgendetwas scheint mit meinen Augen nicht zu stimmen. Der Boden ist zu hell und leuchtend und hört nicht auf zu schwanken. Mit zusammengekniffenen Augen schaue ich auf meine Füße und sehe, dass die Metallplatte von blauen Wellen umgeben ist, die über meine Stiefel schwappen. Langsam hebe ich den Blick und sehe das Wasser, das sich in alle Richtungen erstreckt.

Ich kann nur einen klaren Gedanken fassen.

Das ist kein Ort für ein Mädchen in Flammen.

Teil 3

Der Feind


19

»Meine Damen und Herren, die fünfundsiebzigsten Hungerspiele sind eröffnet!« Die Stimme von Claudius Templesmith, dem Moderator der Hungerspiele, hämmert mir in den Ohren. Ich habe weniger als eine Minute Zeit, mich zu orientieren. Dann wird der Gong ertönen und die Tribute können sich von ihren Metallplatten entfernen. Doch wohin?

Ich kann nicht klar denken. Die ganze Zeit habe ich Cinna vor Augen, wie er blutig am Boden liegt. Wo ist er jetzt? Was tun sie ihm an? Foltern sie ihn? Bringen sie ihn um? Verwandeln sie ihn in einen Avox? Offenbar sollte der Anschlag auf ihn mich aus dem Gleichgewicht bringen, genauso wie Darius’ plötzliches Auftauchen in meinem Quartier. Und er hat mich wirklich aus dem Gleichgewicht gebracht. Am liebsten würde ich auf meiner Metallplatte zusammenbrechen. Aber nach allem, was ich gerade mit angesehen habe, ist das kaum möglich. Ich muss stark sein. Das bin ich Cinna schuldig, der alles riskiert hat, indem er Präsident Snow verhöhnt und mein Brautkleid in das Gefieder eines Spotttölpels verwandelt hat. Und ich bin es den Rebellen schuldig, die, durch Cinnas Beispiel ermutigt, in diesem Moment vielleicht kämpfen, um das Kapitol zu stürzen. Meine Weigerung, die Spiele nach den Regeln des Kapitols zu spielen, soll mein letzter rebellischer Akt sein. Also beiße ich die Zähne zusammen und mache gute Miene zum bösen Spiel.

Wo bin ich? Ich werde aus meiner Umgebung immer noch nicht schlau. Wo bin ich?! Ich verlange eine Antwort von mir und langsam bekommt die Welt Konturen. Blaues Wasser. Rosa Himmel. Weiß gleißende Sonne, die vom Himmel knallt. Ach ja, da ist das Füllhorn aus goldglänzendem Metall, etwa vierzig Meter entfernt. Erst sieht es so aus, als befände es sich auf einer runden Insel. Doch bei genauerem Hinsehen erkenne ich schmale Streifen Land, die strahlenförmig von der Füllhorninsel ausgehen wie die Speichen eines Rades. Es sind schätzungsweise zehn bis zwölf und sie scheinen alle den gleichen Abstand voneinander zu haben. Zwischen den Speichen ist nur Wasser. Wasser und je zwei Tribute.

So ist das also. Es gibt zwölf Speichen, dazwischen jeweils zwei Tribute, die sich auf Metallplatten halten. Der zweite Tribut in meinem Wasserkeil ist der alte Woof aus Distrikt 8. Er befindet sich zu meiner Rechten, etwa genauso weit entfernt wie der Landstreifen zu meiner Linken. Jenseits des Wassers liegt, wohin man auch blickt, ein schmaler Strand und dahinter dichtes Grün. Ich suche den Kreis nach Tributen ab, halte nach Peeta Ausschau, doch das Füllhorn versperrt mir den Blick.

Ich schöpfe eine Handvoll Wasser und rieche daran. Dann berühre ich mit dem nassen Finger meine Zunge. Salzwasser, ganz wie ich gedacht habe. Genau wie die Wellen, die Peeta und ich auf unserem kurzen Abstecher zum Strand in Distrikt 4 gesehen haben. Aber immerhin scheint es sauber zu sein.

Es gibt keine Boote, keine Seile, nicht mal ein bisschen Treibholz, an dem man sich festhalten könnte. Nein, es gibt nur einen Weg zum Füllhorn. Als der Gong ertönt, zögere ich nicht und tauche nach links. Es ist weiter, als ich gewohnt bin, und durch die Wellen zu schwimmen, ist nicht so einfach wie das Schwimmen in meinem ruhigen See zu Hause, doch mein Körper fühlt sich eigenartig leicht an, und ich gleite mühelos durchs Wasser. Vielleicht liegt es an dem Salz. Tropfnass ziehe ich mich an Land und renne über den Sand bis zum Füllhorn. Ich sehe niemanden, der sich von meiner Seite her nähert, allerdings versperrt mir das goldene Horn zu einem Gutteil die Sicht. Doch ich lasse mich von dem Gedanken an mögliche Gegner nicht bremsen. Ich denke jetzt wie ein Karriero und als Erstes will ich mir eine Waffe schnappen.

Im letzten Jahr waren die Vorräte ziemlich weit um das Füllhorn herum verstreut und die wertvollsten Sachen befanden sich ganz nah am Horn. Doch in diesem Jahr scheint die Beute an der gut sechs Meter hohen Öffnung gestapelt zu sein. Mein Blick fällt sofort auf einen goldenen Bogen in Reichweite und ich reiße ihn heraus.

Da ist jemand hinter mir. Eine leichte Bewegung im Sand oder vielleicht nur eine Veränderung des Luftstroms hat mich alarmiert. Ich ziehe einen Pfeil aus dem Köcher, der immer noch in dem Stapel eingeklemmt ist, und während ich mich umdrehe, spanne ich die Sehne.

Da steht ein paar Meter von mir entfernt Finnick in all seiner Pracht, er hält einen Dreizack bereit. An seiner anderen Hand baumelt ein Netz. Er lächelt ein wenig, aber die Muskeln seines Oberkörpers sind schon gespannt. »Du kannst ja auch schwimmen«, sagt er. »Wo hast du das in Distrikt 12 gelernt?«

»Wir haben eine große Badewanne«, gebe ich zurück.

»Sieht ganz so aus«, sagt er. »Gefällt dir die Arena?«

»Nicht besonders. Aber dir doch sicherlich. Sie haben sie bestimmt extra für dich erbaut«, sage ich eine Spur bitter. So sieht es jedenfalls aus, mit all dem Wasser, denn garantiert kann nur eine Handvoll der Sieger schwimmen. Und im Trainingscenter gab es kein Schwimmbecken, keine Chance, es zu lernen. Entweder kommt man als Schwimmer hierher oder man sollte es schleunigst lernen. Selbst wer nur an dem anfänglichen Blutbad teilnehmen will, muss erst mal zwanzig Meter Wasser durchqueren. Damit hat Distrikt 4 einen gewaltigen Vorteil.

Einen Augenblick lang sind wir wie erstarrt, schätzen einander ab, die Waffen des anderen, sein Geschick. Da grinst Finnick plötzlich los. »Gut, dass wir Verbündete sind. Oder?«

Ich wittere eine Falle und will den Pfeil schon abschießen, in der Hoffnung, dass er sein Herz durchbohrt, bevor ich von dem Dreizack aufgespießt werde, doch da bewegt er die Hand, und etwas auf seinem Handgelenk blitzt in der Sonne auf. Ein Armreif aus massivem Gold mit Flammenmuster. Derselbe, den ich heute Morgen an Haymitchs Handgelenk gesehen habe, als ich mit dem Training anfing. Ganz kurz überlege ich, ob Finnick ihn gestohlen hat, um mich reinzulegen, aber irgendwie weiß ich, dass es nicht so ist. Haymitch hat ihm den Armreif gegeben. Als Zeichen für mich. Oder besser als Befehl. Ich soll Finnick vertrauen.

Ich höre weitere Schritte näher kommen. Ich muss mich sofort entscheiden. »Na gut!«, sage ich schroff, denn auch wenn Haymitch mein Mentor ist und versucht, mir das Leben zu retten, ärgert es mich. Warum hat er mir nichts von diesem Arrangement erzählt? Wahrscheinlich, weil Peeta und ich Verbündete ausgeschlossen hatten. Da hat Haymitch einfach selbst einen ausgesucht.

»Duck dich!«, kommandiert Finnick mich mit durchdringender Stimme, die so ganz anders ist als sein einschmeichelndes Gesäusel, dass ich gehorche. Sein Dreizack saust über meinen Kopf und ich höre einen ekelerregenden Schlag, als er sein Ziel trifft. Der Mann aus Distrikt 5, der Trinker, der sich bei der Schwertkampfstation übergeben hat, sinkt auf die Knie, während Finnick den Dreizack aus seiner Brust zieht. »1 und 2 darfst du nicht trauen«, sagt Finnick.

Es bleibt keine Zeit, das infrage zu stellen. Ich ziehe den Köcher mit den Pfeilen aus dem Stapel heraus. »Jeder eine Seite?«, sage ich. Er nickt und ich sause um den Stapel herum. Etwa vier Speichen weiter schaffen es Enobaria und Gloss gerade an Land. Entweder sind sie langsame Schwimmer, oder sie dachten, im Wasser könnten andere Gefahren lauern, was auch gut möglich ist. Manchmal sollte man sich gar nicht zu viele Gedanken machen. Aber jetzt, da sie am Strand sind, werden sie in wenigen Sekunden bei uns sein.

»Irgendwas Brauchbares?«, höre ich Finnick rufen.

Schnell suche ich den Stapel auf meiner Seite ab und finde Keulen, Schwerter, Pfeil und Bogen, Dreizacke, Messer, Speere, Äxte, Metallgegenstände, die ich nicht benennen kann … und sonst nichts.

»Waffen!«, rufe ich. »Nichts als Waffen!«

»Hier auch«, gibt er zur Antwort. »Schnapp dir irgendwas und dann weg hier!«

Ich schieße einen Pfeil auf Enobaria ab, die gefährlich nah gekommen ist, doch sie hat damit gerechnet und taucht wieder ins Wasser, ohne getroffen zu werden. Gloss ist nicht ganz so schnell, und ich jage ihm einen Pfeil in die Wade, als er in die Wellen springt. Ich hänge mir noch einen Bogen und einen zweiten Köcher mit Pfeilen um und stecke mir zwei lange Messer und eine Ahle, so ein spitzes Ding, mit dem man Löcher in Ledergürtel macht, in den Gurt. Dann laufe ich zurück zu Finnick.

»Mach was dagegen, ja?«, sagt er und deutet auf Brutus, der auf uns zugerannt kommt. Er hat den Gurt abgenommen und hält ihn wie einen Schild zwischen den Händen. Ich ziele und schieße, doch er wehrt den Pfeil mit dem Gurt ab, bevor er ihm die Leber durchbohren kann. Dort, wo der Pfeil den Gurt durchsticht, spritzt eine lilafarbene Flüssigkeit heraus und Brutus ins Gesicht. Als ich die Sehne erneut spanne, wirft er sich flach auf den Boden, rollt sich ein paar Meter bis zum Wasser und taucht unter. Ich höre, wie hinter mir etwas Metallisches zu Boden fällt. »Lass uns abhauen«, sage ich zu Finnick.

Während ich mit Brutus zugange war, haben Enobaria und Gloss es klammheimlich bis zum Füllhorn geschafft. Brutus ist in Schussweite und irgendwo ganz in der Nähe wird auch Cashmere sein. Diese vier klassischen Karrieros sind garantiert schon längst Verbündete. Wenn ich nur meine eigene Sicherheit zu bedenken hätte, würde ich es vielleicht mit ihnen aufnehmen, mit Finnick an meiner Seite. Doch ich denke an Peeta. Da entdecke ich ihn, er sitzt immer noch auf seiner Metallplatte. Ich laufe los, und Finnick folgt mir, ohne Fragen zu stellen, als hätte er gewusst, dass ich genau das tun würde. Als ich so nah wie möglich bei Peeta bin, ziehe ich die Messer aus meinem Gurt, ich will zu ihm schwimmen und ihn irgendwie an Land bringen.

Finnick legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich hole ihn.«

Misstrauen lodert in mir auf. Könnte das nur ein Trick sein? Erst mein Vertrauen gewinnen und dann zu Peeta schwimmen und ihn ertränken? »Das mach ich schon«, beharre ich.

Doch Finnick hat bereits alle Waffen fallen lassen. »Streng dich lieber nicht zu sehr an. Nicht in deinem Zustand«, sagt er und tätschelt mir den Bauch.

Ach ja, ich bin ja schwanger, denke ich. Während ich überlege, was er wohl denkt und wie ich mich verhalten soll - vielleicht mich übergeben oder so -, hat Finnick sich schon ans Ufer gestellt.

»Gib mir Deckung«, sagt er und taucht mit einem gekonnten Kopfsprung ins Wasser.

Ich halte den Bogen hoch, um alle Angreifer, die uns verfolgen könnten, vom Füllhorn fernzuhalten, aber anscheinend legt es niemand darauf an. Wie zu erwarten, haben sich Gloss, Cashmere, Enobaria und Brutus schon zusammengerottet und überlegen nun, welche Waffen sie nehmen sollen. Ein schneller Rundumblick verrät mir, dass die meisten Tribute immer noch auf ihren Platten festsitzen. Nein, Moment mal, da steht jemand auf der Speiche links neben mir, gegenüber von Peeta. Es ist Mags. Doch weder steuert sie das Füllhorn an, noch versucht sie zu fliehen. Stattdessen hüpft sie ins Wasser und paddelt auf mich zu, ihre grauen Haare tauchen immer wieder auf. Sie ist zwar alt, aber nach achtzig Jahren in Distrikt 4 kann sie sich vermutlich noch immer problemlos über Wasser halten.

Finnick ist jetzt bei Peeta und schleppt ihn ab, einen Arm um seine Brust gelegt, während er mit dem anderen mit leichten Schlägen durchs Wasser rudert. Peeta lässt sich willig mitziehen. Ich weiß nicht, wie Finnick ihn überzeugt hat, sich ihm zu überlassen - vielleicht hat er ihm den Armreif gezeigt. Vielleicht hat es Peeta auch genügt, dass ich auf ihn warte. Als sie den Strand erreichen, helfe ich dabei, Peeta aufs Trockene zu ziehen.

»Da bin ich wieder«, sagt er und gibt mir einen Kuss. »Wir haben Verbündete.«

»Ja. Ganz in Haymitchs Sinn«, sage ich.

»Hilf mir mal auf die Sprünge, haben wir sonst noch eine Abmachung mit irgendwem?«, fragt Peeta.

»Nur mit Mags, glaube ich.« Ich mache eine Kopfbewegung zu der alten Frau, die sich stoisch in unsere Richtung vorwärtskämpft.

»Mags kann ich nicht im Stich lassen«, sagt Finnick. »Sie ist eine der wenigen, die mich wirklich mögen.«

»Ich hab nichts gegen Mags«, sage ich. »Vor allem jetzt, wo ich die Arena sehe. Mit Mags’ Angelhaken haben wir bestimmt die besten Chancen, zu einer Mahlzeit zu kommen.«

»Katniss wollte sie ja schon vom ersten Tag an als Verbündete«, sagt Peeta.

»Katniss hat ein erstaunlich gutes Urteilsvermögen«, sagt Finnick. Er fasst mit der Hand ins Wasser und hebt Mags heraus, als wäre sie so leicht wie ein Hündchen. Sie macht irgendeine Bemerkung, in der ich das Wort »treiben« herauszuhören meine, dann klopft sie auf ihren Gurt.

»Guck mal, sie hat recht. Und da hat es noch jemand rausgekriegt.« Finnick zeigt auf Beetee. Er rudert mit den Armen wild durch die Wellen, schafft es aber, den Kopf über Wasser zu halten.

»Was?«, frage ich.

»Die Gurte. Das sind Schwimmhilfen«, sagt Finnick. »Bewegen muss man sich aus eigener Kraft, aber immerhin bewahren die Dinger einen vor dem Ertrinken.«

Fast hätte ich Finnick gebeten, auf Beetee und Wiress zu warten und sie mitzunehmen, aber Beetee ist drei Speichen weit entfernt und Wiress sehe ich nicht mal. Ich schätze, Finnick würde sie genauso schnell umbringen wie den Tribut aus Distrikt 5, deshalb schlage ich lieber vor weiterzugehen. Ich reiche Peeta einen Bogen, einen Köcher mit Pfeilen und ein Messer, den Rest behalte ich für mich. Doch Mags zieht mich am Ärmel und redet auf mich ein, bis ich ihr die Ahle gebe. Erfreut klemmt sie sich den Griff zwischen den zahnlosen Kiefer und streckt die Arme nach Finnick aus. Er wirft sein Netz über die Schulter, hebt Mags hoch, nimmt den Dreizack in die freie Hand, und dann rennen wir davon, fort vom Füllhorn.

Hinter dem Strand erhebt sich ein Wald mit hohen Bäumen. Nein, eigentlich kein Wald. Jedenfalls nicht so einer, wie ich ihn kenne. Ein Dschungel. Das fremde, fast schon veraltete Wort fällt mir ein. Ich habe es in irgendwelchen Hungerspielen gehört oder von meinem Vater gelernt. Die meisten Bäume kenne ich nicht, sie haben glatte Stämme und nur wenige Äste. Die Erde ist ganz schwarz und schwammig, an vielen Stellen wird sie verdeckt von einem Rankengewirr mit bunten Blüten. Die Sonne ist gleißend, die Luft feuchtwarm und schwer; ich habe das Gefühl, dass man hier niemals richtig trocken wird. Der dünne blaue Stoff meines Overalls lässt das Meerwasser schnell verdunsten, aber jetzt klebt er schon vor Schweiß an mir.

Peeta übernimmt die Führung, er bahnt sich mit dem langen Messer einen Weg durchs dichte Gestrüpp. Ich lasse Finnick an zweiter Stelle gehen, denn auch wenn er der Stärkste ist, mit Mags hat er alle Hände voll zu tun. Außerdem kann er zwar großartig mit dem Dreizack umgehen, aber der ist hier im Dschungel weniger nützlich als meine Pfeile. Bei der Hitze und den Steigungen dauert es nicht lange, bis wir außer Atem geraten. Doch Peeta und ich haben hart trainiert, und Finnick hat so eine außergewöhnliche Konstitution, dass er sogar mit Mags über der Schulter eineinhalb Kilometer zügig marschiert, ehe er um eine Pause bittet. Und selbst dann scheint er das eher für Mags zu tun als für sich selbst.

Durch das Laub ist das Rad im Wasser nicht mehr zu sehen, deshalb klettere ich auf einen Baum mit gummiartigen Ästen, um etwas zu erkennen. Ich bereue es sofort.

Um das Füllhorn herum scheint der Boden zu bluten, das Wasser ist dunkelrot gefleckt. Leichen liegen auf dem Boden und treiben im Wasser, doch aus dieser Entfernung kann ich nicht erkennen, wer tot ist und wer lebt, zumal alle die gleiche Kleidung tragen. Ich sehe nur, dass einige der kleinen blauen Gestalten immer noch kämpfen. Nun ja, was hatte ich erwartet? Dass die geschlossene Kette der Sieger gestern Abend eine Art allgemeinen Waffenstillstand in der Arena bedeuten würde? Nein, das habe ich nie gedacht. Aber ich hatte wohl gehofft, dass die Leute ein bisschen … Zurückhaltung zeigen würden? Oder wenigstens Widerstreben. Bevor sie sich ins Gemetzel stürzen. Dabei kanntet ihr euch alle, denke ich. Man hatte den Eindruck, ihr wärt Freunde.

Ich habe nur einen richtigen Freund hier drin. Und der stammt nicht aus Distrikt 4.

Ich lasse mir von der schwachen, feuchten Brise die Wangen kühlen, während ich zu einer Entscheidung gelange. Trotz des Armreifs sollte ich es einfach hinter mich bringen und Finnick erschießen. Dieses Bündnis hat einfach keine Zukunft. Und er ist zu gefährlich, um ihn laufen zu lassen. Vielleicht ist jetzt, da wir sein zögerliches Vertrauen haben, meine einzige Chance, ihn zu töten. Ich könnte ihm leicht einen Pfeil in den Rücken schießen, während wir gehen. Das ist natürlich verachtenswert, aber wird es weniger verachtenswert, wenn ich warte? Ihn besser kennenlerne? Ihm noch mehr zu verdanken habe? Nein, jetzt ist der richtige Moment. Von meinem Baum aus schaue ich ein letztes Mal zu den Kämpfenden, auf die blutige Erde, um mich in meinem Entschluss zu bestärken, dann lasse ich mich zu Boden gleiten.

Doch als ich unten ankomme, merke ich, dass Finnick mit meinen Gedanken Schritt gehalten hat. Als wüsste er, was ich gesehen habe und wie es auf mich gewirkt haben muss. Er hat seinen Dreizack in einer lässigen Verteidigungshaltung erhoben.

»Was ist da unten los, Katniss? Halten sie sich alle an den Händen? Haben sie die Waffen ins Meer geworfen, um dem Kapitol die Stirn zu bieten?«, fragt Finnick.

»Nein«, sage ich.

