TEIL DREI

Vierundvierzig

Es gab immer einen Ansatzpunkt. Gonle Fong hatte ihr ganzes Leben nach diesem Prinzip verbracht. Die Mission zum EinAus-Stern war auf lange Sicht angelegt, etwas, das hauptsächlich Wissenschaftler anzog. Aber Gonle hatte Ansatzpunkte gesehen. Dann war der Überfall der Aufsteiger gekommen, und aus der langfristigen Investition waren Knechtschaft und Exil geworden. Ein Gefängnis, von Meuchelmördern betrieben. Doch selbst da hatte es Ansatzpunkte gegeben. Fast zwanzig Jahre ihres Lebens lang hatte sie die Ansatzpunkte genutzt und war gediehen — und sei es nach den Maßstäben dieses Müllhaufens.

Jetzt waren die Dinge in Fluss gekommen. Jau Xin war seit mehr als vier Tagen weg, mindestens seit Beginn ihrer gegenwärtigen Wache. Zuerst ging das Gerücht, er und Rita Liao seien inoffiziell nach Wachgruppe C verlegt worden und lägen noch im Kälteschlaf. Das vermasselte ein paar von den Programmier-Geschäften, die sie mit Rita geplant hatte — und es war auch verteufelt ungewöhnlich. Dann berichtete Trinli, im Obergeschoss von Hammerfest fehlten zwei Piloten-Blitzköpfe. So. Rita lag vielleicht noch auf Eis, aber Jau Xin und die Blitzköpfe waren… anderswo. Daraus entwickelten sich neue Gerüchte: Jau war auf einer Expedition zu der toten Sonne, Jau landete auf der Spinnenwelt. Trud Silipan stolzierte bei Benny umher, selbstgefällig über ein inneres Geheimnis, das er vorerst mit niemandem teilte. Das bewies erst recht, dass etwas Seltsames im Gange war.

Gonle hatte Wetten auf die Spekulationen angenommen, doch die Ereignisse hatten sie selber in ihren Bann gezogen.

Tomas Nau lud eine Handvoll Fußvolk zur Instruktion auf sein Grundstück ein. Das war das erste Mal, dass Gonle seit der Eröffnung im Seepark war. Nau hatte damals viel Aufhebens von seiner Gastfreundschaft gemacht. Danach war der Ort abgesperrt worden — doch wenn man ehrlich war, konnte das zum Teil an dem liegen, was während des Empfangs mit Anne Reynolt passiert war.

Während Gonle Fong und die drei anderen Auserwählten den Fußweg zu Naus Hütte hinabschlurften, teilte sie ihre kritische Einschätzung der Szenerie mit. »Sie haben also herausbekommen, wie man Regen macht.« Es war eher ein Nebel im Luftzug, so fein, dass er wie Tau auf ihrem Haar und den Augenbrauen haften blieb, so fein, dass das Fehlen richtiger Schwerkraft keine Rolle spielte.

Pham Trinli kicherte zynisch. »Ich wette, das ist zum Teil Müllansammlung. Zu meiner Zeit habe ich eine Menge von diesen falschen Schwerkraftparks gesehen, meistens von einem Kunden gebaut, der mehr Geld als Verstand hatte. Wenn man ein Unten und ein Oben haben will, fängt der Dreck an, sich anzuhäufen. Ziemlich schnell hat man den Himmel voll Mist.«

Trud Silipan, der neben ihm her ging, sagte: »Der Himmel kommt mir ziemlich sauber vor.«

Trinli schaute in den luftbewegten Nebel. Die Wolken waren grau und hingen tief, sie zogen rasch vom anderen Ufer des Sees heran. Manches davon war echt, und manches musste Bildtapete sein, doch beides war nahtlos verbunden. Keine freundliche Szenerie nach Gonle Fongs Maßstäben, aber eine, die kühl und sauber war. »Na ja«, sagte er nach einer Weile. »Das muss ich dir lassen, Trud. Dein Ali Lin ist ein Genie.«

Silipan plusterte sich ein wenig auf. »Nicht nur er. Auf die Koordination kommt es an. Ich habe eine Gruppe Blitzköpfe, die daran arbeitet. Jedes Jahr wird es besser. Eines Tages werden wir auch noch rauskriegen, wie man Seewellen so macht, dass sie natürlich wirken.«

Gonle schaute zu Ezr Vinh hinüber und rollte die Augen. Keiner von diesen beiden Clowns wollte zugeben, wie viel Zusammenarbeit von allen — sehr profitable Zusammenarbeit — in dem Park steckte. Auch wenn das Fußvolk nicht mehr willkommen war, lieferte es doch einen stetigen Strom von Nahrung, bearbeiteten Hölzern, lebenden Pflanzen und Programmentwürfen.

Der Nebel bildete kleine Wirbel über der Hütte, und die Illusion von Schwerkraft wurde einer schweren Prüfung unterzogen, als die Besucher auf ihren Greiffilz-Sohlen hin und her schwankten. Dann waren sie in der Hütte, die von sehr natürlich aussehenden brennenden Holzscheiten in Tomas Naus großem Kamin erwärmt wurde. Der Hülsenmeister wies sie mit einer Geste zu einem Konferenztisch. Dort waren Nau, Brughel und Reynolt. Drei weitere Gestalten zeichneten sich als Silhouetten vor den Fenstern und dem grauen Licht von draußen ab. Eine davon war Qiwi.

»Na hallo, Jau«, sagte Ezr. »Willkommen… daheim.«

Ja, es waren Jau und Rita. Tomas Nau stellte die Raumbeleuchtung heller. Wärme und Helligkeit waren nicht größer als in jeder zivilisierten Behausung, doch irgendwie machten die mit soviel Aufwand erzeugte Kälte und das Halbdunkel draußen aus diesem inneren Licht eine anheimelnde Sicherheit.

Der Hülsenmeister winkte sie zu ihren Sitzen, setzte sich dann selbst. Wie üblich war Nau ein Bild großzügiger und hochherziger Führung. Aber er täuscht mich keinen Augenblick, dachte Gonle. Vor dieser Mission hatte sie eine lange Laufbahn hinter sich gebracht, in der sie auf drei Welten mit einem Dutzend Kundenkulturen Handel getrieben hatte. Kunden waren ihr in allen Größen und Farben der Menschheit untergekommen. Und ihre Regierungsformen waren sogar noch breiter gestreut — Tyranneien, Demokratien, Demarchien. Es gab immer eine Möglichkeit, mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Der große Chef Nau war ein Schurke, aber ein schlauer Schurke, der verstand, wie er über die Runden kam. Qiwi hatte vor Jahren dafür gesorgt. Zu dumm, dass er physisch die Oberhand hatte — das gehörte nicht zur üblichen Geschäftsumwelt der Dschöng Ho. Die Sache war riskant, wenn man vor den Bösewichtern nicht weglaufen konnte. Doch auf lange Sicht spielte nicht einmal das eine Rolle.

Der Hülsenmeister nickte einem jeden von ihnen zu. »Danke, dass Sie persönlich gekommen sind. Sie sollten wissen, dass diese Besprechung live übers lokale Netz übertragen wird, aber ich hoffe, dass Sie ihren Freunden aus erster Hand erzählen werden, was Sie gesehen haben.« Er grinste. »Ich bin sicher, dass es für gute Gespräche bei Benny sorgen wird. Was ich habe, sind unglaublich gute Neuigkeiten, aber es ist auch eine große Herausforderung. Wie Sie sehen, ist Pilotenverwalter Jau Xin soeben aus einer niedrigen Umlaufbahn um die Arachna zurückgekehrt.« Er machte eine Pause. Ich wette, bei Benny herrscht jetzt totale, ehrfürchtige Stille. »Und was er dort entdeckt hat, ist… interessant. Jau — bitte. Schildern Sie die Mission.«

Xin erhob sich ein bisschen zu rasch. Seine Frau erwischte seine Hand, und er stand auf dem Fußboden, ihnen zugewandt. Gonle versuchte vergebens, Ritas Blick zu erhaschen, doch die Frau hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf Jau konzentriert. Ich wette, sie haben sie auf Eis gelegt, bis er zurück war; das war die einzige Möglichkeit, sie dazu zu bringen, den Mund über diese Sache zu halten. Ritas Gesichtsausdruck sprach von großer Erleichterung. Was immer die Neuigkeit war, sie konnte nicht schlecht sein.

»Ja, Herr Hülsenmeister. Gemäß Ihrer Weisung wurde ich früher auf Wache geholt, um eine Naherkundung der Arachna durchzuführen.« Während er sprach, teilte Qiwi etliche Datenbrillen von Dschöng-Ho-Qualität aus. Gonle deute in Lippensprache stumm ein Kaufangebot an, als Qiwi vorbeikam; die grinste und flüsterte: »Bald!« Die großen Chefs erlaubten dem Fußvolk immer noch nicht, derlei Dinge zu besitzen. Vielleicht würde sich auch das endlich ändern. Eine Sekunde verstrich, während sich die Brillen auf das Gemeinbild synchronisierten. Der Raum über dem Tisch kräuselte sich und wurde zum Bild des L1-Felshaufens. Weit entfernt, unterhalb des Fußbodens, lag die Scheibe der Spinnenwelt.

»Meine Piloten und ich haben das letzte funktionsfähige Landeboot genommen.« Ein goldener Faden wuchs im Bogen aus dem Felshaufen; die Spitze beschleunigte bis zur Hälfte des Weges, bremste dann wieder ab. Ihr Blickpunkt holte das Boot ein; vor ihnen wuchs die Scheibe der Arachna. Die Welt sah fast ebenso tot und gefroren aus wie bei der Ankunft der Menschen. Einen großen Unterschied gab es: den schwachen Schimmer von Stadtlichtern auf der nördlichen Halbkugel, der da und dort bei Großstädten Netze bildete.

Pham Trinlis Stimme kam aus dem Dunkel zurück, ein ungläubiger Ruf: »Ich wette, ihr seid gesichtet worden!«

»Sie haben uns mit Radar angesprochen. Zeigt die Abwehrradars und die einheimischen Satelliten«, sagte er zu dem Bild. Eine Wolke blauer und grüner Punkte leuchtete im Raum um den Planeten auf. Am Boden gab es Bögen aufblitzenden Lichts, wo der Antiraketen-Radar der Spinnen entlangstrich. »In Zukunft wird es damit problematischer.«

Anne Reynolts Stimme unterbrach den Pilotenverwalter. »Meine Netzleute haben alle Beweise gelöscht. Das Risiko war es allemal wert.«

»Ha! Das muss ja was gemächtig Wichtiges gewesen sein.«

»O Pham, war’s auch. War’s.« Jau trat an eine Seite des Gemeinbildes, stieß mit der Hand tief in den Nebel von Satelliten und markierte einen blauen Punkt mit der Aufschrift Bodenerkundungs-Satellit 543 der Sinnesgleichen, gefolgt von den Bahnparametern. Er schaute in Phams Richtung, und auf seinem Gesicht lag ein stilles Lächeln, als erwarte er eine bestimmte Reaktion. Die Zahlen sagten Gonle überhaupt nichts. Sie beugte sich zur Seite, betrachtete — Trinli um den Rand des Bildes herum. Der alte Schwindler wirkte genauso ratlos wie alle und schien gar nicht froh über Xins Lächeln oder Silipans selbstgefälliges Kichern zu sein.

Trinli schaute mit zusammengekniffenen Augen auf die Anzeige. »Schön, ihr habt also eure Bahn der von Sat 543 angeglichen.« Neben ihm holte Ezr Vinh vor Überraschung hörbar Luft. Daraufhin runzelte Trinli die Stirn nur noch mehr. »Start vor siebenhundert Kilosek, chemischer Treibstoff, Synchronbahn, Höhe…« Seine Stimme rutschte in eine Art Gurgeln weg. »Höhe zwölftausend Kilometer, verdammich! Das muss ein Irrtum sein.«

Jaus Grinsen wurde breiter. »Kein Fehler. Das ist der ganze Grund, warum ich runtergeflogen bin, um ihn mir näher anzuschauen.«

Die Bedeutung drang schließlich zu Gonle durch. In der Abteilung Versorgung und Dienste hatte sie es größtenteils mit Beschaffungsgeschäften und Inventarverwaltung zu tun. Aber der Transport machte einen großen Teil der Kosten aus, und sie gehörte zur Dschöng Ho. Die Arachna war ein erdähnlicher Planet mit einem Tag von neunzig Kilosekunden. Eine Synchronbahn hätte viel höher als zwölftausend Kilometer liegen müssen. Selbst für jemanden, der kein Techniker war, bedeutete der Satellit eine an Zauberei grenzende Unmöglichkeit. »Er wird stationär gehalten?«, fragte sie. »Kleine Raketen?«

»Nein. Sogar Fusionsraketen hätten Mühe, das tagelang ohne Pause zu machen.«

»Cavorit.« Ezrs Stimme klang schwach und ehrfürchtig. Wo hatte sie das Wort schon einmal gehört?

Aber Jau nickte. »Stimmt.« Er sagte etwas zu dem Bild, und jetzt kam der Blick von seinem Boot. »Näher heranzukommen war ein Problem, vor allem, weil ich mein Haupttriebwerk nicht sehen lassen wollte. Stattdessen habe ich die Kameras des Satelliten geröstet und bin dann von unten auf Berührungskurs gegangen… Sie können ihn jetzt allmählich sehen, im Zentrum meines Zielsuchers. Die Annäherungsgeschwindigkeit ist von fünfzig Metern pro Sekunde auf den Punkt gesunken, wo wir uns mit gleicher Geschwindigkeit parallel bewegen. Er befindet sich jetzt fünf Meter über uns.« Etwas war im Zielgebiet, etwas Kastenförmiges und völlig Schwarzes, das auf sie zu fiel wie ein Jojo an einer Schnur. Es wurde langsamer, ging ein, zwei Meter unter ihnen hindurch und begann wieder zu steigen. Die Oberseite war nicht schwarz, sondern ein unregelmäßiges Muster dunkler Grautöne. »Gut, haltet das Bild an. Das sollte Ihnen einen guten Eindruck vermitteln. Eine flache Bauweise, wahrscheinlich kreiselstabilisiert. Die vielflächige Hülle dient zur Tarnung vor Radar. Abgesehen von der unmöglichen Umlaufbahn ist das Ding ein typischer getarnter Satellit aus der technischen Frühzeit…« Der Satellit glitt wieder aufwärts, diesmal aber Greifhaken entgegen. »Das ist die Stelle, wo wir ihn an Bord des Bootes genommen — und eine glaubhafte Explosion zurückgelassen haben.«

»Gute fliegerische Leistung, Mann.« Dies von Pham Trinli, der zugab, jemand sei fast so gut wie er selbst.

»Ha. Es war sogar härter, als es aussieht. Ich musste meine Blitzköpfe während des ganzen Rendezvous am Rande einer irreparablen Panik betreiben. Es waren einfach zu viele Unstimmigkeiten in der Dynamik.«

Silipan fiel ihm munter ins Wort: »Das wird sich ändern. Wir programmieren alle Piloten für Cavorit-Manöver um.«

Jau schaltete das Bild ab und schaute Silipan finster an. »Ihr versaut’s, und wir haben keine Piloten mehr.«

Gonle ertrug kein irrelevantes Geplapper mehr. »Der Satellit. Ihr habt ihn hier? Wie haben die Spinnen das gemacht?«

Sie bemerkte, dass Nau sie angrinste. »Ich denke, Fräulein Fong hat die unmittelbar anstehende Frage festgestellt. Erinnern Sie sich an jene Geschichten über Schwerkraft-Anomalien in der Hochebene? Kurzum, diese Geschichten waren wahr. Das Militär der Sinnesgleichen hat eine Art… nennen wir es Antigravitation, entdeckt. Anscheinend verfolgen sie das jetzt seit zehn Jahren. Uns ist es nie aufgefallen, weil es dem Geheimdienst des Einklangs entgangen ist und unsere Durchdringung bei den Sinnesgleichen immer hinterherhinkte. Dieser kleine Satellit hatte eine Masse von acht Tonnen, doch ungefähr zwei Tonnen davon waren ›Cavorit‹-Verkleidungen. Die Sinnesgleichen Spinnen verwenden diese bemerkenswerte Substanz einfach, um die Nutzlast ihrer Raketen zu erhöhen. Ich habe eine kleine Vorführung für Sie…«

Er sprach in die Luft. »Kaminfeuer löschen, Ventilation abschalten.« Er machte eine Pause, und das Zimmer wurde stiller. Drüben an der Wand schloss Qiwi ein großes Fenster, durch das ein Geschmack von Feuchtigkeit vom See hereingezogen war. Die falsche Sonne des Parks stach zwischen Wolkenlücken hindurch, und Lichtbänder glitzerten auf dem Wasser. Gonle fragte sich flüchtig, ob Naus Blitzköpfe so gut waren, dass sie seine Welt auf solche Augenblicke abstimmen konnten. Wahrscheinlich.

Der Hülsenmeister nahm eine kleine Schachtel aus dem Hemd. Er öffnete sie und hielt etwas in der Hand, das in der sinkenden Sonne glitzerte. Es war ein kleines Quadrat, eine Kachel. Es gab helle Flecken, die billiger Muskovit hätten sein können, außer dass die Farben in einem koordinierten Irisieren wechselten. »Das ist eine von den Verkleidungskacheln des Satelliten. Es gab auch eine Schicht von energieschwachen LEDs, aber die haben wir abgelöst. Was übrig blieb, sind chemisch gesehen in Epoxyd gebundene Diamantfragmente. Passen Sie auf.« Er setzte das Quadrat auf den Tisch und beleuchtete es mit einer Taschenlampe. Sie alle schauten hin… Und nach einer Weile schwebte das kleine irisierende Quadrat empor. Zuerst sah die Bewegung wie etwas aus, das unter der Mikroschwerkraft ganz gewöhnlich war, ein loser leichter Gegenstand, der von einer Luftströmung getragen wurde. Doch die Luft im Zimmer war unbewegt. Und während die Sekunden verstrichen, bewegte sich die Kachel schneller, taumelte, fiel… geradewegs nach oben. Sie traf mit einem hörbaren Klicken gegen die Decke — und blieb dort.

Etliche Sekunden lang sagte niemand ein Wort.

»Meine Damen und Herren, wir sind in der Hoffnung zum Ein-Aus-Stern gekommen, einen Schatz zu finden. Bisher haben wir etwas neue Astrophysik gelernt, einen etwas besseren Staustrahlantrieb entwickelt. Die Biologie der Spinnenwelt ist ein weiterer Schatz, ebenso ausreichend, um unser Kommen zu finanzieren. Aber ursprünglich hatten wir mehr erwartet. Wir hatten erwartet, die Hinterlassenschaften einer Rasse mit interstellarer Raumfahrt zu finden — und nach vierzig Jahren sieht es so aus, als wäre uns das gelungen. Auf spektakuläre Weise.«

Vielleicht war es ganz gut, dass Nau das nicht als allgemeine Versammlung angesetzt hatte. Auf einmal redeten alle gleichzeitig. Gott allein wusste, wie es drüben bei Benny aussehen mochte. Ezr Vinh schaffte es endlich, mit einer Frage durchzudringen: »Glauben Sie, dass die Spinnen dieses Zeug hergestellt haben?«

Nau schüttelte den Kopf. »Nein. Die Sinnesgleichen hatten Tausende von Tonnen Erz abzubauen, um solche Magie zu bekommen.«

Trinli sagte: »Wir wissen seit Jahren, dass sich die Spinnen hier entwickelt haben, dass sie nie eine höhere Technik hatten.«

»Durchaus. Und ihre eigenen Archäologen haben keine Sachbeweise für Besuche aus dem All. Aber dieser… dieses Zeug ist ein Artefakt, auch wenn nur wir es als das erkennen können. Annes Automatik hat bisher mehrere Tage darauf verwendet. Es ist eine koordinierte Datenverarbeitungs-Matrix.«

»Ich denke, Sie sagten, es sei aus einheimischen Erzen gewonnen worden.«

»Ja. Das macht die Schlussfolgerung nur noch phantastischer. Vierzig Jahre lang dachten wir, die Ablagerungen von Diamantenstaub auf der Arachna seien entweder aus dem Weltraum eingefallen oder biologische Skelette. Jetzt sieht es so aus, als seien es fossile Datenverarbeitungsgeräte. Und zumindest einige von ihnen nehmen ihre Arbeit wieder auf, wenn man sie nahe zueinander bringt. Wie Orter, aber viel, viel kleiner und mit einem speziellen Zweck…, die physikalischen Gesetze mit Methoden zu manipulieren, zu deren Verständnis wir nicht einmal einen Ansatz haben.«

Trinli sah aus, als habe ihn jemand ins Gesicht geschlagen, als wären Jahrzehnte vom Bombast aus ihm herausgeprügelt worden. Er sagte leise: »Nanotechnik. Der Traum.«

»Was? Ja, der Gescheiterte Traum. Bisher.« Der Hülsenmeister schaute zu der Kachel hoch, die an der Decke lag. Er lächelte. »Wer immer hier zu Besuch gewesen ist, es liegt Millionen oder gar Milliarden Jahre zurück. Ich glaube nicht, dass wir Lagerzelte oder Müllhaufen finden werden… aber die Anzeichen ihrer Technik sind überall.«

Vinh: »Wir haben nach Sternenreisenden Ausschau gehalten, aber wir waren zu klein und haben nur ihre Füße gesehen.« Er riss seinen Blick von der Decke. »Vielleicht sind sogar die hier…« Er deutete auf das Fenster, und Gonle begriff, dass er von den großen Diamanten bei L1 sprach. »Vielleicht sind sogar die hier Artefakte.«

Brughel beugte sich in seinem Sessel vor. »Unsinn. Es sind einfach Diamantfelsen.« Doch in dem aggressiven Blick, den er ringsum warf, war eine Spur Unsicherheit.

Nau zögerte einen Moment, kicherte dann leicht und hieß sie mit einer Handbewegung schweigen. »Wir klingen allmählich alle wie eine Phantasievorstellung aus dem Zeitalter der Morgenröte. Die bloßen Tatsachen sind außergewöhnlich, schon ohne dass man abergläubischen Hokuspokus hinzufügt. Bei dem, was wir bereits haben, ist diese Expedition vielleicht die wichtigste in der menschlichen Geschichte.«

Und auch die einträglichste. Gonle rutschte in ihrem Sessel zurück und versuchte alles aufzulisten, was sie mit dem glitzernden Material anfangen könnten, das an der Decke lag. Wie verkauft man so etwas am besten? Wie viele Jahrhunderte eines Monopols könnte man da herauspressen?

Doch der Hülsenmeister hatte sich wieder praktischeren Fragen zugewandt. »Das also ist die phantastische Neuigkeit. Auf lange Sicht übertrifft das unsere kühnsten Träume. Auf kurze Sicht — nun ja, da bringt es unseren Zeitplan ganz schön durcheinander. Qiwi?«

»Ja. Wie Sie alle wissen, sind die Spinnen noch etwa fünf Jahre von einem ausgereiften planetaren Datennetz entfernt, von etwas, mit dessen Hilfe wir verlässlich agieren können.«

Von etwas hinreichend weit Entwickeltem, dass wir es benutzen können. Bis heute war das der größte Schatz gewesen, mit dem Gonle Fong als Ergebnis dieser Jahre des Exils gerechnet hatte. Geringfügige Verbesserungen beim Staustrahlantrieb oder sogar die biologischen Funde — geschenkt. Da unten lag eine ganze industrielle Welt, mit Kultur, die anderen Märkten garantiert fremd war. Wenn sie das unter Kontrolle hatten oder sich auch nur eine dominante Marktposition schufen, würden sie den Legenden der Dschöng-Ho-Vermarktung gleichkommen. Gonle verstand das. Nau sicherlich auch. Qiwi ebenfalls, obwohl sie jetzt eben blanken Idealismus redete:

»Bisher dachten wir, sie wären auch ungefähr fünf Jahre davon entfernt, dass sie wirklich unsere Hilfe brauchten. Wir dachten, es würde bis dahin kein Krieg zwischen Sinnesgleichen und Einklang stattfinden. Nun ja… wir haben uns geirrt. Die Sinnesgleichen haben kein nennenswertes Computernetz — aber sie haben die Cavorit-Bergwerke. Ihre Cavorit-Satelliten sind bisher getarnt, doch das ist nur ein vorübergehender Vorteil. Sehr bald wird ihr Raketenarsenal verbessert werden. Politisch sehen wir sie im Begriff, kleinere Länder zu unterwandern, sie in eine Konfrontation mit dem Einklang zu drängen. Wir können einfach nicht noch fünf Jahre warten, um einzugreifen.«

Jau sagte: »Es gibt noch andere Gründe, die Termine vorzuziehen. Bei diesem Cavorit wird es so gut wie unmöglich sein, unsere Aktionen noch lange geheimzuhalten. Die Spinnen werden sehr bald im örtlichen Raum sein. Je nachdem, wie viel von dem« — er stieß den Daumen in Richtung der glitzernden Kachel an der Decke — »sie haben, können sie sogar manövrierfähiger als wir sein.«

Rita neben ihm sah immer verärgerter aus. »Du meinst, es besteht die Möglichkeit, dass der Haufen von Pedure gewinnt! Wenn wir die Termine vorziehen müssen, dann wird es Zeit, dass wir mit der Leisetreterei aufhören. Wir müssen mit militärischer Macht eingreifen, auf Seiten des Einklangs.«

Der Hülsenmeister nickte ernst zu Liao hin. »Ich höre Sie, Rita. Es gibt da unten Leute, die wir alle zu respektieren gelernt haben, sogar…« Er machte eine Handbewegung, als wische er tiefe Empfindungen weg, um sich auf die harte Wirklichkeit zu konzentrieren. »Aber als Ihr Hülsenmeister muss ich die Prioritäten beachten: Meine höchste Priorität ist das Überleben von Ihnen und allen Menschen in unserer kleinen Hülse. Lassen Sie sich von der Schönheit, die Sie alle hier geschaffen haben, nicht täuschen. Die Wahrheit ist, wir haben verdammt wenig echte militärische Macht.« Die untergehende Sonne hatte den See in Gold verwandelt, und jetzt trafen die flach einfallenden Strahlen das Versammlungszimmer mit sanfter, gleichmäßiger Wärme. »Eigentlich sind wir beinahe Schiffbrüchige und ziemlich so weit von der Menschheit entfernt, wie nur je Menschen gewesen sind. Unsere zweithöchste Priorität — und sie ist unauflöslich an die erste geknüpft — ist das Überleben der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation der Spinnen und daher ihrer Leute und ihrer Kultur. Wir müssen sehr vorsichtig handeln. Wir können uns nicht von einfacher Zuneigung leiten lassen… Und wissen Sie, ich höre mir die Übersetzungen auch an. Ich denke, dass Leute wie Viktoria Schmid und Scherkaner Unterberg es verstehen würden.«

»Aber sie könnten uns helfen!«

»Vielleicht. Ich würde sie augenblicks rufen, wenn wir bessere Informationen und eine bessere Durchdringung der Datennetze hätten. Doch wenn wir uns ohne Not offenbaren, könnten wir sie dazu bringen, dass sie sich alle gegen uns verbünden — oder aber Pedure provozieren, dass sie sie unverzüglich angreift. Wir müssen sie retten und dürfen uns selbst nicht opfern.«

Rita schwankte. Zur Rechten Naus, aber schon im Schatten, starrte Ritser Brughel sie an. Der jüngere Hülsenmeister hatte die Tatsache, dass sich die alten Aufsteigerregeln ändern mussten, nie wirklich erfasst. Der Gedanke, dass jemand widersprach, brachte ihn immer noch in Wut. Gott sei Dank, dass nicht er das Sagen hat. Nau war ein zäher Brocken, bei all den netten Wörtern glatt und skrupellos — aber man konnte mit ihm ins Geschäft kommen.

Niemand sonst sprach sich für Ritas Standpunkt aus, doch sie unternahm noch einen Versuch. »Wir wissen, dass Scherkaner Unterberg ein Genie ist. Er würde es verstehen. Er könnte helfen.«

Tomas Nau seufzte. »Ja. Unterberg. Wir verdanken ihm eine Menge. Ohne ihn hätten wir vielleicht noch zwanzig Jahre bis zum Erfolg, nicht nur fünf. Aber ich fürchte…« Er blickte den Tisch entlang zu Ezr Vinh hin. »Sie wissen mehr über Unterberg und die Technik im Zeitalter der Morgenröte als sonst jemand, Ezr. Was meinen Sie?«

Fast hätte Gonle gelacht. Vinh hatte das Gespräch wie ein Zuschauer bei einem Raquettspiel verfolgt; jetzt hatte ihn der Ball glatt zwischen die Augen getroffen. »Ähm… Ja. Unterberg ist bemerkenswert. Er gleicht von Neumann, Einstein, Minsky, Zhang — einem Dutzend Morgenröte-Genies in ein und demselben Körper. Entweder das, oder der Bursche ist einfach ein Genie bei der Auswahl von Jungakademikern.« Vinh lächelte betrübt. »Tut mir Leid, Rita. Für dich und mich dauert das Exil erst zehn oder fünfzehn Jahre. Unterberg hat die ganze Zeit durchlebt, Sekunde für Sekunde. Nach den Maßstäben der Spinnen — und der Menschen in vorindustrieller Zeit — ist er ein alter Mann. Ich fürchte, er befindet sich am Rande der Senilität. Er hat alle leichten Erfolge erlebt, und jetzt ist er in die Sackgasse geraten… Was einmal Flexibilität war, ist zu abergläubischem Brei geworden. Wenn wir den Vorteil, den das Lauern bietet, aufgeben müssen, würde ich vorschlagen, wir nehmen einfach Kontakt zur Regierung vom Einklang auf und behandeln die Sache als glatte geschäftliche Vereinbarung.«

Vinh wollte fortfahren, doch der Hülsenmeister sagte: »Rita, wir versuchen die sicherste Lösung für alle zu finden. Ich verspreche, wenn es darauf hinausläuft, uns der Gnade der Spinnen auszuliefern — gut, dann soll es so sein.« Sein Blick huschte nach rechts, und Gonle begriff, dass die Botschaft ebenso an Brughel wie an die anderen adressiert war. Nau machte eine Pause, doch niemand hatte noch etwas zu sagen. Seine Stimme wurde geschäftsmäßiger.

»Also ist der Zeitplan plötzlich erheblich vorgezogen. Uns bleibt nichts anderes übrig, aber ich bin froh über die Herausforderung.« Sein Lächeln blitzte im falschen Sonnenuntergang auf. »So oder so wird unser Exil in einem Jahr vorüber sein. Wir können es uns leisten — wir sind gezwungen —, Ressourcen zu verbrauchen. Von jetzt an wird, bis wir die Spinnenwelt gerettet haben, fast jeder auf Wache sein.«

Oho.

»Wir werden die Fabrik für flüchtige Stoffe bis an die Grenze der Belastbarkeit hochfahren.« Ringsum am Tisch gingen die Köpfe hoch. »Wohlgemerkt, wenn wir sie in einem Jahr noch brauchen, dann haben wir verloren. Wir haben eine schreckliche Menge Planungsarbeit vor uns, Leute — wir müssen jedes Bisschen von unserem Potenzial freisetzen. Von jetzt an hebe ich die letzten Nutzungsbeschränkungen auf. Die ›Untergrund‹-Wirtschaft wird Zugang zu allem außer der kritischsten Sicherheitsautomatik haben.«

Ja! Gonle grinste über den Tisch hinweg Qiwi Lisolet an, sah sie direkt zurückgrinsen. Das also hatte Qiwi mit ›bald‹ gemeint! Nau redete noch ein paar Sekunden weiter, machte weniger konkrete Pläne, sondern hob diese und jene dumme Regel auf, die die Unternehmungen jahrelang behindert hatten. Sie fühlte, wie mit jedem Satz die Begeisterung zunahm. Vielleicht kann ich einen Futures-Markt für den Handel mit dem Planeten aufmachen.

Das Treffen endete mit unglaublicher Hochstimmung. Auf dem Weg nach draußen umarmte Gonle Qiwi kurz. »Kind, du hast’s geschafft!«

Qiwi grinste einfach zurück, doch es war ein breiteres Lächeln, als Gonle lange Zeit bei ihr gesehen hatte.

Danach gingen die vier Besucher aus dem Fußvolk wieder den Hang hinauf, und die letzten Sonnenstrahlen warfen vor ihnen lange Schatten. Sie blickte ein letztes Mal zurück, ehe sie den Wald betraten. Anmaßend, dieser Park. Und doch war er schön, und ich hatte damit zu tun. Das letzte Sonnenlicht schien unter fernen Wolken hervor. Vielleicht drehte Nau daran, oder die Automatik des Parks bewirkte es zufällig. So oder so wirkte es wie ein Vorzeichen. Der alte Nau glaubte, er manipuliere alles. Gonle wusste, dass der Hülsenmeister diese plötzliche endgültige Liberalisierung später vielleicht wieder zurückzunehmen versuchen würde, wenn Phantasie und knallhartes Handeln für ihn riskanter wären als die anderen Möglichkeiten. Doch Gonle gehörte zur Dschöng Ho. Im Laufe der Jahre hatten sie und Qiwi und Benny und Dutzende von anderen an der engen kleinen Tyrannei der Aufsteiger gekratzt, bis fast jeder Aufsteiger vom Untergrund-Handel ›korrumpiert‹ war. Nau hatte gelernt, dass man aus Geschäften Nutzen zog. Wenn erst einmal die Märkte der Spinnen geöffnet wären, würde er sehen, dass es keinen Vorteil brachte, die Freiheit wieder unter Verschluss zu nehmen.


Tomas Naus zweite Besprechung fand später am Tag an Bord der Unsichtbare Hand statt. Hier konnte er reden, ohne dass unschuldige Ohren zuhörten. »Ich habe Kal Omos Bericht erhalten, Hülsenmeister. Von den Schnüfflern. Sie haben fast alle getäuscht.«

»Fast?«

»Nun ja, Sie kennen Vinh — aber er hat nicht alles durchschaut, was Sie gesagt haben. Und Jau Xin scheint… Zweifel zu haben.«

Nau schaute Anne Reynolt fragend an.

Reynolts Antwort kam rasch. »Xin ist jemand, den wir wirklich brauchen, Hülsenmeister. Er ist unser einziger verbliebener Piloten-Verwalter. Wir hätten dieses Landeboot eingebüßt, wenn er nicht gewesen wäre. Die Blitzkopf-Piloten sind ausgeschert, als sie die Cavorit-Umlaufbahn gesehen haben. Plötzlich hatten sich alle Regeln geändert und sie kamen einfach nicht mit der Situation zurecht.«

»Schön, er zweifelt also insgeheim.« Dagegen war wirklich nichts zu machen. Xin war zu nahe am Mittelpunkt von zu vielen Operationen gewesen. Wahrscheinlich ahnte er die Wahrheit über das Diem-Massaker. »Wir können ihn also nicht auf Eis legen und nicht täuschen, und wir werden ihm im härtesten Stadium der Sache brauchen. Trotzdem… Ich glaube, Rita Liao ist ein hinreichender Hebel. Ritser. Sorgen Sie dafür, dass Jau weiß, dass ihr Wohlergehen von der Qualität seines Dienstes abhängt.«

Ritser lächelte kurz und machte sich eine Notiz.

Nau überflog selbst Omos Bericht. »Ja, wir haben es ganz gut gemacht. Aber es ist ja auch einfach, den Leuten zu sagen, was sie gern glauben möchten. Niemand scheint alle Konsequenzen erfasst zu haben, wenn wir den Zeitplan um fünf Jahre vorverlegen. Wir können jetzt unmöglich das Netz glatt übernehmen, und wir benötigen eine intakte industrielle Ökologie auf dem Planeten — aber es braucht nicht der ganze Planet zu sein. Momentan« — er warf einen Blick auf die letzten Berichte von Reynolts Blitzköpfen — »besitzen sieben Spinnenstaaten Kernwaffen. Vier haben Arsenale von Bedeutung, und drei haben Trägersysteme.«

Reynolt zuckte die Achseln. »Also inszenieren wir einen Krieg.«

»Einen präzise begrenzten, der das Weltfinanzsystem intakt lässt und unter unsere Kontrolle bringt.« Eine Übung in Katastrophenverwaltung.

»Und die Sinnesgleichen?«

»Wir wollen natürlich, dass sie überleben — aber schwach genug, dass wir die volle Kontrolle erschwindeln können. Wir werden ihnen noch ein bisschen ›Glück‹ zuspielen.«

Reynolt nickte. »Ja. Wir können das maßschneidern. Südland hat Langstrecken-Raketen, ist aber ansonsten rückständig; der größte Teil seiner Bevölkerung wird das Dunkel hindurch in Tiefen überwintern. Die Leute haben Angst, was die fortgeschrittenen Mächte ihnen antun werden. Die Geehrte Pedure hat Pläne, das auszunutzen. Wir können dafür sorgen, dass sie Erfolg hat…« Anne fuhr fort, legte im Einzelnen dar, welche Täuschungen und falschen Hinweise verwendet werden, welche Städte vernichtet werden konnten, wie man die Orte im Einklang retten würde, die Ressourcen besaßen, über die die Sinnesgleichen noch nicht verfügten. Für die meisten Toten würden ihre Strohmänner sorgen, was nur gut war, wenn man den betrüblichen Zustand ihrer eigenen Waffensysteme bedachte… Brughel beobachtete sie mit einer gewissen geistesabwesenden Ehrfurcht — wie immer, wenn Anne so redete. Leidenschaftslos und ruhig wie immer, konnte sie doch so blutrünstig wie Brughel selbst sein.

Anne Reynolt war eine junge Frau gewesen, als die Aufsteiger auf den Frenk kamen. Wenn die Verlierer Geschichte schreiben würden, wäre ihr Name eine Legende gewesen. Nachdem sich das frenkische Militär ergeben hatte, hatten Anne Reynolts zusammengewürfelte Partisanen jahrelang weitergekämpft — und nicht als beiläufige Belästigung. Nau hatte die Schätzungen des Geheimdienstes gesehen: Reynolt hatte die Kosten der Invasion verdreifacht. Sie hatte eine im Entstehen begriffene Volksopposition übernommen und war dem Sieg über die Expeditionsstreitmacht der Aufsteiger um Haaresbreite nahegekommen. Und als ihre Sache schließlich gescheitert war — nun ja, derlei Feinde beseitigte man am besten rasch. Doch Alan Nau hatte bemerkt, dass dieser Feind etwas Besonderes war, ja etwas Einmaliges. Die höheren, auf Menschen bezogenen Fähigkeiten zu fokussieren, war normalerweise aussichtslos. Die Natur des Fokus an sich brachte die Tendenz mit sich, das breite Spektrum von Empfänglichkeit auszublenden, das man braucht, um Menschen zu führen. Dennoch… Reynolt war jung, brillant, absolut einem Prinzip hingegeben. Ihr fanatischer Widerstand hatte am ehesten der Treue eines Blitzkopfes zu seinem Arbeitsgegenstand geglichen. Was, wenn sie doch mit Gewinn fokussiert werden konnte?

Onkel Alans weit zielender Versuch hatte sich gelohnt. Reynolts einziges wissenschaftliches Fachgebiet war alte Literatur gewesen, doch der Fokus hatte irgendwie die feineren Fertigkeiten ihrer eher zufälligen Laufbahn erfasst: Kriegführung, Subversion, Führerschaft. Alan hatte seine Entdeckung sorgfältig geheimgehalten, diesen ganz besonderen Blitzkopf aber im Laufe der nächsten Jahrzehnte benutzt. Ihre Fähigkeiten hatten dazu beigetragen, Onkel Alan zum vorherrschenden Hülsenmeister des Heimatregimes zu machen. Sie war ein sehr besonderes Geschenk an einen sehr bevorzugten Neffen gewesen…

Und obwohl er es Ritser Brughel gegenüber niemals eingestehen würde, manchmal empfand Tomas, wenn er Reynolt in die blassblauen Augen schaute… einen abergläubischen Schauder. Hundert Jahre ihres Lebens hindurch hatte Anne Reynolt daran gearbeitet, alles zunichte zu machen und zu unterdrücken, was ihrem unfokussierten Ich wichtig gewesen war. Wenn sie ihm schaden wollte, konnte sie so viel tun. Doch das war das Schöne am Fokus, das war der Grund, warum der Aufstieg die Oberhand behalten würde. Mit Fokus bekam man alle Fähigkeiten des Betreffenden ohne sein Menschsein. Und wenn er sorgfältig gewartet wurde, gehörten das ganze Interesse und die ganze Loyalität des Blitzkopfes auf Dauer seinem Arbeitsthema und seinem Besitzer.

»Gut, setzen Sie Ihre Leute dran, Anne. Sie haben ein Jahr Zeit. In den letzten Kilosekunden werden wir wahrscheinlich ein großes Schiff in niedriger Umlaufbahn brauchen.«

»Wissen Sie«, sagte Ritser, »ich denke, auf Seiten des Planeten entwickelt sich alles bestens. Bei den Sinnesgleichen haben ein, zwei Leute das Sagen. Wir werden wissen, wen wir verantwortlich machen können, wenn wir Befehle geben. Bei diesem eiterverdammten Einklang…«

»Stimmt. Im Einklang gibt es zu viele autonome Machtzentren; ihr nicht-souveränes Königtum, das sogar noch verrückter als Demokratie ist.« Nau zuckte die Achseln. »Es ist einfach Glückssache. Wir müssen nehmen, was wir zu lenken vermögen. Ohne das Cavorit hätten wir noch fünf Jahre Frist. Bis dahin hätte der Einklang ein ausgereiftes Datennetz, und wir könnten alles übernehmen, ohne dass jemand einen Schuss abgibt — mehr oder weniger das Ziel, auf dass ich in der Öffentlichkeit noch hoffe.«

Ritser beugte sich vor. »Und das wird unser größtes Problem sein. Wenn unsere Leute erst einmal merken, dass da in großem Stil Spinnen platt gemacht werden und ihre speziellen Freunde das Hauptziel sind…«

»Natürlich. Aber wenn man es richtig anpackt, müsste das Endergebnis als unvermeidliche Tragödie erscheinen, die ohne unsere Anstrengungen noch viel schrecklicher gewesen wäre.«

»Das wird noch heikler als die Sache mit Diem. Ich wünschte, Sie hätten den Krämern keinen größeren Zugang zu Ressourcen gegeben.«

»Es ist unvermeidlich, Ritser. Wir brauchen ihr logistisches Genie. Aber ich werde ihnen die komplette Rechenleistung des Netzes vorenthalten. Wir werden alle unsere Sicherheits-Blitzköpfe auf Wache holen, richtig intensiv überwachen. Wenn nötig, kann es ein paar tödliche Unglücksfälle geben.«

Er warf einen Blick auf Anne. »Apropos Unglücksfälle… sind Sie mit Ihrer Sabotage-Theorie weitergekommen?« Annes Unfall in der MRT-Klinik, der vielleicht keiner war, lag fast ein Jahr zurück. Ein Jahr, und keine Anzeichen für feindliche Aktivitäten. Natürlich hatte es auch vor dem Ereignis herzlich wenig Indizien gegeben.

Doch Anne Reynolt war unbeirrbar. »Jemand manipuliert unsere Systeme, Hülsenmeister, sowohl die Orter als auch die Blitzköpfe. Die Indizien sind über große Muster hinweg verstreut; es ist nichts, was ich in Worte fassen könnte. Aber er wird aggressiver… und bin sehr nahe dran, ihn festzunageln, vielleicht so nahe, wie ich es war, als er mich erwischte.«

Anne hatte die Erklärung, ein dummer Fehler habe ihr das Gedächtnis gelöscht, nie akzeptiert. Doch ihr Fokus war tatsächlich falsch abgestimmt gewesen, und sei es so geringfügig, dass es ihren eigenen Überprüfungen entgangen war. Wie paranoid sollte ich denn nun sein? Anne hatte Ritser vom Verdacht in dieser Affäre befreit. »Er? Ihn?«

»Sie kennen die Liste der Verdächtigen. Pham Trinli steht immer noch obenan. Im Laufe der Jahre hat er meine Techniker ausgequetscht. Und er war es, der uns das Geheimnis der Dschöng-Ho-Orter gegeben hat.«

»Aber Sie hatten zwanzig Jahre Zeit, sie zu untersuchen.«

Anne runzelte die Stirn. »Das Ensembleverhalten ist extrem komplex, und es gibt Fragen, die die physikalische Ebene betreffen. Geben Sie mir noch drei oder vier Jahre.«

Er warf Ritser einen Blick zu. »Meinung?«

Der Zweite Hülsenmeister grinste. »Das haben wir alles schon durch, Hülsenmeister. Trinli ist nützlich, und wir haben ihn in der Hand. Er ist ein heimtückischer Fuchs, aber er ist unser Fuchs.«

Richtig. Trinli hatte bei den Aufsteigern viel zu gewinnen und noch mehr zu verlieren, wenn die Dschöng Ho jemals von seiner Verräterrolle in der Vergangenheit erfuhr. Wache für Wache hatte der alte Mann jede Probe Naus bestanden und war dabei immer nützlicher geworden. Im Rückblick war der Busche immer genau so schlau gewesen, wie er sein musste. Das war natürlich das stärkste Indiz gegen ihn. Eiter und Pest. »In Ordnung, Ritser, ich möchte, dass Sie und Anne die Vorbereitungen treffen, damit wir bei Trinli und Vinh im Handumdrehen die Stecker ziehen können. Jau Xin werden wir auf alle Fälle am Leben erhalten müssen — aber wir haben Rita, um ihn bei der Stange zu halten.«

»Was ist mit Qiwi Lisolet, Hülsenmeister?« Ritsers Gesicht war ausdruckslos, doch der Hülsenmeister wusste, dass direkt unter der Oberfläche ein kleines Grinsen lauerte.

»Ah… ich bin sicher, dass Qiwi es herausfinden wird; vielleicht müssen wir sie bis zum kritischen Punkt ein paarmal blank schrubben.« Aber mit etwas Glück könnte sie sich ganz am Schluss als nützlich erweisen. »Gut. Das sind unsere speziellen Problemfälle, aber wenn wir Pech haben, könnte fast jeder auf die Wahrheit stoßen. Überwachung und Eingreifbereitschaft müssen auf höchstem Niveau sein.« Er nickte seinem Vize-Hülsenmeister zu. »Das wird harte Arbeit, das nächste Jahr. Die Krämer sind fähige, engagierte Leute. Wir werden sie im Dienst brauchen, bis die Aktion beginnt — und viele von ihnen danach. Die einzige Pause kann während der Machtübernahme selbst eintreten. Es ist plausibel, dass wir sie dann einfach nur zuschauen lassen.«

»Und ihnen bei der Gelegenheit die Geschichte von unseren edlen Bemühungen auftischen, den Völkermord zu begrenzen.« Ritser lächelte, von der Herausforderung angetan. »Das gefällt mir.«

Sie verfassten den allgemeinen Plan. Anne und ihre Blitzköpfe würden die Einzelheiten ausarbeiten. Ritser hatte Recht: Das würde heikler werden als die Sache mit Diem. Andererseits, wenn sie den Schwindel auch nur bis zur Machtübernahme aufrechterhalten konnten…, würde es vielleicht genügen. Wenn er erst einmal die Arachna unter Kontrolle hatte, konnte er unter Spinnen und Dschöng Ho auswählen, die Besten von beiden Welten. Und den Rest abschreiben. Die Aussicht war eine kühle Oase am Ende seiner langen, langen Reise.

Fünfundvierzig

Wieder war das Dunkel über sie gekommen. Fast spürte Hrunkner das Gewicht traditioneller Werte auf seinen Schultern. Für die Trads — und im tiefsten Inneren würde er immer einer sein — gab es eine Zeit, um geboren zu werden, und eine Zeit zu sterben; die Wirklichkeit lief in Zyklen ab. Und der größte Zyklus war der Sonnenzyklus.

Hrunkner hatte nun zwei Sonnen erlebt. Er war ein alter Kupp. Als das Dunkel voriges Mal gekommen war, war er jung gewesen. Es war ein Weltkrieg im Gange gewesen, und ernster Zweifel hatte bestanden, ob sein Land überleben würde. Und diesmal? Es gab kleinere Kriege überall auf dem Globus. Doch der große hatte sich nicht ereignet. Wenn er kam, wäre Hrunkner zum Teil verantwortlich. Und wenn nicht — nun ja, er dachte gern, dass er auch dafür zum Teil verantwortlich wäre.

So oder so, die Zyklen waren für immer zerbrochen. Hrunkner nickte dem Korporal zu, der ihm die Tür offenhielt. Er trat auf reifbedeckte Steinplatten hinaus. Er trug dicke Stiefel, Überhänge und Ärmel. Die Kälte nagte an seinen Handspitzen, verbrannte seine Atemwege sogar noch hinter dem Atemwärmer. Die Reihe der Hügel von Weißenberg hielt den schlimmsten Schnee fern; das und die tiefe Anlegestelle am Fluss waren die Gründe, warum die Stadt Zyklus um Zyklus immer wieder neu erstanden war. Doch es war ein später Nachmittag im Sommer — und man musste suchen, um die trübe Scheibe zu finden, die die Sonne war. Die Welt war über die sanfte Freundlichkeit der Jahre des Schwindens hinaus, sogar über das Frühdunkel. Sie stand am Rande des thermischen Zusammenbruchs, da abklingende Stürme immer um und um wehen würden, das letzte Wasser aus der Luft pressen und Zeiten den Weg bahnen, die viel kälter sein würden, bis hin zur endgültigen Ruhe.

In früheren Generationen wären alle außer Soldaten mittlerweile in ihren Tiefen. Selbst in seiner Generation, im Großen Krieg, kämpften nur die zähesten Tunnelkrieger so weit im Dunkel. Diesmal — nun ja, es gab eine Menge Soldaten. Hrunkner hatte seine eigene militärische Eskorte. Und sogar die Sicherheitskupps beim Haus Unterbergs trugen heutzutage Uniform. Doch das waren keine Beschützer, die gegen Raubtiere des Zyklusendes auf Wacht standen. Weißenberg floss über vor Leuten. Die neuen Dunkelzeithäuser waren überfüllt. Die Stadt war geschäftiger, als Unnerbei sie jemals gesehen hatte.

Und die Stimmung? Furcht am Rande der Panik, sprühende Begeisterung, oft bei denselben Leuten. Die Geschäfte florierten. Erst vor zwei Tagen hatte Wohlstand Software eine Kontrollmehrheit an der Bank von Weißenberg erworben. Zweifellos hatte dieser Coup die finanziellen Reserven von Wohlstand erschöpft und sie in ein Geschäft gebracht, in dem sich die Software-Leute nicht auskannten. Es war irrwitzig — und sehr im Geist der Zeit.

Hrunkners Wachen mussten sich am Eingang zum Berghaus den Weg durch die Menge bahnen. Selbst jenseits der Grenzen des Anwesens gab es Reporter, deren kleine Vierfarben-Kameras an Heliumballons hingen. Sie konnten nicht wissen, wer Hrunkner war, aber sie sahen die Wachen und die Richtung, in die er ging.

»Bitte, können Sie uns sagen…«

»Hat Südland mit einem Präventivschlag gedroht?« Dieser zog an seiner Ballonschnur die Kamera herab, bis sie direkt über Hrunkners Augen hing.

Unnerbei hob die Vorderarme zu einem kunstvollen Zucken. »Woher soll ich das wissen? Ich bin bloß ein lumpiger Feldwebel.« Er war tatsächlich immer noch Feldwebel, doch der Dienstgrad spielte keine Rolle. Unnerbei war einer von jenen Kupps ohne besonderen Rang, die ganze Militärbürokratien nach ihrer Pfeife tanzen ließen. Als junger Bursche hatte er sich vor solchen in Acht genommen. Sie waren ihm so fern wie der König selber vorgekommen. Jetzt… jetzt hatte er so viel zu tun, dass sogar ein Besuch bei einem Freund nach Minuten kalkuliert werden musste, abgewogen gegen die Zeitpläne auf Leben und Tod, die er einhalten musste.

Seine Behauptung hielt die Reporter gerade lange genug zurück, dass seine Gruppe vorbei kam und die Stufen hinaufeilen konnte. Dennoch war es vielleicht falsch gewesen, das zu sagen. Hinter sich sah Unnerbei, wie sich die Reporter zusammenballten. Morgen würde sein Name auf ihrer Liste stehen. Ach, die Zeiten, als alle Welt glaubte, das Berghaus sein nur ein nobler Anhang der Universität. Im Laufe der Jahre war diese Tarnung fadenscheinig geworden. Die Presse glaubte, sie wisse jetzt alles über Scherkaner.

Jenseits der Panzerglastür gab es keine Eindringlinge mehr. Auf einmal war es still und viel zu warm für Jacken und Beinkleider. Als er die Isolation ablegte, sah er Unterberg und seinen Geleitkäfer gleich hinter der Ecke stehen, außer Sicht der Reporter. In den alten Tagen wäre Scherk nach draußen gekommen, um ihn zu begrüßen. Selbst auf der Höhe seines Rundfunkruhms hatte es ihm nichts ausgemacht, nach draußen zu kommen. Doch heutzutage bekamen Schmids Sicherheitsleute ihren Willen.

»Also, Scherk, da bin ich.« Ich bin immer da, wenn du rufst. Jahrzehnte lang hatte jede neue Idee verrückter als die vorige gewirkt — und die Welt abermals verändert. Doch allmählich hatte sich auch bei Scherkaner etwas geändert. Die Generalin hatte ihm die erste Warnung gegeben, damals vor fünf Jahren in Calorica. Danach waren Gerüchte aufgekommen. Scherkaner war von der aktiven Forschung weggedriftet. Anscheinend hatte seine Arbeit an der Antigravitation zu nichts geführt, und jetzt starteten die Sinnesgleichen Schwebsatelliten, um Gottes willen!

»Danke, Hrunk.« Er sprach schnell, klang nervös. »Junior hat mir gesagt, dass du in der Stadt sein würdest, und…«

»Klein Viktoria! Sie ist hier?«

»Ja! Irgendwo im Haus. Du wirst ihr begegnen.« Scherk führte Hrunkner und seine Wachen den Hauptkorridor entlang und redete die ganze Zeit von Klein Viktoria und den anderen Kindern, von Jirlibs Forschungen und der Grundausbildung der Jüngsten. Hrunkner versuchte sich vorzustellen, wie sie aussahen. Seit der Entführung waren siebzehn Jahre vergangen… seit er die Kupplis zum letzten Mal gesehen hatte.

Es war eine recht ansehnliche Karawane, die den Korridor entlangging, wobei der Geleitkäfer Scherkaner führte und dieser Hrunkner und dessen Sicherheitsleute. Unterbergs Gang tendierte immer nach links, korrigiert von Mobiys ständigem sachtem Zug an seiner Leine. Scherks seitliche Dysbasie war keine Geisteskrankheit; wie sein Zittern war es eine Nervenstörung auf unterer Ebene. Das Geschick des Dunkels hatte ihn zu einem sehr späten Verletzten des Großen Krieges gemacht. Heutzutage sah er aus und sprach wie jemand, der eine Generation älter war.

Scherkaner blieb an einem Fahrstuhl stehen; Unnerbei konnte sich von seinen früheren Besuchen her nicht daran erinnern. »Pass auf, Hrunk… Drück die Neun, Mobiy.« Der Käfer streckte eins seiner langen, pelzigen Vorderbeine aus. Die Spitze bleib eine Sekunde unschlüssig in der Schwebe, drückte dann den Knopf ›9‹ an der Fahrstuhltür. »Es heißt, man könne einem Käfer keine Zahlen beibringen. Mobiy und ich arbeiten daran.«

Hrunkner schüttelte seine Begleitung am Fahrstuhl ab. Es waren nur sie beide — und Mobiy —, die hinauffuhren. Scherkaner schien sich zu entspannen, und sein Zittern ließ nach. Er tätschelte Mobiy sacht den Rücken, hielt aber die Leine nicht mehr so straff. »Das geht nur dich und mich an, Feldwebel.«

Unnerbei schaute schärfer drein. »Meine Wachen haben die Einstufung ›tiefgeheim‹, Scherk. Sie haben Dinge gesehen, die…«

Unterberg hob die Hand. Seine Augen glitzerten im Licht der Deckenleuchten. Es schien das alte Genie in ihnen zu liegen. »Das ist… etwas anderes. Es ist etwas, das ich dir schon lange mitteilen wollte, und jetzt, wo die Lage so verzweifelt ist…«

Der Fahrstuhl wurde langsamer, und die Türen ging auf. Scherkaner hatte sie bis hinauf auf den höchsten Punkt des Hügels gebracht. »Ich habe jetzt mein Büro hier oben. Früher hat es Junior gehört, aber jetzt, wo sie ihre Ernennung hat, hat sie es mir großzügig vermacht!« Der Korridor hatte einst außerhalb des Hauses gelegen; Hrunkner erinnerte sich an ihn als einen Pfad, von dem aus man den kleinen Park mit dem Kinderspielplatz sah. Jetzt war er von schwerem Glas umgeben, stark genug, um den Druck zu halten, selbst wenn die Atmosphäre als Schnee ausgefallen sein würde.

Das Geräusch von Elektromotoren war zu hören, und Türen glitten zur Seite. Scherkaner winkte seinen Freund in den Raum dahinter. Große Fenster blickten auf die Stadt. Klein Viktoria hatte schon ein beachtliches Zimmer gehabt. Jetzt war es das übliche Wirrwarr Scherkaners. Drüben in der Ecke standen dieses Geschoss/Puppenhaus und ein Schlafgitter für Mobiy. Doch beherrscht wurde das Zimmer von Rechnern und Hochqualitäts-Bildschirmen. Die dargestellten Bilder waren Landschaften vom Königsberg, die Farben stärker, als sie Hrunkner jemals draußen in der Natur gesehen hatte. Und dennoch waren die Bilder surreal. Es gab schattige Waldschluchten, aber mit Kuntertönungen darunter. Es gab Grizzards, die über einen hochbrechenden Eisberg hinpeitschten, ganz in den Farben von Lava. Es war graphischer Irrsinn… alberne Videomantie. Hrunkner blieb stehen und machte eine Geste zu den Farben hin. »Ich bin beeindruckt, aber sie sind nicht besonders gut abgeglichen, Scherk.«

»Oh, sie sind durchaus abgeglichen — aber die innere Bedeutung ist noch nicht gefunden.« Scherk setzte sich auf ein Gitter bei einem Schaltpult und schien die Bilder zu betrachten. »He. Die Farben sind ja wirklich krass; nach einer Weile bemerkt man es nicht mehr… Hrunkner, ist dir je der Gedanke gekommen, dass unsere gegenwärtigen Probleme ernster zu sein scheinen, als man erwarten sollte?«

»Woher soll ich das wissen? Alles ist neu.« Unnerbei ließ sich durchsacken. »Ja, die Sachen sind höllisch ins Rutschen geraten. Dieser Kuddelmuddel mit Südland ist genau der Albtraum, den wir uns ausgemalt haben. Sie haben Kernwaffen, vielleicht zweihundert, und Trägersysteme. Sie haben sich in den Ruin getrieben beim Versuch, mit den fortgeschrittenen Ländern Schritt zu halten.«

»Sich in den Ruin getrieben, nur um uns umzubringen?«

Vor fünfunddreißig Jahren hatte Scherk das alles kommen sehen, zumindest in groben Umrissen. Jetzt stellte er schwachsinnige Fragen. »Nein«, sagte Unnerbei fast im Ton eines Vortrags. »Zumindest hat es nicht so angefangen. Sie haben versucht, eine industrielle und landwirtschaftliche Basis zu schaffen, die im Dunkel aktiv bleiben könnte. Sie haben es nicht geschafft. Sie haben genug, um ein paar Städte in Gang zu halten, eine Armeedivision oder zwei. Gegenwärtig ist Südland etwa fünf Jahre weiter auf dem Weg in die Kälte als der Rest der Welt. Die Trockenorkane bilden sich schon überm Südpol.« Südland war bestenfalls ein Ort, wo man gerade noch leben konnte; in der Mitte der Hellzeit gab es ein paar Jahre, wo Landwirtschaft möglich war. Aber der Kontinent war märchenhaft reich an Mineralien. Die letzten fünf Generationen hindurch waren die Südländer von nördlichen Bergwerksgesellschaften ausgebeutet worden, jeden Zyklus gieriger als im vorigen. Doch in diesem Zyklus gab es im Süden einen souveränen Staat, einen, der große Angst vor dem Norden und dem kommenden Dunkel hatte. »Sie haben so viel ausgegeben, um den Sprung zur Kernenergie zu schaffen, dass sie nicht einmal alle ihre Tiefen bevorratet haben.«

»Und die Sinnesgleichen vergiften alles, was sonst noch an gutem Willen vorkommen könnte.«

»Natürlich.« Pedure war ein Genie. Morde, Erpressung, geschickte Panikmache. In allem, was böse war, war Pedure erstklassig.

Und so meinte jetzt die Regierung von Südland, es sei der Einklang, der sie im Dunkel zu überfallen gedenke. »Die Nachrichtenagenturen haben Recht, Scherk. Die Südler könnten uns mit Kernwaffen belegen.«

Hrunkner schaute über Scherkaners knallbunte Bildschirme hinweg. Von hier aus konnte er Weißenberg in allen Richtungen sehen. Manche von den Gebäuden — wie das Berghaus — würden sogar dann noch bewohnbar sein, wenn die Luft kondensierte. Sie konnten den Druck halten und hatten eine gute Energieversorgung. Der Großteil der Stadt lag nur wenig unter der Oberfläche. Es hatte fünfzehn Jahre Bauwahnsinn gekostet, das für die Städte von Einklang möglich zu machen, doch jetzt konnte eine ganze Zivilisation wach das Dunkel überleben. Doch sie waren so dicht an der Oberfläche. In jedem Atomkrieg würden sie rasch sterben. Die Industrien, zu deren Schaffung Hrunkner beigetragen hatte, hatten Wunder vollbracht… Und jetzt sind wir in größerer Gefahr als je zuvor. Es wurden weitere Wunder gebraucht. Hrunkner und Millionen andere kämpften mit diesen unmöglichen Anforderungen. In den letzten dreißig Tagen hatte es Unnerbei nur auf durchschnittlich drei Stunden Schlaf gebracht. Dieser Abstecher, um mit Unterberg zu plaudern, hatte eine Planbesprechung und eine Inspektion ausfallen lassen. Bin ich aus Loyalität hier… oder weil ich hoffe, dass Scherk uns alle wieder retten wird?

Unterberg faltete seine Vorderarme auf und bildete vor seinem Kopf einen kleinen Tempel. »Hast… hast du jemals daran gedacht, dass vielleicht etwas anderes für unsere Probleme verantwortlich ist?«

»Verdammt, Scherk. Was denn zum Beispiel?«

Scherkaner setzte sich auf seinem Gitter zurecht, und seine Worte kamen leise und schnell. »Zum Beispiel Fremde aus dem Weltraum. Sie waren schon vor der Neuen Sonne hier. Du und ich haben sie im Dunkel gesehen, Hrunkner. Die Lichter am Himmel, weißt du noch?«

Er rasselte weiter, in einem Ton, der so ganz anders war als bei dem Scherkaner Unterberg früherer Jahre. Der Unterberg von früher offenbarte seine sonderbaren Spekulationen mit einem schelmischen Blick oder einem herausfordernden Lachen. Doch jetzt sprach Unterberg hastig, fast, als fürchtete er, jemand würde ihm das Wort verbieten… oder ihm widersprechen? Dieser Unterberg sprach wie… wie ein Verzweifelter, der sich an ein Phantasiegebilde klammerte.

Der alte Bursche schien zu merken, dass er seinen Zuhörer verloren hatte. »Du glaubst mir nicht, was, Hrunk.«

Hrunkner machte sich auf seinem Sitzgitter klein. Welche Mittel waren bereits auf diesen entsetzlichen Unsinn vergeudet worden? Andere Welten… Leben auf anderen Welten… das war eine von Unterbergs ältesten, verrücktesten Ideen. Und nun kam sie wieder hoch, nachdem sie zu Recht jahrelang vergessen gewesen war. Er kannte die Generalin; sie würde sich davon nicht mehr beeindrucken lassen als er. Die Welt taumelte am Rande eines Abgrunds. Da war kein Platz, den armen Scherkaner bei Laune zu halten. Gewiss ließ sich die Generalin davon nicht ablenken. »Das ist so etwas wie die Videomantie, nicht wahr, Scherk?« Dein Leben lang hast du Wunder vollbracht. Doch jetzt brauchst du sie schneller und dringlicher als je zuvor. Und geblieben ist dir weiter nichts als Aberglaube.

»Nein, nein, Hrunk. Die Videomantie war nur ein Mittel, eine Tarnung, damit die Fremden nichts sehen. Hier, ich zeig’s dir!« Scherkaners Hände tippten auf Steuerknöpfe. Die Bilder flackerten, die Farbwerte änderten sich. Eine Landschaft verwandelte sich vom Sommer zum Winter. »Es wird einen Moment dauern. Die Bitrate ist niedrig, aber das Kanal-Setup ist eine sehr große Rechenoperation.« Unterbergs Kopf neigte sich zu winzigen Bildschirmen hin, die Hrunkner nicht sehen konnte. Seine Hände klopften ungeduldig auf das Schaltpult. »Mehr als alle anderen hast du es verdient, das zu erfahren, Hrunk. Du hast so viel für uns getan; du hättest so viel mehr tun können, wenn wir dich nur eingeweiht hätten. Aber die Generalin…«

Auf dem Bildschirm verschoben sich die Farben, die Landschaften schmolzen zu einem Chaos in niedriger Auflösung. Mehrere Sekunden verstrichen.

Und Scherkaner stieß einen kleinen Ruf der Überraschung und des Unbehagens aus.

Was von dem Bild übrig war, war zu erkennen, wenn auch von viel geringerer Bandbreite als das ursprünglichen Bild. Dies schien ein herkömmliches Acht-Farben-Bildsignal zu sein. Sie schauten durch eine Kamera im Büro von Viktoria Schmid im Landeskommando. Es war ein gutes Bild, aber grob im Vergleich zu direkter Sicht oder auch nur zu Scherks Videomantie-Bildschirmen.

Doch dieses Bild zeigte etwas Wirkliches: General Schmid, wie sie von ihrem Schreibtisch zurückstarrte. Rings um sie stapelte sich die Arbeit. Sie winkte einen Adjutanten aus dem Büro und starrte Unterberg und Unnerbei an.

»Scherkaner… du hast Hrunkner Unnerbei in dein Büro geholt.« Ihr Ton war gepresst und wütend.

