TEIL ZWEI

Vierzehn

Nur Krümelkacker haben etwas gegen die Redensart ›Neue Sonne, neue Welt‹ einzuwenden. Freilich, der Planetenkern wird von der Neuen Sonne nicht verändert, und die Küstenlinien der Kontinente bleiben im Großen und Ganzen dieselben. Doch die Stromstürme im ersten Jahr der Sonne fegen die trockenen Überreste alles früheren Lebens an der Oberfläche hinweg. Wälder und Dschungel, Steppen und Sümpfe, alles muss von vorn beginnen. Von den Werken der Spinnheit an der Oberfläche können höchstens Steingebäude in geschützten Tälern überdauern.

Aus Sporen erstandenes Leben breitet sich rasch aus, wird von den Stürmen verweht und spießt immer wieder von neuem. In den ersten Jahren stecken vielleicht höhere Tiere ihre Schnauzen aus Tiefen und versuchen Vorteile zu erlangen, indem sie frühzeitig Territorium besetzen, doch es ist ein tödliches Unterfangen. Die ›Geburt einer neuen Welt‹ verläuft derart gewaltsam, dass die Metapher überbeansprucht wird.

… Dennoch, nach dem dritten oder vierten Jahr kommen gelegentlich Pausen zwischen den Stürmen vor. Erdrutsche und Dampfausbrüche werden seltener, und Pflanzen können von Jahr zu Jahr überdauern. Zur Winterszeit, wenn die Winde schwächer geworden sind und die Stürme Pause machen, gibt es Zeiten, da man einen Blick hinaus auf das Land werfen kann und sich vorstellen, dass diese Phase der Sonne vor Leben überquillt.


Der ›Stolz des Einklangs‹ war wieder einmal fertiggestellt, eine großartigere Landstraße als je zuvor. Viktoria Schmid hatte den Sportwagen auf den Geraden auf über sechzig Meilen pro Stunde gebracht und nur auf knapp dreißig abgebremst, wenn sie in eine Serpentinenkurve fuhren. Von seinem Sitzgitter hinten im Wagen bekam Hrunkner Unnerbei Ansichten von jedem neuen Steilabfall zu sehen, die einem das Herz stocken lassen konnten. Er klammerte sich mit allen Händen und Füßen an sein Gitter. Er war sich sicher, dass er ohne diesen panischen Griff bei der letzten Kurve aus dem Auto geschleudert worden wäre.

»Sind Sie sicher, dass nicht lieber ich fahren soll, Frau General?«, fragte er.

Schmid lachte. »Und ich soll hinten sitzen? Kommt nicht in Frage. Ich weiß, wie beängstigend es vom hinteren Gitter aussieht.«

Scherkaner Unterberg steckte den Kopf zum Seitenfenster hinaus. »Hm, ich habe nie gewusst, wie aufregend die Fahrt für Passagiere ist.«

»Schön, es ist angekommen.« Schmid bremste ab und fuhr vorsichtiger, als es jeder der beiden selbst vermocht hätte. Eigentlich waren die Straßenverhältnisse hervorragend. Das Unwetter war von einem heißen Fallwind verweht worden und die Betonoberfläche nun trocken und sauber. In einer Stunde würden sie wieder in der Suppe sein. Ihre Bergroute zog sich unterm Rande zerrissener, schnell ziehender Wolken entlang, und das Land im Süden lag dunkel im Regenschleier. Die Landschaft war nahezu so offen, wie sie entlang des Stolzes des Einklangs überhaupt werden konnte. Der Wald war nur zwei Jahre alt, Kegel mit harter Borke, aus denen ruppige Blätter sprießten. Die meisten Bäume waren kaum einen Meter groß, obwohl es hier und da ein Spießling oder ein Weichbusch vielleicht auf zwei oder drei Meter brachten. Das Grün zog sich meilenweit hin, stellenweise vom Braun eines Erdrutsches oder von der Gischt eines Wasserfalls unterbrochen. In dieser Phase der Sonne glich der Westlichste Wald Gottes eigenem Rasen, und von fast jedem Punkt des ›Stolzes‹ konnten die Reisenden zum Ozean hinabblicken.

Hrunkner lockerte seinen Griff am Sitzgitter ein wenig. Hinten sah er Schmids Sicherheitstrupp um die letzte Haarnadelkurve biegen. Den größten Teil der Fahrt über war die Eskorte mühelos dicht hinter ihnen geblieben. Zum einen hatte das Unwetter Viktoria zu geringerer Geschwindigkeit gezwungen. Jetzt hatten sie Mühe, Anschluss zu halten, und Hrunkner könnte ihnen nicht übel nehmen, wenn sie sauer waren. Leider war ihr kommandierender Offizier so ziemlich die einzige Person, bei der sie sich beschweren konnten, und das war Viktoria Schmid. Schmid trug die Uniform eines Majors beim Quartiermeister-Korps des Einklangs. Die Waffengattung war nicht direkt gelogen, denn der Geheimdienst firmierte als Teil der Quartiermeisterei, wann immer es zweckmäßig erschien. Aber Schmid war kein Major. Unnerbei war seit vier Jahren nicht mehr im Dienst, aber er trank immer noch mit seinen Kumpeln… und er wusste, wie der Große Krieg schließlich gewonnen worden war: Wenn Viktoria Schmid nicht die neue Chefin des Geheimdienstes des Einklangs war, hätte sich Unnerbei mächtig gewundert.

Es hatte auch andere Überraschungen gegeben — zumindest waren es Überraschungen gewesen, bis er die Sache durchdacht hatte. Vor zwei Tagen hatte Schmid angerufen und ihn eingeladen, wieder in Dienst zu treten. Heute, als sie in seinem Laden in Weißenberg erschienen war, hatte er den diskreten Sicherheitstrupp halb schon erwartet — doch die Anwesenheit von Scherkaner Unterberg hatte ihn völlig überrascht. Weniger überraschend war die Freude gewesen, die er empfunden hatte, als er die beiden wiedersah. Hrunkner Unnerbei hatte für seine Rolle bei der Verkürzung des Großen Krieges keinen Ruhm geerntet; es würden mindestens zehn Jahre vergehen, ehe für die Aufzeichnungen über ihren Gang durch das Dunkel die Geheimhaltung aufgehoben würde. Doch sein Anteil an der Belohnung für diese Mission hatte das Zwanzigfache der Ersparnisse seines ganzen Lebens betragen. Endlich ein Grund, den Dienst zu quittieren und mit seinen Ingenieurskenntnissen etwas Konstruktives anzufangen.

In den ersten Jahren einer Neuen Sonne waren enorme Arbeiten zu bewältigen, und das unter Bedingungen, die mitunter so gefährlich wie im Gefecht waren. Sogar in einer modernen Zivilisation war in dieser Sonnenphase Heimtücke — von Mord über Diebstahl bis zu Grundstücksbesetzungen — gang und gäbe. Hrunkner Unnerbei war sehr gut zurechtgekommen, daher war vielleicht die größte Überraschung, wie leicht ihn Viktoria Schmid hatte überreden können, eine Dienstverpflichtung für dreißig Tage einzugehen. »Nur so lange, dass Sie erfahren können, was wir vorhaben, und sich entscheiden, ob Sie gern für länger in den Dienst zurückkehren würden.«

Daher die Fahrt zum Landeskommando. Bislang war es ein willkommener Urlaub, ein Treffen mit alten Freunden (und es kommt nicht oft vor, dass ein Feldwebel von einem General chauffiert wird). Scherkaner Unterberg war ein frei schweifendes Genie wie eh und je, obwohl er durch den Nervenschaden, den er sich in ihrer provisorischen Tiefe zugezogen hatte, älter wirkte, als er war. Schmid war offener und besser aufgelegt, als er sie jemals gesehen hatte. Als sie fünfzehn Meilen aus Weißenberg heraus waren, die provisorischen Reihenhäuser hinter sich gelassen und die Vorgebirge des Westlichsten Gebirges erreicht hatten, weihten ihn die beiden in ihr privates Geheimnis ein.

»Was seid ihr?«, hatte Unnerbei gesagt und war fast vom Sitzgitter gerutscht. Rings um sie pladderte heißer Regen herab, vielleicht hatte er sich verhört.

»Wie ich es gesagt habe, Hrunkner. Die Generalin und ich sind Frau und Mann.« Unterberg grinste wie ein Idiot.

Viktoria Schmid hob die Hand. »Eine Berichtigung. Nennt mich nicht General.«

Für gewöhnlich brachte es Unnerbei besser fertig, Erstaunen zu verbergen; sogar Unterberg sah, dass er überrumpelt war, und er grinste noch breiter. »Du hast doch sicherlich erraten, dass vor dem großen Dunkel etwas zwischen uns im Gange war.«

»Na ja…« Ja, doch es konnte nichts draus werden, wo Scherkaner im Begriff war, seinen so überaus ungewissen Gang durchs Dunkel anzutreten. Die beiden hatten Hrunkner deswegen immer Leid getan.

Eigentlich ergaben die beiden ein großartiges Team. Scherkaner Unterberg hatte mehr kluge Ideen als jedes Dutzend Leute, die Hrunkner je gekannt hatte; die meisten seiner Ideen waren jedoch ungeheuer unpraktikabel, zumindest soweit es das anging, was in der Zeit eines Lebens zu erreichen war. Andererseits hatte Viktoria Schmid einen Blick für realisierbare Ergebnisse. Klar doch, wenn sie an jenem Nachmittag vor langer Zeit nicht genau zur rechten Zeit zugegen gewesen wäre, dann hätte Unnerbei den armen Unterberg mit einem Tritt bis zurück nach Weißenberg geschickt — und dessen verrückter Plan, den Großen Krieg zu gewinnen, wäre verlorengegangen. Also ja. Abgesehen vom Zeitpunkt war er nicht überrascht. Und wenn Viktoria Schmid jetzt die Chefin des Geheimdienstes war, würde das Land davon großen Nutzen haben. Ein hässlicher Gedanke schlängelte sich zu seinem Mund und schien aus eigenem Antrieb herauszuplatzen: »Aber Kinder? Jetzt natürlich nicht.«

»Doch. Die Generalin ist schwanger. In weniger als einem halben Jahr werde ich zwei Babyschnüre auf dem Rücken tragen.«

Hrunkner kam zu Bewusstsein, dass er verlegen an seinen Esshänden sog. Er murmelte etwas Unverständliches. Eine halbe Minute lang fuhren sie schweigend weiter, während der heiße Regen über die Wagenfenster nach hinten zischte. Wie können sie ihren Kindern das antun?

Schließlich sagte die Generalin ruhig: »Haben Sie damit ein Problem, Hrunkner?«

Unnerbei hätte am liebsten wieder seine Hände verschluckt. Er kannte Viktoria Schmid seit dem Tag, als sie ins Landeskommando gekommen war, ein brandneuer Leutnant, eine Dame, die sich noch keinen Namen gemacht hatte und ihre Jugend nicht verbergen konnte. Man sah fast alles beim Militär, und jeder dachte sich sein Teil. Der Leutnant war wirklich neu, sie war eine Unzeit-Geborene. Doch irgendwie war sie gut genug ausgebildet worden, um es auf die Offiziersschule zu schaffen. Das Gerücht ging um, Viktoria Schmid sei das Balg eines reichen Perversen von der Ostküste, dessen Familie ihn schließlich enteignet hatte, und ebenso die Tochter, die es nicht geben dürfte. Unnerbei erinnerte sich an die Beleidigungen und Schlimmeres, die ihr im ersten Vierteljahr oder so auf Schritt und Tritt gefolgt waren. Eigentlich war das erste Anzeichen, dass sie zu Großem berufen sei, die Art gewesen, wie sie sich der Ächtung widersetzt hatte, ihre Intelligenz und ihr Mut angesichts der Schande ihrer Geburtszeit.

Schließlich fand er seine Stimme wieder. »Ähm. Ja, Frau General. Ich weiß. Ich wollte nicht unehrerbietig sein. Ich bin erzogen worden, bestimmte Dinge zu glauben«, wie anständige Leute leben sollten. Anständige Leute empfingen ihre Kinder in den Jahren des Schwindens und brachten sie zur Zeit der Neuen Sonne zur Welt.

Die Generalin erwiderte nichts, doch Unterberg klopfte sacht mit der Hand nach hinten. »Ist schon in Ordnung, Feldwebel. Du hättest die Reaktion meines Cousins sehen sollen. Aber wart’s ab, die Dinge ändern sich. Wenn wir Zeit haben, werde ich erklären, warum die alten Regeln im Grunde keinen Sinn mehr haben.« Und das war das Beunruhigendste an Scherkaner Unterberg: Er konnte ihr Verhalten wahrscheinlich wegerklären — und sich in seliger Entfernung von der Wut halten, die es bei anderen auslöste.

Doch der peinliche Augenblick war vorüber. Wenn die beiden mit Hrunkners geradliniger Natur zurechtkamen, würde er sich nach Kräften bemühen, ihre… Marotten zu ignorieren. Weiß der Himmel, er war im Krieg mit Schlimmerem zurechtgekommen. Außerdem war Viktoria Schmid jemand, der seine eigenen guten Sitten festlegte — und waren sie erst einmal festgelegt, dann gingen sie so tief wie jede andere Moral, die Unnerbei kennen gelernt hatte.

Was Unterberg betraf… Seine Aufmerksamkeit war schon anderswo. Sein nervöses Zittern ließ ihn alt erscheinen, doch sein Geist war so scharf — oder so unstet — wie eh und je. Er huschte von Idee zu Idee, ohne jemals ganz zur Ruhe zu kommen, wie es bei normalen Leuten der Fall wäre. Der Regen hatte aufgehört, und der Wind wurde heiß und trocken. Als sie ins bergige Gelände einfuhren, warf Unnerbei einen Blick auf seine Uhr und begann zu zählen, mit wie viel Verrücktheiten der andere in den nächsten paar Minuten aufwarten würde. 1. Unterberg zeigte auf den schwer gepanzerten ersten Pflanzenwuchs im Wald und spekulierte darüber, wie die Spinnheit wohl sein könnte, wenn sie nach jedem Dunkel aus Sporen heranwüchse, statt ausgewachsen und mit Kindern aus den Tiefen zu kommen. 2. In der Wolkendecke vor ihnen tat sich ein Spalt auf, zum Glück etliche Meilen seitlich von ihrem Weg. Ein paar Minuten lang ergoss sich das gleißende Weiß des einmal reflektierten Sonnenlichts über sie, von derart hellen Wolken, dass der Wagen einen Schatten warf. Ein Stück oberhalb von ihnen röstete Sonnenlicht den Berghang. Und Scherkaner Unterberg fragte sich, ob man nicht vielleicht ›Wärmefarmen‹ auf den Berggipfeln bauen könnte, um die Temperaturdifferenz zur Stromerzeugung für die Städte weiter unten zu nutzen. 3. Etwas Grünes huschte über die Straße, knapp an ihren Rädern vorbei. Scherkaner musste auch darauf anspringen und sagte etwas über die Evolution und das Automobil. (Und Viktoria bemerkte, solche Evolution könnte in beide Richtungen wirken.) 4. Aber Unterberg hatte einen Einfall, wie man viel schneller und sicherer reisen könnte, als mit Autos oder sogar mit Flugzeugen. »Zehn Minuten von Weißenberg zum Landeskommando, zwanzig Minuten quer durch den Kontinent. Schau mal, man gräbt solche Tunnel entlang der Bögen der kürzesten Reisezeit, pumpt die Luft heraus und lässt die Schwerkraft die Arbeit machen.« Nach Unnerbeis Uhr gab es eine Pause von fünf Sekunden. Dann: »Oh, da gibt’s ein kleines Problem. Die Lösung für die minimale Zeit zwischen Weißenberg und dem Landeskommando würde ziemlich tief gehen… so sechshundert Meilen. Ich könnte wahrscheinlich nicht einmal die Generalin überzeugen, das zu finanzieren.«

»Da hast du Recht!« Und schon waren die beiden in einer ausgiebigen Diskussion über Tunnelbögen auf anderen, nicht optimalen Routen und die Vor- und Nachteile gegenüber Luftverkehr. Die Idee mit den tiefen Tunneln war wirklich blöd, wie sich herausstellte.

Nach einer Weile vergaß Unnerbei, auf die Uhr zu schauen. Zum einen war Scherkaner sehr neugierig, was Unnerbeis Unternehmen für Gerätebau anging. Er war ein guter Zuhörer, und seine Fragen brachten Unnerbei auf Gedanken, die ihm sonst vielleicht nie in den Sinn gekommen wären. Manche davon konnten wirklich Geld einbringen. Eine Menge Geld. Hmm.

Schmid bemerkte: »He, ich will, dass dieser Feldwebel arm ist und eine großzügige Prämie für den Dienstantritt braucht. Führ ihn nicht auf Abwege!«

»Tut mir Leid, Liebe.« Doch es klang nicht sehr nach einer Entschuldigung. »Es ist eine Menge Zeit vergangen, Hrunkner. Ich hätte dich in den letzten Jahren gern öfter gesehen. Erinnerst du dich, seinerzeit, an meine große… äh…«

»Augenblickliche Schnapsidee?«

»Ja, genau!«

»Ich erinnere mich, wie du, als wir uns gerade in dieser Tiertiefe der Basser fertig machten, etwas in der Art murmeltest, das sei das letzte Dunkel, das die Zivilisation jemals im Schlaf verbringen würde. Im Krankenhaus später hast du immer noch davon geredet. Du solltest Science Fiction schreiben, Scherkaner.«

Unterberg winkte leichthin ab, als würdige er ein Kompliment. »Darüber ist tatsächlich geschrieben worden. Aber wirklich, Hrunkner, unser Zeitalter ist das Erste, wo man es wahr machen kann.«

Hrunkner zuckte die Achseln. Er war durch das Große Dunkel gegangen; ihm war noch immer unwohl bei dem Gedanken. »Ich bin sicher, dass es noch eine Menge Expeditionen ins Tiefdunkel geben wird, größer und besser ausgerüstet als unsere. Es ist ein aufregender Gedanke, und ich bin sicher, dass Gen… Major Schmid auch alle möglichen Pläne hat. Ich könnte mir sogar wichtige Schlachten mitten im Dunkel vorstellen.«

»Es ist ein neues Zeitalter, Hrunk. Schau doch, was die Wissenschaft ringsum alles vollbringt.«

Sie fuhren durch die letzte Kurve von trockener Straße und in eine dichte Wand von heißem Regen hinein, das Unwetter, das sie vom Norden her gesehen hatten. Schmid war nicht überrascht. Sie hatten die Fenster fast bis ganz nach oben gekurbelt, und das Auto fuhr nur zwanzig Meilen pro Stunde, als sie hineingerieten. Dennoch fuhr es sich plötzlich unheimlich schlecht, die Fenster wurden schneller undurchsichtig, als die Scheibenwischer das Wasser wegschleudern konnten, der Regen fiel so dicht, dass sie sogar mit den fernroten Regenleuchten kaum den Straßenrand sehen konnten. Der Regen, der durch die Fensterritzen hereinsprühte, war heiß wie Babyspucke. Hinter ihnen glommen zwei Paar fernrote Lichter im Dämmerschein — Schmids Sicherheitsleute schlossen dichter auf.

Es brauchte eine heftige Anstrengung, seine Aufmerksamkeit wieder vom Unwetter draußen abzubringen und sich zu erinnern, was Unterberg gesagt hatte. »Ich weiß vom ›Zeitalter der Wissenschaft‹, Scherk. Das ist ja mein Gebiet im Gerätebau. Beim letzten Schwinden hatten wir Radio, Flugzeuge, Telefone, Tonaufzeichnungen. Sogar während des Wiederaufbaus seit der Neuen Sonne ist dieser Fortschritt weitergegangen. Dein Auto ist eine ungeheure Verbesserung gegenüber dem Relmeitch, den du vor dem Dunkel hattest — und das war damals ein teurer, moderner Wagen.« Und eines Tages hätte Unnerbei gern erfahren, wie Scherkaner ihn sich vom Stipendium eines Studenten hatte leisten können. »Zweifellos ist dies das aufregendste Zeitalter, das zu erleben ich jemals hoffen konnte. Die Flugzeuge werden bald die Schallmauer durchbrechen. Die Krone baut ein landesweites Autobahnnetz. Da stecken doch nicht Sie dahinter, oder, Frau Major?«

Viktoria lächelte. »Nicht nötig. Es gibt mehr als genug Leute in der Quartiermeisterei, die sich darum kümmern. Und das Straßennetz würde auch ganz ohne Unterstützung der Regierung entstehen. Auf diese Weise behalten wir die Kontrolle.«

»So. Es geschehen große Dinge. In dreißig Jahren — bis zum nächsten Dunkel — würde ich mich nicht wundern, wenn es weltweiten Luftverkehr gäbe, Bildtelefone, vielleicht sogar raketengestützte Relaisstationen, die die Welt umkreisen, wie die Welt um die Sonne kreist. Wenn wir einen neuen Krieg vermeiden können, wird das die großartigste Zeit meines Lebens. Aber deine Idee, dass sich unsere ganze Zivilisation das Dunkel über erhalten kann — entschuldige, alter Korporal, aber ich glaube nicht, dass du die Zahlen durchgerechnet hast. Um das zu tun, müssten wir im Grunde eine zweite Sonne erschaffen. Hast du eine Ahnung, um welche Energiemengen es da geht? Ich erinnere mich, was es gekostet hat, während des Krieges unsere Grabmaschinen nach Anbruch des Dunkels in Gang zu halten. Wir haben bei diesen Operationen mehr Treibstoff verbraucht, als im ganzen übrigen Krieg zusammengenommen.«

Ha! Einmal hatte Scherkaner Unterberg keine Antwort parat. Dann begriff Hrunkner, dass Scherk abwartete, was die Generalin sagen würde. Nach einer Weile hob Viktoria Schmid die Hand. »Bis jetzt ist alles eine Plauderei gewesen, Feldwebel. Ich weiß, dass Sie einiges erfahren haben, was Feinden von Nutzen sein könnte — und natürlich haben Sie erraten, welche Stellung ich gegenwärtig habe.«

»Ja. Und ich gratuliere Ihnen. Nächst Steb Grüntal sind Sie die Beste, die die Stellung jemals hatte.«

»Nun ja… danke, Hrunkner. Aber ich will darauf hinaus, dass Scherkaners Gerede uns zum Kern dessen geführt hat, weswegen ich Sie gebeten habe, einen dreißigtägigen Dienst anzutreten. Was Sie jetzt hören werden, ist eindeutig ein Strategisches Geheimnis.«

»Jawohl.« Er hatte nicht erwartet, dass die Einweisung in seine Mission ihn derart überrumpeln würde. Draußen brüllte das Unwetter lauter. Schmid fuhr mit kaum zwanzig Meilen pro Stunde in den Geraden. In den ersten Jahren einer Neuen Sonne waren sogar bedeckte Tage gefährlich hell, doch dieses Unwetter war derart dicht, dass sich der Himmel zu einem trüben Dämmerlicht zugezogen hatte. Der Wind zerrte an dem Auto und versuchte, es von der Straße abzubringen. Das Innere des Wagens glich einem Dampfbad.

Schmid gab Scherkaner einen Wink fortzufahren. Unterberg lehnte sich auf seinem Sitzgitter zurück und hob die Stimme, um in dem zunehmenden Sturm gehört zu werden. »Es ist nämlich so, dass ich ›die Zahlen durchgerechnet‹ habe. Nach dem Krieg bin ich mit meinen Ideen ein paar von Viktorias Kollegen auf die Pelle gerückt. Das hätte sie beinahe die Beförderung gekostet. Diese Kupps können fast ebenso gut rechnen wie du. Aber die Dinge haben sich geändert.«

»Berichtigung«, sagte Schmid. »Sie können sich ändern.« Der Wind trieb sie zu einem Steilabfall, den Unnerbei kaum zu sehen vermochte. Schmid bremste ab und zog das Auto auf die Mitte der Straße zurück.

»Es gibt nämlich«, fuhr Unterberg irritiert fort, »wirklich Energiequellen, die die Zivilisation das Dunkel hindurch versorgen könnten. Du sagtest, wir würden eine zweite Sonne erschaffen müssen. Das kommt der Sache nahe, auch wenn niemand weiß, wie die Sonne funktioniert. Aber es gibt theoretische und praktische Hinweise auf die Kraft des Atoms.«

Ein paar Minuten früher hätte Unnerbei gelacht. Selbst jetzt konnte er sich den Hohn in der Stimme nicht verkneifen. »Radioaktivität? Du willst uns mit Tonnen von angereichertem Radium warm halten?« Vielleicht bestand das große Geheimnis darin, dass das Oberkommando der Krone die Heftchen der Erstaunlichen Wissenschaft las.

Derlei Ungläubigkeit perlte an Unterberg so glatt wie immer ab. »Es gibt mehrere Möglichkeiten. Wenn sie mit Phantasie weiter verfolgt werden, zweifle ich nicht daran, dass ich bis zum nächsten Schwinden die Zahlen auf meiner Seite haben werde.«

Und die Generalin sagte: »Nur damit Sie es verstehen, Feldwebel. Ich habe durchaus Zweifel. Aber das ist etwas, das wir uns nicht leisten können zu ignorieren. Sogar wenn der Plan nicht funktioniert, könnte sein Versagen eine Waffe bedeuten, die tausendmal tödlicher als alles im Großen Krieg wäre.«

»Tödlicher als Giftgas in einer Tiefe?« Auf einmal wirkte das Unwetter draußen nicht so düster wie das, was Viktoria Schmid gerade gesagt hatte.

Er bemerkte, dass sie einen Augenblick lang ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn konzentrierte. »Ja, Feldwebel, schlimmer als das. Unsere größten Städte könnten binnen Minuten zerstört werden.«

Unterberg sprang fast von seinem Gitter. »Der schlimmste Fall! Der schlimmste Fall! Das ist alles, woran ihr Militärs jemals denken könnt. Schau, Unnerbei. Wenn wir die nächsten dreißig Jahre daran arbeiten, werden wir wahrscheinlich Energiequellen bekommen, die unterirdische Städte — keine Tiefen, sondern wache Städte — das Dunkel hindurch versorgen können. Wir können Straßen frei von Eis und Luftschnee halten — und mitten im Dunkel bleiben sie dann auch so. Der Verkehr an der Oberfläche könnte viel einfacher sein, als er den größten Teil der Hellzeit über ist.« Er deutete auf den peitschenden Regen hinter den Fenstern des Sportwagens.

»O ja, und ich nehme an, der Luftverkehr könnte ähnlich vereinfacht werden«, wenn die ganze Luft am Boden liegt. Doch Unnerbeis Sarkasmus klang sogar in seinen eigenen Ohren schwach. Ja, mit einer großen Energiequelle könnten wir es vielleicht schaffen.

Unnerbeis Gesinnungswechsel war wohl deutlich geworden; Unterberg lächelte. »Du verstehst also! In fünfzig Jahren werden wir auf diese Zeit zurückblicken und uns fragen, wieso es nicht offensichtlich war. Das Dunkel ist eigentlich eine günstigere Phase als die meisten anderen Zeiten.«

»Hm-ja.« Er schüttelte sich. Manche würden es Gotteslästerung nennen, aber… »Ja, das wäre wunderbar. Du hast mich nicht überzeugt, dass es zu machen ist.«

»Wenn es sich überhaupt machen lässt, wird es sehr schwer werden«, sagte Schmid. »Uns bleiben noch ungefähr dreißig Jahre bis zum nächsten Dunkel. Wir haben ein paar Physiker, die glauben, dass Atomkraft — theoretisch — funktionieren kann. Aber bei Gott dem Tiefsten, es hat bis 58//10 gedauert, dass man überhaupt von der Existenz der Atome erfuhr! Ich habe das Oberkommando davon überzeugt; bei den Kosten werde ich garantiert meine Stellung verlieren, wenn es schief geht. Aber wissen Sie — tut mir Leid, Scherkaner —, am liebsten wäre mir, es funktionierte überhaupt nicht.«

Sonderbar, dass sie in der Frage die traditionellen Ansichten teilt.

Scherkaner: »Es wird wie die Entdeckung einer neuen Welt sein!«

»Nein! Es wäre, als ob wir unsere Welt neu kolonisierten. Scherk, lass uns das Szenario für den ›besten Fall‹ betrachten, den wir Militärs angeblich immer außer Acht lassen. Sagen wir, die Wissenschaftler kriegen die Sache hin. Sagen wir, in zehn Jahren, also etwa 60//20, beginnen wir mit dem Bau von Atomkraftwerken für deine hypothetischen ›Städte im Dunkel‹. Selbst wenn der Rest der Welt nicht selber die Atomkraft entdeckt hat, kann diese Art Bauten nicht geheim gehalten werden. Sogar, wenn es keinen anderen Kriegsgrund gibt, wird es also einen Rüstungswettlauf geben. Und er wird viel schlimmer als alles im Großen Krieg sein.«

Unnerbei: »Hm. Ja. Der Erste, der das Dunkel kolonisiert, würde die Welt besitzen.«

»Ja«, sagte Schmid. »Ich bin nicht sicher, ob ich der Krone so weit trauen würde, dass sie in solch einer Lage Eigentum respektiert. Aber ich weiß, dass die Welt nach dem Dunkel versklavt oder tot wäre, wenn eine Gruppe wie die Sinnesgleichen stattdessen das Dunkel erobern würde.«

Das war die Art selbsterzeugter Albtraum, der Unnerbei veranlasst hatte, den Dienst zu quittieren. »Ich hoffe, es klingt nicht unloyal, aber haben Sie daran gedacht, die Idee zu begraben?« Er deutete mit einer ironischen Handbewegung auf Unterberg. »Du könntest doch über was anderes nachdenken, nicht wahr?«

»Sie haben wohl tatsächlich die militärische Sichtweise eingebüßt? Aber ja, ich habe erwogen, diese Forschungen zu unterdrücken. Vielleicht — wenn der liebe Scherkaner den Mund hält — würde das genügen. Wenn niemand frühzeitig mit dieser Sache anfängt, wird niemand bereit sein, diesmal das Dunkel in seine Gewalt zu bringen. Und vielleicht sind wir noch Generationen von der Verwirklichung dieser Theorie entfernt — das glauben manche Physiker.«

»Also ich sage euch«, entgegnete Unterberg, »das wird ziemlich schnell ein technisches Problem werden. Sogar wenn wir die Finger davon lassen, wird in fünfzehn, zwanzig Jahren Atomkraft groß herauskommen. Nur dass es dann zu spät sein wird für Kraftwerke und abgeschlossene Städte. Es wird zu spät sein, das Dunkel zu erobern. Das Einzige, wozu Atomkraft taugt, werden dann Waffen sein. Du hast von Radium gesprochen, Hrunkner. Stell dir nur vor, was große Mengen von diesem Stoff bewirken könnten, wenn sie als Giftstoff eingesetzt werden. Und das ist nur das Offensichtlichste. Im Grunde wird, was immer wir tun, die Zivilisation gefährdet sein. Wenn wir aufs Ganze gehen, könnte es sich wenigstens wunderbar auszahlen: Zivilisation das ganze Dunkel hindurch.«

Schmid deutete mit einer Handbewegung unfrohe Zustimmung an; Unnerbei hatte den Eindruck, er sei Zeuge einer oft wiederholten Diskussion. Viktoria Schmid hatte Unterbergs Plan angenommen — und das Oberkommando davon überzeugt. Die nächsten dreißig Jahre würden noch aufregender werden, als Hrunkner geglaubt hatte.


Sie erreichten die Bergsiedlung sehr spät am Tage, nachdem sie in den letzten drei Stunden der Fahrt nur zwanzig Meilen im Unwetter geschafft hatten. Erst ein paar Meilen vor der kleinen Stadt änderte sich das Wetter.

Im fünften Jahr der Neuen Sonne war Ob der Tiefe größtenteils wiederaufgebaut. Die Steinfundamente hatten den ersten Blitz und die rasend schnellen Wasserfluten überstanden. Wie schon seit vielen Generation nach jedem Dunkel, hatten die Bewohner die gepanzerten Sprosse der ersten Waldpflanzen benutzt, um die Erdgeschosse ihrer Häuser und Wirtschaftsgebäude und Grundschulen zu bauen. Vielleicht um das Jahr 60//10 würden sie besseres Bauholz haben und einen ersten Stock bauen, an der Kirche vielleicht noch einen zweiten. Vorerst war alles niedrig und grün, die kurzen konischen Balken gaben den Außenwänden ein schuppiges Aussehen.

Unterberg bestand darauf, an der Tankstelle an der Hauptstraße vorüberzufahren. »Ich kenne einen besseren Ort«, sagte er und dirigierte Schmid die alte Straße entlang.

Sie hatten die Fenster heruntergekurbelt. Der Regen hatte aufgehört. Ein trockener, fast kühler Wind strich über sie hinweg. Es gab eine Lücke in der Wolkendecke, und ein paar Minuten lang sahen sie Sonnenlicht auf Wolken. Doch es war nicht der unscharfe Feuerofen wie vorher am Tag. Die Sonne musste kurz vor dem Untergang sein. Die hochgetürmten Wolken leuchteten in hellem Rot- und Orange- und Alphakunter — und dahinter das Blau und Ultra des klaren Himmels. Gleißende Helle sprühte über die Straße und die Gebäude und die Vorberge dahinter. Gott als Surrealist.

Tatsächlich, am Ende des Kieswegs standen eine flache Baracke und eine einzelne Benzinpumpe. »Das ist der ›bessere Ort‹, Scherk?«

»Nun ja… jedenfalls der interessantere.« Er öffnete die Tür und sprang von seinem Sitzgitter. »Schauen wir, ob dieser Kupp sich an mich erinnert.« Er ging an dem Wagen auf und ab, um sich die Füße zu vertreten. Nach der langen Fahrt war sein Zittern stärker als gewöhnlich.

Schmid und Unnerbei stiegen aus, und nach einer Weile kam der Besitzer, ein schwer gebauter Bursche mit einem Werkzeugkorb, aus der Baracke. Ihm folgten zwei Kinder.

»Volltanken, alter Kupp?«, sagte der Bursche.

Unterberg grinste ihn an und machte sich nicht die Mühe, sein falsch geschätztes Alter zu korrigieren. »Klar.« Er folgte dem anderen zur Pumpe. Der Himmel war jetzt sogar noch heller, Blau und Rottöne des Sonnenuntergangs schienen herab. »Erinnern Sie sich an mich? Ich bin hier in einem großen roten Relmeitch durchgekommen, kurz vor dem Dunkel. Sie waren damals Grobschmied.«

Der andere hielt inne, starrte Unterberg lange an. »An den Relmeitch erinnere ich mich.« Seine beiden Fünfjährigen wuselten hinter ihm herum und betrachteten den sonderbaren Fremden.

»Komisch, wie sich die Dinge ändern, nicht wahr?«

Der Besitzer wusste nicht recht, wovon Unterberg sprach, aber nach ein paar Minuten schwatzten die beiden wie alte Kumpel. Ja, der Besitzer mochte Automobile, denen gehörte ganz offensichtlich die Zukunft, Schluss mit der Arbeit als Grobschmied. Scherkaner lobte ihn für eine Arbeit, die er vor langer Zeit für ihn erledigt hatte, und sagte, es sei eine Schande, dass es jetzt an der Hauptstraße eine Tankstelle gab. Er wette, das sei keine annähernd so gute Reparaturwerkstatt wie hier, und ob der Grobschmied schon einmal darüber nachgedacht habe, wie man heutzutage in Weißenberg Straßenwerbung betrieb? Schmids Sicherheitsleute fuhren auf den freien Platz jenseits der Straße, und der Besitzer nahm es kaum wahr. Komisch, wie Unterberg fast mit jedem zurechtkam, indem er seine Manie so weit herunterschraubte, wie es den Umständen entsprach.

In der Zwischenzeit war Schmid über die Straße gegangen und sprach mit dem Hauptmann, der für ihre persönliche Sicherheit zuständig war. Sie kam zurück, nachdem Scherk das Benzin bezahlt hatte. »Verdammt. Das Landeskommando sagt, gegen Mitternacht kommt ein noch schlimmeres Unwetter. Das erste Mal, dass ich meinen eigenen Wagen nehme, und gleich bricht die Hölle los.« Schmid klang wütend, was für gewöhnlich bedeutete, dass sie sich über sich selbst ärgerte. Sie stiegen ins Auto. Sie drückte zweimal auf den Anlasser. Dreimal. Der Motor sprang an. »Wir werden hier zelten.« Sie blieb einen Augenblick sitzen, fast unschlüssig. Oder vielleicht beobachtete sie den Himmel weiter südlich. »Ich weiß, dass im Westen der Stadt ein Stück Kronland liegt.«


Schmid arbeitete sich Kieswege entlang, dann über schlammige Pfade. Fast glaubte Unnerbei, sie hätte sich verfahren, nur dass sie niemals zögerte oder zurückfuhr. Hinter ihnen folgten die Sicherheitswagen, fast so unauffällig wie ein Umzug von Osprechs. Der Schlammweg verlor sich auf einem Vorgebirge mit Blick über den Ozean. Steile Hänge fielen nach drei Seiten hin ab. Eines Tages würde hier wieder hoher Wald stehen, doch jetzt konnten nicht einmal die gepanzerten Spießlinge den nackten Fels des Anhangs verbergen.

Schmid blieb stehen, wo es nicht weiterging, und lehnte sich auf ihrem Sitzgitter zurück. »Tut mir Leid. Ich… bin irgendwo falsch abgebogen.« Sie winkte dem ersten der Sicherheitswagen zu, die von hinten herankamen.

Unnerbei starrte auf den Ozean hinaus und zum Himmel hoch. Manchmal war eine falsche Wendung am besten. »Schon in Ordnung. Gott, was für ein Anblick.« Die Lücken in den Wolken glichen tiefen Schluchten. Das Licht, das durch sie herabfiel, flackerte rot und nahrot, ein Widerschein des Sonnenuntergangs. Eine Milliarde Rubine glitzerte in den Wassertröpfchen auf dem Blattwerk ringsum. Er kletterte hinten aus dem Auto und ging ein kleines Stück zwischen den Sprossen hindurch zum Ende des Vorgebirges. Der nasse Waldboden unter seinen Füßen machte glucksende Geräusche. Nach einer Weile folgte ihm Scherkaner.

Die Brise, die vom Ozean her wehte, war feucht und kühl. Man brauchte nicht beim Wetterdienst zu sein, um zu wissen, dass ein Unwetter heraufzog. Er schaute über das Wasser hin. Sie standen keine drei Meilen von den Brechern entfernt, ungefähr so nahe, wie es in dieser Sonnenphase sicher war. Von hier aus sah man die Strudel und hörte das Mahlen. Drei Eisberge waren gestrandet und ragten in der Brandung auf. Doch es gab Hunderte davon, die sich bis zum Horizont hinzogen. Es war der ewige Kampf, das Feuer der Neuen Sonne gegen das Eis der guten Erde. Keines konnte endgültig siegen. Es würde zwanzig Jahre dauern, bis das letzte Eis aus den Untiefen aufgetaucht und geschmolzen war. Da würde die Sonne schon wieder zu schwinden begonnen haben. Sogar Scherkaner schien von der Szenerie niedergedrückt zu sein.

Viktoria Schmid hatte das Auto verlassen, doch statt ihnen zu folgen, ging sie zurück, den Südrand des Vorgebirges entlang. Die arme Generalin. Sie kann sich nicht entscheiden, ob die diesen Ausflug dienstlich oder zum Vergnügen macht. Unnerbei war durchaus froh, dass sie nicht auf einen Schlag bis zum Landeskommando fahren würden.

Sie gingen zu Schmid zurück. Auf dieser Seite des Vorgebirges fiel der Boden zu einem kleinen Tal ab. Auf der anderen Seite stand ein Gebäude, vielleicht ein kleines Gasthaus. Schmid stand da, wo der blanke Fels des Abhangs begann, nicht allzu steil. Einst mochte die Straße weiter in dieses kleine Tal hinab und auf der anderen Seite heraus geführt haben.

Scherkaner blieb an der Seite seiner Frau stehen und legte die linken Arme über ihre Schultern; nach einer Weile schob sie zwei von ihren Armen über seine, ohne ein Wort zu sagen. Unnerbei ging an den Rand und streckte den Kopf darüber hinaus. Überall bis zum Grunde waren Spuren einer Straße zu sehen. Doch die Stürme und Wolkenbrüche der Frühhelle hatten neue Klippen ausgewaschen. Das Tal selbst war bezaubernd, unberührt und sauber.

»He, he. Da können wir unmöglich runterfahren. Die Straße ist glatt weggespült worden.«

Viktoria Schmid schwieg einen Moment. »Ja. Glatt weggespült. So ist es am besten…«

Scherk sagte: »Weißt du, wir könnten wahrscheinlich zu Fuß hinübergehen und die andere Seite hinauf.« Er wies mit einer Hand auf das Gasthaus auf der Hügelkuppe jenseits des Tals. »Wir könnten sehen, ob Dame Encl…«

Viktoria umarmte ihn kurz und heftig. »Nein. Dort könnten ja doch höchstens wir drei unterkommen. Wir werden mit meinem Sicherungstrupp zelten.«

Nach einer Weile lachte Scherk auf. »… Ist mir Recht. Ich bin neugierig, ein modernes motorisiertes Biwak zu sehen.« Sie folgten Schmid zurück zum Pfad. Als sie wieder bei den Fahrzeugen waren, war Scherkaner in Hochform — irgendein Plan für leichte Zelte, die sogar die Stürme einer Frühhelle überstehen würden.

Fünfzehn

Tomas Nau stand am Fenster seines Schlafzimmers und schaute hinaus. In Wahrheit lagen seine Räume fünfzig Meter tief in Diamant Eins, doch sein Fenster zeigte einen Blick von der höchsten Spitze von Hammerfest. Seit dem Aufflammen war sein Besitz angewachsen. Geschnittene Diamantscheiben ergaben abgemessene Wände, und die überlebenden speziellen Handwerker würden ihr Leben damit verbringen, zu polieren und Facetten zu schleifen, Friese zu schneiden, die so kunstvoll wie alles waren, was Nau daheim besaß.

Der Boden um Hammerfest war eingeebnet, mit Metallen vom Erzdepot auf Diamant Zwei ausgelegt worden. Er versuchte, den Felshaufen so ausgerichtet zu lassen, dass nur Hammerfests Flaggmast wirklich ins Sonnenlicht ragte. Letztes Jahr ungefähr war diese Vorsichtsmaßnahme eigentlich nicht notwendig gewesen, doch im Schatten zu bleiben hieß, dass Wassereis für die Abschirmung und etliche Kittarbeiten benutzt werden konnte. Die Arachna hing in halber Höhe am Himmel, eine strahlende blau-weiße Scheibe von fast einem halben Grad Durchmesser. Ihr Licht fiel hell und weich auf das Burggelände. Es war ein ziemlich großer Kontrast zu den ersten Megasekunden hier, zu der Hölle des Wiederaufflammens. Nau hatte fünf Jahre daran gearbeitet, den gegenwärtigen Anblick herzustellen, den Frieden, die Schönheit.

Fünf Jahre. Und wie viele Jahre würden sie noch hier festsitzen? Dreißig bis vierzig war die glaubhafteste Schätzung der Fachleute, je nachdem, wie lange die Spinnen brauchten, um eine industrielle Ökologie zu schaffen. Es war komisch, wie sich alles ergeben hatte. Es war wirklich eine Verbannung, wenn auch ziemlich anders, als er es seinerzeit auf der Balacrea geplant hatte. Jene ursprüngliche Mission war eine andere Art kalkuliertes Risiko gewesen: ein paar Jahrhunderte fern von der immer tödlicheren Politik des heimatlichen Regimes, eine Gelegenheit, seine Ressourcen zu entwickeln, wo sie ihm niemand streitig machte — und die zusätzliche, goldene Chance, die Geheimnisse einer nichtmenschlichen raumfahrenden Spezies zu erfahren. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Dschöng Ho zuerst eintreffen würde.

Dschöng-Ho-Wissen war der Kern der Aufsteiger-Zivilisation der Balacrea. Tomas Nau hatte die Dschöng Ho sein Leben lang studiert, doch bis er sie getroffen hatte, hatte er nicht wirklich verstanden, wie sonderbar anders die Krämer waren. Ihre Flotte war doof und naiv gewesen. Sie mit verzögert ausbrechender Geistfäule zu infizieren, war ein Kinderspiel gewesen, den Überfall zu arrangieren fast ebenso leicht. Doch als sie erst einmal angegriffen wurden, hatten die Krämer wie die Teufel gekämpft, schlaue Teufel mit hundert Überraschungen, die sie im Voraus vorbereitet haben mussten. Ihr Flaggschiff war in den ersten hundert Sekunden der Schlacht vernichtet worden — doch das schien sie nur noch tödlicher zu machen. Als die Geistfäule die Krämer schließlich ausschaltete, lagen beide Seiten in Trümmern. Und nach der Schlacht war Naus zweite große Fehleinschätzung gekommen. Geistfäule konnte die Dschöng-Ho-Leute umbringen, doch viele von ihnen konnten weder per Gehirnwäsche blankgeputzt noch fokussiert werden. Die Verhöre waren sehr schlecht gelaufen, doch am Ende hatte er aus diesem Debakel ein Mittel gemacht, die Überlebenden zu vereinen.

Hammerfests Obergeschosse und die Fokus-Klinik und die elegante Ausstattung stammten also allesamt aus den Schiffswracks. Hier und da funktionierte inmitten der Ruinen noch Hochtechnologie. Alles übrige musste aus den Rohmaterialien des Felshaufens gewonnen werden — und zu gegebener Zeit von der Zivilisation der Spinnen.

Dreißig oder vierzig Jahre. Sie konnten es schaffen. Es müsste genug Kälteschlaf-Särge für die Überlebenden geben. Die Hauptsache war jetzt, die Spinnen zu erforschen, ihre Geschichte und Kultur, ihre Sprachen zu lernen. Um die Jahrzehnte zu überbrücken, war die Arbeit in ein Bündel Wachschichten aufgespalten — ein paar Megasekunden Dienst, ein Jahr oder zwei im Kälteschlaf. Manche, die Wissenschaftler und die Übersetzer, würden viel Zeit auf Wache verbringen. Andere — die Piloten und die Taktikleute — würden in den ersten Jahren kaum verwendet werden, dann aber bis zum Ende der Mission ständig wach sein. Nau hatte das alles auf Versammlungen mit seinen eigenen Leuten und der Dschöng Ho erklärt. Und was er versprochen hatte, wahr größtenteils wahr. Die Dschöng Ho hatte große Erfahrung mit solchen Operationen; mit etwas Glück würde der Durchschnittsmensch die Verbannung überstehen und nur zehn oder zwölf Jahre Lebenszeit verbrauchen. In der Zwischenzeit würde er die Flottenbibliothek der Krämer plündern; er würde alles lernen, was die Dschöng Ho jemals erfahren hatte.

Nau ließ die Hand auf der Oberfläche des Fensters ruhen. Es war so warm wie der Teppich an den Wänden. In Seuches Namen, diese Dschöng-Ho-Bildtapeten waren gut. Selbst bei seitlicher Sicht gab es keine Verzerrungen. Er kicherte leise. Am Ende würde es vielleicht kinderleicht sein, den Teil der Verbannung zu regeln, der die Krämer betraf. Sie hatten einige Erfahrung mit dem Dienstplan, den Nau vorschlug.

Was jedoch ihn selbst betraf… Nau erlaubte sich einen Augenblick Selbstmitleid. Jemand Vertrauenswürdiger und Fähiger musste auf Wache bleiben, bis die Sache ausgestanden war. Es gab nur eine solche Person, und ihr Name war Tomas Nau. Sich selbst überlassen, würde Ritser Brughel törichterweise Ressourcen umbringen, auf die man nicht verzichten konnte, oder sein Möglichstes tun, um Nau selbst zu töten. Sich selbst überlassen, konnte man Anne Reynolt über Jahre hinweg vertrauen, doch wenn etwas Unerwartetes auftrat… Nun ja, die Dschöng Ho schien gründlich unterworfen zu sein, und nach den Verhören war sich Nau relativ sicher, dass keine großen Geheimnisse übrig geblieben waren. Doch wenn sich die Dschöng Ho abermals verschwor, wäre Anne Reynolt hilflos gewesen.

Also würde Tomas Nau vielleicht hundert Jahre alt sein, ehe er hier den Triumph erlebte. Nach balacreanischen Maßstäben war das ein mittleres Alter. Nau seufzte. Sei’s drum. Die Dschöng-Ho-Medizin würde die verlorene Zeit mehr als wettmachen. Und dann…

Auf der anderen Seite des Zimmers regte sich das Krämer-Mädchen in ihrem Bett. »Was…?« Qiwi Lisolet erwachte. Durch ihre Bewegung schwebte sie aus dem Bett hoch. Sie hatte fast drei Tage durchgearbeitet und wieder versucht, eine stabile Anordnung für den Felshaufen zu finden. Lisolets Blick ging unstet umher. Sie wusste wahrscheinlich nicht einmal, wovon sie erwacht war. Ihre Augen fixierten Nau, der am Fenster stand, und ein mitfühlendes Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus. »Oh, Tomas, findest du wieder keinen Schlaf vor Sorge um uns?«

Sie streckte die Arme aus, eine tröstende Geste. Nau lächelte scheu und nickte. Verdammt, was sie sagte, war sogar annähernd wahr. Er schwebte durchs Zimmer, stoppte die Bewegung mit einer Hand, an der Wand hinter ihrem Kopf. Sie schlang die Arme um ihn, und sie schwebten langsam hinab auf das Bett unter ihnen. Er legte ihr die Arme um die Taille, fühlte, wie sie ihre starken Beine um seine schlang. »Du tust dein Möglichstes, Tomas. Versuche nicht, mehr zu tun. Es kommt alles in Ordnung.« Ihre Hände strichen zärtlich über das Haar in seinem Nacken, und er spürte, wie sie innerlich zitterte. Es war Qiwi Lisolet, die sich Sorgen machte, die sich zu Tode arbeiten würde, wenn sie glaubte, sie könnte damit ihrer aller Überlebenschance um ein Prozent erhöhen. Lange Sekunden trieben sie schweigend dahin, bis die Schwerkraft sie zu dem üppigen Geflecht von Spitze herabzog, das ihr Bett war.

Nau ließ seine Hände auf ihren Flanken hin und her wandern; er spürte, wie die Sorge in ihr langsam abklang. Eine Menge war bei dieser Mission schief gelaufen, doch Qiwi Lisolet konnte als kleiner Triumph verbucht werden. Sie war vierzehn gewesen — frühreif, naiv, eigensinnig —, als Nau die Dschöng-Ho-Flotte kassierte. Das Mädchen war wirksam mit Geistfäule infiziert. Sie hätte fokussiert werden können; eine Zeit lang hatte er erwogen, sie zu seinem Körperspielzeug zu machen. Der Seuche sei Dank, dass ich es nicht getan habe.

In den ersten paar Jahren hatte das Mädchen einen großen Teil der Zeit in diesem Zimmer verbracht und geweint. Diems ›Mord‹ an ihrer Mutter hatte sie zur ersten völlig aufrichtigen Überläuferin gemacht. Nau hatte Megasekunden damit verbracht, sie zu trösten. Zunächst war das nur eine Übung in Überzeugungskunst gewesen, mit der möglichen Nebenwirkung, dass Qiwi seine Glaubwürdigkeit bei den anderen Krämern erhöhen würde. Doch im Laufe der Zeit erkannte Nau, dass das Mädchen gefährlicher und nützlicher war, als er geglaubt hatte. Qiwi hatten einen großen Teil ihrer Kindheit wach auf dem Flug von Triland verbracht. Sie hatte die Zeit mit fast fokusmäßiger Intensität genutzt, Bauingenieurswesen, Lebenserhaltungs-Technik und Handelspraktiken gelernt. Es war sonderbar: Warum erhielt ein einzelnes Kind solch eine besondere Behandlung? Wie so viele Teile der Dschöng Ho hatte die Lisolet-Familie ihre eigenen Geheimnisse, ihre eigene interne Kultur. Während der Verhöre hatte er die wahrscheinliche Erklärung aus der Mutter des Mädchens herausgequetscht. Die Lisolets benutzten die Zeit zwischen den Sternen, um jene Mädchen zu formen, die für Führungspositionen in der Familie vorgesehen waren. Wenn es nach Kira Pen Lisolets Plänen gegangen wäre, wäre das Mädchen hier am Ziel für die weitere Unterweisung bereit gewesen, völlig beherrscht von ihrer Loyalität ihrer Mutter gegenüber.

Wie es sich ergeben hatte, eignete sich das Mädchen dadurch ideal für Tomas Naus Zwecke. Sie war jung und begabt und brauchte dringend jemanden, dem sie ihre Loyalität zuwenden konnte. Er konnte sie Wache um Wache ohne Kälteschlaf verbringen lassen, ganz wie er es selbst tun musste. Sie würde eine gute Gefährtin für die vor ihm liegende Zeit sein — und eine, die als ständige Probe für seine Pläne diente. Qiwi war klug, und ihre Persönlichkeit war in vieler Hinsicht noch sehr unabhängig. Selbst jetzt, nachdem die Beweise, was ihrer Mutter und den anderen wirklich zugestoßen war, sicher ins Nichts gesprengt waren, konnten Schnitzer passieren. Qiwi zu benutzen, war anstrengend, eine permanente Mutprobe. Doch wenigstens verstand er die Gefahr jetzt und hatte Vorkehrungen getroffen.

»Tomas…« Sie wandte sich ihm direkt zu. »Glaubst du, dass ich diesen Felshaufen jemals stabil kriege?«

Das war wirklich etwas, worum sie sich sorgen sollte. Ritser Brughel — oder selbst ein jüngerer Tomas Nau — hätte nicht erkannt, dass die korrekte Antwort keine Drohung oder auch nur Missbilligung sein konnte. »Ja, dir wird etwas einfallen. Uns wird etwas einfallen. Nimm dir ein paar Tage frei, ja? Der alte Trinli kommt in dieser Wache aus dem Kälteschlaf. Lass ihn den Felshaufen eine Weile balancieren.«

Qiwis Lachen ließ sie sogar noch jünger wirken, als sie aussah. »O ja. Pham Trinli!« Er war der Einzige von Diems Mitverschwörern, für den sie eher Mitleid als Zorn empfand. »Weißt du noch, wie er letztes Mal das Gleichgewicht gehalten hat? Er redet viel, aber er hat so schüchtern angefangen. Ehe er es sich versah, trieb der Felshaufen mit drei Metern pro Sekunde von L1 weg. Dann reagierte er zu heftig, und…« Sie begann wieder zu lachen. Die merkwürdigsten Dinge brachten dieses Krämermädchen zum Lachen. Es war eins von den Rätseln an ihr, das ihn noch fesselte.

Lisolet schwieg einen Augenblick, und als sie schließlich sprach, überraschte sie den Hülsenmeister. »Tja… vielleicht hast du Recht. Wenn es nur vier Tage sind, kann ich alles so vorbereiten, dass selbst Trinli nicht viel Schaden anrichten kann. Ich muss wirklich Abstand gewinnen, über einiges nachdenken. Vielleicht können wir die Blöcke doch noch mit Wasser zusammenfügen… Außerdem hat Papa diese Wache Dienst. Ich wäre gern ein wenig mehr mit ihm zusammen.« Sie schaute ihn fragend an und bat implizit um Freistellung vom Dienst.

Hmm. Manchmal kam bei der Manipulation nicht das Erwartete heraus. Er hätte drei Blitzköpfe gewettet, dass sie ihn mit seinem Angebot nicht beim Wort nehmen würde. Ich könnte sie immer noch davon abbringen. Er konnte gerade mit genug Zögern zustimmen, dass sie sich schämte. Nein. Es lohnte sich nicht, nicht diesmal. Und wenn man etwas nicht verbietet, sollt man die Erlaubnis von ganzem Herzen geben. Er zog sie an sich. »Ja! Sogar du musst lernen, dich zu entspannen.«

Sie seufzte, lächelte mit einem Anflug von Verschmitztheit. »O ja, aber das habe ich schon gelernt.« Sie griff nach seinem Glied, und eine Zeit lang schwiegen sie beide. Qiwi Lisolet war noch ein ungeschickter Teenager, doch sie lernte. Und Tomas Nau hatte noch Jahre, um sie zu lehren, wie man einen Mann wie ihn befriedigte. Kira Pen Lisolet hatte nicht annähernd so viel Zeit gehabt, und sie war eine Erwachsene gewesen, die Widerstand geleistet hatte. Nau lächelte bei der Erinnerung. O ja. Auf unterschiedliche Weise hatten ihm Mutter wie Tochter gute Dienste geleistet.


Ali Lin war nicht in die Lisolet-Familie hineingeboren worden. Er war Kira Pan Lisolets Erwerbung von außen gewesen. Ali war einer unter einer Billion, ein Genie, was Parks und Lebewesen anging. Und er war Qiwis Vater. Sowohl Kira als auch Qiwi hatten ihn sehr geliebt, obwohl er nie sein konnte, was Kira war und was Qiwi eines Tages sein würde.

Ali Lin war wichtig für die Aufsteiger, wohl so wichtig wie nur irgendeiner von den Fokussierten. Er war einer der wenigen, die einen Arbeitsplatz außerhalb der Käfterchen von Hammerfest hatten. Er war einer der wenigen, die nicht ständig von Anne Reynolt oder einem ihrer Mitarbeiter überwacht wurden.

Jetzt saßen er und Qiwi in den Baumwipfeln des Dschöng-Ho-Parks und spielten ein langsames, geduldiges Spiel mit den Käfern. Sie war seit zehn Kilosekunden hier und Papa etwas länger. Er ließ sie DNS-Differenzierungen an den neuen Stämmen von Müllspinnen durchführen, die er gezüchtet hatte. Selbst jetzt schien er ihr bei dieser Arbeit zu vertrauen und überprüfte nur etwa alle Kilosekunden die Ergebnisse. Die übrige Zeit verlor er sich in seinen Untersuchungen von Blättern und einer Art tagträumerischen Betrachtungen, wie er die Aufträge ausführen könnte, die ihm Anne Reynolt gegeben hatte.

Qiwi schaute an ihren Füßen vorbei zum Boden des Parks. Die Bäume waren blühende Amandors, von Leuten wie Ali Lin im Laufe von Jahrtausenden für Mikrogravitation gezüchtet. Die Blätter krümmten sich immer weiter nach unten, so buschig, dass ihr Horst vom schattigen ›Unten‹ aus fast unsichtbar war. Selbst ohne Schwerkraft verliehen der blaue Himmel und die Krümmung der Zweige dem Park eine feine Orientierung. Die größten echten Tiere waren die Schmetterlinge und die Bienen. Sie hörte die Bienen, sah gelegentlich eine vorbeischießen. Die Schmetterlinge waren überall. Die Mikro-g-Abarten orientierten sich am falschen Sonnenlicht, also gab ihr Flug dem Besucher einen weiteren psychologischen Anhaltspunkt für oben und unten. Momentan waren keine anderen Menschen im Park, offiziell war er für Wartungsarbeiten geschlossen. Das war ziemlich geschwindelt, aber Tomas Nau hatte sie deswegen nicht zurechtgewiesen. In der Tat war der Park einfach zu beliebt geworden. Die Aufsteiger liebten ihn mindestens so sehr wie die von der Dschöng Ho. Der Ort war so beliebt, dass Qiwi die Anfänge eines Systemausfalls feststellen konnte; die kleinen Müllspinnen kamen nicht mehr ganz nach.

Sie schaute auf das geistesabwesende Gesicht ihres Vaters und lächelte. Es war wirklich Wartungszeit, in gewissem Sinne. »Hier ist die letzte Gruppe von Diffs; ist es das, was du suchst, Papa?«

»Hmm?« Er schaute nicht von seiner Arbeit auf. Dann schien er unvermittelt zu hören. »Wirklich? Lass sehen, Qiwi.«

Sie schob das Blatt zu ihm hinüber. »Siehst du? Hier und hier. Das ist die Übereinstimmung von Mustern, nach der wir gesucht haben. Die Imaginalscheiben werden sich genau so ändern, wie du willst.« Papa wollte einen höheren Metabolismus, ohne dass die Beschränkungen der Population verloren gingen. In diesem Park hatten die Insekten keine bakteriellen Feinde; der Kampf ums Leben lief in ihren Genomen ab.

Ali nahm ihr das Blatt aus der Hand. Er lächelte sanft, schaute sie fast an, nahm sie fast wahr. »Gut, du hast den Trick mit der Vermehrung genau hingekriegt.«

Solche Worte zu hören, war für Qiwi Lisolet so ziemlich die größtmögliche Annäherung an die Vergangenheit. Das Alter von neun bis vierzehn war für Qiwi Lisolet die Zeit des Lernens gewesen. Es war eine einsame Zeit gewesen, doch Mama hatte Recht damit gehabt. Qiwi war ein gutes Stück zum Erwachsensein vorangeschritten, hatte gelernt, im großen Dunkel allein zu sein. Sie hatte vieles über die Lebenserhaltungssysteme gelernt, die das Fachgebiet ihres Vaters waren, über die Himmelsmechanik, die alle Konstruktionen ihrer Mutter möglich machten, und am meisten hatte sie gelernt, wie gern sie mit anderen während deren Wachzeiten zusammen war. Ihr Eltern hatten beide mehrere von diesen Jahren außerhalb des Kälteschlafs verbracht, hatten die Wartungsarbeiten mit ihr und den Wachtechnikern geteilt.

Jetzt war Mama tot und Papa fokussiert, seine Seele auf eine einzige Sache konzentriert und beschränkt: die biologische Regelung von Lebenserhaltungssystemen. Doch im Rahmen von Fokus konnten sie beide immer noch kommunizieren. In den Jahren seit dem Überfall waren sie Megasekunden lang gemeinsam auf Wache gewesen. Qiwi lernte noch immer von ihm. Und manchmal, wenn sie tief in Fragen der Artenstabilität versunken waren — dann war es manchmal wie früher in der Kindheit, als Papa mitunter so von seiner Leidenschaft für Lebewesen gefesselt war, dass er zu vergessen schien, dass seine Tochter eigentlich eine Person war, so sehr waren sie beide von Wundern gebannt, die größer waren als sie selbst.

Qiwi studierte die Diffs — doch größtenteils beobachtete sie ihren Vater. Sie wusste, dass er kurz vor dem Abschluss des Müllspinnen-Projekts stand, zumindest seines Teils davon. Lange Erfahrung sagte ihr, dass es danach ein paar Augenblicke geben würde, da Ali Lin zugänglich war, während sein Fokus nach einem neuen Objekt suchte, an das er sich binden konnte. Qiwi lächelte vor sich hin. Und ich habe das Projekt. Es war fast genau das, was Reynolt und Tomas von Papa wollten; es würde also möglich sein, ihn abzulenken, wenn sie es richtig anstellte.

Da. Ali Lin seufzte mit einem zufriedenen Blick auf die Zweige und Blätter ringsum. Qiwi hatte vielleicht fünfzig Sekunden. Sie glitt von ihrem Ast herab, hielt sich mit der Fußspitze fest. Sie holte die Bonsai-Kugel hervor, die sie hereingeschmuggelt hatte, und kehrte zu ihrem Vater zurück. »Kennst du die noch, Papa? Richtig, richtig kleine Parks?«

Papa ignorierte ihre Worte nicht. Er wandte sich so schnell wie ein normaler Mensch ihr zu, und seine Augen weiteten sich, als er die durchsichtige Kunststoffkugel erblickte. »Ja! Abgesehen vom Licht eine völlig geschlossene Ökologie.«

Qiwi ließ die leere Kugel in seine Hände schweben. Bonsai-Kugeln waren in der Enge eines Staustrahlschiffes auf dem Flug weit verbreitet. Sie existierten in allen Graden von Raffinesse — von Moosklumpen bis zu Dingen, die fast so komplex wie ein Park waren. Und… »Das ist ein bisschen kleiner als die Probleme, an denen wir gearbeitet haben. Ich bin nicht sicher, ob deine Lösung hier funktionieren würde.«

An seinen Stolz zu appellieren, hatte bei dem Ali von früher oft geholfen, fast so oft wie ein Appell an seine Liebe. Jetzt musste man Papa genau im richtigen Augenblick erwischen. Er blinzelte die Kugel an, schien ihre Ausmaße mit den Händen zu erfassen. »Nein, nein! Ich kann das. Meine neuen Tricks sind sehr wirksam… Würdest du einen kleinen See wollen, vielleicht lipidgebunden, damit er flach bleibt?«

Qiwi nickte.

»Und diese Müllspinnen, ich kann sie kleiner machen und ihnen bunte Flügel geben.«

»Ja.« Reynolt würde ihn mehr Anstrengungen in die Müllkäfer investieren lassen. Sie waren nicht nur für den Zentralpark wichtig. So viel war in den Kämpfen zerstört worden. Alis Arbeit würde Lebenserhaltungs-Module in kleinem Maßstab überall in den noch bewohnbaren Abschnitten ermöglichen. Für so etwas brauchte man normalerweise eine Gruppe von Dschöng-Ho-Fachleuten und tiefe Nachforschungen in den Datenbanken der Flotte — doch Papa war sowohl fokussiert als auch genial. Er konnte solche Entwicklungsarbeit ganz allein machen und in nur ein paar Megasekunden.

Papa brauchte nur einen Anstoß in Richtung auf das passende Konzept, etwas, das diese trockene alte Anne Reynolt kaum liefern konnte. Also…

Ali Lin grinste plötzlich über beide Backen. »Ich wette, ich kann die Hochschätze von Namqem übertreffen. Schau, die Filtergewebe werden quer durchgehen. Die Büsche werden die üblichen sein, vielleicht ein wenig modifiziert, um deine Insekten-Diffs zu unterhalten.«

»Ja, ja«, sagte Qiwi. Es hatte ein echtes Gespräch gegeben, etliche hundert Sekunden lang, bevor ihr Vater in die heftige Konzentration verfallen war, die die ›einfachen Änderungen‹ wirklich realisierbar machen würde. Das Schwierigste wäre auf der Ebene der Bakterien und Mitochondrien zu tun, und das ging völlig über Qiwis Verständnis. Sie lächelte ihrem Vater zu, streckte beinahe die Hand aus, um ihn an der Schulter zu berühren. Mama wäre stolz auf sie beide. Vielleicht waren Papas Methoden sogar neu — gewiss standen sie nirgends an den naheliegenden Stellen in den historischen Datenbanken. Qiwi hatte sich gedacht, sie würden ein paar sehr hübsche Mikroparks ermöglichen, doch dies war mehr, als sie sich erhofft hatte.

Die Bonsais der Hochschätze waren nicht größer, dreißig Zentimeter höchstens. Manche von ihnen hatten zweihundert Jahre gelebt, komplette Tier-Pflanzen-Ökosysteme, sogar eine gefälschte Evolution brachten sie hervor. Die Methode war Privateigentum, und nicht einmal die Dschöng Ho war imstande gewesen, alles davon zu erwerben. Solche Dinge allein mit den Ressourcen einer Mission zu schaffen, wäre ein Wunder. Wenn Papa noch mehr zustande brachte… hmm. Die meisten Leute, sogar Tomas, glaubten anscheinend, Qiwi sei zum Waffenführer erzogen worden, um die militärische Laufbahn ihrer Mutter einzuschlagen. Sie begriffen es nicht. Die Lisolets gehörten zur Dschöng Ho. Kämpfen war bei weitem zweitrangig. Gewiss, sie hatte ein wenig über Gefechte gelernt. Gewiss, Mama hatte vorgehabt, sie ein, zwei Jahrzehnte lang lernen zu lassen, was zu tun ist, Wenn Weiter Nichts Hilft. Aber der Handel war es, worauf immer wieder alles hinauslief. Handeln und Gewinn machen. Also waren sie von den Aufsteigern überwältigt worden. Aber Tomas war ein anständiger Mensch — und er hatte den härtesten Job, den sie sich vorstellen konnte. Sie tat alles in ihren Kräften Stehende, um ihn zu unterstützen, um den Rest ihrer Expedition überleben zu lassen. Tomas konnte nichts dafür, dass seine Kultur völlig versaut war.

Und letzten Endes würde es keine Rolle spielen, dass Tomas es nicht verstand. Qiwi lächelte die leere Kunststoffkugel an und stellte sich vor, wie es wäre, wenn die Schöpfung ihres Vaters sie ausfüllte. In zivilisierten Gegenden konnte ein Spitzen-Bonsai den Preis eines ganzen Sternenschiffs bringen. Hier? Nun ja, Qiwi konnte das nebenher machen. Immerhin war es leichtfertig, etwas, das Tomas wahrscheinlich nicht vor sich rechtfertigen konnte. Tomas hatte das Anlegen von Vorräten und den Austausch von Gefälligkeiten verboten. Oh-oh. Vielleicht muss ich eine Weile an ihm vorbei arbeiten. Es war viel einfacher, hinterher die Erlaubnis zu bekommen. Letzten Endes, meinte sie, würde die Dschöng Ho Tomas’ Leute viel stärker verändern als umgekehrt.

Sie begann gerade mit einer neuen Diff-Sequenz, als ein reißendes Geräusch von unten her ertönte, dessen Quelle vom Laub verdeckt wurde. Eine Sekunde lang erkannte Qiwi das Geräusch nicht. Die Bodenluke. Die diente nur zu Bauzwecken. Sie zu öffnen, würde die Moosschicht zerreißen. Verdammt.

Qiwi schwang sich von ihrem kleinen Nest herab und bewegte sich leise nach unten, sorgfältig darauf achtend, dass sie keine Zweige knacken ließ und keinen Schatten auf das Moos am Boden warf. Einzubrechen, während der Park offiziell geschlossen war, war nur ein Ärgernis — ja doch, es war so etwas, das sie auch selber tun würde, wenn ihr danach war. Doch diese Bodenluke sollte nicht geöffnet werden. Es verdarb die Illusion des Parks und beschädigte den Erdboden. Welcher Blödian tat denn so was — insbesondere, wenn man bedachte, wie ernst Aufsteiger offizielle Regeln nahmen?

Qiwi schwebte direkt über dem untersten Laubdach. In einer Sekunde würde der Eindringling zu sehen sein, doch sie hörte ihn bereits. Es war Ritser Brughel. Der Vize-Hülsenmeister kam über das Moos, fluchte und schlug nach etwas in den Büschen. Der Kerl war eine wahre Dreckschleuder. Qiwi war eine eifrige Schülerin solcher Sprache und hatte ihm schon früher zugehört. Brughel war vielleicht der Chef Nummer zwei der Aufsteiger-Expedition — doch er war auch der wandelnde Beweis, dass Aufsteiger-Führer Arschlöcher sein konnten. Tomas schien sich bewusst zu sein, dass der Bursche ein schlechter Schauspieler war; er hatte das Quartier des Vize-Hülsenmeisters vom Felshaufen weg in die Unsichtbare Hand verlegt. Und Brughels Wachrhythmus war derselbe wie eines Großteils der regulären Mannschaft. Während der arme Tomas Jahr für Jahr älter wurde, um die Mission in Sicherheit zu halten, kam Brughel nur für zehn von jeweils vierzig Megasekunden aus dem Kälteschlaf. Qiwi kannte ihn nicht besonders gut — doch was sie von ihm kannte, verabscheute sie. Wenn man diesem Blödmann zutrauen könnte, selber klarzukommen, würde Tomas nicht seine Lebenszeit für uns aufbrauchen. Sie hörte noch einen Moment schweigend zu. Ganz nett. Doch bei ihm war da ein Unterton, den sie in den Obszönitäten der meisten Leute nicht hörte, als ob der Kerl das, was er sagte, buchstäblich meinte.

Qiwi schob sich laut durch die Zweige und hielt sich so, dass sie einen halben Meter ins Freie ragte — ungefähr Auge in Auge mit dem Aufsteiger. »Der Park ist für Wartungsarbeiten geschlossen, Hülsenmeister.«

Brughel zuckte vor Überraschung ein winziges Stück zurück. Eine Sekunde lang schwieg er, während seine blasse rosa Haut auf ausgesprochen komische Art dunkel anlief. »Du unverschämtes kleines… was also machst du hier?«

»Ich mache die Wartungsarbeiten.« Nun ja, zumindest kam das der Wahrheit nahe genug. Jetzt Gegenangriff: »Und was tun Sie hier?«

Brughels Gesicht wurde noch dunkler. Er zog sich hoch, den Kopf zehn Zentimeter über dem von Qiwi. Jetzt schwebten seine Füße auch. »Abschaum hat mir gar keine Fragen zu stellen.« Er trug diesen albernen Stahlstock. Es war ein glattes Metall, in das hier und da etwas mit dunklen Flecken eingeritzt war. Er hielt sich mit einer Hand fest und ließ den Stock in einem glitzernden Bogen herumwirbeln, der den jungen Baum neben Qiwis Kopf zersplittern ließ.

Jetzt wurde auch Qiwi wütend. Sie packte einen von den tieferen Ästen, platzierte sich so, dass sie wieder mit Brughel Auge in Auge war. »Das ist Vandalismus, keine Erklärung.« Sie wusste, dass Tomas den Park überwachen ließ — und Vandalismus war bei den Aufsteigern mindestens ebenso ein Verbrechen wie bei der Dschöng Ho.

Der Hülsenmeister war so wütend, dass ihm das Sprechen Mühe bereitete. »Ihr seid die Vandalen. Dieser Park war schön, schöner, als ich es Abschaum jemals zugetraut hätte. Aber jetzt sabotiert ihr ihn. Ich war gestern hier — ihr habt ihn mit Ungeziefer verseucht.« Er schwang wieder den Metallstock, und der Schlag riss ein Müllnetz fort, das in den Zweigen versteckt war. Die Netzwesen schwebten in alle Richtungen fort und zogen silbrige Fäden hinter sich her. Brughel stocherte in dem Netz herum, rührte Käfergehäuse und tote Blätter und allerlei Abfall zu einer Wolke auf. »Da! Was vergiftet ihr noch so?« Er beugte sich nahe zu ihr hin und schaute von oben her auf sie herab.

Einen Moment lang starrte Qiwi ihn einfach verständnislos an. Er konnte doch wohl nicht meinen, was er sagte. Wie konnte jemand derart dumm sein? Aber vergiss nicht, er ist ein Bodenlatscher. Sie zog sich hoch genug, um ihrerseits auf Brughel herabzublicken, und brüllte ihm ins Gesicht. »Das ist ein Null-g-Park, um Gottes willen! Was, meinen Sie, hält die Luft sauber von herumfliegendem Dreck? Die Müllkäfer sind immer hier gewesen… obwohl sie momentan vielleicht ein bisschen überfordert sind.« Sie hatte es nicht ganz so gemeint, wie es herauskam, doch jetzt schaute sie an dem Hülsenmeister entlang, als denke sie an ein besonders großes Stück Müll.

Sie waren jetzt über den unteren Laubdächern. Aus den Augenwinkeln konnte Qiwi Papa sehen. Der Himmel war grenzenlos blau, hier und da von einem Zweig bewacht. Sie spürte das falsche Sonnenlicht heiß auf dem Hinterkopf. Wenn sie noch ein paar Runden Ich-rauf-du-rauf spielten, würden sie mit den Köpfen an Kunststoff stoßen. Qiwi musste plötzlich lachen.

Und jetzt war Brughel still und starrte sie nur an. Er hieb sich mit dem Stahlstock wieder und wieder in die Handfläche. Es gab Gerüchte über diese dunklen Flecken auf dem Metall; es war offensichtlich, was Ritser Brughel gern wollte, das die Leute über die Herkunft dieser Flecken glaubten. Aber der Kerl betrug sich einfach nicht wie ein Kämpfer. Und wie er so diesen Stock schwang, sah es aus, als hätte er niemals an die Möglichkeit gedacht, es könnte Opfer geben, die sich wehrten. Jetzt eben war sein einziger Halt die Zehe eines Schuhs, die zwischen Zweige gehakt war. Qiwi verschaffte sich unauffällig festen Halt und lächelte ihr unverschämtestes Lächeln.

Eine Sekunde lang rührte sich Brughel nicht. Sein Blick huschte auf ihr von Seite zu Seite. Und dann, ohne ein weiteres Wort, stieß er sich ab, zappelte einen Moment lang, fand einen Ast und tauchte zur Bodenluke weg.

Qiwi schwebte lautlos, die seltsamsten Gefühle jagten ihren Körper hoch, die Arme hinab. Einen Augenblick lang konnte sie sie nicht bestimmen. Aber der Park… wie wunderbar er ohne Ritser Brughel war! Sie hörte die kleinen Summgeräusche und die Schmetterlinge, wo sie einen Moment vorher ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Wut des Hülsenmeisters verengt hatte. Und jetzt erkannte sie das Vibrieren in ihren Armen und das Rasen ihres Herzens: Zorn und Furcht.

Qiwi Lin Lisolet hatte in ihrem Leben schon genug Leute geneckt und wütend gemacht. Vor dem Flug war es fast ihr Hobby gewesen. Mama sagte, es sei unbewusster Zorn auf den Gedanken, zwischen den Sternen allein zu sein. Doch es hatte auch Spaß gemacht. Dies hier war etwas anderes.

Sie wandte sich wieder dem Nest ihres Vaters in den Bäumen zu. Und im Laufe der letzten Jahre war eine Menge Leute auf sie wütend gewesen. Zu jenen unschuldigen Zeiten hatte Ezr Vinh nahezu der Schlag getroffen. Der arme Ezr, ich wünschte… Doch heute war es anders gewesen. Sie hatte den Unterschied in Ritser Brughels Augen gesehen. Der Mann hatte sie wirklich umbringen wollen, war drauf und dran gewesen, es zu versuchen. Und der einzige Gedanke, der ihn davon abgebracht hatte, war wahrscheinlich gewesen, dass Tomas es erfahren würde. Doch wenn Brughel sie jemals allein erwischen würde, unbeobachtet von den Sicherheitskameras…

Als Qiwi Ali Lin erreichte, zitterten ihre Hände. Papa. Sie wünschte sich so sehr, er möge sie umarmen, das Zittern besänftigen. Ali Lin schaute sie nicht einmal an. Papa war jetzt seit mehreren Jahren fokussiert, doch Qiwi konnte sich an die Zeiten früher so gut erinnern. Früher… wäre Papa bei den ersten Klängen eines Streites unter ihm aus den Bäumen gestürzt gekommen. Er hätte sich zwischen Qiwi und Brughel geworfen, ungeachtet des Stahlknüppels. Jetzt… Qiwi erinnerte sich nicht an viel von den letzten Augenblicken, ausgenommen Ritser Brughel. Doch es gab Bruchstücke. Ali hatte ungerührt zwischen seinen Bildschirmen und Analysegeräten gesessen. Er hatte den Streit gehört, sogar zu ihnen hergeschaut, als das Geschrei laut und heftig wurde. Sein Blick war ungeduldig gewesen, ein vorwurfsvolles ›Lenkt mich nicht ab‹.

Qiwi streckte eine noch immer zitternde Hand aus, um ihn an der Schulter zu berühren. Er zuckte, wie man einen aufdringlichen Käfer verscheuchte. In mancher Hinsicht lebte Papa noch, doch in anderer wirkte er toter als Mama. Tomas sagte, Fokus könnte rückgängig gemacht werden. Aber Tomas brauchte Papa und die anderen Fokussierten so, wie sie jetzt waren. Außerdem war Tomas als Aufsteiger erzogen worden. Sie benutzten Fokus, um aus Menschen Eigentum zu machen. Sie waren stolz, das zu tun. Qiwi wusste, dass es bei der Dschöng Ho viele Überlebende gab, die das ganze Gerede vom ›Rückgängigmachen von Fokus‹ für eine Lüge hielten. Bisher war kein einziger Fokussierter wiederhergestellt worden. Über so etwas Wichtiges würde Tomas nicht lügen.

Und wenn sie und Papa ihre Sache gut genug machten, konnte sie ihn vielleicht umso eher zurückbekommen. Denn das war kein Tod, der ewig dauerte. Sie glitt auf den Sitz neben ihm und begann wieder, die neuen Diffs durchzusehen. Die Prozessoren hatten die ersten Resultate angezeigt, während sie noch mit Ritser Brughel Beleidigungen wechselte.

Papa würde erfreut sein.


Nau traf sich noch immer ungefähr alle Megasekunden mit dem Flottenkomitee. Die Teilnehmer wechselten natürlich von Wache zu Wache erheblich. Ezr Vinh war heute zugegen; es würde sehr interessant sein, die Reaktion des Jungen auf die Überraschung zu sehen, die er geplant hatte. Und Ritser Brughel nahm heute teil, also hatte er Qiwi gebeten, fernzubleiben. Nau lächelte vor sich hin. Verdammt, ich hätte nie geahnt, wie gründlich sie den Mann demütigen kann.

Nau hatte das Komitee mit seinen eigenen Stabsbesprechungen der Aufsteiger kombiniert und nannte das Besprechungen der ›Wach-Verwalter‹. Es lief immer darauf hinaus, dass sie bei all ihren alten Differenzen jetzt zusammen in dieser Sache steckten und nur Zusammenarbeit zum Überleben führen konnte. Die Besprechungen waren nicht so bedeutsam wie Naus private Konsultationen mit Anne Reynolt oder seine Arbeit mit Ritser Brughel und den Sicherheitsleuten. Die kamen oft zwischen den regulären Wachen vor. Dennoch war es nicht gelogen, dass bei diesen Treffen alle Megasekunden wichtige Arbeit getan wurde. Nau zeigte auf die Tagesordnung. »So. Letzter Punkt: Anne Reynolts Expedition zur Sonne. Anne?«

Anne lächelte nicht, als sie ihn korrigierte. »Der Bericht der Astrophysiker, Hülsenmeister. Doch zunächst habe ich eine Beschwerde. Wir brauchen mindestens einen nichtfokussierten Spezialisten auf diesem Gebiet. Sie wissen, wie schwer es ist, technische Ergebnisse einzuschätzen…«

Nau seufzte. Damit war sie ihm auch privat gekommen. »Anne, uns fehlen die Ressourcen. Wir haben nur drei überlebende Spezialisten auf diesem Gebiet.« Und das waren alles Blitzköpfe.

»Ich brauche trotzdem jemanden mit gesundem Menschenverstand für die Einschätzung.« Sie zuckte die Achseln. »Also gut. Ihrer Anweisung gemäß haben wir zwei von den Astrophysikern seit der Zeit vor dem Aufflammen ständig auf Wache gehabt. Vergessen Sie nicht, sie hatten fünf Jahre Zeit, um über diesen Bericht nachzudenken.« Reynolt machte eine Handbewegung in die Luft, und sie schauten auf ein modifiziertes Dschöng-Ho-Taxi. Zusätzliche Treibstofftanks waren an jeder Seite angebracht, und die Vorderseite war ein Wald von Sensorgeräten. Auf einer Seite war über einem Rahmen ein silbernes Schirmsegel aufgespannt. »Unmittelbar vor dem Aufflammen flogen Doktor Li und Doktor Wen mit diesem Flugkörper in eine niedrige Umlaufbahn um den EinAus-Stern.« Ein zweites Fenster zeigte den Abstieg und die schließlich erreichte Umlaufbahn kaum fünfhundert Kilometer über der Oberfläche des Sterns. »Indem sie das Segel richtig ausgerichtet hielten, sind sie in dieser Höhe über einen Tag lang sicher geflogen.«

Eigentlich waren es Jau Xins Piloten-Blitzköpfe gewesen, die geflogen waren. Nau nickte Xin zu. »Das war gute Arbeit, Pilotenverwalter.«

Xin grinste. »Danke, Herr Hülsenmeister. Etwas, das ich meinen Kindern erzählen kann.«

Reynolt ignorierte die Bemerkung. Sie ließ Mehrfach-Fenster aufleuchten, die Ansichten aus geringer Höhe in verschiedenen Spektralauszügen zeigten. »Wir haben es von Anfang an schwer mit der Analyse gehabt.«

Sie hörten jetzt die aufgezeichneten Stimmen der beiden Blitzköpfe. Li stammte von Aufsteigern ab, doch der andere sprach einen Dschöng-Ho-Dialekt. Das musste Wen sein: »Wir wussten immer, dass der EinAus Masse und Dichte eines normalen G-Sterns hat. Jetzt können wir hochauflösende Karten der inneren Temperaturen und Dich…« Dr. Li fiel ihm mit der typischen Dringlichkeit eines Blitzkopfes ins Wort: »Aber wir brauchen mehr Mikrosatelliten… Pfeif auf die Ressourcen. Wir brauchen mindestens zweihundert, die ganze Zeit des Aufflammens über.«

Reynolt hielt den Ton an. »Wir haben ihnen einhundert verschafft.« Weitere Fenster flammten auf, Li und Wen wieder in Hammerfest nach dem Aufflammen, in ständiger Diskussion. Reynolts Berichte waren oft so, ein Hagel von Bildern und Tabellen und Tonfetzen.

Wen redete wieder. Er klang erschöpft. »Sogar im Aus-Zustand waren die zentralen Dichten typisch für einen G-Stern, trotzdem gab es keinen Kollaps. Die Oberflächenturbulenz ist kaum zehntausend Kilometer tief. Wie? Wie? Wie?«

Li: »Und nach dem Aufflammen sieht die tiefe innere Struktur immer noch so aus.«

»Wir können es nicht sicher wissen, wir kommen nicht nahe genug ran.«

»Nein, jetzt sieht es vollkommen typisch aus. Wir haben Modelle…«

Wens Stimme änderte sich wieder. Er sprach schneller, in einem Ton, der nach Frustration klang, fast nach Schmerz: »All diese Daten, und wir haben immer noch dieselben Rätsel wie zuvor. Ich habe jetzt fünf Jahre damit zugebracht, Reaktionswege zu untersuchen, und habe ebenso wenig einen Anhaltspunkt wie die Astronomen im Zeitalter der Morgenröte. Es muss etwas im erweiterten Kern vor sich gehen, sonst gäbe es einen Kollaps.«

Der andere Blitzkopf klang pikiert. »Offensichtlich strahlt der Stern selbst im Aus-Zustand noch, aber er strahlt etwas ab, das sich in geringe Wechselwirkung umwandelt.«

»Aber was? Was? Und wenn es so etwas geben könnte, warum kollabieren die höheren Schichten nicht?«

»Weil die Konversion an der Basis der Photosphäre stattfindet, und die ist kollabiert! Ryop. Ich benutze deine eigene Modellierungs-Software, um das zu zeigen!«

»Nein. Post hoc erfundener Nonsens, nicht besser als in früheren Zeitaltern.«

»Aber ich habe Daten!«

»So? Deine Adiabaten sind…«

Reynolt schaltete den Ton aus. »So haben sie viele Tage weitergemacht. Das meiste davon ist ein privater Jargon, die Sorte Zeug, wie sie ein eng verkoppeltes fokussiertes Paar oft erfindet.«

Nau straffte sich auf seinem Sitz. »Wenn sie nur miteinander sprechen können, haben wir keinen Zugang. Haben Sie sie verloren?«

»Nein. Zumindest nicht auf die übliche Art. Dr. Wen wurde so frustriert, dass er anfing, zufällige Außeneinflüsse zu erwägen. Bei einem normalen Menschen kann das zu Kreativität führen, aber…«

Brughel lachte, aufrichtig amüsiert. »Ihre Astronomen blicken nicht mehr durch, was, Reynolt?«

Reynolt würdigte Brughel keines Blickes. »Schweigen Sie«, sagte sie. Nau bemerkte das Erstaunen der Krämer angesichts dieses Satzes. Ritser war der Zweite in der Befehlskette, der offensichtliche Sadist unter den Herrschenden — und jetzt hatte sie ihn abrupt abgebürstet. Ich frage mich, wann die Krämer es herausfinden werden. Ein finsterer Ausdruck huschte über Brughels Gesicht. Dann wurde sein Grinsen breiter. Er lehnte sich im Stuhl zurück und warf Nau einen amüsierten Blick zu. Anne fuhr ohne zu stocken fort: »Wen zog sich von dem Problem zurück, setzte es in immer breitere Zusammenhänge. Anfangs hatte das noch einigen Bezug zur Fragestellung.«

Wens Stimme erklang wieder, so eilig und monoton wie zuvor. »Die galaktische Umlaufbahn von EinAus. Ein Anhaltspunkt.« Die vermutliche galaktische Bahnkurve des Sterns — unter der Annahme, dass es keine nahen Passagen an anderen Sternen gegeben hatte — flammte in einem Fenster auf. Anne stützte sich auf die Notizbücher des Mannes. Die Zeichnung reichte eine halbe Milliarde Jahre zurück. Es war die typische Blütenblatt-Kurve eines Sterns der Halo-Population: Alle zweihundert Millionen Jahre drang der EinAus-Stern in das verborgene Herz der Galaxis ein. Von dort zog er immer weiter hinaus, bis die Sterne rar wurden und die intergalaktische Dunkelheit begann. Tomas Nau war kein Astronom, doch er wusste, dass Sterne der Halo-Population keine brauchbaren Planetensysteme haben und daher selten besucht werden. Doch das war gewiss die kleinste von den Absonderlichkeiten des EinAus-Sterns.

Irgendwie hatte sich der Blitzkopf von der Dschöng Ho total auf die galaktische Umlaufbahn des Sterns fixiert. »Dieses Ding — es kann kein Stern sein — hat das Herz Von Allem gesehen. Wieder und wieder und wieder…« Reynolt überging etwas, das eine lange, ausweglose Schleife im Denken des armen Wen sein musste. Die Stimme des Blitzkopfes war vorübergehend ruhiger: »Anhaltspunkte. Es gibt jede Menge Anhaltspunkte, wirklich. Physik hin, Physik her, es genügt, die Lichtkurve zu betrachten. Zweihundertundfünfzehn von zweihundertfünfzig Jahren strahlt er weniger wahrnehmbare Energie ab als ein brauner Zwerg.« Die Fenster, die Wens Gedanken begleiteten, huschten von Idee zu Idee, Bilder von braunen Zwergen, die viel schnelleren Schwingungen, die die Physiker für die ferne Vergangenheit des Stern extrapoliert hatten. »Es geschehen Dinge, die wir nicht sehen. Aufflammen, eine Lichtkurve mit leichter Ähnlichkeit zu der einer periodischen Q-Nova, die in ein paar Megasek zu einem Spektrum absinkt, das fast einem erklärlichen Stern gehören könnte, der einen Fusionskern umgibt. Und dann verblasst das Licht langsam wieder auf Null… oder wird zu etwas, das wir nicht sehen können. Das ist überhaupt kein Stern! Es ist Zauberei. Eine Zaubermaschine, die jetzt kaputt ist. Ich wette, es war einmal ein Generator für schnelle Rechteckwellen. Das ist es! Zauberei aus dem Herzen der Galaxis, jetzt kaputt, sodass niemand sie versteht.«

Die Tonaufzeichnung endete abrupt, und Wens Kaleidoskop von Fenstern erstarrte mitten im hektischen Wechsel. »Dr. Wen ist in diesem Ideenzyklus zehn Megasekunden lang völlig gefangen gewesen«, sagte Reynolt.

Nau wusste schon, worauf das hinauslief, machte aber trotzdem ein besorgtes Gesicht. »Und was bleibt uns?«

»Dr. Li macht sich gut. Er war im Begriff, in seinen eigenen Zyklus von Gegenargumenten zu rutschen, bis wir ihn von Wen trennten. Jetzt aber… nun ja, er ist auf Dschöng-Ho-Software zur Systemidentifikation fixiert. Er hat ein ungeheuer komplexes Modell, das zu allen Beobachtungen passt.« Weitere Bilder, Lis Theorie von einer neuen Familie subatomarer Teilchen. »Dr. Li dringt in das kognitive Territorium vor, das Hunte Wen monopolisiert hat, doch er kommt zu ganz anderen Ergebnissen.«

Lis Stimme: »Ja. Ja! Mein Modell sagt voraus, dass Sterne wie dieser in der Nähe des galaktischen Lochs sehr häufig vorkommen müssen. Sehr, sehr selten treten sie in Wechselwirkung, eine stark gekoppelte Explosion. Das Ergebnis wird aus dem Galaxiskern ausgestoßen.« Natürlich war Lis Bahn nach der angenommenen Explosion mit der von Wen identisch. »Ich kann allen Parametern gerecht werden. Im Staub des Kerns können wir keine blinkenden Sterne sehen, sie sind nicht hell und sehr hochfrequent. Aber einmal in einer Milliarde Jahre bekommen wir diese asymmetrische Zerstörung und einen Ausstoß.« Bilder der hypothetischen Explosion des hypothetischen Zerstörers von EinAus. Bilder, wie das ursprüngliche Planetensystem von EinAus weggesprengt wurde — ausgenommen einen winzigen geschützten Schatten auf der vom Zerstörer abgewandten Seite von EinAus.

Ezr Vinh beugte sich vor. »Gott, er hat so ziemlich alles erklärt.«

»Ja«, sagte Nau. »Sogar die Spezifik als Ein-Planeten-System.« Er wandte sich von dem Gewirr von Fenstern ab und schaute Anne an. »Also, was meinen Sie?«

Reynolt zuckte die Achseln. »Wer weiß? Darum brauchen wir einen unfokussierten Spezialisten, Hülsenmeister. Dr. Li breitet sein Netz immer weiter aus. Das kann ein Symptom einer klassischen Patenterklärungs-Falle sein. Und seine Teilchentheorie ist umfangreich; es kann eine Shannonsche Tautologie sein.« Sie hielt inne. Anne Reynolt war völlig außerstande, Publikumswirkung zu erzielen. Nau hatte seine Frage so arrangiert, dass die Bombe bei ihr als Letztes kam: »Diese Teilchentheorie liegt allerdings in seinem zentralen Fachgebiet. Und sie hat Konsequenzen, vielleicht einen schnelleren Staustrahlantrieb.«

Etliche Sekunden lang sagte niemand ein Wort. Die Dschöng Ho bastelte seit Jahrtausenden an ihren Triebwerken, selbst seit der Zeit vor Pham Nuwen. Sie hatte Erkenntnisse von Hunderten von Zivilisationen gestohlen. In den letzten tausend Jahren hatte sie eine Verbesserung von weniger als einem Prozent erreicht. »Gut, gut, gut.« Tomas Nau wusste, welch gutes Gefühl es war, hoch zu spielen — und zu gewinnen. Selbst die Krämer grinsten wie Idioten. Er ließ die guten Gefühle hin und her durch den Raum strömen. Es war eine sehr gute Nachricht, selbst wenn sie sich erst am Ende der Verbannung bezahlt machte. »Das macht unsere Astrophysiker zu einem wertvollen Gut. Können Sie etwas mit Wen unternehmen?«

»Hunte Wen ist nicht wiederherstellbar, fürchte ich.« Sie öffnete ein Fenster mit medizinischen Darstellungen. Für einen Dschöng-Ho-Arzt hätte es vielleicht wie eine einfache Gehirndiagnostik ausgesehen. Für Anne Reynolt war es eine strategische Karte. »Sehen Sie, die Verbindung hier und hier ist der Arbeit am EinAus zugeordnet; ich habe das nachgewiesen, indem ich einen Teil davon fehlabgestimmt habe. Wenn wir versuchen, ihn aus seiner Fixierung zu lösen, löschen wir die Arbeit seiner letzten fünf Jahre — wie auch einen Großteil der Verbindungen zu seinem allgemeinen Fachwissen. Vergessen Sie nicht, Fokus-Chirurgie ist größtenteils Arbeit nach Gefühl — mit einer Trennschärfe von höchstens einem Millimeter.«

»Wir würden also eine Pflanze bekommen?«

»Nein. Wenn wir ihn lösen und den Fokus rückgängig machen, wird er die Persönlichkeit und einen Großteil der Erinnerungen von vorher haben. Er wird nur kein allzu guter Physiker mehr sein.«

»Hmm«, sagte Nau und überlegte. Sie konnten also den Krämer nicht einfach defokussieren und den außenstehenden Experten bekommen, den Reynolt brauchte. Und ich denke nicht im Traum daran, den dritten Burschen zu defokussieren. Doch es gab eine sehr saubere Lösung, die dennoch Nutzen aus allen drei Männern zog. »Gut, Anne. Hier ist mein Vorschlag: Bringen Sie den anderen Physiker ins Spiel, aber mit eingeschränktem Dienstzyklus. Legen Sie Dr. Li auf Eis, solange der neue Mann seine Ergebnisse durchsieht. Das bringt nicht so viel wie eine Durchsicht ohne Fokus, aber wenn Sie es geschickt anstellen, könnten die Ergebnisse ziemlich frei von Vorurteilen sein.«

Wieder ein Achselzucken. Anne Reynolt hatte keine falsche Bescheidenheit, sie wusste aber auch nicht, wie außerordentlich gut sie war.

»Was Hunte Wen angeht«, fuhr Nau fort, »er hat sein Möglichstes für uns getan, und mehr können wir nicht verlangen.« Und zwar laut Anne buchstäblich. »Ich möchte, dass sie ihn defokussieren.«

Ezr Vinh starrte mit offenem Mund. Die anderen Krämer sahen fast ebenso schockiert aus. Es gab dabei ein kleines Risiko; Hunte Wen würde nicht der beste Beweis sein, dass Fokus rückgängig gemacht werden konnte. Anderseits war er offensichtlich ein Härtefall. Zeig deine Sorge: »Wir haben Dr. Wen über fünf Jahre lang pausenlos betrieben, und ich sehe, dass er schon in den mittleren Jahren ist. Benutzen Sie alle notwendigen medizinischen Mittel, um ihm die bestmögliche Gesundheit zu geben.«

Es war der letzte Tagesordnungspunkt, und danach dauerte die Besprechung nicht mehr lange. Nau sah zu, wie alle hinausschwebten und einander ihre Begeisterung über Lis Entdeckung und Wens Freilassung zuplapperten. Ezr Vinh verließ den Raum als Letzter, redete aber mit niemandem. Der Junge hatte einen irgendwie glasigen Blick. Ja, Herr Vinh. Seien Sie brav, und ich werde vielleicht eines Tages diejenige freilassen, die Ihnen am Herzen liegt.

Sechzehn

Es wurde sehr ruhig während der Zwischenwache. Die meisten Wachen waren Vielfache von Megasekunden, mit Überschneidungen, damit die Leute ihre Ablösung in die aktuellen Probleme einweisen konnten. Die Zwischenwache war kein Geheimnis, aber Nau behandelte sie offiziell als Schwachstelle in der Zeitplanung, eine Lücke von vier Tagen, die hin und wieder zwischen Wachen vorkam. Eigentlich war es so etwas wie die fehlende siebte Etage oder der mythische Zaubertag, der zwischen Eintag und Zweitag liegt.

»Sagt mal, wäre es nicht großartig, daheim Zwischenwachen zu haben?«, witzelte Brughel, als er mit Nau und Kal Omo zu den Stapeln von Kälteleichen hineinging. »Ich habe auf Frenk fünf Jahre lang Sicherheitsdienst gemacht — es wäre bestimmt einfacher gewesen, wenn ich immer mal wieder eine Auszeit hätte erklären und das Spiel so umordnen können, wie ich es brauchte.« Im Lagerraum klang seine Stimme laut, das Echo kam aus mehreren Richtungen zurück. Eigentlich waren sie die Einzigen, die an Bord der Suivire wach waren. Unten in Hammerfest gab es noch Reynolt und ein Kontingent wacher Blitzköpfe. Eine Rumpfmannschaft von Aufsteigern und Krämern — darunter Qiwi Lisolet — arbeitete an den Stabilisierungs-Triebwerken des Felshaufens. Doch Blitzköpfe nicht gerechnet, kannten nur neun Leute die entscheidenden Geheimnisse. Und hier zwischen den Wachen konnten sie alles Notwendige tun, um die Hülse zu schützen.

Die Innenwände des Kälteschlaf-Lagers der Suivire waren herausgeschlagen und Dutzende von zusätzlichen Särgen installiert worden. Die ganze Wache A schlief hier, fast siebenhundert Leute. Wachschichten B und Div lagen auf der Brisgo-Lücke, C und D an Bord der Gemeinwohl. Doch es war die A-Wache, die nach dieser Zwischenzeit begann.

Ein rotes Licht erschien an der Wand; das eigenständige Datensystem des Kälteschlaf-Raums war kommunikationsbereit. Nau setzte seine Datenbrille auf, und plötzlich waren die Särge mit Namen und Zugehörigkeit beschriftet. Alles war im grünen Bereich. Der Seuche sei Dank. Nau wandte sich seinem Hülsensergeanten zu. Kal Omos Name, Status und Lebenskennzeichen schwebten in der Luft neben seinem Gesicht; das Datensystem nahm seine Pflichten sehr wörtlich. »Annes Medizinpersonal wird in ein paar tausend Sekunden hier sein, Kal. Lassen Sie sie nicht rein, bis Ritser und ich fertig sind.«

»Jawohl, Herr Hülsenmeister.« Ein leises Lächeln lag auf dem Gesicht des Mannes, als er sich umwandte und zur Tür hinausglitt. Kal Omo hatte das schon durchgemacht; er hatte an dem Schwindel mit der Ferner Schatz mitgewirkt. Er wusste, was zu erwarten war.

Und dann waren er und Ritser Brughel allein. »Also gut, haben Sie noch mehr faule Äpfel gefunden, Ritser?«

Ritser grinste; er hatte eine Überraschung in petto. Sie trieben an Reihen von Särgen vorbei, die Raumbeleuchtung strahlte unter ihren Füßen. Die Särge hatten eine Menge mitgemacht, doch sie funktionierten immer noch zuverlässig — zumindest die von der Dschöng Ho. Die Krämer waren schlau; sie funkten Technologie quer durch den Menschenraum — doch ihre eigenen Waren waren besser als das, was sie gratis zwischen die Sterne riefen. Doch jetzt haben wir eine Flottenbibliothek… und Leute, um sie zu verstehen.

»Ich habe meine Schnüffler hart arbeiten lassen, Hülsenmeister. Wache A ist ziemlich sauber, obwohl…« — er hielt inne und bremste sein Weitergleiten mit einer Hand am Regal. Die dünnen Streben bogen sich das ganze Regal entlang; das war wirklich ein Provisorium — »… obwohl ich nicht weiß, warum Sie aufwieglerische Taubnüsse wie den da behalten.« Er tippte mit seinem Hülsenmeisterstock an einen der Särge.

Die Krämersärge hatten breite, gebogene Fenster und Innenbeleuchtung. Selbst ohne die Beschriftung in der Datenbrille hätte Nau Pham Trinli erkannt. Irgendwie sah der Kerl jünger aus, wenn sein Gesicht leblos war.

Ritser hatte sein Schweigen wohl als Unschlüssigkeit gedeutet. »Er wusste von Diems Verschwörung.«

Nau zuckte die Achseln. »Natürlich. Vinh auch. Und noch ein paar. Und jetzt sind sie bekannte Größen.«

»Aber…«

»Vergessen Sie nicht, Ritser, wir sind übereingekommen: Wir können uns nicht mehr leisten, Leute beiläufig umzulegen.« Sein größter Fehler bei diesem ganzen Abenteuer waren die Verhöre unmittelbar nach dem Überfall gewesen. Nau war den Katastrophenstrategien der Seuchenzeit gefolgt, den harten Strategien, die vor dem Blick gewöhnlicher Bürger verborgen gehalten wurden. Doch die Ersten Hülsenmeister waren in einer ganz anderen Situation gewesen; sie hatten jede Menge Menschenmaterial. In dieser Situation… nun ja, bei den Dschöng-Ho-Leuten, die fokussiert werden konnten, war das Verhör kein Problem. Aber die anderen waren erstaunlich zäh. Und am schlimmsten, sie reagierten nicht rational auf Drohungen. Ritser war etwas verrückt geworden, und bei Tomas hatte nicht viel gefehlt. Sie hatten die letzten von den ranghohen Krämern getötet, ehe sie die Psychologie der anderen Seite wirklich verstanden hatten. Alles in allem war es ein ziemlich großer Reinfall gewesen, aber auch eine Erfahrung, an der sie gereift waren. Tomas hatte gelernt, wie man mit den Überlebenden umgehen musste.

Ritser lächelte. »Gut. Wenigstens taugt er zur Erheiterung. Die Art, wie er sich bei Ihnen und mir einzuschleimen versucht — und gleichzeitig aufgeblasen!« Er deutete zu den aufgereihten Kälteleichen. »Klar. Wecken wir sie alle planmäßig. Wir mussten auch so schon zu viele ›Unfälle‹ erklären.« Er wandte sich wieder Nau zu. Er hatte noch immer ein Lächeln aufgesetzt, doch das Licht von unten zeigte es als die Grimasse, die es wirklich war. »Das eigentliche Problem liegt nicht bei Wache A. Hülsenmeister, in den letzten vier Tagen habe ich eindeutige Sabotage an anderer Stelle entdeckt.«

Nau starrte ihn mit dem Ausdruck gelinder Überraschung an. Das war es, worauf er gewartet hatte. »Qiwi Lisolet?«

»Ja! Warten Sie, ich weiß, dass Sie die Konfrontation gesehen haben, die ich neulich mit ihr hatte. Die Eiterfresserin hat dafür den Tod verdient — aber deswegen beklage ich mich nicht. Ich habe klare Beweise, dass sie Ihr Gesetz bricht. Und sie macht gemeinsame Sache mit anderen.«

Nau war darüber tatsächlich etwas überrascht. »Wie das?«

»Sie wissen, dass ich sie im Krämerpark mit ihrem Vater erwischt habe. Sie hatte den Park eigenmächtig geschlossen. Das hat mich so wütend gemacht. Aber danach… habe ich meine Schnüffler auf sie angesetzt. Der Routineüberwachung wäre das vielleicht noch mehrere Wachen lang entgangen: Die kleine Schlampe zweigt Ressourcen der Hülse ab. Sie hat Produkte der Raffinerie für flüchtige Stoffe gestohlen. Sie hat Fabrikzeit unterschlagen. Sie hat den Fokus ihres Vaters abgelenkt, sodass er ihre privaten Unternehmungen unterstützt.«

Verdammt. Das war mehr, als Qiwi ihm gesagt hatte. »Also… was macht sie mit den Ressourcen?«

»Mit diesen Ressourcen und anderen, Hülsenmeister. Sie hat verschiedene Pläne. Und sie ist nicht allein… Sie hat vor, die gestohlenen Güter für ihr eigenes Fortkommen einzutauschen.«

Einen Augenblick lang wusste Nau nichts zu sagen. Gemeinschaftsressourcen zu vertauschen war natürlich ein Verbrechen. In den Seuchenjahren waren mehr Menschen wegen Schwarzhandel und Horten von Gütern hingerichtet worden, als an der Seuche selbst gestorben waren. Doch in der Neuzeit… nun ja, Tauschgeschäfte konnten nie vollends ausgeschaltet werden. Auf der Balacrea war es immer wieder einmal der Vorwand für groß angelegte Vernichtungsaktionen — aber eben nur der Vorwand. »Ritser.« Nau sprach sorgfältig, und er log. »Ich habe von all diesen Aktivitäten gewusst. Gewiss verstoßen sie gegen den Buchstaben Meines Gesetzes. Aber bedenken Sie: Wir sind zwanzig Lichtjahre von Zuhause entfernt. Wir haben es mit der Dschöng Ho zu tun. Sie sind wirklich Krämer. Ich weiß, dass es schwer zu akzeptieren ist, aber ihr ganzes Dasein dreht sich darum, die Gemeinschaft zu übervorteilen. Wir können nicht hoffen, das auf Anhieb zu unterdrücken…«

»Nein!« Brughel stieß sich von dem Regal ab, an dem er sich festgehalten hatte, fasste die Verstrebung neben Tomas. »Sie sind alle Abschaum, aber es sind nur Lisolet und ein paar unverbesserliche Verschwörer — ich kann Ihnen genau sagen, wer es ist —, die Ihr Gesetz verletzen!«

Nau konnte sich vorstellen, wie das alles vor sich ging. Qiwi Lin Lisolet hatte niemals Regeln eingehalten, nicht einmal bei der Dschöng Ho. Ihre verrückte Mutter hatte sie darauf vorbereitet, manipuliert zu werden, dennoch entzog sich das Mädchen direkter Kontrolle. Mehr als alles andere liebte sie es, zu spielen. Qiwi hatte einmal zu ihm gesagt: »Es ist immer einfacher, Verzeihung als eine Erlaubnis zu bekommen.« Diese einfache Behauptung zeigte so gut wie sonst etwas die Kluft, die Qiwis Weltsicht von der der Ersten Hülsenmeister trennte.

Es bedurfte einer Willensanstrengung, vor Brughel nicht zurückzuweichen. Was ist in ihn gefahren? Er schaute ihm geradewegs in die Augen und ignorierte den Stock in Ritsers zuckender Hand. »Ich bin sicher, dass Sie sie identifizieren würden! Das ist Ihre Aufgabe, Vize-Hülsenmeister. Und Teil meiner Aufgabe ist es, Mein Gesetz auszulegen. Sie wissen, das Qiwi die Geistfäule nie überwunden hat, wenn nötig, können wir sie mühelos… an die Kandare nehmen. Ich möchte, dass Sie mich über diese möglichen Übertretungen auf dem Laufenden halten, aber vorerst habe ich beschlossen, sie zu ignorieren.«

»Sie haben beschlossen, sie zu ignorieren? Beschlossen? Ich…« Brughel war eine Sekunde lang sprachlos. Dann fuhr er fort, seine Stimme war beherrschter, eine abgemessene Wut. »Ja, wir sind zwanzig Lichtjahre von Zuhause entfernt. Wir sind zwanzig Lichtjahre von deiner Familie entfernt. Und dein Onkel herrscht nicht mehr.« Die Nachricht von der Ermordung Alan Naus war eingetroffen, als die Expedition noch drei Jahre vom EinAus-System entfernt war. »Zu Hause konntest du vielleicht jede Regel brechen, Gesetzesbrecher schützen, einfach nur, weil sie gut im Bett waren.« Er schlug seinen Stock sanft auf die Handfläche. »Hier draußen und jetzt eben bist du sehr allein.«

Tödliche Gewalt zwischen Hülsenmeistern stand jenseits von allem Gesetz. Das war ein Prinzip, das auf die Seuchenjahre zurückging — aber es war auch eine Grundtatsache der Natur. Wenn Brughel ihm jetzt den Schädel einschlüge, würde Kal Omo dem Vize-Hülsenmeister folgen. Doch Nau sagte einfach nur ruhig: »Du bist erst recht allein, mein Freund. Wie viele von den Fokussierten sind auf dich geprägt?«

»Ich… ich habe Xins Piloten, ich habe die Schnüffler. Ich könnte Reynolt veranlassen, alles umzuprägen, was nötig ist.«

Ritser stand am Rande eines Abgrunds, den Tomas zuvor nicht bemerkt hatte, doch zumindest beruhigte er sich allmählich. »Ich glaube, da kennst du Anne besser, Ritser.«

Und abrupt war die mörderische Flamme in Brughel ausgelöscht. »Ja, Sie haben Recht. Sie haben Recht.« Er schien in sich zusammenzusinken. »Herr Hülsenmeister… es ist nur, weil diese Mission sich so anders entwickelt hat, als ich es mir vorgestellt hatte. Wir hatten die Ressourcen, um hier wie Hohe Hülsenmeister zu leben. Wir hatten Aussicht, eine Schatzwelt zu finden. Jetzt sind die meisten von unseren Blitzköpfen tot. Uns fehlt die Ausrüstung für eine sichere Rückkehr. Wir sitzen Jahrzehnte lang hier fest…«

Ritser schien drauf und dran zu sein, in Tränen auszubrechen. Der Übergang von Drohung zu Schwäche war faszinierend. Tomas sprach ruhig, in tröstendem Ton: »Ich verstehe, Ritser. Wir sind in einer extremeren Situation als jemals jemand seit den Seuchen. Wenn das einem wie dir, der so stark ist, Schmerzen bereitet, dann fürchte ich für die gewöhnliche Mannschaft der Mission.« Alles wahr, obwohl die meisten von der Mannschaft weitaus weniger bemerkenswerte Persönlichkeiten als Ritser Brughel hatten. Wie Ritser waren sie in einer jahrzehntelangen Sackgasse gefangen, wo Familie und Kinder nicht zur Debatte standen. Das war ein gefährliches Problem, eins, das er nicht übersehen durfte. Doch die meisten gewöhnlichen Leute würden keine Schwierigkeiten haben, Beziehungen fortzusetzen, neue zu finden; es gab hier fast tausend unfokussierte Menschen. Ritsers Triebe würden schwerer zu befriedigen sein. Ritser verbrauchte Menschen, und jetzt waren für ihn kaum noch welche übrig.

»Aber noch immer besteht die Aussicht auf wertvolle Funde — vielleicht alles, was wir uns erhofft haben. Die Dschöng Ho zu übernehmen, hat uns fast das Leben gekostet, doch jetzt erfahren wir allmählich ihre Geheimnisse. Und du warst beim letzten Wachverwalter-Treffen: Wir haben Physik entdeckt, die sogar der Dschöng Ho noch neu ist. Das Beste kommt aber noch, Ritser. Die Spinnen sind jetzt primitiv, aber das Leben kann kaum hier entstanden sein; dieses Sonnensystem ist einfach zu extrem. Wir sind nicht die erste Spezies, die schnüffeln gekommen ist. Stell dir vor, Ritser: eine nichtmenschliche Zivilisation mit interstellarer Raumfahrt. Ihre Geheimnisse liegen da unten, irgendwo in den Ruinen ihrer Vergangenheit.«

Er führte den Vize-Hülsenmeister um das fernere Ende der Sargreihen herum, und sie gingen den zweiten Gang zurück. Die Datenbrille meldete überall Grün, obwohl wie üblich die Aufsteiger-Särge hohen Verschleiß zeigten. Nun ja. In ein paar Jahren hatten sie vielleicht nicht mehr genug brauchbare Särge, um einen bequemen Wachplan beizubehalten. Auf sich allein gestellt, konnte eine Sternenflotte keine andere Sternenflotte bauen, nicht einmal sich selbst auf unbegrenzte Zeit mit hoch stehender Technik versorgen. Es war ein altes, altes Problem: Um die fortgeschrittensten technischen Erzeugnisse herzustellen, braucht man eine ganze Zivilisation — eine Zivilisation mit all ihren Geflechten von Fachwissen und Schichten von Großindustrie. Es gab keine Abkürzungen; die Menschheit hatte sich ein Universal-Montagesystem oft vorgestellt, aber nie eins geschaffen.

Ritser wirkte jetzt ruhiger, seine verzweifelte Wut war dem Nachdenken gewichen. »… Gut. Wir opfern eine Menge, doch am Ende kehren wir als Sieger heim. Trotzdem… warum muss es so eitrig lange dauern? Wir sollten glatt in so einem Spinnen-Königreich landen, dann übernehmen wir…«

»Sie haben eben erst die Elektronik wiedererfunden, Ritser. Wir brauchen mehr…«

Der Vize-Hülsenmeister schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ja, ja. Natürlich. Wir brauchen eine solide industrielle Basis. Ich weiß das wahrscheinlich besser als Sie; ich war Hülsenmeister in den Lorbita-Werften. Nur ein umfassender Wiederaufbau kann unsere Ärsche retten, weniger nicht. Aber das ist noch kein Grund, uns hier bei L1 zu verstecken. Wenn wir ein Spinnenland in unsere Gewalt bringen — vielleicht, indem wir einfach so tun, als ob wir uns mit ihnen verbünden —, könnten wir die Sache beschleunigen.«

»Stimmt, aber das eigentliche Problem ist, die Kontrolle zu behalten. Da ist die richtige Zeitplanung das A und O. Sie wissen, dass ich bei der Eroberung des Gaspr dabei war. Genauer gesagt, in der Frühphase nach der Eroberung; wäre ich bei der ersten Flotte gewesen, besäße ich jetzt Millionen.« Nau verbarg nicht den Neid in seiner Stimme; es war eine Vision, die Brughel verstehen würde. Gaspr war ein Hauptgewinn gewesen. »Gott, was diese erste Flotte geschafft hat! Es waren nur zwei Schiffe, Ritser! Stell dir das vor. Sie hatten nur fünfhundert Blitzköpfe — weniger, als wir haben. Doch sie saßen da und lauerten, und als Gaspr wieder ins Informationszeitalter eintrat, hatten sie jedes einzelne Datensystem auf dem Planeten unter Kontrolle. Die Beute fiel ihnen einfach in den Schoß!« Nau schüttelte den Kopf und verscheuchte die Vision. »Ja. Wir könnten versuchen, die Spinnen jetzt zu erobern. Aber von unserer Seite wäre es größtenteils ein Vabanquespiel — gegen Fremdwesen, die wir nicht verstehen. Wenn wir uns verrechneten, wenn wir in eine Guerilla gerieten, könnten wir alles sehr schnell an den Baum setzen… Wir würden wahrscheinlich ›gewinnen‹, aber aus einer Wartezeit von dreißig Jahren könnten leicht fünfhundert werden. Für diese Art Versagen gibt es einen Präzedenzfall, Ritser, er stammt allerdings nicht aus unserer Seuchenzeit. Kennen Sie die Geschichte von Canberra?«

Brughel hob die Schultern. Canberra war vielleicht die mächtigste Zivilisation im Menschenraum, aber viel zu weit entfernt, um ihn zu interessieren. Wie bei vielen Aufsteigern war Brughels Interesse für das fernere Universum minimal.

»Vor dreitausend Jahren war Canberra mittelalterlich. Wie, beim Gaspr, hatte sich diese ursprüngliche Kolonie in die totale Barbarei gebombt, nur dass die Canberrer noch nicht einmal wieder auf halbem Wege zurück zur Zivilisation waren. Eine kleine Dschöng-Ho-Flotte flog dorthin; infolge eines verrückten Irrtums glaubten sie, die Canberrer hätten noch eine Gewinn bringende Zivilisation. Das war der erste große Fehler der Krämer. Der zweite bestand darin, dort herumzulungern; sie versuchten, mit den Canberrern so, wie sie waren, Handel zu treiben. Die Dschöng Ho hatte die gesamte Macht, sie konnte die primitiven Gesellschaften von Canberra zu allem veranlassen, was sie wollte.«

Brughel grunzte. »Ich sehe, worauf das hinausläuft. Aber die Einheimischen dort scheinen viel primitiver gewesen zu sein als das, was wir hier haben.«

»Ja, aber es waren Menschen. Und die Dschöng Ho hatte viel bessere Ressourcen. Jedenfalls schlossen sie ihre Bündnisse. Sie trieben die einheimische Technik so rasch voran, wie sie nur konnten. Sie schickten sich an, die Welt zu erobern. Und es gelang ihnen tatsächlich. Doch jeder Schritt zermürbte sie. Die ursprüngliche Besatzung verbrachte ihr Alter in steinernen Burgen. Sie hatten nicht einmal mehr Kälteschlaf. Die Hybridzivilisation von Krämern und Einheimischen wurde schließlich sehr fortschrittlich und mächtig — doch für die ursprünglichen Kolonisten war es zu spät.«

Der Hülsenmeister und sein Vize waren fast wieder am Haupteingang. Brughel schwebte voraus und drehte sich langsam, sodass er die Wand wie ein Deck berührte, mit den Füßen zuerst. Er schaute mit einem durchdringenden Ausdruck hinauf zu dem herabkommenden Nau.

Nau landete, ließ den Greiffilz seiner Schuhe den Rückstoß auffangen. »Denk nach über das, was ich gesagt habe, Ritser. Unser Exil hier ist wirklich notwendig, und der Gewinn ist so großartig, wie Sie es sich nur je vorgestellt haben. In der Zwischenzeit wollen wir an dem arbeiten, was dir zu schaffen macht. Ein Hülsenmeister sollte nichts zu leiden haben.«

Das Gesicht des Jüngeren sah überrascht und dankbar aus. »D-danke, Herr Hülsenmeister. Ein bisschen Hilfe hin und wieder — mehr brauche ich nicht.« Sie redeten noch ein paar Augenblicke und regelten die notwendigen Kompromisse.


Auf dem Rückweg von der Suivire hatte Tomas etwas Zeit zum Nachdenken. Vom Taxi aus gesehen war der Felshaufen ein glitzerndes Gewirr vor ihm, der Himmel ringsum gesprenkelt mit den unregelmäßigen Formen von Temps und Lagerhallen und Sternenschiffen, die den Haufen umkreisten. Zur Zwischenwache sah er hier keine Anzeichen von menschlicher Bewegung. Sogar Qiwis Arbeitsgruppen waren außer Sicht, wahrscheinlich auf der Schattenseite des Haufens. Weit jenseits der Diamantberge schwebte die Arachna in glorreicher Isolation. Ihr großer Ozean zeigte heute wolkenlose Flecken. Die tropische Konvergenzzone hob sich klar vom Blau ab. Immer mehr sah die Spinnenwelt wie die archetypische Mutter Erde aus, eine Welt unter tausend, wo Menschen landen und gedeihen konnten. Sie würde noch rund dreißig Jahre lang wie ein Paradies aussehen — bis ihre Sonne wieder einmal allmählich ausging. Und bis dahin wird sie uns gehören.

Gerade hatte er diesen Enderfolg ein wenig wahrscheinlicher gemacht. Er hatte ein Rätsel gelöst und ein unnötiges Risiko vermieden. Tomas’ Mund verzog sich zu einem unfrohen Lächeln. Ritser hatte ziemlich Unrecht, wenn er glaubte, es sei leicht, Alan Naus erster Neffe zu sein. Gewiss, Alan Nau hatte Tomas bevorzugt. Es war von Anfang an klar, dass Tomas die Vorherrschaft der Naus über den Aufstieg fortführen würde. Das war ein Teil des Problems, denn dadurch wurde Tomas zu einer großen Bedrohung für den älteren Nau. Die Nachfolge wurde — selbst in Hülsenmeister-Familien — meistens durch Mord angetreten. Doch Alan Nau war schlau gewesen. Er wollte durchaus, dass sein Neffe die Linie fortführte — doch erst, nachdem Alan so lange gelebt und geherrscht hatte, wie die Natur es erlaubte. Tomas Nau das Kommando über die Expedition zum EinAus-Stern zu geben, war ein Stück staatsmännischer Kunst, das sowohl den Herrscher als auch den designierten Nachfolger rettete. Tomas Nau würde über zwei Jahrhunderte lang von der Weltbühne verschwunden sein. Wenn er zurückkehrte, dann konnte er durchaus die Ressourcen mitbringen, um die Familienherrschaft der Naus fortzusetzen.

Tomas hatte sich oft gefragt, ob Ritser Brughel nicht vielleicht eine subtile Art Sabotage war. Daheim war der Bursche als gute Wahl für den Posten des Vize-Hülsenmeisters erschienen. Er war jung, und er hatte bei der Säuberung der Lorbita-Werften gute Arbeit geleistet. Er war von Frenkischer Abstammung; seine Eltern hatten zu den ersten Unterstützern von Alan Naus Invasion gehört. Soweit irgend möglich, versuchte der Aufstieg jede neue Eroberung mit denselben Belastungen zu transformieren, die die Seuchenzeit für die Balacrea gebracht hatte: die Megatoten, die Geistfäule, die Etablierung einer Klasse von Hülsenmeistern. Der junge Ritser hatte sich an jede Anforderung der neuen Ordnung angepasst.

Doch seit sie dieses Exil begonnen hatten, war er ein verdammt eitermäßiger Querschläger: sorglos, schlampig, fast unverschämt. Ein Teil davon war die ihm zugewiesene Rolle als der Grobe, doch Ritser schauspielerte nicht. Er war verschlossen und unkooperativ geworden. Der Schluss drängte sich auf: Die Feinde der Nau-Familie waren schlaue, auf lange Zeit planende Leute. Vielleicht hatten sie irgendwie einen Agenten an Onkel Alans Sicherheitsleuten vorbeigeschmuggelt.

Heute waren das Rätsel und der Verdacht aufeinandergeprallt. Und ich finde keine Sabotage, nicht einmal Unfähigkeit. Sein Vize-Hülsenmeister hatte einfach gewisse frustrierte Bedürfnisse und war zu stolz gewesen, davon zu reden. Seinerzeit in der Zivilisation wäre es ein Leichtes gewesen, diese Bedürfnisse zu befriedigen; das gehörte zu den normalen, wenn auch nicht allgemein bekannten Geburtsrechten eines jeden Hülsenmeisters. Hier in der Wildnis, nahezu schiffbrüchig… hier sah sich Ritser vor echten Schwierigkeiten.

Das Taxi glitt über die höchsten Spitzen von Hammerfest und sank in die Schatten darunter.

Brughel zufriedenzustellen, würde schwierig sein; der Jüngere würde einige echte Zurückhaltung üben müssen. Tomas ging bereits die Listen der Besatzung und der Blitzköpfe durch. Ja, ich kriege das hin. Und es würde sich lohnen. Ritser Brughel war der einzige andere Hülsenmeister im Umkreis von zwanzig Lichtjahren. Die Hülsenmeister-Klasse war oft in sich tödlich, doch es bestand ein Band zwischen ihnen. Jeder von ihnen kannte die verborgenen, harten Strategien. Jeder von ihnen verstand die wahren Tugenden des Aufstiegs. Ritser war jung, noch dabei, zu sich selbst zu finden. Wenn die richtige Beziehung hergestellt werden konnte, würden sich andere Probleme besser behandeln lassen.

Und am Ende konnte ihr Erfolg sogar noch größer sein, als er Ritser gesagt hatte. Er konnte größer sein, als es sich Onkel Alan träumen ließ. Es war eine Vision, die Tomas selbst vielleicht entgangen wäre, wäre da nicht dieses erste Treffen mit den Krämern gewesen.

Onkel Alan respektierte ferne Drohungen; er hatte die balacreanischen Traditionen der Sendesicherheit fortgeführt. Doch selbst Onkel Alan schien nie begriffen zu haben, dass sie die Tyrannen über einen lächerlich winzigen Teich spielten: Balacrea, Frenk, Gaspr. Nau hatte Ritser Brughel gerade von der Gründung von Canberra erzählt. Es gab bessere Beispiele, die er hätte verwenden können, doch Canberra gehörte zu Tomas Naus Favoriten. Während seinesgleichen die Geschichte des Aufstiegs bis zum Abwinken studierte und triviale Nuancen zu den Strategien hinzufügte, hatte Tomas Nau die Geschichte des Menschenraums studiert. Im Großen gesehen, war sogar eine Katastrophe wie die Seuche etwas ganz Gewöhnliches. Die Eroberer in der Geschichte der verschiedenen Welten ließen die Bühne der Balacrea winzig erscheinen. Also war Tomas Nau mit tausend weit entfernten Strategen vertraut, von Alexander von Makedonien bis zu Tarf Lu… bis zu Pham Nuwen. Von ihnen allen war Pham Nuwen Naus zentrales Vorbild, der Größte von der Dschöng Ho.

In gewissem Sinne hatte Nuwen die moderne Dschöng Ho erschaffen. Die Sendungen der Krämer schilderten Nuwens Leben einigermaßen ausführlich, doch sie waren geschönt. Es gab andere Versionen, widersprüchliche Gerüchte zwischen den Sternen. Jeder Aspekt seines Lebens lohnte das Studium. Pham Nuwen war kurz vor der Landung der Dschöng Ho auf Canberra geboren worden. Das Kind Nuwen war von außen in die Dschöng Ho gekommen… und hatte sie verwandelt. Für ein paar Jahrhunderte führte er die Krämer zum Imperium, dem größten Imperium, das man je gekannt hatte. Und wie bei Alexander war sein Imperium nicht von Dauer gewesen.

Der Mann war ein Genie der Eroberung und der Organisation gewesen. Er verfügte einfach nicht über alle notwendigen Werkzeuge.

Nau warf einen letzten Blick auf die himmelblaue Schönheit der Arachna, während sie hinter die Türme von Hammerfest glitt. Er hatte jetzt einen Traum. Bisher war es ein Traum, den er nur sich selbst eingestand. In ein paar Jahren würde er eine nichtmenschliche Rasse unterwerfen, eine Rase, die einst zwischen den Sternen geflogen war. In ein paar Jahren würde er die tiefsten Geheimnisse der Flottenautomatik der Dschöng Ho ergründen. Mit alledem könnte er Pham Nuwen gleichkommen. Mit alledem könnte er ein Imperium schaffen. Doch Tomas Naus Traum reichte weiter, denn er besaß bereits ein Werkzeug imperialer Herrschaft, das Pham Nuwen und Tarf Lu und all den anderen gefehlt hatte: Fokus.

Die Erfüllung seines Traums lag ein halbes Leben von ihm entfernt, jenseits des Exils und tödlicher Bedrohungen, von denen er vielleicht noch keine Vorstellung hatte. Manchmal fragte er sich, ob es verrückt sei, zu glauben, er könnte an dieses Ziel gelangen. Ach, aber der Traum brannte so hell in seinem Geist:

Mit Fokus würde Tomas Nau vielleicht festhalten können, was er in die Hände bekam. Tomas Naus Aufstieg würde ein einziges Imperium sein, das sich über den gesamten Menschenraum erstreckte. Und dasjenige, welches blieb.

Siebzehn

Offiziell existierte Benny Wens Biersalon natürlich nicht. Benny hatte sich etwas leeren Versorgungsraum zwischen den inneren Ballons geschnappt. In ihrer Freizeit hatten er und sein Vater ihn nach und nach mit Möbeln bestückt, einem Null-g-Billard, Bildtapete. Man sah immer noch die Versorgungsleitungen aus den Wänden ragen, doch sogar die waren mit bunter Folie bedeckt.

Wenn seine Wache an der Reihe war, verbrachte Pham Trinli seine Zeit damit, hier herumzuhängen. Und es hatte mehr Freizeit gegeben, seit er die L1-Stabilisierung vermurkst und Qiwi Lisolet das übernommen hatte.

Das Aroma von Hopfen und Gerste traf Pham sogleich hinter der Tür. Ein Schwarm Biertröpfchen trieb nahe an seinem Ohr vorbei, huschte dann in den Reinigungsventilator neben der Tür.

»He, Pham, wo, zum Teufel, warst du? Schnapp dir ’nen Sitz.« Seine üblichen Kumpel saßen größtenteils an der Deckenseite des Spielraumes. Pham winkte ihnen zu und glitt durch den Raum, um an der anderen Seite Platz zu nehmen. Das bedeutete, dass er seitlich zu den anderen blickte, doch so üppig war es hier nicht mit dem Platz.

Trud Silipan winkte durch den Raum zu der Stelle, wo Benny an der Bar schwebte. »Wo bleiben das Bier und die Frillen, Benny? He, und tu ein großes für das militärische Genie hier dazu!«

Alle lachten, obwohl Phams Reaktion eher ein entrüstetes Schnaufen war. Er hatte hart daran gearbeitet, der Aufschneider zu sein. Man wollte eine Geschichte von kühnen Taten hören? Da brauchte man Pham Trinli nur länger als hundert Sekunden zuzuhören. Freilich, wenn man selber eine Spur echte Weltenerfahrung hatte, sah man, dass die Geschichten größtenteils Schwindel waren — und wenn nicht, dann gehörte die Heldenrolle jemand anders. Er blickte sich im Raum um. Wie üblich waren über die Hälfte der Kunden Aufsteiger aus der Gefolgsleute-Klasse, doch die meisten Gruppen enthielten ein paar von der Dschöng Ho. Es waren über sechs Jahre seit dem Aufflammen vergangen, seit der ›Diemschen Gräueltat‹. Für viele von ihnen waren das fast zwei Jahre Lebenszeit. Die Überlebenden von der Dschöng Ho hatten daraus gelernt und sich angepasst. Sie waren nicht direkt assimiliert, doch wie Pham Trinli waren sie ein integraler Bestandteil des Exils geworden.

Hunte Wen trieb von der Bar her durch den Raum. Er zog ein volles Netz mit Trinkballons hinter sich her, dazu die Imbisshappen, die das Maximum dessen waren, was er und Benny in den Salon einzuführen wagten. Die Unterhaltung klang einen Moment ab, während er die Waren verteilte und Gefälligkeits-Gutscheine dafür einsammelte.

Pham griff sich einen Ballon mit dem Gebräu. Der Behälter bestand aus neuem Kunststoff. Benny stand sich gut mit den Arbeitsgruppen, die Oberflächeneinsätze auf dem Felshaufen durchführten. Die kleine Fabrik für flüchtige Stoffe schluckte Luftschnee und Wassereis und Bodendiamanten… und heraus kamen Rohfabrikate, darunter der Kunststoff für Trinkballons, Möbel, das Null-g-Billard. Sogar die Hauptattraktion des Salons war ein Produkt des Felshaufens — berührt von der Magie der Temp-Baktrei.

Dieser Ballon hatte eine farbige Zeichnung an der Seite: DIAMANT UND EIS BRAUEREI stand da über einem Bild, auf dem der Felshaufen zu Bier aufgelöst wurde. Das Bild war kunstvoll, offensichtlich nach einem handgemalten Original. Pham starrte die geschickte Zeichnung einen Moment lang an. Er schluckte seine erstaunten Fragen hinunter. Die würden sowieso andere stellen… auf ihre eigene Art.

Es gab ein Gelächter, als Trud und seine Freunde die Bilder bemerkten. »He, Hunte, hast du das gemacht?«

Der ältere Wen lächelte scheu und nickte.