»Nein«, wiederholt er. »Denn was gestern passiert ist, war gestern. Keiner in dieser Arena ist zufällig Sieger geworden.« Er wirft einen Seitenblick zu Peeta. »Außer vielleicht Peeta.«

Dann weiß Finnick also, was Haymitch und ich wissen. Über Peeta. Dass er wirklich und wahrhaftig besser ist als wir anderen. Finnick hat diesen Tribut aus Distrikt 5 umgelegt, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wie lange habe ich gebraucht, um mich zum Töten zu entschließen? Ich habe auf Enobaria und Gloss und Brutus gezielt. Peeta hätte wenigstens erst mal versucht zu verhandeln. Hätte versucht, ein breiteres Bündnis herzustellen. Aber mit welchem Ziel? Finnick hat recht. Und ich habe recht. Diejenigen, die jetzt und hier in der Arena sind, wurden nicht für ihre Barmherzigkeit zu Siegern gekrönt.

Ich halte seinem Blick stand, schätze ab, wer von uns beiden schneller ist. Die Zeit, die ich brauche, um ihm einen Pfeil durchs Hirn zu jagen, gegen die Zeit, die sein Dreizack bis zu mir braucht. Ich sehe, wie er darauf wartet, dass ich den ersten Schritt mache. Er wägt ab, ob er sich lieber schützen oder direkt zum Angriff übergehen soll. Ich spüre, dass wir beide so weit sind, als Peeta sich zwischen uns stellt.

»Wie viele sind tot?«, fragt er.

Aus dem Weg, du Idiot, denke ich. Aber er weicht nicht von der Stelle.

»Schwer zu sagen«, antworte ich. »Mindestens sechs, glaube ich. Und sie kämpfen immer noch.«

»Kommt, wir gehen weiter. Wir brauchen Wasser«, sagt er.

Bis jetzt gibt es keinen Hinweis auf einen Bach oder Tümpel und das Salzwasser kann man nicht trinken. Wieder denke ich an die letzten Spiele, als ich fast verdurstet wäre.

»Wir sollten zusehen, dass wir schnell welches finden«, sagt Finnick. »Heute Nacht müssen wir uns verstecken, da machen die anderen Jagd auf uns.«

Wir. Uns. Jagd. Na gut, vielleicht wäre es etwas voreilig, Finnick jetzt umzubringen. Bisher war er hilfsbereit. Haymitch hat ihn abgesegnet. Und wer weiß, was die Nacht bereithält?

Schlimmstenfalls kann ich ihn immer noch abmurksen, während er schläft. Also lasse ich die Gelegenheit verstreichen. Wie Finnick.

Die Tatsache, dass wir kein Wasser haben, verstärkt meinen Durst. Ich halte gut Ausschau, während wir weiter bergauf gehen, doch ohne Erfolg. Nach einem weiteren Kilometer sehe ich das Ende des Waldes und schließe daraus, dass wir gleich auf dem Gipfel des Hügels angelangt sind. »Vielleicht haben wir auf der anderen Seite mehr Glück. Vielleicht finden wir da eine Quelle oder so.«

Aber es gibt keine andere Seite. Das weiß ich als Erste, obwohl ich am weitesten vom Gipfel entfernt bin. Mein Blick fällt auf ein merkwürdiges geriffeltes Viereck, das wie eine verzogene Fensterscheibe in der Luft hängt. Erst denke ich, es ist der Glanz der Sonne oder die Hitze, die über dem Boden flimmert. Doch es bleibt immer an derselben Stelle, wandert nicht mit, als ich weitergehe. Urplötzlich stelle ich die Verbindung zwischen dem Viereck und Wiress und Beetee im Trainingscenter her, und ich begreife, was da vor uns liegt. Ich habe den Warnruf auf den Lippen, aber er kommt zu spät: Peeta schwingt schon das Messer, um einige Ranken wegzuschlagen.

Ein lautes Zischeln ertönt. Einen Moment lang sind die Bäume verschwunden und auf einem kleinen Fleck sehe ich die nackte Erde. Dann wird Peeta von dem Kraftfeld zurückgeschleudert und reißt Finnick und Mags mit zu Boden.

Ich renne zu ihm, reglos liegt er in einem Geflecht aus Ranken. »Peeta?« Es riecht schwach nach versengten Haaren. Wieder rufe ich seinen Namen, rüttele an ihm, doch er reagiert nicht. Ich streiche über seine Lippen, und dort ist kein warmer Atem, obwohl er eben noch gekeucht hat. Ich lege das Ohr an seine Brust, dorthin, wo ich immer den Kopf ausruhe, wo ich den starken, gleichmäßigen Schlag seines Herzens höre. Aber es ist ganz still.

20

»Peeta!«, schreie ich. Ich rüttele fester, gebe ihm sogar eine Ohrfeige, aber es hat keinen Sinn. Sein Herz hat versagt. Meine Schläge gehen ins Leere. »Peeta!«

Finnick lehnt Mags an einen Baum und schiebt mich beiseite. »Lass mich mal.« Er berührt Punkte an Peetas Hals, fährt über seine Rippen und die Wirbelsäule. Dann hält er Peeta die Nase zu.

»Nein!«, schreie ich und stürze mich auf Finnick. Bestimmt will er sich vergewissern, dass Peeta tot ist, dass keine Hoffnung besteht, er könne je wieder zum Leben erwachen. Finnick hebt die Hand und schlägt mir so fest vor die Brust, dass ich gegen den nächsten Baumstamm fliege. Einen Augenblick lang bin ich benommen von dem Schmerz und versuche nur, wieder zu Atem zu kommen. Finnick hält Peeta wieder die Nase zu. Im Sitzen ziehe ich einen Pfeil heraus, lege an und will ihn schon abschießen, als Finnick sich herunterbeugt und Peeta küsst. Und das ist selbst für Finnicks Verhältnisse so absurd, dass ich innehalte. Aber nein, er küsst ihn nicht. Er hält Peeta die Nase zu, den Mund jedoch geöffnet, und jetzt bläst er ihm Luft in die Lunge. Ich kann es sehen, ich sehe regelrecht, wie Peetas Brust sich hebt und senkt. Dann öffnet Finnick den Reißverschluss von Peetas Overall und presst die Handballen auf Peetas Herz. Jetzt, da ich den Schock überwunden habe, begreife ich, was er macht.

Ich habe meine Mutter schon mal bei so was beobachtet, allerdings nur ganz selten. Wenn in Distrikt 12 jemandem das Herz versagt, schafft die Familie es meist nicht, ihn rechtzeitig zu meiner Mutter zu bringen. Ihre Patienten haben gewöhnlich Verbrennungen erlitten, sie sind verwundet oder krank. Oder ausgehungert natürlich.

Aber Finnick kommt aus einer anderen Welt. Er weiß, was er tut, das hat er auf jeden Fall schon öfter gemacht. Er geht methodisch vor, in einem festgelegten Rhythmus. Ich lasse den Pfeil zu Boden sinken, lehne mich zurück und warte verzweifelt auf ein Zeichen des Erfolgs. Quälende Minuten verstreichen und meine Hoffnung schrumpft. Als ich zu dem Schluss komme, dass es zu spät ist, dass Peeta tot ist, weitergezogen, für immer unerreichbar, hustet er leicht, und Finnick lehnt sich zurück.

Ich werfe meine Waffen weg und stürze zu ihm. »Peeta?«, flüstere ich. Ich streiche ihm die feuchten blonden Haarsträhnen aus der Stirn, spüre, wie der Puls an seinem Hals gegen meine Finger pocht.

Seine Lider gehen flatternd auf und er schaut mir in die Augen. »Pass auf«, sagt er schwach. »Da vorn ist ein Kraftfeld.«

Ich lache, aber Tränen laufen mir über die Wangen.

»Muss stärker sein als das im Trainingscenter«, sagt er. »Aber mir geht’s gut. Bin nur ein bisschen fertig.«

»Du warst tot! Dein Herz stand still!«, platze ich heraus, ehe ich darüber nachdenken kann, ob das klug ist. Ich schlage mir die Hand vor den Mund, denn jetzt kommen diese schrecklichen erstickten Laute heraus, wie immer, wenn ich schluchze.

»Na, jetzt scheint’s ja wieder zu schlagen«, sagt er. »Es ist alles gut, Katniss.« Ich nicke, doch die Geräusche hören nicht auf. »Katniss?« Jetzt macht Peeta sich Sorgen um mich, was das Ganze noch verrückter macht.

»Alles okay. Sind nur ihre Hormone«, sagt Finnick. »Wegen des Babys.« Ich schaue auf. Finnick kniet da und lehnt sich zurück, immer noch ein wenig keuchend vom Anstieg und der Hitze und der Anstrengung, Peeta wieder zum Leben zu erwecken.

»Nein. Das ist es nicht …«, stoße ich hervor, aber da werde ich von einem noch hysterischeren Heulkrampf übermannt, eine weitere Bestätigung für Finnicks Bemerkung mit dem Baby. Er schaut mir in die Augen und ich starre ihn durch die Tränen hindurch wütend an. Ich weiß, es ist idiotisch, dass ich mich so über ihn ärgere. Ich wollte Peeta unbedingt das Leben retten, ich konnte es nicht, und Finnick konnte es, also müsste ich ihm einfach nur dankbar sein. Das bin ich ja auch. Aber zugleich bin ich wütend, denn es bedeutet, dass ich Finnick Odair für immer und ewig zu Dank verpflichtet sein werde. Wie soll ich ihn da umbringen, während er schläft?

Ich hätte einen selbstzufriedenen oder sarkastischen Gesichtsausdruck erwartet, doch er sieht seltsam verwirrt aus. Er schaut zwischen Peeta und mir hin und her, als wollte er etwas herausfinden, dann schüttelt er leicht den Kopf, als könnte er so besser denken. »Wie geht es dir?«, fragt er Peeta. »Meinst du, du kannst weiter?«

»Nein, er muss sich ausruhen«, sage ich. Meine Nase läuft wie verrückt, und ich habe nicht mal einen Stofffetzen, den ich als Taschentuch benutzen könnte. Mags reißt eine Handvoll loses Moos von einem Ast ab und gibt es mir. Ich bin zu durcheinander, um mich darüber zu wundern. Ich putze mir lautstark die Nase und wische mir die Tränen ab. Das Moos fühlt sich schön an. Es ist saugfähig und überraschend weich.

Ich bemerke etwas Goldschimmerndes auf Peetas Brust. Ich strecke die Hand aus und fasse es an: eine Scheibe, die an einer Kette um seinen Hals hängt. Darauf ist mein Spotttölpel eingraviert. »Ist das dein Talisman?«, frage ich.

»Ja. Stört es dich, dass ich deinen Spotttölpel übernommen habe? Ich wollte, dass wir das gleiche Zeichen haben«, sagt er.

»Nein, warum sollte mich das stören?«, sage ich. Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Dass Peeta mit einem Spotttölpel in der Arena auftaucht, ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits gibt es den Rebellen in den Distrikten bestimmt Auftrieb. Andererseits wird Präsident Snow es kaum übersehen, und das macht es noch schwieriger, Peeta das Leben zu retten.

»Wollt ihr euch hier häuslich niederlassen, oder was?«, fragt Finnick.

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre«, antwortet Peeta. »Ohne Wasser und ohne Schutz hierzubleiben. Mir geht es wirklich schon wieder ganz gut. Wir müssen eben langsam gehen.«

»Besser langsam als gar nicht.« Finnick hilft Peeta auf und ich reiße mich zusammen. Seit ich heute Morgen aufgestanden bin, habe ich mit angesehen, wie Cinna zu Brei geschlagen wurde, ich bin zum zweiten Mal in einer Arena gelandet und habe Peeta sterben sehen. Ich bin froh, dass Finnick die Schwangerschaft für mich ins Feld führt, denn aus Sicht eines Sponsors mache ich meine Sache nicht besonders gut.

Ich überprüfe meine Waffen, obwohl ich weiß, dass sie völlig in Ordnung sind, aber so sieht es aus, als hätte ich alles im Griff. »Ich gehe voran«, verkünde ich.

Peeta will widersprechen, doch Finnick schneidet ihm das Wort ab. »Nein, lass sie das machen.« Er sieht mich mit finsterer Miene an. »Du wusstest, dass da ein Kraftfeld war, stimmt’s? Im allerletzten Moment wolltest du uns warnen.« Ich nicke. »Woher wusstest du es?«

Ich zögere. Es könnte gefährlich sein, wenn ich verrate, dass ich den Trick von Beetee und Wiress habe. Ich weiß nicht, ob die Spielmacher es beim Training mitbekommen haben. Ich bin im Besitz einer sehr wertvollen Information. Und wenn sie das wissen, könnten sie das Kraftfeld so verändern, dass ich das Flimmern nicht mehr erkenne. Also lüge ich. »Ich weiß nicht. Es ist fast, als könnte ich es hören. Horcht mal.« Wir sind alle still. Wir hören Insekten, Vögel, den leichten Wind in den Blättern.

»Ich höre nichts«, sagt Peeta.

»Doch«, sage ich. »Es ist wie in Distrikt 12, wenn der Zaun angeschaltet ist, nur viel, viel leiser.« Wieder lauschen sie konzentriert. Auch ich lausche, obwohl es nichts zu hören gibt. »Da!«, sage ich. »Hört ihr? Genau aus der Richtung, wo Peeta den Schlag gekriegt hat.«

»Ich höre auch nichts«, sagt Finnick. »Aber wenn du es hörst, dann geh auf jeden Fall voran.«

Ich beschließe, das Spiel auf Teufel komm raus weiterzuspielen. »Komisch«, sage ich. Ich drehe den Kopf hin und her, als wäre ich ganz verwundert. »Ich höre es nur mit dem linken Ohr.«

»Mit dem Ohr, das die Ärzte repariert haben?«, fragt Peeta.

»Ja«, sage ich, dann zucke ich die Achseln. »Vielleicht haben sie es besser hingekriegt, als sie dachten. Weißt du, manchmal höre ich links echt komische Sachen. Sachen, von denen man gar nicht denkt, dass sie Geräusche machen. Zum Beispiel Insektenflügel. Oder Schnee, der auf den Boden fällt.« Genial. Jetzt werden sie sich auf die Chirurgen stürzen, die mein taubes Ohr nach den Spielen im letzten Jahr operiert haben, und die werden erklären müssen, wieso ich auf einmal hören kann wie eine Fledermaus.

»Du«, sagt Mags. Sie schiebt mich vorwärts und ich übernehme die Führung. Da wir sowieso langsam gehen müssen, möchte Mags einen Ast als Gehhilfe. Im Handumdrehen hat Finnick ihr einen Spazierstock gebastelt. Für Peeta macht er auch einen Stock, und das ist gut so, denn Peeta protestiert zwar, aber ich glaube, dass er sich eigentlich am liebsten hinlegen würde. Finnick bildet das Schlusslicht, sodass wir wenigstens jemanden haben, der nach hinten absichert.

Das Kraftfeld zu meiner Linken, weil das ja angeblich die Seite mit meinem übermenschlichen Ohr ist, bewege ich mich vorwärts. Doch da das alles frei erfunden ist, schneide ich sicherheitshalber ein paar harte Nüsse ab, die wie Trauben an einem Baum hängen, und werfe sie vor mich, denn ich habe das Gefühl, dass mir die Flecken, an denen man ein Kraftfeld erkennt, meist entgehen. Immer wenn eine Nuss auf das Feld trifft, entsteht eine Rauchwolke, und dann landet die Nuss, schwarz und mit aufgebrochener Schale, zu meinen Füßen.

Nach einer Weile höre ich hinter mir ein schmatzendes Geräusch. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Mags eine Nuss aus der Schale pellt und in ihren bereits vollen Mund stopft. »Mags!«, schreie ich. »Spuck sie aus. Die könnten giftig sein.«

Sie murmelt irgendwas, beachtet mich jedoch nicht weiter und leckt sich genüsslich die Lippen. Ich schaue Hilfe suchend zu Finnick, aber der lacht nur. »Das werden wir schon merken«, sagt er.

Ich gehe weiter und wundere mich über Finnick, der die alte Mags gerettet hat, aber nichts dagegen unternimmt, dass sie unbekannte Nüsse isst. Den Haymitch abgesegnet hat. Der Peeta wieder zum Leben erweckt hat. Warum hat er ihn nicht einfach sterben lassen? Man hätte ihm nichts vorwerfen können. Ich hätte nie gedacht, dass es in seiner Macht stünde, ihn wiederzubeleben. Warum wollte er Peeta bloß retten? Und warum war er so wild entschlossen, sich mit mir zu verbünden? Und mich notfalls auch zu töten. Wobei er die Entscheidung, ob wir gegeneinander kämpfen, mir überlassen hat.

Ich gehe weiter, werfe meine Nüsse, entdecke hier und da einen Zipfel des Kraftfelds, versuche mich weiter links zu halten, einen Durchschlupf zu finden, weg vom Füllhorn und hoffentlich hin zu einer Wasserquelle. Doch nach etwa einer Stunde merke ich, dass es zwecklos ist. Wir kommen nicht weiter nach links. Der Weg scheint in einem Bogen um das Kraftfeld herum zu verlaufen. Ich bleibe stehen und schaue zu der humpelnden Mags, sehe den Schweiß auf Peetas Gesicht glänzen. »Kommt, wir machen hier eine Pause«, sage ich. »Ich muss mir das noch mal von oben angucken.«

Ich suche mir einen Baum aus, der noch höher gewachsen ist als die anderen. Ich klettere die gewundenen Aste hinauf und halte mich so dicht wie möglich am Stamm. Ich weiß ja nicht, wie schnell diese gummiartigen Äste brechen können. Trotzdem klettere ich höher, als ich sollte; ich muss sehen, was da los ist. Ich klammere mich an einen Ast, der nicht dicker ist als ein Setzling und in der feuchten Brise hin und her schwankt, und finde meinen Verdacht bestätigt. Es ist völlig klar, weshalb wir nicht weiter nach links kommen und auch nie kommen werden. Von diesem gewagten Aussichtspunkt kann ich zum ersten Mal die Form der gesamten Arena erkennen. Es ist ein vollkommener Kreis. Mit einem vollkommenen Rad in der Mitte. Der Himmel über diesem Kreis ist gleichmäßig rosa gefärbt. Und ich meine, zwei von diesen welligen Vierecken zu erkennen, die wunden Punkte, wie Wiress und Beetee sie genannt haben, denn sie verraten etwas, das verborgen bleiben soll, und sind deshalb Schwachstellen. Nur um ganz sicherzugehen, schieße ich einen Pfeil in die Luft über den Bäumen. Ein Lichtstrahl, ein Aufblitzen des echten blauen Himmels, dann fällt der Pfeil zurück in den Dschungel. Ich klettere vom Baum, um den anderen die schlechte Nachricht zu überbringen.

»Das Kraftfeld hält uns in einem Kreis gefangen. In einer Kuppel, genauer gesagt. Ich weiß nicht, wie hoch sie ist. Es gibt das Füllhorn, das Meer und den Dschungel drum herum. Ganz exakt. Ganz symmetrisch. Und nicht besonders groß«, sage ich.

»Hast du irgendwo Wasser gesehen?«, fragt Finnick.

»Nur das Salzwasser vom Anfang der Spiele«, sage ich.

»Es muss noch irgendwo anders Wasser geben«, sagt Peeta mit gerunzelter Stirn. »Sonst sind wir alle in wenigen Tagen tot.«

»Tja, das Laub ist dicht. Vielleicht gibt es irgendwo Tümpel oder Quellen«, sage ich zweifelnd. Mein Gefühl sagt mir, dass das Kapitol diese unpopulären Spiele vielleicht so schnell wie möglich hinter sich bringen will. Möglicherweise hat Plutarch Heavensbee schon den Befehl erhalten, uns zu erledigen. »Jedenfalls hat es keinen Zweck zu gucken, was hinter diesem Hügel ist, denn die Antwort lautet: Nichts.«

»Zwischen dem Kraftfeld und dem Rad muss es irgendwo Trinkwasser geben«, beharrt Peeta. Wir wissen alle, was das heißt. Wieder nach unten. Zurück zu den Karrieros und dem Blutbad. Und das, wo Mags kaum laufen kann und Peeta zu schwach zum Kämpfen ist.

Wir beschließen, ein paar Hundert Meter bergab dem Kreis zu folgen. Vielleicht gibt es auf dieser Höhe Wasser. Ich gehe wieder voran, pfeffere hin und wieder eine Nuss nach links, doch das Kraftfeld ist jetzt weiter weg. Die Sonne brennt auf uns herab, verwandelt die Luft in Dampf, spielt unseren Augen Streiche. Am Nachmittag ist klar, dass Peeta und Mags nicht mehr weiterkönnen.

Finnick wählt für die Rast einen Platz etwa zehn Meter unterhalb des Kraftfelds aus, er sagt, wir könnten es als Waffe einsetzen, indem wir unsere Feinde dorthin lenken, wenn sie uns angreifen. Dann pflücken er und Mags Blätter von dem harten Gras, das in zwei Meter hohen Büschen wächst, und weben daraus Matten. Da Mags die Nüsse offenbar gut vertragen hat, sammelt Peeta weitere und röstet sie, indem er sie gegen das Kraftfeld wirft. Geduldig pellt er die Schale ab und sammelt die Kerne auf einem Blatt. Ich stehe Wache, unruhig und schwitzend und mitgenommen von den Eindrücken des Tages.

