Einfache Zauberdinge

Komm mit und hab keine Angst«, sagte ich gnädig zu Drupi, meinem Hund.


Das große, flauschig behaarte Wesen schmiegte sich an meine Beine. Es war fast so groß, dass es die feuchte Nase unter meine Achsel hätte schieben können, ohne sich auf die Hinterpfoten zu stellen. Trotzdem zitterte dieser Riese vor Angst, denn ich hatte beschlossen, ihn aus der schützenden Umgebung meiner königlichen Residenz zu reißen und erstmals mit ihm durch Echo zu spazieren. Der Anblick der nachmittäglichen Altstadt erschütterte ihn tief.

»So was bist du aus den Leeren Ländern nicht gewöhnt, was?«, fragte ich mitfühlend. »Aber das ist halb so wild. Du kannst dir nicht vorstellen, welches Glück du hast, dass ich mit dir nicht auf der Fifth Avenue durch Manhattan bummle.«

Der arme Drupi war nicht gebildet genug, um sein Glück zu fassen, und antwortete auf meine tröstenden Worte mit Gebell. Nichtsdestotrotz hatten wir den entscheidenden Schritt ins großstädtische Treiben getan.

Kaum öffnete ich die Tür meines Wagens, um den Hund hineinzulassen, wurde alles besser. Sichtlich erleichtert warf Drupi sich auf den weichen Sitz, als sei er nach langer Abwesenheit nach Hause zurückgekehrt.

-Ich verstehe dich gut«, meinte ich belustigt. »Offenbar bist auch du ein Freund des A-Mobils. Wer hätte das gedacht!«

Ich fuhr zum Haus an der Brücke, denn ich wollte meinen unglaublichen Hund unbedingt den Kollegen zeigen. Und wo sind die tagsüber meist anzutreffen? Natürlich am Arbeitsplatz!

Das Haus an der Brücke gefiel meinem hübschen Tier auf Anhieb. Offenbar teilten wir auch diese Vorliebe. Allerdings lief der Hund gleich in die Gebäudehälfte der Stadtpolizei. Ich rannte ihm nach und machte mir schon Sorgen über die möglichen Folgen dieses Ausflugs.

Zum Glück geriet Drupi an den sympathischen Hauptmann Apur Blaki, der für ein erstes Treffen mit dieser Institution sicher am besten geeignet war. Als ich meinen Hund endlich erwischte, beschnupperten die beiden einander schon.

»Hat er Sie erschreckt?«, fragte ich schuldbewusst.

»Aber, Sir Max - wie könnte mich ein so schönes Tier erschrecken? Außerdem ist er der freundlichste Hund der Welt.«

»Das sehe ich genauso. Aber wenn mich plötzlich so ein riesiges Tier anspränge, würde mir das Herz in die Hose sacken - und nicht nur das Herz! Zum Glück ist ihm General Bubuta nicht über den Weg gelaufen. Der hätte sicher furchtbar gebrüllt.«

»Stimmt«, pflichtete mir der Hauptmann bei. »Aber ich mag Hunde. Woher haben Sie ihn? So ein Tier habe ich nie gesehen.«

»Sie verbringen Ihren Urlaub offenbar nicht in den Leeren Ländern«, sagte ich lächelnd.

»Stammt der Hund also aus Ihrer Heimat?«

»Ja. Eigentlich hätte ich mindestens Hundert dieser Tiere bekommen sollen - zum Schutz. Meine Untertanen waren aber so freundlich, mir nur ein Exemplar zu schenken.«

»In Echo gibt es sicher viele Menschen, die viel Geld ausgeben würden, um so einen Hund zu besitzen.«

»Daran hab ich Dummkopf noch gar nicht gedacht. Ich könnte in meiner Freizeit einen Hundehandel betreiben! Oder sogar während der Arbeitszeit, um nicht so lange in meiner Residenz bleiben zu müssen.«

Der Hauptmann lächelte nur leicht.

»Wenn Sie möchten, bitte ich meine Untertanen, Ihnen auch so einen Hund mitzubringen«, schlug ich vor. »Sie freuen sich nämlich, wenn ich sie um etwas bitte, und bisher habe ich sie stets angefleht, auf weitere Geschenke zu verzichten. Wissen Sie eigentlich, dass diese Verrückten mir drei fast gleich aussehende Ehefrauen mitgebracht haben?«

»Lady Kekki Tuotli hat mir davon erzählt. Zusammen mit Sir Kofa hat sie die drei durch Echos Wirtshäuser geführt.«

»Ja«, sagte ich lächelnd. »Sir Kofa liebt solche Ausflüge mit Neulingen. Es ist prima, dass er sich für die Mädchen einsetzt. Ich kann mir vorstellen, was bei so einer Schulung binnen eines Jahres aus ihnen werden kann. Schön, ich freue mich, dass Drupi Ihnen gefällt, aber ich muss das nette Tierchen jetzt in unsere Gebäudehälfte entführen.«

»Natürlich«, nickte Hauptmann Blaki. »Wissen Sie, Sir Max, wenn Ihre Untertanen Ihnen noch eins von diesen Tieren mitbringen, würde ich mich gern darum kümmern.«

»Das machen sie bestimmt«, versicherte ich ihm. »Aber erinnern Sie mich bitte ab und zu daran, denn mein Gedächtnis ist etwas löchrig. Das wird mein erster richtiger Befehl an mein Volk - schließlich muss ich beizeiten dafür sorgen, dass meine Untertanen mir Respekt entgegenbringen.«

Ich griff Drupi in den flauschigen Nacken, und wir gingen würdevoll in den Trakt des Hauses an der Brücke, in dem der Kleine Geheime Suchtrupp residiert.

Meine Kollegen waren im Saal der allgemeinen Arbeit bei Kamra und Gebäck versammelt. Sogar Lukfi Penz hatte aus diesem Anlass das Große Archiv verlassen. Nur Sir Kofa Joch fehlte. Bestimmt zog er durch verschiedene Wirtshäuser und sperrte, wie es seine Pflicht war, die Ohren auf.

»Hier habt ihr euch also versteckt, um euch heimlich über Leckereien herzumachen«, rief ich in gespieltem Zorn. »Ihr dachtet wohl, hier würde ich euch nicht finden? Pustekuchen - ich habe euch sogar einen zusätzlichen Esser mitgebracht.«

»Du liebst deine Arbeit wirklich über alles«, sagte Sir Juffin erstaunt. »Soweit ich weiß, beginnt deine Schicht erst in ein paar Stunden.«

»Richtig, aber ich wollte nicht, dass alles ohne mich verputzt wird. Deshalb habe ich mich etwas beeilt.«

»Sündige Magister - wen hast du da denn mitgebracht?«, fragte Melamori und streichelte Drupi begeistert. »Wo gibt es denn so große Hunde?«

»Man sagte mir, das sei ein Welpe. Der wird noch kräftig wachsen«, antwortete ich betrübt.

»Ist der schön!«, rief Melamori sichtlich begeistert und drückte Drupi so energisch, als wollte sie etwas für ihre Muskeln tun. Die Übrigen waren deutlich weniger hingerissen: Juffin und Melifaro hatten das Naturwunder schon gesehen, Lonely-Lokley behielt sein unerschütterliches Gesicht - sein Markenzeichen immerhin - unerschütterlich bei, und Sir Lukfi Penz hatte Drupi noch immer nicht bemerkt, sondern drehte gedankenverloren ein Stück Gebäck in den Händen.

»Jetzt bist du nicht mehr die Einzige, die mit einem flauschigen Wesen durch die Welt spaziert«, sagte ich und zwinkerte Lady Melamori zu. »Wo ist dein Haustier eigentlich?«

»Es schläft in Melifaros Büro. Diese Wichtigtuer haben beschlossen, dass mein Chub nicht am Tisch sitzen darf.«

»Ihr seid wirklich keine Naturfreunde«, konstatierte ich und sah meine Kollegen vorwurfsvoll an.

»Umgekehrt, die Natur ist unsere Freundin nicht«, brummte Melifaro. »Gestern wollte die Spinne aus Arwaroch mich beißen.«

»Unsinn!«, rief Lady Melamori empört. »Erstens ist das keine Spinne, sondern ein Chub, und zweitens hat Leleo keine Zähne, sondern nur einen Schnauzbart.«

»Er hat keine Zähne? Dann wüsste ich gern, womit er mich gestern beißen wollte«, rief Melifaro trotzig.

»Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber inzwischen bin ich Zoodirektor«, seufzte Juffin. »Findet ihr das nicht entwürdigend, Herrschaften?«

»Tja«, meinte ich nachdenklich und setzte mich. »Bisher waren Sie Leiter einer Irrenanstalt - der kleinsten im Vereinigten Königreich zwar, aber dafür auch der lustigsten.«

»Nett von dir, die Dinge beim Namen zu nennen«, seufzte mein Chef. »Manche Leute beharren auf dem Namen »Kleiner Geheimer Suchtrupp« - Unsinn!«

Nach einer Stunde beschloss Sir Juffin, endlich arbeiten zu müssen, und stellte fest, meine Anwesenheit erlaube ihm nicht, sich in die richtige Stimmung zu versetzen.

»Lady, ich habe eine Aufgabe für Sie«, wandte er sich sehr förmlich an Melamori. »Es ist die schwierigste Aufgabe, die Sie je von mir bekommen haben, und ich bin mir nicht sicher, ob Sie sie bewältigen können.«

Auf Melamoris schönem Gesicht breitete sich ratloses Staunen aus. »Was ist passiert?«, flüsterte sie dramatisch.

»Der Kleine Geheime Suchtrupp kann nicht ungestört arbeiten, weil er Besuch von einem fremden König und seinem Haustier hat. Darum möchte ich Sie bitten, ihn hinauszuführen und ihn mir zwei, drei Stunden vom Hals zu halten.«

»Ich darf also mit Max spazieren gehen?«, fragte Melamori überrascht. »Einfach so? Sir Juffin, Sie sind ein Wunder!«

»Manchmal staune ich selbst über mich«, sagte mein Chef lächelnd.

»Das gelingt ihr nie und nimmer«, meldete sich Melifaro neidisch. »Solche Aufgaben sind wie geschaffen für mich. Ich würde diesen König mindestens ein halbes Jahr außer Gefecht setzen, nicht nur lächerliche zwei, drei Stunden.«

»So weit brauchen wir wirklich nicht zu gehen«, erwiderte Juffin und zog eine Grimasse. »Du bist für mich unersetzlich, Max, und ich möchte mich um nichts in der Welt von dir trennen. Uns erwartet noch ein langweiliger Besuch beim Zoll. Sir Schürf - das betrifft auch Sie.«

»Ich wollte gerade fragen, ob Sie diesen lästigen Termin ausfallen lassen«, sagte Lonely-Lokley phlegmatisch, stand auf und rückte seinen schneeweißen Lochimantel penibel zurecht. »Kann ich auf deinen Besuch im Armstrong und Ella zählen, Max, wenn ich mit allem fertig bin? Oder soll ich dich woanders treffen?«

»Wenn du ins Armstrong und Ella möchtest, stimme ich meine Pläne selbstverständlich darauf ab. Ich will auf jeden Fall eine Stunde vor Sonnenuntergang bei Techi sein.«

»Ich dagegen warte hier auf dich«, sagte Melifaro finster. »In letzter Zeit hat mein Chef einen Narren an mir gefressen, und ich fürchte, er lässt mich nicht so bald wieder aus seinen Klauen.«

»Du bist ein Hellseher, mein Lieber«, rief Juffin. »Max, bist du immer noch da? Weg mit dir, sonst verpass ich dir eine Aufgabe, unter der du wochenlang stöhnen wirst.«

»Ein nackter Hintern erschreckt keinen Igel«, entgegnete ich übermütig, wandte mich aber gehorsam zur Tür. In der einen Hand hielt ich ein Schlappohr meines Hundes, in der anderen den spitzen Ellbogen von Lady Melamori. Ich war so gut gelaunt, dass ich die ganze Welt hätte umarmen können.

»Gehört dieser Hund etwa Ihnen, Sir Max?«, fragte endlich auch Sir Lukfi Penz, beugte sich interessiert zu Drupi herunter und wischte dabei eine leere Tasse vom Tisch. Eigentlich hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben, dass unser Archivleiter mein neues Haustier bemerken würde.

»Wem sonst?«, rief ich stolz und verschwand mit Melamori im Flur.

»Wir waren schon ewig nicht mehr zusammen spazieren«, sagte ich, als ich Lady Melamori die Wagentür öffnete. »Seit wir den guten Mochi aus den Klauen eines Kannibalen befreit haben, um genau zu sein - falls man so einen Einsatz überhaupt Spaziergang nennen darf.«

»Warum sollte man das nicht dürfen? Damals sind wir auch bei Vollmond durch die Stadt spaziert, wenn ich mich recht entsinne.«

»Stimmt. Wohin gehen wir jetzt eigentlich? Immerhin steht uns die Welt offen, oder?«

»Lass uns in die ehemalige Residenz des Ordens vom Geheimen Kraut fahren, Max. Dort gibt es einen schönen Biergarten mit großer Getränkeauswahl. Heute ist es nicht besonders kalt - da können wir uns gut nach draußen setzen. Damals hat es dir dort gefallen, weißt du noch?«

»Und wie!«, rief ich begeistert.

Dann merkte ich, dass traurige Erinnerungen meine gute Laune dämpften. Dieser Besuch war sehr lange her, und seitdem hatte sich mein Verhältnis zu Lady Melamori stark verändert. Immerhin hatten wir es geschafft, Freunde zu bleiben. So ist das Leben mitunter.

»Max, so geht das nicht«, sagte Melamori erschrocken. »Es reicht, wenn ich Trübsal blase. Wer außer dir könnte mir den Stein der Schwermut vom Herzen wälzen?«

»Drupi könnte das. Er ist dafür wie geschaffen. Woher weißt du eigentlich, dass auch ich traurig bin?«

»Was deine Mimik angeht, bist du noch meilenweit von Schurfs Unerschütterlichkeit entfernt«, sagte sie lächelnd. »Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Und jetzt lass uns fahren.«

Wir erreichten die Neustadt, stellten unser A-Mobil ab und gingen in den großen Garten.

Als Melamori mich zwei Jahre zuvor dorthin geführt hatte, brannten dort viele Kerzen, was die Augen der Besucher hatte glänzen lassen. Jetzt war es hell, doch ansonsten hatte sich nichts geändert. Die Luft war nach wie vor erstaunlich kühl und klar, und Blumen und Büsche dufteten nur dezent. Ideale Voraussetzungen also, um sich wieder mit der traurigen Vergangenheit zu beschäftigen.

Wir setzten uns auf die Bank zwischen den Kachar-Sträuchern. Drupi verschwand, kehrte kurz darauf mit einem Ast zurück und legte ihn mir auf den Schoß. Die Hunde aller Welten haben die gleichen Vorstellungen davon, wie sie ihr Herrchen oder Frauchen glücklich machen können, doch ich tat, als würde ich seinen Bemühungen keine Aufmerksamkeit schenken.

»Nun sitzen wir in der Klemme«, sagte ich und lächelte traurig. »Bisher lief alles wunderbar, aber jetzt bin ich wieder der gleiche Junge wie vor zwei Jahren und sitze erneut mit dir hier. Fragt sich bloß, was du mit dem Max, der ich vor zwei Jahren gewesen bin, jetzt anfängst.«

»Nichts«, sagte Melamori achselzuckend. »In einer halben Stunde verschwinden wir wieder, und die Sache ist vorbei. So lange kann ich es mit jedem Max der Welt aushalten.«

»Ja, das ist machbar«, pflichtete ich ihr bei. »Eine halbe Stunde dürften wir es miteinander aushalten.«

»Bestell mir bitte etwas Stärkeres. Ich schlage vor, wir treffen uns künftig alle zwei Jahre hier, und ich betrinke mich bis zum Filmriss. Das dürfte eine interessante Tradition werden, auf die du eines Tages stolz sein kannst.«

»Warum nicht? Man kann auf alles Mögliche stolz sein«, pflichtete ich ihr etwas zerstreut bei.

Drupi hatte offenbar beschlossen, mehr Aufmerksamkeit einzufordern, legte mir zu diesem Zweck die Vorderpfoten auf die Schultern und schleckte mir das Gesicht ab. Dabei verlor ich das Gleichgewicht und fiel ins Gras, wo ich wie ein Käfer auf dem Rücken liegen blieb und ratlos mit den Beinen strampelte, während Drupi mich fast erdrückte. Dann aber ließ er erschrocken von mir ab, sprang auf und legte sich brav neben mir auf den Boden. Offenbar gehörte das Erdrücken des Herrchens auch in den Leeren Ländern nicht zu den Aktivitäten, die Hunden Streicheleinheiten eintrugen.

Melamori lachte laut. »Max, du schaffst es wirklich immer wieder, mich aufzuheitern. Dafür spendiere dir was zu trinken. So ein Genuss ist schließlich einiges wert.«

»Ich nehme dich beim Wort«, sagte ich und versuchte erfolglos, auf die Beine zu kommen. »Aber bitte hilf mir, denn so werde ich zum Gespött aller Anwesenden.«

Melamori streckte mir die Hand entgegen und zog mich hoch. Die kleine Lady hatte wirklich erstaunliche Kräfte.

Sie hielt Wort und bestellte mir ein exotisches Getränk. Ich hatte nie einen Menschen getroffen, dessen Geschmack sich so von meinem unterschied. Während ich mein Glas austrank, musste ich mich ungeheuer bemühen, auch nur einen Hauch von Genuss auf mein Gesicht zu zaubern. In Gesellschaft einer so wunderbaren Lady kann man unmöglich nach jedem Schluck eine Grimasse ziehen - jedenfalls nicht, wenn sie einem das Getränk ausgegeben hat.

Ich fühlte mich langsam besser. Mit jedem Schluck verringerte sich das lähmende Gefühl, der alte Max zu sein.

Ich war wieder der heutige Max: stolzer Träger des Todesmantels, ausgebuffter Zauberer des Kleinen Geheimen Suchtrupps und erfahrener Reisender in andere Welten. Der verrückte, unglücklich verliebte Max, der ich vor zwei Jahren gewesen war, verschwand, und das war gut.

Ich freute mich so über das Verschwinden des alten Max, dass Drupi sehr viele Streicheleinheiten bekam. Zufrieden schüttelte er den Kopf und schlackerte mit den großen Ohren. Offenbar wusste er nicht, dass man bei solchen Anlässen auch mit dem Schwanz wedeln konnte.

»Mir geht es wieder gut«, sagte ich lächelnd zu Melamori. »Das war ein kurzer Rückfall, aber er ist schon überstanden. Stehen mir diese unfassbar glücklich glänzenden Augen? Welche Farbe haben sie eigentlich? Blau vielleicht?«

Melamori nahm meine Frage ernst und sah mir einige Zeit tief in die Augen.

»Jetzt sind sie gelb wie die von Kurusch - nur etwas dunkler.«

»Das ist mir neu. Du übrigens hast als Erste bemerkt, dass meine Augen ständig die Farbe wechseln. Und du hast sie als Erste in Bann geschlagen.«

»Daran erinnere ich mich gut. Ich habe viele Vermutungen, wer du eigentlich bist. Ich schäme mich fast, es zu sagen, aber ich habe sogar mal gedacht, in dir habe sich ein altes Versprechen von Lojso Pondochwa erfüllt, wonach er aus der Hölle auferstehen und wieder unter den Lebenden wandeln werde. Damit ist nicht zu spaßen, denn ich bin mit vielen Geschichten über die Auferstehung alter Magister aufgewachsen. In der Bibliothek meiner Eltern gab es jede Menge Bücher zu diesem Thema. Eigentlich hättest du mir gleich sagen sollen, dass du aus einer anderen Welt gekommen bist. Dann wäre die Sache klar gewesen.«

»Wohl kaum«, entgegnete ich leichthin. »Dass ich aus einer anderen Welt gekommen bin, sagst du jetzt. Früher warst du nicht so tapfer - damals, als Juffin mir noch nicht erlaubt hatte, die ganze Wahrheit zu sagen, und ich mich immer wieder fragte, warum er so ein Geheimnis daraus machte.«

»Das sollte eine Art Prüfung sein«, seufzte Melamori. »Nicht für dich natürlich, sondern für uns. Wir Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps sollten dieses Rätsel selber lösen. Ich habe dafür offenbar am längsten gebraucht und weiß auch, warum: Persönliche Interessen schaden in solchen Dingen immer. Kofa und Schürf haben dich rasch durchschaut, während Lukfi Penz noch immer völlig ahnungslos ist, doch alles andere wäre auch erstaunlich.«

»Du warst immerhin schneller als Melifaro - als ob das kein Erfolg wäre!«

»Du machst wohl Witze?«, fragte sie erstaunt. »Melifaro wusste seit eurem ersten Treffen Bescheid. Er musste dich nur einmal ansehen, um zu durchschauen, was es mit dir auf sich hat. Das ist typisch für ihn, doch er zeigt sein Wissen nur ungern. Das hätte dir wirklich auffallen können.«

»Offenbar gehören wir zwei zu den langsamen Rätsellösern. Der Titel des dümmsten Mitarbeiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps gebührt allerdings mir, denn ich dachte die ganze Zeit, Melifaro glaube als Einziger an die Legende von den Leeren Ländern.«

»Vielleicht stimmt das sogar, denn er macht sich so oft über dich lustig, dass er manchmal nicht weiß, welche die echte Version deiner Biografie ist.«

Ich wedelte mit der Linken, in deren Handfläche mein so genannter Wirklicher Name in unsichtbaren Buchstaben stand, vor Melamoris Nase herum. »Statt dieses Unsinns hier sollte ich besser den Hinweis mit mir herumtragen, die Menschen seien nicht unbedingt die, als die sie erscheinen. Und ich sollte mir diesen Hinweis jeden Morgen einprägen. Eines schönen Tages kann ich die Weisheit dieses Satzes dann vielleicht im Alltag anwenden. Das wird mich überwältigen.«

»Was redest du da bloß? Wäre es wirklich so einfach, dich zu überwältigen, würden wir in einer glücklichen Welt leben«, sagte Melamori seufzend. »Außerdem berge ich für dich keine Überraschungen. Ich bin so, wie ich erscheine. Vielleicht ein bisschen dümmer und ängstlicher.«

»Woher kommt diese Selbstkritik, Lady?«

»Ich weiß es nicht. In letzter Zeit habe ich ein recht gespaltenes Verhältnis zu mir. Ich habe nicht mal die Kraft, an die Konsequenzen meiner Dummheit oder Schwäche zu denken.«

»Bereust du etwa, nicht mit Alotho nach Arwaroch gegangen zu sein?«, fragte ich, denn mir war klar, woher der Wind wehte. »Tröste dich: Bald kannst du das wiedergutmachen, denn nächstes Jahr kommt Alotho frei.«

»Sogar früher«, entgegnete Melamori finster. »Ich konnte Kamschi nämlich einreden, Alothos in zwei Reihen auf ihren Herrn wartende Untertanen würden das Stadtbild wunderbar beleben. Dieses Argument allein wäre zwar zu schwach gewesen, doch zum Glück weiß ich, dass der verbissene Karrierist Kamschi einen kleinen Verstoß gegen die Dienstordnung auf dem Kerbholz hat. Ja, Max, ich habe sogar einen städtischen Beamten erpresst, und ich bin froh darüber. Ich bin eine recht geschickte Intrigantin. Meine Familie aus dem Orden des Siebenzackigen Blattes kann stolz auf mich sein. Natürlich habe ich auch Alotho diese Nachricht zukommen lassen, und sie hat ihn sehr glücklich gemacht. Ohne mich würde es diesem schönen Mann nicht gerade gut gehen, und vom Grässlichen Mudlach träumt er jede Nacht. Ein Schiff mit seinen Soldaten ist bereits hierher unterwegs. Zu Frühlingsanfang, also in einem Monat, wird es Echo voraussichtlich erreichen. Was kann diesen groß gewachsenen Seeleuten schon geschehen?«, sagte Melamori mit so maliziösem wie angespanntem Lächeln.

Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. »Jetzt verstehe ich gar nicht mehr, warum du jeden Tag so finster dreinschaust.«

Die ganze Zeit war ich fest davon überzeugt gewesen, die Trennung von Alotho habe Melamori in ihre Schwermut gestürzt. Nun aber zeigte sich, dass sie schon lange von dem bald bevorstehenden Wiedersehen wusste. Was war nur los mit ihr?

Melamori schlug mit der Faust auf den Tisch, und ich beobachtete fasziniert, wie unsere Gläser zitterten.