»Ja, ich…«

»Ich dachte, darüber hätten wir gesprochen, Scherkaner. Du kannst mit deinem Spielzeug spielen, soviel du willst, aber du sollst keine Leute behelligen, die richtige Arbeit zu tun haben.«

Hrunkner hatte nie gehört, dass die Generalin solche Töne und solchen Sarkasmus gegenüber Unterberg anwandte. Wie notwendig es auch sein mochte, er hätte alles gegeben, um das nicht mit ansehen zu müssen.

Unterberg schien im Begriff zu sein, zu protestieren. Er rutschte auf seinem Gitter herum, fuchtelte bittend mit den Armen. Dann: »Ja, Liebe.«

General Schmid nickte und winkte Hrunkner zu. »Tut mir Leid wegen dieser Ungelegenheit, Feldwebel. Wenn Sie Hilfe brauchen, um wieder in Ihren Zeitplan zu kommen…«

»Danke, Frau General. Das könnte sein. Ich werde beim Flughafen nachfragen und dann zurückrufen.«

»Gut.« Das Bild vom Landeskommando verschwand.

Scherkaner senkte den Kopf, bis er auf dem Schaltpult lag. Seine Arme und Beine waren nach innen gezogen und reglos. Der Geleitkäfer kam näher heran, stukte ihn fragend an.

Unnerbei ging auf ihn zu. »Scherk?«, sagte er leise. »Alles in Ordnung mit dir?«

Scherk schwieg einen Augenblick lang. Dann hob er den Kopf. »Geht schon in Ordnung. Entschuldige, Hrunk.«

»Ich… äh… ich muss jetzt los. Ich habe noch eine Besprechung…« Das stimmte nicht ganz. Er hatte sowohl die Besprechung als auch die Inspektion schon verpasst. Die Wahrheit war, dass es so viele andere Dinge zu erledigen gab. Mit Schmids Hilfe kam er vielleicht schnell genug aus Weißenberg heraus, um aufzuholen.

Unterberg kletterte unbeholfen von seinem Sitzgitter und ließ sich von Mobiy hinter dem Feldwebel her führen. Als die schweren Türen aufglitten, streckte Scherkaner eine Vorderhand aus und zupfte an einem seiner Ärmel. Noch mehr Irrsinn?

»Gib niemals auf, Hrunk. Es gibt immer einen Weg, ganz wie früher. Du wirst sehen.«

Unnerbei nickte, murmelte etwas zur Entschuldigung und verließ den Raum. Als er den glasumhüllten Korridor zum Fahrstuhl entlangging, stand Scherkaner mit Mobiy am Eingang zum Büro. Früher einmal wäre Unterberg den ganzen Weg bis zum Hauptfoyer mitgekommen. Doch er schien zu begreifen, dass sich etwas zwischen ihnen verändert hatte. Als sich die Fahrstuhltüren hinter Unnerbei schlossen, sah er, wie sein alter Freund ihm schüchtern zuwinkte.

Dann war er fort, und der Fahrstuhl fuhr abwärts. Einen Augenblick lang überließ sich Unnerbei dem Zorn und der Trauer. Komisch, wie sich diese beiden Gefühle vermengen konnten. Er hatte die Geschichten über Scherkaner gehört und sich gezwungen, sie nicht zu glauben. Wie Scherkaner hatte er gewollt, gewisse Dinge wären wahr, und die gegenteiligen Symptome ignoriert. Anders als Scherk konnte Hrunkner Unnerbei die harten Tatsachen ihrer Lage nicht ignorieren. Also würden sie diese äußerste Krise ohne Scherkaner Unterberg gewinnen oder verlieren müssen…

Unnerbei zwang sich, an anderes zu denken. Später würde noch eine Zeit kommen, hoffentlich eine Zeit, sich der guten Dinge zu erinnern — anstatt dieses Nachmittags. Vorerst… Wenn er eine Düsenmaschine von Weißenberg bekommen konnte, dann war er vielleicht rechtzeitig im Landeskommando, um mit seinen Vizedirektoren zu plaudern.

Etwa auf der Höhe des alten Parks der Kupplis wurde der Fahrstuhl langsamer. Unnerbei hatte geglaubt, dies sei Scherkaners privater Lift. Wer konnte das sein?

Die Türen glitten zurück…

»Hallo! Feldwebel Unnerbei! Darf ich mich Ihnen zugesellen?«

Eine junge Dame im Rang eines Leutnants und in der Arbeitsuniform der Quartiermeisterei. Viktoria Schmid, wie sie vor so vielen Jahren gewesen war. Sie sah genauso strahlend aus, bewegte sich mit derselben Präzision. Einen Moment lang konnte Unnerbei die Erscheinung an der Tür nur sprachlos anstarren.

Die Vision trat in den Fahrstuhl, und Unnerbei wich unwillkürlich zurück, immer noch schockiert. Dann fiel die militärische Haltung für einen Augenblick von ihr. Sie senkte schüchtern den Kopf. »Onkel Hrunk, erkennst du mich nicht? Ich bin Viki, groß geworden.«

Natürlich. Unnerbei lachte schwach. »Ich… ich werde Sie nie mehr Klein Viktoria nennen.«

Viki legte ihm voller Zuneigung ein paar Arme um die Schultern. »Nein. Du darfst. Irgendwie glaube ich nicht, dass ich dir jemals Befehle geben werde. Papa sagte, dass du heute heraufkommen würdest… Hast du ihn getroffen? Hast du einen Moment Zeit, mit mir zu reden?«

Der Fahrstuhl kam sacht zum Halt, Foyergeschoss. »Ich… Ja, ich habe… Schau, ich habe es ein bisschen eilig, zurück zum Landeskommando zu kommen.« Nach dem Debakel dort oben wusste er einfach nicht, was er Viki sagen sollte.

»Das geht in Ordnung. Ich habe selber Minusminuten. Fahren wir zusammen zum Flughafen.« Sie winkte ihm ein Grinsen zu. »Doppelte Sicherheit.«


Leutnants führen vielleicht eine Sicherheitseskorte, doch sie sind selten selbst der Gegenstand einer solchen. Viktorias Gruppe war etwa halb so groß wie die von Unnerbei, doch dem Aussehen nach zu schließen, sogar noch tüchtiger. Etliche von den Wachen waren offensichtlich Kriegsveteranen. Der Bursche auf dem oberen Gitter hinter dem Fahrer war einer der größten Soldaten, die Unnerbei je gesehen hatte. Als sie in den Wagen glitten, hatte er Unnerbei merkwürdig knapp gegrüßt, überhaupt nicht militärisch. Ha! Das war Brent!

»Also. Was hatte Papa zu sagen?« Der Ton war leicht, doch Hrunkner hörte die Sorge heraus. Viki war nicht ganz der perfekte, undurchschaubare Geheimdienst-Offizier. Es hätte eine Schwäche sein können, aber immerhin kannte er sie, seit sie Kuppli-Augen hatte.

Und das machte Unnerbei es nur noch schwerer, die Wahrheit zu sagen. »Du musst es wissen, Viki. Er ist nicht mehr er selbst. Ganz auf außerplanetare Ungeheuer und Videomantie abgefahren. Die Generalin selbst musste ihn zum Schweigen bringen.«

Die junge Viktoria schwieg, doch sie verzog die Arme zu einer zornigen Gebärde. Einen Augenblick lang glaubte er, sie sei auf ihn wütend. Doch dann hörte er sie schwach murmeln: »Der alte Narr.« Sie seufzte, und sie fuhren ein paar Sekunden lang schweigend.

Der Verkehr an der Oberfläche war spärlich, größtenteils Kupps, die zwischen nicht verbundenen Siedlungen unterwegs waren. Die Straßenlampen ergossen Flecken von Blau und Ultra, glitzerten auf dem Eis, das die Rinnsteine und die Seiten der Gebäude säumte. Licht aus dem Innern der Gebäude glomm durch den Raureif, grünlich, wo es Flecken von Schneemoos im Eis traf. Kristallwürmer wuchsen millionenfach an den Wänden, mit Wurzeln, die auf der Suche nach Happen von Wärme endlos in die Tiefe tasteten. Hier in Weißenberg würde die natürliche Umwelt vielleicht bis fast ins Herz des Dunkels überleben. Die Stadt ringsum und unter ihnen war ein wachsendes, wärmendes Etwas. Hinter diesen Wänden und unter der Oberfläche war das Leben geschäftiger als jemals in der Geschichte von Weißenberg. Die neueren Gebäude des Geschäftsviertels glühten aus Zehntausenden von Fenstern, demonstrierten prahlerisch Macht, gossen breite Lichtstreifen auf die älteren Bauwerke… Und selbst ein mäßiger Kernwaffenangriff würde hier alles töten.

Viki berührte seine Schulter. »Tut mir Leid… wegen Papa.«

Sie musste viel besser als er wissen, wie tief Scherkaner gesunken war. »Seit wann befasst er sich damit? Ich erinnere mich, dass er über Weltraumungeheuer spekulierte, aber das war nie ernst gemeint.«

Sie zuckte die Achseln, offensichtlich war ihr die Frage unangenehm. »Mit Videomantie hat er nach den Entführungen zu spielen begonnen.«

Vor so langer Zeit? Dann erinnerte er sich an Scherkaners Verzweiflung, als der arme Kupp erkannte, dass all seine Wissenschaft und Logik seine armen Kinder nicht retten konnten. Und so waren der Boden für seine geistige Verwirrung bereitet worden. »Gut, Viki. Deine Mutter hat Recht. Wichtig ist, dass dieser Unsinn nicht stört. Dein Vater besitzt die Liebe und Bewunderung von so vielen Leuten.« Mich selbst eingeschlossen, immer noch. »Niemand wird diesen Mist glauben, aber ich fürchte, dass so mancher ihm wird helfen wollen, vielleicht Ressourcen abzweigen, Experimente durchführen, die er vorschlägt. Das können wir uns nicht leisten, nicht jetzt.«

»Natürlich.« Aber Viki zögerte einen Moment lang, ihre Handspitzen streckten sich. Wenn Unnerbei sie nicht als Kind gekannt hätte, wäre es ihm entgangen. Sie sagte ihm nicht alles und schämte sich wegen der Täuschung. Klein Viktoria war eine tolle Schwindlerin gewesen, außer wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte.

»Die Generalin hält ihn bei Laune, nicht wahr? Sogar jetzt?«

»Sieh mal, nichts Großes. Ein bisschen Bandbreite, etwas Rechenzeit.« Rechenzeit worauf? Auf Unterbergs Tischcomputern oder auf den Großrechnern des Geheimdienstes? Vielleicht spielte es keine Rolle; er erkannte jetzt, dass viel von Unterbergs Zurückhaltung einfach auf die Generalin zurückging, die ihren Gatten daran hinderte, sich in kritische Projekte einzumischen. Aber welch ein Jammer für die alte Dame. Für Viktoria Schmid musste der Verlust von Unterberg so gewesen sein, als würden einem die rechten Beine weggeschossen.

»In Ordnung.« Welche Ressourcen Scherk auch verplempern mochte, Hrunkner Unnerbei konnte nichts dagegen tun. Das Klügste war vielleicht das alte Unermüdlich weitermachen, Soldat. Er warf einen Blick auf die Uniform der jungen Viktoria. Das Namensschild war am Kragen auf der anderen Seite, nicht zu sehen. Würde da Viktoria Schmid stehen (also das würde vielleicht die Aufmerksamkeit eines Vorgesetzten erregen!) oder Viktoria Unterberg, oder was?

»Also, Leutnant, wie macht sich dein Leben beim Militär?«

Viki lächelte, sicherlich erleichtert, über etwas anderes sprechen zu können. »Es ist eine große Herausforderung, Feldwebel.« Die Förmlichkeit fiel von ihr ab. »Eigentlich geht es mir blendend. Die Grundausbildung war… hmm, das weißt du so gut wie ich. Im Grunde sind es ja Feldwebel wie du, die sie zu dieser ›bezaubernden‹ Erfahrung machen. Aber ich hatte einen Vorteil: Als ich in der Grundausbildung war, waren fast alle Rekruten Rechtzeitlinge, Jahre älter als ich. Ha! Es war nicht schwer, vergleichsweise besser zu sein. Und jetzt — nun ja, du siehst ja, dass das nicht die übliche erste Dienststellung ist.« Sie machte eine Handbewegung zum Wagen und der Sicherheitsgruppe um sie her. »Brent ist jetzt Oberfeldwebel; wir arbeiten zusammen. Rhapsa und Klein Hrunk werden später die Offiziersschule absolvieren, aber vorerst sind sie beide noch in der Grundausbildung. Vielleicht siehst du sie im Flughafen.«

»Ihr arbeitet alle zusammen?« Unnerbei versuchte, die Überraschung in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Ja. Wir sind ein Team. Wenn die Generalin eine rasche Inspektion benötigt und absolut vertrauenswürdige Leute braucht — dann schickt sie uns vier.« Alle überlebenden Kinder außer Jirlib. Für einem Moment machte die Offenbarung Unnerbei nur noch niedergeschlagener. Er fragte sich, was der Generalstab und die mittleren Chargen dachten, wenn sie eine Truppe von Schmids Verwandten in tiefgeheimen Angelegenheiten herumstochern sahen. Aber… Hrunkner Unnerbei war einst selbst tief im Geheimdienst involviert gewesen. Der alte Streb Grüntal hatte auch nach seinen eigenen Regeln gespielt. Der König räumte dem Geheimdienstchef gewisse Vorrechte ein. Viele Geheimdienstler auf mittlerer Ebene hielten das einfach für eine dumme Tradition, aber wenn Viktoria Schmid glaubte, sie benötige ein Generalinspektions-Team aus ihrer eigenen Familie — nun ja, dann benötigte sie es vielleicht wirklich.


Der Flughafen von Weißenberg war ein Chaos. Es gab mehr Maschinen, mehr Charterflüge einzelner Unternehmen, mehr verrückte Bauarbeiten denn je zuvor. Chaos hin, Chaos her, General Schmid hatte das Problem schon gelöst: Eine Düsenmaschine war bereits für ihn abgestellt worden. Vikis Wagen waren befugt, direkt hinaus auf die militärische Seite des Flugplatzes zu fahren. Sie bewegten sich vorsichtig die zugewiesenen Fahrbahnen entlang bis unter die Maschine, die als Taxi dienen sollte. Die Ausweich-Rollbahnen waren von Bauarbeiten aufgerissen, eine kraterähnliche Grube alle dreißig Meter. Ende des Jahres würden alle Versorgungsmaßnahmen ausgeführt werden, ohne dass jemand an die Oberfläche kam. Letzten Endes würden diese Anlagen neue Typen von Flugmaschinen unterstützen müssen, und das in einer Kälte, bei der die Luft gefror.

Viki setzte ihn bei seiner Maschine ab. Sie hatte nicht gesagt, wohin sie diesen Abend unterwegs waren. Unnerbei fand das angenehm. So fremd ihr ihre gegenwärtige Situation auch sein mochte, so wusste sie doch wenigstens den Mund zu halten.

Sie folgte ihm hinaus in den Frost. Es wehte kein Wind, also riskierte er es, ohne den Lufterhitzer zu gehen. Jeder Atemzug brannte. Es war so kalt, dass er Wolken von Reif um die ungeschützten Gelenke seiner Hände sah.

Vielleicht war Viki zu jung und zu stark, um es zu bemerken. Sie marschierte die zehn Meter bis zu seinem Flugzeug und redete pausenlos. Wären da nicht all die düsteren Omen gewesen, die dieser Besuch zum Vorschein gebracht hatte, wäre es eine ungetrübte Freude gewesen, Viki zu sehen. Selbst als Unzeitlerin hatte sie sich so schön entwickelt, eine wunderbare Verkörperung ihrer Mutter — wobei Schmids Schärfe von dem gemildert wurde, was Scherkaner zu seinen besten Zeiten gewesen war. Verdammt, vielleicht lag es teilweise daran, dass sie außer der Zeit war. Der Gedanke ließ ihn beinahe mitten auf der Rollbahn innehalten. Aber ja, Viki hatte ihr ganzes Leben außerhalb des normalen Rhythmus verbracht, die Dinge aus einem neuen Blickwinkel gesehen. Auf eine sonderbare Weise schrumpften, wenn er sie betrachtete, alle seine Bedenken über die Zukunft.

Viki trat beiseite, als sie den Wetterschutz bei seinem Flugzeug erreichten. Sie straffte sich und salutierte zackig. Unnerbei erwiderte die Geste. Und dann sah er ihr Namensschild.

»Was für ein interessanter Name, Leutnant. Kein Beruf, keine längst aufgegebene Tiefe. Wo…?«

»Nun, keiner von meinen Eltern ist ein Schmied. Und niemand weiß, von welchem ›Unterberg‹ Papas Familie herstammen könnte. Aber wenn du hinter dich schaust…« Sie zeigte.

Hinter ihnen erstreckten sich Hunderte von Metern Flächen und Bauten, bis hin zum Flughafengebäude. Aber Viki zeigte höher, über das Flachland des Flusstales hinaus. Die Lichter von Weißenberg wölbten sich zum Horizont hin, von glitzernden Türmen bis zu den Vorstadthügeln.

»Schau ungefähr fünf Grad rechts hinten neben dem Rundfunkturm. Sogar von hier aus kann man es sehen.« Sie zeigte zum Unterberg-Haus. Es war das hellste Ding in dieser Richtung, ein Turm von Licht in allen Farben, die moderne Fluoreszenzlampen hervorbringen konnten.

»Papa hat gut geplant. Wir mussten an dem Haus fast nichts ändern. Selbst wenn die Luft gefroren ist, wird sein Licht noch dort oben auf dem Hügel sein. Du weißt, was Papa sagt: Wir können hinab und nach innen gehen — oder auf den Höhen stehen und hinausgreifen. Ich bin froh, dass ich dort aufgewachsen bin, und ich möchte, dass dieser Ort mein Name ist.«

Sie hob ihr Schild an, sodass es im Lichte der Flugzeugscheinwerfer funkelte. LEUTNANT VIKTORIA LICHTBERG. »Keine Sorge, Feldwebel. Was du und Papa und Mutter begonnen haben, wird lange Zeit halten.«

Sechsundvierzig

Belga Untersiedel hatte das Landeskommando allmählich etwas satt. Sie schien fast zehn Prozent der Zeit hier unten zu sein — und es wäre viel mehr, würde sie nicht ausgiebig die Telekommunikation nutzen. Oberst Untersiedel war seit 60//15 die Chefin des Landesschutzes und des Inlands-Geheimdienstes, über die Hälfte der vergangenen Hellzeit. Es war eine Binsenweisheit — zumindest in der neuen Zeit —, dass mit dem Ende der Helle die blutigsten Kriege begannen. Sie hatte erwartet, dass es hart zugehen würde, aber doch nicht so.

Untersiedel kam früh zur Stabsbesprechung. Sie war nervös wegen dessen, was sie vorhatte; sie hatte nicht die Absicht, die Chefin zu verärgern, aber genau danach konnte ihr Antrag aussehen. Rachner Thrakt war schon da und bereitete seinen eigenen Auftritt vor. Körnige Aufklärungsfotos in Zehn-Farben-Technik wurden an die Wand hinter ihm projiziert. Anscheinend hatte er weitere Startrampen der Südländer gefunden — weitere Indizien für die Unterstützung der Sinnesgleichen für ›die potenziellen Opfer der Heimtücke von Einklang‹. Thrakt nickte zivil, als sie und ihre Adjutanten sich setzten. Es hatte immer Reibereien zwischen dem Landesschutz und dem Auslandsdienst gegeben. Die Außenleute spielten nach Regeln, die für Inlands-Operationen inakzeptabel waren, doch sie fanden immer Ausreden, wenn sie sich einmischten. In den letzten paar Jahren waren die Beziehungen zwischen Thrakt und Untersiedel besonders angespannt gewesen. Seit Thrakt die Sache in Südland vermasselt hatte, war viel leichter mit ihm umzugehen. Sogar der Weltuntergang hat ein paar kurzfristige Vorteile, dachte Belga missmutig.

Untersiedel blätterte durch die Tagesordnung. Gott, diese verrückten Ablenkungen. Oder vielleicht nicht: »Was halten Sie von diesen hoch fliegenden Phantomen?« Die Frage sollte keinen Streit einleiten; in Sachen Luftverteidigung dürfte Thrakt keine Probleme haben.

Thrakts Hände zuckten heftig und wegwerfend. »Nach all dem Geschrei hat die Luftverteidigung gerade mal drei Sichtungen gemeldet. ›Sichtungen‹ nennt sich das! Selbst jetzt, da wir über die Antigravitations-Fähigkeiten der Sinnesgleichen Bescheid wissen, können sie die Kupps immer noch nicht richtig lokalisieren. Jetzt behauptet der LV-Direktor, die Sinnesgleichen hätten eine Startbasis, von der ich nichts weiß. Sie wissen, dass die Chefin nicht locker lassen wird, dass ich sie finde… Verdammt!« Untersiedel konnte nicht sagen, ob das eine Wort die Zusammenfassung seiner Antwort war oder ob er gerade etwas Widerwärtiges in seinen Notizen entdeckt hatte. So oder so, Thrakt hatte ihr nichts mehr zu sagen.

Die anderen trudelten jetzt ein: Luftverteidigungs-Direktor Schachtweg (er nahm auf einem Gitter weit von Rachner Thrakt entfernt Platz), der Direktor für Raketenangriffe, der Direktor für Öffentlichkeitsarbeit. Die Chefin selbst trat ein, fast unmittelbar gefolgt von der Königlich Geheimen Finanzministerin.

General Schmid eröffnete die Versammlung und begrüßte die Finanzministerin förmlich. Auf dem Papier war Ministerin Nishnimor ihre einzige Vorgesetzte außer dem König selbst. In Wahrheit war Amberdon Nishnimor eine alte Freundin von Schmid.

Die Phantome standen als Erste auf der Tagesordnung, und es lief ungefähr so, wie Rachner Thrakt vorhergesagt hatte. Die Luftverteidigung hatte weiter an den drei Sichtungen gearbeitet. Schachtwegs letzte Computeranalyse bestätigte, dass es Satelliten der Sinnesgleichen waren, entweder kurze Aufklärungsflüge oder vielleicht sogar Tests eines lenkbaren Antigravitations-Projektils. Jedenfalls war keins davon zweimal gesichtet worden. Und keins war von einer der bekannten Startrampen gestartet worden. Der Direktor der Luftverteidigung wurde sehr nachdrücklich, was die Notwendigkeit kompetenter Bodenaufklärung auf dem Territorium der Sinnesgleichen anging. Wenn der Feind mobile Startanlagen hatte, war es unerlässlich, mehr über sie zu erfahren. Untersiedel erwartete halb, Thrakt würde explodieren angesichts der Implikation, seine Leute hätten abermals versagt, doch der Oberst schluckte den Sarkasmus des LV-Direktors und die erwarteten Befehle von General Schmid mit leidenschaftsloser Höflichkeit. Thrakt wusste, dass dies sein geringstes Problem war; der letzte Punkt auf der heutigen Tagesordnung würde die wahre Heimsuchung für ihn sein.

Anschließend die Öffentlichkeitsarbeit. »Tut mir Leid. Es ist unmöglich, eine Kriegs-Volksabstimmung abzuhalten, geschweige denn, sie zu gewinnen. Die Leute haben mehr Angst denn je, aber die zeitlichen Abläufe machen eine Volksabstimmung schlechthin undurchführbar.« Belga nickte; für diese Erkenntnis brauchte sie keinen Schmock von der Öffentlichkeitsarbeit. In sich war die Königliche Regierung eine ziemlich autokratische Sache. Doch im Laufe der letzten neunzehn Generationen, seit dem Bund des Einklangs, war ihre zivile Macht erschreckend eingeschränkt worden. Die Krone behielt das alleinige Anrecht auf ihre Erbländereien wie das Landeskommando und besaß eine beschränkte Steuerhoheit, doch sie hatte ihr ausschließliches Recht zum Drucken von Geld verloren, das Recht zur Legalenteignung, das Recht, ihre Untertanen zum Militärdienst zu verpflichten. In Friedenszeiten funktionierte der Bund. Die Gerichte funktionierten nach einem System von Geldstrafen, und die lokalen Polizeitruppen wussten, dass sie sich nicht zu viel herausnehmen durften, wenn sie nicht auf echte Feuerkraft treffen wollten. In Kriegszeiten — nun, dafür gab es die Volksabstimmung: um den Bund für eine gewisse Zeit außer Kraft zu setzen. Es hatte während des Großen Krieges funktioniert, gerade so. Diesmal ging alles so schnell, dass schon von einer Abstimmung zu reden den Krieg auslösen konnte. Und ein größerer nuklearer Schlagabtausch wäre in weniger als einem Tag vorüber.

General Schmid nahm die Plattitüden mit bemerkenswerter Geduld hin. Dann war Belga an der Reihe. Sie ging den üblichen Katalog von Bedrohungen im Inland durch. Die Dinge waren unter Kontrolle, mehr oder weniger. Es gab nicht zu vernachlässigende Minderheiten, die die Modernisierung verabscheuten. Manche waren schon nicht mehr im Spiel, sie schliefen in ihren Tiefen. Andere hatten sich tiefe Redouten gegraben, doch nicht, um darin zu schlafen. Diese würden ein Problem sein, wenn es wirklich schlimm wurde. Hrunkner Unnerbei hatte weitere von seinen technischen Wundern vollbracht. Selbst die ältesten Städte im Nordosten hatten jetzt Atomstrom und — ebenso wichtig — klimatisierten Lebensraum. »Aber natürlich ist davon nicht viel kernwaffenfest. Selbst ein leichter Atomschlag würde die meisten von diesen Leuten umbringen, und die übrigen hätten nicht die Mittel für eine erfolgreiche Überwinterung.« Die meisten von diesen Mitteln waren nämlich für den Bau von Kraftwerken und Untergrund-Farmen verbraucht worden.

General Schmid machte eine Geste zu den anderen hin. »Kommentare?« Es gab etliche. Die Öffentlichkeitsarbeit schlug vor, sich bei einigen der kernwaffenfesten Unternehmen einzukaufen; er machte bereits Pläne für die Zeit nach dem Weltuntergang, der blödsinnige kleine Hirni. Die Chefin nickte nur, beauftragte Belga und den Hirni, die Möglichkeit zu überprüfen. Auf ihrem Exemplar der Tagesordnung hakte sie den Bericht des Landesschutzes ab.

»Frau General?« Belga Untersiedel hob eine Hand. »Ich habe doch noch einen Punkt, den ich zur Sprache bringen möchte.«

»Gewiss.«

Untersiedel fuhr sich mit den Esshänden nervös über den Mund. Jetzt konnte sie nicht zurück. Verdammt. Wenn nur die Finanzministerin nicht da wäre. »Ich… Frau General, in der Vergangenheit waren Sie sehr… äh… großzügig bei Ihrer Handhabung untergeordneter Operationen. Sie geben uns einen Auftrag und lassen uns ihn ausführen. Ich bin dafür sehr dankbar. Neuerdings jedoch, und wahrscheinlich geschieht dies ohne Ihre eingehende Kenntnis, haben Leute aus Ihrem inneren Stab unangemeldete Besuche« — in Wahrheit mitternächtliche Razzien — »an Orten im Inland gemacht, die meiner Verantwortlichkeit unterstellt sind.«

General Schmid nickte. »Das Lichtberg-Team.«

»Ja, Frau General.« Ihre eigenen Kinder, die umherlaufen, als seien sie die Generalinspektoren des Königs. Sie stellten eine Menge verrückter, irrationaler Forderungen, kassierten gute Projekte, entfernten einige ihrer besten Leute. Vor allem nährte das bei ihr den Verdacht, dass der verrückte Gatte der Chefin immer noch großen Einfluss hatte. Belga ließ sich auf ihr Sitzgitter zurücksinken. Sie brauchte wirklich nicht mehr zu sagen. Viktoria Schmid kannte sie gut genug, um zu sehen, dass sie verärgert war.

»Hat Lichtberg bei diesen Inspektionen irgendetwas Interessantes gefunden?«

»In einem Fall, Frau General.« Ein ziemlich ernstes Problem, auf das sie, Belga war sich da ganz sicher, zehn Tage später selber gestoßen wäre. Untersiedel sah, dass die meisten anderen ringsum am Tisch von der Beschwerde einfach überrascht waren. Zwei nickten vage in ihre Richtung — von ihnen wusste sie schon. Thrakt trommelte ein wütendes Muster auf den Tisch, er schien jeden Moment zu explodieren. Es war keine Überraschung, dass die vetternwirtschaftliche Mannschaft der Chefin sich ihn vorgeknöpft hatte, aber bitte, Gott, schenk ihm die Klugheit, den Schlund zu halten.

Thrakt hatte bereits einen derart schlechten Stand, dass seine Unterstützung etwa so hilfreich wäre wie ein Amboss für einen Schnellkletterer.

Die Chefin neigte den Kopf, wartete eine Minute höflich ab, ob jemand etwas dazu bemerken wollte. Dann: »Oberst Untersiedel, ich verstehe, dass sich das schlecht auf die Moral Ihrer Leute auswirken könnte. Aber wir kommen jetzt in sehr kritische Zeiten, viel tödlicher als ein erklärter Krieg. Ich brauche spezielle Assistenten. Leute, die sehr schnell handeln können und die ich vollständig verstehe. Das Lichtberg-Team arbeitet direkt für mich. Bitte sagen Sie es mir, wenn sie das Gefühl haben, dass sich diese Leute ungebührlich verhalten — aber ich bitte sie, die ihnen übertragene Autorität zu respektieren.« Ihr Ton klang aufrichtig bedauernd, doch die Worte waren kompromisslos; Schmid änderte eine jahrzehntelange Vorgehensweise. Belga hatte den niederschmetternden Eindruck, dass die Chefin von allen Verwüstungen wusste, die ihre Kupplis angerichtet hatten.

Die Finanzministerin hatte bisher fast gelangweilt ausgesehen. Nishnimor war eine Kriegsheldin; sie war mit Scherkaner Unterberg durch das Dunkel gegangen. Man konnte das vergessen, wenn man sie sah; Amberdon Nishnimor hatte alle Jahrzehnte dieser Generation damit zugebracht, auf der Anderen Seite des königlichen Dienstes aufzusteigen, als Hofpolitikerin und Vermittlerin. Sie kleidete und bewegte sich wie ein altes Huhn; Nishnimor war die Karikatur eines Finanzministers. Groß, hager, gebrechlich. Jetzt beugte sie sich vor. Ihre keuchende Stimme klang so harmlos, wie sie aussah. »Ich fürchte, das alles liegt ein bisschen außerhalb meiner Zuständigkeit. Aber ich habe trotzdem einen Ratschlag. Obwohl wir keine Volksabstimmung durchführen können, sind wir doch durchaus im Krieg. Innerhalb der Regierung gehen wir zu Kriegsgrundsätzen über. Die normalen Beschwerde- und Revisionsketten sind aufgehoben. Angesichts dieser außerordentlichen Lage ist es wichtig, dass Ihnen allen bewusst ist, dass sowohl ich als auch — entscheidender — der König volles Vertrauen in die Führung von General Schmid setzen. Sie alle wissen, dass der Geheimdienstchef besondere Vorrechte hat. Dies ist keine veraltete Tradition, meine Damen und Herren. Es ist wohlerwogene königliche Politik, und Sie alle müssen das akzeptieren.«

Oho. So viel zu ›gebrechlichen‹ Finanzministern. Überall am Tisch wurde zurückhaltend genickt, und niemand hatte noch etwas zu sagen, am wenigsten Belga Untersiedel. So seltsam es war, Belga fühlte sich besser, nachdem sie so entschieden abgeblitzt war. Vielleicht waren sie auf dem besten Weg, zur Hölle zu fahren, aber sie brauchte sich keine Gedanken zu machen, wer auf dem Gitter des Fahrers saß.

Nach einem Augenblick kehrte General Schmid zu ihrer Tagesordnung zurück. »… Wir haben noch einen Punkt zu besprechen. Es ist auch das kritischste Problem, mit dem wir konfrontiert sind. Oberst Thrakt, sagen Sie uns bitte etwas zur Lage in Südland.« Ihr Ton war höflich, fast mitfühlend. Nichtsdestoweniger kam da etwas auf den armen Thrakt zu.

Aber Thrakt zeigte harten Panzer. Er sprang von seinem Gitter auf und ging energisch zum Podium. »Frau Ministerin. Frau General.« Er nickte Nishnimor und der Chefin zu. »Wir glauben, dass sich die Situation in den letzten fünfzehn Stunden etwas stabilisiert hat.« Er zeigte die Aufklärungsbilder, die Belga ihn vor der Besprechung studieren hatte sehen. Ein großer Teil von Südland war in einem Sturmwirbel verdeckt, aber die Startrampen standen hoch in den Trockenen Bergen und waren überwiegend zu sehen. Thrakt tippte auf seine Bilder und analysierte die Versorgungslage. »Die Langstreckenraketen der Südländer benutzen Flüssigkeitstreibstoff, es sind sehr verletzliche Dinger. Ihr Parlament schien in den letzten paar Tagen wahnsinnig kriegslüstern zu sein — ihr ›Ultimatum für Kooperatives Überleben‹ zum Beispiel —, aber in Wahrheit glauben wir, dass höchstens ein Zehntel ihrer Raketen startbereit ist. Sie werden drei oder vier Tage brauchen, ehe sie alle Tanks voll haben.«

Belga: »Das sieht ziemlich dumm aus, was sie da machen.«

Thrakt nickte. »Aber vergessen Sie nicht, in ihrem parlamentarischen System lassen sich Entscheidungen schwerer treffen als bei uns oder auch den Sinnesgleichen. Diesen Leuten ist eingeredet worden, sie müssten entweder jetzt Krieg führen oder würden im Schlaf ermordet werden. Das Ultimatum ist vielleicht zum falschen Zeitpunkt gestellt worden, aber es war auch ein Versuch von manchen im Parlament, die Aussicht eines Krieges so beängstigend erscheinen zu lassen, dass ihre Kollegen einen Rückzieher machen.«

Der Direktor der Luftverteidigung: »Sie rechnen also damit, dass alles friedlich bleibt, bis sie mit dem Auftanken fertig sind?«

»Ja. Der Knackpunkt wird die Parlamentssitzung in Südende in vier Tagen sein. Dort werden sie unsere Antwort auf das Ultimatum behandeln — wenn wir eine gegeben haben.«

Der Hirni von der Öffentlichkeitsarbeit fragte: »Warum nicht einfach auf ihre Forderungen eingehen? Sie verlangen kein Territorium. Wir sind so stark, dass Nachgeben schwerlich einen Prestigeverlust bedeuten würde.«

Es folgte ein Rasseln des Unmuts rings um den Tisch. General Schmid antwortete mit Ausdrücken, die ein gut Teil milder waren, als der Frage angemessen gewesen wäre. »Leider ist es keine Prestigefrage. Das südländische Ultimatum verlangt von uns, mehrere von unseren Truppengattungen zu schwächen. Im Grunde bezweifle ich, dass die Südländer deswegen in ihren Tiefen einen Deut sicherer wären — aber es würde unsere Verwundbarkeit bei einem Erstschlag der Sinnesgleichen erhöhen.«

Tschesny Neudep, Direktor für Raketenangriffe: »In der Tat. Jetzt sind die Südländer einfach Marionetten der Sinnesgleichen. Pedure und ihre Blutsauger müssen glücklich sein. Egal, wie das ausgeht, sie gewinnen.«

»Vielleicht nicht«, sagte Ministerin Nishnimor. »Ich kenne viele von den führenden Südländern. Sie sind weder bösartig, noch wahnsinnig, noch unfähig. Wir sind hier zu einer Frage des Vertrauens gekommen. Der König ist bereit, zu dieser nächsten Parlamentssitzung der Südländer nach Südende zu reisen und für den Rest der Sitzungsperiode dort zu bleiben. Es ist schwer, sich einen größeren Vertrauensbeweis unsererseits vorzustellen — und ich denke, die Südländer werden es akzeptieren, egal, was Pedure möchte.«

Natürlich, dazu waren Könige da. Nichtsdestoweniger war das Angebot der Ministerin ein Schock, sogar ›Papa Megatod‹ Neudep schien betroffen zu sein. »Frau General… ich weiß, dass es in der Macht des Königs liegt, derlei zu tun, aber ich kann nicht zustimmen, dass dies eine Frage des Vertrauens sei. Gewiss, es gibt im Süden ehrenwerte Leute in hohen Positionen. Vor einem Jahr war das Südland fast ein Verbündeter. Wir hatten Sympathisanten in allen Ebenen der Regierung. Oberst Thrakt sagte uns, wir hätten dort — um es unverblümt zu sagen — Spione in einflussreichen Positionen. Andernfalls glaube ich nicht, dass General Schmid jemals das technische Wachstum von Südland gefördert hätte… Doch in weniger als einem Jahr scheinen wir all unsere Vorteile dort eingebüßt zu haben. Was ich jetzt sehe, ist ein gründlich von den Sinnesgleichen infiltrierter Staat. Selbst wenn die Mehrheit des Parlaments ehrenwert ist, spielt es keine Rolle.« Neudep ließ zwei Arme in Richtung auf Thrakt hin zucken. »Ihre Analyse, Oberst?«

Zeit für Schuldzuweisungen. Das war Teil von jeder der letzten Stabsbesprechungen gewesen, und jedes Mal war Thrakt stärker unter Beschuss geraten.

Thrakt deutete eine Verbeugung zu Megatod hin an. »Mein Herr, ihre Einschätzung ist im Allgemeinen korrekt, obwohl ich kaum eine Infiltration der südländischen Raketenstreitkräfte an sich feststellen kann. Wir hatten dort eine freundliche Regierung — und zwar eine, die, ich würde schwören, sorgfältig mit Agenten des Einklangs ›ausgestattet‹ war. Die Sinnesgleichen waren aktiv, aber wir hatten sie matt gesetzt. Dann haben wir Schritt für Schritt Boden verloren. Zuerst war es verpfuschte Überwachung, dann tödliche Unglücksfälle, dann Morde, die wir nicht schnell genug unterbinden konnten. In letzter Zeit hat es dort fingierte Kriminalprozesse gegeben… Unser Feind ist schlau.«

»Die Geehrte Pedure ist also ein Genie, wie uns noch nie eins begegnet ist?«, fragte der Direktor der Luftverteidigung mit triefendem Sarkasmus.

Thrakt schwieg einen Augenblick. Seine Esshände zuckten hin und her. Bei früheren Besprechungen war das der Punkt, wo er mit Statistiken und schönen neuen Projekten zum Gegenangriff überging. Jetzt aber schien etwas in ihm zu brechen. Belga Untersiedel hatte Thrakt immer als bürokratischen Feind betrachtet, seit die Kinder der Chefin entführt worden waren; doch nun schämte sie sich seinetwegen. Als Thrakt schließlich sprach, war seine Stimme ein zorniges Quieken. »Nein! Wissen Sie nicht, dass ich… dass ich Freunde habe sterben lassen; ich habe Freunde eingebüßt, weil ich ihnen zu sehr misstraute. Lange Zeit dachte ich, es müsse ein Agent der Sinnesgleichen in meiner Organisation sein. Ich teilte kritische Informationen mit immer weniger Leuten, nicht einmal mit meiner Vorgesetzten…« Er nickte zu General Schmid hin. »Am Ende sind uns Geheimnisse abgegriffen worden, die nur ich kannte und die ich mit meiner eigenen Verschlüsselungsapparatur übermittelte.«

Es folgte Schweigen, als sich die offensichtliche Konsequenz dieser Behauptungen in den Köpfen seiner Zuhörer verfestigte. Thrakts Aufmerksamkeit schien sich nach innen zu kehren, als kümmere es ihn nicht, dass andere ihn vielleicht für den Erzverräter hielten. Er fuhr ruhiger fort: »Soweit jemand paranoid sein kann, und das überall, so war ich es. Ich habe unterschiedliche Kommunikationswege verwendet, verschiedene Verschlüsselungen. Ich habe differenzierte Falschmeldungen benutzt… Und ich sage Ihnen, unser Feind ist mehr als nur irgendeine einzelne ›Geehrte Pedure‹. Irgendwie kehrt sich all unsere schlaue Wissenschaft gegen uns.«

»Unsinn!«, sagte die Luftverteidigung. »Meine Abteilung benutzt mehr von dem, was Sie ›schlaue Wissenschaft‹ nennen, und wir sind mit den Ergebnissen vollauf zufrieden. In kompetenten Händen sind Computer und Datennetze und Satellitenaufklärung unglaublich mächtige Werkzeuge. Sehen Sie doch nur, was unsere Tiefenanalyse aus den unidentifizierten Radarsichtungen gemacht hat. Gewiss, Datennetze können missbraucht werden. Aber wir sind Weltspitze in diesen Techniken. Und egal, was sonst kaputt sein kann, wir haben eine völlig robuste Verschlüsselungstechnik… Oder behaupten Sie, der Feind könne unsere Codes knacken?«

Thrakt winkte leicht von seinem Platz hinter dem Podium aus. »Nein, das war mein erster großer Verdacht, aber wir waren bis ins Herz der Verschlüsselungsarbeiten der Sinnesgleichen vorgedrungen — und haben uns bis vor kurzem sicher dort gehalten. Wenn ich auf etwas vertraue, dann darauf, dass sie unsere Codes nicht knacken können.« Er winkte ihnen allen zu. »Sie verstehen es wirklich nicht, oder? Ich sage Ihnen, es gibt in unseren Datennetzen eine fremde Kraft, etwas, das aktiv gegen uns arbeitet. Egal was wir tun, dieses Etwas weiß mehr, und es unterstützt unsere Feinde…«

Die Szene war Mitleid erregend, eine Art bitterer Zusammenbruch. Thrakt blieben nur noch Hirngespinste, um sein Versagen zu erklären. Vielleicht übertraf Pedures Schlauheit wirklich alle Vorstellungen. Wahrscheinlicher war Thrakt ein Erzverräter.

Belga beobachtete die Chefin mit halber Aufmerksamkeit. General Schmid besaß des Königs tiefstes Vertrauen. Zweifellos konnte sie Thrakts Zusammenbruch überstehen, indem sie ihn einfach glattweg verstieß.

Schmid winkte dem wachhabenden Feldwebel an der Tür. »Begleiten sie Oberst Thrakt ins Stabsbüro. Oberst, ich werde in ein paar Minuten kommen, um mit Ihnen zu reden. Betrachten Sie sich als noch im Dienst.«

Es schien eine Sekunde zu dauern, bis die Worte durch Thrakts Bammel drangen. Er wurde vor die Tür geschickt, aber anscheinend nicht zur Verhaftung oder auch nur zum unmittelbaren Verhör durch Untergebene. »Jawohl, Frau General.« Er straffte sich, simulierte Schneid und folgte dem Feldwebel nach draußen.

Nach Thrakts Abgang war das Zimmer sehr still. Belga wusste, dass jeder alle anderen beobachtete und sehr finstere Gedanken hegte. Schließlich sagte General Schmid: »Meine Freunde, der Oberst hat in einem Punkt Recht. Zweifellos sind wir von tiefgetarnten Agenten der Sinnesgleichen infiltriert. Aber sie werden über ein viel zu großes Spektrum unserer Abteilungen hinweg wirksam. Es gibt eine systematische Schwachstelle in unserer Sicherheit, und doch haben wir keine Ahnung, was es ist… Nun sehen Sie den Grund für das Lichtberg-Team.«

Siebenundvierzig

Es war vierzig Jahre her, dass der EinAus-Stern zuletzt zum Leben erwacht war. Ritser Brughel war nicht die ganze Zeit auf Wache gewesen, dennoch hatte das Exil Jahre seines Lebens verbraucht. Und nun ging es seinem Ende entgegen. Was Jahre gewesen waren, war jetzt eine Frage von Tagen. In weniger als vier Tagen würde er Vizeherrscher einer Welt sein.

Brughel hing über der Schulter des Blitzkopfes, der die ferngesteuerte Landesonde steuerte, und sah schweigend zu, was das winzige Gerät zurücksendete. Vor ein paar Sekunden hatte der Lander den Bremsschub beendet und die meterbreiten Flügel ausgefahren. Noch vierzig Kilometer hoch waren sie geisterhaft über einen endlosen Teppich von Lichtern, verknüpft mit einem leuchtenden Geflecht, geglitten, das sich in rekursive Unendlichkeit verfeinerte. Groß-Königsberg Süd war der Blitzkopf-Name für den Ort. Eine Superstadt der Spinnen. Diese Welt war kalt und gefror immer weiter, doch sie war keine Einöde. Die Megapoleis sahen nahezu frenkisch aus. Das war eine richtige Zivilisation, gekrönt von vierzig Jahren fortgesetztem Erfolg. Ihre wesentliche Technik stand noch hinter den höchsten Maßstäben der Menschheit zurück, doch unter der Führung von Blitzköpfen konnte das in ein, zwei Jahrzehnten korrigiert werden. Vierzig Jahre lang war ich zu einem Gebieter über ein paar Dutzend herabgesunken, und bald werde ich Gebieter über viele Millionen sein. Und darüber hinaus… Wenn die Spinnenwelt tatsächlich Schlüssel zu einer Höheren Technik barg… würden er und Tomas Nau eines Tages zum Frenk und zur Balacrea zurückkehren, um auch dort zu herrschen.

Binnen drei Sekunden splitterte das Bild in ein Dutzend Kopien auf, und dann in ein Dutzend Mal Dutzend. »Was…?«

»Der Lander hat sich gerade in Untereinheiten geteilt, Hülsenmeister.« Reynolts Erklärung klang kalt, fast spöttisch. »Fast zweihundert mobile Einheiten — manche werden wir nach Südende bringen.« Sie wandte sich vom Bildschirm ab und schaute ihm beinahe in die Augen. »Seltsam, dass Sie sich auf einmal so sehr für operative Einzelheiten interessieren, Hülsenmeister.«

Er spürte ein Aufflackern der alten Wut über ihre Unverschämtheit, doch es war harmlos, wirkte sich weder auf seinen Atem noch auf seine Sicht aus. Er deutete ein Achselzucken an. Heutzutage komme ich sogar mit Reynolt klar. Vielleicht hatte Tomas Nau Recht; vielleicht wurde er wirklich allmählich reifer. »Ich möchte mir anschauen, wie die Wesen wirklich aussehen.« Man muss seine Sklaven kennen. Bald würden sie Hunderte von Millionen von Spinnen töten, aber irgendwie musste er lernen, die zu tolerieren, die verschont wurden.

Die Spionsonden flogen in lautlosem Bogen abwärts über eine gefrorene Meerenge. Ein paar drehten sich noch, und Ritser erhielt einen Blick auf Wolken, die Oberfläche eines — Orkans? Zweihundert Geschosse von Daumengröße. In den nächsten tausend Sekunden landeten alle, manche in tiefem Schnee, manche auf felsiger Einöde. Doch es gab auch Erfolge.

Etliche gerieten auf eine Art Straße, die in blaues Licht getaucht war. Eins der Bilder zeigte schneedrapierte Ruinen in der Ferne. Schwere geschlossene Fahrzeuge rumpelten vorüber. Reynolts Blitzkopf ließ seine Spionagesonde auf die Straße wackeln. Er versuchte, per Anhalter mitzufahren. Einer nach dem anderen stellten sie die Übertragung ein — platt gewalzt. Ritser schaute auf das Bestands-Fenster. »Das sollte besser funktionieren, Anne. Wir haben nur noch einen Multi-Lander.«

Reynolt würdigte ihn keiner Antwort. Ritser zog sich nach unten, um ihrem Spezialisten auf die Schulter zu tippen. »Also, wirst du einen nach drinnen kriegen?«

Mit einer Antwort war kaum zu rechnen; ein fokussierter Geist in einer Steuerschleife ist für gewöhnlich nicht zu erreichen. Doch nach einem Augenblick nickte der Blitzer. »Sonde 132 macht sich gut. Ich habe noch dreihundert Sekunden auf der Breitband-Verbindung. Wir sind nur noch ein paar Meter von der Belüftungstür entfernt. Diese kommt hinein…« Der Bursche beugte sich über die Regler. Er wiegte sich vor und zurück wie ein Süchtiger bei einem Hand-Auge-Spiel, wo der Sinn exakt die Situation war. Eins von den Bildern ging rauf und runter, während er das Gerät in den Verkehr wackeln ließ.

Brughel schaute wieder zu Reynolt. »Die verdammte Zeitlücke. Wie kann man erwarten, dass…«

»So eine Fernsteuerung ist nicht das Schlimmste. Melin« — der Blitzkopf-Operator — »hat eine sehr gute Verzögerungs-Koordination. Unser Hauptproblem sind Operationen in den Datennetzen der Spinnen. Eine Reaktionszeit von zehn Sekunden ist länger als die maximale Wartezeit mancher Netze.«

Während sie sprach, huschte ein Reifenprofil an der kleinen Kamera vorbei. Mit irgendeiner magischen Blitzer-Intuition hatte Melin das Gerät an die Seite des Fahrzeugs geschnipst. Die Sicht wirbelte ein paar Sekunden lang wie verrückt herum, bis Melin die Rotation mit dem Bild synchronisiert hatte. In der Wand vor ihnen öffnete sich eine Tür, und sie fuhren hindurch. Dreißig Sekunden vergingen. Die Wände schienen aufwärts zu gleiten. Eine Art Fahrstuhl? Doch wenn die Maßstabsinformation zutraf, war der Raum größer als ein Raquettballfeld.

Sekunden verstrichen, und Brughel stellte fest, dass er von der Szene gefesselt war. Seit Jahren war jetzt alles, was sie über die Spinnen erfahren hatten, aus zweiter Hand gekommen, von Reynolts Blitzkopf-Übersetzern. Ein großer Teil davon musste Märchengefasel sein, es war einfach gar zu nett. Echte Bilder brauchten sie. Die optische Erkundung durch Mikrosatelliten lieferte Bilder, aber die Auflösung war schrecklich. Etliche Jahre lang hatte Ritser geglaubt, wenn die Spinnen endlich hochauflösende Bildübertragung erfänden, würden sie gute Bilder bekommen. Aber die visuelle Physiologie von Menschen und Spinnen war einfach zu unterschiedlich. Heutzutage waren etwa fünf Prozent der militärischen Kommunikation der Spinnen dieses extrem hochauflösende Zeug, das Trixia Bonsol ›Videomantie‹ nannte. Ohne tiefgreifende Umformung war es für Menschen einfach ein pures Wirrwarr. Er hätte den starken Verdacht gehabt, dass es eine steganographische Tarnung war, nur dass die Übersetzer Kals Schnüfflern bewiesen hatten, dass es sich um harmlose Bilder handelte — aber alle sehr beeindruckend, wenn man eine Spinne war.

Doch jetzt würde er in ein paar Sekunden zu sehen bekommen, wie die Monster aus menschlicher Sicht aussahen.

Es war keine Bewegung zu sehen. Wenn das ein Fahrstuhl war, dann fuhren sie tief hinab. Das war plausibel, wenn man bedachte, wie das Wetter am Südpol war. »Werden wir das Signal einbüßen?«

Reynolt antwortete nicht gleich. »Ich weiß nicht. Melin versucht gerade, in diesem Fahrstuhlschacht Relaissender anzubringen. Ich mache mir größere Sorgen, dass es entdeckt wird. Selbst wenn die Selbstvernichtungsauslöser funktionieren…«

Brughel lachte. »Na und? Siehst du denn nicht, Reynolt? Es sind keine vier Tage mehr, dass wir das alles einsacken.«

»Der Einklang gerät allmählich in Panik. Sie haben eben einen führenden Verwalter geschasst. Ich habe Berichte von Besprechungen, die zeigen, dass Viktoria Schmid jetzt eine Korruption des Datennetzes vermutet.«

»Ihre Geheimdienst-Chefin?« Die Nachricht ließ Brughel für einen Augenblick stutzen. Das musste vor ganz kurzer Zeit passiert sein. Trotzdem: »Ihnen bleiben keine vier Tage. Was können sie schon tun?«

Reynolts Blick war steinern wie üblich. »Sie könnten ihr Netz in Teile zerlegen, es vielleicht überhaupt nicht mehr benutzen. Das würde uns Einhalt gebieten.«

»Und dafür sorgen, dass sie den Krieg gegen die Sinnesgleichen verlieren.«

»Ja. Es sei denn, sie könnten den Sinnesgleichen stichhaltige Beweise für ›Ungeheuer aus dem Weltraum‹ liefern.«

Und das war verdammt unwahrscheinlich. Die Frau war besessen. Ritser lächelte ihr ins finstere Gesicht. Klar. So haben wir dich gemacht.

Die Türen des Fahrstuhls gingen auf. Die Kamera zeigte ihnen jetzt nur ein Bild pro Sekunde, und das mit niedriger Auflösung. Verdammt.

»Ja!« Das war Melin, dem irgendetwas gelungen war.

»Er hat einen Relaissender untergebracht.«

Plötzlich wurde das Bild scharf und glatt. Als die Spionsonde durch die Tür des Fahrstuhls kroch, richtete Melin ihre Augen eine unglaubliche Treppenflucht hinab, eigentlich eher eine Leiter. Wer weiß, wozu dieses Gebiet diente, vielleicht als Ladegarage? Vorerst verbarg sich die kleine Kamera in Ecken und blickte von dort auf die Spinnen. Anhand der Maßstabsleiste sah er, dass die Ungeheuer die erwartete Größe hatten. Ein ausgewachsenes Exemplar würde bis zu Brughels Oberschenkel reichen. Die Wesen waren in einer flachen Haltung weit über den Boden ausgebreitet, ganz wie auf den Bibliotheksbildern, die sie vor dem Wiederaufflammen geborgen hatten. Sie sahen kaum wie das geistige Bild aus, das die Blitzköpfe erzeugt hatten. Trugen sie Kleidung? Nicht wie Menschen. Die Ungeheuer waren in etwas eingehüllt, was wie Fahnen mit Knöpfen aussah. Große Tragetaschen hingen bei vielen zu beiden Seiten herab. Sie bewegten sich mit raschen, unheimlichen Rucken, wobei ihre klingenähnlichen Vorderbeine vor ihnen hin und her huschten. Es war eine Menge von ihnen hier, chitinschwarz mit Ausnahme der schlecht zueinander passenden Farben ihrer Kleidung. Auf ihren Köpfen glitzerte etwas wie große flache Edelsteine. Spinnenaugen. Und was den Mund der Spinnen betraf — da hatten die Übersetzer das passende Wort benutzt: Schlund. Eine zahnbewehrte Tiefe, umgeben von winzigen Klauen — war es das, was Bonsol & Co. ›Esshände‹ nannten? —, die in ständiger verworrener Bewegung zu sein schienen.

In dieser Masse waren die Spinnen ein größerer Albtraum, als er sich vorgestellt hatte, die Sorte, die man zerquetscht und zerquetscht und zerquetscht — und es kommen immer neue auf einen zu. Ritser schnappte nach Luft. Ein tröstlicher Gedanke war es, dass — wenn alles glatt ging — diese scheußlichen Ungeheuer in knapp vier Tagen alle tot sein würden.


Zum ersten Mal seit vierzig Jahren würde ein Sternenschiff durch das EinAus-System fliegen. Es würde ein sehr kurzer Satz sein, keine zwei Millionen Kilometer, nach zivilisierten Maßstäben kaum ein Wechsel des Anlegeplatzes. Es war so ziemlich das Beste, wozu irgendeins von den verbliebenen Sternenschiffen noch imstande war.

Jau Xin hatte die Flugvorbereitungen der Unsichtbare Hand überwacht. Die Hand war immer Ritser Brughels transportables Privatlehen gewesen, doch Jau wusste, dass sie auch das einzige Sternenschiff war, das im Laufe der Jahre nicht völlig ausgeschlachtet worden war.

An den Tagen, ehe ihre ›Passagiere‹ an Bord gingen, hatte Jau aus der L1-Raffinerie alles an Wasserstoff herausgequetscht. Es waren nur ein paar tausend Tonnen, ein Tröpfchen in den Millionen Tonnen fassenden Starttanks des Staustrahl-Triebwerks, aber genug, um sie über die Entfernung zwischen L1 und der Spinnenwelt zu bringen.

Jau und Pham Trinli führten die abschließende Inspektion der Triebwerksdüse des Sternenschiffes durch. Es war immer seltsam, die Enge von zwei Metern zu betrachten. Hier hatten Jahrzehnte lang die Kräfte der Hölle gebrannt und das Dschöng-Ho-Schiff bis auf dreißig Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Die innere Oberfläche war mikrometerglatt. Das einzige Anzeichen ihrer feurigen Vergangenheit was das Fraktalmuster von Gold und Silber, das im Schein ihrer Anzuglampen glitzerte. Es war das Mikronetz von Prozessoren hinter diesen Wänden, das eigentlich die Felder lenkte, doch wenn die Düsenwandung unterwegs Löcher bekam, würden nicht einmal die schnellsten Prozessoren im Universum sie retten. Wie üblich machte Trinli um seine lasermetrische Inspektion viel Aufhebens, dann äußerte er sich abfällig über die Ergebnisse. »Da sind neunzig Mikron Einbuchtung auf der Backbordseite — aber was soll’s? Man könnte hier seinen Namen in die Wände ritzen, und auf diesem Flug würde es keine Rolle spielen. Was hast du vor, ein paar hundert Kilosek bei einen Bruchteil von einem g?«

»Hm. Wir werden mit einem langen sanften Schub anfangen, aber bremsen werden wir tausend Sekunden bei etwa über einem g.« Das würden sie erst tun, wenn sie tief über offenem Ozean waren. Alles andere würde den Himmel der Arachna heller als die Sonne erleuchten, und jede Spinne auf dieser Seite des Planeten würde es sehen.

Trinli winkte lässig ab. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich habe viele Male bei einem Flug im System mehr riskiert.« Sie krochen auf der Bugseite der Düse heraus; die glatte Oberfläche weitete sich zu der Stelle hin, wo die Vorder-Feldprojektoren begannen. Die ganze Zeit über fuhr Trinli mit seinen Lügengeschichten fort. Nein. Die meisten Geschichten konnten wahr sein, aber aus all den wirklichen Abenteurern zusammengestückelt, die der alte Mann jemals gekannt hatte. Trinli wusste durchaus einiges über Schiffstriebwerke. Die Tragödie war, dass sie niemanden hatten, der viel mehr wusste. Alle Flugingenieure der Dschöng Ho waren beim ersten Kampf umgekommen — und der letzte Blitzkopf-Ingenieur der Hülse war dem Ausbruch der Geistfäule zum Opfer gefallen.

Sie kamen aus dem Bugende der Hand und kletterten ein Haltetau entlang zu ihrem Taxi. Trinli hielt inne und wandte sich um. »Ich beneide dich, Jau, mein Junge. Schau dir dein Schiff an! Fast eine Million Tonnen Leergewicht! Du wirst nicht weit fliegen, aber du wirst die Hand zu dem Schatz und den Kunden bringen, die zu finden sie fünfzig Lichtjahre zurückgelegt hat.«

Jau folgte mit dem Blick der weit ausholenden Geste. Im Laufe der Jahre hatte Jau erkannt, dass Trinlis Theatralik eine Tarnung war… aber manchmal griff sie einem an die Seele. Die Unsichtbare Hand sah durchaus sternentüchtig aus, hundert Meter um hundert Meter gekrümmte Rumpfhülle, die sich in die Ferne erstreckte, stromlinienförmig für Geschwindigkeiten und eine Umwelt am Ende all dessen ausgelegt, was Menschen jemals erreicht hatten. Und hinter den Heckringen — anderthalb Millionen Kilometer entfernt — war fahl und trübe die Scheibe der Arachna zu erkennen. Ein Erstkontakt, und ich werde der Pilotenverwalter sein. Jau hätte stolz sein müssen…


Jaus letzter Tag vor dem Abflug war mit Arbeit angefüllt, mit letzten Überprüfungen und Vorkehrungen. Es würden über hundert Leute an Bord sein, Blitzköpfe und Personal. Jau erfuhr nicht, welche Fachgebiete im Einzelnen vertreten waren, doch offensichtlich wollten die Hülsenmeister die Datennetze der Spinnen intensiv manipulieren, ohne die zehn Sekunden Verzögerung bei Operationen von L1 aus. Das war plausibel. Die Spinnen vor sich selbst zu retten, würde gewisse unglaubliche Betrügereien erfordern, vielleicht die Übernahme sämtlicher strategischer Waffensysteme.

Jau kam von seiner Schicht, als Kal Omo in Xins kleinem Büro gleich neben der Brücke der Hand aufkreuzte.

»Noch ein Auftrag, Pilotenverwalter.« Auf Omos schmalem Gesicht erschien ein humorloses Grinsen. »Nennen wir’s Überstunden.«

Sie nahmen ein Taxi zum Felshaufen hinunter, aber nicht nach Hammerfest. Hinter der Wölbung von Diamant Eins, eingebettet in Eis und Diamant, lag der Eingang zu L1-A. Zwei weitere Taxis hatten bereits bei der Schleuse des Arsenals festgemacht.

»Sie haben die Waffeninstallationen der Hand studiert, Pilotenverwalter?«

»Ja.« Xin hatte alles auf der Hand studiert, ausgenommen Brughels Privaträume. »Aber sicherlich wäre jemand von der Dschöng Ho besser vertraut…«

Omo schüttelte den Kopf. »Das ist keine passende Arbeit für einen Krämer, nicht einmal für Trinli.« Sie brauchten einige Sekunden, um die Sicherheitsanlagen der Hauptschleuse zu passieren, doch als sie erst einmal drin waren, hatten sie freien Zugang zum Waffenbereich. Ihnen schlug der Lärm von Maschinen und Schneidegeräten entgegen. Die gedrungenen eiförmigen Gegenstände, die an den Wänden aufgereiht waren, trugen das Waffenzeichen — das uralte Dschöng-Ho-Symbol für Nuklearsprengköpfe und Lenkenergie-Waffen. Jahrelang hatten Gerüchte darüber spekuliert, wie viel davon wohl bei L1-A noch vorhanden war. Jetzt würde Jau es selbst sehen.

Omo führte ihn eine Kriechschiene entlang, vorbei an unbeschrifteten Containern. In L1-A gab es keine Gemeinbilder. Und das war einer der wenigen Orte bei L1, wo keine Dschöng-Ho-Orter verwendet wurden. Die Automatik war einfach und idiotensicher. Sie kamen an Rei Ciret vorbei, der eine Gruppe von Blitzköpfen beaufsichtigte, welche eine Art Bombenträger bauten. »Wir werden die meisten von diesen Waffen an Bord der Unsichtbare Hand bringen, Herr Xin. Im Laufe der Jahre haben wir Teile zusammengebastelt, versucht, so viel einsatzfähige Geräte wie möglich herzustellen. Wir haben unser Möglichstes getan, doch ohne Werkstätten ist das nicht besonders viel.« Er zeigte auf etwas, das wie Dschöng-Ho-Antriebseinheiten aussah, die an taktische Nuklearsprengköpfe der Aufsteiger angepasst worden waren. »Zählen Sie. Achtzehn Kurzstrecken-Atomraketen. In den Containern haben wir die Eingeweide von einem Dutzend Waffenlasern.«

»Ich… ich verstehe nicht, Hülsensergeant. Sie sind ein Waffenführer. Sie haben Ihre eigenen Fachleute. Welchen Zweck soll es haben, wenn…«

»… wenn ein Pilotenverwalter sich mit derlei Dingen befasst?« Wieder das humorlose Lächeln. »Um die Spinnenzivilisation zu retten, kann es durchaus notwendig werden, dass wir von der Unsichtbare Hand in niedriger Umlaufbahn aus diese Dinger einsetzen. Die Installation und die Auslösesequenzen werden für Ihre Piloten sehr wichtig sein.«

Xin nickte. Einiges davon hatte er durchdacht. Der wahrscheinlichste Beginn eines Krieges, der den Planeten umbringen würde, war die gegenwärtige Krise am Südpol der Spinnen. Nach ihrer Ankunft würden sie fünftausenddreihundert Sekunden diese Gegend überqueren, und kleinere Flugkörper würden das Gebiet fast ständig bestreichen. Das mit den Lasern hatte Tomas Nau schon angekündigt. Und was die Sprengköpfe betraf… vielleicht würden sie sich beim Bluffen als nützlich erweisen.

Der Hülsensergeant setzte die Führung fort und legte die Grenzen jedes einzelnen wiederhergestellten Geräts dar. Die meisten von den Waffen waren Hohlladungsgeschosse, und Omos Blitzköpfe hatten sie zu groben Bunker brechenden Bomben mit Tiefenwirkung umgebaut. »… und wir werden die meisten Datennetz-Blitzköpfe an Bord der Hand haben. Sie werden Feuerleitinformationen für unsere Manöver liefern; wir werden vielleicht erhebliche Bahnänderungen vornehmen müssen, je nach den Zielen.«

Omo redete mit der Begeisterung eines Mannes von der Technischen Truppe und ließ Jau schon bald kein Schlupfloch mehr. Ein Jahr lang hatte Jau die Vorbereitungen mit zunehmender Angst beobachtet; es gab Einzelheiten, die man ihm nicht verheimlichen konnte. Doch für jede Möglichkeit von Heimtücke hatte es immer eine plausible Erklärung gegeben. Er hatte sich so verbissen an diese ›plausiblen Erklärungen‹ geklammert. Sie ermöglichten es ihm, einen Rest von Anstand zu empfinden; sie erlaubten ihm, mit Rita zu lachen, wenn sie Pläne schmiedeten, wie die Zukunft mit den Spinnen aussehen würde und welche Kinder sie beide haben würden.

Das Entsetzen musste auf Jaus Gesicht zu sehen sein. Omo hielt in seiner Parade mörderischer Offenbarungen inne, wandte sich ihm zu und schaute ihn an. Jau fragte: »Warum…?«

»Warum ich Ihnen das so klipp und klar sagen muss?« Omo stieß einen Finger gegen Jaus Brust, dass er weg von der Kriechschiene und gegen die Wand trieb. Er stieß wieder zu. Sein Gesicht zeigte wütende Entrüstung. Es war die gerechte Entrüstung von Aufsteiger-Autorität, mit der Jau auf der Balacrea aufgewachsen war. »Es sollte eigentlich nicht notwendig sein, nicht wahr? Aber Sie sind wie so viele in unserer Hülse. Sie sind innerlich schlecht geworden, eine Art Krämer. Die anderen können wir noch eine Weile länger abdriften lassen, aber wenn die Hand die tiefe Umlaufbahn erreicht, brauchen wir Ihren intelligenten und augenblicklichen Gehorsam.« Omo stieß nochmals zu. »Verstehen Sie jetzt?«

»J-ja. Ja!« Oh Rita! Wir werden immer ein Teil des Aufstiegs sein.

