Geweckte Vergangenheit


Das Relief aus grauem Sand, das die Stereoschirme in verstärkter Räumlichkeit wiedergaben, war von beklemmender Leblosigkeit – ein Bild, das nur der Wissenschaft zugänglich war. Ein paar grüne Büschel Unkraut – mit zerfiederten Blättern und verkrüppelten Blüten – bildeten den einzigen Kontrast. Nur über die Teleobjektive der Satelliten konnte man gelegentlich ein dahinstelzendes Insekt beobachten - eine flügellose Libelle oder einen gelbweißen Käfer, Geschöpfe der Radioaktivität, die noch immer nicht völlig erloschen war.

Über die rieselnden Massen bewegten sich die automatischen Raupenschlepper, von den Bildschirmen aus ferngesteuert. Geosonare schickten ihre Impulse in die Tiefe und registrierten die Echos der Schichtgrenzen, Exkavatoren tauchten in den Boden und hinterließen Maulwurfshügel. In der Mitte stand die zentrale Kamera mit dem Fischauge, deren Kugelbild die Entzerrer die Ausschnitte für die Bildwände entnahmen.

Die Archäologen des Instituts für Vorgeschichte waren im Delta-K-Distrikt angelangt. Mit ihren Stichproben hatten sie ein Zufallsmuster von Flecken aufgewühlter Erde über den Alten Kontinent gelegt. Manche dieser Areale erinnerten an die Phantasien von Traumspielen. In der leeren Landschaft lagen seltsame Metallgebilde, manche oxidiert und korrodiert, andere blank, aber verborgen und zerbrochen, da und dort hatte man versucht, Teile einer Ruine wieder aufzubauen, und nun standen Fragmente von Mauern mit leeren Fenstern unvermittelt in der Gegend, hier ein Brückenbogen, dort ein Gerüst, erneut dem Verfall preisgegeben. Niemand hatte es als nötig erachtet, den Boden zu glätten. Kein Mensch würde ja diese Gegend betreten.

Plötzlich ertönte das Alarmsignal.

K.B.S. Por, der diensttuende Archäologe, hatte gerade Zeit, sich zu informieren, als J.L.G. Mat, Leiter der Ausgrabungen, in der Steuerzentrale ankam.

»Wir haben etwas gefunden. Etwas Ungewöhnliches. Das Geosonar zeigt starke Echos an kubisch gewölbten Flächen, die Exkavatoren stoßen auf Widerstand. Wir werden sprengen müssen.«

J.L.G. Mat ließ die Daten der Bodenanalysen einspielen und stimmte zu. Sie warteten, bis die Schichtenprofile der vorübergehend stillgelegten Geosonare wieder auf dem Leuchtschirm erschienen, und konnten den vorsichtig eindringenden Exkavator als verschwommenen Schatten erkennen. Inzwischen differenzierte sich das Bild der schallspiegelnden Flächen: Mehrere Metallkuppeln, hintereinander aufgereiht, in Sockeln von Zement verankert, standen im Sand vergraben, vom Sand bedeckt.

Der Analyseautomat gab das erste Ergebnis aus dem Innern der metallenen Objekte bekannt: Polymerisate von Kohlenwasserstoffen. K.B.S. Por ließ ein Geosonar auf dem vom Exkavator gelockerten Weg ins Innere der Kuppel einfahren. Zuerst zeigte sich keine reflektierende Fläche außer jener des geschlossenen Metallbehälters. Erst die Auswertung der Feinstruktur ergab einen Flecken, der sich über den Boden erhob.

Der Exkavator bahnte sich seinen Weg, wobei er in den weichen Massen ins Torkeln geriet. Mit der langsamsten Geschwindigkeitsstufe näherte er sich dem Gegenstand und blieb knapp davor stehen. Die Materialanalysatoren fixierten einen Punkt der Oberfläche und sandten ihre Strahlung aus. Dann meldeten sie das Ergebnis:

52% Kohlenstoff

6,8% Wasserstoff

22% Sauerstoff

17,4% Stickstoff

1,9% Schwefel

»Organisches Material«, flüsterte K.B.S. Por. »Sollten wir diesmal Glück haben?«

»Wir werden sehen«, meinte J.L.G. Mat. »Vorsichtig bergen!«

Die blanken Schädel der Versammelten erinnerten an weißgestrichene Bojen, die im Wasser auf- und niedertauchen. Die Augen unter den Haftgläsern blickten dunkel und riesengroß. Noch immer rollten Stühle herbei.

