14 Das Ende. Zum Guten oder zum Bösen

»Nun, wir sind außerhalb der Stadttore«, sagte Caramon zu seinem Zwillingsbruder, die Augen auf die Drakonier gerichtet. »Du bleibst bei Tika und Tolpan, ich gehe zurück, um Tanis zu suchen. Ich werde diesen Haufen mitnehmen...«

»Nein, mein Bruder«, antwortete Raistlin leise, seine goldenen Augen glitzerten in Lunitaris rotem Licht. »Du kannst Tanis nicht helfen. Sein Schicksal liegt in seinen eigenen Händen.«

Der Magier blickte hoch zum flammenden, mit Drachen gefüllten Himmel. »Du befindest dich selbst noch in Gefahr, so wie jene, die auf dich angewiesen sind.«

Tika stand erschöpft neben Caramon, ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Und obwohl Tolpan wie immer fröhlich grinste, war sein Gesicht blaß, und in seinen Augen lag ein Ausdruck nachdenklicher Trauer, den man wohl niemals zuvor bei einem Kender gesehen hatte. Caramon setzte eine verbissene Miene auf, als er auf die beiden blickte.

»Schön«, sagte er. »Aber wohin sollen wir gehen?«

Raistlin hob seinen Arm und zeigte in eine Richtung. Die schwarze Robe schimmerte, seine Hand, blaß und knochendürr, hob sich gegen den Nachthimmel ab.

»Dort oben auf dem Hügel brennt ein Licht...«

Alle drehten sich um, auch die Drakonier. Weit hinter der verlassenen Ebene konnte Caramon den dunklen Schatten eines Hügels erkennen, der sich im mondbeleuchteten Ödland erhob. Auf seiner Spitze strahlte ein reines weißes Licht, hellglänzend und beständig wie ein Stern.

»Jemand wartet dort auf euch«, sagte Raistlin.

»Wer? Tanis?« fragte Caramon gespannt.

Raistlin warf Tolpan einen Blick zu. Der Kender starrte wie gebannt auf das Licht.

»Fizban...«, flüsterte er.

»Ja«, erwiderte Raistlin. »Und jetzt muß ich gehen.«

»Was?« stammelte Caramon. »Aber... komm mit mir... uns... du mußt! Um Fizban zu sehen...«

»Ein Treffen zwischen uns wäre nicht erfreulich.« Raistlin schüttelte den Kopf, die Falten seiner schwarzen Kapuze bewegten sich mit ihm.

»Und was ist mit ihnen?« Caramon deutete auf die Drakonier.

Seufzend trat Raistlin zu den Drakoniern. Er hob seine Hand und sprach ein paar seltsame Worte. Die Drakonier wichen zurück, Angst und Entsetzen verzerrten ihre Reptiliengesichter.

Caramon schrie auf, als Blitze aus Raistlins Fingerspitzen zischten. Vor Qual aufschreiend, gingen die Drakonier in Flammen auf und stürzten sich windend zu Boden. Ihre Körper verwandelten sich in Stein, als der Tod sie zu sich nahm.»Das hätte nicht sein müssen, Raistlin«, sagte Tika mit hoher, zitternder Stimme. »Sie hätten uns in Ruhe gelassen.«

»Der Krieg ist vorbei«, fügte Caramon streng hinzu, »Ist er das?« fragte Raistlin sarkastisch und holte einen kleinen schwarzen Beutel aus seinen Geheimtaschen hervor. »Ein schwächliches, sentimentales Gequassel, mein Bruder, was nur die Fortsetzung des Krieges bestätigt. Diese hier«, er zeigte auf die steinernen Körper, »sind nicht von Krynn. Sie wurden mit Hilfe der schwärzesten aller schwarzen Magien geschaffen. Ich weiß es. Ich habe bei ihrer Erschaffung zugesehen. Sie hätten euch niemals in Ruhe gelassen.« Seine Stimme wurde schrill, ahmte Tikas nach.

Caramon errötete. Er versuchte zu sprechen, aber Raistlin ignorierte ihn kühl, und schließlich gab der Krieger auf, als er sah, daß sein Bruder in der Magie verloren war.

Weder hielt Raistlin die Kugel der Drachen in seiner Hand.

Er schloß seine Augen und begann leise zu singen. Farben wirbelten in dem Kristall auf, dann begann die Kugel hell zu leuchten.

