Der Unfall

Aniel kehrte nicht um vier zurück, aber keinem schien das aufzufallen. Es war noch nicht fünf, als es dunkel wurde, und Pirx, weniger besorgt denn verwundert, wollte Krull schon fragen, was das zu bedeuten habe. Dann verkniff er es sich aber — er war nicht der Leiter der Gruppe, und seine Frage hätte womöglich, wenn sie auch berechtigt und völlig harmlos war, eine regelrechte Kettenreaktion an Gereiztheit ausgelöst. Er kannte das, es kam immer wieder mal vor, besonders wenn die Gruppe so vom Zufall zusammengewürfelt war wie diese hier.

Drei Männer mit Spezialgebieten, die sich himmelweit voneinander unterschieden, erfüllten eine Aufgabe, die wahrscheinlich alle für ebenso sinnlos hielten wie er selbst. Und das mitten in der Bergwelt eines Planeten, der niemandem etwas nützte. Man hatte sie in einem kleinen alten Gravistaten hergebracht, den sie übrigens hierlassen sollten, weil er schrottreif war, und mitsamt einer Aluminiumfaltbaracke, einer Handvoll Gerät und einer Funkstation abgesetzt, die so heruntergewirtschaftet war, daß sie mehr Ärger mit ihr hatten als alles andere.

Binnen sieben Wochen sollten sie mit der „allgemeinen Erkundung des Terrains“ fertig sein — als ob das möglich gewesen wäre! Pirx hätte diese Aufgabe niemals übernommen, denn er begriff recht gut, daß es dabei nur um die Erweiterung des Forschungsbereiches ging, der von der Explorationsabteilung der Basis betreut wurde, also um ein weiteres Zifferchen mehr in den Berichten, mit denen die Abteilung ihre Informationsmaschinen fütterte, was sicherlich bei der Planung von Mitteln, Leuten und Kapazität für das kommende Jahr eine gewisse Rolle spielte.

Und bloß damit jene in kleine Löcher zerlegte Ziffer auf den Gedächtnisbändern auftauchte, hockten sie nun nahezu fünfzig Tage in dieser Einöde, die unter anderen Umständen vielleicht sogar ganz reizvoll sein konnte, als Klettergelände zum Beispiel. Jegliche Bergsteigerfreuden aber waren ihnen verständlicherweise streng untersagt, und Pirx konnte sich allenfalls während der Triangulations- und seismischen Messungen ausmalen, wie die ersten Abschnitte des Aufstiegs verlaufen müßten.

Der Planet wurde einfach als Jota Strich 116 Strich 47, Proxima Aquarii bezeichnet. Von allen Planeten, die Pirx zu Gesicht bekommen hatte, glich dieser hier mit seiner kleinen gelben Sonne, den salzigen Meeren, lilagrün gefärbt von Algen, die die Atmosphäre eifrig mit Sauerstoff anreicherten, und dem großen, dreiteiligen, mit den Ansätzen einer Flora überzogenen Kontinent der Erde am meisten. Er hätte sich glänzend zur Besiedlung geeignet, wäre seine Sonne nicht zum Typ G gerechnet worden, einer neuentdeckten Untergattung von G VII, die als unsicher galt, weil man Emissionsschwankungen vermutete. Da also die Astrophysiker ihr Veto eingelegt hatten, mußte man sämtliche Pläne, dieses gelobte Land zu bewirtschaften, ein für allemal begraben, selbst wenn die Umwandlung in eine Nova erst in hundert Millionen Jahren eintreten sollte.

Pirx bereute es manchmal, daß er sich zu der Expedition hatte breitschlagen lassen, aber dieses Gefühl war nicht ganz aufrichtig. Er hätte sich ohnehin drei Monate lang in der Basis herumdrücken müssen — eher gab es keine Verbindung mit dem Sonnensystem —, und angesichts der Vorstellung, in den Klimagärten der Basis herumzulungern und vor einem stumpfsinnigen Fernsehprogramm zu glucken (eine Unterhaltungskonserve, die mindestens ihre zehn Jahre auf dem Buckel hatte), war er mit Freuden auf das Angebot seines Vorgesetzten eingegangen, der seinerseits froh war, Krull einen Gefallen tun zu können — er selbst hatte nämlich keinen Mann mehr frei, und das Reglement verbot, zwei Leute allein auf Fahrt zu schicken. So mußte Pirx dem Kosmographen wie ein Geschenk des Himmels erscheinen. Krull allerdings war keine Begeisterung anzumerken — weder damals noch später. Anfangs glaubte Pirx sogar, Krull verdächtige ihn irgendwelcher „Starallüren“, da er als Kommandant eines Raumschiffes plötzlich eingewilligt hatte, ein simpler Explorator zu werden. Es sah aus, als hege Krull einen heimlichen Groll gegen ihn, in Wahrheit war er in der Mitte seiner Jahre (er hatte die Vierzig überschritten) lediglich ein wenig bitter geworden, als hätte man ihm sein Lebtag nichts anderes eingetrichtert als Wermut. Und da sich in dieser Abgeschiedenheit nichts verheimlichen ließ und die Menschen mit all ihren kleinen Schwächen und all ihren Tugenden sehr bald so leicht zu durchschauen waren wie Glas, hatte Pirx im Nu begriffen, woher der Makel in Krulls Charakter rührte, der Makel im Wesen dieses ausdauernden, ja harten Mannes, der reichlich zehn Jahre Außendienst hinter sich hatte. Krull war es einfach nicht gelungen, das zu werden, was ihm seinerzeit ein Herzenswunsch gewesen war, weil er sich für den ersehnten Beruf nicht eignete. Und daß er früher einmal davon geträumt hatte, nicht Kosmograph zu werden, sondern Intellektroniker, wurde Pirx sonnenklar, als er sah, wie unnachgiebig sich Krull Massena gegenüber gebärdete, sobald das Gespräch auf intellektronische Themen kam (Krull sagte übrigens „intellektrale“ — im Fachjargon). Leider fehlte es Massena am nötigen Verständnis, vielleicht waren ihm Krulls Motive auch einerlei.

Nicht genug, daß er, wenn der andere auf einer falschen Lösung beharrte, sich nicht damit zufriedengab, sie zu negieren, nein — er legte, den Bleistift in der Hand, Krull aufs Kreuz, baute Schritt für Schritt seinen mathematischen Beweis auf und brachte ihn zu Ende, eine Genugtuung im Gesicht, als wolle er nicht so sehr die Richtigkeit seiner These beweisen als vielmehr die Auffassung, daß Krull ein blasierter Esel war. Aber das stimmte nicht. Blasiert war Krull nicht, er war nur überempfindlich, eben wie jemand, dessen Ehrgeiz woanders liegt als seine Fähigkeiten. Pirx, der unfreiwillig Zeuge eines solchen Gesprächs wurde — kein Kunststück übrigens, da sie doch gemeinsam die vierzig Quadratmeter große Baracke bewohnten und die Schallisolierung der Trennwände lediglich eine Wunschvorstellung war —, ahnte schon, womit das enden würde. Und wirklich: Krull, der nicht wagte, Massena zu zeigen, wie sehr ihn die Niederlage kränkte, ließ seinen ganzen Unwillen an Pirx aus, natürlich in der ihm eigenen Art und Weise: Wenn es nicht unbedingt sein mußte, sprach er nicht mit ihm.

Nun fühlte sich Pirx nur noch zu Massena hingezogen. Mit diesem schwarzhaarigen, helläugigen Neurastheniker hätte er sich tatsächlich anfreunden mögen, aber mit Neurasthenikern kam er nie recht zu Rande, weil er ihnen insgeheim nicht über den Weg traute. Massena hatte immer irgendein Zipperlein: Er ließ sich in den Hals gucken und kündigte alle naselang Witterungsumschwünge an, weil er das Reißen in den Knochen habe (seine Prophezeiungen trafen nie ein, was ihn jedoch nicht dazu veranlaßte, sie einzustellen), er litt angeblich an Schlaflosigkeit und kramte allabendlich ostentativ seine Pillen hervor, die er allerdings nie nahm — er legte sie nur für alle Fälle neben die Koje, und am anderen Morgen erklärte er Pirx, der bis spät in die Nacht gelesen und Massenas Schnarchen deutlich gehört hatte, er habe überhaupt kein Auge zugetan (was er anscheinend selbst glaubte). Darüber hinaus aber war er ein hervorragender Fachmann und ein glänzender Mathematiker mit großem Organisationstalent, dem die laufende Programmierung der automatischen, also unbemannten Exploration oblag. Eines dieser Programme hatte er stets bei sich, um es „in freien Augenblicken“ auszuarbeiten, und Krull litt Seelenqualen, weil Massena seine Arbeit schnell und gut erledigte, so daß ihm in der Tat viel freie Zeit blieb und es somit keinen Grund gab, etwa seine Pflichterfüllung zu bemängeln. Sie konnten Massena um so besser gebrauchen, als es in dieser planetologischen Miniexpedition — so paradox 250 das auch klingen mochte — keinen einzigen waschechten Planetologen gab, denn auch Krull war ja keiner. Wie bewunderungs- und zugleich verzweiflungswürdig ist doch jener Grad von Kompliziertheit, den ohne besonderes Zutun von einer Seite die Beziehungen zwischen drei im Grunde völlig normalen, durchschnittlichen Männern in einer Felsenwüste erreichen können, wie sie das südliche Hochplateau des Jota des Wassermanns darstellte!

Es gehörte noch jemand zu ihnen, allerdings kein Mensch, sondern besagter Aniel, ein nichtlinearer Automat, eines der auf der Erde produzierten neuesten Modelle für Forschungen der höchsten Selbständigkeitsstufe.

Massena als Kybernetiker war lediglich durch einen Anachronismus hier, weil nämlich das Reglement verlangte, daß am Einsatzort eines Automaten auch jemand anwesend sein müsse, der ihn notfalls reparieren könne. Aber das Reglement war mittlerweile seine zehn Jahre alt bekanntlich ändern sich Vorschriften nicht so schnell —, und Aniel hätte, wie Massena mitunter selbst zu sagen pflegte, notfalls eher ihn reparieren können als umgekehrt.

