Auf dem Boden der Schachtel stand ein Häuschen mit rotem Dach — mit seinen winzigen Schindeln war es einer Himbeere täuschend ähnlich, man bekam direkt Lust, daran zu lecken. Wenn man die Schachtel schüttelte, sprangen aus den Büschen rund um das Haus drei Ferkelchen hervor wie kleine rosarote Perlen. Gleichzeitig stürzte aus seiner Höhle im Wald — der Wald war nur an der Innenwand aufgemalt, wirkte aber ganz echt — ein schwarzer Wolf hervor und setzte, bei der geringsten Bewegung den zahngespickten roten Rachen aufreißend, den Ferkelchen nach, um sie zu verschlingen. Wahrscheinlich hatte er innen einen kleinen Magneten eingebaut.
Es gehörte die allergrößte Geschicklichkeit dazu, sein Vorhaben zu verhindern. Man mußte mit dem Nagel des kleinen Fingers gegen den Boden der Schachtel tippen, um die drei Schweinchen rechtzeitig zu ihrem Haus zu dirigieren und durch die kleine Tür zu schleusen, die auch nicht immer aufgehen wollte. Das Ganze war nicht größer als eine Puderdose, aber man konnte das halbe Leben damit zubringen. Jetzt war das Spiel nicht zu gebrauchen — ohne Schwerkraft funktionierte es nicht. Pilot Pirx betrachtete sehnsüchtig die Hebel der Akzeleratoren. Eine kleine Handbewegung, und der Schub der Triebwerke, selbst der schwächste, würde die Schwerkraft wiederherstellen, und er würde sich den rosa Ferkelchen widmen können, statt in die schwarze Leere zu stieren.
Bedauerlicherweise war die Inbetriebnahme des Reaktors zur Rettung der drei kleinen Ferkel vor dem bösen Wolf in der Dienstanweisung nicht vorgesehen. Mehr noch, sie verbot aufs strengste jedes überflüssige Manöver im Raum. Als ob es sich dabei um ein überflüssiges Manöver gehandelt hätte! pirx ließ das Schächtelchen in die Tasche zurückgleiten. Die Piloten schleppten meist noch viel seltsamere Dinge mit, besonders wenn ein Patrouillenflug so lange dauerte wie dieser. Früher hatte die Leitung beide Augen zugedrückt, wenn unnötig Uran vergeudet wurde und außer den Raketen samt Piloten auch noch alle möglichen Kinkerlitzchen in den Himmel geschleudert wurden, Vögel beispielsweise, die Brotkrumen aufpickten, wenn man sie aufzog, automatische Hornissen, die auf automatische Wespen Jagd machten, chinesische Geduldspiele aus Nikkei und Elfenbein — und niemand erinnerte sich überhaupt noch daran, daß der erste, der die Basis mit dieser Sucht infiziert hatte, der kleine Aarmens gewesen war, der seinem sechsjährigen Sohn vor jedem Patrouillenflug einfach das Spielzeug wegnahm.
Dieses Idyll währte ziemlich lange — fast ein Jahr, bis zu dem Moment, da die Raketen nicht mehr zurückkehrten.
In jenen friedlichen Zeiten murrten übrigens viele über die Patrouillenflüge, und wenn jemand der Gruppe zugeteilt wurde, die den Raum „zu durchkämmen“ hatte, dann wertete er das als ein Zeichen der persönlichen Feindschaft des Chefs. Pirx wunderte sich keineswegs darüber. Mit den Patrouillen war es wie mit den Masern, früher oder später erwischte es jeden mal. Aber dann kam Thomas nicht wieder, der große, dicke Thomas mit der Schuhgröße 45, der so gerne Streiche ausgeheckt und Pudel gezüchtet hatte, natürlich die klügsten Pudel der Welt. Selbst in den Taschen seiner Kombination konnte man Wurstpellen und Würfelzucker finden, und der Chef argwöhnte sogar, Thomas schmuggle mitunter auch Pudel ins Raumschiff, obgleich Thomas hoch und heilig beteuerte, so etwas würde ihm nicht im Traum einfallen. Schon möglich. Aber das konnte ohnehin niemand mehr ergründen, denn Thomas startete eines schönen Julinachmittags, nahm zwei Thermosflaschen voll Kaffee mit — er trank immer schrecklich viel — und stellte sich für alle Fälle in der Pilotenmesse noch eine dritte bereit, um nach seiner Rückkehr einen Kaffee zu haben, wie er ihn mochte, gemahlen und mit Salz und Zucker aufgebrüht.
Der Kaffee wartete dort sehr lange. Am dritten Tag um sieben Uhr ging die „zulässige Verspätung“ zu Ende, und Thomas’ Name wurde mit Kreide an die Tafel im Navigationsraum geschrieben — er als einziger. Das hatte es noch nie gegeben, und nur die ältesten Piloten erinnerten sich, daß früher mal Havarien aufgetreten waren, ja, sie tischten den Jüngeren mit Vergnügen Greuelgeschichten über die Zeiten auf, da man die Meteoritenwarnung manchmal eine Viertelstunde vor dem Zusammenprall bekam — gerade noch rechtzeitig, um von der Familie Abschied nehmen zu können. Über Funk, versteht sich. Aber das war wirklich schon sehr lange her. Die Tafel im Navigationsraum blieb stets leer, sie hatte es eigentlich nur dem Trägheitsgesetz zu verdanken, daß sie noch immer an der Wand hing.
Um neun war es noch relativ hell — die diensthabenden Piloten verließen die Abhörzentrale, versammelten sich auf den Grünflächen um die riesige Betonbahn des Landeplatzes und starrten in den Himmel. Niemand durfte in die Navigationszentrale. Der Chef kam aus der Stadt, zog alle Registrierbänder mit den aufgezeichneten Signalen des automatischen Senders von Thomas aus den Trommeln und stieg in die Glaskuppel des Observatoriums hinauf, die sich wie irrsinnig drehte und nach allen Seiten die schwarzen Radarmuscheln ausrollte. Thomas war auf einer kleinen AMU geflogen, sein Atomtreibstoff hätte ausgereicht, um „mindestens die halbe Milchstraße abzuklappern“, wie ein Unteroffizier von den Tankern die Piloten zu trösten versuchte. Alle hielten ihn für einen ausgemachten Trottel, und einer sagte ihm sogar gehörig die Meinung, denn einen Vorrat an Sauerstoff gab es in der AMU so gut wie gar nicht, lediglich eine Fünftageration mit einer eisernen Reserve für acht Stunden. Volle vier Tage lang suchten die achtzig Piloten der Station, die vielen anderen der insgesamt fast fünftausend Raketen nicht mitgerechnet, den Sektor ab, in dem Thomas verschwunden war. Sie fanden nichts. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Der zweite war Wilmer. Ihn mochte, offen gesagt, niemand so recht. Eigentlich gab es keinen einzigen triftigen Grund dafür, um so mehr viele kleine. Er ließ niemanden ausreden, zu allem mußte er seinen Senf dazugeben.
Bei den unpassendsten Gelegenheiten kicherte er dümmlich, und je mehr er jemanden damit in Rage brachte, desto lauter lachte er. Wenn er gerade mal keine Lust hatte, im Ziel zu landen, ging er einfach auf dem Rasen neben dem Landeplatz nieder und glühte ihn mitsamt Wurzelwerk und Erdreich auf Metertiefe aus. Wenn hingegen jemand nur ein Viertelmilliparksek in sein Revier eindrang, dann zögerte er nicht, umgehend davon Meldung zu erstatten, selbst wenn es sich um einen Kollegen von der Basis handelte. Außerdem gab es noch ein paar winzige Kleinigkeiten zu erwähnen, die fast peinlich waren: Er trocknete sich zum Beispiel an fremden Handtüchern ab, damit seines länger sauber blieb. Aber als er dann nicht vom Patrouillenflug zurückkehrte, entdeckten auf einmal alle, daß Wilmer schwer in Ordnung und ein Pfundskollege gewesen war. Und wieder rotierten die Radarschirme wie wild, die Piloten flogen pausenlos und außer der Reihe, die Männer vom Abhördienst gingen erst gar nicht nach Hause, sie schliefen abwechselnd auf einer Bank an der Wand, sogar das Mittagessen brachte man ihnen hinauf; der Chef, der schon in Urlaub war, kam mit einer Sondermaschine zurück, und die Piloten kämmten vier Tage lang den Sektor durch und waren so sauer, daß sie fähig gewesen wären, wegen eines nicht exakt umgebogenen Splints der harmlosesten Niete dem Monteur den Schädel einzuschlagen. Zwei Expertenkommissionen trafen ein, und die AMU 116, die Wilmers Projektil aufs Haar glich, wurde in ihre Bestandteile zerlegt wie das Werk einer Uhr — alles ohne das kleinste Ergebnis. Zwar umfaßte der Sektor eine Million und tausendsechshundert Kubikkilometer, im übrigen aber gehörte er zu den ausgesprochen ruhigen, ohne Meteoritengefahr, ohne konstante Schwärme, und selbst die Bahnen irgendwelcher alter, jahrhundertelang nicht mehr gesichteter Kometen kreuzten ihn nicht — bekanntlich pflegt ja so ein Komet irgendwo in Jupiternähe, in dessen „Perturbationsmühle“ mitunter in kleine Stückchen zu zerfallen und schickt dann in Abständen Bröckchen seines zerschmetterten Kopfes auf die alte Route. In diesem Sektor gab es nichts dergleichen — weder ein Satellit noch ein Planetoid berührte ihn, von einem Schweif ganz zu schweigen —, und eben deshalb, weil die Leere dort so „rein“ war, ging in diesem Sektor niemand gern auf Patrouille.