Durst. Ich hab solchen Durst. Schließlich halte ich es nicht mehr aus. »Finnick, halt du doch mal Wache und ich suche noch ein bisschen nach Wasser«, sage ich. Keiner ist begeistert von meiner Idee, allein loszuziehen, aber die Gefahr auszutrocknen schwebt über uns.

»Keine Angst, ich gehe nicht weit«, verspreche ich Peeta.

»Ich komme mit«, sagt er.

»Nein, ich will auch auf die Jagd gehen, wenn möglich«, sage ich. Ich füge nicht hinzu: »Und du kannst nicht mitkommen, weil du zu laut bist.« Aber das versteht sich von selbst. Er würde die Beute verscheuchen und mich mit seinem schweren Schritt in Gefahr bringen. »Ich bleib nicht lange weg.«

Ich schleiche zwischen den Bäumen hindurch und stelle erfreut fest, dass man sich auf dem Boden hier sehr gut geräuschlos bewegen kann. Ich gehe schräg bergab, doch außer noch mehr üppigem Grün finde ich nichts.

Ein Kanonendonner lässt mich innehalten. Das anfängliche Gemetzel am Füllhorn ist offenbar vorbei. Jetzt können wir die Zahl der Toten erfahren. Ich zähle die Schüsse, jeder Schuss bedeutet einen toten Sieger. Acht. Weniger als letztes Jahr. Doch es kommt mir mehr vor, weil ich die meisten mit Namen kenne.

Ich fühle mich plötzlich schwach und lehne mich an einen Baum, um zu verschnaufen. Ich spüre, wie die Hitze meinem Körper wie einem Schwamm das Wasser entzieht. Schon jetzt fällt es mir schwer zu schlucken, ich beginne mich matt zu fühlen. Ich streiche mit der Hand über meinen Bauch in der Hoffnung, dass draußen im Kapitol eine mitfühlende Schwangere mich sponsert und dass Haymitch ein wenig Wasser schicken kann. Vergeblich. Ich sinke zu Boden.

Während ich so still dasitze, sehe ich die Tiere: merkwürdige Vögel mit prächtigem Gefieder, Baumleguane mit zuckender blauer Zunge und etwas, das aussieht wie eine Kreuzung aus Ratte und Opossum und sich an den Ästen nah am Stamm festhält. Ich erschieße eins, um es mir genauer anzuschauen. Es ist hässlich, keine Frage, ein großes Nagetier mit grau geflecktem Fell und zwei fiesen Nagezähnen, die über den Unterkiefer ragen. Während ich es ausnehme und häute, fällt mir noch etwas anderes auf. Die Schnauze ist nass. Als hätte das Tier aus einem Bach getrunken. Aufgeregt mache ich mich auf die Suche. Die Wasserquelle des Tiers kann nicht weit entfernt sein.

Nichts. Ich finde nichts. Nicht mal einen Tautropfen. Weil ich weiß, dass Peeta sich Sorgen um mich macht, kehre ich schließlich zu unserem Lager zurück, mir ist noch heißer als vorher und ich bin noch frustrierter.

Die anderen haben inzwischen das Lager wohnlich gemacht. Aus Grasmatten haben Mags und Finnick eine Art Hütte gebaut, an einer Seite offen, doch mit drei Wänden, einem Fußboden und einem Dach. Mags hat auch einige Schalen geflochten, die Peeta mit gerösteten Nüssen gefüllt hat. Hoffnungsvoll schauen die drei mich an, doch ich schüttele den Kopf. »Nichts. Kein Wasser. Aber es muss welches da sein. Das Tier hier wusste auch, wo«, sage ich und hebe das gehäutete Nagetier hoch, sodass alle es sehen können. »Kurz bevor ich es von seinem Baum herunterschoss, muss es getrunken haben, aber ich konnte die Quelle nicht finden. Ich hab in einem Umkreis von dreißig Metern jeden Fleck abgegrast.«

»Kann man es essen?«, fragt Peeta.

»Weiß nicht. Aber sein Fleisch sieht so ähnlich aus wie das eines Eichhörnchens. Es müsste gebraten werden …« Bei der Vorstellung, hier aus dem Nichts ein Feuer anzuzünden, zögere ich. Selbst wenn es mir gelingen sollte, ist da immer noch der Rauch. In dieser Arena sind wir alle so nah beieinander, dass ein Feuer nicht unentdeckt bliebe.

Peeta hat eine andere Idee. Er schneidet ein Stück Fleisch heraus, steckt es auf einen spitzen Stock und wirft diesen gegen das Kraftfeld. Ein scharfes Zischen ist zu hören, dann kommt der Stock zurückgeflogen. Der Fleischwürfel ist außen schwarz, innen jedoch gut durchgebraten. Wir klatschen Beifall, aber da fällt uns ein, wo wir sind, und wir halten schnell inne.

Als wir uns in der Hütte zusammensetzen, versinkt die weiße Sonne im rosigen Himmel. Ich traue den Nüssen immer noch nicht so ganz, aber Finnick sagt, dass Mags sie aus früheren Spielen kennt. Diesmal habe ich beim Training keine Zeit an der Station mit den essbaren Pflanzen verbracht, weil mir das im letzten Jahr so wenig genützt hat. Jetzt bereue ich es. Bestimmt wären dort einige der unbekannten Pflanzen um mich herum vorgekommen. Und ich hätte vielleicht eine Ahnung gehabt, wohin die Reise geht. Aber Mags scheinen sie gut zu bekommen, sie futtert diese Nüsse schon seit Stunden. Also nehme ich eine und knabbere ein wenig daran. Die Nuss hat einen milden, süßlichen Geschmack, ein bisschen wie eine Esskastanie. Ich komme zu dem Schluss, dass sie genießbar ist. Das Nagetier schmeckt streng nach Wild, ist aber überraschend saftig. Für unseren ersten Abend in der Arena ist das gar keine üble Mahlzeit. Wenn wir nur etwas zum Runterspülen hätten.

Finnick fragt mich über das Nagetier aus, das wir Baumratte nennen. Auf welcher Höhe es im Baum saß, wie lange ich es beobachtet habe, ehe ich schoss, und was es gemacht hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass es groß was gemacht hätte. Es hat nach Insekten geschnüffelt oder so.

Mir graut vor der Nacht. Immerhin bieten die dicht geflochtenen Grasmatten etwas Schutz vor dem, was nach einbrechender Dunkelheit womöglich über den Dschungelboden kriechen wird. Doch kurz nachdem die Sonne hinter den Horizont geglitten ist, geht ein blasser Mond auf, sodass wir gerade genug sehen können. Unsere Gespräche verstummen, denn wir wissen, was jetzt kommt. Wir stellen uns am Eingang der Hütte in einer Reihe auf und Peeta schiebt seine Hand in meine.

Der Himmel wird hell erleuchtet vom Wappen des Kapitols, das aussieht, als würde es im Himmel schweben. Während ich der Hymne lausche, denke ich: Für Finnick und Mags wird es schwerer. Aber dann ist es auch für mich schwer, die Gesichter der acht toten Sieger zu sehen, die in den Himmel projiziert werden.

Der Mann aus Distrikt 5, den Finnick mit seinem Dreizack umgebracht hat, erscheint als Erster. Das bedeutet, dass alle Tribute von 1 bis 4 noch am Leben sind - die vier Karrieros, Beetee und Wiress und natürlich Mags und Finnick. Auf den Mann aus Distrikt 5 folgen der männliche Morfixer aus 6, Cecelia und Woof aus 8, die beiden aus 9, die Frau aus 10 und Seeder aus 11. Danach erscheint wieder das Wappen des Kapitols mit ein wenig abschließender Musik und dann wird der Himmel dunkel bis auf den Mond.

Keiner sagt etwas. Ich kann nicht behaupten, ich hätte einen der Toten gut gekannt. Aber ich denke an die drei Kinder, die sich an Cecelia geklammert haben, als sie fortgebracht wurde.

Daran, wie freundlich Seeder bei unserer Begegnung im Trainingscenter zu mir war. Selbst der Gedanke an den Morfixer mit den glasigen Augen, wie er mir gelbe Blumen auf die Wangen malt, versetzt mir einen Stich. Alle tot. Alle weg.

Ich weiß nicht, wie lange wir noch so dagestanden hätten, wäre nicht ein silberner Fallschirm durch die Blätter geglitten und vor uns gelandet. Niemand streckt die Hände danach aus.

»Was glaubt ihr, für wen das ist?«, sage ich schließlich.

»Keine Ahnung«, sagt Finnick. »Was haltet ihr davon, wenn Peeta ihn bekommt? Weil er heute gestorben ist.«

Peeta knotet die Schnur auf und breitet das kreisrunde Stück Seide auf dem Boden aus. Auf dem Fallschirm liegt ein kleiner Metallgegenstand, den ich nicht einordnen kann. »Was ist das?«, frage ich. Keiner weiß es. Wir lassen ihn von Hand zu Hand gehen und untersuchen ihn der Reihe nach. Es ist ein Metallrohr, das sich am einen Ende leicht verjüngt. Am anderen Ende hat es eine kleine, nach unten gebogene Tülle. Es kommt mir vage bekannt vor. Ein Teil, das von einem Fahrrad abgefallen sein könnte, von einer Gardinenstange, es könnte alles Mögliche sein.

Peeta bläst hinein, um zu prüfen, ob es einen Ton macht. Macht es nicht. Finnick steckt den kleinen Finger hinein, um es als Waffe auszuprobieren. Unbrauchbar.

»Kannst du damit fischen, Mags?«, frage ich. Mags, die mit fast allem fischen kann, schüttelt den Kopf und grunzt.

Ich lege das Rohr auf meine Hand und lasse es hin und her rollen. Da wir Verbündete sind, arbeitet Haymitch bestimmt mit den Mentoren von Distrikt 4 zusammen. Er hat das Geschenk mit ausgesucht. Das bedeutet, dass es wertvoll ist. Uns sogar das Leben retten kann. Ich erinnere mich an letztes Jahr, als ich so nötig Wasser brauchte und er es mir nicht geschickt hat, weil er wusste, dass ich es finden konnte, wenn ich mir Mühe gab. In Haymitchs Geschenken oder in ihrem Ausbleiben verstecken sich wichtige Botschaften. Ich kann fast hören, wie er mich anknurrt: Streng dein Gehirn an, falls du eins hast. Was ist das?

Ich wische mir den Schweiß aus den Augen und halte das Geschenk ins Mondlicht. Ich drehe und wende es, schaue es aus verschiedenen Winkeln an, bedecke einzelne Teile und gebe sie dann wieder frei. Damit es mir seinen Zweck verrät. Schließlich stecke ich frustriert ein Ende in die Erde. »Ich geb’s auf. Vielleicht kriegen Beetee und Wiress es raus, wenn wir uns mit ihnen zusammentun.«

Ich strecke mich, lege die heiße Wange auf die Grasmatte, starre verärgert auf das Ding. Peeta reibt einen verspannten Punkt zwischen meinen Schultern und ich werde ein wenig lockerer. Ich frage mich, warum es sich kein bisschen abgekühlt hat, jetzt, da die Sonne untergegangen ist. Ich frage mich, was sie zu Hause wohl machen.

Prim. Meine Mutter. Gale. Madge. Ich stelle mir vor, wie sie mir zu Hause zuschauen. Jedenfalls hoffe ich, dass sie zu Hause sind. Nicht von Thread verhaftet. Oder bestraft wie Cinna. Wie Darius. Bestraft wegen mir. Alle.

Jetzt sehne ich mich nach ihnen, nach meinem Distrikt, meinem Wald. Ein anständiger Wald mit kräftigen Hartholzbäumen, reichlich Nahrung, mit Wild, vor dem man sich nicht ekeln muss. Rauschende Bäche. Kühle Brisen. Nein, kalte Winde, die diese erstickende Hitze wegblasen. Ich beschwöre einen solchen Wind mit meinen Gedanken, lasse mir von ihm kalte Wangen machen und taube Finger, und auf einmal hat das Metallding, das halb in der schwarzen Erde steckt, einen Namen.

»Ein Zapfen!«, rufe ich und setze mich kerzengerade auf.

»Was?«, fragt Finnick.

Ich ziehe das Ding aus der Erde und wische es sauber. Schließe die Hand um das sich verjüngende Ende, verberge es und schaue auf die Tülle. Ja, so ein Ding habe ich schon mal gesehen. An einem kalten, windigen Tag vor langer Zeit, als ich mit meinem Vater im Wald war. Es steckte fest in einem Loch, das in den Stamm eines Ahornbaums gebohrt war. Eine Öffnung für den Saft, der dann in unseren Eimer floss. Mit Ahornsirup wurde selbst unser fades Brot zu einer Leckerei. Nach dem Tod meines Vaters blieben seine Zapfhähne verschwunden, ich wusste nicht, was mit ihnen passiert war. Wahrscheinlich hatte er sie irgendwo im Wald versteckt. Wo niemand sie je finden wird.

»Das ist ein Zapfen. So was wie ein Hahn. Man steckt ihn in einen Baum und dann kommt Saft raus.« Ich schaue auf die kräftigen grünen Stämme um mich herum. »Na ja, es muss die richtige Sorte Baum sein.«

»Saft?«, sagt Finnick. Am Meer wächst auch nicht die richtige Sorte Bäume.

»Für Sirup«, sagt Peeta. »Aber in diesen Bäumen muss etwas anderes sein.«

Plötzlich sind wir alle auf den Beinen. Unser Durst. Der Mangel an Wasserquellen. Die spitzen Vorderzähne der Baumratte und ihr nasses Maul. In diesen Bäumen kann es nur eines geben, was begehrenswert ist. Finnick will den Zapfhahn schon mit einem Stein in die grüne Rinde eines kräftigen Baums hämmern, doch ich halte ihn zurück. »Warte. Nachher machst du ihn noch kaputt. Wir müssen erst ein Loch bohren«, sage ich.

Wir haben nichts zum Bohren, also bietet Mags ihre Ahle an, und Peeta schiebt sie direkt in die Rinde, sodass der Stift fünf Zentimeter tief im Stamm steckt. Abwechselnd vergrößern Peeta und Finnick das Loch mit der Ahle und den Messern, bis der Zapfhahn hineinpasst. Vorsichtig schiebe ich ihn in das Loch und dann treten wir alle erwartungsvoll zurück.

Zunächst passiert gar nichts. Dann rollt ein Wassertropfen an der Tülle herab und landet in Mags’ Hand. Sie leckt ihn ab und streckt die Hand wieder aus.

Wir bewegen den Zapfhahn hin und her, bis ein dünner Strahl herausfließt. Abwechselnd halten wir den Mund unter den Hahn und benetzen unsere ausgedörrte Zunge. Mags bringt eine Schale herbei, das Gras ist so fest geflochten, dass sie das Wasser hält. Wir füllen die Schale und lassen sie herumgehen, nehmen große Schlucke, und später, als unser Durst gelöscht ist, spritzen wir uns Wasser ins Gesicht und waschen uns. Der reine Luxus. Das Wasser ist eher warm wie alles hier, aber wir können jetzt nicht wählerisch sein.

Jetzt, wo wir nicht mehr an den Durst denken müssen, merken wir, wie erschöpft wir sind, und treffen Vorbereitungen für die Nacht. Letztes Jahr habe ich nachts immer versucht, meine Sachen zu packen für den Fall, dass ich schnell verschwinden müsste. Diesmal gibt es keinen Rucksack, den ich bereithalten könnte. Nur meine Waffen, die ich sowieso immer festhalte. Der Zapfhahn fällt mir ein und ich hole ihn aus dem Baumstamm. Ich befreie eine kräftige Ranke von ihren Blättern, ziehe sie durch die Röhre und binde den Zapfhahn sorgfältig an meinem Gurt fest.

Finnick will als Erster Wache halten und ich lasse ihn. Einer von uns beiden muss das übernehmen, bis es Peeta wieder gut geht. Ich strecke mich in der Hütte neben Peeta aus und sage Finnick, er soll mich wecken, wenn er müde wird. Nach ein paar Stunden werde ich von etwas aus dem Schlaf gerissen, das sich wie ein Glockenschlag anhört. Dong! Dong! Es klingt nicht genauso wie die Glocke, die an Neujahr im Justizgebäude läutet, aber doch so ähnlich, dass ich das Geräusch erkenne. Peeta und Mags schlafen einfach weiter, aber Finnick scheint genauso wachsam zu sein wie ich. Die Glocke verstummt.

»Ich hab zwölf gezählt«, sagt er.

Ich nicke. Zwölf. Was bedeutet das? Ein Glockenschlag für jeden Distrikt? Vielleicht. Aber warum? »Meinst du, das hat was zu bedeuten?«

»Keine Ahnung«, sagt er.

Wir warten auf weitere Anweisungen, zum Beispiel eine Nachricht von Claudius Templesmith. Eine Einladung zu einem Festmahl. Das einzig Bemerkenswerte passiert in weiter Ferne. Ein greller Blitz schlägt in einen hohen Baum ein und dann bricht ein Gewitter los. Ich vermute, das kündigt Regen an, eine Wasserquelle für alle, die keinen so schlauen Mentor wie Haymitch haben.

»Leg dich schlafen, Finnick. Ich bin jetzt sowieso mit der Wache dran«, sage ich.

Finnick zögert, aber niemand kann ewig wach bleiben. Er legt sich an den Eingang der Hütte, einen Dreizack in der Hand, und gleitet in einen unruhigen Schlaf.

Ich sitze mit Pfeil und Bogen da und schaue in den Dschungel, der im Mondlicht gespenstisch bleich und grün ist. Nach etwa einer Stunde lassen die Blitze nach. Dann höre ich, wie der Regen einsetzt und ein paar Hundert Meter entfernt auf die Blätter prasselt. Ich warte darauf, dass er bis zu uns kommt, aber das passiert nicht.

Beim Donnern der Kanone zucke ich zusammen, während meine schlafenden Gefährten davon unbeeindruckt bleiben. Es hat keinen Zweck, sie deswegen zu wecken. Ein weiterer Sieger tot. Ich will nicht darüber nachdenken, wer es sein mag.

Der undefinierbare Regen versiegt plötzlich, wie der Sturm letztes Jahr in der Arena.

Wenige Augenblicke darauf sehe ich, wie aus der Richtung, wo eben der Schauer fiel, ein Nebel leise heranschwebt. Eine ganz normale Reaktion, denke ich. Kühler Regen auf dem heißen Boden. Der Nebel kommt gleichmäßig näher. Kleine Zipfel schieben sich vor und formen sich zu Krallen, als würden sie den Rest hinter sich herziehen. Plötzlich stellen sich mir die Nackenhaare auf. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Nebel. Er rollt zu gleichförmig heran, um natürlich zu sein. Und wenn er nicht natürlich ist …

Ein widerlich süßer Geruch dringt mir in die Nase, und ich wende mich panisch den anderen zu, rufe, dass sie aufwachen sollen.

In den paar Sekunden, die es braucht, sie zu wecken, beginnt meine Haut Blasen zu werfen.

21

Kleine glühend heiße Stiche. Überall, wo die Nebeltröpfchen meine Haut berühren.

»Weg hier!«, schreie ich den anderen zu. »Schnell!«

Finnick ist sofort auf den Beinen, bereit, sich auf den Feind zu stürzen. Als er die Nebelwand sieht und begreift, wirft er sich die noch schlafende Mags über die Schulter und rennt los. Peeta ist ebenfalls aufgestanden, aber noch nicht ganz da. Ich packe ihn am Arm und ziehe ihn hinter Finnick her durch den Dschungel.

»Was ist? Was ist?«, fragt er verwirrt.

»Irgendein Nebel. Giftgas. Schnell, Peeta!«, dränge ich. Jetzt merke ich, dass die Folgen des Stromschlags doch gewaltig sind, auch wenn Peeta das am Tag bestritten hat. Er ist langsam, viel langsamer als sonst. Und das Gewirr aus Ranken und Gestrüpp, das mich manchmal aus dem Gleichgewicht bringt, lässt ihn bei jedem Schritt straucheln.

Ich drehe mich nach dem Nebel um, der sich wie ein Wall in alle Richtungen erstreckt. Ein schrecklicher Impuls zu fliehen, Peeta im Stich zu lassen und meine eigene Haut zu retten, durchzuckt mich. Es wäre so leicht, blitzschnell wegzurennen, vielleicht sogar auf einen Baum zu klettern, über die Nebelwand hinweg, die etwa zehn Meter hoch ist. Genau das habe ich bei den letzten Spielen getan, überlege ich, als die Mutationen auftauchten. Da bin ich losgerannt und habe erst wieder an Peeta gedacht, als ich das Füllhorn erreicht hatte. Diesmal bezwinge ich meine Panik, und bleibe bei ihm. Diesmal geht es nicht um mein Überleben, sondern um seins. Ich denke an die Menschen in den Distrikten, die auf die Bildschirme starren, darauflauern, ob ich wegrenne, wie das Kapitol es will, oder ob ich bleibe.

