Der Schatten von Gugimagon
Zugegeben - das Wetter war nicht unbedingt geeignet, um mit einem Boot unterwegs zu sein. Ich meine ein Wasser-A-Mobil, das den anderen A-Mobilen von Echo recht ähnlich sieht.
Ein kalter Wind, der für den Herbst in Echo eisig war, tobte wütend über den Churon, und meine erste Fahrt auf dem hübschesten Fluss des Vereinigten Königreichs ähnelte eher dem Ritt auf einem Känguru. Ich wurde so durchgeschüttelt, dass Kinn und Knie sich immer wieder berührten, und der Sturm ließ mich die Augen zukneifen. Auf meinen Wangen mischten sich Tränen, Regen und die Gischt des aufgepeitschten Flusses. Kein vernünftiger Mensch hätte diese Folter freiwillig auf sich genommen -dazu war schon ein Idiot wie ich vonnöten. Und das auch noch am ersten meiner beiden Sorgenfreien Tage.
Aber ehrlich gesagt: Ich war völlig begeistert!
Längst hatte ich einmal mit einem Boot unterwegs sein wollen. Meine tollkühnen A-Mobil-Fahrten waren in Echo schon legendär. Das war mir immer unverdient erschienen, denn jeder, der wie ich von der Erde stammt und an eine alte Klapperkiste mit Viertaktmotor gewöhnt ist, hätte ebenso rasch zu Ruhm gelangen können.
Boote dagegen hatte ich in meinem früheren Leben eigentlich nie benutzt. Dennoch hatte ich mir ein Herz gefasst und einige Unterrichtsstunden bei dem alten Kimpa genommen, dem treuen Diener von Sir Juffin Halli. Ich wollte meine Autorität bei den jüngeren Mitarbeitern des Hauses an der Brücke nicht verlieren, und der Haushofmeister meines Chefs hatte mich schon zu einer Zeit kennen gelernt, als ich in Echo sogar noch Probleme mit dem Besteck hatte.
So jagte ich nun über den dunklen Churon - einsam und durchnässt, aber überglücklich und mit einem nagelneuen Boot. Dass ich für meine Abenteuer den einzigen kalten Tag dieses bisher so sonnigen Herbstes gewählt hatte, verstärkte meine Begeisterung nur, denn die Umstände machten aus dem üblichen Spaziergang auf dem Wasser ein fast apokalyptisches Abenteuer - und genau das brauchte ich.
In letzter Zeit hatte ich immer stärker das Bedürfnis, mehr Pep in mein Leben zu bringen. Die Vorbereitungen zu meiner Thronbesteigung als König von Fangachra liefen noch immer. Die ehemalige Universitätsbibliothek, die man mir als Residenz zur Verfügung gestellt hatte, wandelte sich langsam aus einem so heruntergekommenen wie geheimnisvollen Gebäude in ein prächtiges, luxuriös gestaltetes Anwesen. Sogar der kleine Turm auf dem Dach bekam seltsame Teppiche, was mir gar nicht recht war.
Ab und an musste ich meine neue Residenz besichtigen, denn meine treuen Untertanen setzten alles daran, dass mir die Zimmer gefielen, und gaben viel Geld dafür aus. Bei diesen Besuchen erschien mir die Realität, an die ich mich allmählich gewöhnt hatte, wieder wie ein seltsamer Traum - wie ein Alptraum allerdings sicher nicht. Nur die Worte von König Gurig VIII. trösteten mich. Er hatte mir mehrfach versichert, ich müsse meine neue Residenz nur bei Empfängen für meine Untertanen aufsuchen, also nur wenige Male im Jahr. Niemand könne mich zwingen, dort auch sonst zu wohnen. Und den Worten des Königs soll man vertrauen.
Aber solange ich mit den ungemütlichen Wellen des Churon kämpfte, existierten all diese Probleme für mich nicht. Ich machte auch keine Zukunftspläne. Es gab nur das Hier und Jetzt, das allerdings ziemlich kalt und nass war.
»Max, bist du sehr beschäftigt?«, fragte Sir Schürf Lonely-Lokley höflich.
Seine Stumme Rede erreichte mich so unerwartet, dass ich abrupt bremste und mein Boot fast zum Kentern gebracht hätte.
»Eigentlich nicht. Was ist passiert?«, gab ich zurück.
»Bis jetzt nichts. Ich würde gern etwas eher Privates mit dir besprechen.«
»Prima, aber ich muss mich erst umziehen und mich etwas aufwärmen. Geh schon zu Techi, ich komme nach.«
»Entschuldige, Max - zwar verbringe ich meine Zeit gern im Armstrong und Ella, doch meine persönlichen Probleme möchte ich nicht in Gegenwart von Lady Techi besprechen. So was behandelt man vertraulich. Würde es dir etwas ausmachen, dich an einem anderen Ort mit mir zu treffen?«
»Mein Freund, du weißt, wie sehr ich Geheimnisse liebe. Komm also in meine Wohnung in der Straße der gelben Steine. Solltest du früher da sein als ich, geh einfach rein -die Tür ist offen. Und bestell bitte im Gefräßigen Truthahn ein Tablett voll heißer Speisen und Getränke.«
Ich vertäute mein neues Spielzeug rasch im Bootshafen Makuri, wo ich seit dem Vortag einen Liegeplatz gemietet hatte. Ein phlegmatischer alter Mann mit Bart, der finster und unzufrieden dreinblickte, kam aus seinem Verschlag, um mir beim Festmachen des Bootes zu helfen. Er sah mich entgeistert an - allerdings nicht, weil er in mir den respektheischenden Sir Max erkannte, denn ich hatte meinen Todesmantel nicht dabei. Offenbar gehörte für ihn jeder, der bei diesem Wetter eine Lustpartie auf dem Fluss machte, in die nächste Nervenheilanstalt.
Ich gab ihm eine Krone, was ihn in seinem Urteil über mich offenbar nur bestätigte, denn das war viel zu viel Geld für so eine Kleinigkeit. Trotzdem murmelte er ein paar kaum verständliche Dankesworte, die man schon als kleines Kind lernt, und verschwand rasch in seinem Schuppen, wo ihn sicher eine heiße Tasse Kamra erwartete.
Ich sah ihm neidisch nach. Mir stand noch eine kurze, aber unangenehme Fahrt in die Neustadt bevor, und mein eisiger Lochimantel klebte mir wie ein nasses Laken am Rücken.
Ich warf mich ins A-Mobil und fuhr so stürmisch los, als würde mich eine Schar blutdürstiger Vampire verfolgen. Zwei Minuten später betrat ich im Laufschritt meine Wohnung in der Straße der gelben Steine.
Lonely-Lokley war schon da. Reglos saß er mitten im Zimmer. Gut möglich, dass er den Mittelpunkt des Raums zuvor eigens errechnet hatte.
Begeistert musterte ich meinen Freund. Sein schneeweißer Lochimantel schimmerte im Halbdunkel der Wohnung, und seine tödlichen Hände, die wie üblich in Schutzhandschuhen steckten, lagen friedlich in seinem Schoß. Das war kein Mensch, sondern ein Todesengel.
»Du warst ja schneller als ich!«, rief ich begeistert.
»Das ist kein Kunststück - schließlich habe ich mich von der Straße der vergessenen Träume bei dir gemeldet. Ich wollte dich im Armstrong und Ella erwischen und hatte nicht erwartet, dass du bei diesem Wetter draußen sein würdest.«
»Tja, ich bin eben geheimnisvoll und unberechenbar!«, rief ich lachend. »Hab bitte noch ein wenig Geduld. Wenn ich mich nicht sofort umziehe, bekomme ich sicher eine Erkältung - und das, obwohl ich fast schon vergessen habe, was Krankheit bedeutet.«
»Natürlich, Max, zieh dich um. Ich an deiner Stelle würde auch noch heiß duschen.«
»Genau das habe ich vor. Aber keine Sorge - ich spute mich. Du weißt ja, wie schnell ich alles erledige.«
»Das weiß ich«, bestätigte Schürf nickend. »Ich bestelle im Gefräßigen Truthahn ein hochprozentiges Getränk, das dich durchwärmen wird.«
»Nicht nötig«, sagte ich und lief dabei in den Keller. »Es geht mir gut. Ich brauche keinen Alkohol.«
»Langjährige Erfahrung hat mich gelehrt, dass ein Rausch schneller vorbeigeht als eine Erkältung«, widersprach Schürf.
Nach wenigen Minuten kehrte ich bester Laune ins Wohnzimmer zurück. Mir war nicht mehr kalt, ich trug meinen wärmsten Hausmantel, und mein Magen knurrte.
Auf dem Tisch tummelten sich Teller und Tassen. Als Aperitif schenkte ich mir eine große Tasse Kamra ein.
»Jetzt fühle ich mich wieder lebendig!«, rief ich nach den ersten Schlucken.
»Gut zu wissen«, meinte Lonely-Lokley.
Ich versuchte, die Spur eines Lächelns in seinem Gesicht zu entdecken, aber was das anging, war ich bei Schürf fast immer auf verlorenem Posten.
»Bei mir zu Hause kannst du deine Handschuhe ruhig ablegen«, sagte ich und setzte mich in den Sessel neben ihm. »Wenn ich anfange, auf deine Kosten dumme Witze zu reißen, kannst du sie ja wieder anziehen. Allerdings gibt es Gerüchte, nach denen ich selbst nach meinem Tod nicht schweigen werde. Mich umzubringen, wäre also keine gute Lösung.«
»Was hast du bloß für seltsame Ideen! Dein Leben ist zu wertvoll, um es wegen kleinlicher Streitigkeiten zu beenden. Ich behalte meine Handschuhe aus anderen Gründen an.«
»Spürst du etwa Gefahr?«, fragte ich, hörte auf zu essen und versuchte, ein kluges Gesicht zu machen. Wenn Lonely-Lokley sich bedroht fühlte, war die Lage ernst.
»Aber nein, Max, ich spüre keine Gefahr, jedenfalls nicht hier und jetzt. Ich ziehe meine Handschuhe nicht aus, weil das Etui, in dem ich sie aufbewahre, in meinem Büro im Haus an der Brücke liegt. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich sie einfach irgendwohin legen kann.«
»Was deine Handschuhe angeht, fehlen mir Kenntnisse in puncto Sicherheitstechnik«, sagte ich lächelnd. »Aber zu den Magistern mit deinen Pfoten. Erzähl mir endlich von deinen Geheimnissen. Ich sterbe vor Neugier.«
»Es ist nichts Besonderes passiert«, sagte Schürf nachdenklich. »Es gibt nichts Beunruhigendes. Trotzdem spüre ich etwas Seltsames. Max, erinnerst du dich daran, dass du mich einmal in einen deiner Träume mitgenommen hast?«
»Natürlich. Das war auf unserer Reise nach Kettari. Wir haben in einem engen Bett geschlafen, und du hast mir erlaubt, deinen Traum zu betreten, wie du das so schön genannt hast.«
»Ja«, sagte Schürf nickend. »Aber in Wirklichkeit war es umgekehrt. Die seltsamen Orte, durch die wir kamen, stammten allesamt aus deinen Träumen. Von Anfang an wusste ich, dass deine Träume besondere Aufmerksamkeit verdienen. Doch darum geht es nicht. Erinnerst du dich an die großen Sandstrände am Ufer eines ruhigen Meeres? Das sah zwar alles nicht gerade freundlich aus, aber in deiner Gesellschaft habe ich es sehr genossen.«
»Natürlich erinnere ich mich daran. Warum willst du ausgerechnet darüber reden?«
»Weil es leider nötig ist«, meinte Schürf achselzuckend. »Ich träume in letzter Zeit oft von diesem Ort - natürlich ohne deine Begleitung. Der Strand erscheint mir überhaupt nicht freundlich, und ich habe keine Lust, ihn zu besuchen - weder im Traum noch in der Wirklichkeit.«
»Vielleicht konnte ich dich damals begleiten, weil wir das gleiche Kissen benutzten«, überlegte ich.
»Theoretisch hat der Abstand zwischen den Köpfen zweier Schlafender tatsächlich einen Einfluss - besonders, wenn es sich um jemanden handelt, der in diesem Bereich so unerfahren ist wie ich. Und wie ich deine Fähigkeiten einschätze, hast du das Zeug dazu, mich in deine Träume mitzunehmen - auch wenn wir weit voneinander entfernt schlafen. Aber darum geht es nicht, dessen bin ich mir sicher. Wenn ich durch dich an diesen Traum geraten wäre, hätte ich deine Anwesenheit gespürt. Aber dort gibt es dich nicht - das ist gewiss. Irgendwer, den ich nicht sehen kann und dessen Anwesenheit mir ganz und gar nicht gefällt, hält sich offenbar dort auf. Und ich glaube, ich kenne diese Person nicht.«
»Wahnsinn!«, rief ich. »Merkwürdige Gestalten tingeln durch meinen Lieblingstraum, und ich weiß nichts davon! Jedenfalls konnte ich dich nur in meinen Traum mitnehmen, weil du die Voraussetzungen dafür mitbrachtest und den Willen dazu hattest, dich auf diese Reise zu begeben. Ich habe übrigens schon längere Zeit nicht mehr von diesem Strand geträumt. Seit meinem letzten Besuch auf dem Familiensitz von Sir Melifaro, um genau zu sein. Ich hatte diesen Traum fast vergessen - und das, obwohl ich wichtige Dinge viel schneller vergesse als Träume.«
»Es gibt nichts Wichtigeres als bestimmte Träume, Max. Seltsam, dass ich das ausgerechnet einem Menschen sagen muss, der seine Kraft aus Träumen schöpft!«, entgegnete Schürf und schüttelte erstaunt den Kopf.
»Das ist wohl so«, sagte ich nachdenklich. »In letzter Zeit allerdings ist die Wirklichkeit viel traumhafter als meine Träume.«
»Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du kürzlich mal wieder einen Traum mit einem anderen Menschen geteilt hast, aber das ist offenbar nicht der Fall gewesen«, sagte Schürf ruhig. »Hast du früher, als du noch von dem Strand träumtest, dort nie jemanden getroffen? Hast du dort nie etwas Seltsames gespürt?«
»Nein. Ich schätze diesen Strand sehr und war mir immer sicher, er gehöre mir allein. Weißt du, manchmal ist man von Dingen seltsam überzeugt, bei denen es sich eigentlich nur um persönliche Einschätzungen handelt.«
»Dieses Gefühl kenne ich«, pflichtete Lonely-Lokley mir bei. »Und ich glaube, man darf ihm durchaus vertrauen. Aber wie ich nun sehe, kannst du mir bei meinem Problem kaum weiterhelfen.«
»Warum sollte ich dir nicht helfen können?«, fragte ich aufgebracht. »Schließlich hab ich dich mal an diesen Strand verschleppt. Ich wusste zwar nicht, was ich da tat, aber das bedeutet nicht, dass ich keine Verantwortung trage. Es ist schließlich mein Traum: Wer könnte sich darin besser auskennen als ich?«
»Und wie willst du einen Traum verstehen, den du schon lange nicht mehr gehabt hast?«
»Lass mich kurz überlegen«, sagte ich und stellte den leeren Teller ab. Ich musste laut niesen, denn eine bösartige Erkältung trat gerade auf meine Spur.
»Du solltest kurz aufhören, an deine Unverletzlichkeit zu glauben, und ein Glas Glühwein trinken. Das ist ein altes, aber durchaus bewährtes Mittel«, sagte Lonely-Lokley im Ton eines Oberlehrers. »Viele medizinische Lehrbücher bestätigen, dass dieses Getränk wahre Wunder gegen Erkältung wirkt.«
Er wartete keine Antwort ab, sondern stellte einen Topf mit Wein auf die heiße Herdplatte.
»Wenn ich schon Glühwein trinken muss, dann wenigstens aus deiner löchrigen Tasse. Die hast du doch hoffentlich dabei? Vielleicht schützt mich ihre magische Kraft nicht nur vor Schnupfen, sondern bringt mich auch auf kluge Gedanken.«
»Warum eigentlich nicht?«, meinte Sir Schürf und griff in die Jackentasche. »Diese Tasse wirkt auf dich offenbar genauso stark wie auf die Mitglieder meines Ordens. Und schaden kann es dir nicht, daraus zu trinken.«
»Schlimmer kann es ohnehin nicht werden«, sagte ich, denn ich spürte allmählich, dass ich eine verstopfte Nase bekam.
»Halt mal«, meinte Lonely-Lokley und streckte mir die Tasse entgegen. Sein Handschuh war mit großen Runen bestickt. Dann schenkte er mir ein wenig Glühwein ein. »Das reicht.«
Ich fürchtete kurz, diesmal werde es mit der löchrigen Tasse nicht klappen und ich hätte wegen des Schnupfens den Glauben an meine magischen Kräfte eingebüßt. Doch alles lief reibungslos: Der Glühwein blieb trotz der Löcher in der Tasse, als hätte ich das halbe Leben in Lonely-Lokleys ehrwürdigem Orden verbracht.
Ich trank den Wein in einem Zug und fühlte mich gleich viel besser. Zwar hatte ich noch immer Schnupfen, doch er ließ schon nach, und mir war klar, dass er sich meiner diesmal nicht bemächtigen würde. Ich fühlte mich so leicht, frei und ausgeglichen, dass selbst viel schlimmere Ereignisse meine Stimmung nicht würden verschlechtern können.
Ich gab Lonely-Lokley die Tasse zurück und lauschte auf die Signale meines Körpers. Zuerst verschwand der Schnupfen. Der leichte Halsschmerz leistete kurz Widerstand, aber auch er war rasch verschwunden, und ich musste mich nur ein wenig räuspern. Anscheinend hatte ich die Erkältung bereits im Ansatz erstickt und mir so ein paar Tage Krankheit erspart.
»Schön, Schürf«, rief ich, als ich wieder reden konnte. »Deine Tasse arbeitet wie immer. Jetzt können wir endlich darüber sprechen, weshalb du eigentlich zu mir gekommen bist.«
»Willst du dich wirklich in meine Träume einmischen? «, fragte Lonely-Lokley. »Das ist sehr großzügig von dir, aber ich glaube, du bist vor allem neugierig.«
»Das ist doch eine gute Basis für ein neues Abenteuer«, sagte ich leicht verlegen.
»Und was möchtest du unternehmen, Max? Eigentlich wollte ich dir vorschlagen, uns wieder einen Traum zu teilen - so wie damals auf der Reise nach Kettari. Aber dadurch könnten wir viel Zeit verlieren, denn ich träume längst nicht jeden Tag von diesem Strand. Das war zwar gestern der Fall, aber wer weiß, wann es wieder passiert. In drei Tagen? In einer Woche? Außerdem arbeitest du nachts, was unser Vorhaben erschweren dürfte.«
»Eigentlich arbeite ich vierundzwanzig Stunden am Tag. Das hat mir Sir Juffin eingebrockt, aber ich will nicht klagen - immerhin führe ich ein interessantes Leben. Weißt du, Schürf, ich glaube, ich sollte zunächst den Familiensitz der Melifaros besuchen. Im Schlafzimmer seines Großvaters hatte ich die schönsten Träume meines Lebens. Ich mache mich heute noch auf den Weg. Ich weiß zwar nicht, ob meine Reise etwas nützen wird, aber angenehm wird sie gewiss.«
»Glaubst du denn, dass mein Problem so eilige Maßnahmen verlangt?«, fragte Schürf interessiert.
»Das nicht, aber mich treibt die Abenteuerlust. Nicht umsonst hat Juffin mir gerade zwei Sorgenfreie Tage gegeben. Er behauptet, ich hätte kein Talent, mich zu erholen, und ich fürchte, er hat Recht. Schon vor Sonnenuntergang habe ich eine nette Nebenbeschäftigung an Land gezogen. Da wir schon bei unserem Chef sind: Warum erzählst du ihm eigentlich nicht von deinen seltsamen Träumen?
