»Rutsch ein wenig zur Seite, Sir Königliche Stimme - du bist nämlich ziemlich voluminös«, verlangte Melifaro, um nicht eingequetscht auf der Rückbank zu sitzen.

»Ich finde, unsere Abteilung ähnelt einer Irrenanstalt«, rief ich belustigt und setzte mich ans Steuer. Der weitere Verlauf des Abends sollte die Richtigkeit dieser Einschätzung beweisen.

So fuhren wir endlich zu meiner Residenz. Der Gedanke, leibhaftig König zu werden, ließ mich immer aufs Neue staunen.

»Hören Sie, Juffin«, begann ich finster. »Was soll ich bei dieser Feier eigentlich tun? Gibt es Regeln, die ich einhalten sollte?«

»Ich habe einen klugen Rat für dich: Folge dem Beispiel von Caligula«, mischte Melifaro sich belustigt ein.

»Vielen Dank für den guten Rat. Meine erste Amtshandlung als König wird es sein, für schlechte Witze die Todesstrafe einzuführen«, murmelte ich. »Also, Juffin, klären Sie mich bitte auf.«

»Sollte es tatsächlich Regeln geben, dürften nur die ältesten Vertreter deines Volkes sie kennen. Leider gehöre ich nicht zu dieser illustren Gesellschaft. Aber vermutlich kannst du ohnehin tun, was du willst, denn die geladenen Gäste aus dem Ausland und den Provinzen dürften denken, dein Benehmen sei typisch für die Leeren Länder, während deine Untertanen glauben, du seiest in Echo unter schlechten Einfluss geraten.«

»Dann hab ich ja noch mal Glück«, seufzte ich. »Und natürlich werde ich improvisieren.«

Nach einigem Suchen fand ich endlich einen Parkplatz in der Nähe meiner Residenz. Meine Untertanen hatten rund um den Palast ihre Elchkühe angebunden, auf denen sie aus den Leeren Ländern nach Echo geritten waren, und alle Gehsteige standen voller A-Mobile.

»Was ist denn hier los? Erwarten die Gäste etwa, dass wir zu Fuß zum Palast kommen?«, brummte Juffin beim Aussteigen in sich hinein.

Auch Ande Pu kam mit, doch von seinem strotzenden Selbstbewusstsein war nichts mehr zu spüren. Er trippelte neben mir her, war sichtlich um meine Aufmerksamkeit bemüht und schien kurz davor, mich am Todesmantel zu zupfen.

»Bleib an meiner Seite, Freund«, sagte ich ihm. »Gleich bin ich König und habe ein Recht auf Hofberichterstattung.«

»Du steigst wirklich professionell in deine Amtsgeschäfte ein«, stellte Juffin bewundernd fest.

Dazu sagte ich nichts, sondern öffnete die Tür und winkte meine Gäste mit großer Geste in meine Residenz.

Auf meinem Gesicht erschien ein breites, aber ratloses Lächeln - als hätte ich Halluzinationen. Meine Vernunft weigerte sich, das Geschehen ringsum als wirklich zu akzeptieren.

Ich stand auf der Schwelle zum großen Audienzsaal,

dem ehemaligen Lesesaal. Dort war es sehr voll, und ich suchte nach einem bekannten Gesicht, entdeckte aber nur Fremde, die sich allerdings zu gleichen schienen wie ein Haar dem anderen.

Auch Ande Pu, der sich noch immer neben mir hielt, schien gesellschaftliche Ereignisse dieses Kalibers nicht gewohnt zu sein. Wenigstens begleitete er mich durch dieses Jammertal.

»Siehst du meine Kollegen vielleicht irgendwo?«, fragte ich meinen Hofberichterstatter flüsternd.

Er nickte nur.

»Dann geh bitte zu ihnen. Bei Sir Melifaro langweilst du dich sicher nicht.«

»Selbst hier klopfst du Sprüche«, stellte Ande sichtlich erfreut fest und verschwand in der Menge.

Ich sah ihm nach, konnte aber weder Juffin noch Melifaro entdecken. Was war bloß mit mir los?

Ich blickte mich vorsichtig um, entdeckte aber nichts, was nach einem Thron ausgesehen hätte. Umso besser, denn ein Monarch, der unfähig war, in seiner eigenen Residenz den Thron zu finden, war ganz nach meinem Geschmack. Ich lachte befreit auf und nahm mir vor, mich hinzusetzen, wohin es mir gefiel - und sei es auf die Türschwelle. Schließlich war ich hier der Wichtigste.

Ich hob die Hände wie ein selbst ernannter Prophet, der die Menschheit mit seiner Deutung des göttlichen Willens beglücken will.

»Kein Mensch vermag sich vorzustellen, wie sehr mich die Begegnung mit euch allen freut«, begann ich doppeldeutig und ließ mich nach dieser Begrüßung mit würdevoll gekreuzten Beinen auf der Türschwelle nieder. Ein erstauntes Flüstern lief durch die Menge, und ich fühlte mich verpflichtet, mein exzentrisches Verhalten zu erklären.

»Mein Platz wird für immer hier auf der Türschwelle sein. Der Herrscher nämlich soll zwischen Himmel und Erde stehen, um beide Sphären zu trennen, aber auch zu schützen.«

Ich hatte das Gefühl, mein erster öffentlicher Auftritt als König sei bisher recht erfolgreich verlaufen. Nur das höfische Zeremoniell schien die Besucher davon abzuhalten, in Beifallsstürme auszubrechen. Immerhin hielten sie den Atem an!

Eine Zeit lang passierte gar nichts. Schon wollte ich mich über die Trägheit meiner Untertanen ärgern, begriff dann aber, dass sie auf meine Befehle warteten.

»Ihr dürft ruhig zu mir kommen und tun, was ihr euch vorgenommen habt«, sagte ich.

In einer fernen Ecke des Saals war heftige Bewegung zu sehen. Ich wartete geduldig. Vielleicht hatte mein Volk ja ausgerechnet dort einen Thron aufgebaut. Womöglich hatten sich dort zudem alle wichtigen Teilnehmer der Krönungszeremonie versammelt und mussten sich nun auf die neuen Verhältnisse einstellen.

Schließlich kamen meine Untertanen ehrfürchtig zu mir. Das war zwar kein allzu erhabener oder majestätischer, doch ein angenehmer Anblick. Seit ich meinen Nomaden beigebracht hatte, ihre Kopftücher wie Piraten zu binden, sahen sie ziemlich gut aus. Dutzende junger Männer in breiten Hosen und weichen Hemden kamen durch den Saal auf mich zu.

Als sie vor mir standen, verbeugten sie sich tief, fielen aber - den Magistern sei Dank! - nicht vor mir auf die Knie. Offenbar erinnerten sie sich noch daran, dass ich das verboten hatte.

Ein Mann mittleren Alters führte die Abordnung an. Er war beinahe so muskulös wie Arnold Schwarzenegger in seinen besten Tagen, wirkte aber erheblich ästhetischer, und ich zweifelte nicht daran, dass er jeden Bodybuilding-Wettbewerb hätte gewinnen können.

»Erlaubt Ihr, dass ich mich vorstelle, Fangachra?«, fragte er mit vor Aufregung zitternder Stimme.

Ich war überglücklich, denn noch nie hatte mich ein derart respekteinflößender Mensch so ehrfürchtig angeredet.

»Ich erlaube es«, antwortete ich mit der Stimme eines Menschen, der Entscheidungen zu treffen gewohnt ist.

»Mein Name ist Barcha Batschoj. Seit drei Jahren bin ich der Anführer der Soldaten des Stammes Chencha«, sagte er.

Chencha also hieß der Stamm, der all diese Schönlinge hervorgebracht hatte. Es war mir unangenehm, mich bisher so ganz und gar nicht für die Verhältnisse meines Landes und meiner Untertanen interessiert zu haben. Was war ich doch für ein Rabenkönig!

Barcha fuhr derweil fort: »Bis zum heutigen Tage habe ich die Verantwortung für dein Volk getragen, oh Fangachra! Nun aber hat der Himmel mein Flehen endlich erhört. Befreie mich nun also von dieser unerträglichen Bürde.«

»Ausgezeichnet«, meinte ich nickend. »Abgemacht. Ab heute wird alles anders. Ich bin bereit, vor dem Himmel für mein Volk die Verantwortung zu übernehmen, und du wirst ab heute mir gegenüber die Verantwortung für mein Volk tragen. Ich kann dir versprechen, dass ich - anders als der Himmel - ab und an auf deinen Rat hören werde.«

Barcha Batschoj leuchtete buchstäblich von innen. Er war begeistert, verbeugte sich dankbar vor mir und murmelte vor lauter Rührung etwas Unverständliches in sich hinein. Er hatte offenbar nicht begriffen, dass sich für ihn nichts geändert hatte. Wenigstens hatte ich ihn davon befreit, vergebliche Kontaktversuche mit dem Himmel aufnehmen zu müssen.

Schließlich zog sich mein neuer Bekannter, den ich in Gedanken »General« getauft hatte, zurück und machte einem etwas älteren, nicht eben großen und ziemlich schlanken Mann Platz, dessen Hände ebenso kräftig und muskulös wirkten wie die des Generals. Überhaupt war dieser ältere Mann eine recht auffällige Erscheinung. Etwas an ihm ließ mich an mächtige Magister längst verbotener Orden denken. Mein zweites Herz erkannte sofort, dass aus diesem Mann ein sehr gefährliches Wesen geworden wäre, wenn sein Leben anders verlaufen wäre.

»Sei gegrüßt, Fangachra!«, sagte der Alte. »Mein Name ist Fajriba, und manchmal besitze ich die Gabe der Klugheit. Ich bin gekommen, um dich bei deinem Wirklichen Namen zu nennen. Wenn dich der Klang dieses Namens erreicht, verschwindet der Fluch, der dein Volk verfolgt, seit wir dich verloren haben. Ich hoffe, deine Gäste werden es mir nicht verübeln, wenn ich dir deinen Namen gebe, ohne den Mund zu öffnen. Den Namen eines Königs darf man nicht laut äußern - das wäre ein Verstoß gegen die Gesetze des Himmels.«

»Ich wusste gar nicht, dass auch mein Volk die Stumme Rede beherrscht.«

»Dein Volk hat mit dieser gefährlichen Magie nichts zu tun«, beruhigte mich der strenge Alte. »Aber ich verfüge über Kraft genug, dir per Stummer Rede deinen Namen zu sagen.«

Daran zweifelte ich nicht - im Gegenteil: Ich war mir sicher, dass die Magie des Alten noch viel größere Dinge zuwege bringen konnte.

Der Mann schnürte seine große Reisetasche auf und schüttete mir ihren Inhalt vor die Füße. Zu meinem Erstaunen handelte es sich um ganz normale Erde, und ich fragte mich, ob er in meinem Audienzsaal ein Beet anlegen wollte. Kaum hat man ein neues Zuhause, schon kommen Fremde und richten Chaos an, dachte ich.

»Gemäß unserer Sitte muss der König der Chencha auf dem Boden seines Landes stehen, wenn er seinen Wirklichen Namen vernimmt«, erklärte Fajriba. »Der mächtige König Gurig, dem gegenüber Ihr Verpflichtungen habt, erlaubt Euch nicht, in Eure Heimat zurückzukehren. Ich möchte nicht wissen, warum Ihr ihm verpflichtet seid, denn Eure Geheimnisse haben Eurem Volk heilig zu sein. Deshalb habe ich Euch die Erde Eurer Steppe mitgebracht und bitte Euch, sie zu betreten, Fangachra.«

Gehorsam stand ich auf. Fajribas Vorschlag kam mir zupass, denn meine Beine drohten einzuschlafen. Ich fürchtete zwar, die Schuhe ausziehen zu müssen, aber glücklicherweise verlangte das niemand von mir.

Der Alte zog ein Säckchen aus der Innentasche seiner Jacke. Darin befand sich eine Schatulle, aus der er eine winzige Flasche nahm. Irgendwie erwartete ich, Fajriba würde einen uralten Geist aus dieser Flasche lassen, doch das geschah nicht.

»Gebt mir Eure Hand, Fangachra«, befahl mir der Alte.

Unwillkürlich streckte ich die Linke aus - vielleicht, weil ich sie für die meisten Zaubertricks gebraucht hatte, die mir beigebracht worden waren.

»Das ist ein Zeichen des Himmels, Fangachra«, flüsterte der Alte mit zitternder Stimme. »Fast alle Könige haben den Schwur mit der Rechten geleistet, doch in grauer Vorzeit lebte ein Regent namens Drochmor Modilach, der seinem Schamanen die linke Hand gab. Er eroberte viele Gebiete, verschwand aber plötzlich. Auch Ihr werdet ein großer König sein, Fangachra.«

»Das kann ich mir vorstellen«, seufzte ich.

Ich vermutete gleich, der gute Fajriba werde mit mir eine böse Enttäuschung erleben. Ich hatte nämlich vor, schon in wenigen Jahren abzudanken und die Geschicke meines Königreichs in die Hände unseres sympathischen Herrschers Gurig zu legen. Einfach zu verschwinden, wäre allerdings keine passable Lösung gewesen. Aber wer weiß -vielleicht würde genau das bei meinem Volk großen Jubel auslösen.

Der alte Mann öffnete die Flasche und goss mir ein paar Tropfen einer farblosen Flüssigkeit auf die Handfläche.

»Dieses Wasser stammt aus der heiligen Quelle deiner Länder, Fangachra«, erklärte er mir.

Dann entnahm er der Schatulle eine spielkartengroße grünliche Platte aus einem mir unbekannten Material und legte sie vorsichtig auf meine vom heiligen Wasser noch nasse Hand. Da ich fürchtete, die Platte könne herunterfallen, machte ich reflexartig eine Faust.

Zu meinem Erstaunen war die Platte eiskalt. Als ich die Hand wieder öffnete, stellte ich fest, dass sie verschwunden war - und mit ihr meine Handlinien! Noch auf der Erde hatte ich ein paar Broschüren über Chiromantie gelesen und war über diesen Verlust entsprechend erschüttert.

Dann erschien auf meiner makellosen Handfläche eine Zeichenfolge, wie ich sie noch nie gesehen hatte. In meinem Kopf vernahm ich ihre lautliche Umsetzung: »Ajot Mo Limli Nichor - der Herrscher von Fangachra.«

Der alte Fajriba hatte es geschafft, mir per Stummer Rede meinen vollen Königsnamen mitzuteilen, doch ich spürte, wie sehr ihn das angestrengt hatte. Auch mich hatte die Stumme Rede früher ungemein ermüdet, obwohl ich in Juffin Halli einen wunderbaren Lehrer gehabt und der Aufenthalt in Echo mir magische Kräfte verliehen hatte.

Mein Wirklicher Name kam mir ziemlich lang vor, und ich zweifelte, ob ich mich an ihn würde erinnern können. Auch die Zeichenfolge in meiner Handfläche konnte mir da wenig helfen. Doch um die Gefühle meiner Untertanen nicht zu verletzen, versagte ich es mir, Fajriba um Wiederholung zu bitten.

»Es ist vollbracht!«, rief der Alte.

»Es ist vollbracht!«, flüsterten seine Begleiter einander begeistert zu.

»Natürlich ist es vollbracht«, erklärte ich freundlich und ließ mich wieder im Schneidersitz auf der Schwelle nieder. »Und ich hoffe, auch der Fluch, von dem ihr mir vorhin erzählt habt, ist damit von euch genommen.«

Meine nomadischen Untertanen schwiegen, doch ihre Augen leuchteten, und ihre strengen Gesichter hatten einen so begeisterten Ausdruck bekommen, dass ich wohl darauf zählen durfte. Das war seltsam, da ich doch gar nicht Fangachra war - egal, welche mystischen Zeichen sich auf meiner Handfläche zeigen mochten.

Die Zeremonie stockte kurz, denn die Anwesenden erwarteten meine Befehle, und ich wusste nicht, was ich ihnen auftragen sollte. Zuerst wollte ich jedenfalls das Verhältnis zu meinem Volk klären. »Wie ihr wisst, bin ich in Echo unabkömmlich und daher glücklich darüber, dass Fajriba und Barcha euch in die Leeren Länder zurückbegleiten.«

Aufmerksam betrachtete ich meine beiden Vertreter, die ihrerseits das Kinn hoben, den Atem anhielten und wirkten, als seien sie einige Zentimeter gewachsen. Auch andere Mitglieder meines Volkes wirkten erleichtert: Dass der neue König den Status seiner alten Vertreter bestätigt hatte, stimmte alle zufrieden. Schön - ich war offenbar ein kluger Herrscher.

»Ich wünsche mir, dass ihr mein Volk glücklich macht«, sagte ich zu den beiden Auserwählten. »Ihr müsst mir von nun an alles berichten, was euch zustößt. Und weil ihr der Stummen Rede nicht wirklich mächtig seid, müsst ihr mir regelmäßig Boten schicken. Ich verspreche euch, sofort zu antworten. Wie lange braucht ein guter Reiter eigentlich von den Leeren Ländern bis nach Echo?«

»Vierzig Tage, wenn ihm kein Unglück widerfährt«, antwortete Barcha Batschoj.

»Das ist ja gar nicht lange«, log ich froh. Zwar war es leichtfertig, meine Gefühle so offen zu zeigen, aber ich war wirklich glücklich, meinen königlichen Pflichten nur selten nachkommen zu müssen.

»Wir haben Euch Geschenke mitgebracht, Fangachra«, sagte der alte Fajriba. »Unsere Sitten verlangen, dass sie unter vier Augen übergeben werden müssen. Aber wenn Ihr die Freude mit Euren Gästen teilen wollt, habe ich nichts dagegen.«

»Warum sollten wir gegen die alten Sitten verstoßen? Es ist sogar besser, Geschenke unter vier Augen zu übergeben. Aber jetzt muss ich den übrigen Gästen etwas Aufmerksamkeit widmen. Bringt eure Geschenke darum besser ins Büchermagazin, also in das große Zimmer auf der rechten Seite des Flurs. Die Diener sollen euch den Weg zeigen. Ich komme gleich nach.«

Die Nomaden nahmen ihre Reisetaschen und zogen ab. Mindestens zehn Diener schienen sich um sie zu kümmern. Die Großzügigkeit von König Gurig war grenzenlos, doch seine Vorstellungen von meinen Bedürfnissen entsprachen ganz und gar nicht der Realität.

Ich war sehr angetan von der Idee, meine exaltierten Untertanen in einen anderen Raum zu lotsen, um sie von der übrigen Festgesellschaft zu trennen, denn ich glaubte nicht, dass sie eine gemeinsame Sprache mit anderen Provinzfürsten des Vereinigten Königreichs oder mit Vertretern aus dem Ausland finden würden.

Zwar hatte auch ich meine Zweifel, ob es mir gelänge, mich mit all diesen Besuchern zu unterhalten, doch ich konnte mich der Situation ohnehin nicht entziehen.

Als das letzte Piratenkopftuch durch die Tür verschwunden war, stand ich auf und sah mich nach meinen Kollegen um. Sir Juffin kam zu mir und rief begeistert: »Das hast du bravourös gelöst! König Gurig sollte bei dir Nachhilfe in höfischer Etikette nehmen. Gerade weil er sich für einen Demokraten hält, sollte er dich auf der Türschwelle sitzen sehen - auch wenn es nicht demokratische Überzeugung, sondern Bescheidenheit gewesen sein dürfte, die dich dazu gebracht hat, dich dort hinzusetzen.«

»Ich freue mich, dass mein Auftritt Ihnen gefallen hat. Aber haben Sie gesehen, was mit meiner Hand geschehen ist?«, fragte ich und zeigte sie Juffin.