Raistlin öffnete seine Augen und suchte den Himmel ab. Er brauchte nicht lange zu warten. Innerhalb von Sekunden wurden die Monde und Sterne von einem riesenhaften Schatten ausgelöscht. Tika wich beunruhigt zurück. Caramon legte tröstend seinen Arm um sie, obwohl sein Körper erzitterte und seine Hand zu seinem Schwert fuhr.

»Ein Drache«, sagte Tolpan ehrfürchtig. »Aber ein ganz großer. Ich habe niemals so einen großen gesehen... oder doch?«

Er blinzelte. »Er kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Du hast ihn gesehen«, sagte Raistlin kühl und steckte die dunkel werdende Kristallkugel in seinen schwarzen Beutel zurück, »im Traum. Es ist Cyan Blutgeißel, der Drache, der den armen Lorac, den Elfenkönig, gequält und gepeinigt hat.«

»Warum ist er hier?« keuchte Caramon.

»Er kommt auf meinen Befehl«, antwortete Raistlin. »Er kommt, um mich nach Hause zu bringen.«

Der Drache kreiste tiefer und tiefer, seine gigantischen Flügelwarfen eisige dunkle Schatten. Selbst Tolpan (obwohl er sich später weigerte, es zuzugeben) klammerte sich bebend an Caramon, als der monströse grüne Drache landete.

Einen Moment lang blickte Cyan auf die erbärmliche, zusammengekauerte Gruppe von Menschen. Seine roten Augen flammten auf, seine Zunge zuckte zwischen seinen geifernden Kiefern, als er sie haßerfüllt anstarrte. Aber durch einen stärkeren Willen bezwungen, wurde Cyans Blick weggezogen und richtete sich in Groll und Wut auf den schwarzgekleideten Magier.

Auf ein Zeichen von Raistlin neigte sich der Kopf des Drachen, bis er im Sand ruhte.

Raistlin stützte sich leicht auf den Stab des Magus, als er zu Cyan Blutgeißel schritt und auf den riesigen, schlangenförmigen Hals stieg.

Caramon starrte den Drachen an, kämpfte gegen die Drachenangst, die ihn zu überwältigen drohte. Tika und Tolpan klammerten sich angstbebend an ihn. Dann schob er sie mit einem heiseren Aufschrei beiseite und lief auf den Drachen zu.

»Warte! Raistlin!« schrie Caramon mit rauher Stimme. »Ich komme mit dir!«

Cyan hob beunruhigt seinen Riesenkopf, beäugte den Menschen mit flammendem Blick.

»Würdest du?« fragte Raistlin leise und legte eine besänftigende Hand auf den Hals des Drachen. »Würdest du mit mir in die Finsternis kommen?«

Caramon zögerte, seine Lippen wurden trocken, Furcht dörrte seine Kehle aus. Er konnte nicht sprechen, aber er nickte zweimal, biß sich vor Qual auf seine Lippe, als er hinter sich Tika aufschluchzen hörte.

Raistlin musterte ihn, seine Augen wirkten wie goldene Punkte in der tiefen Schwärze. »Ich glaube es dir wahrhaftig«, sinnierte der Magier. Einen Moment lang saß Raistlin auf dem Rücken des Drachen und grübelte. Dann schüttelte er entschieden den Kopf.

»Nein, mein Bruder, du kannst mir nicht dorthin folgen, wo-hin ich gehe. Stark wie du bist, es würde dich doch in den Tod führen. Wir sind schließlich so geworden, wie es die Götter vorgesehen hatten, Caramon – zwei ganze Menschen, und hier trennen sich unsere Wege. Du mußt lernen, allein deinen Weg zu geehen, Caramon«, einen Moment lang flackerte ein geisterhaftes Lächeln in Raistlins Gesicht auf, »oder mit jenen, die mit dir gehen wollen. Leb wohl – mein Bruder.«

Auf ein Wort seines Herrn breitete Cyan Blutgeißel seine Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Das Licht von Raistlins Stab wirkte wie ein winziger Stern in der tiefen Schwärze der Flügel des Drachen. Und dann wurde auch dieser Stern von der Dunkelheit verschluckt.

»Da kommen jene, auf die du gewartet hast«, sagte der alte Mann sanft.

Tanis hob seinen Kopf.

In den Schein des Feuers traten drei Leute – ein riesiger und starker Krieger, in die Rüstung der Drachenarmee gekleidet, im Arm eine junge Frau mit lockigem Haar. Ihr Gesicht war bleich vor Erschöpfung und blutverschmiert, und in ihren Augen lag tiefe Sorge und tiefes Leid, wenn sie zu dem Mann aufblickte.

