5 Neraka

Die Gefährten stellten fest, daß es einfach war, Neraka zu betreten.

Tödlich einfach.

»Was im Namen der Götter ist denn da los?« fragte Caramon, als er und Tanis, immer noch in ihren gestohlenen Drachenrüstungen, von ihrem verborgenen Aussichtspunkt im Gebirge westlich von Neraka aus auf die Ebene spähten.

Schwarze Linien schlängelten sich über die Ödnis auf das einzige Gebäude im Umkreis von vielen Meilen zu – den Tempel der Königin der Finsternis. Es sah aus, als ob Hunderte von Vi59pern sich aus dem Gebirge wanden, aber es waren keine Vipern. Es waren mehrere tausend Drachensoldaten. Die zwei Männer sahen hier und dort in der Sonne Speere und Schilde aufblitzen. Blaue, rote und schwarze Flaggen mit den Wappen der Drachenfürsten flatterten an hohen Masten. Hoch über ihnen füllten Drachen den Himmel in entsetzlichen Regenbogenfarben – rot, blau, grün und schwarz. Zwei gigantische Fliegende Zitadellen schwebten über dem ummauerten Tempelareal; die Schatten, die sie warfen, ließen eine ewig währende Nacht entstehen.

»Weißt du«, sagte Caramon langsam, »es war gut, daß uns der alte Mann angegriffen hat. Wir wären massakriert worden, wenn wir auf unseren bronzenen Drachen in diesen Mob geritten wären.«

»Ja«, stimmte Tanis abwesend zu. Er hatte über den »alten Mann« nachgedacht, einige Dinge zusammengefügt, sich erinnert, was er selbst gesehen und was Tolpan ihm erzählt hatte. Je länger er über Fizban nachdachte, um so näher kam er der Wahrheit. Seine Haut »grauste«, wie Flint gesagt hätte.

Bei der Erinnerung an Flint fuhr ein kurzer Schmerz durch sein Herz, und er schob die Gedanken an den Zwerg – und den alten Mann – beiseite. Er hatte jetzt genug Sorgen, und es gab keine alten Magier, die ihm halfen.

»Ich weiß nicht, was da los ist«, erwiderte Tanis ruhig, »aber es arbeitet für uns, nicht gegen uns. Erinnerst du dich, was Elistan einst gesagt hat? In den Scheiben von Mishakal steht geschrieben, daß sich das Böse gegen sich selbst richtet. Die Dunkle Königin sammelt ihre Kräfte, einerlei aus welchen Gründen. Wahrscheinlich bereitet sie sich darauf vor, Krynn den letzten tödlichen Schlag zu versetzen. Aber in dieser Verwirrung können wir mühelos hineinschlüpfen. Niemand wird zwei Wachen bemerken, die eine Gruppe von Gefangenen bringen.«

»Das hoffst du«, fügte Caramon düster hinzu.

»Ich bete darum«, sagte Tanis leise.Der Hauptmann der Torwache von Neraka war ein schwergeprüfter Mann. Die Dunkle Königin hatte nun zum zweiten Mal seit Kriegsbeginn einen Kriegsrat einberufen, und alle Drachenfürsten aus ganz Ansalon trafen ein. Seit vier Tagen hielten sie ihren Einzug in Neraka, und seitdem war das Leben des Hauptmannes ein einziger Alptraum.

Die Fürsten sollten die Stadt gemäß ihrem Rang betreten.

Also traf Lord Ariakus als erster mit seinem persönlichen Gefolge ein – mit seinen Soldaten, seinen Leibwächtern, seinen Drachen; dann folgte Kitiara, die Finstere Herrin, mit ihrem persönlichen Gefolge – mit ihren Soldaten, ihren Leibwächtern, ihren Drachen; dann Lucien von Takar mit seinem persönlichen Gefolge, bis hin zum Drachenfürsten Toede von der östlichen Front.

Dieses System war nicht nur entworfen worden, um die Ranghöchsten zu ehren. Es stand die Absicht dahinter, große Mengen von Soldaten und Drachen sowie ihre Vorräte in einen Komplex hinein- und wieder aus ihm hinauszubewegen, der niemals für die Beherbergung großer Konzentrationen von Streitkräften vorgesehen war. Es war ein gutes System und hätte funktionieren können. Unglücklicherweise gab es von Anfang an Schwierigkeiten, da Lord Ariakus sich um zwei Tage verspätete.