Nicht nur, weil seine Funktionstüchtigkeit nichts zu wünschen übrigließ, sondern weil er auch über elementare medizinische Kenntnisse verfügte. Pirx wußte aus langjähriger Erfahrung, daß man einen Menschen oft leichter nach seinem Verhältnis zu den Robotern als zu seinen Mitmenschen beurteilen könnte. Seine Generation war in eine Welt hineingeboren worden, in der die Automaten ebenso selbstverständlich waren wie die Raumschiffe, aber die Sphäre der Roboter hatte sich ihr besonderes Fluidum bewahrt, ihr haftete noch immer ein Hauch von Irrationalität an. Manch einem fiel es leichter, eine gewöhnliche Maschine ins Herz zu schließen, das eigene Auto beispielsweise, als einen Apparat, der dachte. Die Zeit, da die Konstrukteure endlos herumexperimentiert hatten, neigte sich ihrem Ende zu — so sah es wenigstens aus. Es wurden nur noch zwei Typen von Automaten gebaut: hochspezialisierte und universell einsatzfähige.

Einzig und allein der kleinen Gruppe der Universalautomaten hatte man annähernd menschenähnliche Formen gegeben, und das auch nur deshalb, weil von allen getesteten Konstruktionen diejenigen am leistungsfähigsten waren, die der Natur entlehnt waren, vor allem unter den erschwerten Bedingungen planetarischer Erkundungsfahrten.

Die Ingenieure waren nie sonderlich beglückt, wenn ihre Produkte eine Spontaneität an den Tag legten, die unwillkürlich den Gedanken an ein Innenleben aufkommen ließ. Im allgemeinen hieß es, die Roboter könnten wohl denken, besäßen aber „keine Persönlichkeit“. Und in der Tat — niemand hatte es jemals erlebt, daß ein Automat in Wut oder Entzücken geraten wäre, daß er geweint oder gelacht hätte. Sie waren ideal ausgeglichen, wie ihre Konstrukteure es wünschten. Weil ihr Hirn jedoch nicht auf dem Montageband entstand, sondern in einem langwierigen Zuchtprozeß von Monokristallen, die in ihrer statistischen Variabilität nicht zu beeinflussen waren, kam es zu gewissen Molekularverschiebungen, wenn diese auch noch so geringfügig waren. Solche Endabweichungen hatten zur Folge, daß es genaugenommen keine zwei Automaten gab, die absolut identisch gewesen wären. Also doch Individualität? Nein, lautete die Antwort des Kybernetikers, sondern Ergebnisse eines probabilistischen Prozesses. Diese Meinung vertrat auch Pirx, wie wohl jeder, der viel mit Robotern zu tun und jahrelang ihre schweigende, immer sinnvolle, immer logische Umsicht neben sich gespürt hatte. Gewiß, untereinander glichen sie sich viel mehr als den Menschen, aber auch sie hatten ihre Unarten, ihre Marotten, und unter ihnen fanden sich manche, die bei der Befehlsausübung sogar so etwas wie passiven Widerstand leisteten, ein Umstand, der mit einer Generalüberholung endete, wenn sich dieser Zustand verschlimmerte. Pirx — und er war sicherlich nicht der einzige — hatte diesen merkwürdigen Maschinen gegenüber, die ihre Aufträge so exakt ausführten und zuweilen eine enorme Erfindungsgabe zeigten, kein ganz reines Gewissen.

Vielleicht stammte das noch aus der Zeit, da er Kommandant des „Coriolan“ gewesen war — auf jeden Fall hielt er den Ausgangspunkt für nicht ganz ehrlich, den Ausgangspunkt einer Situation, in der der Mensch außerhalb seiner selbst ein Denkvermögen schuf und es in Abhängigkeit von sich selbst brachte. Er hätte wahrscheinlich nicht definieren können, was diese leichte Beklemmung in ihm hervorrief, dieses Gefühl, gewissermaßen eine Rechnung nicht beglichen, eine falsche Entscheidung gefällt oder, grob gesagt, eine Gemeinheit zwar geschickt, aber immerhin begangen zu haben. Es lag eine perverse Raffinesse in jener maßvollen Vernunft, mit der der Mensch das über sich selbst erworbene Wissen den kalten Maschinen einhauchte und dabei aufpaßte, daß sie nur gerade soviel Bewußtheit bekamen wie erforderlich, ohne Aussicht darauf, ihrem Schöpfer jemals die Herrlichkeiten dieser Welt streitig machen zu können. Goethes Maxime „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister“ erhielt, was die findigen Konstrukteure betraf, unversehens den Beigeschmack einer Huldigung, die sich in eine höhnische Verwünschung verkehrte, denn nicht sich selbst erlegten sie ja Beschränkungen auf, sondern ihren Werken, und dies mit grausamer Präzision. Natürlich hätte Pirx sich niemals dazu hinreißen lassen, diesen Gedanken laut zu äußern, denn er war sich bewußt, wie lächerlich er klingen mußte. Die Automaten wurden in ihrer Existenz nicht benachteiligt oder ausgebeutet — die Sache war einfacher, moralisch schwerer anfechtbar und schlimmer zugleich. Man hatte sie beschränkt, noch ehe sie entstanden, schon auf dem Zeichenpapier.

An jenem Tag, ihrem vorletzten auf dem Planeten, waren die Arbeiten eigentlich schon abgeschlossen. Als sie aber die Bänder mit den Untersuchungsergebnissen sortierten, stellten sie fest, daß eines fehlte. Zuerst durchsuchten sie das Gedächtnis der Maschine, dann wühlten sie in allen Schubladen und Fächern, wobei Pirx von Krull zweimal dazu aufgefordert wurde, gründlich zwischen seinen persönlichen Sachen nachzusehen, was schon an Schikane grenzte, weil Pirx mit dem Band überhaupt nicht in Berührung gekommen war und es niemals in seinen Koffer gesteckt hätte. Pirx hatte nicht übel Lust, Krull endlich mal die Meinung zu sagen, zumal er bisher immer den Mund gehalten und das schroffe, ja beleidigende Benehmen von Krull nach besten Kräften entschuldigt hatte. Aber er schluckte auch diesmal seinen Ärger hinunter und erklärte, falls man die Messungen wiederholen müßte, wäre er gern bereit, sie allein vorzunehmen, mit Aniel als Helfer.

Krull war jedoch der Auffassung, Aniel sei auf die Hilfe von Pirx überhaupt nicht angewiesen. Sie bürdeten dem Roboter also Apparat und Fotospulen auf und schickten ihn, nachdem sie ihm Rückstoßpatronen ins Gürtelhalfter gesteckt hatten, in die Gipfelregion des Bergvorlandes. Der Roboter brach um acht Uhr morgens auf, und Massena äußerte, daß er bis zum Mittagessen seine Sache geschafft haben würde. Es wurde jedoch zwei, drei, schließlich vier Uhr, es dämmerte bereits, und Aniel war immer noch nicht zurück.

Pirx saß in der Barackenecke unter der Kadmiumwandleuchte und schmökerte in einer zerflederten alten Schwarte, die er sich noch in der Basis von irgendeinem Piloten geliehen hatte, aber er erfaßte kaum, was er da las: ihm war es zu unbequem. Die dünne, gerippte Aluminiumwand drückte ihn im Rücken, außerdem hatte das Kissen keine Luft mehr, und er spürte, wie die scharfkantigen Schrauben der Konstruktion sich ihm durch das Gummigewebe hindurch in die Schenkel bohrten. Trotzdem wechselte er nicht die Stellung, weil die Unbequemlichkeit auf seltsame Weise mit der Wut korrespondierte, die allmählich in ihm hochstieg. Weder Krull noch Masse na schienen Aniel bis jetzt zu vermissen. Krull, der nun wirklich kein Witzbold war und auch gar nicht den Anschein zu erwecken versuchte, hatte, weiß der Himmel, warum, von Anfang an darauf bestanden, den Roboter „Engel“ zu nennen oder sogar „Eiserner Engel“, eine andere Anrede gebrauchte er überhaupt nicht, und dieser im Grunde harmlose Scherz hatte Pirx so oft in Rage gebracht, daß er den Kosmographen schon deshalb nicht mochte. Massenas Verhältnis zu dem Roboter war beruflich bedingt: Alle Elektroniker wissen (oder geben zumindest vor zu wissen), welche molekularen Prozesse und Ströme diese oder jene Reaktion des Automaten auslösen, und dieses Wissen stempelte alle Anspielungen über deren angebliches Seelenleben als absoluten Blödsinn ab. Nichtsdestoweniger verhielt sich Massena dem Roboter gegenüber loyal — wie ein Mechaniker zu seinem Dieselmotor: Er sorgte dafür, daß er nicht überlastet wurde, schätzte ihn wegen seiner Leistungsfähigkeit und kümmerte sich um ihn, so gut er konnte. Um sechs hielt es Pirx nicht länger in seiner Ecke, ein Bein war ihm eingeschlafen. Er dehnte und reckte sich also, daß die Knochen knackten, ließ den Fuß kreisen und beugte das Bein im Knie, um den Blutkreislauf anzuregen. Dann begab er sich auf seine Wanderung quer durch die Baracke, wohl wissend, daß es nichts gab, womit er Krull, der in die Schlußberechnungen vertieft war, mehr ärgern konnte.

„Ihr könntet wirklich ein bißchen leiser sein!“ sagte Krull schließlich, als meinte er alle beide und als wüßte er nicht, daß nur Pirx es war, der durch die Baracke lief. Massena fläzte sich nämlich in einem pneumatischen Sessel, den Kopfhörer an den Ohren, und amüsierte sich, einen komisch verträumten Ausdruck im Gesicht, über irgendeine Sendung. Pirx riß die Tür auf, an der ein heftiger Westwind rüttelte, und als sich seine Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, spähte er, die unter den Windstößen bebende Blechwand im Rücken, in die Richtung, aus der Aniel kommen mußte. Er sah nur wenige Sterne, sie flirrten und flimmerten in der Luft, die mit hohem, auf und ab schwellendem Brausen als kalter Strom seinen Kopf umfloß und ihm das Haar zerzauste. Seine Nasenflügel und Lungen blähten sich förmlich, der Wind wehte wohl mit annähernd vierzig Metern in der Sekunde. So verharrte Pirx eine Weile, und als ihm kalt wurde, kehrte er in die Baracke zurück, wo Massena gähnend die Kopfhörer absetzte und sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, während der faltige, hagere Krull geduldig die Papiere in die Mappen legte und einen Stoß Blätter aufstuckte, damit sie gleichmäßig aufeinanderlagen. „Immer noch keine Spur von ihm!“ ließ sich Pirx vernehmen, und er wunderte sich selbst, daß seine Worte fast wie eine Herausforderung klangen. Die beiden mußten den besonderen Ton darin auch bemerkt haben, denn Massena warf Pirx einen raschen Blick zu und entgegnete: „Das macht nichts, er findet auch im Dunkeln zurück. Dann benutzt er eben Infrarot…“ Pirx sah in an, gab aber keine Antwort. Als er bei Krull vorbeikam, nahm er sein Buch vom Stuhl, setzte sich wieder in seine Ecke und tat, als ob er läse. Der Wind wurde stärker. Das Rauschen draußen schwoll an, steigerte sich zu einem Tosen, einmal klatschte etwas Weiches gegen die Wand, wohl ein Zweig, dann wieder trat minutenlang Stille ein. Massena wartete offensichtlich darauf, daß Pirx, gefällig wie immer, Abendbrot machen würde. Schließlich erhob er sich aber und schickte sich an, die Konservendosen mit der Selbstheizpatrone zu öffnen, nachdem er ausgiebig die Etiketten studiert hatte, als hoffe er, unter den Vorräten einen ganz besonderen, bisher unentdeckt gebliebenen Leckerbissen zu finden. Pirx war nicht nach Essen zumute. Eigentlich hatte er sogar Hunger,’ aber er rührte sich nicht vom Fleck. Allmählich erwachte eine kalte Wut in ihm, die sich, Gott weiß warum, gegen seine beiden Gefährten richtete, und dabei waren sie doch wahrhaftig nicht die schlechtesten. Befürchtete er, daß Aniel etwas zugestoßen war? Daß der Roboter womöglich von „geheimnisvollen Bewohnern“