Nichtsdestoweniger war Wilmer dort als zweiter verschollen, und sein Registrierband, das natürlich x-mal abgehört, fotografiert, vervielfältigt und ins Institut eingeschickt worden war, verriet genausoviel wie das Band von Thomas, nämlich nichts. Eine Zeitlang trafen noch Signale ein, aber dann brachen auch sie ab. Der automatische Sender strahlte ziemlich selten aus — einmal pro Stunde. Thomas hatte elf solcher Signale hinterlassen. Wilmer vierzehn. Das war alles.
Nach diesem Vorfall ergriff die Leitung sehr energische Maßnahmen. Zunächst wurden sämtliche Projektile überprüft — die Atomreaktoren, die Systeme, ja jedes einzelne Schräubchen. Ein Sprung im Glas konnte einen den Urlaub kosten.
Dann wurden bei allen Sendern die Uhrwerke ausgewechselt — als ob die was dafür konnten! Von nun an gab eine Rakete alle achtzehn Minuten Signale. Doch daran wäre noch nichts auszusetzen gewesen, ganz im Gegenteil. Viel schlimmer war, daß die beiden ältesten Offiziere an der Rampe standen und den Männern, ohne mit der Wimper zu zucken, alles abnahmen: pickende und tirilierende Vögel, kleine Schmetterlinge, Bienen, Geschick lichkeitsspiele. Alsbald türmte sich im Zimmer des Chefs ein Riesenberg an konfiszierter Konterbande. Böse Zungen behaupteten sogar, die Tür sei deshalb so oft abgeschlossen, weil der Chef mit dem Zeug spiele. Erst im Lichte dieser Ereignisse ließ sich die Meisterschaft des Piloten Pirx gebührend würdigen, dem es trotz alledem gelungen war, das Haus mit den Ferkelchen an Bord seiner Rakete zu schmuggeln. Daß ihm das, von dem moralischen Triumph einmal abgesehen, gar nichts nutzte, stand auf einem anderen Blatt. Der Patrouillenflug zog sich nun schon die neunte Stunde hin. Er zog sich hin, das ist sehr treffend gesagt. Pilot Pirx saß in seinem Sessel, von Gurten umwickelt und bandagiert wie eine Mumie, mit dem kleinen Unterschied, daß er wenigstens Hände und Füße frei hatte, und stierte apathisch auf die Bildschirme. Sechs Wochen lang waren sie in Zweiergruppen geflogen, in einem Abstand von dreihundert Kilometern, doch dann war die Basis wieder zu ihrer alten Taktik zurückgekehrt.
Der Sektor war ja leer, absolut leer, und selbst diese eine Patrouillenrakete war schon zuviel darin. Aber auf den Sternenkarten durfte es keine „Löcher“ geben, also wurden die Einzelflüge fortgesetzt. Pirx war als achtzehnter gestartet, von der Abschaffung der Zweierpatrouillen an gerechnet.
In Ermangelung einer besseren Beschäftigung stellte er Überlegungen an, was Thomas und Wilmer wohl passiert sein mochte. In der Basis fielen ihre Namen nur noch selten, aber während des Fluges ist der Mensch so völlig mit sich allein, daß er sich sogar die fruchtlosesten Grübeleien leisten kann. Pirx flog nun schon seit fast drei Jahren (zwei Jahre und vier Monate, um genau zu sein) und hielt sich für einen alten Hasen. Die Astrolangeweile fraß ihn regelrecht auf, obwohl er nicht so schnell den Kopf verlor.
Patrouillenflüge dieser Art wurden immer, und das nicht ganz zu Unrecht, mit der leidigen Warterei beim Zahnarzt verglichen; der einzige Unterschied bestand darin, daß der Arzt nicht kam. Die Gestirne rührten sich nicht vom Fleck, das war klar, und die Erde blieb gänzlich unsichtbar, es sei denn, man hatte ungeheures Glück, dann sah man sie als winzigen Rand eines blaugeklopften Fingernagels, und auch das war nur in den ersten zwei Flugstunden möglich, dann wurde sie ein Stern, der allen anderen glich, nur daß er sich langsamer bewegte. In die Sonne konnte man bekanntlich überhaupt nicht blicken. Nach Lage der Dinge wurden die chinesischen Geduldsund Geschicklichkeitsspiele tatsächlich zu einem Problem erster Ordnung. Dennoch war es die Pflicht jedes Piloten, im Kokon der Gurte zu hängen, die gewöhnlichen Bildschirme und den Radarschirm zu kontrollieren, von Zeit zu Zeit der Basis zu melden, daß alles in Ordnung sei, die Daten für den Leerlauf des Reaktors zu überprüfen, und nur manchmal, allerdings höchst selten, traf aus dem Sektorenbereich ein Hilferuf oder sogar ein SOS-Ruf ein, und dann mußte man Hals über Kopf davonjagen. Aber das waren Glücksumstände, die nicht öfter eintraten als ein- bis zweimal im Jahr.
Läßt man sich all dies einmal gründlich durch den Kopf gehen, dann wird einem bewußt, daß die vielfältigen Ideen und Wahnvorstellungen der Piloten, die sich vom irdischen Standpunkt und von der Warte normaler Raketenpassagiere aus geradezu verbrecherisch ausnehmen, doch sehr menschlich waren. Wenn man von anderthalb Trillionen Kubikmeter Vakuum umgeben ist, in dem sich nicht einmal eine Prise Zigarettenasche auftreiben ließe, dann wird der Wunsch nach irgendeinem Ereignis, und sei es eine entsetzliche Katastrophe, regelrecht zur Zwangsvorstellung.
Im Verlaufe seiner hundertzweiundsiebzig Patrouillenflüge hatte Pilot Pirx die unterschiedlichsten Seelenzustände durchlaufen — er war schläfrig und mißmutig gewesen, hatte sich als Tapergreis gefühlt, Anwandlungen von Wunderlichkeit gehabt und erwogen, einer keinesfalls harmlosen Art von Wahnsinn verfallen zu sein, doch zum Schluß begann er, ähnlich wie in seiner Studentenzeit, sich Geschichten auszudenken, die mitunter so verwickelt waren, daß der ganze Patrouillenflug nicht ausreichte, um sie zum Abschluß zu bringen. Daß er sich dennoch mopste, war etwas anderes.
Während er in das Labyrinth seiner einsamen Grübeleien hinabstieg, wußte er recht gut, daß ihm garantiert nichts Neues einfallen und daß das Rätsel um das Verschwinden seiner beiden Kollegen ungelöst bleiben würde, hatten sich doch die gewieftesten Experten von der Basis und vom Institut monatelang den Kopf darüber zerbrochen, und das Ergebnis war ja bekannt. Deshalb hätte auch er sich viel lieber mit Ferkelchen und Wolf abgegeben; diese Beschäftigung war vielleicht ebenso fruchtlos, dafür aber um einiges harmloser. Doch die Triebwerke schwiegen, und es bestand keine Veranlassung, sie einzuschalten; die Rakete raste auf der Bahn einer enorm gestreckten Ellipse dahin, in deren einem Brennpunkt sich die Sonne befand, und die Ferkelchen mußten besserer Zeiten harren. Was also war mit Thomas und Wilmer geschehen? Der prosaische Laie hätte zunächst einmal vermutet, ihre Raketen seien mit irgend etwas zusammengeprallt, mit einem Meteor zum Beispiel oder einer kosmischen Staubwolke, mit dem Splitter eines Kometenkopfes oder zumindest mit dem Bruchstück eines alten Raketenwracks. Ein solcher Zusammenstoß war jedoch ebensowenig wahrscheinlich, wie es wenig wahrscheinlich ist, daß man mitten auf einer belebten Straße einen großen Brillanten findet.