Achtundvierzig

Über hundert Blitzköpfe verließen das Obergeschoss von Hammerfest. Genial wie er war, hatte Trud Silipan den ganzen Umzug auf einmal geplant. Als Ezr zu Trixias Zelle unterwegs war, schwamm er gegen einen Menschenstrom. Die Fokussierten wurden in Gruppen zu vier und fünf geführt, zuerst aus den kleinen Kapillargängen, die zu ihren Käfterchen führten, dann die Nebenkorridore entlang bis zum Hauptkorridor. Die Wärter waren sanft, doch es war ein schwieriges Manöver.

Ezr zog sich seitlich in eine Wartungsnische, ein Gegenwirbel im Strom. Diese Leute, die an ihm vorbeitrieben, hatte er jahrelang nicht gesehen. Es waren welche von der Dschöng Ho und Spezialisten von Triland, die gleich nach dem Überfall fokussiert worden waren, so wie Trixia. Ein paar von den Wärtern waren Freunde der Fokussierten, die sie begleiteten. Wache für Wache waren sie gekommen, um die Verlorenen zu besuchen. Anfangs hatten das viele getan. Doch die Jahre waren vergangen und die Hoffnung war verblasst. Eines Tages vielleicht… Sie hatten Naus Versprechen der Freilassung. In der Zwischenzeit schienen die Blitzköpfe keiner Zuwendung zugänglich zu sein; ein Besuch war für sie höchstens eine Irritation. Nur ein paar Narren setzten die Besuche jahrelang fort.

Ezr hatte nie so viele Blitzköpfe in Bewegung gesehen. Die Belüftung der Korridore war nicht so gut wie in den kleinen Zellen; der Geruch ungewaschener Körper war stark. Anne hielt das Eigentum der Hülse bei Gesundheit, doch das bedeutete nicht, dass sie sauber und hübsch anzusehen waren.

Bil Phuong hing an einer Wandschlaufe an einer Stelle, wo Ströme zusammentrafen, und dirigierte seine Gruppenwächter. Die meisten Gruppen hatten ein gemeinsames Fachgebiet. Vinh fing Brocken aufgeregten Wortwechsels auf. Konnte es sein, dass es sie kümmerte, was mit der Spinnenwelt geschehen sollte?… Aber nein, es waren Ungeduld und Irritation und technisches Kauderwelsch. Eine ältere Frau — eine von denen, die in Netzprotokolle eingriffen — stieß ihren Wärter, redete sogar direkt auf ihn ein. »Wann also?« Ihre Stimme war schrill. »Wann kommen wir wieder zum Arbeiten?«

Eins von den Gruppenmitgliedern der Frau rief etwas wie »Ja, der Kellerschnitt ist schal!« und näherte sich den Wärtern von der anderen Seite. Von ihren einlaufenden Daten getrennt, waren die armen Dinger am Durchdrehen. Die ganze Gruppe schrie auf den Wärter ein. Die Gruppe war der Kern eines anwachsenden Knotens im Strom. Plötzlich kam Ezr zu Bewusstsein, dass so etwas wie ein Sklavenaufstand tatsächlich passieren konnte — wenn man die Sklaven von ihrer Arbeit trennte! Diese Gefahr verstand der Gruppenwärter, ein Aufsteiger, offensichtlich. Er glitt beiseite und zog zweien der lautesten Blitzköpfe die Lähmkordel über die Köpfe. Sie zuckten krampfhaft, erschlafften dann. Um ihren Mittelpunkt gebracht, ebbten die Beschwerden der anderen zu diffuser Reizbarkeit ab.

Bil Phuong kam heran, um die letzten kampflustigen Blitzköpfe zu beruhigen. Den Gruppenwärter bedachte er mit einem Stirnrunzeln. »Noch zwei, die ich neu eichen muss.« Der Wärter wischte sich Blut von der Wange und starrte wütend zurück. »Sag das Trud.« Er griff nach der Kordel und schob die bewusstlosen Blitzköpfe über ihre Gefährten hinweg nach draußen. Die Menge bewegte sich weiter, und nach ein paar Sekunden hatte Vinh den Weg frei für einen Sprung zum Ende des Korridors.


Die Übersetzer flogen nicht mit der Unsichtbare Hand. Ihr Abschnitt im Obergeschoss hätte friedlich sein müssen. Doch als Ezr eintraf, fand er die Zellentüren offen und die Übersetzer dabei, die Kapillargänge zu verstopfen. Ezr schlängelte sich an den zappelnden, rufenden Blitzköpfen vorbei. Er fand keine Spur von Trixia. Aber ein paar Meter weiter den Korridor entlang stieß er auf Rita Liao, die aus der Gegenrichtung kam.

»Rita! Wo sind die Wärter?«

Liao hob irritiert beide Hände. »Irgendwo anders beschäftigt natürlich! Und jetzt hat irgendein Idiot die Türen der Übersetzer aufgemacht!«

Trud hatte sich wirklich selbst übertroffen, obwohl das höchstwahrscheinlich nur ein indirekter Ausrutscher war. Ironischerweise waren die Übersetzer — die nirgendwohin umziehen sollten — auch ohne Aufforderung aus ihren Zellen gekommen und verlangten jetzt lauthals Anweisungen. »Wir wollen auf die Arachna!«

»Wir wollen näher ran!«

Wo war Trixia? Ezr hörte weitere Rufe hinter einer Ecke weiter oben. Er folgte der Abzweigung, und da war sie, zusammen mit den übrigen Übersetzern. Trixia wirkte schwer desorientiert; an die Welt außerhalb ihrer Zelle war sie einfach nicht gewöhnt. Doch sie schien ihn zu erkennen. »Seid still! Seid still!«, rief sie, und das Geschwätz verstummte. Sie schaute unbestimmt in Ezrs Richtung. »Nummer Vier, wann fliegen wir zur Arachna?«

Nummer Vier? »Äh… bald, Trixia. Aber nicht bei diesem Flug, nicht mit der Unsichtbare Hand.«

»Warum nicht! Mir gefällt die Zeitlücke nicht!«

»Vorerst will der Hülsenmeister euch in der Nähe behalten.« Das war wirklich die offizielle Geschichte: Nur Netzfunktionen der unteren Niveaus wurden in Arachnanähe benötigt. Pham und Ezr kannten die schlimmere Erklärung. Nau wollte so wenig Leute wie möglich an Bord der Hand haben, wenn sie ihren wahren Auftrag ausführte. »Ihr fliegt hin, wenn es sicher ist, Trixia. Ich versprech’s.« Er streckte die Hand nach ihr aus. Trixia zuckte nicht zurück, doch sie hielt sich an einer Wandschlaufe fest und widerstand jedem Versuch, sie in ihre Zelle zurückzuziehen.

Ezr schaute über die Schulter zu Rita Liao. »Was sollen wir tun?«

»Wart nur.« Sie berührte ihr Ohr, horchte. »Phuong und Silipan werden kommen, um sie in ihre Löcher zurückzustecken, sobald sie die anderen in der Hand untergebracht haben.«

Herrgott, das konnte dauern. In der Zwischenzeit würden zwanzig Übersetzer im Labyrinth des Obergeschosses los sein. Er tätschelte Trixias Arm. »Lass uns zurück in dein Zimmer gehen, Trixia. Äh… schau, je länger du hier draußen bist, desto mehr verlierst du den Kontakt. Ich wette, du hast deine Datenbrille im Zimmer gelassen. Du könntest sie verwenden, um dem Flottennetz deine Fragen zu stellen.« Trixia hatte ihre Datenbrille wahrscheinlich zurückgelassen, weil sie nicht verbunden war. Aber momentan versuchte er einfach, plausible Geräusche zu machen.

Trixia schnellte unschlüssig von Wandschlaufe zu Wandschlaufe. Abrupt schoss sie an ihm vorbei und die Verzweigung entlang, die zu ihrem kleinen Zimmer führte. Ezr folgte ihr.

Die Zelle reagierte auf Trixias Anwesenheit, die Lampen begannen wie üblich trübe zu scheinen. Trixia griff nach der Datenbrille, und Ezr synchronisierte seine mit ihrer. Ihre Verbindungen waren nicht vollends abgeschaltet. Ezr sah die üblichen Bilder und Textspritzer; sie kamen nicht direkt live vom Planeten, aber doch beinahe. Trixias Augen schossen von Bildschirm zu Bildschirm. Ihre Finger hämmerten auf ihrer alten Tastatur; doch sie schien den Gedanken vergessen zu haben, Verbindung zum Informationsdienst der Flotte aufzunehmen. Allein der Anblick ihres Arbeitsraums hatte sie zum Mittelpunkt ihres Fokus zurückgezogen. Neue Textfenster leuchteten auf. Zeichen-Unsinn scrollte so schnell durch, dass es eine Darstellung mündlicher Spinnensprache sein musste, eine Rundfunksendung oder — angesichts der gegenwärtigen Lage — eine angefangene militärische Übertragung. »Ich kann die Zeitlücke einfach nicht ausstehen. Das ist nicht fair.« Wieder langes Schweigen. Sie öffnete einen weiteren Textbildschirm. Das Bild daneben durchlief eine flackernde Folge von Farben, eins der Videoformate der Spinnen. Es sah immer noch nicht wie ein richtiges Bild aus, doch er erkannte dieses Muster; er hatte es oft genug in Trixias kleinem Zimmer gesehen. Es war eine kommerzielle Nachrichtensendung der Spinnen, die Trixia jeden Tag übersetzte. »Sie irren sich. General Schmid wird statt des Königs nach Südende fliegen.« Sie war noch immer angespannt, doch jetzt war es ihre übliche, dem Fokus entspringende Versunkenheit.

Ein paar Sekunden später steckte Rita Liao den Kopf ins Zimmer. Ezr wandte sich um, sah in ihrem Gesicht ein stilles Staunen. »Du bist ein Zauberer, Ezr. Wie hast du es fertiggebracht, dass sich alle beruhigten?«

»Ich… ich denke, Trixia vertraut mir einfach.« Es war seine tiefste Hoffnung, ausgedrückt als zaghafte Vermutung.

Rita zog den Kopf aus der Tür zurück, um im Korridor hin und her zu schauen. »Ja. Aber weißt du, nachdem du sie wieder an die Arbeit gekriegt hast, sind die anderen einfach ruhig in ihre Zimmer zurückgekehrt. Diese Übersetzertypen haben mehr Lenkungs-Funktionalität als Militärblitzer. Man braucht nur das Alpha-Mitglied zu überzeugen, und alle spuren.« Sie grinste. »Aber ich glaube, das haben wir schon erlebt — so, wie die Übersetzer die Blitzer der Routineschicht lenken können. Sie sind die Schlüsselkomponenten, ja doch.«

»Trixia ist ein Mensch!« Alle Fokussierten sind Menschen, du verdammte Sklavenhalterin!

»Ich weiß, Ezr. Entschuldige. Wirklich, ich verstehe… Trixia und die anderen Übersetzer wirken wirklich anders. Man muss schon ziemlich was Besonderes sein, um natürliche Sprachen zu übersetzen. Von allen… von allen Fokussierten scheinen die Übersetzer richtigen Menschen am nächsten zu kommen… Pass auf, ich werde mich darum kümmern, dass alles klargeht, und Bil Phuong wissen lassen, dass alles unter Kontrolle ist.«

»Gut«, erwiderte Ezr steif.

Rita zog sich aus dem Zimmer zurück. Die Zellentür fiel ins Schloss. Nach einem Augenblick hörte er, wie den Korridor entlang weitere Türen zufielen.

Trixia saß über ihre Tastatur gebeugt, ohne die soeben ausgetauschten Ansichten zur Kenntnis genommen zu haben. Ezr beobachtete sie ein paar Sekunden lang und dachte an ihre Zukunft, daran, wie er sie schließlich retten würde. Selbst nach vierzig Jahren der Lauer konnten die Übersetzer keine Sprechverbindung der Spinnen in Realzeit vortäuschen. Tomas Nau hätte nichts davon, wenn seine Übersetzer sich unten bei der Arachna befänden… vorerst. Wenn die Welt erst einmal erobert war, würden Trixia und die anderen die Stimme des Eroberers sein.

Doch diese Zeit wird nicht kommen. Phams und Ezrs Plan ging in seinem eigenen Tempo voran. Ausgenommen ein paar alte Systeme, ein paar elektromechanische Reservegeräte, konnten die Dschöng-Ho-Orter die totale Kontrolle ausüben. Pham und Ezr näherten sich endlich der wirklichen Sabotage — vor allem dem Abschalten der drahtlosen Energie in Hammerfest. Dieser Schalter war fast rein mechanisch, immun gegen alle Raffinesse. Doch Pham hatte noch eine weitere Verwendung für Orter. Echten Staub. In den letzten paar Megasekunden hatten sie Staubschichten in der Nähe dieses Schalters aufgebaut und in anderen alten Systemen ähnliche Sabotage vorbereitet, ebenso an Bord der Unsichtbare Hand. Die letzten hundert Sekunden würden akutes Risiko bedeuten. Es war ein Trick, den sie nur einmal versuchen konnten, wenn Nau und seine Band von ihrer Machtübernahme am meisten abgelenkt sein würden.

Wenn die Sabotage funktionierte — und sie würde funktionieren —, dann würden die Dschöng-Ho-Orter herrschen. Und unsere Zeit wird kommen.

Neunundvierzig

Hrunkner Unnerbei verbrachte viel Zeit im Landeskommando; dort war im Grunde die Basis seiner Bauvorhaben. Vielleicht zehnmal jährlich besuchte er die inneren Heiligtümer des Geheimdienstes von Einklang. Mit General Schmid redete er jeden Tag per E-Mail; er sah sie bei Stabsbesprechungen. Ihre Begegnung in Calorica — das war nun schon fünf Jahre her — war nicht herzlich gewesen, aber wenigstens ein ehrlicher Austausch von Ängsten. Doch seit siebzehn Jahren — die ganze Zeit seit dem Tode Goknas — war er nie in General Schmids privatem Büro gewesen.

Die Generalin hatte einen neuen Adjutanten, einen jungen Unzeitler. Hrunkner bemerkte es kaum. Er trat in die Stille des Baus seiner Chefin. Das Zimmer war so groß, wie er es in Erinnerung hatte, mit Reihen offener Nischen übereinander und isolierten Sitzgittern. Im Augenblick schien er allein zu sein. Vor Schmid hatte dieses Büro Streb Grüntal gehört. Es war schon vorher zwei Generationen lang der innerste Bau des Geheimdienstchefs gewesen. Jene früheren Besitzer hätten es jetzt kaum wiedererkannt. Es gab sogar mehr Nachrichten- und Computerausrüstung als in Scherks Büro in Weißenberg. Eine Seite des Zimmers nahm ein Vollsicht-Bildschirm ein, so raffiniert wie nur je eine Videomantie. Momentan empfing er von oberen Kameras: Der Königsfall war vor mehr als zwei Jahren zum Stillstand gekommen. Er konnte das ganze Tal entlang schauen. Die Berge waren schroff und wurden immer kälter; auf den Höhen lag schon Kohlendioxidschnee. In der Nähe aber… strömten die Farben jenseits von Rot aus Gebäuden, leuchteten in den Auspuffgasen des Straßenverkehrs hell auf. Einen Augenblick lang starrte Hrunk einfach hin und überlegte, wie diese Szene wohl vor einer Generation ausgesehen haben mochte, fünf Jahre nach Anbruch des vorigen Dunkels. Verdammt, dieses Zimmer war damals wohl verlassen gewesen. Grüntals Leute hatten wohl in ihrer kleinen Befehlshöhle festgesessen, abgestandene Luft geatmet, den Funknachrichten gelauscht und sich gefragt, ob Hrunk und Scherk in ihrer Unterwasser-Tiefe überleben würden. Noch ein paar Tage, und General Grüntal hätte seine Operation abgeschlossen, und der Große Krieg wäre in seinem tödlichen Schlaf erstarrt.

Aber in dieser Generation machen wir einfach immer weiter und steuern auf den schrecklichsten Krieg aller Zeiten zu.

Hinter sich sah er die Generalin still ins Zimmer treten. »Feldwebel, bitte setzen Sie sich.« Schmid zeigte auf das Gitter vor ihrem Schreibtisch.

Unnerbei löste seine Aufmerksamkeit vom Bildschirm und setzte sich. Auf Schmids U-förmigem Schreibtisch stapelten sich ausgedruckte Berichte und fünf oder sechs kleine Lesebildschirme, drei in Betrieb. Zwei zeigten abstrakte Entwürfe ähnlich den Bildern, in denen sich Scherkaner verloren hatte. Sie hält ihn also immer noch bei Laune.

Das Lächeln der Generalin wirkte steif, gezwungen, und so konnte es aufrichtig sein. »Ich nenne Sie Feldwebel. Was für ein phantastischer Dienstgrad. Aber… danke, dass Sie gekommen sind.«

»Natürlich, Frau General.« Warum hat sie mich hierher gerufen? Vielleicht hatte sein wilder Plan für den Nordosten eine Chance. Vielleicht… »Haben Sie meine Schachtvorschläge gesehen, Frau General? Mit Nuklearsprengstoffen könnten wir abgeschirmte Höhlen graben, und zwar rasch. Die Nordöstlichen Schiefer wären ideal. Geben Sie mir die Bomben, und in hundert Tagen könnte ich den größten Teil der Landwirtschaft und der Leute dort schützen.« Die Worte purzelten einfach heraus. Die Kosten wären enorm, weder von der Krone noch mit freier Finanzierung aufzubringen. Die Generalin müsste Notregelungen treffen, Bund oder nicht. Und selbst dann würde es nicht gut ausgehen. Aber falls — wenn — der Krieg kam, würde es Millionen das Leben retten.

Viktoria Schmid hob sacht eine Hand. »Hrunk, wir haben keine hundert Tage. So oder so rechne ich damit, dass die Sache in drei Tagen entschieden ist.« Sie deutete auf einen von den drei kleinen Bildschirmen. »Ich habe gerade erfahren, dass die Geehrte Pedure zur Zeit persönlich in Südende ist und die Dinge arrangiert.«

»Verdammt soll sie sein. Wenn sie einen Angriff von Südland lostritt, wird sie selber auch geröstet.«

»Darum sind wir wahrscheinlich in Sicherheit, bis sie abreist.«

»Ich habe Gerüchte gehört, Frau General. Unser äußerer Geheimdienst ist im Eimer? Thrakt ist kaltgestellt worden?« Die Geschichten wucherten nur so. Es gab den einen oder anderen schrecklichen Verdacht, im Herzen des Geheimdienstes hätten sich Agenten der Sinnesgleichen eingenistet. Tiefste Geheimcodes wurden für die gewöhnlichsten Nachrichtenübermittlungen benutzt. Wo der Feind nicht mit direkten Drohungen durchgekommen war, gewann er jetzt vielleicht einfach infolge der allgegenwärtigen Panik und Verwirrung.

Schmids Kopf schoss wütend vor. »Stimmt. Wir sind im Süden ausmanövriert worden. Wir haben noch Aktivposten dort, Leute, die sich auf mich verlassen haben… die ich enttäuscht habe.« Das letzte kam fast unhörbar, und Hrunk bezweifelte, dass es zu ihm gesagt war. Sie schwieg einen Augenblick lang, straffte sich dann. »Sie kennen sich mit dem Unterbau von Südende ziemlich gut aus, nicht wahr, Feldwebel?«

»Ich habe ihn entworfen, einen Großteil der Bauarbeiten überwacht.« Und das war gewesen, als der Süden und der Einklang so gut miteinander standen, wie es zwischen verschiedenen Nationalstaaten nur möglich ist.

Die Generalin schob sich auf ihrem Sitzgitter vor und zurück. Ihre Arme zitterten. »Feldwebel… sogar jetzt kann ich Sie nicht ausstehen. Ich glaube, Sie wissen das.«

Hrunk senkte den Kopf. Ich weiß. O ja.

»Aber bei einfachen Dingen vertraue ich Ihnen. Und o ja, bei der Tiefe, gerade jetzt brauche ich Sie! Ein Befehl wäre bedeutungslos… aber werden Sie mir helfen, was Südende angeht?« Sie schien sich die Worte abzuringen.

Sie müssen fragen? Hrunkner hob die Hände. »Natürlich.«

Offensichtlich hatte sie die rasche Antwort nicht erwartet. Schmid schluckte eine Sekunde lang. »Verstehen Sie? Sie bringen sich dabei in Gefahr, in meinem persönlichen Dienst.«

»Ja, ja. Ich habe immer helfen wollen.« Ich wollte immer die Dinge wieder ins Lot bringen.

Die Generalin starrte ihn noch einen Moment lang an. Dann: »Danke, Feldwebel.« Sie tippte etwas auf ihrem Schreibtisch ein. »Tim Niederer« — dieser junge neue Adjutant? — »wird Ihnen später die ausführliche Analyse beschaffen. Es läuft darauf hinaus, dass es nur einen Grund gibt, warum Pedure dort unten in Südende sein kann: Der Fall dort ist nicht entschieden. Sie hat nicht alle Leute in Schlüsselpositionen in der Tasche. Einige Mitglieder des Parlaments von Südland haben verlangt, dass ich zu Unterredungen hinkomme.«

»Aber… es sollte der König sein, der so etwas macht.«

»Ja. Es scheint, dass in diesem neuen Dunkel eine Reihe von Traditionen durchbrochen wird.«

»Sie können da nicht hin, Frau General.« Irgendwo im Hintergrund seines Denkens kicherte etwas angesichts der Verletzung der Umgangsformen, die sich für einen Mannschaftsdienstgrad gehörten.

»Sie sind nicht der Einzige, der mir diesen Rat gibt… Das letzte, was Streb Grüntal zu mir gesagt hat, keine zweihundert Meter von der Stelle entfernt, wo wir jetzt sitzen, war etwas Ähnliches.« Sie hielt inne und hing schweigend ihren Erinnerungen nach. »Komisch. Streb hatte so viel vorausberechnet. Er wusste, dass ich auf seinem Sitzgitter enden würde. Er wusste, dass es Versuchungen geben würde, in die Feldarbeit einzugreifen. In den ersten Jahren der Helle gab es ein Dutzend Gelegenheiten, wo ich weiß, dass ich die Sachen in Ordnung gebracht hätte — wenn ich nur hingehen konnte und das Notwendige selber tun. Aber Grüntals Rat war eher ein Befehl, und ich habe ihn befolgt und weitergelebt, um ein andermal zu kämpfen.« Sie lachte abrupt auf, und ihre Aufmerksamkeit schien sich wieder der Gegenwart zuzuwenden. »Und jetzt bin ich eine ziemlich alte Dame, die in einem Gespinst von Täuschungen hockt. Und es ist endlich an der Zeit, Strebs Regel zu verletzen.«

»Frau General, General Grüntals Rat ist so richtig wie eh und je. Ihr Platz ist hier.«

»Ich… habe diesen Schlamassel passieren lassen. Es war meine Entscheidung, meine notwendige Entscheidung. Aber wenn ich jetzt nach Südende fliege, besteht die Chance, dass ich manchen das Leben rette.«

»Aber wenn Sie keinen Erfolg haben, kommen Sie um, und wir verlieren garantiert!«

»Nein. Wenn ich umkomme, wird es blutiger laufen, aber wir werden trotzdem die Oberhand behalten.« Sie klappte ihre Tischbildschirme zu. »Wir fliegen in drei Stunden ab, von Kurierstartplatz vier. Seien Sie zur Stelle.«

Hrunkner schrie seinen Missmut fast heraus. »Nehmen Sie wenigstens spezielle Sicherheitstruppen mit. Die junge Viktoria und…«

»Das Lichtberg-Team?« Ein schwaches Lächeln erschien. »Ihr Ruf hat sich verbreitet, ja?«

Hrunkner konnte es sich nicht verkneifen, das Lächeln zu erwidern. »J-ja. Niemand weiß genau, worauf sie hinauswollen… aber sie scheinen so verrückt zu sein, wie wir nur jemals waren.« Es gab Geschichten. Manche gut, manche schlecht, alle irre.

»Sie hassen sie nicht wirklich, nicht wahr, Hrunk?« In Ihrer Stimme lag Erstaunen. Schmid fuhr fort: »Sie haben während der nächsten fünfundsiebzig Stunden andere, wichtigere Dinge zu tun… Scherkaner und ich haben im Laufe vieler Jahre durch bewusste Entscheidungen die gegenwärtige Situation geschaffen. Wir kannten die Risiken. Jetzt ist es Zeit für die Abrechnung.«

Es war das erste Mal, seit er das Zimmer betreten hatte, dass sie Scherkaner erwähnte. Die Zusammenarbeit, die die beiden so weit gebracht hatte, war zerbrochen, und nun war die Generalin auf sich allein angewiesen.

Die Frage war zwecklos, doch er musste sie stellen. »Haben Sie mit Scherk darüber gesprochen? Was tut er?«

Schmid schwieg, doch ihr Blick war verschlossen. Dann: »Sein Möglichstes, Feldwebel. Sein Möglichstes.«


Selbst nach den Maßstäben von Paradies war es eine klare Nacht. Obret Nedering ging sorgfältig um den Turm auf dem Gipfel der Insel und überprüfte die Ausrüstung für die diese Nacht bevorstehenden Beobachtungen. Seine beheizten Beinkleider und die Jacke waren nicht besonders dick, aber wenn sein Luftwärmer versagte oder die Energieleitung, die er hinter sich herzog, abgeschnitten wurde… Nun ja, es war nicht gelogen, wenn er seinen Assistenten sagte, sie könnten sich in ein paar Minuten einen Arm oder ein Bein oder eine Lunge erfrieren. Sie waren fünf Jahre weit im Dunkel. Er fragte sich, ob selbst im Großen Krieg noch Leute derart spät wach gewesen waren.

Nedering unterbrach seinen Rundgang, immerhin lag er ein bisschen vor dem Zeitplan. Er stand in der kalten Reglosigkeit und schaute hinauf zu seinem Spezialgebiet — dem Himmel. Vor zwanzig Jahren, als er gerade erst in Weißenberg anfing, hatte Nedering Geologe werden wollen. Geologie war der Urgrund der Wissenschaft, und in dieser Generation war sie wichtiger denn je, bei all den gigantischen Schachtarbeiten und dem machtvollen Bergbau. Astronomie andererseits war das Gebiet von Spinnern am Rande.

Die natürliche Orientierung vernünftiger Leute musste nach unten gehen, zu Plänen für die sicherste Tiefe führen, in der man das nächste Dunkel überleben konnte. Was gab es am Himmel zu sehen? Die Sonne, gewiss, die Quelle allen Lebens und aller Probleme. Die Sterne waren solch winzige unveränderliche Dinge, überhaupt nicht mit der Sonne oder mit sonst etwas zu vergleichen, wozu man eine Beziehung haben konnte.

Dann in seinem zweiten Studienjahr hatte Nedering den alten Scherkaner Unterberg getroffen, und sein Leben hatte sich für immer verändert — obwohl das nicht nur Nedering so ging. Es gab Zehntausende im zweiten Studienjahr, aber irgendwie schaffte es Unterberg dennoch, Individuen anzusprechen. Oder vielleicht war es anders herum: Unterberg war eine derart sprudelnde Quelle verrückter Ideen, dass sich bestimmte Studenten um ihn sammelten wie Waldelfen um eine Flamme. Unterberg behauptete, die ganze Mathematik und Physik hätten darunter gelitten, dass niemand die Einfachheit der Bahn der Welt um die Sonne verstand oder die verwickelten Bewegungen der Sterne. Wenn es auch nur einen anderen Planeten gegeben hätte, mit dem man Gedankenspiele anstellen konnte — ja doch, die Infinitesimalrechnung wäre vielleicht vor zehn Generationen statt vor zwei erfunden worden. Und die verrückte Explosion der Technik in dieser Generation hätte friedlicher über mehrere Zyklen von Hell und Dunkel verteilt sein können.

Natürlich waren Unterbergs Behauptungen über die Wissenschaft nicht durchweg originell. Vor fünf Generationen hatte mit der Erfindung des Teleskops die Doppelstern-Astronomie das Zeitverständnis der Spinnheit revolutioniert. Aber Unterberg brachte die alten Ideen auf so wunderbar neue Arten zusammen. Der junge Nedering war immer weiter von der sicheren und vernünftigen Geologie weggezogen worden, bis Die Leere Da Droben seine Liebe wurde. Je mehr einem bewusst wurde, was die Sterne wirklich sind, desto mehr erkannte man, was das Universum wirklich sein musste. Und heutzutage konnte man am Himmel alle Farben sehen, wenn man wusste, wo man hinschauen musste und mit welchen Instrumenten. Hier auf der Paradies-Insel schien das Fernrot der Sterne klarer als sonstwo auf der Welt. Mit den großen Teleskopen, die heutzutage gebaut wurden, und bei der trockenen Reglosigkeit der oberen Luftschichten hatte er manchmal das Gefühl, bis ans Ende des Universums sehen zu können.

Ha? Tief über dem Nordosthorizont breitete sich ein schmaler Federstreif von Nordlicht nach Süden aus. Über dem Nordmeer gab es eine permanente Magnetismus-Schleife, doch nun, da seit fünf Jahren das Dunkel herrschte, waren Nordlichter sehr selten. Unten in Paradiesstadt mussten die noch verbliebenen Touristen bei dem Anblick jetzt wohl Oh und Ah rufen. Für Obret Nedering war das nur eine unerwartete Ungelegenheit. Er schaute noch eine Sekunde lang hin und begann sich zu wundern. Das Licht war schrecklich dicht und zusammenhängend, besonders am nördlichen Ende, wo es zu einem Punkt zusammenlief. Ha. Wenn es die Beobachtungen heute Nacht verdarb, dann sollten sie vielleicht einfach das Fernblau-Rohr hochfahren und sich das Ding genauer ansehen. Gute Gelegenheit und überhaupt.

Nedering wandte sich vom Geländer ab und ging auf die Treppe zu. Er hörte ein lautes Rasseln und Scheppern, das von einer Gefechtstruppe von hundert Leuten hätte herrühren können, die die Treppe heraufkamen — aber es waren wohl eher Shepry Tourer und seine vier Wanderstiefel. Ein Augenblick verging, und sein Assistent schoss ins Freie heraus. Shepry war gerade mal fünfzehn, so weit außer der Zeit, wie ein Kind nur sein konnte. Es hatte eine Zeit gegeben, da sich Nedering nicht vorstellen konnte, er würde mit solch einem Scheusal reden, geschweige denn zusammenarbeiten. Auch das hatte sich für ihn in Weißenberg geändert. Jetzt — nun ja, Shepry war noch ein Kind und wusste so vieles nicht. Aber sein Enthusiasmus hatte etwas ungeheuer Starkes. Nedering fragte sich, wie viele Jahre Forschung am Ende der Jahres des Schwindens vergeudet wurden, weil die jüngsten Forscher schon in die mittleren Jahre kamen, Familien gründeten und zu sehr im Alltagstrott waren, als dass sie intensiv arbeiten konnten.

»Dr. Nedering! Herr Doktor!« Sheprys Stimme wurde von seinem Luftwärmer gedämpft. Der Junge schnappte nach Luft und büßte wieder ein, was er an Zeit gewonnen hatte, als er die Treppe heraufstürmte. »Großer Ärger. Ich habe die Funkverbindung nach Nordpunkt verloren« — zum anderen Ende des Interferometers, acht Kilometer entfernt. »Wir haben nichts als Rauschen auf allen Frequenzen.«

Also würde von seinen Plänen für heute Nacht nichts übrig bleiben. »Hast du Sam über das Kabel angerufen? Was…?« Er hielt inne, als ihm Sheprys Worte allmählich zu Bewusstsein kamen: Rauschen auf allen Frequenzen. Hinter ihm bewegte sich die seltsame Nordlicht-›Spitze‹ stetig nach Süden. Verwirrung mischte sich leise mit Angst. Obret Nedering wusste, dass die Welt am Rande eines Krieges stand. Alle wussten das. Die Zivilisation konnte in ein paar Stunden vernichtet werden, wenn die Bomben fielen. Selbst abgelegene Orte wie die Paradies-Insel waren vielleicht nicht sicher. Und dieses Licht? Es wurde jetzt schwächer, der helle Punkt verschwand. Eine Kernwaffendetonation im Magnetflecken konnte wie ein Nordlicht aussehen, aber gewiss nicht so asymmetrisch und mit derart langer Aufstiegszeit. Hmm. Oder vielleicht hatten ein paar schlaue Physiker etwas Raffinierteres als eine einfache Atombombe gebaut. Neugier und Entsetzen kämpften in Nederings Kopf.

Er wandte sich um und zerrte Shepry zurück zur Treppe. Nur die Ruhe bewahren. Wie oft hatte er Shepry diesen Rat gegeben? »Eins nach dem anderen, Shepry, und pass auf, dass deine Energieleitung sich nicht festhakt. Ist das Radar heute Nacht in Betrieb?«

»J-ja.« Sheprys schwere Stiefel tappten direkt hinter ihm die Treppe herab. »Aber in der Aufzeichnung wird bloß Rauschen sein.«

»Vielleicht.« Mikrowellen von Ionisationsspuren reflektieren zu lassen, war eins der kleineren Projekte, die Nedering und Tourer betreuten. Fast alle Reflexionen konnten mit zurückkehrendem Satellitenmüll in Verbindung gebracht werden, doch etwa einmal im Jahr sahen sie etwas, das sie sich nicht erklären konnten, ein Geheimnis aus der Großen Leere. Er hatte daraus beinahe einen Forschungsartikel gemacht. Dann hatten die verdammten Gutachter — der allgegenwärtige T. Lauerviel — ihr eigenes Programm durchgeführt und seine Schlussfolgerungen nicht akzeptiert. Heute würde es für das Radarfeld eine andere Verwendung geben. Das spitze Ende des seltsamen Lichtes — was, wenn es ein physisches Objekt wäre?

»Shepry, sind wir noch am Netz?« Ihre Hochleistungs-Verbindung war ein Glasfaserkabel, das auf dem Ozeaneis lag; er hatte vorgehabt, Supercomputer auf dem Festland zu benutzen, um die Beobachtungen heute Nacht zu steuern. Jetzt…

»Ich schau nach.«

Nedering lachte. »Vielleicht haben wir Weißenberg etwas Interessantes zu zeigen!« Er nahm die Radarmitschrift zur Hand und blätterte sie durch. War es die Natur oder der Krieg, was heute Nacht zu ihnen sprach? So oder so, die Botschaft war wichtig.

Fünfzig

Heutzutage bewirkte Fliegen, dass sich Hrunkner Unterberg sehr alt fühlte. Er erinnerte sich, wie Zylindermotoren hölzerne Propeller gedreht hatten und die Tragflächen noch über Holz gespanntes Tuch waren.

Und Viktoria Schmids Dienstflugzeug war keine normale Düsenmaschine. Sie flogen in einer Höhe von nahezu dreißig Kilometern mit dreifacher Schallgeschwindigkeit nach Süden. Die beiden Motoren arbeiteten fast geräuschlos, nur ein hoher stetiger Ton war zu vernehmen, der sich einem in die Eingeweide zu graben schien. Draußen waren Sonnen- und Sternenlicht zusammen gerade hell genug, dass in den Wolken unter ihnen Farben zu sehen waren. Schicht über Schicht bedeckten die Wolken die Welt. Aus dieser Höhe sahen selbst die obersten Wolken wie etwas Niedriges, Geducktes aus. Hier und da taten sich Schluchten in der Luft auf, und sie erhaschten einen Blick auf Eis und Schnee. In ein paar Minuten würden sie die Südliche Meerenge erreichen und den Luftraum des Einklangs verlassen. Der Kommunikationsoffizier sagte, rings um sie sei eine Staffel von Einklang-Kampfflugzeugen und würde sie den ganzen Weg bis zum Flugplatz der Botschaft in Südende begleiten. Der einzige Beweis für die Behauptung, den Unnerbei sah, war ein gelegentliches Glitzern in der Luft über ihnen. Ach ja. Wie alles Wichtige heutzutage bewegten sie sich zu schnell und zu weit entfernt, um von gewöhnlichen Sterblichen gesehen zu werden.

Eigentlich war General Schmids Privatflugzeug ein Überschall-Aufklärungsbomber, die Sorte, die mit dem Aufkommen der Satelliten veraltete. »Die Luftverteidigung hat es uns praktisch überlassen«, hatte Schmid bemerkt, als sie an Bord gekommen waren. »Das alles wird Schrott sein, wenn die Luft auszufrieren beginnt.« Dann würde es eine ganze neue Transportindustrie geben. Ballistische Flugkörper vielleicht? Antigravitations-Schweber? Vielleicht spielte es keine Rolle. Wenn ihre gegenwärtige Mission keinen Erfolg brachte, gab es womöglich überhaupt keine Industrie mehr, sondern nur endlose Kämpfe zwischen den Ruinen.

Die Mitte des Rumpfes war mit Reihe um Reihe von Computern und Nachrichtengeräten angefüllt. Unnerbei hatte die Laser- und Mikrowellen-Gehäuse gesehen, als er an Bord kam. Die Flugtechniker waren in das Militärnetz des Einklangs fast ebenso sicher eingeklinkt, als befänden sie sich im Landeskommando. Es gab auf diesem Flug keine Stewards. Unnerbei und General Schmid waren an kleinen Sitzgittern festgeschnallt, die nach den ersten paar Stunden schrecklich hart wirkten. Dabei hatte er es wahrscheinlich noch bequemer als die Kampftruppen, die hinten im Flugzeug an Netzen hingen. Eine Zehnergruppe, das war alles, was die Generalin an Leibwächtern hatte.

Viktoria Schmid war still und beschäftigt gewesen. Ihr Assistent, Tim Niederer, hatte all ihre Computerausrüstung an Bord gebracht: schwere, ungefüge Kästen, die sehr leistungsfähig sein mussten, sehr gut abgeschirmt — oder sehr veraltet. Die letzten drei Stunden hatte sie von einem halben Dutzend Bildschirme umgeben dagesessen, deren Licht schwach von ihren Augen widerschien. Hrunkner fragte sich, was sie wohl sah. Ihr Militärnetz im Verein mit all den offenen Netzen musste ihr eine fast Gott gleiche Sicht bieten.

Unnerbeis Bildschirm zeigte den letzten Bericht über die Untergrund-Bauarbeiten in Südende. Manches davon war gelogen — doch er kannte genug vom ursprünglichen Entwurf, um die Wahrheit zu erraten. Zum x-ten Mal zwang er seine Aufmerksamkeit zu der Lektüre zurück. Seltsam, als er jung gewesen war, seinerzeit im Großen Krieg, konnte er sich genauso konzentrieren, wie es die Generalin jetzt tat. Doch heute eilte sein Geist immer wieder voraus zu einer Situation und einer Katastrophe, die zu umgehen er keinen Weg sah.

Sie waren jetzt über der Meerenge; aus dieser Höhe gesehen, war das gebrochene Meereseis ein kompliziertes Muster von Rissen.

Es erklang ein Ruf von einem der Kommunikationstechniker. »He! Habt ihr das gesehen!«

Hrunkner hatte nicht die Bohne gesehen.

»Ja! Aber ich bin noch dran. Überprüfen!«

»Jawohl.«

Auf ihren Gittern vor Unnerbei beugten sich die Techniker über ihre Bildschirme, tasteten und schalteten. Lichter flackerten rings um sie, doch Unnerbei konnte die Worte auf ihren Schirmen nicht lesen — und das Darstellungsformat hatte nichts mit denen gemein, an die er gewöhnt war.

Hinter sich sah er, dass sich Viktoria Schmid von ihrem Gitter erhoben hatte und eindringlich zusah. Anscheinend war ihre Ausrüstung nicht mit der der Techniker verkoppelt. Tja. Soviel zur ›Gott gleichen Sicht‹, die er sich vorgestellt hatte.

Nach einer Weile hob sie eine Hand, gab einem von ihnen ein Zeichen. Der Bursche antwortete. »Sieht aus, als ob jemand mit Kernwaffen angefangen hat, Frau General.«

»Hm«, sagte Schmid. Unnerbeis Bildschirm hatte nicht einmal geflackert.

»Es war sehr weit entfernt, wahrscheinlich überm Nordmeer. Da, ich richte ein Unterfenster für Sie ein.«

»Und für Feldwebel Unnerbei bitte.«

»Ja, Frau General.« Der Südende-Bericht vor Hrunkner wurde plötzlich von einer Karte der Nordküste ersetzt. Farbige Kreise breiteten sich konzentrisch um einen Punkt zwölfhundert Kilometer nördlich der Paradies-Insel aus. Ja, das alte Tankdepot der Basser, ein nutzloser Brocken untermeerisches Gebirge, außer wenn man über das Eis hinweg militärisch vorgehen wollte. Das war wirklich weit entfernt, von der Stelle aus, wo sie sich momentan befanden, fast die andere Seite der Welt.

»Nur eine Detonation?«, sagte Schmid.

»Ja, in sehr großer Höhe. Ein Impulsangriff… nur dass es nicht mehr als eine Megatonne war. Wir erstellen diese Karte anhand von Satelliten und von Analysen an der Nordküste und in Weißenberg.« Beschriftungen verteilten sich über das Bild, bibliographische Zeiger auf die Netzadressen, die zur Analyse beitrugen. Ha! Es gab sogar einen Augenzeugenbericht von der Paradies-Insel — dem Code nach zu urteilen, ein Akademie-Observatorium.

»Was haben wir eingebüßt?«

»Keine militärischen Verluste, Frau General. Zwei kommerzielle Satelliten sind nicht mehr zu erreichen, aber das kann vorübergehend sein. Das war kaum ein Schlag.«

Was dann? Ein Test? Eine Warnung? Unnerbei starrte auf den Bildschirm.


Es lag noch kein Jahr zurück, dass Jau Xin hier gewesen war, damals aber mit einem Sechsmann-Boot, das sich in weniger als einem Tag heran- und wieder fortgeschlichen hatte. Heute verwaltete er die Pilotenarbeit auf der Unsichtbare Hand, einem Sternenschiff von einer Million Tonnen.

Dies war die wahre Ankunft der Eroberer — auch wenn diesen Eroberern weisgemacht wurde, sie seien Retter. Neben Jau saß Ritser Brughel auf dem Platz, der einst dem Krämer-Kapitän gehört hatte. Der Hülsenmeister ließ einen endlosen Strom trivialer Befehle ab — man könnte meinen, er versuche die Piloten selber zu verwalten. Sie waren über dem Nordpol der Arachna heruntergekommen, hatten die Atmosphäre gestreift und mit einem einzigen starken Schub abgebremst, fast tausend Sekunden bei mehr als einem g. Das Bremsmanöver hatte über offenem Ozean stattgefunden, weit entfernt von den Bevölkerungszentren der Spinnen, doch für die wenigen, die es gesehen hatten, musste es enorm hell gewesen sein. Jau sah, wie sich das Glühen auf Eis und Schnee unter ihnen spiegelte.

Brughel schaute zu, wie sich die Eiswüste vor ihnen entrollte. Sein Mund war von einem intensiven Gefühl zusammengezogen. Abscheu, weil er so viel sah, was total wertlos war? Triumph, weil er auf einer Welt eintraf, die er mitbeherrschen würde? Wahrscheinlich beides. Und hier auf der Brücke drangen sowohl Triumph als auch der Wille zur Gewalttat in seinem Ton durch, sogar in den Worten. Tomas Nau musste vielleicht den Schwindel daheim bei L1 aufrechterhalten, doch hier warf Ritser Brughel seine Beschränkungen ab. Jau hatte die Korridore gesehen, die zu Brughels Privaträumen führten. Die Wände waren ein ständiges Wirbeln von Rosa, auf schwere, bedrohliche Art sinnlich. Keine Personalbesprechungen fanden bei diesen Korridoren statt. Auf dem Weg von L1 hatte er gehört, wie Brughel vor Hülsenkorporal Anlang mit der besonderen Delikatesse prahlte, die er zur Feier des bevorstehenden Sieges aus dem Eisschrank holen würde. Nein, denk nicht dran. Du weißt jetzt schon zu viel.

Die Stimmen von Xins Piloten sprachen in sein Ohr und bestätigten, was er auf seinem Kursbildschirm schon sah. Er schaute zu Brughel auf und sagte mit der Förmlichkeit, die dem anderen zu gefallen schien: »Brennschluss, Herr Hülsenmeister. Wir sind in einer Polarbahn, Höhe einhundertundfünfzig Kilometer.« Einen Deut tiefer, und sie würden Schneeschuhe brauchen.

»Wir sind über Tausende von Kilometern hinweg zu sehen gewesen, Herr Hülsenmeister.« Xin ergänzte seine Worte mit einem besorgten Blick. Er hatte die ganze Reise von L1 her den naiven Idioten gespielt. Es war ein gefährliches Spiel, doch bisher hatte es ihm etwas Spielraum verschafft. Und vielleicht gibt es eine Möglichkeit für mich, Massenmord zu vermeiden.

Brughels Grinsen signalisierte selbstgefällige Überlegenheit. »Natürlich sind wir gesehen worden, Herr Xin. Der Trick ist, es sie sehen zu lassen — und dann die Art zu verfälschen, wie sie die Information deuten.« Er öffnete eine Sprechverbindung zum Blitzkopf-Deck der Hand. »Herr Phuong! Haben Sie unsere Ankunft getarnt?«

Bil Phuongs Stimme kam aus dem Blitzkopf-Frachtraum der Hand. Der war, als Jau das letzte Mal hineingeschaut hatte, ein Irrenhaus gewesen, aber Phuong klang gelassen: »Wir haben die Lage im Griff, Hülsenmeister. Ich habe drei Gruppen dazu abgestellt, Satellitenberichte zu fälschen. L1 sagt, sie sehen gut aus.« Das musste Ritas Gruppe sein, die mit Bil redete. Sie würde jetzt jeden Augenblick dienstfrei bekommen, um, wie Nau wahrscheinlich behaupten würde, vor der harten Arbeit eine Erholungspause zu machen. Jau wusste seit einem Tag, dass die ›Flaute‹ stattfinden sollte, wenn das Morden begann.

Phuong fuhr fort: »Ich muss Sie warnen, Herr Hülsenmeister. Über kurz oder lang werden die Spinnen durchblicken. Unsere Tarnung wird höchstens hundert Kilosek halten, und weniger, wenn jemand da unten schlau ist.«

»Danke, Herr Phuong. Das sollte allemal genügen.« Brughel lächelte Jau nichtssagend an.

Ein Teil ihrer den Horizont umfassenden Sicht verschwand, und an seiner Stelle erschien Tomas Nau bei L1. Der Leitende Hülsenmeister saß mit Ezr Vinh und Pham Trinli in der Hütte im Seepark. Sonnenlicht funkelte auf dem Wasser hinter ihnen. Dies dürfte ein öffentliches Gespräch sein, das alle Gefolgsleute und alle von der Dschöng Ho sehen konnten. Nau schaute über die Brücke der Hand, und sein Blick schien Ritser Brughel zu finden.

»Glückwunsch, Ritser. Sie sind gut positioniert. Rita sagt mir, dass Sie bereits eine enge Synchronisation mit den planetaren Netzen erreicht haben. Wir haben unsererseits ein paar gute Neuigkeiten. Die Geheimdienstchefin des Einklangs ist zu Besuch in Südende. Ihr Widerpart bei den Sinnesgleichen ist schon dort. Wenn es nicht zu unglücklichen Zwischenfällen kommt, musste es noch eine Weile friedlich bleiben.«

Nau klang aufrichtig und wohlmeinend. Das Erstaunliche war, dass Ritser Brughel fast ebenso glatt war. »Jawohl, Herr Hülsenmeister. Ich treffe die Vorbereitungen für die Mitteilung und die Übernahme der Datennetze in…« — er brach ab, als überprüfe er seinen Zeitplan — »… in einundfünfzig Kilosek.«

Natürlich antwortete Nau nicht sofort. Das Signal von der Hand musste aus dem Funkschatten zu einer Relaisstation geschickt werden und dann über eine Entfernung von fünf Lichtsekunden nach L1. Jede Antwort würde mindestens weitere fünf Sekunden für den Rückweg brauchen.

Exakt nach zehn Sekunden lächelte Nau. »Hervorragend. Wir werden den Arbeitsrhythmus hier so anpassen, dass alle frisch sind, wenn es am meisten zu tun gibt. Viel Glück Ihnen allen dort unten, Ritser. Wir verlassen uns auf Sie.«

Es gab noch ein paar Runden im ihrem Tanz der Täuschung; dann war Nau weg. Brughel bestätigte, dass die gesamte Kommunikation jetzt lokal lief. »Die Startcodes müssten jeden Moment losgehen, Herr Phuong.« Brughel grinste. »Noch zwanzig Kilosek, und wir rösten ein paar Spinnen.«


Shepry Tourer starrte mit offenem Mund auf den Radarbildschirm. »Es ist… es ist ganz so, wie Sie gesagt haben. Achtundachtzig Minuten, und da kommt es wieder von Norden!«

Shepry kannte eine Menge Mathe und arbeitete fast seit einem Jahr für Nedering. Gewiss verstand er die Prinzipien des Satellitenflugs. Aber wie die meisten Leute war er immer noch baff angesichts des Gedankens, dass ›ein Stein hochgeworfen wird und nie herunterkommt‹. Der Kuppli gluckste immer vor Vergnügen, wenn ein Nachrichtensatellit zu der Zeit und bei dem Azimut, wie die Mathe es vorhergesagt hatte, über den Horizont stieg.

Was Nedering heute Nacht getan hatte, war eine Vorhersage von anderer Größenordnung, und er war ebenso beeindruckt wie sein Assistent — und hatte viel größere Angst. Sie hatten nur zwei oder drei deutliche Radaraufnahmen vom schmalen Ende des Nordlichts. Das Ding hatte seinen Flug verlangsamt, obwohl es sich noch weit außerhalb der Atmosphäre befand. Die Luftverteidigung in Weißenberg war von dem Bericht nicht beeindruckt gewesen. Nedering hatte eine langjährige Beziehung zu diesen Leuten, aber heute Nacht behandelten sie ihn wie einen Fremden, als ihre automatisch erstellte Antwort ihm für seine Information dankte und versicherte, man werde der Sache nachgehen. Das weltweite Netz war voller Gerüchte über eine Kernexplosion in großer Höhe. Aber das war keine Bombe gewesen. Als es nach Süden entschwand, schien es sich auf einer niedrigen Umlaufbahn zu befinden… und jetzt kam es von Norden her wieder, genau zur rechten Zeit.

»Glauben Sie, dass wir es diesmal sehen können? Es wird fast genau über uns hinwegfliegen.«

»Ich weiß nicht. Wir haben kein Gerät, das wir schnell genug schwenken können, um es beim Überflug zu verfolgen.« Er ging wieder zur Treppe. »Vielleicht könnten wir das Dreizentimeterrohr nehmen.«

»Ja!« Shepry rannte um ihn herum…

»Schnall deinen Atmer fest! Pass auf die Energieleitungen auf!«

… und war verschwunden, polterte die Stufen hinauf.

Aber der kleine Kuppli hatte Recht! Es blieben keine zwei Minuten mehr, bis sich das Objekt direkt über ihnen befand, und dann noch ein paar, und es würde verschwunden sein. Hm. Vielleicht reichte die Zeit nicht einmal mehr für das Fernrohr. Nedering hielt inne, schnappte sich ein Vierer-Okular von seinem Schreibtisch. Dann lief er hinter Tourer die Treppe hinauf.

Oben ging ein leichter Windhauch; eine Kälte, scharf wie der Biss eines Tarants, drang sogar durch seine elektrischen Beinkleider hindurch. In etwa siebzig Minuten würde die Sonne aufgehen, so trüb ihr Licht auch war, und der beste Teil seiner Beobachtungszeit würde vorüber sein. Diesmal spielte es einfach keine Rolle. Diese Nacht hatte sich aus der guten kalten Welt eine günstige Gelegenheit erhoben.

Es blieb höchstens noch eine Minute, bis das Rätsel über ihnen war. Es musste jetzt ein gutes Stück über dem Horizont stehen und südwärts auf sie zu gleiten. Nedering ging um die runde Wand der Hauptkuppel herum und starrte nach Norden. In der Gerätekammer nebenan hörte er Shepry mit dem Dreizentimeterrohr kämpfen, dem kleinen Teleskop, das sie den Touristen zeigten. Er müsste dem Kind helfen, aber es blieb wirklich keine Zeit.

Vertraute Sternbilder erstreckten sich kristallklar bis hinab zum Horizont. Diese Klarheit war es, die aus der kleinen Insel für Obret Nedering wahrlich ein Paradies machte. Es müsste einen Funken reflektierten Sonnenlichts geben, der langsam am Himmel aufstieg. Er würde sehr schwach sein; die tote Sonne war so trüb. Nedering starrte und starrte, schaute angespannt nach der geringsten Bewegung aus… Nichts. Vielleicht hätte er beim Radar bleiben sollen, vielleicht verpassten sie jetzt ihre einzige Gelegenheit, wirklich gute Daten zu bekommen. Shepry kam jetzt mit dem Dreizentimeterrohr aus der Kammer. Er mühte sich ab, um es auszurichten. »Helfen Sie mir!«

Sie hatten beide falsch geraten. Die gute Gelegenheit war vielleicht ein Engel, aber ein wankelmütiger. Obret wandte sich wieder Shepry zu, ein wenig verlegen, dass er ihn ignoriert hatte. Natürlich beobachtete er noch immer den Himmel, den Bereich kurz vor dem Zenit, wo es einen winzigen Lichtflecken geben müsste. Ein Stück Schwärze huschte über die glühende Ansammlung im Sternhaufen des Räubers. Ein Stück Schwärze. Etwas… Riesengroßes.

Alle Würde vergessend, ließ sich Nedering auf die Seite fallen und hob das Vierer-Okular an seine Minderaugen. Aber heute Nacht hatte er weiter nichts zur Verfügung… Er drehte sich langsam, verfolgte dem erahnten Kurs am Himmel und betete, sein Ziel wiederzufinden.

»Herr Doktor? Was ist los?«

»Shepry, schau nach oben… schau einfach nach oben.«

Der Kuppling verstummte für eine Sekunde. »Oh!«

Obret Nedering hörte nicht hin. Er hatte das Ding im Gesichtsfeld des Vierers und widmete seine ganze Aufmerksamkeit der Aufgabe, es zu verfolgen, es zu sehen und sich einzuprägen. Und was er sah, war ein Fehlen von Licht, ein Schatten, eine Silhouette, die über die galaktische Schwade von Sternenwolken raste. Es überspannte fast einen Viertelgrad. In der Lücke zwischen Sternenwolken war es wieder unsichtbar… und dann sah er es wieder eine Sekunde lang. Nedering hatte fast eine Vorstellung von seiner Form: ein gedrungener Zylinder, der nach unten zeigte, mit einer Andeutung von etwas Komplexem, das mittschiffs herausragte.

Mittschiffs.

Der Rest seiner Bahn führte vor lockeren Sternbildern vorbei zum Südhorizont hinab. Nedering versuchte vergebens, es die ganze Strecke über zu verfolgen. Wenn es nicht den Räuber-Haufen durchquert hätte, hätte er es vielleicht überhaupt nicht erfasst. Danke, gute Gelegenheit!

Er setzte das Vierer ab und stand auf. »Wir wollen noch ein paar Minuten aufpassen.« Was mochte noch für Kram mit diesem Ding einherfliegen?

»Oh, bitte, lassen Sie mich nach unten gehen und das ins Netz geben«, sagte der Kuppling. »Über hundertfünfzig Kilometer hoch und so groß, dass ich seine Form erkennen konnte. Es muss eine halbe Meile lang sein!«

»In Ordnung. Mach los!«

Shepry verschwand die Treppe hinab. Drei Minuten vergingen. Vier. Ein Schimmer glitt über den südlichen Horizont, höchstwahrscheinlich ein Nachrichtensatellit der Tief-S Serie. Nedering steckte das Vierer-Okular in die Tasche und stieg langsam die Treppe hinab. Diesmal würde ihm die Luftverteidigung zuhören müssen. Ein guter Teil von Nederings Vertragsgeldern kam vom Einklang-Geheimdienst; er wusste von den Schwebsatelliten, die die Sinnesgleichen neuerdings zu starten begonnen hatten. Das Ding ist nicht von uns und nicht von den Sinnesgleichen. Und seine Ankunft macht unsere ganze Kriegführung zu kleinem Gezänk. Die Welt war so nah an einem Atomkrieg gewesen. Und nun… was? Er erinnerte sich, wie sich der alte Unterberg über die ›Tiefe am Himmel‹ ausgelassen hatte. Aber Engel sollten aus der guten kalten Welt kommen, nie vom leeren Himmel.

Shepry erwartete ihn am Fuße der Treppe. »Es hat keinen Zweck, Herr Doktor. Ich kann nicht…«

»Die Verbindung zum Festland ist unterbrochen?«

»Nein, sie steht. Aber die Luftverteidigung hat mich wie beim ersten Mal abgewimmelt.«

»Vielleicht wissen sie es schon.«

Shepry fuchtelte aufgeregt mit den Händen. »Vielleicht. Aber in den Quatschecken geht auch etwas Abgedrehtes vor sich. In den letzten beiden Tagen gab es Berge von schwachsinnigen Mitteilungen. Sie wissen, Ankündigungen des Weltuntergangs, Sichtungen von Schneetrollen. Es war einigermaßen komisch; ich habe selber ein bisschen dagegen angeblödelt. Aber heute Nacht sind die Irren voll… krass…« Shepry hielt inne, ihm schien der Jargon ausgegangen zu sein. Auf einmal wirkte er sehr jung und unsicher. »Das… das ist nicht normal, Herr Doktor. Ich habe zwei Mitteilungen gefunden, die genau das beschrieben, was wir gesehen haben. Das ist ungefähr das, was man erwarten sollte, wenn sich gerade etwas mitten über dem Ozean ereignet hat. Aber sie gehen in dem ganzen verrückten Scheiß unter.«

Hmm. Nedering ging durchs Zimmer, setzte sich auf sein altes Gitter bei den Reglern. Shepry wuselte hin und her, erwartete eine Einschätzung. Als ich in das Observatorium gekommen bin, nahmen die Regler fast drei Wände ein, Messgeräte und Hebel, fast alles analog. Jetzt war fast die gesamte Ausrüstung winzig, digital, präzise. Manchmal fragte er Shepry im Scherz, ob sie wirklich irgendeiner Sache trauen sollten, bei der man nicht die Innereien sehen konnte. Shepry hatte seinen Mangel an Vertrauen in Computerautomatik nie verstanden. Bis heute Nacht.

»Weißt du, Shepry, vielleicht sollten wir ein paar Leute anrufen.«

Einundfünfzig

Hrunkner hatte sich schon früher, während des Großen Krieges, in einem Trockenorkan befunden. Doch das war am Boden gewesen — meistens unter dem Boden —, und alles, woran er sich erinnerte, waren der nicht nachlassende Wind und der feine Schnee, der wirbelte und sich häufte und durch jede Öffnung und Lücke drang.

Diesmal befand er sich in der Luft, im Sinkflug von zwölf Kilometer Höhe herab. Im trüben Sonnenlicht sah er den Wirbel des Orkans über Hunderte von Kilometern ausgebreitet, seine Winde von hundert Stundenkilometern von der Entfernung zur Ruhe gebracht. Ein Trockenorkan kam niemals dem Wüten eines Wasserorkans während einer Hellzeit gleich. Doch diese Art Orkan würde jahrelang andauern, während sich sein Kälteauge immer mehr ausweitete. Die Wärmebalance der Welt hatte auf einer Art thermischem Plateau innegehalten, das von der Kristallisationsenergie des Wassers bestimmt wurde. Einmal unter diesem Plateau, würden die Temperaturen stetig zur nächsten, viel kälteren Ebene absinken, wo die Luft selbst zu kondensieren begann.

Ihre Düsenmaschine glitt zwischen den Wolkenwänden hinab, ruckelte und schwankte in unsichtbaren Turbulenzen. Einer von den Piloten bemerkte, dass der Luftdruck jetzt niedriger war, als er bei fünfzehn Kilometern über der Meerenge gewesen war. Hrunkner neigte den Kopf zu einem Fenster, schaute fast direkt nach vorn. Im Auge des Orkans glomm Sonnenlicht auf einem Fleckenmuster von Schnee und Eis. Es gab auch Lichter, das heiße Rot der südländischen Industrie direkt unter der Oberfläche.

Weit voraus durchstach eine zerklüftete Bergkette die Wolken, und es waren Farben und Texturen zu erkennen, die er nicht gesehen hatte, seit er und Scherkaner vor langer Zeit durchs Dunkel gegangen waren.

Die Botschaft des Einklangs in Südende hatte ihren eigenen Flughafen, ein Sechsmaldreikilometer-Grundstück etwas außerhalb des Stadtkerns. Selbst das war nur ein Bruchstück der Enklave, die Kolonialinteressen in früheren Generationen unterhalten hatten. Der Überrest der Fremdherrschaft war abwechselnd ein Hindernis auf dem Weg zu freundschaftlichen Beziehungen und eine wirtschaftliche Triebkraft für beide Nationen. Für Unnerbei war es nur ein allzu kurzer ölverschmierter Streifen Eis. Ihr umgebauter Bomber legte die aufregendste Landung in Hrunkners Laufbahn hin, ein Zwischending zwischen Rollen und Rutschen vorbei an endlos vorbeihuschenden schneebedeckten Lagerhäusern.

Der Pilot der Generalin war gut, oder er hatte großes Glück. Sie kamen gerade mal dreißig Meter vor Schneewehen zum Stehen, die das unwiderrufliche Ende der Rollbahn kennzeichneten. Minuten später waren käferförmige Fahrzeuge herangerollt und zogen sie zu einem Hangar. Keine einzige Person ging im Freien umher. Seitlich von ihrem Weg glitzerte auf dem Boden Kohlendioxid-Schnee.

Innerhalb des höhlenähnlichen Hangars waren die Lichter hell, und als die Türen erst einmal geschlossen waren, eilte Bodenpersonal mit Treppen herbei. Es gab dort unten ein paar schick aussehende Kupps, die am Fuße der Treppen warteten. Höchstwahrscheinlich der Botschafter des Einklangs und der Chef der Botschaftswachen. Da sie sich noch auf Grund und Boden von Einklang befanden, war es unwahrscheinlich, dass Südländer zugegen wären… Dann sah er den Parlaments-Wimpel auf den Jacken von zweien der VIPs. Jemand trieb den Eifer über die Grenzen kluger Diplomatie hinaus.

Die Mittelluke wurde geöffnet, ein Schwall eiskalter Luft strömte in die Kabine. Schmid hatte bereits ihre Ausrüstung genommen und war auf dem Wege zur Luke. Hrunkner blieb noch einen Augenblick auf seinem Sitzgitter. Er winkte einem der Geheimdienst-Techniker. »Hat es noch mehr Bomben gegeben?«

»Nein, Herr Feldwebel, nichts. Wir haben Bestätigungen von überall aus dem Netz. Es war eine isolierte Explosion von einer Megatonne.«


Der Unteroffiziersclub beim Landeskommando fiel ein wenig aus dem Rahmen. Das Landeskommando lag mehr als eine Tagesfahrt von zivilen Vergnügungen entfernt, und der Posten hatte im Vergleich zu vielen abgelegenen Orten ein dickes Budget. Der durchschnittliche Unteroffizier war am ehesten ein Techniker mit mindestens vier Jahren Universitätsausbildung, und von den Soldaten hier arbeiteten viele im tiefsten Befehlsund-Kontroll-Zentrum, mehrere Etagen unter dem Club. Es gab also die üblichen Tischspiele und Turngeräte und die Sprussel-Bar, aber auch eine gute Büchersammlung und eine Anzahl Spielkonsolen mit Netzverbindung, die auch als Lernstationen genutzt werden konnten.

Viktoria Lichtberg hockte krumm im Halbdunkel hinter der Bar und betrachtete das Panorama kommerzieller Videoübertragungen auf der gegenüberliegenden Seite. Das vielleicht Ungewöhnlichste an dem Club war, dass sie ihn betreten durfte. Lichtberg war jung und Leutnant, der naturgegebene Fluch und Widersacher vieler Unteroffiziere. Doch hier war es Tradition, dass, wenn ein Offizier seinen Rang verbarg und von einem Unteroffizier eingeladen wurde, man ihn duldete.

Duldete, aber in Lichtbergs Fall nicht wirklich willkommen hieß. Der Ruf, den sich ihr Team mit überfallartigen Inspektionen erworben hatte, und seine besondere Beziehung zur Direktorin des Geheimdienstes bewirkte, dass der durchschnittliche Kupp ihr und ihrem Team gegenüber Unbehagen empfand. Aber he, die übrigen Mitglieder des Teams waren keine Offiziere. Jetzt eben waren sie über den Club verstreut, jeder mit prallen Abreise-Seitentaschen. Diesmal redeten die anderen Unteroffiziere mit ihnen, wenn sie sich auch nicht direkt mit ihnen gemein machten. Sogar diejenigen, die nicht zum Geheimdienst gehörten, wussten, dass die Dinge auf der Kippe standen — und das immer so geheimnisvolle Lichtberg-Team musste sicherlich Insiderwissen besitzen.

»Das ist Schmid da unten in Südende«, sagte ein Oberfeldwebel, der an der Bar saß. »Wer könnte es sonst sein?« Er nickte in Richtung auf einen von Lichtbergs Korporalen und wartete auf eine Reaktion. Korporal Suabisme zuckte nur die Achseln und sah dabei sehr unschuldig und — nach Trad-Maßstäben — unanständig jung aus. »Das könnte ich nicht wissen, Oberfeldwebel. Wirklich nicht.«

Der Oberfeldwebel machte mit den Esshänden eine abfällige Geste. »Oh? Wieso tragt ihr Lichtberg-Knechte dann alle Abreisetaschen? Ich würde sagen, ihr seid auf dem Sprung, um in ein Flugzeug irgendwohin zu steigen.«

Das war die Art Sondierung, die normalerweise Viki in Aktion setzte, entweder, indem sie Suabisme abzog oder — wenn notwendig — indem sie den Oberfeldwebel zum Schweigen brachte. Aber im Unteroffiziersclub hatte Lichtberg null Befehlsgewalt. Außerdem waren sie zu dem Zweck hier, das Team offiziellen Blicken zu entziehen. Doch nach einem Augenblick schien der Oberfeldwebel zu begreifen, dass er dem jungen Soldaten keine unbedachten Äußerungen entlocken konnte; er wandte sich wieder seinen Kumpels an der Bar zu.

