3 Die Heimat der Götter

Es war ein langer und ermüdender Tag gewesen.

Sie waren ziellos durch das Gebirge gelaufen, soweit es der ungeduldige Halb-Elf beurteilen konnte.

Das einzige, was ihn davon abhielt, Fizban zu erwürgen, war die unbestreitbare Tatsache, daß der alte Mann sie trotz allem richtig geführt hatte. Gleichgültig, wie sie umherzuirren schienen, gleichgültig, wie oft Tanis hätte schwören können, daß sie an demselben Findling schon dreimal vorbeigekommen waren, jedesmal, wenn er einen flüchtigen Blick auf die Sonne erhaschte, wanderten sie untrüglich in südöstlicher Richtung.Aber je später es wurde, um so seltener sah er die Sonne. Die bittere Winterkälte lag nicht mehr in der Luft, und der Wind trug den schwachen Frühlingsduft junger Pflanzen heran. Aber bald verdunkelte sich der Himmel mit bleigrauen Wolken, und es begann zu regnen – ein gleichförmiger, trommelnder Schauer, der durch den Umhang drang.

Am Nachmittag war die Gruppe freudlos und entmutigt – sogar Tolpan, der sich heftig mit Fizban stritt, in welcher Richtung die Heimat der Götter lag. Das war für Tanis um so zermürbender, da offensichtlich beide nicht wußten, wo sie überhaupt waren. (Fizban hielt die Karte tatsächlich verkehrt herum.) Der Streit endete damit, daß Tolpan seine Karten in seinen Beutel packte und sich weigerte, sie wieder herauszuholen, während Fizban drohte, Tolpans Zopf in einen Pferdeschweif zu verwandeln.

Tanis, der von beiden genug hatte, schickte Tolpan zum Abreagieren nach hinten, beruhigte Fizban und hegte geheime Wünsche, beide in eine Höhle zu sperren.

Die Ruhe, die der Halb-Elf in Kalaman gespürt hatte, verließ ihn allmählich auf dieser unheilvollen Reise. Es wurde ihm nun bewußt, daß es eine künstliche Ruhe gewesen war, die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, der beruhigende Gedanke, endlich etwas Konkretes zu tun, um Laurana zu helfen. Diese Aufgaben hatten ihn über Wasser gehalten, so wie die Meer-Elfen ihn über das Blutmeer von Istar getragen hatten. Aber jetzt bekam er wieder das Gefühl, daß das dunkle Gewässer über seinem Kopf zusammenschlug.

Tanis' Gedanken waren ständig bei Laurana. Immer wieder hörte er Gilthanas' anschuldigende Worte – Sie hat es für dich getan! Und obwohl Gilthanas ihm wohl verziehen hatte, wußte Tanis, daß er sich selbst nie verzeihen würde. Was geschah mit Laurana im Tempel der Dunklen Königin? Lebte sie noch? Tanis schreckte vor diesem Gedanken zurück. Natürlich lebte sie noch! Die Dunkle Königin würde sie nicht töten, jedenfalls solange sie Berem nicht hatte...

Tanis' Augen richteten sich auf den Mann, der vor ihm neben Caramon ging. Ich werde alles tun, um Laurana zu retten, schwor er sich mit zusammengeballten Fäusten. Alles! Auch wenn ich mich opfern müßte oder...

Er hielt inne. Würde er wirklich Berem ausliefern? Würde er ihn wirklich der Dunklen Königin aushändigen, damit die Welt vielleicht in eine so tiefe Dunkelheit tauchen, daß sie niemals wieder das Licht erblicken würde?

Nein, dachte Tanis entschlossen. Das würde Laurana nicht retten. Nach einigen Schritten änderte er jedoch seine Meinung. Soll die Welt doch auf sich selbst aufpassen, dachte er düster. Wir sind zum Untergang verurteilt. Wir können nicht gewinnen, egal was passiert. Lauranas Leben ist das einzige, was zählt... das einzige...