Ich verschränke meine Finger fest mit seinen und sage: »Guck auf meine Füße. Versuch in meine Fußstapfen zu treten.« Das hilft. So kommen wir ein wenig schneller voran, allerdings nicht schnell genug, um eine Pause einlegen zu können, der Nebel bleibt uns dicht auf den Fersen. Einzelne Tröpfchen lösen sich aus den Schwaden. Sie brennen, aber nicht wie Feuer. Es ist weniger heiß als schmerzhaft, wenn die chemische Substanz auf die Haut trifft, sich festbeißt und durch die Hautschichten frisst. Unsere Overalls helfen kein bisschen. Sie bieten so wenig Schutz, dass wir ebenso gut in Seidenpapier eingepackt sein könnten.

Finnick, der zunächst losgestürmt war, bleibt stehen, als er mitkriegt, dass wir in Schwierigkeiten stecken. Aber hier geht es nicht darum, etwas zu bekämpfen, man kann nur versuchen zu entkommen. Er ruft uns aufmunternde Worte zu, bemüht sich, uns anzuspornen, und seine Stimme ist für uns ein Wegweiser, aber mehr auch nicht.

Peeta verfängt sich mit seinem künstlichen Bein in einem Knäuel aus Schlingpflanzen, und ehe ich ihn auffangen kann, fällt er hin. Als ich ihm aufhelfe, bemerke ich etwas, das noch beunruhigender ist als die Blasen, noch bedrohlicher als die Verbrennungen. Seine linke Gesichtshälfte ist erschlafft, als wäre in den Muskeln kein Leben mehr. Das Lid hängt herab und verdeckt fast sein Auge. Sein Mund ist in einem merkwürdigen Winkel nach unten verzerrt. »Peeta …«, sage ich. Und in diesem Moment merke ich, wie ein Krampf meinen Arm durchzuckt.

Aus welchen chemischen Substanzen dieser Nebel auch besteht, er brennt nicht nur, er zielt auf unsere Nerven. Eine ganz neue Art von Angst durchfährt mich, und ich zerre Peeta weiter, was nur dazu führt, dass er erneut stolpert. Als ich ihn wieder hochgezogen habe, zucken meine Arme unkontrollierbar. Der Nebel ist jetzt ganz nah, weniger als einen Meter entfernt. Irgendetwas stimmt nicht mit Peetas Beinen, er versucht zu gehen, aber sie bewegen sich spastisch, marionettenhaft.

Irgendwie taumelt Peeta weiter, und da erst merke ich, dass Finnick zurückgekommen ist und Peeta mitschleift. Ich zwänge die eine Schulter, die ich offenbar noch in der Gewalt habe, unter Peetas Arm und gebe mein Bestes, um mit Finnicks schnellem Schritt mitzuhalten. Etwa zehn Meter liegen zwischen uns und dem Nebel, als Finnick stehen bleibt.

»Das bringt nichts. Ich muss ihn tragen. Kannst du Mags nehmen?«, fragt er mich.

»Ja«, sage ich entschlossen, obwohl mir das Herz in die Hose rutscht. Mags wiegt zwar höchstens dreißig Kilo, aber ich bin auch nicht gerade kräftig. Trotzdem, ich habe bestimmt schon Schwereres getragen. Wenn nur meine Arme nicht so wild zucken würden. Ich hocke mich hin, und sie legt sich über meine Schulter, wie sie es auch bei Finnick immer macht. Langsam strecke ich die Beine und mit durchgedrückten Knien schaffe ich es. Finnick trägt Peeta jetzt auf dem Rücken, und so gehen wir weiter, Finnick vorneweg, ich in der Spur, die er uns durchs Gestrüpp bahnt.

Der Nebel schiebt sich näher heran, still und regelmäßig und gleichförmig bis auf die greifenden Krallen. Während ich instinktiv wegrennen will, geht Finnick den Hügel schräg hinunter. Er versucht das Gas auf Distanz zu halten und zugleich das Wasser um das Füllhorn zu erreichen. Ja, Wasser, denke ich, während sich die Säuretropfen tiefer in mich hineinbohren. Jetzt bin ich so dankbar, dass ich Finnick nicht umgebracht habe, denn wie hätte ich Peeta ohne ihn lebend hier rausbekommen? So dankbar, dass jemand mir beisteht, wenn auch nur vorübergehend.

Mags kann nichts dafür, dass ich ins Straucheln gerate. Sie versucht sich leicht zu machen, aber Tatsache ist, dass ich so viel Gewicht nicht tragen kann. Zumal jetzt auch noch mein rechtes Bein steif zu werden scheint. Die ersten beiden Male rappele ich mich wieder auf, doch als ich das dritte Mal hinfalle und wieder hochkommen will, spielt mein Bein einfach nicht mehr mit. Es versagt und Mags rollt vor mir auf die Erde. Ich rudere mit den Armen, versuche mich an Ranken und Asten hochzuziehen.

Im Nu ist Finnick wieder bei mir, Peeta auf dem Rücken. »Es hat keinen Zweck«, sage ich. »Kannst du sie beide tragen? Geh nur weiter, ich hole euch schon ein.« Ein etwas zweifelhafter Vorschlag, aber ich sage es mit aller Zuversicht, die ich zustande bringe.

Ich sehe Finnicks Augen, grün im Mondlicht. Ich sehe sie so klar wie den hellen Tag. Fast wie Katzenaugen, seltsam reflektierend. Vielleicht, weil Tränen darin glänzen. »Nein«, sagt er. »Ich kann sie nicht beide tragen. Meine Arme machen nicht mit.« Es stimmt. Seine Arme zucken unkontrolliert an seinem Körper. Seine Hände sind leer. Von seinen drei Dreizacken ist nur noch einer übrig und den hält Peeta. »Es tut mir leid, Mags. Ich schaffe es nicht.«

Was dann passiert, geht so schnell und ist so sinnlos, dass ich keine Chance habe, es zu verhindern. Mags rappelt sich hoch, drückt Finnick einen Kuss auf die Lippen und humpelt dann geradewegs in den Nebel hinein. Sofort wird ihr Körper von wilden Zuckungen erfasst und in einem schrecklichen Tanz fällt sie zu Boden.

Ich möchte schreien, doch meine Kehle brennt wie Feuer. Ich höre den Kanonenschuss und weiß, dass ihr Herz aufgehört hat zu schlagen, dass sie tot ist, und doch mache ich einen unsinnigen Schritt in ihre Richtung. »Finnick?«, rufe ich heiser, aber er hat sich schon abgewandt und entfernt sich von dem Nebel. Weil mir nichts Besseres einfällt, taumele ich hinter ihm her, das unbrauchbare Bein nachziehend.

Zeit und Raum verlieren ihre Bedeutung, während der Nebel in mein Gehirn einzudringen scheint, mir die Gedanken verwirrt, alles unwirklich macht. Irgendein tief verwurzelter Überlebenstrieb sorgt dafür, dass ich hinter Finnick und Peeta herstolpere, mich weiterbewege, obwohl ich wahrscheinlich schon halb tot bin. Teile von mir sind tot oder jedenfalls im Begriff abzusterben. Und Mags ist tot. Immerhin das weiß ich, oder vielleicht glaube ich es auch nur zu wissen, denn das alles ist völlig widersinnig.

Mondlicht, das auf Finnicks bronzefarbenem Haar schimmert, brennend heiße Tropfen wie Nadelstiche, mein zu Holz gewordenes Bein. Ich gehe Finnick hinterher, bis er zusammenbricht, Peeta immer noch auf dem Rücken. Ich kann einfach nicht anhalten und laufe weiter, bis ich über ihre liegenden Körper stolpere und wir einen einzigen Haufen bilden. Jetzt werden wir alle sterben, genau so, denke ich. Doch das ist nur ein abstrakter Gedanke, weit weniger beängstigend als die Schmerzen in meinem Körper. Ich höre Finnick stöhnen und klettere irgendwie von den anderen herunter. Ich sehe die Nebelwand, die jetzt perlweiß aussieht. Vielleicht spielen meine Augen mir einen Streich, oder es liegt am Mondlicht, aber der Nebel scheint sich zu verwandeln. Ja, er wird dichter, als würde er gegen eine Glasscheibe gedrückt. Ich kneife die Augen zusammen und sehe, dass die Krallen nicht mehr da sind. Der Nebel hat aufgehört, sich vorwärtszubewegen. Wie andere Schrecken, die ich in der Arena gesehen habe, hat er die Grenze seines Gebiets erreicht. Entweder das - oder die Spielmacher haben beschlossen, uns jetzt noch nicht zu töten.

»Es hat aufgehört«, will ich sagen, doch aus meinem geschwollenen Mund kommt nur ein fürchterliches Krächzen. »Es hat aufgehört«, sage ich wieder, offenbar deutlicher, denn Peeta und Finnick schauen beide zum Nebel, der sich jetzt langsam hebt, als würde er von einem riesigen Staubsauger in den Himmel gesaugt. Wir schauen zu, bis alles weg ist, selbst der letzte Fetzen.

Peeta lässt sich von Finnick herunterrollen und der dreht sich auf den Rücken. Keuchend und zuckend liegen wir da, Geist und Körper vom Gift durchdrungen. Nach ein paar Minuten zeigt Peeta undeutlich nach oben. »A-hen.« Ich schaue nach oben und sehe zwei Tiere, vermutlich Affen. Ich habe noch nie einen lebendigen Affen gesehen - in unserem Wald zu Hause gibt es nichts dergleichen. Aber irgendwo muss ich schon mal einen Affen auf einem Bild gesehen haben oder vielleicht in einer früheren Ausgabe der Spiele, denn beim Anblick der Tiere kommt mir dasselbe Wort in den Sinn. Es ist schwer zu erkennen, aber ich glaube, diese hier haben orangefarbenes Fell und sind etwa halb so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Ich nehme die Affen als gutes Zeichen. Bestimmt würden sie hier nicht herumspringen, wenn die Luft vergiftet wäre. Eine Weile beobachten wir einander stumm, Menschen und Affen. Dann rappelt Peeta sich auf die Knie und kriecht den Hügel hinunter. Wir kriechen alle, denn Gehen ist für uns so unmöglich wie Fliegen; wir kriechen, bis das Gestrüpp zu einem schmalen Streifen Sandstrand wird und das warme Wasser rings um das Füllhorn uns das Gesicht benetzt. Ich zucke zurück, als hätte ich eine offene Flamme berührt.

Salz in die Wunde streuen. Zum ersten Mal verstehe ich diese Redewendung voll und ganz, denn das Salzwasser in den Wunden tut so weh, dass ich fast ohnmächtig werde. Aber ich spüre noch etwas anderes - als würde etwas herausgezogen. Ich probiere es aus, indem ich erst nur eine Hand behutsam ins Wasser halte. Es ist qualvoll, ja, aber dann schon weniger. Durch die blaue Wasserschicht sehe ich, wie eine milchige Substanz aus den Wunden tritt. Und in dem Maß, in dem das Weiß schwächer wird, lässt auch der Schmerz nach. Ich schnalle den Gurt ab und ziehe den Overall aus, der kaum mehr ist als ein durchlöcherter Stofffetzen. Meine Schuhe und die Unterwäsche sind erstaunlicherweise unversehrt. Nach und nach, Stück für Stück und einen Körperteil nach dem anderen, wasche ich das Gift aus meinem Körper. Peeta scheint das Gleiche zu tun. Finnick dagegen ist bei der ersten Berührung mit dem Wasser zurück gezuckt und liegt jetzt mit dem Gesicht nach unten im Sand, unwillig oder unfähig, sich zu säubern.

Als ich das Schlimmste überstanden habe, die Augen unter Wasser geöffnet, Wasser in die Nebenhöhlen gezogen und ausgeschnäuzt und sogar mehrmals gegurgelt habe, um meine Kehle auszuwaschen, funktioniere ich so weit, dass ich Finnick helfen kann. Im Bein habe ich jetzt wieder ein bisschen Gefühl, aber meine Arme werden immer noch von Zuckungen geplagt. Ich kann Finnick nicht ins Wasser ziehen, vielleicht würde der Schmerz ihn sowieso umbringen. Also schöpfe ich mit zittrigen Händen Wasser und schütte es auf seine Fäuste. Da er nicht unter Wasser ist, tritt das Gift aus seiner Haut, wie es auch hineingekommen ist, in Nebelschwaden, vor denen ich mich sehr in Acht nehme. Peeta hat sich jetzt so weit erholt, dass er mir helfen kann. Er schneidet Finnick aus dem Overall heraus. Irgendwo findet er zwei Muscheln, mit denen man viel besser Wasser schöpfen kann als mit den Händen. Als Erstes nehmen wir uns Finnicks Arme vor, weil sie so schwer mitgenommen sind, und obwohl eine Menge weißes Zeug herauskommt, merkt er nichts. Er liegt einfach nur mit geschlossenen Augen da und stöhnt hin und wieder.

Ich schaue mich um, und mir wird zunehmend bewusst, in welch gefährlicher Lage wir uns befinden. Es ist zwar Nacht, doch der Mond spendet so viel Licht, dass wir leicht entdeckt werden können. Es ist reines Glück, dass uns noch niemand angegriffen hat. Wenn sie vom Füllhorn kämen, könnten wir sie zwar kommen sehen, aber alle vier Karrieros auf einmal würden uns leicht überwältigen. Und selbst wenn sie uns nicht direkt sehen, Finnicks Stöhnen würde uns bald verraten.

»Wir müssen ihn weiter ins Wasser ziehen«, flüstere ich. Doch wir können ihn nicht mit dem Gesicht zuerst eintauchen, nicht solange er in diesem Zustand ist. Peeta macht eine Kopfbewegung zu Finnicks Füßen. Wir fassen jeder einen, drehen Finnick ganz herum und ziehen ihn langsam ins Salzwasser. Immer nur ein paar Zentimeter. Bis zu den Knöcheln. Ein paar Minuten warten. Dann bis zur Wade. Warten. Bis zu den Knien. Weiße Wolken wirbeln um seinen Körper, Finnick stöhnt. Wir entgiften ihn immer weiter, Stückchen für Stückchen. Ich merke, dass es mir umso besser geht, je länger ich im Wasser sitze. Nicht nur meine Haut, auch mein Gehirn erholt sich, und ich habe meine Muskeln wieder in der Gewalt. Ich sehe, wie Peetas Gesicht langsam wieder normal wird, sein Lid zieht sich hoch, der Mund ist nicht mehr so verzerrt.

Allmählich kommt wieder Leben in Finnick. Er öffnet die Augen, schaut uns an und begreift, dass wir ihm helfen. Ich lege seinen Kopf in meinen Schoß und wir lassen ihn zehn Minuten im Wasser, er ist vom Hals an abwärts ganz eingetaucht. Als er die Arme übers Wasser hebt, lächeln Peeta und ich uns an.

»Jetzt nur noch der Kopf, Finnick. Das ist das Schlimmste, aber wenn du das aushältst, wird es dir anschließend viel besser gehen«, sagt Peeta. Wir helfen Finnick auf, und er hält sich an unseren Händen fest, während er Augen, Nase und Mund reinigt. Seine Kehle ist immer noch so rau, dass er nicht sprechen kann.

»Ich versuche mal einen Baum anzuzapfen«, sage ich. Ich fummele an meinem Gurt herum und finde den Zapfhahn, der immer noch an der Ranke hängt.

»Warte, ich bohre erst ein Loch«, sagt Peeta. »Du bleibst bei ihm. Du bist die Heilerin.«

Haha, denke ich. Aber ich sage es nicht laut, denn Finnick hat so schon genug Probleme. Er hat am meisten von dem Nebel abbekommen, warum auch immer. Vielleicht, weil er der Größte von uns ist, oder vielleicht, weil er sich am meisten anstrengen musste. Und dann natürlich die Sache mit Mags. Ich verstehe immer noch nicht, was das sollte. Weshalb er sie praktisch im Stich gelassen hat, um Peeta zu tragen. Und weshalb sie das nicht nur nicht infrage gestellt hat, sondern, ohne zu zögern, geradewegs in den Tod gelaufen ist. Vielleicht weil ihre Tage ohnehin gezählt waren? Dachte sie, Finnick hätte mit Peeta und mir als Verbündeten bessere Chancen zu gewinnen? Ein Blick in Finnicks verzerrtes Gesicht sagt mir, dass jetzt nicht der richtige Moment ist zu fragen.

Also versuche ich lieber, mich zu sortieren. Ich rette die Spotttölpelbrosche von meinem zerfetzten Overall und befestige sie am Träger meines Unterhemds. Der Schwimmgurt scheint säureresistent zu sein, er sieht aus wie neu. Ich kann schwimmen, brauche den Gurt also eigentlich nicht, aber da Brutus meinen Pfeil mit seinem Gurt abgewehrt hat, denke ich mir, dass er vielleicht etwas Schutz bieten kann, und lege ihn wieder an. Ich löse den Zopf und kämme die Haare mit den Fingern, wodurch ich sie ziemlich ausdünne, die Nebeltröpfchen haben einigen Schaden angerichtet. Dann flechte ich die verbliebenen Haare wieder zu einem Zopf.

Etwa zehn Meter von dem schmalen Strand entfernt hat Peeta einen guten Baum entdeckt. Peeta ist kaum zu sehen, aber das Geräusch seines Messers am Baumstamm ist kristallklar. Ich frage mich, was mit der Ahle passiert ist. Mags muss sie entweder fallen gelassen oder mit sich in den Nebel genommen haben. So oder so ist sie weg.

Ich bin jetzt ein bisschen weiter im seichten Wasser und lasse mich abwechselnd auf dem Bauch und auf dem Rücken treiben. Peeta und mich hat das Salzwasser geheilt, aber Finnick scheint es regelrecht zu verwandeln. Langsam fängt er an, sich zu bewegen, probiert zunächst seine Glieder aus und schwimmt dann los. Aber nicht so, wie ich schwimme, gleichmäßig, mit rhythmischen Zügen. Es ist, als würde ein seltsames Meereswesen zum Leben erwachen. Er taucht unter und wieder auf, spuckt Wasser, kullert in einer verrückten Korkenzieherbewegung herum, von der mir schon beim Zuschauen schwindelig wird. Und dann, als er so lange unter Wasser bleibt, dass ich schon denke, er ist ertrunken, taucht sein Kopf direkt neben mir wieder auf, und ich zucke zusammen.

»Lass das«, sage ich.

»Was? Hochkommen oder unter Wasser bleiben?«, sagt er.

»Beides. Keines von beidem. Egal. Bleib einfach im Wasser und benimm dich«, sage ich. »Wenn es dir so gut geht, lass uns lieber Peeta helfen.«

Während wir die paar Schritte zum Rand des Dschungels gehen, merke ich, dass etwas anders ist. Vielleicht liegt es an der jahrelangen Jagderfahrung, vielleicht funktioniert mein repariertes Ohr wirklich besser, als es sollte. Jedenfalls nehme ich die vielen warmen Körper wahr, die über uns lauern. Sie brauchen nicht zu schnattern oder zu schreien. Ihr bloßes Atmen genügt.

Ich berühre Finnick am Arm und er folgt meinem Blick nach oben. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, sich so leise anzuschleichen. Vielleicht waren sie auch gar nicht leise. Wir waren nur damit beschäftigt, uns wiederherzustellen. Währenddessen haben sie sich versammelt. Nicht fünf oder zehn - es sitzen so viele Affen in den Dschungelbäumen, dass sich die Äste biegen. Die beiden, die wir gesehen haben, als wir vor dem Nebel geflohen sind, waren wohl nur das Empfangskomitee. Von dieser Menge geht etwas Unheilvolles aus.

Ich hole zwei Pfeile heraus und Finnick hält den Dreizack bereit. »Peeta«, sage ich, so ruhig ich kann. »Ich brauche mal deine Hilfe.«

»Okay, einen Moment. Ich glaube, ich hab’s gleich«, sagt er. Er macht sich immer noch an dem Baum zu schaffen. »Na also. Hast du mal den Zapfhahn?«

»Ja. Aber wir haben hier etwas entdeckt, das du dir besser mal ansehen solltest«, sage ich beherrscht. »Aber komm ganz ruhig her, damit du es nicht aufschreckst.« Aus irgendeinem Grund will ich nicht, dass er die Affen bemerkt oder auch nur in ihre Richtung schaut. Es gibt Lebewesen, die schon bloßen Blickkontakt als Herausforderung verstehen.

Peeta dreht sich zu uns, er ist außer Atem von der Arbeit an dem Baum. An dem merkwürdigen Ton, in dem ich gesprochen habe, merkt er, dass irgendetwas nicht stimmt. »Na gut«, sagt er lässig. Er geht durch den Dschungel, und ich weiß, dass er sich alle Mühe gibt, leise zu sein, doch das war noch nie seine Stärke, selbst als er noch zwei gesunde Beine hatte. Aber immerhin kommt er, und die Affen bleiben, wo sie sind. Er ist nur noch fünf Meter vom Strand entfernt, als er sie bemerkt. Ganz kurz nur schnellt sein Blick nach oben, doch es ist, als hätte er eine Bombe gezündet. Die Affen werden zu einer kreischenden Masse aus orangefarbenem Fell und stürmen auf ihn los.