Schließlich ist er ein alter, erfahrener Mann, der fast alles über die dunklen Sphären des Lebens weiß. Meine Erfahrung dagegen reicht nur, um zu sagen, dass mir ab und zu Träume widerfahren.«
»Eine lustige Formulierung«, bemerkte Schürf.
Das war typisch - nie wusste ich, welche Bemerkungen er übergehen und welche Wendung ihm gefallen würde.
»Was Sir Juffin anlangt«, begann mein Freund, als er das Heft, in das er meine Formulierung notiert hatte, wieder in die Jackentasche schob, und setzte dann neu an: »Es handelt sich hier um deine, nicht um meine Träume, und nur du kannst anderen davon erzählen, denn jeder hat ein Recht auf Geheimnisse. Das steht sogar im Chrember-Gesetzbuch.«
»Dort stehen auch andere Dinge, an die sich kaum jemand hält«, sagte ich lächelnd. »Und ich glaube, Juffin kennt meine Geheimnisse besser als ich. Na schön, lassen wir unseren Chef zunächst aus dem Spiel. Ich versuche lieber, den Strandtraum zu träumen. Ich glaube, Melifaro wird begeistert sein, wenn ich ihm vorschlage, mit ihm zu seinen Eltern zu fahren. Irgendeinen Nutzen muss unsere Freundschaft ja haben.«
»Deine Entschiedenheit gefällt mir«, sagte Lonely-Lokley, stellte seine leere Tasse ab und erhob sich. »Vielen Dank. Ich hoffe, du nimmst mir nicht übel, dass ich noch einiges zu tun habe.«
»Ich habe zwar oft gehört, Hoffnung sei ein trügerisches Gefühl, aber die beleidigte Leberwurst zu spielen, ist einfach nur dumm. Wenn du noch einige Minuten wartest, ziehe ich mich um und fahre dich ins Haus an der Brücke. So viel Zeit hast du doch noch, oder?«
»Vielen Dank, aber dorthin muss ich nicht«, sagte Lonely-Lokley und schüttelte höflich den Kopf. »Manchmal benutzt du wirklich seltsame Ausdrücke. Schönen Abend noch. Und halte mich auf dem Laufenden.«
Er ging zur Tür, und ich sah seiner großen Gestalt beeindruckt nach. Hoch gewachsene Menschen gehen oft gebeugt, aber Sir Lonely-Lokley verweigerte sich auch dieser Regel.
»Danke, dass du mir deine Geheimnisse anvertraut hast«, rief ich ihm nach. »Angesichts meiner baldigen Thronbesteigung ist das eine nette Abwechslung.«
Schürf drehte sich auf der Schwelle um. »Ich hoffe, dieses Abenteuer wird nicht zu turbulent für dich. Wie Alotho Aliroch zu sagen pflegt: »Auf der Welt gibt es viele Menschen, deren Wünsche keine große Rolle spielen.« Und dieser Admiral aus Arwaroch ist ein scharfer Beobachter, findest du nicht?«
Lonely-Lokley wartete nicht auf meine Antwort, sondern ging auf die Straße. Nun war ich nur noch in Gesellschaft des Steins, der mir bei seiner Erzählung aufs Herz gefallen war. Schweigend schob ich ihn weg, hüllte mich in den erstbesten Lochimantel und ging ins Armstrong und Ella.
Unterwegs meldete ich mich per Stummer Rede bei Melifaro.
»Meine Pläne für heute Abend dürften dir gefallen.«
»Wieso? Hast du einen Harem eröffnet?«, fragte er belustigt. »Das wurde auch Zeit!«
Nachdem meine Kollegen sich die Caligula-DVD mit Malcolm McLaren angesehen und sich nur mühsam von diesem Kulturschock erholt hatten, ließen sie mich nich mehr in Ruhe. Vermutlich glaubten sie, ich würde mich als König von Fangachra binnen kürzester Zeit zu einem blutigen Tyrannen von Caligula-Format entwickeln. Allmählich übertrieben sie es allerdings mit ihren Andeutungen, und ich hatte ihnen bereits gedroht, meine DVD-Sammlung dorthin zurückzubringen, woher ich sie geholt hatte. Aber das hatte niemand ernst genommen.
»Eigentlich wollte ich etwas Zeit bei deinen wunderbaren Eltern verbringen«, sagte ich zu ihm. »Hättest du keine Lust, dich mir anzuschließen? Das würde dir sicher gefallen.«
»So eine bodenlose königliche Frechheit!«, rief Melifaro entzückt. »Welche Missachtung der Lebensgewohnheiten einfacher Bürger höre ich da heraus! Will unser kleiner König jetzt sogar meinen Eltern seine inhumanen Herrschermethoden zeigen? Ein großer Regent bist du, großer König von Fangachra!«
»Hör auf mit dem Unsinn. Ich habe Besseres zu tun, als mich mit dir per Stummer Rede herumzuzanken. Wenn du so weitermachst, schwillt mir der Kamm, und meine Krone passt nicht mehr. Komm lieber zu Techi. Ich fahre dich dann in dein Elternhaus, und morgen früh gehst du wie üblich wieder ins Haus an der Brücke. Und denk daran: Für all meine Mühen knöpfe ich dir nicht eine Krone ab. Wer würde dir ein besseres Angebot machen?«
»Da kann ich wirklich nicht Nein sagen«, pflichtete Melifaro mir bei. »Aber gib doch zu, dass es dir nur darum geht, eine Nacht im Schlafzimmer meines legendären Großvaters zu verbringen. Gut, ich komme zu Techi. Du ahnst ja nicht, wie teuer dich all meine Freundschaftsdienste kommen werden.«
»Ende«, murmelte ich. »Wenn du nicht binnen einer halben Stunde dort auftauchst, wirst du es bereuen.«
Es war höchste Zeit, unsere stumme Unterhaltung abzubrechen, denn gerade betrat ich das Armstrong und Ella.
»Max, das kann doch nicht wahr sein! Du hättest nass und unglücklich hier auftauchen sollen, bist aber trocken und strahlst - wenn das nicht verdächtig ist!«
Techi versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, doch wenn jemand in diesem Gasthaus strahlte, dann sie.
»Warum staunst du? Ich bin schließlich ein mächtiger Zauberer. Ich kann violette Magie bis zum 3872. Grad anwenden, und in solchen Höhen wird jeder durchnässte und schlecht gelaunte Mensch im Handumdrehen trocken und glücklich.«
»Und warum ausgerechnet violette Magie?«, fragte Techi.
»Keine Ahnung. Vielleicht, weil mir die Farbe gefällt. Man soll sich nicht sein Leben lang auf weiße und schwarze Magie beschränken - das ist sehr konservativ.«
»Sir Schürf war heute hier«, sagte Techi. »Ich habe ihm erzählt, dass du mit deinem Boot auf dem Churon unterwegs bist. Er hat das wohl für einen Scherz gehalten und zu lächeln versucht - fast wäre ihm das sogar gelungen.«
»Da hattest du Glück, denn so was kommt selten vor. In letzter Zeit allerdings hat Lonely-Lokley sich etwas geändert. Auch in meiner Gesellschaft hat er schon lächeln wollen. Ich habe ihn bereits getroffen. Außerdem habe ich geschafft zu duschen, mich umzuziehen, zu frühstücken, mich zu erkälten und wieder zu gesunden und so verrückt zu sein, Melifaro einen abendlichen Besuch bei seinen Eltern vorzuschlagen. Und das Beste daran: Er hat eingewilligt. Findest du nicht, dass ich ein ereignisreiches Leben führe?«
»Und wie!«, seufzte Techi begeistert. »Hast du wirklich vor, mit Melifaro zu verreisen?«
»Durchaus. Und du solltest dich nicht so unverblümt darüber freuen, dass ich weg bin. Bisher hatte ich nämlich geglaubt, meine Abwesenheit mache dich unglücklich.«
»Na ja, wenn du bleiben würdest, müsste ich dir wieder erklären, dass ich bei diesem Wetter keine große Lust habe, in der Stadt spazieren zu gehen. Außerdem hat Juffin mir heute gesagt, er habe in deiner Sammlung einen sehr interessanten Film gefunden.« Techi senkte schuldbewusst den Kopf. »Er hat mir versichert, er werde mir sehr gefallen, obwohl es darin ziemlich viele unanständige Szenen gebe.«
»Und wie heißt der Film?«, fragte ich interessiert.
Ich wollte wissen, was mein bösartiger Chef meiner Freundin empfahl. Bei ihm musste man mit allem rechnen.
»Er hat einen seltsamen Titel: Der zögernde Läufer.«
Beinahe hätte ich mich mit heißer Kamra bekleckert, denn eine so seltsame Interpretation des Titels Der Lauf auf der Rasierklinge hatte ich noch nie gehört.
»Juffin hat Recht - dieser Film gefällt wirklich nicht jedem«, pflichtete ich ihr bei. »Aber ich habe nichts dagegen, mir den Film mit dir anzusehen.«
Ich hatte nicht mitbekommen, wann der heimtückische Melifaro hinter meinem Rücken erschienen war. Immerhin war er überraschend pünktlich - für seine Verhältnisse jedenfalls.
»Du bist ein seltsamer Kerl«, sagte er und begann wieder mit seiner alten Leier. »Du willst mich mitten in der Nacht irgendwohin schleppen - und das gerade an dem Abend, an dem ich mir mit deiner Freundin einen Film auf DVD ansehen möchte. Stimmt's, Techi?«
»Du hast Recht. Wir wollten uns den Film ansehen, und nebenbei sollte Juffin zu Gruselzwecken die Eckzähne blecken. Das hat er bestimmt aus einem Film. Ich jedenfalls war tief erschrocken, als er das erste Mal einen Vampir gespielt hat.«
»Ach, er will dich nur ärgern«, meinte Melifaro. »Aber die Lage ist kritisch, denn wenn Sir Juffin dabei ist, können wir uns nicht küssen. Er ist ein schlechter Mensch, doch im Vergleich zum künftigen König von Fangachra ist er beinahe ein Engel«, sagte er und verbeugte sich übertrieben tief vor mir.
Nachdem die beiden mit mir und Juffin Halli fertig waren, redeten sie über andere Bekannte. Man konnte den Eindruck gewinnen, in Echo wohnten vor allem böse und grausame Menschen und nur Melifaro sei ein wahrer Engel. Techi natürlich auch, denn sie war schließlich die Tochter von Lojso Pondochwa. Na ja, bei diesem Gedanken war Vorsicht geboten.
»Es reicht, lass uns gehen«, sagte ich nach einer halben Stunde, als ich merkte, dass die beiden unendlich hätten weiterplaudern können. »Techi, wie ich dich verstanden habe, bist du heute Abend bereits verabredet. Also lohnt es sich nicht, vor dir auf die Knie zu fallen und dich mit Tränen in den Augen anzuflehen, deine Pläne zu ändern, denn du würdest uns sowieso nicht begleiten.«
»Dass dir meinetwegen Tränen in die Augen treten könnten, klingt sehr schmeichelhaft«, sagte Techi lächelnd. »Trotzdem müssen wir unseren gemeinsamen Abend verschieben. Aber wenn du bis übermorgen nicht zurück bist, mache ich mir sicher Sorgen. Sei also bitte so lieb und halte mich auf dem Laufenden.«
»Keine Angst«, meinte ich. »Morgen früh muss ich meinen bezaubernden Begleiter wieder hier abliefern. Also benimm dich anständig, denn deine Freiheit ist nur von kurzer Dauer.«
»In Ordnung«, sagte Techi und umarmte mich zum Abschied. »Ich werde mich damit begnügen, ein paar wildfremde Männer abzuschleppen. Hoffentlich bist auch du damit zufrieden.«
»Aber ja!«
»Sündige Magister - wie wenig manche Leute doch brauchen, um glücklich zu sein«, mischte sich Melifaro ein.
»Tja, ich war schon immer ein Asket«, stellte ich fest.
Die Fahrt zu Melifaros Elternhaus verlief sehr angenehm. Fast hätte ich den Zweck des Ausflugs vergessen und war schon drauf und dran, Melifaro zu fragen, warum er mich eingeladen habe, konnte mich aber noch rechtzeitig bremsen.
Im geräumigen Wohnzimmer der Melifaros sahen wir uns einer Idylle gegenüber. Der zufrieden wirkende Sir Manga saß bequem in einem Sessel, und seine wunderbare Gemahlin flocht ihm den roten Zopf. Als wir eintraten, hatte sie noch ziemlich viel Arbeit vor sich.
»Sündige Magister, was für eine Überraschung!«, rief Lady Melifaro.
»Das ist keine Überraschung - das sind unser Sohn und Sir Max«, bemerkte Sir Manga phlegmatisch. »Die beiden werden noch viel Entsetzlicheres sehen müssen als uns zwei - lass dich also nicht ablenken.«
»Du hättest diese undankbare Arbeit wirklich jemand anderen erledigen lassen sollen«, bemerkte seine Gattin. »Ich jedenfalls hätte jetzt gern die Hände frei, statt mich mit deiner Mähne zu quälen.«
»Verehrteste, du hattest hundertfünfzig Jahre Zeit, dir für meine Haare eine andere Lösung einfallen zu lassen. Jetzt musst du die Suppe auslöffeln, die du dir eingebrockt hast. Jungs, habt ihr etwas dagegen, dass wir uns die Umarmungen sparen?«
»Wenn du dich mit ausgestreckten Armen auf mich stürzen würdest, würde ich schreiend fliehen und dich in die nächste Heilanstalt einliefern lassen«, sagte Melifaro.
»Du langweilst dich wohl?«, fragte sein Vater. »Iss am besten etwas, damit wir Ruhe vor dir haben. Außerdem ist es mir vor Sir Max ziemlich peinlich, wie du dich aufführst.«
»Das verstehe ich«, sagte ich und wies mit dem Finger auf meinen Kollegen. »Wenn ich Ihren Sprössling sehe, staune ich immer wieder, dass Sie einen so missratenen Sohn haben.«
»Ich war lange auf Reisen. Mit solchen Fragen wenden Sie sich bitte an meine wunderbare Frau«, erklärte Sir Manga und sah sie vorwurfsvoll an. »Was sagst du dazu, meine Liebe?«
»Mama, nimm diesen bösen Menschen nicht ernst!«, rief Melifaro. »Du hast einen prächtigen Sohn. Ich jedenfalls bin sehr mit mir zufrieden.«
»Wie schön, dass wenigstens einer zufrieden ist«, sagte Lady Melifaro schwermütig. »Aber der Vorschlag deines Vaters war sehr gut, mein Junge. Also nimm dir was zu essen.«
»Wie sieht es eigentlich mit meinen Haaren aus?«, fragte Sir Manga.
»Wenn ich endlich fertig bin, wirst du mein erleichtertes Seufzen besser verstehen.«
Ich genoss die Unterhaltungen im Hause Melifaro. Je mehr Familienmitglieder sich daran beteiligten, desto vergnüglicher wurden sie.
»Wo treibt sich mein Bruder Bachba überhaupt herum?«, fragte der jüngste Sohn des Hauses und setzte sich zu Tisch.
»Das mögen die Magister wissen«, gab Sir Manga achselzuckend zurück. »Heute Morgen hat er von einer Reise nach Landland gesprochen, um auf dem Jahrmarkt in Numban etwas für den Haushalt zu kaufen. Genaueres weiß ich nicht.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie der hünenhafte Bachba eine Kleinigkeit für den Haushalt erstand, und konnte das Lachen kaum unterdrücken. Man sollte eine Serie mit dem Titel Die Melifaios drehen und sie rund um die Uhr ausstrahlen. Schade, dass keiner der vielen mächtigen Magister, die Echo seit Gründung des Vereinigten Königreichs besucht hatten, auf die Idee gekommen war, das Fernsehen zu erfinden.
An diesem Abend machte mein unerschütterlicher Kollege als Erster schlapp, murmelte etwas über den Dienst, den er am nächsten Morgen anzutreten habe, und ging schlafen.
»Erstaunlich - noch vor hundert Jahren hat der Kleine geschworen, nie schlafen zu gehen, wenn er erst erwachsen sei«, machte seine Mutter sich über ihn lustig.
»Da hat er wohl einen Meineid geleistet«, sagte ich.
»In unserer Familie machen das alle«, stellte Sir Manga stolz fest. »Aber ich muss sagen, dass sein Bruder Antschifa der Gipfel meiner erzieherischen Leistungen ist. Er ist der erste echte Pirat in unserer Familie, und das will etwas heißen.«
»Antschifa ist mal wieder unterwegs, oder?«, fragte ich.
»Natürlich. Er bleibt nie länger als eine Woche bei uns.«
»Der hat's gut«, meinte ich verträumt. »Vielleicht sollte auch ich alles hinschmeißen und den Beruf wechseln.«
»Das würde ich Ihnen nicht empfehlen. Das Leben auf See ist nicht leicht. Das Schiff ist ein einfacher ukumbrischer Segler, auf dem man keine Magie anwenden darf und auf dem alle viel zu tun haben, selbst der Kapitän. Es gibt sogar Gerüchte, wonach die Passagiere mit anpacken müssen. Aber mein Sohn will von anderen Berufen ganz und gar nichts wissen, sondern trotzt unserer Familientradition. Außerdem besagt eine ukumbrische Tradition, nur wer mindestens sechzig Jahre auf einer Schika verbringe, sei ein echter Kapitän.«
»Ich vermute, die Schika ist ein besonderer Schiffstyp?«, erkundigte ich mich vorsichtig.
»Es ist das schnellste und wendigste Schiff überhaupt und eignet sich nicht für Lustpartien. Einmal bin sogar ich auf so einem Schiff gelandet, habe es von der ersten Sekunde an verflucht und war heilfroh, als ich endlich auf ein weniger schnelles Boot umsteigen konnte. Wäre ich auf der Schika geblieben - wer weiß, ob die Welt sich nicht mit vier Bänden meiner Enzyklopädie hätte zufriedengeben müssen.«
»Verstehe. Also werde ich dort wohl doch nicht anheuern«, sagte ich. »Danke, dass Sie mich gewarnt haben. Jetzt gehe ich besser schlafen - das ist die bequemste und beste Methode des Reisens.«
»Was das Bett meines wunderbaren Vaters Philo angeht, bin ich ganz Ihrer Meinung. Für andere Betten kann ich allerdings keine Garantie übernehmen. Finden Sie den Weg dorthin, oder soll ich Sie begleiten?«
»Glauben Sie, ich könnte mich im Labyrinth Ihres Hauses zurechtfinden? Sir Manga, Sie schmeicheln mir.«
»Und Sie übertreiben - wie immer«, erklärte der große Enzyklopädist und gähnte herzhaft. »Na schön, gehen wir, damit Sie sofort die richtige Tür finden.«
Wir irrten einige Zeit durch die Flure des riesigen Hauses. Sir Manga setzte ab und an eine erschrockene Kindermiene auf, und ich versuchte, es ihm gleichzutun.
Schließlich blieb ich allein in dem kleinen dunklen Zimmer, das ich so mochte. Ich hatte das Gefühl, Philo Melifaro - der berühmte Großvater meines Kollegen und einer der mächtigsten Magister des Ordens vom geheimen Kraut - habe ausgerechnet an mich gedacht, als er dieses Zimmer einrichtete. Er musste schon damals gewusst haben, dass er es nicht nur seiner Familie hinterlassen würde. So ein mächtiger Zauberer konnte seine Zukunft bestimmt erahnen und wissen, dass beispielsweise ich eines Tages in seinen Träumen auftauchen würde.