»He, das ist ja richtig hübsch. Natürlich nicht so, wie es ein fokussierter Künstler könnte.«

»Ich dachte, du wärst so was wie ein Physiker gewesen, bevor du die Freiheit bekommen hast?«

»Astrophysiker. Ich… ich erinnere mich nicht mehr an viel davon. Ich versuche neue Sachen.«

Die Aufsteiger schwatzten ein paar Minuten lang mit Wen. Die meisten waren freundlich und schienen, ausgenommen Trud Silipan, aufrichtiges Mitgefühl zu empfinden. Pham hatte eine vage Erinnerung an Hunte Wen vor dem Überfall, Eindrücke von einem freimütigen, wohlwollenden Wissenschaftler. Nun ja, der gute Charakter war geblieben. Der Bursche lächelte viel, aber ein bisschen zu entschuldigend. Seine Persönlichkeit glich einem keramischen Gefäß, zerschlagen und jetzt mit größter Sorgfalt wieder zusammengesetzt, funktionsfähig, aber zerbrechlich.

Wen nahm die letzten Gutscheine und schwebte zurück durch den Raum. Er machte auf halbem Wege zur Bar Halt. Er trieb nahe an die Bildschirmtapete heran und schaute hinaus auf den Felshaufen und die Sonne. Er schien sie alle vergessen zu haben, war wieder einmal von den Geheimnissen des EinAus-Sterns gefesselt. Trud Silipan kicherte und beugte sich über den Tisch zu Trinli. »Sowas von weggetreten, was? Bei den meisten Entblitzten ist es nicht so schlimm.«

Benny Wen kam von der Bar und zog seinen Vater außer Sicht. Benny war einer von den Hitzköpfen gewesen. Er war wahrscheinlich das offensichtlichste überlebende Mitglied von Diems Verschwörung.

Das Gespräch kehrte zu den wichtigen Tagesfragen zurück. Jau Xin wollte jemanden in Wache A finden, der bereit wäre, nach Wache B zu wechseln; seine Freundin hing in der anderen Wache fest. Es war die Art Tausch, die von den Hülsenmeistern genehmigt werden musste, doch wenn alle einverstanden waren… Jemand anders wies darauf hin, dass eine Frau von der Dschöng Ho unten in der Quartiermeisterei gegen andere Gefälligkeiten solche Vereinbarungen vermittelte. »Die verdammten Krämer wollen für alles bezahlt werden«, murmelte Silipan.

Und Trinli munterte sie mit einer Geschichte wieder auf — einer eigentlich wahren Geschichte, aber mit genug Absurditäten, dass sie sie als falsch erkennen würden — über eine Langwach-Mission, die er angeblich geführt hatte. »Fünfzig Jahre brachten wir mit nur vier Wachgruppen zu. Am Ende musste ich die Regeln verletzen und während der Flugzeit Kinder erlauben. Doch da hatten wir schon einen Marktvorteil…«

Pham kam gerade zur Pointe, als Trud Silipan ihn in die Rippen stieß. »Hss! Mein edler Herr von der Dschöng Ho, Ihre Nemesis ist eingetroffen.« Das brachte ihm eine Runde Kichern ein. Pham warf Silipan einen wütenden Blick zu, dann drehte er sich um und schaute.

Qiwi Lin Lisolet war gerade durch die Tür des Salons geflogen. Sie drehte sich mitten in der Luft und landete bei Benny Wen. Der allgemeine Lärm flaute kurz ab, und ihre Stimme drang bis zu Trinlis Gruppe oben an der Decke. »Benny! Hast du diese Tauschformulare? Gonle besorgt…« Ihre Worte schwanden, als die beiden sich zur anderen Seite der Bar bewegten und andere Gespräche weitergingen. Qiwi war offensichtlich voll beim Feilschen und versuchte Benny irgendein neues Geschäft aufzuschwatzen.

»Ist sie wirklich immer noch für die Stabilisierung des Felshaufens zuständig? Ich dachte, das wäre deine Arbeit, Pham.«

Jau Xin verzog das Gesicht. »Gib Ruhe, Trud.«

Pham hob die Hand, das Bild eines irritierten alten Mannes, der sich wichtig machen wollte. »Ich habe dir doch schon gesagt, ich bin befördert worden. Lisolet befasst sich mit den Einzelheiten vor Ort, und ich überwache die ganze Operation für Hülsenmeister Nau.« Er schaute zu Qiwi hinüber und versuchte, das genau richtige Quantum Trotz in seinen Blick zu legen. Ich möchte wissen, was sie jetzt im Schilde führt. Das Kind war erstaunlich.

Aus dem Augenwinkel sah Pham, wie Silipan zu Jau Xin hin entschuldigend die Schultern hob. Sie alle hielten Pham für einen Aufschneider, doch er war wohlgelitten. Seine Geschichten waren vielleicht erfunden, aber sie waren unterhaltsam. Das Problem bei Trud Silipan war, dass er nicht wusste, wann er mit dem Stänkern aufhören musste. Jetzt versuchte der Bursche wahrscheinlich einen Weg zu finden, wie er es wiedergutmachen konnte.

»Ja«, sagte Silipan, »es gibt nicht viele von uns, die direkt dem Hülsenmeister verantwortlich sind. Und ich werde euch etwas über Qiwi Lisolet erzählen.« Er blickte in die Runde, um zu sehen, wer sonst noch im Salon war. »Ihr wisst, dass ich die Blitzköpfe für Reynolt verwalte — nun ja, wir liefern Zuarbeit für Ritser Brughels Schnüffler. Ich habe mit meinen Jungs da drüben gesprochen. Sie haben unser Fräulein Lisolet ganz oben auf ihrer Liste. Sie hängt in mehr krummen Dingern drin, als ihr euch vorstellen könnt.« Er zeigte auf die Möbel. »Wo, meint ihr, kommt dieser Kunststoff her? Jetzt, wo sie Phams alte Arbeit bekommen hat, ist sie die ganze Zeit auf dem Felshaufen. Sie zweigt Produktion für Leute wie Benny ab.«

Einer von den anderen winkte Silipan mit einem Ballon ›Diamant und Eis‹. »Du scheinst über deinen Anteil ganz froh zu sein, Trud.«

»Du weißt, dass es nicht darum geht. Schaut. Es sind Gemeinschaftsressourcen, an denen sie und Leute wie Benny Wen sich vergreifen.« Es gab ernstes Nicken ringsum am Tisch. »Wenn es auch gelegentlich nütze sein mag, es ist und bleibt Diebstahl am Gemeinwohl.« Sein Blick wurde hart. »In der Seuchenzeit gab es nicht viele größere Sünden.«

»Ja, aber die Hülsenmeister wissen davon. Es schadet kaum.«

Silipan nickte. »Stimmt. Sie lassen es vorerst durchgehen.« Er lächelte schlau. »Vielleicht so lange, wie Hülsenmeister Nau sich von ihr einen blasen lässt.« Das war auch so ein Gerücht, das die Runde gemacht hatte.

»Schau, Pham. Du gehörst zur Dschöng Ho. Aber im Grunde bist du ein Militär. Das ist ein ehrenwerter Beruf und gibt dir einen hohen Rang, egal, woher du stammst. Weißt du, eine Gesellschaft hat ihre moralischen Schichten.« Silipan trug offensichtlich angelernte Weisheiten vor. »Ganz oben sind die Hülsenmeister, ich denke, du würdest sie Staatsmänner nennen. Darunter die militärischen Führer, und unter den Führern kommen die Stabsplaner, die Techniker und die Waffenführer. Darunter wieder… kommt Ungeziefer verschiedener Kategorien: herabgesunkene Mitglieder der nützlichen Kategorien, Menschen mit einer Chance, wieder einen Platz im System zu finden. Und unter ihnen sind die Fabrikarbeiter und die Bauern. Und ganz unten, mit allen schlechtesten Zügen des ganzen Abschaums auf einmal, sind die Krämer.« Silipan lächelte Pham an. Offensichtlich hatte er das Gefühl, ihm zu schmeicheln, indem er Pham bei den von Natur her Edlen eingeordnet hatte. »Händler ernähren sich von den Toten und den Sterbenden. Sie sind zu feige, um mit Gewalt Beute zu machen.«

Sogar der Tarnpersönlichkeit Trinlis konnte diese Analyse in die falsche Kehle kommen. Pham brauste auf: »Nimm zur Kenntnis, dass die Dschöng Ho seit Jahrtausenden in ihrer gegenwärtigen Form besteht, Silipan. Das spricht wohl kaum für ein Versagen.«

Silipan lächelte mit herzlichem Mitgefühl. »Ich weiß, dass das schwer zu akzeptieren ist, Trinli. Du bist ein guter Mann, und es ist richtig, loyal zu sein. Aber ich glaube, du wirst es noch verstehen. Die Krämer werden immer unter uns sein, ob sie nun in einer dunklen Seitengasse Schwarzhandel mit Essen betreiben oder zwischen den Sternen lauern. Diejenigen, die interstellare Raumfahrt betreiben, nennen sich eine Zivilisation, aber sie sind nur die Gischt, die sich an den Rändern wahrer Zivilisationen sammelt.«

Pham knurrte. »Ich glaube nicht, dass ich jemals solche Schmeicheleien und solche Beleidigungen auf einmal gehört habe.«

Alle lachten, und Trud Silipan schien zu glauben, sein Vortrag habe Trinli irgendwie freundlicher gestimmt. Pham beendete seine kleine Geschichte ohne weitere Unterbrechungen. Das Gespräch verlagerte sich auf Spekulationen über die Spinnenwesen der Arachna. Für gewöhnlich würde Pham diese Geschichten mit gut verhohlener Begeisterung verschlingen. Heute war sein Mangel an Aufmerksamkeit nicht gespielt. Sein Blick wanderte zurück zum Bartisch des Salons. Benny und Qiwi waren jetzt halb außer Sicht und stritten über irgendein Geschäft. Unter all dem Aufsteiger-Wahnsinn hatte Trud Silipan manches richtig erfasst. Im Laufe der letzten paar Jahre war der Untergrund hier aufgeblüht. Es war nicht die gewaltsame Subversion von Jimmy Diems Verschwörung. Im Denken der beteiligten Dschöng-Ho-Leute war es überhaupt keine Verschwörung, sondern nur die Fortführung der Geschäfte. Benny und sein Vater und Dutzende andere umgingen regelmäßig Festlegungen des Hülsenmeisters und verletzten sie sogar. Bisher hatte Nau sie nicht bestraft; bisher hatte der Dschöng-Ho-Untergrund die Situation für fast alle anderen verbessert. Pham hatte schon ein paarmal so etwas erlebt — wenn welche von der Dschöng Ho nicht wie freie Menschen Handel treiben konnten, nicht fliehen und nicht kämpfen.

Die kleine Qiwi Lin Lisolet stand im Mittelpunkt von alledem. Phams Blick ruhte staunend auf ihr. Einen Augenblick lang vergaß er, ein finsteres Gesicht zu machen. Qiwi hatte so viel eingebüßt. Nach manchen Ehrbegriffen hatte sie sich verkauft. Da war sie, Wache um Wache im Einsatz und in der Lage, mit allen möglichen Leuten Geschäfte zu machen. Pham verbarg das freundliche Lächeln, das sich auf seine Lippen stehlen wollte, und runzelte die Stirn. Wenn Trud Silipan oder Jau Xin jemals erfuhren, wie er für Qiwi Lisolet empfand, würden sie ihn für völlig verrückt halten. Wenn ein kluger Kopf wie Tomas Nau es je erfasste, könnte er eins und eins zusammenzählen — und das wäre das Ende von Pham Trinli.

Wenn Pham Qiwi Lisolet anschaute, sah er — mehr als je zuvor im Leben — sich selbst. Gewiss, Qiwi war weiblich, und Sexismus war eine von Trinlis Eigenarten, die nicht gespielt waren. Doch die Ähnlichkeit zwischen ihnen ging tiefer als das Geschlecht. Qiwi war — was, acht Jahre? — alt gewesen, als sie zu dieser Reise aufgebrochen war. Sie hatte fast ihre halbe Kindheit im Dunkel zwischen den Sternen verbracht, allein bis auf die Wartungswachen der Flotte. Und jetzt wurde sie in eine total unterschiedliche Kultur geworfen. Und immer noch hielt sie sich und stellte sich jeder neuen Herausforderung. Und sie war am Gewinnen.

Phams Gedanken richteten sich nach innen. Er hörte seinen Zechbrüdern nicht mehr zu. Er beobachtete nicht einmal Qiwi Lin Lisolet. Er erinnerte sich an eine Zeit, die über dreitausend Jahre zurücklag, drei Jahrhunderte seines eigenen Lebens.


Canberra. Pham war dreizehn gewesen, der jüngste Sohn von Tran Nuwen, dem König und Herrscher des ganzen Nordlandes. Pham war mit Schwertern und Gift und Ränken aufgewachsen, hatte in steinernen Burgen an einem kalten, kalten Meer gelebt. Zweifellos wäre er am Ende ermordet oder allenfalls König geworden, wenn das Leben auf mittelalterliche Weise weitergegangen wäre. Doch als er dreizehn war, wurde alles anders. Eine Welt, die von Flugzeugen und Radio nur Legenden besaß, wurde mit interstellaren Kauffahrern konfrontiert, der Dschöng Ho. Pham erinnerte sich noch an den schwarzen Fleck, den ihre Landefähren in den Großen Sumpf südlich des Schlosses gebrannt hatten. Binnen eines einzigen Jahres wurde Canberras Feudalpolitik auf den Kopf gestellt.

Die Dschöng Ho hatte drei Schiffe in die Expedition nach Canberra investiert. Sie hatte sich schwer verrechnet, hatte geglaubt, die Einheimischen wären bei ihrer Ankunft auf einem viel höheren technischen Niveau. Doch Tran Nuwens Reich konnte sie nicht einmal mit dem Nötigen zum Weiterflug versorgen. Zwei von den Schiffen blieben zurück. Der junge Pham flog mit dem dritten ab — ein verrückter Geiseltausch, den sein Vater für einen guten Schachzug gegenüber den Sternenfahrern hielt.

Phams letzter Tag auf Canberra war kalt und neblig. Die Reise von den Mauern der Burg hinab in die Sumpfniederung dauerte den größten Teil des Vormittags. Es war das erste Mal, dass er die gewaltigen Schiffe der Besucher aus der Nähe sehen durfte, und der kleine Pham Nuwen war außer sich vor Freude. Vielleicht hatte es in Phams Leben nie einen anderen Augenblick gegeben, da er so vieles falsch und umgekehrt verstand: Die Sternenschiffe, die aus dem Nebel emporragten, waren einfach Landefähren. Der hoch gewachsene, fremdartige Kapitän, der Phams Vater begrüßte, war in Wahrheit ein Zweiter Offizier. Respektvoll drei Schritte hinter ihm ging eine junge Frau, das Gesicht in kaum verhohlenem Unbehagen verzerrt — eine Konkubine? Eine Dienerin? Der wirkliche Kapitän, wie sich herausstellte.

Phams Vater, der König, gab ein Handzeichen. Der Erzieher des Jungen und seine mürrischen Diener führten ihn über den aufgeweichten Boden zu den Sternenleuten hin. Die Hände auf seinen Schultern hatten ihn fest im Griff, doch Pham bemerkte es nicht. Er schaute staunend empor und verschlang die ›Sternenschiffe‹ mit den Augen, versuchte den schwingenden Kurven jenes glänzenden Etwas zu folgen, das vielleicht Metall war. Auf einem Gemälde oder einem kleinen Schmuckstück hatte er solche Vollkommenheit gesehen — doch das hier war ein wahr gewordener Traum.

Sie hätten ihn an Bord der Fähre bringen können, ehe er den Verrat begriff, wäre nicht Cindi gewesen. Cindi Ducanh, eine mindere Tochter von Trans Vetter. Ihre Familie war wichtig genug, um bei Hofe zu leben, doch nicht so wichtig, dass sie eine Rolle gespielt hätten. Cindi war fünfzehn, die seltsamste, wildeste Person, die Pham je kennen gelernt hatte, so seltsam, dass er nicht einmal wusste, wie er sie nennen sollte — obwohl ›Freundin‹ durchaus genügt hätte.

Plötzlich war sie da, stand zwischen ihm und den Sternenleuten. »Nein! Es ist nicht recht. Es bringt nichts Gutes. Tut es nicht…« Sie hielt die Hände hoch, als wollte sie sie aufhalten. Von der Seite her hörte Pham eine Frau rufen. Es war Cindis Mutter, die ihre Tochter anschrie.

Es war so eine alberne, dumme, hilflose Geste. Phams Begleiter verhielten nicht einmal den Schritt. Sein Erzieher hieb Cindi in einem flachen Bogen seinen Schlagstock über die Beine. Sie stürzte hin.

Pham wandte sich um, versuchte ihr die Hand zu reichen, doch nun hoben ihn harte Hände hoch, hielten seine Arme und Beine fest. Der letzte Blick, den er von Cindi erhaschte, zeigte sie, wie sie noch immer zu ihm herblickte und versuchte, sich aus dem Schlamm zu erheben, ohne die Männer mit den Äxten wahrzunehmen, die auf sie zu liefen. Pham Nuwen erfuhr nie, wie viel es den einzigen Menschen gekostet hatte, der für ihn eingetreten war. Jahrhunderte später war er nach Canberra zurückgekehrt, reich genug, um den Planeten sogar in seinem neuerlich zivilisierten Zustand kaufen zu können. Er hatte die alten Bibliotheken durchforscht, die bruchstückhaften digitalen Aufzeichnungen der zurückgebliebenen Dschöng Ho. Er hatte nichts über die Nachwirkungen von Cindis Tat gefunden, nichts Sicheres in den Geburtenregistern von Cindis Familie von ihrer Zeit an. Sie war mitsamt dem, was sie getan und was es sie gekostet hatte, aus der Sicht ihrer Zeit einfach unerheblich.

Pham wurde hochgerissen, rasch vorwärtsgetragen. Einen Augenblick lang sah er seine Brüder und Schwestern, junge Männer und Frauen mit kalten, harten Gesichtern. Heute wurde gerade eine sehr geringfügige Drohung beseitigt. Die Diener machten kurz vor Phams Vater, dem König, Halt. Der alte Mann — ganze vierzig Jahre — starrte kurz auf ihn herab. Tran war immer eine ferne Naturgewalt gewesen, launisch hinter Reihen von Erziehern und rivalisierenden Erben und Höflingen. Seine Lippen waren in einer schmalen Linie herabgezogen. Einen Augenblick lang regte sich in den harten Augen vielleicht etwas wie Sympathie. Er fasste Pham an die Wange. »Sei stark, Junge. Du trägst meinen Namen.«

Tran wandte sich um, sprach Kauderwelsch zu dem Sternenmann. Und Pham war in der Hand der Fremden.


Wie Qiwi Lin Lisolet war Pham in die große Finsternis hinausgeworfen worden. Und wie Qiwi war Pham fehl am Platze.

An jene ersten Jahre erinnerte er sich deutlicher als an jede andere Zeit seines Lebens. Zweifellos hatte die Mannschaft vor, ihn auf Eis zu legen und beim nächsten Halt abzustoßen. Was soll man mit einem Kind anfangen, das glaubt, es gebe nur eine Welt, und die sei eine Scheibe, mit jemandem, der sein Leben damit zugebracht hat zu lernen, wie man mit einem Schwert herumhaut?

Pham Nuwen hatte eigene Pläne gehabt. Die Kälteschlaf-Särge hatten ihn zu Tode geängstigt. Kaum hatte die Reprise Canberra verlassen, als der kleine Pham aus der ihm zugewiesenen Kabine verschwand. Er war für sein Alter immer klein gewesen, und mittlerweile wusste er, was Überwachung aus der Ferne bedeutet. Er beschäftigte die Mannschaft der Reprise über vier Tage lang mit der Suche nach ihm. Am Ende verlor Pham natürlich — und ein paar sehr wütende Dschöng-Ho-Leute schleppten ihn vor den Gebieter des Schiffs.

Inzwischen wusste er, dass das die ›Dienerin‹ war, die er in der Sumpfniederung gesehen hatte. Doch obwohl er es wusste, konnte er es schwer glauben. Eine schwache Frau, die ein Sternenschiff und eine tausendköpfige Mannschaft befehligte (obwohl bald fast alle im Kälteschlaf lagen). Hmm. Vielleicht war sie die Konkubine des Besitzers gewesen, hatte ihn aber vergiftet und herrschte jetzt an seiner Stelle. Das war ein glaubhaftes Szenarium, doch dann war sie eine außerordentlich gefährliche Person. Tatsächlich war Sura Vizekapitän gewesen, die Anführerin der Fraktion, die gegen ein Verbleiben auf Canberra gestimmt hatte. Die Zurückbleibenden nannten sie ›übervorsichtige Feiglinge‹. Und nun waren sie auf dem Rückflug, dem sicheren Bankrott entgegen.

Pham erinnerte sich an ihren Gesichtsausdruck, als sie ihn schließlich erwischt und auf die Brücke gebracht hatten. Sie hatte böse auf den kleinen Prinzen herabgeschaut, einen Jungen, der noch immer in den Samt des Adels von Canberra gekleidet war.

»Du hast den Beginn des Wachzyklus verzögert, junger Mann.«

Die Sprache war für Pham fast unverständlich. Der Junge unterdrückte die Panik und die Einsamkeit und starrte ihr geradewegs ins Gesicht. »Meine Dame. Ich bin Eure Geisel, nicht Euer Sklave, nicht Euer Opfer.«

»Verdammt, was hat er gesagt?« Sura Vinh ließ den Blick zwischen ihren Leutnants schweifen. »Schau mal, Junge. Der Flug dauert sechzig Jahre. Wir müssen dich wegstecken.«

Die letzte Bemerkung drang durch die Sprachbarriere, doch sie klang zu sehr nach dem, was der Stallmeister sagte, wenn er im Begriff war, ein Pferd zu köpfen. »Nein! Ihr werdet mich nicht in einen Sarg stecken.«

Das wiederum verstand Sura Vinh.

Einer der anderen sagte plötzlich etwas zu Schiffsmeisterin Vinh. Vermutlich so etwas wie »Es ist egal, was er will, Kapitän.«

Pham spannte die Muskeln für das nächste vergebliche Handgemenge an. Doch Sura starrte ihn nur eine Sekunde lang an und schickte dann alle anderen aus ihrem Büro. Die beiden unterhielten sich etliche Kilosekunden lang in Kauderwelsch. Pham kannte Hofintrigen und Strategie, und keins von beidem schien hier geeignet zu sein. Ehe sie fertig waren, weinte der kleine Junge untröstlich, und Sura legte ihm den Arm um die Schulter. »Es wird Jahre dauern«, sagte sie. »Du verstehst das?«

»… J-ja.«

»Du wirst als alter Mann ankommen, wenn du dich nicht von uns in Kälteschlaf legen lässt.« Das Wort hatte immer noch seine unglückliche Wirkung.

»Nein, nein, nein! Lieber sterbe ich.« Pham Nuwen war jenseits aller Logik.

Einen Augenblick lang schwieg Sura. Jahre später erzählte sie Pham, wie sie die Begegnung erlebt hatte: »Nun ja, ich hätte dich auf Eis legen können. Das wäre klug und anständig gewesen — und es hätte mir eine Unmenge Probleme erspart. Ich werde nie verstehen, warum mich Dengs Flottenkomitee gezwungen hat, dich anzunehmen; sie waren kleinlich und vergnatzt, aber das war zu viel.

Da warst du also, ein kleines Kind, vom eigenen Vater verkauft. Es wäre doch schäbig gewesen, dich ebenso zu behandeln, wie er und das Komitee es getan hatten. Außerdem, wenn du den Flug auf Eis verbrachtest, wärst du bei der Ankunft in Namqem immer noch eine Null gewesen, in einer technischen Zivilisation hilflos. Warum dich also nicht aufbleiben lassen und versuchen, dir die Grundlagen beizubringen? Ich dachte mir, du würdest merken, wie lang die Jahre in einem Schiff zwischen den Sternen werden. In ein paar Jahren würden dir die Kälteschlaf-Särge nicht mehr gar so schrecklich vorkommen.«

Es war nicht einfach gewesen. Die Sicherheitsroutinen des Schiffes mussten umprogrammiert werden, um der Anwesenheit eines unverantwortlichen Menschenwesens gerecht zu werden. Es durfte keine unbemannten Zwischenwachen geben. Doch die Programmierung wurde erledigt, und etliche von den Wachmannschaften erklärten sich bereit, länger als normal aufzubleiben.

Die Reprise erreichte Staustrahlgeschwindigkeit, drei Zehntel Lichtgeschwindigkeit, und flog endlos durch die Tiefen.

Und Pham Nuwen hatte alle Zeit des Weltalls. Ein paar Besatzungsmitglieder — während der ersten paar Wachen Sura — taten ihr Möglichstes, um ihn zu unterrichten. Anfangs wollte er von alledem nicht wissen… doch die Zeit wurde lang. Er lernte Suras Sprache sprechen. Er lernte das Allgemeine über die Dschöng Ho. »Wir treiben Handel zwischen den Sternen«, sagte Sura. Die beiden saßen allein auf der Brücke des Staustrahlschiffes. Die Fenster zeigten eine symbolische Karte der fünf Sternsysteme, in denen die Dschöng Ho kursierte.

»Dschöng Ho ist ein Imperium«, sagte der Junge, während er hinaus auf die Sterne schaute und sich jene Gebiete im Vergleich zum Königreich seines Vaters vorzustellen versuchte.

Sura lachte. »Nein, kein Imperium. Keine Regierung kann sich über Lichtjahre hinweg behaupten. Verdammt, die wenigsten Regierungen halten sich länger als ein paar Jahrhunderte. Politik kommt und geht, doch der Handel geht immer weiter.«

Pham runzelte die Stirn. Sogar jetzt noch waren Suras Worte manchmal Unsinn. »Nein. Es muss ein Imperium sein.«

Sura stritt nicht. Ein paar Tage später ging sie auf Freiwache, lag tot in einem der seltsamen kalten Särge. Pham bettelte sie beinahe an, sich nicht umzubringen, und danach trauerte er Megasekunden lang über Wunden, von denen er nichts geahnt hatte. Nun gab es andere Fremde und endlose Tage der Stille. Schließlich lernte er Nese lesen.

Und zwei Jahre später kehrte Sura von den Toten zurück. Der Junge weigerte sich noch immer, auf Freiwache zu gehen, doch von diesem Punkt an war ihm alles willkommen, was sie ihm beibringen wollten. Er wusste, dass es hier Macht gab, die jedes Fürstentum auf Canberra weit übertraf, und nun hatte er begriffen, dass er womöglich über diese Macht gebieten würde. In zwei Jahren holte er auf, was ein Kind in der Zivilisation vielleicht in fünf lernte. Er hatte ein Talent für Mathematik; er konnte Dschöng-Ho-Programmschnittstellen des obersten und zweiten Niveaus benutzen.

Sura sah fast genauso wie vor ihrem Kälteschlaf aus, außer dass sie jetzt auf sonderbare Weise jünger wirkte. Eines Tages wurde er gewahr, wie sie ihn anstarrte.

»Was ist?«, fragte Pham.

Sura grinste. »Ich habe nie ein Kind auf einem langen Flug gesehen. Wie alt bist du jetzt, fünfzehn Canberra-Jahre? Bret sagt, du hast eine Menge gelernt.«

»Ja. Ich werde einer von der Dschöng Ho.«

»Hmm.« Sie lächelte, doch es war nicht das herablassende, Sympathie ausstrahlende Lächeln, an das sich Pham erinnerte. Sie freute sich wirklich, und sie zweifelte nicht an seiner Behauptung. »Da musst du unheimlich viel lernen.«

»Ich habe unheimlich viel Zeit dazu.«

Diesmal blieb Sura Vinh ganze vier Jahre lang auf Wache. Bret Trinli verlängerte seine Wache und blieb das erste Jahr davon auch wach. Die drei streiften durch jeden zugänglichen Kubikmeter der Reprise: das Krankenrevier und die Särge, das Steuerdeck, die Treibstofftanks. Die Reprise hatte fast zwei Millionen Tonnen Wasserstoff verbrannt, um Staustrahlgeschwindigkeit zu erreichen. Im Grunde war sie jetzt eine große, fast leere Hülle. »Und ohne eine Menge Wartungsarbeiten am Ziel wird dieses Schiff nie mehr fliegen.«

»Ihr könntet auftanken, selbst wenn es am Ziel nur Gasriesen gäbe. Sogar ich könnte mit den Programmen dafür umgehen.«

»Ja doch, und genau das haben wir bei Canberra gemacht. Doch ohne eine Überholung kommen wir nicht weit und sind aufgeschmissen, wenn wir dort sind.« Sura hielt inne, fluchte halblaut. »Diese verdammten Idioten. Warum sind sie zurückgeblieben?« Sura schien festzustecken zwischen ihrem Zorn auf die Schiffsmeister, die zur Eroberung Canberras zurückgeblieben waren, und ihrem Schuldgefühl, dass sie sie im Stich gelassen hatte.

Bret Trinli brach das Schweigen. »Nimm dir das nicht so zu Herzen. Sie riskieren viel, aber wenn sie gewinnen, kriegen sie die Kunden, auf die wir alle dort gehofft haben.«

»Ich weiß — und wir kommen in Namqem garantiert mit leeren Händen an. Ich wette, wir verlieren die Reprise.« Sie schüttelte sich, schob sichtlich die Sorgen fort, die immer an ihr zu nagen schienen. »Schön, bis dahin werden wir ein neues ausgebildetes Besatzungsmitglied erwerben.« Sie bedachte Pham mit einem spöttischen Lächeln. »Welches Spezialgebiet benötigen wir am dringendsten, Bret?«

Trinli rollte mit den Augen. »Du meinst, welches uns am meisten Gewinn bringt? Natürlich Archäologieprogrammierer.«

Die Frage war, ob ein hinterwäldlerisches Kind wie Pham Nuwen das jemals werden konnte. Inzwischen konnte der Junge fast alle Standard-Schnittstellen verwenden. Er hielt sich sogar für einen Programmierer und potentiellen Schiffsmeister. Mit den Standard-Schnittstellen konnte man die Reprise steuern, auf eine Planetenbahn einschwenken, die Kälteschlafsärge überwachen…

»Und wenn etwas schiefgeht, bist du tot, tot, tot«, beendete Sura die Rezitation von Phams Fähigkeiten. »Junge, du musst etwas lernen. Diesen Denkfehler machen Kinder in der Zivilisation auch häufig. Computer und Programme haben wir seit dem Beginn der Zivilisation, sogar noch vor der Raumfahrt. Sie können manches, aber manches können sie nicht. Sie finden keinen Ausweg aus einer unvorhergesehenen Bredouille und bringen nichts wirklich Kreatives zu Stande.«

»Aber… ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich spiele gegen die Rechner. Wenn ich eine hohe Schwierigkeit einstelle, gewinne ich nie.«

»Das liegt bloß daran, dass Computer einfache Dinge sehr schnell tun. Es gibt nur eine wesentliche Hinsicht, in der man Computer klug nennen könnte. Sie enthalten Jahrtausende an Programmen und können die meisten davon laufen lassen. In gewissem Sinne erinnern sie sich an jeden schlauen Trick, den die Menschheit jemals erfunden hat.«

Bret Trinli schniefte abschätzig. »Zusammen mit all dem Unsinn.«

Sura zuckte die Achseln. »Natürlich. Schau mal. Wie stark ist unsere Besatzung — wenn wir in einem System und alle wach sind?«

»Eintausendunddreiundzwanzig«, sagte Pham. Er hatte längst jede physische Kennziffer der Reprise und dieser Reise gelernt.

»Gut. Nehmen wir nun an, du bist Lichtjahre von allem entfernt…«

Trinli: »Das brauchen wir nicht anzunehmen, es ist die reine Wahrheit.«

»… und etwas geht schief. Man braucht vielleicht zehntausend menschliche Fachgebiete, um ein Raumschiff zu bauen, und das auf der Grundlage einer riesigen Industrie. Eine Schiffsbesatzung kann unmöglich alles Notwendige wissen, um das Spektrum eines Sterns zu analysieren, einen Impfstoff gegen eine ausgefallene Veränderung in der Baktrei herzustellen und jede Mangelkrankheit zu verstehen, mit der wir es zu tun bekommen können…«

»Ja«, sagte Pham. »Deswegen haben wir die Programme und die Computer.«

»Deswegen können wir ohne sie nicht überleben. Jahrtausende hindurch sind die Rechnerspeicher mit Programmen gefüllt worden, die weiterhelfen können. Doch wie Bret sagt — viele von diesen Programmen sind Lügen, alle haben sie Bugs, und nur die auf dem obersten Niveau entsprechen genau unseren Bedürfnissen.« Sie hielt inne, schaute Pham vielsagend an. »Es braucht einen schlauen und bestens ausgebildeten Menschen, um sich anzuschauen, was zur Verfügung steht, die richtigen Programme auszuwählen und abzuwandeln und dann die Ergebnisse zutreffend zu deuten.«

Pham schwieg einen Moment lang und dachte an all die Gelegenheiten zurück, wo der Rechner nicht das getan hatte, was er eigentlich wollte. Es war nicht immer Phams Schuld. Die Programme, die die Sprache von Canberra in Nese zu übersetzen versuchten, waren Müll. »Also… ich soll also lernen, wie man etwas Besseres programmiert.«

Sura grinste, und von Bret kam ein kaum unterdrücktes Kichern. »Wir werden zufrieden sein, wenn du ein guter Programmierer wirst und dann lernst, das schon vorhandene Material zu gebrauchen.«

Jahrelang lernte Pham Nuwen programmieren/nutzen. Das Programmieren war so alt wie die Zeit. Es ähnelte ein wenig dem Abfallhaufen hinterm Schloss seines Vaters. Wo der Bach ihn weggeschwemmt hatte, zehn Meter tiefer, lagen die zerbeulten Wracks von Maschinen — von Flugmaschinen, wie die Bauern sagten — aus der großen Zeit von Canberras ursprünglicher Kolonisation. Doch der Abfallhaufen war sauber und frisch im Vergleich zu dem, was im lokalen Netz der Reprise lag. Es waren Programme darunter, die vor fünftausend Jahren geschrieben worden waren, noch ehe die Menschheit auch nur die Erde verlassen hatte. Das Wunderbare daran — das Entsetzliche, wie Sura sagte — war, dass diese Programme im Unterschied zu den nutzlosen Wracks auf Canberra immer noch funktionierten! Und über eine Billion Vererbungslinien in den Schaltkreisen liefen viele von den ältesten Programmen noch immer in den Eingeweiden des Dschöng-Ho-Systems. Beispielsweise die Zeitmessung der Kauffahrer. Die Rahmenkorrekturen waren unglaublich komplex — und ganz tief am Grunde lag ein kleines Programm, das einen Zähler laufen ließ. Sekunde für Sekunde zählte die Dschöng Ho von dem Augenblick an, als zum ersten Mal ein Mensch den Fuß auf den Mond der Alten Erde gesetzt hatte. Wenn man es jedoch noch genauer betrachtete, dann lag der Startzeitpunkt eigentlich rund fünfzehn Millionen Sekunden später, die Sekunde Null für eines der ersten Computer-Betriebssysteme der Menschheit.

Unter den Schnittstellen des obersten Niveaus lagen also Schichten über Schichten von Dienstprogrammen. Ein Teil dieser Software war für krass unterschiedliche Situationen entworfen worden. Immer wieder einmal führten die Inkonsistenzen zu verhängnisvollen Unfällen. Im Gegensatz zu den romantischen Raumfahrtgeschichten wurden die häufigsten Unfälle einfach von uralten, missbrauchten Programmen verursacht, die sich schließlich rächten.

»Wir sollten das alles neu schreiben«, sagte Pham.

»Das ist getan worden«, sagte Sura ohne aufzublicken. Sie war im Begriff, auf Freiwache zu gehen, und hatte die letzten vier Tage mit dem Versuch verbracht, ein Problem der Kälteschlaf-Automatik auszumerzen.

»Es ist versucht worden«, berichtigte sie Bret, der gerade von den Kühleinheiten zurückkam. »Doch sogar die obersten Niveaus des Flottensystem-Codes sind riesig. Du und tausend von deinen Freunden, ihr müsstet ein Jahrhundert lang oder so arbeiten, um ihn wiederherzustellen.« Trinli grinste boshaft. »Und weißt du was: Selbst wenn ihr es tätet, dann hättet ihr, wenn ihr fertig seid, eure eigenen Inkonsistenzen. Und ihr wärt immer noch nicht konsistent mit all den Anwendungen, die hin und wieder gebraucht werden könnten.«

Sura ließ für einen Moment die Fehlersuche sein. »Das alles nennt man ›reife Programmumgebung‹. Wenn die Leistung der Hardware bis an die letzte Grenze gesteigert worden ist und die Programmierer etliche Jahrhunderte lang programmiert haben, erreicht man im Grunde einen Punkt, wo es viel mehr signifikanten Code gibt, als man verstandesmäßig erfassen kann. Bestenfalls kann man die allgemeine Schichtung verstehen und wissen, wie man nach einem ausgefallenen Werkzeug sucht, das sich als nützlich erweisen könnte — zum Beispiel in der Situation, die wir jetzt haben.« Sie wies auf das Verknüpfungsschema, an dem sie gearbeitet hatte. »Wir sind knapp mit Kühlflüssigkeit für die Särge. Wie eine Million andere Dinge, war sie im guten alten Canberra nicht zu kaufen. Die auf der Hand liegende Lösung ist natürlich, die Särge achtern in die Nähe der Außenhülle zu bringen und durch direkte Abstrahlung zu kühlen. Uns fehlt dazu die geeignete Ausrüstung — also habe ich in letzter Zeit meinen Teil Archäologie betrieben. Anscheinend ist vor fünfhundert Jahren etwas Ähnliches nach einem systeminternen Krieg bei Torma geschehen. Sie haben ein Programmpaket zur Temperaturregelung zusammengeschustert, welches genau das ist, was wir brauchen.«

»Fast genau.« Wieder grinste Bret. »Mit ein paar kleinen Anpassungen.«

»Ja, und mit denen bin ich fast fertig.« Sie warf Pham einen Blick zu und sah seinen Gesichtsausdruck. »Aha. Ich dachte, du würdest lieber sterben, als einen Sarg zu benutzen.«

Pham lächelte verlegen in der Erinnerung an den kleinen Jungen von vor fünf Jahren. »Nein, ich werde einen benutzen. Eines Tages.«

Bis zu diesem Tag sollten noch fünf Jahre von Phams Lebenszeit vergehen. Er hatte viel zu tun in diesen Jahren. Sowohl Bret als auch Sura waren auf Freiwache, und mit ihren Ersatzleuten wurde Pham nie recht warm. Die vier spielten Musikinstrumente — von Hand, ganz wie Spielleute bei Hofe! Sie konnten es Kilosekunden lang ohne Unterbrechung tun; sie schienen aus dem gemeinsamen Spiel ein seltsames geistiges/soziales Hochgefühl zu gewinnen. Pham wurde von Musik vage beeindruckt, doch diese Leute arbeiteten so hart, um so gewöhnliche Ergebnisse zu erzielen. Pham fehlte die Geduld, um in dieser Richtung auch nur zu beginnen. Er sonderte sich ab. Alleinsein war etwas, das er sehr gut konnte. Es gab so viel zu lernen.

Je mehr er lernte, umso besser verstand er, was Sura Vinh mit ›reifen Programmumgebungen‹ gemeint hatte. Im Vergleich zu den Besatzungsmitgliedern, die er kannte, war Pham ein exzellenter Programmierer geworden. Ein ›strahlendes Genie‹ sei er, hatte er Sura sagen hören, als sie ihn nicht in der Nähe wähnte. Er konnte schlechthin alles programmieren — doch das Leben ist kurz, und die meisten wesentlichen Systeme waren schrecklich groß. Also lernte Pham, in den Monstern der Vergangenheit herumzuhacken. Er konnte Waffenprogramme von Albgeist mit gepatchten Kegelschnitt-Bahnberechnungen aus der Zeit vor der Eroberung des Weltraums zusammenschalten. Ebenso wichtig, er wusste, wie und wo er nach möglicherweise passenden Anwendungen suchen musste, die im Schiffsnetz verborgen waren.

… Und er erfuhr etwas über reife Programmumgebungen, was Sura nie direkt gesagt hatte. Wenn Systeme von darunter liegenden Systemen abhängen — und die von noch älteren —, dann konnte man unmöglich wissen, wozu alle Systeme imstande waren. Tief im Innern der Flottenautomatik konnte es — musste es — ein Labyrinth von Falltüren geben. Die meisten Autoren waren seit Jahrtausenden tot, ihre versteckten Zugänge wahrscheinlich für immer verloren gegangen. Andere Fallen waren von Unternehmen oder Regierungen angelegt worden, die gehofft hatten, die Zeiten zu überdauern. Sura und Bret und vielleicht noch ein paar von den anderen wussten Dinge über die Systeme der Reprise, die ihnen besondere Macht verliehen.

Der mittelalterliche Prinz in Pham Nuwen war von dieser Erkenntnis gefesselt. Wenn man nur auf der untersten Ebene eines überall benutzten Systems sein könnte… Wenn die neue Schicht überall benutzt wurde, dann wäre der Besitzer dieser Falltüren fortan auf ewig König, überall im ganzen Universum der Anwendung.

Elf Jahre waren vergangen, seit ein gewisser verängstigter Dreizehnjähriger von Canberra mitgenommen worden war.

Sura war soeben aus dem Kälteschlaf zurückgekehrt. Auf diese Rückkehr hatte Pham mit wachsendem Verlangen gewartet… schon kurz, nachdem sie gegangen war. Er wollte ihr so viel sagen und zeigen, sie so viel fragen. Doch als es endlich so weit war, brachte er es nicht fertig, beim Kälteschlafraum zu bleiben und sie zu begrüßen.

Sie fand ihn in einer Ausrüstungsbucht bei der Heckhülle, einer winzigen Nische mit einem echten Fenster zu den Sternen. Diesen Ort hatte sich Pham vor etlichen Jahren angeeignet.

Ein Klopfen gegen die leichte Plastikverkleidung. Er schob sie beiseite.

»Hallo, Pham.« Aufs Suras Gesicht lag ein seltsames Lächeln. Sie selbst sah seltsam aus. So jung. In Wahrheit war sie einfach nicht gealtert. Und Pham Nuwen hatte nun vierundzwanzig Jahre lang gelebt. Er winkte sie in den winzigen Raum. Sie schwebte nahe an ihm vorüber und wandte sich um. Ihr Blick über dem Lächeln war ernst. »Du bist erwachsen geworden, Freund.«

Pham schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich… du bist mir noch voraus.«

»Mag sein. In mancher Hinsicht. Aber du bist ein doppelt so guter Programmierer, wie ich es jemals sein werde. Ich habe die Lösungen gesehen, die du während der letzten Wache für Ceng ausgearbeitet hast.«

Sie setzten sich, und sie fragte ihn nach Cengs Problemen und seinen Lösungen. All die glatten Reden und die Bravour, mit deren Planung er das letzte Jahr verbracht hatte, waren wie weggeblasen, er sprach unbeholfen und abgehackt. Sura schien es nicht zu bemerken. Verdammt. Wie nimmt ein Mann von der Dschöng Ho eine Frau? Auf Canberra war er im Glauben an Ritterlichkeit und Hingabe aufgewachsen — und hatte allmählich gelernt, dass es in Wahrheit ganz anders gemacht wurde: Ein Edelmann nahm sich einfach, was er wollte, vorausgesetzt, es gehörte nicht schon einem mächtigeren Adligen. Phams persönliche Erfahrung war beschränkt und jedenfalls untypisch: Die arme Cindi hatte sich ihn genommen. Zu Beginn der letzten Wache hatte er die echte Canberra-Methode an einem weiblichen Besatzungsmitglied ausprobiert. Xina Rao hatte ihm das Handgelenk gebrochen und formal Beschwerde eingelegt. Sura würde es früher oder später sicherlich erfahren.

Beim Gedanken daran verlor Pham endgültig den Gesprächsfaden. Er starrte Sura an und schwieg verlegen, dann platzte er mit der Ankündigung heraus, die er für einen besonderen Augenblick geheim gehalten hatte. »Ich… ich werde auf Freiwache gehen, Sura. Ich werde endlich mit dem Kälteschlaf anfangen.«

Sie nickte ernsthaft, als ob sie es nicht geahnt hätte.

»Weißt du, was für mich wirklich den Ausschlag gegeben hat, Sura? Der letzte Tropfen, der das Glas zum Überlaufen brachte? Das war vor drei Jahren. Du warst auf Freiwache«, und mir kam zu Bewusstsein, wie lange es dauern würde, bis ich dich wieder sähe. »Ich versuchte, dieses Zeug von der zweiten Himmelsmechanik-Ebene zum Funktionieren zu bringen. Dafür muss man wirklich etwas von Mathe verstehen. Eine Weile war ich mit meiner Weisheit am Ende. Einfach nur so zum Spaß kam ich hierher und begann in den Himmel zu starren. Das habe ich auch früher schon manchmal getan. Jedes Jahr ist meine Sonne schwächer; es ist beängstigend.«

»Das will ich meinen«, sagte Sura, »aber ich wusste nicht, dass man direkt nach achtern schauen kann, und sei es von hier aus.« Sie glitt zu der Vierzig-Zentimeter-Öffnung und löschte das Licht.

»Doch, man kann«, sagte Pham, »zumindest, wenn sich die Augen daran gewöhnt haben.« Der Raum war jetzt pechschwarz. Es war ein richtiges Fenster, kein vergrößernder Bildschirm. Er kam dicht hinter sie. »Schau, da sind die vier hellen Sterne des Pikeniers. Jetzt macht der Stern von Canberra seine Stange gerade um einen Tong länger.« Narr. Sie kennt doch den Himmel von Canberra nicht. Er plapperte weiter, eine gedankenlose Tarnung für seine Gefühle. »Doch es war nicht einmal das, was mir den Rest gegeben hat; meine Sonne ist auch nur ein Stern, na und? Es sind die Sternbilder: der Pikenier, die Wildgans, der Pflug. Ich kann sie noch erkennen, doch sogar ihre Form hat sich verändert. Ich weiß, das war zu erwarten. Ich habe inzwischen schon viel schwierigere Mathe gemacht. Aber… es hat mich erschüttert. In elf Jahren haben wir uns so weit bewegt, dass der ganze Himmel verändert ist. Da habe ich wirklich gespürt, wie weit wir geflogen sind, wie ungeheuer weit wir noch zu fliegen haben.«

Er gestikulierte im Dunkeln, und seine Handfläche klappte sacht auf die glatte Rundung ihres Hinterteils. Seine Stimme erstarb mit einem kleinen Piepser, und einen messbaren Augenblick lang lag seine Hand reglos auf ihrer Hose, die Finger berührten die nackte Haut unmittelbar darüber. Irgendwie hatte er noch nicht bemerkt, dass ihre Bluse nicht in der Hose steckte. Seine Hand fuhr um ihre Taille herum und über die sanfte Wölbung ihres Bauches aufwärts, immer weiter, bis er die Unterseite ihrer Brüste berührte. Die Bewegung war besitzergreifend, abgewandelt und zögernd vielleicht, doch unzweifelhaft besitzergreifend.

Sura reagierte fast ebenso schnell wie Xina Rao. Sie drehte sich unter seinem Griff weg, sodass ihre Brust in seiner anderen Handfläche zu liegen kam. Ehe Pham auf Abstand gehen konnte, hatte sie den Arm hinter seinem Hals und zog ihn herab — für einen langen, heftigen Kuss. Er fühlte mehrfache Schocks, wo seine Lippen ihre berührten, wo seine Hand ruhte, wo ihr Bein zwischen seinen Schenkeln hochglitt.

Und nun zog sie ihm das Hemd aus der Hose und zwang ihrer beider Körper in eine einzige lange Berührung. Sie löste ihre Lippen von seinen, beugte den Kopf zurück und lachte sanft. »Himmel! Ich habe mir gewünscht, dich in die Finger zu kriegen, seit du fünfzehn warst.«

Aber warum hast du es nicht getan? Du hattest mich in der Gewalt. Das war für eine Weile sein letzter zusammenhängender Gedanke. In der Dunkelheit erhoben sich weitere wunderbare Fragen. Wie einen festen Halt finden, wie die glatten Endpunkte von Weichheit und Härte zusammenbringen. Sie prallten unkontrolliert von Wand zu Wand, und ohne seine Partnerin und Führerin hätte der arme Pham vielleicht nie den Weg ins Ziel gefunden.

Später schaltete sie das Licht ein und zeigte ihm, wie man es in der Hängematte macht. Und dann noch einmal, wieder ohne Licht. Eine gute Zeit später schwebten sie erschöpft im Dunkeln. Friede und Glück, und seine Arme waren so voll von ihr. Das Sternenlicht war ein magischer Schimmer, der mit der Zeit fast hell wirkte. Hell genug, um auf Suras Augen zu funkeln, das Weiß ihrer Zähne zu zeigen. Sie lächelte. »Du hast Recht, was die Sterne betrifft«, sagte sie. »Es ist ein bisschen niederdrückend, zu sehen, wie sich die Sterne verschieben, zu wissen, wie wenig wir zählen.«

Pham drückte sie sanft, doch im Moment war er so zufrieden, dass er tatsächlich an das denken konnte, was sie gesagt hatte. »… Ja, es ist beängstigend. Doch gleichzeitig schaue ich hinaus und weiß, dass wir mit Sternenschiffen und Kälteschlaf neben und über alledem stehen. Wir können aus dem Weltall machen, was wir wollen.«

Das Weiß von Suras Lächeln wurde breiter. »Ach, Pham, vielleicht hast du dich nicht geändert. Ich erinnere mich an die ersten Tage des kleinen Pham, als du kaum einen verständlichen Satz herausbrachtest. Du wolltest unbedingt, dass die Dschöng Ho ein Imperium sei, und ich sagte immer wieder, dass wir einfach Kauffahrer sind und niemals mehr sein könnten.«

»Ich erinnere mich, aber ich verstehe es immer noch nicht. Seit wann gibt es die Dschöng Ho?«

»Diesen Namen für ›Handelsflotte‹? Vielleicht seit zweitausend Jahren.«

»Das ist länger, als die meisten Reiche bestehen.«

»Klar, und teilweise liegt es daran, dass wir kein Reich sind. Es ist unsere Funktion, die uns ewig erscheinen lässt. Die Dschöng Ho vor zweitausend Jahren hatte eine andere Sprache, keine kulturellen Gemeinsamkeiten mit der heutigen. Ich bin sicher, dass ähnliche Dinge überall im ganzen Menschenraum existieren. Es ist ein Prozess, keine Regierung.«

»Einfach nur ein paar Kerle, die zufällig ähnliche Dinge tun?«

»Du hast es erfasst.«

Pham schwieg eine Weile. Sie verstand ihn einfach nicht. »Schön. So sind die Dinge jetzt. Aber siehst du nicht die Macht, die euch das verleiht? Ihr besitzt eine Hochtechnologie über Hunderte von Lichtjahren hinweg im Raum und Jahrtausende in der Zeit.«

»Nein. Ebenso könnte man sagen, dass die Meeresbrandung die Welt beherrschen könnte: Sie ist überall, sie ist mächtig und sie scheint koordiniert zu sein.«

»Ihr könntet ein Netzwerk haben wie das Flotten-Netz, das ihr bei Canberra benutzt habt.«

»Die Lichtgeschwindigkeit, Pham, hast du die vergessen? Nichts bewegt sich schneller. Ich habe keine Ahnung, was Kauffahrer am anderen Ende des Menschenraums tun — und günstigstenfalls wäre diese Information um Jahrhunderte veraltet. Das meiste, was du an Netzwerk gesehen hast, findet innerhalb der Reprise statt; du hast gelernt, wie man ein kleines Flotten-Netz betreibt. Du wirst dir kaum vorstellen können, welche Art Netz es braucht, um eine planetare Zivilisation zu unterhalten. Du wirst es auf Namqem sehen. Jedes Mal, wenn wir einen Ort wie diesen besuchen, büßen wir ein paar Besatzungsmitglieder ein. Das Leben mit einem planetaren Netz, wo man mit Millisekunden Verzögerung mit Millionen Menschen in Wechselwirkung treten kann — das ist etwas, wofür du noch keinen Blick hast. Ich wette, wenn wir nach Namqem kommen, wirst du auch dableiben.«

»Ich werde niemals…«

Doch Sura drehte sich in seiner Umarmung, ihre Brüste streiften über seine Brust, ihre Hand glitt über seinen Bauch nach unten. Phams Widerspruch verlor sich in der elektrischen Reaktion seines Körpers.


Danach zog Pham in Suras Bordquartier. Sie verbrachten so viel Zeit miteinander, dass ihn die anderen Wachhabenden neckten, er habe ›ihren Kapitän entführt‹. In der Tat war die Zeit mit Sura Vinh für Pham eine Freude ohne Ende, doch es war nicht nur die Erfüllung körperlichen Begehrens. Sie redeten und redeten und stritten und stritten… und legten für den Rest ihres Lebens die Richtung fest.

Und manchmal dachte er an Cindi. Sowohl sie als auch Sura hatten sich an ihn herangemacht und ihm den Blick für Neues geöffnet. Beide hatten sie ihm etwas beigebracht, mit ihm gestritten und sein Leben komplizierter gemacht. Doch sie unterschieden sich wie Tag und Nacht, wie ein Teich von einem Ozean. Cindi war unter Lebensgefahr für ihn eingetreten, allein gegen alle Mannen des Königs. Nicht einmal in seinen kühnsten Träumen konnte sich Pham vorstellen, dass Sura ihr Leben für solch eine aussichtslose Sache einsetzen würde. Nein, Sura war unendlich sorgfältig und vorsichtig. Sie war es gewesen, die die Risiken eines Verbleibens auf Canberra analysiert und daraus gefolgert hatte, dass Erfolg unwahrscheinlich sei — und die genug andere von diesen Risiken überzeugt hatte, um dem Flottenkomitee ein Schiff abzuringen und den Raum von Canberra zu verlassen. Sura Vinh plante auf lange Sicht, sah Probleme, wo kein anderer welche erkannte. Sie vermied Risiken — oder stellte sich ihnen mit weit überlegenen eigenen Kräften. In Phams verwirrtem Moral-Pantheon stand sie weit unter Cindi… und weit über ihr.

Sura nahm ihm den Gedanken von einem Sternenreich der Dschöng Ho nie ab. Doch sie widersprach ihm nicht einfach; sie überschüttete ihn mit Büchern, mit Ökonomie und Geschichte, die ihm bei der Lektüre der letzten zehn Jahre entgangen waren. Ein vernünftiger Mensch hätte ihren Standpunkt akzeptiert; es gab so viele Gesichtspunkte des gesunden Menschenverstandes, über die Pham Nuwen im Irrtum gewesen war. Doch Pham hatte noch seine alte Hartnäckigkeit. Vielleicht war es Sura, die Scheuklappen trug. »Wir könnten ein interstellares Netz bilden. Es wäre nur eben… langsam.«

Sura lachte. »O ja! Langsam. Wo eine Dreifach-Rückmeldung tausend Jahre dauern würde!«

»Natürlich gäbe es andere Protokolle. Und sie würden auch anders benutzt. Doch aus der Zufallsfunktion des Handels könnte etwas viel… äh… Einträglicheres werden.« Beinahe hätte er ›etwas Mächtigeres‹ gesagt, doch dann hätte er sich nur wieder eine bissige Bemerkung über seine ›mittelalterliche‹ Denkweise eingehandelt. »Wir könnten eine fließende Datenbank von Kunden unterhalten.«

Sura schüttelte den Kopf. »Aber sie wäre Jahrzehnte bis Jahrtausende veraltet.«

»Wir könnten Standards für die Sprache der Menschen aufrechterhalten. Die Standards unserer Netzwerkprogrammierung würden jede Kundenregierung überdauern. Unsere Kauffahrerkultur könnte ewig bestehen.«

»Aber die Dschöng Ho ist nur ein Fisch in einem zufälligen Meer von Kauffahrern… Oh.« Pham sah, dass sie seinen Gedanken endlich zu erfassen begann. »Die ›Kultur‹ unserer Sendungen würde also den Teilnehmern einen Handelsvorteil bringen. Also gäbe es ein verstärkende Rückkopplung.«

»Ja, ja! Und wir könnten die Sendungen verschlüsseln, um uns vor Konkurrenz in der Nachbarschaft zu schützen.« Pham lächelte schlau. Auf den nächsten Gedanken wäre der kleine Pham niemals gekommen, und wahrscheinlich auch nicht Phams Vater, der König des ganzen Nordlandes. »Eigentlich könnten wir sogar einige Daten auch in Klartext senden. Die Materialien für die Sprachstandards beispielsweise und die einfacheren Teile unserer Technikbibliotheken. Ich habe die Geschichte der Kunden gelesen. Bis zurück zur Alten Erde ist die einzige Konstante das Auf und Ab, der Aufstieg der Zivilisation, ihr Fall, oft genug die lokale Auslöschung der Menschheit. Im Laufe der Zeit könnten die Sendungen der Dschöng Ho diese Schwingungen dämpfen.«

Sura nickte, ein in weite Ferne gerichteter Blick trat in ihre Augen. »Ja. Wenn wir es richtig machen, bekommen wir Kundenkulturen, die unsere Sprache sprechen, die nach den Bedürfnissen unseres Handels geformt sind und unsere Programmumgebung benutzen…« Ihr Blick schnellte zu seinem Gesicht hoch. »Du hast immer noch dein Imperium im Kopf, was?«

Pham lächelte nur.


Sura machte eine Million Einwände, doch sie hatte den Geist der Idee erfasst, in ihre Erfahrung übertragen, und nun arbeitete ihre ganze Phantasie parallel zu seiner. Im Laufe der Zeit wurden ihre Einwände Vorschlägen immer ähnlicher und ihre Streitgespräche einem wunderbaren Pläneschmieden.

»Du bist verrückt, Pham…, aber das macht nichts. Vielleicht muss man ein Verrückter aus dem Mittelalter sein, um sich derart hochfliegende Ziele zu stecken. Es ist… es ist, als würden wir eine Zivilisation von Anfang bis Ende aus dem Kopf erschaffen. Wir können unsere eigenen Mythen vorgeben, unsere eigenen Bräuche. Wir werden die Grundlage von allem sein.«

»Und wir werden jede Konkurrenz überdauern.«

»Herrgott«, sagte Sura leise. (Es sollte noch eine Weile dauern, bis sie den ›Herrn Allen Handels‹ und das Pantheon der geringeren Götter erfanden.) »Und weißt du, Namqem ist der ideale Ort, um damit zu beginnen. Sie sind ziemlich so weit fortgeschritten, wie eine Zivilisation es nur sein kann, aber sie werden allmählich ein bisschen zynisch und dekadent. Sie haben Propagandatechniken wie nur je eine in der menschlichen Geschichte. Was du vorschlägst, ist seltsam, aber es ist trivial im Vergleich zu Werbekampagnen in einem planetaren Netz. Wenn meine Vettern noch im Raum von Namqem sind, dann wette ich, dass sie die Operation finanziell unterstützen werden.« Sie lachte, freudig und fast wie ein Kind, und Pham wurde bewusst, wie sehr die Furcht vor Ruin und Schande sie niedergedrückt hatte.

Der Rest ihrer Wache war eine pausenlose Orgie von Phantasie und Erfindung und Lust. Pham entwickelte ein Projekt für eine Kombination von gerichteten und allgemein ausgestrahlten interstellaren Radiosendungen, Zeitpläne, mit denen Flotten und Familien über Jahrhunderte hinweg synchron bleiben konnten. Sura akzeptierte den größten Teil des Protokollentwurfs, in ihren Augen standen Staunen und sichtliches Vergnügen. Was die Organisation der menschlichen Beziehungen anging, Phams Plan mit erblichen Herrschern und Kriegsflotten — darüber lachte Sura nur, und Pham zweifelte ihr Urteil nicht an. In den Angelegenheiten von Menschen war er noch kaum über den Dreizehnjährigen aus dem Mittelalter hinaus gekommen.

Im Grunde war Suras Bewunderung größer als ihre Herablassung. Pham erinnerte sich an ihr letztes Gespräch, ehe er zum ersten Mal in einen Kältesarg stieg. Sura war dabei gewesen, die Abstrahlkühlung zu eichen und die Hypothermiedrogen zu überprüfen. »Wir werden fast gleichzeitig wieder herauskommen, Pham, ich hundert Kilosek vor dir. Ich werde da sein, um dir zu helfen.« Sie lächelte, und er spürte, wie ihr Blick ihn sanft musterte. »Mach dir keine Sorgen.«

Pham machte eine schnoddrige Bemerkung, doch sie sah natürlich, dass ihm unbehaglich zumute war. Sie sprach von anderen Dingen, als er in den Sarg glitt, einen fortlaufenden Monolog über ihre Pläne und Tagträume, was sie anfangen könnten, wenn sie schließlich Namqem erreichten. Und dann war es so weit, und sie zögerte. Sie beugte sich herab und küsste ihn sacht auf den Mund. Ihr Lächeln bekam einen Anflug von Spott, doch sie verspottete ebenso sich selbst wie ihn: »Schlaf gut, mein süßer Prinz.«

Und dann war sie fort, und die Drogen begannen zu wirken. Es fühlte sich überhaupt nicht kalt an. Seine letzten Gedanken waren ein seltsames Zurückgleiten durch seine Vergangenheit. Phams ganze Kindheit auf Canberra über war sein Vater eine ferne Gestalt gewesen. Seine eigenen Brüder waren für sein Dasein tödliche Bedrohungen gewesen. Cindi, er hatte Cindi verloren, ehe er es überhaupt richtig verstanden hatte. Was aber Sura Vinh betraf… für sie hatte er die Gefühle eines erwachsen gewordenen Kindes für Mutter oder Vater, die ihn liebten, die Gefühle eines Mannes für seine Frau, die Gefühle eines Menschen für einen lieben Freund.

In einem grundlegenden Sinne war Sura Vinh all das gewesen. Einen großen Teil ihres Lebens über schien sie seine Freundin zu sein. Und obwohl sie ihn am Ende verraten hatte, war doch Sura Vinh damals, am Anfang, eine gute und treue Frau gewesen.


Jemand rüttelte ihn sacht, winkte mit der Hand vor seinem Gesicht. »He, Trinli! Pham! Bist du noch da?« Es war Jau Xin, und er wirkte aufrichtig besorgt.

»Ähm… ja, ja. Alles in Ordnung.«

»Bestimmt?« Xin beobachtete ihn etliche Sekunden lang, trieb dann zu seinem Sitz zurück. »Ich hatte einen Onkel, der so einen ganz glasigen Blick bekam, wie du eben. Das war’n Schlaganfall, und er…«

»Ja doch, mir geht’s gut. Ist mir nie besser gegangen.« Pham legte wieder den angeberischen Ton in seine Stimme. »Ich hab nur nachgedacht, weiter nichts.«

Die Behauptung löste rings am Tisch ein ablenkendes Gelächter aus. »Nachgedacht, ’ne schlechte Angewohnheit, Pham, alter Junge!« Nach ein paar Minuten ließ ihr Interesse nach. Pham hörte jetzt aufmerksam zu und warf gelegentlich laute Meinungsäußerungen ein.

Eigentlich waren heftige Tagträumereien mindestens seit seinem Abflug von Canberra ein Zug seiner Persönlichkeit. Manchmal versank er völlig in Erinnerungen oder Plänen und verlor sich so, wie es Leute in Eintauch-Videos tun. Er hatte deswegen mindestens ein Geschäft vermasselt. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Qiwi gegangen war. Ja, die Kindheit des Mädchens war seiner sehr ähnlich gewesen, und vielleicht bewirkte das jetzt ihre Phantasie und ihren Tatendrang. In der Tat hatte er sich oft gefragt, ob die verrückte strentmannische Art, Kinder großzuziehen, auf Geschichten von Phams Zeit auf der Reprise beruhte. Zumindest war es, als er sein Reiseziel erreichte, besser geworden. Die arme Qiwi hatte hier nichts als Tod und Täuschung gefunden. Dennoch machte sie weiter…

»Wir bekommen jetzt gute Übersetzungen.« Trud Silipan war wieder bei den Spinnen. »Ich bin der zuständige Leiter für Reynolts Übersetzer-Blitzköpfe.« Trud war eher ein Betreuer als ein Leiter, doch niemand wies darauf hin. »Ich sag euch, wir werden schon in den nächsten Tagen die ersten Informationen darüber kriegen, wie die ursprüngliche Zivilisation der Spinnen war.«

»Ich weiß nicht, Trud. Alle sagen, das muss eine herabgesunkene Kolonie sein. Aber wenn die Spinnen noch woanders im Raum sind, warum hören wir ihre Funkübertragungen nicht?«

Pham: »Hört mal. Das haben wir doch schon durch. Die Arachna muss eine Koloniewelt sein. Das System ist einfach zu lebensfeindlich, als dass es auf natürliche Weise Leben hätte hervorbringen können.«

Und jemand anders: »Vielleicht haben diese Wesen keine Dschöng Ho.« Gekicher klang rings um den Tisch.

»Nein, es gäbe trotzdem eine Menge Funkverkehr. Wir würden ihn hören.«

»Vielleicht sind die übrigen wirklich sehr weit weg, wie das Perseus-Nuscheln…«

»Oder vielleicht sind sie so weit entwickelt, dass sie keinen Funk verwenden. Wir haben diese Kerle nur bemerkt, weil sie von vorn anfangen.« Es war ein alter, alter Streit, Teil des Geheimnisses, das sich bis ins Zeitalter der Gescheiterten Träume erstreckte. Mehr als alles andere hatte es die Expeditionen der Menschen nach der Arachna gezogen. Jedenfalls war es das, was Pham angezogen hatte.

Und tatsächlich hatte Pham schon etwas Neues gefunden, etwas so Mächtiges, dass die Herkunft der Spinnen jetzt ein Randthema für ihn war. Pham hatte Fokus gefunden. Mit Fokus konnten die Aufsteiger ihre klügsten Leute in hingebungsvolle Denkmaschinen verwandeln. Ein Blindgänger wie Trud Silipan konnte mit einem Knopfdruck wirksame Übersetzungen bekommen. Ein Ungeheuer wie Tomas Nau konnte seine Augen überall haben. Fokus gab den Aufsteigern eine Macht, die nie zuvor jemand besessen hatte, Raffinement, das jede Maschine, und Geduld, die jeden Menschen übertraf. Das war einer der Gescheiterten Träume — aber sie hatten es erreicht.

Während er zusah, wie Silipan dozierte, erkannte Pham, dass die nächste Phase seines Plans endlich erreicht war. Die niederrangigen Aufsteiger hatten Pham Trinli akzeptiert. Nau tolerierte ihn, hielt in sogar bei Laune, weil er glaubte, Pham könnte, ohne es zu wissen, Ausblick auf das militärische Denken der Dschöng Ho geben. Es war an der Zeit, viel mehr über Fokus zu erfahren. Von Silipan zu lernen, von Reynolt… eines Tages die technische Seite der Sache zu erlernen.

Pham hatte versucht, eine wahre Zivilisation zu schaffen, die sich über den ganzen Menschenraum erstreckte. Ein paar kurze Jahrhunderte hindurch hatte es so ausgesehen, als könnte ihm das gelingen. Am Ende war er verraten worden. Doch Pham hatte schon lange erkannt, dass der Verrat nur das Scheitern offenbarte. Was ihm Sura und die anderen bei der Brisgo-Lücke angetan hatten, war unvermeidlich gewesen. Ein interstellares Imperium umfasst so viel Raum, so viel Zeit. Dass so etwas gut und gerecht ist, genügt nicht. Man braucht einen entscheidenden Vorteil.

Pham hob seinen Ballon mit ›Diamant und Eis‹ und trank im Stillen auf die Lehren der Vergangenheit und die Verheißungen der Zukunft. Diesmal würde er es richtig machen.

Achtzehn

Ezr Vinhs erste zwei Jahre nach dem Überfall waren über nahezu acht Jahre objektive Zeit verteilt. Fast wie ein guter Dschöng-Ho-Kapitän, passte Tomas Nau ihre Wachzeit den örtlichen Entwicklungen an. Qiwi und ihre Arbeitsgruppen waren häufiger wach als alle anderen, doch selbst bei ihnen ging es langsamer.

Anne Reynolt hielt auch ihre Astrophysiker bei der Arbeit. Der EinAus-Stern wurde weiter entlang der Lichtkurve schwächer, die in früheren Jahrhunderten beobachtet worden war; für einen Laien sah er wie eine normale, Wasserstoff verbrennende Sonne aus, mitsamt Sonnenflecken. Zunächst setzte sie die anderen Wissenschaftler sparsamer ein und wartete darauf, dass die Spinnen ihre Aktivitäten wieder aufnahmen.

Militärische Funksendungen von der Arachna wurden weniger als einen Tag nach dem Aufflammen empfangen, sogar schon, als noch Dampfstürme die Oberfläche aufwühlten. Anscheinend hatte die Aus-Phase der Sonne einen Krieg auf dem Planeten unterbrochen. Binnen ein, zwei Jahren gab es Dutzende von Sendeorten auf zwei Kontinenten. Alle zwei Jahrhunderte mussten diese Wesen ihre Bauten an der Oberfläche fast von Grund auf neu errichten, doch anscheinend waren sie darin sehr gut. Wenn sich Lücken in der Wolkendecke auftaten, sahen sie neue Straßen, Städte.

Im vierten Jahr gab es dann zweitausend Sendestellen, das klassische ortsfeste Modell. Jetzt gingen Trixia Bonsol und die anderen Linguisten zu einem intensiveren Dienstrhythmus über. Zum ersten Mal hatten sie andauernde Tonübertragungen zu untersuchen.

Wenn ihre Wachen zusammenfielen — und das geschah oft —, besuchte Ezr Trixia Bonsol jeden Tag. Anfangs war Trixia so weit wie weg immer. Sie schien ihn nicht zu hören; die Spinnensprache überschwemmte ihr Arbeitszimmer. Die Geräusche waren ein schrilles Quieken, das sich von Tag zu Tag in dem Maße änderte, wie Trixia und die anderen fokussierten Linguisten feststellten, wo im akustischen Spektrum der Sinn der Spinnensprache verborgen lag, und bequeme Darstellungen, akustisch und visuell, für die Untersuchungen entwickelten. Schließlich besaß Trixia eine brauchbare Datenauswahl.

Und dann begannen die Übersetzungen wirklich. Reynolts fokussierte Übersetzer stürzten sich auf alles, was sie bekommen konnten, erzeugten Tauseride von Wörtern halbverständlichen Textes pro Tag. Trixia war die Beste. Das war von Anfang an klar. Ihre Arbeit mit den Physiktexten war der erste Durchbruch gewesen, und sie war es, die die Schriftsprache mit der Sprache in Korrelation brachte, in der zwei Drittel aller Radiosendungen liefen. Sogar im Vergleich zu den Dschöng-Ho-Linguisten brillierte Trixia Bonsol; wie stolz wäre sie gewesen, wenn sie es hätte wissen können. »Sie ist unersetzlich.« Reynolt sprach das Urteil in ihrer üblichen stumpfen Art, frei von Lob oder Sadismus, die Feststellung einer Tatsache. Anders als Hunte Wen, würde Trixia Bonsol nicht frühzeitig freikommen.

Vinh versuchte alles zu lesen, was die Übersetzer hervorbrachten. Zuerst war es typisch für grobe Linguistik vor Ort, wo jeder Satz aus Dutzenden von Verweisen auf alternative Bedeutungen, alternative Syntax bestand. Nach ein paar Megasekunden waren die Übersetzungen fast lesbar. Es gab Lebewesen dort unten auf der Arachna, und das waren ihre Worte.

Manche von den fokussierten Linguisten kamen nie über Transskriptionen im Anmerkungsstil hinaus. Sie waren in den unteren Ebenen der Bedeutung gefangen und bekämpften jeden Versuch, den Geist der Fremden zu erfassen. Vielleicht genügte das. Jedenfalls erfuhren sie, dass die Spinnen nichts von einer vorangehenden Zivilisation wussten: »Wir finden keine Erwähnung eines goldenen Zeitalters der Technik.«

Nau schaute Reynolt skeptisch an. »Das ist an sich schon verdächtig. Auf der Alten Erde gab es wenigstens Mythen von einer verlorenen Vergangenheit.« Und wenn es jemals eine Ursprungswelt gegeben hatte, dann war es die Alte Erde.

Reynolt zuckte die Achseln. »Ich sage ihnen, dass jede Erwähnung vergangener technischer Zivilisationen unterhalb des plausiblen Hintergrundniveaus liegt. Soweit wir feststellen können, wird beispielsweise Archäologie als unwichtiger wissenschaftlicher Zeitvertreib betrachtet« — nicht die weltenschaffende Raserei, die für eine herabgesunkene Kolonie typisch ist.

»Also hol’s die Seuche«, sagte Ritser Brughel. »Wenn diese Kerle nichts auszugraben haben, dann holen wir hier nichts als einen Scheiß.«

Schade, dass euch das nicht eingefallen ist, bevor ihr gekommen seid, dachte Ezr.

Nau sah mürrisch und überrascht aus, stimmte aber Brughel nicht zu: »Wir haben immer noch Dr. Lis Ergebnisse.« Sein Blick huschte über die Dschöng-Ho-Leute am Fußende des Tisches, und Ezr war sich ganz sicher, dass noch etwas anderes dem Aufsteiger durch den Kopf ging: Wir haben immer noch eine Flottenbibliothek der Dschöng Ho und Krämer, die sie für uns erschließen können.


Trixia erlaubte Ezr jetzt, sie zu berühren, ihr manchmal das Haar zu kämmen, ihr manchmal nur sacht auf die Schulter zu klopfen. Vielleicht verbrachte er so viel Zeit in ihrem Arbeitszimmer, dass sie ihn als ein Stück Mobiliar betrachtete, so sicher wie jede andere stimmgesteuerte Maschine. Trixia arbeitete jetzt normalerweise mit einer Datenbrille, manchmal erzeugte das die trostreiche Illusion, sie schaue ihn wirklich an. Sie beantwortete sogar seine Fragen, solange sie ihm Bereich ihres Fokus blieben und das Gespräch mit ihren Apparaten und den anderen Übersetzern nicht unterbrachen.

Einen Großteil der Zeit saß Trixia im Halbdunkel, hörte zu und sprach gleichzeitig ihre Übersetzungen. Mehrere von den Übersetzern arbeiteten auf diese Weise, kaum mehr als Automaten. Trixia war anders, wollte Vinh gern glauben: Wie die anderen analysierte sie wieder und wieder, aber nicht, um nach jeder syntaktischen Struktur ein Dutzend zusätzliche Interpretationen einzufügen. Trixias Übersetzungen schienen auf die Bedeutung aus zu sein, wie sie im Geiste der Sprecher bestand, in einem Denken, für das die Spinnenwelt ein normaler, vertrauter Ort war. Trixia Bonsols Übersetzungen waren… Kunst.

Kunst war nicht das, was Anne Reynolt erwartete. Zuerst waren es nur Kleinigkeiten, über die sie sich zu beklagen hatte. Die Übersetzer wählten eine neue Rechtschreibung für ihre Ergebnisse; sie stellten die Zeichen x* und q* durch Kombinationen von zwei Buchstaben dar. Ihre Übersetzungen sahen dadurch sehr drollig aus. Zum Glück war Trixia nicht die Erste, die das bizarre Schema benutzte. Zum Unglück brachte sie viel zu viel von der fraglichen Neuheit hervor.

Eines schrecklichen Tages drohte Reynolt, Ezr aus Trixias Arbeitszimmer — das heißt, aus Trixias Leben — auszusperren. »Was Sie da auch tun, es bringt sie durcheinander. Sie liefert mir bildliche Übersetzungen. Sehen Sie sich diese Namen an: ›Scherkaner Unterberg‹, ›Jaybert Landers‹. Sie verwirft Komplikationen, über die alle Übersetzer einer Meinung sind. An anderen Stellen erfindet sie sinnlose Silben.«

»Sie tut genau das, was sie tun sollte, Reynolt. Sie haben zu lange mit Automaten gearbeitet.« Eins musste man Reynolt lassen: Sie war selbst für Aufsteiger-Maßstäbe derb, sie schien nie nachtragend zu sein. Man konnte sogar mit ihr streiten. Doch wenn sie ihn nicht mehr zu Trixia ließ…

Reynolt starrte ihn einen Augenblick lang an. »Sie sind kein Linguist.«

»Ich bin von der Dschöng Ho. Um unseren Weg zu machen, mussten wir das Herzstück von Tausenden von menschlichen Kulturen verstehen, und ein paar nichtmenschlichen dazu. Ihr habt in diesem kleinen Stückchen Menschenraum herumgepfuscht, mit Sprachen, die auf unseren Sendungen beruhen. Es gibt Sprachen, die davon enorm abweichen.«

»Ja. Darum sind ihre grotesken Vereinfachungen unzulässig.«

»Nein! Sie brauchen Leute, die wirklich den Geist der anderen Seite verstehen, die uns anderen zeigen können, was an den Unterschieden der Fremden wichtig ist. Trixias Spinnennamen wirken also albern. Aber diese ›Einklang‹-Gruppe ist eine junge Kultur. Ihre Namen haben noch größtenteils eine Bedeutung in der Alltagssprache.«

»Nicht alle, und nicht die Vornamen. Eigentlich verschmilzt die wahre Spinnensprache Vor- und Familiennamen — diese Sache mit der Interphonation.«

»Ich sage Ihnen, was Trixia macht, ist gut. Ich wette, die Vornamen stammen aus älteren und verwandten Sprachen. Beachten Sie, wie sie fast Sinn ergeben, manche von ihnen.«

»Ja, und das ist das Schlimmste. Manches davon sieht wie Brocken von Ladill oder Aminesisch aus. Diese Ladill-Einheiten — ›Stunden‹, ›Meilen‹, ›Minuten‹ —, die erschweren einfach die Lektüre.«

Ezr hatte auch Probleme mit den Ladill-Einheiten, doch das würde er Reynolt nicht eingestehen. »Ich bin sicher, dass Trixia Dinge sieht, die sich zum Hauptstrom ihrer Übersetzung so verhalten, wie Animesisch und Ladill zu dem Nese, das wir beide sprechen.«

Reynolt schwieg eine Zeit lang und schaute ins Leere. Manchmal bedeutete das, dass die Diskussion vorbei war und sie sich nur nicht die Mühe gemacht hatte, ihn ausdrücklich gehen zu lassen. Manchmal bedeutete es, dass sie sich sehr bemühte, etwas zu verstehen. »Sie sagen also, sie erreicht ein höheres Niveau der Übersetzung und gibt uns Erkenntnisse, indem sie sich auf unser Bewusstsein unser selbst bezieht.«

Es war eine typisch Reynolt’sche Analyse, sperrig und exakt. »Ja! Das ist es. Sie möchten immer noch mit all den Verweisen und Ausnahmen und Vorbehalten übersetzen, da unser Verständnis noch in der Entwicklung ist. Aber das Kernstück guten Handels ist es, aus dem Bauch heraus ein Gefühl für die Bedürfnisse und Erwartungen der anderen Seite zu haben.«

Reynolt hatte die Erklärung akzeptiert. Nau jedenfalls gefielen die Vereinfachungen, sogar das drollige Ladill. Im Laufe der Zeit übernahmen die anderen Übersetzer immer mehr von Trixias Konventionen. Ezr zweifelte daran, dass irgendeiner von den unfokussierten Aufsteigern wirklich imstande wäre, die Übersetzungen zu beurteilen. Und bei all seinem zuversichtlichen Gerede wunderte sich Ezr immer mehr: Trixias MetaÜbersetzung der Spinnen ähnelte zu sehr der Geschichte des Morgenröte-Zeitalters, die er ihr unmittelbar vor dem Überfall aufgedrängt hatte. Für Nau und Brughel und Reynolt mochte das fremdartig wirken, doch es war Ezrs Spezialgebiet, und er sah zu viele verdächtige Übereinstimmungen.

Trixia ignorierte konsequent die physische Natur der Spinnen. Vielleicht war das gut so, wenn man den Abscheu bedachte, den viele Menschen gegenüber Spinnen hegten. Aber die Wesen waren tatsächlich radikal unmenschlich in ihrem Aussehen, fremdartiger in Form und Lebenszyklus, als jede andere Intelligenz, der die Menschheit bisher begegnet war. Manche ihrer Gliedmaßen hatten die Funktion menschlicher Kiefer, und sie hatten nicht, was genau Händen und Finger entsprach, sondern benutzten stattdessen die große Anzahl ihrer Beine, um mit Dingen zu hantieren. Diese Unterschiede waren in Trixias Übersetzungen nahezu unsichtbar. Gelegentlich wurde eine ›spitze Hand‹ erwähnt (vielleicht die Stilettform, zu der sich ein Vorderbein zusammenfalten konnte) oder von Mittelhänden und Vorderhänden — aber das war alles. In der Schule hatte Ezr Übersetzungen gesehen, die so glatt waren, doch die waren von Fachleuten hergestellt worden, die jahrzehntelange direkte Erfahrung mit Kundenkulturen hatten.

Radiosendungen für Kinder — dafür hielt es Trixia zumindest — waren auf der Spinnenwelt erfunden wurden. Sie übersetzte den Titel des Programms als ›Die Kinderstunde der Wissenschaft‹, und zur Zeit war das ihre beste Quelle für Erkenntnisse über die Spinnen. Die Rundfunksendung war eine ideale Kombination von Wissenschaftssprache — in der die Menschen gute Fortschritte gemacht hatten — und der alltäglichen Umgangssprache. Niemand wusste, ob sie wirklich der Ausbildung von Kindern diente oder sie nur unterhalten sollte. Denkbar wäre auch, dass es ein Förderunterricht für Wehrpflichtige war. Doch Trixias Titel hielt sich, und das gab allem, was folgte, einen Hauch von Unschuld und Niedlichkeit. Trixias Arachna schien einem Märchen aus dem Zeitalter der Morgenröte zu gleichen. Manchmal, wenn Ezr viel Zeit bei ihr verbracht hatte, wenn sie kein Wort zu ihm gesagt hatte, wenn ihr Fokus so eng war, dass er alle Menschlichkeit verleugnete… manchmal fragte er sich, ob diese Übersetzungen nicht vielleicht die Trixia von früher waren, in der wirksamsten Sklaverei aller Zeiten gefangen und dennoch auf der Suche nach Hoffnung. Die Spinnenwelt war der einzige Ort, den zu betrachten ihr Fokus ihr erlaubte. Vielleicht verzerrte sie, was sie hörte, und schuf einen Traum von Glück auf die einzige Weise, die ihr geblieben war.

Neunzehn

Es war in der mittleren Phase der Sonne, und Weißenberg hatte viel von seiner Schönheit zurückerlangt. In den bevorstehenden kühleren Zeiten würde viel mehr gebaut werden, die Freilichttheater, der Palast der Jahre des Schwindens, die Arboreten der Universität. Doch bis 60//19 war der Straßenplan vergangener Generationen wiederhergestellt, das zentrale Geschäftsviertel war fertig, und die Universität unterrichtete ganzjährig Studenten.

In anderer Hinsicht unterschied sich das Jahr 60//19 vom Jahre 59//19, und noch viel mehr vom neunzehnten Jahr aller Generationen zuvor. Die Welt war ins Zeitalter der Wissenschaft eingetreten. Ein Flugplatz erstreckte sich über die Flussniederungen, die in den vergangenen Zeitaltern Bauernfelder gewesen waren. Von den höchsten Hügeln der Stadt wuchsen Sendemasten empor; nachts waren ihre fernroten Positionslichter meilenweit zu sehen.

Bis 60//90 hatten sich die meisten Großstädte des Einklangs in ähnlicher Weise verändert, ebenso die großen Städte von Basville und bei den Sinnesgleichen, in geringerem Maße auch die großen Städte in den ärmeren Ländern. Doch selbst nach dem Maßstab des neuen Zeitalters war Weißenberg ein ganz besonderer Ort. Hier geschahen Dinge, die sich nicht in der sichtbaren Landschaft niederschlugen und dennoch der Keim einer größeren Revolution waren.


Hrunkner Unnerbei flog an einem regnerischen Frühlingsmorgen nach Weißenberg. Ein Flughafentaxi brachte ihn vom Fluss hinauf ins Stadtzentrum. Unnerbei war in Weißenberg aufgewachsen, und hier hatte sich seine alte Baufirma befunden. Er kam an, ehe die meisten Läden geöffnet hatten; Straßenkehrer wuselten um sein Taxi herum. Ein kühler Nieselregen fiel von Bäumen und Läden herab und glitzerte in tausend Farben. Hrunkner mochte die alte Innenstadt, wo viele von den Steinfundamenten schon mehr als drei oder vier Generationen überdauert hatten. Sogar die neuen Betonwände und die oberen Stockwerke aus Ziegeln folgten architektonischen Mustern, die älter waren als alle lebenden Personen.

Jenseits der Innenstadt fuhren sie weiter bergauf durch neue Wohnviertel. Dies war ehemaliges Eigentum der Krone, das die Regierung verkauft hatte, um den Großen Krieg zu finanzieren — den Konflikt, den die neue Generation schon einfach den Krieg mit den Bassern nannte. Einige Teile des neuen Stadtteils waren hastig hochgezogene Elendsviertel, andere — die höher gelegenen — elegante Grundstücke. Das Taxi zockelte die Serpentinen hin und her und näherte sich langsam dem höchsten Punkt der neuen Straße. Den Gipfel verdeckten nässetriefende Farne, doch hier und da erhaschte er einen Blick auf Nebengebäude. Ein Tor öffnete sich lautlos und ohne einen sichtbaren Pförtner. Hm. Weiter oben lag ein klotziger Palast vor ihm.

Scherkaner Unterberg stand in der Parkschleife am Ende und sah neben dem großartigen Portal ziemlich deplatziert aus. Der Regen war nur ein leichtes Sprühen, nicht unangenehm, doch Unterberg ließ einen Regenschirm aufspringen, als er auf Unnerbei zukam.

»Willkommen, Feldwebel! Willkommen! Ich habe dich so lange bekniet, mein Berghäuschen zu besuchen, und endlich bist du da.«

Hrunkner zuckte die Achseln.

»Ich muss dir so viel zeigen — angefangen mit zwei wichtigen Kleinigkeiten.« Er deutete mit dem Regenschirm nach hinten. Nach einer Weile lugten zwei winzige Köpfe aus dem Fell auf seinem Rücken. Es waren zwei Babies, die sich fest an ihren Vater klammerten. Sie konnten nicht älter sein als normale Kinder zu Beginn der Helle, gerade alt genug, um niedlich zu sein. »Das kleine Mädchen heißt Rhapsa und der Junge Hrunkner.«

Unnerbei machte einen Schritt vorwärts. Wahrscheinlich haben sie das Kind aus Freundschaft Hrunkner genannt. Gott in der tiefsten Erde. »Sehr angenehm.« Nicht einmal zu seiner besten Zeit war Hrunkner mit Kindern zurecht gekommen — neue Rekruten auszubilden, kam für ihn dem Aufziehen von Kindern noch am nächsten. Hoffentlich würde das sein Unbehagen entschuldigen.

Die Babies schienen seine Abneigung zu spüren und verschwanden scheu außer Sicht.

»Macht nichts«, sagte Scherkaner in seiner zerstreuten Art. »Sie werden hervorkommen und spielen, wenn wir erst einmal im Haus sind.«

Scherkaner führte ihn hinein und redete die ganze Zeit davon, wie viel er ihm zeigen müsse, wie gut es sei, dass Hrunkner endlich zu Besuch kam. Die Jahre hatten Unterberg verändert, zumindest körperlich. Die schmerzliche Schlankheit war verschwunden, er hatte mehrere Häutungen durchgemacht. Das Fell auf seinem Rücken war tief und väterlich, ein seltsamer Anblick bei jemandem in dieser Phase der Sonne. Das Zittern in seinem Kopf und Vorderkörper war etwas schlimmer, als es Unnerbei in Erinnerung hatte.

Sie gingen durch ein Foyer, das groß genug für ein Hotel gewesen wäre, und eine weitläufige Spirale von Stufen hinab, von der aus immer neue Flügel von Scherkaners ›kleinem Berghäuschen‹ in Sicht kamen. Es gab eine Menge andere Leute hier, wohl Diener, obwohl sie nicht die Livree trugen, die die Superreichen für gewöhnlich verlangten. Eigentlich strahlte der Ort das sachliche Flair von Firmen- oder Regierungseigentum aus. Unnerbei unterbrach das pausenlose Geplapper des anderen: »Das ist alles Fassade, nicht wahr, Unterberg? Der König hat diese Anhöhe überhaupt nie verkauft, er hat sie nur übertragen.« An den Geheimdienst.

»Nein, wirklich. Das ist mein eigener Grund und Boden. Ich habe ihn selber gekauft. Aber… äh… ich habe viel als Berater zu tun, und Viktoria — ich meine, der Geheimdienst des Einklangs — hat entschieden, dass der Sicherheit am besten Genüge getan wird, wenn die Labors direkt hier eingerichtet werden. Ich habe dir einiges zu zeigen.«

»Ah ja. Schön, deswegen bin ich hier, Scherk. Ich glaube, du arbeitest an den falschen Dingen. Du hast die Krone dazu gebracht, sich ganz auf… ich nehme an, wir können hier offen reden?«

»Ja, ja, natürlich.«

Normalerweise hätte Unnerbei eine derart lässige Versicherung nicht akzeptiert, doch ihm ging allmählich auf, wie gründlich dieses Haus auf Sicherheit gebaut war. Viel von der Gestaltung sah nach Scherkaner aus, zum Beispiel die logarithmische Spirale der Haupträume, doch man spürte auch Viktorias Hand, die Wachposten — wie er jetzt erkannte —, die überall lauerten, die geleckt sauberen Teppiche und Wände. Der Ort war wahrscheinlich ebenso sicher wie Unnerbeis Laboratorien im Landeskommando. »In Ordnung. Du hast die Krone dazu gebracht, sich ganz auf Atomkraft zu werfen. Ich habe mehr Leute und Ausrüstung unter mir als ein Milliardär, darunter mehrere Leute, die fast so schlau wie du sind.« Tatsächlich war Hrunkner Unnerbei, obwohl er immer noch Feldwebel war, von diesem Dienstgrad so weit entfernt, wie man nur sein konnte. Sein Leben übertraf jetzt seine kühnsten Träume, als er den Auftrag übernommen hatte.

»Gut, gut. Viktoria setzt eine Menge Vertrauen in dich, weißt du.« Er führte seinen Gast in einen großen und eigenartigen Raum. Es gab Bücherregale und Schreibtische, die völlig unter Berichten, ungeordneten Bücherstapeln und Notizzetteln verschwanden. Doch die Regale waren an einem Klettergerüst für Kinder befestigt, und unter die hochgelehrten Schriften waren Kinderbücher gemischt. Die beiden Babies sprangen von seinem Rücken und huschten das Klettergerüst hinauf. Jetzt spähten sie von der Decke zu ihnen herab. Scherkaner schob Bücher und Zeitschriften von einem Sitzgitter und lud Unnerbei mit einer Geste ein, Platz zu nehmen. Gott sei Dank versuchte er nicht, das Thema zu wechseln.

»Na ja, aber du hast meine Berichte noch nicht gesehen.«

»Doch, habe ich. Viktoria schickt sie mir, obwohl ich noch keine Zeit hatte, sie zu lesen.«

»Also, vielleicht hättest du sie doch lesen sollen!« Da bekommt er tiefgeheime Berichte geschickt und hat keine Zeit, sie zu lesen — dabei ist er der Kupp, der das alles in Gang gebracht hat. »Pass auf, Scherkaner, ich sag dir die ganze Zeit, es wird nichts bringen. Im Prinzip kann Atomkraft alles leisten, was wir brauchen. In der Praxis — nun ja, wir haben ein paar richtig tödliche Gifte hergestellt. Wir haben auch ein Uranisotop gefunden, das sich sehr schlecht isolieren lässt, doch ich denke, wenn wir das schaffen, können wir eine verdammt mächtige Bombe herstellen: Wir können dir die Energie liefern, die man braucht, um eine Stadt das Dunkel über warm zu halten, aber du kriegst sie in weniger als einer Sekunde!«

»Hervorragend! Das ist doch ein Anfang.«

»Der hervorragende Anfang ist vielleicht alles, was wir erreichen. Drei von meinen Labors haben die Bomben-Kupps übernommen. Das Problem ist nur, wir haben Frieden; diese Technologie wird irgendwann durchsickern, erst an Bergbaugesellschaften, dann an fremde Staaten. Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn erst einmal die Sinnesgleichen und die Alten Basser und weiß Gott wer noch anfängt, diese Dinger herzustellen?«

Das schien durch Unterbergs doppelten Panzer von Unaufmerksamkeit zu dringen. »… Ja, das wäre sehr schlimm. Ich habe deine Berichte nicht gelesen, aber Viktoria ist oft hier oben. Die Technik bringt uns Wunder und schreckliche Gefahren. Wir kriegen das eine nicht ohne das andere. Aber ich bin überzeugt, dass wir nicht überleben werden, wenn wir nicht mit diesen Dingen spielen. Du siehst nur einen Teil vom Ganzen. Pass auf, ich weiß, dass Viktoria mehr Geld für dich beschaffen kann. Der Geheimdienst des Einklangs ist sehr kreditwürdig. Er kann ein Jahrzehnt lang seine Mittel überziehen, ohne einen Gewinn ausweisen zu müssen. Wir werden dir mehr Laboratorien verschaffen, alles, was du willst…«

»Scherkaner, hast du vom ›Forcieren der Lernkurve‹ gehört?«

»Also… äh…« Klar, hatte er.

»Wenn ich allen Reichtum der Welt hätte, könnte ich dir momentan vielleicht eine Heizung für eine Stadt geben. Sie hätte alle paar Jahre katastrophale Havarien, und sogar, wenn sie ›normal‹ funktionierte, wäre die Flüssigkeit zur Wärmeübertragung — sagen wir, überhitzter Dampf — derart radioaktiv, dass deine Stadtbewohner allesamt tot wären, ehe das Dunkel auch nur zehn Jahre alt ist. Von einem bestimmten Punkt an nützt es einfach nichts, mehr Geld und Techniker auf ein Problem anzusetzen.«

Scherkaner antwortete nicht gleich. Unnerbei hatte den Eindruck, seine Aufmerksamkeit schweife am oberen Ende des Klettergerüsts umher, wo er seinen beiden Babies zusah. Dieses Zimmer war eine wahrhaft bizarre Kombination von Reichtum, dem alten intellektuellen Chaos Unterbergs und seiner neuen Vaterrolle. Wo der Fußboden nicht von Bücherstapeln und Krimskrams bedeckt war, sah man einen Plüschteppich. Die Wände waren mit einem von diesen unglaublich teuren Illusionsmustern bedeckt. Die Fenster hatten Quarzfüllung bis hinauf an die hohe Decke. Jetzt waren sie aufgekurbelt. An schmiedeeisernen Gittern vorbei drang der Geruch von Farnen im kühlen Morgen herein. Bei Unterbergs Schreibtischen und an den Fußgriffen der Bücherregale gab es elektrische Lampen, doch sie waren jetzt alle ausgeschaltet.

Das einzige Licht war das Grün und Nahrot, das durch die Farne drang. Das genügte vollauf, um die Titel der Bücher in der Nähe zu lesen. Psychologie, Mathe, Elektronik, zwischendurch etwas über Astronomie — und eine Menge Bücher mit Kindergeschichten. Die Bücher waren in niedrigen Stapeln aufgetürmt und füllten den meisten Platz zwischen Spielzeug und Ausrüstung. Und es war nicht immer klar, welches Spielzeug Unterberg gehörte und welches seinen Kindern. Manches von dem Zeug sah wie Reiseandenken aus, vielleicht von Viktorias Einsätzen: ein Basser-Beinpolierer, getrocknete Blumen, die vielleicht einmal eine Girlande der Insulaner gewesen waren… Und drüben in der Ecke… um Gottes willen, das sah wie eine M7-Artillerierakete aus. Das Lager für den Gefechtskopf war entfernt worden, und wo sich üblicherweise hochexplosiver Sprengstoff befand, war eine Puppenstube angebracht.

Schließlich sagte Unterberg: »Du hast Recht, Geld allein bringt die Sache nicht voran. Man braucht Zeit, um die Maschinen zu bauen, die die Maschinen bauen, und so weiter. Aber uns bleiben noch an die fünfundzwanzig Jahre, und die Generalin sagt mir, dass du ein Genie bist, was die Führung von so einer großen Sache angeht.«

Hrunkner empfand einen alten Stolz, als er das hörte, größeren Stolz als auf all die Medaillen, die er im Großen Krieg gesammelt hatte; doch wären Schmid und Unterberg nicht gewesen, hätte er niemals entdeckt, dass er solche Talente besaß. Er antwortete mürrisch, wohl bedacht, sich nicht anmerken zu lassen, wie viel ihm solches Lob bedeutete: »Besten Dank. Ich sage dir aber, dass nichts von alledem ausreicht. Wenn du willst, dass wir es in zwanzig Jahren schaffen, brauche ich etwas anderes.«

»Was denn?«

»Dich, verdammt! Deine Intuition! Seit dem ersten Jahr des Projekts hast du dich hier oben in Weißenberg versteckt und machst weiß Gott was.«

»Oh… Weißt du, Hrunkner, es tut mir Leid. Die Sache mit der Atomkraft interessiert mich einfach nicht mehr besonders.«

Nachdem er Unterberg all die Jahre gekannt hatte, hätte Unnerbei von dieser Bemerkung nicht überrascht sein dürfen. Trotzdem hätte er am liebsten an seinen Händen gekaut. Da war ein Kerl, der sich von Arbeitsgebieten abwandte, ehe andere auch nur von ihrer Existenz wussten. Wenn er einfach ein Spinner gewesen wäre, hätte es kein Problem gegeben. Aber so hätte Unnerbei den Kupp manchmal liebend gern umgebracht.

»Ja«, fuhr Unterberg fort, »du brauchst mehr kluge Köpfe. Ich arbeite daran, weißt du; ich habe da ein paar Dinge, die ich dir zeigen möchte. Dennoch«, erklärte er, während er zerstreut Brennstoff ins Feuer goss, »sagt mir meine Intuition, dass sich Atomkraft als ziemlich einfach erweisen wird, verglichen mit den anderen Herausforderungen.«

»Als. Da. Wären?«

Scherkaner lachte. »Kinder großzuziehen, beispielsweise.« Er zeigte auf die altertümliche Pendeluhr an der Seitenwand. »Ich dachte, die anderen Kupplis würden inzwischen hier sein; vielleicht sollte ich dir erst einmal das Institut zeigen.« Er erhob sich von seinem Sitzgitter und begann auf die alberne Weise zu winken, wie es Eltern gegenüber kleinen Kindern tun. »Kommt runter, kommt runter. Rhapsa, bleib von der Uhr weg!« Zu spät: Das Baby war vom Klettergerüst heruntergekrabbelt, auf das Pendel gesprungen und rutschte daran bis zum Boden herunter. »Ich habe hier zu viel Kram herumstehen, ich fürchte, etwas könnte auf die Babies fallen und sie zerdrücken.« Die beiden rannten über den Fußboden und sprangen auf ihre angestammten Plätze im Fell ihres Vaters. Sie waren kaum größer als Waldelfen.


Unterberg hatte sein Institut zu einer Abteilung der Königsschule erklären lassen. Das Haus auf dem Berg enthielt eine Anzahl Klassenzimmer, von denen jedes einen Kreisbogen an der Außenwand einnahm. Und es waren keine Gelder der Krone, mit denen das meiste davon bezahlt wurde, zumindest sagte das Unterberg. Ein Großteil der Forschung waren einfach Auftragsarbeiten, bezahlt von Unternehmen, auf die Unterberg großen Eindruck gemacht hatte. »Ich hätte ein paar von den besten Leuten der Königsschule abwerben können, aber wir haben eine Abmachung getroffen. Die Lehrkräfte dort unterrichten und forschen weiter unten in der Stadt, aber einen Teil ihrer Arbeitszeit sind sie hier oben, und von unserem Gesamtbudget wird ein Prozentsatz an die Königsschule zurücküberwiesen. Und hier oben zählen nur die Ergebnisse.«

»Kein Lehrbetrieb?«

Als Scherkaner die Achseln zuckte, hüpften die beiden Kleinen auf seinem Rücken auf und ab und machten begeisterte kleine Miep-Geräusche, die wohl hießen: »Mach das noch mal, Papa!«

»Doch, wir haben Unterricht… sozusagen. Die Hauptsache ist, Leute kommen dazu, mit anderen Leuten zu reden, quer über viele Fachgebiete hinweg. Studenten gehen ein Risiko ein, weil alles so wenig strukturiert ist. Ich habe ein paar, die es sich gut gehen lassen, die aber nicht helle genug sind, dass das für sie funktioniert.«

In den meisten Klassenzimmern standen zwei bis drei Personen an den Wandtafeln, und eine Menge Zuschauer saßen auf niedrigen Sitzgittern. Es war schwer auszumachen, wer der Prof war und wer Student. In manchen Fällen konnte Hrunkner nicht einmal erraten, um welches Gebiet es ging. Einen Augenblick lang blieben sie an einer Tür stehen. Ein Kuppling der gegenwärtigen Generation las vor ein paar alten Kupps. Das Gekritzel auf der Tafel sah nach einer Kombination von Himmelsmechanik und Elektromagnetismus aus. Scherkaner blieb stehen, winkte den Leuten im Zimmer ein Lächeln zu. »Erinnerst du dich an das Nordlicht, das wir im Dunkel gesehen haben? Ich habe hier einen Burschen, der glaubt, es könnte vielleicht von Objekten im Raum erzeugt worden sein, von Dingen, die außerordentlich dunkel waren.«

»Als wir sie sahen, waren sie nicht dunkel.«

»Ja! Vielleicht haben sie wirklich etwas mit dem Beginn der Neuen Sonne zu tun. Ich habe meine Zweifel. Jaybert weiß noch nicht viel von Himmelsmechanik. Aber von Elektromagnetismus versteht er etwas. Er arbeitet an einem drahtlosen Gerät, das bei Wellenlängen von ein paar Zoll senden kann.«

»Hä? Das klingt eher nach extremem Infrarot als nach Radiowellen.«

»Sehen könnten wir das nie, aber es wird eine hübsche Sache. Er möchte das Gerät als Echoorter verwenden, um nach seinen Weltraumfelsen zu suchen.«

Sie gingen weiter. Er bemerkte, dass Unterberg plötzlich verstummt war, zweifellos, um ihm Zeit zu geben, über die Idee nachzudenken. Hrunkner Unnerbei war ein sehr praktischer Typ; er vermutete, dass er ebendarum für manche der ausgefalleneren Projekte von General Schmid unentbehrlich war. Doch selbst er konnte bei einer Idee stutzen, wenn sie nur spektakulär genug war. Er hatte nur eine ganz vage Ahnung, wie sich derart kurze Wellen verhalten würden, aber jedenfalls müssten sie stark gerichtet sein. Die Energie, die man für den Empfang eines Echos brauchte, wäre umgekehrt proportional mit der vierten Potenz der Reichweite — sie würden dafür wirksame Anwendungen in Bodennähe finden, ehe sie jemals dazu kamen, im Weltraum nach Felsen zu suchen. Hmm. Der militärische Aspekt war vielleicht wichtiger als alles, was Jaybert plante… »Hat jemand diesen Hochfrequenzsender gebaut?«

Sein Interesse musste deutlich geworden sein; Unterberg lächelte immer mehr. »Ja, und das ist Jayberts wahrer Geniestreich, etwas, das er einen Hohlraumoszillator nennt. Ich habe eine kleine Antenne auf dem Dach, sie sieht eher wie ein Teleskopspiegel als wie ein Sendemast aus. Viktoria hat eine Reihe Relais entlang des Westlichsten Gebirges bis zum Landeskommando eingerichtet. Ich kann mit ihr so zuverlässig wie über Telefonkabel sprechen. Ich benutze es als Testfeld für die Chiffriermethoden, die eine der Klassen entwickelt. Am Ende werden wir die sicherste drahtlose Breitband-Übertragung haben, die du dir vorstellen kannst.«

Sogar, wenn Jayberts Sternguckerei nie Erfolg hat. Scherkaner Unterberg war verrückt wie eh und je, und Unnerbei verstand allmählich, worauf er hinaus wollte, warum er sich weigerte, alles andere liegen zu lassen und sich der Atomkraft zu widmen. »Du glaubst wirklich, dass diese Schule die Genies hervorbringen wird, die wir beim Landeskommando brauchen?«

»Man würde sie sowieso finden — und ich glaube, wir machen aus dem, was wir finden, das Beste. Ich hatte in meinem Leben niemals mehr Spaß. Aber man muss flexibel sein, Hrunk. Das Wesentliche an wirklicher Kreativität ist eine gewisse Verspieltheit, von einer Idee zur anderen zu huschen, ohne sich von festgelegten Forderungen fesseln zu lassen. Natürlich bekommt man nicht immer das, was man wollte. Von diesem Zeitalter an glaube ich, dass Erfindung die Mutter der Notwendigkeit sein wird — und nicht umgekehrt.«

Scherkaner Unterberg hatte gut reden. Er brauchte die Wissenschaft nicht in technische Realität umzusetzen.

Unterberg war bei einem leeren Klassenzimmer stehengeblieben; er warf einen Blick hinein auf die Wandtafeln. Wieder so ein Kauderwelsch. »Erinnerst du dich an die Zahnrad-Nocken-Geräte, die das Landeskommando im Großen Krieg benutzt hat, um Ballistiktabellen auszurechnen? Wir machen derlei jetzt mit Vakuumröhren und Magnetkernen. Das geht eine Million Mal schneller als mit den Zahnrädern, und wir können die Zahlen als Zeichenketten eingeben statt als Einstellungen auf Vernierskalen. Deinen Physikern wird es gefallen.« Er kicherte. »Du wirst schon sehen, Hrunk. Abgesehen davon, dass unsere Sponsoren das Erstpatent auf die Erfindungen bekommen, werden du und Viktoria mehr als genug bekommen, um rundum zufrieden zu sein…«

Sie gingen weiter die lange Spiraltreppe hinan. Schließlich führte sie zu einem Atrium nahe an der Hügelkuppe. Es gab rings um Weißenberg höhere Hügel, doch die Aussicht von hier aus war bemerkenswert genug, sogar bei kühlem Nieselregen. Unnerbei sah eine dreimotorige Maschine beim Flughafen landen. Streifen von jüngst erschlossenem Land auf der anderen Seite des Tals hatten die Farben von nassem Granit und frisch gelegtem Asphalt. Unnerbei kannte das Unternehmen, das diese Arbeit machte. Sie vertrauten den Gerüchten, dass Energie zur Verfügung stehen würde, um weit ins nächste Dunkel hinein zu leben. Wie würde Weißenberg aussehen, wenn dem so wäre? Eine Stadt unter den Sternen und Hochvakuum, doch nicht im Schlaf, mit leeren Tiefen. Die größten Risiken würden spät in den Jahren des Schwindens auftreten, wenn sich die Leute entscheiden mussten, ob sie Vorräte für ein traditionelles Dunkel anlegen oder auf das setzen sollten, was Hrunkner Unnerbeis Ingenieure für machbar hielten. Seine Albträume drehten sich nicht ums Versagen, sondern um einen unvollkommenen Erfolg.

»Papa, Papa!« Zwei Fünfjährige schossen hinter ihnen ins Blickfeld. Ihnen folgten noch zwei Kupplinge, doch diese beiden sahen fast groß genug aus, um zur rechten Zeit geboren zu sein. Gut zehn Jahre lang hatte Hrunkner Unnerbei sein Möglichstes getan, um über die Perversionen seiner Chefin hinwegzusehen: General Viktoria Schmid war der beste Geheimdienstchef, den er sich vorstellen konnte, wahrscheinlich sogar besser als Streb Grüntal. Ihre privaten Gewohnheiten sollten keine Rolle spielen. Es hatte ihn jedenfalls nie gekümmert, dass sie selbst zur Unzeit geboren war — das konnte niemand selbst bestimmen. Doch dass sie zu Beginn einer Neuen Sonne eine Familie gründete, dass sie ihre eigenen Kinder verdammen würde, wie sie selbst verdammt war… Und sie haben nicht einmal dasselbe Alter. Die beiden Babies waren von Unterbergs Rücken gesprungen. Sie krabbelten durch das Gras und die Beine ihrer beiden ältesten Geschwister hoch. Fast sah es so als, als hätten Schmid und Unterberg es darauf angelegt, sich gesellschaftlich unmöglich zu machen. Dieser Besuch, den er so lange vermieden hatte, erwies sich als ebenso schlimm, wie er gefürchtet hatte.

Die beiden Ältesten, beides Jungen, nahmen die Babies hoch und taten einen Moment so, als wären sie richtige Väter. Natürlich hatten sie kein Rückenfell, und die Babies rutschen von ihren Rückenplatten herunter. Sie bekamen die Jacken ihrer Brüder zu fassen und kletterten mit lautem Babylachen wieder hinauf.

Unterberg stellte die vier dem Feldwebel vor. Sie alle marschierten über das durchnässte Grass unter den Schutz eines Vordaches.

Das war das größte Spielgelände, das Unnerbei jemals außerhalb eines Schulhofs gesehen hatte, doch es war auch sehr seltsam. Eine richtige Schule durchlief verschiedene Stufen, dem jeweiligen Alter der Schüler angepasst. Die Ausrüstung in Unterbergs Spielgarten umfasste mehrere Jahre. Es gab senkrechte Kletternetze, wie sie nur ein Zweijähriger ohne Mühe benutzen konnte. Es gab Sandkästen, mehrere große Puppenhäuser und flache Spieltische mit Bilderbüchern und Spielen.

»Junior ist der Grund, warum wir nicht zu dir und Herrn Unnerbei nach unten gekommen sind, Papa.« Der Zwölfjährige wies mit einer spitzen Hand auf eine der Fünfjährigen — Viktoria junior? »Sie wollte, dass ihr hier herauf kommt, damit wir Herrn Unnerbei alle unsere Spielsachen zeigen können.«

Fünfjährige können ihre Gefühle nicht gut verbergen. Viktoria junior hatte noch ihre Babyaugen. Obwohl Babyaugen die Blickrichtung um ein paar Grad ändern konnten, hatte sie nur zwei davon; sie musste alles, was sie betrachten wollte, fast direkt anblicken. Auf eine Weise, wie es bei einem Erwachsenen nie möglich gewesen wäre, sah man leicht, was gerade Juniors Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Ihre beiden großen Augen schauten zuerst auf Unterberg und Unnerbei, dann rasch zu ihrem älteren Bruder. »Petze!«, zischte sie. »Du wolltest auch, dass sie hier heraufkommen.« Sie ließ ihre Esshände in seine Richtung zucken und kam nahe an Unterberg heran. »Tut mir Leid, Papa. Ich wollte mein Puppenhaus zeigen, und Brent und Gokna mussten noch ihre Hausaufgaben fertig machen.«

Unterberg hob die Vorderarme und umarmte sie. »Na, wir wollten sowieso hier heraufkommen.« Und zu Unnerbei: »Ich fürchte, die Generalin hat deinetwegen viel Aufhebens gemacht, Hrunkner.«

»O ja, du bist ein Ingenieur«, sagte die andere Fünfjährige — Gokna?

Was auch immer Junior sich wünschen mochte, zuerst durften sich Brent und Jirlib produzieren. Ihr tatsächlicher Bildungsstand war schwer einzuschätzen. Die beiden hatten eine Art Lehrplan, durften sich aber im Übrigen alles ansehen, was sie wollten. Jirlib — der Junge, der Junior gehänselt hatte — sammelte Dinge. Er schien sich tiefgründiger für Fossilien zu interessieren als alle Kinder, die Unnerbei jemals gesehen hatte. Jirlib hatte Bücher aus der Bibliothek der Königsschule, die für erwachsene Studenten eine Herausforderung gewesen wären. Er hatte eine Sammlung von Diamant-Foraminiferen, die ihm seine Eltern von Reisen zum Landeskommando mitgebracht hatten. Und fast ebenso sehr wie sein Vater steckte er voller verrückter Theorien. »Wir sind nämlich nicht die Ersten. Vor hundert Millionen Jahren, gleich unter der Diamantschicht, gibt es die Khelmschen Verwerfe. Die meisten Wissenschaftler glauben, das waren dumme Tiere — waren sie aber nicht. Sie hatten eine magische Zivilisation, und ich werde herausfinden, wie sie funktioniert hat.« Das war eigentlich keine neue Verrücktheit, doch Unnerbei war ein wenig überrascht, dass Scherkaner seine Kinder Khelms hirnrissige Paläontologie lesen lies.

Brent, der andere Zwölfjährige, ähnelte eher dem Klischee von einem Unzeit-Kind: verschlossen, ein wenig mürrisch, vielleicht zurückgeblieben. Er schien nicht zu wissen, was er mit seinen Händen und Füßen machen sollte, und obwohl er eine Menge Augen hatte, bevorzugte er die Vordersicht, als sei er noch viel jünger. Brent schien sich für nichts besonders zu interessieren, ausgenommen das, was er ›Papas Tests‹ nannte. Er hatte Beutel voll Metallbauteilen, glänzende Stangen und nabenförmige Verbindungsstücke. Drei oder vier von den Tischen waren mit komplizierten Gebilden daraus bedeckt. Durch geschickte Variation der Anzahl von Stangen pro Verbindungsstück hatte jemand verschiedene gekrümmte Oberflächen für das Kind gebaut. »Ich habe viel über Papas Tests nachgedacht. Ich werde immer besser.« Er begann an einem großen Torus zu hantieren und das sorgsam gebaute Muster auseinanderzunehmen.

»Test?« Unnerbei warf Scherkaner einen scharfen Blick zu. »Was machst du mit diesen Kindern?«

Unterberg schien den Zorn in Unnerbeis Stimme nicht zu hören. »Sind Kinder nicht wunderbar — ich meine, wenn sie einem nicht gerade den letzten Nerv rauben. Wenn man zusieht, wie ein Baby aufwächst, sieht man, wie die Mechanismen des Denkens ihren Platz einnehmen, Schritt für Schritt.« Er strich sich mit einer Hand sacht über den Rücken und streichelte die beiden Babies, die in den sicheren Hafen zurückgekehrt waren. »In mancher Hinsicht sind diese beiden weniger intelligent als ein Dschungel-Tarant. Es gibt Denkmuster, die bei Babies einfach nicht vorkommen. Wenn ich mit ihnen spiele, spüre ich die Barrieren fast. Aber im Laufe der Jahre wächst der Geist und erwirbt neue Methoden.« Unterberg ging an den Spieltischen entlang, während er sprach. Eine von den Fünfjährigen — Gokna — tänzelte einen halben Schritt vor ihm und ahmte alle seine Bewegungen nach, sogar das Zittern. Er blieb an einem Tisch stehen, auf dem schöne Flaschen aus geblasenem Glas standen, ein Dutzend Formen und Farben. Manche waren mit Fruchtwasser und Eis gefüllt wie für eine bizarre Gartenparty. »Doch sogar die Fünfjährigen haben geistige Scheuklappen. Sie verfügen über gute Sprachfertigkeiten, doch ihnen fehlen noch grundlegende Konzepte…«

»Und es ist nicht nur, dass wir nichts von Sex verstehen«, sagte Gokna.

Diesmal schien Unterberg verlegen zu sein. »Sie hat das zu oft gehört, fürchte ich. Und mittlerweile haben ihr ihre Brüder gesagt, was man antworten muss, wenn wir Fragespiele spielen.«

Gokna zog ihn am Bein. »Setz dich hin und spiel. Ich möchte Herrn Unnerbei zeigen, was wir machen.«

»In Ordnung. Das können wir… wo ist deine Schwester?« Seine Stimme war auf einmal scharf und laut. »Viki! Komm da herunter! Für dich ist das nicht sicher.«

Viktoria junior war auf dem Kletternetz der Babies und huschte unter dem Vordach hin und her. »Och, das ist sicher, Papa. Wo du doch dabei bist!«

»Ist es nicht! Du kommst sofort herunter.«

Der Abstieg des Mädchens wurde von ausgiebigem Murren begleitet, doch ein paar Minuten später zeigte sie sich von einer anderen Seite.


Einer nach dem anderen führten sie alle ihre Projekte vor. Die beiden Ältesten wirkten in einem landesweiten Radioprogramm mit, wo Wissenschaft für junge Leute erklärt wurde. Anscheinend produzierte Scherkaner die Sendung — aus Gründen, die unklar blieben.

Hrunkner spielte bei allem mit, lächelte und lachte und verstellte sich. Und jedes einzelne war ein wunderbares Kind. Ausgenommen Brent, war jedes klüger und offener als nahezu jedes Kind, an das sich Unnerbei erinnerte. Das alles machte es nur noch schlimmer, wenn er sich vorstellte, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie sich erst einmal der Außenwelt stellen müssten.

Viktoria junior hatte ein Puppenhaus, ein riesiges Ding, das sich ein Stück nach draußen zwischen die Farne erstreckte. Als sie an der Reihe war, hakte sie zwei Hände unter einen von Hrunkners Vorderarmen und zog ihn beinahe zur offenen Seite ihres Hauses hin.

»Schau«, sagte sie und zeigte auf ein Loch in dem Spielzeugkeller. Es sah verdächtig nach dem Eingang eines Termitennests aus. »Mein Haus hat sogar seine eigene Tiefe. Und eine Speisekammer, und ein Esszimmer, und sieben Schlafzimmer…« Jedes Zimmer musste dem Gast vorgeführt werden, alles Mobiliar erklärt. Sie öffnete eine Schlafzimmerwand, und drinnen war ein Gewimmel. »Und ich habe sogar kleine Leute, die in meinem Haus wohnen. Schau nur die Kanker.« In der Tat war der Maßstab von Vikis Haus nahezu perfekt für die kleinen Wesen, zumindest in dieser Phase der Sonne. Später würden aus ihren Mittelbeinen bunte Flügel werden. Sie würden Waldelfen sein und überhaupt nicht mehr hineinpassen. Doch momentan sahen sie wie kleine Leute aus, wie sie so in den inneren Zimmern umherhuschten.

»Sie haben mich sehr gern. Sie können immer zurück zu den Bäumen gehen, wenn sie wollen, aber ich lege kleine Stückchen Essen in die Zimmer, und sie kommen jeden Tag zu Besuch.« Sie zog an einem kleinen Messinggriff, und ein Stück von einem Fußboden kam wie eine Schublade aus einer Vitrine. Drinnen befand sich ein sinnreiches Labyrinth auf verschiebbaren hölzernen Trennwänden. »Ich experimentiere sogar mit ihnen, wie Papa mit uns spielt, bloß viel einfacher.« Ihre Babyaugen schauten beide nach unten, sodass sie Unnerbeis Reaktion nicht sah. »Ich tropfe bei diesem Ausgang ein bisschen Honig hin, dann lasse ich sie am anderen Ende herein. Dann messe ich, wie lange es dauert… Oh, du hast dich verlaufen, nicht wahr, Kleiner? Du bist jetzt seit zwei Stunden hier. Tut mir Leid.« Sie streckte ungeziert eine Esshand in den Kasten und hob den Kanker behutsam auf ein Fensterbrett bei den Farnen. »He, he« — das Kichern klang ganz nach Scherkaner —, »manche von ihnen sind viel dümmer als andere — oder vielleicht ist es Glück. Wie soll ich denn nun seine Zeit messen, wenn er überhaupt nie durch das Labyrinth kommt?«

»Ich… weiß nicht.«

Sie wandte ihm das Gesicht zu, und ihre schönen Augen schauten zu ihm auf. »Mama sagt, mein kleiner Bruder heißt nach dir. Hrunkner?«

»Ja, ich glaube, das stimmt schon.«

»Mama sagt, du bist der beste Ingenieur auf der Welt. Sie sagt, du kannst sogar Papas verrückte Ideen wahr machen. Mama möchte, dass du uns gern hast.«

Der Blick eines Kindes war etwas Eigenartiges. Er war so gerichtet. Der Angeschaute konnte unmöglich so tun, als wäre nicht er gemeint. Die ganze Peinlichkeit und der Schmerz des Besuchs schienen sich in diesem einen Augenblick zu sammeln. »Ich hab euch gern«, sagte er.

Viktoria junior schaute ihn noch einen Moment lang an, dann glitt ihr Blick beiseite. »In Ordnung.«


Sie aßen mit den Kupplis oben im Atrium zu Mittag. Die Wolkendecke wurde allmählich weggebrannt, und es wurde heiß, zumindest für einen Weißenberger Frühlingstag in neunzehnten Jahr. Sogar unter dem Vordach war es warm genug, um aus jedem Gelenk ins Schwitzen zu kommen. Den Kindern schien es nichts auszumachen. Sie waren noch von dem Fremden gefesselt, der ihrem kleinen Bruder den Namen gegeben hatte. Mit Ausnahme von Viki waren sie so aufgedreht wie eh und je, und Unnerbei tat sein Bestes, darauf einzugehen.

Als sie mit dem Essen fertig wurden, erschienen die Lehrer der Kinder. Sie sahen aus wie Studenten aus dem Institut. Die Kinder würden niemals in eine richtige Schule gehen müssen. Würden sie es deswegen etwa leichter haben?

Die Kinder wollten, dass Unnerbei während ihres Unterrichts bliebe, doch Scherkaner wollte davon nichts wissen. »Konzentriert euch aufs Lernen!«, sagte er.

Und so war der schwerste Teil des Besuchs vorbei — hoffentlich. Abgesehen von den Babies, waren Unterberg und Unnerbei wieder allein im kühlen Erdgeschoss des Instituts. Eine Zeit lang sprachen sie über Unnerbeis spezifische Bedürfnisse. Selbst wenn Scherkaner nicht bereit war, direkt zu helfen, so hatte er doch ein paar richtig schlaue Kupp hier oben. »Ich möchte, dass du mit ein paar von meinen Theoretikern sprichst. Und dass du dich mit unseren Experten für Rechenmaschinen triffst. Mir scheint, einige von deinen lästigsten Problemen wären zu lösen, wenn du nur schnelle Methoden zum Lösen von Differenzialgleichungen hättest.«

Unterberg streckte sich auf dem Sitzgitter hinter seinem Schreibtisch. Plötzlich wirkte er fragend. »Hrunk… das Gesellschaftliche beiseite, haben wir heute mehr erreicht, als mit einem Dutzend Telefongesprächen. Ich weiß, dass dir das Institut gefallen würde.

Nicht, dass du hineinpassen würdest! Wir haben eine Menge Techniker, aber unsere Theoretiker glauben, sie könnten sie herumkommandieren. Du bist der Typ, der die Denker herumkommandieren und ihre Ideen benutzen kann, um deine ingenieurtechnischen Ziele zu erreichen.«

Hrunkner lächelte schwach. »Ich dachte, die Erfindung müsse die Mutter der Notwendigkeit sein?«

»Hm. Größtenteils ist sie es. Darum brauchen wir Leute wie dich, die die Teile passend machen können. Du wirst heute Nachmittag sehen, was ich meine. Das sind Leute, aus denen du bestimmt gern Nutzen ziehen wirst, und umgekehrt… Ich wünschte nur, du wärst viel früher gekommen.«

Unnerbei setzte zu einer schwachen Entschuldigung an, hielt inne. Er konnte sich einfach nicht länger verstellen. Außerdem war es mit Scherkaner so viel leichter als gegenüber der Generalin. »Du weißt, warum ich nicht früher gekommen bin, Scherk. Eigentlich wäre ich jetzt nicht hier, wenn mir General Schmid nicht eindeutige Befehle gegeben hätte. Ich würde ihr durch die Hölle folgen, das weißt du. Doch sie verlangt mehr. Sie verlangt, dass ich eure Perversionen akzeptiere. Ich… Ihr beide habt solch wunderbare Kinder, Scherk. Wie konntet ihr ihnen so etwas antun?«

Er erwartete, dass Unterberg die Frage mit einem Lachen abtun oder vielleicht mit der eisigen Feindseligkeit reagieren würde, die Schmid bei jeder Andeutung solcher Kritik zeigte. Stattdessen saß er einen Augenblick lang schweigend da und spielte mit einem alten Kinderpuzzle. Die kleinen Holzstücke klickten in der Stille des Arbeitszimmers hin und her. »Du gibst zu, dass die Kinder gesund und glücklich sind?«

»Ja, Brent allerdings wirkt ein bisschen… langsam.«

»Du glaubst nicht, dass ich sie als Versuchstiere betrachte?«

Unnerbei dachte an Viktoria junior und ihr Puppenhaus-Labyrinth. Nun ja, in ihrem Alter hatte er Kanker mit einem Vergrößerungsglas geröstet. »Hm, du experimentierst mit allem, Scherk; so bist du nun einmal. Ich glaube, du liebst deine Kinder so sehr wie jeder gute Vater. Und darum kann ich mir erst recht nicht vorstellen, wie du sie zur Unzeit auf die Welt bringen konntest. Was, wenn auch nur eins geistig behindert wäre? Ich habe bemerkt, dass keins der Kinder davon gesprochen hat, sie hätten gleichaltrige Spielgefährten. Du findest keine, die keine Monster wären, nicht wahr?«

An Scherkaners Ausdruck sah er, dass die Frage ins Schwarze getroffen hatte. »Scherk. Deine armen Kinder werden ihr ganzes Leben in einer Gesellschaft verbringen, die sie als ein Verbrechen wider die Natur betrachtet.«

»Wir arbeiten daran, Hrunkner. Jirlib hat dir von der ›Kinderstunde der Wissenschaft‹ erzählt, nicht wahr?«

»Ich habe mich gefragt, was das alles soll. Er und Brent sind also wirklich in einem Radioprogramm? Die beiden könnten fast als Rechtzeit-Geborene gelten, doch früher oder später wird es jemand erraten und…«

»Natürlich. Wenn nicht — Viktoria junior möchte gern in der Sendung mitmachen. Ich will, dass die Zuhörer es schließlich verstehen. Das Programm wird alle Arten von wissenschaftlichen Themen behandeln, doch es wird eine ständige Schiene über Biologie geben und darüber, wie das Dunkel uns dazu gebracht hat, unser Leben auf bestimmte Weise zu verbringen. Mit dem Aufschwung der Technik sind alle sozialen Gründe unbedeutend, die es für streng festgelegte Geburtszeiten gibt.«

»Du wirst die Kirche des Dunkels niemals überzeugen.«

»Das ist wohl wahr. Ich hoffe, die Millionen unvoreingenommenen Menschen wie Hrunkner Unnerbei zu überzeugen.«

Unnerbei wusste nicht, was er sagen sollte. Das Argument Unterbergs war so brüchig. Verstand er das denn nicht? Alle anständigen Gesellschaften stimmten über grundlegende Fragen überein, Dinge, die das gesunde Überleben ihres Volkes bedeuteten. Die Dinge mochten sich ändern, doch es war sinnloser Selbstzweck, die Regeln über Bord zu werfen. Selbst wenn sie ins Dunkel hineinlebten, würden doch anständige Lebenszyklen notwendig sein… Das Schweigen zog sich hin, nur unterbrochen vom Klicken der kleinen Puzzelstücke.

Schließlich sprach Scherkaner. »Die Generalin hat dich sehr gern, Hrunk. Du warst ihr liebster Waffenkupp — mehr noch, du warst anständig ihr gegenüber, als sie ein neuer Leutnant war und es aussah, als würde ihre Karriere auf dem Misthaufen enden.«

»Sie ist die Beste. Sie kann nichts dafür, wann sie geboren wurde.«

»Stimmt. Doch das ist auch der Grund, warum sie dir in letzter Zeit das Leben so schwer macht. Sie dachte, du würdest am ehesten akzeptieren, was sie und ich tun.«

»Ich weiß, Scherk, aber ich kann es nicht. Du hast mich heute erlebt. Ich habe getan, was ich konnte, aber deine Kupplis haben mich durchschaut. Jedenfalls Junior.«

»He, he. Hat sie wirklich. Es ist nicht nur der Name. Die kleine Viktoria ist klug wie ihre Mutter. Aber — wie du sagst — sie wird sich mit viel Schlimmerem konfrontiert sehen… Schau, Hrunk. Ich werde ein wenig mit der Generalin plaudern. Sie sollte akzeptieren, was sie kriegen kann, ein wenig Toleranz lernen — und wenn es Toleranz gegenüber deiner Intoleranz ist.«

»Ich… Das wäre hilfreich, Scherk. Danke.«

»In der Zwischenzeit werden wir dich öfters hier oben brauchen. Doch du kannst kommen, wie es dir passt. Die Kinder würden dich gern sehen, aber in jedem Abstand, den du wünschst.«

»In Ordnung. Ich mag sie. Ich fürchte nur, ich kann nicht sein, was sie von mir erwarten.«

»Ha. Dann wird es ihr kleines Experiment sein, den richtigen Abstand zu finden.« Er lächelte. »Sie können ganz schön flexibel sein, wenn sie dich so betrachten.«

Zwanzig

In der Vorbereitungszeit des Fluges war Pham Trinli für Ezr Vinh eine ferne Kuriosität gewesen. Das wenige, was er von dem Mann gesehen hatte, wirkte mürrisch, faul und wahrscheinlich unfähig. Er war jemandes Verwandten; das war die einzige Erklärung, wieso er es in die Besatzung geschafft hatte. Erst seit dem Überfall hatte Trinlis flegelhaftes, großmäuliges Benehmen Eindruck auf Ezr gemacht. Gelegentlich war er amüsant; viel öfter war er widerwärtig. Trinlis Wachzeit überschnitt sich um sechzig Prozent mit der von Ezr. Wenn er nach Hammerfest hinüberging, fand er dort Pham Trinli, der mit Reynolts Technikern schmutzige Geschichten austauschte. Wenn er Bennys Biersalon besuchte, traf er Trinli mit einer Bande Aufsteiger, laut und aufgeblasen wie immer. Es war Jahre her — eigentlich seit dem Tod von Jimmy Diem —, dass jemand dieses Verhalten als Verrat aufgefasst hätte. Dschöng Ho und Aufsteiger mussten miteinander auskommen, und in Trinlis Kreis gab es eine Menge Kauffahrer.

Heute war Ezrs Widerwille gegen den Mann etwas Finstererem gewichen. Es war die alle Megasekunden stattfindende Besprechung der ›Wach-Verwalter‹, wie immer unter dem Vorsitz von Tomas Nau. Das war nicht die leere Propaganda von Ezrs vorgetäuschtem ›Flottenverwaltungs-Komitee‹. Wissen und Können beider Seiten waren vonnöten, wenn sie hier überleben wollten. Und obwohl nie in Frage stand, wer der Chef war, befolgte Nau tatsächlich die meisten Ratschläge, die auf diesen Besprechungen erteilt wurden. Ritser Brughel war gegenwärtig nicht auf Wache, also lief dieses Treffen ohne pathologische Obertöne ab. Mit Ausnahme von Pham Trinli waren die Verwalter Leute, die wirklich ihre Sache verstanden.

Die erste Kilosekunde über war alles glatt gegangen. Kal Omos Programmierer hatten ein paar Datenbrillen für die Verwendung durch die Dschöng Ho keimfrei gemacht. Die neuen Schnittstellen waren eingeschränkt, aber besser als gar nichts. Anne Reynolt hatte einen neuen Dienstplan für die Fokussierten. Die genaue Einteilung war noch geheim, doch es sah so aus, als könnte Trixia mehr freie Zeit bekommen. Gonle Fong schlug einige Änderungen der Wacheinteilung vor. Ezr wusste, dass sie damit insgeheim mehrere Geschäfte honorierte, die sie nebenbei am Laufen hatte, doch Nau akzeptierte sie entgegenkommend. Die Untergrund-Wirtschaft, die sie und Benny entworfen hatten, war Tomas Nau gewiss bekannt… doch Jahre waren vergangen, und er hatte sie konsequent ignoriert. Und er hat konsequent davon profitiert. Ezr Vinh hätte nie geglaubt, dass freier Handel in einer derart kleinen und geschlossenen Gesellschaft wie dem Häuflein bei L1 die Effizienz nennenswert steigern könnte, doch das Leben hatte sich dadurch sichtlich verbessert. Die meisten Leute hatten ihre bevorzugten Wachgefährten. Viele hatten Qiwi Lisolets kleine Bonsai-Kugeln in ihren Zimmern. Die Verteilung von Ausrüstung war annähernd so elegant, wie überhaupt möglich. Vielleicht bewies das nur, wie verfahren das ursprüngliche Zuteilungssystem der Aufsteiger gewesen war. Ezr hing insgeheim immer noch der Überzeugung an, dass Tomas Nau der übelste Schurke war, der ihm je begegnet war, ein Massenmörder, der seine Morde begangen hatte, einfach nur um eine Lüge zu stützen. Doch er war so schlau, nach außen hin so konziliant. Tomas Nau war allemal klug genug, um diesen Untergrund-Handel zu erlauben, der ihm weiterhalf.