»Du meinst, du verstehst alles«, sagte sie wütend. Plötzlich änderte sich ihre Stimme, und sie fuhr traurig fort: »Nein, Max, du verstehst gar nichts. Verzeih, dass ich mich so habe gehen lassen. Mit Alotho und mir, das wird nicht klappen - genauso wenig wie damals mit dir. Ich werde wieder ein riesiges Durcheinander anrichten und mir irgendwann sagen, ich sollte mich mit dem zufriedengeben, was ich habe, statt nach etwas Besserem zu suchen. Meine Eltern wären sicher stolz, wenn sie erführen, wie großartig sie mich erzogen haben. Früher hielt ich mich für die tapferste, unabhängigste und tollste Frau weit und breit. Aber das denke ich nicht mehr. Das Gerede meiner Mutter und ihr Lieblingssatz Eine Lady darf sich nicht allein an unbekannten Orten aufhalten - all das hat für mich keine Bedeutung mehr, wenn ich ans Ausgehen denke. Aber ich habe diesen Satz ständig im Ohr, wenn ich überlege, alles hinzuwerfen und nach Arwaroch auszuwandern. Kaum stelle ich mir vor, am anderen Ende des Meeres das Schiff zu verlassen, höre ich den vertrauten Satz Eine Lady darf sich nicht allein an unbekannten Orten aufhalten.«

»Das verstehe ich gut«, sagte ich und nickte mitfühlend. »Ich hätte sicher nicht den Mut, dorthin auszuwandern. Man muss ein Held sein, um all die pompösen Riten auszuhalten.«

»Du hättest nicht den Mut?«, fragte Melamori erstaunt. »Du hast sogar die Welten gewechselt, um hierherzukommen!«

»Ob du es glaubst oder nicht: Das war sehr leicht. Ich hatte wirklich Glück, denn dort, woher ich stamme, hatte ich nichts zu verlieren, gar nichts. Meine Lage dort war ziemlich schlimm, aber ideal für jemanden, der in eine andere Welt will. Du aber hast hier etwas zu verlieren. Deshalb verstehe ich deine Unentschiedenheit sehr gut.«

»Natürlich habe ich hier etwas zu verlieren«, pflichtete sie mir bei, überlegte kurz und schüttelte den Kopf. »Aber das war nur eine Illusion, Max. Selbstverständlich mag ich Echo und meine Arbeit, und ich kenne hier viele Leute, mit denen ich gern zu tun habe. Aber eigentlich spielt das keine Rolle. Als ich mich damals weigerte, mit Alotho nach Arwaroch zu gehen, ging es mir nicht so sehr um all das, was ich hier hätte aufgeben müssen: Die Vorsicht hieß mich abwarten - die panische Angst vor dem Unbekannten.«

»Kurusch würde sagen, die Angst vor dem Unbekannten sei für den Menschen typisch, und damit hätte er sicher Recht«, seufzte ich. »Diese Angst ist vielleicht das wichtigste Charakteristikum unserer Gattung.«

»Trotzdem sitze ich neben jemandem, der mutig genug war, die Welten zu wechseln«, sagte Melamori und rückte näher, als könnte ich das Heilmittel all ihrer Probleme sein. »Es kann also keine Rede davon sein, dass Angst für alle Menschen typisch ist. Und in meinem Fall handelt es sich bloß um eine Reise auf einen anderen Kontinent.«

»Das alles ist vermutlich viel einfacher, als du denkst«, sagte ich und versuchte, entschieden zu wirken. »Wenn du mit Alotho nach Arwaroch gehen willst, dann tust du das - und wenn nicht, dann bleibst du. Ist das nicht die Frage, um die es eigentlich geht?«

»Ach, Max, du bist lustig«, sagte Melamori und lächelte plötzlich. »Warum redest du bloß ständig von Alotho?«

Ich sah sie erstaunt an. »Immerhin hattest du eine Affäre mit ihm, die deine Familie und einige Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps erschüttert hat.«

»Es ist unwichtig, was ich mit ihm hatte, und in Zukunft wird ohnehin nicht viel zwischen uns passieren«, sagte sie und winkte ungeduldig ab. »Alotho ist ein seltsamer Kerl. Er hat mir den Kopf verdreht, und alles, was du gesagt hast, stimmt. Aber das war nur Leidenschaft, Max, und wir wissen doch, dass Leidenschaft allein nicht reicht. Du denkst doch wohl nicht, dass ich mich seinetwegen die ganze Zeit so quäle?«

»Verzeih«, sagte ich schuldbewusst, »aber bisher habe ich das tatsächlich gedacht. Dumm von mir, was?«

»Nicht unbedingt dumm - eher romantisch.«

Überrascht bemerkte ich, dass sich Melamoris Stimmung deutlich gebessert hatte.

»Ich wünschte, du hättest Recht«, fuhr sie fort. »Ich wünschte, es wäre die große Liebe mit gebrochenen Herzen und Happy-End. Tatsächlich aber habe ich ein ganz anderes Problem, dessen Tragweite ich erst erkannte, als ich mich weigerte, nach Arwaroch zu gehen. Zuerst hatte ich den Eindruck, vor mir läge eine wunderbare, romantische Reise, wie sie meinem Geschmack entspricht. Ich freute mich riesig und hätte beinahe zugesagt, schrak dann aber davor zurück und konnte nicht schlafen und kaum mehr atmen. Schon als ich zum ersten Mal in deinen seltsamen Träumen erschien, hätte ich mich eigentlich fragen sollen, wovor ich mich so sehr ängstigte. Aber damals hatte ich noch nicht gelernt, über die Konsequenzen meines Handelns nachzudenken.«

Sie trank ihr Glas leer, stellte es auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Ihre Stimme klang nun so tief, als wäre meine Freundin in einer Höhle gefangen. Die wirkliche Melamori schien ein unbekanntes Wesen zu sein, mit dem ich bisher kaum zu tun gehabt hatte.

»Zweifellos regieren mich meine Ängste, und ich hänge am gewohnten Gang der Dinge. Daran stirbt man nicht. Menschen wie ich leben lange und glücklich, gründen Familien und ziehen Kinder groß, die am Ende genauso ängstliche Gewohnheitstiere sind wie sie. Und auch ich bin glücklich und durchaus zufrieden mit mir. Aber im Hinterkopf verspüre ich stets eine gewisse Verachtung mir selbst gegenüber. Meine Mutter hat oft gesagt, eine Lady aus guter Familie solle auch wie eine Lady aus guter Familie leben. Sie soll ein gutes Leben haben, Max, verstehst du? Und ich habe kein gutes Leben!«

Eigentlich hätte sie schon längst schluchzen müssen, aber sie schaute vor sich hin, und ihre Augen waren trocken.

»Hast du dich entschieden, all das mit mir zu besprechen, weil ich ein großer Fachmann bin, wenn es darum geht, sein Leben zu ändern?«, fragte ich. »Einerseits sprichst du mit dem Richtigen, andererseits aber hätte ich nie gedacht, du würdest überlegen, Echo zu verlassen. Bei der Vorstellung, ich könnte eines Tages ins Haus an der Brücke kommen, und du bist nicht mehr da, fühle ich mich gar nicht wohl.«

»Das wird nie geschehen«, sagte Melamori mit bitterem Lächeln. »Da kann ich dich beruhigen.«

»Viel Größeres kann geschehen, wenn man sich entscheidet, sein Leben zu ändern«, wandte ich ein. »Weißt du, mit achtzehn begriff ich, nicht mehr bei meinen Eltern wohnen zu wollen, doch es dauerte anderthalb Jahre, bis ich mich entschied, auszuziehen, denn ich bin ein Gewohnheitsmensch wie du. Ich war fest davon überzeugt, ich würde es allein nicht schaffen, sondern untergehen, doch ich lebe noch, wie du siehst. Das war eine schwere Zeit für mich. Bis heute denke ich, es war die heldenhafteste Tat meines Lebens. Alle anderen Entscheidungen habe ich seltsam träge getroffen. Weißt du, es gibt zwei Dinge, die dir in so einer Lage wirklich helfen können.«

»Welche denn?«, fragte Melamori gebannt. Mein Freimut erstaunte sie offenbar.

»Erstens hilft Eigensinn. Egal, was du tust: Du tust es aus Trotz. Und du bist viel eigensinniger als ich - da bin ich mir sicher.«

»Kann sein«, rief Melamori erfreut. »Und zweitens?«

»Zweitens kommt es auf das Schicksal an«, sagte ich achselzuckend. »Das klingt etwas hochtrabend, ich weiß, aber wenn das Schicksal gewisse Pläne mit uns hat, findet es Mittel und Wege, uns nach diesen Plänen handeln zu lassen. Wenn es für dich wirklich gut wäre, nach Arwaroch zu segeln, dann hätte das Schicksal dir schon tausendmal die Möglichkeit gegeben, das zu tun. Und das Schicksal hat auch die wunderbare Macht, Wolken anzuziehen, wenn wir gegen unsere Bestimmung handeln. Du hast dich ein einziges Mal geweigert, deiner Bestimmung gemäß zu handeln, und gleich wurde dein Leben weniger angenehm. Daran sieht man, dass das Schicksal auf sehr eindringliche Weise Überzeugungsarbeit leisten kann. Und in den seltenen Fällen, in denen das misslingt, tötet es die Unfolgsamen. In meiner Heimat sagt man, das Schicksal leite den, der es bejaht, und zerre den, der sich ihm widersetzt. So ist es wirklich. Das Schicksal zerrt die Dummen, denen der Atem stockt, weil sie vor ihrer einzigen Chance Angst haben.«

»Max! Sündige Magister, was ist los mit dir?«, fragte Melamori und schien mich zum ersten Mal zu sehen. »Ich hätte nie gedacht, dass du dich so ausdrücken kannst.«

»Ich kann so einiges. Und das ist kein Wunder, Lady, denn immerhin war ich früher auch Dichter - nicht der beste zwar, aber mitunter meldet sich mein Talent wie ein nervöser Tick.«

»Du warst sicher ein sehr guter Dichter«, sagte Melamori lächelnd. »Deine flammende Rede über das Schicksal war großartig. Du hast mich beruhigt und doch aufgestachelt - das war genau richtig.«

»Habe ich das wirklich getan?«, fragte ich erstaunt. »Na ja, du wirst das besser wissen als ich.«

»Wir müssen gehen«, sagte Melamori und stand entschieden auf. »Schürf kommt bald ins Armstrong und Ella. Und überhaupt - das Leben geht weiter.«

»Natürlich geht es weiter«, pflichtete ich ihr bei und erhob mich. »Aber eines hast du noch vergessen. Einmal habe ich dich als Lady Marilyn besucht.«

»Daran erinnere ich mich gut«, sagte Melamori lächelnd. »Du warst ein tolles Mädchen und hast sogar Melifaro den Kopf verdreht. Erst nachdem du ihm deine wahre Identität verraten hattest, mochte er glauben, dass Lady Marilyn eine Kunstfigur war. Das ist meine liebste Geschichte über dich.«

»Freut mich, dass ich diesen bescheidenen Ruhm bei dir genieße«, antwortete ich. »Aber eigentlich wollte ich über etwas anderes sprechen. Du hast doch sicher noch Wein aus dem Vorrat deines Großvaters. Er heißt Schicksalstropfen oder so ähnlich, und als wir ihn zusammen tranken, erschienen über uns romantische kleine Funken. Damals sagtest du, das sei ein gutes Zeichen, denn diese Funken erscheinen nur, wenn ihn zwei Menschen trinken, die sich gut verstehen. Und wie es aussieht, verstehen wir beide uns wunderbar, und es gibt keinen Anlass, Trübsal zu blasen. Die Erinnerung an dieses Ereignis hat mich in schweren Stunden stets aufgeheitert.«

»Aber diese Funken waren lediglich ein Zeichen.«

»Stimmt, aber ein sehr gutes Zeichen«, pflichtete ich ihr bei. »Und ein gutes Zeichen ist viel wert.«

»Das merke ich mir.« Melamori nickte erstaunlich ernst. Dann streichelte sie Drupi am Ohr, und die beiden schmusten ein wenig.

Unser vertrauliches Gespräch war beendet, ohne dass ich gewusst hätte, mit welchem Ergebnis, aber das spielte auch keine Rolle.

Ich brachte Melamori wieder zur Arbeit und fuhr ins Armstrong und Ella. Zwar war dieses Lokal nicht mein Zuhause, doch ich war überzeugt, nach Hause zu fahren. Wohin sonst? Drupi nahm ich mit, denn er hatte sich lange genug in meiner königlichen Residenz langweilen müssen. Demnächst wollte ich ihn sogar zur Arbeit mitbringen, wusste aber nicht recht, wie Sir Juffin darauf reagieren würde.

»Max, langsam reicht's aber«, sagte Techi erschrocken. »Zuerst hast du mir die Katzen angeschleppt, dann musste ich die Erziehung deiner Gattinnen übernehmen, und jetzt soll ich mich noch um dieses Riesenvieh kümmern?«

Zwei flauschige Katzen, Armstrong und Ella nämlich, musterten besagtes Riesenvieh von ihren Hockern aus. Offenbar hatten sie es nicht eilig, Drupis Bekanntschaft zu machen. Das konnte ich ihnen nicht verübeln.

»Aber nein«, sagte ich und schwang mich auf einen Hocker. »Noch habe ich nicht vor, mich von ihm zu trennen«, setzte ich beruhigend hinzu und küsste sie auf die Nasenspitze.

»Noch!«, seufzte sie. »In ein paar Tagen wirst du deine Meinung bestimmt ändern oder auf eine Audienz gehen müssen, bei der keine Hunde erlaubt sind. Ein paar Tage darauf wirst du mir sagen, Drupi passe fantastisch zu meiner Einrichtung und niemand könne sich besser um ihn kümmern als ich. Und irgendwann lässt du nebenbei fallen, der Hund könne eigentlich hier bleiben. Wenn ich dann Widerstand leiste, küsst du mich, damit Drupi mich auch für sein neues Frauchen hält. Max, ich kenne dich zu gut. Darum setze ich mich jetzt schon zur Wehr.«

»Oh nein, bitte! Für heute habe ich wirklich genug von Ladies, die finster in die nahe Zukunft blicken«, sagte ich, glitt vom Hocker und setzte mich auf meinen Lieblingsplatz. »Glaub mir, auf dieses schöne Tier warten ein eigenes Schlafzimmer und einige Diener, die jeden Befehl beflissen erfüllen. Und was meine drei Frauen anlangt, bist du einfach die ideale Erzieherin. Womöglich kannst du sie sogar anlernen, damit sie dir im Lokal helfen. In Echo gibt es meines Wissens bis jetzt noch kein Wirtshaus, in dem drei gleich aussehende Frauen hinter der Theke stehen. Für diesen Anblick sind sicher viele Menschen bereit, tief in die Tasche zu greifen.«

»Das ist eine grandiose Geschäftsidee, aber angesichts der gesellschaftlichen Stellung deiner Frauen riecht sie nach internationalem Skandal«, sagte Techi lächelnd. »Außerdem sind sie viel zu seriös, um Trunkenbolden die Gläser zu füllen.«

»Ich weiß nicht, ob sie wirklich so seriös sind«, wandte ich ein. »Ich habe sie erst dreimal im Leben gesehen.«

»Selber schuld. Wer hätte dich gehindert, es öfter zu tun? Wen hast du eigentlich gemeint, als du von den Ladies gesprochen hast, die finster in die Zukunft blicken?«

»Dreimal darfst du raten.«

»Ach so«, sagte Techi, lächelte gedankenverloren, verließ die Theke und setzte sich zu mir. »Du hattest das Vergnügen, den dramatischen Monolog von Lady Melamori zu hören. Es ging also um das weit entfernte, ach so schöne Arwaroch und um die Angst, die sie sich vor diesem Land einredet.«

»Vor allem um die Angst«, seufzte ich. »Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass die Bewohner aller bekannten und unbekannten Welten solche Probleme haben, und ich habe ihr auch gesagt, dass nur wenige ihre Angst überwinden können.«

»Schau an - mitunter redest du ganz kluge Sachen«, meinte Techi und schmiegte sich an meine Schulter. »Weggehen oder bleiben - solche Probleme möchte ich haben«, sagte sie leise.

»Wieso denn?«, fragte ich erstaunt. »Langweilst du dich etwa?«

»Nein, Max, aber ich habe diese Wahl nicht und werde sie auch nie haben. Weißt du, ich darf nicht einmal Uguland verlassen, wenn ich nicht als Gespenst enden will.«

»Wie meinst du das?«, fragte ich frappiert.

»Ich darf mich nicht weit vom Zentrum dieser Welt entfernen, sonst sterbe ich. Das liegt in meiner Natur, und ich kann nichts dagegen tun. Ich bin die Tochter von Lojso Pondochwa und kein gewöhnlicher Mensch.«

»Ja und? Ich verstehe nicht recht, was du da sagst.«

»Das ist gar nicht so schwer. Meine Brüder und ich sind Beispiele für die seltsame Magie meines Vaters und für seinen eigenartigen Humor. Das hat Vorteile, denn wir sind unsterblich. Deshalb existieren meine Brüder, die in der Traurigen Zeit gestorben sind, weiter. Andererseits aber sind wir keine gewöhnlichen Menschen, denn wir können nicht in andere Welten reisen, noch nicht mal nach Arwaroch. Am besten wäre es für mich, immer in Echo zu bleiben. Mein echtes, intensives Leben übrigens soll erst nach meinem Tod beginnen. Max, hab ich dich schockiert? Hättest du dieses Gespräch bloß nicht angefangen! Was ist nur in mich gefahren?«

»Aber nein - das zu erzählen, war sehr tapfer von dir. Es ist nur etwas schade, denn ich hatte gehofft, dir eines Tages ein kleines Städtchen bei Kettari zeigen zu können, einen meiner liebsten Orte. Dass das nun nicht klappt, ist nicht so schlimm. Ich muss mich halt an den Gedanken gewöhnen, nicht mit dir verreisen zu können.«

»Das muss nicht so bleiben - alles kann sich irgendwann ändern. Ich weiß zwar nicht, wie, aber ausschließen kann ich es nicht. Wer weiß, wohin wir irgendwann reisen werden«, sagte sie und lächelte mich an.

Darauf hatte ich keine Antwort parat. Also küsste ich sie ungescheut, denn das Wirtshaus war noch leer. Das war auf jeden Fall angenehmer, als über das nachzudenken, was sie mir gerade gesagt hatte.

Ich spürte einen intensiven Blick auf meinem Hinterkopf und drehte mich um: Von der Türschwelle beobachtete uns Sir Lonely-Lokley. Es hätte mich sehr gewundert, wenn es uns gelungen wäre, diesen herrlichen Menschen mit so gewöhnlichen Tätigkeiten wie dem Küssen zu schockieren. Auch wenn wir bereits zu anderen Aktivitäten übergegangen wären, hätte Schürf uns wohl nur gleichgültig von einem Barhocker aus im Blick behalten und sich auf sein Buch konzentriert.

Techi jedoch kannte Lonely-Lokley nicht so gut wie ich, ließ sofort von mir ab und lief hinter die Theke. Dort seufzte sie so erleichtert auf, als würde ihr alles, was sie gerade auf der anderen Seite des Tresens getrieben hatte, bereits unwirklich erscheinen.

Auch Drupi erkannte unseren Gast wieder, beschränkte seine Begrüßung aber auf ein freundliches Ohrenschlackern. Der schlaue Hund unterschied offenbar treffsicher, welchen meiner Freunde gegenüber er sich eine herzliche Begrüßung erlauben konnte und bei welchen er Distanz zu wahren hatte.

»Schürf, ich freue mich, dich hier begrüßen zu dürfen«, rief ich mit etwas künstlich anmutender Begeisterung. »Komm her! Steh nicht auf der Schwelle herum!«

»Ich steh nicht auf der Schwelle herum, sondern versuche, die Tür zu schließen«, erklärte Schürf. »Es ist kalt draußen, und der Wind weht vom Churon herauf. Ich habe zwar schon viel davon gelesen, wie vorteilhaft es sein soll, sich abzuhärten, aber ich denke nicht, dass auch Durchzug diese Vorteile hat. Lady Techi, ich glaube, Sie müssen Ihre Türklinke reparieren lassen. Ohne eine anständige Portion Magie dürfte sie nie und nimmer funktionieren.«

»Da haben Sie Recht, Sir Schürf«, sagte Techi betrübt. »Ich habe schon oft gedacht, ich sollte einen Spezialisten rufen, mir aber immer wieder gesagt, ein guter Zauberspruch werde viel schneller helfen. Schauen Sie mich nicht so finster an. Schwarze Magie zweiten Grades reicht völlig, um meine Tür zu schließen. Ich unternehme also nichts, was gegen das Chrember-Gesetzbuch oder gegen die Empfehlungen von Magister Nuflin Moni Mach verstoßen würde.«

Lonely-Lokley nickte verständnisvoll und setzte sich neben mich.

»Ich komme mit einer Bitte zu dir, Max«, begann er und nippte genüsslich an einer der besten Kamras von Echo.

Ich sah ihn neugierig an. »Verlang, was du willst.«

»Du hast mal gesagt, du könntest mir noch ein Buch aus deiner Welt besorgen«, begann Schürf vorsichtig.

»Das habe ich ganz vergessen«, seufzte ich schuldbewusst. »Aber ich versuche es einfach hier und jetzt.«

»Jetzt und hier?«, fragte Lonely-Lokley erstaunt.

»Warum nicht? Sonst vergesse ich es wieder, und du wartest noch mal tagelang vergeblich darauf.«

»Manchmal bist du ein ungemein pragmatischer Mensch«, sagte er, und ich hatte den Eindruck, ein leises Lächeln umspiele seine Mundwinkel.

»Zuerst muss ich einen geeigneten Ort finden, denn hier gibt es nichts, in das ich die Hand schieben könnte.«

Ich ging hinter die Theke, wo ich nichts zu suchen hatte, erst recht nicht in der Hocke. Immerhin protestierte Techi nicht gegen mein Auftauchen, sondern hielt mich offenbar für einen Hund und strich mir kurz über den Kopf.

Ich brauchte eine Ritze, aus der ich das Buch ziehen konnte. Auch die größten Zauberer dieser Welt kommen nicht ohne so einen Schlitz aus. Schließlich entdeckte ich eine abgewetzte Matte, unter die ich die Hand schieben konnte.

Sofort war es, als hätte ich einen fallenden Gegenstand aufgefangen. Zunächst wurde ich stolzer Besitzer eines kleinen Damenschirms, gelb und mit bunten Blümchen geschmückt. Schirme fand ich in der Ritze zwischen den Welten ständig. Offenbar gingen sie öfter verloren als andere Gegenstände. Aber da ich kein Schirmsammler war, schob ich die Hand erneut unter den Teppich und versuchte, mir eine Bibliothek mit vielen Regalen vorzustellen.

In den ersten Minuten wollte mir das nicht gelingen. Stattdessen dachte ich an meine noch nicht ausgetrunkene Kamra und verspürte danach Lust, eine Zigarette zu rauchen. Außerdem tauchte immer wieder Techi auf, die dem, was ich auf dem Boden trieb, glücklicherweise keine Beachtung schenkte. Mühsam sammelte ich mich und dachte intensiv an eine Bibliothek.

Erneut spürte ich etwas in der Hand. Mit aller Kraft stellte ich mir vor, mit einer Leiter an ein Regal zu gehen, um an ein Buch zu kommen, das ganz oben lag. Dann zog ich unter dem Teppich einen Band hervor, der in einem herrlichen Schutzumschlag steckte. Hoffentlich würde diese schöne Ausgabe Lonely-Lokley gefallen. Mein Fang hatte den Titel Die große Erde im kleinen Weltall. Verfasser war ein gewisser Steve Harris. Autor und Titel waren mir unbekannt.

»Was ist bloß los?«, rief ich erstaunt. »Warum erwische ich nie ein Buch, das ich kenne und mag? Immerhin habe ich auf der Erde viele Bücher verschlungen.«

»Bist du mit dem, was du ergattert hast, unzufrieden?«, fragte Lonely-Lokley beunruhigt.

»Na ja, ich habe schon wieder ein mir unbekanntes Buch erwischt. Es ist offenbar unser Schicksal, Schürf, dass ich dir keins meiner Lieblingsbücher besorgen kann. Ich fürchte, du musst mir den Inhalt wieder erzählen, damit ich nicht vor Neugier sterbe.«

Ich gab ihm das Buch und setzte mich neben ihn. Techi kümmerte sich keinen Pfifferling um das, was hinter ihrer Theke geschehen war, sondern war in die neueste Ausgabe des Trubel von Echo vertieft. Offenbar interessierte sie sich viel mehr für diese Boulevardzeitung als für unsere Probleme.

»Warum staunst du so darüber, wieder ein unbekanntes Buch aus der Ritze zwischen den Welten gezogen zu haben? Du hast doch wohl nicht alle Bücher gelesen, die es gibt, oder?«, wollte Lonely-Lokley wissen.

»Alle sicher nicht«, sagte ich lächelnd, »doch du würdest staunen, wenn du wüsstest, wie viele ich geschafft habe. Es gab Zeiten, in denen ich wie ein Besessener las - das waren nicht die schlechtesten Jahre.«

»Ich habe den Eindruck, inzwischen liest du nicht mehr so viel«, bemerkte Schürf vorsichtig.

»Ich lese schrecklich wenig, eigentlich gar nicht mehr«, pflichtete ich ihm bei. »Aber nichts bleibt, wie es war - besonders, wenn man ein neues Leben beginnt.«

»Da hast du wohl Recht. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, ist dein Leben inzwischen auch ohne Bücher sehr bewegt.«

»Bewegt? Das dürfte etwas untertrieben sein«, stellte ich leicht blasiert fest.

Die Tür quietschte im Wind.

»Max, du bist heute heiß begehrt«, sagte Techi und lächelte den Neuankömmling freundlich an. Ich schaute auf und schüttelte den Kopf, als ich Ande Pu sah. Er war beinahe nüchtern, blickte aber sehr finster drein.

Drupi hob den Kopf und bellte nur einmal, aber Achtung gebietend. Ande zögerte, trat einen Schritt zurück, als wollte er fliehen, beherrschte sich aber und blieb.

»Den darfst du nicht anbellen«, sagte ich streng zu meinem Hund. »Das ist mein Freund, du Dummkopf.«

»Vielen Dank, Max. Dieser Drupi hat ja Manieren wie ein Dorfköter. Ich verstehe nicht, warum du einen Hund dabeihast. Solche Tiere sind auf dem Land viel besser aufgehoben als in der Stadt«, räsonierte Ande Pu. Er lispelte stärker als sonst - offenbar aus Angst.

Ich verkniff es mir, Drupis Qualitäten aufzuzählen, und versuchte stattdessen, möglichst mitfühlend zu wirken.

Auf der Schulter spürte ich die schwere Hand von Lonely-Lokley. Erst zuckte ich zusammen, musste dann aber erleichtert lachen. Schürf hatte natürlich seine Schutzhandschuhe an. Wenn er sie vergessen hätte, hätte ich ohnehin keine Gelegenheit mehr gehabt, in Panik zu geraten.

Schürf schüttelte enttäuscht den Kopf, und ich rechnete schon mit einem Vortrag über die Vorteile der Atemgymnastik, die man jeden Tag und nicht nur alle zwei Wochen treiben solle. Damit wäre ich völlig einverstanden gewesen, doch er schwieg gutmütig, denn mein Gesicht war die Reue selbst.

»Vielen Dank für dein Buch, Max«, sagte er sanft. »Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich jetzt nach Hause fahre. Ich habe große Pläne für heute Abend.« Er schwenkte mein Geschenk bedeutungsschwer hin und her.

»Hast du mich je beleidigt erlebt?«, fragte ich lächelnd.

»Eigentlich nicht«, räumte Schürf ein, verbeugte sich höflich vor Techi und wandte sich an Ande. »Kommen Sie morgen in den Gehörnten Mond?«

»Natürlich«, sagte der Journalist und nickte eifrig.

»Dann sehen wir uns dort, falls sich meine Pläne nicht ändern«, sagte Lonely-Lokley und verließ das Lokal.

Ich starrte Ande verständnislos an. »Was hast du denn mit Schürf vor, Freundchen? Von welchem Gehörnten Mond war da die Rede? Und warum weiß ich nichts davon? «

»Es handelt sich um das Zentrum der Poesie im Vereinigten Königreich«, antwortete Ande etwas hochnäsig. »Um den einzigen Ort in diesem schrecklichen Land, an dem man die Dichter schon zu Lebzeiten zu schätzen weiß.«

»Ist das ein echter Dichterklub?«, fragte ich begeistert. »Warum hast du mir nie davon erzählt?«

»Woher hätte ich wissen sollen, dass du dich für so was interessierst? Ich dachte immer, dir seien die Dichter - ob tot oder lebendig - herzlich egal. Aber dein Kollege Lonely-Lokley weiß erlesene Wortkunst zu schätzen. Oder habe ich dich aus einem falschen Fenster betrachtet?«

»Aus einem falschen Fenster?«, fragte ich und verstand gar nichts mehr.