des Planeten überfallen worden war, von Geschöpfen also, an deren Existenz außer ein paar Spinnern niemand glaubte? Wenn die Wahrscheinlichkeit, daß irgendwelche Wesen auf dem Planeten siedelten, auch nur in einem Verhältnis von eins zu hunderttausend gegeben wäre, dann hätten die Männer ganz bestimmt nicht so tatenlos herumgelungert und sich in Kleinigkeiten verzettelt, sondern sie wären unverzüglich darangegangen, alle Maßnahmen zu treffen, die in den Punkten zwei, fünf, sechs und sieben des Paragraphen achtzehn der Dienstordnung vorgeschrieben waren, zuzüglich des dritten und vierten Absatzes der Sonderbestimmungen.

Aber selbst diese Möglichkeit gab es nicht. Es gab gar keine. Eher wäre die unsichere Sonne des Jota explodiert.

Ja, das wäre wesentlich wahrscheinlicher gewesen. Was also konnte passiert sein?

Pirx spürte, wie trügerisch die Ruhe in der Baracke war, die unter dem Ansturm des Windes erzitterte. Nicht nur er tat so, als wäre er in sein Buch vertieft und als hätte er das Abendbrot völlig vergessen. Die beiden anderen spielten dieses Spiel mit, das sich ebenso schwer definieren ließ, wie es mit jeder Minute offenkundiger wurde.

„Im Bereich“ der technischen Wartung unterstand Aniel dem Intellektroniker Massena, in seiner Eigenschaft als „Expeditionsmitglied“ hingegen Krull als dem Leiter der Gruppe. Jeder von ihnen konnte einen möglichen Defekt verschuldet haben. Vielleicht war Massena etwas entgangen, vielleicht hatte auch Krull die Route für Aniel falsch markiert. Aber das wäre schließlich leicht festzustellen gewesen, und das war auch nicht die Ursache für das unnatürliche Schweigen, das zusehends beklemmender wurde.

Krull hatte sich an dem Roboter gleich von Anfang an ausgelassen — erst hatte er ihm einen Spitznamen verpaßt, der allenfalls eines Abc-Schützen würdig gewesen wäre, und dann erteilte er ihm mitunter Aufträge, die sich die anderen verkniffen, schon deshalb, weil ein Universalautomat kein Dienstbote ist. Aber das tat er wahrscheinlich, weil er unbeholfen, aber beharrlich versuchte, über den Roboter Massena eins auszuwischen, den er nicht offen anzugreifen wagte.

Jetzt war eine Kraftprobe im Gange, und derjenige, der sich als erster anmerken ließe, daß er um Aniels Schicksal bangte, hätte sich gewissermaßen eine Blöße gegeben. Im übrigen spürte Pirx, daß auch er in diesen sinnlosen und zugleich harten Kampf hineingezogen worden war, der hier in aller Stille ausgetragen wurde. Er überlegte, was er unternehmen würde, wenn er der Leiter der Gruppe wäre. Im Augenblick vermutlich herzlich wenig, denn in einer Nacht wie dieser war es nicht möglich, eine Suchaktion zu starten. Sie mußten ohnehin bis zum Morgen warten, sie hätten es höchstens noch über Funk versuchen können, aber auch da bestand nur eine minimale Erfolgschance, denn der UKW-Bereich war in dem unübersichtlichen bergigen Gelände nicht sonderlich groß. Bisher hatten sie den Roboter noch nie allein ausgeschickt — die Dienstordnung verbot das zwar nicht, sicherte ein derartiges Vorhaben jedoch durch eine Unmenge verklausulierter Paragraphen ab. Aber Dienstordnung hin, Dienstordnung her — Pirx war der Ansicht, Massena könnte immerhin versuchen, den Roboter über Funk zu rufen, statt die angebrannten Reste aus der Konservenbüchse zu kratzen und einem damit die letzten Nerven zu rauben. Wie wäre es, wenn er die Sache in die Hand nähme, er selbst, Pirx? Irgendwas mußte schließlich geschehen. Konnte sich ein Roboter das Bein brechen? So was war ihm noch nie zu Ohren gekommen. Er stand auf, trat an den Tisch, und während er die heimlichen, scheinbar gleichgültigen Blicke der anderen auf sich ruhen fühlte, studierte er aufmerksam die Karte, auf der Krull am Morgen die Marschroute für Aniel eingezeichnet hatte. Wirkte das vielleicht, als wolle er dem Expeditionsleiter auf die Finger sehen? Er hob ganz plötzlich den Kopf und begegnete Krulls Augen — Krull tat gerade den Mund auf, um etwas zu sagen, aber als ihn der schwere, kalte Blick von Pirx traf, räusperte er sich nur und beugte sich wieder über seine Papiere. Pirx mußte ihn ordentlich angeblitzt haben, allerdings nicht bewußt, nein — in derlei Situationen erwachte etwas in ihm, was ihm schon an Bord seines Raumschiffes einen mit Furcht gemischten Respekt eingetragen hatte. Er legte die Landkarte beiseite. Die Route führte zu einer hohen Felswand mit drei schroffen Abstürzen, aber der Weg ging daran vorbei. Hatte der Roboter etwa versagt?

Unmöglich!

Aber man kann sich doch in jeder gewöhnlichen Felsspalte den Fuß verstauchen, durchfuhr es Pirx. Nein, Unsinn. Roboter wie Aniel überstanden selbst einen Sturz aus vierzig Meter Höhe, die waren noch ganz andere Dinge gewöhnt und hatten etwas Besseres als ein paar morsche Knochen. Was zum Teufel war also passiert? Er richtete sich auf und musterte aus seiner stattlichen Höhe zuerst Massena, der grimassenschneidend und pustend seinen heißen Tee schlürfte, dann Krull. Darauf kehrte er den beiden ostentativ den Rücken und ging in den kleinen Schlaf räum hinüber, wo er entschieden zu heftig sein Faltbett aus der Wand zerrte, und kroch, nachdem er sich mit vier geübten Handgriffen die Sachen vom Leib gerissen hatte, in den Schlafsack. Er wußte, daß er nicht so schnell Schlaf finden würde, aber für heute hatte er genug von den beiden. Womöglich hätte er ihnen noch ein paar Takte erzählt, wenn er länger mit ihnen zusammengeblieben wäre, aber da sie sich am andern Tag ohnehin an Bord der „Ampere“ trennen sollten, konnte er sich das wirklich sparen. In dem Moment, da sie den Fuß auf das Deck des Raumschiffes setzen würden, hörte die Operationsgruppe des Jota des Wassermanns auf zu bestehen. Allerlei wirres Zeug gaukelte schon vor seinen Augen, silbrige Streifen glitten unter seinen Lidern dahin, flaumige Lichtkreise schläferten ihn ein, er wendete noch sein Kissen, weil es auf der anderen Seite kühler war — da stand plötzlich Aniel greifbar nahe vor ihm, so wie er ihn zum letztenmal gesehen hatte, frühmorgens, kurz vor acht. Massena lud ihm gerade die Rückstoßpatronen auf, mit deren Hilfe man mehrere Minuten lang durch die Luft segeln konnte, den Gesetzen der Gravitation zum Trotz. Von diesen Dingern machten übrigens alle Gebrauch, natürlich nur in den Fällen, die das in jeder Hinsicht strenge Reglement vorsah. Es war ein merkwürdiger Anblick — wie immer, wenn ein Mensch einem Roboter half, weil die Sache ja normalerweise gerade umgekehrt vor sich ging —, aber Aniel reichte unter dem buckelartig ausgeladenen Rucksack mit der Hand nicht an die Patronentasche. Er schleppte ja eine Last, die zwei ausgewachsenen Männern vollauf gereicht hätte. Gewiß, man tat ihm damit kein Leid an, letzten Endes war er bloß eine Maschine, und mit einer winzigen Strontiumbatterie, die ihm als Herz diente, konnte er notfalls eine Energie von sechzehn Pferdestärken entwickeln. Aber jetzt, wahrscheinlich lag es an seinem Dämmerzustand, wollte Pirx das ganz und gar nicht gefallen. Jetzt ergriff er mit ganzer Seele für den schweigsamen Aniel Partei und war bereit anzunehmen, daß er, ebenso wie er selbst, von Natur aus keineswegs so ruhig und ausgeglichen war, sondern diesen Eindruck nur zu erwecken suchte, weil er dies für das beste hielt. Es waren jene allerintimsten Vorspiegelungen der Phantasie, denen sich der Mensch jemals überläßt — wohl weil er sich nach dem Erwachen gewöhnlich nicht mehr daran erinnert und weil dieses Vergessen im Morgen uns im Heute von allem reinwäscht. Im stillen malte er sich jene legendäre Situation aus, die — er wußte es längst — niemals Wirklichkeit werden konnte: den Aufstand der Roboter. Und während er die dumpfe, schweigende Gewißheit verspürte, daß er dann auf ihrer Seite stehen würde, schlief er augenblicklich wie geläutert ein. Er wachte früh auf, und aus unerfindlichen Gründen war sein erster Gedanke: Der Wind hat sich gelegt. Darauf fielen ihm Aniel und seine eigenen Phantasievorstellungen vor dem Einschlafen ein. Daß ihm so was überhaupt in den Sinn kommen konnte, verwirrte ihn ein wenig. Er blieb noch eine Weile liegen, bis er sich eine Erklärung zurechtgelegt hatte, die ihn einigermaßen beruhigte, nämlich daß die Gaukelbilder ihn zwar nicht im völligen Wachzustand heimgesucht hatten, daß er aber — im Gegensatz zum Traum, der sich ohne eigenes Dazutun einstellt — seinerseits auch nur wenig und nur halb bewußt hatte nachhelfen müssen. Derlei psychologische Spitzfindigkeiten waren ihm fremd, er wunderte sich folglich, warum er sich über so etwas den Kopf zerbrach, stützte sich auf den Ellenbogen und lauschte: Totenstille. Er zog unmittelbar vor seinem Kopf den Lukenvorhang auf. Durch die kleine trübe Scheibe sah er, wie der Morgen heraufdämmerte, und da erst begriff er, daß ihnen eine große Tour in die Berge bevorstand. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und schaute noch einmal im Gemeinschaftsraum nach: keine Spur von Aniel. Die beiden anderen waren schon auf den Beinen. Beim Frühstück bemerkte Krull ganz nebenbei, als handele es sich um eine beschlossene Sache, sie müßten sich bald auf die Socken machen, weil die „Ampere“ gegen Abend landen würde und sie mindestens anderthalb Stunden brauchten, um die Baracke abzubauen und die Sachen zu verstauen. Er formulierte wohl absichtlich so, damit offenblieb, warum sie aufbrachen: vor allem wegen der fehlenden Untersuchungsergebnisse oder auch Aniels wegen.