Hinter ihnen her stolperte schließlich, so müde, daß er sich kaum bewegen konnte, ein ungepflegter Kender in zerrissenen blauen Hosen.

»Caramon!« Tanis erhob sich.

Der große Mann hob seinen Kopf. Sein Gesicht hellte sich auf. Er öffnete seine Arme und zog Tanis mit einem Schluchzen an seine Brust. Tika beobachtete die zwei Freunde mit Tränen in den Augen. Dann wurde sie sich einer Bewegung am Feuer gewahr.

»Laurana?« fragte sie zögernd.

Die Elfenfrau trat vor, ihr goldenes Haar glänzte im Schein des Feuers heller als die Sonne. Obwohl sie eine blutverschmierte, zerbeulte Rüstung trug, hatte sie die Haltung, den majestätischen Blick der Elfenprinzessin bewahrt, die Tika vor vielen Monaten in Qualinesti kennengelernt hatte.Unsicher befingerte Tika ihr blutverklebtes Haar. Die weiße Bluse mit den Puffärmeln hing in Fetzen an ihr, allein ihre zusammengewürfelte Rüstung hielt alles zusammen. Unkleidsame Narben verschandelten ihre wohlgeformten Beine, und von diesen wohlgeformten Beinen war viel zuviel sichtbar.

Laurana lächelte, und dann lächelte auch Tika. Es spielte keine Rolle. Laurana trat schnell zu ihr und legte ihre Arme um sie und hielt sie fest.

Der Kender stand einen Moment ganz allein am Rande des Feuerscheins, seine Augen auf den alten Mann gerichtet. Hinter dem alten Mann schlief ein großer goldener Drache, ausgestreckt auf dem Hügel liegend, seine Flanken hoben und senkten sich mit seinem Schnarchen. Der alte Mann winkte Tolpan zu sich.

Einen Seufzer ausstoßend, der von seinen Zehenspitzen zu kommen schien, senkte Tolpan seinen Kopf. Mit schleppenden Schritten ging er langsam zu dem alten Mann.

»Wie heiße ich?« fragte der alte Mann, der seine Hand ausstreckte, um den Zopf des Kenders zu berühren.

»Nicht Fizban«, sagte Tolpan jämmerlich, weigerte sich, ihn anzusehen.

Der alte Mann lächelte und streichelte über den Zopf des Kenders. Dann zog er Tolpan näher zu sich, aber der Kender gab nicht nach, sein kleiner Körper versteifte sich. »Aber bis jetzt war es mein Name«, sagte der alte Mann sanft.

»Und wie lautet er nun?« murmelte Tolpan mit abgewandtem Gesicht.

»Ich habe viele Namen«, antwortete der alte Mann. »Bei den Elfen bin ich als E'li bekannt. Die Zwerge nennen mich Thak. Bei den Menschen heiße ich Skyblade. Aber mein Lieblingsname ist der, unter dem ich bei den Rittern von Solamnia bekannt bin – Draco Paladin

»Das habe ich mir gedacht!« stöhnte Tolpan und warf sich auf den Boden. »Ein Gott! Ich habe alle verloren! Alle!« Er begann bitterlich zu weinen.

Der alte Mann musterte ihn einen Moment lang zärtlich,wischte sogar mit einer schwieligen Hand über seine feuchten Augen. Dann kniete er sich zu dem Kender und legte tröstend einen Arm um ihn. »Sieh mal, mein Junge«, sagte er und legte einen Finger unter Tolpans Kinn und richtete seine Augen zum Himmel, »siehst du da oben den roten Stern? Weißt du, weltiem Gott dieser Stern gewidmet ist?«

»Reorx«, antwortete Tolpan mit dünner Stimme, seine Tränen hinunterwürgend.

»Er ist rot wie das Feuer seiner Schmiede«, sagte der alte Mann. »Er ist rot wie die Funken, die von seinem Hammer fliegen, wenn er die geschmolzene Welt, die auf seinem Amboß ruht, formt. Neben der Schmiede von Reorx steht ein Baum von unübertrefflicher Schönheit, so etwas hat ein lebendiges Wesen niemals gesehen. Unter diesem Baum sitzt ein grummelnder alter Zwerg, der sich vom vielen Arbeiten ausruht. Ein Krug Bier steht neben ihm, das Feuer der Esse wärmt seine Knochen. Er verbringt den ganzen Tag unter diesem Baum, Schnitzt und formt das Holz, das er so liebt. Und jeden Tag kommt jemand an diesem wunderschönen Baum vorbei und will sich zu ihm setzen.