Tanis war nicht der einzige in der Gruppe, der düstere Gedanken hegte. Tika ging neben Caramon, ihre roten Locken bildeten einen warmen, hellen Fleck an diesem grauen Tag. Aber das Licht war nur in dem lebhaften Rot ihrer Haare, aus ihren Augen war es verschwunden. Zwar war Caramon unbestritten liebenswürdig zu ihr, aber seit jenem wundervollen kurzen Augenblick unter dem Meer, als seine Liebe ihr gehört hatte, verhielt er sich distanziert. Darüber war sie in den langen Nächten sehr wütend – er hatte sie ausgenutzt, sagte sie sich, nur um seinen eigenen Schmerz zu lindern. Sie schwor, ihn nach dieser Reise zu verlassen. In Kalaman gab es einen wohlhabenden jungen Edelmann, der seine Augen nicht von ihr genommen hatte... Aber das waren die nächtlichen Gedanken. Tagsüber, wenn Tika Caramon einen Blick zuwarf und sah, wie er sich neben ihr mit gebeugtem Kopf dahinschleppte, wurde ihr Herz weich. Sanft berührte sie ihn. Er sah dann schnell zu ihr auf und lächelte. Tika seufzte. Soviel zu wohlhabenden jungen Edelmännern.

Flint stapfte einher, sprach kaum, beklagte sich nie. Wenn Tanis nicht so tief in seinen eigenen inneren Kampf verstrickt gewesen wäre, hätte er dies als schlechtes Zeichen bemerkt.

Was Berem betraf, so wußte niemand, was er dachte, falls er überhaupt dachte. Er schien immer nervöser und vorsichtigerzu werden, je weiter sie wanderten. Seine blauen Augen bewegten sich wie bei einem gefangenen Tier nervös in alle Richtungen.

Am zweiten Tag im Gebirge verschwand Berem.

Alle waren an dem Morgen munterer gewesen, nachdem Fizban verkündet hatte, daß sie bald die Heimat der Götter erreichen würden. Aber die düstere Stimmung war bald darauf wieder da. Der Regen wurde stärker. Dreimal in einer Stunde führte der alte Magier sie mit aufgeregten Rufen durchs Gebüsch: »Da ist es! Wir sind da!«, nur um sich in einem Sumpf, in einer Schlucht und schließlich auf eine Felswand starrend wiederzufinden.

In dieser letzten Sackgasse hatte Tanis das Gefühl, daß sich seine Seele aus dem Körper riß. Selbst Tolpan wich beunruhigt zurück, als er das vor Wut verzerrte Gesicht des Halb-Elfen sah. Verzweifelt versuchte Tanis, sich zusammenzureißen, als er sich dessen bewußt wurde.

»Wo ist Berem?« fragte er. Eine plötzliche Kälte ließ seine Wut gefrieren.

Caramon blinzelte, als ob er aus einer anderen Welt zurückkehren würde. Der Krieger sah sich hastig um, dann wandte er sich zu Tanis. Er errötete vor Scham. »Ich... ich weiß nicht, Tanis. Ich... ich dachte, er wäre neben mir.«

»Er ist unsere einzige Möglichkeit, Neraka zu betreten«, sagte der Halb-Elf mit zusammengepreßten Zähnen, »und der einzige Grund, warum Laurana noch am Leben ist. Wenn sie ihn schnappen...«

Tanis stockte, plötzliche Tränen hinderten ihn, weiterzusprechen. Verzweifelt versuchte er, trotzdem zu denken.

»Mach dir keine Sorgen, Bursche«, sagte Flint barsch und klopfte dem Halb-Elfen auf den Arm. »Wir finden ihn schon.«

»Es tut mir leid, Tanis«, murmelte Caramon. »Ich habe nachgedacht – über Raist. Ich... ich weiß, ich hätte nicht...«

»Wie im Namen der Hölle kann dein verfluchter Bruder sogar Unheil anrichten, wenn er nicht einmal hier ist!« schrie Tanis. Dann faßte er sich. »Es tut mir leid, Caramon«, sagte er undholte tief Luft. »Es ist nicht deine Schuld. Ich hätte auch aufpassen sollen. Das hätten wir alle. Wir müssen sowieso den Weg zurück, falls Fizban uns nicht durch die Steinwand führen kann... nein, erwäge nicht diese Möglichkeit, alter Mann... Berem kann nicht weit gegangen sein, und seine Spur müßte einfach aufzunehmen sein.«