Pirx aß für drei, aber er sagte keinen Ton. Während die anderen ihren Kaffee austranken, erhob er sich, kramte in seinem Beutel und holte ein zusammengerolltes weißes Nylonseil, einen Hammer und ein paar Sicherungshaken hervor. Nach kurzer Überlegung warf er noch seine Kletterschuhe in den Rucksack — für alle Fälle. Der Morgen graute, als sie ins Freie traten. Am farblosen Firmament standen keine Sterne mehr. Tiefviolettes Grau lastete reglos und kalt auf den Gesichtern, auf dem Boden, in der Luft. Das Gebirge im Norden bildete eine schwarze, in der Dunkelheit erstarrte Masse; der nähere, südliche Kamm reckte sich als geschmolzene Mauer ohne Gliederung und Relief in den Himmel, mit einem grell orangefarbenen Lichtstreifen über den Gipfeln.

Dieser ferne und unwirkliche Schein fixierte den Atem, der dem Mund der drei Männer entströmte, in der Luft.

Obgleich die Atmosphäre dünner war als auf der Erde, fiel ihnen das Atmen leicht. Am Ausgang der Hochebene machten sie Rast. Die letzten kümmerlichen Grasbüschel, die im Zwielicht der weichenden Nacht und des hinter den Bergen heraufziehenden neuen Tages schmutziggrau wirkten, verschwanden. Eine Gletschermoräne lag vor ihnen, die großen Felsblöcke schimmerten wie unter fließendem Wasser. Wenige hundert Meter weiter oben kam Wind auf, der unvermittelt in kurzen Böen hochfuhr. Sie stiegen weiter, sprangen leichtfüßig über kleinere Gesteinsbrocken, traten auf große, ab und zu schlug eine Felsplatte mit hohlem Ton gegen eine andere, manchmal rutschte ein Kieskörnchen unterm Schuh weg und rollte den Hang hinunter — das Echo kam dann aus allen Richtungen, als sei in der Tiefe jemand aufgeschreckt worden. Ein Schulterriemen knarrte, ein Metallbeschlag knirschte. Diese spärlichen Laute gaben ihrem Marsch den Anschein von Frische und Eintracht, als wären sie eine von demselben Geist beseelte Seilschaft. Pirx ging als zweiter hinter Massena, es war immer noch zu dunkel, um das Relief der fernen Felswände auszumachen. Er starrte angestrengt in die Weite.

Wiederholt glitt sein unachtsamer Fuß von einem Block ab, aber desungeachtet legte er all seine Aufmerksamkeit in die spähenden Blicke, als wollte er nicht nur seine nähere Umgebung ignorieren, sondern auch sich selbst und jeden seiner Gedanken. Er dachte überhaupt nicht an Aniel, er ließ seinen Blick durch dieses Reich zeitloser Felsen und vollendeter Gleichgültigkeit schweifen, dem allein die menschliche Phantasie das Odium von Gefahr und Herausforderung angedichtet hatte. Der Planet hatte stark ausgeprägte Jahreszeiten. Im Spätsommer waren sie hergekommen, und nun neigte sich in den Tälern schon der Herbst, ganz in Rot und Gelb gehüllt, seinem Ende zu, aber den vielen Blättern zum Trotz, die im Gischt der Bergbäche dahintrieben, war die Sonne in der Hochebene noch warm, und an wolkenlosen Tagen brannte sie sogar. Nur die dichter werdenden Nebel kündeten von Schnee und Frost, aber dann würde niemand mehr auf dem Planeten sein. Und jene künftige, in Weiß gekleidete, vollendete Ödnis erschien Pirx plötzlich sehr begehrenswert.

Mit dem bloßen Auge zu verfolgen, wie sich die Dunkelheit lichtete, war nicht möglich, und dennoch entdeckte man mit jeder Minute neue Details in der Landschaft. Der Himmel war schon ganz verblaßt, es war weder Nacht noch Tag, und es gab keine Morgenröte an diesem neuen Tag, der so klar und still heraufzog, als wäre er ganz und gar in eine Kugel aus unterkühltem Glas eingeschlossen. Etwas weiter oben durchquerten sie einen milchigen Nebelstreifen, dessen biegsame, gewundene Ausläufer sich in den Boden krallten, und als sie ihn hinter sich hatten, erblickte Pirx das Ziel ihres Marsches, noch nicht von der Sonne beschienen, aber schon im weißen Schein des Morgens. Es war ein Felsrücken, der sich bis zu dem Hauptgebirgszug hinzog, fast bis zu der Stelle, wo mehrere hundert Meter aufwärts der höchste, doppelköpfige Gipfel schwarz aufragte. In der muldenartigen Erweiterung jenes Grats hatte Aniel die letzten Messungen vornehmen sollen. Der Weg wirkte in beiden Richtungen nicht besonders schwierig, er bot keinerlei Überraschungen, keine Schluchten, nichts — außer dem monotonen Grau des Gerölls, hier und da von kükengelbem Schimmel gesprenkelt. Pirx setzte noch immer leichtfüßig über die scheppernden Felsblöcke hinweg, den Blick auf die tiefschwarze Wand am Horizont geheftet, und weil er wohl an nichts anderes denken wollte, begann er sich einzureden, er mache eine ganz gewöhnliche Gebirgstour, wie auf der Erde. Sofort sah er die Felsen mit anderen Augen an — man konnte tatsächlich glauben, sie zögen zu dritt aus, um den Gipfel zu erstürmen, da sie doch geradewegs dem Kamm zustrebten, der massig aus den Schutthalden auftauchte. Er reichte bis zum ersten Drittel der Wand hinauf und endete in einem Meer von ineinander verkeilten Felsplatten, und dort schoß dann die riesige Fläche jäh in die Höhe wie zum Steilflug.

Etwa hundert Meter weiter oben durchschnitt eine andere Gesteinsart die Wand — rötlicher Diabas, heller als Granit —, sie zwängte sich an die Oberfläche und verlief als ein Band von ungleicher Breite quer durch die ganze Flanke des Absturzes.

Eine Zeitlang hielt der Gipfel mit seiner erhabenen Linienführung Pirxens Blick gefangen, aber während sie sich ihm näherten, geschah das, was für gewöhnlich mit einem Berg geschieht: Er wurde zusehends kleiner, zerfiel in der ungeheuren perspektivischen Verkürzung in einzelne, einander verdeckende Partien, wobei der Fuß des Berges seinen bisherigen Ebenencharakter verlor: Felspfeiler erhoben sich, und eine bunte Vielfalt von Sprüngen, Borden und blinden Kaminen, ein Chaos alter Schrunde tat sich auf, und über all diesem Durcheinander klumpiger Verwerfungen schimmerte eine Weile, von den ersten Sonnenstrahlen vergoldet, der höchste Grat, erstarrt und seltsam milde, bis auch er schließlich verdeckt wurde und verschwand. Pirx konnte die Augen nicht mehr von diesem Koloß losreißen. Ja, selbst auf der Erde wäre diese Wand aller Anstrengungen wert gewesen, vor allem durch jenen jäh vorspringenden Diabaswall. Der Abschnitt von ihm bis hinauf zu dem von der Sonne vergoldeten Gipfel schien kurz und nicht schwierig, ein Problem waren jedoch die Überhänge, namentlich der groß- te, dessen unterer Rand vor Eis oder Nässe glänzte und der schwärzlich rot war wie geronnenes Blut. Pirx ließ seiner Phantasie freien Lauf. Dies mußte ja nicht unbedingt die Steilwand eines namenlosen Bergriesen unter einer fremden Sonne sein, sondern ein durch Sieg und Niederlage berüchtigter Gipfel, der jedem Alpinisten ein ganz eigenes Gefühl einflößt, vergleichbar etwa jener Empfindung, die einen vor einem vertrauten Gesicht überkommt, in dem jede Falte und Furche ihre Geschichte hat. Die feinen, gerade noch sichtbaren Schlangenlinien der Risse, die dunklen Fäden der Felsbänder und die flachen Rinnen konnten jene höchstgelegenen Punkte sein, die bei der soundsovielten Besteigung erreicht worden waren, oder Stellen, an denen man Biwak gemacht und schweigend mit sich zu Rate gegangen war, Schlüsselstellen stürmischer Gipfelkämpfe oder Orte trüber Rückzüge und Niederlagen, die man hatte hinnehmen müssen, obwohl man sämtliche taktischen Kniffe und technischen Tricks angewandt hatte. Das Ganze hätte ein Gipfel sein können, der durch all dies bereits so fest mit dem Geschick der Menschheit verbunden war, daß jeder Bewerber, den er einmal abgewiesen hatte, immer und immer wieder zu ihm zurückkehrte, stets mit demselben Vorrat an Selbstvertrauen und Siegeszuversicht, und bei jedem neuerlichen Sturmlauf brachte er die Marschroute fix und fertig im Kopf mit und übertrug sie auf das tote Felsrelief. Diese Wand hätte eine reiche Geschichte an Umgehungen der verschiedensten Varianten haben können, einschließlich einer Chronik der Siege und Opfer; Fotografien konnte es davon geben, auf denen kleine Punkte die Trassen markierten und kleine Kreuze die höchsten Standplätze bezeichneten, die jemals erreicht worden waren… Pirx vermochte sich das alles mühelos vorzustellen, mehr noch, er fand es komisch, daß es in Wirklichkeit nicht so war.