Entsprechende Berechnungen hatten übrigens ergeben, daß die Chance, einen Brillanten zu finden, wesentlich größer ist.
Aus Langeweile, einzig und allein aus Langeweile, begann Pirx seinen Kalkulator mit Ziffern zu füttern, Gleichungen aufzustellen und die Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen zu berechnen, bis eine Zahl herauskam, v°n der der Kalkulator die letzten achtzehn Stellen ab trennen mußte, damit sie überhaupt in seinem Fensterchen Platz hatte.
Im übrigen war der Raum wirklich leer. Keine alten Kometenbahnen, keine kosmischen Staubwolken — nichts.
Ein altes Raketenwrack konnte sich, theoretisch gesehen, zwar ebenso in diesem Sektor befinden wie in jedem anderen Teil des Kosmos — allerdings erst nach einer unvorstellbar großen Zahl von Jahren. Aber Thomas und Wilmer hätten es schon von weitem, mindestens aber aus einer Entfernung von zweihundertfünfzig Kilometern gesichtet, und wenn es direkt aus der Richtung der Sonne kam, hätte der Meteorradar ohnehin gut dreißig Sekunden vor dem Zusammenprall Alarm gegeben, und selbst wenn der Pilot den Alarm verschwitzt hätte, weil er, mal angenommen, eingenickt wäre, dann hätte das automatische System trotzdem das Ausweichmanöver durchgeführt. Daß die Ausweichautomatik defekt war — dieses Wunder aller Wunder konnte sich wohl einmal, nicht aber zweimal im Abstand von knapp einem Dutzend Tagen ereignen.
Bis hierher etwa wäre ein Laie mit seinen Überlegungen gekommen, der nicht weiß, daß in einer Rakete vieles passieren kann, was weitaus gefährlicher ist als die Begegnung mit einem Meteoriten oder einem morschen Kometenkopf. Eine Rakete, sogar eine so kleine wie die AMU, setzte sich aus fast hundertvierzehntausend wichtigen Teilen zusammen. Wichtig bedeutete in diesem Zusammenhang so viel, daß ein Defekt an einem dieser Teile katastrophale Folgen nach sich ziehen konnte, denn was die minder wichtigen Teile betraf, so gab es von ihnen über eine Million. Doch selbst wenn etwas so Verhängnisvolles eintreten sollte, würde das Raumschiff nach dem Tod des Piloten weder zerschellen noch verlorengehen, weil, wie ein altes Sprichwort sagt, im All nichts verlorengeht: Wenn man zum Beispiel eine Zigarettenspitze dort zurückließ, brauchte man nur ihre Bewegungselemente zu errechnen und sich zur rechten Zeit an derselben Stelle einzufinden, und die Spitze, die auf ihrer Umlaufbahn dahinraste, hüpfte einem mit astronomischer Genauigkeit in der vorausberechneten Sekunde in die Hand. Da jeder Körper bis in alle Ewigkeit auf seiner Bahn kreist, wurden die Wracks verunglückter Raumschiffe früher oder später fast immer ausfindig gemacht. Die großen Kalkulatoren des Instituts errechneten über vierzig Millionen mögliche Bahnen, auf denen sich die Raketen der beiden verschollenen Piloten bewegen konnten, und alle diese Trassen wurden abgesucht, das heißt mit konzentrierten Strahlenbündeln der stärksten Radaremitoren sondiert, über die man auf der Erde verfügte.
Mit dem bewußten Ergebnis.
Selbstverständlich konnte man nicht behaupten, dabei sei der Raum des ganzen Systems abgegrast worden; in diesen Weiten ist eine Rakete etwas unvorstellbar Kleines, wesentlich kleiner als ein Atom im Vergleich zum Erdball. Aber man hatte überall dort gesucht, wo sich die Raketen befinden konnten, vorausgesetzt, daß die Piloten den Patrouillensektor nicht mit maximaler Geschwindigkeit verlassen hatten. Was aber sollte sie zu einer Flucht aus ihrem Revier veranlaßt haben? Sie hatten doch kein Funksignal und keine Aufforderung dazu bekommen, und es konnte ihnen überhaupt nichts zugestoßen sein soviel stand fest.
Es sah aus, als seien Thomas und Wilmer mitsamt ihren Projektilen verdampft wie Wassertropfen auf einer glühenden Eisenplatte.
Der phantasiebegabte Laie würde, im Gegensatz zu seinem prosaischen Kollegen, das geheimnisvolle Verschwinden der Männer mit irgendwelchen im Weltall lauernden Wesen von anderen Sternen in Zusammenhang bringen, mit Wesen von hoher Intelligenz und nicht minder großer Boshaftigkeit.
Wer aber sollte daran glauben, da doch die Raumfahrt schon so lange betrieben wurde und da man in dem gesamten erforschten Kosmos noch nie auf derartige Wesen gestoßen war! Die Zahl der Witze über jene „Wesen“ mochte die Zahl der Kubikkilometer des Sonnensystems schon übersteigen. Außer einigen völlig „Grünen“, die bisher nur in einem Sessel unter der Decke des Laborsaals geflogen waren, hätte niemand auch nur einen Pfifferling für die Existenz solcher Wesen gegeben.
Vielleicht gab es Bewohner auf fernen Sternen, aber wenn, dann wirklich nur auf sehr fernen.
Ein paar auf der Erde unbekannte, primitive Mollusken, ein paar Flechten, Bakterien und Infusorien, das war eigentlich die ganze Ausbeute langjähriger Expeditionen. Und übrigens, sollten jene Wesen — vorausgesetzt, sie existierten wirklich — tatsächlich nichts anderes zu tun haben, als in einem der gottverlassensten Winkel des Alls den winzigen Patrouillenraketen aufzulauern? Und wie konnten sie sich ihnen unbemerkt nähern? Solche Fragen, die das ganze hypothetische Gerede als einen Riesenhumbug entlarvten, gab es in Hülle und Fülle — es gab ihrer so viele, daß das Spielchen wahrhaftig jeden Sinn verlor. Pirx, in der neunten Flugstunde zu Gott weiß was für Denkkombinationen aufgelegt, mußte sich angesichts all dieser unumstrittenen nüchternen Tatsachen regelrecht Gewalt antun, um wenigstens für einen kurzen Augenblick dämonische Sternenwesen in seiner Phantasie unterzubringen.
Von Zeit zu Zeit, wenn ihn trotz der fehlenden Schwerkraft die ständig gleiche Körperhaltung zu ermüden begann, veränderte er die Neigung des Sessels, an den er gefesselt war, sah mal nach rechts, mal nach links, wobei er, was vielleicht sonderbar erscheinen mag, die dreihundertelf Zeiger, Kontrollämpchen, pulsierenden Scheiben und Uhren gar nicht bemerkte, denn sie waren für ihn das, was für einen normalen Sterblichen die Züge eines vertrauten Gesichts sind — man kennt es so gut und so lange, daß man nicht erst zu beobachten braucht, wie sich darin der Mund verzieht oder die Lider öffnen, und man muß nicht erst auf der Stirn nach Falten suchen, um zu wissen, was es ausdrückt. Genauso verschmolzen also die Uhren und Kontrollämpchen vor Pirxens Augen zu einem Ganzen, das ihm sagte, daß alles in Ordnung sei. Als er dann den Kopf wieder nach vorn wandte, erblickte er die beiden vorderen Sternenbildschirme und dazwischen sein eigenes Gesicht, das von dem bauchigen, teilweise Stirn und Kinn bedeckenden gelben Helm eingerahmt war.