Der Zwerg funkelt sie dann so streng an, daß sie sich unverzüglich wieder erheben. Dieser Platz ist heilig, grummelt der Zwerg. Irgendwo ist ein lahmdenkender Türknopf von Kender auf Abenteuern unterwegs, der sich selbst und all jene, unglücklich genug, mit ihm zusammen zu sein, in eine nichtendenwollende Kette von Schwierigkeiten bringt. Achtet auf meine Worte. Eines Tages wird er hier erscheinen, und er wird meinen Baum bewundern und sagen: Flint, ich bin müde. Ich glaube, Ich ruhe mich hier ein bißchen aus bei dir. Dann wird er sich hinsetzen und sagen: Flint, hast du schon von meinem neuesten Abenteuer gehört? Nun, da war dieser schwarzgekleidete Zauberer und sein Bruder und ich, und wir waren auf einer Reise durch die Zeit, und die wundervollsten Dinge sind passiert...

Und ich muß mir wieder so eine verrückte Geschichte anhöen... Und so grummelt er weiter. Jene, die unter diesem Baum sitzen möchten, verbergen ihr Lächeln und lassen ihn in Ruhe.«»Dann... ist er nicht allein?« fragte Tolpan und wischte sich mit einer Hand über die Augen.

»Nein, Kind. Er ist geduldig. Er weiß, daß du in deinem Leben noch eine Menge zu erledigen hast. Er wartet. Außerdem hat er bereits all deine Geschichten gehört. Du mußt ihm schon mit ein paar neuen kommen.«

»Aber diese hat er noch nicht gehört«, sagte Tolpan mit erwachender Aufregung. »Oh, Fizban, es war wundervoll! Ich bin fast gestorben – wieder einmal. Und ich habe meine Augen geöffnet, und da war Raistlin in schwarzer Robe!« Tolpan erbebte vor Entzücken. »Er sah so – na ja – so böse aus! Aber er hat mein Leben gerettet! Und – uh!« Er hielt entsetzt inne, dann ließ er seinen Kopf hängen. »Es tut mir leid. Ich habe es vergessen. Ich vermute, ich sollte dich nicht mehr Fizban nennen.«

Der alte Mann erhob sich und tätschelte ihn sanft. »Nenn mich Fizban. Von nun an soll das mein Name bei den Kendern sein.« Die Stimme des alten Mannes wurde nachdenklich. »Um die Wahrheit zu sagen, der Name ist mir richtig ans Herz gewachsen.«

Der alte Mann ging zu Tanis und Caramon und lauschte einen Moment ihrer Unterhaltung.

»Er ist gegangen, Tanis«, sagte Caramon traurig. »Ich weiß nicht, wohin. Ich verstehe es nicht. Er ist immer noch zerbrechlich, aber nicht mehr schwach. Dieser entsetzliche Husten ist verschwunden. Seine Stimme ist seine eigene, aber doch anders. Er ist...«

»Fistandantilus«, sagte der alte Mann.

Tanis und Caramon drehten sich um. Als sie den alten Mann sahen, verbeugten sie sich ehrfürchtig.

»Oh...« schnappte Fizban. »Kann dieses Verbeugen nicht ertragen. Ihr seid Heuchler! Ich weiß, wie ihr hinter meinem Rücken über mich geredet habt.« Tanis und Caramon erröteten.

»Nicht schlimm.« Fizban lächelte. »Ihr habt das geglaubt, was ich wollte, daß ihr glaubt. Nun, was deinen Bruder betrifft, hast du recht. Er ist er selbst, und er ist es nicht. So wie es vorausgesagt wurde, ist er der Herr über Gegenwart und Vergangenheit.«»Ich verstehe das nicht.« Caramon schüttelte den Kopf. »Hat die Kugel der Drachen das bei ihm angerichtet? Wenn das stimmt, könnte man sie vielleicht zerstören oder...«

»Nichts hat etwas bei ihm angerichtet«, sagte Fizban, der Caramon streng musterte. »Dein Bruder hat sich für dieses Schicksal entschieden.«

»Ich glaube das nicht! Wer ist dieser Fistan... wie auch immer? Ich will Antworten...«

»Die Antworten, die du suchst, kann ich nicht geben«, unterbrach Fizban. Seine Stimme war immer noch sanft, aber in ihr lag eine Spur von Stahl, die Caramon zum Schweigen brachte.

»Und hüte dich vor diesen Antworten, junger Mann«, fügte Fizban leise hinzu. »Hüte dich vor weiteren Fragen!« Caramon sagte lange Zeit nichts, starrte in den Himmel, dem grünen Drachen nach, obwohl er schon längst verschwunden war.