»Da steht doch nur dein neuer Name«, meinte er nickend. »Und das sogar in alter Schreibweise, also auf Chon-Chonisch. Diese Buchstaben waren zu alter Zeit in Gebrauch, als alle noch nomadisch lebten. Beim Volk der Chencha hat sich dieses alte Wissen offenbar gehalten. Das ist interessant.«

»Ach so«, seufzte ich. »Und diese Buchstaben - bleiben sie für immer auf meiner Handfläche?«

»Ja, aber das ist auch besser für dich. Es gibt kein stärkeres Amulett als den Wirklichen Namen, noch dazu in fast vergessener Schrift. Du hast mal wieder viel Glück gehabt.«

»Ich glaube nicht, dass es sich um meinen Wirklichen Namen handelt. Er hat sicher dem jungen Thronfolger gehört, den meine Untertanen vor langer Zeit in der Steppe verloren haben. Ich habe mit dieser ganzen Sache nichts zu tun.«

»Wenn das nicht dein Wirklicher Name wäre«, meinte Sir Juffin und tippte mir auf die Handfläche, »dann würde er jetzt nicht da stehen. Woher willst du überhaupt wissen, dass du kein echter Thronfolger bist? Langsam komme ich zu der Überzeugung, es würde zu dir passen, in der Steppe vergessen worden zu sein«, sagte mein Chef und lächelte listig.

»Was Sie nicht sagen! Dabei wissen Sie doch am besten, woher ich stamme. Wenn ich von einer Sache wirklich überzeugt bin, dann davon, nie in der Steppe herumgetobt zu haben.«

»An deiner Stelle würde ich von gar nichts mehr voll und ganz überzeugt sein«, meinte Juffin augenzwinkernd. »Mit einer Ausnahme allerdings: Dein Wirklicher Name klingt genauso, wie der alte Mann ihn ausgesprochen hat.«

»Das ist ja furchtbar«, sagte ich und musste lachen. »Ajot Mao ... oder Moa - das kann sich doch niemand merken!«

»Das brauchst du dir auch nicht zu merken. Und laut aussprechen sollst du deinen Namen auch nicht - schließlich handelt es sich dabei um ein schreckliches Geheimnis. In früheren Zeiten hättest du den alten Mann töten müssen, damit dein Wirklicher Name einzig und allein dir bekannt gewesen wäre, doch in letzter Zeit pflegt man einen etwas laxen Umgang mit Geheimnissen. Wenn aber Ewigkeit mit dir reden möchte, wirst du ihr zu Diensten stehen. Ewigkeit, musst du wissen, ist eine hervorragend ausgebildete Lady, deren Steckenpferd vergessene Sprachen sind. Da kennt sie sich fantastisch aus. Und nur für diesen Fall brauchst du deinen Wirklichen Namen.«

»Das wird ja immer schlimmer«, murmelte ich. »Mit der Ewigkeit Bekanntschaft zu machen, hat mir gerade noch gefehlt. Ich würde mich lieber darauf beschränken, den Vertretern des Auslands die Hand zu schütteln. Was meinen Sie - wie würden diese Leute reagieren, wenn ich kein Wort mit ihnen reden, sondern ihnen nur die mystischen Zeichen in meiner Hand zeigen würde?«

»Das würden sie schon ertragen. Hauptsache, du entlässt sie nicht zu spät nach Hause«, versicherte mir Juffin. »Bei offiziellen Anlässen wie diesem ist es nämlich nicht üblich, ein Büfett aufzubauen, und es gibt kaum jemanden, der freiwillig bis Mitternacht mit leerem Bauch schwadroniert.«

»Warum auch?«, fragte ich erstaunt. »Ich würde schließlich auch gern eine Kleinigkeit essen.«

»Das darfst du. Schließlich bist du hier zu Hause. Aber wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Mach dich rasch mit den Gästen bekannt. Sie sind nur hier, um sich dem neuen König vorzustellen. Kaum haben sie dir ihren unvergesslichen Namen genannt, ist ihre Mission erfüllt. Ich würde auch gern eine Kleinigkeit essen, aber dazu müsstest du Melifaro und mich erst einladen.«

»Ihr wollt euch auf meine Kosten den Bauch vollschlagen? Kommt nicht in Frage!«, sagte ich und setzte die Miene eines verwirrten Geizhalses auf.

»Manchmal bist du dem Großen Magister Nuflin wirklich zum Verwechseln ähnlich«, kicherte mein Chef. »Jetzt verstehe ich: Du bist nicht König von Fangachra, sondern Enkel von Moni Mach. Weißt du eigentlich, dass König Gurig für alle Kosten aufkommt, die in deiner Residenz anfallen?«

»Wirklich? Das ändert alles«, sagte ich und lächelte gastfreundlich. »Ich bin erfreut, mein bescheidenes Abendessen mit euch beiden teilen zu dürfen.«

»Ausgezeichnet«, sagte Juffin zufrieden. »Und jetzt geh und frag all deine Besucher nach ihrem Namen. Ich mach mich unterdessen über das versteckte Büfett her, denn mein Magen ist so leer wie das Tor zwischen den Welten.«

Hinter mir stand ein Mann, der einen halben Kopf kleiner war als ich. Sein Aufzug war ein Kompromiss zwischen der eleganten Hauptstadtmode und der Kleidung meiner Landsleute. Unterm klassischen schwarzen Lochimantel trug er Kniehose und Kettenhemd, und um den Kopf hatte er einen Schal gewickelt, dessen Enden beinahe den Boden berührten.

»Sie sind es wirklich! Wie schön, mich Ihnen vorstellen zu dürfen. Mein Name ist Rich-Chiri Gatschilo, Graf von Wuk. Schade, dass wir nicht Nachbarn werden. Ich hörte, mit Ihnen langweile man sich bestimmt nicht«, erklärte der kleine Mann.

»Das habe ich von Ihnen auch gehört«, gab ich zurück und musterte ihn interessiert. Ich hatte nicht bedacht, dass der Graf, den man auch Dunkler Sack nannte, Lehrer des friedfertigen Königs Gurig VII. gewesen war, und staunte nun darüber, dass eine der seltsamsten Personen des Vereinigten Königreichs so klein war.

»Ganz zu Recht«, sagte der Graf. »Aber ich will Ihnen nicht Ihre kostbare Zeit rauben. Womöglich können wir uns irgendwann länger sehen. Ihre Untertanen sind übrigens sehr unzuverlässig. An denen werden Sie noch viel Freude haben. Ich muss zugeben, mich auf diesem Empfang gelangweilt zu haben. Es gibt hier schrecklich viele Menschen, aber nichts zu trinken. Und jetzt gute Nacht!«

»Gute Nacht!«, gab ich zurück und konnte den Blick kaum von dieser seltsamen Person abwenden.

Graf Gatschilo verbeugte sich, drehte sich um und ging zur Tür. Ich bewunderte seine kerzengerade Haltung, die ihm alles Zwergenhafte nahm und die Leute um ihn herum eigenartig verwachsen wirken ließ.

Im nächsten Moment war ich von einer bunten Gesellschaft umringt. Zwei Männer stellten sich mir vor: Sir Rep Kibat und Graf Kajga Atalo Wulch, die beiden Abgesandten aus Iraschi, einer der vielen Städte mit eigener Sprache. Im Wirtshaus Gerb Iraschi, wo ich früher regelmäßig verkehrte, hatte ich einige Brocken davon aufgeschnappt und konnte die zwei nun mit einem »Chokota!« überraschen, der traditionellen Begrüßung dort.

Dann lächelte mir Sir Toi Gojochwi zu, der sympathische Abgesandte aus Tulan, einer weit entfernten Gegend, über die Sir Manga Melifaro mir interessante Dinge erzählt hatte. Kurz darauf stieß Werlago Gabajochi dazu, der Prinz von Gor. Er war fast wie meine Untertanen gekleidet, wirkte aber so ernst wie eine Professorenwitwe. Er war Abgesandter der Grafschaft Chota, deren Anschluss ans Vereinigte Königreich bevorstand. Danach lernte ich den extravagant gekleideten Marquis Niro Uwilguk van Baunba aus Lochri kennen, der trotz des schönen Wetters einen sehr warm wirkenden Mantel trug. Alsdann trat Burik Pepezzo aus Tarun vor mich, der mächtige Vorsteher der Malerzunft dieses fernen Landes, dessen Bewohner sich fast alle der Malerei widmen. Wenn ich recht verstanden hatte, war er eigentlich nur nach Echo gekommen, um bei den vielen hier lebenden Kollegen seiner Zunft, die uns Hauptstädtern mit dem Pinsel das Leben versüßten, eine Malsteuer einzutreiben. Am auffälligsten aber fand ich Maniwa Umonary, den Abgesandten des Kalifats Kuman, der zufällig in Echo weilte und sich auf einem Teppich in meine Residenz tragen ließ. Wollte er seinen Platz wechseln, hoben zehn Diener den Teppich und trugen ihn weiter. Dieser Mann strahlte etwas viel Majestätischeres aus als ich, und ihn umgab das Flair von Tausendundeiner Nacht.

Mein nächster Besucher hatte ein echtes Piratengesicht. Es handelte sich um den Abgesandten von Ukumbi, Sir Tschekimba Geblasenes Horn. Unaufgefordert erklärte er mir, Geblasenes Horn sei der Name seines Schiffes, den in Verbindung mit seinem Familiennamen zu tragen in dem kleinen Piratenstaat, aus dem er stamme, Privileg der ältesten und einflussreichsten Sippen sei.

Dann belagerten mich die Honoratioren des Vereinigten Tascher, nämlich Zunaki Tschuga Tlach und Tschumotschi Droch Wiwi. Angesichts der vielen neuen Gesichter und Namen war mir schon ganz flau, doch ich erinnerte mich daran, dass mein Freund Ande Pu davon träumte, nach Tascher auszuwandern, und machte die beiden Herrn mit dem Journalisten bekannt.

Die nächsten drei Besucher kamen mir bekannt vor. Sie stammten aus der schönen Stadt Isamon und trugen kurze Jacken und übergroße Wollmützen. Es handelte sich um die Herren Cicerinek, Machlasufis und Michusiris, die Melifaro neulich erst aus dem Fenster seines Wohnzimmers hatte werfen müssen. Stolz nannten sie mir ihre Titel. Cicerinek war Vorsitzender des Stadtrats von Isamon, Machlasufis sein Privatlehrer, Michusiris Spezialist für alle kulturellen Fragen, die das Vereinigte Königreich betrafen. Ich wusste zwar nicht, was diese drei vornehmen Herren bei meiner Krönung zu suchen hatten, tat diese Frage aber als belanglos ab und erfreute mich stattdessen an ihrer seltsamen Kleidung aus Elchleder.

Dann sah ich mich nach Melifaro um, denn es wäre lustig gewesen, die vier wieder aufeinandertreffen zu lassen. Ich entdeckte meinen Kollegen ganz in der Nähe. Er unterhielt sich mit zwei überaus sympathischen Gentlemen, die auf den ersten Blick ganz und gar nicht exotisch wirkten. Als einer von ihnen die Kapuze abstreifte - es gibt nämlich Völker, die unsere Turbane für einen höchst fragwürdigen Kopfschmuck halten -, war ich erneut überrascht. Die bunte, geschickt aufgetürmte Frisur meines Besuchers war ein echtes Kunstwerk, das mein Staunen vollauf verdient hatte.

Dann erfuhr ich, dass eine solche Pracht mit Eigenhaar allein nicht zustande zu bringen war, sondern dass man dazu auch auf das Fell von Haus- und Wildtieren sowie auf Federn zurückgreifen musste. Darüber hinaus waren ein paar starke Zaubersprüche nötig, damit sich die aus so unterschiedlichen Materialien zusammengesetzte Pracht auf dem Kopf hielt.

Ich ging zu den exotischen Gästen und lächelte meinem Tagesantlitz zu.

»Das sind Sir Ajoncha und Sir Dschifa, die Märchenprinzen aus der unglaublichen Grafschaft Schimara, deren Herrscher ich vor zwanzig Jahren hätte werden können, wenn ich mich nicht so dumm angestellt hätte«, sagte Melifaro rasch. »Stimmt's, meine Herren?«

»Kein Grund zur Eile«, rief einer der beiden Prinzen. »Es ist noch nicht zu spät. Überlegen Sie sich ruhig noch mal, ob Sie das Angebot annehmen wollen.«

Der zweite Prinz zuckte nur gleichgültig die Achseln. Er war offenbar zu erwachsen und zu ernst, um das Gespräch mit Melifaro längere Zeit genießen zu können.

Ich reicherte mein offizielles Lächeln mit möglichst viel Charme an und verbeugte mich sehr förmlich vor den Vertretern der Grafschaft Schimara.

»Eigentlich bin ich gekommen, um dich mit alten Bekannten zusammenzubringen«, sagte ich zu Melifaro. »Mit deinem Besuch aus Isamon, genauer gesagt. Du hast die drei erst kürzlich durchs Fenster aus deiner Wohnung geworfen.«

»Ach, die sind hier?«, fragte Melifaro erstaunt. »Na ja, heute möchte ich ihnen dieses Vergnügen ersparen. Einmal reicht fürs Erste.«

»Da hast du Recht«, pflichtete ich ihm großmütig bei. »Weißt du eigentlich, dass König Gurig und ich dich zum Essen einladen wollen?«, fuhr ich fort und wandte mich dann an die beiden Grafen von Schimara. »Sollten Sie unseren Spaßvogel Melifaro noch länger ertragen können, möchte ich auch Sie gerne zu uns an den Tisch bitten.«

Prinz Ajoncha kicherte, und Prinz Dschifa musterte mich mit kaum verhohlenem Erstaunen. Er hatte offenbar andere Vorstellungen davon, wie sich ein Monarch zu benehmen hatte. Aber ich konnte mich unmöglich anders verhalten, denn ich stand neben Melifaro. Hätte ich mich wie eine Majestät gebärdet, hätte er mich jahrelang mit seinem Spott verfolgt.

Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, die Bekanntschaft diverser Adliger des Vereinigten Königreichs zu machen. Mir wurden folgende Persönlichkeiten vorgestellt: Waliba Walibal, der Ehrwürdige Leiter von Gugland; Eki Banba Uriuch, der Lord von Uriuland; Jorich Maliwonis, der Ehrwürdige Leiter von Uguland; schließlich die beiden Bürgermeister der Hafenstadt Gazin, Sir Balda Kunyk und Sir Zebi Chipilosis. Gazin war eine sehr reiche Stadt, der ein Bürgermeister offenbar nicht genügte. Soweit ich verstanden hatte, war der fröhliche rothaarige Balda Kunyk der Vertreter der reichen, durchweg adligen Reeder, während der muntere, mit einer leuchtenden Glatze geschlagene Zebi Chipilosis die Interessen der bürgerlichen Kaufleute vertrat. Vielleicht war es auch umgekehrt, aber ich kann mir nicht alles merken.

Danach unterhielt ich mich mit Joka Jochtochop, dem Polizeichef der Insel Murimach. Juffin hatte mir mal erzählt, Sir Joka verfüge über das absolute Gedächtnis und erkenne die Dinge, wie sie wirklich sind - genau wie unser Lukfi Penz. Doch anders als der Freund der Buriwuche wirkte der Sheriff von Murimach eher wie ein übertrieben pflichtbewusster Soldat, den auch sein lustiger Dialekt nicht zu einem angenehmen Zeitgenossen machen konnte.

Am Ende des Empfangs kam Sir Togi Rachwa zu mir, der Ehrwürdige Leiter von Landland, der bei vielen den Spitznamen »Goldenes Auge« trug. Eins seiner Augen war tatsächlich so bernsteinfarben wie die der Buriwuche, während das zweite die in Echo allgemein übliche Farbe aufwies, also grau war.

Sir Togi hatte als Leiter von Landland hervorragende Arbeit geleistet und die Provinz binnen weniger Jahre zu einem der reichsten Gebiete des Vereinigten Königreichs gemacht. Die jährlich stattfindende Messe in Numbana zum Beispiel war ein wirtschaftliches Großereignis. Man sagte ihm nach, er sei zwar kein ökonomisches Genie, doch sein bernsteinfarbener Blick lasse Obst, Gemüse und Getreide dieses kargen Landes so üppig gedeihen, dass mehrmals im Jahr geerntet werden könne.

Der offizielle Teil des Empfangs näherte sich dem Ende, und meine ehrwürdigen Gäste verließen nacheinander die Residenz. Offenbar zogen sie es vor, anderswo zu Abend zu essen. Auch ich spürte mächtigen Hunger, musste mich aber zunächst noch mit meinen Untertanen treffen, um ihre Geschenke in Empfang zu nehmen. Wie herrlich wäre es gewesen, wenn sie ein paar süße Piroggen für mich vorbereitet hätten, aber das war reines Wunschdenken. Genauso vergeblich hätte ich hoffen können, dass es Edelsteine hagelt.

Ich ging zu Sir Juffin, der mit dem Empfang sichtlich zufrieden war.

»Es wäre schön, wenn Sie die Regie des restlichen Abends übernehmen würden«, sagte ich. »Sie können das sicher viel besser. Ich stoße erst später zu Ihnen, denn ich habe noch einen Termin mit meinen Untertanen. Vielleicht bekomme ich die kostbaren Reste ihres Throns überreicht.«

»Geschenke sind heilig«, sagte mein Chef. »Und merke dir: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.«

»Womöglich verehren sie mir obendrein noch einen Kanten trocknes Brot. Mein Leben lang habe ich erfahren wollen, was Könige essen, und endlich ist die Gelegenheit da.«

»Trocknes Brot kann auch ich dir schenken. Aber wie ich dich kenne, wirst du diese Kleinigkeit mächtig aufbauschen und jungen naiven Mädchen von deinem königlichen Leben erzählen.«

Leider konnte ich das wunderbare Gespräch mit meinem Chef nicht fortführen, sondern musste ins ehemalige Büchermagazin. Dort saßen die Abgesandten des berühmten Volkes der Chencha friedlich auf dem Boden und verzehrten ihre Piroggen. Die Nomaden waren von Kopf bis Fuß mit süßer Creme bekleckert wie sonst nur Kurusch, der große Freund süßen Gebäcks.

Als sie mich sahen, sprangen sie panisch auf.

»Esst nur in Ruhe zu Ende«, sagte ich mit der Stimme einer gütigen Großmutter. »Ich freue mich, wenn sich meine Untertanen gut ernähren.«

Daraufhin nahm jeder meiner Besucher zwei Piroggen in die Hände und mümmelte geruhsam weiter. Offenbar hatten sie meine Höflichkeitsfloskel als Befehl aufgefasst. Der blinde Gehorsam dieser Nomaden erschütterte mich.

»Barcha und Fajriba, kommt bitte zu mir«, sagte ich. »Wir müssen über die Zukunft reden. Ihr könnt natürlich gern bis zu eurer Abreise hier im Palast bleiben. Ich übernachte derweil woanders. Wann wollt ihr eigentlich nach Hause zurück?«

»Wann immer Ihr es uns befehlt, Herr«, antwortete Barcha Batschoj und sah mich erstaunt an. In seinen Augen stand blankes Unverständnis über meine Frage.

»Dann macht euch morgen auf die Heimreise«, erklärte ich. »Schließlich habt ihr all meinen Landsleuten gute Nachrichten zu überbringen. Und nun gebt mir bitte eure Geschenke«, fügte ich hinzu und nahm mir eine Pirogge. Eigentlich mag ich keine rosige Füllung mit Honiggeschmack, aber Not kennt kein Gebot. Kaum war ich König geworden, musste ich mit Leckerbissen vorliebnehmen, denen ich sonst weiträumig ausgewichen wäre.

»Darf ich zuvor mit Euch sprechen, Herrscher von Fangachra?«, fragte mich der alte Fajriba leise und traurig.