Aber all das hatte jetzt keine Bedeutung, sondern war nur einer dieser Gedanken, die man kurz vor dem Einschlafen hat, wenn man die Balken an der Decke beobachtet.
Diesmal wechselte ich so schnell von der Wirklichkeit in den Traum, dass ich meinen Weg mit kleinen weißen Steinen hätte kennzeichnen sollen, wie Hänsel und Gretel es taten.
Zuerst glitt ich durch verschiedene angenehme Träume, ohne zu wissen, wie ich in sie hineingeraten war und was ich eigentlich darin trieb. Schließlich landete ich an einem leeren Strand - dem eigentlichen Ziel meiner Reise - und versuchte, mir meine Situation zu vergegenwärtigen. Das war zwar nicht einfach, gelang mir aber manchmal bei Träumen, die sich seit meiner Kindheit wiederholten.
Ich kam langsam zu mir und versuchte, mir wie ein schwer Betrunkener ins Gedächtnis zu rufen, was ich getan hatte. Ich erinnerte mich an den Abend mit Familie Melifaro, an unsere Fahrt aus der Stadt aufs Land hinaus, an das Treffen mit Techi im Armstrong und Ella und an das wichtige Gespräch mit Sir Schürf. Dann sah ich genauer hin und bemerkte die Spuren im Sand. Hier war jemand mit Schuhen aus Uguland unterwegs gewesen. Ich wusste auf Anhieb, dass diese Spuren von Lonely-Lokleys Schuhen stammten. Das sagte mir eines meiner beiden Herzen, und ich vertraute ihm blind. Etwas Ähnliches war mir mit meinen Kollegen schon mehrmals passiert. Zwischen uns war eine tiefe Verbindung entstanden, die ich nicht näher beschreiben konnte. Kurz bevor ein Mitglied des Geheimen Suchtrupps auftauchte, hatte ich eine Art Duft in der Nase, der mir verriet, mit welchem meiner Kollegen ich zu rechnen hatte. Ähnlich war es, wenn ich einen Raum betrat, in dem sich noch vor kurzem jemand vom Suchtrupp aufgehalten hatte. Mit meinen Kollegen ergeht es mir wie einem Hund mit seinem Herrchen oder Frauchen, überlegte ich - nur dass ich sie eigentlich nicht rieche, sondern sie eher mit einer Art sechstem Sinn spüre.
Aber ich hatte keine Zeit, über solche Spitzfindigkeiten nachzudenken, denn ich hatte gerade eine wichtige Information bekommen und erfahren, dass ich im Traum die Spuren eines Menschen erblickte, der den gleichen Traum hatte wie ich. Es sah jetzt so aus, als würden wir beide am Meeresstrand durch den nassen Sand spazieren.
Ich wünschte mir aufzuwachen, denn das Ganze wurde mir langsam zu viel.
»Sei still!«, ermahnte ich mich. »Schließlich bist du genau deshalb hergekommen. Deine hysterischen Anfälle kannst du dir für später sparen.« Die seltsame Gewohnheit, mit mir selbst zu reden, erwies sich in diesem Fall als nützlich, denn ich beruhigte mich und wusste, dass ich tapfer bleiben würde. Große Auftritte konnte ich mir für ein Gespräch mit meinem Chef aufheben, denn der hatte dafür sicher manche Erklärung.
Ich sammelte meine Kräfte, um weiterzuträumen, spazierte noch einige Zeit am leeren Strand entlang und suchte nach dem seltsamen Unbekannten, von dem Sir Schürf gesprochen hatte. Aber ich fand niemanden, sondern wurde so müde, dass mich jeder Schritt enorm anstrengte.
Schließlich war ich so kraftlos, dass ich tatsächlich aufwachte. In dem schönen Schlafzimmer, das Sir Philo mit eigenen Händen getischlert hatte, war es herrlich ruhig. Draußen war es dunkel und still. Offenbar waren die Vögel noch nicht wach. Die Runenzeichen an der Decke brauchten nur ein paar Sekunden, um meine erschrockenen Herzen zu beruhigen, und schon Minuten später wiegten sie mich wieder sanft in den Schlaf. Diesmal meinten es die Engel, die für meine Träume zuständig waren, gut mit mir und gaben mir einen so kitschigen wie unsinnigen Traum. Das war wirklich eine Erholung.
Bei Sonnenaufgang erwachte ich glücklich und entspannt. Keine dunklen Geheimnisse trübten meine Laune. Ich dachte nur daran, dass es tatsächlich so herrliche Strände gab und ich vielleicht einmal das Glück hätte, dorthin zu gelangen. Etwas Ähnliches war mir schon in der Nähe von Kettari passiert. Als ich dort in den Bergen unterwegs gewesen war, hatte ich ein kleines Dorf aus den Träumen meiner Kindheit gefunden.
»Sir Philo«, sagte ich leise und blickte zur Decke. »Ich vergöttere Sie und weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte. Am liebsten würde ich mich auf die Liste Ihrer Ehrenenkel setzen lassen.«
Die Decke schwieg, wie nicht anders zu erwarten war, doch meine Stimmung wurde noch besser. Beinahe wäre ich die Treppe heruntergeschwebt.
Kurz darauf landete ich im Wohnzimmer. Endlich hatte ich Gelegenheit, einmal allein zu frühstücken und meinen Kollegen und Gastgeber Melifaro mit sadistischer Freude zu wecken. Er verließ das Bett morgens so wenig begeistert wie ich zu Schulzeiten. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ihn kein Tohuwabohu, sondern ein angenehmer Tag im Haus an der Brücke erwartete.
Doch mein Kollege war ausnahmsweise von allein wach geworden und bester Laune.
»Na, Hoheit - zufrieden?«, fragte er.
»Dieses Jahr werde ich dich noch verschonen, aber für das nächste Jahr will ich mich nicht festlegen.«
»An deiner Stelle wäre ich vorsichtig. Schließlich bin ich - den Magistern sei Dank! - nicht dein Untertan.«
»Du wirst deine Ansicht schon noch ändern, wenn meine Nomaden erst die Straßen von Echo unsicher machen. Unter uns gesagt: Ich habe einen Geheimplan, der die Verschmelzung des Vereinigten Königreichs und der Leeren Länder vorsieht. Ich will nämlich König beider Gebiete werden.«
»Das klingt angenehm schrecklich«, rief Melifaro entzückt und schob sich eine gewaltige Scheibe Brot in den Rachen, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber ich werde dich denunzieren. So was hab ich zwar noch nie gemacht, aber irgendwann muss man ja mal damit anfangen.«
»Vielleicht änderst du deine Meinung, wenn ich dir das Amt des Premierministers anbiete?«
»Das klingt sehr verlockend. Fahr mich doch mit deinem A-Mobil nach Echo zurück. Dann sehen wir weiter.«
»Du bist aber rasch zufrieden zu stellen. Einverstanden.«
»Dich als Privatchauffeur zu haben, ist einer meiner größten Träume.«
»Ich weiß leider, was man damit verdienen kann«, seufzte ich. »Ich war mal arm, musst du wissen - und das hat mir nicht besonders gefallen.«
»•Ich habe gar nicht bemerkt, dass deine materielle Lage sich so rasant gebessert hat. Aber lass uns jetzt fahren - ich muss wirklich dringend ins Haus an der Brücke.«
Der Rückweg nach Echo führte durch eine sehr schöne Landschaft. Melifaro, den ich bisher als Sonnenanbeter gekannt hatte, ließ den Kopf hängen. Er erwartete offenbar, dass ich ihn unterhielt, doch ich konzentrierte mich ganz auf den Weg. Irgendwann schlief er ein.
Ich hingegen widmete all meine Aufmerksamkeit dem herrlichen Morgen. Über uns stand eine kleine Wolke, aus der es ein wenig regnete, und jeder Tropfen auf meiner Haut war ein Erlebnis. Erst kurz zuvor war mir aufgefallen, wie sehr sich der Regen in Echo von dem Regen der Welt unterscheidet, aus der ich stamme. Wie hatte ich mich nur die ersten dreißig Jahre meines Lebens mit tristem Nass zufriedengeben können? Das Wasser war zwar gleich, roch in Echo aber herrlich nach Blumen und war leicht violett gefärbt.
Mit Vergnügen vergegenwärtigte ich mir, in dieser Welt noch immer neu zu sein. Und ich wollte nicht, dass sich dieser Zustand bald änderte. Es gab noch so vieles zu entdecken, doch es gab auch noch sehr viele Möglichkeiten, sich zu blamieren. Und noch tausenderlei Kleinigkeiten, über die ich mich würde wundern können. Auch an diesem Morgen tat ich nichts anderes.
Ich lieferte das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps pünktlich im Haus an der Brücke ab. Auch mir konnte es nicht schaden, im Büro vorbeizuschauen, um Sir Juffin kurz die Geschichte meines seltsamen Traums zu erzählen.
Doch mein Chef war noch nicht da. Ich vermutete ihn in der Straße der alten Münzen, da ich wusste, dass seine Filmleidenschaft noch immer nicht erloschen war, ließ ihn aber in Ruhe, denn die Probleme von Schürf und mir konnten bis zum Abend warten - anders als meine Freundin Techi, die sicher ungeduldig im Bett lag und sich von einer Seite auf die andere wälzte. Am Vorabend hatte sie mich schon gebeten, sie auf dem Laufenden zu halten, und ich konnte die wunderbare Lady unmöglich enttäuschen. Es gibt im Leben einfach Regeln, gegen die man nicht verstoßen sollte.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang kam ich ins Haus an der Brücke und ging gleich in mein Büro, das ich mit Sir Juffin teilte. Auf der Lehne meines Stuhls saß Kurusch. Sonst war niemand da.
»Wo treibt sich unser Chef herum, mein Lieber?« , fragte ich den Buriwuch.
»Das weiß ich nicht«, gab der kluge Vogel schwermütig zurück. »Irgendwann ist er gekommen und irgendwann gegangen. Die Menschen zeichnen sich durch eine gewisse Unrast aus.«
»Da hast du Recht«, pflichtete ich ihm bei, seufzte und meldete mich per Stummer Rede bei Juffin. »Ich bin schon zum zweiten Mal ins Haus an der Brücke gekommen, und Sie sind noch immer nicht da!«
»Selber schuld! Wenn du dich mit mir treffen willst, solltest du dir endlich angewöhnen, dort aufzutauchen, wo ich bin. Was machst du eigentlich im Büro? Soviel ich weiß, hast du zwei Sorgenfreie Tage bekommen. Ist dein Leben etwa so langweilig, dass du es ohne Arbeit nicht aushältst?«
»Aber nein. Ich bin ganz zufrieden mit meinem Leben, doch Sie wissen ja, dass ich manchmal etwas kopflos bin. Ich hätte schwören können, die zwei Tage seien schon um.
Aber Spaß beiseite - ich habe ein paar Fragen, die nur Sie mir beantworten können.«
»Ich habe eine bessere Idee: Verschieben wir die Sache doch auf morgen. Sollte es allerdings wirklich dringend sein, besuch mich heute Abend in der Straße der alten Münzen. Dort triffst du mich garantiert.«
»Abgemacht.«
»Und jetzt verschwinde aus meinem Büro. Ich kenn dich doch - du trinkst dort eine Tasse Kamra nach der anderen und behauptest dann, du hättest Überstunden gemacht.«
»Immerhin ist es auch mein Büro«, gab ich etwas gereizt zurück. »Aber gut, ich geh ja schon.«
»Das glaube ich nicht.«
Als ich merkte, dass mein Chef sich nicht so leicht überlisten ließ, seufzte ich tief, erhob mich von dem Stuhl, auf dem ich es mir gerade bequem gemacht hatte, und begab mich in den Saal der allgemeinen Arbeit, doch auch Sir Schürf, den ich dort anzutreffen gehofft hatte, war nirgendwo zu sehen. Also beschloss ich, ihn in seinem Büro aufzusuchen.
Schurfs großes Zimmer war penibel aufgeräumt, doch er war ausgeflogen. Aber ich spürte, dass er bald auftauchen würde, und weil ich meine Vorahnungen ernst nehme, meldete ich mich nicht per Stummer Rede bei ihm, sondern zog ein Buch aus dem Regal und hockte mich in die Ecke, um mir lesend die Zeit zu vertreiben.
Ich hatte ausgerechnet Das Pendel der Ewigkeit erwischt, ein Buch, das ich schon mal bei Schürf gesehen hatte. Aber ich hatte keine Zeit für literarische Genüsse, denn schon Sekunden später öffnete sich die Tür mit einem leisen Quietschen.
»Du kommst früher als erwartet«, sagte ich und stand auf, um Schürf zu begrüßen.
Dann stellte ich das Buch ins Regal zurück, um den Ordnungssinn meines Freundes nicht zu beleidigen.
»Ich freue mich, dich zu sehen, Max«, sagte Sir Lonely-Lokley, und ein Anflug von Freundlichkeit belebte sein sonst so versteinertes Gesicht. »Aber bitte stell das Buch an seinen Platz zurück.«
»Das hab ich doch gerade getan!«
»Von wegen - du hast das Buch zwar ins Regal gestellt, aber nicht an seinen Platz. Es ist das dritte von rechts, steht jetzt aber ganz außen. Weißt du, Max - ich bin nicht per se gegen Veränderung, aber Willkür kann ich nicht ausstehen.«
Reumütig stellte ich das Buch an seinen Platz zurück. Dann hielt ich es nicht mehr aus und musste lachen. »Das ist großartig, Schürf. Manchmal habe ich den Eindruck, du trägst die ganze Welt auf den Schultern.«
»Das kann wohl sein«, stellte er ungerührt fest. »Hast du Neuigkeiten für mich, oder bist du einfach so vorbeigekommen?«
»Beides. Aber meine Neuigkeiten passen nicht in diese dienstliche und sterile Atmosphäre. Ein Abendessen bei Kerzenschein wäre schon passender. Hast du Zeit?«
»Warum denn ausgerechnet Kerzen?«, fragte Lonely-Lokley pedantisch. »In Echo gibt es kaum Wirtshäuser, in denen noch Kerzen in Gebrauch sind. Schließlich gibt es viel effizientere Lichtquellen.«
»Auf Kerzen kann ich verzichten«, versetzte ich im Ton eines Menschen, der es gewöhnt ist, nachzugeben. »Eigentlich können wir sogar auf das Abendessen verzichten, denn so viele Neuigkeiten habe ich auch nicht. Ich verbinde nur gern das Angenehme mit dem Nützlichen.«
»Genau wie ich«, sagte Sir Schürf und lächelte plötzlich. »Wenn es Kerzen sein sollen, können wir ins Nachtmahl des Vampirs gehen. Die Küche dort ist nicht übel, und das Lokal ist selten bis auf den letzten Tisch besetzt.«
»Das Nachtmahl des Vampirs ist ein berüchtigtes Lokal - ich hätte nicht gedacht, Schürf, dass du dort verkehrst.«
»Früher gehörte es zu meinen Lieblingswirtshäusern, und noch immer fühle ich mich dort sehr wohl. Zeitweise habe ich jeden Abend dort getäfelt.«
»Wann war denn das? In deiner stürmischen Jugend, als du noch der Verrückte Fischer warst?«, fragte ich spöttisch.
»Etwas später. Übrigens bin ich dort meiner Frau begegnet. Mich faszinierte, dass sie stets bestellte, was ich für vollkommen unessbar hielt, und ich dachte, sie kennen zu lernen, werde mir Zugang zu mir unbekannten Seiten der menschlichen Existenz verschaffen, zur Welt derer, die Wein aus Kuankulech schätzen - oder Haty auf lochrische Art.«
Erstaunt schüttelte ich den Kopf. Schürf hatte mal wieder geschafft, mich in Verlegenheit zu setzen. Manchmal hatte ich das Gefühl, er tue das unabsichtlich und ohne Hintergedanken. Mitunter dagegen argwöhnte ich, er trage alles, was mich schockiert hatte, in ein Notizbuch ein, ziehe alsdann seine Handschuhe aus und lache sich in sein tödliches Fäustchen.
Die Einrichtung im Nachtmahl des Vampirs machte dem Namen des Lokals alle Ehre. Kerzen leuchteten im Halbdunkel, auf den Tischen stand eine rote Flüssigkeit, die an Blut denken ließ, und auch das Makeup des untersetzten Kellners, der gutgelaunt und unterbeschäftigt an der Theke stand, passte hierher. Sein Gesicht war bleich, seine Augen waren dramatisch geschminkt, und sein roter Mund ließ mich vermuten, er habe das Blut unschuldiger Kinder gleich literweise getrunken.
Erstaunt schüttelte ich den Kopf. Mein erster Besuch hier hatte sicher nicht zu den schönsten Erlebnissen meines Lebens gehört, meine Stimmung aber deutlich verbessert. Und heute war ich ohnehin gut gelaunt.
Wir waren die einzigen Gäste und nahmen an einem langen Tisch Platz. Der Kellner war über unser Auftauchen sehr erfreut und brachte uns rasch die Speisekarte. Trotz seiner Furcht erregenden Schminke wirkte er freundlich. Offenbar verwirrten ihn weder Lonely-Lokleys Schutzhandschuhe noch mein Todesmantel. Im Gegenteil - wir passten sehr gut hierher.
»Ich hab hier mal den Atem des Bösen probiert«, erinnerte ich mich. »Ausgezeichnet, Schürf. Den kann ich nur empfehlen.«
»Seltsam. So ein Gericht ist mir hier nie begegnet.«
»Du warst eben kurz nach der Verabschiedung des Chrember-Gesetzbuchs zum letzten Mal hier. Ich dagegen habe das Lokal erst kürzlich entdeckt, gleich nach dem Erlass nämlich, der es den Köchen erlaubt, bei der Zubereitung ihrer Gerichte Magie achtzehnten Grades anzuwenden.«
»Richtig! Das ist ja ein Gericht der alten Küche! Aber du übertreibst wie immer. Ich war vor vier Jahren das letzte Mal hier - und nicht vor 118 Jahren, wie du mir unterstellst. Doch ich probiere gern, was du mir empfohlen hast.«
Schurfs Miene war so ernst, als sprächen wir darüber, welche Waffe uns das Leben retten konnte.
Wir bekamen unsere Bestellung serviert. Die kleinen Piroggen wuchsen binnen Sekunden wie Popcorn, und Schürf lobte meine Empfehlung sehr. Nun war die Zeit reif, ohne Umschweife zur Sache zu kommen.
»Ich bin heute Nacht dort gewesen«, sagte ich.
Schürf hob fragend die Brauen.
»Ich war in unserem gemeinsamen Traum«, erklärte ich. »Letzte Nacht habe ich im alten Zimmer von Sir Philo Melifaro geschlafen und im Traum den seltsamen Strand besucht, doch er war menschenleer. Das Einzige, worauf ich stieß, waren deine Spuren im Sand.«
»Wie kommst du darauf, dass es ausgerechnet meine Spuren waren?«, fragte Sir Schürf kühl.