J.L.G. Mat hielt sein Referat: »Die Kulturschicht liegt in 65 m Tiefe, unterhalb der radioaktiven Lagen – sie gehört also zweifellos dem archaischen Zeitalter an. Unsere sagenhaften Vorfahren hatten aus unerklärlichen Gründen einen Kessel mit hochgliedrigen Kohlenwasserstoffen gefüllt. Wie der Mensch in diese wachsartigen Substanzen geraten ist, weiß ich nicht. Für uns ist nur wichtig, daß es geschehen ist – denn diese Stoffe haben den Organismus tadellos konserviert.«

»Und das Gehirn?«

Die Frage kam von irgendwo aus dem Hintergrund, aber jeder hätte sie stellen können.

J.L.G. Mat ließ sich nicht stören.

»Der Behälter war vom Gewicht der darauflastenden Ablagerungen plattgedrückt, doch das Metall blieb unbeschädigt erhalten. Es hat die radioaktive Strahlung abgeschirmt. Alle Zellen sind intakt – auch die des Gehirns.«

Das war es also. Das war die große Chance für das Institut. Jahrelang hatten sie gesucht – und jetzt hatten sie Erfolg gehabt.

»Ja«, fuhr J.L.G. Mat fort, »jetzt könnte der Zeitpunkt gekommen sein, den wir so lange erwartet haben. Vielleicht erhalten wir Auskunft über die vielen Fragen zu dieser Zeit – über das unverständliche Verhalten dieser frühen Menschen. Was mögen sie gedacht, wie gefühlt haben? Was waren die Ursachen für die Katastrophe, die die steinernen Siedlungen dieser Zeit so umfassend zerstört hat? Wie konnte es zu Neutronenschauern einer Dichte kommen, die die Materie aus den Atomkernen heraus aushöhlte wie einen Schwamm? Vielleicht sind wir jetzt der Antwort näher als je zuvor!«

C.C.G. Ceb, engster Mitarbeiter von J.L.G. Mat, schob den Stuhl ein wenig näher.

»Werden wir es versuchen?«

»Ja«, antwortete J.L.G. Mat.

Den Neurologen überschlich ein Gefühl des Mißbehagens, sooft er diesen ungeschlachten Organismus anblickte. Ekelerregend – dieses fliehende Kinn, diese niedrige Stirn, dieses Fell auf dem Schädeldach – sogar das Gesicht war mit kurzen Stoppeln überzogen. Der Mund stand offen, zwischen den bleichen Lippen konnte man grauweiße Zähne sehen. Der Rumpf dick und breit, die Knochen schwer, Muskelpakete standen von Armen und Beinen ab; damit hatten sich diese Wesen stundenlang ohne Rollstuhl bewegt!

Der Körper lag bereits in der Aktivierungskammer. An der Nasenwurzel und an drei enthaarten Stellen an den Schläfen und am Hinterkopf saßen linsenförmige Elektroden, facettenartig gefächert wie Insektenaugen. Von jeder Zelle lief ein haarfeiner Silberfaden zu den dicken Kabeln, Gefäßen für Gedanken, Regungen, Emotionen, die im EEG verschlüsselt sind. Wellenmuster, die sich in ein Raumbild rückverwandeln. Analoge Anpassung frequenzmodulierter Zeichenreihen an die individuelle Charakteristik der Testperson.

J.L.G. Mat saß unter der Resensibilisierungshaube, die Fokussierungsspulen blinkten auf seinem Kopf wie eine Krone. Er versuchte sich zu konzentrieren. Gleich werden die im Gehirn gespeicherten Engramme eines toten Wesens lebendig, eine Flut von fremdem Wissensgut strömt in ein leergefegtes Gehirn. Deutliches und Verschwommenes, Wichtiges und Nebensächliches stapelt sich in den aufnahmebereiten Zellen – es kommt darauf an, das historisch Aufschlußreiche herauszulesen, Relevantes aus emotionell gefärbten Eindrücken, Invarianten im Bezugssystem des Persönlichen, ein Mosaik zu bilden, in dem sich die wahre Vergangenheit spiegelt.

Durch einen Gedankenimpuls ließ J.L.G. Mat die gepolsterte Rückenlehne seines Stuhls zurückgleiten. So war er nicht gezwungen, unentwegt in die blinden Augen der Mumie zu blicken. Nicht, daß es ihm Angst machte, doch er hatte sich sorgfältig auf die Übertragung vorbereitet und fürchtete um seine Konzentration.