Viki seufzte leise. Sie ließ sich tiefer sinken, bis nur der obere Rand ihrer Augen über dem Niveau der Bar war. Der Betrieb nahm zu, das Geräusch, wenn in die Spucknäpfe gespien wurde, bildete eine Art Hintergrundmusik. Es wurde wenig geredet und noch weniger gelacht. Unteroffiziere außer Dienst sollten lebhafter sein, aber diesen Kupps ging eine Menge in den Köpfen herum. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand das Fernsehen. Die Unteroffiziers-Genossenschaft hatte das neueste, für variable Formate geeignete Gerät gekauft. Im Halbdunkel hinter der Bar musste Viki wider Willen lächeln. Wenn die Welt auch nur noch ein paar Jahre überlebte, würden solche Geräte so gut sein wie die Videomantie-Ausrüstung, mit der Papa spielte.

Das Fernsehen übernahm von einem kommerziellen Nachrichtenportal im Netz. Ein Fenster zeigte ein grobes Bild von irgendeinem angeheuerten Kameramann am Botschaftsflughafen in Südende: Das Flugzeug, das auf der Rollbahn der Botschaft niederging, war von einem Typ, den Lichtberg selbst bisher nur zweimal gesehen hatte. Wie so vieles war es geheim und gleichzeitig veraltet. Die Presse sagte kaum etwas dazu. Im Hauptfenster gratulierte sich eine Fernsehredakteurin zu diesem journalistischen Coup und spekulierte, wer wohl an Bord des Dolchflüglers sein mochte.

»Es ist nicht der König selbst, egal, was unsere Konkurrenz behaupten mag. Unsere Beobachter um den Palast und im Flughafen von Weißenberg hätten jede Bewegung des Königlichen Haushalts bemerkt. Wer also ist es, der jetzt gerade in Südende eintrifft?« Die Ansagerin machte eine Pause, und die Kameras gingen näher heran, umringten ihren Vorderkörper. Das Bild breitete sich über die benachbarten Fenster aus. Das Manöver erweckte plötzlich den Eindruck eines vertraulichen Gesprächs. »Wir wissen jetzt, dass die Gesandte die Chefin des Königlichen Geheimdienstes ist, Viktoria Schmid.« Die Kameras wichen ein wenig zurück. »Den Informationsoffizieren des Königs sagen wir also: Ihr könnt euch vor der Presse nicht verstecken. Gebt uns lieber vollen Zutritt. Lasst die Leute sehen, wie Schmid mit den Südländern vorankommt.«

Eine andere Kamera aus dem Innern eines Hangars: Mamas Dolchflügler war ganz in den Hangar der Botschaft bugsiert worden, und die Falttüren wurden gerade zugezogen. Die Szene sah aus wie ein aus Kinderspielzeug gebautes Diorama: das futuristische Flugzeug, die geschlossenen Zugmaschinen, die über den geräumigen Boden des Hangars tuckerten. Es waren keine Leute zu sehen. Sie werden doch wohl nicht den Hangar mit Luft anfüllen müssen? Selbst im Auge eines Trockenorkans konnte der Druck nicht derart niedrig sein. Aber nach einem Augenblick sprangen Soldaten aus einem Mannschaftswagen. Sie schoben eine Treppe an die Seite des Dolches. Im Unteroffiziersclub wurden alle plötzlich sehr still.

Ein Soldat kletterte zur Mittelluke des Flugzeugs. Sie sprang auf, und… die Bilder von der Leihkamera der Botschaft erloschen, an ihrer Stelle erschien das königliche Siegel.

Es gab überraschtes Gelächter, dann Applaus und Gejohle. »Bravo, die Generalin!«, rief jemand. So sehr wie alle anderen wollten diese Kupps wissen, was in Südende vor sich ging, aber sie hatten auch eine langjährige Abneigung gegen die Nachrichtengesellschaften. Sie betrachteten diese letzte, sehr offene Erörterung als persönliche Beleidigung.

Sie schaute nach ihren Teammitgliedern. Die meisten hatten die Übertragung angesehen, aber ohne besonders großes Interesse. Sie wussten schon, was vor sich ging, und — wie Oberfeldwebel Großmaul spekuliert hatte — sie rechneten damit, selbst sehr bald im Einsatz zu sein. Leider konnte ihnen das Fernsehen dabei nicht weiterhelfen. Im hinteren Teil des Raumes, weit von der Bar und dem Fernsehen entfernt, saßen ein paar unverbesserliche Spieler an ihren Konsolen. Darunter befanden sich drei vom Lichtberg-Team. Brent war dabei, seit sie hier herumlungerten. Ihr Bruder hockte unter einem speziellen Spielbildschirm, der Helm bedeckte den größten Teil seines Kopfes. Wenn man ihn so ansah, wäre man nie auf den Gedanken gekommen, dass die Welt am Rande der Vernichtung stand.

Viki glitt von ihrem Sitzgitter und ging ruhig nach hinten zu den Spielgeräten.


In allen fünfunddreißig Jahren seiner Existenz war dies der schönste Augenblick des Biersalons. Aber wer weiß, vielleicht werden wir ihn nach dem hier weiterführen, ein richtiges Geschäft daraus machen. Es waren schon seltsamere Dinge passiert. Bennys Salon war der gesellschaftliche Mittelpunkt ihrer seltsamen Gemeinschaft bei L1 gewesen. Sehr bald würde diese Gemeinschaft eine andere Rasse umfassen, die erste fremde Art mit hoch entwickelter Technik, der die Menschheit je begegnet war. Der Salon konnte durchaus zum Herzstück der wunderbaren Kombination werden.

Benny Wen schwebte von Tisch zu Tisch, dirigierte seine Gehilfen, begrüßte Kunden. Dennoch glitt seine Aufmerksamkeit gelegentlich in eine fabelhafte Zukunft ab, und er stellte sich vor, wie es sein würde, Spinnen zu bewirten.

»Der Bodenflügel hat nichts mehr zu trinken, Benny.« Huntes Stimme erklang in seinem Ohr.

»Bitt Gonle, Papa. Sie hat versprochen, dass sie alles übernimmt, was notwendig ist.« Er schaute sich um, erhaschte durch einen Tunnel aus Blüten und Ranken einen Blick auf Fong drüben im Ostflügel des Salons.

Benny hörte die Antwort seines Vaters nicht. Er redete bereits mit einer Gruppe Aufsteiger und Dschöng-Ho-Leuten, die unten um den eben erst vorbereiteten Tisch schwebten. »Willkommen, willkommen, Lara! Ich hab dich so viele Wachen nicht gesehen.« Stolz darauf, seinen Salon vorführen zu können, und die Freude, alte Freunde zu treffen, mischten sich und wärmten ihm das Herz.

Nach einem Moment Geplauder trieb er von dem Tisch weg zum nächsten, und zum nächsten, und behielt immer den Überblick über die Bedienung der Gäste. Obwohl Gonle und Papa beide im Einsatz waren, schafften sie die Koordination ihrer Gehilfen gerade nur so.

»Sie ist hier, Benny.« Gonles Stimme erklang in seinem Ohr.

»Sie ist gekommen«, gab er zur Antwort. »Ich werde sie am vorderen Tisch treffen.« Er schwebte von den Tischen her einwärts zum zentralen Freiraum. In allen sechs Hauptrichtungen befanden sich Kundenflügel. Der Hülsenmeister hatte ihnen erlaubt, sie ermuntert, Wände herauszubrechen und den Raum zu verwenden, wo sich Versammlungsräume befunden hatten. Der Salon war jetzt der größte zusammenhängende bewohnte Raum im Temp. Ausgenommen den Seepark, war er der größte bewohnte Raum bei L1. Heute waren fast drei Viertel aller Aufsteiger und Dschöng-Ho-Leute gleichzeitig auf Wache — der Höhepunkt der beschleunigten Vorbereitungen zur Rettung der Spinnen. Und für eine kurze Zeit vor der endgültigen Großaktion schien so gut wie jeder hier bei Benny zu sein. Die Angelegenheit war ebenso eine Wiedervereinigung wie eine Rettungsaktion und ein neuer Anfang.

Der Kern des Salons war ein Ikosaeder von Bildschirmflächen, ein Zelt aus der besten verbliebenen Bildtapete. Es war gleichzeitig primitiv und gesellig. Von allen Seiten schauten seine Gäste nach innen auf die Ansichten. Benny glitt rasch durch den freien Raum, mit den Füßen knapp an einem der Bildschirme vorbei. Von hier aus sah er in den Richtungen auswärts Hunderte von seinen Kunden, Dutzende von Tischen, die zwischen den Ranken und Blumen eingefügt waren. Er griff nach einer Ranke und bremste graziös seine Bewegung bei einem Tisch im Oberflügel, am Rande des freien Raums. ›Der Ehrentisch‹, wie Tomas Nau ihn genannt hatte.

»Qiwi! Bitte, setz dich und sei willkommen!« Er schwang sich über den Tisch, um sich zu ihr zu setzen.

Qiwi Lisolet erwiderte Bennys Lächeln zögernd. Inzwischen war sie fünf oder sechs Jahre älter als er, doch auf einmal wirkte sie sehr jung, unsicher. Qiwi hielt etwas eng an ihrer Schulter; es war eins der Kätzchen von Nordpfote, das Erste, das Benny jemals außerhalb des Seeparks sah. Qiwi schaute sich im Salon um, als sei sie überrascht, die Menschenmenge zu sehen. »Also sind fast alle hier.«

»Klar doch! Wir sind so froh, dass du kommen konntest. Du kannst uns die Insider-Sichtweise zu den Ereignissen liefern.« Eine Botschafterin des guten Willens vom Hülsenmeister. Und sie sah auch danach aus. Heute keine Druckanzüge für Qiwi. Sie trug ein Spitzenkleid, dass in sanften Wirbeln schwebte, wenn sie sich bewegte. Nicht einmal bei der Eröffnung des Seeparks war sie so schön gewesen.

Qiwi nahm zögernd am Tisch Platz. Benny setzte sich für einen Augenblick ebenfalls, aus Höflichkeit. Er gab ihr einen Steuerstab. »Das hat mir Gonle gegeben; tut mir Leid, dass wir nichts Besseres haben.« Er zeigte die Bildschirm- und Verbindungsoptionen. »Und damit hast du Sprechzugang zum ganzen Salon. Bitte benutz es. Mehr als alle anderen hier weißt du, was vor sich geht.«

Nach einem Moment nahm Qiwi den Stab. Ihre andere Hand hielt weiter das Kätzchen fest. Das Wesen schob seine kleinen Flügel in eine bequemere Lage, beklagte sich aber ansonsten nicht. Seit Jahren war Qiwi das beliebteste Mitglied aus dem inneren Kreis des Hülsenmeisters. Sie war eigentlich keine Botschafterin, eher eine Prinzessin. So hatte Benny sie einmal Gonle Fong gegenüber genannt. Gonle hatte bei dem Wort zynisch gegrinst — und ihm dann zugestimmt. Qiwi vertrauten alle, sie war eine sanfte Beschränkung der Tyrannei… Und dennoch wirkte sie manchmal verloren. So auch heute. Benny lehnte sich auf seinem Sitz zurück. Sollten für ein Weilchen mal die anderen schuften. Irgendwie wusste er, dass Qiwi seine Zeit nötiger brauchte.

Nach einem Augenblick schaute sie auf, ein wenig von dem alten Lächeln im Gesicht. »Ja, ich kann die Vorstellung machen. Tomas hat mir gezeigt, wie.« Sie lockerte ihren Griff an dem Kätzchen und tätschelte ihm die Hand. »Keine Sorge, Benny. Diese Rettung ist eine vertrackte Sache, aber wie kriegen sie hin.«

Sie hantierte mit dem Stab, und auf dem Bildschirmkern des Salons flammten Signalfarben auf, deren Licht zu den blütenbesetzten Ranken zurückströmte. Als sie sprach, kam ihre Stimme aus tausend Mikrosprechern, zeitlich so abgestimmt, dass sie sich neben jedermann zu befinden schien. »Hallo allesamt. Willkommen bei der Vorstellung.« Ihre Stimme war glücklich und zuversichtlich, die Qiwi, die sie alle kannten.

Der Bildschirmkern ordnete sich zu Mehrfachbildern: Qiwis Gesicht, die Arachna aus der Sicht der Unsichtbare Hand, Hülsenmeister Nau, wie er in seiner Hütte in Nordpfote arbeitete, schematische Darstellungen, die die Umlaufbahn der Hand und die militärische Konfiguration der verschiedenen Spinnenstaaten zeigten.

»Wie ihr wisst, ist unsere alte Freundin Viktoria Schmid soeben in Südende eingetroffen. In ein paar Augenblicken wird sie im Parlament dort sein, und wir werden etwas serviert bekommen, was noch keiner von uns erlebt hat — eine direkte menschliche Kamerasicht vom Planeten. Endlich werden wir nach all den Jahren Bilder aus erster Hand sehen.« Auf dem großen Zentralbildschirm öffnete sich Qiwis Gesicht zu einem Lächeln. »Betrachtet es als einen Vorgeschmack auf das, was uns bevorsteht, als den Anfang unseres Lebens mit den Leuten der Arachna.

Aber bevor wir so weit sind, müssen wir, wie ihr wisst, einen Krieg verhindern und unsere Anwesenheit endlich offenbaren.« Sie schaute auf die Bildschirme, und ihre Stimme zögerte, als sei sie plötzlich vom enormen Ausmaß dessen frappiert, was sie zu tun versuchten. »Wir haben geplant, uns in reichlich vierzig Kilosek zu melden, wenn unsere Manipulationen der Datennetze von der Umlaufbahn aus vorbereitet sind und die Bahn der Hand sie über die Hauptstädte sowohl der Sinnesgleichen als auch des Einklangs führt. Ich denke, ihr wisst, wie schwierig es sein wird. Die Spinnen, unsere erhofften Freunde, befinden sich auf gefährlicherem Terrain, als es die meisten menschlichen Zivilisationen überleben könnten. Aber ich weiß, dass ihr euch gut auf diesen Tag vorbereitet habt. Wenn die Zeit für Offenbarung und Kontakt kommt, dann, weiß ich, werden wir Erfolg haben.

Also schaut erst einmal zu. Bald werden wir sehr viel zu tun haben.«

Zweiundfünfzig

So sonderbar es war, Rachner Thrakt behielt seinen Dienstgrad als Oberst — nicht, dass seine ehemaligen Kollegen ihm so weit vertraut hätten, ihre Latrinen von ihm auskratzen zu lassen. General Schmid war sanft mit ihm verfahren. Man konnte nicht beweisen, dass er ein Verräter war, und anscheinend war sie nicht willens, extreme Verhörmethoden bei ihm anzuwenden. Also fand sich Rachner Thrakt, vormals beim namenlosen Dienst, mit vollem Sold und Tagessätzen… und absolut nichts zu tun.

Seit jener schrecklichen Besprechung im Landeskommando waren vier Tage vergangen, aber Thrakt hatte fast ein Jahr lang gesehen, wie sich sein Sturz anbahnte. Als es ihn schließlich ereilte… war es solch eine Erleichterung gewesen, abgesehen von dem unglücklichen Detail, dass er es überlebt hatte, ein lebendes Gespenst.

Offiziere der alten Schule, insbesondere Basser, hätten sich nach solcher Schande enthauptet. Rachner Thrakt war zur Hälfte Basser, doch er hatte sich nicht mit einer beschwerten Klinge den Kopf abgeschnitten. Vielmehr hatte er sein Gehirn betäubt, indem er fünf Tage lang pausenlos Sprussel trank und sich dabei durch die Vergnügungsviertel rund um Calorica vorarbeitete. Ein Idiot bis zum bitteren Ende. Calorica war der einzige Ort auf der Welt, wo es zu warm war, um ins Sprusselkoma zu fallen.

Also hatte er die Berichte gehört, dass jemand — Schmid, es musste Schmid sein — nach Südende flog, versuchte, etwas von dem zu retten, was Rachner vertan hatte. Während die Stunden bis zu Schmids Ankunft in Südende verstrichen, hatte Rachner mit dem Sprussel eine langsamere Gangart eingeschlagen. Er saß da und starrte die Nachrichtensendungen in den Gaststätten an. Saß da und betete, Viktoria Schmid möge irgendwie Erfolg haben, wo Thrakts Lebensarbeit gescheitert war. Doch er wusste, dass sie versagen würde. Niemand glaubte ihm, und sogar Rachner kannte nicht das Wie und Warum. Doch er war sich sicher: Etwas stand hinter den Sinnesgleichen. Nicht einmal die Sinnesgleichen wussten davon, aber es war da, wendete jeden technischen Vorteil des Einklangs gegen ihn selbst.

Auf den Mehrfachbildschirmen, live aus Südende, ging Schmid durch das Große Tor der Parlamentshalle. Selbst hier, in der wüstesten Kneipe des Vergnügungsviertels, war die Kundschaft auf einmal sehr still. Thrakt legte den Kopf auf die Bar und merkte, wie sein Blick glasig wurde.

Und dann begann sein Telefon zu klingeln. Er hielt es neben den Kopf, starrte es mit interesselosem Unglauben an. Es muss kaputt sein. Oder jemand schickte ihm Werbung. Nichts Wichtiges konnte jemals über dieses ungesicherte Stück Müll kommen.

Er war im Begriff, es auf den Fußboden zu werfen, als ihm der Kupp auf dem nächsten Sitzgitter eins auf den Rücken verpasste. »Verdammter Militärpenner! Verpiss dich!«, schrie er.

Thrakt kam von seinem Gitter hoch, unsicher, ob er der Forderung des anderen nachkommen würde oder die Ehre von Schmid und allen anderen verteidigen würde, die den Frieden zu bewahren versuchten.

Am Ende entschied die Geschäftsleitung den Fall; Thrakt fand sich auf der Straße wieder, abgeschnitten vom Fernsehen, das ihm vielleicht gezeigt hätte, was die Generalin versuchte. Und sein Telefon klingelte immer noch. Er drückte auf ANNAHME und knurrte etwas Unverständliches ins Mikrofon.

»Oberst Thrakt, sind Sie es?« Die Worte waren abgehackt und undeutlich, doch die Stimme klang vage vertraut. »Oberst? Sprechen Sie über eine Sicherheitsleitung?«

Thrakt fluchte laut. »Verdammt noch mal, nein!«

»Oh, Gott sei Dank!«, erklang die fast vertraute Stimme. »Dann haben wir eine Chance. Sicherlich können nicht einmal die sich mit allem leerem Geschwätz der Welt abgeben.«

Die. Die Betonung drang durch Thrakts Kater. Er brachte das Mikrofon dicht an seinen Schlund, und seine nächsten Worte klangen fast locker neugierig. »Wer sind Sie?«

»Entschuldigung, hier ist Obret Nedering. Bitte legen Sie nicht auf. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an mich. Vor fünfzehn Jahren habe ich einen Kurzlehrgang in Fernerkundung gegeben. An der Weißenberg-Uni. Sie haben teilgenommen.«

»Ich… ach ja, ich erinnere mich.« Es war sogar ein ziemlich guter Lehrgang gewesen.

»Ja? Oh, gut, gut! Also werden Sie wissen, dass ich kein Spinner bin. Herr Oberst, ich weiß, wie beschäftigt Sie gerade jetzt sein müssen, aber ich bitte Sie, gewähren Sie mir nur eine Minute von Ihrer Zeit. Bitte.«

Thrakt kamen plötzlich die Straße und die Gebäude rings um ihn zu Bewusstsein. Das Vergnügungsviertel von Calorica erstreckte sich rund um den Boden des Vulkankraters, wohl des wärmsten Ortes, den es an der Oberfläche der Welt noch gab. Doch es war nur eine verblichene Erinnerung an die Zeit, da Calorica die Spielwiese der Superreichen gewesen war. Die Bars und Hotels gingen allmählich ein. Selbst der Schneefall hatte längst aufgehört. Der Schnee, der sich in der Durchfahrt hinter ihm häufte, war zwei Jahre alt, mit Flecken von Sprussel-Erbrochenem und Streifen von Urin. Mein Hightech-Befehlsstand.

Thrakt duckte sich in den Windschatten. »Ich denke, ich kann Ihnen einen Moment widmen.«

»Oh, danke! Sie sind meine letzte Hoffnung. Alle meine Anrufe bei Professor Unterberg sind abgeblockt worden. Kein Wunder, jetzt, wo ich begriffen habe…« Thrakt hörte geradezu, wie der Kupp seine Gedanken zusammennahm und versuchte, nicht zu schwafeln. »Ich bin Astronom draußen auf der Paradies-Insel, Oberst. Letzte Nacht sah ich« — ein Raumschiff, groß wie eine Stadt, dessen Triebwerke den Himmel erhellten… und das von der Luftverteidigung und allen Datennetzen ignoriert wird. Nederings Beschreibungen waren knapp und unverblümt und dauerten knapp eine Minute. Der Astronom fuhr fort: »Ich bin kein Spinner, glauben Sie mir. Das ist es, was ich gesehen habe! Gewiss gibt es Hunderte von Augenzeugen, aber für die Luftverteidigung ist es irgendwie unsichtbar. Oberst, Sie müssen mir glauben.« Sein Ton sackte in unbehaglicher Selbsterkenntnis ab, der Einsicht, dass niemand, der bei Verstand war, solch eine Geschichte glauben konnte.

»Oh, ich glaube Ihnen«, sagte Rachner leise. Es war eine Vision blühenden Verfolgungswahns — und erklärte alles.

»Was haben Sie gesagt, Oberst? Leider kann ich Ihnen nicht viel schlagende Beweise schicken. Unsere Kabelverbindung haben sie vor einer halben Stunde unterbrochen. Ich benutze ein Amateurfunkgerät, um die weiter…« Mehrere Silben wurden zu zusammenhanglosem Geplapper verzerrt. »Das ist also wirklich alles, was ich Ihnen zu sagen hatte. Vielleicht ist das ein tiefstgeheimer Plan seitens der Luftverteidigung. Wenn Sie dazu nichts sagen können, verstehe ich es. Aber ich musste versuchen durchzukommen. Das Schiff war so groß und…«

Einen Augenblick lang glaube Thrakt, der andere schweige überwältigt. Doch die Stille dehnte sich etliche Sekunden lang aus, und dann plärrte eine elektronische Stimme aus dem winzigen Lautsprecher des Telefons: »Meldung 305. Netzfehler. Bitte wiederholen Sie Ihren Anruf später.«

Rachner schob das Telefon langsam wieder in seine Jacke. Sein Schlund und seine Esshände waren taub, und es lag nicht nur an der kalten Luft. Einmal hatten seine Netzsicherheits-Kupps eine Studie über automatisches Schnüffeln erstellt. Genug Rechenleistung vorausgesetzt, war es im Prinzip möglich, jede Datenübertragung in Klartext nach Schlüsselwörtern zu durchforsten und Sicherheitsreaktionen auszulösen. Im Prinzip. In Wahrheit hinkte die Entwicklung der notwendigen Computer immer hinter der Größe der aktuellen öffentlichen Datennetze hinterher. Aber nun sah es so aus, als hätte jemand ebendiese notwendige Kapazität.

Ein tiefgeheimer Plan seitens der Luftverteidigung? Unwahrscheinlich. Im Laufe des letzten Jahres hatte Rachner Thrakt gesehen, wie die Rätsel und Ausfälle von allen Seiten heranrückten. Selbst wenn der Einklang-Geheimdienst und Pedure und alle Geheimdienste der Welt zusammengearbeitet hätten, hätten sie nicht die nahtlosen Lügen erzeugen können, die Thrakt gespürt hatte. Nein. Womit immer sie konfrontiert waren, war größer als die Welt, etwas Böses, das alles Spinnenmaß übertraf.

Und jetzt endlich hatte er etwas Konkretes. Sein Geist müsste sich zur Gefechtsbereitschaft erheben; stattdessen erfüllte ihn panische Verwirrung. Verdammter Sprussel. Wenn ihnen eine fremdartige Kraft entgegenstand, die so tief, so überaus fähig war — was spielte es für eine Rolle, dass Obret Nedering und jetzt Rachner Thrakt die Wahrheit kannten? Was konnten sie tun? Aber Nedering hatte über eine Minute sprechen können. Er hatte eine Anzahl Schlüsselwörter gesagt, bevor die Verbindung gekappt wurde. Die Fremden waren vielleicht besser als Spinnen — aber sie waren keine Götter.

Der Gedanke ließ Thrakt stutzen. Sie waren also keine Götter. Die Nachricht von ihrem Monsterschiff musste sich in der zivilisierten Welt ausbreiten, langsam und auf direkte Kontakte zwischen kleinen Leuten ohne Zugang zur Macht beschränkt. Aber so war das Geheimnis nicht länger als ein paar Stunden zu verbergen. Und das bedeutete… welchen Zweck auch immer diese groß angelegte Täuschung verfolgte, sie musste darauf ausgerichtet sein, ihre Früchte in den nächsten paar Stunden zu bringen. Jetzt eben riskierte die Chefin ihr Leben unten in Südende und versuchte, sie aus einer Katastrophe herauszuholen, die in Wahrheit eine Falle war. Wenn ich zu ihr durchdringen könnte, zu Belga, zu irgendjemand an der Spitze…

Aber Telefone und Datennetze würden schlimmer als nutzlos sein. Er brauchte direkten Kontakt. Thrakt ging schwankend den verlassenen Bürgersteig entlang. Irgendwo hinter der Ecke war eine Bushaltestelle. Wie lange, bis der Nächste vorbeikam? Er hatte noch seinen privaten Hubschrauber, das Spielzeug eines reichen Kupps… das vielleicht zu schlau mit dem Datennetz verbunden war. Die Fremden könnten ihn einfach übernehmen und abstürzen lassen. Er wischte die Angst beiseite. Im Moment war die Mühle seine einzige Hoffnung. Vom Hubschrauberplatz aus konnte er jeden Ort innerhalb von dreihundert Kilometern erreichen. Wer müsste sich in diesem Umkreis befinden? Er torkelte um die Ecke. Der Große Boulevard erstreckte sich unter einer endlosen Reihe von Dreifarblichtern in die Ferne bis durch den Calorica-Wald. Der Wald war natürlich seit langem tot. Nicht einmal seine Blätter waren übrig, um Sporen zu bilden, da der Boden darunter zu warm war. Die Mitte war für einen Hubschrauberplatz freigemacht worden. Fliegen konnte er von dort nach… Thrakts Blick ging über die Kratermulde. Die Boulevardlichter schwanden zu winzigen Funken. Einmal war er die Kraterwände hinaufgestiegen, zu den Anwesen der Jahre des Schwindens. Aber die wirklich Reichen hatten ihre Paläste aufgegeben. Nur ein paar waren noch bewohnt, von unten her nicht zu erreichen.

Aber Scherkaner Unterberg war dort oben, aus Weißenberg zurückgekehrt. Zumindest war im letzten Lagebericht, den er gesehen hatte, davon die Rede gewesen, an dem Tag, als seine Karriere ihr Ende erreicht hatte. Er kannte die Geschichten von Unterberg, dass der arme Kupp nicht mehr richtig im Kopf sei. Egal. Was Thrakt brauchte, war ein Umweg ins Landeskommando, vielleicht über die Tochter der Chefin, ein Weg, der nicht übers Datennetz führte.

Eine Minute später fuhr der Stadtbus hinter Thrakt heran. Er sprang hinein, der einzige Fahrgast, obwohl es Vormittag war. »Sie haben Glück«, sagte der Fahrer grinsend. »Der Nächste kommt erst drei Stunden nach Mittag.«

Dreißig Stundenkilometer, vierzig. Der Bus holperte den Großen Boulevard entlang zum Totwald-Hubschrauberplatz. Ich kann in zehn Minuten auf seiner Schwelle stehen. Und plötzlich kam Rachner die Sprusselkotze zu Bewusstsein, die seinen Schlund und seine Esshände überkrustete, die Flecken auf seiner Uniform. Er wischte an seinem Kopf herum, konnte aber nichts mit der Uniform machen. Ein Verrückter, der einen alten Knochen besuchen kommt. Vielleicht passte das. Vielleicht war es auch die letzte Chance, die sie alle hatten.


Ein Jahrzehnt früher, zu freundlicheren Zeiten, hatte Hrunkner Unnerbei die Südländer beim Entwurf von Neu-Untersüdende beraten. Daher wurden ihm aus sonderbare Weise die Dinge vertrauter, nachdem sie die Botschaft von Einklang verlassen und südländisches Territorium betreten hatten. Es gab eine Menge Fahrstühle. Das Südland hatte eine Parlamentshalle verlangt, die einen Kernwaffenschlag aushalten konnte. Er hatte sie gewarnt, dass künftige Waffenentwicklungen ihr Ziel wahrscheinlich unmöglich machen würden, doch die Südländer hatten nicht auf ihn gehört und erhebliche Mittel vergeudet, die man für Dunkelzeit-Landwirtschaft hätte verwenden können.

Der Hauptfahrstuhl war so groß, dass sogar die Reporter mitfahren konnten, und das taten sie. Die südländische Presse war eine privilegierte Klasse, ausdrücklich vom Parlamentsgesetz geschützt — sogar auf staatlichem Eigentum! Die Generalin kam mit der Meute gut zurecht. Vielleicht hatte sie gelernt, als sie zusah, wie Scherkaner mit Journalisten umging. Ihre Kampftruppen hielten sich unauffällig im Hintergrund. Sie machte ein paar allgemeine Bemerkungen, ignorierte dann ihre Fragen höflich und überließ es der südländischen Polizei, ihr die Reporter körperlich aus dem Weg zu halten.

Dreihundert Meter unter der Oberfläche begann ihr Fahrstuhl auf einer elektrischen Mehrschienenbahn seitwärts zu fahren. Hinter den großen Fenstern zogen hell erleuchtete Industriehöhlen vorbei. Die Südländer hatten hier und im Küstenbogen eine Menge geschafft, besaßen aber nicht genug Untergrundfarmen, um alles zu versorgen.

Die beiden Gewählten Vertreter, die sie auf dem Flugplatz begrüßt hatten, waren im Süden einst mächtig gewesen. Doch die Zeiten hatten sich geändert: Es hatte Morde gegeben, Beeinflussungen, alle üblichen Tricks Pedures — und neulich ein geradezu magisches Glück auf Seiten der Sinnesgleichen. Nun standen diese beiden — zumindest öffentlich — allein mit ihrer Freundschaft zum Einklang. Sie wurden jetzt als Speichellecker eines fremden Königs betrachtet. Die beiden standen nahe bei der Generalin, einer nah genug, um vertraulich mit ihr sprechen zu können. Hoffentlich hörten es nur die Generalin und Hrunkner Unnerbei. Verlass dich nicht drauf, dachte Unnerbei.

»Nichts für ungut, Frau General, aber wir hatten gehofft, Ihr König würde in eigener Person kommen.« Der Politiker trug eine elegant geschneiderte Jacke und Beinkleider — und hatte ein Fluidum geistiger Schlampigkeit an sich.

Die Generalin nickte beruhigend. »Ich verstehe, mein Herr. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass das Richtige getan werden kann, und zwar in Sicherheit. Wird man mir erlauben, mich an das Parlament zu wenden?« In der gegenwärtigen Lage, vermutete Hrunk, gab es keinen ›inneren Kreis‹, den man hätte ansprechen können — soweit man nicht die Gruppe dafür ansah, die von Pedure strikt kontrolliert wurde. Aber eine Abstimmung des Parlaments konnte etwas bewirken, da die strategischen Raketenstreitkräfte noch loyal zum Parlament standen.

»J-ja. Wir haben das arrangiert. Aber die Dinge sind zu weit gegangen.« Er winkte mit der Hand, an der er die Uhr trug. »Ich würde es der anderen Seite zutrauen, eine Fahrstuhlhavarie auszulösen und…«

»Sie haben uns bis hierher kommen lassen. Wenn ich vor dem Parlament sprechen kann, glaube ich, wird es eine Regelung geben.« General Schmid lächelte den Südländer an, fast verschwörerisch.

Fünfzehn Minuten später hatte der Fahrstuhl sie an der Hauptpromenade abgesetzt. Drei Seiten und das Dach traten einfach zurück. Das war eine Verschönerung, die er noch nicht gesehen hatte. Unnerbei als Ingenieur konnte nicht widerstehen: Er erstarrte und blickte nach oben in die gleißenden Lichter und die Dunkelheit, versuchte den Mechanismus zu sehen, der solch eine durchschlagende und stille Wirkung hatte.

Dann schwemmte ihn der Strom von Polizei und Politikern und Reportern von der Plattform…

… und sie stiegen die Stufen zur Parlamentshalle empor.

Oben trennten die südländischen Sicherheitsleute sie schließlich von den Reportern und ihren eigenen Soldaten. Durch fünf Tonnen schwere holzgetäfelte Türen gingen sie… in die Halle selbst. Die Halle hatte schon immer unter der Oberfläche gelegen, in früheren Zeiten einfach oberhalb der hiesigen Tiefe. Jene frühen Machthaber waren eher Banditen gewesen (oder Freiheitskämpfer, je nach der Informationsquelle), deren Streitkräfte das gebirgige Land durchzogen.

Hrunkner hatte beim Entwurf dieser Inkarnation der Parlamentshalle mitgewirkt. Es war eines der wenigen von ihm bearbeiteten Projekte, wo ein hauptsächlicher Zweck des Entwurfs ein Ehrfurcht gebietendes Aussehen war. Vielleicht war die Halle nicht wirklich bombensicher, aber sie sah verdammt spektakulär aus:

Die Halle war eine flache Schale, die Ebenen von sanft gekrümmten Treppen verbunden, jede Ebene ein breiter Streifen mit Reihen von Pulten und Sitzgittern. Die Felswände krümmten sich zu einem enormen Bogen, an dem Fluoreszenzröhren befestigt waren — und ein halbes Dutzend andere Beleuchtungstechniken. Zusammen hatten diese Leuchten fast die Helligkeit und Klarheit eines Tages zur Mitthelle, ein Licht, reichhaltig genug, um alle Farben an den Wänden erkennen zu lassen. Teppichbeläge, so tief und weich wie Vaterfell, bedeckten Treppen und Gänge und das Podium in der Mitte. Gemälde hingen an dem polierten Holz, mit dem jede Wand hinter den Ebenen verkleidet war, Gemälde, die mit Tausenden von Farbstoffen von Künstlern angefertigt worden waren, die jede Illusion zu nutzen wussten. Für ein armes Land hatten sie viel für diesen Ort ausgegeben. Aber immerhin war ihr Parlament ihr größter Stolz, eine Erfindung, die mit Banditenunwesen und Abhängigkeit Schluss gemacht und den Frieden gebracht hatte. Bisher.

Die Türen hinter ihnen fielen zu. Der Schall trug tiefe Echos von der Kuppel und den gegenüber liegenden Wänden heran. Hier drin würden nur die Gewählten sein, ihre Besucher und — hoch oben, wo Hrunkner Ansammlungen von Linsen sah — die Nachrichtenkameras. Die Bögen von Pulten entlang war fast jedes Gitter besetzt. Unnerbei spürte die Aufmerksamkeit von einem halben Tausend Gewählter.

Schmid und Unnerbei und Tim Niederer gingen die Treppe hinab, die zum Podium führte. Die Gewählten waren größtenteils still, schauten zu. Hier gab es Respekt und Feindseligkeit und Hoffnung. Vielleicht würde Schmid ihre Chance bekommen, den Frieden zu bewahren.


Für diesen Tag des Triumphs hatte Tomas Nau in Nordpfote das sonnigste Wetter eingestellt, die Art warmer Nachmittag, der den ganzen Sommertag dauern konnte. Ali Lin hatte gemurrt, aber die notwendigen Veränderungen ausgeführt. Jetzt jätete Ali den Garten unterhalb von Naus Arbeitszimmer, seine Irritation hatte er vergessen. Und wenn schon die Muster des Parks gestört wurden — das Problem zu korrigieren, würde Alis nächste Aufgabe sein.

Und meine Aufgabe ist es, alles unter einen Hut zu bringen, dachte Tomas. Am Tisch gegenüber saßen ihm Vinh und Trinli und waren mit der Ortsbeobachtung beschäftigt, die Nau ihnen aufgetragen hatte. Trinli war unerlässlich für die Tarnlegende, der einzige Krämer, bei dem sich Nau sicher war, dass er die Lügen decken würde. Vinh… nun ja, ein glaubhafter Grund würde ihn in gewissen kritischen Augenblicken von den Geschehnissen trennen, doch das, was er zu sehen bekam, würde Trinlis Aussagen bekräftigen. Das würde schwierig sein, doch falls es zu Überraschungen kam… nun ja, das würde die Angelegenheit von Kal und seinen Männern sein.

Ritser war nur als Flachbild zugegen, das ihn im Sessel des Kapitäns an Bord der Hand zeigte. Keins von seinen Worten würde an unschuldige Ohren dringen. »Ja, Hülsenmeister! Wir werden das Bild jeden Moment haben. Wir haben einen funktionierenden Spioboter in die Parlamentshalle gekriegt. He, Reynolt, Ihr Melin hat da etwas richtig hingekriegt.«

Anne befand sich im Obergeschoss von Hammerfest. Sie war nur als privates Bild in Tomas’ Datenbrille zugegen und als Stimme in seinem Ohr. Momentan war ihre Aufmerksamkeit in mindestens drei Richtungen gespalten. Sie führte eine Art Blitzkopfanalyse durch, beobachtete eine Übersetzung von Trixia Bonsol an der Wand über sich und verfolgte den Datenfluss von der Hand. Die Blitzkopf-Situation war so kompliziert wie nur jemals. Sie reagierte nicht auf Ritsers Worte.

»Anne? Wenn Ritsers Spionbilder kommen, leiten Sie sie direkt zu Benny weiter. Trixia kann eine Übersetzung darübersprechen, aber ich möchte, dass wir auch etwas Originalton bekommen.« Tomas hatte bereits einige von den Spioboter-Übertragungen gesehen. Sollten die Leute bei Benny lebende Spinnen aus der Nähe und in Bewegung sehen. Das würde die Lügen nach der Eroberung auf subtile Weise erleichtern.

Anne schaute nicht von ihrer Arbeit weg. »Ja, Herr Hülsenmeister. Ich sehe, dass Vinh und Trinli hören, was Sie sagen.«

»Durchaus.«

»Schön. Ich möchte nur, dass Sie wissen… unsere inneren Feinde haben das Tempo angezogen. Ich sehe, dass überall in unserer Automatik herumgepfuscht wird. Haben Sie ein Auge auf Trinli. Ich wette, er sitzt da und fummelt an seinen Ortern herum.« Annes Blick huschte für einen Augenblick hoch und traf auf die Frage in Naus Augen. Sie zuckte die Schultern. »Nein, ich bin mir noch nicht sicher, dass er es ist. Aber ich bin sehr nahe dran. Halten Sie sich bereit.«

Eine Sekunde verstrich. Annes Stimme kam wieder, jetzt aber hier und im Krämertemp allgemein zu hören. »Gut. Hier haben wir eine Liveübertragung aus der Parlamentshalle in Südende. Das ist es, was ein Mensch wirklich sehen und hören würde.«

Nau schaute nach links, wo seine Datenbrille Qiwis Blickpunkt im Temp zeigte. Die Hauptfacetten auf Bennys Bildschirmen flackerten. Einen Moment lang war nicht klar, was sie da sahen. Es gab einen Wirrwarr von Rot- und Grüntönen, durchdringendes Blau. Sie schauten in eine Art Grube. Steinleitern waren in die Wände gehauen. Moos oder haarige Felle wuchsen aus Stein hervor. Die Spinnen wimmelten wie schwarze Schaben.

Ritser Brughel schaute von den Bildern aus dem Parlament auf und schüttelte fast ehrfürchtig den Kopf. »Das sieht aus wie die Vision eines frenkischen Propheten von der Hölle.«

Nau deutete mit einem Kopfnicken Zustimmung an. Bei der Zeitlücke von zehn Sekunden musste müßiges Geplauder vermieden werden. Doch Brughel hatte Recht; so viele auf einen Haufen zu sehen, war noch schlimmer als die früheren Bilder von den Spiobotern. Die gemütlichen, vermenschlichenden Übersetzungen vermittelten ein sehr unwirkliches Bild von den Spinnen. Ich frage mich, wie viel uns in Bezug auf ihr Denken entgangen ist. Er rief ein anderes Bild von der Szene auf, diesmal von den Blitzkopf-Übersetzern anhand der Spinnen-Nachrichtensendungen synthetisiert. Auf diesem Bild wurde aus der steilen Grube ein flaches Amphitheater, die hässlichen Farbspritzer waren ordentliche Mosaiken, die in den Teppich eingelassen waren (der nicht mehr wie struppiges Haar aussah). Das Holz glänzte überall poliert (statt fleckig und rissig zu sein). Und die Wesen selbst waren irgendwie ruhiger, ihre Gesten hatten beinahe eine Bedeutung in menschlicher Körpersprache.

In beiden Darstellungen erschienen drei Gestalten am Eingang zum Parlament. Sie kletterten (gingen) die Steintreppe hinab. Die Luft war erfüllt von Zischen und Klicken, dem wahren Klang dieser Wesen.

Die drei verschwanden am Grunde der Grube. Einen Augenblick später erschienen sie wieder und stiegen auf der anderen Seite hinauf. Ritser kicherte. »Die Mittelgroße vorn muss die Spionagechefin sein, das ist die, die Bonsol ›Viktoria Schmid‹ nennt.« Eine Einzelheit stimmte exakt an der Geschichte der Übersetzer: Die Kleidung des Wesens war tiefschwarz, doch es war eher ein Haufen verknüpfter Flicken als eine Uniform. »Das haarige Ding hinter Schmid muss der Ingenieur sein, ›Hrunkner Unnerbei‹. So putzige Namen für solche Monster.«

Die drei kletterten auf einen gewölbten Steinstachel hinaus. Eine vierte Spinne, die sich schon auf dem unsicheren Bau befand, kraxelte zum spitzen Ende vor.

Nau wandte den Blick von der Halle der Spinnen, um die Menge bei Benny zu betrachten. Sie schwiegen und schauten schockiert zu. Selbst Benny Wens Gehilfen regten sich nicht, ihr Blick hing an den Bildern von der Spinnenwelt.

»Eröffnungsworte durch den Sprecher des Parlaments«, sagte eine Blitzkopf-Stimme. »Die Sitzung des Parlaments ist eröffnet. Ich habe die Ehre…« Zu den verständlichen Worten schickte Ritsers Spioboter die Wirklichkeit: ein Zischeln, Ticken und Klappern, die zustoßenden Gesten mit Vorderbeinen, die in nadelscharfen Spitzen endeten. In Wahrheit sahen diese Wesen aus wie die Statuen, die die Dschöng Ho beim Landeskommando gefunden hatte. Doch wenn sie sich bewegten, hatten sie die Grazie von Raubtieren, die einem das Blut gefrieren ließ, manche Gesten langsam, manche unglaublich schnell. Am seltsamsten war, dass bei all ihrer überlegenen Sicht ihre Augen kaum auszumachen waren. Entlang der bogenförmigen Kanten ihres Kopfes gab es Flecken, die glasig glatt wirkten, hier und da vorgewölbt und mit Ausstülpungen, die vielleicht Kühlpunkte für das thermische Infrarotsehen waren. Das vordere Ende des Spinnenkörpers war eine albtraumhafte Fressmaschine. Die rasiermesserscharfen Mandibeln und klauenförmigen Hilfsglieder waren in ständiger Bewegung. Doch der Kopf der Wesen saß fast unbeweglich an der Brust fest.

Der Sprecher verließ die Spitze der Steinnadel, und General Schmid kletterte hoch, wobei sie mit dem anderen die schwierige Passage aneinander vorbei abstimmte. Schmid schwieg einen Augenblick, als sie die Spitze erreicht hatte. Ihre Vorderbeine winkten mit einer kleinen Spiralbewegung, als ermutige sie Dumme, sich ihrem Schlund zu nähern. Vom Sprecher kamen Zischeln und Klappern. Auf dem ›übersetzten‹ Bild erschien über ihr eine Beschriftung: Lächelt ihrem Publikum sanft zu.

»Meine Damen und Herren des Parlaments.« Die Stimme war stark und schön — Trixia Bonsols Stimme. Nau bemerkte, dass Ezr Vinhs Kopf bei ihrem Klang leicht ruckte. Die Diagrammkurven von Vinh gingen mit der üblichen konfliktgeladenen Intensität in die Höhe. Er wird zu gebrauchen sein, gerade lange genug, dachte Nau.

»Ich bin gekommen, um für meinen König zu sprechen und mit seiner ganzen Autorität. Ich bin gekommen in der Hoffnung, dass ich genug anzubieten habe, um Ihr Vertrauen zu gewinnen.«


»Meine Damen und Herren des Parlaments.« Reihe um Reihe schauten die Gewählten auf Viktoria Schmid. Sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit, und Hrunkner spürte, wie die Persönlichkeitskraft der Generalin so stark wie nur je strömte. »Ich bin gekommen, um für meinen König zu sprechen und mit seiner ganzen Autorität. Ich bin gekommen in der Hoffnung, dass ich genug anzubieten habe, um Ihr Vertrauen zu gewinnen.

Wir befinden uns an einem Punkt der Geschichte, wo wir allen Fortschritt, der gemacht wurde, zerstören können — oder wir können alle Anstrengungen der Vergangenheit ernten und ein grenzenloses Paradies erringen. Diese beiden Zukünfte sind die beiden Seiten der einen Situation, in der wir uns befinden. Die lichte Zukunft hängt vom Vertrauen zueinander ab.«

Es gab vereinzelte Spottrufe — die Partisanen der Sinnesgleichen. Unnerbei fragte sich, ob die alle wohl Tickets hatten, um Südland zu verlassen. Gewiss musste ihnen klar sein, dass sie bei jeder geringeren Bezahlung schließlich ebenso tot sein würden wie das von ihnen verratene Land, wenn erst einmal die Bomben fielen.

Die Generalin hatte ihm gesagt, dass Pedure selbst hier unten war. Ich möchte wissen… Unnerbei schaute, während die Generalin sprach, in alle Richtungen, besonders aufmerksam in die Schatten und zu den Wachposten. Da. Pedure saß auf dem Podium, keine dreißig Meter von Schmid entfernt. Nach all den Jahren war sie selbstsicherer denn je. Warte nur ein Weilchen, liebe Geehrte Pedure. Vielleicht kann dir die Generalin eine Überraschung bereiten.

»Ich habe einen Vorschlag. Er ist einfach, aber gehaltvoll — und er kann sehr schnell ausgeführt werden.« Sie bedeutete Tim Niederer, die Datenkarten an den Assistenten des Parlamentssprechers weiterzureichen. »Ich glaube, Sie kennen meine Position in der Struktur der Streitkräfte des Einklangs. Selbst die misstrauischsten von Ihnen werden zugeben, dass, während ich hier bin, der Einklang die Zurückhaltung üben muss, die er öffentlich versprochen hat. Ich bin ermächtigt, eine Fortsetzung dieses Zustandes anzubieten. Sie vom Parlament von Südland können drei beliebige Personen aus dem Einklang — einschließlich des Königs und meiner Person — auswählen, dass sie auf unbestimmte Zeit ihren Wohnsitz in unserer Botschaft hier in Südende nehmen.« Es war die primitivste Strategie der Friedenssicherung, großzügiger als jemals in der Vergangenheit, da sie die Wahl der Geiseln der anderen Seite überließ. Und in größerem Maße als jemals in der Geschichte war es praktikabel. Die Botschaft von Einklang in Südende war mehr als groß genug, um einer kleinen Stadt Raum zu bieten, und bei den modernen Kommunikationsmitteln würden nicht einmal die wichtigen Aktivitäten der Geiseln nachhaltig beeinträchtigt. Wenn das Parlament nicht vollkommen korrumpiert war, dann warf es der heraneilenden Katastrophe vielleicht einen Stock zwischen die Füße.

Die Gewählten schwiegen, sogar Pedures Kumpels. Waren sie schockiert? Sahen sie den einzigen Möglichkeiten ins Auge, die sie tatsächlich hatten? Lauschten sie Anweisungen ihrer Chefin? Etwas war im Gange. In den Schatten hinter Schmid sah Hrunkner, wie Pedure eindringlich zu einem Adjutanten sprach.


Als Viktoria Schmids Rede zu Ende war, hallte Bennys Salon von Beifall wieder. Es hatte einen krassen Schock gegeben, als die Rede begann, als alle sahen, wie lebendige Spinnen wirklich aussahen. Doch die Worte der Rede hatten zur Persönlichkeit von Viktoria Schmid gepasst, und mit der waren die meisten Menschen vertraut. Es würde ziemlich viel Mühe kosten, sich an den Rest zu gewöhnen, aber…

Rita Liao erwischte Benny am Ärmel, als er mit Getränken für die Decke vorbeischwebte. »Du solltest Qiwi nicht die ganze Zeit vorn für dich allein behalten, Benny. Sie kann hier noch ein Plätzchen finden und trotzdem zu allen sprechen.«

»Hm, in Ordnung.« Es war der Hülsenmeister, der den Einzelplatz in der vordersten Reihe vorgeschlagen hatte, aber das spielte sicherlich keine Rolle, wenn alles so gut lief. Benny servierte die Getränke und hörte mit einem Ohr auf die frohen Spekulationen.

»… zwischen dieser Rede und unserem Eingreifen müssten sie so sicher wie Temps bei Triland sein…«

»He, wir könnten in weniger als vier Megasek auf dem Planeten sein! Nach all den Jahren…«

»Raum oder Planet, wenn kümmert’s? Wir werden genug Ressourcen besitzen, um die Geburtsverbote abzuschaffen…«

Ja, die Geburtsverbote. Unsere eigene, menschliche Version des Unzeit-Tabus. Vielleicht kann ich endlich Gonle fragen… Bennys Geist schreckte vor dem Gedanken zurück. Es hieß, das Schicksal zu versuchen, wenn er zu früh handelte. Dennoch war ihm auf einmal glücklicher zumute als seit langer Zeit. Benny wich den Tische aus, indem er durch die zentrale Lücke tauchte, ein kurzer Abstecher zu Qiwi hin.

Sie nickte zu dem, was Rita gesagt hatte. »Das wäre schön.« Ihr Lächeln war zögerlich, und den Blick hatte sie kaum von den Bildschirmen im Salon gewandt. General Schmid kletterte gerade von der Sprecherplattform herab.

»Qiwi! Es läuft alles genau so, wie es der Hülsenmeister geplant hat. Alle wollen dir gratulieren!«

Qiwi tätschelte sanft das Kätzchen auf ihrem Arm, doch auf eine ausgesprochen beschützende Art. Sie schaute zu ihm auf, und ihr Gesichtsausdruck war merkwürdig verwirrt. »Ja, es läuft alles.« Sie erhob sich vom Tisch und folgte Benny durch den freien Raum zu Ritas Tisch.


»Ich muss mit ihm reden, Korporal. Unverzüglich.« Rachner straffte sich, während er sprach, und legte fünfzehn Jahre Dienst als Oberst in seine Haltung.

Einen Augenblick lang wurde der junge Korporal unter seinem strengen Blick klein. Dann musste der Unzeit-Kuppli die Spuren von Sprusselerbrochenem an Thrakts Schlund und den ramponierten Zustand seiner Uniform bemerkt haben. Er zuckte die Achseln, sein Blick war wachsam und abweisend. »Tut mir Leid, Herr Oberst, Sie stehen nicht auf der Liste.«

Rachner fühlte, wie ihm die Schultern sanken. »Korporal, rufen Sie ihn einfach an. Sagen Sie ihm, es ist Rachner und es geht um… um Leben und Tod.« Und sobald die Worte heraus waren, wünschte Thrakt, er hätte sich diese veraltete Wahrheit erspart. Der Kuppling starrte ihn eine Sekunde lang an — erwog er, ob er ihn hinauswerfen sollte? Dann schien so etwas wie makaberes Mitleid in ihm aufzukommen; er aktivierte eine Sprechverbindung und sagte etwas zu jemandem im Haus.

Eine Minute verging. Zwei. Rachner ging im Besuchervorbau auf und ab. Wenigstens war er nicht mehr dem Wind ausgesetzt; er hatte sich die Spitzen von zwei Händen erfroren, nur als er die Treppe von Unterbergs Hubschrauberplatz hochgestiegen war. Aber… ein Außenwachposten und ein Besuchervorbau? Irgendwie hatte er so viel Sicherheitsvorkehrungen nicht erwartet. Vielleicht hatte, dass er seinen Posten verloren hatte, wenigstens etwas Gutes. Es hatte den anderen die Notwendigkeit von Schutz vor Augen geführt.

»Rachner, sind Sie das?« Die Stimme, die aus dem Sprechgerät des Wachpostens kam, war schwach und missmutig. Unterberg.

»Ja, Herr Professor. Bitte, ich muss mit Ihnen reden.«

»Sie… Sie sehen schrecklich aus, Oberst. Tut mir Leid, ich…« Seine Stimme verebbte. Jemand murmelte im Hintergrund. Jemand sagte: »Die Rede war gut… jede Menge Zeit jetzt.« Dann war er wieder dran und klang viel konzentrierter. »Oberst, in ein paar Minuten bin ich so weit.«

Dreiundfünfzig

»Eine hervorragende Rede. Sie hätte nicht besser sein können, wenn wir sie verfasst hätten.« Auf dem Flachbild aus der Hand plapperte Ritser weiter, sehr mit sich zufrieden. Nau nickte nur und lächelte. Schmids Friedensangebot war stark genug, um die Militärapparate der Spinnen pausieren zu lassen. Das würde den Menschen Zeit verschaffen, sich zu melden und Zusammenarbeit vorzuschlagen. Das war die offizielle Version, ein riskanter Plan, der die Hülsenmeister in eine zweitrangige Position bringen würde. In Wahrheit würden in etwa sieben Kilosekunden Annes Blitzköpfe einen hinterhältigen Angriff durch Schmids eigene Armee auslösen. Der darauf folgende ›Gegenangriff‹ der Sinnesgleichen würde die geplante Zerstörung vollenden. Und wir werden uns einschalten und die Bruchstücke aufsammeln.

Nau schaute hinaus über die nachmittägliche Helligkeit von Nordpfote, doch seine Datenbrille füllte ein Bild von Trinli und Vinh aus, die selber nur ein paar Meter von ihm entfernt saßen. Trinlis Gesichtsausdruck war ganz leicht amüsiert, doch seine Finger hörten nicht auf, hin und her zu huschen und an seinem Auftrag zu arbeiten — die Kernmunition auf dem Territorium der Sinnesgleichen zu überwachen. Vinh? Vinh wirkte nervös; die Diagnose-Kennungen, die neben seinem Gesicht schwebten, zeigten: Er wusste, dass etwas im Gange war, hatte aber noch nicht recht herausgefunden, was. Es war Zeit, ihn aus dem Weg zu rücken, ein paar kurze Botengänge. Wenn er zurückkam, würden die Ereignisse im Gang sein… und Trinli würde die Geschichte des Hülsenmeisters bekräftigen.

Anne Reynolts Stimme erklang winzig in Naus Ohr. »Herr Hülsenmeister, wir haben einen Notfall.«

»Ja, machen Sie.« Nau sprach leichthin, ohne sich vom See abzuwenden. Innerlich jedoch erstarrte etwas in seinen Eingeweiden zu Eis. Noch nie hatte er gehört, dass Anne einer panischen Schrillheit derart nahe gekommen war.

»Unser Lieblingssaboteur hat das Tempo erhöht. Es wird viel weniger getarnt. Er greift sich alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Noch ein paar tausend Sekunden, und er kann uns Blitzköpfe abschalten… Es ist Trinli, Herr Hülsenmeister, neunzig Prozent Wahrscheinlichkeit.«

Aber Trinli sitzt hier direkt vor meinen Augen! Und ich brauche ihn, um die Lügen nach dem Angriff zu untermauern. »Ich weiß nicht, Anne«, sagte er laut. Vielleicht war Anne im Begriff, wegzurutschen. Es war möglich, obwohl er ihre medizinischen Daten und ihre MRT-Eichung genauer als je zuvor verfolgt hatte.

Anne zuckte die Achseln, antwortete nicht. Es war die typische wegwerfende Geste eines Blitzkopfes. Sie hatte ihr Möglichstes getan, und es lag bei ihm, ihren Rat zu ignorieren und zum Teufel zu gehen.

So eine Ablenkung konnte er nicht gebrauchen, wenn die Arbeit von vierzig Jahren auf dem Spiel stand. Und genau darum könnte ein Feind diesen Augenblick wählen, um endlich zu handeln.

Kal Omo stand direkt hinter Nau und in privater Sprechverbindung mit Reynolt. Von den anderen drei Wachleuten war im Moment nur Rei Ciret im Zimmer. Nau seufzte. »Gut, Anne.« Er gab Omo ein unmerkliches Signal, den Rest seiner Leute ins Zimmer zu holen. Wir werden die beiden auf Eis legen, uns später mit ihnen befassen.

Nau hatte seinen Opfern keine Warnung zukommen lassen, dennoch — am Rande seines Blickfelds sah er Trinlis Hand in einer Wurfbewegung aufblitzen. Kal Omo stieß einen gurgelnden Schrei aus.

Nau duckte sich unter den Tisch. Etwas spießte schwer in das dicke Holz über ihm. Es ertönte das Knattern von Drahtpistolen-Feuer, ein weiterer Schrei.

»Er entkommt!«

Nau glitt über den Fußboden und schnellte auf der anderen Seite des Tisches zur Decke hoch. Rei Ciret befand sich mitten in der Luft und hieb auf Ezr Vinh ein. »Entschuldigung, Herr Hülsenmeister! Der hier hat mich angesprungen.« Er stieß den blutenden Körper weg; Vinh hatte Trinli den Augenblick verschafft, den er zur Flucht brauchte. »Marli und Tung werden ihn erwischen!«

Sie versuchten es tatsächlich. Die beiden bestrichen den Hang zum Walde hin mit Drahtfeuer. Doch Trinli war weit vor ihnen und flog von Baum zu Baum. Dann war er fort, und Tung und Marli waren auf halbem Wege zum Wald hinter ihm her.

»Wartet!« Naus Stimme dröhnte aus den Lautsprechern der Hütte. Lebenslanger Gehorsam ließ die beiden in ihrer überstürzten Verfolgung innehalten. Sie kamen sorgfältig den Hang herab zurück, schauten den ganzen Weg über nach Gefahren aus. Schock und Wut standen überdeutlich auf ihren Gesichtern geschrieben.

Nau fuhr etwas leiser fort: »Geht hinein. Bewacht die Hütte.« Das war die Art grundlegende Anweisungen, wie sie ein Hülsensergeant geben würde, doch Kal Omo war… Nau schwebte zurück zu dem Versammlungstisch, die Etikette der gemeinschaftlichen Schwerkraft war momentan außer Kraft. Etwas Scharfes und Glänzendes war in die Tischkante gespießt, genau in dem Augenblick, als er sich weggeduckt hatte. Eine ähnliche Klinge hatte Omo den Hals aufgeschlitzt; ihr hinteres Ende ragte aus der Luftröhre des Hülsensergeanten heraus. Omo hatte zu zucken aufgehört. Blut hing rings um ihn in der Luft und trieb nur langsam zum Boden hin. Die Drahtpistole des Hülsensergeanten war halb aus der Tasche.

Omo war ein nützlicher Mann. Habe ich die Zeit, um ihn auf Eis zu legen? Nau überdachte noch eine Sekunde lang Taktik und Zeitplanung — und Kal Omo verlor.

Die Wachleute schwebten bei den Fenstern der Hütte, doch ihre Blicke gingen immer wieder zu ihrem Hülsensergeanten zurück. Naus Gedanken jagten Ketten von Konsequenzen entlang. »Ciret, bind Vinh fest. Marli, hol mir Ali Lin.«

Vinh stöhnte schwach, als sie ihn auf einen Stuhl schoben. Nau kam über den Tisch heran, um sich den Mann näher anzuschauen. Er schien aus der Drahtpistole einen Streifschuss an der Schulter abgekriegt zu haben. Sie war blutig, doch es kam nicht viel Blut nach. Vinh würde leben… lange genug.

»Eiter, war dieser Trinli schnell«, sagte Tung, und die nachlassende Anspannung sprudelte aus ihm heraus. »Die ganzen Jahre war er bloß ein alter Scheißer, und dann — rumms — murkst er den Hülsensergeanten ab. Murkst ihn ab und macht sich glatt aus dem Staub.«

»Wäre nicht glatt gegangen, wenn der mir nicht in den Weg gekommen wär.« Ciret stieß Vinh mit der Mündung seiner Drahtpistole gegen den Kopf. »Sie waren beide schnell.«

Zu schnell. Nau zog sich die Datenbrille von den Augen und starrte sie einen Moment lang an. Eine Dschöng-Ho-Datenbrille, gespeist mit Daten aus dem Orternetz. Er zerknüllte die Brille und holte den Fasersprecher heraus, den er, weil Reynolt darauf bestanden hatte, als Reserve dabei hatte. »Anne, hören Sie mich? Haben Sie gesehen, was passiert ist?«

»Ja. Trinli war in Bewegung, sobald Sie Kal Omo das Signal gegeben hatten.«

»Er hat es gewusst. Er konnte Ihre Seite des Gesprächs hören.« Pest! Wie konnte Anne die Sabotage entdecken, ohne zu bemerken, dass Trinli in ihre Sprechverbindung eingedrungen war?

»Ja. Ich habe nur zum Teil erraten, was er vorhatte.« Die Orter waren also Trinlis maßgeschneiderte Waffe. Eine Falle, über Jahrtausende hinweg aufgestellt. Gegen wen kämpfe ich?

»Anne. Ich möchte, dass Sie die drahtlose Energie für alle Orter abschalten.« Aber die Orter waren das Rückgrat von weiß die Seuche wie vielen kritischen Systemen. Orter sicherten die Stabilität des Sees selbst. »Innerhalb von Nordpfote lassen Sie die Stabilisatoren eingeschaltet. Lassen Sie sie von ihren Blitzköpfen direkt steuern, über die Faser.«

»Gemacht. Es wird etwas grob gehen, aber wir schaffen es. Was ist mit den Planetenoperationen?«

»Nehmen Sie Verbindung zu Ritser auf. Die Lage ist zu kompliziert für Feinheiten. Wir müssen den Zeitplan für den Planeten beschleunigen.«

Er hörte, wie Anne Anweisungen an ihre Leute durchgab. Doch sein Bild von den Befehlen und den Abläufen der Blitzkopf-Operationen zu jedem einzelnen Projekt war weg. Es war, als kämpfe er blind. Sie konnten verlieren, während sie noch im Schock umhertappten.

Hundert Sekunden später war Anne wieder da. »Ritser versteht. Meine Leute helfen ihm, einen einfachen Angriff in Gang zu setzen. Die Feinabstimmung der Ergebnisse können wir später machen.« Sie sprach mit ihrer alten, kalten Ungeduld. Anne Reynolt hatte viel härtere Schlachten als diese geschlagen, hundert Mal gegen überwältigende Übermacht gewonnen. Wenn doch alle Feinde so benutzt werden könnten.

»Sehr gut. Haben Sie Trinli gefunden? Ich wette, er ist in den Tunneln.« Wenn er nicht im Kreis zurückkommt, um mich ein zweites Mal zu überfallen.

»Ja, ich glaube. Wir hören Bewegungen von den alten Geophonen.« Aufsteigertechnik.

»Gut. In der Zwischenzeit basteln Sie eine synthetische Stimme zurecht, um die Leute bei Benny in guter Laune zu halten.«

»Ausgeführt«, kam augenblicklich ihre Antwort. Schon ausgeführt.

Nau wandte sich wieder seinen Wachen und Ezr Vinh zu. Er hatte sich eine sehr kleine Atempause verschafft. Lange genug, um neue Befehle an Ritser durchzugeben. Lange genug, um ein wenig darüber herauszufinden, wer wirklich sein Gegner war.

Vinh war wieder zu Bewusstsein gekommen. In seinen Augen stand ein vor Schmerz glasiger Ausdruck — und ein Funkeln von Hass. Nau lächelte in an. Er bedeutete Giret mit einer Handbewegung, Vinh die verletzte Schulter zu verdrehen. »Ich brauche ein paar Antworten, Ezr.«

Der Krämer schrie auf.


Pham stieß sich immer schneller den Diamantkorridor hinauf, geführt von grünen Bildern, die sich verwischten und schwankten… und allmählich zu totaler Finsternis erloschen. Ein paar Sekunden lang schoss er blind dahin, ohne sein Tempo zu verringern. Er klopfte sich an die Schläfen und versuchte, die Orter dort neu zurechtzurücken. Sie waren an Ort und Stelle, und er wusste, dass Tausende von Ortern in diesem Tunnel schwebten. Anne musste die drahtlosen Energieimpulse abgeschaltet haben, zumindest in diesem Tunnel.

Die Frau ist unglaublich! Jahrelang hatte es Pham vermieden, das Blitzkopfsystem direkt zu manipulieren. Und dennoch hatte es Anne irgendwie bemerkt. Die Gehirnwäsche hatte ihren Fortschritt eine Zeit lang verlangsamt, doch im Laufe dieses Jahres hatte sie die Schlinge immer enger gezogen, bis… Wir waren so nahe daran, den Ausschalter für die Energie lahmzulegen, und jetzt haben mir alles verloren. Fast alles. Ezr war gestorben, um ihm noch eine Chance zu geben.

Der Tunnel machte irgendwo gleich vorn eine Biegung. Er griff in die Dunkelheit, berührte die Wände sacht, dann kräftiger, bremste seinen Schwung und brachte die Füße nach vorn. Das Manöver kam den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Füße, Knie, Hände prallten gegen die unsichtbare Oberfläche, etwa wie bei einem unglücklichen Sturz auf einem Planeten — außer dass er zurückprallte und gegen eine andere Oberfläche geschleudert wurde.

Er fing sich und bewegte sich im Fingergang zurück zur Biegung. Er tastete nach den Öffnungen und begann seinen Weg einen zweiten Gang entlang, doch diesmal sehr still. Bis vor ein paarSekunden hatte es Anne nicht sicher gewusst. Der geheime Vorrat, den er in diesem Tunnel angelegt hatte, sollte noch an Ort und Stelle sein.

Nach ein paar Metern berührten seine Hände einen Stoffbeutel, der an der Wand befestigt war. Ha. Den Vorrat anzulegen, war sehr riskant gewesen, doch Endspiel-Manöver sind das für gewöhnlich, und dieses hatte sich gelohnt. Er zog den Beutel auf, fand die Ringlampe darin. Ein gelblicher Schein erschien rings um seine Hand. Pham griff sich den Rest der Ausrüstung, wobei das Licht seinen Händen folgte und um ihn herum Regenbögen und Schatten huschen ließ. In einem der Päckchen befanden sich winzige Bälle. Er warf einen davon in einen Seitentunnel. Eine Sekunde lang flog er lautlos, dann gab es einen dumpfen Aufprall und vielfaches Scheppern — eine Ablenkung für Annes lauschende Blitzköpfe.