Tanis hatte recht. Nachdem sie eine Stunde lang ihre eigenen Schritte zurückverfolgt hatten, entdeckten sie einen kleinen Tierpfad, den keiner von ihnen vorher bemerkt hatte. Es war Flint, der die Spuren des Mannes im Schlamm sah. Der Zwerg rief es aufgeregt den anderen zu, dann tauchte er in das Gestrüpp ein und folgte mühelos dem Pfad. Die anderen eilten ihm nach, aber der Zwerg schien einen ungewöhnlichen Energieanfall zu erleben. Wie ein Jagdhund, der sich seiner Beute sicher ist, trampelte Flint über Kletterpflanzen und hackte sich pausenlos den Weg durch das Unterholz frei. Bald hatte er sie weit hinter sich gelassen.

»Flint!« schrie Tanis mehr als einmal. »Warte auf uns!«

Aber die Gruppe fiel immer weiter hinter dem aufgeregten Zwerg zurück, bis sie ihn völlig aus den Augen verloren. Flints Spur erwies sich jedoch deutlicher als Berems. Sie hatten wenig Schwierigkeiten, den Stiefelabdrücken des Zwerges zu folgen, ganz zu schweigen von den abgehackten Baumästen und ausgerissenen Kletterpflanzen, die seinen Vormarsch markierten.

Dann ging es plötzlich nicht mehr weiter.

Sie hatten eine weitere Felswand erreicht, aber in dieser gab es einen Weg – ein Loch im Gestein, das sich in eine schmale, tunnelähnliche Öffnung fortsetzte. Der Zwerg war ohne Schwierigkeiten eingetreten – sie konnten seine Spur sehen -, aber sie war so schmal, daß Tanis verdrossen darauf starrte.

»Berem ist hier durchgegangen«, sagte Caramon grimmig und zeigte auf einen frischen Blutfleck am Stein.

»Vielleicht«, sagte Tanis zweifelnd. »Sieh mal nach, was auf der anderen Seite ist, Tolpan«, befahl er.

Tolpan kroch mit Leichtigkeit hinein, und bald hörten sie seine schrille Stimme vor Verblüffung über etwas schreien,aber das Echo war so verzerrt, daß sie seine Worte nicht verstehen konnten.

Plötzlich leuchtete Fizbans Gesicht auf. »Das ist es!« schrie der alte Magier hocherfreut auf. »Wir haben es gefunden! Die Heimat der Götter! Der Weg dorthin – durch diesen Gang!«

»Gibt es keinen anderen Weg?« fragte Caramon, während er düster auf die schmale Öffnung starrte.

Fizban wirkte nachdenklich. »Nun, ich glaube mich zu erinnern...«

Dann hörte man ein ziemlich deutliches »Tanis! Beeil dich!« aus der Öffnung.

»Keine weiteren Sackgassen. Wir gehen hier durch«, murrte Tanis, »irgendwie.«

Auf allen vieren krochen die Gefährten in die schmale Öffnung. Der Weg wurde nicht einfacher; manchmal waren sie gezwungen, wie Schlangen durch den Schlamm zu gleiten. Den breitschultrigen Caramon traf es am schlimmsten, und eine Zeitlang überlegte Tanis, den Krieger zurückzulassen. Tolpan erwartete sie auf der anderen Seite und beobachtete sie ungeduldig beim Kriechen. »Ich habe etwas gehört, Tanis«, sagte er mehrmals. »Flint schreit herum. Oben. Und warte, bis du diesen Ort gesehen hast, Tanis! Du wirst es nicht glauben!«

Aber Tanis nahm sich erst die Zeit, zuzuhören oder sich umzusehen, als alle sicher durch den Tunnel gekommen waren.

Alle mußten mithelfen, Caramon aus dem Tunnel zu ziehen und zu zerren, und als er schließlich heraustrat, war die Haut an seinen Armen und am Rücken aufgeschürft und blutete.

»Das ist es!« stellte Fizban fest. »Wir sind angekommen.«

Der Halb-Elf sah sich an dem Ort um, der die Heimat der Götter genannt wurde.

»Nicht gerade der Ort, den ich zum Leben auswählen würde, wenn ich ein Gott wäre«, bemerkte Tolpan mit unterdrückter Stimme.