»Also gut, letzter Punkt.« Er lächelte den Tisch entlang. »Wie üblich das interessanteste und schwierigste Problem. Qiwi?«

Qiwi Lisolet erhob sich sanft, bremste ihre Bewegung mit der Hand an der Decke ab. In Hammerfest gab es Schwerkraft, doch sie reichte kaum aus, um die Trinkballons auf dem Tisch zu halten. »Interessant? Ich denke schon.« Sie zog eine Grimasse. »Aber es ist auch ein sehr irritierendes Problem.« Qiwi öffnete eine tiefe Tasche und holte ein Bündel Datenbrillen hervor — alle mit Siegeln ›zur Benutzung durch Krämer freigegeben‹. »Probieren wir Kal Omos Spielzeuge aus.« Sie verteilte sie an die verschiedenen Wachverwalter. Ezr nahm eine, erwiderte mit einem Lächeln ihr scheues Grinsen. Qiwi hatte noch die Größe eines Kindes, doch sie war so kompakt und fast so groß, wie ein durchschnittlicher strentmannischer Erwachsener eben wurde. Sie war kein kleines Mädchen mehr, nicht einmal die niedergeschmetterte Waise aus der Zeit des Wiederaufflammens. Qiwi hatte in den Jahren nach dem Aufflammen lückenlos Wache um Wache gelebt; in jedem Jahr, das verstrich, war sie um ein ganzes Jahr gealtert. Seit das Licht des EinAus-Sterns auf ein Niveau abgeklungen war, wo sich der Felshaufen leichter handhaben ließ, hatte sie gelegentlich Freiwache gehabt, doch Ezr sah die winzigen Fältchen, die sich in ihren Augenwinkeln zu bilden begannen. Was ist sie jetzt? Älter als ich. Die alte Verspieltheit kam sogar manchmal noch zum Vorschein, doch sie neckte Ezr nie mehr. Und er wusste, dass die Geschichten von Qiwi und Tomas Nau wahr waren. Arme, verdammte Qiwi.

Doch aus Qiwi Lin Lisolet war mehr geworden, als Ezr je erwartet hatte. Jetzt konnte Qiwi Berge balancieren.

Sie wartete, bis alle die Datenbrillen aufgesetzt hatten. Dann: »Sie wissen, dass ich für unsere Halo-Umlaufbahn um L1 zuständig bin.« Über der Mitte des Tisches erschien plötzlich der Felshaufen. Ein winziges Hammerfest ragte auf Ezrs Seite aus dem Gemengsel; am hohen Turm legte gerade ein Taxi an. Das Bild war scharf, legte sich exakt vor die Wand und die Leute hinter ihm. Doch als er den Kopf rasch vom Felshaufen zu Qiwi und zurück wandte, wurde der Haufen etwas unscharf. Die automatische Ausrichtung kam nicht ganz mit der Bewegung mit, und die visuelle Täuschung versagte. Zweifellos waren Kal Omos Programmierer gezwungen gewesen, manche von den Optimierungen zu ersetzen. Dennoch kam das Ergebnis der Dschöng-Ho-Qualität nahe, die Bilder wurden im Gesichtsfeld jeder Datenbrille separat koordiniert.

Dutzende von winzigen roten Lichtern erschienen auf der Oberfläche des Felshaufens. »Das sind die Positionen der E-Triebwerke« — dann sogar noch mehr gelbe Lichtpunkte — »und das das Sensorraster.« Sie lachte, so leicht und spielerisch, wie er sie in Erinnerung hatte. »Alles in allem sieht es nach einem Lösungsnetz für die Finite-Elemente-Methode aus, nicht wahr? Obwohl die Rasterpunkte echte Maschinen zur Datenerfassung sind. Jedenfalls haben meine Leute und ich zwei Probleme. Jedes von ihnen ist ziemlich einfach: Wir müssen das Gemengsel in der Bahn bei L1 halten.« Das Gemengsel schrumpfte zu einem stilisierten Symbol, das eine ständige veränderliche Lissajous-Figur um das Zeichen L1 beschrieb. Auf einer Seite hing die Arachna, weit entfernt, aber auf derselben Linie lag der EinAus-Stern. »Wir haben es so eingerichtet, dass wir aus der Sicht der Spinnen immer nahe am Mittelpunkt der Sonne stehen. Es wird viele Jahre dauern, bis sie die Technik haben, uns hier zu entdecken… Doch das andere Ziel der Stabilisierung ist es, Hammerfest und die verbliebenen Blöcke von Eis und Luftschnee alle im Schatten zu halten.« Zurück zum ursprünglichen Bild vom Gemengsel, doch jetzt waren die flüchtigen Stoffe blau und grün gekennzeichnet. Jedes Jahr schrumpfte dieser kostbare Vorrat, aufgebraucht von den Menschen und von Sublimation in den Raum. »Leider passen diese beiden Ziele nicht recht zusammen. Der Geröllhaufen ist lose. Manchmal verursachen unsere Maßnahmen zur ortsfesten Stabilisierung Drehmomente, und die Felsen rutschen.«

»Die Geröllbeben«, sagte Jau Xin.

»Ja. Unten in Hammerfest spürt man sie andauernd. Ohne ständige Überwachung wäre das Problem schlimmer.« Die Oberfläche des Beratungstisches wurde zu einem Modell der Berührungsflächen von Diamant Eins und Zwei. Qiwi machte eine Bewegung über die Blöcke hinweg, und ein Vierzig-Zentimeter-Streifen der Oberfläche wurde hellrot. »Das ist eine Verschiebung, die uns fast entgangen wäre. Aber wir können uns nicht den Einsatz der menschlichen Ressourcen leisten, um…«

Pham Trinli hatte die ganze Zeit schweigend dagesessen, die Augen mit dem Ausdruck wütender Konzentration zusammengekniffen. Als derjenige, den Nau ursprünglich mit der Stabilisierung beauftragt hatte, sah er auf eine lange Zeit der Demütigung in dieser Sache zurück. Schließlich explodierte er. »Mist. Ich dachte, ihr wolltet etwas von dem Wasser benutzen und es zu einem Leim schmelzen, den ihr zwischen die Diamanten injizieren könnt.«

»Das haben wir getan. Es hat zum Teil geholfen, aber…«

»Aber du kriegst es immer noch nicht zur Ruhe, was?« Trinli wandte sich Nau zu und erhob sich halb von seinem Sitz. »Hülsenmeister, ich habe Ihnen schon früher gesagt, dass ich der Beste für diese Arbeit bin. Das Lisolet-Mädchen weiß, wie man ein Dynamikprogramm durchführt, und sie arbeitet so hart wie nur sonst einer — aber ihr fehlt jede tiefer gehende Erfahrung.« Tiefer gehende Erfahrung? Wie viele Jahre praktische Arbeit braucht sie, alter Mann?

Aber Nau lächelte Trinli nur an. Egal, wie absurd die Behauptungen des Idioten sein mochten, Nau ermunterte ihn immer wieder. Lange Zeit hatte Ezr geargwöhnt, dies sei seitens des Hülsenmeisters ein sadistischer Zug.

»Nun ja, dann sollte ich die Arbeit vielleicht Ihnen geben, Waffenführer. Aber bedenken Sie, selbst jetzt würde es mindestens ein Drittel der Zeit auf Wache bedeuten.« Naus Ton war höflich, aber Trinli erfasste die Herausforderung darin. Ezr sah geradezu, wie in dem alten Mann die Wut hochstieg.

»Ein Drittel?«, sagte Trinli. »Ich könnte es mit einer Fünftel-Wache schaffen, selbst wenn die anderen Mitarbeiter Neulinge wären. Egal, wie klug die E-Triebwerke angeordnet sind, der Erfolg läuft auf die Qualität des Steuernetzes hinaus. Fräulein Lisolet versteht nicht sämtliche Eigenschaften der Ortergeräte, die sie verwendet.«

»Erklären Sie«, sagte Anne Reynolt. »Ein Orter ist ein Orter. Wir haben bei diesem Projekt sowohl eure als auch unsere verwendet.« Orter waren ein grundlegendes Werkzeug jeder technischen Zivilisation. Die winzigen Geräte zirpten ihre Impulscodes einander zu und benutzten die Laufzeiten und Verteilungsalgorithmen, um jedes beteiligte Gerät exakt zu lokalisieren. Etliche tausend von ihnen bildeten das Positionierungsraster auf dem Geröllhaufen. Zusammen bildeten sie eine Art Computernetz der unteren Ebene, das Informationen über die Ausrichtung, Position und relativen Geschwindigkeiten der Elektrotriebwerke und des Gemengsels lieferte.

»Keineswegs.« Trinli lächelte herablassend. »Unsere arbeiten mit euren schon ganz gut zusammen, aber um den Preis einer Verminderung ihrer natürlichen Leistungsfähigkeit. So sehen die Einheiten aus.« Der Alte machte sich an seinem Handterminal zu schaffen. »Fräulein Lisolet, diese Schnittstellen taugen nichts.«

»Erlauben Sie«, sagte Nau. Er sprach in die Luft: »Hier sind die beiden Typen von Ortern, die wir verwenden.«

Die Landschaft verschwand, und zwei Stücke vakuumfester Elektronik erschienen auf dem Tisch. Egal, wie oft Ezr diese Art Vorführung sah, es war schwer, sich daran zu gewöhnen. Bei einer geübten Präsentation mit einer im Voraus festgelegten Reihenfolge der Darstellungen war es leicht, Stimmerkennung zu benutzen, um die Dinge zu steuern. Was Nau soeben getan hatte, übertraf an Raffinement jede Dschöng-Ho-Schnittstelle. Irgendwo oben im Obergeschoss von Hammerfest lauschten einer oder mehrere von seinen Blitzkopf-Sklaven jedem Wort, das hier gesprochen wurde, setzten Naus Worte in ihre Zusammenhänge und verarbeiteten sie mithilfe der Flottenautomatik oder anderer Blitzköpfe. Und da waren die verlangten Bilder, so rasch, als enthalte Naus Bewusstsein die gesamte Datenbank der Flotte.

Natürlich nahm Pham Trinli die Zauberei nicht weiter zur Kenntnis. »Richtig.« Er beugte sich näher zu den Apparaten hin. »Außer dass das hier eigentlich mehr ist als die Orter selbst.«

Qiwi: »Ich verstehe nicht. Wir brauchen eine Energiequelle, die Sensorsonden.«

Trinli grinste sie an, Triumph triefte in sein Lächeln. »Das glaubst du — und vielleicht stimmte es sogar in den ersten Jahren, als der alte EinAus alles röstete. Aber jetzt…« Er langte näher hin, und seine Finger verschwanden in der Seite des kleinen Geräts. »Können Sie den Orterkern zeigen, Hülsenmeister?«

Nau nickt. »Klar.« Und das Bild des Dschöng-Ho-Geräts wurde weggeschnitten, Bauschicht um Bauschicht. Am Ende war nichts übrig als ein winziges geschwärztes Stäubchen, nicht mehr als einen Millimeter im Durchmesser.

Ezr, der neben ihm saß, spürte eine plötzliche Spannung bei Tomas Nau. Der andere war unvermittelt und heftig interessiert. Der Augenblick ging vorüber, ehe sich Ezr auch nur sicher war, dass es ihn gegeben hatte. »Na, das ist vielleicht klein. Schauen wir näher hin.«

Das Bild des Stäubchens schwoll an, bis es einen Meter im Durchmesser und fast vierzig Zentimeter in der Höhe maß. Die Automatik der Datenbrillen zeichnete die passenden Lichtreflexe und Schatten.

»Danke.« Trinli stand auf, sodass alle ihn über dem linsenförmigen Gerät sehen konnten. »Das ist der grundlegende Dschöng-Ho-Orter — normalerweise in Schutzbarrieren und so weiter eingebettet. Aber sehen Sie, in einer günstigen Umgebung — sogar draußen im Schatten — ist er durchaus autonom.«

»Energie?«, fragte Reynolt.

Trinli winkte ab. »Man braucht ihnen nur Mikrowellenimpulse zu schicken, vielleicht ein Dutzend Mal pro Sekunde. Ich kenne die Einzelheiten nicht, aber ich habe gesehen, wie sie bei manchen Projekten in viel größerer Zahl verwendet wurden. Ich bin sicher, dass das genauere Kontrolle ermöglichen würde. Was die Sensoren betrifft, so haben diese Schnuckelchen etliche einfache Sachen eingebaut — Temperatur, Lichtniveaus, Schall.«

Jau Xin: »Aber wie kommt es, dass Qiwi und alle anderen nichts davon wussten?«

Ezr sah schon, wo das alles hinführte, konnte aber nicht das Geringste dagegen tun.

Trinli zuckte großmütig die Achseln. Er hatte noch nicht begriffen, wie weit ihn sein Ego mitgerissen hatte. »Ich sage doch schon die ganze Zeit: Qiwi Lin Lisolet ist jung und unerfahren. Für die meisten Projekte taugen grobkörnige Orter. Außerdem sind die fortgeschrittenen Eigenschaften bei militärischen Aufgaben am nützlichsten, und ich wette, dass die Lehrbücher, die sie studiert, in dieser Beziehung absichtlich unklar sind. Ich meinerseits habe sowohl als Ingenieur wie auch als Waffenführer gearbeitet. Obwohl es normalerweise nicht erlaubt ist, sind die Orter ein exzellentes Aufsichtsinstrument.«

»Gewiss«, sagte Nau und sah nachdenklich drein. »Orter und damit verbundene Sensoren sind das Herzstück richtiger Sicherheit.« Und in diese Staubkörnchen waren Sensoren und Unabhängigkeit schon eingebaut. Sie waren keine Teilkomponente eines Systems; sie konnten das System selbst sein.

»Was meinst du, Qiwi? Würde ein Haufen von diesen Dingern es dir leichter machen?«

»Vielleicht. Das ist alles neu für mich; ich hätte nie gedacht, dass mich ein Technikbuch belügen würde.« Sie dachte einen Moment lang darüber nach. »Aber ja, wenn wir viel mehr Orter hätten und die Rechenleistung in die richtige Größenordnung kommt, könnten wir wahrscheinlich die menschliche Überwachung reduzieren.«

»Sehr gut. Ich möchte, dass du dir diese Einzelheiten von Waffenführer Trinli geben lässt und ein ausgedehntes Netzwerk einrichtest.«

»Ich würde das gern übernehmen, Hülsenmeister«, sagte Trinli.

Aber Nau war kein Narr. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sie sind in Ihrer allgemeinen Aufsichtsrolle viel wertvoller. Wirklich, ich möchte, dass Sie und Anne sich über diese Sache unterhalten. Wenn er auf Wache kommt, wird sich auch Ritser dafür interessieren. Es müsste eine Anzahl von Anwendungsmöglichkeiten dieser Apparate für die öffentliche Sicherheit geben.«

Also hatte Pham Trinli den Aufsteigern noch bessere Handschellen und Ketten ausgehändigt. Für einen Augenblick huschte so etwas wie ärgerliches Verstehen über das Gesicht des Alten.


Ezr tat sein Möglichstes, den Rest des Tages über mit niemandem zu sprechen. Er hatte nie geglaubt, dass er einen dummen Clown derart hassen könnte. Pham Trinli war kein Massenmörder, und seine abartige Natur war jeder seiner törichten Bewegungen deutlich aufgeprägt. Doch in seiner Dummheit hatte er ein Geheimnis verraten, auf das der Feind niemals gekommen wäre, ein Geheimnis, das Ezr selbst nicht gekannt hatte, ein Geheimnis, das andere gewiss lieber mit in den Tod genommen hatten, als es Tomas Nau und Ritser Brughel auszuliefern.

Zuvor hatte er geglaubt, Nau halte sich Trinli als Spaßvogel. Jetzt wusste es Ezr besser. Und seit jener längst vergangenen Nacht im Temp-Park hatte sich Ezr nicht mehr so kalt mordlüstern gefühlt. Wenn es jemals dazu kam, dass Pham Trinli einen tödlichen Unfall erleiden konnte…

Nach der zweiten Messe blieb Ezr in seiner Wohnung. Sein Verhalten war wohl kaum verdächtig. Die Live-Musiker eigneten sich Bennys Salon jeden Tag ungefähr um diese Zeit an, und Jamsessions waren ein Dschöng-Ho-Brauch, an dem Ezr nie Freude gehabt hatte, nicht einmal als Zuhörer. Außerdem gab es eine Menge Arbeit, die nachzuholen war. Manches davon erforderte nicht einmal, dass er mit anderen sprach. Er setzte die neue Datenbrille auf und warf einen Blick in die Flottenbibliothek.

In gewissem Sinne war der Fortbestand der Flottenbibliothek Kapitän Parks größtes Versagen. Jede Flotte hatte ausgeklügelte Vorsichtsmaßnahmen, um kritische Teile ihrer örtlichen Bibliothek zu zerstören, wenn Eroberung unmittelbar drohte. Solche Pläne konnten nicht vollkommen sein. Bibliotheken existierten in einer über alle Schiffe der Flotte verteilten redundanten Form. Teile wurden, je nach augenblicklicher Nutzung, in die Caches von tausend Knotenpunkten kopiert. Einzelne Chips — diese verdammten Orter — enthielten ausführliche Anleitungen zur Wartung und Nutzung. Dennoch hätten entscheidende Datenbanken sehr kurzfristig ausgenullt werden müssen. Was übrig blieb, hätte einen gewissen Nutzen gehabt, aber die grundlegenden Erkenntnisse, die Terabytes exakter experimenteller Daten wären weg gewesen — oder nur noch als Hardware-Verkörperung vorhanden, nur bei sorgfältigster Rekonstruktion zu verstehen. Irgendwie war diese Zerstörung nicht erfolgt, selbst als offensichtlich war, dass der Überfall der Aufsteiger alle Schiffe von Parks Flotte überwältigen würde. Oder vielleicht hatte Park gehandelt, und es hatte Sicherungs-Knoten gegeben, die — gegen allen Usus — komplette Kopien der Bibliothek enthielten.

Tomas Nau erkannte einen Schatz, wenn er ihn sah. Anne Reynolts Sklaven waren dabei, das Ding mit der unmenschlichen Präzision der Fokussierten auseinanderzunehmen. Früher oder später würden sie jedes einzelne Kauffahrer-Geheimnis kennen. Doch das würde Jahre dauern; Blitzköpfe wussten nicht, wo sie anfangen sollten. Also benutzte Nau etliches unfokussiertes Personal, um in der Bibliothek herumzuwandern und den allgemeinen Eindruck zu berichten. Ezr hatte bisher Megasekunden damit verbracht. Es war eine riskante Arbeit, denn er musste ein paar gute Ergebnisse liefern… und gleichzeitig versuchte er, ihre Untersuchungen unauffällig von Dingen wegzulenken, die sofort Nutzen bringen könnten. Er wusste, dass er vielleicht aufflog und Nau eines Tages den Mangel an Mitarbeit spürte. Das Ungeheuer war raffiniert; mehr als einmal hatte sich Ezr gefragt, wer wen benutzte.

Doch heute… Pham Trinli hatte einfach so viel verraten.

Ezr zwang sich zur Ruhe. Schau einfach in die Bibliothek. Schreib einen dummen Bericht. Das würde als Dienstzeit gelten, und er brauchte nicht sichtbar aus der Rolle zu fallen. Er spielte mit der Handsteuerung, die zu der neuen, ›keimfreien‹ Datenbrille gehörte. Zumindest erkannte sie die einfacheren Befehlsfolgen: Die Datenbrille ersetzte seine natürliche Sicht nahtlos durch einen Blick auf die Eingangsschicht der Bibliothek. Während er sich umsah, folgte die Automatik seinen Kopfbewegungen, und die Bilder glitten fast so glatt vorbei, als wären die Dokumente reale Gegenstände, die in diesem Raum schwebten. Aber… er machte sich an der Steuerung zu schaffen. Verdammt. Es war fast keine Anpassung möglich. Sie hatten die Schnittstelle ausgeschlachtet oder zu einem Aufsteiger-Standard verändert. Das war nicht viel besser als gewöhnliche Bildtapete!

Er griff nach oben, um den Ring vom Gesicht zu ziehen, ihn zu zerdrücken. Beruhige dich. Er war immer noch zu mitgenommen davon, wie Trinli alles versaut hatte. Außerdem war es wirklich eine Verbesserung gegenüber Wandbildschirmen. Er lächelte einen Moment, als er sich an Gonle Fongs von Obszönitäten gespickten Anfall wegen der Tastaturen erinnerte.

Was also sollte er sich heute anschauen? Etwas, das Nau normal vorkommen würde, ihnen aber nicht mehr bringen konnte, als sie schon hatten. Ach ja, Trinlis Superorter. Sie hatten fein außer der Schusslinie in einer sicheren Sektion gesteckt. Er verfolgte ein paar Pfade, die offensichtlichen Richtungen. Dies war ein Bild der Bibliothek, das kein gewöhnlicher Anwärter sehen konnte. Nau hatte sich — auf Arten, die sich Ezr vorstellen konnte und die ihm noch immer Albträume bereiteten — hochrangige Passwörter und Sicherheitsparameter verschafft. Jetzt hatte Ezr denselben Anblick, den Kapitän Park selbst hätte haben können.

Kein Glück. Die Zeiger verwiesen deutlich auf die Orter. Ihre geringe Größe war nicht wirklich geheim, doch selbst die Auflistung ihrer Nebenparameter wies nicht aus, dass sie Sensoren enthielten. Die chipinternen Anleitungen wussten ebenso wenig etwas von seltsamen Eigenschaften. Hmm. Trinli behauptete also, es gebe Falltüren in den Anleitungen, die sogar in einer Kapitäns-Ansicht der Bibliothek unsichtbar wären?

Der Zorn, der in seinen Eingeweiden gebrannt hatte, war augenblicklich vergessen. Ezr starrte auf die Datenlandschaften, die sich um ihn erstreckten, und fühlte sich plötzlich erleichtert. Tomas Nau würde in dieser Situation nichts Seltsames erblicken. Außer Ezr Vinh gab es vielleicht keinen überlebenden Kauffahrer, der erkennen würde, wie absurd Trinlis Geschichte sein musste.

Doch Ezr Vinh war mitten in einer großen Kauffahrerfamilie aufgewachsen. Als Kind hatte er am Mittagstisch gesessen und Diskussionen über Flottenstrategien gehört, wie sie wirklich praktiziert wurden. Der Zugang eines Kapitäns zu seiner Flottenbibliothek erlaubte normalerweise keine verborgenen Eigenschaften. Dinge konnten — wie immer — verlorengehen; ererbte Anwendungen waren oft so alt, dass die Suchmaschinen keinerlei Anhaltspunkte fanden. Aber abgesehen von Sabotage oder einem Kapitän, der die Daten nach eigenem Gusto ummodelte, dürfte es keine isolierten Geheimnisse geben. Auf lange Sicht waren derlei Maßnahmen einfach zu mühevoll für die Systemwartung.

Ezr hätte gelacht, nur dass er argwöhnte, dass diese keimfreien Datenbrillen jedes Geräusch, dass er machte, an Brughels Blitzköpfe zurückmeldeten. Dennoch war das der erste frohe Gedanke des Tages. Trinli hat uns Blödsinn erzählt! Der alte Schwindler bluffte bei einer Menge Dinge, doch bei Tomas Nau sah er sich für gewöhnlich vor. Wenn es Zeit wurde, Reynolt die Einzelheiten zu liefern, würde Trinli in den Chip-Anleitungen kramen… und mit leeren Händen dastehen. Irgendwie konnte Ezr nicht viel Mitgefühl mit ihm empfinden; das eine Mal würde der alte Scheißkerl kriegen, was er verdiente.

Einundzwanzig

Qiwi Lin Lisolet verbrachte eine Menge Zeit draußen. Mit dem Ortertrick, den Trinli versprach, würde sich das vielleicht ändern. Qiwi schwebte tief über den alten Kontaktrand von Diamant Eins und Zwei. Jetzt lag er im Sonnenlicht, die flüchtigen Stoffe der früheren Jahre waren weggebracht worden oder verdunstet. Wo sie unberührt war, war die Oberfläche des Diamanten grau und stumpf und glatt, fast schimmernd. Das Sonnenlicht hatte im Laufe der Zeit den obersten Millimeter oder so zu Graphit gebrannt, eine Art Mikro-Regolith, der das Glitzern darunter verbarg. Alle zehn Meter den Rand entlang glitzerte es regenbogenfarben, wo ein Sensor angebracht war. Die E-Triebwerke zogen sich zu beiden Seiten hin. Selbst aus unmittelbarer Nähe konnte man ihre Aktivität kaum sehen, doch Qiwi kannte ihre Ausrüstung: Die elektrischen Triebwerke spuckten in Millisekunden-Ausbrüchen, gesteuert von den Programmen, die auf ihre Sensoren hörten. Und selbst das war nicht fein genug. Qiwi verbrachte über zwei Drittel ihrer Dienstzeit damit, um den Felshaufen herumzufliegen und die E-Triebwerke zu trimmen, trotzdem hatten die Felsbeben noch gefährliche Ausmaße. Mit einem feineren Sensornetz und den Programmen, die es Trinli zufolge geben sollte, müsste es möglich sein, bessere Arbeitsrhythmen für die Triebwerke zu entwerfen. Es würde Millionen Beben geben, doch so klein, dass niemand sie bemerken würde. Und dann bräuchte sie nicht mehr so viel Zeit hier zu verbringen. Qiwi fragte sich, wie es wohl wäre, wie die meisten Leute einen Wachzyklus mit weniger Dienst zu haben. Es würde medizinische Ressourcen sparen, der arme Tomas bliebe aber noch mehr allein.

Ihr Denken glitt um die Sorge herum. Manche Dinge kannst du bessern und andere nicht; sei dankbar für das, was Trinlis Orter Gutes bringen werden. Sie schwebte von der Spalte hoch und fragte beim Rest ihrer Wartungsgruppe nach dem Stand.

»Nur die üblichen Probleme«, erklang Floria Peres’ Stimme in ihrem Ohr. Floria glitt über die ›oberen Hänge‹ von Diamant Drei. Also oberhalb der gegenwärtigen Null-Oberfläche des Felshaufens. Dort büßten sie jedes Jahr ein paar E-Triebwerke ein. »Drei gelockerte Halterungen… Wir haben sie rechtzeitig erwischt.«

»Sehr gut. Ich setze Arn und Dima dran. Ich denke, wir sind früh fertig.« Sie lächelte vor sich hin. Jede Menge Zeit für die interessanteren Projekte. Sie schaltete ihr Kom von der Gruppenfrequenz weg. »He, Floria. Du bist diese Wache für die Raffinerie zuständig, nicht wahr?«

»Klar.« Auf der anderen Seite ertönte ein Kichern. »Ich versuche, diese Arbeit jedes Mal zu kriegen; für dich zu arbeiten, ist einfach eine der unvermeidlichen Mühen, die damit verbunden sind.«

»Nun ja, ich hätte da ein paar Dinge für dich. Vielleicht können wir ein Geschäft machen?«

»Oh, vielleicht.« Floria hatte nur einen Zehn-Prozent-Dienstzyklus; dennoch hatten sie dieses Spiel schon einmal gespielt. Außerdem gehörte sie zur Dschöng Ho. »Wir treffen uns in ein paar tausend Sekunden unten bei der Raffinerie. Wir können zusammen Tee trinken.«


Die Raffinerie für die flüchtigen Stoffe bewegte sich langsam über die dunkle Seite des Felshaufens. Ihre Türme und Retorten glitzerten reifbedeckt im Licht der Arachna; an anderen Stellen glühte sie von dumpfer roter Wärme, wo die Fraktionierung und die Rekombination stattfanden. Heraus kamen die einfachen Rohstoffe für ihre Fabrik und die organischen Schlämme für die Baktreien. Das Kernstück der L1-Raffinerie stammte von der Dschöng-Ho-Flotte. Die Aufsteiger hatten ähnliche Ausrüstung mitgebracht, doch sie war während des Kampfes verlorengegangen. Gott sei Dank war es unsere, die übrig blieb. Reparaturen und Neubau hatten sie gezwungen, Teile von allen Schiffen auszuschlachten. Wenn der Kern der Raffinerie von den Aufsteigern stammte, könnten sie von Glück sagen, wenn jetzt überhaupt noch etwas funktionieren würde.

Qiwi machte ihr Taxi ein paar Meter von der Raffinerie entfernt fest. Sie lud ihre in Thermoisolation eingeschlagene Fracht ab und zog sich an den Führungsseilen zum Eingang. Rings um sie lag in gewellten Dünen ihr verbliebener Vorrat an flüchtigen Stoffen: Luftschnee und Ozeaneis von der Oberfläche der Arachna. Sie hatten einen weiten Weg hinter sich und eine Menge gekostet. Viel von der ursprünglichen Menge, vor allem der Luftschnee, war beim Aufflammen verloren gegangen, auch später noch, wenn er zufällig ins Licht kam. Der Rest war in die sichersten Schatten geschoben und ausbalanciert worden, war beim vergeblichen Versuch, den Felshaufen zusammenzukleben, geschmolzen und zum Atmen und Essen und Leben verwendet wurden. Tomas hatte Pläne, Teile von Diamant Eins als wirklich sicheren Lagerraum auszuhöhlen. Vielleicht würde das nicht notwendig sein. In dem Maße, wie die Sonne schwächer wurde, sollte es leichter sein, das Verbliebene zu bewahren. Inzwischen rückte die Raffinerie langsam — weniger als zehn Meter pro Jahr — durch die Dünen von Eis und Luft vor. Hinter sich ließ sie Sternenfunkeln auf bloßem Diamant und eine Spur von Verankerungslöchern.

Florias Steuerkäfterchen lag an der Basis der hinteren Türme der Raffinerie. Als Teil des ursprünglichen Dschöng-Ho-Moduls war es nicht mehr als ein luftdichter Verschlag gewesen, in dem man essen und ein Nickerchen machen konnte. In den Jahren des Exils hatten die verschiedenen Bewohner es ausgebaut. Als sie vom Boden her hineinkam, hielt Qiwi für einen Moment inne. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie in engen Räumen oder Tunneln verbracht oder aber in der offenen Leere. Florias letzte Veränderungen machten aus diesem Raum etwas dazwischen. Sie konnte sich vorstellen, was Ezr dazu sagen würde: Es sah wirklich wie eine kleine Hütte aus, fast wie die Märchenbilder, wie ein Bauer in einem uralten Land in den schneebedeckten Ausläufern eines Gebirges leben mochte, nahe an einem glitzernden Wald.

Qiwi kletterte an den Außenstreben und Ankerkabeln vorbei — dem Rande des Zauberwaldes — und klopfte an die Tür der Hütte.


Handeln machte immer Spaß. Sie hatte so oft versucht, das Tomas zu erklären. Der arme Kerl hatte ein gutes Herz, doch er stammte aus einer Kultur, die es einfach nicht verstand.

Qiwi brachte einen Teil der Bezahlung für Florias neueste Erzeugnisse: In der Thermoisolation befand sich ein Zwanzig-Zentimeter-Bonsai, etwas, woran Papa Megasekunden lang gearbeitet hatte. Mikro-Zwergfarne wuchsen und bildeten vielschichtige Blattdächer. Floria hielt die Bonsai-Kugel nahe an die Raumbeleuchtung und schaute nach oben durch das Grün. »Die Mücken!« — Käfer von weniger als einem Millimeter. »Sie haben bunte Flügel!«

Qiwi hatte die Reaktion ihrer Freundin mit sorgfältig gespielter Neutralität verfolgt, doch nun konnte sie nicht mehr an sich halten und lachte. »Ich habe mich gefragt, ob du es bemerken würdest.« Der Bonsai war kleiner als Papas übliche, doch er war vielleicht der bisher schönste, besser als alles, was Qiwi jemals in der Bibliothek gesehen hatte. Sie langte in die Thermohülle und holte den zweiten Teil der Bezahlung heraus. »Und das ist von Gonle persönlich. Es ist eine Klammerhalterung für den Bonsai.«

»Das ist… Holz.« Von dem Bonsai war Floria bezaubert gewesen. Ihre Reaktion auf die Holztafel glich eher Erstaunen. Sie streckte die Hand aus, um mit den Fingern über die polierte Maserung zu fahren.

»Das können wir jetzt massenhaft herstellen, eine Art umgekehrte Trockenfäule. Natürlich sieht es ein bisschen seltsam aus, weil Gonle es in Bottichen züchtet.« Die Streifen und Wirbel waren Biowellen, die in der Maserung des Holzes festgehalten waren. »Wir würden mehr Platz und Zeit brauchen, um richtige Ringe zu bekommen.« Oder vielleicht auch nicht; Papa dachte, er könnte vielleicht die Biowellen dazu bringen, Wachstumsringe nachzuahmen.

»Egal.« Florias Stimme war geistesabwesend. »Gonle hat ihre Wette gewonnen… oder dein Vater hat sie für sie gewonnen. Stell dir vor. Richtiges Holz in Mengen, nicht bloß die Zweige in einer Bonsai-Kugel oder Astwerk im Temp-Park.« Sie schaute in Qiwis grinsendes Gesicht. »Und ich wette, sie denkt, dass damit frühere Geschäfte mehr als bezahlt sind.«

»Nun ja… wir hofften, es würde dich zugänglicher machen.« Sie setzten sich, und Floria brachten den versprochenen Tee zum Vorschein, der aus Gonle Fongs Agros kam und vorher aus den Hügeln von flüchtigen Stoffen und Diamant, die die Raffinerie umgaben. Die beiden gingen die Liste durch, die Benny und Gonle aufgestellt hatten. Es waren nicht nur ihre Bestellungen, sondern das Ergebnis der Maklertätigkeit, die Tag für Tag in Bennys Salon stattfand. Es gab da Positionen, die größtenteils für den Gebrauch von Aufsteigern bestimmt waren. Herrgott, da standen Dinge, die Tomas einfach hätte fordern können und die Ritser Brughel gewiss gefordert hätte.

Florias Einwände waren ein Katalog technischer Probleme, Dinge, die sie brauchen würde, ehe sie in Angriff nehmen konnte, was von der Raffinerie verlangt wurde. Sie pflegte so viel wie möglich aus diesen Geschäften herauszuholen, aber was von ihr verlangt wurde, war in der Tat technisch schwierig. Einmal vor dem Flug, als Qiwi nicht älter als sieben gewesen sein konnte, hatte Papa sie zu einer Raffinerie bei Triland mitgenommen. »Damit werden die Baktreien gefüttert, Qiwi, genauso, wie die Baktreien die Parks versorgen. Jede Ebene ist wunderbarer als die darunter, doch selbst die primitivste Raffinerie herzustellen, ist eine Art Kunst.« Ali liebte seine Arbeit am oberen Ende über alles, dennoch achtete er die anderen Ebenen. Floria Peres war eine begabte Chemikerin, und der tote Schlamm, den sie herstellte, war eine wunderbare Schöpfung.

Viertausend Sekunden später hatten sie sich auf ein Geflecht von Vergünstigungen und Gefälligkeiten für den Rest von Florias Wache geeinigt. Sie saßen noch eine Weile da, nippten an einer neuen Runde Tee und erörterten mit Muße, was sie versuchen könnten, wenn die gegenwärtigen Ziele erreicht wären. Qiwi erzählte ihr von Trinlis Behauptungen über die Orter.

»Das sind gute Neuigkeiten, wenn der alte Knacker nicht lügt. Vielleicht brauchst du jetzt nicht mehr so intensiv Dienst zu schieben.« Floria schaute Qiwi an, und es lag ein seltsamer, trauriger Ausdruck in ihren Augen. »Du warst ein kleines Mädchen, und jetzt bist du älter als ich. Du solltest nicht dein Leben ausbrennen müssen, Kind, nur um eine Handvoll Felsen auf Linie zu halten.«

»Es… es ist nicht so schlimm. Es muss getan werden, selbst wenn wir nicht die beste medizinische Unterstützung haben.« Außerdem ist Tomas immer auf Wache, und er braucht meine Hilfe. »Und es hat auch Vorteile, die meiste Zeit auf zu sein. Ich bekomme fast alles mit. Ich weiß, wo es Geschäfte zu machen gibt, gute Dinge abzustauben sind. Es macht mich zu einer besseren Kauffahrerin.«

»Hmm.« Floria schaute weg, dann abrupt zurück. »Das ist kein Handel! Es ist ein albernes Spiel!« Ihre Stimme wurde weicher. »Tut mir Leid, Qiwi. Du kannst es ja nicht wissen… Aber ich weiß, was richtiger Handel ist. Ich war bei Kielle. Ich war bei Canberra. Das hier…« — sie machte eine Handbewegung, die den ganzen L1 umschrieb — »ist nur So-tun-als-ob. Weißt du, warum ich immer um diese Arbeit bei der Raffinerie bitte? Ich habe aus diesem Steuerkäfterchen so etwas wie ein Zuhause gemacht, wo ich so tun kann, als ob. Ich kann so tun, als sei ich allein und weit weg. Ich brauche nicht im Temp mit Aufsteigern zu leben, die so tun, als wären sie anständige Menschen.«

»Aber viele von ihnen sind es, Floria!«

Peres schüttelte den Kopf und hob die Stimme. »Vielleicht. Und das ist vielleicht das Schlimmste daran. Aufsteiger wie Rita Liao und Jau Xin. Einfach Leute wie unsereins, ja? Und jeden Tag benutzen sie andere Menschen, als wären sie weniger als Tiere — wie Maschinenteile. Schlimmer noch, sie leben davon. Ist nicht Liao ›Programmierer-Verwalterin‹ und Xin ›Piloten-Verwalter‹? Das schlimmste Übel im Weltall, und ihnen geht es hinunter wie Honig, und dann setzen sie sich zu uns in Bennys Salon, und wir akzeptieren sie!« Ihre Stimme war kurz vor einem Kreischen, und sie verstummte abrupt. Sie schloss die Augen, und Tränen schwebten sanft durch die Luft abwärts.

Qiwi streckte die Hand aus, um ihre Hand zu berühren, ohne zu wissen, ob Floria sie vielleicht einfach schlagen würde. Diesen Schmerz sah sie bei verschiedenen Leuten. Manche konnte sie erreichen. Andere wie Ezr hielten ihn so strikt geheim, dass sie nichts als eine verborgene, pulsierende Wut spürte.

Floria schwieg, in sich zusammengekrümmt. Doch nach einem Augenblick ergriff sie Qiwis Hand mit ihren beiden und beugte den Kopf zu ihr hinab und schluchzte. Ihre Worte kamen erstickt, fast unverständlich: »… mache dir keinen Vorwurf… nein, mache ich wirklich nicht. Ich weiß das mit deinem Vater.« Sie schnappte zwischen lautlosem Schluchzen nach Luft, und dann kamen ihre Worte deutlicher. »Ich weiß, dass du diesen Tomas Nau liebst. Das ist in Ordnung. Er käme ohne dich nicht zurecht, aber dann wären wir wahrscheinlich auch alle tot.«

Qiwi legte der Frau den anderen Arm um die Schultern. »Aber ich liebe ihn nicht.« Die Worte platzten heraus, überraschten sie. Und Floria schaute auf, ebenfalls überrascht.

»Ich meine, ich achte ihn. Er hat mich gerettet, als es am schlimmsten war, nachdem Jimmy meine Mutter umgebracht hatte. Aber…« Seltsam, so zu Floria zu reden, Worte zu sagen, die sie zuvor nur zu sich selbst gesagt hatte. Tomas brauchte sie. Er war ein guter Mensch, der in einem schrecklichen, bösen System aufgewachsen war. Der Beweis für sein gutes Wesen war, dass er so weit gekommen war, dass er das Böse verstand und daran arbeitete, es zu beenden. Qiwi zweifelte, ob sie so viel hätte tun können; sie wäre eher wie Rita und Jau gewesen, hätte sich schweigend drein geschickt und wäre dankbar gewesen, dass sie dem Netz des Fokus entgangen war. Tomas Nau wollte die Dinge wirklich verändern.

Aber ihn lieben? Bei all seinem Humor, seiner Liebe, seiner Weisheit gab es einen… Abstand… zu Tomas. Sie hoffte, dass er nie erkennen würde, dass sie so für ihn empfand. Und ich hoffe, die subversive Floria hat Ritsers Wanzen ausgeschaltet.

Qiwi drängte die Gedanken beiseite. Einen Augenblick lang starrten sie und Floria einander nur an, überrascht, das Herz der anderen offenbart zu sehen. Hmm. Sie klopfte Floria sacht auf die Schulter. »Ich kenne dich seit über einem Jahr gemeinsamer Wachen, und bisher gab es keinen Hinweis, dass du so empfindest…«

Floria ließ Qiwis Hand los und wischte die Tränen weg, die ihr noch immer in den Augen standen. Ihre Stimme hatte sie fast unter Kontrolle. »Ach ja. Vorher konnte ich es wegstecken. ›Duck dich‹, sagte ich mir, ›und sei ein richtiger kleiner besiegter Krämer.‹ Darin sind wir von Natur aus gut, meinst du nicht? Vielleicht liegt es an der langfristigen Sichtweise. Aber jetzt… Du weißt, dass ich eine Schwester bei unsrer Flotte hatte?«

»Nein.« Es tut mir Leid. Es hatte vor den Kämpfen so viele von der Dschöng Ho in der Flotte gegeben, und die kleine Qiwi hatte so wenige gekannt.

»Luan war eine Jokerkarte, nicht allzu intelligent, aber gut im Umgang mit Menschen… die Sorte, die ein kluger Flottenkapitän mit untermischt.« Ein Lächeln kam fast bis an die Oberfläche, ging dann in trostloser Erinnerung unter. »Ich habe eine Promotion in Chemietechnik, aber sie haben Luan fokussiert und mich freigelassen. Es hätte mich treffen müssen, aber sie nahmen stattdessen sie.«

Florias Gesicht verzerrte sich von einem Schuldgefühl, das nicht angebracht war. Vielleicht war Floria immun gegen eine dauernde Infektion mit der Geistfäule, wie so viele von der Dschöng Ho. Oder vielleicht nicht. Tomas brauchte mindestens ebenso viele Freie wie Fokussierte, sonst würde das System in Einzelheiten versinken. Qiwi öffnete den Mund zu einer Erklärung, doch Floria hörte nicht zu.

»Ich habe damit gelebt. Und ich habe verfolgt, was mit Luan geschah. Sie haben sie auf diese Aufsteiger-Kunst fokussiert. Wahrscheinlich hast du sie hundertmal gesehen.«

Ja, das stimmt gewiss. Die Schneidegruppen machten die niedrigste Arbeit unter den Fokussierten. Es war nicht das hohe Schöpfertum von Ali Lin oder den Übersetzern. Die Muster der ›Legendenkunst‹ der Aufsteiger ließen der Kreativität keinen Raum. Die Arbeiter arbeiteten sich die Diamantkorridore entlang, Zentimeter für Zentimeter, schlugen gemäß der Gesamtvorgabe winzige Stückchen ab. Ritsers ursprünglicher Plan war gewesen, bei dem Projekt alle ›menschlichen Abfälle‹ zu verbrauchen, indem man sie ohne medizinische Betreuung bis zum Tode arbeiten ließ.

»Aber sie arbeiten nicht mehr Wache um Wache, Floria.« Das war einer von Qiwis ersten Triumphen über Ritser Brughel gewesen. Die Arbeit der Diamantschneider wurde erleichtert, und medizinische Ressourcen wurden allen zugänglich gemacht, die wach blieben. Die Schneider würden das Ende des Exils überleben — und die Freilassungen, die Tomas versprochen hatte.

Floria nickte. »Stimmt, und obwohl sich unsere Wachen kaum überschnitten, konnte ich doch Luan im Auge behalten. Ich pflegte in den Korridoren herumzuhängen, und wenn andere Leute kamen, tat ich so, als sei ich unterwegs. Ich redete sogar mit ihr über diese verdammte dreckige Kunst, die sie liebte; es war das Einzige, worüber sie reden konnte, ›Die Niederlage des Frenkischen Orks‹.« Floria spuckte den Titel geradezu heraus. Ihr Zorn verrauchte, und sie schien in sich zusammenzusinken. »Dennoch konnte ich sie immer noch treffen, und vielleicht, wenn ich ein braver kleiner Krämer war, würde sie eines Tages freikommen. Doch jetzt…« — sie wandte sich um und schaute Qiwi an, und ihre Stimme verlor wieder ihren Halt — »jetzt ist sie einfach nicht mehr da, steht nicht einmal mehr auf der Liste. Sie behaupten, ihr Sarg habe versagt. Sie behaupten, sie sei im Kälteschlaf gestorben. Die verlogenen, heimtückischen Dreckskerle…«

Dschöng-Ho-Kältesärge waren so sicher, dass sich die Ausfallrate statistisch nicht einmal genau bestimmen ließ, zumindest, wenn sie richtig benutzt wurden und für Zeiträume unter 4 Gigasekunden. Die Ausrüstung der Aufsteiger war anfälliger, und seit den Kämpfen waren niemandes Geräte absolut vertrauenswürdig. Luans Tod war höchstwahrscheinlich ein schrecklicher Unfall, noch ein Echo des Wahnsinns, der sie alle beinahe umgebracht hätte. Und wie kann ich die arme Floria davon überzeugen? »Ich denke schon, dass wir nicht alles für bare Münze nehmen können, was man uns erzählt, Floria. Die Aufsteiger haben ein bösartiges System. Aber… ich war lange Zeit auf Hundert-Prozent-Wache, selbst jetzt bin ich noch bei fünfzig Prozent. Ich bin in fast alles eingeweiht. Und weißt du, in all der Zeit habe ich Tomas nie bei einer Lüge ertappt.«

»Na schön« — mürrisch.

»Und warum sollte jemand Luan töten wollen?«

»Ich habe nichts von Töten gesagt. Und vielleicht weiß dein Tomas es nicht. Zweimal habe ich Ritser Brughel gesehen. Einmal hatte er alle Frauen beisammen und war hinter ihnen, beobachtete nur. Das andere Mal… das andere Mal war er mit Luan allein.«

»Oh.« Das Wort kam sehr kleinlaut heraus.

»Ich habe keinen Beweis. Was ich gesehen habe, war weiter nichts als eine Geste, eine Haltung, der Gesichtsausdruck eines Mannes. Also habe ich geschwiegen, und jetzt ist Luan nicht mehr da.«

Plötzlich erschien Florias Verfolgungswahn ziemlich plausibel. Ritser Brughel war ein Ungeheuer, das von dem Hülsenmeister-System kaum in Schach gehalten wurde. Die Erinnerung an ihre Konfrontation hatte Qiwi nie verlassen, das Patschen des Stahlstocks in seinen Händen, als er gegen sie wütete. Damals hatte Qiwi zornigen Triumph empfunden, ihn in die Schranken zu weisen. Seither war ihr aufgegangen, welch große Angst sie hätte fühlen müssen. Ohne Tomas wäre sie damals gewiss umgekommen… oder schlimmer. Ritser wusste, was geschehen würde, wenn man ihn ertappte.

Einen Todesfall zu fingieren, selbst eine nicht genehmigte Hinrichtung durchzuführen, war heikel. Die Hülsenmeister hatten ihre eigenen, spezifischen Aufzeichnungspflichten. Falls es Ritser nicht sehr schlau anstellte, würde es Hinweise geben. »Hör, Floria. Es gibt Wege, wie ich das überprüfen kann. Du könntest Recht haben, was Luan betrifft, aber so oder so werden wir die Wahrheit herausfinden. Und wenn du Recht hast — nun, es ist ausgeschlossen, dass Tomas solchen Missbrauch duldet. Er braucht die Mitarbeit aller von der Dschöng Ho, oder keiner von uns hat eine Chance.«

Floria schaute sie ernst an, dann streckte sie die Arme aus und umarmte sie fest. Qiwi fühlte das Zittern, das durch ihren Körper lief, doch sie weinte nicht. Nach einer Weile sagte Floria: »Danke. Danke. Diese letzte Megasek habe ich mich so gefürchtet… so geschämt.«

»Geschämt?«

»Ich liebe Luan, aber der Fokus hat eine Fremde aus ihr gemacht. Ich hätte Mord und Totschlag schreien müssen, als ich hörte, dass sie nicht mehr da war. Zum Teufel, ich hätte mich beschweren müssen, als ich Brughel mit ihr sah. Aber ich hatte Angst um mich selbst. Jetzt…« Floria lockerte ihren Griff und betrachtete Qiwi mit einem unsicheren Lächeln. »Jetzt habe ich vielleicht noch jemanden in Gefahr gebracht. Aber du hast wenigstens eine Chance… und du weißt, es kann sein, dass sie sogar jetzt noch am Leben ist, Qiwi. Wenn wir sie schnell genug finden können.«

Qiwi hob die Hand. »Vielleicht, vielleicht. Sehen wir, was ich herausfinden kann.«

»Ja.« Sie tranken den Tee aus, sprachen alles durch, woran sich Floria über ihre Schwester erinnern konnte und was sie gesehen hatte. Sie tat jetzt ihr Möglichstes, ruhig zu wirken, doch Erleichterung und Nervosität ließen ihre Worte etwas zu schnell kommen, ihre Gesten etwas zu weit ausholen.

Qiwi half ihr, die Bonsaikugel und ihre hölzerne Halterung in Klammern unter der Hauptleuchte des Raumes zu befestigen. »Ich kann dir noch eine Menge Holz beschaffen. Gonle möchte wirklich, wirklich, dass du die Herstellung von Meta-Krylaten programmierst. Vielleicht möchtest du dein Zuhause mit poliertem Holz täfeln, wie es die Kapitäne früher mit ihren Innenkabinen gemacht haben.«

Floria schaute sich in ihrem kleinen Raum um und spielte mit. »Könnte ich wirklich. Sag ihr, vielleicht können wir ein Geschäft machen.«

Und dann stand Qiwi an der inneren Schleusentür und zog ihren Helm herunter. Für einen Augenblick stand wieder die Angst in Florias Gesicht. »Sieh dich vor, Qiwi.«

»Mach ich.«


Qiwi flog mit ihrem Taxi die restlichen Haltepunkte ab, inspizierte den Felshaufen, übermittelte Probleme und Veränderungen an das Blitzkopf-Netz. Unterdessen raste ihr Denken beängstigende Korridore entlang. Es war nur gut, dass ihr diese Zeit zum Nachdenken blieb. Wenn Floria Recht hatte, dann konnte es sogar mit Tomas an ihrer Seite sehr gefährlich werden. Ritser hatte die Hände einfach in zu vielen Dingen. Wenn er den Kälteschlaf sabotierte oder Sterbelisten fälschte, dann waren große Teile von Tomas’ Netz unterwandert worden.

Argwöhnt Ritser, dass ich es weiß? Qiwi glitt die Schlucht entlang, die Diamant Drei von Diamant Vier trennte. Arachnas blaues Licht schien direkt von hinten und erhellte die Höhlen, die die rauen Berührungsflächen der Blöcke bildeten. Ein Teil des Wasser-Klebstoffs sublimierte. Die Sublimation war zu gering, um vom Sensorraster erfasst zu werden, doch wenn sie mit dem Gesicht nur ein paar Meter von der Oberfläche entfernt schwebte, konnte sie es sehen. Sogar während sie das Problem weitermeldete, wandte sich ein Teil ihres Bewusstseins der tödlicheren Frage zu: Floria war klug genug, um ihre kleine Hütte sauber zu halten, sogar die Außenseite. Und Qiwi war sehr sorgsam mit ihrem Anzug. Tomas hatte ihr erlaubt, alle Wanzen daran auszuschalten, offizielle wie verborgene. Im Netz war es etwas anderes. Wenn Ritser tat, was Floria glaubte, dann überwachte er höchstwahrscheinlich sogar die Kommunikation in der Hülse. Es würde heikel sein, irgendetwas zu entdecken, ohne ihn zu alarmieren.

Also sei sehr, sehr vorsichtig. Für alles, was sie jetzt tat, brauchte sie einen Vorwand. Ah. Die Personalstudien, zu der sie und Ezr eingeteilt waren. Während sie von ihrer Inspektion des Felshaufens zurückflog, würde es plausibel sein, wenn sie daran weiterarbeitete. Sie setzte einen Anruf niedriger Priorität an Ezr ab und bat ihn um eine Besprechung, dann lud sie einen großen Block der Wach- und Personal-Datenbank herunter. Die Aufzeichnungen über Luan würden da drin sein, doch jetzt waren sie im lokalen Cache, und ihre Prozessoren waren mit Tomas’ eigenen Sicherheitsroutinen abgeschirmt.

Sie lud die Bio über Luan Peres. Ja, da war Tod im Kälteschlaf gemeldet worden. Qiwi überflog den Text. Es gab eine Menge Jargon, Mutmaßungen über die Ursachen des technischen Versagens. Sie konnte der Erörterung mehr oder weniger folgen, obwohl es nach den blühenden Übertreibungen eines schwafelnden Blitzkopfes klang, die man vielleicht bekam, wenn man einen Fokussierten aufforderte, ein glaubhaftes Versagen zu erfinden.

Das Taxi schwebte aus dem Schatten des Felshaufens heraus, und das Sonnenlicht spülte das ruhige Blau des Arachnalichtes weg. Die Sonnenseite des Felshaufens war nacktes Gestein, Graphit auf Diamant. Qiwi dämpfte das Bild und wandte sich wieder dem Bericht über Luan zu. Es war fast ein sauberer Bericht. Er hätte sie vielleicht getäuscht, wenn sie nicht misstrauisch gewesen wäre oder wenn sie nicht alle Anforderungen einer Aufsteiger-Dokumentation gekannt hätte. Wo waren die dritte und vierte Gegenprobe zur Autopsie? Reynolt verlangte immer, dass ihre Blitzer das taten; das bisschen Flexibilität, was sie besaß, verlor die Frau vollends, wenn es um Todesfälle bei den Blitzköpfen ging.

Der Bericht war gefälscht. Tomas würde das verstehen, sobald sie ihn darauf hinwies.

Ein Läuten erklang in ihrem Ohr. »Ezr, hallo.« Verdammt. Ihn anzurufen, war nur Tarnung gewesen, ein Vorwand, einen großen Block herunterzuladen und sich die Aufzeichnungen über Luan anzusehen. Doch nun war er da. Einen Augenblick lang schien er neben ihr im Taxi zu sitzen. Dann flackerte das Bild, als ihre Datenbrille erkannte, dass sie mit der Illusion nicht zurechtkam, und sich entschloss, ihn in einer Pseudo-Darstellung in unveränderlicher Position abzubilden. Hinter ihm lagen die blaugrünen Wände der Obergeschosse von Hammerfest. Er war zu Besuch bei Trixia, natürlich.

Das Bild genügte vollauf, um die Ungeduld auf seinem Gesicht zu zeigen. »Ich habe beschlossen, sofort zurückzurufen. Du weißt, dass ich in sechzig Kilosek von Wache gehe.«

»Ja, tut mir Leid, dass ich dich behellige. Ich habe mir die Personaldaten angesehen. Für diese Sache im Planungskomitee, die uns beiden anhängt? Jedenfalls bin ich auf eine Frage gestoßen.« Ihr Denken eilte ihren Worten voraus und suchte fieberhaft nach einem Thema, das den Anruf rechtfertigen würde. Komisch, wie der geringste Täuschungsversuch das Leben jedes Mal komplizierter zu machen schien. Sie stolperte ein paar Sätze lang einher und kam schließlich auf eine wirklich dumme Frage über die Mischung von Spezialisten.

Ezr schaute sie jetzt ein wenig sonderbar an. Er zuckte die Achseln. »Du fragst nach dem Ende des Exils, Qiwi. Wer weiß, was wir brauchen werden, wenn die Spinnen zum Kontakt bereit sind. Ich dachte, wir würden dann alle Fachgebiete aus dem Kälteschlaf holen und glatt durchziehen.«

»Natürlich, das ist der Plan, aber es gibt Einzelheiten…« — Qiwi schlängelte sich zur Glaubwürdigkeit durch. Die Hauptsache war, einfach das Gespräch zu beenden — »also werde ich darüber noch etwas nachdenken. Lass uns ein richtiges Treffen haben, wenn du aus dem Kälteschlaf zurückkommst.«

Ezr verzog das Gesicht. »Das wird eine Weile dauern. Ich bin für fünfzig Megasekunden weg.« Den größten Teil von zwei Jahren.

»Was?« Das war mehr als das Vierfache seiner üblichen Freiwache.

»Du weißt, neue Gesichter und überhaupt.« Es gab Sektionen in seiner Wachgruppe, die nicht viel Zeit bekommen hatten. Tomas und das Verwaltungskomitee — einschließlich Qiwi und Ezr! — waren zu der Ansicht gelangt, dass jeder Zeit zur praktischen Arbeit bekommen und an den üblichen Trainingskursen teilnehmen sollte.

»Du fängst ein bisschen früh an.« Und 50 Megasekunden war länger, als sie erwartet hatte.

»Na ja, irgendwo muss man anfangen.« Er sah von den Videokamera weg. Zu Trixia? Als er wieder herblickte, war sein Ton weniger ungeduldig, aber irgendwie dringlicher. »Schau, Qiwi. Ich werde ganze große fünfzig auf Eis liegen, und selbst danach werde ich eine Zeit lang wenig Dienst haben.« Er hob die Hand, um Einwänden zuvorzukommen. »Ich beklage mich nicht! Ich war selber an der Entscheidung beteiligt… Aber Trixia wird die ganze Zeit Wache haben. Das ist länger, als sie jemals allein gewesen ist. Es wird niemand dasein, der für sie eintreten kann.«

Qiwi wünschte, sie könnte die Hand ausstrecken und ihn trösten. »Niemand wird ihr Böses antun, Ezr.«

»Ja doch, ich weiß. Dafür ist sie zu wertvoll. Ganz wie dein Vater.« Etwas flackerte in seinen Augen, doch es war nicht der übliche Zorn. Der arme Ezr bat sie inständig. »Sie werden ihren Körper in Gang halten, sie werden sie einigermaßen sauber halten. Aber ich möchte nicht, dass sie noch mehr Mühe bekommt, als sie jetzt schon hat. Hab ein Auge auf sie, Qiwi. Du hast wirkliche Macht, zumindest über Kroppzeug wie Trud Silipan.«

Es war das erste Mal, dass Ezr sie wirklich um Hilfe bat.

»Ich werde auf sie aufpassen, Ezr«, sagte Qiwi leise. »Ich versprech’s.«

Nachdem er die Verbindung beendet hatte, saß Qiwi ein paar Sekunden lang reglos da. Seltsam, dass ein Telefongespräch, das sich zufällig ergeben hatte und planlos gelaufen war, solchen Eindruck machte. Doch Ezr hatte schon immer solche Wirkung auf sie gehabt. Als sie dreizehn war, war ihr Ezr Vinh als der wunderbarste Mann im Weltall erschienen — und die einzige Art, seine Aufmerksamkeit zu erheischen, war, ihm auf die Nerven zu gehen. Derlei Teenager-Schwärmereien müssten sich doch auswachsen, oder? Beiläufig fragte sie sich, ob das Diem-Massaker irgendwie ihre Seele habe verkümmern lassen, ihre Zuneigungen ein für alle Mal so festgelegt, wie sie in den letzten unschuldigen Tagen vor all dem Tod waren… Aus welchem Grund auch immer, es war ein gutes Gefühl, dass sie etwas für ihn tun konnte.

Vielleicht war Verfolgungswahn ansteckend. Luan Peres tot. Jetzt Ezr für noch längere Zeit auf Eis, als sie geplant hatten. Ich möchtewissen, wer wirklich diese Änderung des Wachrhythmus festgelegt hat. Qiwi schaute nochmals durch ihren Cache. Die Änderung des Zeitplans kam offiziell von Wachverwalter-Komitee… und unterschrieben hatte es Ritser Brughel. Das kam öfters vor; der eine oder der andere Hülsenmeister musste alle solchen Änderungen unterschreiben.

Qiwis Taxi stieg weiter langsam höher. Aus dieser Entfernung war der Felshaufen ein gezacktes Wirrwarr, Diamant Zwei im Sonnenlicht, der Glanz überstrahlte sogar die hellsten Sterne. Es hätte eine Szene aus einer Wildnis sein können, nur dass seitlich das Dschöng-Ho-Temp leuchtete. Mit Sichtverstärkung konnte Qiwi die Dutzende von Lagerhäusern des L1-Systems erkennen. Unten im Schatten des Felshaufens lagen Hammerfest und die Raffinerie und das Arsenal bei L1-A. Im Raum darum kreisten das Temp, die Lagerhäuser, die ruinierten und halb ruinierten Sternenschiffe, die sie alle hergebracht hatten. Qiwi benutzte sie als eine Art sanfte Unterstützung für die Elektrotriebwerke. Es war ein gut gewartetes dynamisches System, obwohl es im Vergleich zu der engen Vertäuung des frühen Exils wirklich chaotisch aussah.

Qiwi nahm die Anordnung mit geübtem Blick auf, wenngleich sie mit den Gedanken bei den viel heimtückischeren Problemen der politischen Intrige war. Ritser Brughels privates Reich, die alte DHS Unsichtbare Hand, lag vom Felshaufen gesehen weiter draußen, keine zweitausend Meter von ihrem Taxi entfernt; sie würde keine fünfzehnhundert Meter an ihrem Triebwerkstrichter vorbeifliegen. Hmm. Was, wenn Ritser Luan Peres entführt hätte? Das wäre sein bei weitem kühnster Zug gegen Tomas. Und vielleicht ist das nicht alles. Wenn Ritser damit durchkam, konnte es weitere Tote geben. Ezr.

Qiwi holte tief Luft. Eins nach dem anderen. Also: Angenommen, Floria hat Recht und Luan lebt noch als Spielzeug in Ritsers privatem Bereich? Es gab Grenzen der Geschwindigkeit, mit der Tomas gegen einen anderen Hülsenmeister vorgehen konnte. Wenn sie sich beschwerte und es auch nur die kleinste Verzögerung gab, könnte Luan wirklich sterben — und alle Beweise konnten einfach… verschwinden.

Qiwi drehte sich in ihrem Sitz, verschaffte sich einen Blick mit bloßem Auge auf die Hand. Sie war jetzt keine siebzehnhundert Meter mehr von ihr entfernt. Es würde vielleicht Tage dauern, bis sie eine derart günstige Gelegenheit wieder herbeiführen konnte.

Die gedrungene Form des Sternenschiffs war so nahe, dass sie die notdürftigen Reparatur-Schweißnähte sah und die Blasen, wo Röntgenstrahl-Feuer den Feldprojektor-Ring des Staustrahltriebwerks getroffen hatte. Qiwi kannte den Aufbau der Unsichtbaren Hand so gut wie sonst jemand bei L1; sie hatte in den Jahren der Reise hierher auf diesem Schiff gelebt, hatte es als ihr Anschauungsstück für jedes Schiffsthema in ihrer Ausbildung verwendet. Sie kannte seine blinden Flecken… Vor allem hatte sie Zugangsrechte auf Hülsenmeister-Niveau. Das war auch so eine Sache, die ihr Tomas anvertraut hatte. Bisher hatte sie noch nie derart… hm… provokativ davon Gebrauch gemacht, aber…

Qiwis Hände bewegten sich, noch ehe sie ihren Plan verstandesmäßig erfasst hatte. Sie schaltete ihre persönliche verschlüsselte Verbindung zu Tomas ein und sprach rasch, umriss, was sie erfahren hatte, welchen Verdacht sie hatte — und was sie vorhatte. Sie setzte die Botschaft ab, Zustellung beim Tod des Absenders. Jetzt würde es Tomas Nau jedenfalls erfahren, und sie hätte etwas in der Hand, womit sie Ritser drohen konnte, wenn er sie erwischte.

Sechzehnhundert Meter von der Unsichtbaren Hand entfernt. Qiwi zog den Helm herunter und ließ die Luft aus dem Taxi absaugen. Ihre Intuition und ihre Datenbrille zeigten übereinstimmend den Sprungkurs, den sie einschlagen musste, die Flugbahn, die sie den Trichter der Hand hinab führen würde, immer im blinden Fleck des Schiffs. Sie ließ die Luke des Taxis aufspringen, wartete, bis ihr akrobatischer Instinkt los sagte — und sprang in die Leere.


Qiwi arbeitete sich im Fingergang den leeren Frachtraum der Hand entlang. Mit einer Kombination von Tomas’ Autorität und ihrem speziellen Wissen war sie bis zum Wohnbereich gelangt, ohne einen sichtbaren Alarm auszulösen. Alle paar Meter legte Qiwi das Ohr an die Wand und lauschte einfach. Sie war so nahe an der Gegend der Wachhabenden, dass sie andere Leute hören konnte. Sie klangen sehr gewöhnlich, keine plötzlichen Bewegungen, keine besorgten Worte… Hmm. Das klang, als ob jemand weinte.

Qiwi bewegte sich schneller, empfand etwas wie die vibrierende Wut ihrer lange zurückliegenden Konfrontation mit Ritser Brughel — nur dass sie jetzt klüger war und dementsprechend mehr Angst hatte. Während ihrer gemeinsamen Wachen seit jenem Zwischenfall im Park hatte sie oft Ritsers Blick auf sich gespürt. Sie hatte immer erwartet, dass es noch eine Konfrontation geben würde. Ebensosehr, wie sie es tat, um das Andenken ihrer Mutter zu ehren, sollte Qiwis fanatischer Sport — all die Kampfsportarten — zur Absicherung gegen Ritser und seinen Stahlstock dienen. Das wird mir eine Menge nützen, wenn er mich mit einer Drahtpistole umlegt. Doch Ritser war so ein Idiot, er würde sie nie auf solche Art umbringen; er würde es auskosten wollen. Wenn es heute dazu kam, würde sie Zeit haben, ihm mit der Botschaft zu drohen, die sie Tomas hinterlassen hatte. Sie zwang die Furcht nieder und bewegte sich weiter auf das Weinen zu.

Qiwi schwebte über einer Eingangsluke. Plötzlich waren ihre Arme und Schultern angespannt. Seltsame, zufällige Gedanken huschten durch ihren Geist. Ich werde mich erinnern. Ich werde mich erinnern. Verrückt.

Hinter diesem Punkt würde ihre einzige Unsichtbarkeit in ihrem Hülsenmeister-Schlüssel bestehen. Höchstwahrscheinlich würde das nicht genügen. Aber ich brauche nur ein paar Sekunden. Qiwi überprüfte ein letztes Mal ihre Aufzeichnungen und die Datenverbindung… und schlüpfte durch die Luke in einen Mannschaftskorridor.

Herrgott. Einen Augenblick lang starrte Qiwi einfach nur erstaunt. Der Korridor hatte die Größe, an die sie sich erinnerte. Zehn Meter weiter bog er nach rechts zum Wohnbereich des Kapitäns ab. Doch Ritser hatte an alle vier Wände Bildtapete aufgetragen, und die Bilder zeigten eine Art wirbelndes Rosa. Die Luft stank moschusartig nach Tier. Das war ein anderes Universum als die Unsichtbare Hand, die sie gekannt hatte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und bewegte sich langsam den Gang entlang. Jetzt war vor ihr Musik, mindestens das bumm bumm bumm von Schlagzeug. Jemand sang… scharfe, bellende Schreie im Rhythmus der Schläge.

Als hätten sie ein Eigenleben, verkrampften sich ihre Schultern in dem schmerzhaften Verlangen, sich von der Wand abzustoßen und zurückzurasen, wo sie hergekommen war. Brauche ich noch mehr Beweise? Ja. Nur ein Blick auf das Datensystem mit einem lokalen Prioritätscode zum Überwinden der Sperren. Das würde mehr bedeuten als noch so viele Geschichten über Ritsers Bilder- und Musikgeschmack.

Tür für Tür bewegte sie sich den Korridor entlang. Das waren Wohnungen für Stabsoffiziere, doch auf dem Flug von Triland hatte die Wachmannschaft sie benutzt. Sie hatte drei Jahre lang im zweitletzten Zimmer gewohnt — und sie wollte wirklich nicht wissen, wie es jetzt aussah. Der Planungsraum des Kapitäns lag gleich hinter der Biegung. Sie hielt ihren Schlüssel vor die Luke, und die Tür glitt auf. Drinnen… war kein Planungsraum. Es sah aus wie eine Kreuzung zwischen einer Turnhalle und einem Schlafzimmer. Und wieder waren die Wände mit Bildtapete bedeckt. Qiwi zog sich über ein seltsames, verhülltes Regal und suchte sich eine Stelle außer Sicht der Tür. Sie berührte ihre Datenbrille, bat um eine lokale Prioritätsverbindung zum Netz des Schiffes. Es gab eine Pause, während ihr Aufenthaltsort und die Zugangsrechte geprüft wurden, und dann schaute sie auf Namen und Daten und Bilder. Ja! Ritser betrieb sein eigenes kleines Kälteschlaf-Geschäft direkt hier auf der Unsichtbaren Hand. Luan Peres war verzeichnet… und hier war sie als lebend und auf Wache registriert!

Das reicht; Zeit, aus diesem Irrenhaus wegzukommen. Doch Qiwi zögerte noch einen Moment. Es gab hier so viele Namen, vertraute Namen und Gesichter von früher. Kleine Todeszeichen standen neben jedem Bild. Sie war ein Kind gewesen, als sie all diese Menschen zum letzten Mal gesehen hatte, aber nicht so… diese Gesichter waren auf unterschiedliche Art ausdruckslos, schlafend, mit schrecklichen Wunden oder Verbrennungen. Die Lebenden, die Toten, die Geschlagenen, die heftig Widerstand Leistenden. Das ist aus der Zeit vor Jimmy Diem. Sie wusste, dass es Verhöre gegeben hatte, einen Zeitraum von vielen Kilosekunden zwischen dem Kampf und der Wiederaufnahme der Wachen, aber… Qiwi spürte ein taubes Entsetzen aus der Magengrube aufsteigen. Sie blätterte durch die Namen. Kira Pen Lisolet. Mama. Ein zerschlagenes Gesicht, die Augen starrten sie an. Was hat Ritser dir angetan? Wie konnte Tomas davon nichts wissen? Sie folgte dem Datenlink von diesem Bild eigentlich nicht bewusst, doch plötzlich zeigte ihre Datenbrille ein Eintauch-Video. Der Raum war derselbe, aber angefüllt mit den Bildern und Klängen aus vergangener Zeit. Wie von der anderen Seite des Regals kam ein keuchendes und stöhnendes Geräusch. Qiwi glitt zur Seite, und das Bild passte sich fast perfekt an. Hinter dem Regal stand sie Auge und Auge mit… Tomas Nau. Einem jüngeren Tomas Nau. Außer Sicht, hinter der Kante des Regals, schien er die Hüften vor und zurück zu bewegen. Sein Gesicht zeigte die Art ekstatisches Entzücken, das Qiwi in diesem Gesicht so viele Male gesehen hatte, den Ausdruck, den er hatte, wenn sie endlich allein sein konnten und er in sie kommen konnte. Doch dieser Tomas Nau früherer Jahre hielt ein kleines, rot beflecktes Messer. Er beugte sich vor, außer Sicht, über jemanden, aus dessen Stöhnen ein schrilles Schreien wurde. Qiwi zog sich über den Rand des Regals und schaute hinab auf die wahre Vergangenheit, auf die Frau, die Tomas Nau zerschnitt.

»Mama!« Die Vergangenheit nahm ihren Schrei nicht wahr, Nau machte weiter. Qiwi krümmte sich zusammen, spie Erbrochenes über das Regal und dahinter. Sie sah sie nicht mehr, aber die Geräusche der Vergangenheit erklangen weiter, als kämen sie direkt von der anderen Seite des Regals. Noch während sich ihr Magen leerte, riss sie sich die Datenbrille vom Gesicht, schleuderte sie wild weg. Sie würgte und erstickte fast; zitterndes Entsetzen beherrschte ihre Reflexe.

Das Licht änderte sich, als die Tür des Raumes aufging. Da waren Stimmen. Stimmen der Gegenwart. »Ja, sie ist hier drin, Marli.«

»Brr. Was für eine Schweinerei.« Geräusche der beiden Männer, wie sie den Raum betraten, sich Qiwis Versteck näherten. Keines Gedankens fähig, zog sie sich zurück, schwebte zwischen den albtraumhaften Vorrichtungen herab und stützte sich mit dem Rücken gegen den Fußboden.

Ein Gesicht glitt über sie hin.

»Habs…«

Qiwi explodierte nach oben, ihre Handkante verfehlte knapp den Hals des anderen. Sie krachte gegen die Trennwand hinter ihm. Schmerz schoss ihren Arm entlang zu ihr zurück.

Sie fühlte den leichten Einstich von Lähmpfeilen. Sie drehte sich um, versuchte, sich dem Angreifer entgegenzuschnellen, doch ihre Beine waren schon tot. Die beiden warteten vorsichtig eine Sekunde lang. Dann grinste der kleinere, Marli, und holte ihren sich langsam drehenden Körper herunter. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie konnte kaum atmen. Doch es gab noch Empfindung. Sie fühlte, wie Marli sie an sich zog, mit den Händen über ihre Brüste fuhr. »Sie ist sichergestellt, keine Sorge, Tung.« Marli lachte. »Oder vielleicht solltest du dir Sorgen machen. Sieh dir das Loch an, das sie in die Wand geschlagen hat. Vier Zentimeter weiter, und du würdest durch den Nacken atmen!«

»Eiter.« Tungs Stimme klang mürrisch.

»Ihr habt sie? Gut.« Es war Tomas’ Stimme, von der Tür her. Marli ließ abrupt ihre Brüste los. Er schob sie um die Ausrüstung herum ins Freie.

Qiwi konnte den Kopf nicht drehen. Sie sah nur, was sich vor ihren Augen abspielte. Tomas, so ruhig wie immer. Ruhig wie immer. Er schaute zu, wie sie vorbeikam, nickte Marli zu. Qiwi versuchte zu schreien, doch kein Laut kam heraus. Tomas wird mich umbringen, wie all die anderen… Doch wenn er es nicht tut? Wenn er es nicht tut, wird nichts auf der Welt ihn retten.

Tomas wandte sich um. Hinter ihm war Ritser Brughel, zerzaust und halbnackt. »Ritser, das ist nicht zu entschuldigen. Wenn ich ihr Zugangscodes gebe, so doch nur zu dem Zweck, dass sie leicht und vorhersehbar gefangen genommen werden kann. Sie wussten, dass sie kommt, und waren völlig unvorbereitet.«

Brughels Stimme klang quengelnd. »Hol’s die Seuche. Sie hat es nie so schnell mitgekriegt, nachdem sie zuletzt blankgeputzt worden ist. Und ich hatte keine dreihundert Sekunden von Ihrer ersten Warnung bis zu ihrer Ankunft hier. Das ist noch nie vorgekommen.«

Tomas starrte ihn wütend an. »Das Zweite war einfach Pech — etwas, womit Sie rechnen mussten. Das Erste…« Er schaute wieder zu Qiwi, und seine Wut wich der Nachdenklichkeit. »Diesmal hat etwas Unerwartetes sie in Gang gesetzt. Lassen Sie Kal nachsehen, mit wem sie gesprochen hat.«

Er winkte Marli und Tung. »Steckt sie in eine Kiste und schafft sie nach Hammerfest. Sagt Anne, ich will das Übliche.«

»Wie viel Zeit soll von den Erinnerungen weggeschnitten werden, Herr Hülsenmeister?«

»Darüber rede ich selber mit Anne. Ich muss ein paar Aufzeichnungen durchsehen.«

Qiwi erhaschte einen Blick auf den Korridor, auf Hände, die sie wegzogen. Wie oft ist das schon geschehen? Wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte keinen Muskel regen. Innerlich schrie sie. Diesmal werde ich mich erinnern. Ich werde mich erinnern!

Zweiundzwanzig

Pham folgte Trud Silipan den Zentralturm von Hammerfest hinauf, zum Dachgeschoss. In gewissem Sinne war das der Moment, auf den er mit Megasekunden beiläufiger Schmeicheleien hingearbeitet hatte — ein Vorwand, ins Innere des Fokus-Systems zu gelangen, mehr als die Ergebnisse zu sehen. Zweifellos hätte er früher hierher gelangen können — Silipan hatte ihm tatsächlich mehr als einmal angeboten, ihn herumzuführen. Im Laufe der Wachen hatten sie einander kennen gelernt, Pham hatte jede Menge dumme Behauptungen über Fokus geäußert, hatte auf seine Ansichten mit Silipan und Xin um genug Gutschriften gewettet; eine erklärliche Einladung war unvermeidlich. Doch es gab jede Menge Zeit, und Pham hatte nie ganz die Tarnung gehabt, die er sich wünschte. Mach dir nichts vor. Tomas Nau die Orter zu servieren, hat dich in größere Gefahr gebracht ab alles bisher.

»Jetzt wirst du endlich hinter die Kulissen schauen können, Pham, alter Junge. Danach wirst du hoffentlich über ein paar von deinen verrückten Theorien den Mund halten.« Silipan grinste; offensichtlich hatte auch er sich auf diesen Augenblick gefreut.

Sie glitten aufwärts durch enge Tunnel, die sich immer wieder verzweigten. Der Ort war ein Kaninchenbau.

Pham kabbelte sich sogar mit dem rasch dahingleitenden Silipan. »Was soll da dran sein? Ihr Aufsteiger könnt also aus Menschen automatische Geräte machen. Ja und? Sogar ein Blitzkopf kann Zahlen nicht schneller als ein-, zweimal pro Sekunde multiplizieren. Maschinen machen das Billionen Mal schneller. Mit Blitzköpfen hat man also das Vergnügen, Leute herumkommandieren zu können — und wozu? Die langsamste, beschissenste Automatik, seit die Menschheit schreiben gelernt hat.«

»Ja doch, ja. Das sagst du seit Jahren. Aber du hast trotzdem Unrecht.« Er streckte einen Fuß aus und erwischte mit der Schuhspitze einen Haltepunkt. »Red im Gruppenraum leise, ja?« Sie waren vor einer richtigen Tür, nicht einem der kleinen Durchschlupfe von weiter unten. Silipan ließ mit einer Handbewegung die Tür sich öffnen, und sie glitten hindurch. Phams erster Eindruck war der von Körpergeruch und zusammengedrängten Menschen.

»Sie riechen ziemlich streng, was? Aber sie sind gesund. Dafür sorge ich.« Er sprach mit dem Stolz des Technikers.

Da war Reihe um Reihe von Mikro-g-Sitzen, dicht in einem dreidimensionalen Gitter angeordnet, das unter jeder höheren Schwerkraft unmöglich gewesen wäre. Die meisten von den Sitzen waren besetzt, mit Männern und Frauen aller Altersstufen, in Grau gekleidet. Die meisten benutzten etwas, das wie hochwertige Dschöng-Ho-Datenbrillen aussah. Das hatte er nicht erwartet. »Ich dachte, ihr haltet sie isoliert«, in kleinen Zellen, wie sie Ezr Vinh in mehr als einer tränenfeuchten Sitzung im Biersalon beschrieben hatte.

»Manche ja. Es hängt von der Verwendung ab.« Er zeigte zu den Raumwärtern, zwei Männer, die wie Krankenpfleger gekleidet waren. »Das hier ist viel billiger. Zwei Burschen kommen mit all den Fällen zurecht, wenn wer aufs Töpfchen muss, und mit den üblichen Kämpfen.«

»Kämpfe?«

»Berufliche Meinungsverschiedenheiten.« Silipan kicherte. »Eigentlich Aufwallungen. Sie sind nur gefährlich, wenn sie das Gleichgewicht der Geistfäule stören.«

Sie schwebten zwischen den dicht gepackten Reihen diagonal aufwärts. Manche von den Datenbrillen flackerten durchsichtig, und er sah, wie sich die Augen der Blitzköpfe bewegten. Doch niemand schien Pham und Trud wahrzunehmen; ihre Blicke gingen anderswohin.

Aus allen Richtungen drang leises Gemurmel, die Gesamtheit der Stimmen aller Blitzköpfe im Raum. Eine Menge Leute redeten, alle in kurzen Ausbrüchen von Wörtern — Nese, aber trotzdem Unsinn. Die Gesamtwirkung war ein fast hypnotischer Gesang.

Die Blitzköpfe tippten pausenlos auf klingenden Tastaturen. Silipan zeigte mit besonderem Stolz auf ihre Hände. »Schau, nicht einer von fünf hat einen Gelenkschaden; wir können es uns nicht leisten, Leute einzubüßen. Wir haben so wenige, und Reynolt kann die Geistfäule nicht völlig unter Kontrolle halten. Aber es ist fast ein Jahr her, dass wir einen gewöhnlichen medizinischen Todesfall hatten — und der war fast unvermeidlich. Irgendwie hatte der Blitzer gleich nach einer ergebnislosen Untersuchung einen Darmdurchbruch gekriegt. Er gehörte zu einem isolierten Fachgebiet. Seine Leistung ging zurück, aber dass es ein Problem gab, merkten wir erst, als der Gestank unerträglich wurde.« Der Sklave war also von innen her gestorben, zu sehr gefesselt, um seinen Schmerz herauszuschreien, zu vernachlässigt, als dass jemand anders etwas gemerkt hätte. Trud Silipans Fürsorge galt nur im Großen und Ganzen.

Sie erreichten die Raumdecke, schauten hinab auf das Gitter murmelnder Menschenwesen. »Also in einer Beziehung haben Sie Recht, Herr Waffenführer Trinli. Wenn diese Leute Rechenaufgaben lösen oder Zeichenketten sortieren würden, wäre diese Operation ein Witz. Der kleinste Prozessor in einem Fingerring kann derlei eine Milliarde Mal schneller als jeder Mensch. Aber du hörst die Blitzköpfe reden?«

»Ja, aber es ist sinnloses Gebrabbel.«

»Es ist interner Jargon; sie verfallen da sehr schnell hinein, wenn wir sie in Gruppen arbeiten lassen. Aber der springende Punkt ist, sie führen keine Maschinenfunktionen der unteren Ebenen aus. Sie benutzen unsere Computerressourcen. Schau, für uns Aufsteiger sind die Blitzköpfe die nächste Systemschicht oberhalb der Software. Sie können menschliche Intelligenz einsetzen, aber mit der Nachdrücklichkeit und Geduld einer Maschine. Und aus diesem Grund sind auch unfokussierte Fachleute — vor allem Techniker wie ich — wichtig. Fokus ist nutzlos, wenn es nicht normale Leute gibt, die ihn lenken und das richtige Gleichgewicht zwischen Hardware und Software und Fokus finden. Wenn es richtig gemacht wird, übertrifft die Kombination total alles, was ihr von der Dschöng Ho jemals erreicht habt.«

Pham hatte das längst verstanden, doch es zu leugnen, lockte aus Aufsteigern wie Trud Silipan immer neue detaillierte Erklärungen hervor. »Was also macht diese Gruppe eigentlich?«

»Schauen wir.« Er bedeutete Pham, seine Datenbrille aufzusetzen. »Ah, siehst du? Wir haben sie in drei Gruppen unterteilt. Das obere Drittel ist die Schicht zum mechanischen Abarbeiten allgemeiner Aufgaben, Blitzköpfe, die leicht umorientiert werden können. Sie sind großartig für Routinesachen wie direkte Anfragen. Das mittlere Drittel macht Programmierung. Als Gefechtsprogrammierer sollte dich das interessieren.« Er holte ein paar Abhängigkeits-Diagramme in die Datenbrille. Es war ein sinnloses Gewusel, riesige Blöcke ohne evolutionären Zusammenhang. »Das ist eine Revision eures eigenen Waffen-Zielsuchcodes.«

»Quatsch. Ich könnte so etwas niemals warten.«

»Nein, du nicht. Aber ein Programmierer-Verwalter — jemand wie Rita Liao — kann es, solange sie eine Gruppe von Blitzkopf-Programmierern hat. Sie lässt sie den Code neu ordnen und optimieren. Sie haben geschafft, was gewöhnliche Menschen schaffen könnten, wenn sie imstande wären, sich endlos zu konzentrieren. Zusammen mit guter Entwicklungs-Software haben diese Blitzer einen Programmcode erzeugt, der ungefähr halb so groß wie euer Original ist — und auf derselben Hardware fünfmal schneller. Sie haben auch Hunderte von Programmfehlern ausgemerzt.«

Einen Moment lang sagte Pham nichts. Er blätterte nur durch das Labyrinth der Diagramme. Pham hatte jahrelang an den Waffenprogrammen gebastelt. Gewiss gab es darin Fehler wie in jedem großen System. Aber der Waffencode war Gegenstand von jahrtausendelanger Arbeit gewesen, von ständigen Bemühungen, ihn zu optimieren und Fehler zu entfernen… Er nahm die Datenbrille ab und ließ den Blick über die aufgereihten Sklaven schweifen. Es ist solch ein schrecklicher Preis zu zahlen… für so wunderbare Ergebnisse.

Silipan kicherte. »Mach mir nichts vor, Trinli. Ich merke, dass du beeindruckt bist.«

»Na ja, wenn es funktioniert, dann bin ich beeindruckt. Und was macht die dritte Gruppe?«

Aber Silipan war schon wieder unterwegs zurück zum Eingang. »Ach, die.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung zu den Blitzköpfen rechts von ihm hin. »Reynolts anlaufendes Projekt. Wir gehen den Korpus von eurem Flottensystemcode durch und schauen nach Falltüren und so.«

Das war das fruchtlose Unterfangen, das die meisten paranoiden Systemadministratoren in Atem hielt, doch nach dem, was er eben gesehen hatte… fühlte sich Pham plötzlich nicht mehr so sicher. Wie viel Zeit bleibt mir, bis sie einige von meinen vor langer Zeit angebrachten Änderungen bemerken?

Sie verließen den Gruppenraum und machten sich auf den Rückweg den Korridor entlang. »Schau, Pham, du — ihr alle von der Dschöng Ho — ihr seid mit Scheuklappen aufgewachsen. Ihr wisst einfach, dass bestimmte Dinge unmöglich sind. Ich sehe die Klischees in eurer Literatur. ›Müll rein heißt Müll raus‹, ›Das Problem mit der Automatik ist, dass sie genau das tut, was man von ihr verlangt‹, ›Automatik kann nie wirklich schöpferisch sein‹. Die Menschheit hat solche Behauptungen Jahrtausende lang akzeptiert. Aber wir Aufsteiger haben sie widerlegt! Mit Blitzkopf-Unterstützung bekomme ich korrekte Leistungen bei mehrdeutiger Eingabe. Ich bekomme wirksame Übersetzungen in natürlicher Sprache. Ich bekomme Urteile von menschlicher Qualität als Teil der Automatik!«

Sie glitten mit etlichen Metern pro Sekunde abwärts; der Gegenverkehr war gerade spärlich. Das Licht am Grunde des Turms strahlte heller. »Ja, und was ist nun mit der Kreativität?« Das war etwas, worüber Trud mit Vorliebe dozierte.

»Sogar die, Pham. Na ja, natürlich nicht alle Arten von Kreativität. Wie gesagt, es besteht ein echter Bedarf an Verwaltern wie Rita und mir und an den Hülsenmeistern über uns. Aber du weißt Bescheid über wirklich schöpferische Menschen, die Künstler, die in euren Geschichtsbüchern landen? Fast immer sind es arme Schmalspur-Grübler, die nichts vom Leben haben. Er oder sie ist einfach total darauf fixiert, alles über ein einziges Thema zu lernen. Ein vernünftiger Mensch könnte es nicht rechtfertigen, Freunde und Familie einzubüßen, um sich so stark zu konzentrieren. Natürlich, der Lohn ist, dass der Grübler vielleicht etwas völlig Unerwartetes findet oder herstellt. Schau, auf diese Art ist ein wenig Fokus schon immer Teil der menschlichen Geschichte gewesen. Wir Aufsteiger haben dieses Opfer einfach institutionalisiert, sodass die ganze Gemeinschaft auf konzentrierte, organisierte Weise profitieren kann.«

Silipan streckte die Arme aus, berührte leicht die Wände zu beiden Seiten und bremste seinen Abstieg. Er blieb einen Moment zurück, bis auch Pham zu bremsen begann.

»Wie lange ist es bis zu deiner Verabredung mit Anne Reynolt?«, fragte Silipan.

»Gut eine Kilosekunde.«

»Gut, ich werde mich kurz fassen. Kann doch die Chefin nicht warten lassen.« Er lachte. Silipan schien für Anne Reynolt besonders wenig Respekt zu empfinden. Wenn sie unfähig wäre, wäre für Pham vieles einfacher…

Sie durchquerten eine Drucktür und kamen in einen Raum, der eine Krankenstation hätte sein können. Es gab ein paar Kälteschlaf-Särge; sie sahen so aus, als dienten sie kürzerem Aufenthalt zu medizinischen Zwecken. Hinter den Geräten zu sehen war eine andere Tür, diese trug ein spezielles Siegel des Hülsenmeisters. Trud warf einen nervösen Blick in diese Richtung und schaute nicht wieder hin.

»So. Hier ist der Ort, wo alles passiert, Pham. Die wirkliche Magie des Fokus.« Er zog Pham durch den Raum von der halb verdeckten Tür weg. Ein Techniker arbeitete neben der schlaffen Gestalt eines Blitzkopfes und manövrierte den Kopf des ›Patienten‹ in eins der großen Toroide, die den Raum beherrschten. Es hätten Bilddiagnose-Geräte sein können, obwohl sie noch klobiger aussahen als die meisten Apparate der Aufsteiger.

»Die Grundprinzipien kennst du schon, nicht wahr, Pham?«

»Klar.« Die waren während der ersten Wache nach der Ermordung Jimmy Diems sorgfältig erklärt worden. »Ihr habt dieses spezielle Virus, die Geistfäule; ihr habt uns alle infiziert.«

»Stimmt, stimmt. Aber das war eine militärische Operation. In den meisten Fällen ist die Fäule nicht durch die Hirnschranke gekommen. Doch wenn sie es tut… Du weißt Bescheid über Glia-Zellen? Davon hast du eigentlich viel mehr im Gehirn als Neuronen. Jedenfalls benutzt die Fäule die Glia-Zellen als eine Art Nährboden, infiziert sie fast alle. Nach vier Tagen oder so…«

»… ist man ein Blitzkopf?«

»Nein. Man hat das Rohmaterial für einen Blitzkopf; viele von der Dschöng Ho sind in diesem Zustand geblieben — unfokussiert, vollkommen gesund, aber mit der bleibend etablierten Infektion. Bei solchen Leuten liegt jede Nervenzelle im Hirn neben infizierten Zellen. Und jede von der Fäule befallene Zelle hat eine Auswahl von neuroaktiven Stoffen, die sie absondern kann. Dieser Bursche da…« Er wandte sich dem Techniker zu, der noch an dem im Koma liegenden Blitzkopf arbeitete. »Bil, weswegen ist der eigentlich hier?«

Bil Phuong zuckte die Achseln. »Er hat gekämpft. Al musste ihn lähmen. Dass die Geistfäule unkontrolliert ausbricht, ist ausgeschlossen, aber Reynolt möchte, dass seine Basal-fünf für eine Sequenz von…«

Die beiden wechselten Jargon. Pham blickte mit sorgfältigem Desinteresse auf den Blitzkopf. Egil Manhri. Egil war vor dem Flug der wortwitzigste Waffenführer gewesen. Doch jetzt… war er wahrscheinlich ein besserer Analytiker als je zuvor.

Trud nickt Phuong zu: »Hm. Ich verstehe nicht, wozu Herumpfuschen an Basal-fünf gut sein soll. Aber sie ist halt die Chefin, nicht wahr?« Er grinste dem anderen zu. »He, lass mich das mit dem machen, ja? Ich möchte es Pham zeigen.«

»Klar, wenn du den Empfang bestätigst.« Phuong machte ihnen den Weg frei und schaute leicht gelangweilt drein. Silipan glitt neben dem grau gestrichenen Toroid herab. Pham bemerkte, dass das Gerät getrennte Energiekabel hatte, jedes einen Zentimeter stark.

»Ist das eine Art Bilddiagnosegerät? Sieht aus wie steinalter Schrott.«

»Ha. Nicht direkt. Hilf mir, den Kopf dieses Burschen in die Halterung zu kriegen. Lass ihn nicht an die Seiten kommen…« Dann klang seine Stimme alarmiert. »Und um Himmels willen, gib Bil diesen Ring, den du trägst. Wenn du an der falschen Stelle stehst, reißen dir die Magneten in diesem Maschinchen den Finger ab.«

Selbst bei geringer Schwerkraft war es mühsam, den im Koma liegenden Egil Manhri zu manövrieren. Es war harte Arbeit, und die Gravitation des Felshaufens reichte gerade aus, um Egils Kopf auf die Unterseite des Lochs zu ziehen.

Trud trat von seinem Werk zurück und lächelte. »Alles fertig. Jetzt wirst du sehen, was Sache ist, Pham, mein Junge.« Er gab Befehle, und eine Art medizinisches Bild schwebte in der Luft zwischen ihnen, wohl eine Ansicht von Egils Kopf. Pham erkannte grobe anatomische Formen, doch das lag weit entfernt von allem, was er studiert hatte. »Mit dem Bild hast du Recht, Pham. Das ist gewöhnliche Magnetresonanz-Tomographie, alt wie die Zeit. Aber es genügt. Schau, die Basal-fünf-Harmonie wird hier erzeugt.« Ein Zeiger bewegte sich entlang einer komplizierten Kurve nahe der Oberfläche des Gehirns.

»Und jetzt kommt die hübsche Sache, die aus der Geistfäule mehr macht als nur eine neuropathische Kuriosität.« Eine Galaxis winziger glühender Punkte erschien in dem dreidimensionalen Bild. Sie leuchteten in allen Farben, obwohl die meisten rosa waren. Die Pünktchen bildeten Haufen und Bahnen, viele von ihnen flackerten in übereinstimmendem Rhythmus. »Du siehst die infizierten Glia-Zellen, zumindest die relevanten Gruppen.«

»Die Farben?«

»Die zeigen die gegenwärtige Drogenausscheidung je nach Typ… Also, was ich tun will…« — weitere Befehle, und Pham konnte den ersten Blick auf die Benutzeranleitung des Toroids werfen —, »ist, Ausstoßmenge und -frequenz entlang dieses Weges zu verändern.« Sein kleiner Zeiger glitt an einem der Lichtfäden entlang. Er grinste Pham an. »Und da ist unser Apparat mehr als ein Bildgerät. Schau, das Geistfäule-Virus produziert gewisse para- und diamagnetische Proteine, und die reagieren unterschiedlich auf Magnetfelder und lösen die Erzeugung spezifischer neuroaktiver Stoffe aus. Während ihr von der Dschöng Ho und die ganze übrige Menschheit den MRT nur als Beobachtungs-Gerätbenutzt, können wir ihn aktiv verwenden, um Änderungen vorzunehmen.« Er tippte auf seiner Tastatur; Pham hörte ein Knarren, als die supraleitenden Kabel sich voneinander wegspreizten. Egil zuckte ein paarmal. Trud streckte die Hand aus, um ihn zur Ruhe zu bringen. »Verdammt. Ich kriege keine Millimeterauflösung, wenn er zappelt.«

»Ich sehe keine Veränderung auf der Hirnkarte.«

»Kannst du auch nicht, bis ich den aktiven Modus abschalte. Man kann nicht gleichzeitig aufnehmen und modifizieren.« Er machte eine Pause, beobachtete die Schrittfolge im Anleitungsprogramm. »Fast fertig… Da! Gut, sehen wir uns die Änderungen an.« Es gab ein neues Bild. Und jetzt waren die glühenden Lichtfäden größtenteils blau und blinkten fieberhaft. »Es wird ein paar Sekunden dauern, bis es sich eingerenkt hat.« Er beobachtete beim Reden weiterhin das Modell. »Siehst du, Pham. Das ist es, was ich wirklich gut kann. Ich weiß nicht, womit du mich in deiner Kultur vergleichen könntest. Ich ähnle ein bisschen einem Programmierer, aber ich schreibe keinen Programmcode. Ich ähnle ein bisschen einem Neurologen, nur dass ich Ergebnisse bewirke. Ich denke, am ehesten gleiche ich einem Hardware-Techniker. Ich halte die Geräte in Gang — für alle weiter oben, die es sich zuschreiben.«

Trud runzelte die Stirn. »… Hä? Eiter.« Er schaute quer durch den Raum dorthin, wo der andere Aufsteiger arbeitete. »Bil, dieser Bursche hat immer noch eine niedrige Leptin-Fallrate.«

»Du hast das Feld abgeschaltet?«

»Natürlich. Basal-fünf müsste sich inzwischen wieder gefangen haben.«

Bil kam nicht herüber, doch anscheinend betrachtete er das Hirnmodell des Patienten.

Die Linie des blauen Glitzerns war noch immer ein Wirrwarr von zufälligen Veränderungen. Trud fuhr fort: »Es ist nur noch eine offene Einzelheit, aber ich weiß nicht, was sie hervorruft. Kannst du dich darum kümmern?« Er zeigte mit dem Daumen in Phams Richtung, um anzudeuten, dass er andere, wichtigere Angelegenheiten hatte.

Bil sagte zweifelnd: »Du hast den Empfang bestätigt?«

»Ja, ja. Kümmere dich nur drum, hm?«

»Na ja, in Ordnung.«

»Danke.« Silipan winkte Pham von dem MRT-Gerät weg; das Bild des Gehirns verschwand. »Diese Reynolt. Ihre Aufträge sind die heikelsten, nicht nach den Regeln. Dann, wenn man es richtig macht, hat man am Ende meistens einen Haufen Ärger.«

Pham folgte ihm zur Tür hinaus und einen Seitentunnel entlang, der durch den Kristall von Diamant Eins lief. Die Wände waren ein ziseliertes Mosaik, dieselbe Art präzise Kunst, die Pham vor langer Zeit, bei dem ›Willkommens-Bankett‹, Rätsel aufgegeben hatte. Nicht alle Blitzköpfe waren Spezialisten für High-Tech: Sie kamen an einem Dutzend Künstlersklaven vorbei, die sich über Vergrößerungsgläser und nadelähnliche Werkzeuge beugten. Pham war schon früher hier gewesen, vor etlichen Wachen. Damals war der Fries nur grob skizziert gewesen, eine Berglandschaft mit einer Art Militärstreitmacht, die sich auf ein nebulöses Ziel zubewegte. Selbst das war eine Vermutung gewesen, ausgehend von dem Titel: ›Die Niederlage des Frenkischen Orks.‹ Jetzt waren die Figuren größtenteils fertig, stämmige heldenhafte Kämpfer, auf denen Regenbögen funkelten. Ihr Ziel war eine Art Ungeheuer. Das Geschöpf war nicht besonders neuartig, der typische Cthulhu-Horror, der mit seinen langen Klauen Menschen zerriss und die Stücke fraß. Die Aufsteiger machten viel Aufhebens um ihre Eroberung des Frenk. Irgendwie bezweifelte Pham, dass die Mutanten, gegen die sie gekämpft hatten, derart spektakulär gewesen waren. Er wurde langsamer, und Silipan deutete sein Starren als Bewunderung.

»Die Diamantschneider kommen pro Megasekunde nur fünfzig Zentimeter voran. Aber die Kunst gibt uns etwas von der Wärme unserer Vergangenheit.«

Wärme? »Reynolt will, dass es schön aussieht?« Er fragte ohne Hintersinn.

»Ha. Reynolt ist das völlig schnuppe. Hülsenmeister Brughel hat das angeordnet, auf meine Empfehlung hin.«

»Aber ich dachte, die Hülsenmeister seien in ihren jeweiligen Bereichen souverän.« Pham hatte auf den vergangenen Wachen nicht viel von Reynolt gesehen, doch er war dabei gewesen, wie sie Ritser Brughel auf Besprechungen mit Nau demütigte.

Trud glitt noch ein paar Meter weiter, ohne etwas zu sagen. Sein Gesicht verzog sich zu einem albernen Lächeln, ein Ausdruck, den er manchmal zeigte, wenn sie bei Benny einen drauf machten. Diesmal aber wurde aus dem Lächeln ein Lachen. »Hülsenmeister? Anne Reynolt? Pham, dich sprachlos zu sehen, war an sich schon der Clou des Tages — aber das übertrifft alles.« Er glitt noch ein paar Sekunden lang weiter und kicherte dabei. Dann sah er Pham Trinlis finstere Miene. »Tut mir Leid, Pham. Ihr Krämer seid in vielen Dingen so schlau, aber ihr seid wie Kinder, was die Grundlagen der Kultur betrifft… Ich habe die Erlaubnis, dir die Fokus-Klinik zu zeigen; ich denke, es kann nicht schaden, wenn ich dir noch ein paar Sachen erkläre. Nein, Anne Reynolt ist kein Hülsenmeister; obwohl sie wahrscheinlich ein mächtiger war, früher einmal. Reynolt ist einfach noch so ein Blitzkopf.«

Pham ließ seine finstere Miene in Staunen übergehen — was übrigens auch seine wahre Reaktion war. »Aber… sie hat einen großen Teil der Chose unter Kontrolle. Sie erteilt dir Befehle.«

Silipan zuckte die Achseln. Sein Lächeln war einem säuerlichen Gesichtsausdruck gewichen. »Ja doch. Sie gibt mir Befehle. Es kommt selten vor, aber immerhin. Fast würde ich lieber für Hülsenmeister Brughel oder für Kal Omo arbeiten, nur dass die so… hart rangehen.« Er verstummte nervös.

Pham fing sich. »Ich glaube, ich verstehe«, log er. »Wenn ein Spezialist fokussiert wird, fixiert er sich auf sein Fachgebiet. Also wird aus einem Künstler einer von unseren Mosaikschneidern, ein Physiker wird so wie Hunte Wen, und ein Chef wird… äh… wie soll ich sagen, ein ganz verteufelter Chef.«

Trud schüttelte den Kopf. »So funktioniert das nicht. Schau, technische Spezialisten lassen sich gut fokussieren. Sogar bei euch von der Dschöng Ho haben wir eine Erfolgsquote von siebzig Prozent. Aber von Fähigkeiten im Umgang mit Menschen — Jura, Politik, Verwaltung — bleibt normalerweise nach der Fokussierung gar nichts übrig. Du hast inzwischen genug Blitzköpfe gesehen; was sie alle gemein haben, ist ein Mimimum an Anteilnahme. Was im Kopf eines normalen Menschen vor sich geht, können sie sich genauso wenig vorstellen wie ein Stein. Wir haben Glück, dass wir über so viele gute Übersetzer verfügen; das ist noch nie in diesem Maßstab versucht worden.

Nein. Anne Reynolt ist etwas sehr, sehr Seltenes. Es geht das Gerücht, sie sei ein Hoher Hülsenmeister in der Xevalle-Clique gewesen. Die meisten von denen sind umgebracht oder per Gehirnwäsche blankgeputzt worden, aber es heißt, dass die Nau-Clique auf Reynolt wirklich stocksauer war. Zum Spaß haben sie sie fokussiert, vielleicht gedachten sie sie zum körperlichen Vergnügen zu verwenden. Aber so ergab es sich nicht. Ich vermute, sie war vorher schon fast monomanisch. Die Chancen standen eins zu einer Milliarde, aber Reynolt behielt ihre Verwaltungsfähigkeiten — und sogar einen Teil ihrer Fähigkeiten im Umgang mit Menschen.«

Weiter vorn sah Pham das Ende des Tunnels. Licht schien auf eine unverzierte Luke. Trud bremste und wandte sich Pham zu. »Sie ist ein Freak, aber sie ist auch der wertvollste Besitz von Hülsenmeister Nau. Im Prinzip verdoppelt sie seine Reichweite…« Er verzog das Gesicht. »Das macht es nicht leichter, Befehle von ihr entgegenzunehmen, das sag ich dir. Persönlich denke ich, dass der Hülsenmeister sie überschätzt. Sie ist ein wunderbarer Freak, aber was soll’s? Es ist wie bei einer Katze, die Klavier spielt — niemand merkt, dass es Katzenmusik ist.«

»Es scheint dich nicht zu kümmern, ob sie deine Ansichten kennt.«

Jetzt lächelte Trud wieder. »Natürlich nicht. Das ist der einzige Vorteil an meiner Situation. Es ist fast unmöglich, sie bei Dingen, die direkt meine Arbeit betreffen, hinters Licht zu führen — aber außerhalb dieses Gebiets ist sie einfach wie jeder andere Blitzkopf. Ja doch, ich habe mir mit ihr ein paar eiterkomische Sp…« Er brach ab. »Ach, egal. Sag ihr, was Hülsenmeister Nau dir aufgetragen hat, ihr zu sagen, und mit dir geht alles klar.« Er winkte und machte sich dann auf den Weg den Korridor hinauf, fort von Reynolts Büro.


Wenn Pham das über Anne Reynolt gewusst hätte, hätte er die ganze Aktion mit den Ortern vielleicht verschoben. Doch jetzt saß er in ihrem Büro, und ihm blieb nicht viel Wahl. In mancher Hinsicht war es ein gutes Gefühl, die Sache voranzubringen. Seit Jimmys Tod waren alle Züge Phams immer so berechnet, so vorsichtig gewesen.

Zunächst reagierte die Frau überhaupt nicht auf seine Anwesenheit. Pham setzte sich unaufgefordert auf den Stuhl gegenüber von ihrem Schreibtisch und schaute sich im Zimmer um. Es war nicht mit Naus Büro zu vergleichen. Diese Wände waren nackter, rauer Diamant. Es gab keine Bilder, nicht einmal die Gräuel, die den Aufsteigern als Kunst galten. Reynolts Schreibtisch war eine Ansammlung von leeren Behältern und Geräten für die Netzarbeit.

Und Reynolt selbst? Pham starrte ihr nachdrücklicher ins Gesicht, als er es sonst vielleicht gewagt hätte. Alles in allem war er an die zwanzig Kilosekunden in ihrer Gegenwart gewesen, und zwar bei Besprechungen, wo Reynolt für gewöhnlich am anderen Ende des Tisches saß. Sie kleidete sich immer einfach, abgesehen von diesem Silberhalsband, das unter ihre Bluse ging. Mit dem roten Haar und der bleichen Haut hätte die Frau Ritser Brughels Schwester sein können. Der physische Typus war in diesem Teil des Menschenraums selten und meist aus lokalen Mutationen hervorgegangen. Anne hätte dreißig Jahre alt sein können — oder bei wirklich guter medizinischer Versorgung ein paar Jahrhunderte. Auf verrückte, exotische Art war sie reizend. Körperlich reizend. Du also warst ein Hülsenmeister.

Reynolts Blick huschte hoch und nagelte ihn für einen Moment fest. »Gut. Sie sind hier, um mir die Einzelheiten über diese Orter zu erzählen.«

Pham nickte. Seltsam. Nach jenem kurzen Blick wandte sie die Augen von seinen. Sie beobachtete seine Lippen, seine Kehle. Es gab kein Mitempfinden, keine Kommunikation, doch Pham hatte das eisige Gefühl, dass sie alle seine Masken durchschaute.

»Gut. Welche Sensoren haben sie standardmäßig?«

Er murmelte sich durch die Antworten, täuschte Unkenntnis von Einzelheiten vor.

Reynolt schien es nicht übelzunehmen. Ihre Fragen stellte sie in einem gleichmäßig ruhigen, leicht abschätzigen Ton. Dann: »Das genügt nicht, um damit zu arbeiten. Ich brauche die Anleitungen.«

»Klar. Deswegen bin ich hier. Die kompletten Anleitungen sind in den Orterchips, verschlüsselt unterhalb von dem, was normale Techniker sehen dürfen.«

Wieder der lange, unstete Blick. »Wir haben nachgeschaut. Wir sehen sie nicht.«

Das war der gefährliche Teil. Im günstigsten Fall würden Nau und Brughel sich Trinlis Clownsmaske sehr genau ansehen. Im schlimmsten… Wenn sie begriffen, dass er Geheimnisse preisgab, die sogar hochrangige Waffenführer nicht kennen sollten, hätte er ernstlich Schwierigkeiten. Pham zeigte auf eine Datenbrille auf Reynolts Tisch. »Erlauben Sie«, sagte er.

Reynolt reagierte nicht auf seine Frivolität, doch sie setzte die Brille auf und erlaubte Gemeinbild-Darstellung. Pham fuhr fort: »Ich erinnere mich an den Passcode. Er ist allerdings lang…« — und die vollständige Version war auf seinen eigenen Körper geprägt, doch das sagte er nicht. Er versuchte es mit etlichen falschen Codes und verhielt sich irritiert und nervös, wenn sie versagten. Ein normaler Mensch, sogar Tomas Nau, hätte Ungeduld geäußert — oder gelacht.

Reynolt sagte nichts. Sie saß einfach da. Doch dann plötzlich: »Ich habe keine Geduld dazu. Täuschen Sie keine Unfähigkeit vor.«

Sie wusste es. Die ganze Zeit seit Triland hatte niemand jemals so weit hinter seine Tarnung geblickt. Er hatte gehofft, ihm bliebe mehr Zeit; wenn sie erst einmal anfingen, die Orter zu verwenden, konnte er sich eine neue Tarnung schreiben. Verdammt. Dann erinnerte er sich, was Silipan gesagt hatte. Anne Reynolt wusste etwas. Höchstwahrscheinlich war sie einfach zu dem Schluss gekommen, Trinli sei ein zögerlicher Informant.

»Entschuldigung«, murmelte Trinli. Er tippte die korrekte Zeichenfolge ein.

Eine einfache Bestätigung kam von der Flottenbibliothek, Sektion Chipdokumentation. Die Zeichen schwebten silbern in der Luft zwischen ihnen. Die geheimen Bestandsdaten, die Komponenten-Spezifikationen.

»Gut genug«, sagte Reynolt. Sie machte etwas mit ihrer Steuertastatur, und ihr Büro schien zu verschwinden. Die beiden schwebten durch die Bestandsinformation, und dann standen sie mitten in den Spezifikationen der Orter.

»Wie Sie sagten, Temperatur, Schall, Lichtniveaus… Multispektrum. Aber das ist ausgefeilter, als Sie es bei der Besprechung geschildert haben.«

»Ich habe gesagt, dass sie gut sind. Das hier sind nur die Einzelheiten.«

Reynolt sprach schnell, während sie Fähigkeit nach Fähigkeit durchsah. Jetzt klang sie fast begeistert. Das übertraf die entsprechenden Produkte der Aufsteiger bei weitem. »Ein nackter Orter mit guter Sensortechnik und unabhängigem Betrieb.« Dabei sah sie nur den Teil, den sie nach Phams Willen sehen sollte.

»Man muss ihnen aber Energieimpulse zuführen.«

»Auch gut. Auf die Weise können wir ihre Verwendung einschränken, bis wir sie gründlich verstehen.«

Sie schaltete das Bild weg, und sie saßen wieder in ihrem Büro, wo das Licht kühl von den rauen Wänden funkelte. Pham merkte, dass er zu schwitzen begann.

Sie schaute ihn nicht mehr an. »Die Bestandsliste hat etliche Millionen Orter zusätzlich zu den in die Flotten-Hardware eingebauten angezeigt.«

»Klar. Inaktiv passen sie in ein paar Liter.«

Ruhige Beobachtung: »Ihr wart Narren, dass ihr sie nicht für Sicherheitszwecke eingesetzt habt.«

Pham starrte sie finster an. »Wir Waffenführer wussten, was man mit ihnen anfangen kann. In einer militärischen Situation…«

Aber das waren nicht die Details in Anne Reynolts Fokus. Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Es sieht so aus, als ob wir mehr als genug für unsere Zwecke hätten.«

Die schöne Janitscharin schaute Pham wieder ins Gesicht. Einen Moment lang stach ihr Blick direkt in seine Augen.

»Sie haben ein neues Zeitalter der Kontrolle möglich gemacht, Waffenführer.«

Pham blickte in die klaren blauen Augen und nickte; er hoffte, dass sie nicht vollends verstand, wie Recht sie hatte. Und jetzt begriff Pham, welche zentrale Stellung sie in all seinen Plänen einnahm. Anne Reynolt verwaltete fast alle Blitzköpfe. Anne Reynolt war Tomas Naus direkte Kontrolle über Operationen. Anne Reynolt wusste und verstand das von den Aufsteigern, was ein erfolgreicher Revolutionär wissen und verstehen musste. Und Anne Reynolt war ein Blitzkopf. Sie konnte herausfinden, was er vorhatte — oder sie konnte der Schlüssel sein, um Nau und Brughel zu vernichten.


In einem temporären Habitat wurde es nie völlig ruhig. Das Kauffahrer-Temp maß nur hundert Meter im Durchmesser, wenn man darin hin und her schnellte, entstanden Spannungen, die nicht völlig absorbiert werden konnten. Und die thermische Spannung erzeugte gelegentlich ein laut schnellendes Geräusch. Doch eben jetzt war die Mitte der Schlafperiode für den größten Teil der Mannschaft; Pham Nuwens kleine Kabine war annähernd so still, wie sie überhaupt sein konnte. Er schwebte in der abgedunkelten Kabine und tat so, als döse er vor sich hin. Sein geheimes Leben würde gleich auf vollen Touren laufen. Die Aufsteiger ahnten es nicht, aber sie waren eben in eine Falle gelaufen, die tiefer reichte, als die allermeisten Dschöng-Ho-Kapitäne wussten. Es war einer von zwei, drei Fallstricken, die Pham Nuwen vor langer Zeit ausgelegt hatte. Sura und ein paar andere hatten von ihnen gewusst, doch sogar nach der Brisgo-Lücke war das Wissen nicht ins allgemeine Arsenal der Dschöng Ho durchgesickert. Pham hatte sich immer darüber gewundert; Sura konnte raffiniert sein.

Wie lange würden Reynolt und Brughel brauchen, um ihre Leute in den Gebrauch der Orter einzuüben? Es gab mehr als genug von den Geräten, um die Stabilisierungsarbeiten bei L1 durchzuführen und ebenso alle Wohnräume zu überwachen. Bei der dritten Mahlzeit hatten ein paar von den Nachrichtenleuten etwas von Dornen am Hauptkabelstrang des Temps erzählt. Zehnmal pro Sekunde lief ein Mikrowellenimpuls durch das Temp — genug drahtlose Energie, um die Orter gut zu versorgen. Kurz vor Beginn der Schlafenszeit hatte er bemerkt, wie die ersten von den Staubkörnchen durch den Ventilator hereingeweht kamen. Jetzt eben waren Brughel und Reynolt wahrscheinlich dabei, das System zu eichen. Brughel und Nau würden sich zur Qualität von Ton und Bild gratulieren. Mit etwas Glück würden sie schließlich ihre eigenen plumpen Spionagegeräte ausmustern; selbst wenn er nicht so viel Glück hatte… nun ja, in ein paar Megasekunden würde er imstande sein, die Berichte von ihnen zu manipulieren.

Etwas, das kaum schwerer als ein Staubkorn war, setzte sich auf seine Wange. Er machte eine Bewegung, als wolle er sich übers Gesicht wischen, und platzierte dabei das Körnchen direkt neben seinem Augenlid. Ein paar Augenblicke später schob er ein anderes tief in seinen rechten Gehörgang. Es war schon eine Ironie, wenn man bedachte, welchen Aufwand die Aufsteiger getrieben hatten, als sie verdächtige Eingabe/Ausgabe-Geräte abschalteten.

Die Orter leisteten alles, was Pham Tomas Nau gesagt hatte. Genauso, wie es derlei Geräte die ganze menschliche Geschichte hindurch getan hatten, orteten diese einander im geometrischen Raum — eine einfache Übung, weiter nichts als eine Laufzeitberechnung. Die Dschöng-Ho-Versionen waren kleiner als die meisten, konnten über kurze Entfernungen drahtlos mit Energie versorgt werden und besaßen einen einfachen Satz Sensoren. Sie gaben großartige Spionagegeräte ab, genau das, was Tomas Nau brauchte. Orter waren von Natur aus eine Art Computernetz, im Grunde ein verteilter Prozessor. Jedes Staubkörnchen besaß einen kleinen Teil Rechenkapazität — und sie kommunizierten miteinander. Ein paar Hunderttausend von ihnen, über das Kauffahrer-Temp verstreut, waren mehr Rechenkapazität als die gesamte Ausrüstung, die Nau und Brughel an Bord gebracht hatten. Natürlich verfügten alle Orter — sogar die Brocken der Aufsteiger — über solches Rechenpotenzial. Das wahre Geheimnis der Dschöng-Ho-Version bestand darin, dass keine zusätzliche Schnittstelle benötigt wurde, weder für die Ein- noch für die Ausgabe. Wenn man das Geheimnis kannte, hatte man direkt Zugang zu den Ortern, indem man sie seine Körperposition wahrnehmen ließ, die richtigen Codes deuten und mit ihren Ausführungsbauteilen antworten ließ. Es spielte keine Rolle, dass die Aufsteiger alle Endschnittstellen aus dem Temp entfernt hatten. Jetzt befand sich eine Dschöng-Ho-Schnittstelle rings um sie — für jeden, der die Geheimnisse kannte.

Der Zugriff erforderte besondere Kenntnisse und etwas Konzentration. Es war nichts, was zufällig oder unter Zwang geschehen konnte. Pham entspannte sich in der Hängematte, teils, um vorzutäuschen, er schlafe endlich ein, teils, um in die Stimmung für seine bevorstehende Arbeit zu kommen. Er brauchte ein bestimmtes Muster von Herzschlägen, einen bestimmten Atemrhythmus. Erinnere ich mich überhaupt noch daran, nach all der Zeit? Der Augenblick heftiger Panik überraschte ihn. Ein Körnchen neben seinem Auge, ein anderes im Ohr — das sollte genügen, um die anderen Orter auszurichten, die im Zimmer schweben mussten. Das sollte genügen.

Doch die richtige Stimmung wollte sich noch nicht einstellen. Er dachte zurück an Anne Reynolt und an das, was Trud Silipan ihm gezeigt hatte. Die Fokussierten würden seine Pläne durchschauen; es war nur eine Frage der Zeit. Fokus war ein Wunder. Pham Nuwen hätte aus der Dschöng Ho ein echtes Imperium machen können — trotz Suras Verrat —, wenn er nur fokussierte Werkzeuge besessen hätte. Ja, der Preis war hoch. Pham erinnerte sich an die Reihen von Zombies oben im Dachgeschoss von Hammerfest. Er sah ein Dutzend Möglichkeiten, das System sanfter zu machen, doch letzten Ende würde, um fokussierte Werkzeuge zu benutzen, immer etwas geopfert werden müssen.

War der endgültige Erfolg, ein echtes Dschöng-Ho-Imperium, diesen Preis wert? Konnte er ihn bezahlen?

Ja und nochmals ja!

Bei diesem Tempo würde er nie Zugriffsstatus erreichen. Er brach ab, begann den ganzen Entspannungszyklus von vorn. Er ließ seine Phantasie in Erinnerungen weggleiten. Wie war es zu Beginn gewesen? Sura Vinh hatte die Reprise und einen noch sehr naiven Pham Nuwen zu den Megalopolis-Monden von Namqem gebracht…

Er war fünfzehn Jahre bei Namqem geblieben. Es waren die glücklichsten Jahre in Phams Leben. Suras Vettern waren auch im System — und die verliebten sich in die Pläne, die Sura und ihr junger Barbar vorschlugen: eine Methode für interstellare Synchronisation, der Handel mit technischem Knowhow, soweit es ihren eigenen Kauf und Verkauf nicht beeinträchtigte, die Aussicht auf eine zusammenhängende interstellare Handelskultur. (Pham lernte, nichts von seinen darüber hinausgehenden Zielen zu sagen.) Suras Vettern waren von sehr einträglichen Unternehmungen zurückgekehrt, doch sie sahen die Grenzen isolierten Handels. Sich selbst überlassen, würden sie Vermögen erwerben, sie sogar eine Zeit lang behalten… doch am Ende wären sie in der Zeit und der interstellaren Dunkelheit verloren. Viele von Phams Zielen billigten sie aus dem Bauch heraus.

In mancherlei Hinsicht war seine Zeit mit Sura bei Namqem wie ihre ersten Tage auf der Reprise. Doch es ging immer weiter, die Vorstellungen und ihre Zusammenarbeit wurden noch reichhaltiger. Und es gab wunderbare Dinge, die sein praktischer Kopf mit all den grandiosen Plänen nie in Betracht gezogen hatte: Kinder. Er hatte sich nie vorgestellt, wie sehr sich eine Familie von jener unterscheiden könnte, in die er hineingeboren war. Ratko, Butra und Qo waren ihre ersten Kleinen. Er lebte mit ihnen, unterrichtete sie, spielte Blinkersprache und Fangalles mit ihnen, zeigte ihnen die Wunder des Weltparks von Namqem. Pham liebte sie viel mehr als sich selbst und fast so sehr wie Sura. Fast hätte er den Großen Zeitplan durchbrochen, um bei ihnen zu bleiben. Doch es sollte andere Gelegenheiten geben, und Sura verzieh ihm. Als er dreißig Jahre später zurückkehrte, erwartete ihn Sura mit Neuigkeiten von anderen Teilen des Plans, der gut anlief. Doch inzwischen waren ihre drei ersten Kinder selbst auf Fahrt gegangen und spielten ihre eigene Rolle in der Gründung einer neuen Dschöng Ho.

Pham kam zu einer Flotte von drei Sternenschiffen. Es gab Rückschläge und Katastrophen. Verrat. Zamle Eng, der ihn totgesagt in Kielles Kometenwolke zurückgelassen hatte. Zwanzig Jahre lang war er bei Kielle ohne Schiff gewesen und hatte es aus dem Nichts heraus zum Billionär gebracht, nur um wegzukommen.

Sura flog auf mehreren Missionen zusammen mit ihm, und sie gründeten auf einem halben Dutzend Welten neue Familien. Ein Jahrhundert verging. Drei. Die Missionsprotokolle, die sie auf der alten Reprise entworfen hatten, taten gute Dienste, und über die Jahre hinweg gab es Wiederbegegnungen mit Kindern und Kindeskindern. Manche waren bessere Freunde als Ratko, Butra oder Qo, doch keinen von ihnen liebte er so sehr wie jene drei. Pham sah, wie die neue Struktur entstand. Jetzt war es einfach Handel, geschmückt mit Familienbanden. Es sollte sehr viel mehr werden.

Am schwersten war die Einsicht, dass sie jemanden im Zentrum brauchten, zumindest in den ersten Jahrhunderten. Mehr und mehr blieb Sura zurück und koordinierte, was Pham und andere unternahmen.

Und noch immer hatten sie Kinder. Sura bekam Söhne und Töchter, während Pham Lichtjahre weit entfernt war. Er witzelte ihr gegenüber über das Wunder, obwohl er in Wahrheit gekränkt war, dass sie andere Liebhaber hatte. Sura hatte sanft gelächelt und den Kopf geschüttelt. »Nein, Pham, jedes Kind, das ich mein Eigen nenne, ist auch von dir.« Ihr Lächeln wurde spitzbübisch. »Im Laufe der Jahre habe ich von dir genug abgekriegt, um eine Armee zur Welt zu bringen. Ich kann diese Gabe nicht auf einmal verwenden, doch verwenden will ich sie.«

»Keine Klone.« Es kam schärfer heraus, als Pham gewollt hatte.

»Herrgott, nein.« Sie wandte den Blick ab. »Ich… mit mehr als einem von dir bin ich überfordert.« Vielleicht war sie ebenso abergläubisch wie er. Oder auch nicht: »Nein, ich verwende dich in Form natürlicher Geschlechtszellen. Ich bin nicht immer die andere Spenderin oder nicht die einzige. Die Mediziner von Namqem sind sehr gut in derlei Dingen.« Sie wandte ihm ihren Blick zu und sah seinen Gesichtsausdruck. »Ich schwöre, Pham, jedes von deinen Kindern hat eine Familie. Jedes wird geliebt… Wir brauchen sie, Pham. Wir brauchen Familien und Großfamilien. Der Plan braucht sie.« Sie stukte ihn spielerisch, versuchte, die Missbilligung aus seinem Gesicht zu zerstreuen. »He, Pham! Ist das nicht der feuchte Traum von jedem Barbarenfürsten, der auf Eroberung auszieht? Also, ich sag dir, als Vater hast du die größten von denen übertroffen.«

Ja. Tausende von Kindern von Dutzenden Partnern, aufgezogen, ohne dass es den Vater persönlich etwas kostete. Sein eigener Vater hatte etwas vieles Bescheideneres ohne Erfolg versucht, als er in den Staaten der Nordküste seine Kampagne von Königsmorden und Konkubinat begonnen hatte. Pham bekam das alles ohne Morden, ohne Gewalt. Und doch… seit wann tat Sura das schon? Wie viele Kinder und von wie vielen »Spendern«? Er konnte sich jetzt vorstellen, wie sie Verwandtschaftslinien plante, die passenden Talente für die Gründung jeder neuen Familie zusammensetzte und sie überall in der neuen Dschöng Ho verteilte. Er empfand einen überaus seltsamen Zwiespalt, als er die Situation in Gedanken hin und her wendete. Wie Sura gesagte hatte, war es der feuchte Traum eines Barbaren… doch auch ein wenig wie vergewaltigt zu werden. »Ich hätte es dir am Anfang gesagt, Pham. Aber ich hatte Angst, du würdest dagegen sein. Und es ist so wichtig.« Letzten Endes war Pham nicht dagegen. Es würde ihren Plan tatsächlich voranbringen. Doch es tat weh, an all jene seiner Kinder zu denken, die er nie kennen lernen würde.


Mit einer Reisegeschwindigkeit von 0,3 c kam Pham Nuwen weit herum. Überall gab es Kauffahrer, wenngleich sie sich weiter als dreißig Lichtjahre entfernt selten ›Dschöng Ho‹ nannten. Das spielte keine Rolle. Sie konnten den Plan verstehen. Diejenigen, die er traf, verbreiteten die Ideen noch weiter. Wo immer sie hinkamen — und weiter, denn manche wurden einfach von den Funkbotschaften überzeugt, die Pham durch die Finsternis aussandte —, verbreitete sich der Geist der Dschöng Ho.

Pham kehrte immer wieder nach Namqem zurück, er beugte den Großen Zeitplan fast bis zum Bruch. Sura alterte. Sie war jetzt zwei oder drei Jahrhunderte alt. Ihr Körper war an der Grenze dessen, was die Medizin noch jung und geschmeidig machen konnte. Sogar manche von ihren Kindern waren alt, weil sie zwischen ihren Reisen zu lange im Hafen gelebt hatten. Und manchmal erhaschte Pham in Suras Augen einen Blick auf Erfahrungen, die ihm verschlossen blieben.

Jedes Mal, wenn er nach Namqem zurückkehrte, warf er die Frage vor ihr auf. In einer Nacht schließlich, als sie sich fast so gut wie in ihren besten Zeiten geliebt hatten, begann er beinahe zu plärren. »So war das nicht gedacht, Sura! Der Plan war für uns beide. Komm mit mir. Geh endlich wieder auf Fahrt.« Und wir können uns immer wieder treffen, solange wir leben.

Sura beugte sich von ihm weg und ließ eine Hand hinter sein Genick gleiten. Ihr Lächeln war schief und traurig. »Ich weiß. Wir dachten, wir könnten beide zwischen den Sternen umherfliegen. Seltsam, dass das der größte Fehler in unserer ganzen ursprünglichen Planung war. Aber sei ehrlich. Du weißt, dass einer von uns an einem zentralen Ort bleiben muss, den Plan in fast einer einzigen langen Wache betreuen muss.« Es gab eine Billion Kleinigkeiten zu regeln, wenn man das Weltall erobern wollte, und das ging nicht, wenn man im Kälteschlaf lag.

»Nun ja, in den ersten Jahrhunderten. Aber doch nicht… nicht dein ganzes Leben lang!«

Sura schüttelte den Kopf, während ihre Hand sanft seinen Nacken streichelte. »Ich fürchte, wir haben uns geirrt.« Sie sah seinen Gesichtsausdruck, die Qual, und zog ihn zu sich herab. »Mein armer Barbarenprinz.« Er hörte das liebevolle, spöttische Lächeln in ihren Worten. »Du bist mein einzigartiger Schatz. Und weißt du warum? Du bist ein strahlendes Genie. Du bist besessen. Aber dass ich dich immer geliebt habe, hat noch einen anderen Grund. In deinem Kopf drin bist du so widersprüchlich. Der kleine Pham ist in einer heruntergekommenen Vorstadt der Hölle aufgewachsen. Du hast Verrat gesehen und bist verraten worden. Du verstehst gewalttätige Bosheit so gut wie nur ein Schurke mit blutigen Händen. Und dennoch hat der kleine Pham auch all die Mythen von Ritterlichkeit und Ehre und großen Taten in sich aufgenommen. Irgendwie lebt in deinem Kopf beides zusammen, und du verbringst seither dein Leben mit dem Versuch, das Universum deinen Widersprüchen anzupassen. Du wirst nahe genug an dieses Ziel herankommen, nahe genug für mich und jeden vernünftigen Menschen — aber vielleicht nicht nahe genug, um selbst zufrieden zu sein. So. Ich muss bleiben, wenn unser Plan gelingen soll. Und du musst aus demselben Grunde gehen. Leider weißt du das, nicht wahr, Pham?«

Pham schaute zu den echten Fenstern hinaus, die Suras Penthouse umgaben. Sie befanden sich auf einem Büroturm, der weit über dem größten Megalopolis-Mond von Namqem emporragte. Die Immobilienpreise für Büros auf Tarelsk lagen so schwindelerregend hoch, dass es angesichts der Möglichkeiten, die Netzwerkkommunikation bot, schlechthin absurd war. Als dieser Turm zum letzten Mal auf dem Markt angeboten wurde, hätte man für die Jahresmiete der Penthouse-Etage ein Sternenschiff kaufen können. Seit siebzig Jahren besaßen nun Dschöng-Ho-Familien — größtenteils Nachkommen von Sura und ihm — den Turm und große Stücke des umliegenden Bürogebiets. Es war der kleinste Teil ihres Vermögens, ein Tribut an die Mode.

Jetzt war es früh am Abend. Die Sichel von Namqem hing tief am Himmel; die Lichter des Tarelsk-Bürobezirks machten dem Schein der Mutterwelt Konkurrenz. In rund einer Kilosekunde würde die Vinh & Mamso Schiffswerft aufgehen. Vinh & Mamso waren wahrscheinlich die größte Werft im Menschenraum. Doch selbst das war ein kleiner Teil vom Vermögen ihrer Familien. Und darüber hinaus erstreckte sich immer feiner, aber noch immer im Wachsen begriffen bis zu den Grenzen des Menschenraumes das gesamte Vermögen der Dschöng Ho. Er und Sura hatten die größte Kauffahrerkultur aller Zeiten begründet. So sah es Sura. Mehr sah sie nicht. Mehr hatte sie nie gewollt. Es machte Sura nichts aus, dass sie den endgültigen Erfolg nicht mehr erleben würde…, weil sie glaubte, dass er nie käme.

Also hielt Pham die Tränen zurück, die sich in seinen Augen sammeln wollten. Er umarmte Sura zärtlich und küsste sie auf den Hals. »Ja, ich weiß«, sagte er schließlich.

Pham verschob seinen Abflug von Namqem um zwei Jahre, um fünf. Er blieb so lange, dass der Große Zeitplan selbst durchbrochen wurde. Verabredungen würden nicht eingehalten werden. Noch mehr Verzögerungen, und der Plan selbst könnte scheitern. Und als er schließlich Sura verließ, starb etwas in ihm. Ihre Partnerschaft bestand weiter, sogar ihre Liebe, auf eine abstrakte Art. Doch zwischen ihnen hatte sich ein Abgrund von Zeit aufgetan, und er wusste, dass sie ihn nie mehr würden überbrücken können.


Als er hundert Jahre gelebt hatte, hatte Pham über dreißig Sonnensysteme und hundert Kulturen gesehen. Es gab Kauffahrer, die mehr gesehen hatten, doch nicht viele. Sura jedenfalls, daheim bei Namqem in die Planungsarbeit vergraben, sah nie soviel wie er. Sura hatte nur Bücher und Geschichtsdaten, Berichte aus weiter Ferne.

Für sesshafte Zivilisationen, sogar wenn sie Raumfahrt betrieben, dauerte nichts ewig. Es war ein ziemlich großes Wunder, dass die Menschheit lange genug überlebt hatte, um die Erde zu verlassen. Es gab so viele Arten, wie eine intelligente Rasse sich ausrotten konnte. Sackgassen und unkontrollierte Entwicklungen, Seuchen, Atmosphärenkatastrophen, der Aufschlag von Himmelskörpern — das waren die einfachsten Gefahren. Die Menschheit hatte lange genug gelebt, um einige dieser Bedrohungen zu erfassen. Doch selbst bei größter Sorgfalt trug eine technische Zivilisation die Saat ihrer Zerstörung in sich. Früher oder später erstarrte sie, und die Politik führte sie in den Niedergang. Nuwen war auf Canberra mitten in einem dunklen Zeitalter geboren worden. Er wusste jetzt, dass die Katastrophen nach manchen Maßstäben gelinde gewesen waren — immerhin hatte die Menschheit auf Canberra überlebt, wenngleich sie ihre hoch entwickelte Technik eingebüßt hatte. Es gab Welten, die Pham in seinen ersten hundert Jahren mehrfach besuchte. Manchmal lagen Jahrhunderte zwischen den Besuchen. Er sah, wie die Utopie von Neumars in Übervölkerung und Diktatur zerrann, wie die Ozeanstädte Slums für Milliarden wurden. Siebzig Jahre später fand er eine Welt mit einer Bevölkerung von einer Million vor, eine Welt von kleinen Dörfern, von Wilden mit bemalten Gesichtern und Handäxten und herzzerreißenden Liedern. Die Reise wäre ein Flop gewesen, hätte es nicht die Gesänge von Vilnios gegeben. Doch im Vergleich zu den toten Welten hatte Neumars Glück gehabt. Die Alte Erde war seit dem Beginn der Diaspora viermal ganz von vorn wiederbesiedelt worden.