Noch nie habe ich Tiere gesehen, die sich so schnell bewegt haben. Sie gleiten an den Lianen herab, als wären die Dinger geschmiert. Springen über unglaubliche Entfernungen von Baum zu Baum. Die Zähne gebleckt, die Nackenhaare gesträubt, die Klauen ausgefahren wie Springmesser. Ich kenne mich zwar nicht mit Affen aus, aber so verhalten sich Tiere in der Natur nicht. »Mutationen!«, stoße ich hervor, als Finnick und ich uns ins Gestrüpp stürzen.

Ich weiß, dass jeder Pfeil treffen muss, und das gelingt auch. Einen Affen nach dem anderen bringe ich in dem gespenstischen Licht zur Strecke, ziele auf Augen, Herz, Kehle, sodass jeder Treffer den Tod bedeutet. Doch selbst das würde nicht ausreichen, wären da nicht Finnick, der die Viecher wie Fische aufspießt und zur Seite schleudert, und Peeta, der mit dem Messer um sich stößt. Ich spüre, wie sich Klauen in mein Bein und meinen Rücken bohren, bis jemand den Angreifer erledigt. Die Luft wird schwer von den zertrampelten Pflanzen, dem Geruch von Blut und dem muffigen Geruch der Affen. Rücken an Rücken stellen Peeta, Finnick und ich uns ein paar Meter voneinander entfernt in einem Dreieck auf. Als ich den letzten Pfeil losschnellen lasse, rutscht mir das Herz in die Hose. Da fällt mir ein, dass auch Peeta einen Köcher hat. Und er schießt nicht, er stößt mit dem Messer zu. Jetzt ziehe auch ich das Messer, doch die Affen sind schneller, sie springen so schnell hin und her, dass ich kaum reagieren kann.

»Peeta!«, rufe ich. »Deine Pfeile!«

Peeta dreht sich um, sieht meine missliche Lage und will seincn Köcher abnehmen, als es passiert. Ein Affe stürzt sich aus einem Baum und wird Peeta im nächsten Moment auf die Brust springen. Ich habe keinen Pfeil, keine Möglichkeit zu schießen. Ich höre den dumpfen Schlag von Finnicks Dreizack und weiß, dass er anderswo im Einsatz ist. Peeta kann mit der Hand, in der er das Messer hält, nichts machen, weil er versucht, den Köcher abzunehmen. Ich ziele mit meinem Messer auf den heranrasenden Affen, doch er weicht mit einem Purzelbaum aus und prescht weiter vor.

Hilflos, ohne Waffe, tue ich das Einzige, was mir einfällt. Ich laufe zu Peeta, um ihn umzuwerfen und seinen Körper mit meinem zu schützen, obwohl ich weiß, dass ich es nicht rechtzeitig schaffen werde.

Aber sie schafft es. Wie aus dem Nichts taucht sie auf und wirbelt plötzlich vor Peeta herum. Blutüberströmt, den Mund zu einem schrillen Schrei geöffnet, die Pupillen so groß, dass ihre Augen aussehen wie schwarze Löcher.

Die verrückte Morfixerin aus Distrikt 6 reißt die knochigen Arme hoch, als wollte sie den Affen umarmen, und der Affe schlägt die Zähne in ihre Brust.

22

Peeta lässt den Köcher fallen und stößt dem Affen das Messer in den Rücken. Immer und immer wieder sticht er auf ihn ein, bis das Tier den Biss lockert. Mit einem Tritt befördert er die Mutation beiseite und steht da in Erwartung weiterer. Ich habe jetzt Peetas Pfeile und einen gespannten Bogen, Finnick steht hinter mir, er keucht, aber er kämpft nicht mehr.

»Los, kommt schon! Kommt schon!«, brüllt Peeta wütend. Doch irgendetwas ist passiert. Die Affen ziehen sich zurück, wieder rauf auf die Bäume, zurück in den Dschungel, wie von einer unhörbaren Stimme gerufen. Der Stimme eines Spielmachers, die sagt, dass es genug ist.

»Trag du sie«, sage ich zu Peeta. »Wir geben dir Deckung.« Behutsam hebt Peeta die Morfixerin hoch und trägt sie die letzten Meter zum Strand. Finnick und ich lauern schussbereit, doch bis auf die orangefarbenen Kadaver auf dem Boden sind die Affen verschwunden. Peeta legt die Morfixerin auf dem Sand ab. Ich schneide den Stoff über ihrer Brust auf und lege vier tiefe Bisswunden frei. Das Blut sickert so langsam heraus, dass sie gar nicht so gefährlich aussehen. Doch die eigentlichen Verletzungen liegen innen. Die Öffnungen sind an Stellen, wo sich lebenswichtige Organe befinden, möglicherweise hat das Biest einen Lungenflügel zerfetzt, vielleicht sogar das Herz.

Wie ein Fisch auf dem Trockenen liegt die Morfixerin auf dem Sand und schnappt nach Luft. Ihre Haut ist schlaff und blassgrün, die Rippen stehen hervor wie bei einem hungernden Kind. Bestimmt hätte sie sich Lebensmittel leisten können, aber anscheinend hat sie sich dem Morfix verschrieben, wie Haymitch sich dem Trinken. Alles an ihr verrät, dass es zu Ende geht - ihr Körper, der leere Blick. Ich halte ihre zuckende Hand und weiß nicht, ob die Bewegung von dem Nervengift herrührt, vom Schock des Angriffs oder vom Entzug jener Droge, die ihr Nahrung war. Wir können nichts tun. Nur bei ihr bleiben, während sie stirbt.

»Ich sehe mich mal bei den Bäumen um«, sagt Finnick und entfernt sich. Ich möchte auch weg von hier, doch sie hält meine Hand so fest, dass ich mich gewaltsam befreien müsste, und für so eine Grausamkeit habe ich nicht die Kraft. Ich überlege, ob ich ihr wie Rue ein Lied singen soll. Doch ich kenne nicht mal den Namen der Morfixerin, und ob sie gern Lieder hört, weiß ich schon gar nicht. Ich weiß nur, dass sie stirbt.

Peeta geht auf der anderen Seite in die Hocke und streicht ihr übers Haar. Als er mit sanfter Stimme zu sprechen beginnt, verstehe ich erst nicht, was das soll, aber die Worte sind auch gar nicht für mich. »Mit meinem Malkasten zu Hause kann ich jede erdenkliche Farbe mischen. Rosa. So blass wie Babyhaut. Oder so tiefdunkel wie Rhabarber. Grün wie Frühlingsgras. Blau, das schimmert wie Eis auf Wasser.«

Die Morfixerin starrt Peeta in die Augen und klammert sich an seine Worte.

»Einmal habe ich drei Tage lang nach dem richtigen Farbton für Sonnenlicht auf weißem Pelz gesucht. Weißt du, ich dachte die ganze Zeit, es müsse Gelb sein, aber es war viel mehr. Alle möglichen Farben. In Schichten, eine über der anderen«, sagt Peeta.

Die Morfixerin schnappt jetzt nur noch flach nach Luft. Mit der freien Hand zeichnet sie in dem Blut auf ihrer Brust die kleinen Wirbel, die sie so gern gemalt hat.

»Den Regenbogen habe ich bis heute nicht rausgekriegt. Er kommt und geht so plötzlich. Ich habe nie genug Zeit, um ihn einzufangen. Nur ein bisschen Blau hier und Lila da. Und schon verblasst er wieder. Geht wieder in der Luft auf«, sagt Peeta.

Peetas Worte scheinen die Morfixerin zu hypnotisieren. Als wäre sie in Trance. Sie hebt die zitternde Hand und zeichnet auf Peetas Wange etwas, das ich als Blume deute.

»Danke«, flüstert er. »Sieht wunderschön aus.«

Einen Augenblick lang verzieht sich das Gesicht der Morfixerin zu einem Grinsen und sie gibt ein leises Quieken von sich. Dann sinkt ihre blutbefleckte Hand zurück auf die Brust, sie atmet ein letztes Schnaufen aus, und die Kanone wird abgefeuert. Der Griff um meine Hand lockert sich.

Peeta trägt sie ins Wasser. Dann kommt er zurück und setzt sich neben mich. Die Morfixerin treibt eine Zeit lang auf das Füllhorn zu, bis das Hovercraft erscheint und ein Greifer mit vier Klauen sich herabsenkt, sie packt und in den Nachthimmel hinaufträgt. Dann ist sie fort.

Finnick gesellt sich wieder zu uns. In der Hand hat er meine Pfeile, an denen noch das Affenblut klebt. Er wirft sie neben mich in den Sand. »Dachte, die hättest du vielleicht gern wieder.«

»Danke«, sage ich. Ich wate ins Wasser und wasche das Blut ab, von meinen Waffen, meinen Wunden. Als ich in den Dschungel gehe, um ein bisschen Moos zum Abtrocknen zu sammeln, sind die Affenkörper allesamt verschwunden. »Wo sind sie hin?«, frage ich.

»Ich weiß nicht. Die Ranken haben sich beiseitegeschoben und weg waren sie«, sagt Finnick.

Benommen und erschöpft starren wir in den Dschungel. In der Stille fällt mir auf, dass sich über den Stellen, an denen die Nebeltropfen meine Haut berührt haben, eine Kruste gebildet hat. Die Stellen tun nicht mehr weh, sie jucken jetzt. Und zwar sehr. Ich versuche, das als gutes Zeichen zu nehmen. Dass sie heilen. Ich schaue zu Peeta und Finnick und sehe, dass beide sich im lädierten Gesicht kratzen. Sogar Finnicks Schönheit hat in dieser Nacht Schaden genommen.

»Nicht kratzen«, sage ich, dabei würde ich es am liebsten selbst tun. Meine Mutter würde das Gleiche raten. »Dadurch entzündet es sich nur. Meint ihr, wir können es wagen, noch mal Wasser zu zapfen?«

Wir gehen zurück zu dem Baum, an dem Peeta sich zu schaffen gemacht hatte, bevor die Affen angriffen. Während er den Zapfhahn einschlägt, stehen Finnick und ich mit gezückten Waffen da, aber es taucht nichts Bedrohliches auf. Peeta hat eine gute Ader gefunden und das Wasser fließt heraus. Wir stillen unseren Durst, lassen das warme Wasser über unsere juckenden Körper laufen. Wir füllen Muschelschalen mit Wasser und gehen zurück zum Strand.

Es ist immer noch Nacht, obwohl die Dämmerung nicht mehr weit sein kann. Es sei denn, die Spielmacher haben andere Pläne. »Ruht euch ein bisschen aus«, sage ich zu den beiden. »Ich halte so lange Wache.«

»Nein, das übernehme ich«, sagt Finnick. Ich schaue in seine Augen, sein Gesicht und sehe, dass er nur mühsam die Tränen zurückhalten kann. Mags. Wenigstens das kann ich für ihn tun - ihm ein bisschen Raum geben, um sie zu betrauern.

»Na gut, Finnick, danke«, sage ich. Ich lege mich in den Sand neben Peeta, der sofort wegdämmert. Während ich in die Nacht starre, kommt mir der Gedanke, was sich an einem Tag doch alles verändern kann. Gestern Morgen stand Finnick noch auf meiner Abschussliste und heute lasse ich ihn bereitwillig über meinen Schlaf wachen. Er hat Peeta gerettet und Mags sterben lassen, und ich weiß nicht, warum. Nur, dass ich es nie wiedergutmachen kann. In diesem Moment kann ich nur schlafen und ihn in Ruhe trauern lassen. Also mache ich das.

Als ich die Augen wieder öffne, ist es Vormittag. Peeta liegt neben mir und schläft. An den Zweigen über uns hat jemand eine Grasmatte befestigt, die unsere Gesichter vor dem Sonnenlicht schützt. Ich setze mich auf und stelle fest, dass Finnick auch sonst nicht untätig gewesen ist. In zwei geflochtenen Schalen schwappt frisches Wasser. Eine dritte enthält einen Haufen Muscheln.

Finnick setzt sich in den Sand und bricht die Schalen mit einem Stein auf. »Frisch schmecken sie am besten«, sagt er, während er ein Stück Fleisch aus einer Muschel reißt und sich in den Mund steckt. Seine Augen sind geschwollen, aber ich tue so, als würde ich es nicht bemerken.

Bei dem Geruch von Essen fängt mein Magen an zu knurren und ich will mir eine Muschel nehmen. Als ich meine blutverkrusteten Fingernägel sehe, halte ich inne. Ich muss mir im Schlaf die Haut aufgekratzt haben.

»Wenn du kratzt, entzündet es sich, das weißt du doch«, sagt Finnick.

»Ach nee«, sage ich. Ich gehe ins Salzwasser und wasche das Blut ab, während ich überlege, was ich schlimmer finde, den Schmerz oder das Jucken. Restlos bedient stapfe ich auf den Strand, schaue nach oben und blaffe: »He, Haymitch, falls du nicht zu betrunken bist, wir könnten was für unsere Haut brauchen.«

Es ist fast schon ulkig, wie schnell der Fallschirm heruntergesegelt kommt. Ich strecke den Arm aus und die Tube landet direkt in meiner geöffneten Hand. »Wurde aber auch Zeit«, sage ich, schaffe es jedoch nicht, weiter böse zu gucken. Haymitch. Was gäbe ich darum, nur fünf Minuten mit ihm reden zu können.

Ich lasse mich neben Finnick in den Sand fallen und schraube den Deckel von der Tube. Darin ist eine dickflüssige schwarze Salbe, die einen beißenden Geruch verströmt, eine Mischung aus Teer und Kiefernnadeln. Ich rümpfe die Nase, während ich einen Klecks Salbe auf die Handfläche drücke und damit mein Bein einreibe. Im Nu lässt der Juckreiz nach und ein wohliges Seufzen entfährt mir. Das Zeug färbt meine schorfige Haut scheußlich graugrün. Ich nehme mir das zweite Bein vor und werfe die Tube dann Finnick zu. Er schaut mich skeptisch an.

»Das sieht ja aus, als würdest du verwesen«, sagt er. Aber offenbar gewinnt das Jucken die Oberhand, denn kurz darauf reibt auch Finnick seine Haut ein. Die Kombination aus Schorf und Salbe sieht wirklich ekelhaft aus. Ich kann der Versuchung, mich über seine Verzweiflung lustig zu machen, nicht widerstehen.

»Armer Finnick. Ist wohl das erste Mal in deinem Leben, dass du nicht hübsch aussiehst, hm?«, sage ich.

»Allerdings. Ein völlig neues Gefühl. Wie hast du das all die Jahre ausgehalten?«, fragt er.

»Einfach alle Spiegel meiden. Dann vergisst man’s«, erwidere ich.

»Nicht, wenn man dich dauernd vor Augen hat«, sagt er.

Wir beschmieren uns tüchtig, reiben uns sogar gegenseitig den Rücken ein, wo die Unterhemden die Haut nicht geschützt haben. »Ich wecke jetzt Peeta«, sage ich.

»Nein, warte«, sagt Finnick. »Wir wecken ihn gemeinsam. Damit er unsere beiden Gesichter sieht.«

In meinem jetzigen Leben gibt es so wenig Raum für Spaß, dass ich zustimme. Wir hocken uns rechts und links von Peeta hin, beugen uns vor, bis unsere Gesichter nur wenige Zentimeter vor seiner Nase sind, und rütteln ihn wach. »Peeta, Peeta, aufwachen«, säusele ich.

Seine Lider zucken, und als er die Augen öffnet, springt er auf wie von der Tarantel gestochen. »Aaaa!«

Finnick und ich lassen uns nach hinten in den Sand fallen und lachen uns kaputt. Immer, wenn wir aufhören wollen, schauen wir zu Peeta, der sich bemüht, eine verächtliche Miene zu wahren, und prusten wieder los. Als wir uns endlich zusammenreißen, kommt mir der Gedanke, dass Finnick Odair vielleicht doch ganz in Ordnung ist. Oder zumindest nicht so ein eitler Wichtigtuer, wie ich immer dachte. Wirklich gar nicht übel. Und just in dem Augenblick, als ich zu diesem Schluss komme, landet ein Fallschirm mit einem Laib Brot neben uns. Vom letzten Jahr weiß ich noch, dass Haymitch den Zeitpunkt für seine Geschenke häufig so wählt, dass er damit eine Botschaft übermittelt, deshalb präge ich mir ein: Freundet euch mit Finnick an. Dann bekommt ihr Essen.

Finnick dreht das frische Brot in seinen Händen hin und her und betrachtet die Kruste. Ein bisschen sehr besitzergreifend. Dabei wäre das gar nicht nötig. Das Brot hat die typische grüne Farbe von Seetang, wie alles Brot aus Distrikt 4. Jeder weiß, dass es ihm gehört. Vielleicht ist ihm eben erst klar geworden, wie wertvoll es ist und dass er jetzt möglicherweise zum letzten Mal einen solchen Laib zu Gesicht bekommt. Vielleicht ist mit der Kruste auch irgendeine Erinnerung an Mags verbunden. Doch er sagt nur: »Das schmeckt bestimmt gut zu den Muscheln.«

Während ich Peeta helfe, seine Haut mit der Salbe einzureiben, löst Finnick geschickt das Fleisch aus den Muscheln. Wir setzen uns zusammen hin und essen das köstliche süße Fleisch mit dem salzigen Brot aus Distrikt 4.

Wir sehen zwar fürchterlich aus - die Salbe bewirkt, dass sich an einigen Stellen der Schorf löst -, aber ich freue mich über die Arznei. Nicht nur, weil sie den Juckreiz lindert, sondern auch, weil sie vor der sengenden weißen Sonne am rosa Himmel schützt. An ihrem Stand lese ich ab, dass es fast zehn Uhr sein muss, wir sind also schon einen ganzen Tag in der Arena. Elf von uns sind tot. Dreizehn leben. Zehn von ihnen verstecken sich irgendwo im Dschungel. Drei bis vier sind Karrieros. Ich hab keine Lust, mir die anderen ins Gedächtnis zu rufen.

Der Dschungel hat sich für mich schnell von einem schützenden Ort in eine teuflische Falle verwandelt. Mir ist klar, dass wir irgendwann gezwungen sein werden, erneut in seine Tiefen einzutauchen, um zu jagen oder gejagt zu werden, doch fürs Erste habe ich nicht vor, unseren kleinen Strand zu verlassen. Peeta und Finnick scheinen das genauso zu sehen. Eine Weile wirkt der Dschungel fast statisch, summend und schillernd, keine Spur von den Gefahren, die er birgt. Doch plötzlich hören wir von fern Schreie und gegenüber beginnt ein Stück Dschungel zu vibrieren. Eine riesige Welle türmt sich bis über den Hügel auf, schwappt über die Bäume hinweg und rast tosend den Abhang hinunter. Sie trifft mit solcher Wucht auf das Meerwasser, dass die Gischt trotz der Entfernung um unsere Knie aufschäumt und unsere wenigen Habseligkeiten mit sich zu reißen droht. Mit vereinten Kräften gelingt es uns, die Sachen einzusammeln, ehe sie weggeschwemmt werden. Nur unsere durchlöcherten Overalls lassen wir davonschwimmen, sie sind von dem Nervengift so zerfressen, dass wir nicht an ihnen hängen.

Eine Kanone knallt. Über dem Gebiet, wo die Welle ihren Ausgang nahm, taucht ein Hovercraft auf und pflückt einen Körper von den Bäumen. Zwölf, denke ich.

Der Ring aus Wasser hat die Riesenwelle geschluckt und kommt allmählich zur Ruhe. Wir deponieren unsere Sachen wieder auf dem nassen Sand. Als wir uns schon darauf niederlassen wollen, sehe ich sie. Drei Gestalten, die zwei Radspeichen entfernt auf den Strand taumeln. »Da«, sage ich ganz ruhig und nicke in ihre Richtung. Peeta und Finnick folgen meinem Blick. Wie auf Kommando ziehen wir uns ins Dunkel des Dschungels zurück.

Das Trio ist reichlich mitgenommen, das sieht man sofort. Einer schleift einen anderen mit sich und der Dritte torkelt wie geistesgestört in irren Kreisen umher. Ihre Haut ist knallrot, als hätte jemand sie in Farbe getaucht und zum Trocknen rausgehängt.

»Wer ist das?«, fragt Peeta. »Oder was? Mutationen?«

Ich lege einen Pfeil ein und mache mich angriffsbereit. Aber nichts geschieht, außer dass der eine, der mitgeschleppt wurde, plötzlich am Strand zusammenbricht. Sein Helfer stampft frustriert mit dem Fuß auf. Er fährt herum, schubst den Verwirrten, der im Kreis gelaufen ist, vor sich her, lässt seine Wut an ihm aus.

Finnicks Miene hellt sich auf: »Johanna!«, ruft er und rennt auf die roten Gestalten zu.

»Finnick!«, antwortet Johanna.

Ich tausche einen Blick mit Peeta. »Was nun?«, frage ich.

»Wir können Finnick nicht ziehen lassen«, sagt er.

»Wahrscheinlich nicht. Na, dann komm«, sage ich missmutig. Selbst wenn ich eine Liste mit möglichen Verbündeten hätte, Johanna Mason stünde bestimmt nicht darauf. Wir stapfen den Strand entlang dorthin, wo Finnick und Johanna sich gerade treffen. Als wir näher kommen, erkenne ich ihre Gefährten und bin verwirrt. Es sind Beetee und Wiress, der eine liegt rücklings auf dem Boden, die andere hat sich aufgerappelt und geht wieder im Kreis. »Sie hat Wiress und Beetee dabei.«

»Plus und Minus?«, fragt Peeta, gleichfalls erstaunt. »Wie mag es dazu gekommen sein?«

Als wir die anderen erreichen, deutet Johanna zum Dschungel und redet auf Finnick ein. »Wir dachten, es wäre Regen, weißt du, wegen der Blitze, und wir hatten alle solchen Durst. Aber als es herunterprasselte, merkten wir, dass es Blut war.