Techi ließ vor Lachen die Zeitung fallen. »Das ist nur so ein Ausdruck, Max. Ande will damit sagen, dass seine Meinung von dir offenbar nicht der Wirklichkeit entspricht.«

»Das gefällt mir«, rief ich. »Du würdest staunen, mein Freund, wenn du wüsstest, aus wie vielen Fenstern man mich betrachten kann.«

»Dann hab ich wohl wieder alles richtig erfasst. Ich kann dich gern mal in den Gehörnten Mond mitnehmen, wenn du magst.«

»Ich finde eigentlich nichts völlig uninteressant, und was Poeten treffen angeht Bei diesen Worten verstummte ich, denn meine dichterische Vergangenheit zweimal an einem Tag zu offenbaren, wäre zu viel des Guten gewesen.

»Sei ehrlich: Du hattest befürchtet, deine Freunde würden in ein interessantes Wirtshaus gehen und dir nichts davon sagen. Und jetzt weißt du nicht, wie du dich verhalten sollst. Armer Max!«, sagte Techi mit nachsichtigem Spott.

Ich lachte, nickte energisch und wandte mich an Ande. »Ob du willst oder nicht - morgen rücke ich dir auf die Pelle.«

»Diesmal bin ich es, der dich nicht verstanden hat«, sagte er unsicher.

Ich musste lachen, denn Ande brachte mich immer wieder dazu, meinen längst vergessen geglaubten Schatz an bildlichen Redewendungen zu plündern. Auch Techi hob erstaunt die Brauen.

»Jemandem auf die Pelle zu rücken, bedeutet, ihn zu besuchen - ob er will oder nicht«, klärte ich die beiden auf.

Sie nickten - Techi vorsichtig, Ande belustigt.

»Weißt du, Max, eigentlich bin ich mit einem Problem zu dir gekommen.«

Bisher hatte ich nie den Eindruck gehabt, Ande sei mir gegenüber scheu. Allerdings war ich ihm meist begegnet, nachdem er bereits einige Gläser des hiesigen Feuerwassers zu sich genommen hatte.

»Dein Problem ist mein Problem. Hast du dich wieder mit Sir Rogro gestritten?«

»Der verhält sich tadellos«, lobte Ande.

Ich musste lächeln. Das hätte sein Chef hören sollen! Allerdings hatte Rogro Schill sich in seiner Jugend intensiv mit Astrologie beschäftigt. Daher fiel es ihm leicht, selbst die dunkelsten Seelenwinkel seiner Mitarbeiter auszuleuchten.

»Na schön, darf ich jetzt endlich erfahren, was dich zu mir führt? Deine Kollegen? Oder etwas ganz anderes?«

»Ach, es geht nicht um all die Schreiberlinge, mit denen ich Zusammenarbeiten muss«, rief Ande pathetisch und wandte uns mit großer Geste sein edles Profil mit der Adlernase zu. »Weißt du, Max, man hat mich vor acht Tagen bestohlen.«

»Das ist unangenehm, aber die Aufklärung von Diebstählen gehört nicht zu meinen Aufgaben. Du weißt doch, dass sich die Kollegen in der anderen Hälfte des Hauses an der Brücke damit beschäftigen. Aber soweit ich weiß, sind Polizisten dir massiv unsympathisch. Bist du also überhaupt schon dort gewesen?«

»Natürlich«, rief Ande. »Zuerst war ich in eurer Hälfte des Gebäudes, aber Lady Melamori sagte, solange keiner die Badelatschen von König Gurig stibitze, seien Diebstähle ein Fall für die Stadtpolizei. Dann brachte sie mich zu einer Kollegin dort. Ich weiß nicht mehr, wie sie heißt, aber sie war sehr auffällig«, meinte Ande und deutete mit beiden Händen eine ausladende Oberweite an.

Sofort war mir klar, dass er mit Lady Kekki Tuotli zu tun gehabt hatte.

»Das hat Melamori gut gemacht«, sagte ich. »Und was geschah dann?«

»Ich habe ihr alles erzählt, und sie hat versprochen, dem Diebstahl nachzugehen, aber bisher hat sich offenbar nichts ergeben«, meinte Ande betrübt. »Weißt du, Max, ich glaube, die Polizei bemüht sich gar nicht richtig. Wer sollte sich auch für einen alten Koffer mit den Sachen meines Großvaters interessieren?«

»Warte«, unterbrach ich ihn. »Soll das heißen, man hat dir einen alten Koffer gestohlen? Sir Kofa hat erzählt, unter den großstädtischen Dieben gebe es immer ein paar Verrückte, und ich habe das nie glauben wollen. Was war denn im Koffer? Alte Klamotten von deinem Großvater?«

»Du bist wirklich gut informiert«, sagte Ande frappiert.

»Das sollte ein Scherz sein. Hatte ich etwa Recht?«

»Du hast genau ins Schwarze getroffen! Im Koffer war alte Kleidung meines Großvaters. Vielleicht auch noch einige andere Sachen. Das weiß ich nicht mehr genau. Der Koffer stand im Keller meines Hauses in der Straße der Spitzdächer. Vor meiner Aufnahmeprüfung für die Hochschule habe ich zum letzten Mal in diesem Koffer gewühlt und weiß längst nicht mehr, was er enthielt.«

»Und wie hast du den Diebstahl bemerkt?«, fragte ich, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Traumtänzer wie er wusste, was wo in seinem Keller stand.

»Ich habe ihn nicht bemerkt. Du weißt doch, dass ich die Hälfte meines Hauses an eine furchtbare Familie namens Pella vermietet habe. Ich war dazu gezwungen, als ich mal knapp bei Kasse war. Wir verstehen uns nicht besonders, und ich fühle mich zu Hause eher als Gast. Diese Plebejer machen unglaublich viel Lärm und sind ständig am Kochen, Braten und Backen.«

»Das ist ja ein Alptraum«, sagte Techi mitfühlend. In ihr hatte Ande eine Seelenverwandte, denn sie ertrug Küchendünste so schlecht, dass es in ihrem Wirtshaus nichts zu essen gab. Das Armstrong und Ella war das einzige Lokal von Echo, in dem nur Kamra und alkoholische Getränke serviert wurden. Immer wieder kamen Gäste hereingeschneit, die nicht glauben wollten, ein Lokal könne sich ohne Küche über Wasser halten.

»Ihr habt ja keine Ahnung - es ist so nett, zu zweit zu kochen«, sagte ich verträumt.

Techi und Ande schauten mich an, als wäre ich ihr größter Feind, und der Journalist setzte seine Erzählung fort.

»Vor acht Tagen haben die Kinder meiner Mieter im Keller gespielt. Sie haben schrecklich viele Kinder - ich habe längst die Übersicht verloren. Und all diese Kinder spielen die ganze Zeit und schreien dabei wie am Spieß«, stöhnte Ande mit wahrer Leidensmiene. »Die Magister mögen wissen, was sie gespielt haben, Verstecken vermutlich«, schimpfte er weiter. »Plötzlich sahen sie zwei unauffällig gekleidete Männer in den Keller kommen. Sie erschraken und beobachteten mucksmäuschenstill, wie die beiden den Koffer nahmen und wieder verschwanden.«

»Sie haben bestimmt die Dunkle Tür genommen«, meinte ich.

»Bestimmt. Leider bin ich erst nach Ende der Ordensepoche auf eine höhere Schule gekommen und weiß darum nicht, wovon du redest. Aber »dunkle Tür« klingt gut. Tatsache ist, dass die Männer den Koffer mitgenommen haben und ich mir nun den Kopf darüber zerbreche, welche Schätze sich darin befinden mögen«, sagte Ande, und seine Mandelaugen blickten verträumt.

»Jedenfalls sind Menschen, die die Dunkle Tür benutzen, selten allzu dumm«, gab ich seufzend zu bedenken. »Langsam beginnt mich dieser Diebstahl zu interessieren. Was erwartest du eigentlich von mir? Doch wohl nicht, dass ich all meine Verpflichtungen fahren lasse und die Täter suche? Außerdem ist Lady Kekki Tuotli eine kluge Polizistin, die selber weiß, was sie zu tun hat.«

»Ich würde mich freuen, wenn du ihr die Geschichte mit dem Koffer noch mal ins Gedächtnis rufen würdest«, sagte Ande betrübt. »Vielleicht hat sie sie schon vergessen. An ihrer Stelle würde ich auch nicht jedem als vermisst gemeldeten Koffer nachforschen. Vermutlich findet sie, ich sollte mich freuen, dass jemand meinen Keller aufgeräumt hat.«

»Ich glaube nicht, dass es so schlimm ist. Aber ich werde auf alle Fälle mit ihr reden, denn diese Geschichte klingt wirklich seltsam. Ein vergessener Koffer, der möglicherweise unbekannte Schätze aus der Piratenvergangenheit deines Großvaters enthält ... und obendrein Diebe, die die Dunkle Tür benutzen ... Versprich mir bitte, dass auch ich in dem Koffer wühlen darf, falls er wieder auftauchen sollte. Mein Leben lang habe ich davon geträumt, in einem geheimnisvollen Koffer stöbern zu dürfen.«

»Vielen Dank«, sagte Ande froh. »Die Polizisten stellen sicher die ganze Stadt auf den Kopf, wenn du sie darum bittest. Und das ist sehr wichtig für mich.«

»Nett, dass du mir so viel Einfluss zutraust«, sagte ich lächelnd. »Aber du würdest dir meine Gunst viel wirksamer sichern, wenn du mich morgen in den Gehörnten Mond einladen würdest.«

»Kannst du deine Arbeit denn einfach ausfallen lassen? Immerhin treffen wir uns erst um neun und bleiben sicher ein paar Stunden dort.«

»Mal sehen, was sich mit Kurusch arrangieren lässt. Melde dich auf alle Fälle per Stummer Rede und beschreib mir, wie ich dorthin komme.«

»Max, ich bin gleich sehr gemein«, warnte mich Techi.

»Willst du mir etwa sagen, ich verspäte mich furchtbar zum Dienst, wenn ich noch lange bleibe?«

Meine Freundin nickte nur.

»Dann mach ich dir den hier zum Geschenk«*, meinte ich und wies mit dem Kopf auf Ande. »Als kleine Rache, denn niemand darf mich aus einem Wirtshaus verbannen.**

»Das ist keine Rache, sondern ein guter Kunde«, sagte Techi lächelnd. »Sir Pu, nehmen Sie ihm das nicht übel -er macht sich nur über Leute lustig, die er mag.«

Ich sprang vom Barhocker und gab dem schlafenden Drupi einen Stups.

»Vergiss meinen Koffer nicht«, mahnte mich der Journalist erneut.

»Keine Sorge. Und du denkst daran, mir per Stummer Rede den Weg zum Gasthaus zu beschreiben. Sonst werde ich sauer und behalte den geheimnisvollen Koffer von Captain Kid für mich.«

»Was für ein Captain Kid? Mein Großvater hieß Sochma Pu.«

Im Haus an der Brücke war nicht mehr so viel Betrieb wie tagsüber, doch die Stimmung war blendend. Schon im Korridor hörte ich General Bubuta Boch eine Schimpftirade ablassen.

Dass seine Stimme allerdings aus unserer Hälfte des Gebäudes drang, erstaunte mich.

Wenn ich in Juffins Büro komme, sitzt Bubuta bestimmt am Schreibtisch und hält sich für den Leiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps, dachte ich düster. Da lebt man stillvergnügt vor sich hin, und plötzlich bricht der existentielle Surrealismus aus.

Aber Spaß beiseite. Als ich in den Saal der allgemeinen Arbeit kam, hätte ich am liebsten »Geronimo!« gerufen -wie die amerikanischen Fallschirmspringer, wenn sie sich aus der Maschine stürzen -, denn auch ich hatte das Gefühl, ins Unbekannte zu hechten.

Im Saal allerdings herrschte eine irritierende Harmonie zwischen der Stadtpolizei und unserem Suchtrupp. Sir Melifaro, der diesmal einen türkisfarbenen Lochimantel trug, übergab Bubuta sechs erschrockene Verbrecher, deren exotische Gewänder auf eine ausländische Herkunft deuteten. Der General machte ein finsteres Gesicht, damit die Verbrecher Respekt vor der Stadtpolizei bekamen. Die Tür zu Juffins Büro war einen Spalt weit geöffnet. Offenbar beobachtete unser Chef die ganze Szene diskret von seinem Schreibtisch aus.

Leider verdarb ich ihm den Spaß, denn als Bubuta mich erblickte, hustete er zunächst und versuchte dann, eine möglichst intelligente Miene zu machen. Das war sehenswert. Er hätte längst wissen müssen, dass ich nicht immer Gift spucke, wenn man sich nicht ganz richtig ausdrückt, aber wer von uns ist nicht Sklave seiner Gewohnheiten?

»Guten Abend, Sir Max«, sagte der General fast flüsternd.

Ich wollte schon den Mund öffnen, um seine Begrüßung zu erwidern, da mischte sich Drupi mit lautem Kläffen ein. Der erschrockene Bubuta wäre fast an die Decke gesprungen, die Verhafteten zuckten zusammen, und Melifaro ließ sich theatralisch auf seinen Stuhl fallen, ohne auch nur zu versuchen, sein Lachen zu unterdrücken.

»Sei still, mein Lieber, hier arbeiten ernsthafte Leute«, belehrte ich meinen Hund.

»Ernsthaft sollen wir sein?«, rief Melifaro spöttisch.

»Sehr sogar«, bekräftigte ich mit versteinerter Miene.

Eine Minute später waren wir allein. General Bubuta hatte es wie immer vorgezogen, aus der Ferne mit mir Umgang zu pflegen, um seine Nerven zu schonen. Melifaro lächelte nun nicht mehr, sondern gähnte herzhaft.

»Den ganzen Tag über haben wir für andere die Arbeit gemacht«, sagte er. »Stundenlang mussten wir uns mit diesen Schönlingen herumschlagen, die der Zoll erwischt hat. Es hat sich erwiesen, dass es sich um ganz normale Diebe handelt, die allerdings nicht von hier sind. Leider haben wir die Freude darüber erst vor kurzem mit unseren Nachbarn teilen können.«

»Und was haben die sechs Schönlinge ausgefressen?«, wollte ich wissen.

»Nichts Besonderes, Max, glaub mir«, sagte Melifaro.

Endlich kam unser Chef aus seinem Büro, setzte sich neben Melifaro und begann wie mein Kollege, demonstrativ zu gähnen. Die beiden waren wirklich ein entzückendes Duo. Ich fürchtete schon, dieser Arbeitstag werde als einer der interessantesten in die Annalen des Kleinen Geheimen Suchtrupps eingehen.

»Diese Leute sind aus Kirwaori gekommen«, berichtete mein Chef. »Ihre extravaganten Sitten erinnern ein wenig an einen uralten Orden hier. Deshalb dachte ich zuerst, ich sollte ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken, hätte aber besser daran getan, weniger auf den alten Schwätzer Nuflin Moni Mach zu hören. Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen. Nichts ermüdet mehr, als die Arbeit eines anderen zu erledigen.«

»Schlaf ist etwas Wunderbares«, pflichtete ich ihm bei.

»Das ist mir längst klar«, gab Juffin bissig zurück. »Willst du dein nettes kleines Haustier eigentlich überallhin mitnehmen? Reicht dir Kurusch nicht? Er ist es schließlich gewöhnt, das einzige Tier im Haus an der Brücke zu sein.«

»Ich habe es einfach nicht geschafft, den Hund in meine Residenz zu fahren, denn mein Tag war ziemlich turbulent. Möchten Sie mir nicht auch Ihre Probleme anvertrauen?«

»Nein, das habe ich nicht vor. Ich bitte nur darum, mich bis morgen Mittag schlafen zu lassen - egal, was passiert.«

»Kein Problem. Sollte etwas wirklich Wichtiges vorfallen, wachen Sie sicher von selber auf.«

»Wie du weißt, habe ich einen tiefen Schlaf«, bemerkte Juffin, gähnte und verließ das Zimmer.

»Ich kann deinen Hund nach Hause fahren«, schlug Melifaro vor. »Deine Residenz liegt beinahe auf meinem Heimweg.«

»Beinahe, aber nicht ganz. Gib doch zu, dass du nur einen Vorwand suchst, meine Residenz in Augenschein zu nehmen!«

»Eigentlich nicht«, meinte Melifaro, »denn sie unterliegt keiner hohen Geheimhaltungsstufe.«

»Eben! Man kann mich problemlos besuchen. Warum strapazierst du also dein Gehirn, um einen glaubwürdigen Vorwand zu finden, dort herumzuschnüffeln?«

»Weil ich eine kleine Intrige spinnen will. Seit einiger Zeit plane ich, eine deiner Gattinnen zu entführen, doch nun bist du dabei, diesem Abenteuer allen Pfiff zu rauben«, sagte Melifaro und setzte sich auf die Fensterbank. »Deine drei Frauen sollten endlich erfahren, dass du die Rolle des Gatten nicht übernehmen willst. Du hast zwar schon halb Echo erzählt, dass du nicht daran denkst, dich deines Harems zu bedienen, doch auch Kenlech, Helach und Hellwi haben ein Recht, das zu wissen. Schließlich betrifft es vor allem sie.«

»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht«, stellte ich betrübt fest.

»Wirklich nicht?«, fragte mich Melifaro augenzwinkernd.

»Lassen wir das, und fahren wir in meine Residenz. Ein Mann allein kann einen so großen Hund schließlich nicht kutschieren.«

»Dir ist wirklich jeder Vorwand recht, um dich vor deinen dienstlichen Pflichten zu drücken. Passt auf, Hoheit, dass Ihr den Bogen nicht überspannt«, meinte Melifaro lächelnd.

»Meine innere Stimme sagt mir, dass ich diesen großen Hund nicht im Haus an der Brücke lassen darf, und diese Stimme ist sehr ordnungsliebend, musst du wissen. Wie du siehst, bediene ich mich also keines Vorwands, sondern befolge nur die in diesem Hause geltenden Vorschriften.«

»Und wann willst du deinem Harem deine wahren Absichten offenbaren?«, fragte Melifaro.

»Je schneller, desto besser - und am liebsten in deiner Gesellschaft, damit du mich endlich in Ruhe lässt. Außerdem kannst du mich auch vor meinen Frauen schützen, denn ich habe eine gewisse Angst vor ihnen.«

»Großer Scherz!«, rief Melifaro lachend.

»Wo ist dein berühmter Scharfsinn geblieben?«, fragte ich spöttisch. »Das Geheimnis meiner Herkunft hast du blitzschnell geknackt, und jetzt merkst du nicht, dass ich in Gesellschaft dieser merkwürdigen Mädchen nicht weiß, wie ich mich verhalten soll.«

Melifaro hob erstaunt die Brauen, winkte dann aber ab. »Meist ist es schwierig, mich zu betrügen, doch manchmal habe selbst ich meine schwachen Momente. Als Lady Marilyn warst du so überzeugend, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, dich hinter dieser Gestalt zu vermuten.«

»Tja, das hätte böse für mich enden können«, seufzte ich und warf einen Blick in mein Büro, wo Kurusch - der klügste Vogel dieser Welt - auf seiner Lehne saß.

»Mein Lieber, ich muss ganz kurz aus dem Haus«, sagte ich zu ihm. »Meine ganze Hoffnung ruht also auf dir.«

»Ganz kurz? Dann tauchst du sicher erst zum Frühstück wieder auf«, meinte der Buriwuch.

»Auf keinen Fall. In höchstens drei Stunden bin ich zurück. Und ich bringe dir ein paar süße Piroggen mit.«

»Pass nur auf, dass du dein Versprechen auch hältst«, sagte Kurusch schläfrig.

Den Magistern sei Dank - der kluge, aber verfressene Vogel hatte sich auch heute wieder von mir bestechen lassen!

Ich pfiff Drupi herbei, und wir verließen das Haus an der Brücke. Ich vergöttere diese Institution, und die Arbeit im Kleinen Geheimen Suchtrupp ist für mich oft ein Fest, aber nichts ist schöner, als sich ab und an vom Arbeitsplatz zu stehlen. Vermutlich entspricht das meiner naiven Vorstellung von Freiheit.

Mein Haus sah von außen sehr interessant aus, denn es war bis unters Dach bewachsen. Ich überlegte, meine Residenz zu meinem Wohnsitz zu machen, wenn ich eines nicht mehr fernen Tages nicht mehr König der Nomaden wäre. Als Erstes würde ich dann die Geschenke meines Volkes aus dem Fenster werfen und meine vielen Diener in die Wüste schicken.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass du extrem selten hier auftauchst?«, fragte mich Melifaro. »Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ein Barbar wie du eine so schöne Residenz bekommen hat.«

»Im Gegenteil: Ich habe die Schönheit des Hauses sofort zu schätzen gewusst und erkannt, dass es zu mir passt. Nur brauche ich etwas Zeit, um mich einzuleben. In meinem Haus an der Straße der gelben Steine bin ich auch noch nicht richtig eingezogen, obwohl ich dort nur zwei Stockwerke und sechs Zimmer habe.«

»Wann bist du eigentlich das letzte Mal in deiner Wohnung gewesen?«, fragte mich Melifaro mit unschuldig interessierter Stimme.

Ich runzelte die Stirn und versuchte, mich zu erinnern.

»Du brauchst mir nicht zu antworten. Zwar hast du diverse Adressen, doch du ziehst es vor, die Barhocker der Wirtshäuser zu polieren«, sagte Melifaro beim Aussteigen.

Auch Drupi sprang aus dem Wagen auf den Gehsteig und bellte laut. Offenbar war das seine neue Leidenschaft, und anders als ich fühlte er sich in meiner Residenz wie zu Hause.

Im Foyer hatte ich den Eindruck, Melifaro und ich seien wieder im Haus an der Brücke, denn aus einem Zimmer kamen uns Sir Kofa Joch und Lady Kekki Tuotli entgegen.

»Hat das Haus an der Brücke meine Residenz etwa als Außenstelle übernommen?«, wollte ich wissen. »Wo soll dann mein Hund schlafen? Schließlich ist er ein königliches Tier.«

»Ich habe mich schon daran gewöhnt, hier ständig auf Melifaro zu treffen«, brummte Kofa Joch, »und ich bin mir ziemlich sicher, den Grund seiner häufigen Besuche zu kennen. Aber was treibt dich hierher, Max?«

»Theoretisch wohne ich hier.«

»Das ist mir klar, aber um diese Zeit solltest du im Büro von Sir Juffin sein und die Beine auf den Tisch legen.«

»Ich bin für kurze Zeit geflohen, aber wenn wir schon pingelig sein wollen, solltest du jetzt im Wirtshaus sitzen und beruflich die Löffel spitzen, stimmt's?«

»Da hast du leider Recht, und ich geh auch gleich. In letzter Zeit habe ich allerdings festgestellt, dass es unter meiner Würde ist, Wirtshäuser in Gesellschaft von nur einer Dame zu betreten. Deshalb habe ich beschlossen, mir alle deine drei Damen auf einmal auszuleihen.«

»Und sie sind schon seit über einer halben Stunde dabei, sich anzuziehen«, seufzte Lady Kekki. »Das sind wirklich waschechte Königinnen.«

»Dann habe ich ja Glück«, hörte ich Melifaro hinter mir sagen. »Ob es euch passt oder nicht - ich komme mit. Dich hat man übrigens schon lange nicht mehr im Haus an der Brücke gesehen«, sagte er giftig zu mir und zog eine fürchterliche Fratze. »Es ist längst dunkel, und du hast noch niemanden umgebracht. Unerhört!«

»Meine unschuldigen Opfer müssen sich eben noch ein wenig gedulden«, sagte ich. »Außerdem muss ich irgendwo etwas zum Abendessen bekommen.«

»Du hättest dich wenigstens umziehen können«, maulte Kofa. »Dein Todesmantel wird uns alle kompromittieren.«

»Was soll ich denn anziehen? Ich habe hier keine persönlichen Sachen.«

»Dann müssen wir dir helfen, dich herzurichten«, sagte Melifaro wie eine gutmütige Tante. »Schließlich wird uns dein Todesmantel die Verdauung ohnehin nicht erleichtern.«

Er zog einen kleinen Gegenstand aus der Hosentasche, rieb ihn in den Händen und warf ihn mit Schwung vor seine Füße. Ich staunte nicht schlecht, als gleich darauf ein königsblauer Lochimantel mit gemustertem Saum auf dem Boden lag.

»Deine Lieblingsfarben versetzen mir immer wieder einen Kulturschock. Wenigstens hast du mir nichts Himbeerrotes verpasst«, sagte ich und zog den Mantel an.

»Vorwürfe bekomm ich zu hören, aber kein Wort des Dankes. Schnöde Welt!«, rief Melifaro mit gekünstelter Trauer. »Noch so eine Bemerkung, und ich nehme dir den Mantel wieder weg. Dann kannst du dich in einen Residenzteppich wickeln.«

»Schon gut. Mach mir bitte keine Angst. Schleppst du eigentlich immer Klamotten mit dir herum?«

»Natürlich - schließlich muss ich für den Fall gerüstet sein, dass du in Dienstkleidung mit uns zu Abend essen willst. Wie du siehst, kümmere ich mich aufopfernd um dich.«

»Warum machst du das eigentlich?«

»Was für eine Frage!«, meinte Melifaro achselzuckend. »In unserem Beruf kommt es nicht zuletzt darauf an, durch die Kleidung einen bestimmten Eindruck zu erwecken. Wir können es uns nicht erlauben, einfach irgendwas anzuziehen. Darum ist es gut, einen Klamottenvorrat dabeizuhaben. Habe ich mich Euch verständlich machen können, Hoheit?«

Die Hoheit nickte und staunte über Melifaros Umsicht.

Drei gleich aussehende Schwestern erschienen im Foyer. Als sie mich erblickten, zuckten sie ein wenig zusammen, kamen dann aber rasch auf uns zu.

Eigentlich sahen sie einander gar nicht mehr so ähnlich. Einige Spaziergänge durch die Stadt und ein paar Einkäufe in den beliebtesten Boutiquen hatten dazu geführt, dass jede ihren eigenen Geschmack entwickelt hatte. Die eine Schwester bevorzugte puristisches Schwarzweiß; die andere trug begeistert Grün; die Dritte hatte einen kornblumenblauen Lochimantel und eine dazu passende Skaba erstanden. Das ist bestimmt Melifaros Auserwählte, dachte ich resignierend. Die beiden dürften atemberaubend gut zusammenpassen.