Es musste einen besseren Weg geben, und jede neue Welt, die Pham sah, machte ihn sicherer, dass er diesen besseren Weg kannte. Ein Imperium. Ein derart großer Herrschaftsbereich, dass das Versagen eines ganzen Sonnensystems eine zu bewältigende Katastrophe war. Die Kauffahrerkultur der Dschöng Ho war ein Anfang. Daraus würde das Handelsimperium der Dschöng Ho werden… und eines Tages ein echtes, regierendes Reich. Denn die Dschöng Ho war in einer einmaligen Lage. Auf ihrem Höhepunkt besaß eine Kundenzivilisation eine außergewöhnliche Wissenschaft — und brachte mitunter geringfügige Verbesserungen gegenüber dem Besten hervor, was je zuvor existiert hatte. Meistens gingen diese Verbesserungen mit der Zivilisation unter. Die Dschöng Ho jedoch — die ging immer weiter und sammelte geduldig das Beste, was zu finden war. Für Sura war das der größte Handelsvorteil der Dschöng Ho.

Für Nuwen war es mehr. Warum sollten wir alles, was wir lernen, wieder verkaufen? Manches schon. Das ist die Hauptquelle unseres Lebensunterhalts. Doch wir wollen die funkelnden Gipfel des ganzen menschlichen Fortschritts nehmen — und sie zum Nutzen des großen Ganzen behalten.

So waren die Orter der Dschöng Ho entstanden. Pham war auf Trygve Ytre gewesen, so fern von Namqem, wie er nur jemals gekommen war. Die Menschen waren nicht einmal vom selben Urstock wie jene in den bekannteren Teilen des Menschenraums.

Trygves Sonne war einer jener trüben kleinen M-Sterne, das Ungeziefer des der Besiedlung zugänglichen Raums. Dutzende von diesen Sternen kamen auf jeden, der der Sonne der Alten Erde glich — und die meisten hatten Planeten. Sie waren gefährliche Orte für die Ansiedlung, mit einer derart schmalen stellaren Ökosphäre, dass eine Zivilisation ohne Technik nicht existieren konnte. In den frühen Jahrtausenden des menschlichen Vordringens in den Raum war diese Tatsache ignoriert worden, und man hatte eine Anzahl solcher Welten besiedelt. Immer optimistisch, diese Menschen, glauben, ihre Technik hält ewig. Und dann, beim ersten Niedergang, fanden sich Millionen Menschen auf einer Eiswelt — oder einer Höllenwelt, falls ihr Planet dem Stern näher war als die Ökosphäre.

Trygve Ytre war eine etwas sicherere Variante und eine übliche Situation: Der Stern wurde von einem Riesenplaneten begleitet, Trygve, dessen Umlaufbahn etwas außerhalb der stellaren Ökosphäre lag. Der Riesenplanet hatte nur zwei Monde, darunter einen von Erdgröße. Zur Zeit von Phams Besuch waren beide bewohnt. Doch der größere, Ytre, war das Juwel. Gezeitenreibung und direkte Wärmestrahlung von Trygve ergänzten die spärliche Sonnenenergie. Ytre besaß Land und Luft und flüssige Ozeane. Die Menschen auf Trygve Ytre hatten mindestens einen Kollaps ihrer Zivilisation überstanden.

Die Technik, über die sie nun verfügten, war so hoch, wie die Menschheit sie nur je erreicht hatte. Phams kleine Flotte von Sternenschiffen wurde willkommen geheißen, fand brauchbare Werften in dem Planetoidengürtel, der eine Milliarde Kilometer von der Sonne entfernt lag. Pham ließ Besatzungen an Bord der Schiffe zurück und flog mit den örtlichen Verkehrsmitteln einwärts zu Trygve und Ytre. Das war kein Namqem, doch die Leute hatten andere Kauffahrer erlebt. Sie hatten auch Phams Staustrahlschiffe und seine vorläufige Angebotsliste gesehen… und das meiste von dem, was Pham besaß, konnte der einheimischen Magie von Ytre nicht das Wasser reichen.

Nuwen blieb eine Zeit lang auf Ytre, einige Wochen, wie die Einheimischen die etwa 600 Kilosekunden nannten, die Ytre für einen Umlauf um den Riesen Trygve brauchte. Trygve selbst umkreiste die Sonne in reichlich 6 Megasekunden. Der Ytreisch-Kalender kam also auf ungefähr zehn Wochen.

Obwohl die Welt zwischen Feuer und Eis taumelte, war der größte Teil von Ytre bewohnbar. »Wir haben eine klimastabilere Welt als die Alte Erde selbst«, prahlten die Einheimischen. »Ytre steckt tief in der Gravitationssenke von Trygve, und es gibt keine nennenswerten Störeinflüsse. Die Heizung durch Gezeitenkräfte ist über geologische Zeiträume hinweg mild gewesen.« Und sogar die Gefahren waren keine große Überraschung. Die M3-Sonne war knapp über einen Winkelgrad im Durchmesser. Ein Narr konnte direkt in die rötliche Scheibe schauen, das Wirbeln der Gase sehen, ausgedehnte und dunkle Sonnenflecken. Ein paar Sekunden derart in die Sonne zu blicken, konnte ernste Verbrennungen der Netzhaut hervorrufen, denn natürlich war der Stern im nahen Infrarotbereich heller als im sichtbaren. Die empfohlenen Augenschützer sahen wie glasklares Plastik aus, doch Pham achtete sehr sorgsam darauf, sie zu tragen.

Seine Gastgeber — eine Gruppe einheimischer Unternehmen — beherbergten ihn auf ihre Kosten. Er verbrachte seine offizielle Zeit damit, etwas mehr von ihrer Sprache zu lernen und etwas herauszufinden, das seine Flotte mitgebracht hatte und das für seine Kunden etwas wert sein könnte. Sie versuchten es ebenso angestrengt. Es war eine Art ins Gegenteil verkehrte Industriespionage. Die Elektronik der Einheimischen war etwas besser als alles, was Pham je gesehen hatte, obwohl die Dschöng Ho vielleicht Verbesserungen an Programmen vorzuschlagen hatte. In der medizinischen Automatik waren sie deutlich zurück; das würde sein Fuß in der Tür sein, eine Stelle, von der aus das Feilschen beginnen konnte.

Pham und seine Leute klassifizierten alles, was diese Begegnung einbringen konnte. Die Kosten der Reise würden reichlich wieder hereinkommen. Doch Pham hörte Gerüchte. Seine Gastgeber repräsentierten eine Anzahl — ›Kartelle‹ war die brauchbarste Übersetzung, die Pham für das Wort finden konnte. Sie hielten Dinge voreinander geheim. Das Gerücht ging von einer neuen Art Orter, kleiner als jeder anderswo hergestellte und von keiner inneren Energiequelle abhängig. Jede Verbesserung auf dem Gebiet der Orter war eine gewinnträchtige Sache; die Geräte waren der positionelle Leim, dem verkoppelte Systeme ihre außergewöhnliche Leistungsfähigkeit verdankten. Doch diese ›Superorter‹ sollten angeblich Sensoren und Effektoren besitzen. Wenn es mehr als nur ein Gerücht war, dann hätte es politische und militärische Konsequenzen auf Ytre selbst — destabilisierende Konsequenzen.

Mittlerweile wusste Pham, wie man in einer technisch orientierten Gesellschaft Informationen sammelt, selbst in einer, deren Sprache er nicht fließend beherrschte, sogar, wenn er beobachtet wurde. Nach vier Wochen wusste er, welches Kartell die vielleicht existierende Erfindung besitzen könnte. Er kannte den Namen seines Magnaten: Gunnar Larson. Das Larson-Kartell hatte die Erfindung bei seinen Handelsgesprächen nicht erwähnt. Sie war nicht angeboten worden — und Pham wollte keine Andeutungen darüber machen, wenn andere zugegen waren. Er arrangierte eine persönliche Begegnung mit Larson. Es war etwas, das sogar Phams Tanten und Onkel daheim auf dem mittelalterlichen Canberra verstanden hätten, obwohl ihnen der technische Trick hinter dem Treffen unbegreiflich geblieben wäre.

Sechs Wochen nach seiner Landung auf Ytre ging Pham Nuwen allein durch die exklusivste offene Straße in Dirby. Zerstreute Wolken erinnerten an den unlängst gefallenen Regen. Sie zeigten Rosa und Grau im hellen Zwielicht. Die Sonne war eben hinter Trygve untergegangen. Über dem Leib des Riesenplaneten gemahnte ein Bogen von Gold und Rot an die verdeckte Sonne. Die Scheibe des Riesen nahm zehn Grad am Himmel ein. Lautlose blaue Blitze flackerten in seinen Polarbreiten.

Die Luft war kühl und feucht, der Wind trug einen natürlichen Duft heran. Pham ging weiter und zog jedes Mal an der Leine, wenn seine Snarlihunde etwas am Wegesrand untersuchen wollten. Seine Tarnung erforderte, dass er sich Zeit ließ, sich an dem Anblick erfreute, den ähnlich gekleideten Passanten höflich zuwinkte. Denn was sollte ein reicher Einwohner im Ruhestand im Freien anderes tun, als die Lichter zu bewundern und seine Hunde spazieren zu führen? Zumindest hatte der Kontaktmann das behauptet. »Die Sicherheitsvorkehrungen auf der Huskestrade sind nicht wirklich streng. Wenn Sie aber keinen plausiblen Grund haben, sich dort zu befinden, kann die Polizei Sie anhalten. Nehmen sie ein paar Snarlihunde. Das ist ein guter Grund, auf der Promenade zu sein.«

Phams Blick erfasste die Paläste, die hier und da zwischen dem Grün zu beiden Seiten der Promenade hervorlugten. Dirby schien ein friedlicher Ort zu sein. Es waren Sicherheitskräfte da… Doch wenn genug Leute alles kaputtmachen wollten, war das in einer einzigen Nacht von Feuer und Aufruhr zu schaffen. Die Kartelle kämpften kommerziell mit harten Bandagen, doch ihre Zivilisation glitt gerade durch die höchste, glücklichste ihrer guten Zeiten… Vielleicht war ›Kartelle‹ nicht das richtige Wort. Gunnar Larson und einige der anderen Magnaten gaben sich eine Aura von tiefer, uralter Weisheit. Gewiss war Larson einer, der das Sagen hatte, doch das Wort für seinen Rang bedeutete mehr als das. Pham kannte den Begriff des Philosophen auf dem Königsthron, des Roi philosophe. Doch Larson war ein Geschäftsmann. Vielleicht bedeutete sein Titel ›Philosoph-Magnat‹. Hmm.

Pham erreichte das Grundstück Larsons. Er bog in einen privaten Seitenweg ab, der fast so breit wie die Promenade war. Die Anzeige seiner Datenbrille verblasste, er hatte nur noch natürliche Sicht. Pham war verärgert, aber nicht überrascht. Er ging weiter, als gehöre ihm hier alles, ließ sogar die Hunde hinter einen Zwei-Meter-Blumenständer scheißen. Der Philosoph-Magnat soll meine tiefe Achtung für das ganze Geheimnis erfassen.

»Folgen Sie mir bitte.« Die Stimme erklang leise hinter ihm. Pham unterdrückte eine heftige Bewegung, wandte sich um und nickte dem Sprecher lässig zu. Im rötlichen Dämmerschein sah er keinerlei Waffen. Hoch am Himmel und zwei Millionen Kilometer entfernt flackerte eine Kette blauer Blitze über das Antlitz von Trygve. Er warf einen gründlichen Blick auf seinen Führer und die drei anderen, die im Dunkel verborgen gewesen waren. Sie trugen Firmenkleidung, doch ihm entgingen weder die militärische Haltung noch die Datenbrillen, die sie über den Augen trugen.

Sollten sie die Hunde nehmen. Gut so. Die vier Tiere waren groß und sahen raubtierhaft böse aus. Vielleicht hatte man ihnen Sanftheit angezüchtet, doch es würde mehr als einen Spaziergang im Zwielicht brauchen, um aus Pham einen Snarlihund-Liebhaber zu machen.

Pham und die verbliebenen Wächter gingen über hundert Meter weiter. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf fein geschwungene Äste, Moos, das einfach so am Ansatz der Wurzeln wuchs. Je höher die gesellschaftliche Stellung, umso mehr waren diese Burschen auf urwüchsige Natur aus — und umso perfekter musste jede Einzelheit sein. Zweifellos wurde dieser ›Waldweg‹ seit einem Jahrhundert manikürt, um unverfälschte Wildnis darzustellen.

Der Weg öffnete sich auf einen Hanggarten über einem Bach und einem Teich. Der rötliche Bogen von Trygve genügte, dass Pham die Tische ausmachen konnte und die kleine menschliche Gestalt, die sich erhob, um ihn zu begrüßen.

»Magnat Larson.« Pham machte die kleine halbe Verbeugung, die er zwischen Gleichgestellten gesehen hatte. Larson erwiderte sie, und irgendwie wusste Pham, dass der Mann grinste.

»Flottenkapitän Nuwen… Nehmen Sie bitte Platz.«

Es gab Kulturen, wo der Handel nicht beginnen konnte, bis alle von unwichtigem Gequassel zu Tode gelangweilt sind. Hier rechnete Pham nicht damit. Er sollte in zwanzig Kilosekunden wieder in seinem Hotel sein — und es wäre für sie beide besser, wenn die anderen Kartell-Leute nicht begriffen, wo Pham gewesen war. Doch Gunnar Larson schien es nicht eilig zu haben. Hin und wieder war er im Licht der Blitze von Trygve zu sehen: der typische Menschenschlag von Ytre, aber sehr alt, das blonde Haar schütter geworden, Runzeln in der blassrosa Haut. Sie saßen über zwei Kilosek in dem von Blitzen zerrissenen Dämmerschein. Der alte Mann quasselte über Phams Vorleben und die Vergangenheit von Trygve Ytre. Verdammt, vielleicht rächt er sich dafür, dass ich seine Blumen habe vollkacken lassen. Oder vielleicht war es so eine unergründlich ytrische Sache. Immerhin sprach der Bursche erstklassiges Aminesisch, und in dieser Sprache war auch Pham auf der Höhe.

Larsons Grundstück war sonderbar still. In Dirby lebte fast eine Million Menschen, und obwohl keines der Gebäude ungeheuerlich groß war, reichte die typische Großstadt bis auf tausend Meter an das Nobelviertel der Huskestrade heran. Doch wie sie hier saßen, waren die lautesten Geräusche Gunnar Larsons albernes Geplapper — und das Plätschern eines kleinen Wasserfalls ein kurzes Stück hangabwärts. Phams Augen hatten sich inzwischen gut an den Dämmerschein gewöhnt. Er sah das Spiegelbild von Trygves Lichtbögen im Teich. Er sah Wellen, wenn ein großes, schuppiges Wesen durch die Oberfläche stieß. Allmählich finde ich tatsächlich Gefallen an dem Lichtzyklus von Ytre. Vor drei Wochen hätte Pham nicht geglaubt, dass es jemals so weit kommen würde. Tage und Nächte waren länger als jeder Rhythmus, den Pham aufrechterhalten konnte, doch die mittägliche Verfinsterung gewährte eine Ruhepause. Und nach einer Weile begann man zu vergessen, dass fast jede Farbe eine Schattierung von Rot war. Und diese Welt hatte etwas bequem Sicheres; diese Menschen hielten seit fast tausend Jahren einen gedeihlichen Frieden. Also gab es hier vielleicht Weisheit…

Abrupt, ohne aus der Tonfolge von Trivialitäten herauszufallen, sagte Larson: »Sie haben also vor, das Geheimnis der Larson-Orter zu ergründen?«

Pham wusste, dass sein überraschter Gesichtsausdruck nicht über die Augen hinaus ging. »Zunächst würde ich gern ergründen, ob so etwas überhaupt existiert. Die Gerüchte sind sehr spektakulär — und sehr vage.«

Die Zähne des alten Mannes blitzten in einem Lächeln auf. »Oh, sie existieren.« Er machte eine Geste, die die ganze Umgebung einbezog. »Sie verschaffen mir überall Augen. Sie machen die Finsternis zum Tage.«

»Verstehe.« Der alte Mann trug keine Datenbrille. Wusste er Phams spöttischen Gesichtsausdruck zu deuten?

Larson lachte leise. »O ja.« Er berührte seine Schläfe dicht hinter dem Auge. »Genau hier sitzt einer. Die anderen richten sich an ihm aus und stimulieren exakt meinen Sehnerv. Das erfordert auf beiden Seiten eine Menge Übung. Wenn man genug Larson-Orter hat, werden sie mit der Aufgabe fertig. Sie können Ansichten aus jeder Richtung zusammensetzen, die mir beliebt.« Er machte eine undeutliche Bewegung mit den Händen. »Ihr Gesichtsausdruck ist für mich klar wie am hellen Tag, Pham Nuwen. Und über die Orter, die sich wie Staub auf Ihre Hände und Ihren Hals gelegt haben, kann ich sogar in Ihr Inneres blicken. Ich kann hören, wie Ihr Herz schlägt, wie Ihre Lungen atmen. Mit ein wenig Konzentration« — er reckte den Kopf — »kann ich die Blutmengen abschätzen, die durch einzelne Regionen Ihres Gehirns fließen… Sie sind aufrichtig überrascht, junger Mann.«

Pham presste die Lippen zusammen, verärgert über sich selbst. Der Mann hatte über eine Kilosekunde darauf verwandt, ihn zu eichen. Wäre das in einem Büro geschehen, fern von diesem Garten und der stillen Dunkelheit, wäre er viel wachsamer gewesen.

Pham zuckte die Achseln. »Ihre Orter sind bei weitem das Interessanteste am gegenwärtigen Stand der ytrischen Zivilisation. Ich bin sehr daran interessiert, ein paar Exemplare zu erwerben — mehr noch an der Programmbasis und an der Herstellungs-Spezifikation.«

»Wozu?«

»Das dürfte offensichtlich und ohne Bedeutung sein. Die wichtige Frage ist, was ich Ihnen dafür gegeben kann. Ihre Medizin ist schwächer als die von Namqem oder Kielle.«

Larson schien zu nicken. »Sie ist schlechter als die, die wir hier vor dem Niedergang hatten. Wir haben es nie geschafft, alle alten Geheimnisse wiederzuentdecken.«

»Sie haben mich einen jungen Mann genannt«, sagte Pham, »doch wie alt sind Sie selbst, mein Herr? Neunzig? Einhundert?« Pham und seine Leute hatten das ytrische Netz sorgfältig beobachtet, als sie die Medizin der Einheimischen abschätzten.

»Einundneunzig von Ihren Jahren zu dreißig Megasekunden«, sagte Larson.

»Nun, ich habe einhundertsiebenundzwanzig Jahre gelebt. Nicht gerechnet den Kälteschlaf, natürlich.« Und ich sehe wie ein junger Mann aus.

Larson schwieg für einen langen Augenblick, und Pham war sicher, dass er einen Punkt gewonnen hatte. Vielleicht waren diese ›Philosophen-Magnaten‹ doch nicht so unergründlich.

»Ja, ich wäre gern wieder jung. Und Millionen würden Millionen zum selben Zweck ausgeben. Was kann Ihre Medizin leisten?«

»Ein, zwei Jahrhunderte, in denen man ungefähr so aussieht, wie Sie mich sehen. Und zwei oder drei Jahrhunderte, in denen man sichtlich altert.«

»Ah. Das ist sogar etwas mehr, als wir vor dem Niedergang erreicht hatten. Aber die sehr Alten werden so schlecht aussehen und so sehr leiden wie die Alten immer. Es gibt innere Schranken, über die hinaus man keinen menschlichen Körper treiben kann.«

Pham schwieg höflich, doch insgeheim lächelte er. Die Medizin war der Köder, gut. Pham würde ihre Orter als Gegenleistung für anständige medizinische Wissenschaft bekommen. Beide Seiten würden enorm profitieren. Magnat Larson würde noch ein paar Jahrhunderte zusätzlich leben. Wenn er Glück hatte, würde der gegenwärtige Zyklus der Zivilisation ihn überdauern. Doch in tausend Jahren, wenn Larson Staub sein würde, wenn seine Zivilisation zusammengebrochen wäre, wie es alle planetengebundenen Zivilisationen unweigerlich taten — in tausend Jahren würden Pham und die Dschöng Ho noch immer zwischen den Sternen fliegen. Und sie würden immer noch die Larson-Orter haben.

Larson machte ein seltsames, leises Geräusch. Nach einem Moment erkannte Pham, dass es hustendes Lachen war. »Ach, entschuldigen Sie. Sie mögen ja einhundertsiebenundzwanzig Jahre alt sein, aber im Geiste sind Sie immer noch ein junger Mann. Sie verstecken sich hinter der Dunkelheit und einem ausdruckslosen Gesicht — nehmen Sie’s mir nicht übel. Sie haben nicht die richtigen Verkleidungen geübt. Mit meinen Ortern sehe ich Ihren Puls und den Blutfluss in Ihrem Gehirn… Sie denken, dass Sie eines Tages auf meinem Grabe tanzen werden, nicht wahr?«

»Ich…« Verdammt! Ein Experte, der die allerbesten invasiven Sonden benutzte, konnte nicht so viel von der Haltung eines anderen ausmachen. Larson riet einfach — oder die Orter waren ein noch größerer Schatz, als Pham geglaubt hatte. Phams Ehrfurcht und Vorsicht bekamen einen Anflug von Wut. Der Mann machte sich über ihn lustig. Schön dann, wahrheitsgemäß: »In gewissem Sinne ja. Wenn Sie auf den Handel eingehen, den ich mir erhoffe, werden Sie ebenso viele Jahre leben wie ich. Doch ich bin einer von der Dschöng Ho. Ich schlafe Jahrzehnte zwischen den Sternen. Ihr Kundenzivilisationen seid für uns kurzlebig und vergänglich.« So. Das dürfte deinen Blutdruck hochtreiben.

»Flottenkapitän, Sie erinnern mich ein wenig an Fred da unten im Teich. Wiederum, nichts für ungut im Grunde. Fred ist ein Luksterfiske.« Er musste wohl von dem Wesen sprechen, das Pham nahe beim Wasserfall hatte tauchen sehen. »Fred ist auf eine Menge Dinge neugierig. Er wuselt seit Ihrer Ankunft herum und versucht, sich einen Reim auf Sie zu machen. Sehen Sie, wie er jetzt gerade am Rande des Teiches sitzt? Zwei gepanzerte Fühler kitzeln das Gras ungefähr drei Meter von Ihren Füßen entfernt.«

Pham verspürte eine jähe Überraschung. Er hatte das für Ranken gehalten. Er verfolgte die schlanken Glieder bis zum Wasser zurück… ja, da waren vier Augenstiele, vier lidlose Augen. Sie glitzerten gelb im schwindenden Licht von Trygves Himmelsbogen. »Fred lebt schon lange. Archäologen haben seine Zuchtpapiere gefunden, ein kleines Experiment mit wildem einheimischem Leben kurz vor dem Niedergang. Er war das Haustier irgendeines reichen Mannes, ungefähr so klug wie ein Hund. Aber Fred ist sehr alt. Er hat den Niedergang durchlebt. Er war eine Art Legende in dieser Gegend. Sie haben Recht, Flottenkapitän; Sie haben lange genug gelebt, um vieles zu sehen. Im Mittelalter war Dirby erst eine Ruine, dann der Anfang eines großen Königreichs — dessen Herren Bergbau nach den Geheimnissen des früheren Zeitalters betrieben und großen Gewinn daraus zogen. Eine Zeit lang war dieser Hügel der Senat jener Herrscher. Während der Renaissance war es ein Elendsviertel und der See am Fuße des Hügels ein offenes Abwasserbecken. Sogar der Name ›Huskestrade‹ — der Inbegriff der besten modernen Adressen in Dirby — hat einmal etwas wie ›Straße der Aborthäuschen‹ geheißen.

Aber Fred hat das alles überlebt. Er war die Legende der Rieselfelder, und vernünftige Leute glaubten bis vor drei Jahrhunderten nicht an seine Existenz. Nun lebt er in allen Ehren — im saubersten Wasser.« In der Stimme des alten Mannes klang Zuneigung. »Also hat Fred lange gelebt und viel gesehen. Er ist intellektuell noch lebendig, soweit ein Luskerfiske es sein kann. Sehen sie, wie er die kugeligen Augen auf uns gerichtet hält. Aber Fred weiß viel weniger von der Welt und von seiner eigenen Geschichte als ich aus der Lektüre der Geschichtsbücher.«

»Keine gültige Analogie. Fred ist ein dummes Tier.«

»Stimmt. Sie sind ein kluger Mensch und fliegen zwischen den Sternen. Sie leben ein paar hundert Jahre, doch diese Jahre sind über einen Zeitraum verteilt, der so lang wie der von Fred ist. Wie viel mehr sehen Sie wirklich? Zivilisationen streben empor und vergehen, doch alle technischen Zivilisationen kennen jetzt die größten Geheimnisse. Sie wissen, welche sozialen Mechanismen normalerweise funktionieren und welche rasch versagen. Sie kennen die Mittel, um den Zusammenbruch hinauszuzögern und die idiotischsten Katastrophen zu vermeiden. Sie wissen, dass dennoch jede Zivilisation unweigerlich untergehen muss. Die Elektronik, die Sie von mir haben möchten, existiert vielleicht nirgendwo sonst im Menschenraum — doch ich bin sicher, dass Menschen ebenso gute Geräte schon früher erfunden haben und wieder erfinden werden. Ebenso die Medizintechnik, von der Sie zu Recht annehmen, dass wir sie von Ihnen haben möchten. Die Menschheit als Ganzes ist in einem statischen Zustand, wenngleich unser Gebiet sich langsam ausdehnt. Ja, im Vergleich zu Ihnen bin ich eine Eintagsfliege. Doch ich sehe ebenso viel wie Sie; ich lebe ebenso viel. Ich kann meine Geschichtsaufzeichnungen studieren und die Funkmeldungen, die zwischen den Sternen kursieren. Ich kann all die Vielfalt von Triumph und Barbarei sehen, die ihr von der Dschöng Ho vollbringt.«


»Wir sammeln das Beste. Bei uns geht es nie verloren.«

»Ich frage mich, ob das stimmt. Da war eine andere Handelsflotte, die nach Trygve Ytre kam, als ich ein junger Mann war. Sie waren völlig verschieden von Ihnen. Andere Sprache, andere Kultur. Interstellare Kauffahrer sind einfach eine ökologische Nische, keine Kultur.« Das behauptete auch Sura. Hier in dem uralten Garten schienen die leisen Worte schwerer zu wiegen, als wenn Sura Vinh sie aussprach; Gunnar Larsons Stimme war fast hypnotisch. »Diese früheren Kauffahrer hatten nicht solche Attitüden wie Sie, Flottenkapitän. Sie hofften, ihr Vermögen zu machen, um schließlich irgendwo anders hin zu fliegen und eine planetare Zivilisation zu gründen.«

»Dann wären sie keine Kauffahrer mehr.«

»Stimmt; vielleicht wären sie mehr als das. Sie sind in vielen Planetensystemen gewesen. Ihr Manifest besagt, dass Sie eine Anzahl Jahre bei Namqem verbracht haben, lange genug, um eine planetare Zivilisation schätzen zu lernen. Wir haben Hunderte von Millionen Menschen, die höchstens ein paar Lichtsekunden voneinander entfernt leben. Das lokale Netz, das Trygve Ytre umspannt, gibt fast jedem Bürger ein Bild vom Menschenraum, das Sie nur bekommen können, wenn Sie einen Hafen anlaufen… Am ehesten kann man Ihr Kauffahrerleben zwischen den Sternen als geistiges Hinterwäldlertum bezeichnen.«

Pham erkannte den Bezug nicht, doch er begriff, was der andere meinte. »Magnat Larson, ich wundere mich, dass Sie lange leben wollen. Sie haben alles so schön herausbekommen — ein Universum ohne jeden Fortschritt, wo alles stirbt und nichts von Wert angesammelt wird.« Phams Worte waren teils Sarkasmus, teils aufrichtige Verwunderung. Gunnar Larson hatte neue Sichten eröffnet, und die waren trostlos.

Ein Seufzen, kaum hörbar. »Sie lesen nicht besonders viel, nicht wahr, Junge?« Seltsam. Pham glaubte nicht, dass sein Gegenüber ihn immer noch sondierte. In der Frage lag etwas wie traurige Belustigung.

»Ich lese genug.« Selbst Sura beklagte sich, dass Pham zu viel Zeit mit Handbüchern verbrachte. Doch Pham hatte spät angefangen und verbrachte seither sein ganzes Leben mit dem Versuch, aufzuholen. Was machte es also, wenn seine Bildung ein bisschen schief war?

»Sie fragen mich nach der wirklichen Hauptsache. Jeder von uns muss diesbezüglich seinen eigenen Weg gehen, Flottenkapitän. Verschiedene Wege — jeder hat seine Vorzüge, seine Gefahren. Doch um Ihres eigenen Menschseins willen sollten Sie beachten: Jede Zivilisation hat ihre Zeit. Jede Wissenschaft hat ihre Grenzen. Und jeder von uns muss sterben, nachdem er weniger als ein halbes Jahrtausend gelebt hat. Wenn Sie diese Grenzen wirklich verstehen, dann sind Sie bereit, erwachsen zu werden, zu wissen, was zählt.« Er schwieg eine Zeit lang. »Ja… lauschen Sie einfach dem Frieden. Es ist eine Gabe, dazu imstande zu sein. Zu viel Zeit wird mit hastigem Hin und Her vertan. Lauschen Sie auf den Wind in den Lestras. Sehen Sie zu, wie Fred versucht, uns zu begreifen. Hören Sie dem Lachen ihrer Kinder und Enkelkinder zu. Erfreuen Sie sich der Zeit, die Sie haben, wie auch immer sie Ihnen gegeben ist und für wie lange.«

Larson lehnte sich im Sessel zurück. Er schien in die Sternenlose Dunkelheit hinauszustarren, die die Mitte von Trygves Scheibe war. Der Lichtbogen von der verdeckten Sonne war trübe und zog sich gleichmäßig rings um die Scheibe. Die Blitze waren längst verschwunden; Pham vermutete, dass man sie nur aus bestimmten Blickwinkeln in Bezug auf die Ausrichtung von Trygves Gewitterfronten sah. »Ein Beispiel, Flottenkapitän. Sitzen Sie da und fühlen und sehen Sie: Manchmal gibt es in der Mitte der Verfinsterung etwas besonders Schönes. Beobachten Sie die Mitte von Trygves Scheibe.« Sekunden vergingen. Pham starrte nach oben. Trygves niedere Breiten waren normalerweise so dunkel… doch jetzt: Da war ein schwaches Rot, so schwach, dass Pham glaubte, es könnte pure suggerierte Einbildung sein. Das Licht wurde langsam heller, ein tiefes, tiefes Rot, wie Schwertstahl, der noch zu kalt für den Hammer ist. Dunkle Streifen liefen darüber hinweg.

»Das Licht kommt aus den Tiefen von Trygve selbst. Wir wissen, das wir etwas Wärme vom Planeten selbst bekommen. Manchmal, wenn die Wolkenschluchten gerade richtig orientiert und die oberen Stürme verschwunden sind, können wir sehr tief blicken — und wir sehen seinen Schein mit bloßem Auge.« Das Licht strahlte ein wenig heller. Pham schaute sich im Garten um. Alles war rot getönt, doch er konnte mehr sehen als bei den Blitzen. Die hohen, rankenbedeckten Bäume über dem Teich — sie waren Teil des Wasserfalls, lenkten das Wasser in zusätzliche Wirbel und Tümpel. Wolken von fliegenden Wesen bewegten sich zwischen den Zweigen, und ein paar Augenblicke lang sangen sie. Fred war vollends aus dem Teich gestiegen. Er saß auf einer Vielzahl von Ruderfüßen, und seine kürzeren Tentakel ragten empor, dem Licht am Himmel entgegen.

Schweigend sahen sie zu. Pham hatte Trygve mit Multispektralfiltern beobachtet, als er von den Planetoiden heranflog. Er sah jetzt nichts, was ihm neu gewesen wäre. Die ganze Vorstellung war nur ein Zusammentreffen von Geometrie und dem richtigen Zeitpunkt. Und dennoch… an einen einzigen Ort gebunden, auf einem Kurs, der nicht von Menschenhand festgelegt war, verstand er, wie Kunden vielleicht beeindruckt sein mochten, wenn das Weltall sich herbeiließ, etwas zu enthüllen. Es war lächerlich, doch er empfand selbst etwas von der Ehrfurcht.

Und dann war Trygves Herz wieder dunkel, und das Singen in den Bäumen erstarb; die ganze Vorstellung hatte keine hundert Sekunden gedauert.

Es war Larson, der das Schweigen brach. »Ich bin sicher, dass wir ins Geschäft kommen, junger-alter Mann. In einem Maße, das ich nicht enthüllen sollte, wollen wir Ihre Medizintechnik haben. Dennoch wäre ich Ihnen für eine Antwort auf meine ursprüngliche Frage dankbar. Was werden Sie mit den Larson-Ortern tun? Unter den Nichtsahnenden sind sie ein Wunder der Spionage. Missbraucht führen sie zu staatlicher Totalregulierung und zum raschen Ende der Zivilisation. Wem werden Sie sie verkaufen?«

Aus irgendeinem Grund antwortete ihm Pham freimütig. Während der östliche Rand von Trygve langsam heller wurde, erklärte Pham seine Vision vom Imperium, vom Reich der ganzen Menschheit. Das hatte er noch nie jemandem erzählt, der bloß Kunde war. Er erzählte es nur bestimmten Leuten von der Dschöng Ho, denen, die am klügsten und flexibelsten wirkten. Selbst dann konnten die meisten nicht den ganzen Plan akzeptieren. Die meisten waren wie Sura, sie lehnten Phams wahres Ziel ab, waren aber eher bereit, von einer echten Dschöng-Ho-Kultur zu profitieren. »… Wir könnten also die Orter behalten. Das wird uns Umsatz kosten, doch wir brauchen einen Vorteil gegenüber den Kundenzivilisationen. Die gemeinsame Sprache, die synchronisierten Flugpläne, unsere öffentlichen Datenbanken — das alles wird unserer Dschöng Ho eine zusammenhängende Kultur geben. Doch Werkzeuge wie diese Orter werden uns einen Schritt darüber hinaus führen. Am Ende werden wir nicht zufällige Bewohner der ›Handelsnische‹ sein, sondern die überlebende Kultur der Menschheit.«

Larson schwieg lange. »Einen wunderbaren Traum haben Sie da, Junge«, sagte er dann. Die versteckte Belustigung war aus seiner Stimme verschwunden. »Ein Bund der Menschheit, der das Rad der Zeit zerbricht. Tut mir Leid, ich kann nicht glauben, dass wir jemals den Gipfel Ihres Traums erreichen werden. Aber die Vorberge, die unteren Hänge… die sind wunderbar — und vielleicht zu erreichen. Die hellen Zeitalter könnten heller sein und länger dauern…«

Larson war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, Kunde oder nicht. Doch aus welchem Grunde auch immer trug er dieselben Scheuklappen wie Sura Vinh. Pham ließ sich auf die weiche Holzbank zurücksinken. Nach einer Weile fuhr Larson fort: »Sie sind enttäuscht. Sie haben genug Achtung vor mir, um auf mehr zu hoffen. Vieles sehen Sie richtig, Flottenkapitän. Sie sehen phänomenal klar für jemanden aus… aus dem Hinterwald.« Seine Stimme schien sanft zu lächeln. »Wissen Sie, der Stammbaum meiner Familie reicht zweitausend Jahre zurück. Für einen Kauffahrer ist das ein Wimpernschlag — aber nur, weil die Kauffahrer die meiste Zeit im Schlaf verbringen. Und zu der Weisheit, die wir direkt erworben haben, haben ich und die vor mir von anderen Orten und Zeiten gelesen, von hundert Welten, von tausend Zivilisationen. An Ihren Ideen ist manches, was funktionieren könnte. Es ist manches daran, das plausiblere Hoffnungen weckt als alles andere seit dem Zeitalter der Gescheiterten Träume. Ich glaube, ich habe Erkenntnisse, die nützlich sein könnten…«

Die restliche Verfinsterung hindurch redeten sie, bis der westliche Rand von Trygve heller wurde, aus den Tiefen des Planeten die Sonnenscheibe hervorwuchs und in den offenen Himmel stieg. Der Himmel hellte sich auf und wurde blau. Und noch immer sprachen sie. Nun war es Gunnar Larson, der am meisten zu sagen hatte. Er versuchte sich deutlich auszudrücken, und Pham registrierte, was der alte Mann sagte. Doch vielleicht war Aminesisch als Mittlersprache zwischen ihnen doch nicht so perfekt, wie Pham gedacht hatte; er verstand vieles nicht, was Larson sagte.

Beiläufig schlossen sie einen Handel ab, der Phams gesamte medizinische Ladeliste und die Larson-Orter einschloss. Es waren noch andere Dinge enthalten — Zuchtexemplare der Wesen, die in der Mitte der Verfinsterung gesungen hatten —, doch alles in allem war der Handel sehr leicht abzuschließen. Beide Seiten hatten so großen Nutzen… und Pham war überwältigt von den anderen Dingen, die Gunnar Larson zu sagen hatte, von den Ratschlägen, die vielleicht wertlos waren, aber einen Beigeschmack von Weisheit hatten.

Phams Reise nach Trygve Ytre war eine der einträglicheren in seiner Kauffahrer-Laufbahn, doch es war das dunkelrote Gespräch mit dem ytrischen Mystiker, das sich am tiefsten in Phams Erinnerung festsetzte. Später war er überzeugt, Larson habe ihn irgendwelchen psychoaktiven Drogen ausgesetzt; sonst wäre Pham nie so leicht zu beeindrucken gewesen. Doch… vielleicht war das egal. Gunnar Larson hatte gute Ideen gehabt — zumindest soweit Pham sie verstehen konnte. Der Garten und das Gefühl von Frieden, das ihn umgab — das war stark und beeindruckend. Als er von Trygve Ytre zurückkehrte, verstand Pham den Frieden, der von einem lebendigen Garten ausging, und er verstand die Kraft, die schon dem bloßen Anschein von Weisheit innewohnte. Die beiden Erkenntnisse konnten verbunden werden. Biologisches war immer ein wesentliches Handelsgut gewesen…, doch nun würde es mehr sein. Die neue Dschöng Ho würde im Herzen eine Ethik von Lebewesen tragen. Jedes Raumfahrzeug, das einen Park unterhalten konnte, sollte einen bekommen. Die Dschöng Ho würde das Beste aus der Welt der Lebewesen ebenso fanatisch sammeln, wie sie das Beste an Technik sammelte. Dieser Teil von den Ratschlägen des alten Mannes war sehr deutlich gewesen. Die Dschöng Ho würde den Ruf haben, Lebewesen zu verstehen, eine zeitlose Anhänglichkeit für die Natur zu besitzen.

So entstanden die Traditionen von Parks und Bonsai. Die Parks waren ein erheblicher Kostenfaktor, doch in den Jahrtausenden seit Trygve Ytre waren sie die nachhaltigste und am meisten geliebte von allen Traditionen der Dschöng Ho geworden.

Und Trygve Ytre und Gunnar Larson? Larson war natürlich seit Jahrtausenden tot. Die Zivilisation von Ytre hatte ihn kaum überlebt. Es hatte ein Zeitalter von staatlicher Totalregulierung gegeben und eine Art verstreuten Terror. Höchstwahrscheinlich hatten Larsons eigene Orter das Ende beschleunigt. All die Weisheit, all die Unergründlichkeit hatten seiner Welt nicht viel genützt.


Pham rutschte ein Stück in seiner Hängematte. An Ytre und Larson zu denken, hinterließ bei ihm immer eine Beklemmung. Es war Zeitverschwendung… außer heute Nacht. Heute brauchte er die Stimmung aus der Zeit nach diesem Treffen. Er brauchte etwas von der kinästhetischen Erinnerung an den Umgang mit den Ortern. Es mussten inzwischen Dutzende im Zimmer sein. Wie war das Muster von Bewegung und Körperzustand, das sie anstoßen würde, ihm zu antworten? Pham zog die Lasche der Hängematte ganz über seine Hände. Drinnen bewegten sich seine Finger auf einer imaginären Tastatur. Das war wohl zu offensichtlich. Solange er keine Verbindung hatte, dürften Tastendrücke und dergleichen keine Wirkung haben. Pham seufzte, änderte abermals Puls und Atmung… und rief sich das ehrfürchtige Staunen seiner ersten Sitzungen mit den Larson-Ortern in Erinnerung.

Ein fahlblaues Licht, blauer als blau, blinkte einmal am Rande seines Gesichtsfeldes auf. Pham öffnete die Augen einen Spalt breit. Das Zimmer lag in mitternächtlicher Dunkelheit. Das Ruhelicht der Wand war zu schwach, um Farben erkennen zulassen. Nichts bewegte sich außer dem langsamen Treiben seiner Hängematte im Luftzug des Ventilators. Das blaue Licht war woanders hergekommen. Aus dem Innern seines Sehnervs. Pham schloss die Augen, wiederholte die Atemübung. Das blaue, blinkende Licht erschien abermals. Es war die Wirkung eines von einem Orterfeld gemeinsam erzeugten Strahls, abgestrahlt von den beiden, die er an seiner Schläfe und in seinem Ohr untergebracht hatte. Für eine Kommunikation war das sehr grobschlächtig, nicht beeindruckender als die zufälligen Lichtfünkchen, die die meisten Leute ständig ignorieren. Das System war darauf programmiert, äußerst vorsichtig zu sein, wenn es sich offenbarte. Diesmal hielt er die Augen geschlossen und änderte weder seine Atmung noch den ruhigen Puls. Er krümmte zwei Finger zur Handfläche hin. Eine Sekunde verstrich. Das Licht antwortete mit einem erneuten Blinken. Pham räusperte sich, wartete, bewegte den rechten Arm auf ganz bestimmte Weise. Das blaue Licht blinkte: eins, zwei, drei… Es war eine Impulsfolge, die für ihn binär zählte. Er gab sie zurück und benutzte dabei die Codes, die vor langer Zeit festgelegt worden waren.

Er war am Ruf-Antwort-Modul vorbei. Er war drin! Die Lichter, die hinter seinen Augen flackerten, waren fast zufällige Stimuli. Es würde Kilosekunden dauern, bis er dem Orternetz die Präzision antrainiert hatte, die diese Art Darstellung haben konnte. Der Sehnerv war einfach zu groß, zu komplex, um sofort klare Bilder einzugeben. Egal. Das Netz redete jetzt verlässlich mit ihm. Die alten Anpassungen kamen aus dem Versteck. Die Orter hatten seine physischen Parameter festgestellt; von nun an konnte er mit ihnen auf alle möglichen Arten reden. Ihm blieben von seiner gegenwärtigen Wache noch fast drei Megasekunden. Das sollte genügen, um das absolut Notwendige zu tun, ins Flottennetz einzudringen und eine neue Tarngeschichte anzulegen. Was sollte es sein? Etwas Peinliches, ja. Ein peinlicher Grund, warum ›Pham Trinli‹ all die Jahre den Clown gespielt hatte. Eine Geschichte, mit der Nau und Brughel etwas anfangen konnten und von der sie glauben würden, sie könnten sie als Druckmittel gegen ihn verwenden. Was?

Pham fühlte, wie sich ein Lächeln auf sein Gesicht stahl. Zamle Eng, möge deine Sklavenhändler-Seele in der Hölle verfaulen. Du hast mir so viel Kummer bereitet. Vielleicht kannst du mir postum einen Dienst erweisen.

Dreiundzwanzig

›Die Kinderstunde der Wissenschaft.‹ Was für ein unschuldiger Name. Ezr kehrte von seiner langen Freiwache zurück und stellte fest, dass sie sein persönlicher Albtraum geworden war. Qiwi hat es mir versprochen; wie konnte sie das zulassen! Aber jede Live-Vorstellung war ein größerer Zirkus als die zuvor.

Und heute konnte es die bisher schlimmste werden. Mit etwas Glück auch die letzte.

Ezr schwebte etwa tausend Sekunden vor Beginn der Vorstellung bei Benny ein. Bis zum letzten Augenblick hatte er vorgehabt, es sich von seinem Zimmer aus anzusehen, aber der Masochismus hatte wieder eine Runde gewonnen. Er setzte sich unter die Menge und hörte schweigend dem Geplauder zu.

Bennys Biersalon war die zentrale Institution ihrer Existenz bei L1 geworden. Der Salon war jetzt sechzehn Jahre alt. Benny selbst war in einem Fünfundzwanzig-Prozent-Dienstzyklus; er und sein Vater teilten sich in den Betrieb mit Gonle Fong und anderen. Die alte Bildtapete hatte stellenweise Blasen bekommen, an manchen Stellen funktionierte die Illusion einer dreidimensionalen Ansicht nicht mehr. Alles hier war inoffiziell, entweder von anderen Stellen der L1-Wolke angeeignet oder aus Diamanten und Eis und Luftschnee hergestellt. Ali Lin hatte sogar eine Pilzmatrix hervorgebracht, die die Züchtung unglaublichen Holzes mitsamt Maserung und einer Art Jahresringen erlaubte. Irgendwann während Ezrs langer Abwesenheit waren die Bar und die Wände alle mit dunklem, poliertem Holz getäfelt worden. Es war nun ein gemütlicher Ort, fast etwas, das freie Menschen von der Dschöng Ho machen könnten…

In die Tische des Salons waren Namen von Leuten geritzt, die man vielleicht jahrelang nicht gesehen hatte, deren Wachen sich nicht mit der eigenen überschnitten. Das Bild über der Bar war eine ständig aktualisierte Kopie von Naus Wachplan. Wie bei den meisten Dingen benutzten die Aufsteiger die übliche Dschöng-Ho-Notation. Ein einziger Blick auf den Plan, und man sah, wie viele Megasekunden — objektive oder persönliche Zeit — es dauern würde, bis man eine bestimmte Person treffen konnte.

Während Ezrs Freiwache hatte Benny Zusätze am Wachplan angebracht. Jetzt zeigte er das aktuelle Spinnendatum, in Trixias Schreibweise: 60//21. Das einundzwanzigste Jahr der gegenwärtigen Spinnen-›Generation‹, welches der sechzigste Sonnenzyklus seit der Gründung irgendeiner Dynastie war. Es gab eine alte Redensart bei der Dschöng Ho: »Man merkt, dass man zu lange geblieben ist, wenn man anfängt, den Kalender der Einheimischen zu verwenden.« 60//21. Einundzwanzig Jahre seit dem Aufflammen, seit Jimmy und die anderen gestorben waren. Nach den Zahlen für Generation und Jahr kamen die Nummer des Tages und die Zeit nach Ladille-Art in ›Stunden‹ und ›Minuten‹, ein System auf der Basis von 60, das zu erklären die Übersetzer sich nie die Mühe gemacht hatten. Und jetzt konnten alle, die in die Bar kamen, diese Zeit so leicht lesen wie ein Dschöng-Ho-Chrono. Sie wussten auf die Sekunde genau, wann Trixias Vorstellung beginnen würde.

Trixias Vorstellung. Ezr biss die Zähne zusammen. Eine öffentliche Sklavenschau, und das Schlimmste war, dass niemand etwas dabei zu finden schien. Stück für Stück verwandeln wir uns in Aufsteiger.

Jau Xin und Rita Liao und ein halbes Dutzend andere Paare — darunter zwei von der Dschöng Ho — drängten sich um ihre üblichen Tische und plapperten darüber, was heute geschehen könnte. Ezr saß am Rand der Gruppe, fasziniert und abgestoßen. Heutzutage waren sogar manche von den Aufsteigern seine Freunde. Jau Xin zum Beispiel. Xin und Liao hatten viel von der moralischen Blindheit der Aufsteiger, aber sie hatten auch anrührende, menschliche Probleme. Und manchmal, wenn niemand anderes es bemerken konnte, sah Ezr etwas in Xins Augen. Jau war klug, hatte wissenschaftliche Neigungen. Ohne sein Glück in der Aufsteiger-Lotterie hätte seine Universitätszeit zum Fokus geführt. Die meisten Aufsteiger konnten sich gedanklich um solche Dinge herummogeln, Jau konnte es manchmal nicht.

»… solche Angst, dass es die letzte Sendung sein wird.« Rita Liao wirkte echt verzweifelt.

»Mach dir deswegen keine Gedanken, Rita. Wir wissen nicht einmal, ob es ein ernstes Problem ist.«

»Das garantiert.« Gonle Fong kam Kopf voran von oben herabgeschwebt. Sie verteilte ringsum Flaschen von ›Diamant und Eis‹. »Ich denke, die Blitzköpfe…« Sie warf einen entschuldigenden Blick auf Ezr. »Ich denke, die Übersetzer sind nun doch außer Tritt gekommen. Die Werbung für diese Sendung ergibt überhaupt keinen Sinn.«

»Nein, nein. Sie ist wirklich ganz klar.« Es war einer der Aufsteiger mit einer ziemlich guten Erklärung, worum es bei der ›Unzeit-Perversion‹ ging. Das Problem lag nicht bei den Übersetzern; das Problem betraf die menschliche Fähigkeit, das Bizarre zu akzeptieren.

›Die Kinderstunde der Wissenschaft‹ war die erste Sprachübertragung gewesen, die Trixia und die anderen übersetzt hatten. Schon den Ton den zuvor übersetzten schriftlichen Formen zuzuordnen. Die frühen Sendungen — vor fünfzehn objektiven Jahren — waren gedruckte Übersetzungen gewesen. Sie waren in Bennys Salon diskutiert worden, aber mit demselben abstrakten Interesse wie die neuesten Blitzkopf-Theorien über den EinAus-Stern. Im Laufe der Jahre war die Sendung an sich populär geworden. Aber irgendwann in den letzten fünfzig Megasekunden hatte Qiwi eine Vereinbarung mit Trud Silipan geschlossen. Alle neun oder zehn Tage wurden Trixia und die anderen Übersetzer ausgestellt, eine Live-Vorstellung. In dieser Wache hatte Ezr noch keine zehn Worte mit Qiwi gewechselt. Sie hat versprochen, sich um Trixia zu kümmern. Was sagt man zu jemandem, der solch ein Versprechen bricht? Selbst jetzt glaubte er nicht, das Qiwi eine Verräterin sei. Aber sie vögelte mit Tomas Nau. Vielleicht nutzte sie diese ›Position‹, um Dschöng-Ho-Interessen zu schützen. Vielleicht. Am Ende schien es alles Nau zum Vorteil zu gereichen.

Ezr hatte jetzt vier ›Vorstellungen‹ gesehen. Mehr als jeder normale menschliche Übersetzer, viel mehr als jedes maschinelle System ließ jeder Blitzkopf Gefühl und Körpersprache in die Übersetzung einfließen.

›Rappaport Grabber‹ war der Name der Blitzköpfe für den Moderator der Sendung. (Wo nehmen sie diese verrückten Namen her? Das fragten die Leute immer noch. Ezr wusste, dass die Namen größtenteils von Trixia kamen. Das war eins von den wenigen Dingen, über die er mit Trixia wirklich reden konnte, seine Kenntnis des Ersten Klassizismus. Manchmal fragte sie ihn nach neuen Wörtern. Eigentlich hatte Ezr vor Jahren den Namen ›Grabber‹ vorgeschlagen. Das Wort passte zu etwas, das er im Hintergrund dieses speziellen Spinns sah.) Ezr kannte den Übersetzer, der Rappaport Grabber spielte. Außerhalb der Vorstellung war Zinmin Broute ein typischer Blitzkopf, irritierbar, fixiert, unkommunikativ. Doch jetzt, als er als Spinn Rappaport Grabber auftrat, war er freundlich und schwatzhaft, jemand, der den Kindern geduldig Erklärungen gab… Es war, als sähe man einen Zombie, der für kurze Zeit von der Seele eines anderen belebt wurde.

Jede neue Wache sah die Spinnenkinder etwas anders. Schließlich gingen die meisten Wachen nur über einen fünfundzwanzigprozentigen Dienstzyklus; die Spinnenkinder lebten vier Jahre für jedes Jahr, das die meisten Raumfahrer lebten. Rita und ein paar von den anderen unternahmen es, sich Menschenkinder passend zu den Stimmen vorzustellen. Die Bilder waren über die Bildtapeten des Salons verstreut. Bilder imaginärer Menschenkinder mit den von Trixia gewählten Namen. ›Jirlib‹ war klein, mit zerzaustem schwarzem Haar und einem spitzbübischen Lächeln. ›Brent‹ war größer, sah aber nicht so großspurig wie sein Bruder aus. Benny hatte ihm erzählt, wie Ritser Brughel einmal die lächelnden Gesichter durch Bilder von echten Spinnen ersetzt hatte: langbeinig, skelettartig, gepanzert — Bilder von den Statuen, die Ezr bei seiner Landung auf der Arachna gesehen hatte, ergänzt mit niedrig auflösenden Aufnahmen von den Schnüffelsatelliten.

Brughels Vandalismus hatte keine Rolle gespielt; er verstand nicht, was sich hinter der Beliebtheit der ›Kinderstunde‹ verbarg. Tomas Nau verstand es offensichtlich und war vollkommen zufrieden, dass die Kunden in Bennys Biersalon das größte Personalproblem sublimieren konnten, mit dem sich sein kleines Reich konfrontiert sah. Mehr noch als die Dschöng-Ho-Expedition hatten die Aufsteiger erwartet, im Luxus zu leben. Sie hatten erwartet, es würde ständig zunehmende Ressourcen geben, dass daheim geplante Heiraten hier im EinAus-System zu Kindern und Familien führen konnten…

Jetzt war das alles vertagt. Unser eigenes Unzeit-Tabu. Paare wie Xin und Liao hatten nur ihre Zukunftsträume — und die Kinderworte und -gedanken aus der Übersetzung der ›Kinderstunde‹.

Noch vor den Live-Vorstellungen hatten die Menschen bemerkt, dass alle Kinder dasselbe Alter hatten. Jahr für Jahr der Arachna waren sie älter geworden, doch wenn neue Kinder in die Sendung kamen, hatten sie dasselbe Alter wie ihre Vorgänger. Die frühesten Übertragungen waren Vorträge über Magnetismus und statische Elektrizität gewesen, ganz ohne Mathematik. Später führten die Stunden Analysis und quantitative Methoden ein.

Vor etwa zwei Jahren hatte es eine feine Veränderung gegeben, die in den schriftlichen Berichten der Blitzköpfe festgehalten wurde — und die Jau Xin und Rita Liao sofort instinktiv bemerkt hatten: ›Jirlib‹ und ›Brent‹ waren in der Sendung aufgetreten. Sie wurden wie alle anderen Kinder eingeführt, doch Trixias Übersetzungen ließen sie jünger als die anderen erscheinen. Moderator Grabber machte nie eine Bemerkung über den Unterschied, und die Mathe und Naturwissenschaft in der Sendung wurde weiterhin komplizierter.

›Viktoria junior‹ und ›Gokna‹ waren die letzten Zugänge in der Sendung, erst in dieser Wache. Ezr hatte gesehen, wie Trixia sie spielte. Ihre Stimme war mit kindlicher Ungeduld gesprungen, manchmal hatte sie glucksend gelacht. Ritas Bilder zeigten diese beiden Spinnen als lachende Siebenjährige. Es war alles zu weit hergeholt. Warum sollte das Alter von Kindern in der Sendung sinken? Benny behauptete, die Erklärung sei offensichtlich. ›Die Kinderstunde‹ muss unter neuer Leitung sein. Der allgegenwärtige Scherkaner Unterberg war jetzt als Autor der Stunden angegeben. Und Unterberg war anscheinend der Vater aller neuen Kinder.

Als Ezr aus dem Kälteschlaf zurückgekehrt war, hatte die Vorstellung so viel Zulauf gewonnen, dass der Salon bis zu seinem Fassungsvermögen gefüllt war. Ezr sah vier Vorstellungen, jede für ihn persönlich ein Horror. Und dann hörte es plötzlich auf. ›Die Kinderstunde‹ war jetzt seit zwanzig Tagen nicht gesendet worden. Vielmehr hatte es eine trockene Mitteilung gegeben: »Nach zahlreichen Hinweisen von Zuhörern haben die Eigentümer dieser Rundfunkstation festgestellt, dass die Familie von Scherkaner Unterberg die Unzeit-Perversion praktiziert. Bis zur Klärung dieser Situation sind die Sendungen der ›Kinderstunde der Wissenschaft‹ eingestellt.« Broute hatte die Ankündigung mit einer Stimme gelesen, die der von Rappaport Grabber gar nicht ähnelte. Die neue Stimme war kalt und distanziert und voller Abscheu.

Diesmal drang die Fremdartigkeit der Arachna durch all das glatte Wunschdenken. Die Spinnentradition erlaubte neue Kinder also nur zu Beginn einer Neuen Sonne. Die Generationen waren strikt getrennt, jede schritt als gleichaltrige Gruppe durchs Leben: Die Menschen konnten nur raten, warum dem so sein sollte, doch anscheinend war die ›Kinderstunde‹ die Tarnung für eine schwer wiegende Verletzung des Tabus gewesen. Sie fiel für eine geplante Sendung aus. In Bennys Biersalon sah es traurig und leer aus; Rita begann davon zu reden, die dummen Bilder wegzunehmen. Und Ezr begann schon zu hoffen, dies sei vielleicht das Ende des Zirkus.

Doch das war zuviel gehofft. Vor vier Tagen hatte sich die düstere Stimmung plötzlich gelichtet, wenngleich das Geheimnis blieb. Sendungen von Radiostationen überall im ›Goknischen Einklang‹ kündigten an, dass eine Sprecherin der Kirche des Dunkels auf Scherkaner Unterberg treffen würde, um über die ›Anständigkeit‹ seiner Rundfunksendung zu debattieren. Trud Silipan hatte versprochen, dass die Blitzköpfe bereit sein würden, imstande, diese neue Form der Sendung zu übersetzen.

Jetzt zählte Bennys Uhr die verbleibenden Sekunden bis zu dieser Sonderausgabe der ›Kinderstunde‹.

An seinem üblichen Platz an der anderen Seite des Salons schien Trud Silipan die Spannung zu ignorieren. Er und Pham Trinli unterhielten sich in gedämpftem Ton. Die beiden waren ständige Trinkkumpane und planten große Sachen, aus denen nie etwas zu werden schien. Komisch, ich hatte Trinli immer für einen großmäuligen Clown gehalten. Phams Behauptungen über wunderbare Orten hatten sich nicht als leeres Gerede erwiesen; Ezr hatte die Staubkörnchen bemerkt. Nau und Brughel hatten begonnen, die Geräte zu nutzen. Irgendwie hatte Pham Trinli ein Geheimnis über die Orter gekannt, das in den innersten Abschnitten der Flottenbibliothek gefehlt hatte. Ezr Vinh war vielleicht der Einzige, dem das bewusst war, doch Pham Trinli war nicht gänzlich ein Clown. Immer mehr ahnte Ezr, dass der alte Mann überhaupt kein Narr war. Überall in der Flottenbibliothek waren Geheimnisse versteckt, das konnte bei etwas derart Altem und Großem gar nicht anders sein. Doch dass ein derart wichtiges Geheimnis diesem Manne bekannt war… Pham Trinli musste eine lange Vorgeschichte haben.

»He, Trud!«, rief Rita und zeigte auf die Uhr. »Wo sind deine Blitzköpfe?« Die Bildtapete des Salons zeigte noch immer die Wälder irgendeines Naturschutzgebiets auf der Balacrea.

Trud Silipan erhob sich von seinem Tisch und schwebte herunter vor die Menge. »Alles in Ordnung, Leute. Ich hab’s eben gehört.

Radio Weißenberg hat den Vorspann für die ›Kinderstunde‹ gestartet. Direktor Reynolt wird die Blitzköpfe gleich auf die Szene bringen. Sie stimmen sich noch in den Wortfluss ein.«

Liaos Irritation schmolz weg. »Prima! Gut gemacht, Trud.«

Silipan verbeugte sich und kassierte Ehre für etwas, wozu er nicht das Geringste beigetragen hatte. »In ein paar Minuten müssten wir also erfahren, was für seltsame Dinge dieser Unterberg mit seinen Kindern gemacht hat…« Er reckte den Kopf und lauschte auf seinen privaten Dateneingang. »Und da sind sie!«

Die nasse, blaugrüne Waldlandschaft verschwand. Die Bar-Seite des Raums schien sich plötzlich in eins der Versammlungszimmer unten in Hammerfest zu öffnen. Anne Reynolt glitt von rechts ins Bild, ihre Gestalt war von der Perspektive verzerrt; dieser Teil der Tapete kam mit 3D einfach nicht zurecht. Hinter Reynolt erschienen ein paar Techniker und fünf Blitzköpfe… fokussierte Menschen. Eine davon war Trixia.

Und das war der Punkt, wo Ezr zu schreien anfangen wollte — oder an einen dunklen Ort weglaufen und so tun, als existiere die Welt nicht. Normalerweise verbargen die Aufsteiger ihre Blitzköpfe tief im Innern ihres Systems, als empfänden sie einen Rest von Scham. Normalerweise bekamen die Aufsteiger lieber Ergebnisse von Computerbildschirmen und Datenbrillen, nur Graphiken und hygienisch gefilterte Daten. Benny hatte ihm erzählt, dass Qiwis Raritätenschau ursprünglich nur aus den Stimmen der Blitzköpfe bestanden hatte, die in den Salon übertragen wurden. Dann hatte Trud allen von den mimischen Zugaben der Übersetzer erzählt, und die Vorstellung war als Bild gekommen. Gewiss konnten die Blitzköpfe aus dem Ton der Spinnen keine Körpersprache intuitiv erfassen. Das schien keine Rolle zu spielen; die Mimik war vielleicht Unsinn, aber genau das, was die Ghule ringsum sehen wollten.

Trixia trug lockere Arbeitskleidung. Ihr Haar schwebte frei, teilweise verfitzt. Es war noch keine vierzig Kilosekunden her, das Ezr es glattgekämmt hatte. Sie schüttelte ihre Hundeführer ab und griff nach dem Rand eines Tisches. Sie schaute hin und her, murmelte etwas vor sich hin. Sie wischte sich mit dem Ärmel der Arbeitsbluse übers Gesicht und zog sich zu einer Sitzhalterung herab. Die anderen folgten ihr und sahen ebenso geistesabwesend wie Trixia aus. Die meisten trugen Datenbrillen. Ezr wusste, was sie sahen und hörten — die halbfertige automatische Umsetzung der Spinnensprache. Das war Trixias ganze Welt.

»Wir sind synchron, Direktor«, sagte einer der Techniker zu Reynolt.

Die Aufsteiger-Direktorin für menschliche Ressourcen schwebte die Reihe von Sklaven entlang und dirigierte die zappelnden Blitzköpfe aus Gründen umher, die Ezr nicht erraten konnte. Nach all der Zeit wusste Ezr, dass die Frau eine spezielle Begabung hatte. Sie war ein unerbittliches Miststück, aber sie wusste, wie man von den Blitzköpfen Ergebnisse kriegte.

»Gut, lass sie loslegen…« Sie bewegte sich nach oben, um den Blick freizugeben. Zinmin Broute hatte sich auf seinem Sitz hochgereckt und sprach bereits mit seiner gewichtigen Ansagerstimme. »Mein Name ist Rappaport Grabber, und Sie hören ›Die Kinderstunde der Wissenschaft‹…«


Papa hatte sie diesmal alle mit in die Rundfunkstation genommen. Jirlib und Brent waren auf der oberen Plattform des Wagens, sie verhielten sich sehr ernsthaft und erwachsen — und sie sahen den Rechtzeit-Geborenen ähnlich genug, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Rhapsa und Klein Hrunk waren noch winzig genug, um in Papas Fell zu sitzen; es würde noch ein Jahr dauern, bis sie sich nicht mehr gern die Babies der Familie nennen ließen.

Gokna und Viktoria junior saßen hinten im Wagen, jede auf ihrem eigenen Gitter. Viktoria starrte durch das getönte Glas auf die Straßen von Weißenberg hinaus. Bei alledem fühlte sie sich ein wenig königlich. Sie drehte den Kopf verstohlen zu ihrer Schwester hin; vielleicht war Gokna ihre Zofe.

Gokna schniefte gebieterisch. Sie waren einander ähnlich genug, dass sie sicherlich dasselbe dachte — mit sich selbst als Großer Herrscherin. »Papa, wenn du heute die Sendung machst, warum kommen wir dann überhaupt mit?«

Papa lachte. »Oh, man kann nie wissen. Die Kirche des Dunkels glaubt, das Recht für sich gepachtet zu haben. Aber ich frage mich, ob ihre Sprecherin in der Debatte überhaupt irgendwelche Unzeit-Kinder kennt. Unter all der Entrüstung könnte sie sympathisch sein. Sie persönlich ist vielleicht nicht imstande, auf kleine Kinder Feuer zu spucken, nur weil sie nicht das richtige Alter haben.«

Das war möglich. Viktoria dachte an Onkel Hrunk, der die Idee ihrer Familie nicht ausstehen konnte — und sie gleichzeitig gern hatte.

Der Wagen fuhr durch volle Straßen, dann die Hauptstraße entlang, die zu den Hügeln mit dem Radiosender führte. Der Sender Weißenberg war der älteste in der Stadt — Papa sagte, er habe vor dem letzten Dunkel mit dem Sendebetrieb begonnen. Er war ein Militärsender gewesen. In dieser Generation hatten die Besitzer auf den ursprünglichen Fundamenten gebaut. Sie hätten ihre Studios in der Stadt einrichten können, aber sie pochten sehr auf ihre große Tradition. Also war die Fahrt zum Sender aufregend, wie sich die Straße um den Hügel wand, der der allergrößte war, sogar viel größer als derjenige, auf dem sie wohnten. Draußen lag noch Morgenreif auf dem Boden. Viktoria rückte auf Goknas Gitter herüber, und die beiden lehnten sich hinaus, um besser sehen zu können. Es war mitten im Winter und fast in den Mittleren Jahren der Sonne, doch erst zum zweiten Mal sahen sie Reif. Gokna stieß mit einer Hand Richtung Osten. »Schau, wir sind jetzt hoch genug — man kann die Zackenberge sehen!«

»Und es liegt Schnee darauf!« Diese Worte kreischten die beiden gleichzeitig. Doch das ferne Schimmern hatte wirklich die Farbe von Raureif. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis im Gebiet von Weißenberg der Erste Schnee fiel, selbst mitten im Winter. Wie würde es sein, durch Schnee zu gehen? Wie würde es sein, in eine Schneewehe zu fallen? Einen Augenblick lang erwogen die beiden die Fragen und vergaßen die anderen Ereignisse des Tages — die Rundfunkdebatte, die seit zehn Tagen aller Aufmerksamkeit beanspruchte, sogar die der Generalin.

Zuerst hatten alle Kupplinge und besonders Jirlib Angst vor dieser Debatte gehabt. »Das ist das Ende der Sendereihe«, sagte ihr älterer Bruder. »Jetzt weiß die Öffentlichkeit von uns.« Die Generalin war eigens vom Landeskommando heraufgekommen, um ihnen zu sagen, sie brauchten sich keine Sorgen zu machen, Papa würde sich um alle Einwände kümmern. Doch sie sagte nicht, dass sie ihre Radiosendung behalten würden. General Viktoria Schmid war es gewohnt, Truppen und Stabsoffizieren knappe Befehle zu erteilen. Kinder zu beruhigen, war nicht ihre starke Seite. Insgeheim dachten Gokna und Viktoria, dass diese Aufregung um das Programm Mama nervöser machte als alle Kriegsabenteuer, die in ihrer Vergangenheit lauerten.

Papa war der Einzige, der sich von der düsteren Stimmung nicht anstecken ließ. »Darauf habe ich die ganze Zeit gewartet«, sagte er zu Mama, als sie vom Landeskommando heraufkam. »Es ist höchste Zeit, an die Öffentlichkeit zu gehen. Diese Debatte wird eine Menge Dinge bloßlegen.« Das waren dieselben Ideen wie die, von denen Mama gesprochen hatte, doch aus seinem Mund klangen sie freudig. Die letzten zehn Tage über hatte er noch mehr als sonst mit ihnen gespielt. »Ihr seid meine Fachexperten für diese Debatte, also kann ich meine ganze Zeit mit euch verbringen und trotzdem getreulich meine Arbeit tun.« Er war missmutig hin und her gerutscht und hatte so getan, als mache er eine unsichtbare Arbeit. Den Babies hatte es gefallen, und sogar Jirlib und Brent schienen den Optimismus ihres Vaters zu akzeptieren. Die Generalin war am Abend zuvor nach Süden abgereist; wie üblich, hatte sie noch ganz andere Sorgen als Familienprobleme.


Der Gipfel des Rundfunkhügels lag über der Baumgrenze. Niedriger Stechginster bedeckte den Boden neben dem Parkkreis. Die Kinder stiegen aus und bestaunten die Kühle, die noch in der Luft lag. Klein Viktoria fühlte ein seltsames Brennen in all ihren Atemwegen, als ob… als ob sich dort Reif bildete. War das möglich?

»Kommt, Kinder! Gokna, glotz nicht!« Papa und seine älteren Söhne geleiteten sie die breiten alten Stufen zum Sender hinauf. Der Stein war feuerbehandelt und unpoliert, als wollten die Besitzer die Leute glauben machen, sie verträten eine uralte Tradition.

Die Wände innen waren mit Photo-Eindrücken behängt, Porträts der Besitzer und der Erfinder des Radios (in diesem Falle ein und derselben Leute). Außer Rhapsa und Hrunk waren alle schon hier gewesen. Jirlib und Brent machten das Radioprogramm seit Jahren, nachdem sie es von den Rechtzeit-Geborenen übernommen hatten, als Papa die Rechte an dem Programm gekauft hatte. Beide Jungen klangen älter, als sie wirklich waren, und Jirlib war so klug wie die meisten Erwachsenen. Anscheinend hatte niemand ihr wahres Alter geahnt. Papa war deswegen ein wenig irritiert gewesen. »Ich möchte, dass die Leute die Wahrheit selber erraten — aber sie sind zu dumm, um sich die Wahrheit vorzustellen!« Also waren schließlich Gokna und Viktoria junior ins Programm genommen worden. Das war spaßig gewesen — so zu tun, als seien sie Jahre älter, auf die albernen Skripte einzugehen, die sie in dem Programm verwendeten. Und Herr Grabber war nett gewesen, obwohl er kein richtiger Wissenschaftler war.

Trotzdem hatten Gokna und Junior noch beide sehr kindlich klingende Stimmen. Schließlich hatte jemand seinen Glauben an die Grundanständigkeit aller Radiosendungen überwunden und erkannt, dass da dem Publikum schwer wiegende Perversionen untergejubelt wurden. Aber Radio Weißenberg war im Privatbesitz, und wichtiger noch: Der Sender besaß seinen eigenen Wellenbereich und hatte Überstrahlrechte auf den Nachbarfrequenzen. Die Eigentümer waren Kupps aus der 58. Generation, die noch auf ihr Geld sahen. Solange die Kirche des Dunkels keinen wirksamen Zuhörerboykott zu Stande brachte, würde Radio Weißenberg ›Die Kinderstunde der Wissenschaft‹ beibehalten. Daher die Debatte.

»Ah, Dr. Unterberg, wie schön, Sie zu sehen!« Madame Subtrime kam aus ihrem Käfterchen geschwebt. Die Direktorin des Senders schien aus lauter Beinen und spitzen Händen zu bestehen, der Körper kaum größer als ihr Kopf. »Sie glauben gar nicht, welches Interesse diese Debatte ausgelöst hat. Wir übertragen bis zur Ostküste und auch auf Kurzwelle. Ich sage Ihnen ohne Übertreibung, wir haben Zuhörer von überall!«

Ich sage Ihnen ohne Übertreibung… Außer Sicht der Direktorin bewegte Gokna ihre Mundteile im Rhythmus der Worte. Viki wahrte einen sittsamen Ausdruck und tat so, als sähe sie nichts.

Papa neigte kurz den Kopf vor der Direktorin. »Es freut mich, dass ich so populär bin, Madame.«

»Ja, wirklich! Manche von unseren Sponsoren bringen sich gegenseitig um, um Werbezeit in dieser Sendung zu bekommen. Bringen sich einfach um!« Sie lächelte den Kindern zu. »Ich habe dafür gesorgt, dass ihr vom Kontrollraum aus zusehen könnt.«

Sie wussten alle, wo das war, folgten ihr aber gehorsam und hörten ihrem endlosen Wortschwall zu. Keins von ihnen wusste, was Madame Subtrime wirklich von ihnen hielt. Jirlib behauptete, sie sei nicht dumm, unter all dem Gerede lauere eine kalte Registrierkasse. »Sie weiß auf den Zehntelpfennig genau, wie viel sie für die alten Kupps verdienen kann, indem sie das Publikum in Rage bringt.« Das mochte sein, aber Viki mochte sie trotzdem und verzieh ihr sogar das schrille und dumme Gerede. Gar zu viele Leute waren in ihrem Glauben so festgefahren, dass nichts sie davon abbringen konnte.

»Diesmal ist Didi am Schaltpult. Ihr kennt sie.« Madame Subtrime blieb am Eingang zum Kontrollraum stehen. Jetzt erst schien sie die Babies zu bemerken, die aus Scherkaner Unterbergs Fell hervorlugten. »Meine Güte, Sie haben wirklich alle Alter, was?

Ich… Werden sie bei Ihren Kindern sicher sein? Ich weiß nicht, wer sonst sich um sie kümmern könnte.«

»Geht schon klar, Madame. Ich habe vor, Rhapsa und Klein Hrunk der Vertreterin der Kirche vorzustellen.«

Madame Subtrime erstarrte. Eine ganze Sekunde lang waren all die zappeligen Beine und Hände gleichzeitig reglos. Es war das erste Mal, dass Viki sie wirklich, wirklich perplex sah. Dann entspannte sich ihr Körper zu einem langsamen, breiten Lächeln. »Dr. Unterberg! Hat Ihnen jemals wer gesagt, dass Sie ein Genie sind?«

Papa grinste zurück. »Noch nie mit so gutem Grund… Jirlib, sorg dafür, dass alle in dem Raum bei Didi bleiben. Wenn ich möchte, dass ihr herauskommt, werde ich es euch wissen lassen.«

Die Kupplinge stiegen in den Kontrollraum hinauf. Didire Ultmot lümmelte wie üblich auf ihrem Sitzgitter vor den Reglern. Eine dicke Glaswand trennte den Raum vom Aufnahmeraum. Sie war schalldicht, und es war auch verdammt schwer, durch sie hindurch zu schauen. Die Kinder drängten sich nahe ans Glas. Jemand saß schon im Aufnahmeraum.

Didire winkte ihnen zu. »Das da draußen ist die Vertreterin der Kirche. Die Kupp ist eine Stunde zu früh gekommen.« Didi war dieselbe wie immer, mit einem Anflug von Ungeduld. Sie war eine sehr gut aussehende Einundzwanzigjährige. Didi war nicht so schlau wie manche von Papas Studenten, aber helle. Sie war die Cheftechnikerin von Radio Weißenberg. Mit vierzehn war sie als Technikerin zur Hauptsendezeit in Einsatz gewesen, und von Elektrotechnik verstand sie ungefähr ebenso viel wie Jirlib. Tatsächlich wollte sie Elektroingenieur werden. Das alles hatten sie erfahren, als Jirlib und Brent ihr zum ersten Mal begegnet waren, seinerzeit, als sie mit dem Programm anfingen. Viki erinnerte sich, wie sonderbar sich Jirlib verhalten hatte, als er ihnen von diesem Treffen erzählte: Er war von dieser Didire ganz hingerissen. Sie war damals neunzehn, und Jirlib war zwölf… aber groß für sein Alter. Sie hatte zwei Sendungen gebraucht, um zu merken, dass Jirlib ein Unzeitling war. Sie hatte die Überraschung als eine absichtliche persönliche Beleidigung aufgefasst. Der arme Jirlib lief ein paar Tage wie mit gebrochenen Beinen herum. Er kam darüber hinweg — immerhin würde es in der Zukunft schlimmere Zurückweisungen geben.

Didire kam auch mehr oder weniger darüber hinweg. Solange Jirlib Abstand hielt, verhielt sie sich höflich. Und manchmal, wenn sie sich vergaß, war Didi lustiger als jede Person aus der gegenwärtigen Generation, die Viki kannte. Wenn sie nicht auf Sendung waren, ließ sie Viki und Gokna neben ihrem Gitter sitzen und zusehen, wie sie die Dutzende von Reglern hin und her schob. Didire war sehr stolz auf ihr Reglerpult. Wirklich, abgesehen davon, dass der Rahmen aus Möbelholz war und nicht von blankem Metall, sah es fast so wissenschaftlich aus wie manches von der Ausrüstung daheim im Berghaus.

»Und wie ist diese Kirchenkupp denn so?«, fragte Gokna. Sie und Viki hatten ihre Hauptaugen flach gegen die Glaswand gepresst. Das Glas war so dick, dass viele Farben nicht durchdrangen. Die Fremde, die im Aufnahmeraum saß, hätte tot sein können, so viel Fernrot war an ihr zu sehen.

Didi zuckte die Achseln. »Sie heißt ›Geehrte Pedure‹. Sie redet komisch. Ich glaube, es ist eine Basserin. Und dieser Priesterschal, den sie trägt? Das ist nicht nur die schlechte Sicht aus unserem Kontrollraum: Dieser Schal ist wirklich dunkel, über alle Farben bis auf das fernste Rot.«

Hmm. Teuer. Mama hatte einen Uniformanzug in der Art, nur dass die meisten Leute sie nie darin sahen.

Ein boshaftes Lächeln glitt über Didi. »Ich wette, sie reihert, wenn sie die Babies im Fell eures Vaters sieht.«

Leider nicht. Doch als Scherkaner Unterberg ein paar Sekunden später in den Aufnahmeraum kam, erstarrte die Geehrte Pedure unter ihrer formlosen Kapuze. Eine Sekunde später trottete Rappaport Grabber herein und griff sich einen Ohrhörer. Grabber war von Anfang an bei der ›Kinderstunde der Wissenschaft‹, lange, bevor Jirlib und Brent ins Programm gekommen waren. Er war ein alter Knochen, und Brent behauptete, er sei in Wahrheit einer der Besitzer des Senders. Viki glaubte das nicht, nicht angesichts der frechen Art, wie Didi mit ihm umging.

»Also gut, alle miteinander.« Didis Stimme kam jetzt über Verstärker. Papa und die Geehrte Pedure strafften sich, als jeder die Worte aus dem Lautsprecher auf seiner Seite hörte. »In fünfzehn Sekunden sind wir auf Sendung. Sind Sie dann so weit, Meister Grabber, oder soll ich einen Füller spielen?«

Grabbers Esshände steckten in einem Wust von Notizzetteln. »Sie mögen lachen, Fräulein Ultmot, aber Sendezeit ist Geld. So oder so werde ich…«

»Drei, zwo, eins…« Didi schaltete ihren Lautsprecher aus und streckte eine lange, spitze Hand in Grabbers Richtung aus.

Der Kupp übernahm seinen Part, als hätte er in geduldiger Bereitschaft gewartet. Seine Worte hatten die übliche glatte Würde, das Markenzeichen, mit dem das Programm seit fünfzehn Jahren eingeleitet wurde: »Mein Name ist Rappaport Grabber, und Sie hören ›Die Kinderstunde der Wissenschaft‹…«


Wenn Zinmin Broute übersetzte, waren seine Bewegungen nicht mehr fahrig und zwanghaft. Er schaute direkt geradeaus und lächelte oder runzelte die Stirn mit Emotionen, die sehr echt wirkten. Und vielleicht waren sie echt — für ein gepanzertes Spinnenwesen unten auf der Oberfläche der Arachna. Gelegentlich gab es ein Zögern, ein Stocken in der automatischen Zwischenumsetzung. Noch seltener kam es vor, dass sich Broute zur Seite wandte, vielleicht, wenn ein wichtiger Hinweis abseits vom Mittelpunkt seiner Datenbrille auftauchte. Doch wenn man nicht wusste, worauf man achten musste, schien der Bursche so fließend wie nur irgendein Ansager zu sprechen, der Notizen in seiner Muttersprache ablas.

Broute als Grabber begann mit einer kleinen Geschichte der Radioserie voller Selbstlob, dann schilderte er den Schatten, der sich neulich auf sie gelegt hatte. ›Unzeitkind‹, ›Geburtsperversion‹. Broute ratterte die Worte herunter, als habe er sie sein Leben lang gekannt. »Heute Nachmittag sind wir wie versprochen wieder auf Sendung. Die Anschuldigungen, die in den letzten Tagen erhoben wurden, sind schwer wiegend. Meine Damen und Herren, die Anschuldigungen an sich entsprechen der Wahrheit.«

Die Stille dauerte dramatische drei Tempi, und dann: »Also, meine Freunde, fragen Sie sich vielleicht, woher wir den Mut — oder die Unverschämtheit — nehmen, uns wieder zu melden. Zur Antwort darauf bitte ich Sie, sich die heutige Folge der ›Kinderstunde der Wissenschaft‹ anzuhören. Ob wir in Zukunft weitermachen, wird größtenteils von Ihren Reaktionen auf das abhängen, was Sie heute hören…«

Silipan schnaufte abfällig. »Was für ein geldgieriger Heuchler.« Xin und die anderen bedeuteten ihm mit Gesten, er möge den Mund halten. Trud segelte herüber neben Ezr. Das war schon früher geschehen; er schien zu glauben, dass Ezr, weil er am Rande saß, irgendwie Silipans Bemerkungen hören wolle.

Auf der Bildtapete stellte Broute die Teilnehmer der Debatte vor. Silipan machte einen Computer an seinem Knie fest und klappte ihn auf. Es war ein plumpes Aufsteigerding, verfügte aber über Blitzkopf-Unterstützung, und das machte das Gerät wirksamer als alles, was die Menschheit bis dahin geschaffen hatte. Er hieb auf die Erklärungs-Taste, und eine winzige Stimme gab ihm Hintergrundinformationen: »Offiziell repräsentiert die Geehrte Pedure die traditionelle Kirche. In Wahrheit…« Die Stimme aus Truds Computer machte eine Pause, vermutlich, während Maschinen in Datenbanken suchten. »… ist Pedure eine Ausländerin im Goknischen Einklang. Sie ist wahrscheinlich eine Agentin der Regierung der Sinnesgleichen.«

Xin schaute um sich und verlor momentan den Faden von Broute-Grabber. »Eiter, diese Leute nehmen ihren Fundamentalismus ernst. Weiß Unterberg das?«

Die Stimme aus Trud Handcomputer antwortete: »Das ist möglich. ›Scherkaner Unterberg‹ steht in starker Korrelation zum Nachrichtenverkehr des Geheimdienstes vom Einklang… Bisher haben wir keinen militärischen Datenaustausch gefunden, der diese Debatte behandelt, aber die Spinnenzivilisation ist noch nicht gut automatisiert. Es könnte Dinge geben, die uns entgehen.«

Trud sprach in das Gerät: »Ich habe eine Hintergrundaufgabe für dich, unterste Priorität. Was dürften sich die Sinnesgleichen von dieser Debatte erhoffen?« Er schaute zu Jau hoch und zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, ob wir eine Antwort kriegen. Jetzt ist ziemlich viel los.«

Broute war mit seinen Einführungen fast fertig. Die Geehrte Pedure sollte von einer gewissen Xopi Reung dargestellt werden. Xopi war eine schmale kleine Aufsteigerin. Ezr kannte ihren Namen nur, weil er Personallisten studiert und mit Anne Reynolt gesprochen hatte. Ich frage mich, ob sonst noch jemand den Namen der Frau kennt, dachte Ezr. Gewiss nicht Jau und Rita. Trud würde ihn kennen, so, wie in primitiven Zeiten ein Tierhirt sein Eigentum kannte. Xopi Reung war jung; sie war aus dem Eis geholt worden, um jemanden zu ersetzen, den Silipan als ›Senilitätsausfall‹ bezeichnete. Reung war seit etwa vierzig Megasekunden auf Wache. Ihr war der Großteil der Fortschritte beim Erlernen anderer Spinnensprachen zuzuschreiben, insbesondere des ›Bassischen‹. Und sie war bereits die zweitbeste Übersetzerin für ›Standard-Einklang‹. Eines Tages konnte sie durchaus besser als Trixia werden. In einer vernünftigen Welt wäre Xopi Reung eine führende Wissenschaftlerin gewesen, in ihrem ganzen Sonnensystem berühmt. Aber Xopi Reung war in der Hülsenmeister-Lotterie ausgewählt worden. Während Xin und Liao und Silipan ein völlig bewusstes Leben führten, war Xopi Reung ein Teil der Automatik in den Wänden, unsichtbar — außer gelegentlich unter besonderen Umständen.

Xopi Reung ergriff das Wort: »Danke, Meister Grabber. Der Sender Weißenberg macht sich selbst Ehre, indem er uns diese Gelegenheit zu einem Gespräch gibt.« Während Broutes Einführungen war Reungs Aufmerksamkeit ständig wie bei einem Vogel hin und her gehuscht. Vielleicht war ihre Datenbrille nicht richtig justiert, oder vielleicht zog sie es vor, wichtige Hinweise übers ganze Gesichtsfeld zu verstreuen. Doch als sie zu sprechen begann, kam etwas Wildes in ihren Blick.

»Keine besonders gute Übersetzung«, beklagte sich jemand.

»Sie ist neu, denk dran«, sagte Trud.

»Oder vielleicht redet diese Pedure wirklich so komisch. Du hast gesagt, sie ist Ausländerin.«

Reung als Pedure beugte sich über den Tisch. Ihre Stimme war seidig und leise. »Vor zwanzig Tagen haben wir alle eine Verderbnis entdeckt, die sich in etwas eingefressen hatte, was Millionen von Leuten seit Jahren in ihr Zuhause lassen, in die Ohren ihrer Gatten und Kinder.« Sie fuhr ein paar Augenblicke so fort, mit sperrigen Sätzen, die sehr selbstgerecht wirkten. Dann: »Es ist also nur angebracht, dass uns der Sender Weißenberg nun Gelegenheit gibt; die Atmosphäre der Gemeinschaft zu reinigen.« Sie machte eine Pause. »Ich… ich…« Es war, als fielen ihr nicht die richtigen Worte ein. Einen Augenblick lang wirkte sie wieder wie ein Blitzkopf, fahrig, den Kopf vorgereckt. Dann schlug sie abrupt mit der Hand auf den Tisch. Sie zog sich zu ihrem Sitz herunter und verstummte.

»Ich hab euch doch gesagt, die macht als Übersetzerin nicht viel her.«

Vierundzwanzig

Indem sie Hände und Vorderbeine an die Wand lehnten, konnten Viki und Gokna ihre Hauptaugen an dem Glas halten. Es war eine unbequeme Haltung, und die beiden rutschten an dem Fenster hin und her.

»Danke, Meister Grabber. Der Sender Weißenberg macht sich selbst Ehre, indem…« bla-bla-bla.

»Sie redet komisch«, sagte Gokna.

»Ich habe es euch doch gesagt. Sie ist Ausländerin.« Didire sprach geistesabwesend. Sie hatte mit irgendeiner geheimnisvollen Abstimmung ihrer Geräte zu tun. Sie schien nicht besonders darauf zu achten, was im Aufnahmeraum eigentlich gesagt wurde. Brent verfolgte das Programm mit sturer Faszination, während Jirlib abwechselnd am Fenster und möglichst nahe bei Didi stand. Er war davon geheilt, ihr technische Ratschläge zu geben, trotzdem stand er gern bei ihr. Manchmal fragte er eine angemessen naive Frage. Wenn Didi nicht beschäftigt war, brachte er sie auf diese Weise für gewöhnlich dazu, mit ihm zu reden.

Gokna grinste Viki an. »Nein. Ich meine, die ›Geehrte Pedure‹ redet wie ein schlechter Witz.«

»Hm.« Viki war sich dessen nicht so sicher. Pedures Kleidung war natürlich seltsam. Sie hatte Priesterschals bisher nur in Büchern gesehen. Es war ein formloser Umhang, der auf allen Seiten herabfiel und alles außer Pedures Kopf und Schlund verbarg. Doch sie hatte den Eindruck verborgener Kraft. Viki wusste, was die meisten Leute von Kindern wie ihr dachten. Pedure war nur eine berufsmäßige Vertreterin dieser Ansicht, ja? Doch in ihrer Rede lag eine gewisse Drohung… »Denkst du, sie glaubt wirklich, was sie sagt?«

»Klar glaubt sie es. Deswegen ist sie ja so komisch. Siehst du, wie Papa lächelt?« Scherkaner Unterberg saß auf der anderen Seite der Aufnahmebühne und tätschelte ruhig seine Babies. Er hatte noch kein Wort gesagt, doch man sah die Andeutung eines Lächelns bei ihm. Zwei Paar Babyaugen lugten furchtsam aus seinem Fell hervor. Rhapsa und Hrunkner konnten nicht alles verstehen, was vorging, doch sie sahen geängstigt aus.

Gokna bemerkte es auch. »Die armen Babies. Sie sind die Einzigen, denen sie Angst machen kann. Pass auf! Ich zeig der Geehrten Pedure eine Zehn.« Sie wandte sich vom Fenster ab und lief zur Seitenwand — und dann das Regal mit den Tonbändern hinauf. Die Mädchen waren sieben Jahre alt, viel zu groß für Akrobatik. Huch. Das Regal stand frei. Es neigte sich von der Wand weg, Bänder und der ganze Kram rutschten auf allen Brettern vor. Gokna erreichte das obere Ende, bevor irgendwer außer Viki begriff, was vorging. Und von dort sprang sie los und packte die obere Einfassung des Fensters zum Aufnahmeraum. Der Rest ihres Körpers schwang mit einem lauten Platsch nach unten gegen das Fenster. Einen Moment lang war sie eine perfekte Zehn, über das Fenster ausgebreitet. Auf der anderen Seite des Fensters starrte Pedure, schockiert und verblüfft. Die beiden Mädchen lachten kreischend. Man hatte nicht oft Gelegenheit, so eine perfekte Zehn zu zeigen und seine Unterwäsche dem Ziel ins Gesicht springen zu lassen.

»Lasst das!« Didis Stimme war ein tonloses Zischen. Ihre Hände huschten über die Regler. »Das ist das letzte Mal, dass ich euch kleinen Scheißer in meinen Kontrollraum gelassen habe! Jirlib, geh da hin! Bring deine Schwestern zur Ruhe oder nach draußen, aber Schluss mit diesem beschissenen Unsinn.«

»Ja, ja! Es tut mir so Leid.« Jirlib klang so, als täte es ihm wirklich Leid. Er stürzte herbei und holte Gokna von der Glaswand. Eine Sekunde später folgte ihm Brent und griff sich Viktoria.

Jirlib schien nicht wütend zu sein, nur verärgert. Er hielt Gokna sehr nahe an seinen Kopf. »Du musst still sein. Das eine Mal musst du ernst sein.« Viki kam der Gedanke, dass er vielleicht nur verstimmt sein mochte, weil Didi so wütend auf ihn war. Aber es spielte wirklich keine Rolle. Das ganze Gelächter war aus Gokna herausgeströmt. Sie berührte mit einer Esshand den Schlund ihres Bruders und sagte sacht: »Ja. Ich werde für den Rest des Programms lieb sein. Ich versprech’s.«

Hinter ihnen sah Viki, wie Didi redete — wahrscheinlich auf Grabbers Ohrhörer. Viki konnte die Worte nicht hören, doch der Bursche nickte zustimmend. Er hatte Pedure zurück auf ihren Sitz komplimentiert und ging nun ohne Pause dazu über, Papa vorzustellen. Der ganze Trubel auf dieser Seite des Glases schien auf der anderen Seite keine Folgen zu haben. Eines Tages würden sie und Gokna in richtige Schwierigkeiten hineinschlittern, doch es sah so aus, als läge dieses Abenteuer noch irgendwo weit in der Zukunft.


Xopi setzte sich inmitten allgemeiner Verwirrung. Für gewöhnlich versuchten die Blitzköpfe, diese Vorstellung ungefähr zeitgleich mit der Originalsendung zu halten. Silipan behauptete, das sei nur zum Teil seine Festlegung — die Blitzkopf-Übersetzer blieben wirklich gern mit dem Wortfluss synchron. In gewissem Sinne spielten sie wirklich gern. Heute waren sie nur nicht besonders erfolgreich dabei.

Schließlich sammelte sich Braute und stellte relativ glatt Scherkaner Unterberg vor.

Scherkaner Unterberg. Trixia Bonsol übersetzte ihn. Wer sonst hätte es sein können? Trixia war die Erste gewesen, die die gesprochene Spinnensprache geknackt hatte. Jau hatte Ezr erzählt, dass sie in den Anfangstagen der Livevorstellung alle Rollen gespielt hatte, Kinderstimmen, alte Leute, über Telefon kommende Fragen. Nachdem andere Blitzköpfe flüssig übersetzen konnten und es einen Konsens über den Stil gab, hatte Trixia immer noch die schwierigen Rollen übernommen.

Scherkaner Unterberg: Das war vielleicht der erste Spinn, für den sie einen Namen hatten. Unterberg tauchte in einem unglaublich breiten Spektrum von Rundfunksendungen auf. Anfangs hatte es so ausgesehen, als habe er zwei Drittel der industriellen Revolution erfunden. Diese Fehleinschätzung war zurückgegangen: ›Unterberg‹ war ein weit verbreiteter Name, und wo auf diesen ›Scherkaner Unterberg‹ Bezug genommen wurde, war es fast immer einer seiner Studenten, der die eigentliche Arbeit getan hatte. Der Kerl musste also ein Bürokrat sein, der Gründer des Instituts in Weißenberg, wo sich die meisten seiner Studenten zu befinden schienen. Doch seit die Spinnen Mikrowellenverbindungen erfunden hatten, hatten die Schnüffelsatelliten einen anwachsenden Strom von leicht zu entschlüsselnden Staatsgeheimnissen aufgefangen. Die Kennung dieses ›Scherkaner Unterberg‹ tauchte in fast zwanzig Prozent der Hochsicherheits-Kommunikation auf, die im Goknischen Einklang hin und her ging. Offensichtlich hatten sie es mit einer Art institutionellem Namen zu tun. Offensichtlich… bis sie erfuhren, das jener ›Scherkaner Unterberg‹ Kinder hatte und diese in der Sendung mitmachten. Obwohl sie es nicht richtig erklären konnten, hatte ›Die Kinderstunde‹ eine echte politische Bedeutung. Zweifellos beobachtete Tomas Nau die Vorstellung drüben in Hammerfest. Ich möchte wissen, ob Qiwi bei ihm ist.

Trixia ergriff das Wort: »Danke, Meister Grabber. Ich bin sehr froh, heute hier zu sein. Es ist an der Zeit für eine offene Diskussion dieser Fragen. Ich hoffe, dass junge Leute — zur herkömmlichen Zeit und außerhalb Geborene — zuhören. Von meinen Kindern weiß ich es.«

Der Blick, den Trixia Xopi zuwarf, war entspannt und zuversichtlich. Dennoch war ein leichtes Beben in ihrer Stimme. Ezr starrte ihr ins Gesicht. Wie alt war Trixia jetzt? Sämtliche Wachpläne der Blitzköpfe waren geheim — wahrscheinlich, weil so viele von ihnen mit hundert Prozent gefahren wurden. Es würde ein Leben dauern, um alles zu erfahren, was Trixia erfahren hatte. Zumindest nach den Anfangsjahren war sie immer da, wenn er auf Wache war. Sie sah zehn Jahre älter aus als die Trixia vor dem Fokus. Und wenn sie Unterberg spielte, wirkte sie sogar noch älter.

Trixia sprach noch immer: »Doch ich möchte etwas von dem richtigstellen, was Dame Pedure gesagt hat. Es hat keine Verschwörung gegeben, das Alter dieser Kinder geheim zu halten. Meine beiden ältesten — sie sind jetzt vierzehn — sind seit geraumer Zeit im Programm. Es ist nur natürlich, dass sie ihren Anteil haben sollen, und aus den Briefen, die sie erhalten haben, weiß ich, dass sie sowohl bei Kindern der gegenwärtigen Generation als auch bei deren Eltern sehr beliebt waren.«

Xopi schaute über den Tisch auf Trixia: »Und das natürlich nur, weil sie sich über ihr wahres Alter ausgeschwiegen haben. Im Radio kann man so einen kleinen Unterschied nicht bemerken. Im Radio bleiben manche… Obszönitäten… unbemerkt.«

Trixia lachte. »Das bleiben sie wirklich. Doch ich möchte, dass unsere Zuhörer darüber nachdenken. Die meisten von ihnen mögen Jirlib und Brent und Gokna und Viki. Indem sie meinen Kindern im Rundfunk ›blind‹ begegneten, fanden sich unsere Zuhörer einer Wahrheit gegenüber, die ihnen sonst vielleicht entgangen wäre: Die Unzeitler sind so anständig wie nur sonst jemand. Aber wiederum habe ich nichts verheimlicht. Schließlich… nun ja, schließlich waren die Tatsachen so offensichtlich, dass niemand sie ignorieren konnte.«

»So eklatant, meinen Sie. Ihre zweite Brut von Unzeitlingen ist kaum sieben Jahre alt. Diese Obszönität kann nicht einmal das Radio verschleiern. Und wie wir uns hier im Studio treffen, sehe ich, dass Sie zwei Neugeborene im Fell haben. Sagen Sie, mein Herr, gibt es irgendeine Grenze für das Böse, was sie zu tun gedenken?«

»Dame Pedure, welches Böse, welcher Schaden? Unser Publikum hört dem einen oder anderen von meinen Kindern seit über zwei Jahren zu. Sie haben Jirlib und Brent und Viki und Gokna als wirkliche und liebenswerte Leute kennen gelernt. Sie sehen Klein Hrunk und Rhapsa über meine Schultern lugen…« Trixia machte eine Pause, als wolle sie ihrem Gegenüber Zeit zum Schauen geben. »Ich weiß, dass es Ihnen missfällt, Babies so lange vor den Jahren des Schwindens zu sehen. Aber in ein, zwei Jahren werden sie alt genug sein, um sprechen zu können, und es ist durchaus meine Absicht, an der ›Kinderstunde der Wissenschaft‹ meine Kinder aller Altersstufen mitwirken zu lassen. Von Sendung zu Sendung werden unsere Zuhörer feststellen, dass diese kleinen Kupplis ebenso viel wert sind wie diejenigen, die gegen Ende der Jahre des Schwindens geboren werden.«

»Absurd! Ihr Plan funktioniert nur, wenn Sie sich Schritt für Schritt an anständige Leute heranpirschen, sie dazu bringen, erst diese Abkehr von der Moral zu akzeptieren und dann jene, bis…«

»Bis was?«, fragte Trixia und lächelte wohlwollend.

»Bis… bis…« Ezr sah, dass Xopi hinter ihrer halbdurchsichtigen Datenbrille wild dreinstarrte. »Bis anständige Leute dieses unzeitige Gewürm anhimmeln, das Sie da auf dem Rücken tragen!« Sie war aufgesprungen und fuchtelte mit den Armen in Trixias Richtung.

Trixia lächelte weiter. »In einem Wort, meine liebe Pedure: Ja. Selbst Sie sehen, dass Akzeptanz möglich ist. Aber Unzeit-Kinder sind kein Gewürm. Sie brauchen kein Erstes Dunkel, um eine Seele zu bekommen. Sie sind Wesen, aus denen aus eigenem Recht liebenswerte Spinnen werden können. Im Laufe der Jahre wird die ›Kinderstunde‹ das jedem deutlich machen, vielleicht sogar Ihnen.«

Xopi setzte sich. Sie sah ganz wie ein Teilnehmer an einer Debatte aus, der übertrumpft worden ist und sich jetzt nach einer anderen Angriffstaktik umschaut. »Ich sehe, es nützt bei Ihnen nichts, an den Anstand zu appellieren, Herr Unterberg. Und vielleicht gibt es unter den Zuhörern schwache Leute, die unter ihrem Druck allmählich der Perversion anheimfallen. Jeder hat unmoralische Neigungen, darin stimmen wir überein. Doch wir haben auch durchaus moralische, die uns angeboren sind. Die Tradition weist uns den Weg zwischen diesen und jenen… Aber ich sehe, dass bei Leuten wie Ihnen die Tradition wenig Gewicht hat. Sie sind Wissenschaftler, nicht wahr?«

»Hm, ja.«

»Und einer der vier Dunkelschreiter?«

»… Ja.«

»Unser Publikum ist sich vielleicht nicht bewusst, dass eine derart ausgezeichnete Person hinter der ›Kinderstunde‹ steht. Sie sind einer von vier, die tatsächlich das Tiefste Dunkel erblickt haben. Nichts ist für Sie geheimnisvoll.« Trixia setzte zur Antwort an, doch Xopi als Pedure überrollte ihre Worte einfach. »Ich wage zu behaupten, dass das einen großen Teil Ihres Irrtums erklärt. Sie sind blind für das Streben früherer Generationen und wie sie langsam gelernt haben, was in den Dingen der Spinnheit tödlich und was sicher ist. Es gibt Gründe für das Moralgesetz, mein Herr! Ohne Moralgesetz werden diejenigen, die fleißig Vorräte angelegt haben, am Ende der Jahre des Schwindens von den Faulen ausgeraubt. Ohne Moralgesetz werden Unschuldige in ihren Tiefen von denen massakriert, die als Erste aufwachen. Wir alle wollen viele Dinge, doch manche davon sind für alle Wünsche von Grund auf zerstörerisch.«

»Das Letztere ist wahr, Dame Pedure. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich will darauf hinaus, dass es Gründe für Regeln gibt, insbesondere für die Regeln gegen Unzeitlinge. Als Dunkelschreiter glauben Sie über den Dingen zu stehen, doch selbst Sie müssen wissen, dass das Dunkel der große Erneuerer ist. Ich habe Ihren Kindern zugehört. Ich habe sie im Kontrollraum des Toningenieurs beobachtet. In ihrem Geheimnis ist ein Skandal verborgen, wenn auch keine Überraschung. Mindestens eins von Ihren Kindern — es heißt Brent? — ist ein Kretin, nicht wahr?«

Xopi hörte zu reden auf, doch Trixia antwortete nicht. Ihr Blick war stetig; sie hatte keine Mühe, mit den Zwischenschichten-Daten Schritt zu halten. Und plötzlich empfand Ezr einen überaus seltsamen Wechsel der Perspektive, wie einen Wechsel des angenommenen Unten, doch ungleich intensiver. Er wurde nicht von den Worten der Übersetzer oder auch nur von der Emotion in den Worten ausgelöst. Es war das… Schweigen. Zum ersten Mal begriff Ezr eine Spinne als Person, als eine Person, die verletzt werden konnte.

Die Stille dauerte noch etliche Sekunden. »Ha«, sagte Silipan. »Damit wäre eine Menge Vermutungen ziemlich gut bestätigt. Die Spinnen pflanzen sich in großen Gruppen fort, und dann bringt Mutter Natur während des Dunkels die Schwachen um. Elegant.«

Liao verzog das Gesicht. »Na ja, wird wohl so sein.« Ihre Hand langte nach der Schulter ihres Mannes.

Zinmin Broute unterbrach abrupt das Schweigen. »Meister Unterberg, wollen Sie auf die Frage der Geehrten Pedure antworten?«

»Ja.« Das Zittern in Trixias Stimme war deutlicher als zuvor. »Brent ist kein Kretin. Er ist nicht sprachlich orientiert und lernt anders als andere Kinder.« Begeisterung kam in seine Stimme, und es gab den Anflug eines Lächelns. »Intelligenz ist etwas so Bemerkenswertes. In Brent sehe ich…«

Xopi fiel ihr ins Wort. »Ich sehe in Brent die klassische Missgeburt eines Unzeit-Kindes. Meine Freunde, ich weiß, dass die Macht der Kirche jetzt in dieser Generation Einbußen erleidet. Es gibt so viele Veränderungen, und die althergebrachte Weise gilt so oft als tyrannisch. In früheren Zeiten konnte ein Kind wie Brent nur in abgelegenen Siedlungen vorkommen, wo es immer Barbarei und Perversion gegeben hat. In früheren Zeiten war es leicht, zu erklären: ›Die Eltern haben sich vom Dunkel abgewandt, wie es nicht einmal Tiere täten. Sie haben den armen Brent auf die Welt gebracht, damit er ein paar Jahre das Leben eines Krüppels führt, und man sollte sie von Rechts wegen für ihre Grausamkeit verabscheuen.‹ Doch zu unserer Zeit ist es ein Intellektueller wie Unterberg« — ein Nicken zu Trixia hin —, »der diese Sünde begeht. Er lässt Sie über die Tradition lachen, und ich muss ihn mit seinen eigenen Argumenten bekämpfen. Sehen Sie sich dieses Kind an, Meister Unterberg. Wie viele von seiner Sorte haben sie noch in die Welt gesetzt?«

Trixia: »Alle meine Kupplis…«

»Klar doch. Zweifellos hat es noch mehr Missgeburten gegeben. Sie haben sechs, von denen wir wissen. Wie viele gibt es außerdem? Bringen Sie die offensichtlichen Missgeburten um? Wenn die Welt ihrer Perversion folgt, wird die Zivilisation untergehen, noch ehe auch nur das nächste Dunkel kommt, erstickt von Horden missgeborener, verkrüppelter Kupplinge.« In dieser Art machte Pedure noch eine Weile weiter. Eigentlich hatte sie sehr konkrete Beschwerden: Missgeburten, Übervölkerung, erzwungene Tötungen, Revolten in Tiefen bei Beginn des Dunkels — das alles wäre die Folge, wenn es eine populäre Bewegung hin zu Unzeit-Geburten gäbe. Xopi rasselte das herunter, bis sie sichtlich außer Atem war.

Broute wandte sich an Trixia als Unterberg: »Und Ihre Erwiderung?«

Trixia: »Ach, wie schön, dass ich etwas erwidern kann.« Trixia lächelte wieder, ihr Tonfall war fast so locker wie zu Beginn der Sendung. Wenn Unterberg von dem Angriff aus der Bahn geworfen worden war, so hatte ihm vielleicht Pedures lange Rede Zeit gegeben, zu sich zu kommen. »Zunächst, alle meine Kinder leben. Es gibt nur sechs. Das sollte nicht überraschen. Es ist schwer, außer der Zeit Kinder zu empfangen. Ich bin sicher, dass jeder das weiß. Es ist auch sehr schwierig, die außer der Zeit zur Welt gekommenen Babyschnüre lange genug zu ernähren, dass sie Augen entwickeln. Die Natur zieht es in der Tat vor, dass Kupplis unmittelbar vor dem Dunkel gemacht werden.«

Xopi beugte sich vor und sprach laut. »Aufgemerkt, Freunde! Unterberg gibt soeben zu, dass er Verbrechen gegen die Natur begeht!«

»Keineswegs. Die Evolution hat uns innerhalb der Natur überleben und gedeihen lassen. Doch die Zeiten ändern sich…«

Xopi klang sarkastisch: »Die Zeiten ändern sich also? Die Wissenschaft hat aus Ihnen einen Dunkelschreiter gemacht, und jetzt stehen Sie über der Natur?«

Trixia lachte. »Oh, ich bin noch ganz und gar ein Teil der Natur. Doch selbst vor der Technik — wussten Sie, dass vor zehn Millionen Jahren die Länge eines Sonnenzyklus weniger als ein Jahr betrug?«

»Hirngespinste. Wie sollen da Wesen gelebt haben…«

»Ja, wie?« Trixia lächelte breiter, und ihr Tonfall klang triumphierend. »Aber die Belege der Fossilienfunde sind sehr deutlich. Vor zehn Millionen Jahren war der Zyklus viel kürzer und die Helligkeitsänderung viel geringer. Man brauchte keine Tiefen und keinen Kälteschlaf. In dem Maße, wie der Zyklus von Licht und Dunkelheit länger und extremer wurde, passten sich alle Lebewesen an. Ich stelle mir vor, dass es ein sehr harter Prozess war. Viele große Veränderungen waren notwendig. Und jetzt…«

Xopi schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. Erfand sie derlei, oder ging es irgendwie aus der Sendung der Spinnen hervor? »Wenn es kein Hirngespinst ist, so ist es jedenfalls noch unbewiesen. Mein Herr, ich gedenke nicht, mit Ihnen über Evolution zu diskutieren. Es gibt anständige Leute, die das glauben, doch es sind Spekulationen — keine Grundlage für Entscheidungen über Leben und Tod.«


»Ha! Punkt für Papa!« Von ihren Sitzgittern oberhalb von Brent und Jirlib tauschten die Mädchen leise Randbemerkungen aus. Wo es Didire nicht sehen konnten, machten sie auch Schlundgesten in Richtung auf die Geehrte Pedure. Nach jener ersten Zehn hatte es keine sichtliche Reaktion gegeben, doch es war ein gutes Gefühl, dieser Kupp gezeigt zu haben, was sie von ihr hielten.

»Mach dir keine Sorgen, Brent, Papa wird es dieser Pedure zeigen.«

Brent war sogar noch schweigsamer als üblich gewesen. »Ich wusste, dass das passieren würde. Es war schon schwierig genug. Jetzt muss Papa auch noch das mit mir erklären.«

Tatsächlich hatte Papa fast verloren, als Pedure Brent einen Kretin genannt hatte. Viki hatte ihn noch nie so verstört gesehen. Doch jetzt gewann er Boden zurück. Viki hatte geglaubt, Pedure sei eine Ignorantin, doch sie schien mit einigem von dem, was ihr Papa vorwarf, vertraut zu sein. Es spielte keine Rolle. Die Geehrte Pedure war nicht gar so kenntnisreich; außerdem hatte Papa Recht.

Und jetzt war er wirklich im Angriff: »Seltsam, dass die Tradition nicht mehr Interesse für die früheste Vergangenheit aufbringen sollte, Dame Pedure. Doch egal. Die Veränderungen, die die Wissenschaft in dieser gegenwärtigen Generation bewirkt, werden so groß sein, dass ich mich zur Illustration vielleicht lieber auf sie beziehen sollte. Die Natur hat bestimmte Strategien erzwungen — der Zyklus der Generationen ist einer davon, da stimme ich zu. Ohne diesen Zwang würden wir wahrscheinlich nicht existieren. Doch bedenken Sie die Verschwendung, meine Dame. Alle unsere Kinder sind jedes Jahr im selben Lebensstadium. Wenn dieses Stadium erst einmal vorbei ist, müssen die Mittel für ihren Unterricht bis zur nächsten Generation nutzlos warten. Für derlei Verschwendung gibt es keine Notwendigkeit mehr. Mit der Wissenschaft…«

Die Geehrte Pedure stieß ein pfeifendes Lachen aus, voll Sarkasmus und Überraschung. »Sie gestehen es also ein! Sie wollen, dass Unzeit zu einer Lebensweise wird, statt Ihre vereinzelte Sünde zu sein.«

»Natürlich!« Papa setzte nach. »Ich möchte, dass die Leute wissen: Wir leben in einem Zeitalter, das anders ist. Ich möchte, dass die Leute in jeder Phase der Sonne Kinder haben können, wenn sie es möchten.«

»Ja. Sie haben vor, uns übrige zu vereinnahmen. Sagen Sie, Unterberg, haben Sie schon geheime Schulen für Unzeitlinge? Gibt es Hunderte oder Tausende wie Ihre sechs, die nur darauf warten, von uns akzeptiert zu werden?«

»Äh… nein. Bisher haben wir für meine Kinder keine Spielgefährten gefunden.«

Die ganzen Jahre über hatten sie alle sich Spielgefährten gewünscht. Mutter hatte nach welchen gesucht, bisher ohne Erfolg. Gokna und Viki folgerten daraus, dass andere Unzeitlinge sehr gut versteckt sein mussten… oder sehr selten. Manchmal fragte sich Viki, ob sie vielleicht wirklich verdammt waren; es war so schwer, andere zu finden.

Die Geehrte Pedure lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und lächelte fast freundlich. »Das ist mir ein Trost, Meister Unterberg. Sogar in unserer Zeit sind die meisten Leute anständig und Ihre Perversionen selten. Nichtsdestoweniger ist die ›Kinderstunde‹ weiterhin beliebt, obwohl die Rechtzeit-Generation jetzt über zwanzig ist. Ihr Programm ist eine Verlockung, die es zuvor nicht gab. Und daher ist unser Austausch von Standpunkten schrecklich wichtig.«

»Ja, wirklich. Das glaube ich auch.«

Die Geehrte Pedure schob den Kopf vor. So ein Pech. Die Kupp hatte erkannt, dass Papa es ernst meinte. Wenn sie Papa zum Spekulieren brachte…, dann konnte es sehr eng werden. Pedures nächste Frage kam im beiläufigen Ton aufrichtiger Neugier. »Ich habe den Eindruck, Meister Unterberg, dass Sie das Moralgesetz verstehen. Halten Sie es vielleicht für so etwas wie das Gesetz der schöpferischen Kunst — etwas, das große Denker wie Sie selbst brechen können?«

»Große Denker, pah.« Doch die Frage hatte offensichtlich Papas Phantasie gefesselt und lenkte ihn von überzeugender Rhetorik ab. »Wissen Sie, Pedure, ich habe Moralregeln nie zuvor so betrachtet. Was für eine interessante Idee! Wollen Sie sagen, sie könnten von denen ignoriert werden, die ein angeborenes Talent für… wofür haben? Ein Talent für Güte? Wohl kaum… Obwohl ich gestehe, dass ich ein Laie bin, wenn es um moralische Argumente geht. Ich spiele gern und ich denke gern. Der Gang durch das Dunkel war ein großartiger Vorbote, wie er auch für den Krieg wichtig war. Die Wissenschaft wird wunderbare Veränderungen in der nahen Zukunft der Spinnheit hervorbringen. Ich habe ungeheuer viel Spaß bei alledem, und ich möchte, dass das Publikum — einschließlich derer, die wirklich Experten für moralische Gedanken sind — die Konsequenzen der Veränderungen versteht.«

Die Geehrte Pedure sagte: »In der Tat.« Der Sarkasmus war nur zu spüren, wenn man wie Klein Viktoria misstrauisch zuhörte. »Und Sie haben irgendwie vor, mit der Wissenschaft das Dunkel als großen Erneuerer und großes Mysterium zu ersetzen?«

Papa machte mit den Esshänden wegwerfende Bewegungen. Er schien vergessen zu haben, dass er im Rundfunk war. »Die Wissenschaft wird das Dunkel der Sonne so harmlos und erkennbar machen wie die Nacht, die am Ende eines jeden Tages anbricht.«

Im Kontrollraum stieß Didi einen kleinen Ruf der Überraschung aus. Es war das erste Mal, dass Viki die Technikerin auf die Sendung reagieren hörte, die sie überwachte. Draußen im Aufnahmeraum saß Rappaport Grabber aufrecht da, als hätte ihm jemand einen Speer in den Hintern gestochen. Papa schien es nicht zu bemerken, und die Geehrte Pedure reagierte so beiläufig, als ob sie die Möglichkeit von Regen erörterten: »Wir werden das ganze Dunkel hindurch leben und arbeiten, als ob es nur eine lange Nacht wäre?«

»Ja! Was, meinen Sie, bedeutet das ganze Gerede von Kernkraft?«

»Also werden wir alle Dunkelschreiter sein, und es wird kein Dunkel geben, kein Mysterium, keine Tiefe, darin der Geist der Spinnheit ruhen kann. Die Wissenschaft wird uns das alles nehmen.«

»Quatsch. Auf dieser kleinen Welt wird es keine richtige Dunkelheit mehr geben. Doch das Dunkel wird es immer geben. Gehen Sie nachts nach draußen, Dame Pedure. Schauen Sie empor. Wir sind umgeben von Dunkel und werden es immer sein. Und so, wie unser Dunkel im Laufe der Zeit in einer Neuen Sonne endet, so endet das größere Dunkel an den Gestaden von Billionen Sternen. Bedenken Sie! Wenn der Zyklus unserer Sonne einst weniger als ein Jahr dauerte, dann kann unsere Sonne noch früher die ganze Zeit über von mittlerer Helligkeit gewesen sein. Ich habe Studenten, die sicher sind, dass die meisten Sterne ganz wie unsere Sonne sind, nur viel, viel jünger, und dass viele von ihnen Welten wie unsere haben. Sie wollen eine Tiefe, die von Dauer ist, eine Tiefe, auf die sich die Spinnheit verlassen kann? Pedure, es gibt eine Tiefe am Himmel, und sie erstreckt sich ohne Ende.« Und schon war Papa bei seinem Raumfahrt-Thema. Selbst Jungakademiker gingen auf Distanz, wenn Papa damit anfing; nur ein harter Kern von Verrückten spezialisierte sich auf Astronomie. Es war alles so verquer. Für die meisten Leute erforderte die Idee, so etwas Stetiges wie Sternenlicht könnte dem Sonnenlicht verwandt sein, eine größere Glaubensanstrengung, als die meisten Religionen verlangten.

Grabber und die Geehrte Pedure sahen mit offenen Schlund zu, wie Papa die Theorie immer weiter ausbaute. Grabber hatte den wissenschaftlichen Teil des Programms immer gemocht, und jetzt war er ganz hypnotisiert. Pedure andererseits… Ihr Schock klang rasch ab. Entweder hatte sie das schon gehört, oder es führte von dem Kurs weg, den sie zu verfolgen gedachte.

Die Uhr im Kontrollraum tickte auf die Orgie von Werbebotschaften zu, die immer die Sendung beendete. Es sah so aus, als würde Papa das letzte Wort haben… nur dass Viki sicher war, dass die Geehrte Pedure die Uhr genauer als alles andere im Studio beobachtete und auf einen exakt gewählten strategischen Augenblick wartete.

Und dann griff sich die Klerikerin ihr Mikrofon fest und sprach laut genug, um Scherkaners Gedankenfluss zu unterbrechen. »Sehr interessant, aber den Raum zwischen den Sternen zu besiedeln, liegt gewiss jenseits der Zeit der gegenwärtigen Generation.«

Papa winkte ab. »Mag sein, aber…«

Die Geehrte Pedure fuhr fort, die Stimme akademisch und interessiert: »Die große Veränderung während unserer Zeit ist also einfach die Eroberung des nächsten Dunkels, desjenigen, welches den gegenwärtigen Sonnenzyklus beendet?«

»Korrekt. Wir — alle, die wir diese Rundfunksendung hören — werden keine Tiefen brauchen. Das ist das Versprechen der Kernkraft. Alle großen Städte werden genug Energie haben, um für mehr als zwei Jahrhunderte warm zu bleiben — das ganze bevorstehende Dunkel hindurch. Sodass…«

»Ich verstehe, also müssen sehr große Bauvorhaben stattfinden, um die Städte einzuschließen?«

»Ja, und die Farmen. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass…«

»Und das ist dann auch der Grund, warum Sie eine zusätzliche Generation von Erwachsenen wollen. Deswegen wollen Sie Unzeit-Geburten durchdrücken.«

»Oh, nicht direkt. Das ist einfach eine Eigenschaft der neuen Situ…«

»De facto wird also der Goknische Einklang mit Hunderten von Millionen Dunkelschreitern in das kommende Dunkel eintreten. Was ist mit dem Rest der Welt?«

Papa schien zu erfassen, dass er in Schwierigkeiten kam. »Äh… aber andere technisch fortgeschrittene Länder können dasselbe tun. Die ärmeren Länder werden ihre herkömmlichen Tiefen haben, und sie werden später erwachen.«

Nun klang Stahl in Pedures Stimme, eine Falle, die endlich zuschnappte: »›Sie werden später erwachen.‹ Während des Großen Krieges haben vier Dunkelschreiter den mächtigsten Staat der Welt zu Fall gebracht. Im nächsten Dunkel werdet ihr Millionen Dunkelschreiter sein. Das sieht ganz so aus, wie die Vorbereitungen zu den größten Tiefen-Massakern in der Weltgeschichte.«

»Nein, so ist das überhaupt nicht. Wir würden nie…«

»Tut mir Leid, meine Dame, mein Herr, unsere Zeit ist um.«

»Aber…«

Grabber überging Papas Einwände. »Ich möchte Ihnen beiden danken, dass Sie heute bei uns waren und…« Bla bla bla.

Im Aufnahmeraum stand Pedure sofort auf, als Grabber mit seinem Spruch fertig war. Die Mikrofone waren jetzt abgeschaltet, und Viki konnte nicht hören, was gesagt wurde. Die Klerikerin wechselte offensichtlich Nettigkeiten mit dem Moderator. Auf der anderen Seite der Aufnahmebühne sah Papa sehr verblüfft aus. Als die Geehrte Pedure an ihm vorbeirauschte, stand Papa auf und folgte ihr hinaus, wobei er sehr lebhaft sprach. Sie hatte für ihn nur ein herablassendes kleines Lächeln.

Hinter Viki hantierte Didi Ultmot mit Reglern und steuerte den wichtigsten Teil der Sendung, die Werbung. Schließlich wandte sie sich vom Pult ab. Sie wirkte ein wenig benommen. »… Also wisst ihr, euer Papa hat ein paar wirklich… sonderbare… Ideen.«

Es schloss sich eine Folge von Akkorden an, die vielleicht Musik waren, und die Worte »Geschärfte Hand ist glückliche Hand. Bräm den Zinnfall mit fronendem Band…«

Spinnenwerbung war manchmal der Höhepunkt der Programme von Radio Weißenberg. Häutungsauffrischer, Augenpolitur, Beinkleider — viele von den Erzeugnissen ergaben einigermaßen Sinn, auch wenn es die Verkaufspointen nicht taten. Andere Produkte waren einfach sinnlose Wörter, vor allem, wenn es sich um ein zuvor unbekanntes Produkt handelte und um Übersetzer aus der zweiten Reihe.

Heute waren es die aus der zweiten Reihe. Reung, Broute und Trixia saßen unruhig da, vom Signalstrom abgeschnitten. Ihre Führer kamen schon herein, um sie von der Bühne zu holen. Heute ignorierte auch die Menge in Bennys Salon die Werbung weitgehend: »Nicht so lustig, als wenn die Kinder dran sind, aber…«

»Hast du das mit der Raumfahrt mitgekriegt? Ich frage mich, wie sich das auf den Zeitplan auswirkt. Wenn…«

Ezr hörte nicht hin. Sein Blick blieb auf die Wand gerichtet, und das ganze Geplapper war nur ein fernes Summen. Trixia sah schlechter aus als sonst. Das Flackern ihres Blicks kam Ezr verzweifelt vor. Er dachte das oft, und ein Dutzend Mal hatte Anne Reynolt behauptet, es sei nichts als Eifer, wieder an die Arbeit zu gehen.

»Ezr?« Eine Hand strich sacht über seinen Ärmel. Es war Qiwi. Irgendwann während des Programms war sie in den Salon geschlüpft. Sie hatte das auch früher schon gemacht, still dagesessen und die Vorstellung betrachtet. Jetzt hatte sie die Stirn, sich wie ein Freund zu benehmen. »Ezr, ich…«

»Spar dir das.« Ezr wandte sich von ihr ab.

Und so schaute er direkt auf Trixia, als es geschah. Die Führer hatten Broute aus dem Zimmer gebracht. Als sie Xopi Reung an ihr vorbeiführten, kreischte Trixia, sprang von ihrem Sitz weg und schlug der jüngeren Frau die Faust ins Gesicht. Xopi drehte sich weg, riss sich aus dem Griff ihres Führers los. Sie starrte benommen auf das Blut, das ihr aus der Nase strömte, wischte sich dann das Gesicht mit der Hand ab. Der andere Techniker packte die schreiende Trixia, ehe sie mehr Schaden anrichten konnte. Irgendwie gelangten Trixias Worte in den allgemeinen Tonkanal: »Pedure böse! Stirb! Stirb!«

»Oh Junge.« Neben Ezr schnellte sich Trud Silipan von seinem Sitz weg und drängte sich zum Eingang von Bennys Salon durch. »Reynolt wird deswegen einen Anfall kriegen. Ich muss zurück nach Hammerfest.«

»Ich komme mit.« Ezr fegte an Qiwi vorbei und tauchte zur Tür hin. In Bennys Salon herrschte einen Moment lang schockiertes Schweigen, dann redeten alle drauflos…

… doch da war Ezr fast außer Hörweite und jagte hinter Silipan her. Sie bewegten sich rasch zum Hauptkorridor, um zu den Taxiröhren zu kommen. Bei den Schleusen tippte Silipan etwas auf den Zeitplaner, dann wandte er sich um. »Was willst du?«

Ezr schaute über die Schulter und sah, dass Pham Trinli ihnen aus Bennys Salon gefolgt war. Ezr sagte: »Ich muss mitkommen, Trud. Ich muss Trixia sehen.«

Auch Trinli klang besorgt. »Wird das unsere Vereinbarung ruinieren, Silipan? Wir müssen dafür sorgen, dass…«

»Oh, Eiter. Ja, wir müssen bedenken, wie sich das auf alles auswirken wird. In Ordnung. Komm mit!« Er warf einen Blick auf Ezr. »Aber du. Du kannst nichts machen, was nützen würde.«

»Ich komme mit, Trud.« Ezr fand sich keine zehn Zentimeter von dem anderen entfernt, die Fäuste erhoben.

»Gut, gut! Aber bleib bloß aus dem Weg.« Einen Augenblick später blinkte die Taxischleuse grün, und sie waren an Bord und beschleunigten vom Temp weg. Der Felshaufen war ein sonnenbeschienener Wirrwarr gleich neben der blauen Scheibe der Arachna. »Pest, das musste passieren, wenn wir auf der anderen Seite sind. Taxi!«

»Jawohl?«

»Schnellster Flug nach Hammerfest.« Normalerweise mussten sie behutsam mit der Hardware des Taxis umgehen — doch anscheinend erkannte die Automatik Truds Stimme und Tonfall.

»Jawohl.« Das Taxi beschleunigte mit fast einem Zehntel g. Silipan und die anderen langten nach Gurten und schnallten sich an. Vor ihnen wuchs und wuchs der Felshaufen. »Das ist vielleicht ein Mist, wisst ihr? Reynolt wird sagen, dass ich nicht auf meinem Posten war.«

»Na, warst du doch auch nicht?« Trinli hatte sich direkt neben Silipan gesetzt.

»Natürlich, aber das hätte keine Rolle spielen dürfen. Zum Teufel, ein Führer hätte für die ganze eitermäßig verdammte Übersetzergruppe reichen müssen. Aber jetzt werde ich es sein, der eine schlechte Figur macht.«

»Aber ist mit Trixia alles in Ordnung?«

»Warum ist Bonsol derart hochgegangen?«, fragte Trinli.

»Keine Ahnung. Weißt du, sie zanken sich und kämpfen, besonders manche vom selben Fachgebiet. Aber das kam aus heiterem Himmel.« Silipan hörte abrupt zu reden auf. Eine Weile starrte er in seine Datenbrille. Dann: »Es geht in Ordnung. Es geht in Ordnung. Ich wette, da war doch ein Tonsignal vom Planeten. Wisst ihr, ein offenes Mikro, ein Fehler bei ihrer Sendung. Vielleicht hat Unterberg der anderen Spinne eins versetzt. Dann wäre Bonsols Verhalten ›gültige Übersetzung‹… Verdammt!«

Jetzt war der Bursche wirklich besorgt und klammerte sich an die erstbesten Erklärungen. Trinli schien zu stupid zu sein, um es zu merken. Er grinste und klopfte Silipan auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen deswegen. Du weißt, dass Qiwi Lisolet an dem Geschäft beteiligt ist. Das heißt, Hülsenmeister Nau will auch, dass die Blitzer breitere Anwendung finden. Wir werden einfach sagen, du warst im Temp, um mir bei den Einzelheiten zu helfen.«

Das Taxi wendete und bremste zur Landung. Der Felshaufen und die Arachna taumelten über den Himmel.

Fünfundzwanzig

Sie sahen die Geehrte Pedure nicht, als sie den Rundfunksender verließen. Papa war ein wenig niedergeschlagen, doch er lächelte und lachte, als ihm die Kupplis erzählten, wie sehr ihnen sein Auftritt gefallen habe. Er schimpfte Gokna nicht einmal aus, weil sie eine Zehn gezeigt hatte. Brent saß auf der Rückfahrt zum Berghaus vorn bei Papa.

Gokna und Viktoria sprachen nicht viel im Wagen. Sie wussten beide, dass jeder jedem etwas vormachte.

Als sie nach Hause kamen, waren es noch zwei Stunden bis zum Abendessen. Das Küchenpersonal behauptete, General Schmid sei vom Landeskommando zurückgekehrt und sie würde beim Essen dabei sein. Gokna und Viki wechselten Blicke. Ich möchte wissen, was Mutter zu Papa sagen wird. Die saftigsten Teile würden nicht beim Essen stattfinden. Hmm. Was also mit dem restlichen Nachmittag anfangen? Die Schwestern trennten sich und erkundeten jede für sich die spiralförmigen Korridore des Berghauses. Es gab Zimmer — eine Menge Zimmer —, die immer verschlossen waren. Zu manchen von ihnen hatten sie niemals die Schlüssel stehlen können. Die Generalin hatte ihre eigenen Büros hier, wenngleich die wichtigsten Sachen unten im Landeskommando waren.

Viki lugte in Papas Bau im Erdgeschoss und in die Cafeteria auf den Techniker-Etagen, doch nur kurz. Sie hatte mit Gokna gewettet, dass sich Papa nicht verstecken würde, doch nun erkannte sie, dass ›sich nicht verstecken‹ ›schwer zu finden‹ nicht ausschloss. Sie wanderte durch die Labors, fand die typischen Anzeichen für seine Anwesenheit, Jungakademiker in verschiedenen Stadien der Verblüffung und plötzlicher, überraschter Erleuchtung. (›Unterberg-Blendung‹ nannten es die Studenten: Wenn man verblüfft war, dann bestand einige Wahrscheinlichkeit, dass Papa etwas Brauchbares gesagt hatte. Wenn man schlagartig erleichtert war, bedeutete das am ehesten, dass Papa einen und sich selbst mit einer leichten, aber falschen Erkenntnis getäuscht hatte.)

Das neue Fernmeldelabor befand sich oben im Haus, unter einem Dach voller experimenteller Antennen. Sie traf auf Jaybert Landers, der gerade die Treppe von dort herabkam. Der Kupp zeigte keine Anzeichen von Unterberg-Blendung. Schade.

»Hallo, Jaybert. Haben Sie meinen…«

»Ja, sie sind beide oben im Labor.« Er ließ eine Hand über die Schulter zucken.

Aha! Doch Viki schob sich nicht sofort an ihm vorbei. Wenn die Generalin schon hier war, sollte sie vielleicht ein paar Hintergrundinformationen einholen. »Und was geht da vor, Jaybert?«

Natürlich glaubte Jaybert, die Frage beziehe sich auf seine Arbeit. »Üble Sache. Ich habe gerade heute Morgen meine neue Antenne in die Verbindung zum Landeskommando eingeschaltet. Zuerst war die Abstimmung in Ordnung, doch dann kriegte ich diese Fünfzehn-Sekunden-Sequenzen, wo es aussieht, als wären zwei Stationen auf der Sichtverbindung. Ich wollte deinen Vater fragen…« Viki folgte ihm ein paar Stufen abwärts und machte zustimmende Geräusche zu dem unverständlichen Gerede über Verstärkerstufen und vorübergehende Abstimmungsfehler. Zweifellos war Jaybert sehr froh gewesen, rasch Papas Aufmerksamkeit zu finden, und ohne Zweifel war Papa über einen Anlass froh gewesen, sich im Fernmeldelabor zu verkriechen. Und dann war Mutter aufgetaucht…

Viki verließ Jaybert unten bei seinem Bürokäfterchen, stieg wieder die Treppe hinauf und ging diesmal herum bis zum Liefereingang des Labors. Am Ende des Korridors war ein Lichtspalt zu sehen. Ha! Die Tür stand halb offen. Viki hörte die Stimme der Generalin. Sie schlich den Korridor entlang bis zur Tür.

»… einfach nicht verstehen, Scherkaner. Du bist ein brillanter Kopf. Wie kannst du dich derart idiotisch verhalten?«

Viktoria junior zögerte, wäre fast wieder den abgedunkelten Korridor zurückgegangen. Sie hatte Mama noch nie derart wütend erlebt. Es… tat weh. Andererseits würde Gokna alles geben, um Vikis Bericht zu hören. Viki schob sich leise vorwärts, drehte den Kopf zur Seite, um durch die schmale Lücke zu spähen. Das Labor sah ganz, so aus, wie sie es in Erinnerung hatte, voller Oszillographen und Hochgeschwindigkeitsrecordern. Bei manchen von Jayberts Geräten waren die Verkleidungen abmontiert, doch anscheinend war Mama eingetroffen, ehe die beiden ernstlich etwas auseinandernehmen konnten. Mutter stand vor Papa und hinderte seine besten Augen daran, Viki zu sehen. Und ich wette, ich bin nahe am Zentrum von Mamas blindem Fleck.