»Was wird nun aus ihm werden?« fragte er schließlich.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Fizban. »Er nimmt sein Schicksal in die eigenen Hände, so wie du. Aber eins weiß ich, Caramon. Du mußt ihn loslassen.« Die Augen des alten Mannes fuhren zu Tika, die sich zu ihnen gesellt hatte. »Raistlin hatte recht, als er sagte, daß eure Wege sich trennen müßten.«

Tika lächelte Caramon an und kuschelte sich an ihn. Er umarmte sie und küßte ihre roten Locken. Aber selbst als er ihr Lächeln erwiderte und ihr Haar streichelte, streifte sein Blick zum Nachthimmel, wo die Drachen immer noch ihre flammenden Schlachten um die Macht über das zerbröckelnde Reich austrugen.

»Das ist also das Ende«, sagte Tanis. »Das Gute triumphiert.«

»Gut? Triumph?« wiederholte Fizban und starrte den Halb-Elfen scharf an. »Das stimmt nicht, Halb-Elf. Das Gleichgewicht ist wiederhergestellt. Die bösen Drachen werden nicht verbannt. Sie bleiben hier, so wie die guten Drachen. Das Pendel schwingt wieder frei.«

»All dieses Leiden, nur dafür?« fragte Laurana, die zu Tanis trat. »Warum soll das Gute nicht gewinnen und die Finsternis für immer vertreiben?«

»Hast du nichts gelernt, junge Frau?« rügte Fizban Laurana und zeigte mit einem knochigen Finger auf sie. »Es gab einmal eine Zeit, in der das Gute vorherrschte. Weißt du, wann das war? Direkt vor der Umwälzung!

»Ja«, fuhr er fort, als er ihre Verblüffung sah, »Istars Königspriester war ein guter Mann. Überrascht euch das? Sollte es nicht, denn gerade ihr beide habt gesehen, was dieses Gutsein bewirken kann. Ihr habt es bei den Elfen gesehen, der uralten Verkörperung des Guten! Daraus entwickelt sich Intoleranz, eine Starre, ein Glaube, der sagt, weil ich recht habe, sind jene, die nicht glauben, was ich glaube, im Unrecht.

Wir Götter haben die Gefahr erkannt, die diese Selbstgefälligkeit in die Welt bringen kann. Wir sahen, daß viel Gutes zerstört wurde, weil es einfach nicht verstanden wurde. Und wir sahen die Königin der Finsternis, die auf der Lauer lag, wartete, daß ihre Zeit kommen würde; denn dieser Zustand konnte natürlich nicht anhalten. Die übergewichtigen Waagschalen würden sinken, und dann würde sie zurückkehren...

Und darum – die Umwälzung. Wir trauerten um die Unschuldigen. Wir trauerten um die Schuldigen. Aber die Welt mußte vorbereitet werden, oder die zu erwartende Dunkelheit würde niemals wieder verschwinden.« Fizban sah Tolpan gähnen.

»Aber genug der Lektionen. Ich muß gehen. Dinge erledigen. Habe eine anstrengende Nacht vor mir.« Er drehte sich abrupt um und trottete auf den schnarchenden goldenen Drachen zu.

»Warte!« rief Tanis plötzlich. »Fizban – äh – Paladin, bist du jemals in dem Wirtshaus Zur letzten Bleibe in Solace gewesen?«

»Ein Wirtshaus? In Solace?« Der alte Mann hielt inne, strich über seinen Bart. »Ein Wirtshaus... es gibt so viele. Aber ich glaube mich an würzige Kartoffeln zu erinnern... Ja, genau!«

Der alte Mann spähte an Tanis vorbei, seine Augen glitzerten.

»Ich habe dort immer den Kindern Geschichten erzählt. Ein recht aufregender Platz, dieses Wirtshaus. Ich erinnere mich an eine Nacht – eine wunderschöne junge Frau trat ein. Eine Barbarin war es, mit goldenem Haar. Sang ein Lied über einen blauen Kristallstab, der einen Aufstand ausgelöst hatte.«»Das warst du, der nach den Wachen geschrien hat!« rief Tanis aus. »Du hast uns in diese Sache verwickelt!«

»Ich habe die Bühne vorbereitet, Bursche«, sagte Fizban listig. »Ich habe euch ein Drehbuch gegeben. Aber die Dialoge kamen von euch.« Er sah zu Laurana, wieder zu Tanis, dann schüttelte er den Kopf. »Muß aber gestehen, daß ich hier und dort ein bißchen verbessert habe, aber – macht euch nichts daraus.« Er drehte sich wieder um und begann den Drachen anzuschreien. »Wach auf, du faules, von Flöhen zerbissenes Vieh!«

»Von Flöhen zerbissen!« Eisenkies riß seine Augen auf.