Wir verließen das Haus. Die drei Schwestern unternahmen einen letzten Versuch, sich als Einheit zu präsentieren, indem sie sich an den Händen hielten oder eingehakt die Straße entlanggingen. Allerdings wehte es auch recht kalt. Zum Glück gibt es in Echo aber eigentlich nie Frost.

»Wir passen nicht alle in ein A-Mobil, und ich habe keine Lust, mit dir ein Rennen zu machen«, sagte Kofa lächelnd. »Also gehen wir ins nächste Wirtshaus, ins Gesättigte Skelett. Das ist keine schlechte Idee, oder?«

»Und wieder wandern ein paar Kronen in die Tasche von Gopa Talabun, dem Besitzer aller Skelette von Echo«, bemerkte ich nickend.

Abends hatte ich stets gewaltigen Hunger. Daher verbrachte ich im Wirtshaus eine halbe Stunde mit rhythmischem Kauen und nahm nicht am Gespräch teil, sondern beobachtete nur. Mir fiel auf, dass die Schwestern Sir Kofa für eine Art Vater hielten, den sie ja - wie die Legende der Chencha berichtete - nie gehabt hatten. Auch Lady Kekki Tuotli genoss das volle Vertrauen meiner drei Gattinnen. Ich hätte gern gewusst, wie oft die fünf schon zum Abendessen hier gewesen waren. Es entging mir nicht, dass die Schwestern Melifaro sehr schüchtern ansahen.

Nachdem ich endlich gesättigt war, konnte ich mich von meinem Teller trennen und am Gespräch beteiligen. »Vielen Dank, Kofa, dass du dich so aufopfernd um meine merkwürdige Familie gekümmert hast, während ich durch die Weltgeschichte getigert bin.«

»Weltgeschichte? Jetzt übertreibst du aber, Max. Ich weiß schließlich, wo du dich in letzter Zeit herumgetrieben hast«, sagte er lächelnd. »Aber das ist nicht der Rede wert. Solltest du in deiner Eigenschaft als König weitere Frauen angetragen bekommen, werde ich auch sie in meine Obhut nehmen.«

Lady Kekki lächelte in sich hinein. Offenbar hätte auch sie nichts gegen Frauennachschub.

»Ich muss mit dir reden«, sagte ich zu Kofas Freundin. »Heute hat sich ein Bekannter von mir darüber beklagt, dass du dich zu wenig um den Koffer kümmerst, der aus dem Nachlass seines Großvaters gestohlen wurde.«

Kekki sah mich einen Moment verständnislos an. »Hat dich dieser lustige junge Mann also zu fassen bekommen?«

»Ab und zu erlaube ich ihm, sich ein wenig an meiner Brust zu laben. Aber sag mir bitte, ob du diesem Diebstahl wirklich nachgehst oder nicht.«

»Eigentlich«, begann Kekki und seufzte schuldbewusst, »hätte ich mich damit beschäftigen sollen, doch aus Zeitmangel habe ich das nicht geschafft. Du weißt doch, wie es bei der Stadtpolizei läuft: Wir haben jede Menge ungelöste Fälle und viele Idioten, die beim Bearbeiten dieser Fälle nur im Weg sind. Und mein Privatleben beansprucht mich im Moment so sehr, dass ich keine Überstunden machen kann.«

Sir Kofa sah uns beide mit sanftem Lächeln an. Bei meinem ersten und einzigen Auftritt als Kuppler hatte ich mich wohl als erfolgreich erwiesen. Wie gut die zwei zusammenpassten! Vielleicht hätte ich den Dienst quittieren und eine Partnervermittlung gründen sollen.

»Als mein Bekannter mir von dem Diebstahl erzählte, war er überzeugt, nichts werde dich intensiver beschäftigen als sein Koffer«, sagte ich nachdenklich. »Und nun muss ich seine Bitte erfüllen«, fuhr ich fort, faltete die Hände demütig vor der Brust und rief: »Kekki, bitte finde diesen Koffer. Er bedeutet meinem Bekannten wirklich viel.«

»Um welchen Koffer geht es da eigentlich?«, fragte Sir Kofa neugierig.

»Wenn ich das wüsste!«, meinte ich achselzuckend. »Ande Pu behauptet, er enthalte Piratenschätze seines Großvaters. Vielleicht ist das nur das Hirngespinst eines fantasievollen Menschen, denn unser Ande ist ein Dichter. Vielleicht aber sind die Sachen tatsächlich etwas wert. Interessant ist allerdings, dass die Diebe bei ihrem Fischzug die Dunkle Tür benutzten, wie unsere einzigen Zeugen -ein paar erschrockene Kinder - berichtet haben.«

»Na so was!«, stieß Kekki gepresst hervor.

Es schien ihr unangenehm, dass ein Fall, den sie für unwichtig gehalten und vergessen hatte, so interessante Züge aufwies.

»Man sollte die Aussage von Kindern nicht von vornherein für unglaubwürdig halten«, sagte Sir Kofa. »Schließlich haben sie Augen wie andere auch.«

»Manche Kinder sind sogar bessere Beobachter als Erwachsene«, ergänzte ich und wunderte mich, dass Lady Kekki diese bittere Pille einfach so schluckte.

»Sollten die Räuber tatsächlich die Dunkle Tür genommen haben, kann daraus eine ausgesprochen interessante Geschichte werden«, gab Sir Kofa fachmännisch zum Besten. »Zwar erlaubt das Chrember-Gesetzbuch allen Bürgern unseres Königreichs, die Dunkle Tür zu nehmen, denn dazu braucht man keine Offenkundige Magie, aber dennoch dürften ehemalige Magister hinter dem Diebstahl stecken, sehr raffinierte Magister zudem«, sagte Sir Kofa und sah mich aufmerksam an. »Dein Bekannter hätte sich besser gleich an uns gewandt.«

»Das hat er getan, doch Lady Melamori hat ihn zu Kekki geschickt. Kein Wunder - die Geschichten von Ande Pu erwecken auf den ersten Blick einfach kein Interesse.«

»Verstehe, aber jetzt wüsste ich gerne die Details. Fang du an, Max.«

Ich berichtete in kurzen Worten alles, was ich über den Jahrhundertdiebstahl wusste.

»Ich glaube, Kekki weiß viel besser Bescheid. Bei mir hat Ande Pu nur sein Herz ausgeschüttet.«

»Da ist der arme Mann bei dir an den Richtigen geraten«, mischte sich Melifaro ein. »Wem sein Leben nicht mehr gefällt, der tut gut daran, sich bei dir auszujammern,

denn du hilfst ihm bestimmt, seine traurige Existenz loszuwerden.«

»Da bist du schief gewickelt. Ande Pu ist nach wie vor am Leben«, versetzte ich kühl.

»Hast du etwa eine Formkrise?«, fragte Melifaro honigsüß.

»Ihr zwitschert zwar allerliebst, meine Täubchen, aber ich wüsste gern, was Kekki dazu zu sagen hat«, bemerkte Sir Kofa bissig.

»Ande Pu hat mir und Max genau das Gleiche erzählt«, berichtete Kekki. »Das Einzige, was ich zusätzlich beisteuern kann, ist eine genaue Beschreibung des Koffers. Er ist aus Holz, sehr alt und dunkelrot gefüttert, und das Schloss funktioniert nicht, weil Ande es als Kind kaputt gemacht hat. Auf dem Koffer steht Der Apfelbatzen der Welt - so heißt das Schiff, auf dem sein Großvater seine schönsten Erfolge als Pirat gehabt hat. Ande Pu weiß zwar nicht mehr, was im Koffer war, vermutet aber, es habe sich um alte Kleidung gehandelt. Allerdings kann er nicht ausschließen, dass noch andere Dinge drin gewesen sind. Das war's schon. Kein Wunder, dass ich mich um diese Anzeige nicht weiter gekümmert habe.«

»Genau das hat Ande Pu befürchtet«, rief ich. »Schon gut, Kekki, vergiss das Ganze. Ich schaue mich selber in seinem Keller um. Die alten Sachen mögen nicht besonders interessant sein, aber der Einsatz der Dunklen Tür gibt mir zu denken.«

»Tja, wenn Diebe in der Stadt aufgetaucht sind, die sich der Dunklen Tür zu bedienen wissen, dürfte das unangenehm werden«, murmelte Kekki.

»Halb so schlimm, meine Liebe«, meinte ich lächelnd.

»Kofa, vielleicht sollten wir Lady Kekki zum Kleinen Geheimen Suchtrupp abwerben, denn die Arbeit bei der Stadtpolizei droht sie zur Pessimistin zu machen.«

»Vielleicht sollten wir das wirklich eines Tages tun«, sagte Kofa nachdenklich. »Was den Koffer angeht, interessieren mich im Moment aber ganz andere Dinge«, fuhr er fort und sah vor sich hin.

»Was? Ich dachte, du würdest dich ganz und gar nicht für den Koffer interessieren! Na gut, mein Bauch ist voll, und wir haben lange genug über diese Sache geredet. Ich ziehe mich wieder an den Schreibtisch zurück. Dort kann ich wenigstens ein bisschen schlafen.«

Melifaro warf mir einen so bohrenden Blick zu, dass ich fast vom Stuhl gekippt wäre. Er hatte Recht: Ich täte besser daran, noch ein wenig zu bleiben, denn ich hatte das Haus an der Brücke mit dem Vorsatz verlassen, meine Frauen über ihre Freiheitsrechte aufzuklären. Na gut, also würde ich auch das noch erledigen. Vielleicht würde dieser Abend ja mit einer flammenden Unabhängigkeitserklärung der Drillinge enden.

»Noch eine Tasse Kamra in so netter Gesellschaft dürfte mir wohl nicht schaden«, meinte ich und zwinkerte Melifaro verschwörerisch zu.

Er sah mich interessiert an, denn er war neugierig, was ich den Mädchen zu sagen hatte. Auch ich war gespannt, wie sich das Gespräch entwickeln würde, blickte angestrengt in meine Tasse und überlegte mir rasch eine kleine Rede.

»Welcher Magister ist in dich gefahren, Max?«, wollte Sir Kofa wissen. »Beschäftigt Gopa Talabun etwa einen schlechten Koch? Du blickst drein, als hättest du gerade ein Kilo Holz herunterwürgen müssen.«

»Ich bin zwar ein recht primitives Wesen, aber ein Holzwurm bin ich nicht«, versetzte ich ein wenig beleidigt.

»Ach so«, nickte Kofa verständnisvoll. »Der arme Junge denkt nach. Worüber denn?«

»Über diese schönen Frauen«, sagte ich und wies mit dem Kopf auf die Schwestern.

Drei große, tiefschwarze Augenpaare musterten mich erschrocken.

»Keine schlechte Idee, sich über die drei den Kopf zu zerbrechen«, bemerkte Kofa mit Kennermiene. »Und was ist dabei herausgekommen, wenn ich fragen darf?«

»So mancherlei.«

Ich merkte, dass es besser für mich war, mich in dieser Sache an Sir Kofa und nicht an die Drillinge zu wenden, holte tief Luft und begann: »Stell dir vor, Kofa - diese drei Frauen sind in den Leeren Ländern aufgewachsen und haben die dortige Kultur und Natur kennengelernt. Eines Tages setzen die klügsten Männer ihres Volkes sie auf Menkale, bringen sie in eine unbekannte Stadt, konfrontieren sie mit einem ihnen ganz fremden Menschen und sagen, das sei ihr neuer König und sie seien seine Gattinnen. Dann kehren die Weisen in ihre Heimat zurück, und die wunderschönen Helach, Kenlech und Hellwi bleiben in einem riesigen, ihnen völlig fremden Haus. Zuerst wissen sie nicht, was tun. Der seltsame Mann, der nun ihr Gatte ist, hat versprochen, sich mit ihnen zu beschäftigen, sein Versprechen aber nicht eingelöst. Stattdessen kommen andere Menschen zu ihnen und bezeichnen sich als beste Freunde ihres Gatten. Das ist zwar alles wunderbar und nett, aber es passt nicht zu den Vorstellungen, die die drei vom Eheleben haben«, sagte ich und schaffte es endlich,

die Schwestern anzusehen. »Nun, habe ich die Situation richtig beschrieben?*<

Sie lächelten zaghaft, fast unmerklich, dafür aber im Chor. Welch ein Triumph!

»Schön, dass ihr lächelt. Das ist der kürzeste Weg zu meinem Herzen«, sagte ich. »Wir sind in eine seltsame Sache geraten, die man mit etwas Abstand betrachten sollte. Die Ehe an sich ist schon eine merkwürdige Angelegenheit, aber unsere Ehe ist besonders eigenartig.«

»Du brauchst uns nicht mehr, stimmt's?«, fragte die Schwester, deren knalliger Lochimantel mich an ihrem Geschmack hatte zweifeln lassen. »Als Fajriba uns herbrachte, warnte er uns, das könne passieren, da du ganz anders als die bisherigen Könige von Fangachra bist. Wir sind auf alles gefasst.«

»Jetzt übertreibt ihr aber«, brummte ich. »Nachdem ihr schon in meinem Leben erschienen seid, brauche ich euch sehr wohl. Das Schicksal ist gar nicht so blind, sondern weiß recht genau, was es mit einem vorhat. Ich habe zwar nie eine Frau gebraucht - und erst recht keine drei -, aber in die Wüste will ich euch deshalb noch lange nicht schicken. Ich möchte, dass ihr weiter in meiner Residenz lebt und euch mit all dem beschäftigt, was euch Spaß macht. Ich möchte euch nur um eines bitten: Vergesst alles, was mit der Ehe zu tun hat. Sagen wir einfach, ihr seid meine Gäste. Obwohl... Gäste kommen und gehen, und ihr sollt ja bleiben ... aber egal. Echo ist wunderschön, und ihr habt viel Glück, in die Hauptstadt des Vereinigten Königreichs geraten zu sein. Ich bin nach wie vor begeistert von Echo, obwohl ich mich längst an die Stadt hätte gewöhnen sollen. Ihr seid also meine Verwandten - gefällt euch dieses Wort?«

Eine der Schwestern lächelte und nickte energisch. Die beiden anderen sahen erst sie, dann mich erstaunt an.

»Ich glaube, das Wort »Verwandte* lässt sich irgendwann durch das Wort »Freunde« ersetzen«, sagte ich sanft, »aber dieser Prozess lässt sich nicht steuern.«

»Wenn ich alles richtig verstanden habe, wird sich unser Leben nach diesem Gespräch ändern, stimmt's?«, fragte die Schwester im kornblumenblauen Mantel.

Trotz ihrer Vorliebe für schreiende Kleidung erwies sie sich als die ernsthafteste der drei.

»Ja«, sagte ich, »und zwar gründlich. Als Erstes hört endlich auf, zusammenzuzucken, wenn ich auftauche. Ich bin wirklich niemand, vor dem ihr euch fürchten solltet. Nehmt euch ein Beispiel an Sir Kofa und unterhaltet euch künftig mit mir wie er. Das dürfte euch anfangs schwer fallen, aber ihr solltet es dennoch versuchen. Früher oder später wird euch das schon gelingen. Und jetzt das Wichtigste: Macht euch bewusst, dass ihr frei seid. Ihr könnt das Haus verlassen, wann immer ihr wollt, zurückkehren, wenn ihr es für richtig haltet, und alle einladen, die ihr mögt. An mich solltet ihr euch nur wenden, wenn ihr Hilfe, Ratschläge oder Geld braucht. Wenn mir etwas nicht gefällt, sage ich es euch. Und sollte euch jemand etwas Böses tun, dann bedenkt bitte, dass es sich um euer Leben handelt und ich mich nur einmische, wenn ihr mich ausdrücklich darum bittet.«

Ich strich mir den Schweiß von der Stirn und warf Sir Kofa einen prüfenden Blick zu. »Na, war ich überzeugend?«

»Und wie! Ich hätte nie gedacht, dass du so flammende Reden halten kannst - noch dazu mit so ernster Miene. Ich habe richtiggehend Angst vor dir bekommen.«

»Ich auch«, meldete sich Melifaro zu Wort. »Ich zittere schon die ganze Zeit.«

»Gewisse Dunkelmänner sollten besser schweigen«, grollte ich.

»Verzeih, aber ich sehe keine Dunkelmänner«, gab Melifaro zurück.

Die drei Schwestern musterten mich erneut, wirkten dabei aber schon ein wenig entspannter als zuvor.

Das hättest du viel früher sagen sollen, Max, dachte ich. Du solltest endlich aufhören, auf morgen zu verschieben, was du letztes Jahr hättest besorgen können.

»Wir müssen uns dringend besser kennen lernen«, schlug ich vor. »Vielleicht gelingt es mir sogar irgendwann, euch auseinanderzuhalten.«

»Ich bin Helach«, sagte die Besitzerin des knalligen Lochimantels. »Das ist Hellwi«, fuhr sie fort und wies mit dem Kopf auf das Mädchen, das auf das Wort Verwandte mit einem Lächeln reagiert hatte. Dann legte sie der dritten Schwester die Hand auf die Schulter und sagte: »Und das ist Kenlech.«

Die dritte, schwarzweiß gekleidete Schwester warf mir einen Blick zu, der mir Schauer über den Rücken jagte. Ich hatte sie für ein Mauerblümchen gehalten, war mir nun aber nicht mehr sicher. Vielleicht war meine Menschenkenntnis schlechter als vermutet.

»Schön, ich hoffe, dass ich euch nächstes Mal nicht erschrecke. Jetzt muss ich aber wirklich los. Kurusch wird mich wegen dieser Verspätung mit Verachtung strafen -leider zu Recht.« Ich trank meine Kamra aus und erhob mich. »Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.«

»Pass auf dich auf, Max«, sagte Melifaro, »und halte dich von Unsinn fern, solange du meinen Lochimantel trägst.«

In bester Laune betrat ich das Haus an der Brücke. Wie herrlich, eine längst überfällige Aufgabe hinter sich gebracht zu haben! Kurusch bekam süße Piroggen, sensationellerweise gleich zwölf Stück. Natürlich musste er sie nicht auf einmal essen, aber in einer Hinsicht waren wir zwei uns einig: besser zu viel als zu wenig.

Offenbar war ich gar nicht lange weggeblieben, denn statt des erwarteten Donnerwetters verkündete der Buriwuch lediglich eine seiner Weisheiten: »Die Menschen haben die Neigung, sich für einen Moment zu verabschieden und erst nach Stunden zurückzukehren.«

Während meiner Abwesenheit war offenbar nichts Besonderes vorgefallen - kein Wunder, denn in dieser schönen Welt pflegen die schrecklichen Dinge in meiner Gegenwart zu geschehen. Die nächste halbe Stunde faulenzte ich mit Kurusch und blätterte in der Königlichen Stimme vom Vortag, während der Buriwuch eine Pirogge nach der anderen verspeiste. Danach musste ich seinen Schnabel - wie so oft - von der klebrigen Füllung reinigen. Kaum hatte ich das erledigt, plusterte sich der kluge Vogel auf und schlief zufrieden ein. Erst um Mitternacht klopfte es an meine Bürotür.

»Sie haben Besuch, Sir Max.«

»Einen kleinen, dicken und ziemlich aufdringlichen Kerl?«

Ich war fest davon überzeugt, es handele sich um Ande Pu, der sich noch immer nicht mit dem Verlust des Koffers abfinden konnte. Der Arme malte sich bestimmt aus, das Gepäckstück habe zahllose Schätze enthalten, die ihm ein sorgenfreies Leben und vielleicht sogar die ersehnte Reise nach Tascher hätten ermöglichen können. Aber ich hatte mich getäuscht.

»Im Gegenteil, Sir Max, es handelt sich um einen groß gewachsenen, schlanken und sehr höflichen Herrn. Er ist großstädtisch gekleidet, aber sein Bart ist sehr lang, und die Haare hat er zum Zopf geflochten. Außerdem hat er den Akzent der Bewohner von Tascher«, sagte der Bote und verschwand.

Kurz darauf erschien ein Mann in dunklem Lochimantel.

»Kapitän Gjata!«, rief ich erstaunt. »Ich hätte wirklich darauf kommen können, dass Sie es sind, der mich besucht.«

Dieser Kapitän aus Tascher trieb sich schon längere Zeit in Echo herum, und daran war ich schuld. Ich hatte ihm einst das Leben gerettet, ohne zu wissen, was ich tat, und er hatte sich in den Kopf gesetzt, mir seine Dankbarkeit durch eine vergleichbare Tat zu beweisen. Ich hatte allerdings keine passende Aufgabe für ihn gefunden, woraufhin er nach Echo übergesiedelt war und sich gewissermaßen bereithielt, um mir eines ersehnten Tages das Leben retten zu können.

Ich hatte meinen ewigen Schuldner schon vergessen, denn es geschah einfach zu viel, und für die Probleme, die mitunter auftauchten, brauchte ich Spezialisten ganz anderen Kalibers.

»Störe ich, Sir?«, fragte der Mann aus Tascher höflich.

»Aber ganz und gar nicht. Ist etwas passiert?«

»Wenn Sie mit etwas Unangenehmem rechnen sollten,

dann nicht«, sagte Kapitän Gjata und ließ sich vorsichtig auf einem Stuhl nieder. »Ich möchte mich von Ihnen verabschieden.«

»Das ist ja großartig«, rief ich erfreut. »Ich habe Ihnen ja schon mehrfach gesagt, dass ich nichts von Ihnen erwarte, und bestimmt sehnt sich Ihre Familie schon lange nach Ihnen.«

»Sie haben mich missverstanden, Sir Max«, entgegnete der Kapitän. »Ich hoffe nach wie vor, mich eines Tages bei Ihnen dafür revanchieren zu können, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Und ich reise nicht nach Hause - ich fahre zur See.«

»Das ist auch eine gute Idee«, sagte ich. »Wohin denn?«

»Das weiß ich noch nicht. Der Kapitän des Schiffes, auf dem ich angeheuert habe, hat der Besatzung das Ziel der Fahrt noch nicht verraten, aber gesagt, die Reise werde nicht länger als ein Jahr dauern. Und ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie in einem Jahr wieder mit mir rechnen können.«

»Ich fürchte, ich habe Sie schon wieder nicht verstanden. Von welchem Kapitän reden Sie? Und wo haben Sie angeheuert? Sie sind doch selber Kapitän und haben ein eigenes Schiff! Alle Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps waren im Hafen, um es sich anzusehen. Was ist denn passiert?«

»Mit der Alten Jungfer ist zum Glück alles in Ordnung«, sagte der Mann aus Tascher, doch sein Blick wirkte zerstreut.

»Ohne eine Tasse Kamra getrunken zu haben, können wir uns unmöglich voneinander verabschieden«, meinte ich lächelnd. »Oder möchten Sie etwas Stärkeres?«

»Etwas Stärkeres«, sagte der Kapitän schwermütig.

Ich nickte und meldete mich per Stummer Rede im Fressfass. Das hatte ich sowieso vorgehabt.

»Eines habe ich noch immer nicht verstanden«, sagte ich zu Kapitän Gjata, als der Tisch voller Tabletts stand. »Statt mit Ihrem Schiff loszusegeln, heuern Sie bei einem Kapitän an, der es nicht einmal nötig hat, Ihnen sein Reiseziel mitzuteilen. Ist das ein alter Freund von Ihnen?«

»Nein«, sagte der Mann aus Tascher und sah zur Decke, als stünde dort die Lösung all seiner Probleme. »Bis heute Morgen habe ich nicht einmal von seiner Existenz gewusst.«

»Warum haben Sie es dann getan? Werden Sie wenigstens gut dafür bezahlt?«

»Das weiß ich nicht. Über Geld haben wir noch nicht gesprochen.«

Kapitän Gjata wirkte, als würde er langsam aus einer Trance erwachen.

»Nicht schlecht«, sagte ich und schüttelte erstaunt den Kopf. »Allmählich verstehe ich, welcher böse Wind Sie in Ihr letztes Abenteuer getrieben hat, das so böse für Sie endete. Sagen Sie mir doch, ob Sie immer auf so ungewöhnliche Weise zu Ihren Aufträgen kommen.«

»Ganz und gar nicht. Wahrscheinlich werden Sie es mir nicht glauben, aber ich bin ein sehr vorsichtiger Mensch«, sagte Gjata betrübt. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie einen anderen Eindruck von mir haben, doch als ich damals an den betrügerischen Kaufmann geriet, überlegte ich mir seinen Vorschlag einige Tage lang und wollte ihm dann absagen, denn ich dachte, er verberge mir etwas. Genau darum hat er mir ja den furchtbaren Zaubergürtel umgelegt. «

»Ich würde Ihnen gern glauben«, sagte ich lächelnd, »aber Ihr jetziges Abenteuer überschreitet all meine Vorstellungen von menschlichem Leichtsinn, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten. Ich hoffe, Ihr neuer Bekannter hat Ihnen nicht auch einen Gürtel verpasst.«

»Aber nein! Nach den damaligen Ereignissen habe ich mir geschworen, nie mehr Geschenke von Fremden anzunehmen, und auch bei Bekannten bin ich auf der Hut. Inzwischen allerdings begreife ich selbst nicht mehr, was in mich gefahren ist, dort anzuheuern. Wissen Sie, eigentlich habe ich gar keine Arbeit gesucht. Ich verdiene beim Zoll recht gut, denn es gehört zu meinen Pflichten, die Verhafteten in Gefängnisse außerhalb der Stadt zu transportieren. Meine Alte Jungfer ist dafür sehr geeignet, denn sie bietet viel Platz und ist wendig. Ich habe so viele Aufträge, dass ich sogar Helfer einstellen musste, denen ich Verträge bis zum Jahresende gegeben habe. Wenn ich jetzt verschwinde, bringen sie mich sicher vor Gericht. Was habe ich nur getan!«

Kapitän Gjata stürzte seinen Dschubatinischen Säufer in einem Zug herunter und seufzte. Er sah aus wie jemand, der nach einem Alptraum in einem unbekannten Zimmer erwacht ist.

»Offenbar haben Sie sich nicht überlegt, ob Sie sich auf die Fahrt überhaupt einlassen wollen«, sagte ich. »Auch ich habe ja die Neigung, mich kopfüber in Abenteuer zu stürzen, aber ich fürchte, Sie haben mich um Längen geschlagen.«

»Gut, dass ich mich von Ihnen verabschiedet und Ihnen bei dieser Gelegenheit meine neue Reise gebeichtet habe«, sagte der Kapitän nachdenklich, musterte sein leeres Glas und schüttelte den Kopf. »Welcher böse Geist hat mich da bloß geritten? Ich habe diesen Kapitän von einer großen Reise sprechen hören, war sofort kindlich entzückt und habe alles andere vergessen. Jetzt ist mir klar, dass ich notfalls sogar als Leichtmatrose bei ihm angeheuert hätte.«

»Was Sie nicht sagen!«, rief ich erstaunt. »Hat der Mann wirklich so ein Charisma?«

»Ein was?«, fragte der Mann aus Tascher und kniff die Augen zusammen.