»… War ich wirklich so schlecht?«, sagte Papa gerade.

»Ja!«

Scherkaner Unterberg schien unter dem Blick der Generalin dahinzuwelken. »Ich weiß nicht. Die Kupp hat mich überrumpelt. Die Bemerkung über Brent. Ich wusste, dass das kommen würde. Du und ich hatten darüber gesprochen. Sogar mit Brent hatte ich darüber gesprochen. Und dennoch schlug es mir den Boden unter den Füßen weg. Ich war verwirrt.«

Mama machte eine scharfe Handbewegung und wischte das Gesagte beiseite. »Das war kein Problem, Scherk. Du hast gut darauf geantwortet. Dass du gekränkt warst, kam auf eine besorgte, väterliche Weise rüber. Und trotzdem hat sie dich ein paar Minuten später ausgelutscht…«

»Abgesehen von der Astronomie, habe ich nur Dinge gesagt, die wir für das Programm im Laufe des nächsten Jahres vorgesehen hatten.«

»Aber du hast sie alle auf einmal gesagt!«

»… Ich weiß. Pedure begann wie jemand Kluges und Neugieriges zu sprechen. Wie Hrunk oder Leute hier im Berghaus. Sie hat ein paar interessante Fragen aufgeworfen, und ich habe mich hinreißen lassen. Und weißt du was? Sogar jetzt… Diese Pedure ist klug und flexibel. Wenn ich Zeit gehabt hätte, glaube ich, hätte ich sie umstimmen können.«

Das Gelächter der Generalin war ätzend und humorlos. »Gott der Tiefste, du bist ein Dummkopf! Scherk, ich…« Mama streckte eine Hand aus und berührte Papa. »Tut mir Leid. Komisch, meine eigenen Stabsoffiziere putze ich nicht derart herunter wie dich.«

Papa machte ein freundliches Geräusch, wie wenn er zu Rhapsa oder Klein Hrunk sprach. »Du kennst den Grund dafür, Liebe. Du liebst mich so sehr wie dich selbst. Und ich weiß, wie sehr du dich selbst herunterputzt.«

»Innerlich. Nur im Stillen und innerlich.« Sie waren einen Moment still, und Klein Viktoria wünschte, sie hätte ihren Kundschafterwettbewerb mit Gokna verloren. Doch als Mutter wieder sprach, klang ihre Stimme normaler. »Wir beide haben das vermasselt.« Sie schloss ihre Reisetasche auf und holte ein paar Papiere heraus. »Im Laufe des nächsten Jahres sollte ›Die Kinderstunde der Wissenschaft‹ die Vorzüge und die Möglichkeit des Lebens im Dunkel einführen, zeitlich abgestimmt mit den ersten Bauverträgen. Wir wussten, dass es eines Tages militärische Konsequenzen geben würde, doch ich hatte nichts dergleichen in diesem Stadium erwartet.«

»Militärische Konsequenzen jetzt?«

»Jedenfalls tödliches Manövrieren. Du weißt, dass diese Pedure aus Basville ist.«

»Klar. Ihr Akzent ist nicht zu verkennen.«

»Ihre Tarnung ist gut, zum Teil, weil sie größtenteils wahr ist. Die Geehrte Pedure ist Kleriker dritten Ranges in der Kirche des Dunkels. Aber sie ist auch mittleres Geheimdienstpersonal bei der Aktion Gottes.«

»Den Sinnesgleichen.«

»Ja. Wir haben seit dem Krieg freundschaftliche Beziehungen mit den Bassern, aber die Sinnesgleichen beginnen, das zu ändern. Sie haben bereits mehrere kleinere Staaten de facto unter Kontrolle. Sie sind eine legitime Sekte der Kirche, aber…«

Weit hinten im Korridor hinter Klein Viktoria drehte jemand ein Licht im Flur an. Mama hob eine Hand und war ganz reglos. Huch. Vielleicht hatte sie eine vage Silhouette bemerkt, vertraute Kerben und Panzer-Bogenformen. Ohne sich umzudrehen, streckte Schmid einen langen Arm in Richtung der Lauscherin aus. »Junior! Mach die Tür zu und scher dich zurück in dein Zimmer.«

Klein Viktoria sagte mit tonloser Stimme: »Ja, Mutter.«

Während sie die Liefertür schloss, hörte sie eine letzte Bemerkung: »Verdammt. Ich wende fünfzig Millionen pro Jahr für die Nachrichtensicherheit auf, und meine eigene Tochter hört mich ab…«


Im Augenblick war die Klinik unter Hammerfest überfüllt. Bei Phams früheren Besuchen war Trud dagewesen, manchmal noch ein Techniker und ein, zwei ›Patienten‹. Heute — nun ja, eine Handgranate hätte mehr Aufruhr unter den Fokussierten hervorgerufen, aber nicht viel mehr. Beide MRT-Geräte waren belegt. Einer der Führer machte Xopi Reung für einen MRT fertig; die Frau stöhnte und warf sich hin und her. Drüben in einer Ecke war Dietr Li — der Physiker? — festgeschnallt und brabbelte vor sich hin.

Reynolt hatte einen Fuß über eine Halterung an der Decke gehakt, sodass sie nahe über dem MRT hing, ohne den Technikern im Wege zu sein. Sie schaute sich nicht um, als sie hereinkamen. »Gut, Induktion vollständig. Halten Sie die Arme angeschnallt.« Der Techniker schob seine Patientin in die Mitte des Zimmers. Es war Trixia Bonsol; sie schaute sich um, offensichtlich ohne jemanden zu erkennen, und dann fiel ihr Gesicht zu einem hoffnungslosen Schluchzen zusammen.

»Sie haben sie defokussiert!«, rief Vinh und drängte sich an Trud und Pham Trinli vorbei. Pham verschaffte sich Halt und langte nach Vinh, und dessen vorwärts gerichtete Bewegung kehrte sich um, ließ ihn leicht gegen die Wand prallen.

Reynolt schaute in Vinhs Richtung. »Seien Sie still oder gehen Sie raus«, sagte sie. Sie ließ die Hand auf Bil Phuong zuschießen. »Führen Sie Dr. Reung ein. Ich will…« Der Rest war Jargon. Ein normaler Bürokrat hätte sie sicherlich hinausgeworfen. Anne Reynolt war es egal, solange sie ihr nicht in die Quere kamen.

Silipan schwebte zurück zu Pham und Vinh. Er wirkte niedergeschlagen und finster. »Ja. Halt den Mund, Vinh!« Er warf einen Blick auf den MRT-Bildschirm. »Bonsol ist noch fokussiert. Wir haben nur ihre linguistischen Fähigkeiten heruntergeschraubt. Dann wird es leichter sein, sie zu… behandeln.« Er schaute Bonsol unsicher an. Die Frau hatte sich zusammengekrümmt, soweit die Gurte es zuließen. Sie weinte noch immer, hoffnungslos und untröstlich.

Vinh wehrte sich kurz in Phams Griff, dann war er still, abgesehen von einem Zittern, das nur Pham spürte. Eine Sekunde lang sah es so aus, er könne sich womöglich übergeben. Dann drehte sich der Junge herum, wandte das Gesicht von Bonsol ab und schloss fest die Augen.

Tomas Naus Stimme drang laut in den Raum. »Anne? Ich habe drei Analysestrecken verloren, seit dieser Aufruhr begonnen hat. Wissen Sie…?«

Reynolts Ton war fast derselbe wie gegenüber Vinh: »Geben Sie mir eine Kilosekunde. Ich habe mindestens fünf Fälle von unkontrolliert ausgebrochener Geistfäule.«

»Herr… halten Sie mich auf dem Laufenden, Anne.«

Reynolt redete bereits mit jemand anders. »Hom! Was ist mit Dr. Li los?«

»Er ist bei Verstand, Frau Direktor; ich habe ihm zugehört. Etwas ist während der Rundfunksendung passiert, und…«

Reynolt schwebte durch den Raum zu Dietr Li, wobei sie es irgendwie vermied, Techniker, Blitzköpfe und Ausrüstung zu treffen.

»Das ist bizarr. Es hätte keine Live-Querverbindung zwischen Physik und der Rundfunksendung geben dürfen.«

Der Techniker tippte auf eine Karte, die an Lis Bluse befestigt war. »Sein Log sagt, dass er die Übersetzung gehört hat.«

Pham bemerkte, wie Silipan schwer schluckte. War das eins von den Dingen, die er vermasselt hatte? Verdammt. Wenn der Mann in Ungnade fiel, würde Pham seinen Draht zum Fokus-Betrieb verlieren.

Doch Reynolt hatte ihren unerlaubt abwesenden Techniker noch nicht wahrgenommen. Sie beugte sich dicht über Dietr Li, hörte einen Moment zu, was er murmelte. »Sie haben Recht. Er hängt bei dem fest, was der Spinn über den EinAus gesagt hat. Ich glaube nicht, dass er wirklich unter einem Ausbruch von Geistfäule leidet. Beobachten Sie ihn einfach weiter; lassen Sie mich wissen, ob er in Schleifen gerät.«

Weitere Stimmen aus den Wänden, und sie klangen fokussiert: »… Obergeschoss-Labor zwanzig Prozent beginnend… wahrscheinliche Ursache: fachgebietsübergreifende Reaktionen auf Tonfluss ID2738 ›Kinderstunde‹… Instabilitäten sind ungedämpft…«

»Ich höre, Obergeschoss. Fertigmachen zu schnellem Abschalten.« Reynolt wandte sich wieder Trixia Bonsol zu. Sie starrte die weinende Frau an, ihr Blick war eine unheimliche Kombination intensiven Interesses und totaler Distanz. Abrupt drehte sie sich um, ihr Blick spießte Trud Silipan auf. »Sie! Kommen Sie her.«

Trud schnellte quer durchs Zimmer an die Seite seiner Chefin. »Ja, Frau Direktor! Ja, Frau Direktor!« Diesmal war da keine versteckte Dreistigkeit. Für Reynolt war Vergeltung vielleicht undenkbar, doch ihre Urteile gehörten zu denen, die Nau und Brughel durchsetzen würden. »Ich habe die Wirksamkeit der Übersetzungen überprüft, Frau Direktor, wie gut Laien« — nämlich die Gäste in Bennys Biersalon — »sie verstehen würden.«

An Reynolt waren die Entschuldigungen verschwendet. »Nehmen sie eine Gruppe, die nicht im Netz ist. Ich möchte, dass Dr. Bonsols Log überprüft wird.« Sie beugte sich näher zu Trixia und sah sie prüfend an. Das Weinen der Übersetzerin hatte aufgehört. Ihr Körper war in einem zitternden Krampf zusammengekrümmt. »Ich bin nicht sicher, ob ich die hier retten kann.«

Ezr Vinh drehte sich in Phams Griff, und einen Augenblick lang sah es so aus, als finge er vielleicht wieder zu schreien an. Dann bedachte er Pham mit einem sonderbaren Blick und blieb still. Pham lockerte seinen Griff und schlug ihm sacht auf die Schulter.

Die beiden blieben still und schauten zu. ›Patienten‹ kamen und gingen. Es wurden noch einige heruntergefahren. Als Xopi Reung aus dem MRT kam, ähnelte sie Trixia Bonsol sehr. Im Laufe der letzten paar Wachen hatte Pham reichlich Gelegenheit gehabt, Silipan bei der Arbeit zuzusehen und ihn über die Verfahrensweisen auszuholen. Er hatte sogar einen Blick in ein Anfänger-Lehrbuch über Fokus geworfen. Dies war das erste Mal, dass er gründlich sah, wie Reynolt und die anderen Techniker arbeiteten.

Doch hier war etwas wirklich Tödliches geschehen. Geistfäule-Ausbruch. Als Reynolt das Problem anging, kam sie so nahe an Gefühle heran, wie es Pham je bei ihr gesehen hatte. Einige Teile des Geheimnisses wurden im Handumdrehen gelöst. Truds Anfrage gleich zu Beginn der Debatte hatte eine Suche quer über viele Fachgebiete ausgelöst. Das war der Grund, warum so viele Blitzköpfe die Debatte mitangehört hatten. Ihre Analyse war etliche hundert Sekunden lang sehr normal verlaufen, doch dann, als die Ergebnisse übermittelt wurden, gab es eine Welle von Kommunikation zwischen den Übersetzern. Normalerweise waren das Konsultationen, Abstimmungen der Worte, die sie laut sprachen. Diesmal war es tödlicher Unsinn. Erst Trixia und dann die meisten anderen Übersetzer begannen abzudriften, ihre Hirnchemie deutete auf eine unkontrollierte Ausbreitung der Fäule hin. Wirklicher Schaden war entstanden, noch bevor Trixia Xopi Reung angriff, doch von diesem Punkt an hatte der massive Kontrollverlust eingesetzt. Alles, was im Blitzkopf-Netz übermittelt wurde, rief eine Kaskade ähnlicher Ausbrüche hervor. Ehe der Notfall vollständig erfasst wurde, waren etwa zwanzig Prozent aller Blitzköpfe betroffen, das Virus in ihren Gehirnen überschüttete sie mit unkontrolliert produzierten psychoaktiven und schlechthin giftigen Chemikalien.

Die#nbsp#avigations-Blitzköpfe#nbsp#aren#nbsp#icht betroffen, Brughels Schnüffler mäßig. Pham beobachtete alles, was Reynolt tat, versuchte jedes Detail, jeden Hinweis aufzunehmen. Wenn ich dafür sorgen kann, dass so etwas dem Versorgungsnetz von L1 passiert, wenn Brughels Leute ausgeschaltet werden könnten…

Anne Reynolt schien überall zu sein. Jeder Techniker beugte sich ihren Anordnungen. Sie war es, die die meisten von Ritsers Blitzern rettete; sie, die die Wiederaufnahme eingeschränkter Operationen im Dachgeschoss zu Stande brachte. Und es ging Pham auf, dass ohne Anne Reynolt vielleicht gar niemand wiederhergestellt worden wäre. Daheim im Sonnensystem der Aufsteiger waren Zusammenbrüche von Blitzköpfen vielleicht Ungelegenheiten, die hin und wieder vorkamen. Es gab Universitäten, die Ersatz hervorbrachten, Hunderte von Kliniken, um neu ausgebildete Fachleute zu fokussieren. Hier, zwanzig Lichtjahre von der Zivilisation der Aufsteiger entfernt, war es eine andere Geschichte. Hier konnten kleine Ausfälle sich grenzenlos auswachsen, und ohne eine übernatürlich fähige Verwalterin, ohne Anne Reynolt, konnte Tomas Naus Operation zusammenbrechen.

Kurz nachdem man sie aus dem MRT geholt hatte, machte Xopi Reung den Abgang. Reynolt wandte sich von der Wiederinbetriebnahme des Obergeschosses ab und verbrachte ein paar fieberhafte Augenblicke mit der Übersetzerin. Hier hatte sie keinen Erfolg. Hundert Sekunden später hatte die außer Kontrolle geratene Infektion Reungs Hirnstamm vergiftet — und der Rest war egal. Reynolt betrachtete den reglosen Körper noch eine Sekunde lang mit gerunzelter Stirn. Dann bedeutete sie den Technikern mit einer Geste, den Leichnam fortzuschaffen.


Pham beobachtete Trixia Bonsol, wie sie aus der Klinik gebracht wurde. Sie lebte noch; Reynolt selbst war am vorderen Ende von Bonsols Trage.

Trud Silipan folgte ihr zur Tür. Plötzlich schien er sich der beiden Besucher zu erinnern. Er wandte sich um und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. »Also gut, Trinli. Ende der Vorstellung.«

Silipans Gesicht war finster und blass. Der genaue Grund für den Kontrollverlust war noch unbekannt; es war irgendeine obskure Wechselwirkung zwischen den Blitzköpfen. Truds Art, das Blitzernetz zu benutzen — seine Anfrage zu Beginn der Debatte —, hätte eine harmlose Verwendung der Ressourcen sein müssen. Doch Trud befand sich am äußersten Ende einer großen Pechsträhne. Selbst wenn seine Anfrage das Debakel nicht ausgelöst hatte, hing sie damit zusammen. Bei einer Dschöng-Ho-Operation wäre Silipans Anfrage einfach eine weitere Komponente gewesen. Leider hatten die Aufsteiger einige sehr nachträglich wirkende Methoden, Verfehlungen zu definieren.

»Geht bei dir alles in Ordnung, Trud?«

Silipan deutete ein ängstliches kleines Achselzucken an und trieb sie aus der Klinik. »Flieg zurück zum Temp — und lass Vinh nicht kommen, um nach seinem Blitzkopf zu sehen.« Er machte kehrt und folgte Reynolt.

Pham und Vinh wanderten aus den Tiefen von Hammerfest nach oben, allein, abgesehen von den zweifellos gegenwärtigen Schnüfflern Brughels. Der Vinh-Junge war still. In mancher Hinsicht war das heute der ärgste Schlag ins Gesicht gewesen, den er seit Jahren erduldet hatte, vielleicht seit Jimmy Diems Tod. Für einen x Generationen entfernten Nachkommen hatte Ezr Vinh ein Gesicht, das durchweg viel zu vertraut aussah. Er erinnerte Pham an Ratko Vinh, als Ratko jung gewesen war; er hatte viel von Suras Gesicht. Das war kein angenehmer Gedanke. Vielleicht versucht mir mein Unterbewusstsein etwas zu sagen… Ja. Nicht nur in der Klinik, sondern schon diese ganze Wache über. Immer wieder einmal schaute ihn der Junge an… und der Blick war eher abschätzend als abschätzig. Pham dachte zurück und versuchte sich zu erinnern, wie sich dieser Trinli-Typ nun genau verhalten hatte. Gewiss war es riskant, sich derart für Fokus zu interessieren. Doch dafür hatte er als Tarnung Truds Pfuschereien. Nein, selbst während sie in der Klinik standen und Phams Denken völlig auf Reynolt und das Rätsel um Bonsol konzentriert war — er war sicher, dass er selbst da nicht anders ausgesehen hatte als gelinde verwirrt, ein alter Scharlatan, der sich Sorgen machte, dass dieses Debakel die Geschäfte vereiteln würde, die er und Trud planten. Dennoch hatte dieser Vinh ihn irgendwie durchschaut. Wie? Und was war da zu machen?

Sie kamen aus dem senkrechten Hauptkorridor und bewegten sich den Weg die Rampe zu den Taxischleusen entlang. Die Mauerarbeiten der Fokussierten waren überall, an Decken, Wänden und Fußböden. Stellenweise waren die Diamantwände zu dünnen Scheiben geglättet worden. Blaues Licht — das Licht der vollen Arachna — fiel weich durch den Kristall, je nach Wanddicke dunkler oder heller. Da von L1 aus die Arachna immer die volle Scheibe zeigte und der Felshaufen zwischen Planet und Sonne gehalten wurde, war das Licht seit Jahren unverändert. Vielleicht hatte es eine Zeit gegeben, da sich Pham Nuwen in diese Kunst verliebt hätte, doch jetzt wusste er, wie sie erzeugt worden war. Wache um Wache waren er und Trud Silipan diese Rampe entlanggekommen und hatten Arbeiter gesehen, die den Diamant schnitten. Nau und Brughel hatten das Leben von Blitzköpfen ohne wissenschaftliche Ausbildung verplempert, um diese Kunst herzustellen. Pham vermutete, dass mindestens zwei an Altersschwäche gestorben waren. Die Überlebenden waren jetzt auch fort, wahrscheinlich beendeten sie die Arbeiten in weniger bedeutenden Korridoren. Wenn ich an der Macht bin, wird das anders. Fokus war so eine schreckliche Sache. Er durfte nie anders als für die unerlässlichsten Zwecke benutzt werden.

Sie kamen an einem Korridor vorbei, der mit im Tank gezüchtetem Holz getäfelt war. Die Maserung wirbelte glatt, passend zur Krümmung des Korridors, der nach unten zu Tomas Naus privaten Wohnräumen führte.

Und da war Qiwi Lin Lisolet. Vielleicht hatte sie sie kommen hören. Wahrscheinlicher war, dass sie ihren Aufbruch von der Klinik gesehen hatte. So oder so, sie hatte lange genug gewartet, um mit den Füßen am Boden zu stehen wie unter normaler planetarer Schwerkraft.

»Ezr, bitte. Können wir reden, nur einen Moment? Ich habe nicht gewollt, dass diese Vorstellungen jemandem wehtun…«

Vinh hatte sich vor Pham schweigend durch den Korridor gezogen. Sein Kopf ruckte hoch, als er Qiwi sah. Einen Augenblick lang sah es aus, als könnte er an ihr vorbeischweben. Dann begann sie zu sprechen. Vinh stieß hart gegen die Wand und trieb schnell und direkt auf sie zu. Die Aktion war ebenso unverkennbar feindselig wie ein Faustschlag ins Gesicht.

»He, was soll…?«, platzte Pham heraus und zwang sich, in scheinbarem Unvermögen zurückzubleiben. Er hatte den Burschen heute schon einmal abgefangen, und diesmal würde die Szene den Schnüfflern ziemlich klar sein. Außerdem hatte Pham zugesehen, wie Qiwi draußen arbeitete. Sie war in besserer Verfassung als sonst jemand bei L1 und ein akrobatisches Naturtalent. Vielleicht würde es Vinh guttun, zu erfahren, dass er seine Wut nicht an ihr auslassen konnte.

Doch Qiwi wehrte sich nicht, zuckte nicht einmal zurück. Vinh drehte sich herum und verpasste ihr mit der Handfläche eine kräftige Ohrfeige, dass sie beide auseinander taumelten. »Ja, wir werden reden!« Vinhs Stimme war abgehackt. Er schnellte sich zu ihr zurück und schlug abermals zu. Und abermals wehrte sich Qiwi nicht, hob nicht einmal die Hände, um das Gesicht zu bedecken.

Und Pham Nuwen stieß sich vorwärts, noch ehe er wirklich nachgedacht hatte. Etwas im Hintergrund seines Geistes lachte ihn aus, dass er Jahre der Verstellung aufs Spiel setzte, nur um eine Unschuldige zu schützen. Aber dasselbe Etwas jubelte auch.

Phams Sprung wurde zu einer anscheinend unkontrollierten Drehbewegung, die rein zufällig seine Schulter in Vinhs Eingeweide rammte und ihn gegen die Wand schleuderte. Außer Sicht aller Kameras gab Pham seinem Gegner den Ellbogen zu kosten. Einen Augenblick nach dem Zusammenprall knallte Vinhs Kopf gegen die Wand. Wenn sie noch in den Korridoren von geschnittenem Diamant gewesen wären, hätte das eine ernste Verletzung bedeuten können. Auch so schon bewegte Vinh, als er von der Wand zurückkam, nur schwach die Arme. Kleine Bluttröpfchen sprühten von seinem Hinterkopf weg.

»Such dir jemanden von deiner eigenen Kragenweite, Vinh! Feiges, elendes Stück Ungeziefer. Ihr Kauffahrer aus den Großen Familien seid doch einer wie der andere.« Phams Wut war echt — doch er war auch auf sich selbst wütend, dass er seine Tarnung aufs Spiel setzte.

Langsam stellte sich in Vinhs Augen wieder Vernunft ein. Er warf einen Blick auf Qiwi vier Meter weiter im Gang. Das Mädchen erwiderte den Blick, ihr Gesichtsausdruck war eine seltsame Kombination von Schock und Entschlossenheit. Und dann schaute Vinh zu Pham, und dem alten Mann lief es kalt den Rücken hinunter. Vielleicht hatten Brughels Kameras nicht alle Einzelheiten des Kampfes mitbekommen, doch der Junge wusste, wie wohlkalkuliert Phams Angriff gewesen war. Einen Moment lang starrten die beiden einander an, und dann ließ Vinh mit einem Zucken seinen Halt los und schoss die Rampe zu den Taxischleusen entlang. Es war der eilige Rückzug eines blamierten und geschlagenen Mannes. Aber Pham hatte den Ausdruck in seinen Augen gesehen; er würde etwas in Sachen Ezr Vinh unternehmen müssen.

Qiwi setzte an, Vinh zu folgen, hielt aber inne, ehe sie zehn Meter zurückgelegt hatte. Sie schwebte zur Abzweigung der Korridore und starrte in die Richtung, in die Vinh verschwunden war.

Pham kam näher. Er wusste, dass er hier weg musste. Zweifellos beobachteten ihn jetzt mehrere Kameras, und in Qiwis Nähe fiel es ihm schwer, in seiner Rolle zu bleiben. Was also sagen, damit er sicher davonkam? »Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Vinh ist es einfach nicht wert. Er wird dich nicht mehr behelligen; dafür verbürge ich mich.«

Nach einem Augenblick wandte sich das Mädchen zu ihm um. Herrgott, sie sah ihrer Mutter so ähnlich; Nau hatte sie Wache für Wache im Einsatz gelassen. Ihr standen Tränen in den Augen. Er sah keine Schnitte oder Blut, aber Blutergüsse begannen auf ihrer dunklen Haut hervorzutreten. »Ich wollte ihm wirklich nicht weh tun. Gott, ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn Trixia s…stirbt.« Qiwi strich sich das kurz geschnittene Haar zurück. Erwachsen oder nicht, sie sah so verloren aus wie in den ersten Tagen nach Diems ›Gräueln‹. Sie war so allein, dass sie sich einem Windbeutel wie Pham Trinli anvertraute. »Als… als ich klein war, habe ich Ezr Vinh mehr als sonst jemanden auf der Welt bewundert, ausgenommen meine Eltern.« Sie schaute Pham an; ihr Lächeln war zittrig und verletzt. »Ich wollte so sehr, dass er gut von mir dächte. Und dann griffen uns die Aufsteiger an, und dann ermordete Jimmy Diem meine Mutter und all die anderen… Wir sind alle in einem sehr kleinen Rettungsboot. Es darf niemand mehr getötet werden.« Sie schüttelte kurz und scharf den Kopf. »Wussten Sie, dass Tomas Nau seit den Diem-Massakern nicht mehr im Kälteschlaf war? Er hat jede Sekunde in all den Jahren durchlebt. Tomas ist so ernst, er arbeitet so hart. Er glaubt an Fokus, aber er ist offen für neue Arten, die Dinge anzupacken.« Sie sagte ihm, was sie Ezr hatte sagen wollen. »Bennys Salon würde ohne Tomas Nau nicht existieren. Nichts von dem Handel und den Bonsais würde existieren. Schritt für Schritt bringen wir die Aufsteiger dahin, unsere Lebensweise zu verstehen. Eines Tages wird Tomas imstande sein, meinen Vater und Trixia und alle Fokussierten freizulassen. Eines Tages…«

Pham wollte die Hände ausstrecken und sie trösten. Pham Nuwen war außer den Mördern vielleicht der einzige lebende Mensch, der wusste, was Jimmy Diem wirklich widerfahren war, und der wusste, was Nau und Brughel immer wieder Qiwi Lin Lisolet antaten. Er hätte sie schroff zurückweisen und gehen müssen, aber irgendwie brachte er es nicht fertig. Vielmehr schwebte er am Ort und sah verlegen und verwirrt aus. Ja. Eines Tages. Eines Tages, Kind, wirst du gerächt werden.

Sechsundzwanzig

Ritser Brughels Wohnung und Befehlsstand befanden sich an Bord der Unsichtbaren Hand. Er fragte sich oft, wie die Krämer auf einen derart perfekten Namen gekommen war, der in zwei Worten das Wesen des Sicherheitsdienstes ausdrückte. Jedenfalls war die Hand der am wenigsten beschädigte von allen Schiffsrümpfen, sei es der Dschöng Ho oder der Aufsteiger. Die Quartiere der Flugbesatzung waren intakt. Das Haupttriebwerk konnte wahrscheinlich mehrere Tage lang eine Beschleunigung von einem g aufrechterhalten. Seit der Übernahme waren die Kommunikationen und die elektronischen Abwehrmaßnahmen nach den Standards der Aufsteiger neu eingerichtet worden. Hier auf der Unsichtbaren Hand war er so ziemlich ein Gott.

Leider war physische Isolation kein Schutz gegen einen Geistfäule-Ausbruch. Der Ausbruch wurde von emotionellem Ungleichgewicht im fokussierten Geist ausgelöst. Das hieß, er konnte sich über Kommunikationsnetze ausbreiten, obwohl das normalerweise nur unter eng zusammenarbeitenden Blitzköpfen vorkam. Daheim in der Zivilisation waren Geistfäule-Ausbrüche eine ständige, aber drittrangige Sorge, einfach ein weiterer Grund, Ersatzleute vorrätig zu halten. Hier im gottverlassenen Nirgendwo waren sie eine tödliche Bedrohung. Ritser hatte den Ausbruch fast ebenso schnell wie Reynolt wahrgenommen — doch er konnte es sich nicht leisten, seine Blitzer abzuschalten. Wie üblich kümmerte sich Reynolt nicht vorrangig um seine Belange, doch er kam zurecht. Sie teilten die Schnüffler in kleine Gruppen auf und betrieben jede getrennt von den anderen. Die daraus folgenden Informationen waren fragmentiert; ihre Logs würden eine Menge späterer Analyse erfordern. Doch nichts Großes war ihnen entgangen… und später würden sie alle Einzelheiten aufholen.

In den ersten zwanzig Kilosekunden verlor Ritser drei Schnüffler an den Geistfäule-Ausbruch. Er ließ sie von Omo entsorgen und die anderen in Betrieb halten. Er flog nach Hammerfest hinunter und hatte eine lange Besprechung mit Tomas Nau. Es sah so aus, als würde Reynolt mindestens sechs Leute einbüßen, darunter einen großen Brocken von ihrer Übersetzungsabteilung. Der Führende Hülsenmeister war von Brughels geringerer Verlustrate gehörig beeindruckt. »Halten Sie Ihre Leute online, Ritser. Anne glaubt, dass die Übersetzer in dieser verdammten Spinnendebatte Partei ergriffen hätten, dass der Geistfäule-Ausbruch eine Eskalation normaler Meinungsverschiedenheiten unter Blitzköpfen gewesen sei. Das mag sein, aber die Debatte lag ziemlich weit weg vom Fokus-Zentrum der Übersetzer. Wenn sich die Dinge stabilisieren, möchte ich, dass Sie jede Sekunde von Ihren Aufzeichnungen durchgehen und sie nach verdächtigen Ereignissen durchforsten.«


Nach weiteren sechzig Kilosekunden stimmten Brughel und Nau darin überein, dass die Krise vorbei sei, zumindest für die Sicherheits-Blitzer. Hülsensergeant Omo stellte die Konsultation seiner Schnüffler mit Reynolts Leuten wieder her, aber über eine gepufferte Verbindung. Er begann mit einer detaillierten Durchsicht der unmittelbaren Vergangenheit. Das Debakel hatte in der Tat Ritsers Operation lahmgelegt, allerdings nur für sehr kurze Zeit. Etwa tausend Sekunden lang hatten sie die Funksicherheit völlig verloren. Genauere Untersuchungen zeigten, dass nichts an irgendein äußeres Sonnensystem gesendet worden war; ihre langfristig angelegte Geheimhaltung war intakt. Lokal hatten die Übersetzer etwas an den Kontrollfiltern vorbeigeschrien, doch die Spinnen hatten nichts bemerkt; kein Wunder, da die chaotischen Übertragungen wie vorübergehendes Rauschen wirkten.

Am Ende musste Ritser zu dem Schluss kommen, dass der Geistfäule-Ausbruch einfach sehr großes Pech gewesen war. Doch inmitten der Trivialitäten gab es ein paar sehr interessante Kleinigkeiten.

Normalerweise blieb Ritser auf der Brücke der Hand, wo er eine Befehlsperspektive auf den Gemengehaufen bei L1 und die weit entfernte Arachna wahren konnte. Da aber Ciret und Marli in Hammerfest aushalfen, blieben nur Tan und Kal Omo, um die nahezu hundert Schnüffler zu betreiben. Also kramte er zusammen mit Omo und Tan in den Eingeweiden der Operation herum.

»Vinh ist während dieser Wache dreimal auffällig geworden, Hülsenmeister. Und davon zwei Mal während des Geistfäule-Ausbruchs.«

Während er über Omo hinweg hereinschwebte, schaute Ritser auf die wachhabenden Blitzköpfe hinab. Etwa ein Drittel davon schliefen auf ihren Sätteln. Die übrigen waren in Datenströme eingetaucht, sahen die Logs durch, korrelierten ihre Ergebnisse mit Reynolts Fokussierten in Hammerfest. »Gut, also was habt ihr über ihn?«

»Das sind Kameraanalysen von Reynolts Labor und einem Korridor in der Nähe von Hülsenmeister Naus Wohnsitz.« Die Szenen flackerten rasch vorüber, Stellen waren hervorgehoben, wo die Schnüffler außergewöhnliche Körpersprache gesehen hatten.

»Nichts Offenes?«

Omos beilförmiges Gesicht zog sich zu einem humorlosen Lächeln breit. »Eine Menge, was sich daheim verfolgen ließe, aber nicht unter den gegenwärtigen Durchsetzungsregeln.«

»Darauf kannst du wetten.« Hülsenmeister Naus Regeln zur Durchsetzung Seines Gesetzes wären überall im Aufstieg ein Grund gewesen, ihn sofort abzusetzen. Mehr als zwanzig Jahre lang hatte der Führende Hülsenmeister den Krämerschweinen ihre Exzesse durchgehen lassen und dabei gesetzestreue Aufsteiger pervertiert. Anfangs hatte es Ritser verstört. Jetzt… jetzt konnte er es verstehen. Tomas hatte in so vielen Dingen Recht. Es bestand kein Spielraum für weitere Liquidationen. Und wenn man die Leute reden ließ, brachte das eine Menge Information, die sie verwenden konnten, wenn die Schraube wieder angezogen wurde. »Was ist also diesmal anders?«

»Analytiker Sieben und Acht stimmen beide bei den letzten beiden Ereignissen überein.« Sieben und Acht waren die Blitzköpfe am Ende der ersten Reihe. Als Kinder hatten sie vielleicht Namen besessen, doch das war lange her und vor ihrem Eintritt in die Polizeiakademie. Leichtsinnige Namen und ›Doktor‹-Titel mochten bei ziviler Arbeit verwendet werden, aber nicht in einem ernsten Polizeibetrieb. »Vinh ist auf etwas aus, das über seine normalen Bestrebungen hinaus geht. Sehen Sie sich seine Kopfspur an.«

Ritser sagte gar nichts, aber es war seine Aufgabe, zu führen, nicht, forensische Einzelheiten zu verstehen. Omo fuhr fort: »Er beobachtet Trinli mit großem Misstrauen. Es passiert noch einmal im Korridor bei den Taxischleusen.«

Brughel blätterte durch den Video-Index von Vinhs Besuch in Hammerfest. »Gut. Er hat mit Trinli gekämpft. Er hat Trud Silipan belästigt. Gottchen…« — Brughel konnte sich ein Lachen nicht verkneifen — »er hat Tomas Naus kleine private Hure angegriffen. Aber du sagst, die Sicherheitssignale betreffen Blickkontakt und Körpersprache?«

Omo zuckte die Achseln. »Das offene Verhalten passt zu den bekannten Problemen des Burschen. Und es fällt nicht unter die Durchsetzungsregeln.«

Qiwi Lin Lisolet hatte also ein paar verpasst gekriegt, direkt auf Tomas’ Schwelle. Ritser stellte fest, dass er angesichts der Ironie grinste. Die ganzen Jahre über hatte Tomas die kleine Schlampe hinters Licht geführt. Die wiederkehrenden Gehirnwäschen hatten sich zu einem Lichtpunkt in Ritsers Leben entwickelt, besonders, wenn er ihre Reaktion auf ein bestimmtes Video sah. Dennoch konnte er seinen Neid nicht leugnen. Er, Ritser Brughel, hätte keine Maskerade durchhalten können, nicht einmal mit Gehirnwäschen. Ritsers eigene Frauen hielten einfach nicht vor. Ein paar Mal pro Jahr musste er sich an Tomas wenden und ihm neues Spielzeug abschwatzen. Ritser hatte die attraktivsten von den verzichtbaren Frauen aufgebraucht. Manchmal hatte er ein bisschen Glück, wie mit Floria Peres. Sie hätte Qiwis Gehirnwäschen auf alle Fälle bemerkt; und wenn sie just Chemieingenieur war, sie musste ausgeschaltet werden. Aber derlei Glücksfälle waren begrenzt… und das Exil erstreckte sich vor ihm noch über Jahre. Der Gedanke war düster und vertraut, und er schob ihn entschlossen beiseite.

»Gut. Du meinst also, Sieben und Acht haben herausgefunden, dass Vinh etwas verbirgt, was zuvor nicht in seinem Bewusstsein war — zumindest nicht mit solcher Intensität.«

Daheim in der Zivilisation wäre das kein Problem gewesen. Sie hätten sich den Delinquenten einfach gegriffen und die Antworten aus ihm herausgeschnitten. Hier… nun ja, sie hatten Gelegenheit gehabt, es mit Schneiden zu versuchen; sie hatten enttäuschend wenig erfahren. Zu viele von der Dschöng Ho hatten wirksame Blockaden, und zu viele konnten nicht richtig mit Geistfäule infiziert werden.

Er ging die hervorgehobenen Zwischenfälle durch. »Hmm. Glaubst du, er hat herausgefunden, dass Trinli in Wahrheit Zamle Eng ist?« Die Krämer waren verrückt; sie duldeten nahezu jede Korruption, hassten aber einen der ihren bis aufs Blut, nur weil er in Fleisch handelte. Ritsers Lippen verzogen sich angewidert. Eiter. Wie tief wir gesunken sind. Erpressung ist eine passende Waffeunter Hülsenmeistern, aber für Leute wie Pham Trinli sollte gewöhnlicher Terror genügen. Er überflog nochmals Omos Beweisstücke. Sie waren wirklich dünn. »Manchmal frage ich mich, ob wir vielleicht die Auslöseschwelle für unsere Schnüffler zu niedrig gesetzt haben.«

Das hatte Omo schon früher zu bedenken gegeben. Der Hülsensergeant war aber zu schlau, um zu triumphieren. »Das kann sein, Herr Hülsenmeister. Andererseits, wenn keine Fragen blieben, die die Verwalter zu entscheiden haben, würden richtige Menschen nicht gebraucht.« Die Vorstellung von einem einzigen Hülsenmeister, der ein Universum von Fokussierten beherrschte, war pure Phantasie. »Wissen Sie, was ich wünschte, Hülsenmeister Brughel?«

»Was?«

»Ich wünschte, wir könnten diese selbsttätigen Dschöng-Ho-Orter nach Hammerfest hereinholen. Es hat etwas Perverses, dass wir in unserem eigenen Gebiet schlechtere Sicherheit haben als im Dschöng-Ho-Temp. Wenn diese Ereignisse sich an Bord des Temps zugetragen hätten, verfügten wir über Vinhs Blutdruck, seine Pulsfrequenz — verdammt, wenn die Orter auf seiner Kopfhaut wären, hätten wir EEG. Mit den Signalprozessoren der Krämer im Verein mit unseren Blitzköpfen könnten wir praktisch die verdammten Gedanken des Betreffenden lesen.«

»Ja, ich weiß.« Die Dschöng-Ho-Orter waren eine fast magische Verbesserung gegenüber früheren Standards der staatlichen Regulierung. Es gab Hunderttausende von den millimetergroßen Geräten überall im Krämertemp — und wahrscheinlich Hunderte in den offenen Bereichen von Hammerfest, seit Nau die Bestimmungen zur Fraternisierung gelockert hatte. Sie brauchten nur das Versorgungssystem von Hammerfest auf Mikrowellen-Impulse umzuprogrammieren, und die Reichweite der Orter wäre sofort größer. Sie konnten Überwachungskameras und dergleichen sperrige Ausrüstung abschreiben. »Ich werde das Hülsenmeister Nau vortragen.« Annes Programmierer studierten die Orter der Krämer nun seit über zwei Jahren und hatten vergeblich nach verborgenen Haken gesucht.

In der Zwischenzeit… »Na, Ezr Vinh ist jetzt wieder an Bord des Temps und wird von so viel Ortern überwacht, wie du dir nur wünschen kannst.« Er grinste Omo zu. »Stelle noch ein paar Blitzköpfe für ihn ab. Schauen wir, was eine intensive Analyse erbringt.«

Ezr stand den Notfall durch, ohne abermals weich zu werden. Reguläre Berichte kamen aus Hammerfest. Der Geistfäule-Ausbruch war eingedämmt worden. Xopi Reung und acht weitere Fokussierte waren gestorben. Drei weitere waren ›ernstlich geschädigt‹. Aber Trixia war als ›wieder im Dienst, ungeschädigt‹ gekennzeichnet.

Die Spekulationen wogten in Bennys Salon hin und her. Rita war sich sicher, dass der Ausbruch ein fast zufälliger Zusammenbruch war. »Wo ich auf der Balacrea gearbeitet habe, hatten wir so was alle paar Jahre; den Grund konnten wir nur einmal feststellen. Das ist der Preis, den man für enge Verkopplung bezahlt.« Doch sie und Jau Xin hatten Angst, dass der Ausbruch sogar zeitlich verschobenen Direktübersetzungen der ›Kinderstunde‹ ein Ende bereiten würde. Gonle Fong sagte, das spiele keine Rolle, da Scherkaner Unterberg seine seltsame Debatte mit Pedure verloren habe, und es also keine weiteren Sendungen zu übersetzen geben würde. Trud Silipan war nicht mehr an der Diskussion beteiligt; er war noch immer drüben in Hammerfest, vielleicht arbeitete er mal zur Abwechslung. Pham Trinli machte das wett, indem er Silipans Theorie verbreitete, Trixia habe einen echten Kampf nachgespielt — und das habe den Ausbruch beschleunigt. Ezr hörte sich alles an, fühllos und still.

Sein nächster Dienst begann in vierzig Kilosekunden; Ezr ging früh in sein Quartier zurück. Es würde eine Weile dauern, bis er mit Bennys Salon wieder zurecht kam. So viel war geschehen, und es war alles schändlich oder schmerzhaft oder von tödlichem Geheimnis erfüllt. Er schwebte im Halbdunkel seines Zimmers, aufgespießt auf dem Bratenspieß der Hölle. Er dachte eine Zeit lang ohnmächtig über ein Problem nach… und flüchtete dann zu etwas, das alsbald ebenso schrecklich war, und flüchtete abermals… um schließlich zu dem ersten Schrecken zurückzukehren.

Qiwi. Das war seine Schande. Er hatte sie zweimal geschlagen. Hart. Wenn Pham Trinli nicht dazwischengegangen wäre, hätte ich sie weiter geschlagen? Da tat sich vor ihm ein Schrecken auf, den er sich nie hätte träumen lassen. Gewiss, er hatte immer Angst gehabt, eines Tages könnte er einen Bock schießen oder sogar feige sein, aber… heute hatte er etwas in sich erblickt, etwas von Grund auf Unanständiges. Qiwi hatte dazu beigetragen, Trixia auszustellen. Gewiss. Doch sie war nicht die Einzige, die darin verwickelt war. Und ja, Qiwi genoss Vorteile unter Tomas Nau… aber Gott, sie war erst ein Kind gewesen, als das alles begann. Warum also habeich mich auf sie gestürzt? Weil es einst so ausgesehen hatte, als sei er ihr nicht gleichgültig? Weil sie sich nicht wehrte? Das war es, worauf die unerbittliche Stimme im Hintergrund seines Geistes beharrte. Im Innersten war Ezr Vinh vielleicht nicht einfach unfähig oder schwach, vielleicht war er einfach Dreck. Ezrs Denken drehte sich immer wieder um diese Schlussfolgerung, kam ihr immer näher, bis er seitwärts flüchtete zu…

Pham Trinli. Das war das Geheimnis. Gestern hatte Trinli zweimal gehandelt, beide Male hatte er Ezr davor bewahrt, ein noch größerer Narr und Schurke zu sein. Über Ezrs Hinterkopf zog sich ein blutiger Grind, wo Trinlis ›schwerfälliger‹ Körperstoß ihn gegen die Wand geschleudert hatte. Ezr hatte Trinli im Sportraum des Temps gesehen. Der alte Mann trieb ziemlich großen Aufwand, aber sein Körper war nicht in besonders guter Verfassung. Seine Reaktionszeit machte nicht viel her. Aber irgendwie wusste er sich zu bewegen, Zufälle eintreten zu lassen. Und wenn er zurückdachte, erinnerte sich Ezr an frühere Gelegenheiten, wo Pham Trinli am rechten Ort war… Der Temp-Park direkt nach dem Massaker. Was hatte der alte Mann eigentlich gesagt? Es hatte den Kameras nichts offenbart, hatte nicht einmal Ezrs Aufmerksamkeit erregt — aber etwas, das er gesagt hatte, hatte die Gewissheit wachgerufen, dass Jimmy Diem ermordet worden war, dass Jimmy an allem, was Nau behauptete, unschuldig war. Alles, was Pham tat, war laut und egoistisch und unfähig, dennoch… Ezr überdachte alle Einzelheiten wieder und wieder, Dinge, die er vielleicht sehen konnte, während sie anderen entgingen. Womöglich sah er in seiner Verzweiflung schon Trugbilder. Wenn Probleme so anwachsen, dass auf keine Lösung mehr zu hoffen ist, schleicht sich der Wahnsinn ein. Und gestern war etwas in ihm zerbrochen…

Trixia. Das war der Schmerz und die Wut und die Angst. Gestern war Trixia dem Tod sehr nahe gewesen, ihr Körper so gequält und gekrümmt wie der von Xopi Reung. Vielleicht sogar schlimmer… Er erinnerte sich, wie ihr Gesicht ausgesehen hatte, als sie aus dem MRT-Programmgerät kam. Trud sagte, ihre linguistischen Fähigkeiten seien vorübergehend heruntergeschraubt worden. Vielleicht war das der Grund für ihre Verzweiflung — das Einzige zu verlieren, das ihr noch etwas bedeutete. Und vielleicht log er, wie Ezr Reynolt und Nau und Brughel im Verdacht hatte, in so vielen Dingen zu lügen. Vielleicht war Trixia wirklich kurzzeitig defokussiert worden und hatte sich umgeschaut und gesehen, wie alt sie geworden war, und erkannt, dass man ihr das Leben gestohlen hatte. Und vielleicht werde ich es niemals erfahren. Ich werde sie weiterhin Jahr für Jahr beobachten, ohnmächtig und wütend und… schweigend. Es musste jemanden geben, gegen den man losschlagen, den man bestrafen konnte…

Und so war der Bratenspieß wieder zu Qiwi herumgegangen.

Zwei Kilosekunden verstrichen, vier. Zeit genug, um wieder und wieder zu den Problemen zurückzukehren, für die es keine Lösung gab. Derlei war schon früher bei etlichen schrecklichen Gelegenheiten passiert. Manchmal hatte er die ganze Nacht auf dem Bratenspieß verbracht. Manchmal wurde er so müde, dass er einfach einschlief — und dann hörte es auf. Heute Nacht, als er zum x-ten Male über Pham Trinli nachdachte, wurde Ezr wütend. Und wenn er just verrückt wäre? Wenn ihm nichts blieb als Trugbilder einer Rettung, na schön, greif zu! Vinh stand auf und setzte die Datenbrille auf. Schwerfällige Sekunden vergingen, ehe er durch die Zugangsroutinen der Bibliothek hindurch war. Er hatte sich noch immer nicht an die miese E/A-Schnittstelle der Aufsteiger gewöhnt, und anständige Automatik hatten sie noch nicht wieder zugeschaltet. Doch dann leuchteten rings um ihn die Fenster mit Text aus dem letzten Bericht auf, den er für Nau anfertigte.

Was also wusste er über Pham Trinli? Vor allem, was wusste er, das Nau und Brughel entgangen war? Der Kerl hatte ein unheimliches Geschick im Nahkampf — genauer gesagt, in Überfällen. Und er verbarg diese Fähigkeit vor den Aufsteigern; er spielte ein Spiel mit ihnen… Und von heute an musste er wissen, dass Vinh es wusste.

Vielleicht war Trinli einfach ein alternder Verbrecher, der sein Möglichstes tat, um sich einzupassen und zu überleben. Doch was war dann mit den Ortern? Trinli hatte ihr Geheimnis Tomas Nau offenbart, und jenes Geheimnis hatte Naus Macht verhundertfacht. Die winzigen Stäubchen Automatik waren überall. Da auf seinem Fingerknöchel — das konnte ein Schweißtröpfchen sein, aber auch ein Orter. Die kleinen Fünkchen und Fleckchen konnten jetzt eben die Lage seiner Arme melden, einiger seiner Finger, die Haltung des Kopfes. Naus Schnüffler würden es alles erfahren.

Diese Fähigkeiten waren in der Flottenbibliothek einfach nicht dokumentiert, nicht einmal mit den höchstrangigen Passwörtern. Pham Trinli kannte also Geheimnisse, die weit in die Vergangenheit der Dschöng Ho zurückreichten. Und sehr wahrscheinlich war das, was er Tomas Nau offenbart hatte, nur eine Tarnung für… wofür?

Ezr grübelte lang über dieser Frage, kam nicht weiter. Also über den Mann nachdenken. Pham Trinli. Er war ein alter Fuchs. Er kannte wichtige Geheimnisse über der Ebene von Flottengeheimnissen der Dschöng Ho. Höchstwahrscheinlich war er bei der Gründung der modernen Dschöng Ho dabeigewesen, als Pham Nuwen und Sura Vinh und der Rat der Lücke ihr Werk vollbracht hatten. Also war Trinli in objektiven Jahren enorm alt. Das war nicht unmöglich, nicht einmal überaus selten. Lange Handelsmissionen konnten einen Kauffahrer über tausend Jahre objektive Zeit hinwegtragen. Seine Eltern hatten ein paar Freunde, die tatsächlich auf der Alten Erde gewesen waren. Dennoch war es höchst unwahrscheinlich, dass einer von ihnen Zugang zu den grundlegenden Ebenen der Dschöng-Ho-Automatik besaß.

Nein, wenn Trinli das war, was aus Ezrs wahnwitzigen Überlegungen folgte, dann müsste er eine Gestalt sein, die in der Geschichtsschreibung sichtbar war. Wer?

Vinhs Finger tippten auf der Tastatur. Sein laufender Auftrag war eine gute Tarnung für die Fragen, die er stellen wollte. Nau hegte ein unersättliches Interesse an allem, was die Dschöng Ho betraf. Vinh sollte ihm Zusammenfassungen schreiben und Forschungsrichtungen für die Blitzköpfe vorschlagen. So gesetzt und diplomatisch er auch scheinen mochte, hatte Ezr doch längst erkannt, dass Nau sogar noch wahnsinniger als Brughel war. Nau lernte, um eines Tages zu herrschen.

Sei vorsichtig! Die Stellen, wo er wirklich nachschauen wollte, mussten von den Erfordernissen des zu schreibenden Berichts vollkommen abgesichert sein. Vor allem musste er ein Zufallsmuster von wirklich irrelevanten Bezügen wahren. Sollten die Schnüffler versuchen, seine Absichten darin zu finden!

Er brauchte eine Liste: Dschöng-Ho-Männer, die am Beginn der modernen Dschöng Ho lebten und von denen nicht bekannt war, dass sie zu dem Zeitpunkt tot waren, als Kapitän Parks Expedition von Triland abflog. Die Liste schrumpfte erheblich, als er auch die ausschloss, die sich bekanntermaßen weit von dieser Ecke des Menschenraums befanden. Sie schrumpfte abermals, als er verlangte, dass sie bei der Brisgo-Lücke zugegen gewesen sein mussten. Die Verknüpfung von fünf Wahrheitswerten, das Wort eines gesprochenen Befehls oder ein paar Tastenanschläge — doch solche Einfachheit konnte sich Ezr nicht leisten. Jeder Wahrheitswert war Teil anderer Suchoperationen nach Dingen, die er wirklich für den Bericht brauchte. Die Ergebnisse waren über Seiten der Analyse verstreut, hier ein Name, dort ein Name. Die an der Decke schwebende, ein Planetensystem nachbildende Uhr zeigte, dass weniger als fünfzehn Kilosekunden blieben, bis die Wände seiner Wohnung Tageslicht zu verströmen begännen… Aber er hatte seine Liste. Bedeutete sie etwas? Eine Handvoll Namen, einige blass und unwahrscheinlich. Die Wahrheitswerte selbst waren sehr nebelhaft. Das interstellare Netzwerk der Dschöng Ho war ein enormes Gebilde, in gewissem Sinne die größte Struktur in der Geschichte der ganzen Menschheit. Aber es war alles veraltet, um Jahre oder um Jahrhunderte. Und selbst in der Dschöng Ho belog man einander manchmal, vor allem, wo die Entfernungen gering waren und Verirrung kommerzielle Vorteile bringen konnte. Eine Handvoll Namen. Wie viele und wer? Selbst die Liste durchzugehen, dauerte quälend lange, sonst würden es die verborgenen Beobachter gewiss bemerken. Einige Namen erkannte er: Tran Vinh.21, das war Sura Vinhs Urenkel und auf männlicher Seite der Begründer von Ezrs eigenem Zweig der Vinh-Familie; King Xen.03, Suras Chef-Waffenführer bei der Brisgo-Lücke. Xen konnte nicht Trinli sein. Er war kaum über 120 Zentimeter groß und fast ebenso breit. Andere Namen gehörten zu Leuten, die niemals berühmt gewesen waren. Jung, Trap, Park… Park?

Vinh konnte sich die Überraschung nicht verkneifen. Wenn Brughels Blitzköpfe die Aufzeichnungen durchsahen, würden sie es garantiert bemerken. Die verdammten Orter konnten wahrscheinlich den Puls nehmen, vielleicht sogar den Blutdruck. Wenn sie die Überraschung sehen können, dann bausch sie noch weiter auf. »Herr Allen Handels«, flüsterte Vinh und holte das Bild und biographisches Material in alle seine Fenster. Es sah wirklich wie ihr eigener S.#nbsp#. Park aus, Flottenkapitän auf der Mission zum EinAus-Stern. Er erinnerte sich aus seiner Kindheit an den Mann; jener Park hatte nicht besonders alt gewirkt… In der Tat wirkten manche von den Biodaten ungenau. Und die DNS-Aufzeichnung passte nicht zu der vom späteren Park. Hmm. Das konnte genügen, um Nau und Reynolt abzulenken; sie besaßen nicht Ezrs Erfahrungen mit dem, was bei den Großen Familien hinter den Kulissen ablief. Aber der S.#nbsp#. Park bei der Brisgo-Lücke — vor zweitausend Jahren — war Schiffskapitän gewesen. Er war an Ratko Vinh geraten. Es hatte einen sonderbaren Skandal um einen gescheiterten Ehevertrag gegeben. Danach — nichts.

Vinh verfolgte ein paar offensichtliche Spuren über Park — und gab dann auf, wie man es tun mochte, wenn man etwas Überraschendes, aber nicht Weltallbewegendes erfahren hat. Die anderen Namen auf der Liste… er brauchte eine weitere Kilosekunde, um sie durchzugehen, und keiner sah vertraut aus. Sein Denken kehrte immer wieder zu S.#nbsp#. Park zurück, und fast geriet er in Panik. Wie gut kann mich der Feind deuten? Er schaute auf ein Bild von Trixia, überließ sich dem vertrauten Schmerz, wie er es oft tat, bevor er endlich schlafen ging. Hinter den Tränen jagten sich die Gedanken. Wenn Ezr Recht in Bezug auf Park hatte, dann hatte der eine lange, lange Vorgeschichte. Kein Wunder, dass seine Eltern Park nicht nur wie irgendeinen jungen Vertragskapitän behandelt hatten. Gott, er hätte bei Pham Nuwens Reise auf die andere Seite dabei sein können. Nach der Brisgo-Lücke, als Nuwen so ziemlich auf dem Höhepunkt seines Reichtums stand, war er mit einer Großen Flotte abgeflogen, zur anderen Seite des Menschenraums. Das war typisch für Nuwens Gesten. Die andere Seite lang mindestens vierhundert Lichtjahre entfernt. Die für den Handel bedeutsamen Einzelheiten über die Situation dort würden, bis die Flotte dort ankam, alte Geschichte sein. Und sein geplanter Kurs würde ihn durch einige der ältesten Bereiche des Menschenraums führen. Jahrhundertelang nach dem Abflug meldete das Dschöng-Ho-Netz immer wieder, wie weit der Prinz von Canberra gekommen war, wie seine Flotten wuchsen und manchmal schrumpften. Dann verschwammen die Geschichten, oft fehlte es ihnen an glaubwürdiger Bestätigung. Nuwen war wahrscheinlich nie weiter als einen Teil seines Weges gekommen. Als Kinder hatten Ezr und seine Freunde oft den Verlorenen Prinzen gespielt. Es gab so viele Möglichkeiten, wie es zu Ende gegangen sein mochte, manche abenteuerlich und schaurig, andere — die wahrscheinlichsten —, in denen es um fortgeschrittenes Alter und eine Kette geschäftlicher Misserfolge ging, Schiffe, die über Dutzende von Lichtjahren hinweg in den Bankrott gegangen waren. Und so war die Flotte niemals zurückgekehrt.

Aber Teile davon vielleicht doch. Ein paar Menschen hier und da, vielleicht verzagt angesichts einer Reise, die sie für immer aus ihrer eigenen Zeit fortführen würde. Wer wusste schon, wer da zurückgekehrt war? Höchstwahrscheinlich hatte S.#nbsp#. Park es gewusst. Höchstwahrscheinlich hatte S.#nbsp#. Park genau gewusst, wer Pham Trinli war — und hatte dafür gesorgt, diese Identität zu schützen. Wer aus dem Zeitalter der Brisgo-Lücke konnte so wichtig sein, so bekannt…? J. S. Parks Loyalität hatte jemandem aus diesem Zeitalter gehört. Wem?

Und dann erinnerte sich Ezr, gehört zu haben, Kapitän Park habe persönlich den Namen seines Flaggschiffs ausgewählt. Die Pham Nuwen.

Pham Trinli. Pham Nuwen. Der Verlorene Prinz von Canberra.

Und ich bin endlich total verrückt geworden. Es gab Bibliotheksanfragen, die dieser Schlussfolgerung im Handumdrehen den Garaus machen würden. Ja, und damit wäre nichts widerlegt: Wenn er Recht hatte, wäre die Bibliothek selbst eine raffinierte Lüge. Ja doch, klar. Das war die Art verzweifelte Halluzination, vor der er sich hüten musste. Wenn man sein Verlangen hoch genug schraubt, kann Gewissheit aus dem Hintergrundrauschen erstehen. Aber wenigstens hat mich das von dem Bratenspieß befreit!

Es war schrecklich spät. Er starrte noch eine Weile auf das Bild von Trixia, in traurigen Erinnerungen verloren. Innerlich beruhigte er sich. Es würde noch öfters blinden Alarm geben, doch vor ihm lagen Jahre, ein Leben geduldigen Zuschauens. Er würde irgendwo einen Riss im Verlies finden, und wenn es so weit war, dürfte er sich nicht fragen, ob das ein Trugbild seiner Phantasie war.


Der Schlaf kam, und mit ihm Träume, angefüllt von der üblichen Verzweiflung und der neuen Scham, und nun auch vermengt mit seiner jüngsten Verrücktheit. Schließlich stellte sich so etwas wie Frieden ein, Schweben im Dunkel seiner Kabine. Ohne einen Gedanken.

Und dann noch ein Traum, so real, dass er nicht an ihm zweifelte, bis er vorüber war. Kleine Lichter leuchteten in seinen Augen, doch nur, wenn er die Augen geschlossen hielt. Wenn er aufwachte und sich aufsetzte, war der Raum dunkel wie immer. Wenn er sich hinlegte, die Augen zum Schlafen geschlossen, begannen die Fünkchen von neuem.

Die Lichter redeten zu ihm, ein Spiel, Blinksprache. Als er sehr klein war, hatte er derlei oft gespielt, während er draußen von Fels zu Fels huschte. Heute Nacht wiederholte sich ein einziges Muster immer wieder, und in Vinhs Traumzustand bildete sich fast mühelos die Bedeutung:

»NICK WN DU MCH VRSTEHST… NICK…«

Vinh stieß vor Überraschung ein wortloses Stöhnen aus — und das Muster änderte sich:

»SEI STILL SEI STILL SEI STILL…« lange Zeit. Und dann änderte es sich wieder: »NICK WN DU MCH VRSTEHST…«

Das war leicht getan. Vinh bewegte den Kopf den Bruchteil eines Zentimeters.

»OK. STELL DCH SCHLAFND. SCHLSS D HAND. BLINK N HNDFLÄCH.«

Nach all den Jahren war die Konspiration auf einmal so einfach. Man brauchte nur so zu tun, als sei die Handfläche eine Tastatur, und seinen Mitverschworenen etwas zuzutippen. Natürlich! Seine Hände waren unter der Decke, sodass niemand sonst es sehen konnte! Er hätte laut gelacht angesichts dieser Schlauheit, nur dass es nicht zur Rolle gepasst hätte. Jetzt war es so offensichtlich, wer gekommen war, um sie zu retten. Er schloss die rechte Hand und tippte: »HLO WEISR PRNZ. WRUM HAT S SO VRDMMT LANG GDAURT?«

Lange Zeit folgten weiter keine kleinen Blitze. Ezrs Geist driftete langsam in tieferen Schlaf ab.

Dann: »DU WUSSTST S VOR HEUT NACHT? DAMMICH.« Noch eine lange Pause. »TUT MIR SR LEID. DACHT DU BST KPUTT.«

Vinh nickte sich selbst zu, ein wenig stolz. Und vielleicht würde Qiwi ihm verzeihen, und Trixia würde ins Leben zurückkehren, und…

»OK«, tippte Ezr dem Prinzen zu. »WIE VIL LEUT HABN WIR?«

»GHEIM. NUR ICH WEISS. JEDR KNN REDN ABR KEINR KNNT ANDRE.« Pause. »AUSSR DIR HEUT NACHT.«

Aha. Fast die perfekte Verschwörung. Die Mitglieder konnten zusammenarbeiten, aber niemand außer dem Prinzen konnte einen anderen verraten. Jetzt würde alles so viel einfacher sein.

»BIN JTZT SR MÜD. WILL SCHLFN. WIR REDN SPÄTR WEITR.«

Pause. War sein Wunsch so seltsam? Nächte sind zum Schlafen da. »OK. SPÄTR.«

Während das Bewusstsein langsam verblasste, ruckelte sich Vinh tiefer in seine Hängematte und lächelte vor sich hin. Er war nicht allein. Und die ganze Zeit über war das Geheimnis zum Greifen nahe gewesen. Erstaunlich!


Am nächsten Morgen erwachte Vinh ausgeruht und sonderbar glücklich. Hm. Womit hatte er das verdient?

Er glitt in den Duschsack und seifte sich ein. Der Vortag war so düster gewesen, so schändlich. Bittere Wirklichkeit sickerte wieder in ihn herein, doch seltsam langsam… Ach ja, da war ein Traum gewesen. Das war nicht ungewöhnlich, doch die meisten von seinen Träumen taten bei der Erinnerung so weh. Vinh schaltete die Dusche auf Trocknen um und schwebte einen Augenblick lang in den wirbelnden Luftströmen. Wie war es mit diesem Traum gewesen?

Ja! Es war wieder so einer von der Träumen über wunderbares Entkommen gewesen, doch diesmal war er nicht schlecht ausgegangen. Nau und Brughel waren nicht im letzten Moment aus dem Versteck gesprungen.

Was also war diesmal die Geheimwaffe gewesen? Oh, die übliche Unlogik der Träume, eine Art Zauberei, die seine eigenen Hände in ein Verbindungsgerät zum Hauptverschwörer verwandelten. Pham Trinli? Ezr kicherte bei dem Gedanken. Manche Träume sind absurder als andere; seltsam, wie tröstlich er diesen immer noch fand.

Er ruckelte sich in seine Kleidung und begann seinen Weg die Temp-Korridore entlang, bewegte sich mit der typischen Null-g-Kombination von Zug, Stoß, an den Ecken herumfedern, seitlich ausschwingen, um denen auszuweichen, die sich langsamer bewegten oder entgegenkamen. Pham Nuwen. Pham Trinli. Es musste eine Milliarde Menschen mit diesem Vornamen geben und hundert Flaggschiffe, die Pham Nuwen hießen. Erinnerungen an seine Bibliothekssuche in der vergangenen Nacht sickerten allmählich wieder in seinen Geist, die verrückten Ideen, die er unmittelbar vor dem Schlafengehen gehabt hatte.

Aber die Wahrheit über Kapitän Park war kein Traum gewesen. Als er im Aufenthaltsraum anlangte, bewegte er sich langsamer.

Ezr schwebte Kopf voran in den Aufenthaltsraum, begrüßte Hunte Wen an der Tür. Die Atmosphäre war relativ entspannt. Rasch entdeckte er, dass Reynolt ihre überlebenden Fokussierten wieder in Betrieb genommen hatte; es hatte keine weiteren Ausbrüche gegeben. Am gegenüberliegenden Ende der Decke dozierte Pham Trinli darüber, was den Geistfäule-Ausbruch ausgelöst habe und wieso die Gefahr vorüber sei. Das war der Pham Trinli, mit dem er es in jeder Dienstperiode jeder überlappenden Wache seit dem Überfall mehrere Kilosekunden lang zu tun gehabt hatte. Plötzlich schrumpften der Traum und die Bibliothekssitzung zuvor auf die angemessene und völlig absurde Perspektive.

Trinli musste gehört haben, wie er mit Hunte sprach. Der alte Schwindler wandte sich um und sah einen Augenblick lang quer durchs Zimmer zu Vinh herüber. Er sagte nichts, nickte nicht einmal, und selbst wenn ein Spion der Aufsteiger genau entlang Vinhs Blickrichtung schaute, hätte es kaum eine Rolle gespielt. Aber für Ezr Vinh schien der Moment ewig zu dauern. In diesem Moment war der Clown, der Pham Trinli gewesen war, verschwunden. In diesem Gesicht lag keine Angeberei, sondern eine einsame, stille Autorität und ein Eingeständnis ihres seltsamen Gesprächs in der Nacht. Irgendwie war es kein Traum gewesen. Die Kommunikation war keine Zauberei gewesen. Und dieser alte Mann war wahrlich der Verlorene Prinz von Canberra.

Siebenundzwanzig

»Aber es ist der Erste Schnee. Möchtest du ihn nicht sehen?« Viktorias Stimme nahm einen jammernden Ton an, der, wie sie sehr wohl wusste, bei niemandem außer diesem einen großen Bruder wirkte.

»Du hast doch schon im Schnee gespielt.«

Gewiss, als Papa sie auf Ausflüge in den Hohen Norden mitgenommen hatte. »Aber Brent! Das ist der Erste Schnee in Weißenberg. Im Radio sagen sie, er liegt überall bis zu den Zacken.«

Brent war in sein Gerüst aus Stangen und Verbindungsstücken vertieft, endlose glänzende Oberflächen, die immer komplizierter wurden. Er selbst wäre nie auf den Gedanken gekommen, sich aus dem Haus zu schleichen. Er arbeitete noch ein paar Sekunden weiter an seinem Entwurf und ignorierte sie. Das war die Art, wie Brent mit dem Unerwarteten umging. Er war ziemlich gut mit den Händen, doch Ideen kamen ihm langsam. Außerdem war er sehr schüchtern — mürrisch, sagten Erwachsene oft. Sein Kopf bewegte sich nicht, doch Viki wusste, dass er sie ansah. Seine Hände wurden keinen Augenblick langsamer, als sie über die Oberfläche des Modells glitten, hier etwas anfügten, dort etwas auseinander nahmen. Schließlich sagte er: »Wir sollen nicht hinausgehen, wenn wir es nicht Papa sagen.«

»Pah. Du weißt, dass er noch schläft. Dieser Morgen ist der bisher kälteste, aber wir werden ihn verpassen, wenn wir nicht jetzt gehen. He, ich schreibe ihm eine Notiz.«

Ihre Schwester Gokna hätte hin und her diskutiert und schließlich sogar Viki beim Finden schlauer Argumente übertroffen. Ihr Bruder Jirlib wäre angesichts der Manipulation wütend geworden. Doch Brent stritt nicht, sondern wandte sich für ein paar Minuten wieder seiner kniffligen Arbeit an dem Modell zu, wobei ein Teil von ihm sie beobachtete, ein Teil das Muster von Stangen und Verbindungsstücken studierte, das unter seinen Händen entstand, und ein Teil nach draußen über Weißenberg hinweg nach dem Anflug von Schnee auf den nahe gelegenen Bergketten schaute. Von all ihren Geschwistern war er derjenige, der eigentlich nicht hinaus wollte. Andererseits war er der Einzige, den sie an diesem Morgen finden konnte, und er sah sogar noch erwachsener als Jirlib aus.

Nach einer Weile sagte er: »Gut, in Ordnung, wenn du das willst.« Viktoria grinste in sich hinein — als ob am Ausgang jemals zu zweifeln gewesen wäre. An Hauptmann Niederer vorbei zu kommen, würde schwieriger sein — aber nicht viel schwieriger.


Es war früh am Morgen. Das Sonnenlicht hatte die Straßen unterhalb des Berghauses noch nicht erreicht. Viktoria kostete jeden Atemzug aus, das leichte Stechen, das sie seitlich in der Brust spürte, als sie die frostige Luft schmeckte. Die Heißblüten und Waldelfen hingen noch dicht zusammengeballt in den Baumästen; heute würden sie vielleicht gar nicht hervorkommen. Doch es gab andere Dinge ringsum, Dinge, von denen sie bisher nur gelesen hatte. Im Schnee der kältesten Höhlungen krochen langsam Kristallwürmer hervor. Diese tapferen kleinen Vorkämpfer würden sich nicht lange halten — Viki erinnerte sich an die Radiosendung, die sie voriges Jahr über sie gemacht hatte. Diese Kleinen würden immer wieder sterben, ausgenommen an den Stellen, wo die Kälte ausreichte, sich den ganzen Tag über zu halten. Und selbst dann musste es noch viel kälter werden, ehe sich die Form mit Wurzeln zeigte.

Viki huschte munter durch die morgendliche Kälte und blieb mühelos neben ihrem Bruder mit seinen langsamen, längeren Schritten. So früh war kaum jemand auf der Straße. Abgesehen vom Klang ferner Bauarbeiten konnte sie sich fast vorstellen, sie wären ganz allein, die Stadt sei verlassen. Man stelle sich vor, wie es in den kommenden Jahren sein würde, wenn die Kälte blieb und sie nur so hinausgehen konnten, wie es Papa im Krieg mit den Bassern getan hatte. Den ganzen Weg bis zum Fuß des Hügels baute Viki die Idee aus, wendete jeden Anblick des frostigen Morgens ins Phantastische. Brent hörte zu und machte ab und zu einen Vorschlag, der die meisten erwachsenen Freunde Papas überrascht hätte. Brent war durchaus nicht so dumm, und er hatte Vorstellungskraft.


Die Zackenberge lagen dreißig Meilen entfernt, jenseits vom hohen Schloss des Königs, jenseits des anderen Endes von Weißenberg. Sie konnten unmöglich zu Fuß dorthin gehen. Doch heute wollten viele Leute zu den nahen Bergen reisen. Der Erste Schnee bedeutete in jedem Land ein ansehnliches Fest, obwohl er natürlich zu unterschiedlichen und nicht vorherzusagenden Zeiten eintraf. Viki wusste, dass, wenn der frühe Schnee vorhergesagt worden wäre, Papa früh aufgestanden wäre und Mama vielleicht vom Landeskommando herübergeflogen wäre. Der Ausflug wäre eine große Familienangelegenheit gewesen — aber kein bisschen abenteuerlich.

Eine Art Abenteuer begann am Fuße des Hügels. Brent war jetzt sechzehn und groß für sein Alter. Er konnte als Rechtzeitling durchgehen. Er war schon oft genug allein außer Haus gewesen. Er sagte, er wisse, wo die Expressbusse hielten. Heute gab es keine Busse und überhaupt kaum Verkehr. Waren alle schon fort zu den Bergen?

Brent marschierte von einer Bushaltestelle zur anderen und wurde allmählich immer aufgeregter. Viki blieb schweigend an seiner Seite und machte mal keine Vorschläge. Brent wurde oft genug geduckt, sodass er selten behauptete, irgendetwas zu wissen. Es tat weh, wenn er sich schließlich vernehmen ließ — und sei es einer kleinen Schwester gegenüber — und sich dann als im Irrtum erwies. Nach dem dritten Fehlstart hockte er sich knapp über dem Boden hin. Einen Moment lang glaubte Viki, er würde darauf warten, dass ein Bus vorbeikäme — für Viki eine ausgesprochen unangenehme Möglichkeit. Sie waren seit über einer Stunde draußen und hatten noch nicht einmal einen kleinen Stadtbus gesehen. Vielleicht würde sie ihre spitzen kleinen Hände in das Problem stecken müssen… Doch nach einer Minute stand Brent auf und ging, über die Straße. »Ich wette, die Tiefbauer haben heute nicht frei bekommen. Das ist nur eine Meile südlich von hier. Von dort gehen immer Busse.«

Ha. Das war genau das, was Viki selbst gerade hatte vorschlagen wollen. Gesegnet sei die Geduld.

Die Straße lag still im morgendlichen Schatten. Dies war der tiefste Winter in Weißenberg. Hier und da war der Reif in den dunkleren Höhlungen so tief, dass er selbst Schnee hätte sein können. Doch der Stadtteil, durch den sie jetzt gingen, hatte keine Gärten. Die einzigen Pflanzen waren widerspenstiges Unkraut und freie Kriecher. An schwülen, heißen Tagen zwischen Unwettern hätte es auf dem Platz Mücken und Sauger gegeben.

Auf beiden Seiten der Straße standen mehrstöckige Lagerhäuser. Hier war es nicht so still und verlassen. Der Boden surrte und brummte — die Geräusche unsichtbarer Grabmaschinen. Schwere Lastwagen fuhren in das Gebiet und wieder heraus. Alle paar hundert Meter war ein Flecken Land für alle außer den Bautrupps abgesperrt. Viki zog an Brents Armen und wollte unter den Absperrungen durchkriechen. »He, es ist unser Papa, der das alles bewirkt hat! Wir haben ein Recht, es uns anzusehen!« Brent akzeptierte derlei Argumente nie, doch seine kleine Schwester war schon an den Verbotsschildern vorbei. Er musste ihr folgen, und sei es, um sie zu beschützen.

Sie krochen an großen Bündeln Bewehrungsstahl vorbei und an Stapeln von Ziegeln. Dieser Ort hatte etwas Machtvolles und Fremdartiges. Im Haus auf dem Hügel war alles so sicher, so ordentlich. Hier… nun, sie sah endlose Möglichkeiten, wie sich jemand Unvorsichtiges einen Fuß aufschlitzen, ein Auge schneiden konnte. Verdammt, wenn man eine von diesen stehenden Platten umkippte, würde sie einen platt quetschen. Alle Möglichkeiten standen ihr kristallklar vor dem inneren Auge… und sie waren aufregend. Die beiden gingen vorsichtig zum Rand der Baugrube, wichen den Blicken der Arbeiter und diversen interessanten Gelegenheiten zu schweren Unfällen aus.

Das Geländer waren zwei Bindfäden. Wenn du nicht sterben willst, fall nicht runter! Viki und ihr Bruder hielten sich dicht am Boden und streckten die Köpfe über den Abgrund. Einen Augenblick lang war es zu dunkel zum Sehen. Die erhitzte Luft, die aufstieg, trug den Geruch von brennendem Öl und heißem Metall. Es war eine Liebkosung und ein Schlag vor den Kopf zugleich. Und die Geräusche: die Rufe von Arbeitern, das Knirschen von Metall auf Metall, Maschinen und ein seltsames Zischen. Viki senkte den Kopf und ließ alle Augen sich an das Dämmerlicht anpassen. Es gab Licht, doch nicht zu vergleichen mit dem Licht von Tag oder Nacht. Sie hatte in Papas Labors kleine elektrische Bogenlampen gesehen. Diese hier waren riesig: Lichtstäbe, die größtenteils in Ultra und Fern-Ultra glühten — Farben, die man niemals hell sah, außer in der Sonnenscheibe. Die Farbe sprühte von den Hauben der Arbeiter ab, verstreute geflecktes Flimmern den Schacht auf und ab… Es gab andere, weniger spektakuläre Lichter, stetigere, elektrische Lampen, die hier und da Kleckse zahmen Lichtes ergossen. Noch zwölf Jahre bis zum Dunkel, und sie bauten dort unten eine ganze Stadt. Sie sah steinerne Straßen, riesige Tunnel, die von den Wänden des Schachts wegführten. Und in den Tunneln erspähte sie dunklere Löcher… Rampen zu kleineren Grabungsstellen? Gebäude und Gärten würden später folgen, doch die Höhlen waren schon größtenteils gegraben. Als sie hinabschaute, fühlte Viki eine Anziehung, die ihr neu war, die natürliche, schützende Anziehung einer Tiefe. Doch was diese Arbeiter taten, war tausendmal großartiger als jede Tiefe. Wenn man weiter nichts vorhatte, als das Dunkel durchzuschlafen, brauchte man nur Platz genug für den Schlafteich und einen Vorrat für den Anfang. Das gab es bereits in den städtischen Tiefen unter dem alten Stadtzentrum, und zwar seit fast zwanzig Generationen. Diese neuen Bauten waren bestimmt, darin zu leben, wach. An manchen Orten, wo hermetische Abschließung und Isolation gewährleistet werden konnten, wurden sie direkt am Boden errichtet. Andernorts wurden sie Hunderte von Metern tief eingegraben, eine unheimliche Umkehrung der Gebäude, die Weißenbergs Silhouette bildeten.

Viki starrte und starrte, in Träume verloren. Bisher war es alles eine Geschichte von weitem gewesen. Klein Viktoria hatte davon gelesen, hatte ihre Eltern und Leute im Radio darüber reden gehört. Sie wusste, dass dies so gut wie nur irgendetwas der Grund war, warum viele Leute ihre Familie hassten. Darum, und weil sie Unzeitlinge waren, sollten sie nicht allein ausgehen. Papa mochte zwar von Evolution in Aktion sprechen, und wie wichtig es für kleine Kinder sei, dass sie etwas riskieren dürften, wie sich, wenn man das nicht zuließ, in den Überlebenden keine Genialität entwickeln würde. Das Problem war, er meinte es nicht wirklich. Jedes Mal, wenn Viki versuchte, etwas ein wenig Riskantes zu unternehmen, wurde Papa ganz väterlich, und aus dem Projekt wurde eine rundum abgepolsterte, sichere Sache.

Viki wurde sich bewusst, dass sie tief in der Brust kicherte.

»Was…?«, sagte Brent.

»Nichts. Ich dachte nur daran, dass wir heute sehen werden, wie die Dinge wirklich sind — egal, was Papa meint.«

Brents Ausdruck wechselte zu Verlegenheit. Von allen ihren Brüdern und Schwestern war er derjenige, der Regeln am wörtlichsten nahm und sich am schwersten tat, sie zu umgehen. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen. Es sind Arbeiter an der Oberfläche, und sie kommen näher. Außerdem, wie lange bleibt der Schnee liegen?«

Murr. Viki wich zurück und folgte ihrem Bruder durch das Labyrinth wunderbar massiver Dinge, das den Bauplatz füllte. Augenblicklich übte nicht einmal die Aussicht auf Schneewehen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.


Die erste wirkliche Überraschung des Tages erlebten sie, als sie schließlich eine von Bussen bediente Haltestelle erreichten. Ein wenig abseits von der Menge standen Jirlib und Gokna. Kein Wunder, dass sie sie am Morgen nicht hatte finden können! Sie hatten sich ohne sie davongeschlichen! Viki ging über den Platz auf sie zu und versuchte, überhaupt nicht irritiert auszusehen. Gokna grinste ihr übliches Eins-Voraus-Grinsen. Jirlib hatte den Anstand, verlegen auszusehen. Zusammen mit Brent war er der älteste und hätte vernünftig genug sein müssen, diesen Ausflug zu verhindern. Die vier rückten ein wenig von den starrenden Blicken ab, steckten die Köpfe zusammen und wisperten.

Fräulein Eins-Voraus: »Was hat euch so lange aufgehalten? Hattet ihr Mühe, euch an Niederers Wachen vorbeizuschmuggeln?«

Viki: »Ich dachte nicht, dass ihr euch überhaupt trauen würdet, es zu versuchen. Wir haben heute Morgen schon eine Menge gemacht.«

Fräulein Eins-Voraus: »Als da wäre?«

Viki: »Als da wäre ein Besuch bei der Neuen U-Stadt.«

Fräulein Eins-Voraus: »Na…«

Jirlib: »Seid still, alle beide. Ihr dürftet beide nicht hier draußen sein.«

»Aber wir sind berühmte Leute vom Rundfunk, Jirlib«, brüstete sich Gokna. »Die Leute mögen uns.«

Jirlib trat ein wenig näher heran und senkte die Stimme. »Hör auf. Auf drei Leute, die die ›Kinderstunde‹ mögen, kommen drei, denen sie Sorgen bereitet — und dann noch vier Traditionalisten, die euch auf den Tod hassen.«

Die Kinderstunde der Wissenschaft machte mehr Spaß als alles andere, was Viki jemals getan hatte, doch seit der Geehrten Pedure war es nicht mehr so wie früher gewesen. Nun, da ihr Alter allgemein bekannt war, war es, als müssten sie etwas beweisen. Sie hatten sogar ein paar andere Unzeitlinge gefunden — doch bisher war niemand dabei gewesen, der sich für das Programm eignete. Viki und Gokna hatten keine Freundschaft mit anderen Kupplis geschlossen, nicht einmal mit dem Paar, das in ihrem Alter war. Es waren seltsame, unfreundliche Kinder — fast das Klischee eines Unzeitlings. Papa hatte gesagt, es lag an der Art, wie sie aufgezogen worden waren, die Jahre im Versteck. Das war das Erschreckendste von allem, etwas, worüber sie nur mit Gokna sprach, und dann nur flüstern mitten in der Nacht. Was, wenn die Kirche Recht hatte? Vielleicht bildeten sie und Gokna sich nur ein, sie hätten Seelen.

Einen Augenblick lang standen die vier schweigend da und überdachten, was Jirlib gesagt hatte. Dann fragte Brent: »Und warum bist du hier draußen, Jirlib?« Von jedem anderen wäre das eine Herausforderung gewesen, doch Wortkämpfe lagen außerhalb von Brents Möglichkeiten. Die Frage war einfach Neugier, eine aufrichtige Bitte um Aufklärung.

Als solche traf sie tiefer als jede Bosheit. »Äh… ja. Ich bin in die Stadt unterwegs. Das Königliche Museum hat eine Ausstellung über die Khelmschen Verwerfe… Bei mir ist es kein Problem. Ich sehe durchaus alt genug aus, um ein Rechtzeitling zu sein.« Das letztere traf zu. Jirlib war nicht so groß wie Brent, aber ein Anflug von väterlichem Fell begann schon durch die Schlitze seiner Jacke zu schimmern. Doch Viki wollte es ihm nicht so einfach machen. Sie stieß eine Hand in Richtung Gokna: »Und was ist das? Dein Haustarant?«

Das kleine Fräulein Eins-Voraus lächelte lieb. Jirlib starrte durchdringend. »Ihr beide seid Großkatastrophen auf Beinen, wisst ihr das?« Wie hatte eigentlich Gokna Jirlib beschwatzt, sie mitzunehmen? Die Frage ließ in Viki echtes professionelles Interesse aufflammen. Sie und Gokna verstanden sich in der Familie bei weitem am besten darauf, andere zu manipulieren. Deswegen kamen sie so schlecht miteinander aus.

»Wir haben zumindest eine gültige wissenschaftliche Begründung für unseren Ausflug«, sagte Gokna. »Und welche Ausrede habt ihr?«

Viki fuchtelte mit ihren Esshänden zum Gesicht ihrer Schwester hin. »Wir wollen uns den Schnee ansehen. Das ist eine Lernerfahrung.«

»Ha! Ihr wollt euch bloß darin rollen.«

»Seid still.« Jirlib hob den Kopf, musterte die verschiedenen Leute, die an der Haltestelle standen. »Wir sollten alle nach Hause gehen.«

Gokna wechselte zur Überredungs-Routine: »Aber Jirlib, das wäre schlechter. Es ist ein weiter Weg zurück. Lass uns den Bus zum Museum nehmen — schau, da kommt er gerade.« Es passte perfekt. Ein Schnellbus war gerade auf die Straße eingebogen. Seine nahroten Lichter kennzeichneten ihn als Teil der Innenstadtschleife. »Bis wir dort fertig sind, müssten die Schneefanatiker wieder in der Stadt sein und ein Bus die ganze Strecke bis nach Hause fahren.«

»He, ich bin nicht hergekommen, um mir die gefälschte Zauberei von irgendwelchen Fremden anzuschauen! Ich will den Schnee sehen.«

Gokna zuckte die Achseln. »Pech, Viki. Du kannst immer noch den Kopf in einen Eisschrank stecken, wenn wir nach Hause kommen.«

»Ich…« Viki sah, das Jirlib mit seiner Geduld am Ende war, und sie hatte kein echtes Gegenargument. Ein Wort von ihm zu Brent, und Viki würde sich nach Hause gebracht finden, ob es ihr passte oder nicht. »… äh, was für ein schöner Tag, um ins Museum zu gehen.«

Jirlib lächelte säuerlich. »Klar, und wenn wir dort eintreffen, sind Rhapsa und Klein Hrunk wahrscheinlich schon da, weil sie die Sicherheitsleute bequasselt haben, sie direkt in die Stadt zu fahren.« Das brachte Viki und Gokna zum Lachen. Die beiden Kleinsten waren jetzt keine Babies mehr, aber sie waren doch fast den ganzen Tag um Papa herum. Die Vorstellung, wie sie Mamas Sicherheitsgruppe überlisteten, war doch ein bisschen viel.

Die vier manövrierten sich zurück an den Rand der Menge und stiegen als letzte in den Bus… Na schön. Zu viert war es wirklich sicherer als zu zweit, und das Königliche Museum war ein sicherer Teil der Stadt. Sogar, wenn Papa dahinter kam, würde die offensichtliche Planung und Vorsicht der Kinder sie entschuldigen. Und ihr ganzes übriges Leben hindurch würde es den Schnee geben.


Öffentliche Schnellbusse hatten nichts gemein mit den Autos und Flugzeugen, an die Viki gewöhnt war. Hier waren alle dicht gepackt. Seilnetze — fast wie Klettergerüste für Babies — hingen in Abständen von anderthalb Metern den Bus entlang. Die Passagiere breiteten Arme und Beine würdelos durch das Netz und hingen senkrecht an den Seilen. So passten mehr Leute in den Bus, aber es sah ziemlich albern aus. Nur der Fahrer hatte ein richtiges Sitzgitter.

Dieser Bus wäre nicht besonders voll gewesen — nur dass die anderen Passagiere weiten Abstand von den Kindern hielten. Sollen sie sich doch alle verflüchtigen. Mir ist es egal. Sie hörte auf, die anderen Fahrgäste zu betrachten, und studierte die Querstraßen, die vorbeizogen.

Bei all den Arbeiten, die unter der Erde im Gang waren, gab es Stellen, wo die Straße vernachlässigt worden war. Jedes Schlagloch ließ die Netze schwingen — irgendwie komisch. Dann ging es glatter. Sie kamen in den vornehmsten Teil der neuen Innenstadt. Sie erkannte einige der Abzeichen an den Türmen über ihnen, Unternehmen wie ›Unter Strom‹ und ›Regent Radionik‹. Ohne ihren Vater würden einige der größten Unternehmen in Einklang überhaupt nicht existieren. Es machte sie stolz, all die Leute zu sehen, die bei diesen Gebäuden ein und aus gingen. Papa war im guten Sinne für viele Leute wichtig.

Brent lehnte sich vom Seilnetz weg, sodass sein Kopf nahe an ihren kam. »Weißt du, ich glaube, wir werden verfolgt.«

Jirlib hörte die leisen Worte ebenfalls und wurde an seinem Netz steif. »Hä? Wo?«

»Die beiden Wagen vom Typ Wegmeister. Sie waren bei der Bushaltestelle geparkt.«

Eine Sekunde lang spürte Viki eine leichte Anspannung von Angst — und dann Erleichterung. Sie lachte. »Ich wette, wir haben heute Morgen überhaupt niemanden irregeführt. Papa hat uns gehen lassen, und Hauptmann Niederers Leute folgen uns, wie sie es immer gern tun.«

Brent sagte: »Diese Wagen sehen nicht wie welche von den üblichen aus.«

Achtundzwanzig

Das Königliche Museum lag an der Haltestelle Stadtzentrum. Viki und ihre Geschwister wurden direkt vor den Stufen des Palasts abgesetzt.

Einen Augenblick lang starrten Viki und Gokna sprachlos zu den gewölbten Steinbogen empor. Sie hatten eine Sendung über das Museum gemacht, waren aber nie hier gewesen. Das Königliche Museum war nur drei Stockwerke hoch und wurde von den modernen Gebäuden weit überragt. Doch das kleinere Gebäude war mehr als all die Wolkenkratzer. Mit Ausnahme von Befestigungsanlagen war das Museum das älteste Oberflächen-Bauwerk in Weißenberg. Es war eigentlich das Hauptmuseum der Königsfamilie seit den letzten fünf Sonnenzyklen. Es war etwas um- und angebaut worden, doch eine der Traditionen des Ortes bestand darin, dass es der Vision König Langarms treu bleiben sollte. Das Äußere wölbte sich in einem Bogen, fast wie eine umgekehrte Sektion einer Flugzeug-Tragfläche. Der Windlaufbogen war von Architekten zwei Generationen vor dem Zeitalter der Wissenschaft erfunden worden. Die alten Gebäude im Landeskommando waren nichts dagegen; sie verfügten über den Schutz tiefer Talhänge. Einen Augenblick lang versuchte sich Viki vorzustellen, wie es hier an den Tagen sein musste, unmittelbar nachdem die Sonne zum Leben erwacht war: wie das Gebäude geduckt unter Winden stand, die fast mit Schallgeschwindigkeit wehten, wie die Sonne hell in allen Farben von Ultra bis zum fernsten Rot gleißte. Warum also hatte König Langarm an der Oberfläche gebaut? Um es mit dem Dunkel und der Sonne aufzunehmen, natürlich. Um sich über die tiefen kleinen Schlupflöcher zu erheben und zu herrschen.

»He, ihr beiden! Schlaft ihr, oder was?« Jirlibs Stimme stieß auf sie ein. Er und Brent schauten vom Eingang her zurück. Die Mädchen flitzten die Stufen hinauf, und das eine Mal hatten sie keine schlaue Antwort parat.

Sie gingen in den Schatten des Torwegs, und hinter ihnen verklangen die Geräusche der Stadt. In Hinterhaltsnischen zu beiden Seiten des Eingangs saß eine Zeremonialgarde von zwei königlichen Soldaten reglos auf ihren Gittern. Weiter vorn wartete der wirkliche Wächter — der Eintrittskartenverkäufer. Die uralten Wände hinter seinem Stand waren mit Ankündigungen der laufenden Ausstellungen behängt. Jirlib murrte nicht mehr. Er umkreiste eine zwölffarbige ›künstlerische Auffassung‹ eines Khelmschen Verwerfs. Und jetzt sah Viki, wie derlei Unsinn es ins Königliche Museum geschafft hatte. Es waren nicht nur die Verwerfe. Das Museumsthema der Saison war ›Spinnerte Wissenschaft in allen Erscheinungsformen‹. Die Plakate verkündeten Ausstellungen von Tiefen-Hexerei, Selbstentzündung, Videomantie und — trara! — die Khelmschen Verwerfe. Doch Jirlib schien nicht wahrzunehmen, in welcher Gesellschaft sich sein Hobby befand. Ihm genügte, dass endlich ein Museum es würdigte.


Die aktuellen Ausstellungen befanden sich im neuen Flügel. Hier waren die Decken hoch, und verspiegelte Röhren ließen in nebligen Kegeln Sonnenlicht auf Marmorböden strömen. Die vier waren fast allein, und der Raum hatte eine unheimliche Akustik, die den Schall nicht gerade als Echo zurückwarf, aber verstärkte. Wenn sie nicht redeten, wirkte sogar das Ticken ihrer Füße laut. Es funktionierte besser als alle Schilder ›Bitte Stille bewahren‹. Viki war von all dem unglaublichen Humbug schwer beeindruckt. Papa hielt derlei Dinge für amüsant — wie Religion, aber nicht so ›tödlich‹. Leider hatte Jirlib nur Augen für seinen eigenen Humbug. Da mochte Gokna von der Ausstellung über Selbstentzündung so gefesselt sein, dass sie Pläne schmiedete. Da mochte Viki die leuchtenden Bilderröhren im Videomantie-Saal sehen wollen. Jirlib ging geradewegs zur Verwerf-Ausstellung, und zusammen mit Brent sorgte er dafür, dass ihre Schwestern bei ihnen blieben.

Ah, ja doch. In Wahrheit hatte Viki die Verwerfe schon immer merkwürdig gefunden. Jirlib war darin vernarrt, solange sie denken konnte; hier würden sie endlich die echten Objekte zu sehen bekommen.

Der Eingang zum Saal präsentierte vom Fußboden zur Decke eine Anordnung von Diamant-Foraminiferen. Wie viele Tonnen Brennschlamm waren durchgesiebt worden, um solch perfekte Stücke zu finden? Die verschiedenen Typen waren gemäß der besten wissenschaftlichen Theorien sorgfältig beschriftet, doch die winzigen Kristallskelette waren in ihren Halterungen kunstvoll hinter Vergrößerungsgläsern angebracht: Im Sonnenlicht aus den Röhren glitzerten die Forams in Kristall-Konstellationen wie juwelenbesetzte Tiaren und Armbänder und Rückenschmuck. Dagegen war Jirlibs Sammlung völlig unbedeutend. Auf einem Tisch in der Mitte des Saals erlaubte eine Reihe Mikroskope dem interessierten Besucher, genauer hinzuschauen. Viki starrte durch die Linsen. Sie hatte derlei schon oft genug gesehen, doch diese Forams waren unbeschädigt, und die Vielfalt machte einen sprachlos. Die meisten waren sechszahlig symmetrisch, doch es gab viele mit kleinen Haken und Stäben, die die lebenden Wesen wohl benutzt hatten, um sich in ihrer mikroskopischen Umwelt fortzubewegen. Kein einziges Diamantskelett-Wesen lebte mehr auf der Welt, und das seit fünfzig Millionen Jahren. Doch in manchen Sedimentgesteinen war die Diamantforam-Schicht Hunderte von Metern dick; im Osten war sie billiger als Kohle. Die größten von den Viechern waren kaum fliegengroß gewesen, doch es hatte eine Zeit gegeben, da sie die am weitesten verbreiteten Tiere der Welt waren. Dann, vor etwa fünfzig Millionen Jahren — wie weggeblasen. Übrig geblieben waren nur ihre Skelette. Onkel Hrunkner sagte, das gäbe zu denken, falls es mit Papas Ideen zu weit kommen sollte.

»Kommt schon, kommt.« Jirlib konnte mit seiner eigenen Foram-Sammlung Stunden zubringen. Aber heute widmete er dem bedeutsamen Glitzern des Königlichen Exponats kaum dreißig Sekunden; die Tafeln an der gegenüberliegenden Tür verkündeten die Khelmschen Verwerfe. Die vier gingen mit klickenden Schritten zu dem abgedunkelten Eingang und wisperten kaum miteinander. Im Saal dahinter fiel ein einziger Kegel von Sonnenlicht durch die Röhre auf die Tische in der Mitte. Die Wände versanken im Schatten, hier und da vom Licht der Randfarben erhellt.

Die vier traten schweigend in den Raum. Gokna stieß einen kleinen Überraschungsruf aus. Sie gewahrten im Dunkeln Gestalten… und sie waren größer, als ein durchschnittlicher Erwachsener lang war. Sie wankten auf drei spindelförmigen Beinen, und ihre Vorderbeine und Arme erhoben sich fast wie die Äste eines Ausgreifenden Gefarns. Es war alles, was Tschandra Khelm je über seine Verwerfe behauptet hatte — und im Dunkeln versprach es jedem, der näher träte, mehr Einzelheiten.

Viki las die Worte, die neben den Figuren glommen, und lächelte vor sich hin. »Tolles Zeug, was?«, sagte sie zu ihrer Schwester.

»Ja… ich hab nie gedacht…« Dann las auch sie die Beschriftung. »Oh, wieder beschissene Fälschungen.«

»Keine Fälschung«, sagte Jirlib, »sondern zugegebenermaßen eine Rekonstruktion.« Doch sie hörte die Enttäuschung in seiner Stimme. Sie gingen langsam durch den abgedunkelten Saal und spähten nach den Stellen aus, wo es vieldeutig glomm. Und ein paar Minuten lang waren die Schemen ein quälendes Geheimnis, das gerade jenseits ihrer Reichweite schwebte. Es waren alle fünfzig Rassetypen vertreten, die Khelm beschrieb. Doch hier waren es krude Modelle, wahrscheinlich von einem Kostümhersteller geliefert. Während er von einem Ausstellungsstück zum nächsten ging und die Begleittexte las, schien Jirlib immer niedergeschlagener zu werden. Die Beschreibungen waren sehr ausführlich: »Die älteren Rassen, die der unseren vorausgingen… die Wesen, die der Schrecken der Arachner früherer Zeitalter waren… Dunkelste Tiefen enthalten vielleicht noch immer ihre Brut, die darauf wartet, ihre Welt wieder in Besitz zu nehmen.« Dieses letzte Schild befand sich neben einer Rekonstruktion, die ziemlich nach einem Monster-Tarant aussah, bereit, dem Betrachter den Kopf abzubeißen. Es war alles Stuss, und sogar Vikis kleine Geschwister hätten das erkannt. Tschandra Khelm hatte zugegeben, dass seine ›verlorene Fundstätte‹ sich unterhalb der Foram-Schichten befunden hatte. Wenn es überhaupt je so etwas wie die Verwerfs gegeben hatte, waren sie seit mindestens fünfzig Millionen Jahren ausgestorben — lange, bevor auch nur die frühesten Proto-Arachner gelebt hatten.

»Ich glaube, sie machen sich einfach darüber lustig«, sagte Viki. Diesmal spottete sie deswegen nicht. Sie mochte es nicht, wenn Außenstehende sich über ihre Familie lustig machten, und sei es unwissentlich.

Jirlib stimmte mit einem Achselzucken zu. »Na ja, du hast Recht. Je weiter wir kommen, desto komischer werden sie. Ha, ha.« Er blieb beim letzten Ausstellungsstück stehen. »Sie geben es sogar zu! Hier im letzten Text schreiben sie: ›Wenn Sie hierher gelangt sind, verstehen Sie, wie töricht die Behauptungen von Tschandra Khelm sind. Doch was sind die Verwerfs dann? Fälschungen von günstig abgelegenen Grabungsstellen? Oder eine seltene natürliche Eigenschaft metamorphen Gesteins? Urteilen Sie selbst…‹« Seine Stimme wurde leiser, als seine Aufmerksamkeit sich dem hell beleuchteten Gesteinshaufen in der Mitte des Saals zuwandte, den eine Trennwand bisher verdeckt hatte.

Jirlib setzte mit einem Sprung zu dem hell beleuchteten Exponat. Er zitterte geradezu vor Aufregung, als er auf den Haufen hinabsah. Jeder Stein war einzeln angeordnet. Sie sahen nach nichts anderem als unpoliertem Marmor aus. Jirlib seufzte, aber vor Ehrfurcht. »Das sind echte Verwerfs, die besten, die jemals ein anderer als Tschandra Khelm selbst gefunden hat.«

Poliert wären einige der Steine einigermaßen hübsch gewesen. Es waren verwirbelte Strukturen, der Farbe nach eher elementarer Kohlenstoff als Marmor. Wenn man seine Phantasie benutzte, sahen sie ein wenig wie regelmäßige Formen aus, die verzerrt und verdreht worden waren. Dennoch sahen sie nach nichts aus, was jemals lebendig gewesen wäre. Auf der gegenüberliegenden Seite des Haufens lag ein Stein, der sorgfältig in millimeterdünne Scheiben zerschnitten worden war, so dünn, dass das Sonnenlicht glatt hindurchschien. Der Stapel von hundert Scheiben war in einem Stahlrahmen angebracht, sodass zwischen zwei Scheiben immer eine Lücke blieb. Wenn man richtig nahe heranging und den Kopf auf und ab bewegte, bekam man eine Art dreidimensionale Ansicht, wie sich das Muster im Stein fortsetzte. Es glich einem glitzernden Wirbel von Diamantenstaub, fast wie Forams, aber ganz verwischt. Und rings um die diamantenen Stellen eine Art Netz von dunkel gefüllten Rissen. Es war schön. Jirlib stand einfach da, den Kopf hielt er eng an den Stahlrahmen und schob ihn vor und zurück, um das Licht durch alle Scheiben hindurch zu sehen. »Das hat einmal gelebt. Ich weiß es, ich weiß es«, sagte er. »Eine Million Mal größer als jedes Foram, aber nach denselben Prinzipien aufgebaut. Wenn wir nur sehen könnten, wie es aussah, bevor es derart zerquetscht wurde.« Das war der alte Kehrreim Khelms — doch dieses Ding war wirklich. Sogar Gokna schien von ihm gefesselt zu sein; es würde eine Weile dauern, ehe Viki Gelegenheit zu einem Blick aus der Nähe bekommen würde. Sie ging langsam um den zentralen Haufen herum, schaute sich einige der mikroskopischen Ansichten an, las die übrigen Erläuterungen. Wenn man von dem Klimbim absah, von den minderwertigen Statuen, sollte dies das beste Beispiel für Verwerfs weit und breit sein. In gewisser Weise müsste gerade das den armen Jirlib entmutigen. Selbst wenn dies einst lebende Geschöpfe gewesen waren, gab es gewiss keine Anzeichen von Intelligenz. Wenn die Verwerfs das waren, was Jirlib wollte, hätten ihre Schöpfungen gewaltig sein müssen. Wo also waren ihre Maschinen, ihre Städte?

Schade. Viki ging leise von Gokna und Jirlib weg. Sie war hinter ihnen deutlich zu sehen, doch sie waren von dem durchscheinenden Verwerf so gefesselt, dass sie sie nicht zu bemerken schienen. Vielleicht sollte sie sich in den nächsten Saal schleichen, den mit der Videomantie. Dann sah sie Brent. Er wurde von dem Exponat nicht abgelenkt. Ihr Bruder hatte sich hinter einen Tisch in einer der dunkelsten Ecken des Raumes gehockt — und zwar direkt neben dem Durchgang, zu dem sie unterwegs war. Sie hätte ihn vielleicht nicht bemerkt, wenn die Oberflächen seiner Augen nicht im Schein der Randfarben-Lampen geglüht hätten. Von der Stelle, wo er saß, konnte Brent nach beiden Aufgängen hin lauern und dennoch alles sehen, was sie bei den Tischen in der Mitte taten.

Viki machte eine winkende Bewegung zu ihm, die zugleich ein Grinsen war, und schob sich auf den Ausgang zu. Brent regte sich nicht und rief sie nicht zurück. Vielleicht war er auf Hinterhalt gestimmt, oder er hing einfach Tagträumen über seine Baukästen nach. Solange sie in Sicht blieb, würde er vielleicht nicht meckern. Sie ging durch den hohen Bogen des Ausgangs in den Videomantie-Saal.

Die Ausstellung begann mit Gemälden und Mosaiken, die Generationen alt waren. Die Idee, die der Videomantie zu Grunde lag, reichte weit vor die modernen Zeiten zurück bis zu dem Aberglauben, dass man seinen Feind nur perfekt zu malen brauchte, um Gewalt über ihn zu erlangen. Dieser Gedanke hatte eine Menge Kunst inspiriert, die Erfindung neuer Färbmittel und Mischformeln. Selbst jetzt waren die besten Bilder nur ein Schatten von dem, was das Spinnenauge sehen konnte. Die moderne Videomantie behauptete, die Wissenschaft könne das perfekte Bild erzeugen, und die alten Träume würden verwirklicht. Papa hielt das Ganze für lachhaft.

Viki ging zwischen hohen Regalen mit leuchtenden Videoröhren einher. Hundert Landschaften ohne Leute, unscharf und verschwommen… aber die am weitesten entwickelten Röhren zeigten Farben, die man niemals sah, außer unter Randlampen und im Sonnenlicht. Jedes Jahr wurden die Videoröhren besser. Man sprach sogar schon von einem Bildradio. Diese Idee faszinierte Klein Viktoria — ganz ohne den Humbug von Beherrschung des Geistes.

Von irgendwo auf der anderen Seite des Saals erklangen Stimmen, ausgelassenes Geplapper, das wie Rhapsa und Klein Hrunk klang. Viki erstarrte vor Verblüffung. Ein paar Sekunden vergingen… und zwei Babies kamen durch den anderen Eingang gesprungen. Viki erinnerte sich an Jirlibs sarkastische Vorhersage, Rhapsa und Hrunk würden auch noch auftauchen. Einen Augenblick lang glaubte er, er habe Recht gehabt. Doch nein, zwei Fremde folgten den Babies in den Saal, und die Kinder waren jünger als ihre kleinen Geschwister.

Viki schrie aufgekratzt und rannte durch den Saal auf die Kinder zu. Die Erwachsenen — die Eltern? — erstarrten einen Moment lang, dann griffen sie sich ihre Kinder und wandten sich zum Rückzug.

»Warten Sie! Bitte warten Sie! Ich will nur reden.« Viki zwang ihren Beinen einen lässigen Gang auf und hob die Hände zu einem freundlichen Lächeln. Hinter sich sah sie, dass Gokna und Jirlib das Verwerf-Exponat verlassen hatten und sie mit dem Ausdruck höchster Überraschung anstarrten.

Die Eltern blieben stehen, kamen langsam zurück. Sowohl Gokna als auch Viki waren offensichtlich Unzeit-Kinder. Das vor allem schien den Fremden Mut zu machen.

Sie unterhielten sich ein paar Minuten lang höflich und förmlich. Trenchet Suabisme war Planerin bei Neuwelt-Bau; ihr Gatte arbeitete dort als Bauinspektor. »Heute sah es nach einem guten Tag für einen Besuch im Museum aus, wo die meisten Leute, die frei haben, oben in den Bergen im Schnee spielen. War das auch euer Gedanke?«

»O ja«, sagte Gokna — und für sie und Jirlib traf es vielleicht zu. »Aber wir sind so froh, Sie zu treffen, Sie und Ihre Kinder. Wie heißen sie?«

Es war so seltsam, Fremde zu treffen, die vertrauter als alle anderen außerhalb der Familie wirkten. Trenchet und Alendon schienen es auch zu spüren. Ihre Kinder wimmelten laut in ihren Armen herum und weigerten sich, auf Alendons Rücken zu kommen. Nach ein paar Minuten setzten ihre Eltern sie wieder auf den Fußboden. Die Babies machten jedes zwei große Sätze und waren in den Armen von Gokna und Viki. Sie kletterten herum, plapperten Unsinn, ihre kurzsichtigen Babyaugen wandten sich mit aufgeregter Neugier hin und her. Das Baby, das auf Viki herumkletterte — sie hieß Alequere —, konnte nicht viel älter als zwei Jahre sein. Irgendwie hatten weder Rhapsa noch Klein Hrunk jemals so niedlich gewirkt. Natürlich, als sie zwei gewesen waren, war Viki erst sieben gewesen und noch darauf aus, möglichst alle Aufmerksamkeit selbst zu bekommen. Diese Kinder glichen in nichts den missmutigen Unzeitlingen, die sie bisher getroffen hatten.

Am peinlichsten war die Reaktion der Erwachsenen, als sie erfuhren, wer eigentlich Viki und ihre Geschwister waren. Trenchet Suabisme schwieg eine Sekunde lang schockiert. »Ich… ich glaube, wir hätten es wissen müssen. Wer sonst konntet ihr sein?… Wisst ihr, als Teenager habe ich immer eure Radiosendung gehört. Ihr wirktet so schrecklich jung, die einzigen Anderzeitlinge, die ich je gehört hatte. Mir hat eure Sendung richtig gut gefallen.«

»O ja«, sagte Alendon. Er lächelte, als Alequere sich in die Seitentasche von Vikis Jacke wuselte. »Von euch zu wissen, hat es Trenchet und mir ermöglicht, über eigene Kinder nachzudenken. Es ist schwer gewesen, wir haben unsere ersten Babyschnüre verloren. Aber wenn sie erst einmal Augen kriegen, sind sie so niedlich wie nur was.«

Das Baby quiekte glücklich, während es in Vikis Jacke herumturnte. Schließlich kam sein Kopf zum Vorschein und winkte mit den Esshänden. Viki dehnte sich nach hinten, um die kleinen Hände zu kitzeln. Es machte sie stolz, zu wissen, dass jemand zugehört und Papas Botschaft verstanden hatte, aber… »Traurig, dass Sie immer noch die Menge meiden müssen. Ich wünschte, es gäbe mehr wie Sie und Ihre Kinder.«

Überraschenderweise kicherte Trenchet. »Die Zeiten ändern sich. Immer mehr Leute rechnen damit, das ganze Dunkel über wach zu bleiben; sie sehen allmählich, dass sich manche Regeln ändern müssen. Wir werden erwachsene Kinder brauchen, damit sie helfen, den Bau zu vollenden. Wir kennen zwei andere Leute bei Neuwelt, die versuchen, Kinder außer der Reihe zu bekommen.« Sie klopfte ihrem Gatten auf die Schultern. »Wir werden nicht ewig allein sein.«

Der Enthusiasmus sprang auf Viki über. Alequere und das andere Kuppli — Birbop? — waren so nett wie Rhapsa und Klein Hrunk, aber sie waren auch anders. Jetzt endlich würden sie vielleicht eine Menge andere Kinder kennen lernen. Für Viki war es, als öffnete sie ein Fenster und sähe alle Farben des Sonnenlichts.

Sie gingen langsam durch den Videomantie-Saal, während Gokna und Trenchet Suabisme verschiedene Möglichkeiten erörterten. Gokna wollte unbedingt das Haus auf dem Hügel in einen Treffpunkt für Unzeit-Familien machen. Irgendwie hatte Viki den Verdacht, dass das weder Papa noch der Generalin passen würde, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Doch insgesamt gesehen… etwas würde sich machen lassen, es hatte strategisch Sinn. Viki folgte den anderen, ohne besonders auf das Gespräch zu achten. Sie fand es ungeheuer interessant, die kleine Alequere hin und her zu wackeln. Mit dem Kuppli zu spielen, machte viel mehr Spaß, als vom Schnee zu erwarten wäre.

Dann hörte sie durch all das Geplauder hindurch das Ticken vieler Füße auf Marmor. Vier Leute? Fünf? Sie würden durch denselben Eingang kommen wie Viki vor ein paar Minuten. Wer immer es war, würde eine interessante Überraschung erleben — den Anblick von sechs Unzeitlingen, von Babies bis zu fast Erwachsenen.

Vier von den Ankömmlingen waren Erwachsene der gegenwärtigen Generation, so groß wie nur irgendwelche von Mutters Sicherheitsleuten. Sie hielten nicht inne oder reagierten auch nur überrascht, als sie all die Kinder sahen. Ihre Kleidung waren dieselben unbeschreiblichen Geschäftsjacken, an die Viki daheim im Haus auf dem Hügel gewöhnt war. Die Anführerin war eine scharfe Kupp der vorigen Generation mit dem Aussehen eines höheren Unteroffiziers. Viki hätte Erleichterung empfinden sollen; das mussten die Leute sein, die Brent ihnen hatte folgen sehen. Doch sie erkannte sie nicht…

Die Anführerin hielt sie alle im Blick, dann machte sie zu Trenchet Suabisme eine vertrauliche Geste. »Wir können hier übernehmen. General Schmid möchte, dass alle Kinder wieder im Sicherheitsbereich sind.«

»W-was? Ich verstehe nicht?« Suabisme hob verwirrt die Hände.

Die fünf Fremden schritten stetig vorwärts, während die Anführerin freundlich nickte. Doch ihre Erklärungen waren Unsinn: »Zwei Wachleute sind einfach nicht genug für alle Kinder. Nachdem Sie fort waren, haben wir einen Hinweis erhalten, dass es Probleme geben könnte.« Zwei von den Sicherheitstypen traten glatt zwischen die Kinder und die erwachsenen Suabismes. Viki fand sich unsanft zu Jirlib und Gokna gestoßen. So hatten sich Mutters Leute nie benommen. »Tut uns Leid, dies ist ein Notfall…«

Verschiedene Dinge geschahen gleichzeitig, völlig konfus und ohne Sinn. Trenchet und Alendon schrien beide, Panik mischte sich mit Wut. Die beiden größten Fremden drängten sie von den Kindern weg. Einer griff gerade in seine Seitentasche.

»He, uns fehlt einer!« Brent.

Sehr hoch oben bewegte sich etwas. Die Videomantie-Ausstellung bestand aus hoch aufragenden Regalen mit Bildröhren. Mit unerbittlicher Eleganz stürzte das am nächsten stehende um, seine Bilder gingen in Schauern von Funken und mit dem Klang zusammengedrückten Metalls flackernd aus. Sie erhaschte einen Blick auf Brent, der vom oberen Rande wegsprang, ein kurzes Stück vor der Zerstörung.

Der Boden stieß ihr entgegen, als das Regal auftraf. Überall tönte das Knallen implodierender Bildröhren, das Knistern sich entladender Hochspannung. Das Regal war zwischen ihr und den Suabismes heruntergekommen — und genau auf zwei von den Fremden. Sie sah farbiges Blut über den Marmor fließen. Zwei reglose Vorderhände ragten unter dem Regal hervor; knapp außerhalb ihrer Reichweite lag eine kurzläufige Schrotflinte.

Dann kehrte die Zeit zurück. Viki wurde grob um die Mitte gepackt und von der Zerstörung weggezerrt. Auf der anderen Seite ihres Entführers hörte sie Gokna und Jirlib rufen. Es gab einen dumpfen Schlag. Gokna kreischte und Jirlib verstummte.

»Gruppenführer, was ist…?«

»Egal. Wir haben alle sechs kassiert. Macht los! Los!«

Während sie aus dem Saal getragen wurde, erhaschte Viki einen einzigen Blick zurück. Aber die Fremden verließen ihre beiden toten Kumpel — und sie konnte nicht hinter das umgestürzte Regal sehen, wo die Suabismes sein mussten.

Neunundzwanzig

Es war ein Nachmittag, den Hrunkner Unnerbei niemals vergessen sollte. In all den Jahren, seit er Viktoria Schmid kannte, war es das erste Mal, dass er sie beinahe die Beherrschung verlieren sah. Kurz nach Mittag war der hektische Ruf über die Mikrowellen-Verbindung gekommen, als Scherkaner Unterberg mit der Meldung von der Entführung alle militärischen Prioritäten durchbrochen hatte. General Schmid hatte Scherkaner von der Verbindung getrennt und ihren Stab zu einer Krisensitzung zusammengeholt. Plötzlich wurde Hrunkner Unnerbei vom Projektleiter zu so etwas wie einem… wie einem Feldwebel. Hrunkner erreichte ihre dreimotorige Maschine auf der Rollbahn. Zusammen mit niederen Chargen des Stabes überprüfte er die Sicherheit des Umfelds. Er würde seinem General nicht erlauben, Risiken einzugehen. Notfälle dieser Art waren genau das, was Feinde gern inszenierten, und wenn man glaubte, nichts außer dem Notfall zähle, dann griffen sie ihre wahren Ziele an.

Die Maschine brauchte keine zwei Stunden vom Landeskommando bis nach Weißenberg. Doch das Flugzeug war keine fliegende Befehlszentrale, derlei überstieg die gegenwärtigen finanziellen Möglichkeiten. Die Generalin musste also zwei Stunden mit einer langsamen Funkverbindung auskommen. Das waren die zwei Stunden abseits von der Befehls- und Kontrollzentrale im Landeskommando und ihrem beinahe gleichwertigen Gegenstück in Weißenberg. Zwei Stunden fragmentarische Berichte hören und versuchen, eine Reaktion zu koordinieren. Zwei Stunden, in denen Trauer und Wut und Ungewissheit an ihnen nagen konnten. Es war mittlerer Nachmittag, als sie landeten, und eine halbe Stunde später erreichten sie das Berghaus.

Ihr Wagen hatte kaum gehalten, als Scherkaner Unterberg die Türen öffnete und sie herauswinkte. Er fasste Unnerbei am Arm und sagte um ihn herum zur Generalin. »Danke, dass du Hrunkner mitgebracht hast. Ich brauche euch beide.« Und er führte sie durchs Foyer hinab in seinen Bau im Erdgeschoss.

Im Laufe der Jahre hatte Unnerbei Scherkaner in verschiedenen kniffligen Situationen erlebt: wie er sich mitten im Basser-Krieg ins Landeskommando hineinredete, wie er eine Expedition mitten durchs Vakuum des Tiefsten Dunkels geleitete, wie er mit Traditionalisten debattierte. Scherk gewann nicht immer, aber immer war er voller Überraschungen und Phantasie. Alles war ein großartiges Experiment und ein wunderbares Abenteuer. Selbst wenn er keinen Erfolg hatte, sah er, wie der Misserfolg zu neuen interessanten Experimenten führen würde. Heute aber… heute war Scherkaner der Verzweiflung begegnet. Er streckte die Hand nach Schmid aus, das Zittern in seinem Kopf und seinen Armen war stärker denn je. »Es muss eine Möglichkeit geben, sie zu finden. Es muss. Ich habe Computer, ich habe Mikrowellenverbindung zum Landeskommando.« All die Mittel, die ihm in der Vergangenheit so gute Dienste geleistet hatten. »Ich kann sie sicher zurückkriegen. Ich weiß, dass ich es kann.«

Schmid stand einen Augenblick lang sehr still da. Dann trat sie nahe an ihn heran, legte Scherk einen Arm um die Schultern, streichelte sein Fell. Ihre Stimme war weich und fest, fast wie bei einem Soldaten, der einen anderen über den Tod von Kameraden tröstet. »Nein, Lieber. Du kannst nur dein Möglichstes tun.« Draußen ging der Nachmittag der Dämmerung entgegen. Ein dünnes Pfeifen des Windes war durch die halboffenen Fenster zu hören, und die Farne strichen über die Quarzscheiben hin und her. Ein dunkles grünes Glühen war alles, was durch die Wolken und Gewächse hereindrang.

Die Generalin stand da, den Kopf nahe an Scherkaners Kopf, und die beiden starrten einander nur an. Fast konnte Unnerbei spüren, wie zwischen den beiden Scham und Furcht hin und her fluteten. Dann stürzte Scherkaner plötzlich gegen sie und schlang die Arme um sie. Das leise Zischen von Scherkaners Weinen gesellte sich dem Wind zu, und das waren die einzigen Geräusche im Zimmer. Nach einer Weile hob Schmid eine ihrer Hinterhände und bedeutete Hrunkner sacht, er möge gehen.

Unnerbei antwortete mit einem Kopfnicken. Der dicke Teppich war mit Spielzeug übersät — Scherkaners und dem der Kinder —, doch er achtete darauf, wo er hintrat, und brachte es fertig, lautlos hinauszugehen.

Die Dämmerung wurde rasch zur Nacht, eine Folge sowohl des sich zusammenbrauenden Unwetters als auch der sinkenden Sonne. Unnerbei sah nicht viel vom Wetter, da der Befehlsstand des Hauses nur winzige, zugewachsene Fenster hatte. Schmid erschien dort fast eine halbe Stunde nach Unnerbei. Sie erwiderte die Ehrenbezeigung ihrer Untergebenen, dann glitt sie auf das Sitzgitter neben Hrunkner. Er machte fragende Handbewegungen. Sie zuckte die Achseln. »Scherk kommt schon zurecht, Feldwebel. Er ist oben bei seinen Jungakademikern und tut, was er kann. Wie steht’s also?«

Unnerbei schob ihr einen Stapel Vernehmungsprotokolle über den Tisch zu. »Hauptmann Niederer und seine Leute sind noch da, wenn Sie selbst mit ihnen reden wollen, aber wir alle…« — das ganze Personal, das vom Landeskommando gekommen war -»glauben, dass er sauber ist. Die Kinder sind einfach zu schlau.« Die Kinder hatten wirksame Sicherheitsvorkehrungen düpiert. Natürlich hatten sie lange mit diesen Vorkehrungen gelebt, sie kannten die Gewohnheiten der Sicherheitsleute, waren mit ihnen befreundet. Und bisher war eine äußere Bedrohung nur Gegenstand von Theorien und gelegentlichen Gerüchten gewesen. Das alles kam den Kupplingen zupass, als sie beschlossen, auszubüxen… Doch diese Sicherheitsgruppe war eine Schöpfung von General Viktoria Schmids eigenem Stab. Es waren kluge Leute, loyale Leute; es hatte sie ebenso hart wie Scherkaner Unterberg getroffen.

Schmid schob die Protokolle zu ihm zurück. »Gut. Bringen Sie Daram und seine Gruppe wieder in den Turnus. Halten Sie sie beschäftigt. Was gibt’s Neues bei den Suchberichten?« Sie winkte die anderen Leute des Stabs heran und begann selbst angespannt zu arbeiten.

Der Befehlsstand des Hauses besaß gute Karten und einen richtigen Lagetisch. Mit der Mikrowellenverbindung konnte er das Befehlszentrum beim Landeskommando doublieren. Leider hatte er keine speziellen Vorkehrungen für die Kommunikation nach Weißenberg hinein. Es würde etliche Stunden dauern, bis das Problem behoben war. Es gab einen ständigen Strom von Läufern, die kamen und gingen. Viele waren frisch vom Landeskommando und nicht in das Debakel des Tages verwickelt. Das war gut, denn ihre Anwesenheit milderte den Ausdruck schicksalsergebener Verzweiflung, den einige zeigten. Es gab Spuren. Es gab Fortschritte… sowohl ermutigende als auch bedrohliche.

Der Chef der Operationen zur Abwehr der Sinnesgleichen erschien eine Stunde später. Rachner Thrakt war sehr neu in seiner Dienststellung, ein junger Kupp und ein Einwanderer aus Basville. Es war seltsam, jemanden mit dieser Kombination auf solch einem Posten zu sehen. Er wirkte ziemlich klug, aber eher ein Büchertyp als ein Kämpfer. Vielleicht war das gut so; sie brauchten weiß Gott Leute, die die Sinnesgleichen wirklich verstanden. Wie konnten traditionelle Werte so entarten? Im Großen Krieg waren die Sinnesgleichen eine kleine Sekte innerhalb des Basser-Reichs gewesen und hatten insgeheim den Einklang unterstützt. Doch Viktoria Schmid glaubte, sie würden die nächste große Bedrohung sein — vielleicht folgte sie aber auch nur ihrem allgemeinen Misstrauen gegenüber Traditionalisten.

Thrakt legte sein Regencape auf das Mantelregal und schnallte die Seitentaschen ab, die er trug. Er stellte die Dokumente vor seiner Chefin hin. »Die Sinnesgleichen stecken bis zu den Schultern in dieser Sache drin, General.«

»Wieso wundert mich das nicht?«, sagte Schmid. Unnerbei wusste, wie erschöpft sie sein musste, doch sie wirkte frisch, fast die gewohnte Viktoria Schmid. Fast. Sie war so ruhig, so höflich wie bei jeder Stabsbesprechung. Ihre Fragen waren klug wie immer. Doch Unnerbei sah den Unterschied, den Anflug einer Ablenkung. Es wirkte nicht, als mache sie sich Sorgen, sondern eher, als sei die Generalin mit ihren Gedanken irgendwo anders. »Trotzdem war es heute Morgen nicht besonders wahrscheinlich, dass die Sinnesgleichen darin verwickelt sind. Was hat sich verändert, Rachner?«

»Zwei Verhöre und zwei Autopsien. Die Kupps, die umgekommen sind, hatten eine Menge körperliche Ausbildung, und es sieht nicht nach Sport aus; sie hatten alte Kerben im Chitin, sogar ein geflicktes Einschussloch.«

Viktoria zuckte die Achseln. »Es war klar, dass das Profiarbeit war. Wir wissen, dass es im Lande Bedrohungen gibt, traditionalistische Randgruppen. Sie könnten geeignete Leute zur Ausführung anstellen.«

»Könnten sie, aber das waren die Sinnesgleichen, nicht die hiesigen Trads.«

»Es gibt klare Beweise?«, fragte Unnerbei erleichtert und ein wenig beschämt wegen dieser Empfindung.

»Hm.« Thrakt schien die Frage ebenso wie den Fragenden zu überdenken. Der Kupp konnte sich nicht recht entscheiden, wo Unnerbei — ein Zivilist, der als ›Feldwebel‹ angesprochen wurde — in die Befehlskette einzuordnen wäre. Gewöhn dich dran, Junge. »Die Sinnesgleichen machen viel Aufhebens um ihre religiösen Wurzeln; doch bisher haben sie sorgfältig vermieden, uns in unserem eigenen Land in die Quere zu kommen. Heimliche Finanzierung hiesiger Trad-Gruppen war für sie so ziemlich das Äußerste. Aber… heute sind sie aus der Deckung gekommen. Das waren Profis von den Sinnesgleichen. Sie haben sich große Mühe gegeben, keine Spuren zu hinterlassen, aber sie haben nicht mit unseren forensischen Labors gerechnet. Es war sogar einer von den Studenten ihres Gatten, der den Test entwickelt hat. Sehen Sie, das Verhältnis der Pollentypen in den Atemwegen beider Leichen ist ausländisch; ich kann Ihnen sogar sagen, welche Basis der Sinnesgleichen sie losgeschickt hat. Diese beiden waren noch nicht länger als fünfzehn Tage im Lande.«

Schmid nickte. »Wenn es länger gewesen wäre, wären die Pollen verschwunden?«

»Stimmt, von ihrem Immunsystem erfasst und weggespült, sagen die Techniker. Aber trotzdem hätten wir das meiste davon herausgefunden. Sehen Sie, die andere Seite hatte viel mehr Pech als wir. Sie haben zwei lebende Zeugen zurückgelassen…« Thrakt zögerte, offensichtlich kam ihm wieder zu Bewusstsein, dass dies keine gewöhnliche Lagebesprechung war, dass für Schmid die übliche Definition von Ermittlungserfolg als katastrophales Versagen zählen konnte.

Die Generalin schien es nicht zu bemerken. »Ja, das Paar. Die beiden, die ihre Kinder ins Museum mitgebracht haben.«

»Ja, Frau General. Und sie haben großen Anteil daran, dass diese Sache für den Feind nach hinten losging. Oberst Untersiedel« — die Chefin der Inlandsoperationen — »hat den ganzen Nachmittag Leute mit ihnen reden lassen; sie wollen verzweifelt gern helfen. Sie haben schon gehört, was sie von ihnen gleich zu Beginn erfahren hat, wie einer von Ihren Söhnen ein Exponat auf sie gestürzt und zwei von den Entführern getötet hat.«

»Und dass alle Kinder lebendig mitgenommen wurden.«

»Stimmt. Aber Untersiedel hat noch mehr erfahren. Wir sind uns jetzt fast sicher… Die Entführer hatten vor, alle Ihre Kinder in ihre Gewalt zu bringen. Als sie die Kleinen der Suabismes sahen, glaubten sie, es wären Ihre. Es gibt einfach nicht besonders viele Unzeitlinge auf der Welt, selbst jetzt. Naturgemäß nahmen sie an, die Suabismes seien unsere Sicherheitsleute.«

Gott in der guten kalten Erde. Unnerbei schaute zu den schmalen Fenstern hin. Es war eine Spur heller als zuvor, doch jetzt waren es die kalt-klaren Ultrafarben von Sicherheitslampen. Der Wind frischte immer mehr auf, trieb funkelnde Tröpfchen über die Scheiben und beugte die Farne hin und her. Für die Nacht wurde ein Gewitter erwartet.

Also hatten es die Sinnesgleichen vermasselt, weil sie eine zu hohe Meinung vom Geheimdienst des Einklangs hatten. Natürlich hatten sie angenommen, dass jemand die Kinder begleiten würde.

»Wir haben von den beiden Zivilisten eine Menge erfahren, Frau General: die Legende, die diese Typen benutzten, als sie hereinkamen, ein paar Redewendungen, nachdem die Sache schiefging… Die Entführer hatten nicht vor, irgendwelche Zeugen zurückzulassen. Die Suabismes sind heute Nacht die größten Glückspilze in Weißenberg, obwohl sie es nicht so sehen. Die beiden, die Ihr Sohn getötet hat, waren dabei, die Suabismes von den Kindern wegzudrängen. Einer von ihnen hatte eine automatische Schrotflinte gezogen und entsichert. Oberst Untersiedel geht davon aus, dass der ursprüngliche Auftrag lautete, alle Ihre Kinder zu entführen und keine Zeugen zurückzulassen. Tote Zivilisten und jede Menge Blut wären sogar gut für ihr Szenario gewesen, denn es wäre alles unseren Trad-Fraktionen zu Lasten gelegt worden.«

»Warum dann nicht auch ein paar tote Kinder zurücklassen? Das hätte auch die Flucht erleichtert.« Viktoria stellte die Frage ruhig, hatte aber etwas Distanziertes.

»Das wissen wir nicht, Frau General. Aber Oberst Untersiedel glaubt, dass sie noch im Lande sind, vielleicht sogar in Weißenberg.«

»Oh?« Skepsis schien mit Hoffnung zu ringen. »Ich weiß, dass Belga unglaublich schnell durchgegriffen hat — und die andere Seite hatte auch ihre Probleme. In Ordnung. Das wird Ihre erste große Inlandsoperation sein, Rachner, aber ich möchte, dass es Hand in Hand mit dem Landesschutz geschieht. Und Sie werden die städtische und private Polizei einschalten müssen.« Die klassische Anonymität des Geheimdiensts von Einklang würde in den nächsten paar Tagen ziemlich leiden. »Versuchen Sie, nett zu den Leuten von der Stadt und den Privaten zu sein. Wir haben keinen Kriegszustand. Sie können der Krone eine Unmenge Scherereien bereiten.«

»Ja, Frau General. Oberst Untersiedel und ich betreiben zusammen mit der städtischen Polizei Patrouillen. Wenn die Verbindungen hergestellt sind, werden wir eine Art gemeinsamen Befehlsstand mit ihnen hier im Berghaus haben.«

»Sehr gut… Ich glaube, Sie sind mir ständig voraus, Rachner.«

Thrakt lächelte sacht, als er aufstand. »Wir kriegen Ihre Kupplis zurück, Chefin.«

Schmid setzte zu einer Antwort an, dann bemerkte sie zwei kleine Köpfe, die um den Türpfosten lugten. »Ich weiß, dass Sie es schaffen werden, Rachner. Danke.«

Thrakt trat vom Tisch zurück, und kurze Stille breitete sich im Raum aus. Die beiden jüngsten von Unterbergs Kindern — vielleicht die einzigen, die noch am Leben waren — kamen schüchtern ins Zimmer, gefolgt vom Chef ihrer Wache und drei Soldaten. Hauptmann Niederer trug einen zusammengerollten Regenschirm, doch es war klar, dass Rhapsa und Klein Hrunk ihn nicht benutzt hatten. Ihre Jacken waren durchnässt, und auf ihrem spiegelnden schwarzen Chitin standen Regentropfen.

Viktoria hatte kein Lächeln für die Kinder. Ihr Blick blieb an der durchnässten Kleidung und dem Schirm haften. »Seid ihr herumgelaufen?«

Rhapsa antwortete, niedergeschlagener, als Hrunkner den kleinen Wildfang je erlebt hatte. »Nein, Mutter. Wir waren bei Papa, aber jetzt hat er zu tun. Wir sind bei Hauptmann Niederer geblieben, zwischen ihm und den anderen…« Sie verstummte und neigte den Kopf schüchtern zu ihrem Beschützer hin.

Der junge Hauptmann nahm Haltung an, doch er hatte das schreckliche Aussehen eines Soldaten, der soeben Kampf und Niederlage erlebt hat. »Tut mir Leid, Frau General. Ich habe beschlossen, den Schirm nicht zu verwenden. Ich wollte nach allen Richtungen sehen können.«

»Ganz richtig, Daram. Und… es ist richtig, dass Sie sie hergebracht haben.« Sie hielt inne und starrte ihre Kinder eine Sekunde lang schweigend an. Rhapsa und Klein Hrunk standen reglos da und starrten zurück. Dann, als wäre ein Hauptschalter umgelegt worden, rannten die beiden quer durchs Zimmer, und ihre Stimmen stiegen zu einer wortlosen Klage an. Einen Moment lang waren sie alle Arme und Beine, krabbelten an Schmid hoch, umarmten sie wie einen Vater. Nun, da der Damm ihrer Zurückhaltung gebrochen war, ertönte laut ihr Weinen — und auch ihre Fragen. Gab es Neuigkeiten von Gokna und Viki und Jirlib und Brent? Was würde jetzt geschehen? Und sie wollten nicht allein bleiben.