Dickes, heißes Blut. Man konnte nichts sehen, und man konnte nichts sagen, weil man es sonst schluckte. Wir sind herumgeirrt und haben einen Ausweg gesucht. Und dabei ist Blight in das Kraftfeld geraten.«

»Das tut mir leid, Johanna«, sagt Finnick. Es dauert einen Augenblick, bis ich Blight eingeordnet habe. Ich glaube, er war Johannas Mitspieler aus Distrikt 7, aber ich kann mich kaum an ihn erinnern. Wenn ich mich nicht irre, hat er sich nicht einmal beim Training blicken lassen.

»Ach, weißt du, er war keine große Hilfe, aber er war aus der Heimat«, sagt Johanna. »Und er hat mich mit den beiden da alleingelassen.« Mit dem Schuh stupst sie Beetee an, der kaum bei Bewusstsein ist. »Er hat am Füllhorn ein Messer in den Rücken gekriegt. Und die da …«

Wir schauen hinüber zu Wiress, die, mit getrocknetem Blut bedeckt, im Kreis herumirrt und die ganze Zeit »Tick, tack. Tick, tack« vor sich hin murmelt.

»Ja, wir haben’s gehört. Tick, tack. Plus hat einen Schock«, sagt Johanna. Das scheint Wiress anzulocken, sie torkelt gegen Johanna, die sie grob auf den Sand stößt. »Einfach unten bleiben, kapiert?«

»Lass sie in Ruhe!«, blaffe ich sie an.

Johannas Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, durch die sie mich hasserfüllt anschaut. »Ich soll sie in Ruhe lassen?«, faucht sie. Ehe ich reagieren kann, macht sie einen Schritt nach vorn und langt mir eine, dass ich Sternchen sehe. »Was glaubst du eigentlich, wer sie für dich aus dem blutenden Dschungel rausgeholt hat, du …« Bevor sie weiterreden kann, schnappt Finnick sich Johanna, wirft sie trotz heftiger Gegenwehr über die Schulter und trägt sie ins Wasser. Dort taucht er sie mehrmals unter, während sie mir üble Beleidigungen an den Kopf schmeißt. Doch ich schieße nicht. Weil Finnick bei ihr ist und weil sie gesagt hat, dass sie Wiress und Beetee für mich rausgeholt hat.

»Was sollte das heißen, sie hat sie für mich da rausgeholt?«, frage ich Peeta.

»Ich weiß es nicht. Du wolltest die beiden doch als Verbündete«, sagt er.

»Stimmt. Wollte ich mal.« Aber das ist keine Erklärung. Ich schaue auf Beetees leblosen Körper. »Jedenfalls, lange werden sie nicht meine Verbündeten sein, wenn wir nicht bald was unternehmen.«

Peeta hebt Beetee hoch, ich nehme Wiress bei der Hand und wir gehen zurück zu unserem kleinen Strandlager. Ich setze Wiress ins flache Wasser, damit sie sich ein bisschen säubern kann, doch sie klatscht nur in die Hände und murmelt ab und zu »Tick, tack«. Ich löse Beetees Gürtel und entdecke, dass er mit Ranken einen schweren Metallgegenstand daran festgebunden hat. Ich kann nicht erkennen, was es ist, eine Art Spule vielleicht, doch wenn Beetee meinte, es retten zu müssen, dann werde ich es nicht einfach wegschmeißen. Ich binde die Spule los und werfe sie in den Sand. Die blutgetränkten Kleider kleben so an Beetees Körper, dass Peeta ihn ins Wasser tauchen muss, während ich sie löse. Als ich endlich den Overall ausgezogen bekomme, stellen wir fest, dass sich auch die Unterwäsche mit Blut vollgesogen hat. Wir haben keine Wahl, wir müssen ihn ganz ausziehen, aber ehrlich gesagt, lässt mich so etwas mittlerweile ziemlich kalt. Dieses Jahr haben zu viele nackte Männer auf unserem Küchentisch gelegen. Nach einer Weile gewöhnt man sich irgendwie dran.

Wir bauen Finnicks Sonnenschutz ab und legen Beetee bäuchlings darauf, damit wir seinen Rücken untersuchen können. Vom Schulterblatt bis unter die Rippen verläuft eine fünfzehn Zentimeter lange klaffende Wunde. Zum Glück ist sie nicht allzu tief. Aber er hat eine Menge Blut verloren - das erkennt man an der blassen Hautfarbe - und die Wunde eitert.

Ich hocke mich hin und versuche nachzudenken. Welche Hilfsmittel stehen mir zur Verfügung? Salzwasser? Die erste Maßnahme meiner Mutter war immer Schnee, wenn ich mich recht erinnere. Ich schaue hinüber zum Dschungel. Dort gäbe es bestimmt eine Menge Arzneien - wenn ich nur wüsste, wie man sie anwendet. Aber das sind nicht meine Pflanzen. Mir fällt das Moos ein, das Mags mir zum Naseputzen gegeben hat. »Bin gleich wieder da«, rufe ich Peeta zu. Zum Glück kommt das Zeug ziemlich häufig im Dschungel vor. Von den umstehenden Bäumen rupfe ich ein ordentliches Büschel ab und trage es zurück zum Strand. Ich forme ein dickes Polster, lege es auf Beetees Wunde und schnüre es mit Ranken an seinem Körper fest. Wir flößen ihm etwas Wasser ein und legen ihn dann in den Schatten am Rand des Dschungels.

»Ich fürchte, das ist alles, was wir für ihn tun können«, sage ich.

»Das reicht. Du bist gut im Verarzten«, sagt Peeta. »Es liegt dir im Blut.«

»Nein«, sage ich und schüttele den Kopf. »Ich habe das Blut meines Vaters.« Blut, das beim Jagen schneller fließt, nicht bei einer Epidemie. »Ich werde mal nach Wiress sehen.«

Ich gehe zu Wiress ins flache Wasser. Sie wehrt sich nicht, als ich sie ausziehe und mit einer Handvoll Moos das Blut abwasche. Doch ihre Augen sind schreckgeweitet, und als ich sie anspreche, antwortet sie nicht, sagt nur mit immer größerer Dringlichkeit »Tick, tack«. Offenbar versucht sie mir etwas damit zu sagen, aber ohne Beetee, der ihre Gedanken entschlüsselt, bin ich völlig aufgeschmissen.

»Ja, tick, tack. Tick, tack«, sage ich. Das scheint sie ein wenig zu beruhigen. Ich wasche ihren Overall aus, bis kaum noch etwas von dem Blut zu sehen ist, und helfe ihr, wieder hineinzuschlüpfen. Er ist nicht so beschädigt wie unsere. Ihr Gurt ist noch in Ordnung und ich binde ihn ihr um. Dann befestige ich ihre Unterwäsche mit einem Stein neben der von Beetee und lasse sie einweichen.

Unterdessen haben sich eine jetzt wieder blitzsaubere Johanna und ein sich schälender Finnick zu uns gesellt. Johanna trinkt hastig Wasser und schlingt Muschelfleisch herunter, und ich versuche, auch Wiress zu überreden, etwas zu essen. Finnick erzählt mit unbeteiligter, fast gefühlskalter Stimme von dem Nebel und den Affen, verschweigt aber das wichtigste Detail der Geschichte.

Alle bieten an, Wache zu halten, während die anderen sich ausruhen, doch schließlich fällt die Wahl auf Johanna und mich. Auf mich, weil ich tatsächlich ausgeruht bin, auf Johanna, weil sie sich um keinen Preis hinlegen will. Wir setzen uns ans Wasser und schweigen, bis die anderen eingeschlafen sind.

Johanna wirft Finnick einen Blick zu, um sicherzugehen, dass er wirklich schläft, und wendet sich dann an mich: »Wie habt ihr Mags verloren?«

»Im Nebel. Finnick hatte Peeta auf der Schulter, ich Mags. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Finnick meinte, beide auf einmal könne er nicht tragen. Da gab sie ihm einen Kuss und ging geradewegs ins Gift«, sage ich.

»Du weißt ja wohl, dass sie Finnicks Mentorin war«, sagt Johanna anklagend.

»Nein, das wusste ich nicht«, erwidere ich.

»Sie gehörte fast zur Familie«, sagt Johanna nach einer kurzen Pause, schon etwas versöhnlicher.

Wir schauen zu, wie das Wasser über die Wäsche schwappt. »Und wie kommt’s, dass du Plus und Minus bei dir hast?«, frage ich.

»Hab ich doch gesagt - ich habe sie für dich mitgeschleppt. Haymitch meinte, falls wir uns verbünden, müsste ich sie zu dir bringen«, sagt Johanna. »Das hast du ihm doch gesagt, oder?«

Nein, denke ich. Trotzdem nicke ich. »Danke. Ich weiß es zu schätzen.«

»Das will ich hoffen.« Sie wirft mir einen verächtlichen Blick zu, als wäre ich die größte Plage in ihrem Leben. So ähnlich muss es sich wohl anfühlen, wenn man eine große Schwester hat, die einen aus tiefstem Herzen hasst.

»Tick, tack«, höre ich hinter mir. Ich drehe mich um und sehe, dass Wiress zu uns herübergekrochen ist. Sie starrt auf den Dschungel.

»Ach du Schreck, da ist sie ja wieder. Okay, ich geh schlafen. Ihr könnt ja zusammen Wache halten, du und Plus«, sagt Johanna. Sie geht hinüber zu den anderen und wirft sich neben Finnick auf den Sand.

»Tick, tack«, flüstert Wiress. Ich ziehe sie zu mir herunter, damit sie sich hinlegt, und streichele ihren Arm, um sie zu beruhigen. Sie dämmert weg, bewegt sich dabei aber pausenlos und seufzt ab und zu »Tick, tack«.

»Tick, tack«, sage ich bestätigend. »Schlafenszeit. Tick, tack. Schön einschlafen.«

Die Sonne klettert weiter, bis sie direkt über uns steht. Es muss Mittag sein, denke ich abwesend. Nicht, dass es wichtig wäre. Jenseits des Wassers, zur Rechten, sehe ich es plötzlich gewaltig aufblitzen. Der Lichtblitz trifft den Baum und der elektrische Sturm bricht wieder los. Genau im gleichen Gebiet wie letzte Nacht. Jemand muss in seine Reichweite gekommen sein und die Attacke ausgelöst haben. Ich sitze eine Zeit lang da und beobachte den Blitz, während ich Wiress beruhige, die vom Plätschern des Wassers in einen Zustand des Friedens gewiegt wird. Ich denke an letzte Nacht, als der Blitz, unmittelbar nachdem die Glocke geschlagen hatte, einsetzte. Zwölf Schläge.

»Tick, tack«, sagt Wiress, als sie kurz zu Bewusstsein kommt. Dann versinkt sie wieder.

Zwölf Schläge letzte Nacht. Wie um Mitternacht. Dann die Blitze. Jetzt die Sonne über uns. Wie um zwölf Uhr mittags. Und Blitze.

Langsam stehe ich auf und suche die Arena ab. Dort der Blitz. Im nächsten Sektor kam der Blutregen, in dem Johanna, Wiress und Beetee gefangen waren. Wir müssen im dritten Abschnitt gewesen sein, gleich rechts davon, als der Nebel aufkam. Und als er endlich eingesogen wurde, tauchten im vierten gleich die Affen auf. Tick, tack. Ich drehe den Kopf schnell zur anderen Seite. Vor ein paar Stunden, gegen zehn, kam diese Welle aus dem zweiten Abschnitt, links von der Stelle, wo jetzt der Blitz einschlägt. Mittag. Mitternacht. Mittag.

»Tick, tack«, sagt Wiress im Schlaf. Als der Blitz erstirbt und gleich rechts davon der Blutregen einsetzt, erkenne ich die Logik in ihren Worten.

»Oh«, sage ich leise. »Tick, tack.« Ich lasse den Blick einmal im Kreis um die ganze Arena schweifen und sehe, dass sie recht hat: »Tick, tack. Das ist eine Uhr.«

23

Eine Uhr. Auf einmal sehe ich fast, wie die Zeiger über das zwölfgeteilte Antlitz der Arena laufen. Zu jeder neuen Stunde beginnt ein neuer Horror der Spielmacher und löst den vorangegangenen ab. Blitze, Blutregen, Nebel, Affen - das sind die vier ersten Stunden auf der Uhr. Und um zehn die Welle. Ich weiß nicht, was in den anderen sieben passiert, aber ich weiß, dass Wiress recht hat.

Gerade in diesem Augenblick fällt der Blutregen und wir befinden uns am Strand unterhalb des Affensegments, viel zu nah am Nebel für meinen Geschmack. Ob sich die Attacken nur innerhalb des Dschungels ereignen? Das ist nicht gesagt. Bei der Welle war es zum Beispiel nicht so. Und wenn dieser Nebel über den Dschungel hinauswabern würde oder die Affen herauskämen …

»Aufstehen«, befehle ich und rüttele Peeta, Finnick und Johanna wach. »Aufstehen, wir müssen los.« Ich kann ihnen gerade noch die Theorie mit der Uhr erläutern. Also was es mit Wiress’ Tick-tack auf sich hat und dass die unsichtbaren Zeiger in jedem Sektor eine neue tödliche Gewalt auslösen.

Alle, die bei Sinnen sind, kann ich überzeugen, bis auf Johanna, die aus Prinzip gegen alles ist, was ich vorschlage. Aber selbst sie ist der Meinung, dass man sich besser rechtzeitig in Sicherheit bringt, als es hinterher zu bereuen.

Während die anderen unsere wenigen Habseligkeiten einsammeln und Beetee wieder in seinen Overall stecken, wecke ich Wiress. Sie erwacht mit einem panischen »Tick, tack!«.

»Ja, tick, tack, die Arena ist eine Uhr. Eine Uhr, Wiress, du hattest recht«, sage ich. »Du hattest recht.«

In ihrem Gesicht zeichnet sich Erleichterung ab - wahrscheinlich, weil endlich jemand begriffen hat, was sie schon beim ersten Glockenschlag gewusst hat. »Mitternacht.«

»Um Mitternacht geht es los«, bestätige ich.

Eine Erinnerung dringt mit Macht in mein Bewusstsein. Ich sehe eine Uhr. Nein, eine Taschenuhr, sie liegt in Plutarch Heavensbees Hand. »Um Mitternacht geht es los«, hat Plutarch gesagt. Und dann leuchtete kurz mein Spotttölpel auf und verschwand wieder. Im Nachhinein wirkt das, als wollte er mir einen Tipp für die Arena geben. Aber warum hätte er das tun sollen? Damals war ich genauso wenig Tribut in diesen Spielen wie er. Vielleicht dachte er, das würde mir bei meiner Aufgabe als Mentor helfen. Oder der Plan stand damals schon fest.

Wiress nickt zu dem Blutregen hin. »Halb zwei«, sagt sie.

»Genau. Halb zwei. Und um zwei erhebt sich dort drüben ein schrecklicher Giftnebel«, sage ich und deute auf den benachbarten Dschungelabschnitt. »Wir müssen uns in Sicherheit bringen.« Sie lächelt und steht folgsam auf. »Hast du Durst?« Ich gebe ihr die geflochtene Schale und sie trinkt mindestens einen Liter. Finnick reicht ihr den letzten Rest Brot und sie beginnt daran zu nagen. Nachdem die Kommunikationsschwierigkeiten überwunden sind, funktioniert sie wieder.

Ich kontrolliere meine Waffen. Verschnüre Zapfhahn und Arzneitube in einem Fallschirm und befestige ihn mit Ranken an meinem Gürtel.

Beetee ist noch immer ziemlich neben der Spur, doch als Peeta Anstalten macht, ihn hochzuheben, protestiert er. »Sie muss auch mit«, sagt er.

»Hier ist sie doch«, sagt Peeta. »Wiress geht’s gut. Sie kommt auch mit.«

Aber Beetee wehrt sich immer noch. »Sie muss auch mit«, beharrt er.

»Ach, ich weiß, was er will«, sagt Johanna ungeduldig. Sie geht über den Strand und hebt die Rolle auf, die wir von seinem Gürtel gelöst haben, um ihn zu baden. Sie ist mit einer dicken Schicht aus geronnenem Blut überzogen. »Dieses wertlose Ding. Draht oder so was. Dafür hat er sich abstechen lassen. Am Füllhorn, da musste er das hier unbedingt holen. Keine Ahnung, was das für eine Waffe sein soll. Man könnte vielleicht eine Würgeschlinge oder so was draus machen. Aber mal ehrlich, könnt ihr euch vorstellen, wie Beetee jemanden erdrosselt?«

»Mithilfe von Draht hat er seine Spiele gewonnen. Er hat den anderen eine Stromfalle gestellt«, sagt Peeta. »Eine bessere Waffe gibt’s gar nicht.«

Irgendwie ist es merkwürdig, dass Johanna nicht darauf gekommen ist. Es kommt mir unwahrscheinlich vor. Verdächtig. »Aber du musst doch so etwas in der Art gedacht haben«, sage ich. »Wo du ihn doch Minus genannt hast.«

Johannas Augen verengen sich zu Schlitzen, die mich gefährlich anfunkeln. »Ach, wie dumm von mir, was?«, sagt sie. »Ich war wohl abgelenkt, als ich deinen kleinen Freunden hier das Leben gerettet habe. Während du … was getan hast? Mags hast krepieren lassen?«

Meine Finger schließen sich um den Messergriff am Gürtel.

»Na, mach schon. Versuch’s doch. Es ist mir egal, ob du schwanger bist, ich reiß dir die Kehle raus«, sagt Johanna.

Ich weiß, dass ich sie hier und jetzt nicht töten kann. Aber es ist nur eine Frage der Zeit. Irgendwann macht eine von uns die andere kalt.

»Vielleicht sollten wir alle besser aufpassen, wo wir hintreten«, sagt Finnick und blitzt mich an. Er nimmt die Drahtrolle und legt sie Beetee auf die Brust. »Da ist dein Draht, Minus. Pass gut auf, wo du ihn reinstöpselst.«

Peeta schultert Beetee, der jetzt keinen Widerstand mehr leistet. »Wohin?«

»Ich möchte noch mal zum Füllhorn und nachschauen. Um sicherzugehen, dass wir mit der Uhr richtigliegen«, sagt Finnick. Der Plan ist nicht schlechter als jeder andere. Abgesehen davon würde ich auch gern noch mal die Waffen dort begutachten. Und jetzt sind wir zu sechst. Selbst wenn man Beetee und Wiress außer Acht lässt, haben wir vier gute Kämpfer. Eine völlig andere Situation für mich als vor einem Jahr, damals war ich ganz auf mich allein gestellt. Ja, Verbündete sind toll. Solange man den Gedanken ausblenden kann, dass man sie irgendwann töten muss.

Beetee und Wiress werden wahrscheinlich schon selbst dafür sorgen, dass sie sterben. Falls wir vor etwas wegrennen müssen, kommen sie nicht weit. Johanna könnte ich, ehrlich gesagt, ohne mit der Wimper zu zucken umbringen, wenn ich Peeta beschützen müsste. Oder ihr das Maul stopfen. Aber ich brauche unbedingt jemanden, der Finnick für mich aus dem Weg räumt, das würde ich beim besten Willen nicht über mich bringen. Nicht nach all dem, was er für Peeta getan hat. Vielleicht könnte ich ihn in eine Konfrontation mit den Karrieros lotsen. Das ist kaltblütig, ich weiß. Aber was bleibt mir anderes übrig? Jetzt, da wir über die Uhr Bescheid wissen, wird er wohl kaum im Dschungel sterben, also muss ihn jemand im Kampf töten.

Weil der Gedanke daran so abstoßend ist, versuche ich krampfhaft, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Doch ich kann mich höchstens ablenken, indem ich mir ausmale, wie ich Präsident Snow töten werde. Keine besonders netten Tagträume für eine Siebzehnjährige, aber sehr befriedigend.

Wir laufen über den nächstgelegenen Streifen Sand und nähern uns vorsichtig dem Füllhorn, für den Fall, dass sich die Karrieros dort verstecken. Ich bezweifle das, denn wir waren viele Stunden am Strand und es gab kein Lebenszeichen von ihnen. Wie zu erwarten, ist das Gelände verlassen. Nur das große goldene Horn und der durchwühlte Stapel mit den Waffen sind noch da.

Nachdem Peeta Beetee im spärlichen Schatten des Füllhorns abgesetzt hat, ruft der Wiress zu sich. Sie hockt sich neben ihn und er drückt ihr die Drahtrolle in die Hände. »Mach sie sauber, ja?«, bittet er sie.

Wiress nickt, trippelt zum Ufer und taucht die Rolle ins Wasser. Dabei singt sie ein lustiges Liedchen über eine Maus, die an einer Uhr hochläuft. Offenbar ein Kinderlied, aber es scheint sie glücklich zu machen.