»Ach, ich rede mitunter Blödsinn. Ich meine nur, dass von ihm eine Kraft auszugehen scheint, die einen in Bann schlägt.«

»Das stimmt«, sagte Kapitän Gjata und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Sie glauben gar nicht, wie peinlich es mir plötzlich ist, mich auf diese Reise eingelassen zu haben. Am besten gehe ich nach Hause, schlafe mich aus und warte, bis die Tobindona den Hafen verlassen hat.«

»Die Tobindona'1. Ist das ein Frauenname?«

»Nein - eine exotische Pflanze heißt so.«

»Na schön, zu den Magistern mit dieser Pflanze und dem Schiff. Vielleicht sind Sie einfach an einen Menschen von ungewöhnlicher Überzeugungskraft geraten. Inzwischen haben Sie erkannt, dass Sie sich von ihm haben einwickeln lassen, und weil Sie Ihren Fehler eingesehen haben, wird alles gut. Aber ich muss mich davon überzeugen, dass Sie nicht Opfer eines bösen Geistes geworden sind, denn solche Geister aufzuspüren, ist meine Pflicht. Vielleicht sollte ich mich mit diesem eigenartigen Kapitän bekannt machen. Wann will er auslaufen?«

»Er hat uns befohlen, morgen bei Sonnenuntergang im Hafen zu sein, und ich glaube, eine Stunde später soll es losgehen.«

»Uns? Gibt es noch weitere neue Besatzungsmitglieder? «

»Natürlich. Viele Leute haben ihm zugehört, und alle haben beschlossen, mitzukommen.«

»Alle? Das klingt interessant. Wie haben Sie diesen Mann eigentlich kennen gelernt?«

»Im Hafenviertel gibt es einen kleinen Platz. Dorthin gehen die Seeleute, die anheuern wollen, und die Kapitäne, die Matrosen suchen. Auch alte Seebären, die mit jüngeren Kollegen plaudern möchten, treffen sich dort. Ich ging auf den Platz, um einen weiteren Helfer einzustellen. In letzter Zeit hatte ich viel zu tun und suchte eine erfahrene, vertrauenswürdige Person. Als ich sah, dass sich eine Traube von Matrosen um einen Mann versammelt hatte, wollte ich wissen, worum es da ging. Wie die Sache endete, wissen Sie«, sagte Kapitän Gjata und hob ratlos die Arme.

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht weiter den Kopf«, sagte ich lächelnd. »Schlimm wäre es, wenn Sie erst jenseits der Insel Tjuto zur Besinnung gekommen wären. Wie heißt dieser begnadete Redner überhaupt?«

»Wenn ich das wüsste! Aber ich bin nicht einmal auf die Idee gekommen, ihn danach zu fragen.«

Kapitän Gjata staunte nicht mehr über seinen Leichtsinn, sondern zürnte allmählich mit sich.

»Gehen Sie schlafen«, riet ich ihm. »Ende gut, alles gut. Und wissen Sie was? Am besten, Sie setzen morgen keinen Fuß vor die Tür. Vielleicht war das wirklich ein böser Geist, und wenn die Tobindona erst abgesegelt ist, können Sie machen, was Sie wollen. Wohin hat der Kapitän Sie eigentlich bestellt? Der Hafen ist schließlich ziemlich groß.«

»Ans Ende des rechten Hauptanlegers. Dort hat die Tobindona festgemacht.«

»Das finde ich bestimmt. Gute Nacht, Gjata. Und sollten Sie Ihre Pläne ändern, melden Sie sich bitte per Stummer Rede bei mir. Es gibt nichts Schlimmeres, als allein mit bösen Geistern zu ringen - das weiß ich aus Erfahrung.«

Der Kapitän verließ mein Büro, und ich versank in Gedanken. Zuerst schien mir, ich sollte die Tobindona sofort inspizieren, doch ich verwarf diesen Gedanken rasch, da ich fürchtete, mich im Hafen zu verlaufen. Mit Schiffen und der Seefahrt kenne ich mich nicht aus.

Für einen erfolgreichen Besuch im Hafen brauchte ich die Unterstützung von Kofa oder Melifaro. Vielleicht sollte ich das Ganze auch mit meinem Chef besprechen, der mich allerdings gebeten hatte, ihn bis zum Mittag nicht zu stören. Aber ich hatte ja Zeit bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages.

Ich ließ einen jungen Diener meinen Schreibtisch abräumen und staunte, wie schnell er das erledigte. Dann schob ich einen zweiten Stuhl heran, legte die Beine hoch und döste behaglich ein. Melifaros Lochimantel, den ich noch immer nicht gegen meinen Todesmantel gewechselt hatte, erwies sich trotz seiner schreienden Farbe als wunderbare Decke.

Als Sir Kofa mich weckte, war es noch dunkel.

»Wenn du schlafen willst, tu das in aller Ruhe zu Hause«,

brummte er. »Ich muss mir vieles durch den Kopf gehen lassen. Also verzieh dich.«

Natürlich blieb keine Zeit, ihm von Kapitän Gjata zu erzählen. Ich war so müde, dass ich nur mühsam einen Dank hervorbrachte. Dann schlich ich zur Fahrbereitschaft. Der Chauffeur staunte, denn schon lange hatte ich seine Dienste nicht mehr genutzt, doch in meiner Verfassung konnte ich mich unmöglich ans Steuer setzen.

Leider fuhr er mich an die falsche Adresse, setzte mich also nicht bei Techi, sondern vor meiner Wohnung ab, was mir allerdings erst auffiel, als er schon um die Ecke gebogen war.

Achselzuckend ergab ich mich in mein Schicksal und stolperte zum Armstrong und Ella, das zum Glück nicht weit entfernt lag - auch wenn ich im Gehen einzuschlafen drohte und mir der Weg eine Ewigkeit zu dauern schien.

Ich bin wirklich kindisch, dachte ich, als ich Techis Schlafzimmer betrat. Es ist doch egal, wo man schläft. Doch als ich mich in ihre warme Bettdecke wickelte, merkte ich den Unterschied.

Obwohl ich todmüde war, fand ich keinen Schlaf, sondern dachte die ganze Zeit an das Gespräch, das ich kürzlich mit ihr geführt hatte. Zu erfahren, dass sie Echo nicht verlassen darf, war keine angenehme Neuigkeit gewesen. Ich hatte seit längerem vor, Juffin um ein paar Sorgenfreie Tage zu bitten, damit wir nach Kettari reisen konnten. Ich wollte unbedingt mit ihr durch die Stadt gehen, ihr die vielen Brücken und Gärten zeigen und an dem Ufer flanieren, an dem es mir so gut gefallen hatte. Auch hoffte ich, mit ihr in die kleine Stadt in den Bergen zu fahren, die ich aus meinen Träumen kannte und die inzwischen Wirklichkeit geworden war. Wenn ich Machi Ainti - dem ehemaligen Sheriff von Kettari - glauben durfte, hatte ich diese Stadt sogar selbst erschaffen.

Bisher hatte ich gedacht, ich könnte Techi dorthin einladen. Vielleicht würde es mir aber stattdessen gelingen, meinen Traum von dieser Stadt mit ihr zu teilen. Etwas Ähnliches hatte ich immerhin schon mit Schürf erlebt, als wir den Kopf aufs gleiche Kissen gelegt hatten. Damals hatte Sir Juffin mit ein wenig Magie nachgeholfen, aber inzwischen hatte ich womöglich genug Großtaten vollbracht, um mir eine solche gemeinsame Traumreise ohne seine Hilfe zuzutrauen. Das wäre auch eine originelle Methode, meine Freundin auf einen Spaziergang einzuladen.

Ich bettete den Kopf auf ihr Kissen. Eine ihrer Silberlocken kitzelte mich, und ich schob sie beiseite. Gähnend schloss ich die Augen und schlief im Honigduft ihres Haars ein. Manchmal ist der Einstieg in ein Abenteuer erstaunlich leicht.

Ich träumte, einen Hügel zu ersteigen. Es war heiß, für meinen Geschmack zu heiß. Unter den Füßen knisterte sonnenverbranntes Gras, und das Gehen fiel mir schwer. Schon nach wenigen Schritten begann ich zu ahnen, dass der Hügel nicht annähernd so klein war, wie ich angenommen hatte. Trotzdem ging ich weiter, ohne zu wissen, warum.

Irgendwann erreichte ich die Anhöhe, wischte mir den Schweiß von der Stirn und blickte mich um. Ringsum erstreckte sich eine hügelige, seltsam abweisend wirkende Landschaft. Das Gras raschelte leise im heißen Wind. Nirgendwo waren Bäume, Büsche oder Wasserläufe zu entdecken. Ich stand inmitten eines erstarrten Ozeans aus Gras, und über mir wölbte sich ein erdrückend blauer Himmel.

»Hier gefällt es dir, was, Max?«, fragte eine freundliche Stimme hinter meinem Rücken.

Wenn ich nicht geträumt hätte, wäre ich schreiend davongelaufen, doch wenn mir solche Ereignisse im Schlaf widerfahren, bleibe ich erstaunlicherweise völlig gelassen. Ich drehte mich nicht mal um, denn ich wollte den Blick nicht von der herrlichen Landschaft wenden.

»Das weiß ich noch nicht, denn das ist nicht mein Traum«, sagte ich, ohne zu wissen, mit wem ich sprach.

»Natürlich ist das nicht dein Traum«, pflichtete mir mein unbekannter Gesprächspartner bei. »Und meiner auch nicht. Das ist nur die Fantasie einer dir wohlbekannten Träumerin, aber hier lässt es sich ganz gut leben. In letzter Zeit habe ich viel Zeit auf diesem Hügel verbracht und kann das sicher sagen. Warum drehst du dich nicht um? Ich bin nicht das schlimmste Wesen im Weltall -auch wenn Magister Nuflin Moni Mach das anders sehen mag.«

»Ich bitte um Verzeihung, aber ich bin hier ungemein träge«, sagte ich schuldbewusst. »Schon von Natur aus bin ich ziemlich faul, aber in diesem Fall bin ich nicht mal auf die Idee gekommen, mich umzudrehen.«

Während ich sprach, gelang es mir endlich, den Blick von der Landschaft loszureißen und mich meinem Gesprächspartner zuzuwenden.

Er saß auf einem flachen Stein, der in allen Honigfarben schillerte. Vielleicht handelte es sich wirklich um echten Bernstein. Der Mann war von schwer zu schätzender Körpergröße und trug eine einfache weiße Hose und ein entsprechendes Hemd. Außerdem hatte er uguländische Schuhe aus rotem Leder an. Trotz seiner mageren, mit hervortretenden Adern gespickten Arme hatte er kräftig wirkende Hände. Irgendwie fand ich ihn lustig. Er war kein durchgestylter Strandurlauber, aber auch kein aufgeputzter Dandy. Sein Gesicht war hinter langen dünnen Haaren verborgen, aber all das spielte keine Rolle, denn ich wusste sofort, mit wem ich es zu tun hatte.

»Sie sind Sir Lojso Pondochwa!«, rief ich. »Der Große Magister des Ordens der Wasserkrähe. Können Sie mir vielleicht erklären, warum Ihr Orden so einen seltsamen Namen hat? Bisher konnte mir das niemand sagen, aber ich wusste, dass ich Sie irgendwann treffen und diese Frage mit Ihnen klären würde.«

»Wirklich? Warum warst du dir dessen so sicher?«, wollte der Unbekannte erstaunt wissen.

»Täglich erwähnt jemand aus meiner Umgebung Ihren Namen«, erklärte ich.

»Na und? Menschen erinnern sich an vieles.«

Zwar wollte ich ihm alles erklären, aber das war wirklich schwer. »Ich habe stets unangemessen reagiert, wenn Ihr Name gefallen ist«, begann ich. »Entweder habe ich wie verrückt gekichert, oder meine Laune hat sich gewaltig verschlechtert. Hätte ich nicht geahnt, Ihnen einmal zu begegnen, dann hätte nicht schon die Erwähnung Ihres Namens solche Reaktionen bei mir ausgelöst.«

Ich staunte nicht schlecht, wie gut es mir gelungen war, all das in Worte zu fassen.

»Wie interessant«, sagte Lojso Pondochwa. »Ich hatte noch nie eine Vorahnung. Deshalb kann ich kaum nachvollziehen, um was für ein Gefühl es sich da handeln mag.«

Endlich schob er seine Haare zur Seite und sah mich mit hellen Augen an. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, und nach einigen Sekunden wusste ich, warum: Es war mein eigenes. Na ja, beinahe, denn Sir Lojso sah aus, wie ich in jungen Jahren gern ausgesehen hätte. Damals hatte ich geglaubt, eine kleine Nasenkorrektur, ein energischeres Kinn und eine etwas andere Augenfarbe könnten mir ein neues, viel aufregenderes Leben bescheren.

Diese Entdeckung schockierte mich, doch dann erinnerte ich mich an ein Gespräch mit Juffin. Erst vor kurzem hatte er mir ausführlich von diesem seltsamen Mann berichtet. Zunächst hatten wir uns über Techi unterhalten, denn laut Juffin waren alle Kinder von Lojso Pondochwa Spiegel, Wesen also, die sich ihrem Gesprächspartner chamäleongleich anpassten. Er hatte damals gesagt, wenn er Techi im Gespräch mit mir sehe, glaube er an Persönlichkeitsspaltung. Dann hatte er hinzugefügt, der beste Spiegel sei Lojso Pondochwa gewesen. Noch nie war ich mit meinem Chef so sehr einer Meinung wie heute.

Aber ich verschwieg Lojso, dass ich seinen Trick durchschaut hatte. Außerdem hatte ich keine Lust, ein Gespräch über sein und damit auch mein Gesicht zu führen, sondern wollte die Gelegenheit nutzen, ihm tausend seltsame Fragen zu stellen.

»Leben Sie tatsächlich noch, oder sind Sie gestorben und melden sich nun aus Ihrer persönlichen Hölle zurück?«, wollte ich wissen und setzte mich zu ihm ins Gras.

»Darauf lässt sich vieles antworten. Interessiert es dich wirklich?«

»Und wie! Ich habe nicht jeden Tag Gelegenheit, an Geheimwissen zu kommen. Außerdem kann ich so endlich klären, in welchem Traum ich gelandet bin.«

»Du bist ein erstaunlich leichtsinniges Wesen«, sagte Lojso lächelnd. »Ich kann mir vorstellen, was dir der Mann aus Kettari schon alles über mich erzählt hat. Oder habe ich zu wenig Fantasie, um mir das auszumalen? Und dennoch setzt du dich neben mich und beginnst ein ganz normales Gespräch. Ist das Kühnheit, oder hat sich in letzter Zeit in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs eine neue Art von Dummheit breitgemacht?«

»Eher Letzteres ... obwohl - was soll's? Von Ihnen geht keine Gefahr aus. Im Moment jedenfalls nicht.«

»Schau an! Im Moment spürst du keine Gefahr, aber dem lässt sich abhelfen.«

Ich musste lächeln, denn Lojso Pondochwa kopierte meine Sprachmelodie und meine Gesten - genau wie seine Tochter. Was das anging, hatte mein Chef wirklich Recht gehabt. In meiner Beziehung mit Techi war das nur ein interessantes Detail, aber der strenge Blick, mit dem ihr Vater seine Mimikry begleitete, ließ mir den Atem stocken.

Die Lage entspannte sich aus einem einfachen Grund: Es wurde mit jeder Minute heißer. Die Temperatur bestätigte meine Vermutung, dass Lojso nur einen kurzen Ausflug aus der Hölle gemacht hatte.

»Schön und gut, aber ich würde jetzt gern aufwachen«, sagte ich und wischte mir erneut den Schweiß vom Gesicht. »Mir ist nämlich heiß, und wenn ich länger hierbleiben soll, muss ich mir einen Ventilator oder wenigstens ein Eis aus der Ritze zwischen den Welten angeln.«

»Es ist allenfalls warm, aber du bist noch nicht lange genug hier, um den Unterschied zu merken. Wenn du aufwachen willst, musst du einfach die Anhöhe verlassen. Es ist sehr leicht, Max, von mir wegzugehen«, sagte er sanft. »Ob du es glaubst oder nicht: Ich will mich ganz und gar nicht mit dir streiten. Du bist der Erste, der mich besucht, seit der schlaue Fuchs aus Kettari mich hierhergelockt hat.«

»Er hat mir erzählt, er habe Sie in eine verschwindende Welt gelockt, damit Sie mit dieser Welt vergehen. Offenbar ist das misslungen.«

»Wie du siehst, verschwindet niemand für immer aus Echo. Auch wir zwei befinden uns in einer vom Verschwinden bedrohten Welt, die aus den Jugendträumen einer Frau besteht - einer schrecklichen Ziege, unter uns gesagt. Im All gibt es viele Welten, die so entstanden sind. Sie existieren, solange ihre Schöpfer leben. Als mich Juffin hierherlockte, hatte sich diese Frau zu sterben entschlossen, und dazu war es auch höchste Zeit. Aber ich bin nicht mit dieser Welt verschwunden, denn Juffin hatte nicht damit gerechnet, dass ich Kraft genug hatte, das Sterben dieser Frau und ihrer Welt hinauszuzögern. Ich weiß zwar nicht, wie lange ich diesen Schwebezustand noch aufrechterhalten kann, aber ich werde sicher länger leben als jeder andere Mensch. Die Erben dieser Frau tun mir ein wenig leid, aber was kann ich dafür?«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich Juffin mal erzählen würde, mit Ihnen gesprochen zu haben. Wissen Sie, Lojso, ich habe die Angewohnheit, meinem Chef alles zu berichten - das ist wie ein nervöser Tick.«

»Natürlich erzählst du ihm das alles«, sagte er lächelnd. »Immerhin habe ich dich nicht ohne Hintergedanken hergelockt. Ich habe mich hier ganz gut eingelebt und hatte auch viel Zeit dafür. Juffin hat dafür gesorgt, dass ich diese Welt nicht verlassen kann, und ich habe mich bemüht, dass niemand ohne meine Einladung hier erscheint. Erzähl ihm also, was du willst. Du kannst gern übertreiben. Dein Chef ist wirklich ein Sonderling. Weißt du, wie man ihn früher nannte?«

Ich sah ihn nur fragend an.

»Tschifa«, sagte er achselzuckend. »Natürlich weißt du nicht, was das bedeutet. Tschifas sind kleine Silberfüchse in den Bergen der Grafschaft Schimara. Sie sind sehr schlau, und es ist kaum möglich, sie zu fangen. Doch sie sind neugierig, und wer sich ihre Neugier zunutze macht, kann sie erwischen. Ihr Jäger muss etwas Außergewöhnliches beherrschen, Kopfstand zum Beispiel oder Jonglieren. Dann besteht die Chance, dass ein Tschifa seinen Bau verlässt ... Aber solche Tricks können nur sehr junge Tiere begeistern. Unter den Jägern von Schimara gab es viele gute Zauberer, die sich einiges einfallen ließen. Ich glaube also nicht, dass Juffin von deinen Neuigkeiten sehr beeindruckt sein wird. In der Tiefe seiner Seele hofft er ohnehin auf ein Zeichen von mir. Er will nur kurz seinen Bau verlassen, mich beobachten und wieder verschwinden. Auch mir gefällt diese Einstellung.«

»Mir auch«, sagte ich lächelnd. »Das interessiert mich sehr, aber das hiesige Klima bekommt mir nicht. Ich fürchte, ich werde Ihrem Rat folgen und die Anhöhe verlassen. Ich kann mir gut vorstellen, in welchem Zustand ich aufwachen werde.«

»Geh, geh, natürlich«, pflichtete er mir bei. »Wir sehen uns noch.«

»Ist das eine Einladung oder eine Warnung?«

Ich war innerlich gespalten, und nur meine Zähigkeit ließ mich aufstehen. Fast hätte ich Lojso Pondochwa gebeten, mich vom Hügel zu tragen. Er gefiel mir, und ich wollte mich von der besten Seite zeigen.

»Meine Worte kannst du so oder so verstehen«, sagte er. »Aber ich weiß schon, dass ich mich nicht sonderlich bemühen muss, dich wieder hierherzulocken. Du bist noch neugieriger als dein Mentor und außerdem ein junger Tschifa.«

»Wenn Sie es sagen«, antwortete ich. »Für unser nächstes Wiedersehen möchte ich Ihnen empfehlen, sich im Fundus meiner jugendlichen Träumereien ein besonders schrilles Bild meiner selbst auszusuchen. Wenn Sie in meinem Gedächtnis stöbern, werden Sie sicher fündig. Vielleicht werden Sie mir dadurch noch sympathischer.«

Allmählich wurde ich frech, aber das zeigte nur, wie schlecht es mir ging.

»Es lohnt nicht, in deinem Gedächtnis zu stöbern«, meinte Lojso Pondochwa. »Du liebst dich über alles auf der Welt.«

»Was bin ich nur für ein egoistischer Unmensch!«, rief ich theatralisch und machte den ersten Schritt bergab. »Aber ich kann ja nichts dafür, dass ich so ein hübsches Gesicht hatte.«

In meinem Kopf rauschte es, und ich torkelte wie ein Betrunkener. Dennoch ging ich weiter, bis ich umfiel und im trockenen Gras abwärtsrollte.

Erleichtert atmete ich endlich wieder normale Luft ein. Den Magistern sei Dank: Ich lag in Techis halbdunklem Schlafzimmer unter einer Decke. Meine Freundin atmete neben mir, und das war wunderbar.

Als ich aus dem Fenster sah, ging gerade die Sonne auf. Offenbar hatte ich nur eine Stunde geschlafen. Wer hätte das gedacht! Dann betrachtete ich meine Hände und stellte fest, dass sie voller Kratzer waren, die ich mir offenbar im Traum bei dem Versuch zugezogen hatte, nicht weiter durchs trockne Gras zu kugeln.

Was hatte ich denn erwartet? Dass es sich bei meinem Treffen mit Lojso Pondochwa um einen harmlosen Traum gehandelt hatte, den ich meinem Psychoanalytiker genüsslich auf der Couch erzählen konnte? Ich schob die lädierten Hände unter die Decke und legte den Kopf zurück auf mein Kissen. Nach dem kurzen, aber intensiven Ausflug in die persönliche Hölle des Großen Magisters Lojso Pondochwa fühlte ich mich so zerschlagen, als käme ich von einer anstrengenden Nachtschicht zurück.

Es gelang mir, erneut einzuschlafen. Diesmal hatte ich keine Träume, und das war auch besser. Bald aber weckte mich Techis sanfte Hand. Ich fühlte mich wunderbar erfrischt und hielt es für besser, ihr nichts von meinem Treffen mit ihrem unglaublichen Vater zu erzählen. Sie durfte auch nicht erfahren, dass ich ihr Kissen benutzt hatte, um in ihre Träume zu dringen. Sie musste ohnehin ihr Leben lang für ihren Vater büßen, und ich wollte ihr keine weiteren Probleme bereiten. Meine Geschichte war allein für Juffins Ohren bestimmt.

Aufmerksam blickte ich in Techis sanfte, etwas schläfrige Augen und lauschte auf meine zwei Herzen, die ganz gleichmäßig schlugen. Offenbar ahnte meine Freundin nicht, dass ich ihren Vater getroffen hatte.

Ich hielt mich an mein Versprechen, Juffin erst mittags zu wecken - egal, was passiert sein sollte.

Als ich mich per Stummer Rede bei ihm meldete, bestürmte ich ihn: »Ich muss dringend mit Ihnen zu Mittag essen, Sir.«

»Wirklich? Manchmal habe ich den Eindruck, du möchtest auf meine Kosten ein wenig sparen.«

»Nein, Sir, ich habe Ihnen einiges zu erzählen, und es ist wichtig.«

»Das habe ich mir schon gedacht - sonst hättest du dich sicher nicht mit Stummer Rede gequält. Ich bin seit ein paar Minuten im Fressfass. Komm dorthin.«

»Auch wenn es Ihnen merkwürdig vorkommt: Ich möchte Sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit sprechen. Ich habe so große Neuigkeiten, dass wir uns am besten im Büro treffen.«

»Unsinn, Max. Glaub mir, wir können uns auch im Fressfass problemlos über die größten Geheimnisse unterhalten.«

»Ich muss gehen«, sagte ich zu Techi. »Und ich fürchte, der Tag wird anstrengend. Vielleicht siehst du mich in ein paar Stunden wieder, vielleicht aber kehre ich erst in einem Jahr mit langem Bart zurück.«

Ich zog eine Grimasse, denn mir war Kapitän Gjata eingefallen. Auch seine Geschichte musste ich verfolgen.

»Das geht nicht so schnell«, sagte Techi. »Wenn du dich mit einer Haarpracht schmücken willst, die dir bis zur Taille reicht, musst du sehr viel länger verschwinden. Aber so einen Rauschebart würde ich dir nicht empfehlen.«

»Das will ich auch hoffen!«

Nachdem der von einem Geist besessene Lonely-Lokley meinen Wagen zerstört hatte, war ich in einem A-Mobil-

Geschäft gewesen, um mir ein neues Gefährt zu kaufen. Dort hatte mich die Auswahl so begeistert, dass ich mehrere Modelle erstanden und sie an verschiedenen Orten von Echo geparkt hatte. So war es für mich nun kein Problem, rasch an einen eigenen Wagen zu kommen, obwohl ich mich am Vortag mit dem Dienst-A-Mobil nach Hause hatte bringen lassen.

Zwar hatte ich mich daran gewöhnt, ein mächtiger Zauberer zu sein, aber mein Reichtum überraschte mich noch immer.

Im Fressfass wartete Sir Juffin an unserem Lieblingstisch auf mich.

»Du bist schnell wie immer«, sagte er unbeeindruckt mit auf die vor ihm stehende Tasse gerichtetem Blick. Dann sah er auf und lächelte listig. »Anscheinend willst du mir etwas Unglaubliches mitteilen. Ist Lojso Pondochwa auferstanden?«

»Sie wissen es also?«, fragte ich baff.

»Eigentlich sollte das ein Witz sein«, meinte Sir Juffin achselzuckend. »Und ich hoffe, dabei bleibt es auch.«

Ich erzählte ihm alles von dem Moment an, da ich mich entschieden hatte, das Kissen mit Techi zu teilen. Und als Krönung präsentierte ich ihm die Kratzwunden an den Händen.