»Natürlich«, sagte ich nickend. »Es ist leicht, sich mit mir zu unterhalten.«

»Genauso leicht, wie mit dem Tod ein Gespräch zu führen«, sagte der Alte streng. »Jahrhundertelang sagen wir zu ihm: »Hol mich bitte noch nicht heute«, und er lässt uns brav in Ruhe, doch eines Tages erfüllt er seine Pflicht, und zwar endgültig. Aber eigentlich wollte ich mit Euch über etwas anderes reden. Wir haben Euch etliche Geschenke mitgebracht, ohne Eure Vorlieben zu kennen. Außerdem wissen wir nicht mal, ob Ihr all diese Sachen braucht. Aber es entspricht eben der Überlieferung, dem neuen König Geschenke zu überreichen. Ich möchte Euch also bitten, sie anzunehmen - auch wenn sie Euch nicht alle gefallen sollten. Wenn der Herrscher die Geschenke seines Volkes ablehnt, fällt über seine Untertanen ein Fluch. Ich glaube nicht, dass Ihr uns etwas Böses wünscht, aber Ihr seid unter Barbaren aufgewachsen und kennt offenbar längst nicht alle Gesetze Eures Landes. Wir haben lange genug unter einem Fluch gestanden, Herr - lasst uns das bitte nicht schon wieder erleben.«

Er wandte sich an seine Landsleute, die noch immer pflichtbewusst an ihren Piroggen kauten.

»Holt eure Geschenke heraus. Der Herrscher ist bereit, sie zu empfangen.«

Zuerst bekam ich einige Körbe voll exotischer Frucht-und Gemüsesorten. Besonders erfreut war ich über einen riesigen Kürbis, den ich eifrig beschnupperte. Ich hatte zwar gute Erfahrungen mit der Küche des Vereinigten Königreichs gemacht, aber noch nirgendwo Kürbisse gesichtet.

»Toll«, rief ich begeistert. »Wenn ihr wüsstet, wie sehr ich Kürbis mag!«

»Kürbis? Das ist eine Steppenhimbeere! Habt Ihr das etwa vergessen?«, fragte der alte Mann, schüttelte erstaunt den Kopf und sah aus wie ein strenger Biologielehrer, der gerade den schwächsten Schüler der Klasse prüft.

Ich wollte den Korb mit der Steppenhimbeere anheben, doch der erste Versuch misslang, und auf einen zweiten verzichtete ich weise.

Natürlich beschränkten sich die Geschenke nicht auf Gartenfrüchte. So wurde ich stolzer Besitzer handgeflochtener Körbe, bunter Tücher, kurzer Hosen und anderer exotisch anmutender Kleidung. Manches sah neu, manches aber verdächtig getragen aus. Offenbar hatten die Mitglieder der offiziellen Gesandtschaft einige meiner Untertanen splitternackt ausgezogen. Innerlich zuckte ich zusammen, sagte aber kein Wort. Schließlich hatte ich dem alten Fajriba versprochen, alle Geschenke anzunehmen.

Mein Durchhaltevermögen wurde belohnt. Einer der Nomaden verehrte mir einen riesigen Hund mit zotteligem Fell. Er sah aus wie ein schneeweißer Bobtail, war aber fast so groß wie ein ausgewachsenes Nilpferd. Das gutmütig wirkende Monstrum hechelte mit seiner enormen Zunge.

»Sündige Magister, ist der schön!«, rief ich begeistert. »Ich habe immer davon geträumt, einen Hund zu haben, mir aber nie einen zugelegt. Offenbar habe ich geahnt, eines Tages so ein herrliches Exemplar geschenkt zu bekommen.«

»Das ist der schönste Schäferhund«, sagte Barcha Batschoj stolz. »Diese Hunde leben seit eh und je am Königshof. Da Ihr hier keines Schutzes bedürftig seid, Exzellenz, haben wir Euch nur eins dieser Tiere mitgebracht, um der Tradition wenigstens symbolisch Genüge zu tun. Normalerweise hat ein König hunderte davon.«

»Das habt ihr gut gemacht. Hundert Hunde dieses Kalibers - das wäre wirklich etwas viel.«

Ich kauerte mich neben den Hund und legte ihm behutsam die Hand auf die Mähne. Er sah mich unterwürfig an, drehte sich auf den Rücken und streckte alle viere in die Luft.

»Ihr wisst noch, wie man diese Tiere zähmen muss!«, rief Fajriba begeistert. »Nun ist er bereit, für Euch zu sterben.«

»Dazu kommt es hoffentlich nicht. Lebendig ist er mir entschieden lieber.«

»Wir freuen uns, Eure Wünsche erraten zu haben, und hoffen, dass Euch auch unser letztes Geschenk gefällt, Exzellenz.«

Ich hob den Blick und sah drei füllige Mädchen, die einander genau glichen. Sie wirkten tödlich erschrocken, hatten riesige Augen, eine schöne, lange Nase und kurz geschnittenes, dunkles Haar. Später erfuhr ich, dass die Frauen in den Leeren Ländern diesen Haarschnitt bevorzugen, da sie es für unter ihrer Würde halten, sich mit ihrer Frisur zu beschäftigen. Plötzlich fiel mir auf, dass vor mir nicht nur drei gleich aussehende Mädchen standen, sondern dass die drei fast perfekte Kopien von Liza Minelli waren. So ein Anblick kann jeden Menschen um den Verstand bringen.

Ich ließ mich neben meinem vierbeinigen Freund nieder, der mir prompt den Kopf unter die Hand schob. Ich streichelte ihn unwillkürlich, und der Hund war begeistert.

»Was sind das für junge Ladys?«, fragte ich endlich.

»Eure Frauen, Exzellenz«, gab Fajriba lakonisch zurück.

»Meine Frauen?«, wiederholte ich erschrocken. »Ich habe schon Kummer genug!«

So ein Glück konnte wirklich nur ich haben. Eigentlich wollte ich meinen Untertanen mit wenigen Worten sagen, dass es sinnlos war, das Gefühlsleben ihres Königs beeinflussen zu wollen, doch als ich Fajribas flehenden Blick sah, hielt ich den Mund. Schön, versuche ich also, die Audienz ohne Skandal zu beenden, dachte ich. Diese drei jungen Dinger sind sicher nicht vorwitzig genug, mein Schlafzimmer zu betreten, aber ich sollte mich informieren, was es mit ihnen auf sich hat.

»Ist es in meinem Volk üblich, dass die Männer mehrere Frauen haben?«, fragte ich.

»Das kann schon mal passieren«, sagte der alte Fajriba zurückhaltend. »Sofern die Frauen das notwendig finden.«

»Ach so«, meinte ich, da ich ganz und gar nicht verstand, was er mir sagen wollte. »Halten diese Grazien es also für notwendig, mich zu heiraten?«

Die drei Wiedergängerinnen von Liza Minelli schwiegen wie junge Partisaninnen, die in Feindeshand geraten waren, und es stand zu befürchten, dass sie gleich in Ohnmacht fielen. Ich hatte mich nicht für so furchteinflößend gehalten.

»Das ist auch eine Tradition«, erklärte der alte Mann. »Diese Frauen sind die Töchter von Isnouri.«

»Das ändert natürlich alles«, entgegnete ich sarkastisch.

Nun stellte der alte Fajriba endlich die Frage, die ihm offenbar seit langem auf der Zunge lag: »Exzellenz, Ihr wollt diese Damen doch nicht wegschicken, oder? «

»Das wäre vermutlich keine so schlechte Idee«, meinte ich entnervt. »Doch ich möchte euch keinen neuen Fluch auf den Hals schicken. Aber bitte keine Frauen mehr! Was ihr mir heute mitgebracht habt, reicht sicher bis an mein Lebensende. Und nun sei bitte so nett und erzähl mir von dieser Isnouri. Ich wüsste gern etwas über meine künftige Schwiegermutter.«

Das faltige Gesicht des Alten strahlte vor Erleichterung. »Isnouri ist eine uralte Frau aus unserem Volk. Sie zählt mindestens dreitausend Lenze, aber keiner kennt ihr genaues Alter, da sie ganz einsam lebt. Sie soll sogar auf dem Rücken ihres Menkals schlafen.«

»Ihres Menkals? Was ist das denn?«

»So heißen unsere Reittiere. Das habt Ihr offenbar auch vergessen, Exzellenz.«

»Leider«, pflichtete ich ihm gutmütig bei und stellte mal wieder fest, dass man nichts leichter vergisst als das, was man nie gewusst hat.

»Ab und zu besucht Isnouri andere Menschen und überlässt ihnen eine ihrer Töchter. Vermutlich braucht sie nicht mal einen Mann, um Nachwuchs zu bekommen. Vor siebzig Jahren hat sie uns diese Drillinge überlassen, nachdem sie zuvor stets einzelne Kinder geboren hatte. Damals konnten wir noch nicht ahnen, Euch eines Tages zu finden. Die Töchter von Isnouri nämlich nehmen nur Könige zum Mann.«

»Sie wählen sich einen Mann und nicht umgekehrt?«, fragte ich überrascht.

»Der Mann entscheidet gar nichts«, sagte Fajriba streng.

»Manche Männer bilden sich ein, sie könnten wählen, aber glaubt mir: Auch bei all Euren Vorgängern haben die Töchter von Isnouri sich für den König entschieden - nicht umgekehrt.«

»Schon gut. Damenwahl ist Damenwahl«, erklärte ich und wandte mich den drei erschrockenen Grazien zu. »Ihr habt mich also gewählt? Meinen Glückwunsch zur besten Entscheidung eures Lebens! Nun sagt mir bitte eure Namen. Schließlich kann ich nicht drei mir unbekannte Frauen auf einmal heiraten.«

»Wir heißen Helach, Hellwi und Kenlech«, flüsterte das Trio erschrocken.

»Wie schön. Ihr müsst euch allerdings an den Gedanken gewöhnen, dass ich euch ständig verwechseln werde ... Na ja, das war nur ein Scherz. Ihr lebt also künftig hier im Palast. Da rufe ich euch gleich ein paar Diener, damit sie euch das Haus zeigen. Ihr könnt alle Zimmer in Beschlag nehmen, die euch gefallen, und verlangen, was immer ihr wollt. Schließlich seid ihr die Frauen des Königs.«

Ich bebte innerlich vor Nervosität, beherrschte mich aber und fuhr fort: »Richtet euch schön ein. Ich überlege mir unterdessen, was ich mit euch anstellen soll. In einigen Tagen komme ich wieder. Dann besprechen wir alles. Ich würde mich freuen, wenn ich dann mehr von euch erfahren würde als bloß eure Namen.«

Ich sah den alten Fajriba an. »Ich hoffe, das war's.«

»Ja, Exzellenz«, sagte er nickend.

»Schön. Ich werde meine Diener anweisen, sich um euch alle zu kümmern. Und morgen werdet ihr euch auf die Rückreise machen. Du und Barcha Batschoj, ihr wisst sicher genau, wie man mein Volk glücklich macht. Ihr könnt mir im Winter einen Boten schicken. Sollte etwas Außergewöhnliches vorfallen, kann es auch eher sein. Jetzt muss ich aber wirklich gehen.«

»Wir machen alles, wie Ihr es Euch wünscht«, antworteten meine frisch erkorenen Premierminister wie aus einem Munde.

»Daran zweifle ich nicht«, sagte ich und meldete mich per Stummer Rede bei einem meiner Diener.

Gleich erschienen meine Bediensteten fast vollzählig, und ich gab ihnen Befehle, die meine Untertanen und meine Frauen betrafen. Noch vor kurzem hätte ich nicht im Traum daran gedacht, je solche Anweisungen zu erteilen.

Sofort brach das bei solchen Anlässen typische Wirrwarr aus, und ich beschloss, mich diskret zurückzuziehen.

»Gehen wir, mein Freund«, sagte ich und strich meinem Hund durchs Fell.

Gehorsam stand er auf und begleitete mich. Ich glaubte, der Kürbis werde sich nach den Anstrengungen des Tages vorzüglich zum Abendessen eignen, und zog ihn aus dem Korb. Mein zweiter Versuch, ihn hochzuheben, klappte schon besser. Ich merkte, dass ich ihn nicht lange unterm Arm würde tragen können, wollte aber keine Diener rufen, um ihre Hilfe nicht in Anspruch nehmen zu müssen. Also legte ich ihn auf den Boden und trat ihn mit dem Fuß vor mir her. Er kullerte in die richtige Richtung. Das war offenbar eine neue, speziell für hungrige Könige entwickelte Art Fußball. Da ich die Hände nun frei hatte, beschloss ich, den Obstkorb mitzunehmen und meine Gäste zu verwöhnen.

Der Hund blieb neben mir und half mir sogar, den Kürbis voranzutreiben. Was für ein kluges Tier!

»Ich möchte dich Drupi nennen«, sagte ich zu meinem neuen vierbeinigen Freund, »denn als Hund eines Mitarbeiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps verdienst du einen anständigen Namen. Dich den Hund von Baskerville zu nennen, könnte einen schlechten Einfluss auf deinen Charakter haben. Also taufe ich dich Drupi. Einverstanden?«

Das Tier erhob keinen Widerspruch. Anders als die Hunde meiner Heimat wedelte es nicht mit dem Schwanz, sondern schlackerte mit den Ohren, um seine Freude zu zeigen.

Schließlich landeten Drupi und ich im Esszimmer, wo mein neuer vierbeiniger Freund standesgemäß begrüßt wurde, mit verzücktem Auf stöhnen nämlich. Auch meine schwungvolle Art, das geschenkte Obst und Gemüse auf dem Tisch zu drapieren, stieß auf Wohlwollen. Der Kürbis allerdings gefiel nur mir.

»Dieses Zeug hat doch einen seltsamen Geschmack«, brummte Juffin. »Bist du sicher, dass du dich mit der Steppenhimbeere nicht vergiftest? Wenn du heute Nacht Magenschmerzen hast, weißt du jedenfalls, woher sie kommen.«

Nach dieser Bemerkung wollte nicht einmal Melifaro noch den Kürbis probieren. Auch die mit ihm befreundeten Prinzen nahmen nur aus Höflichkeit ein kleines Stück davon und schoben es ganz an den Rand ihres Tellers.

»Das stimmt doch gar nicht, Juffin«, erklärte ich und schnitt mir ein großes Stück Kürbis ab. Er schmeckte noch besser als erwartet - großartig!

»Wie gefällt dir dein neues Amt?«, fragte mich Melifaro.

"Macht es Spaß, Barbarenkönig zu sein? Das hab ich schon immer von einem Fachmann wissen wollen.«

»Das Leben eines Barbarenkönigs bietet manchen Vorzug. Hast du den Hund gesehen? Auch den haben mir meine Untertanen geschenkt. Wie langweilig wäre das Leben ohne sie! Außerdem haben sie mir weitere nützliche Dinge mitgebracht, einen Harem zum Beispiel.«

»Von so was träumst du? Wozu brauchst du einen Harem? Was willst du mit all den Frauen anstellen?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber wenn ich Erfahrungen gesammelt habe, beantworte ich deine Frage gern.«

»Was? Stimmt das mit dem Harem wirklich?«, fragte mein Kollege sichtlich erstaunt.

»Ja«, meinte ich und breitete bedauernd die Arme aus. »Ich habe drei Mädchen geschenkt bekommen. Wahrscheinlich muss ich den Dienst beim Kleinen Geheimen Suchtrupp quittieren, denn ich habe jetzt jede Menge andere Dinge zu tun. Ich werde den Damen Eis kaufen und ihnen beim An- und Auskleiden helfen müssen. Wer weiß, vielleicht hüpfen wir sogar zusammen Seil.«

Melifaro schüttelte irritiert den Kopf, blinzelte nervös und wollte offenbar wissen, warum ich solche Witze riss.

»Das ist die lautere Wahrheit, mein Freund. Ich habe mir absolut nichts davon ausgedacht.«

»Komisch«, sagte Juffin kopfschüttelnd. »Dann hast du jetzt tatsächlich drei Frauen? Schade, dass du keine Königin bist - dann hättest du nun drei Männer. Aber es ist doch gut, dass deine Untertanen sie dir verehrt haben. Schließlich soll deine Residenz nicht leer stehen, oder?«

»Das hab ich mir auch gedacht«, sagte ich nickend. »Darum hab ich den dreien befohlen, bei mir zu bleiben.«

»Donnerwetter!«, rief Melifaro, der endlich begriffen hatte, dass es sich bei den drei Frauen nicht um einen Witz handelte. Er wirkte sichtlich erschüttert. »Manche Leute haben wirklich Glück. Warum ist die Welt nur so ungerecht eingerichtet? Einer bekommt alles, und die anderen gehen leer aus - egal, wie anständig sie sind!«

»Du willst ein anständiger Mensch sein?«, fragte ich frappiert. »Na gut, nicht weinen, Kollege. Wenn du willst, bitte ich meine Untertanen, auch dir ein paar Frauen zu bringen. Mir macht das nichts aus.«

»Tu das!«

»Ihr solltet Euch daran gewöhnen, lieber Sir Max, Untertanen Befehle zu geben und sie nicht um etwas zu bitten«, mischte sich Prinz Dschifa ein.

Das klang so überzeugend, dass ich mich ertappt fühlte.

»Natürlich«, pflichtete ich ihm eilig bei. »Vielen Dank für Ihre Belehrung. Unser Melifaro hat demnächst den größten Harem im Vereinigten Königreich«, setzte ich hinzu und wandte mich wieder an meinen Kollegen. »Also sei nicht traurig, mein Freund.«

»So ein Harem passt gar nicht zu ihm«, sagte Juffin mit listigem Lächeln. »Du, Max, bist nicht irgendwer, sondern ein ausländischer König. Aber der da«, fuhr er fort und zeigte auf Melifaro, »ist ein ganz normaler Bürger unserer Stadt - auch wenn er sich große Verdienste um Echo erworben hat. Man darf an euch beide nicht den gleichen Maßstab anlegen.«

»Ach so«, sagte ich bedrückt zu Melifaro. »Du bist nur ein ganz normaler Stadtbewohner. Dann wird aus dem Harem natürlich nichts.«

»Jetzt reicht's mir aber! Ajoncha, ich akzeptiere deinen Vorschlag und übernehme ein Amt in deiner Provinz. Hier nämlich weiß man mich offensichtlich nicht zu schätzen.«

»Na endlich!«, rief der Prinz erfreut. »Wir werden ein Gesetz verabschieden, demzufolge allerorten munter Harems eingerichtet werden können. Und wir werden lange und glücklich leben! Dschifa, hast du eine Idee, was wir sonst noch bei uns ändern sollten?«

»Das erzähle ich dir später«, antwortete der Angeredete gelassen und musterte seinen älteren Bruder und Melifaro mit jenem Wohlwollen, das man netten, aber recht albernen Kindern entgegenbringt.

In etwas gespannter Atmosphäre aßen wir zu Abend.

Schließlich gab ich Drupi in die Obhut der Diener und befahl ihm, sich nicht nach mir zu sehnen. Dann gingen Juffin und ich zum Haus an der Brücke, während Melifaro und die beiden Prinzen sich in der Stadt austoben wollten. Dschifas gesetzte Miene allerdings ließ kaum befürchten, dass die drei in dieser Nacht zu einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Stadt werden würden.

»Die Feier war rasch vorbei - viel schneller als erwartet«, sagte Juffin zufrieden und setzte sich ins A-Mobil. »Das hast du gut hingekriegt, Max.«

»Ich nicht, sondern der Unbekannte, der entschieden hat, den Gästen kein Büfett anzubieten, sondern im kleinen Kreis zu feiern. Sonst würden all die offiziellen Vertreter und Gesandten sicher bis morgen früh in meiner Residenz tafeln.«

»Stimmt«, stellte mein Chef fest. »Darum gibt es bei offiziellen Anlässen nur selten Essen und Trinken.«

»Nur darum?«, fragte ich erstaunt. »Das ist wirklich menschenfreundlich - jedenfalls, was uns arme Könige anlangt.«

»Natürlich nicht nur darum. In Echo hält man es für unter seiner Würde, alle eingeladenen Gäste zu bewirten. Wir setzen uns mit unsereinem zu Tisch - oder mit denen, die wir schätzen und deren Anwesenheit uns Freude bereitet. Jeder Gastgeber - auch seine Majestät Gurig VIII.