Massena ging vor ihm, leicht vornübergeneigt, immer im grelleren Licht, das jegliche Illusion von etwaigen „leichten Passagen“ in der Wand zunichte machte — dieses Trugbild von vermeintlicher Leichtigkeit, diesen Trugschluß, es gäbe keine Widerstände zu überwinden und keine lebensgefährlichen Abschnitte dort oben, rief der bläuliche Dunst der Entfernung hervor, der schweigend jedes Fragment des glitzernden Felsgesteins einhüllte. Der junge, klare Tag hatte die Männer bereits erreicht, sie warfen lange schwankende Schatten unterhalb der Spitze des Schutthangs. Aus der Wand mündeten zwei Kare in die Geröllhalde ein, in denen noch finstere Nacht lag. Der tote Geröllstrom staute sich dort und verschwand plötzlich wie von der tiefsten Schwärze verschluckt. Schon längst umfing der Blick nicht mehr das ganze Bergmassiv, die Proportionen hatten sich verändert. Die Wand, von weitem jeder anderen ähnlich, zeigte jetzt ihr unnachahmliches, eigenständiges Gesicht; ein mächtiger Felspfeiler reckte sich ihnen entgegen, wurde immer riesiger, erhob sich aus einer Handvoll kreuz und quer liegender flacher Platten, schoß in die Höhe, verbreiterte sich, wuchs und wuchs, bis er schließlich alles andere beiseite geschoben und verdeckt hatte und allein zurückblieb, mitten im düsteren kalten Schatten von Stellen, in die niemals ein Sonnenstrahl drang. Sie setzten eben den Fuß auf ein Firnfeld, das von Steinsplittern gesprenkelt war, da ging Massena plötzlich langsamer und blieb stehen, als hätte er etwas gehört.

Pirx, der ihn als erster einholte, begriff: Massena tippte mit dem Finger an sein Ohr, in dem das olivengroße Mikrofon saß. „Ist er hiergewesen?“

Massena nickte nur und hielt den kleinen Metallstab des Geigerzählers über den schmutzigen, verharschten Schnee. Aniels Schuhsohlen waren mit radioaktiven Isotopen angereichert, und der Zähler hatte seine Spur entdeckt. Der Roboter mußte am Vortag hier entlanggegangen sein, sie wußten nur nicht, ob beim Aufstieg oder erst auf dem Rückweg. Auf jeden Fall kannten sie nun seine Route. Von da an marschierten sie langsamer. Man hätte meinen können, der dunkle Felspfeiler stünde fast in Reichweite, aber Pirx wußte ja, wie sehr man sich beim Schätzen von Entfernungen im Hochgebirge täuschen kann. Sie stiegen und stiegen. Der Schnee und die Blöcke des Kars lagen jetzt unter ihnen, sie gingen einen alten Grat mit abgerundeten Zacken entlang, und Pirx kam es vor, als hörte er in der Grabesstille Massenas Kopfhörer piepsen, aber das war kaum möglich.

Massena blieb wiederholt stehen, bewegte das Ende des Aluminiumstabes, hielt ihn so tief, daß er beinahe den Felsen berührte, und zeichnete damit Schleifen und Achten in der Luft wie ein Wünschelrutengänger. Wenn er die Spur gefunden hatte, setzte er sich wieder in Bewegung. Sie waren nun nicht mehr weit von der Stelle entfernt, wo Aniel die Messungen hatte vornehmen sollen. Pirx graste die Gegend aufmerksam nach Spuren des Verschollenen ab.

Aber das Gestein blieb stumm. Der leichteste Abschnitt lag nun hinter ihnen — vor ihnen türmten sich Platten mit unterschiedlicher Neigung, die unter der Sohle des Pfeilers aufragten. Das Ganze sah aus wie ein mutwilliger, gigantischer Querschnitt der Felsschichten, und das stellenweise bloßgelegte Innere des steinernen Absturzes wies die ältesten Formationen des Bergkerns auf, hier und da zermalmt, weil sie von der fürchterlichen Last der ganzen Wand, die sich kilometerhoch in den Himmel reckte, zusammengepreßt wurden. Noch hundert, noch fünfzig Schritt — dann war Schluß. Massena lief im Kreise und bewegte das Ende des Geigerzählers vor sich her.

So drehte er scheinbar ziel- und wahllos seine Runden, mit zusammengekniffenen Augen (die dunkle Brille hatte er auf die Stirn geschoben) und ausdruckslosem Gesicht. Plötzlich blieb er ein Dutzend Meter von ihnen entfernt stehen und sagte: „Er ist hiergewesen. Und zwar ziemlich lange.“

„Woher weißt du das?“ fragte Pirx. Der andere zuckte die Achseln, nahm die Olive aus dem Ohr, die zusammen mit dem Stab des Zählers am dünnen Leitungsdraht baumelte, und reichte sie Pirx. Nun hörte auch der ein Zwitschern und Piepsen, mitunter zu meckernden Tönen verzerrt. Auf dem Gestein waren keinerlei Abdrücke oder Spuren zu sehen. Nichts — nur dieser Ton, der einem mit giftigem Kreischen den Schädel füllte, und er bewies, daß sich Aniel an dieser Stelle tatsächlich lange aufgehalten haben mußte, denn fast jeder Meter Stein verriet es. Allmählich gelang es Pirx sogar, in diesem vermeintlichen Chaos einen gewissen Sinn zu entdecken. Aniel war offensichtlich auf demselben Weg hierher gelangt wie sie; er hatte den dreibeinigen Apparat aufgestellt und war, während er seine Messungen und Aufnahmen machte und mit der Kamera hantierte, in ihrer Nähe herumgelaufen. Er hatte dabei mehrmals den Standort gewechselt, um den günstigsten Beobachtungspunkt zu wählen. Ja, das fügte sich zu einem logischen Ganzen. Aber was war dann passiert?

Pirx schritt die Stelle in immer größer werdenden, spiralenförmigen Kreisen ab, um eine zentrifugal ausgehende Spur zu finden, doch es gab keine Spuren, die zurückführten. Aniel schien haargenau in seinen eigenen Fußstapfen zurückgekehrt zu sein, was sehr unwahrscheinlich war. Er hatte ja keinen Geigerzähler bei sich und war demnach außerstande, auf den Zentimeter genau zu bestimmen, wie er hierhergekommen war. Krull sagte etwas zu Massena, aber Pirx beachtete die beiden nicht und zog weiter seine Kreise, bis es ihm plötzlich so vorkam, als ob es im Kopfhörer einmal kurz, aber vernehmlich gepiepst hätte. Nun bewegte er sich Millimeter für Millimeter rückwärts. Ja, hier war es! Er riß die Augen auf, die er vorher zusammengekniffen hatte, um sich ganz auf die Tonfolgen des Meßgeräts zu konzentrieren, und sah sich um. Die Spur befand sich unterhalb der Wand, als hätte der Roboter nicht in Richtung Lager kehrtgemacht, sondern ganz im Gegenteil Kurs auf den senkrecht aufragenden Pfeiler genommen. Das war merkwürdig. Was mochte er dort gewollt haben? Pirx suchte nach weiteren Spuren, aber die Steine hüllten sich in Schweigen, und er mußte alle Felstrümmer abhorchen, die sich am Sockel des Pfeilers auftürmten.

Er konnte ja schwerlich erraten, wohin Aniel beim nächsten Schritt seinen Fuß gesetzt hatte. Schließlich fand er die Spur wieder, sie war etwa fünf Meter von der ersten entfernt. Sollte Aniel einen solchen Satz getan haben?

Wozu? Abermals ging er rückwärts und entdeckte bald darauf die fehlende Spur, die er beim erstenmal überhört hatte — der Roboter war ganz einfach von Stein zu Stein gesprungen. Pirx stand gebeugt da, bewegte kreisend den Stab — und zuckte plötzlich zusammen. In seinem Kopf schien ein Geschoß explodiert zu sein, so laut dröhnte es in den Hörern. Er krümmte sich regelrecht, der Ton bereitete ihm fast Schmerzen. Er sah hinter einen großen Block und erstarrte: Zwischen zwei Felsbrocken geklemmt, auf dem Grunde einer natürlichen, flachen Mulde, ruhten unbeschädigt der Apparat und die Filmkamera. Auf der anderen Seite stand gegen einen Stein gelehnt Aniels Rucksack, die Riemen abgehakt, aber ordentlich gepackt. Er rief die beiden anderen. Sie liefen herbei und staunten ebenso wie er. Krull prüfte die Kassetten nach, die Messungen schienen alle vorgenommen worden zu sein. Diese Arbeit konnten sie sich also sparen. Nun mußte nur noch geklärt werden, welches Geschick Aniel ereilt hatte. Massena legte die Hände an den Mund und rief ihn ein paarmal, bis die Felsen ein fernes, gedehntes Echo zurückwarfen. Pirx fuhr zusammen — für ihn hörte sich das an, als riefen sie einen verschollenen Kameraden. Kurz darauf zog der Intellektroniker die flache Schachtel des Senders aus der Tasche, kauerte sich zu Boden und begann das Signal des Roboters zu funken, aber man sah ihm an, daß er dies mehr aus Pflichtgefühl als aus Überzeugung tat. Unterdessen suchte Pirx weiter nach Spuren. Der Roboter schien sich ziemlich lange an dieser Stelle aufgehalten zu haben, so viele flüchtige Piepser gab der Kopfhörer von sich, und dieses Übermaß an Anhaltspunkten brachte Pirx vollends durcheinander. Endlich hatte er in groben Umrissen die äußeren Grenzen des Bereichs ermittelt, den der Roboter bestimmt nicht verlassen hatte, und er hoffte, wenn er sie systematisch abschritt, auf eine neue Spur zu stoßen, die ihm richtungweisend für die weitere Suche sein konnte. Nach einer vollen Umkreisung landete Pirx wieder vor dem Pfeiler. Zwischen dem Felsvorsprung, auf dem er stand, und der jäh abfallenden Wand gähnte eine Kluft von anderthalb Meter Breite. Ihr Grund war mit kleinen, scharfkantigen Steinsplittern übersät, die aus der Höhe herabgeprasselt waren. Auch diese Stelle untersuchte er gewissenhaft, aber der Kopfhörer schwieg. Er stand vor einem Rätsel — Aniel schien sich buchstäblich in Luft aufgelöst zu haben.

