Expedition


»Es ist nicht unsere Aufgabe, über Recht oder Unrecht zu entscheiden«, sagte Vertain, der Vorsitzende der Kommission. »Wir wollen wissen, wie es zur Katastrophe kam. Sachlich, präzise, genau. Ohne Emotionen. Das ist alles.«


Sie tagten im kleinen Konferenzsaal des Instituts, die Sachverständigen der Kontrollbehörde und die Teilnehmer der Expedition – soweit sie zurückgekehrt waren. Die einzige Bewegung war auf dem großen Projektionsschirm bemerkbar: Man sah ein Mädchen, fünf oder sechs Jahre alt, inmitten von Spielzeug, doch das Kind hatte nur Sinn für Süßigkeiten, die man ihm hingestellt hatte. Es versteckte die in buntes Papier gewickelten Schokoladenplätzchen und Bonbons hinter Wolltieren und Kissen, holte sie wieder hervor, blickte sich um, horchte, versteckte sie an einer anderen Stelle …

Vertain wandte sich an den großgewachsenen Mann, der rechts in der Reihe der Expeditionsteilnehmer saß. »Am besten, Sie fangen an, Gowin.«

»In Ordnung.«

Gowin löste seinen Blick von dem spielenden Kind. Etwas unsicher begann er: »Die Vorgeschichte ist bekannt. Das Institut für Umweltforschung brauchte neue Daten. In letzter Zeit hatte sich die Zusammensetzung der Außenluft geändert – der Kohlendioxid- und Stickstoffanteil wurde größer. Auch der Gehalt an Keimen war gestiegen. Wir sollten die Ursache feststellen. Von der Regierung bekamen wir eine Sondererlaubnis zum Betreten des festen Landes.«

Er stockte.

Der Vorsitzende half ihm weiter: »Sie waren gut ausgerüstet?«

»Ja, gewiß. Wir hatten alles. Nahrungsmittel, Wasser, Atemfilter, Medikamente …«

»Aber keine Waffen …« warf Petrowski, der Cheftechniker des Instituts, ein.

»Nicht gerade Waffen, wozu auch …? Wir hatten damals keine Ahnung. Wer hätte wissen können, daß draußen …« Unwillkürlich blickte Gowin zum Fenster, durch das gedämpftes, gelbgrünes Licht in den Saal fiel. »Wir hielten die Welt draußen für tot. Seit Jahren hatten keine Menschen mehr die Städte unter dem Meer verlassen.«

»Eben«, sagte Petrowski.

Vertain winkte ab. »Weiter!« forderte er.

»Wir fuhren mit drei Spezialfahrzeugen, jedes ein eigenes Versorgungssystem, unten ein Aufenthaltsraum, oben die Steuerkabine, mit Quarzglas überdeckt. Bleihaltig, als Strahlenschutz. Luftdicht abgeschlossen – wegen der Keime. Kettenpanzer – einer für je zwei Mann. Eine Schleusenfähre hatte uns abgesetzt.«

»Wie sah es aus – draußen?« fragte Ruarka, der Biologe.

»Zuerst fanden wir alles so vor, wie man es uns beschrieben hatte – die Ruinen der Suburbs, die Berge aus Trümmern und Müll, den Staub, den Nebel. Die Sonne war nur als milchige Scheibe zu erkennen.«

»Tiere? Pflanzen?«

»Keine Tiere, zunächst«, antwortete Gowin. »Später scheuchten wir Ratten auf. Fleischige Exemplare, viel größer, als sie in den historischen Werken beschrieben waren. Es mögen tausend gewesen sein – auf einem freien Platz zwischen den Resten einer Mauer. Murray und ich stiegen aus, um welche einzufangen. Natürlich in Schutzanzügen. Wir nahmen Netze mit, machten uns auf eine Jagd gefaßt. Aber sie liefen nicht davon: kamen auf uns zu. Nein, sie griffen nicht an. Schnupperten an unseren Stiefeln, stellten sich auf die Hinterbeine. Wir konnten sie mit den Händen greifen.«

»Inzwischen wurden sie untersucht«, warf Ruarka ein. »Weiße Ratten, Albinos. Gut genährt, geradezu gemästet.«

»Es hätte uns zu denken geben sollen«, sagte Gowin, »aber wir mußten weiter, wir wollten einige Kilometer ins Land hinein, der Weg war beschwerlich … Oft mußten wir gegen zähflüssige Massen ankämpfen, verfaulter Unrat, der da und dort in Bewegung geraten war, einmal versank Anthonys Fahrzeug bis zur Hälfte in den Massen, und wir hatten Mühe, ihn mit Stahlseilen herauszuziehen.