- hat das Recht, nur seine Freunde zu bewirten. Deshalb haben wir beide mehrmals am Hof zu essen bekommen. Alle Gäste zu füttern, ist Unsinn, denn der Hof ist kein Wirtshaus. Sollte jemand darauf erpicht sein, auf Kosten des Königs zu essen, kann er in ein beliebiges Gasthaus gehen und es auf Rechnung des Hofes tun. Laut Gesetz ist der König ja verpflichtet, für all seine Untertanen zu sorgen.«

»Und wenn jemand unbedingt auf meine Kosten essen möchte? Soll er dann in die Leeren Länder fahren und dort auf meine Rechnung ein mit Kürbis gefülltes Menkal essen?«, fragte ich. »Das wäre eine ausgezeichnete Idee.«

»Menkal mit Kürbis - was ist das eigentlich?«

»Das Menkal ist ein gehörntes Pferd, das in den Leeren Ländern als Last- und Reittier benutzt wird. Und den Kürbis kennt man in Echo als Steppenhimbeere.«

»Sei vorsichtig - dieser Kürbis ist wirklich gefährlich. Aber da du so begeistert von ihm bist, glaube ich fast, du wurdest tatsächlich in den Leeren Ländern geboren.«

»Ich kenne den Kürbis aus meiner alten Heimat und habe dort etliche gegessen, ohne je Probleme bekommen zu haben.«

Wir mussten unser bezauberndes Gespräch unterbrechen, da wir das Haus an der Brücke erreichten. Juffin sprang aus dem A-Mobil und verschwand im Gebäude. Ich dagegen schlug mir verärgert mit der flachen Hand an die Stirn, weil ich nicht an die Bücher für Sir Schürf gedacht hatte.

»Wo bleibst du, Junge?«, meldete sich Juffin ungeduldig per Stummer Rede bei mir.

»Ich habe den Lesestoff für Schürf vergessen. Wenn er mir jetzt den Hals umdreht, kann ich ihm das nicht verdenken. Ich fürchte, ich muss noch mal in meine Residenz zurück.«

»Wie du meinst. Aber dann musst du auf mindestens eine Tasse Kamra verzichten.«

»Wie schade. Aber ich bin gleich wieder da.«

Im selben Moment kam mir eine Idee. Ich schob die Hand unter meinen Sitz, um durch die Ritze zwischen den Welten zu greifen. Ab und zu sollte man das trainieren -sonst kommt man aus der Übung.

Ich vergegenwärtigte mir, wie ich spaßeshalber Zigarren für General Bubuta gefischt hatte. Damals hatte ich mir die Gesichter derer vorgestellt, denen ich etwas wegnehmen wollte, die Kaffeetassen auf dem Tisch und die Kiste mit den Zigarren.

Jetzt wandte ich die gleiche Methode an und stellte mir meine Bibliothek vor. Dabei kam mir Stephen Kings Kurzroman Der Bibliothekspolizist in den Sinn, bei dem säumige Benutzer der Bücherei es mit einem Ordnungshüter zu tun bekommen, der keinen Spaß versteht. In so eine Bibliothek zu geraten, wäre kein Vergnügen, mein Freund, sagte ich mir. Diese Überlegung beeinträchtigte meine Konzentration, doch nach einigen Minuten hielt ich ein Buch in der Hand. Es handelte sich um den Roman Unsere Zeit ist vorbei von Ingvar Steffson. Titel und Verfasser waren mir unbekannt, aber was bedeutete das schon? Auf Erden war ich zwar ein leidenschaftlicher Leser gewesen, aber ich konnte schließlich nicht alles lesen, was andere geschrieben hatten.

Mit meiner Beute unterm Arm ging ich ins Haus an der Brücke. In unserem Büro traf ich auf den Boten aus dem Fressfass, denn Juffin hatte beschlossen, den Gefangenen zu füttern. Der kurzzeitig aus seinem Arrest befreite Lonely-Lokley hielt gedankenverloren seine Tasse in Händen.

»Und ich dachte, du wärst in deine Residenz gefahren, um Bücher zu holen«, sagte mein Chef. »Und natürlich, um deinen Harem zu beaufsichtigen«, fügte er lachend hinzu.

»Finden Sie nicht, dass es reicht, wenn Melifaro mich in dieser Angelegenheit mit Anspielungen überschüttet?«, fragte ich leicht gereizt. »Ich bin mir sicher, dass er mich morgen, übermorgen und die nächsten zehn Jahre lang mit solchen Bemerkungen verfolgen wird.«

Dann wandte ich mich an Schürf. »Dieser Band ist für dich, mein Freund. Zwar hab ich dir nur ein Buch mitgebracht, aber dafür stammt es aus der anderen Welt. Wer außer mir kann dir schon so ein Buch besorgen?«

»Stimmt«, sagte er, und in seiner sonst so versteinerten Miene hielt ein leichtes Erstaunen Einzug. »Ein Buch aus der anderen Welt ist sicher besser als alles, was sich in der ehemaligen Bibliothek finden lässt.«

»Nicht unbedingt. Ich habe es nicht gelesen und den Namen des Autors nie gehört. Ich kann also für nichts garantieren.«

»Deine Garantie brauche ich auch nicht. Ich habe noch nie ein Buch aus der anderen Welt gelesen. Also ist es für mich zwangsläufig viel mehr als ein x-beliebiger Band.«

Darauf konnte ich nur nicken. Zugleich versuchte ich mir vorzustellen, wie ich reagiert hätte, wenn mir vor fünf, sechs Jahren, als ich noch nicht Sir Max war, sondern brav auf der Erde gelebt hatte, ein Buch aus Echo in die Hände gefallen wäre. Hätte ich überhaupt an die Existenz anderer Welten geglaubt? Hätte mich der literarische Wert des Bandes interessiert, oder wäre es für mich weit mehr als nur ein Buch gewesen? Wahrscheinlich hätte ich so reagiert wie Schürf.

»Ist das tatsächlich ein Buch aus deiner Welt?«, fragte mich Juffin erstaunt. »Habt ihr denn Zeit, binnen eurer kurzen siebzig Jahre Bücher zu verfassen?«

»Wir sind sehr fleißig«, erklärte ich. »Das sehen Sie doch an mir.«

»Allerdings. Bist du nun bereit, eine Reise durch das Chumgat zu machen?«

»Lassen Sie uns doch beim üblichen Begriff bleiben«, schlug ich vor. »Das Wort Chumgat riecht mir zu sehr nach alter Mystik. Das haben Sie auch schon gesagt. Ich bin aber gern bereit, einen Spaziergang durch das Tor zwischen den Welten zu machen.«

»Gut, brechen wir auf. Offenbar bist du kämpferisch gestimmt. Genau das ist jetzt vonnöten.«

»Wo soll's denn hingehen? Ich dachte, Sie könnten überall die Welten wechseln.«

»Ich schon, wenn auch nur fast überall. Aber heute müssen wir dein Tor nehmen, und das liegt bekanntlich im Schlafzimmer deiner alten Wohnung.«

»Ist es wirklich wichtig, wessen Tor zwischen den Welten wir benutzen? Ich dachte ...«

»Lass das besser. Wenn zwei Menschen eine Reise durch das Tor zwischen den Welten unternehmen, muss der eine den anderen führen. Und wir müssen in die Welt deiner Träume reisen. Also bist du es, der uns den Weg weist. Deshalb gehen wir jetzt in die Straße der alten Münzen.«

»Dort müssen wir allerdings zwei Ladys vertreiben, und das dürften sie uns kaum verzeihen.«

»Das bekommen wir schon hin. Also los, mein Held. Sir Schürf, leider muss ich Sie zuvor wieder mit ihrem mystischen Stück Literatur in die Verhörzelle sperren.«

Lonely-Lokley leistete keinen Widerstand, sondern seufzte nur pflichtbewusst.

Das bevorstehende Abenteuer beunruhigte mich nicht. Ich war zwar nie ein großer Held gewesen, aber in Gesellschaft von Sir Juffin hätte ich mich sogar in die Hölle getraut. Seine Anwesenheit wirkte einfach ungemein beruhigend auf mich. Deshalb schob ich meine Befürchtungen beiseite und unterhielt mich mit meinem Chef sorglos über unwichtige Dinge.

»Warum sind zu meinem gestrigen Empfang eigentlich keine Frauen erschienen?«, wollte ich wissen, weil mich diese Frage seit dem Vortag beschäftigt hatte. »Gibt es unter all den Provinzfürsten nicht eine Frau? Dürfen sie im Vereinigten Königreich etwa keine politischen Ämter bekleiden?«

»Kannst du eigentlich noch an etwas anderes denken als an Frauen? Ich verstehe deine Obsession ja - schließlich bist du frischgebackener Besitzer eines Harems. Und teilweise hast du sogar Recht. Überall in den Provinzen regieren Männer, und auch am Königshof sind Frauen deutlich unterrepräsentiert. Aber nichts und niemand verbietet es ihnen, solche Funktionen zu übernehmen. Sie wollen es allerdings nicht. Weißt du, so ein Amt verlangt, ständig in der Öffentlichkeit zu stehen. Kluge Frauen mögen das nicht, und Dummköpfe - ob männlichen oder weiblichen Geschlechts - sind in Führungspositionen nicht zu gebrauchen. Es hat allerdings ein paar Frauen gegeben, die sich in solche Bereiche vorgewagt und so manchen königlichen Empfang besucht haben. Weißt du, die Frauen von Echo sind viel radikaler als wir Männer. Sie wollen alles oder nichts. Du hast mich mal gefragt, warum in keinem Orden eine Frau das Amt des Großen Magisters bekleidet. Wenn eine Frau in einen Orden eintritt, hat sie kein Interesse an Nebensächlichkeiten wie dem ewigen Hickhack mit den lieben Kollegen. Und wenn sie eine politische Karriere einschlägt, ernennt man sie bald zur geheimen Ministerin.«

»Alles klar«, sagte ich lächelnd. »Dort, wo ich geboren wurde, glaubt man, Frauen seien nicht klug genug, um Karriere zu machen, und hier sind sie zu klug dafür. Beides läuft auf dasselbe hinaus.«

»Denk nicht voreilig, du hättest alles verstanden«, seufzte Juffin. »Es läuft ganz und gar nicht auf dasselbe hinaus, doch das merkt man nicht so schnell. Einmal hat mich Magister Nuflin Moni Mach nur deshalb zu sich gerufen, weil Lady Sotowa es so wollte. Er selbst hätte meine Anwesenheit höchstens als Haupt auf einem Silbertablett goutiert. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie mächtig Frauen sein können.«

»Steht also hinter jedem bedeutenden Mann in diesem Lande eine Frau?«

»Beinahe, doch es gibt Ausnahmen. Ich zum Beispiel lebe allein, und das ist auch besser so. Aber jetzt Schluss mit dem Thema Frauen. Denk lieber darüber nach, was du deinen beiden Freundinnen sagst, um sie von ihren DVDs zu trennen. Wir sind nämlich schon fast da.«

Ich hatte Recht gehabt: Im Schlafzimmer meiner alten Wohnung saßen Melamori und Techi vor dem Fernseher und kicherten wie Gymnasiastinnen. Sie sahen sich einen Film an, der fast nur unter spärlich bekleideten Athleten spielte. Zudem redeten die Schauspieler in einer seltsamen, mir unbekannten Sprache. Was manche Leute sich für ein Zeug zusammenfilmen!, dachte ich erstaunt.

Die DVD war offenbar zufällig in meine Sammlung geraten und dürfte meiner Ex-Freundin gehört haben. Tja, da glaubt man, jemanden zu kennen, und erlebt dann so eine Überraschung.

Kaum hatten die beiden Ladys uns bemerkt, wurden sie verlegen und erröteten sogar.

»Oh weh, sie haben uns auf frischer Tat ertappt!«, rief Techi und lehnte sich an Melamoris Schulter. Sofort kicherten die beiden wieder los.

»Kein Wunder - schließlich sind wir beim Kleinen Geheimen Suchtrupp«, brummte ich. »Was seht ihr euch da eigentlich an?«

»Ach das?«, meinte Melamori und machte eine abfällige Handbewegung Richtung Fernsehgerät. »Ich hab in meinem Leben noch nichts Unanständigeres gesehen als diese schnaufenden, halbnackten Kraftpakete. Gilt so was in deiner Heimat als Unterhaltung, Max? Bist du etwa selbst so unterwegs gewesen?«

»Wie du siehst, fehlt mir dazu die Statur. Außerdem ist das keine Unterhaltung, sondern eine Methode herauszufinden, wer der Stärkste ist - eine recht unsinnige Methode, wie man sieht, aber Juffin verfolgte schweigend, wie ein Mann in himbeer-rotem Trikot versuchte, zweihundertvierzig Kilo zu stemmen.

»Wie ekelhaft«, sagte er dann. »Ladys, gefällt Ihnen das wirklich?«

»Und wie!«, rief Techi. »Wir sehen uns das schon zum dritten Mal an.«

»Stellen Sie das bitte sofort aus, gehen Sie nach unten, und kochen Sie sich eine Tasse Kamra. In einer halben Stunde können Sie wieder so viele DVDs schauen, wie Sie mögen.«

»Ihr wollt noch woandershin, stimmt's?«, fragte mich Melamori.

»Nein, wir wollen uns diese Männer selber ansehen, schämen uns aber in eurer Gegenwart unserer niederen Triebe.«

Techi stand schon in der Tür und lächelte mich an. Es war ein spezielles Lächeln, das mir Mut machen sollte, die Reise durch das Tor zwischen den Welten anzutreten.

»Einen schönen Abend noch, Ladys«, wünschte Juffin und verbeugte sich galant vor den beiden. »Und bleiben Sie besser nicht bis Sonnenaufgang, damit wir Sie nicht erneut beim Filmschauen stören.«

Techi sah mich etwas verärgert an und verschwand mit ihrer Freundin ins Erdgeschoss.

»Erstaunlich, dass die beiden sich so eng befreundet haben-, meinte ich kopfschüttelnd. »Immerhin stammen sie aus Familien, die seit langem miteinander verfeindet sind ...«

»Ich finde das ganz und gar nicht erstaunlich. Melamori wäre gern nicht nur mit der Tochter von Lojso Pondochwa, sondern auch mit ihm selbst befreundet. Aber leider ist der Vater von Lady Techi schon tot. Um ihrem eigenen Vater Korwa zu trotzen, tut Melamori alles, denn sie ist mit ihm in einen dauernden Wettbewerb verstrickt, bei dem es darum geht, wer wem die schlimmeren Wunden schlägt. Ich fürchte, Lady Melamori hat einen soliden Vorsprung.«

»Tja, das alles hat damit begonnen, dass Korwa sich einen Sohn gewünscht und eine Tochter bekommen hat«, sagte ich.

»Da wir gerade beim Thema Frauen sind: Ist dir schon aufgefallen, dass ihr euch sehr ähnlich seid, du und deine Freundin? Natürlich nicht im Gesicht, aber hinsichtlich eurer Worte und Gesten.«

»Das ist mir gleich aufgefallen«, bestätigte ich nickend. »Wie jeder selbstverliebte Mensch habe ich gedacht, das sei ideal, und sehe das eigentlich auch heute noch so.«

»Sie ist dein Spiegel«, erklärte Juffin. »Wie die übrigen Kinder Lojso Pondochwas wirft auch Lady Techi das Bild ihres Begleiters zurück. Niemand freilich hat das so perfekt gekonnt wie ihr großartiger Vater, der es meisterhaft verstand, von einer Rolle in die andere zu schlüpfen. Nur wenn deine Freundin erschrocken, betrübt oder allein ist,

kommt die echte Techi zum Vorschein. Und das passiert bekanntlich selten. Als du auf der langen Reise in deine Heimat warst, habe ich sie oft in ihrem Wirtshaus besucht, und wir haben uns gut über die verschiedensten Dinge unterhalten. Da Techi inzwischen viel Zeit mit Melamori verbringt, wird sie nun ihr immer ähnlicher. Ein lebendes Spiegelbild zu haben, ist schmeichelhaft, was?«

»Allerdings«, sagte ich und nickte verlegen. »Denken Sie wirklich, Techi habe die Neigung, zu jedermanns Spiegelbild zu werden? Ich wäre nie darauf gekommen.«

»Und doch ist es so.«

»Ich dachte, sie würde allein mir ähneln«, meinte ich betrübt. »Und wie sich jetzt herausstellt, weiß ich gar nicht, wer sie wirklich ist.«

»Natürlich weißt du einiges von ihr. Als Lady Scheck dich versehentlich beinahe vergiftet hätte, hattest du mit Techis wahrem Selbst zu tun, denn da war sie erschrocken. Soweit ich mich erinnere, fandest du sie damals bezaubernd«, sagte Juffin und lächelte freundlich. »Seither ähnelt deine Freundin dir wirklich sehr, wenn du mit ihr zusammen bist. Das ist keine billige Schauspielerei, sondern Magie, mein Freund. Und was geht dich ihr Verhalten an, wenn sie nicht bei dir ist?«

»Nichts«, räumte ich finster ein »Eigentlich kennt man niemanden wirklich, auch nicht sich selbst. Warum sollte Techi eine Ausnahme sein?«, fuhr Juffin fort.

»Auch da haben Sie Recht. Und warum unterhalten Sie sich ausgerechnet jetzt über dieses Thema?«

»Einmal muss man darüber reden. Es gibt viele einfache Dinge, auf die man von allein erst tausend Jahre zu spät kommt. Und da wir uns zufällig darüber unterhalten haben ...«

»In letzter Zeit verliere ich oft den Boden unter den Füßen. Das ist wie ein kleiner Tod. Wenn der Boden aber wieder da ist, stelle ich fest, dass die Welt schöner geworden ist.«

»Das hast du sehr hübsch gesagt«, meinte Juffin erfreut. »Und jetzt lass uns wieder an die Arbeit gehen. Wir haben die Ladys schließlich nicht vertrieben, um hier die ganze Zeit zu plaudern. Als wäre dein ehemaliges Schlafzimmer der einzige Ort im Vereinigten Königreich, an dem man sich über alles problemlos unterhalten kann.«

»Manchmal habe ich allerdings wirklich den Eindruck, dass man nirgendwo so gut miteinander reden kann wie in diesen vier Wänden«, wandte ich lächelnd ein. »Und was machen wir nun?«

»Du legst dich in deine Lieblingsecke und schläfst ein, wie du es immer tust, wenn du das Tor zwischen den Welten durchquerst. Es ist zwar ziemlich früh, und du bist noch nicht müde, aber ich helfe dir. Und wenn du im Tor bist, öffne einfach die Tür zu dem Strand, von dem du mit Schürf geträumt hast. Ich folge dir. Hab keine Angst - ich bin ein erfahrener Reisender und nicht auf deine Hilfe angewiesen. Jetzt leg dich endlich hin. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Ich legte mich ins weiche Bett und betrachtete den Fernseher, den DVD-Player und meine Filme, deren Anblick so beruhigend auf mich wirkte wie die Gegenwart von Sir Juffin. Nun war ich wirklich zu allem bereit.

»Das hier ist die beste Methode gegen Schlaflosigkeit«, sagte mein Chef und zog einen Vorschlaghammer aus dem Mantel. »Leiste aber keinen Widerstand - sonst funktioniert es nicht.«

Ich war baff und wusste nichts zu antworten. Schließlich passierte mir so etwas nicht jeden Tag. Der schreiend rosa lackierte Hammer näherte sich langsam meinem Kopf.