Hinter ihm beratschlagten die beiden anderen, er aber hob langsam den Kopf und betrachtete zum erstenmal ganz aus der Nähe den schroff aufragenden Pfeiler. Die Herausforderung, die er angesichts der steinernen Ruhe der Wand empfand, war ungeheuerlich. Eigentlich war es gar keine Herausforderung, sondern vielmehr so, als hielte ihm jemand offen die Hand hin, und schlagartig wurde es ihm zur Gewißheit, daß man diese Hand erfassen mußte, denn dies schien der Anfang des Weges zu sein, den es zu beschreiten galt. Instinktiv hielt er nach den ersten Griff- und Trittmöglichkeiten Ausschau — sie waren sicher. Mit einem langen, genau berechneten Schritt konnte man über die Schlucht hinwegsetzen und auf einer kleinen, zuverlässigen Stufe landen. Nach diesem Anlauf mußte man zweifellos schräg steigen, einen regelrecht geometrischen Riß entlang, der sich ein paar Meter weiter oben zu einem flachen kleinen Kamin vertiefte. Ohne recht zu wissen, warum, hob Pirx den Geigerzähler, beugte sich so weit vor, wie er nur konnte, und hielt das Gerät an jene Felsstufe auf der anderen Seite der Schlucht. Der Kopfhörer reagierte. Um ganz sicherzugehen, wiederholte Pirx die Operation noch einmal — mit Mühe und Not hielt er das Gleichgewicht, so weit mußte er sich in den leeren Raum hinauslehnen —, und abermals hörte er ein kurzes Piepsen. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Er kehrte zu den anderen zurück. „Er ist da hinaufgestiegen“, sagte er seelenruhig und wies auf den Pfeiler. Krull verstand nicht sofort, und Massena fragte: „Da hinauf? Aber wieso denn? Wozu?“

„Keine Ahnung. Dort oben ist eine Spur“, erwiderte Pirx mit gespielter Gleichgültigkeit. Massena glaubte zunächst, Pirx sei ein Irrtum unterlaufen, doch er konnte sich sogleich selbst davon überzeugen, daß es sich so verhielt. Aniel hatte offensichtlich mit einem einzigen langen Schritt die Schlucht überquert und war den teilweise gesprungenen Steinwall entlang aufgestiegen — direkt auf die Wand zu. Das löste Bestürzung aus. Krull erklärte, die Messungen lägen ja vor, der Roboter hätte sich also, wohl infolge eines Defekts, „entprogrammiert“.

Massena behauptete steif und fest, das sei unmöglich, Aniel habe doch sämtliche Apparaturen und den Rucksack dagelassen, so als sei er ganz bewußt zu einer schwierigen Gipfelbesteigung aufgebrochen. Es müsse demnach etwas vorgefallen sein, was ihn zu diesem Tun veranlaßt habe. Pirx schwieg. Im stillen hatte er bereits den Entschluß gefaßt, den Einstieg in die Wand zu wagen, selbst wenn ihn keiner der Gefährten begleiten sollte.

Krull wäre ohnehin nicht dazu imstande gewesen, denn die Sache erforderte bergsteigerisches Können, und zwar ziemlich hohes. Von Massena hatte Pirx sagen hören, er sei früher viel geklettert, und kenne sich angeblich recht gut in der Hakentechnik aus… Als die anderen verstummt waren, erklärte er also schlicht, er wolle die Wand angehen, und fragte, ob Massena bereit sei mitzukommen. Krull opponierte augenblicklich. Die Dienstvorschrift verbiete es, sich einer Gefahr auszusetzen. Am Nachmittag würde die „Ampere“ kommen, um sie zu holen, und vorher müßten sie noch die Baracke abbauen und die Sachen packen. Die Messungen seien vorgenommen worden, der Roboter sei ganz offensichtlich das Opfer einer Havarie geworden. Folglich habe man ihn als verschollen zu betrachten, und das bedeute, daß man im Abschlußbericht die näheren Umstände darlegen müsse. „Soll das heißen, daß wir ihn hier zurücklassen und allein abfliegen?“ fragte Pirx.

Seine Ruhe schien Krull zu verärgern, denn er hielt nur mit Mühe an sich, als er erwiderte, in dem schon erwähnten Bericht würde man die einzelnen Vorfälle genauestens beschreiben, die Meinung sämtlicher Expeditionsmitglieder dazu einholen und die Ursache angeben, die am wahrscheinlichsten sei: Beschädigung der Gedächtnismneströmen oder der Richtungsmotivationsleitung, möglicherweise aber auch Desynchronisierung.. Hier griff Massena ein. Er bemerkte, daß weder ersteres der Fall sein könne noch das zweite und das dritte, weil Aniel überhaupt keine Mnestronen besäße, sondern nur ein homogenes monokristallines System, das molekular aus unterkühlten, mit Spurenelementen von Isotopenelementen befruchteten diamagnetischen Lösungen gezüchtet worden sei…

Offensichtlich wollte er Krull den Wind aus den Segeln nehmen, indem er ihm klarmachte, daß er da von Dingen sprach, von denen er keine Ahnung hatte. Pirx hörte einfach nicht mehr hin. Er kehrte ihnen den Rücken und schätzte erneut den Sockel des Pfeilers ab, nun schon anders als vorher — die Vorstellung war Realität geworden, und obwohl ihm nicht ganz wohl war in seiner Haut, spürte er doch eine innere Genugtuung bei dem Gedanken, sich mit diesem Berg zu messen. Massena entschloß sich mitzukommen, vielleicht, weil er sich Krull auf diese Weise endgültig widersetzen wollte. Pirx schnappte nur ein paar Brocken von dem Gespräch auf. Massena erklärte, diesem Rätsel müsse man unbedingt auf den Grund gehen, denn wenn sie einfach zurückkehrten, ohne etwas zu unternehmen, bliebe womöglieh ein ebenso wichtiges wie geheimnisvolles Phänomen unberücksichtigt, das die unvermutete Reaktion des Roboters ausgelöst habe, und selbst wenn eine derartige Erscheinung nur mit einer Wahrscheinlichkeit von fünf zu hundert gegeben sei, wäre schon das eine völlig ausreichende Rechtfertigung für das Risiko des Aufstiegs.

Krull konnte Niederlagen verkraften, das mußte man zugeben; er verlor kein Wort mehr über die Angelegenheit.

Schweigen trat ein. Massena nahm die Apparaturen vom Rücken, und Pirx, der mittlerweile sein Seil, den Hammer und die Haken hervorgeholt und die schweren Schuhe gegen seine Kletterschuhe vertauscht hatte, schielte verstohlen zu ihm hinüber. Massena war ein bißchen aufgeregt, Pirx wußte das — weniger wegen seiner Auseinandersetzung mit Krull, das war klar, sondern wahrscheinlich, weil er sich da nicht gerade mit Überlegung in eine Situation gebracht hatte, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Wenn ich ihm jetzt vorschlüge, lieber hierzubleiben, wer weiß, ob er nicht darauf eingehen würde, fuhr es ihm durch den Kopf, obgleich der einmal angestachelte Ehrgeiz nicht zu unterschätzen war. Pirx sagte trotzdem nichts, denn obwohl der Aufstieg zu Anfang nicht besonders schwierig zu sein schien, konnte man nie wissen, was einem weiter oben blühte, namentlich dort, wo Überhänge einen Großteil der Wand verdeckten. Er hatte ja den Pfeiler nicht einmal durchs Fernglas betrachtet, weil er eine solche Eskapade gar nicht einkalkuliert hatte. Und dennoch hatte er Seil und Haken mitgeschleppt — wozu? Statt diese Widersprüche länger zu analysieren, erhob er sich und wartete auf Massena. Dann marschierten sie ohne Hast zum Fuß des Felsens.

„Ich steige vor“, sagte Pirx. „Erst mal mit aufgeschossenem Seil. Dann werden wir weitersehen.“ Massena nickte. Pirx blickte noch einmal zurück, um sich zu vergewissern, was Krull machte, den sie wortlos zurückgelassen hatten. Er stand noch immer an derselben Stelle, bei den Rucksäcken. Sie waren schon so hoch, daß die Landschaft der fernen Ebenen als olivgrüner Fleck hinter den Nordkämmen hervorlugte. Der Grund des Schutthangs lag noch im Schatten, nur die Gipfel waren von grellem Licht überflutet, und dieser Schein drang als durchbrochene Aureole in die Scharten des Grats, der sich majestätisch in den Himmel reckte. Pirx machte einen großen Schritt, sein Fuß fand Halt auf einem Vorsprung, er zog sich hoch und stieg behende aufwärts. Die ersten Meter waren wirklich nicht schwierig. Er schob sich gleichmäßig, fast träge vorwärts, an seinen Augen glitten die raunen Felsschichten vorbei, uneben, mit dunklen Vertiefungen durchsetzt. Er stützte sich ab, hob den Körper an, zog ihn nach, und dabei spürte er den starren, eisigen Hauch der Nacht, der ihm vom Gestein entgegenschlug. Sein Herz klopfte ein wenig schneller, aber das Atmen fiel ihm leicht, und die Erwärmung, die die Muskelanstrengung mit sich brachte, bekam ihm gut. Das Seil folgte ihm nach, die reine Luft schien das Geräusch, das es verursachte, wenn es über den Felsen rieb, zu vervielfältigen. Schließlich, noch ehe das Seil zu Ende war, entdeckte Pirx einen günstigen Sicherungsplatz. Einen anderen Gefährten hätte er ohne Sicherung geführt, aber er wollte erst sehen, was Massena als Bergsteiger taugte.

Eingekeilt stand er in einem Riß, der schräg durch den ganzen Pfeiler lief, und während er auf Massena wartete, konnte er aus der Nähe den großen Kamin einsehen, den sie seitlich liegengelassen hatten, als sie parallel dazu aufstiegen — genau hier erweiterte er sich zu einem grauen Kar und bildete eine amphitheaterförmige Mulde in der Wand. Von unten sah diese Stelle völlig uninteressant und flach aus, erst jetzt trat das vielfältig gegliederte Relief in seiner ganzen Stattlichkeit hervor. Pirx fühlte sich hier so herrlich allein, daß er wie aus dem Schlaf auffuhr, als er Massena neben sich erblickte. Er stieg gleich weiter. So ging das mehrmals, sie bewegten sich rhythmisch und in aller Gemütsruhe vorwärts; an jedem neuen Stand prüfte Pirx mit dem Geigerzähler, ob Aniel dagewesen war — und nur einmal, als er das Signal verlor, mußte er aus einem leichten kleinen Kamin umkehren, weil der Roboter diese Stelle travesiert hatte. Aniel war ja kein Bergsteiger gewesen, und dennoch kostete es Pirx keine Mühe, seine jeweiligen Entscheidungen zu erraten, so folgerichtig, ja logisch war der Weg im Fels, den er gewählt hatte, um so schnell wie möglich an Höhe zu gewinnen. Jedenfalls stand fest, daß Aniel es wirklich gewagt hatte, die Wand anzugehen. Pirx verschwendete nicht eine Sekunde an das Warum. Er verlor sich nie in Spekulationen, die nichts einbrachten. Allmählich begann er den Gegner kennenzulernen — gleichzeitig aber gaben ihm längst vergessen geglaubte Tricks und Kniffe, die in seinem Gedächtnis auftauchten, mit untrüglicher Sicherheit ein, wie und wann er zu handeln hatte.