War das Absicht gewesen, um diese Verwirrung zu schaffen, von der er genau wußte, daß sie eintreten würde? Der Hauptmann wußte es nicht und wagte auch nicht zu fragen, aber er hatte seine eigenen Theorien. Das bedeutete natürlich, daß die Fürsten, die vor Ariakus eintrafen, gezwungen waren, in der Ebene außerhalb des Tempelareals ihr Lager aufzuschlagen, bis der Lord seinen Einzug gehalten hatte. Ärger war unvermeidlich. Die Drakonier, Goblins und menschlichen Söldner wollten die Vergnügungen der Lagerstadt genießen, die hastig auf dem Tempelareal errichtet worden war. Sie waren lange Strecken marschiert und verständlicherweise wütend, daß ihnen dieses Vergnügen versagt wurde.

Viele schlichen nachts über die Mauern, von den Tavernenangezogen wie Fliegen vom Honig. Raufereien brachen aus, denn die Soldaten eines Fürsten waren nur ihrem Herrscher treu ergeben und keinem anderen. Die Verliese unter dem Tempel waren überfüllt. Der Hauptmann befahl schließlich seinen Männern, die Betrunkenen jeden Morgen in Schubkarren aus der Stadt zu befördern und sie in der Ödnis abzuladen, wo sie von ihren zornigen Kommandanten aufgesammelt wurden.

Streitereien entfachten sich auch bei den Drachen, da jeder Leitdrache versuchte, die Herrschaft über die anderen zu übernehmen. Ein großer Grüner, Cyan Blutgeißel, hatte sogar einen Roten im Kampf um einen Hirsch getötet. Pech für Cyan, denn der Rote war ein Lieblingstier der Dunklen Königin gewesen.

Der Grüne war jetzt in einer Höhle unterhalb von Neraka eingesperrt, wo sein Heulen und heftiges Schwanzwedeln Anlaß zu der Befürchtung gab, ein Erdbeben wäre im Anmarsch.

Als der Hauptmann am Morgen des dritten Tages die Nachricht erhielt, daß Ariakus eingetroffen sei, fiel er vor Dankbarkeit fast auf die Knie. Eilig rief er seine Männer zusammen und erteilte Anweisungen für den großen Einzug. Alles verlief glatt, bis einige hundert Drakonier von Toede Ariakus' Soldaten das Tempelareal betreten sahen. Betrunken und nicht mehr unter der Kontrolle ihrer unfähigen Vorgesetzten, versuchten sie auch, einzumarschieren. Über diese Störung aufgebracht, gaben Ariakus' Offiziere ihren Männern den Befehl, zurückzuschlagen. Chaos setzte ein.

Wütend schickte die Dunkle Königin ihre eigenen Soldaten, die mit Peitschen, Stahlketten und Keulen die Ordnung wiederherstellen sollten. Schwarzgewandete Zauberkundige sowie dunkle Kleriker liefen umher. Nach ausgiebigem Auspeitschen, Köpfezusammenschlagen und Zaubersprüchen herrschte schließlich wieder Ordnung. Lord Ariakus und seine Soldaten konnten das Tempelareal angemessen betreten.

Es könnte nachmittags gewesen sein – inzwischen hatte der Hauptmann völlig sein Zeitgefühl verloren (diese verdammten Zitadellen verdeckten das Sonnenlicht) -, als eine der Wachen erschien – man verlangte nach ihm an den Haupttoren.»Was ist denn los?« knurrte der Hauptmann ungeduldig und fixierte die Wache durchdringend mit seinem gesunden Auge (das andere hatte er in einer Schlacht mit den Elfen in Silvanesti verloren). »Wieder ein Kampf? Schlag ihre Köpfe zusammen und schlepp sie ins Gefängnis. Ich bin es leid...«

»K...kein Kampf, Herr«, stotterte die Wache, ein junger Goblin, der vor seinem menschlichen Hauptmann Angst hatte.

»Die Wache am T...tor schickt m...mich. Z...zwei Offiziere mit G...gefangenen wollen eine Z...Zutrittserlaubnis.«

Der Hauptmann fluchte zornig. Was kam als nächstes? Er wollte schon den Goblin zurückschicken mit der Anweisung, sie ohne weiteres einzulassen. Das Verlies war bereits mit Sklaven und Gefangenen überfüllt. Auf ein paar mehr kam es auch nicht mehr an. Fürstin Kitiaras Soldaten versammelten sich schon, zum Einmarsch bereit. Er mußte zur Stelle sein, um die offizielle Begrüßung vorzunehmen.

»Was für Gefangene?« fragte er gereizt, während er hastig einige Formalitäten für die Zeremonie erledigte. »Betrunkene Drakonier? Nimm sie einfach...«

»Ich...ich glaube, Ihr solltet mitkommen, H...herr.« Der Goblin schwitzte, und schwitzende Goblins sind äußerst unangenehm. »E...es sind einige M...menschen und ein K...kender.«

Der Hauptmann rümpfte die Nase. »Ich habe doch...« Er hielt inne. »Ein Kender?« fragte er und sah interessiert auf.