»Nun, du klappriger alter Magier! Du kannst doch noch nicht einmal im tiefsten Winter Wasser in Eis verwandeln!«

»Oh, kann ich nicht?« schrie Fizban rasend vor Wut und schlug mit seinem Stab auf den Drachen ein. »Nun, ich werde es dir zeigen.« Er fischte ein zerbeultes Zauberbuch hervor und begann wild die Seiten durchzublättern. »Feuerkugel... Feuerkugel... Ich weiß genau, es steht hier irgendwo.«

Geistesabwesend vor sich murrend, kletterte der alte Magier auf den Rücken des Drachen.

»Bist du endlich bereit?« fragte der uralte Drache mit krächzender Stimme, dann – ohne eine Antwort abzuwarten spreizte er seine knirschenden Flügel, schlug sie auf und ab, um die schmerzhafte Steifheit abzuschütteln.

»Warte! Mein Hut!« schrie Fizban wild.

Zu spät. Heftig mit den Flügeln schlagend, erhob sich der Drache unsicher in die Luft. Nachdem er ein wenig schwankte und gefährlich über den Rand des Hügels hing, ließ sich Eisenkies von der nächtlichen Brise treiben und flog in den Himmel.

»Halt! Du verrückter...«

»Fizban!« schrie Tolpan.

»Mein Hut!« jammerte der Magier.

»Fizban!« schrie Tolpan wieder. »Er ist...«

Aber die zwei waren bereits äußer Hörweite. Bald waren sie nichts weiter als schwindende goldene Funken, als die Schuppen des Drachen in Solinaris Licht glitzerten.

»Er ist auf deinem Kopf«, murmelte der Kender seufzend.


Die Gefährten hatten stumm zugesehen, dann wandten sie sich um.

»Hilf mir bitte, Caramon«, bat Tanis. Er schnallte seine Drachenrüsrung ab und schleuderte ein Teil nach dem anderen von sich. »Was ist mit deiner Rüstung?«

»Ich glaube, ich behalte meine noch an. Wir haben noch eine lange, gefährliche Reise vor uns.« Caramon zeigte auf die in Flammen stehende Stadt. »Raistlin hatte recht. Die Drachenmänner werden ihre Bösartigkeiten nicht verlieren, nur weil ihre Königin verschwunden ist.«

»Wohin wirst du gehen?« fragte Tanis nach einem tiefen Atemzug. Die Nachtluft war sanft und warm und roch nach dem Versprechen neuen Wachstums.

Dankbar, die verhaßte Rüstung nicht mehr tragen zu müssen, ließ er sich erschöpft am Rande eines Wäldchens nieder. Laurana setzte sich in seine Nähe, aber nicht zu ihm. Sie hielt ihr Kinn auf ihre Knie gestützt, ihre Augen blickten nachdenklich über die Ebene.

»Tika und ich haben darüber schon geredet«, sagte Caramon. Die beiden setzten sich zu Tanis. Er und Tika sahen sich an, beide schienen nicht gewillt zu sein zu reden. Schließlich räusperte sich Caramon. »Wir gehen nach Solace zurück, Tanis. Und ich... ich glaube, daß wir uns wieder trennen müssen, weil...«, er stockte.

»Wir wissen, daß du nach Kalaman zurückkehrst«, ergänzte Tika leise mit einem Blick auf Laurana. »Wir haben erwogen, mit euch zu gehen. Immerhin sind da noch diese großen Zitadellen, die in der Luft schweben, und all diese abtrünnigen Drachenmänner. Und wir würden sehr gerne Flußwind und Goldmond und Gilthanas wiedersehen. Aber...«

»Ich will nach Hause, Tanis«, unterbrach Caramon sie mit schwerer Stimme. »Ich weiß, es ist nicht einfach, zurückzukehren, Solace verbrannt und zerstört zu sehen«, fügte er hinzu, Tanis' Einwände vorwegnehmend. »Aber ich habe an Alhana und an die Elfen gedacht, was sie bei ihrer Rückkehr nach Silvanesti erwartete. Ich bin froh, daß meine Heimat nicht so ist wie... ein grausamer Alptraum. Ich werde in Solace gebraucht, Tanis, um es wiederaufzubauen. Man wird meine Kraft brauchen. Ich... ich bin es gewohnt, gebraucht zu werden...«

Tika schmiegte ihre Wange an seinen Arm, er streichelte sanft über ihr Haar. Tanis nickte verständnisvoll. Er würde Solace auch gern wiedersehen, aber für ihn war es keine Heimat mehr. Nicht ohne Flint und Sturm und... und andere.