Zwischen den beiden Bildschirmen befand sich ein Spiegel, nicht allzu groß, aber so angebracht, daß der Pilot darin nur sich selbst sah, sonst nichts. Man wußte nicht recht, wozu dieses Ding eigentlich da war. Das heißt, man wußte es schon, aber die klugen Argumente, die für das Vorhandensein besagten Spiegels sprachen, überzeugten kaum jemanden. Er war eine Erfindung der Psychologen. Der Mensch, so behaupteten sie, obgleich das ziemlich merkwürdig klingt, hört manchmal auf, seine geistige und seelische Verfassung zu überwachen, vor allem wenn er längere Zeit in der Einsamkeit zubringt. In solchen Situationen kann es mir nichts, dir nichts passieren, daß er in eine gewisse hypnotische Starre gerät oder offenen Auges in einen traumlosen Schlaf versinkt, aus dem er nicht immer rechtzeitig erwacht. Andere wiederum fallen mitunter Gott weiß woher kommenden Sinnestäuschungen oder Angstzuständen zum Opfer oder geraten in einen heftigen Erregungszustand — und ein probates Mittel gegen all diese Anwandlungen bestehe in der Kontrolle der eigenen Physiognomie. Daß es nicht gerade angenehm war, sein eigenes Gesicht viele Stunden lang wie eingemauert vor sich zu haben und notgedrungen jeden Ausdruck darin verfolgen zu müssen, stand auf einem anderen Blatt. Aber davon wußte kaum jemand, außer den Piloten der Patrouillenraketen. Meistens fing so etwas ganz harmlos an: Man verzog leicht das Gesicht, lächelte seinem eigenen Spiegelbild zu, schnitt eine Fratze, und dann folgten Schlag auf Schlag immer scheußlichere Grimassen. So geht es einem, wenn sich eine derart widernatürliche Situation über Gebühr in die Länge zieht.
Pirx machte sich zum Glück herzlich wenig aus seinem Äußeren, im Gegensatz zu anderen. Zwar hatte es niemand nachgeprüft — dies war einfach nicht möglich —, aber man erzählte sich, daß manche in einem Anfall von Stumpfsinn und Verblödung, die jedes schickliche Maß überstieg, schwer wiederzugebende Sachen anstellten — sie spuckten zum Beispiel ihr Spiegelbild an, und wenn die Scham sie packte, mußten sie natürlich etwas tun, was strengstens untersagt war, nämlich die Gurte abschnallen, aufstehen und in der Schwerelosigkeit zum Spiegel laufen oder vielmehr schwimmen, um ihn vor der Landung noch einigermaßen sauberzukriegen. Manche behaupten sogar steif und fest, daß dem Piloten Würtz, der seine Rakete dreiunddreißig Meter tief in die Betonplatte des Landeplatzes gewuchtet hatte, nur zu spät eingefallen wäre, rechtzeitig den Spiegel abzuwischen — er hätte diese Arbeit erst in Angriff genommen, als er sich schon in der Atmosphäre befand.
Pilot Pirx hatte so etwas noch nie getan; er hatte, was wichtiger war, auch nie die geringste Versuchung gespürt, den Spiegel anzuspucken, obwohl der feste Vorsatz, dieser Anfechtung zu trotzen, angeblich zu heftigen inneren Kämpfen führen konnte, was nur den lächerlich anmutete, der noch nie mutterseelenallein auf Patrouille war.
Pirx hatte es bisher noch immer, selbst während der gräßlichsten Langeweile, fertiggebracht, schließlich doch noch etwas auszuknobeln, und um dieses Etwas wickelte er dann alle anderen verworrenen und unklaren Gefühle und Gedanken, wie einen langen, verfilzten Faden um einen harten Bolzen.
Die Uhr — der gewöhnliche Chronometer — zeigte elf Uhr nachts. In dreizehn Minuten würde Pirx sich auf dem Abschnitt seiner Umlaufbahn befinden, der am weitesten von der Sonne entfernt war. Er räusperte sich ein paarmal, um das Mikrofon zu überprüfen, trug dem Kalkulator aufs Geratewohl auf, die vierte Wurzel aus 876998341056396 zu ziehen, warf aber nicht einen einzigen Blick auf das Ergebnis, das der Automat, der die kleinen Ziffern nervös durch seine Fensterchen schnurren ließ, in Windeseile ausspuckte, als hinge sonstwas davon ab. Er erging sich in folgenden Gedanken: Nach der Landung würde er zuerst ganz lässig die Handschuhe aus der Raketenluke werfen, dann würde er sich eine Zigarette anstecken, in die Messe gehen und sich was Gebrutzeltes bestellen, was Scharfes, mit rotem Paprika, dazu ein großes Helles, er trank nämlich gern Bier. In diesem Augenblick bemerkte er den kleinen Lichtfleck. Er schielte nur mit einem Auge auf den linken vorderen Bildschirm, denn im Geiste war er bereits in der Messe, ja, er schnupperte schon den lieblichen Duft frischer Bratkartoffeln, die extra für ihn zubereitet wurden, und dennoch — das Lichtpünktchen war kaum mitten ins Bild gewandert, da spannte er so die Muskeln an, daß er ohne die Gurte garantiert vom Sessel geschnellt wäre. Der Bildschirm hatte ungefähr einen Durchmesser von einem Meter und sah aus wie ein schwarzer Schacht — ziemlich genau in der Mitte leuchtete das Rho des Schlangenträgers, und in der Milchstraße klaffte ein doppelter dunkler Spalt, der bis an den Rand des Schirms reichte. Zu beiden Seiten schien alles wie mit Sternenpulver bestreut. In dieses reglose Bild glitt langsam ein einziger Lichtpunkt, der aber wesentlich besser zu erkennen war als jeder Stern. Nicht, daß er besonders hell gewesen wäre — Pirx bemerkte ihn deshalb sofort, weil er sich bewegte. Man kann im Raum bewegliche Lichtpunkte antreffen die Positionslichter von Raketen. Normalerweise jedoch werden diese Lichter nicht eingeschaltet, es geschieht nur auf besondere Aufforderung über Funk, zum Zwecke der Identifizierung. Alle Raumkörper haben ihre speziellen Positionslichter — Passagierschiffe, Gütertransporte, die schnellen ballistischen Raketen, Patrouillenschiffe, Raketen des kosmischen Dienstes, Tanker und so weiter. All diese Lampen sind an den unterschiedlichsten Stellen angebracht und haben die verschiedensten Farben — mit einer einzigen Ausnahme: Weiß. Mit weißen Positionslichtern sind die Raketen deshalb nicht ausgestattet, damit man sie von den Sternen unterscheiden kann. Fliegen nämlich zwei Schiffe dicht hintereinander, so könnte das weiße Licht des ersten den Eindruck erwecken, als bewege es sich nicht. Das aber muß vermieden werden, weil andernfalls die Gefahr besteht, daß der Pilot irregeführt wird.
Der kleine Punkt, der träge ins Bild kroch, war jedoch schneeweiß, und Pirx hatte das Gefühl, die Augen müßten ihm aus den Höhlen treten. Aus Angst, den Lichtfleck aus dem Blickfeld zu verlieren, wagte er nicht, mit den Wimpern zu zucken. Als ihm schließlich die Lider brannten, blinzelte er — aber alles blieb unverändert. Der weiße Punkt glitt seelenruhig über den Schirm, nur noch ein Dutzend Zentimeter trennten ihn vom gegenüberliegenden Rand. Eine Minute noch, und er würde aus seinem Gesichtskreis verschwinden.
Ohne noch einmal die Hilfe der Augen in Anspruch zu nehmen, packten seine Hände ganz von selbst die richtigen Hebel. Der Reaktor, der bisher im Leerlauf gearbeitet hatte, gab, jäh aufgeschreckt, blitzartig Schub.
Die Beschleunigung drückte Pirx tief in den Schaumgummisessel. Auf den Leuchtschirmen gerieten die Sterne in Bewegung, die Milchstraße flog schräg nach unten wie eine wirkliche Straße aus Milch, dafür rührte sich nun das Pünktchen nicht mehr vom Fleck — der Bug der Rakete nahm es genau aufs Korn und stieß zu wie die Nase eines Jagdhundes, der einen Rebhuhnschwarm im Gebüsch aufstöbert. Tja, gelernt war gelernt! Das Manöver dauerte keine zehn Sekunden. Bislang hatte Pilot Pirx keine Zeit zum Überlegen gefunden, und nun erst fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das, was er da sah, mußte eine Halluzination sein, weil es so etwas gar nicht gab. Dieser Gedanke machte ihm alle Ehre. Im allgemeinen vertrauen die Menschen ja vorbehaltlos ihren eigenen Sinnen, und wenn sie auf der Straße einem verstorbenen Bekannten begegnen, sind sie eher geneigt anzunehmen, er sei von den Toten auferstanden, als an ihrem eigenen Verstand zu zweifeln. Pirx ließ die Hand an der Außentasche der Sesselverkleidung verschwinden, angelte ein kleines Flakon hervor, steckte sich die beiden Glasröhrchen in die Nase und tat einen tiefen Atemzug, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Psychran war angeblich imstande, sogar Jogis aus ihren kataleptischen Posen und Heilige aus ihren Visionen zu reißen. Das Lichtpünktchen in der Mitte des linken Bildschirms flimmerte jedoch weiterhin vor seinen Augen. Nun, da er seiner Pflicht nachgekommen war, steckte er das Fläschchen an seinen Platz zurück, führte ein leichtes Steuermanöver durch, und als er sich vergewissert hatte, daß er dem Punkt auf konvergierendem Kurs folgte, blickte er auf den Radarschirm, um die Entfernung bis zu diesem leuchtenden Körper abzuschätzen. Und dabei erlitt er den zweiten Schock: Die Leuchtscheibe des Meteorradars war leer. Der grünliche Leitstrahl, leuchtend wie ein unter starker Insolation stehender Phosphorstreifen, lief immer rund um die Scheibe, immer rundherum, und wies nicht den kleinsten Lichtschimmer auf. Nichts, rein gar nichts! Pirx verstieg sich natürlich nicht zu der Annahme, er hätte einen Geist mit einem Heiligenschein vor sich. Er glaubte überhaupt nicht an Geister, obgleich er in gewissen Situationen manchen Frauen davon erzählte — um Spiritismus handelte es sich in solchen Fällen allerdings nicht.