Würde die Dekodierung gelingen? Die Genetiker benutzten Kontaktierungsversuche als Kriterien für Artverwandtschaft zwischen Tieren. Aber dieses Wesen war ein Mensch, die Röntgen- und Weichstrahluntersuchung hatte es unbezweifelbar erwiesen. Ein Mensch von seltsam verschachteltem Körperbau – mit unbekannten Drüsen an allen möglichen Stellen, komplizierten Nervennetzen in der Nasenschleimhaut und an der Zunge, einen meterlangen Schlauch Gedärm, überdimensionale Sexualwerkzeuge. Seine Arme standen steif abgewinkelt ab, auf den Kuppen seiner Finger saßen Hornplatten. Vielleicht eine Mißgeburt? Offenbar nicht. Sie hatten schon einzelne Gliedmaßen gefunden, Teile zerrissener Körper, verkohlte Skelette, Fetzen von lederartiger Haut. So weit war noch niemand zurück in die Vergangenheit gedrungen, zurück in die Evolutionsgeschichte des Homo sapiens. Doch J.L.G. Mat hatte keine Bedenken. Er besaß eine besonders robuste psychische Konstitution; bei einer Clique von Ästheten stand er sogar im Ruf mangelnder Feinfühligkeit, aber darauf war er stolz.

»Ich bin bereit«, sagte er.

Der Neurologe schaltete die Sensibilatoren ein und beobachtete den Kontrollzeiger des Verstärkers.

Die Wut loderte wie ein Feuer. Dazwischen Stichflammen aus Eifersucht und Haß. Schemen im roten Chaos: Haroun, sein schwarzer Haarschopf, der selbstsichere Blick, die langgliedrigen Hände, und Simone, immer wieder Simone. Simone am Fenster ihrer Kammer, auf ihren nackten Brüsten die roten und blauen Reflexe der Lichtreklame, die tat, als bemerkte sie nicht, daß er unten stand und hinaufstarrte; Simone unten am Strand, als sie sich aus den Kleidern wand und bockte wie ein wildes Pferd, als er sein Gesicht zwischen ihren Schenkeln vergrub; Simone mit ihrem bis zu den Hüften hochgeschobenen Rock, als er die Tür zur Telefonzelle aufriß, in der sie mit Haroun stand …

Serge zitterte. Er riß sich zusammen. Dunkel … irgendwo oben Schritte – sie dröhnten in die Nacht hinein, das Echo lief mit dumpfem Singen im Kreise um den Tank. Das kalte Metall an seinem Rücken vibrierte leise … Dieser verfluchte Mond mit seiner Theaterbeleuchtung. Die Tanks glänzten wie Heiligtümer. Unten versickerte das Licht im Röhrengeflecht der Raffinerie. Nur jetzt kein Alarm! wünschte er. Man wußte nie, wann die Raketen kamen! Eine Schweinerei, der Krieg. Ein paar Regierungsbeamte hatten sich in die Bunker zurückgezogen und gaben von dort ihre Anweisungen. Für die anderen gab es nur Zelte – ständig feuchtgehalten mit Absorberlösung, zum Schutz gegen radioaktive Luft. Bisher hatte noch niemand bestätigen können, daß die Abdichtung etwas half … Aber jetzt war das gleichgültig. Zehn Minuten kein Alarm – das war alles, was er sich wünschte! Ein metallener Schlag. Oben ging eine Tür. Er schlüpfte aus den Stiefeln, schlich die Treppe hinauf … eiskalt, das Eisenblech der Stufen! … jetzt hatte er die Plattform erreicht … Eine Sirene? Alarm? Nein, nur eine Polizeistreife, dort drüben auf der Autobahn. Polizei! Immer hatte er Angst gehabt vor dem herrischen Auftreten der Uniformierten, der Drohung von Gewalt, die von ihnen ausging, auch wenn sie sich höflich gaben, der Rücksichtslosigkeit, mit der sie jeden Verstoß gegen eine der Tausende Vorschriften ahndeten … Jetzt hatte er keine Angst mehr. Wenn sie auf ihn zutreten würden, in seinem Quartier, am Arbeitsplatz oder auch irgendwo in den Straßen, dann war alles entschieden. Er befahl sich Konzentration. Ein paar Sekunden noch, ein paar armselige Atemzüge voll ölgeschwängerter Luft. Haroun war nahe … er fühlte es. Aber immer wieder schob sich Simones Bild vor ihn, er hörte ihre geflüsterten Worte, fühlte ihre nachgiebigen Lippen, er sah wieder die ungeduldige Geste, mit der sie das Kleid beiseite warf, spürte ihr Zittern, ihren keuchenden Atem, ihr Zusammensinken … Vorbei! Jetzt kam sie ihm schamlos vor, abscheulich – eine männertolle Frau! Aber ihn machte keine zum Narren, er verschwand nicht sang- und klanglos wie die anderen. Ihr wird es eine Lehre sein, wenn sie Haroun morgen aus dem Öl herausholen! Zum ersten Mal würde ihr überlegenes Lächeln einfrieren, ihre Augen … ihre Lippen … Ich denke nicht mehr an sie, befahl er. Ich darf jetzt nicht an sie denken. Ich darf nicht …