»Auf keinen Fall ein Zwerg?«

»Soviel ich weiß, nicht, Herr«, antwortete der erbarmungswürdige Goblin. »Aber ich könnte in der Menge einen übersehen haben, Herr.«

»Ich komme mit«, sagte der Hauptmann. Eilig schnallte er sein Schwert um und folgte dem Goblin zum Haupttor.

Hier herrschte für den Moment Frieden. Ariakus' Truppen befanden sich nun alle im Tempelzelt. Kitiaras Soldaten schubsten und stritten bei der Bildung von Reihen für den Einmarsch.

Es war fast Zeit für die Zeremonie. Der Hauptmann warf der Gruppe einen eiligen Blick zu.Zwei Drachenarmeeoffiziere hohen Ranges standen wachsam bei einer Gruppe verdrossen blickender Gefangener. Der Hauptmann musterte die Gefangenen eingehend, sich an Anweisungen erinnernd, die er zwei Tage zuvor erhalten hatte. Er sollte insbesondere auf einen Zwerg, der mit einem Kender reiste, aufpassen. Möglicherweise waren sie mit einem Elfenlord und einer Elfenfrau mit langen silbernen Haaren – in Wirklichkeit ein silberner Drache – zusammen. Es wären die Gefährten der Elfenfrau, die sie als Gefangene hielten, und die Dunkle Königin erwartete, daß einer oder alle versuchen würden, sie zu befreien.

Hier war ein Kender. Aber die Frau hatte rotes, lockiges Haar und kein silbernes, und wenn sie ein Drache sein sollte, würde er seinen Brustpanzer verspeisen. Der alte Mann mit der gebeugten Haltung und dem langen, dünnen Bart war sicherlich ein Mensch, jedenfalls kein Zwerg, geschweige denn ein Elfenlord. Im ganzen konnte er sich nicht vorstellen, warum zwei Offiziere der Drachenarmee sich die Mühe gemacht hatten, diese buntgemischte Gruppe gefangenzunehmen.

»Schlitzt ihnen einfach die Kehlen auf, dann sind wir eine Last los«, sagte der Hauptmann mürrisch. »Wir haben keinen Platz im Gefängnis. Schafft sie weg.«

»Aber was für eine Verschwendung!« sagte einer der Offiziere – ein Riese von Mann mit Armen wie Baumstämme. Er packte das rothaarige Mädchen und zog sie nach vorne. »Ich habe gehört, für so etwas zahlen sie viel Geld auf den Sklavenmärkten.«

»Nun, da hast du recht«, murmelte der Hauptmann. Sein kundiges Auge begutachtete den üppigen Körper des Mädchens, der seiner Meinung nach durch ihr Kettenhemd noch mehr zur Geltung gebracht wurde. »Aber ich weiß nicht, was du mit diesem Pack anfangen willst!« Er versetzte dem Kender einen Schlag, der beleidigt aufschrie und sofort von der anderen Drachenarmeewache zum Schweigen gebracht wurde.

»Töte sie...«

Der riesige Offizier schien wegen dieser Erörterung verwirrtzu sein und blinzelte irritiert. Bevor er jedoch antworten konnte, trat der andere Offizier, der die ganze Zeit geschwiegen und sich im Hintergrund aufgehalten hatte, nach vorne.

»Der Mensch ist ein Zauberkundiger«, sagte der Offizier.

»Und wir glauben, daß der Kender ein Spion ist. Wir haben ihn in der Nähe von Burg Dargaard erwischt.«

»Nun, warum habt ihr das nicht gleich gesagt«, schnappte der Hauptmann, »anstatt meine Zeit zu verschwenden. Dann bringt sie ins Gefängnis«, sprach er eilig, als die Hörner erschallten. Es war Zeit für die Zeremonie, die massiven Eisentore erbebten und begannen aufzuschwingen. »Ich unterschreibe eure Papiere. Gebt sie mir.«

»Wir haben keine...«, begann der große Offizier.