Unsere Tarnung ist also hin, gerade ein paar Kilosek zu früh. Aber etwas ging fast immer schief, wenn die Pläne schließlich auf die Wirklichkeit trafen. Wenn alles glatt gegangen wäre, hätte er diesen Beutel nie gebraucht — und ebendarum hatte er ihn vorbereitet. Eins nach dem anderen bedachte Pham den Inhalt des Beutels: das Atemgerät, der Empfangsverstärker, das Medpäckchen, die Pfeilpistole.

Nau und Co. hatten mehrere Möglichkeiten. Sie konnten die Tunnel mit Gas füllen oder sie dem Vakuum aussetzen — letzteres hätte allerdings eine Menge wertvolle Ausrüstung zerstört. Sie konnten versuchen, hier drin auf ihn Jagd zu machen. Das wäre lustig; Naus Schlagetote würden herausfinden, wie gefährlich ihre Tunnel geworden waren… Pham fühlte die alte, alte Begeisterung in sich aufsteigen, die er immer empfand, wenn es zum Knacken kam, wenn aus Planung und Nachdenken Handeln wurde. Er stopfte sich die Ausrüstung in die Taschen, während der augenblickliche Plan sich in seinem Geist schärfer abzeichnete. Ezr, wir werden siegen, ich versprech’s. Wir werden trotz Anne siegen… und um ihretwillen.

Lautlos wie ein Nebel begann er seinen Weg den Tunnel hinan, die Ringleuchte gerade hell genug, um weiter vorn die Seitentunnel zu sehen. Es war Zeit, Anne einen Besuch abzustatten.


Die Unsichtbare Hand glitt hundertfünfzig Kilometer über der Spinnenwelt dahin. Sie war so tief, dass nur eine begrenzte Anzahl Spinnen an der Oberfläche sie direkt sehen konnte, doch wenn die Zeit heran war, würde sie exakt über die festgelegten Ziele hinwegfliegen. Und was immer sie Rita und den anderen bei L1 für Lügen erzählten, an Bord der Hand wurden die Spinnenorte ›Ziele‹ genannt.

Jau Xin saß im Sessel des Pilotenverwalters — einst, als das Schiff der Dschöng Ho gehört hatte, war es der Sessel des Ersten Offiziers gewesen — und beobachtete die graue Krümmung des Horizonts. Er hatte drei Blitzkopf-Piloten dabei, doch nur einer überwachte tatsächlich den Flug. Die anderen waren in Bil Phuongs Waffenleitsysteme eingeklinkt und planten Operationsvarianten. Jau versuchte die Worte zu ignorieren, die er vom Sessel des Kapitäns neben sich hörte. Ritser Brughel hatte Spaß daran, seinem Chef in Hammerfest einen laufenden Bericht über die Ereignisse auf dem Planeten zu geben.

Brughel hielt in seiner perversen Analyse inne, ein paar Sekunden lang herrschte gnädige Stille. Plötzlich fluchte der Vize-Hülsenmeister. »Herr Hülsenmeister! Was…?« Auf einmal begann er zu rufen: »Phuong! In Nordpfote wird geschossen. Omo ist alle, und… Eiter, ich hab meine Brillen-Verbindung verloren. Phuong!«

Xin wandte sich im Sessel um, sah Brughel auf sein Pult hämmern. Das bleiche Gesicht des Mannes war rot angelaufen. Der Vize-Hülsenmeister hörte einen Augenblick lang auf seinem privaten Kanal. »Aber der Hülsenmeister hat überlebt? Gut, dann gib mir Reynolt. Reynolt her!«

Anscheinend war Anne Reynolt nicht sofort greifbar. Hundert Sekunden vergingen. Zweihundert. Brughel tobte, und sogar seine Gorillas wichen zurück. Jau wandte sich seinen eigenen Bildschirmen zu, doch was sie zeigten, ging bedeutungslos an ihm vorüber. Das war bei Nau nicht vorgesehen.

»Schlampe! Wo warst du? Was…?« Dann schwieg Brughel wieder. Er grunzte gelegentlich, unterbrach aber nicht, was wohl ein Monolog war. Als er wieder sprach, klang er eher nachdenklich als wütend. »Ich verstehe. Sagen Sie dem Hülsenmeister, er kann auf mich zählen.«

Das Ferngespräch dauerte noch einen Wortwechsel lang, und Jau begann zu ahnen, was kommen würde. Jau konnte nicht anders, sein Blick glitt zur Seite, zum Vize-Hülsenmeister hin. Brughel schaute ihn an. »Pilotenverwalter Xin. Unsere gegenwärtige Position?«

»Herr Hülsenmeister, wir fliegen südwärts über den Ozean, ungefähr tausendsechshundert Kilometer von Südende entfernt.«

Brughel schaute über seinen Kopf hinweg, er betrachtete ein genaueres Bild, das in seiner Datenbrille erschien. »Aha, und ich sehe, dass wir die Raketenstellungen des Einklangs überfliegen werden, wenn wir wieder nach Norden kommen.«

In Xins Kehle steckte ein harter Kloß. Dieser Augenblick war unvermeidlich gewesen, aber ich hatte geglaubt, mir bliebe mehr Zeit. »Wir werden ein paar hundert Kilometer östlich von den Stellungen sein, Herr Hülsenmeister.«

Brughel machte eine wegwerfenden Handbewegung. »Das korrigiert ein Schub aus dem Haupttriebwerk… Phuong, sind Sie auf dem Laufenden? Ja, wir beschleunigen die Sache um sieben Kilosek. Ja und? Vielleicht bemerken sie uns, aber es wird zu spät sein, als dass es noch eine Rolle spielte. Lassen Sie Ihre Leute eine neue Operationssequenz erzeugen. Natürlich bedeutet das mehr direktes Eingreifen. Reynolt stellt alle freien Blitzer zu Ihrer Verfügung ab. Synchronisieren Sie sie, so gut es geht… Gut.«

Brughel lehnte sich in seinem Sessel des Dschöng-Ho-Kapitäns zurück und lächelte. »Der einzige Nachteil bei alledem ist, dass uns keine Zeit bleibt, Pedure aus Südende herauszuholen. Pedure hatten wir uns ausgesucht; ich denke, sie hätte eine gute einheimische Vizekönigin abgegeben… Aber wissen Sie, ich persönlich kann die alle nicht leiden.« Er sah, dass Xin seinen Worten mit unverhohlenem Entsetzen folgte. »Vorsichtig, vorsichtig, Pilotenverwalter. Sie sind zu lange mit ihren Dschöng-Ho-Freunden zusammen gewesen. Was die jetzt eben auch versucht haben, es ist misslungen. Haben Sie das kapiert? Der Hülsenmeister hat überlebt und verfügt noch über seine Ressourcen.« Er schaute durch Jau hindurch, sah etwas in seiner Datenbrille. »Synchronisieren Sie Ihre Piloten mit Phuongs Blitzköpfen. In ein paar Sekunden kriegen Sie konkrete Zahlen. Über Südende werden wir keine von unseren eigenen Waffen einsetzen. Vielmehr werden Sie die Kurzstrecken-Raketen, die die Sinnesgleichen vor der Küste haben, orten und auslösen — der ›heimtückische Angriff des Einklangs‹, den wir schon geplant haben. Ihre eigentliche Aufgabe kommt ein paar hundert Sekunden später. Ihre Leute werden die Raketenabwehr-Stellungen des Einklangs ausschalten.« Das würde bedeuten, die geringe Anzahl von Raketen und Strahlenwaffen einzusetzen, die den Menschen verblieben waren. Doch diese Waffen genügten weitgehend gegen die primitivere Raketenabwehr der Spinnen… und danach würden Tausende von Raketen der Sinnesgleichen Städte auf dem halben Planeten auslöschen.

»Ich…« Xin würgte, von Entsetzen gepackt. Wenn er das nicht tat, würden sie Rita ermorden. Brughel würde Rita töten und dann Jau. Doch wenn er den Befehlen gehorchte… Ich weiß zu viel.

Brughel beobachtete ihn intensiv. Es war ein Blick, den Jau bei Ritser Brughel noch nie gesehen hatte… ein kühler, abschätzender Blick, fast wie bei Nau. Brughel reckte den Kopf vor und sagte sanft: »Sie haben nichts zu befürchten, wenn Sie die Befehle ausführen. Oh, vielleicht eine Gehirnwäsche; Sie werden ein wenig einbüßen. Wir brauchen Sie, Jau. Sie und Rita können uns viele Jahre lang dienen, ein gutes Leben lang. Wenn Sie nur jetzt die Befehle ausführen.«


Ehe alles schiefging, hatte sich Reynolt im Obergeschoss befunden. Pham vermutete, dass sie noch immer dort wäre, mit Trud und jedem bisschen Kommunikationszugang, das sie handhaben konnte, im Gruppenraum lagerte und ihr Möglichstes tat, ihre Leute zu schützen und zu lenken… und ihrer aller vereintes Genie zu nutzen, um Naus Willen zu erfüllen.

Pham huschte durch die Dunkelheit aufwärts, durch Tunnel, die sich schließlich zu weniger als achtzig Zentimetern Durchmesser verengten. Sie waren im Laufe von Jahrzehnten von Maschinen gegraben worden, seit der Zeit, als die Wurzeln von Hammerfest in Diamant Eins getrieben wurden. Irgendwann im dritten Jahrzehnt des Exils war Pham in die Architekturprogramme der Aufsteiger eingedrungen, und die Tunnel — manche von ihnen — waren einfach verlorengegangen; andere Verbindungen waren hinzugefügt worden. Er wettete darauf, dass nicht einmal Anne alle Orte kannte, die er erreichen konnte.

An jeder Biegung bremste er mit leichtem Handdruck und ließ sein Licht kurz aufflammen. Suchen, suchen. Selbst ohne äußere Energiezufuhr konnten die Kondensatoren der Orter eine letzte, kurze Berechnung ermöglichen. Mit dem Empfangsverstärker konnte er immer noch Hinweise bekommen — er wusste, dass er sich hoch im Turm von Hammerfest befand, auf der Seite des Bauwerks, wo der Gruppenraum lag.

Doch die Orter in der Nähe waren fast erschöpft. Er schwebte um eine Ecke, vorbei an der Stelle, die er für die wahrscheinlichste hielt. Die Wände glitzerten in trüben Regenbögen, unberührt. Noch ein paar Meter. Da! Die Andeutung eines Kreises, in die Diamantwand geätzt. Er glitt zu ihr hinauf und übertrug mit sanfter Handbewegung einen Steuercode auf die Oberfläche. Ein Klicken ertönte. Licht strömte rings um die Scheibe hervor, als sie sich zurückzog und den Blick auf den Lagerraum dahinter freigab. Pham schlüpfte durch die Öffnung. Da standen Regale mit Essenrationen und Toilettenartikeln.

Er kam um die Regale herum, hatte fast den Raum durchquert, hin zu dem offizielleren Eingang — als jemand die Tür öffnete. Pham tauchte seitlich weg, und als der Besucher hereinkam, streckte er die Hand aus und nahm ihm sacht die Datenbrille weg. Es war Trud Silipan.

»Pham!« Silipan sah eher überrascht als ängstlich aus. »Was, zum Teufel… Weißt du, dass Anne deinetwegen ganz außer sich ist? Sie ist durchgedreht, sagt, du hättest Kal Omo ermordet und die Nordpfote in deine Gewalt gebracht.« Seine Worte erstarben, als ihm aufging, dass Phams Anwesenheit hier ebenso unwahrscheinlich war.

Pham grinste Silipan an und schloss die Tür hinter ihm. »Oh, das ist alles wahr, Trud. Ich bin gekommen, um mir meine Flotte zurückzuholen.«

»Deine… Flotte.« Trud starrte ihn einen Moment lang einfach an, Furcht und Staunen auf seinem Gesicht. »Eiter, Pham. Wovon redest du? Du siehst seltsam aus.« Ein bisschen Adrenalin, ein bisschen Freiheit. Erstaunlich, was das bewirken kann. Angesichts des Lächelns, das sich auf Phams Gesicht ausbreitete, schrak Silipan zurück. »Du bist verrückt, Mann. Du weißt, dass du nicht gewinnen kannst. Du sitzt hier in der Falle. Gib auf. Vielleicht können wir das als… als vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit durchgehen lassen.«

Pham schüttelte den Kopf. »Ich habe vor, zu gewinnen, Trud.« Er hob seine kleine Pfeilpistole, sodass Trud sie sehen konnte. »Und du wirst mir dabei helfen. Wir gehen hinaus in den Gruppenraum, und du wirst alle Blitzkopf-Unterstützung abschalten…«

Silipan machte eine irritiert-wegwischende Handbewegung zu Nuwens Pistole hin. »Unmöglich. Sie werden dringend gebraucht, um die Planetenoperation zu unterstützen.«

»Um Naus Spinnenvernichtungs-Programm zu unterstützen? Erst recht ein Grund, sie sofort abzuschalten. Es dürfte auch eine interessante Wirkung auf den See des Hülsenmeisters haben.«

Pham sah beinahe, wie der Aufsteiger in Gedanken die Risiken abwog: Pham Trinli, der alte Saufkumpan und seelenverwandte Angeber, jetzt mit einer Pfeilpistole von fraglicher Wirkung bewaffnet — gegen die ganze tödliche Macht der Hülsenmeister. »Ausgeschlossen, Pham. Du hast dich da reingeritten, und jetzt sitzt du in der Patsche.«

Die Datenbrille, die Pham zerknittert in der rechten Hand hielt, machte gedämpfte, wütende Geräusche. Es gab einen letzten heiseren Schrei, und die Tür zum Lagerraum sprang auf. »Was ist los mit Ihnen, Silipan? Ich habe Ihnen gesagt, wir brauchen…« Anne Reynolt glitt in den Raum. Sie schien das Bild augenblicklich zu erfassen, doch sie hatte keinen Halt, um sich wieder hinauszuschnellen.

Und Pham war ebenso schnell wie sie. Seine Hand drehte sich, die kleine Pfeilpistole feuerte, und Reynolt zuckte krampfhaft zusammen. Einen Augenblick später ließ ein seltsames Pochen ihren Körper erzittern. Pham wandte sich wieder Trud zu, und jetzt war sein Lächeln breiter. »Explosivpfeile, weißt du? Sie kommen rein, und dann — peng — sind deine Innereien Hackfleisch.«

Truds Gesichtsfarbe nahm einen fahlen Aschton an. »Uhm-hm…« Er starrte den Körper seiner ehemaligen Chefin/Sklavin an und schien sich jeden Moment übergeben zu wollen.

Pham stukte Silipan mit der kleinen Pfeilpistole sacht vor die Brust. Trud starrte, vor Entsetzen starr, hinab in die Mündung. »Trud, mein Freund, warum so bedrückt? Du bist ein guter Aufsteiger. Reynolt war bloß ein Blitzkopf, ein Möbelstück.« Er wies auf Reynolts Körper, wo die Krämpfe der Schlaffheit eines soeben eingetretenen Todes wichen. »Also lass uns diesen Müll beiseite räumen, und dann kannst du mir zeigen, wie man die Verbindungen der Blitzköpfe unterbricht.« Er grinste und wich zurück, um den schlaffen Körper zu packen. Trud zitterte sichtlich, als er sich auf die Tür zu bewegte.

Sobald sich Silipan abwandte, wurde Phams lässiger Griff, mit dem er Anne hielt, sacht, vorsichtig. Herrgott, das hat so echt geklungen, nicht wie ein Lähmpfeil und ein Krachmacher. Es war ein halbes Leben her, dass er den Trick zum letzten Mal benutzt hatte; was, wenn er es vermasselt hatte? Zum ersten Mal seit Beginn der Aktion sickerte Panik durch den Adrenalin-Andrang. Er ließ eine Hand an die Seite ihrer Kehle gleiten — und fand einen starken, gleichmäßigen Puls. Anne war gründlich gelähmt und weiter nichts.

Pham setzte wieder das raubtierhafte Lächeln auf und folgte Trud in den Gruppenraum der Blitzköpfe.

Vierundfünfzig

Es waren doch die Nachrichtengesellschaften gewesen, die zuletzt lachten. Was machte es also, dass der Geheimdienst von Einklang die Szene ausgeblendet hatte, als Mama aus dem Dolchflügler stieg? Minuten später war sie auf dem Territorium von Südland, und die dortigen Nachrichtensender waren nur allzu bereit, Viktoria Schmid und jede Person in ihrem Gefolge zu zeigen. Ein paar Minuten lang waren die Kameras so nahe, dass sie den inneren Ausdruck der Esshände der Generalin sehen konnte. Mama sah so ruhig und militärisch wie immer aus… doch ein paar Minuten lang fühlte sich Viktoria Lichtberg eher wie ein kleines Kind als wie ein Leutnant beim Geheimdienst. Das war so schlimm wie der Tag, an dem Gokna gestorben war. Mama, warum gehst du dieses Risiko ein? Aber Viki kannte die Antwort darauf. Die Generalin war nicht mehr wesentlich für die große Gegenlauer, die sie und Papa geschaffen hatten; jetzt konnte sie denen helfen, die sie in größte Gefahr gebracht hatte.

Der Unteroffiziersclub war voll von Kupps, die sonst geschlafen hätten oder anderen Vergnügungen nachgegangen wären. Es war der Ort, der dem Dienst am nächsten kam. Und diesmal war ›der Dienst‹ offensichtlich das Wichtigste, was jeder Kupp tun konnte.

Viktoria schlenderte zwischen den Spielkonsolen umher und signalisierte ihren Leuten diskret, dass alles glatt lief. Schließlich sprang sie auf das Sitzgitter neben Brent. Seine Hände waren in ständiger Bewegung überall auf der Konsole. Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Mama wird jetzt jeden Moment reden«, sagte sie leise.

»Ich weiß«, sagte Brent nur. »Wesen Neun sieht unsere Aktion, wird aber immer noch getäuscht. Es glaubt, es sei ein lokales Problem.«

Fast hätte Viki ihrem Bruder den Helm vom Kopf gerissen. Verdammt, ich könnte ebenso gut blind und taub sein. Stattdessen nahm sie ein Telefon aus der Jacke und tippte eine Nummer ein. »Hallo, Papa? Mama hat zu reden begonnen.«


Die Rede war kurz. Sie war gut. Sie blockierte die Drohung von Süden. Ja und? Dort hinunter zu fliegen, war immer noch viel zu riskant. Auf den Bildschirmen über der Sprusselbar sah Viki, wie die Generalin ihr förmliches Angebot Tim überreichte, damit er es an das Parlament weitergab. Vielleicht würde dieser Teil der Angelegenheit funktionieren. Vielleicht war es die Reise wert. Etliche Minuten vergingen. Die Kameras in der Parlamentshalle strichen über zunehmenden Tumult hin und her. Mama hatte mit Onkel Hrunk die Plattform verlassen. Eine verlotterte kleine Kupp in dunkler Kleidung trat an sie heran. Pedure. Sie stritten…

Und plötzlich war das alles nicht mehr wichtig. Brent rüttelte an ihr. »Schlechte Neuigkeiten«, sagte er, noch immer ohne den Datenhelm des Spiels vom Kopf zu nehmen. »Ich habe sie alle verloren. Sogar unsere alte Freundin.«

Lichtberg sprang von ihrem Gitter und winkte ihrem Team. Ihre Geste hätte ebenso gut ein schrilles Pfeifen sein können, so, wie sie wirkte. Ihr Team war auf den Füßen, Seitentaschen übergehängt, und alle gingen zur Tür. Brent setzte seinen Spielhelm ab und eilte unmittelbar vor Lichtberg hinaus.

Hinter sich sahen sie neugierige Blicke, doch die meisten Clubbesucher waren zu sehr aufs Fernsehen fixiert, um sie sonderlich zu beachten.

Ihr Team war zwei Stockwerke abwärts gesprungen, als die Alarmsirenen zu heulen begannen.


»Was soll das heißen, wir haben keine Blitzkopf-Unterstützung mehr? Ist die Faser durchgetrennt worden?« Trinli hatte irgendwie alle Fasern gefunden?

»N-nein, Herr Hülsenmeister. Ich glaube jedenfalls nicht.« Hülsenkorporal Marli war schon ganz fähig, aber kein Kal Omo. »Wir können noch Rufzeichen senden, aber die Steuerkanäle reagieren nicht. Herr Hülsenmeister… es ist, als ob jemand einfach die Blitzer abgeschaltet hätte.«

»Hm. Ja.« Das konnte eine weitere Überraschung Trinlis sein, oder vielleicht gab es im Obergeschoss einen Verräter. So oder so… Nau schaute quer durchs Zimmer zu Ezr Vinh hin. Die Augen den Krämers waren glasig vor Schmerz, doch Vinh war so ein zäher Brocken wie nur irgendeiner von den vielen, die er und Ritser zu Tode verhört hatten. Es würde Zeit erfordern oder einen besonderen Hebel, um Informationen aus ihm herauszuholen. Zeit hatten sie nicht. Er wandte sich wieder Marli zu. »Kann ich noch mit Ritser reden?«

»Ich denke schon. Wir haben Fasern zur Laserstation draußen.« Er tippte zögernd etwas auf dem Pult ein. Nau unterdrückte den Impuls, wegen seiner Ungeschicktheit in Wut auszubrechen. Aber ohne Blitzkopf-Unterstützung ging alles ungeschickt. Wir könnten ebenso von der Dschöng Ho sein.

Plötzlich grinste Marli. »Unsere Sprechverbindung zur Unsichtbare Hand steht noch, Herr Hülsenmeister! Ich habe sie gerade auf Ihr Halsbandmikro geschaltet.«

»Sehr gut… Ritser! Ich weiß nicht, wie viel Sie von alledem mitbekommen haben, aber…« Nau umriss kurz das Debakel und schloss mit den Worten: »Die nächsten paar hundert Sekunden werde ich nicht zu erreichen sein; ich wechsle nach L1-A hinüber. Entscheidende Frage: Ohne unsere Blitzköpfe, können Sie da noch die Planetenoperation fortführen?«

Es würde mindestens zehn Sekunden dauern, bis darauf die Antwort kam. Nau warf einen Blick auf seinen zweiten überlebenden Wachmann. »Ciret, hol Tung und den Blitzkopf. Wir gehen nach L1-A.«

Vom Arsenalbunker aus würden sie direkte Gewalt über Leben und Tod von allen im L1-Raum haben, ohne dass Automatik zwischengeschaltet wäre. Nau öffnete das Schränkchen hinter sich und berührte eine Steuerung. Ein Abschnitt des Parkettfußbodens glitt beiseite und gab den Blick auf eine Tunnelluke frei. Der Tunnel führte direkt durch Diamant Eins zum Arsenalbunker, und er war niemals mit Ortern automatisiert oder von anderen Tunneln gekreuzt worden. Die Sicherheitsschlösser an beiden Enden waren auf seinen Fingerabdruck codiert. Er berührte das Lesegerät. Die winzige Zutrittslampe blieb rot. Wie konnte Trinli das sabotieren? Nau zwang seine Panik nieder und drückte den Daumen abermals gegen die Fläche. Immer noch rot. Wieder. Das Licht wechselte zögernd zu grün, und die Luke unterm Fußboden drehte sich in die Offen-Stellung. Die Software musste wohl seinen Blutdruck prüfen und zu dem Schluss kommen, er stehe unter Zwang. Wir könnten immer noch am anderen Ende ausgesperrt werden. Er drückte den Daumen für die andere Luke. Es brauchte zwei Versuche, doch endlich zeigte auch dort Grün, dass die Luke entriegelt war.

Ciret und Tung waren wieder da und stießen Ali Lin vor sich her. »Sie verletzen die Regeln«, schalt sie der alte Mann. »Wir sollen gehen, so, mit den Füßen am Boden.« Alis Gesicht zeigte eine Mischung aus Verwirrung und Staunen. Blitzköpfe mochten es nie, wenn man sie von ihrer Aufgabe wegholte, auf die sie gerade fokussiert waren. Höchstwahrscheinlich war das Jäten im Garten des Hülsenmeisters in Alis Geist ebenso wichtig gewesen wie das feinste Gen-Flechten. Jetzt wurde er plötzlich nach drinnen gezwungen, und die ganze Etikette der falschen Schwerkraft in seinem Park wurde ignoriert.

»Bleib einfach ruhig stehen und sei still. Ciret, binden Sie Vinh los. Wir nehmen ihn auch mit.«

Ali stand ruhig, die Füße fest am Haftboden. Doch er blieb nicht still. Er starrte mit einem typischen abwesenden Blick an Nau vorbei und fuhr einfach fort, sich zu beschweren. »Sie ruinieren alles, sehen Sie das denn nicht?«

Unvermittelt erfüllte Ritsers Stimme den Raum. »Herr Hülsenmeister, die Lage hier ist unter Kontrolle. Die Blitzköpfe der Hand sind noch in Betrieb. Wir werden die Dienste für komplexere Funktionen eigentlich nicht brauchen, bis die Bomben gefallen sind. Phuong sagt, auf kurze Sicht sind wir vielleicht ohne L1 besser dran. Kurz bevor sie ausgefallen sind, wurden ein paar von Reynolts Einheiten sehr unkontrolliert. Hier ist der Angriffsplan. Südende wird in siebenhundert Sekunden verbrannt. Kurz danach wird die Hand die Antiraketen-Stellungen des Einklangs überfliegen. Die erledigen wir selber…«

Brughels Antwort wurde zum Bericht, das übliche Schicksal von Gesprächen über große Entfernungen. Lin war still geworden. Nau spürte eine Kühle im Nacken, das Sonnenlicht wurde schwächer. Eine Wolke? Er wandte sich um — und sah, dass diesmal der in die Ferne gerichtete Blick des Blitzkopfes seinen Sinn hatte. Tung machte ein paar Schritte um Lin herum, um zu den Fenstern auf der Seeseite hinauszublicken. »Eiter«, sagte der Wachmann leise.

»Ritser! Wir haben neue Probleme. Ich melde mich wieder.«

Die Stimme von der Unsichtbare Hand quasselte weiter, doch jetzt hörte niemand mehr zu.

Wie eine Undine aus dem balacreanischen Mythos hatten sich die Wasser von Nordpfote langsam gesammelt, erhoben sich und breiteten sich über Ali Lins sorgfältig entworfenen Strand hinweg aus. ›Sonnenlicht‹ drang unstet durch Millionen Tonnen Wasser, die sich über ihnen blähten. Selbst ohne Steuerung hätte der Parksee ungefähr an Ort und Stelle bleiben müssen. Doch der Feind hatte die Servos am Seegrunde rhythmisch weiterlaufen lassen — und die See hatte sich still zur Katastrophe hochgeschaukelt.

Nau sprang zur Tunnelluke hin. Er nahm festen Halt und zog an dem massiven Sicherheitsdeckel. Die Wasserwand berührte die Hütte. Das Gebäude ächzte, und die Fenster zersprangen vor einem Berg Wasser, der sich unerbittlich mit gut einem Meter pro Sekunde vorwärtsbewegte.

Und die Wasserwand wurde zu tausend Armen, die durch die brechende Wand hereintasteten, kalt um seinen Körper wimmelten, ihn von der Luke wegzerrten. Schreie und Rufe, die rasch untergingen, und einen Augenblick lang war Nau vollständig im Wasser. Das einzige Geräusch war das rumpelnde Einstürzen seiner Hütte, während sie zu Trümmern zermahlen wurde. Er erhaschte einen letzten Blick auf seinen Arbeitsplatz, seinen Schreibtisch mit dem Furnier aus Knotenholz, den marmornen Kamin. Dann brach der langsame Tsunami durch die gegenüberliegende Wand, und Nau wurde im Wirbel immer höher getragen.

Immer noch unter Wasser, mit brennenden Lungen. Das Wasser war lähmend kalt. Nau drehte sich, versuchte den Sinn der Farbflecken zu erfassen, die er sah. Am deutlichsten konnte er nach unten sehen. Er sah das Grün des Waldes hinter der Hütte. Nau schwamm abwärts, auf die Luft zu.

Er brach durch, schickte dabei Wassersträhnen der Hauptoberfläche voran und schnellte sich in den freien Raum. Ein, zwei Sekunden lang schwebte Nau allein und trieb gerade schnell genug dahin, um vor der fliegenden See zu bleiben. Die Luft war von einem Klang erfüllt, den sich Nau niemals vorgestellt hatte — ein öliges Rumpeln, der Klang von Millionen Tonnen Wasser, die sich drehten, ausbreiteten, fielen. Die Flutwelle war auf die Decke der Höhle getroffen, und jetzt kam die See herab, und er war unter ihr. Im Wald unten hatten die Schmetterlinge das eine Mal ihr Lied unterbrochen. Sie ballten sich in den größten Grotulmen zu dichten Schwärmen. Doch weit entfernt war etwas in der Luft. Die geflügelten Kätzchen! Sie schienen sich nicht im Mindesten zu fürchten — aber Qiwi hatte ja auch behauptet, sie seien eine alte Raumrasse. Er sah, wie eins in die Seite der Undine platschte. Für einen Moment war es weg, dann kam es heraus und tauchte wieder ein. Die verdammten Katzen waren womöglich agil genug, um zu überleben.

Er wandte sich wieder um und schaute durchs Wasser zurück ins Sonnenlicht des Parks. Es glitzerte golden auf Trümmern, auf menschlichen Gestalten, die gefangen waren wie Fliegen in Bernstein. Die anderen schwammen auf ihn zu, manche schwach, andere mit großer Energie. Marli tauchte in die Luft auf. Einen Augenblick später durchbrach Tung die Wasserwand, dann Ciret mit Ali Lin in den Armen. Tüchtig!

Es gab noch eine Gestalt, Ezr Vinh. Der Krämer kam halb aus dem Wasser, ungefähr zehn Meter von den anderen entfernt. Er war benommen und schnappte nach Luft, wirkte aber wacher als während des Verhörs. Er schaute hinab auf die Baumwipfel, auf die sie zufielen, und machte ein Geräusch, das vielleicht Lachen war. »Sie sind in der Falle, Hülsenmeister. Pham Nuwen hat Sie überlistet.«

»Pham wer?«

Der Krämer sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an, schien zu begreifen, dass er Information preisgegeben hatte, die zu schützen er im Begriff gewesen war zu sterben. Nau winkte Marli zu. »Bring ihn her!«

Aber Marli hatte nichts, wovon er sich abstoßen konnte. Vinh platschte gegen das Wasser, zog sich wieder hinein — um zu ertrinken, aber außerhalb ihrer Reichweite.

Marli drehte sich herum, feuerte seine Drahtpistole auf den Wald ab und ließ sich vom Rückstoß dem fallenden Wasser entgegentreiben. Nau sah Ezr Vinhs Silhouette im Sonnenlicht, wie er schwach mit den Armen fuchtelte, jetzt aber mehrere Meter tief im Wasser.

Rings um sie erschienen die Baumwipfel. Marli blickte wild um sich. »Wir müssen hier weg, Herr Hülsenmeister!«

»Dann töte ihn einfach.« Nau langte bereits nach den Wipfeln. Über ihm feuerte Marli etliche kurze Feuerstöße ab. Der fliegende Draht war dafür vorgesehen, Fleisch zu zerreißen; im Wasser betrug seine Reichweite fast Null. Doch Marli hatte Glück. Ein Schleier von Rot breitete sich um den Körper des Krämers aus.

Und dann war keine Zeit mehr. Nau zog sich von Ast zu Ast, hechtete durch die Freiräume unter dem Laubdach. Die ganze Zeit ertönte ringsum das Geräusch brechenden Holzes, während das Wasser durch die Grotulmen und den Olianfirn strömte, ein Geräusch, das gleichzeitig an Feuer und Nässe gemahnte. Die Wasserwand zersplitterte in eine Million fraktaler Finger, die wirbelten, taumelten, sich vereinigten. Es berührte den Rand einer Anhäufung von Schmetterlingen, und für einen Augenblick erklang ein pfeifendes Lied, lauter, als es Nau jemals gehört hatte — und dann hatte das Wasser den Haufen verschlungen.

Marli schoss vor ihm her, drehte sich um. »Das Wasser ist zwischen uns und dem Haupteingang, Herr Hülsenmeister.«

In der Falle, genau wie es der Krämer gesagt hatte.

Die vier bewegten sich am Boden entlang, parallel zur Wand des Parks. Über ihnen sank das Wasserdach immer tiefer, schon ein gutes Stück an den Baumkronen vorbei und immer noch fallend. Das Sonnenlicht war ein Glühen aus allen Richtungen, durch Dutzende von Metern Wasser hindurch. Im See war ja nur eine bestimmte Menge Wasser gewesen. Es musste überall im Park riesige Lufttaschen geben — doch sie hatten weniger Glück gehabt. Ihr Raum war eine nicht besonders große Höhlung — auf vier Seiten von ihnen Wasser.

Ali Lin musste von Ast zu Ast gezerrt werden. Er schien von der Undine fasziniert zu sein und keinen Gedanken für die Gefahr zu haben.

Vielleicht… »Ali!«, sagte Nau scharf.

Ali Lin wandte sich ihm zu. Doch er runzelte nicht die Stirn wegen der Unterbrechung; er lächelte. »Mein Park, er ist ruiniert. Aber ich sehe jetzt etwas Besseres, etwas, das niemals jemand gemacht hat. Wir können einen echten Mikroschwerkraft-See machen, wo Blasen und Tröpfchen einander abwechseln und um die Vorherrschaft ringen. Es gibt Tiere und Pflanzen, die ich…«

»Ali. Ja! Du wirst einen besseren Park bauen, ich versprech’s. Aber jetzt. Ich muss wissen, gibt es eine Möglichkeit, aus dem Park zu gelangen — ohne vorher zu ertrinken?«

Gott sei Dank konnte der Blitzkopf daran etwas Interessantes finden. Alis zentrale Interessen waren in den letzten paar hundert Sekunden wieder und wieder frustriert worden. Normalerweise kann nichts die Loyalität von Blitzköpfen erschüttern, doch wenn sie glaubten, jemand käme zwischen sie und ihr Fachgebiet… Nach einem Moment zuckte Ali die Achseln und sagte: »Natürlich. Hinter diesem Felsbrocken ist eine Schleusenöffnung. Ich hab sie nie versiegelt.«

Marli schwebte zu dem Felsen hinab. Eine Schleuse hier? Ohne seine Datenbrille wusste Nau es nicht. Doch Dutzende davon mündeten in den Park, die Kanäle, durch die sie das Eis von der Oberfläche geholt hatten.

»Der Blitzer hat Recht, Herr Hülsenmeister! Und die Öffnungscodes funktionieren.«

Nau und die anderen bewegten sich um den Felsen herum, schauten in das Loch, das Marli geöffnet hatte. In der Zwischenzeit waren die Wände ihrer Lufthöhle — ihrer Blase — in Bewegung gekommen. In dreißig Sekunden würde auch hier Wasser sein. Marli schaute zu Nau herüber, und ein Teil des Triumphs verlor sich aus seinem Gesichtsausdruck. »Herr Hülsenmeister, hier drinnen werden wir vor dem Wasser sicher sein, aber…«

»Aber wir kommen nirgendwo hin. Stimmt. Ich weiß.« Der Kanal würde bei einer versiegelten Luke enden, und dahinter war Vakuum. Es war eine Sackgasse.

Ein sich langsam kräuselnder Stalaktit von Wasser platschte über Naus Kopf und zwang ihn, sich neben Marli zu ducken. Der herabhängende Wasserberg zog sich zurück, und für einen Augenblick hob sich ihre Decke. Schritt für Schritt habe ich fast alles verloren. Unglaublich. Und plötzlich wusste Tomas, dass Ezr Vinhs undeutlich hervorgestoßene Behauptung wahr sein musste. Pham Trinli war nicht Zamle Eng; das war eine passende Lüge gewesen, für Tomas Nau zurechtgeschneidert. All die Jahre über war sein größter Held — und daher der tödlichste unter seinen möglichen Feinden — in Reichweite gewesen. Trinli war tatsächlich Pham Nuwen. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit wurde Nau von lähmender Furcht ergriffen.

Doch selbst Pham Nuwen hatte seine schwachen Seiten, seine unablässige moralische Schwäche. Ich habe mein Leben lang die Laufbahn des Mannes studiert und mir alles Gute daran angeeignet. So gut wie nur irgendwer kenne ich seine Schwächen. Und ich weiß, wie ich sie nutzen kann. Er betrachtete die anderen, machte Inventar bei ihnen und ihrer Ausrüstung: ein alter Mann, den Qiwi liebte, etwas Funkausrüstung, ein paar Waffen, ein paar Schützen. Es würde ausreichen.

»Ali, gibt es da nicht eine Faser-Endstelle am äußeren Ende dieser Schleusen? Ali!«

Der Blitzkopf wandte sich von seiner Betrachtung der Wellen an der Decke ab. »Ja, ja. Wir brauchten eine sorgfältige Koordination, als wir das Eis heruntergeschafft haben.«

Nau winkte Marli in den Schleusengang. »Geht in Ordnung. Das wird funktionieren.« Einer nach dem anderen schlüpften sie durch den engen Eingang. Rings um sie löste sich die Unterseite der Blase vom Boden. Jetzt bedeckte ein halber Meter Wasser den Boden, und es stieg. Tung und Ali Lin kamen in einem Wasserschauer herein. Ciret tauchte als letzter durch und schlug hinter ihnen die Luke zu. Ein paar Dutzend Liter Wasser kamen mit herein, jetzt nichts mehr als verschüttetes Wasser. Doch auf der anderen Seite der Luke hörten sie die See steigen.

Nau wandte sich Marli zu, der seinen Funklaser als diffuse Lampe benutzte. »Gehen wir hoch zur Endstelle, Korporal! Ali Lin wird mir helfen, jemanden anzurufen.«

Pham Nuwen war nahe dran, zu gewinnen, doch Nau hatte noch seinen Geist und die Fähigkeit, auszugreifen und andere zu manipulieren. Während sie den Schleusengang hinaufschossen, überlegte er, was er wohl Qiwi Lin Lisolet sagen würde.


General Schmid verließ das Rednergitter. Die Information auf Tim Niederers Karten war an die Gewählten verteilt worden, und jetzt dachten fünfhundert Köpfe über den Handel nach. Hrunkner Unnerbei stand im Schatten hinter dem Gitter und überlegte. Schmid hatte wieder einmal ein Wunder vollbracht. In einer gerechten Welt würde es garantiert funktionieren. Was also würde sich Pedure ausdenken, um das zu kontern?

Schmid trat zurück, bis sie auf seiner Höhe war. »Kommen Sie mit, Feldwebel. Ich habe jemanden gesehen, mit dem ich schon seit langem reden möchte.« Später am Tag würde eine Abstimmung stattfinden. Vorher konnte es durchaus weiterführende Fragen an die Generalin geben. Es gab eine Menge Zeit für politische Manöver. Er und Niederer folgten der Generalin zum anderen Ende des Podiums und blockierten den Ausgang. Eine verlotterte Kupp in ausgefallenen Beinkleidern kam auf sie zu. Pedure. Die Jahre waren nicht sanft mit ihr verfahren — oder vielleicht waren die Geschichten von den Mordversuchen wahr. Sie ging seitlich um Viktoria Schmid herum, aber die Generalin vertrat ihr den Weg.

Schmid lächelte sie an. »Hallo, Kupplimörderin. Wie schön, dich persönlich zu treffen.«

Pedure zischte. »Ja. Und wenn Sie mir nicht aus dem Weg gehen, wird es mir ein großes Vergnügen sein, Sie auch zu erledigen.« Die Worte hatten einen starken Akzent, aber das winzige Messer in ihrer Hand war deutlich genug.

Schmid breitete die Arme seitlich aus, ein ausgefallenes Achselzucken, das überall in der Halle Aufmerksamkeit erregen musste. »Vor allen diesen Leuten, Geehrte Pedure? Das glaube ich kaum. Du bist…«

Schmid zögerte, hob ein Paar Hände zum Kopf und schien zu lauschen. Ihrem Telefon?

Pedure starrte einfach nur, ihre ganze Haltung voll Misstrauen. Pedure war klein, ihr Chitin wundgerieben und ihre Gestik einfach ein bisschen zu schnell. Ein Bild, das nicht im Mindesten vertrauenswürdig war. Sie musste so daran gewöhnt sein, aus der Ferne zu töten, dass persönlicher Charme und Sprachgewandtheit Talente waren, die sie längst abgeschrieben hatte. Sie war hier, wo sie Dinge direkt regelte, nicht in ihrem Element. Unnerbeis Zuversicht nahm eine Spur zu.

Etwas surrte in Pedures Jacke. Ihr kleines Messer verschwand, und sie langte nach dem Telefon. Einen Augenblick lang sahen die beiden Spionagechefs wie alte Freundinnen aus, die ihre Erinnerungen teilten.

»Nein!« Pedure zuckte zusammen, ihre Stimme war ein Kreischen. Sie griff mit den Esshänden nach dem Telefon, stopfte es sich fast in den Schlund. »Nicht hier! Nicht jetzt!« Die Tatsache, dass sie plötzlich ein Spektakel boten, schien ihr egal zu sein.

General Schmid wandte sich Unnerbei zu. »Jedermanns Pläne sind soeben den Bach runtergegangen, Feldwebel. Drei eisgestützte Projektile kommen auf uns zu. Uns bleiben ungefähr sieben Minuten.« Einen Moment lang heftete sich Unnerbeis Blick an die Kuppel über ihnen. Sie lag dreihundert Meter unter der Oberfläche, sicher gegen taktische Kernspaltungs-Bomben. Doch er wusste, dass die Flotte der Sinnesgleichen zu viel größeren Dingen vorangeschritten war. Ein Dreifachstart war höchstwahrscheinlich ein Tiefenwirkungsschlag. Dennoch… Ich habe geholfen, diesen Ort zu entwerfen. Es gab Treppen in der Nähe, Zugänge zu viel tieferen Stellen. Er langte nach einem Arm von Schmid. »Bitte, Frau General. Folgen Sie mir.« Sie gingen zurück über das Podium.

Schurken und gute Kerle, Unnerbei hatte Mut und Feigheit bei ihnen allen gesehen. Pedure… nun, Pedure geriet vor Panik fast in Konvulsionen. Sie drehte sich in kleinen Sprüngen hin und her und kreischte auf Bassisch in ihr Telefon. Abrupt hielt sie inne und wandte sich wieder Schmid zu. Entsetzen kämpfte mit ungläubiger Überraschung. »Die Raketen. Es sind eure! Ihr…« Mit einem Schrei warf sie sich auf Schmid, das Messer eine silbrige Verlängerung ihres längsten Arms.

Unnerbei trat zwischen sie, ehe sich Schmid auch nur umdrehen konnte. Er verpasste der Geehrten Pedure den harten Teil seiner Schultern, dass sie vom Podium flog. Rings um sie war alles durcheinander. Pedures Leute schwärmten zum Podium herauf, und ihnen entgegen schwangen sich Schmids Einzelkämpfer von der Besuchergalerie herab. Schock breitete sich durch die Halle aus, als Kupps ihre Köpfe von ihren Lesegeräten hoben und feststellten, wer da kämpfte. Und dann kam von weit hinten oben ein Schrei: »Seht! Die Nachrichten! Der Einklang hat Raketen auf uns abgefeuert!«

Unnerbei führte die Soldaten und seine Generalin durch einen Seiteneingang hinaus. Sie rannten Treppen zu den verborgenen Schächten hinab, die in den Sicherheitskern führten. Noch sieben Minuten zu leben? Vielleicht. Aber plötzlich war Hrunkner frei ums Herz. Was blieb, war so einfach, ganz so, wie es bei Viktoria vor langer Zeit gewesen war. Leben und Tod, ein paar gute Soldaten und ein paar Minuten, die alles entscheiden.

Fünfundfünfzig

Belga Untersiedel war die Dienstälteste im Befehlsund-Kontroll-Zentrum. Das hatte nicht viel zu besagen; sie gehörte zum Landesschutz. Was hier geschah, konnte ihren Posten für immer verändern, doch sie stand außerhalb dieser Befehlskette, nur ein Bindeglied zur Zivilverteidigung und zu den Hausstreitkräften des Königs. Belga beobachtete Elno Kalthafen, den brandneuen Direktor des Auslands-Geheimdienstes, den amtierenden Oberbefehlshaber des Zentrums. Kalthafen kannte den Flächenbrand von Misserfolgen, der die Laufbahn seines Vorgängers beendet hatte. Er wusste, dass Rachner Thrakt kein Dummkopf und wahrscheinlich kein Verräter war. Und nun hatte Elno denselben Posten, und die Chefin war außer Landes. Er arbeitete so ziemlich ganz ohne Sicherheitsnetz. Mehr als einmal in den letzten paar Tagen hatte er Untersiedel beiseite genommen und sie ernsthaft um Rat gefragt. Sie vermutete, dass das der Grund war, warum die Chefin angeordnet hatte, dass sie hier blieb, statt nach Weißenberg zurückzukehren.

Das BKZ lag über eine Meile innerhalb des gewachsenen Felsens des Landeskommandos, unterhalb der alten Königlichen Tiefe. Vor einem Jahrzehnt war das Zentrum eine große Sache gewesen, Dutzende von Geheimdiensttechnikern mit den komischen kleinen Kathodenstrahl-Bildschirmen jener Zeit. Hinter ihnen waren verglaste Besprechungsräume gewesen und Überwachungsbrücken für die vorgesetzten Offiziere. Doch Jahr für Jahr waren die Computersysteme und Datennetze besser geworden. Jetzt hatte der Geheimdienst von Einklang bessere Augen und Ohren und Automatik, und das BKZ selbst war kaum größer als ein Konferenzraum. Ein stiller, seltsamer Konferenzraum mit nach außen gerichteten Sitzgittern. Die Luft war frisch, immer leicht in Bewegung; helle Beleuchtung ließ keine Schatten. Es gab Datenbildschirme, aber jetzt konnten auch die einfachsten zwölf Farben darstellen. Und es gab noch Techniker, aber jeder von ihnen betreute tausend Knoten, die über den Kontinent und das Aufklärungssystem im planetennahen Weltraum verstreut waren. Indirekt standen jedem von ihnen Hunderte von Fachleuten für die Auswertung zur Verfügung. Acht Techniker, vier Offiziere, ein Kommandeur. Das waren alle, die körperlich anwesend sein mussten.

Der zentrale Bildschirm zeigte, wie die Chefin dem Parlament vorgestellt wurde. Es war dieselbe kommerzielle Übertragung, die der Rest der Welt sah — der Auslandsgeheimdienst hatte entschieden, nicht zu versuchen, Videokameras in die Parlamentshalle zu schmuggeln. Einer der Techniker arbeitete mit Standbildern des Videos. Er holte eine Zusammenstellung von einem Dutzend Ausschnitten auf den Schirm, hantierte an der Beleuchtung. Eine verlottert aussehende Person erschien auf dem Bildschirm, die Details ihrer dunklen Kleidung blieben unscharf. Neben Belga sagte General Kalthafen leise. »Gut. Das ist eine positive Identifikation. Die alte Pedure selber… Sie kann nicht sehr gut agieren, wenn ihr eigener Kopf in der Schusslinie ist.«

Untersiedel hörte nur halb hin. Es war so viel im Gange… Die Rede der Generalin war ein noch größerer Schock, als Pedure zu sehen. Als Schmid das Geiselangebot machte, schauten etliche von den Technikern von ihrer Arbeit auf, die Esshände an den Schlunden erstarrt. »Gott!«, hörte sie Elno Kalthafen murmeln.

»Ja«, flüsterte Belga zurück. »Aber wenn sie darauf eingehen, haben wir vielleicht einen Ausweg.«

»Wenn sie den König als Geisel wählen. Aber wenn sie General Schmid wollen…« Wenn Schmid unten im Süden bleiben müsste, würde es sehr kompliziert werden, insbesondere für Elno Kalthafen. Kalthafen konnte sein heftiges Unbehagen nicht recht verbergen. Für ihn ist das also auch neu.

»Wir können zurechtkommen«, sagte Kred Schachtweg, der Direktor der Luftverteidigung und der dritte anwesende Offizier im Generalsrang. Der LV-Direktor war einer von den größten Kritikern des armen Thrakt und Elno Kalthafens vormaliger Vorgesetzter gewesen. Und Schachtweg schien sich immer noch für Kalthafens Chef zu halten.

In der Videoübertragung aus Südland war General Schmid vom Rednergitter herabgestiegen. Sie überreichte ihr förmliches Angebot Tim Niederer. Die Kamera folgte Schmid, als sie von der Bühne ging. »Sie geht auf Pedure zu!«

Schachtweg kicherte. »Na, das wird interessant!«

»Verdammt.« Die Kamera hatte zurückgeschwenkt, um Major Niederer zu zeigen, wie er die Exemplare vom Angebot der Generalin überreichte.

»Können Sie mir irgendetwas über die Chefin geben? Hat sie noch Sprechverbindung?«

»Nein, Herr General. Tut mir Leid.«

Warnfarben erleuchteten die Anzeigen der Luftverteidigung. Dann: »Herr General, ich verstehe nicht ganz, was vor sich geht, aber…«

Schachtweg stieß eine Hand nach der zusammengesetzten Lagekarte von Südland. »Das sind Raketenstarts!«

Ja. Sogar Belga erkannte die Codierung. Kreuze kennzeichneten die geschätzten Abschussplätze. »Ein Dreifachstart. Nicht in Südland stationiert; sie kommen von Eisbooten. Es könnten…« Es konnten nur welche von den Sinnesgleichen sein. Einklang und die Sinnesgleichen waren die einzigen Länder, die über Eistunnelboote verfügten, von denen Raketen gestartet werden konnten.

Und jetzt waren die ersten Zielschätzungen auf dem Bildschirm aufgetaucht. Die drei Kreise lagen alle nahe beim Südpol.

Kalthafen machte eine abschneidende Geste zu den Angriffslenktechnikerinnen hin. »Geben Sie Alarmstufe Höchsthell.« Auf dem Hauptbildschirm schwenkten die Nachrichtenkameras noch immer durch die Parlamentshalle und erfassten die Reaktionen auf General Schmids Rede.

Eine von den Angriffslenktechnikerinnen stand von ihrem Gitter auf. »Herr General! Diese Raketen sind unsere. Sie sind von der Siebten Flotte, von der Eisgraber und der Kriechunter!«

»Sagt wer?« General Kalthafen schnitt ab, was auch immer sein früherer Chef hatte sagen wollen.

»Die Autologs von den Schiffen selbst. Ich versuche gerade, zu ihren Kapitänen durchzukommen, Herr General — wir sind noch dabei, unsere Codes abzugleichen.«

Schachtweg sprang auf. »Und solange wir nicht direkt mit ihnen sprechen, glaube ich gar nichts. Ich kenne diese Kommandanten. Etwas Seltsames ist hier im Gange.«

»Wir haben echte Starts und echte Ziele.« Die Technikerin tippte auf die Kreuze und Kreise.

Schachtweg: »Sie haben gar nichts als hübsche Lichter!«

»Es kommt übers Sicherheitsnetz, direkt von unseren Startüberwachungs-Satelliten.«

Kalthafen gebot beiden mit einer Geste, zu schweigen. »Das scheint ein wenig den Problemen zu ähneln, auf die mein Vorgänger gestoßen ist.«

Schachtweg starrte seinen früheren Schützling an… und allmählich schien ihm die Bedeutung aufzugehen. »Ja…«

Kalthafen knurrte. »Das betrifft nicht nur uns. Es gibt seit einiger Zeit Gerüchte, die im unvernetzten Analogfunk kursieren.« Es gab noch Leute, die derlei benutzten; Untersiedel hatte Agenten auf dem Lande, die sich gegen alle Upgrades sperrten. Die Überraschung war, dass jemand im Landeskommando solchen Informationen ernsthaft zuhörte. Kalthafen bemerkte Beigas Ausdruck. »Meine Gattin arbeitet im technischen Museum weiter draußen, im Zivilbereich.« Ein Lächeln huschte über seine Miene. »Sie sagt, ihre Uralt-Radiofreunde sind keine Spinner. Und jetzt sehen auch wir das Unmögliche. Früher konnten wir für die Widersprüche jemandes Idiotie verantwortlich machen. Jetzt…« Die Projektile würden in kaum drei Minuten in den schrumpfenden Zielkreisen eintreffen. Die Zielsuch-Satelliten stimmten jetzt alle bezüglich ihres Ziels überein: Südende.

Untersiedel war einen Moment starr vor Verblüffung. Der ganze Verfolgungswahn Rachners — wahr? »Dann ist also der Abschuss vielleicht eine Fälschung. Alles, was wir sehen…«

»Zumindest alles, was wir übers Netz sehen…«

»… könnte eine Lüge sein.« Das war der ausgefallenste Albtraum des Technikfeindes.

Endlich begriff Schachtweg, worum es ging. Ein Glaube, im Laufe von zwanzig Jahren aufgebaut, zerbrach. »Aber die Verschlüsselung, die Gegenproben… Was können wir tun, Elno?«

Kalthafen schien in sich zusammenzusinken. Seine Theorie wurde akzeptiert, und was blieb, war die Katastrophe. »Wir… wir können abschalten. Befehlsleitungen und Kommunikation vom Netz trennen. Ich habe das als Option in einem Kriegsspiel gesehen — nur dass das auch im Netz lief!«

Belga legte ihm eine Hand auf die Schultern. »Ich sage, tun Sie es! Wir können Analogfunk aus dem Museum benutzen. Und ich habe Leute, Kuriere. Es wird langsam sein…« Viel zu langsam, aber wenigstens würden sie sehen, mit welchem Gegner sie es zu tun hatten.

Es gab andere, die übers Netz nur einen Augenblick entfernt waren — Nishnimor, der König —, und jetzt schien nichts verlässlich zu sein. Schachtweg war anwesend, aber Elno Kalthafen war der befehlshabende Offizier des BKZ. Kalthafen zögerte, beugte sich aber nicht Schachtwegs Wünschen. Er rief seinen Hauptfeldwebel. »Plan Datennetz Korrupt. Ich möchte, dass die Nachricht von Hand ins Museum gebracht wird.«

»Ja, Herr General!« Der Techniker hatte das Gespräch verfolgt und schien nicht ganz so verblüfft wie seine Vorgesetzten zu sein. Die Zielkreise zeigten zwei Minuten bis zum Aufschlag. In der Videoübertragung aus der Parlamentshalle herrschte blankes Chaos. Einen Moment lang war Untersiedel vom Schrecken dieser Szene ergriffen. Die armen Kupps. Vorher war es eine bedrohliche Wolke am Horizont gewesen; jetzt fanden sich die Gewählten von Südland mitten im Ziel und hatten keine zwei Minuten mehr zu leben. Manche saßen erstarrt da, den Blick nach oben gerichtet, wo die Megatonnen explodieren würden. Andere rannten in Panik die teppichbespannten Treppen hinab, suchten einen Weg hinaus, hinab. Und irgendwo außerhalb ihres Blickfeldes sah General Schmid demselben Schicksal entgegen.

Wie durch ein Wunder besaß der Hauptfeldwebel ausgedruckte Exemplare des Plans Datennetz Korrupt. Er händigte sie seinen Technikern aus und begann mit den Prozeduren zum Öffnen der Drucktüren des BKZ.

Doch die Türen öffneten sich bereits. Belga wurde starr. Nichts durfte hier hereinkommen, bis die Schicht endete oder Kalthafen den Freigabecode eingab. Ein Wachposten des BKZ kam in verwirrtem Rückwärtsgang herein, das Gewehr hielt er unsicher schräg vom Körper. »Ich habe Ihre Genehmigung gesehen, Frau Leutnant, aber niemand darf…«

Eine fast vertraute Stimme kam ihm nach. »Unsinn. Wir haben Zutritt, und Sie haben gesehen, dass sich die Tür geöffnet hat. Bitte treten Sie beiseite.« Ein junger Leutnant trat in den Raum. Die einfache schwarze Uniform, die schlanke, tödliche Statur. Es war, als sei Viktoria Schmid nicht nur aus dem Süden entkommen, sondern so jung zurückgekehrt, wie Untersiedel sie zum ersten Mal gesehen hatte. Nach ihr traten ein riesenhafter Korporal und ein Team von Einzelkämpfern ein. Die meisten von den Eindringlingen trugen kurze Sturmgewehre.

General Schachtweg wütete gegen die junge Leutnantin. Schachtweg war ein Narr. Mehr als alles andere sah das nach einem Enthauptungsschlag aus — aber warum schossen sie nicht? Elno Kalthafen schob sich rückwärts um sein Pult herum, langte nach einem unsichtbaren Schubfach. Belga trat zwischen ihn und die Eindringlinge und sagte: »Sie sind Schmids Tochter.«

Die Leutnantin salutierte zackig vor Untersiedel. »Jawohl. Viktoria Lichtberg, und das ist mein Team. Wir sind von General Schmid ermächtigt, nach eigenem Gutdünken Inspektionen durchzuführen. Mit allem Respekt, Frau General, zu dem Zweck sind wir hier.«

Lichtberg drängte sich an dem Direktor der Luftverteidigung vorbei; dem alten Schachtweg hatte es vor Wut die Sprache verschlagen. Hinter Belga und größtenteils von ihrem Körper verdeckt tippte Elno Kalthafen Befehlscodes ein.

Irgendwie erfasste Lichtberg, was vor sich ging. »Bitte treten Sie von Ihrer Konsole weg, General Kalthafen.« Ihr großer Korporal winkte mit seinem Sturmgewehr in Kalthafens Richtung. Jetzt erkannte Untersiedel den Korporal. Schmids zurückgebliebener Sohn. Verdammt.

Elno Kalthafen trat von seinem Pult zurück, die Hände leicht erhoben zu dem Eingeständnis, dass sie weit über jede ›Inspektion‹ hinaus waren. Die beiden Techniker, die sich am nächsten bei der Tür befanden, sprinteten an den Eindringlingen vorbei. Aber diese Einzelkämpfer waren wirklich schnell. Sie wandten sich um, sprangen zu den Technikern und zerrten sie zurück ins EKZ.

Die Drucktüren schwangen langsam zu.

Und Kalthafen unternahm noch einen Versuch, den aussichtslosesten von allen: »Leutnant, wir haben eine massive Korruption in unserer Signalautomatik. Wir müssen unsere Leitungen vom Netz nehmen.«

Lichtberg trat näher an die Bildschirme. Es gab noch ein Bild aus der Parlamentshalle, doch niemand stand mehr hinter der Kamera: Das Bild wanderte ziellos umher und blieb schließlich auf die Decke fixiert. Überall auf den anderen Bildschirmen waren Höchsthell-Signale aufgeflammt, Anfragen an das Befehlszentrum, Startankündigungen von den Königlichen Offensiven Raketenstreitkräften. Die Welt ging dem Ende entgegen.

Schließlich ließ sich Lichtberg vernehmen: »Ich weiß, Herr General. Wir sind hier, um Sie daran zu hindern.« Ihre Kämpfer hatten sich in dem nun überfüllten Befehls-und-Kommando-Zentrum verteilt. Kein einziger Techniker oder Offizier befand sich mehr außerhalb ihrer Reichweite. Der große Korporal öffnete ein Paar Lasttragetaschen und richtete zusätzliche Ausrüstung ein… Computerspiel-Bildschirme?

Schachtweg fand endlich seine Stimme wieder. »Wir haben einen tiefgetarnten Agenten vermutet. Ich war sicher, es sei Rachner Thrakt. Was für Narren wir waren. Es war die ganze Zeit über Viktoria Schmid, die für Pedure und die Sinnesgleichen arbeitete.«

Eine Verräterin direkt im Mittelpunkt. Das erklärte alles, aber… Belga schaute auf die Bildschirme, die vom Netz übermittelten Berichte über den Start von Einklang-Raketen, die von überall einliefen. »Was davon ist wirklich wahr, Leutnant? Ist es alles eine Lüge, sogar der Angriff auf Südende?«

Einen Augenblick lang glaubte Untersiedel, Lichtberg würde nicht antworten. Die Zielkreise bei Südende waren zu Punkten geschrumpft. Das Bild der Nachrichtenkamera von der Kuppel der Parlamentshalle hielt sich eine Sekunde länger. Dann hatte Belga einen flüchtigen Eindruck, das Feld wölbe sich abwärts — und der Bildschirm war leer. Viktoria Lichtberg zuckte zusammen, und als sie schließlich Belga antwortete, war ihre Stimme leise und hart. »Nein. Der Angriff war sehr echt.«

Sechsundfünfzig

»Du bist dir sicher, dass sie mich wird sehen können?«

Marli schaute von seinen Geräten hoch. »Jawohl. Und ich habe Sprechbereitschaft von ihrer Datenbrille.«

Du bist am Zug, Hülsenmeister. Der größte Auftritt deines Lebens. »Qiwi! Bist du da?«

»Ja, ich…«, und er hörte, wie Qiwi rasch Luft holte. Hörte. Ein Bild kam nicht zurück; die verzweifelte Lage war nicht gestellt. »Vater!«

Nau hielt Ali Lins Kopf und Schultern in seinen Armen. Die Wunden des Blitzkopfes waren tiefe Schnitte, die einen Morast von Blut durch provisorische Verbände sickern ließen. Pest, ich hoffe, der Kerl ist nicht tot. Aber vor allem musste es echt aussehen; Marli hatte sein Möglichstes getan.

»Das war Vinh, Qiwi. Er und Trinli haben uns angefallen, Kal Omo getötet. Sie hätten Ali getötet, wenn… wenn ich sie nicht hätte entkommen lassen.« Die Worte stürzten heraus, gespeist von echter Wut und echter Furcht und gelenkt von taktischen Notwendigkeiten. Der brutale Überfall von Verrätern zu einem Zeitpunkt, wo alles am kritischsten war, wo eine ganze Zivilisation auf dem Spiel stand. Die Zerstörung der Nordpfote. »Ich habe gesehen, wie zwei von den Kätzchen ertrunken sind, Qiwi. Es tut mir Leid, wir kamen nicht nahe genug heran, um sie zu retten…« Die Stimme versagte ihm, und das gekonnt.

Er hörte leise, gleichsam erstickte Geräusche vom anderen Ende der Verbindung, Geräusche, wie sie Qiwi in Augenblicken absoluten Entsetzens machte. Verdammt, das konnte die Erinnerungskette auslösen. Er unterdrückte seine Angst und sagte: »Qiwi, wir haben noch eine Chance. Haben sich die Verräter bei Benny blicken lassen?« Ist Pham Nuwen in den Salon vorgedrungen?

»Nein. Aber wir wissen, dass etwas schrecklich schief gegangen ist. Wir haben die Bildverbindung zur Nordpfote verloren, und unten auf der Arachna sieht es nach Krieg aus. Das hier ist eine private Verbindung, aber alle haben gesehen, wie ich Bennys Salon verlassen habe.«

»In Ordnung. In Ordnung. Das ist gut, Qiwi. Wer immer mit Vinh und Trinli unter einer Decke steckt, ist noch verwirrt. Wir haben eine Chance, wir beide…«

»Aber sicherlich können wir doch…« Qiwis Einspruch verlor sich, und sie stritt nicht mit ihm. Gut. So kurz nach einer Gehirnwäsche war Qiwi am unsichersten. »In Ordnung. Aber ich kann helfen. Wo hältst du dich versteckt? Einer der Schleusengänge?«

»Ja, wir sitzen hinter der Außenluke fest. Aber wenn wir herauskommen, können wir die Lage retten. L1-A hat…«

»Welcher Schleusengang?«

»Äh…« Er schaute zur Luke hin. In Marlis Licht war eine Nummer gerade noch sichtbar. »S-sieben-vier-fünf. Genügt das?«

»Ich weiß, wo das ist. Ich treffe dich in zweihundert Sekunden. Mach dir keine Sorgen, Tomas.«

Herrgott! Es war ungeheuer beeindruckend, wie rasch sich Qiwi erholt hatte. Nau wartete einen Moment, dann schaute er Marli fragend an.

»Die Verbindung ist unterbrochen, Herr Hülsenmeister.«

»In Ordnung. Stell sie neu ein. Sieh zu, ob du zu Ritser Brughel durchdringen kannst.« Das war vielleicht die letzte Gelegenheit, die Planetenoperation zu überprüfen, bevor alles gelaufen war, so oder so.


Die Unsichtbare Hand hatte den Horizont von Südende überquert, als die Raketen dort eintrafen. Dennoch zeigten Jaus Bildschirme Blitze in die obere Atmosphäre hinauf. Und ihre nachfolgenden Satelliten übertrugen eine detaillierte Analyse der Zerstörung. Alle drei Kernsprengköpfe waren im Ziel.

Aber Ritser Brughel war nicht vollends zufrieden. »Zeitlich war es nicht richtig abgestimmt. Die Sprengköpfe hatten nicht die bestmögliche Tiefenwirkung.«

Bil Phuongs Stimme kam über den allgemeinen Sprechkanal der Brücke. »Ja, Herr Hülsenmeister. Das hing von hochkomplizierten topographischen Berechnungen ab — die L1 momentan nicht liefert.«

»In Ordnung. In Ordnung. Wir kriegen es hin. Xin!«

»Ja, Herr Hülsenmeister?« Jau schaute von seinem Pult auf.

»Sind Ihre Leute bereit für den Schlag gegen die Raketenstellungen?«

»Ja, Herr Hülsenmeister. Die Kurskorrektur, die wir soeben abgeschlossen haben, wird uns über den meisten davon vorüberführen. Wir werden einen Gutteil der Einklang-Raketen ausschalten.«

»Pilotenverwalter, ich möchte, dass Sie persönlich…« Ein Ton erklang auf Brughels Pult. Es gab kein Bild, doch der Vize-Hülsenmeister lauschte einer einlaufenden Information. Nach einem Moment sagte Brughel: »Jawohl, Herr Hülsenmeister. Das können wir ausgleichen. Wie ist die Lage bei Ihnen?«

Was geht dort oben vor sich? Was passiert mit Rita? Jau zwang sich, seine Aufmerksamkeit von dem Ferngespräch abzuwenden, und schaute auf seine eigenen Situationsanzeigen. Er trieb seine Blitzköpfe jetzt wirklich zum Äußersten. Raffinement war jetzt nicht mehr möglich. Sie konnten die Operation gegenüber den Datennetzen der Spinnen nicht tarnen. Die Raketenstellungen des Einklangs erstreckten sich über einen breiten Streifen des Nordkontinents und folgten nur annähernd dem Kurs der Unsichtbare Hand. Jaus Piloten koordinierten ein Dutzend Vermessungs-Blitzköpfe. Das Flickwerk von Kampflasern, über das die Hand verfügte, konnte oberflächennahe Startanlagen ausschalten, doch nur, wenn sie das Ziel fünfzig Millisekunden lang bestreichen konnten. Alles zu treffen, wäre ein unglaubliches Ballett von Feuerkraft gewesen. Einige der tiefsten Ziele, Angriffsraketen, würden sie mit Bunker brechenden Bomben belegen. Die waren bereits gestartet worden und gingen jetzt hinter ihnen im Bogen nieder.