Er war ganz einfach der Meinung, es sei kein toter Raumkörper, dem er da nachjagte, denn diese Körper reflektierten in jedem Fall die gebündelten Radarstrahlen. Nur künstlich hergestellte und mit einer Spezialsubstanz überzogene Gegenstände, die die Zentimeterwellen absorbierten, löschten und zerstreuten, gaben kein optisches Echo. Pilot Pirx räusperte sich und sagte gemessen, wobei er deutlich spürte, wie sein auf und ab rutschender Adamsapfel einen leichten Druck auf das daran befestigte Laryngophon ausübte: Patrouillen-AMU einhundertelf an fliegendes Objekt im Sektor tausendeinhundertzwei Komma zwei auf Approximativkurs nach Sektor tausendvier-hundertvier mit weißem Positionslicht! Bitte um CQD-Anga-be. Bitte um CQD-Angabe. Schalte auf Empfang. Dann harrte er der Dinge, die da kommen sollten. Sekunden und Minuten vergingen — keine Antwort.
Statt dessen bemerkte Pirx, daß der Lichtpunkt blasser wurde, sich folglich von ihm entfernte. Der Radarentfernungsmesser schied ja aus, aber als Reserve führte er außerdem einen, wenn auch primitiven, optischen Entfernungsmesser mit. Er streckte das eine Bein weit vor und drückte aufs Pedal. Das Gerät kam von oben heruntergefahren, es glich einem Fernrohr. Pirx zog es mit der linken Hand an die Augen und begann die Schärfe einzustellen.
Im Handumdrehen hatte er das Pünktchen im Objektiv — und noch ein bißchen mehr. Es wuchs und nahm die Größe einer Erbse an, die man aus einer Entfernung von fünf Metern betrachtet; für Raumverhältnisse war es also geradezu riesig. Hinzu kam, daß über seine runde, ein wenig abgeplattete Oberfläche langsam winzige dunkle Streifen von rechts nach links hinwegglitten, als bewegte jemand dicht vor dem Objektiv des Entfernungsmessers ein dickes schwarzes Haar hin und her. Diese dunkleren Stellen waren ebenso verschwommen und undeutlich, aber die Richtung blieb unverändert sie zogen unaufhörlich von rechts nach links. Pirx drehte am Regler, aber der Lichtfleck ließ sich beim besten Willen nicht näher heranholen. Also halbierte er ihn mit einem speziell für diese Zwecke vorgesehenen zweiten Prisma und verschob die beiden Hälften so lange, bis sie einander genau überlagerten. Als er das geschafft hatte, warf er einen Blick auf die Skala und erstarrte zum dritten Mal: Das leuchtende Objekt war nur vier Kilometer von der Rakete entfernt! Das war vergleichsweise ein Abstand von nur fünf Millimetern zwischen zwei mit hoher Geschwindigkeit dahinrasenden Rennwagen. Im Raum war eine solche Annäherung ebenso unzulässig wie gefährlich. Pirx blieb nicht mehr viel zu tun. Er richtete den Zeiger der Außenthermodampfapparatur auf den Punkt aus, stellte per ferngesteuertem Hebel den Sucher ein, bis er sich genau mit dem milchig weißen Fleck deckte, und schielte blitzschnell nach dem Ergebnis: 24 Grad Kelvin. Das hieß, daß der Lichtpunkt die Temperatur des kosmischen Vakuums hatte — Grad über dem absoluten Nullpunkt.
Eigentlich war er nun schon ganz sicher, daß der Fleck gar nicht leuchten, sich erst recht nicht bewegen, ja überhaupt nicht existieren konnte; weil dieser ihm aber dicht vor der Nase schwebte, setzte er die Verfolgungsjagd fort. Der Fleck verblaßte immer mehr. Eine Minute darauf konstatierte Pirx, daß sich der Punkt schon um hundert Kilometer entfernt hatte und daß seine Geschwindigkeit weiter zunahm.
Dann geschah das Allermerkwürdigste. Der Lichtfleck ließ ihn zunächst wieder herankommen. Pirx hatte ihn erst 80, dann 70, 50 und schließlich 30 Kilometer vor dem Bug, doch bald schoß er wieder davon. Pirx steigerte die Geschwindigkeit auf 75 Kilometer pro Sekunde. Das Pünktchen machte 76. Pirx erhöhte abermals den Schub, aber diesmal nicht in Raten — er ließ „halbe Kraft“ in die Düsen, und es schleuderte ihn vorwärts. Die dreifache Erdschwere preßte ihn in die Sesselpolster. Eine AMU-Rakete hatte eine kleine Ruhemasse, sie beschleunigte wie ein Rennwagen. Wenig später machte er schon 140 Kilometer pro Sekunde. Das Pünktchen flog 140,5.
Pilot Pirx spürte, wie ihm heiß wurde. Er gab vollen Schub. Die AMU 111 klirrte wie die angerissene Saite eines Zupfinstruments. Der Zeiger des Tachometers, der die Geschwindigkeit zu dem unbeweglichen Sternengewölbe in Beziehung setzte, kletterte rasch in die Höhe: 155… 168.. 177… 190.. 200. Bei 200 sah Pirx auf den Entfernungsmesser, eine Leistung, die einem Zehnkämpfer alle Ehre gemacht hätte, denn die Beschleunigung betrug 4 g. Der Fleck rückte merklich näher, er wuchs. Pirx hatte ihn erst ein Dutzend, dann zehn und schließlich sechs Kilometer vor sich. Noch einen Augenblick, und die Entfernung betrug nur noch drei Kilometer. Der Punkt war jetzt größer als eine Erbse auf der ausgestreckten Hand. Noch immer huschten die verschwommenen dunklen Streifen darüber hinweg. Der Lichtschein war Sternen zweiter Größenordnung vergleichbar, nur daß er kein Punkt war wie die Sterne, sondern eine Scheibe. Die AMU 111 gab ihr Letztes.
Pirx war stolz auf sie. In der kleinen Steuerkanzel geriet nichts in Schwingung. Nicht die leiseste Erschütterung, auch nicht bei dem Sprung auf volle Schubkraft! Der Rückstoß war ideal in der Achse, die Politur der Düsen großartig, der Reaktor zog wie der Teufel selber.
Die Lichtscheibe näherte sich noch immer, nun allerdings nur langsam. Als sie bis auf zwei Kilometer heran war, begann Pirx fieberhaft zu überlegen. Die Geschichte war ausgesprochen sonderbar. Das Licht stammte von keinem Schiff der Erde. Raumpiraten? Er mußte lachen. Die gab es nicht, was hätten sie auch hier zu suchen gehabt, in einem Sektor, der leerer war als ein altes Faß? Der Lichtfleck bewegte sich in weiten Grenzen mit hoher Geschwindigkeit, er beschleunigte ebenso scharf, wie er bremste. Willkürlich rückte er Pirx aus, und nun dagegen ließ er sich langsam einholen. Und das paßte Pirx am allerwenigsten. So benimmt sich ein Köder!
durchfuhr es ihn. Ein Wurm am Haken beispielsweise, direkt vorm Maul des Fisches. Natürlich fiel ihm sofort der Haken ein. Warte, Freundchen! sagte er sich und bremste ohne Übergang, als sei ein Planetoid vor ihm aufgetaucht, obwohl der Radarschirm nach wie vor leer war und die Bildschirme schwiegen. Obschon er instinktiv den Kopf einzog und aus Leibeskräften das Kinn auf die Brust preßte, wobei er gleichzeitig spürte, wie der Automat schlagartig zusätzlich komprimierten Sauerstoff in seinen Schutzanzug preßte, um den Schock der Dezeleration auszugleichen — obschon er all dies tat, waren seine Sinne eine ganze Weile umnebelt.