Selbst die Tatsache, daß er ziemlich oft die eine Hand frei machen mußte, um mit dem Geigerzähler nach der radioaktiven Spur zu suchen, bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten. Einmal blickte er über den Rand eines losgesprengten Felsbrockens, der aber wie festgemauert haftete, nach unten. Obwohl sie ziemlich langsam vorwärts kamen, waren sie schon echt hoch; von Krall war nur noch der Schutzanzug zu sehen, der sich als kleiner grünlicher Fleck von der grauen Geröllhalde abhob. Pirx bemerkte ihn nicht einmal sofort auf dem Grunde des Luftschachts, der sich zu seinen Füßen auftat. Nun folgte eine hübsche kleine Traverse. Der Aufstieg wurde schwieriger, aber mit jeder Minute gewann Pirx mehr von seinem Können zurück, das so lange Zeit brachgelegen hatte, und er verließ sich manchmal sogar schon auf seinen Instinkt und suchte nicht mehr bewußt nach den Griffen. Daß es schwieriger wurde, bewies ihm eine einzige Sekunde, da er wie bisher die rechte Hand frei machen wollte, um zum Geigerzähler am Gürtel zu fassen: Er vermochte es nicht. Er hatte nur noch einen Griff für die Linke und etwas sehr Undeutliches unter seiner rechten Schuhspitze. Da stemmte er sich so weit wie möglich vom Felsen ab und hielt aus dieser Distanz Ausschau nach einem Tritt für den anderen Fuß. Nichts. Er verzichtete also auf die Messung, denn etwas weiter oben schien ein kleines Felsband zu sein. Das Band war zwar mit einer glasigen Eisschicht überzogen und dem Abgrund zugeneigt, aber an einer Stelle war das Eis abgeschürft wie durch einen heftigen Stoß. Ein Kletterschuh bringt so was nie fertig, ging es Pirx durch den Kopf. Vielleicht war es Aniels Schuh gewesen, der Roboter wog ja ungefähr eine viertel Tonne. Massena, der sich bis dahin recht tapfer geschlagen hatte, fiel jetzt zurück.

Sie hatten bereits die obere Partie des Pfeilers erreicht. Der Fels, noch immer rauh und körnig, begann merklich und heimtückisch abzudrängen, er hing immer mehr über, und ohne Fiechtlhaken wären sie nicht weitergekommen. Ein paar Meter weiter oben schloß sich der Schrund, der sich bis dahin deutlich verfolgen ließ.

Pirx hatte noch an die fünf Meter freies Seil, aber er ließ es von Massena einholen, um sich umzusehen. Der Roboter ist hier hinauf, ohne Haken, ohne Seil, ohne Sicherung! sagte er sich. Warum sollte ich das nicht auch schaffen? Er tastete das Gestein über sich ab. Sein rechter Knöchel war im äußersten Ende des Risses eingekeilt, der ihn bis hierher geführt hatte, und durch die anhaltende Zerrung schmerzte er heftig. Dennoch ließ Pirx nicht locker, und auf einmal stieß er mit den Fingerspitzen auf eine Leiste, die schmaler war als eine Fingerkuppe. Bis dorthin konnte man sich hochziehen, aber was dann? Das war nicht mehr nur ein Kampf mit dem Felsen, sondern zugleich ein Wettstreit mit Aniel, der diese Stelle passiert hatte — und zwar allein. Allerdings hatte der Stahlfinger… Pirx war eben dabei, seinen Fuß aus dem Riß zu lösen, da lockerte sich ein Stein unter seiner Sohle und sauste in die Tiefe. Er hörte deutlich, wie er zischend die Luft zerschnitt, und erst lange, lange danach war ein scharfer Aufprall zu vernehmen. Alles, was recht ist, ganz schön exponiert! dachte er. Er verzichtete darauf, sich hochzuziehen, und suchte nach einer Stelle, wo er einen Haken einschlagen konnte. Aber der Fels wies auch nicht die feinsten Risse auf. Pirx beugte sich nach beiden Seiten vor, so weit er konnte, entdeckte aber nichts.

„Was ist los dort oben?“ vernahm er Massenas Stimme unter sich.

„Alles in Ordnung, ich guck mich nur um“, sagte er. Der Knöchel machte ihm zu schaffen, lange würde er sich in dieser Position nicht mehr halten können. Tja, wenn sie diesen Weg jetzt aufgeben und umkehren könnten!

Aber wenn die Spur einmal verloren war, würde man sie in dieser kilometerlangen Wand nicht mehr wiederfinden. Pirx versuchte, irgend etwas über seinem Kopf auszumachen. In der starken Verkürzung sah es aus, als ob ganz annehmbare Griffe existierten, aber die Vertiefungen waren flacher als ein Handteller. Es blieb also nur das Felsband. Als er den Fuß aus dem Riß befreit hatte und sich mit beiden Armen nach oben zog, durchfuhr ihn der Gedanke, daß es nun kein Zurück mehr gab: Der Fels drängte ihn sofort ab, er hing nun frei, die Schuhspitzen etwa dreißig Zentimeter von der Wand entfernt. Hinauf! Ein Flimmern über seinem Kopf — ein Spalt? Aber dazu mußte man sich erst mal hinaufziehen! Feste! Noch ein bißchen! In der folgenden Sekunde setzte sein Verstand aus. Er hätte die linke Hand loslassen und sich mit vier Fingern der rechten Hand festkrallen müssen, um mit der Linken nach dem Spalt zu fassen, von dem er nicht wußte, wie tief er eigentlich war. Das hätte ich nicht machen dürfen! schoß es ihm durch den Sinn, als er plötzlich, die Muskeln zum Zerreißen gespannt, zwei Meter weiter oben hing, dicht an den Fels geschmiegt. Er schnappte heftig nach Luft und war ein bißchen wütend auf sich. Jetzt stand er mit beiden Beinen auf dem Felsband und konnte einen Haken einschlagen, sicherheitshalber sogar zwei, weil der erste nicht sehr tief saß. Dabei lauschte er befriedigt dem klaren Klang, der immer heller wurde, bis er schließlich verhallte. Das Seil sprang in die Karabinerhaken, und er wußte, daß er Massena zu Hilfe kommen mußte. Es war keine saubere Arbeit, aber schließlich waren sie ja nicht in den Alpen. Jedenfalls hatte er nun einen ganz annehmbaren Standplatz.

Über dem Pfeiler war ein schmaler, ziemlich leichter Kamin. Pirx nahm den kurzen Stab des Geigerzählers zwischen die Zähne, denn wenn er aus dem Gürtel ragte, konnte er gegen den Stein schlagen. Weiter oben hatte der Fels eine andere Farbe.

Die Wand war nicht mehr schwärzlich und nicht mehr mit braunem, gleichsam sehr altem Grau durchsetzt. An seine Stelle trat jetzt das rostige, braungesprenkelte Rot des Diabasgesteins, das aus der Nähe schwach glitzerte.

Einige Dutzend Meter noch, und die angenehme Strecke war zu Ende. Schon hatte er wieder einen Überhang über sich, der mit den wenigen Haken nicht zu schaffen war diesmal ganz ohne Auflage. Aber Aniel hatte überhaupt nichts gehabt. Er prüfte mit dem Geigerzähler nach: Hier war Aniel nicht hochgekommen… Also?

Es blieb nur die Traverse.

Bei flüchtiger Betrachtung kam sie einem nicht sonderlich schwierig oder gefährlich vor. Auch die Form des Pfeilers, die sich im Diabasgestein verloren hatte, tauchte wieder auf. Pirx stand nun auf einem schmalen, aber sicheren Felsband, das bis zu einer kluftähnlichen Spalte reichte und dort abbrach. Er beugte sich vor und sah, daß das Band hinter dem Überhang weiterlief, anderthalb Meter etwa, zwei Meter waren es ganz bestimmt nicht.