»Das weiß ich nicht, aber ich bin mir da absolut sicher. Übrigens waren es keine Fuß-, sondern Sohlenspuren. Trägst du deine Schuhe etwa auch im Schlaf?«
»Red keinen Unsinn. Ich hab im Bett nicht mal Strümpfe an, trage im Traum allerdings immer Schuhe. Du willst doch nicht behaupten, dass du in deinen Träumen barfuß unterwegs bist?«
»Eigentlich nicht«, pflichtete ich ihm bei. »Aber dieser Traum ... Dieser Strand ist kein Traum. Er ist echt. Davon hab ich mich letzte Nacht endgültig überzeugt. Ich wüsste gern, in welcher Welt er sich befindet. Jedenfalls glaube ich, dass es dort keine anderen Menschen gibt. Weißt du, schon früher hab ich von menschenleeren Gegenden geträumt, mich dort aber nie unwohl gefühlt, weil mir klar war, dass es irgendwo Menschen gibt. Eigentlich war ich in solchen Träumen immer sehr glücklich. Und bis jetzt hab ich gedacht, der Strand meiner Träume zähle zu diesen angenehm menschenleeren Plätzen.«
»Und diesen Eindruck hast du jetzt nicht mehr?«, fragte Lonely-Lokley ungerührt.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab dir doch gerade gesagt, dass es den Strand tatsächlich gibt. Das ist keiner von den Träumen, die man beim Zähneputzen vergessen hat. Außerdem ist der Strand wirklich leer. Früher hab ich ihn gemocht, aber inzwischen ... Weißt du, ich bin nicht so seltsam gestrickt, nur das zu lieben, was für mich gefährlich ist. Ich möchte nicht, dass du dich dort herumtreibst, Schürf, aber ich glaube, das liegt nicht in deinem Ermessen.«
»Stimmt. Ich fürchte, das hab ich nicht unter Kontrolle«, pflichtete er mir bei. »Und was hast du jetzt vor? Wenn ich dich richtig verstanden habe, willst du die Sache nicht auf sich beruhen lassen.«
»Ich würde gern alles so lassen wie es ist«, seufzte ich. »Aber ich kann es nicht.«
»Also habe ich Glück«, sagte Schürf leicht belustigt. »Du willst alles mit Sir Juffin besprechen, oder?«
»Richtig - sofern du nichts dagegen hast. Und selbst wenn: Irgendwie haben all meine Probleme mit Juffin zu tun. Das ist wohl ein Naturgesetz. Und in der gegenwärtigen Lage bleibt mir nichts anderes übrig, als mit meinem Problem zu ihm zu gehen. Vielleicht weiß er eine Lösung für uns.«
Schürf griff nach seiner winzigen Tasse Kamra, nahm einen Schluck und stellte sie vorsichtig wieder ab. Wie ihm solche Feinarbeit trotz seiner dicken Handschuhe gelang, würde ich wohl nie begreifen.
»Vielleicht hat er eine Lösung - vielleicht auch nicht. Wie kommst du eigentlich darauf, ich hätte etwas dagegen, Sir Juffin einzuschalten?«, fragte Schürf trocken.
»Das war nur so ein Gedanke. Schließlich hast du ein Recht auf Privatsphäre. Und weil ich die verletzen muss, bitte ich dich wenigstens darum, mir diesen Eingriff zu erlauben.«
Schürf sah mich aufmerksam an. In seinen blauen Augen, die sonst eine enorme Ruhe ausstrahlten, funkelte eine Wut, die mir den Atem stocken ließ.
»Ich bin kein gewöhnlicher Mensch! Ich bin der Schnitter des Lebensfadens! Der Tod im königlichen Dienst, wie du gern sagst! Und darum habe ich kein Recht auf Privatsphäre. Dieses Recht nämlich würde meinen Arbeitgeber - einen Geheimdienst immerhin! - teuer zu stehen kommen.«
Mein Freund sah zu Boden und fuhr nach kurzer Pause sehr viel beherrschter fort: »Ich sage dir das, weil du in der gleichen Lage bist wie ich. Wir dürfen keine Privatsphäre haben. Das ist keine Tragödie, sondern gehört zu unserem Berufsbild. Das wird sich irgendwann ändern, doch bis dahin müssen wir uns an die Regeln der Agententätigkeit halten, die im Kleinen Geheimen Suchtrupp gelten. Natürlich darfst du Sir Juffin unsere Geschichte erzählen.«
»Was ist los, Schürf? Ist dir das Gespräch unangenehm? Ich höre dich zum ersten Mal solche Dinge sagen. Selbst der Verrückte Fischer, als den ich dich in Kettari kennen gelernt habe, hat keine so erschreckenden Reden geschwungen.«
»Irgendwas ist passiert«, meinte Lonely-Lokley und nickte gedankenverloren. »Und je schneller wir herausfinden, was, desto besser. Dieses Gespräch ist mir tatsächlich unangenehm, weil etwas in mir nicht will, dass du mit Sir Juffin sprichst. Eigentlich habe ich also nicht dich angefaucht, sondern mich. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn ich dich beleidigt hätte.«
»Sündige Magister! So leicht bin ich nicht beleidigt. Du hast mich nur beunruhigt, Schürf. Aber das hat einen Vorteil: Ich werde jetzt alles unternehmen, um diese Sache so schnell wie möglich aufzuklären.«
»Gut. Ich habe das Gefühl, auf deine Hilfe angewiesen zu sein. Das ist neu für mich und nicht besonders angenehm, aber vermutlich geht es nicht anders.«
»Man soll sich nicht scheuen, neue Erfahrungen zu machen - das hast du selber gesagt«, meinte ich lächelnd. »Und jetzt lass uns noch ein Glas vom Blut unschuldiger Kinder trinken, ehe wir uns auf den Weg machen. Du wirst bestimmt zu Hause erwartet, und ich werde versuchen, das Leben meines Chefs um Berichte aus der Welt meiner Träume zu bereichern.«
»Von welchem Blut und welchen unschuldigen Kindern redest du da eigentlich? Davon steht gar nichts in der Karte. Ist das etwa eine Spezialität des Hauses?«
»Nein«, sagte ich lächelnd. »Aber jedes Mal, wenn wir zusammen essen gehen, erinnern mich unsere Getränke irgendwie an das Blut unschuldiger Kinder. Dich etwa nicht?«
»Entschuldige, aber das finde ich nicht witzig«, sagte der staunenswerte Lonely-Lokley streng.
»Da bist du nicht der Einzige«, pflichtete ich ihm bei. »Das war eher ein Witz nach dem Geschmack von Sir Melifaro. Der treibt sich übrigens in der Weltgeschichte herum, statt seinen Aufgaben als Tagesantlitz unseres Ehrwürdigen Leiters nachzukommen und sich um meine Probleme zu kümmern.«
Ich bestellte noch eine Tasse Kamra, die in diesem Lokal leider nicht überwältigend war. Immerhin konnte ich mich damit trösten, dass es sich wohl nicht um die letzte Kamra meines Lebens handelte. Schürf starrte einen Moment ins Leere und bestellte dann ein Glas Rotwein.
»Warum gibst du den Wein nicht in deine löchrige Tasse?«, fragte ich etwas enttäuscht, als Schürf sein Glas hob. »Dann würde ich nämlich gern ein Schlückchen von dir nehmen.«
»Im Moment habe ich eigentlich nicht das Bedürfnis, auf die Kraft meiner löchrigen Tasse zurückzugreifen. Der heutige Tag war nicht sehr anstrengend. Außerdem merke ich, wie sehr mich deine Überzeugung beunruhigt, dass der Strand tatsächlich existiert.«
»Das würde mich vermutlich auch beunruhigen. Aber ich habe mich mit meiner Entdeckung abgefunden und versucht, mich mit etwas anderem zu beschäftigen. Weißt du, das ist ein Trick von mir: Wenn ich die Kontrolle über eine Situation verliere, beschäftige ich mich mit etwas anderem. Das setzt erstaunliche Kräfte frei, doch es ist wichtig, sich voll auf diese neue Sache zu konzentrieren. Du musst eine Beschäftigung finden, egal welche - Hauptsache, sie lenkt dich von deinem unlösbaren Problem ab. Denn wenn du dich mit etwas beschäftigst, das zu schwer für dich ist, löst sich deine Welt in Einzelteile auf.«
»Das ist eine der seltsamsten Theorien, die ich je gehört habe«, sagte Lonely-Lokley so skeptisch wie fasziniert. »Und ich glaube, dieser seltsame Rat nützt niemandem außer dir.«
»Da hast du Recht«, sagte ich lächelnd. »Aber auch ich kann mitunter einen guten Rat gebrauchen. Und jetzt gib mir endlich deine Tasse. Irgendwie spüre ich, dass ich aus diesem seltsamen Gefäß trinken sollte.«
»Wirklich?«, fragte Schürf und schüttelte erstaunt den Kopf. »Du führst dich langsam auf wie die ehemaligen Magister unseres Ordens. Warum besorgst du dir eigentlich nicht selber eine löchrige Tasse?«
»Wieso denn? Ich kenne eure Rituale doch gar nicht.«
»Du hast wirklich seltsame Vorstellungen von Magie«, sagte Schürf erstaunt. »Welche Rituale denn? Entweder hat man die Kraft, eine Flüssigkeit in einem Gefäß mit löchrigem Boden zu halten, oder man hat sie nicht. Unsere Rituale jedenfalls dienen nur dazu, Neulinge einzuschüchtern. Besser gesagt: Wir erschaffen und ändern unsere Rituale nach Lust und Laune.«
»Ich bin nun mal Neuling und möchte nicht eingeschüchtert werden. Was ich vor allem brauche, ist gute Laune.«
»Auf die Rituale kannst du getrost verzichten«, meinte Schürf, griff in seine Manteltasche, zog die löchrige Tasse heraus und hielt sie mir hin. »Und was willst du trinken?«
»Kamra zum Beispiel«, antwortete ich, goss meine Portion in seine löchrige Tasse und trank sie auf einen Zug leer.
»Na, was hast du gespürt?«, fragte er. »Bei löchrigen Tassen führt Kamra leider nicht zu den besten Resultaten.«
»Wirklich nicht? Ich habe das Gefühl, ich fliege gleich.«
»Das allein ist zu wenig. Man sollte die Kraft, die man durch das Trinken aus einer löchrigen Tasse gewinnt, dazu verwenden, wirklich etwas zu tun und sich nicht mit Illusionen abspeisen zu lassen. Bei passender Gelegenheit erzähle ich dir Näheres über den Orden der löchrigen Tasse, aber da Neugier zu deinen Stärken gehört, fragst du mich sicher bald danach. Doch jetzt müssen wir los. Es ist schon recht spät, und ich wohne in der Neustadt. Kannst du mich vielleicht nach Hause fahren? Du bist ja viel schneller als unsere Chauffeure.«
»Für dich mach ich das doch gern.«
»Vielen Dank. Meine Frau verbringt ihre Abende nämlich am liebsten in meiner Gesellschaft. Das finde ich erstaunlich, denn ich halte mich eigentlich für langweilig.«
»Ich verstehe deine Frau gut. Wenn man mit dir zusammen ist, glaubt man, es gebe keine Gefahren auf der Welt.«
»Du redest schon wieder seltsames Zeug«, brummte Lonely-Lokley finster. »Na schön. Lass uns fahren.«
Wir bezahlten bei dem sympathischen, auf grausam geschminkten Wirt und verließen das Lokal. Das orangefarbene Licht der Straßenlaternen vertrieb die Dunkelheit. Der Mond hatte in dieser Nacht keine Chance, seinen Anteil an der Beleuchtung zu übernehmen, denn der Himmel war voller Wolken.
Ich setzte mich ans Steuer meines A-Mobils, Schürf nahm neben mir Platz, und ich raste fröhlich los. Kann sein, dass Kamra nicht sehr geeignet ist, um aus löchrigen Tassen getrunken zu werden, aber die seltsame Leichtigkeit, die mich erfüllte, gefiel mir außerordentlich. Ich fühlte mich wie perlender Champagner, der schäumend aus dem Glas steigt.
»Hör mal, Schürf, ich hab noch eine Frage«, begann ich.
Die Frage fand ich eigentlich nicht so wichtig, doch ich hatte Lust, mit ihm zu plaudern.
»Es geht um unseren gemeinsamen Traum. Wie spürst du eigentlich die Anwesenheit des bedrohlichen Dritten, von dem du erzählt hast? Du hast ihn doch nie zu Gesicht bekommen.«
»Weißt du, Max, es fällt mir wirklich schwer, näher zu beschreiben, was in dem Traum geschieht, den wir miteinander teilen. Ich erinnere mich nur an den Strand und an das Gefühl der Bedrohung. Mehr weiß ich nicht.«
»Verstehe. Manchmal, wenn ich nachts aufwache, kann ich mich auch nicht an Einzelheiten meines Traums erinnern. Ich schließe dann die Augen und versuche einzudösen, also mich erneut an die Grenze von Traum und Wirklichkeit heranzutasten. Aber ich fürchte, in deinem Fall hilft diese Methode nicht mehr, denn sie funktioniert nur direkt nach dem Aufwachen.«
»Du willst unbedingt, dass ich mich an die Einzelheiten meines Traums erinnere, stimmt's?«
Schurfs gehässiger Unterton überraschte mich. Dabei war er schon den ganzen Abend recht gereizt gewesen - jedenfalls für seine Verhältnisse, für einen Menschen also, der an sich die Ruhe und Ausgeglichenheit in Person war. Im Übrigen musste ich mich auf die Straße konzentrieren,
denn ich jagte mit Höchstgeschwindigkeit durch die Gassen der Altstadt.
»Es würde uns weiterbringen, wenn es dir gelänge, dich an alle Details deines Strandtraums zu erinnern«, sagte ich lächelnd und wandte mich Schürf dabei unwillkürlich so weit zu, wie die Schicklichkeit und das Bedürfnis, die Kontrolle über den Wagen zu behalten, es erlaubten. Dabei bemerkte ich zu meiner Überraschung, dass er den linken Schutzhandschuh auszog und die tödliche Hand des Magisters Kiba Azoch zum Vorschein brachte, die in der Dunkelheit heller leuchtete als die Straßenlaternen.
Hätte ich mir Gedanken über das gemacht, was ich da sah, oder wäre ich gar in Panik geraten, dann wäre ich sicher gestorben. Doch ich versuchte gar nicht erst zu begreifen, was los war, denn das wäre ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen. Sir Schürf, mein treuster Freund, auf dessen Schultern nach meiner naiven Vorstellung die ganze Welt ruhte, wollte mich umbringen, ohne auch nur ein Wort über sein seltsames Vorhaben zu verlieren.
Ich bremste so stark wie nie. Meine rechte Hand, die das Lenkrad hielt, knackte gefährlich, doch zum Glück schlug mein Gesicht nicht gegen die Frontscheibe. Mein Begleiter dagegen, der nicht mit einer Vollbremsung gerechnet hatte, streckte schützend die gefährliche Linke aus, und die Frontscheibe zersprang prompt in tausend Stücke. Intuitiv nahm ich den Schutzhandschuh, zog ihn Schürf über die gefährliche Hand und hielt seine Pranke fest. Das Ganze dauerte nur Sekunden.
»Na, hast du jetzt Angst vor mir?«, flüsterte das Wesen, das von Schürf Besitz ergriffen haben musste. Denn was geschehen war, konnte unmöglich dem freien Willen meines Freundes entsprungen sein.
Das Geschöpf, das da neben mir saß, hatte sich offenbar bereits von seinem Schock erholt und setzte erneut zum Angriff an. Gut, dass ich ihm den Handschuh übergezogen hatte! Zum Nachdenken freilich blieb mir keine Zeit.
Unwillkürlich schnippte ich mit den Fingern der linken Hand, und der tödliche Kugelblitz erschien wie bestellt. Seltsam - ausgerechnet diesen Trick hatte mir kein anderer als Schürf beigebracht. Wer hätte gedacht, dass gerade er es war, gegen den ich mich damit zur Wehr setzen musste!
»Unsinn! Das ist Unsinn, was du da machst! All deine Zaubertricks sind Unsinn! Du bist ein furchtbarer Stümper!«, rief mein Kollege amüsiert und streckte die Rechte aus. Das grüne Licht meines Kugelblitzes flimmerte und verschwand. Im selben Moment befreite Schürf seine Linke ohne große Anstrengungen. Ich war nicht besonders stark, und wie hätte ich mich gegen ein Kraftpaket wie ihn durchsetzen sollen?
Ich musste zugeben, dass er Recht hatte: Ich war wirklich kein großer Zauberkünstler und hatte nichts in der Hand, um dem Schnitter des Lebensfadens - dem bekannten Killer Schürf Lonely-Lokley, der schon viele alte Magister auf dem Gewissen hatte - Paroli zu bieten. Vielleicht sollte ich diesen Verrückten einfach in meiner linken Hand verschwinden lassen?
Aber im Hinterkopf wusste ich, dass mein liebster Zaubertrick in diesem Fall einem Selbstmord gleichkäme. Egal, wie klein Sir Schürf war: Nichts würde ihn davon abhalten, seine tödliche Hand gegen mich zum Einsatz zu bringen. Und das wäre mein Ende.
Zum Glück war dieses Ende noch lange nicht in Sicht.
Spuck ihn an!, empfahl mir die Vernunft, doch ich hörte nicht auf sie, da ich keine Zeit mit Experimenten verlieren wollte, deren Resultat vorhersehbar war.
Ich hatte mir überlegt, dass Sir Schürf als mein Kollege, der mich auf den gefährlichsten Abenteuern begleitet und mir viele, bestens funktionierende Zaubertricks beigebracht hatte, genau wusste, womit er bei mir rechnen musste und was er von mir erwarten konnte. Er war also auf alles gefasst - auch darauf, dass meine Spucke giftig war. Um am Leben zu bleiben, sollte ich also auf all die Zaubertricks verzichten, die er schon kannte, und mir etwas Neues einfallen lassen, das ihn überraschen würde.
Ich hatte nichts mehr zu verlieren, und der Tod stand mir vor Augen. Sir Schürf zog erneut den linken Handschuh aus, ließ sich dabei zum Glück aber so viel Zeit wie sonst. Doch egal, wie langsam er den Handschuh abstreifte: Ich hatte keine Hoffnung mehr.
Mir blieb nichts anderes übrig, als heiter und mit Stil zu sterben. Und warum auch nicht? Meine spärlichen, aber traurigen Erfahrungen mit dem Leben nach dem Tod sagten mir, dass es nach dem Sterben nichts mehr gab.
Ich lachte wie ein Verrückter, sprang unvermittelt auf, ohne zu wissen, warum, und stellte fest, dass ich keinen Boden unter den Füßen hatte: Die seltsame Leichtigkeit, die nach dem Trinken aus der löchrigen Tasse von mir Besitz ergriffen hatte, sorgte dafür, dass ich in der Luft blieb. Im nächsten Moment stellte ich staunend fest, dass ich von oben auf die engen Straßen der Altstadt blickte. Das Leuchten der orangefarbenen Straßenlaternen war nur noch schwach zu erkennen, und ich flog weiter gen Himmel.
Die ganze Zeit lachte ich wie verrückt. Nein, ich war verrückt. Wie anders hätte es einem Menschen gehen sollen, den sein bester Freund umbringen wollte? Das seltsame Gefühl, über dem nächtlichen Echo zu schweben wie Puh der Bär mit seinem Luftballon, war nur ein Glied mehr in der Kette von Seltsamkeiten, die mir an diesem Abend widerfuhren.
Ein greller Blitz vom Erdboden her ließ mich wieder zu mir kommen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit ich mich von Sir Schurfs tödlicher Hand entfernt hatte, war aber überzeugt, die Gefahr sei vorbei.
Trotzdem fand ich es beruhigend, weit von Schürf weg zu sein. Der Blitz erleuchtete die Dächer der Altstadt nur kurz und verschwand dann wieder. Ich dagegen schwebte offenbar viel höher und war für seine tödliche Hand unerreichbar.
Ich muss mich unbedingt mit Sir Juffin treffen, dachte ich. Ich gehöre dringend unter seine Fittiche. Allein werde ich mit der Situation nicht fertig.