»Was für Papiere?« unterbrach der bärtige Offizier, der in einem Beutel wühlte. »Ausweis...«

»Quatsch!« gab der Hauptmann vor Ungeduld kochend zurück. »Die Erlaubnis von eurem Befehlshaber, Gefangene hereinzubringen.«

»So etwas hat man uns nicht gegeben«, sagte der bärtige Offizier kühl. »Ist das eine neue Anweisung?«

»Nein«, sagte der Hauptmann, der sie jetzt argwöhnisch beäugte. »Wie seid ihr ohne diese Papiere durch die Linien gekommen? Und wie glaubt ihr, wollt ihr zurückkommen? Oder seid ihr dabei, zurückzugehen? Habt ihr gedacht, einen kleinen Ausflug mit dem Geld zu machen, das ihr aus diesem Pack herausholen könnt?«

»Natürlich nicht!« Der große Offizier errötete vor Zorn, seine Augen funkelten. »Unser Befehlshaber hat das wohl vergessen, das ist alles. Er hat eine Menge zu tun, und man kann das wohl einfacher lösen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Er blickte den Hauptmann drohend an.

Die Tore öffneten sich. Hörner schmetterten. Der Hauptmann seufzte wütend. Genau in diesem Moment sollte er in der Mitte stehen, bereit, die Fürstin Kitiara zu begrüßen. Er winkte die Wachen der Dunklen Königin herbei, die in der Nähe standen.»Bringt sie nach unten«, sagte er, während er seine Uniform zurechtrückte. »Wir werden ihnen schon noch zeigen, wie wir mit Deserteuren umgehen!«

Als er davoneilte, sah er mit Vergnügen, wie die Wachen der Königin seinen Befehl ausführten, rasch und sicher die zwei Offiziere ergriffen und sie entwaffneten.

Caramon warf Tanis einen beunruhigten Blick zu, als die Drakonier ihn an den Armen festhielten und seinen Schwertgurt lösten. Tikas Augen waren vor Angst weit aufgerissen – das war im Plan nicht vorgesehen gewesen. Berem, dessen Gesicht unter dem falschen Bart fast verschwand, sah aus, als ob er losschreien oder weglaufen oder beides tun würde. Selbst Tolpan schien durch die plötzliche Änderung ihres Plans gelähmt.

Seine Augen fuhren wild umher, als ob er eine Fluchtmöglichkeit suchte.

Tanis dachte hektisch nach. Er hatte geglaubt, jede Möglichkeit erwogen zu haben, als er diesen Plan schmiedete, aber offensichtlich hatte er eine Möglichkeit außer Betracht gelassen.

Der Gedanke, als Deserteur verhaftet zu werden, war ihm nie gekommen! Wenn die Wachen sie in die Verliese sperren würden, wäre alles vorbei. Sobald sie seinen Helm abnehmen würden, würden sie ihn als Halb-Elfen erkennen. Dann würden sie auch die anderen näher untersuchen... sie würden Berem entdecken ...

Er war die Gefahr. Ohne ihn könnten Caramon und die anderen es immer noch schaffen. Ohne ihn...

Wieder schmetterten die Trompeten, und die Menge jubelte wild, als ein riesiger blauer Drache mit einem Drachenfürsten durch die Tempeltore kam. Als Tanis den Drachenfürsten sah, zog sich sein Herz vor Schmerz – und plötzlich vor stürmischer Hochstimmung zusammen. Die Menge drängte, Kitiaras Namen brüllend, nach vorn, und einen Moment waren die Wachen abgelenkt, als sie sich vergewisserten, daß der Drachenfürstin keine Gefahr drohte. Tanis beugte sich so nahe wie möglich zu Tolpan.»Tolpan!« sagte er schnell, hoffend, daß Tolpan ausreichende Kenntnisse in der Elfensprache hatte, um ihn bei dem Lärm zu verstehen. »Sag Caramon, er soll dieses Spiel weiterspielen. Egal, was ich auch mache, er muß mir vertrauen! Alles hängt davon ab. Egal, was ich mache. Hast du verstanden?«

Tolpan starrte Tanis erstaunt an, dann nickte er zögernd. Es war schon sehr lange her, daß er die Elfensprache verstehen mußte.

Tanis konnte nur hoffen, daß er verstanden worden war. Caramon sprach überhaupt nicht die Elfensprache, und Tanis wagte nicht, die Umgangssprache zu verwenden, auch wenn seine Stimme von dem Lärm der Menge verschluckt wurde.

Trotzdem war eine Wache aufmerksam geworden, die ihm schmerzhaft seinen Arm verdrehte und ihm zu schweigen befahl.

Der Lärm erstarb, die Menge wurde zurückgeschoben und drangsaliert. Als die Wachen sahen, daß alles unter Kontrolle war, wandten sie sich wieder den Gefangenen zu, um sie abzuführen.

Plötzlich stolperte Tanis und stürzte. Dabei stellte er seiner Wache ein Bein, die kopfüber in den Staub fiel.