Jau hatte alles getan, damit das funktionierte. Ich hatte keine Wahl. Alle paar Sekunden stieg das Mantra in seinem Bewusstsein auf, die Antwort auf das ebenso hartnäckige Ich bin kein Schlächter.

Doch jetzt… jetzt gab es vielleicht eine sichere Möglichkeit, Brughels schreckliche Befehle zu umgehen. Sei ehrlich, du bist immer noch ein Schlächter. Aber von Hunderten, nicht von Millionen.

Ohne eingehende geographische und topologische Zuarbeit von L1 konnten alle möglichen kleinen Fehler vorkommen. Der Schlag gegen Südende zeigte das. Jaus Finger huschten über seine Tastatur, schickten letzte Hinweise an seine Gruppe. Der Fehler war sehr geringfügig. Doch er würde einen Fächer zufälliger Abweichungen in ihren Angriff auf die Abwehrraketen bringen. Die meisten von diesen Schlägen würden jetzt das Ziel verfehlen. Der Einklang würde eine Chance gegen die Kernwaffen der Sinnesgleichen haben.


Rachner Thrakt ging in dem Besuchervorbau auf und ab. Wie lange konnte Unterberg brauchen, um herauszukommen? Vielleicht hatte der Kupp seine Meinung geändert oder einfach vergessen, was er hatte tun wollen. Der Wachposten sah auch verärgert aus. Er sprach über eine Art Nachrichtenverbindung, die Worte waren unhörbar.

Schließlich ertönte das Jaulen verborgener Motoren. Einen Augenblick später glitten die alten Holztüren zur Seite. Ein Geleitkäfer kam heraus, dicht gefolgt von Scherkaner Unterberg. Der Wachposten kam um seinen Wachvorbau herumgerannt. »Herr Professor, könnte ich einen Moment mit Ihnen sprechen? Ich erhalte gerade…«

»Ja, aber lassen Sie mich erst einmal kurz mit dem Oberst hier reden.« Unterberg schien unter dem Gewicht seiner Parka zusammenzusinken, und jeder Schritt zog ihn ein Stück seitwärts. Der Geleitkäfer zog Unterberg geduldig zurück auf einen mehr oder weniger geraden Weg zu Thrakt hin.

Unterberg erreichte den Besuchervorbau. »Ich habe jetzt ein paar Minuten Zeit, Oberst. Es tut mir sehr Leid, dass Sie ihren Posten verloren haben. Ich möchte…«

»Das ist jetzt nicht wichtig, Herr Professor! Ich muss Ihnen etwas sagen.« Es war ein Wunder, dass er zu Unterberg vorgedrungen war. Wenn ich ihn jetzt nur überzeugen kann, ehe dieser Wachposten sich aufrafft und dazwischengeht. »Unsere Befehlsautomatik ist korrupt, Herr Professor. Ich habe Beweise!« Unterberg hob protestierend die Arme, doch Rachner redete fieberhaft weiter. »Es klingt verrückt, aber es erklärt alles: Es gibt eine…«

Rings um sie explodierte die Welt. Farben über Farben. Schmerz über die hellste Sonne hinaus, die sich Thrakt vorstellen konnte. Einen Augenblick gab es nur die Farbe des Schmerzes, die das Bewusstsein auslöschte, die Angst, sogar die Verwunderung.

Und dann war er wieder da. Unter Qualen, aber wenigstens bei Bewusstsein. Er lag zwischen Schnee und zufälligen Trümmern. Seine Augen… seine Augen schmerzten. Die Nachbilder der Hölle waren quer über seine Vordersicht eingebrannt und blockierten sein Sehvermögen. Die Nachbilder zeigten krasse Silhouetten vor einem Strahl vollständiger Dunkelheit: der Wachposten, Scherkaner Unterberg.

Unterberg! Thrakt kam auf die Füße, stieß Wandplatten beiseite, die auf ihn gefallen waren. Jetzt traten andere Schmerzen hervor. Sein Rücken war ein einziger massiver Schmerz. So geht es einem, wenn man durch Wände geschleudert wird. Er tat ein paar unsichere Schritte, doch es schien nichts gebrochen zu sein.

»Herr Professor? Professor Unterberg?« Seine eigene Stimme schien von weither zu kommen. Rachner wandte den Kopf hin und her wie ein Kind, das noch seine Babyaugen hat. Ihm blieb keine Wahl, seine Vordersicht war von brennenden Nachbildern erfüllt. Weiter unten entlang der Krümmung der Kraterwand war jetzt eine Reihe von rauchenden Löchern. Aber die Zerstörung hier war unvergleichlich größer. Keins von den Nebengebäuden Unterbergs stand noch, und Feuer breitete sich über alles Brennbare aus. Rachner machte einen Schritt in die Richtung, wo der Wachposten gestanden hatte. Doch jetzt war das der Rand eines tiefen, dampfenden Kraters. Der Hang über ihm war weggesprengt. Thrakt hatte so etwas schon einmal gesehen, doch das war ein schrecklicher Unfall gewesen, ein Munitionslager, das einen Artillerietreffer erhalten hatte. Was hat uns getroffen? Was hatte Unterberg dort unten gelagert? Etwas im Hintergrund seines Denkens stellte die Fragen, doch er hatte keine Antwort und eine Menge dringlichere Sorgen.

Da war ein Zischen von einem Tier, direkt zu seinen Füßen. Rachner wandte den Kopf. Es war Unterbergs Geleitkäfer. Seine Kampfhände waren zum Zustoßen erhoben, doch sein Körper lag verdreht unter den Trümmern. Der Panzer des armen Tiers musste gesprungen sein. Als er versuchte, ihn seitlich zu umgehen, kreischte der Käfer heftiger und machte einen gespenstischen Versuch, seinen zerquetschten Körper aus den Wandplatten zu befreien.

»Mobiy! Ist gut. Ist gut, Mobiy.« Das war Unterberg! Seine Stimme kam gedämpft, doch das galt jetzt für alle Geräusche. Als Thrakt an dem Geleitkäfer vorbeischlüpfte, zog er seinen gebrochenen Körper aus den Wandplatten hervor und folgte ihm zu Unterbergs Stimme. Aber das Zischen des Käfers war keine Drohung mehr. Es war eher ein schluchzendes Wimmern.

Thrakt ging am Rande des Kraters entlang. Der Rand war von Trümmern überhäuft, die heraufgeschleudert worden waren. Die glasigen Seiten begannen sich schon zu setzen, nach innen zu stürzen. Und noch immer keine Spur von Unterberg.

Der Geleitkäfer schleppte sich an Thrakt vorbei. Dort, direkt vor dem Käfer: Ein einzelner Spinnenarm ragte hoch aus dem Wirrwarr heraus. Der Geleitkäfer schrie und begann schwach zu graben. Rachner tat es ihm gleich, zog Bretter weg, schaufelte den warmen breitgestreuten Erdboden beiseite. Warm? Es war heiß wie der Grund von Calorica. Es war etwas besonders Entsetzliches daran, in warmer Erde begraben zu sein. Verzweifelt grub Thrakt schneller.

Unterberg war mit dem Hinterende unten verschüttet, sein Kopf lag nur einen Viertelmeter unter der Oberfläche. Binnen Sekunden hatten sie ihn bis hinter die Schultern befreit. Der Boden gab nach, glitt mit dem übrigen Kraterrand weg. Thrakt streckte die Arme vor, schlang sie um Unterbergs Arme — und zog. Ein Zentimeter, dreißig… und die beiden fielen auf den oberen Hang, als gerade Unterbergs Grab in die Grube rutschte.

Der Geleitkäfer kroch um sie herum, seine Arme ließen nie seinen Herrn los. Unterberg tätschelte das Tier sanft. Dann wandte er sich um, drehte den Kopf ebenso albern hin und her wie vor ihm Thrakt. Auf der Kristalloberfläche seiner Augen waren Blasen. Scherkaner Unterberg hatte Thrakts Augen gegen den Blitz abgeschirmt; die ganze obere Hälfte vom Kopf des Kupps war der Explosion direkt ausgesetzt gewesen.

Unterberg schien in die Grube hinabzuschauen. »Jaybert? Nishnimor?«, sagte er leise, ungläubig. Er kam auf die Füße und ging auf den Steilhang zu. Sowohl Thrakt als auch der Käfer hielten ihn zurück. Zuerst ließ sich Unterberg von ihnen zurück über den Kamm des aufgeworfenen Erdbodens führen. Unter der dicken Kleidung war es schwer auszumachen, aber mindestens zwei von seinen Beinen schienen gebrochen zu sein.

Dann: »Viktoria? Brent? Hört ihr mich? Ich kann nicht mehr mit…« Er machte kehrt und wollte wieder zurück zur Grube gehen. Diesmal musste Rachner richtig mit ihm kämpfen. Der arme Kupp pendelte immer wieder ins Delirium und heraus. Nachdenken! Rachner schaute hangabwärts. Der Hubschrauberplatz hatte sich geneigt, doch der Boden oberhalb hatte ihn vor den herabfallenden Trümmern gedeckt. Seine Mühle stand noch da, anscheinend nicht beschädigt. »Ah! Professor, ich habe ein Telefon in meinem Hubschrauber. Kommen Sie mit, wir können die Generalin von dort aus anrufen.« Es war eine schwache Improvisation, aber anscheinend spielte das keine Rolle. Unterberg schwankte einen Moment, brach fast zusammen. Dann ein Augenblick trügerischer Klarheit: »Ein Hubschrauber? Ja… Den kann ich gebrauchen.«

»Gut. Dann gehen wir jetzt.« Thrakt ging auf das obere Ende der Treppe zu, aber Unterberg zögerte. »Wir können Mobiy nicht zurücklassen. Nishnimor und die anderen ja. Die sind bestimmt tot. Aber Mobiy…«

Mobiy stirbt bereits. Aber Thrakt sagte das nicht laut. Der Geleitkäfer kroch nicht mehr. Seine Arme winkten sacht zu Unterberg hin. »Es ist ein Tier, Herr Professor«, sagte Thrakt leise.

Unterberg kicherte im Delirium. »Das kommt nur auf den Maßstab an, Oberst.«

Also zog Thrakt seine Überjacke aus und machte eine Trageschleife für den Geleitkäfer. Das Tier wirkte wie ungefähr vierzig Kilo von sehr totem Gewicht. Aber sie gingen abwärts, und jetzt folgte Scherkaner Unterberg ohne weitere Einwände, er brauchte nur gelegentlich Hilfe, um auf den Stufen zu bleiben. Was könntest du jetzt also Besseres tun, na, Oberst? Der auf der Lauer liegende Feind hatte schließlich zugeschlagen. Thrakt schaute über den Krater hin auf die Muster rauchender Zerstörung. Wahrscheinlich sah es ebenso auf der Hochebene aus, und die strategischen Verteidigungsanlagen des Königs waren in Klump gehauen. Zweifellos war das Oberkommando mit Atombomben belegt worden. Was immer ich auch tun wollte, jetzt ist es zu spät.

Siebenundfünfzig

Das Taxi schwebte vom L1-Gemengsel hoch. Unter ihnen lag die Mündung von S745 offen und verströmte Luft und Eispartikel. Ohne Qiwi hätten sie immer noch hinter der Druckluke in der Falle gesessen. Qiwis Landung und die improvisierte Luftschleuse hätten vielleicht nicht einmal gut verwaltete Blitzköpfe zustande gebracht.

Nau ließ Ali Lin sanft auf den Vordersitz neben Qiwi gleiten. Die Frau wandte sich von der Steuerung ab, und ihr Gesicht verzerrte sich vor Trauer. »Papa? Papa?« Sie streckte die Hand aus, um seinen Puls zu fühlen, und ihr Gesichtsausdruck entspannte sich ein wenig.

»Ich glaube, er kommt durch, Qiwi. Schau, in L1-A gibt es Medizinautomatik, und…«

Qiwi rutschte wieder in ihren Sitz zurück. »Das Arsenal…« Doch ihr Blick blieb bei ihrem Vater, und das Entsetzen wich teilweise der Nachdenklichkeit. Unvermittelt schaute sie weg und nickte. »Ja.«

Das Taxi beschleunigte mit seinen kleinen chemischen Triebwerken. Nau und seine Männer suchten eilig nach Handgriffen. Qiwi hatte die automatischen Begrenzungen übergangen. »Was ist passiert, Tomas? Haben wir eine Chance?«

»Ich denke schon. Wenn wir nach L1-A hineingelangen können.« Er erzählte die Geschichte des Verrats, fast die Wahrheit, ausgenommen Ali Lin.

Qiwi ließ das Taxi glatt in den Bremsanflug einschwenken. Doch ihre Stimme klang fast schluchzend. »Das ist wieder das Diem-Massaker, nicht wahr? Wenn wir sie diesmal nicht aufhalten, werden wir alle sterben. Und die Spinnen auch.«

Volltreffer. Wenn Qiwi nicht so frisch blankgeputzt worden wäre, wäre dies ein sehr gefährlicher Gedankengang gewesen. Noch ein paar Tage, und sie fände hundert kleine Unstimmigkeiten, die sie zusammensetzen könnte, sie würde das alles rasch durchschauen.

Doch jetzt, die nächsten paar Kilosekunden lang, kam ihm die Analogie zu Diem zupass. »Ja! Aber diesmal haben wir eine Chance, sie aufzuhalten, Qiwi.«

Das Taxi ging rasch auf Diamant Eins nieder. Die Sonne glich einem fahlen roten Mond, ihr Licht glitzerte hier und da auf den letzten Vorräten an gestohlenem Schnee. Hammerfest war unterm Horizont verschwunden. Höchstwahrscheinlich steckte Pham Nuwen dort im Obergeschoss fest. Der Kerl war ein Genie, aber er hatte nur einen halben Sieg errungen. Er hatte die Blitzkopf-Dienste abgeschaltet, doch er hatte die Arachna-Operation nicht verhindern können und keine Verbündeten erreicht.

Und in diesem Spiel war ein halber Sieg nichts wert. In ein paar hundert Sekunden werde ich über die Feuerkraft von L1-A verfügen. Die Strategie würde sich in garantierter Vernichtung kristallisieren, und Pham Nuwens moralische Schwäche würde Tomas Nau den vollen Sieg einbringen.


Ezr verlor nie das Bewusstsein, andernfalls wäre er nicht mehr erwacht. Doch eine Zeit lang war all seine Wahrnehmung auf ihn selbst konzentriert, auf die lähmende Kälte, den bohrenden Schmerz in seiner Schulter und den Arm abwärts.

Der Drang, Luft in seine Lungen zu saugen, wurde übermächtig. Irgendwo musste es Luft geben; der Park hatte so viel davon wie eh und je. Doch wo? Er wandte sich in die Richtung, wo das falsche Sonnenlicht am hellsten war. Ein Rest von Vernunft stellte fest, dass das Wasser aus dieser Richtung gekommen war. Also fiel es jetzt. Schwimm auf die Helligkeit zu. Er bewegte die Beine schwach, aber so kräftig, wie er nur konnte, und korrigierte mit dem unversehrten Arm die Richtung.

Wasser. Mehr Wasser. Ewig Wasser. Rötlich im Sonnenlicht.

Er brach durch die Oberfläche, hustend und sich erbrechend und endlich atmend. Die See erstreckte sich rings um ihn. Sie wogte und stieg ohne einen Horizont. Es war etwas wie eine Piraten-Geschichte von Canberra, die er als Kind gesehen hatte; er war ein Seemann, gefangen in einem endgültigen Mahlstrom. Er starrte höher und höher. Das Wasser krümmte sich um ihn und schloss sich über seinem Kopf. Seine Seelandschaft war eine Blase, vielleicht fünf Meter im Durchmesser.

Mit der Orientierung stellte sich etwas wie rationales Denken ein. Ezr warf sich herum, schaute nach unten und hinter sich. Kein Anzeichen von Verfolgern. Doch vielleicht spielte es keine Rolle. Durch das Wasser ringsum zogen sich Fäden seines eigenen Blutes, er schmeckte es. Die Kälte, die die Blutung verlangsamt und den Schmerz teilweise betäubt hatte, lähmte auch seine Beine und seinen unversehrten Arm.

Ezr starrte durchs Wasser und versuchte abzuschätzen, wie weit entfernt sich diese Luftblase von der äußeren Oberfläche befand. Das Wasser auf der Sonnenseite schien nicht tief zu sein, aber… Er schaute abwärts, dorthin, wo der Wald gewesen war. Durch das Flimmern und Fließen hindurch sah er die Ruinen der Bäume. Nirgends war dieses Wasser tiefer als ein Dutzend Meter. Ich bin aus der Hauptmasse heraus. Seine Blase war ihrerseits Teil eines Tropfens, der langsam über den Himmel von Nordpfote trieb.

Und zwar abwärts, infolge einer Kombination der Mikroschwerkraft und des Aufpralls des Sees an der Höhlendecke. Ezr schaute betäubt zu, wie der Boden näher kam. Er würde unweit von der Anlegestelle des Sees auftreffen.

Als es so weit war, war der Aufprall langsam wie im Traum, weniger als ein Meter pro Sekunde. Doch das Wasser spritzte rasch um ihn herum hoch. Er traf mit Beinen und Hintern auf und schnellte nach oben zurück, gemeinsam mit einem Durcheinander zitternder, rotierender Wasserklumpen. Ringsum war ein klackendes Geräusch, ein unbeseelter mechanischer Applaus. Die steinerne Verkleidung des Deichs war keinen Meter entfernt. Er streckte die Hand aus, hörte fast auf, sich zu drehen. Dann berührte seine verletzte Schulter die Verkleidung, und alles verschwand in einem Ausbruch von Qual.

Er war nur ein paar Sekunden bewusstlos. Als das Bewusstsein zurückkehrte, sah er, dass er sich ungefähr fünf Meter über dem Seeboden befand. In seiner Nähe waren die Steine der Verkleidung mit einem Streifen von Moos und Flecken bedeckt, die alte Wasserstandslinie. Und der klackende Applaus… Er schaute über den Seeboden hin. Er sah die Stabilisator-Servos, wie sie zu Hunderten dieselbe Sabotage fortsetzten, die die See in Bewegung gebracht hatte.

Ezr kletterte die grob behauenen Steine des Deiches hinan. Es waren nur ein paar Meter bis zur Krone, bis zur Hütte… bis zu der Stelle, wo die Hütte gestanden hatte. Die Fundamente waren noch zu erkennen. Die Stümpfe vom Wandrahmen standen noch. Aber eine Million Tonnen Wasser, auch wenn es sich langsam bewegte, hatte ausgereicht, um die Hütte wegzufegen. Hier und da stieg Schutt auf, mit den Trümmern weiter unten verhakt.

Ezr bewegte sich von Spitze zu Spitze, benutzte seine unversehrte Hand, um über die Ruinen zu klettern. Die See hatte sich zu einer tiefen Schicht gesenkt, die den Wald umfing und an den gegenüberliegenden Wänden der Höhle emporkroch. Sie schäumte und strömte noch immer. Zehn Meter große Wassertropfen zogen noch immer über den Himmel. Ein Großteil der See würde sich wohl schließlich wieder im Becken sammeln, doch Ali Lins Meisterwerk war zerstört.

Ihm wurde verschwommen und trübe vor den Augen; der Schmerz war nicht mehr so schlimm wie vorher. Irgendwo da draußen im überfluteten Wald saß Tomas Nau zusammen mit seinen fröhlichen Gesellen in der Falle. Ezr erinnerte sich an den Triumph, den er empfunden hatte, als er sie in den Bäumen unter Wasser versinken sah. Pham, wir haben gesiegt. Doch das war nicht der ursprüngliche Plan. In Wahrheit hatte Nau sie irgendwie durchschaut, sie fast beide umgebracht. Vielleicht saß Nau überhaupt nicht in der Falle. Wenn er einen Weg aus der Höhle fand, konnte er Pham verfolgen oder nach L1-A gelangen.

Doch die Furcht war weit weg und schwand. Bänder von klebrigem rotem Wasser umströmten ihn jetzt. Er drehte den Kopf, um einen Blick auf seinen Arm zu werfen. Marlis Drahtpistole hatte ihm den Ellenbogen zerschmettert, eine Arterie geöffnet. Die frühere Wunde an seiner Schulter und die Folter hatten eine Art zufällige Aderpresse erzeugt, aber ich verblute allmählich. Logischerweise war der Gedanke Grund, alarmiert zu sein, doch in Wahrheit wollte er weiter nichts, als den Boden loslassen und sich eine Weile auszuruhen. Und dann stirbst du, und vielleicht gewinnt Tomas Nau.

Ezr zwang sich, in Bewegung zu bleiben. Wenn er die Blutung zum Stillstand bringen könnte… aber er konnte nicht einmal seine Jacke ausziehen. Sein Denken trieb vom Unmöglichen weg. Grau schlich sich an den Enden in seinen Geist. Was kann ich tun in den Sekunden, die mir noch bleiben? Er arbeitete sich über die Trümmer voran, das Gesichtsfeld auf den Boden nur ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht begrenzt. Wenn er Naus Arbeitszimmer finden könnte, sogar ein Sprechfunkgerät. Wenigstens könnte ich Phamwarnen. Es gab kein Funkgerät, nur Schutt überall. Das schöne Holz, das Fong gezüchtet hatte, war nur noch Feuerholz, die Spiralmaserung geborsten.

Ein nackter weißer Arm langte unter einem zerschmetterten Garderobenschrank hervor. Ezrs Geist schreckte angesichts des Entsetzens und des Rätsels auf. Wen haben wir zurückgelassen? Omo, ja. Doch der Arm war nackt, glänzte in blutleerem Weiß. Er berührte die Hand am Ende des Arms. Sie zuckte, glitt um seine Finger herum. Aha, überhaupt keine Leiche, nur eine von diesen Druckjacken, die Nau bevorzugte. Ein Gedanke tauchte aus dem Dämmerschein auf: Vielleicht kann ich die Blutung stillen. Er zog an dem Jackenärmel. Er gab nach, blieb hängen, dann schwebte er frei. Ezr verlor den Halt am Boden, und einen Augenblick lang war es ein Tanz von ihm und der Jacke. Der linke Ärmel ging auf, bis hinab in die Finger, wo sich die Öffnung verzweigte. Er schob den Arm in ganzer Länge hinein, und die Jacke schloss sich von den Fingern bis zur Schulter. Er zog das Gewebe über seinen Rücken und legte die rechte Seite lose um seinen misshandelten Arm. Jetzt konnte er zu Tode bluten, und niemand würde noch einen Tropfen sehen. Zieh den Stoff fest. Er ruckelte ihn zurecht. Enger, einen richtigen Druckverband. Er strich mit der linken Hand die Jacke über dem verletzten Arm fest, presste aus dem Fleisch darunter qualvollen Schmerz heraus. Doch das Druckgewebe reagierte und wurde steif. Wie aus weiter Ferne hörte er sich vor Scherz stöhnen. Für einen Moment verlor er das Bewusstsein; als er wieder zu sich kam, lag er leicht auf dem Kopf.

Doch jetzt war sein rechter Arm ruhiggestellt, der Druckärmel maximal gespannt. Es war solch ein schmerzhaftes Extrem, doch vielleicht würde es genügen, um ihn am Leben zu erhalten.

Er trank von vorbeischwebendem Wasser und versuchte zu denken.

Hinter ihm erklang ein missmutiges Miauen. Das Himmelskätzchen glitt heran, setzte sich auf seine Brust und den unversehrten Arm. Er griff hinauf, fühlte den zitternden Körper. »Auch in Schwierigkeiten?«, fragte er. Es kam als Krächzen heraus. Die großen dunklen Augen des Kätzchens schauten ihn an, und es grub sich tief in den Raum zwischen seiner Brust und den linken Arm. Seltsam. Normalerweise ging ein krankes Kätzchen weg und versteckte sich; das hatte Ali Lin eine Menge Scherereien bereitet, obwohl die Wesen markiert waren. Das Himmelskätzchen war durchnässt, doch es schien ganz munter zu sein. Vielleicht — »Bist du gekommen, um mich zu trösten, Kleines?«

Er fühlte jetzt das Schnurren und die Wärme seines Körpers. Er lächelte; schon jemanden zu haben, der ihm zuhörte, munterte ihn auf.

Es erklang ein Flattern von Flügeln. Noch zwei Kätzchen. Drei. Sie schwebten über ihm und miauten gereizt, als wollten sie sagen: »Was habt ihr aus unserem Park gemacht« oder vielleicht: »Wir wollen was zu essen«. Sie wirbelten um ihn herum, jagten das Kleine aber nicht von seinem Arm weg. Dann glitt der größte, ein Kater mit lädierten Ohren, von Ezr weg und setzte sich auf den höchsten Punkt der Ruinen. Er schaute finster auf Ezr herab und begann seine Flügel zu putzen. Das verdammte Vieh sah nicht einmal nass aus.

Der höchste Punkt, der in den Ruinen geblieben war… eine Diamantröhre von fast zwei Metern Durchmesser, bedeckt von einer Metallkappe. Ezr begriff plötzlich, worauf er schaute: das Tunnelende in Naus Zimmer, höchstwahrscheinlich eine direkte Verbindung nach L1-A. Er schoss den Hügel hinan zu der Säule mit der Metallkappe. Der Kater duckte sich, zögerte, Ezr aus dem Weg zu gehen. Sogar jetzt waren die Wesen so besitzergreifend wie immer.

Die Kontroll-Lichter an der Luke zeigten grün, der Zugang war offen.

Er schaute den großen Kater an. »Du weißt, dass du auf dem Schlüssel zu allem sitzt, was, Kumpel?«

Er löste sanft das kleinste Kätzchen von seiner Jacke und scheuchte sie alle vom Lukenmechanismus fort. Er glitt zurück, öffnete sich. Würden die Dummerchen ihm zu folgen versuchen? Er winkte ihnen ein letztes Mal zu. »Egal, was ihr vielleicht denkt, ihr wollt nicht wirklich mitkommen. Pistolendraht tut weh.«


Der Gruppenraum im Obergeschoss war mit zusätzlichen Sitzen vollgestopft; es blieb kaum Raum, um die Kanten herum zu manövrieren. Und sobald Silipan die Verbindungen der Blitzköpfe abschaltete, wurde der Ort zum Irrenhaus. Trud tauchte von den nach ihm greifenden Armen weg, zog sich zum Steuerbereich im oberen Teil des Raums zurück. »Es behagt ihnen nicht — wirklich nicht —, wenn man sie von ihrer Arbeit trennt.«

Es war schlimmer, als Pham es erwartet hatte. Wären die Blitzköpfe nicht festgebunden gewesen, wären er und Trud angegriffen worden. Er schaute wieder zu dem Aufsteiger hin. »Es musste sein. Das ist der Kern von Naus Macht, und jetzt hat er keinen Zugriff mehr darauf. Wir bringen alles bei L1 in unsere Gewalt, Trud.«

Silipans Blick war glasig. Es waren zu viele Schocks gewesen. »Alles bei L1? Das ist unmöglich… Du hast uns alle umgebracht, Pham. Du hast mich umgebracht.« Eine gewisse Aufmerksamkeit war zurückgekehrt; zweifellos stellte er sich vor, was Nau und Brughel mit ihm machen würden.

Pham hielt ihn mit der freien Hand fest. »Nein. Ich gedenke zu gewinnen. Wenn ich gewinne, überlebst du. Und die Spinnen auch.«

»Was?« Trud biss sich auf die Lippe. »Ja, wenn man ihm die Unterstützung abschaltet, kommt Ritser langsamer voran. Vielleicht kriegen so die Spinnen eine Chance.« Sein Blick ging ins Leere, huschte dann wieder zu Pham zurück. »Was bist du, Pham?«

Pham antwortete leise, hob dabei die Stimme gerade so weit, dass sie die gerufenen Forderungen der Blitzköpfe übertönte. »Momentan bin ich deine einzige Hoffnung.« Er zog Silipans konfiszierte Datenbrille aus der Tasche und gab sie ihm.

Trud zog das zerknitterte Material sorgfältig glatt und setzte die Brille auf. Einen Augenblick lang schwieg er, dann: »Wir haben mehr Brillen. Ich kann dir eine besorgen.«

Pham lächelte das Fuchslächeln, das Silipan vor zweihundert Sekunden zum ersten Mal gesehen hatte. »Geht schon in Ordnung. Ich habe etwas Besseres.«

»Oh«, sagte Trud kleinlaut.

»Jetzt möchte ich von dir eine Schadensabschätzung. Gibt es irgendeine Möglichkeit, deine Leute hier arbeiten zu lassen, während Nau abgeschaltet bleibt?«

Trud zuckte wütend die Achseln. »Du weißt, dass das unmög…« Er schaute wieder zu Pham auf. »Vielleicht, vielleicht gehen ein paar triviale Sachen. Wir machen Offline-Berechnungen. Vielleicht könnte ich die Blitzköpfe für numerische Steuerung dazu bringen…«

»Tüchtig so. Beruhige diese Leute und schau, ob jemand von ihnen uns helfen kann.«

Sie trennten sich. Silipan schwebte zu den Blitzköpfen hinunter, sagte beschwichtigende Worte, sammelte das Erbrochene ein, das die plötzliche Aufregung mit sich gebracht hatte. Die Rufe wurden nur noch lauter:

»Ich brauche die aktuellen Kursdaten!«

»Wo sind die Übersetzungen von der Antwort der Sinnesgleichen?«

»Ihr Dummköpfe, ihr habt die Verbindung eingebüßt!«

Pham glitt seitlich an der Decke entlang und schaute hinab auf die Reihen sitzender Blitzköpfe, hörte auf die Beschwerden. An der Wand gegenüber schwebten Anne und ihr anderer Assistent reglos an Greiffilz-Halterungen. Sie müsste sicher sein und es überstanden haben. Deine letzte Schlacht wird gerade geschlagen, nur eben ein, zwei Jahrhunderte, nachdem du alles verloren geglaubt hattest.

Das Bild hinter Phams Augen ging ein und aus. Im größten Teil des Obergeschosses hatte er die Mikrowellen-Impulsenergie wieder in Gang setzen können. Er hatte vielleicht hunderttausend Orter in Reichweite und intakt. Es war ein helles Meta-Licht, das seine Sicht in unzusammenhängenden Strängen über das Obergeschoss erweiterte, zu allen Stellen, wo eine Wolke Orter zum Leben erwacht war und eine Kette von Verbindungen zu ihm finden konnte.

Status, Status. Pham überflog die Angaben über Blitzköpfe im Gruppenraum und außerhalb. Nur wenige waren noch in ihren Käfterchen in den Kapillartunneln eingeschlossen, Spezialisten, die bei der laufenden Operation nicht benötigt wurden. Viele von ihnen hatten krampfartige Wutanfälle bekommen, als der Datenstrom für ihre Aufgabe blockiert wurde. Pham schaltete sich ins Steuersystem ein und öffnete einige von den einlaufenden Nachrichtenverbindungen. Es gab Dinge, die er wissen musste, und es würde vielleicht dazu beitragen, das Unbehagen der Fokussierten zu mildern. Trud schaute irritiert auf — er merkte, dass jemand sich in seinem System zu schaffen machte.

Pham griff über das Obergeschoss hinaus, suchte nach einem Schimmer von Ortern an der Oberfläche des Felshaufens. Da! Ein, zwei isolierte Bilder, langsam und einfarbig. Er erhaschte einen Blick auf ein Taxi, das auf nacktem Fels in der Nähe von Hammerfest niederging. Verdammt, Schleusengang S745. Wenn Nau mit dieser Luke ohne Luftschleuse zurechtkam, bestand kein Zweifel, wo er als Nächstes hingehen würde.

Einen flüchtigen Moment lang spürte Pham die überwältigende Furcht, mit einem Gegner konfrontiert zu sein, den nichts aufhalten konnte. Ah, das ist, als wäre ich wieder jung. Ihm blieben vielleicht dreihundert Sekunden, ehe Nau nach L1-A kam. Es hatte keinen Zweck, irgendetwas aufzusparen. Pham schickte den Befehl aus, alle erreichbaren Orter zuzuschalten — sogar die ohne Energie. Ihre winzigen Kondensatoren enthielten genug Ladung für jeweils ein paar Dutzend Operationspakete. Wenn er sie klug nutzte, bekam er eine ganz beachtliche Menge Ein- und Ausgabe.

Hinter seinen Augen formten sich langsam Bilder, Bit für Bit für Bit.

Pham glitt um drei Wände, wobei er sorgsam außer Reichweite der Blitzköpfe blieb und gelegentlich einer weggeworfenen Tastatur oder einem Trinkballon auswich. Doch der nun wieder eingehende Datenfluss hatte eine gewisse beruhigende Wirkung. Die Übersetzersektion war nahezu ruhig, die Leute sprachen größtenteils miteinander. Pham schwebte in die Nähe von Trixia Bonsol hinab. Die Frau beugte sich mit wütendem Eifer über ihre Tastatur. Pham klinkte sich in den Datenfluss ein, der von der Unsichtbare Hand heraufkam. Da müsste es ein paar gute Neuigkeiten geben — Ritser und Co. kalt erwischt, als sie gerade im Begriff waren, Massenmord zu begehen.

Er brauchte einen Augenblick, um sich in dem Mehrkanalfluss zu orientieren. Da war Zeug für die Übersetzer, Bahndaten, Startcodes. Startcodes? Brughel machte weiter mit Naus hirnrissigem Überfall! Die Ausführung war schwerfällig; dem Einklang würde ein Gutteil seiner Waffen bleiben. Ballistische Raketen stiegen in bogenförmigen Bahnen hoch, Dutzende von Starts pro Sekunde.

Einen Moment lang nahm das Entsetzen Phams Aufmerksamkeit gefangen. Nau hatte Pläne geschmiedet, die halbe Bevölkerung einer Welt umzubringen. Ritser tat sein Möglichstes, um das Morden durchzuführen. Er überflog das automatische Protokoll der letzten paar hundert Sekunden bei Trixia Bonsol. Das Protokoll war durchgedreht, als ihr Datenfluss abgeschnitten worden war — ein metaphorischer Schluckauf. Es gab Seiten von ungeordnetem Nonsens, ein Gebrabbel von Dateien, die kein Datum des letzten Zugriffs zeigten. Sein Blick blieb auf einer Passage haften, die beinahe Sinn ergab:


Es ist ein abgegriffenes Klischee, dass die Welt in den Jahren einer Schwindenden Sonne am angenehmsten ist. In der Tat ist das Wetter nicht so heftig, überall hat man das Gefühl, dass es langsamer geht, und die meisten Orte erleben ein paar Jahre, wo die Sommer nicht heiß und die Winter noch nicht allzu grimmig sind. Es ist die klassische Zeit der Romantik. Es ist eine Zeit, die höheren Wesen verführerisch bedeutet, sie sollten sich entspannen, die Dinge verschieben. Es ist die letzte Gelegenheit, sich auf das Ende der Welt vorzubereiten.

Es war pures Glück, dass Scherkaner Unterberg die schönsten Tage des Schwindens für seine erste Fahrt zum Landeskommando ausgewählt hatte…


Das war offensichtlich eine von Trixias Übersetzungen, die Sorte ›menschlich gefärbte‹ Schilderung, die Ritser Brughel so irritierte. Aber Unterbergs ›erste Fahrt zum Landeskommando‹? Das musste aber dann vor dem letzten Dunkel gewesen sein. Seltsam, dass Tomas Nau solche Rückblicke verlangt hatte.

»Jetzt ist alles vermasselt.«

»Was?« Phams Gedanken fanden in den Gruppenraum zurück, zu den ärgerlichen Stimmen der Blitzköpfe. Es war Trixia Bonsol, die eben gesprochen hatte. Ihr Blick ging ins Leere, und ihre Finger waren immer noch mit ihrer Tastatur beschäftigt.

Pham seufzte. »Ja, das kann man wohl sagen«, erwiderte er. Wovon sie auch reden mochte, die Bemerkung war zutreffend.

Seine langsame Synthese aus dem energielosen Netz war fertig: Er hatte ein Bild auf L1-A. Wenn er noch ein kleines bisschen Verbindungskapazität freisetzen könnte, würde er vielleicht die E-Triebwerke bei L1-A erreichen. Viel Rechenleistung war da nicht, aber diese Stellen gehörten zum Energieraster der E-Triebwerke… und vor allem: Vielleicht können wir die Elektrotriebwerke selbst benutzen! Wenn sie ein paar Dutzend davon auf den Hülsenmeister ausrichten konnten… »Trud! Hast du bei den Numerik-Leuten etwas erreicht?«

Achtundfünfzig

Rachner Thrakts Hubschrauber hob glatt von der geneigten Plattform ab, Turbine und Rotor klangen gesund. Indem er den Kopf hin und her drehte, konnte Thrakt das Terrain verfolgen. Er flog nach Osten entlang des Kraterwalles. Die Bombentrichter wie eingestanzte Löcher zogen sich vor ihnen hin, eine Linie der Zerstörung, die über den Rand des Walls gegenüber verschwand. In der Stadt unten brannten jetzt Alarmleuchten, und Fahrzeuge waren zu den Kratern unterwegs, wo zwar bewohnte Häuser gewesen waren.

Auf dem Sitzgitter neben ihm bewegte sich Unterberg schwach und zog an den Tragetaschen auf dem Rücken seines Geleitkäfer. Das Tier versuchte zu helfen, doch es war viel schwerer verletzt als sein Herr. »Ich muss nachsehen, Rachner. Können Sie mir bei Mobiys Gepäck helfen?«

»Nur einen Moment, Herr Professor. Ich möchte uns hinüber zum Hubschrauber-Landeplatz bringen.«

Unterberg schob sich ein paar Zentimeter von seinem Gitter hoch. »Stellen Sie einfach den Autopiloten ein, Oberst. Bitte helfen Sie mir.«

Thrakts Hubschrauber enthielt Dutzende von Prozessoren, die ihrerseits mit Steuer- und Informationsnetzen verkoppelt waren. Einst war er auf diese eleganten Flugmaschine sehr stolz gewesen. Seit jener letzten Stabsbesprechung im Landeskommando hatte er sie nicht mehr mit Automatik geflogen. »Herr Professor… ich traue der Automatik nicht.«

Unterberg lachte sanft, dann begann er zu husten. »Schon in Ordnung, Rach. Bitte, ich muss sehen, was geschieht. Helfen Sie mir bei Mobiy.«

Ja! Beim Dunkel, was spielte es jetzt noch für eine Rolle! Rachner hieb vier Hände in die Steuerbuchsen und schaltete voll auf Autopilot. Dann wandte er sich seinen Passagieren zu und zog rasch den Verschluss an der Tasche auf Mobiys gebrochenem Rücken auf.

Unterberg langte hinein und nahm ein Stück Ausrüstung heraus, als seien es die Kronjuwelen. Rachner wandte den Kopf, um genauer hinzuschauen. Was… ein bescheuerter Computerspielhelm war es!

»Ah, es scheint in Ordnung zu sein«, sagte Unterberg leise. Er zog den Helm über die Augen, zuckte dann aber zurück. Rachner sah den Grund, die Augen des Kupps waren ganz mit Blasen überzogen. Doch Unterberg gab nicht auf. Er hielt das Gerät ein Stück vom Kopf weg, schaltete dann die Energie ein.

Glitzerndes Licht sprühte hervor und um seinen Kopf. Rachner zuckte instinktiv zurück. Die Kabine des Hubschraubers war plötzlich von einer Million wechselnder Farben überflutet, hell und kunter. Er erinnerte sich an die Gerüchte um Unterbergs verrückte Hobbies, die Videomantie. Es war also alles wahr gewesen; der ›Spielhelm‹ musste ein Vermögen gekostet haben.

Unterberg murmelte vor sich hin, schob den Helm hin und her, als wolle er die blinden Flecken seiner verbrannten Augen umgehen. Es war wirklich nicht viel zu sehen, nur ein unglaublich schöner Wechsel von Licht, die elektrisierende Macht von Computern im Dienste von Scharlatanerie. Scherkaner Unterberg schien damit zufrieden zu sein. Er starrte und starrte, während er seinen Geleitkäfer mit einer freien Hand tätschelte. »Ah… ich verstehe«, sagte er leise.

Und die Turbinen des Hubschraubers begannen plötzlich heulend hochzufahren, weit in den roten Bereich. Die Energie war wie Zauberei und würde sie in ein, zwei Stunden ausbrennen lassen. Deshalb gab es keine Steuerelemente und Befehle, die derlei vernünftigerweise zuließen.

»Was, zum Teufel…« Die Worte blieben Thrakt im Halse stecken, als das Hochfahren der Turbinen schließlich die Rotorblätter oben erreichte. Seine Flugmaschine spielte plötzlich verrückt, schraubte sich immer weiter nach oben über den Kraterrand.

Die Turbinen setzten kurz aus, als der Hubschrauber über den Krater hinaus war, zweihundert Meter, dreihundert Meter über der Hochebene. Rachner erhaschte einen Blick aufs Flachland. Die einzelne Reihe von Zerstörungen, die sie in Calorica gesehen hatten, war in Wahrheit Teil eines Musters. Südlich und westlich von ihnen erstreckten sich Hunderte von Rauchfahnen. Die Raketenabwehrfelder. Aber die Scheißkerle hatten nicht getroffen! Welle um Welle von Antiraketen stieg aus den Silos überall auf der Hochebene empor. Hunderte von Starts, schnell und dicht wie Kurzstrecken-Raketenartillerie — nur das sich die Silos Dutzende von Kilometern entfernt befanden. Diese Rauchfahnen trieben intelligente Nutzlasten zu den Tausende von Kilometern entfernten und etliche Kilometer hohen Abfangpunkten. Es war ehrfurchtgebietend über all die Angeberei hinaus, die die Luftverteidigung bei den Stabsbesprechungen aufgetischt hatte… und es musste bedeuten, dass die Sinnesgleichen gerade alles gestartet hatten, was sie besaßen.

Scherkaner Unterberg schien keine Notiz zu nehmen. Er bewegte den Kopf unter der Lichtshow des Helms vor und zurück. »Es muss eine Rückverbindung geben. Es muss.« Er hantierte an den Spielreglern. Sekunden vergingen. »Alles vermasselt«, schluchzte er.


Trud verließ seine Blitzköpfe für die numerische Steuerung und gesellte sich wieder Pham Trinli bei den Übersetzern zu. »Die reine Numerik kriege ich hin, Pham. Ich meine, ich bekomme Antworten. Aber was die Steuerung angeht…«

Trinli nickte nur und wischte mit einer Handbewegung die Einwände weg. Trinli sieht so anders aus. Ich kenne ihn seit Jahren Wachzeit, aber jetzt ist er ein anderen Mensch. Der alte Pham Trinli war laut und arrogant gewesen, ein Angeber, mit dem man streiten und Späße machen konnte. Dieser Pham war stiller, doch seine Handlungen waren wie Messer. Und töten uns alle. Truds Blick glitt unwillkürlich zu der Stelle, wo Anne Reynolts Körper wie Fleisch am Haken hing. Und selbst wenn er einen Plan fände, wie er Pham verriete, würde es ihn wahrscheinlich nicht retten. Nau und Brughel waren Hülsenmeister, und er wusste, dass er zu weit gegangen war, um auf Vergebung zu hoffen.

»… noch eine Chance, Trud.« Phams Stimme schnitt durch seine Angst. »Vielleicht könnten wir noch ein bisschen weiter aufmachen, den Blitzköpfen vorspiegeln, dass…«

Silipan zuckte die Achseln. »Mach das, und wir haben die Hülsenmeister sofort an der Kehle. Ich kriege fünfzig Dienstanforderungen pro Sekunde von Nau und Brughel.«

Pham rieb sich die Schläfen, und sein Blick ging in die Ferne. »Hm-ja, ich verstehe, was du meinst. Gut. Was haben wir? Das Temp…«

»Die Kameras bei Benny zeigen eine Menge sehr verwunderter Leute. Wenn sie Glück haben, bleiben sie, wo sie sind.« Und später würden die Hülsenmeister keinen Anspruch auf Rache an ihnen haben.

Einer von den Blitzköpfen — Bonsol — fiel ihm ins Wort, das typische zusammenhanglose Zeug der Fokussierten: »Auf dem Planeten gibt es Millionen Bewohner. In ein paar Sekunden werden sie sterben.«

Die Bemerkung schien Pham aus der Bahn zu werfen. Sogar der neue Pham Trinli war noch ein Amateur, was den Umgang mit Blitzköpfen betraf. »Ja«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu Silipan oder dem Blitzkopf. »Aber wenigstens haben die Spinnen eine Chance. Ohne unsere Blitzköpfe kann Ritser die Schrauben nicht weiter anziehen.« Natürlich ignorierte Bonsol die Antwort, sie hämmerte einfach weiter auf ihrer Tastatur.

Trinlis Aufmerksamkeit schnellte zu Silipan zurück. »Schau. Nau ist in einem Taxi und kommt gerade bei L1-A an. In dem Gebiet gibt es überall elektrische Impulstriebwerke. Wenn wir ein paar Blitzköpfe dazu kriegen, sie zu steuern…«

Trud fühlte, wie in ihm Wut hochstieg. Was er auch sein mochte, Pham Trinli war immer noch ein Dummkopf. »Hol dich die Seuche! Du hast einfach keine Ahnung von Blitzkopf-Loyalität! Wir müssen…«

Bonsol fiel ihm ins Wort: »Ritser kann die Schrauben nicht fester anziehen, aber wir können sie auch nicht lockern.« Sie lachte, fast unhörbar. »Was für eine interessante Situation. Wir sind in einer Sackgasse.«

Trud bedeutete Pham, er möge zur Zimmerdecke zurückkehren, außer Reichweite dieser zufälligen Blitzkopf-Kommentare. »Die machen ewig so weiter.«

Doch Pham wandte sich wieder dem Blitzkopf zu und widmete der Frau abrupt volle Aufmerksamkeit. »Was meinen Sie mit ›Wir sind in einer Sackgasse‹?«, sagte er ruhig.

»Hol’s der Eiter, Pham! Ist doch egal!« Doch Trinli stieß seine Hand hoch und gebot Schweigen. Die Geste hatte die herrische Gewissheit eines führenden Hülsenmeisters — und Silipans Einwände erstarben auf seinen Lippen. Innerlich wuchs und wuchs seine Furcht. So viel zu Wundern. Wenn es je eine Chance gegeben hatte, Nau den Zutritt zu L1-A zu verwehren, dann verschwand sie mit dieser Verzögerung. Und Silipan wusste, was sich in L1-A befand. O ja. Bei aller Automatik und Raffinesse — L1-A würde dem Hülsenmeister seine absolute Macht zurückgeben. Die Uhr am Rande von Truds Gesichtsfeld zählte erbarmungslos weiter, wie die Sekunden des Lebens verrannen. Und natürlich beachtete der Blitzkopf Pham überhaupt nicht, geschweige denn seine Frage.

Das Schweigen zog sich zehn oder fünfzehn Sekunden lang hin. Dann ging Bonsols Kopf mit einem Ruck hoch, und sie starrte Pham direkt in die Augen — auf eine Art, wie es Blitzköpfe niemals taten, außer wenn sie eine Rolle spielten. »Ich meine, ihr blockiert uns und wir blockieren euch«, sagte sie. »Meine Liebe dachte, ihr wärt allesamt Ungeheuer und wir könnten keinem von euch trauen. Und jetzt bezahlen wir alle für diesen Irrtum.«

Es war Blitzkopf-Unsinn, nur bombastischer als meistens. Doch Pham zog sich zu Bonsols Sitz herab. Sein Mund stand halb offen, als sei er unsäglich überrascht, der Ausdruck eines Mannes, der plötzlich zerrissen wird, der geradewegs in den Wahnsinn stürzt. Und als er schließlich sprach, waren auch seine Worte verrückt. »Ich… größtenteils sind wir keine Ungeheuer. Wenn wir aus der Sackgasse kommen würden, könntet ihr alles regeln? Und später… später wären wir euch auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Wie können wir euch trauen?«

Bonsols Blick war weggedriftet. Sie antwortete nicht, und ihre Hände huschten über ihre Tastatur. Sekunden des Schweigens verstrichen, doch jetzt stahl sich ein kalter Verdacht Truds Rückgrat empor. Nein.

Exakt nach zehn Sekunden sprach Bonsol wieder: »Wenn ihr den vollen Zugang wiederherstellt, können wir die wichtigsten Dinge steuern. Zumindest war das der Plan. Was Vertrauen angeht…« Bonsols Gesicht verzog sich zu einem seltsamen Lächeln, spöttisch und wehmütig zugleich. »Nun ja, ihr kennt uns viel besser als wir euch. Ihr müsst euch eure Ungeheuer selbst wählen.«

»Ja«, sagte Pham. Er rieb sich die Schläfe und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf etwas, das für Trud unsichtbar war. Er wandte sich Silipan zu und lächelte dasselbe wilde Lächeln wie bei seinem plötzlichen Erscheinen im Lagerraum, das Lächeln von jemandem, der alles aufs Spiel setzt — und zu gewinnen gedenkt. »Stellen wir die Kommunikationsverbindungen wieder her, Trud. Es ist Zeit, dass Nau und Brughel die Blitzkopf-Unterstützung bekommen, die sie verdienen.«

Neunundfünfzig

Nau sah zu, wie Qiwi ihr Taxi hereindirigierte: Vor und unter ihnen waren die Schneehügel, die er rings um die Schleuse von L1-A aufgehäuft hatte. Allein mit der Automatik an Bord des Taxis hatte Qiwi den Schleusengang gefunden, die Sicherheitssperren der Luke übergangen und sie gerettet — alles in ein paar hundert Sekunden. Wenn sie nur noch ein paar Sekunden durchhielt, hätte er alle absolut in der Hand. Wenn sie nur noch ein paar Sekunden durchhielt… Er sah, wie sie ihren Vater anschaute. Der Anblick von Ali Lin drängte sie irgendwie zum Verständnis hin. Pestilenz! Bring uns bloß sicher nach unten, mehr verlange ich nicht. Dann konnte er sie töten.

Marli schaute von seinem Funkgerät hoch. Auf seinem Gesicht malte sich überraschte Erleichterung. »Herr Hülsenmeister! Ich kriege Bestätigungen von den Blitzkopf-Kanälen. In ein paar Sekunden müssten wir volle Automatik haben.«

»Ah.« Endlich eine unerwartet gute Neuigkeit. Jetzt konnte er die Zerstörung begrenzen, die notwendig war, um wieder die Kontrolle zu erlangen. Nur dass es Pham Nuwen ist, gegen den du stehst, und fast alles möglich ist. Das konnte irgendeine unglaubliche Täuschung sein. »Sehr gut, Hülsenkorporal. Aber benutzen Sie diese Automatik vorläufig nicht.«

»Jawohl, Herr Hülsenmeister.« Marli klang verwirrt.

Nau schaute zum Fenster des Taxis hinaus. Seltsam, pure Natur ohne Verstärkung zu sehen. Die Schleuse von L1-A befand sich jetzt etwa siebzig Meter entfernt, tief im Schatten. Etwas war seltsam daran… der Metallrand war rot hervorgehoben. Aber ich trage keine Datenbrille.

»Qiwi…«

»Ich sehe es. Jemand…«

Ein lautes Schnappen ertönte. Marli schrie auf. Sein Haar brannte. Die Taxihülle bei seinem Sitz glühte rot.

»Scheiße!« Qiwi riss das Taxi hoch. »Die nehmen meine Elektrotriebwerke!« Sie versetzte das Taxi in eine Drehbewegung, während sie es vor und zurück rucken ließ. Naus Magen kroch in ihm aufwärts. Nichts sollte derart fliegen.

Das Glühen auf der Luftschleuse von L1-A, der heiße Fleck in der Hülle hinter ihm — der Feind musste alle Impulstriebwerke in Sichtweite benutzen. Jedes Triebwerk für sich genommen konnte nur eine zufällige, lokale Gefahr sein. Irgendwie hatte Nuwen Dutzende von ihnen zusammengefasst, dass sie exakt auf die beiden wichtigen Ziele gerichtet waren.

Marli schrie immer noch. Qiwis Flugweise rammte Nau aufwärts gegen seine Gurte, drehte ihn, als er wieder herunterkam. Flüchtig sah er den Hülsenkorporal, wie er in den Armen seiner Gefährten lag. Wenigstens brannte er nicht mehr. Die anderen Wachleute hatten große Augen. »Röntgenstrahlen«, sagte einer von ihnen. Die Sekundärstrahlung dieser Elektronenstrahlen konnte sie alle rösten. Eine Gefahr auf lange Sicht, wenn man es recht bedachte…

Während sie das Taxi immer noch rotieren ließ, zog Qiwi sie nahe an die Felshänge von Diamant Eins. Das Taxi war jetzt in eine Präzession geraten, eine wilde Dreifachdrehung. Der Feind konnte seine Kanonen unmöglich auf einen Fleck gerichtet halten. Und dennoch glühte die Wand mit jeder Umdrehung heller. Pestilenz. Irgendwie verfügte Nuwen über die volle Systemautomation.

Die Nase und dann das Hinterteil des Taxis prallten auf den Boden, Schnee spritzte von der Oberfläche weg. Die Hülle ächzte, hielt ab. Und jetzt, im Dunst der aufsteigenden flüchtigen Stoffe, sah Nau die Strahlen der Elektrotriebwerke. Eis und Luft auf ihrem Weg explodierten weißglühend. Fünf Strahlen, vielleicht zehn, strichen hin und her, während sich das Taxi drehte, und mehrere waren immer auf den glühenden Fleck in ihrer Hülle gerichtet.

Ringsum wurde der Wirbel von Dampf und Eis dichter. Der glühende Fleck in der Hülle begann zu verblassen, als der Schnee die mörderischen Strahlen aufsog und streute. Qiwi bremste ihre Rotation mit vier exakten Triebwerksstößen der Höhensteuerung und schmuggelte das Taxi gleichzeitig über den kochenden Schnee zur Luftschleuse von L1-A hin.

Nau spähte voraus und sah die Schleuse direkt vor ihnen näher kommen, ein unvermeidlicher Aufschlag. Doch irgendwie hatte Qiwi noch die Steuerung. Sie riss das Taxi hoch und rammte den Andockring in sein Gegenstück an der Schleuse. Es erklang das Geräusch von Metall, das sich bog, und dann hatten sie angehalten.

Qiwi tippte an der Schleusensteuerung, schoss dann von ihrem Sitz weg auf den vorderen Lukenmechanismus zu. »Er klemmt, Tomas! Hilf mir!«

Und jetzt waren sie festgehakt, gefangen wie Hunde in einer Abschussgrube. Tomas stürmte nach vorn, fand Halt und zog mit Qiwi an der Taxiluke. Sie war verkeilt. Fast verkeilt. Gemeinsam zogen sie sie ein Stück weit auf. Er griff hindurch, verbrachte kostbare Sekunden mit den Sicherheitscodes an der Luke von L1-A. Fertig!

Er schaute über Qiwis Kopf hinweg auf die Hülle hinter ihnen. Der rote Fleck ähnelte jetzt eher der Mitte einer Zielscheibe, ein Ring Rot, ein Ring Orange und im Zentrum gleißendes Weiß. Es war, als stünde man vor einem offenen Brennofen.

Das weißglühende Zentrum schlug eine Blase nach außen und war weg. Ringsum ertönte eine Folge von Donnerschlägen, als die Atmosphäre entwich.


Es war sehr still gewesen, seit Viktoria Lichtberg das Befehlsund-Kontroll-Zentrum übernommen hatte. Die Geheimdienst-Techniker waren von ihren Sitzgittern entfernt worden. Sie und die Offiziere waren zu Untersiedel, Kalthafen und Schachtweg hinübergeschickt wurden. Wie Käfer bei einem Schlachtsaug, dachte Belga. Aber es war egal. Die Situationskarte zeigte, dass ein großer Teil der Welt jetzt geschlachtet werden würde.

Die Spuren von Tausenden von Raketen der Sinnesgleichen zogen ihre Spuren über die Karte, und jede Sekunde wurden neue gestartet. Zielkreise lagen über jedem Militärgelände des Einklangs, jeder Stadt — sogar über den Tiefen der Traditionalisten.

Und die seltsamen Starts seitens des Einklangs, die erschienen waren, kurz nachdem Lichtberg eingetroffen war — sie waren von den Karten verschwunden. Lügen, die nicht mehr benötigt wurden.

Viktoria Lichtberg ging an den Reihen von Sitzgittern auf und ab, schaute jedem ihrer Techniker kurz über die Schultern. Sie schien Untersiedel und die anderen vergessen zu haben. Und seltsam, sie schien genauso entsetzt zu sein wie die rechtmäßigen Insassen des BKZ. Sie drehte sich zu ihrem Bruder um, der ganz in einer anderen Welt zu sein schien und sich mit seinem Spielehelm vergnügte. »Brent?«

Der große Korporal ächzte. »Tut mir Leid, tut mir Leid. Calorica ist immer noch weg. Schwes… Ich glaube, sie haben Papa getroffen.«

»Aber wie? Sie konnten es doch unmöglich wissen!«

»Weiß nicht. Nur die auf den unteren Ebenen reden, und allein sind sie nie besonders nützlich. Ich denke, es ist vor einer Weile passiert, kurz nachdem wir den Kontakt zum Hohen Sitz…« Er hielt inne, widmete er sich seinem Spiel? Licht strömte an den Rändern seines Helms hervor, flackerte. Dann: »Er ist wieder da! Hör!«

Lichtberg hielt ein Sprechgerät an die Seite ihres Kopfes. »Papa!« Freudig wie ein Kuppli, wenn es von der Schule heimkommt. »Wo…?« Ihre Esshände erfassten einander vor Überraschung, und sie verstummte, während sie einer längeren Rede lauschte. Aber sie sprang fast vor Aufregung, und ihre Renegaten hämmerten plötzlich auf die Tastaturen.

Schließlich: »Wir duplizieren alles, Papa. Wir…« Sie machte eine Pause, warf einen Blick auf ihre Techniker. »… wir kommen zurecht, ganz wie du sagst. Ich denke, wir schaffen es, aber um Gottes willen, nimm eine nähere Route! Zwanzig Sekunden sind einfach zu viel. Wir brauchen dich jetzt mehr denn je!« Und dann sprach sie zu ihren Technikern. »Rhapsa, nimm dir die aufs Korn, die wir nicht von oben stoppen können. Birbop, bring diese verdammte Übertragungsroute in Ordnung…«

Und auf der Lagekarte… waren die über Hochäquatorien verstreuten Raketenfelder zum Leben erwacht. Die Karte zeigte die bunten Spuren von Dutzenden, Hunderten von Antiraketen, die Langstrecken-Abfangraketen, die hoch aufstiegen, um den Gegner zu treffen. Noch mehr Lügen? Belga schaute hinüber zu Lichtberg und den anderen Eindringlingen, die plötzlich freudig aussahen, und fühlte, wie Hoffnung in ihrem Herzen hochstieg.

Bis zu den ersten Begegnungen war es noch eine halbe Minute. Belga hatte die Simulationen gesehen. Mindestens fünf Prozent der angreifenden Raketen würden durchkommen. Es würde hundertmal so viel Tote wie während des Großen Krieges geben, aber keine totale Vernichtung… Doch auf der Karte geschahen andere Dinge. Ein Stück hinter der vorderen Angriffswelle begannen hier und da die Kennungen für feindliche Objekte zu verschwinden.

Lichtberg zeigte auf den Bildschirm und wandte sich zum ersten Mal seit ihrem Coup an Untersiedel und die anderen. »Die Sinnesgleichen hatten Rückruffunktionen bei einigen ihrer Raketen. Die nutzen wir, wo immer es geht. Einige von den anderen können wir von oben angreifen.« Von oben? Wie durch einen unsichtbaren Radiergummi, der nach Norden über den Kontinent strich, verschwand ein Schwarm Raketenkennungen. Lichtberg wandte sich Kalthafen und den anderen zu und nahm Haltung an. »Herr General, Frau General. Ihre Leute sind vielleicht am besten, was die Lenkung der Antiraketen betrifft. Wenn wir uns koordinieren können…«

»Verdammt, ja!«, riefen Schachtweg und Kalthafen gleichzeitig. Die Techniker stürzten zurück an ihre Plätze. Es gingen wertvolle Augenblicke mit dem Wiederaufrufen von Ziellisten verloren, und dann punktete die Erste von den Antiraketen.

»Eindeutiger EM-Impuls!«, rief einer von den LV-Technikern. Irgendwie wirkte das realer als alles Übrige.

General Kalthafen machte eine Handbewegung zu Lichtberg hin, eine sonderbare Art Gegengruß. Lichtberg sagte ruhig: »Danke, Herr General. Das ist nicht ganz das, was die Chefin geplant hat, aber ich denke, wie kriegen es hin… Brent, versuche, ob du die Lagekarte ganz mit der Wahrheit in Übereinstimmung bringen kannst.«

… Hunderte von neuen Kennungen glitzerten auf dem Bildschirm. Doch es waren keine Raketen. Belga kannte die Zeichen gut genug, um Satelliten erkennen zu können, obwohl diese nach kaputter Grafikfunktion aussahen. Es fehlten Datenfelder, und es gab Felder, die sinnlose Zeichenketten enthielten. Vom Nordrand des Bildschirms her bewegte sich ein seltsames Rechteck. Neben ihm pulsierten winkelförmige Zeichen. General Schachtweg zischte. »Das kann nicht wahr sein. Ein Dutzend Größenwinkel. Dann wäre es ja dreihundert Meter lang.«

»Ja, Herr General«, sagte Leutnant Lichtberg. »Die üblichen Anzeigeprogramme kommen damit nicht ganz zurecht. Dieser Flugkörper ist fast sechshundert Meter lang.« Sie schien den Ausdruck nicht zu bemerken, der sich über Schachtweg legte. Sie betrachtete die Erscheinung noch eine Sekunde. »Und ich glaube, er hat gerade aufgehört, von Nutzen zu sein.«


Ritser Brughel schien mit sich zufrieden zu sein. »Wir haben es sogar ohne Reynolts Leute eitermäßig gut gemacht.« Der Vize-Hülsenmeister kam von seinem Kapitänssessel herüber und blieb neben seinem Pilotenverwalter schweben. »Vielleicht haben wir ein paar Bomben mehr gestartet, als exakt notwendig war, aber das hat Ihren Lapsus bei den Abwehrraketen wettgemacht, was?« Er schlug Xin vertraulich auf die Schulter. Jau kam plötzlich zu Bewusstsein, dass sein einziger, kraftloser Verrat entdeckt worden war.

»Jawohl, Herr Hülsenmeister«, war das Einzige, was ihm zu sagen einfiel. Vor ihnen glitzerte das Planetenrund mit einem Geflecht von Lichtern — die Städte, die sie Weißenberg, Valdemon, Königsberg nannten. Vielleicht waren die Spinnen nicht die Leute, die sich Rita vorstellte, vielleicht war das eine Täuschung der Übersetzung. Doch wie die Wahrheit auch aussehen mochte, jene Städte durchlebten die letzten Sekunden ihres Daseins.

»Herr Hülsenmeister.« Bil Phuongs Stimme kam über den allgemeinen Sprechkanal der Brücke. »Ich habe eine Bestätigung von Annes Leuten. Binnen Sekunden werden wir über volle Automatik verfügen.«

»Ha! Wurde auch Zeit.« Doch in Ritser Brughels Stimme klang Erleichterung mit.

Jau spürte eine dumpfe Vibration. Wieder. Wieder. Brughel riss den Kopf hoch und schaute fort auf eine virtuelle Anzeige. »Das klingt wie unsere Kampflaser, aber…«

Jaus Blick huschte über die Statusmeldungen. Die Waffenleiste war sauber. Die Kernleistung war hochgeschnellt, als wären Kondensatoren aufgeladen worden — doch jetzt war auch das normal. Und: »Meine Piloten melden keinerlei Feuer, Herr Hülsenmeister.«

Vibration. Vibration. Sie hatten die großen Städte überflogen, glitten nordwärts in die Arktis, über winzige Lichter, verstreut in der unermesslichen Dunkelheit, frosterstarrtes Land. Da war nichts, doch hinter ihnen… Vibration. Der Himmel wurde von drei fahlen Strahlenbündeln erhellt, die auseinanderstrebten, verblassten… der klassische Anblick von Kampflasern in der Hochatmosphäre.

»Phuong! Was, zum Teufel, ist da unten los!«

»Nichts, Herr Hülsenmeister! Ich meine…« Geräusche von Phuong, wie er sich zwischen seinen Blitzköpfen bewegte. »Äh… die Blitzer arbeiten gültige Ziellisten von L1 ab.«

»Also, sie stimmen überhaupt nicht mit meiner Zielliste überein. Kommen Sie aus der Knete, Mann!« Brughel unterbrach die Verbindung und wandte sich wieder seinem Pilotenverwalter zu. Das blasse Gesicht des Hülsenmeisters war rötlich von sich ansammelnder Wut. »Erschießt die blöden Blitzer und beschafft neue!« Er starrte Jau an. »Wo klemmt’s also bei Ihnen?«

»Ich… es ist vielleicht nichts, aber wir werden von unten her angestrahlt.«

»Hä-m.« Brughel schaute mit zusammengekniffenen Augen auf die Aufklärungselektronik. »Ja. Bodenradar. Aber das kommt ein paarmal bei jeder Umkreisung vor… oh.«

Xin nickte. »Dieser Kontakt hat fünfzehn Sekunden gedauert. Es ist, als ob sie uns verfolgen.«

»Das kann nicht sein. Die Datennetze der Spinnen gehören uns.« Brughel biss sich auf die Lippe. »Es sei denn, Phuong hat die Verbindung mit L1 völlig versaut.«

Die Radarmeldung wurde für einen Moment schwächer… und war wieder da, heller, gebündelt. »Das ist ein Zielsucher!«

Brughel zuckte zurück, als habe sich das Bild in eine zustoßende Schlange verwandelt. »Xin. Übernehmen Sie! Haupttriebwerk, wenn nötig! Bringen Sie uns hier raus!«

»Jawohl, Herr Hülsenmeister.« Im hohen Norden der Spinnen gab es nicht viele Raketenstellungen. Doch die waren mit Nuklearsprengköpfen bestückt. Selbst ein einziger Treffer konnte die Hand schwer beschädigen. Jau streckte die Hand aus, um seine Piloten zu aktivieren…

… und das Grollen der Hilfstriebwerke erfüllte die Brücke.