An diesem Gedanken hielt ich mich fest wie ein Ertrinkender an einem Rettungsring. Ich ließ die Geschehnisse des Abends kurz Revue passieren, versuchte, mir die Reaktion meines Chefs vorzustellen, und bat den Himmel, mich ohne Blessuren auf die Erde zurückkehren zu lassen. Dann sah ich nach unten und stellte fest, dass der Boden wesentlich näher war als kurz zuvor. Beunruhigend fand ich nur die Aussicht, wieder in die Nähe von Sir Schürf zu geraten.
Dann aber stellte ich fest, dass weder er noch sein A-Mobil irgendwo zu sehen waren. Ich schwebte über einer Straße in der Nähe des Hauses an der Brücke und wollte nur eines: endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben.
Im nächsten Moment war es so weit. Ich spürte, wie meine Füße den Gehsteig berührten, und versuchte gar nicht erst zu verstehen, warum ich wieder der Schwerkraft unterlag, sondern eilte nur zum Haus an der Brücke.
Ich glaube, an diesem Abend habe ich alle Sprintrekorde gebrochen. Mein überlastetes erstes Herz wäre mir beinahe aus der Brust gesprungen, doch mein geheimnisvolles zweites Herz blieb die ganze Zeit völlig ruhig.
In der Straße der Kupfermünzen fiel mir ein, dass der Arbeitstag meines Chefs schon beendet war. Also rannte ich nicht weiter zum Haus an der Brücke, sondern sprang ans Steuer des nächsten Dienst-A-Mobils. So brauchte ich - den Magistern sei Dank! - keinem Chauffeur etwas zu erklären. Das wäre mir, da ich völlig außer Atem war, auch schwer gefallen.
Ich klammerte mich ans Steuer und fuhr in die Straße der alten Münzen. Juffin hatte mir gesagt, dort sei er am Abend anzutreffen. Na hoffentlich! Ich überlegte, mich per Stummer Rede bei ihm zu melden, nahm aber davon Abstand, da ich ebenso gut hätte versuchen können, unter Vollnarkose zu telefonieren.
Quietschend brachte ich das A-Mobil vor meiner alten Wohnung zum Stehen. Dieses Manöver hatte mir kurz zuvor das Leben gerettet.
Diesmal musste ich die Frontscheibe zum Glück nicht ruinieren, denn Sir Juffin wartete bereits an der Haustür auf mich. Als ich ihn sah, wäre ich vor Erleichterung beinahe gestorben. Ich stieß Laute aus, die zwischen Hysterie und Verzweiflung oszillierten, gewann aber rasch die Beherrschung zurück.
Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende, sagte ich mir. Im Gegenteil - sie hat gerade erst begonnen.
»Man hat versucht, dich umzubringen«, konstatierte Sir Juffin.
Ich nickte schweigend, denn zum Reden war ich noch zu sehr außer Atem. Den Magistern sei Dank, dass ich auf die Atemübungen zurückgreifen konnte, die ausgerechnet Schürf mir beigebracht hatte.
Juffin beobachtete mich so gelassen wie neugierig und stellte fest, dass ich alles Erdenkliche unternahm, um mich zu beruhigen. Dann nickte er wohlwollend und setzte sich zu mir ins A-Mobil.
»Max, lass uns zum Haus an der Brücke fahren. Das ist der beste Platz, um Probleme zu besprechen und zu lösen. Dafür ist unsere Behörde schließlich da.«
Ich nickte wieder, und wir fuhren los, diesmal allerdings in normalem Tempo. Die Gegenwart von Sir Juffin und die Atemübungen wirkten auf mich ausgesprochen beruhigend.
Die Fahrt über schwieg mein Chef gedankenverloren. Erst im Flur des Hauses an der Brücke fragte er mich: »Wer hat bloß versucht, dich umzubringen?«
»Das war Schürf«, antwortete ich hölzern. Eine hölzerne Stimme ist besser als gar keine Stimme, dachte ich dabei.
»Bist du dir da wirklich sicher?«
»Jedenfalls weiß ich, dass ich mit ihm das Nachtmahl des Vampirs verlassen habe und er im A-Mobil die ganze Zeit neben mir gesessen hat. Und der, der die ganze Zeit neben mir saß, hat versucht, mich umzubringen. Der gesunde Menschenverstand sagt mir also, dass es Schürf gewesen ist. Aber diese Logik akzeptiere ich nicht«, fuhr ich entschieden fort und setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl.
»Ich auch nicht. Das ist zwar eine logische, aber recht primitive Erklärung. Ich fürchte, unser Schürf steckt noch mehr in der Klemme als du - wenn das überhaupt möglich ist.«
»Kann sein«, murmelte ich finster und überlegte, was meinem Freund widerfahren sein mochte. »Schließlich bin ich noch am Leben und sitze neben Ihnen. Und ich wünschte, dass könnte auch Schürf von sich sagen.«
Juffin nickte nachdenklich und sah durch mich hindurch.
»Ich habe eine gute Nachricht«, sagte er dann. »Schürf lebt. Er hat sich eben per Stummer Rede gemeldet und taucht gleich hier auf.«
Meine Muskeln spannten sich, und gleich kehrte das Gefühl unnatürlicher Leichtigkeit zurück. Ich musste mich anstrengen, nicht erneut den Bodenkontakt zu verlieren. Mich bremste nur die Sorge, mir den Kopf an der Decke zu stoßen.
Juffin beobachtete meinen inneren Kampf belustigt.
»Keine Sorge, Max. Ich erwarte wirklich Sir Lonely-Lokley und kein wütendes Medium. Außerdem kannst du dir sicher sein, dass dir in meiner Gegenwart nichts Böses widerfährt.«
»Das bin ich auch. Es war nur heute Abend etwas zu viel für mich.«
»Fang nur nicht an zu jammern! Es war zu viel für Schürf] Der arme Kerl! Wenn du wüsstest, wie viele Überraschungen du ertragen kannst, ohne mit der Wimper zu zucken!«
»Meinen Sie wirklich?«, fragte ich höflich. »Spendieren Sie mir doch eine große Tasse Kamra, und führen Sie eine psychoanalytische Sitzung mit mir durch. Danach können Sie mir dann einen goldenen Löffel reichen.«
»Was für einen goldenen Löffel denn, Max?«
Offenbar nahm Juffin alles wörtlich. Vielleicht dachte er ja, meine instabile Psyche stehe vor dem Zusammenbruch.
»Sie glauben doch hoffentlich nicht, dass ich all Ihre Befunde mit den Fingern esse? So bin ich nicht erzogen!«
Dieser Witz war nicht eben gelungen. Juffin jedenfalls hat sich nicht darüber totgelacht. Aber offenbar war er froh, dass ich wieder genug bei Sinnen war, um flapsige Bemerkungen zu machen. Mir ging es nicht anders.
Der Mann mit der Kamra kam auf Sammetpfoten in unser Büro und stellte das Getränk auf den Schreibtisch. Juffin schob mir fürsorglich eine große Tasse davon unter die Nase.
»Sei bitte so lieb und erzähle mir, was vorgefallen ist. In allen Einzelheiten und von Anfang an. Schaffst du das?«
»Ich glaube schon.«
Ich begann mit dem Traum, den ich mit Schürf teilte, und machte bald eine erstaunliche Entdeckung - die interessanteste Entdeckung des Abends sogar: Wenn ich wirklich in der Klemme steckte, konnte ich mich bemerkenswert kurz fassen. Die Tasse jedenfalls war noch nicht kalt, als ich mit meiner Erzählung fertig war.
»Was für eine Geschichte«, seufzte Juffin. »Vor allem der Schluss. Wie in alten Zeiten! Doch selbst in der Ordensepoche wäre das starker Tobak gewesen.«
Die Tür quietschte, und ich fuhr zusammen. Juffin dagegen sagte strahlend: »Kommen Sie rein, Schürf. Ich brenne auf Ihre Version der Ereignisse und fürchte, irgendein Lump will auf Ihrem Rücken das Chumgat durchqueren.«
»Das fürchte ich auch. Und ich frage mich, warum ich nicht darauf gekommen bin, was mit mir los war«, pflichtete Lonely-Lokley ihm bei. »Bedenken Sie aber bitte, dass ich nicht von allein in diese Klemme geraten bin. Ich wurde im Schlaf beeinflusst, als ich mir den Traum von Sir Max ansah, der an einem Ort angesiedelt sein soll, den es wirklich gibt. Mein Reiter hätte von vornherein an diesem Ort landen sollen.«
Schürf blieb neben meinem Stuhl stehen und stellte behutsam eine mit Runen verzierte Schatulle auf den Tisch. Dann legte er mir vorsichtig die Hand auf die Schulter. Ich spürte sofort, dass er keine Handschuhe anhatte.
»Ich hätte nie gedacht, dass du es schaffen würdest, mir zu entkommen, Max, und kann mir gut vorstellen, wie sehr dir dieses Geschöpf auf die Nerven gegangen ist - vor allem, weil es so furchtbar stark von sich überzeugt war.«
»Wenn ich dieses Geschöpf wäre, wäre ich von meinem Erfolg auch überzeugt«, sagte Juffin und lächelte traurig.
»Ich glaube, wir sollten meine Handschuhe untersuchen, je schneller, desto besser. Sie sind hier in der Schatulle. Das Gespenst, das sich bei mir eingenistet hat, kann jeden Moment wieder auftauchen. Sie wissen so gut wie ich, dass Reiter, die das Chumgat zu durchqueren versuchen, nicht so rasch von denen ablassen, die sie sich als Reittiere erkoren haben.«
»Um welche Reiter geht es überhaupt? Was ist das Chumgat? Und was soll da durchquert werden? All diese merkwürdigen Ausdrücke verstehe ich ganz und gar nicht«, rief ich.
»Das ist einfach«, sagte Juffin achselzuckend. »Chumgat ist der alte Name für das Tor zwischen den Welten. Ich mag ihn nicht, denn er riecht mir zu sehr nach alter Mystik. Es ist besser, die Dinge beim Namen zu nennen. Wenn vom »Tor zwischen den Welten« die Rede ist, wissen alle, worum es geht.«
»Da haben Sie wieder mal Recht«, bestätigte ich. »Zwar kenne ich mich mit diesem Tor gut aus, doch mein theoretisches Wissen darüber ist lückenhaft.«
»In diesem Bereich brauchst du so viel Theorie wie bei der Führerscheinprüfung für das A-Mobil«, sagte Juffin. »Und das nur, um festzustellen, ob du das Tor durchqueren kannst oder nicht. Viele Menschen - selbst mächtige Magier - schaffen es nicht. Andere dagegen - Maba Kaloch zum Beispiel, Sir Lojso Pondochwa und noch ein paar bekannte Leute, darunter du und ich - haben damit kein Problem. Entweder bist du von Geburt an fähig, dich mit Unsichtbarer Magie zu beschäftigen, mit Magie also, die uns bekanntlich durch das Tor zwischen den Welten führt, oder du bist nicht dazu fähig, und damit ist die Sache erledigt. Das ist wie eine Gabe: Entweder kannst du im Kopf vierstellige Zahlen addieren oder nicht.«
»Man kann doch ein Blatt Papier oder einen Taschenrechner zur Hilfe nehmen.«
»Einen Taschenrechner? Was soll das denn sein?«, fragte Lonely-Lokley naserümpfend.
»Ach, Schürf, es gibt sehr viel mehr seltsame Dinge auf der Welt, als du dir träumen lässt.«
Nun erst vermochte ich ihn anzusehen und war erleichtert: Das war tatsächlich mein guter Freund Schürf. Wie immer war er ruhig und unerschüttert, und wie immer ließ er keine Gelegenheit aus, sein ohnehin enzyklopädisches Wissen zu erweitern. Also war das Leben wieder wie früher. Obendrein hatte ich gelernt, nie wieder einen anderen das Himmelsgewölbe tragen zu lassen. Man kann jedem vertrauen, aber glauben darf man nur an sich allein. Jeder von uns ist sein eigener Globus und Atlas zugleich. Und wer außer mir konnte schuld daran sein, dass ich schon mehr als dreißig Jahre auf der Welt war und nun erst ihre Regeln zu verstehen begann?
Sir Juffin unterbrach meine Überlegungen. »Weißt du, Max, mit dem Taschenrechner hast du ein sehr gutes Bild gefunden. Wenn ein Magier erkennt, dass er das Tor zwischen den Welten nicht allein durchqueren kann, nennt er sich Reiter. Na ja, das ist nur ein Name. Tatsächlich aber sucht er sich einen Menschen, der zu dieser Reise fähig ist, und ergreift von seiner Seele Besitz. Für jemanden, der Offenkundige Magie beherrscht, ist das ein Kinderspiel. Am leichtesten lässt sich die Seele von Dummköpfen lenken, denn sie sind oft begabt, haben aber häufig keine Ahnung von ihrem Potential. Außerdem gehört die Seele niemandem.«
Mein Chef legte eine kurze Pause ein, musterte Lonely-Lokley und setzte seine Ausführungen zufrieden fort. »Aber ein wirklich guter Magier kann auch den Körper eines Fremden beherrschen. Und wenn er sich sehr anstrengt, dringt er sogar in das Bewusstsein seines Reittiers ein. Wenn es dann stirbt, gehen all seine Talente und Fähigkeiten auf den Reiter über. Menschen wie du und ich sind dafür unbrauchbar und für diese Wesen sogar gefährlich, denn wir wissen, was wir tun, und können uns verteidigen.«
Juffin machte erneut eine Pause und musterte diesmal mich. »Weißt du, eigentlich wollte ich es dir nicht erzählen, um dich nicht zu erschrecken, doch auch dich hat so ein Lump beherrschen wollen, als du das Tor zwischen den Welten benutzt hast. Das ist ihm aber misslungen, und gnädigerweise hast du keine Erinnerungen an diese Attacke. Wie gefällt dir das?«
Schockiert sah ich meinen Chef an, gewann aber bald die Beherrschung zurück. Langsam konnte mich nichts mehr in Erstaunen versetzen.
»Ach, deshalb kann ich mich an meine Anfänge in Echo nicht erinnern! Und ich dachte schon, sie seien nur ein Traum gewesen. Aber warum haben Sie mir das verschwiegen, Sir Juffin? Es ist doch besser, so etwas von sich zu wissen.«
»Wenn ich dir gesagt hätte, wie es war, hättest du dich erschrocken und jede Reise zwischen den Welten abgelehnt. Ich wollte deinen seltsamen Begleiter eigentlich ausfindig machen, aber weil du nie in echter Lebensgefahr warst, habe ich es gelassen.«
»Schon gut. Zu den Magistern mit Ihnen«, seufzte ich. »Und mit diesen seltsamen Trittbrettfahrern«, fügte ich hinzu und wandte mich dann an Lonely-Lokley. »Du hast also auch die seltene Gabe, zwischen den Welten zu reisen? «
»Noch nicht, aber irgendwann schaffe ich es bestimmt. Ich muss nur den richtigen Zeitpunkt abwarten. In meinem Leben geht alles sehr langsam - das ist nun mal mein Schicksal.«
»Sie müssen sich wohl mit dem Gedanken anfreunden, dass Ihre Zeit inzwischen gekommen ist«, meinte Juffin lächelnd. »Es war anders gedacht, Schürf, aber dieser rastlose Junge«, fuhr mein Chef fort und wies auf mich, »hat Sie früher als geplant auf die Reise in eine andere Welt mitgenommen.«
»Ich habe niemanden mitgenommen«, rief ich beleidigt. »Wann hören Sie endlich auf, in Rätseln zu sprechen?«
»Jedenfalls habe ich es satt, Lösungen zu verkünden. Und von Rätseln kann gar keine Rede sein«, entgegnete Juffin. »Na schön, ich erkläre es dir. Max, du hast Schürf aus Versehen - man könnte auch sagen: aus Dummheit - in einen deiner Träume mitgenommen. Ich hoffe, ihr wisst, wovon ich rede. Dann seid ihr zusammen vor den Toren von Kettari spazieren gegangen, und all das hat dazu geführt, dass Sir Schürf in eine gefährliche, besser gesagt in eine doppelbödige Situation geraten ist. Einerseits kann er das Tor zwischen den Welten schon allein benutzen, andererseits kennt er sich mit seiner Gabe noch nicht richtig aus. Er befindet sich in der gleichen Lage wie so mancher Bewohner unserer Irrenanstalten ... Leute, jetzt hab ich's! Wir sollten ein paar Geisteskranke besuchen. Bis jetzt hab ich nicht gewusst, wo wir geeignete Reittiere finden können, aber einige seiner Opfer sitzen bestimmt in der Irrenanstalt. Jedenfalls waren Sie nicht sein erstes Opfer, Schürf. Auf Ihrem Rücken durch das Chumgat zu reiten, war aber sogar für diesen Routinier mindestens eine Nummer zu groß. Dennoch fürchte ich, dass wir es mit einem sehr gefährlichen Reiter zu tun haben.«
»Das fürchte ich auch«, sagte Sir Schürf. »Wie ärgerlich, dass ich nicht an der Suche teilnehmen kann. Das alles liegt zeitlich nicht gerade günstig.«
»Stimmt«, meinte Juffin. »Bleiben Sie hier? Das wäre mir sehr recht, obwohl Sie im Cholomi-Gefängnis viel mehr Komfort hätten.«
»Natürlich bleibe ich. Komfort ist jetzt wirklich nicht das Wichtigste. Das kleine Zimmer neben Ihrem Büro, in dem Sie früher Verhöre durchgeführt haben, ist von der Außenwelt so isoliert wie die Zellen in Cholomi. Außerdem bin ich dann während der Ermittlungen in Ihrer Nähe. Und wer weiß - vielleicht ist es ganz gut, dass ich den Raum nicht verlasse.«
Ich sah die beiden verständnislos an. Schürf bemerkte meine Verwirrung und lächelte mild. »Dieser gefährliche Reiter kann mich überall aufs Neue erwischen. Ich habe Juffin meine tödlichen Handschuhe gegeben, doch auch ohne sie kann ich viel Unheil anrichten. Ich fürchte, dieser Reiter verspürt dir gegenüber besonderen Hass. Immerhin habe ich seine Gefühle miterlebt. Daher kann ich sicher sagen, dass sein Vorhaben, dich umzubringen, nicht allein aus praktischen Erwägungen rührt. Wenn dieser Lump wirklich befürchtet hätte, dass du Sir Juffin von meinen Problemen erzählst, hätte er mich sofort zum Schweigen gebracht. Mächtig genug dazu ist er ja. Wenn er zu mir kommt, kann ich keinen Widerstand leisten. Das ist ein furchtbares Gefühl der Ohnmacht. Darum ist es wohl am besten, eine Zeit lang in der Zelle neben eurem Büro einzusitzen. Jedenfalls, solange ihr in dieser Sache ermittelt. Du bist nicht der Einzige, der bei diesem Abenteuer an die Grenzen seiner Möglichkeiten geraten ist. Ich begreife noch immer nicht, warum du so großzügig warst und mich nicht mit deinem Gift bespuckt hast. Diese Waffe wendest du doch so oft an.«
»Das war keine Großzügigkeit. Um großzügig sein zu können, hätte ich nachdenken müssen, doch dazu hatte ich keine Zeit. Irgendwie wusste ich, dass mir nur die Flucht blieb, dass ich also etwas tun musste, womit du ganz und gar nicht gerechnet hast. Allerdings muss ich sagen, dass ich mir nicht erklären kann, warum genau ich mich so verhalten habe. Vielleicht habe ich rein intuitiv gehandelt.«
»Ich kann dir nur versichern, dass ich mich gegen dein Gift nicht hätte wehren können. Nur mein Handschuh hätte mich zu schützen vermocht. Dem Lump, der von mir Besitz ergriffen hatte, war mein Leben ganz egal. Wäre ich gestorben, hätte er sich eben jemand anderen für sein Vorhaben gesucht. Du hattest jedenfalls die besten Aussichten, mich umzubringen.«
»Du hättest stattdessen auch mich umbringen können. Oder es wäre etwas noch Schlimmeres passiert.«
»Es gibt nichts Schlimmeres als den Tod«, belehrte mich Schürf. »Andere Ereignisse können deine Welt beschädigen, aber vernichtet wird sie nur durch den Tod.«
»Schön, meine Herren, genug philosophiert!«, rief Juffin. »Schürf, Sie bleiben brav in Ihrer freiwilligen Haft. Ich glaube kaum, dass Ihr Reiter Sie hier wird besuchen wollen. Bei guter Führung dürfen Sie von Zeit zu Zeit einen Spaziergang machen. Nur schlafen dürfen Sie nicht.«
»Das denke ich auch«, pflichtete Lonely-Lokley ihm bei. »Wenn es Ihnen gelingt, meinen Reiter binnen vier Tagen unschädlich zu machen, komme ich mit dem Schlafmangel allein klar. Wenn Sie aber länger brauchen, werde ich ein wenig gegen das Chrember-Gesetzbuch verstoßen müssen.«
»Darauf sollten Sie besser nicht spekulieren«, meinte Sir Juffin und lächelte freundlich. »Das kann ich Ihnen flüstern.«
»Ach, das war nur so dahergesagt. Ich habe ohnehin keinen Zweifel an Ihren Fähigkeiten«, entgegnete Schürf höflich. »Und keine Dornen ohne Rose, wenn ich so sagen darf, denn in meinem Büro liegen noch einige Bücher, die ich dringend lesen will.«
»Schön, verstehen Sie das Ganze also als Sonderurlaub. Max und ich fahren derweil in die Irrenanstalt.«
»Ist die Lage wirklich so dramatisch?«, fragte ich und lächelte unsicher.