»Hoch mit dir, Abschaum!« Fluchend schlug die andere Wache Tanis mit dem Griff einer Peitsche übers Gesicht. Der HalbElf sprang die Wache an, packte die Hand mit dem Peitschengriff, riß und zog mit seiner ganzen Kraft, und die plötzliche Bewegung ließ die Wache zu Boden gehen. Eine halbe Sekunde lang war er frei.

Er rannte nach vorn, sich der Wachen bewußt, sich auch Caramons erstaunten Gesichtes bewußt. Tanis warf sich vor die königliche Gestalt auf dem blauen Drachen.

»Kitiara!« schrie er, gerade als die Wachen nach ihm griffen.

»Kitiara!« schrie er aus vollem Halse. Gegen die Wachen kämpfend, schaffte er es, eine Hand loszubekommen. Er riß seinen Helm vom Kopf und schleuderte ihn auf den Boden.

Die Drachenfürstin in der nachtblauen Drachenschuppenrüstung schaute sich um, als sie ihren Namen hörte. Tanis konnteerkennen, wie sich ihre braunen Augen unter der entsetzlichen Drachenmaske vor Verblüffung weiteten. Er sah auch die feurigen Augen des blauen Drachen, die ihn finster anstarrten.

»Kitiara!« schrie Tanis. Er schüttelte die Wachen mit verzweifelter Kraft und schob sich weiter nach vorn. Aber Drakonier in der Menge warfen sich auf ihn, schlugen ihn zu Boden, hielten seine Arme fest. Dennoch kämpfte Tanis weiter, krümmte sich, um in die Augen der Drachenfürstin zu sehen.

»Halt, Skie«, sagte Kitiara, legte dabei ihre behandschuhte Rechte befehlend auf den Hals des Drachen. Skie hielt gehorsam an, seine Klauenfüße glitten leicht über die Pflastersteine der Straße, Aber die Augen des Drachen waren mit Eifersucht und Haß erfüllt, als er auf Tanis starrte.

Tanis hielt den Atem an. Sein Herz schlug pochend. Sein Kopf schmerzte, und Blut tropfte in ein Auge, aber er bemerkte es nicht. Er wartete auf den Schrei, der ihm sagen würde, daß Tolpan nicht verstanden hatte, daß seine Freunde versuchen würden, ihm zur Hilfe zu eilen. Er wartete, daß Kitiara hinter ihn sehen und Caramon, ihren Halbbruder, erkennen würde. Er wagte nicht, sich nach seinen Gefährten umzudrehen. Er konnte nur hoffen, daß Caramon genügend Verstand und Vertrauen zu ihm hatte und außer Sichtweite blieb.

Und jetzt kam der Hauptmann, sein grausames, einäugiges Gesicht vor Wut verzerrt. Er hob seinen gestiefelten Fuß, um gegen Tanis' Kopf zu treten, um diesen aufdringlichen Störenfried ohnmächtig zu schlagen.

»Halt«, sagte eine Stimme.

Der Hauptmann hielt so plötzlich inne, daß er das Gleichgewicht verlor.

»Laßt ihn los.« Dieselbe Stimme.

Widerstrebend ließen die Wachen Tanis los und wichen auf eine herrische Geste der Finsteren Herrin hin zurück.

»Was ist so wichtig, Kommandant, daß du meinen Einzug unterbrichst?« fragte sie kühl, ihre Stimme klang hinter dem Drachenhelm tief und verzerrt.

Tanis stolperte auf die Füße, geschwächt, aber erleichtert,den Kopf benommen von den Kämpfen mit den Wachen, und trat näher zu Kitiara, Als er näher kam, sah er ein amüsiertes Aufflackern in ihren braunen Augen. Sie genoß es, ein neues Spiel mit einem alten Spielzeug. Tanis räusperte sich und sprach kühn.

»Diese Idioten haben mich wegen Desertion verhaftet«, erklärte er, »alles nur, weil dieser schwachsinnige Bakaris vergessen hat, mir die notwendigen Papiere zu geben.«

»Ich werde dafür sorgen, daß derjenige dafür bestraft wird, daß er dir Schwierigkeiten gemacht hat, guter Tanthalasa«, erwiderte Kitiara. Tanis konnte aus ihrer Stimme das Lachen heraushören. »Wie kannst du es wagen?« fügte sie hinzu, zum Hauptmann gewandt, den sie finster anblickte. Er krümmte sich, als das behelmte Antlitz sich ihm zuwandte.

»Ich...ich habe nur An...anweisungen befolgt, meine Fürstin«, stotterte er, sich wie ein Goblin schüttelnd.