Man mußte sich also mit dem Körper an dem abdrängenden Höcker im Gestein vorbeimogeln und sich, während man den Tritt für den rechten Fuß aufgab, mit dem linken so abstoßen, daß der rechte frei schwingend die Fortsetzung des Bandes traf. Er hielt Ausschau nach einem Platz für die Haken — gesichert wäre das Ganze nicht allzu schwierig gewesen —, aber die Wand zeigte niederträchtigerweise wieder nicht den kleinsten Riß. Er blickte hinunter: Von der Stelle aus, an der sich Massena jetzt aufhalten mußte, war die Sicherung pure Illusion. Wenn er abrutschte, würde er mindestens fünfzehn Meter tief abstürzen, und der plötzliche Ruck konnte selbst solide eingeschlagene Haken mitreißen. Und dennoch — der Zähler sagte aus, daß der Roboter diese Stelle passiert hatte. Allein! Was soll denn das heißen, Himmelherrgott noch mal! schimpfte er in sich hinein. Da drüben ist ein Band! Ein einziger großer Schritt! Los, du Schlappschwanz! Aber er stand wie angewurzelt. Wenn sich wenigstens das Seil spannen ließe, aber Pustekuchen! Er beugte sich noch einmal vor und starrte eine Sekunde lang zu der Leiste hinüber — länger vermochte er es nicht, seine Muskeln begannen zu zittern. Und wenn die Schuhsohle nicht haftet? Aniel hatte ja Stahlsohlen… Irgendwas glitzert dort drüben — schmelzendes Eis. Muß verteufelt glatt sein. Die Vibrambesohlten hätte ich mitnehmen sollen… Und mein Testament machen, murmelte er tonlos. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, sein Blick wurde starr. Zusammengeduckt, mit ausgebreiteten Armen im rauhen, unebenen Gestein Halt suchend, drückte er sich an dem Überhang vorbei und vollführte endlich den Schritt, der ihn soviel Überwindung gekostet hatte. Auf der anderen Seite angelangt, empfand er nicht einmal Erleichterung, weil er sah, was er sich da eingebrockt hatte. Der Sims war hier niedriger, also mußte man, wenn man zurück wollte, nach oben springen — und dabei an dem Buckel vorbei! Das war keine Bergsteigerei mehr, nicht einmal mehr Akrobatik, weiß der Himmel, was das war! Und Abseilen? Wenn nicht, dann… Er erkannte, daß das Ganze ein großer Reinfall war, und trotzdem travesierte er weiter, solange es ging. Die Tatsache, daß er mit keiner Silbe mehr an Aniel dachte, sagte genug. Er hatte jetzt anderes im Kopf. Das Seil, das frei im Quergang hing, schwankte unter ihm, leicht gespannt, unnatürlich deutlich, übertrieben nahe und konkret, weil es sich die ganze Zeit scharf vom Grunde des Kars abhob, das am Fuße der Wand im bläulichen Dunst verschwamm. Der Sims war zu Ende, es gab weder einen Weg nach oben noch einen nach unten. Ein Zurück gab es auch nicht. So was von Glätte hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen! dachte er mit einer merkwürdigen Gefaßtheit, die sich von seinem bisherigen Gemütszustand unterschied. Dicker konnte es ja nicht mehr kommen, es war also völlig sinnlos, sich aufzuregen. Er schaute sich nach allen Seiten um. Unter den Füßen hatte er eine vier Zentimeter breite Auflage, dann kam nichts mehr — bis hin zu dem undeutlichen, dunklen Fleck eines Kamins, der zum Einstieg einzuladen schien. Vier Meter Luft in einer Wand, die so massiv war und so jäh abstürzte, wie nur irgend denkbar, trennten ihn von diesem Kamin. Und das soll Granit sein! schoß es ihm wie eine Art Vorwurf durch den Kopf. Ab und zu mußte hier Wasser fließen, er entdeckte sogar Spuren davon — dunklere Stellen im Fels, ja einzelne Tropfen. Er nahm den Geigerzähler in die rechte Hand und vollführte kreisende Bewegungen. Ein schwaches Piepsen — er war hiergewesen! Aniel war hier vorbeigekommen. Aber wie? Plötzlich erspähte Pirx einen einzigen Moosfleck, grau wie das Gestein. Er kratzte das Moos ab — ein feiner Riß, nicht dicker als ein Fingernagel. Der Haken ließ sich nur bis zur Hälfte einschlagen, aber auch das war schon die Rettung. Er zerrte an der Schlinge — saß er fest? Irgendwie würde er schon halten. Also dann, die linke Hand an den Haken und ganz langsam… Mit dem Oberkörper in den freien Raum hinausgebeugt, spähte er in den Kamin hinunter, der, halb geöffnet, zum Sprung lockte, als wäre er vor Jahrtausenden für eben diese eine Sekunde geschaffen worden, die jetzt eintreten mußte. Sein Blick sauste in die Tiefe wie ein Stein, bis er einen bläulichen Funken auf dem grau flimmernden Muster des Schutthangs traf. Zu dem entscheidenden Schritt kam es nicht. „Was ist denn dort?“ erklang Massenas Stimme. „Gleich… Moment!“ rief Pirx und zog das Seil durch den Karabinerhaken. Er mußte noch einmal hinunterschauen, aber genauer. Wieder beugte er sich vor, hing mit drei Vierteln seines Körpergewichts am Haken, als wollte er ihn mit Gewalt aus der Wand reißen, aber er mußte unbedingt nachsehen, sich vergewissern… Ja, er war es! Nichts anderes konnte aus dieser Tiefe so stark glänzen. Die Route war nämlich schon längst von der Vertikale abgewichen, und er befand sich jetzt an die dreihundert Meter seitlich von der Stelle entfernt, wo sie den Aufstieg begonnen hatten. Er hielt nach Anhaltspunkten in der Tiefe Ausschau. Das Seil schnitt ihm ins Fleisch, er bekam schwer Luft, das Blut pulste in den Augen. Er prägte sich, so gut es ging, die Gliederung des Geländes ein. Der große Felsblock dort unten ließ sich leicht wiedererkennen, obwohl er jetzt nur in perspektivischer Verkürzung zu sehen war. Seine Muskeln zitterten, als er in die Vertikale zurückkehrte. Wir müssen uns abseilen, sagte er sich und packte völlig gedankenlos den Haken, der sofort nachgab, als steckte er in Butter. Da wurde ihm etwas mulmig, aber er verstaute den Haken in der Tasche und überlegte, wie er hinunterkommen sollte. Es glückte, obwohl nicht sehr sauber: Massena schlug an seinem Stand so viele Haken wie möglich in die Wand, verkürzte das Seil, und Pirx scheuerte einfach die acht Meter über den Fels, bis er hing. Ein Stückchen tiefer war ein anderer kleiner Kamin, und von dort an seilten sie sich abwechselnd ab. Als Massena ihn nach dem Grund der Umkehr fragte, antwortete er: „Ich habe ihn gefunden!“

„Aniel?“

„Ja. Abgestürzt. Er liegt dort unten.“ Der Rückweg dauerte keine Stunde. Pirx trennte sich leichten Herzens von seinen Haken. Freilich, es war ein eigentümliches Gefühl zu wissen, daß man nie wieder einen Fuß hierher setzen würde, weder er noch irgendein anderer Mensch, und daß in diesem Fels Eisenstücke steckten, die auf der Erde bearbeitet worden waren und die nun für ewige Zeiten darin bleiben würden, ja eigentlich für immer.

Krull rannte ihnen entgegen, als sie mit beiden Beinen auf den Blöcken landeten und die ersten unsicheren Schritte machten, als hätten sie das Gehen verlernt. Er rief ihnen schon von weitem zu, er hätte ganz in der Nähe die Patronentasche von Aniel gefunden. Der Roboter mußte sie vorsätzlich abgelegt haben, bevor er die Wand anging, was wiederum ein schlagender Beweis für seine Geistesabwesenheit war, denn die Patronen stellten im Falle eines Sturzes die einzige Überlebenschance dar. Massena schien Krulls Sensationsmeldung völlig kalt zu lassen — er machte durchaus kein Hehl daraus, wie anstrengend die Tour gewesen war. Im Gegenteil, er sank ostentativ auf einen großen Felsblock, spreizte die Beine weit auseinander, als genieße er den festen Untergrund, und trocknete sich lange und ausgiebig Gesicht, Stirn und Nacken mit dem Taschentuch.

Pirx teilte Krull mit, daß Aniel abgerutscht sei. Wenige Minuten darauf gingen sie ihn suchen. Sie hatten ihn bald gefunden. Er mußte mindestens dreihundert Meter durch die Luft gesegelt sein. Der Panzer des Rumpfs war zerschmettert, sein Metallschädel ebenfalls, und sein monokristallines Hirn war als feiner Glasstaub nach allen Seiten verspritzt und glitzerte wie Glimmer auf den weißlichen Steinen.

Krull war zum Glück nicht so kleinlich, ihnen vorzuhalten, daß ihre Kletterpartie absolut nutzlos gewesen war.

Er wiederholte nur, und das nicht ohne Schadenfreude, daß sich Aniel „entprogrammiert“ haben müßte, die Patronentasche sei ein hundertprozentiger Beweis dafür. Massena war durch die Tour wie verwandelt, aber nicht zum Guten. Er versuchte nicht einmal zu widersprechen und machte überhaupt den Eindruck, als ob es ihm lieb wäre, wenn die Mannschaft so bald wie möglich aufgelöst würde und sie sich endgültig trennten, je eher, desto besser. Sie kehrten also schweigend zurück, denn Pirx hielt es auch nicht für angebracht, den Kameraden seine eigene Ansicht über den „Unfall“ auf die Nase zu binden. Er war sicher, daß Aniel nicht das Opfer eines Defekts geworden und daß das Geschehene weder etwas mit Monokristallen zu tun hatte noch mit Mnestronen. Hatte er selbst, Pirx, vielleicht einen Defekt gehabt, als er unbedingt die Wand bezwingen wollte? Aniel war seinen Konstrukteuren ganz einfach ähnlicher gewesen, als diese zuzugeben bereit waren. Er hatte seinen Auftrag erfüllt und bis zur Rückkehr noch sehr viel Zeit gehabt — er war ja so tüchtig und flink gewesen. Er sah seine Umgebung nicht nur, er begriff sie auch, und er war geschaffen worden, um schwierige Aufgaben zu lösen, das heißt zum Spiel. Dort oben aber offenbarte sich ihm eines, das nicht zu verachten war und das — den höchsten Einsatz forderte. Pirx konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als er an die Verblendung der beiden dachte: Daß Aniel die Patronentasche vorsätzlich abgelegt hatte, werteten sie als absolut zuverlässigen Beweis für die Geistesabwesenheit des Roboters. Aber jeder Mensch hätte doch ebenso gehandelt, andernfalls wäre die ganze Sache überhaupt sinnlos und nur eine etwas sonderbare Art von Gymnastik gewesen. Nein, darum ging es nicht, und keinerlei Argumente, Gleichungen und Diagramme hätten ihn zu überzeugen vermocht. Nur das eine war erstaunlich — daß Aniel nicht schon eher abgestürzt war, zumal er sich doch allein, ohne bergsteigerisches Können und ohne Erfahrung aufgemacht hatte und sich nicht auskannte, denn er war ja nicht gebaut worden, um den Kampf gegen die Felsen aufzunehmen. Was wäre gewesen, wenn er zurückgekommen wäre? Und wieder war Pirx überzeugt — er wußte selbst nicht, warum —, daß sie niemals etwas davon erfahren hätten. Von Aniel ganz gewiß nicht. An jenem Punkt dort oben in der Wand hatte er, der keine Seilschaft und keine Haken besaß und vielleicht nicht einmal von ihrer Existenz wußte, den Sprung riskiert. Was hatte er dabei gedacht? Wahrscheinlich nichts, so wie er selbst. Hatte er, und sei es nur für einen Augenblick, den Rand des Kamins erreicht? Wenn ja, dann mußte er dort eine Spur hinterlassen haben, eine winzige Prise radioaktiver Atome, die langsam zerfallen würden, bis sie verdampften und verschwanden.

Und noch eines wußte er: Daß er zu niemandem ein Wort davon sagen würde. Jeder Mensch würde sich krampfhaft an die Hypothese eines Defekts klammern, die am einfachsten und natürlichsten, ja eigentlich die einzige war, die das Bild von der Welt nicht ins Wanken brachte. Das Lager erreichten sie am Nachmittag. Ihre langen Schatten bewegten sich hurtig bei der Arbeit. In aller Eile bauten sie die Baracke ab, die sektionsweise verschwand, bis nur noch ein niedergetrampelter, leerer viereckiger Fleck übrigblieb. Wolken zogen vorüber, und Pirx schleppte Kisten, rollte Zeltplanen ein und machte alles, was vorher zu Aniels Pflichten gehört hatte.

Als ihm dieser Gedanke bewußt wurde, hielt er kurz inne, dann reichte er die Last Massena hinüber, der schon die Hände ausstreckte.

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