Tanis mußte ihm recht geben.

Sie standen am Rand einer kreisförmigen Vertiefung in der Mitte eines Berges. Tanis' erster Eindruck von der Heimat der Götter waren die überwältigende Trostlosigkeit und Leere des Platzes. Auf dem ganzen Weg im Gebirge hatten die Gefährten Anzeichen neuen Lebens gesehen: knospende Bäume, junges Gras, Wildblumen, die sich aus Schlamm und Schneeresten hervorschoben. Aber hier war nichts. Der Boden des Beckens war vollkommen glatt und flach, völlig öde, grau und leblos. Hohe Berggipfel umschlossen das Becken. Die zerklüfteten Wipfel schienen nach innen zu ragen und vermittelten dem Beobachter den Eindruck, in das bröckelnde Gestein unter seinen Füßen gedrückt zu werden. Der Himmel über ihnen war azurblau, klar und kalt, ohne Sonne, Vogel oder Wolke, obwohl es geregnet hatte, als sie in den Tunnel gekrochen waren. Er war wie ein Auge, das aus grauen, glanzlosen Lidern nach unten starrte.

Schaudernd wandte Tanis schnell seinen Blick vom Himmel ab und betrachtete noch einmal das Becken.

Mitten im Becken bildeten riesige, formlose Findlinge einen Kreis. Es war ein vollkommener Kreis, bestehend aus unvollkommenen Steinen. Dennoch paßten sie so gut zusammen und standen so dicht nebeneinander, daß Tanis von seinem Standort aus nicht erkennen konnte, was diese seltsamen Steine so feierlich bewachten.

»Es macht mich furchtbar traurig«, flüsterte Tika. »Ich habe keine Angst – es scheint keine Gefahr davon auszugehen, aber es ist so traurig! Wenn die Götter wirklich hierher kommen, dann bestimmt nur, um über das Elend in der Welt zu weinen.«

Fizban musterte Tika mit einem durchdringenden Blick und schien etwas sagen zu wollen, aber da schrie Tolpan: »Hier, Tanis!«

»Ich sehe!« Der Halb-Elf rannte los.

Auf der anderen Seite des Beckens konnte er den schwachen Umriß von zwei Gestalten erkennen – eine kleine und eine große -, die kämpften.

»Es ist Berem!« kreischte Tolpan. Die beiden waren für seine scharfen Kenderaugen deutlich sichtbar. »Er macht was mit Flint! Beeil dich, Tanis!«

Sich bitter verfluchend, daß er es dazu hatte kommen lassen,daß er nicht besser auf Berem aufgepaßt hatte, daß er den Mann nicht gezwungen hatte, die Geheimnisse, die er offensichtlich zurückhielt, preiszugeben, rannte Tanis über den Felsboden mit einer aus Angst geborenen Schnelligkeit. Er konnte die anderen rufen hören, aber schenkte dem keine Beachtung. Seine Augen waren nur auf die zwei Gestalten gerichtet, und jetzt konnte er sie klar erkennen. Der Zwerg fiel auf den Boden. Berem stand über ihm.

»Flint!« schrie Tanis.

Sein Herz schlug heftig, er konnte nicht mehr richtig sehen.

Seine Lungen schmerzten, zum Atmen schien nicht genügend Luft vorhanden zu sein. Trotzdem lief er immer schneller. Jetzt drehte sich Berem zu ihm um. Er schien ihm etwas sagen zu wollen – Tanis konnte die Lippen des Mannes sich bewegen sehen -, aber der Halb-Elf konnte nichts hören. Zu Berems Füßen lag Flint. Die Augen des Zwerges waren geschlossen, sein Kopf war zur Seite gekippt, sein Gesicht aschgrau.

»Was hast du getan?« kreischte Tanis Berem an. »Du hast ihn getötet!« Trauer, Schuldgefühl, Verzweiflung und Wut explodierten in Tanis wie eine Feuerkugel des alten Magiers, überfluteten seinen Kopf mit unerträglichem Schmerz. Er konnte nicht sehen, ein roter Schleier zog sich über seine Augen.