Der Zeiger des Schweremessers war auf minus 7 g gerutscht, er zitterte und kroch langsam wieder auf minus 4 zurück. Die AMU 111 hatte beinahe ein Drittel der Geschwindigkeit eingebüßt und flog jetzt nur noch Kilometer pro Sekunde.
Wo war das Pünktchen? Einen Moment lang bangte er schon, er hätte es ein für allemal verloren. Nein, da war es! Aber sehr weit weg. Der optische Sucher zeigte eine Entfernung von 240 Kilometern an. Die AMU legte in 2
Sekunden mehr zurück. Demnach mußte auch der Fleck sofort nach seinem Manöver die Geschwindigkeit plötzlich reduziert haben.
Und da fiel es ihm mit einemmal wie Schuppen von den Augen — später wunderte er sich selbst, warum er nicht schon früher daraufgekommen war: daß er hier jenes rätselhafte Etwas vor sich hatte, dem auch Thomas und Wil-mer auf ihren Patrouillenflügen begegnet waren. An eine Gefahr hatte er bisher überhaupt nicht gedacht, doch nun packte ihn die Angst. Er überwand sie schnell wieder. Natürlich, so etwas konnte es gar nicht geben — wenn es nun das Licht eines fremden, eines außerirdischen Raumschiffes war? Der Lichtfleck rückte wieder merklich näher, drosselte die Geschwindigkeit, nun lag er 60, 50, 30 Kilometer vor ihm. Pirx erhöhte ein wenig den Schub und war verblüfft, wie ruckartig der Fleck zunahm — er war wieder ganz nahe und hing ihm in zwei Kilometer Entfernung vor dem Bug. Auf der anderen Sesselseite steckte in einer Tasche ein Fernrohr, ein Nachtglas mit vierundzwanzigfacher Vergrößerung. Es wurde nur in Ausnahmefällen benutzt, bei defektem Radarschirm zum Beispiel oder wenn man sich an einen Satelliten von der dunklen Seite heranpirschen mußte. Jetzt leistete es ihm gute Dienste. Die Vergrößerung war so stark, daß er den Punkt knapp hundert Meter vor sich hatte. Es war eine kleine Scheibe, weiß wie Milch, aber auch wäßrig wie Milch, kleiner als die Mondscheibe, von der Erde aus gesehen. Dunkle senkrechte Streifen glitten darüber hinweg. Wenn das Gebilde die Sterne verdeckte, verschwanden diese nicht sofort, sondern erst nach einer Weile, als sei der Rand der Scheibe etwas dünnflächiger und poröser als das Mittelstück. Aber rund um die Scheibe verhüllte nichts das Licht der Sterne. Pirx hätte mit diesem Fernrohr ein Objekt von der Größe einer Schublade auf hundert Meter Entfernung ausgemacht. Aber es war nichts zu sehen.
Nicht die Spur von einem Raumschiff. Die kleine Scheibe war weder ein Positions- noch ein Hecklicht. Ganz bestimmt nicht. Sie war ganz einfach ein selbständig fliegender weißer Lichtfleck.
Es war zum Verrücktwerden.
Pirx hatte das unwiderstehliche Verlangen, auf den Milchfleck zu schießen. Das wäre nicht leicht zu bewerkstelligen gewesen, denn die AMU 111 hatte keinerlei Waffen an Bord. Die Dienstordnung sah den Gebrauch von Waffen nicht vor, und Pirx besaß nur zwei Dinge, die er aus der Kabine abfeuern konnte: sich selbst und eine kleine Ballonsonde. Die Patrouillenschiffe waren so gebaut, daß sich der Pilot in einer hermetisch abgeschlossenen Schutzkapsel herauskatapultieren konnte. Er tat das nur im Ernstfall, und natürlich hatte er, wenn er sich einmal aus der Rakete geschleudert hatte, keine Möglichkeit mehr, zu ihr zurückzukehren. Blieb also nur die Ballonsonde, eine sehr simple Konstruktion: ein dünnwandiger, leerer Gummiballon, so fest zusammengerollt, daß er einem Speer ähnelte. Er war mit einer Aluminiumlegierung überzogen, damit man ihn gut erkennen konnte.
Mitunter war kein rechter Verlaß auf die Angaben des Aerodynameters, und man wußte nicht, ob man schon im Begriff war, in die Atmosphäre des Planeten einzutreten. Der Pilot mußte schließlich wissen — das war das Allerwichtigste —, ob das verdünnte Gas sich direkt vor ihm ausbreitete, dort, wohin er flog. Deshalb warf er den Ballon ab, der sich automatisch füllte und mit einer Geschwindigkeit bewegte, die etwas über der des Raumschiffs lag. Selbst aus fünf, ja aus sechs Kilometern sah man ihn als kleinen hellen Fleck. Geriet er in ein Gas, es mochte noch so dünn sein, dann erhitzte er sich durch die Reibung und platzte. Das war für den Piloten das Zeichen, daß er mit dem Bremsmanöver beginnen mußte. Pirx bemühte sich, den Bug auf die verschwommene kleine Scheibe zu richten. Messungen mit dem Radarschirm konnte er nicht vornehmen, also benutzte er den optischen Sucher. Einen so kleinen Körper aus beinahe zwei Kilometern zu treffen, war ungemein schwierig. Dennoch versuchte er es, aber das Scheibchen entzog sich seinem Beschuß. Sooft er sich auch bemühte, den Bug der AMU durch ein leichtes Manöver mit der Wendedüse auszurichten, jedesmal rutschte die Scheibe seelenruhig zur Seite und tauchte dann plötzlich abermals vor ihm auf — mitten auf dem linken Bildschirm. Diesen Trick wandte sie viermal hintereinander an, von Mal zu Mal etwas schneller, als wenn sie seine Absicht immer besser durchschaute. Sie wünschte es offenbar nicht, daß der Bug der AMU sie direkt anvisierte, deshalb flog sie mit minimaler seitlicher Abweichung.
Es mutete geradezu phantastisch an: Um die winzige Drehung seines Bugs aus zwei Kilometer Entfernung zu registrieren, hätte die Scheibe über ein gigantisches Teleskop verfügen müssen, von dem allerdings nichts zu entdecken war. Dennoch erfolgten ihre Ausweichmanöver mit einer Verzögerung von höchstens einer halben Sekunde. Pirx’ Erregung nahm zu. Er hatte nun alles getan, was in seinen Kräften stand, um dieses unheimliche fliegende Objekt zu identifizieren, und war nicht um einen Deut weitergekommen. Und während er so reglos dasaß und seine Hände an den Schalthebeln zu erstarren begannen, durchfuhr ihn plötzlich der Gedanke, daß es den anderen genauso ergangen sein mußte. Sie waren diesem Lichtpünktchen begegnet, hatten versucht, seine Kennzeichen zu erfahren, indem Glauben, irgendein merkwürdiges Schiff vor sich zu haben, und als sie keine Antwort erhalten hatten, waren sie ihm nachgejagt, immer schneller. Sicherlich hatten sie gleich ihm den Fleck durch das Fernrohr untersucht und die zarten dunklen Streifen darauf bemerkt, womöglich hatten sie sogar die Ballonsonden abgeschossen. Und dann hatten sie etwas getan, was ihnen die Rückkehr unmöglich machte. Als ihm bewußt wurde, daß ihn bald dasselbe Schicksal ereilen würde, packte ihn nicht Angst, sondern Verzweiflung. Es war wie in einem Alptraum; eine Weile wußte er nicht mehr, wer er eigentlich war — Pirx, Wilmer oder Thomas. Denn damals mußte sich haargenau dasselbe abgespielt haben, da gab es nicht den geringsten Zweifel. Er saß wie gelähmt, von der entsetzlichen Gewißheit erfüllt, daß es keine Rettung mehr gab.
Das Furchtbare war, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, von wo ihm eigentlich Gefahr drohte… Der Raum war ja leer… War er es wirklich?
Ja, der Sektor war leer, aber Pirx hatte das Pünktchen doch über eine Stunde verfolgt und eine Geschwindigkeit von zweihundertdreißig Kilometern pro Sekunde entwickelt. Vielleicht, nein, sogar höchstwahrscheinlich befand er sich nun dicht am Rande des Reviers oder hatte die Grenze womöglich schon überschritten. Was kam danach?