»Das war nicht ich, Herr Hülsenmeister!«

Brughel hatte ihn angeschaut, als das Geräusch gerade begann. Er nickte. »Nehmen Sie Verbindung mit Ihren Piloten auf. Übernehmen Sie ihre Führung!« Er schoss von seinem Platz neben Xin hoch und winkte seine Wachleute zur heckseitigen Luke hin. »Phuong!«

Jau hämmerte fieberhaft auf seine Steuertasten, rief wieder und wieder die Befehlscodes. Er sah fragmentarische Rückmeldungen, aber keine Antwort von seinen Piloten. Der Horizont hatte sich leicht geneigt. Die Hilfstriebwerke der Hand wurden auf voller Leistung gefahren, aber nicht von Jau. Langsam, langsam schien das Schiff in eine Reiseposition mit gesenktem Bug zurückzukehren. Noch immer keine Antwort von seinen Piloten, aber… Jau bemerkte die ansteigende Kurve vom Energiekern.

»Haupttriebwerk in Betrieb, Herr Hülsenmeister! Ich kann es nicht anhalten…«

Brughel und seine Wachleute griffen nach Halt. Der Infraschall vom Haupttriebwerk war unverwechselbar, vibrierte in Knochen und Zähnen. Langsam, langsam stieg die Beschleunigung an. Fünfzig Milli-g. Einhundert. Loser Kram schwebte immer schneller heckwärts, rotierte und prallte an Hindernissen ab. Dreihundert Milli-g. Eine riesige sanfte Faust drückte Jau in seinen Sessel zurück. Einer der Wachleute hatte sich im freien Raum befunden und keinen Halt erreichen können. Er trieb jetzt vorbei, fiel vorbei und auf die heckwärtige Wand. Fünfhundert Milli-g und weiter anwachsend. Jau drehte sich in seinem Gurtwerk herum und schaute nach hinten, nach oben, zu Brughel und den anderen. Sie waren hinten festgenagelt, gefangen von der Beschleunigung, die immer weiter anstieg…

Und dann erstarb das Triebwerksgeräusch, und Jau schwebte hoch gegen seine Gurte. Brughel rief nach seinen Wachleuten, sammelte sie. Irgendwann bei der Aktion hatte er seine Datenbrille verloren. »Status, Herr Xin!«

Jau starrte auf seine Bildschirme. Die Statusleiste war immer noch ein Wirrwarr. Er schaute hinaus, nach vorn entlang der Umlaufbahn der Hand. Sie waren durch einen Sonnenaufgang geflogen. Trübe erleuchtet erstreckte sich der gefrorene Ozean bis zum Horizont. Doch das war nicht das Entscheidende. Der Horizont selbst sah leicht verändert aus. Nicht gerade der klassische Triebwerksschub, um die Umlaufbahn zu verlassen, doch es wird ausreichen. Jau leckte sich die Lippen. »Herr Hülsenmeister, in ein-, zweihundert Sekunden sind wir in der Suppe.«

Einen Augenblick lang zeichnete sich Entsetzen auf Brughels Gesicht ab. »Bringen Sie uns wieder hoch.«

»Jawohl.« Was blieb sonst zu sagen?

Brughel und seine Schlagetote glitten die Brücke entlang zur heckwärtigen Luke.

Phuong: »Herr Hülsenmeister. Ich habe Sprechfunk von L1.«

»Her damit!«

Es war eine Frauenstimme, Trixia Bonsol. »Grüße an die Menschen an Bord der Unsichtbare Hand. Hier spricht Leutnant Viktoria Lichtberg, Geheimdienst des Einklangs. Ich habe die Kontrolle über Ihr Raumfahrzeug übernommen. Sie werden in Kürze landen. Es kann einige Zeit dauern, bis unsere Truppen an Ort und Stelle erscheinen. Leisten Sie diesen Truppen keinen — ich wiederhole — keinen Widerstand.«

Vor blanker Überraschung stand allen auf der Brücke der Mund offen… doch Bonsol sagte weiter nichts. Brughel fing sich als Erster, doch seine Stimme schwankte. »Phuong. Schalten Sie die Verbindung zu L1 ab. Alle Protokollebenen.«

»Herr Hülsenmeister. Ich… ich kann nicht. Wenn sie erst einmal eingeschaltet ist, bleibt die Verkopplung…«

»Und ob Sie können! Wenden Sie Gewalt an! Hauen Sie mit ’nem Knüppel auf die Anlage, aber schalten Sie sie ab!«

»Herr Hülsenmeister. Sogar ohne die hiesigen Blitzköpfe… ich glaube, L1 kann das umgehen.«

»Darum kümmere ich mich. Wir kommen nach unten.«

Der Wachmann an der Luke schaute zu Brughel hoch. »Geht nicht auf, Herr Hülsenmeister.«

»Phuong!«

Keine Antwort.

Brughel sprang zur Wand neben der Luke, hämmerte auf den Direktöffner. Ebenso gut hätte er auf einen Felsen eindreschen können. Der Hülsenmeister drehte sich um, und Jau sah, dass alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen war. Er war leichenblass, und sein Blick war wild. Er hatte jetzt eine Drahtpistole in der Hand und schaute sich auf der Brücke um, als suche er ein Ziel. Sein Blick blieb an Jau hängen. Die Pistole zuckte hoch.

»Herr Hülsenmeister, ich glaube, ich bin zu einem von meinen Piloten durchgedrungen.« Es war pure Lüge, doch ohne seine Datenbrille konnte Brughel das nicht wissen.

»Ach?« Die Pistolenmündung wich ein kleines Stück zur Seite. »Gut. Bleiben Sie dran, Xin. Es geht auch um Ihren Hals.«

Jau nickte und wandte sich zurück, um eifrig an der toten Steuerung zu hantieren.

Hinter ihm verlief die Suche nach der Handbedienung der Luke fieberhaft und obszön und stümperhaft… und wurde schließlich vom Knattern von Pistolenfeuer beendet. Wirbelnde Drähte prallten auf die Brücke zurück. »Scheißdreck! Das bringt’s nicht«, sagte Brughel. Man hörte, wie eine Schranktür geöffnet wurde, doch Jau hielt den Kopf unten und tat sein Möglichstes, verzweifelt hart beschäftigt zu wirken. »Hier. Versucht’s damit!« Es folgte eine Pause, dann eine Reihe von ohrenbetäubenden Detonationen. Herrgott! Brughel hatte diese Art Munition auf der Brücke eines Sternenschiffes aufbewahrt?

Triumphierende Rufe drangen schwach durch das Klingen in seinen Ohren. Dann rief Brughel: »Los! Los! Los!«

Jau wandte leicht den Kopf, sah seitlich die Brücke hinter sich. Die Luke war noch immer geschlossen, doch jetzt war ein gezacktes Loch hineingeschlagen. Verbogenes Metall und weniger leicht zu identifizierender Abfall schwebten von dort weg.

Und jetzt war Jau Xin ganz allein auf der Brücke der Hand. Er holte tief Luft und versuchte, in seinen Anzeigen Sinn zu finden. In einem Punkt hatte Ritser Brughel Recht. Hier ging es um Jaus Hals.

Die Leistungskurve des Energiekerns lag noch hoch. Er schaute hinaus über den gekrümmten Horizont. Keine Frage mehr. Die Hand war tiefer, in Übereinstimmung mit der Höhe von achtzigtausend Metern auf der Statusleiste. Er hörte das Grollen der Hilfstriebwerke. Bin ich durchgekommen? Wenn er das Schiff richtig orientieren und irgendwie das Haupttriebwerk zünden könnte… Aber nein, sie schwenkten nicht in die richtige Richtung! Das große Schiff richtete sich in seiner Flugrichtung aus, Heck voran. Links und rechts in der Heckansicht waren Teile der äußeren Schiffshülle zu sehen, schräge spinnwebartige Aufbauten, die für die Ströme interstellaren Plasmas vorgesehen waren, doch nie für die Atmosphäre eines Planeten. Jetzt glühten ihre Ränder. Weiche Gelb- und Rottöne sprühten von ihnen weg wie glühende Ozeangischt. Die schärfsten Kanten glühten weiß und wurden abgestreift. Doch die Hilfstriebwerke arbeiteten noch, ein Muster winziger Schübe. Ein aus. Ein aus. Wer immer seine Piloten leitete, unternahm einen perversen Versuch, die Hand ausgerichtet zu halten. Ohne solche präzise Steuerung hätte der Luftstrom entlang des unregelmäßigen Schiffsrumpfes sie torkeln lassen, eine Million Tonnen Material, das von Kräften zerrissen wurde, für die es nicht geschaffen war.

Das Glühen am Heck war eine sich ausbreitende Lichtfläche, nur an ein paar Stellen klar, wo der Schock nicht heiß genug war, um die Hülle verdampfen zu lassen. Jau wurde zurück in seinen Sessel gedrückt, während die Verzögerung sacht, unerbittlich zunahm. Vierhundert Milli-g, achthundert. Doch diese Verzögerung wurde nicht vom Triebwerk des Schiffes verursacht. Es war eine Planetenatmosphäre, der man sie überlassen hatte.

Und da war ein weiteres Geräusch. Nicht das Dröhnen der Hilfstriebwerke. Es war ein satter, anschwellender Ton. Von der Düse bis zur äußeren Hülle war die Hand eine riesige Orgelpfeife geworden. Der Klang fiel Akkord um Akkord, indes das Schiff tiefer voranstieß, langsamer. Und während das Ionisations-Glühen erzitterte und schwand, schwoll das Sterbelied der Hand zu einem Crescendo an — und war verklungen.

Jau starrte auf die Heckansicht, auf eine Szene, die eigentlich nicht möglich war. Die schrägen Aufbauten waren von ihrem Durchgang durch die Hitze geglättet und geschmolzen worden. Aber die Hand war eine Million Tonnen schwer, und die Piloten hatten sie in der Strömung präzise ausgerichtet gehalten, und das meiste von ihrer enormen Masse war erhalten geblieben.

Nahezu ein Standard-g presste ihn gegen seinen Sessel, nun aber fast im rechten Winkel zur früheren Verzögerung. Es war planetare Schwerkraft. Die Hand war jetzt eine Art Flugzeug, eine Katastrophe, die über den Himmel schlitterte. Sie waren vierzigtausend Meter hoch und sanken stetig hundert Meter pro Sekunde. Jau schaute auf den fahlen Horizont, die Gebirgszüge und Eisblöcke, die unter seinem Blickfeld entlangglitten. Manche davon waren fünfhundert Meter hoch, Eis, das beim Gefrieren der Ozeantiefen nach oben gedrückt worden war. Er tippte auf seinem Pult, bekam ein kurzen Flackern von Aufmerksamkeit eines der Piloten, einen Fetzen zusätzliche Information. Sie würden diesen Gebirgszug und die drei darauf folgenden überfliegen. Dahinten, nahe am Horizont, waren die Schatten weicher… ein Trugbild von Entfernung oder vielleicht Schnee, hoch aufgetürmt auf dem zerklüfteten Eis.

Durch die Korridore der Hand hallend, drang das rasche Trommeln von Brughels schwerem Gewehr an Jaus Ohren. Es gab Rufe, Schweigen, dann wieder das Trommeln, weiter entfernt. Jede Luke muss verschlossen sein. Und Ritser Brughel schoss sich den Weg durch jede einzelne frei. In gewissem Sinne hatte der Hülsenmeister Recht; er hatte die physikalische Ebene unter Kontrolle. Er konnte die Rumpfoptik erreichen, die Verbindung nach L1 kappen. Er konnte alle Blitzköpfe vor Ort ›abschalten‹, die ihn noch störten…

Dreißigtausend Meter. Trübes Sonnenlicht spiegelte sich auf dem Eis, doch es gab kein Anzeichen von künstlicher Beleuchtung oder Städten. Sie gingen in der Mitte des größten Ozeans der Spinnen nieder. Die Hand flog immer noch mit mehr als Mach 3. Die Sinkgeschwindigkeit betrug immer noch hundert Meter pro Sekunde. Seine Intuition plus ein paar Hinweise von der Statusleiste sagte ihm, dass sie sich mit mehr als Schallgeschwindigkeit über die Landschaft verteilen würden. Es sei denn — und die Kernleistung stieg immer noch an —, wenn das Haupttriebwerk noch einmal gezündet werden konnte, und zwar im exakt richtigen Augenblick… dann könnte ein an ein Wunder grenzendes Aufsetzen genügen. Die Hand war so groß, dass Rumpf und Düse als Puffer benutzt werden konnten, über einen kilometerlangen Bremsweg zermahlen werden konnten, sodass die Brücke und die bewohnten Teile des Schiffes intakt blieben. In Pham Trinlis alberner Aufschneiderei war so ein Abenteuer vorgekommen.

Eins war gewiss. Selbst wenn Jau in diesem Augenblick die volle Kontrolle erhielte und alle Fähigkeiten seiner Piloten, gab es keine Möglichkeit, solch eine Landung zu vollbringen.

Sie hatten die letzte Gebirgskette hinter sich gelassen. Die Hilfstriebwerke brannten kurz, eine Kurskorrektur von einem Grad, lenkten das Schiff, als würden sie die genauen Bedingungen weiter vorn kennen.

Die Zeit, die Ritser Brughel zum Töten blieb, war auf ein paar Sekunden zusammengeschrumpft. Rita würde in Sicherheit sein. Jau sah zu, wie sich das gekippte Land ihm entgegenhob. Und mit ihm kam ein ganz seltsames Gefühl von Entsetzen und Triumph und Freiheit. »Zu spät für dich, Ritser. Ganz einfach zu spät.«

Sechzig

Belga Unterberg hatte selten derart starke Freude und Angst gesehen, und niemals bei denselben Leuten in Bezug auf dieselben Ereignisse. Kalthafens Techniker hätten jubeln können, als ihre Langstrecken-Antiraketen gegen die ballistischen Geschosse der Sinnesgleichen punkteten und Hunderte von feindlichen Raketen explodierten oder auf andere Weise eliminiert wurden. Die Erfolgsrate ging bereits gegen neunundneunzig Prozent. Da blieben dreißig Kernsprengköpfe übrig, die das Territorium von Einklang anflogen. Das war der Unterschied zwischen Vernichtung und lediglich isolierten Katastrophen… und die Techniker kauten an ihren Esshänden, während sie sich abmühten, diese letzten Drohungen auszuschalten.

Kalthafen ging seine Reihe von Technikern entlang. Eine von Lichtbergs Leuten, ein Unzeitling im Korporalsrang, ging an seiner Seite. Der General hing an jedem Wort von Rhapsa Lichtberg und sorgte dafür, dass seine Techniker Nutzen aus all den neuen Aufklärungsdaten zogen, die über ihre Bildschirme strömten. Belga hielt sich zurück. Sie konnte nichts tun, als im Weg zu stehen. Viktoria Lichtberg war in ein sonderbares Gespräch mit den Fremden vertieft, das alle paar Sätze von langen Verzögerungen durchbrochen wurde — Zeit für Austausch mit ihrem Bruder und Kalthafens Leuten. Sie verstummte, und während sie wartete, lächelte sie Belga schüchtern zu.

Belga antwortete mit einem kleinen Winken. Das Kuppli war doch nicht ganz so wie die Mutter — ausgenommen wohl dann, wenn es darauf ankam.

Dann meldete sich wieder Lichtbergs Telefon — ein relativ nahe befindlicher Mitarbeiter? »Ja, gut. Wir schicken Leute dort hinaus. Fünf Stunden vielleicht… Papa, wir sind wieder im Plan. Wesen Nummer Fünf spielt fair. In der Hinsicht hattest du Recht.

Papa?… Brent, er ist wieder weg! Das hätte jetzt nicht passieren dürfen… Papa?«


Rachners Hubschrauber hatte seinen ausweichenden Zickzackkurs beendet, doch nicht, ehe Thrakt sich gründlich verirrt hatte. Jetzt flog die Maschine tief und schnell über die Hochebene, als fürchte sie keine feindliche Beobachtung von oben. Passagier auf seinem eigenen Pilotensitz, beobachtete Thrakt das Himmelsschauspiel mit fast hypnotisiertem Staunen; nur teilweise war er sich des faselnden Gemurmels von Scherkaner Unterberg bewusst und der seltsamen Lichter, die aus seinem Helm drangen.

Die Teppiche der Antiraketenstarts waren längst verschwunden, aber überall am Horizont erhellten die Beweise ihrer Mission den Himmel. Wenigstens haben wir uns gewehrt.

Der Ton des Rotorenlärms änderte sich und holte Thrakt von dem schrecklichen, ins Ferne schweifenden Anblick zurück. Die Maschine glitt durch die Dunkelheit abwärts. Thrakt schirmte die Augen gegen das Licht am Himmel ab und sah, dass sie zu einer Landung auf einem zufälligen Streifen nackten Gesteins ansetzten, umgeben von lauter Bergen und Eis.

Sie setzten hart auf, und die Turbinen fuhren herunter, bis die Rotorblätter so langsam liefen, dass man sie sehen konnte. Es war fast still in der Kabine. Der Geleitkäfer wurde lebhaft, drückte beharrlich gegen die Tür neben Unterberg.

»Lassen Sie ihn nicht hinaus, Herr Professor. Wenn wir ihn hier verlieren, finden wir ihn vielleicht nie wieder.«

Unterbergs Kopf schwankte unsicher. Er setzte den Spielhelm ab; die Lichter flackerten und erloschen. Er tätschelte den Geleitkäfer und zog die Verschlüsse seiner Jacke zu. »Ist in Ordnung, Oberst. Es ist jetzt alles vorüber. Sehen Sie, wir haben gewonnen.«

Was der Kupp sagte, klang so sehr nach Wahnvorstellungen wie nur je. Doch Thrakt wurde allmählich klar: Wahr oder nicht, Unterberg hatte die Welt gerettet. »Was ist geschehen, Herr Professor?«, sagte er leise. »Fremde Ungeheuer aus dem Weltraum haben unsere Netze beherrscht — und Sie die Ungeheuer?«

Das alte, vertraute Kichern. »So etwas in der Art. Das Problem war, sie sind nicht alle Ungeheuer. Manche von ihnen sind sowohl klug als auch gut… und wir haben uns beinahe gegenseitig mit unseren verschiedenen Plänen ausgeschaltet. Das zu reparieren, hat schrecklich viel gekostet.« Er schwieg für eine Sekunde, sein Kopf schwankte hin und her. »Es kommt in Ordnung, aber… momentan sehe ich nicht besonders gut.« Der Kupp hatte eine volle Ladung vom Mörderstrahl der Fremden abbekommen. Die Blasen auf Unterbergs Augen breiteten sich aus, ein um sich greifender, schaumiger Schleier. »Vielleicht können Sie einen Augenblick erübrigen und mir sagen, was Sie sehen.« Der Kupp stieß eine Hand gen Himmel.

Rachner schob seine beste Seite nahe an die Fenster nach Süden. Die Bergflanke verdeckte einen Teil der Sicht, aber es waren doch hundert Grad Horizont zu sehen. »Hunderte von Kernexplosionen, Herr Professor, strahlende Lichter am Himmel. Ich denke, das sind unsere Antiraketen, ziemlich weit entfernt.«

»Ha. Die arme Nishnimor und Hrunk — als wir durchs Dunkel gingen, sahen wir etwas Ähnliches. Obwohl es damals viel kälter war.« Der Geleitkäfer hatte die Tür aufbekommen. Er schob sie einen Spalt weit auf, und ein Schwall kältester Luft drang in die Kabine.

»Herr Professor…« Rachner wollte sich wegen der kalten Luft beschweren.

»Schon in Ordnung. Sie bleiben nicht lange hier. Was sehen Sie noch?«

»Lichter, die sich von den Treffern her ausbreiten. Ich denke, das ist Ionisierung in den Magnetflecken. Und…« Rachner blieben die Worte im Halse stecken. Da war noch etwas anderes, und er erkannte es. »Ich sehe Spuren vom Wiedereintritt. Dutzende. Sie ziehen über uns hinweg nach Osten.« Rachner hatte derlei bei Tests der Luftverteidigung gesehen. Wenn die Sprengköpfe schließlich durch die Atmosphäre herabkamen, hinterließen sie Spuren, die in einem Dutzend Farben glühten. Selbst bei den Tests waren sie schrecklich gewesen, die zustoßende Hand eines Geistertarants, der vom Himmel her angriff. Ein Dutzend Spuren, und es wurden mehr. Tausende von Projektilen waren ausgeschaltet worden, doch der Rest konnte Städte zerstören.

»Keine Sorge.« Unterbergs Stimme kam leise von Thrakts blinder Seite. »Um die haben sich meine fremden Freunde gekümmert. Diese Sprengköpfe sind jetzt tote Hülsen, ein paar Tonnen radioaktiver Müll. Keine besondere Freude, wenn einem so was direkt auf den Kopf fällt, aber sonst keine Bedrohung.«

Rachner wandte sich um, verfolgte besorgt die Spuren am Himmel. Um die haben sich meine fremden Freunde gekümmert. »Wie sind diese Ungeheuer wirklich? Können wir ihnen trauen?«

»He. Ihnen trauen? Und das fragt ein Geheimdienst-Offizier! Meine Generalin hat ihnen nie getraut, keinem von ihnen. Ich studiere die Menschen seit fast zwanzig Jahren, Rachner. Sie reisen seit Hunderten von Generationen durch den Raum. Sie haben so viel gesehen, so viel getan… Die armen Scheißer glauben, sie wüssten, was unmöglich ist. Sie können zwischen den Sternen fliegen, und ihre Vorstellungskraft sitzt in einem Käfig gefangen, den sie nicht einmal sehen können.«

Die glühenden Striche hatten den Himmel überquert. Die meisten waren in Fernrot oder bis zur Unsichtbarkeit verblasst. Zwei liefen an einem Punkt am Horizont zusammen, wahrscheinlich der Raketenabschussplatz von Hochäquatorien. Thrakt hielt den Atem an und wartete.

Hinter ihm sagte Unterberg etwas wie »Ach, Viktoria«, dann war er sehr still.

Thrakt strengte sich an, um den Norden zu beobachten. Wenn die Sprengköpfe noch aktiv waren, würden die Detonationen selbst jenseits des Horizonts zu sehen sein. Zehn Sekunden. Dreißig. Da waren Stille und Kälte. Und im Norden war nur das Licht der Sterne. »Sie haben Recht, Herr Professor. Was übrig ist, ist nur herabfallender Müll. Ich…« Rachner wandte sich um; auf einmal war ihm bewusst, wie kalt die Kabine plötzlich geworden war.

Unterberg war fort.

Thrakt sprang quer durch die Kabine zu der halboffenen Tür. »Herr Professor! Scherkaner!« Er machte sich daran, die Außenleiter hinabzusteigen, drehte den Kopf hin und her und versuchte, einen Blick auf Unterberg zu erhaschen. Die Luft war ruhig, aber schneidend kalt. Ohne beheizten Atmer hätte er sich binnen Minuten die Lungen verbrannt.

Da! Ein Dutzend Meter von der Maschine entfernt, im Schatten der Sterne und des Glühens am Himmel, zwei fernrote Flecken. Unterberg humpelte langsam hinter Mobiy her. Der Geleitkäfer zog ihn sanft weiter, tastete bei jedem Schritt den Berghang mit seinen langen Armen ab. Es war das instinktive Verhalten eines Tiers in hoffnungsloser Kälte, das bis zuletzt versuchte, eine wirksame Tiefe zu finden. Hier in einem x-beliebigen Nirgendwo hatte das Tier keine Chance. In weniger als einer Stunde würde es mitsamt seinem Herrn tot sein, ihre Körpergewebe von der Kälte ausgetrocknet.

Thrakt kletterte die Leiter hinab und rief Unterberg. Und über ihm begannen die Rotorblätter, sich schneller zu drehen. Thrakt krümmte sich unter dem eiskalten Schwall zusammen. Als die Turbinen hochfuhren und der Rotor echten Auftrieb zu erzeugen begann, machte Rachner kehrt und zog sich zurück in die Kabine. Er hieb auf den Autopiloten ein, auf jede Unterbrechung.

Es spielte keine Rolle. Die Turbinen hatten Startleistung erreicht, und der Hubschrauber hob ab. Thrakt erhaschte einen letzten flüchtigen Blick auf die Schatten, die Scherkaner Unterberg verbargen. Dann neigte sich die Maschine nach Osten, und die Szene hinter ihm verschwand.

Einundsechzig

Gasausbrüche in kleinen Räumen waren normalerweise tödlich. Und zwar rasch. Es war einer seiner Wachleute, der unwillkürlich Tomas Nau rettete. Gerade, als die Taxihülle durchschmolz, hatte Tung seine Gurte gelöst und war auf die Luke zugesprungen. Die ausströmende Luft zerrte an ihnen allen, doch Tung hatte keinen Halt und befand sich am nächsten bei dem Loch. Er stieß Kopf voran in die geschmolzene Stelle, wurde bis zu den Hüften durchgesogen.

Irgendwie hatte Qiwi ihren Platz bei der verkeilten Taxiluke behauptet. Jetzt hatte sie auch die Luke von L1-A offen. Sie wandte sich um, packte ihren Vater und stieß ihn durch die Luke hinter sich. Es war eine einzige gleitende Bewegung, fast ein Tanz. Nau hatte noch kaum begonnen zu reagieren, als sie sich ein zweites Mal umwandte, einen Fuß in eine Wandschlaufe hakte und die Hand ausstreckte, um mit den Fingerspitzen seinen Ärmel zu ergreifen. Sie zog sacht, und als er näher kam, packte sie ihn mit aller Kraft und schob ihn durch die Luke in Sicherheit.

Sicher. Und noch vor fünf Sekunden war ich so gut wie tot. Das Pfeifen der ausströmenden Luft war laut. Der beschädigte Andockring konnte jede Sekunde nachgeben.

Qiwi ließ sich von der Luke zurückfallen. »Ich hole Marli und Ciret.«

»Ja!« Nau kam an die Öffnung zurück und verwünschte sich, dass er in dem Chaos seine Drahtpistole verloren hatte. Er schaute ins Taxi. Einer der Wachleute war offensichtlich tot: Tungs Beine zuckten nicht einmal. Marli war wahrscheinlich auch tot, jedenfalls erledigt, obwohl sich Qiwi abmühte, sowohl ihn als auch Ciret freizukriegen. In einer Sekunde würde sie sie aus dem Taxi haben, so rasch und effizient, wie sie ihn und Ali Lin gerettet hatte. Qiwi war einfach zu gefährlich, und das war seine letzte Gelegenheit, sie von der Bildfläche zu nehmen.

Nau drückte gegen die Luke von L1-A. Sie drehte sich glatt, von Luftströmungen gedrückt, und fiel mit ohrenbetäubendem Krachen zu. Seine Finger tanzten über die Zugangssteuerung, tippten den Code für eine Not-Absprengung ein. Von der anderen Seite der Wand ertönte das explosive Rumm von ausströmendem Gas, das Knallen von Metall gegen Metall. Nau sah im Geiste ein luftloses Taxi, das von der Schleuse wegtrieb. Soll Pham Nuwen seine Zielübungen an den Toten machen.

Der Druck in der Schleuse stieg rasch auf den Normalwert. Nau drückte die Innenluke auf und zog Ali Lin hindurch in den Korridor dahinter. Der alte Mann murmelte, halb bei Bewusstsein. Wenigstens hatten seine Blutungen aufgehört. Stirb mir nicht weg, verdammt. Momentan war Ali wertloses Fleisch, doch auf lange Sicht war er ein Schatz. Auch wenn er ihn nicht verlor, konnte es teuer genug werden.

Er schob Ali sanft den langen Korridor entlang. Die Wände ringsum waren grüner Kunststoff. Dies war der Sicherheitsbunker an Bord der Gemeinwohl gewesen. Dort hatte seine unregelmäßige Form Sinn gehabt; jetzt machten seine monolithische Konstruktion und seine Panzerung seinen Wert aus, etliche Meter Kompositwerkstoffe mit dem Schmelzpunkt von Wolfram. Alle Feuerkraft, über die Pham Nuwen verfügte, brachte ihn nicht hier herein.

Bis vor ein paar Tagen hatte der Bunker die meisten verbliebenen schweren Waffen im EinAus-System enthalten. Jetzt war er fast leer, ausgeschlachtet, um die Mission der Unsichtbare Hand zu unterstützen. Egal. Nau hatte sorgsam darauf geachtet, dass genug Nuklearsprengköpfe zurückblieben. Wenn nötig, konnte er das alte, alte Spiel der totalen Katastrophenverwaltung spielen.

Was also war zu retten? Er besaß nur eine ganz nebelhafte Vorstellung, wie viel Pham Nuwen in seiner Gewalt hatte. Für einen Moment bebte Nau. Sein Leben lang hatte er solche Männer studiert, und jetzt stand er gegen einen von ihnen. Doch indem ich gewinne, werde ich umso größer sein. Ein Dutzend Dinge musste getan werden, und er hatte dafür nur Sekunden. Nau ließ Ali los, sodass er in der Mikroschwerkraft des Felshaufens langsam fiel. Ein Sprechgerät und eine lokale Datenbrille waren mit Greiffilz neben der Tür befestigt. Er griff sie sich und sprach kurze Befehle. Die Automatik hier war primitiv, doch sie würde genügen. Jetzt konnte er aus dem Bunker hinaussehen. Das Temp der Krämer stand überm Horizont, und es gab keinen Taxiverkehr, keine Gestalten in Raumanzügen, die sich um die Oberfläche des Felshaufens herum näherten.

Er tauchte durch den freien Raum, lud ein kleines Torpedo aus. Das Signal in der Ecke seines Gesichtsfeldes sagte ihm, dass sein Anruf in Hammerfest durchgekommen war. Das Ringmuster verschwand, und Phams Stimme ertönte in seinem Ohr.

»Nau?«

»Auf Anhieb richtig, mein Herr.« Nau dirigierte den Nuklearsprengkopf herüber zu dem Startrohr, das Kal Omo erst vor fünfunddreißig Tagen installiert hatte. Damals war das als wahnsinnige Vorsichtsmaßnahme erschienen. Jetzt war es seine letzte Chance.

»Es ist Zeit, dass Sie sich ergeben, Hülsenmeister. Meine Kräfte haben den ganzen Raum von L1 unter Kontrolle. Wir…«

In Phams Stimme lag ruhige Gewissheit, nichts von der Angeberei des alten Pham Trinli. Nau konnte sich vorstellen, dass diese Stimme gewöhnliche Leute in ihren Bann schlug, sie führte. Doch Tomas Nau war selbst ein Profi. Es machte ihm keine Mühe, dem anderen ins Wort zu fallen: »Im Gegenteil, mein Herr. Ich verfüge über die einzige Macht, die zählt.« Er berührte die Tasten beim Startrohr. Es gab einen dumpfen Knall, als Druckluft aus dem oberen Ende strömte und den Schnee wegblies. »Ich habe eine taktische Kernwaffe programmiert und geladen. Das Ziel ist das Krämertemp. Es ist eine improvisierte Waffe, doch ich bin mir sicher, dass sie genügen wird.«

»Das können Sie nicht machen, Hülsenmeister. Dreihundert von ihren eigenen Leuten sind dort drüben.«

Nau lachte sanft. »Ich, ich kann durchaus. Ich verliere eine Menge, aber ich habe immer noch ein paar Leute im Kälteschlaf. Ich… Sind Sie wirklich Pham Nuwen?« Die Frage rutschte heraus, wie unwillkürlich.

Es gab eine Pause, und als Nuwen sprach, klang er besorgt. »Ja.« Und du machst alles selber, nicht wahr? Das ergab Sinn. Eine gewöhnliche Verschwörung wäre schon vor Jahren entdeckt worden. Es waren nur Pham Nuwen und Ezr Vinh, von Anfang an. Wie ein einzelner Mann, der seinen Wagen quer über einen Kontinent zieht, hatte Nuwen beharrlich sein Ziel verfolgt, hatte beinahe gesiegt. »Es ist eine Ehre, Ihnen zu begegnen, mein Herr. Ich habe Sie viele Jahre lang studiert.« Während er sprach, rief Nau ein Bild mit der Diagnostik des Torpedos auf. Er schaute genau die Startschiene entlang; das Rohr war frei. »Ihr einziger Fehler ist vielleicht, dass Sie das Hülsenmeister-Ethos nicht vollends verstanden haben. Sehen Sie, wir Hülsenmeister sind aus der Katastrophe heraufgestiegen. Das ist unsere innere Stärke, unser Vorteil. Wenn ich das Temp zerstöre, wird die L1-Operation ungeheuer weit zurückgeworfen. Aber meine persönliche Lage verbessert sich. Ich werde immer noch den Felshaufen haben. Ich werde immer noch viele von den Blitzköpfen haben. Ich werde immer noch die Unsichtbare Hand haben.« Er wandte sich vom Startrohr ab. Er ließ den Blick über die Ausrüstungsbuchten schweifen, zu den verbliebenen Torpedos; vielleicht musste er auch das Dachgeschoss von Hammerfest wegputzen. Das hatte nicht zu den Katastrophenplänen gehört, nicht einmal zu den extremsten. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, es so zu machen, dass manche von den Blitzköpfen am Leben blieben. Ein anderer Teil seines Geistes wartete neugierig darauf, was Pham Nuwen sagen würde. Würde er wie ein gewöhnlicher Mensch kapitulieren, oder würde er das Herz eines echten Hülsenmeisters haben? Diese Frage war das Wesen von Pham Nuwens moralischer Schwäche.

Unvermittelt ertönte ein Klappern, das im Bunker widerhallte. Ali Lin war aus seinem Blickfeld gefallen, ins untere Ende. Doch das Geräusch ertönte wieder und wieder, eine Million Metallplatten, die zusammenprallten. Vielleicht der innere Eingang? Das war der tiefste Punkt des Bunkers. Nau bewegte sich lautlos zum Rande des Schachts.

Gegen das Getöse war Pham Nuwens Stimme schwach. »Sie irren sich, Hülsenmeister. Sie haben weder…« Nau schaltete mit einer raschen Handbewegung den Ton aus und bewegte sich langsam vorwärts. Er ging von Hand die feststehenden Kameras im Bunker durch. Nichts. Die primitive Automatik war eine Rettung und eine Seuche. Also gut. Waffen. War hier etwas Kleineres als ein Nuklearsprengkopf in der Nähe? Die Datenbank war für solche Banalitäten nicht eingerichtet. Er ließ die Inventarlisten durch seine Datenbrille laufen und bewegte sich dabei nahe an der Wand, noch immer von unten nicht zu sehen. Das Klappern und Scheppern dauerte an. Ah, das kam von den Servos im Seegrund, deren Lärm durch den Tunnel geleitet wurde! So gut wie eine Fanfare für jemanden, der heimlich einbrechen wollte.

Der Angreifer, wenn er das denn war, schwebte nach oben und kam in Sicht.

»Ach, Herr Vinh. Ich dachte, Sie wären ordentlich ersoffen.«

In der Tat wirkte Vinh halb bewusstlos, sein teigiges Gesicht war fahl. Es gab kein Anzeichen von Pistolendraht-Wunden. Nein, er hat eine von meinen Jacken gestohlen. Das Druckgewebe saß eng und mit perfekten Falten, doch der rechte Arm war leicht verdreht, kraftlos. Vinh hielt Ali sacht an seiner linken Schulter. Er schaute Nau an, und Hass schien seine Lebensgeister zu wecken.

Doch am unteren Ende des Bunkers kamen keine weiteren Eindringlinge nach. Und Naus Suche im Inventar war abgeschlossen: In dem Schrank unmittelbar hinter ihm befanden sich drei Drahtpistolen! Nau atmete erleichtert auf und lächelte den Krämer an. »Sie haben sich gut gehalten, Herr Vinh.« Ein paar Sekunden Unterschied, und Vinh wäre als Erster hier gewesen und hätte einen echten Hinterhalt gelegt. Statt dessen… der Bursche schien unbewaffnet zu sein, einarmig, schwach wie ein Kätzchen. Und Tomas Nau stand zwischen ihm und den Drahtpistolen. »Ich habe keine Zeit zum Reden, fürchte ich. Entfernen Sie sich bitte von Ali.« Er sprach sanft, wandte den Blick aber nicht von den beiden. Seine linke Hand bewegte sich, um den Waffenschrank zu öffnen. Vielleicht würde die ruhige Masche bei Vinh verfangen, und er könnte ihn sauber umlegen.

»Tomas!«

Qiwi stand über ihnen am Eingang zum freien Raum des Bunkers.

Einen Augenblick lang starrte Nau sie nur an. Sie hatte Nasenbluten. Ihr Spitzenkleid war zerrissen und befleckt. Doch sie lebte. Die Absprengvorrichtung musste sich zusammen mit der Taxiluke verkeilt haben. Solange das Taxi noch angedockt war, griff die Sicherheitsblockierung der Schleuse nicht — und irgendwie hatte sie sich wieder den Weg herein gebahnt.

»Wir waren eingesperrt, Tomas. Irgendwie war die Schleuse defekt.«

»O ja!« Die Qual in Naus Stimme war völlig aufrichtig. »Sie ist zugefallen, und ich hörte einen Luftstrom. Ich… ich war mir so sicher, dass du tot warst.«

Qiwi kam von der Decke herab und dirigierte den Körper von Rei Ciret an eine Greiffilz-Halterung. Der Wachmann war vielleicht am Leben, jetzt aber offensichtlich nicht von Nutzen. »Ich… es tut mir Leid, Tomas. Ich konnte Marli nicht retten.« Sie kam durch den Raum, um ihn zu umarmen, doch es lag etwas Zögerliches in der Geste. »Mit wem redest du?« Dann sah sie Vinh und Ali. »Ezr?«

Wenigstens etwas Glück: Vinh war perfekt, seine Druckjacke wie eine Schlachterschürze mit Alis Blut befleckt. Hinter ihm erklang das Klappern des ruinierten Parks. Die Stimme des Krämers war atemlos und rau. »Wir haben L1 genommen, Qiwi. Außer ein paar Mordgesellen von Nau haben wir niemanden verletzt« — und das, während ihr eigener Vater blutend in seinen Armen lag! »Nau benutzt dich, wie er es immer tut. Nur wird er uns diesmal alle umbringen. Sieh dich um! Er hat vor, eine Atombombe auf das Temp abzufeuern.«

»Ich…« Doch Qiwi schaute sich wirklich um, und es gefiel Nau nicht, was er in ihren Augen sah.

»Qiwi«, sagte Nau. »Schau mich an! Wir haben es mit derselben Gruppe zu tun, die hinter Jimmy Diem stand.«

»Du hast Jimmy ermordet!«, rief Vinh.

Qiwi wischte sich die blutige Nase am weißen Stoff ihres Ärmels ab. Einen Augenblick lang wirkte sie sehr jung und verloren, so wie damals, als er sie zum ersten Mal gefickt hatte. Sie hakte den Fuß in eine Wandhalterung und wandte sich ihm zu, überlegte. Irgendwie musste er Zeit schinden, nur ein paar Sekunden:

»Qiwi, bedenke, wer das sagt.« Nau zeigte auf Vinh und Ali Lin. Es war ein schreckliches Risiko, das er einging, eine verzweifelte Manipulation. Doch es funktionierte! Sie wandte sich wirklich ein Stück um, ihr Blick glitt von ihm ab. Er steckte die Hand in den Schrank, tastete nach dem Griff einer Drahtpistole.


»Qiwi, bedenke, wer das sagt.« Nau zeigte auf Ezr und Ali Lin. Die arme Qiwi wandte sich wirklich um und blickte herüber. Hinter ihr sah Ezr ein spöttisches Lächeln über Tomas Naus Gesicht huschen.

»Du kennst Ezr. Er hat versucht, in Nordpfote deinen Vater umzubringen; er dachte, er könnte mich mit Ali erpressen. Du weißt, was für ein Sadist Ezr Vinh ist. Du erinnerst dich, wie er dich verprügelt hat; du erinnerst dich, wie ich dich danach umarmt habe.«

Die Worte waren an Qiwi gerichtet, doch sie trafen Ezr wie vernichtende Schläge, grässliche Wahrheiten vermischt mit tödlichen Lügen.

Einen Augenblick lang rührte sich Qiwi nicht. Doch jetzt waren ihre Hände verkrampft, ihre Schultern schienen wie unter einer schrecklichen Spannung gebeugt. Und Ezr dachte: Nau wird siegen, und ich bin der Grund. Er stieß das Grau zurück, das von allen Seiten auf ihn einzuströmen schien, und machte einen letzten Versuch: »Nicht um meinetwillen, Qiwi. Für all die anderen. Für deine Mutter. Bitte. Nau hat dich vierzig Jahre lang belogen. Immer, wenn du die Wahrheit erfährst, verpasst er dir eine Gehirnwäsche. Wieder und wieder. Und du kannst dich nie erinnern.«

Erkenntnis und krasses Entsetzen breiteten sich auf Qiwis Gesicht aus. »Diesmal werde ich mich erinnern.« Sie wandte sich um, als Nau etwas aus dem Schrank hinter sich zog. Ihr Ellbogen rammte in seine Brust. Es gab ein Geräusch wie brechende Äste; Nau wurde gegen den Schrank geschleudert und von dort hinaus in den freien Raum des Bunkers. Eine Drahtpistole schwebte hinter ihm her. Nau langte nach der Waffe, doch sie war Zentimeter von seiner Hand entfernt, und er konnte sich auf nichts stützen als dünne Luft.

Qiwi löste sich von der Wand, streckte sich und packte die Drahtpistole. Sie richtete die Mündung auf den Kopf des Hülsenmeisters.

Nau torkelte langsam; er warf sich herum, um Qiwi anzuschauen. Er öffnete den Mund, den Mund, der eine überzeugende Lüge für jede Gelegenheit hatte. »Qiwi, du kannst nicht…«, begann er, und dann musste er den Ausdruck in Qiwis Gesicht gesehen haben. Naus Hochmut, die glatte kühle Arroganz, die Ezr ein halbes Leben lang beobachtet hatte, war plötzlich wie weggeblasen. Naus Stimme wurde zu einem Flüstern. »Nein… nein!«

Qiwis Kopf und Schultern bebten, doch ihre Worte waren hart wie Stein. »Ich erinnere mich.« Sie zog die Waffe von Naus Gesicht abwärts, zielte unter seine Gürtellinie… und feuerte lange. Naus Schrei wurde zu einem Winseln, das endete, als ihn das Drahtfeuer um 180 Grad herumgewirbelt hatte und seinen Kopf traf.

Zweiundsechzig

Es war sehr dunkel, und dann war da Licht. Sie schwebte aufwärts, ihm entgegen. Wer bin ich? Die Antwort kam rasch, mit einer Woge von Entsetzen. Anne Reynolt.

Erinnerungen. Der Rückzug in die Berge. Die letzten Tage des Versteckspiels, die Eindringlinge von Balacrea, die jeden ihrer Schlupfwinkel fanden. Der Verräter, zu spät entlarvt. Ihre letzten Leute, aus der Luft überfallen. Sie steht an einem Berghang, umringt von balacreanischen Waffen. Selbst in der kalten Morgenluft lag ein starker Gestank von verbranntem Fleisch, doch der Feind hatte zu schießen aufgehört. Sie hatten sie lebendig gefangen genommen.

»Anne?« Die Stimme war sanft, tröstlich. Die Stimme eines Folterers, der die Stimmung für größeres Entsetzen vorbereitete. »Anne?«

Sie öffnete die Augen. Balacreanische Folterwerkzeuge wölbten sich rings um sie, gerade am Rande ihres Gesichtsfeldes. Es war der ganze Schrecken, den sie erwartete, nur dass sie sich in Schwerelosigkeit befanden. Seit fünfzehn Jahren haben sie unsere Städte in Besitz. Wozu mich in den Raum schaffen?

Ihr Verhörer schwebte in Sicht. Schwarzes Haar, typisch balacreanische Hautfarbe, ein jung-altes Gesicht. Das musste ein Leitender Hülsenmeister sein. Doch er trug eine seltsame Fraktille-Jacke wie kein Hülsenmeister, den Anne jemals gesehen hatte. Es war ein Ausdruck falscher Sorge auf sein Gesicht geklebt. Ein Dummkopf, er übertreibt. Er ließ einen Strauß weicher weißer Blumen auf ihren Schoß schweben, als mache er ihr ein Geschenk. Sie rochen nach warmen Sommern der Vergangenheit. Es muss eine Möglichkeit geben, zu sterben. Es muss eine Möglichkeit geben, zu sterben. Ihre Arme waren festgebunden, natürlich. Wenn er nahe genug herankam, hatte sie noch ihre Zähne. Vielleicht, wenn er dumm genug war…

Er streckte die Hand aus, berührte sanft ihre Schulter. Anne warf sich herum, erwischte ein Stück von der tastenden Hand des Hülsenmeisters. Er fuhr zurück und hinterließ eine Spur von winzigen roten Tropfen, die in der Luft zwischen ihnen schwebten. Doch er war nicht dumm genug, um sie auf der Stelle zu töten. Vielmehr blickte er an den aufgereihten Apparaten entlang wütend auf jemanden, den sie nicht sah. »Trud! Was, zum Teufel, hast du mit ihr gemacht?«

Sie hörte eine weinerliche Stimme, die ihr irgendwie vertraut war. »Pham, ich habe dich gewarnt, dass das eine schwierige Prozedur ist. Ohne ihre Anleitung können wir nicht sicher sein…« Der Sprecher kam in Sicht. Es war ein kleiner und nervös wirkender Bursche in der Uniform eines balacreanischen Technikers. Seine Augen wurden groß, als er das Blut in der Luft sah. Der Blick, den er Anne zuwarf, war auf befriedigende — und unerklärliche — Weise voll Furcht. »Al und ich können nur unser Bestes tun. Wir hätten warten sollen, bis wir Bil wiederhaben… Schau, vielleicht ist es nur ein vorübergehender Gedächtnisverlust.«

Der ältere Bursche geriet in Rage, schien aber auch Angst zu haben. »Verdammt! Ich wollte eine Defokussierung und keine Gehirnwäsche!«

Der kleine Mann, Trud… Trud Silipan, wich zurück. »Keine Sorge. Ich bin sicher, sie wird wieder. Wir haben die Gedächtnisstrukturen nicht angerührt, ich schwör’s.« Er warf einen weiteren furchtsamen Blick in ihre Richtung. »Vielleicht… ich weiß nicht, vielleicht hat die Defokussierung geklappt, und wir erleben eine Art Autorepression.« Er kam etwas näher, noch immer außer Reichweite ihrer Hände und Zähne, und lächelte sie matt an. »Chefin? Erinnern Sie sich an mich, Trud Silipan? Wir haben über Jahre von Wachzeit zusammengearbeitet, und vorher auf Balacrea, unter Alan Nau. Erinnern Sie sich nicht?«

Anne starrte das runde Gesicht an, das schwache Lächeln. Alan Nau. Tomas Nau. Oh… Gott… Gott. Sie war in einem Albtraum erwacht, der nie zu Ende gegangen war. Die Foltergruben und dann die Fokussierung, und dann ein Leben lang selbst der Feind sein.

Silipans Gesicht verzog sich, doch seine Stimme war auf einmal zuversichtlich. »Sieh, Pham! Sie weint. Sie erinnert sich!«

Ja. An alles.

Doch jetzt klang Pham Nuwens Stimme noch wütender. »Geh raus, Trud. Geh einfach raus.«

»Es lässt sich leicht überprüfen. Wir können…«

»Raus!«

Danach hörte sie Silipan nicht mehr. Die Welt war in Schmerz versunken, eine schluchzende Gram, die ihr den Atem und die Sinne nahm.

Sie fühlte einen Arm um ihre Schultern gelegt, und diesmal wusste sie, dass es nicht die Berührung eines Folterknechts war. Wer bin ich? Das war die leichte Frage gewesen. Die wirkliche Frage, Was bin ich?, hatte sich ihr noch ein paar Sekunden entzogen, doch jetzt strömten die Erinnerungen auf sie ein, das ungeheuerliche Böse, das sie seit jenem Tag in den Bergen über Arnham gewesen war.

Sie zuckte vor Phams Arm zurück — und traf auf die Gurte, die sie niederhielten.

»Entschuldigung«, murmelte er, und sie hörte, wie die Fesseln abfielen. Und jetzt spielte es keine Rolle. Sie krümmte sich zu einer Kugel zusammen, war sich seiner tröstenden Hand kaum bewusst. Er redete mit ihr, einfache Dinge, die er wieder und wieder auf verschiedene Weise wiederholte. »Es ist jetzt gut, Anne. Tomas Nau ist tot. Es ist seit vier Tagen tot. Sie sind frei. Wir alle sind frei…«

Nach einer Weile schwieg er, nur die Berührung seines Arms an ihren Schultern kündete von seiner Anwesenheit. Ihr Schluchzen klang ab. Jetzt gab es keinen Schrecken mehr. Das Schlimmste war geschehen, immer wieder, und was blieb, war tot und leer.

Zeit verstrich.

Sie fühlte, wie sich ihr Körper langsam entspannte, streckte. Sie zwang ihre fest geschlossenen Augen auf, zwang sich, sich umzuwenden und Pham anzuschauen. Ihr Gesicht schmerzte vom Weinen, und wie sehr wünschte sie, ihr würde ein millionenfacher Schmerz zugefügt. »Sie… Sie sollen verflucht sein, dass Sie mich zurückgeholt haben. Lassen Sie mich jetzt sterben.«

Pham schaute sie ruhig an, seine Augen waren weit offen und aufmerksam. Die Großspurigkeit war verschwunden, von der sie immer geahnt hatte, dass sie vorgetäuscht war. Stattdessen Intelligenz… Ehrfurcht? Nein, das konnte nicht sein. Er griff neben ihr herab und legte die weißen Andelirs wieder auf ihren Schoß. Die verdammten Dinger waren warm, pelzig. Schön. Er schien ihre Forderung zu bedenken, doch dann schüttelte er den Kopf. »Sie dürfen uns noch nicht verlassen, Anne. Es gibt hier noch über zweitausend fokussierte Menschen. Sie können sie befreien, Anne.« Er wies auf die Fokusgeräte hinter ihr. »Ich hatte das Gefühl, dass Al Hom Roulette spielte, als er an Ihnen arbeitete.«

Ich kann sie befreien. Der Gedanke war die erste Helligkeit in all den Jahren seit jenem Morgen in den Bergen. Er musste in ihren Gesichtsausdruck durchgesickert sein, denn auf Phams Lippen erschien ein hoffnungsvolles Lächeln. Anne spürte, wie sich ihre Augen verengten. Sie wusste über Fokus so viel wie nur irgendein Balacreaner. Sie kannte alle Tricks des Umfokussierens, des Umlenkens der Loyalität. »Pham Trinli — Pham Wer-auch-immer —, ich habe Sie viele Jahre lang beobachtet. Fast von Anfang an. Ich glaubte, dass Sie gegen Tomas arbeiteten. Doch ich sah auch, wie sehr Sie die Idee des Fokus liebten. Es hat Sie nach dieser Macht gelüstet, nicht wahr?«

Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. Er nickte langsam. »Ich habe gesehen… ich habe gesehen, dass mir Fokus das verschaffen konnte, wofür ich ein Leben lang gekämpft hatte. Und am Ende sah ich, dass der Preis zu hoch ist.« Er zuckte die Achseln und senkte den Blick wie beschämt.

Anne starrte in dieses Gesicht und dachte nach. Es hatte eine Zeit gegeben, da nicht einmal Tomas Nau sie täuschen konnte. Als Anne fokussiert war, waren die Kanten ihres Geistes rasiermesserscharf gewesen, ungetrübt von Ablenkungen und Wunschdenken — und Tomas’ wahre Absichten zu kennen, nützte ihr nicht mehr, als wenn ein Beil weiß, dass es zum Morden dient. Jetzt war sie sich nicht sicher. Dieser Mann log vielleicht, doch was er von ihr verlangte, war, wonach sie sich mehr als nach allem anderen auf der Welt sehnte. Und dann, wenn sie ihre Schuld beglichen hatte, so gut sie es vermochte, konnte sie sterben. Sie erwiderte sein Achselzucken. »Tomas Nau hat Sie über Fokus belogen.«

»Er hat über vieles gelogen.«

»Ich kann es besser machen als Trud Silipan und Bil Phuong, aber es wird trotzdem Misserfolge geben.« Und der größte Schrecken: Es würde Menschen geben, die sie dafür verfluchten, dass sie sie zurückgeholt hatte.

Pham langte über die Blumen hinweg und nahm ihre Hand. »Gut. Aber Sie werden Ihr Möglichstes tun.«

Sie schaute auf diese Hand hinab. Noch immer quoll Blut aus der klaffenden Wunde, die sie in die Seite seiner Handfläche gebissen hatte. Irgendwie log der Mann, doch wenn er sie die anderen defokussieren ließ… Geh darauf ein. »Sie haben jetzt das Kommando?«

Pham kicherte. »Ich habe einiges zu sagen. Gewisse Spinnen haben mehr zu sagen. Es ist kompliziert, und es ist noch im Chaos. Vor vierhundert Kilosek hatte noch Tomas Nau das Kommando.« Sein Lächeln wurde breiter, begeisterter. »Aber in hundert Megasek, zweihundert Megasek, glaube ich, werden wir eine Renaissance erleben. Wir werden unsere Schiffe reparieren lassen. Verdammt, vielleicht bekommen wir neue. Ich habe nie eine Chance wie diese erlebt.«

Geh einfach darauf ein. »Und was wollen Sie von mir?« Wie lange wird es dauern, bis ich als dein Werkzeug wieder fokussiert werde?

»Ich… ich möchte einfach, dass Sie frei sind, Anne.« Er schaute weg. »Ich weiß, was Sie früher gewesen sind. Ich habe die Geschichte gesehen, was Sie auf dem Frenk getan haben, wie Sie schließlich gefangen genommen wurden. Sie erinnern mich an jemanden, den ich als Kind gekannt gekannt habe. Sie hat sich auch gegen eine überwältigende Übermacht gestellt, und sie ist auch zermalmt worden.« Er wandte ihr wieder halb das Gesicht zu. »Es hat Zeiten gegeben, da ich Sie mehr als Tomas Nau gefürchtet habe. Doch seit ich erfuhr, dass Sie der Frenkische Ork waren, habe ich dafür gebetet, Sie würden eine bessere Zeit erleben.«

Er war so ein unglaublich guter Lügner. Zu schade für ihn, dass seine Lüge so dreist war, so nachgiebig. Sie empfand einen überwältigenden Drang, sie ad absurdum zu führen: »In ein paar Jahren werden wir also wieder funktionsfähige Sternenschiffe haben?«

»Ja, und wahrscheinlich besser ausgerüstet als die, in denen wir gekommen sind. Sie wissen, was wir hier an Physik entdeckt haben. Und anscheinend gibt es noch andere Dinge…«

»Und Sie werden über diese Schiffe gebieten?«

»Über einige davon.« Er nickte noch immer und trieb seine Täuschung weiter voran.

»Und Sie wollen einfach nur helfen. Mir, dem Frenkischen Ork. Nun ja, mein Herr, Sie sind beispiellos geeignet. Leihen Sie mir diese Schiffe. Kommen Sie mit mir zur Balacrea, zum Frenk und zum Gaspr. Helfen Sie mir, alle Fokussierten zu befreien.«

Es war amüsant, zu sehen, wie Phams Lächeln gefror, während er von ihren Worten sprachlos war. »Sie wollen ein Imperium mit interstellarer Raumfahrt stürzen, ein Imperium mit Fokus, wenn Sie selber nur eine Handvoll Schiffe haben? Das ist…« Für solchen Wahnsinn fehlten ihm die Worte, und einen Augenblick lang starrte er sie nur an. Dann kehrte erstaunlicherweise sein Lächeln zurück. »Das ist wunderbar! Anne, geben Sie mir Zeit für Vorbereitungen, Zeit, hier Bündnisse zu schließen. Geben Sie mir ein Dutzend von Ihren Jahren. Wir werden vielleicht nicht gewinnen. Aber ich schwöre, wir werden den Versuch unternehmen.«

Was immer sie verlangte, er gestand es ihr einfach zu. Das musste eine Lüge sein. Doch wenn es wahr war, dann war es das einzige Versprechen, das ihr den Wunsch zu leben eingeben konnte. Sie starrte Pham in die Augen und versuchte die Lüge zu durchschauen. Vielleicht hatten ihr die unvermeidlichen Schäden der Defokussierung die Schärfe des Blicks genommen, denn so tief sie auch schaute, sie sah nur ehrfurchtsvolle Begeisterung. Er ist ein Genie. Und Lüge oder Wahrheit, jetzt gehöre ich ihm zwölf Jahre lang. Nur für einen Moment ließ sie sich gehen und glaubte. Nur für einen Moment malte sie sich aus, dieser Mann sei kein Lügner. Der Frenkische Ork würde vielleicht doch noch alle befreien. Eine überaus seltsame Spannung ergoss sich aus ihrem Herzen und vibrierte durch den Körper. Sie brauchte einen Augenblick, um etwas zu erkennen, was sie so lange entbehrt hatte: Freude.

Dreiundsechzig

Pham schickte Ezr Vinh zu Verhandlungen auf den Planeten.

»Warum ich, Pham?« Dies war die außergewöhnlichste Handelssituation in der Geschichte der Menschheit. Es war auch ein Krieg, der darauf wartete, loszubrechen. »Du solltest…«

Nuwen hob die Hand und unterbrach ihn. »Es gibt Gründe, dich zu schicken. Du kennst die Spinnen besser als jeder andere von unseren unfokussierten Leuten, allemal besser als ich.«

»Ich könnte bei deinem Stab sein. Ich könnte dich unterstützen.«

»Nein, ich werde bei deinem Stab sein.« Er machte eine Pause, und Ezr sah Sorge aufglimmen. »Du hast Recht, Junge, es wird heikel. Auf kurze Sicht sitzen sie am längeren Hebel, und sie haben jede Menge Gründe, uns zu hassen. Wir glauben, dass die Lichtberg-Fraktion noch das Ohr des Königs hat, aber…«

Es gab andere Fraktionen im Regime des Einklangs. Manche von ihnen hielten fokussierte Übersetzer für eine Handelsware.

»Umso wichtiger ist es, dass du hinunterfliegst, Pham.«

»Es ist nicht unsere Entscheidung. Weißt du, sie haben speziell dich verlangt.«

»Was?«

»Na ja. Ich denke, nach all den Jahren, die du mit Trixia zusammengearbeitet hast, glauben sie dich einschätzen zu können.« Er grinste. »Sie wollen dich aus der Nähe sehen.«

Das ergab fast Sinn. »Gut.« Er überlegte einen Augenblick lang. »Aber sie kriegen Trixia nicht. Ich fliege mit einem anderen Übersetzer runter.« Er starrte Pham an. »Sie ist der Star; Untersiedels Fraktion würde sie gern in die Finger kriegen.«

»Hm. Vielleicht denkt jemand unten genauso. Der König hat darum gebeten, dass Zinmin dich begleitet.« Er bemerkte den Ausdruck auf Ezrs Gesicht. »Da ist noch was?«

»Ich… ja. Ich möchte, dass Trixia defokussiert wird. Bald.«

»Natürlich. Ich habe dir mein Wort gegen. Anne habe ich dasselbe versprochen.«

Ezr starrte ihn einen Moment lang an. Und du hast dich innerlich verändert, hast jenen Traum aufgegeben. Nach allem, was geschehen war, zweifelte er nicht daran. Doch plötzlich konnte er nicht länger warten. »Setz sie an den Anfang der Warteschlange, Pham. Es kümmert mich nicht, dass du ihre Übersetzungen brauchst. Zieh sie vor. Ich möchte, dass sie defokussiert ist, wenn ich zurückkomme.«

Pham zog eine Augenbraue hoch. »Ein Ultimatum?«

»Nein. Ja!«

Pham seufzte. »Also gut. Wir werden sofort mit Trixia beginnen. Ich… ich geb’s zu. Wir haben die Übersetzer zurückgestellt. Wir brauchen sie so dringend.« Er presste die Lippen zusammen. »Erwarte keine Perfektion, Ezr. Das ist noch so etwas, worüber uns Nau belogen hat. Manche von den Defokussierten sind fast so scharfsinnig wie Anne. Manche…«

»Ich weiß.« Manche vegetierten nur noch dahin, ihre Geistfäule hatte sich explosiv ausgebreitet, ausgelöst vom Prozess der Defokussierung. »Aber früher oder später müssen wir es versuchen. Früher oder später müssen wir aufhören, sie zu benutzen.« Er schnellte hoch und verließ Phams Büro. Weiterzureden, hätte sie nur beide geschmerzt.


Das Transportmittel zur Arachna war bescheiden, Jau Xins Landeboot mit einer improvisierten Software, die Qiwi eigens modifiziert hatte. Die Menschen hatten den hohen Ausgangspunkt und die Überreste von Hochtechnologie — und herzlich wenig an materiellen Ressourcen oder Automatik. In dem Maße, wie ihre Blitzköpfe defokussiert wurden, verwandelte sich die Software der Aufsteiger in nutzlosen Müll — und es würde eine Zeit dauern, bis die Dschöng-Ho-Automatik an das hybride Gemengsel angepasst werden konnte, das bei L1 noch verblieben war. Sie waren in einem nahezu leeren Sonnensystem gefangen, wo sich die einzige industrielle Ökologie unten auf der Arachna befand. Sie hätten ein paar Felsen auf den Planeten fallen lassen können oder sogar ein paar Atombomben, doch die Menschen waren nahezu machtlos. Die Spinnen waren ebenfalls machtlos, doch das würde sich ändern. Sie wussten jetzt von den Eindringlingen, sie wussten, was man mit Technik anfangen konnte. Sie besaßen große Teile der Unsichtbare Hand, die intakt geblieben waren. Bald schon würden die Spinnen in großer Stärke hier draußen im Raum sein. Pham glaubte, dass ihnen vielleicht ein Jahr blieb, um die Dinge zu wenden, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Qiwi sagte, wenn sie eine Spinne wäre, könnte sie es in viel weniger als einem Jahr schaffen.

Der Mittelkorridor des Temps war fast von einem Ende zum anderen voller Menschen, als Ezr und Zinmin die Taxischleuse betraten. Fast alle unfokussierten Leute bei L1 waren zugegen.

Pham und Anne waren da. Sie schwebten nahe beieinander, ein Paar, mit dem Ezr Vinh in den vergangen Jahren niemals gerechnet hätte. »Wir haben mit den Vorbereitungen zur Defokussierung begonnen«, sagte Anne. Sie brauchte nicht zu sagen, von wem die Rede war. »Wir werden unser Möglichstes tun, Ezr.«

Qiwi wünschte ihnen viel Glück, so ernst, wie er sie nur je gesehen hatte. Einen Moment lang wirkte sie unsicher, dann schüttelte sie ihm unvermittelt die Hand, auch etwas, das sie zuvor nie getan hatte. »Komm wohlbehalten zurück, Ezr.«

Irgendwie hatte sich Rita Liao unmittelbar vor der Luke postiert und versperrte ihm den Weg. Ezr streckte die Hand aus, um sie zu trösten. »Ich werde Jau zurückholen, Rita.« Ich werde mein Möglichstes tun, dachte er in Wahrheit, hatte aber nicht den Mut, seine Zweifel zu zeigen.

Ritas Augen waren rot. Sie wirkte noch beunruhigter als vor ein paar Kilosekunden, da er mit ihr gesprochen hatte. »Ich weiß, Ezr. Ich weiß. Die Spinnen sind gute Leute. Sie werden wissen, dass Jau ihnen nichts Böses tun wollte.« Viele Jahre lang war sie verliebt in das Leben auf der Arachna gewesen, doch ihr Vertrauen in die Übersetzungen schien sich zu verflüchtigen. »Aber… aber wenn sie ihn dir nicht mitgeben wollen… Bitte. Gib ihm…« Sie schob ihm ein durchsichtiges Kästchen in die Hand. Es hatte ein Daumenschloss, vermutlich auf Jau Xin codiert. Innen sah er eine Erinnerungsgemme. Rita wich zurück und verlor sich in der Menge.

Vierundsechzig

Sie brauchten zweihundert Kilosekunden bis zum Landeskommando. Auf dem Boden fuhren die Spinnen sie diese lange Talstraße hinauf. Unheimliche Erinnerungen zogen durch Ezrs Geist. Viele von den Gebäuden hier waren neu, aber ich war hier, ehe alles begann. Damals war es so unergründlich gewesen. Jetzt lag ein oberflächlicher Schein von Information auf allem. Zinmin Broute sprang von Fenster zu Fenster und glotzte begeistert, benannte alles, was er sah. Sie kamen an der Bibliothek vorbei, die er zusammen mit Benny Wen überfallen hatte. Das Museum der Dunklen Zeit. Und die Statuen am Anfang der Königsstraße, das war Goknas ›Streben nach Einklang‹. Zinmin konnte einem über jede von den verdrehten Gestalten etwas erzählen.

Doch heute schlichen sie sich nicht durch jemandes Schlaf. Heute waren die Lichter sehr hell, und als sie sich schließlich in den Untergrund begaben, war es so krass und fremdartig wie Ritser Brughels Spinnen-Albträume. Die Treppen waren steil wie Leitern, und gewöhnliche Räume hatten so niedrige Decken, dass Ezr und Zinmin in die Knie gehen mussten, um sich fortbewegen zu können. Trotz althergebrachten Drogen und Jahrtausenden von genetischer Optimierung war die volle Kraft planetarer Gravitation eine ständige schwächende Irritation. Sie wurden in Räumen untergebracht, von denen Zinmin behauptete, es seien Wohnungen von königlichem Standard, Zimmer mit haarigen Böden und Decken, die hoch genug waren, um darin aufrecht zu stehen. Die Verhandlungen begannen am Tag darauf.


Die Spinnen, die sie in den Übersetzungen kennengelernt hatten, waren größtenteils abwesend. Belga Untersiedel, Elno Kalthafen — das waren Namen, die Ezr wiedererkannte, doch sie waren immer weiter weg gewesen. Sie waren nicht an Scherkaner Unterbergs Gegenlauer beteiligt gewesen. Sie mussten sich allerdings wohl doch mit Viktoria Lichtberg beraten. Im Laufe der Verhandlungen zog sich Untersiedel immer wieder zurück, und es gab zischelnde Gespräche mit Personen, die nicht zu sehen waren.