»Oh nein, nicht schon wieder dieses Lied«, sagt Johanna und verdreht die Augen. »Stundenlang ging das so, bis sie mit ihrem Tick-tack anfing.«

Plötzlich richtet Wiress sich kerzengerade auf und deutet auf den Dschungel. »Zwei«, sagt sie.

Ich folge ihrem Finger zu der Stelle, wo die Nebelwand sich gerade auf den Strand wälzt. »Ja, schaut, Wiress hat recht. Es ist zwei Uhr und der Nebel ist aufgezogen.«

»Wie ein Uhrwerk«, sagt Peeta. »Ganz schön clever, dass du das herausgefunden hast, Wiress.«

Wiress lächelt und macht sich wieder daran, zu singen und die Rolle ins Wasser zu tauchen. »Nicht nur clever«, sagt Beetee. »Sie hat auch Intuition.« Alle schauen zu Beetee, der wieder unter den Lebenden zu weilen scheint. »Sie spürt die Dinge lange vor allen anderen. Wie ein Kanarienvogel bei euch im Bergwerk.«

»Was hat es damit auf sich?«, fragt Finnick.

»Bei uns nehmen sie einen Kanarienvogel mit runter in die Kohlestollen. Er soll die Leute warnen, wenn sich die Luft dort unten mit Gas anreichert«, erkläre ich.

»Und was tut er dann, umfallen und sterben?«, fragt Johanna.

»Er hört auf zu singen. Dann sollte man schleunigst machen, dass man rauskommt. Aber wenn die Luft zu schlecht ist, stirbt er, ja. Und alle anderen auch.« Ich möchte nicht über sterbende Singvögel reden. Das weckt Gedanken an den Tod meines Vaters und an den von Rue und an den von Maysilee Donner und an meine Mutter, die Maysilees Singvogel geerbt hat. Na toll, und schon denke ich an Gale, tief unten in dieser schrecklichen Mine, und über ihm schwebt Präsident Snows Drohung. Dort unten ist es so leicht, einen Unfall zu arrangieren. Ein stummer Kanarienvogel, ein Funke, mehr braucht es nicht.

Jetzt stelle ich mir wieder vor, wie ich den Präsidenten kaltmache.

Trotz ihres Ärgers über Wiress ist Johanna so vergnügt, wie ich sie in der Arena noch nie gesehen habe. Während ich meinen Vorrat an Pfeilen ergänze, wühlt sie in dem Stapel herum, bis sie mit zwei martialisch aussehenden Äxten wieder zum Vorschein kommt. Komische Wahl, denke ich, bis ich mit ansehe, wie sie eine davon mit solcher Kraft schleudert, dass sie in dem von der Sonne aufgeweichten Gold des Füllhorns stecken bleibt. Natürlich. Johanna Mason. Distrikt 7. Holz. Sie hat schon Äxte durch die Gegend geworfen, ehe sie laufen konnte. Wie Finnick mit seinem Dreizack. Oder Beetee mit seinem Draht. Rue mit ihrem Wissen über Pflanzen. Mir wird bewusst, dass die Tribute aus Distrikt 12 in all den Jahren noch mit einem weiteren Nachteil zu kämpfen hatten. Wir gehen erst mit achtzehn ins Bergwerk. Offenbar erlernen alle anderen ihr Handwerk viel früher. Im Bergwerk tut man Dinge, die sich bei den Spielen als nützlich erweisen könnten. Eine Spitzhacke schwingen. Sprengen. Damit kann man sich einen Vorteil verschaffen. Wie ich mit dem Jagen. Aber wir lernen diese Dinge zu spät.

Während ich mich mit den Waffen beschäftigte, hat Peeta sich auf den Boden gehockt und mit der Messerspitze etwas auf ein großes weiches Blatt gemalt, das er aus dem Dschungel mitgenommen hat. Ich schaue ihm über die Schulter. Er zeichnet eine Karte von der Arena. In der Mitte steht das Füllhorn auf seinem Ring aus Sand mit den zwölf Strahlen, die davon abgehen. Wie eine in zwölf gleiche Stücke unterteilte Torte.

Ein weiterer Kreis stellt die Wasserlinie dar und ein noch etwas weiterer bezeichnet den Rand des Dschungels. »Sieh dir mal die Position des Füllhorns an«, sagt er.

Ich betrachte das Füllhorn und sehe, was er meint. »Das spitze Ende weist auf zwölf Uhr«, sage ich.

»Genau, das ist also oben bei der Uhr«, sagt er und ritzt flink die Zahlen eins bis zwölf aufs Ziffernblatt. »Von zwölf bis eins blitzt es.« In kleinen Buchstaben schreibt er Blitz in das entsprechende Tortenstück und in die folgenden Stücke trägt er im Uhrzeigersinn Blut, Nebel und Affen ein.

»Und zwischen zehn und elf kommt die Welle«, sage ich. Er fügt auch diese hinzu. Finnick und Johanna stoßen zu uns, bis an die Zähne mit Dreizacken, Äxten und Messern bewaffnet.

»Ist euch in den anderen Sektoren irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?«, frage ich Johanna und Beetee, denn vielleicht haben sie ja etwas gesehen, das wir nicht bemerkt haben. Aber alles, was sie gesehen haben, war eine Menge Blut. »Da könnte so ziemlich alles auf uns warten.«

»Ich werde markieren, wo die Waffen der Spielmacher uns auch außerhalb des Dschungels verfolgen, damit wir diese Abschnitte meiden«, sagt Peeta und streicht die Strände bei Nebel und Welle durch. Dann setzt er sich wieder. »Na, da wissen wir doch schon viel mehr als heute Morgen.«

Wir nicken und in diesem Augenblick fällt mir plötzlich die Stille auf. Unser Kanarienvogel hat aufgehört zu singen.

Ich verliere keine Zeit. Während ich herumfahre, lege ich einen Pfeil ein. Ich sehe Gloss, der tropfnass dasteht und Wiress zu Boden gleiten lässt, ihre aufgeschlitzte Kehle sieht aus wie ein hellrotes Lächeln. Die Spitze meines Pfeils verschwindet in seiner rechten Schläfe, und in dem kurzen Augenblick, den es braucht, um einen neuen Pfeil einzulegen, schmettert Johanna eine Axt in Cashmeres Brust. Finnick wehrt den Speer ab, den Brutus auf Peeta geschleudert hat, und bekommt dafür Enobarias Messer in den Oberschenkel. Wäre da nicht das Füllhorn, das ihnen Deckung gibt, wären sie jetzt tot, die beiden Tribute aus Distrikt 2. Ich nehme die Verfolgung auf. Bum! Bum! Bum! Die Kanone bestätigt, dass für Wiress jede Hilfe zu spät kommt und es nicht mehr nötig ist, Gloss oder Cashmere den Rest zu geben. Meine Verbündeten und ich rennen um das Horn herum, wir machen uns an die Verfolgung von Brutus und Enobaria, die über einen Sandstreifen auf den Dschungel zuhetzen.

Plötzlich ruckt der Boden unter meinen Füßen und ich werde seitwärts in den Sand geschleudert. Der Ring aus Land rund um das Füllhorn beginnt sich zu drehen, immer schneller, bis der Dschungel zu einem verschwommenen Etwas wird. Ich spüre die Fliehkraft, die mich zum Wasser zieht, und grabe auf der Suche nach Halt Hände und Füße in den Sand. Umherwirbelnder Sand und Schwindelgefühl zwingen mich, die Augen fest zu schließen. Ich kann buchstäblich nichts tun außer durchhalten, bis wir ohne Vorankündigung abrupt wieder anhalten.

Hustend und würgend setze ich mich langsam auf und stelle fest, dass es meinen Gefährten genauso ergangen ist. Finnick, Johanna und Peeta haben sich halten können. Die drei Toten sind hinaus ins Salzwasser geschleudert worden.

Von dem Zeitpunkt an, da Wiress aufgehört hat zu singen, sind nicht mehr als ein oder zwei Minuten vergangen. Keuchend sitzen wir da und pulen uns den Sand aus dem Mund.

»Wo ist Minus?«, fragt Johanna plötzlich. Im Nu sind wir auf den Beinen, wenn auch wackelig. Ein Gang rund um das Füllhorn bestätigt, dass er fort ist. Finnick entdeckt ihn zwanzig Meter entfernt verzweifelt strampelnd im Wasser und schwimmt hinaus, um ihn zu bergen.

In diesem Moment fällt mir die Drahtrolle ein, die so wichtig für Beetee ist. Hektisch schaue ich mich um. Wo ist sie? Wo ist sie? Dann entdecke ich sie, Wiress hält sie immer noch fest, weit draußen im Wasser. Bei dem Gedanken, was ich jetzt tun muss, zieht sich mir der Magen zusammen. »Gebt mir Deckung«, sage ich zu den anderen. Ich werfe meine Waffen weg und laufe den Streifen entlang, der ihrem Körper am nächsten ist. Ohne abzubremsen, springe ich ins Wasser und schwimme auf sie zu. Aus dem Augenwinkel erkenne ich das Hovercraft, das über uns erscheint, und den Greifer, der heruntergelassen wird, um Wiress fortzuschaffen. Aber ich werde nicht langsamer. Ich schwimme, so schnell ich kann, rassele in ihren Körper. Keuchend tauche ich auf, versuche so wenig wie möglich von dem Wasser zu schlucken, das sich mit dem Blut aus der offenen Wunde an ihrem Hals vermischt. Wiress treibt auf dem Rücken, ihr Gürtel und der Tod halten sie über Wasser, die Augen starren in die erbarmungslose Sonne. Während ich Wasser trete, entreiße ich ihren Fingern, die nichts mehr hergeben wollen, gewaltsam die Drahtrolle. Ich kann nichts mehr für sie tun, außer ihr die Lider zu schließen, ihr Lebewohl zuzuflüstern und sie dann sich selbst zu überlassen. Als ich die Drahtrolle auf den Sand werfe und mich aus dem Wasser ziehe, ist ihr Körper schon fort. Aber ich schmecke noch immer ihr Blut, vermischt mit Meersalz.

Ich gehe zurück zum Füllhorn. Finnick hat Beetee wiederbelebt, der reichlich Wasser geschluckt hat. Er setzt sich auf und prustet. Zum Glück hat er daran gedacht, seine Brille festzuhalten, so kann er wenigstens sehen. Ich lege ihm die Drahtrolle in den Schoß. Sie ist blitzsauber, kein Blut mehr daran zu sehen. Er wickelt ein Stück Draht ab und lässt es durch die Finger laufen. Zum ersten Mal sehe ich genauer hin. Dieser Draht ist ganz anders als der, den ich kenne. Er ist blassgolden und so dünn wie ein Haar. Er muss viele Kilometer lang sein, wenn ich mir die Rolle so anschaue. Aber ich frage nicht, weil ich weiß, dass Beetee mit den Gedanken bei Wiress ist.

Ich schaue in die ernsten Gesichter der anderen. Alle haben sie nun ihre Distriktpartner verloren, Finnick, Johanna und Beetee. Ich gehe hinüber zu Peeta und schlinge die Arme um ihn und eine Zeit lang sagt keiner was.

»Lasst uns von dieser stinkenden Insel verschwinden«, sagt Johanna schließlich. Unsere Waffen haben wir weitgehend retten können. Zum Glück halten die Ranken hier was aus und der Fallschirm mit Zapfhahn und Salbe hängt noch fest an meinem Gürtel. Finnick zieht das Unterhemd aus und bindet es um die Wunde, die Enobarias Messer in seinem Schenkel hinterlassen hat; sie ist nicht tief. Beetee meint, dass er jetzt laufen kann, wenn wir langsam gehen, ich helfe ihm hoch. Wir beschließen, zum Zwölf-Uhr-Strand zu gehen. Dort dürften wir ein paar Stunden Ruhe haben, ohne mit giftigen Dämpfen rechnen zu müssen. Aber dann laufen Peeta, Johanna und Finnick jeder in eine andere Richtung.

»Zwölf Uhr, oder?«, sagt Peeta. »Die Spitze zeigt auf die Zwölf.«

»Das hat sie, bevor sie uns durcheinandergewirbelt haben«, sagt Finnick. »Ich orientiere mich lieber an der Sonne.«

»Die Sonne sagt dir nur, dass es bald vier Uhr ist, Finnick«, sage ich.

»Wenn ich recht verstehe«, mischt Beetee sich ein, »will Katniss sagen, dass wir zwar wissen, wie viel Uhr es ist, aber nicht unbedingt, wo auf der Uhr sich die Vier befindet. Wir haben vielleicht eine ungefähre Ahnung, in welche Richtung es geht. Vorausgesetzt, sie haben den äußeren Ring nicht auch versetzt.«

Nein, Katniss wollte nichts derart Ausgefeiltes sagen. Beetees Theorie geht weit über meine Bemerkung zur Sonne hinaus. Aber ich nicke nur, als wäre genau das mein Gedanke gewesen. »Ja, und das bedeutet, dass jeder dieser Sandstreifen zur Zwölf führen könnte«, sage ich.

Wir umrunden das Füllhorn und erforschen den Dschungel. Er ist verwirrend gleichförmig. Ich erinnere mich an den großen Baum, in den um zwölf Uhr der erste Blitz einschlug, doch in jedem Sektor gibt es einen ähnlichen Baum. Johanna schlägt vor, den Spuren von Brutus und Enobaria zu folgen, aber sie sind verweht oder weggewaschen worden. Es ist unmöglich, irgendetwas zu erkennen. »Hätte ich die Uhr doch nie erwähnt«, sage ich verbittert. »Jetzt haben sie uns auch noch diesen Vorteil genommen.«

»Nur vorübergehend«, sagt Beetee. »Um zehn, wenn die Welle kommt, sind wir wieder auf Kurs.«

»Genau, die ganze Arena können sie nicht neu designen«, stimmt Peeta zu.

»Was soll’s«, sagt Johanna ungeduldig. »Du musstest es uns sagen, sonst hätten wir doch nie unser Lager abgebrochen, Dummerchen.« Eigenartig, aber ihre logische, wenn auch erniedrigende Antwort ist die einzige, die mich tröstet. Ja, ich musste es ihnen sagen, damit sie sich aufraffen. »Vorwärts, ich brauche Wasser. Hat einer ein gutes Bauchgefühl?«

Wir entscheiden uns für irgendeinen Streifen und folgen ihm, ohne zu wissen, auf welche Ziffer wir uns zubewegen. Als wir den Dschungel erreichen, spähen wir hinein und versuchen zu erraten, was uns dort erwarten mag.

»Müsste eigentlich die Affenstunde sein. Aber ich kann keine Affen entdecken«, sagt Peeta. »Ich schau mal, ob ich einen Baum anzapfen kann.«

»Nein, ich bin dran«, sagt Finnick.

»Dann gebe ich dir wenigstens Rückendeckung«, erklärt Peeta.

»Das kann Katniss übernehmen«, sagt Johanna. »Dich brauchen wir, um eine neue Karte zu zeichnen. Die andere ist doch weggespült worden.« Sie reißt ein großes Blatt von einem Baum und reicht es ihm.

Einen Augenblick lang keimt in mir der Verdacht auf, sie wollen Peeta und mich trennen und uns beide töten. Aber das ist unlogisch. Solange Finnick sich an dem Baum zu schaffen macht, bin ich im Vorteil, und Peeta ist viel stärker als Johanna. Also folge ich Finnick etwa fünfzehn Meter in den Dschungel hinein, wo er einen brauchbaren Baum findet und mit seinem Messer ein Loch hineinzustechen beginnt.

Wie ich so dastehe, mit schussbereitem Bogen, werde ich das beklemmende Gefühl nicht los, dass hier etwas vorgeht und dass es mit Peeta zu tun hat. Ich gehe die Ereignisse durch, von dem Moment an, als der Gong ertönte, und suche nach dem Grund für mein Unbehagen. Finnick, der Peeta von seiner Metallscheibe wegzieht. Finnick, der Peeta wiederbelebt, nachdem das Kraftfeld sein Herz zum Stillstand brachte. Mags, die in den Nebel rennt, damit Finnick Peeta tragen kann. Die Morfixerin, die sich zwischen Peeta und den Affen wirft. Der Kampf mit den Karrieros ging so schnell und war im Nu wieder vorbei, aber hat Finnick nicht Brutus’ Speer abgefangen, bevor er Peeta traf, obwohl er dadurch Enobaria Gelegenheit gab, ihm ihr Messer ins Bein zu rammen? Und jetzt will Johanna, dass er eine Karte zeichnet, anstatt sich den Gefahren des Dschungels auszusetzen …

Keine Frage. Aus mir völlig unerklärlichen Gründen versuchen einige der anderen Sieger, Peeta das Leben zu retten, selbst wenn es bedeutet, dass sie ihr eigenes opfern müssen.

Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Zum einen ist das doch meine Aufgabe. Und zum anderen weiß ich überhaupt nicht, was das soll. Nur einer von uns kommt hier heraus. Wieso haben sie dann beschlossen, Peeta zu beschützen? Was mag Haymitch ihnen gesagt haben, was hat er zum Tausch angeboten, damit sie Peetas Leben über ihr eigenes stellen?

Ich kenne meine ganz persönlichen Gründe, weshalb ich will, dass Peeta überlebt. Er ist mein Freund, auf diese Weise biete ich dem Kapitol die Stirn, untergrabe ihre schrecklichen Spiele. Doch wenn mich nichts mit ihm verbinden würde, weshalb sollte ich ihn retten wollen, damit er überlebt und nicht ich? Er ist tapfer, sicher, aber alle anderen sind auch tapfer genug gewesen, ihre Spiele zu überleben. Er hat ein besonders gutes Herz, das ist kaum zu übersehen, aber trotzdem … und da endlich fällt mir ein, was Peeta so viel besser kann als wir anderen. Er kann mit Worten umgehen. In beiden Interviews hat er die Konkurrenz in Grund und Boden geredet. Und vielleicht liegt es an seinem guten Herzen, dass er durch seine Art zu reden eine Menschenmenge auf seine Seite ziehen kann. Ein ganzes Land.

Ich weiß noch, dass ich mal dachte, genau diese Gabe müsse der Führer unserer Revolution haben. Hat Haymitch die anderen davon überzeugt? Dass Peetas Zunge eine viel mächtigere Waffe gegen das Kapitol wäre als alle physische Stärke, die wir anderen geltend machen könnten? Ich weiß es nicht. Es erscheint mir immer noch ein sehr großer Sprung über den eigenen Schatten für einige der Tribute. Für Johanna Mason zum Beispiel. Doch welche andere Erklärung kann es für ihre entschlossenen Bemühungen, sein Leben zu retten, geben?

»Gibst du mir mal den Zapfhahn, Katniss?«, fragt Finnick und holt mich zurück in die Wirklichkeit. Ich schneide die Ranke durch, mit der ich den Hahn an meinem Gürtel befestigt habe, und reiche ihn Finnick.

In diesem Augenblick höre ich sie schreien. So voller Angst und Schmerz, dass mir das Blut in den Adern gefriert. Und so vertraut. Ich lasse den Hahn fallen, vergesse, wo ich bin und was vor mir liegt, ich weiß nur, dass ich zu ihr muss, sie beschützen. Wie wild geworden renne ich in den Dschungel hinein, der Stimme nach, achtlos gegenüber der Gefahr, breche durch Ranken und Geäst, durch alles, was mir den Weg zu ihr versperrt.

Den Weg zu meiner kleinen Schwester.

24

Wo ist sie? Was machen sie mit ihr? »Prim!«, schreie ich. »Prim!« Die Antwort ist nur ein weiterer gequälter Schrei. Wie ist sie hergekommen? Warum ist sie Teil der Spiele? »Prim!«

Zweige schneiden mir in Gesicht und Arme, Kriechpflanzen greifen nach meinen Füßen. Aber ich komme ihr näher. Immer näher. Bin ihr jetzt ganz nah. Der Schweiß rinnt mir übers Gesicht, sticht in die halb verheilten Säurewunden. In der feuchtwarmen, sauerstoffarmen Luft ringe ich nach Atem. Prim gibt einen Laut von sich, so ein verlorenes, endgültiges Geräusch, dass ich mir nicht vorstellen mag, was sie mit ihr gemacht haben.

»Prim!« Ich breche durch eine grüne Wand auf eine kleine Lichtung, und der Laut erklingt erneut, direkt über mir. Abrupt lege ich den Kopf in den Nacken. Hängt sie gefangen in den Bäumen? Verzweifelt suche ich das Geäst ab, aber ich kann nichts entdecken. »Prim?«, flehe ich. Ich höre sie, doch ich kann sie nicht sehen. Der nächste Klagelaut erklingt, klar wie eine Glocke, und da besteht kein Zweifel mehr. Er kommt aus dem Schnabel eines kleinen schwarzen Vogels mit einer Haube auf dem Kopf, der sich etwa drei Meter über mir auf einem Zweig niedergelassen hat. Und dann begreife ich.

Es ist ein Schnattertölpel.