»Verschwinde, oder ich verfüttere dich an meinen Drachen«, befahl Kitiara gebieterisch mit einer Handbewegung. Dann streckte sie mit der gleichen anmutigen Geste ihre behandschuhte Hand nach Tanis aus. »Kann ich dir einen Ritt anbieten, Kommandant? Als Wiedergutmachung natürlich.«

»Danke, Fürstin«, sagte Tanis.

Tanis warf dem Hauptmann einen finsteren Blick zu, dann nahm er Kitiaras Hand und schwang sich zu ihr auf den Rücken des blauen Drachen. Seine Augen durchsuchten schnell die Menge, während Kitiara Skie befahl, weiterzugehen. Einen Moment lang konnte er nichts erkennen, dann seufzte er erleichtert auf, als er sah, daß Caramon und die anderen von den Wachen weggeführt wurden. Als sie vorbeikamen, sah der große Mann zu ihm mit einem verletzten und verwirrten Gesichtsausdruck hoch. Aber er ging weiter. Entweder hatte Tolpan ihm schon die Botschaft übermittelt, oder der Mann war selbst vernünftig genug, um das Spiel weiterzuspielen. Oder vielleicht vertraute Caramon ihm sowieso. Tanis wußte es nicht. Seine Freunde waren jetzt in Sicherheit – zumindest sicherer, als wenn sie mit ihm zusammen gewesen wären.Es könnte das letzte Mal sein, daß ich sie sehe, fiel ihm plötzlich schmerzhaft ein. Dann schüttelte er den Kopf. Er durfte so etwas nicht denken. Er drehte sich um und bemerkte, daß Kitiaras braune Augen ihn mit einer merkwürdigen Mischung von List und unverhüllter Bewunderung musterten.

Tolpan stand auf Zehenspitzen, um zu sehen, was aus Tanis wurde. Er hörte Schreie, dann war es einen Moment lang ruhig.

Dann sah er den Halb-Elfen auf den Drachen klettern und sich neben Kitiara setzen. Die Prozession wurde fortgesetzt. Der Kender hatte den Eindruck, daß Tanis in seine Richtung sah, aber wenn das stimmte, dann ohne ihn zu erkennen. Die Wachen stießen die verbliebenen Gefangenen durch die schubsende Menge, und Tolpan verlor seinen Freund aus den Augen.

Eine Wache stieß Caramon mit einem Kurzschwert in die Rippen.

»Dein Kumpel wird also von der Fürstin mitgenommen, während du im Gefängnis verrotten darfst«, sagte der Drakonier kichernd.

»Er wird mich nicht vergessen«, murmelte Caramon.

Der Drakonier grinste und stieß seinen Partner an, der Tolpan zu sich zog, eine Klauenhand klammerte sich an den Kragen des Kenders. »Sicher wird er zu dir zurückkommen – wenn er es schafft, aus ihrem Bett herauszukommen!«

Caramon errötete. Tolpan warf dem Krieger einen beunruhigten Blick zu. Der Kender hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Caramon Tanis' letzte Botschaft mitzuteilen, und er befürchtete, daß der Krieger alles ruinieren könnte, obwohl sich Tolpan nicht sicher war, was man eigentlich noch ruinieren konnte. Trotzdem...

Aber Caramon schüttelte in verletzter Würde den Kopf.

»Vor Abendanbruch bin ich draußen«, knurrte er. »Wir haben soviel zusammen erlebt. Er läßt mich nicht im Stich.«

Tolpan, der einen nachdenklichen Ton in Caramons Stimme hörte, zappelte vor Ungeduld und Verlangen, in Caramons Nähe zu kommen, um ihm alles zu erklären. Aber in diesem Moment schrie Tika vor Wut auf. Tolpan drehte den Kopf und sah, daß eine Wache an ihrer Bluse riß; an ihrem Hals waren bereits blutige Wunden von seinen Klauenhänden. Caramon schrie, aber zu spät. Tika schlug in bester Wirtshaustradition mit dem Handrücken in das Reptiliengesicht.

Wütend schleuderte der Drakonier Tika auf die Straße und hob seine Peitsche. Tolpan hörte Caramon den Atem anhalten, und der Kender krümmte sich, bereitete sich auf das Ende vor.

»He! Verunstalte sie nicht!« brüllte Caramon. »Falls du dafür nicht verantwortlich gemacht werden willst. Fürstin Kitiara hat uns für sie sechs Silbermünzen versprochen, und wir werden sie bestimmt nicht bekommen, wenn sie so zugerichtet wird!«

Der Drakonier zögerte. Caramon war ein Gefangener, das stimmte. Aber die Wachen hatten alle gesehen, wie sein Freund von der Finsteren Herrin herzlich willkommen geheißen wurde. Sollten sie es wagen, einen weiteren Mann zu beleidigen, der vielleicht hoch in ihrer Gunst stand? Offenbar konnten sie es nicht. Sie zogen Tika grob auf die Füße und schoben sie weiter.