»Warum hast du das Gras überhaupt angefasst?«, fragte mein Chef. »Um Beweise für mich zu haben?«

»Für so klug halten Sie mich sicher nicht«, entgegnete ich. »Im Traum hätte ich fast einen Hitzschlag erlitten und habe unwillkürlich nach dem Gras gegriffen, um nicht immer schneller den Hügel hinabzurollen. Wenn Sie wüssten, was dort für Temperaturen herrschen!«

»Das weiß ich«, sagte Juffin ruhig. »Ich war schon dort. Aber eigentlich freue ich mich, dass es Lojso Pondochwa gutgeht, denn ohne ihn wäre die Welt sehr langweilig. Was hast du für einen Eindruck von ihm?«

»Er hat mir gefallen«, sagte ich nachdenklich. »Natürlich weiß ich, dass es den echten Lojso nicht gibt und er seinen Gesprächspartnern stets in der Gestalt erscheint, in der sie sich am liebsten sehen. Und Sie haben Recht: Er weiß sich hervorragend an die Wünsche seines Gegenübers anzupassen. Aber wie ist er wirklich? Hatten Sie stets nur mit einer Kopie Ihrer selbst zu tun, oder hat er Ihnen sein wahres Gesicht gezeigt?«

»Manchmal. Wir hatten viele gemeinsame Bekannte. Und auch Maba Kaloch war eng mit ihm befreundet. Lojso war launisch und oft aggressiv - nicht böse eigentlich, eben aggressiv. Wenn man mit dem echten Lojso zu tun hatte, wusste man nicht, ob er alles ringsum zu Kleinholz schlagen oder selbst explodieren würde. Er war oft charmant, konnte aber schnell unerträglich werden. Seine alten Freunde aus der Höheren Zauberschule erzählten mir, er sei zwar vergöttert worden, doch alle hätten Distanz zu ihm gehalten. Er war einfach eine zu starke Persönlichkeit, als dass sich andere in seiner Gegenwart wohlgefühlt hätten. Aber auch Lojso sehnte sich nicht nach Gesellschaft, sondern war der geborene Einzelgänger.«

»Sie sind anscheinend geradezu begeistert von Ihrem alten Feind«, sagte ich und lächelte vorsichtig.

»Irgendwie schon«, pflichtete mein Chef mir bei. »Ich mag seltsame Menschen, und Lojso Pondochwa war nicht nur ein exzentrischer Psychopath, sondern auch ein genialer Zauberer. Es heißt, er habe früher zaubern als laufen gelernt, und das glaube ich sogar. Zum Glück hatte ich einen ziemlichen Vorsprung, was das Erlernen der Reinen Magie anlangt. Übrigens haben wir uns den lustigsten Kampf in der Geschichte der Traurigen Zeit geliefert. Wir waren befreundete Magier, die sich nicht gegenseitig umbringen wollten, den Kampf aber beenden mussten und gleichermaßen neugierig darauf waren, wie er ausginge.«

»Warum haben Sie sich überhaupt diesen Titanenkampf mit Lojso geliefert?«, bohrte ich nach. »Schließlich haben Sie ihn gemocht - und er Sie.«

»Das war mein Auftrag und gehörte zu meinen Pflichten«, sagte Juffin achselzuckend. »Lojso hätte diese Welt vernichten können und hatte sogar schon erste Schritte dazu unternommen. Außerdem glaube ich nicht, dass wir je wahre Freunde geworden wären, denn das Schicksal hat uns stets gegensätzliche Rollen zugewiesen.«

»Verstehe«, sagte ich seufzend. »Aber was soll ich jetzt tun, Juffin? Wie soll es mit mir, Lojso, meinen Träumen und Techi weitergehen?«

»Selbst auf die Gefahr hin, dass du vom Stuhl fällst: Ich weiß es nicht. Auf alle Fälle solltest du ein eigenes Kissen benutzen. Anscheinend kann Lojso nur über seine Tochter mit dir kommunizieren, denn als sein letztes lebendes Kind ist sie sein Fenster in unsere Welt. Ich hatte von Anfang an den Eindruck, deine Beziehung zu Techi sei eine Falle, die Lojso dir gestellt hat.«

»Aber sie hat doch nicht die leiseste Ahnung von alldem«, wiederholte ich.

»Das ist ja das Problem. Würde sie die Lage durchschauen, würde ich mich viel sicherer fühlen. Techi ist sehr nett; eine bessere Frau findest du nicht. Und du hast dir umsonst Sorgen gemacht, Max: Ich verlange nicht, dass du sie verlässt. Aber leg deinen Kopf in Zukunft nicht mehr auf ihr Kissen.«

»Das wird mir schwer fallen, aber ich verspreche es«, sagte ich und spürte meine gute Laune zurückkehren.

»Vielleicht wird dir alles noch viel schwerer fallen als du glaubst«, sagte Juffin nachdenklich. »Du weißt ja nicht, was dein Körper tut, wenn du in die Träume anderer schlüpfst. Jedenfalls kannst du leicht wieder mit dem Kopf auf Techis Kissen geraten. Dafür reicht es ja schon, dich mit Schwung auf die Seite zu drehen.«

»Das passiert nur selten«, sagte ich betrübt. »Techi und ich schlafen zu verschiedenen Zeiten und meist in getrennten Betten. Die letzte Nacht war eine Ausnahme.«

»Warten wir's ab«, meinte Juffin skeptisch. »Jedenfalls bin ich überzeugt, dass die Bekanntschaft mit Lojso dir noch Probleme bereiten wird. Er ist mächtig genug, einen Weg zu finden, dich auch ohne den Umweg über seine Tochter zu erreichen. Und weil er es auf dich abgesehen hat, wird es auch keine Rolle spielen, auf welchem Kissen dein Kopf liegt. Lojso ist zwar gefährlich, aber du bist auch kein Waisenknabe. Und ich glaube, du bist gespannt darauf, dich mit ihm zu messen.«

»Sehr gespannt sogar«, sagte ich lächelnd. »So sehr, dass mir bei diesem Gedanken schwindelt. Lojso hatte Recht, als er vom kleinen Silberfuchs Tschifa erzählte. Ich glaube, wir zwei sind uns sehr ähnlich.«

»Aber du bist noch neugieriger als ich.«

»Ich habe noch nicht viel Erfahrung, und man kann mich mit einem einfachen Zaubertrick locken. Genau das macht der alte Lojso offenbar gerade.«

Wir schwiegen nachdenklich. Dann unterbrach ich die Stille. »Wissen Sie, Juffin, ich bin überzeugt, dass Lojso Pondochwa mir wenig anhaben kann. Sonst hätte sich eines meiner Herzen gemeldet. Sorge bereitet mir nur, dass ich ihn eines Tages besuchen und nicht mehr zurückkehren könnte.«

»Das Leben ist eine Reise ohne Rückfahrkarte«, sagte mein Chef brüsk. »Wer etwas anderes sagt, der lügt. Und damit soll es für heute genug sein mit Lojso Pondochwa. Behandle das, was heute Nacht geschehen ist, streng vertraulich. Niemand darf etwas davon erfahren, auch Techi nicht. Es betrifft zwar auch sie, doch sie könnte versuchen, dich künftig von ihrem Vater fernzuhalten.«

»Was könnte sie denn unternehmen?«

»Da gibt es Möglichkeiten genug. Sie hat ein gespaltenes Verhältnis zu ihm, und die Gefahr, dass sie sich einmischt, ist groß. Die Tochter von Lojso Pondochwa fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. Dabei kenne ich viele Menschen, die gern an ihrer Stelle wären.«

»Nur wenige fühlen sich wohl in ihrer Haut. Die Haut der anderen hat eine fast magische Anziehungskraft.«

»Du klopfst ja heute schlaue Sprüche! Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte mein Chef und lächelte listig.

Ich war beruhigt, denn solange Juffin sich Spott erlaubte, drohte der Welt keine Katastrophe - was auch immer Lojso Pondochwa unternehmen mochte.

»Jetzt haben wir aber genug über meine Klugheit geredet! Gestern Nacht ist noch etwas Seltsames geschehen«, sagte ich und wollte meinem Chef die Geschichte von Kapitän Gjata erzählen, doch er schüttelte energisch den Kopf. »Damit kannst du zu Kofa gehen.«

»Woher wissen Sie, was ich Ihnen habe berichten wollen?«, fragte ich erstaunt.

»Ich habe keine Ahnung, worum es geht, doch mein Herz sagt mir, dass Kofa der ideale Ansprechpartner ist. Dachtest du etwa, nur dein Herz könne kluge Ratschläge erteilen?«

»Schon gut. Dann kann ich Ihnen beim Essen aber leider keine Gesellschaft leisten. Wer bei Kofa etwas erreichen will, muss Speis und Trank mit ihm teilen.«

»Willst du etwa behaupten, du könntest keine zwei Essen nacheinander verputzen?«, fragte mein Chef lächelnd. »Was hat dieser Lojso bloß heute Nacht mit dir angestellt?«

Ich kicherte und meldete mich per Stummer Rede bei Kofa: »Ich sterbe vor Hunger. Außerdem habe ich ein Geheimnis, das nur für deine Ohren bestimmt ist.«

»Denk dir, auch ich habe eine interessante Neuigkeit. Ich weiß nur noch nicht, ob sie eher für dich oder für Melifaro geeignet ist. Wo treibst du dich rum?«

»Ich sitze im Fressfass und betrachte den leergegessenen Teller von Juffin«, antwortete ich.

»Gut, lass auch noch Melifaro kommen, und bestellt euch was. Ich bin gleich da«, sagte Kofa.

Kaum hatte ich die Stumme Rede beendet, stand mein Chef auf. »Gut, Max, bis bald. Ich nehme an, du bleibst hier, um dich mit deinen Kollegen zu treffen.«

»Vielen Dank, dass Sie mich hinsichtlich Lojso Pondochwa beruhigt haben.«

»Das war doch selbstverständlich«, sagte Juffin, winkte mir vom Ausgang her zu und verschwand.

Nach kaum einer Minute öffnete sich die Tür zum Fressfass, und Melifaro kam herein. Diesmal trug er einen nagelneuen, grellroten Lochimantel. Fast wäre ich ohnmächtig geworden, doch mein Kollege fühlte sich in seiner Neuanschaffung offenbar sehr wohl.

»Habe ich Juffin verjagt?«, fragte er. »Das wäre ganz was Neues. Ist etwas Wichtiges passiert? Dann muss ich doppelt so viel essen, denn vielleicht komme ich lange nicht mehr dazu.«

»Wenn Kofa uns seine Neuigkeiten erzählt, sage ich auch etwas dazu. Du solltest sicherheitshalber eine ordentliche Portion bestellen.«

»Ein großartiger Rat! Was würde ich ohne dich nur tun?«

»Ohne mich würdest du nur Dummheiten anstellen, aber das weißt du ja«, sagte ich und lieferte ihm damit beiläufig die Pointe, auf die er es abgesehen hatte.

Melifaro nickte nur und musterte mich. Ich merkte, dass er bester Laune war.

»Bei dir läuft's gut, was?«, fragte ich neugierig.

»Ich kann nicht klagen«, gab Melifaro zurück und widmete sich dann ausschließlich dem Essen.

Schau dir diesen Schönling an, sagte ich mir. Und mach dir klar, dass auch dein Gesicht, wenn du frisch verliebt bist, diesen idiotischen, überglücklichen Ausdruck hat. Vielleicht sieht es sogar noch schlimmer aus, denn du neigst zu Übertreibungen, Max.

»Was gibt's da zu glotzen?«, fragte Melifaro.

»Ach, nichts Besonderes, mein Freund. Ich mache mir nur Gedanken über mich. Du kommst zwar auch darin vor, aber ganz am Rande.«

»Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Betrogene Ehemänner können sich solche Späße erlauben.«

»Bin ich so schnell zum Hahnrei geworden?«

»Was noch nicht ist, kann sehr bald werden«, erklärte Melifaro nachdrücklich. »Nach deinem gestrigen Auftritt kann es jeden Moment so weit sein. Die drei Mädchen wirkten nach deiner Freiheitsrede so erleichtert, dass ich nur Mitleid mit dir haben kann«, sagte er und wandte sich zur Tür. »Ah, da kommt ja unser Meister des Verhörs! Hallo, Kofa.«

»Hallo«, gab Kofa Joch zurück und setzte sich zu uns. »Heute ist gar kein schlechter Tag für mich, muss ich sagen. Warum esst ihr nicht?«

»Wir waren zu beschäftigt«, sagte Melifaro. »Wir haben uns über Frauen unterhalten.«

»Zu diesem interessanten Thema kann ich leider nichts beitragen, doch es gibt noch andere spannende Dinge, zum Beispiel die Arbeit. Max, sind deine Neuigkeiten für mich wirklich so wichtig?«

»Das weiß ich noch nicht. Fang du am besten an.«

Kofa ließ den Blick über den üppig gedeckten Tisch wandern, kniff die Augen zu und lehnte sich zurück. »Seit wir uns mit Kekki ausführlich über den Koffer von Ande Pu unterhalten haben, muss ich ständig an dieses Gepäckstück denken. In solchen Fällen tragen meine Beine mich unbewusst dorthin, wo ich Genaueres darüber erfahren kann. Das ist eines meiner nützlichsten Talente. Als ich noch bei der Polizei gearbeitet habe, habe ich diese Fähigkeit jeden Tag unter Beweis gestellt. Doch auch heute kann ich mich nicht beklagen, denn in Echo gibt es viele Wirtshäuser, und ich gerate immer in das richtige. Was wäre ein Mann in meiner Funktion ohne dieses Talent schon wert? «

»Donnerwetter!«, bemerkte ich und pfiff durch die Zähne. »Deine Arbeit hab ich mir ganz anders vorgestellt.«

»Daher diese Erklärung. Außerdem wollte ich dir zeigen, dass meine Neuigkeiten etwas mit deiner Koffergeschichte zu tun haben dürften.«

Kofa machte eine Pause, denn er bekam das bestellte Essen gebracht. Nachdem er sein Gericht gemustert hatte, fuhr er fort: »Gestern Abend habe ich deine drei Frauen nach Hause gefahren. Danach bin ich noch spazieren gegangen und habe mir weiter über die Geschichte mit dem Koffer den Kopf zerbrochen. Meine Beine taten ihren Dienst, und ich landete im Wirtshaus Trunkener Regen.«

»Dort ist es sehr nett«, mischte sich unser Experte Melifaro ein.

»Schöne Freunde seid ihr! Da kennt ihr seit Jahren ein nettes Lokal und sagt mir kein Sterbenswörtchen davon«, beklagte ich mich.

»Da kommst du schon noch hin. Aber jetzt unterbrich mich nicht weiter«, sagte Sir Kofa mit ungeduldiger Handbewegung. »Im Trunkenen Regen war es ziemlich leer. Es herrschten also ideale Bedingungen, um einen alten Bekannten anzusprechen - Secha Modorok nämlich, der einst beim Orden der Grünen Monde beschäftigt war.«

»Für diesen Orden haben auch Vater und Großvater meines lieben Freundes Ande Pu gearbeitet, und zwar als Köche - nachdem sie die Piraterie an den Nagel gehängt und sich in Echo angesiedelt hatten«, stellte ich fest. »Beide starben, als die Armee von König Gurig VII. die Residenz des Ordens in Flammen aufgehen ließ.«

»Nur Ordensmitglieder, die sich nicht in der Residenz aufhielten, überlebten den Brand«, berichtete Kofa. »Einige davon - durchweg jüngere Magister - verließen das Vereinigte Königreich sofort und in großer Eile. Die übrigen Überlebenden - Dienstpersonal des Ordens - blieben erstaunlicherweise unbehelligt. Zu ihnen gehörte Secha Modorok. Schon in der Traurigen Zeit war er ein Dieb, und auch nach Verabschiedung des Chrember-Gesetzbuchs konnte er nicht von seinen Fischzügen lassen. In den ersten Jahren der neuen Epoche gab es auffällig viele Diebstähle, bei denen Unerlaubte Magie zum Einsatz kam. Das gefiel der Stadtpolizei natürlich gar nicht, denn am Anfang seiner dortigen Karriere war General Bubuta Boch noch unbedarfter als heute und hatte keine so ausgezeichneten Helfer wie Hauptmann Apur Blaki oder den verstorbenen Schichola. Mein Gespräch mit Secha lief so wunderbar, dass ich beschloss, den netten jungen Mann zu überlisten. Er ist übrigens wirklich nett - ihr solltet mal seine ratlosen blauen Augen und seine Stupsnase sehen. Seit seiner Jugend hat er sich kaum verändert. Selbst als er wegen zweifachen Mordes ins Cholomi-Gefängnis eingeliefert wurde, sah er noch aus wie die Unschuld selbst.«

»Wurde er kürzlich aus dem Gefängnis entlassen?«, wollte Melifaro wissen. »Wann hast du ihn erwischt?«

»Im 26. Jahr des Chrember-Gesetzbuchs. Erst vor wenigen Monaten wurde er entlassen. Ich muss gestehen, dass ich ihn ganz vergessen hatte, aber im Wirtshaus habe ich ihn sofort erkannt. Er hat noch immer dieses schüchterne Lächeln, als wolle er nach der Uhrzeit fragen. Ich dachte gleich daran, dass Secha die Verwandten deines Freundes Ande Pu kennengelernt haben mochte, als er mit ihnen vor vielen fahren für den Orden des Grünen Mondes arbeitete. Sofort war mir klar, dass Secha etwas mit dem Diebstahl zu tun haben könnte. Er hatte mich beim Eintreten nicht erkannt, denn natürlich hatte ich mein Aussehen geändert. Als ich aber an seinen Tisch trat, zeigte ich ihm mein wahres Gesicht. Secha schrak zusammen, doch ich blieb freundlich. Wenn du einen nicht gerade klugen Menschen zum Reden bringen willst, brauchst du ihm nur zu verstehen zu geben, er sei nicht der Beschuldigte, sondern bloß ein Zeuge. Dann wird er sich vor Erleichterung sicher schnell verplappern. Das ist eines meiner Berufsgeheimnisse - und soeben habe ich es euch kostenlos verraten.«

»Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum, Kofa«, bemerkte Melifaro lächelnd. »Dieses Berufsgeheimnis habe ich von dir nun zum 666. Mal erfahren.«

»Vielleicht solltest du meine Ratschläge nicht zählen, sondern befolgen.«

»Schön und gut, aber woher soll ich die beschränkten Menschen nehmen, auf die dein Ratschlag immer wieder zielt? Ich habe leider fast ausschließlich mit hochintelligenten Verbrechern zu tun.«

»Lass mich trotzdem weitererzählen«, sagte Melifaro und seufzte tief. »Ich habe Secha auf seinen alten Bekannten Soma Pu angesprochen. Er hat nur das Gesicht verzogen und getan, als könne er sich nicht an ihn erinnern. Das war ein Fehler, denn die Küche ist in jedem Orden der behaglichste Ort, und es ist ausgesprochen unglaubwürdig zu behaupten, man könne sich nicht an den Namen des Kochs erinnern. Dann sagte ich Secha, dieser Koch habe ein furchtbares Geheimnis. Natürlich hatte ich nicht vor, ihn direkt auf den Koffer anzusprechen. Also bat ich ihn,

mir über den Orden alles, woran er sich erinnern könne, zu erzählen. Ich versprach ihm sogar eine kleine Belohnung, natürlich rein hypothetisch. Prompt wusste Secha, worauf ich hinauswollte. Er erzählte mir viele Einzelheiten aus seiner Jugend und war so gut gelaunt, dass er uns Drachenfeuer bestellte, die Spezialität des Lokals. Plötzlich merkte ich, dass er sich in einen ungemein ramponierten Lochimantel gewickelt hatte. Das entsprach nicht dem Bild, das ich von ihm hatte, denn er stammte nicht nur aus recht wohlhabendem Hause, sondern seine Eltern hatten ihm auch jeden Diebstahl verziehen und ihn immer wieder in die Familie aufgenommen. Als ich ihn aber nach seiner finanziellen Lage fragen wollte, erklärte er plötzlich, er sitze im Durchzug, stand auf und ging zur Tür. Dann geschah etwas Unfassbares.«

»Ist dir etwa der Appetit vergangen?«, fragte Melifaro atemlos.

»Schlimmer noch - mir ist die Person abhandengekommen, die ich den ganzen Tag beobachtet hatte! Und das in einem geschlossenen Raum! Fragt sich nur, wie. Mein Magieanzeiger jedenfalls hat nicht ausgeschlagen.«

»Hat der Verdächtige etwa die Dunkle Tür genommen«, fragte ich interessiert.

»Eben nicht. Das hätte ich sofort bemerkt.«

»Moment mal«, sagte Melifaro. »Ich hab hier etwas nicht verstanden. Willst du ernstlich behaupten, Secha Modorok sei vor deinen Augen verschwunden?«

»Nicht ganz, denn für einen Moment hatte ich ihn nicht beobachten können. Das klingt sicher etwas seltsam, aber ein paar Sekunden lang war ich abgelenkt. Danach konnte ich mich wieder auf den Tisch konzentrieren, an dem der Mann eben noch gesessen hatte, und musste feststellen, dass er nun nicht mehr im Lokal war. Ich bin sofort auf die Straße gelaufen, aber er war nirgendwo zu sehen.«

»Soll ich mir deine Geschichte zu Ende anhören oder mich gleich auf die Suche nach dieser seltsamen Gestalt machen?«, fragte Melifaro kühl.

»Du brauchst ihn nicht zu suchen«, sagte Kofa seufzend. »Und gleich wirst du verstehen, warum. So was ist mir wirklich noch nie passiert. Ich war wütend auf mich, schwor mir aber, das Vereinigte Königreich so lange zu durchkämmen, bis ich den Mann gefunden hätte. Ich kehrte an meinen Tisch zurück, um mich auf die Suche nach Secha zu konzentrieren. Aber auch das half mir nicht. Also versuchte ich daran zu denken, welches Unheil er schon angerichtet hatte, und nach wenigen Minuten trugen meine Füße mich auf das Linke Ufer, genauer gesagt zur Villa des alten Sir Tschafa Ranwara. Ich war überzeugt, Secha habe etwas mit diesem Haus zu tun. Da es schon spät war und ich weder den Hausbesitzer noch seine Diener stören wollte, meldete ich mich per Stummer Rede bei Kekki, die mir erzählte, dort sei vor vier Tagen ein Diebstahl geschehen. Verschwunden waren Geld und einige seltsame Gegenstände, erstaunlicherweise aus einem Zimmer, das mit einem Spezialschloss gesichert war, dessen Schlüssel allein der Hausherr besaß. Es gab auch keine Einbruchsspuren, und obwohl sehr viel Personal im Haus beschäftigt war, hatte keiner etwas bemerkt. Ich fragte Kekki, ob in letzter Zeit etwas Ähnliches vorgekommen sei, und siehe da: Kürzlich ist etwas Geld aus dem Kronschatz verschwunden.«

»Nicht schlecht«, meinte Melifaro und pfiff durch die Zähne. »Warum weiß der Kleine Geheime Suchtrupp nichts davon?«

»Die Summe war zu klein, als dass die Stadtpolizei sich an uns hätte wenden müssen. Na schön, nachdem ich das alles erfahren hatte, ging ich zu Lady Modorok, der Mutter von Lady Techi, um ihr alles zu erzählen und sie zu fragen, ob sie womöglich wisse, wo sich ihr Sprössling herumtreibe. Aber das war vergebliche Liebesmüh. Unter uns gesagt: Manchmal werden Nachkommen den Eltern zum Verhängnis. Das einzig Interessante bei dem Besuch war, dass ich in Sechas Schlafzimmer auf eine kleine Tür stieß, hinter der sich Sachen befanden, die er Tschafa Ranwara gestohlen hatte. Dort lag auch das aus dem Kronschatz gestohlene Geld. Ich befahl den Polizisten, es dem Eigentümer zurückzubringen, und blieb im Hause Modorok, um auf Secha zu warten. Offenbar liebte er die Hauptstadt und seine Mutter über alles und hielt sich obendrein für jemanden, der nicht zu fangen war. Er war dumm genug zu glauben, er könne seinen Verfolgern immer wieder ein Schnippchen schlagen. Ich wartete einige Stunden im Sessel auf ihn, schlief dann aber ein. Plötzlich wachte ich auf und trat mit dem sicheren Gefühl, Secha sehr bald zu erwischen, auf die Straße. Ich ging zum Haus an der Brücke, stieg in mein A-Mobil und fuhr los. Plötzlich hörte ich einen Schrei, den ich nie vergessen werde. Ich sprang aus dem Wagen und sah Secha Modorok auf der Straße liegen. Er war tot. Eine magische Kraft musste ihn und mein A-Mobil zusammengeführt haben. Dann ließ ich Sir Skalduar van Dufunbuch kommen, um die Todesursache feststellen zu lassen. Ich begriff, dass der arme Secha allein nicht die Kraft gehabt hätte, all diese Diebstähle zu begehen.

Während Skalduar den Toten untersuchte, nahm ich mir seine Kleidung vor - und seht mal, was für einen Schatz ich gefunden habe«, sagte Kofa, zog einen verschlissenen Lochimantel hervor und legte ihn sich um, doch nichts geschah.

»Gut, Jungs, hier am Tisch funktioniert der Trick nicht, aber ich werde jetzt tun, als wollte ich gehen, und ihr schaut mir dabei zu.«

Das taten wir gern. Ich beobachtete seinen Rücken, merkte aber plötzlich, dass mir etwas ins Auge geraten war, und konnte mich nicht mehr auf Kofa konzentrieren.

»Max, ich glaube, ich spinne. Wo ist er? Siehst du ihn?«, fragte Melifaro verwirrt.

»Nein, ich sehe ihn auch nicht.«

Es stellte sich heraus, dass Kofa die ganze Zeit neben unserem Tisch stehen geblieben war.

»So einen Schatz hab ich gefunden«, rief er begeistert. »Er ist genau das, was ich für meine Arbeit dringend brauche, und viel bequemer, als ständig das Gesicht zu verändern. Gegenstände wie diesen nennt man Einfache Zauberdinge, wie ich vom klugen Vogel Kurusch erfahren habe. Dieser Mantel wurde weit von Uguland entfernt als Talisman hergestellt, doch erst in unserer Hauptstadt entfaltet er seine Wirkung. Wenn man ihn sich umlegt, wird man unsichtbar, und alle Magieanzeiger schweigen - ein famoses Kleidungsstück ist das.«

»Stimmt«, meinte Melifaro und befühlte das verschossene Gewebe. »Die Bettler am Hafen dürften dich darum beneiden.«

»Gut, Jungs, nun müssen wir nur noch den Koffer finden. Und denkt daran: Laut Zeugenaussagen haben ihn zwei Männer gestohlen.«

«Jetzt könnt ihr euch vielleicht auch meine Geschichte anhören«, begann ich schüchtern. »Sie ist jedenfalls kürzer.«

Ich erzählte von meinem seltsamen Gespräch mit Kapitän Gjata und hatte das Gefühl, es liege schon Monate zurück. Offenbar war mein Zeitgefühl durcheinandergeraten.