Ich habe noch nie einen gesehen, ich hatte gedacht, es gäbe keine mehr. Ich lehne mich gegen einen Baumstamm, presse die Hand auf meine stechenden Seiten und betrachte ihn. Die Mutation, die Urversion, der Stammvater. Vor meinem inneren Auge lasse ich eine Spottdrossel erstehen, verschmelze sie mit einem Schnattertölpel und erkenne, wie aus den beiden mein Spotttölpel geworden ist. Nichts an dem Vogel verrät, dass er eine Mutation ist. Nichts außer der täuschend echten Imitation von Prims Stimme, die aus seinem Schnabel kommt. Mit einem Pfeil in die Kehle bringe ich ihn zum Schweigen. Der Vogel fällt zu Boden. Ich ziehe den Pfeil heraus und drehe dem Vogel den Hals um, sicherheitshalber. Dann schleudere ich das widerliche Ding in den Dschungel. Kein Hunger der Welt könnte mich in Versuchung führen, ihn zu essen.

Das war nicht real, sage ich mir. So wie letztes Jahr die mutierten Wölfe nicht die echten toten Tribute waren. Das ist nur ein sadistischer Trick der Spielmacher.

Finnick bricht auf die Lichtung, als ich gerade meinen Pfeil mit Moos abwische. »Katniss?«

»Alles in Ordnung. Ich bin okay«, sage ich, obwohl ich mich ganz und gar nicht okay fühle. »Ich dachte, ich hätte meine Schwester gehört, aber …« Ein durchdringender Schrei unterbricht mich. Diesmal ist es eine andere Stimme, nicht die von Prim, vielleicht von einer jungen Frau. Ich erkenne sie nicht. Doch auf Finnick macht sie unmittelbar Eindruck. Alle Farbe weicht aus seinem Gesicht und die Pupillen weiten sich vor Schreck. »Bleib hier, Finnick!«, rufe ich und strecke die Hand aus, um ihn zu beruhigen, doch er ist schon auf und davon. Losgestürzt auf der Suche nach dem Opfer, genauso kopflos wie ich, als ich Prim hinterherjagte. »Finnick!«, rufe ich, aber ich weiß, dass er nicht umkehren und warten wird, um sich eine vernünftige Erklärung anzuhören. Mir bleibt nur, mich an seine Fersen zu heften.

Er ist schnell, aber es ist nicht schwer, ihm zu folgen, denn er hinterlässt eine deutliche Bresche. Doch der Vogel ist gut einen halben Kilometer entfernt, meist geht es bergauf, und als ich Finnick endlich einhole, bin ich völlig außer Atem. Er läuft um einen riesigen Baum herum. Der Stamm ist über einen Meter dick, die ersten Äste beginnen in gut sieben Metern Höhe. Der Schrei der Frau kommt irgendwo aus dem Grün über uns, doch der Schnattertölpel ist gut versteckt. Auch Finnick schreit, immer und immer wieder: »Annie! Annie!« Er ist voller Panik, nicht ansprechbar, deshalb tue ich, was ich sowieso getan hätte. Ich besteige einen benachbarten Baum, suche, bis ich den Schnattertölpel ausfindig gemacht habe, und erledige ihn mit einem Pfeil. Er fällt Finnick direkt vor die Füße. Finnick hebt ihn auf, langsam dämmert es ihm, doch als ich mich herunterlasse und zu ihm gehe, sieht er noch verzweifelter aus.

»Alles in Ordnung, Finnick. Das ist nur ein Schnattertölpel. Sie spielen uns einen Streich«, sage ich. »Das ist nicht real. Es ist nicht deine … Annie.«

»Nein, es ist nicht Annie. Aber die Stimme gehörte ihr. Schnattertölpel imitieren, was sie hören. Woher haben sie diese Schreie, Katniss?«, fragt er.

Als mir klar wird, was das bedeutet, spüre ich, wie jetzt ich blass werde. »Finnick, du meinst doch nicht etwa, die …«

»Doch. Meine ich. Genau das denke ich«, sagt er.

Ich stelle mir Prim vor, in einem weißen Raum, an einem Tisch festgeschnallt, während maskierte Gestalten in langen Gewändern ihr diese Laute entlocken. Irgendwo foltern sie sie oder haben sie gefoltert, um an diese Laute zu kommen. Meine Knie geben nach und ich sinke zu Boden. Finnick will mir etwas sagen, doch ich kann ihn nicht verstehen. Dafür höre ich plötzlich einen Vogel, der irgendwo zu meiner Linken anfängt zu singen. Und diesmal gehört die Stimme Gale.

Ehe ich losrennen kann, packt Finnick mich am Arm. »Nein. Das ist er nicht.« Er zerrt mich bergab, zum Strand. »Wir müssen hier raus!« Doch Gales Stimme ist so voller Schmerz, dass ich versuche, mich loszureißen und zu ihm zu laufen. »Das ist nicht er, Katniss! Das ist eine Mutation!«, schreit Finnick mich an. »Los jetzt!« Halb schleift er mich, halb trägt er mich weiter, bis ich begreife, was er gesagt hat. Er hat recht, das ist nur ein Schnattertölpel. Gale hat nichts davon, wenn ich den Vogel töte. Trotzdem, es ist Gales Stimme, und irgendwer hat ihn irgendwo und irgendwann dazu gebracht, solche Laute auszustoßen.

Aber ich wehre mich nicht mehr gegen Finnick. Wie in der Nacht mit dem Nebel fliehe ich vor etwas, gegen das ich nicht ankämpfen kann. Das mir nur Leid zufügen kann. Nur dass es diesmal mein Herz ist, das verätzt wird, und nicht mein Körper. Mit Sicherheit sind die Vögel eine weitere Waffe der Uhr. Vier Uhr, vermute ich mal. Wenn die Zeiger auf vier Uhr rücken, gehen die Affen nach Hause und die Schnattertölpel kommen hervor und spielen auf. Finnick hat recht: Wir müssen so schnell wie möglich raus hier. Nur dass Haymitch uns diesmal todsicher nichts per Fallschirm wird schicken können, das Finnick und mir hilft, diese Wunden zu heilen.

Am Dschungelrand stehen Peeta und Johanna, was mich erleichtert und zugleich wütend macht. Wieso ist Peeta mir nicht zu Hilfe gekommen? Wieso ist uns keiner gefolgt? Selbst jetzt noch zögert er, die Hände erhoben, die Handflächen uns zugewandt, die Lippen bewegen sich, doch die Worte erreichen uns nicht. Warum?

Die Wand ist so transparent, dass wir in vollem Lauf dagegenprallen und auf den Dschungelboden zurückgeschleudert werden. Ich habe Glück, meine Schulter hat den Aufprall weitgehend abgefangen. Aber Finnick ist mit dem Gesicht voll dagegengeknallt und jetzt schießt das Blut nur so aus seiner Nase. Deshalb also sind Peeta und Johanna und auch Beetee, der hinter ihnen traurig den Kopf schüttelt, uns nicht zu Hilfe gekommen. Eine unsichtbare Barriere versperrt den Zugang zum Strand. Kein Kraftfeld diesmal. Man kann die harte, glatte Oberfläche nach Belieben berühren. Doch weder Peetas Messer noch Johannas Axt vermag ihr auch nur einen Kratzer zuzufügen. Ich gehe ein paar Meter nach einer Seite und stelle fest, dass die Wand wohl den gesamten Sektor zwischen vier und fünf Uhr einschließt. Dass wir wie die Mäuse in der Falle sitzen, bis die Stunde vorbei ist.

Peeta presst die Hand gegen die Oberfläche, und ich halte meine dagegen, als könnte ich ihn durch die Wand hindurch spüren. Ich sehe, dass er die Lippen bewegt, doch ich kann ihn nicht hören, kann überhaupt nichts hören außerhalb unseres Segments. Ich versuche zu erraten, was er sagt, aber ich kann mich nicht konzentrieren, deshalb starre ich nur auf sein Gesicht und bemühe mich, meine fünf Sinne beisammenzuhalten.

Dann kommen die Vögel angeflogen. Einer nach dem anderen. Lassen sich auf den Ästen um uns herum nieder. Und aus ihren Schnäbeln ergießt sich ein sorgsam abgestimmter Chor des Grauens. Finnick kapituliert sofort, er sinkt zu Boden und presst die Hände auf die Ohren, als wollte er seinen Schädel zerquetschen. Eine Zeit lang versuche ich mich zu wehren. Ich verschieße den Inhalt meines Köchers auf die verhassten Vögel. Doch sobald einer tot herunterfällt, nimmt ein anderer seinen Platz ein. Schließlich gebe auch ich auf. Ich rolle mich neben Finnick zusammen und versuche die unerträglichen Schreie auszublenden, die Schreie von Prim, Gale, meiner Mutter, Madge, Rory, Vick und sogar Posy, der wehrlosen kleinen Posy …

Als ich Peetas Hand spüre, weiß ich, dass es vorbei ist. Ich merke, wie ich hochgehoben und aus dem Dschungel getragen werde. Trotzdem habe ich die Augen noch immer fest geschlossen, halte mir die Ohren zu, bleibe verkrampft und kann nicht lockerlassen. Peeta bettet mich in seinen Schoß, wiegt mich sanft und redet beruhigend auf mich ein. Es dauert lange, bis sich der eiserne Griff, in dem sich mein Körper befindet, lockert. Und da fange ich an zu zittern.

»Es ist alles gut, Katniss«, flüstert er.

»Du hast sie nicht gehört«, antworte ich.

»Ich hab Prim gehört. Gleich am Anfang. Aber das war nicht sie«, sagt er. »Es war ein Schnattertölpel.«

»Das war sie. Irgendwo. Der Schnattertölpel hat es sich nur gemerkt«, sage ich.

»Nein, sie wollen, dass du das denkst. So wie ich mich letztes Jahr gefragt habe, ob diese Mutation wirklich Glimmers Augen hatte. Aber es waren nicht Glimmers Augen. Und das hier war nicht Prims Stimme. Oder wenn doch, dann haben sie sie vielleicht aus einem Interview und den Klang verzerrt. Damit sie sich so anhörte, wie sie es wollten«, sagt er.

»Nein, sie haben sie gefoltert«, erwidere ich. »Wahrscheinlich ist sie tot.«

»Prim ist nicht tot, Katniss. Wie könnten sie Prim töten? Bald sind nur noch acht von uns übrig. Du weißt doch, was dann geschieht, oder?«, sagt Peeta.

»Sieben von uns werden sterben«, sage ich ohne Hoffnung.

»Nein, zu Hause, meine ich. Was geschieht, wenn nur noch acht Tribute dabei sind?« Er hebt mein Kinn hoch, sodass ich ihn ansehen muss. Zwingt mich, ihm in die Augen zu schauen. »Was geschieht dann? Bei den letzten acht?«

Ich weiß, dass er mir zu helfen versucht, also überlege ich. »Bei den letzten acht?«, wiederhole ich. »Sie interviewen unsere Familien und Freunde in der Heimat.«

»Stimmt genau«, sagt Peeta. »Sie interviewen unsere Familien und Freunde. Und wäre das möglich, wenn sie alle getötet hätten?«

»Nicht?«, frage ich, immer noch unsicher.

»Nein. Daher wissen wir, dass Prim noch lebt. Sie wird ja wohl die Erste sein, die sie interviewen, oder?«, sagt er.

Ich möchte ihm glauben. Unbedingt. Es ist nur … diese Stimmen …

»Erst Prim. Dann deine Mutter. Deinen Cousin, Gale. Madge«, fährt er fort. »Es war ein Trick, Katniss. Ein grausamer Trick. Aber nur wir können dadurch verletzt werden. Wir sind in den Spielen. Nicht sie.«

»Glaubst du wirklich?«, frage ich.

»Ja, das glaube ich wirklich«, sagt Peeta. Ich schwanke, ich denke daran, dass Peeta die Menschen dazu bringen kann, alles zu glauben. Ich schaue zu Finnick hinüber und warte auf eine Bestätigung, sehe, dass er Peetas Worten gebannt lauscht. »Glaubst du das, Finnick?«, frage ich.

»Möglich wär’s. Ich weiß nicht«, sagt er. »Könnten sie das, Beetee? Die echte Stimme von jemandem nehmen und sie so verändern, dass sie …«

»Aber ja. Das ist gar nicht mal so schwer, Finnick. Bei uns lernen die Kinder so was in der Schule«, sagt Beetee.

»Natürlich hat Peeta recht«, sagt Johanna im Brustton der Überzeugung. »Das ganze Land vergöttert Katniss’ kleine Schwester. Wenn sie sie wirklich auf diese Weise getötet hätten, dann hätten sie wahrscheinlich einen Aufstand am Hals. Und das wollen sie doch nicht, was?« Sie wirft ihren Kopf zurück und schreit. »Das ganze Land in Aufruhr? Das würden sie bestimmt nicht wollen!«

Mir bleibt der Mund offen stehen, so geschockt bin ich. Niemand spricht so etwas in den Spielen aus. Nie. Todsicher haben sie Johanna ausgeblendet und schneiden sie jetzt eilig heraus. Doch ich habe sie gehört und ich werde nie mehr so über sie denken können wie bisher. Einen Preis für Freundlichkeit wird sie niemals bekommen, aber mutig ist sie auf jeden Fall. Oder verrückt. Sie hebt ein paar Muschelschalen auf, sagt: »Ich geh mal Wasser holen«, und macht sich auf den Weg in den Dschungel.

Als sie an mir vorübergeht, greife ich unwillkürlich nach ihrer Hand. »Geh nicht da rein. Die Vögel …« Die Vögel müssen zwar verschwunden sein, aber ich möchte trotzdem nicht, dass wieder jemand hineingeht. Nicht mal sie.

»Die können mir nichts anhaben. Ich bin nicht wie ihr. Von meinen Lieben ist keiner mehr da«, sagt Johanna und schüttelt mich ungeduldig ab. Als sie zurückkommt und mir eine Muschelschale voll Wasser reicht, nicke ich zum Dank, sage aber nichts, denn ich weiß, dass sie für das Mitleid in meiner Stimme nur Verachtung übrig hätte.

Während Johanna Wasser und meine Pfeile holt, fummelt Beetee an seinem Draht herum, und Finnick macht sich auf den Weg ans Ufer. Ich müsste mich auch mal waschen, aber ich bleibe in Peetas Armen, ich bin noch immer zu aufgewühlt, um mich zu bewegen.

»Wen haben sie auf Finnick angesetzt?«, fragt er.

»Jemanden namens Annie«, sage ich.

»Das muss Annie Cresta sein«, sagt er.

»Wer?«, frage ich.

»Annie Cresta. Das Mädchen, an deren Stelle Mags sich freiwillig gemeldet hat. Sie hat vor fünf oder sechs Jahren gewonnen«, sagt Peeta.

Das müsste dann der Sommer nach dem Tod meines Vaters gewesen sein, als ich begann, meine Familie zu ernähren, als meine ganze Existenz damit ausgefüllt war, gegen den Hunger zu kämpfen. »An diese Spiele kann ich mich kaum erinnern«, sage ich. »War das das Jahr mit dem Erdbeben?«

»Ja. Annie ist durchgedreht, als ihr Distriktpartner enthauptet wurde. Rannte allein los und versteckte sich. Doch bei dem Erdbeben brach ein Damm und der größte Teil der Arena wurde überflutet. Sie gewann, weil sie am besten schwimmen konnte«, sagt Peeta.

»Hat sich ihr Zustand seitdem gebessert?«, frage ich. »Ihr Geisteszustand, meine ich.«

»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals noch bei den Spielen gesehen zu haben. Aber bei der Ernte neulich wirkte sie nicht gerade stabil.«

Das also ist die Frau, die Finnick liebt, denke ich. Nicht die schicken Mätressen im Kapitol. Sondern ein armes, verrücktes Mädchen in der Heimat.

Eine Kanone ertönt und wir laufen alle am Strand zusammen. Ein Hovercraft erscheint dort, wo wir den Sechs-bis-sieben-Sektor vermuten. Wir schauen zu, wie der Greifer fünfmal herunterfährt, um die verschiedenen Teile eines zerfetzten Körpers aufzusammeln. Unmöglich zu erkennen, um wen es sich handelt. Was immer um sechs in diesem Sektor passiert, ich möchte es nie erfahren.

Auf einem Blatt zeichnet Peeta eine neue Karte und fügt im Vier-bis-fünf-Feld ST für Schnattertölpel ein, und in das Feld, wo gerade die Einzelteile des Tributs eingesammelt wurden, schreibt er einfach nur Bestie. Von sieben Stunden der Uhr haben wir jetzt eine recht genaue Vorstellung. Und wenn der Angriff der Schnattertölpel irgendetwas Gutes hat, dann dass wir wieder wissen, an welcher Stelle der Uhr wir uns befinden.

Finnick flicht einen neuen Wasserkorb und knüpft ein Netz zum Fischen. Ich schwimme ein bisschen und reibe meine Haut mit Salbe ein. Dann setze ich mich ans Ufer, säubere die Fische, die Finnick fängt, und schaue zu, wie die Sonne hinter dem Horizont versinkt. Der helle Mond geht bereits auf und taucht die Arena in dieses seltsame Zwielicht. Wir wollen uns gerade zu unserem Mahl aus rohem Fisch niederlassen, als die Hymne erklingt. Dann erscheinen die Gesichter …

Cashmere. Gloss. Wiress. Mags. Die Frau aus Distrikt 5. Die Morfixerin, die sich für Peeta geopfert hat. Blight. Der Mann aus Distrikt 10.

Acht tot. Plus die acht vom ersten Abend. Innerhalb von anderthalb Tagen sind zwei Drittel von uns gestorben. Das dürfte Rekord sein.

»Die verheizen uns ja regelrecht«, sagt Johanna.

»Wer ist noch übrig? Abgesehen von uns fünf und den beiden aus Distrikt 2?«, fragt Finnick.

»Chaff«, sagt Peeta, ohne darüber nachdenken zu müssen. Vielleicht hat er nach ihm Ausschau gehalten, wegen Haymitch.

Ein Fallschirm mit einem Stapel mundgerechter viereckiger Brötchen segelt herab. »Die sind aus deinem Distrikt, stimmt’s, Beetee?«, fragt Peeta.

»Ja, aus Distrikt 3«, sagt er. »Wie viele sind es?«

Finnick zählt sie, wobei er jedes Einzelne in den Händen dreht und wendet, bevor er sie nach einem bestimmten Muster anordnet. Keine Ahnung, was Finnick mit Brot hat, aber irgendwie scheint er davon besessen zu sein. »Vierundzwanzig«, sagt er.

»Genau zwei Dutzend also?«, fragt Beetee. »Exakt vierundzwanzig«, sagt Finnick. »Wie sollen wir sie teilen?«

»Jeder isst drei, und wer beim Frühstück noch am Leben ist, kann über den Rest bestimmen«, sagt Johanna. Ich weiß nicht, warum ich darüber kichern muss. Wahrscheinlich, weil es aufrichtig ist. Johanna wirft mir einen fast anerkennenden Blick zu. Nein, nicht anerkennend. Aber leicht erfreut vielleicht.

Wir warten, bis die Riesenwelle den Zehn-bis-elf-Sektor überrollt hat und das Wasser zurückgewichen ist, dann gehen wir an den Strand dort, um unser Lager aufzuschlagen. Theoretisch mussten wir jetzt zwölf Stunden vor dem Dschungel in Sicherheit sein. Aus dem Elf-bis-zwölf-Sektor kommt ein unangenehmer Chor aus Klicklauten, wahrscheinlich irgendeine üble Insektenart. Doch was dieses Geräusch auch verursachen mag, es bleibt innerhalb des Dschungels, und wir meiden diesen Teil des Strandes, falls die Viecher doch nur auf einen unvorsichtigen Schritt warten, um auszuschwärmen.

Ich begreife nicht, wie Johanna sich noch auf den Beinen halten kann. Seit Beginn der Spiele hat sie nur eine Stunde geschlafen. Peeta und ich melden uns freiwillig für die erste Wache, weil wir ausgeruhter sind und weil wir ein bisschen Zeit für uns haben möchten. Die anderen schlafen sofort tief und fest. Nur Finnicks Schlaf ist unruhig, ab und zu höre ich, wie er Annies Namen flüstert.

Peeta und ich setzen uns nebeneinander, aber voneinander abgewandt auf den feuchten Sand, meine rechte Schulter und Hüfte berühren seine. Er schaut auf den Dschungel und ich aufs Wasser, was mir guttut. Die Stimmen der Schnattertölpel verfolgen mich noch immer und die Insekten können das nicht übertönen. Nach einer Weile lehne ich den Kopf gegen Peetas Schulter. Er streicht mir über das Haar.

»Katniss«, sagt er sanft, »es hat keinen Sinn, so zu tun, als wussten wir nicht, was der andere vorhat.« Nein, wahrscheinlich nicht. Aber darüber reden ist auch nicht gerade angenehm. Zumindest nicht für uns. Dafür werden die Zuschauer im Kapitol jetzt an ihren Geräten kleben, um nur ja kein Wort zu verpassen.

»Ich weiß nicht, was für einen Deal du mit Haymitch gemacht zu haben glaubst, aber du sollst wissen, dass er mir auch Versprechungen gemacht hat.« Natürlich, das weiß ich selbst. Er hat Peeta eingeflüstert, sie könnten irgendwie mein Leben retten, damit er keinen Verdacht schöpft. »Wir können daher davon ausgehen, dass er einen von uns angelogen hat.«

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