Nach ein paar Augenblicken beruhigte sich alles. Schmid neigte den Kopf zu den Kindern hinab, und Unnerbei fragte sich, was ihr wohl durch den Sinn ging. Sie hatte noch zwei Kinder. Bei allem Unglück oder Versagen dieses Tages waren es doch zwei andere kleine Kinder, die anstatt dieser entführt worden waren. Sie hob eine Hand zu Unnerbei hin. »Hrunkner. Ich habe einen Wunsch. Machen Sie die Suabismes ausfindig. Bitten Sie sie… bieten Sie ihnen meine Gastfreundschaft an. Wenn sie das alles gern hier im Berghaus durchstehen wollen… Es wäre mir eine Ehre.«


Sie befanden sich hoch oben in einer Art senkrechtem Belüftungsschacht.

»Nein, es ist kein Belüftungsschacht«, sagte Gokna. »Richtige haben alle möglichen zusätzlichen Röhren und Gerätekabel.«

Es gab kein Surren von Ventilatoren, nur das ständige Pfeifen des Windes von oben her. Viki konzentrierte sich auf den Anblick direkt über ihrem Kopf. Sie sah ganz oben ein vergittertes Fenster, vielleicht in fünfzehn Metern Höhe. Tageslicht drang hindurch, wurde hier und da die Metallwände des Schachtes herabreflektiert. Hier am Grunde waren sie im Dämmerlicht, doch es war durchaus hell genug, um die Schlafmatten zu sehen, die chemische Toilette, den Metallfußboden. Ihr Gefängnis wurde im Laufe des Tages ständig wärmer. Gokna hatte Recht. Sie hatten daheim genug herumgestöbert, um zu wissen, wie richtige Versorgungsschächte aussahen. Doch was sonst konnte das sein? »Sieh dir all die Flicken an.« Sie deutete auf die Scheiben, die hier und da nachlässig an den Wänden befestigt waren. »Vielleicht ist dieser Ort verlassen worden — oder vielleicht ist er noch im Bau!«

»Na ja«, sagte Jirlib. »Das ist alles frische Arbeit. Sie haben einfach Deckel über den Zugangslöchern befestigt, es hat vielleicht eine Stunde gedauert.« Gokna nickte, sie versuchte nicht einmal, das letzte Wort zu haben. So viel hatte sich seit dem Morgen verändert. Jirlib war kein ferner, verärgerter Unparteiischer in ihren Streitgesprächen mehr. Er stand unter größerem Druck als je zuvor, und sie wusste, wie bitter schuldig er sich fühlen musste. Zusammen mit Brent war er der Älteste — und er hatte es geschehen lassen. Doch der Schmerz zeigte sich nicht direkt; Jirlib war geduldiger als je zuvor.

Und als er das Wort ergriff, hörten seine Schwestern zu. Selbst wenn man nicht berücksichtigte, dass er fast erwachsen war, war er bei weitem der klügste von ihnen allen.

»Eigentlich glaube ich, ich weiß genau, wo wir sind.« Er wurde von den Babies unterbrochen, die in ihren Sitzen auf seinem Rücken zappelten. Jirlibs Fell war einfach nicht tief genug, um bequem zu sein, und er begann schon zu stinken. Alequere und Birbop wechselten zwischen jaulenden Forderungen nach ihren Eltern und nervtötender Stille, wobei sie sich dicht an den Rücken des armen Jirlib pressten. Es sah so aus, als würde nun wieder eine Runde Geschrei folgen. Viki langte hin und nahm Alequere in die Arme.

»Und wo?«, fragte Gokna, aber ohne eine Spur von Streitlust in der Stimme.

»Seht ihr die Kankerweben?« Jirlib zeigte nach oben. Es waren frische winzige Fleckchen von Seide, die im Luftzug nahe am Gitter hin und her schwangen. »Jede Art hat ihr eigenes Muster. Die da oben gehören zum Gebiet von Weißenberg, aber sie nisten an den höchsten Orten. Die Spitze des Berghauses ist gerade noch hoch genug für sie. Also denke ich, wir sind noch in der Stadt und so hoch oben, dass wir meilenweit zu sehen sein müssen. Wir sind entweder im Bergbezirk oder in diesem neuen Wolkenkratzer bei Stadtmitte.«

Alequere begann wieder zu weinen. Viki wiegte sie sanft hin und her. Damit war Klein Hrunk immer in bessere Stimmung gekommen, aber… Ein Wunder! Alequeres Gewimmer hörte auf. Vielleicht war sie einfach so niedergeschlagen, dass sie keinen ordentlichen Lärm machen konnte. Aber nein, nach ein paar Sekunden winkte ihr das Baby ein schwaches Lächeln zu und drehte sich hin und her, um alles sehen zu können. Sie war ein gutes kleines Kuppli! Viki wiegte das Baby noch ein paar Sekunden, ehe sie sprach. »In Ordnung. Vielleicht sind sie nur im Kreis mit uns gefahren — aber Stadtmitte? Wir haben ein paar Flugzeuge gehört, aber wo ist der Straßenlärm?«

»Überall ringsum.« Es war fast das Erste, was Brent seit der Entführung sagte. Langsam und schwerfällig, das war Brent. Und er war der Einzige von ihnen allen, der erfasst hatte, was heute Morgen geschah. Er war es gewesen, der sich von den anderen absetzte und im Dunkeln lauerte. Brent hatte die Größe eines Erwachsenen — sich mit diesem Regal auf den Feind zu stürzen, hätte ihn zum Krüppel machen können. Als man sie durch den Liefereingang des Museums hinausgeschleppt hatte, war Brent lahm und still gewesen. Er hatte während der anschließenden Fahrt nichts gesagt, nur abgewinkt, als ihn Jirlib und Gokna fragten, ob mit ihm alles in Ordnung sei.

Es sah so aus, als habe er sich ein Vorderbein gebrochen und mindestens ein zweites verletzt, doch er wollte nicht, dass sie sich den Schaden ansahen. Viki verstand es. Brent schämte sich wohl ebenso wie Jirlib — und fühlte sich noch nutzloser. Er hatte sich missmutig hingesetzt und sich in sich zurückgezogen, und dann — nach der ersten Stunde in ihrem gegenwärtigen Gefängnis — hatte er begonnen, hin und her zu humpeln, auf dem Metall tappend und klickend. Immer wieder ließ er sich flach hinfallen, als ob er sich tot stelle — oder total verzweifelt sei. Ebendiese Haltung hatte er momentan inne.

»Hört ihr sie denn nicht?«, sagte er wieder. »Ihr müsst bauchhören.«

Viki hatte dieses Spiel seit Jahren nicht mehr gespielt. Doch sie und die anderen taten es ihm nach, machten sich absolut flach, ohne jede Wölbung von Boden weg. Es war nicht sehr bequem, und man konnte dabei nichts anderes tun. Alequere sprang aus ihren Armen. Birbop gesellte sich seiner Schwester zu. Die beiden klickten von dem einen älteren Kind zum anderen und stukten sie an. Nach einem Augenblick begannen die beiden zu kichern.

»Psst, psst«, sagte Viki leise. Das machte das Kichern nur noch lauter. Wie lange hatte Viki gebetet, die beiden würden wieder aufgemuntert? Und jetzt wollte sie nur, dass sie eine Weile still wären. Sie blendete sie aus ihrem Geist aus und konzentrierte sich. Hm. Es war nicht direkt Schall, jedenfalls nicht für die Ohren im Kopf. Doch an ihrer ganzen Unterseite fühlte sie es. Das war ein stetiges Summen im Hintergrund… und andere Schwingungen, die kamen und gingen. Ha! Es war eine Ahnung des brodelnden Lebens, das man in den Fußspitzen fühlte, wenn man in der Stadt umherging. Und da! Das unverkennbare Schurren, wenn ein schweres Fahrzeug jäh bremste.

Jirlib kicherte. »Ich glaube, das wäre dann klar! Die dachten, sie wären so schlau mit diesem geschlossenen Frachtcontainer, aber jetzt wissen wir es.«

Viki erhob sich zu einer bequemeren Haltung und wechselte Blicke mit Gokna. Jirlib war schlauer, aber was Raffinesse anging, hatte er seinen Schwestern nie das Wasser reichen können. Goknas Erwiderung war sanft, teils, weil sie höflich sein wollte, teils, weil der angemessene Ton die Babies wieder dazu gebracht hätte, sich zu verstecken. »Jirl, ich glaube nicht, dass sie wirklich versucht haben, etwas vor uns zu verbergen.«

Jirlib zog den Kopf zurück, fast seine Der-Bruder-weiß-es-besser-Geste. Dann erfasste er ihren Tonfall. »Gokna, sie hätten uns in fünf Minuten Fahrt hierher bringen können. Stattdessen waren wir über eine Stunde unterwegs. Was…?«

Viki sagte: »Ich denke, das war vielleicht nur, um Mutters Sicherheitsleuten zu entgehen. Diese Kupps hatten mehrere Wagen in Fahrt, sie haben uns zweimal umgeladen, erinnere dich. Vielleicht haben sie eigentlich versucht, die Stadt zu verlassen, und gesehen, dass es nicht ging.« Viki deutete auf ihr Quartier. »Wenn sie eine Spur von Verstand haben, wissen sie, dass wir viel zu viel gesehen haben.« Sie versuchte, die Stimme locker zu halten. Birbop und Alequere waren zu dem noch immer ausgestreckten Brent hinübergewandert und zupften an seinen Taschen. »Wir haben auch den Fahrer und die Dame unten beim Liefereingang des Museums gesehen.«

Und sie erzählte ihm von der automatischen Schrotflinte, die sie im Museum auf dem Fußboden gesehen hatte. Ein Ausdruck von Entsetzen huschte über Jirlib. »Du glaubst nicht, dass es Trads sind, die einfach nur Papa und die Generalin in eine peinliche Situation bringen wollen?«

Sowohl Gokna als auch Viki bedeuteten mit Gesten: Nein. Gokna sagte: »Ich glaube, es sind Soldaten, Jirl, egal, was sie sagen.« Tatsächlich hatte es Lügen über Lügen gegeben. Als die Bande in der Videomantie-Ausstellung aufgetaucht war, hatten sie behauptet, sie seien von Mutters Sicherheitsdienst. Doch als sie die Kupplinge hier abgeladen hatten, redeten sie wie Trads: Die Kinder wären ein schreckliches Beispiel für anständige Leute. Man würde ihnen kein Leid zufügen, doch ihre Eltern sollten als die Perversen entlarvt werden, die sie waren. Das hatten sie gesagt, doch sowohl Viki als auch Gokna hatten bemerkt, dass es ihnen an innerer Überzeugung fehlte. Die meisten Traditionalisten im Rundfunk sprühten Gift und Galle; diejenigen, denen Viki und Gokna persönlich begegnet waren, gerieten beim Anblick von Unzeit-Kindern ganz außer sich. Die Entführer blieben gelassen; hinter der Rhetorik war klar, dass die Kinder nur eine Fracht waren. Viki hatte nur zwei ehrliche Emotionen unter ihrem Profitum bemerkt. Die Anführerin war wirklich wütend wegen der beiden gewesen, die Brent zerquetscht hatte… und hin und wieder gab es einen Anflug von Bedauern für die Kinder selbst.

Viki sah, wie Jirlib zusammenzuckte, als ihm die Bedeutung dessen aufging, doch er schwieg. Zweifaches schrilles Gelächter unterbrach sein düsteres Sinnieren. Alequere und Birbop beachteten weder Gokna und Viki noch Jirlib. Sie hatten die Spielschnur entdeckt, die Brent in seiner Jacke verborgen hielt. Alequere sprang zurück, sodass die Schnur in hohem Bogen herausgezogen wurde. Birbop sprang hin, um sie zu packen, rannte in einem raschen Kreis um Brent herum, als wolle er ihm die Beine fesseln.

»He, Brent, ich dachte, aus dem Alter wärst du heraus«, sagte Gokna mit angestrengt gut gelauntem Spott.

Brents Antwort kam langsam und ein wenig abwehrend. »Ich langweile mich, wenn ich nicht bei meinen Stäben und Verbindungsstücken bin. Fadenspiele kann man überall machen.« Darin war Brent wirklich ein Meister. Als er jünger war, hatte er sich oft auf den Rücken gerollt und alle Arme und Beine — sogar die Esshände — benutzt, um immer kompliziertere Muster zu formen. Das war die Art albernes, kompliziertes Hobby, die Brent mochte.

Birbop nahm Alequere das Ende der Schnur weg und rannte drei, vier Meter die Wand hoch, wobei er geschickt jeden winzigen Wandvorsprung ausnutzte, wie es nur die ganz jungen Leute können. Er warf das Seil seiner Schwester zu und animierte sie zu dem Versuch, ihn herabzuziehen. Als sie es tat, riss er es mit einem Ruck zurück und kletterte noch anderthalb Meter höher. Er war ganz so, wie Rhapsa in seinem Alter gewesen war, vielleicht sogar noch eine Spur flinker.

»Nicht so hoch, Birbop, du fällst herunter!« Jetzt klang Viki genau wie Papa.

Die Wände ragten oberhalb des Babies höher und höher. Und ganz oben, fünfzehn Meter über ihnen, befand sich das winzige Fenster. Hinter sich sah Viki, wie Gokna stutzte. »Denkst du dasselbe wie ich?«, fragte Viki.

»W-wahrscheinlich. Als sie klein war, hätte Rhapsa bis nach oben klettern können.« Ihre Entführer waren nicht so schlau, wie sie dachten. Jeder, der je Babies betreut hatte, hätte es besser gewusst. Doch beide männlichen Entführer waren jung, gegenwärtige Generation.

»Aber wenn er fällt…«

Wenn er fiele, gäbe es kein Kletter-Fangnetz, nicht einmal weichen Teppich. Ein Zweijähriger konnte acht oder zehn Kilo wiegen. Sie kletterten gern, es war, als ahnten sie, dass sie, wenn sie erst einmal groß und schwer wurden, nur noch Treppen steigen und die gewöhnlichsten Sprünge machen könnten. Babies konnten viel tiefer als Erwachsene fallen, ohne sich ernstlich zu verletzen, doch tiefe Stürze würden sie dennoch nicht überleben. Zweijährige wussten das nicht. Ein einfacher Vorschlag, und Birbop wäre zu dem Fenster hoch oben unterwegs. Es bestanden gute Aussichten, dass er es schaffen würde…

Normalerweise hätten sich Viki und Gokna auf jeden ausgefallenen Plan gestützt, doch hier ging es um das Leben eines anderen… Die beiden starrten einander einen Augenblick lang an. »Ich… ich weiß nicht, Viki.«

Und wenn sie nichts taten? Die Babies würden wahrscheinlich zusammen mit den anderen umgebracht werden. Wofür immer sie sich entschieden, es konnte schreckliche Folgen haben. Plötzlich hatte Viki größere Angst als je zuvor; sie ging quer durch den Raum und blieb unter dem grinsenden Birbop stehen. Ihre Arme hoben sich, als ob sie ein Eigenleben hätten, um das Baby herunterzulocken. Sie zwang die Arme nieder, zwang ihrer Stimme einen leichten, neckenden Ton auf: »He, Birbop! Denkst du, dass du die Schnur bis hinauf zu dem kleinen Fenster schaffen kannst?«

Birbop neigte den Kopf, richtete seine Babyaugen nach oben. »Klar.« Und schon war er unterwegs, huschte von Verkleidung zu Rohrhalterung, höher und höher. Ich schulde dir etwas, Kleiner, auch wenn du es nicht weißt.

Am Boden kreischte Alequere auf, wütend, dass Birbop sämtliche Aufmerksamkeit hatte. Sie ruckte hart an der Schnur, sodass ihr Bruder mit drei Armen an einem schmalen Vorsprung in sechs Meter Höhe schaukelte. Gokna riss sie vom Boden hoch und von der Schnur weg und gab sie Jirlib.

Viki versuchte, das Entsetzen abzuschütteln, das sie empfand; sie sah zu, wie das Baby immer höher kletterte. Und wenn wir an das Fenster herankommen, was dann? Zettel hinauswerfen? Aber sie hatten nichts, womit sie schreiben konnten, und sie wussten auch nicht, wo der Wind einen Zettel hintragen konnte… Und plötzlich sah sie, wie auf einen Schlag zwei Probleme zu lösen wären. »Brent, deine Jacke!« Sie streckte die Hände vor und winkte Gokna, sie solle ihm helfen, sie auszuziehen.

»Ja!« Gokna zog an den Ärmeln und Beinkleidern, fast noch ehe Viki ausgeredet hatte. Brent starrte einen Moment lang überrascht, dann erfasste er die Idee und half. Seine Jacke war fast so groß wie die von Jirlib, aber ohne die Schlitze hinten am Rücken. Die drei zogen die Jacke zwischen sich flach und gingen hin und her, um den seitlichen Bewegung des höher kletternden Birbop zu folgen. Selbst wenn er fiele, könnten sie vielleicht… In Abenteuergeschichten funktionierte so was immer. Aber wenn sie so dastanden und die Jacke hielten, wirkte es irgendwie absurd, auf solchen Erfolg zu hoffen.

Alequere kreischte immer noch und versucht, sich aus Jirlibs Griff zu befreien. Birbop lachte sie aus. Er war ganz froh, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein und etwas zu tun, wofür er normalerweise versohlt worden wäre. Zwölf Meter hoch. Er wurde langsamer. Er fand jetzt weniger Halt, er war oberhalb der hauptsächlichen Versorgungsarmaturen. Ein paarmal verlor er beinahe die Schnur, als sie ihm von Hand zu Hand glitt. Er sammelte sich auf einem unglaublich schmalen Vorsprung und sprang den fehlenden Meter seitlich nach oben — und eine seiner Hände erwischte das Fenstergitter. Einen Augenblick später war sein Körper eine Silhouette im Licht.

Mit nur zwei Augen, und die vorn, mussten sich Babies fast vollständig herumdrehen, um hinter sich zu blicken. Jetzt schaute Birbop zum ersten Mal herab. Sein triumphierendes Lachen erstickte, als er sah, wie weit er gekommen war, so hoch, dass sogar seine Babyinstinkte ihm sagten, dass er in Gefahr war. Es gab Gründe, warum Eltern einen nicht so hoch klettern ließen, wie man wollte. Birbops Arme und Beine klammerten sich reflektorisch an das Gitter.

Und sie konnten ihn nicht davon überzeugen, dass niemand hinaufkommen konnte, um ihm zu helfen, und dass er selbst herabkommen müsste. Viki hatte mit keinem Gedanken daran gedacht, dies würde ein Problem sein. Bei den Gelegenheiten, da Rhapsa oder Klein Hrunk in bedenkliche Höhen gestiegen waren, hatte keines von beiden Schwierigkeiten gehabt, wieder herunterzukommen.

Gerade, als es den Anschein hatte, Birbop sei in einem dauernden Zustand der Lähmung, hörte seine Schwester zu weinen auf und begann ihn auszulachen. Danach war es nicht mehr schwer, ihn zu überzeugen, die Schnur durch das Gitter zu fädeln und sie anschließend als eine Art Flaschenzug für den Abstieg zu nutzen.

Die meisten Babies kamen von selbst auf diese Idee, wenn sie an einer Spielschnur abwärts glitten; vielleicht ging es auf irgendwelche tierischen Erinnerungen zurück. Birbop begann seinen Abstieg mit fünf Gliedmaßen sicher um den absteigenden Strang gewickelt und drei anderen als Bremse am aufsteigenden. Doch nachdem er ein, zwei Meter heruntergekommen war und erkannt hatte, wie glatt die Spielschnur funktionierte, hielt er sich nur noch mit drei Armen fest, und dann mit zweien. Er stieß sich mit den Füßen von den Wänden ab und flog herab wie ein springender Tarant. Unter ihm hetzten Viki und die anderen hin und her und versuchten vergeblich, mit ihrem provisorischen Netz unter ihm zu bleiben… und dann war er unten.

Und sie hatten eine Schlaufe aus Spielschnur, die sich vom Boden zum Fenstergitter und zurück erstreckte. Sie glühte und zuckte, als sie Dehnungsenergie freisetzte.

Viki und Gokna stritten sich, wer von ihnen den nächsten Schritt tun würde. Diesmal gewann Viki; sie wog unter vierzig Kilo, am wenigsten von allen. Sie zog und schaukelte an der Schnur, während Brent und Gokna das Seidenfutter aus seiner Jacke lösten. Das Futter war mit roten und ultra Klecksen gefärbt. Noch besser, es bestand aus gefalteten Lagen; wenn sie es an den Nähten auftrennten, erhielten sie eine Fahne, die leicht wie Rauch war, aber viereinhalb Meter lang. Gewiss würde es jemand bemerken.

Gokna faltete das Futter hübsch zusammen und gab es ihr. »Die Schnur, meinst du wirklich, dass sie halten wird?«

»Klar.« Vielleicht. Das Zeug war glatt und dehnbar wie jede gute Spielschnur — und was würde geschehen, wenn sie es ganz und gar ausdehnte?

Was Brent sagte, tröstete sie mehr als alles Wunschdenken: »Ich glaube, sie wird halten. Ich hänge in meinen Entwürfen gern etwas auf. Die Schnur habe ich aus dem Mechaniklabor mitgenommen.«

Viki zog ihre Jacke aus, nahm die selbstgemachte Fahne in die Esshände und begann hinaufzuklettern. In ihrer Hintersicht schrumpften die anderen zu einem besorgten kleinen Muster rings um das ›Sicherheitsnetz‹. Viel nützen würde das nicht, wenn jemand von ihrer Größe fiel. Sie pendelte hin und her, stieß sich Schritt für Schritt von der Wand ab. Eigentlich war es einfach. Sogar ein Erwachsener in voller Größe hätte keine Mühe, eine Senkrechte mit zwei Halteseilen hinaufzuklettern — solange die Seile hielten. Ebenso wie die Schnur und die Wand beobachtete sie die Tür unten. Komisch, dass sie sich bisher keine Sorgen wegen möglicher Störungen gemacht hatte. Doch der Erfolg war so nahe. Es wäre alles umsonst, wenn einer der Idioten ausgerechnet jetzt auf den Gedanken käme, nach ihnen zu sehen. Nur noch ein, zwei Meter…

Sie streckte die Hände durch das Fenstergitter und hängte sich nahe an der frischen Luft hin. Es war kein Platz, um ordentlich zu sitzen, und die Gitterstäbe standen zu dicht — nicht einmal ein Baby wäre durchgekommen — aber ach, die Aussicht! Sie befanden sich oben in einem der riesigen neuen Gebäude, mindestens dreißig Etagen hoch. Aus dem Himmel war eine wirbelnde Wolkendecke geworden, und der Wind drückte heftig gegen das Fenster. Ihr Blick hinab wurde teilweise von den Oberkanten des Gebäudes verdeckt, doch Weißenberg lag vor ihr ausgebreitet wie ein schönes Modell. Sie konnte geradewegs eine Straße entlang schauen, sah Busse, Autos, Leute. Und wenn sie zu ihr hochschauten… Viki entfaltete das Jackenfutter und schob es durchs Gitter. Der Wind riss es ihr fast weg. Sie hielt sich besser fest, zerriss den Stoff mit Handspitzen. Das Zeug war so dünn! Sachte! Sorgfältig zog sie die Enden zurück, band sie an vier verschiedenen Stellen fest. Jetzt breitete der Wind das bunte Quadrat über die Seite des Gebäude hinweg aus. Der Stoff knatterte im Wind, hob sich manchmal und verdeckte das Fenster, fiel dann wieder gegen die Wand außerhalb ihrer Sicht.

Ein letzter Blick auf die Freiheit: Drüben, wo sich Land und hängende Wolken berührten, verschwanden Hügel der Stadt im Zwielicht. Doch Viki sah genug, um sich zu orientieren. Da war ein Hügel, nicht ganz so hoch wie die anderen, aber mit einem Spiralmuster von Straßen und Bauwerken. Das Berghaus! Sie konnte bis nach Hause blicken!

Viki glitt vom Fenster herab, über alle Maßen hochgestimmt. Sie würden doch noch siegen! Sie und die anderen zogen die funkelnde Schnur herab, versteckten sie wieder in Brents Jacke. Sie saßen im herabsinkenden Dämmerlicht da und fragten sich, wann ihre Gefängniswärter wieder auftauchen würden, diskutierten, was dann zu tun sei. Der Nachmittag war schrecklich dunkel, und es begann zu regnen. Dennoch war das Geräusch des im Winde flatternden Stoffes ein Trost.

Irgendwann nach Mitternacht riss der Sturm die Fahne los und schleuderte sie in die Finsternis.

Dreissig

Das Recht der Petition an den Hülsenmeister war eine passende Tradition. Es hatte sogar eine Grundlage in historischen Tatsachen, obwohl sich Tomas Nau sicher war, dass vor Jahrhunderten, mitten in der Zeit der Seuche, die einzigen gewährten Bittgesuche Propaganda-Angelegenheiten waren. In moderner Zeit war die Manipulation von Petitionen Onkel Alans bevorzugte Methode gewesen, populär zu bleiben und rivalisierende Fraktionen zu untergraben.

Es war eine schlaue Taktik, solange man Alans Fehler vermied, Mörder als Bittsteller zu sich zu lassen. In den vierundzwanzig Jahren seit ihrer Ankunft beim EinAus-Stern hatte Tomas Nau etwa einem Dutzend Petitionen stattgegeben. Dies war die erste, die behauptete, keinen Aufschub zu dulden.

Nau schaute über den Tisch auf die fünf Bittsteller. Berichtigung: Repräsentanten der Bittsteller. Sie behaupteten, ihnen hätten sich hundert Unterstützer angeschlossen, und das binnen acht Kilosekunden. Nau lächelte, bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. »Pilotenverwalter Xin. Sie sind, glaube ich, der Ranghöchste. Bitte erklären Sie Ihre Petition.«

»Ja, Hülsenmeister.« Xin warf seiner Freundin, Rita Liao, einen Blick zu. Beide waren Aufsteiger von der Heimatwelt, aus Familien, die seit mehr als dreihundert Jahren Fokussierte und Gefolgsleute lieferten. Solche waren das Rückgrat der Aufsteigerkultur, und es hätte leicht sein müssen, mit ihnen umzugehen. Hier draußen, zwanzig Lichtjahre von der Zivilisation entfernt, war leider nichts einfach. Xin fand noch eine Sekunde lang keine Worte. Er warf einen nervösen, verstohlenen Blick auf Kal Omo. Omo erwiderte den Blick sehr kalt, und Nau wünschte plötzlich, er hätte sich die Zeit genommen, sich vom Hülsensergeanten informieren zu lassen. Da Brughel gegenwärtig Freiwache hatte, würde er keinem anderen die Schuld geben können, wenn er die Petition ablehnen musste.

»Wie Sie wissen, Hülsenmeister, arbeiten viele von uns an der Analyse der Ereignisse auf dem Planeten. Noch viel mehr interessieren sich allgemein für die Spinnen, die wir beobachten…«

Nau lächelte ihn sanft an. »Ich weiß. Ihr hängt bei Benny herum und hört euch die Übersetzungen an.«

»Ja, Herr Hülsenmeister. Äh… wir mögen ›Die Kinderstunde‹ sehr und manche von den übersetzten Geschichten. Sie bringen uns bei unseren eigenen Analysen weiter. Und…« Sein Blick ging, weit weg. »Ich weiß nicht. Die Spinnen haben dort unten eine ganze Welt, auch wenn sie keine Menschen sind. Im Vergleich zu uns wirken sie manchmal viel…« Wirklicher — Nau war sich sicher, dass Xin das hatte sagen wollen. »Ich meine, wir haben Zuneigung zu einigen von den Spinnenkindern gewonnen.«

Wie geplant. Die Live-Übersetzungen waren jetzt stark gepuffert. Sie hatten nie herausgefunden, was genau den Ausbruch der Geistfäule verursacht hatte — oder ob er überhaupt mit der Vorstellung zusammenhing. Anne war der Ansicht, das gegenwärtige Risiko sei nicht höher als bei ihren anderen Operationen. Nau langte nach rechts, drückte sanft Qiwis Hand. Sie lächelte zurück. Die Spinnenkinder waren wichtig. Das war etwas, das er ohne Qiwi Lisolet vielleicht nie verstanden hätte. Qiwi war zu so vielem gut. Sie zu beobachten, mit ihr zu reden, sie zu täuschen — es gab so viel dabei zu lernen. Echte Kinder wären eine unzumutbare Belastung für die Ressourcen bei L1 gewesen, aber etwas musste als Ersatz her. Qiwi und ihre Pläne und ihre Träume hatten ihm den Weg gezeigt. »Wir alle mögen die Kupplis, Pilotenverwalter. Ihre Petition hat etwas mit der Entführung zu tun?«

»Ja, Herr Hülsenmeister. Die liegt jetzt siebzig Kilosek zurück. Die ›Einklang‹-Spinnen benutzen ihre beste Nachrichtenausrüstung intensiver als je zuvor. Ihnen nützt das nichts, aber unsere Blitzköpfe kriegen dabei eine Menge heraus. Die Mikrowellen-Verbindungen im Einklang sind voll von abgefangenen Meldungen der Sinnesgleichen. Der Großteil der Verschlüsselung bei den Sinnesgleichen ist algorithmisch, keine Einmal-Codes. Der Einklang kann nichts davon knacken, aber für uns sind die Algorithmen einfach. In den letzten vierzig Kilosek haben wir — habe ich — unsere Übersetzer und Analytiker eingesetzt. Ich glaube, ich weiß, wo die Kinder gefangen gehalten werden. Fünf Analytiker halten es für nahezu sicher, dass…«

»Fünf Analytiker, drei Übersetzer und ein Teil des Schnüfflerfeldes auf der Unsichtbaren Hand.« Reynolts Stimme übertönte laut und unerbittlich die von Xin. »Außerdem hat Verwalter Xin fast ein Drittel der Hilfs-Hardware verwendet.«

Omo fiel ein wie ein Refrain, wohl das erste Mal, dass Nau Reynolt und die Sicherheit in solcher Übereinstimmung erlebte: »Und des Weiteren hätte das nicht passieren können, wenn der Pilotenverwalter und einige weitere privilegierte Verwalter nicht Notfall-Ressourcecodes benutzt hätten.« Sergeant Omos Blick huschte über die Bittsteller. Sie duckten sich unter dem Blick, die Aufsteiger furchtsamer als die von der Dschöng Ho. Missbrauch der gemeinschaftlichen Ressourcen. Das war die Ursünde. Nau lächelte in sich hinein. Brughel wäre noch Furcht erregender gewesen, doch Omo würde genügen.

Nau hob die Hand, und Stille breitete sich im Raum aus. »Ich verstehe, Hülsensergeant. Ich möchte einen Bericht von Ihnen und Direktor Reynolt über irgendwelche bleibenden Schäden, die sich infolge dieser…« — er wollte die Worte nicht wirklich benutzen -»Aktivitäten ergeben könnten.« Er schwieg noch einen Moment lang und trimmte seinen Gesichtsausdruck, als verberge er den Konflikt eines Gerechten, der die Wünsche von Individuen mit den langfristigen Bedürfnissen der Gemeinschaft in Übereinstimmung zu bringen versucht. Er spürte, wie ihm Qiwi die Hand drückte. »Pilotenverwalter, Ihnen ist klar, dass wir uns nicht offenbaren können?«

Xin sah völlig eingeschüchtert aus. »Ja, Hülsenmeister.«

»Sie vor allem müssten wissen, wie angespannt unsere Lage ist. Nach den Kämpfen waren wir knapp an Fokus und Personal. Nach dem Fäuleausbruch vor ein paar Wochen fehlen uns sogar noch mehr Fokussierte. Wir haben keine Großausrüstung, wenig Waffen und kaum Transportkapazität innerhalb des Systems. Wir könnten vielleicht imstande sein, eine Spinnenfraktion einzuschüchtern oder uns mit einer zu verbünden, aber die Risiken wären enorm. Unser sicherster Kurs ist der, den wir seit dem Diem-Massaker immer verfolgt haben: Wir müssen warten und lauern. Uns fehlen nur noch ein paar Jahre bis zum Informationszeitalter dieser Welt. Wenn es so weit ist, werden wir menschliche Automatik in die Datennetze der Spinnen einschleusen. Wenn es so weit ist, werden sie eine Zivilisation haben, die unsere Schiffe wiederherstellen kann — und die wir sicher steuern können. Bis dahin… bis dahin dürfen wir keine direkte Aktion wagen.«

Nau musterte jeden von den Bittstellern: Xin, Liao, Fong. Trinli saß ein Stück abseits, wie um zu zeigen, dass er versucht habe, die anderen davon abzubringen. Ezr Vinh hatte Freiwache, sonst wäre er gewiss hier. Nach Ritser Brughels Maßstäben waren sie alle Unruhestifter. Mit jeder Wache trieb ihre winzige Hülse hier bei L1 immer weiter von den Normen einer Aufsteiger-Gemeinschaft weg. Teils lag das an ihren verzweifelten Bedingungen, teils an der Assimilation durch die Dschöng Ho. Selbst nach der Niederlage wirkten die Haltungen der Krämer zersetzend. Ja, nach zivilisierten Standards waren diese Leute Unruhestifter — doch sie waren auch die Leute, die zusammen mit Qiwi die Mission möglich machten.

Einen Augenblick lang ergriff niemand das Wort. Aus Rita Liaos Augen quollen Tränen. Hammerfests mikroskopische Schwerkraft reichte nicht aus, sie die Wangen hinab zu ziehen. Jau Xin senkte unterwürfig den Kopf. »Ich verstehe, Hülsenmeister. Wir ziehen die Petition zurück.«

Nau nickte huldvoll. Es würde keine Bestrafungen geben, und etwas Wichtiges war deutlich gemacht worden.

Dann klopfte ihm Qiwi auf die Hand. Sie grinste! »Warum also das nicht als Test für das benutzen, was wir später tun werden? Es ist wahr, wir können uns nicht offenbaren, aber schau doch, was Jau fertiggebracht hat. Zum ersten Mal benutzen wir wirklich das geheime Nachrichtensystem der Spinnen. Ihrer Automatik fehlen vielleicht noch zwanzig Jahre bis zum Informationszeitalter, aber sie treiben die Computer sogar schneller voran als im irdischen Zeitalter der Morgenröte. Irgendwann einmal werden Annes Übersetzer beginnen, Information zurück in ihre Systeme einzuschleusen, warum also nicht gleich damit beginnen? Jedes Jahr sollten wir ein bisschen mehr eingreifen und ein bisschen mehr experimentieren.«

Hoffnung leuchtete in Xins Augen auf, doch mit seinen Worten war er noch auf dem Rückzug. »Aber sind sie schon so weit? Diese Wesen haben voriges Jahr gerade erst ihren ersten Satelliten gestartet. Sie haben keine weit verbreiteten Orternetze — oder überhaupt Orternetze. Außer dieser kläglichen Verbindung von Weißenberg zum Landeskommando haben sie nicht einmal ein Computernetz. Wie können wir die Information in ihr System kriegen?«

Ja, wie?

Aber Qiwi lächelte immer noch. Sie sah dabei so jung aus, fast wie in den ersten Jahren, als er sie bekommen hatte. »Du sagtest, der Einklang hat Nachrichten der Sinnensgleichen abgefangen, die sich auf die Entführung beziehen?«

»Klar. Daher wissen wir, was vor sich geht. Aber der Geheimdienst des Einklangs kann die Codes der Sinnesgleichen nicht knacken.«

»Versuchen sie es?«

»Ja. Sie lassen ein paar von ihren größten Computern — so groß wie Häuser — an beiden Enden der Mikrowellen-Verbindung Weißenberg-Landeskommando wie irre arbeiten. Sie würden Jahrmillionen brauchen, um auf die richtigen Schlüssel zu kommen… Oh.« Xins Augen wurden noch größer. »Können wir das tun, ohne dass sie etwas merken?«

Nau erfasste es fast im selben Moment. Er fragte die Luft: »Hintergrund. Wie erzeugen sie Testschlüssel?«

Nach einer Sekunde antwortete eine Stimme: »Eine Pseudo-Zufallssuche, modifiziert durch das, was sie über die Algorithmen der Sinnesgleichen wissen.«

Qiwi las etwas in ihrer Datenbrille. »Anscheinend experimentiert der Einklang mit über die Verbindung verteilten Berechnungen. Das ist nicht ernst zu nehmen, denn sie haben im ganzen Netz keine zehn Computer. Aber wir haben ein Dutzend Schnüffelsatelliten, die über den Richtfunkstrecken ihrer Mikrowellenverbindung vorbeikommen. Es wäre einfach, das, was zwischen den Stationen hin und her geht, umzumodeln — auf die Weise wollten wir sowieso unsere ersten Daten einschmuggeln. Diesmal werden wir nur geringfügige Änderungen anbringen, wenn sie Versuchsschlüssel übertragen. Vielleicht nur hundert Bits, sogar einschließlich des Rahmens.«

Reynolt: »In Ordnung. Selbst wenn sie es später untersuchen, würde es eine plausible zufällige Abweichung sein. Machen Sie das mit mehr als einem Schlüssel, und ich würde sagen, es ist zu gefährlich.«

»Ein Schlüssel würde genügen, wenn es der für die richtige Nachricht ist.«

Qiwi schaute Nau an. »Tomas, es könnte klappen. Das Risiko ist gering, und wir müssten ohnehin mit aktiven Maßnahmen experimentieren. Du weißt, dass sich die Spinnen immer mehr für Raumfahrt interessieren. Vielleicht werden wir ziemlich bald eine Menge herumbosseln müssen.« Sie klopfte ihm auf die Schulter, beschwatzte ihn unverblümter als je zuvor. Egal, wie heiter sie wirkte, war Qiwi doch emotional in der Sache engagiert.

Aber sie hat Recht. Dies könnte die ideale erste Sendung für Annes Blitzköpfe sein. Zeit, richtig großzügig zu sein. Nau erwiderte das Lächeln. »Sehr gut, meine Damen und Herren. Sie haben mich überzeugt. Anne, bereiten Sie die Mitteilung eines Schlüssels vor. Ich denke, Verwalter Xin kann Ihnen die entscheidende Nachricht zeigen. Geben Sie dieser Operation für die nächsten vierzig Kilosekunden höchste Priorität — und rückwirkend für die letzten vierzig.« Sodass Xin und Liao und die anderen offiziell nichts zu befürchten hatten.

Sie jubelten nicht, doch Nau spürte Begeisterung und demütige Dankbarkeit, als die Bittsteller aufstanden und aus dem Raum schwebten.

Qiwi setzte an, ihnen zu folgen, machte dann kehrt und küsste Nau auf die Stirn. »Danke, Tomas.« Und dann war sie mit den anderen fort.

Er wandte sich dem einzigen verbliebenen Besucher zu, Kal Omo. »Haben Sie ein Auge auf sie, Sergeant. Ich fürchte, von jetzt an wird alles komplizierter sein.«


Während des Großen Krieges war es dreimal vorgekommen, dass Hrunkner Unnerbei tagelang hintereinander nicht hatte schlafen können, jedes Mal unter Beschuss. Diese eine Nacht war schlimmer. Gott allein wusste, wie schlimm es für die Generalin und Scherkaner war. Nachdem die Telefonverbindungen installiert waren, verbrachte Unnerbei die meiste Zeit in dem vereinten Befehlsstand, vom Einklang-Sicherheitsraum ein Stück den Korridor entlang. Er arbeitete mit der örtlichen Polizei und Untersiedels Nachrichtengruppe zusammen und versuchte, den Gerüchten nachzuspüren, die in der Stadt kursierten. Die Generalin war gekommen und gegangen, ein Bild konzentrierter Anspannung. Doch Unnerbei sah, dass seine alte Chefin ihre Grenze erreicht hatte. Sie regelte zu viel, schaltete sich in unteren und höheren Ebenen ein. Verdammt, sie war drei Stunden weg gewesen, mit einer der Einsatzgruppen unterwegs.

Einmal ging er nach Unterberg, um nach den Leuten zu sehen. Scherk war im Nachrichtenlabor vergraben, direkt unter der Hügelkuppe. Schuld lag auf ihm wie Braunfäule, dämpfte den glücklichen Geist des Genies, den er sonst in jedes Problem einbrachte. Doch der Kupp bemühte sich, ersetzte sprudelnden Enthusiasmus durch Besessenheit. Er war heftig mit seinen Computern zu Gange, zog alles heran, was er konnte. Was immer er auch tat, für Unnerbei sah es nach Unsinn aus.

»Das ist Mathe, keine Technik, Hrunk.«

»Ja, Zahlentheorie.« Das kam von dem schlampig aussehenden Doktor, dessen Labor das war. »Wir suchen nach…« Er beugte sich vor, anscheinend in den Mysterien seiner eigenen Programme verloren. »Wir versuchen, die verschlüsselten Meldungen zu knacken.«

Anscheinend sprach er von den Signalbruchstücken, die unmittelbar nach der Entführung aufgefangen worden waren und aus Weißenberg kamen. Unnerbei sagte: »Aber wir wissen nicht einmal, ob das von den Entführern stammt.« Und wenn ich die Sinnesgleichen wäre, würde ich einmalige Codewörter verwenden, keine Verschlüsselung.

Jaybert Soundso zuckte die Achseln und fuhr mit seiner Arbeit fort. Auch Scherkaner sagte nichts, doch sein Anblick war desolat. Das war das Beste, was er tun konnte.

Also floh Unnerbei zurück zu seinem vereinten Befehlsstand, wo es wenigstens eine Illusion von Fortschritt gab.


Schmid kam eine Stunde nach Sonnenaufgang zurück. Sie sah rasch die negativen Berichte durch, ihre Bewegungen hatten etwas Nervöses. »Ich habe Belga in der Stadt bei der örtlichen Polizei gelassen. Verdammt, ihr Sprechgerät ist nicht viel besser als das der Hiesigen.«

Unnerbei rieb sich die Augen und versuchte vergebens, einen Glanz hineinzubringen, den nur ein guter Schlaf liefern konnte. »Ich fürchte, Oberst Untersiedel mag all diese schicken Apparate nicht besonders.« In einer anderen Generation wäre Belga gut zurechtgekommen. In dieser — nun ja, Belga Untersiedel war nicht die Einzige, die Schwierigkeiten mit der großartigen neuen Zeit hatte.

Viktoria Schmid ließ sich neben ihrem alten Feldwebel nieder. »Aber sie hat uns den Rücken freigehalten. Gibt es Neues von Rachner?«

»Er ist drüben im Einklang-Sicherheitsraum.« In Wahrheit hatte sich der junge Major Unnerbei nicht anvertraut.

»Er ist sich also sicher, dass das eine Operation der Sinnesgleichen ist. Ich weiß nicht. Sie haben ihre Finger drin… aber wissen Sie, dass der Museumsangestellte ein Trad ist? Und die Kupp, die den Zulieferbereich des Museums betreut, ist verschwunden. Belga hat festgestellt, dass sie auch eine Trad ist. Ich glaube, die hiesigen Trads stecken da bis zu den Schultern drin.« Ihre Stimme war sanft, fast nachdenklich. Später, viel später, sollte sich Hrunkner erinnern: Die Stimme der Generalin war sanft, aber sie saß da, jedes Glied angespannt.

Leider war Hrunkner Unnerbei in seiner eigenen Welt gefangen. Die ganze Nacht über hatte er die Berichte verfolgt und in die windige Dunkelheit hinausgestarrt. Die ganze Nacht hindurch hatte er zu den kältesten Tiefen der Erde gebetet, für Klein Viktoria, Gokna, Brent und Jirlib. Er sagte betrübt, fast zu sich selbst: »Ich habe gesehen, wie sie zu richtigen Leuten herangewachsen sind, Kupplis, die jeder gern haben konnte. Doch, sie haben Seelen.«

»Was meinen Sie?« Die Schärfe in Viktorias Stimme drang nicht durch seine Erschöpfung. Er hatte später jahrelang Zeit, an dieses Gespräch zurückzudenken, an diesen einen Augenblick, sich Wege auszumalen, wie er die Katastrophe hätte verhindern können. Doch die Gegenwart spürte nicht den verzweifelten Blick der Zukunft, und er redete weiter drauflos: »Es ist nicht ihre Schuld, dass sie zur Unzeit zur Welt gebracht wurden.«

»Es ist nicht ihre Schuld, dass meine schlüpfrigen modernen Ideale sie das Leben gekostet haben?« Schmids Stimme war ein schneidendes Zischen, etwas, das nicht einmal Sorge und Erschöpfung von Unnerbeis Aufmerksamkeit abschirmen konnten. Er sah, dass seine Generalin zitterte.

»Nein, ich…« Aber es war endgültig, unwiederbringlich zu spät.

Schmid war aufgesprungen. Sie ließ einen einzelnen langen Arm wie eine Peitsche über seinen Kopf schießen. »Hinaus!«

Unnerbei stolperte zurück. Sein rechtes Seiten-Gesichtsfeld war ein funkelnder Strahl kunterfarbenen Schmerzes. In allen anderen Richtungen sah er Offiziere und Mannschaften mit dem Ausdruck schockierter Überraschung.

Schmid kam auf ihn zu. »Trad! Verräter!« Ihre Hände stießen bei jedem Wort vor, kaum, dass sie tödliche Schläge zurückhielt. »Jahrelang haben Sie sich als Freund verstellt, aber immer auf uns herabgesehen und uns gehasst. Genug!« Sie blieb stehen und brachte ihre Arme wieder an die Seiten. Und Hrunkner wusste, dass sie ihre Wut im Zaum hatte, und was sie jetzt sagte, war kalt und ruhig und überlegt… und es schmerzte noch mehr als die Wunde quer über seine Augen. »Nehmen Sie Ihr moralisches Gepäck und gehen Sie! Jetzt!«

Diesen Anblick hatte er schon einmal gesehen, im Großen Krieg, als sie mit dem Rücken zur Wand gestanden hatten und sie trotzdem nicht aufgegeben hatte. Es würde keine Diskussion geben, kein Nachgeben. Unnerbei senkte den Kopf, würgte an Worten, die zu sagen ihn verzweifelt verlangte. Es tut mir Leid. Ich wollte nichts Böses. Ich liebe Ihre Kinder. Doch es war zu spät, als dass Worte noch etwas hätten ändern können. Hrunkner wandte sich um, ging rasch an dem schockiert schweigenden Personal vorbei und zur Tür hinaus.


Als Rachner Thrakt hörte, dass Schmid wieder im Hause war, verfügte er sich in den vereinten Befehlsstand. Dort hätte er die ganze Nacht über sein müssen, nur: Ich will verdammt sein, wenn ich meine Codes dem Inlandsdienst und der Polizei offenlege. Der getrennte Betrieb hatte funktioniert, Gott sei Dank. Er hatte gewichtige Nachrichten für die Chefin.

Er begegnete Hrunkner Unnerbei, der in die Gegenrichtung ging. Der alte Feldwebel hatte seine übliche straffe Haltung verloren. Er ging ungleichmäßig den Korridor entlang, und eine lange, milchige Schramme überzog die rechte Seite seines Kopfes.

Er winkte dem Feldwebel zu. »Alles in Ordnung mit Ihnen?« Doch Unnerbei ging an ihm vorüber und ignorierte Rachner, wie ein geköpfter Osprech vielleicht den Bauern ignoriert. Fast hätte er kehrtgemacht, um dem Kupp zu folgen, doch ihm fiel seine eigene dringende Angelegenheit ein, und er setzte den Weg zum vereinten Befehlsstand fort.

Der Raum war still wie eine Tiefe… oder ein Friedhof. Angestellte und Analysetechniker saßen reglos da. Als Rachner quer durchs Zimmer auf General Schmid zuging, begann das Rasseln der Arbeit von neuem und klang sonderbar selbstbewusst.

Schmid blätterte durch eine der Operationsmeldungen, ein klein wenig zu schnell, um viel davon aufnehmen zu können. Sie winkte ihn zu dem Gitter neben ihr. »Untersiedel sieht Hinweise auf Verwicklungen von Hiesigen, aber wir haben noch immer nichts Handfestes.« Ihr Ton war locker, sie leugnete oder ignorierte die Stille einen Augenblick zuvor. »Haben Sie etwas gefunden? Irgendeine Reaktion von unseren Sinnesgleichen ›Freunden‹?«

»Jede Menge Reaktionen, Chefin. Sogar das Zeug an der Oberfläche ist merkwürdig. Etwa eine Stunde, nachdem die Geschichte von der Entführung durchkam, drehten die Sinnesgleichen ihre Propaganda hoch — vor allem das Zeug, das an die ärmeren Nationalstaaten adressiert ist. Es ist die übliche ›Mord nach dem Dunkel‹-Panikmache, aber intensiver als üblich. Sie sagen, die Entführung sei die Verzweiflungstat anständiger Leute, denen bewusst ist, dass in Einklang traditionsfremde Elemente die Macht übernommen haben…«

Alle schwiegen. Viktoria Schmid sagte ein wenig scharf: »Ja, ich weiß, was sie sagen. Ich hatte erwartet, dass sie so auf die Entführungen reagieren würden.«

Vielleicht hätte er mit der großen Neuigkeit beginnen sollen. »Ja, Frau General, obwohl sie ein bisschen zu schnell reagiert haben. Unsere üblichen Quellen hatten davon im Voraus nichts gehört, aber jetzt — nun ja, es sieht so aus, als sei die Entführung nur ein Symptom davon, dass die Fraktion der Äußersten Maßnahmen die entscheidende Kontrolle innerhalb der Sinnesgleichen erlangt hat. Es sind nämlich gestern mindestens fünf von den Tiefsten hingerichtet worden, ›Gemäßigte‹ wie Klingtram und Sangst und auch — leider — Unfähige wie Drubi. Die Übrigen sind schlau und noch viel risikobereiter als zuvor…«

Schmid lehnte sich verblüfft zurück. »Ich… verstehe.«

»Wir wissen es seit höchstens einer halben Stunde, Frau General. Ich habe alle Feldanalytiker drangesetzt. Wir sehen keine militärischen Entwicklungen im Zusammenhang damit.«

Zum ersten Mal schien sie ihm volle Aufmerksamkeit zu widmen. »Das ist logisch. Wir sind Jahre von dem Punkt entfernt, wo sie von einem Krieg Nutzen hätten.«

»Richtig, Chefin. Kein Krieg, nicht jetzt. Die große Strategie der Sinnesgleichen muss immer noch darauf abzielen, die entwickelte Welt vor dem Dunkel so weit wie möglich zu zermürben und dann gegen alle zu kämpfen, die noch wach sind… Frau General, wir haben auch weniger sichere Informationen.« Gerüchte, nur dass einer seiner am besten getarnten Agenten gestorben war, um sie durchgeben zu können. »Es sieht so aus, dass Pedure jetzt bei den Sinnesgleichen die Chefin der Auslandsoperationen ist. Sie erinnern sich an Pedure. Wir hielten sie für die Vertreterin einer unteren Einsatzebene. Anscheinend ist sie klüger und hat mehr Blut an den Händen, als wir ahnten. Sie ist wahrscheinlich für diesen Coup verantwortlich. Vielleicht ist sie die Erste unter den Tiefsten. Jedenfalls ist sie überzeugt, dass Sie und insbesondere Scherkaner Unterberg der Schlüssel für den strategischen Erfolg des Einklangs sind. Sie umzubringen, wäre schwierig, und Ihren Gatten haben Sie fast ebenso stark geschützt. Ihre Kinder zu entführen, eröffnet eine…«

Die Hände der Generalin trommelten ein Stakkato auf den Kartentisch. »Reden Sie weiter, Major.«

Tun wir so, als sprächen wir über jemandes anders Kupplis. »Chefin, Scherkaner Unterberg hat oft genug im Rundfunk von seinen Gefühlen gesprochen, wie teuer ihm jedes Kind ist. Was ich jetzt erfahren habe« — von dem Agenten, der seine Tarnung aufgegeben hatte, um die Nachricht durchzugeben —, »ist, dass Pedure fast keine Nachteile bei einer Entführung Ihrer Kinder sieht, und alle möglichen Vorteile. Bestenfalls hoffte sie, alle Ihre Kinder aus dem Einklang herauszuholen und dann im Stillen mit Ihnen und Ihrem Gatten zu spielen — vielleicht jahrelang. Sie kalkuliert, dass Sie Ihre gegenwärtige Arbeit nicht länger tun können, wenn Sie diesen zusätzlichen Konflikt am Bein haben.«

Schmid begann: »Wenn sie eins nach dem anderen umgebracht würden, uns Stücke von ihnen zugeschickt würden…« Ihr Stimme erstarb. »Sie haben Recht, was Pedure angeht. Die versteht, wie das mit Scherkaner und mir gehen würde. Gut, ich möchte, dass Sie und Belga…«

Eins von den Tischtelefonen begann zu rattern, eine fest installierte Direktverbindung. Viktoria Schmid ließ ein Paar lange Arme über den Tisch schnellen und griff nach dem Hörer. »Schmid.«

Einen Augenblick lang hörte sie zu, dann pfiff sie leise. »Was haben sie? Aber… Gut, Scherkaner, ich glaube dir. Ja, es war richtig, dass Jaybert es an Untersiedel weitergeleitet hat.«

Sie legte auf und sagte zu Thrakt: »Scherkaner hat den Schlüssel gefunden. Er hat die letzte Nacht abgehörten Funksprüche entschlüsselt. Es sieht so als, als würden die Kupplis in der Kaufnadel festgehalten, in der Stadt.«

Jetzt begann das Telefon bei Thrakt zu klingeln. Er stach eine Handspitze in die Mithörbuchse und sagte: »Hier Thrakt.«

Belga Untersiedels Stimme klang schwach und weit vom Mikrofon entfernt. »Ach so? Na schön, bringt sie zum Schweigen!« Dann lauter: »Hören Sie, Thrakt? Ich habe hier unten alle Hände voll zu tun. Jetzt kriege ich einen Anruf von Ihren Tech-Freaks, die Opfer würden auf der oberen Etage der Kaufnadel festgehalten. Meint ihr Kupps das ernst?«

Thrakt: »Das sind nicht meine Techs. Es ist eine höchst wichtige Information, Oberst, woher sie auch stammt.«

»Verdammt, ich hatte schon eine echte Spur. Die Stadtpolizei hat eine Seidenfahne entdeckt, die sich am Turm der Bank von Weißenberg festgehakt hat.« Das war etwa eine halbe Meile von der Kaufnadel entfernt. »Es war der Jackenstoff, den uns Niederer beschrieben hat.«

Schmid beugte sich nahe ans Mikrofon heran und sagte: »Belga, war da irgendetwas dran befestigt? Eine Nachricht?«

Es folgte ein Moment des Zögerns, und Thrakt konnte sich vorstellen, wie Belga Untersiedel ihr Temperament zügelte. Belga hatte keine Bedenken, sich bei ihren Kollegen über all die ›blöde Technik‹ zu beklagen, doch jetzt war Schmid an der Strippe.

»Nein, Chefin. Es war ziemlich zerhäckselt. Die Techs könnten mit der Kaufnadel Recht haben, aber dort ist viel Betrieb. Ich werde eine Gruppe in die unteren Etagen schicken, die so tun, als wären sie Kunden. Aber…«

»Gut. Keinen Alarm: erst herankommen.«

»Chefin, ich glaube, der Turm, wo sie die Fahne gefunden haben, kommt eher in Frage. Er steht größtenteils leer und…«

»Schön. Kümmert euch um beide.«

»Ja, Frau General. Das Problem ist die Stadtpolizei. Die sind schon von selbst losgefahren, mit Sirenen und allen Drum und Dran.«

Letzte Nacht hatte Viktoria Schmid Thrakt einen Vortrag über die Macht der örtlichen Polizei gehalten. Jetzt eben sagte sie: »Ach so? Na schön, bringt sie zum Schweigen! Ich übernehme die Verantwortung.«

Sie winkte Thrakt zu. »Wir fahren in die Stadt.«

Einunddreissig

Shynkrette ging an ihrem ›Befehlsstand‹ auf und ab. Konnte sie nun von Glück reden? Diese Mission war auf hundert Tage angelegt gewesen, langsames Anschleichen und plötzlicher Sprung. Stattdessen hatten sie ihre Ziele keine zehn Tage nach der Infiltration einkassiert. Die ganze Operation war eine unglaubliche Kombination günstiger Zufälle und vermasselter Aktionen. Was blieb also? Befördert wurde man, wenn man aus Situationen in der wirklichen Welt Erfolge machte, und Shynkrette hatte Schlimmeres überstanden. Dass Barker und Fremm zerquetscht worden waren, war Pech und Unaufmerksamkeit gewesen. Der vielleicht schlimmste Fehler war es gewesen, die Zeugen zurückzulassen — zumindest der schlimmste Fehler, der ihr selbst angekreidet werden konnte. Andererseits hatten sie sechs Kinder, mindestens vier davon waren ihre Ziele. Die Flucht aus dem Museum war glatt gegangen, aber das Umsteigen im Flugplatz war schiefgegangen. Die hiesigen Sicherheitskräfte von Einklang waren einfach eine Spur zu schnell — vielleicht wiederum wegen der überlebenden Zeugen.

Dieser Bürobereich umgab die Kaufnadel in Höhe des fünfundzwanzigsten Stockwerks. Das verschaffte ihr einen exzellenten Blick über die Aktivitäten in der Stadt, ausgenommen direkt unten. In gewissem Sinne saßen sie hier vollständig in der Falle — wer hatte sich je verborgen, indem er sich hoch in den Himmel klemmte? Andererseits… Shynkrette blieb hinter ihrem Gruppensergeanten stehen. »Was sagt Trivelle, Denni?«

Der Sergeant nahm den Hörer vom Kopf. »Im Foyer im Erdgeschoss ist ungefähr der durchschnittliche Betrieb. Er hat ein paar geschäftliche Besucher. Ein altes Huhn und ein paar Kupps von der vorigen Generation. Sie wollen Bürofläche mieten.«

»In Ordnung. Sie können sich die Suiten im dritten Stock ansehen. Wenn sie irgendetwas anderes sehen wollen, können sie morgen wiederkommen.« Morgen, so die Tiefe wollte, würden Shynkrette und ihre Gruppe längst weg sein. Sie wären schon am vergangenen Abend verschwunden, hätte es nicht das Unwetter gegeben. Die Spezialeinsatztruppen der Sinnesgleichen konnten Dinge mit Hubschraubern anstellen, die sich das Einklang-Militär nicht träumen ließ… Wenn Glück und Tüchtigkeit noch ein, zwei Inge anhielten, würde die Gruppe mit ihrer Beute wieder daheim sein. In der Lehre der Sinnesgleichen hatten Morde und Enthauptungsschläge immer eine große Rolle gespielt. Mit diesem Einsatz schrieb die Geehrte Pedure ein neues und experimentelles Kapitel. Tiefe, was würde Pedure mit diesen sechs Kindern anfangen. Shynkrettes Geist schreckte vor dem Gedanken zurück. Sie war seit dem Großen Krieg immer im inneren Kreis von Pedure gewesen und war entsprechend aufgestiegen. Doch sie machte lieber für die Geehrte die Außenarbeiten, als dass sie mit ihr in den Folterkammern der Sinnesgleichen war. Die Dinge konnten so leicht… umgedreht werden… in diesen Kammern. Und der Tod konnte dort so langsam kommen…

Shynkrette ging von Viertel zu Viertel, durchmusterte die Straßen mit einem Spiegelvergrößerer… Verdammt, ein Zug Polizeifahrzeuge mit blinkenden Rundumleuchten. Sie erkannte die spezielle Ausrüstung dieser LKWs. Das war die Gruppe ›Schwere Waffen‹ der Polizei. Ihr großer Erfolg bestand darin, dass sie Verbrechern solche Angst einjagten, dass die sich ergaben. Die Blinkleuchten — und die Sirenen, die sie in einer Minute hören würde — gehörten zum beabsichtigten Eindruck. In diesem Fall hatte die Polizei einen kapitalen Fehler gemacht. Shynkrette lief bereits den Ring von Büros entlang zurück und zog im Laufen ihre kleine Schrotflinte von der Schulter.

»Gruppensergeant! Wir gehen nach oben.«

Denni hob überrascht den Kopf. »Trivelle sagt, er hört Sirenen, aber sie scheinen nicht hierher zu kommen.«

Ein Zufall? Hatte die Polizei vielleicht noch jemanden, vor dem sie mit ihren Kanonen herumfuchteln wollte? Shynkrette blieb einen Moment lang unschlüssig. Denni hob eine Hand, fuhr fort: »Aber er sagt, er glaubt, drei von den Alten haben die Verkaufsführung verlassen, sind vielleicht auf die Toilette gegangen.«

Das war’s dann mit der Unschlüssigkeit; Shynkrette bedeutete dem Sergeanten mit einer Geste, aufzustehen. »Sag Trivelle, er soll sich dünn machen«, wenn er kann. »Wir sind jetzt bei Alt Fünf.« Es gab immer einen Alternativplan, das war der finstere Scherz bei Sondereinsätzen. Sie hatten eine Warnung erhalten. Sehr wahrscheinlich konnten sie das Gebäude verlassen, im Meer der Zivilisten untertauchen. Korporal Trivelle hatte schlechtere Chancen, aber er wusste so wenig, dass es keine Rolle spielen würde. Die Mission würde nicht in Peinlichkeit enden. Wenn sie sich um ein letztes Stück Arbeit kümmerten, konnte sie vielleicht sogar als Teilerfolg gelten. Während sie die Zentraltreppe hinaufjagten, zog Denni seine eigene Schrotflinte und sein Kampfmesser. Erfolg bei Alt 5 bedeutete, einen kleinen Umweg zu machen, lange genug, um die Kinder zu töten. Lange genug, damit es richtig übel aussah. Pedure glaubte anscheinend, das würde jemanden auf der Einklang-Seite den Blick vernebeln. Für Shynkrette klang das verrückt, doch sie kannte nicht alle Fakten. Egal. Gegen Ende des Krieges hatte sie geholfen, eine schlafende Tiefe zu massakrieren. Nichts konnte hässlicher als das sein, aber die gestohlenen Schätze hatten das Wiedererstehen der Sinnesgleichen finanziert.


Den größten Teil des Morgens über hatte Brent flach auf dem Metallboden gelegen. Er sah so entmutigt aus, wie sich Viki und Gokna fühlten. Jirlib wenigstens hatte die Hände voll zu tun, indem er versuchte, die beiden Babies zu trösten. Die Kleinen waren jetzt total und lauthals unglücklich und wollten nichts mit den Schwestern zu tun haben. Das letzte Mal hatten sie alle am vorigen Nachmittag etwas zu essen erhalten.

Es blieben nicht einmal mehr viele Pläne zu schmieden. Im morgendlichen Zwielicht war es klar gewesen, dass ihre Rettungsflagge fort war. Ein zweiter Versuch riss sich in weniger als dreißig Minuten los. Danach hatten Gokna und Viki drei Stunden damit zugebracht, die Spielschnur in komplizierten Mustern durch die Rohrhalterungen über dem Eingang zu flechten. Brent hatte sich dabei wirklich nützlich gemacht — er war so gut bei Knoten und Mustern. Wenn jemand Feindliches durch die Tür kam, würde er einen Schlund voll unangenehme Dinge kriegen. Doch wenn ihre Besucher bewaffnet wären, wie könnte das ausreichen? An diesem Punkt hatte sich Brent von ihrer Diskussion zurückgezogen und sich platt auf den kalten Boden gelegt.

Über ihnen kroch ein schmales Rechteck von Sonnenlicht Stück für Stück über die hohen Wände ihres Gefängnisses. Es musste fast Mittag sein. »Ich höre Sirenen«, sagte Brent unvermittelt, nachdem er eine Stunde lang schweigend dagesessen hatte. »Legt euch dicht hin und hört.«

Gokna und Viki taten es. Jirlib beruhigte die Babies, soweit es ging.

»Ja, ich höre sie.«

»Das sind Pofeei-Sirenen, Viki. Hörst du das Bum-bum?«

Gokna sprang auf, rannte schon zur Tür.

Viki blieb einen Augenblick länger am Boden. »Sei still, Gokna!«

Und sogar die Babies waren still. Es gab andere Geräusche: das schwere Rumpeln von Ventilatoren irgendwo weiter unten im Gebäude, der Straßenlärm, den sie früher gehört hatten… aber jetzt das Stakkato vieler Füße, die Treppen hinaufrannten.

»Das ist nahe«, sagte Brent.

»Sie… sie kommen hierher.«

»Ja.« Brent machte eine Pause in seiner üblichen langweiligen Art. »Und ich höre andere kommen, leiser oder weiter weg.«

Es spielte keine Rolle. Viki lief zur Tür, kletterte hinter Gokna nach oben. Was sie planten, war ziemlich erbärmlich, doch am besten und am schlimmsten daran war, dass ihnen keine andere Wahl blieb. Vorher hatte Jirlib eingewandt, er sei größer, dass er sich von oben herabschwingen sollte. Ja, aber er war nur ein Ziel, und jemand musste die Babies aus der Schusslinie halten. Also standen nun Gokna und Viki an der Wand, anderthalb Meter übet der Tür, an Brents schlaues Seilgewebe geklammert.

Brent stand auf, rannte zur rechten Seite der Tür. Jirlib hielt sich ein gutes Stück seitwärts entfernt. Er hielt die Kinder eng in den Armen und versuchte nicht mehr, sie zum Schweigen zu bringen. Doch jetzt, auf einmal, waren sie still. Vielleicht verstanden sie, was vorging. Vielleicht war es etwas Instinktives.

Durch die Wand hindurch spürte Viki jetzt die rennenden Schritte. Zwei Leute. Einer sagte leise etwas zum anderen. Sie verstand die Worte nicht, erkannte aber die Anführerin der Entführer. Ein Schlüssel klapperte im Schloss. Auf dem Boden zu ihrer Linken setzte Jirlib die Babies sacht hinter sich ab. Sie blieben still, völlig reglos — und Jirlib wandte sich wieder der Tür zu, sprungbereit. Viki und Gokna pressten sich enger gegen die Wand. Sie hatten so viel Spannkraft aus dem Seil geholt, wie sie nur wagten. Sie wechselten einen letzten Blick. Sie hatten die anderen in diese Bredouille gebracht. Sie hatten das Leben eines unschuldigen Unbeteiligten aufs Spiel gesetzt, um freizukommen. Jetzt war die Reihe an ihnen.

Die Tür glitt auf, Metall strich über Metall. Brent spannte sich zum Sprung. »Bitte tut mir nichts«, sagte er, die Stimme so mürrisch monoton wie immer. Brent hätte nicht schauspielern können, und wenn es seine Seele gegolten hätte, doch auf sonderbare Art klang dieser Tonfall nach jemandem, der vor Angst keines Gedankens mehr fähig war.

»Niemand will euch etwas tun. Wir wollen euch an einen besseren Ort bringen und euch etwas zu essen besorgen. Los, kommt raus!« Die Anführerin klang so vernünftig wie immer. »Kommt schon!«, ein bisschen schärfer. Glaubte sie, sie könnte sie alle in den Sack stecken, ohne sich auch nur die Jacke zu zerknittern? Ein, zwei Sekunden war es still… Viki hörte einen leichten Seufzer der Irritation. Plötzlich kam alles in Bewegung.

Gokna und Viki sprangen so heftig herab, wie sie nur konnten. Sie waren nur anderthalb Meter hoch. Ohne die Schnur hätten sie sich die Köpfe am Boden zerschmettert. Stattdessen schnellte die elastische Schnur sie kopfunter durch die offene Tür.

Schüsse peitschten an ihr vorüber, auf Brents Stimme zu.

Viki erhaschte einen Blick auf Köpfe und Arme und eine Art Gewehr. Sie prallte gegen die Anführerin in hinteren Teil ihres Rückens, schmetterte sie platt zu Boden. Das Gewehr rutschte weg. Doch der andere Kupp stand einen Meter weiter hinten. Gokna traf ihn in die harten Teile der Schultern, versuchte sich festzukrallen. Doch der Gegner schüttelte sie ab. Ein einziger Feuerstoß aus seinem Gewehr zerriss Goknas Mitte. Chitinsplitter und Blut spritzten auf die Wand hinter ihr.

Und dann war Brent über ihm.

Die unter Viki bäumte sich auf und schlug Jirlib gegen den Türbalken. Danach war alles sehr dunkel und fern. Irgendwo hörte sie noch mehr Schüsse, weitere Stimmen.

Zweiunddreissig

Viki war nicht schwer verletzt, eine geringe I Menge innerer Blutungen, die die Ärzte leicht unter Kontrolle halten konnten. Jirlib hatte eine Menge Dellen und ein paar verdrehte Arme abbekommen. Den armen Brent hatte es schwerer erwischt.

Als dieser fremde Major Thrakt mit seinen Fragen fertig war, besuchten Viki und Jirlib Brent in der Krankenstation des Hauses. Papa war schon da, saß neben dem Bett. Sie waren fast seit drei Stunden frei; Papa sah immer noch wie betäubt aus.

Brent lag in tiefen Polstern, ein Wasserröhrchen in Reichweite seiner Esshände. Er hob den Kopf, als sie eintraten, und winkte ein schwaches Lächeln. »Mir geht’s gut.« Nur zwei gesplitterte Beine und ein paar Schroteinschüsse.

Jirlib klopfte ihm sacht auf die Schultern.

»Wo ist Mutter?«, fragte Viki.

Papa machte eine ungewisse Kopfbewegung zur Seite. »Sie ist im Haus. Sie hat versprochen, dass sie euch heute Abend besucht. Es ist nur eben so viel passiert. Ihr wisst, dass das nicht bloß ein paar Verrückte waren, die das getan haben, ja?«

Viki nickte. Es gab mehr Sicherheitstypen im Haus als je zuvor und sogar ein paar uniformierte Soldaten draußen. Major Thrakts Leute hatten einen Haufen Fragen nach den Entführern gehabt, ihren Gewohnheiten, wie sie sich zueinander verhielten, ihre Wortwahl. Sie versuchten sogar, Viki zu hypnotisieren, um das letzte Quäntchen Erinnerung herauszupressen. Sie hätte ihnen die Mühe ersparen können. Viki und Gokna hatten jahrelang versucht, einander zu hypnotisieren — ohne jeden Erfolg.

Kein einziger Entführer hatte den Kampf überlebt; Thrakt ging davon aus, dass mindestens eine sich umgebracht hatte, um der Gefangenschaft zu entgehen.

»Die Generalin muss herausfinden, wer hinter der Sache steht und was sich dadurch an der Art verändert, wie der Einklang seine Feinde betrachtet.«

»Es waren die Sinnesgleichen«, sagte Viki tonlos. Sie hatte in Wahrheit keine Beweise außer dem militärischen Verhalten der Entführer. Doch Viki las die Zeitungen wie sonst einer, und Papa redete genug über die Risiken bei der Eroberung des Dunkels.

Unterberg zuckte bei Vikis Behauptung die Achseln. »Wahrscheinlich. Die Hauptsache für die Familie ist, dass sich die Dinge verändert haben.«

»Ja.« Vikis Stimme brach. »Papa! Natürlich haben sich die Dinge verändert; wie könnten sie jemals wieder sein wie früher?«

Jirlib senkte den Kopf, bis er schlapp auf Brents Gitter lag.

Unterberg schien in sich zusammenzusinken. »Kinder, es tut mir so Leid. Ich wollte euch nicht wehtun. Ich wollte nicht, dass…«

»Papa, es waren Gokna und ich, die sich aus dem Haus geschlichen haben… Sei still, Jirlib. Ich weiß, dass du der älteste bist, aber wir konnten dich immer um den Finger wickeln.« Das stimmte. Manchmal benutzten die Schwestern das Ego ihres Bruders, manchmal seine intellektuellen Interessen — wie bei der Verwerf-Ausstellung. Manchmal verließen sie sich einfach auf seine Zuneigung zu den kleinen Schwestern. Und Brent hatte seine eigenen Schwächen. »Es waren Gokna und ich, die das möglich gemacht haben. Wenn Brent nicht im Museum angegriffen hätte, wären wir jetzt alle tot.«

Unterberg machte eine verneinende Geste. »Oh, Klein Viktoria, ohne dich und Gokna wären die Retter eine Minute zu spät gekommen. Ihr wärt alle tot. Gokna…«

»Aber jetzt ist Gokna tot!« Plötzlich war ihr Panzer von Fühllosigkeit zerbrochen, und sie wurde fortgerissen. Viki kreischte wortlos und lief aus dem Zimmer. Sie rannte durch den Korridor zur zentralen Treppe, machte einen Bogen um die Uniformen und die alltäglichen Bewohner des Hauses. Ein paar Arme streckten sich nach ihr aus, doch jemand rief von hinten etwas, und man ließ sie vorbei.

Immer höher lief Viki, vorbei an den Laboratorien und den Unterrichtsräumen, vorbei an dem Atrium, wo sie immer spielten, wo sie zum ersten Mal Hrunkner Unnerbei getroffen hatte.

Ganz oben befand sich der kleine Giebelboden, den zu erhalten sie und Gokna verlangt und gebeten und taktiert hatten. Manche lieben das Tiefste und manche das Höchste. Papa hatte immer nach dem Höchsten gestrebt, und seine beiden Töchter hatten es geliebt, von ihrem hochgelegenen Sitzgitter herabzuschauen. Es war nicht der höchste Ort in Weißenberg, aber hoch genug.

Viki rannte hinein, schlug die Tür zu. Einen Augenblick lang war sie ein wenig benommen vom raschen Aufstieg. Und dann… Das war das Kankerhaus, das im Laufe der letzten fünf Jahre erhebliche Ausmaße angenommen hatte. Als die Winter kälter wurden, hatte es seinen ursprüngliche Charme verloren; man konnte nicht so tun, als seien die kleinen Wesen Leute, als ihnen Flügel zu sprießen begannen. Dutzende von ihnen flirrten bei den Futterstellen ein und aus. Das Ultra und Blau ihrer Flügel glich fast einem Tapetenmuster an den Seiten des Hauses. Sie und Gokna hatten sich endlos gestritten, wer über dieses Haus bestimmte.

Sie hatten sich fast um alles gestritten. Dort an der Wand stand das Puppenhaus aus einer Granathülse, das Gokna aus dem Bau heraufgebracht hatte. Es hatte wirklich Gokna gehört, dennoch hatten sie sich darum gestritten.

Goknas Zeichen waren hier überall. Und Gokna würde niemals mehr hier sein. Sie konnten nie wieder miteinander reden, nicht einmal streiten. Fast hätte Viki kehrtgemacht und wäre wieder aus dem Zimmer herausgeschossen. Es war, als wäre ein ungeheuerliches Loch in ihre Seite gerissen worden, ihre Arme und Beine vom Körper abgeschnitten. Es war kein Platz mehr für ihr Leben. Viki sank in sich zusammen und zitterte.


Väter und Mütter sind sehr unterschiedliche Arten von Leuten. Soweit es die Kinder hatten feststellen können, galt das zum Teil sogar für normale Familien. Papa war die ganze Zeit da. Er war es, der unendliche Geduld aufbrachte, dem sie für gewöhnlich ein paar zusätzliche Vergünstigungen abschwatzen konnten. Doch Scherkaner Unterberg hatte sein eigenes besonderes Wesen: Er betrachtete jedes Gesetz der Natur und der Kultur als Hindernis, über das nachzudenken, mit dem zu experimentieren war. In allem, was er tat, lagen Humor und Klugheit.

Mütter — ihre Mutter jedenfalls — waren nicht ständig da, und man konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie jeder kindischen Forderung nachgeben würden. General Viktoria Schmid war oft genug bei ihren Kindern, einen von zehn Tagen hier oben in Weißenberg und viel öfter, wenn sie einen Ausflug zum Landeskommando machten. Sie war da, wenn echte Gesetzte festgelegt werden mussten, solche, die zu umgehen vielleicht sogar Scherkaner Unterberg zögerte. Und sie war da, wenn man etwas richtig gründlich vermasselt hatte.

Viki wusste nicht, wie lange sie zusammengekrümmt dagelegen hatte, als sie Schritte die Stufen zu ihrem Zimmer heraufticken hörte. Sicherlich nicht mehr als eine halbe Stunde: Vor dem Fenster war es noch die Mitte eines kühlen, schönen Nachmittags.

Es ertönte ein leichtes Klopfen an der Tür. »Junior? Können wir reden?« Mutter.

Etwas Seltsames regte sich in Viki: Willkommen. Papa konnte verzeihen, er verzieh immer… aber Mutter würde verstehen, wie schrecklich es für sie wirklich gewesen war.

Viki öffnete die Tür, trat zurück, den Kopf gesenkt. »Ich dachte, du hättest bis heute Abend zu tun.« Dann bemerkte sie, dass Viktoria Schmid Uniform trug, Jacke und Aufschläge schwarz-schwarz, die Schulterstücke ultra und rot. Sie hatte die Generalin hier oben in Weißenberg noch nie in dieser Uniform gesehen, und sogar unten im Landeskommando war sie für besondere Gelegenheiten reserviert gewesen, für Besprechungen mit gewissen Vorgesetzten.

Die Generalin trat leise in den Raum. »Ich… habe entschieden, dass dies hier wichtiger ist.« Sie bedeutete Klein Viktoria mit einer Geste, sich neben sie zu setzen. Viki setzte sich und empfand zum ersten Mal, seit all das begonnen hatte, Ruhe. Zwei Vorderarme der Generalin legten sich sacht um ihre Schultern. »Es sind ernste… Fehler gemacht worden. Du weißt, dass dein Vater und ich uns darüber einig sind?«

Viki nickte. »Ja, ja!«

»Wir können Gokna nicht wieder lebendig machen. Aber wir können uns an sie erinnern und sie lieben und die Fehler korrigieren, die diese schreckliche Sache möglich gemacht haben.«

»Ja!«

»Dein Vater — ich — wir dachten, wir könnten euch aus den größeren Problemen heraushalten, zumindest, bis ihr erwachsen wärt. Bis zu einem gewissen Punkt hatten wir vielleicht Recht. Doch jetzt sehe ich, dass wir euch einer schrecklichen Gefahr ausgesetzt haben.«

»Nein!… Mutter, verstehst du nicht? Ich war es, u-und Gokna, die die Regeln verletzt haben. Wir haben Hauptmann Niederer überlistet. Wir haben einfach nicht geglaubt, wovor Papa und du uns gewarnt hatten.«

Die Arme der Generalin klopften leicht auf Vikis Schultern. Mutter war entweder überrascht oder plötzlich wütend. Viki konnte nicht sagen, was von beiden, und eine Weile schwieg ihre Mutter. Dann: »Du hast Recht. Scherkaner und ich haben Fehler gemacht… aber du und Gokna auch. Keiner von euch wollte etwas Böses… aber jetzt weißt du, dass das nicht genügt. Bei manchen Spielen werden, wenn man etwas falsch macht, Leute getötet. Aber denk darüber nach, Viktoria. Als ihr gesehen habt, dass es schlimm stand, habt ihr euch sehr gut verhalten — besser, als es viele Kupps mit Profi-Ausbildung getan hätten. Ihr habt das Leben der Suabisme-Kinder gerettet…«

»Wir haben den kleinen Birbop auch in Gefahr gebracht…«

Schmid zuckte verärgert die Achseln. »Ja. Darin wirst du eine harte Lehre finden, Tochter. Fast mein ganzes Leben lang versuche ich nun schon, damit zu leben.« Sie schwieg wieder, und etwas an ihr schien weit weg zu sein. Plötzlich ging Viki auf, dass in der Tat sogar Mutter Fehler machen musste; es war nicht nur Höflichkeit, wenn sie das sagte. Ihr ganzes Leben lang hatten die Kinder die Generalin bewundert. Sie redete nicht über das, was sie tat, doch sie wussten genug, um zu ahnen, dass sie die Heldinnen von jedem Dutzend Abenteuerromane übertraf. Nun bekam Viki eine Ahnung, was das wirklich bedeuten musste. Sie rückte näher an ihre Mutter heran.

»Viki, als es schließlich hart auf hart ging, war das, was ihr, du und Gokna, getan habt, richtig. Alle vier habt ihr richtig gehandelt. Der Preis ist schrecklich, aber wenn wir — und ihr — daraus nichts lernen, dann haben wir es wirklich verdorben.« Dann ist Gokna vergebens gestorben.

»Ich will mich ändern; ich werde alles tun. Sag es mir.«

»Die Gefahren draußen sind nicht so groß. Ich werde dir ein paar Lehrer in militärischen Angelegenheiten beschaffen, vielleicht etwas körperliche Ausbildung. Aber du und die kleineren Kinder müssen noch so viel Theoretisches lernen. Deine Zeit wirst du ziemlich genauso wie zuvor verbringen. Die große Veränderung wird in deinem Kopf stattfinden und in der Art, wie wir dich behandeln. Außer dem Lernen gibt es auch riesige, tödliche Gefahren, die du verstehen musst. Hoffentlich wirst du dich nie in der unmittelbaren Todesgefahr wie heute Morgen befinden — doch auf lange Sicht sind die Gefahren viel größer. Es tut mir Leid, diese Zeit ist riskanter als jede zuvor.«

»Und bringt auch mehr gute Möglichkeiten.« Das sagte Papa immer. Was würde die Generalin jetzt darauf antworten?

»Ja. Das ist wahr. Und darum haben er und ich getan, was wir getan haben. Doch es wird mehr als Hoffnung und Optimismus brauchen, um zu erreichen, was Scherkaner beabsichtigt, und die Jahre bis dahin werden immer gefährlicher sein. Was heute geschehen ist, ist nur der Anfang. Es kann sein, dass die tödlichste Zeit kommen wird, wenn ich sehr alt bin. Und dein Vater ist eine halbe Generation älter als ich…

Wie gesagt, ihr habt euch heute gut geschlagen. Mehr noch, ihr wart ein Team. Hast du jemals daran gedacht, dass unsere ganze Familie wie ein Team ist? Wir haben einen besonderen Vorteil gegenüber fast allen anderen: Wir gehören nicht alle derselben Generation oder zweien an. Wir sind von Klein Hrunk bis hinauf zu deinem Vater verteilt. Wir stehen füreinander ein. Und ich glaube, wir sind sehr begabt.«

Viki lächelte ihre Mutter an. »Keiner von uns ist annähernd so schlau wie Papa.«

Viktoria lachte. »Ja, stimmt. Scherkaner ist… einzigartig.«

Viki fuhr in analytischem Ton fort: »Eigentlich hat keiner von uns, vielleicht ausgenommen Jirlib, auch nur das Format von Papas Studenten. Andererseits sind ich und G- Gokna nach dir gekommen, Mama. Wir… ich kann mit Leuten und Dingen Pläne machen. Ich glaube, Rhapsa und Klein Hrunk sind irgendwo dazwischen, wenn sie sich erst einmal ausgeprägt haben. Und Brent, er ist nicht dumm, aber sein Geist funktioniert auf komische Weise. Er kommt nicht mit anderen Leuten zurecht, aber von uns allen ist er der von Natur aus Misstrauischste. Er ist immer auf der Hut für uns.«

Die Generalin lächelte. »Er ist gut genug. Es gibt jetzt noch fünf von euch, Viki. Sieben, wenn man mich und Scherkaner mitzählt. Das Team. Du hast Recht mit deinen Einschätzungen. Was du nicht wissen kannst, ist, wie ihr im Vergleich zur übrigen Welt dasteht. Ich will dir meine ganz trockene professionelle Einschätzung sagen: Ihr Kinder könnt die Besten sein. Wir wollten den Start für euch noch ein paar Jahre hinausschieben, aber das hat sich nun geändert. Wenn die Zeiten kommen, die ich befürchte, möchte ich, dass ihr fünf wisst, was vor sich geht. Wenn nötig, möchte ich, dass ihr fünf agieren könnt, selbst wenn alles andere drunter und drüber geht.«

Viktoria junior war längst alt genug, um über Diensteide und Befehlsketten Bescheid zu wissen. »Alles? Ich…« Sie zeigte auf die Schulterstücke ihrer Mutter.

»Ja, mein Leben ist meine Loyalität für die Krone. Ich sage, dass vielleicht Zeiten kommen werden, wenn — zeitweise — der Krone zu dienen heißt, Dinge außerhalb der sichtbaren Befehlskette zu tun.« Sie lächelte ihre Tochter an. »Manche von den Abenteuerromanen haben Recht, Viki. Die Chefin des Geheimdienstes vom Einklang hat wirklich ihre eigene besondere Befehlsgewalt… Huch, ich habe meine anderen Besprechungen lange genug verschoben. Wir werden wieder reden, sehr bald, wir alle.«

Nachdem die Generalin fort war, ging Viki in ihrem kleinen Schlafzimmer ganz oben auf dem Hügel hin und her. Sie war noch benommen, empfand aber kein unbewältigtes Entsetzen mehr. Es gab auch Erstaunliches und Hoffnungsvolles. Sie und Gokna hatten immer Spionage gespielt. Doch Mutter redete nicht von dem, was sie tat, und sie stand so hoch über dem gewöhnlichen Militär, dass es ein törichter Traum schien, in ihre Fußstapfen treten zu wollen. Kommerzieller Sicherheitsdienst, vielleicht bei Unternehmen, wie Hrunkner Unnerbei sie gegründet hatte, wirkte realistischer. Jetzt aber…

Viki spielte einen Augenblick lang mit Goknas kleinem Puppenhaus. Sie und Gokna würden nie über diese Pläne diskutieren können. Mutters Team hatte den ersten Verlust erlitten. Doch jetzt wussten sie, dass sie ein Team waren: Jirlib und Brent, Rhapsa, Klein Hrunk, Viki, Viktoria und Scherkaner. Sie würden lernen, ihr Bestes zu geben. Und am Ende wird das genügen.

Dreiunddreissig

Für Ezr Vinh vergingen die Jahre schnell, und das nicht nur wegen seines Viertelzeit-Wachzyklus. Die Zeit seit dem Überfall und den Morden machte fast ein Drittel seines Lebens aus. Es waren die Jahre, die er, wie sein inneres Ich versprochen hatte, mit unbeirrbarer Geduld durchzustehen gewillt war, ohne jemals das Bestreben aufzugeben, Tomas Nau zu vernichten und alles, was noch zu retten war, zurückzugewinnen. Es war eine Zeit, die sich, wie er geglaubt hatte, zu endloser Folter dehnen würde.

Ja. Er hatte mit unbeirrbarer Geduld gespielt. Und es hatte ihm Schmerz eingebracht… und Schande. Doch seine Furcht war die meiste Zeit etwas Fernes. Und obwohl er noch keine Einzelheiten kannte, verlieh allein schon das Wissen, für Pham Nuwen zu arbeiten, das sichere Gefühl, dass sie am Ende triumphieren würden. Doch zu seiner größten Überraschung sprang etwas immer wieder in den Vordergrund und forderte zu unbehaglicher Selbstbetrachtung heraus: In mancher Hinsicht waren diese Jahre befriedigender als jede Zeit seit der frühen Kindheit. Wie kam das?


Hülsenmeister Nau machte sparsamen Gebrauch von der verbliebenen medizinischen Automatik und hielt kritische ›Funktionen‹ wie Übersetzer die meiste Zeit auf Wache. Trixia war jetzt in den Vierzigern. Ezr sah sie fast jeden Tag, wenn er auf Wache war, und die kleinen Veränderungen in ihrem Gesicht schmerzten ihn.

Doch es gab auch andere Veränderungen bei Trixia, Veränderungen, die ihn glauben machten, seine Gegenwart und die verstreichenden Jahre würden sie ihm allmählich zurückbringen.

Wenn er zu früh in ihre winzige Zelle im Obergeschoss von Hammerfest kam, ignorierte sie ihn weiterhin. Doch dann traf er einmal hundert Sekunden nach der üblichen Zeit ein. Trixia saß da, das Gesicht zur Tür gekehrt. »Du kommst zu spät«, sagte sie. In ihrer Stimme klang dieselbe tonlose Ungeduld, wie sie bei Anne Reynolt vorkommen konnte. Alle Fokussierten waren berüchtigt für ihren Pünktlichkeitsfimmel. Trotzdem. Trixia hatte seine Abwesenheit bemerkt.

Und er bemerkte, dass Trixia jetzt selbst etwas auf ihr Äußeres achtete und sich pflegte. Ihr Haar war zurückgekämmt, fast hübsch, wenn er zu ihren Treffen kam. Jetzt waren ihre Gespräche öfters nicht mehr völlig einseitig… zumindest, wenn er sorgfältig auf die Themen achtete.

Heute betrat Ezr ihre Zelle rechtzeitig, aber mit etwas Schmuggelgut — zwei kleinen Delitesse-Törtchen aus Bennys Salon. »Für dich.« Er streckte die Hand aus und brachte ein Törtchen in ihre Nähe. Der Duft erfüllte die Zelle. Trixia starrte kurz auf seine Hand, als erwäge sie eine grobe Geste. »Du wolltest die anstehenden Übersetzungsaufträge mitbringen.«

Schade. Aber er heftete das Konfekt in den Arbeitsbereich nahe bei ihrer Hand. »Ja. Ich habe sie.« Ezr richtete sich an seiner üblichen Stelle neben der Tür ein, ihr gegenüber. Eigentlich war die Liste heute nicht lang. Fokus konnte Wunder vollbringen, doch ohne den Leim normalen gesunden Menschenverstands drifteten die verschiedenen Spezialistengruppen jede in ihre eigene Nabelschau ab. Ezr und die anderen Normalen lasen Zusammenfassungen der Fokussierten-Arbeit und versuchten herauszufinden, wo jede Fachgruppe etwas entdeckt hatte, das über die Fixierung der Blitzköpfe hinausging. Das wurde dann nach oben zu Nau gemeldet und kam in Form zusätzlicher Aufträge wieder zurück nach unten.

Heute hatte Trixia keine Mühe, die Aufträge einzuordnen, obwohl sie bei manchen von ihnen finster murmelte: »Zeitverschwendung.«

»Außerdem habe ich mit Rita Liao gesprochen. Ihre Programmierer sind sehr begeistert über das Zeug, das du ihnen gegeben hast. Sie haben ein Paket von Finanzanwendungen und Netz-Software entworfen, das auf den neuen Mikroprozessoren der Spinnen großartig laufen müsste.«

Trixia nickte. »Ja, ja. Ich rede jeden Tag mit ihnen.« Die Übersetzer kamen mit den Basiscode-Programmierern und mit den Blitzköpfen für Finanzen und Recht blendend aus. Ezr vermutete, es lag daran, dass die Übersetzer von diesen Gebieten nichts verstanden, und umgekehrt.

»Rita möchte ein Unternehmen auf dem Planeten etablieren, um die Programme zu vermarkten. Sie müssten alles Einheimische in den Schatten stellen und den Markt vollständig erobern.«

»Ja, ja. Wohlstand Software AG; ich habe schon einen Namen erfunden. Aber es ist noch zu früh.«

Er beredete es mit ihr von allen Seiten und versuchte, eine realistische Zeitabschätzung zur Weitergabe an Rita Liao zu bekommen. Trixia hatte eine Verbindung zu den Blitzköpfen, die die Strategie für die Einführung der Software entwickelten, sodass ihre gemeinsame Einschätzung wahrscheinlich ziemlich gut war. Wenn man alles über ein Computernetz abwickelte, hing man selbst bei perfekter Kenntnis und Planung davon ab, wie raffiniert dieses Netz war. Es würde mindestens noch fünf Jahre dauern, bis sich ein großer kommerzieller Software-Markt entwickelte, und etwas länger, bis die öffentlichen Datennetze der Spinnen in Gang kamen. Bis dahin würde es fast unmöglich sein, auf dem Planeten in größerem Umfang mitzuspielen. Sogar jetzt war die einzige Stelle, wo sie stetig Manipulationen vornehmen konnten, das Militärnetz des Einklangs.

Viel zu schnell kam Ezr zum letzten Punkt auf der Liste. Es mochte wie eine Kleinigkeit aussehen, doch aus langer Erfahrung wusste er, dass es Schwierigkeiten bereitete. »Neues Thema, Trixia — aber es ist wirklich eine Übersetzungsfrage: wegen der Farbe ›Kunter‹. Ich bemerke, dass du den Begriff immer noch bei der Schilderung von visuellen Szenen benutzt. Der Physiologe…«

»Kakto.« Trixias Augen verengten sich ein wenig. Wenn die Blitzköpfe sich austauschten, bestand normalerweise eine fast telepathische Nähe — oder sie hassten einander mit einer Art frostiger Feindschaft, die man für gewöhnlich nur in Unterhaltungsromanen aus dem akademischen Milieu fand. Norm Kakto und Trixia oszillierten zwischen diesen beiden Zuständen.

»Ja. Äh… jedenfalls hat mir Dr. Kakto einen langen Vortrag über die Natur des Sehens und das elektromagnetische Spektrum gehalten und mir versichert, dass eine Farbe ›Kunter‹ keine relevante Entsprechung in der Wirklichkeit haben könne.«

Trixia machte ein finsteres Gesicht, und für einen Moment sah sie viel älter aus, als es Ezr gern sah. »Es ist ein wirkliches Wort. Ich habe es gewählt. Der Kontext fühlte sich an wie…« Das Stirnrunzeln nahm zu. Oft genug erwies sich, was wie ein Übersetzungsfehler aussah, wenn nicht als buchstäbliche Wahrheit, so doch als Schlüssel zu einem bisher nicht erkannten Aspekt der Spinnenwirklichkeit. Doch die fokussierten Übersetzer, sogar Trixia, konnten sich irren. In ihren frühen Übersetzungen, als sie und die andern sich noch durch eine unbekannte Landschaft einer fremden Art tasteten, hatte es Hunderte von leichthin gewählten Worten gegeben; ein Gutteil davon war später aufgegeben worden.

Das Problem war, dass sich Blitzköpfe nicht leicht taten, Fixierungen aufzugeben.

Es fehlte nicht mehr viel, und Trixia wäre wirklich verärgert gewesen. Die Anzeichen waren nicht extrem. Sie runzelte oft die Stirn, wenngleich nicht gar so heftig. Und selbst wenn sie schwieg, waren beide Hände unablässig auf der Tastatur beschäftigt. Doch diesmal wurde die Analyse, die zu ihr zurückkam, von ihrer Datenbrille über die Wände ausgebreitet. Ihr Atem ging schneller, während sie die Kritik in ihrem Geist und dem angeschlossenen Datennetz hin und her drehte. Sie hatte keine Gegenerklärung.

Ezr streckte die Hand aus, berührte ihre Schulter. »Zusatzfrage, Trixia. Ich habe mit Kakto einige Zeit über diese Sache mit dem ›Kunter‹ gesprochen.« In Wahrheit hatte Ezr dem Mann ziemlich zugesetzt. Oft war das die einzige Möglichkeit, mit einem fokussierten Spezialisten zu arbeiten: sich auf das Fachgebiet des Blitzkopfes zu konzentrieren und seine Frage immer wieder auf verschiedene Art zu stellen. Ohne Geschick und eine Portion Glück kam man mit dieser Technik rasch an ein Ende der Kommunikation. Selbst nach sieben Jahren Wache war Ezr kein Experte, doch in diesem Fall war Norm Kakto schließlich dazu gebracht worden, Alternativen zu entwerfen: »Wir haben uns gefragt, ob nicht vielleicht die Spinnen einen solchen Überschuss an visuellen Methoden besitzen, dass das Spinnenhirn vielfachen Zugang hat — weißt du, einen Bruchteil einer Sekunde in einer Spektralregion wahrnehmen, einen Bruchteil einer Sekunde in einer anderen. Die Spinnen könnten — ich weiß nicht, eine Art Kräuseleffekt wahrnehmen.«

Eigentlich hatte Kakto die Idee als absurd verworfen und gesagt, dass selbst dann, wenn das Spinnenhirn seine visuellen Sinne in Zeitscheiben einsetze, die Wahrnehmung auf der Ebene des Bewusstseins dennoch ein zusammenhängendes Ganzes bilden würde.

Während er diese Worte sprach, erstarrte Trixia beinahe, nur ihre Finger bewegten sich weiter. Ihr ständig wandernder Blick blieb eine Sekunde lang auf eine Stelle fixiert — direkt auf Ezrs Augen. Er sagte etwas, das nichttrivial war und nahe am Zentrum ihres Fokus lag. Dann schaute sie weg, murmelte in ihr Stimmeingabegerät und hämmerte noch furioser auf die Tasten. Ein paar Sekunden vergingen, und ihr Blick begann im Zimmer umherzuschießen, verfolgte Phantome, die nur in ihrer Datenbrille zu sehen waren. Dann, abrupt: »Ja! Das ist die Erklärung. Ich habe bisher nie wirklich daran gedacht — es war nur der Kontext, der mich auf das Wort brachte, aber…« Daten und Adressen breiteten sich über die Wände aus, wo sie sie beide sehen konnten. Ezr versuchte Schritt zu halten, doch seine Datenbrille war noch immer vom Hammerfest-Netz ausgesperrt; er musste sich auf Trixias vage Gesten verlassen, um die Ereignisse zu erkennen, die sie zitierte.

Ezr grinste. Jetzt eben kam Trixia der Normalität ungefähr so nahe, wie nur eben möglich, selbst wenn es eine Art frenetischer Triumph war… »Schau! Außer in einem Fall von Überlastung durch Schmerz gehören zu jeder Verwendung von ›Kunter‹ geringer Dunst, geringe Luftfeuchtigkeit und ein breites Spektrum von Helligkeit. In diesen Situationen ist die ganze Farbe… die Vetmut3…« Sie fiel in den internen Jargon, das unergründliche Zeug, das unter fokussierten Übersetzern im Schwange war. »Der Modus der Sprache ist verändert. Ich brauchte ein besonderes Wort, und ›Kunter‹ ist gut genug.«

Er hörte zu und beobachtete. Fast sah er, wie die Erkenntnis in Trixias Geist entsprang, neue Verbindungen herstellte, zweifellos alle künftigen Übersetzungen verbesserte. Ja, es wirkte real. Die Betonköpfe konnten sich über die Farbe »Runter« nicht beklagen.

Alles in allem war es eine gute Sitzung. Und was Trixia dann tat, war eine wunderbare Überraschung. Fast ohne ihren Redefluss zu unterbrechen, nahm sie eine Hand von der Tastatur und langte seitwärts nach der Delitesse. Sie löste das Törtchen von seinem Halt und starrte in den duftenden Schaum — als erkenne sie plötzlich, was ein Törtchen war und welches Vergnügen es bereitete, solche Dinge zu essen. Dann steckte sie sich das Ding mit einer heftigen Bewegung in den Mund, und der leichte Zuckerguss spritzte in bunten Tropfen über ihre Lippen. Einen Augenblick lang glaubte er, sie würge, aber es war nur ein glückliches Lachen. Sie kaute, schluckte… und dann seufzte sie ganz und gar zufrieden. Es war das erste Mal in all den Jahren, dass Ezr gesehen hatte, wie etwas außerhalb ihres Fokus sie froh machte.

Sogar ihre Hände hielten ein paar Sekunden lang in ihrer ständigen Bewegung inne. Dann: »So. Was noch?«

Es dauerte einen Moment, bis die Frage Ezrs Verblüffung durchdrang. »Ah… hm.« Das war eigentlich der letzte Punkt auf seiner Liste gewesen. Aber hurra! Die Delitesse hatte ein Wunder gewirkt. »N-nur noch eins, Trixia. Etwas, das du wissen musst.« Vielleicht etwas, das du endlich verstehen kannst. »Du bist keine Maschine. Du bist ein Mensch.«

Doch die Worte machten keinen Eindruck. Vielleicht hörte sie sie nicht einmal. Ihre Finger tippten wieder auf ihren Tasten, und ihr Blick ging irgendwo in die Bilderwelt der Datenbrille, die er nicht sehen konnte. Ezr wartete ein paar Sekunden, doch was da immer an Aufmerksamkeit vorhanden gewesen war, schien verschwunden zu sein. Er seufzte und bewegte sich zurück zur Tür der Zelle.

Dann, vielleicht zehn oder fünfzehn Sekunden nach seinen Worten, schaute Trixia abrupt auf. Es war wieder Ausdruck in ihrem Gesicht, doch diesmal war es Überraschung. »Wirklich? Ich bin keine Maschine?«

»Ja. Du bist ein richtiger Mensch.«

»Oh.« Wieder Desinteresse. Sie wandte sich ihrer Tastatur zu und murmelte etwas in die Sprechverbindung zu ihren Mit-Blitzköpfen. Ezr glitt leise aus dem Zimmer. Früher hätte er sich von der Art, wie er kurz angebunden entlassen wurde, zerschmettert oder zumindest zurückgesetzt gefühlt. Aber… das war bei Blitzköpfen einfach normal. Und für einen Augenblick war er durchgedrungen. Ezr kroch durch die Kapillarkorridore zurück. Für gewöhnlich gingen ihm diese gewundenen, kaum schulterbreiten Röhren auf die Nerven. Alle zwei Meter eine andere Zellentür, rechts, oben, links, unten. Was, wenn hier jemals eine Panik ausbrach? Was, wenn sie das Gebäude jemals evakuieren müssten? Doch heute… kamen Echos zu ihm zurück, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er pfiff.

Anne Reynolt fing ihn ab, als er in den Hauptkorridor von Hammerfest herauskam. Sie stieß mit dem Finger auf den Tragebehälter, den er hinter sich her zog. »Das nehme ich.«

Verdammt. Er hatte vorgehabt, die zweite Delitesse bei Trixia zu lassen. Er gab Reynolt den Behälter. »Es ist gut gelaufen. Sie werden in meinem Bericht sehen…«

»Wirklich. Ich glaube, ich werde mir den Bericht jetzt gleich geben lassen.« Reynolt zeigte den hundert Meter tiefen Korridor hinab. Sie griff nach einem Wandvorsprung, drehte sich um hundertachtzig Grad herum und begann sich, Kopf voran, abwärts zu bewegen. Ezr folgte ihr. Wo sie an Öffnungen im Schacht vorbeikamen, schien das Licht von EinAus durch eine dünne Schicht von Diamantkristall. Und dann waren sie wieder in Kunstlicht, noch tiefer im Innern von Diamant Eins. Die Wandmosaiken sahen so frisch wie am Tag ihrer Herstellung aus, doch hier und da hatten Hände und Füße der Vorübergleitenden Schmutzstreifen hinterlassen. Es waren nicht mehr viele Blitzköpfe ohne Spezialausbildung übrig, nicht genug, um die Perfektion der Aufsteiger aufrechtzuerhalten. Am Grunde des Schachtes wandten sie sich zur Seite, es ging noch immer leicht abwärts, doch sie kamen an geschäftigen Büros und Labors vorbei, die Ezr jetzt alle vertraut waren. Die Blitzkopf-Klinik. Dort war Ezr bisher nur einmal gewesen. Sie wurde streng bewacht, streng kontrolliert, war aber eigentlich kein verbotenes Gebiet. Pham war dort häufig zu Besuch, Trud Silipans großer Freund. Doch Ezr mied den Ort; dort wurden Seelen gestohlen.


Reynolts Büro lag wie schon immer am Ende des Labortunnels hinter einer schmucklosen Tür. Die ›Direktorin für menschliche Ressourcen‹ setzte sich in ihren Sessel und öffnete den Behälter, den sie Ezr abgenommen hatte.

Vinh gab vor, völlig gelassen zu sein. Er schaute sich im Büro um. Nichts Neues, dieselben rauen Wände, die Packkisten und die scheinbar lose Ausrüstung, die immer noch — nach Jahrzehnten der Wache — ihre hauptsächliches Mobiliar waren. Selbst wenn man es ihm nicht gesagt hätte, wäre Ezr längst selbst darauf gekommen, dass Anne Reynolt ein Blitzkopf war. Ein wundersamer, auf Menschen ausgerichteter Blitzkopf, aber eben ein Blitzkopf.

Reynolt war offensichtlich vom Inhalt des Behälters nicht überrascht. Sie roch an der Delitesse mit dem Gesichtsausdruck eines Baktreitechnikers, der Schleimferment einschätzt. »Sehr aromatisch. Zuckerzeug und Junk-Food sind nicht auf der Liste der erlaubten Nahrungsmittel, Herr Vinh.«

»Tut mir Leid. Ich wollte ihr nur eine besondere Freude machen… eine kleine Belohnung. Ich mache das nicht oft.«

»Stimmt. Sie haben es überhaupt noch nicht getan.« Ihr Blick huschte über sein Gesicht, dann wieder weg. »Es sind jetzt dreißig Jahre, Herr Vinh. Sieben Jahre Ihrer eigenen Lebenszeit auf Wache. Sie wissen, dass Blitzköpfe nicht auf derlei ›Belohnungen‹ ansprechen; ihr Motivationssystem liegt primär innerhalb ihres Fokus-Gebiets und ist sekundär an ihre Besitzer geknüpft. Nein… Ich glaube, Sie haben immer noch Ihre geheimen Pläne, in Dr. Bonsol Liebe zu erwecken.«

»Mit einem Dessertkonfekt?«

Reynolt bedachte ihn mit einem harten kleinen Lächeln. Sein Sarkasmus wäre an einem gewöhnlichen Blitzkopf glatt vorbeigegangen. Reynolt brachte er nicht aus der Bahn, doch sie erkannte ihn. »Mit dem Geruch vielleicht. Ich stelle mir vor, dass Sie sich ein paar Neurologie-Kurse der Dschöng Ho angesehen haben — etwas über olfaktorische Nervenverbindungen, die direkten Zugang zu den höheren Zentren haben. Hmm?« Einen Moment lang nagelte ihr Blick ihn fest wie einen Käfer in einer Sammlung.

Genau das stand in den Neuro-Kursen. Und die Delitesse war etwas, das Trixia sicherlich nicht gerochen hatte, seit sie fokussiert worden war. Für einen Augenblick waren die Wände um Trixias wahres Ich dünn geworden, dass kaum mehr als ein Schleier blieb. Für einen Augenblick hatte Ezr sie berührt.

Ezr zuckte die Achseln. Reynolt war so unglaublich scharfsichtig. Wenn sie sich jemals die Mühe machte, hinzusehen, war sie gewiss klug genug, um ihn völlig zu durchschauen. Wahrscheinlich war sie sogar klug genug, um Pham Nuwen zu durchschauen. Das Einzige, was Pham und Ezr rettete, war der Umstand, dass sie sich am Rande ihres Fokus befanden. Wenn Ritser Brughel einen Schnüffler hätte, der auch nur halb so gut ist, wären Pham und ich inzwischen tot.

Reynolt wandte sich von ihm ab, verfolgte einen Moment lang die Photonen in ihrer Datenbrille. Dann: »Ihr Fehlverhalten hat keinen Schaden angerichtet. In mancher Hinsicht ist Fokus ein robuster Zustand. Vielleicht glauben Sie, bei Dr. Bonsol Veränderungen zu bemerken, doch bedenken Sie: Im Laufe der letzten paar Jahre haben die besten Übersetzer allesamt synthetische Affekte entwickelt. Wenn es die Leistung beeinträchtigt, werden wir sie in die Klinik schaffen, um sie etwas besser abzustimmen…

Wenn Sie jedoch wieder versuchen, Dr. Bonsol zu manipulieren, werde ich dafür sorgen, dass Sie nicht mehr mit ihr zusammenkommen.«

Es war eine absolut wirksame Drohung, doch Ezr versuchte zu lachen. »Was, keine Todesdrohungen?«

»Meine Einschätzung, Herr Vinh: Ihr Wissen um das menschliche Zeitalter der Morgenröte macht Sie außerordentlich wertvoll. Sie sind eine wirksame Schnittstelle zwischen mindestens vier von meinen Gruppen — und ich weiß, dass auch der Hülsenmeister Ihren Rat nutzt. Aber machen Sie keinen Fehler: In der Übersetzungsabteilung komme ich ohne Sie zurecht. Wenn Sie mir abermals zuwiderhandeln, werden Sie Dr. Bonsol nicht mehr sehen, bis die Mission abgeschlossen ist.«

Fünfzehn Jahre? Zwanzig?

Ezr starrte sie an und spürte die absolute Gewissheit in ihren Worten. Was für ein unerbittliches Wesen war diese Frau. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie sie wohl vorher gewesen war. Das ging nicht nur ihm so. Trud Silipan ließ den Gästen bei Benny seine Spekulationen zuteil werden. Die Xevalle-Clique war einst die zweitmächtigste im Aufstieg gewesen; Trud behauptete, sie habe dort eine hohe Stellung gehabt. Einst war sie vielleicht ein größeres Ungeheuer als Tomas Nau gewesen. Zumindest einige von ihnen waren bestraft worden: von ihresgleichen zermalmt. Anne Reynolt war tief gesunken, von einem bewussten Satan zum Werkzeug eines Satans.

… Ob sie dadurch nun mehr oder weniger als zuvor war, für Ezr Vinh blieb sie gefährlich genug.


Nachts, im Dunkel seines Zimmers allein, schilderte Ezr Pham Nuwen die Begegnung. »Ich habe das Gefühl, dass, wenn Reynolt jemals zu Brughels Aufgabenbereich abgestellt wird, sie in ein paar Kilosek über Sie und mich Klarheit hätte.«

Nuwens Kichern war ein verzerrtes Surren tief in Ezrs Ohr. »Das wird nie geschehen. Sie ist das Einzige, was den Aufgabenbereich Blitzköpfe zusammenhält. Vor dem Überfall hatte sie ein Personal von vierhundert unfokussierten Schnittstellen-Leuten — jetzt ist sie bsss sst.«

»Sagen Sie das Letzte noch mal.«

»Ich sagte: Jetzt ist sie für einen Großteil ihres Betriebs von Hilfskräften ohne Spezialausbildung abhängig.«

Das Surren, das nicht direkt eine Stimme war, schwand immer gelegentlich ins Unverständliche und kam wieder. Manchmal musste Ezr noch um drei, vier Wiederholungen bitten. Aber es war eine große Verbesserung gegenüber der Blinksprache, die sie anfangs benutzt hatten. Wenn Ezr jetzt so tat, als ginge er schlafen, hatte er einen einzigen Orter von einem Millimeter Länge tief ins Ohr gepresst. Das Ergebnis war meistens Surren und Zischen, fast unhörbar, doch mit genug Übung konnte man die normale Sprache dahinter erraten. Die Orter waren überall im Raum verstreut — überall im Temp der Kauffahrer. Sie waren Brughels und Naus wichtigster Sicherheitsapparat hier geworden.

»Trotzdem, vielleicht hätte ich den Trick mit der Delitesse nicht versuchen sollen.«

»… Vielleicht. Ich hätte etwas derart Unverblümtes nicht versucht.« Aber Pham Nuwen war ja auch nicht in Trixia Bonsol verliebt. »Wir haben darüber schon gesprochen. Brughels Blitzköpfe sind leistungsfähiger als jeder Sicherheitsapparat, den wir von der Dschöng Ho uns jemals haben träumen lassen. Sie schnüffeln unablässig, und sie können« — Ezr verstand das Wort nicht: ›naive‹? ›unschuldige‹?, ihm war nicht danach, um Aufklärung zu bitten -»Leute wie dich durchschauen. Sie ahnen gewiss, dass du ihre Geschichte von dem Diem-Massaker nicht glaubst. Sie wissen, dass du feindselig bist. Sie wissen, dass du über etwas Pläne schmiedest — oder gern schmieden würdest. Deine Gefühle für Bonsol liefern dir eine Tarnung, eine kleine Lüge, um eine größere zu verbergen. Wie bei mir das mit Zamle Eng.«

»Hm-ja.« Aber ich glaube, ich lass das eine Weile. »Sie glauben also nicht, dass Reynolt eine große Gefahr ist?«

Einen Moment lang hörte er nichts als Surren und Zischen; vielleicht sagte Pham nichts. Dann: »Vinh, ich glaube genau das Gegenteil. Auf lange Sicht ist sie die tödlichste Gefahr, mit der wir konfrontiert sind.«

»Aber sie ist nicht bei der Sicherheit.«

»Nein, aber sie wartet Brughels Schnüffler, bringt ihre armen Gehirne auf Linie, wenn sie abzudriften beginnen. Phuong und Hom kommen nur mit den einfachsten Fällen zurecht; Trud tut so, als könne er alles, befolgt aber nur ihre Anweisungen. Und sie lässt acht Blitzkopf-Programmierer unseren Flottencode durchgehen. Drei von ihnen knaupeln immer noch an den Ortern herum. Irgendwann wird sie sehen, wie ich an ihnen herumgepfuscht habe, bsss nuschel Gott! Welche Macht Nau hat.« Phams Stimme setzte aus, und es war nur noch das Hintergrundrauschen zu hören.

Ezr streckte eine Hand unter der Decke hervor und schob sich den winzigen Orter tiefer ins Ohr. »Wie bitte? Sind Sie noch da?«

bsst »Ich bin da. Was Reynolt betrifft: So oder so, sie muss beseitigt werden.«

»Sie umbringen?« Die Worte blieben Ezr im Halse stecken. So sehr er Nau und Brughel und das ganze Fokus-System hasste, empfand er doch keinen Hass auf Anne Reynolt. Auf ihre eigene beschränkte Art kümmerte sie sich um die Sklaven. Was immer Anne Reynolt gewesen war, jetzt war sie nur ein Werkzeug.

»Hoffentlich nicht! Vielleicht… wenn Nau nur den Köder mit den Ortern schlucken würde, wenn er begänne, sie in Hammerfest zu verwenden. Dann wären wir dort drüben so sicher wie hier. Wenn das geschieht, ehe ihre Blitzer herausfinden, dass es eine Falle ist…«

»Aber der Zweck der Verzögerung war ja, ihr Zeit zur Untersuchung der Orter zu geben.«

»Ja. Nau ist nicht dumm. Keine Sorge. Ich behalte das im Blick. Wenn sie zu nahe ran kommt, werde ich… mich um sie kümmern.«

Einen Augenblick lang versuchte sich Ezr vorzustellen, was Pham tun könnte, zwang seinen Geist dann aber von den Vorstellungen weg. Selbst nach zweitausend Jahren hatte die Vinh-Familie in ihrer Zuneigung noch einen besonderen Platz für die Erinnerung an Pham Nuwen. Ezr erinnerte sich an die Bilder, die in seines Vaters Käfterchen gehangen hatten. Er erinnerte sich an die Geschichten, die ihm seine Tante erzählt hatte. Nicht alle davon standen in den Dschöng-Ho-Archiven. Das hieß, die Geschichten waren nicht wahr — oder aber wirklich private Reminiszenzen, was Ur…oma Sura und ihre Kinder wirklich von Pham Nuwen gedacht hatten. Sie liebten ihn nicht nur, weil er die moderne Dschöng Ho gegründet hatte, nicht nur, weil er der Ur…großvater aller Vinh-Familien war. Doch manche von den Geschichten zeigten einen harten Zug an dem Mann.

Ezr öffnete die Augen, schaute sich ruhig im abgedunkelten Zimmer um. Schummrige Nacht-Glimmleuchten erhellten seine Arbeitskleidung, die im Schrankbeutel schwebte, zeigten die Delitesse, die noch immer ungegessen auf seinem Arbeitstisch klemmte. Die Wirklichkeit. »Was können Sie mit den Ortern wirklich machen, Pham?«

Schweigen. Fernes Surren. »Was ich machen kann? Nun ja, Vinh, ich kann mit ihnen nicht töten… nicht direkt. Aber sie taugen zu mehr als dieser miesen Sprechverbindung. Man braucht Übung; es gibt Tricks, die man sehen muss.« Lange Pause. »Verdammt, du musst sie erlernen. Es könnte Zeiten geben, wo ich nicht aktionsfähig bin und sie das Einzige sind, was deine Tarnung retten kann. Wir sollten uns persönlich treffen…«

»Hä? Von Angesicht zu Angesicht?« Dutzende, vielleicht Hunderte Male hatten er und Pham Nuwen so wie heute Nacht Pläne geschmiedet, wie Gefangene, die anonym an die Verlieswände klopfen. In der Öffentlichkeit sahen sie einander seltener als bei den frühen Wachen. Nuwen hatte gesagt, das Ezr einfach nicht gut genug seine Augen und die Körpersprache beherrschen konnte, dass die Schnüffler zu viel erraten würden. Jetzt…

»Hier im Temp hängen Brughel und seine Blitzköpfe von den Ortern ab. Es gibt Stellen zwischen den Ballonhüllen, wo manche von den alten Kameras ausgefallen sind. Wenn wir uns dort begegnen, werden sie nichts haben, was den Daten widerspricht, die ich ihnen über die Orter zuspiele. Das Problem ist, ich bin mir sicher, dass sich die Schnüffler zu einem großen Teil auf Statistik stützen. Ich habe mal die Sicherheitsabteilung einer Flotte geleitet, wie die von Ritser, noch ein bisschen milder. Ich hatte Programme, die verdächtiges Verhalten hervorhoben — wer wann nicht zu sehen war, ungewöhnliche Gespräche, Geräteausfälle. Es funktionierte ziemlich gut, selbst, wenn ich die Bösewichter nicht auf frischer Tat ertappen konnte. Blitzköpfe plus Computer müssten tausendmal besser sein. Ich wette, sie haben Statistikauswertungen, die bis in die Anfänge von L1 zurückreichen. Für sie summiert sich unauffälliges Verhalten immer weiter — und eines Tages findet Ritser Brughel gewichtige Beweise. Und wir sind tot.«

Herr des Handels. »Aber wir sind fast mit allem durchgekommen!« Überall, wo die Aufsteiger auf die Dschöng-Ho-Orter angewiesen waren.

»Vielleicht. Einmal. Beherrsch dich.« Sogar in der surrenden Sprache merkte Ezr, wenn Pham kicherte.

»Wann können wir uns treffen?«

»Bei einer Gelegenheit, die die Wirkung auf Ritsers fröhliche Analytiker minimiert. Schauen wir… Meine Wache endet in weniger als zweihundert Kilosek. Ich werde einen Teil der Zeit auf Wache sein, wenn du zum nächsten Mal wieder da bist. Ich werde es so einrichten, dass wir es gleich danach tun können.«

Ezr seufzte. In einem halben Jahr Lebenszeit. Aber nicht so fern wie manches andere; es würde genügen.

Vierunddreissig

Bennys Biersalon hatte als etwas Sublegales begonnen, der sichtbare Beweis für ein großes Netzwerk von Schwarzmarktgeschäften — Schwerverbrechen nach den Maßstäben der Aufsteiger; in reinem Dschöng-Ho-Nese existierte der Begriff ›Schwarzmarkt‹, doch nur zur Bezeichnung von ›Handel, den man geheim halten muss, weil er bei den örtlichen Kunden Anstoß erregt‹. In der kleinen Gemeinschaft rings um den Felshaufen war es unmöglich, insgeheim zu handeln oder zu bestechen. Im Laufe der ersten Jahre hatte nur Qiwi Lisolets Beteiligung den Salon geschützt. Jetzt… Benny Wen lächelte vor sich hin, während er die Getränke und Speisen in sein Netz packte. Jetzt führte er den Laden hier im Vollzeitbetrieb, wann immer er Wache hatte. Das Beste war, dass sein Vater größtenteils mit der Arbeit zurecht kam, wenn Benny und Gonle Freiwache hatten. Hunte Wen war immer noch eine zerstreute, sanfte Seele, und er hatte seine Fähigkeiten in Physik nie zurückerlangt. Doch er hatte den Betrieb des Salons liebgewonnen. Wenn er ihn allein führte, konnten dem Laden seltsame Dinge widerfahren. Manchmal waren es haarsträubende Fehlleistungen, manchmal wunderbare Verbesserungen. Einmal staubte er in der Raffinerie einen parfümierten Lack ab. In kleinen Mengen war der Geruch in Ordnung, aber auf die Wände des Salons aufgetragen, stank der Lack entsetzlich. Eine Zeit lang wurde der größte Aufenthaltsraum der soziale Angelpunkt des Temps. Ein andermal — vier Echtzeitjahre später —, hatte er die Gutschriftscheine einer ganzen Wachzeit eingelöst, und Qiwis Papa hatte eine Null-g-Weinrebe samt zugehörigem Ökosystem entwickelt, um Wände und Möbel des Salons zu schmücken. Der Salon wurde in einen schönen, parkähnlichen Raum verwandelt.

Die Ranken und Blüten waren noch da, obwohl Hunte seit fast zwei Jahren auf Freiwache war.

Benny bewegte sich von der Bar hoch in einer langen Runde durch den Wald von Grün. Getränke und Speisen wurden an die Tische der Gäste gebracht, mit Papierscheinen bezahlt. Benny stellte ein ›Diamant und Eis‹ und einen Speisenbehälter vor Trud Silipan hin. Silipan reichte ihm mit demselben süffisanten Gesichtsausdruck wie immer einen Gutschein für einen Gefallen. Er rechnete sich offensichtlich aus, dass das Versprechen nichts wert war, dass er nur bezahlte, weil es so üblich war.

Benny lächelte nur und schwebte weiter. Wer war er schon, dass er sich stritte — und in gewisser Hinsicht hatte Trud Recht. Aber seit den ersten Wachen waren sehr wenige versprochene Dienste glatt verweigert worden. Mit Ausreden umgangen — das ja. Die einzigen Gefallen, die Trud wirklich tun konnte, betrafen Arbeitszeit bei den Fokussierten, und er laborierte ständig an seinen Verpflichtungen, fand nicht ganz die richtigen Fachleute, verwandte zu wenig Blitzkopf-Zeit, um die besten Lösungen zu erhalten. Doch selbst Trud brachte oft genug etwas zu Wege — wie mit den Null-g-Reben, die zu entwickeln er Ali Lin veranlasst hatte. Denn alle wussten, dass hinter der Farce mit den Papiergutscheinen Tomas Nau stand, der — sei es aus klugem Eigeninteresse, sei es aus Liebe zu Qiwi — deutlich gemacht hatte, dass die Untergrund-Ökonomie der Dschöng Ho unter seinem Schutz stand.

»Hallo Benny! Hier oben!« Jau Xin winkte ihm vom oberen Tisch zu, dem Tisch des ›Debattierclubs‹. Wache für Wache schien dieselbe Sorte Leute sich dort einzufinden. Für gewöhnlich gab es Überschneidungen zwischen den Wachen — anscheinend genug, dass selbst dann, wenn es zumeist andere Kunden waren, sie sich dennoch hier oben hinsetzten, wenn sie darüber streiten wollten, ›wo das alles hinführt‹. Diese Wache waren es Xin und natürlich Rita Liao, fünf oder sechs andere Gesichter, die keine Überraschung waren, und — aha, jemand, der sich wirklich auskannte: »Ezr! Ich dachte, es würde noch vierhundert Kilosek dauern, bis du hier aufkreuzt.« Er wäre zu gern geblieben und hätte zugehört.

»Tag, Benny!« Ezrs Gesicht zeigte das vertraute Grinsen. Komisch, wenn man den Burschen eine Weile nicht sah und die Veränderungen von früheren Gelegenheiten plötzlich scharf hervortraten. Ezr war — wie Benny — noch ein junger Mann. Aber sie waren keine Kinder mehr. Winzige Fältchen hatten sich neben Ezrs Augen eingegraben. Und wenn er sprach, war da ein Selbstvertrauen, das Benny an ihm nie erlebt hatte, als sie zusammen in Jimmy Diems Arbeitstrupp waren. »Nichts Festes für mich, Benny. Meine Eingeweide beklagen sich immer noch, dass sie aufgetaut worden sind. Es hat eine viertägige Änderung im Zeitplan gegeben.« Er zeigte zu dem Wachplan an der Wand neben der Bar. Ja doch, die Änderung stand dort, verborgen in einem Gewirr anderer kleiner Änderungen. »Sieht so aus, als ob Anne Reynolt meine Anwesenheit braucht.«

Rita Liao lächelte. »Das ist schon an sich ein Grund für ein Treffen des Debattierclubs.«

Benny verteilte die Ballons und Behälter, die im Netz hinter ihm schwebten. Er nickte Ezr zu. »Ich versorg dich mit was, damit du deine eben aufgetauten Knochen besänftigen kannst.«


Ezr sah zu, wie Benny zur Bar und Speisentheke zurückschwebte. Benny konnte wahrscheinlich etwas mixen, das seinen Magen nicht aufbringen würde. Wer hätte gedacht, dass es mit ihm dahin kommen würde? Wer hätte das überhaupt von irgendeinem der Ihren gedacht? Wenigstens war Benny noch ein Kauffahrer, wenngleich in einem herzzerreißend kleinen Maßstab. Und ich bin…was? Ein Verschwörer mit so tief reichender Tarnung, dass sie mitunter ihn selbst täuschte. Ezr saß hier mit dreien von der Dschöng Ho und vier Aufsteigern — und manche von den Aufsteigern waren bessere Freunde als die Dschöng-Ho-Leute. Kein Wunder, dass Tomas Nau solchen Erfolg hatte. Er hatte sie alle kooptiert, selbst wenn sie glaubten, sie würden nach Kauffahrerart leben. Nau hatte ihr Denken gegen die Sklaverei abgestumpft, die der Fokus war. Und vielleicht war es gut so. Ezrs Freunde waren vor dem tödlichen Wesen von Nau und Brughel geschützt — und Nau und Brughel waren gegen die Möglichkeit abgestumpft, dass es bei Dschöng Ho immer noch jemanden geben könnte, der gegen sie arbeitete.

»Was also hat dich vor der Zeit aus dem Eisschrank geholt, Ezr?« Vinh hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ich werde in ein paar Kilosek nach Hammerfest rüberfliegen.« Was immer es ist, ich hoffe, es wir mir nicht das Treffen mit Pham vermasseln.

Trud Silipan kam durch den Bodenbereich hoch, richtete sich auf einem freien Sitz ein. »Es ist keine große Sache, eine Verstimmung zwischen den Übersetzern und den Blitzköpfen für Naturwissenschaften. Wir haben das heute schon bereinigt.«

»Warum also hat Reynolt Ezrs Dienstplan geändert?«

Silipan rollte mit den Augen. »Ach, ihr kennt doch Reynolt. Nichts für ungut, Ezr, aber sie glaubt, weil dein Spezialgebiet das Zeitalter der Morgenröte ist, kommen wir ohne dich nicht aus.«

Schwerlich, dachte Ezr und erinnerte sich an sein letztes Zusammentreffen mit der Direktorin für menschliche Ressourcen.

Rita sagte: »Ich wette, es hat etwas mit der Calorica-Bucht zu tun. Die Kinder sind jetzt dort unten, wisst ihr.« Mit den ›Kindern‹ meinte Rita die Spinnen aus der alten ›Kinderstunde der Wissenschaft‹.

»Es sind keine Kinder mehr«, sagte Xin sanft. »Viktoria junior ist eine junge Fr… eine junge Erwachsene.«

Liao zuckte irritiert die Achseln. »Rhapsa und Hrunk können noch als Kinder gelten. Sie sind alle nach Calorica gezogen.«

Es gab eine peinliche Pause. Die Abenteuer spezieller Spinnen waren für viele ein endloses Drama — und im Laufe der Jahre wurde es einfacher, mehr Einzelheiten zu erfahren. Es gab andere Familien, die die Spinnenfans verfolgten, aber die von Unterberg war immer noch die beliebteste. Rita konnte gut als die größte Enthusiastin gelten, und mitunter war der Grund ihrer Begeisterung gar zu Mitleid erregend offensichtlich.

Trud nahm die traurigen Untertöne nicht wahr. »Nein, Calorica ist ein Windei.«

Xin lachte. »He, Trud, es gibt wirklich einen Startplatz ein Stück südlich von Calorica. Diese Spinnen starten Satelliten.«

»Nein, nein. Ich meinte, diese Sache mit dem Cavorit ist ein Windei. Deswegen ist Ezr früher geweckt worden.« Er bemerkte Ezrs Reaktion, und sein Grinsen wurde breiter. »Du kennst den Begriff.«

»Ja, das ist…«

Trud redete weiter, ohne sich für die klassischen Trivialitäten zu interessieren. »Das ist wieder so ein verrückter Bezug der Übersetzer, bloß undurchsichtiger als die meisten. Jedenfalls haben vor einem Jahr manche von den Spinnen ein paar aufgegebene Bergwerke in der Hochebene südlich von Calorica für den Versuch benutzt, um einen Unterschied zwischen schwerer Masse und träger Masse zu finden. Bei alledem fragt man sich, wie klug diese Kreaturen eigentlich sind.«

»Der Gedanke ist nicht dumm«, sagte Ezr, »solange man nicht ein paar Experimente gemacht und das Gegenteil gesehen hat.« Er erinnerte sich jetzt an das Projekt. Die Wissenschaftler waren größtenteils Basser gewesen, ihre Berichte fast unzugänglich. Die menschlichen Übersetzer hatten Bassisch nie so tiefgründig wie die Sprachen des Einklangs gelernt. Xopi Reung und ein paar andere hätten Bassisch fließend beherrschen lernen können, aber sie waren beim Ausbruch der Geistfäule umgekommen.

Trud wischte den Einwand beiseite. »Das Dumme ist, diese Spinnen haben schließlich einen Unterschied gefunden. Und sie haben ihre Dummheit herausposaunt, behaupten, in der Hochebene Antigravitation entdeckt zu haben.«

Ezr warf Jau Xin einen Blick zu. »Hast du davon gehört?«

»Ich glaube schon…« Jau wirkte nachdenklich. Anscheinend war das bis jetzt geheimgehalten worden. »Reynolt hat mich ein paarmal mit den Blitzköpfen zusammengebracht. Sie wollte wissen, ob es irgendwelche Bahnabweichungen bei unseren Schnüffelsatelliten gibt.« Er zuckte die Achseln. »Natürlich gibt es welche. So macht man die Karten für die Dichte unter der Oberfläche.«

»Also«, fuhr Trud fort, »die Spinnen, die das gemacht haben, hatten ungefähr eine Megasek Ruhm, bis sie feststellten, dass sie ihre wundersame Entdeckung nicht nachvollziehen konnten. Ihr Dementi kam gerade vor ein paar Kilosek.« Er kicherte. »Was für Idioten. Bei einer menschlichen Zivilisation hätte sich die Behauptung keinen Tag lang gehalten.«

»Die Spinnen sind nicht dumm«, sagte Rita.

»Sie sind auch nicht inkompetent«, warf Ezr ein. »Klar, die meisten menschlichen Gesellschaften wären gegenüber so einem Bericht sehr skeptisch. Aber die Menschen hatten achttausend Jahre, um Erfahrungen mit der Wissenschaft zu machen. Selbst eine herabgesunkene Zivilisation, wenn sie nur fortgeschritten genug wäre, um solche Fragen zu untersuchen, hätte Bibliotheksruinen, die das menschliche Erbe enthalten.«

»Ja, stimmt. ›Alles, was die Spinnen tun, ist das erste Mal.‹«

»Aber das ist wahr, Trud! Wir wissen, dass sie Erststarter sind. Wir kennen nur einen Fall, der wirklich zu vergleichen ist — unsere Entwicklung auf der Alten Erde. Und es gibt so viel, was die menschlichen Erststarter falsch verstanden haben.«

»Eigentlich tun wir ihnen einen großen Gefallen, wenn wir sie übernehmen.« Das kam von Arlo Dinh von der Dschöng Ho. Er sagte es mit der moralischen Glätte eines Aufsteigers.

Ezr nickte zögernd. »Na ja, unsere Vorfahren im Zeitalter der Morgenröte hatten unglaublich viel Glück, dass sie aus der Ein-Planet-Falle herausgekommen sind. Und die Genies der Spinnen sind nicht besser als die menschlichen in alten Zeiten. Schaut euch diesen Unterberg an. Seine Studenten haben eine Menge zu Stande gebracht, aber…«

»Aber er steckt voller Aberglauben«, warf Trud ein.

»Stimmt. Er hat keine Vorstellungen von den Beschränkungen der Software-Entwicklung und von den Grenzen, die sich daraus für die Hardware ergeben. Er glaubt, Unsterblichkeit und Gott ähnliche Computer warteten gleich hinter der Ecke, das Ergebnis von nur noch ein bisschen mehr Fortschritt. Er ist eine wandelnde Bibliothek der Gescheiterten Träume.«

»Siehst du! Das ist der wahre Grund, warum du Reynolt so lieb bist. Du weißt, an welche Phantasievorstellungen die Spinnen glauben könnten. Wenn es so weit ist, sie einzusacken, wird das wichtig sein.«

»Wenn es so weit ist…« Jau Xin lächelte schief. An der gegenüberliegenden Wand neben dem Wachplan hatte Benny ein Fenster mit der Offenbarungs-Wette. Zu raten, wann sie aus dem Versteck treten würden, wann das Exil ein Ende hätte — das war ein ewiges Thema der Biersalon-Debatten. »Es ist über dreißig Jahre Echtzeit her, dass die Sonne wieder aufgeflammt ist. Ich bin eine Menge draußen, wisst ihr, fast so viel wie Qiwi Lisolet und ihre Arbeitsgruppen. Jetzt ist die Sonne am Abklingen. Uns bleiben nur noch ein paar Jahre, bis sie wieder tot ist. Die Spinnen selbst haben einen Zieltermin. Ich wette, dass sie in weniger als zehn Jahren im Informationszeitalter sind.«

»Nein, nicht weit genug, um uns eine glatte Übernahme zu ermöglichen«, sagte Arlo.