Tolpan atmete erleichtert auf, dann warf er einen besorgten Blick auf Berem, der die ganze Zeit sehr ruhig gewesen war. Er hatte recht. Berem hätte sich in einer anderen Welt befinden können. Seine Augen waren weit aufgerissen und zu einem seltsamen Blick erstarrt. Sein Mund war halb offen, er wirkte fast wie ein Schwachsinniger. Zumindest sah er nicht wie jemand aus, der Ärger erregen würde. Caramon spielte scheinbar seine Rolle weiter, und mit Tika war alles in Ordnung. Im Moment brauchte ihn also keiner. Vor Erleichterung aufseufzend begann sich Tolpan interessiert im Tempelareal umzusehen, zumindest soweit es mit dem Drakonier, der an seinem Kragen hing, möglich war.

Er bereute es. Neraka war genauso, wie es aussah – ein kleines, uraltes, verarmtes Dorf, für jene gebaut, die den Tempel bewohnten, jetzt von den Zelten überrannt, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren.

Am anderen Ende des Anwesens ragte der Tempel wie ein Raubvogel über die Stadt – das verzerrte, verunstaltete, abscheuliche Bauwerk schien sogar die Berge am Horizont zu beherrschen. Sobald man seinen Fuß auf diesen Platz setzte, gingen die Augen zunächst zum Tempel. Danach war es egal, wohin man sah oder womit man beschäftigt war, denn der Tempel war überall, selbst in der Nacht, selbst in den Träumen.

Tolpan sah nur einmal hin, dann blickte er eilig weg, eine eisige Übelkeit stieg in ihm hoch. Aber der Anblick vor ihm war fast noch schlimmer. Die Zeltstadt war mit Soldaten überfüllt.

Drakonier und menschliche Söldner, Goblins und Hobgoblins drängten sich in den eiligst gebauten Bars und Bordellen bis auf die schmutzigen Straßen. Sklaven aller Rassen waren hierher gebracht worden, um ihren Herren zu dienen und für ihre ruchlosen Vergnügungen zu sorgen. Gossenzwerge schwärmten wie Ratten umher, sich von Abfällen ernährend. Der Gestank war überwältigend, der Anblick mutete wie eine Szene aus der Hölle an. Trotz Mittagszeit war der Platz dunkel und kühl wie in der Nacht. Als Tolpan hochspähte, sah er die riesigen Fliegenden Zitadellen, die in entsetzlicher Erhabenheit über dem Tempel schwebten, Drachen umkreisten sie in unermüdlicher Wachsamkeit.

Als sie anfangs durch die bevölkerten Straßen gingen, hatte Tolpan auf eine Gelegenheit gehofft zu entkommen. Er war ein Experte darin, mit der Menge zu verschmelzen. Er bemerkte, daß sich auch Caramon umsah; der Krieger schien das gleiche zu denken. Aber nachdem sie nur wenige Blöcke weit gegangen waren, nachdem er die wachsamen Zitadellen gesehen hatte, erkannte Tolpan die Hoffnungslosigkeit eines Fluchtunterfangens. Offenbar war Caramon zu dem gleichen Schluß gelangt, denn die Schultern des Kriegers sackten zusammen.

Entsetzt und verängstigt dachte Tolpan plötzlich an Laurana, die hier gefangengehalten wurde. Die lebhafte und fröhliche Stimmung des Kenders schien schließlich durch die Schwere der Dunkelheit und des Unheils um ihn herum zerschmettert zu werden, eine Dunkelheit und ein Unheil, die er selbst in seinen schlimmsten Träumen nie für möglich gehalten hatte.Die Wachen drängten sie weiter, schoben und stießen ihren Weg frei durch betrunkene und raufende Soldaten, durch verstopfte und enge Gassen. Tolpan wußte nicht, wie er Tanis' Botschaft an Caramon weitergeben sollte. Dann waren sie gezwungen, anzuhalten, als ein Kontingent der Truppen der Dunklen Königin durch die Straßen marschierte. Jene, die nicht die Straße räumten, wurden von drakonischen Offizieren einfach zur Seite geschleudert oder niedergetrampelt. Die Wachen der Gefährten drückten sie eilig gegen eine zerbröckelnde Mauer und befahlen ihnen, sich nicht zu bewegen, bis die Soldaten passiert wären.