Der nächste Sektor, Nummer 1009, und weitere anderthalb Trillionen Kilometer Leere. Leere von allen Seiten, Millionen und aber Millionen von Kilometern nichts, nur Leere — und zwei Kilometer vor seinem Bug tanzte ein weißes Pünktchen. pirx strengte seinen Geist an: Was hatten sie jetzt wohl gemacht, gerade jetzt — Wilmer und Thomas? Denn er, Pirx, mußte etwas völlig anderes tun. Sonst gab es auch für ihn keine Wiederkehr.
Er betätigte noch einmal die Bremsen. Der Zeiger bebte. Er flog immer langsamer, hatte nur noch 30, 22, 13, 5
Kilometer pro Sekunde. Nur noch 0,9. Und dann nur noch wenige Meter, der Zeiger schwankte leicht über Null.
Laut Reglement hatte er den Flug gestoppt. Im Raum hatte man immer irgendeine Geschwindigkeit stets in Beziehung zu etwas. Wie angewurzelt stehenbleiben konnte man nicht.
Das Lichtpünktchen wurde kleiner. Es fiel immer weiter zurück, verblaßte mehr und mehr, dann hörte es plötzlich auf zu schrumpfen, nahm zu, wurde allmählich wieder größer, bis es auf einmal anhielt, genauso wie er.
Zwei Kilometer von seinem Bug entfernt. Was hätten Wilmer und Thomas nicht getan? Was hätten sie garantiert nicht getan? Sie hätten vor so einem winzigen, lausigen, idiotischen Lichtpünktchen, vor so einem blöden, milchigen Fleckchen bestimmt nicht die Flucht ergriffen!
Er wollte nicht wenden, denn bei diesem Manöver würde er die kleine Scheibe aus den Augen verlieren, und dann hätte er sie am Heck, und es war schwer zu verfolgen, was am Heck passierte — dazu mußte man den Kopf nach dem Seitenbildschirm verrenken. Nein, am Heck mochte er sie nicht haben, er wollte sie ohne Unterlaß deutlich und greifbar vor sich sehen. Er flog also rückwärts und benutzte die Bremsdüsen als Antrieb. So etwas mußte gelernt sein, das gehörte zu den Elementarbegriffen der Steuertechnik. Er hatte minus 1 g, minus 1,6 g, minus 2, die Rakete lag nicht so ideal wie bei normalem Schub. Der Bug neigte sich ein wenig zur Seite — die Bremswerke waren dazu da, um den Flug zu verlangsamen, und nicht, um das Raumschiff anzutreiben. Das Pünktchen schien zu schwanken. Für wenige Sekunden blieb es, kleiner werdend, im Raum zurück. Es verdeckte ein Weilchen das Alpha des Eridanus, gab es dann frei, hüpfte zwischen ein paar kleinen namenlosen Sternen hindurch und — raste Pirx wieder hinterher. Es ließ sich nicht abhängen.
Immer mit der Ruhe, dachte Pirx, was kann das Biest mir schon anhaben? Dieser kleine, flimmernde Dreckspunkt soll mir gestohlen bleiben. Ich bin hier auf Sektorpatrouille. Hol ihn der Teufel.
Das dachte er zwar, aber natürlich verlor er das Pünktchen nicht aus den Augen. Seit er es zum erstenmal gesichtet hatte, waren schon beinahe zwei Stunden vergangen. Die Augen brannten ihm und tränten. Er riß sie so weit wie möglich auf und flog noch immer mit dem Heck voran. Sehr schnell konnte man so nicht fliegen. Das Bremswerk war für eine kontinuierliche Arbeit nicht eingerichtet. So bewegte er sich also mit acht Kilometern pro Sekunde und geriet ins Schwitzen. Seit geraumer Zeit schon hatte er das Gefühl, daß mit seinem Hals etwas nicht stimmte; ihm war, als zöge ihm jemand mit der Pinzette die Haut unterm Kinn nach unten, auf den Brustkasten, und die Mundhöhle wurde ihm ganz trocken. Er achtete nicht sonderlich darauf, schließlich hatte er den Kopf mit anderen Dingen voll. Dann wurde ihm ein paarmal ziemlich mulmig, er konnte die Lage seiner Arme nicht mehr kontrollieren. Die Beine spürte er noch. Das rechte drückte aufs Bremspedal. Er versuchte, die Arme zu heben, weil er das Lichtpünktchen nicht aus den Augen lassen wollte. Es sah aus, als wäre es näher gerückt, auf 1,9, vielleicht auch auf 1,8 Kilometer. Würde es ihn einholen? Er wollte einen Arm heben, dann den anderen — es gelang ihm nicht. Nicht, daß er es nicht gekonnt hätte — nein, er spürte seine Arme überhaupt nicht mehr, als existierten sie gar nicht. Da wollte er sie betrachten, aber sein Nacken rührte sich nicht. Er war steif und hart wie Holz. Panisches Entsetzen packte ihn. Warum hatte er bisher noch immer nicht das getan, was längst seine heilige Pflicht gewesen wäre? Warum hatte er nicht sofort, als er dem Pünktchen begegnet war, über Funk die Basis gerufen und Meldung erstattet?
Weil er sich schämte. Wilmer und Thomas hatten sich bestimmt auch geschämt. Er konnte sich gut vorstellen, wie die Leute in der Abhörkabine sich den Bauch halten würden vor Lachen. Lichtpünktchen! Ein weißes Lichtpünktchen, das erst Reißaus nimmt und dann die Rakete verfolgt! So etwas hatte gerade noch gefehlt! Nein, beim besten Willen! Sie hätten ihm geraten, sich ins Ohr zu kneifen und aufzuwachen.
Doch nun war ihm alles egal — er sah ein letztes Mal auf den Leuchtschirm und sagte: Patrouillen-AMU 111 an Basis…
Das heißt, er wollte es sagen, doch er konnte nicht. Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, und nur ein unartikuliertes Stammeln kam über seine Lippen. Da nahm er alle Kraft zusammen, und ein Brüllen drang aus seinem Munde. Zum erstenmal glitt sein Blick vom Sternenbildschirm und fiel auf den Spiegel. Vor ihm, im Pilotensessel, im runden gelben Helm, hockte ein Scheusal. Es hatte riesige, verquollene, hervorstehende Augen, von tödlichem Entsetzen geweitet, und ein breitgezerrtes, nach unten flappendes Froschmaul, in dem sich eine dunkle Zunge hin und her wälzte. Anstelle des Halses hingen seltsame, gespannte Saiten an ihm herab, die unablässig zuckten und bebten, so daß der Unterkiefer dazwischen verschwand, und dieses Ungeheuer mit der grauen, zusehends anschwellenden Larve brüllte und brüllte.
Er versuchte, die Augen zu schließen — umsonst. Er probierte, wieder zurück auf den Bildschirm zu sehen — umsonst. Die Mißgestalt, an den Sessel gefesselt, sträubte und bäumte sich, als wollte sie die Gurte sprengen.
Pirx betrachtete das Scheusal, weil er zu nichts anderem fähig war. Erschütterungen irgendwelcher Art empfand er nicht. Er merkte nur, daß er keine Luft bekam, daß es ihn würgte und daß er mit dem Tode rang. Von irgendwoher, ganz aus der Nähe, hörte er ein gräßliches Zähneknirschen. Nun hatte er vollends seinen Geist aufgegeben, er wußte nichts mehr, hatte keine Arme, ja keinen Körper mehr, nur das eine Bein war noch da, das auf das Bremspedal drückte. Er registrierte, daß er nur noch über seine Sehkraft verfügte, aber sein Blick wurde immer trüber, und vor seinen Augen begannen viele winzige weiße Pünktchen zu wirbeln. Er bewegte das Bein. Es schlotterte. Er hob es an und senkte es wieder.
Das Ungeheuer im Spiegel war aschfahl, Schaum stand ihm vorm Maul. Die Augen waren nun gänzlich aus den Höhlen getreten. Er wurde von Zuckungen geschüttelt. Da tat er das einzige, was ihm noch zu tun übrigblieb. Er holte mit dem Bein Schwung, schnellte es nach vorn und rammte sich mit voller Wucht das Knie ins Gesicht. Er verspürte einen entsetzlichen, bohrenden Schmerz im Mund, Blut rann ihm das Kinn hinunter, er sah nichts mehr.
„Aaaaaah!“ röchelte er. „Aah!“ Es war seine Stimme.