»In Ordnung. Aber am Ende werden uns vielleicht andere Dinge zum Handeln zwingen. Die Spinnen haben die Anfänge eines Raumfahrtprogramms. In zehn Jahren wird es vielleicht unmöglich sein, unsere Operationen — unsere Anwesenheit hier bei L1 — zu tarnen.«

Trud: »Und? Wenn sie zu aufmüpfig werden, kriegen sie eins übergebraten.«

Jau: »Und wir hacken uns dabei ins eigene Fleisch, Mann.«

»Ihr redet beide Unsinn«, sagte Arlo. »Ich wette, wir haben keine zehn Nuklearsprengköpfe mehr. Den ganzen Rest scheinen wir vor einiger Zeit füreinander verwendet zu haben…«

»Wir haben Direktenergie-Waffen.«

»Ja, wenn wir in einer engen Umlaufbahn wären. Ich sage euch, wir könnten ordentlich bluffen, aber…«

»Wir könnten unsere kaputten Schiffe auf die Mistkerle schmeißen.«

Ezr wechselte einen Blick mit Rita Liao. Das war das Argument, das sie zur Raserei brachte. Sie — und Jau und die meisten Leute am Tisch — betrachteten die Spinnen als Menschen ebenbürtige Wesen. Das war Trixias Triumph. Den Aufsteigern, zumindest außerhalb der Hülsenmeister-Klasse, behagte der Gedanke an Megamorde nicht. Jedenfalls hatte Jau Xin gewiss Recht: Ob die Aufsteiger nun die notwendige Feuerkraft besaßen oder nicht, der ganze Zweck der Lauer war es ja, einen Kunden hervorzubringen, der die Mission wieder ins Geschäft bringen würde. Sie in die Luft zu sprengen hatte nur für Irre wie Ritser Brughel Sinn.

Ezr lehnte sich zurück, weg vom Streitgespräch. Er hatte Phams Namen auf dem Wachplan gesehen; nur noch ein paar Tage, und sie würden ihr erstes richtiges Treffen haben. Geh es langsam und geduldig an, keine Hast. Er hoffte, der Debattierclub würde zu etwas Interessanterem fortschreiten, doch selbst dieser Unsinn war ein angenehmes, vertrautes Surren. Nicht zum ersten Mal wurde Ezr bewusst, dass dies fast so war, als hätte er eine Familie — eine Familie, die endlos über Probleme stritt, die sich nie zu ändern schienen. Er kam sogar mit den Aufsteigern zurecht, und die mit ihm. Fast wie ein normales Leben… Er schaute durch das Geflecht der N-Reben, das den Raum ringsum erfüllte. Die Blüten hatten sogar einen schwachen Geruch — freilich nicht zu vergleichen mit dem Stinklack, mit dem es Hunte vorher versucht hatte. Ah. Eine Lücke tat sich zwischen den Blüten und Blättern auf und erlaubte den Blick auf Bennys Stand am Boden des Salons. Er winkte Benny zu. Vielleicht konnte er doch etwas richtiges Essen verdauen. Dann sah er eine karierte Hose und eine Fraktill-Bluse aufblitzen.

Qiwi.

Sie und Benny waren tief in Verhandlungen versunken. Benny zeigte auf das elende Stück Tapete, das sich über die Bodenwand des Salons hinzog. Qiwi nickte und schaute in irgendeiner Liste nach. Dann schien sie seinen Blick zu spüren. Sie wandte sich um und winkte Ezrs Gruppe oben an der Decke zu. Sie ist soschön. Ezr schaute weg, sein Gesicht auf einmal frostig. Einst war Qiwi das Balg gewesen, das ihn über alle Maßen irritiert hatte. Einst war ihm Qiwi als Verräterin erschienen, die die Blitzköpfe missbrauchte. Und einst hatte Ezr sie geschlagen und geschlagen… Ezr erinnerte sich an die Wut — wie gut das Gefühl gewesen war, ein wenig Rache für Jimmy Diem und Trixia Bonsol zu nehmen. Doch Qiwi war keine Verräterin; Qiwi war in größerem Maße ein Opfer, als sie wusste. Wenn Pham Recht hatte, was die Gehirnwäsche betraf — und er musste Recht haben, der Horror passte zu gut zu den Tatsachen —, dann war Qiwi ein Opfer fast über alle menschliche Vorstellungskraft hinaus. Und indem er Qiwi schlug, hatte Ezr etwas über sich selbst erfahren. Er hatte erfahren, dass es mit seinem Anstand wohl nicht weit her war. Diese Selbsterkenntnis konnte er die meiste Zeit wegstecken. Vielleicht konnte er noch Gutes tun, selbst, wenn er im Grunde etwas Abscheuliches war… Doch wenn er Qiwi tatsächlich sah und sie ihn…, dann war es unmöglich, zu vergessen, was er getan hatte.

»Hallo Qiwi!« Rita hatte Qiwis Winken bemerkt. »Hast du einen Moment Zeit? Wir möchten, dass du etwas für uns regelst.«

Qiwi grinste. »Komme gleich.« Sie wandte sich wieder Benny zu. Er nickte, reichte ihr ein Bündel Gutschriften. Dann kam sie am Gitterwerk der Ranken heraufgeschnellt. Sie zog Bennys Netz hinter sich her, gefüllt mit Bier-Nachschub und weiteren Happen. Im Grunde tat sie einen Teil von Bennys Arbeit für ihn. So war Qiwi nun mal. Sie war Teil der Untergrund-Wirtschaft, der Arbeitstiere, die das Leben hier relativ angenehm machten. Wie Benny zögerte sie nicht, Hand anzulegen, zu arbeiten. Und gleichzeitig hatte sie das Ohr der Hülsenmeister; sie verlieh Naus Regime eine Sanftheit, die Aufsteiger wie Jau Xin nicht bewusst eingestehen konnten. Doch man sah es in Jaus und Ritas Augen: Fast empfanden sie Ehrfurcht vor Qiwi Lisolet.

Und sie lächelte ihn an. »Hallo, Ezr. Benny dachte, du würdest noch etwas haben wollen.« Sie ließ den Container in Haftkontakt mit dem Tisch vor ihm gleiten. Ezr nickte, außerstande, ihr in die Augen zu sehen.

Rita plapperte inzwischen schon auf sie ein; vielleicht bemerkte niemand, wie peinlich ihm die Situation war. »Ohne nach Insider-Neuigkeiten zu fragen, Qiwi, aber wie lautet die neueste Schätzung für der Zeitpunkt der Offenbarung?«

Qiwi lächelte. »Meine Schätzung? Höchstens zwölf Jahre. Der Fortschritt der Spinnen in der Raumfahrt könnte uns zwingen, vorher aktiv zu werden.«

»Ja.« Rita warf Jau einen Blick zu. »Also, wir haben uns Folgendes gefragt: Angenommen, wir kriegen nicht alles über ihr Computernetz in den Griff. Angenommen, wir müssen Partei ergreifen, einen Mächteblock gegen den anderen ausspielen. Wen würden wir unterstützen?«

Fünfunddreissig

Diamant Eins war über zweitausend Meter lang und fast ebenso breit, bei weitem der größte Felsen im Haufen. Im Laufe der Jahre war der Kristall direkt unter Hammerfest in ein Höhlenlabyrinth verwandelt worden. Die oberen Etagen waren die Labors und Büros. Darunter lagen Tomas’ Privaträume. Unterhalb davon befand sich die jüngste Ergänzung der umgekehrten Architektur: ein linsenförmiger Hohlraum von über zweihundert Metern Durchmesser. Seine Herstellung hatte die meisten Thermograbmaschinen verschlissen, doch Qiwi hatte nichts dagegen eingewandt; es war sogar teilweise ihre Idee gewesen.

Die drei menschlichen Gestalten verloren sich fast in den Dimensionen des Ortes. »Also, ist das beeindruckend, oder ist es nicht beeindruckend?«, fragte Qiwi und lächelte Tomas an.

Nau starrte geradewegs empor, das Gesicht vor Staunen erschlafft. Das kam nicht oft vor. Er hatte es noch nicht bemerkt, doch er hatte sein Gleichgewicht verloren und kippte langsam nach hinten. »Ich… ja. Nicht einmal die Simulation in der Datenbrille ist dem gerecht geworden.«

Qiwi lachte und klopfte ihn sacht zurück in die Senkrechte. »Ich gestehe. In der Simulation habe ich die Lichter nicht gezeigt.« Farbig gleißende Bögen waren in echofreie Höhlungen an der Decke versenkt. Die Lampen verwandelten den Himmel in ein funkelndes Juwel. Indem man ihre Strahlung regelte, war fast jeder Beleuchtungseffekt zu erzielen, immer aber mit einer Regenbogen-Schattierung.

Zu ihrer Rechten starrte auch Papa, doch nicht voller Entzücken und nicht nach oben. Ali Lin stand auf den Händen. Er ignorierte die feine Andeutung von Schwerkraft, während er mit dem Finger gegen die wie Kies geformte Oberfläche stukte, die die Grabmaschinen in dem Diamantfußboden zurückgelassen hatten. »Hier lebt nichts, überhaupt nichts.« Sein Gesicht verzog sich zu einem Stirnrunzeln.

»Das wird der größte Park sein, den du jemals gemacht hast, Papa. Eine Tabula rasa, auf der du arbeiten kannst.« Das Stirnrunzeln ging zurück. Wir werden zusammen daran arbeiten, Papa. Du kannst mich neue Dinge lehren. Dies hier müsste groß genug sein für richtige Tiere, sogar für Flugkätzchen. Die waren eher Traum als Erinnerung, von der Zeit her, die Mama und Papa und Qiwi im Abflug-Temp der Triländer verbracht hatten.

Und Tomas sagte: »Ich bin so froh, dass du mich dazu gedrängt hast. Ich wollte nur ein bisschen mehr Sicherheit, und du hast mir etwas Wunderbares gegeben.« Seine Hände strichen ihren Rücken hinab bis knapp über den Hüften.

»Das wird ein großer Park, sogar nach Dschöng-Ho-Maßstäben. Nicht der größte, aber…«

»Aber wahrscheinlich wird es der beste sein.« Er beugte sich an ihr vorbei, um Ali Lin sacht auf die Schulter zu klopfen.

»Ja.« Ja, wahrscheinlich wird es der beste sein. Papa war immer ein erstklassiger Parkarchitekt gewesen. Und jetzt war er seit fünfzehn Jahren seines Lebens auf sein Fachgebiet fokussiert. In dieser Zeit hatte er jedes Jahr neue Wunder hervorgebracht. Seine Bonsais und Mikroparks waren bereits besser als die besten von Namqem. Sogar die fokussierten Aufsteiger-Biologen waren so gut wie die besten von der Dschöng Ho, da sie nun Zugang zur Biobibliothek der Flotte hatten.

Und wenn das Exil vorüber ist, Papa, wenn du endlich frei bist, dann wirst du wirklich wissen, welche Wunder du vollbracht hast.

Naus Blick ging hin und her über die leere, glitzernde Höhle. Er stellte sich wohl einige von den Landschaften vor, die sie enthalten konnte — Savanne, kühler Regenwald, Wiesenland im Gebirge. Selbst Alis Magie konnte hier nicht mehr als ein Ökosystem gleichzeitig erschaffen, doch es gab Wahlmöglichkeiten… Sie lächelte: »Möchtest du einen See?«

»Was?«

»Code ›Nasswasser‹, in meiner Entwurfsbibliothek.« Und Qiwi stellte ihre eigene Brille auf den Entwurf ein.

»Uhm… davon hast du mir nichts gesagt!«

Über die Diamant-Wirklichkeit der Höhle überblendet war einer von Alis Waldland-Plänen — doch jetzt war der Mittelpunkt der Höhle ein See, der sich immer weiter in die Ferne dehnte, bis er zu Inselbergen gelangte, die Kilometer entfernt zu sein schienen. Ein Segelboot hatte gerade von der baumumstandenen Anlegestelle am Fuße des Hanges unter ihnen abgelegt.

Tomas schwieg einen Augenblick. »Gott. Das ist auf dem Grundstück meines Onkels bei Nordpfote. Ich habe etliche Sommer dort verbracht.«

»Ich weiß. Ich habe es aus deiner Biographie.«

»Es ist schön, Qiwi, auch wenn es unmöglich ist.«

»Nicht unmöglich! Wir haben oben reichlich Wasser; dies hier gibt ein gutes Nebenlager für einen Teil davon ab.« Sie winkte zur Ferne hin, wo sich der See ausbreitete. »Wir graben an der anderen Seite der Höhle noch ein Stück weg und lassen den See bis an die Wand gehen. Wir kriegen genug Bildtapete zusammen, um ein realistisches Fernbild zu erzeugen.« Das stimmte vielleicht nicht. Die Bildtapete von den Schiffswracks hatte unter dem Vakuum erheblich gelitten. Egal. Tomas trug gern Datenbrillen, und die ferne Szenerie konnten sie für die Leute ausmalen, die nicht an den Brillenbildern teilhatten.

»Das ist nicht, was ich meine. Wir können keinen richtigen See haben, nicht bei Mikroschwerkraft. Jedes kleine Felsbeben würde ihn die Wände hochschicken.«

Qiwi ließ ihr Lächeln breiter werden. »Das ist die eigentliche Überraschung. Ich kriege das hin, Tomas! Wir haben Tausende von Servoventilen in den Schiffswracks, mehr, als wir für alle anderen Zwecke gebrauchen können. Wir bringen sie auf Grund des Sees unter und betreiben sie mit einem Netzwerk von Ortern. Es wäre leicht, die Wasserwellen zu dämpfen und den See an Ort und Stelle zu halten.«

Tomas lachte. »Dir gefällt es wirklich, das von Natur aus Unstabile zu stabilisieren, nicht wahr, Qiwi! Nun ja… du hast es beim Felshaufen geschafft, vielleicht kannst du es auch hier.«

Sie zuckte die Achseln. »Klar kann ich das. Bei einer begrenzten Uferlinie könnte ich es sogar mit den Aufsteiger-Ortern.«

Tomas wandte sich ihr zu und schaute sie an, und jetzt sah sie keine Visionen vor seinen Augen. Er war wieder in der harten sterilen Welt der Diamanthöhle. Doch er hatte das Wunder gesehen, und sie wusste, dass es ihm gefallen hatte. »Es wäre wunderbar… eine Menge Ressourcen allerdings, und eine Menge Arbeit.« Arbeit von Nicht-Blitzköpfen, meinte er. Selbst Tomas betrachtete die Fokussierten nicht als richtige Menschen.

»Es würde die wichtigen Sachen nicht behindern. Die Ventile sind Schrott. Orter haben wir im Überfluss. Und Leute schulden mir eine Menge Gefälligkeiten.«


Nach einer Weile führte Nau seine Frau und den Blitzkopf aus der Höhle. Wieder einmal hatte ihn Qiwi überrascht, diesmal auf spektakulärere Weise als üblich. Und verdammt. Das war noch ein Grund, warum sie in Hammerfest die Orter brauchten. Reynolts Leute hatten die Geräte noch nicht freigegeben, aber wie kompliziert konnten die denn sein? Lassen wir das für später. Qiwi hatte gesagt, sie könnte sogar mit Aufsteiger-Ortern eine Art See hinkriegen.

Sie gingen durch die unteren Etagen zurück, erwiderten die Grüße und das Winken von Technikern, sowohl Aufsteigern als auch vormals von der Dschöng Ho. Sie ließen Ali Lin in dem Gartenpark zurück, der seine Werkstatt war. Qiwis Vater war nicht in den Käfigwaben der Obergeschosse eingesperrt. Sein Fachgebiet erforderte offene Räume und Lebewesen. Zumindest stellte es Tomas Nau so Qiwi gegenüber dar. Es war plausibel, und es bedeutete, dass das Mädchen nicht fortwährend dem gewöhnlichen Anblick des Fokus ausgesetzt war; das trug dazu bei, ihren unvermeidlichen Durchbruch zum Verständnis hinauszuzögern.

»Du musst rüber ins Temp, Qiwi?«

»Ja, ein paar Aufträge. Ein paar Freunde treffen.« Qiwi hatte Geschäfte zu Ende zu bringen, Gefälligkeiten einzuholen.

»Gut.« Er zog sie zu einem Kuss hoch, dass es im ganzen Büroflur zu sehen war. Egal. »Du hast es gut gemacht, Liebes!«

»Danke.« Ihr Lächeln war etwas Verwirrendes. Mit über dreißig Jahren war Qiwi Lisolet immer noch von seiner Billigung abhängig. »Bis zum Abend.«

Sie verschwand den Zentralschacht hinauf, zog sich Hand über Hand immer schneller voran, schoss geradezu an anderen Leuten im Schacht vorbei. Qiwi übte noch jeden Tag in einer 2-g-Zentrifuge, trainierte noch die Kampfsportarten. Das war alles, was vom Einfluss ihrer Mutter geblieben war, zumindest alles, was davon zu sehen war. Zweifellos war ein Gutteil ihrer Antriebsenergie eine Art sublimiertes Bemühen, es ihrer Mutter recht zu tun.

Nau schaute empor, vergaß fast die Leute, die ringsum herabkamen; sie würden ihm schon aus dem Weg gehen. Er sah zu, wie Qiwis Gestalt auf dem Weg nach oben kleiner wurde.

Nach Anne Reynolt war Qiwi sein kostbarster Besitz. Doch Reynolt hatte er im Grunde geerbt; Qiwi Lin Lisolet war sein persönlicher Triumph, eine brillante, unfokussierte Person, die all die Jahre uneingeschränkt für ihn arbeitete. Sie zu besitzen, sie zu manipulieren — das war eine Herausforderung, die nie ihren Reiz verlor. Und es gab immer einen Anflug von Gefahr. Sie hatte genug Kraft und Geschwindigkeit — mindestens —, um mit bloßen Händen töten zu können. In den frühen Jahren hatte er das nicht begriffen. Doch damals hatte er auch nicht erkannt, welch ein wertvolles Ding sie war.

Ja, sie war sein Triumph, doch Nau war realistisch genug, um zu wissen, dass er auch Glück gehabt hatte. Er hatte Qiwi gerade im richtigen Alter und in der richtigen Situation zum ersten Mal errungen — als sie alt genug war, um den Dschöng-Ho-Hintergrund mit einer gewissen Tiefe in sich aufgenommen zu haben, aber jung genug, um vom Diem-Massaker geformt zu werden. In den ersten zehn Jahren des Exils hatte sie seine Lügen nur dreimal durchschaut.

Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Qiwi glaubte, sie verändere ihn, sie habe ihm gezeigt, wie gut die Methoden der Freiheit funktionieren. Nun ja, sie hatte Recht. In den Anfangsjahren war seine Erlaubnis der Untergrundwirtschaft ein Teil des Spiels gewesen, das er mit ihr spielte, eine vorübergehende Schwäche. Aber die Untergrundwirtschaft hatte wirklich funktioniert. Sogar die Lehrbücher der Dschöng Ho behaupteten, der freie Markt müsse in einer derart abgeschlossenen und beschränkten Umwelt wie dieser bedeutungslos sein. Und dennoch hatten die Krämer Jahr für Jahr dafür gesorgt, dass es besser wurde — selbst bei Unternehmungen, die Nau sowieso verlangt hätte. Wenn sie ihm also jetzt versicherte, dass Leute ihr Gefälligkeiten schuldig waren, dass sie richtig hart arbeiten würden, um den Seepark zu bauen — Pest, ich möchte den See wirklich haben —, lachte sich Tomas Nau nicht heimlich ins Fäustchen. Sie hatte Recht: Die Leute — sogar die Aufsteiger — würden an diesem Park besser arbeiten, weil sie Qiwi etwas verdankten, als aus dem Grund, dass Tomas Nau der Hülsenmeister war und sie letzten Ende allesamt ins Vakuum schießen konnte.

Qiwi war eine winzige Gestalt am oberen Ende des Schachts. Sie wandte sich um und winkte. Nau winkte zurück, und sie verschwand seitwärts in einem der Tunnel zu den Taxis.

Nau stand noch einen Augenblick da und starrte empor, ein Lächeln auf dem Gesicht. Qiwi hatte ihn die Macht verwalteter Freiheit gelehrt. Onkel Alan und die Nau-Clique hatten ihm die Macht fokussierter Sklaven vererbt. Und der EinAus-Stern…? Je mehr sie über den Stern und seinen Planeten erfuhren, um so stärker spürte er die ehrfürchtige Überzeugung, dass sich dort Wunder verbargen, vielleicht nicht die Schätze, die sie sich erhofft hatten, sondern viel Größeres. Die Biologie, die Physik, die weite galaktische Umlaufbahn des Sterns… was das zusammen bedeutete, überstieg einfach das Verständnis der Analytiker und forderte seine Phantasie heraus.

Und in ein paar Jahren würden ihm die Spinnen eine industrielle Ökologie liefern, mit der man all das ausbeuten konnte.

Es hatte nie einen Ort und eine Zeit in der menschlichen Geschichte gegeben, wo sich einem einzelnen Mann so große Gelegenheiten geboten hatten. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ein jüngerer Tomas Nau vor den Ungewissheiten gebebt. Doch die Jahre waren vergangen, und Schritt für Schritt hatte er sich den Problemen gestellt und sie gemeistert. Aus der Arachna zu gewinnen, war die Macht einer Dynastie, wie sie die Menschheit noch nicht erlebt hatte. Es würde Zeit erfordern, vielleicht noch ein, zwei Jahrhunderte, doch am Ende würde er kaum älter sein als die mittleren Jahre bei der Dschöng Ho. Er konnte die Aufsteiger-Cliquen beseitefegen. Dieser Teil des Menschenraums würde das größte Imperium aller Zeiten sehen. Die Legenden von Pham Nuwen würden in dem Licht verblassen, das Tomas Nau ausstrahlen würde.

Und Qiwi? Er warf einen letzten Blick hinauf. Er hoffte, sie würde das Ende des Exils erleben. Es gab so viel, wobei sie ihm helfen konnte, wenn sie die Spinnen niederzwangen. Doch die Maske wurde dünn. Die Gehirnwäsche war nicht perfekt; Qiwi holte schneller auf als in den Anfangsjahren. Ohne große Teile des Hirngewebes zu zerstören, konnte Anne nicht das ausschalten, was sie ›neurale Restbelastung‹ nannte. Und natürlich gab es ein paar Widersprüche, die Kälteschlaf-Amnesie nicht plausibel überdecken konnte. Letzten Endes, selbst bei geschicktester Manipulation… Wie sollte er es erklären, dass er die versprochene Freilassung widerrief? Wie konnte er die Maßnahmen erklären, die er gegen die Spinnen ergreifen würde, oder das Menschenzuchtprogramm, das notwendig sein würde? Nein. Unvermeidlich, aber höchst bedauerlich — er würde sich Qiwis entledigen müssen. Doch selbst dann konnte sie ihm noch dienen. Kinder von ihr wären immer noch möglich. Eines Tages würde seine Herrschaft Erben brauchen.


Qiwi trudelte etwa zweitausend Sekunden später in Bennys Salon ein. Und es war Benny, der diese Wache den Laden schmiss. Gut. Er war ihr liebster Wirt. Einen Augenblick lang feilschten sie über die neue Ausrüstung, die er haben wollte. »Herrgott, Benny! Du brauchst mehr Tapete? Es gibt andere Projekte, die welche gebrauchen könnten, weißt du.« Wie ein gewisser Park unter Hammerfest.

Benny zuckte die Achseln. »Bring den Hülsenmeister dazu, Gemeinbild-Darstellung zu erlauben, und ich brauche keine Tapete. Aber das Zeug nutzt sich einfach ab. Siehst du?« Er deutete auf den Fußboden, wo das Bild der Arachna permanent angebracht war. Sie sah ein Sturmsystem, das Weißenberg wahrscheinlich in ein paar Kilosekunden erreichen würde; zweifellos waren die Bildtreiber noch in Funktion. Doch sie sah auch die Verzerrungen und die verschwommenen Farben.

»In Ordnung, wir können noch etwas davon aus der Unsichtbare Hand ausschlachten, aber das kostet dich einiges.« Ritser Brughel würde Zeter und Mordio schreien, obwohl er für die Tapete keine Verwendung hatte. Ritser betrachtete die Hand als sein privates Lehen. Sie schaute auf Bennys handgeschriebene Liste, auf die anderen Punkte. Die aufgebrauchten Speisen stammten alle aus der Baktrei und den Agros des Temps — darum würde sich Gonle Fong kümmern wollen. Flüchtige Stoffe und Basis-Organik, aha. Wie üblich, verhandelte Benny deswegen unter der Hand separat und versuchte, Gonle Fong kurzzuschließen, indem er sich direkt an die Leute vom Bergbaubetrieb auf dem Felshaufen wandte. Für beste Freunde, die die beiden waren, nahmen sie ihren geschäftlichen Wettbewerb schrecklich ernst.

Am Rande ihres Blickfeldes bewegte sich etwas. Sie blickte hoch. Drüben bei der Decke hing Xins Bande an ihrer üblichen Stelle. Ezr! Ein unwillkürliches Lächeln breitete sich über Qiwis Gesicht aus. Er hatte sich von den anderen weggedreht, schaute in ihre Richtung. Sie winkte ihm zu. Ezrs Gesicht schien zuzuklappen, und er wandte sich ab. Einen Augenblick lang stieg eine Menge alter Schmerz in Qiwis Geist hoch. Selbst wenn sie ihn jetzt sah, war da immer dieses rasche, unwillkürliche Aufflackern von Freude, wie wenn man einen lieben Freund sieht, dem man so viel zu sagen hat. Doch die Jahre waren vergangen, und jedes Mal hatte er sich abgewandt. Sie hatte Trixia Bonsol kein Leid zufügen wollen; sie half Tomas, weil er ein guter Mensch war, ein Mann, der sein Möglichstes tat, um sie durchs Exil zu bringen.

Sie fragte sich, ob Ezr sie jemals nahe genug heranlassen würde, dass sie ihm das erklären konnte. Vielleicht. Es standen noch Jahre bevor. Am Ende des Exils, wenn sie eine ganze Zivilisation hätten, die ihnen helfen würde, und wenn er Trixia zurückbekäme — sicherlich würde er dann verzeihen.

Sechsunddreissig

Der Raum zwischen der Außenhülle des Temps und den bewohnbaren Ballons war ein Puffer gegen Lecks. Im Laufe der Jahre hatten verschiedene von Gonle Fongs Landwirtschaftsjobs diesen Raum genutzt; ein Druckabfall hätte ein paar Trüffel umgebracht oder ihr Experiment mit Canberra-Blumen scheitern lassen. Selbst jetzt nahmen Fongs Agros nur einen Teil des toten Raumes ein. Pham traf Ezr Vinh in gebührendem Abstand von den kleinen Gartenparzellen. Hier war die Luft reglos und kalt, und das einzige Licht war der trübe Schein des EinAus-Sterns, der durch die Außenwand sickerte.

Pham hakte seinen Fuß unter eine Wandhalterung und wartete geduldig. Früher während dieser Wache hatte er dafür gesorgt, dass diese Raumgebiete mit Ortern wohlbestückt waren. Sie waren hier und da auf den Wänden verstreut. Ein paar schwebten schon in der Luft rings um ihn, obwohl sie selbst in hellem Licht kaum mehr als Staubkörnchen gewesen wären. Und so war Pham, hier im Zwielicht versteckt, ein Ein-Mann-Befehlsstand. Er konnte von jedem Ort, den er befahl, hören und sehen — jetzt eben die Luftlücke zwischen den Ballons. Jemand näherte sich vorsichtig. Im Augenhintergrund konnte er jetzt sehen, fast so gut wie mit Dschöng-Ho-Datenbrillen. Es war der Vinh-Junge, der nervös und verstohlen aussah.

Wie alt war Vinh jetzt, dreißig? Eigentlich kein Kind mehr. Aber immer noch hatte er diese Züge, diese ernsthafte Art… ganz wie Sura. Niemand, dem man vertrauen durfte, o nein. Aber hoffentlich jemand, den er benutzen konnte.

Vinh erschien in direkter Sicht, als er um die Krümmung des inneren Ballons kam. Pham hob die Hand, und der Junge hielt an, schnappte vor Überraschung nach Luft. Bei all seiner Vorsicht wäre Vinh beinahe an Pham vorbeigekommen, ohne ihn zu bemerken; wie er in der Einbuchtung des Wandgewebes schwebte. »Ich… hallo.« Vinh flüsterte.

Pham schwebte von der Wand weg, an eine Stelle, wo das Licht vom EinAus ein bisschen besser war. »Endlich treffen wir uns«, sagte er und lächelte den Jungen schief an.

»J-ja. Wirklich.« Ezr wandte sich um, schaute ihn eine Zeit lang an, und dann machte er — Gott! — eine kleine Verbeugung. Seine Sura-Gesichtszüge zogen sich zu einem scheuen Lächeln breit. »Es ist seltsam, wirklich Sie zu sehen, nicht Pham Trinli.«

»Schwerlich ein sichtbarer Unterschied.«

»Oh, Herr Nuwen, Sie wissen das nicht. Wenn Sie Trinli sind, sind all die kleinen Dinge anders. Hier, sogar in diesem Licht, sehen Sie anders aus. Wenn Nau oder Reynolt Sie auch nur zehn Sekunden lang sähen, würden sie es auch wissen.«

Der Junge hatte eine zu lebhafte Phantasie. »Nun ja, das Einzige, was sie die nächsten zweitausend Sekunden sehen, sind die Lügen, die meine Orter ihnen liefern. Hoffentlich reicht das bei dir für den Anfang…«

»Ja! Man kann mit der Ortern wirklich sehen, ihnen wirklich Befehle eingeben?«

»Mit genug Übung.« Er zeigte dem Jungen, wie man Orterkörner rund um seinen Augapfel anbrachte und wie man die Orter in der Nähe veranlasste, mit jenen zusammen zu arbeiten. »Mach das nicht in der Öffentlichkeit. Der erzeugte Strahl ist sehr schmal, könnte aber trotzdem bemerkt werden.«

Vinh starrte wie blicklos vor sich hin. »Ah, es ist, als ob etwas an der Rückseite meiner Augen knabbert.«

»Die Orter kitzeln direkt deinen Sehnerv. Was da heraufkommt, kann zunächst sonderbar sein. Die Befehle kannst du mit ein paar einfachen Übungen erlernen, aber aus den visuellen Kitzeln Sinn zu erfassen… na ja, ich denke, das ist wie neu sehen lernen.« Pham vermutete, dass es ungefähr so war, wie wenn ein Blinder mit einer visuellen Prothese sehen lernte. Manche Menschen schafften es, andere blieben blind. Er sprach das nicht aus. Vielmehr führte er Ezr durch einige Textmuster, mit denen Vinh üben konnte.

Pham hatte viel darüber nachgedacht, wie viel von der Befehlsschnittstelle er dem Vinh-Jungen eigentlich zeigen wollte. Doch Ezr wusste bereits genug, um ihn zu verraten. Ohne ihn umzubringen, war dagegen nichts zu machen. All die verdammten Hinweise, die ich ausgelegt habe und die auf die Zamle-Eng-Geschichte zeigten, und er hat trotzdem die Wahrheit ausgemacht. Hoffen wir, dass es nur sein Hintergrund einer Großen Familie war, der das ermöglicht hat. Pham hatte ihn nun jahrelang in Unwissenheit gelassen, hatte nach Anzeichen für Gegenpläne Ausschau gehalten, versucht, die tatsächliche Fähigkeit des Jungen zu ermessen. Was er gesehen hatte, war ein zwanghafter, unsicherer Heranwachsender, der in einer Tyrannei erwachsen wurde — und sich dennoch einige Vernunft bewahrte.

Wenn es zum Knacken kam, wenn Pham schließlich gegen Nau und Brughel vorging, würde er jemanden brauchen, der ihm half, an den Strippen zu ziehen. Er musste dem Jungen ein paar von den Tricks beibringen… doch es gab Nächte, da Pham mit den Zähnen knirschte, wenn er daran dachte, welche Macht er einem Vinh überantwortete.

Ezr lernte den Befehlssatz sehr schnell. Jetzt dürfte er keine Schwierigkeiten haben, die anderen Techniken zu erlernen, die Pham für ihn offengelegt hatte. Volle Sicht würde sich langsam einstellen, aber…

»Ja, ich weiß, dass du noch nicht mehr als Lichtblitze siehst. Versuche einfach, dich an die Testmuster zu halten. In ein paar Megasek wirst du so gut wie ich sein.« Fast so gut.

Schon die Versicherung schien den Jungen zu beruhigen. »Gut, ich werde üben und üben — immer in meinem Zimmer, wie Sie gesagt haben. Das gibt mir das Gefühl… ich weiß nicht, als ob ich jetzt eben mehr erreicht hätte als bisher in Jahren.«

Nur hundert Sekunden von der vorgesehen Zeit blieben noch. Die Tarnung, die sie vor den Schnüfflern verbarg, konnte nicht verändert werden. Egal. Einfach gegenüber dem Jungen natürlich reagieren. Plattheiten. »Du hast in der Vergangenheit eine Menge geschafft. Zusammen haben wir eine Menge über die Hammerfest-Operation erfahren.«

»Ja, aber das wird etwas anderes sein… Wie wird es sein, wenn wir gewinnen, Herr Nuwen?«

»Danach?« Was durfte er nicht sagen? »Es wird… großartig sein. Wir werden Dschöng-Ho-Technik haben und eine planetare Zivilisation, die schon beinahe imstande ist, die Technik zu verwenden. An sich ist das die mächtigste Handelsposition, die irgendwer von der Dschöng Ho jemals hatte. Aber wir werden mehr bekommen. Im Laufe der Zeit werden wir Staustrahlantriebe haben, die die Erkenntnisse aus der Physik des EinAus-Sterns nutzen. Und du kennst die DNS-Vielfalt der Arachna. Das allein ist ein enormer Schatz, eine Überraschungskiste, mit der wir…«

»Und alle Fokussierten werden befreit.«

»Ja, ja. Natürlich. Keine Sorge, Vinh, wir bekommen Trixia zurück.« Das war ein teures Versprechen, aber eins, das Pham zu halten gedachte. Wenn Trixia Bonsol frei war, würde Vinh in Bezug auf die Übrigen vielleicht auf die Vernunft hören. Vielleicht.

Pham kam zu Bewusstsein, dass ihn der Junge seltsam anschaute; er hatte das Schweigen zu weit ausgedehnt, sodass es unerwünschte Implikationen nach sich zog. »Gut, ich denke, wir haben den Boden bereitet. Übe die Eingabesprache und die visuellen Testmuster. Für diesmal ist unsere Zeit um.« Dem Herrn des Handels sei Dank. »Du gehst als Erster — dorthin zurück, wo du hergekommen bist. Die Tarnlegende ist, dass du fast bis zum Taxistand gekommen bist, dich dann aber entschlossen hast, zum Frühstück in den Aufenthaltsraum zu gehen.«

»Gut.« Vinh zögerte einen Augenblick, als wolle er mehr sagen. Dann machte er kehrt und schwebte zurück um die Wölbung des inneren Ballons.

Pham beobachtete die Zeitanzeige, die im Hintergrund seines Blickfeldes schwebte. In zwanzig Sekunden würde er in die andere Richtung aufbrechen. Die Orter hatten zweitausend Sekunden sorgsam geplante Lügen an Brughels Schnüffler geliefert. Später würde Pham das auf Übereinstimmung mit dem überprüfen, was wirklich überall im übrigen Temp vor sich gegangen war. Es würden zweifellos ein paar Korrekturen notwendig sein. Diese Art Treffen wäre einfach gewesen, wenn der Feind gewöhnliche Analytiker gewesen wären. Bei Blitzkopf-Schnüfflern war sich den Hintern zu decken eine gewaltige Übung in Verfolgungswahn.

Zehn Sekunden. Er starrte ins Zwielicht, wo Ezr Vinh soeben verschwunden war. Pham Nuwen hatte eine lebenslange Erfahrung in Diplomatie und Täuschung. Warum also, zum Teufel, bin ich mit dem Jungen nicht glatter umgegangen? Der Geist von Sura Vinh war auf einmal sehr nahe, und sie lachte.


»Wissen Sie, wir brauchen wirklich Orter an Bord von Hammerfest.« Die Anforderung war zu einem Ritual am Beginn von Ritser Brughels Sicherheitsrapports geworden. Heute stand Ritser vielleicht eine Überraschung bevor.

»Annes Leute haben ihre Einschätzung noch nicht abgeschlossen.« Der Vize-Hülsenmeister beugte sich vor. Im Laufe der Jahre hatte sich Ritser mehr als die meisten verändert. Heutzutage war er zu fast fünfzig Prozent auf Wache, doch er machte auch ausgiebig Gebrauch von medizinischen Hilfsmitteln und dem Sportsaal von Hammerfest. Er sah eigentlich gesünder aus als in den Anfangsjahren. Und irgendwann in der Zwischenzeit hatte er gelernt, seine… Bedürfnisse… zu befriedigen, ohne einen endlosen Strom toter Blitzköpfe zu hinterlassen. Er war zu einem verlässlichen Hülsenmeister herangewachsen. »Haben Sie Reynolts letzten Bericht gesehen, Herr Hülsenmeister?«

»Ja. Sie sagt, noch fünf Jahre.« Annes Suche nach Sicherheitslücken in den Ortern der Krämer grenzte ans Unmögliche. In der Anfangsjahren hatte Tomas größere Hoffnungen gehabt. Immerhin hatten die Sicherheitsbastler der Dschöng Ho keine Blitzkopf-Unterstützung gehabt. Aber der Sumpf der Dschöng-Ho-Software war fast achttausend Jahre tief. Jedes Jahr schoben Annes Blitzköpfe ihren Termin für Gewissheit ein, zwei Jahre weiter hinaus. Und nun ihr neuester Bericht.

»Noch fünf Jahre, Herr Hülsenmeister. Sie könnte ebenso gut ›nie‹ sagen. Wir wissen beide, wie unwahrscheinlich es ist, dass diese Orter eine Gefahr darstellen. Meine Blitzköpfe verwenden sie seit zwölf Jahren im Temp und in den Raumschiffwracks. Meine Blitzer sind keine Programmierspezialisten, aber ich sage Ihnen, die ganze Zeit über haben sich die Orter als so sauber wie nur irgendwas von der Dschöng Ho erwiesen. Diese Apparate sind so nützlich, Herr Hülsenmeister. Nichts entgeht ihnen. Sie nicht zu verwenden, birgt auch Risiken.«

»Als da wären?«

Nau sah, wie Ritser vor Überraschung leicht stutzte; das war mehr Ermunterung, als Ritser seit einiger Zeit erhalten hatte. »Ähm… Als da wären die Dinge, die uns entgehen, weil wir sie nicht verwenden. Schauen wir nur in den aktuellen Bericht.« Es folgte eine nicht allzu relevante Erörterung der laufenden Sicherheitsfragen. Gonle Fongs Versuche, Automatik für ihre Schwarzmarktfarmen zu bekommen; die perverse Zuneigung, die Menschen aller Fraktionen für die Spinnen entwickelt hatten — eine wünschenswerte Sublimation, aber ein potenzielles Problem, wenn endlich die Zeit für richtige Aktionen kam; das angemessene Niveau für Annes Paranoia. »Ich weiß, dass Sie sie überwachen, Herr Hülsenmeister, aber ich glaube, sie treibt ab. Es ist nicht nur diese Fixierung auf System-Fallstricke. Sie hat sichtlich mehr Besitzdenken in Bezug auf ›ihre‹ Blitzköpfe entwickelt.«

»Es kann sein, dass ich sie zu scharf geeicht habe.« Annes Verdacht über sabotierte Blitzköpfe war total gestaltlos, ganz anders als ihre übliche analytische Präzision. »Aber was hat das mit den Ortern in Hammerfest zu tun?«

»Mit Orterunterstützung könnten meine Schnüffler konstante Feinanalysen durchführen — den Datenverkehr im Netz in Beziehung setzen zu dem, was tatsächlich geschieht. Es ist… es ist ein Skandal, dass unsere Sicherheitsvorkehrungen dort am schwächsten sind, wo wir die stärksten brauchen.«

»Hmm.« Er schaute Ritser in die Augen. Als Kind hatte Nau eine wichtige Regel gelernt: Was auch geschieht, belüg dich niemals selbst. Im Laufe der ganzen Geschichte hatte Selbsttäuschung große Männer von Helmun Dire bis zu Pham Nuwen ruiniert. Also ehrlich: Er wollte wirklich, wirklich den See, den ihm Qiwi unter Hammerfest gezeigt hatte. Mit solch einem Park hätte er etwas aus diesem Dreck gemacht, eine Pracht, die die Dschöng Ho selbst in zivilisierten Systemen selten übertraf. Das alles war keine Entschuldigung für eine Verletzung der Sicherheit — aber vielleicht machte seine Selbstverleugnung an sich alles schlimmer. Nehmen wir eine andere Denkschiene: Wer scheint das voranzutreiben? Ritser Brughel brachte dafür schrecklich viel Begeisterung auf. Er durfte ihn nicht unterschätzen. Indirekt hatte Qiwi dieses Dilemma hervorgebracht: »Was ist mit Qiwi Lisolet, Ritser? Was sagen deine Analytiker über sie?«

Etwas glitzerte in Ritsers Augen. Er empfand noch immer mörderischen Hass auf Qiwi. »Wir wissen beide, wie schnell sie die Wahrheit mitkriegen kann — genaue Überwachung ist wichtiger denn je. Aber gegenwärtig ist sie absolut, total sauber. Sie liebt Sie nicht, aber ihre Begeisterung für Sie ist fast so stark wie Liebe. Sie ist ein Meisterwerk, Herr Hülsenmeister.«

Qiwi kam jetzt ungefähr jede zweite Wache dahinter. Aber ihre letzte Gehirnwäsche war ganz frisch — und den Wirkungsbereich der Orter zu erweitern, würde eine noch genauere Überwachung erlauben. Nau dachte noch einen Augenblick darüber nach, dann nickte er. »In Ordnung, Vize-Hülsenmeister, holen wir die Orter nach Hammerfest.«


Natürlich befanden sich die Dschöng-Ho-Orter schon an Bord von Hammerfest. Die staubähnlichen Körnchen verbreiteten sich mit Luftströmungen, blieben an Kleidung und Haaren und sogar Haut haften. Sie waren im bewohnten Raum um den Felshaufen allgegenwärtig.

So allgegenwärtig sie sein mochten, waren die Orter ohne Energie doch nur harmlose Stückchen metallischen Glases. Jetzt programmierten Annes Leute die Kabelstränge von Hammerfest neu — und verlängerten sie in die neu gegrabenen Höhlen darunter. Jetzt lief zehnmal pro Sekunde ein Mikrowellenimpuls durch jeden freien Raum. Die Energie lag weit unter den Grenzwerten für biologische Schäden, so gering, dass sie die anderen Geräte am Ort nicht beeinträchtigte. Die Dschöng-Ho-Orter brauchten nicht viel Energie, gerade genug, um ihre winzigen Sensoren zu betreiben und mit den nächsten Nachbarn zu kommunizieren. Zehn Kilosekunden, nachdem die Mikrowellenimpulse eingeschaltet wurden, meldete Ritser, dass sich das Netz stabilisiert hatte und gute Daten lieferte. Millionen Prozessoren, über einen Durchmesser von vierhundert Metern verstreut. Jeder einzelne war kaum leistungsfähiger als ein Computer im Zeitalter der Morgenröte. Im Prinzip waren sie das mächtigste Computernetz bei L1.

In vier Tagen beendete Qiwi die Ausgrabungsarbeiten an der Höhle und installierte die Wellen-Servos. Ihr Vater braute weiter oben bereits Boden zusammen. Das Wasser würde zuletzt kommen, doch kommen würde es.

Im Nachhinein wunderte sich Nau, wie sie die ganze Zeit ohne die Orter ausgekommen waren. Ritser Brughel hatte absolut Recht gehabt. Vorher war ihr Sicherheitsdienst in Hammerfest beinahe blind gewesen. Vorher war das Dschöng-Ho-Temp eigentlich für Sicherheitsoperationen der günstigere Ort gewesen. Nau beaufsichtigte Brughel und seine Schnüffler bei einem gründlichen, mehrtägigen Durchkämmen sämtlicher Teile von Hammerfest und dann der Sternenschiffe und der Lagerhaus-Wolke. Er brach sogar mit der Tradition und ließ die Orter hundert Kilosekunden lang im Arsenalbunker bei L1-A laufen. Es war, als leuchte man mit einem Scheinwerfer in dunkle Ecken. Sie fanden und bereinigten Dutzende von Sicherheitsmängeln — und stießen auf keine einzige Spur von Subversion. Alles in allem stärkte die Erfahrung auf wunderbare Weise das Selbstvertrauen, wie wenn man im Haus nach Ungeziefer sucht, keins findet, aber auch sieht, wo man Gift und Barrieren gegen künftigen Befall anbringen muss.

Und jetzt besaß Tomas Nau mehr Wissen über seine eigene Domäne als je ein Hülsenmeister in der Geschichte der Aufsteiger.

Ritsers Schnüffler konnten mit Hilfe der Orter Nau den Aufenthaltsort und Gefühlszustand — sogar den kognitiven Zustand — von jedem in Hammerfest liefern. Nach einer Weile wurde ihm klar, dass es Experimente gab, die er schon längst hätte durchführen sollen.

Ezr Vinh. Vielleicht war mit ihm etwas mehr zu machen. Nau studierte abermals den Lebenslauf des Burschen. Bei der nächsten Besprechung war er bereit. Das war Vinhs Standard-Versammlungszeit. Es waren nur sie beide, doch inzwischen hatte sich der Krämer sehr an den Austausch gewöhnt. Vinh erschien in Naus Büro, um seine Zusammenfassungen für die letzten zehn Tage durchzusprechen, die Fortschritte, die er bei den Blitzkopf-Gruppen in ihrem Verständnis der Spinnenwelt sah.

Tomas ließ den Krämer sein Zeug herunterrasseln. Er hörte zu, nickte, fragte die plausiblen Fragen… und beobachtete die Analyse in seiner Datenbrille. Herrgott. Die Orter in der Luft, auf Vinhs Sessel, sogar auf seiner Haut sendeten Meldungen an die Unsichtbare Hand, wo Programme die Analysen durchführten und die Ergebnisse zurück an Naus Datenbrille schickten, Vinhs Haut färbten und galvanische Reaktion, Hauttemperatur, Schweißabsonderung zeigten. Standardgraphiken rund um das Gesicht zeigten den Puls und andere innere Vorgänge. Ein eingefügtes Fenster gab wieder, was Vinh von seinem Platz auf der anderen Seite des Schreibtisches sah, und stellte jede seiner Augenbewegungen mit roten Spuren dar. Zwei von Brughels Schnüfflern waren für dieses Gespräch eingesetzt, und ihre Analyse war ein rollender Text am oberen Rand von Naus Gesichtsfeld. Subjekt ist auf zehn Prozent des normalen Gesprächsniveaus entspannt. Subjekt ist selbstsicher, aber wachsam, ohne Sympathie für den Hülsenmeister. Subjekt versucht gegenwärtig nicht, explizite Gedankengänge zu unterdrücken.

Es war mehr oder weniger das, was Nau vermutet hätte, doch mit einem Reichtum an beigefügten Einzelheiten, besser als ein gewaltfreies Verhör mit noch so guter Technik, da es für das Subjekt unsichtbar war.

»Die strategische Politik ist also jetzt viel klarer«, schloss Vinh ohne jede Ahnung von der dualen Natur des Gesprächs. »Pedure und die Sinnesgleichen haben einen gewissen Vorsprung bei Raketen und Kernwaffen, aber sie sind bei Datenverarbeitung und Netzwerken merklich hinter dem Einklang zurückgeblieben.«

Nau zuckte die Achseln. »Die Sinnesgleichen sind eine strikte Diktatur. Haben Sie mir nicht erzählt, dass die Tyranneien im Zeitalter der Morgenröte nicht mit Computernetzen zurechtkamen?«

»Ja.« Subjekt unterdrückt wahrscheinliche Empfindung von Ironie. »Das gehört dazu. Wir wissen, dass sie einen Erstschlag einige Zeit nach dem Erlöschen der Sonne planen, das erklärt also ihre überhöhten Militärausgaben. Und auf Seiten des Einklangs ist Scherkaner Unterberg so begeistert von Automatik, dass Pedure nicht Schritt halten kann. Offen gesagt, ich glaube, dass wir auf einen kritischen Punkt zusteuern, Hülsenmeister.« Subjekt meint diese Aussage aufrichtig. »Die Spinnenzivilisation hat das Gesetz der reziprok quadratischen Abhängigkeit erst vor ein paar Generationen entdeckt; entsprechend war ihre Mathematik hinter unserem Zeitalter der Morgenröte im Rückstand. Aber die Sinnesgleichen haben solide Fortschritte bei der Raketentechnik gemacht. Wenn sie auch nur ein Zehntel von Scherkaner Unterbergs Neugier entwickeln, werden sie uns in weniger als zehn Jahren entdecken.«

»Bevor wir ihre Netze vollständig kontrollieren können?«

»Ja, Herr Hülsenmeister.«

Dasselbe hatte Jau Xin wiederholt gesagt, ausgehend von seinen Piloten-Blitzköpfen. Schade. Aber zumindest wurde allmählich klar, wie sich das Ende des Exils gestalten würde… Und vorerst:

Subjekt ist nicht mehr auf der Hut. Nau lächelte im Stillen. Diese Gelegenheit war so gut wie nur irgendeine, um Verwalter Vinh aufzustören. Wer weiß, vielleicht kann ich ihn tatsächlich manipulieren. So oder so würde Vinhs Reaktion interessant sein. Nau lehnte sich in seinem Sessel zurück, tat so, als betrachte er müßig den Bonsai, der über seinem Schreibtisch schwebte. »Ich hatte jahrelang Gelegenheit, die Dschöng Ho zu studieren, Herr Vinh. Ich gebe mich keinen Illusionen hin. Ihresgleichen versteht die verschiedenen Wege der Zivilisation besser als jede sesshafte Gruppe.«

»Ja, Herr Hülsenmeister.« Subjekt noch ruhig, Bemerkung bewirkt aber aufrichtiges Einverständnis.

Nau reckte den Kopf vor. »Sie gehören zur Vinh-Linie; wenn jemand von der Dschöng Ho wirklich die Dinge versteht, sollten Sie es sein. Sehen Sie, einer meiner persönlichen Helden war schon immer Pham Nuwen.«

»Sie… haben das schon früher erwähnt.« Die Worte waren hölzern. In Naus Datenbrille wechselte Vinhs Gesicht die Farbe, Puls und Schweißabsonderung schossen hoch. Irgendwo drüben in der Hand analysierten die Schnüffler und meldeten: Subjekt empfindet erheblichen Zorn auf den Hülsenmeister. »Ehrlich, Herr Vinh, ich versuche nicht, Ihre Traditionen herabzuwürdigen. Sie wissen, dass die Aufsteiger gegen vieles an der Dschöng-Ho-Kultur Vorbehalte haben, aber Pham Nuwen ist etwas anderes. Sehen Sie… ich kenne die Wahrheit über Pham Nuwen.«

Die Diagnostikfarben änderten ihre Schattierung zur Normalität hin, ebenso Vinhs Herzschlag. Seine Pupillengröße und Blickrichtung entsprachen unterdrücktem Zorn. Nau empfand eine vage Unstimmigkeit; er hätte einen Anflug von Furcht aus Vinhs Reaktion gelesen. Vielleicht muss ich von all dieser Automatik etwas lernen. Und jetzt war er unverhohlen verwundert: »Was ist los, Herr Vinh? Lassen Sie uns doch einmal offen sein.« Er lächelte. »Ich werde Ritser nichts erzählen, und Sie werden nicht mit Xin oder Liao klatschen… oder mit meiner Qiwi.«

Da kam der Zornimpuls sehr heftig, auch die Analyse stimmte damit überein. Der Krämer hatte in Bezug auf Qiwi Lisolet einen Knacks weg, auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen konnte.

Die Anzeichen des Zorns gingen zurück. Vinh leckte sich die Lippen, eine Geste, die Nervosität sein mochte. Aber die Zeichen am Oberrand von Naus Datenbrille besagten: Subjekt ist neugierig. Vinh sagte: »Es ist nur, dass ich keine Ähnlichkeiten zwischen Pham Nuwens Leben und den Werten der Aufsteiger sehen kann. Gewiss, Pham Nuwen war kein geborener Krämer, aber mehr als jeder andere hat er uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Sehen Sie sich die Dschöng-Ho-Archive an, sein Leben…«

»Oh, das habe ich. Sie sind ein bisschen zusammenhanglos, meinen Sie nicht?«

»Nun ja, er war der große Reisende. Ich glaube nicht, dass er sich jemals besonders um die Historiker gekümmert hat.«

»Herr Vinh, Pham Nuwen schätzte den Respekt der Geschichte so sehr wie jeder von den Giganten. Ich denke — ich weiß —, dass eure Dschöng-Ho-Archive sorgfältig zurechtgestutzt sind, wahrscheinlich von Ihrer eigenen Familie. Aber sehen Sie, jemand derart Großes wie Pham Nuwen hat andere Historiker angezogen — von den Welten, die er verändert hat, von anderen Raumfahrt betreibenden Kulturen. Auch deren Geschichten fließen durch die Epochen, und ich habe alles gesammelt, was durch diesen Teil des Menschenraums gekommen ist. Er ist ein Mann, dem gleichzutun ich mich immer bemüht habe. Ihr Pham Nuwen war kein sich einschleimender Händler. Pham Nuwen war jemand, der eine Ordnung geschaffen hat, ein Eroberer. Freilich, er benutzte eure Kauffahrer-Techniken, die Täuschung und die Bestechung. Doch er ist nie vor Drohungen und roher Gewalt zurückgeschreckt, wenn es notwendig war.«

»Ich…« Die Diagnostik malte eine bemerkenswerte Kombination von Wut und Überraschung und Zweifel über Vinhs Gesicht, genau die Mischung, die Nau geschätzt hätte.

»Ich kann es beweisen, Herr Vinh.« Er sprach Schlüsselwörter in die Luft. »Ich habe soeben einige von unseren Archiven in Ihren persönlichen Bereich übertragen. Sehen Sie sie sich an. Das sind ungeschminkte, nicht von der Dschöng Ho gemodelte Ansichten von dem Mann. Ein Dutzend kleine Gräueltaten. Lesen Sie die wahre Geschichte, wie er den strentmannischen Pogrom beendete oder wie er bei der Brisgo-Lücke verraten wurde. Dann lassen Sie uns weiterreden.«

Erstaunlich. Nau hatte nicht vorgehabt, derart unverblümt zu sprechen, aber die hervorgerufenen Wirkungen waren so interessant. Sie wechselten noch ein paar bedeutungslose Sätze, und die Besprechung war vorüber. Rot schimmerte rings um Vinhs Hände, Symptome eines unsichtbaren Zitterns, als er sich zur Tür bewegte.

Nau saß noch einen Moment still da, nachdem der Krämer fort war. Er starrte ins Leere, doch in Wahrheit las er in seiner Datenbrille. Der Bericht der Schnüffler war ein Strom farbiger Zeichen vor einer Landschaft von Diamant Eins. Er würde den Bericht sorgfältig lesen… später. Zuerst waren da seine eigenen Gedanken zu ordnen. Die Orter-Diagnostik war fast Zauberei. Ohne sie, wusste er, hätte er Vinhs Erregung kaum bemerkt. Vor allem wäre ich ohne die Diagnostik nicht imstande gewesen, das Gespräch zu lenken und mich auf die Themen einzuschießen, die Vinh unter die Haut gingen. Also ja, aktive Manipulation schien tatsächlich machbar zu sein; das war nicht einfach eine Schnüffeltechnik. Und jetzt wusste er, dass ein erheblicher Teil des Selbstbildes von Ezr Vinh an den Dschöng-Ho-Märchen hing. Konnte der Junge wirklich von einer anderen Sicht dieser Geschichten umgedreht werden? Bisher hätte er das nie für möglich gehalten. Mit diesen neuen Werkzeugen vielleicht…

Siebenunddreissig

»Wir sollten uns noch einmal zu einem Gespräch treffen.«

»… Gut. Schauen Sie, Pham. Ich glaube diese Lügen nicht, die Nau mir da aufgetischt hat.«

»Tja, jeder schreibt sich eben seine eigene Version von der Vergangenheit. Die Hauptsache ist, ich möchte dir ein bisschen zeigen, wie man mit derlei hinterhältigen Gesprächen umgeht.«

»Tut mir Leid. Ein paar Sekunden lang glaubte ich, wir seien aufgeflogen.« Die Stimme des Jungen klang schwach in Phams Ohr. Ezr Vinh war ziemlich gut im Umgang mit ihrer geheimen Sprechverbindung geworden; gut genug, dass Pham den verblüfften Tonfall hören konnte.

»Du hast es schon ganz gut gemacht. Mit ein bisschen Rückkopplungs-Training wirst du noch besser sein.« Sie redeten noch ein paar Augenblicke, legten einen Zeitpunkt und eine Tarnlegende fest. Dann wurde die schmale Verbindung unterbrochen, und Pham konnte über die Ereignisse des Tages nachdenken.

Verdammt. Heute war eine Katastrophe ganz knapp vermieden worden… oder nur vorläufig vermieden. Pham schwebte im abgedunkelten Zimmer, doch sein Blick schweifte über die kilometerbreite Lücke nach Diamant Eins und Hammerfest. Die Orter waren dort jetzt überall, und sie waren in Betrieb — obwohl die MRT-Geräte in der Fokus-Klinik fast augenblicklich alle Orter in der Nähe rösteten. Funktionierende Orter nach Hammerfest zu kriegen, war der Durchbruch, auf den er seit Jahren gewartet hatte, aber… Wenn ich nicht an der Diagnostik, die von Vinh kam, herumgefummelt hätte, hätten wir alles verlieren können. Pham hatte gewusst, wie der Hülsenmeister seine neuen Spielzeuge vielleicht verwenden würde; Ähnliches geschah, wenn auch weniger intensiv, im Temp seit Jahren. Nicht geahnt hatte er, dass Nau so tödlich viel Glück bei seiner Wortwahl haben würde. Nahezu zehn Sekunden lang war sich der Junge sicher gewesen, dass Nau alles herausbekommen hatte. Pham hatte die Meldung der Schnüffler über diese Reaktion abgeschwächt, und Vinh hatte eine ziemlich gute Tarnung dafür gefunden, aber…

Ich hätte nie geglaubt, dass Tomas Nau so viel über mich weiß. Im Laufe der Jahre hatte der Hülsenmeister oft behauptet, ein größerer Bewunderer der ›Giganten der Geschichte‹ zu sein, und er schloss Pham Nuwen immer in seine Liste ein. Es hatte immer nach einem leicht zu durchschauenden Versuch ausgesehen, eine gemeinsame Grundlage mit der Dschöng Ho herzustellen. Doch jetzt war sich Pham dessen nicht mehr sicher. Während Tomas Nau damit beschäftigt war, Ezr Vinh zu ›lesen‹, hatte Pham eine ähnliche Diagnostik auf den Hülsenmeister angewandt. Tomas Nau bewunderte tatsächlich sein Bild von dem historischen Pham Nuwen! Irgendwie glaubte das Ungeheuer, er und Pham Nuwen seien sich ähnlich. Er hat mich einen genannt, der ›eine Ordnung geschaffen hat.‹ Das weckte eine sonderbare Resonanz. Obwohl Pham nie daran gedacht hatte, diese Formulierung zu verwenden, war es fast genau das, was er selbst wollte. Aber wir haben nichts gemein. Tomas Nau tötet und tötet, und immer nur für sich selbst. Ich habe nie etwas anderes gewollt , als das Töten zu beenden, die Barbarei zu beenden. Wir sind unterschiedlich! Pham steckte die Absurdität wieder weg. Wirklich erstaunlich war, dass Nau so viel von der wahren Geschichte kannte. Im Laufe der letzten zehn Kilosekunden hatte Pham Vinh über die Schulter geschaut, während der Junge einen Großteil davon las. Jetzt eben zapfte Pham die ganze Datenbank aus Vinhs Bereich ab und kopierte sie in den verteilten Speicher des Orternetzes. Im Laufe der nächsten Megasekunden würde er das ganze Ding studieren.

Was er bisher gesehen hatte, war interessant. Vieles davon war sogar wahr. Doch Wahrheit oder Lüge, es war nicht die ehrfürchtige Geschichte, die Sura Vinh in der Geschichtsschreibung der Dschöng Ho hinterlassen hatte. Es war nicht die Lüge, die Suras endgültigen Verrat kaschierte. Und wie wird Ezr Vinh das aufnehmen? Pham war schon viel zu offen Vinh gegenüber gewesen. In Bezug auf Fokus war Vinh völlig unbeweglich; er würde einfach nicht aufhören, wegen der Blitzköpfe zu quengeln. Es war seltsam. Zeit seines Leben hatte Pham Verrückte und Schurken und Kunden und sogar Leute von der Dschöng Ho munter angelogen… aber auf Vinhs Besessenheit einzugehen, erschöpfte ihn. Vinh verstand einfach nicht, welche Wunder Fokus vollbringen konnte.

Und in Naus Archiv gab es Dinge, die es Pham sehr schwer machen würden, dem Jungen seine wahren Ziele zu verheimlichen.

Pham schaute wieder in Naus Version der Historie, verfolgte eine Geschichte, dann eine andere, fluchte über die Lügen, die ihn als Ungeheuer hinstellten… zuckte zusammen, wenn die Geschichte wahr war, obwohl er sein Bestes getan hatte. Er war seltsam, wieder sein wahres Gesicht zu sehen. Manche von diesen Videos mussten echt sein. Fast fühlte Pham, wie die Worte jener Reden seine Kehle empor und über seine Lippen strömten. Erinnerungen stellten sich ein: die Jahre auf dem Höhepunkt, als fast jedes Reiseziel ihn in Kontakt mit Kauffahrern gebracht hatte, die verstanden, was sich aus einer interstellaren Handelskultur machen ließe. Der Funk hatte ihn überholt und seine Botschaften wirkungsvoll an den Mann gebracht. Und keine tausend Jahre, nachdem der kleine Prinz Pham den reisenden Kaufleuten übergeben worden war, näherte sich sein Lebensplan dem Erfolg. Der Gedanke einer echten Dschöng Ho hatte sich über den größten Teil des Menschenraums verbreitet. Von Welten auf der Anderen Seite, die er vielleicht nie kennen lernen würde, bis zum kultivierten und immer wieder neu kultivierten Herzen des Menschenraumes — sogar auf der Alten Erde — hatten sie seine Botschaft gehört, hatten seine Vision von einer Organisation gesehen, die dauerhaft und mächtig genug wäre, um das Rad des Schicksals anzuhalten. Ja, viele von ihnen sahen nicht mehr, als Sura gesehen hatte. Das waren die ›praktischen Geister‹, nur daran interessiert, große Vermögen zu erwerben, sich und ihren Familien den Nutzen zu sichern. Doch Pham hatte damals gedacht — und Herrgott, ich möchte es immer noch denken —, dass die Mehrheit an das höhere Ziel glaubte, das Pham selbst predigte.

Über tausend Jahre Realzeit hinweg hatte Pham die Botschaft hinterlassen, den Plan für ein großes Treffen, das alle früheren Treffen in den Schatten stellen sollte, einen Ort und einen Zeitpunkt, da die neue Dschöng Ho den Frieden des Menschenraums erklären, sich diesem Ziel weihen würde. Es war Sura Vinh gewesen, die den Ort festgelegt hatte:

Namqem.

Freilich lag Namqem ein gutes Stück kernwärts im Menschenraum, aber nahe am Zentrum intensiver Dschöng-Ho-Aktivität. Die Kauffahrer, die höchstwahrscheinlich teilnehmen konnten, befanden sich in ziemlich naher Reichweite; sie würden weniger als tausend Jahre Vorlaufzeit brauchen. Das waren die Gründe, die Sura nannte. Und die ganze Zeit über lächelte sie ihr altes ungläubiges Lächeln, als wolle sie dem armen Pham seinen Willen lassen. Doch Pham hatte geglaubt, dass er bei Namqem seine Chance bekäme.

Und schließlich gab es noch einen anderen Grund, sich bei Namqem zu treffen. Sura war so wenig gereist, sie war immer die Planerin im Zentrum von Phams Kombinationen. Jahrzehnte und Jahrhunderte waren vergangen. Selbst mit gelegentlichem Kälteschlaf und der besten Medizintechnik war Sura Vinh jetzt unrettbar alt, fünfhundert Lebensjahre? Sechshundert? In den letzten Jahrhunderten vor dem Treffen hatten ihre Botschaften sie so ungeheuer alt erscheinen lassen. Ohne das Treffen bei Namqem würde Sura vielleicht nie den Erfolg von Phams Arbeit miterleben. Sie würde vielleicht nie sehen, wie Recht Pham hatte. Sie war die Einzige, der ich total vertraute. Ich hatte mich ganz auf sie verlassen.

Und mit der Erinnerung schlug ein alter, alter Zorn über Pham zusammen…


Die Mutter aller Treffen. In gewissem Sinne war die ganze Methode, war auch die Mythologie, die Pham und Sura erfunden hatten, diesem einen Augenblick gewidmet. Also war es keine Überraschung, dass die Teilnehmer mit beispielloser Genauigkeit eintrafen. Statt im Laufe von ein, zwei Jahrzehnten heranzutröpfeln, strömten fünftausend Staustrahlschiffe von über dreihundert Welten im Namqem-System zusammen, um in Abständen von weniger als einer Megasekunde anzukommen.

Manche waren noch kein Jahrhundert vorher abgeflogen, von Canberra und Torma. Es gab Schiffe von Strentmann und Kielle, von Welten mit Völkerschaften, die inzwischen fast unterschiedliche biologische Arten waren. Manche kamen von so weit, dass sie nur über Funk von dem Treffen gehört hatten. Es gab drei Schiffe von der Alten Erde. Nicht alle Teilnehmer waren echte Kauffahrer; manche waren von Regierungen ausgesandt worden, die die in Phams Botschaft verheißenen Lösungen zu erhalten hofften. Vielleicht auf einem Drittel der Welten, von denen die Besucher kamen, würde in der Zeit, die Hin- und Rückflug dauerten, die Zivilisation untergegangen sein.

Solch ein Treffen konnte nicht verlegt oder verschoben werden. Wenn die Hölle selbst losgebrochen wäre, hätte sie das nicht aus seiner Bahn werfen können. Und doch erfuhr Pham schon Jahrzehnte vor der Ankunft, dass für die Menschen von Namqem bald schon die Hölle losbrechen würde.

Phams Flaggkapitän war nur vierzig Jahre alt. Er hatte ein Dutzend Welten gesehen und hätte es besser wissen müssen. Doch er war auf Namqem geboren worden. »Sie sind zivilisiert gewesen, bevor ihr zum ersten Mal aus dem Dunkel aufgetaucht seid, Herr Kapitän. Sie wissen, wie man die Dinge zum Funktionieren bringt. Wie ist das möglich?« Er schaute ungläubig auf die Analyse, die mit Sura Vinhs letzter Sendung eingetroffen war.

»Setzen Sie sich, Sammy.« Pham trat einen Stuhl aus der Wand heraus und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. »Ich habe die Berichte auch gelesen. Die Symptome sind klassisch. Im letzten Jahrzehnt ist die Rate von Systemblockaden überall bei Namqem ständig gestiegen. Schauen Sie, hier, zu jedem beliebigen Zeitpunkt stecken dreißig Prozent des Geschäftsverkehrs zwischen den äußeren Monden fest.« Sämtliche Apparate waren in Ordnung, doch das System hatte eine so hohe Komplexität erreicht, dass die Raumfahrzeuge keine Starterlaubnis bekommen konnten.

Sammy Park war einer der Besten von Pham. Er verstand die Gründe, die hinter all den synthetischen Glaubensvorstellungen der neuen Dschöng Ho steckten — und hielt trotzdem zu ihnen. Er würde ein würdiger Nachfolger für Pham und Sura werden — vielleicht besser als Phams älteste Kinder, die oft so vorsichtig wie ihre Mutter waren. Doch Sammy war ernstlich verwirrt: »Die Regierungen von Namqem werden doch wohl die Gefahr erkannt haben? Sie wissen alles, was die Menschheit jemals über Stabilität gelernt hat — und sie haben bessere Automatik als wir! Sicherlich werden wir in ein paar Dutzend Megasekunden hören, dass sie das Optimum wieder gefunden haben.«

Pham zuckte die Achseln, ohne seinen eigenen Unglauben einzugestehen. Namqem war so gut, so lange Zeit über. Laut sagte er: »Vielleicht. Doch wir wissen, dass sie dreißig Jahre brauchen würden, um eine Korrektur durchzuführen.« Er wies auf Suras Bericht. »Und die Probleme verschlimmern sich noch.« Er sah Parks Gesichtsausdruck und senkte die Stimme. »Sammy, Namqem hat seit fast viertausend Jahren Frieden und Freiheit. Es gibt im ganzen Menschenraum keine andere Kundenzivilisation, die das von sich sagen kann. Doch das ist der springende Punkt. Ohne Hilfe können sogar sie nicht ewig weitermachen.«

Sammy ließ die Schultern hängen. »Sie haben die tödlichen Katastrophen vermieden. Sie hatten keine Seuchen durch biologische Waffen, keinen Atomkrieg. Die Regierung ist immer noch flexibel und imstande zu reagieren. Es sind nur diese gottverdammten technischen Probleme.«

»Es sind technische Symptome, Sammy, von Problemen, die die Regierung bestimmt nur zu gut versteht.« Und gegen die sie nichts machen kann. Er erinnerte sich an den Zynismus von Gunnar Larson. In gewisser Weise lief dieses Gespräch auf demselben toten Gleis. Doch Pham Nuwen hatte ein Leben lang Zeit gehabt, auf Lösungen zu kommen. »Die Flexibilität der Regierung entscheidet für sie über Leben und Tod. Sie nehmen es jetzt seit Jahrhunderten auf sich, Zwangslagen zu optimieren. Genie und Freiheit und das Wissen um die Vergangenheit haben für Sicherheit gesorgt, doch schließlich haben die Optimierungen sie an einen Punkt geführt, wo das System zerbrechlich wird. Die Megalopolis-Monde haben das reichste Netzwerk im Menschenraum ermöglicht, doch sie sind auch der Punkt, an dem alles erstickt…«

»Aber wir wussten… ich meine, sie wussten das. Es hat immer Sicherheitsreserven gegeben.«

Namqem war ein Triumph dezentralisierter Automation. Und jedes Jahrzehnt wurde es ein wenig besser. Jedes Jahrzehnt reagierte die Flexibilität der Regierung auf die Zwänge, die Ressourcenverteilung zu optimieren, und die Sicherheitsreserven schwanden. Die abwärts führende Spirale war viel subtiler als der Frühzeit-Pessimismus eines Karl Marx oder Han Su und hing nur unscharf mit den Erkenntnissen eines Mancur Olson zusammen. Die Regierung unternahm keine Versuche zur direkten Reglementierung. Freies Unternehmertum und individuelle Planung waren weitaus wirkungsvoller. Doch selbst wenn man alle klassischen Fallen von Korruption und Planwirtschaft und verrückten Erfindungen vermied… »Am Ende gibt es Ausfälle. Die Regierung wird direkt eingreifen müssen.« Wenn man alle anderen Bedrohungen vermied, machte einem schließlich die Komplexität der eigenen Erfolge den Garaus.

»Schön, ich weiß.« Sammy blickte weg, und Pham synchronisierte seine Datenbrille, um zu verfolgen, was der junge Mann sah: Tarelsk und Maresk, die beiden größten Monde. Zwei Milliarden Menschen auf jedem. Sie waren funkelnde Scheiben von Stadtlichtern, wie sie übers Antlitz ihrer Mutterwelt glitten — die ihrerseits der größte Park im Menschenraum war. Wenn Namqem endlich am Ende wäre, würde es ein steiler, rascher Zusammenbruch sein. Das Sonnensystem von Namqem war nicht von so desolater Natur wie die reinen Planetoiden-Kolonien in der Anfangszeit der Raumfahrtära — doch die Megalopolis-Monde brauchten Hochtechnologie, um ihre Milliarden am Leben zu erhalten. Große Ausfälle dort konnten sich leicht zu einem Krieg ausweiten, der das ganze Planetensystem ergriff. Das war die Sorte Debakel, die in mehr als einer Heimat der Menschheit alles Leben ausgelöscht hatte. Sammy beobachtete die Szene, friedlich und wunderbar — und jetzt um Jahre veraltet. Und dann sagte er: »Ich weiß. Das ist genau das, was Sie den Leuten immer sagen, in all den Jahren, seit ich bei der Dschöng Ho bin. Und Jahrhunderte vorher. Tut mir Leid, Pham. Ich habe immer geglaubt… Ich dachte einfach nie, dass mein eigener Geburtsort so bald sterben würde.«

»Ich… frage mich…« Pham schaute übers Kommandodeck seines Flaggschiffs und, in kleineren Fenstern, die Kommandodecks der anderen dreißig Schiffe seiner Flotte. Jetzt, mitten auf Fahrt, waren nur drei, vier Leute auf jeder Brücke. Es war die ödeste Arbeit im Weltall. Aber die Nuwen-Flotte war eine der größten, die zum Treffen kamen. Über zehntausend Dschöng-Ho-Leute schliefen an Bord seiner Schiffe. Sie hatten gerade vor einem Jahrhundert Terneu verlassen und flogen in der engsten Formation, die ihre Staustrahlfelder erlaubten. Bis zum fernsten Kommandodeck waren es von Phams Flaggschiff keine viertausend Lichtsekunden. »Bis nach Namqem haben wir noch zwanzig Jahre Flugzeit. Das ist eine Menge Zeit, wenn wir uns entschließen würden, sie auf Wache zu verbringen. Vielleicht… ist das eine Gelegenheit, um zu beweisen, dass das, wovon ich die ganze Zeit geredet habe, wirklich funktionieren kann. Bei unserer Ankunft wird Namqem wahrscheinlich ein Chaos sein. Doch wir sind eine Hilfe von außerhalb ihrer planetaren Falle, und wir treffen zahlreich genug ein, um etwas zu bewirken.«

Sie saßen auf dem Kommandodeck von Sammys Schiff, der Lange Sicht. Auf dieser Brücke war beinahe viel los, fünf von den dreißig Kommandoposten waren besetzt. Sammy ließ den Blick von Posten zu Posten schweifen und schließlich wieder zu Pham. Eine Art Hoffnung breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ja… der ganze Grund für das Treffen kann illustriert werden.« Beiläufig ließ er Zeitplanprogramme laufen, schon von der Idee ergriffen. »Wenn wir Reserveressourcen verwenden, können wir fast hundert Leute pro Schiff auf Wache halten, den ganzen Weg bis nach Namqem. Das genügt, um die Lage zu untersuchen und Aktionspläne zu entwerfen. Verdammt, in zwanzig Jahren sollten wir auch imstande sein, uns mit den anderen Flotten abzustimmen.«

Sammy Park war jetzt ganz Flaggkapitän. Er starrte auf seine Berechnungen, wendete die Möglichkeiten hin und her. »Ja. Die Flotte von der Alten Erde ist weniger als ein viertel Lichtjahr von uns entfernt. Die Hälfte aller Teilnehmer ist unter sechs Lichtjahren von uns entfernt, und natürlich nimmt die Entfernung ab. Was ist mit Sura und den Dschöng-Ho-Leuten, die schon im System sind?«

Sura hatte im Laufe der Jahrhunderte Wurzeln geschlagen, aber: »Sura und ihre Leute haben ihre eigenen Ressourcen. Sie wird es überleben.« Sura verstand das Rad des Schicksals, auch wenn sie nicht glaubte, dass es durchbrochen werden könnte. Sie hatte ihr Hauptquartier vor einem Jahrhundert von Tarelsk wegverlegt; Suras ›Temp‹ war ein uralter Palast im Planetoidengürtel. Sie würde erraten, was Pham vorhatte. Die Wellenfront ihrer Analyse kam wahrscheinlich schon auf sie zu. Vielleicht gab es doch einen Herrn Allen Handels. Zweifellos gab es eine Unsichtbare Hand. Das Treffen bei Namqem würde mehr bedeuten, als selbst er sich erträumt hatte.


Jahr für Jahr strömte die Flotte aller Flotten bei Namqem zusammen. Fünftausend Lichtfäden, Glühwürmchen, über Lichtjahre hinweg zu sehen — mit anständigen Fernrohren über Tausende von Lichtjahren. Jahr für Jahr wurde das Leuchten ihrer Triebwerke beim Bremsen dichter, eine feine Kugel von Distelwolle auf den Fenstern jedes eintreffenden Schiffs.

Fünftausend Schiffe, über eine Million Menschen. Die Schiffe enthielten Maschinen, die Welten einäschern konnten. Die Schiffe enthielten Bibliotheken und Computernetze… Und alle zusammen waren sie nicht einmal ein Wölkchen Distelwolle im Vergleich zur Macht und den Mitteln einer Zivilisation wie Namqem. Wie konnte ein Wölkchen Distelwolle einen fallenden Koloss retten? Pham hatte seine Antwort auf diese Frage persönlich und über das Netzwerk der Dschöng Ho gepredigt. Lokale Zivilisationen sind allesamt isolierte Fallen. Eine einfache Katastrophe konnte sie auslöschen, doch ein wenig Hilfe von außen würde sie vielleicht in die Sicherheit führen. Und was die schwierigen Fälle wie Namqem betraf, wo generationenlange Optimierung sich schließlich selbst zermalmte, so beruhten selbst diese Katastrophen auf dem Wesen sesshafter Zivilisationen als geschlossene Systeme. Eine Regierung hatte zu wenig Wahlmöglichkeiten, zu viele Verpflichtungen, und am Ende wurde sie von Barbarei hinweggefegt. Ein Blick von außen, eine neue Automatik — das war es, was die Dschöng Ho liefern konnte. Das, behauptete Pham, würde den Unterschied ausmachen. Nun sollte er eine Gelegenheit bekommen, seinen Standpunkt nicht nur zu verfechten, sondern zu beweisen. Zwanzig Jahre waren nicht zu viel Zeit, um sich vorzubereiten.


In zwanzig Jahren war der einst sanfte Niedergang von Namqem über Unannehmlichkeiten, über wirtschaftliche Rezession hinausgegangen. Die Regierung war nun dreimal gestürzt worden, jedes Mal ersetzt von einem Regime, das ›wirksamer‹ sein sollte — und jedes Mal war der Weg für radikalere soziale und technische Korrekturen geöffnet worden, für Ideen, die auf hundert anderen Welten versagt hatten. Und mit jedem Schritt abwärts wurden die Pläne der herannahenden Flotten präziser.

Jetzt starben Menschen. Eine Milliarde Kilometer von Namqem entfernt sahen die Flotten den Beginn von Namqems erstem Krieg. Sie sahen ihn buchstäblich mit bloßem Auge: Die Explosionen lagen im Gigatonnen-Bereich, die Zerstörung einer rivalisierenden Regierung, die sich mit zwei Dritteln der automatisierten Industrie auf den äußeren Planeten abgespalten hatte. Nach den Detonationen blieb nur ein Drittel dieser Industrie übrig, doch das befand sich fest in der Hand der Megalopolis-Regimes.

Flaggkapitän Sammy Park berichtete bei einer Besprechung: »Alqin versucht, sich auf die Planetenoberfläche zu evakuieren. Maresk steht am Rande des Hungers, die Lieferungen aus dem äußeren System werden ein paar Tage vor unserer Ankunft versiegen.«

»Die Rumpfregierung von Tarelsk scheint zu glauben, dass sie immer noch ein funktionierendes Geschäft leitet. Hier ist unsere Analyse…« Der neue Sprecher sprach ein flüssiges Nese; sie hatten jetzt zwanzig Jahre Zeit gehabt, um ihre gemeinsame Sprache abzustimmen. Dieser Flottenkapitän war ein junger… Mann… von der Alten Erde. Im Laufe von achttausend Jahren war die Alte Erde viermal entvölkert worden. Wären nicht die Tochterwelten gewesen, wäre die menschliche Rasse längst ausgestorben. Was jetzt auf der Erde lebte, war seltsam. Keiner von ihrer Art war bisher so weit vom Zentrum des Menschenraums aufgetaucht. Nun aber, als die Flotten ihre Annäherung an das Namqem-System vollendeten, befanden sich die Schiffe der Alten Erde kaum zehn Lichtsekunden von Phams Flaggschiff entfernt. Sie hatten ebenso wie alle anderen an der Vorbereitung dessen mitgewirkt, was sie mittlerweile alle die Rettung nannten.

Sammy wartete höflich, um sicherzugehen, dass der andere fertig war. Unterhaltung über eine Entfernung von vielen Sekunden erforderte eine besondere Disziplin. Dann nickte er. »Tarelsk wird wahrscheinlich der Schauplatz der ersten Megatoten sein, obwohl wir noch keine genaue Vorstellung von der Ursache haben.«

Pham saß im selben Beratungsraum wie Sammy. Er nutzte seine Position, um sich einzuschalten, ehe die Zeitscheibe des anderen wirklich vorüber war. »Geben Sie uns eine Zusammenfassung von Suras Situation, Sammy.«

»Kauffahrerin Vinh befindet sich noch immer im Haupt-Planetoidengürtel. Sie ist etwa zweitausend Lichtsekunden von unserer gegenwärtigen Position entfernt.« Es würde noch eine Weile dauern, ehe Sura sich unmittelbar beteiligen konnte. »Sie hat eine Menge nützliche Hintergrundinformationen geliefert, aber sie hat ihr Temp und viele von ihren Schiffen eingebüßt.« Sura besaß eine Anzahl Grundstücke im Gürtel; zweifellos war sie für den Augenblick in Sicherheit. »Sie empfiehlt, den Ort des Großen Treffens nach der Brisgo-Lücke zu verlegen.«

Sekunden trieben träge dahin, während sie auf Kommentare von weiter draußen warteten. Zwanzig Sekunden. Nichts von der Flotte der Alten Erde, doch das konnte Höflichkeit sein. Vierzig Sekunden. Der Flottenkapitän von Strentmann ergriff das Wort, natürlich war es eine Frau. »Nie gehört. Brisgo-Lücke?« Sie hob die Hand, um zu zeigen, dass sie ihre Sprechzeit weiter nutzen wollte. »Gut, ich sehe. Ein Dichtewellen-Phänomen in ihrem Planetoidengürtel.« Sie ließ ein verdrießliches Lachen hören. »Ich nehme an, um diesen Ort wird kein Streit entbrennen. Sehr gut, wir könnten eine Längenposition in der Nähe von Kauffahrer Vinhs Besitz auswählen und uns alle dort treffen… nachdem wir die Rettung vollbracht haben.«

Sie waren über Dutzende, manche über Hunderte von Lichtjahren gekommen. Und nun würde ihr Großes Treffen im leeren Raum stattfinden. So gut es bei der Verzögerung zwischen ihnen möglich war, hatte Pham mit Sura wegen dieses Vorschlags gestritten. Sich an einem Ort im Nirgendwo zu treffen, hieß, ein Versagen einzugestehen. Als die Lange Sicht wieder an der Reihe war, ergriff Pham das Wort. »Gewiss hat Kauffahrer Vinh Recht, wenn sie eine abgelegene Ecke des Namqem-Systems für das Treffen auswählt. Aber wir hatten jahrelang Zeit, die Rettung zu planen. Wir haben unsere fünftausend Schiffe. Wir haben Aktionsstrategien für jede der Megalopolis-Bevölkerungen und für die, die schon auf den Planeten verlegt worden sind. Ich stimme Flottenkapitän Transolet zu. Ich schlage vor, dass wir unseren Plan ausführen, ehe wir uns bei dieser Lücke treffen.«

Achtunddreissig

Es war ein Krieg im Gange. Drei verschiedene Megalopolis-Bevölkerungen schwebten in Gefahr. Die Ressourcen von fast tausend Schiffen wurden eingesetzt, um den Wildwuchs an Militär niederzuhalten, der im Chaos aufgekommen war. Die Landekapazitäten von zweihundert Schiffen wurden auf die Oberfläche von Namqem selbst geschickt. Der Planet war etliche tausend Jahre lang ein geschniegelter Park gewesen — doch nun würde er für Milliarden zur Heimat werden. Ein Teil der Megalopolis-Bevölkerung war schon auf der Oberfläche.

Über zweitausend Schiffe wurden nach Maresk geschickt. Das Regime dort war kaum noch vorhanden — doch die Hungersnot drohte in wenigen Megasekunden. Ein großer Teil von Maresk war vielleicht durch eine Kombination von fein abgestimmtem Vorgehen und grober Masse an Transportkapazität zu retten.

Tarelsk hatte noch eine aktive Regierung, doch die glich keiner Regierung aus der Geschichte des Namqem-Systems. Es war etwas aus den finsteren Zeiten anderer Welten, wo Herrscher von Versöhnung tönten und vorsätzlich millionenfach mordeten. Die Regierung von Tarelsk war ein bodenloser Wahnsinn.

Einer von Sammys Analytikern sagte: »Die niederzuschlagen, wird fast auf eine bewaffnete Eroberung hinauslaufen.«

»Fast?« Pham schaute von den Anflugplänen auf; jedes Besatzungsmitglied trug Druckanzug und Helm. »Verdammt, das ist einfach eine.« Im einfachsten Fall würde die Rettungsmission der Dschöng Ho aus drei koordinierten Coups bestehen. Wenn sie gelangen, würden sie in der Erinnerung etwas anderes sein. Wenn sie gelangen, wäre jede Operation ein kleines Wunder, eine Errettung, die die Einheimischen nicht aus eigener Kraft leisten konnten. Vielleicht zehnmal in der ganzen Geschichte hatte es echten interstellaren Krieg über mehr als ein paar Lichtjahre hinweg gegeben. Pham fragte sich, was wohl sein Vater gedacht hätte, wenn er gewusst hätte, was sein abgeschobener Sohn eines Tages vollbringen würde. Er wandte sich wieder den Anflugplänen zu. Der schnellste würde fünfzig Kilosekunden erfordern, um Tarelsk zu erreichen. »Was gibt es Neues?«

»Wie erwartet geht die Regierung von Tarelsk nicht auf unsere Argumente ein. Sie halten uns für Invasoren, nicht für Retter. Und sie geben, was wir sagen, nicht an die Bevölkerung von Tarelsk weiter.«

»Aber die Leute wissen es doch sicherlich trotzdem?«

»Nicht unbedingt. Wir hatten drei erfolgreiche Vorbeiflüge.« Die Roboter waren vor vier Megasekunden losgeschickt worden, Erkundungspfeile, die fast ein Zehntel Lichtgeschwindigkeit schafften. »Wir haben nur einen Blick von Millisekunden erhascht, doch was wir gesehen haben, stimmt mit dem überein, was uns Suras Spione sagen. Wir glauben, die Regierung hat sich für staatliche Totalregulierung entschieden.«

Pham stieß einen leisen Pfiff aus. Nun war jedes verkoppelte Computersystem bis hinab zur Kinderrassel ein Apparat der Regierung. Es war die extremste Form sozialer Steuerung, die jemals erfunden worden war. »Also müssen sie jetzt alles lenken.« Der Gedanke war für einen autoritären Geist schrecklich verlockend… Das Problem war nur, dass kein Despot über die Mittel verfügte, um jede Einzelheit im Verhalten seiner Gesellschaft zu planen. Nicht einmal Planetenknacker-Bomben hatten einen derart schrecklichen Ruf, was die Fähigkeit anging, Zivilisationen auszulöschen. Die Herrscher von Tarelsk waren in der Tat weit zurückgefallen. Pham lehnte sich in seinem Sessel zurück. »In Ordnung. Das macht es leichter und riskanter. Wir werden den schnellsten Kurs einschlagen; diese Kerle werden alle umbringen, wenn man sie einfach sich selbst überlässt. Verfahrt nach Abwurfplan neun.« Das bedeutete immer neue Wellen unbemannter Apparate. Die ersten, zielgenaue Impulsbomben, würden versuchen, Augen und Automatik von Tarelsk blind und taub zu machen. Später würden Mineur-Sonden folgen, die die Stadtgebiete des Mondes mit Dschöng-Ho-Automatik überfluten sollten. Wenn Phams Pläne aufgingen, würde sich die Automatik von Tarelsk mit einem anderen System konfrontiert sehen, das ziemlich fremdartig und für die staatliche Totalregulierung der Machthaber nicht zu kontrollieren war.

Phams Flotte vollführte einen nahen Vorbeiflug an Namqem. Das Manöver hielt sie ein paar tausend Sekunden aus der direkten Schusslinie von Tarelsk. Das war an sich eine Art Premiere. Zivilisierte Systeme mochten es nicht, wenn große Fusionsraketen — ganz zu schweigen von interstellaren Triebwerken — inmitten dicht besiedelter Zonen operierten. Hohe Geldstrafe, sogar Ausweisung oder Beschlagnahme waren der Preis für solche Gesetzwidrigkeiten. Immerhin war es hübsch, das eine Mal auf all das zu pfeifen. Die dreißig Schiffe von Pham verzögerten mit maximaler Schubkraft, über ein g, und das schon seit Kilosekunden. Sie schossen in weniger als zweihundert Kilometern Höhe über die nördlichen mittleren Breiten von Namqem hinweg — und das mit nahezu zweihundert Kilometern pro Sekunde. Sie erhaschten einen Blick auf Wälder, auf gepflegte Wüsten, auf die provisorischen Städte für die Flüchtlinge von Alqin. Und dann entfernten sie sich wieder vom Planeten, ihre Bahn kaum gekrümmt von seiner Masse. Es war wie in einer Illustration für Kinder, wie der Planet buchstäblich in ihrer Sicht vorbeischoss.

Ein paar Kilometer vor ihnen erfüllte höllisches Licht den Raum, und nur ein Teil davon stammte vom Verteidigungsfeuer. Das war der eigentliche Grund, der Flüge mit hoher Geschwindigkeit in einem dicht besiedelten Gebiet zum Wahnsinn machte. Der Raum bei Namqem war einst der wohlgeordnete Schauplatz optimierter Nutzung gewesen. Es war sogar die Rede davon gewesen, Orbitaltürme zu errichten. Dieser Optimierung hatte sich die Regierung mit Erfolg widersetzt, doch auch ohne dies war der planetennahe Raum voller Flugkörper und Satelliten. Zu den besten Zeiten hatten Mikrokollisionen so viel Abfall erzeugt, dass das Müllsammeln die größte Industrie im Raum nahe Namqem war.

Dieser wohlgeordnete Verkehr hatte vor vielen Megasekunden aufgehört. Die Dschöng-Ho-Armada war auf dieses Chaos nicht eingerichtet, doch sie stürmten hindurch mit Bombendetonationen und Staustrahlfeldern, die Hunderte von Kilometern nach vorn und zur Seite ausgriffen. Phams Felder strichen über Millionen Tonnen von Abfall und Frachtern und Militärflugkörpern der Regierung… Sie hatten ihre Ankunft angekündigt; vielleicht gab es keine unschuldigen Opfer. Was zurückblieb, war so wüst wie ein Schlachtfeld.

Tarelsk lag direkt vor ihnen. Die Millionen Lichter seiner besten Tage waren gelöscht worden, entweder auf Anordnung der Regierung oder durch Phams Impulsbomben. Doch der Satellit war nicht tot. Es hatte so wenig Opfer wie nur menschenmöglich gegeben. Und in weniger als fünfzig Sekunden würden Phams Schiffe ihre Triebwerke abschalten. Es würde die für sie selbst riskanteste Zeit des Abenteuers folgen: Ohne Triebwerksfeuer konnten sie die Staustrahlfelder nicht betreiben — und ohne die Felder konnte jedes zufällige Stück schnell fliegenden Abfalls Schaden anrichten.

»Vierzig Sekunden bis Brennschluss.« Ihre Triebwerke wurden bereits gedrosselt, um die Oberfläche von Tarelsk nicht zu zerstören.

Pham überflog die Berichte von den anderen Flotten: von den Landeeinheiten unten auf dem Planeten, von den zweitausend Sternenschiffen, die unterwegs waren, um die Hungernden auf Maresk zu retten. Maresk schwebte wie ein Tiefsee-Leviathan inmitten einer fieberhaften Fütterung. Viele von den zweitausend Schiffen hatten andocken können. Der Rest hing über der Oberfläche. Über der Scheibe von Maresk war der letzte Frachter aus dem äußeren System zu sehen. Diese große, langsame Masse war Megasekunden früher gestartet worden, als die Automatik auf den äußersten Farmen noch funktioniert hatte. Der Frachter war so groß wie ein Sternenschiff, aber ohne die Aufbauten eines Staustrahlschiffs. Er hatte zehn Millionen Tonnen Getreide an Bord, genug, um Maresk noch eine Weile zu versorgen.

»Zwanzig Sekunden bis Brennschluss.«

Pham betrachtete noch ein paar Sekunden lang das Bild, das Maresk bot. Wolken kleinerer Raumfahrzeuge umschwärmten dort die Besucher von der Dschöng Ho, doch sie kämpften nicht. Die Menschen hier waren nicht wie auf Tarelsk in die Gewalt Verrückter gefallen.

Silbrige Zeichen liefen über den oberen Rand von Phams Bild, unheilvolle Eissplitter. Die Botschaft kam von Suras Agenten auf Maresk: Sabotage in gelandeten Schiffen entdeckt. Flieht! Flieht! Flieht! Und das Bild von Maresk verschwand von Phams Datenbrille. Einen Moment lang schaute er über die Brücke der Lange Sicht hinaus auf das Bild, das Namqem ohne Modifikationen bot. Zwei Drittel seiner Oberfläche lagen in hellem Tageslicht. In dieser wahren Ansicht war Maresk hinter dem Planeten verborgen.

Und dann flammte der Rand von Namqems Atmosphäre im Licht einer Sonne auf, einer neuen Sonne, die irgendwo hinter ihm entstanden war. Zwei Sekunden später folgte noch ein Blitz, dann noch einer.

Einen Augenblick vorher war die Brückenbesatzung der Lange Sicht ganz auf den Countdown für den Brennschluss konzentriert gewesen und hatte sich auf die Gefahren vorbereitet, die auf den Verlust ihres Feldschutzes folgen würden. Nun gab es eine Woge von Aktivität, während sie überrascht ihre Aufmerksamkeit den Lichtern zuwandten, die über die Planetenscheibe zuckten. »Detonationen rings um Maresk, im Multigigatonnen-Bereich.« Der Analytiker versuchte, mit normaler Stimme zu sprechen. »Unsere Flotten in Nähe der Oberfläche — Herrgott — sie sind verschwunden!« Verschwunden zusammen mit der über eine Milliarde Menschen zählenden Bevölkerung der Megalopolis.

Sammy Park saß erstarrt da, den Blick reglos. Pham erkannte, dass er vielleicht die Brücke übernehmen müsste. Doch dann lehnte sich Sammy gegen sein Gurtwerk vor, und seine Stimme war laut und scharf. »Tran, Lang, zurück auf eure Stationen. Kümmert euch um unsere Flotte!«

Eine andere Stimme: »Brennschluss…jetzt.«

Pham verspürte die vertraute Leichtigkeit des Falls, als das Haupttriebwerk der Lange Sicht erlosch. Seine Datenbrille zeigte, dass alle dreißig Schiffe seiner Flotte den Brennschluss binnen hundert Millisekunden vom geplanten Zeitpunkt durchgeführt hatten. Keine vier Kilometer vor ihnen schwebte Tarelsk, so nahe, dass er nicht nach einem Mond oder einem Planeten aussah, sondern nach einer Landschaft, die sich rings um sie erstreckte. Vor der Ankunft der Menschheit war Tarelsk einfach nur so ein toter und kraterbedeckter Mond gewesen, kaum größer als der Mond der Alten Erde. Doch wie den Erdenmond hatte die Transportökonomie ihn zur Größe geführt. Im Licht von Namqem war Tarelsk eine Landschaft von Pastelltönen und hochragenden künstlichen Bergen. Und anders als der Erdenmond hatte diese Welt nie eine von Menschen verursachte Katastrophe erlebt… bis jetzt.

»Endgeschwindigkeit fünfundfünfzig Meter pro Sekunde. Abstand dreieinhalbtausend Meter.« Wie beabsichtigt, hatten sie das Bremsmanöver so nahe beendet, dass die andere Seite sie nicht angreifen konnte, ohne sich selbst zu verwunden. Aber diese wahnsinnige Regierung hat soeben eine Milliarde Menschen umgebracht. »Sammy! Bring uns runter! Lande irgendwo, hart.«

»Äh…« Sammy Blick fand Phams, und nun verstand auch er. Doch es war zu spät.

Alle Systeme erstarben, seine Datenbrille wurde leer und still. Zum ersten Mal im Leben fühlte Pham einen physischen Ruck durch ein Sternenschiff gehen. Eine Million Tonnen Außenhülle und Abschirmung absorbierten und dämpften das Ereignis, doch etwas war gegen sie geprallt. Pham schaute sich auf der Brücke um. Ein Stimmengewirr kam durch die Luft, Berichte von überall her, aber ungefiltert und ohne Analyse.

»Kerntreffer, Kontakt, mein Gott!«

Einer nach dem anderen kamen verstreute Bildschirme online, die Reservetapete. Die Ansicht glitt gleichmäßig über die Landschaft von Tarelsk und in den Himmel. Die Lange Sicht drehte sich mit etlichen Grad pro Sekunde. Manche von den untergeordneten Analytikern waren im Begriff, aus ihren Gurten zu klettern.

Sammy rief über die Brücke: »Einsatzbereitschaft wiederherstellen! Kontakt zu den Reservestrukturen aufnehmen!«

Auf der einzigen funktionierenden Fensterwand kam die Landschaft von Tarelsk wieder in Sicht, Rampen und Türme und durchsichtige Kuppeln über Ackerboden. Tarelsk war so groß, dass es fast ohne die Landwirtschaft des äußeren Systems überleben konnte. Und auf all das stürzten sie hinab — mit fünfzehn Metern pro Sekunde? Ohne funktionierende Datenbrille konnte er die Geschwindigkeit nicht sehen.

»Wie schnell, Sammy?«

Sein Flaggkapitän schüttelte den Kopf. »Weiß nicht. Der Kerntreffer hat uns auf der Seite von Tarelsk erwischt, fast in der Mitte. Wir können nicht mehr als zwanzig Meter pro Sekunde drauf haben.« Doch in dem rotierenden Wrack, zu dem die Lange Sicht geworden war, gab es keine Möglichkeit, weiter abzubremsen.

Sammys Mannschaft war bis zur Selbstvergessenheit beschäftigt und versuchte, Kontakt zum übrigen Schiff und zu den anderen Schiffen der Flotte aufzunehmen. Pham saß da, hörte, schaute. Alle dreißig hatten Kerntreffer abgekriegt. Die Lange Sicht war weder am meisten noch am wenigsten beschädigt. Während die Berichte einliefen, drehte und drehte sich die Ansicht… und die Landschaft wurde größer. Pham sah Hitzeschäden. Die Irren hatten beim Angriff einige von ihren eigenen Farmen in Klump gehauen. Fast genau vor ihnen… Himmel… das waren die alten Bürotürme, die er und Sura im ersten Jahrhundert gekauft hatten.

Schiffskollisionen kamen auf ungeheuer unterschiedliche Weise vor, von Abschürfungen bei ein paar Millimetern pro Sekunde, die hauptsächlich die Hafenpolizei angingen… bis zu den großen, gleißenden Lichtblitzen, die Planetoiden zerstören und Sternenschiffe verdampfen lassen. Die Begegnung der Lange Sicht mit Tarelsk lag zwischen den Extremen. Eine Million Tonnen Sternenschiff bahnten sich den Weg durch Druckkuppeln und Mehretagen-Wohnungen, aber nicht viel schneller, als ein Mensch in einem Ein-g-Feld hätte laufen können.

Eine Million Tonnen kommen nicht leicht zum Halt. Der Zusammenstoß ging immer weiter, ein heulendes, wirbelndes Toben. Die Stadtebenen waren leichter zu zermalmen als Hüllenmetall und Antriebskern, doch Schiff und Stadt vermengten sich zu einer einzigen Ruine.

Es konnte nicht länger als zwanzig Sekunden gedauert haben, doch als es vorbei war, hingen Pham und die anderen in ihrem Gurtwerk in der Zweizehntel-Gravitation der Oberfläche von Tarelsk. Licht flackerte auf den verzogenen Wänden, und die Anzeigen waren größtenteils sinnlos. Pham öffnete seine Gurte und glitt hinab, um über die Decke zu gehen. Staub wirbelte bei den Ventilatorgittern, doch sein Druckanzug straffte sich. Die Brücke selbst war ein Vakuum. Auf dem Befehlskanal hörte er, wie sich Sammy durch die Schadensmeldungen arbeitete. Es hatten fünfhundert Menschen an Bord der Lange Sicht gelebt… bis eben noch.

»Wir haben alle im Bugbereich verloren, Flottenkapitän. Es wird Kilosekunden dauern, bis wir die Leichen herausgeholt haben. Wir…«

Pham kletterte eine Wand zu einer Luke hoch und schob sie gerade mal einen Spalt auf. Es gab einen kurzen Windstoß vom Luftausgleich. »Unsere Landetrupps, Sammy. Sie sie in Ordnung?«

»Ja, Herr Kapitän. Aber…«

»Hol sie zusammen. Wir können die anderen als Rettungsmannschaft zurücklassen, aber wir gehen raus.« Und treten jemanden in den Arsch.


Die nächsten paar Kilosekunden waren wirr. Es geschah so viel, und alles gleichzeitig. In all den Jahren der Planung hatte niemand wirklich geglaubt, dass das Unternehmen als Bodengefecht enden könnte. Und sogar die Waffenführer der Dschöng Ho waren keine richtigen Kämpfer. Pham Nuwen hatte auf dem mittelalterlichen Canberra mehr Blut und Tod gesehen als die meisten von ihnen im ganzen Leben.

Doch ihre Gegner waren auch kein richtiges Militär. Die wahnsinnige Regierung von Tarelsk hatte nicht einmal die Wohnsiedlungen an der Oberfläche vor den bevorstehenden Abstürzen gewarnt. Aus eigenem Antrieb hatten sich die meisten Leute aus den oberen Etagen zurückgezogen, dennoch waren im Laufe des langen, langsamen Zermalmens Millionen umgekommen. Phams Trupps arbeiteten sich nach unten vor, zu den Superbahnen der zweiten Ebene. Er hatte jetzt Verbindung zu den anderen Landeeinheiten. Die Menschen von Tarelsk waren nur ein paar Jahre von der höchstentwickelten Technik und der besten Bildung im ganzen Menschenraum entfernt. Sie verstanden durchaus die Katastrophe; größtenteils verstanden sie, was ihre wahnsinnige Regierung nicht verstand. Doch sie waren machtlos gegenüber den Systemen, welche die herrschende Gruppe gegen sie verwendete.

In seinen Kopfhörern hörte Pham den Landetrupp eines anderen Schiffs in dreißig Kilometern Entfernung. Sie waren auf staatliche Totalregulierung getroffen. »Hier funktioniert alles, Herr Flottenkapitän — gegen uns. Ich habe fünfzehn von meinen Leuten bei der Bahnstation verloren.«

»Nichts zu machen, Dav. Ihr habt die Impulsbomben. Benutzt sie, und dann speist ihr unsere Automatik in die Programmkerne ein.«

Sammys Trupp entfernte sich allmählich immer weiter von Phams. Sie waren zusammen durch dieselben Risse im Hüllenmetall geklettert, doch bei jeder Abzweigung ging Sammy in die andere Richtung. Zuerst spielte es keine Rolle. Die Verbindung war noch leicht durch die Wände hindurch zu halten, und durch die Trennung boten sie ein weniger kompaktes Ziel… aber verdammt, inzwischen war Sammy schon zwei Kilometer unterhalb und östlich von ihm. Phams Trupp war jetzt von Einheimischen umringt, und einige davon behaupteten, Systemmanager zu sein, Leute, die ihnen zeigen konnten, wo sie versuchen könnten, das System zu umgehen. »Warte, Sammy!«

Die Verbindung brachte nur Schmalband-Video zustande, sodass Pham nicht sehen konnte, was Sammys Trupp vorhatte. Doch er entfernte sich noch weiter. Nach einem Moment: »Pham! Wir sind durch die Trümmer durchgebrochen in… in einen Universitäts-Campus! Es gibt ein Leck, und…« Ein Standbild von Sammys Gruppe erschien auf Phams Datenbrille. Er sah eine parkähnliche Rasenfläche, mindestens einige Dutzend Einheimische liefen auf die Kamera zu — keiner von ihnen trug einen Druckanzug. Doch oben in der Nähe der Decke wirbelten Staub und lose Papiere. Über die Tonverbindung kam das hohe Pfeifen eines erheblichen Lecks.

Ein zweites Standbild war fast vollständig, es zeigte, wie Sammys Leute mit Dichtungsgeräten arbeiteten. Die große Menschenmenge kam aus dem Nichts, darunter auch Kinder — es musste einer von diesen umgekehrten Türmen sein. Sammys Stimme kam wieder durch: »Das sind meine Leute, Pham!«

Pham erinnerte sich, dass die Tarelsk-Linie von Sammy Parks Familie Akademiker waren. Verdammt. »Lass dich nicht ablenken, Sammy. Dieser Ort hat mehr Etagenfläche als alle Städte auf einem durchschnittlichen Planeten. Die Chancen sind null, dass wir ausgerechnet in der Nähe von…«

»Nicht null…« Seine Stimme schwankte am Rande der Hörbarkeit. »… Ihnen nicht gesagt, habe es für eine Lappalie gehalten. Ich habe dafür gesorgt, dass die Lange Sicht in der Nähe des Polytechnikums ankommen würde.«

Verdammt noch mal.

»Schauen Sie, wir können sie retten, Pham! Aber mehr als das — sie haben uns erwartet… Ein paar von Suras Leuten sind hier. Sie haben die Pläne der Kernroutinen — und ein paar von den Software-Änderungen des neuen Regimes. Pham, sie glauben, sie wissen, wo sich die Hirnis verschanzt haben!«


Vielleicht war es gut, dass Sammy seine eigenen Pläne gehabt hatte; als Bodenkämpfer waren die Dschöng-Ho-Leute ziemliche Nieten. Aber mit den Plänen der Kernroutinen hatten sie eine gute Handhabe gegen die Regierung und ihr Kontrollnetz.

Zehn Kilosekunden später hatte Pham Verbindung zu den Verrückten, die sich Regierung nannten: ein halbes Dutzend rotäugige Leute am Rande der Panik. Ihr Anführer trug eine Uniform, die zu einem Parkwächter gepasst hätte. Sie waren ein Endpunkt der Zivilisation.

»Sie können nichts tun, als alles noch schlimmer zu machen«, sagte Pham zu ihnen.

»Unsinn. Wir haben Tarelsk. Wir haben euch und die Fresssäcke auf Maresk ausgelöscht. Wir haben mehr als genug Ressourcen, um für Tarelsk Selbstversorgung zu erreichen. Wenn ihr fort seid, werden wir eine neue Ordnung errichten.« Und dann zitterte und verblasste die Videoverbindung; Pham sollte nie erfahren, ob das Absicht war oder nur eine Folge des zersplitterten Kommunikationssystems.

Egal. Das Gespräch hatte lange genug gedauert, um die Zwischenknoten zu identifizieren. Und Phams Truppen besaßen Hardware und Software, die außerhalb der Abstammungslinien von Namqem lagen. Mit ihrer Ausrüstung und mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung war der Sturz der wahnsinnigen Regierung eine Sache von noch ein paar Kilosekunden.

Als das geschafft war, begann die schwerste Arbeit des Rettungsplans.

Neununddreissig

Das Große Treffen der Dschöng Ho fand 20 Megasekunden später statt. Das Sonnensystem von Namqem war immer noch Katastrophengebiet. Alqin war größtenteils leer, die Bevölkerung war in Lagern auf Namqem untergebracht, hungerte aber nicht. Maresk, der kleinste Mond, war ein radioaktives Wrack; ihn wieder aufzubauen, würde Jahrhunderte dauern. Fast eine Milliarde Menschen waren dort gestorben. Doch die letzte Nahrungsmittelfracht war gerettet, die automatische Landwirtschaft der äußeren Welten wieder in Gang gebracht worden, und es gab genug Nahrung für die zwei Milliarden Überlebenden auf Tarelsk. Die Automatik auf Namqem war schwer angeschlagen und funktionierte vielleicht mit zehn Prozent ihrer Effizienz vor der Katastrophe. Die Menschen im Namqem-System, die bis jetzt überlebt hatten, würden weiter leben und alles wieder aufbauen. Die Menschen im System würden nicht aussterben und kein Dunkles Zeitalter durchmachen. Die Enkel der Überlebenden würden sich wundern, was das für eine schreckliche Zeit war.

Doch es gab noch immer keinen zivilisierten Austragungsort für das Große Treffen. Pham und Sura hielten sich an den ursprünglichen Entschluss. Das Treffen würde draußen bei der Brisgo-Lücke stattfinden, dem verlassensten Ort im mittleren System. Dort brauchte man sich wenigstens keine Zerstörungen anzusehen, keine lokalen Probleme zu lösen. Von der Brisgo-Lücke aus waren der Planet Namqem und seine drei Monde nur eine blaugrüne Scheibe und drei Lichtpunkte.

Sura Vinh verwendete ihre letzten Ressourcen aus den Planetoiden, um das Temp für das Große Treffen zu bauen. Pham hatte gehofft, sie würde von dem Erfolg beeindruckt sein, die die Dschöng Ho errungen hatte. »Wir haben die Zivilisation gerettet, Sura. Sicherlich glaubst du mir jetzt. Wir können mehr sein als geheimniskrämerische Kauffahrer.«

Doch Sura Vinh war so alt geworden. In der Morgenröte der Zivilisation hatte die Medizin Unsterblichkeit verheißen. In den frühen Jahrtausenden war der Fortschritt schnell gewesen. Zweihundert Lebensjahre, sogar dreihundert wurden erreicht. Danach war jeder weitere Fortschritt weniger beeindruckend und teurer. Und so hatte die Menschheit allmählich noch einen ihrer naiven Träume verloren. Kälteschlaf konnte den Tod um Jahrtausende hinausschieben, doch selbst mit der besten medizinischen Hilfe konnte man nicht mit viel mehr als fünfhundert Jahren wirklicher Lebenszeit rechnen. Das war die äußerste Grenze, die ein einzelner Mensch erreichen konnte. Und wenn man dieser Grenze nahe kam, zahlte man einen schrecklichen Preis.

Suras Rollstuhl glich eher einem mobilen Krankenzimmer als einem Möbelstück. Ihre Arme zuckten hoch, selbst in der Schwerelosigkeit schwach. »Nein, Pham«, sagte sie. Ihre Augen waren klar und grün wie eh und je, gewiss Transplantate oder künstlich. Ihrer Stimme war der synthetische Ursprung deutlicher anzumerken, doch Pham hörte ihr vertrautes Lächeln darin. »Das Große Treffen muss entscheiden, du weißt doch? Wir haben deinen Plänen niemals zugestimmt. Der Zweck der Zusammenkunft war, die Frage zur Abstimmung zu stellen.«

Eben das hatte Sura seit den frühesten Jahrhunderten immer gesagt, als sie erkannte, dass Pham seinen Traum nie aufgeben würde. O Sura, ich möchte dir nicht weh tun, aber wenn meine Ansicht explizit über deine siegen muss, dann soll es so sein.

Das Temp, das Sura in der Mitte der Brisgo-Lücke positioniert hatte, war riesig, sogar nach den Maßstäben ihrer Besitztümer aus der Zeit vor der Katastrophe. Die Sternenschiffe aller überlebenden Flotten konnten daran festmachen, und Sura sorgte für die Sicherheit mehr als zwei Millionen Kilometer über die Lücke hinaus.

Der zentrale Raum des Temps war eine Versammlungshalle mit Schwerelosigkeit. Sie war wahrscheinlich die großartigste in der Geschichte, über jeden praktischen Zweck hinaus weiträumig. Megasekunden vor dem Treffen selbst gab es gesellschaftliche Kontakte, die größte Begegnung von Kauffahrern, die es jemals gegeben hatte und wahrscheinlich jemals geben würde. Pham verwendete jede Kilosekunde, die er sich von den Rettungsarbeiten freimachen konnte, um daran teilzunehmen. Jeden Tag knüpfte er mehr Kontakte, hatte mehr Wechselwirkung, als es in einem Jahrhundert seines bisherigen Lebens möglich gewesen war. Irgendwie musste er die Zweifler umstimmen. Und es gab so viele davon. Sie waren im Grunde anständig, aber so vorsichtig und schlau. Viele von ihnen waren seine eigenen Nachfahren. Ihre Bewunderung — sogar ihre Zuneigung — wirkte echt, doch er war sich nie sicher, wie viele er wirklich überzeugt hatte. Pham wurde gewahr, dass er nervöser war als jemals im Kampf oder sogar bei schwierigen Geschäften. Macht nichts, sagte er sich. Darauf hatte er sein Leben lang gewartet. Kein Wunder, dass er ein paar Megasekunden vor der endgültigen Entscheidung aufgeregt war.

Die letzten Megasekunden vor dem Treffen brachten eine fieberhafte Neuordnung der Zeitpläne. Dem Sonnensystem von Namqem fehlte immer noch ordentliche Automation. Es würde wahrscheinlich noch ein Jahrzehnt dauern, dass Hilfe von außen notwendig wäre, um Rückfälle zu verhindern und zu sichern, dass nicht wieder Opportunisten hochkamen. Doch Pham wollte seine Leute bei dem Treffen haben. Und Sura trickste nicht an seinem Wunsch herum. Gemeinsam entwarfen sie einen Plan, der alle Leute Phams im Temp versammeln und dennoch die neue Regierung von Namqem nicht gefährden würde.

Und schließlich kam Phams Zeit. Seine einzige, größte Gelegenheit, die Dinge in Gang zu bringen. Er schaute durch den Schleier der Vorhänge am Eingang in die Weite der Halle. Sura hatte soeben ihre Vorstellung Phams beendet und war im Begriff, die Rednerplattform zu verlassen. Applaus brandete aus allen Richtungen auf. »Herr…«, murmelte Pham.

Hinter ihm sagte Sammy Park: »Nervös, Kapitän?«

»Und wie.« Im Grunde hatte er nur einmal ebensolche Angst verspürt — als er als kleiner Junge zum ersten Mal die Brücke eines Sternenschiffs betreten und sich den Kauffahrern von der Dschöng Ho gegenüber gesehen hatte. Er wandte sich um und betrachtete seinen Flaggkapitän. Sammy lächelte. Seit den Rettungsaktionen auf Tarelsk wirkte er glücklicher als je zuvor. Zu schade. Womöglich ging er nicht wieder auf Fahrt, jedenfalls nicht mit Phams Flotte. Die Menschen, die seine Mannschaft gerettet hatte, waren wirklich seine eigene Familie. Und diese niedliche Groß-Groß-Großnichte von ihm: Jun war in Ordnung, aber sie hatte ihre eigenen Vorstellungen, was Sammy mit seinem Leben anfangen sollte. Sammy streckte die Hand aus. »V-viel Glück, Kapitän.«

Und dann war Pham durch die Vorhänge. Auf dem Weg nach oben kam er an Sura vorbei. Es war keine Zeit, um zu sprechen oder zu hören. Ihre gebrechliche Hand strich über seine Wange. Durch Woge um Woge von Applaus stieg er zur zentralen Plattform hinan. Sei ruhig. Es waren noch mindestens zwanzig Sekunden, ehe er etwas sagen musste. Neunzehn, achtzehn… Die Große Halle maß nahezu siebenhundert Meter im Durchmesser und war in der uralten Tradition eines Hörsaals gebaut. Sein Publikum war eine fast vollständige Kugel von Menschen, die es sich über die ganze innere Oberfläche der Halle bequem gemacht hatten, der winzigen Rednerplattform zugewandt. Pham schaute hin und her, nach oben und unten, und wo immer sein Blick hinfiel, schauten Gesichter zurück. Berichtigung: Es gab eine Flucht leerer Plätze, nahezu hunderttausend, für die Toten der Dschöng Ho, die bei der Zerstörung von Maresk umgekommen waren. Sura hatte auf dieser Anordnung bestanden — um die Toten zu ehren. Pham hatte zugestimmt, doch er wusste, dass Sura auf diese Weise auch alle daran erinnerte, dass Phams Vorschlag einen schrecklichen Preis fordern könnte.

Pham hob die Arme, als er die Plattform erreichte. Überall in seinem Gesichtsfeld sah er die Dschöng Ho antworten. Nach einer Sekunde drang ihr Applaus sogar noch lauter an seine Ohren. Durch die durchsichtige Datenbrille hindurch konnte er keine Gesichter ausmachen. Aus dieser Entfernung konnte er sie nur anhand der Sitzordnung erraten. Überall in der Menge gab es Frauen. An einigen wenigen Stellen waren sie selten. An den meisten waren sie ebenso häufig wie Männer. Mancherorts — bei der strentmannischen Dschöng Ho — bildeten Frauen die überwältigende Mehrheit. Vielleicht hätte er sich stärker an sie wenden sollen; seit Strentmann war ihm allmählich klar geworden, dass Frauen mitunter am weitesten blicken. Doch die Vorurteile von Canberra hatten ihn auf kaum merkliche Weise noch im Griff, und Pham hatte eigentlich nie gelernt, Frauen zu führen.

Er drehte die Handflächen nach außen und wartete, bis die Rufe allmählich abebbten. Die Worte seiner Rede zogen silbern vor seinen Augen vorüber. Er hatte Jahre darauf verwendet, über diese Rede nachzudenken, und Megasekunden seit der Rettung, um jede Nuance, jedes Wort zu feilen.

Doch plötzlich brauchte er die silbernen Schriftzeichen nicht mehr. Phams Augen schauten über sie hinaus zu den Menschen ringsum, und die Worte kamen mühelos.

»Mein Volk!«

Der Lärm der Menge erstarb, fast war es ganz still. Eine Million Gesichter schaute zu ihm empor, herüber, herab.

»Ihr hört jetzt meine Stimme mit kaum einer Sekunde Verzögerung. Hier bei dem Treffen hören wir unsere Gefährten von der Dschöng Ho, sogar die von der fernen Erde, in weniger als einer Sekunde. Dieses erste und vielleicht einzige Mal können wir sehen, was wir alle sind. Und wir können entscheiden, was wir sein werden.

Mein Volk, ich gratuliere. Wir sind über Lichtjahrhunderte hinweg gekommen und haben eine großartige Zivilisation vor der Ausrottung bewahrt. Wir taten es trotz des schrecklichsten Verrats.« Er hielt inne, wies auf die Reihen leerer Sitze.

»Hier bei Namqem haben wir das Rad der Geschichte durchbrochen. Auf tausend Welten hat die Menschheit gekämpft und gekämpft, sich sogar ausgerottet. Das Einzige, was die menschliche Rasse rettet, sind Zeit und Entfernung — und bisher hat das die Menschheit auch dazu verdammt, ihre Fehler zu wiederholen.

Die alten Wahrheiten gelten noch immer: Ohne sich auf eine Zivilisation zu stützen, kann keine isolierte Ansammlung von Schiffen und Menschen den Kern der Technik wiederherstellen. Doch gleichzeitig kann ohne Hilfe von außen keine sesshafte Zivilisation auf Dauer bestehen.«

Pham machte eine Pause. Er spürte, wie ein mattes Lächeln über sein Gesicht huschte. »Also besteht Hoffnung. Zusammen können die beiden Hälften dessen, was aus der Menschheit geworden ist, dafür sorgen, dass das Ganze ewig lebt.« Er lächelte in die Runde und ließ von seiner Datenbrille einzelne Gesichter vergrößern. Sie hörten zu. Würden sie ihm schließlich zustimmen? »Das Ganze kann ewig leben — wenn wir aus der Dschöng Ho mehr machen als nur einen Interessenverband von Leuten, die Kunden etwas verkaufen.«

Pham erinnerte sich nicht sonderlich genau an die Worte seiner Rede; die Ideen und die Bitten waren seinem Denken so vertraut. Woran er sich erinnerte, waren die Gesichter, die Hoffnung, die er in so vielen sah, die reservierte Vorsicht in so vielen anderen. Am Schluss erinnerte er sie daran, dass es zu einer Abstimmung kommen würde, eine letzte Entscheidung über alles, worum er jemals gebeten hatte. »So. Ohne eure Hilfe werden wir unweigerlich scheitern, vom selben Rad zerstört, das unsere Kundenzivilisationen zermalmt. Doch wenn ihr nur ein wenig über die momentanen Geschäfte hinausblickt, wenn ihr diese zusätzliche Investition in die Zukunft tätigt, dann wird letzten Endes kein Traum für uns unerreichbar sein.«


Hätte die Halle unter Beschleunigung gestanden oder sich auf einem Planeten befunden, wäre Pham auf seinem Weg von der Plattform gestolpert. So aber musste Sammy Park ihn auffangen, als er durch die Eingangsvorhänge kam.

Über ihren Köpfen jenseits der Vorhänge schien der Applaus immer lauter zu werden.

Sura war im Vorraum geblieben, doch jetzt sah er neue Gesichter — Ratko, Butra und Qo. Seine ersten Kinder, jetzt älter als er.

»Sura!«

Ihr Stuhl machte leise wusch, und sie schwebte auf ihn zu.

»Willst du mir zu meiner Rede gratulieren?« Pham grinste, er fühlte sich immer noch benommen. Er streckte die Hände aus, nahm sanft Suras Hände. Sie war so gebrechlich, so alt. Oh Sura! Das sollte unser Triumph sein. Sura würde diesmal verlieren. Und jetzt war sie so alt, sie würde es nie anders denn als Niederlage sehen. Sie würde nie sehen, was sie beide bewirkt hatten.

Der Applaus über ihnen wurde noch lauter. Sura blickte auf. »Ja. Du hast es in jeder Beziehung besser gemacht, als ich dachte. Aber du warst ja immer besser, als man sich vorstellen konnte.« Ihre synthetische Stimme brachte es fertig, gleichzeitig traurig und stolz zu klingen. Mit einer Handbewegung deutete sie von dem Vorraum und dem Lärm weg. Pham folgte ihr hinaus, und die Stimmen hinter ihm verklangen. »Aber du weißt, wie viel davon einfach nur Glück ist, nicht wahr?«, fuhr sie fort. »Du hättest keine Chance gehabt, wenn Namqem nicht gerade zerfallen wäre, als die Flotte aller Flotten eintraf.«

Pham zuckte die Achseln. »Das war wirklich Glück. Aber es hat bewiesen, dass ich Recht habe, Sura! Wir wissen beide, dass ein Zusammenbruch wie dieser am tödlichsten sein kann — und wir haben sie gerettet.«

Was er von Suras Körper sah, war in einen gepolsterten Geschäftsanzug gekleidet, der nicht verbergen konnte, wie abgezehrt ihre Glieder waren. Doch ihr Geist und ihr Wille waren geblieben, aufrecht erhalten von der medizinischen Einheit in ihrem Stuhl. Suras Kopfschütteln war so kräftig und fast so natürlich, als wäre sie eine junge Frau. »Sie gerettet? Natürlich hast du etwas bewirkt, aber es sind immer noch Millionen umgekommen. Sei ehrlich, Pham. Wir haben tausend Jahre gebraucht, um diese Treffen zu arrangieren. Sowas kann nicht jedes Mal getan werden, wenn eine Zivilisation den Bach runtergeht. Und wäre nicht Maresk weggestorben, hätten nicht einmal deine fünftausend Schiffe ausgereicht. Das ganze System wäre am Rande seiner Transportkapazität, und noch größere Katastrophen stünden bevor.«

Das alles war Pham nicht verborgen geblieben; er hatte vor dem Treffen Megasekunden lang gegen Varianten dieser Einwände argumentiert. »Aber Namqem ist die schwierigste Rettungsaktion, der wir uns überhaupt gegenüber sehen können, Sura. Eine alte Zivilisation, fest verwurzelt, die jede Ressource ihres Sonnensystems nutzt. Mit einer Welt, die von einer Bioseuche oder gar einer totalitären Religion bedroht ist, hätten wir es viel leichter gehabt.«

Sura schüttelte weiter den Kopf. Selbst jetzt ignorierte sie, was Pham ihr unterbreitete. »Nein. In den meisten Fällen kann man etwas bewirken, aber oft genug wird es wie mit Canberra sein — eine kleine Verbesserung, für die Kauffahrer bluten müssen. Du hast Recht: Ohne die Flotte der Flotten wäre hier im Namqem-System die Zivilisation untergegangen. Aber manche Menschen hätten auf dem Planeten überlebt; manche von den Siedlungen im Planetoidengürtel hätten überleben können. Die alte Geschichte hätte sich wiederholt, und eines Tages hätte es hier wieder Zivilisation gegeben, und sei es durch Besiedlung von außen. Du hast diesen Abgrund überbrückt, und Milliarden sind zu Recht dankbar… Aber es wird Jahre sorgfältiger Lenkung brauchen, um dieses System wiederzubeleben. Vielleicht können wir hier« — ihre Hand zuckte in Richtung der Versammlungshalle — »das tun, und vielleicht nicht. Aber ich weiß, dass wir es nicht für das Weltall und für alle Zeit tun können.« Sura strich mit dem Finger über ein Sensorenfeld, und mit einem Wusch hielt ihr Stuhl an.

Sie wandte sich um und streckte die Arme aus, um Phams Schultern zu berühren. Und plötzlich hatte Pham das überaus seltsame Gefühl, fast eine kinästhetische Erinnerung, zu ihrem Gesicht aufzuschauen und ihre Hände auf seinen Schultern zu spüren. Es war eine Erinnerung aus der Zeit, ehe sie Partner, ein Liebespaar wurden. Eine Erinnerung an ihre früheste Zeit auf der Reprise: Sura Vinh, eine junge Frau, ernst. Es war vorgekommen, dass sie auf den kleinen Pham Nuwen sehr wütend geworden war. Manchmal hatte sie ihn bei den Schultern gefasst, versucht, ihn lange genug festzuhalten, dass er verstand, was sein junger Barbarenkopf nicht wissen wollte. »Junge, verstehst du nicht? Wir umfassen den ganzen Menschenraum, aber wir können keine ganzen Zivilisationen lenken. Dafür würde man eine Rasse liebevoller Sklaven brauchen. Und das werden wir von der Dschöng Ho niemals sein.«

Pham zwang sich, seinerseits Sura in die Augen zu schauen. Das hatte sie von Anfang an gesagt und nie Abstriche gemacht. Ich hätte wissen müssen, dass es eines Tages so weit kommen würde. Nun also würde sie verlieren, und Pham konnte nichts tun, um ihr zu helfen. »Tut mir Leid, Sura. Wenn du deine Rede hältst, kannst du das einer Million Menschen sagen. Viele von ihnen werden es glauben. Und dann werden wir alle abstimmen. Und…« Und nach dem, was er in der Großen Halle gesehen hatte und was er in Suras Augen sah… Nach alledem wusste Pham zum ersten Mal, dass er gewonnen hatte.

Sura wandte sich ab, und ihre künstliche Stimme war leise. »Nein. Ich werde diese Rede nicht halten. Wahlen? Komisch, dass du dich jetzt danach richten willst… Wir haben gehört, wie du den Strentmann-Pogrom beendet hast.«

Der Themenwechsel war absurd, doch die Bemerkung ging ihm nahe. »Ich hatte nur noch ein Schiff, Sura. Was hättest du getan?« Ich habe deren verdammte Zivilisation gerettet, den Teil, der nicht monströs war.

Sura hob die Hand. »Tut mir Leid… Pham, du hast einfach zu viel Glück, bist zu gut.« Fast schien es, als führe sie ein Selbstgespräch. »Seit fast tausend Jahren haben wir beide daran gearbeitet, dieses Treffen herbeizuführen. Es ist immer ein Trugbild gewesen, aber auf dem Weg dahin haben wir eine Kauffahrerkultur geschaffen, die vielleicht so lange wie in deinen optimistischen Träumen bestehen wird. Und ich habe immer gewusst, dass letzten Endes, wenn wir uns alle bei einem Großen Treffen von Angesicht zu Angesichts gegenüber stünden, der gesunde Menschenverstand die Oberhand behalten würde.« Sie schüttelte den Kopf, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Aber ich habe nie damit gerechnet, dass dir das Glück die Namqem-Katastrophe so genau rechtzeitig bringen würde — oder dass du sie wie durch Zauberei bewältigen würdest. Pham, wenn wir deinem Weg folgen, werden wir wahrscheinlich binnen eines Jahrzehnts hier bei Namqem die Katastrophe haben. In wenigen Jahrhunderten wird sich die Dschöng Ho in ein Dutzend widerstreitende Strukturen aufspalten, die sich alle für ›interstellare Regierungen‹ halten. Und der Traum, den wir teilten, wird zerstoben sein.

Du hast Recht, Pham. Du könntest die Wahl gewinnen… und darum wird es keine geben, jedenfalls nicht die Art, die du dir vorstellst.«

Pham erfasste im ersten Moment die Bedeutung der Worte nicht. Er war hundertmal Verrat ausgesetzt gewesen. Das Gefühl dafür war ihm eingebrannt worden, noch ehe er ein Sternenschiff erblickt hatte. Aber… Sura? Sura war die Einzige, der er immer vertrauen konnte, seine Retterin, seine Geliebte, sein bester Freund, die eine, mit der er ein Leben lang Pläne geschmiedet hatte. Und nun…

Pham schaute sich im Raum um, während sein Geist eine nachhaltigere Veränderung seiner Grundlagen durchmachte als jemals im Leben. Außer Sura waren da Suras Gehilfen, ihrer sechs. Dann waren da noch Ratko und Butra und Qo. Von seinen eigenen Assistenten war nur Sammy Park zugegen. Sammy stand ein wenig abseits, er sah unwohl aus.

Schließlich kehrte sein Blick zu Sura zurück. »Ich verstehe nicht…, aber was hier auch gespielt wird, du kannst die Wahl nicht ändern. Eine Million Menschen hat mich gehört.«

Sura seufzte. »Sie haben dich gehört, und vielleicht würdest du in einer fairen Abstimmung eine knappe Mehrheit bekommen. Aber viele, von denen du glaubst, dass sie dich unterstützen…, sind in Wahrheit auf meiner Seite.«

Sie zögerte, und Pham schaute wieder zu seinen drei Kindern hin. Ratko wich seinem Blick aus, doch Butra und Qo erwiderten ihn mit verbissener Festigkeit. »Wir wollten dir nie wehtun, Papa«, sagte Ratko und schaute ihn endlich an. »Wir lieben dich. Diese ganze Farce mit dem Treffen sollte dir zeigen, dass aus der Dschöng Ho nicht das werden kann, was du dir wünschst. Aber es lief nicht wie erwartet…«

Ratkos Worte hatten keine Bedeutung. Es war der Ausdruck auf den Gesichtern seiner Kinder. Es war dieselbe steinerne Verschlossenheit wie bei Phams Geschwistern eines Morgens auf Canberra. Und all die Liebe in der Zwischenzeit — eine Farce?

Er schaute wieder Sura an. »Wie also gedenkst du zu gewinnen? Mit dem plötzlichen Unfalltod einer halben Million Menschen? Oder nur mit der selektiven Ermordung von dreißigtausend besonders entschlossenen Nuwenisten? Daraus wird nichts, Sura. Es gibt zu viele gute Leute. Vielleicht kannst du heute gewinnen, aber das Wort wird bleiben, und früher oder später hast du einen Bürgerkrieg.«

Sura schüttelte den Kopf. »Wir töten niemanden, Pham. Und das Wort wird nicht weit kommen. Die in der Halle werden sich an deine Rede erinnern, aber ihre Recorder — die meisten benutzen unsere Informationsprogramme. Unsere kostenlose Gastfreundschaft, verstehst du? Am Ende wird deine Rede abgeschliffen zu etwas… weniger Gefährlichem.«

Sura fuhr fort: »Die nächsten zwanzig Kilosekunden hindurch wirst du eine Sonderbesprechung mit deiner Opposition haben. Danach wirst du einen Kompromiss ankündigen: Die Dschöng Ho wird viel größere Anstrengungen für unsere Netzinformationsdienste unternehmen, alles Nützliche, um Zivilisationen wieder aufzubauen. Doch du wirst deine Meinung über eine interstellare Regierung geändert haben, nachdem dich unsere Argumente überzeugt haben.«

Eine Farce. »Das könntet ihr zusammenfälschen. Aber danach müsst ihr immer noch eine Menge Leute umbringen.«

»Nein. Du wirst dein neues Ziel verkünden, eine Expedition zur anderen Seite des Menschenraums. Es wird klar sein, dass da Verbitterung eine Rolle spielt, doch du wirst uns alles Gute wünschen. Deine Fernflotte ist fast bereit, Pham, ungefähr zwanzig Grad tief in der Lücke. Wir haben sie ehrlich und gut ausgerüstet. Die Automatik deiner Flotte ist ungewöhnlich gut, viel teurer als alles, was wirtschaftlich einträglich wäre. Du wirst keine ständige Wache brauchen, und bis die Ersten geweckt werden, werden Jahrhunderte vergehen.«

Pham blickte von einem Gesicht zum anderen. So etwas wie Suras Verrat konnte klappen, aber nur, wenn die meisten Flottenkapitäne, die er für seine Anhänger hielt, wirklich wie Ratko und Butra und Qo waren. Und auch dann nur, wenn sie für ihre eigenen Leute die passenden Lügen vorbereitet hatten. »Seit… seit wann hast du das geplant, Sura?«

»Seit du ein junger Mann warst, Pham. Die meisten Jahre meines Lebens. Aber ich habe gebetet, dass es niemals so weit kommen würde.«

Pham nickte betäubt. Wenn sie es seit so langer Zeit plante, würde es keine offensichtlichen Fehler geben. Egal. »Meine Flotte wartet, sagst du?« Seine Lippen verzogen sich angewidert, während die Worte herauskamen. »Und all die Unverbesserlichen werden sicherlich die Besatzung sein. Wie viele? Dreißigtausend?«

»Deutlich weniger, Pham. Wir haben uns den Kern deiner Anhängerschaft sehr genau angesehen.«

Wenn man die Wahl hatte, wer würde dann schon auf eine Reise in die Ewigkeit ohne Rückkehr gehen wollen? Sie hatten gründlich dafür gesorgt, dass von diesen Anhängern jetzt niemand im Raum war. Außer Sammy. »Sammy?«

Sein Flaggkapitän schaute ihm in die Augen, doch seine Lippen bebten. »Herr Kapitän. Es tut mir s-so Leid. Jun möchte, dass ich ein anderes Leben führe. Wir… wir sind immer noch von der Dschöng Ho, aber wir können nicht mit Ihnen kommen.«

Pham neigte den Kopf. »Ach.«

Sura schwebte näher heran, und Pham erkannte, dass er, wenn er sich abstieß, wahrscheinlich den Griff ihres Stuhls packen und seine Faust glatt durch ihre dürre gepolsterte Brust rammen konnte. Und mir dabei die Hand brechen. Suras Herz war seit Jahrhunderten eine Maschine. »Junge? Pham? Es war ein schöner Traum, und wir sind dabei zu dem geworden, was wir sind. Aber letzten Endes war es nur ein Traum. Ein gescheiterter Traum.«

Pham wandte sich ohne Antwort ab. Jetzt standen Wachen an den Türen, die ihn eskortieren sollten. Er schaute seine Kinder nicht an. Er strich wortlos an Sammy Park vorbei. Irgendetwas in den ruhigen, kalten Tiefen seines Herzens wünschte seinem Flaggkapitän alles Gute. Und zweifellos glaubte Sammy die Lügen von einer Fernflotte. Er hoffte, dass Sammy sie niemals durchschauen würde. Wer würde denn solch eine Flotte, wie sie Sura beschrieb, bezahlen? Kein gewiefter Kauffahrer wie Sura Vinh und ihre steingesichtigen Kinder und die anderen, die auf diesen Tag hin intrigiert hatten. Viel billiger, viel sicherer, eine Flotte von wirklichen Särgen zu bauen. Mein Vater hätte das verstanden. Die besten Feinde sind die, die für immer schlafen.