Später erhielten wir einen ersten Hinweis auf die Veränderung der Luftzusammensetzung. Wir kamen an ein Flußbett, das Wasser war aufgestaut – eine eingestürzte Brücke, angeschwemmte Abfälle –, die Feuchtigkeit sickerte in die Umgebung, bildete Pfützen, kleine Seen, und an deren Ufer fanden wir einen grau-grünen Belag, Pilze oder Algen. Dort lag der Stickstoffgehalt der Luft merklich über dem Normalwert.«

»Es handelt sich um Symbiosen«, erklärte Ruarka, »Algen und Bakterien mit einem bemerkenswerten Stoffwechsel. Sie setzen Stickstoff frei, verbrauchen dabei …«

Vertain unterbrach ihn. »Vielleicht genügt ein Hinweis auf das Untersuchungsprotokoll; es ist unter UP7/aktuell bei der Datenbank erhältlich.«

»Hinzuzufügen wäre noch«, sagte Ruarka, »das das Auftreten dieser Organismen den Stickstoffanstieg keineswegs erklärt.«

Es entstand eine kleine Pause. Vertain blätterte in einem Bündel Photokopien.

»Vielleicht hätte man im Inneren des Landes weitere Anhaltspunkte gefunden.«

»Wir kamen nicht dazu«, berichtete Gowin. »Die Schwierigkeiten begannen sich zu häufen. Knapp vor uns stürzte ein Gebäude zusammen; fast hätten uns die Trümmer begraben. Dann fuhr Larry mit seinem Panzer durch eine Art Wanne, in der sich Lachen einer trüben Flüssigkeit befanden. Wir hatten sie für Wasser gehalten, aber es war Schwefelsäure. Die Gelenke der Laufketten wurden angeätzt, das Fahrzeug wurde bewegungsunfähig – wir mußten es zurücklassen. Von nun an fuhren wir mit zwei Panzern, teilten uns den Aufenthaltsraum zu dritt. Etwas unbequem, aber kein Grund zur Umkehr.

In der kommenden Nacht passierte die Sache mit dem Kobaltbehälter. Wir hatten die Geigerzähler stets in Betrieb und kamen nur gelegentlich in heiße Zonen. Besonders gut suchten wir natürlich die Plätze ab, an denen wir übernachteten. Das hatten wir auch diesmal getan. Alles war in Ordnung. Als wir erwachten, tickten die Geigerzähler wie verrückt. Zuerst entfernten wir uns aus dem Bereich der Strahlung, dann erst schauten wir nach, was geschehen war. Unter Eds Fahrzeug hatte ein Bleibehälter mit Kobalt gelegen – offen. Das Feld der Gammastrahlung hatte unsere Schlafstellen erreicht.«

»Hatten Sie damals noch keinen Verdacht?« fragte Petrowski. Über die Gesichter der Teilnehmer fiel ein Schatten – dunkle Schwaden zogen draußen am Fenster vorbei. Vertain schaltete die Leuchtscheibe ein.

»Nicht unbedingt«, antwortete Gowin. »Wir befanden uns in einer Mulde – der Behälter hätte von selbst herabgerollt sein können. Wir wußten ja, wie leichtsinnig die Einwohner der Städte seinerzeit mit dem radioaktiven Abbrand umgingen.«

Ruarka hob die Hand: »Hatten Sie die Sicherheitsvorschriften nicht vielleicht doch zu leicht genommen?«

»Wir waren bestimmt außergewöhnlich vorsichtig«, beteuerte Gowon. »Wir fühlten uns nicht mehr so sicher wie zu Beginn. Aber gerade deshalb wußten wir nicht, ob wir uns vielleicht nur etwas einbildeten … es gab Anzeichen …«

»Was für Anzeichen?«

»Herabfallende Trümmer, eine frisch eingestürzte Brücke, ein paar verwischte Spuren …, aber sie hätten auch natürlichen Ursprungs sein können.«

»Wie fühlten Sie sich nach der Einwirkung der Strahlung?« fragte Griscoll, der Arzt.

»Leichte Übelkeit, sie gab sich wieder, nur Larry erholte sich nicht davon. Er hatte sich am dichtesten am Behälter befunden.«

»… und bekam die höchste Dosis«, fügte Griscoll hinzu.

»Dann passierte das Unglück mit Ed. Wir waren an Berge von aufgeschüttetem Material gekommen – es brannte. Schon von weitem hatten wir den Gestank bemerkt, durch die Filter hindurch, schwarze Wolken stiegen auf, es war kein offenes Feuer, eher ein Glimmen und Glosen. Der Wind trieb uns Asche entgegen, wir spürten die heiße Luft. In der Nähe fanden wir seltsame fleischige Pflanzen, breite grüne Blätter mit einem Anflug von Rosa, in Pfützen treibend. Ed stieg aus, er wollte einige Exemplare mitnehmen – da schäumte das Wasser auf, ein langes, gestrecktes, weißgraues Tier hielt seinen Unterschenkel zwischen breiten Kiefern, er stürzte … Von allen Seiten kamen andere heran …, wir konnten ihm nicht helfen.«