Sein Schwert lag in seiner Hand, er wußte nicht wie. Er spürte den kalten Stahl des Griffs. Berems Gesicht schwamm in einem blutroten Meer; die Augen des Mannes füllten sich, nicht mit Angst, sondern mit tiefer Trauer. Dann sah Tanis, wie sich die Augen vor Schmerz weiteten, und erst dann wurde ihm bewußt, daß er sein Schwert in Berems wehrlosen Körper getrieben hatte, so tief, daß es durch Fleisch und Knochen ging, bis es gegen die Wand stieß, an die sich Berem gelehnt hatte.

Warmes Blut spritzte über Tanis' Hände. Ein entsetzlicher Schrei barst in seinem Kopf, dann fiel ein schweres Gewicht über ihn und warf ihn fast zu Boden.

Berems Körper rutschte über ihn, aber Tanis bemerkte es nicht. Hektisch zog er seine Waffe aus dem Körper und stach wieder zu. Starke Hände griffen nach ihm. Aber in seinem Wahn wehrte der Halb-Elf sie ab. Schließlich zog er sein Schwert aus dem Körper und sah Berem zu Boden fallen, Blut strömte aus der furchtbaren Wunde direkt unter dem grünen Edelstein, der in der Brust des Mannes wie ein eigenständiges, unseliges Leben glitzerte.

Hinter sich hörte er eine tiefe, dröhnende Stimme und die schluchzenden Bitten einer Frau und ein schrilles Jammern der Trauer. Tanis wirbelte herum, um jenen gegenüberzustehen, die versucht hatten, ihn zu behindern. Er sah einen großen Mann mit einem kummervollen Gesicht, ein rothaariges Mädchen, über deren Wangen Tränen flossen. Er erkannte beide nicht wieder. Und dann tauchte vor ihm ein alter, alter Mann auf. Sein Gesicht war ruhig und gelassen, seine alterslosen Augen mit Leid erfüllt. Der alte Mann lächelte Tanis sanft an und legte eine Hand auf die Schulter des Halb-Elfen.

Seine Berührung war wie kühles, beruhigendes Wasser. Tanis spürte seine Vernunft zurückkehren. Der blutige Schleier vor seinen Augen klarte auf. Er ließ das blutverschmierte Schwert aus seinen blutigen Händen fallen und brach schluchzend vor Fizbans Füßen zusammen. Der alte Mann bückte sich und klopfte ihm leicht auf die Schulter.

»Sei stark, Tanis«, sagte er leise, »denn du mußt dich von jemandem verabschieden, der eine lange Reise vor sich hat.«

Tanis erinnerte sich. »Flint!« keuchte er.

Fizban nickte traurig und sah auf Berems Leiche. »Komm mit. Hier kannst du nichts mehr ausrichten.«

Tanis schluckte seine Tränen hinunter und taumelte auf die Füße. Er schob den Magier beiseite und stolperte zu Flint, der auf dem Felsboden lag, sein Kopf ruhte in Tolpans Schoß.

Der Zwerg lächelte, als er den Halb-Elfen kommen sah. Tanis fiel neben seinem ältesten Freund auf die Knie. Er nahm Flints schwielige Hand in seine und hielt sie fest.

»Ich hatte ihn fast verloren«, sagte Flint. Mit seiner anderen Hand klopfte er auf seine Brust. »Berem wollte gerade durch das andere Loch in den Felsen schlüpfen, als mein altes Herz schließlich platzte. Er... er hörte mich aufschreien, vermute ich, denn ich weiß nur noch, daß er mich in seinen Annen hielt und mich auf den Boden legte.«

»Dann hat er... hat er dich nicht verletzt...«, Tanis konnte kaum sprechen.

Flint schaffte es, verächtlich zu schnaufen. »Mich verletzen! Er kann nicht einmal einer Maus weh tun, Tanis. Er ist so sanft wie Tika.« Der Zwerg lächelte dem Mädchen zu, das sich auch zu ihm gekniet hatte. »Du paßt auf diesen großen Hornochsen auf, hörst du?« sagte er zu ihr. »Sieh zu, daß er aus dem Regen kommt.«

»Das werde ich, Flint.« Tika weinte.