»Max, ich kann es nicht fassen - du bist wirklich ein Glückspilz!«, rief Sir Kofa zu meiner größten Überraschung. »Ich war heute Vormittag nicht faul und habe mein Wissen hinsichtlich der magischen Praktiken am Ukumbrischen Meer vertieft. Übrigens«, fuhr Sir Kofa fort und wandte sich an Melifaro, »wird mich dein Vater bestimmt verfluchen, denn ich habe ihn heute Morgen dreimal per Stummer Rede belästigt.«

»Aber nein«, sagte der Sohn des großen Enzyklopädisten strahlend. »Mein Vater plaudert gern - am liebsten über Themen, bei denen er sein profundes Wissen ausbreiten kann.«

»Das verstehe ich gut«, sagte Sir Kofa. »Aber zurück zu den Ukumbrischen Piraten. Als Talismane schätzt man dort vor allem Dinge, die ihrem Besitzer besondere Überzeugungskraft verleihen. Oft passiert es, dass diese Gegenstände erst in Echo ihre eigentümliche Kraft entfalten.«

»Willst du damit sagen, mein geheimnisvoller Kapitän habe so einen Talisman besessen?«, fragte Melifaro finster.

»Lasst uns zum Hafen gehen«, schlug ich vor. »Wir müssen uns die Tobindona anschauen - je schneller, desto besser!«

Melifaro sprang sofort auf.

»Wartet noch kurz«, sagte Sir Kofa. »Wir sollten vorher noch etwas klären. Offenbar sehen wir den zweiten Dieb nicht, der auch so einen Lochimantel besitzt. Übrigens ist dieses Kleidungsstück der beste Schutz gegen die flammenden Reden, die der Kapitän im Hafen schwingt.«

Ich musste an ein Abenteuer des Odysseus denken. Um den süßen Gesang der Sirenen zwar zu hören, ihm aber nicht zu verfallen, ließ der griechische Held sich an den Mast seines Schiffes fesseln und befahl seinen Männern, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen und die Meerenge, an der die Sirenen arglose Schiffer mit ihrem Gesang betörten, zu durchrudern,• so bewahrte er sich und seine Leute vor dem Untergang, konnte zugleich aber dem verführerischen Gesang der Sirenen lauschen.

»Ich hab's«, rief ich. »Sir Kofa geht zum Hafen und hört sich die Reden des Kapitäns mit verstopften Ohren an, und wir zwei wickeln uns in den Mantel, der uns nicht nur unsichtbar, sondern auch immun gegen seine verführerischen Worte macht.«

»Vielleicht gelingt es dem Kapitän, uns trotz Talisman und Unsichtbarkeit zu verführen«, sagte Melifaro. »Mein Vater würde sich bestimmt freuen, wenn unser braves Familienleben etwas durcheinandergeriete. Aber jetzt lass uns aufbrechen. Die Zeit ist knapp.«

Auf der Fahrt zum Hafen versuchte Sir Kofa, sich aus allen erdenklichen Materialien Ohrenstöpsel zu basteln.

»Schrecklich«, rief er. »Egal, was ich mir in die Ohren stopfe - ich bekomme einfach alles mit.«

»Am besten nimmst du Wachs«, riet ich ihm. »Gibt es hier irgendwo einen Laden, der Kerzen verkauft?«

Ich hielt mich an die klassische Methode. Was gut für Odysseus gewesen war, konnte für Sir Kofa nicht schlecht sein.

»Woher weißt du das alles eigentlich?«, fragte Melifaro erstaunt.

»Ich bin einfach nur sehr klug«, meinte ich bescheiden.

»Um die Ecke ist ein Geschäft, in dem man alle möglichen Haushaltswaren kaufen kann, auch Kerzen«, sagte Kofa.

Ich hielt in der nächsten Seitenstraße, und er stieg aus. Nach wenigen Minuten kam er in bester Laune zurück.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Melifaro. »Max hat ausnahmsweise Recht gehabt.«

»Ich weiß nicht, wovon ihr redet. Ich höre euch nicht«, schrie Kofa wie ein Schwerhöriger.

Zu meiner großen Freude hatte sich meine Belesenheit einmal mehr als vorteilhaft erwiesen.

Der Hafen von Echo war für mich nach wie vor ein Labyrinth, in dem sich nur zurechtfand, wer schon lange darin arbeitete. Darüber hinaus wussten sich auch Orientierungsgenies wie Sir Kofa sicher darin zu bewegen. Kofa aber stieg aus, kaum dass wir das Hafengelände erreicht hatten, warf sich den alten Piratenmantel um die Schultern und wurde unsichtbar, so dass ich seine Gegenwart nur erahnen konnte. Doch zum Glück kannte sich auch Melifaro sehr gut im Hafen aus, und ich beobachtete neidisch, wie sicher er sich durch die Straßen bewegte.

»Wo soll dieses Schiff liegen?«, fragte er mich.

»Am Ende des rechten Anlegers.«

»Warum hast du das nicht früher gesagt? Wir hätten mit dem A-Mobil viel näher heranfahren können. Kofa, du hättest auch mal was sagen können - schließlich kennt Max sich im Hafen nicht aus.«

Bei diesen Worten sah er zum Himmel, als würde er beten.

»Melifaro, jetzt reicht's mir aber. Wir brauchen nur fünf Minuten zu gehen. Bist du wirklich so faul?«, meldete sich Sir Kofa von links.

»Du hörst ja doch etwas!«, rief ich erstaunt, bekam aber keine Antwort.

»Er hat einfach gesehen, wie aufgebracht ich bin«, meinte Melifaro.

Die nächsten Minuten gingen wir zwischen Stapeln von Kisten und mit Teer verschmierten Taurollen hindurch. Ringsum waren verschwitzte, breitschultrige Hafenarbeiter zu sehen. Melifaro amüsierte sich über meine erschrockene Miene und sprang anmutig über die vielen Bretter, die im Weg lagen.

»Keine Angst, Max. Wir sind fast da. Dort vorn liegt die Tobindona«, sagte er generös und wies mit dem Kopf auf das Schiff vor uns.

»Wie schön!«, rief ich.

»So ein Unsinn, Max. Für dich ist offenbar jedes Schiff schön, das sich über Wasser hält«, pflaumte mich Melifaro an. »Das ist ein ganz normaler Seelenverkäufer, von denen viel zu viele über die Meere fahren.«

»Du bist einfach ein Snob!«

»Ich bin kein Snob, sondern Spezialist. Wenn du einen Verwandten wie Sir Antschifa hättest, wärst du das auch.«

»Ich kann mir schon vorstellen, dass dein kleiner Piratenbruder dich mitunter auf sein Schiff eingeladen und kurz ans Steuer gelassen hat, aber das ist sicher über hundert Jahre her. Inzwischen lässt er solche Experimente nicht mehr zu, denn du bedeutest längst eine viel zu große Gefahr für sein Schiff.«

»Du bist wirklich ein Hellseher. Der Zwischenfall, der uns entzweit hat, liegt allerdings erst achtzig Jahre zurück. Seitdem darf ich seine Philo nicht mehr betreten.«

»Dein Bruder ist offenbar ein kluger Mensch«, stellte ich fest. »Wir sind da. Und nun? Hast du dir schon was überlegt?«

»Natürlich. Wir gehen an Bord und verhalten uns dort, wie es die Lage erfordert«, sagte Melifaro mit einem Lächeln.

Mit einer anderen Antwort hatte ich bei meinem Kollegen nicht gerechnet.

Ohne eine Einladung abzuwarten, betraten wir das Schiff, einen wunderschönen Zweimaster - auch wenn Melifaro das anders sehen mochte.

»Hallo, Herr Kapitän«, rief er. »Kommen Sie bitte zu uns, egal, wo Sie sind. Wir müssen miteinander reden.«

»Sie brauchen nicht so zu schreien, Sir. Hier bin ich.«

Wir erblickten einen großen, aber gebeugten Mann. Er trug einen dünnen schwarzen Ledermantel und ein Piratentuch und sah ganz und gar nicht wie ein Seemann aus, sondern so, als habe Paganini sich in den Hafen verirrt.

»Ich heiße Kao Anloch«, sagte der nicht eben bildhübsche Kapitän höflich, »und stehe zu Ihren Diensten. Sie brauchen sich mir nicht vorzustellen, denn ich ziehe es vor, die Leute, mit denen ich zu tun habe, nicht namentlich zu kennen.«

Ich hätte am liebsten losgekichert, denn dieser Seemann trat auf wie ein hinterwäldlerischer Gelehrter. Auch Melifaro war offenbar hingerissen, ließ sich das aber nicht anmerken.

»Wir sind vom Kleinen Geheimen Suchtrupp der Stadt Echo, Herr Anloch. Wissen Sie bereits, worum es geht, oder benötigen Sie noch eine Erklärung?«

»Natürlich weiß ich Bescheid«, sagte er strahlend. »Sie kommen sicher wegen des Koffers zu mir, der dem alten Sochma Pu gehörte. Bestimmt hat mein leichtsinniger Freund Secha Modorok ein paar Tricks angewandt und ist dabei aufgeflogen. Aber das ist sein Problem. Was den Koffer anlangt, haben Secha und ich nur genommen, was uns zustand.«

»Interessant«, sagte Melifaro und wiegte skeptisch den Kopf. »Soll das heißen, der Inhalt des Koffers gehört Ihnen?«

»Genau das soll es heißen. Der ursprüngliche Besitzer Sochma Pu und ich waren gute Freunde. Deshalb wollte er mir ein paar Sachen schenken. Wissen Sie, als Secha und ich dem Orden der Grünen Monde beitraten, mussten wir - wie es die Ordensregeln verlangten - ein paar Jahre lang niedere Arbeiten verrichten. Wir landeten in der Küche und lernten dort den alten Sochma kennen, der auch nur Helfer seines Sohnes war. Sochma hatte kurz zuvor all seine Ersparnisse verloren und musste auf seine alten Tage wieder arbeiten gehen - und zwar in der Küche, die sein Sohn leitete. Er war mit seiner Lage nicht gerade zufrieden und sprach kaum mit seinem Sprössling Tschorko, umso lieber aber mit uns. Er war zunächst sehr reserviert, doch wir befreundeten uns schnell. Er hat uns viel von seinen Piratenabenteuern und seinem reiselustigen Vorleben erzählt. Zur selben Zeit entschied sich mein Freund Secha aus romantischen Gründen, die Diebeslaufbahn einzuschlagen. Ich dagegen war so von den Reiseberichten des Kochs begeistert, dass mich eher die Seemannskarriere reizte, und ich versuchte mich mehrmals, aber stets erfolglos auf See. Doch jetzt ist endlich die stolze Tobindona in mein Leben getreten.«

»Schön und gut, aber Sie wollten uns doch etwas über den Koffer erzählen«, drängte Melifaro.

»Ach ja, natürlich. Sochma hat uns seine alten Talismane versprochen, die sich in einem Koffer im Keller seines Hauses in der Straße der Spitzdächer befanden. Er hat uns sehr viel davon erzählt. Ich hatte den Eindruck, dass es ihm vor allem darum ging, mit seinen Geschichten seinen Sohn zu ärgern, aber Sir Tschorko war es ohnehin egal, was sein Vater mit dem alten Krempel machen wollte. Wie auch immer - Secha und ich hielten die Talismane schon für unser Eigentum. Im Jahre 3183 der Ordensepoche sagte Sochma, er wolle uns am letzten Tag des Jahres ein Geschenk machen. Wie ungeduldig harrten wir diesem Tag entgegen! Wir dachten, die Talismane würden unser Leben ändern. Das wäre auch so gekommen, wenn die Residenz des Ordens der Grünen Monde am Jahresende nicht bereits verbrannt gewesen wäre, was fast alle Mitglieder und Mitarbeiter des Ordens das Leben gekostet hatte. Secha und ich überlebten nur durch einen Zufall: Am Vorabend des Angriffs auf die Residenz waren wir auf dem Markt Lebensmittel einkaufen und versackten danach im Wirtshaus, denn damals konnten wir uns kaum frei bewegen. Als wir zurückkehrten, war die Residenz nur noch ein rauchender Trümmerhaufen. Dann führte das Leben Secha und mich auseinander. Erst vor einem Monat habe ich ihn zufällig im Trunkenen Regen sitzen sehen. Wir haben uns gleich erkannt, uns prächtig unterhalten und rasch gemerkt, dass wir nichts zu prahlen hatten, aber meine Lage war immerhin besser als seine, denn ich hatte nicht im Gefängnis gesessen. Da kann man schon zufrieden mit sich sein, stimmt's?«

Ich nickte energisch. Wo er Recht hat, hat er Recht, dachte ich. Überhaupt gefiel mir der etwas chaotische Kao Anloch immer besser. Langsam begriff ich, warum Kapitän Gjata beschlossen hatte, seine Verpflichtungen fahren zu lassen und mit ihm bis ans Ende der Welt zu reisen. Die Augen des Schiffseigentümers glänzten wie die eines begeisterten Kindes. Er hatte allerdings viele Talismane, um seinen Charme zu verstärken, und das durfte ich nicht vergessen. Aber als er weiterredete, spielten all diese Einfachen Zauberdinge für mich keine große Rolle.

»Secha und ich haben die ganze Nacht im Trunkenen Regen verbracht. Wir haben uns natürlich auch über den alten Sochma Pu und die gemeinsame Arbeit in der Ordensküche unterhalten. Das war die schönste Zeit unseres Lebens, denn wir waren jung und glaubten, uns erwarte eine fantastische Zukunft. Wie sich zeigte, hatten wir uns getäuscht. Zwar geht es vielen Menschen so, aber das ist kein Trost.«

Der Kapitän seufzte tief und wirkte sehr betrübt, riss sich dann aber zusammen. »Natürlich haben wir uns über die geheimnisvollen Talismane der Piraten unterhalten, die uns der alte Koch versprochen hatte. Es mag seltsam klingen, doch wir beschlossen, sie uns endlich zu besorgen. Wer weiß, was aus unserem Leben geworden wäre, wenn wir sie schon früher bekommen hätten. Auch diesmal machten wir uns keine großen Hoffnungen und waren so gut wie sicher, der Koffer sei nicht mehr da. Trotzdem wollten wir danach suchen, denn Probieren geht über Studieren. Am nächsten Tag nahmen Secha und ich die Dunkle Tür, wie wir das beim Orden gelernt hatten. Ich kann Ihnen kaum beschreiben, wie erstaunt ich war, den Koffer im Keller zu entdecken. Seine dicke Staubschicht zeigte uns sofort, dass sich seit Jahren niemand für das gute Stück interessiert hatte. Also ließen wir ihn mitgehen, verschwanden durch die Dunkle Tür und landeten wieder in Sechas Zimmer. Dort nahm sich jeder den Talisman, den er seit Jahren für sein Eigentum gehalten hatte. Erst danach wurde uns klar, dass das Schicksal uns nur wieder zusammengeführt hatte, um den Koffer zu holen. Als wir ihn hatten, verloren wir das Interesse aneinander, und unsere Wege trennten sich erneut.«

»Und was haben Sie nach der Trennung von Secha gemacht?«, fragte Melifaro.

»Ich ging zu meinem Chef, kündigte und marschierte in den Alten Dom, um sechs Teller Rekreationssuppe zu verdrücken. Den armen Tschemparkaroke hätte fast der Schlag getroffen, so erstaunt war er über meinen Appetit. Am nächsten Tag erwachte ich als neuer Mensch und war mutig genug, in den Hafen zu gehen und die Tobindona zu chartern. Nun musste ich mir nur noch eine Mannschaft suchen und war erstaunt, wie viele Leute sich für eine Reise um die Welt interessieren. Zum Glück hat mich keiner nach seiner Heuer gefragt, denn die Charterkosten haben all meine Ersparnisse verschlungen. Ich habe viel zu viele Matrosen angeheuert, doch ich wollte keinen enttäuschen. Heute Abend muss ich aber wohl die schlechte Nachricht verkünden, nicht alle mitnehmen zu können, und die Männer würfeln oder Streichhölzer ziehen lassen. Wissen Sie, meine Herren, manchmal glaube ich, der Talisman des alten Sochma Pu hilft mir tatsächlich. Seit ich ihn habe, läuft bei mir alles besser.«

»Sind Sie also nicht überzeugt, all Ihre Erfolge dem Talisman zu schulden?«, fragte ich verblüfft.

»Na ja, als ich jung war, habe ich mir von Sochmas Koffer alles Mögliche versprochen, doch heute sind meine Erwartungen so gering, dass ich den Talisman vor allem aus Sentimentalität an mich genommen habe. Inzwischen aber bin ich sicher, dass die Piraten aus Ukumbrien und die Familie Pu sich wirklich auskennen, was Magie angeht.«

»Haben Sie Ihren Talisman dabei?«, fragte Melifaro.

»Natürlich. Hier oben«, sagte Kao Anloch und zeigte auf sein Piratentuch.

»Nehmen Sie es bitte ab«, sagte Melifaro sanft. »Wir müssen es uns ansehen.«

»Gern«, sagte der Kapitän und tat, wie ihm geheißen. »Bekomme ich es zurück? Es mag dumm klingen, aber ich fürchte, ohne diesen Talisman mein frisch gewonnenes Selbstbewusstsein zu verlieren, und heute Abend laufen wir aus. Aber vielleicht wird aus der Reise nichts, weil Sie mich wegen Diebstahls verhaften. Schließlich habe ich keinen Beweis dafür, dass Sochma Pu uns den Koffer versprochen hat.«

»Warten Sie's ab«, sagte Melifaro und wedelte mit dem Piratentuch, um Kofa, der unser Gespräch nicht verfolgen konnte, auf das gute Stück aufmerksam zu machen.

»Ich hab schon verstanden«, flüsterte Sir Kofa hinter meinem Rücken.

Er trat zu uns und zog dabei rasch den Mantel aus, der ihn unsichtbar gemacht hatte. Dann nahm er die Wachsstöpsel aus den Ohren.

»Kannst du mir das Piratentuch geben? Ich würde es mir gern ansehen«, sagte er zu Melifaro.

»Oh, Sie habe ich gar nicht bemerkt«, rief Kao Anloch erstaunt. »Wann sind Sie an Bord gekommen?«

»Gerade eben«, erklärte Kofa kurz und bündig. Er nahm das Tuch, hielt es an seine Pfeife, in die ein Magieanzeiger montiert war, und nickte zufrieden. »Ich glaube, wir sollten miteinander eine Tasse Kamra trinken, Herr Kapitän. Wir müssen alles gründlich besprechen, denn ich weiß wirklich nicht, was ich mit Ihnen machen soll.«

»Vielleicht muss man gar nichts mit mir machen«, sagte Kao Anloch. »Schließlich habe ich niemandem schaden, sondern nur eine Weltreise machen wollen. Vielleicht wäre es mir dabei sogar gelungen, die Enzyklopädie von Sir Manga Melifaro um einen neunten Band zu bereichern.«

»Der neunte Band ist schon geschrieben und steht vor Ihnen«, rief ich und wies auf Melifaro, der höflich nickte.

»Mein Vater dürfte sich darüber freuen, wie sehr die Früchte seiner Kopfarbeit andere beschäftigen.«

»Sind Sie wirklich der Sohn von Sir Manga?«

»Ja, ich bin sein Jüngster«, sagte Melifaro.

Der Kapitän dachte nicht mehr an die drohende Verhaftung, sondern sah ihn verzückt an, als sei mein Kollege ein Popstar, den er um ein Autogramm bitten wollte.

»Wenn Sie uns nicht sofort zu einer Tasse Kamra einladen, verhafte ich Sie«, sagte Sir Kofa lächelnd. »Das ist Ihre einzige Chance, uns zu bestechen, Kapitän.«

»Verzeihung«, sagte Kao Anloch errötend. »Einen Sohn des großen Sir Manga kennen zu lernen, hat mich ganz durcheinandergebracht. «

Er führte uns in seine Kajüte, die einem Mädchenzimmer glich, und wir nahmen am Tisch Platz. Der Kapitän brummte eine Entschuldigung und verschwand, um Kamra zu kochen.

»Was machen wir mit diesem Mann?«, fragte Kofa.

»Auf keinen Fall verhaften wir ihn«, antwortete Melifaro. »Mein Vater würde es mir nie verzeihen, wenn ich einen seiner größten Verehrer festnehme, der zudem eine Weltreise plant.«

»Ich halte es auch für richtig, Sir Kao auf freiem Fuß zu lassen. Wenn einer der beiden am Diebstahl Beteiligten schon eine harte Strafe bekommen hat, muss man beim zweiten Dieb nicht mehr so streng sein. Arithmetisch gesehen verbüßen beide dann eine mittelschwere Strafe.«

»Kao Anloch wirkt auf euch offenbar sehr überzeugend«, sagte Kofa lächelnd. »Das liegt an seinem Talisman.«

»Du bist aber auch sehr angetan von ihm«, entgegnete ich. »Das sehe ich dir doch an. Warum hat uns dieser sympathische Kapitän bloß nicht gebeten, die Sache einfach zu vergessen und wieder ins Haus an der Brücke zurückzukehren? Das wäre eigentlich auch eine faire Lösung gewesen.«

»Sicher«, sagte Melifaro nickend. »Er hat nicht mal versucht, uns von seiner Unschuld zu überzeugen. Und es war sehr schwer für mich, ihm Fragen zu stellen. Dieser Mann hat wirklich einen enormen Charme.«

»Er weiß offenbar nicht, was ihm da in die Hände gefallen ist«, sagte Kofa. »Das ist mir auch schon klar.«

»Ja«, pflichtete ihm Melifaro bei. »Er hat das Kopftuch nur als Talisman mitgenommen und beginnt erst zu ahnen, wie nützlich es wirklich für ihn ist.«

»Der arme Mann glaubt tatsächlich, es wäre ihm auch ohne sein Kopftuch gelungen, all diese Seeleute anzuheuern, ohne dass sie nach der Heuer fragen«, meinte ich. »Nun nimmt er an, ganz Echo sei voller Menschen, die von einer Reise um die Welt träumen. Soll man über so viel Naivität weinen oder lachen?«

»Zu weinen wäre sicher unangemessen«, bemerkte Kofa.

»Ich glaube, ich habe eine gute Kamra für Sie gekocht«, meinte Kao Anloch leise und stellte Krug und Tassen auf den Tisch.

»Die riecht wirklich verheißungsvoll«, sagte Kofa mit fachmännischer Miene. Auf diesem Gebiet war er ein Kenner.

Eine Zeit lang tranken wir schweigend. Ich war sogar so frech, mir eine Zigarette anzuzünden. Allem Anschein nach war der Kapitän ein genauso zerstreuter Mensch wie Lukfi Penz. Ich hatte Lust, ihm die Zigarette unter die Nase zu halten und auf seine Reaktion zu warten.

»Gut, Kapitän, ich habe meine Entscheidung getroffen«, sagte Sir Kofa schließlich. »Einerseits haben Sie Glück, denn weder ich noch meine Kollegen wollen Sie verhaften, obwohl Sie es sicher verdient hätten. Ich weiß zwar nicht, was Sochma Pu Ihnen vor langer Zeit alles versprochen hat, aber das ist kein Grund, in den Keller seiner Familie einzubrechen und einen Koffer mitgehen zu lassen - so unnütz er gewesen sein mag. Wo ist der Koffer eigentlich?«

»Verstehe«, sagte Kao Anloch traurig. »Meine Worte haben Sie nicht überzeugt. Aber ich habe keine anderen Beweise, denn Secha war der Meinung, wir sollten alles vernichten, um keine Spuren zu hinterlassen. Und ich dachte, er habe Recht - immerhin ist er ein Profi.«

»Ach so«, sagte Kofa lächelnd.

»Unser Kapitän ist eine ehrliche Haut«, meinte Melifaro. »Heute Abend hat er noch kein einziges Mal gelogen. Ich hatte selten mit einem so aufrichtigen Menschen zu tun. Haben Sie vielleicht noch etwas Stärkeres, Kapitän? Sie haben mich heute ziemlich durcheinandergebracht, und ich muss unbedingt etwas trinken.«

»Tut mir leid, aber ich habe nichts anderes da«, sagte der Kapitän verlegen. »Ich habe nicht daran gedacht, dass man auf See etwas Stärkeres braucht.«

»Skandal!«, rief Melifaro theatralisch. »Wie wollen Sie in nüchternem Zustand eine Reise um die Welt bewerkstelligen? Ihre Mannschaft jedenfalls wird das sicher nicht begreifen.«

Der Kapitän seufzte schuldbewusst und blickte verlegen zu Boden.

»Wie auch immer - ich möchte Ihnen nochmals versichern, dass ich Sie nicht verhaften werde«, meldete sich Sir Kofa wieder zu Wort. »Aber ich habe eine Nachricht, die Sie traurig stimmen dürfte: Ich muss Ihren Talisman einbehalten«, sagte er und wedelte einmal mehr mit dem Piratentuch herum. »Und zwar nicht, weil es im Kleinen Geheimen Suchtrupp Leute gäbe, die Ihnen Ihr Glück nicht gönnen, sondern weil es sich bei diesem Tuch um ein Exemplar von solch magischer Kraft handelt, dass kein Bewohner des Vereinigten Königreichs es zu Hause aufbewahren dürfte - nicht einmal der Erbe von Sochma Pu.«

»Verstehe«, sagte der Kapitän, und seine Stimme zitterte. »Es wird keine Reise um die Welt geben. Wie sollte sie mir auch bei meinem schon sprichwörtlichen Unglück gelingen?«

»Sie wissen gar nicht, welches Glück Sie haben, dass wir Ihnen das Tuch wegnehmen«, sagte Kofa. »Den Menschen, die bei Ihnen anheuern wollen, geht es nicht um romantische Abenteuer - sie können sich nur nicht der magischen Kraft Ihres Talismans entziehen. Aber wenn Sie Echo verlassen, verliert er an Kraft, und irgendwann befinden Sie sich inmitten zorniger Seebären, die nicht umsonst für Sie arbeiten wollen.«

»Aber der alte Sochma hat doch gesagt, das Piratentuch helfe nur, als angenehmer und interessanter Gesprächspartner zu erscheinen«, wandte Kao Anloch ein und schüttelte ratlos den Kopf.