Natürlich spürte ich keinen Schlag, aber auch sonst nichts. Nur mein Schlafbedürfnis war überwältigend. Mit Narkose hatte das nichts zu tun, eher mit völliger Erschöpfung - als hätte ich seit Tagen kein Auge zugetan. Ich glaubte noch kurz, mich von diesem Bedürfnis befreien zu können, erkannte aber sofort, dass es sich dabei um eine Illusion handelte.

Dann schlief ich ein. Was blieb mir auch übrig, nachdem Sir Juffin mir persönlich ein Wiegenlied gesungen hatte?

Erneut landete ich an einem Ort, an dem es nichts gab, nicht einmal mich selbst. Es ist schwer zu erklären, was das Tor zwischen den Welten ist. Auch persönliche Erfahrungen helfen da nicht viel, im Gegenteil: Je öfter man dort landet, desto deutlicher wird einem, dass es keine Worte gibt, um von diesem Ort zu erzählen.

Auch diesmal staunte ich, wie gut sich ein Teil von mir in diesem metaphysischen Raum orientierte. Wieder wusste dieser Teil, wohin ich mich wenden musste, um feinen weißen Strand unter meine Schuhe aus Uguland zu bekommen.

Ich setzte mich auf einen warmen, rotgrauen Stein und sah mich um.

Etwas stimmte nicht mit dieser so fremden, mir aber dennoch bekannten Welt. Außer mir befanden sich dort nämlich noch andere Menschen. Sie waren zwar weit entfernt am Ufer, aber ich konnte sie trotzdem erkennen. Dabei war diese Welt bisher menschenleer gewesen. Das war womöglich eine ihrer wichtigsten, unverwechselbaren Eigenschaften gewesen. Genauso ist es bei einem geliebten Menschen: Seine Gesichtszüge, seine Stimme, seine Ausdrucksweise oder seine Reaktionen - all das macht ihn einzigartig und dadurch geliebt. Wenn sich nur eine dieser Eigenschaften ändert, ist die Harmonie gestört, und wir haben es nicht mehr mit dem alten Freund zu tun, sondern mit einem Unbekannten, den wir nur ungern in unser Leben lassen.

In letzter Zeit hatte ich solche Veränderungen immer wieder hinnehmen müssen. Den Kampf, die Dinge um mich herum zu erhalten, wie sie waren, hatte ich längst aufgegeben, weil er meine Kräfte überstieg. Ja, ich redete mir obendrein ein, die ständigen Veränderungen würden mir gefallen, und allmählich glaubte ich sogar daran.

Aber die Veränderungen, die an dem von mir so geliebten Strand passierten, erschreckten mich zutiefst. Zuerst lehnte ich nur intuitiv ab, was dort geschah, dann aber bekam ich seltsame Ahnungen.

Ich erhob mich von meinem warmen Stein, ohne zu bedenken, dass ich eigentlich auf Juffin hätte warten sollen, und ging zu den Badenden. Diese Leute gehörten einfach nicht hierher!

Eine nicht eben große, aber bunt gemischte Menschengruppe kam mir entgegen. Ich sah Frauen mittleren Alters in farbigen Röcken und golden schimmernden Kopftüchern. Eine hielt ein Kleinkind auf dem Arm. Schon aus der Ferne begannen sie zu jammern. Natürlich brauchten sie Geld, und zwar - wie sie behaupteten - für ihre Kinder. Eine Frau wollte mich ködern, indem sie mir anbot, aus meiner Hand zu lesen.

»Schöner Mann, ich verrate dir deine Zukunft. Lass uns sehen, ob du ein langes Leben hast und reich wirst.«

Die Handleserin näherte sich blitzschnell. Wie kann man so rasch über den Sand laufen?, fragte ich mich, tröstete mich aber damit, dass es vieles gab, was ich nicht für möglich gehalten hätte.

Dann verlor ich den Verstand.

Damals wusste ich nicht, warum ausgerechnet diese Frauen mit ihren Kindern mich so aus der Fassung brachten. Wer das Gefühl hat, angegriffen zu werden, sollte sich beherrschen können. Mich dagegen überkam blinde Raserei.

Das Erstaunlichste war, dass mir meine Wut gefiel. Ich ritt auf der Welle meines Zorns und spürte dabei ein intensives Gefühl der Befriedigung. Jede Zelle meines Körpers zitterte in wonniger Erwartung des Sturms. Genauso süß zitterte die Luft ringsum, und ich wusste nicht, wo mein Körper aufhörte und die Außenwelt begann. Auch wenn es seltsam klingen mag: Ich hatte mich noch nie so großartig gefühlt.

Die Frauen belagerten mich, als spürten sie die Wut nicht, die sich in mir zusammengebraut hatte. Dabei murmelten sie etwas über mein Geschick und den Hunger ihrer Kinder.

»Du willst Wahrsagerin sein, meine Liebe?«, fragte ich die lauteste von ihnen und staunte, wie unangenehm meine Stimme klang. »Obwohl du den eigenen Tod nicht vorhersiehst?«

Ich hatte nicht vor, die Frauen anzuspucken, obwohl mein Gift sie sicher umgebracht hätte. In dieser Lage aber wollte ich nicht auf eine so primitive Art des Tötens zurückgreifen. Wohlig streckte ich ihnen die Arme entgegen, als würde ich mich nach einem herrlichen Schläfchen genüsslich räkeln. Auf meinen Unterarmen waren scharfe Stacheln zu sehen, und mir war klar, dass jeder von ihnen so tödlich wie meine Spucke war.

Die Frau fiel leblos zu Boden und löste sich auf. Nur ihre farbenfrohe Kleidung blieb auf dem Strand zurück. Das waren gar keine Menschen, sondern Dämonen! Darauf hätte ich wirklich früher kommen können.

Die lauten Freundinnen meines Opfers zögerten, und ich nutzte die Gelegenheit, ihrem erneuten Angriff zuvorzukommen. Die linke Hälfte meines Mundes lächelte wollüstig, während die rechte Hälfte teilnahmslos blieb, als hätte ich dort ein Betäubungsmittel gespritzt bekommen. Den Magistern sei Dank, dass mir in diesem Moment niemand einen Spiegel vors Gesicht hielt! Dem sympathischen Sir Max aus Echo hätte sein Anblick sicher gar nicht gefallen.

Nach ein paar Sekunden war alles vorbei. Nur ein Haufen bunter Lumpen war am Strand zurückgeblieben. Ich zuckte die Achseln und ging weiter, um mir die nächsten Dämonen vorzunehmen, die sich im flachen Wasser tummelten. Um ehrlich zu sein, hätte ich es auch echten Menschen nicht verziehen, wenn sie sich hierher verirrt hätten.

Das Erstaunlichste bei meinem privaten Feldzug war, dass die Luft um meine Hände herum hörbar vibrierte. Das gefiel mir, ermüdete mich aber zugleich. Die seltsamen Stacheln an meinen Armen verschwanden plötzlich, doch ich wusste, dass sie unversehens wieder auftauchen würden, wenn ich auf ein neues Opfer träfe.

Ich ahnte, welcher Anblick mich am Wasser erwarten würde. Als ich nah genug gekommen war, um alle Details zu erkennen, stockte mir der Atem. Das ist zu viel für mich, dachte ich. Am Strand war alles versammelt, worauf ich je ohnmächtigen, mitunter nur flüchtigen und unerklärlichen, stets aber ermüdenden Hass verspürt hatte. Ich sah unfassbar dicke Matronen in grellen Badeanzügen, die sich sonnten und dabei aus Plastikbehältern Essen in sich hineinschaufelten. Ihre dünnbeinigen Begleiter tranken mit finsterer Miene warmes Flaschenbier. Ich sah krebsrote Mädchen in schlabbernden Bikinis, die sich Blätter auf die Nase gelegt hatten, um einen drohenden Sonnenbrand zu verhindern, und ihre x-beinigen Begleiter in zu engen Badehosen. Ich sah betrunkene Teenies, finster dreinblickende ältere Männer in Jogginghose und draufgängerische Rentnerinnen.

Plötzlich erinnerte ich mich an einen Strandurlaub mit meinen Eltern. Ich war damals höchstens fünf. Das ist ein schreckliches Alter, denn man beginnt die absurde Abhängigkeit von den Erwachsenen zu erkennen, hat dagegen aber noch keine Partisanenstrategie. Tagsüber geschah nichts Besonderes. Am Abend kehrten wir in unser Ferienhaus zurück, und ich lief in die Vorratskammer und hüllte mich in einen nach Mottenpulver riechenden Mantel. »Ich will nicht erwachsen werden! Bringt mich sofort weg von hier!«, rief ich immer wieder unter Tränen. Ich wusste nicht, an wen ich mich wandte, aber mich ekelte der Gedanke, durch das Zusammensein mit den Erwachsenen zu werden wie sie. Ich würde einen Bauch und Falten bekommen und irgendwann sterben - was sonst? Damals wusste ich noch nichts von Magie und Lojso Pondochwa.

»Das ist ja ausgezeichnet«, sagte ich leise zu mir. »Ich weiß zwar nicht, wer sich entschlossen hat, meine wunderbare Welt mit diesem Abschaum zu vermüllen, aber nun habe ich die Gelegenheit, die ganze Sippschaft auf einen Sitz zu töten.«

Dann roch ich die mir bekannte Mischung von Stranddüften - Schweiß, Sonnencreme, warmes Bier und gekochte Eier - und verlor alles Menschliche. Das ist keine bloße Redewendung, sondern eine kühle Feststellung der Tatsachen. Wie hätte das Wesen, das nun über den Strand tobte, noch ein Mensch sein können? Es vernichtete alles, was ihm in die Hände geriet, und fand größten Gefallen daran.

»Das ist meine Welt, ist das klar?«, rief ich. »Hier hat alles zu sein, wie ich es wünsche. Ich will euch nicht sehen. Verschwindet, ihr Missgeburten! In die Hölle, nach Antalya oder an die Costa Brava!«

Als ich wieder zur Besinnung kam, war alles vorbei, und ich saß allein im nassen Sand. Träge Wellen leckten an meinen Schuhen. Ich war ganz ruhig und fühlte mich sehr einsam. Was passiert war, erschien mir wie ein wirrer, aber durchaus angenehmer Traum, der mich nicht weiter beschäftigte.

»Du kannst ganz schön aggressiv werden«, hörte ich Sir Juffin hinter meinem Rücken belustigt sagen. »Schade nur, dass unser Schatzmeister Dondi Melichais dich nicht gesehen hat. Sonst würde er dein Gehalt bestimmt verdreifachen. Du bist doch sonst so ein netter Junge, Max -

wie konntest du dich so verwandeln? Schämst du dich gar nicht?«

«Sollte ich das?«, fragte ich gleichgültig.

»Eigentlich nicht«, sagte mein Chef lächelnd und setzte sich neben mich. »Was du gerade getan hast, war für dich offenbar nur eine Kleinigkeit. Also kommst du selbst mit Dämonen zurecht. Es war geradezu eine Augenweide, dir dabei zuzusehen. Jetzt musst du nur noch lernen, die zu besiegen, die hinter den Dämonen stehen.«

»Fangen wir doch sofort damit an«, meinte ich ungerührt.

»Sofort? Du bist ja eine richtige Kampfmaschine geworden. Ich hoffe, du bist nach dieser Benefizvorstellung nicht völlig ausgepumpt. Was du eben erlebt hast, hast du übrigens unserem Freund Gugimagon zu verdanken.«

»Ach, war das sein Werk?«, fragte ich teilnahmslos und staunte selbst, wie kalt mich diese Nachricht ließ. In diesem Moment hätte ich selbst Lonely-Lokley ein Vorbild sein können.

»Ich jedenfalls habe dir diese Leute nicht auf den Hals geschickt«, sagte Juffin, nahm seinen Turban ab und zog mit dem listigen Lächeln eines Zauberers aus der Provinz einen Tonkrug daraus hervor. Genau solche Krüge gab es im Fressfass.

»Ein Schlückchen Kamra dürfte dir nicht schaden. Sag aber bitte nicht, du bräuchtest zum Trinken eine Tasse. Ich kann nämlich kein Geschirr für dich herbeizaubern. Warum starrst du mich so an, Max? Hast du wirklich gedacht, außer dir und dem wunderbaren Maba Kaloch beherrscht niemand im Vereinigten Königreich den Trick mit der Ritze zwischen den Welten?«

»Aber nein«, sagte ich lächelnd. »Ich bin mir sicher, dass Sie zu allem fähig sind. Ich fand es nur erstaunlich, dass Sie den Krug ausgerechnet aus dem Turban gezogen haben. Stammt die Kamra wirklich aus dem Fressfass«

»Woher sonst? Ich kann dir doch nichts vorsetzen, was aus einer x-beliebigen Kneipe stammt.«

Juffin nahm mir den Krug ab und trank ein paar Züge. Ich kramte derweil in meinem Todesmantel nach Zigaretten. Ohne zu überlegen, schnippte ich dabei mit den Fingern. Zwar war ich das Zaubern inzwischen gewohnt, doch dass ich es nun sogar unwillkürlich betrieb, erschreckte mich ein wenig.

»Worauf warten wir noch?«, fragte ich. »Oder wollen Sie mir eine Erholungspause verordnen?«

»Das auch. Wir bleiben hier, bis ich mir sicher bin, dass du wieder zu Kräften gekommen bist. Dann rufen wir Gugimagon. «

»Bin ich denn noch nicht wieder topfit?«

»Vor einer halben Stunde warst du beträchtlich besser in Form.«

»Wo sind Sie eigentlich gewesen, als ich mit den Dämonen gekämpft habe?«

»Ich bin auf der Schwelle zu dieser Welt geblieben, um deinen kühnen Kampf zu beobachten. Ich habe viel Vergnügen daran gehabt und mich entschieden, mich nicht einzumischen, um es nicht mit deinen Fäusten zu tun zu bekommen.«

Juffin lachte gutmütig, als wäre ich ein Komiker und das Massaker an den Badenden nur Teil meiner Bühnenshow.

»Waren das wirklich alles Dämonen?«, wollte ich wissen.

»Natürlich. Weißt du, ich habe Gugimagon reingelegt. Er hat die ganze Zeit geglaubt, du kommst allein, und ich bleibe bei Sir Schürf.«

»Warum hätte er das annehmen sollen?«

»Gestern Abend habe ich Schürf ein wenig von meinem Blut gegeben und ihn gebeten, es zu trinken, wenn er seinen Reiter in der Nähe spürt. In solchen Dingen nicht gerade bewanderte Magier glauben dann nämlich den, dessen Blut getrunken wird, auch in der Nähe. Darauf habe ich bei Gugimagon spekuliert. Außerdem dachte ich mir, dass er sicher furchtbare Angst vor mir hat.«

»War dieses Blut Schurfs besonderer Schutz, von dem Sie mir gestern nichts erzählen wollten?«

»Ja. Und der Trick hat prima funktioniert, denn Gugimagon dachte, er bekommt es allein mit dir zu tun. Er hatte etwas Besonderes für dich vorbereitet und gehofft, dein Wutanfall werde dir alle Kräfte rauben. Das ist übrigens auch geschehen. Weißt du, Max, er hat auch vor dir Angst, wenn auch weniger als vor mir. Außerdem hasst er dich wirklich - das hat Schürf ganz richtig erkannt.«

Ich sah meinen Chef fragend an, doch er zuckte nur die Achseln und breitete bedauernd die Arme aus. Ich sollte die Dinge vermutlich nehmen, wie sie waren.

»Gugimagon hat dir all die geschickt, die du verabscheust und auch in deiner alten Heimat nie und nimmer hättest treffen mögen. Um wie viel schlimmer muss es für dich gewesen sein, ihnen in der Welt deines Traums zu begegnen, die doch allein dir gehört.«

»Zugegeben, ich habe schon lange von dieser Welt geträumt und fühle mich hier sehr wohl, aber deshalb gehört sie mir doch noch nicht!«

»Natürlich gehört sie dir, denn ohne dich gäbe es sie nicht. Zuerst hast du diesen Strand nur geträumt, doch dann hat er sich materialisiert. Das ist eines der geheimnisvollen Ereignisse, die man wirklich ein Wunder nennen muss. Und diesen Strand wird es auch nach deinem Tod noch geben. Die meisten von Menschen erschaffenen Welten sind so unvollkommen wie ihre Schöpfer. Du hingegen hast das seltene Talent, so herrlich zu fantasieren, dass deine Kopfgeburten über deinen Tod hinaus bestehen bleiben werden. Ich erinnere mich an das hübsche kleine Städtchen in den Bergen bei Kettari, das du samt Park erschaffen hast. Und nun hast du die Welt mit diesem herrlichen Strand beschenkt. Interessant, dass auch Gugimagon sich für diesen Ort begeistert hat. Vielleicht, weil es so leicht ist, in eine gerade erst erschaffene Welt zu gelangen.«

Ich sah meinen Chef erstaunt an. Was redete er bloß für metaphysisches Zeug? Hoffentlich machte er sich nicht über mich lustig. Aber selbst das wäre eigentlich nicht schlimm. Ich war es schließlich, der mit all den von mir erschaffenen Welten leben musste. Ich fühlte mich wie jemand, der aus einem Rausch erwacht und feststellt, dass um ihn herum nichts ist und die Welt nur in seiner Vorstellung existiert hat.

Erneut verlor ich den Boden unter den Füßen - wie schon so oft in diesem Herbst.

»Und Sie machen sich wirklich nicht über mich lustig?«, fragte ich ohne große Hoffnung.

»Warum sollte ich? Dass du Welten erschaffen kannst, scheint dir wirklich neu zu sein. Interessant, wie du dich mitunter davor drückst, den Tatsachen ins Auge zu sehen.«

»Das ist wirklich lustig«, pflichtete ich ihm sarkastisch bei. »Nach allem, was mir widerfahren ist, kann ich mir wohl den Luxus erlauben, die wundersamen Geschichten, die Sie mir da auftischen, zu ignorieren.«

»So einer bist du? Dabei solltest du vor Begeisterung hüpfen! Freut es dich nicht zu erfahren, wie mächtig du bist?«

Ich überlegte, was ich heute erlebt und empfunden hatte, und schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht - Schweinerei, was? Über den Rest Kamra in Ihrem Krug dagegen würde ich mich freuen. Ich bin ziemlich schlicht gestrickt, oder?«

»Da, nimm, du schlichtes Wesen«, brummte Juffin und hielt mir den Krug hin. »Leider ist sie schon fast kalt.«

Ich trank die lauwarme Kamra aus und spürte, dass ich ein wenig Ablenkung brauchte.

»Eigentlich bin ich schon wieder bei Kräften. Könnten Sie Gugimagon nicht rufen, damit wir die Angelegenheit rasch beenden und wieder nach Echo zurückkehren können?«

»Warte besser ab. Wieder bei Kräften bist du vielleicht in einer Woche. Es geht ja nicht um deine Selbsteinschätzung, sondern darum, ob du deine Heldentaten wiederholen kannst. Mit Gugimagon werde ich schon fertig -das ist ein Kinderspiel. Das Problem ist, dass ich dir dadurch unabsichtlich schaden kann. Du bist nämlich noch ziemlich schwach. Am liebsten würde ich dich nach Hause schicken, weil es hier zu gefährlich für dich ist, aber ohne mich würdest du nicht zurückfinden.«

»Ist die Lage so ernst?«, fragte ich erschrocken.