»Zumindest wirst du nicht mehr versuchen, mich zu ertränken«, grummelte der Zwerg, seine Augen ruhten liebevoll auf Caramon. »Und wenn du deinen Bruder sehen solltest, dann gib ihm einen Tritt von mir.«

Caramon konnte nicht sprechen. Er schüttelte nur den Kopf, »Ich... ich sehe nach Berem«, murmelte der Krieger. Er nahm Tika, half ihr sanft beim Aufstehen und führte sie weg.

»Nein, Flint! Du kannst ohne mich nicht auf Abenteuer gehen!« jammerte Tolpan. »Du wirst nur in endlose Schwierigkeiten geraten, das weißt du genau!«

»Es wird der erste friedliche Moment sein, seit wir uns kennen«, erwiderte der Zwerg mürrisch. »Ich will, daß du meinen Helm behältst – den mit der Mähne eines Greifs.« Er warf Tanis einen strengen Blick zu, dann wandte er sich wieder zu dem schluchzenden Kender. Seufzend tätschelte er Tolpans Hand.

»Nun, nun, Bursche, hab dich nicht so. Ich habe ein glückliches Leben geführt, war mit treuen Freunden gesegnet. Ich habe böse Dinge gesehen, aber auch viele gute. Und jetzt ist wieder Hoffnung in die Welt gekommen. Ich verlasse dich sehr ungern«, seine immer schwächer werdenden Augen ruhten auf Tanis, »gerade wenn du mich brauchst. Aber ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß, Bursche. Alles wird gut werden. Ich weiß... gut...«

Seine Stimme erstarb, er schloß seine Augen, sein Atem ging schwerer. Tanis hielt seine Hand fest. Tolpan vergrub sein Gesieht an Flints Schulter. Dann erschien Fizban, stellte sich vor Flints Füße.

Der Zwerg öffnete die Augen. »Ich weiß jetzt, wer du bist«, sagte er leise, seine Augen leuchteten, als er Fizban ansah. »Du kommst mit mir, nicht wahr? Zumindest den Anfang der Reise... damit ich nicht so allein bin. Ich bin solange mit Freunden gewandert, daß, ich... irgendwie ein komisches Gefühl habe... so allein aufzubrechen.«

»Ich komme mit dir«, versprach Fizban. »Schließe deine Äugen und ruh dich aus, Flint. Die Probleme dieser Welt sind nicht mehr deine. Du hast es verdient, zu schlafen.«

»Schlafen«, sagte der Zwerg lächelnd. »Ja, genau das brauche ich. Weck mich, wenn du bereit bist... weck mich, wenn es Zeit zum Aufbruch...« Flint schloß die Augen. Er atmete mühelos ein, dann atmete er aus...

Tanis drückte die Hand des Zwerges an seine Lippen. »Leb wohl, alter Freund«, flüsterte der Halb-Elf, dann legte er die Hand auf Flints Brust.

»Nein! Flint! Nein!« Wild schreiend warf sich Tolpan auf den Zwerg. Sanft hob Tanis den schluchzenden Kender in seine Arme. Tolpan trat und schlug, aber Tanis hielt ihn wie ein Kind fest, und schließlich gab Tolpan erschöpft auf. Er klammerte sich an Tanis und weinte bitterlich.

Tanis streichelte über den Zopf des Kenders, als er plötzlich aufsah.

»Warte! Was machst du da, alter Mann!« schrie er.

Tanis setzte Tolpan ab und erhob sich schnell. Der zerbrechliche alte Magier hatte Flint in seine Arme gehoben und ging, wie Tanis bestürzt beobachtete, auf den seltsamen Kreis aus Steinen zu.

»Halt!« befahl Tanis. »Wir müssen ihm ein ordentliches Begräbnis geben, ein Hügelgrab errichten.«

Fizban drehte sich zu Tanis um. Er hielt den schweren Zwerg sanft und mit Leichtigkeit in den Händen.

»Ich habe ihm versprochen, daß er nicht allein reisen würde«, sagte Fizban einfach.Dann drehte er sich wieder um und setzte seinen Weg fort.

Tanis lief nach einem Moment des Zögerns hinterher. Die anderen standen wie festgewachsen da und starrten Fizban nach.