»Ich glaube schon«, antwortete Juffin ernst. »Helfen kann uns jedenfalls niemand. Aber wir bleiben dort nicht lange, sondern befragen nur ein paar Insassen nach ihren Träumen und dergleichen. Jetzt sei bitte so lieb, Max, und bring Schürf seine Bücher. Ich möchte keinen Boten damit beschäftigen.«
»Sie hätten wirklich einen besseren Vorwand finden können, mich aus dem Zimmer zu schicken«, sagte ich. »Wenn Sie mit Sir Schürf Geheimnisse austauschen wollen, tun Sie das doch per Stummer Rede!«
»Welch scharfsinnige Bemerkung«, brummte mein Chef.
»Aber wir haben Besseres zu tun, als Geheimnisse auszutauschen. Ich schicke dich einfach weg, damit du dich nicht als großer Held oder unglückliches Opfer fühlst.«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf und verließ das Büro.
Egal, was mein Chef sagte: Mein zweites Herz war fest überzeugt, dass die beiden ein vertrauliches Gespräch führen würden, denn Juffin roch geradezu nach Geheimnistuerei. Um den beiden meine Großzügigkeit zu zeigen, verzichtete ich darauf, sie länger zu stören. Und es wäre taktlos gewesen, über den Flur zu hetzen, um schon nach wenigen Minuten mit den Büchern zurück zu sein. Sollten sie ruhig so lange flüstern, wie sie es für nötig hielten.
Also durchquerte ich den Saal der allgemeinen Arbeit so langsam wie möglich, ging den anschließenden Korridor entlang und trat schließlich in Lonely-Lokleys großes Büro.
Ich nahm einige Bücher aus dem Regal und vom Schreibtisch und lächelte darüber, wie Schürf mich zurechtgewiesen hatte, als ich Das Pendel der Ewigkeit an den falschen Platz stellen wollte. Dieser eigenartige Kerl war einer meiner besten Freunde hier, mit dem ich sogar schon den einen oder anderen Traum geteilt hatte. Seltsamerweise dachte ich darüber erst jetzt nach, also nachdem er versucht hatte, mich umzubringen.
Schweigend kehrte ich aus Lonely-Lokleys Büro zurück und legte ihm seine Bücher vor die Nase. Er besah sie gedankenverloren.
»Für kurze Zeit reicht das«, sagte er dann, »aber nicht für lange. Darf ich jetzt schon um Nachschub bitten?«
»Selbstverständlich«, versicherte Juffin. »Übrigens hat der frisch erkorene Monarch kürzlich seine Residenz bezogen - eine ehemalige Bibliothek.«
»Stimmt!«, rief ich. »Am besten gibst du mir eine Literaturliste, und morgen schau ich mal, was ich für dich besorgen kann.«
»Morgen hast du dazu keine Zeit«, meinte Juffin lächelnd. »Da triffst du dich mit deinen wunderbaren Untertanen, um ihren Thron zu besteigen. Hast du das etwa vergessen?«
»Eigentlich ja. Aber das ist halb so schlimm, denn nach der Zeremonie habe ich bestimmt noch Zeit, meine Buchbestände zu sichten. Gut, Schürf, dass du mich darum gebeten hast. So begebe ich mich morgen nicht ganz umsonst in meine Residenz.«
»Der klopft Sprüche, was?«, rief Juffin entzückt. »Nicht ganz umsonst«, wiederholte er dann belustigt. »Jeder andere würde vor Freude platzen.«
»Sie kennen eben meine Vorlieben nicht«, antwortete ich lächelnd. »Mir reichen eine Jurte am Rand der Leeren Länder und ein Platz an unserem Stammtisch im Armstrong und Ella. Und wenn es sein muss, ein Stuhl in diesem Büro. Prunk beleidigt meinen Intellekt.«
»Dann wird dir eine bescheidene Zelle in der Irrenanstalt sicher gefallen. Schürf, Sie treten Ihre freiwillige Haft an, und wenn sich Ihr Reiter meldet, folgen Sie meinem Rat.«
»Ich habe allen Grund anzunehmen, dass es mir gelingen wird, diese Aufgabe zu meistern«, erklärte Lonely-Lokley würdevoll.
Dann ging er zu der Geheimtür, hinter der sich Juffins Verhörzelle befand. Dort war es wie im Cholomi-Gefängnis: Man konnte keine Magie anwenden und sich nicht per Stummer Rede verständigen. Dafür war man vor fremden Zauberkünsten sicher. Diesen Raum hatte Juffin schon zu Beginn der Epoche des Gesetzbuchs einrichten lassen, weil es nicht möglich gewesen wäre, die Magister der diversen Orden in einem normalen Zimmer gefangen zu halten, und weil es damals für die Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps gang und gäbe war, sich mit solchen Magistern zu beschäftigen.
Zu meiner Zeit dagegen stand der Raum meist leer. Nur einmal hatten wir ihn gebraucht - für den toten, aber überaus flinken Dschifa Savancha aus dem Wald von Mahagon. Ärgerlich nur, dass er uns einfach entkommen war.
»Das sehe ich genauso«, sagte Juffin erleichtert. »Sie schaffen das bestimmt.«
»Lonely-Lokley ist in Haft. Also können wir endlich in die Irrenanstalt fahren«, sagte ich augenzwinkernd zu meinem Chef. »Es ist wirklich unterhaltsam, mit Ihnen zu arbeiten.«
»Mit dir auch, Max«, gab Sir Juffin höflich zurück. »Und jetzt lass uns fahren.«
»Wo soll's hingehen?«, fragte ich und setzte mich ans Steuer des Dienst-A-Mobils.
»In die Neustadt, durchs Tor der drei Brücken und dann immer am Churon entlang. Wenn wir am Stadtrand sind, gebe ich dir weitere Instruktionen.«
»Das ist ziemlich weit«, seufzte ich.
»Für einen Chauffeur wie dich spielen Entfernungen doch praktisch keine Rolle.«
Als Juffin merkte, dass er mir ein Kompliment gemacht hatte, gab er einen Schuss Wermut in den süßen Wein seines Lobs. »Bitte bau keinen tödlichen Unfall, damit Sir Schürf nicht bis an sein Lebensende in meiner Verhörzelle bleibt.«
»Das wäre wirklich keine reizvolle Aussicht. Aber statt den Teufel an die Wand zu malen, erzählen Sie mir lieber, was uns in der Irrenanstalt erwartet.«
»Wir werden wiederholen, was ich dir beigebracht habe. Du hast hoffentlich nicht vergessen, wie man die Vergangenheit von Gegenständen erfährt.«
»Natürlich nicht. Ich bin ein großartiger Schüler. Wie könnte ich Ihre Lehren je vergessen? Vielleicht glauben Sie mir nicht, aber ich stelle regelmäßig dem einen oder anderen Gegenstand zu Übungszwecken Fragen nach seiner Vorgeschichte.«
»Schon gut. Ich dachte nur, du hättest in letzter Zeit keine Gelegenheit dazu gehabt«, sagte mein Chef. »Umso besser für uns. Womöglich bin ich auf deine Hilfe angewiesen.«
»Werden Sie die Möbel befragen?«
»Die vielleicht auch, doch das weiß ich noch nicht. In unserer letzten Unterrichtsstunde zu diesem wunderbaren Thema hast du erfahren, dass man Dinge genauso verhören kann wie Menschen, aber es gibt einen Unterschied: Gegenstände erzählen nur die Begebenheiten, deren Zeuge sie waren, während der Mensch am liebsten von sich oder über Dinge erzählt, von denen er keine Ahnung hat. Natürlich ist es viel schwieriger, mit Menschen zu arbeiten. Am besten befragt man sie deshalb im Schlaf, und zum Glück werden viele unserer Gesprächspartner schlafen.«
»Ach, deshalb hab ich nach jedem gefährlichen Abenteuer bei Ihnen übernachten müssen!«, rief ich und lächelte in mich hinein.
»Ich muss gestehen, dass du mir im Schlaf dein gesamtes Wissen auf herrlichste Weise offenbart hast.«
»Wie ich sehe«, sagte ich seufzend, »sind Sie ein wahrer Seelenforscher.«
»Das kann man wohl sagen. Und jetzt bieg rechts ab. Wir sind fast da.«
Zwei Minuten später hielten wir vor einem niedrigen Zaun.
Bisher hatte ich geglaubt, jede Irrenanstalt sei so gut gesichert wie das berühmte Zuchthaus Nunda in Gugland. Was ich nun vorfand, widersprach meinen Erwartungen ganz und gar: Nicht einmal der Eingang der Anstalt war geschlossen, und der Zaun ließ sich spielend leicht überwinden.
Wir gingen durch einen schönen, angenehm verwahrlosten Park und landeten vor einem Gebäude, an dessen Vorderseite zwei große Fenster leuchteten.
»Ah, wir werden erwartet«, meinte Juffin und hielt eifrig auf das Haus zu wie ein Nachtfalter, den es zum Licht drängt.
»Warum gibt es hier keine Schutzmauer? Kennt man so was in Echo nicht?«
»Natürlich nicht«, sagte mein Chef und hob erstaunt die Brauen. »Warum auch? Wer sollte diese armen Menschen überfallen?«
»Aber sie könnten weglaufen!«, rief ich.
»Warum sollten sie? Schließlich geht es ihnen hier sehr gut. Die Heiler helfen ihnen, und manche Kranke können sogar ins normale Leben zurückkehren. Ist es in deiner alten Heimat etwa üblich, die Verrückten wegzusperren?«
»Natürlich. Sie schauen sich doch regelmäßig meine DVDs an - sind Sie da nie an Einer flog über das Kuckucksnest geraten? Diesen Film kann ich Ihnen sehr empfehlen, er wird Ihren Horizont erweitern. Nicht mal der legendäre Verbrecher Lojso Pondochwa hätte sich so etwas ausdenken können.«
Jetzt erst merkte ich, dass ich vor ohnmächtiger Wut zitterte, als hätte ich schon in so einer Anstalt gesessen. So stark kann große Filmkunst auf den Menschen wirken!
»Nimm das alles nicht so ernst«, riet mir mein Chef. »Schließlich gehen wir jetzt zu einem Heiler. Dieser kluge Mann braucht dich nur anzusehen, um bei dir etwas Verdächtiges festzustellen. Dann bekommst du ein paar Sorgenfreie Tage, und meine Probleme werden noch größer. Also reiß dich zusammen.«
Ich unterdrückte meinen Zorn, seufzte tief und sagte dann ruhig: »Psychisch Kranke einzusperren, ist mitunter notwendig. Sicher erinnern Sie sich noch an meinen verrückten Landsmann, der Frauen die Kehle durchgebissen hat. Was hätte man mit so einem Kerl tun sollen? Ihn mit Pillen beruhigen? Oder ihn in diesem Park spazieren gehen lassen?«
»Auch mit diesem Fall wären unsere Heiler rasch fertig geworden«, sagte Juffin leichthin. »Man hätte ihm Kristalle der Demut verabreicht. Die beruhigen.«
»So einfach ist das hier?«
»Einfacher geht's kaum, was?«
Da die Fenster im ersten Stock so einladend leuchteten, gingen wir die breite Treppe hinauf, deren weicher Teppich eventuelle Sturzgelüste der Insassen sanft abfangen sollte.
»Guten Abend, Sir Juffin. Sie sind es wirklich, Sir Max! Wie schön, dass Sie unsere Irrenanstalt besuchen und ich mich Ihnen vorstellen darf: Slobat Katschak, Oberster Beschützer des Seelenfriedens. Sollte Ihnen dieser Titel zu pompös sein, können Sie mich gern Obernachtheiler nennen«, sagte der zart wirkende Jüngling im türkisfarbenen Lochimantel.
»Slobat ist außerdem ehemaliger Magister des Ordens der Stachelbeere«, ergänzte Juffin. »Und er ist ein Nachtmensch wie du, Max.«
Der kleine Heiler war ungemein gastfreundlich. »Machen Sie es sich bequem, meine Herren. Wenn Sie meine bescheidene Bewirtung ablehnen, bricht mir das Herz.«
»Seit wann lassen wir vom Kleinen Geheimen Suchtrupp uns nicht mehr zum Essen und Trinken einladen? Das wäre ganz was Neues«, sagte Juffin. »Keine Sorge, Slobat: Max und ich werden nicht einen Krümel dessen verschmähen, was Sie uns servieren.«
Sofort zeigte sich, dass Slobat stark untertrieben hatte, denn auf uns warteten zahlreiche Tabletts. Trotz Juffins gefräßig klingender Ankündigung dauerte unser Mahl nur eine Viertelstunde. Mein Chef wollte offenbar zur Sache kommen.
»Slobat - Sir Max und ich müssen die Zimmer Ihrer Patienten sehen, und womöglich brauchen wir Ihre Hilfe. Darum möchte ich Sie bitten, sich im Korridor in Bereitschaft zu halten. Das ist zwar keine angenehme Art, die Nacht zu verbringen, aber Sie haben heute leider kein Glück.«
»Es gibt Schlimmeres«, meinte der Heiler stoisch. »Wo wollen Sie Ihren Rundgang beginnen?«
»Bei den hoffnungslosen Fällen, deren Seele durchs All treibt wie eine Nussschale im Sturm der Traurigen Zeit«, sagte mein Chef.
»Sündige Magister, Juffin, ich wusste gar nicht, dass Sie auch Dichter sind!«, erklärte ich respektvoll und erhob mich.
»Unsinn, Junge. Es ist nur das Haus, das mich in diese Stimmung versetzt.«
Wir verließen das Gebäude, gingen durch den Park und landeten vor einem Flachbau.
»Hier leben die hoffnungslosen Fälle, bei denen das Licht der Vernunft endgültig erloschen ist«, sagte unser Cicerone. »Schauen Sie sich ruhig um. Ich warte derweil.«
Wir betraten einen dunklen Flur. Ich hatte längst gelernt, mich auch im Finsteren leidlich zu orientieren, und Sir Juffin war als Kind des Vereinigten Königreichs ohnehin in der Lage, sich sogar in tiefster Nacht zurechtzufinden.
»Was soll ich tun? Welche Rolle haben Sie mir bei dieser Untersuchung zugedacht?«, flüsterte ich.
»Achte zuerst nur darauf, was ich tue. Vielleicht findest du allein heraus, wie so eine Befragung funktioniert. Übrigens kann es sein, dass wir hier nichts zu tun bekommen. Immerhin gibt es keine Garantie, dass wir ausgerechnet hier den finden, den wir suchen. Zum Glück brauche ich die Zimmer nur zu betreten, um zu wissen, ob der jeweilige Bewohner für uns von Interesse ist oder nicht.«
»Warum sind wir eigentlich ausgerechnet in diese Anstalt gefahren? Ist sie anders als die übrigen?«
»Natürlich. Es ist die einzige Einrichtung dieser Art in Echo. Die anderen liegen weit draußen in der Provinz. Und auch diese Anstalt wird womöglich bald geschlossen, denn manche einflussreichen Heiler behaupten, der Aufenthalt in Echo sei der Seelenheilung abträglich. Außerdem braucht jeder, der das Tor zwischen den Welten durchqueren will, die Kraft der Hauptstadt. Sollte sich unser Reiter also die Seele eines Verrückten gesucht haben, dann hier und nicht in Uriuland.«
Wir betraten das erste Zimmer. Der Teppich war so weich, dass er auch als Bett diente. An der gegenüberliegenden Wand atmete jemand laut unter einer dicken Bettdecke.
»Diese Lady ist für uns nicht interessant«, sagte Juffin schnell. »Ihre wahnsinnige Seele irrlichtert zwar durchs Weltall, hat aber nicht genug Kraft, das Tor zwischen den Welten zu durchqueren. Lass uns weitergehen.«
»War das wirklich eine Lady?«, fragte ich überrascht und schloss die Tür hinter mir.
»Sogar eine wunderschöne Lady. Warum erstaunt dich das? Nett, dass du Frauen für anbetungswürdig hältst, aber auch sie werden mitunter verrückt.«
»Das weiß ich längst«, flüsterte ich aufgebracht. »Sind wir etwa in die Frauenabteilung geraten?«
»Was redest du da schon wieder? Wir sind hier doch nicht im Stadtteil Rendezvous! Oder trennt man in deiner alten Heimat die verrückten Männer von den verrückten Frauen?«
»Allerdings«, bestätigte ich.
»Warum hat man dort bloß solche Angst vor Verrückten?«, fragte mein Chef erstaunt. »Je mehr ich über deine Heimat erfahre, desto mehr fürchte ich, dass auch du irgendwann in so einer streng abgeschirmten Anstalt gelandet wärst.«
»Vielleicht«, antwortete ich lächelnd. »Allerdings habe ich ziemlich überzeugend den Normalen gespielt.«
»Na schön, wir finden sicher einmal Zeit, deine verlorene Jugend näher zu besprechen. Jetzt haben wir leider Wichtigeres zu tun.«
Wir sahen uns weitere Zimmer an.
»Das bringt nichts«, murmelte mein Chef, doch wir machten weiter. Als wir gut die Hälfte der Räume inspiziert hatten, empfand ich an einer Tür ein Unbehagen.
Irgendwie spürte ich, dass der Mensch in diesem Zimmer sich unfassbar einsam und von aller Welt verlassen fühlte. Auch mich überkam ein Gefühl absoluter, eisiger Isolation, einer Einsamkeit, die keine Chance bot zu begreifen, was einem widerfuhr - und keine Möglichkeit, je wieder ins normale Leben zurückzukehren. Etwas Ähnliches hatte ich gespürt, als ich in meinem Dienstwagen im Wald von Mahagon eingenickt war und kurz das Tor zwischen den Welten geöffnet hatte. Wie sehr hatte ich mich damals erschrocken!
»Wenn man sonst kein Instrument zur Verfügung hat, kann man sich an deiner Mimik orientieren«, sagte mein Chef. »Du wirkst sehr beunruhigt. Ich glaube, wir haben gefunden, was wir suchen. Es sei denn, die Seele dieses armen Menschen hat das Tor zwischen den Welten bereits durchquert.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie je solche Worte verwendet haben«, meinte ich lächelnd.