»Ernst? Es ist alles gut, ja bestens. Du kannst dich auf den Beinen halten und durch bloßes Fingerschnippen Kugelblitze erzeugen. Wir könnten hier ein paar Tage Urlaub machen, bis du wieder richtig fit bist. Das klingt recht verlockend, wie ich finde. Aber derweil könnte Freund Gugimagon sich aus dem Staub machen. Das jedenfalls würde ich an seiner Stelle tun. Ich habe deshalb einen anderen Vorschlag: Ich grabe dich hier im Sand ein und rufe Gugimagon zum Showdown.«

»Mich eingraben? Wie meinen Sie das?«

»Der Boden deiner persönlichen Welt ist der beste Schutz gegen jedes Übel. Jetzt mach kein so erschrockenes Gesicht, Max - den Kopf brauchst du ja nicht in den Sand zu stecken. Den Kampf der Titanen kannst du also in aller Ruhe beobachten. Ich arbeite gern vor Publikum.«

»Und was ist mit meinen Händen? Wenn Sie die eingraben, kann ich Sie nicht beklatschen!«

»Ich komme auch ohne deinen Applaus zurecht. Du hast längst bewiesen, wie wichtig deine Hände sind - also müssen wir sie vor Gugimagon schützen.«

»Machen Sie mit mir, was Sie wollen, Juffin«, sagte ich träge und räkelte mich auf dem heißen Strand. »Meine einzige Sorge ist, dass ich einschlafen könnte.«

»Das darfst du auf keinen Fall. Solange Gugimagon am Leben ist, kannst du dir keinen Schlaf leisten«, sagte Juffin und zog ein Fläschchen Kachar-Balsam aus seinem Lochimantel. »Du trinkst ständig von diesem Zeug, vergisst aber jedes Mal, es mitzunehmen«, fügte er vorwurfsvoll hinzu.

Ich nickte schuldbewusst und nahm einen großen Zug vom besten Getränk aller Welten.

»Verschluck dich nicht vor Gier!«, murmelte Juffin.

Er stand auf, ging zum Wasser, überlegte kurz, nickte gedankenverloren, nahm ein Steinchen, drehte es in den Fingern und schleuderte es energisch vor sich auf den Boden. Eine Staubfontäne stieg leuchtend auf und zerstob in tausend glitzernde Funken. Das sah wie eine kleine Explosion aus, ging aber völlig geräuschlos vor sich.

»Deine Grube im Sand wartet auf dich, Max. Es ist höchste Zeit, dass du dich darin versteckst. Sonst schlägst du noch Krawall.«

»Haben Sie mich je nach dem Genuss von Kachar-Balsam randalieren sehen?«, fragte ich erstaunt.

»Noch nicht, den Magistern sei Dank! Und ich bete jeden Tag zu ihnen, dass ich das nie erleben muss«, meinte Juffin kichernd. »Deine heutigen Taten haben mich beeindruckt. Man könnte meinen, Lojso Pondochwa sei auferstanden. Vermutlich wäre er dein Lieblingslehrer gewesen, denn heute hast du seinen Stil an den Tag gelegt. Nur er nämlich beherrschte den Trick mit den stachligen Unterarmen. «

»Sie machen mir zwar hübsche Komplimente, doch ich fühle mich dabei nicht wohl«, sagte ich seufzend. »Ständig tischen Sie mir Erinnerungen an Ihren alten Bekannten auf, der obendrein der Vater meiner Freundin war. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie ihn getötet haben? In letzter Zeit habe ich immer wieder die Ahnung, ihn bald zu treffen.«

»Um ehrlich zu sein: Ich habe ihn versehentlich getötet«, sagte mein Chef gedankenverloren. »Ich habe ihn an einen Ort geschickt, der kurz nach seiner Ankunft verschwunden ist und ihn mitgenommen hat. Außerdem kannst du ihn sowieso nie wieder treffen, denn ich habe das nur für ihn bestimmte Tor zwischen den Welten geschlossen. Und glaub mir: Es ist wirklich für alle Zeiten versperrt. Lojso kannte sich ausgezeichnet mit Offenkundiger Magie aus, doch was das Reisen zwischen den Welten betrifft, war er so unerfahren wie du. Am schwierigsten war es, ihn in das Tor zwischen den Welten zu locken - der Rest war eine Frage der Technik. «

»Würden Sie mir das genauer erklären?«

»Irgendwann ja, aber gerade bin ich - wie du vielleicht schon bemerkt hast - ziemlich beschäftigt. Und jetzt komm in deine Grube, Max, ehe es Gugimagon gelingt, auch diese Welt zu verlassen. Dazu braucht er zwar neue Opfer, denn die Menschen, die ihn hierhergebracht haben, sind inzwischen tot, und an Schürf kommt er nicht mehr heran, doch wir sollten unseren Feind nicht unterschätzen. Es würde mich nicht wundern, wenn er noch andere Helfer hätte. Schließlich hat er sich über hundert Jahre lang auf diese Reise vorbereitet.«

Während er redete, schob Juffin vorsichtig Sand zu mir in die Grube. Langsam fühlte ich mich wie ein riesiges Wurzelgemüse - um nicht zu sagen: wie eine Karotte. Das war ein recht lustiges Gefühl, und ich lachte wie verrückt, weil ich noch unter der Wirkung des Kachar-Balsams stand.

»Wunderbar!«, rief mein Chef. »Die Zusammenarbeit mit dir ist wirklich das reinste Vergnügen, mein Junge. Ich habe dich bis ans Ende der Welt getrieben und versuche nun, dich vor dem bösen Gugimagon zu schützen, und du lachst wie ein betrunkenes Pferd.«

»Wieso wie ein betrunkenes Pferd?«, prustete ich und wäre vor Lachen beinahe gestorben.

»Weil nüchterne Pferde viel ernster sind. Na gut, das reicht. Jetzt brauche ich Unterhaltung.«

Juffin entfernte sich vom Wasser, blieb aber auf dem Strand. Nach etwa dreißig Metern hielt er an und rief: »Gugimagon, du Missgeburt! Komm sofort her!«

Sein Schrei verhallte nicht wie ein normaler Ruf. Jedes Wort materialisierte sich und schwebte riesig in der Luft -wie im Comic. Unvermittelt wurden die Buchstaben noch größer, blichen dabei aber aus. Sekunden später bedeckten sie schon den ganzen Himmel. Nun streckte Juffin die Rechte aus und sog die Worte wie ein Staubsauger ein. Als er seine Hand kräftig schüttelte, merkte ich, dass die Worte sich in einen dünnen Stock verwandelt hatten.

»Komm sofort her!«, wiederholte er und stieß den Stock in den Sand.

Das sah großartig aus. Wäre ich nicht gefangen gewesen, hätte ich mich sofort zu ihm auf den Weg gemacht. Dann entspannte sich mein Chef, nickte zufrieden und sah mich an.

»Er kommt gleich«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Ich hab ihn schon festgenagelt. Er kann sich nirgendwo anders mehr herum treiben. In höchstens einer halben Stunde taucht er auf - zu längerer Abwesenheit fehlt ihm die Kraft.«

»Das haben Sie toll hinbekommen«, seufzte ich neidisch.

»Deinetwegen habe ich mir auch richtig Mühe gegeben. Eigentlich hätte ich auf die groben Effekte verzichten können, aber deine Filme haben mir Lust gemacht, in die Trickkiste zu greifen. Und weißt du was? Ich habe Freude daran! Schließlich sollte man sich auch für Routineaufgaben begeistern können.«

»Das nennen Sie Routine?«, fragte ich und pfiff durch die Zähne.

»Wie denn sonst? Wir haben das Tor zwischen den Welten durchquert und suchen Gugimagon, einen berüchtigten Freund gefährlicher Abenteuer.«

»Und ich dachte, die Lage wäre ernst.«

»Das ist sie auch - jedenfalls von deiner Warte aus. Wirklich gefährlich war es für dich allerdings nur, als Schürf dich angegriffen hat. Inzwischen ist es recht langweilig geworden, denn ich habe die Lage im Griff. Weißt du, Max, ich habe den Eindruck, Gugimagon belauscht unser Gespräch. Er ist verärgert und will mir beweisen, dass er sich nicht so einfach von mir erjagen lässt.«

Ich sah aufs Meer und staunte. Wider jedes Naturgesetz stieg das Wasser wie eine Wand und drohte, als gewaltige Welle auf uns einzubranden.

Juffin seufzte, winkte lässig mit der Hand und rief: »Zurück, marsch, marsch!«

So mag ein verschlafenes Herrchen seinen Hund beruhigen, der um drei Uhr nachts Gassi gehen will. Aus Erfahrung wusste ich, dass dieser Trick nicht funktionierte, doch ich täuschte mich: Die Wasserwand sackte augenblicklich und spurlos in sich zusammen, und der Horizont lag so flach da wie zuvor.

»Das war ein Dämon, Max«, sagte mein Chef. »Für wen hält dieser Gugimagon mich bloß? Glaubt er wirklich, ich leide an Altersschwäche?«

Offenbar gefiel ihm diese Idee, denn plötzlich spielte er einen Greis.

»Komm sofort her!«, rief er schrill und stützte sich tatterig auf seinen Stock. »Jetzt!«

Juffin keifte so laut, dass meine Nerven blank lagen. Besonders der letzte, markerschütternde Schrei hatte nichts Menschliches mehr, und ich hätte am liebsten den Kopf in den Sand gesteckt.

Die Gestalt, die plötzlich vor Juffin auftauchte, hatte die Statur eines Schwergewichtlers und kam mir riesig vor. Im nächsten Moment zeigte sich auch hinter meinem Chef ein Monstrum ähnlichen Kalibers. Im Vergleich zu den beiden wirkte der schlanke Juffin erschreckend harmlos, doch zum Glück handelte es sich nicht um eine Meisterschaft im Gewichtheben oder Hammerwerfen.

»Sir Gugimagon ist endlich gekommen - und seinen Schatten hat er auch dabei!«, rief Juffin mit zuckersüßer Stimme und richtete sich kerzengerade auf.

Er packte sein monströses Gegenüber bei den Oberschenkeln und riss es mit leichter Hand entzwei, als handele es sich nur um Papier. Dann kicherte er und schnappte sich die Beine des zweiten Gegners.

»Wie schade, Sir Gugimagon hat seinen Schatten verloren«, zwitscherte er.

Ohne sich anstrengen zu müssen, hob er den Riesen in die Luft und rammte ihn mit dem Kopf zuerst in den Sand, wie Tom es mit Jerry zu tun pflegt. Ich war sicher, dass die Disney-Begeisterung meinen Chef zu dieser Lösung inspiriert hatte.

»Na, Max, hat dir das gefallen?«, fragte Juffin, schenkte mir sein zauberhaftestes Lächeln und stieß lässig gegen Gugimagons aus dem Sand ragende Beine.

Schweigend nickte ich, konnte aber keinen Ton herausbringen.

»Sündige Magister, hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte Juffin erstaunt, kam auf mich zu und zog den riesigen Gugimagon an den Füßen hinter sich her.

»Warum bringen Sie ihn nicht um?«, rief ich schließlich.

»Du bist ja blutdürstig«, meinte mein Chef lächelnd. »Wenn es nach dir ginge, wären alle Welten menschenleer. Der Mann, den ich hier mitschleife, ist ohnehin so gut wie tot. Kein Mensch überlebt den Tod seines Schattens, jedenfalls nicht länger als ein oder zwei Stunden. Aber das reicht, damit wir uns ein wenig unterhalten können. Schließlich habe ich ein Recht darauf, mit meinem alten Freund zu reden.«

»Das haben Sie«, seufzte ich. »Befreien Sie mich jetzt aus meinem Sandgefängnis?«

»Auf keinen Fall. Du bist schutzlos und hast nichts auf einem Strand zu suchen, auf dem sich eben zwei ernsthafte Menschen mit Magie 228. Grades bekämpft haben.«

»Da sind Sie ja an die Grenze des Machbaren gegangen!«

»Stimmt. In neu erschaffenen Welten ist es recht einfach, hohe Grade von Magie anzuwenden. Auch das macht diese Gegenden so interessant. Jetzt verstehe ich auch, warum du die Schlacht mit den Badegästen so souverän gewonnen hast. In Echo hätte das nicht geklappt, hier dagegen war es kinderleicht.«

»Und ich dachte, die Wut habe mir Flügel verliehen!«

»Wart's ab. Von echter Wut bist du noch ein gutes Stück entfernt«, erklärte Juffin und setzte sich neben mich. Genauer gesagt: Er ließ sich neben meinem Haupt nieder, denn ich glaubte, nur noch Kopf zu sein. Mein Körper schien mit dem Sand verschmolzen, aber das war gar nicht so unangenehm.

Juffin schüttelte Gugimagon wie einen Lappen. Auch sein riesiges Opfer setzte sich nun in den Sand und lehnte den Kopf an die Schulter seines Peinigers.

»Gerade sitzen!«, befahl Juffin ihm streng.

Ich staunte, doch Gugimagon setzte sich trotz seiner Teilnahmslosigkeit gehorsam auf. Endlich konnte ich mir sein Gesicht genauer ansehen. Es war nicht eben hübsch, wirkte aber seltsam sympathisch und erinnerte mich an die selbstbewussten Mienen von Gandhi und seinen Mitstreitern, wie ich sie aus Dokumentationen über die indische Unabhängigkeitsbewegung kannte. Sein rechtes Auge war geschlossen, während das linke mir einen starren, lastenden Blick zuwarf. Ich erinnerte mich an das Gespräch zwischen Juffin und dem Heiler aus der Irrenanstalt, und mir wurde klar, dass Gugimagon auf dem linken Auge blind war.

Dann fiel mir ein, dass ich dieses blinde Auge schon gesehen hatte: an dem Tag nämlich, an dem ich mich entschieden hatte, nach Hause zurückzukehren.

Selbst die Erinnerung daran ließ mich zittern. Von Anfang an hatte in dieser Reise der Wurm gesteckt. Ich hatte weder das Tor zwischen den Welten noch die richtige Tür in meine alte Welt finden können, sondern war in meinem alten Schlafzimmer in der Straße der alten Münzen eingeschlafen und in einer kleinen Kammer unter einer unangenehm kratzigen Decke in der Überzeugung erwacht, die herrlichen Jahre in Echo seien nur ein Traum gewesen.

Aber ich hatte mich aus dieser unangenehmen Lage befreit, war nach Echo zurückgekehrt und hatte dort weitergelebt, als wäre nichts gewesen. Ich hatte keine Erinnerungen zugelassen und sogar aufgehört, im Schlaf zu schreien. Als ich nun aber das blinde Auge von Gugimagon sah, wusste ich, was an jener Reise so schlimm gewesen war.

Kaum war ich damals in der alten Wohnung eingeschlafen, war ich ins Tor zwischen den Welten geraten, wo mir der einäugige Gugimagon begegnet war. Ich hatte nicht verstanden, was er von mir wollte, aber sofort begriffen, dass von ihm eine tödliche Bedrohung ausging.

»Du erinnerst dich an ihn, stimmt's?«, fragte Juffin mich behutsam. »Er macht Jagd auf dich, seit du diesen Strand zum ersten Mal besucht hast, und seither ängstigst du dich vor ihm. Aber du bist nicht der Einzige, denn Gugimagon ist ein ziemlich grausames Geschöpf«, setzte mein Chef hinzu und wandte sich wieder an ihn. »Hör mal, Freundchen, ich hab noch eine Frage. Du hast dich übernommen und viele Unschuldige mitgerissen, doch ich an deiner Stelle hätte das Gleiche getan. Wie hast du die Menschen eigentlich gefunden, die sich für den Ritt durch das Tor zwischen den Welten eignen?«

»Du weißt genau wie ich, dass der da kein Mensch ist«, sagte Gugimagon und zeigte mit dem Finger auf mich. »Außerdem brauchte ich deinen anderen Mitarbeiter unbedingt, denn ohne ihn hätte ich das Tor zwischen den Welten nicht erreicht.«

»Ich hab gehört, wer lange auf Verrückte angewiesen ist, wird selbst verrückt. Das stimmt offenbar. Gut, Gugimagon, damit ist alles geklärt. Jetzt ruf die anderen, damit diese Geschichte endlich zu Ende geht.«

»Welche anderen?«, fragte der Riese teilnahmslos.

»Ich weiß, dass du für diese Reise weitere Menschen benutzt hast, und kann mir vorstellen, wie es ihnen geht: Sie haben ihren Schatten verloren und wissen nicht, wie und warum. Ich könnte sie selber rufen, aber ich möchte ihnen keine zusätzlichen Schmerzen zufügen. Ihre Lage ist schlimm genug. Vielleicht weißt du, mein Freund, dass ich dein Sterben bis zum Weltuntergang hinauszögern kann. Dazu brauche ich nur Weiße Magie 230. Grades. Hast du wirklich Lust, so langsam zu sterben? Schließlich dürfte dir klar sein, dass diese wunderbare Welt noch recht lange existieren dürfte, was, Max?«

Ich nickte eifrig, ohne zu wissen, worum es ging, denn ich hatte dem Gespräch der beiden erfahrenen Magier nicht mehr folgen können. Mich interessierte nur eines: Warum bestritt Gugimagon so hartnäckig, dass ich ein Mensch war? Nicht, dass mir seine Meinung besonders wichtig gewesen wäre, aber seine Sturheit verunsicherte mich.

»Seit wann nimmst du Unsinn ernst?«, fragte Juffin mich listig. »Wenn ich gewusst hätte, dass du so leicht zu beeinflussen bist, hätte ich auch deinen Kopf im Sand verschwinden lassen«, fügte er hinzu und wandte sich wieder an Gugimagon. »Tu, was ich dir gesagt habe.«

»Ich habe keine Lust, deinen Launen nachzugeben, Juffin. Mach, was du willst, aber diese Missgeburt bleibt hier«, erklärte er kategorisch und wies einmal mehr auf mich. »Ihr alle seid stur, undankbar und dumm. Von Geburt an ist euch ein bestimmtes Leben verheißen, aber ihr erkennt eure Bestimmung einfach nicht. Außerdem hat mich diese Reise viel Energie gekostet. Deshalb will ich, dass alles bleibt, wie es ist.«

»Du hast keinerlei Energie in diese Reise investiert!«, rief Juffin aufgebracht. »Das haben andere für dich getan. Du hast sie alle ausgenutzt, und das empört mich ungemein. Jetzt ruf endlich deine Opfer her, und zwar sofort! Du kennst mich lange genug, um zu wissen, dass ich alles bekomme, was ich mir vorgenommen habe.«

Gugimagon aber schwieg und schüttelte nur den Kopf.

»Wie du willst«, sagte Juffin, hob ihn in die Luft und warf ihn mit voller Wucht auf den Strand. Wieder lagen zwei Körper im Sand, und wie zuvor zerriss Juffin einen davon.

»Der Schatten ersteht schnell auf, stirbt aber noch schneller. Ich kann dieses Spielchen noch oft wiederholen. Besser, du tust endlich, was ich verlange.«

»Lass mich in Ruhe! Du hast deine Mitarbeiter doch zurückbekommen - was willst du noch?«

»Die beiden vom Kleinen Geheimen Suchtrupp hast du wirklich verabscheut, was? Jetzt ruf endlich deine Opfer her.«

»Na gut. Aber vorher habe ich eine letzte Bitte. Ich möchte im Tor zwischen den Welten sterben, nicht hier. Kannst du das für mich einrichten?«

»Warum nicht?«, sagte Juffin unerwartet kulant. »Mit dieser Bitte hättest du unser Gespräch beginnen sollen. Jetzt ruf die Leute her.«

Der einäugige Alte sah nun beinahe glücklich aus. Wohin waren sein Hass und seine Hartnäckigkeit verschwunden?

Er ist wirklich verrückt, dachte ich. Was bedeutet es schon, wo man stirbt? Tot ist tot.

Plötzlich zog Juffin mich am Ohr. Er lächelte zwar, doch seine Augen blickten ernst und sogar ein wenig traurig.