Es schien für Tanis einfach, den alten Mann, der solch eine Last trug, einzuholen. Aber Fizban bewegte sich unglaublich schnell, fast als ob er und der Zwerg leicht wie Schnee wären. Plötzlich wurde sich Tanis seines eigenen Gewichtes bewußt, und er hatte den Eindruck, als würde er versuchen, die Andeutung eines in den Himmel schwebenden Rauchwölkchens zu fangen. Dennoch taumelte er hinterher und erreichte sie gerade in dem Moment, als der alte Magier mit dem Zwerg in den Kreis mit den Findlingen trat.

Tanis quetschte sich zwischen die Steine, wußte nur, daß er diesen verrückten alten Magier aufhalten und den Leichnam seines Freundes zurückholen mußte.

Dann hielt er im Kreis inne. Er glaubte, vor einem Wasserbecken zu stehen. Das Wasser war so still, daß nichts seine glatte Oberfläche verunstaltete. Dann sah er, daß es kein Wasser war – es war ein Becken aus spiegelglattem, schwarzem Stein! Die tiefschwarze Oberfläche war zu vollem Glanz poliert. Das Becken erstreckte sich vor Tanis wie die Dunkelheit der Nacht, und als Tanis in seine schwarzen Tiefen blickte, war er überrascht, wirklich Sterne zu sehen! Sie waren so deutlich, daß er aufsah und halb erwartete, daß die Nacht angebrochen war, obwohl er wußte, daß es erst Nachmittag war. Der Himmel über ihm war azurblau, kalt und klar, ohne Sterne, ohne Sonne. Benommen und schwach fiel Tanis neben dem Becken auf die Knie und starrte wieder auf seine polierte Oberfläche.

Er sah die Sterne, er sah die Monde, er sah drei Monde, und seine Seele erbebte, denn der schwarze Mond, nur sichtbar für die mächtigen Magier der Schwarzen Roben, war nun sichtbar für ihn – wie ein dunkler, aus der Schwärze herausgeschnittener Kreis. Er konnte sogar die klaffenden Löcher erkennen, wo die Konstellationen der Königin der Finsternis und des Tapferen Kriegers einst den Himmel geschmückt hatten.

Tanis fielen Raistlins Worte ein: Beide verschwunden. Sie ist nach Krynn gekommen, Tanis, und er ist gekommen, um sie zu bekämpfen...

Er sah auf. Fizban trat auf den schwarzen Stein, Flints Leichnam in seinen Armen.

Der Halb-Elf versuchte verzweifelt zu folgen, aber er hätte eher in die Hölle springen können, als auf diese kalte Steinoberfläche zu kriechen. Er konnte nur zusehen, wie der alte Magier, der so vorsichtig ging, als ob er ein schlafendes Kind in seinen Armen trug, sich zur Mitte der glänzend schwarzen Oberfläche bewegte.

»Fizban!« rief Tanis.

Der alte Mann hielt nicht an und drehte sich auch nicht um, sondern ging auf die glitzernden Sterne zu. Tanis spürte Tolpan neben sich. Tanis nahm seine Hand und hielt sie fest, so wie er Flints festgehalten hatte.

Der alte Magier erreichte die Mitte des Steinbeckens... und verschwand.

Tanis keuchte. Tolpan sprang an ihm vorbei, wollte auf die glasähnliche Oberfläche laufen. Aber Tanis fing ihn ein.

»Nein, Tolpan«, sagte der Halb-Elf leise. »Bei diesem Abenteuer kannst du ihn nicht begleiten. Noch nicht. Du mußt noch eine Weile bei mir bleiben. Ich brauche dich jetzt.«

Tolpan wich ungewöhnlich gehorsam zurück, dabei zeigte er aber nach vorn.

»Sieh mal, Tanis!« flüsterte er mit bebender Stimme. »Die Konstellation! Sie ist wieder da!«

Als Tanis auf die Oberfläche des schwarzen Beckens starrte, sah er die Sterne der Konstellation des Tapferen Kriegers zurückkehren. Sie flackerten, dann erstrahlten sie im Licht und erfüllten das dunkle Becken mit ihrem blauweißen Glanz. Schnell sah Tanis nach oben – aber der Himmel war blau und still und leer.

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