»Stimmt, aber wie gesagt: Die Atmosphäre dieser Anstalt beeinflusst mich«, antwortete Juffin und setzte sich auf den Boden. »Lass dich nicht irritieren, und lenke vor allem mich nicht von der Arbeit ab. Ich werde jetzt diesen armen Menschen bitten, seine Geschichte zu erzählen, und du setzt dich neben ihn und versuchst, Mitgefühl zu zeigen. Stell dir dabei aber bitte vor, du hättest es nicht mit einem Menschen, sondern mit einem Gegenstand zu tun, einer Schachtel oder einem Besen zum Beispiel. Es ist schwerer, die Vergangenheit eines Menschen zu erfahren als die eines Gegenstands, denn Menschen sind viel verschlossener.«
Ich setzte mich neben Juffin und lehnte mich an die Wand. Auch sie war weich und angenehm und ähnelte den Gummizellen in meiner Heimat.
Dann starrte ich auf eine kleine Erhöhung unter der Bettdecke. Der Bewohner, den wir zuletzt besucht hatten, war äußerst schwach gewesen, hatte aber immerhin Kraft genug besessen, sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Das hatte ihm allerdings nichts genutzt, da mein Blick wie ein Röntgenstrahl durch das Federbett gegangen war.
Eine Zeit lang spürte ich nicht das Geringste. Ich saß auf dem Boden und starrte den Schlafenden an. Hätte ich ihn um seine Bettdecke gebeten, wäre ich womöglich an wichtige Informationen gekommen. Plötzlich schlug mir das Herz im Hals, und ich spürte höchste Gefahr.
Im nächsten Moment zog ein Kaleidoskop verworrener Erscheinungen an meinem inneren Auge vorbei. Diese Bilder waren aber nichts im Vergleich zu der ungeheuren Einsamkeit, die der Kranke spüren musste. Er steckte offenbar im Tor zwischen den Welten fest. Dieser Gedanke ließ mich frösteln.
Juffin rüttelte mich an der Schulter. »Max, wach auf. Wir müssen uns beeilen. Ich habe alles erfahren, was ich wissen muss. Dir geht es nicht besonders, stimmt's?«
»Stimmt«, sagte ich kopfschüttelnd. Ein Teil von mir schien durch die Irrenanstalt zu geistern, ein großer Teil von mir sogar, und ich glaubte, ohne diesen Teil viel angenehmer leben zu können. Da das Kopfschütteln nicht half, wieder zu Kräften zu kommen, gab ich mir zwei heftige Ohrfeigen.
»Soll ich weitermachen?«, fragte mein Chef belustigt.
»Danke, das schaff ich schon allein. Außerdem brauche ich jetzt unbedingt Wasser.«
»Nichts leichter als das. Die kleine Tür dort führt ins Bad. Aber beeil dich bitte. Wir müssen wirklich los.«
Ich ging ins Bad, setzte meinen Turban ab und hielt den Kopf unter den Hahn. Die Wassertemperatur war ideal. Flugs wusch ich die jüngsten Ereignisse von mir ab. Juffin stand in der Tür und beobachtete neugierig jede meiner Bewegungen.
»Ich habe erschütternde Dinge erfahren, Max - genau wie du. Aber ich glaube, dir mangelt es noch an Erfahrung, um das Geschehene in eine verständliche Sprache zu übersetzen.«
»Gut möglich«, antwortete ich matt.
»In dieser Anstalt dürften wir noch weitere Opfer unseres geheimnisvollen Reiters finden - wesentlich mehr, als ich vermutet hatte. Aber wir werden damit keine Zeit verlieren, denn das Zentrum der Unheil stiftenden Kraft befindet sich zweifellos in diesem Zimmer. Der Mann beispielsweise, den wir eben untersucht haben, ist schon seit über achtzig Jahren von einer fremden Kraft besessen, also die ganze Zeit über, die er hier verbracht hat. Man muss allerdings zugeben, dass er sich perfekt getarnt hat. Wer hätte gedacht, dass der mächtigste Magister des Ordens vom Stab im Sand hier einsitzt? Ich jedenfalls wäre nie auf diese Idee gekommen.«
»Kennen Sie diesen Mann etwa?«, fragte ich meinen Chef.
»Aber ja! Magister Gugimagon und ich waren gute Freunde. Seinerzeit hat er versucht, über mich an alle Geheimnisse der Unsichtbaren Magie zu gelangen. Doch in seinem Gesicht stand geschrieben, dass er dieses Wissens nicht würdig war - und zwar mit so großen Buchstaben«, sagte Juffin und breitete die Hände aus wie ein Angler, der einen kapitalen Hecht gefangen haben will.
»Sie hatten wirklich interessante Freunde. Hat der Alte hier Ihnen vielleicht verraten, wo wir den gesuchten Reiter finden?«
»Das weiß er nicht. Er ist ihm nur im Traum begegnet. Oder denkst du, dass Gugimagon seinen Verfolger zu einer Tasse Kamra eingeladen hätte?«
»Woher soll ich wissen, welche Sitten bei bösartigen Magiern herrschen?«
»Gehen wir, du gutartiger Magier«, spöttelte mein Chef. »Und hör auf zu simulieren - es geht dir doch längst wieder bestens. Auf uns warten wichtige Aufgaben, ein Abschiedsessen bei Slobat Katschak zum Beispiel.«
Er gab mir einen leichten Tritt in den Hintern, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Wir traten auf den Flur, wo der Heiler uns schon sehnsüchtig erwartete.
»Haben Sie erfahren, was Sie wissen wollten?**, fragte er.
»Jedenfalls einiges«, antwortete Juffin allgemein. »Nun allerdings brauchen wir Ihre Hilfe.«
»Aber gern!«, rief Slobat so begeistert, als hätte mein Chef ihm eine Tüte Drops angeboten.
»Sie müssen möglichst rasch einen Patienten enttarnen«, sagte Juffin und hielt inne, um die richtigen Worte zu finden. »Er ist nicht krank, sondern ein begnadeter Simulant und sitzt seit mindestens achtzig Jahren in der Anstalt. Er muss gleich zu Beginn der Epoche des Gesetzbuchs eingeliefert worden sein. Jedenfalls habe ich ihn seitdem nicht mehr gesehen. Er hat immer etwas älter gewirkt als ich und ist groß und muskulös, aber nicht dick. Womöglich hat er sein Aussehen verändert, aber groß ist er nach wie vor. Außerdem ist er auf dem linken Auge blind.«
»Das ist der alte Koto Chalis!«, rief Slobat aufgeregt. »Aber der ist harmlos. Sie ahnen ja nicht, wie verrückt er ist! Man kann ihm so viele Kristalle der Demut verabreichen, wie man will - der Erfolg ist gleich null.«
»Das hab ich mir gedacht. In bewusstem Zustand kann er ohnehin nichts unternehmen. Führen Sie uns sofort zu ihm.«
»Aber natürlich.« Slobat Katschak wandte sich zum Gehen. Er wirkte verunsichert. »Sein Zimmer liegt im Nachbargebäude. Dort sind ähnlich hoffnungslose Fälle untergebracht wie hier.«
Eine Minute später waren wir im Nachbargebäude. Sir Juffin entwickelte solches Tempo, dass er Slobat und mich abhängte. Offenbar wollte er unbedingt seinen alten Freund umarmen.
Diesmal führte Sir Slobat uns direkt ins hinterste Zimmer rechts. Juffin riss die Tür auf, erstarrte aber schon auf der Schwelle, so dass ich gegen seinen Rücken prallte.
»Na ja«, sagte er finster. »Damit war wohl zu rechnen.«
»Was ist denn?«, fragte ich, begriff aber im gleichen Moment, was geschehen war. Das Bett war leer, doch eine Delle in der Matratze zeigte, dass bis vor kurzem jemand darin gelegen, sich dann aber in Luft aufgelöst hatte - wäre er nämlich aufgestanden, hätte das andere Spuren hinterlassen. Der Stoff, aus dem in Echo die Bettwäsche ist, passt sich schnell dem Umriss des Schlafenden an und kehrt erst nach Stunden wieder zu seiner neutralen Form zurück.
»Er hat es also doch geschafft!«, rief Juffin. »Er hat das Chumgat durchquert! Für jemanden in seiner Lage ist das kein Kinderspiel. Slobat, mein Freund, ich habe schlechte Nachrichten. Sie müssen prüfen, wie viele Leichen sich in Ihrer Anstalt finden. Es dürften mindestens zwölf sein. Gugimagon ist für seine letzte Reise aufs Ganze gegangen. Ich staune, dass ihm das gelungen ist.«
»Das dürfte eine unangenehme Arbeit werden«, meinte Slobat ergeben. »Kommen Sie denn ohne mich klar?«
»Natürlich, wir wollten sowieso los. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Und sollte jemand versuchen, Ihnen für das, was während Ihrer Schicht geschehen ist, die Schuld in die Schuhe zu schieben, dann melden Sie sich bitte sofort per Stummer Rede bei mir. Ich bin jederzeit bereit, Ihren Vorgesetzten zu versichern, dass Sie keine Verantwortung für die Geschehnisse tragen. Schließlich hat Gugimagon nicht Ihnen, sondern einem Ihrer Vorgänger den Bären aufgebunden, verrückt zu sein. Aber ich glaube kaum, dass Sie meine Hilfe brauchen werden.«
»Zu den Magistern mit meinen Vorgesetzten und meiner Reputation!«, seufzte Sir Slobat. »Was würde ich darum geben, diese Nacht in meinen vier Wänden verbracht zu haben! Es ist schrecklich, dass während meiner Schicht so viele Menschen gestorben sind. Nächte wie diese lassen mich an meinem Beruf zweifeln.«
Wir gingen durch den Park zum Ausgang.
»Meinen Sie wirklich, Ihr Freund hat jeden umgebracht, der ihm als Reittier dienen sollte, um das Tor zwischen den Welten zu durchqueren?«, fragte ich beunruhigt. »Was mag dann mit Sir Schürf geschehen sein? Wir können uns nicht mal per Stummer Rede bei ihm melden, weil er in der Isolationszelle sitzt.«
»Bei Schürf ist alles in Ordnung, keine Sorge. Er wollte nicht schlafen, und ich hab ihn hellwach bleiben lassen. Dagegen kann selbst Gugimagon nichts unternehmen. Außerdem hab ich Lonely-Lokley eine ausgezeichnete Waffe besorgt.«
»Was denn für eine Waffe?«, fragte ich pochenden Herzens. »Oder ist das ein Geheimnis?«
»Allerdings. Über Waffen soll man erst reden, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Manchmal nämlich schwächen Worte ihre Kraft. Gedulde dich noch etwas. Ich erzähle dir alles, wenn ich mir erst sicher bin, dass Schürf keinen Schutz mehr nötig hat.«
»Also deshalb haben Sie mich zum Bücherholen geschickt?«
»Nicht doch. Ich fürchte nur, dass du der Redaktion der Königlichen Stimme früher oder später all meine Geheimnisse verrätst. Besonders, da du dich nun so gut mit Chefredakteur Rogro Schill verstehst.«
»Ach, daher weht der Wind! Aber ich trenne das Dienstliche immer strikt vom Privaten.«
»Das ändert sich bestimmt noch«, tröstete mich mein Chef und schwang sich auf den Beifahrersitz.
Ich setzte mich ans Lenkrad und stellte die entscheidende Frage: »Und jetzt?«
»Jetzt, lieber Max, müssen wir zum Tor zwischen den Welten fahren und meinen alten Freund auf spüren.«
»Er ist bestimmt an den Ort gegangen, von dem Sir Schürf und ich unabhängig voneinander geträumt haben.«
»Wie kommst du darauf?«, wunderte sich mein Chef.
»Ich weiß es nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es so ist.«
»Umso besser«, sagte Juffin. »Morgen gehen wir ihn dort gemeinsam suchen.«
»Warum nicht sofort?«
»Warum so ungeduldig?«, fragte mein Chef und schüttelte den Kopf. »Wir sollten uns besser mit Sir Kofa treffen und uns die neusten Gerüchte erzählen lassen, die in Echo in Umlauf sind. Außerdem bekommst du morgen von deinen Untertanen deine Krone aufgesetzt - schon vergessen? Es wäre doch schade, wenn das Tor zwischen den Welten dich in weite Fernen führen würde und du deine Krönung versäumtest, oder?«
»Ich fände das ganz und gar nicht schade«, brummte ich.
»Du nicht, aber Seine Hoheit König Gurig VIII. sieht das sicher völlig anders. Er hat alles vorbereitet und aus allen Provinzen des Vereinigten Königreichs wichtige Personen nach Echo eingeladen. Sollten wir uns der Krönungsfeier entziehen, würde er das sicher nicht verstehen - trotz seines Respekts für unsere geheimdienstliche Arbeit. Nach der Feier dagegen könnten wir womöglich jahrelang verschwinden, ohne dass er unsere Abwesenheit bemerken würde.«
»Glauben Sie wirklich, Seine Majestät würde uns nicht bald vermissen?«
»Nicht unbedingt, denn im Tor zwischen den Welten vergeht die Zeit viel schneller als in Echo. Aber wir sollten die Krönungszeremonie wirklich abwarten - vor allem, weil ich dir nicht versprechen kann, dass wir unbeschadet aus dem Tor zurückkehren. Und wer sich auf ein riskantes Abenteuer einlässt, sollte seine Angelegenheiten geregelt haben. Es ist nämlich so, Max: Wer mehrere Lochimäntel übereinander trägt, bekommt irgendwann Probleme mit dem Gehen und stürzt. Deshalb sollte man Ballast abwerfen, verstanden?«
»Natürlich.«
»Nett, dass du mitunter so verständig bist. Ich bin heute nämlich nicht aufgelegt, den geduldigen Lehrer zu spielen.«
Trotz meines grenzenlosen Vertrauens in Juffin Halli, der mir mehrmals versichert hatte, mit Lonely-Lokley sei alles in Ordnung, wollte ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen. Mein Chef war so nett, die Tür zur Verhörzelle zu öffnen. Schürf saß kerzengerade und mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und las im Pendel der Ewigkeit. Unser Erscheinen löste bei ihm anfangs wenig Begeisterung aus, doch dann taute er auf und fand sich sogar dazu bereit, eine Tasse Kamra mit uns zu trinken.
Dann kehrte er in seinen Elfenbeinturm zurück, und Kimpa - der Haushofmeister von Sir Juffin - tauchte auf, um seinen Herrn abzuholen. Etwas später teilte Sir Kofa mir per Stummer Rede mit, er komme in wenigen Minuten ins Haus an der Brücke.
Zwar hätte ich nicht auf Kofa warten müssen, sondern nach Hause gehen können, doch diese Aussicht begeisterte mich wenig, da meine Freundin Techi mir per Stummer Rede mitgeteilt hatte, sie sei todmüde und wolle früh ins Bett. Ich dagegen war putzmunter.
Mein Kampf mit Lonely-Lokley hatte mich offenbar viel stärker aufgeputscht als zunächst vermutet. Wie groß war daher meine Erleichterung gewesen, nach diesem Kampf in das beruhigende Gesicht meines Chefs blicken zu können.
Zudem musste ich mir eingestehen, mich auch deshalb so stark für die Suche nach Gugimagon zu engagieren, um mich von meinen Problemen abzulenken.
»Guten Abend«, begrüßte Sir Kofa mich freundlich.
Er betrat mein Büro und ließ dabei seine neueste Tarnung - ein Gesicht mit buschigen Augenbrauen - verschwinden.
»Was machst du hier, mein Junge? Und was suchst du in deiner leeren Tasse?«
»In meine Tasse gehört eine neue Portion Kamra, aber das bekomme ich schon hin. Setz dich und greif zu. Wenn nichts mehr da ist, geben wir unserem Schatzmeister Dondi Melichais Bescheid, der sicher so freundlich ist, unsere Zeche bei Madame Zizinda zu begleichen.«
»Ich wusste ja, dass du großartige Arbeitsmethoden hast«, stellte Sir Kofa respektvoll fest.
»Die habe ich von dir. Du hast mir beigebracht, dass man am besten arbeitet, wenn man in der Dienstzeit von Wirtshaus zu Wirtshaus zieht, und zwar auf Kosten seines Arbeitgebers. Aber ich war heute ziemlich viel unterwegs und möchte deshalb lieber hierbleiben und dir die Möglichkeit geben, die Früchte deiner pädagogischen Bemühungen in meinem Büro zu genießen.«
Wir machten nur eine kleine Bestellung im Fressfass, denn besonders ich musste auf das Fassungsvermögen meines Magens Rücksicht nehmen, den ich seit Sonnenaufgang unausgesetzt mit Essen vollgestopft hatte. Nur während des Kampfs mit Lonely-Lokley und dem Flug über Echo hatte es eine Pause gegeben.
Nun erst erkannte ich die komische Seite meiner Abenteuer und musste so herzlich wie erleichtert lachen. Sir Kofa hörte sich die ganze Geschichte an und war sichtlich amüsiert.
»Tja«, seufzte ich dann, »der Abend ist zu Ende, und ich hoffe, dass ich morgen wie neugeboren meiner Arbeit nachgehen kann.«
»Von wegen! Morgen erwartet dich ein Abenteuer anderer Art. Hast du das vergessen? Wahrscheinlich nicht - schließlich bist du ein Freund der Abwechslung.«
»Manchmal schon«, bestätigte ich vorsichtig. »Allerdings verstehe ich unter Abwechslung vor allem, den Abend nicht immer im gleichen Wirtshaus ausklingen zu lassen.«
»Die morgige Veranstaltung ist bestimmt nach deinem Geschmack«, versicherte mir Sir Kofa. »Schon die Gästeliste ist ein Genuss.«
»Meinst du meine Untertanen? Ich musste sie etwas zivilisieren, aber nun ist ein recht angenehmes Völkchen aus ihnen geworden.«
»Dazu kann ich mich nicht äußern. Ich meinte eher die eingeladenen Provinzfürsten. Die werden dir sicher gefallen.«
»Sind sie so amüsant?«, fragte ich erfreut.