Ein vages Schleifen. Er zuckte zusammen, fühlte nach seinem Springmesser. Hart lag es in seiner Hand, fest und verläßlich wie ein Freund. Er ließ es schnappen. Es klang laut wie ein Schuß. War Haroun gewarnt? … Er lief die Plattform entlang, ein Blick hinab: Tief unten erstreckte sich die Zementbahn, jetzt silberübergossen, ein Teppich, zerrissen von den Schatten der massigen Ungeheuer, der Treibstoffbehälter – alles leer, keine Menschenseele.

Da war die Tür … gerade der richtige Augenblick … Haroun hatte seine Pegelkontrolle beendet und trat von innen an die Tür heran. Brust an Brust standen sie, sekundenlang …

»Was willst du?« fragte Haroun. »Was hast du hier zu suchen?« Serge erwachte aus seiner Erstarrung. Er hob das Messer und stach zu.

»Das will ich«, und noch einmal ließ er das Messer niedersausen. »Und das …«

Haroun spürte etwas Hartes am Schlüsselbein und dann zwischen den Rippen, und er begriff. Er wich in den dunklen Innenraum zurück, und als ihm der andere folgte, packte er dessen Arm, bog ihn zurück, mit der Linken hieb er los, immer mitten ins Gesicht. Serge taumelte, dann drehte er sich herum, sein rechter Arm kam frei, er holte aus … Haroun sah die Gefahr. Verzweifelt wich er zurück, bis ihn die Wand aufhielt, und als der andere vor ihm war, hob er den Fuß und legte alle Kraft in einen rücksichtslosen Tritt. Das Messer polterte zu Boden, Serge taumelte, stieß ans Geländer … er überschlug sich hintüber wie bei einem artistischen Sprung und fiel, sich immer noch drehend, in den reglosen Spiegel des Öls. Das letzte, was er hörte, ehe er klatschend aufschlug, war das Aufheulen der Sirenen …

J.L.G. Mat saß in seinem Stuhl, die langen weißen Finger lagen kraftlos an der Lehne. Der Nervenschock war überstanden, die Krisis vorbei, aber noch immer fühlte er sich wie gerädert. Jetzt, da sein Gehirn wieder zu arbeiten begann und sich der wirre Tanz der Schreckvisionen allmählich legte, kamen die Erinnerungen um so deutlicher und unerbittlicher. Er konnte sich nicht dagegen wehren, immer mußte er an das Fürchterliche denken, immer wieder fuhren Gedankenfetzen durch seinen Kopf, die unheimlich beängstigend und fremdartig waren.

Und vor allem: Er verstand sie nicht! Er begriff nichts, sah keinen Zusammenhang, fand keine Erklärung. Was waren Sirenen? Raketen? Was war Haß? Rache? In welchen seltsamen Beziehungen standen die Menschen, warum handelten sie so – da es sie doch zu gleicher Zeit quälte?!

Die Tür öffnete sich, und C.C.G. Ceb rollte herein, den schmächtigen Körper tief in den Kissen vergraben.

»Geht es Ihnen noch immer nicht besser? Wann werden Sie mit der Auswertung beginnen?«

J.L.G. Mat schien nicht gehört zu haben. Geistesabwesend starrte er vor sich hin. Plötzlich drehte er sich um und sah C.C.G. Ceb an, seine Augen wanderten über das Gesicht, den Hals, die Schultern, über den Leib, die Beine, bis zu den Fußspitzen. »Kollege«, sagte er – es war mehr ein Flüstern als ein Sprechen, »Kollege – erwähnten Sie nicht einmal, daß Sie eine Frau sind?«

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