»Was ist mit dir, Tolpan?« fragte Tanis lächelnd den Kender, der zur Gruppe getrottet kam, einen Wasserschlauch mit sich schleppend, den er an einem nahe gelegenen Bach aufgefüllt hatte. »Kommst du mit uns nach Kalaman?«

Tolpan errötete. »Nein, Tanis«, sagte er unbehaglich. »Weißt du, da ich so nah dran bin – habe ich gedacht, meiner Heimat einen Besuch abzustatten. Wir haben einen Drachenfürsten getötet, Tanis«, Tolpan hob stolz sein Kinn, »ganz allein. Die Leute werden uns jetzt mit Respekt behandeln. Unser Führer, Kronin, wird wahrscheinlich ein Held in der krynnischen Geschichte.« Tanis kratzte sich am Bart, um sein Lächeln zu verbergen, hielt sich aber zurück, Tolpan zu erzählen, daß der Fürst, den die Kender getötet hatten, der aufgeblasene, feige Truppführer Toede gewesen war.

»Ich glaube, ein Kender wird mit Sicherheit als Held gefeiert werden«, sagte Laurana ernsthaft. »Es wird der Kender sein, der die Kugel der Drachen zerbrochen hat, der Kender, der im belagerten Turm des Oberklerikers gekämpft hat, der Kender, der Bakaris gefangengenommen hat, der Kender, der alles aufs Spiel gesetzt hat, um einen Freund aus den Händen der Königin der Finsternis zu befreien.«

»Wer ist das?« fragte Tolpan interessiert, dann machte er: »Oh!« Plötzlich begreifend, über wen Laurana gesprochen hatte, wurde Tolpan rot bis zu den Ohrspitzen und setzte sich völlig überwältigt mit einem dumpfen Knall hin.

Caramon und Tika lehnten steh gegen einen Baumstamm.

Auf beider Gesicht lag im Moment Frieden und Ruhe. Tanis, der sie beobachtete, beneidete sie, fragte sich, ob er jemals solch einen Frieden finden würde. Er wandte sich zu Laurana, die aufrecht saß, ihr Blick auf den flammenden Himmel gerichtet, in Gedanken weit weg.

»Laurana«, sagte Tanis unsicher, seine Stimme versagte, als sich ihr wunderschönes Gesicht zu ihm wandte, »Laurana, du hast mir einst dies hier gegeben«, er hielt den goldenen Ring in seiner Hand, »bevor einer von uns wußte, was wahre Liebe oder Bindung bedeutet. Es bedeutet mir inzwischen sehr viel, Laurana. In dem Traum brachte mich der Ring wieder aus der Dunkelheit des Alptraums zurück, so wie deine Liebe mich vor der Dunkelheit meiner eigenen Seele gerettet hat.« Er hielt inne, spürte einen stechenden Schmerz des Bedauerns, während er sprach. »Ich möchte ihn gern behalten, Laurana, wenn du das noch möchtest. Und ich würde dir gern einen passenden Ring schenken.«

Laurana starrte lange Zeit wortlos auf den Ring, dann nahm sie ihn aus Tanis' Hand und warf ihn mit einer plötzlichen Bewegung über den Hügel. Tanis keuchte, erhob sich halb. Der Ring blitzte in Lunitaris rotem Licht auf, dann verschwand er in der Dunkelheit. »Das ist wohl deine Antwort«, sagte Tanis. »Ich kann dir keine Schuld geben.«

Laurana drehte sich wieder ihm zu, ihr Gesicht war ruhig.