Tolpan fand sich zwischen Caramon und einem Drakonier eingequetscht wieder. Die Wache hatte ihren Griff um Tolpans Hand gelockert, offensichtlich dachte sie, daß nicht einmal ein Kender so dumm wäre, um in diesem Mob einen Fluchtversuch zu wagen. Obwohl Tolpan die schwarzen Reptilienaugen auf sich ruhen spürte, konnte er sich dicht genug zu Caramon winden, um mit ihm zu reden. Er hoffte, daß man sie nicht belauschte, und erwartete es auch nicht bei all dem Köpfeeinschlagen und Stiefelgestampfe.

»Caramon!« flüsterte Tolpan. »Ich habe eine Botschaft. Kannst du mich hören?«

Caramon bewegte sich nicht, sondern blickte starr nach vorn, sein Gesicht war unbewegt. Aber Tolpan sah ein Augenlid zucken.

»Tanis hat gesagt, du sollst ihm vertrauen!« fuhr Tolpan flüsternd fort. »Egal, was passiert. Und... und... du sollst weiterspielen... Ich glaube, das hat er gesagt.«

Tolpan sah Caramon die Stirn runzeln.

»Er hat in der Elfensprache geredet«, fügte Tolpan verstimmt hinzu. »Und es war schwer zu verstehen.«

Caramons Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.

Tolpan schluckte. Er schlängelte sich etwas näher, sich gegen die Mauer direkt hinter dem breiten Rücken des Kriegers drückend. »Dieser... Drachenfürst«, fragte der Kender zögernd.

»Das... war Kitiara, nicht wahr?«Caramon antwortete nicht. Aber Tolpan sah, daß sich die Kiefermuskeln des Mannes verkrampften, sah, daß ein Nerv an Caramons Hals zuckte.

Tolpan seufzte. Er vergaß, wo er war und hob seine Stimme, »du vertraust ihm doch, oder nicht, Caramon? Weil...«

Ohne Warnung drehte sich Tolpans drakonische Wache um und schlug dem Kender über den Mund, daß er gegen die Mauer geschleudert wurde. Benommen vor Schmerz sank Tolpan zu Boden. Ein dunkler Schatten beugte sich über ihn. Er konnte nicht erkennen, wer es war, und machte sich auf einen weiteren Schlag gefaßt. Dann spürte er starke, sanfte Arme, die ihn an seiner Wollweste hochhoben.

»Ich habe euch gesagt, sie nicht zu verunstalten«, knurrte Caramon.

»Pah! Ein Kender!« Der Drakonier spuckte.

Die Soldaten waren fast alle vorbeimarschiert. Caramon setzte Tolpan ab. Der Kender versuchte zu stehen, aber aus unerfindlichen Gründen glitt der Boden unter seinen Füßen weg.

»Es... tut mir leid«, hörte er sich murmeln. »Beine sind manchmal lustig...« Schließlich fühlte er sich in die Luft gehoben, und unter Protestgeschrei flog er wie ein Mehlsack über Caramons breite Schulter.

»Er hat einige Informationen«, sagte Caramon mit seiner tiefen Stimme. »Ich hoffe, ihr habt sein Gehirn nicht durcheinandergebracht, daß er sie verloren hat. Die Finstere Herrin wird darüber nicht erfreut sein.«

»Was für ein Gehirn?« gab der Drakonier verächtlich zurück, aber Tolpan konnte von seiner Position auf Caramons Rücken sehen, daß die Kreatur ein wenig erschüttert wirkte.

Sie setzten ihren Weg fort. Tolpans Kopf schmerzte entsetzlich, seine Wange brannte. Er fühlte mit seiner Hand. Blut klebte dort, wo die Klaue des Drakoniers sich in seine Haut gegraben hatte. Hunderte von Bienen schienen in seinem Gehirn zu summen. Die Welt schien langsam um ihn zu kreisen, ihm wurde übel, und auf Caramons gepanzertem Rücken durchgerüttelt zu werden, machte die Sache nicht besser.»Wie weit ist es noch?« Er konnte Caramons Stimme in seiner Brust vibrieren hören. »Dieser kleine Bastard ist schwer.«

Als Antwort streckte der Drakonier seine lange, knochige Klaue aus.

Mit großer Mühe gelang es Tolpan trotz Schmerz und Schwindel, den Kopf zu drehen. Er schaffte nur einen kurzen Blick, aber der reichte aus. Je näher sie dem Gebäude kamen, um so größer wurde es, bis es nicht nur die Augen, sondern auch die Gedanken ausfüllte.

Tolpan sank zurück. Er sah nur noch verschwommen und fragte sich benommen, warum es auf einmal so neblig wurde.

Das letzte, woran er sich erinnerte, waren die Worte: »Zu den Verliesen... unter dem Tempel Ihrer Majestät, Takisis, Königin der Finsternis.«

Загрузка...