»Max, die armen Opfer von Gugimagon sind schon da. Merkst du das?«

»Meinen Sie die durchsichtigen Gespenster am Wasser? «

»Durchsichtige Gespenster? Offenbar haben wir das Geschehen verschieden erlebt und nehmen Gugimagons Opfer darum unterschiedlich wahr. Wie viele Gespenster siehst du denn?«

»Lassen Sie mich nachzählen ... siebzehn.«

»Siebzehn? So viele hatte ich vermutet. Zwar kann ich sie nicht sehen, aber ich spüre sie. Für die ersten zehn finde ich gewiss einen Rückweg nach Echo. Bei den anderen sieben bin ich mir nicht so sicher. Gugimagon, du hast in der Irrenanstalt einen Gedächtniskristall bekommen - gib ihn mir bitte, denn er dürfte mir jetzt nützlich sein.«

»Da«, sagte der einäugige Alte und reichte Juffin einen anthrazitfarbenen, dunkel leuchtenden Kristall. »Seit wann bist du so fürsorglich? Was kümmert es dich, was aus meinen Opfern wird? Schließlich sind das nicht deine Mitarbeiter.«

»Natürlich nicht. Von all deinen Opfern stammt keines aus Echo und nur eins aus Tulan, einer Stadt im Vereinigten Königreich. Alle Übrigen sind Fremde. Aber das tut nichts zur Sache. Wir müssen diesen Kristall in siebzehn Teile zerlegen«, sagte Juffin und drehte ihn vorsichtig in den Händen, bis er in siebzehn Stücke zerfiel. »Na bitte«, meinte er zufrieden. »Alle können sich jetzt einen Teil nehmen.«

Erstaunt beobachtete ich, wie all die fast durchsichtigen Schemen sich einen Kristallsplitter nahmen.

»Leute, erinnert euch bitte an eure Biografie. Das wird euch im Tor zwischen den Welten helfen. Ich öffne jetzt die Tür dorthin«, sagte Juffin und zeichnete ein großes Rechteck in die Luft.

Siebzehn durchsichtige Gespenster gingen nacheinander auf Juffin zu und verschwanden binnen einer Minute durch die unsichtbare Tür. Mein Chef setzte sich neben Gugimagon in den Sand. Dem Alten ging es inzwischen sehr schlecht, aber Juffin kümmerte sich nicht darum, sondern wandte sich zu mir, lächelte freundlich und sagte: »Vor vielen, vielen Jahren, als ich fast noch ein Junge war, ist mir das Gleiche widerfahren wie den siebzehn armen Gespenstern. Ein schrecklicher Kerl wie der hier«, fuhr er fort und wies auf Gugimagon, »hatte sich meiner Seele bemächtigt, genauer gesagt - und zum Glück! - nur eines Teils davon. Natürlich verstand ich damals nicht, was mit mir los war. Ich blieb ein unauffälliger Mensch, und niemand wäre auf die Idee gekommen, mich ins Irrenhaus zu sperren, doch etwas fehlte mir. Aber was? Ich war sehr jung und wusste nicht, ob mein Verlustgefühl nur eine jugendliche Grille war oder auf einen tatsächlichen Mangel hindeutete. Allmählich aber vermutete ich, die Leere in mir sei ganz normal, und jeder empfinde das Leben als dumm und freudlos. Nichts interessierte mich wirklich, und mein Dasein war eine Abfolge inhaltsleerer Tage, die einander auf öde Weise glichen. Mein Schlaf war traumlos, und immer spürte ich unendliche Müdigkeit. Ich trieb mich herum, begegnete aber immer nur meinem Ebenbild, das mir aus vielen Spiegeln traurig entgegenkam. Das ist eine Metapher, Max, denn es gibt keine Worte, meinen damaligen Zustand auszudrücken. Am schlimmsten war das dumpfe, aber unfassbar schmerzende Wissen, mein Leben könnte ganz anders aussehen. Dann bot mir der alte Machi Ainti eine Stelle als sein Hilfssheriff an. Heute weiß ich, dass er erst zum Tor zwischen den Welten gereist war, um den verlorengegangenen Teil meiner Seele zurückzuerobern und mich dadurch aus der Gefangenschaft zu befreien. Seitdem weiß ich, wie das echte Leben riecht.«

Juffin legte sich auf den Rücken, streckte die Beine aus,

verschränkte die Hände hinterm Kopf, seufzte ein wenig und fuhr fort: »Damals schob ich Wache im Haus am Weg und saß gerade meine zweite oder dritte Nachtschicht ab. Ich war am Schreibtisch eingeschlafen, schrak aber plötzlich hoch, als eine Böe das Fenster aufstieß. Plötzlich bemerkte ich die Schönheit des Regens und den Duft des Schotbaums, dessen herrlicher Geruch der Pracht eines lilafarbenen Sonnenaufgangs gleicht. Ich spazierte durch die Stadt, überquerte alle Brücken - und du weißt, Max, wie viele es davon in Kettari gibt -, kehrte in einem Wirtshaus ein und staunte darüber, wie intensiv ich alles wahrnahm. Ich betastete die Dinge, um mich von ihrer Echtheit zu überzeugen und mich so meiner Existenz zu versichern. In dieser Nacht wurde auch ich endlich echt und wäre beinahe verrückt geworden - so sehr bestürmten mich die Eindrücke von allen Seiten. Bis heute begeistert mich das Dasein, und ich erfreue mich an jedem Zeichen des Lebens, denn zu genau erinnere ich mich der Zeit, da ich nicht wirklich lebte und noch nicht alles spürte. Dann sammelte ich mich und ging wieder zum Dienst, und Machi beschimpfte mich drei Stunden lang, weil ich meinen Arbeitsplatz drei Stunden unentschuldigt verlassen hatte. Heute weiß ich, dass er mich vor mir selbst geschützt hat, aber ich bin mir nicht sicher, ob er das effektivste Mittel dafür wählte.«

Juffin lächelte so verträumt, als sei die Standpauke, die ihm der Sheriff von Kettari gehalten hatte, das angenehmste Ereignis seines Lebens gewesen, und vielleicht war es ja so.

»Und jetzt haben Sie Ihre Schuld beglichen?«, fragte ich.

»Das hast du gut erkannt«, meinte Juffin erfreut. »Besser lässt es sich nicht sagen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dass diese armen Menschen wieder eine intakte Seele haben. Vielleicht wird manch einer von ihnen sogar verrückt, weil er das Leben wieder intensiv wahrnimmt.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich wehmütig. »Auch ich hatte mich auf der Spur des Doperst verloren und musste mich mühsam und Schritt für Schritt wiederfinden.«

»Ja«, sagte Juffin nickend, »die Geschichten darüber, wie man zu sich zurückfindet, unterscheiden sich nur im Detail. Doch du weißt, wovon ich rede«, setzte er hinzu, wandte sich an Gugimagon und legte ihm die Hand auf den Kopf. »Hoffentlich hast du unserem Gespräch aufmerksam zugehört. Diese Geschichte hätte ich meinem Kollegen auch später erzählen können, aber jetzt weißt du, was du anderen angetan hast.«

Gugimagon reagierte nicht auf die Worte meines Chefs. Ich wusste nicht einmal, ob er sie gehört hatte. Juffin schüttelte den Kopf und wandte sich an mich. »Schön, dieses Abenteuer geht nun zu Ende, und wir reisen zurück nach Hause.«

»Dazu müssen Sie mich aber aus diesem Grab befreien.«

»Mach die Augen zu und entspann dich. Das erleichtert es mir, die Tür zu öffnen, und schont deine Nerven.«

Ich tat, wie mir geheißen, doch trotz der geschlossenen Lider sah ich ein Rechteck. Bestimmt öffnete Juffin gerade die Tür zum Tor zwischen den Welten.

Ich landete in der kühlen Leere des Tores zwischen den Welten. Kurz darauf aber sah ich einen leuchtenden Punkt.

Das musste die Tür sein, die in mein Schlafzimmer in der Straße der alten Münzen führte.

»Max, versuch bitte, ein wenig länger hierzubleiben.«

Diese Worte kamen zweifellos von Sir Juffin, der mich per Stummer Rede angesprochen hatte. Ich staunte nicht schlecht, denn ich wusste, dass diese Art der Verständigung im Tor zwischen den Welten eigentlich nicht funktioniert. Ich wollte antworten, doch es klappte nicht.

»Du brauchst nicht zu antworten. Außerdem weißt du gar nicht, wie das geht«, beruhigte mich mein Chef. »Bleib so lange hier, bis du mich sehen kannst. Sollte dir das nicht gelingen, ist es auch nicht schlimm. Ich möchte nur nicht, dass du mitbekommst, wie man im Tor zwischen den Welten stirbt. Das zeige ich dir ein andermal.«

Ich wusste nicht, wie ich meinen Aufenthalt im Tor verlängern sollte. Die Tür nach Echo öffnete sich schon, um mich in mein Schlafzimmer zu entlassen, denn die Welten erlauben es den Reisenden eigentlich nicht, im Tor zwischen ihnen zu verweilen.

»Darf ich hier auf Juffin warten?«, fragte ich laut.

Noch nie hatte ich im Tor zwischen den Welten etwas gesagt und staunte darüber, wie meine Stimme hier klang und wie lange das Echo nachhallte. Doch ich war seltsam überzeugt, dieses Selbstgespräch sei der einzige Weg, meinen Aufenthalt in der Weltenschleuse zu verlängern. Dann sammelte ich meine Kräfte und fügte hinzu: »Ich muss hierbleiben. Unbedingt.«

Erstaunlicherweise funktionierte das. Die Tür nach Echo blieb sichtbar, verlor aber ihre Anziehungskraft.

»Danke«, sagte ich, denn sicher ist sicher. Außerdem soll man immer höflich bleiben.

Dann erblickte ich Juffin. Er war neben mir, obwohl Worte wie links, rechts, oben, unten, nah oder fern im Tor zwischen den Welten keinerlei Bedeutung haben. Ich hatte das Gefühl, ihn berühren zu können, wenn ich nur die Hand ausstreckte, spürte aber meinen Körper nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig als ihn anzusehen.

Juffin erschien mir riesig und eigenartig leuchtend, und je länger ich ihn ansah, desto riesiger wurde er. In seiner Nähe glitzerte ein kleines, seltsam konturloses Klümpchen, bei dem es sich um Gugimagon, den hiesigen Freddy Krueger, handeln musste. Ich wusste, dass er tot war, denn nur ein Toter konnte im Tor zwischen den Welten so klein wirken wie er.

Dann nahm Juffin das Klümpchen in die Hand und schüttelte es. Als er die Faust wieder öffnete, sah ich viele winzige Teile in alle Richtungen davonfliegen. Obwohl sie binnen Sekunden verschwunden waren, wusste ich, dass sie im Tor zwischen den Welten weiterleben würden.

Plötzlich war Juffin dicht neben mir, legte mir die Hand auf die Brust und warf mich neben meiner DVD-Sammlung aufs Bett.

»Entschuldige, Junge, das wollte ich nicht. Aber du hast dich nicht verletzt, oder?«, fragte mein Chef gut gelaunt.

Er saß mit stolzgeschwellter Brust auf der Fensterbank. Hinter seinem Raubtierprofil ging die Sonne auf. So ein Bild lässt sich auf Münzen schlagen.

»War es das schon?«, fragte ich und lächelte unsicher. »Sind wir wieder in Echo? Ist etwa alles vorbei?«

»Noch nicht ganz - den Magistern sei Dank«, sagte Juffin lächelnd. »Wir werden noch lange leben. Aber ich fürchte,

wir müssen jetzt ins Haus an der Brücke, um Sir Schürf aus seiner Zelle zu befreien. Wenn ich richtig rechne, hat er schon ziemlich lange nicht mehr geschlafen. Außerdem hat er sich vermutlich sehr gelangweilt.«

»Dann lassen Sie uns fahren. Doch halt, ich muss mich noch umziehen. Ich habe Sand in allen Taschen und Ritzen.«

»Das kannst du später machen«, meinte Juffin mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Sonst willst du dich auch noch baden, und ich fange an, mir Filme anzusehen. Was soll da aus dem armen Lonely-Lokley werden?«

»Wie Sie wollen«, sagte ich ergeben, spurtete meinem Chef nach und sprang hastig die Treppe hinunter.

»Wie hast du es eigentlich geschafft, dich so lange im Tor zwischen den Welten aufzuhalten?«, fragte er mich, als wir auf der Straße waren. »Nach all den Anstrengungen, die du durchgemacht hast, hatte ich nicht damit gerechnet, dass dir das gelingen würde.«

»Es war ganz einfach: Ich habe darum gebeten.«

»Wen denn?«, fragte Juffin erstaunt.

»Keine Ahnung. Ich habe laut darum gebeten und mich anschließend brav bedankt.«

»Dann kann ich dir schon wieder zu einer Entdeckung gratulieren, denn bisher ist niemand auf die Idee gekommen, dort etwas zu sagen. Demnächst versuche ich das auch mal.«

Juffin musterte mich sichtlich erstaunt. Ich fürchtete schon, größenwahnsinnig zu werden, blieb aber - wie stets - auf dem Teppich.

Im Haus an der Brücke war es still wie Gerstenbrei. So ruhig ist es dort nur in der Morgendämmerung.

Unser Büro war leer. Nur auf dem Schreibtisch stand eine Kochplatte, auf der ein Krug Kamra warm gehalten wurde. Der wunderbare Juffin hatte sich offenbar rechtzeitig im Fressfass gemeldet, und seine Bestellung war eher eingetroffen als wir. Solche Voraussicht kann manchmal Leben retten oder doch - wie in diesem Fall - die Lebensgeister wecken.

Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen und schenkte mir eine Tasse Kamra ein. Mein Chef kämpfte derweil heroisch mit dem Schloss der Verhörzelle.

»Willkommen in der Freiheit, Schürf!«, rief mein Chef dann. »Ich habe allerdings eine schlechte Nachricht für dich: Unser lieber Freund Gugimagon ist tot.«

»Den Magistern sei Dank! Ihr wart ziemlich lange unterwegs«, entgegnete Lonely-Lokley und klappte sein Buch zu. »Die letzte Nacht war alles andere als leicht für mich, denn der Reiter hat mich bedrängt. Zum Glück habe ich ein Amulett.«

»Dieser Gugimagon hat offenbar bis zur letzten Sekunde gekämpft«, sagte Juffin und schüttelte erstaunt den Kopf. »Den habe ich wirklich unterschätzt. Schürf, willst du noch ein wenig bei uns bleiben oder sofort nach Hause?«

»Ein paar Minuten bleibe ich gern«, sagte Lonely-Lokley und setzte sich zu mir. »Max, vorgestern hast du versprochen, mich nach Hause zu fahren, und bei deinem Fahrtempo kann ich nur staunen, dass du dein Versprechen nicht erfüllen willst.«

Ich war verblüfft. Dass jetzt sogar Schürf zur Ironie griff, machte mich sprachlos. Dann aber raffte ich mich auf und sagte: »Versprich mir, mich nicht wieder zu attackieren.«

»Ich hab deinen Kram noch hier irgendwo, Schürf«,

sagte Juffin und wühlte in seinem Schreibtisch herum. Nach langem, von zahllosen Flüchen begleitetem Stöbern zog er eine große Schachtel hervor, in der Lonely-Lokley seine tödlichen Handschuhe aufbewahrte. »Nimm deinen Schatz wieder mit, und lass mich dich aufs Neue im königlichen Dienst willkommen heißen. Ich freue mich, dass du nur kurz pausieren musstest. «

»Und sei bitte so lieb und zieh deine Handschuhe nicht gleich wieder an«, ergänzte ich mit listigem Lächeln.

»Na, wenn dich das beruhigt«, sagte Schürf achselzuckend, blickte unschuldig drein und inspizierte dann aufmerksam den Inhalt seiner Schachtel.

»Was suchst du denn da?«, fragte Juffin belustigt.

»Hier ist überall Sand drin«, erklärte Schürf trocken.

»Papperlapapp, wie sollte der denn in meinen Schreibtisch gekommen sein?«, entgegnete mein Chef kategorisch.

Lonely-Lokley sagte nichts dazu, sondern wischte mit den Schößen meines Todesmantels ungerührt seine Schachtel aus. Ich wusste nicht, was ich zu dieser Unverschämtheit sagen sollte, und klappte den Mund nur auf und zu wie ein Fisch.

»Deine Kleidung ist schmutzig - ganz anders als meine Sachen«, erklärte der Frechdachs ruhig.

Juffin kicherte nur, und bald war auch ich bereit, über die ganze Situation zu lachen. Besser spät als nie.

»Ihr zwei solltet im Theater auftreten. Dort würdet ihr sicher großen Erfolg haben. Und jetzt geht ihr sofort schlafen - genau wie ich«, sagte er und verließ als Erster das Büro.

Lonely-Lokley nahm neben mir Platz. Ich musste mit einem Dienstwagen vorliebnehmen, weil mein A-Mobil bei unserer letzten gemeinsamen Fahrt zu Bruch gegangen war.

»Wie hat dir das Buch gefallen?«, fragte ich ihn und fuhr los.

»Unglaublich gut. Es ist eine Legende oder ein Märchen - sicher bin ich mir da nicht - und handelt vom Weltuntergang.«

»Eine Antiutopie also«, meinte ich verständnisvoll und gähnte. »Gut, dass du keinen Frauenroman bekommen hast. Erzähl mir doch, worum es geht. Du weißt ja, dass ich von dem Buch noch nie gehört habe und mir nicht einmal der Name des Autors etwas sagt.«

»Hoffentlich interessiert es dich wirklich«, brummte Sir Schürf. »Es geht um die Bewohner deiner Welt, die plötzlich aussterben, da die Luft sich nicht mehr atmen lässt. Nur ein paar hundert Menschen bleiben am Leben. Zunächst irren sie vereinzelt herum, finden dann aber zueinander, entwickeln die Atemtechnik, die ich dir beigebracht habe, und können so überleben. Erst warten sie noch ängstlich auf den Tod, dann aber merken sie, dass außer ihnen auch manche Tiere und Pflanzen weiterleben und es Hoffnung gibt. Also entscheiden sie sich, gemeinsam in einer bestimmten Gegend zu siedeln, und wählen dafür einen Ort, der früher nur zu Erholungszwecken diente, dessen Namen ich allerdings vergessen habe.«

»Du meinst sicher einen Kurort«, bemerkte ich nickend. »Und wie geht das Buch aus?«

»Das weiß ich noch nicht, aber den handelnden Personen geht es schon deutlich besser. Sie altern nicht mehr, und ein Mann hat die Gegend mit einem fliegenden A-Mobil inspiziert. Leider habe ich nicht genau verstanden,

wie. Jedenfalls hat sich herausgestellt, dass in den früher von Menschen bewohnten Siedlungen Vögel nisten. Diese Tauben sind inzwischen so klug, dass sie alles benutzen können, was früher die Menschen in Gebrauch hatten. Unser Entdecker setzt seine Flugreise fort, kommt auf eine Insel, auf der riesige Schildkröten leben, und findet heraus, dass sie sich per Stummer Rede verständigen. Rasch erfährt er, dass die Schildkröten viele Generationen zuvor erlebt haben, was auch die Menschen jüngst erlebten: Auch sie waren vom Aussterben bedroht und mussten sich ein neues Plätzchen zum Leben suchen. Die Schildkröten erzählen ihm, früher sei die ganze Welt von Mammutbäumen regiert worden und davor von Drachen. Weiter bin ich noch nicht gekommen. Jedenfalls ist das ein sehr seltsames Buch. Ich habe noch nie etwas Ähnliches gelesen.«

»Ich auch nicht, offen gesagt. Aber jetzt verrate mir bitte, wie ich zu deiner Wohnung komme.«

»Immer geradeaus. Ich sag Bescheid, wenn du abbiegen musst. Kannst du mir vielleicht noch andere Bücher aus deiner Welt besorgen? Sie scheinen ziemlich interessant zu sein - jedenfalls interessanter als deine DVDs.«

»Sag das besser nicht in Juffins Anwesenheit«, warnte ich ihn lächelnd. »Gut, ich versuche, etwas für dich zu besorgen, Schürf, aber ich kann dir nichts versprechen. Manchmal habe ich Glück, aber vielleicht ziehe ich demnächst ein Mathebuch für die zweite Grundschulklasse aus der Ritze zwischen den Welten. Doch wer weiß - womöglich gefällt dir sogar das. Ich probiere es auf alle Fälle, aber erst mal brauche ich etwas Zeit, um mich von meinem jüngsten Abenteuer zu erholen.«

»Danke, Max. Jetzt bitte links - mein Haus steht am Ufer des Churon. Seltsam, dass du mich noch nie besucht hast. Ich hätte dir längst meine Gastfreundschaft erweisen sollen.«

»Alle Wege führen zum Haus an der Brücke«, seufzte ich. »Das ist ja das Problem.«

Ich verabschiedete mich von Schürf und beschloss, direkt zu meiner Freundin zu fahren, um sie nicht länger warten zu lassen. Eigentlich hätte ich zu mir in die Straße der gelben Steine fahren und dort drei Tage und drei Nächte wie ein Toter schlafen sollen, doch stattdessen fuhr ich zu meiner Freundin Techi in die Straße der vergessenen Träume.