»Auch Sochma hat offenbar nicht gewusst, welchen Einfluss es in Echo tatsächlich hat. Sonst hätte er das Tuch sicher getragen - auch wenn es ganz und gar nicht zur Mode unserer Hauptstadt passt. Aber Ihr Schulkamerad Secha Modorok wusste, welche Wirkung die Einfachen Zauberdinge hier haben.«

»Meine langjährige Arbeit in der Behörde, die sich des Kummers der Welt angenommen hat, hat mir sicher geschadet«, sagte Kao Anloch zerknirscht. »Als mittlerer Beamter teilte ich fraglos die allgemeine Ansicht, man könne Ausländern kein besonderes Wissen und keine Zauberkünste Zutrauen. Mir fiel zwar auf, wie vorsichtig Secha mit den Talismanen umging, doch ich hielt das für ein Zeichen von Aberglauben. Ich hätte nicht gedacht, der Talisman einer unwichtigen Person - und einen alten Ordenskoch kann man wohl als unwichtig bezeichnen - könne einem Glück bringen, doch nun sehe ich ein, dass das ein Irrtum war.«

»Mittlere Beamte sind eben in jeder Behörde gleich«, brummte Kofa. »Nun ja, Herr Kapitän - Ende gut, alles gut. Wollen Sie noch einen nützlichen Rat von mir? Kaufen Sie etwas Stärkeres für all die Seeleute, die Sie heute Abend erwarten, und erklären Sie ihnen ehrlich, was mit Ihnen los war. Manche werden Sie auslachen, andere beschimpfen, aber keiner wird nachtragend sein, denn Matrosen sind ein sympathisches Völkchen.«

»Sie müssen viele hochprozentige Getränke kaufen«, ergänzte Melifaro, »denn Matrosen sind auch enorm trinkfest.«

»Natürlich, das mach ich.«

»Und sagen Sie am Ende Ihrer Erklärung unbedingt noch etwas über das berauschende Abenteuer, zu dem Sie aufbrechen wollen. Vielleicht führt das dazu, dass einige Ihrer Gäste sich bereitfinden, auch ohne Heuer an Bord zu gehen.« Ich wusste nicht, was mich zu dieser Äußerung gebracht hatte, konnte sie aber ohnehin nicht ungeschehen machen. Meine Kollegen sahen mich erstaunt an, schwiegen aber.

»Vielen Dank für Ihren Rat, doch ich fürchte, er wird nichts helfen«, sagte Kao Anloch betrübt. »Mit dem Kopftuch von Sochma hätte ich eine Mannschaft zusammenbekommen, aber ohne dieses Tuch bin ich aufgeschmissen.

Das Glück hat mich schon bei viel einfacheren Dingen verlassen.«

»Also gut, dann habe ich noch etwas für Sie«, sagte ich und zog einen kleinen Dolch aus der Tasche. Ich hatte ihn nur wegen des Magieanzeigers dabei, war nun aber froh, ihn endlich seiner eigentlichen Bestimmung gemäß verwenden zu können, schnitt aus meinem Todesmantel großzügig ein Dreieck heraus und überreichte dem Kapitän den schwarzgoldenen Fetzen.

»Nehmen Sie das«, sagte ich. »In dieser Welt glauben viele, ich sei ein riesiger Glückspilz. Da kann ich Ihnen doch ein wenig von meinem Glück abgeben, finden Sie nicht?«

Ohne zu überlegen, griff Kao Anloch nach dem Stoff und besah ihn sich verdutzt. Auch meine Kollegen wirkten erstaunt.

»Wie ich sehe, ist Sir Max zu den besten Traditionen der Ordensepoche zurückgekehrt«, unterbrach Sir Kofa endlich die Stille. »Früher waren nur Große Magister edel genug, ihr Glück mit anderen zu teilen, und zwar längst nicht alle. Kapitän, Sie haben heute wirklich Glück. Binden Sie sich dieses Stück Stoff wie ein Piratentuch auf den Kopf. Wer weiß, vielleicht ersetzt ein Talisman den anderen. Gut - wir haben alles pflichtgemäß erledigt und gehen jetzt, Herrschaften.«

»Mir kommen gleich die Tränen. Ich überschwemme dieses Schiff mit meinen Zähren und bringe es zum Sinken, ehe es das Meer Ukli erreicht«, sagte Melifaro und stand auf.

Wir verabschiedeten uns von Kao Anloch, der baff in seiner Kajüte sitzen blieb. Beim Rausgehen sah ich, dass er wirklich versuchte, sich den Fetzen Stoff wie ein Piratentuch um den Kopf zu binden. Das stand ihm ausnehmend gut.

»Es ist unfair von dir, dein kostbares Glück mit Fremden zu teilen«, maulte Melifaro, während wir über die Gangway an Land gingen. »Ich würde auch gern so einen kostbaren Fetzen aus deinem Lochimantel bekommen.«

»Was könntest du damit schon anfangen?«, fragte Kofa erstaunt.

»Ich hätte ihn einfach nur gern«, entgegnete Melifaro. »Ich bin nun mal gierig - wie alle Bauernkinder.«

»Wollt ihr wissen, warum ich Kao Anloch ein Stück meines Mantels überlassen habe?«, fragte ich.

Meine Kollegen nickten interessiert.

»Damit ich nach Hause fahren und mich umziehen muss, denn mit diesem Loch kann ich unmöglich rumlaufen. Und das ist ein guter Vorwand, um ein, zwei Stunden im Armstrong und Ella zu verbringen.«

»Was bist du nur für ein kluger Kopf! Es ist wirklich zum Verrücktwerden!«, rief Melifaro.

»Bist du neidisch?«, fragte ich stolz und wäre fast über ein Brett gestolpert. »Wann kommen wir eigentlich aus diesem Chaos hier raus?«

»Das ist kein Chaos, sondern der Hafen der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs«, erklärte Kofa mit patriotischer Inbrunst. »Offenbar warst du noch nie im Hafen der freien Stadt Gazin. Übrigens haben wir es schon geschafft. Da vorn steht dein A-Mobil.«

»Begleitet mich doch bitte noch in Techis Wirtshaus«, schlug ich vor.

»Herzlich gern, denn die Kamra deiner Freundin ist ein schlagender Beweis deines unfassbaren Glücks«, erklärte Kofa.

»Ich schätze eure Gesellschaft sehr, möchte aber trotzdem lieber ins Haus an der Brücke. Wer weiß, was dort seit meiner Abwesenheit so alles passiert ist«, sagte Melifaro.

»Bist du dir wirklich sicher, dass es dich dorthin und nicht in meine Residenz zieht?«, fragte ich unschuldig.

»Du verflixter Hellseher - irgendwann muss es mir doch gelingen, dich in einen gehörnten Ehemann zu verwandeln.«

»Deine Verführungsversuche zu vereiteln, bereitet mir ein diebisches Vergnügen. Aber ich habe einen besseren Vorschlag für dich: Komm mit uns, trink ein wenig Kamra, nimm eines meiner vielen A-Mobile, die in der Nähe des Wirtshauses stehen, und fahr damit, wohin du willst.«

Ich parkte vor dem Armstrong und Ella. Die Tür quietschte wieder im Wind. Offenbar hatte Techi die Handwerker noch immer nicht gerufen. In dieser Hinsicht waren wir uns ähnlich - auch ich würde ein Jahr dafür brauchen.

»Du hast behauptet, du hättest rings um das Lokal jede Menge A-Mobile stehen, doch ich habe nur zwei gesehen«, sagte Melifaro. »Wo soll ich eins davon später abstellen?«

»Am Haus an der Brücke steht schon eins, aber ich brauche einen Wagen in der Nähe meiner Residenz. Meine vielen A-Mobile sollten gleichmäßig über die Stadt verteilt sein.«

Techi begrüßte Kofa und mich mit freudigem Lächeln. »Ich hab euch schon erwartet und sogar Kamra gekocht«, begann sie. »So eine gute Nase hab ich selten gehabt.«

»Das liegt in der Familie. Die Intuition war auch der Schwachpunkt deines großartigen Vaters«, sagte ich und biss mir auf die Zunge, da ich mich in eine gefährliche Richtung bewegte. »Irgendwer hat mir davon erzählt«, fügte ich hinzu.

»Offenbar gibt es in Echo viele Geschichtsfreunde, die die Biografie meines Vaters auswendig kennen«, rief Techi verärgert. »Schade, dass er davon nie erfahren wird. Nachruhm ist eigentlich etwas Ungerechtes, findet ihr nicht?«

»Natürlich«, sagte Kofa nickend. »Man kämpft und rackert sich ab, und wenn man stirbt, streichen andere die Früchte der Arbeit ein. Was ich schon immer von dir wissen wollte, Techi: Hat dir dein Vater beigebracht, wie man Kamra kocht? Bei dir schmeckt sie nämlich verdächtig gut.«

»Ich das ein Verhör?«, fragte sie lächelnd. »Befasst sich der Kleine Geheime Suchtrupp nun auch mit mir? Was redest du da nur, Kofa? Kannst du dir Lojso Pondochwa etwa inmitten von Kochtöpfen vorstellen?«

»Warum nicht? Ich kann mir jeden in der Küche vorstellen - sogar deinen Freund Max. Nun ja, bei ihm erlaubt meine Vorstellungskraft zugegebenermaßen nur den Gedanken, dass er sich eine Dosensuppe aus dem Schrank nimmt und sie aufwärmt. Beim Schneiden von Gemüse oder beim Kochen von Kartoffeln kann ich ihn mir jedenfalls nicht denken.«

Wir plauderten noch eine halbe Stunde, bis ein Dienst-A-Mobil vor dem Armstrong und Ella hielt. Kofa stand auf. »Ich fahre jetzt zu Sir Juffin und berichte ihm, wie die Sache mit den Einfachen Zauberdingen ausgegangen ist.

Du, Max, brauchst dich nicht zu beeilen, denn du wirst erst in zwei Stunden im Büro erwartet.«

»In drei Stunden«, berichtigte ich ihn.

»Umso besser. Dann hast du mehr Zeit, dich umzuziehen. So jedenfalls hast du es vorhin formuliert.«

»Wie hat Kofa das denn gemeint?«, fragte mich Techi, nachdem mein Kollege das Lokal verlassen hatte.

»Ich glaube, er hatte etwas höchst Unanständiges im Sinn«, meinte ich lächelnd. »Was kann ein Mann in Gegenwart einer so schönen Freundin, wie du es bist, schon wollen?«

»Etwas zu essen?«

»Deine Intuition hat sich trotz ihrer familiär bedingten Schwäche prächtig entwickelt«, meinte ich kichernd.

Ich kam rechtzeitig ins Büro. Nur Sir Juffin schien sich im Haus an der Brücke aufzuhalten.

»Wo ist dein Hund?«, fragte er mich.

»Drupi weigert sich, mit mir zum Dienst zu kommen, denn er wird nicht dafür bezahlt. Und ich kann diesen königlichen Hund unmöglich dazu zwingen, sich hier aufzuhalten.«

»Das stimmt«, pflichtete Juffin mir bei. »Na schön, setz dich in meinen Sessel und mach, was du willst. Ich gehe mir mal wieder ein paar DVDs ansehen. Du bist hoffentlich nicht eifersüchtig auf mich?«

»Keine Sorge. Außerdem habe ich für heute Abend eine andere Unterhaltung geplant.«

»Willst du Lojso Pondochwa mal wieder im Traum begegnen?«

»Aber nein. Ich will ein paar Stunden meinen Arbeitsplatz verlassen und dem Gehörnten Mond einen Besuch abstatten.«

»Bist du etwa auch ein Verehrer der Poesie?«, fragte Sir Juffin. »Bei Lonely-Lokley kann ich das ja noch verstehen. Schließlich hat er eine stürmische Jugend hinter sich und einen Haufen leerer Aquarien, viele tote Magister und ein paar eiskalte Händchen auf dem Gewissen. Ihm würde ich noch ganz andere Sachen Zutrauen, aber dir?«

»Ich will nur sehen, ob die Dichter meinen Kollegen nicht vielleicht beleidigen«, stellte ich klar.

»Wenn sie es wagten, Sir Schürf zu nahe zu treten, würde das in einem Getümmel enden, das ein gefundenes Fressen für unseren großen Schlachtenmaler Galsa Ilana wäre. Leider ist er schon vor fünfzig Jahren gestorben.«

Juffins Bemerkung ließ mich an sein Porträt Bubuta Bochs denken, in dessen Hintergrund eine furchtbare Schlacht tobte.

Mein Chef verließ das Büro, denn die nächste DVD wartete schon und duldete keinen Aufschub. Ich machte es mir in seinem Sessel bequem und studierte in aller Ruhe die Zeitungen der letzten Tage, denn ein bleischweres Gefühl von Langeweile war jetzt genau das Richtige, um meinem Leben den besonderen Kick zu geben.

Drei Stunden vor Mitternacht meldete sich Ande Pu endlich bei mir. Ich sagte Kurusch, er müsse eine Zeit lang die Stellung halten, tauschte den Todesmantel gegen einen dunkel violetten Umhang, den ich extra mitgebracht hatte, und verließ das Haus an der Brücke.

Ande Pu trippelte aufgeregt vor meinem A-Mobil herum.

»Nett, dass du mich nicht vergessen hast«, sagte ich und setzte mich ans Steuer. »Zeig mir bitte den Weg.«

»Da gibt es nichts zu zeigen«, meinte Ande achselzuckend. »Das Wirtshaus liegt am Platz der Theater und Amüsierlokale.«

»Das ist ja nur einen Katzensprung von meiner Residenz entfernt! Seltsam, dass ich nie etwas von diesem Lokal gehört habe.«

»Der Gehörnte Mond liegt etwas versteckt. Man muss sich in der Gegend gut auskennen«, sagte Ande so gravitätisch, als sei er ein Großer Magister der Altertumskunde und würde mich gerade in ein bedeutendes Geheimnis einweihen.

»Übrigens haben wir die Diebe überführt, die den Koffer deines Großvaters gestohlen haben.«

Ich fand, Ande habe ein Recht darauf, alle Einzelheiten des Falls zu erfahren. Schließlich war er Eigentümer all der Einfachen Zauberdinge, die in dem Koffer gewesen waren - auch wenn die Behörden des Vereinigten Königreichs diese Schätze inzwischen in Gewahrsam genommen hatten. Ich musste mich kurz fassen, denn die Fahrt zum Platz der Theater und Amüsierlokale dauerte selbst im Feierabendverkehr, der mich langsam zu fahren zwang, höchstens zehn Minuten.

»Tut mir wirklich leid, Ande, aber wir dürfen dir diese Sachen nicht zurückgeben«, schloss ich meinen Bericht mit schuldbewusster Stimme. »Es ist streng verboten, so starke Talismane zu besitzen, und du hast sicher kein Interesse an Unannehmlichkeiten. In einigen Tagen bekommst du eine Entschädigung für den Inhalt des Koffers, die gewiss großzügig ausfällt.«

»Gut«, sagte Ande. »Was hätte ich mit den Talismanen schon anfangen können? Vielleicht reicht die Entschädigung ja, um eine Fahrkarte nach Tascher zu ergattern.«

»Du kannst diese Stadt im Süden einfach nicht vergessen, was? Dort wirst du dich bestimmt langweilen und dich bald nach Echo zurücksehnen.«

»Glaubst du wirklich? Würde ich freiwillig aus Tascher zurückkehren, dann würde ich in Echo leben, weil ich dort leben will. Jetzt dagegen wohne ich hier bloß, weil ich zufälligerweise in der Hauptstadt geboren wurde.«

»Das sind wirklich zwei verschiedene Paar Schuhe«, pflichtete ich ihm bei. »Gut, jetzt sind wir an Ort und Stelle. Wie soll es weitergehen?«

Ande zeigte mir, wo ich mein A-Mobil abstellen sollte, und verschwand in einem Gang zwischen zwei Häusern. Ich folgte ihm erstaunt, denn ich hätte nicht gedacht, dass sich an einem so abgelegenen Ort ein Wirtshaus befand. Plötzlich landeten wir in einem kleinen, von Fensterlicht erhellten Hof.

»Das ist der Gehörnte Mond-, erklärte Ande und wies auf ein Schild, das eine Mondsichel mit Ziegenhörnern zeigte.

Der Gehörnte Mond war eines der vielen angenehmen und doch günstigen Wirtshäuser von Echo. Es gab eine lange Theke mit Barhockern, aber auch Tische mit gemütlichen Stühlen und eine traditionsgemäß bunte Mischung von Gästen. Mit einem Wort: Es schien wie überall zu sein.

Nach kurzer Beobachtung stellte ich allerdings fest, wie ungewöhnlich das hier versammelte Völkchen war. Alle warfen ab und an gespannte Blicke auf eine quadratische Bühne in der Mitte des Lokals. Ich war daran gewöhnt, in Wirtshäusern stets von den zufriedenen Mienen gesättigter Hauptstadtbewohner umgeben zu sein. Allenfalls in Juffins Dutzend sah es etwas anders aus, aber das war ohnehin ein Sonderfall.

»Sündige Magister, Max, was hat dich hierher verschlagen?«

Erstmals sah ich Lonely-Lokleys so unerschütterliches Gesicht hellauf erstaunt.

»Weißt du, Schürf, du hast mich schon so oft überrascht, dass ich mich revanchieren wollte«, sagte ich lächelnd. »Und es sieht so aus, als wäre mir das gelungen.«

Lonely-Lokley nickte nur und setzte wieder seine ungerührte Miene auf. Hätte ich ihn nicht so gut gekannt, dann hätte ich sein Erstaunen für eine Halluzination gehalten.

»Es ist nett hier«, meinte ich generös. »Besonders die Gäste gefallen mir. Sag mal, Ande, sind das alles Dichter? «

»Beinahe. Und es sind viele hervorragende Autoren dabei, nicht bloß Anfänger. Aber es gibt hier auch Verehrer der Dichtkunst, zum Beispiel Sir Lonely-Lokley.«

»Und so ein interessantes Publikum trifft man hier jeden Tag?«

»Normalerweise ist es nicht so voll, aber heute Abend gibt es einen Lesewettbewerb - wie traditionsgemäß in jeder Neumondnacht.«

»Und wie sieht dieser Wettbewerb aus?«

»Zunächst liest jeder, der mag, seine neuen Gedichte vor. Der Wettbewerb beginnt erst, wenn alle betrunken sind und aufeinander einschlagen. Und das ist auch verständlich, denn ab einem bestimmten Rauschpegel können sich talentierte Menschen schwer miteinander verständigen«, erklärte Schürf mit der sonoren Stimme eines altgedienten Fremdenführers.

Ratlos schüttelte ich den Kopf. Lonely-Lokley schien sich verdächtig gut auszukennen. In diesem Moment betrat einer der Dichter die Bühne und begann, seine Verse vorzutragen. Ich konnte bei dem Krach ringsum kein Wort verstehen.

»Vielleicht sollten wir uns näher an die Bühne setzen«, schlug ich vor. »Hier hinten höre ich nichts - ihr etwa?«

»Ach, das lohnt nicht«, sagte Ande und verzog leidend das Gesicht. »Am Anfang treten immer furchtbar normale Leute auf, die sich am Vorabend von allen Musen geküsst glaubten und daraufhin erschütternde Verse zu Papier brachten. Wenn ein echter Meister auftritt, ist es sofort mucksmäuschenstill.«

»Sündige Magister, da drüben sehe ich noch ein bekanntes Gesicht!«, rief ich erstaunt.

Im Eingang des Gehörnten Mondes war Sir Skalduar van Dufunbuch, unser Pathologe, aufgetaucht.

»Ach, Sir Skalduar gehört zu den Stammgästen«, bemerkte Ande mit dem Gehabe des gelangweilten Kenners. »Als ich vor dreizehn Jahren zum ersten Mal hier war, hatte er schon seinen eigenen Tisch. Er schreibt zwar nicht, ist aber ein fantastischer Zuhörer und ein großer Kenner der Poesie. Woher kennst du ihn, Max?«

»Er arbeitet im Haus an der Brücke.«

»Willst du damit sagen, er ist ein Bulle?«, fragte Ande erschrocken.

»Keine Sorge«, beruhigte ich ihn väterlich. »Sir Skalduar ist kein normaler Polizist, sondern unser Pathologe.«

»Er schneidet also die Leichen auf, die ihm die Bullen auf den Seziertisch legen?«, wollte Ande wissen.

»Befrei dich endlich von den Traumata deiner Jugend«, seufzte ich entnervt. »Wie oft hab ich dir schon erklärt, dass es auch unter Polizisten anständige Menschen gibt?«

In diesem Moment marschierte Sir Skalduar van Dufunbuch würdig durch den vollen Saal, setzte sich an den Nachbartisch und grüßte uns freundlich.

»Wie ich sehe, ist Ande Pu nicht nur einer der besten zeitgenössischen Dichter, sondern rührt auch die Werbetrommel, damit das Lokal aus allen. Nähten platzt. Demnächst versammelt sich der Kleine Geheime Suchtrupp hier wahrscheinlich fast vollzählig - nur Sir Juffin wird im Fressfass hocken bleiben.«

»Aber nicht allein - dafür wird er durch entsprechende Dienstpläne schon sorgen.«

Dass Sir Skalduar meinen Freund für einen der besten zeitgenössischen Dichter hielt, ließ mich aus allen Wolken fallen, denn ich hatte Ande Pu nie im Verdacht gehabt, literarisch talentiert zu sein. Wenn er zu rezitieren begann, hatte ich regelmäßig weggehört - nicht zuletzt, weil er beim Vortrag seiner Gedichte meist schon schwer berauscht war. Ich fürchte, ich war insgeheim überzeugt, ein echter Dichter müsse groß gewachsen und bildschön sein und flammende Blicke werfen, aus denen sein inneres Feuer loderte. Auch sollte ihn eine Aura von Geheimnis umgeben. Und betrunken sollte er sicher nicht sein.

Plötzlich wurde es still. Ein schüchterner, aber sympathisch wirkender Mann mit grauem Bart betrat die Bühne.

Seine Gestalt entsprach immerhin teilweise meiner Vor-

Stellung von einem Dichter, denn er war groß, und ihn umgab die Aura des Genies. Nur sein Blick war alles andere als flammend, doch das lag womöglich an seiner Brille. Seine Gedichte waren hinreißend. Ich hatte nicht erwartet, in diesem so nah am Platz der Theater und Amüsierlokale gelegenen Wirtshaus etwas so Gutes zu hören.

Noch ein paarmal im Laufe des Abends war es vollkommen still, doch die Gedichte der anderen Meister bewegten mich nicht mehr so sehr. Vielleicht hatte ich meinen lyrischen Überschwang bereits beim Durchleben der ersten Gedichte verbraucht.

»Max, seit einer halben Stunde siehst du furchtbar aus«, sagte Lonely-Lokley. »Geht's dir nicht gut?«

»Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich habe gute Gedichte gehört, und sie haben mich erschüttert. Die nächsten Stunden werde ich nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden können. So ein Zustand überkommt mich selten, doch wenn er mich packt, dann intensiv. Wie heißt eigentlich der Bärtige mit der Brille?«

»Wen meinst du genau? Hier tragen fast alle einen Bart.«

»Ich meine den Dichter, bei dessen Auftritt es zum ersten Mal ganz still war.«

»Ach, das war Sir Kiba Kimar«, sagte Ande Pu. »Haben dir seine Verse wirklich gefallen, Max?«

»Warum fragst du?«, gab ich betrübt zurück, denn in seiner Stimme hatte etwas Ungläubiges gelegen.

»Na ja, es heißt, nur echte Kenner könnten seine Gedichte verstehen. Selbst ich finde manchmal keinen Zugang zu ihnen. Am stärksten berührt mich seine Poesie, wenn ich davor im Alten Dom getäfelt habe.«

»Auch ich glaube, dass Kiba Kimar zu den besten Dichtern gehört«, ließ Schürf sich vernehmen. »Er schreibt nur über Dinge, die wirklich Bedeutung haben, und seine Verse regen zum Nachdenken an. Es ist übrigens unmöglich, seine Gedichte auswendig zu lernen - das habe ich schon mehrmals feststellen müssen. Darin ähneln sie uralten Zaubersprüchen.«

Gebannt lauschte ich Lonely-Lokley und enthielt mich jeglichen Kommentars. Man verzeihe mir die abgegriffene Formulierung, aber die Dichtung hatte mich so verzaubert, dass ich mein Schweigen genoss.

Kurz vor Mitternacht traute sich Ande Pu auf die Bühne, und ich schwor mir, ihm aufmerksam zuzuhören.

Seine Gedichte wären gut gewesen, wenn hinter ihren gesuchten, kühn gedrechselten und meist schwer verständlichen Formulierungen etwas wirklich Interessantes gesteckt hätte. Doch unter der dünnen Schicht kunstvoll zusammengefügter Worte verbarg sich nur eine unendliche Einsamkeit und die stets gleiche Klage: Warum liebt ihr mich nicht, obwohl ich so wunderbar bin? Als ich noch auf der Erde lebte, hatte auch ich eine Zeit lang solche Verse verfasst.

»Es macht Spaß, dir beim Zuhören zuzusehen«, sagte Lonely-Lokley zu mir. »Du hast so ein geniertes Gesicht. Man könnte glauben, Ande trüge deine lyrischen Jugendsünden vor.«

»Gefallen dir seine Verse etwa?«, fragte ich schroff.

»Natürlich. Ande ist offensichtlich ein hochtalentierter Poet«, sagte Schürf mit einer Stimme, die keinen Widerstand duldete.

»Ja«, seufzte ich ergeben. »Natürlich.«

Ich wollte nicht mit ihm streiten, denn mit Lonely-Lokley zu diskutieren, wäre pure Zeitverschwendung gewesen.

Wie dem auch sei: Ande Pu beendete seinen Auftritt in völliger Stille, hatte sich also einmal mehr den höchsten Respekt seiner Zuhörer erlesen. Als er an unseren Tisch trat, strahlte er wie ein Honigkuchenpferd und bestellte gleich eine Flasche ukumbrischen Schnaps namens Bomboroki. Offenbar hatte der kleine dicke Mann das Piratenblut seiner Vorfahren in den Adern.

»Hat's dir gefallen, Max?«, fragte er überraschend schüchtern.

Staunend stellte ich fest, dass er sich nicht aus Höflichkeit an mich gewandt hatte, sondern auf meine Antwort wirklich gespannt war.

»Schwer zu sagen«, antwortete ich ehrlich. »Du wirst staunen, doch auch ich habe mal Gedichte verfasst, und sie haben sich sehr ähnlich angehört. Deshalb fällt es mir nicht leicht, mich zu deinen Versen zu äußern.«

»Hast du wirklich ähnliche Dinge zu Papier gebracht?«, fragte Ande erstaunt. »Warum hast du mir nie etwas davon gezeigt? Dachtest du etwa, ich würde es nicht verstehen?«

»Aber nein«, sagte ich lächelnd. »Ich war bloß in letzter Zeit nie betrunken genug, um meine Gedichte zu rezitieren. Ich pflege sie nur im Vollrausch vorzutragen und nach dem letzten Vers mit dem Kopf in der Salatschüssel einzuschlafen. In nüchternerem Zustand bin ich zu solchen Heldentaten nicht fähig.«

»Offenbar kann Max nicht nur Gedichte schreiben -



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