Der Biologe räusperte sich. »Gowin hat uns Photos übergeben. Es ist eine Abart des Brillenkaimans, aber größer und pigmentlos.«

»Weiter!« verlangte Vertain. »Bitte weiter.«

»Nun waren wir zu fünft. Natürlich kehrten wir um. Wollten so rasch als möglich zurückkommen. Als wir einen Haufen Stangen zu beseitigen versuchten, die uns den Weg versperrten, hörte Anthony das Weinen. Es kam aus einem Keller. Anthony und ich schlichen vorsichtig über einige Stufen hinab und sahen den Mann; ein schmutziges Individuum, verfilzte Haare, in Lumpen gekleidet. Er war dabei, das Mädchen zu verprügeln …«

Wie auf Befehl blickten alle auf das Kind, das noch immer auf dem Bildschirm zu sehen war. Es war auf einem Sesselchen eingeschlafen, aber es schlief unruhig, drehte sich, rückte hin und her.

»Als er uns sah, verschwand er blitzschnell in einem dunklen Loch. Wir folgten ihm nicht. Das Kind weinte. Anthony wollte es aufheben, aber es kratzte ihn, und ich mußte ihm helfen. Es schlug um sich, riß mir die Atemmaske vom Gesicht. Da merkte ich … es stank … der Schmutz … nun ja. Aber Anthony war völlig verrückt. Er nahm es mit, steckte es unter die Dusche, gab ihm zu essen. Nach einer Stunde ließ es sich streicheln, aber nur von Anthony. Wir nahmen das Kind mit – er bestand darauf. Was hätten wir sonst tun sollen? Und dann wurden die Angriffe offen, und wir sahen die Menschen – zerlumpte Gestalten, viele verkrüppelt, mit bösen Gesichtern, den Haß in den Augen.«

»Vielleicht waren sie völlig normal und wollten nur verteidigen, was ihnen gehörte.«

»Vielleicht«, sagte Gowin irritiert. Dann fuhr er fort: »Wir suchten einen Weg aus dem Ruinenfeld heraus, aber sie mußten bemerkt haben, daß wir ihnen dann endgültig entwischen würden. Es gab nur noch einen Engpaß zu überwinden, aber hier versuchten sie es noch einmal. Sie hatten eine Barrikade gebaut und bewarfen uns mit Steinen. Und dann fielen Schüsse! Nur drei oder vier, aber einer durchschlug die Kuppel und erwischte Anthony.«

Wieder schwieg er kurz. Er starrte auf das schlafende Kind, ohne es richtig zu sehen. Niemand sprach. Dann beendete Gowin seinen Bericht: »Bis dahin hatten wir uns kaum gewehrt, aber jetzt … Gewiß, wir besaßen keine Waffen, doch wir hatten die Flammenwerfer. An einigen Stellen hatten wir sie verwendet – um den Weg zu ebnen. Nun setzten wir sie wieder ein. Wir stießen die Flammen vor uns her und durchbrachen, von ihnen gedeckt, die Barrikaden. Vier Stunden später hat uns die Fähre aufgenommen. Das war alles.«

Vertain riß die Rolle mit der Mitschrift aus dem Ausgabeschlitz – glättete das Papier, faltete es zusammen. Der offizielle Teil war beendet, aber alle blieben sitzen.

»Und was unternehmen wir?« fragte Petrowski. »Draußen sind Menschen – wir wußten nichts davon. Ihre Vorfahren gehören wohl zu jenen, die die Flucht unter Wasser nicht mitmachten. Sie zogen das Leben im Smog, im Unrat, in der verseuchten Luft einer sauberen Existenz unter Wasser vor. Sie lebten weiterhin in den Städten und waren nicht imstande, den Verfall ihrer Welt aufzuhalten. Niemand konnte ahnen, daß einige von ihnen am Leben blieben.«

Vertain sprach aus, was alle dachten: »Müssen wir ihnen helfen? Es dürften nicht viele sein. Sollen wir sie in unsere sichere und hygienische Welt holen – wie das Mädchen, das dort schläft?« Mit dem Kinn deutete er auf den Bildschirm. Das Kind legte die Hand vor die Augen, als wolle es sich verbergen.

Gowin war ratlos wie die andern. Dieses Kind – würde es hier unten glücklicher sein? Wieder blickte er durchs Fenster ins Wasser hinaus. Es war trüb, aufgeschlämmte Teilchen trieben vorbei – Plankton, Bakterienklumpen. Material aus den Kläranlagen. Wo lag ihre Aufgabe? Draußen? Drinnen? Dunkel erinnerte sich Gowin an einen alten Bericht über das Meer – über azurblaues Wasser, klar wie Kristall.

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