Als ich aber zu ihr kam, lag sie schlafend im Bett und hatte einen so strengen Gesichtsausdruck, dass ich sie nicht wecken wollte. Also legte ich mich neben sie und sank sofort in Tiefschlaf.

Für diese kühne Tat freilich musste ich büßen. Zwar nicht sofort, aber nach vielen Stunden erholsamen Schlafs.

»Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob ich dich umbringen soll. Mein Schlafzimmer ist voller Sand. Hast du in der Nacht einen Sack davon verstreut?«

Techi zog mich an der Nase und hielt das offenbar für einen guten Witz. Ich sah das anders.

»Man darf mich nicht töten. Schließlich bin ich König! Was würde mein Harem ohne mich machen? Außerdem brauche ich dringend Schlaf. Ich hab gerade erst die Augen zugemacht.«

»Bist du dir sicher? Immerhin ist es schon Abend.«

Erschrocken sah ich mich um. Tatsächlich: Vor dem Fenster war es dunkel, und in der Ecke leuchtete eine Lampe.

"Ich hätte dich nicht geweckt, aber Sir Juffin hat sich per Stummer Rede bei mir gemeldet und mich gebeten, dich aus dem Schlaf zu reißen. Er hat gesagt, du solltest längst wieder im Büro sein.«

»Was ich nicht alles soll!«, brummte ich. »Ist denn etwas passiert?«

»Ich glaube nicht«, sagte Techi lächelnd. »Aber Kofa und dein Chef wollen sich einen Film ansehen, und irgendwer muss ja Dienst tun.«

»Verstehe«, seufzte ich. »Einen Film wollen die beiden sich ansehen. Das ist natürlich ein zwingender Grund, mich an tanzen zu lassen.«

Endlich schaffte ich es mal ins Badezimmer. Als ich in der Wanne lag, wurde mir bewusst, was für ein wunderbares Leben ich führte und wie sehr ich mich darauf freute, meinen Chef im Haus an der Brücke zu treffen. Besser, man begreift solche Dinge spät als nie.

Im Armstrong und Ella waren noch keine Gäste. Die Besucher hier kamen und gingen wie die Gezeiten, und an diesem Abend war offenbar Ebbe.

»Erzähl mir endlich, was du die ganze Zeit gemacht hast«, sagte Techi und stellte mir eine Tasse Kamra vor die Nase. »Irgendeinen Vorteil muss unsere Romanze schließlich für mich haben.«

»Na gut, aber wenn Juffin mich ruft, muss ich gehen. Ich hoffe ja, meine Geschichte ist spannender als der Auftritt der Athleten, den du dir gestern mit Lady Melamori angesehen hast. Es ist unglaublich viel passiert. Womit soll ich anfangen?«

»Mit deinem Harem natürlich«, antwortete Techi ein wenig verächtlich. »Gestern Abend war Melifaro hier und wollte mich nach Einzelheiten deines königlichen Liebeslebens aushorchen. Ich bin aus allen Wolken gefallen, kann ich dir sagen.«

Ich lächelte brav und berichtete von der Krönungsfeier und den seltsamen Drillingen, die ich geschenkt bekommen hatte. Techi hörte gespannt zu und hielt sich mit Kommentaren zurück. Das beunruhigte mich, denn normalerweise unterbrach sie mich oft.

»Seltsam«, sagte sie nach der Krönungsgeschichte. Ich griff derweil zu dem Gebäck, das sie mir hingestellt hatte.

»Seltsam, allerdings«, pflichtete ich ihr mit vollem Mund bei. »Ich habe das Gefühl, plötzlich Kopf einer großen Familie zu sein. Meine sogenannten Gemahlinnen sind sehr jung, und ich kann ihnen viel beibringen - zum Beispiel, wie man einen Lochimantel wickelt oder Besteck benutzt. All das habe ich kurz nach meiner Ankunft in Echo von Kimpa gelernt, Sir Juffins altem Diener. Ich könnte meine Ehefrauen allerdings auch vernachlässigen, aber das wäre nicht fair.«

»Ich kann dir ja bei ihrer Erziehung helfen. Sag mir nur, was du brauchst. Deine Gemahlinnen sind sicher lernfähig. Ihre Mutter, die legendäre Isnouri, ist im Vereinigten Königreich eine Berühmtheit. Ich habe schon einige Geschichten über sie gehört. Du hast Glück, dass ausgerechnet ihre Töchter in deine Obhut geraten sind.«

»Es ehrt mich, drei Ehefrauen zu haben, aber das Beispiel meiner Katzen zeigt, dass ich nicht gerade fürsorglich bin. Und drei junge Mädchen brauchen erheblich mehr Aufmerksamkeit als zwei Katzen.«

»Nur keine übereilten Schlussfolgerungen!«, rief Techi lachend. »Menschen oder Katzen ... du weißt doch gar nicht, wer diese Schwestern sind und was sie brauchen.«

Kaum hatte sie sich beruhigt, wies sie mir entschieden die Tür.

»Fahr endlich ins Haus an der Brücke, damit dein verärgerter Chef nicht herkommt. Gegen Ende der Traurigen Zeit hat er versucht, mich umzubringen, und davon selbst dann nicht abgelassen, als Nuflin Moni Mach ihn dazu mahnte. Wenn er dich hier antrifft, könnte es für mich wieder gefährlich werden.«

»Wenn Juffin drei Abende hintereinander keinen Film zu sehen bekommt, kann er wirklich gefährlich sein«, seufzte ich. »Aber auch ich brauche mitunter ein wenig Privatleben.«

»Mit deinem Privatleben beschäftige ich mich jetzt. Ich fahre zu deiner Residenz und sehe mich dort ein wenig um. Ich habe schon immer davon geträumt, einen Diener zu haben, und dort gibt es gleich zwölf. Aber melde dich bitte per Stummer Rede in deiner Residenz und sag Bescheid, wer ich bin.«

»Das klingt fantastisch!«, rief ich erfreut. »Ich glaube, meine Untertanen hätten dich auf den Thron setzen sollen.«

»Abgemacht! Ich bin als Nächste dran.«

»Na endlich«, sagte Juffin und fiel mir beinahe um den Hals. »Wir warten schon seit mindestens drei Stunden auf dich. Was hast du bloß die ganze Zeit gemacht?«

»Stellen Sie sich vor, ich war beschäftigt«, erklärte ich würdevoll.

»Mit all deinen Frauen, was? Du warst in deinem Harem - gib's zu!«, hörte ich Melifaro hinter meinem Rücken, hob aber nicht einmal die Brauen, sondern setzte mich, gähnte demonstrativ und zog ein möglichst gelangweiltes Gesicht.

»Ich war mit meinen Frauen, den Frauen meiner Minister und Diener und mit allen Frauen, die mir über den Weg gelaufen sind, des Langen und Breiten beschäftigt«, bestätigte ich und zwinkerte Juffin zu. »Leider aber habe ich etwas zu oft erwähnt, dass ich zu Hause noch eine Freundin habe - da war die Sache gegessen.«

Doch mein Chef war unerbittlich. »Du hast doch wohl nicht auf ein paar Sorgenfreie Tage spekuliert? Ich jedenfalls habe letzte Nacht, wie du weißt, vorbildlich durchgearbeitet. «

»Sie sind eben von ganz anderem Kaliber. Für Sie ist so was eine Kleinigkeit«, sagte ich und warf Melifaro, der unserem Gespräch verwirrt folgte, einen diskreten Blick zu.

»Gut, Leute, ich gehe jetzt«, sagte mein Chef von der Tür her. »Ich habe Wichtigeres zu tun, als mir die bohrenden Fragen dieses Opfers der Einsamkeit anzuhören«, fügte er hinzu und konnte damit nur Melifaro meinen. »Und du, lieber Max, denkst bitte daran, dass ich dich in den rosaroten Panther verwandle, wenn du es wagen solltest, mich bei meinem DVD-Abend zu unterbrechen.«

»Wieso ausgerechnet in den rosaroten Panther?«

»Nicht auf alle Fragen muss es eine Erklärung geben«, sagte Juffin und verschwand.

Melifaro und ich blieben allein zurück. Mein Kollege sah mich so neugierig an, dass er mir kaum mehr wie ein Mensch, eher wie ein großes Fragezeichen vorkam.

»Damit ich rede, muss man mich füttern«, erklärte ich ihm vorsorglich.

»Verstehe«, nickte er konspirativ. »Und wer bleibt hier? Kurusch?«

»Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir uns ohnehin nicht hier getroffen«, sagte ich und strich dem Buriwuch übers Gefieder. »Aber da wir schon hier sind, können wir auch bleiben. Lassen wir das Essen doch einfach kommen.«

»Logisch.«

Für seine Verhältnisse war Melifaro verblüffend einsilbig, meldete sich aber immerhin per Stummer Rede im Fressfass, und nach ein paar Minuten standen einige Tabletts auf meinem Schreibtisch.

»Wie sieht eigentlich das Leben mit einem Harem aus?«, fragte er gespannt.

»Nicht schlecht«, antwortete ich mit vollem Mund. »So eine abenteuerliche Nacht hatte ich noch nie. Ich habe einen Ausflug zum Tor zwischen den Welten gemacht, bin durch fremde Gegenden getobt und habe auch sonst allerlei erlebt.«

»Entschuldige, Max, aber warum redest du jetzt vom Tor zwischen den Welten?«, fragte Melifaro enttäuscht.

»Vergiss den Unsinn mit dem Harem. Techi hat dir einen gewaltigen Bären aufgebunden.«

»Dabei hat sie alles so plastisch beschrieben«, rief er. »Ihr habt wirklich einen seltsamen Humor.«

Nach einer Stunde war ich wieder allein, denn als ich die Wahrheit über Gugimagon erzählte, langweilte Melifaro sich so sehr, dass er mir leidtat.

Ich führte ihn zum A-Mobil, kehrte in mein Büro zurück, legte die Beine auf den Tisch und merkte, dass mein Leben langsam wieder auf seine alten Bahnen geriet.

Die Tage wehten an mir vorbei wie welkes Laub, und schon waren zwei Wochen vergangen.

»Max, schau doch mal in deiner Residenz vorbei, um meine Anstrengungen zu würdigen«, sagte Techi eines Morgens zu mir. »Und keine Ausflüchte! Geschlafen hast du schließlich schon die ganze Nacht am Schreibtisch!«

»Du weißt wirklich alles über mich«, seufzte ich ergeben.

Ich sprang aus dem Bett, wusch mich rasch, zog mich an und schaffte es sogar, mich zu rasieren. Techi hatte sich in den Kopf gesetzt, mich in die Residenz zu fahren, und natürlich bekam sie ihren Willen.

Ich staunte, denn die ehemalige Bibliothek erschien mir inzwischen ungeheuer lebendig. Meine Freundin hat einfach ein Talent, jedem Raum Atmosphäre zu geben. Sogar Drupi - der große Bobtail, den meine Landsleute mir geschenkt hatten - kam mir in großen Sprüngen entgegen, obwohl ich mich nicht ein einziges Mal um ihn gekümmert hatte.

»Wie konnte ich dich bloß vergessen? Ich schäme mich wirklich dafür«, sagte ich und umarmte das große, glückliche Tier. Dann wandte ich mich an Techi. »Siehst du, was für ein Unmensch ich bin? Warum hat er mich bloß so gern?«

»Weil er noch dumm ist. Er ist ja erst ein Welpe.«

»Ein Welpe?«, fragte ich erstaunt. »Bei der Größe?«

»Die Bobtails aus den Leeren Ländern sind die größten Hunde der Welt. Wusstest du das nicht?«

»Nein«, sagte ich erschrocken und wandte mich an Drupi. »Na, mein Lieber, mit dir streite ich mich besser nicht.«

Als ich den gutmütigen Blick meines Hundes sah, war mir klar, dass ich mich selbst beim besten Willen nicht mit ihm würde streiten können.

»Guten Tag, Sir Max«, sagten die bezaubernden Drillinge wie aus einem Munde.

Meine Frauen hatten sich in den letzten Wochen ungemein verändert. Sie trugen elegante Lochimäntel, kurze Hosen und taillierte Westen und sahen hinreißend aus. Nur ihren erschrockenen Blick hatten sie noch nicht abgelegt.

»Ausgezeichnet!«, rief ich. »Sir Max ist genau die richtige Anrede und klingt viel besser als »Herrscher von Fangachra«. Wenn ihr jetzt noch auf den >Sir< verzichtet, ist die Sache perfekt.«

Ich war etwas verlegen, wusste aber nicht, warum. Techi erkannte das sofort. »Vielleicht sollten wir zu fünft ein wenig spazieren fahren«, schlug sie vor.

»Wie Ihr befehlt, Lady«, sagte ich und verbeugte mich vor ihr. »Ich bin nur ein kleiner Barbarenkönig, der gern über sich entscheiden lässt.«

»Wie du meinst. Also ab ins A-Mobil«, sagte Techi.

Meine übrigen drei Frauen musterten uns in schockiertem Schweigen.

»So muss man mit mir reden«, meinte ich nur, um sie komplett aus der Fassung zu bringen. »Ihr habt Glück, meine Lieben, denn ihr habt einen König geheiratet, der ganz und gar nicht herrisch ist.«

Die drei Schwestern sahen mich weiter schweigend an. Nur eine kicherte kurz, legte aber sofort die Hand vor den Mund.

»Das war Hellwi«, sagte Techi zu mir. »Helach und Kenlech sind ernster.«

»Irgendwer muss ja ernst sein. Wohin sollen wir fahren?«

»Vielleicht mögen die Mädchen sich die Altstadt ansehen?«

Ich ließ die Gesellschaft in mein nagelneues A-Mobil steigen und rollte beschämend langsam am rechten Ufer dahin. Ich fuhr höchstens dreißig Meilen pro Stunde - für ein höheres Tempo waren meine Frauen einfach noch nicht reif.

Techi bewies einmal mehr, welch blendende Pädagogin sie war. Die Mädchen lauschten ihr mit offenem Mund, und ich musste an Juffins Bemerkung denken, wonach Techi sich jedem ihrer Gesprächspartner fast magisch anverwandeln konnte.

»Bist du sehr beschäftigt?«, fragte Melifaro mich per Stummer Rede, als ich gerade mit dem grenzenlosen Stoizismus eines Schulbusfahrers durch die Gegend gondelte.

»Ja, ganz unglaublich«, seufzte ich. »Aber wenn du einen Vorschlag für ein gemeinsames Mittagessen hast ...»

»Du bist ein Hellseher!«, rief er. »Komm doch zu mir. Ich weiß allerdings noch nicht, wohin wir gehen sollen.«

»Vielleicht schauen wir mal wieder bei Mochi vorbei«, schlug ich vor. »Ich war schon ewig nicht mehr bei ihm, und tagsüber ist es dort ziemlich leer.«

»Sollen wir uns also in Juffins Dutzend treffen? Prima Idee. Bis gleich.«

»Das war's. Der Ausflug ist beendet«, erklärte ich meinen Damen. »Techi, lass mein Ohr los - ich bin noch nicht fertig. Wir gehen essen.«

Mochi Fa begrüßte uns mit grimmiger Miene. Er musterte erst meine Begleiterinnen, dann mich mit strengem Blick und knallte uns eine abgegriffene Speisekarte auf den Tisch, in die wir zu fünft sehen mussten.

Kurz darauf erschien Melifaro. Als er die Damen sah, fiel ihm beinahe die Kinnlade herunter. Für solche Momente lohnt es sich zu leben, dachte ich verzückt.

Die nächsten Minuten war Melifaro verdächtig schweigsam. Erst im Laufe des Essens taute er auf und übte sich in höflicher Konversation.

Auch die Drillinge wirkten sehr schüchtern, denn sie aßen zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit mit Besteck. Techi betrachtete die drei Mädchen recht zufrieden. Zwar erröteten sie mitunter oder wurden leichenblass, bestanden die Prüfung aber im Großen und Ganzen mit Bravour.

Der Wirt bestritt den Hauptteil des Gesprächs und erzählte uns ausgiebig von den diversen Küchen, die wir bei unserem Besuch zu probieren gewagt hatten.

»Noch nie ist ein Kunde mit so vielen Frauen zu mir gekommen«, sagte Mochi streng, als er mir die Rechnung gab. »Ich gratuliere Ihnen zu diesem Rekord. Kommen Sie doch bald wieder vorbei.«

Er sagte das alles zwar in einem Ton, als sollte ich es nie wieder wagen, bei ihm zu erscheinen, aber auch das machte ihn - den Landsmann meines Chefs - zu einem der besten Wirte von Echo. Wo konnte man für so wenig Geld sonst noch so gut essen?

Melifaro hatte offenbar vergessen, dass er noch zum Dienst musste. Schweigend setzte er sich zu den Drillingen auf den Rücksitz und blickte so verwirrt drein, dass es einen Heidenspaß machte, ihn zu beobachten.

Wir fuhren die drei Schwestern nach Hause und blieben zu dritt im A-Mobil. Als Techi Melifaro ansah, musste sie lachen, und mir blieb nichts anderes übrig, als einzustimmen.

»Was gackert ihr denn so?«, fragte er ernst. »Max, hast du etwas dagegen, wenn ich eine deiner Frauen erobere?«

»Welche denn?«

»Das weiß ich nicht. Gibt es zwischen ihnen überhaupt Unterschiede?«

»Allerdings«, erklärte Techi. »Aber zuerst, mein Lieber, musst du herausfinden, welche dir am besten gefällt.«

»Kein Problem. Vielleicht setze ich ein wenig Magie ein, um diese Frage zu klären. Ich hoffe, unser Chef hat demnächst keine neue Mission für mich - in Cholomi zum Beispiel.«

»Keine Sorge, niemand will dich ins Gefängnis bringen. Aber verzichte bitte auf Verbotene Magie.«

»Sagst du das in deiner Funktion als Gesetzeshüter?«

»Aber nein. Mach, was du willst. Schließlich bin ich nur ein ganz normaler Barbarenkönig.«

»Deine Bescheidenheit erstaunt mich immer wieder«, sagte Melifaro.

»Jeder König hat so seine Macken!«, rief Techi.

Ich hatte den beiden nicht richtig zugehört, denn ich probierte gerade, ob sich auch mit geschlossenen Augen A-Mobil fahren ließ.

Es stellte sich heraus, dass das problemlos klappte. »Alles wird immer interessanter«, hörte ich Alice in meinem Kopf sagen. Natürlich nicht irgendeine Alice, sondern die aus dem Wunderland. Besser hätte man es kaum ausdrücken können.

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