Nach den ersten paar Tagen erkannte Ezr, dass manche von diesen Personen sehr weit entfernt waren: Trixia. Als sie wieder in ihren Räumen waren, rief Ezr L1 an. Natürlich wurde die Verbindung von den Spinnen überwacht. Ezr kümmerte das nicht. »Du hast mir gesagt, dass die Defokussierung von Trixia läuft.«

Die Pause wirkte viel länger als zehn Sekunden. Plötzlich konnte Ezr nicht mehr auf die Entschuldigungen und Ausflüchte warten. »Hör zu, verdammt! Du hast versprochen, dass sie defokussiert würde. Früher oder später müsst ihr aufhören, sie zu benutzen!«

Dann kam Phams Stimme zurück. »Ich weiß, Ezr. Das Problem ist, die Spinnen haben darauf bestanden, dass sie zur Verfügung steht, noch fokussiert. Wir ruinieren die Verhandlungen, wenn wir uns weigern… und Trixia weigert sich, bei der Defokussierung mit uns zusammenzuarbeiten. Wir müssten sie dazu zwingen.«

»Das ist mir egal. Es ist mir egal! Denen gehört sie ebenso wenig wie Tomas Nau.« Er würgte an der Angst und hätte sich beinahe übergeben. Auf der anderen Seite des Zimmers sah Zinmin Broute so glücklich aus, wie Ezr je einen Blitzkopf gesehen hatte. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem haarigen Teppich und blätterte in einer Art Spinnen-Bilderbuch. Ihn benutzen wir auch. Wir müssen, nur noch ein Weilchen.

»Ezr, es ist nur für kurze Zeit. Anne leidet auch darunter, aber es ist der einzige sichere Einblick, den die Spinnen zu uns haben. Den Fokussierten vertrauen sie fast. Alles, was wir sagen, jede Behauptung besprechen sie mit den Blitzern. Ohne dieses Vertrauen haben wir keine Chance, die Leute von der Hand zurückzubekommen. Und auch keine Chance, das Unheil aus der Welt zu schaffen, das Nau angerichtet hat.«

Rita und Jau. Das Kästchen mit dem Daumenschloss lag obenauf in Ezrs Gepäck. Seltsam. Die Spinnen hatten nicht darauf bestanden, dies oder seine anderen Sachen zu kontrollieren. Ezrs Widerstand brach zusammen. »Gut. Aber nach diesen Besprechungen wird niemand mehr einen anderen besitzen. Sonst werden die Verhandlungen scheitern — werde ich sie zum Scheitern bringen.« Er unterbrach die Verbindung, ehe eine Antwort eintreffen konnte. Schließlich spielte es keine Rolle, was der andere erwiderte.

Fast jeden Tag unternahmen sie den qualvollen Abstieg in denselben unheimlichen Konferenzraum. Zinmin behauptete, dies sei das persönliche Büro der Geheimdienstchefin, ein ›helles und vertikal gegliedertes Zimmer mit Nischen und isolierten Sitzgittern‹. Nun ja, es gab Nischen, dunkle kannelierte Kamine mit verborgenen Höhlungen am oberen Ende. Und die Bilder entlang der Wände waren permanenter Unsinn. Er und Zinmin mussten kalten Stein überqueren, um dann auf Fellstapeln zu sitzen. Für gewöhnlich waren vier oder fünf Spinnen anwesend, darunter fast immer Untersiedel oder Kalthafen.

Doch die Verhandlungen liefen eigentlich gut. Da die Fokussierten seine Geschichte bestätigten, schienen die Spinnen zu glauben, was Ezr zu sagen hatte. Sie schien zu verstehen, wie gut es werden konnte, wenn sie nur ein wenig zusammenarbeiteten. Ja doch, die Spinnen konnten sich bei dem Felshaufen einrichten. Technologie würde ohne Einschränkungen auf den Planeten transferiert werden, als Gegenleistung für den Zugang der Menschen zum Planeten. Mit der Zeit würden der Felshaufen und die Temps in eine hohe Arachna-Umlaufbahn verlagert werden, und man würde gemeinsam eine Schiffswerft bauen.

Jeden Tag Kilosekunden lang bei den Spinnen zu sitzen, war eine ermüdende Erfahrung. Der menschliche Geist war nicht dafür geschaffen, mit solchen Wesen warm zu werden. Sie schienen keine Augen zu haben, nur die kristallenen Schalen, die besser als jedes menschliche Auge zu sehen schienen. Man konnte nie sagen, wohin sie schauten. Ihre Esshände waren ständig in Bewegung, mit Bedeutungen, die Ezr gerade erst zu verstehen begann. Und wenn sie mit ihren Hauptarmen gestikulierten, waren die Bewegungen abrupt und aggressiv, wie ein Wesen im Angriff. In der Luft stand ein bitterer, abgestandener Geruch, der am stärksten war, wenn sich zusätzliche Spinnen ringsum versammelten. Und nächstes Mal bringen wir unsere eigenen Toiletten mit. Ezr bekam allmählich O-Beine von den Versuchen, sich den hiesigen Anlagen anzupassen.

Zinmin erledigte den Großteil der interaktiven Übersetzung. Doch Trixia und die anderen waren zugegen, und manchmal, wenn größte Genauigkeit vonnöten war, war es ihre Stimme, die Untersiedels oder Kalthafens Worte sprach: Untersiedel die unerbittliche Polizistin, Kalthafen der elegante junge General. Trixias Stimme, die Seelen anderer.

Nachts kamen Träume, oft unangenehmer als die Wirklichkeit, der sie sich am Tage gegenüber sahen. Die schlimmsten waren diejenigen, die er verstehen konnte. Trixia erschien ihm, ihre Stimme und ihre Gedanken glitten hin und her zwischen der jungen Frau, die er einst gekannt hatte, und den fremdartigen Persönlichkeiten, die sie jetzt besaßen. Manchmal verwandelte sich ihr Gesicht in eine glasige Schale, während sie sprach, und wenn er nach der Veränderung fragte, sagte sie, er bilde sich da etwas ein. Es war eine Trixia, die für immer fokussiert bleiben würde, verwunschen, verloren. Qiwi kam in vielen von den Träumen vor, manchmal das Balg, manchmal so, wie sie gewesen war, als sie Tomas Nau tötete. Sie redeten miteinander, und oft gab sie ihm einen Rat. In den Träumen hatte immer Sinn, was sie sagte — und wenn er erwachte, konnte er sich nie an die Einzelheiten erinnern.


Eine nach der anderen wurden die Fragen geklärt. Sie waren in weniger als einer Million Sekunden vom Völkermord zum Handel fortgeschritten. Von L1 kam Pham Nuwens Stimme voller Freude über den Fortschritt. »Die Kerle verhandeln wie Kauffahrer, nicht wie Regierungen.«

»Wir geben eine Menge auf, Pham. Seit wann haben Kunden eine Vertretung unter uns, wie wir sie den Spinnen einräumen?«

Die übliche lange Pause. Doch Pham klang immer noch heiter. »Sogar das kann etwas bringen, mein Junge. Ich würde wetten, dass manche von diesen Spinnen später einmal Partner sein möchten.« Dschöng Ho.

»Noch etwas«, fuhr Pham fort. »Bring die Verhandlungen über die Kriegsgefangenen zum Abschluss« — die einzige noch offene Frage —, »und wir werden Trixia aus der Sache herausnehmen können. Lichtberg hat das als Versprechen von der Untersiedel-Fraktion erhalten.«


Der letzte Verhandlungstag begann wie die anderen. Zinmin und Ezr wurden eine ›Wendeltreppe‹ hinabgeführt — so nannte es Zinmin. In menschlichen Begriffen war es ein senkrechter Schacht, der in den Felsen gehauen war. Ein endloser Schwall warmer Luft strich nach oben an ihnen vorbei. Der Schacht hatte einen Durchmesser von fast zwei Metern, an den Wänden befanden sich fünf Zentimeter breite Simse. Ihre Wachen hatten keine Mühe; sie konnten von einer Seite des Schachtes zur anderen reichen und sich an allen Seiten abstützen. Beim Hinabsteigen drehten sich die Spinnen langsam mit der Spirale. Etwa alle zehn Meter gab es eine Einbuchtung, einen ›Treppenabsatz‹, wo sie Atem schöpfen konnten. Ezr war gleichzeitig dankbar und unangenehm berührt wegen der Gurte mit Leine, die er nach dem Willen der Wachen tragen musste.

»Diese Treppen dienen wirklich nur dazu, uns einzuschüchtern, nicht wahr, Zinmin?« Er hatte die Frage schon früher auf den Treppen gestellt, doch Zinmin Broute hatte ihn keiner Antwort gewürdigt.

Der fokussierte Übersetzer war auf den schmalen Vorsprüngen sogar noch unsicherer als Ezr, zumal er die spezielle Haltung mit gespreizten Beinen nachzuahmen versuchte, die nur für Spinnen Sinn hatte. Heute reagierte er auf die Frage: »Ja… Nein. Das ist die Haupttreppe hinab in die Königliche Tiefe. Sehr alt. Traditionell. Eine Ehre…« Er rutschte ab, schwang über dem Abgrund, einen Augenblick lang nur an seinem Seil und Gurtwerk von dem Wächter über ihm gehalten. Ezr drückte sich an die feuchte Wand, wurde beinahe selbst weggeschlagen, als Broute wieder Halt fand.

Sie erreichten den letzten Absatz. Die Decke war sogar nach Spinnenmaßstäben niedrig, nur knapp über einen Meter hoch. Von ihren Wächtern umringt, humpelten sie gebückt auf breite, breite Türen zu. Dahinter war die Beleuchtung schwach und blau. Die Spinnen konnten in so einem großen Spektrum sehen. Man sollte meinen, sie bevorzugten Beleuchtung, die dem ganzen Sonnenspektrum entsprach. Doch häufig wählten sie schwaches Schimmern — oder Licht, bei dem ein Mensch nichts mehr sah.

Aus dem Dämmerlicht vor ihnen kam ein vertrautes Zischeln.

»Kommen Sie herein. Setzen Sie sich«, sagte Zinmin Broute, doch der Gedanke kam von der Spinne im Zimmer. Ezr und Zinmin überquerten die Steinplatten zu ihren ›Sitzgittern‹. Ezr sah jetzt sein Gegenüber, eine große weibliche Spinne auf einem leicht erhöhten Sitz. Ihr Geruch war stark in der stehenden Luft. »General Untersiedel«, sagte er höflich.


Im Vergleich zu den bereits gelösten Problemen hätte die Frage der Kriegsgefangenen einfach sein müssen. Doch er bemerkte, dass sie diesmal mit Untersiedel allein waren. Hier gab es keine Sprechverbindungen nach draußen; zumindest wurden keine angeboten. Sie waren allein, fast im Dunkeln, und Zinmin Broutes Wortwahl trieb zu drohenden Wendungen hin. Es war Angst einflößend… doch irgendwo aus den Tiefen von Ezr Vinhs Kauffahrer-Kindheit stiegen Erkenntnisse hoch. Das war gewollt einschüchternd. Untersiedel hatte Lichtberg versprochen, dass die Übersetzer frei sein würden, wenn die Verhandlungen über die Kriegsgefangenen abgeschlossen wären. Sie hatte in so vielen Dingen nachgeben müssen; dies hier war ihr letzter Versuch, das Gesicht zu wahren.

Er öffnete sein Gepäck und nahm eine Datenbrille heraus. Den Spinnen zufolge hatten alle Menschen an Bord der Hand die erzwungene Landung überlebt. Die Wrackteile des Sternenschiffs waren über zwanzigtausend Meter Ozeaneis verstreut, die bewohnten Mannschaftsdecks waren praktisch die einzigen intakten Teile. Dass überhaupt jemand überlebt hatte, war ein Wunder und auf die Ratschläge zurückzuführen, die Pham den Blitzkopf-Piloten gegeben hatte. Am Boden allerdings hatte es zahlreiche Todesfälle gegeben. Gegen jede Vernunft hatten Brughel und seine Schlagetote ein Feuergefecht mit den eintreffenden Spinnentruppen vom Zaun gebrochen. Die Schlagetote waren alle umgekommen. Mit der Wendigkeit eines wahren Hülsenmeisters hatte Brughel sie im letzten Augenblick verlassen und versucht, sich unter der überlebenden Mannschaft zu verbergen. Die Spinnen behaupteten, nach diesem ersten Schusswechsel habe es keine Todesfälle gegeben.

»Die Blitzköpfe können Sie zurückbekommen«, sagte Untersiedel durch Zinmin. »Wir wissen, dass sie nicht verantwortlich sind, und manche von ihnen haben unseren Sieg möglich gemacht.« Zinmins Ton war Besorgnis erregend. »Die übrigen sind Verbrecher. Sie haben Hunderte getötet. Sie haben versucht, Millionen umzubringen.«

»Nein, nur eine kleine Minderheit war daran beteiligt. Die übrigen haben Widerstand geleistet — oder sind einfach über die Aktion belogen worden.«

Ezr ging die Besatzungsliste durch und erklärte die Rolle der einzelnen Mitglieder. Es hatten zwanzig arme Seelen im Kälteschlaf gelegen, Ritsers spezielle Spielzeuge. Sie waren offensichtlich Opfer, doch Untersiedel wollte die Ausrüstung nicht aufgeben. Einen um den anderen erhielt Ezr von Untersiedel die Erlaubnis zur Freilassung, unter der Voraussetzung des Zugangs zu Fachleuten, die die Ruinen erklären konnten, über die ihre Dienststelle jetzt verfügte. Schließlich waren sie bei den schwierigsten Fällen angelangt. »Jau Xin. Pilotenverwalter.«

»Jau Xin, der Mann am Abzug«, sagte die Generalin. Ezr hatte die Verstärkung seiner Datenbrille hochgefahren. Seine Sicht war nicht so trübe wie vorher. Das ganze Gespräch über hatte Untersiedel sehr ruhig dagesessen, die einzige Bewegung war das unablässige Spiel ihrer Esshände gewesen. Es war eine Haltung, die Zinmin als Wachsamkeit mit vorgerecktem Gesicht wiedergab. »Jau Xin steht unter Anklage, die eigentlichen Angriffe ausgelöst zu haben.«

»General, wir haben die Aufzeichnungen durchgesehen. Ihre Befragungen von Jaus fokussierten Piloten sind wahrscheinlich noch vollständiger. Uns ist klar, dass Jau einen Großteil des Angriffs der Aufsteiger sabotiert hat. Ich kenne Jau, Frau General. Ich kenne seine Frau. Beide sind ihrem Volk wohlgesonnen.« Die Blitzkopf-Analytiker, darunter Trixia, glaubten, derlei Bezugnahmen auf die Familie könnten von Bedeutung sein. Vielleicht. Doch Belga Untersiedel war vielleicht viel eher der klassische Typ des Vertreters ›nationaler Interessen‹.

Zinmin Broute tippte auf seiner winzigen Tastatur, brachte Ezrs Worte in eine Zwischensprache und steuerte dann die Tonausgabe. Gespenstisches Zischeln kam aus Broutes Lautsprecher, Ezrs Gedanken, wie eine Spinne sie vielleicht aussprach.

Untersiedel schwieg einen Augenblick, stieß dann einen schrillen Schrei aus. Ezr wusste, dass das als verächtliches Schnauben galt.

Doch dieses Gespräch konnte letzten Endes anderen Spinnen gezeigt werden. Ich lass dich nicht vom Haken, Untersiedel. Ezr langte in sein Gepäck und hielt Ritas winzige Schachtel hoch.

»Und was ist das?«, fragte Untersiedel. Es schwang keine Andeutung von Neugier in der Stimme von Broute-als-Untersiedel.

»Ein Geschenk an Jau Xin von seiner Frau. Eine Erinnerung, falls Sie sich immer noch weigern, ihn freizulassen.«

Untersiedel saß fast zwei Meter entfernt, doch selbst jetzt war Ezr nicht bewusst, wie weit die Vorderarme einer Spinne reichen konnten. Vier speerähnliche schwarze Arme schossen auf ihn zu, nahmen das Kästchen aus seinem Griff. Untersiedels Arme schossen zurück, hielten das Kästchen erst an eine, dann an eine andere Stelle ihrer glasigen Schale. Ihre Stiletthände machten kleine kratzende Geräusche, als sie neugierig am Deckel der Schachtel und am Daumenschloss hantierten.

»Sie ist auf Jau Xin codiert. Wenn Sie sie mit Gewalt öffnen, wird der Inhalt zerstört.«

»Dann wird er eben zerstört.« Doch die Spinne hörte auf, die spitzen Enden ihrer Glieder gegen das Kästchen zu drücken. Sie hielt es noch einen Moment fest, stieß dann ein knirschendes Zischen aus und warf es Ezr vor die Brust.

Das hässliche Knirschen dauerte an, als Zinmin Broute übersetzte. »Eure verdammten Kuppli-Augen!« Broutes Stimme war angespannt und wütend. »Nehmen Sie dieses Geschenk für einen Mörder zurück. Nehmen Sie Xin und die andere Besatzung zurück.«

»Danke, General. Danke.« Ezr reckte sich vor, um Ritas Geschenk an sich zu nehmen.

Die Stimme der Spinne ebbte ab, verstummte, setzte dann ruhiger wieder ein; sie klang irgendwie wie Wassertropfen, die von heißem Metall wegspritzen. »Und ich nehme an, Sie gedenken auch Ritser Brughel zu retten?«

»Nicht ihn zu retten, Frau General. Im Laufe der Jahre hat Ritser Brughel wahrscheinlich mehr von unseren Leuten umgebracht als von Ihren. Er hat sich für vieles zu verantworten.«

»Ja. Diesen einen werde ich Ihnen unmöglich überlassen.« Jetzt war Broutes Stimme selbstgefällig, und Ezr ahnte, dass es in diesem einen Punkt keine Meinungsverschiedenheiten auf Seiten der Spinnen gab.

Und vielleicht war es so am besten. Ezr zuckte die Achseln. »Sehr gut. Es ist an Ihnen, ihn zu bestrafen.«

Die Spinne wurde sehr ruhig, sogar ihre Esshände. »Bestrafen? Sie verstehen das falsch. Diese albernen Verhandlungen haben uns einen einzigen funktionierenden Menschen gelassen. Jede Bestrafung kann sich nur nebenher ergeben. Wir erfahren viel, indem wir die Menschenleichen sezieren, aber wir brauchen unbedingt ein lebendes Versuchsobjekt. Wo liegen eure physischen Grenzen? Wie reagiert ihr Wesen auf Extreme von Schmerz und Furcht? Wir möchten Stimuli testen, die wir nicht in Ihren Datenbanken finden. Ich gedenke Ritser Brughel lange, lange Zeit leben zu lassen.«

Ritser Brughel ist so ziemlich der ausgefallenste Typ Mensch, den man finden kann. Doch irgendwie war das vielleicht nicht das Klügste, was er hier und jetzt sagen konnte. Stattdessen nickte Ezr einfach. Und zum ersten Mal sah er eine Möglichkeit, wie Ritser ein Schicksal erleiden konnte, das seinen Verbrechen angemessen war. Der Spinnen-Albtraum des Hülsenmeisters würden sein ganzes restliches Leben sein.

Fünfundsechzig

Ezr Vinh kehrte als Held nach L1 zurück. Möglicherweise war nie ein Eigner oder Flottenpartner mit der Begeisterung begrüßt worden, die er beim Felshaufen vorfand. Er brachte die ersten von den freigelassenen Gefangenen mit, darunter Jau Xin. Er brachte auch die ersten von ihren neuen Partnern mit: die ersten Spinnen, die als Raumfahrer dienen sollten.

Ezr bemerkte es kaum. Er lächelte, er redete, und als er Rita und Jau zusammen sah, empfand er eine ferne Freude.

Als Letzte kam Floria Peres aus dem Landeboot. Sie war eins von den Kälteschlaf-Opfern in Ritsers geheimem Vorrat gewesen, bis ganz zum Schluss unbenutzt aufgespart. Selbst nach zweihundert Kilosekunden machte die Frau einen schrecklichen, verlorenen Eindruck. Als Ezr sie nach draußen führte, fiel Schweigen auf die Menge im Korridor. Qiwi glitt vorwärts. Sie hatte sich erboten, den Opfern zu helfen, doch als sie kurz vor Floria anhielt, bekam Qiwi sehr große Augen, und ihre Lippen zitterten. Die beiden starrten einander einen Moment lang an. Dann bot Qiwi Floria die Hand, und die Menge teilte sich hinter ihnen.

Ezr sah zu, wie sie sich entfernten, doch in Gedanken war er anderswo: Eine Kilosekunde nach seinem Abflug von der Arachna hatte Anne Reynolt mit Trixias Defokussierung begonnen. Während der zweihundert Kilosekunden des Rückflugs zum Felshaufen hatte Pham regelmäßig über ihre Fortschritte berichtet. Diesmal führte kein Weg zurück. Trixia war über das Vorbereitungsstadium hinaus. Zuerst war die Geistfäule stillgelegt und dann Trixia in ein künstliches Koma versetzt worden. Von dort aus wurde das Muster der Drogenabsonderung durch die Fäule allmählich verändert. »Anne hat das jetzt Hunderte von Malen gemacht, Ezr«, sagte Pham. »Sie sagt, es läuft jetzt gut. Trixia müsste ein paar Kilosek nach deiner Rückkehr aus der Klinik kommen.«

Keine Verzögerungen mehr. Endlich würde Trixia frei sein.


Zwei Tage später kam die Nachricht. Trixia ist soweit.

Ezr besuchte Qiwi, ehe er in die Defokussierungs-Klinik ging. Qiwi arbeitete mit ihrem Vater an der Wiederherstellung des Seeparks. Die meisten Bäume waren gestorben, aber Ali Lin glaubte, er könnte sie wiederherstellen. Sogar defokussiert hatte Ali Lin wunderbare Ideen für den Park. Doch jetzt konnte der Mann auch seine Tochter lieben. Trixia wird auch so sein, so frei wie vor dem Albtraum.

Qiwi unterhielt sich mit den Spinnen, als Ezr den Weg durch den zerstörten Wald entlangkam. Hoch über ihnen kreisten Kätzchen, in denen Neugier und Arachnophobie kämpften.

»Wir möchten mit dem See etwas Neues machen, eine Art freie Form mit einer eigenen, besonderen Ökologie.« Die Spinnen waren jetzt ein wenig größer als Qiwi. Unter der Mikroschwerkraft waren sie keine niedrigen, breiten Wesen mehr. Die natürliche Spannung in ihren Gliedern erzeugte eine Spinnenversion der Null-g-Hocke; ihre Arme und Beine streckten sich weit unter ihnen und ließen sie groß und schlank erscheinen. Die kleinste — wahrscheinlich Rhapsa Lichtberg — sprach gerade. Die zischelnde Stimme wahr fast musikalisch im Vergleich zu der von Belga Untersiedel.

»Wir werden es sehen, aber ich bezweifle, dass viele von uns hier leben werden wollen. Wir möchten mit unseren eigenen Temps experimentieren.« Broute Zinmin übersetzte, sein Ton war froh und locker. Mittlerweile war er vielleicht der letzte fokussierte Übersetzer.

Qiwi bedachte die Spinnen mit einem Grinsen. »Ja, ich bin so neugierig, was ihr am Ende tun werdet. Ich…« Sie schaute hoch, sah Ezr.

»Qiwi, kann ich mit dir reden?«

Sie bewegte sich bereits auf ihn zu. »Einen Augenblick, Rhapsa, bitte?«

»Klar.« Die Spinnen gingen auf spitzen Füßen beiseite, während Zinmin Ali Lin weiterhin mit Fragen überschüttete.

Ezr und Qiwi waren dreißig Zentimeter voneinander entfernt. »Qiwi. Vor ungefähr zweitausend Sekunden haben sie Trixia defokussiert.«

Das Mädchen lächelte, eine strahlende Geste. Sie verfügte immer noch über eine kindliche Intensität. Irgendwie war Qiwi bei allem, was sie durchgemacht hatte, ein aufgeschlossener Mensch geblieben. Und jetzt befand sie sich im Zentrum der Verhandlungen mit den Spinnen, war der Ingenieur, den sie allen anderen vorzogen. Jetzt sah er wirklich, wie weit sich ihre Klugheit erstreckte, von Dynamik über Biowissenschaft bis zu knallharten Geschäftsabschlüssen. Qiwi kam dem Geist der Dschöng Ho sehr nahe.

»Wird… wird sie in Ordnung sein?« Qiwi machte große Augen und hielt die Hände ineinander verschränkt.

»Ja! Ein wenig Desorientierung, sagt Anne, aber ihr Geist und ihre Persönlichkeit sind intakt, und… und ich kann später hingehen und sie sehen.«

»Oh, Ezr! Ich freu mich so für sie.« Qiwis Hände ließen einander los und streckten sich zu seinen Schultern aus. Plötzlich war ihr Gesicht sehr nahe, und ihre Lippen streiften über seine Wange.

»Ich wollte dich treffen, ehe ich mit ihr rede…«

»Ja?«

»Ich… ich wollte dir einfach danken, dass du mein Leben gerettet hast, uns alle gerettet hast.« Ich wollte dir danken, dass du mir meine Seele zurückgegeben hast. »Wenn Trixia und ich jemals etwas für dich tun können…«

Und sie war wieder auf Armabstand, und ihr Lächeln wirkte etwas sonderbar. »Keine Ursache, Ezr. Aber… du brauchst nicht zu danken. Ich bin froh, dass es für dich glücklich ausgeht.«

Ezr ließ sie los und wandte sich bereits den Führungsseilen zu, die Ali für die Rekonstruktionsarbeiten angebracht hatte. »Es ist eher ein glücklicher Anfang, Qiwi. All die Jahre waren tote Zeit, und jetzt endlich… He, ich rede später mit dir!« Er winkte und zog sich immer schneller voran, zurück zum Eingang der Höhle.


Reynolt hatte den Gruppenraum im Dachgeschoss in eine Rekonvaleszenzstation umgewandelt. Wo Blitzköpfe Wache um Wache fokussiert im Dienste des Hülsenmeisters verbracht hatten, wurden sie jetzt befreit.

Anne hielt ihn im Korridor vor dem Gruppenraum auf. »Ehe Sie hineingehen, vergessen Sie nicht…«

Vinh war bereits dabei, sich an ihr vorbei zu drängen. Er hielt inne. »Sie sagten, sie wäre in Ordnung.«

»Ja. Der Gesamt-Affekt ist normal. Die allgemeine Erkenntnisfähigkeit ist so gut wie zuvor; sie hat sogar ihre Spezialkenntnisse behalten. Wir führen fast dreitausend Defokussierungen durch, mehr Freilassungen als je eine Arbeitsgruppe in der Geschichte der Aufsteiger. Wir werden allmählich sehr gut.« Sie runzelte die Stirn, doch es war nicht die ungeduldige Geste ihrer alten Fokussierung. Es war eine Geste des Schmerzes. »Ich… ich wünschte, wir könnten die Ersten noch mal machen. Ich glaube, ich könnte es jetzt besser.«

Ezr sah den Schmerz und schämte sich für seine plötzliche Freude: Die Verzögerung war also zum Besten. Trixia hatte den Nutzen aus all den früheren Erfahrungen gezogen. Vielleicht wäre sowieso alles mit ihr in Ordnung gewesen. Immerhin war auch Reynolt gut durchgekommen. Doch so oder so, es hatte geklappt. Und gleich hinter Reynolt war Trixia Bonsol, die Prinzessin, die jetzt endlich erweckt worden war. Er schlüpfte eilig an Reynolt vorbei, den kühlen grünen Korridor entlang.

Hinter ihm rief Anne: »Aber, Ezr… Schauen Sie, Pham möchte mit Ihnen reden, wenn Sie fertig sind.«

»In Ordnung. In Ordnung.« Doch er hörte jetzt nicht wirklich hin. Und dann war er im Gruppenraum. Ein Teil davon war noch offen, und auf zehn oder fünfzehn von den Sitzen saßen sogar Leute in kleinen Gruppen und redeten. Köpfe drehten sich in seine Richtung, Augen voller Neugier, die früher unmöglich gewesen wäre. Manche von den Gesichtern waren ängstlich. Viele hatten den traurigen, verlorenen Blick von Hunte Wen, nachdem er defokussiert worden war. Die Aufsteiger unter ihnen hatten niemanden, zu dem sie zurückkehren konnten. Sie erwachten in Freiheit, aber ein Leben und Lichtjahre von allem entfernt, was sie gekannt hatten.

Ezr lächelte verlegen und schlüpfte an ihnen vorbei. Für Trixia und mich ist alles gut gelaufen, doch diesen Verlorenen muss man helfen.

Die gegenüberliegende Seite des Raums war in Kabinen unterteilt worden. Ezr huschte an offenen Türen vorbei, hielt bei den geschlossen gerade lange genug an, um die Patientennamen zu lesen. Und endlich… TRIXIA BONSOL. Sein überstürztes Voranstürmen hörte plötzlich auf, und ihm wurde bewusst, dass er Arbeitskleidung trug und dass sein Haar nach allen Seiten abstand. Wie ein Blitzkopf hatte er alles außer seinem Fokus ignoriert.

Er strich sich die Haare glatt, so gut er konnte… und klopfte gegen den leichten Kunststoff der Tür.

»Herein.«

… »Hallo, Trixia.«

Sie schwebte in einer Hängematte, die sich kaum von einem gewöhnlichen Bett unterschied. Medizinische Instrumente umgaben als feiner Schleier ihren Kopf. Es spielte keine Rolle, Ezr hatte damit gerechnet. Anne hatte die Patienten mit Messgeräten versehen und benutzte die Daten, um die Defokussierung zu steuern und um danach mögliche Hirnschläge oder Infektionen festzustellen.

Das machte es schwer, jemanden so innig zu umarmen, wie es Ezr wollte. Er schwebte heran, schaute Trixia ins Gesicht, verlor sich darin. Trixia erwiderte den Blick — schaute nicht um ihn herum, ungeduldig, weil er die Sicht auf ihre Daten versperrte, sondern sah ihm direkt in die Augen. Ein kleines Lächeln zitterte auf ihren Lippen.

»Ezr.«

Und dann war sie in seinen Armen, streckte die Hände zu ihm aus. Ihre Lippen waren warm und weich. Er hielt sie einen Augenblick lang fest, umarmte sie sanft in ihrer Hängematte. Dann zog er den Kopf zurück und vermied dabei sorgsam die medizinischen Geräte. »Ich habe so oft geglaubt, wir würden es niemals zurück schaffen. Erinnerst du dich an all die Male« — buchstäblich Lebensjahre —, »da ich in deiner kleinen Zelle gesessen habe?«

»Ja. Du hast viel mehr als ich gelitten. Für mich war es eine Art Traum, und die Zeit war eine schlüpfrige Sache. Alles außerhalb meines Fokus war verschwommen. Ich hörte deine Worte, doch sie schienen nie von Bedeutung zu sein.« Sie hob die Hand an die Seite seines Halses, streichelte sanft — eine Geste aus der Zeit, die sie wirklich zusammen verbracht hatten.

Ezr lächelte. Wir reden. Wirklich. Endlich. »Und jetzt bist du wieder da, und wir können wieder leben. Ich habe so viele Pläne. Ich hatte Jahre Zeit, um darüber nachzudenken, was wir vielleicht tun würden, wenn wir Nau vernichten und dich retten könnten. Nach all den Toten erweist sich die Mission als größerer Schatz, als wir uns jemals träumen ließen.« Große Risiken, großer Gewinn. Doch die Risiken waren eingegangen, die Opfer gebracht worden, und jetzt… »Mit unserem Anteil am Gewinn der Mission könnten wir… könnten wir alles tun. Wir könnten unsere eigene Große Familie gründen!« Vinh.23.7, Vinh-Bonsol, Bonsol.1, es spielte keine Rolle; es würde ihre Familie sein.

Trixia lächelte noch immer, doch Tränen traten ihr in die Augen. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Ezr, ich…«

Vinh redete hastig weiter. »Trixia, ich weiß, was du sagen willst. Wenn du keine Familie willst — das ist auch in Ordnung.« In den Jahren unter Tomas Nau war mehr als genug Zeit gewesen, alles zu durchdenken, zu sehen, welche Opfer in Wahrheit gar keine waren. Er holte tief Luft und sagte: »Trixia, sogar wenn du nach Triland zurück möchtest… bin ich bereit, mitzukommen, die Dschöng Ho zu verlassen.« Der Familie würde das nicht gefallen, er war kein Jungerbe mehr. Diese Expedition würde den Reichtum von Vinh.23 ins Fabelhafte steigern, aber… er wusste, dass Ezr Vinh sich das kaum zuschreiben konnte. »Du kannst sein, was immer du willst, und wir können trotzdem zusammenbleiben.«

Er beugte sich näher an sie heran, doch diesmal drängte sie ihn sanft zurück. »Nein, Ezr, das ist es nicht. Du und ich, wir sind um Jahre gealtert. Ich… Es ist lange, lange her, seit wir zusammen waren.«

Ezrs Stimme kam schrill heraus. »Für mich waren es Jahre! Aber für dich? Du hast gesagt, der Fokus war wie ein Traum, wo Jahre keine Rolle spielten.«

»Nicht ganz. In Bezug auf manche Dinge, die Dinge im Zentrum meines Fokus, erinnere ich mich an die Zeit wahrscheinlich besser als du.«

»Aber…« Sie hob die Hand, und er schwieg.

»Ich hatte es leichter als du. Ich war fokussiert, und da war noch etwas, obwohl ich es nie bewusst erfasst habe, und Gott sei Dank Brughel und Tomas Nau ebenso wenig. Ich hatte eine Welt, in die ich entfliehen konnte, eine Welt, die ich aus meinen Übersetzungen erschaffen konnte.«

Wider Willen sagte er: »Das habe ich mich gefragt. Da war so vieles, was wie eine Phantasie aus dem Zeitalter der Morgenröte aussah. Also… war das Erfindung, nicht die wirklichen Spinnen?«

»Nein. Es kam der Spinnen-Sicht so nahe, wie es einem menschlichen Geist nur möglich war. Und wenn man sorgfältig liest, bekommt man Hinweise, wo es nicht buchstäblich wahr sein kann… Ich denke, du hast es geahnt, Ezr. Die Arachna war meine Flucht. Als Übersetzerin hatte ich alles in meinem Fokus, was es ausmacht, eine Spinne zu sein. Zu wissen, was es heißt, eine freie Spinne zu sein, hat uns völlig aufgesogen. Und als der gute Scherkaner es erkannte, selbst anfangs, als er uns für Maschinen hielt, war es plötzlich auch eine Welt, die uns akzeptierte.«

Das war es, was Nau das Handwerk gelegt und sie alle gerettet hatte, aber… »Aber jetzt bist du wieder hier, Trixia. Das ist nicht mehr der Albtraum. Wir können zusammen sein, besser, als wir jemals glaubten!«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Verstehst du nicht, Ezr? Wir haben uns beide verändert, ich sogar noch mehr als du, obwohl ich…« — sie überlegte einen Moment lang — »obwohl ich die Jahre über ›verwunschen‹ war. Verstehst du? Ich erinnere mich durchaus, was du immer zu mir gesagt hast. Aber, Ezr, es ist nicht mehr so wie früher. Ich und die Spinnen, wir haben eine Zukunft…«

Er versuchte, seine Stimme in einem gleichmäßigen, überzeugenden Ton zu halten, doch was herauskam, klang selbst in seinen Ohren halb nach Panik. Gütiger Herr Allen Handels, ich darf sie jetzt nicht verlieren! »Ich weiß. Du identifizierst dich immer noch mit den Spinnen. Wir sind für dich die Fremden.«

Sie berührte seine Schulter. »Ein wenig. Während der ersten Phasen der Defokussierung war es, als erwachte ich in einen Albtraum hinein. Ich weiß, wie Menschen für die Arachner aussehen. Blass, weich, wie Maden. Es gibt Ungeziefer, das so aussieht wie wir, Tiere, die die Spinnen essen. Aber wir sind für sie nicht so abstoßend wie umgekehrt.« Sie schaute zu ihm hoch, und für einen Moment wurde ihr Lächeln breiter. »Die Art, wie du den Kopf drehen musst, um etwas zu sehen, ist rührend. Es ist dir nicht bewusst, aber jeder Arachner mit väterlichem Fell auf dem Rücken und auch die meisten weiblichen Spinnen sind bezaubert, wenn sie mit dir aus der Nähe reden.«

Wie in den Träumen, die er auf dem Planeten gehabt hatte. Im Geiste war Trixia immer noch teilweise eine Spinne. »Trixia, schau. Ich werde kommen und dich jeden Tag besuchen. Die Dinge werden sich ändern. Du wirst darüber hinwegkommen.«

»Oh, Ezr, Ezr.« Ihre Tränen schwebten in der Luft zwischen ihnen, doch sie weinte seinetwegen, nicht ihretwegen oder um sie beide. »Das hier ist es ja, was ich sein möchte; eine Übersetzerin, eine Brücke zwischen euch allen und meiner neuen Familie.«

Eine Brücke. Sie ist immer noch unter Fokus. Irgendwie hatten Pham und Anne sie auf halbem Wege zwischen Fokus und Freiheit eingefroren. Die Erkenntnis war wie ein Faustschlag in den Bauch… Übelkeit, gefolgt von Wut.


Er erwischte Anne in ihrem neuen Büro. »Beenden Sie die Arbeit, Anne! Die Geistfäule hat Trixia immer noch in der Gewalt.«

Reynolts Gesicht wirkte noch blasser als sonst. Plötzlich erriet er, dass sie ihn erwartet hatte. »Sie wissen, dass es keine Möglichkeit gibt, die Viren zu vernichten, Ezr. Sie herunterfahren, sie in einen Ruhezustand versetzen, das ja, aber…« Ihre Stimme klang zögernd, völlig anders als bei der Anne Reynolt der Vergangenheit.

»Sie wissen, was ich meine, Anne. Sie ist noch unter Fokus. Sie ist noch auf die Spinnen fixiert, auf ihren Fokus-Auftrag.«

Anne schwieg. Sie wusste es.

»Holen Sie sie ganz zurück, Anne.«

Reynolts Mund verzog sich, als unterdrücke sie körperlichen Schmerz. »Die Strukturen sind so tief. Sie würde Wissen verlieren, das sie erworben hat, wahrscheinlich ihr angeborenes Sprachtalent. Sie wäre wie Hunte Wen.«

»Aber sie wäre frei! Sie könnte neue Dinge lernen, genau wie Hunte.«

»Ich… ich verstehe. Bis gestern glaubte ich, wir könnten es zuwege bringen. Wir waren im Begriff, die letzte Neustrukturierung in Gang zu setzen — aber, Ezr, Trixia will nicht, dass wir sie weiterbringen!«

Das war einfach zu viel, und plötzlich brüllte Ezr. »Ja, verdammt, was erwarten Sie denn? Sie ist fokussiert!« Er senkte die Stimme wieder, doch seine Worte hatten die Intensität einer tödlichen Drohung. »Ich weiß. Sie und Pham brauchen immer noch Sklaven, besonders solche wie Trixia. Sie hatten überhaupt nie vor, sie zu befreien.«

Reynolt bekam große Augen, und ihr Gesicht lief rot an. Es war etwas, das er bei ihr nie gesehen hatte, obwohl Ritser Brughel immer diese Farbe angenommen hatte, wenn er sich in seine Wut hineinsteigerte. Sie öffnete und schloss den Mund, doch ihr blieben die Worte weg.

Es gab einen dumpfen Schlag gegen die Wand des Büros — jemand traf in höllischer Eile ein. Einen Augenblick später kam Pham durch die Tür. »Anne, bitte. Lass mich das erledigen.« Seine Stimme war sanft. Nach einem Moment holte Anne tief Luft. Sie nickte, schien husten zu müssen. Sie kam über ihren Schreibtisch, ohne ein Wort zu sagen, doch Ezr bemerkte, wie heftig sie nach Phams Hand griff.

Pham schloss die Tür sacht hinter ihr. Als er sich wieder Ezr zuwandte, war sein Gesichtsausdruck nicht sanft. Er zeigte ruckartig mit einem Finger auf den Sitz vor Reynolts Tisch. »Hinsetzen!«

In seiner Stimme lag etwas, das Ezrs Zorn erstarren ließ und ihn zwang, sich hinzusetzen.

Pham nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz. Einen Augenblick lang starrte er den jungen Mann einfach nur an. Es war seltsam. Pham Nuwen hatte immer eine Ausstrahlung gehabt, doch es war, als habe er sie zuvor nie wirklich eingeschaltet. Schließlich sagte Pham: »Vor ein paar Jahren hast du mir ein paar Dinge klipp und klar gesagt. Du hast mich gezwungen, einzusehen, dass ich im Unrecht war und mich ändern musste.«

Ezr erwiderte seinen Blick kalt. »Hat anscheinend nichts genützt.« Du bist doch noch beim Sklavenhandel.

»Du irrst dich, Junge. Du hast es geschafft. Es gibt nicht viele Leute, die mich umgekrempelt haben. Nicht einmal Sura konnte das.« Eine seltsame Traurigkeit schien über sein Gesicht zu huschen, und für einen Moment schwieg er. Dann: »Du hast Anne großes Unrecht angetan, Ezr. Ich denke, eines Tages wirst du dich bei ihr dafür entschuldigen wollen.«

»Schwerlich! Ihr beide habt alles so hübsch zurechtgelegt. Die Defokussierung kostet euch einfach zu viel.«

»Hm. Du hast Recht, sie kostet viel. Fast ist es eine Katastrophe. Unter dem Aufsteiger-System haben die Blitzköpfe praktisch unsere gesamte Automatik gesteuert, ihre Arbeit ging nahtlos in die der echten Maschinen über. Schlimmer, die ganze Wartungs-Programmierung der Flotte ist von Fokussierten erledigt worden; jetzt haben wir Millionen von Stückchen zusammenhanglosen Schrotts. Es wird eine Zeit dauern, ehe wir unsere alten Systeme wieder gut in Gang bekommen haben… Aber du weißt, dass Anne der Frenkische Ork war, das ›Ungeheuer‹ auf all den Diamantfriesen.«

»J-ja.«

»Dann weißt du auch, dass sie ihr Leben opfern würde, um den Fokussierten die Freiheit zurückzugeben. Es war ihre einzige außer Diskussion stehende Forderung an mich, als sie aus dem Fokus zurückkam. Es ist der Sinn ihres Lebens.« Er hielt inne, wandte den Blick von Ezr ab. »Weißt du, was das Bösartigste am Fokus ist? Nicht, dass er eine wirksame Form der Sklaverei ist, obwohl ihn, weiß Gott, schon das schlimmer als die meisten anderen Schurkereien macht. Das größte Übel daran ist, dass die Retter selbst eine Art Mörder werden, dass die ursprünglichen Opfer ein zweites Mal misshandelt werden. Selbst Anne hatte das nicht vollends begriffen, jetzt zerreißt es ihr das Herz.«

»Weil sie also Sklaven sein wollen, lassen wir sie dabei?«

»Nein! Aber ein Fokussierter ist immer noch ein Mensch, nicht allzu verschieden von gewissen seltenen Typen, die es immer gegeben hat. Wenn sie selbständig leben können, ihre Wünsche deutlich zum Ausdruck bringen können — also dann muss man auf sie hören… Bis vor ungefähr einem halben Tag glaubten wir, mit Trixia Bonsol würde alles in Ordnung kommen. Anne hatte die Geistfäule daran gehindert, unkontrolliert auszubrechen. Trixia würde keine von den Psychotikerinnen und keine von den Dahinvegetierenden sein. Sie war frei von der Fixierung ihrer Loyalität auf die Aufsteiger. Man konnte mit ihr reden, sie einschätzen, sie trösten. Aber sie weigert sich absolut, weitere tiefe Strukturen aufzugeben. Die Spinnen zu verstehen, ist der Mittelpunkt ihres Lebens, und sie möchte so bleiben.«

Einen Augenblick lang saßen sie schweigend da. Das Schrecklichste war, dass Pham vielleicht nicht log. Vielleicht legte er sich nicht einmal eine Erklärung zurecht. Vielleicht redeten sie einfach gerade über eine von den Tragödien des Lebens. In diesem Fall würde das Böse von Tomas Nau Ezr für den Rest seines Lebens verfolgen. Gott, ist das schwer. Und obwohl Reynolts Büro hell erleuchtet war, erinnerte es ihn an jene dunkle Zeit im Park des Temps, unmittelbar nachdem Jimmy ermordet worden war. Auch damals war Pham dagewesen und hatte einen Trost gespendet, den Ezr nicht verstehen konnte. Ezr wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »In Ordnung. Trixia ist also frei. Dann ist sie auch frei, sich in Zukunft zu ändern.«

»Ja, natürlich. Die menschliche Natur wird sich immer der Analyse entziehen.«

»Ich habe mein halbes Leben lang auf sie gewartet. So lange wie es dauert, werde ich auf sie warten.«

Pham seufzte. »Ich fürchte, das brächtest du fertig.«

»Hä?«

»Du bist einer von den hingebungsvollsten Typen, der mir je begegnet ist. Und du hast ein Talent, mit Menschen umzugehen. Zu einem erheblichen Teil bist du es gewesen, der die Dschöng Ho angesichts von Naus Verbrechertum in Gang gehalten hat.«

»Nein! Ich war dem Mann nie gewachsen. Ich konnte weiter nichts tun, als ein wenig an den Enden zu knabbern, zu versuchen, die Sache ein bisschen weniger grauenhaft zu machen. Und dabei wurden immer noch Menschen umgebracht. Ich hatte kein Rückgrat, keine Führungsqualitäten; ich war nur ein Idiot, den Nau benutzen konnte, um die Leute besser bei der Stange zu halten.«

Während er das sagte, schüttelte Pham immer wieder den Kopf. »Du warst der Einzige, dem ich als Mitverschwörer getraut habe, Ezr.« Er stutzte, grinste. »Natürlich lag das zum Teil daran, dass du der Einzige warst, der schlau genug war, herauszufinden, wer ich war. Du hast dich nicht gebeugt, und du bist nicht zerbrochen. Du hast sogar an meiner Kette geruckt… Du weißt, wie weit meine Vergangenheit zurückreicht.«

Ezr hob den Kopf. »Natürlich. Und?«

»Ich habe eine Menge Asse gesehen.« Ein schiefes Grinsen. »Sura und ich haben viele von den großen Familien in diesem Teil des Dschöng-Ho-Raums begründet. Aber du stehst in nichts zurück, Ezr Vinh. Ich bin stolz, dass wir verwandt sind.«

»Hmm.« Ezr glaubte nicht recht, dass Pham in solch einer Angelegenheit lügen würde, doch was er eben gesagt hatte, war einfach zu… extravagant, um wahr zu sein.

Doch der andere war noch nicht fertig. »Deine Vorzüge haben allerdings auch eine Schattenseite. Du hattest die Geduld, Hunderte von Megasekunden lang eine Rolle zu spielen. Du bist deinen Zielen treu geblieben, als viele andere Leute ein völlig neues Leben begannen. Jetzt redest du davon, auf Trixia zu warten, egal, wie lange das dauern mag. Und ich glaube, du würdest wirklich warten — ewig. Ezr, ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass es keiner Geistfäule bedarf, um fokussiert zu werden? Manche Leute können ganz von selbst auf etwas fixiert werden. Ich muss es wissen! Ihr Wille ist so stark — und ihr Geist so unbeugsam —, dass sie alles außerhalb ihrer zentralen Fixierung ausblenden können. Das war es, was du in den Jahren unter Nau und Brughel gebraucht hast. Das war es, was dich gerettet hat und was dir half, den Rest der Dschöng Ho mitzureißen. Aber denk jetzt nach, erkenne das Problem. Wirf dein Leben nicht weg.«

Ezr schluckte. Er erinnerte sich an die Behauptungen der Aufsteiger, die Gesellschaft habe immer Leute nötig gehabt, die »nichts vom Leben hatten«. Aber: »Trixia Bonsol ist ein lohnendes Ziel, Pham.«

»Zugegeben. Aber du sprichst von einem sehr hohen Preis, wenn du den Rest deines Lebens auf etwas warten willst, das vielleicht nicht geschieht.« Er hielt inne, neigte den Kopf zur Seite. »Es ist eine Schande, dass du nicht mit diesem Viehzeug der Aufsteiger fokussiert bist, das wäre vielleicht leichter zu beheben! Du bist derart auf Trixia fixiert, dass du nicht siehst, was sonst noch um dich herum vorgeht, dass du die Menschen nicht siehst, denen du wehtust, und auch nicht die Person, die dich lieben könnte.«

»Hm. Wen denn?«

»Denke nach Ezr. Wer hat das Stabilisierungssystem des Felshaufens gesteuert? Wer hat Nau überzeugt, die Zügel lockerer zu lassen? Wer hat Bennys Salon und Gonles Farm möglich gemacht? Und das trotz wiederholter Gehirnwäschen? Wer hat deine Haut gerettet, als es schließlich zum Knacken kam?«

»Oh.« Das Wort kam klein und verlegen heraus. »Qiwi… Qiwi ist ein guter Mensch.«

Echter Zorn zeigte sich auf Phams Gesicht, das erste Mal, dass Ezr das seit dem Fall von Tomas Nau sah. »Wach auf, verdammt noch mal!«

»Ich meine, sie ist klug, und mutig, und…«

»Ja, ja, ja! Tatsache ist, sie ist ein strahlendes Genie auf fast jedem Gebiet! Solche wie sie habe ich in meinem ganzen Leben nur ein paar gesehen.«

»Ich…«

»Ezr, ich glaube nicht, dass du moralisch ein Idiot bist, sonst würde ich jetzt nicht mit dir reden, und schon gar nicht über Qiwi. Aber wach auf! Du hättest es schon vor Jahren merken müssen — aber du warst zu sehr auf Trixia und deine eigenen Schuldgefühle fixiert. Und jetzt wartet Qiwi auf dich, aber ohne besonders große Hoffnung, weil sie so ehrenhaft ist, dein Verlangen nach Trixia zu respektieren. Denk daran, wie sie ist, seit wir Nau los sind.«

»… Sie steckt einfach überall drin… Ich glaube, ich treffe sie jeden Tag.« Er holte tief Luft. Das war wirklich wie eine Defokussierung — das Vertraute unter einem völlig neuen Blickwinkel zu sehen. Es war wahr, Qiwi spielte sogar eine noch größere Rolle für ihn als Pham oder Anne. Doch Qiwi hatte ihre eigenen Lasten zu tragen. Er erinnerte sich an ihren Gesichtsausdruck, als sie Floria Peres begrüßt hatte. Er erinnerte sich an ihr Lächeln, als sie gesagt hatte, sie sei froh, dass es für ihn glücklich ausgehe. Es war seltsam, sich für etwas zu schämen, was einem vor einem Augenblick noch überhaupt nicht bewusst gewesen war. »Es tut mir Leid… Ich habe einfach… nie dran gedacht.«

Pham lehnte sich zurück. »Das hatte ich gehofft, Ezr. Du und ich, wir haben dieses kleine Problem: Wir sind stark in hohen Prinzipien und schwach bei einfachem menschlichem Verständnis. Daran müssen wir arbeiten. Vor einer Sekunde habe ich dich gelobt, und das war wirklich so gemeint. Aber das eigentliche Wunder ist Qiwi.«

Einen Moment lang konnte Ezr nichts sagen. Etwas stellte in seiner Seele die Möbel um. Trixia, der Traum eines halben Lebens, entglitt… »Ich muss nachdenken.«

»Tu das. Aber rede mit Qiwi darüber, ja? Ihr versteckt euch beide hinter Mauern. Du würdest staunen, was dabei herauskommen kann, wenn man sich einfach ausspricht.«

Noch ein Gedanke, der einer neuen Sonne gleichkam. Einfach mit Qiwi darüber reden. »Werd ich. Werd ich!«

Sechsundsechzig

Die Zeit verging, doch die Arachna hatte noch eine lange Abkühlung vor sich. Die letzten Trockenorkane wehten noch sporadisch durch die mittleren Breiten und schoben sich immer näher an den Äquator der Welt.

Ihr Flieger hatte keine Tragflächen, weder Düsen- noch Raketentriebwerke. Er ging in einer langgestreckten ballistischen Kurve nieder und verlangsamte seinen Flug, um auf dem nackten Felsen der Hochebene sanft aufzusetzen.

Zwei Gestalten in Raumanzügen traten heraus, eine hochgewachsen und schlank, die andere flach mit nach allen Seiten ausgestreckten Gliedmaßen.

Major Viktoria Lichtberg tippte mit den Handspitzen auf den Boden. »Wir haben Pech, dass es hier keine Schneedecke gibt. Keine Fußspuren, die wir verfolgen könnten.« Sie wies auf den Felshang ein paar Dutzend Meter entfernt. Dort war Schnee in den Bodenrillen gefangen, die momentan im Windschatten lagen. Er glitzerte gespenstisch rötlich im Sonnenlicht. »Und wo es Schnee gibt, bläst ihn der Wind immer herum. Fühlst du den Wind?«

Trixia Bonsol lehnte sich gegen den Luftzug. Sie hörte das Singen rings um ihren Helm. Sie lachte. »Mehr als du. Ich muss mit nur zwei Beinen in ihm stehen bleiben.«

Sie gingen auf den Hang zu. Trixia hatte ihre Audio-Netzverbindung weit heruntergeregelt. Dies waren ein Ort und eine Zeit, die sie aus erster Hand erleben wollte, ohne Unterbrechungen. Dennoch hielten das Summen des Tons und die Bilder am oberen Rande ihres Gesichtsfeldes sie in ständigem Kontakt mit dem, was im Raum und in Weißenberg vor sich ging. In der wirklichen Welt jenseits ihrer Helmanzeige war das Licht kaum heller als Mondlicht von Triland, und die einzige Bewegung war das langsame Treiben des Reifstaubs im Wind. »Und hier ist die wahrscheinlichste Stelle, wo Scherkaner den Hubschrauber verließ?«

»Hier war es, aber es gibt hier kein Anzeichen von ihm. Die Logdateien sind ein einziger Wirrwarr. Papa steuerte Rachners Hubschrauber übers Netz. Vielleicht flog er zu einem speziellen Ort. Höchstwahrscheinlich aber wollte er einfach irgendwohin.« Trixia hörte nicht die wahre Stimme von Klein Viktoria. Die Töne wurden abgesenkt und in Trixias Helm verarbeitet. Das Ergebnis war keine Menschensprache und gewiss kein Spinnenklang, doch Trixia verstand es so leicht wie Nese und hatte beim Zuhören Augen und Hände für anderes frei.

»Aber…« Trixia machte eine weit ausholende Geste zu dem gekippten Land vor ihnen. »Scherkaner klang für mich vernünftig, sogar am Ende, als alles in Stücke fiel.« Sie sprach in derselben Zwischensprache, die sie hörte. Der Anzugprozessor kümmerte sich um die Lautverschiebung zu dem, was Viki hörte.

»Wandertiefe kann so sein«, sagte Viktoria. »Er hatte gerade eben Mama verloren. Nishnimor und Jaybert und das Gegenlauer-Zentrum waren gerade unter ihm weggesprengt worden.«

Im unteren Teil ihres Blickfelds sah Trixia Vikis Vorderarme zucken. Das war das Pendant zu zusammengepressten Lippen, jemand, der mit Schmerz konfrontiert ist. In den Jahren ihrer Fokussierung hatte sie sich immer vorgestellt, sie spräche mit ihnen von Kopf zu Kopf, auf gleicher Höhe. In der Schwerelosigkeit funktionierte es ungefähr so. Aber auf dem Planeten… nun ja, Menschenkörper erstreckten sich nach oben und Spinnenkörper zur Seite. Wenn sie den Blick nicht gesenkt hielt, entging ihr der ›Gesichtsausdruck‹ — schlimmer noch, sie konnte einfach über ihre besten Freunde stolpern.

»Danke, dass du mitgekommen bist, Trixia.« Die Hinweise in der Zwischensprache zeigten, dass Vikis Stimme bebte. »Ich bin früher hier und in Südende gewesen, offiziell und mit meinen Geschwistern. Wir haben einander versprochen, es eine Weile auf sich beruhen zu lassen, aber… ich kann nicht… und ich kann mich dem auch nicht allein stellen.«

Trixia wackelte auf eine Weise mit der Hand, die Trost bedeutete, Verständnis. »Ich wollte schon immer hierher kommen, seit ich aus dem Fokus kam. Endlich fühle ich mich als Person, und wenn ich mit dir zusammen bin, ist es, als hätte ich eine Familie.«

Einer von Vikis freien Armen langte hoch, um Trixias Ellbogen zu rubbeln. »Für mich bist du immer eine Person gewesen. Ich erinnere mich, wie es war, als Gokna starb, als uns die Generalin von dir erzählt hat. Papa zeigte uns die Aufzeichnungen, bis zurück, als du zum ersten Mal mit ihm Kontakt aufgenommen hast. Damals hielt er euch Übersetzer noch für eine Art Künstliche Intelligenz. Doch mir bist du als eine Person erschienen, und ich merkte, dass du Papa sehr gern hattest.«

Trixia machte eine Geste des Lächelns. »Der gute Scherk war sich so sicher, es gäbe unmögliche Dinge wie KI. Für mich war der Fokus wie ein Traum. Mein Auftrag lautete, euch Spinnen perfekt zu verstehen, und die Gefühle stellten sich dabei ganz von selbst ein. Es war die Nebenwirkung, mit der Tomas Nau nie gerechnet hatte.« Die Persönlichkeit als Spinne war langsam gekommen, hatte mit jedem Fortschritt bei der Sprachkenntnis zugenommen. Die Rundfunkdebatte war der Wendepunkt gewesen, wo Trixia und Zinmin Broute und die anderen tatsächlich umgewandelt worden waren und bei der Vervollkommnung ihres Könnens den Standpunkt der Spinnen eingenommen hatten. Es tut mir Leid, Xopi. Wir waren fokussiert, und plötzlich warst du der Feind. Als wir deine MRT-Codes durcheinanderbrachten, wussten wir nicht wirklich, dass wir dich ermordeten. Jeder von uns hätte der Übersetzer für Pedure sein können, jeder von uns hätte an deiner Stelle sein können. Und das war der Zeitpunkt gewesen, als Trixia zum ersten Mal die Kommunikationsverbindungen entlang zum Planeten vorgedrungen war und sich Scherkaner Unterberg offenbart hatte.

Der glatte Fels war jetzt zerklüftet und hob sich zum Hang hin. Flecken von Schnee und Klüfte waren zu erkennen, die im Schatten von Sonnen- und Sternenlicht lagen. Viktoria und Trixia kraxelten über die niedrigeren Felsbrocken des Berges und spähten in die Schatten. Es war keine ernst gemeinte Suche, eher ein Akt der Reverenz. Die Gegend war viele Tage zuvor vollständig aus der Luft und aus der Umlaufbahn durchgemustert worden.

»Glaubst du… glaubst du, dass wir ihn jemals finden werden, Viktoria?« Die meisten Jahre ihrer Fokussierung hindurch war Scherkaner Unterberg der Mittelpunkt von Trixia Bonsols Universum gewesen. Anne Reynolt oder den vielhundertfachen treuen Besuch von Ezr hatte sie kaum wahrgenommen, doch Scherkaner Unterberg war real gewesen. Sie erinnerte sich an den alten Kupp, der einen Geleitkäfer brauchte, um nicht im Kreis zu gehen. Wie konnte er fort sein?

Viktoria schwieg einen Moment lang. Sie war etliche Meter den Berghang hinaufgegangen. Wie alle von ihrer Art war sie übermenschlich gut im Bergsteigen. »Ja, früher oder später. Wir wissen, dass er nicht an der Oberfläche ist. Vielleicht… Ich denke, Mobiy muss Glück gehabt und ein Loch gefunden haben, das tiefer als nur ein paar Meter ist. Doch selbst das wäre keine praktikable Tiefe; Papas Körper würde in kurzer Zeit zu Tode austrocknen.« Sie kam von den Felsen zurück. »Es ist komisch. Als der Plan zu zerfallen begann, glaubte ich, es wäre Mama, die wir verloren hatten, und Papa, den wir retten könnten. Doch jetzt… Weißt du, dass die Menschen gerade neue Sonogramme des Untergrunds von Südende angefertigt haben? Die Atomraketen der Sinnesgleichen haben die Parlamentshalle und die oberen Etagen zerschmettert. Darunter liegen Millionen Tonnen von geborstenem Grundgebirge — doch es gibt Hohlräume, die Reste der Supertiefe der Südländer. Wenn Mutter und Hrunkner es dorthin geschafft haben…«

Trixia runzelte die Stirn; sie hatte die Meldungen gesehen. »Aber der Bericht sagt, dass es zu gefährlich ist, dort zu graben, dass gerade das die Hohlräume zum Einsturz bringen könnte.« Und wenn die Neue Sonne kam, würden diese Millionen Tonnen Gestein gewiss auf die Tiefe stürzen.

»Ja, aber wir haben genug Zeit für die Planung. Wir werden die Grabtechnik der Menschen vervollkommnen. Vielleicht können wir Meilen entfernt hinuntergehen und wirklich tiefe Tunnel vortreiben, das Gleichgewicht mit Cavorit halten. Noch vor der Neuen Sonne werden wir wissen, was sich in diesen Supertiefen befindet. Und wenn Mutter und Hrunk dort unten sind, werden wir sie retten.«

Sie gingen nach Norden, umrundeten die Bergkuppe. Selbst wenn das der Berg war, wo Scherkaner Thrakt verlassen hatte, waren sie ein gutes Stück von jeder Stelle entfernt, wo Rachner hätte landen können. Dennoch spähte Viktoria in jeden Schatten.

Trixia konnte nicht Schritt halten. Sie reckte sich und blickte vom Hang weg. Der Himmel überm südlichen Horizont glühte wie über einer Stadt. Und das war es beinahe. Die alten Raketenstellungen waren verschwunden, doch jetzt hatte die Welt eine bessere Verwendung für die Hochebene. Cavoritbergwerke. Unternehmen von überallher aus der wach gebliebenen Welt hatten sich hier niedergelassen. Aus der Umlaufbahn sah man, wie sich die Tagebaue von der ursprünglichen Abbaustelle der Sinnesgleichen Tausende von Meilen weit über das Ödland hinzogen. Eine Million Spinnen arbeitete jetzt dort. Sogar wenn sie nie herausfanden, wie man die magische Substanz herstellt, würde Cavorit die lokale Raumfahrt revolutionieren und das Fehlen anderer Körper in diesem Sonnen-System zum Teil wettmachen.

Viktoria bemerkte, dass Trixias Schritt langsamer geworden war. Die Spinne fand einen runden Felsen, der im Windschatten lag, und ließ sich darauf nieder. Trixia setzte sich neben sie, zufrieden, dass sie auf gleicher Höhe sein konnten. Auf den Ebenen nach Süden hin sahen sie Hunderte von Bergkuppen, von denen jede der Ort von Scherkaners letzter Ruhe sein konnte. Doch im Glühen des Himmels unterm Horizont schwebten winzige Lichtpünktchen langsam empor, Antigrav-Frachter, die Ladung in den Weltraum hoben. In der Geschichte der Menschheit war Antigravitation einer der gescheiterten Träume gewesen. Und hier hatten sie sie.

Eine Zeit lang sagte Viki nichts. Ein Mensch, der die Spinnen nicht kannte, hätte glauben können, sie schliefe. Doch Trixia sah die Bewegungen von Esshänden und hörte unübersetzte Klagelaute. Von Zeit zu Zeit war Viki so, von Zeit zu Zeit musste sie das Bild abstreifen, das sie ihrem Team und Belga Untersiedel und den Fremden aus dem Weltraum präsentierte. Klein Viktoria hatte ihre Sache sehr gut gemacht, mindestens so gut, wie ihre Mutter es hätte machen können — da war sich Trixia sicher. Sie hatte den Triumph der Großen Lauer ihrer Eltern vollendet. In ihrer Helmanzeige sah Trixia ein Dutzend wartende Anrufe für Major Lichtberg. Ein, zwei Stunden allein — das war alles, was Viktoria dieser Tage erübrigen konnte. Mit Ausnahme von Brent war Trixia wahrscheinlich die einzige Person, die wusste, welche Zweifel in Viktoria Lichtberg wohnten.

Der EinAus stieg am Himmel und ließ die Schatten über das gekippte Land wandern. Wärmer würde Hochäquatorien in den nächsten zweihundert Jahren nicht mehr sein, doch EinAus brachte es gerade zustande, einen weichen Sublimationsdunst aufsteigen zu lassen.

»Ich hoffe das Beste, Trixia. Die Generalin und Papa, sie waren so überaus klug. Sie können nicht beide tot sein. Doch sie — und ich — mussten so viel Schweres tun. Leute, die uns vertraut haben, sind gestorben.«

»Es war ein Krieg, Viktoria. Gegen Pedure, gegen die Aufsteiger.« Das war es, was sich Trixia jetzt sagte, wenn sie an Xopi Reung dachte.

»Gewiss. Und den Überlebenden geht es gut. Sogar Rachner Thrakt. Er wird nie wieder in den Dienst des Königs zurückkehren. Er fühlt sich verraten. Er ist verraten worden. Doch jetzt ist er mit Jirlib und Didi dort oben« — sie stieß eine Hand in Richtung L1 — »und wird einer Art Spinnen-Dschöng-Ho angehören.« Sie schwieg, dann schlug sie abrupt auf den Felsen, auf dem sie saß. Trixia hörte, dass ihre echte Stimme zornig war und abwehrend. »Verdammt, Mutter war eine gute Generalin! Ich hätte niemals tun können, was sie getan hat; in mir ist zu viel von Papa. Und in den ersten Jahren hat es funktioniert; sein Genie und ihres haben sich miteinander multipliziert. Doch es wurde immer schwerer, die Gegenlauer zu verbergen. Videomantie war eine großartige Tarnung; sie erlaubte uns, unabhängige Hardware und einen verborgenen Datenfluss direkt unter den Schnauzen der Menschen zu haben. Doch wenn es jemals eine einzige undichte Stelle gab, wenn die Menschen es jemals ahnten, konnten sie uns alle umbringen. Das fraß an Mamas Herz.«

Ihre Esshände zuckten ziellos, und es erklang ein ersticktes Zischen. Viktoria weinte. »Ich hoffe nur, sie hat es Hrunkner erzählt. Er war der treueste Freund, den wir jemals hatten. Er liebte uns, obwohl er uns für eine Perversion hielt. Doch Mutter konnte das einfach nicht akzeptieren. Sie verlangte zu viel von Onkel Hrunk, und als er sich nicht ändern konnte, hat sie…«

Trixia ließ ihren Arm über den Mittelrücken von Viktoria gleiten. Von allem, was ein Mensch zustande bringen konnte, kam das einer vielarmigen Umarmung am nächsten.

»Du weißt, wie begierig Papa war, Hrunk von der Gegenlauer zu erzählen. Das letzte Mal in Weißenberg dachten Papa und ich, wir könnten es fertigbringen, dass Mutter es durchgehen lassen würde. Aber nein. Die Generalin war so… unversöhnlich. Am Ende… nun ja, sie wollte, dass Hrunk bei ihrer Reise nach Südende dabei war. Wenn sie ihm darin vertraut hat, wird sie ihm doch sicherlich den Rest erzählt haben. Nicht wahr? Sie wird ihm gesagt haben, dass nicht alles vergebens war.«

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