»Als ich dir diesen Ring schenkte, Tanis, war es die erste Liebe eines unwissenden Herzens gewesen. Du hattest recht, ihn mir zurückzugeben, das weiß ich jetzt. Ich mußte erwachsen werden, lernen, was wahre Liebe ist. Ich bin durch Flammen und Dunkelheit gegangen, Tanis. Ich habe Drachen getötet. Ich habe über dem Körper einer Person, die ich geliebt habe, geweint.« Sie seufzte. »Ich war ein Führer. Ich hatte Verantwortung. Flint sagte mir das. Aber ich warf alles fort. Ich lief in Kitiaras Falle. Ich bemerkte zu spät, wie oberflächlich meine Liebe in Wirklichkeit war. Flußwinds und Goldmonds beständige Liebe brachte Hoffnung in die Welt. Unsere kleinliche Liebe hätte beinahe die Welt zerstört.«

»Laurana«, begann Tanis, sein Herz schmerzte. Ihre Hand schloß sich um seine.»Psst, nur noch einen Moment«, flüsterte sie. »Ich liebe dich, Tanis. Ich liebe dich, weil ich dich jetzt verstehe. Ich liebe das Helle und das Dunkle in dir. Darum habe ich den Ring fortgeworfen. Vielleicht wird unsere Liebe eines Tages ein Fundament bilden, das stark genug ist, um etwas auf ihm zu errichten.

Vielleicht werde ich dir eines Tages einen anderen Ring schenken und deinen annehmen. Aber es wird kein Ring mit Efeublättern sein, Tanis.«

»Nein«, sagte er lächelnd. Er legte seine Hand auf ihre Schulter und zog sie an sich. Kopfschüttelnd widerstand sie ihm. »Es wird ein Ring sein, der zur Hälfte aus Gold und zur Hälfte aus Stahl sein wird.« Tanis umfaßte sie fester. Laurana sah in seine Augen, dann lächelte sie und gab nach, sank zurück, um an seiner Seite zu ruhen, ihr Kopf lag an seiner Schulter.

»Vielleicht sollte ich mich rasieren«, flüsterte Tanis.

»Nein«, murmelte Laurana, während sie Tanis' Umhang enger um ihre Schultern zog. »Ich habe mich daran gewöhnt.«

Die ganze Nacht über hielten die Gefährten gemeinsame Wache unter den Bäumen und warteten auf die Morgendämmerung. Erschöpft und verwundet, wie sie waren, konnten sie nicht schlafen, und sie wußten auch, daß die Gefahr nicht gebannt war.

Von ihrem Aussichtspunkt aus konnten sie Drakonierbanden beobachten, die aus dem Tempelareal flohen. Ihrer Anführer entledigt, würden sie bald rauben und morden, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Es gab immer noch Drachenfürsten. Obwohl keiner ihren Namen erwähnte, wußten die Gefährten, daß einer mit großer Sicherheit das Chaos um den Tempel überlebt hatte. Und vielleicht gab es noch anderes Unheil, gegen das man kämpfen mußte, größeres Unheil, mächtiger und beängstigender, als sich die Freunde vorzustellen wagten.

Aber jetzt gab es einen Augenblick des Friedens, und sie wollten ihn auskosten. Denn mit der Dämmerung würde auch der Abschied kommen.Keiner sprach, nicht einmal Tolpan. Es bestand keine Notwendigkeit, Worte zu wechseln. Alles war gesagt worden oder hatte noch Zeit, gesagt zu werden. Sie hatten keine Eile. Sie baten die Zeit, einen Moment stillzustehen, um sich ausruhen zu können. Und vielleicht würde die Zeit darauf eingehen. Kurz bevor der Morgen dämmerte, als nur ein Hauch der Sonne blaß am östlichen Himmel auftauchte, explodierte der Tempel von Takisis, Königin der Finsternis. Der Boden erbebte von der Erschütterung. Das Licht war hell, blendend wie die Geburt einer neuen Sonne.

Ihre Augen waren von dem flackernden Licht geblendet, sie konnten nichts deutlich erkennen. Aber sie hatten den Eindruck, daß die funkelnden Teile des Tempels in den Himmel stiegen, von einem himmlischen Wirbelwind nach oben gefegt wurden. Immer heller glänzten die Teile, als sie in die sternenklare Dunkelheit geschleudert wurden, bis sie so strahlend wie die Sterne selbst schienen.

Und dann waren sie Sterne. Einer nach dem anderen nahm seinen Platz am Himmel ein, füllte die zwei schwarzen Löcher, die Raistlin im vergangenen Herbst auf dem Krystalmir-See vom Boot aus gesehen hatte.

Die Konstellationen glitzerten wieder am Himmel.

Wieder nahm der tapfere Krieger Paladin – der Platin-Drache – seinen Platz in der einen Hälfte des Nachthimmels ein, während ihm gegenüber die Königin der Finsternis, Takisis, der fünfköpfige, vielfarbene Drache, erschien. Und so nahmen sie ihre endlose Bewegung wieder auf, wobei sie sich gegenseitig im Auge behielten, während sie um Gilean, den Gott des Ausgleichs, die Waagschale der Balance, kreisten.

Загрузка...