Dann war Pham im Korridor, von Wachen umringt, die auch Fremde waren. Sein letzter Anblick von Suras Gesicht stand ihm noch vor Augen. Es waren Tränen in den Augen der alten Frau gewesen. Ein letzter Betrug.


Eine winzige Kabine, größtenteils dunkel. Die Art Zimmer, wie sie ein niederrangiger Offizier in einem kleinen Temp haben mochte. Arbeitsjacken schwebten in einem Schrankbeutel. Ein Namensschild flüsterte, und ein Name schwebte vor seinen Augen: Pham Trinli.

Wie immer, wenn Pham dem Zorn erlaubte, ihn auszufüllen, waren die Erinnerungen lebhafter als alle Datenbrillen, und die Rückkehr in die Gegenwart war eine Art Spott. Suras ›Fernflotte‹ war keine Flotte von Särgen gewesen. Selbst jetzt, zweitausend Jahre nach Suras Verrat, konnte sich Pham das nicht erklären. Höchstwahrscheinlich hatte es andere Verräter gegeben, die einigen Einfluss und etwas Gewissen besaßen und darauf bestanden hatten, dass Pham und die anderen, die ihn nicht verraten wollten, nicht getötet werden dürften. Die ›Flotte‹ war nicht viel mehr gewesen als umgerüstete Staustrahlfrachter, die nur den Verbannten und ihren Kältesärgen Platz boten. Doch es hatte unterschiedliche Flugbahnen für jedes Schiff der ›Flotte‹ gegeben. Tausend Jahre später waren sie kreuz und quer über den Menschenraum verstreut.

Sie waren nicht umgebracht worden, doch Pham hatte seine Lektion gelernt. Er hatte seine langsame, stille Rückreise begonnen. Sura war nicht mehr zu belangen. Doch noch gab es die Dschöng Ho, die er und sie geschaffen hatten, die Dschöng Ho, die ihn verraten hatte. Noch hatte er seinen Traum.

… Und er wäre mit ihm auf Triland gestorben, wenn Sammy ihn nicht ausgegraben hätte. Nun boten ihm das Schicksal und die Zeit eine zweite Chance: die Verheißung des Fokus.

Pham schüttelte die Vergangenheit ab und richtete die Orter an seiner Schläfe und in seinem Ohr neu aus. Es gab mehr denn je zu tun. Er hätte bisher mehr direkte Treffen mit Vinh riskieren sollen. Mit gutem Rückkopplungs-Training konnte Vinh lernen, mit Schocks wie dem verrückten Nau-Gespräch umzugehen, ohne alles zu verraten. Tja, das war der einfache Teil. Schwierig würde es sein, ihn weiterhin von dem Ziel abzulenken, auf das Pham letzten Endes hinsteuerte.

Pham drehte sich in seinem Schlafsack um, ließ sein Atmen zu einem leichten Schnarchen werden. Hinter seinen Augen wechselten die Bilder zu den Überwachungsprotokollen, die er für Reynolt und die Schnüffler laufen ließ. Er hatte sie abermals übertölpelt. Aber auf lange Sicht…? Wenn es nicht weitere dumme Überraschungen gab, war Anne Reynolt immer noch die größte Gefahr.

Vierzig

Hrunkner Unnerbei flog am Ersten Tag des Dunkels in die Calorica-Bucht. Im Laufe der Jahre war Unnerbei mehrmals in Calorica gewesen. Verdammt, er war direkt nach der Mitthelle hier gewesen, als der Grund des Vulkanschlundes noch ein kochender Hexenkessel war. In den Jahren danach hatte der Rand des Gebirges eine kleine Stadt von Bauleuten beherbergt. Während der Mitthelle hatten sogar in großer Höhenlage höllische Bedingungen geherrscht, doch die Arbeiter wurden gut bezahlt; die Startvorrichtungen weiter oben auf der Hochebene wurden von einer Kombination königlicher und privatwirtschaftlicher Gelder finanziert, und nachdem Hrunk gute Kühlaggregate installiert hatte, lebte es sich dort nicht schlecht. Die reichen Leute hatten sich erst in der Zeit des Schwindens eingestellt und sich, wie schon in den letzten fünf Jahren, in der Kraterwand angesiedelt.

Doch von allen Besuchen Hrunks löste dieser die seltsamsten Gefühle aus. Der Erste Tag des Dunkels. Es war eine Grenze, die vor allem im Denken verlief — und vielleicht machte sie das nur noch wichtiger.

Unnerbei hatte einen Linienflug von Hochäquatorien aus genommen, doch es war keine Touristenmaschine. Hochäquatorien mochte nur fünfhundert Meilen entfernt liegen, befand sich aber so weit wie nur möglich entfernt vom Wohlstand der Calorica-Bucht am Ersten Tag des Dunkels. Unnerbei und seine beiden Assistentinnen — eigentlich Leibwächterinnen — warteten, bis die Passagiere auf dem Mittelnetz vorwärtsgeklettert waren. Dann zogen sie ihre Parkas und geheizten Beinkleider und die beiden Paar Seitentaschen herunter, die der ganze Anlass des Fluges waren. Kurz vor der Ausstiegsluke verlor Hrunkner den Halt am Laufnetz, und eine der Seitentaschen fiel dem Steward der Maschine vor die Füße. Die Allwetterhülle riss teilweise auf und ließ erkennen, dass der Inhalt ein schieferfarbenes Pulver war, sorgfältig in Plastikbeutel gepackt.

Hrunkner trat vom Mittelnetz herab und machte die Seitentasche wieder fest. Der Steward lachte amüsiert. »Ich habe gehört, dass der beste Exportartikel von Hochäquatorien gewöhnliche Bergerde ist — dachte nie, dass jemand das ernst nehmen würde.«

Unnerbei deutete achselzuckend Verlegenheit an. Manchmal war das die beste Tarnung. Er nahm die Taschen wieder über die Schultern und schickte sich an, seine Parka zuzuknöpfen.

»Ah… hm.« Der Steward schien im Begriff zu sein, mehr zu sagen, trat dann aber zurück und ließ sie mit einer Verbeugung aus dem Flugzeug. Die drei klapperten die Leitern zum Beton der Piste hinab, und sogleich war offensichtlich, was der Bursche noch hatte sagen wollen. Noch vor einer Stunde, als sie Hochäquatorien verlassen hatten, hatte die Lufttemperatur achtzig Grad unter dem Gefrierpunkt betragen und die Windgeschwindigkeit über dreißig Kilometer pro Stunde. Sie hatten beheizte Atemgeräte benötigt, um auch nur vom Flughafengebäude zur Maschine zu gehen.

Hier… »Verdammt, dieser Ort ist ein Ofen!« Brun Soulac, seine Sicherheitsassistentin, setzte ihre Taschen ab und schüttelte sich aus ihrer Parka.

Ihre Vorgesetzte, die Sicherheitsagentin, lachte, obwohl ihr dieselbe Dummheit unterlaufen war. »Was erwartest du, Brun! Das ist die Calorica-Bucht.«

»Ja doch, aber das ist der Erste Tag des Dunkels!«

Einige von den übrigen Passagieren waren ähnlich kurzsichtig gewesen. Sie bildeten einen grotesken Zug, wie sie sich im Gehen hüpfend ihrer Parkas, Atmer und Beinkleider entledigten. Dennoch registrierte Unnerbei, dass jedes Mal, wenn Bruns Hände und Füße vollauf damit beschäftigt waren, die Kaltwetterkleidung abzustreifen, Arla Untertor die Hände frei und gute Sicht ringsum hatte. Ebenso war Brun wachsam, wenn Arla ihre Überkleidung abschüttelte. Wie durch Zauberei waren ihre Dienstpistolen während der Übung nie zu sehen. Sie konnten sich wie Idioten verhalten, doch unter der Oberfläche waren Arla und Brun so gut wie irgendein Soldat, den Unnerbei im Großen Krieg kennen gelernt hatte.


Die Mission in Hochäquatorien mochte technisch und organisatorisch mit geringem Aufwand gelaufen sein, aber die Geheimdienst-Gruppe im Flughafen war durchaus tüchtig. Die Beutel mit Gesteinsmehl wurden in gepanzerten Wagen weggefahren; noch beeindruckender, der verantwortliche Major hatte keine vorlauten Kommentare über die Absurdität der Operation abgegeben.

Binnen dreißig Minuten waren Hrunk und seine nun nicht mehr so wichtigen Leibwächterinnen wieder auf der Straße.

»Was heißt ›nicht wichtig‹?« Arla fuchtelte aufgeregt-erstaunt mit den Armen. »Nicht wichtig war, dieses… Zeug quer über den Kontinent zu geleiten.« Keine von beiden wusste, wie wichtig das Gesteinsmehl war, und sie hatten sich nicht geniert, ihre Verachtung dafür zu zeigen. Es waren gute Agentinnen, aber sie hatten nicht die Einstellung, die Hrunk gewohnt war. »Jetzt haben wir etwas Wichtiges zu bewachen.« Sie ließ eine Hand in Unnerbeis Richtung schießen, und hinter der guten Laune steckte etwas Ernstes. »Warum haben Sie uns nicht das Leben leicht gemacht und sind mit den Leuten des Majors gegangen?«

Hrunkner erwiderte das Lächeln. »Es ist noch über eine Stunde, ehe ich die Chefin treffe. Jede Menge Zeit, um zu Fuß zu gehen. Sind Sie nicht neugierig, Arla? Wie viel einfache Leute kriegen Calorica am Ersten Tag des Dunkels zu sehen?«

Arla und Brun machten daraufhin ein finsteres Gesicht, so blickten Mannschaftsdienstgrade drein, wenn sie sich dummem Verhalten gegenüber sahen, auf das sie keinen Einfluss hatten. Unnerbei hatte das oft genug in seinem Leben empfunden, obwohl er für gewöhnlich seine Missbilligung nicht derart deutlich gezeigt hatte. Die Sinnesgleichen hatten mehr als einmal demonstriert, dass sie zu Gewalt in anderer Leute Ländern bereit waren. Aber ich habe siebenundfünfzig Jahre gelebt, und es gibt so viel, wovor man sich fürchten kann. Er entfernte sich bereits in Richtung der Lichter am Rande des Wassers. Unnerbeis übliche Leibwächter, diejenigen, die ihn auf seinen Auslandseinsätzen begleitet hatten, hätten ihn körperlich zurückgehalten. Arla und Brun waren nur geborgt, nicht so gut instruiert. Nach einem Augenblick eilten sie voran, um mit ihm Schritt zu halten. Aber Arla sprach in ihr kleines Telefon. Unnerbei grinste vor sich hin. Nein, diese beiden waren nicht dumm. Ich frage mich, ob ich die Agenten erkennen werde, die sie ruft.


Die Calorica-Buch war seit frühesten Zeiten ein Weltwunder gewesen. Es war eine von den drei einzigen bekannten vulkanischen Gegenden — und die anderen beiden lagen unter Eis und Ozean. Die Bucht selbst war eigentlich die eingebrochene Vulkanmulde, und der Ozean hatte den größten Teil des zentralen Kraters überflutet.

In den frühen Jahren einer Neuen Sonne war es die reinste Hölle, obwohl zu dieser Zeit niemand den Ort beobachtet hatte. Die steil geschwungenen Kraterwände konzentrierten das Sonnenlicht, und die Temperaturen stiegen über den Schmelzpunkt von Blei. Anscheinend erzeugte — oder erlaubte — das schnelle Lavaaustritte und eine Serie von Explosionen, die neue Kraterwände hinterließen, bis die Sonne zur Mitthelle abgeklungen war. Selbst in diesen Jahren wagten sich nur die leichtsinnigsten Forscher über den Hochebenen-Rand des Kraters.

Doch wenn die Sonne in ihrem Zyklus die Jahre des Schwindens erreicht hatte und schwächer wurde, tauchte eine andere Art Besucher auf. Während in den nördlichen und südlichen Ländern die Winter ständig strenger wurden, waren jetzt die höchsten Bereiche des Kraters angenehm und warm. Während sich die Welt abkühlte, wurden immer tiefere Teile des Kraters erst zugänglich und dann ein Paradies. Im Laufe der letzten fünf Generationen war die Calorica-Bucht die exklusivste Wohngegend in den Jahren des Schwindens, der Ort, wo Leute leben und sich vergnügen konnten, die so reich waren, dass sie nicht für das kommende Dunkel zu sparen und zu arbeiten brauchten. Auf dem Höhepunkt des Großen Krieges, als Unnerbei an der Ostfront Schnee getreten hatte, und sogar später, als der Krieg größtenteils mit Tunnelkämpfen weiterging — sogar dann, erinnerte er sich, hatte er kolorierte Stiche gesehen, die das sorglose Mitthelle-Leben zeigten, welches die müßigen Reichen am Grunde des Calorica-Kraters führten.

In mancher Hinsicht glich Calorica zu Beginn des Dunkels der Welt, die moderne Technik und Atomenergie nun der ganzen Spinnheit für alle Jahre des Dunkels brachten. Unnerbei ging auf die Musik und die Lichter vor sich zu und fragte sich, was er erblicken würde.


Überall wirbelten die Spinnenmengen. Es gab Gelächter und Flötenmusik und gelegentlich Streit. Und die Leute waren auf so vielerlei Weise sonderbar, dass Unnerbei eine Zeit lang die wichtigsten Dinge nicht bemerkte.

Er ließ sich und seine Begleiter von der Bewegung der Menge wie Teilchen in einer Lösung hin und her treiben. Er konnte sich vorstellen, wie nervös Arla und Brun angesichts dieser Masse von nicht überprüften Fremden waren. Doch sie machten das Beste daraus, fügten sich in den übermütigen Lärm ein, blieben nur rein zufällig in Armreichweite von Unnerbei. In ein paar Minuten waren die drei hinab zum Rande des Wasser gedriftet. Manche in der Menge schwenkten brennende Duftstäbchen, doch es gab einen stärkeren Geruch hier am Kratergrund, einen Hauch von Schwefel, der im warmen Luftzug hing. Übers Wasser, in der Mitte der Bucht, glühte geschmolzenes Gestein rot und nahrot und gelb. Geisterhaft wallte rings um den Mittelkegel Dampf auf. Dies war einmal eine Wasserfläche, wo sich niemand um Grundeis und Leviathane zu sorgen brauchte — obwohl ein Vulkanausbruch sie ebenso gut umgebracht hätte.

»Verdammt!« Brun fiel aus ihrer Rolle, zog Unnerbei vom Rande des Platzes zurück. »Schauen Sie, da draußen im Wasser. Da ertrinken Leute!«

Unnerbei starrte eine Sekunde lang an die Stelle, wohin sie zeigte. »Sie ertrinken nicht. Sie… beim Dunkel, sie spielen im Wasser!« Die halb eingetauchten Gestalten trugen eine Art Schwimmkörper, der sie am Versinken hinderte. Die drei starrten einfach hin, und sie stellten fest, dass nicht nur sie überrascht waren, obwohl die meisten Zuschauer ihre Verblüffung zu verbergen suchten. Warum sollte irgendwer mit dem Versinken spielen! Für einen militärischen Zweck vielleicht: In wärmeren Zeiten besaßen sowohl die Sinnesgleichen als auch der Einklang Kriegsschiffe.

Zehn Meter weiter die Steinpalisade entlang platschte noch einer von den Feiernden ins Wasser. Auf einmal wirkte der Rand des Wassers wie der Rand einer tödlichen Klippe. Unnerbei wich zurück, fort von den Freuden- oder Schreckensrufen, die vom Wasser kamen. Die drei wanderten über den Platz am Grunde auf lichtgeschmückte Bäume zu. Hier im Freien konnten sie den Himmel und die Kraterwände deutlich sehen.

Es war Mitte des Nachmittags, doch abgesehen von den kaltfarbigen Lichtern in den Bäumen und den heißen Farben vom Zentrum des Kraterschlundes war es so dunkel wie nur irgend in der Nacht. Die Sonne schaute auf sie herab, ein blasser Fleck am Himmel, eine rötliche Scheibe, von kleinen schwarzen Gebilden wie Pockennarben übersät.

Der Erste Tag des Dunkels. Verschiedene Religionen und Völker legten das Datum mit geringfügigen Abweichungen fest. Die Neue Sonne begann mit einem explosiven Ausbruch von Licht, obwohl niemand da war, das zu sehen. Doch das Ende des Lichts war ein langsames Schwinden, das sich fast über die gesamte Hellzeit erstreckte. Seit drei Jahren war die Sonne ein fahles Etwas, das einem zu Mittag kaum den Rücken wärmte, schwach genug, dass man direkt hineinblicken konnte. Die letzten Jahre über waren die helleren Sterne den ganzen Tag über zu sehen gewesen. Doch selbst das war offiziell nicht der Beginn des Dunkels, obwohl es bedeutete, dass grüne Pflanzen nicht mehr wachsen konnten, dass man seine wichtigsten Nahrungsvorräte besser in seiner Tiefe haben sollte und dass Knollen- und Larvenfarmen fortan alles waren, was einen ernähren konnte, bis es an der Zeit war, sich unter die Erde zurückzuziehen.

Was also in diesem allmählichen Abgleiten ins Vergessen war es, das den Augenblick — oder zumindest den Tag — kennzeichnete, der als Erster des Dunkels galt? Unnerbei starrte direkt in die Sonne. Sie hatte die Farbe einer warmen Herdplatte, war aber so schwach, dass er keine Wärme spürte. Sie würde nicht mehr schwächer werden. Jetzt würde die Welt einfach kälter und immer kälter werden, nur vom Sternenlicht und dieser rötlichen Scheibe erhellt. Von nun an würde die Luft immer zu kalt sein, als dass man sie mühelos hätte atmen können. In früheren Generationen hatte dies den Anfang der letzten Anstrengungen bezeichnet, das Notwendige in seiner Tiefe einzulagern. In früheren Generationen hatte es für einen Vater die letzte Gelegenheit bezeichnet, für die Zukunft seiner Kupplis zu sorgen. In früheren Generationen hatte es eine Zeit von hohem Edelmut wie auch von großem Verrat und Feigheit bezeichnet, wenn all diejenigen, die nicht ganz bereit waren, sich mit der Tatsache des Dunkels und der Kälte konfrontiert fanden.

Hier, heute… Hrunks Aufmerksamkeit wandte sich denen auf dem Platz zwischen ihm und den Bäumen zu. Es gab einige — alte Kupps und viele von der eigentlich gegenwärtigen Generation —, die ihre Arme zur Sonne erhoben und sie dann senkten, um die Erde und das Versprechen zu umarmen, das der lange Schlaf verkörpern sollte.

Doch die Luft rings um sie war mild wie ein Sommerabend in den Mittleren Jahren. Und der Boden war warm, als sei die Sonne der Mittleren Jahre eben untergegangen und lasse die Nachmittagshitze zu ihnen aufsteigen. Die meisten Leute ringsum ignorierten den Abschied des Lichtes. Sie lachten, sangen — und ihre Kleidung war hell und teuer, als hätten sie nie einen Gedanken an die Zukunft verschwendet. Vielleicht waren die Reichen schon immer so gewesen.

Die kaltfarbigen Lichter in den Bäumen mussten vom Haupt-Kernreaktor gespeist sein, den Unnerbeis Firmen vor fast fünf Jahren im Hochland oberhalb der Kraterwand gebaut hatten. Sie ließen den ganzen Wald am Grunde schimmern. Jemand hatte faule Waldelfen importiert, sie zu Zehntausenden ausgesetzt. Ihre Flügel funkelten blau und grün und fernblau, während die Wesen im Gleichklang mit den Mengen unter den Bäumen wirbelten.

Im Wald tanzten die Leute in Haufen, und manche von den jüngsten liefen in die Bäume hinaus, um mit den Elfen zu spielen. Die Musik wurde hektisch, als sie in die Mitte des Wäldchens gingen und dann eine sanfte Steigung hinan, die zu den Grundstücken am ’ Boden führte. Doch jetzt war er an den Anblick von Unzeit-Leuten gewöhnt. Obwohl seine Instinkte sie noch immer für eine Perversion hielten, waren sie wirklich notwendig. Er mochte und achtete viele von ihnen. Zu beiden Seiten von ihm machten Arla und Brun unaufdringlich den Weg für ihn frei. Beide Sicherheitsleute waren Unzeitlinge, etwa zwanzig Jahre alt, gerade ein wenig jünger, als Klein Viktoria jetzt sein müsste. Es waren gute Kupps, so gut wie irgendeiner, an dessen Seite er jemals gekämpft hatte. Ja, von Fall zu Fall war Hrunkner Unnerbei mit seinem Widerwillen zurechtgekommen. Aber…Ich habe noch nie so viele Unzeitlinge auf einem Haufen gesehen.

»He, alter Bursche, komm, tanz mit uns!« Zwei junge Damen und ein Kerl sprangen auf ihn zu. Irgendwie kriegten Arla und Brun ihn frei, wobei sie die ganze Zeit vorgaben, selber fröhliche Tänzer zu sein. Im abgedunkelten Raum unter einem Baum erhaschte Unnerbei einen Blick auf etwas, das wie die Häutung eines Fünfzehnjährigen aussah. Es war, als wären alle überkommenen Bilder von Sünde und Faulheit auf einmal wahr geworden. Gewiss, die Luft war angenehm warm, doch es lag der Gestank von Schwefel in ihr. Gewiss, der Boden war angenehm warm, doch er wusste, dass es nicht die Wärme der Sonne war. Vielmehr war es eine Wärme in der Erde selbst, die sich tiefer und tiefer erstreckte wie Wärme von einem verwesenden Körper. Jede Tiefe, die man hier grub, wäre eine Todesfalle, so warm, dass das Fleisch der Schläfer in ihren Schalen verfaulen würde.

Unnerbei wusste nicht, wie Arla und Brun es anstellten, doch schließlich waren sie auf der anderen Seite des Waldes. Hier gab es noch Mengen von Leuten und Bäume — doch die Manie des Kraterbodens war gedämpft. Das Tanzen war ruhig genug, dass keine Kleidung zerrissen wurde. Hier fühlten sich die Waldelfen sicher genug, um auf ihren Jacken zu landen, dazusitzen und den bunten Flor ihrer Flügel mit fauler Dreistigkeit zu schwingen. Überall sonst auf der Welt hatten diese Wesen schon vor Jahren ihre Flügel verloren. Vor fünf Jahren war Unnerbei nach einem strengen Frost durch die Straßen von Weißenberg gegangen, und unter seinen Stiefelspitzen hatten Tausende von bunten Blättern geknirscht, die Flügel der vernünftigen Waldelfen, die sich tief eingruben, um ihre winzigen Eier zu legen. Die faule Variante hatte vielleicht ein paar Sommer mehr zu leben, doch sie waren zum Untergang verurteilt — oder hätten es sein sollen.

Die drei gingen immer höher, die ersten Hänge der Kraterwände hinauf. Vor ihnen reichten die Häuser des Späten Schwindens als Ring von Licht rings um die Wand. Natürlich war keins davon älter als zehn Jahre, doch die meisten waren im Sonnenschirm-und-Flitter-Stil der vorigen Generation gebaut. Die Gebäude waren neu, doch das Geld und die Familien waren alt. Fast jedes Grundstück war ein Radialbesitz, der sich die Kraterwand hinan erstreckte. Die Häuser des frühen Schwindens, auf halber Höhe am Hang, waren oft dunkel, ihre offene Architektur nicht mehr brauchbar. Unnerbei sah den Glanz von Schnee auf den Dächern der höher gelegenen Häuser. Scherkaners Haus lag irgendwo dort oben bei denen, die reich genug waren, um den Boden des Grundstücks zu heizen, aber nicht so reich, um weiter unten am Grund nochmals zu bauen. Scherkaner wusste, dass selbst die Calorica-Bucht dem Dunkel der Sonne nicht entgehen würde… Dazu brauchte es Kernkraft.

Zwischen den Lichtern des Grundwaldes und dem Häuserring lag Schatten. Die Waldelfen starteten mit glitzernden Flügeln, um zum Grund zurückzufliegen. Der Schwefelgeruch war schwach, nicht so scharf wie die saubere Kälte der Luft. Über ihnen war der Himmel dunkel bis auf die Sterne und die fahle Sonnenscheibe. Das war real — das Dunkel. Unnerbei starrte nur einen Moment lang und versuchte, die Lichter am Grunde zu ignorieren. Er versuchte zu lachen. »Also was wäre euch lieber, Kupps, ein bisschen ehrliche Feindeinwirkung oder noch einmal durch den Mob?«

Arla Untertors Antwort war ernst. »Ich würde natürlich den Mob wählen. Aber… das war sehr seltsam.«

»Beängstigend, meinen Sie.«

»Ja«, sagte Arla. »Aber haben Sie’s bemerkt? Eine Menge von diesen Kupps hatte auch Angst. Ich weiß nicht, es ist, als wären sie alle — wir alle — faule Waldelfen. Wenn man emporschaut und das Dunkel sieht, wenn man sieht, dass die Sonne gestorben ist… fühlt man sich schrecklich klein.«

»Ja.« Mehr wusste Unnerbei nicht zu sagen. Diese beiden jungen Leute waren Unzeitlinge. Sie waren sicherlich nicht das ganze Leben von lauter traditionalistischen Ansichten umgeben gewesen. Und dennoch hatten sie manche von denselben aus dem Bauch kommenden Bedenken wie Hrunkner Unnerbei. Interessant.

»Na los! Die Seilbahn-Station ist hier irgendwo in der Nähe.«

Einundvierzig

Die meisten Häuser auf mittlerer Höhe waren groß, Vorhallen aus Stein und schwerem Bauholz, hinten in natürliche Höhlen in der Katerwand übergehend. Hrunkner hatte etwas in der Art eines ›Berghauses Süd‹ erwartet, doch in Wahrheit war Unterbergs Haus eine Enttäuschung. Es sah wie ein Gästehaus für eines der richtigen Anwesen aus, und ein Gutteil des Raums wurde mit dem Sicherheitspersonal geteilt, das nun verdoppelt war, da sich die Chefin daheim befand. Unnerbei wurde informiert, dass seine kostbare Fracht bereits eingetroffen sei und dass man bald nach ihm rufen werde. Arla und Brun ließen sich bescheinigen, dass sie ihn abgeliefert hatten, und Hrunk wurde in einen nicht besonders große Warteraum für Personal geführt. Er verbrachte den Nachmittag mit der Lektüre einiger sehr alter Zeitschriften.

»Feldwebel?« Es war General Schmid, die in der Tür stand. »Entschuldigung wegen der Verspätung.« Sie trug eine nicht gekennzeichnete Quartiermeister-Uniform, ganz ähnlich, wie sie Streb Grüntal zu tragen pflegte. Ihre Figur war fast so schlank und feingliedrig wie immer, wenngleich ihre Gesten ein wenig steif wirkten. Hrunkner folgte ihr zurück durch den Sicherheitsbereich und dann eine hölzerne Wendeltreppe hinauf. »Da haben wir Glück gehabt, Feldwebel, dass Sie Scherk und mich so kurz nach Ihrer Entdeckung erwischt haben.«

»Ja, Frau General. Rachner Thrakt hat die Reiseroute festgelegt.« Die Treppe wand sich zwischen Jadewänden immer höher. Geschlossene Türen und gelegentlich ein dunkles Zimmer erschienen an den Seiten. »Wo sind die Kinder?« Die Frage rutschte ihm heraus.

Schmid zögerte, sicherlich suchte sie nach einem Vorwurf in seinen Worten. »… Junior ist voriges Jahr in die Armee eingetreten.«

Davon hatte er gehört. Es war so lange her, seit er Klein Viktoria gesehen hatte. Er fragte sich, wie ihr wohl das Militär gefallen würde. Sie schien immer ein zähes kleines Kuppli zu sein, aber mit einer Portion von Scherkaners Spleens. Er fragte sich, ob wohl Rhapsa und Klein Hrunk noch hier wären.

Die Treppe trat aus der Kraterwand hervor. Dieser Teil des Anwesens hatte vermutlich in den frühen Jahren des Schwindens existiert. Doch wo es zuvor offene und umbaute Höfe gegeben hatte, trotzte nun Quarz in drei Schichten dem Dunkel. Er schwächte alle fernen Farben, doch der Anblick war nackt und krass. Die Lichter der Stadt glitzerten im Land am Grund rings um den hitzeroten See in der Mitte. Kalter Nebel hing überm Wasser in der Luft. All die Lichter von unten ließen ihn trübe glimmen. Die Generalin zog die Blenden vor den Ausblick, während sie dorthin emporstiegen, wo wohl das Hochgitter des ursprünglichen Besitzers gewesen war.

Sie winkte ihn in ein großes, hell erleuchtetes Zimmer.

»Hrunk!« Scherkaner Unterberg kam aus den prall gefüllten Kissen hervor, die das Mobiliar des Raumes bildeten. Sicherlich hatte das der ursprüngliche Eigentümer so eingerichtet. Unnerbei konnte sich nicht vorstellen, dass die Generalin oder Unterberg sich für derlei Verzierungen entschieden hätten.

Unterberg trottete unbeholfen durchs Zimmer, seine Begeisterung übertraf seine Beweglichkeit. Er hatte einen großen Geleitkäfer an der Leine, und das Wesen korrigierte seine Richtung, brachte ihn geduldig zum Eingang. »Du hast Rhapsa und Klein Hrunk um ein paar Tage verpasst, fürchte ich. Die beiden sind nicht die Kupplis, an die du dich erinnerst; sie sind jetzt siebzehn! Aber der Generalin gefiel die Atmosphäre hier in der Gegend nicht, und sie hat sie zurück nach Weißenberg expediert.«

Hinter sich sah Hrunkner, wie die Generalin ihren Gatten wütend anstarrte, doch sie sagte nichts. Statt dessen ging sie langsam von einem Fenster zum anderen, zog Blenden zu, schloss das Dunkel aus. Dieses Zimmer war einmal ein offener Pavillon gewesen, jetzt gab es eine Menge Fenster. Sie setzten sich. Scherkaner war voller Neuigkeiten über die Kinder. Die Generalin saß schweigend da. Als Scherk mit den neuesten Abenteuern von Jirlib und Brent anfing, sagte sie: »Ich bin sicher, der Feldwebel ist nicht gar so sehr interessiert, von unseren Kindern zu hören.«

»Oh, aber ich…«, begann Unnerbei, doch dann sah er, wie sich die Generalin verkrampfte. »Aber ich denke, wir haben eine Menge anderes zu besprechen, nicht wahr?«

Scherk zögerte, dann beugte er sich vor, um das Fell auf dem Rückenpanzer seines Geleitkäfers zu streicheln. Das Tier war groß, es musste dreißig Kilo wiegen, doch es sah sanft und klug aus. Nach einem Augenblick begann der Käfer zu schnurren. »Ich wünschte, ihr anderen wärt so leicht zufriedenzustellen wie Mobiy hier. Aber ja, wir haben eine Menge zu besprechen.« Er griff unter einen Tisch mit Filigran-Arbeiten — das Ding sah aus wie ein Original aus der Escal-Dynastie, etwas, das vier Passagen durch die Tiefen einer reichen Familie überstanden hatte — und zog einen der Plastikbeutel hervor, die Hrunk aus Hochäquatorien mitgebracht hatte. Er setzte ihn mit einem dumpfen Geräusch auf den Tisch. Wölkchen von Gesteinsmehl breiteten sich über das polierte Holz aus.

»Ich bin sprachlos, Hrunk! Dein magischer Steinstaub! Wie bist du darauf gekommen? Du machst einen kleinen Umweg — und kassierst ein Geheimnis, das unserem gesamten Auslandsdienst völlig entgangen ist.«

»Warte, warte. Bei dir klingt das, als ob jemand etwas verschlafen hätte.« Ein paar Leute konnten sehr schlecht aussehen, wenn er die Sache nicht klarstellte. »Das ging über externe Kanäle, aber Rachner Thrakt hat hundertprozentig mit mir kooperiert. Er hat mir die beiden Kupps geliehen, mit denen ich gekommen bin. Wichtiger noch, es waren seine Agenten in Hochäquatorien… Ihr kennt die Geschichte?« Vier von Thrakts Leuten waren über die Hochebene gezogen und hatten dieses Gesteinsmehl aus der inneren Raffinerie der Sinnesgleichen beschafft.

Schmid nickte. »Ja. Keine Sorge. Ich gebe mir selbst die Schuld, dass wir das übersehen haben. Wir sind mit all unserer technischen Überlegenheit zu selbstsicher geworden.«

Scherkaner kicherte. »Kann man wohl sagen.« Er stocherte in dem Gesteinsmehl herum. Das Licht hier war hell und farbecht, viel besser als unten beim Flughafenzoll. Doch selbst bei gutem Licht sah das Pulver nach nichts anderem als schieferfarbenem Staub aus — äquatorialer Hochlandschiefer, wenn man sich in Mineralogie gut auskannte. »Aber ich verstehe immer noch nicht, wie du darauf gekommen bist — und sei es als Möglichkeit.«

Unnerbei lehnte sich zurück. Eigentlich fühlten sich die Kissen ziemlich gut an, verglichen mit einem Passagiernetz in der dritten Klasse. »Also, erinnert ihr euch an diese gemeinsame Expedition der Sinnesgleichen und des Einklangs ins Zentrum der Hochebene vor fünf Jahren? Da waren ein paar Physiker dabei, die behaupteten, die Schwerkraft spiele dort verrückt.«

»Ja. Sie glaubten, die Bergwerksschächte wären ein geeigneter Ort, um eine neue Untergrenze für das Äquivalenzprinzip zu ermitteln; statt dessen fanden sie große Abweichungen, die von der Tageszeit abhingen. Wie du sagst, bekamen sie verrückte Ergebnisse, aber sie zogen die ganze Sache zurück, nachdem sie ihre Methodik neu geeicht hatten.«

»So geht die Geschichte — aber als ich das Kraftwerk für Westuntertor einrichtete, lief mir eine von den Einklang-Physikerinnen der Expedition über den Weg. Triga Tiefschacht ist ein solider Ingenieur, obwohl sie Physikerin ist; ich habe sie ziemlich gut kennengelernt. Jedenfalls behauptete sie, dass die experimentelle Methode bei der ersten Expedition völlig in Ordnung gewesen sei und dass man sie aus der späteren Teilnahme herausgedrängt habe… Also begann ich mich zu fragen, was es wohl mit diesem großen Tagebauunternehmen auf sich hat, das die Sinnesgleichen gerade mal ein Jahr nach der Expedition auf der Hochebene begannen. Es liegt fast genau an dem Ort, wo die Physiker waren — und sie mussten fünfhundert Meilen Gleis legen, um es anzubinden.«

»Sie haben Kupfer gefunden«, sagte Schmid. »Ein gutes Vorkommen, und das ist keine Lüge.«

Unnerbei lächelte sie an. »Natürlich. Sonst wäre bei Ihnen der Groschen sofort gefallen. Trotzdem… die Kupfermine ist nur ein Unternehmen am Rande. Und meine Physikerin kennt sich aus. Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr kam ich zu dem Schluss, es wäre nett, zu sehen, was da vor sich geht.« Er deutete auf den Beutel mit Gesteinsmehl. »Was ihr hier seht, stammt aus dem dritten Raffinerie-Durchlauf. Die Bergleute der Sinnesgleichen hatten etliche hundert Tonnen äquatorianischen Schiefer durchzuarbeiten, um dieses kleine Päckchen herauszufiltern. Ich vermute, sie filtern es nochmals hundertfach, ehe sie ihr Endprodukt erhalten.«

Schmid nickte. »Und ich wette, dass es in festeren Gewölben als die heiligen Kleinodien der Basser aufbewahrt wird.«

»Klar. Thrakts Gruppe ist nicht an das Endprodukt herangekommen.« Hrunkner tippte mit der Spitze einer Hand auf das Gesteinspulver. »Ich hoffe, das genügt, damit ihr nachweisen könnt, dass wir etwas gefunden haben.«

»O ja, es genügt!«

Unnerbei starrte Scherk überrascht an. »Du hast es seit kaum vier Stunden!«

»Du kennst mich, Hrunk. Dies mag ja ein Ferienort sein, aber ich habe meine Hobbies.« Und ein Laboratorium, um ihnen nachzugehen, kein Zweifel. »In der richtigen Beleuchtung wiegt dein Gesteinsmehl fast ein halbes Prozent weniger als sonst… Glückwunsch, Feldwebel, du hast die Antigravitation entdeckt.«

»Ich…« Triga Tiefschacht war sich ihrer Sache so sicher gewesen, doch bis eben hatte Unnerbei es nicht wirklich geglaubt. »In Ordnung. Herr Sofortanalyse, wie funktioniert es?«

»Keine Ahnung!« Scherk zitterte geradezu vor Entzücken. »Du hast etwas echt Neues entdeckt. Ja, nicht einmal die…« Er schien nach Worten zu suchen, sagte es dann so: »Aber es ist eine vertrackte Sache. Ich habe eine Probe des Staubs noch feiner zermahlen — und weißt du, es schwebt nichts nach oben weg, man kann den ›Antigravitations-Anteil‹ nicht abscheiden. Ich glaube, wir haben eine neue Art von Gruppeneffekt vor uns. Mein Labor hier bringt nicht mehr zustande. Ich werde gleich morgen früh damit nach Weißenberg zurückfliegen. Außer dem magischen Gewicht habe ich noch etwas Seltsames gefunden. Diese Hochlandschiefer haben immer einen Anteil an Diamant-Forams, aber in diesem Zeug sind die kleinsten Forams — die Hexene im Nanometerbereich — um einen Faktor von über tausend angereichert. Ich möchte nach Anzeichen für klassische Felder in dem Staub suchen. Vielleicht vermitteln diese Foramteilchen etwas. Vielleicht…« Und schon verlor sich Scherkaner Unterberg in ein Dutzend Spekulationen und Pläne für ein Dutzend mal Dutzend Tests, um die Wahrheit aus diesen Spekulationen zu extrahieren. Während er sprach, schienen die Jahre von ihm abzufallen. Er hatte noch das Zittern, doch alle seine Hände hatten sich von der Leine seines Geleitkäfers gelöst, und seine Stimme war voller Freude. Es war der Enthusiasmus, der seine Studenten und Unnerbei und Viktoria Schmid angetrieben hatte, eine neue Welt zu erschaffen. Während er sprach, stand Viktoria auf und kam zu ihm, um nahe bei ihm zu sitzen. Sie legte ihre rechten Arme um seine Schultern und knuddelte ihn kurz und heftig.

Unnerbei wurde gewahr, dass er Scherkaner angrinste, von seinen Worten gefesselt. »Erinnerst du dich an all die Schwierigkeiten, in die du dich in der ›Kinderstunde der Wissenschaft‹ gebracht hast? Als du sagtest, der ganze Himmel könne unsere Tiefe sein?

Bei Gott, Scherk, mit diesem Zeug — wer braucht da noch Raketen? Wir können richtige Schiffe in den Weltraum schicken. Wir können endlich herausfinden, was jene Lichter verursacht hat, die wir im Dunkel gesehen haben! Vielleicht können wir dort draußen sogar andere Welten finden.«

»Ja, aber…«, begann Scherkaner, doch plötzlich schwächer, fast, als lasse ihn der erwiderte Enthusiasmus all die Probleme gewahr werden, die zwischen Traum und Wirklichkeit standen. »Aber… hm… wir müssen immer noch mit der Geehrten Pedure und den Sinnesgleichen konkurrieren.«

Hrunkner erinnerte sich an seinen Gang durch den Grundwald. Und wir müssen noch lernen, im Dunkel zu leben.

Die Jahre schienen wieder über Scherkaner gekommen zu sein. Er streckte einen Arm aus, um Mobiy zu streicheln, und legte zwei weitere Hände an die Leine des Tiers. »Ja, es gibt so viele Probleme.« Er zuckte die Achseln, als wolle er sein Alter und die Entfernung zu seinen Träumen eingestehen. »Aber ich kann weiter nichts für die Rettung der Welt tun, bis ich nach Weißenberg komme. Dieser Abend wird für einige Zeit meine beste Gelegenheit sein, zu sehen, wie Mengen von Leuten auf das Dunkel reagieren. Was hast du von unserem Ersten Tag des Dunkels gehalten, Hrunk?«

Herab von den Höhen der Hoffnung, gleichauf mit den Beschränkungen der Spinnheit. »Es war… Furcht einflößend, Scherk. Wir haben alle Regeln eine nach der anderen aufgegeben, und was übrig ist, habe ich heute Nachmittag dort unten gesehen. Sogar… sogar wenn wir gegen Pedure gewinnen, bin ich mir nicht sicher, was uns danach bleibt.«

Das alte Grinsen wanderte über Scherkaner. »So schlimm ist es nicht, Hrunk.« Er kam langsam auf die Füße, und Mobiy führte ihn zur Tür. »Die meisten Leute, die jetzt noch in Calorica sind, sind törichte Reiche, altes Geld… Man muss ein wenig Ausschweifung erwarten. Aber man kann trotzdem noch etwas lernen, wenn man sie beobachtet.« Er winkte der Generalin zu. »Ich werde einen Spaziergang um den Grund des Ringwalls machen, meine Liebe. Diese jungen Leute haben vielleicht ein paar interessante Erkenntnisse.«

Schmid stand von ihren Kissen auf, ging um Mobiy herum, um ihren Gatten kurz zu drücken. »Du nimmst die übliche Sicherheitsgruppe? Keine Tricks?«

»Natürlich.« Und Hrunkner hatte das Gefühl, ihre Forderung sei todernst — dass seit dem Ereignis vor zwölf Jahren Scherkaner und alle Unterberg-Kinder Schutz sehr gut akzeptieren konnten.

Die Jadetür schloss sich sacht hinter Scherkaner, und Unnerbei und die Generalin waren allein. Schmid kehrte zu ihrem Sitzgitter zurück, und das Schweigen dehnte sich lange. Wie viele Jahre war es her, dass er mit der Generalin persönlich gesprochen hatte, ohne dass das Zimmer ringsum voll Personal war? Sie tauschten regelmäßig elektronische Post aus. Unnerbei gehörte nicht offiziell zu Schmids Stab, aber das Kernkraftwerks-Programm war der wichtigste zivile Teil ihres Programms, und er nahm ihren Ratschlag als Befehl, reiste entsprechend ihrem Zeitplan von Stadt zu Stadt, tat sein Bestes, beim Bauen ihre Spezifikationen und ihre Termine einzuhalten — und trotzdem die Geschäftspartner bei Laune zu halten. Fast jeden Tag telefonierte Unnerbei mit ihrem Stab. Mehrmals jährlich trafen sie sich auf Stabsbesprechungen.

Seit den Entführungen… war die Barriere zwischen ihnen ein Festungswall. Die Barriere hatte vorher schon existiert, war Jahr für Jahr mit ihren Kindern gewachsen, doch vor Goknas Tod konnten sie sich immer darüber hinweg die Hand reichen. Jetzt war es ein sehr seltsames Gefühl, mit der Generalin allein hier zu sitzen.

Das Schweigen dehnte sich, die beiden starrten einander an und taten so, als sei das nicht der Fall. Die Luft war schal und kalt, als sei das Zimmer lange Zeit verschlossen gewesen. Hrunkner zwang seine Aufmerksamkeit, über die barocken Tische und Schränkchen zu wandern, alle mit einem Dutzend farbiger Lacke bemalt. Praktisch jedes Stück Holz sah mehrere Generationen alt aus. Sogar die Kissen und ihr bestickter Stoff hatten den übertriebenen Stil der Generation 58. Dennoch sah er, dass Scherk wirklich hier arbeitete. Das Sitzgitter zu seiner Rechten stand bei einem Schreibtisch, der mit Apparaten und Papieren überhäuft war. Er erkannte Unterbergs zittrige Handschrift bei einem Titel: ›Videomantie für Hochleistungs-Steganographie‹.

Unvermittelt brach die Generalin das angespannte Schweigen. »Sie haben es gut gemacht, Feldwebel.« Sie stand auf und kam durchs Zimmer, um sich näher zu ihm zu setzen, auf das Gitter vor Scherks Schreibtisch. »Mir war völlig entgangen, was die Sinnesgleichen hier entdeckt hatten. Und wir hätten immer noch keinen Ansatz, wenn Sie nicht zusammen mit Thrakt die Sache in Gang gesetzt hätten.«

»Rachner hat die Operation ausgearbeitet, Frau General. Er hat sich als guter Offizier erwiesen.«

»Ja… Ich würde es schätzen, wenn Sie alle weiteren Schritte dazu mit ihm mir überlassen würden.«

»Klar.« Sie musste Bescheid wissen, und überhaupt.

Und dann folgte wieder Schweigen, und nichts war zu sagen. Schließlich deutete Hrunkner mit einer Handbewegung auf die absurden Kissenmöbel, deren kleinstes den Jahressold eines Feldwebels wert war. Abgesehen von Scherks Schreibtisch wies an diesem Ort nichts auf einen seiner Freunde hin. »Sie kommen nicht oft hierher, nicht wahr?«

»Nein«, sagte sie knapp. »Scherk wollte sehen, wie die Leute nach dem Dunkel leben — und das hier kommt dem am Nächsten, bis wir es alle selbst tun. Außerdem sah es nach einem sicheren Ort für unsere Jüngsten aus.« Sie schaute ihn herausfordernd an.

Wie sollte er Streit vermeiden? »Ja, ich bin ganz froh, dass Sie sie nach Weißenberg zurückgeschickt haben. Sie… sie sind gute Kupplis, Frau General, aber das ist kein guter Ort für sie. Ich hatte dort unten am Grunde höchst sonderbare Empfindungen. Die Leute hatten Angst, wie in den alten Geschichten von Leuten, die nicht planen und dann plötzlich allein im Dunkel sind. Sie haben kein Ziel, und jetzt ist das Dunkel da.«

Schmid setzte sich ein wenig tiefer auf ihr Gitter. »Wir müssen gegen Millionen Jahre Evolution ankämpfen; manchmal ist damit schwieriger umzugehen, als mit Kernphysik oder der Geehrten Pedure. Aber die Leute werden sich daran gewöhnen.«

Das war, was Scherkaner Unterberg gesagt hätte, lächelnd und ohne das Unbehagen ringsum wahrzunehmen. Aber Schmid klang mehr wie ein Soldat im Schützenloch, der die Beteuerungen des Oberkommandos über die Schwäche des Feindes wiederholt. Plötzlich fiel ihm ein, wie sorgfältig sie die Blenden vor jedem einzelnem Fenster geschlossen hatte. »Sie fühlen dabei dasselbe wie ich, nicht wahr?«

Einen Augenblick lang glaubte er, sie würde explodieren. Stattdessen saß sie da und schwieg unergründlich. Schließlich: »… Sie haben Recht, Feldwebel. Wie gesagt, es gibt eine Menge Instinkte, gegen die wir angehen.« Sie hob die Schultern. »Irgendwie kümmert das Scherkaner überhaupt nicht. Oder besser, er kennt die Furcht, und sie fasziniert ihn, einfach noch ein wunderbares Rätsel. Jeden Tag geht er zum Kratergrund hinab und beobachtet. Er mischt sich sogar unter sie, mitsamt Leibwächtern und Geleitkäfer und allem — man muss es sehen, um es zu glauben. Er wäre heute den ganzen Tag dort unten gewesen, wenn Sie nicht mit Ihrem faszinierenden Rätsel aufgetaucht wären.«

Unnerbei lächelte. »So ist er, unser Scherk.« Vielleicht war das ein sicheres Thema. »Haben Sie gesehen, wie er auflebte, als wir über meinen ›magischen Gesteinsstaub‹ sprachen? Ich kann es nicht erwarten zu sehen, was er damit macht. Was passiert, wenn man einem Wundertäter ein Wunder gibt?«

Schmid schien nach Worten zu suchen. »Das mit dem Gesteinsstaub finden wir heraus, so viel ist gewiss. Aber… verdammt, Hrunkner, Sie haben ein Recht, es zu wissen. Sie sind so lange mit Scherkaner zusammen wie ich. Haben Sie bemerkt, wie sein Zittern schlimmer wird? Die Wahrheit ist, er altert nicht so gut wie die meisten aus unserer Generation.«

»Ich habe bemerkt, dass er gebrechlich ist, aber schauen Sie doch nur, was an Ergebnissen dieser Tage aus Weißenberg kommt. Er tut mehr als je zuvor.«

»Ja. Indirekt. Im Laufe der Zeit hat er einen immer größeren Kreis genialer Schüler um sich geschart. Es sind jetzt Hunderte, übers ganze Computernetz verstreut.«

»… Aber all diese Arbeiten von ›Tom Lauerviel‹? Ich dachte, dahinter verbergen sich Scherk und seine Schüler.«

»Das? Nein. Das… das sind nur seine Schüler, die sich dahinter verbergen. Sie spielen anonyme Spiele im Netz; sie machen aus der Urheberschaft ein Ratespiel. Es ist einfach nur… Alberei.«

Albern oder nicht, es kam erstaunlich viel dabei heraus. Im Laufe der letzten paar Jahre hatte ›Tom Lauerviel‹ bahnbrechende Erkenntnisse über alles von Kerntechnik über Datenverarbeitung bis zu Industriestandards geliefert. »Es ist schwer zu glauben. Jetzt eben schien er ganz der Alte zu sein — geistig, meine ich. Die Ideen schienen so rasch wie immer zu kommen.« Ein Dutzend sonderbare Ideen pro Minute, wenn er in Fahrt ist. Unnerbei lächelte bei der Erinnerung. Flatterhaftigkeit, dein Name ist Unterberg.

Die Generalin seufzte, und ihre Stimme klang leise und fern. Es war, als spräche sie über erfundene literarische Gestalten, nicht ihre eigene persönliche Tragödie. »Scherk hatte Tausende von verrückten Ideen, und Hunderte davon ergaben schöne Resultate. Aber das… ist jetzt anders. Mein lieber Scherkaner ist seit drei Jahren auf nichts Neues gekommen. Er befasst sich jetzt mit Videomantie, wussten Sie das? Er ist so extravagant wie eh und je, aber…« Schmids Stimme erstarb.

Seit fast vierzig Jahren waren Viktoria Schmid und Scherkaner Unterberg ein Team, wo Unterberg eine endlose Lawine von Ideen hervorbrachte und Schmid die besten auswählte, um sie wieder bei ihm einzuspeisen. Scherk pflegte den Vorgang farbiger zu schildern, seinerzeit, als er glaubte, künstliche Intelligenz sei die große Sache der Zukunft: »Ich bin die Ideen erzeugende Komponente, und Viktoria ist der Quatsch-Detektor; wir sind als Intelligenz größer als alles auf zehn Beinen.« Die beiden hatten die Welt umgeformt.

Doch jetzt… Was, wenn die Hälfte des Teams das Genie eingebüßt hatte? Scherkaners brillante Grillen hatten die Generalin ebenso in Gang gehalten, wie umgekehrt. Ohne Scherk blieben Viktoria Schmid nur ihre eigenen Fähigkeiten: Mut, Kraft, Zähigkeit. Genügte das?

Viktoria sagte eine Zeit lang nichts mehr. Und Hrunkner wünschte, er könnte hingehen und seine Arme um ihre Schultern legen… aber Feldwebel, und seien es alte Feldwebel, tun das nicht bei Generalen.

Zweiundvierzig

Die Jahre waren vergangen, und die Gefahr hatte zugenommen. Unerbittlicher als je ein Mensch, den Pham gekannt hatte, suchte Reynolt immer weiter und weiter. Soweit möglich, hatte er es vermieden, die Blitzköpfe zu manipulieren. Er hatte sogar dafür gesorgt, dass seine Operationen weitergingen, während er auf Freiwache war; das war sehr riskant, vermied aber die offensichtlichen Korrelationen. Es half nichts. Jetzt schien Reynolt einen konkreten Verdacht zu haben. Phams Überwachung zeigte, dass ihre Suchaktionen intensiver wurden, sich ihrem Verdächtigen näherten — höchstwahrscheinlich Pham Nuwen. Da war nichts zu machen. Wie riskant das Vorhaben auch sein mochte, Anne musste ausgeschaltet werden. Die öffentliche Einweihung von Naus neuem ›Büro‹ war vielleicht die beste Gelegenheit, die Pham bekommen würde.

›Nordpfote‹ nannte es Tomas Nau. Fast alle anderen — zumal die Dschöng-Ho-Leute, die es gebaut hatten — nannten es einfach den Seepark. Jetzt hatten alle, die auf Wache waren, ihre einzige Gelegenheit, das Endergebnis zu sehen.

Die letzten in der Menge tröpfelten noch herein, als Nau auf den Vorbau seiner Fachwerk-Hütte trat. Er trug eine glitzernde Volldruck-Jacke und grüne Hosen. »Haltet die Füße am Boden, Leute. Meine Qiwi hat eine komplette spezielle Etikette für Nordpfote entworfen.« Er lächelte, und in der Menge wurde gelacht. Die Schwerkraft auf Diamant Eins war eher eine Andeutung als ein Naturgesetz. Rings um die Hütte war der ›Boden‹ geschickt texturierter Greiffilz. Also hatten alle die Füße am Boden, aber ihre Vorstellungen von der Senkrechten stimmten nur ganz ungefähr überein. Neben ihm auf dem Vorbau kicherte Qiwi angesichts von Hunderten von Leuten, die vor ihnen standen und wie Betrunkene hin und her schwankten. Ein schwarzes Kätzchen lag zusammengerollt auf dem Spitzenbesatz ihrer Bluse.

Nau hob wieder die Hände. »Mein Volk, meine Freunde. Bitte erfreut euch heute Nachmittag an dem, was ihr hier gebaut habt, und bewundert es. Und denkt darüber nach. Vor achtunddreißig Jahren haben wir uns in Kämpfen und Verrat fast vernichtet. Für die meisten von Ihnen ist das noch nicht gar so lange her, nur zehn, zwölf Jahre auf Wache. Sie erinnern sich, wie ich danach sagte, dies sei eine Zeit wie die Seuchenjahre auf der Balacrea. Wir hatten den Großteil unserer Ressourcen vernichtet, hatten uns der Fähigkeit zu interstellarer Raumfahrt beraubt. Um zu überleben, sagte ich, müssten wir die Feindseligkeiten beiseite lassen und zusammenarbeiten, ungeachtet unserer unterschiedlichen Herkunft… Nun, meine Freunde, das haben wir getan. Wir sind physisch nicht außer Gefahr; unsere Bestimmung bei den Spinnen muss sich noch erfüllen. Aber schauen Sie sich um, und Sie werden sehen, wie wir uns saniert haben. Sie alle haben dies hier aus blankem Fels und Eis und Luftschnee gebaut. Die Nordpfote hier — der Seepark — ist nicht groß, aber es ist ein Werk von höchster Kunst. Betrachten Sie sie. Sie haben etwas geschaffen, das sich mit dem Besten messen kann, was ganze Zivilisationen hervorbringen mögen.

Ich bin stolz auf Sie.« Er streckte den Arm aus, um ihn Qiwi um die Schultern zu legen, sodass das Kätzchen in Qiwis Armbeuge geschoben wurde. Einst war die Beziehung zwischen Nau und Lisolet ein hässliches Gerücht gewesen. Jetzt… Pham sah Leute bei dem Anblick zufrieden lächeln. »Sie sehen, dass das mehr als ein Park ist, mehr als das Allerheiligste eines Hülsenmeisters. Was Sie hier sehen, ist der Beweis für etwas Neues im Universum, eine Melange des Besten, was Dschöng Ho und Aufsteiger zu bieten haben. Fokussierte Personen der Aufsteiger…« — Pham registrierte, dass er von den Sklaven noch nicht so unverblümt sprach, wie er es gekonnt hätte — »haben die Detailplanung für diesen Park ausgeführt. Handel und individuelle Aktion der Dschöng Ho haben ihn verwirklicht. Und ich persönlich habe etwas gelernt: Auf Balacrea und Frenk und Gaspr herrschen wir Hülsenmeister zum Wohle der Gemeinschaft, aber wir regieren größtenteils durch persönliche Anweisung — und oft kraft des Gesetzes. Hier, wo ich mit ehemaligen Dschöng-Ho-Mitgliedern zusammenarbeite, sehe ich einen anderen Weg. Ich weiß, dass die Arbeit an meinem Park als Bezahlung für die albernen rosa Papierchen geleistet wurde, die ihr so lange vor mir verborgen habt.« Er hob die Hand, und etliche Scheine flatterten durch die Luft. Wieder lief ein Lachen durch die Menge.

»So! Bedenken Sie, was die Kombination aus der Leitung durch den Hülsenmeister und Dschöng-Ho-Effizienz bewirken kann, wenn wir erst einmal unsere Mission vollendet haben!«

Er verbeugte sich vor dem begeisterten Applaus. Qiwi schlüpfte vor ihn, um am Geländer des Vorbaus zu stehen — und der Applaus wurde noch lauter. Das Kätzchen, das den Lärm und das Herumgeschobenwerden schließlich satt hatte, sprang von Qiwis Arm und segelte in die Luft über der Menge. Es entfaltete weiche Flügel und verlangsamte seinen Flug nach oben, kam dann im Bogen zurück und kreiste über seiner Herrin. »Beachtet«, sagte Qiwi zur Menge, »Miraau darf hier fliegen. Aber sie hat Flügel!« Die Katze deutete eine Bewegung an, als wolle sie auf Qiwi herabstoßen, und flog dann in den Wald fort, der überall landeinwärts von Naus Hütte wuchs. »Jetzt lade ich Sie zu Erfrischungen an die Seite des Hülsenmeister-Hauses ein.«

Manche von den Besuchern waren schon dort. Die übrigen schlurften die Wege entlang zu aufgebockten Tischen, die sich andeutungsweise durchbogen wie vom Gewicht der Speisen, die darauf standen. Pham ging mit allen mit, begrüßte laut jeden, der mit ihm reden wollte. Es war wichtig, seine Anwesenheit hier in der Erinnerung von möglichst vielen Leuten zu verankern. Unterdessen bauten im Hintergrund seiner Augen seine winzigen Spione das taktische Bild des Parks und des Waldes auf.

Bei den Tischen stießen Kulturen aufeinander, doch mittlerweile hatte Bennys Salon für den Griff nach den Speisen eine Etikette etabliert. In ein paar Augenblicken hatten die meisten Leute ihre Ballons und Container voll Erfrischungen und strömten zurück ins Freie. Pham ging von hinten an Benny heran und haute ihm auf den Rücken. »Benny! Dieses Zeug ist gut! Aber ich dachte, du würdest liefern.«

Benny Wen schluckte und hustete. »Natürlich ist es gut. Und natürlich kommt es von mir — und Gonle.« Er deutete mit einem Nicken auf die ehemalige Mitarbeiterin der Quartiermeisterei, die neben ihm stand. »Eigentlich war es Qiwis Vater, der ein neues Gebräu aufbrachte, dessen Rezept er in den Bibliotheken gefunden hat. Wir haben es jetzt seit ungefähr einem halben Jahr für diese Party aufgespart.«

Pham plusterte sich auf. »Ich habe meinen Anteil draußen getan. Jemand musste die zusätzlichen Bohrarbeiten und das Schmelzwasser für den See des Hülsenmeisters beaufsichtigen.«

Gonle Fong zeigte ihr Söldnerlächeln. Mehr als alle von der Dschöng Ho — sogar mehr als Qiwi — hatte Fong sich Tomas Naus ›kooperative Vision‹ zu Eigen gemacht. Gonle war sehr gut damit gefahren, Gutes zu tun. »Alle haben etwas davon. Meine Farmen sind jetzt offiziell vom Hülsenmeister gebilligt. Und ich habe richtige Automatik gekriegt.«

»Du hast jetzt etwas Besseres als eine Tastatur?«, fragte Pham listig.

»Darauf kannst du Gift nehmen. Und heute bin ich für die Bedienung zuständig.« Sie hob theatralisch die Hand, und ein Speisentablett schwebte gehorsam über ihnen. Es rotierte über ihrer Hand, wippte höflich nach unten, als sie sich ein Stück gewürzten Tang griff. Dann bewegte es sich zu Benny und dann zu Pham. Phams kleine Spione betrachteten das Gerät von allen Seiten. Das Tablett manövrierte auf winzigen Gasdüsen, fast lautlos. Es war mechanisch einfach, bewegte sich aber mit Anmut und Intelligenz. Benny bemerkte es auch. »Wird es von einer fokussierten Person gesteuert?«, fragte er, und es klang ein wenig traurig.

»Äh… ja. Der Hülsenmeister meinte, es würde sich lohnen — im Hinblick auf das Ereignis.« Pham beobachtete die anderen Tabletts. Sie bewegten sich in weiten Kreisen von den Speisetischen weg und wählten genau die Leute aus, die noch nichts bekommen hatten. Schlau. Die Sklaven wurden diplomatisch im Hintergrund gehalten, und die Leute konnten vortäuschen, was Nau oft erklärt hatte — dass Fokus die Zivilisation auf ein höheres Niveau hob. Aber Nau hat Recht! Zum Teufel mit ihm!

Pham sagte etwas angemessen Aufsässiges zu Gonle Fong, Worte, die zeigten, dass der ›alte Knacker Trinli‹ wirklich beeindruckt war, aber entschlossen, es nicht zuzugeben. Er ging aus der Mitte der Menge heraus, anscheinend, um etwas zu Essen zu holen. Hmm. Ritser Brughel hatte gerade Freiwache — auch das war klug von Tomas Nau. Viele Leute hatten heutzutage etwas von Naus ›Vision‹ akzeptiert, doch Ritser Brughel konnte selbst dem völlig Bekehrten den Nerv rauben. Aber wenn Brughel Freiwache hatte und wenn Nau und Reynolt Blitzköpfe der Schicht für allgemeine Aufgaben für manuelles Bedienen abgestellt hatten — dann war die Gelegenheit sogar günstiger, als er geglaubt hatte. Wo also ist Reynolt? Die Frau konnte überraschend schwer ausfindig zu machen, sein; manchmal verschwand sie für Kilosekunden am Stück von Brughels direkter Überwachungsliste. Pham verschob seine Aufmerksamkeit nach weiter draußen. Diejenigen, die den See stabilisierten und die Ventilatoren steuerten, waren größtenteils ausgelastet, aber es blieb immer noch immense Rechenleistung. Er konnte unmöglich alle Blickpunkte und Bilder handhaben. Während sein Geist im Park hin und her schweifte, war ihm vage bewusst, dass er auf seinen Füßen schwankte. Aha, da! Kein Blick aus der Nähe, aber dort in Naus Hütte hatte er Reynolts rotes Haar und ihre rosa Haut aufscheinen sehen. Wie erwartet nahm die Frau nicht an den Festlichkeiten teil. Sie war über ein Eingabegerät der Aufsteiger gebeugt, die Augen hinter einer massiv schwarzen Datenbrille verborgen. Sie sah aus wie immer. Angespannt, intensiv, als stehe sie kurz vor einer tödlichen Erkenntnis. Und soviel ich weiß, trifft das zu.

Jemand haute ihm auf die Schulter, so kräftig, wie er es vor ein paar Augenblicken bei Benny getan hatte. »Na, Pham, alter Kerl, was meinst du?«

Pham schob die inneren Bilder weg und drehte sich um: Trud Silipan hatte sich für den Anlass herausgeputzt. So eine Uniform wie seine hatte Pham noch nicht gesehen, außer in ein paar historischen Stücken der Aufsteiger: blaue Seide, mit Fransen und Quasten versehen, die irgendwie zerrissene, fleckige Lumpen imitierte. Es war die Kleidung der Ersten Gefolgsleute, hatte ihm Trud einmal erzählt. Pham ließ seine Überraschung überströmen: »Was ich wozu meine — zu deiner Uniform oder zum Park?«

»Zum Park, zum Park! Ich trage Uniform nur, weil es so ein Meilenstein ist. Du hast die Rede des Hülsenmeisters gehört. Mach weiter, schau noch ein bisschen hin. Schau dir den Seepark an und sag mir, was du denkst.«

Hinter ihnen zeigte Phams inneres Bild Ezr Vinh, der auf sie zukam. Verdammt. »Na ja…«

»Ja, was denken Sie, Waffenführer Trinli?« Vinh kam heran, bis er ihnen gegenüber stand. Er schaute Pham einen Moment lang direkt in die Augen. »Von allen Dschöng-Ho-Leuten hier sind Sie der älteste und weitgereister als alle anderen. Von uns allen müssen Sie die gründlichsten Erfahrungen haben. Wie schneidet die Nordpfote des Hülsenmeisters gegen die großen Parks der Dschöng Ho ab?«

Vinhs Worte hatten eine Doppelbedeutung, die Trud Silipan entging, doch Pham fühlte einen Augenblick lang kalte Wut. Du bist zum Teil der Grund, dass ich Anne Reynolt umbringen muss, du kleiner Blödmann. Naus ›wahre‹ Geschichten von Pham Nuwen hatten sich in den Jungen eingefressen. Seit mindestens einem Jahr war es jetzt klar, dass er die wahre Geschichte der Brisgo-Lücke kannte. Und er ahnte, was Pham wirklich mit dem Fokus vorhatte. Seine Forderungen nach Garantien und Sicherheiten wurden immer gezielter.

Die Orter zeigten Ezr Vinhs Gesicht in Falschfarben, seinen Blutdruck und die Hauttemperatur. Konnte ein guter Blitzkopf-Schnüffler Bilder betrachten und erraten, dass der Junge eine Art Spiel spielte? Vielleicht. Der Hass des Jungen auf Nau und Brughel überwog noch seine Gefühle gegen Pham Nuwen; Pham konnte ihn noch benutzen. Aber er war ein weiterer Grund, warum Reynolt entfernt werden musste.

Die Gedanken gingen Pham durch den Kopf, noch während seine Lippen sich zu einem selbstzufriedenen Grinsen verzogen. »Was das betrifft, mein Junge, haben Sie vollkommen Recht. Bücherwissen ist nichts im Vergleich zu eigenen Reisen über die Lichtjahre hinweg, wo man Dinge mit den eigenen beiden Augen sieht.« Er wandte sich von ihnen ab und schaute den Weg entlang, an der Hütte vorbei, zur Anlegestelle und dem See dahinter. Täusche nachdenkliche Überlegung vor.

Er hatte Megasekunden darauf verwendet, unsichtbar diese Anlage zu durchstreifen; es müsste leicht sein, die ihm angemessene Rolle zu spielen. Doch wenn er hier stand, spürte er, wie die Luft sacht aus dem Wäldchen hinter ihm heranströmte. Sie war feucht, mit einer Andeutung von Kühle, mit einem harzigen Duft, der von Tausenden von Kilometern Wald wisperte, der sich hinter ihm erstreckte. Sonnenlicht drang warm durch hohe Haufenwolken. Das war auch gefälscht. Heutzutage war die wirkliche Sonne nicht einmal so hell wie ein anständiger Mond. Aber die im Diamanthimmel eingebetteten Leuchtsysteme konnten fast jeden visuellen Effekt imitieren. Der einzige Hinweis auf die Fälschung waren die schwach schimmernden Regenbögen, die sich in weiterer Entfernung wölbten…

Hangabwärts lag der See selbst. Das war Qiwis Triumph. Das Wasser war echt, stellenweise dreißig Meter tief. Qiwis Netz von Servos und Ortern hielt es stabil, die Oberfläche flach und glatt, dass sie die Wolken und das Blau darüber reflektierte. Die Hütte des Hülsenmeisters blickte auf eine Anlegestelle, die am Ende einer kleinen Bucht lag. Die Bucht erstreckte sich immer weiter. Kilometer weiter draußen — in Wahrheit keine zweihundert Meter — erhoben sich zwei felsige Inselchen aus dem Nebel und bewachten das andere Ufer.

Der Ort war ein gottgesegnetes Meisterwerk. »Es ist ein Tresartnis«, sagte Pham, ließ das Wort aber wie eine Beleidigung klingen.

Silipan runzelte die Stirn. »Ein was…

Ezr sagte: »Das ist Parkbauer-Jargon. Es bedeutet…«

»Oh, ja. Ich habe das Wort schon gehört: ein Park oder ein Bonsai, der ins Extrem geht.« Trud plusterte sich abwehrend auf. »Nun ja, er ist extrem; der Hülsenmeister hat darauf hingearbeitet. Schaut! Ein enormer Mikrogravitations-Park, der perfekt eine Planetenlandschaft imitiert. Er bricht eine Menge ästhetischer Regeln — aber zu wissen, wann man die Regeln brechen muss, ist das Merkmal eines großen Hülsenmeisters.«

Pham zuckte die Achseln und futterte weiter Gonles Erfrischungen. Er wandte sich müßig um und schaute zum Wald hinauf. Die Hügelkuppe fiel mit der wirklichen Wand der Höhle zusammen, ein üblicher Parkbauer-Trick. Die Bäume ragten zehn bis zwanzig Meter hoch, Moos glitzerte kühl und dunkel an ihren langen Stämmen. Ali Lin hatte sie an Drähten in Brutzelten an der Oberfläche von Diamant Eins wachsen lassen. Vor einem Jahr waren sie Setzlinge von drei Zentimetern gewesen. Jetzt hätten diese Bäume dank Alis Magie Jahrhunderte alt sein können. Hier und da lag totes Holz von ›älteren‹ Waldgenerationen zwischen dem Blau und Grün. Es gab Parkbauer, die solche Perfektion von einem einzigen Blickpunkt aus erreichen konnten. Doch Phams verborgene Augen schauten von allen Richtungen überall im Wald. Der Park des Hülsenmeisters zeigte solche Perfektion auf jeder Ebene. Kubikmeter für Kubikmeter war er so perfekt wie der beste Bonsai von Namqem.

»Also«, sagte Silipan, »ich glaube, du verstehst, warum ich Grund zum Stolz habe! Hülsenmeister Nau hat die Vision geliefert, aber es war meine Arbeit mit der Systemautomatik, die die Umsetzung gelenkt hat.«

Pham spürte, wie sich in Ezr Vinh Wut ansammelte. Zweifellos konnte er sich zurückhalten, aber ein guter Schnüffler würde sie trotzdem bemerken. Pham stieß Ezr leicht an die Schulter und stieß das wiehernde Lachen aus, das Trinlis Markenzeichen war. »Haben Sie das mitgekriegt, Ezr? Trud, du willst sagen, dass von dir beaufsichtigte Fokussierte das gemacht haben.« Und Aufsicht war ein zu starkes Wort. Silipan war eher ein Wärter, doch das zu sagen, wäre eine Beleidigung gewesen, die Trud ihm nicht verziehen hätte.

»Äh… ja, die Blitzköpfe. Hab ich das nicht gesagt?«

Rita Liao kam von der Menge bei den Tischen auf sie zu. Sie brachte Speisen für zwei mit. »Hat jemand Jau gesehen? Der Ort ist so groß, dass man jemanden aus den Augen verlieren kann.«

»Hab ihn nicht gesehen«, sagte Pham.

»Den Flugtechniker? Ich glaube, er ist um die andere Seite der Hütte gegangen…« Dies von einem Aufsteiger, dessen Namen Pham nicht kennen sollte. Nau und Qiwi hatten für die Einweihung eine Überschneidung der Wachen arrangiert, sodass sich in der Menge auch nahezu Fremde befanden.

»Na, Eiter. Ich sollte einfach mal zur Decke hochspringen und nachschauen.« Doch selbst unter den gegenwärtigen sanften Verhältnissen blieb Rita Liao eine gute Aufsteiger-Gefolgsfrau. Sie hielt die Füße fest am Greifboden, als sie sich umwandte, um die Menge zu mustern. »Qiwi!«, rief sie. »Hast du meinen Jau gesehen?«

Qiwi löste sich von der Gruppe um Tomas Nau und kam zu ihnen herüber. »Ja«, sagte sie. Pham bemerkte, wie Ezr Vinh zurückwich und zu einer anderen Gruppe ging. »Jau hat nicht geglaubt, dass die Pier echt ist, also habe ich vorgeschlagen, er soll hingehen und sie sich ansehen.«

»Sie ist echt? Das Boot auch?«

»Klar. Kommt mit nach unten. Ich zeig’s euch.« Die fünf gingen den Pfad hinab. Silipan in seinen Seidenlumpen stolzierte mit, winkte anderen zu, sie sollten folgen. »Seht, was wir hier gemacht haben!«

Pham schickte seinen inneren Blick voraus, studierte die Felsen rings um die Pier, die Büsche, die übers Wasser ragten. Diese balacreanische Vegetation war schön auf eine schlichte Art, die zu der kühlen Luft passte. Und der Eingang zum Versorgungstunnel war in dem Felsvorsprung hinter den blaugrünen Farnwedeln verborgen. Das ist vielleicht meine beste Gelegenheit. Pham ging neben Qiwi und stellte Fragen, die hoffentlich später seine Anwesenheit bestätigen würden. »Kann man wirklich darin Boot fahren?«

Qiwi lächelte. »Schauen Sie selbst.«

Rita Liao machte ein übertriebenes Geräusch, das Frösteln bedeuten sollte. »Kalt genug ist es, um echt zu sein. Nordpfote ist hübsch, aber könnt ihr nicht auf was Tropisches umschalten?«

»Nein«, sagte Silipan. Er beeilte sich, vor ihnen herzugehen und einen Vortrag zu halten. »Dafür ist es zu echt. Ali Lin war ganz auf Realismus und Einzelheiten aus.« Jetzt, da Qiwi zugegen war, sprach er von den Blitzköpfen wie von Menschen.

Der Pfad wand sich hin und her, realistische Kehren, die sie hinab zur felsigen Oberfläche der Hafenwand führten. Die meisten Gäste kamen nach, neugierig, zu sehen, was es mit diesem Anlegeplatz wirklich auf sich hatte.

»Das Wasser sieht schrecklich flach aus«, sagte jemand.

»Ja«, sagte Qiwi. »Realistische Wellen sind am schwierigsten. Ein paar Freunde meines Vaters arbeiten daran. Wenn wir die Wasseroberfläche für einen kleinen Abschnitt sowohl in der Zeit als auch…« Es gab erstauntes Lachen, als ein Trio von geflügelten Kätzchen tief und schnell über ihren Köpfen entlanghuschte. Die drei segelten übers Wasser hinaus und stiegen dann wie Flugzeuge in den Himmel.

»Ich wette, das haben sie bei der echten Nordpfote nicht!«

Qiwi lachte. »Stimmt. Das war mein Preis!« Sie lächelte zu Pham hoch. »Erinnern Sie sich an die Kätzchen, die wir im Temp vor dem Abflug hatten? Als ich klein war…« Sie schaute sich nach einem Gesicht in der Menge um. »Als ich klein war, hat mir jemand so ein Kätzchen geschenkt.«

In ihr steckte noch immer das kleine Mädchen, das sich an andere Zeiten erinnerte. Pham ignorierte die Wehmut in ihrer Stimme. Seine Worte kamen platt und herablassend. »Fliegende Kätzchen haben weiter nichts zu bedeuten. Wenn ihr ein solides Symbol gebraucht hättet, hättet ihr ein paar fliegende Schweine hervorgebracht.«

»Schweine?« Trud strauchelte, verlor fast die Bodenhaftung. »Ach ja, das ›edle geflügelte Schwein‹.«

»Ja, der Geist der Programmierung. In allen von den großartigsten Temps gibt es geflügelte Schweine.«

»Ja doch, klar… her mit dem Regenschirm!« Trud schüttelte den Kopf, und hinter ihm lachten manche. Der Mythos von den fliegenden Schweinen hatte auf der Balacrea nie Fuß gefasst.

Qiwi lächelte über die Nebenhandlung. »Vielleicht sollten wir es wirklich tun — ich glaube nicht, dass ich meine Kätzchen je dazu kriege, umherschwebenden Abfall zu fressen.«

In weniger als zweihundert Sekunden hatte sich die Menge am Rande des Wassers verteilt. Pham entfernte sich allmählich von Qiwi und Trud und Rita, als suche er nach dem besten Aussichtspunkt. In Wahrheit näherte er sich der Deckung der blaugrünen Farnwedel. Mit etwas Glück würde es in den nächsten paar Minuten einige Aufregung geben. Gewiss würde irgendein Dummkopf ins Wasser fallen. Er führte eine letzte Sicherheitskontrolle im Orternetz durch…

Rita Liao war kein Dummkopf, doch als sie sah, wo sich Jau Xin befand, wurde sie etwas unvorsichtig. »Ja, was bei aller Seuche machst du…?« Sie reichte ihre Speisen und ihr Getränk jemandem hinter ihr und stürzte hinaus auf die Pier. Das Boot dort hatte sich gelöst, glitt sacht hinaus in die Bucht. Wie die Hütte und die Pier bestand es aus dunklem Holz. Doch dieses Holz war nahe der Wasserlinie geteert, bei den Dollborden und am Bug gestrichen und lackiert. Ein balacreanisches Segel war am einzigen Mast aufgezogen. Von seinem Sitzplatz mittschiffs grinste Jau Xin die Menge an.

»Jau Xin, komm zurück! Das ist das Boot des Hülsenmeisters. Du wirst…« Rita lief die Pier entlang. Sie erkannte ihren Fehler und versuchte zu bremsen. Als ihre Füße sich vom Boden lösten, bewegte sie sich nur mit ein paar Zentimeter pro Sekunde. Sie schwebte von der Plattform weg, trudelte, war verlegen und hörbar wütend. Wenn niemand sie einfing, würde sie über den Kopf ihres fahrenden Gemahls hinwegsegeln und ein paar hundert Sekunden später im See landen.

Es ist so weit. Seine Programme sagten ihm, dass niemand in der Menge ihn beobachtete. Seine Sondierungen in Naus Sicherheitssystem zeigten, dass momentan kein Schnüffler auf ihn angesetzt war, und er erhaschte einen Blick auf Reynolt, wie sie in der Hütte noch an irgendeiner Plackerei arbeitete. Er blendete die Orter für einen Augenblick und trat zwischen die Farnwedel. Nur ein bisschen Retuschieren der digitalen Aufzeichnung, und es würde bewiesen sein, dass er die ganze Zeit hier war. Er konnte tun, was notwendig war, und unbemerkt zurückkehren. Es war immer noch verteufelt gefährlich, selbst wenn Brughels Schnüffler keinen Alarm gaben. Aber Reynolt auszuschalten ist notwendig.

Pham ging auf den Fingern die Oberfläche des Felsvorsprungs hinan, langsamer, weil er hinter den Büschen bleiben musste. Sogar hier war Ali Lins Kunst zu sehen. Der Fels hätte gewöhnlicher roher Diamant sein können, doch Ali hatte Steine von den Mineralvorräten an der Oberfläche des L1-Gemengsels verwendet. Sie waren entfärbt wie von tausendjährigem Sickerwasser. Das Gestein war Aquarellkunst, so großartig wie nur je auf Papier oder digital gemalt. Ali Lin war vor der Expedition zum EinAus-Stern ein erstklassiger Parkbauer gewesen. Sammy Park war froh gewesen, ihn in seiner Mannschaft zu haben. Doch in den Jahren, seit er fokussiert worden war, war er etwas Großartigeres geworden, wie es ein Mensch werden konnte, wenn sein ganzer Geist auf eine einzige Liebe konzentriert war. Was er und seine Gefährten vollbracht hatten, war subtil und tiefgründig — und bewies so gut wie nur irgendetwas die Macht, die Fokus einer Kultur gab, welche über ihn verfügte. Ihn zu verwenden ist richtig.

Der Tunneleingang lag noch ein paar Meter weiter oben. Pham nahm ein halbes Dutzend Orter wahr, die dort schwebten und die Umrisse der Tür abbildeten.

Ein kleiner Bruchteil seiner Aufmerksamkeit blieb bei der Menge unten am Hafen. Niemand schaute in seine Richtung. Einige von den wendigeren Partygästen waren auf die Pier hinausgeströmt und bildeten eine Kette, die sechs oder sieben Meter in die Luft reichte, ein akrobatisches Gewirr von Menschen. Die Männer und Frauen in der Kette hatten ein Dutzend verschiedene Richtungen im Raum, die klassische Null-g-Pose für derlei Operationen. Das zerstörte die Illusion eines Unten, und manche von den Aufsteigern schauten weg und ächzten. Sich das Meer als flach und unten vorzustellen, war eine Sache. Das Meer plötzlich als Wasserwand oder als Decke zu sehen, genügte, um Übelkeit auszulösen.

Doch dann streckte das Ende der Kette eine Hand aus und packte Ritas Fußgelenk. Die Kette zog sich zusammen und holte sie auf den Boden zurück. Pham tippte auf seine Handfläche, und der Ton von der Szene unten drang lauter an sein Ohr. Jau Xin wurde es allmählich peinlich. Er entschuldigte sich bei seiner Frau. »Aber Qiwi hat gesagt, es geht in Ordnung. Und immerhin bin ich Raumpilot.«

»Pilotenverwalter, Jau. Das ist nicht dasselbe.«

»Kommt nahe genug. Ich kann manches tun, ohne einen Blitzkopf zu brauchen, damit es klappt.« Jau setzte sich wieder beim Mast hin. Er zupfte ein wenig am Segel. Das Boot bewegte sich hinaus und um die Pier herum. Es blieb gerade im Wasser. Vielleicht hielt ein Sog es an der Oberfläche. Aber sein Kielwasser stieg einen halben Meter in die Luft, wirbelte und bildete Girlanden, wie es die Oberflächenspannung bei Wasser bewirkt. Die Menge applaudierte — jetzt sogar Rita —, und Jau wendete das Boot und versuchte, zur Anlegestelle zurückzukommen.

Pham zog sich auf Höhe des Tunneleingangs. Seine Fernsteuerung hatte sich schon an der Luke zu schaffen gemacht. Alles in diesem Park war orterkompatibel, Gott sei Dank. Die Tür ging lautlos auf. Und als er hindurchgeglitten war, hatte er keine Mühe, sie hinter sich zu schließen.

Ihm blieben vielleicht zweihundert Sekunden.

Er stieß sich rasch den engen Tunnel entlang. Hier gab es keine Illusion. Diese Wände waren nackter Kristall, der Rohstoff von Diamant Eins. Pham stieß sich schneller voran. Die Karten, die sich vor seinen Augen entfalteten, zeigten, was er vorher gesehen hatte. Tomas Nau hatte vor, den Seepark zu seinem Hauptwohnsitz zu machen; nach dieser Einweihungsfeier würde der Zugang für Außenstehende strikt eingeschränkt sein. Nau hatte die letzten von den Thermograbmaschinen verwendet, um diese engen Tunnel anzulegen. Sie boten ihm direkten körperlichen Zugang zu den kritischen Ressourcen von Hammerfest.

Phams winzige Spione zeigten ihm, dass er nur dreißig Meter vom neuen Eingang zur Fokus-Klinik entfernt war. Nau und Reynolt waren auf der Party. Alle MRT-Techniker waren auf der Party oder auf Freiwache. Er würde seine Zeit in der Klinik haben, genug Zeit für etwas Sabotage. Pham drehte sich herum und benutzte die Hände als Bremsen an den Wänden.

Sabotage? Sei doch ehrlich. Es war Mord. Nein, es ist eine Hinrichtung. Oder ein Tod, der dem Feind im Kampf zugefügt wird. Pham hatte sein Teil Menschen im Kampf getötet, und nicht immer am Ende einer Geschossbahn von Schiff zu Schiff. Dies hier ist nichts anderes. Und wenn Reynolt jetzt just ein fokussierter Automat war, Naus Sklavin? Es hatte eine Zeit gegeben, als ihre Bosheit bewusst gewesen war. Pham hatte genug über die Xevalle-Clique erfahren, um zu wissen, dass deren Schurkerei nicht nur eine Erfindung jener war, die sie vernichtet hatten. Es hatte eine Zeit gegeben, da Anne Reynolt wie Ritser Brughel gewesen war, wenn auch zweifellos wirksamer. Dem Aussehen nach hätten die beiden Zwillinge sein können: blasshäutig, mit rötlichem Haar und kalten, mörderischen Augen. Pham versuchte das Bild einzufangen, es in seinem Geist zu verstärken. Eines Tages würde er das Regime von Nau und Brughel stürzen. Eines Tages würde Pham in die Unsichtbare Hand eindringen und die Gräuel beenden, die Brughel dort verübte. Was ich mit Anne Reynolt tue, ist nichts anderes.

Und Pham wurde sich bewusst, dass er vor dem Klinikeingang schwebte, die Finger im Begriff, den Befehl zum Öffnen zu geben. Wie viel Zeit habe ich vergeudet? Die Zeitskala, die er am Rande seines Gesichtsfeldes laufen ließ, sagte: nur zwei Sekunden.

Er tippte seine Finger wütend zusammen. Die Tür glitt auf, und er schwebte hindurch in den stillen Raum. Die Klinik war hell erleuchtet, doch das Bild hinter seinen Augen war plötzlich dunkel und leer. Er bewegte sich vorsichtig, wie jemand, der plötzlich mit Blindheit geschlagen ist. Die Orter aus dem Tunnel und was er aus seiner Kleidung schüttelte breiteten sich um ihn aus und gaben ihm allmählich den Blick zurück. Er bewegte sich rasch zum MRT-Steuerpult und versuchte, das Fehlen von Sicht in den Ecken und toten Winkeln zu ignorieren. Die Klinik war ein Ort, wo Orter nicht lange überdauern konnten. Wenn die großen Magneten ihre Impulse aussandten, zerstörten sie die Elektronik in den Ortern. Trud hatte begonnen, sie abzusaugen, nachdem ein vom Magneten beschleunigtes Staubkörnchen ihm ins Ohr geschnitten hatte.

Doch Pham Nuwen hatte nicht vor, die Magneten in Betrieb zu nehmen, und seine kleinen Spione würden wohlbehalten die Zeit überstehen, die er brauchte, um seine Falle zu stellen. Er bewegte sich durch den Raum und registrierte, was an Ausrüstung vorhanden war. Wie immer war die Klinik ein geordnetes Labyrinth von blassen Pulten. Drahtlose Übertragung kam hier nicht in Frage. Optikkabel und kurze Laserstrecken verbanden Automatik und Magneten. Supraleitende Kabel wandten sich zurück in Bereiche, die er nicht einsehen konnte. Ah. Seine Orter trieben zum Befehlspult hin. Es war genauso eingestellt, wie Trud es verlassen hatte, als er neulich hier gewesen war. Pham verbrachte jetzt viele Kilosekunden von jeder Wache mit Trud in der Klinik. Pham Trinli schien nie spezielles Interesse für die Arbeitsweise der Fokus-Ausrüstung zu haben, doch Trud gab gern an, und allmählich erfuhr Pham immer mehr.

Fokus konnte nur zu leicht jemanden töten. Pham schwebte an den Ausrichtungsspulen entlang. Der innere Bereich des MRT maß keine fünfzig Zentimeter im Durchmesser, nicht einmal groß genug, um den ganzen Körper abzubilden. Doch diese Apparatur war nur für den Kopf vorgesehen, und Abbildung war nur ein Teil der Angelegenheit. Es war die Reihe Hochfrequenz-Modulatoren, die dies hier von allen konventionellen Geräten unterschied. Gesteuert von Programmen — die entgegen Truds Behauptungen größtenteils von Anne Reynolt gewartet wurden —, konnten die Modulatoren das Fokus-Virus im Kopf des Opfers trimmen und anregen. Kubikmillimeter für Kubikmillimeter konnte die Geistfäule in ihrer psychoaktiven Sekretion abgestimmt werden. Selbst wenn es perfekt gemacht wurde, musste die Krankheit alle paar Megasekunden neu abgestimmt werden, oder der Blitzkopf würde in Katatonie oder Hyperaktivität abdriften. Kleine Fehler konnten Fehlfunktionen hervorrufen — etwa ein Viertel von Truds Arbeit musste wiederholt und korrigiert werden. Mittelgroße Fehler konnten leicht das Gedächtnis zerstören. Große Fehler konnten einen massiven Schlaganfall auslösen, an dem das Opfer noch schneller als Xopi Reung starb.

Anne Reynolt stand solch ein massiver Hirnschaden bevor, wenn sie sich das nächste Mal selbst neu abstimmte.

Er war seit fast hundert Sekunden vom Seepark fort. Jau Xin nahm kleine Gruppen zu Bootsfahrten mit. Jemand war endlich in den See gefallen. Gut. Das verschafft mir mehr Zeit.

Pham zog die Haube der Steuereinheit ab. Dort gab es Schnittstellen zu den Supraleitern. Derlei Dinge konnten, bei seltenen Gelegenheiten, ohne Vorwarnung versagen. Die Schaltung schwächer machen, die Steuerprogramme so manipulieren, dass sie Reynolt erkannten, wenn sie nächstes Mal das Gerät an sich selbst verwendete…

Seit er die Klinik betreten hatte, hatten sich die mitgebrachten Orter über die Klinik verteilt. Es war ein wenig wie Licht, das immer weiter ins absolute Dunkel vordrang, mehr und mehr vom Zimmer erkennen ließ. Er hatte die Bilder mit verminderter Aufmerksamkeit verfolgt, während er die Supraleiter-Schaltung mit nahezu mikroskopischer Sicht untersucht hatte.

Das Aufflackern einer Bewegung. Er erhaschte einen Blick auf ein Hosenbein auf einem der Hintergrundbilder. Jemand verbarg sich im toten Winkel hinter den Pulten. Pham orientierte sich nach den Ortern und sprang in den freien Raum über den Pulten.

Eine Frauenstimme: »Festhalten und keine Bewegung!«

Es war Anne Reynolt. Sie kam zwischen den Pulten hervor, knapp außerhalb seiner Reichweite. Sie hielt ein Zeigergerät, als sei es eine Art Waffe.

Reynolt verschaffte sich Halt an der Decke und wackelte mit dem Lichtzeiger vor ihm. »Gehen Sie Hand über Hand zur Wand zurück.«

Für einen Moment war Pham drauf und dran, frontal anzugreifen. Der Zeiger konnte ein Bluff sein, und selbst wenn eine Kanone mit ihm gekoppelt war, was spielte es für eine Rolle? Das Spiel war aus. In Frage kam nur noch rasche und überwältigende Aktion, hier und mit den Ortern überall in Hammerfest. Vielleicht auch nicht… Pham zog sich wie befohlen zurück.

Reynolt kam hinter den Pulten hervor. Sie hakte einen Fuß unter eine Halterung. Der Zeiger in ihrer Hand zitterte nicht. »So — Pham Trinli. Wie schön, es endlich zu wissen.« Mit der freien Hand strich sie sich das Haar aus dem Gesicht zurück. Ihre Datenbrille war durchsichtig, und er konnte ihr gut in die Augen schauen. Etwas an ihr war seltsam. Ihr Gesicht war so blass und kalt wie immer, aber die übliche Ungeduld und Gleichgültigkeit war überlagert von einer Art Triumph, einer bewussten Geringschätzung. Und… auf ihren Lippen lag ein Lächeln, schwach, aber unverkennbar.

»Sie haben mir eine Falle gestellt, Anne, nicht wahr?« In Naus Hütte warf er einen erneuten, längeren Blick auf das, was er für Anne Reynolt gehalten hatte. Es war ein Stück Bildtapete, das lose auf einem Bett lag. Sie hatte die Augen geblendet, die wirklich nahe kommen konnten, und ihn mit einem billigen Video getäuscht.

Sie nickte. »Ich wusste nicht, dass Sie es sind, aber ja. Es ist seit langem klar, dass jemand meine Systeme manipuliert. Zuerst dachte ich, es sei Ritser oder Kal Omo, der politische Spiele spielt. Sie waren ein Außenseiterkandidat, jemand, der zu oft im Mittelpunkt des Geschehens steht. Erst waren Sie ein alter Narr, dann ein alter Sklavenhändler, der sich als Narr tarnt. Jetzt sehe ich, dass sie noch etwas sind, Trinli. Haben Sie wirklich geglaubt, Sie könnten die Systeme des Hülsenmeisters ewig übertölpeln?«

»Ich…« Phams Blick schweifte aus dem Zimmer über den Seepark hinweg. Die Party ging weiter. Tomas Nau selbst und Qiwi hatten sich Jau Xin auf dem kleinen Segelboot zugesellt. Pham holte Naus Gesicht näher heran: Er trug keine Datenbrille. Er war niemand, der einen Hinterhalt überwachte. Er weiß es nicht! »Ich hatte große Angst, dass ich die Systeme nicht ewig überlisten könnte -Sie vor allem.«

Sie nickte. »Ich habe geahnt, dass, wer immer es war, mich aufs Korn nehmen würde. Ich bin die kritische Komponente.« Sie schaute kurz von ihm weg zu der geöffneten Steuereinheit. »Sie wussten, dass ich mich in der nächsten Megasekunde neu abstimmen würde, nicht wahr?«

»Ja.« Und du brauchst eine Neuabstimmung dringender, als ich wusste. Hoffnung stieg in ihm auf. Sie verhielt sich wie eine Figur in einer idiotischen Abenteuergeschichte. Sie hatte ihrem Chef nicht erzählt, was sie vorhatte. Sie hatte wahrscheinlich keine Reserveleute dabei. Und jetzt schwebte sie einfach da und redete! Halt sie am Reden. »Ich dachte, ich könnte die SL-Schaltung schwächen. Wenn Sie das Gerät benutzten, würde es unkontrolliert hochfahren und…«

»… und ich hätte eine Kapillarexplosion? Sehr grobschlächtig, sehr tödlich, Trinli. Aber um es mit richtigem Programmieren zu versuchen, sind Sie nicht schlau genug, was?«

»Nein.« Wie weit weicht sie schon von der Eichung ab? Errege ein Gefühl. »Außerdem wollte ich Sie ja umbringen. Sie und Nau und Brughel sind die einzigen wahren Ungeheuer hier. Vorerst sind Sie die Einzige, an die ich herankomme.«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Sie sind verrückt.«

»Nein, Sie sind es. Früher einmal waren Sie genauso ein Hülsenmeister wie die. Ihr Problem ist, dass Sie verloren haben. Oder erinnern Sie sich nicht mehr? Die Xevalle-Clique.«

Ihr arrogantes Lächeln verschwand, und einen Moment lang zeigte ihr Blick die übliche stirnrunzelnde Gleichgültigkeit. Dann lächelte sie wieder. »Ich erinnere mich sehr gut. Sie haben Recht, ich habe verloren — aber das war ein Jahrhundert vor Xevalle, und ich kämpfte gegen alle Hülsenmeister.« Sie kam langsam durchs Zimmer näher. Ihr Lichtzeiger wich nie von Phams Brust. »Die Aufsteiger waren auf dem Frenk eingefallen. Ich studierte alte Literatur an der Universität Arnham… Ich lernte, anderes zu tun und zu sein. Fünfzehn Jahre lang kämpften wir gegen sie. Sie hatten Technik, sie hatten Fokus. Wir hatten die große Zahl, anfangs. Wir verloren wieder und wieder, doch wir ließen sie für jeden Sieg teuer bezahlen. Gegen Ende waren wir besser bewaffnet, doch dann gab es nur noch so wenige von uns. Und wir kämpften immer noch.«

Ihr Blick war… freudig. Er hörte jetzt die Geschichte des Frenk von der anderen Seite. »Sie… Sie sind der Frenkische Ork!«

Reynolts Lächeln wurde breiter, und sie kam noch näher, reckte den schlanken Körper, der bisher in einer Null-g-Hocke gewesen war. »In der Tat. Die Hülsenmeister haben klugerweise beschlossen, die Geschichte umzuschreiben. Der ›Frenkische Ork‹ gibt einen besseren Schurken ab als ›Anne von Arnham‹. Frenker von einer Mutanten-Unterart zu befreien, ergibt eine bessere Geschichte als Massaker und Fokus.«

Herrgott. Aber ein automatischer Teil von ihm erinnerte sich noch, wozu er hier war. Er ließ die Füße an der Wand entlang nach hinten gleiten und brachte sie in Position für einen Ausfall.

Reynolt machte Halt. Sie senkte den Zielzeiger zu seinen Knien. »Versuchen Sie das nicht, Trinli. Dieser Zeiger ist mit einem Programm in der MRT-Steuerung gekoppelt. Wenn Sie einen Augenblick mehr Zeit gehabt hätten, hätten Sie die Nickelkügelchen gesehen, die ich im Arbeitsbereich der Magneten angebracht habe. Es ist eine provisorische Waffe, aber gut genug, um Ihnen die Beine wegzupusten — und danach würden Sie trotzdem verhört.«

Pham sandte seinen Blick zurück in die MRT-Anlage. Ja, da waren die Kügelchen. Mit dem richtigen Magnetimpuls würden sie zu Hochgeschwindigkeits-Schrot werden. Doch das Programm, wenn es in der Steuerung war… Der Blick winziger Augen glitt über die Supraleiter-Schnittstelle. Er hatte genug Orter, um über die optische Verbindung zu sprechen und ihr Zeigerprogramm zu löschen. Sie weiß noch nicht, was ich damit tun kann! Die Hoffnung war wie eine helle Flamme.

Er tippte mit den Fingern auf seine Handflächen und manövrierte die Geräte an Ort und Stelle. Hoffentlich würde es für Reynolt wie nervöses Gestikulieren aussehen. »Verhört? Sie sind Nau noch treu?«

»Natürlich. Wie könnte es anders sein?«

»Aber Sie arbeiten hinter seinem Rücken.«

»Nur, um ihm bessere Dienste zu leisten. Wenn sich das als Ritser Brughels Werk erwiesen hätte, wollte ich den Fall abgeschlossen haben, bevor ich damit vor meinen Hülsenmeis…«

Pham sprang von der Wand weg. Er hörte Reynolts Zeigegerät wirkungslos klicken, und dann prallte er gegen sie. Die beiden wurden zurück zwischen die MRT-Geräte geschleudert. Reynolt kämpfte fast lautlos, rammte ihr Knie in ihn hinein, versuchte, ihn in die Kehle zu beißen. Doch er hielt ihre Arme fest, und als sie am Magnetkasten vorbeikamen, machte er eine Drehung und stieß ihren Kopf gegen die Abdeckplatte.

Reynolt erschlaffte. Pham hielt sie fest, bereit, den Stoß zu wiederholen.

Denk nach! Die Party in der Nordpfote war noch im Gange, ein Idyll. Phams Zeitskala zeigte an, dass 250 Sekunden vergangen waren, seit er den Hafen verlassen hatte. Ich kriege das noch hin! Der Schlag gegen Reynolts Kopf würde bei einer Autopsie zu sehen sein… Aber — Wunder! — ihre Kleidung zeigte keine Anzeichen des Kampfes. Es würde einige Änderungen geben müssen. Er griff in den Arbeitsbereich des MRT und schob die Nickelkügelchen in einen Sicherheitsbehälter… Etwas Ähnliches wie sein ursprünglicher Plan konnte noch funktionieren. Angenommen, sie hatte versucht, die Steuerung neu zu eichen, und einen Unfall erlitten?

Pham schob ihren Körper sorgfältig in Position. Er hielt sie fest und achtete auf jedes Anzeichen von Bewusstsein.

Das Ungeheuer. Der Frenkische Ork. Natürlich war Anne Reynolt keins von beidem. Sie war eine großgewachsene, schlanke Frau — ein Mensch so gut wie Pham Nuwen oder ein anderer ferner Abkömmling der Erde.

Jetzt gab es für die in die Wände von Hammerfest geschnittenen Legenden eine klare Übersetzung. Jahre und Jahre hatte Anne Reynolt gegen den Fokus gekämpft, während ihr Volk Schritt für Schritt zurückgedrängt wurde bis zur letzten Redute in den Bergen. Anne von Arnham. Jetzt war nichts geblieben als der Mythos von einem verzerrten Ungeheuer… und die wirklichen Ungeheuer wie Ritser Brughel, die Nachkommen der überlebenden Frenker, die Besiegten und die Fokussierten.

Doch Anne von Arnham war nicht gestorben. Vielmehr war ihr Genie fokussiert worden. Und jetzt war sie eine tödliche Gefahr für Pham und alles, wofür er gearbeitet hatte. Und darum musste sie sterben…

… Dreihundert Sekunden. Wach auf! Pham tippte Befehle. Vertippte sich. Wiederholte sie. Nachdem er die Kontrollverbindungen der Supraleiter geschwächt hatte, würde dieses kleine Programm genügen. Es war eine einfache Sache, ein codierter Schlag hochfrequenter Impulse, der die Viren in Annes Kopf in kleine Fabriken verwandeln würde, die ihr Gehirn mit gefäßverengenden Substanzen überfluten und Millionen winziger Aneurysmen bilden würden. Es würde schnell gehen. Es würde tödlich sein. Und Trud hatte so oft behauptet, keine ihrer Operationen bringe körperliche Schmerzen mit sich.

Bewusstlos hatte sich Annes Gesicht entspannt; sie hätte schlafen können. Es gab keine Schrammen, keine blauen Flecke. Selbst die dünne Silberkette um ihren Hals — selbst sie hatte ihren Kampf überstanden, obwohl sie aus ihrer Bluse gezogen worden war. Es war eine Erinnerungsgemme am Ende der Kette. Pham konnte nicht an sich halten. Er langte über ihre Schulter und drückte auf den grauen Stein. Der Druck reichte aus, um für einen Augenblick das Bild mit Energie zu versorgen. Der Stein wurde klar, und Pham blickte auf einen Berghang hinab. Sein Blickpunkt schien sich auf der Kuppel eines bewaffneten Fliegers zu befinden. Um den Berghang verteilt waren ein halbes Dutzend weitere solche Maschinen, Drachen, die vom Himmel herabgekommen waren, um ihre Energiekanonen auf etwas zu richten, das schon in Trümmern lag, und auf den Eingang zu einer Höhle. Vor den Kanonen stand eine einzelne Gestalt, eine rothaarige junge Frau. Trud sagte, Erinnerungsgemmen zeigten Augenblicke großen Glücks oder großen Triumphs. Und vielleicht hatte der Aufsteiger, der das Bild aufgenommen hatte, es für solch einen Augenblick gehalten. Das Mädchen auf dem Bild — offensichtlich war es Anne Reynolt — hatte verloren. Was immer sie in der Höhle hinter sich bewacht hatte, würde ihr weggenommen werden. Und dennoch, sie stand aufrecht da, ihre Augen schauten empor zum Blickpunkt des Bildes. Einen Moment später würde sie beiseite gefegt oder fortgesprengt werden… doch sie hatte sich nicht ergeben.

Pham ließ die Gemme los und starrte eine Weile blicklos vor sich hin. Dann tippte er langsam, sorgfältig eine andere Befehlsfolge ein. Das würde viel schwieriger sein. Er änderte die Drogenkombination, zögerte… sekundenlang…, bis er eine Intensität eingab. Reynolt würde einen Teil der jüngeren Erinnerungen verlieren, hoffentlich dreißig oder vierzig Megasekunden. Und dann wirst du wieder beginnen, mich einzukreisen.

Er tippte ›ausführen‹. Die SL-Kabel hinter dem Gerät knirschten und spreizten sich voneinander weg, lieferten riesige und präzise Ströme an die MRT-Magneten. Eine Sekunde verging. Sein innerer Blick setzte stockend aus. Reynolt zuckte in seinen Armen. Er hielt sie fest und ihren Kopf von den Seiten des Geräts weg.

Ihr Zucken klang nach ein paar Sekunden ab, sie atmete entspannt und langsam. Pham löste sich von ihr. Hol sie aus den Magneten heraus. Gut. Er berührte ihr Haar, strich es ihr aus dem Gesicht. Nichts mit diesem roten Haar Vergleichbares hatte es auf Canberra gegeben… doch Anne Reynolt erinnerte ihn an jemanden an einem gewissen Morgen auf Canberra.

Er stürzte blind aus dem Raum, den Tunnel hinab, zurück zur Party am See.

Dreiundvierzig

Die Einweihungsfeier von Nordpfote war der Höhepunkt der Wache, jeder Wache bisher. Etwas derart Spektakuläres würde es bis zum Ende des Exils nicht mehr geben. Sogar die Dschöng-Ho-Leute, die den Park ermöglicht hatten, staunten, dass so viel mit so begrenzten Ressourcen getan werden konnte. Vielleicht war an Tomas Naus Behauptungen von Fokus-Systemen und Dschöng-Ho-Initiative etwas dran.

Die Party zog sich nach Jaus Streich noch Kilosekunden hin. Mindestens drei Leute fanden sich im Wasser wieder. Eine Zeit lang waberten metergroße Tropfen über dem See. Der Hülsenmeister bat seine Gäste, zurück zur Hütte zu kommen, damit das Wasser sich beruhigen konnte. Die Gefälligkeits-Gutscheine, die Hunderte von Leuten im Laufe eines Jahres ausgestellt hatten, waren für die Versorgung der Party ausgegeben worden, und die üblichen Dummköpfe — darunter am auffälligsten Pham Trinli — betranken sich maßlos.

Schließlich zockelten die Gäste hinaus, und die Türen in der Hügelflanke wurden hinter ihnen geschlossen. Privat war sich Ezr sicher, dass dies das letzte Mal war, dass man das Kroppzeug in die Domäne des Hülsenmeisters eingeladen hatte. Das Kroppzeug hatte die Party möglich gemacht, und Qiwi hatte sichtlich jede Sekunde davon genossen, aber gegen Ende der Party war Tomas Naus Stimmung immer gereizter geworden. Der Mistkerl war schlau. Um den Preis eines langweiligen Nachmittags hatte der Hülsenmeister mehr guten Willen gewonnen als je zuvor. Ein paar Jahrzehnte Tyrannei konnten die Dschöng Ho nicht ihr Erbe vergessen machen… doch Tomas Nau machte aus ihrer Situation eine zweideutige Art Nicht-Tyrannei. Fokus ist Sklaverei. Doch Tomas Nau versprach, die Blitzköpfe am Ende des Exils freizulassen. Ezr sollte die Leute von der Dschöng Ho nicht dafür hassen, dass sie die Situation akzeptierten. Viele ansonsten freie Gesellschaften akzeptierten Teilzeit-Sklaverei. Jedenfalls ist Naus Versprechen eine Lüge.


Anne Reynolts bewusstloser Körper wurde vier Kilosekunden nach dem Ende der Party gefunden. Den ganzen Tag darauf gab es Gerüchte und Panikreaktionen: Reynolt sei wirklich hirntot, sagten einige, und die Verlautbarungen seien einfach sanfte Lügen. Ritser Brughel habe nicht im Kälteschlaf gelegen, behaupteten andere, und jetzt habe er einen Coup durchgeführt. Ezr hatte seine eigene Theorie. Nach all den Jahren hat Pham endlich gehandelt.

Zwanzig Kilosekunden nach Beginn des Arbeitstages geriet die Blitzkopf-Unterstützung für zwei von den Forschungsgruppen in eine Blockade, eine launische Rangelei, die Reynolt in ein paar Sekunden hätte beilegen können. Phuong und Silipan werkelten sechs Kilosekunden lang an dem Problem und teilten dann mit, dass die beteiligten Blitzköpfe für den Rest des Tages außer Betrieb sein würden. Nein, es waren keine Übersetzer — aber Trixia hatte mit einem von ihnen zusammengearbeitet, einem Geologen. Ezr versuchte, nach Hammerfest hinüberzufliegen.

»Du bist nicht auf meiner Liste, Kumpel.« Da stand tatsächlich ein Wachposten am Taxihafen, einer von Omos Schlägertypen. »Hammerfest ist Sperrgebiet.«

»Für wie lange?«

»Keine Ahnung. Lies die Bekanntmachungen, ja.«

Also fand sich Ezr in Bennys Salon wieder, zusammen mit einer Menge anderer Leute. Ezr drängte sich zu dem Tisch mit Jau und Rita durch. Pham war auch da und sah entschieden wie jemand mit einem Kater aus.

Jau Xin hatte sein eigenes Kümmernis: »Reynolt sollte meine Piloten nacheichen. Keine große Sache, aber ohne das ist unsere Ausbildung für die Katz.«

»Worüber beklagst du dich? Eure Ausrüstung funktioniert noch, oder? Aber wir haben versucht, eine Analyse dieses Flugkrams der Spinnen durchzuführen — und jetzt ist unsere Blitzkopf-Ressource abgeschaltet. He, ich weiß ein bisschen von Chemie und Maschinenbau, aber ich kann unmöglich das alles…«

Pham ächzte laut. Er hielt sich den Kopf mit beiden Händen. »Hört mit dem Gezänk auf. Ich frage mich wirklich, wie weit es mit der ›Überlegenheit‹ der Aufsteiger wirklich her ist. Eine Person wird ausgeschaltet, und euer Kartenhaus stürzt ein. Wo ist da die Überlegenheit?«

Normalerweise war Rita Liao von der sanften Sorte, doch der Blick, den sie Pham zuwarf, war beißend. »Ihr von der Dschöng Ho habt unsere Überlegenheit ermordet, weißt du noch? Als wir herkamen, hatten wir zehnmal mehr Klinikpersonal als jetzt, genug, damit unsere Systeme so gut wie alle anderen daheim waren.«

Es folgte verlegenes Schweigen. Pham erwiderte Ritas wütenden Blick, stritt aber nicht weiter. Nach einem Augenblick zuckte er auf eine Weise abrupt die Achseln, die alle zu deuten wussten: Trinli war übertrumpft worden, aber nicht bereit, zurückzuweichen oder sich zu entschuldigen.

Eine Stimme vom Nachbartisch brach das Schweigen: »He, Trud!«

Silipan stand in der Tür zum Salon und schaute zu ihnen hoch. Er trug die Aufsteiger-Paradeuniform vom Vortag, doch jetzt hatten die Seidenlumpen neue Flecke, und das waren keine künstlerischen Feinheiten.

Das Schweigen löste sich auf, Leute riefen Fragen, luden Trud ein, hochzukommen und mit ihnen zu reden. Trud stieg durch die Reben zu Jau Xins Tisch hoch. Es war kein Platz mehr frei, also drehten sie einen zweiten Tisch um und machten einen Doppeldecker. Jetzt saß Ezr Silipan fast Auge in Auge gegenüber, wenn auch das Gesicht des anderen kopfüber zu seinem ausgerichtet war. Die Menge von anderen Tischen schwärmte nahe heran und suchte sich Halt an den Ranken.

»Wann werdet ihr also die Blockierung durchbrechen, Trud? Ich habe Blitzköpfe abgestellt, die auf Antworten warten.«

»Ja, wieso bist du hier, wenn…?«

»… Die reine Hardware hat ihre Grenzen, und…«

»Allmächtiger Herr des Handels, so lasst ihn doch zu Wort kommen!«, dröhnte Phams Stimme, laut und unwirsch. Es war eine typische Trinli-Wendung, immer die aufsässige Kanone, die aber in jede Richtung zielte, und er immer gut aussah. Es brachte auch, wie Ezr bemerkte, die Menge zum Schweigen.

Silipan warf Pham einen dankbaren Blick zu. Die Großspurigkeit des Technikers war heute ziemlich brüchig. Er hatte dunkle Ringe um die Augen, und seine Hand zitterte leicht, als er das Getränk hob, das Benny vor ihn hingestellt hatte.

»Wie geht es ihr, Trud?« Jau stellte die Frage in mitfühlendem, ruhigem Ton. »Wir haben gehört… wir haben gehört, sie sei hirntot.«

»Nein, nein.« Trud schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Reynolt müsste sich vollkommen erholen, minus vielleicht ein Jahr Gedächtnisverlust. Es wird ein bisschen drunter und drüber gehen, bis wir sie wieder im Dienst haben. Tut mir Leid wegen der Blockierung. Na ja, ich hätte das inzwischen repariert« — etwas von der alten Selbstsicherheit schlich sich wieder in seine Stimme —, »aber ich bin für etwas Wichtigeres eingeteilt worden.«

»Was ist wirklich mit ihr passiert?«

Benny kreuzte mit Schrimptentakeln auf, seinem besten Hauptgericht. Silipan machte sich hungrig darüber her und schien die Frage zu ignorieren. Das war das aufmerksamste Publikum, das Trud jemals gehabt hatte, buchstäblich atemlos auf seine Meinung gespannt. Ezr sah, dass der Bursche das merkte, dass er seine plötzliche und zentrale Bedeutung genoss. Zugleich war Trud beinahe zu müde, um geradeaus schauen zu können. Seine einst perfekte Uniform stank schlechthin. Seine Gabel bewegte sich auf einem unsteten Weg vom Speisencontainer zum Mund. Nach einer Weile sah er den Fragenden mit verschwommenem Blick an. »Was passiert ist? Wir sind uns nicht sicher. Das letzte Jahr oder so ist Reynolt allmählich weggedriftet — natürlich noch im Fokus, aber nicht gut geeicht. Das war eine diffizile Sache, etwas, das nur ein Profi bemerken konnte. Ich hätte es fast selber übersehen. Sie schien sich auf irgendein Unterprojekt zu versteifen — ihr wisst, wie besessen Blitzköpfe sein können. Das Problem ist nur, Reynolt eicht sich selber, also konnte ich nichts machen. Ich sag euch, mir war deswegen verdammt unwohl. Ich war im Begriff, dem Hülsenmeister Meldung zu machen, als…«

Trud zögerte, schien zu erfassen, dass diese Prahlerei Konsequenzen hatte. »Es sieht jedenfalls so aus, als ob sie versucht hätte, manche von den Kontrollschaltungen des MRT anzupassen. Vielleicht wusste sie, dass ihre Abstimmung wegdriftete. Ich weiß nicht. Sie hatte die Sicherheitshaube abgenommen und machte Diagnostik. Anscheinend war da eine Art situationsbedingter Aussetzer in der Steuer-Software; wir versuchen noch, das nachzuvollziehen. Jedenfalls kriegte sie einen Steuerimpuls direkt ins Gesicht. Da war ein kleines Stück von ihrer Kopfhaut an dem Pult hinter der Steuerung, wo sie zusammengebrochen ist. Zum Glück war die stimulierte Drogenerzeugung Alpha-Retrox. Sie hat eine Gehirnerschütterung und eine Überdosis Retrox… Wie gesagt, es ist alles reparabel. Noch vierzig Tage, und wir haben unsere liebe alte Reynolt wieder.« Er lachte schwach.

»Minus ein paar neuere Erinnerungen.«

»Natürlich. Blitzköpfe sind keine Hardware; ich habe keine Sicherheitskopien.«

Am Tisch wurde unbehaglich gemurmelt, doch es war Rita Liao, die den Gedanken in Worte fasste: »Das passt alles gar zu gut. Es sieht aus, als ob jemand sie erledigen wollte.« Sie zögerte. Früher am Tage war es Rita gewesen, die die Gerüchte über Ritser Brughel verbreitete. Es zeigte, wie weit es mit diesen Aufsteigern gekommen war, dass sie ihre Nasen in Dinge steckten, die womöglich ein Hülsenmeister-Konflikt waren. »Hat Hülsenmeister Nau den Freiwachen-Status des Vize-Hülsenmeisters überprüft?«

»Und seine Agenten?« Das kam von einem Dschöng-Ho-Mann hinter Ezr.

Trud haute seine Gabel auf den Tisch. Seine Stimme klang ärgerlich und gequetscht. »Was glaubt ihr denn! Der Hülsenmeister untersucht die Möglichkeiten… sehr sorgfältig.« Er holte tief Luft und schien zu erkennen, dass der Preis des Ruhms zu hoch war. »Ihr könnt absolut sicher sein, dass der Hülsenmeister das ernst nimmt. Aber schaut — die Retroxüberschwemmung war einfach eine massive Überdosis, ungezielt, genau, was man bei einem Unfall erwarten würde. Der Gedächtnisverlust wird lückenhaft sein. Jeder Saboteur, der so etwas täte, wäre ein Dummkopf. Sie könnte tot sein, und es hätte ganz genauso nach einem Unfall ausgesehen.«

Einen Augenblick lang schwiegen alle. Pham ließ seinen Blick über sie schweifen.

Silipan nahm die Gabel wieder in die Hand, legte sie abermals hin. Er starrte in seinen halbleeren Container mit den Schrimptentakeln. »Gott, ich bin so müde. In zwanzig… verdammt, in fünfzehn Kilosek habe ich wieder Dienst.«

Rita streckte die Hand aus und klopfte ihm sacht auf den Arm. »Also ich bin froh, dass du rübergekommen bist und uns gesagt hast, was Sache ist.« Unter den Leuten ringsum wurde Zustimmung gemurmelt.

»Bil und ich werden den Laden jetzt eine Zeit lang schmeißen. Es hängt alles von uns ab.« Trud schaute von Gesicht zu Gesicht und suchte Trost. Seine Stimme klang zugleich prahlerisch und jammernd.


Sie trafen sich später am Tag in dem Pufferraum unter der Außenhülle des Temps. Das Treffen war lange vor der Einweihung des Seeparks vereinbart worden. Ezr hatte es mit Ungeduld und Angst erwartet — das Treffen, wo er mit Pham Nuwen über Fokus Klartext reden wollte. Ich habe meine kleine Rede zu halten, meine kleinen Drohungen auszusprechen. Wird das genügen?

Ezr bewegte sich schweigend an Fongs Setzling-Töpfen vorbei. Das helle Licht und der Geruch von Trebyun-Gemüse hinter ihm wurden schwächer. Die Dunkelheit, die blieb, war für unbewaffnete Augen zu tief. Vor acht Jahren, bei seinem ersten Treffen mit Nuwen, hatte es schwaches Sonnenlicht gegeben. Jetzt zeigte die Kunststoffhülle nur Dunkelheit.

Doch nun verfügte Ezr über andere Möglichkeiten zu sehen… Er gab dem Orter, der auf seiner Schläfe saß, ein Signal. Eine geisterhafte Sicht erstand. Die Farben waren nur Schattierungen von Gelb, wie man sie sehen kann, wenn man den Finger fest seitlich gegen den Augapfel drückt. Doch das Licht war kein zufälliges Muster. Ezr hatte lange und hart an Phams Übungen gearbeitet. Jetzt zeigte das gelbe Licht die gekrümmten Wände der Ballons und der Außenhülle. Manchmal war die Sicht gestört. Manchmal lag der Blickpunkt unter seinen Füßen oder hinter seinem Kopf. Doch mit den richtigen Befehlen und viel Konzentration konnte man sehen, was ohne Hilfsmittel niemand sah. Pham sieht immer noch besser. Im Laufe der Jahre hatte es Hinweise gegeben. Nuwen benutzte die Orter wie ein privates Imperium.

Pham Nuwen war vor ihm; er stand hinter einer Wandstrebe, unsichtbar bis auf die Tatsache, dass sich vor ihm Orter befanden, die zurückschauten. Während Ezr die letzten paar Meter zwischen ihnen zurücklegte, schwankte sein Bild, als der andere seine winzigen Diener eine andere Konstellation einnehmen ließ.

»Gut, mach es schnell.« Pham war vorgekommen und stand ihm nun gegenüber. Das gelbe Pseudolicht zeigte sein Gesicht abgespannt und mitgenommen. Er hatte die Trinli-Maske nicht fallen gelassen? Nein, das sah nach dem Kater aus, den Pham im Salon gezeigt hatte, doch es steckte mehr dahinter.

»Sie… Sie haben mir zweitausend Sekunden versprochen.«

»Ja, aber die Dinge haben sich geändert. Oder hast du das nicht gemerkt?«

»Ich habe eine Menge gemerkt. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir endlich wirklich darüber reden. Nau, der bewundert Sie wirklich… Sie wissen das, nicht wahr?«

»Nau steckt voller Lügen.«

»Stimmt. Aber die Geschichten, die er mir gezeigt hat — ein Großteil davon ist wahr. Pham, Sie und ich haben jetzt etliche Wachen über zusammengearbeitet. Ich habe über die Dinge nachgedacht, die meine Tante und meine Großonkel gelegentlich über Sie sagten. Über die Heldenverehrung bin ich hinaus. Endlich habe ich erkannt, wie sehr Sie den Fokus… lieben müssen. Sie haben mir viel versprochen, aber die Versprechen sind immer so sorgfältig verpackt. Sie wollen Nau schlagen und zurückgewinnen, was wir verloren haben — aber mehr als alles andere wollen Sie Fokus besitzen, nicht wahr?«

Das Schweigen zog sich fünf Sekunden lang hin. Was wird er auf die direkte Frage antworten? Als er schließlich sprach, klang seine Stimme schrill: »Fokus ist der Schlüssel zur Schaffung einer Zivilisation, die von Dauer ist — überall im Menschenraum.«

»Fokus ist Sklaverei, Pham.« Ezr sagte es leise. »Natürlich wissen Sie das, und ich glaube, im tiefsten Innern hassen Sie ihn. Zamle Eng — den haben Sie zu Ihrer inneren Tarnung gemacht; ich glaube, das war Ihr Herz, das zu Ihnen schrie.«

Pham schwieg einen Moment lang und starrte ihn an. Sein Mund verzog sich. »Du bist ein Dummkopf, Ezr Vinh. Du liest Naus Geschichten und verstehst es immer noch nicht. Ich bin schon einmal von einer Vinh betrogen worden. Das wird nicht wieder geschehen. Glaubst du, ich lasse dich am Leben, wenn du mir in die Quere kommst?«

Pham glitt näher heran. Ezrs Sicht wurde plötzlich ausgeblasen, er war von jeder Orter-Eingabe abgeschnitten. Ezr hob die Hände, Handflächen nach oben. »Ich weiß nicht. Aber ich bin ein Vinh, ich stamme direkt von Sura ab, und von Ihnen auch. Wir sind eine Familie mit Geheimnissen innerhalb von Geheimnissen; eines Tages hätte man mir die Wahrheit über die Brisgo-Lücke erzählt. Doch selbst als Kind habe ich Kleinigkeiten gehört, Andeutungen. Die Familie hat Sie nicht vergessen. Es gibt sogar einen Spruch, den wir niemals außerhalb sagen: ›Wir alle stehen in Pham Nuwens Schuld; du sollst gut zu ihm sein.‹ Und wenn Sie mich umbringen, ich muss mit Ihnen reden.« Ezr starrte in das schweigende Dunkel; er wusste nicht einmal, wo Pham jetzt stand. »Und nach gestern… glaube ich, dass Sie mir zuhören werden. Ich glaube, ich habe nichts zu befürchten.«

»Nach gestern?« Phams Stimme war wütend und nahe. »Vinh, du kleine Schlange, was weißt denn du von gestern?«

Ezr starrte in die Richtung der Stimme. Es lag etwas in Phams Stimme, ein Hass, der jede Vernunft überstieg. Was ist mit Reynolt passiert? Es ging alles schrecklich schief, doch er hatte nichts als die schon geplanten Worte: »Sie haben sie nicht getötet. Ich glaube, was Trud gesagt hat. Sie zu töten wäre einfach gewesen und hätte ebenso gut wie ein Unfall aussehen können. Und so glaube ich ungefähr zu wissen, wo Naus Geschichten wahr sind und wo erlogen.« Ezr streckte beide Arme aus, und seine Hände fielen auf Phams Schultern. Er starrte angespannt ins Dunkel, als wolle er Sicht erzwingen. »Pham! Ihr ganzes Leben lang sind Sie getrieben gewesen. Das — und Ihr Genie — hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Aber Sie wollten mehr. Was eigentlich, wird in der Geschichtsschreibung der Dschöng Ho nie ganz klar, aber ich habe es in Naus Aufzeichnungen gesehen. Sie hatten einen wunderbaren Traum, Pham. Fokus könnte Ihnen diesen Traum erfüllen… aber der Preis ist zu hoch.«

Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann erklang ein Geräusch fast wie von einem gequälten Tier. Unvermittelt wurden Ezrs Arme beiseite gestoßen, zwei Hände packten ihn an der Kehle wie ein Schraubstock und pressten sie zu. Es blieb nichts als der Schock der Überraschung, der langsam zur Bewusstlosigkeit abklang…

Und dann lockerten die Hände ihren Griff. Ringsum blitzten Leuchtkäfer mit grellweißem Licht auf, und Dutzende von kleinen Knallgeräuschen erklangen. Er schnappte benommen nach Luft und versuchte zu verstehen. Pham ließ die Kondensatoren in allen Ortern in der Nähe durchknallen! Die spitzen Blitze zeigten Pham Nuwen in hellen Momentaufnahmen, dazwischen Schwärze. In seinen Augen lag ein funkelnder Wahnsinn, den Ezr noch nie gesehen hatte.

Die Lichter blitzten nun weiter entfernt; die Zerstörung breitete sich aus. Ezrs Stimme kam als entsetztes Krächzen: »Pham. Unsere Tarnung. Ohne die Orter…«

Die letzten von den winzigen Blitzen zeigten ein verzerrtes Lächeln auf dem Gesicht des anderen. »Ohne die Orter sind wir tot! Tot, kleiner Vinh. Mich kümmert es nicht mehr.«

Ezr hörte, wie er kehrtmachte und sich wegstieß. Zurück blieben Dunkelheit und Stille — und Tod, der nur noch Kilosekunden entfernt sein konnte. So sehr sich Ezr auch anstrengte, er fand keine Spur von Orter-Unterstützung.


Was tust du, wenn dein Traum stirbt? Pham schwebte allein in der Dunkelheit seines Zimmers und überdachte die Frage mit einer Art Neugier, fast gleichgültig. Am Rande seines Bewusstseins nahm er das klaffende Loch wahr, das er ins Orternetz gerissen hatte. Das Netz war robust. Dieser Riss wurde den Schnüfflern der Aufsteiger nicht automatisch offenbart. Doch bei sorgfältiger Überprüfung würde die Nachricht von dem Ausfall schließlich zu ihnen durchdringen. Vage nahm er wahr, dass Ezr sich verzweifelt bemühte, das Loch zu kaschieren. Überraschenderweise hatte der Junge alles nicht noch schlimmer gemacht, aber er hatte keine Chance, auf höherer Ebene eine Tarnung einzuziehen. Ein paar hundert Sekunden höchstens, und Kal Omo würde Brughel alarmieren… und das Versteckspiel wäre vorbei. Es spielt wirklich keine Rolle mehr.

Was tust du, wenn dein Traum stirbt?

In jedem Leben sterben Träume. Jeder wird alt. Es gibt Verheißungen am Beginn des Lebens, wenn alles so hell erscheint. Die Verheißungen verblassen, wenn die Jahre schwinden.

Nicht aber Phams Traum. Er hatte ihn über fünfhundert Lichtjahre und dreitausend Jahre objektiver Zeit hinweg verfolgt. Es war der Traum von einer einzigen Menschheit, wo Gerechtigkeit kein gelegentlich aufflackerndes Licht wäre, sondern ein stetiges Leuchten über den ganzen Menschenraum hinweg. Er träumte von einer Zivilisation, wo niemals Kontinente brannten und wo keine Hinterhofkönige Kinder als Geiseln weggaben. Als Sammy ihn im Friedhaus von Grundasche ausgegraben hatte, war Pham am Sterben gewesen, nicht aber sein Traum. Der Traum war in seinem Geist hell wie eh und je gewesen, hatte ihn verzehrt.

Und hier hatte er das Mittel gefunden, das den Traum wahr machen konnte: Fokus, eine Automatik, die gründlich genug und klug genug war, um eine interstellare Zivilisation zu verwalten. Fokus konnte die ›liebevollen Sklaven‹ liefern, über deren Möglichkeit Sura gespottet hatte. Und wenn es just Sklaverei war? Es gab Schlimmeres, was der Fokus ein für allemal bannen würde.

Vielleicht.

Er hatte den Blick von Egil Manhri abgewandt, der jetzt kaum mehr als eine Suchmaschine war. Er hatte von Trixia Bonsol weggeschaut und von all den anderen, die jahrelang in ihren winzigen Zellen eingesperrt waren. Doch gestern war er gezwungen gewesen, Anne Reynolt anzuschauen, wie sie allein gegen die gesamte Macht des Fokus stand, ihr Leben daran setzte, dieser Macht zu widerstehen. Die Einzelheiten waren für Pham eine große Überraschung gewesen, doch er hatte sich etwas vorgemacht, wenn er glaubte, derlei gehöre nicht zu dem Preis, den sein Traum fordern würde. Anne war Cindi Ducanh im Großen.

Und heute Ezr Vinh und seine kleine Rede: »Der Preis ist zu hoch!« Ezr Vinh!

Schon einmal hatte sich eine Vinh zwischen ihn und seinen endgültigen Erfolg gestellt. Soll die Schlange Vinh sterben. Sollen sie doch alle sterben. Soll ich sterben.

Pham krümmte sich in sich zusammen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er weinte. Außer zur Täuschung hatte er nicht mehr geweint, seit… er erinnerte sich nicht… vielleicht seit jenen Tagen am anderen Ende seines Lebens, als er zum ersten Mal an Bord der Reprise gekommen war.

Was also tust du, wenn dein Traum stirbt?

Wenn dein Traum stirbt, gibst du auf.

Und was bleibt dann? Lange Zeit weilte Phams Geist in einem Nichts. Und dann wurde er wieder der Bilder vom Orternetz gewahr, die rings um ihn flackerten: unten auf dem Felshaufen die fokussierten Sklaven, zu Hunderten in die Waben von Hammerfest gezwängt, Anne Reynolt, wie sie in einer Zelle schlief, so klein wie alle anderen.

Sie verdienten Besseres, als ihnen widerfahren war. Sie verdienten Besseres, als Tomas Nau für sie plante. Anne Reynolt verdiente Besseres.

Er griff ins Netz aus und berührte Ezr Vinh sacht, bedeutete ihm, beiseite zu treten. Er nahm die Bemühungen des Jungen auf und begann sie zu einer wirksamen Reparatur auszubauen. Da waren Einzelheiten: die blauen Flecke an Vinhs Hals, der Bedarf an zehntausend neuen Ortern zwischen den Außenschichten des Temps. Er kam damit klar, und auf lange Sicht…

Anne Reynolt würde sich schließlich von dem erholen, was er ihr angetan hatte. Wenn das geschah, würde das Katz-und-Maus-Spiel weitergehen, doch diesmal musste er sie und all die anderen Sklaven beschützen. Es würde so viel schwerer sein als zuvor. Aber vielleicht, wenn er mit Ezr Vinh wirklich zusammenarbeitete… Die Pläne bildeten sich in Phams Kopf, änderten sich. Das war nichts gegen sein Ziel, den Kreislauf der Geschichte zu durchbrechen, doch er spürte eine seltsame Freude in sich aufsteigen, zu tun, was er für vollkommen richtig hielt.

Und irgendwann, ehe er sich schließlich schlafen legte, erinnerte er sich an Gunnar Larson, den sanften Spott des alten Mannes, seinen Rat, die Grenzen der natürlichen Welt zu verstehen und zu akzeptieren. Vielleicht also hatte er Recht. Komisch. All die Jahre in diesem Zimmer hatte er wach gelegen, mit den Zähnen geknirscht, seine Pläne geschmiedet und davon geträumt, was er mit Fokus anstellen würde. Nun, da er ihn aufgegeben hatte, gab es immer noch Pläne, immer noch schreckliche Gefahren…, doch zum ersten Mal seit vielen Jahren war da auch… Frieden.

In der Nacht träumte er von Sura. Und er fühlte keinen Schmerz.

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