Der Schmerz war plötzlich wie weggeblasen, wieder spürte er gar nichts. Was war geschehen? Wo war er?
Nichts! Nirgendwo!
Er zerschlug und malträtierte mit dem Knie sein Gesicht und holte wie besessen immer von neuem aus: Das Brüllen brach ab. Er vernahm seinen eigenen gurgelnden Schrei, im Blut erstickt.
Jetzt hatte er wieder Arme. Sie waren wie aus Holz und schmerzten bei jeder Bewegung so fürchterlich, als seien alle Muskelfasern gerissen, aber er konnte sie rühren. Mit starren Fingern tastete er nach den Gurten und schnallte sie ab, dann krallte er sich in die Sessellehne und stand auf. Seine Beine zitterten, sein ganzer Körper war wie gerädert. Er ergriff das Seil, das schräg durch den Steuerräum gespannt war, und taumelte zum Spiegel. Mit beiden Händen stützte er sich am Rahmen. Im Spiegel stand der Pilot Pirx.
Das Gesicht war nicht mehr aschfahl, sondern blutbesudelt, die Nase eingeschlagen und geschwollen. Blut sickerte aus dem zerschlagenen Mund. Die Wangen waren noch blau unterlaufen und gedunsen, unter den Augen wölbten sich schwarze Wülste, am Hals zuckte es noch immer unter der Haut, aber langsam verebbte es schon.
Ja, das war er — Pirx. Er brauchte lange, um sich das Blut vom Kinn zu reiben, er spuckte, hustete, atmete tief und fühlte sich schwach und hilflos wie ein Kind. Dann wandte er sich ab und sah auf den Schirm. Das Schiff flog nach wie vor rückwärts, aber bereits ohne Schub. Allein durch den Schwung. Die kleine weiße Scheibe schwebte hinter ihm am Bug, in einer Entfernung von 2 Kilometern.
Pirx hangelte sich am Seil entlang zum Sessel zurück. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Seine Hände begannen zu zittern — erst jetzt, aber das war die übliche Schockwirkung, er kannte das, es schreckte ihn nicht.
Dicht vor dem Sessel hatte sich etwas verändert…
Die Kassette des automatischen Senders war oben eingebeult. Er stieß gegen den Deckel, der fiel herunter.
Lauter zertrümmerte Teile. Wie hatte das geschehen können? Offenbar hatte er selbst dem Sender einen Tritt versetzt. Aber wann?
Er sank in den Sessel, schaltete die Düsen ein und setzte zur Wendung an.
Die weiße Scheibe geriet ins Schwanken, schwebte über den Bildschirm und erreichte seinen Rand, aber statt zu verschwinden, prallte sie ab wie ein Gummiball und kehrte in die Mitte des Schirms zurück! „Du Miststück!“
schrie er voller Haß und Ekel. Und wegen so einem Drecksding wäre er um ein Haar selbst auf „stationäre Umlaufbahn“ gegangen! Wenn das Pünktchen bei der Wendung weiterhin im Bild blieb, hieß das ganz einfach, daß es gar nicht existierte, daß es im Wiedergabegerät selbst erzeugt wurde! Der Leuchtschirm war schließlich kein Fenster, eine Rakete hatte ja gar keine Fenster. Sie besaß eine Fernsehempfangsanlage, und zwar außen. Im Panzer waren die Kameras installiert und innen die Verstärker, die die elektrischen Signale auf dem Bildschirm sichtbar machten. Waren sie etwa defekt? Durch welchen sonderbaren Umstand hätten sie wohl entzweigehen können? War bei den Raketen von Wilmer und Thomas der gleiche Fehler aufgetreten? Wie war das möglich? Und was war danach mit den beiden geschehen?
Im Augenblick hatte er Wichtigeres zu tun. Er schaltete den Havariesender ein.
Patrouillen-AMU einhundertelf an Basis, sagte er. Befinde mich an Sektorengrenze eintausendneun Strich eintausendzehn, Äquatorzone, kehre um nach Havarie… Als Pirx sechs Stunden später auf der Erde landete, nahmen großangelegte Nachforschungen ihren Anfang, die einen ganzen Monat dauern sollten. Zuerst rückte man der Fernsehapparatur zu Leibe. Die neue, vervollkommnete Anlage war erst vor Jahresfrist in alle Patrouillenschiffe eingebaut worden und hatte sich glänzend bewährt. Nie hatte es auch nur den kleinsten Defekt gegeben.
Nach langen Bemühungen entdeckten die Elektroniker endlich die Ursache für die Entstehung des Lichtpünktchens. Das Vakuum in den Kathodenstrahlröhren für die Bildwiedergabe ließ nach etlichen tausend Betriebsstunden nach — und auf der Innenfläche des Schirms entstand eine Wanderladung, die sich als milchiger kleiner Fleck auf der Lumineszenzschicht abbildete. Diese Ladung bewegte sich nach ziemlich komplizierten Gesetzmäßigkeiten im Innern. Wenn das Raumschiff mit großem Schub geradeaus flog, verteilte sie sich über eine etwas größere Fläche und wurde gleichsam auf der Innenwand des Leuchtschirms plattgedrückt — dann hatte man den Eindruck, das Lichtpünktchen nähere sich der Rakete. Beim Rückstoß glitt die Ladung in die Röhre zurück, und wenn sich die Beschleunigung stabilisiert hatte und konstant blieb, kehrte die Wanderladung allmählich wieder zum Schirm zurück. Sie konnte sich dort in alle Richtungen bewegen, aber meistens konzentrierte sie sich direkt im Zentrum — wenn nämlich die Rakete auf fester Umlaufbahn und ohne Schub dahinflog. Und so weiter und so fort — die Untersuchungen zogen sich in die Länge, sechsstufige Modelle veranschaulichten die Dynamik der Ladung. Überdies zeigte sich, daß stärkere Lichtsignale im Bereich der Elektronenröhre die Ladung zerstreuten. Sie konzentrierte sich nur dann, wenn die Intensität der von der Röhre empfangenen Impulse ausnehmend schwach war — so schwach wie eben im kosmischen Vakuum, in großer Entfernung von der Sonne. Es genügte, daß ein einziger Sonnenstrahl über den Leuchtschirm leckte, und die Ladung löste sich auf und verschwand für Stunden. Ungefähr so viel stellten die Elektroniker fest — ein stattliches, mit mathematischen Formeln und Modellen gespicktes Buch war das Ergebnis. Darauf machten sich Ärzte und Psychologen, die verschiedensten Koryphäen auf dem Gebiet der Astroneurosen und Astropsychosen ans Werk. Und abermals nach vielen Wochen stellte sich heraus, daß die Wanderladung pulsierte — was man mit dem bloßen Auge als feine dunkle Streifen wahrnahm, die über die kleine Lichtscheibe rutschten. Die dichte Folge der Entladungen wiederum, die zu kurz waren, um einzeln vom Auge registriert zu werden, bildete den sogenannten Teta-Rhythmus der Hirnrinde und schaukelte die Potentialschwankungen der Rinde so lange durcheinander, bis Symptome auftraten, die einem epileptischen Anfall ähnelten. Die absolute äußere Ruhe, das Fehlen jeglicher Reize, die des Lichtes ausgenommen, und das anhaltende, unbewegliche Starren auf den flackernden Lichtpunkt waren die Begleiterscheinungen, die einem derartigen Ausbruch besonders förderlich waren.
Die Fachleute, die das alles entdeckten, wurden natürlich berühmt. Die Elektroniker der ganzen Welt kennen heute den Ledieux-Harper-Effekt, der auf der Entstehung von Wanderladungen im hohen Kathodenstrahlvakuum beruht, und die Astrobiologen das komplexe ataktisch-katatonisch-klonische Nuggelheimer-Syndrom. Die Person des Piloten Pirx wurde von der Wissenschaft totgeschwiegen, und nur sehr aufmerksame Zeitungsleser konnten aus den kleingedruckten Meldungen mancher Abendblätter erfahren, daß es ihm zu verdanken war, wenn keinem Piloten mehr das Geschick von Wilmer und Thomas drohte, die die Schubkraft ihrer Raumschiffe bis an die maximale Grenze gesteigert und während ihrer Jagd nach dem „Irrlicht“ das Bewußtsein verloren und in den Abgründen des Kosmos den Tod gefunden hatten. So also blieb Pirx der Ruhm versagt, aber das kümmerte ihn wenig. Selbst den künstlichen Zahn, den er sich für den alten, mit dem Knie ausgeschlagenen einsetzen ließ, bezahlte er aus der eigenen Tasche.