»Mehr als das - und jeder auf eigene Weise. Außerdem hat König Gurig alle Würdenträger selbst fernster Provinzen eingeladen, die sich gegenwärtig in Echo aufhalten.«
»Gegenwärtig? Gibt es etwa keine ständigen diplomatischen Vertretungen?«
»Wozu denn?«, fragte Kofa zurück. »Max, es ist doch viel besser, dass sie nur dann nach Echo kommen, wenn sie etwas von uns wollen. Allerdings wollen sie fast immer etwas von uns.«
»Kofa, erzähl mir von diesen Provinzfürsten. Nach dem heutigen Tag kann ich sowieso nicht schlafen und brauche ein wenig Unterhaltung.«
»Es genügt nicht, von diesen Leuten zu erzählen - man muss sie erlebt haben. Morgen kannst du deine Neugier stillen. Hast du schon von deinem Landsmann gehört?«
»Meinst du Graf Gatschilo Wuk, auch Sir Dunkler Sack genannt? Natürlich habe ich schon von ihm gehört. Aber nichts Näheres, um ehrlich zu sein. Er soll sich in seinem Schloss schrecklich langweilen und froh sein, dass ich sein Nachbar werde. Ich fürchte allerdings, seine Hoffnungen werden sich nicht erfüllen. Außerdem soll er sehr streitlustig sein.«
»Der alte Graf Gatschilo hat sogar den friedliebenden Großvater unseres Königs noch in die Kriegskunst eingeführt. Darum glaube ich, das hundertjährige Durcheinander, das erst mit der Verabschiedung des Chrember-Gesetzbuchs zu Ende ging, war gewiss zur Hälfte dem Wirken des Dunklen Sacks zu danken. Egal, was der Große Magister Nuflin Moni Mach dazu sagen mag.«
»Warum nennt man den Grafen eigentlich Dunkler Sack?«
»Das ist eine andere Geschichte. Graf Gatschilo hat zwei Prinzipien: Erstens reist er mit möglichst wenig Gepäck, und zweitens widerspricht es seiner Vorstellung von Menschenwürde, auf Reisen materielle Bedürfnisse zu spüren. Und weil der alte Gatschilo ein recht passabler Zauberer ist - für jemanden aus der Nähe von Uguland zaubert er sogar sehr gut -, hat er eine einfache Methode gefunden, sich von diesen Bedürfnissen zu befreien: Er hat einfach seine alte Reisetasche verzaubert. Seither kommt er auf seinem Klepper in die Hauptstadt geritten und hat nur diese Tasche dabei, seinen dunklen Sack nämlich. Kaum braucht er etwas, greift er hinein und zieht es raus - egal, ob es sich um ein Festgewand oder um eine Armee handelt. Deshalb nennt man ihn den Dunklen Sack. Er soll von diesem Spitznamen ganz begeistert sein.«
»Dieser Mann ist ja ein Genie!«, rief ich. »Den muss ich kennenlernen und bei ihm in die Lehre gehen. Ich teile seine Prinzipien völlig. Was könnte praktischer sein, als alles nur Erforderliche in einem einzigen Sack zu transportieren!«
»Siehst du, so nette Menschen leben in der Grafschaft Wuk! Und vor kurzem hast du dich noch gesträubt, König der Leeren Länder zu werden.«
»Vielleicht sollte besser Graf Gatschilo dort König sein«, murmelte ich. »Das wäre sicher die ideale Beschäftigung für ihn.«
»Ich fürchte, du unterschätzt dein Volk, Max«, sagte Sir Kofa ernst. »Es ist eher bereit zu sterben, als sich von einem Barbaren regieren zu lassen. Und ein Barbar ist für diese Menschen jeder, der nicht in den endlosen Steppen zur Welt gekommen ist. Graf Gatschilo würde deinen Untertanen das Sterben sicher leichtmachen - man müsste ihm nur ein Schwert in die Hand drücken.«
Ich nickte gedankenverloren und musste dann so plötzlich gähnen, dass selbst ich darüber staunte.
»Sehnst du dich nach einem weichen Kissen?«, fragte Kofa einfühlsam. »Das ist verständlich, denn du hast einen harten Tag vor dir.«
»Hart wird nur der Abend«, sagte ich. »Die Zeremonie soll kurz vor Sonnenuntergang steigen. Aber ich gehöre wirklich ins Bett. Vielen Dank, Kofa - du hast mir den Abend versüßt.«
»Ich fürchte eher, deine Geduld mit meinen Geschichten über Gebühr strapaziert zu haben.«
Ich winkte nur ab, gähnte erneut und stand auf. »Sollte morgen jemand ein Dienst-A-Mobil vermissen: Ich nehme eins mit nach Hause, weil Lonely-Lokley meinen Wagen ruiniert hat. Gute Nacht, Kofa.«
»Gute Nacht, Max«, antwortete der Meister des Verhörs.
Ich hoffte inständig, sein Wunsch möge in Erfüllung gehen.
Und tatsächlich: Kaum im Schlafzimmer, hörte ich Techi leise atmen, kroch unter die Decke und schlummerte sofort ein. Meine Träume führten mich in geradezu paradiesische Gefilde, und ich schlief bis zum Mittagessen durch - wann ist man schon mal im Garten Eden zu Gast?
Auch das Erwachen war sehr angenehm, denn Techi stellte mir eine Tasse Kamra ans Kopfende des Bettes. Sie blieb lange warm, weil sie auf einer Heizplatte stand. Meine Freundin allerdings war ausgeflogen. Wahrscheinlich saß sie gerade in ihrem Gasthaus und blätterte in der neuesten Ausgabe der Königlichen Stimme. Ich meldete mich per Stummer Rede bei ihr, um mich zu bedanken.
»Keine Ursache, mein Lieber«, antwortete sie. »Ich versuche mich bereits an meiner neuen Rolle als Mätresse.«
»Kommst du zu mir?«
»Das geht leider nicht. Es sind Gäste da, und ich habe dem Personal freigegeben. Du musst also allein klarkommen.«
Ich seufzte nur, schlenderte ins Bad und legte mich in alle neun Wannen. Dann zog ich den schwarzgoldenen Todesmantel an und machte mich auf den Weg ins Armstrong und Ella.
Im Zwielicht des Lokals saßen einige Gäste, deren zerknitterte Mienen mich langweilten. Dann aber stellte ich erstaunt fest, dass mein Freund Ande Pu, dem ich noch immer keine Fahrkarte nach Tascher spendiert hatte, an der Theke hockte. Noch mehr überraschte mich, dass er Kamra trank, obwohl er alkoholischen Getränken immer entschieden den Vorzug gegeben hatte.
Techi begrüßte mich mit ihrem schönsten Lächeln, und mir fiel auf, dass sie eigentlich immer wunderschön lächelte.
»Zu den Magistern mit meinem Thron«, seufzte ich. »Es ist hier so nett, aber gleich muss ich los und mich mit Innenpolitik herumschlagen.«
Ande Pu schrak hoch und drehte sich zu mir um. »Max, was redest du da? König zu sein, ist das Beste, was es gibt. Alle werden vor Neid erblassen. Ich an deiner Stelle ...«
»Ja, du an meiner Stelle«, unterbrach ich ihn belustigt. »Das wäre wirklich großartig. Ich würde viel dafür geben, das erleben zu dürfen. Aber wie geht es dir, mein Freund? Du bist verdächtig nüchtern, und dein Aufzug ist bedenklich elegant. Was führst du im Schilde? Willst du zu meiner Krönung kommen?«
»Sir Rogro meint, nur ich sei fähig und würdig, die Zeremonie zu verfolgen und von ihr zu berichten«, antwortete Ande stolz.
»Verstehe. Du möchtest bei der Feier als bester Freund des neuen Königs erscheinen. Ich nehme an, du versprichst dir davon etwas für deine Karriere als Journalist.«
»So ein Unsinn«, meinte Ande traurig. »Manchmal bist du unglaublich zynisch. Das macht mich richtig fertig.«
Ich lachte auf, um meine Verwirrung zu kaschieren. Was war nur in mich gefahren? Ein angehender Dichter wie er war offenbar leicht zu verletzen.
Ande sank förmlich in sich zusammen, und es tat weh, ihn anzuschauen.
»Mach dir nichts aus meinem Gerede«, sagte ich und zwinkerte ihm zu. »Hauptsache, du kommst zu meiner Krönung, du zukünftiger Rogro Schill.«
»Ich hab dir schon mehrmals gesagt, du sollst mich nicht beim Namen anderer nennen«, sagte Ande und verzog das Gesicht. »Mein Name ist schließlich das Einzige, was mich hier hält.«
»Warum brauchst du überhaupt einen Halt?«, fragte ich leichthin. »Versuch doch mal, etwas unbeschwert zu sein. Das tut wirklich gut.«
Techi sah zu uns rüber, schüttelte den Kopf und lächelte mich an. Aber Ande ging nicht auf meinen Vorschlag ein, sondern sagte: »Das ist mir egal. Jedenfalls will ich nicht, dass du meinen Namen änderst.«
Die Nüchternheit, zu der ihn sein Schreibauftrag zwang, hatte seine Laune offenbar noch schlechter werden lassen als sonst. Meine Prophezeiung, ein gutes Gehalt und eine steile Karriere würden ihm die Schwermut schon austreiben, hatte sich als falsch erwiesen.
Ich winkte ab und trank meine ausgezeichnete Kamra. Manchmal hatte ich den Eindruck, die verbrecherische Energie von Lojso Pondochwa äußere sich bei seiner Tochter unter umgekehrtem Vorzeichen, als die Fähigkeit nämlich, die herrlichsten Getränke zu zaubern. Ich sah aus dem Fenster und merkte, dass ich allmählich gehen musste.
»Heute sehen wir uns leider nicht mehr«, sagte ich zu Techi. »Erst kommt die Krönung, und dann muss ich einen Fall lösen - weiß der Teufel, wie lange das dauern wird.«
»Dieser Teufel, von dem du so oft redest - kennt er sich in deinen Angelegenheiten wirklich so gut aus?«, fragte sie mich interessiert. »In deiner DVD-Sammlung taucht das Wort auch erstaunlich häufig auf.«
Ich schwieg ratlos und sah mich um. Ande saß neben uns, war aber so tief in Gedanken versunken, dass er nichts von unserem Gespräch mitbekommen hatte. Das war auch gut so, denn hätte er von meiner DVD-Sammlung erfahren, dann hätte davon in kürzester Zeit die ganze Stadt gewusst.
»Na schön, mein Lieber. Viel Spaß heute Abend - und hab meinetwegen kein schlechtes Gewissen! Du weißt ja, wie sehr ich mein unspektakuläres Leben liebe.«
Da es inzwischen höchste Zeit für mich war, sprang ich vom Hocker und rüttelte Ande aus seinen Tagträumen. Er folgte mir gehorsam zum Ausgang.
»Einen netten Spaziergang durchs Chumgat wünsche ich dir«, meldete Techi sich per Stummer Rede. »Und denk daran: Immer kühlen Kopf bewahren!«
Dass sie von meinem neuen Fall wusste, schockierte mich, doch ich ließ mir nichts anmerken, sondern drehte mich auf der Schwelle um und flüsterte: »Vielen Dank für deinen Rat.«
Sie lächelte so freundlich wie unschuldig und winkte mir zu.
Schweigend fuhren Ande Pu und ich zum Haus an der Brücke.
Während der Fahrt machte ich mir Gedanken. Zum Beispiel darüber, woher Techi von dem gefährlichen Abenteuer wissen mochte, das ich gerade mit Juffin durchstand. Nicht, dass ich unseren Einsatz für ein besonders streng zu hütendes Geheimnis hielt, aber wir hatten bisher keine Zeit gefunden, über ihn zu reden. Als ich am Vortag nach Hause gekommen war, hatte Techi schon geschlafen, und als ich am Morgen aufwachte, war sie schon fort. In ihrem Lokal hatten wir nur beiläufig über allerlei Kleinigkeiten gesprochen.
Entweder rede ich ständig im Schlaf, dachte ich, oder ich muss mir wirklich Gedanken machen, um wen es sich bei meiner Freundin eigentlich handelt. Als Tochter von Lojso Pondochwa ist sie bestimmt zu vielem fähig.
Ich hielt vor dem Seiteneingang des Hauses an der Brücke und seufzte. Nichts wusste ich über meine Freundin, absolut nichts!
»Warte, ich bin gleich zurück«, sagte ich zu Ande Pu.
Seltsamerweise verlor mein Begleiter sogar dann seine Seelenruhe, wenn er auf harmlose Polizisten traf. Und das, obwohl ihn mein Todesmantel kein bisschen ängstigte. Manche Leute sind eben merkwürdig.
»Ich warte gern auf dich. Kein Problem. Du hast da drin sicher etwas Wichtiges zu erledigen«, sagte Ande Pu beflissen.
Das Treppenhaus, das den Trakt der Stadtpolizei vom Trakt des Kleinen Geheimen Suchtrupps trennt, war menschenleer. Auch im Saal der allgemeinen Arbeit war niemand, doch das war nicht erstaunlich, denn alle Mitarbeiter meiner Behörde waren in Juffins Büro versammelt. Sogar Sir Lonely-Lokley hatte die Isolation seiner Verhörzelle verlassen, fütterte Kurusch mit süßen Piroggen aus dem Fressfass und sprach mit Lady Melamori über die neuesten Erwerbungen der Stadtbibliothek. Offenbar ging es ihm bestens. Ich hatte also eine Sorge weniger.
»Ihr habt's gut!«, rief ich von der Tür. »Ihr könnt zu Abend essen, und ich muss in den Palast. Wie schade!«
»So schlimm ist das gar nicht«, tröstete mich Sir Juffin. »Schließlich bist du nicht irgendwer, sondern ein zukünftiger König. Also kannst du dich ruhig etwas verspäten. Würde Gurig VIII. an der Zeremonie teilnehmen, müsstest du natürlich pünktlich sein. Aber da seine innenpolitischen Prinzipien ihm die Teilnahme an deiner Krönung verbieten, kannst du es dir sicher herausnehmen, mit uns etwas zu trinken und mindestens eine kleine Pirogge zu essen.«
»Und höchstens drei davon«, sagte ich lächelnd. »Das ist eine der besten Nachrichten der letzten Zeit. Was feiert ihr hier eigentlich so eifrig, Herrschaften?«
»Na, was wohl? Deine Krönung natürlich!«, rief Melifaro und brachte das Piroggentablett vor meinen hungrigen Händen in Sicherheit. »Nicht so gierig! Bekommst du in deiner Residenz etwa nichts zu futtern?«
»Ein Wort noch, und ich erkläre dir im Namen meines Königreichs den Krieg«, drohte ich ihm und stützte mich auf die Lehne von Melamoris Stuhl. Sofort legte meine Kollegin mir eine kalte Hand auf die gut durchblutete Rechte.
»Guten Abend«, sagte sie, und mir fiel auf, dass sie so verzweifelt blickte, als verzehrte sie sich vor Sehnsucht.
»Wenn du willst, baue ich dir ein Floß und reise mit dir nach Arwaroch. Sag mir einfach Bescheid«, versicherte ich ihr per Stummer Rede, denn schließlich gibt es Dinge, die kein anderer hören soll.
»Darauf komme ich gern zurück«, sagte sie. »Keine Sorge, Max, ich bin eigentlich immer traurig gestimmt, und bei schlechtem Wetter ist es noch schlimmer.«
»Dann sollte man das Wetter ändern.«
»Die Meteorologen sagen, es bessert sich bald. Aber jetzt sprich wieder laut - dein langes Schweigen ist verdächtig.«
Ich tat, wie mir geheißen, und wandte mich an die Kollegen. »Wollt ihr mir nicht Gesellschaft leisten, Freunde? Ohne euch wird die Krönung sicher furchtbar für mich.«
»Ich lasse dich nicht im Stich«, beruhigte mich mein Chef. »Anders als unser König bin ich verpflichtet, an der Zeremonie teilzunehmen.«
»Danke, Juffin. Nun geht es mir schon viel besser«, versicherte ich ihm. »Gibt es noch andere Freiwillige?«
»Ich würde deine Einladung gern annehmen, aber du siehst sicher ein, dass ...«, begann Sir Schürf und breitete ratlos die Arme aus.
»Natürlich«, seufzte ich.
»Unser Max ist in die Klemme geraten und versucht, auch den anderen den Abend zu verderben«, sagte Kofa lächelnd. »Oh nein, ich bleibe. Einer muss schließlich Bereitschaftsdienst schieben.«
»Weißt du, auch ich muss dich im Stich lassen«, flüsterte Melamori mir zu. »Ich habe mir schon lange vorgenommen, mir heute Abend ein paar deiner DVDs anzusehen.«
»Das hab ich mir schon gedacht. Ich kenne noch eine nette Lady, die den heutigen Abend glühend erwartet, und kann mir durchaus vorstellen, dass du auch ihr eine Flasche Wein aus dem Keller deines Großvaters Kima versprochen hast.«
»Es ist wirklich gefährlich, mit dir zu tun zu haben, denn du weißt alles, und zwar über jeden von uns.«
»Nicht alles - nur das Wichtigste«, sagte ich lächelnd und wandte mich an Melifaro. »Und du, mein Augenstern? Willst du die wunderbare Gelegenheit, mir Gesellschaft zu leisten, einfach verstreichen lassen?«
»Keine Sorge, das tu ich schon nicht«, antwortete er wie ein Gentleman, der in den Heiratsantrag der Witwe seines Opfers einwilligt. »Erstens darf man so ein Ereignis nicht verpassen, und zweitens möchte ich unbedingt meinen guten alten Freund Wiedersehen.«
»Von wem sprichst du?«
»Von Prinz Ajoncha Rotri Schimaro, dem älteren Herrn der Grafschaft Schimara. Das ist ein wunderbarer Mann, der dir sicher gefallen wird. Sein jüngerer Bruder ist auch nett, für meinen Geschmack aber ein wenig streng. Prinz Ajoncha ist eine Seele von Mensch - und obendrein mein Schuldner.«
»Kaum hatte unser Kollege Melifaro seine Laufbahn beim Kleinen Geheimen Suchtrupp begonnen, befreite er den älteren Prinzen Schimaro aus einer recht unangenehmen Lage«, erklärte Juffin. »Einer der Freunde des Prinzen neigte dazu, Morde vermittels unerlaubter Magie zu begehen, um Rache für seine Verwandten zu nehmen, die bei den Kämpfen um die Einführung des Chrember-Gesetzbuchs ums Leben gekommen waren. Dieser Freund war kein schlechter Magier, und es gelang ihm, dem armen Ajoncha die Schuld an diesen Taten in die Schuhe zu schieben. Kaum war unser Prinz in Echo, landete er schon im Cholomi-Gefängnis. Daraus entwickelte sich ein Skandal, und sein Bruder Dschifa wandte sich an mich. Er ist zwar zwei Jahre jünger als Ajoncha, sieht aber bedeutend älter aus und war seit Kindertagen gewöhnt, seinen Bruder in Schutz zu nehmen. Prinz Dschifa kam im Inkognito eines Kaufmanns nach Echo, um mich um Hilfe zu bitten. Damals war ich noch neu hier und so überlastet, dass ich ihn zu Sir Melifaro schickte, ohne allerdings daran zu glauben, es werde ihm gelingen, den Fall erfolgreich abzuschließen. Unser inzwischen so erfahrener Kollege klimperte damals nur ratlos mit den Wimpern und wusste nicht, wie er den Fall angehen sollte. Als er mir dann am übernächsten Morgen den wirklichen Mörder präsentierte, wollte ich das zunächst nicht glauben.«
»Damals schon wurde Ihnen klar, welchen Glücksfall ich für Ihre Abteilung bedeute«, sagte Melifaro so zufrieden wie selbstbewusst.
»Ich schlage vor, die Erinnerungen an deine Großtaten bei meiner Krönung fortzusetzen«, sagte ich und stellte meine leere Tasse auf den Tisch. »Gehen wir, Leute. Meine Untertanen warten schon seit einer halben Stunde auf mich.«
»Du bist bloß neidisch, weil mal ein anderer gelobt wird als du«, meinte Melifaro lachend. »Stimmt's?«
»Lässt sich das, was ich gerade erzählt habe, wirklich als Lob verstehen?«, fragte Sir Juffin listig.
Natürlich brauchten wir noch mal zehn Minuten, ehe wir alle auf der Straße waren. Ande Pu wartete noch immer in meinem A-Mobil und wirkte ungemein gelangweilt. Der hat für seine Geduld wirklich ein Denkmal verdient, dachte ich.
»Wie ich sehe, hast du dir bereits die Unterstützung der Presse gesichert«, meinte Juffin kichernd.
»Schließlich ist meine Ruhmsucht allgemein bekannt.
Ohne meinen künftigen Hofberichterstatter tue ich keinen Schritt«, sagte ich und fügte per Stummer Rede hinzu: »Keine Sorge, ich habe ihn nicht eingeladen, unsere Ermittlungen zu begleiten.«
»Das könnte aber recht lustig werden«, gab mein Chef lautlos zurück, lächelte geheimnisvoll und setzte sich auf den Beifahrersitz meines A-Mobils.